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David G.

Myers

Psychologie
3. Auflage
Springer-Lehrbuch
David G. Myers

Psychologie
3., vollständig überarbeitete und erweiterte Auflage

Mit Beiträgen von Siegfried Hoppe-Graff und Barbara Keller

Mit 916 Abbildungen und 48 Tabellen

123
David G. Myers
Hope College, Holland
USA

Deutsche Bearbeitung
Dr. Christiane Grosser, Dr. Stephanie Uhlhorn (3. Auflage)
Dr. Svenja Wahl, Dr. Matthias Reiss (2. Auflage)
Dr. Christiane Grosser, Dr. Svenja Wahl (1. Auflage)

Übersetzung
Laura Dörrenbächer, Katharina Eilers, Stephanie Eilers, Theresa Fehn, Tatjana Gackstatter, Katharina Haß, Markus Hefner,
Jasmin Kathariya, Luise Keßler, Lisa Laeber, Nadja Ott, Sophia Pfister, Simone Pflüger, Markus Russin, Sandy Sattler, Nadine Schabinger,
Prof. Dr. Margrit Schreier, Melanie Schulze, Kira Sturm, Tatjana Surdin, Lena Wilms (3. Auflage)
Dr. Matthias Reiss (2. Auflage)
ÜTT - Übersetzerteam Tübingen, Sabine Mehl, Katrin Beckmann, Birgit Pfizer (1. Auflage)

Beiträge von
Prof. Dr. Siegfried Hoppe-Graff
Universität Leipzig, Erziehungswissenschaftliche Fakultät, Pädagogische Psychologie
Karl-Heine-Str. 22b, D-04229 Leipzig

Dr. Dipl.-Psych. Barbara Keller


Universität Bielefeld, Center for the Interdisciplinary Research on Religion and Society CIRRuS, Theology Department
Universitätsstr. 25, D-33615 Bielefeld

First published in the United States by WORTH PUBLISHERS, New York


Copyright © 2013 by WORTH PUBLISHERS
All rights reserved.

Zuerst erschienen in den Vereinigten Staaten von Amerika bei WORTH PUBLISHERS, New York
Copyright © 2013 WORTH PUBLISHERS
Alle Rechte vorbehalten.

ISBN-13 978-3-642-40781-9 ISBN 978-3-642-40782-6 (eBook)


DOI 10.1007/978-3-642-40782-6

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie;


detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

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Planung: Joachim Coch, Heidelberg


Projektmanagement: Judith Danziger, Heidelberg
Lektorat: Dr. Christiane Grosser, Viernheim, und Dr. Stephanie Uhlhorn, Melle
Abbildungsmanagement: Heiko Sawczuk, Stutensee, und Jana Krämer, Heidelberg
Bildredaktion: Klaus Rüschhoff und Julia Alt, Heidelberg
Projektkoordination: Michael Barton, Heidelberg
Umschlaggestaltung: deblik Berlin
Fotonachweis Umschlag: © Max Mönnich
Satz und Reproduktion der Abbildungen: Fotosatz-Service Köhler GmbH – Reinhold Schöberl, Würzburg

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Meinen geschätzten Kollegen, deren 25-jährige Freundschaft, Unterstützung
und kreative Arbeit an entscheidenden gedruckten und digitalen Veröffentlichungen
unser gemeinsames Lehren von Psychologie erst möglich gemacht haben:
Martin Bolt (1944–2009)
John Brink
Thomas Ludwig
Richard Straub
VII

Vorwort zur 10. amerikanischen Auflage1

Im Laufe der inzwischen zehn Auflagen hat sich mei- Bedürfnissen.« Ich bin der alleinige Autor dieses Bu-
ne anfängliche Vision dieses Lehrbuchs zur Psycho- ches und versuche deshalb, die Geschichte der Psy-
logie nicht verändert: ein Buch zu schreiben, das sich chologie einerseits streng wissenschaftlich, anderer-
im strengen Rahmen der Wissenschaft bewegt, gleich- seits aber auch aus meinem persönlichen Empfinden
zeitig jedoch eine umfassende Sicht auf den Menschen heraus darzustellen. Ich mache mir sehr gerne Ge-
bietet und damit Herz und Verstand anspricht. Mein danken darüber, in welcher Beziehung die Psycholo-
Ziel war es, eine jeweils aktuelle Einführung in die gie zu anderen Wissensbereichen steht, beispielsweise
Psychologie zu schreiben, unter besonderer Berück- zu Literatur, Philosophie, Geschichte, Sport, Religion,
sichtigung der Interessen und Bedürfnisse von Studie- Politik oder Populärkultur. Und es macht mir Spaß,
renden. Es ist mir ein Anliegen, dass die Studierenden andere zum Nachdenken zu bringen, ich spiele gerne
die Wunder ihres Alltags verstehen und schätzen ler- mit Worten, und ich lache gerne. In sein bahnbre-
nen. Gleichzeitig will ich aber auch den kritischen chendes Werk Principles of Psychology (1891) versuch-
Forschergeist vermitteln, mit dem Psychologen in te William James »Humor und Pathos« einfließen zu
ihrem Fach arbeiten. lassen. Das Gleiche versuche ich.

Ich bin wirklich begeistert von der Psychologie und Ich bin dankbar für das Vorrecht, unterstützend bei
ihrer Anwendbarkeit auf unser Leben. Psychologie als der Lehre dieses horizonterweiternden Fachs tätig
Wissenschaft hat das Potenzial, unseren Geist zu er- sein zu können, und zwar für so viele Studierende, in
weitern und unsere Herzen größer zu machen. Wenn so vielen Ländern und in so vielen Sprachen. Dass ich
wir die Methoden, Ideen und Erkenntnisse der Psy- mit der Aufgabe betraut wurde, die Erkenntnisse
chologie kennen und anwenden, werden sie uns dazu der Psychologie zu erfassen und sie weiterzugeben, ist
befähigen, der Intuition die Zügel des kritischen sowohl eine aufregende Ehre als auch eine große Ver-
Denkens anzulegen, Rechthaberei durch Einfühlung antwortung.
abzubauen und Selbsttäuschungen mit Verständnis
zu begegnen. Wenn Sie diese Führung durch die Ein solches Buch zu schaffen geht nur in Teamarbeit.
Psychologie abgeschlossen haben, werden Sie, so hof- Wie so viele andere menschliche Errungenschaften ist
fe ich, ein tieferes Verständnis haben von unseren es ein Produkt der kollektiven Intelligenz. Woodrow
Stimmungen und unserem Gedächtnis, der Reich- Wilson spricht mir aus der Seele: »Ich verwende nicht
weite unseres Unterbewusstseins, darüber wie wir nur das Gehirn, das ich besitze, sondern ich borge
gedeihen und uns durchbeißen, wie wir unsere phy- mir noch zusätzlich, was ich bekommen kann.« Die
sische und soziale Welt wahrnehmen und wie sowohl Tausenden von Dozenten und die Millionen von
Biologie als auch Kultur uns formen. Willkommen an Studierenden auf der ganzen Welt, die mit diesem
Bord! Buch gelehrt oder gelernt haben, trugen in unge-
heurem Maße zu seiner Entwicklung bei. Viel davon
Ich halte es mit Thoreau, der sagte, dass »sich alles fand spontan über Briefe, E-Mails und Unterhaltun-
Lebendige mühelos und ungekünstelt in normaler gen statt. In diese Auflage haben wir über 1250 For-
Sprache ausdrücken lässt«, und versuche deshalb, das scher und Psychologie-Dozenten, aber auch viele Stu-
akademische Wissen der Psychologie mit spannen- dierende einbezogen. Dies geschah in dem Bemühen,
den Berichten und lebendigen Geschichten aufzu- genaue und aktuelle Informationen über psychologi-
lockern. »Die Aufgabe eines Autors«, sagt meine sche Inhalte, Lernhilfen und über die didaktischen
Freundin Mary Pipher, »ist es, Geschichten zu erzäh- Bedürfnisse von Dozenten und Studierenden eines
len, die die Leser mit allen Menschen auf der Erde Einführungsseminars zu sammeln. Zudem freuen wir
verbinden und diese Menschen genau so kompliziert uns über weitere Rückmeldungen, weil es uns in künf-
darzustellen, wie sie wirklich sind: Mit all ihren Ge- tigen Auflagen darum geht, ein noch besseres Buch
schichten, Familien, Emotionen und ihren legitimen und Lehrmaterial zu entwickeln.

1 Verweise auf Kapitel etc. wurden der deutschen Auflage angepasst.


VIII Vorwort zur 10. amerikanischen Auflage

Was ist neu? Neu angeordnete Kapitel

Diese 10. amerikanische Auflage ist die am sorgfältigs- Zusätzlich zum neuen pädagogischen Konzept und
ten überarbeitete und am umfassendsten aktualisierte dem aktualisierten Inhalt gibt es folgende Änderun-
von allen bisherigen Revisionen. Die neue Auflage be- gen im Aufbau:
inhaltet Verbesserungen in der Organisation und Prä- 4 Am Ende von 7 Kap. 1 »Prolog« findet sich der
sentation, insbesondere in unserem System zur Unter- neue Abschnitt »Mit Psychologie lernen –
stützung der Studierenden beim Lernen und Erinnern. Verbessern Sie Ihre Merkfähigkeit und Ihre
Noten!«. Diese Anleitung soll Studierenden da-
bei helfen, ihre alten erfolglosen und ineffizien-
Das neue Lernsystem folgt den ten Gewohnheiten abzulegen und neue Metho-
besten Methoden den anzuwenden. Damit können sie das Gelernte
der Lern- und Gedächtnisforschung besser behalten und haben mehr Erfolg.
4 7 Kap. 6 »Entwicklung« wurde dadurch gekürzt,
Das neue Lernsystem macht sich den »Testeffekt« dass »Altern« und »Intelligenz« jetzt in 7 Kap. 11
zunutze, der belegt, dass sich der aktive Abruf von »Intelligenz« zu finden sind.
Informationen in Selbsttests positiv auswirkt. Des- 4 7 Kap. 7 »Wahrnehmung« behandelt erst die
wegen sind jetzt in jedes Kapitel zwischen 15 und Sinnesorgane und dann die Wahrnehmung als
20 neue »Prüfen Sie Ihr Wissen«-Fragen eingestreut. solche und geht die Thematik daher jetzt er-
Diese erwünschten Schwierigkeiten für Studierende giebiger und ganzheitlicher an. Die Erlebnisse
verstärken den Testeffekt, genauso wie das unmittel- eines Gehörlosen sind jetzt in 7 Kap. 10 »Denken
bare Feedback (das durch die umgedrehte Antwort und Sprache« zu finden.
unter den Fragen gegeben wird). (Anmerkung des 4 In 7 Kap. 8 »Lernen« gibt es jetzt den Abschnitt
Übersetzers: In der deutschen Ausgabe finden Sie die »Biologische Veranlagungen, Kognition und
Antworten auf diese Fragen auf der Begleitwebsite Lernen«. In diesem werden die biologischen und
zum Buch auf http://www.lehrbuch-psychologie.de.) kognitiven Randbedingungen des klassischen
und operanten Konditionierens und des Beob-
Außerdem leiten nummerierte Lernziele die einzel- achtungslernens genau behandelt.
nen Abschnitte des Texts ein und können dem Studie- 4 7 Kap. 9 »Gedächtnis« hat einen neuen Aufbau
renden als Orientierungshilfe beim Lesen dienen. Am und erklärt deutlicher, wie verschiedene Netz-
Ende des Kapitels werden diese Ziele als weitere werke im Gehirn Erinnerungen verarbeiten und
Möglichkeit zum Selbsttest nochmals wiederholt (die speichern. Dafür habe ich bei der Überarbeitung
Antworten dazu sind im Anhang zu finden). Außer- des Kapitels eng mit Janie Wilson (Professor of
dem finden Sie am Ende eines jeden Kapitels eine Psychology an der Georgia Southern University
Liste mit Schlüsselwörtern und -begriffen. und Vice President for Programming der Society
for the Teaching of Psychology) zusammenge-
arbeitet.
Mehr als 1400 neue Literaturstellen 4 In 7 Kap. 14 »Persönlichkeit« wurde der Inhalt
aus der Forschung über die modernen psychodynamischen Ansätze
verbessert. Sie sind jetzt deutlicher von ihren
Die genaue Überprüfung von dutzenden wissen- historischen Freud’schen Wurzeln abgegrenzt.
schaftlichen Zeitschriften und neuen Quellen der Wis- 4 Das 7 Kap. 15 über Sozialpsychologie folgt jetzt
senschaft, außerdem von anerkannten Besprechungen direkt auf das 7 Kap. 14 zur Persönlichkeit.
und unzähligen E-Mails von Dozenten und Studieren- 4 7 Kap. 16 »Klinische Psychologie: Psychische
den hat sich gelohnt: Mir ist es gelungen, die wichtigs- Störungen« deckt jetzt auch das Thema Ess-
ten, zum Nachdenken anregenden und für Studie- störungen ab. Bisher wurden diese im Kapitel
rende interessanten neuen Entdeckungen des Fachs in zur Motivation behandelt.
dieses Buch einzubauen. Ein Teil der Freude an dieser
Arbeit entsteht daraus, jeden Tag etwas Neues zu ler-
nen! (Eine vollständige Liste aller wichtigen Inhaltsän-
derungen gibt es unter http://www.worthpub.com/
myers.)
IX
Vorwort zur 10. amerikanischen Auflage

Die klinischen Kapitel losigkeit« jetzt in einem Kapitel abgedeckt, statt es


wurden sorgfältig überarbeitet über zwei zu verteilen) verdichtet werden. Das Er-
und deutlich verbessert gebnis sind – trotz 1400 neuer Literaturangaben –
35 Seiten weniger als in der 9. Auflage. (Anmerkung
Mit hilfreicher Unterstützung durch Kollegen aus der des Übersetzers: Auch die deutsche Ausgabe wurde
klinischen Psychologie habe ich in dieser Auflage bei kompakter als die Vorauflage).
verschiedenen Begriffen innerhalb der Psychologie
stärker auf die klinische Sichtweise geachtet; davon
haben v. a. die Kapitel über »Persönlichkeit«, »Klini- Zugehörige Versionen
sche Psychologie: Psychische Störungen« und »Klini- von Next-Generation-Medien
sche Psychologie: Therapie« profitiert. Beispielsweise
behandle ich im Kapitel »Emotionen, Stress und Ge- Diese 10. Auflage wird begleitet vom grundlegend
sundheit« nun die problemfokussierte und die emo- verbesserten PsychPortal, das mit neuen Features auf-
tionsfokussierte Bewältigungsstrategie und stelle warten kann (LearningCurve: Zwischenprüfungen
den Zusammenhang zwischen Psychotherapie und und LaunchPad: sorgfältig erstellte vordefinierte Auf-
der Überlebensrate bei Krebs dar. Das Kapitel »Intel- gaben) und den vollen Umfang der Worth’s psychology
ligenz« enthält jetzt mehrere Bezüge darauf, wie Intel- media products enthält (Video Took Kit, Psych
ligenztests in klinischen Settings eingesetzt werden. Investigator, PsychSim). (Anmerkung des Übersetzers:
Material über die Positive Psychologie ist ebenfalls im Die Begleitwebsite der deutschen Ausgabe unter
ganzen Buch eingestreut. http://www.lehrbuch-psychologie.de enthält z. T. an-
dere Inhalte als die der amerikanischen Originalaus-
Außerdem unterscheiden die Kapitel »Persönlich- gabe. Welche – das sehen Sie auf diesen Titelseiten im
keit« und »Klinische Psychologie: Psychische Störun- Abschnitt »Wie lerne ich mit dem Myers«.)
gen« jetzt klarer zwischen den historischen psycho-
analytischen und den modernen psychodynamischen
Theorien. Was ist so geblieben?

Die acht leitenden Prinzipien


Neuer Abschnitt »Zeitmanagement«
für Studierende Trotz der vielen spannenden Veränderungen wird
der Ton der Vorgängerversionen, aber auch viel von
Um die Leistungen von Studierenden beim Lesen, ihren Inhalten und ihrer Gliederung beibehalten. Das
Lernen und bei der Klausurvorbereitung auf ein trifft auch für die acht Ziele – die leitenden Prinzipien
Höchstmaß zu bringen, gibt es in der neuen Einfüh- – zu, die die vorigen neuen Auflagen mit Leben erfüllt
rung für Studierende eine Beratung im Zeitmanage- haben:
ment (7 Anhang A2).
Das Lernen einfacher machen
1. Kritisches Denken lehren. Ich präsentiere
Ansprechendes neues Design Forschungsprozesse gern als intellektuelle Detek-
und neue, zeitgemäße Fotos tivarbeit und möchte damit den fragenden
und analysierenden Forschergeist beispielhaft
Das neue, moderne Design, bis oben hin voll mit darstellen. Ein Studierender mag seinen Schwer-
neuen Fotos und Illustrationen liefert den modernen punkt auf Entwicklungs- oder Kognitionspsy-
optischen Kontext für den aktuellen Inhalt. chologie oder das Sozialverhalten legen – in
jedem Fall wird er mit kritischem Argumentie-
ren und dessen positiven Wirkungen vertraut
Gestraffter Inhalt gemacht. Er wird auch entdecken, wie man mit
Hilfe empirischer Forschung einander wider-
Der Text und die Präsentation konnten durch das sprechende Ideen bewerten oder wie man Be-
Vermeiden von Überschneidungen bei den Beispielen hauptungen mit hoher Publikumswirkung – von
und Konzentration einer Thematik in einem Kapitel außersinnlicher Wahrnehmung und alternativer
(z. B. wird das gesamte Thema »Erleben von Gehör- Therapie bis hin zur Astrologie sowie verdräng-
X Vorwort zur 10. amerikanischen Auflage

ten und wieder aufgedeckten Erinnerungen – men aus den Jahren 2009 bis 2011. Außerdem
entkräften kann. beziehen sich die Fotos und Alltagsbeispiele auf
2. Prinzip und Anwendung gemeinsam darstel- aktuelle Geschehnisse der letzten Jahre.
len. Mit Hilfe von Anekdoten, Fallgeschichten 6. Fakten in Konzepte einordnen. Es ist nicht
und der Darstellung hypothetischer Situationen meine Absicht, die intellektuellen Schubladen
stelle ich im gesamten Buch immer wieder die der Studierenden mit Fakten anzufüllen;
Verbindung her zwischen der Grundlagenfor- stattdessen möchte ich die großen Konzepte der
schung, ihrer Anwendung und den Schlussfolge- Psychologie aufzeigen und die Studierenden
rungen daraus. In den Bereichen, in denen die lehren, psychologisch zu denken. Gleichzeitig
Psychologie ein Licht auf drängende Mensch- möchte ich Ihnen die Vorstellungen der Psycho-
heitsfragen werfen kann – seien es Rassismus logie nahebringen, bei denen sich das Nach-
und Sexismus, Gesundheit und Glück oder Krieg denken lohnt. In jedem Kapitel betone ich be-
und Gewalt –, habe ich nicht gezögert, den sonders die Konzepte, von denen ich hoffe,
Glanz der Psychologie strahlen zu lassen. dass die Studierenden sie auch noch lange nach-
3. Lernschritte fördern. Beispiele aus dem Alltag dem sie den Kurs abgeschlossen haben, behalten.
und rhetorische Fragen sollen den Studierenden Dabei bemühe ich mich immer, dem Satz Albert
helfen, das Lernmaterial aktiv zu verarbeiten. Einsteins zu folgen, der sagte: »Alles sollte so
Bereits eingeführte Konzepte werden häufig in einfach wie möglich gehalten werden, aber nicht
späteren Kapiteln angewandt und bestärkt. In einfacher.« Die eingestreuten »Prüfen Sie Ihr
7 Kap. 4 lernen die Studierenden beispielsweise, Wissen«- Fragen helfen den Studierenden, die
dass ein Großteil unserer Informationsverar- zentralen Ideen zu lernen und sich zu merken.
beitung außerhalb des Bewusstseins abläuft, ein
Konzept, das in den darauffolgenden Kapiteln Große Ideen und erweiterte Horizonte
weiter ausgeführt wird. Nummerierte Lernziele fördern
zu Beginn jedes Abschnitts, in die Kapitel ein- 7. Verständnis durch wiederholtes Aufgreifen
gestreute Fragen (»Prüfen Sie ihr Wissen«), ein übergeordneter Themen fördern. Viele Kapitel
Glossar im Anhang und eine Stichwortliste am behandeln eine spezielle Fragestellung oder
Ende jedes Kapitels helfen den Studierenden, einen Gedanken, der sich durch das ganze Kapi-
wichtige Begriffe und Fachausdrücke nicht nur tel zieht und es zusammenhält. Das Kapitel
zu lernen, sondern auch zu behalten. »Lernen« vermittelt den Gedanken, dass kühne
Denker zu intellektuellen Vordenkern werden
Psychologie als Wissenschaft darstellen können. »Denken und Sprache« behandelt die
4. Den Forschungsprozess beispielhaft dar- menschliche Rationalität und Irrationalität. In
stellen. Es ist mir ein besonderes Anliegen, den »Klinische Psychologie: Psychische Störungen«
Studierenden nicht nur Forschungsergebnisse sollen Empathie und Verständnis für die Lebens-
zu präsentieren, sondern sie gewissermaßen am läufe der Betroffenen vermittelt werden. »Die
Forschungsprozess teilhaben zu lassen. Viele Einheitlichkeit eines Werks«, beobachtete
Stellen des Buches wollen die Neugier des Lesers Edward Gibbon, »bezeugt die Hand eines einzel-
wecken. Er wird eingeladen, sich als Teilnehmer nen Künstlers«. Weil das Buch von nur einem
an klassischen Experimenten zu sehen. In man- Autor geschrieben wurde, ziehen sich bestimmte
chen Kapiteln finden sich Erzählungen über Themen wie kognitive Neurowissenschaft,
die eine oder andere Untersuchung, die anfäng- duale Verarbeitung, kulturelle Vielfalt und die
lich mysteriös wirkt, dann aber allmählich ihr Vielfalt der Geschlechterrollen wie ein roter
Geheimnis preisgibt, in dem Maße, wie jedes Faden durch das gesamte Buch und die Studie-
Mosaiksteinchen seinen richtigen Platz findet. renden hören eine einheitliche Stimme.
5. So aktuell wie möglich sein. Kaum etwas dämpft 8. Respekt vor den Gemeinsamkeiten und Unter-
das Interesse von Studierenden so sehr wie das schieden der Menschen vermitteln. Im ge-
Gefühl, überholtes Wissen serviert zu bekom- samten Buch wird der Leser auf Stellen im Text
men. Deshalb stelle ich neben den traditionellen stoßen, die von der Menschheit als Familie
Studien und Konzepten auch die wichtigsten sprechen: Es geht um das uns allen gemeinsame
neuen Entwicklungen des Fachs dar. Mehr als biologische Erbe, die Mechanismen des Sehens
1000 Literaturangaben in dieser Auflage stam- und des Lernens, die Motivation des Hungers,
XI
Vorwort zur 10. amerikanischen Auflage

die Art, wie Menschen empfinden, und nicht lungen in dieser Richtung von allen Lesern herzlich
zuletzt die Gefühle von Liebe und Hass. Dadurch willkommen.
entsteht auch ein besseres Verständnis für die
Dimension unserer Verschiedenheit, auch für Die Diskussion, wie wichtig das Thema kulturelle
unsere individuellen Unterschiede in Entwicklung Vielfalt und Vielfalt der Geschlechterrollen ist, be-
und Fähigkeiten, Temperament und Persönlich- ginnt auf der ersten Seite des ersten Kapitels und zieht
keit, Gesundheit und Krankheit; es geht außer- sich dann durch den gesamten Text. 7 Kap. 5 »Anlage,
dem um unsere kulturspezifischen Unterschiede, Umwelt und die Vielfalt der Menschen« soll Studierende
die sich in Einstellungen und Ausdrucksweise, darin unterstützen, kulturelle und Geschlechtsunter-
bei der Kindererziehung und der Fürsorge schiede und -gemeinsamkeiten zu schätzen und das
für die ältere Generation zeigen, vor allem aber Zusammenspiel von Anlage und Umwelt zu berück-
auch in den Prioritäten, die wir in unserem sichtigen.
Leben setzen.

Verbesserte Rubrik
Mehr zur kulturellen Vielfalt »Kritisch nachgefragt«
und zur Vielfalt der Geschlechterrollen
Ich habe mir zum Ziel gesetzt, im gesamten Buch
Diese Auflage stellt eine sogar noch grundlegendere Studierende zum kritischen Denken anzuregen. Neue
interkulturelle Sicht der Psychologie dar: Dies zeigt Lernziele zu Beginn jedes Abschnitts und die »Prüfen
sich in den Befunden aus der Forschung, aber auch in Sie Ihr Wissen«-Fragen in jedem Kapitel sollen zum
den Text- und Fotobeispielen. Die Behandlung der kritischen Lesen ermuntern, um ein Verständnis für
Psychologie von Frauen und Männern ist gründlich wichtige Begriffe zu entwickeln. Zusätzlich bieten sich
eingearbeitet. Außerdem habe ich vor, für unsere in der 10. Auflage die folgenden Möglichkeiten für
studentischen Leser weltweit eine von einzelnen Studierende, ihre Fähigkeit zum kritischen Denken zu
Ländern unabhängige Psychologie anzubieten. Da- entwickeln und einzuüben.
her suche ich ständig auf der ganzen Welt nach 4 7 Kap. 2 »Kritisch denken mit wissenschaft-
Forschungsbefunden sowie Text- und Fotobeispielen; licher Psychologie« verfolgt bei der Einführung
dies geschieht in dem Bewusstsein, dass meine po- der Studierenden in die Forschungsmethoden
tenziellen Leser vielleicht in Melbourne, Sheffield, der Psychologie einen einzigartigen Ansatz zum
Vancouver oder in Nairobi leben. Beispiele aus Ame- kritischen Denken. Dabei werden die Fehl-
rika und Europa finde ich leicht, da ich in den Ver- schlüsse unserer Alltagsintuition und des gesun-
einigten Staaten lebe, Kontakt zu Freunden und Kol- den Menschenverstands hervorgehoben und
legen in Kanada habe, mehrere europäische Zeit- damit die Notwendigkeit der Psychologie als
schriften abonniert habe und zu bestimmten Zeiten Wissenschaft betont. Kritisches Denken wird als
in Großbritannien lebe. Diese Auflage beispielsweise Schlüsselbegriff für dieses Kapitel eingeführt.
enthält 135 Beispiele, die sich auf Großbritannien be- Die Erörterungen zum statistischen Schluss-
ziehen; Australien und Neuseeland werden 65 Mal folgern sollen Studierende dazu ermutigen,
erwähnt. Aufgrund einer steigenden Zahl von Ein- lieber noch einmal nachzudenken und einfache
wanderern und einer wachsenden Globalisierung der statistische Grundsätze auf derartige Argumen-
Wirtschaft sind wir alle Bürger einer schrumpfenden tationen anzuwenden.
Welt. Daher profitieren auch amerikanische Studie- 4 Die Kästen »Kritisch nachgefragt« finden sich
rende von Informationen und Beispielen, die ein überall im Buch und sollen Studierenden ein
stärker international orientiertes Weltbewusstsein kritisches Vorgehen bei einigen Schlüsselfragen
vermitteln. Und wenn die Psychologie versucht, der Psychologie modellhaft vorführen. Sehen Sie
menschliches Verhalten (nicht nur amerikanisches, sich beispielsweise den aktualisierten Kasten
kanadisches oder australisches) zu erklären, dann ist »Der Angstfaktor – Warum wir an der falschen
unser Bild von den Menschen auf dieser Erde umso Stelle Angst haben« (7 Abschn. 10.1.3) an.
umfassender, je breiter die Vielfalt der dargestellten 4 Geschichten im Stil von Kriminalromanen
Studien ist. Mein Ziel besteht darin, alle Studierenden sollen die Studierenden verstreut über den ge-
mit der Welt jenseits ihrer eigenen Kultur zu konfron- samten Text dazu verleiten, kritisch über
tieren. Daher sind weiterhin Vorschläge und Empfeh- Schlüsselfragen der psychologischen Forschung
XII Vorwort zur 10. amerikanischen Auflage

nachzudenken. In 7 Kap. 16 stelle ich die Ur- Die psychologischen Abteilungen an vielen Hoch-
sachen für Schizophrenie beispielsweise Stück schulen hoffen, dass sie mit Hilfe dieser Prinzipien
für Stück dar – und zeige, wie Forscher das und den damit verbundenen Empfehlungen ihre
Puzzle genauso Stück für Stück lösten. eigenen Maßstäbe setzen können. Manche Dozenten
4 Aufforderungen im Stil von »Wenden Sie das wollen wissen, ob ein bestimmter Text für den Ein-
an« und »Denken Sie darüber nach« sollen führungskurs als Grundlage für das Erreichen der
die Studierenden in jedem Kapitel aktiv bei der Ziele geeignet ist. Die 10. Auflage dieses Buches wird
Sache bleiben lassen. In 7 Kap. 15 übernehmen Ihnen dabei helfen, damit zu beginnen, diese Ziele
die Studierenden z. B. die Perspektive der Teil- in Ihrer Abteilung anzuwenden. Unter http://www.
nehmer an Solomon Aschs Konformitätsexperi- worthpublishers.com/myers finden Sie eine detail-
ment und später die der Teilnehmer an einem lierte Beschreibung, wie die 10. Auflage von Psycho-
Gehorsamkeitsexperiment von Stanley Milgram. logie den APA-Prinzipien von 2011 entspricht.
Ich hoffe, die Studierenden lassen sich auch
den Spaß nicht entgehen, bei den Aufgaben mit-
zumachen, die ihnen immer wieder begegnen. Multimedia der nächsten Generation
In 7 Kap. 7 etwa können sie eine kurze Aktivität
zur Sinnesanpassung ausprobieren. Und in Die 10. Auflage von Psychologie kann sich mit be-
7 Kap. 13 versuchen sie, die richtigen Emotions- eindruckenden Multimedia-Optionen brüsten. Für
ausdrücke den Gesichtern zuzuordnen und mehr Informationen über das komplette Sortiment
können die Auswirkung von verschiedenen Ge- können Sie den Online Katalog unter http://www.
sichtsausdrücken an sich selbst testen. wortpublishers.com besuchen. (Anmerkung des Über-
4 Kritisch prüfende Kommentare zur Psycho- setzers: Das Online-Angebot der deutschen Ausgabe
logie in der Regenbogenpresse sollen das unterscheidet sich von dem der amerikanischen
Interesse anregen und liefern wichtige Beiträge, Originalausgabe. Hinweise zur deutschen Begleit-
um kritisch über Alltagsthemen nachzudenken. website http://www.lehrbuch-psychologie.de finden
In 7 Kap. 7 findet sich z. B. eine sorgfältige Sie auf diesen Titelseiten im Abschnitt »Wie lerne ich
Prüfung von außersinnlichen Wahrnehmungen mit dem Myers«.)
und 7 Kap. 9 diskutiert das kontroverse
Thema Verdrängung von schmerzvollen Erinne-
rungen. Das PsychPortal mit Lernkurven-Quiz

Das grundlegend erweiterte PsychPortal der 10. Auf-


APA-Prinzipien für eine qualifizierte lage wartet mit neuen Features auf (LearningCurve:
Ausbildung von Studierenden Zwischenprüfungen und LaunchPad: sorgfältig er-
im Grundstudium Psychologie stellte vordefinierte Aufgaben), während es den vollen
Umfang der Worth’s psychology media products ent-
Im Februar 2011 verabschiedete der Council of Re- hält (Video Tool Kit, PsychInvestigator, PsychSim).
presentatives der American Psychological Associa-
tion (APA) die neuen Prinzipien für eine qualifizier- Basierend auf den neuesten Forschungsergebnissen
te Ausbildung von Studierenden im Grundstudium der Lern- und Gedächtnisforschung, kombiniert die
Psychologie. Entwickelt wurden sie von den Teil- LearningCurve adaptive Fragenauswahl, personali-
nehmern der nationalen APA-Konferenz zum Thema sierte Lernpläne, unmittelbares und nützliches Feed-
Ausbildung im Grundstudium Psychologie, die back und einen hochmodernen Fragen-Analysebe-
von Diane F. Halpern (Claremont McKenna College richt. Der spielerische Aufbau der LearningCurve
und ehemalige Präsidentin der APA) organisiert sorgt dafür, dass die Studierenden bei der Sache blei-
wurde. Die Prinzipien wurden entworfen, um Stu- ben, während sie Schlüsselkonzepte lernen und sich
dierenden dabei zu helfen, angemessene Fähigkeiten auch daran erinnern.
für den Arbeitsplatz, eine solide akademische Vor-
bereitung auf ein weiteres Studium und »Wissen Das LaunchPad bietet eine Reihe von vordefinierten
und Fähigkeiten, die ihr persönliches Leben erwei- Aufgaben, die sorgfältig von Instruktionsdesignern
tern« zu entwickeln (http://www.apa.org/education/ und Dozenten mit viel Lehrerfahrung und Ver-
undergrad/principles.aspx). trautheit mit Worth content entwickelt wurden. Jede
XIII
Vorwort zur 10. amerikanischen Auflage

LaunchPad-Einheit beinhaltet Videos, Aufgaben und Videos und Präsentationen


Zwischenprüfungen, die den Studierenden dabei hel-
fen, das Thema zu verstehen. Den Höhepunkt bilden 4 Neu! Die Einführung in die Psychologie
willkürlich ausgewählte summative Quizfragen, mit Videos von Worth, die zusammen mit Scientific
denen die Studierenden in der jeweiligen Einheit American und Nature produziert wurden,
bewertet werden können. Mit nur wenigen Klicks sind eine durchschlagende Sammlung NEUER
können Sie Einheiten zuweisen und nach Einreichung modularer Anleitungsvideos über die Kern-
Noten in Ihrem Notenbuch abrufen. LaunchPad themen der Psychologie. Die Sammlung bein-
richtet sich nicht nur an Dozenten, die ihrem Kurs haltet Animationen, Interviews mit führenden
gerne eine Onlinekomponente hinzufügen wollen, Wissenschaftlern und sorgfältig ausgewähltes
aber bisher keine Zeit dafür investieren konnten, archivarisches Filmmaterial auf USB-Stick und
sondern auch an erfahrene Onlinedozenten, die gerne DVD oder als Teil der Worth Videosammlung
wissen möchten, wie Kollegen ihre Onlineaktivitäten für die Einführung in die Psychologie.
aufbauen. Passen Sie die Einheiten an Ihre Wünsche 4 Neu! Die Worth Videosammlung zur Ein-
an: Löschen oder fügen Sie Inhalte hinzu, so wie es führung in die Psychologie ist eine vollständige
dem Inhalt Ihres Kurses entspricht. Sammlung aller Videoclips aus dem Video
Tool Kit, dem Digitalen Medien Archiv, der
3. Auflage der Scientific American Frontiers Lehr-
Inhalte für Studierende module und den Videos zur Einführung in
die Psychologie von Worth, die zusammen mit
4 eBook in verschiedenen verfügbaren Formaten Scientific American und Nature produziert
4 Video Tool Kit für die Einführung in die wurden. Erhältlich als DVD oder auf USB-Stick;
Psychologie inklusive Fakultäts-Guide.
4 PsychInvestigator 4 Neu! Die Interaktiven Präsentationsfolien
4 PsychSim 5.0 für die Einführung in die Psychologie sind eine
4 PsychInquiry besondere Sammlung von PowerPoint-Vor-
4 Psych2Go (Audio-Downloads zum Lernen und lesungen. Dies ist ein neuer, dynamischer und
Wiederholen) gleichzeitig leicht zu verwendender Weg, die
4 Begleitwebsite zum Buch Studierenden während Hörsaalvorträgen über
die Kernthemen der Einführung in die Psy-
chologie einzubeziehen. Bietet Möglichkeiten
Unterstützung der Fakultät für Diskussionen und Interaktion. Beinhaltet
eine große Anzahl an eingebetteten Videoclips
4 Neu! Fakultäts-Lounge ist ein Ort im Internet, und Animationen (einschließlich Aktivitäten
an dem Sie Ihre besten Lehrideen und Mate- unserer ActivePsych-Serie).
rialen finden und teilen können. Dazu gehören
z. B. Videos, Animationen, Bilder, PowerPoint-
Präsentationen und Vorlesungen, neue Ge- Assessment
schichten, Artikel, Weblinks und Vorlesungsak-
tivitäten. Die Inhalte stammen teilweise vom 4 Neu! LearningCurve
Verlag, teilweise wurden sie von Ihren Kollegen 4 Gedruckte Test Bank
erstellt, alle jedoch sind auf Fehlerfreiheit und 4 Diploma Computerized Test Bank
Qualität überprüft. 4 Onlinequiz
4 Media Guide für Dozenten der Einführung 4 i.clicker Classroom Response System auf
in die Psychologie Radiofrequenz
4 Verbesserte Course Management Solutions
(inklusive Course Cartridges)
XIV Vorwort zur 10. amerikanischen Auflage

Gedruckt teilnehmen konnten, weil unser Limit von 500 Ant-


worten schon 2 Stunden nach Bereitstellung der Um-
4 Inhalte für Dozenten frage erreicht war) und den weiteren 400, die an einer
4 Vorlesungsguide späteren, etwas kleineren Umfrage teilnahmen. Auch
4 Lernguide die sorgfältige Prüfung aller Kapitel und die aus-
4 Das Streben nach menschlicher Stärke: führliche Beratung für das Gedächtnis-Kapitel
Eine Anleitung zur Positiven Psychologie durch Janie Wilson (Georgia Southern University
4 Begleiter zum Kritischen Denken, 2. Auflage und Vice President for Programming der Society
4 Psychologie und die echte Welt: Essays, die grund- for the Teaching of Psychology) weiß ich sehr zu
legende Beiträge für die Gesellschaft veranschau- schätzen.
lichen. Dieses Projekt der FABBS Foundation
aus dem Jahr © 2011 schuf ein »Who’s Who« der Meine Dankbarkeit erstreckt sich auch auf die vielen
heutigen wissenschaftlichen Psychologen, um – Kolleginnen und Kollegen für ihre kritischen Anre-
in klaren, fesselnden Worten – die Forschung, gungen, Korrekturen und kreativen Ideen zum Inhalt,
die sie leidenschaftlich betreiben und welche der Didaktik und dem Format dieser neuen Auflage
Auswirkungen diese auf die »echte Welt« hat, und dem zugehörigen Lehrpaket. Für ihre Sachkennt-
darzustellen. Jeder Beitrag ist ein Originalessay, nis und ihre ermutigenden Worte sowie für die Zeit,
der extra für dieses Projekt verfasst wurde. die sie bei Lehrveranstaltungen zur Psychologie auf-
wenden, danke ich insbesondere den folgenden Gut-
achtern und Beratern:
Vom Scientific American Lisa Abrams,
Hunter College
4 Verbesserung von Geist & Gehirn: Eine Sonder- William Acker,
ausgabe des Scientific American Chino Hills High School (CA)
4 Der Scientific American Reader zur Begleitung Geri Acquard,
des Myers Walter Johnson High School (MD),
and Howard Community College
Karen Albertini,
Danksagung Penn State University
Jonathan Appel,
Wenn es stimmt, dass »alle, die mit den Weisen gehen, Tiffin University
selbst weise werden«, dann bin ich dank der Weisheit Willow Aureala,
und der Ratschläge meiner Kollegen weiser gewor- Hawaii Community College/University
den. Aufgrund der Unterstützung, die ich in den letz- of Hawaii Center, W. H.
ten beiden Jahrzehnten von Tausenden Beratern und Hallie Baker,
Gutachtern bekommen habe, ist dieses Buch besser Muskingum University
und genauer geworden, als es ein einzelner Autor Meeta Banerjee,
hätte verfassen können (ich zumindest). Meine Lekto- Michigan State University
ren und ich behalten immer Folgendes im Hinter- Joy Berrenberg,
kopf: Wir alle zusammen sind klüger als jeder Einzel- University of Colorado, Denver
ne von uns. Joan Bihun,
University of Colorado, Denver
Ich bin weiterhin jedem der Dozenten zu Dank ver- Megan Bradley,
pflichtet, deren Einfluss ich in den vorigen neun Auf- Frostburg State University
lagen anerkannt habe, und auch den zahlreichen Stephen Brasel,
Forschern, die mir so bereitwillig ihre Zeit und ihre Moody Bible Institute
Fähigkeiten zur Verfügung gestellt haben, um mir da- Sherry Broadwell,
bei zu helfen, dass ich ihre Forschung genau darstelle. Georgia State University
Genauso dankbar bin ich den 500 Dozenten, die sich Jane Brown,
die Zeit genommen haben, auf unsere Umfrage zur Athens Technical College
Informationsbeschaffung zu antworten (Entschuldi- Tamara Brown,
gung an dieser Stelle an diejenigen, die nicht mehr University of Kentucky
XV
Vorwort zur 10. amerikanischen Auflage

Mark Carter, Gary Gillund,


Baker University The College of Wooster
Jenel Cavazos, William Goggin,
University of Oklahoma University of Southern Mississippi
Brian Charboneau, Andrea Goldstein,
Wekiva High School (FL) Keiser University
Stephen Chew, Chris Goode,
Samford University Georgia State University
Katherine Clemans, Peter Graf,
University of Florida University of British Columbia
James Collins, Jeffrey Green,
Middle Georgia College Virginia Commonwealth University
Ingrid Cominsky, Jerry J. Green,
Onondaga Community College Tarrant County College
Corey Cook, Stephen Hampe,
University of Florida Utica College
Grant Corser, Marissa Harrison,
Southern Utah University Penn State, Harrisburg
Janet Dean, William Hart,
Asbury University University of Alabama
Deanna DeGidio, Michael Hendery,
North Virginia Community College Southern New Hampshire University
Beth Dietz-Uhler, Patricia Hinton,
Miami University Hiwassee College
Stephanie Ding, Debra Hollister,
Del Mar College Valencia Community College
William Dragon, Richard Houston-Norton,
Cornell College West Texas A & M University
Kathryn Dumper, Alishia Huntoon,
Bainbridge College Oregon Institute of Technology
David Dunaetz, Matthew Isaak,
Azusa Pacific University University of Louisiana, Lafayette
Julie Earles, Diana Joy,
Florida Atlantic University Community College of Denver
Kristin Flora, Bethany Jurs,
Franklin College University of Wisconsin, Stout
James Foley, Richard Keen,
The College of Wooster Converse College
Nicole Ford, Barbara Kennedy,
Walter Johnson High School (MD) Brevard Community College
Lisa Fozio-Thielk, April Kindrick,
Waubonsee Community College South Puget Sound Community College
Sue Frantz, Kristina Klassen,
Highline Community College North Idaho College
Phyllis Freeman, Mark Kline,
State University of New York, New Paltz Elon University
Julia Fullick, Larry Kollman,
Rollins College North Iowa Area Community College
Christopher Gade, Lee Kooler,
Dominican University of California Yosemite Community College
Becky Ganes, Kristine Kovak-Lesh,
Modesto Junior College Ripon University
XVI Vorwort zur 10. amerikanischen Auflage

Elizabeth Lanthier, Shane Pitts,


Northern Virginia Community College Birmingham-Southern College
Cathy Lawrenz, Chantel Prat,
Johnson County Community College University of Washington
Fred Leavitt, William Price,
California State University, East Bay North Country Community College
Jennifer Levitas, Chris K. Randall,
Strayer University Kennesaw State University
Gary Lewandowski, Jenny Rinehart,
Monmouth University University of New Mexico
Peter Lifton, Vicki Ritts,
Northeastern University St. Louis Community College, Meramec
Mark Loftis, Alan Roberts,
Tennessee Technological University Indiana University
Cecile Marczinski, Karena Rush,
Northern Kentucky University Millersville University
Monica Marsee, Lisa Sanders,
University of New Orleans Austin High School (TX)
Mary-Elizabeth Maynard, Catherine Sanderson,
Leominster High School (MA) Amherst College
Judy McCown, Kristina Schaefer,
University of Detroit Mercy Moorpark College
Todd McKerchar, Cory Scherer,
Jacksonville State University Penn State, Schuylkill
Michelle Merwin, Erin Schoeberl,
The University of Tennessee at Martin Mount Saint Mary College
Amy Miron, Paul Schulman,
Community College of Baltimore County State University of New York Institute of Technology
Charles Miron, Michael Schumacher,
Community College of Baltimore County Columbus State Community College
Paulina Multhaupt, Jane Sheldon,
Macomb Community College University of Michigan, Dearborn
Joel Nadler, Mark Sibiky,
Southern Illinois University, Edwardsville Marietta College
Carmelo Nina, Lisa Sinclair,
William Paterson University University of Winnipeg
Wendy North-Ollendorf, Starlette Sinclair,
Northwestern Connecticut Community College Georgia Institute of Technology
Margaret Norwood, Stephanie Smith,
Community College of Aurora Indiana University Northwest
Lindsay Novak, Michael Spiegler,
College of Saint Mary Providence College
Michie Odle, George Spilich,
State University of New York, Cortland Washington College
Caroline Olko, Lynn Sprout,
Nassau Community College Jefferson Community College
Jennifer Peluso, Kim Stark-Wroblewski,
Florida Atlantic University University of Central Missouri
Marion Perlmutter, Krishna Stilianos,
University of Michigan Oakland Community College
Maura PiLotti, Jaine Strauss,
New Mexico Highlands University Macalester College
XVII
Vorwort zur 10. amerikanischen Auflage

Robert Strausser, Tracey Kuehn, Betty Probert und Trish Morgan und
Baptist College for Health Sciences die Artdirectorin Babs Reingold hinzu; und von der
James Sullivan, Marketing-Abteilung stießen Tom Kling, Carlise
Florida State University Stembridge, John Britch, Lindsay Johnson, Cindi
Richard Tafalla, Weiss, Kari Ewalt, Mike Howard und Matt Ours zu
University of Wisconsin, Stout uns; besondere Gäste waren Amy Himsel (El Camino
Michael Vallante, Community College), Jennifer Peluso (Florida
Quinsigamond Community College Atlantic University), Charlotte vanOyen Witvliet
Amanda Vanderbur, (Hope College), und Jennifer Zwolinski (University
Zionsville Community High School (IN) of San Diego). Der Input und das Brainstorming
Jason Vasquez, während dieses Treffens brachten, unter anderem,
Illinois State University die Lernhilfen dieser Auflage, die sorgfältig über-
Craig Vickio, arbeiteten klinischen Inhalte, die Entscheidung, die
Bowling Green State University Gesamtlänge zu kürzen, und das neue Design hervor.
Rachel Walker,
Charleston Southern University Christine Brune, die Cheflektorin der letzten acht
Lou Ann Wallace, Auflagen, ist ein Wunder an Effektivität. Sie liefert
University of Tennessee, Martin Parsons Center immer genau die richtige Mischung aus Ermutigung
Erica Weisgram, und freundlicher Ermahnung, achtet auf Details und
University of Wisconsin, Stevens Point hat eine Leidenschaft für ausgezeichnete Arbeit. Da
Elizabeth Weiss, bleiben für den Autor keine Wünsche offen.
The Ohio State University of Newark
Ryan Wessle, Die Entwicklungslektorin Nancy Fleming hat die sel-
Northwest Missouri State tene Gabe, die großen Linien eines Kapitels gedank-
Robert Westbrook, lich zu erfassen – zwischen uns scheint eine geistige
Washington State Community College Verwandtschaft zu bestehen – und gleichzeitig den
Penny Williams, Text Zeile für Zeile durchzugehen sowie behutsame,
Jackson Community College vorsichtige Korrekturen anzubringen.
William C. Williams,
Spokane Falls Community College Trish Morgan war in unserem Redaktionsteam so-
Jennifer Yanowitz, wohl für die Planung, als auch für die redaktionelle
Utica College Arbeit im Spätstadium verantwortlich und hat mich
Tammy Zacchili, wieder einmal mit ihren akribischen Augen, ihrem
Saint Leo University bemerkenswerten Wissen und ihrer geschickten Be-
arbeitung beeindruckt.
Bei meinem amerikanischen Verlag, den Worth Pub-
lishers, haben viele Mitarbeiter entscheidend dazu Der Chefredakteur Kevin Feyen ist dank seines
beigetragen, diese 10. (amerikanische) Auflage her- Engagements, seiner Kreativität und seiner Sensibi-
auszubringen. lität ein geschätzter Teamleiter. Die Aufgabe, die Pla-
nung für diese neue Auflage samt ihren Ergänzungen
Zwar nimmt die Suche nach neuen Informationen nie zu entwickeln und zu leiten, lag in den Händen der
ein Ende, doch die formale Planung begann mit einer Verlegerin Catherine Woods. Sie übernahm auch die
zweitägigen Arbeitstagung im Juni 2010, an der ein Rolle eines verlässlichen Resonanzkörpers, wenn wir
Autoren- und ein Verlagsteam teilnahmen. Zu dieser im Verlauf der Arbeit vor der Fülle von Einzelent-
fröhlichen kreativen Runde gehörten John Brink, scheidungen standen. Peter Twickler koordinierte die
Thomas Ludwig, Richard Straub und ich selbst als Erstellung des riesigen ergänzenden Pakets für diese
Autorenteam, ebenso meine Assistentinnen Kathryn Auflage. Betty Probert editierte und produzierte mit
Brownson und Sara Neevel. Von Worth Publishers großer Effizienz die Printelemente des Zusatzpakets;
kamen die Verlegerinnen und Verleger Tom Scotty, sie half unterdessen auch bei der Feinabstimmung des
Elizabeth Widdicombe, Catherine Woods, Craig gesamten Buchs mit. Adam Frese und Nadina Persaud
Bleyer und Mark Resmer, die Lektorinnen und Lek- waren eine unschätzbare Hilfe bei der Vergabe und
toren Christine Brune, Kevin Feyen, Nancy Fleming, Abwicklung einer ganzen Vielfalt von Rezensionsauf-
XVIII Vorwort zur 10. amerikanischen Auflage

trägen und dem Versenden von Mails an Professoren Und wieder muss ich dankbar den Einfluss und die
sowie bei den zahllosen Tätigkeiten, die mit der Ent- redaktionelle Unterstützung meines schriftstelle-
wicklung und Fertigstellung eines Buches verbunden rischen Mentors, des Schriftstellers Jack Ridl, aner-
sind. Das Seitenlayout ist Lee Ann McKevitt großes kennen, dessen Stimme Sie in diesem Buch immer
Verdienst, während Bianca Moscatelli und Donna wieder vernehmen werden. Sein Einfluss beruht dar-
Ranieri gemeinsam daran arbeiteten, die vielen Fotos auf, dass er mehr als irgendein anderer Mensch meine
an der richtigen Stelle unterzubringen. Freude am tänzerisch-spielerischen Umgang mit der
Sprache gefördert und mich gelehrt hat, Schreiben als
Tracey Kuehn als Chefin für den Druck und die digi- ein Handwerk zu betrachten, das in die Kunst hinein-
tale Entwicklung war unermüdlich in ihrem Engage- reicht.
ment, und ihre Leistung als Organisator des künst-
lerischen Produktionsteams von Worth und bei der Nachdem ich von Dutzenden Menschen gehört habe,
Koordination der Lektoratsaufgaben war beeindru- dass die Ergänzungen zu diesem Buch ihre Lehre auf
ckend. Die Leiterin der Herstellungsabteilung Sarah ein neues, höheres Niveau gebracht haben, geht mir
Segal erwies sich als Meisterin bei der schwierigen durch den Sinn, wie viel Glück ich hatte, Teil eines
Aufgabe, den engen zeitlichen Rahmen für das Buch Teams zu sein, bei dem jeder seine Arbeit pünktlich
einzuhalten; und Babs Reingold war an führender ablieferte, und dies geprägt durch die höchsten pro-
Stelle bei der Entwicklung des schönen, neuen De- fessionellen Standards. Für ihre bemerkenswerten
signs und der künstlerischen Anteile tätig. Bei der Fähigkeiten, ihre lange aufopfernde Arbeit und ihre
Produktion der vielen Ergänzungsteile leistete die Freundschaft danke ich John Brink, Thomas Ludwig
Herstellungsleiterin Stacey Alexander zusammen mit und Richard Straub und ich heiße Jennifer Peluso
der Redakteurin für das ergänzende Paket, Jenny (Florida Atlantic University) in unserem Lehrpaket-
Chiu, wie immer hervorragende Arbeit. Team willkommen.

Damit wir unser Ziel erreichen, Hilfestellung beim Ich bin dankbar für Jennys ausgezeichnete Arbeit mit
Lehren der Psychologie zu leisten, muss dieses Paket der sie auf den langjährigen kreativen Leistungen des
nicht nur verfasst, überarbeitet, lektoriert und pro- verstorbenen Martin Bolt aufbaut.
duziert werden, sondern es muss auch den Psycho-
logiedozenten zur Verfügung gestellt werden. Für den Schließlich möchte ich den vielen Studierenden und
außergewöhnlichen Erfolg dabei ist unser Autoren- Dozenten meinen Dank aussprechen, die mir ge-
team der professionellen Vertriebsabteilung von schrieben haben, um Empfehlungen auszusprechen
Worth Publishers zu Dank verpflichtet. Der Executive oder auch nur Worte der Ermutigung anzubieten.
Marketing Managerin Kate Nurre, Marketing Mana- Eben für sie und für die, die gerade ihr Psychologie-
gerin Lindsay Johnson, und dem nationalen Berater Studium beginnen, habe ich mein Bestes gegeben, um
für Psychologie und Wirtschaft, Tom Kling, sind wir sie in das Fach einzuführen, das ich so liebe.
besonders dankbar für ihre unermüdlichen Anstren-
gungen dabei, unsere Kollegen über unsere Bemü- Der Tag an dem dieses Buch in Druck ging, war der
hungen zur Unterstützung ihrer Lehre zu informie- Tag, an dem ich angefangen habe, neue Informa-
ren, und für die Freude, mit ihnen zusammenarbeiten tionen und Ideen für die 11. Auflage zu sammeln. Ihre
zu dürfen. Anmerkungen werden wieder beeinflussen, wie sich
das Buch weiterentwickelt. Teilen Sie mir Ihre Ge-
Zum Arbeitsteam für diese Auflage am Hope College danken deswegen bitte mit.
gehörte Kathryn Brownson, die zahlreiche Informa-
tionen sammelte und Hunderte von Seiten Korrek- David G. Myers
tur las. Kathryn wurde bald zu einer sensiblen und Hope College
kenntnisreichen Beraterin bei vielen Fragen. Und Holland, Michigan 49422-9000
Sara Neevel hat sich zu unserer High-Tech-Manu- davidmyers.org
skript-Entwicklerin par excellence gemausert.
XIX

Vorwort zur 3. deutschen Auflage

Wir freuen uns, dass sich »der Myers« auch in der MitarbeiterInnen unverzichtbar in allen Phasen der
deutschen Ausgabe nun schon seit vielen Jahren so Entstehung dieses Buches (ein paar von ihnen sind
großer Beliebtheit erfreut – Sie sich, dass nun eine deshalb sogar auf dem Cover abgebildet). Julia Alt
3., vollständig überarbeitete Neuauflage vorliegt. und Klaus Rüschhoff haben unzählige Fotos recher-
Damit diese weiterhin auf große Resonanz stößt und chiert, die dieses Buch nun so anschaulich machen.
allen deutschsprachigen Psychologie-Interessierten Michael Barton hat die Produktion des Buches
und -Lernenden eine unterhaltsame wie lehrreiche kompetent, unkompliziert und fröhlich gesteuert.
Lektüre bietet, haben wir diesmal bei der Übersetzung Das Team der Fotosatz-Service Köhler GmbH hat
und Bearbeitung eng mit denjenigen zusammen- schließlich dafür gesorgt, dass der Myers in dieser
gearbeitet, die die eigentlichen Experten für gut ver- Auflage erstmals auch als E-Book auf allen Ausgabe-
ständliche Psychologie-Lehrbücher sind: Studierende geräten gelesen werden kann und im gedruckten Buch
der Psychologie! Ein Team aus 21 ambitionierten wieder ein ansprechendes Layout bekommen hat.
Studierenden (sowie einer Professorin -) hat uns
unterstützt, indem es die zahlreichen Neuerungen in Wir danken allen Beteiligten herzlich für die hervor-
der 10. amerikanischen Auflage aufgespürt und an- ragende Unterstützung, die unendliche Geduld und
schließend übersetzt hat – ehe das Buch in seiner den nie versiegenden Willen, aus diesem Buch etwas
Gänze lektoriert wurde. Im Folgenden die Namen Besonderes zu machen.
der Mitwirkenden (in Klammern jeweils das Kapitel,
das bearbeitet und in dem neue Abschnitte übersetzt Im Rahmen der mehrstufigen deutschen Bearbeitung
wurden): haben wir gemeinsam darauf geachtet, das Lehrbuch
Laura Dörrenbächer (Kap. 11) weiter an den Erfahrungsraum und das Hinter-
Katharina Eilers (Kap. 3) grundwissen der deutschen Leser anzupassen. Des-
Stephanie Eilers (Kap. 4) halb wurden einige Beispiele aus dem amerikanischen
Theresa Fehn (Kap. 15) Alltagsleben auf deutsche Verhältnisse übertragen.
Tatjana Gackstatter (Kap. 17) Beispielsweise wurden illustrierende Anekdoten zu
Katharina Haß (Kap. 14) amerikanischen Stars wie Stephen Colbert durch ent-
Markus Hefner (Kap. 9) sprechende Beispiele deutscher Prominenter ersetzt.
Jasmin Kathariya (Kap. 16) Aber auch bei der Darstellung von Themenbereichen,
Luise Keßler (Kap. 7) die in beiden Ländern sehr unterschiedlich behandelt
Lisa Laeber (Kap. 10) werden oder denen unterschiedliche nationale Ge-
Nadja Ott (Kap. 5) setzgebungen zugrunde liegen, wurde die Darstellung
Sophia Pfister (Vorwort) um die deutsche Sichtweise erweitert. So wurde bei-
Simone Pflüger (Kap. 2) spielsweise bei der Diagnostik psychischer Störungen
Markus Russin (Kap. 6) die in Deutschland verwendete ICD-Klassifikation
Sandy Sattler (Kap. 8) ergänzt, die David Myers als amerikanischer Autor
Nadine Schabinger (Kap. 13) nicht erwähnt. Statistische Informationen zu Bevöl-
Prof. Dr. Margrit Schreier (Kap. 10) kerungsmerkmalen wurden, wenn möglich, durch
Melanie Schulze (Kap. 1) entsprechende deutsche oder europäische Zahlen
Kira Sturm (Kap. 12) ergänzt. In den amerikanischen Einführungslehr-
Tatjana Surdin (Anhang A1) büchern zur Psychologie wird meist die Klinische
Lena Wilms (Anhang A2) Psychologie als Anwendungsfach in den Vordergrund
gestellt. Um der Bedeutung weiterer großer Anwen-
Auch eine ganze Reihe anderer Personen muss an dungsfächer gerecht zu werden, wurden in die deut-
dieser Stelle genannt werden. Dr. Christiane Grosser sche Ausgabe zwei zusätzliche Kapitel aufgenommen:
und Dr. Stephanie Uhlhorn haben den gesamten Text 7 Kap. 18 »Pädagogische Psychologie« wurde von
sorgfältig und umsichtig lektoriert. Heiko Sawczuk, Siegfried Hoppe-Graff verfasst, 7 Kap. 19 »Arbeits-
Can Akin, Johanna Emich, Denisa Ghinea, Jana und Organisationspsychologie« von Barbara Keller.
Krämer und Anna Bernhardt waren als studentische
XX Vorwort zur 3. deutschen Auflage

Da es sich bei der von David Myers zitierten Literatur liche Personen ein. Die Nennung von Studentinnen
weitgehend um englischsprachige Texte handelt, und Studenten, Probandinnen und Probanden etc.
finden Sie am Ende jedes Kapitels deutschsprachige entspricht zwar gerade in der Psychologie sicherlich
Literaturhinweise. Dabei handelt es sich meist um besser den realen Verhältnissen, hätte dem Textfluss
Lehrbücher, die einen umfassenden Überblick über jedoch geschadet.
das im jeweiligen Kapitel behandelte Thema geben
und Ihnen damit einen tieferen Einstieg in die The- Ob Sie die Psychologie gerade kennenlernen oder sich
matik ermöglichen sollen. schon ein wenig auskennen – wir wünschen Ihnen bei
Ihrer Reise durch das spannende Gebiet der Psycho-
Noch ein Hinweis: Wegen der besseren Lesbarkeit logie viel Vergnügen und Erfolg!
wird im Text bei Personenbezeichnungen über-
wiegend nur die (eher gewohnte) männliche Form Judith Danziger
verwendet, sie schließt selbstverständlich auch weib- Joachim Coch
XXI

Wie lerne ich mit dem Myers?

Die Psychologie lehrt uns, die richtigen Fragen zu Definitionen Durch das ganze Buch hindurch finden
stellen und kritisch zu denken, wenn wir einander Sie die Definitionen wichtiger Konzepte, der jeweilige
widersprechende Vorstellungen oder populärwissen- Begriff ist dabei immer blau hervorgehoben. Zusätz-
schaftliche Behauptungen überprüfen. Die Psycho- lich zum deutschen Fachbegriff ist auch jeweils die
logie vertieft unser Verständnis dafür, wie wir als englische Übersetzung aufgeführt.
Menschen wahrnehmen, denken, fühlen und han-
deln. Und die Psychologie vermittelt uns effiziente Glossar Am Ende des Buches sind alle Definitionen
Lernmethoden! – Und so ist David Myers deshalb noch einmal in einem Glossar zusammengefasst.
ein guter Psychologie-Lehrer, weil er uns als Autor Dort haben wir ebenfalls die Übersetzungen der
dies alles nicht nur inhaltlich vermittelt, sondern das Fachbegriffe aufgenommen, so dass Sie ein kleines
Ganze auch so aufbereitet und gestaltet, dass es den deutsch-englisches Psychologie-Lexikon zum schnel-
psychologischen Wahrnehmungs- und Lerngesetzen len Nachschlagen zur Verfügung haben.
gerecht wird. – Und weil er uns darüber hinaus ein
paar ganz allgemeine Tipps zur Organisation unseres Zitate, Übungen, Zusatzinfos Dem Text können
Lernalltags, für ein gutes Zeitmanagement (das ge- Sie neben den Definitionen noch zahlreiche andere
rade in verschulten Bachelor-Studiengängen immer Informationen entnehmen, u. a. Beispiele, provokante
wichtiger wird) sowie für den optimalen Umgang Fragen, besondere Hinweise und Zitate.
mit Texten und zu effektiven Arbeitstechniken gibt.
Diese Hinweise finden Sie im 7 Anhang A2: Zeit- Kritisch nachgefragt Diese Kästen bieten Ihnen ein
management und im 7 Abschn. 1.3: Mit Psychologie Modell für eine kritische Herangehensweise an einige
lernen – Verbessern Sie Ihre Merkfähigkeit und Ihre wichtige Themen der Psychologie. Es handelt sich
Noten! . häufig um kontrovers diskutierte Themen.

An dieser Stelle beschreiben wir nun ganz konkret, Unter der Lupe In diesen Kästen werden Ihnen aus-
wie Sie mit diesem Lehrbuch lernen können und gewählte Konzepte der Psychologie näher vorgestellt.
welche didaktischen Besonderheiten und Online-Er-
gänzungsmaterialien es für Sie bereithält. Prüfen Sie Ihr Wissen Diese Fragen/Aufgaben sind
ein kleiner Zwischentest, ob Sie die zuvor gelesenen
Abschnitte aufmerksam gelesen haben. Die Ant-
Lernen mit System: Die didaktischen worten zu diesen Fragen/Aufgaben finden Sie auf
Elemente dieses Buches http://www.lehrbuch-psychologie.de.

Die im Folgenden aufgeführten didaktischen Elemen- Schlüsselbegriffe Am Kapitelende finden Sie noch-
te sollen Ihnen das Arbeiten mit dem Lehrbuch er- mal alle Kernbegriffe des Kapitels – als persönliche
leichtern und dazu führen, dass das Lernen Spaß Lern-Checkliste: Können Sie alle gelisteten Begriffe
macht (s. auch 7 Ihr Wegweiser zu diesem Lehrbuch auf kurz erklären? Dann haben Sie das Kapitelthema
den nächsten Seiten). schon gut durchdrungen!

Verständnisfragen Im gesamten Text werden Sie Ver- Deutsche Literatur zum Thema Das Thema eines
ständnisfragen finden. Diese sollen Ihnen helfen, sich Kapitels fasziniert Sie und Sie wollen mehr darüber
beim Lesen auf das Wesentliche zu konzentrieren, wissen? Dann werden Sie vielleicht in diesen weiter-
und nach dem Lesen zu prüfen, ob Sie das Gelesene führenden Werken fündig!
verstanden haben. Sie finden sie vor größeren Ab-
schnitten, am Ende eines Kapitels zusammengefasst Zeitleiste Eine Zeitleiste mit den zentralen Themen
und in 7 Anhang A3 sowie auf http://www.lehrbuch- der Psychologie und ihrer Geschichte findet sich auf
psychologie.de mit den dazugehörigen Antworten. den Innenseiten des Einbandes.
1
Myers: Psychologie, 3. Auflage
2 Ihr Wegweiser zu diesem Lehrbuch

4 Prüfen Sie Ihr Wissen:


Kleine Zwischentests,
ob Sie das Gelesene
5 verstanden haben –
Antworten auf
http://www.lehrbuch-
psychologie.de
6

7
Verständnisfragen:

8 Auf das Wesentliche


konzentrieren, Lern-
erfolg kontrollieren –
Antworten in
7 Anhang A3
9

10 Definitionen: Wichtige
Konzepte kurz definiert
und auf Englisch
übersetzt – im Glossar
11 zum Nachschlagen

12 Zitate, Übungen,
Zusatzinfos: Lockern
den Text auf und regen
13 zum Weiterdenken an

14
Griffregister: Zur
15 schnellen Orientierung

16

17

18

19
916 Abbildungen und 48 Tabellen:
Veranschaulichen das Gelesene
Navigation: Mit Seitenzahl und
Kapitelnummer

Unter der Lupe: Infos


über ausgewählte Kon-
zepte für die, die es ge-
nau wissen wollen

Kritisch nachgefragt:
Kontrovers diskutierte
Themen der Psycholo-
gie kritisch dargestellt

Weiterführende
deutsche Literatur:
Für alle, die mehr
über das Kapitelthema
erfahren wollen

Kapitelrückblick: Alle Verständnisfragen Website zum Buch auf


und Schlüsselbegriffe des Kapitels http://www.lehrbuch-psychologie.de
zum Selbsttesten nach der Lektüre
XXIV Wie lerne ich mit dem Myers?

Lernen im Netz: Weblinks Haben Sie Geschmack an den Inhalten der


Weiterführende Materialien Psychologie gefunden? Ob Sie mehr zu Psychologie
als Wissenschaft und Beruf, zu Emotionen, Persön-
Im Internet stellen wir Ihnen auf einer interaktiven lichkeit oder Arbeits- und Organisationspsychologie
Lernwebsite Zusatzmaterialien zur Verfügung. Suchen wissen wollen – wir haben für Sie eine ganze Reihe
Sie einfach die Seite http://www.lehrbuch-psycholo- von Links zusammengestellt und kommentiert. Star-
gie.de auf und nutzen Sie die folgenden Tools: ten Sie bei uns Ihre Suche im Netz.

Zusammenfassungen Verschaffen Sie sich einen Wenn Sie etwas über Psychologie lesen, werden Sie
schnellen Überblick über die Kapitelinhalte. Kurze viel mehr lernen, als nur effektiv für eine Klausur zu
Zusammenfassungen stellen die wesentlichen The- pauken. Die Psychologie zeigt uns, wie wir zu wichti-
men der einzelnen Kapitel verständlich dar. Wieder- gen Fragen kommen können – wie wir kritisch nach-
holen Sie so die Inhalte jeder Lerneinheit. fragen können, während wir konkurrierende Ge-
danken und populäre Behauptungen gegeneinander
Prüfen Sie Ihr Wissen Hier sehen Sie die Antworten abwägen. Wir werden die Art und Weise zu schätzen
auf die kleinen Tests im Text. Lagen Sie richtig mit lernen, wie wir als Menschen wahrnehmen, denken,
Ihrer Beantwortung? fühlen und handeln. Dabei erweitert sich unser Ver-
ständnis für das Leben und verbessert sich unser Ein-
Verständnisfragen Hier finden Sie Musterantworten fühlungsvermögen. Mit Hilfe dieses Buchs hoffen wir,
für die Prüfungsfragen am Ende eines jeden Kapitels. unseren Beitrag zu leisten, dass Sie auf dieses Ziel
Die Antworten können Sie durch einen Klick an- zusteuern. Der Hochschullehrer Charles Eliot sagte
zeigen oder verbergen – so können Sie damit noch vor einem Jahrhundert: »Bücher sind die ruhigsten
einmal das ganze Wissen eines Kapitels überprüfen. und beständigsten Freunde, die zugänglichsten und
weisesten Ratgeber und die geduldigsten Lehrer.« Wir
Memocards Karteikarten sind mühsam zu erstellen, würden uns freuen, wenn dies auch für dieses Lehr-
aber extrem hilfreich beim Lernen und zur Wissens- buch gilt und der Myers Ihnen ein wertvoller Begleiter
prüfung. Auf unseren elektronischen Memocards auf Ihrer Reise durch die Psychologie wird.
finden Sie das komplette Glossar des Buchs, auf der
einen Seite die Fachbegriffe, auf der anderen deren Wir wünschen Ihnen dabei viel Spaß und Erfolg.
Definition. Lernen Sie und testen Sie auch gleich
selbst, ob Sie die Begriffe parat haben.

Deutsch-englische Memocards Auch Vokabelpauken


ist möglich. Es wird auch im Psychologie-Studium
immer wichtiger, englische Texte lesen zu können –
prüfen Sie mit diesen Memocards, ob Sie die Fachbe-
griffe auch auf Englisch beherrschen.

Quizfragen Und noch ein Instrument, das Ihnen


hilft, Ihr Wissen zu überprüfen. In Zeiten von »Wer
wird Millionär« und anderen Fernsehquizsendungen
wird Ihnen dieses sehr bekannt vorkommen. Zu je-
dem Kapitel liegen Multiple-Choice-Quizfragen vor.
Testen Sie sich selbst: Wenn Sie den Myers aufmerk-
sam gelesen haben, sollten Sie die Quizfragen auf je-
den Fall beantworten können. Und anhand der vielen
Beispiele lernen Sie ganz nebenbei noch die Anwen-
dung der Konzepte.
Lernmaterialien zum Lehrbuch
»Psychologie«
im Internet – www.lehrbuch-psychologie.de
Alles für die Lehre – fertig zum Download:
Foliensätze, Abbildungen und Tabellen für Dozentinnen und Dozenten zum Download

Schnelles Nachschlagen: Glossar mit über 600 Fachbegriffen

Zusammenfassungen der 19 Buchkapitel: Das steckt drin im Lehrbuch

Memocards, Multiple-Choice-Fragen, Verständnisfragen und »Prüfen Sie Ihr Wissen«:


Zum Lernen und Selbsttesten

Kommentierte Weblinks

Einfach lesen, hören, lernen im Web – ganz ohne Registrierung!


Fragen? redaktion@lehrbuch-psychologie.de

Weitere Websites unter www.lehrbuch-psychologie.de

x MP3-Hörbeiträge aller Kapitel x Vollständige Kapitel im MP3-Format


x Kapitelzusammenfassungen zum kostenlosen Download
x Memocards, Verständnisfragen x Memocards: Prüfen Sie Ihr Wissen
und Antworten x Glossar mit über 100 Fachbegriffen
x Glossar der wichtigsten Fachbegriffe x Kontrollfragen und Antworten
x Dozentenmaterialien: Vorlesungs- x Foliensätze sowie Tabellen
folien und Abbildungen und Abbildungen für Dozentinnen
und Dozenten zum Download

x Memocards: Überprüfen Sie Ihr Wissen x Zusammenfassungen der Kapitel


x Kapitelzusammenfassungen x Glossar: Im Web nachschlagen
x Multiple-Choice-Fragen x Memocards: Fachbegriffe pauken
x Glossar der wichtigsten Fachbegriffe x Fragen & Antworten zur Prüfungs-
x Kommentierte Linksammlung vorbereitung
x Dozentenmaterialien: Prüfungsfragen,
Abbildungen und Tabellen

x Alle Kapitel als Hörbeiträge x Kapitelzusammenfassungen


x Videos – anschaulicher geht’s nicht x Memocards: Fachbegriffe pauken
x Glossar und Memocards: Fachbegriffe x Kommentierte Linksammlung
pauken x Verständnisfragen und -antworten
x Multiple Choice-Quiz zur Prüfungs- x Dozentenmaterialien: Vorlesungs-
vorbereitung folien, Abbildungen und Tabellen
x Dozentenmaterialien: Vorlesungs-
folien, Abbildungen und Tabellen
Über den Autor

David Myers promovierte im Fach Psychologie an der University of Iowa. Seine berufliche
Laufbahn führte ihn an das Hope College, Michigan, wo er zahllose Lehrveranstaltungen zur
Einführung in die Psychologie gehalten hat. Die Studierenden des Hope College baten ihn,
Hauptvortragender auf der Einführungsfeier für die Studienanfänger zu sein, und verliehen ihm
die Auszeichnung »hervorragender Hochschullehrer«.
Seine Forschung und seine Publikationen wurden mit dem »Gordon Allport Relations«-Preis
und 2010 mit der Auszeichnung »Honored Scientist« von der »Federation of Associations in
Behavioral & Brain Sciences« gewürdigt. Außerdem erhielt er 2010 eine Auszeichnung für seine
Leistungen im Dienste der Persönlichkeits- und Sozialpsychologie und ihm wurden drei
Ehrendoktorwürden verliehen. Myers wissenschaftliche Beiträge konnten, mit Unterstützung
der amerikanischen National Science Foundation, in über drei Dutzend wissenschaftlichen
Fachzeitschriften erscheinen, darunter Science, American Scientist, Psychological Science und
American Psychologist. Neben seinen wissenschaftlichen Veröffentlichungen und seinen Lehr-
büchern zur Einführung in die Psychologie und zur Sozialpsychologie bereitet er auch wissen-
schaftliche Erkenntnisse der Psychologie für die Allgemeinheit auf. Seine Artikel sind in vier
Dutzend Zeitschriften erschienen, von Today’s Education bis Scientific American. Er ist auch Ver-
fasser von fünf Büchern für einen allgemeinen Leserkreis. So schrieb er beispielsweise
The Pursuit of Happiness und Intuition: Its Powers and Perils. David Myers übernahm den Vorsitz
in der Human Relations Commission in seiner Heimatstadt, half bei der Gründung eines erfolg-
reichen Zentrums für verarmte Familien und hielt Vorträge an Hunderten von Hochschulen
und Gemeindezentren. Aufgrund seiner eigenen Erfahrungen schrieb er mehrere Artikel und ein
Buch (A Quiet World) über Gehörverlust und fördert die Umsetzung der »American assistive
listening technology« (www.hearingloop.org). Für seine Arbeit erhielt er 2011 die Auszeichnung
»American Academy of Audiology Presidential Award«.
Er fährt das ganze Jahr über mit dem Fahrrad zur Arbeit und ist ein begeisterter Basketball-
spieler. David und Carol Myers haben zwei Söhne und eine Tochter.
XXVII

Inhaltsverzeichnis

1 Prolog: Die Geschichte der Psychologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1


David G. Myers
1.1 Was ist Psychologie? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3
1.1.1 Die Wurzeln der Psychologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3
1.1.2 Entwicklung der wissenschaftlichen Psychologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5
1.2 Moderne Psychologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7
1.2.1 Große Themen der Psychologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7
1.2.2 Drei zentrale Analyseebenen der Psychologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 8
1.2.3 Arbeitsfelder der Psychologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9
1.3 Mit Psychologie lernen – Verbessern Sie Ihre Merkfähigkeit und Ihre Noten! . . . . . . . . . . . . . . . . . 14
1.4 Kapitelrückblick . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 15
1.4.1 Verständnisfragen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 15
1.4.2 Schlüsselbegriffe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 15
1.4.3 Weiterführende deutsche Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 16

2 Kritisch denken mit wissenschaftlicher Psychologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 17


David G. Myers
2.1 Die Notwendigkeit der Psychologie als Wissenschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 18
2.1.1 Wussten wir das schon lange? Verzerrung durch nachträgliche Einsicht (Hindsightbias) . . . . . . . . . . . . . 19
2.1.2 Übertriebene Selbstsicherheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 20
2.1.3 Wahrnehmung von Ordnung bei zufälligen Ereignissen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 21
2.1.4 Die wissenschaftliche Haltung: Neugierig, skeptisch und bescheiden . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 22
2.1.5 Kritisches Denken . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 24
2.2 Wie stellen und beantworten Psychologen Fragen? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 25
2.2.1 Die wissenschaftliche Methode . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 25
2.2.2 Beschreibung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 26
2.2.3 Korrelation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 30
2.2.4 Experiment . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 33
2.3 Statistische Argumentation im Alltagsleben . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 36
2.3.1 Datenbeschreibung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 36
2.3.2 Signifikante Unterschiede . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 39
2.4 Häufig gestellte Fragen zur Psychologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 41
2.5 Kapitelrückblick . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 46
2.5.1 Verständnisfragen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 46
2.5.2 Schlüsselbegriffe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 46
2.5.3 Weiterführende deutsche Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 47

3 Neurowissenschaft und Verhalten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 49


David G. Myers
3.1 Biologie, Verhalten und Verstand . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 50
3.2 Neuronale Kommunikation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 52
3.2.1 Neurone . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 52
3.2.2 Wie Nervenzellen kommunizieren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 54
3.2.3 Wie uns Neurotransmitter beeinflussen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 55
3.3 Nervensystem . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 58
3.3.1 Peripheres Nervensystem . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 59
3.3.2 Zentrales Nervensystem . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 61
XXVIII Inhaltsverzeichnis

3.4 Endokrines System . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 62


3.5 Gehirn . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 64
3.5.1 Forschungswerkzeuge . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 64
3.5.2 Ältere Hirnstrukturen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 67
3.5.3 Zerebraler Kortex . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 72
3.5.4 Zur Zweiteilung des Gehirns . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 82
3.5.5 Unterschiede zwischen der linken und der rechten Hemisphäre im intakten Gehirn . . . . . . . . . . . . . . . . 85
3.6 Kapitelrückblick . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 87
3.6.1 Verständnisfragen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 87
3.6.2 Schlüsselbegriffe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 88
3.6.3 Weiterführende deutsche Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 88

4 Bewusstsein und der zweigleisige Verstand . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 89


David G. Myers
4.1 Gehirnzustände und Bewusstsein . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 90
4.1.1 Definition von Bewusstsein . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 90
4.1.2 Die Biologie des Bewusstseins . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 91
4.1.3 Selektive Aufmerksamkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 94
4.2 Schlaf und Träume . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 97
4.2.1 Biologischer Rhythmus und Schlaf . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 97
4.2.2 Schlaftheorien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 103
4.2.3 Schlafentzug und Schlafstörungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 105
4.2.4 Träume . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 111
4.3 Hypnose . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 115
4.3.1 Häufig gestellte Fragen zu Hypnose . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 116
4.3.2 Der Zustand der Hypnose . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 117
4.4 Drogen und Bewusstsein . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 119
4.4.1 Toleranz, Abhängigkeit und Sucht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 119
4.4.2 Arten psychoaktiver Substanzen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 121
4.4.3 Einflussfaktoren auf den Drogenkonsum . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 130
4.5 Kapitelrückblick . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 133
4.5.1 Verständnisfragen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 133
4.5.2 Schlüsselbegriffe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 134
4.5.3 Weiterführende deutsche Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 134

5 Anlage, Umwelt und die Vielfalt der Menschen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 135


David G. Myers
5.1 Verhaltensgenetik: Die Vorhersage individueller Unterschiede . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 136
5.1.1 Gene: Unsere Codes für das Leben . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 136
5.1.2 Zwillings- und Adoptionsstudien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 138
5.1.3 Temperament und Vererbung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 142
5.1.4 Molekulargenetik: Eine neue Herausforderung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 143
5.1.5 Erblichkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 144
5.1.6 Anlage-Umwelt-Interaktion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 145
5.2 Evolutionspsychologie: Wie man die Natur des Menschen versteht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 147
5.2.1 Natürliche Selektion und Anpassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 147
5.2.2 Evolutionärer Erfolg hilft, Ähnlichkeiten zu erklären . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 148
5.2.3 Evolutionstheoretische Erklärung der menschlichen Sexualität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 150
5.3 Wie beeinflussen Erfahrungen die Entwicklung? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 152
5.3.1 Frühe Erfahrungen und Gehirnentwicklung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 153
5.3.2 Wie viel Lob (oder Tadel) haben die Eltern verdient? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 155
5.3.3 Einfluss der Gleichaltrigen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 157
XXIX
Inhaltsverzeichnis

5.4 Kulturelle Einflüsse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 158


5.4.1 Unterschiede zwischen Kulturen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 158
5.4.2 Veränderungen im Laufe der Zeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 159
5.4.3 Kultur und Selbst . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 160
5.4.4 Kultur und Kindererziehung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 162
5.4.5 Gruppenübergreifende Ähnlichkeiten in der Entwicklung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 163
5.5 Entwicklung des sozialen Geschlechts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 164
5.5.1 Geschlechtsbezogene Ähnlichkeiten und Unterschiede . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 165
5.5.2 Biologische Grundlagen des Geschlechts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 168
5.5.3 Soziale Einflüsse auf das Geschlecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 170
5.6 Überlegungen zu Anlage und Umwelt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 172
5.7 Kapitelrückblick . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 175
5.7.1 Verständnisfragen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 175
5.7.2 Schlüsselbegriffe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 176
5.7.3 Weiterführende deutsche Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 176

6 Entwicklung über die Lebensspanne . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 177


David G. Myers
6.1 Hauptfragen der Entwicklungspsychologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 178
6.2 Pränatale Entwicklung und erste Lebenswochen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 179
6.2.1 Empfängnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 179
6.2.2 Pränatale Entwicklung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 179
6.2.3 Fähigkeiten des Neugeborenen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 181
6.3 Kleinkindzeit und Kindheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 183
6.3.1 Körperliche Entwicklung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 183
6.3.2 Kognitive Entwicklung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 186
6.3.3 Soziale Entwicklung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 195
6.4 Adoleszenz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 205
6.4.1 Körperliche Entwicklung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 205
6.4.2 Kognitive Entwicklung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 208
6.4.3 Soziale Entwicklung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 211
6.4.4 Übergang ins Erwachsenenalter . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 215
6.4.5 Überlegungen zur kontinuierlichen und stufenweisen Entwicklung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 216
6.5 Erwachsenenalter . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 217
6.5.1 Körperliche Entwicklung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 217
6.5.2 Kognitive Entwicklung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 222
6.5.3 Soziale Entwicklung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 224
6.5.4 Gedanken zu Stabilität und Veränderung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 229
6.6 Kapitelrückblick . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 231
6.6.1 Verständnisfragen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 231
6.6.2 Schlüsselbegriffe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 232
6.6.3 Weiterführende Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 232

7 Wahrnehmung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 233
7.1 Grundprinzipien sensorischer Wahrnehmung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 234
7.1.1 Transduktion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 235
7.1.2 Schwellen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 236
7.1.3 Sensorische Adaptation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 238
7.1.4 Wahrnehmungsset . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 241
7.1.5 Kontexteffekte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 243
7.1.6 Emotion und Motivation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 244
7.2 Sehen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 245
XXX Inhaltsverzeichnis

7.2.1 Reizinput Lichtenergie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 245


7.2.2 Das Auge . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 246
7.2.3 Visuelle Informationsverarbeitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 249
7.2.4 Farbensehen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 253
7.2.5 Visuelle Organisation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 254
7.2.6 Visuelle Interpretation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 264
7.3 Hören . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 266
7.3.1 Reizinput Schallwellen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 266
7.3.2 Das Ohr . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 266
7.4 Andere wichtige Sinne . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 271
7.4.1 Tastsinn . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 271
7.4.2 Schmerz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 272
7.4.3 Geschmackssinn . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 276
7.4.4 Geruchssinn . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 279
7.4.5 Lage und Bewegung des Körpers im Raum . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 281
7.5 Exkurs: Außersinnliche Wahrnehmung – Wahrnehmung ohne Empfindung? . . . . . . . . . . . . . . . . . 283
7.6 Kapitelrückblick . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 287
7.6.1 Verständnisfragen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 287
7.6.2 Schlüsselbegriffe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 287
7.6.3 Weiterführende deutsche Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 288

8 Lernen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 289
David G. Myers
8.1 Wie lernen wir? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 290
8.2 Klassische Konditionierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 292
8.2.1 Pawlows Experimente . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 292
8.2.2 Pawlows Erbe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 298
8.3 Operante Konditionierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 300
8.3.1 Skinners Experimente . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 300
8.3.2 Skinners Erbe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 307
8.3.3 Gegenüberstellung von klassischer und operanter Konditionierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 310
8.4 Biologische Veranlagungen, Kognition und Lernen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 311
8.4.1 Biologische Veranlagungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 311
8.4.2 Der Einfluss von Kognitionen auf die Konditionierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 315
8.5 Beobachtungslernen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 318
8.5.1 Spiegelneurone und Beobachtungslernen im Gehirn . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 319
8.5.2 Anwendungsbereiche des Beobachtungslernens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 321
8.6 Kapitelrückblick . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 325
8.6.1 Verständnisfragen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 325
8.6.2 Schlüsselbegriffe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 326
8.6.3 Weiterführende deutsche Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 326

9 Gedächtnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 327
David G. Myers, Janie Wilson
9.1 Die Erforschung des Gedächtnisses . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 328
9.1.1 Gedächtnismodelle . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 329
9.2 Enkodieren: Erinnerungen herstellen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 332
9.2.1 Enkodierung und automatische Verarbeitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 332
9.2.2 Enkodierung und bewusste Verarbeitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 332
9.3 Speichern: Erinnerungen ablegen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 338
9.3.1 Das Behalten von Informationen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 338
9.3.2 Amygdala, Emotionen und Gedächtnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 340
XXXI
Inhaltsverzeichnis

9.3.3 Synaptische Veränderungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 341


9.4 Abrufen: Informationen wieder hervorholen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 344
9.4.1 Messung der Behaltensleistung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 344
9.4.2 Abrufhinweise . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 345
9.5 Vergessen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 348
9.5.1 Vergessen und der zweigleisige Verstand . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 349
9.5.2 Scheitern der Enkodierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 351
9.5.3 Speicherzerfall . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 352
9.5.4 Scheitern des Abrufs . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 352
9.6 Fehler beim Gedächtnisaufbau . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 356
9.6.1 Fehlinformationen und Imaginationseffekte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 356
9.6.2 Quellenamnesie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 358
9.6.3 Unterscheiden von echten und falschen Erinnerungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 359
9.6.4 Das Augenzeugengedächtnis von Kindern . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 360
9.6.5 Verdrängte oder konstruierte Erinnerungen an Missbrauch . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 361
9.7 Gedächtnistraining . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 363
9.8 Kapitelrückblick . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 364
9.8.1 Verständnisfragen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 364
9.8.2 Schlüsselbegriffe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 364
9.8.3 Weiterführende deutsche Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 365

10 Denken und Sprache . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 367


David G. Myers
10.1 Denken . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 368
10.1.1 Begriffe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 368
10.1.2 Problemlösen: Strategien und Hindernisse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 369
10.1.3 Entscheidungsfindung und Urteilsbildung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 371
10.1.4 Teilen andere Spezies unsere kognitiven Fähigkeiten? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 379
10.2 Sprache . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 381
10.2.1 Struktur und Aufbau von Sprache . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 382
10.2.2 Sprachentwicklung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 382
10.2.3 Gehirn und Sprache . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 388
10.2.4 Verfügen andere Arten über Sprache? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 390
10.3 Denken und Sprache . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 393
10.3.1 Einfluss der Sprache auf das Denken . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 393
10.3.2 Denken in Bildern . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 395
10.4 Kapitelrückblick . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 396
10.4.1 Verständnisfragen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 396
10.4.2 Schlüsselbegriffe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 396
10.4.3 Weiterführende deutsche Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 397

11 Intelligenz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 399
David G. Myers
11.1 Was ist Intelligenz? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 400
11.1.1 Intelligenz als eine umfassende oder als verschiedene spezifische Fähigkeiten? . . . . . . . . . . . . . . . . . . 401
11.1.2 Intelligenz und Kreativität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 405
11.1.3 Emotionale Intelligenz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 407
11.1.4 Ist Intelligenz neurologisch messbar? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 408
11.2 Intelligenzmessung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 409
11.2.1 Ursprünge der Intelligenzmessung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 409
11.2.2 Moderne Tests der geistigen Fähigkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 412
11.2.3 Prinzipien des Testaufbaus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 414
XXXII Inhaltsverzeichnis

11.3 Die Dynamik der Intelligenz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 417


11.3.1 Stabilität oder Veränderung? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 417
11.3.2 Intelligenzextreme . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 421
11.4 Genetische und umweltbedingte Einflüsse auf die Intelligenz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 424
11.4.1 Zwillings- und Adoptionsstudien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 424
11.4.2 Umweltbedingte Einflüsse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 426
11.4.3 Gruppenunterschiede bei Intelligenztests . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 428
11.4.4 Probleme der Verzerrung in Intelligenztests . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 433
11.5 Kapitelrückblick . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 435
11.5.1 Verständnisfragen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 435
11.5.2 Schlüsselbegriffe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 435
11.5.3 Weiterführende deutsche Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 436

12 Motivation und Arbeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 437


David G. Myers
12.1 Motivationskonzepte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 438
12.1.1 Instinkte und Evolutionspsychologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 439
12.1.2 Triebe und Anreize . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 439
12.1.3 Optimale Erregung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 440
12.1.4 Bedürfnishierarchie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 441
12.2 Hunger . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 442
12.2.1 Physiologie des Hungers . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 443
12.2.2 Psychologie des Hungers . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 445
12.2.3 Adipositas und Gewichtskontrolle . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 448
12.3 Sexuelle Motivation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 455
12.3.1 Physiologie der Sexualität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 455
12.3.2 Psychologie der Sexualität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 458
12.3.3 Sexualität im Jugendalter . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 460
12.3.4 Sexuelle Orientierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 463
12.3.5 Sexualität und die Wertvorstellungen von Menschen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 470
12.4 Das Bedürfnis nach Zugehörigkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 471
12.4.1 Soziale Bindung als Überlebenshilfe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 471
12.4.2 Wunsch nach Zugehörigkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 471
12.4.3 Beziehungen aufrechterhalten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 472
12.4.4 Der Schmerz der Ächtung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 473
12.4.5 Soziale Netzwerke . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 475
12.5 Arbeitsmotivation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 478
12.5.1 Personalpsychologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 481
12.5.2 Organisationspsychologie: Leistungsmotivation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 485
12.5.3 Der Faktor Mensch . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 491
12.6 Kapitelrückblick . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 494
12.6.1 Verständnisfragen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 494
12.6.2 Schlüsselbegriffe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 494
12.6.3 Weiterführende deutsche Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 494

13 Emotionen, Stress und Gesundheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 495


David G. Myers
13.1 Kognitionen und Emotionen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 496
13.1.1 Historische Emotionstheorien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 496
13.1.2 Die Kognition kann die Emotion festlegen: Schachter und Singer . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 498
13.1.3 Die Kognition geht der Emotion nicht immer voraus: Zajonc, LeDoux und Lazarus . . . . . . . . . . . . . . . . 499
13.2 Emotion und Körper . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 501
XXXIII
Inhaltsverzeichnis

13.2.1 Emotionen und das autonome Nervensystem . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 501


13.2.2 Die Physiologie der Emotionen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 502
13.3 Emotion und Ausdruck . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 504
13.3.1 Emotionen bei anderen erkennen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 504
13.3.2 Geschlecht, Emotion und nonverbales Verhalten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 507
13.3.3 Emotionsausdruck im kulturellen Kontext . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 508
13.3.4 Mimischer Ausdruck . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 511
13.4 Emotion und Erfahrung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 512
13.4.1 Wut . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 512
13.4.2 Glücklichsein . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 516
13.5 Stress und Gesundheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 525
13.5.1 Stress: Grundlegende Prinzipien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 525
13.5.2 Stress und Krankheitsanfälligkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 530
13.6 Gesundheitsförderung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 537
13.6.1 Bewältigung von Stress . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 537
13.6.2 Stress reduzieren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 542
13.7 Kapitelrückblick . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 549
13.7.1 Verständnisfragen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 549
13.7.2 Schlüsselbegriffe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 549
13.7.3 Weiterführende deutsche Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 550

14 Persönlichkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 551
David G. Myers
14.1 Psychodynamische Theorien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 552
14.1.1 Freuds psychoanalytische Perspektive: die Erkundung des Unbewussten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 552
14.1.2 Neofreudianische und psychodynamische Theorien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 558
14.1.3 Erfassung unbewusster Prozesse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 560
14.1.4 Bewertung des psychoanalytischen Ansatzes und die moderne Sichtweise des Unbewussten . . . . . . . . . 561
14.2 Humanistische Theorien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 565
14.2.1 Abraham Maslows Konzept der Selbstverwirklichung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 565
14.2.2 Carl Rogers’ personzentrierter Ansatz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 565
14.2.3 Erfassung des Selbst . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 567
14.2.4 Bewertung des humanistischen Ansatzes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 567
14.3 Trait-Theorien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 568
14.3.1 Exploration von Merkmalen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 569
14.3.2 Erfassung von Traits . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 571
14.3.3 Das Fünf-Faktoren-Modell (»The Big Five«) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 573
14.3.4 Bewertung des Trait-Ansatzes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 574
14.4 Sozial-kognitive Theorien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 577
14.4.1 Reziproke (wechselseitige) Beeinflussung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 578
14.4.2 Persönliche Kontrolle . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 579
14.4.3 Erfassung von Situationseinflüssen auf das Verhalten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 585
14.4.4 Bewertung des sozial-kognitiven Ansatzes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 585
14.5 Das Selbst . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 587
14.5.1 Die Vorteile des Selbstwertgefühls . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 587
14.5.2 Selbstwertdienliche Verzerrung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 588
14.6 Kapitelrückblick . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 592
14.6.1 Verständnisfragen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 592
14.6.2 Schlüsselbegriffe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 592
14.6.3 Weiterführende deutsche Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 593
XXXIV Inhaltsverzeichnis

15 Sozialpsychologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 595
David G. Myers
15.1 Soziales Denken . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 596
15.1.1 Der fundamentale Attributionsfehler . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 597
15.1.2 Einstellungen und Handlungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 598
15.2 Sozialer Einfluss . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 603
15.2.1 Konformität: Sozialem Druck nachgeben . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 604
15.2.2 Gehorsam: Befehle befolgen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 607
15.2.3 Gruppeneinfluss . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 612
15.3 Soziale Beziehungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 618
15.3.1 Vorurteil . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 618
15.3.2 Aggression . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 626
15.3.3 Interpersonale Anziehung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 633
15.3.4 Altruismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 642
15.3.5 Konflikte und Friedensstiftung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 645
15.4 Kapitelrückblick . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 651
15.4.1 Verständnisfragen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 651
15.4.2 Schlüsselbegriffe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 651
15.4.3 Weiterführende deutsche Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 652

16 Klinische Psychologie: Psychische Störungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 653


David G. Myers
16.1 Aspekte psychischer Störungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 654
16.1.1 Definition psychischer Störungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 654
16.1.2 Erklärungsansätze . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 656
16.1.3 Klassifikation psychischer Störungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 659
16.1.4 Etikettierung psychischer Störungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 660
16.2 Angststörungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 663
16.2.1 Generalisierte Angststörung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 664
16.2.2 Panikstörung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 664
16.2.3 Phobien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 664
16.2.4 Zwangsstörung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 666
16.2.5 Posttraumatische Belastungsstörung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 667
16.2.6 Erklärungsansätze . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 668
16.3 Affektive Störungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 671
16.3.1 Major Depression . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 671
16.3.2 Bipolare Störung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 673
16.3.3 Erklärungsansätze für affektive Störungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 674
16.4 Schizophrenie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 682
16.4.1 Symptome der Schizophrenie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 682
16.4.2 Beginn und Entwicklung von Schizophrenie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 684
16.4.3 Erklärungsansätze . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 685
16.5 Andere Störungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 689
16.5.1 Dissoziative Störungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 689
16.5.2 Essstörungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 692
16.5.3 Persönlichkeitsstörungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 695
16.6 Prävalenz psychischer Störungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 698
16.7 Kapitelrückblick . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 700
16.7.1 Verständnisfragen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 700
16.7.2 Schlüsselbegriffe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 700
16.7.3 Weiterführende deutsche Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 701
XXXV
Inhaltsverzeichnis

17 Klinische Psychologie: Therapie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 703


David G. Myers
17.1 Behandlung psychischer Störungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 704
17.2 Psychotherapien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 705
17.2.1 Psychoanalyse und psychodynamische Therapie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 705
17.2.2 Humanistische Therapien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 708
17.2.3 Verhaltenstherapie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 710
17.2.4 Kognitive Therapien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 715
17.2.5 Gruppen- und Familientherapien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 719
17.3 Therapieevaluation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 721
17.3.1 Ist Psychotherapie effektiv? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 721
17.3.2 Die relative Wirksamkeit verschiedener Psychotherapien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 725
17.3.3 Evaluation alternativer Therapien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 726
17.3.4 Gemeinsamkeiten verschiedener Therapieformen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 728
17.3.5 Kultur, Geschlecht und Wertvorstellungen in der Psychotherapie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 730
17.4 Biomedizinische Therapien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 731
17.4.1 Medikamentöse Therapien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 732
17.4.2 Stimulation des Gehirns . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 735
17.4.3 Psychochirurgie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 738
17.4.4 Therapeutische Änderung des Lebensstils . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 739
17.5 Prävention psychischer Störungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 741
17.6 Kapitelrückblick . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 742
17.6.1 Verständnisfragen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 742
17.6.2 Schlüsselbegriffe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 743
17.6.3 Weiterführende deutsche Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 743

18 Pädagogische Psychologie: Übersicht und ausgewählte Themen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 745


Siegfried Hoppe-Graff
18.1 Überblick über die Pädagogische Psychologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 746
18.1.1 Gegenstand und Aufgabe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 747
18.1.2 Geschichte der deutschsprachigen Pädagogischen Psychologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 749
18.1.3 Pädagogische Psychologie in der Praxis: Das Arbeitsfeld der Schulpsychologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 751
18.2 Bedeutung der elterlichen Erziehung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 752
18.2.1 Spielt die elterliche Erziehung eine Rolle? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 753
18.2.2 Welcher Erziehungsstil ist am günstigsten? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 756
18.3 Erziehungseinflüsse auf die Internalisierung von moralischen Regeln und Normen . . . . . . . . . . . . . 762
18.3.1 Hoffmans Theorie zum Einfluss der elterlichen Erziehung auf die Internalisierung . . . . . . . . . . . . . . . . . 763
18.3.2 Überprüfung, Kritik und Erweiterungen der Theorie Hoffmans . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 766
18.3.3 Pädagogische Schlussfolgerungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 769
18.4 Aggressionen und Gewalt unter Kindern und Jugendlichen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 769
18.4.1 Gespielte und ernsthafte Aggressionen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 770
18.4.2 Mobbing unter Kindern – eine besondere Form der Gewalt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 772
18.4.3 Das Early-Starter-Modell . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 774
18.4.4 Längsschnittbeobachtungen zu elterlichen Einflüssen auf die Genese von Problemverhalten . . . . . . . . . 776
18.5 Neue Aufgaben und Herausforderungen der Pädagogischen Psychologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 777
18.5.1 Auswirkungen der außerfamiliären Kleinkindbetreuung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 779
18.5.2 Modelle zur Erklärung von Schulleistungsunterschieden . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 780
18.6 Kapitelrückblick . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 782
18.6.1 Verständnisfragen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 782
18.6.2 Schlüsselbegriffe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 783
18.6.3 Weiterführende deutsche Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 783
XXXVI Inhaltsverzeichnis

19 Arbeits- und Organisationspsychologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 785


Barbara Keller
19.1 Warum arbeiten wir, und was haben wir davon? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 786
19.1.1 Arbeitsmotivation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 787
19.1.2 Arbeitszufriedenheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 792
19.2 Arbeit und Gesundheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 795
19.2.1 Stress und Stressoren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 796
19.2.2 Mobbing . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 798
19.2.3 Work-Life-Balance . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 800
19.3 Veränderte Arbeitsbedingungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 801
19.3.1 Neue Technologien: Wann sind Innovationen erfolgreich? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 801
19.3.2 Arbeitszeiten und Arbeitsplätze: Mehr Flexibilität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 803
19.3.3 Arbeitslosigkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 804
19.4 Psychologie in Organisationen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 811
19.4.1 Organisationsform und Organisationsstruktur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 811
19.4.2 Teams, Gruppen und Qualitätszirkel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 813
19.4.3 Führung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 816
19.5 Arbeit und Persönlichkeit: Auswahl und Auswirkungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 819
19.5.1 Personalauswahl . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 819
19.5.2 Wer kommt wann voran? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 823
19.5.3 Arbeit und Persönlichkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 827
19.6 Kapitelrückblick . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 828
19.6.1 Verständnisfragen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 828
19.6.2 Schlüsselbegriffe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 829
19.6.3 Weiterführende deutsche Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 829

Anhang

A1 Arbeitsfelder der Psychologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 832


Jennifer Zwolinski

A2 Zeitmanagement . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 838
Richard O. Straub

A3 Verständnisfragen und Antworten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 845

Glossar . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 887
Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 909
Namenverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1008
Stichwortverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1026
1 1

Prolog:
Die Geschichte der Psychologie
David G. Myers

1.1 Was ist Psychologie? –3


1.1.1 Die Wurzeln der Psychologie – 3
1.1.2 Entwicklung der wissenschaftlichen Psychologie –5

1.2 Moderne Psychologie –7


1.2.1 Große Themen der Psychologie – 7
1.2.2 Drei zentrale Analyseebenen der Psychologie –8
1.2.3 Arbeitsfelder der Psychologie – 9

1.3 Mit Psychologie lernen – Verbessern Sie Ihre Merkfähigkeit


und Ihre Noten! – 14

1.4 Kapitelrückblick – 15
1.4.1 Verständnisfragen – 15
1.4.2 Schlüsselbegriffe – 15
1.4.3 Weiterführende deutsche Literatur – 16

D. G. Myers, Psychologie,
DOI 10.1007/978-3-642-40782-6_1, © Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2014
2 Kapitel 1 · Prolog: Die Geschichte der Psychologie

Owen Gingerich (2006), Astronom in Harvard, berichtet, dass es


1 über 100 Milliarden Galaxien gibt. Eine davon, unsere eigene im
Verhältnis dazu staubkörnchengroße Galaxie, umfasst ungefähr
200 Milliarden Sterne, von denen viele, wie unser Sonnenstern,
von Planeten umkreist werden. In der Größenordnung des Welt-
alls sind wir weniger als ein einzelnes Sandkorn an den Stränden
aller Ozeane und unsere Lebenszeit entspricht lediglich einer
Nanosekunde.
Dennoch gibt es nichts Beeindruckenderes und Faszinie-
renderes als unsere eigene innere Welt. Unser Gehirn, ergänzt
Gingerich, »ist bei weitem das komplexeste uns bekannte phy-
sische Gebilde des gesamten Kosmos« (S. 29). Unser Bewusstsein
– unser Verstand, der irgendwie aus Materie hervorgeht – bleibt
ein tiefgreifendes Geheimnis. Unser Denken, unsere Emotionen . Abb. 1.1 Ein Lächeln ist überall auf der Welt ein Lächeln. In diesem
und Handlungen (und ihre Wechselwirkung mit Gedanken, Buch werden Sie immer wieder Beispiele finden, die nicht nur aufzeigen,
wie sich Menschen durch Kultur und Geschlechtszugehörigkeit unter-
Gefühlen und Handlungen anderer) faszinieren uns. Das Weltall scheiden, sondern auch, worin die Ähnlichkeiten bestehen, die die uns
mit seinem ungeheuerlichen Ausmaß verschlägt uns den Atem. allen gemeinsame menschliche Natur kennzeichnen. Gelächelt wird in
Unsere innere Welt dagegen bezaubert uns. Nehmen Sie teil an allen Kulturen, und ein natürliches fröhliches Lächeln hat überall auf der
Welt die gleiche Bedeutung, doch wann und wie oft man lächelt, hängt
der psychologischen Wissenschaft!
vom jeweiligen Kulturkreis ab. (© erichon / Fotolia)
Für Menschen, die ihr Wissen über Psychologie aus Zeitschrif-
ten, Fernsehsendungen und Populärliteratur beziehen, scheint ein
Psychologe die Persönlichkeit zu analysieren, Paarberatung an-
zubieten und Ratschläge zur Kindererziehung zu geben. Sind das
die Arbeitsfelder der Psychologie? Ja, durchaus, und noch viele
weitere. Vielleicht haben auch Sie sich schon einmal Gedanken
gemacht zu einigen der folgenden Fragen der Psychologie:
4 Haben Sie schon einmal erlebt, dass Sie auf eine Situation
genauso reagieren wie Ihre biologischen Eltern reagiert
hätten, vielleicht sogar so, wie Sie es nie von sich gedacht
hätten? Und haben Sie sich dann gefragt, wie viel von Ihrer
Persönlichkeit Sie durch Vererbung mitbekommen haben?
Wie stark sind die Persönlichkeitsunterschiede zwischen einer
Person und einer anderen von den Genen vorherbestimmt?
Und wie stark sind sie durch Umwelt, Elternhaus und Nach-
barschaft beeinflusst?
. Abb. 1.2 Eine Lektion in kulturellen Unterschieden. Während
4 Haben Sie sich je Gedanken darüber gemacht, wie Sie sich Barack Obamas Staatsbanketts mit Chinas damaligem Präsident Hu Jintao
in Gegenwart von Menschen verhalten sollen, die einem 2011 betonten beide ihre Gemeinsamkeiten, waren sich ihrer Unter-
schiede jedoch äußerst bewusst. (© Pete Souza - White House via CNP /
anderen Kulturkreis, einer anderen ethnischen Gruppe
picture alliance / dpa)
oder dem anderen Geschlecht angehören? Wo liegen die
Ähnlichkeiten innerhalb der Menschenfamilie? Worin unter-
scheiden wir uns voneinander? 4 Haben Sie sich je gefragt, worauf Erfolg in der Schule und
4 Sind Sie je aus einem Alptraum hochgeschreckt und haben im Arbeitsleben beruht? Sind manche Menschen einfach von
sich dann erleichtert gefragt, warum Sie so etwas Verrücktes Geburt an klüger? Wenn manche Menschen reicher werden,
geträumt haben? Warum träumen wir? Und wie oft träumen kreativer denken oder in Beziehungen einfühlsamer sind als
wir? andere: Lässt sich das nur durch Intelligenz erklären?
4 Haben Sie je mit einem 6 Monate alten Kind »Guckguck« 4 Waren Sie je in depressiver oder ängstlicher Stimmung
gespielt und sich gefragt, warum das Baby dieses Spiel so und haben sich gefragt, ob Sie sich jemals wieder »normal«
hinreißend findet? Der Säugling verhält sich so, als ob Sie fühlen können? Wodurch wird eine schlechte – oder gute –
tatsächlich verschwinden, wenn Sie für einen Moment Stimmung ausgelöst? Wo liegt die Grenze zwischen einer
hinter die Tür gehen und dann wie aus heiterem Himmel normalen Gemütsschwankung und einer psychischen
gleich wieder auftauchen. Was kann ein Baby wahrnehmen? Störung, für deren Bewältigung man professionelle Hilfe
Was denkt es? aufsuchen sollte?
1.1 · Was ist Psychologie?
3 1
4 Haben Sie sich je gefragt, wie sich das Internet, Videospiele
und elektronische soziale Netzwerke auf den Menschen
auswirken? Inwiefern beeinflussen die heutigen elektroni-
schen Medien, wie wir denken und Beziehungen führen?

Die Psychologie ist eine Wissenschaft, die nach Antworten


auf solche Fragen sucht, die uns Menschen betreffen – wie und
warum wir so denken, fühlen und handeln, wie wir es tun
(. Abb. 1.1, . Abb. 1.2).

1.1 Was ist Psychologie?

1.1.1 Die Wurzeln der Psychologie


. Abb. 1.3 Wilhelm Wundt. Begründer des ersten psychologischen
Labors an der Universität Leipzig, hier im Kreise seiner Mitarbeiter.
? 1.1 Was sind die wichtigen Meilensteine in der frühen
(Mit freundlicher Genehmigung des Universitätsarchivs Leipzig)
Entwicklung der Psychologie?
In längst vergangenen Zeiten geschah es, dass auf unserem
Planeten der Mensch entstand. Bald darauf begannen diese drücken, in dem ihnen bewusst wurde, dass sie das Geräusch
Geschöpfe, sich sehr intensiv für sich selbst und füreinander zu hörten (sich seiner Bewusstheit bewusst zu sein, dauert etwas
interessieren. Sie fragten: »Wer sind wir? Woher kommen unsere länger). Wundt versuchte, »die Elemente des Seelenlebens« zu
Gedanken? Unsere Gefühle? Unsere Handlungen? Und wie kön- erfassen, nämlich die einfachsten und am schnellsten ablaufen-
nen wir die anderen Geschöpfe, die auch hier leben, verstehen, den seelischen Prozesse. Unter Wundts Leitung und unter Mit-
beherrschen oder kontrollieren?« arbeit der ersten Absolventen eines Psychologiestudiums war das
erste psychologische Labor entstanden.
Die Geburtsstunde der psychologischen Es dauerte nicht lange, bis sich verschiedene Subdisziplinen
Wissenschaft und Denkschulen dieser neuen Wissenschaft Psychologie ent-
Es liegt in unserer Natur als Menschen, dass wir uns für uns wickelten – begründet durch Vordenker und Pioniere. Zwei
selbst und unsere Umwelt interessieren. Schon über 300 Jahre vor frühe Schulen waren der Strukturalismus und der Funktiona-
unserer Zeitrechnung stellte der griechische Naturforscher und lismus. So wie die Physiker und Chemiker die Struktur der
Philosoph Aristoteles Theorien über Lernen und Gedächtnis, Materie aufdeckten, wollte Wundts Schüler, Edward Bradford
Motivation und Emotion, Wahrnehmung und Persönlichkeit Titchener, die Elemente des Geistes entdecken. Seine Methode
auf. Heute schmunzeln wir über einige seiner Annahmen, wie bestand darin, Menschen zur selbstreflektierenden Introspektion
etwa seine Vermutung, dass uns Nahrung schläfrig macht, da sie (nach innen gerichtete Selbstbeobachtung) anzuregen. Er brachte
für eine Ansammlung von Gas und Hitze um den Sitz unserer ihnen bei, die Einzelheiten der Erfahrungen zu berichten, die sie
Persönlichkeit, das Herz, sorgt. Dennoch muss man Aristoteles machten, wenn sie eine Rose betrachteten, einem Metronom zu-
zugutehalten, die richtigen Fragen gestellt zu haben. hörten, einen Duft rochen oder den Geschmack einer Substanz
Bis zur Geburtsstunde der Psychologie, wie wir sie heute wahrnahmen. Welches waren ihre unmittelbaren Empfindun-
kennen, dachten die Philosophen weiterhin über das Denken gen, ihre Bilder, ihre Gefühle? Und welchen Zusammenhang
nach. Es war im Jahr 1879 an einem Dezembertag in einem gab es zwischen ihnen? Die Introspektion erwies sich jedoch als
kleinen Raum im dritten Stock der Universität Leipzig; zwei unberechenbar: Sie erforderte kluge, wortgewandte Menschen
junge Männer halfen einem ernst dreinblickenden Professor und führte bei jedem Menschen und bei jeder Erfahrung zu
mittleren Alters bei der Entwicklung eines Versuchsgeräts: Die- anderen Ergebnissen. So verschwand die Introspektion und mit
ser Mann war Wilhelm Wundt (. Abb. 1.3). Eine Versuchsperson ihr der Strukturalismus.
sollte die Taste eines Telegrafengeräts drücken, sobald sie den
Aufprall eines Balles auf einer Rampe hörte; und das Gerät sollte
» Sie kennen Ihren eigenen Geist nicht.
Jonathan Swift, Polite Conversation, 1738
den zeitlichen Abstand zwischen Hören und Tastendruck messen
(Hunt 1993). Zu ihrem Erstaunen fanden sie, dass die Versuchs- Der Versuch, die Struktur der Seele einfach aus ein paar Ele-
teilnehmer in ungefähr einem Zehntel einer Sekunde reagierten, menten zu konstruieren, ist ungefähr so erfolgreich wie der Ver-
wenn sie die Taste drücken sollten, sobald das Geräusch auftrat, such, die Funktionsweise eines Autos anhand seiner Einzelteile
dass sie aber zwei Zehntel einer Sekunde brauchten, wenn sie verstehen zu wollen. Der Philosoph und Psychologe William
die Anweisung erhielten, die Taste erst in dem Augenblick zu James versprach sich mehr davon, die Funktionen unserer Ge-
4 Kapitel 1 · Prolog: Die Geschichte der Psychologie

. Abb. 1.4a,b William James und Mary Whiton Calkins. William James, legendärer Lehrer und Autor, war Mentor für Mary Calkins, aus der eine bahn-
brechende Gedächtnisforscherin und der erste weibliche Präsident der American Psychological Association wurde. (a: This image is in the public domain
because its copyright has expired; b: Courtesy of the Wellesley College Archives)

danken und Gefühle zu betrachten. Riechen ist das, was die Nase wehrte sich gegen die Ungleichbehandlung und lehnte den Ab-
macht, und Denken ist das, was der Geist tut. Doch warum tun schluss ab. Dennoch wurde sie eine bekannte Gedächtnisfor-
sie das? Beeinflusst durch den Evolutionstheoretiker Charles scherin und 1905 der erste weibliche Präsident der American
Darwin ging James von der Annahme aus, dass sich die Fähigkeit Psychological Association (APA).
zum Denken – wie die Fähigkeit zum Riechen – entwickelt hatte, Die Ehre, die erste Frau mit einem Doktortitel in Psychologie
weil sie eine Anpassung darstellte und damit zur Überlebens- zu sein, fiel später Margaret Floy Washburn zu, die auch ein ein-
fähigkeit unserer Vorfahren beitrug. Bewusstsein erfüllt eine flussreiches Buch mit dem Titel The Animal Mind schrieb und
Funktion: Es versetzt uns in die Lage, unsere Vergangenheit zu 1921 als zweite Frau Präsidentin der APA wurde (. Abb. 1.5).
bedenken, uns an gegenwärtige Umstände anzupassen und Doch auch ihr blieben aufgrund ihrer Geschlechtszugehörigkeit
unsere Zukunft zu planen. Als Vertreter des Funktionalismus for- einige Türen versperrt. Obwohl Wilhelm Wundt ihre Doktor-
derte James dazu auf, ganz alltägliche Emotionen, Erinnerungen, arbeit als erste ausländische Untersuchung in seiner Zeitschrift
die Willenskraft, Gewohnheiten und den momentanen Bewusst- veröffentlichte, durfte sie nicht der Organisation der Experimen-
seinsstrom zu erkunden. talpsychologen beitreten, deren Gründer Edward Titchener, der
Das wichtigste Vermächtnis von William James sind seine Betreuer ihrer Doktorarbeit, war (Johnson 1997). (Wir haben es
Lehrtätigkeit an der Harvard Universität und seine Publika- heute mit einer ganz anderen Welt zu tun als damals: Zwischen
tionen. Im Jahre 1890 nahm er – trotz der Einwände des Univer- 1996 und 2012 waren acht von 16 gewählten Präsidenten der
sitätspräsidenten von Harvard – Mary Whiton Calkins in sein wissenschaftsorientierten Association for Psychological Science
Graduiertenseminar auf (Scarborough u. Furumoto 1987; Frauen. Von 2004 bis 2006 war Hannelore Weber Präsidentin
. Abb. 1.4). (Damals hatten die Frauen noch nicht einmal das der Deutschen Gesellschaft für Psychologie und von 2008 bis
Wahlrecht.) 2010 bekleidete Ursula Staudinger dieses Amt. In den Vereinig-
Als sie kam, gingen alle anderen (allesamt männlichen) Stu- ten Staaten, Kanada und Europa werden heute die meisten
denten. Daher hielt James das Seminar allein mit ihr ab. Später Doktortitel in Psychologie an Frauen vergeben.)
erfüllte sie alle Voraussetzungen für einen Doktortitel in Harvard Durch James’ zahlreiche Artikel wurde der Verleger Henry
und war in ihrer Abschlussprüfung besser als die männlichen Holt dazu bewogen, ihm einen Vertrag für ein Lehrbuch über
Studierenden. Trotzdem weigerte sich Harvard, ihr den Doktor- diese neue Wissenschaft, die Psychologie, anzubieten. James
titel zu verleihen. Man bot ihr stattdessen einen Abschluss am nahm den Auftrag an und begann 1878 mit der Arbeit, wobei er
Radcliffe College an, einer kooperierenden Hochschule, bei der sich dafür entschuldigte, für die Fertigstellung seines Werkes
Frauen einen Bachelor-Abschluss machen konnten. Frau Calkins voraussichtlich 2 Jahre zu benötigen. Bald zeigte sich jedoch, dass
1.1 · Was ist Psychologie?
5 1
1.1.2 Entwicklung der wissenschaftlichen
Psychologie

? 1.2 Wie entwickelte sich die Psychologie von 1920 bis heute
weiter?

In den frühen Tagen des Fachs teilten viele Psychologen die


Meinung des englischen Essayisten C.S. Lewis, dass es »nur ein
einziges Ding im Universum gibt, über das wir mehr wissen, als
wir durch äußere Beobachtung erfahren können«. Dieses einzige
Ding, sagte Lewis, sind wir selbst. »Wir haben gewissermaßen
Informationen von innen« (1960, S. 18–19). Wundt und Titchener
konzentrierten sich auf die inneren Empfindungen, Bilder und
Gefühle. Auch James legte seinen Schwerpunkt auf die Intro-
spektion und wollte den Bewusstseinsstrom und die Emotionen
untersuchen. Für diese und andere frühe Pioniere wurde die
Psychologie als »die Wissenschaft vom Seelenleben« definiert.
So ging es bis zum Jahre 1920, als zwei herausragende ameri-
kanische Psychologen auf der Bildfläche erschienen: Der über-
. Abb. 1.5 Margaret Floy Washburn. Die erste Frau, die einen Doktortitel
in Psychologie erhielt. Washburn trug in The Animal Mind Forschungen über spannte und provokative John B. Watson sowie später der eben-
das Verhalten von Tieren zusammen. (© Archives of the History of American falls nicht mit Provokationen geizende Burrhus F. Skinner, die die
Psychology, The Center for the History of Psychology, The University of Akron) Introspektion ablehnten und die Psychologie neu definierten,
und zwar als »die wissenschaftliche Untersuchung des beobacht-
baren Verhaltens«. Letztendlich, sagten sie, wurzelt die Wissen-
sich die Arbeit an dem Buch unerwartet schwierig gestaltete und schaft doch in der Beobachtung. Eine Empfindung, ein Gefühl
er brauchte schließlich 12 Jahre, um es fertigzustellen (eigentlich oder einen Gedanken kann man nicht beobachten; das Verhalten
gar nicht überraschend). Noch heute, mehr als 100 Jahre nach von Menschen und ihre Reaktionen auf verschiedene Situationen
ihrem Erscheinen werden die Principles of Psychology immer hingegen sind beobachtbar und lassen sich registrieren. Viele
noch gelesen, und die Leser haben ihre Freude an der brillanten, stimmten ihnen zu und der Behaviorismus wurde zu einem
eleganten Art, mit der William James das gebildete Publikum in der beiden Hauptströme der Psychologie bis in die 1960er Jahre
die Psychologie einführte. Die erste deutsche Auflage erschien (. Abb. 1.6, . Abb. 1.7).
übrigens unter dem Titel Psychologie 1909 in Leipzig.
Behaviorismus (»behaviorism«) – Sichtweise, dass Psychologie 1. eine
Lernhinweis: Die Gedächtnisforschung macht einen Testeffekt objektive Wissenschaft sein sollte, die 2. Verhalten ohne Bezug auf mentale
Prozesse untersucht. Heutzutage stimmen die meisten in der Forschung
deutlich: Wir können Informationen viel besser behalten,
tätigen Psychologen Punkt 1 zu, aber nicht Punkt 2.
wenn wir sie aktiv durch Selbsttest und Prüfung abfragen.
(Mehr darüber in 7 Abschn. 1.3) Um Ihr Lernen und Erinnern
Die andere Hauptströmung war die Freud’sche Psychologie, die
zu fördern, »prüfen Sie Ihr Wissen« indem Sie die Fragen beant-
sich vor allem mit der Art und Weise beschäftigte, wie emotiona-
worten, die Sie in den entsprechenden Kästen durchgehend
le Reaktionen auf Kindheitserfahrungen und unbewusste Denk-
im Text finden. Die Antworten finden Sie im vorhergehenden
prozesse unser Verhalten beeinflussen (. Abb. 1.8). (In späteren
Text oder gebündelt auf http://www.lehrbuch-psychologie.de.
Kapiteln werden wir uns die Lehren von Sigmund Freud, ein-
Prüfen Sie Ihr Wissen schließlich seiner Persönlichkeitstheorie sowie seine Ansichten
über unbewusste sexuelle Konflikte und die Abwehrmechanis-
5 Welches Ereignis definierte den Beginn der wissenschaft- men der Seele gegen ihre eigenen Wünsche und Impulse, näher
lichen Psychologie? ansehen.)
5 Warum versagte die Introspektion als Methode zum Ver- Ähnlich den Behavioristen in den frühen 1900ern, lehnten
ständnis, wie die Seele funktioniert? später zwei andere Gruppen die Definition der Psychologie ab,
5 Der nutzte Introspektion, um den Aufbau die in den 1960ern gängig war. Die erste Gruppe, die humanis-
der Seele zu definieren; der konzentrierte tische Psychologie, unter der Führung von Carl Rogers und
sich darauf, wie es uns mentale Prozesse ermöglichen, uns Abraham Maslow, fand sowohl die Freud’sche Psychologie als
anzupassen, zu überleben und zu gedeihen. auch den Behaviorismus zu mechanistisch. Statt frühe Kind-
heitserinnerungen hervorzulocken und sich auf erlerntes Ver-
6 Kapitel 1 · Prolog: Die Geschichte der Psychologie

. Abb. 1.6 John B. Watson. Watson verfocht die Idee von der Psycho- . Abb. 1.7 B.F. Skinner. Ein führender Behaviorist. Er lehnte die Introspek-
logie als der Wissenschaft vom Verhalten und demonstrierte konditionierte tion ab und untersuchte, wie Verhalten durch Konsequenzen geformt wird.
Reaktionen an einem Baby, das als »kleiner Albert« bekannt wurde. (© picture alliance / Everett Collection)
(© 1999 Topham Picturepoint / picture alliance)

halten zu konzentrieren, betonten die humanistischen Psycholo- Die Rebellion einer zweiten Gruppe von Psychologen während
gen die Bedeutung der momentanen Umwelteinflüsse für unser der 1960er Jahre ist bekannt als die kognitive Wende und führte
Wachstumspotenzial und die Bedeutung der Tatsache, dass die Psychologie allmählich zu ihrem ursprünglichen Interesse an
unsere Bedürfnisse nach Liebe und Akzeptanz erfüllt werden mentalen Prozessen zurück; sie betonte etwa die Bedeutung der
(mehr darüber in 7 Kap. 14). Art und Weise, wie unser Verstand Informationen verarbeitet
und speichert. So untersucht die kognitive Psychologie wissen-
Humanistische Psychologie (»humanistic psychology«) – historisch
bedeutsame Auffassung, bei der das Wachstumspotenzial gesunder schaftlich, wie wir Informationen wahrnehmen, verarbeiten und
Menschen und das individuelle Potenzial für persönliches Wachstum erinnern. Als interdisziplinäres Feld hat die kognitive Neuro-
betont werden. wissenschaft unser Verständnis der Hirnaktivitäten, die
unseren Denkprozessen zugrunde liegen, erweitert. Wie wir in
den 7 Kap. 16 und 7 Kap. 17 sehen werden, hat uns der kognitive
Ansatz neue Wege eröffnet, uns selbst zu verstehen und Störun-
gen, etwa die Depression, zu behandeln.
Kognitive Neurowissenschaft (»cognitive neuroscience«) – die inter-
disziplinäre Untersuchung der Gehirnaktivität in Verbindung mit Kognition
(einschließlich Wahrnehmung, Denken, Gedächtnis und Sprache).

Um die Vorstellungen der Behavioristen über beobachtbare


Verhaltensweisen mit den Vorstellungen über innere Gedanken
und Gefühle unter einen Hut bringen zu können, wird die
Psychologie heute als die Wissenschaft vom Verhalten und
von den mentalen Prozessen definiert. Wir wollen diese Defini-
tion etwas ausarbeiten. Verhalten ist alles, was ein Organismus
macht – jede Handlung, die wir beobachten und registrieren
können. Schreien, lächeln, blinzeln, schwitzen, reden und das
Ankreuzen von Fragebögen sind allesamt beobachtbare Ver-
haltensweisen. Mentale Prozesse sind innere subjektive Er-
fahrungen, die wir aus dem Verhalten erschließen: Empfin-
. Abb. 1.8 Sigmund Freud. Berühmter Persönlichkeitstheoretiker und
Therapeut, dessen kontrovers diskutierte Vorstellungen das Verständnis des dungen, Wahrnehmungen, Träume, Überzeugungen und
Menschen vom Selbst beeinflussten. (© INTERFOTO) Gefühle.
1.2 · Moderne Psychologie
7 1
Psychologie (»psychology«) – die Wissenschaft vom Verhalten und von den es 1978 das erste psychologische Institut an einer Universität;
mentalen Prozessen.
2008 waren es nahezu 200 (Han 2008; Tversky 2008). Dank
Das Schlüsselwort in der Definition von Psychologie ist wissen- internationaler Publikationen, gemeinsamer Treffen und dem
schaftlich. Bei der Psychologie handelt es sich, wie ich im ganzen Internet überschreitet die Zusammenarbeit und die Kommunika-
Buch betonen werde, weniger um eine Aneinanderreihung tion zudem häufiger als je zuvor die Ländergrenzen. Die Psycho-
einzelner Befunde, sondern um eine Methode, Fragen zu stellen logie wächst und zwar in globalem Maßstab. Die Psychologie
und sie zu beantworten. Mein Ziel in diesem Text besteht entwickelt sich ständig weiter, an vielen Orten, auf vielen Ebenen
dann darin, nicht nur Ergebnisse zu berichten, sondern auch zu und mit unterschiedlichen Schwerpunkten, die von der Unter-
zeigen, nach welchen Spielregeln sich die Psychologen richten. suchung der Aktivität von Nervenzellen bis hin zur Studie inter-
Sie werden sehen, wie Forscher einander widersprechende nationaler Konflikte reichen.
Meinungen und Vorstellungen bewerten. Und Sie werden
erfahren, wie wir alle, seien wir nun Wissenschaftler oder nur
neugierige Menschen, tiefgründiger denken können, wenn wir 1.2.1 Große Themen der Psychologie
die Ereignisse in unserem Leben beschreiben und erklären.

Prüfen Sie Ihr Wissen ? 1.3 Was ist das wichtigste Thema in der Geschichte der
Psychologie?
5 Von den 1920er bis zu den 1960er Jahren waren die
Entwickeln sich die Persönlichkeitsmerkmale eines Menschen
beiden Hauptströme in der Psychologie
durch Erfahrung oder bringen wir sie bereits mit auf die Welt?
und Psychologie.
Dies ist das wichtigste Thema der Psychologie (und der Schwer-
5 Wie beeinflusste die kognitive Wende das Feld der
punkt von 7 Kap. 5), das uns immer wieder beschäftigt. Die
Psychologie?
Anlage-Umwelt-Debatte wird allerdings schon seit der Antike
geführt. Der griechische Philosoph Platon (428–348 v. Chr.) ver-
trat den Standpunkt, dass Charakter und Intelligenz weitgehend
1.2 Moderne Psychologie ererbt und dass sogar manche Ideen angeboren sind. Dagegen
ging Aristoteles (348–322 v. Chr.) von der Annahme aus, dass es
Die Psychologie ist eine junge Wissenschaft, die sich aus den im menschlichen Geist nichts gibt, was nicht schon zuvor über
etablierteren Feldern der Philosophie und der Biologie heraus die Sinne aus der Außenwelt aufgenommen wurde.
entwickelt hat. Wundt war sowohl Philosoph als auch Physiologe,
Anlage-Umwelt-Debatte (auch Erbe-Umwelt-Debatte, »nature-nurture
James war ein amerikanischer Philosoph, Freud ein öster- issue«) – die alte Kontroverse darüber, wie groß im Vergleich zu Erfahrung
reichischer Mediziner. Ivan Pavlov, der Pionierarbeit in der Lehre und Lernen der Einfluss der Gene auf die Ausbildung psychischer Merkmale
des Lernens leistete (7 Kap. 8), war ein russischer Physiologe und die Entwicklung von Verhaltensweisen ist. Heutzutage wird angenom-
men, dass Eigenschaften und Verhaltensweisen durch die Wechselwirkung
und Jean Piaget, der einflussreichste Beobachter von Kindern von Anlage und Umwelt entstehen.
(7 Kap. 6) des letzten Jahrhunderts, war ein Schweizer Biologe.
Diese »Magellane des Geistes«, wie Morton Hunt (1993) sie Die europäischen Philosophen des 17. Jahrhunderts nahmen die
nannte, machen deutlich, dass die Psychologie ihren Ursprung in Debatte wieder auf. John Locke trug seine Auffassungen vom
vielen Disziplinen und Ländern hat. Geist als »unbeschriebenes Blatt« vor, das von der Erfahrung be-
Die heutigen Psychologen sind wie ihre Pioniere Bürger schrieben wird. Descartes war anderer Meinung: Er glaubte,
vieler Staaten. Der International Union of Psychological Science dass bestimmte Gedanken und Ideen angeboren seien. Zwei
gehören 71 Staaten an, von Albanien bis Zimbabwe. Der Berufs- Jahrhunderte später wurde Descartes’ Auffassung durch einen
verband Deutscher Psychologen hatte 1946 bei seiner Gründung neugierigen Naturforscher bestätigt. Ein Student, den das Stu-
22 Mitglieder, heute gehören dem Berufsverband Deutscher dium langweilte, der jedoch ein leidenschaftlicher Sammler von
Psychologinnen und Psychologen ca. 11.500 Mitglieder in Käfern, Weichtieren und Muscheln war, brach 1831 zu einer
13 Landesgruppen und 11 Sektionen an. Die Deutsche Gesell- Seereise auf, die sich als historisch erweisen sollte. Der Reisende
schaft für Psychologie (Vereinigung der wissenschaftlich tätigen war der 22-jährige Charles Darwin, der nach seiner Reise da-
Psychologen) wurde 2004 100 Jahre alt; am 1. Januar 1953 hatte rüber grübelte, wie es zu der unglaublichen Vielfalt von Arten
sie 118 Mitglieder sowie 13 Ehrenmitglieder und heute etwa gekommen ist, auf die er unterwegs gestoßen war; darunter
2000 Mitglieder. 1960 gab es in Deutschland 2000 erwerbstätige Schildkröten auf einer Insel, die sich von denen auf den be-
Psychologen, im Jahr 2000 waren es bereits über 45.000 und nachbarten Inseln unterschieden. 1859 erschien Darwins Buch
2010 lag die Zahl der Erwerbstätigen mit einem Abschluss in Origins of Species (dtsch. Die Entstehung der Arten), in dem er
Psychologie laut ISA (Informationssystem Studienwahl und darlegte, dass die Mannigfaltigkeit der Lebensformen durch den
Arbeitsmarkt; http://www.info-isa.de) bei 78.000. In China gab evolutionären Prozess der natürlichen Selektion zustande ge-
8 Kapitel 1 · Prolog: Die Geschichte der Psychologie

. Abb. 1.10 Ein natürliches Anlage-Umwelt-Experiment. Da eineiige


Zwillinge die gleichen Gene haben, sind sie ideale Versuchspersonen in
Untersuchungen zum Einfluss von Anlage und Umwelt auf Temperament,
Intelligenz und andere Merkmale. Untersuchungen an eineiigen und zwei-
eiigen Zwillingen liefern ein breites Spektrum an Resultaten (wir kommen
später darauf zurück), die die Bedeutung von Anlage und Umwelt unter-
streichen. (© iofoto / Fotolia)

und Erfahrung erworben? Auf welche Weise haben die Erban-


. Abb. 1.9 Charles Darwin. Behauptete, dass Körperformen und Verhal-
tensweisen durch natürliche Selektion ausgebildet werden. (© photos.com) lagen bzw. die Umwelt einen Einfluss auf individuelle Unter-
schiede bezüglich Intelligenz und Persönlichkeit? Wird sexuelles
Verhalten stärker durch die biologische Veranlagung angetrieben
kommen ist: Die Natur wählt aus zufällig entstandenen Verände- oder mehr durch äußere Anreize hervorgerufen? Sollten wir
rungen bei einem Lebewesen die Variation aus, die zum Über- psychische Störungen – wie z. B. Depressionen – als Krankheit des
leben und zur Fortpflanzung eines Lebewesens in einer bestimm- Gehirns, als Denkstörung oder als beides behandeln?
ten Umwelt beiträgt (. Abb. 1.9). Darwins Prinzip der natür- Die Diskussion geht ständig weiter. Doch immer wieder
lichen Selektion – »Die beste Idee, die jemals jemand hatte«, so werden wir feststellen, dass sich in der modernen Wissenschaft
der Philosoph Daniel Dennett (1996) – ist auch heute noch, über der Gegensatz zwischen Anlage und Umwelt allmählich auflöst:
150 Jahre später, ein Ordnungsprinzip der Biologie. Auch für die Die Umwelt arbeitet mit dem, was durch die Anlage vorgegeben ist.
Psychologie des 21. Jahrhunderts ist das Evolutionsprinzip ein Biologisch ist unsere Spezies mit einer enormen Lern- und An-
wichtiges Prinzip. Das hätte Darwin sicher gefreut; denn er passungsfähigkeit ausgestattet. Außerdem ist alles, was sich psy-
glaubte, seine Theorie erkläre nicht nur Strukturen bei Lebe- chisch abspielt (jeder Gedanke, jedes Gefühl), gleichzeitig auch
wesen (z. B. die Frage, warum Eisbären ein weißes Fell haben), ein physiologisches Ereignis. Deshalb kann Depression sowohl
sondern auch das Verhalten von Lebewesen (beispielsweise den eine Störung des Gehirns als auch eine Störung des Denkens sein.
Ausdruck von Emotionen in Verbindung mit Lust oder Wut).
Prüfen Sie Ihr Wissen
Natürliche Selektion (»natural selection«) – das Prinzip, dass aus der Men-
ge der ererbten Merkmalsvarianten diejenigen an die nachfolgenden Gene- 5 Was ist natürliche Selektion?
rationen weitergegeben werden, die am meisten zur Fortpflanzung und
5 Welche Position vertritt die moderne Psychologie
zum Überleben der Lebewesen beitragen.
hinsichtlich der Anlage-Umwelt-Debatte?

Die Anlage-Umwelt-Debatte taucht durch das ganze Buch hin-


durch immer wieder auf, da die Psychologen heute den jewei-
ligen Beitrag von Biologie und Erfahrung erforschen und z. B. 1.2.2 Drei zentrale Analyseebenen
fragen, worin wir Menschen uns gleich sind (dank unserer ge- der Psychologie
meinsamen Biologie und Evolutionsgeschichte) und worin wir
uns unterscheiden (dank unserer unterschiedlichen Umwelten)
? 1.4 Was sind die zentralen Analyseebenen der Psychologie
(. Abb. 1.10). Beruhen Geschlechtsunterschiede auf einer biolo-
und welche Sichtweisen sind damit verbunden?
gischen Prädisposition oder werden sie durch die Gesellschaft
hervorgebracht? Kommen Kinder i. Allg. mit einer »angeborenen Jeder von uns ist ein komplexes System, ist aber auch Teil eines
Grammatik« zur Welt oder wird die Grammatik durch Lernen größeren sozialen Systems. Doch wir alle bestehen auch aus
1.2 · Moderne Psychologie
9 1
als die andere, aber die unterschiedlichen Sichtweisen, die in
. Tab. 1.1 beschrieben werden, ergänzen einander. Denken Sie
beispielsweise einmal darüber nach, wie sie Wut in einem ande-
ren Licht erscheinen lassen.
4 Ein Psychologe mit einem neurowissenschaftlichen Ansatz
würde die Hirnströme untersuchen, die den körperlichen
Zustand der Wut hervorbringen: »gerötetes Gesicht« oder
»der Kragen wird zu eng«.
4 Ein Psychologe mit einem evolutionstheoretischen Ansatz
würde analysieren, wie Wut bei unseren Urahnen das Über-
leben der Gene förderte.
4 Ein Psychologe mit einem verhaltensgenetischen Ansatz
würde untersuchen, auf welche Weise Anlage und Erfah-
rung die jeweils individuellen Temperamentsunterschiede
beeinflussen.
4 Ein Psychologe mit einem psychodynamischen Ansatz
würde einen Wutausbruch als Ventil für eine unbewusste
Feindseligkeit betrachten.
4 Ein Psychologe mit einem verhaltenstheoretischen Ansatz
. Abb. 1.11 Biopsychosozialer Ansatz. Diese integrierte Sichtweise würde herauszufinden versuchen, welche äußeren Reize
umfasst verschiedene Analyseebenen und bietet ein vollständigeres Bild zu wütenden Reaktionen oder aggressiven Handlungen
für jedes beliebige Verhalten oder jeden beliebigen mentalen Prozess
führen.
4 Ein Psychologe mit einem kognitiven Ansatz würde
untersuchen, wie unsere Interpretation einer Situation
kleineren Systemen, wie etwa unserem Nervensystem oder unsere Wut beeinflusst und wie die Wut auf unser
den Organen des Körpers, die wiederum aus noch kleineren Denken wirkt.
Systemen zusammengesetzt sind – Zellen, Molekülen und 4 Ein Psychologe mit einem soziokulturellen Ansatz würde
Atomen. erforschen, wie sich der Ausdruck von Wut von einer
Diese abgestuften Systeme legen nahe, auf unterschiedlichen Kultur zur anderen unterscheidet.
Analyseebenen zu arbeiten, die einander ergänzende Sicht-
weisen liefern. Es ist ein bisschen so, als wolle man erklären, Merken Sie sich: Wie verschiedene zweidimensionale Ansichten
warum Grizzlybären Winterschlaf halten. Tun sie es, weil der beim Betrachten eines dreidimensionalen Gegenstands, ist jede
Winterschlaf das Überleben und die Fortpflanzung ihrer Vor- der psychologischen Perspektiven hilfreich. Jede für sich zeigt
fahren begünstigte? Oder weil ihre innere biologische Veranla- jedoch nie das ganze Bild.
gung sie dazu treibt? Oder weil die Futtersuche wegen der Kälte
Prüfen Sie Ihr Wissen
im Winter schwierig ist? All diese Sichtweisen ergänzen sich ge-
genseitig, denn »alles hängt mit allem zusammen« (Brewer
5 Welchen Vorteil haben wir, wenn wir den biopsycho-
1996). Zusammen bilden die unterschiedlichen Analyseebenen
sozialen Ansatz beim Untersuchen psychischer Ereignisse
einen integrierten biopsychosozialen Ansatz, bei dem die Ein-
verwenden?
flüsse biologischer, psychologischer und soziokultureller Fak-
toren berücksichtigt werden (. Abb. 1.11).
Analyseebenen (»levels of analysis«) – die unterschiedlichen sich gegen-
seitig ergänzenden Auffassungen zur Analyse irgendeines vorgegebenen 1.2.3 Arbeitsfelder der Psychologie
Phänomens, die von der biologischen über die psychologische bis zur so-
ziokulturellen Auffassung reichen.
? 1.5 Was sind die Hauptarbeitsfelder der Psychologie?
Biopsychosozialer Ansatz (»biopsychosocial approach«) – eine inte-
grierende Sichtweise, die biologische, psychologische und soziokulturelle
Wenn Sie sich einen Chemiker bei der Arbeit vorstellen, dann
Analyseebenen berücksichtigt.
haben Sie vor Ihrem inneren Auge wahrscheinlich das Bild
Wie unterschiedliche akademische Disziplinen hat jeder der ver- eines Wissenschaftlers im weißen Kittel, umgeben von Glas-
schiedenen Ansätze in der Psychologie seine spezifischen Fragen gefäßen und Hightechgeräten. Stellen Sie sich einen Psychologen
und seine Begrenzungen. Die eine Sichtweise mag die biolo- vor, und Sie liegen richtig, wenn Sie folgende Bilder vor Augen
gische, psychologische oder soziokulturelle Ebene mehr betonen haben:
10 Kapitel 1 · Prolog: Die Geschichte der Psychologie

. Tab. 1.1 Aktuelle Ansätze in der Psychologie


1
Sichtweise Zentrale Fragestellung Typische Fragen Arbeitsfelder, die mit dieser
Sichtweise arbeiten

Neurowissenschaftlicher Auf welche Weise werden durch Wie werden Schmerzinformationen von unserer Biologische, kognitive
Ansatz den Körper und das Gehirn Hand in unser Gehirn weitergeleitet? und klinische Psychologie
Emotionen, Erinnerungen und Welche Verbindung gibt es zwischen der
sensorische Erfahrungen über- chemischen Zusammensetzung des Bluts und
haupt erst möglich? Stimmung bzw. Antrieb?

Evolutionstheoretischer Wie fördert die natürliche Auf welche Weise beeinflusst die Evolution Biologische, Entwicklungs-
Ansatz Selektion von Merkmalen die bestimmte Verhaltenstendenzen? und Sozialpsychologie
Weitergabe der eigenen Gene?

Verhaltensgenetischer Inwieweit sind unsere Gene Wie stark sind psychologische Merkmale wie Intelli- Persönlichkeits- und Entwick-
Ansatz und unsere Umwelt für unsere genz, Persönlichkeit, sexuelle Orientierung oder lungspsychologie
individuellen Unterschiede Depressionsanfälligkeit genetisch bestimmt?
verantwortlich? Wie stark werden sie durch die Umwelt geprägt?

Psychodynamischer Wie entwickelt sich Verhalten Wie können wir die Persönlichkeitsmerkmale eines Persönlichkeits- und klinische
Ansatz aus unbewussten Trieben und Menschen oder eine psychische Störung durch un- Psychologie sowie psychologi-
Konflikten? erfüllte Wünsche und Kindheitstraumata erklären? sche Beratung

Verhaltenstheoretischer Wie erlernen wir beobachtbare Wie lernen wir, vor bestimmten Objekten oder Klinische Psychologie,
Ansatz Reaktionen? Situationen Angst zu haben? Welche wirksamen psychologische Beratung
Methoden gibt es, unser Verhalten zu ändern, und Arbeits- und Organi-
etwa abzunehmen oder nicht mehr zu rauchen? sationspsychologie

Kognitiver Ansatz Wie kodieren, verarbeiten Wie benutzen wir Informationen, wenn wir Kognitive und klinische
und speichern wir Informa- uns erinnern, argumentieren oder ein Problem Psychologie, psychologische
tionen, und wie rufen wir sie lösen? Beratung sowie Arbeits- und
wieder ab? Organisationspsychologie

Soziokultureller Ansatz Wie variiert Verhalten und Worin gleichen wir uns als Mitglieder der einen Entwicklungs-, Sozial- und
Denken je nach Kultur und menschlichen Familie? Worin unterscheiden wir klinische Psychologie sowie
Situation? uns voneinander als Angehörige verschiedener psychologische Beratung
Umwelten?

4 einen Wissenschaftler im weißen Kittel, der ein Rattenhirn


untersucht;
4 einen Intelligenzforscher, der misst, wie schnell ein Säugling
mit Langeweile reagiert, indem er von einem bekannten
Bild wegschaut;
4 einen leitenden Angestellten, der ein neues Programm
zum Thema »Lebensstil und Gesundheit für Angestellte«
begutachtet;
4 eine Person, die am Computer sitzt und Daten auswertet,
um herauszufinden, ob das Temperament von adoptierten
Teenagern mehr Ähnlichkeit mit dem Temperament der
Adoptiveltern aufweist oder eher dem der biologischen
Eltern gleicht;
4 einen Therapeuten, der aufmerksam den depressiven
Gedankengängen eines Patienten folgt;
4 einen Reisenden auf dem Weg zu einer anderen Kultur,
um dort Daten über die unterschiedlichen Ausprägungen
menschlicher Grundwerte und Verhaltensweisen zu
sammeln; . Abb. 1.12 (© Claudia Styrsky)
4 einen Dozenten oder Autor, der anderen seine Freude an
der Psychologie vermittelt (. Abb. 1.12).
1.2 · Moderne Psychologie
11 1

. Abb. 1.13 Psychologie vor Gericht. Forensische Psychologen wenden psychologische Prinzipien und Methoden im Strafjustizsystem an. Sie können
die Glaubwürdigkeit von Zeugen einschätzen oder vor Gericht Aussagen über den Geisteszustand oder das zukünftige Risikopotenzial eines Angeklagten
machen. Auf dem Bild sieht man den norwegischen Massenmörder Anders Behring Breivik, bei dessen Verurteilung im Jahr 2012 psychologische Gutachten
eine entscheidende Rolle gespielt haben. (© picture alliance / dpa)

Die verschiedenen Arbeitsfelder, die unter den Begriff »Psycho- Grundlagenforschung (»basic research«) – reine Wissenschaft mit dem Ziel
der Vergrößerung des wissenschaftlich fundierten Basiswissens.
logie« fallen, sind ein Treffpunkt für unterschiedliche Diszipli-
nen. »Die Psychologie ist ein Knotenpunkt wissenschaftlicher Diese und andere Psychologen können auch angewandte For-
Fachrichtungen«, so John Cacioppo (2007), der Präsident der schung betreiben, die sich praktischen Problemen zuwendet.
Association of Psychological Science. Deshalb ist sie das ideale Arbeits- und Organisationspsychologen z. B. nutzen psycholo-
Feld für Menschen mit weit gespannten Interessen. Trotz ihrer gische Konzepte und Methoden am Arbeitsplatz, um Organisa-
unterschiedlichen Tätigkeiten, die von biologischen Experimen- tionen und Firmen bei der Einstellung und Weiterbildung von
ten bis hin zu kulturvergleichenden Studien reichen, eint die Ge- Mitarbeitern zu helfen, die Arbeitsmoral und die Produktivität
meinschaft der Psychologen eine gemeinsame Fragestellung: die zu fördern, Produkte zu entwerfen oder neue Verfahren einzu-
Beschreibung und Erklärung des Verhaltens und der mentalen führen (siehe auch . Abb. 1.13).
Prozesse, die ihm zugrunde liegen. Angewandte Forschung (»applied research«) – wissenschaftliche Unter-
Einige Psychologen betreiben Grundlagenforschung und suchungen zur Lösung konkreter Probleme.
arbeiten damit an der Wissensbasis der Psychologie. Auf den
folgenden Seiten werden wir eine große Vielfalt dieser Forscher Obwohl sich die meisten Psychologielehrbücher auf die
kennenlernen, darunter Biologische Psychologen, welche die Ver- Psychologie als Wissenschaft konzentrieren, ist sie ebenso ein
bindungen zwischen Gehirn und Verstand erforschen; Entwick- helfender Beruf, der sich praktischen Fragestellungen widmet,
lungspsychologen, die untersuchen, wie sich unsere Fähigkeiten wie beispielsweise, wie man eine glückliche Ehe führt, wie man
im Lauf unseres Lebens verändern; Kognitionspsychologen, Ängste oder Depressionen überwindet und wie man Kinder so
die damit experimentieren, wie wir wahrnehmen, denken und erzieht, dass sie sich gut entwickeln. Als eine Wissenschaft stützt
Probleme lösen; Persönlichkeitspsychologen, die unsere über- die Psychologie solche Interventionen im günstigsten Fall auf
dauernden Persönlichkeitsmerkmale erkunden; und schließlich Wirksamkeitsnachweise. Psychologen, die in der Beratung tätig
Sozialpsychologen, die erforschen, wie wir einander wahrnehmen sind, helfen den Menschen dabei, Herausforderungen und Kri-
und beeinflussen. sen (darunter Probleme beim Studium, im Beruf und in der Ehe)
12 Kapitel 1 · Prolog: Die Geschichte der Psychologie

zu bewältigen und ihre persönliche und soziale Funktionsfähig- Mit Sichtweisen, die biologische bis hin zu sozialen Bereichen
1 keit zu verbessern. Klinische Psychologen diagnostizieren und umfassen, und mit Arbeitsplätzen, die vom Labor bis zur Klinik
behandeln mentale, emotionale und Verhaltensprobleme. So- reichen, hat die Psychologie einen Bezug zu vielen anderen
wohl psychologische Berater als auch klinische Psychologen Disziplinen. Psychologen lehren an medizinischen Schulen,
führen Tests durch und werten diese aus, bieten Beratung und juristischen Fakultäten und sogar in theologischen Seminaren;
Therapie an und führen manchmal auch Grundlagen- oder an- sie arbeiten in Krankenhäusern, Fabriken und den Büros
gewandte Forschung durch. Ein Psychiater dagegen, der auch der großen Konzerne. Sie beteiligen sich an interdisziplinären
Psychotherapie anbieten kann, ist Arzt und darf Medikamente Studien, wie etwa der Psychohistorie (der psychologischen
verordnen und die physischen Ursachen psychischer Störungen Analyse historischer Persönlichkeiten), der Psycholinguistik
auch auf andere Weise behandeln. (der Untersuchung von Sprache und Denken) und der Psycho-
keramik (der Untersuchung eines Sprungs in der Schüssel)
Psychologische Beratung (»counseling psychology«) – ein Zweig der
Psychologie, der Menschen bei Problemen hilft, die sie im Leben (oft (. Abb. 1.14).1
in Bezug auf Studium, Arbeit oder Ehe) und beim Erreichen eines besseren
Wollen Sie mehr erfahren? Dann sehen Sie sich Anhang A1,
Allgemeinzustands haben.
»Arbeitsfelder der Psychologie«, am Ende dieses Buches an und
Klinische Psychologie (»clinical psychology«) – Teildisziplin der Psycholo-
gie, die Menschen mit psychischen Störungen untersucht, testet und besuchen Sie das Job-Portal »PsychJob« (http://www.hogrefe.de/
behandelt. psychjob), um mehr über die vielen interessanten Möglichkeiten
Psychiatrie (»psychiatry«) – Teildisziplin der Medizin, die sich mit zu erfahren, die jemandem mit Bachelor-, Master- und Doktor-
psychischen Störungen beschäftigt; wird von Ärzten ausgeübt, die sowohl Abschluss zur Auswahl stehen.
medizinische Behandlung (z. B. Medikamente) als auch Psychotherapie
anbieten. Die Psychologie nimmt auch Einfluss auf die moderne Kultur.
Wissen verändert uns. Neue Erkenntnisse über das Sonnen-
Um den historisch bedingten Fokus der Psychologie auf mensch- system oder die Theorie der Krankheitserreger verändern die
liche Probleme auszugleichen, haben Martin Seligman et al. Art, wie Menschen denken und handeln. Auch die Erkenntnisse
(2002, 2005, 2011) mehr Forschung zu menschlichen Stärken der Psychologie bewirken Veränderungen bei den Menschen:
und menschlichem Gedeihen gefordert. Ihre positive Psycholo- Sie verurteilen psychische Störungen seltener als moralisches
gie beschäftigt sich mit der wissenschaftlichen »Untersuchung Fehlverhalten, das durch Bestrafung oder Ausgrenzung be-
positiver Emotionen, positiver Charaktermerkmale und von handelbar ist. Sie sehen Frauen nicht mehr so oft als den
Institutionen, die zu solchen Dingen befähigen« (Seligman et al. Männern geistig unterlegen an. Sie betrachten und erziehen
2005). Sie fragt, was die Psychologie beitragen kann zu einem Kinder seltener als unwissende, willige Tiere, die gezähmt
»guten Leben«, bei dem die eigenen Fähigkeiten genutzt werden, werden müssen. »In all diesen Beispielen«, vermerkt Morton
und zu einem »sinnvollen Leben«, das über uns selbst hinaus- Hunt (1990, S. 206), »hat Wissen zu einer veränderten Ein-
weist. stellung und damit zu einer Verhaltensänderung beigetragen.«
Die Psychologie hat wohlfundierte und gründlich überprüfte
Positive Psychologie (»positive psychology«) – die wissenschaftliche
Untersuchung der Funktionsfähigkeit des Menschen mit dem Ziel, die Ideen zu bieten: in welcher Beziehung Körper und Geist zu-
Stärken und guten Eigenschaften zu entdecken und zu fördern, die das einander stehen, wie sich das Denken eines Kindes allmählich
Gedeihen des Einzelnen und der Gemeinschaft ermöglichen. entwickelt, wie wir unsere Wahrnehmungen konstruieren, wie
wir uns an unsere Erfahrungen erinnern (und wie wir uns falsch
Statt die Menschen so ändern zu wollen, dass sie in ihre Umwelt erinnern), wie sich die Menschen dieser Welt voneinander unter-
passen, arbeiten Gemeindepsychologen daran, soziale und scheiden bzw. einander ähnlich sind – und sobald Sie mit diesen
physische Umgebungen zu schaffen, die für alle gesund sind Gedanken in Berührung gekommen sind, denken Sie nicht mehr
(Bradshaw et al. 2009; Trickett 2009). Ist z. B. Mobbing in der so wie vorher.
Schule ein Problem, werden einige Psychologen versuchen, die
Mobbenden zu ändern. Mit dem Wissen, dass viele Schüler Pro-
» Hat sich der Geist erst einmal der Dimension einer größeren
Idee geöffnet, kehrt er nie zu seiner früheren Größe zurück.
bleme mit dem Übergang von der Primar- zur Sekundarstufe
Oliver Wendell Holmes (1809–1894)
haben, könnten sie einzelnen Kindern beibringen, diesen zu be-
wältigen. Gemeindepsychologen suchen stattdessen nach Wegen, Berücksichtigen Sie aber die Grenzen der Psychologie. Erwarten
die Schulerfahrung den Bedürfnissen der frühen Jugendzeit an- Sie nicht, dass die Psychologie so grundsätzliche Fragen beant-
zupassen. Um Mobbing zu verhindern, könnten sie untersuchen, wortet wie die, die der russische Schriftsteller Leo Tolstoi (1904)
wie die Schule und ihre Umgebung Mobbing unterstützen. gestellt hat: »Warum sollte ich leben? Warum sollte ich irgendet-
was tun? Gibt es irgendeinen Lebenszweck, den der unausweich-
Gemeindepsychologie (»community psychology«) – ein Zweig der Psy-
chologie, der untersucht, wie Menschen mit ihrem sozialen Umfeld inter-
agieren und wie soziale Institutionen Individuen und Gruppen beeinflussen. 1 Geständnis: Den letzten Teil des Satzes habe ich am 1. April geschrieben.
1.2 · Moderne Psychologie
13 1

. Abb. 1.14a–c Psychologie: Wissenschaft und Beruf. Psychologen


experimentieren mit, beobachten, testen und behandeln Verhalten. Hier
sehen wir, wie Psychologen a ein Kind testen, b emotionsbezogene
Physiologie messen und c ein Therapiegespräch führen. (a: © alexsokolov /
Fotolia; b: © mujdatuzel / iStockphoto; c: Mit freundlicher Genehmigung
von Jürgen Hoyer)

liche Tod, der uns alle erwartet, nicht ungeschehen macht und Prüfen Sie Ihr Wissen
zerstört?«
Obwohl viele der bedeutendsten Fragen des Lebens nicht 5 Ordnen Sie die Fachgebiete 1 bis 3 den Beschreibungen
durch die Psychologie beantwortet werden können, werden a bis c zu.
einige sehr wichtige bereits in einem ersten Psychologiekurs be- 1. Klinische Psychologie
leuchtet. Durch sorgfältige Forschung haben Psychologen Ein- 2. Psychiatrie
blicke in Gehirn und Geist, Träume und Erinnerungen, Depres- 3. Gemeindepsychologie
sion und Freude gewonnen. Selbst die unbeantworteten Fragen a. Arbeitet daran, soziale und physische Umgebungen
können unsere Sinne öffnen für das Mysteriöse der »Dinge, die zu schaffen, die für alle gesund sind
zu schön sind«, als dass wir sie schon verstehen könnten. Außer- b. Untersucht, testet und behandelt Menschen
dem kann Ihnen das Psychologiestudium, wie sie in 7 Kap. 2 mit psychischen Störungen, bietet aber gewöhnlich
sehen werden, helfen zu lernen, wie man wichtige Fragen stellt keine medizinische Behandlung an
und sie beantwortet – wie Sie kritisch denken können, indem Sie c. Teildisziplin der Medizin, die sich mit psychischen
konkurrierende Gedanken und Behauptungen gegeneinander Störungen beschäftigt
abwägen.
Die Psychologie vertieft unsere Wertschätzung dafür, wie wir
als Menschen wahrnehmen, denken, fühlen und handeln. Dabei
kann sie in der Tat unser Leben bereichern und unseren Blick
erweitern. Mit Hilfe dieses Buchs hoffen wir, unseren Beitrag zu
leisten, dass Sie auf dieses Ziel zusteuern. Der Hochschullehrer
Charles Eliot sagte vor einem Jahrhundert: »Bücher sind die
ruhigsten und beständigsten Freunde und die geduldigsten
Lehrer.«
14 Kapitel 1 · Prolog: Die Geschichte der Psychologie

1.3 Mit Psychologie lernen – Verbessern Sie Dann lesen Sie, wobei Sie aktiv nach der Antwort auf die
1 Ihre Merkfähigkeit und Ihre Noten! Frage suchen. Lesen Sie bei jeder Lernsitzung nur so viel von
einem Kapitel (für gewöhnlich einen einzelnen Hauptabschnitt),
wie sie aufnehmen können ohne zu ermüden. Lesen Sie aktiv und
? 1.6 Wie können Ihnen psychologische Prinzipien beim
kritisch. Stellen Sie Fragen. Machen Sie sich Notizen. Machen Sie
Lernen und Erinnern helfen?
die Ideen zu ihren eigenen: Wie lässt sich das, was Sie gerade
Nehmen Sie, wie die meisten Studenten, an, dass der beste Weg, gelesen haben, mit Ihrem eigenen Leben in Verbindung bringen?
neu Gelerntes zu festigen, wiederholtes Lesen ist? Was noch mehr Unterstützt es Ihre Vorannahmen oder stellt es diese in Frage?
hilft – und wozu dieses Buch daher ermutigt – ist wiederholtes Wie überzeugend sind die Beweise?
Selbsttesten und Prüfen des vorher gelernten Materials. Die Ge- Wenn Sie einen Abschnitt gelesen haben, rufen Sie sich seine
dächtnisforscher Henry Roediger und Jeffrey Karpicke (2006) Hauptgedanken noch einmal ins Gedächtnis. Testen Sie sich
nennen dieses Phänomen »Testeffekt« (wird manchmal auch selbst. Dies wird ihnen nicht nur helfen, herauszufinden, was Sie
als »retrieval practice effect« bezeichnet.) Sie betonen, dass Testen wissen; das Testen an sich wird Ihnen helfen, die Informationen
»ein leistungsstarkes Mittel zur Verbesserung, nicht nur zur effektiver zu lernen und zu speichern. Noch besser: Testen Sie
Beurteilung des Lernens« ist. In einer ihrer Untersuchungen sich selbst wiederholt. Um dies zu erleichtern, werden Ihnen im
konnten sich Studenten, wenn sie wiederholt getestet wurden, an Verlauf jedes Kapitels regelmäßig Möglichkeiten zum Prüfen
die Bedeutung von 40 zuvor gelernten Swahili-Wörtern viel Ihres Wissens angeboten (sehen Sie sich z. B. die Fragen in diesem
besser erinnern als Studenten, die dieselbe Zeit damit verbrach- Kapitel an). Nachdem Sie sich selbst diese Fragen beantwortet
ten, die Wörter erneut zu lernen (Karpicke u. Roediger 2008). haben, können Sie ihre Antworten anhand der im Anhang und
auf http://www.lehrbuch-psychologie.de aufgeführten Lösungen
Testeffekt (»testing effect«) – verbesserte Erinnerung nach Abruf statt
einfachem erneuten Lesen von Informationen. Auch manchmal bezeichnet überprüfen, und falls nötig nochmals lesen.
als »retrieval practice effect«. Zu guter Letzt, denken Sie noch einmal darüber nach: Lesen
Sie sich die Notizen, die Sie gemacht haben, wieder mit Blick
Wie Sie in 7 Kap. 9 sehen werden, müssen Sie Informationen auf den Aufbau des Kapitels durch und denken Sie schnell noch
aktiv aufarbeiten, um sie zu bewältigen. Ihr Verstand ist nicht wie einmal über das ganze Kapitel nach. Definieren Sie ein Konzept
Ihr Magen etwas, das passiv gefüllt wird, er ist vielmehr wie ein schriftlich oder mündlich, bevor Sie es noch einmal nachlesen,
Muskel, der durch Übung stärker wird. Unzählige Experimente um Ihr Verständnis zu überprüfen.
zeigen, dass Menschen am besten lernen und sich erinnern, Überblick verschaffen, Fragen stellen, lesen, abrufen, noch
wenn sie den Lernstoff in eigenen Worten formulieren, ihn wie- einmal durchdenken. Die Kapitel dieses Buches sind so aufge-
derholen und dann abrufen und noch einmal überdenken. baut, dass sie den Gebrauch der SQ3R-Arbeitstechnik erleich-
Die SQ3R-Lernmethode berücksichtigt diese Prinzipien tern. Überschriften und Verständnisfragen weisen auf Themen
(McDaniel et al. 2009; Robinson 1970). SQ3R ist ein Akronym und Konzepte hin, die Sie berücksichtigen sollten, während Sie
für fünf Schritte: Überblick verschaffen, Fragen stellen, lesen, ab- lesen. Der Stoff ist in Abschnitte von lesbarer Länge gegliedert.
rufen, noch einmal durchsehen (»survey, question, read, retrieve2, Die Fragen in den Kästen »Prüfen Sie Ihr Wissen« werden Sie
review«). dazu auffordern, noch einmal abzurufen, was Sie gelernt haben,
sodass Sie sich besser daran erinnern können. Die Rückblicke am
SQ3R – eine Lernmethode, die fünf Schritte umfasst: Survey, Question,
Read, Retrieve und Review, also Überblick verschaffen, Fragen stellen, lesen, Ende des Kapitels bieten weitere Möglichkeiten für aktives Auf-
abrufen und nochmal durchdenken. arbeiten und Selbsttesten, mit Fokus auf die Schlüsselbegriffe
und Verständnisfragen des Kapitels. (Alle Verständnisfragen und
Beim Bearbeiten eines Kapitels verschaffen Sie sich zunächst aus Antworten im Überblick finden Sie auch in Anhang A3 am Ende
der Vogelperspektive einen Überblick. Überfliegen Sie die Über- dieses Buches.) Überblick verschaffen, Fragen stellen, lesen …
schriften und stellen Sie fest, wie das Kapitel aufgebaut ist. Vier weitere Studientechniken können Ihr Lernen zusätzlich
Bevor Sie jeden Hauptabschnitt lesen, versuchen Sie die fördern:
nummerierten Verständnisfragen zu beantworten (in diesem Ab-
schnitt: »Wie können Ihnen psychologische Prinzipien beim Teilen Sie sich Ihre Lernzeit auf Einer der ältesten Befunde der
Lernen und Erinnern helfen?«). Roediger u. Finn (2009) haben Psychologie besteht darin, dass über die Zeit verteiltes Üben zu
herausgefunden: »bei dem Versuch, eine Antwort abzurufen, zu besserem Behalten führt als geballtes Üben. Sie werden Inhalte
scheitern ist tatsächlich hilfreich für das Lernen«. Wer sein Ver- besser erinnern, wenn Sie Ihre Lektüre auf mehrere Zeitab-
ständnis vor dem Lesen testet, und herausfindet, dass er etwas schnitte aufteilen – vielleicht 1 Stunde pro Tag an 6 Tagen die
noch nicht weiß, wird besser lernen und sich erinnern. Woche –, statt alles in einem langen Lektüremarathon abzuarbei-
ten. Statt beispielsweise den Versuch zu unternehmen, in einer
2 Auch manchmal »recite« genannt. Lernsitzung ein ganzes Kapitel zu lesen, sollten Sie einfach nur
1.4 · Kapitelrückblick
15 1
einen Abschnitt lesen und sich dann etwas anderem zuwenden. Prüfen Sie Ihr Wissen
Während Ihres Studiums der Psychologie auch immer wieder für
andere Fächer zu lernen, fördert langfristige Speicherung und 5 Der beschreibt die verbesserte
schützt vor übersteigertem Selbstvertrauen (Kornell u. Bjork Erinnerung, die durch wiederholten Abruf (wie
2008; Taylor u. Rohrer 2010). Wenn Sie Ihre Lernsitzungen auf beim Selbsttesten) statt einfaches erneutes Lesen neuer
mehrere Zeitabschnitte aufteilen, so erfordert das zudem eine Informationen entsteht.
disziplinierte Vorgehensweise beim Zeitmanagement. (Richard 5 Wofür steht das Akronym SQ3R?
O. Straub erklärt Zeitmanagement in einem hilfreichen Beitrag
im Anhang A2 dieses Buches.)

Lernen Sie, kritisch zu denken Ob beim Lesen oder in einer 1.4 Kapitelrückblick
Lehrveranstaltung, beachten Sie die Annahmen und Werte der
Autoren bzw. Dozenten. Welche Sichtweise oder Voreingenom- 1.4.1 Verständnisfragen
menheit liegt einem Argument zugrunde? Bewerten Sie Beweise.
Sind sie anekdotisch? Oder beruhen sie auf aussagefähigen Ex- jWas ist Psychologie?
perimenten? (Mehr dazu in 7 Kap. 2) Bewerten Sie Schlussfolge- 1.1 Was sind die wichtigen Meilensteine in der frühen Ent-
rungen. Gibt es alternative Erklärungen? wicklung der Psychologie?
1.2 Wie entwickelte sich die Psychologie von 1920 bis heute
Verarbeiten Sie Informationen in Lehrveranstaltungen aktiv Hö- weiter?
ren Sie sich die Hauptgedanken und Teilgedanken einer Vor-
lesung an. Schreiben Sie sie auf. Stellen Sie während und nach der jModerne Psychologie
Veranstaltung Fragen. Verarbeiten Sie die Informationen in einer 1.3 Was ist das wichtigste Thema in der Geschichte der Psycho-
Lehrveranstaltung, aber auch wenn Sie für sich alleine lernen, logie?
aktiv und Sie werden sie besser verstehen und behalten. Der Psy- 1.4 Was sind die zentralen Analyseebenen der Psychologie und
chologe William James forderte schon vor mehr als 100 Jahren: welche Sichtweisen sind damit verbunden?
»Keine Rezeption ohne Reaktion, kein Eindruck ohne ... Aus- 1.5 Was sind die Hauptarbeitsfelder der Psychologie?
druck.« Machen Sie sich die Informationen zu eigen. Verfassen
Sie Notizen in Ihren eigenen Worten. Setzen Sie, was Sie lesen, in jMit Psychologie lernen – Verbessern Sie Ihre
Bezug zu dem, was Sie bereits wissen. Erzählen Sie jemand ande- Merkfähigkeit und Ihre Noten
rem davon. (Wie jeder Lehrer bestätigen wird, bedeutet lehren 1.6 Wie können Ihnen psychologische Prinzipien beim Lernen
sich erinnern.) und Erinnern helfen?

Lernen Sie wiederholt Die Psychologie lehrt uns, dass wieder-


holtes Lernen das Abspeichern verbessert. Wir sind dafür an- 1.4.2 Schlüsselbegriffe
fällig zu überschätzen, wie viel wir wissen. Sie können ein Kapitel
verstehen, während Sie es lesen, doch dieses Gefühl der Vertraut- 4 Analyseebenen
heit kann Sie in falscher Sicherheit wiegen. Widmen Sie zusätz- 4 Angewandte Forschung
liche Lernzeit der Prüfung Ihres Wissens, indem Sie die Fragen 4 Anlage-Umwelt-Debatte
in den Kästen »Prüfen Sie Ihr Wissen« nutzen. 4 Behaviorismus
Die Gedächtnisexperten Elizabeth Bjork und Robert Bjork 4 Biopsychosozialer Ansatz
(2011) schlagen als Quintessenz zur Verbesserung Ihrer Merk- 4 Gemeindepsychologie
fähigkeit und Ihrer Noten Folgendes vor: 4 Grundlagenforschung
4 Humanistische Psychologie
» Verbringen Sie weniger Zeit auf der Input-Seite und mehr 4 Klinische Psychologie
Zeit auf der Output-Seite, indem Sie z. B. aus dem Gedächt- 4 Kognitive Neurowissenschaft
nis zusammenfassen, was Sie gerade gelesen haben, oder 4 Natürliche Selektion
sich mit Freunden treffen und sich gegenseitig Fragen stel- 4 Positive Psychologie
len. Alle Aktivitäten, die beinhalten, dass Sie sich selbst 4 Psychiatrie
prüfen – d. h., Aktivitäten, die von Ihnen verlangen, dass Sie 4 Psychologie
Informationen abrufen oder erzeugen, anstatt sie nur für 4 Psychologische Beratung
sich zu wiederholen – werden Ihr Lernen sowohl beständi- 4 SQ3R
ger als auch flexibler machen. 4 Testeffekt
16 Kapitel 1 · Prolog: Die Geschichte der Psychologie

1.4.3 Weiterführende deutsche Literatur


1
Galliker, M., Klein, M., & Rykart, S. (2007). Meilensteine der Psychologie:
Die Geschichte der Psychologie nach Personen, Werk und Wirkung.
Stuttgart: Kröner.
Graumann, C. F. (1985). Psychologie im Nationalsozialismus. Heidelberg:
Springer.
Lück, H. E. (2013). Geschichte der Psychologie: Strömungen, Schulen, Ent-
wicklungen (6. Aufl.). Stuttgart: Kohlhammer.
Schneider, W. (2005). Zur Lage der Psychologie in Zeiten hinreichender,
knapper und immer knapperer finanzieller Ressourcen: Entwicklungs-
trends der letzten 35 Jahre. Psychologische Rundschau, 56, 2–19.
Schönpflug, W. (2013). Geschichte und Systematik der Psychologie (3. Aufl.).
Weinheim: Beltz.
Volkmann-Raue, S., & Lück, H. E. (2011). Bedeutende Psychologinnen des
20. Jahrhunderts. Biographien und ausgewählte Schriften. Wiesbaden:
Springer VS.
17 2

Kritisch denken
mit wissenschaftlicher Psychologie
David G. Myers

2.1 Die Notwendigkeit der Psychologie als Wissenschaft – 18


2.1.1 Wussten wir das schon lange? Verzerrung durch nachträgliche Einsicht
(Hindsightbias) – 19
2.1.2 Übertriebene Selbstsicherheit – 20
2.1.3 Wahrnehmung von Ordnung bei zufälligen Ereignissen – 21
2.1.4 Die wissenschaftliche Haltung: Neugierig, skeptisch und bescheiden – 22
2.1.5 Kritisches Denken – 24

2.2 Wie stellen und beantworten Psychologen Fragen? – 25


2.2.1 Die wissenschaftliche Methode – 25
2.2.2 Beschreibung – 26
2.2.3 Korrelation – 30
2.2.4 Experiment – 33

2.3 Statistische Argumentation im Alltagsleben – 36


2.3.1 Datenbeschreibung – 36
2.3.2 Signifikante Unterschiede – 39

2.4 Häufig gestellte Fragen zur Psychologie – 41

2.5 Kapitelrückblick – 46
2.5.1 Verständnisfragen – 46
2.5.2 Schlüsselbegriffe – 46
2.5.3 Weiterführende deutsche Literatur – 47

D. G. Myers, Psychologie,
DOI 10.1007/978-3-642-40782-6_2, © Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2014
18 Kapitel 2 · Kritisch denken mit wissenschaftlicher Psychologie

Millionen von Menschen interessieren sich für »Psychologie«,


weil sie neugierig auf Menschen sind und weil sie hoffen, ihre
eigenen kleinen Leiden heilen zu können. Sie hören sich psycho-
2 logische Beratungsgespräche im Radio an, lesen Artikel über die
Kräfte der Seele, nehmen an Hypnoseseminaren zur Raucher-
entwöhnung teil, tauchen ein in Selbsthilfe-Internetseiten und
verschlingen Selbsthilfebücher über die Bedeutung der Träume,
den Pfad zur ekstatischen Liebe und darüber, wie man persön-
liches Glück erlangt.
Andere wiederum fragen sich angesichts mancher psycho-
logischer Wahrheiten: Stimmt es, dass die Bindung zwischen
Mutter und Kind in den ersten Stunden nach der Geburt ent-
steht? Wie – und in welchem Ausmaß – prägt die Erziehung
die Persönlichkeit und Fähigkeiten eines Kindes? Sind erstge- . Abb. 2.1 Die Grenzen der Intuition. Personalchefs neigen dazu, ihren
borene Kinder stärker leistungsorientiert? Kann Psychotherapie »Bauchgefühlen« bei der Beurteilung von Stellenbewerbern zu sehr zu
vertrauen, zum einen, weil sie sich an die Fälle erinnern, in denen sich
heilen?
ihr guter Eindruck als richtig erwies, zum anderen, weil sie nicht wissen,
Wie können wir bei solchen Fragen simple Meinungen von dass ein von ihnen abgelehnter Bewerber in einer anderen Firma erfolg-
stichhaltigen Schlussfolgerungen unterscheiden? Wie können reich war. (© contrastwerkstatt / Fotolia)
wir die Psychologie so sinnvoll einsetzen, dass wir verstehen,
warum die Menschen so und nicht anders denken, fühlen und
handeln? zwei Ebenen – einer bewussten und einer unbewussten –, wobei
der größere Teil dieser Prozesse automatisch abläuft, sozusagen
»off-screen«. Wie Jumbojets fliegen wir meistens mit Autopilot.
2.1 Die Notwendigkeit der Psychologie Handeln wir also klug, wenn wir auf das Flüstern unserer
als Wissenschaft inneren Weisheit hören, uns einfach auf die »Kraft in uns«
verlassen? Oder sollten wir unsere intuitiven Ahnungen öfters
? 2.1 Wie illustrieren der Verzerrungseffekt durch nachträg- skeptisch überprüfen?
liche Einsicht (Hindsightbias), die übertriebene Selbst- So viel steht fest: Oftmals unterschätzen wir, wie fehleran-
sicherheit und die Tendenz, in zufälligen Ereignissen fällig die Intuition ist. Meine geografische Intuition sagt mir, dass
eine Ordnung wahrzunehmen, weshalb wissenschaftlich Reno östlich von Los Angeles liegt, dass sich Rom südlich von
fundierte Antworten der Intuition und dem gesunden New York und Atlanta östlich von Detroit befindet. Aber das ist
Menschenverstand überlegen sind? falsch, falsch und nochmals falsch.
Die in den folgenden Kapiteln dargestellten Experimente
Manche Menschen sagen, Psychologie sei letztlich nichts anderes zeigen, dass Menschen ihre Fähigkeit, Lügen zu entlarven, als
als in einen Fachjargon gepresstes Allgemeinwissen. »Gibt es besser wahrnehmen als sie eigentlich ist. Ebenso überschätzen
etwas Neues unter der Sonne? Ihr werdet dafür bezahlt, dass ihr Menschen die Genauigkeit ihrer Augenzeugenberichte, ihre
mit ausgefallenen Methoden das beweist, was meine Großmutter Beurteilungen von Stellenbewerbern (. Abb. 2.1), ihre Gefahren-
schon immer wusste.« Andere Menschen glauben an die intui- vorhersagen oder ihr Talent bei der Auswahl von Aktien. »Das
tiven Fähigkeiten des Menschen: »Tief drin schlummert in jedem erste Prinzip«, sagte Richard Feynman (1997), »besteht darin,
von uns ein instinktives, inniges Bewusstsein, das uns – wenn wir dass du dich selbst nicht hinters Licht führen darfst – und du bist
es zulassen – die verlässlichste Führung gibt«, sagte Prinz Charles die Person, welche am leichtesten zu täuschen ist.«
(2000). Der frühere US-Präsident George W. Bush beschrieb Tatsächlich beobachtete die Schriftstellerin Madeleine
dem Journalisten Bob Woodward (2002) dieses Gefühl, um zu L’Engle (1973): »Der bloße Intellekt ist ein ausgesprochen un-
erklären, wieso er den Irak-Krieg eröffnet habe: »Ich bin ein genaues Werkzeug.« Drei Phänomene – der Verzerrungseffekt
Bauchmensch. Ich verlasse mich auf meine Instinkte.« durch nachträgliche Einsicht (Hindsightbias), die Überschätzung
Prinz Charles und der ehemalige Präsident Bush befinden unserer Urteilsfähigkeit und unsere Tendenz, in zufälligen Ereig-
sich in guter Gesellschaft, wenn man die lange Liste an populären nissen eine Ordnung wahrzunehmen – machen deutlich, warum
Psychologiebüchern zu »intuitivem Management«, »intuitivem wir uns nicht nur auf Intuition und gesunden Menschenverstand
Handel« und »intuitiver Heilung« betrachtet. Die heutige psy- verlassen können.
chologische Wissenschaft zeigt, dass Intuition tatsächlich eine
große Rolle spielt. Wie wir noch sehen werden, bewegen sich » Wer sich auf seinen Verstand verlässt, ist ein Tor.
unser Denken, unser Gedächtnis und unsere Einstellungen auf Sprüche 28, 26
2.1 · Die Notwendigkeit der Psychologie als Wissenschaft
19 2
2.1.1 Wussten wir das schon lange? weil der gesunde Menschenverstand uns immer in die Irre
Verzerrung durch nachträgliche Einsicht schickt, sondern weil die Antwort nach dem Ereignis gegeben
(Hindsightbias) wird. Mit dem gesunden Menschenverstand lässt sich viel leich-
ter beschreiben, was passiert ist, als was passieren wird. So sagte
Es ist leicht, schlau zu sein und das Schwarze erst dann um der Physiker Niels Bohr angeblich: »Vorhersagen sind recht
den Pfeil zu malen, wenn er schon getroffen hat. Nach jedem schwierig, vor allem wenn es um die Zukunft geht.«
Abwärtstrend der Börse sagen die Investmentgurus, die Börse sei Der Hindsightbias wurde in etwa 100 Studien sowohl bei
doch ganz offensichtlich überreif für eine Korrektur gewesen. Kindern als auch bei Erwachsenen in vielen unterschiedlichen
Nach dem Fußballspiel loben wir den Coach für das »kämpfe- Ländern beobachtet (Blank et al. 2007; . Abb. 2.2, . Abb. 2.3).
rische Spiel«, welches zum Sieg führte. Hat die Mannschaft je- Dennoch hat der gesunde Menschenverstand häufig Recht.
doch keinen Erfolg, machen wir den Coach hinterher für das Yogi Berra sagte einmal: »Du kannst vieles beobachten, wenn du
»lahme Spiel« verantwortlich. Nach einem Krieg oder einer Wahl genau hinschaust.« (Wir müssen Berra für weitere Diamanten
scheint uns das jeweilige Ergebnis offensichtlich. Obwohl uns die aus der Sprüchekiste danken, wie beispielsweise »Niemand
Geschichte im Rückblick wie eine Folge unvermeidlicher Ereig- kommt je hierher – es ist ein zu großes Gedränge« und »Wenn
nisse vorkommen kann, wird die tatsächliche Zukunft selten die Leute nicht raus auf den Baseballplatz kommen wollen, wird
vorhergesehen. Keine Person hat je in ihrem Tagebuch festgehal- sie niemand daran hindern können.«) Wir alle sind Verhaltens-
ten: »Heute begann der 100-jährige Krieg.« beobachter. Deshalb wäre es schon erstaunlich, wenn nicht zu-
mindest ein paar Ergebnisse der psychologischen Forschung
» Wir leben das Leben vorwärts, aber wir verstehen
schon vorher bekannt gewesen wären. Viele Menschen glauben,
es rückwärts.
dass Liebe Glück hervorbringt – und sie haben Recht (wir alle
Der Philosoph Søren Kierkegaard (1813–1855)
haben ein tiefes »Bedürfnis nach Zugehörigkeit«, wie wir in
Der Hindsightbias (auch bekannt als Rückschaufehler) ist leicht 7 Kap. 12 erfahren werden). Daniel Gilbert, Brett Pelham und
zu demonstrieren: Geben Sie der Hälfte der Mitglieder einer Douglas Krull (2003) merken sogar an: »Gute Ideen aus dem
Gruppe einen angeblich wissenschaftlichen Befund, während Bereich der Psychologie kommen uns oft seltsam vertraut vor.
Sie der anderen Hälfte das genaue Gegenteil präsentieren. Zu der Und in dem Augenblick, in dem wir auf sie stoßen, meinen wir,
ersten Gruppe sagen Sie: »Psychologen haben herausgefunden, sicher zu sein, dass wir schon einmal nahe daran waren, das
dass Trennung die romantische Anziehung abschwächt. Das Gleiche zu denken, und es einfach nur nicht geschafft haben, den
Sprichwort sagt es ja auch: ›Aus den Augen, aus dem Sinn‹«. Gedanken niederzuschreiben.« Gute Ideen sind wie gute Er-
Dann bitten Sie die Teilnehmer, darüber nachzudenken, warum findungen; einmal vorhanden, sind sie nicht mehr wegzudenken
das so ist. Die meisten Menschen können und werden an diesem (Warum hat es so lange gedauert, bis jemand Reisekoffer mit
wahren Befund nichts Erstaunliches finden. Rollen oder »Post-its« erfunden hat?).
Der zweiten Gruppe erzählen Sie das genaue Gegenteil, Obwohl der gesunde Menschenverstand und unsere Intui-
nämlich: »Psychologen haben herausgefunden, dass romantische tion auf Informationen beruhen, die wir aus unzähligen bei-
Anziehung durch Trennung stärker wird. Wie das Sprichwort läufigen Beobachtungen gewonnen haben, liegen sie manchmal
sagt: ›Liebe wächst mit der Entfernung‹«. Die Teilnehmer werden völlig daneben. In späteren Kapiteln werden wir sehen, wie die
auch dieses unwahre Resultat mühelos erklären, und die über- Wissenschaft verbreitete Vorstellungen über den Haufen ge-
wiegende Mehrheit wird nicht überrascht sein. Wenn zwei ge- worfen hat – dass Aufdringlichkeit zu Geringschätzung führt,
gensätzliche Befunde mit dem »gesunden Menschenverstand« dass Träume die Zukunft vorhersagen oder dass die meisten
erklärt werden können, dann haben wir ein Problem. von uns nur 10% des Gehirns nutzen. Wir werden auch sehen,
welche Überraschungen uns die Forschung mit ihrer Entdeckung
» Alles scheint ein Gemeinplatz zu sein, wenn es erst einmal
der chemischen Botenstoffe des Gehirns bereitet, die unsere
erklärt ist.
Stimmungen und unsere Erinnerungen steuern, oder mit den
Dr. Watson zu Sherlock Holmes
Forschungsergebnissen dazu, über welche Fähigkeiten Tiere ver-
fügen und wie sich Stress auf unsere Fähigkeit zur Krankheits-
Hindsightbias (Verzerrung durch nachträgliche Einsicht, »hindsight
bias«) – Tendenz, nach dem Eintreten eines Ereignisses zu glauben, abwehr auswirkt.
man hätte es vorhersehen können (auch bekannt als Rückschaufehler).

Derartige Irrtümer bei unserem Erinnerungsvermögen und


unseren Erklärungsversuchen machen deutlich, weshalb wir
psychologische Forschung brauchen. Die Antwort auf die Frage,
was ein Mensch gefühlt und warum er so und nicht anders
gehandelt hat, kann irreführend sein, und zwar nicht deshalb,
20 Kapitel 2 · Kritisch denken mit wissenschaftlicher Psychologie

. Abb. 2.2 Hindsightbias. Bei den Arbeiten an der Ölbohrplattform Deepwater Horizon im Jahr 2010 nahmen BP-Angestellte einige »Abkürzungen« und
ignorierten ein paar Warnschilder. Dabei hatten sie nicht die Absicht, ihre Arbeitskollegen oder die Umwelt gravierenden Risiken auszusetzen. Nach der
Ölkatastrophe wurde – mit dem Vorteil der späteren Einsicht – die Dummheit dieser Entscheidungen offensichtlich. (© EPA / US COAST GUARD / HANDOUT/
picture alliance / dpa)

2.1.2 Übertriebene Selbstsicherheit

Beispiele für übertriebene Selbstsicherheit gibt es in der Ge-


schichte viele:

» Ihr Sound gefällt uns nicht. Gitarrengruppen sind nicht


mehr gefragt.
Erklärung von Decca Records, warum sie mit den Beatles
1962 keinen Plattenvertrag schließen wollten

» Die Computer der Zukunft werden wahrscheinlich nicht


einmal eineinhalb Tonnen wiegen.
Popular Mechanics, 1949

» Sie könnten nicht einmal einen Elefanten treffen auf diese


Entfernung.
Die letzten Worte des Generals John Sedgwick vor seinem
. Abb. 2.3 Hindsightbias (© Claudia Styrsky) Tod in einer Schlacht des Amerikanischen Bürgerkriegs, 1864
2.1 · Die Notwendigkeit der Psychologie als Wissenschaft
21 2

» Für unsere amerikanischen Vettern mag das Telefon ja 2.1.3 Wahrnehmung von Ordnung
eine nützliche Erfindung sein, aber nicht für uns. Wir haben bei zufälligen Ereignissen
genügend Botenjungen.
Urteil einer britischen Expertengruppe über die Erfindung In unserer naturgegebenen Bereitschaft, unserer Welt einen Sinn
des Telefons zu verleihen – eine Eigenschaft, die der Dichter Wallace Stevens
unsere »Ordnungswut« nennt – neigen wir dazu, Muster wahr-
Wir Menschen neigen dazu, zu glauben, wir wüssten mehr, als zunehmen. Menschen sehen ein Gesicht im Mond, hören sata-
wir tatsächlich wissen. Auf die Frage, wie sicher wir sind, die nische Botschaften in Musikstücken oder erblicken das Abbild
richtigen Antworten auf Sachfragen zu wissen (Liegt Boston der Jungfrau Maria auf einem gegrillten Käsesandwich. Selbst
nördlich oder südlich von Paris?) antworten wir eher mit Selbst- in zufällig zusammengewürfelten Informationen finden wir oft-
vertrauen als mit korrektem Wissen.1 Schauen Sie sich einmal die mals Ordnung, denn – und damit müssen wir uns wohl oder übel
drei folgenden Anagramme an: abfinden – eine zufällige Abfolge von Daten sieht häufig nicht
Serwas → Wasser zufällig aus (Falk et al. 2009; Nickerson 2002, 2005). Tatsächlich
Tessmy → System treten in Zufallssequenzen Muster oder Reihen (wie wiederholte
Hartox → Thorax Ziffern) öfter auf, als die Menschen glauben (Oskarsson et al.
2009). Um mir das einmal selbst zu demonstrieren – und Sie
Was glauben Sie, wie viele Sekunden Sie etwa gebraucht hätten, können das natürlich selbst auch probieren –, habe ich eine
um jedes dieser Anagramme aufzulösen? Sobald man die Lösung Münze 51-mal geworfen. Hier die Ergebnisse:
kennt, sorgt die nachträgliche Einsicht dafür, dass sie uns absolut
1. K 11. Z 21. Z 31. Z 41. K 51. Z
selbstverständlich erscheint. Das führt zu übertriebenem Selbst- 2. Z 12. K 22. Z 32. Z 42. K
vertrauen. Wir glauben, wir hätten die Lösung in höchstens 3. Z 13. K 23. K 33. Z 43. K
10 Sekunden gefunden, während tatsächlich der Durchschnitt 4. Z 14. Z 24. Z 34. Z 44. K
5. K 15. Z 25. Z 35. Z 45. Z
bei 3 Minuten liegt. Und diese 3 Minuten hätten Sie auch ge-
6. K 16. K 26. Z 36. K 46. K
braucht, wenn Sie die Lösung nicht gekannt hätten. Probieren Sie 7. K 17. Z 27. K 37. Z 47. K
es mit einem weiteren Anagramm aus: ACHENFI.2 8. Z 18. Z 28. Z 38. Z 48. Z
Sind wir besser, wenn es darum geht, soziales Verhalten vor- 9. Z 19. K 29. K 39. K 49. Z
10. Z 20. K 30. Z 40. Z 50. Z
herzusagen? Der Psychologe Philip Tetlock (1998, 2005) von der
University of Pennsylvania sammelte mehr als 27.000 Vorhersa-
gen von Experten zu Weltereignissen, beispielsweise zur Zukunft Beim Anschauen dieser Ergebnisse springen einem Muster in die
von Südafrika oder zur Frage, ob sich Quebec von Kanada un- Augen: Die Würfe 10 bis 22 haben ein fast perfektes Muster von
abhängig machen wird. Sein wiederholter Befund: Experten, die Paaren aus Kopf und Zahl. Von 30 bis 38 hatte ich eine »Pech-
angegeben hatten, ihrer Sache zu durchschnittlich 80% sicher zu strähne« und warf bei 9 Würfen nur einmal Kopf. Aber dann war
sein, hatten in weniger als 40% der Fälle Recht behalten. Nichts- mir Fortuna gnädig, und ich warf bei den nächsten 9 Würfen
destotrotz behielten sogar die Experten mit den falschen Pro- 7-mal Kopf. Ähnliche Glücks- und Pechsträhnen kommen in
gnosen ihr Selbstvertrauen, indem sie anmerkten, »beinahe etwa so häufig, wie man es bei zufälligen Folgen erwarten würde,
Recht« gehabt zu haben. »Die Separatisten in Quebec haben das beim Basketball, beim Fußball und beim Zusammenstellen eines
Sezessionsreferendum beinahe gewonnen.« Portfolios von Kapitalanlagen vor (Gilovich et al. 1985; Malkiel
2007; Myers 2002). Ob es nun um den Münzwurf, um Basketball
Prüfen Sie Ihr Wissen
oder darum geht, die Leistung eines Anlageberaters zu über-
5 Wenn Freunde von uns anfangen, miteinander auszu- prüfen, Zufallsfolgen sehen oft nicht zufällig aus und werden
gehen, haben wir oft das Gefühl, wir hätten von Anfang deshalb oft überinterpretiert. (»Er hat eine Glückssträhne, lassen
an gewusst, dass die beiden füreinander bestimmt sind. wir ihn den Elfmeter ausführen.«)
Wieso ist das so? Was beweist nun dieses Muster von Glücks- und Pechsträh-
nen? Habe ich meine Münze auf irgendeine paranormale Art
gesteuert? Bin ich aus meiner Pechsträhne mit Zahlwürfen in
eine Glückssträhne mit Kopftreffern gerutscht? Aber eine Erklä-
rung ist gar nicht erforderlich, denn das sind genau die Zahlen,
die man bei solchen vom Zufall gesteuerten Daten antrifft. Ver-
gleicht man jeden Wurf mit dem nächsten, dann ergibt sich,
dass 24 der 50 Würfe jeweils ein anderes Ergebnis erbrachten:
1 Boston befindet sich südlich von Paris. Das ist genau das beinahe 50:50-Ergebnis, das beim Münzwurf
2 Die Lösung des Anagramms: EINFACH. zu erwarten ist. Trotz des scheinbaren Musters gibt das Ergebnis
22 Kapitel 2 · Kritisch denken mit wissenschaftlicher Psychologie

(1989) berechneten, dass bei den Millionen Menschen, die ein


Los der staatlichen Lotterie kaufen, ziemlich sicher irgendeiner
irgendwann zweimal einen staatlichen Jackpot knacken wird.
2 Tatsächlich können die unglaublichsten Dinge geschehen, sagen
die Statistiker Persi Diaconis und Frederick Mosteller (1989),
»wenn die Stichprobe nur groß genug ist«. Ein Ereignis, das
täglich nur einen Menschen aus einer Milliarde betrifft, kommt
immerhin 7-mal täglich vor, das heißt, 2500-mal pro Jahr
(. Abb. 2.4, . Abb. 2.5).

» Ein wirklich außergewöhnlicher Tag wäre ein Tag ohne außer-


gewöhnliche Ereignisse.
Statistiker Persi Diaconis (2002)

. Abb. 2.4 Bizarre Sequenz computergenerierter Zufallszahlen. Sieht Merken Sie sich: Hindsightbias, übertriebene Selbstsicherheit
zwar merkwürdig aus, ist aber tatsächlich nicht unwahrscheinlicher als jede und die Wahrnehmung von Ordnung bei zufälligen Ereignissen
andere Zahlenfolge. (© Renate Schulz)
bringen uns dazu, unsere Intuition zu überschätzen. Aber die
wissenschaftliche Forschung kann uns dazu verhelfen, Realität
und Täuschung voneinander zu unterschieden.

2.1.4 Die wissenschaftliche Haltung:


Neugierig, skeptisch und bescheiden

? 2.2 Wie hängen die drei Hauptkomponenten der wissen-


schaftlichen Haltung mit dem kritischen Denken zusammen?

Was aller Wissenschaft in erster Linie zugrunde liegt, sind hart-


näckige Neugier und die Leidenschaft, Dinge zu erforschen und
zu verstehen. Dabei will man weder Irrtümer in die Welt setzen
noch ihnen erliegen. Manche Fragen gehen über die Wissen-
schaft hinaus (Gibt es ein Leben nach dem Tod?). Die Antwort auf
solche Fragen erfordert auch ein Stück Glauben. Wie bei vielen
. Abb. 2.5 In einer ausreichend großen Reihe zufälliger Geschehnisse anderen Ideen (Gibt es Menschen mit übersinnlicher Wahrneh-
treten Ereignisabfolgen auf, die uns merkwürdig erscheinen. Während
mung? Und lässt sich dies nachweisen?) ist auch hier die Frage des
der Fußballweltmeisterschaft 2010 stellte man einem deutschen Oktopus –
Paul, »dem Orakel von Oberhausen« – zwei Boxen zur Verfügung. Beide Beweises ausschlaggebend. Lassen Sie die Fakten für sich selbst
enthielten Muscheln und auf der einen Seite eine Nationalflagge. Paul sprechen.
entschied sich bei 8 Spielen 8-mal für die richtige Box. Er sagte damit den Der Zauberer James Randi bedient sich dieser empirischen
Ausgang der 7 Spiele mit deutscher Beteiligung sowie Spaniens Triumph im
Methode, wenn er die auf den Prüfstand stellt, die behaupten, die
Finale korrekt voraus. (© Roland Weihrauch dpa / picture alliance)
Aura des Menschen sehen zu können (. Abb. 2.6):
Randi: Sehen Sie eine Aura um meinen Kopf?
eines Wurfes keinerlei Hinweis auf das Ergebnis des folgenden Aura-Seher: Ja, ich sehe tatsächlich Ihre Aura.
Wurfes. Randi: Und wenn ich diese Zeitschrift vor mein Gesicht halte,
Manche Dinge sind jedoch so ungewöhnlich, dass wir nicht können Sie die Aura dann immer noch sehen?
Aura-Seher: Natürlich.
ohne Weiteres eine zufallsbezogene Erklärung akzeptieren kön- Randi: Wenn ich mich also hinter diese Wand stelle, die kaum
nen (wie es beim Münzenwerfen doch der Fall war). Statistiker höher ist als ich, dann könnten Sie feststellen, wo ich stehe,
finden das allerdings weniger geheimnisvoll. Als Evelyn Marie weil die Aura über meinem Kopf zu sehen ist. Richtig?
Adams zweimal die New-Jersey-Lotterie gewann, meldeten die
Zeitungen, dass die Quote, dieses Kunststück zu vollbringen, bei Nach Randis Aussage war noch nie ein Aura-Seher bereit, sich
1 zu 17 Billionen liegt. Seltsam? Nun, die Chance von 1 zu 17 Bil- dieser Prüfung zu unterziehen.
lionen ist tatsächlich genau die Chance, mit der eine bestimmte Ganz gleich, wie sinnvoll oder wie verrückt eine Idee auch
Person, die zwei Lose der New-Jersey-Lotterie kauft, zweimal sein mag: Die hartnäckige Frage lautet: Klappt es? Lässt sich das,
gewinnt. Die Statistiker Stephen Samuels und George McCabe was vorhergesagt wird, durch Überprüfung bestätigen? Manch-
2.1 · Die Notwendigkeit der Psychologie als Wissenschaft
23 2
Einstellung eines Wissenschaftlers: Skepsis ohne Zynismus und
Offenheit ohne Leichtgläubigkeit.
Ein polnisches Sprichwort sagt: »Wer Gewissheit im Glauben
will, muss mit Zweifeln anfangen.« Die wissenschaftlich tätigen
Psychologen betrachten Verhalten mit neugieriger Skepsis.
Sie stellen ständig zwei Fragen: »Was meinen Sie damit?« und
»Woher wissen Sie das?«.
In der Arena der miteinander konkurrierenden Ideen kann
ein skeptischer Test aufzeigen, welche Idee am besten zu den
Fakten passt (. Abb. 2.7). Übt das Verhalten der Eltern einen ent-
scheidenden Einfluss auf die sexuelle Orientierung ihrer Kinder
aus? Kann ein Astrologe aufgrund der Planetenposition im
Augenblick Ihrer Geburt Ihre Zukunft vorhersagen? Ist die Elek-
trokrampftherapie (die Verabreichung elektrischer Stromstöße
an das Gehirn) eine effiziente Therapiemethode bei schweren
. Abb. 2.6 Der erstaunliche Randi. Der Zauberer James Randi zeigt Depressionen? Wie wir sehen werden, hat eine genaue Überprü-
beispielhaft die skeptische Haltung. Er hat eine Vielfalt übersinnlicher fung dieser Behauptungen Psychologen dazu gebracht, die ersten
Phänomene überprüft und als Tricks entlarvt. (© terabyte, this work with beiden Fragen mit Nein, die dritte mit Ja zu beantworten.
the title »Randi.jpg« [http://commons.wikimedia.org/wiki/File:RANDI.
jpg?uselang=de] is licenced under CC-BY-SA-2.0-DE [http://creativecom-
Die praktische Umsetzung der wissenschaftlichen Haltung
mons.org/licenses/by-sa/2.0/de/deed.de], no modifications were made) erfordert nicht nur Neugier und Skepsis, sondern auch Beschei-
denheit – ein Bewusstsein für unsere eigene Anfälligkeit zu irren
und eine Offenheit für Überraschungen und neue Perspektiven.
mal finden verrückt klingende Ideen Unterstützung, wenn sie Nicht meine oder Ihre Meinung zählt bei der abschließenden
einer so genauen Prüfung unterzogen werden. Im 18. Jahrhun- Analyse, sondern die Wahrheiten, die die Natur auf unser For-
dert spotteten Gelehrte über die Idee, dass Meteoriten von außer- schen hin preisgibt. Wenn sich die Menschen oder andere Tiere
halb der Erde kämen. Als zwei Forscher aus Yale die gängige nicht so verhalten, wie unsere Vorstellungen das vorhersagen,
Meinung in Frage stellten, höhnte Thomas Jefferson: »Meine dann ist das Pech für unsere Vorstellungen. Das ist die beschei-
Herren, eher glaube ich, dass diese zwei Yankee-Professoren dene Einstellung, die in einem frühen Motto der Psychologie
lügen, als dass Steine vom Himmel gefallen sind.« Manchmal zum Ausdruck kommt: »Die Ratte hat immer Recht.«
verwandelt wissenschaftliche Forschung Buhrufe in Beifall.
Doch meistens nutzt die Gesellschaft die Wissenschaft zur » Ich bin ein Skeptiker, nicht weil ich nicht glauben möchte,
Abfallbeseitigung: Verrückt klingende Ideen werden auf den sondern weil ich wissen möchte. Ich glaube, dass die Wahr-
Müllhaufen der vergessenen Behauptungen geworfen, wo sich heit irgendwo da draußen existiert. Aber wie können wir
bereits angebliche Perpetuum-mobile-Maschinen, Wunderheil- den Unterschied erkennen zwischen dem, was wir gerne
mittel gegen Krebs und körperlose Reisen in längst vergangene als wahr erkennen würden und dem, das wirklich wahr ist?
Jahrhunderte befinden. Wenn wir Phantasie von Wirklichkeit Die Antwort ist Wissenschaft.
und Sinn von Unsinn unterscheiden wollen, brauchen wir die Michael Shermer, »I Want to Believe«, Scientific American, 2009

. Abb. 2.7 (NON SEQUITUR © 1997 Wiley Ink, Inc.. Dist. By UNIVERSAL UCLICK. Reprinted with permission. All rights reserved.)
24 Kapitel 2 · Kritisch denken mit wissenschaftlicher Psychologie

Wissenschaftshistoriker sagen, dass die moderne Wissenschaft stürme an der Ostküste an, um die globale Erwärmung in Frage
überhaupt erst durch diese neugierige, skeptische und gleichzei- zu stellen. Statt dass sie ihr Verständnis des Klimawandels vom
tig bescheidene Haltung möglich wurde. Tief religiöse Menschen Tageswetter beeinflussen lassen oder von ihren eigenen politischen
2 von heute sehen die Wissenschaft, einschließlich der wissen- Ansichten, verlangen kritische Denker Beweise. Erwärmt sich die
schaftlichen Psychologie, als Bedrohung. Und doch ist die wis- Erde langfristig betrachtet tatsächlich? Schmelzen die polaren Eis-
senschaftliche Revolution meist von tief religiösen Menschen – kappen? Verändern sich Vegetationsmuster? Und produziert die
dazu gehörten Kopernikus und Newton – angeführt worden, die menschliche Aktivität Gase, die uns solche Veränderungen erwar-
nach der religiösen Vorstellung handelten, dass man, »um Gott ten lässt? Wenn sie über solche Themen nachdenken, werden kri-
zu lieben und zu achten, die Wunder seiner Schöpfung auch ganz tische Denker die Glaubwürdigkeit von Quellen berücksichtigen.
würdigen muss« (Stark 2003a, b). Sie werden die Beweislage anschauen (»Werden sie von Fakten un-
Natürlich haben Wissenschaftler, wie alle Menschen, ein terstützt oder erfinden sie das Ganze bloß?«). Sie werden vielfältige
großes Ego und hängen manchmal sehr an ihren vorgefassten Perspektiven erkennen. Und sie werden sich Informationsquellen
Meinungen. Gleichwohl teilen Psychologen das Ideal der neugie- aussetzen, die ihre vorgefassten Meinungen in Frage stellen.
rigen, skeptischen und bescheidenen Haltung bei der Prüfung
der Gedanken und Vorstellungen, die miteinander konkurrieren.
» Der eigentliche Zweck der wissenschaftlichen Methode
ist es, sich zu vergewissern, ob die Natur einen nicht zu der
So überprüft die Gemeinschaft der Wissenschaftler immer wie-
falschen Annahme verleitet hat, man wüsste etwas, was man
der die Befunde und Schlussfolgerungen der Kollegen.
in Wirklichkeit nicht weiß.
» Ich glaube zutiefst, dass, wenn irgendein Gott der traditio- Robert M. Pirsig, Zen und die Kunst ein Motorrad zu warten, 1974
nellen Sorte existiert, unsere Neugier und Intelligenz durch
Kann man sagen, dass die kritischen Untersuchungen der Psycho-
solch einen Gott gegeben ist. Wir würden diese Geschenke
logie unerwartete Ergebnisse erbracht haben? Die Antwort ist ein
nicht schätzen … wenn wir unsere Leidenschaft unterdrück-
klares Ja, wie auch die folgenden Kapitel zeigen werden. Ob Sie
ten, das Universum und uns selbst zu erforschen.
es glauben oder nicht: Ein größerer Verlust von Hirngewebe zu
Carl Sagan, Broca’s Brain, 1979
einem frühen Zeitpunkt des Lebens hat evtl. nur minimale Lang-
zeiteffekte (7 Kap. 3). Neugeborene können den Geruch und die
Stimme ihrer Mutter innerhalb weniger Tage nach der Geburt
2.1.5 Kritisches Denken erkennen (7 Kap. 6). Nach einer Hirnverletzung kann ein Mensch
neue Fähigkeiten erlernen, sich jedoch nicht bewusst sein, dass er
Eine wissenschaftliche Haltung befähigt uns, klüger zu denken. sie erlernt hat (7 Kap. 9). Unterschiedliche Gruppen – Männer
Kluges oder kritisches Denken unterzieht Vorannahmen einer und Frauen, Alte und Junge, Wohlhabende und Arbeiter, Be-
Prüfung, erkennt verborgene Werte, überprüft Beweise auf ihre hinderte und Nichtbehinderte – berichten über ein ungefähr ver-
Richtigkeit hin und erfasst daraus resultierende Schlussfolge- gleichbares Niveau persönlichen Glücks (7 Kap. 13).
rungen. Ob beim Lesen eines Berichts oder beim Anhören eines Und hat die kritische Forschung verbreitete Annahmen in
Gesprächs: Ein kritischer Denker stellt Fragen. Er verhält sich überzeugender Weise erschüttert? Auch hier lautet die Antwort
wie ein Wissenschaftler: Woher weiß man das, was man da be- Ja, wie wir in den folgenden Kapiteln sehen werden. Es lässt sich
richtet? Welche Ziele verfolgt die Person mit dem, was sie sagt? nachweisen, dass Schlafwandler nicht ihre Träume in Hand-
Beruht die Schlussfolgerung auf persönlichen Gefühlen und an- lungen umsetzen (7 Kap. 4). Die Erfahrungen, die wir im Lauf
ekdotischen Berichten oder gibt es einen Beweis? Erlaubt dieser unseres Lebens gemacht haben, sind nicht alle als Worte im Ge-
Beweis eine Schlussfolgerung auf Ursache und Wirkung? Welche hirn gespeichert. Man kann durch Hirnstimulation oder Hypno-
alternativen Erklärungen wären möglich? se nicht einfach »das Tonband zurückspulen« und tief vergrabene
oder verdrängte Erinnerungen wieder zum Leben erwecken
Kritisches Denken (»critical thinking«) – eine Art zu denken, die Argumen-
te und Schlussfolgerungen nicht einfach blindlings akzeptiert. Stattdessen (7 Kap. 9). Die meisten Menschen leiden nicht unter einem un-
werden Vorannahmen einer Prüfung unterzogen, Abweichungen werden realistisch geringen Selbstwertgefühl und ein hohes Selbstwert-
aufgedeckt, Beweise auf ihre Richtigkeit hin überprüft und daraus resultie- gefühl ist nicht immer positiv (7 Kap. 14). Gegensätze ziehen sich
rende Schlussfolgerungen werden erfasst.
i. Allg. nicht an (7 Kap. 15). Bei jedem dieser Beispiele und bei
Kritisches Denken – auf wissenschaftlicher Basis – lässt unsere weiteren ist das, was man weithin glaubt, durchaus nicht das, was
durch Voreingenommenheit gefärbten Linsen klar werden. Den- sich als wahr herausgestellt hat.
ken Sie einmal nach: Bedroht der Klimawandel unsere Zukunft
Prüfen Sie Ihr Wissen
und, wenn ja, wird er vom Menschen verursacht? 2009 interpre-
tierten Klimaschützer eine australische Hitzewelle und Sandstür- 5 Erklären Sie, warum es das kritische Denken fördert,
me als Belege für den Klimawandel. 2010 führten Klima- wenn man die Haltung eines Wissenschaftlers einnimmt.
wandelskeptiker die bittere Kälte in Nordamerika und die Schnee-
2.2 · Wie stellen und beantworten Psychologen Fragen?
25 2
2.2 Wie stellen und beantworten Psychologen wir die einzelnen Punkte unserer Beobachtung miteinander ver-
Fragen? binden, können wir ein kohärentes Bild erkennen.
Theorie (»theory«) – auf Prinzipien gestütztes Erklärungsmodell, das Beob-
Das Rüstzeug der wissenschaftlich arbeitenden Psychologen ist achtungen in einen Zusammenhang stellt und Verhalten oder Ereignisse
die wissenschaftliche Methode – eine sich selbst korrigierende vorhersagt.
Vorgehensweise, Ideen zu bewerten, indem man beobachtet und
untersucht. Bei ihrem Versuch, die menschliche Natur zu be- Eine gute Theorie über die Auswirkungen von Schlafentzug auf
schreiben und zu erklären, greift die psychologische Wissen- die Gedächtnisleistung fasst beispielsweise die unzähligen Be-
schaft gerne vage Vorstellungen und plausibel klingende Theo- obachtungen hinsichtlich des Schlafs in einer kurzen Liste von
rien auf – und testet sie. Wenn eine Theorie funktioniert – wenn Prinzipien zusammen. Stellen Sie sich vor, wir beobachten im-
die Daten mit den Vorhersagen übereinstimmen – dann umso mer wieder, dass Menschen mit falschen Schlafgewohnheiten
besser für die Theorie. Wenn die Vorhersagen versagen, wird die Fragen im Unterricht nicht beantworten können und bei Prüfun-
Theorie revidiert oder verworfen. gen schlecht abschneiden. Wir könnten also daraus die Theorie
ableiten, dass Schlaf die Gedächtnisleistung verbessert. So weit,
so gut: Unsere Schlaf-Merkfähigkeits-Annahme fasst auf elegan-
2.2.1 Die wissenschaftliche Methode te Weise eine Liste von Merkmalen über die Auswirkungen von
Schlafmangel zusammen.
Doch eine Theorie kann noch so vernünftig klingen – und
? 2.3 Wie bringen Theorien die Psychologie als Wissenschaft
Schlafmangel scheint eine akzeptable Erklärung für geringere
voran?
Merkfähigkeit zu sein –, sie muss getestet werden. Eine gute
In unserer Alltagssprache verwenden wir den Begriff Theorie Theorie führt zu überprüfbaren Vorhersagen, die wir Hypothe-
meist im Sinn von Vorstellung oder Gedanke. Eine wissen- sen nennen. Hypothesen ermöglichen es, die Theorie zu testen
schaftliche Theorie ist ein Erklärungsmodell, das auf bestimmten und dann entweder zu revidieren oder zu verwerfen und geben
Prinzipien basiert. Mit Hilfe einer Theorie können Beobach- dadurch der Forschung die Richtung vor. Die Hypothesen geben
tungen in ein System gebracht sowie Verhaltensweisen und Ereig- an, welche Resultate die Theorie stützen und welche damit nicht
nisse vorhergesagt werden. Eine Theorie stellt Einzelbeobachtun- vereinbar sind. Wenn wir unsere Theorie zum Einfluss von
gen in einen Zusammenhang und vereinfacht damit die Arbeit. Schlaf auf die Merkfähigkeit testen wollen, könnten wir prüfen,
Eine Theorie ist eine hilfreiche Zusammenfassung, indem sie wie gut sich Personen nach einer ausgiebigen oder verkürzten
Einzelfaktoren zu tieferliegenden Prinzipien verbindet. Sobald Nachtruhe an Kursmaterialien erinnern (. Abb. 2.8).

. Abb. 2.8 Die wissenschaftliche Methode. Eine sich selbst korrigierende Vorgehensweise, bei der Fragen gestellt und die Antworten beobachtet
werden, die die Natur gibt
26 Kapitel 2 · Kritisch denken mit wissenschaftlicher Psychologie

Hypothese (»hypothesis«) – meist aus einer Theorie abgeleitete überprüf- und genauere Vorhersagen gestattet. Unsere Forschungsergeb-
bare Vorhersage. nisse könnten aber auch repliziert und durch ähnliche Befunde
Unsere Theorien können unsere Beobachtungen verzerren (Bias, unterstützt werden. (Dies war der Fall für Schlaf- und Gedächt-
2 Urteilsfehler). Da unsere Theorie lautet, dass mehr Schlaf zu einem nisstudien, wie Sie in 7 Kap. 4 sehen werden.)
besseren Erinnerungsvermögen führt, lässt es sich nicht aus- Wie wir als Nächstes erfahren werden, können wir mit Hilfe
schließen, dass wir sehen, was wir erwarten zu sehen: Mög- deskriptiver Methoden (die Verhaltensweisen beschreiben, oft-
licherweise nehmen wir die Aussagen von schläfrigen Personen als mals durch Einzelfallstudien, Umfragen oder Feldbeobachtun-
weniger einsichtsvoll wahr. Der Drang zu sehen, was wir erwarten gen), Korrelationsberechnungen (die verschiedene Faktoren zu-
zu sehen, ist eine überall lauernde Versuchung, sowohl außerhalb einander in Beziehung setzen) und Experimenten (die Faktoren
als auch innerhalb des Versuchsraums. So verleiteten gemäß dem manipulieren, um ihre Effekte zu erkennen) unsere Hypothesen
Bericht des parteienübergreifenden U.S. Senate Select Committee überprüfen und unsere Theorien revidieren. Wenn wir ver-
on Intelligence (2004) vorgefasste Erwartungen, dass der Irak breitete psychologische Behauptungen mit kritischem Verstand
Massenvernichtungswaffen besäße, Auswerter der Geheimdienste überprüfen wollen, müssen wir mit diesen Methoden vertraut
dazu, mehrdeutige Beobachtungen fälschlich so zu deuten, dass sie sein und wissen, welche Schlussfolgerungen wir mit ihrer Hilfe
diese Theorie bestätigten (ähnlich wie die Meinungen, die Leute ziehen können.
zum Klimawandel haben, ihre Interpretation von lokalen Wetter-
Prüfen Sie Ihr Wissen
ereignissen beeinflussen könnten). Diese theoriegeleitete Schluss-
folgerung führte dann zur präventiven Invasion der USA im Irak. 5 Was zeichnet eine gute Theorie aus?
Um diesen Bias zu kontrollieren, veröffentlichen Psycholo- 5 Warum ist Replikation so wichtig?
gen ihre Forschungsergebnisse mit eindeutigen operationalen
Definitionen der Vorgehensweisen und Konzepte. Hunger kann
beispielsweise als »Stunden ohne Essen« definiert werden, Groß-
zügigkeit als »gespendetes Geld«. Werden solch sorgsam formu- 2.2.2 Beschreibung
lierte Aussagen benutzt, können andere Forscher die ursprüng-
lichen Beobachtungen mit anderen Teilnehmern, anderem Test- ? 2.4 Wie nutzen Psychologen Einzelfallstudien, Feldbeobach-
material und in anderen Situationen replizieren (wiederholen). tungen und Umfragen, um Verhalten zu beobachten und zu
Kommen verschiedene Forscher zu ähnlichen Ergebnissen, dann beschreiben, und weshalb ist es wichtig, Zufallsstichproben
wächst das Vertrauen in die Reliabilität (Zuverlässigkeit) der Er- zu ziehen?
gebnisse. Die erste Untersuchung zum Hindsightbias weckte die
Neugier der Psychologen. Heute, nach vielen erfolgreichen Re- Der Ausgangspunkt jeder Wissenschaft ist die Beschreibung.
plikationen mit jeweils anderen Menschen und anderen Fragen, In unserem Alltag beobachten wir unsere Mitmenschen und
sind wir uns der Bedeutung dieses Phänomens bewusst. beschreiben sie; daraus leiten wir ab, warum sie sich so verhal-
ten und nicht anders. Im Wesentlichen tun professionelle Psy-
Operationale Definition (»operational definition«) – Festlegung der Vor-
gehensweise (Operation) bei der Definition der Untersuchungsvariablen. chologen auch nichts anderes, nur gehen sie dabei systema-
So kann Intelligenz beispielsweise operational definiert werden als »das, tischer vor und bemühen sich stärker um Objektivität. Dazu
was ein Intelligenztest misst«. verwenden sie
Replikation (»replication«) – Wiederholung der wesentlichen Parameter ei- 4 Einzelfallstudien (Untersuchungen bestimmter Individuen),
nes Experiments, in der Regel mit anderen Versuchsteilnehmern in anderen
4 Feldbeobachtung (das natürliche Verhalten vieler Individuen
Situationen. Mit Hilfe der Replikation kann festgestellt werden, ob sich die
Grundannahmen eines Experiments auf andere Versuchsteilnehmer und
wird beobachtet und aufgezeichnet) sowie
andere Situationen übertragen lassen. 4 Umfragen und Interviews (den untersuchten Personen wer-
den Fragen gestellt).
Unsere Theorie wird letztlich nur dann nützlich sein, wenn man
mit ihrer Hilfe Einzelfallstudie
1. eine Reihe von persönlichen Berichten und Beobachtun- Die Einzelfallstudie gehört zu den ältesten Forschungsmetho-
gen in eine effiziente Ordnung bringen kann und wenn man den überhaupt. In der Fallstudie wird ein Individuum gründlich
2. anhand der Theorie klare Vorhersagen machen kann, mit- studiert, in der Hoffnung, dabei Dinge zu entdecken, die für alle
hilfe derer jeder die Theorie überprüfen oder in der Praxis Individuen gelten. Einige Beispiele: Viel von unserem frühen
einsetzen kann. (Wenn die Leute mehr schlafen, wird sich Wissen über das Gehirn stammt aus Fallstudien mit Menschen,
dann die Merkfähigkeit verbessern?) die nach der Schädigung einer bestimmten Hirnregion in be-
stimmten Bereichen beeinträchtigt waren. Der Entwicklungs-
Vielleicht führt uns die Forschung zu einer revidierten Theorie, psychologe Jean Piaget beobachtete aufmerksam ein paar Kinder
die das, was wir wissen, in einen besseren Zusammenhang bringt und befragte sie ausführlich; das Ergebnis waren bahnbrechende
2.2 · Wie stellen und beantworten Psychologen Fragen?
27 2
Informationen über die Art, wie Kinder denken. Untersuchun- Prüfen Sie Ihr Wissen
gen, die mit nur wenigen Schimpansen durchgeführt wurden,
erbrachten den Beweis, dass die Tiere über die Fähigkeit zum 5 Durch Einzelfallstudien erfahren wir nichts über gene-
Verstehen und über sprachliche Fähigkeiten verfügen. Intensive relle Prinzipien, die für uns alle gelten. Wieso nicht?
Fallstudien bringen manchmal sehr viel ans Licht. Sie zeigen uns,
was passieren kann, und oftmals geben sie Richtungen für die
weitere Forschung vor. Beobachtung in natürlicher Umgebung
(Feldbeobachtung)
Einzelfallstudie (»case study«) – Beobachtungstechnik, bei der ein Indivi-
duum gründlich und intensiv beobachtet wird in der Hoffnung, auf diese Eine zweite beschreibende Forschungsmethode erfasst Verhaltens-
Weise universelle Prinzipien entdecken zu können. weisen in natürlicher Umgebung. Beobachtungen in natürlicher
Umgebung oder Feldbeobachtungen reichen von der Beobachtung
Individuelle Fälle können uns aber auch manchmal in die Irre von Schimpansengesellschaften im Dschungel bis zu nichtreak-
führen. Vielleicht ist das untersuchte Individuum untypisch. tiven Videoaufnahmen (und der späteren systematischen Auswer-
Eine nicht repräsentative Information kann zu irrtümlichen tung) von Eltern-Kind-Interaktionen in verschiedenen Kulturen
Beurteilungen und falschen Schlussfolgerungen führen. Und oder der Beschreibung der Platzwahl in der Cafeteria einer Schule,
auch Folgendes ist zu bedenken: Sobald ein Wissenschaftler die von Schülern verschiedener Kulturen besucht wird.
einen Befund veröffentlicht (»Raucher sterben jünger: 95% der Die Beobachtung in einer natürlichen Umgebung beschreibt
Männer über 85 sind Nichtraucher«), findet sich sicher jemand, Verhalten, erklärt es aber nicht, ebenso wenig wie die Einzel-
der widerspricht (»Nun, ich habe einen Onkel, der täglich zwei fallstudie. Trotzdem können die Beschreibungen ein Licht auf
Päckchen rauchte und 89 wurde«). Dramatische Geschichten und bestimmte Dinge werfen. Beispielsweise dachte man einst, dass
persönliche Erfahrungen (sogar psychologische Fallbeispiele) nur Menschen Werkzeuge benutzen. Die Beobachtung von
erregen unsere Aufmerksamkeit und setzen sich im Gedächtnis Schimpansen in ihrem natürlichen Umfeld hat indessen gezeigt,
fest. Journalisten wissen das. Einen Artikel über Zwangsver stei- dass die Tiere manchmal ein Stöckchen in einen Termitenhaufen
gerungen beginnen sie daher mit der tragischen Geschichte einer stecken und dann ablecken. Solche nichtreaktiven Feldbeobach-
Familie, die aus ihrem Haus geworfen wurde, und nicht mit Sta- tungen bereiteten den Weg für spätere systematische Unter-
tistiken über Zwangsversteigerungen. Geschichten bewegen uns. suchungen zum Denken und Fühlen von Tieren sowie ihrer
Aber sie können uns auch täuschen. Möglichkeiten zum Verständnis von Sprache. Diese Unter-
Welche der folgenden Aussagen finden Sie denkwürdiger? suchungen haben unser Verständnis für unsere Mitgeschöpfe, die
1. »In einer Untersuchung mit 1300 Berichten über Träume, Tiere, ausgedehnt. »Beobachtungen im natürlichen Habitat zeig-
die das Schicksal eines entführten Kindes betrafen, sahen ten, dass Zusammenleben und Verhalten von Tieren weitaus
tatsächlich nur 5% den Tod des Kindes vorher und hatten komplexer sind, als wir bislang angenommen haben«, stellte die
damit Recht (Murray u. Wheeler 1937).« Schimpansenforscherin Jane Goodall fest (1998). Dank der Beob-
2. »Ich kenne einen Mann, der träumte, dass seine Schwester achtungen von Forschern wissen wir, dass Schimpansen und
einen Autounfall hätte, und zwei Tage später starb sie bei Paviane Täuschungsmanöver einsetzen. Die Psychologen Andrew
einer Frontalkollision!« Whiten und Richard Byrne (1988) beobachteten wiederholt, wie
ein junger Pavian so tat, als sei er von einem anderen Pavian
Zahlen können langweilig sein, aber viele Anekdoten geben noch angegriffen worden, eine Taktik, mit der er seine Mutter dazu
lange keinen Beweis ab. Der Psychologe Gordon Allport (1954, brachte, den anderen vom Futter wegzujagen. Je weiter das Gehirn
S. 9) drückte es so aus: »Einen Fingerhut voll [dramatischer] einer Primatenart entwickelt ist, desto eher werden diese Tiere
Ereignisse verallgemeinern wir schleunigst auf Badewannen- Täuschungsverhalten zeigen (Byrne u. Corp 2004; . Abb. 2.9).
größe.«
Beobachtung in natürlicher Umgebung (auch Feldbeobachtung;
» ›Nun ja, mein Lieber‹, sagte Miss Marple, ›das Wesen des »naturalistic observation«) – Beobachten und Erfassen von Verhalten in
natürlichen Situationen unter Verzicht auf Manipulation oder Kontrolle
Menschen ist eigentlich an allen Orten gleich, aber natürlich
der Situation.
hat man in einem Dorf bessere Möglichkeiten, es sich ge-
nauer anzusehen.‹
Auch bei Menschen werden Feldbeobachtungen durchgeführt.
Agatha Christie, Der Dienstagabend-Klub, 1933
Im Folgenden finden Sie vier Beispiele dafür, an denen Sie, glaube
Merken Sie sich: Aus Einzelfällen können fruchtbare Hypothesen ich, Spaß haben werden.
abgeleitet werden. Was auf uns alle zutrifft, kann man schon am 4 Ein witziges Ergebnis. In sozialen Situationen lachen wir
Beispiel eines Einzelnen erkennen. Um aber die allgemeinen Menschen 30-mal öfter, als wenn wir allein sind. (Ist Ihnen
Wahrheiten in den Einzelfällen zu entdecken, müssen wir andere schon einmal aufgefallen, wie selten Sie lachen, wenn Sie
Methoden anwenden. allein sind?) Wenn wir lachen, verziehen 17 Muskeln
28 Kapitel 2 · Kritisch denken mit wissenschaftlicher Psychologie

. Tab. 2.1 Einen Penny für deine Gedanken: Das innere Erleben von
Universitätsstudenten*

2 Innere Erfahrung Beispiel Häufigkeit

Innere Rede Susan sagte zu sich selbst: 26%


»Ich muss in den Kurs
gehen.«

Inneres Sehen Paul stellte sich das Gesicht 34%


seiner besten Freundin vor,
inklusive ihres Halses und
Kopfs.

Symbolfreies Denken Alphonse fragte sich, ob die 26%


Arbeiter die Ziegelsteine
wohl fallen lassen würden.
. Abb. 2.9 Ein geborener Beobachter. Der Schimpansenforscher Frans Gefühl Courtney erlebte Wut und 26%
de Waal (2005) sagte: »Ich bin ein geborener Beobachter … Wenn ich im die dazugehörigen körperli-
Restaurant einen Platz aussuche, möchte ich so viele Tische wie möglich chen Symptome.
im Blickfeld haben. Ich liebe es, die sozialen Dynamiken um mich herum –
Sinneswahrnehmung Fiona spürte die kalte Brise 22%
Liebe, Anspannung, Langeweile, Antipathie – zu verfolgen. Dabei konzent-
auf ihren Wangen und wie
riere ich mich auf die Körpersprache, welche ich für informativer halte als
sich ihre Haare bewegten.
das gesprochene Wort. Da andere zu beobachten etwas ist, das ich automa-
tisch tue, fiel es mir sehr leicht, eine »Fliege an der Wand« einer Affen- * Es konnte mehr als eine Erfahrung zu einem Zeitpunkt angegeben
kolonie zu werden.« (Bildrechte: Jack Kearse, Emory University for Yerkes werden.
National Primate Research Center)

unseren Mund und drücken unsere Augen zusammen, und kodierten und Kategorien zuordneten, fanden sie fünf ver-
wir stoßen im Abstand von jeweils einer fünftel Sekunde breitete Formen inneren Erlebens (. Tab. 2.1).
eine Serie von vokalähnlichen Lauten von 75 Millisekunden 4 Kultur, Klima, Lebensrhythmus. Mit Hilfe der Feldbeobach-
Dauer aus (Provine 2001). tung konnten Robert Levine und Ara Norenzayan (1999)
4 Aushorchen von Studenten. Was sagen und machen Erst- den Lebensrhythmus in 31 Ländern miteinander ver-
semester der Psychologie eigentlich den lieben langen Tag? gleichen. (Die operationale Definition von Lebensrhythmus
Um das herauszufinden, statteten Matthias Mehl und James beinhaltete die Gehgeschwindigkeit, das Tempo, in dem
Pennebaker (2003) 52 Studierende der University of Texas Postangestellte eine simple Bitte erfüllten und die Genauig-
bis zu vier Tage lang mit einem Kassettenrekorder aus, keit der Normaluhren.) Die Forscher kamen zu dem Er-
den sie an einem Gürtel trugen und der sich während der gebnis, dass der Lebensrhythmus in Japan und Westeuropa
Wachstunden alle 12,5 Minuten 30 Sekunden lang für eine am schnellsten ist und langsamer in wirtschaftlich weniger
Aufnahme einschaltete. So waren die Forscher imstande, hoch entwickelten Ländern. In einem kühlen Klima leben
mehr als 10.000 eine halbe Minute lange Ausschnitte aus die Menschen tendenziell in schnellerem Rhythmus (und
dem Leben der Studierenden abzuhören. Was meinen Sie, mehr Menschen sterben an Herzkrankheiten).
wie viel Prozent der Zeit Studierende nach diesen Befunden
mit jemandem sprachen? Und wie viel Prozent der Zeit Die Beobachtung in natürlicher Umgebung (Feldbeobachtung)
befanden sich danach die Studierenden an der Tastatur liefert uns interessante Schnappschüsse aus dem alltäglichen
eines Computers? Die Antwort lautet: 28 bzw. 9 Prozent Leben. Dies geschieht jedoch ohne Kontrolle all der Faktoren, die
der Zeit. (Wie viel Prozent der Zeit, in der Sie nicht schla- das Verhalten beeinflussen können. Es ist eine Sache, das Lebens-
fen, verbringen Sie mit diesen Aktivitäten?) tempo an verschiedenen Orten zu beobachten, eine andere je-
4 An was denkst du gerade? Um herauszufinden, was in doch, zu verstehen, weshalb manche Menschen schneller gehen
den Köpfen von Studenten an der University of Nevada, als andere.
Las Vegas, vorgeht, gaben Christopher Heavey und Russell
Prüfen Sie Ihr Wissen
Hurlburt (2008) ihnen Piepser. Ein halbes Dutzend Mal
unterbrach ein Piepsen die täglichen Aktivitäten der 5 Was sind die Vor- und Nachteile der Feldbeobachtung,
Studenten, indem es ihnen signalisierte, ein Notizbuch wie sie Mehl und Pennebaker in dieser Studie angewandt
herauszuziehen und ihr inneres Erleben zu diesem Zeit- haben (. Abb. 2.10)?
punkt festzuhalten. Als die Forscher die Berichte später
2.2 · Wie stellen und beantworten Psychologen Fragen?
29 2
jFormulierungseffekte
Schon ganz leichte Abänderungen in der Reihenfolge oder Wort-
stellung der Fragen können eine große Wirkung haben. Leute spre-
chen sich viel eher für »Hilfe für Bedürftige« aus als für »Sozialhilfe«,
für »Förderung« als für »bevorzugte Behandlung«, sie stimmen
weit eher dafür, Zigarettenwerbung oder Pornografie im Fern-
sehen »nicht zu erlauben« als zu »zensieren« und befürworten
eher eine »Ausweitung der Staatseinnahmen« als »Steuererhöhun-
gen«. 2009 sprachen sich drei von vier Amerikanern in einer natio-
nalen Befragung dafür aus, der Bevölkerung »eine Wahl« zu geben
zwischen einer öffentlichen, staatlichen und einer privaten Ge-
sundheitsversicherung. In einer anderen Befragung jedoch waren
die meisten Amerikaner nicht dafür, »einen Plan für die öffentliche
Gesundheitsvorsorge auszuarbeiten, der – verwaltet durch die
Bundesregierung – direkt mit privaten Einrichtungen der Gesund-
heitsvorsorge in Konkurrenz stehen würde« (Stein 2009). Vom
Wortlaut der Frage hängt sehr viel ab, deshalb hinterfragen kriti-
sche Denker immer, auf welche Weise die Fragestellung die Mei-
nung der Befragten beeinflusst haben könnte.
. Abb. 2.10 Feldbeobachtung mit Electronically Activated Recorder.
Die Psychologen Matthias Mehl und James Pennebaker verwendeten
jZufallsstichprobe
Kassettenrekorder, um natürliche Ausschnitte aus dem Alltagsleben ein-
zufangen. (Courtesy of Matthias Mehl) Im Alltagsdenken generalisieren wir ständig aufgrund der Stich-
proben, die wir beobachten, vor allem, wenn es um Fälle geht, die
lebhaft vorgetragen werden. Nehmen wir folgendes Szenario:
Befragung Dem Verwaltungsdirektor liegt (a) die statistische Zusammen-
Bei der Methode der Befragung werden viele Fälle einbezogen, fassung der Bewertung eines Professors durch seine Studenten
die Fragen bleiben aber eher an der Oberfläche. Bei einer Um- vor, und gleichzeitig hört er (b) die heftigen Proteste zweier auf-
frage werden die Menschen gebeten, Auskunft über ihr Verhalten gebrachter Studenten, die eine nicht repräsentative Stichprobe
oder ihre Ansichten zu geben. Thema der Befragung kann alles bilden. Da kann der Eindruck des Verwaltungsdirektors ebenso
sein, von sexuellen Praktiken bis hin zu politischen Meinungen. von den beiden Pechvögeln beeinflusst werden wie von den vie-
In neueren Studien len positiven Bewertungen dieses Professors, die in der Statistik
4 gab die Hälfte aller Amerikaner an, am vorherigen Tag aufgeführt sind. Der Versuchung, den Stichprobenfehler zu igno-
mehr Glück und Freude als Sorge und Stress erlebt zu rieren und von ein paar intensiven, aber nicht repräsentativen
haben (Gallup 2010). Eindrücken zu verallgemeinern, kann man jedoch kaum wider-
4 berichten Kanadier mit Internetzugang, neue Formen der stehen (. Abb. 2.11).
elektronischen Kommunikation zu nutzen und dadurch im Merken Sie sich: Die beste Basis für eine Generalisierung ist
Jahr 2010 35% weniger E-Mails zu erhalten als im Jahr 2008 eine repräsentative Stichprobe. Aber es ist nicht immer möglich,
(Ipsos 2010a). jede Person einer Gruppe zu befragen. Wie erhalten Sie also eine
4 gab quer verteilt über 22 Länder eine von fünf Personen an, repräsentative Stichprobe – sagen wir der Studenten Ihrer Hoch-
zu glauben, dass Aliens zur Erde gekommen sind und nun – schule? Wie könnten Sie eine Gruppe aussuchen, die repräsenta-
getarnt als Menschen – unter uns weilen (Ipsos 2010b). tiv ist für die gesamte studentische Population – die gesamte
4 sagen 68% aller Menschen – das sind etwa 4,6 Mrd. Gruppe, die Sie untersuchen und beschreiben wollen? Typischer-
Menschen –, dass die Religion in ihrem Alltag eine wichtige weise würden Sie eine Zufallsstichprobe ziehen, eine Stich-
Rolle spielt (Diener et al. 2011). probe, bei der jede einzelne Person in der Gesamtgruppe die
gleichen Chancen hat teilzunehmen. Sie würden etwa die Namen
Aber die Fragen richtig zu stellen, ist eine heikle Sache; und die in einer Auflistung der Studierenden nummerieren und dann
Antworten können auch von Formulierungen und von der Aus- einige Zufallszahlen generieren, um die Umfrageteilnehme-
wahl der Befragten abhängen. rinnen und -teilnehmer auszuwählen. (Jedem Student einen
Fragebogen zuzusenden, würde nicht funktionieren, denn die
Befragung (»survey«) – Technik, bei der die von ihnen selbst berichteten
gewissenhaften Menschen, die ihn zurückschicken, wären
Einstellungen oder Verhaltensweisen der Menschen einer bestimmten
Gruppe ermittelt werden; i. Allg. wird eine repräsentative Zufallsstichprobe keine Zufallsstichprobe.) Große repräsentative Stichproben sind
befragt. besser als kleine; aber eine kleine repräsentative Stichprobe von
30 Kapitel 2 · Kritisch denken mit wissenschaftlicher Psychologie

Prüfen Sie Ihr Wissen

5 Was ist der Stichprobenfehler und wie vermeiden ihn


2 Forscher?

2.2.3 Korrelation

? 2.5 Was sind positive und negative Korrelationen und wieso


ermöglichen sie Vorhersagen, nicht aber Ursache-Wirkungs-
Erklärungen?

Die Verhaltensbeschreibung ist der erste Schritt zur Verhaltens-


vorhersage. Beobachtungen in natürlicher Umgebung und Be-
fragungen zeigen uns häufig, dass ein bestimmtes Merkmal oder
ein Verhalten mit einem anderen zusammen auftritt. In solchen
Fällen sprechen wir von einer Korrelation. Eine statistische Maß-
. Abb. 2.11 (This modern world by Tom Tomorrow, © 1991) zahl (der Korrelationskoeffizient) zeigt uns, wie eng zwei Fak-
toren miteinander verknüpft sind und wie gut der eine Faktor
den anderen vorhersagt. Wenn wir wissen, wie stark ein hoher
100 Personen ist besser als eine nicht repräsentative Stichprobe Punktwert (Score) in einem Eignungstest mit Schulerfolg korre-
von 500 Personen. liert, dann wissen wir auch, wie gut diese Punktzahl Schulerfolg
Politische Meinungsforscher erhalten ihre Stichprobe für vorhersagt.
landesweite Wählerbefragungen genau auf diesem Weg. Nur 1500
Korrelation (»correlation«) – Maßeinheit, welche das Ausmaß des Zusam-
zufällig ausgewählte Leute aus allen Teilen des Landes liefern ein menhangs zwischen zwei Merkmalsvariablen angibt und damit ausdrückt,
bemerkenswert genaues Bild von den im Land herrschenden Mei- wie gut eine Variable die andere Variable vorhersagt.
nungen. Ohne Zufallsstichprobe führen große Stichproben – und Korrelationskoeffizient (»correlation coefficient«) – statistische Maßzahl
dazu gehören auch Telefonbefragungen und Fernseh- oder Web- des Zusammenhangs zwischen zwei Variablen (von –1 bis +1).
site-Abstimmungen – oft bloß zu irreführenden Ergebnissen.
In diesem Buch werden wir immer wieder die Frage stellen, wie
Population (»population«) – sämtliche Fälle in einer Gruppe, aus der
eine Stichprobe für eine Studie gezogen wird. (Achtung: Mit Ausnahme von stark der Zusammenhang zwischen zwei Variablen ist: Wie eng
nationalen Studien ist damit nicht die gesamte Population eines Landes hängen beispielsweise die Persönlichkeitsscores eineiiger Zwil-
gemeint.) linge zusammen? Wie genau kann man anhand der Punktzahl in
Zufallsstichprobe (»random sample«) – Stichprobe, die eine Popula- einem Intelligenztest die berufliche Leistung vorhersagen? Wie
tion weitgehend repräsentiert, weil jedes Mitglied der Population mit
eng hängt Stress mit Krankheit zusammen? In solchen Fällen
der gleichen Wahrscheinlichkeit in die Stichprobe aufgenommen wer-
den kann.
können Scatterplots bzw. Punkt- oder Streudiagramme Klarheit
schaffen.
Merken Sie sich: Bevor man den Ergebnissen einer Umfrage Jeder Punkt in einem Streudiagramm gibt den Wert von zwei
Glauben schenkt, sollte man sie kritisch hinterfragen: Betrachten Variablen an. Die drei Streudiagramme in . Abb. 2.12 illustrieren
Sie die Stichprobe. Man kann die Nachteile einer nicht repräsen- die Bandbreite möglicher Korrelationen – von einer perfekten
tativen Stichprobe nicht dadurch wettmachen, dass man einfach positiven bis hin zu einer perfekten negativen Korrelation. (Per-
weitere Personen hinzunimmt. fekte Korrelationen kommen in der »realen Welt« allerdings
kaum vor.) Eine positive Korrelation bedeutet, dass zwei Werte-
Schätzungen mit sehr großen Stichproben sind recht zuverlässig reihen wie etwa Körpergröße und Gewicht jeweils gemeinsam
(reliabel). Der Buchstabe E hat schätzungsweise einen Anteil von größer bzw. kleiner werden.
12,7% an allen Buchstaben in englischsprachigen schriftlichen Eine negative Korrelation sagt nichts darüber aus, ob der Zu-
Texten. In Melvilles Moby Dick stellt E tatsächlich 12,3% der sammenhang zwischen zwei Variablen stark oder schwach ist;
925.141 Buchstaben des Textes, 12,4% der 586.747 Buchstaben zwei negativ korrelierende Variablen bedeuten, dass hier ein
in Dickens’ A Tale of Two Cities und 12,1% der 3.901.021 Buch- umgekehrter Zusammenhang vorliegt (die Punktzahl der einen
staben, aus denen 12 Werke von Mark Twain bestehen (Chance Variable steigt, während die Punktzahl der anderen sinkt). Die
News 1997). Studie zur inneren Rede, die an Studenten der University of
2.2 · Wie stellen und beantworten Psychologen Fragen?
31 2

. Abb. 2.12a–c Streudiagramme (Scatterplots), die verschiedene Korrelationsmuster zeigen. Korrelationskoeffizienten variieren zwischen +1,00 (die
Werte einer Variablen wachsen direkt proportional mit den Werten der anderen Variablen) und –1,00 (die Werte einer Variablen sinken direkt proportional
mit dem Ansteigen der anderen Variablen)

Nevada durchgeführt und früher in diesem Kapitel bereits disku- dann verstehen wir, dass wir mögliche Zusammenhänge, die uns
tiert wurde, beinhaltete ebenfalls eine Korrelationskomponente. im Alltag begegnen, leicht übersehen. Manchmal brauchen wir
Die Berichte der Studenten über innere Rede korrelierten negativ die Klarheit und Deutlichkeit der Statistik, um zu erkennen, was
(–.36) mit den Punkten auf einer anderen Variable: psycholo- direkt vor unseren Augen liegt. Mit Hilfe von statistisch aufbe-
gischer Stress. Studenten, die vermehrt von innerer Rede be- reiteten Informationen über das Anforderungsniveau der beruf-
richteten, gaben tendenziell etwas weniger psychologischen lichen Tätigkeit, Führungspositionen, Leistung, Geschlecht und
Stress an. Einkommen können wir ohne Schwierigkeiten erkennen, wo
Geschlechtsdiskriminierung vorliegt. Doch wir nehmen die Dis-
Streudiagramm (auch Punktdiagramm; »scatterplot«) – grafisch dar-
gestellte Punktewolke. Jeder Punkt in einem Streudiagramm gibt die Werte kriminierung häufig nicht wahr, wenn die gleiche Information in
von zwei Merkmalsvariablen an. Der Verlauf der Verbindungslinie Form von Einzelfällen präsentiert wird (Twiss et al. 1989).
zwischen den Punkten zeigt die Richtung des Zusammenhangs zwischen
den beiden Variablen an. Die Konzentration der Punkte verweist auf die
Stärke des Zusammenhangs (eng beieinanderliegende Punkte bedeuten . Tab. 2.2 Körpergröße und Temperament von 20 Männern
hohe Korrelation).
Versuchsperson Körpergröße in cm Temperament
Mit Hilfe der Statistik können wir Dinge erkennen, die wir sonst
nicht sehen würden. Probieren Sie es doch einmal mit einem 1 200 75

eigenen imaginären Projekt aus. Sie könnten sich fragen, ob hoch- 2 158 66
gewachsene Männer gelassener oder nervöser sind als kleine. Zu 3 165 60
diesem Zweck sammeln Sie zwei Datensätze: die Körpergröße 4 195 90
der Männer und ihr Temperament. Sie messen die Körpergröße
5 185 60
von 20 Männern und bitten einen unbeteiligten Kollegen, das
Temperament dieser Männer zu bewerten (dabei bedeutet 0 »sehr 6 173 42

ruhig« und 100 »extrem nervös«). 7 155 42


Können Sie mit diesen Daten (. Tab. 2.2) vor Augen schon 8 183 60
sagen, ob es eine positive oder eine negative Korrelation zwi- 9 188 81
schen Körpergröße und Nervosität gibt? Oder ist die Korrelation
10 151 39
schwach oder gar nicht vorhanden?
11 163 48
Beim Vergleich der beiden Zahlenreihen in . Tab. 2.2 können
die meisten Menschen kaum einen Zusammenhang zwischen 12 189 69
Körpergröße und Temperament erkennen. Tatsächlich ist die 13 178 72
Korrelation in diesem fiktiven Beispiel positiv, nämlich +0,63. 14 165 57
Das erkennen wir, wenn wir die Daten in einem Punktdiagramm
15 182 63
anordnen. Verfolgt man die Punkte in . Abb. 2.13 von links nach
16 175 75
rechts, so zeigt der nach oben führende, ovalförmige Verlauf der
Punktewolke, dass die beiden Variablen (Körpergröße und Tem- 17 159 30
perament) unseres fiktiven Untersuchungsbeispiels tendenziell 18 180 57
gemeinsam ansteigen. 19 171 84
Wenn wir schon bei der systematischen Darbietung der
20 175 39
Daten in . Tab. 2.2 keinen Zusammenhang erkennen können,
32 Kapitel 2 · Kritisch denken mit wissenschaftlicher Psychologie

. Abb. 2.14 Drei mögliche Zusammenhänge von Ursache und Wirkung.


. Abb. 2.13 Streudiagramm für Körpergröße und Temperament. Die Menschen mit geringem Selbstwert werden eher von Depressionen berich-
dargestellten Daten von 20 fiktiven Personen (jede Person wird durch einen ten als Menschen mit hohem Selbstwert. Eine mögliche Erklärung für diese
Punkt dargestellt) zeigen einen nach oben führenden Verlauf und weisen negative Korrelation könnte lauten: Ein schlechtes Selbstbild verursacht
damit auf eine positive Korrelation hin. Die Punkte sind über das ganze depressive Gefühle. Doch zeigt das Diagramm, dass auch andere Ursache-
Diagramm verstreut; das zeigt, dass die Korrelation deutlich unter +1,0 liegt Wirkungs-Zusammenhänge denkbar sind

Merken Sie sich: Der Korrelationskoeffizient kann uns helfen, wie A (Waffen) B (Morde) verursacht. Ich höre aber andere Leser
die Welt dadurch deutlicher wahrzunehmen, dass wir die Stärke entgegnen: »Nicht so schnell. Vielleicht kaufen Menschen, die an
des Zusammenhangs zwischen zwei Faktoren erkennen können. gefährlichen Orten leben, mehr Waffen zur Selbstverteidigung
– vielleicht führt B zu A.« Oder vielleicht ist auch ein dritter
Prüfen Sie Ihr Wissen
Faktor C für A und B verantwortlich.
5 Geben Sie an, welche Studien über positive Korrela- Ein anderes Beispiel: Das Selbstwertgefühl korreliert negativ
tionen berichten und welche über negative. mit Depression (und sagt deshalb Depression vorher). (Je nied-
1. Je mehr Kinder und Jugendliche verschiedene Medien riger der Selbstwert einer Person ist, desto größer ist ihr Risiko,
nutzen, desto weniger zufrieden sind sie mit ihrem an einer Depression zu erkranken.) Bedeutet das, dass ein ge-
Leben (Kaiser 2010). ringes Selbstwertgefühl Depression verursacht? Sollten Sie – auf-
2. Je mehr sexuell geprägte Inhalte sich Jugendliche grund der evidenten Korrelation – der Meinung sein, dass das
im Fernsehen ansehen, desto wahrscheinlicher ist es, der Fall ist, dann befinden Sie sich in guter Gesellschaft. Einer der
dass sie sexuell aktiv werden (Collins et al. 2004). fast unvermeidbaren Denkfehler ist die Annahme, dass eine
Assoziation – manchmal als Korrelationskoeffizient dargestellt
3. Je länger Kinder gestillt werden, desto besser ist später – der Nachweis für einen Kausalzusammenhang ist. Doch ganz
ihre schulische Leistung (Horwood u. Fergusson 1998). gleich, wie stark der Zusammenhang auch sein mag: Korrelation
ist kein Beweis für Kausalität.
4. Je stärker das Einkommen bei einer Stichprobe armer Doch wie die Optionen 2 und 3 in . Abb. 2.14 zeigen, be-
Familien anwuchs, desto weniger psychiatrische kommen wir dieselbe negative Korrelation zwischen Selbstwert
Symptome hatten ihre Kinder (Costello et al. 2003). und Depression, wenn wir davon ausgehen, dass die Depression
die Ursache dafür ist, dass die betroffenen Menschen nicht viel
von sich halten. Eine weitere denkbare Erklärung für die Korre-
lation wäre ein dritter Faktor: Eine ererbte Veranlagung oder eine
Korrelation und Kausalität Störung der chemischen Botenstoffe im Gehirn könnte sowohl
Korrelationen sind hilfreich bei der Vorhersage. Die New York das geringe Selbstwertgefühl als auch die Depression erklären.
Times berichtet, dass US-Countys mit vielen Waffenbesitzern Dieser Punkt ist so wichtig und zeigt so grundlegend, wie
tendenziell höhere Mordraten verzeichnen (Luo 2011). Waffen- durch die Anwendung psychologischen Wissens eine genauere
besitz sagt Tötungsdelikte vorher. Was könnte die Korrelation Beurteilung möglich ist, dass ich noch das Beispiel einer Be-
zwischen Waffen und Tötungsdelikten wohl erklären? fragung von über 12.000 Jugendlichen anführen möchte. Je mehr
Ich kann jemanden geradezu denken hören: »Na logisch, sich Teenager von ihren Eltern geliebt fühlen, desto geringer ist
wenn Waffen in greifbarer Nähe sind, werden – insbesondere im die Wahrscheinlichkeit, dass sie schädliche Gewohnheiten an-
Affekt – mehr Menschen getötet.« Dies wäre ein Beispiel dafür, nehmen: frühe sexuelle Beziehungen, Rauchen, Alkohol- und
2.2 · Wie stellen und beantworten Psychologen Fragen?
33 2
Drogenmissbrauch oder gewalttätiges Verhalten (Resnick et al. der Muttermilch die Gehirnentwicklung? Um solche Fragen
1997). »Eltern haben großen Einfluss auf das Verhalten ihrer zu beantworten – um Ursache und Wirkung voneinander zu
Kinder während der gesamten Highschool-Zeit«, schwärmte trennen – können Forscher experimentieren. Mit Hilfe eines
daraufhin eine Meldung der Associated Press (AP) über diese Experiments können sich Forscher auf die möglichen Wirkun-
Studie. Doch die Korrelation beinhaltet nicht automatisch einen gen eines oder mehrerer Faktoren konzentrieren, indem sie
Ursache-Wirkungs-Zusammenhang. Die AP hätte mit ebenso 1. die interessierenden Faktoren manipulieren und
viel Berechtigung titeln können: »Jugendliche, die sich vernünf- 2. andere Faktoren konstant halten (»kontrollieren«).
tig verhalten, fühlen sich von ihren Eltern geliebt und anerkannt,
während Jugendliche, die zu Grenzüberschreitungen neigen, ihre Dazu schaffen sie oft eine Versuchsgruppe, bei der die Teil-
Eltern für verständnislose Trottel halten.« nehmer eine Behandlung bekommen, und eine Kontrollgruppe,
bei der dies nicht der Fall ist. Um irgendwelche vorher be-
Prüfen Sie Ihr Wissen
stehenden Unterschiede zwischen den zwei Gruppen gering zu
5 Die Dauer einer Ehe korreliert mit dem Verlust von Haaren halten, weisen die Forscher die Teilnehmer nach dem Prinzip der
bei Männern. Bedeutet das, dass die Ehe den Haarverlust Randomisierung den zwei Bedingungen zu. Die randomisierte
verursacht (oder dass kahl werdende Männer die besse- Zuweisung macht die zwei Gruppen vergleichbar. Wenn ein
ren Ehemänner sind)? Drittel der Personen, die freiwillig an einem Experiment teil-
nehmen, mit den Ohren wackeln kann, dann wird ungefähr ein
Drittel der Teilnehmer in jeder Gruppe zu der Spezies der Ohren-
Merken Sie sich (passen Sie jetzt besonders gut auf): Assoziation wackler gehören. Auch in Bezug auf andere Faktoren – Alter,
ist kein Beweis für Kausalität.3 Eine Korrelation weist auf die Einstellung und weitere Merkmale – werden die Experimental-
Möglichkeit eines Ursache-Wirkungs-Zusammenhangs hin, und Kontrollgruppe ähnlich sein. Deshalb können wir, wenn sich
doch sie ist kein Nachweis für einen Kausalzusammenhang. die Gruppen am Ende des Experiments unterscheiden, davon
Behalten Sie dieses Prinzip im Gedächtnis, und Sie werden, wenn ausgehen, dass die Behandlung einen Effekt hatte.
Sie Berichte über wissenschaftliche Untersuchungen lesen bzw.
Experiment (»experiment«) – Forschungsmethode, bei der der Forscher
hören, diese besser beurteilen können. einen oder mehrere Faktoren (unabhängige Variablen) manipuliert, um
die Auswirkung auf eine Verhaltensweise oder einen mentalen Prozess (ab-
hängige Variable) zu beobachten. Durch Zufallszuweisung der Teilnehmer
können andere wichtige Faktoren kontrolliert werden.
2.2.4 Experiment
Versuchsgruppe (»experimental group«) – Gruppe in einem Experiment,
deren Teilnehmer einer Behandlung unterzogen werden, die in diesem Fall
? 2.6 Welches sind die Eigenschaften von Experimenten, die es eine Ausprägung der unabhängigen Variable darstellt.

möglich machen, Ursache und Wirkung auseinanderzuhalten? Kontrollgruppe (»control group«) – Gruppe in einem Experiment, die
keine Behandlung erhält; die Kontrollgruppe steht der Versuchsgruppe
»Glücklich ist, wer die Ursachen der Dinge erkennen kann«, gegenüber und wird als Vergleich herangezogen, um die Wirkung der Be-
sagte der römische Dichter Vergil. Wie können Psychologen handlung zu evaluieren.

Ursachen in Korrelationsstudien erkennen, z. B. die Korrelation Randomisierung (auch Zufallszuweisung; »random assignment«) – die
Teilnehmer an der Versuchs- und an der Kontrollbedingung werden zufällig
zwischen Stillen und Intelligenz?
ausgewählt. Dadurch wird es höchst unwahrscheinlich, dass die beiden
Forscher haben herausgefunden, dass gestillte Kinder in In- Gruppen sich vorher bereits unterscheiden.
telligenztests etwas besser abschneiden als Flaschenkinder, die
mit Kuhmilch ernährt wurden (Angelsen et al. 2001; Mortensen Im Rahmen eines Experiments zum Stillen wies eine Forscher-
et al. 2002; Quinn et al. 2001). In England stiegen gestillte Babys gruppe etwa 17.000 Neugeborene aus Weißrussland und ihre
später mit einer größeren Wahrscheinlichkeit in eine höhere Mütter per Zufallsprinzip entweder einer Stillförderungsgruppe
soziale Klasse auf als Kinder, welche mit der Flasche gefüttert oder einem normalen Kinderpflegeprogramm zu (Kramer et al.
wurden (Martin et al. 2007). Der Effekt des Stillens auf die Intel- 2008). In einem Alter von 3 Monaten, wurden 43% der Kinder in
ligenz schrumpft, wenn Forscher gestillte Kinder und Flaschen- der Experimentalgruppe ausschließlich gestillt. In der Kontroll-
kinder aus denselben Familien vergleichen (Der et al. 2006). gruppe waren es nur 6%. Im Alter von 6 Jahren wurden beinahe
Was bedeuten diese Ergebnisse? Haben klügere Mütter (die 14.000 der Kinder erneut untersucht und einem Intelligenztest
in modernen Ländern häufiger stillen) klügere Kinder? Oder unterzogen. Dabei erzielten die Kinder, welche in der Stillförde-
fördern, wie manche Wissenschaftler glauben, die Nährstoffe in rungsgruppe waren, im Durchschnitt um 6 Punkte höhere Werte
als die Kinder aus der Kontrollgruppe.
3 Da viele Assoziationen als Korrelationen angegeben werden, wird das Prinzip
Natürlich erlaubt ein einzelnes Experiment keine endgültige
meist folgendermaßen ausgedrückt: »Korrelation ist kein Beweis für Kausali-
tät.« Diese Aussage stimmt, sie gilt aber auch für Assoziationen, welche durch Schlussfolgerung, doch in diesem Fall konnten die Wissenschaft-
andere, nichtexperimentelle Statistiken überprüft wurden (Hatfield et al. 2006). ler durch die Zufallszuweisung der Versuchspersonen zu der
34 Kapitel 2 · Kritisch denken mit wissenschaftlicher Psychologie

einen oder anderen Ernährungsgruppe alle Faktoren mit Aus- falsche Pille, die 3 Euro kostet, bringt bessere Ergebnisse als eine
nahme der Ernährung konstant halten. Auf diese Weise konnte für 10 Cent (Waber et al. 2008). Um herauszufinden, wie wirk-
man die Schlussfolgerung stützen, dass tatsächlich, soweit es um sam eine Therapie wirklich ist, müssen Forscher einen mög-
2 die Entwicklung der Intelligenz geht, Stillen die beste Art der lichen Placeboeffekt kontrollieren.
Ernährung darstellt: Verändert sich ein Verhalten (beispielsweise
Placeboeffekt (Aussprache Betonung: Placebo; lateinisch für »Ich werde
die Testleistung), wenn wir den Experimentalfaktor variieren (so gefallen«; »placebo effect«) – experimentelle Ergebnisse, die nur durch Er-
wie bei der Ernährung dieser Kinder), dann schließen wir dar- wartungen zustande kommen; jede Auswirkung auf das Verhalten, die
aus, dass dieser Faktor einen Effekt hat. durch die Verabreichung einer unwirksamen Substanz hervorgerufen wird,
von der der Versuchsteilnehmer jedoch annimmt, dass sie wirkt.
Merken Sie sich: Im Gegensatz zu Korrelationsstudien, die
natürlich auftretende Zusammenhänge aufdecken, wird bei Prüfen Sie Ihr Wissen
einem Experiment ein Faktor manipuliert, um seinen Effekt zu
bestimmen. 5 Zu welcher Maßnahme greifen Forscher, um zu ver-
Überlegen Sie sich nun, wie wir den Wert therapeutischer hindern, dass der Placeboeffekt ihre Resultate durch-
Interventionen bemessen könnten. Unsere Neigung, nach neuen einanderbringt?
Heilmitteln zu suchen, wenn wir krank oder niedergeschlagen
sind, kann irreführende Belege hervorbringen. Wenn wir am
dritten Tag einer Erkältung Vitamin C nehmen und feststellen, Unabhängige und abhängige Variablen
dass sich die Symptome bessern, dann führen wir das auf die Ta- Die Viagrastudie ist ein noch überzeugenderes Beispiel. Viagra
bletten zurück und nicht darauf, dass die Erkältung automatisch erhielt die Zulassung, nachdem das Präparat in 21 klinischen
nach ein paar Tagen abklingt. Im 18. Jahrhundert schien Aderlass Versuchen getestet worden war. Zu diesen Versuchen gehörte
ein wirksames Heilmittel zu sein. Manchmal ging es dem Kranken auch ein Experiment, bei dem die Wissenschaftler 329 Männer,
nach der Behandlung besser; war das nicht der Fall, dann schloss die an Impotenz litten, entweder einer Experimentalgruppe (die
der Arzt daraus, dass die Krankheit schon zu weit fortgeschritten Viagra erhielt) oder einer Kontrollgruppe (die ein Placebo
war. Ganz gleich, ob ein Heilmittel tatsächlich heilt oder nicht, es erhielt) zuwiesen. Das Experiment war als Doppelblindversuch
wird immer begeisterte Anhänger finden. Um seinen Effekt fest- angelegt, d. h., weder die Teilnehmer noch die Assistenten, die
zustellen, müssen wir andere Faktoren kontrollieren. das Präparat austeilten, wussten, wer Viagra und wer das Placebo
In genau dieser Weise werden neue Medikamente und neue erhielt. Das Ergebnis: Mit der Höchstdosis Viagra war der Ge-
psychologische Therapiemethoden evaluiert (7 Kap. 17). Die Ver- schlechtsverkehr in 69% der Fälle erfolgreich; bei den Männern,
suchspersonen werden in diesen Studien zufällig Untersuchungs- die das Placebo erhalten hatten, waren es nur 22% (Goldstein et
gruppen zugewiesen. Eine Gruppe erhält eine Behandlung (bei- al. 1998). Viagra hatte demnach einen Effekt.
spielsweise ein Medikament), die andere erhält eine Pseudo- Dieses einfache Experiment manipulierte nur einen Faktor:
behandlung – ein wirkungsloses Placebo (z. B. eine Tablette ohne Die Dosierung des Arzneistoffes (kein Viagra vs. Höchstdosis).
Wirkstoff). Die Studienteilnehmer sind oftmals »blind«, d. h., sie Diesen Experimentalfaktor nennen wir die unabhängige Vari-
wissen nicht, welche Behandlung sie erhalten oder ob sie überhaupt able. Unabhängig deshalb, weil wir sie unabhängig von anderen
behandelt werden. Wenn es sich bei der Studie um einen Doppel- Faktoren variieren können wie etwa dem Alter der Männer,
blindversuch handelt, dann wissen weder die Teilnehmer noch die ihrem Körpergewicht oder ihrer Persönlichkeit. Diese anderen
Assistenten des Versuchsleiters, die die Arznei verabreichen und Faktoren, welche die Resultate des Experiments eventuell beein-
die Daten sammeln, welche Gruppe das Medikament erhält. flussen können, nennt man Störvariablen. Die Zufallszuweisung
Doppelblindversuch (»double-blind procedure«) – experimentelles Vorge-
kontrolliert mögliche Störvariablen.
hen, bei dem sowohl die Versuchsteilnehmer als auch die Mitarbeiter des Experimente untersuchen die Wirkung von einer oder
Versuchsleiters nicht wissen (»blind« sind), ob die Teilnehmer eine Behand- mehreren unabhängigen Variablen auf ein messbares Verhalten.
lung oder ein Placebo erhalten. Diese Methode wird i. Allg. bei der Evalua- Dieses Verhalten wird abhängige Variable genannt, weil es sich
tion von Studien zur Wirkung von Medikamenten angewandt.
– abhängig von den Ereignissen im Experiment – verändern
Mit solchen Studien können die Wissenschaftler die tatsächliche kann. Beide Variablen werden genauestens operationalisiert. Die
Wirkung einer Behandlung prüfen, unabhängig davon, ob die operationale Definition der Variablen spezifiziert den Prozess,
Teilnehmer oder die Forschungsgruppe an die heilende Kraft der der die unabhängige Variable manipuliert (bei dem Viagraexpe-
Behandlung glauben. Schon der bloße Gedanke, dass man be- riment war das die genaue Viagradosis und das Timing) oder die
handelt wird, kann die Lebensgeister wieder wecken, den Körper abhängige Variable misst (die Fragen, mit denen die Reaktionen
entspannen und zu einer Verringerung der Symptome führen. der Männer erfasst wurden). Diese operationalen Definitionen
Dieser Placeboeffekt ist bei der Reduktion von Schmerzen, beantworten die Frage »Was meinen Sie damit?« so genau, dass
Depression und Angst gut dokumentiert (Kirsch 2010). Und je andere die Untersuchung wiederholen (replizieren) können
teurer ein Placebo ist, desto »echter« wirkt es auf uns – eine (s. das Design der Stillstudie in . Abb. 2.15)
2.2 · Wie stellen und beantworten Psychologen Fragen?
35 2

. Abb. 2.15 Experiment. Um Kausalität festzustellen, weisen Psychologen einige Versuchsteilnehmer zufällig einer experimentellen Behandlung zu,
andere einer Kontrollbedingung. Durch die Messung einer abhängigen Variable (Intelligenztestwert in der späteren Kindheit) wird die Wirkung der unab-
hängigen Variable bestimmt (Art der Milch)

Unabhängige Variable (»independent variable«) – Faktor im Experiment, – alles, was innerhalb der Grenzen des Möglichen und des ethisch
der manipuliert wird und dessen Wirkung untersucht wird. Vertretbaren bleibt). Ein Experiment dient dazu, eine unabhän-
Störvariable (»confounding variable«) – ein anderer Faktor als die unab- gige Variable zu manipulieren, eine abhängige Variable zu messen
hängige Variable, der in einem Experiment eine Wirkung entfalten könnte.
und alle anderen Variablen durch die randomisierte Gruppenzu-
Abhängige Variable (»dependent variable«) – Ergebnisfaktor; diese
weisung zu kontrollieren. Ein Experiment besteht aus mindestens
Variable kann sich als Reaktion auf die Manipulationen der unabhängigen
Variablen verändern. zwei verschiedenen Bedingungen: einer Experimentalbedingung
und einer Vergleichs- oder Kontrollbedingung. Die Zufallszuwei-
Halten wir kurz inne und überprüfen unser Wissen anhand eines sung hat zur Folge, dass – bevor irgendwelche Behandlungseffek-
einfachen psychologischen Experiments: Um den Effekt der te auftreten – die Ausgangsbedingungen in beiden Gruppen so
wahrgenommenen ethnischen Zugehörigkeit auf die Bereit- ähnlich wie möglich gehalten werden. Dadurch kann das Ex-
schaft, dieser Person eine Haus zu vermieten, zu testen, sandten periment Aufschluss über die Wirkung von mindestens einer
Adrian Carpusor und William Loges (2006) identisch formu- unabhängigen Variable (dem, was wir manipulieren) auf mindes-
lierte Mail-Fragebogen an 1115 Hausbesitzer aus dem Gebiet tens eine abhängige Variable (dem Ergebnis, das wir erfassen)
um Los Angeles. Die Forscher variierten den Namen des geben. In . Tab. 2.3 werden die wichtigsten Merkmale der psy-
Senders, sodass er auf eine bestimmte ethnische Zugehörig- chologischen Forschungsmethoden miteinander verglichen.
keit hinwies, und erfassten den Prozentsatz an positiven Ant-
worten (Einladungen zur Wohnungsbesichtigung). »Patrick
Prüfen Sie Ihr Wissen
McDougall«, »Said Al-Rahman« und »Tyrell Jackson« wurden
zu jeweils 89%, 66% und 56% eingeladen. (Testfrage: Welche war 5 Durch eine Zufallszuweisung bekommen Forscher Kon-
die unabhängige Variable in diesem Experiment? Welche die trolle über . Es handelt sich dabei um
abhängige?4) andere Faktoren nebst der unabhängigen Variable(n),
Experimente können auch hilfreich dabei sein, sozialpoliti- welche die Studienergebnisse beeinflussen könnten.
sche Programme zu evaluieren. Lassen sich durch Bildungspro- 5 Ordnen Sie die Begriffe 1–3 den zugehörigen Beschrei-
gramme in der frühen Kindheit die Erfolgschancen benachteilig- bungen a–c zu.
ter Kinder erfolgreich verbessern? Worin bestehen die Wirkun- 1. Doppelblindversuch
gen unterschiedlicher Kampagnen gegen das Rauchen? Lässt sich 2. Zufallsstichprobe
durch Sexualerziehung in der Schule die Anzahl der Teenager- 3. Zufallszuweisung
Schwangerschaften verringern? Um diese Fragen zu beantwor- a. hilft Forschern, die Ergebnisse der Befragung
ten, können wir Experimente entwerfen: Wenn ein Programm einer kleinen Stichprobe auf eine größere Population
allgemein gutgeheißen wird, aber die Ressourcen knapp sind, zu generalisieren
können wir ein Losverfahren dazu nutzen, einige Personen (oder b. hilft, vorher bestehende Unterschiede zwischen der
Regionen) nach zufälligen Kriterien einem neuen Programm Experimental- und den Kontrollgruppen zu minimieren
zuzuweisen und andere einer Kontrollbedingung. Sollten sich c. kontrolliert den Placeboeffekt; weder die Forscher
die beiden Gruppen später unterscheiden, wurde der Effekt der noch die Teilnehmer wissen, wer die echte Behandlung
Intervention bestätigt (Passell 1993). erhält
Lassen Sie uns rekapitulieren: Eine Variable ist alles, was 5 Ein neues blutdrucksenkendes Mittel soll geprüft werden.
variieren kann (Säuglingsnahrung, Intelligenz, Fernsehkonsum Warum werden wir mehr Informationen über die Wirk-
samkeit dieses Mittels bekommen, wenn wir es der Hälfte
der 1000 Teilnehmer verabreichen, als wenn wir es allen
4 Die unabhängige Variable, welche die Forscher manipulierten, war der
Name, der jeweils auf eine andere Ethnie hinwies. Die abhängige Variable, 1000 Teilnehmern geben?
welche die Forscher maßen, war die Rate an positiven Antworten.
36 Kapitel 2 · Kritisch denken mit wissenschaftlicher Psychologie

. Tab. 2.3 Forschungsmethoden im Überblick

Forschungsmethode Forschungsziel Praktische Durchführung Manipuliert wird Schwächen


2
Beschreibung Verhalten beobachten und Fallstudien, naturalistische Nichts Keine Kontrolle der Variablen;
beschreiben Beobachtungen oder Einzelfälle möglicherweise
Befragungen irreführend

Korrelationsstudie Aufdeckung naturgegebener Zu zwei oder mehreren Nichts Macht keine Aussage über
Zusammenhänge; Beurteilung, wie Variablen werden Daten Ursache und Wirkung
gut man eine Variable aufgrund gesammelt; keine Man-
einer anderen vorhersagen kann pulation

Experiment Erkundung von Ursache- Ein oder mehrere Faktoren Die Manchmal nicht durchführbar;
Wirkungs-Zusammenhängen werden manipuliert; unabhängige(n) Ergebnisse nicht immer über
Zufallszuweisung Variable(n) andere Kontexte hinweg genera-
lisierbar; unethisch, bestimmte
Variablen zu manipulieren

2.3 Statistische Argumentation im Alltagsleben 4 Das menschliche Gehirn enthält 100 Milliarden Nervenzellen.
Oder sind es eher etwa 40 Milliarden, wie sich – beruhend
In der deskriptiven Forschung, in Korrelationsstudien und Expe- auf der Untersuchung eines Gewebeausschnittes – hoch-
rimenten sind die statistischen Methoden Werkzeuge, mit deren rechnen lässt (7 Kap. 3)?
Hilfe man Ergebnisse sehen und interpretieren kann, die ohne
statistische Aufbereitung nicht erkennbar wären. Die Forscher Merken Sie sich: Große runde Zahlen, die nicht belegt sind,
Michael Norton und Dan Ariely (2011) baten 5522 Amerikaner sollten Sie immer mit Vorsicht betrachten.
zu schätzen, wie viel Prozent des Reichtums die 20% reichsten Statistisches Unwissen löst auch unnötige Gesundheitssorgen
Menschen in ihrem Land besitzen. Die durchschnittliche Schät- aus (Gigerenzer et al. 2008, 2009, 2010). In den 1990er Jahren
zung einer Person lag bei 58%, womit die ungleiche Vermögens- berichtete die britische Presse über eine Studie zu einer bestimm-
verteilung »dramatisch unterschätzt« wurde. (Die reichsten 20% ten empfängnisverhütenden Pille. Es war zu lesen, dass Frauen,
besitzen 84% des Reichtums.) die diese Pille einnehmen, ein um 100% erhöhtes Risiko für
Blutgerinnsel haben und dass dies zu Schlaganfällen führen kann.
Wenn man Demokraten und Republikaner fragt, wie das Ver-
Als Folge setzten Tausende von Frauen die Pille ab. Es kam zu
mögen in Amerika ideal verteilt sein müsste, so liefern sie
einer Welle von ungewollten Schwangerschaften und ungefähr
überraschend ähnliche Antworten. In der idealen Welt der De-
13.000 Abtreibungen (die ebenfalls mit einem erhöhten Throm-
mokraten würden die reichsten 20% der Bevölkerung 30% des
boserisiko in Verbindung stehen). Doch was hat die erwähnte
Reichtums besitzen. Republikaner bevorzugten einen ähnlichen
Studie eigentlich gefunden? Tatsächlich ein um 100% erhöhtes
Anteil von 35% (Norton u. Ariely 2011).
Risiko – es handelte sich dabei aber um einen Anstieg von 1 von
Akkurates statistisches Wissen bringt allen Vorteile. Als gebil- 7000 Fällen auf 2 von 7000 Fällen. Solche falschen Alarme zeigen,
deter Mensch sollte man heutzutage in der Lage sein, einfache wie wichtig es ist, den Umgang mit Statistik zu lehren und statis-
statistische Prinzipien im Alltag anzuwenden. Wir müssen uns tische Informationen transparenter zu präsentieren.
dabei nicht an komplizierte Formeln erinnern, um klarer und
kritischer mit den Daten umzugehen.
Oft wird die Wirklichkeit durch spontane Schätzungen ver- 2.3.1 Datenbeschreibung
fälscht, was wiederum dazu führt, dass die Öffentlichkeit falsche
Informationen erhält. Jemand wirft eine große runde Zahl in die
? 2.7 Wie können wir mit Hilfe der Maße der zentralen
Diskussion. Andere nehmen sie auf, und in kürzester Zeit wird
Tendenz und der Variabilität Daten beschreiben?
aus der großen runden Zahl eine öffentliche Fehlinformation.
Hier ein paar Beispiele: Sind die Rohdaten gesammelt, besteht die erste Aufgabe der
4 10% der Bevölkerung sind homosexuell (Männer und Frauen). Wissenschaftler darin, sie sinnvoll zu ordnen (. Abb. 2.16). Eine
Oder sind es nur 2–3%, wie das Ergebnis verschiedener Möglichkeit dafür ist die Verwendung eines einfachen Säulen-
landesweiter Befragungen lautet (7 Kap. 12)? diagramms wie in . Abb. 2.17, die die Verteilung von Lastwagen
4 Wir nutzen normalerweise nur 10% unseres Gehirns. verschiedener Marken zeigt, die nach 10 Jahren noch in Betrieb
Oder doch fast 100% (7 Kap. 3)? sind. Bei derartigen Diagrammen ist allerdings Vorsicht geboten.
2.3 · Statistische Argumentation im Alltagsleben
37 2

. Abb. 2.16 (© Patrick Hardin / Search ID: phan123, Rights Available from
CartoonStock.com)

Je nachdem, was betont werden soll, kann das Diagramm so ge-


zeichnet werden, dass Unterschiede groß (. Abb. 2.17a) oder
gering (. Abb. 2.17b) ausfallen. Das Geheimnis liegt darin, wie
man die Ordinate (die y-Achse) beschriftet.
Merken Sie sich: Lassen Sie sich nichts vormachen. Wenn
Ihnen in Zeitschriften oder im Fernsehen Abbildungen präsen-
tiert werden, lesen Sie die Bezeichnung der Achsen und achten
Sie auf den dargestellten Bereich (Variationsbreite, »range«).

Maße der zentralen Tendenz


Der nächste Schritt bei der Bearbeitung der Rohdaten ist die Zu-
sammenfassung mit Hilfe der Maße zur »zentralen Tendenz«, eines . Abb. 2.17a,b Achten Sie auf die Skaleneinteilung
einziges Wertes, mit dessen Hilfe die Gesamtmenge der Werte
dargestellt wird. Die einfachste Maßzahl ist der Modalwert, das ist
der Wert, der am häufigsten auftritt (bzw. die Werte, die am Die Maße der zentralen Tendenz bringen die Daten in eine ge-
häufigsten auftreten). Die bekannteste Maßzahl ist der Mittelwert, wisse Ordnung. Doch achten Sie darauf, was mit dem Mittelwert
das arithmetische Mittel. Dabei werden sämtliche Werte addiert geschieht, wenn die Verteilung wegen ein paar extremer Werte
und durch die Anzahl der Werte dividiert. Der Median teilt die nach einer Seite hängt, also schief ist. Wenn wir Daten betrachten,
Menge der Daten genau in der Mitte; er entspricht also dem 50. Per- die das Einkommen beschreiben, dann berichten Median,
zentil. Wenn Sie die Werte der Größe nach grafisch anordnen, liegt Modal- und Mittelwert jeweils sehr unterschiedliche Geschich-
die eine Hälfte unter dem Median, die andere Hälfte darüber. ten (. Abb. 2.18). Das liegt daran, dass der Mittelwert durch ein
paar Extremwerte verfälscht wird. Wenn sich Bill Gates, der Mit-
Modalwert (»mode«) – der Wert oder die Werte, die in einer Verteilung am begründer von Microsoft, in ein kleines Café setzt, wird der
häufigsten auftreten.
Durchschnittsgast (Mittelwert) mit einem Mal zum Milliardär.
Mittelwert (»mean«) – das arithmetische Mittel wird berechnet durch
Das mittlere Einkommen (Median) im Café hat sich jedoch nicht
die Addition sämtlicher Werte; diese Summe wird durch die Gesamtzahl
der Werte dividiert. verändert. Wenn Sie das verstanden haben, können Sie nachvoll-
Median (»median«) – der mittlere Wert in einer Verteilung; eine Hälfte der ziehen, weshalb eine englische Tageszeitung richtigerweise mit
Werte liegt unterhalb, die andere Hälfte oberhalb des Medianwertes. folgender Schlagzeile erscheinen konnte: »Das Einkommen von
38 Kapitel 2 · Kritisch denken mit wissenschaftlicher Psychologie

. Abb. 2.18 Schiefe Verteilung. Diese grafische Darstellung der Einkommensverteilung in einem Dorf illustriert die drei Maße der zentralen Tendenz:
Modalwert, Median und Mittelwert. Beachten Sie, wie einige wenige hohe Einkommen den Mittelwert – den Dreh- und Angelpunkt, der die Einkünfte
oberhalb und unterhalb austariert – nach oben verschieben

62% der Bevölkerung liegt unter dem Durchschnitt« (Water- dass sie in ihrem nächsten Spiel etwa 5-mal trifft. Hätte ihre
house 1993). Weil die untere Hälfte der englischen Arbeitnehmer Trefferquote zwischen 2 und 10 geschwankt, dann könnten wir
nur ein Viertel des gesamten Volkseinkommens erhält, liegt das unserer Prognose nicht allzu sehr vertrauen. Die Variations-
Einkommen der meisten Engländer unter dem Mittelwert. Das breite der Daten, d. h. der Abstand zwischen dem höchsten und
gilt aber nicht nur für die Engländer, sondern ist in allen Ländern dem niedrigsten Wert, liefert nur eine grobe Schätzung der
der Erde so. Mittelwert und Median besagen beide etwas Wahres, Variation, denn schon ein paar »Ausreißer« können eine sonst
aber eben auch etwas Unterschiedliches. durchaus einheitliche Gruppe sprengen. In . Abb. 2.18 ist zu
sehen, wie zwei Einkommen von 475.000 Euro und 710.000 Euro
Der Durchschnittsmensch hat einen Eierstock und einen Hoden.
für eine fälschlich viel zu große Variationsbreite sorgen.
Merken Sie sich: Achten Sie immer darauf, welches Maß der zen-
Variationsbreite (»range«) – Differenz zwischen dem höchsten und dem
tralen Tendenz berichtet wird. Handelt es sich dabei um den Mit- niedrigsten Wert einer Verteilung.
telwert, dann schauen Sie nach, ob nicht ein paar untypische
Werte den Mittelwert verzerren. Ein besserer Standard, um zu erfassen, wie stark die Werte von-
einander abweichen, ist die Standardabweichung. In die Be-
Prüfen Sie Ihr Wissen
rechnung der Standardabweichung fließen Informationen über
5 Ein amerikanischer Lastwagenhersteller präsentierte die jeden einzelnen Messwert ein. Dadurch lässt sich besser erken-
Grafik in . Abb. 2.17a mit tatsächlichen Markennamen, nen, ob die Daten eng beieinander liegen oder über die gesamte
um die viel längere Haltbarkeit seiner Lastwagen her- Variationsbreite verstreut sind. Bei der Berechnung der Stan-
vorzuheben. Was macht die Grafik in . Abb. 2.17b in dardabweichung wird berücksichtigt, um wie viel sich die Mess-
Bezug auf die verschiedenen Haltbarkeiten klar und wie werte der einzelnen Individuen vom Mittelwert unterscheiden
schafft sie das? (. Tab. 2.4). Ein Beispiel: Wenn eine Universität nur Studenten
mit einem bestimmten Intelligenz- und Bildungsniveau auf-
nimmt, dann wird die Standardabweichung der Ergebnisse eines
Intelligenztests mit dieser Population deutlich geringer sein als
Maße der Variabilität die Standardabweichung bei einem Intelligenztest, der mit einer
Die Maße der zentralen Tendenz können uns bereits eine große heterogeneren Population außerhalb der Universität durchge-
Menge an Informationen vermitteln. Doch in einer einzigen Zahl führt wird.
sind nicht alle Informationen enthalten. Es ist hilfreich, über die
Standardabweichung (»standard deviation«) – berechnete Maßzahl,
Variabilität (Streuung) innerhalb der Datenmenge Bescheid zu die die Streuung der Daten um den Mittelwert angibt.
wissen, beispielsweise, ob die Werte dicht beieinander liegen
oder sehr unterschiedlich ausfallen. Mittelwerte von Daten mit Die Bedeutung der Standardabweichung wird klar, wenn Sie
geringer Variabilität sagen mehr aus als Mittelwerte von Daten sich vor Augen führen, wie Werte in einem natürlichen Umfeld
mit hoher Variabilität. Nehmen wir einmal die Handballer als verteilt sind. Große Datenmengen – Angaben zu Größe oder
Beispiel: Von einer Spielerin, die in den ersten 10 Spielen der Gewicht, Intelligenzwerte, Noten (jedoch nicht Einkommens-
Saison jeweils zwischen 4 und 6 Treffer erzielte, erwarten wir, bezifferungen) – bilden oft eine symmetrische, glockenförmige
2.3 · Statistische Argumentation im Alltagsleben
39 2

. Tab. 2.4 Berechnung der Standardabweichung anhand von Stichproben-Testwerten aus zwei Klassen. Die Standardabweichung lässt sich
mithilfe der Formel berechnen, die zuunterst in der Tabelle zweimal notiert ist. Hier berechnen und vergleichen wir die Standardabweichungen der
Testwerte aus zwei verschiedenen Klassen. Beachten Sie, dass die Testwerte in Klasse A und Klasse B denselben Mittelwert (80) aufweisen, aber ganz
unterschiedliche Standardabweichungen. Letztere sagen mehr darüber aus, welche Leistungen die Schülerinnen und Schüler in jeder Klasse wirklich
zeigen

Testwerte in Klasse A Testwerte in Klasse B

Testwert Abweichung vom Mittelwert Quadrierte Testwert Abweichung vom Mittelwert Quadrierte
Abweichung Abweichung

72 –8 64 60 –20 400

74 –6 36 60 –20 400

77 –3 9 70 –10 100

79 –1 1 70 –10 100

82 +2 4 90 +10 100

84 +4 16 90 +10 100

85 +5 25 100 +20 400

87 +7 49 100 +20 400

Summe = 640 Summe der (Abweichungen)2 = 204 Summe = 640 Summe der (Abweichungen)2 = 2000

Mittelwert = 640 : 8 = 80 Mittelwert = 640 : 8 = 80

Standardabweichungsformel: Standardabweichungsformel:

Verteilung. Die meisten Fälle ordnen sich um den Mittelwert an; Prüfen Sie Ihr Wissen
an den beiden Extremen finden wir weniger Fälle. Diese glocken-
förmige Verteilung ist so typisch, dass wir sie als Normalvertei- 5 Der Durchschnitt einer Werteverteilung ist der
lung bezeichnen. . Der Wert, der am häufigsten auftritt,
Wie . Abb. 2.19 zeigt, besteht eine nützliche Eigenschaft der ist der . Den Wert, der sich genau in
Normalverteilung darin, dass ungefähr 68% der Fälle im Bereich der Mitte einer Verteilung befindet (die Hälfte der Werte
von einer Standardabweichung um den Mittelwert (in beide Rich- liegt über, die andere Hälfte unter ihm) nennt man
tungen) zu liegen kommen. Ungefähr 95% der Fälle befinden sich . Wir bestimmen, wie die Messwerte um
innerhalb von zwei Standardabweichungen. Darum werden – wie den Mittelwert streuen, indem wir die
in 7 Kap. 11 erwähnt wird – bei einem Intelligenztest ungefähr berechnen. Dabei erhalten wir auch Informationen zur
68% der Menschen einen Wert zwischen 85 und 115 Punkten er- von Werten (Unterschied zwischen dem
reichen, der also im Bereich ±15 Punkte von 100 liegt. Ungefähr größten und dem kleinsten Wert).
95% erzielen einen Wert im Bereich ±30 Punkte.
Normalverteilung (»normal curve«, »normal distribution«) – symmetri-
sche, glockenförmige Kurve, mit der die Verteilung vieler Datentypen be- 2.3.2 Signifikante Unterschiede
schrieben wird. Die meisten Werte finden sich in der Nähe des Durch-
schnitts (ungefähr 68% liegen im Bereich einer Standardabweichung
links oder rechts des Durchschnitts). Je weiter man sich zu den Extremen ? 2.8 Wie können wir herausfinden, ob sich ein beobachteter
hin bewegt, desto weniger Werte findet man. Unterschied auf eine andere Population übertragen lässt?

Daten sind mehrdeutig. Wenn sich das Durchschnittsergebnis


einer Gruppe (Muttermilchbabys) von dem der anderen Gruppe
(Fertigmilchbabys) unterscheidet: Wie können wir sicher sein,
dass der Unterschied tatsächlich besteht und nicht durch zufäl-
lige Fluktuationen in der Stichprobe hervorgerufen wurde? Wie
viel Vertrauen können wir in unsere Schlussfolgerung setzen,
40 Kapitel 2 · Kritisch denken mit wissenschaftlicher Psychologie

. Abb. 2.19 Normalverteilung. Die bei einem Eignungstest erzielten Werte haben die Tendenz, eine glockenförmige Normalverteilung zu bilden. Beim
»Wechsler Intelligenztest für Erwachsene« etwa ist der Mittelwert 100

dass die beobachtete Differenz nicht bloß ein Zufallsergebnis ist? und anregend. In der zweiten Uni sind die zufällig gewähl-
Zur Orientierung können wir fragen, wie reliabel (zuverlässig) ten Professoren langweilig und wenig anregend. Zu Hause
und signifikant die Unterschiede sind. berichtet der Student (er lässt die kleine Stichprobengröße
von nur zwei Dozenten in jeder Hochschule außer Acht)
Wann ist ein beobachteter Unterschied reliabel dann seinen Freunden von den »tollen Lehrern« der ersten
(zuverlässig)? Uni und den »schrecklichen Langweilern« der zweiten.
Wenn wir entscheiden müssen, ob unser Ergebnis zuverlässig Hier haben wir wieder den Fall, den wir so gut kennen und
genug ist, um eine Generalisierung auf Basis der Stichprobe zu doch immer wieder vergessen: Durchschnittswerte, die auf
erlauben, müssen wir drei Grundsätze beachten. der Grundlage von vielen Einzelfällen berechnet werden,
1. Repräsentative Stichproben sind besser als verzerrte sind zuverlässiger (weniger variabel) als Durchschnittswerte
Stichproben. Nicht die außergewöhnlichen und denk- auf der Basis einiger weniger Fälle.
würdigsten Einzelfälle, die man an den Rändern einer
Verteilung findet, sind die beste Grundlage für eine Ver- Merken Sie sich: Clevere Köpfe lassen sich von ein paar Einzel-
allgemeinerung, sondern eine repräsentative Stichprobe fällen nicht übermäßig beeindrucken. Verallgemeinerungen auf
von Fällen. Keine Studie umfasst eine repräsentative der Basis einiger unrepräsentativer Fälle sind nicht reliabel.
Stichprobe der gesamten Menschheit. Deshalb muss man
darauf achten, aus welcher Population eine Studie ihre Wann ist ein Unterschied signifikant?
Stichprobe genommen hat. Vielleicht haben Sie die Werte von Männern und Frauen bei
2. Weniger variierende Beobachtungen sind zuverlässiger einem Aggressionstest im Labor verglichen und einen Ge-
als jene, die eine größere Variation aufweisen. Wir haben schlechtsunterschied gefunden. Aber Individuen unterscheiden
dazu das Beispiel der Handballspielerin gesehen, deren sich immer. Wie wahrscheinlich ist es, dass der Unterschied
Punktzahl nur geringfügig variierte: Ein Durchschnittswert nur ein Zufallsbefund war? Eine statistische Überprüfung kann
vermittelt zuverlässigere Informationen, wenn er aus Scores die Wahrscheinlichkeit abschätzen, mit der das Ergebnis zufällig
mit geringer Streuung berechnet wird. entstanden ist.
3. Mehr Fälle sind besser als wenige. Ein eifriger künftiger Die Logik, die hinter diesem Vorgehen liegt, ist die folgende:
Student besucht zwei Universitäten und verbringt an jeder Wenn die Durchschnittswerte (Mittelwerte) von zwei Stichpro-
einen Tag. In der ersten Universität besucht er zwei zufällig ben reliable (zuverlässige) Maßzahlen für die jeweilige Popula-
ausgewählte Vorlesungen und findet die Professoren witzig tion sind (wenn also jeder Mittelwert auf vielen Beobachtungen
2.4 · Häufig gestellte Fragen zur Psychologie
41 2

. Abb. 2.20 (© Peanuts Worldwide LLC./Dist. By Universal Uclick/Distr. Bulls)

beruht und nur wenig Variabilität aufweist), dann ist der Unter- Merken Sie sich: Statistische Signifikanz drückt die Wahr-
schied zwischen den Gruppen wahrscheinlich gleichfalls reliabel. scheinlichkeit aus, mit der ein Ergebnis auf Zufall zurückzuführen
(Beispiel: Je geringer die Variabilität bei den jeweiligen Scores ist. Sie sagt nichts über die Bedeutung des Ergebnisses aus.
zu Aggression bei Männern und Frauen ausfällt, desto sicherer
Prüfen Sie Ihr Wissen
können wir sein, dass der beobachtete Gender- oder Geschlechts-
unterschied reliabel ist.) Und wenn die Differenz zwischen den 5 Können Sie dieses Rätsel lösen? – Das Sekretariat der
Mittelwerten der Stichproben groß ist, dann können wir noch University of Michigan hat festgestellt, dass durchschnitt-
sicherer sein, dass diese Differenz eine echte Differenz in den lich 100 Studierende der Geistes- und Naturwissenschaf-
jeweiligen Populationen spiegelt. ten am Ende ihres ersten Semesters an der Universität
Also: Wenn die Mittelwerte der Stichproben reliabel und der hervorragende Noten haben. Doch nur 10–15 Studenten
Unterschied zwischen den Mittelwerten relativ groß ist, dann schließen ihr Studium mit hervorragenden Noten ab.
sagen wir: Der Unterschied ist statistisch signifikant. Das be- Welches ist Ihrer Meinung nach die wahrscheinlichste
deutet, dass der Unterschied, den wir beobachtet haben, wahr- Erklärung für die Tatsache, dass es am Ende des ersten
scheinlich nicht auf eine zufällige Variation zwischen den Stich- Semesters mehr hervorragende Noten gibt als beim
proben zurückzuführen ist. Studienabschluss (Jepson et al. 1983)?
Statistische Signifikanz (»statistical significance«) – statistische Aussage
über die Wahrscheinlichkeit, mit der das Ergebnis einer Untersuchung dem
Zufall zuzuschreiben ist.
2.4 Häufig gestellte Fragen zur Psychologie
Psychologen sind konservativ, wenn es darum geht, statistische
Signifikanz zu bewerten. Sie sind wie ein Geschworenengericht, Wir haben darüber nachgedacht, wie eine wissenschaftliche
das so lange von der Unschuld des Angeklagten auszugehen hat, Vorgehensweise Verzerrungen (Biases) gering halten kann. Wir
bis die Schuld bewiesen ist. Für die meisten Psychologen fängt haben gesehen, wie Verhalten mit Hilfe von Fallstudien, Befra-
der Beweis über einen vernünftigen Zweifel hinaus erst dann an, gungen und Beobachtungen in einer natürlichen Umgebung
wenn die Chance, dass das Ergebnis durch Zufall entstanden ist, beschrieben werden kann. Wir haben auch bemerkt, dass Korre-
unter 5% liegt (. Abb. 2.20). lationsstudien den Zusammenhang zwischen zwei Faktoren er-
Wenn Sie Forschungsberichte lesen, sollten Sie daran den- fassen und damit anzeigen, wie gut man einen Faktor aufgrund
ken, dass bei ausreichend großen oder homogenen Stichproben eines anderen vorhersagen kann. Dann sind wir auf die Logik
die Differenz zwischen den Stichproben zwar »statistisch signi- von Experimenten mit Kontrollbedingung und Zufallszuwei-
fikant« sein, aber nur wenig praktische Signifikanz haben kann. sung der Versuchsteilnehmer eingegangen, bei denen die Wir-
So ergab zum Beispiel der Vergleich der Werte bei einem Intel- kung einer unabhängigen Variable auf eine abhängige Variable
ligenztest von Hunderttausenden erstgeborenen Kindern und isoliert betrachtet werden kann. Und wir haben darüber nach-
ihren nachgeborenen Geschwistern eine hoch signifikante Ten- gedacht, wie uns statistische Werkzeuge helfen können, die Welt
denz, dass die Erstgeborenen höhere Werte erzielten als ihre jün- um uns herum zu sehen und zu interpretieren.
geren Geschwister (Kristensen u. Bjerkedal 2007; Zajonc u. Mar- Aber auch vor dem Hintergrund dieses Wissens werden Sie
kus 1975). Da die Scores aber nur um 1 bis 3 Punkte differieren, vielleicht mit einer Mischung aus Neugier und Vorsicht an die
hat dieser Unterschied wenig praktische Bedeutung. Psychologie herangehen. Wir wollen uns deshalb, bevor wir
42 Kapitel 2 · Kritisch denken mit wissenschaftlicher Psychologie

richtig anfangen, näher mit einigen typischen Fragen beschäf- Psychologische Studien werden zu einer bestimmten Zeit an
tigen. einem bestimmten Ort durchgeführt. Oftmals untersuchen sie
Menschen aus Kulturen, die Joseph Henrich, Steven Heine und
? 2.9 Können Laborversuche etwas über den Alltag aussagen?
2 Ara Norenzayan (2010) als »WEIRD«, also seltsam, bezeichnen.
Wenn Sie einen Artikel über psychologische Forschung lesen »WEIRD« steht für »Western, Educated, Industrialized, Rich
oder etwas darüber hören, fragen Sie sich vielleicht, ob das Ver- and Democratic«. Die meisten Studienteilnehmer stammen aus
halten von Menschen im Labor wohl als Vorhersage für ihr Ver- solchen Kulturkreisen, jedoch nur 12% der gesamten Mensch-
halten im realen Leben dienen kann. Kann bei einem Versuch, heit. Was können uns psychologische Studien also wirklich
bei dem das Blinken eines schwachen roten Lichts in einem über die Menschen i. Allg. sagen? Wir werden es immer wieder
dunklen Raum wahrgenommen werden soll, irgendetwas Hilf- erleben: Die Kultur, d. h. die Gemeinschaft von Menschen
reiches für Nachtflüge herauskommen? Oder folgender Versuch: mit gleichen Vorstellungen und Verhaltensweisen, die von Gene-
Einem Mann wird ein Film mit sexuellen Gewaltszenen gezeigt, ration zu Generation weitergegeben werden, ist ein wichtiger
der Mann ist erregt, und seine Bereitschaft steigt, auf einen Knopf Faktor. Unsere jeweilige Kultur formt unser Verhalten. Sie beein-
zu drücken, mit dem er, wie er glaubt, einer Frau einen Elektro- flusst unsere Reaktionsschnelligkeit und Offenheit, unsere Ein-
schock verpasst. Sagt so ein Versuch tatsächlich etwas darüber stellung gegenüber vorehelichem Sex und unsere wechselnden
aus, ob Gewaltpornografie bei Männern die Wahrscheinlichkeit Vorstellungen von der Idealfigur, unsere Tendenz zur Förm-
erhöht, eine Frau zu vergewaltigen? lichkeit oder zur Formlosigkeit, unseren Blickkontakt, unsere
Doch lassen Sie uns, ehe Sie antworten, über ein paar Dinge Distanz beim Gespräch und vieles andere mehr. Sobald wir
nachdenken. Die Absicht des Versuchsleiters ist es, im Labor eine uns dieser Unterschiede bewusst sind, können wir uns von
vereinfachte Realität herzustellen, eine Realität, in der wichtige der Annahme trennen, dass alle anderen Menschen genauso
Merkmale des Alltags simuliert und kontrolliert werden. Flug- denken und handeln wie wir. Angesichts der ständig steigen-
zeugdesigner benutzen einen Windkanal, um atmosphärische den Durchdringung und Vermischung der Kulturen ist eine
Kräfte unter kontrollierten Bedingungen zu untersuchen. Ge- bewusste Haltung gegenüber diesen Unterschieden dringend
nauso können Psychologen beim Laborversuch psychische erforderlich.
Kräfte unter kontrollierten Bedingungen untersuchen. Kultur (»culture«) – dauerhafte Verhaltensweisen, Vorstellungen, Einstel-
Es ist nicht Zweck eines Experiments, alltägliche Verhaltens- lungen, Werte und Traditionen einer Gruppe von Menschen, die von einer
weisen genau zu reproduzieren, sondern die theoretischen Prin- Generation zur nächsten überliefert werden.

zipien zu testen (Mook 1983). Was Aggressionsstudien betrifft: Unser gemeinsames biologisches Erbe macht uns indessen
Einen Knopf zu drücken, der einen Elektroschock auslöst, ist zu einer großen Familie von Menschen. Es sind dieselben zu-
vielleicht nicht dasselbe, wie jemanden ins Gesicht zu schlagen; grunde liegenden Prozesse, die Menschen überall auf der Welt
doch das Prinzip ist das gleiche. Es sind die zugrunde liegenden steuern.
Prinzipien – nicht die spezifischen Befunde –, mit deren Hilfe All- 4 Ganz egal, ob es sich um Italiener, Franzosen oder Eng-
tagsverhalten erklärt werden kann. ländern handelt: Bei Menschen, die an Dyslexie (einer
Wenn Psychologen beispielsweise die Ergebnisse der Aggres- Lesestörung) leiden, ist überall auf dieser Welt dieselbe
sionsforschung im Labor auf tatsächliches Gewaltverhalten an- Hirnfunktion gestört (Paulesu et al. 2001).
wenden, dann verwenden sie ihre Kenntnisse über die theoreti- 4 Unterschiedliche Sprachen mögen die Kommunikation
schen Grundlagen, auf denen aggressives Verhalten beruht, und über die kulturellen Grenzen hinweg behindern. Doch alle
damit Prinzipien, die sie in zahlreichen Versuchen verfeinert Sprachen gehorchen den Prinzipien der Grammatik und
haben. So verhält es sich auch mit den Erkenntnissen zu Grund- Menschen aus verschiedenen Erdteilen können sich mit
lagen des visuellen Systems, die mit Hilfe von Experimenten in einem Lächeln oder einem Stirnrunzeln verständigen.
einer künstlichen Umgebung entwickelt wurden (wie beispiels- 4 Menschen verschiedener Kulturen leiden nicht auf die
weise auf rote Lichter in einem dunklen Raum schauen) und gleiche Art und Weise unter Einsamkeit. Doch über die
dann auf komplexeres Verhalten (Nachtflug) angewandt werden. kulturellen Grenzen hinweg verstärken Schüchternheit,
Zahlreiche Untersuchungen zu diesem Thema haben gezeigt, geringes Selbstwertgefühl und Unverheiratetsein die Ein-
dass sich die im Labor herausgearbeiteten Prinzipien tatsächlich samkeit (Jones et al. 1985; Rokach et al. 2002).
auf Alltagsbedingungen anwenden lassen (Anderson et al. 1999).
Merken Sie sich: Als Psychologen interessieren uns weniger In mancher Hinsicht sind wir wie alle anderen, in mancher
bestimmte Verhaltensweisen, uns interessieren die allgemeinen Hinsicht sind wir wie manche anderen und in mancher Hinsicht
Prinzipien, mit deren Hilfe viele Verhaltensweisen erklärt wer- sind wir wie sonst niemand auf der Welt. Die Beschäftigung
den können. mit anderen Völkern und Kulturen hilft uns, Ähnlichkeiten und
Unterschiede, Gemeinsamkeit und Andersartigkeit zu erkennen
? 2.10 Ist Verhalten kulturabhängig und geschlechtsspezifisch? (. Abb. 2.21).
2.4 · Häufig gestellte Fragen zur Psychologie
43 2
Arten lernen, denken und sich verhalten. Experimente mit
Tieren dienen aber auch dazu, mehr über Menschen zu erfahren.
Wir Menschen sind nicht wie Tiere; wir sind Tiere, denn wir
teilen dieselbe Biologie. Tierversuche haben daher schon häufig
zur Entwicklung von Medikamenten gegen menschliche Krank-
heiten geführt: Insulin für Diabetiker oder Impfstoffe gegen
Polio und Tollwut. Auch Organtransplantationen wurden zu-
nächst an Tieren durchgeführt.
Menschen sind komplex. Aber die gleichen Prozesse, die
menschlichem Lernen zugrunde liegen, finden wir auch bei
Ratten, Affen, ja sogar bei Meeresschnecken. Gerade der einfache
Aufbau des Nervensystems der Meeresschnecke macht sie zu
einem guten Modell für die neuronalen Abläufe beim Lernen.
. Abb. 2.21 Ein kulturspezifischer Gruß. Soziales Verhalten wird von der
jeweiligen Kultur geprägt, deshalb können Handlungen, die uns ganz Sollten wir Tiere nicht mehr achten, wenn wir einander doch so
normal vorkommen, bei Besuchern aus fremden Ländern Verwunderung ähnlich sind? »Wir können unsere wissenschaftliche Arbeit mit
hervorrufen. Doch hinter diesen Unterschieden verbergen sich große Ähn- Tieren nicht einerseits mit der Ähnlichkeit zwischen ihnen und
lichkeiten. Überall auf der Welt begrüßen sich die Menschen – wenn auch
uns verteidigen und andererseits moralisch mit der Unterschied-
nicht unbedingt so förmlich und respektvoll wie in Japan. (© photos.com)
lichkeit rechtfertigen«, sagte Roger Ulrich (1991). Die Tierschutz-
bewegung protestiert gegen die Verwendung von Tieren in der
Auch die Themen »Geschlechtsrolle« und »Geschlechtszuge- psychologischen, biologischen und medizinischen Forschung.
hörigkeit« werden in diesem Buch immer wieder angesprochen.
Wissenschaftler fanden Geschlechtsunterschiede in unseren
» Ratten und Menschen sind sich ziemlich ähnlich,
nur sind die Ratten nicht so dumm, Lotterielose zu kaufen.
Träumen, in der Art, wie wir Emotionen ausdrücken und bei
Dave Barry, 2. Juli 2002
anderen erkennen, und in dem Risiko, Alkoholiker zu werden,
depressiv zu werden oder eine Essstörung zu entwickeln. In dieser hitzigen Debatte zeichnen sich zwei Themen ab. Die
Geschlechtsunterschiede faszinieren uns. Sie zu studieren, ist grundsätzliche Frage lautet, ob wir berechtigt sind, menschliches
außerdem potenziell nützlich. So glauben Wissenschaftler bei- Wohlbefinden über das der Tiere zu stellen. Haben wir das Recht,
spielsweise, dass Frauen eine Unterhaltung führen, um eine Be- Experimente zu Stress und Krebs zu machen und Mäuse Tumore
ziehung herzustellen, Männer dagegen eher, um Informationen bekommen zu lassen in der Hoffnung, dass wir Menschen keine
und Ratschläge zu geben (Tannen 2001). Wenn uns dieser Unter- bekommen? Dürfen wir ein paar Affen einem HIV-ähnlichen
schied bewusst ist, können wir Konflikte und Missverständnisse Virus aussetzen, wenn wir nach einem Impfstoff gegen Aids
in unseren alltäglichen Beziehungen leichter vermeiden. suchen? Wenn wir Tiere für unsere Zwecke opfern, verhalten wir
Psychologisch und biologisch sind Frauen und Männer aller- uns da so natürlich wie fleischfressende Falken, Katzen oder
dings einander sehr ähnlich. Männliche und weibliche Kinder Wale? Die Antworten auf derartige Fragen sind von Kultur
lernen ungefähr zur gleichen Zeit gehen. Ob Mann oder Frau, zu Kultur unterschiedlich. Nach einer Umfrage von Gallup in
wir haben die gleiche Licht- und Klangempfindung. Auch das Kanada und den Vereinigten Staaten halten ungefähr 6 von
Gefühl von Hunger, Begehren und Angst ist für beide Geschlech- 10 Erwachsenen medizinische Tests an Tieren für »moralisch
ter gleich. Intelligenz und Wohlbefinden sind ähnlich. akzeptabel«. In Großbritannien ist dies nur für 37% der Befrag-
ten der Fall (Mason 2003).
» Alle Menschen sind gleich, nur ihre Gewohnheiten unter-
Wenn wir dem menschlichen Leben oberste Priorität zuge-
scheiden sich.
stehen, dann ist das zweite Thema das Wohlergehen der Tiere,
Konfuzius, 551–479 v. Chr.
mit denen wir Forschung betreiben. Mit welchen Maßnahmen
Merken Sie sich: Auch wenn bestimmte Einstellungen und Ver- können wir sie schützen? Eine Befragung von Forschern, die mit
haltensweisen über die kulturellen Grenzen hinweg und je nach Tieren arbeiten, lieferte hierzu eine Antwort. Etwa 98% unterstütz-
Geschlecht variieren, wie es häufig der Fall ist, so sind doch die ten die von der Regierung erlassenen Vorschriften zum Schutz von
ihnen zugrunde liegenden Prozesse im Wesentlichen die gleichen. Primaten, Hunden und Katzen; 74% traten dafür ein, den huma-
nen Umgang mit Ratten und Mäusen durch entsprechende Vor-
? 2.11 Warum machen Psychologen Experimente mit Tieren
schriften zu gewährleisten (Plous u. Herzog 2000). Viele Berufs-
und welche ethischen Richtlinien schützen menschliche und
verbände und Institutionen der Forschungsförderung haben be-
tierische Versuchsteilnehmer?
reits Richtlinien für den humanen Umgang mit Tieren. Auch die
Viele Psychologen arbeiten mit Tieren, weil sie sie faszinierend Deutsche Gesellschaft für Psychologie (DGPs) und der Berufsver-
finden. Sie wollen verstehen, auf welche Weise die verschiedenen band Deutscher Psychologinnen und Psychologen (BDP) haben
44 Kapitel 2 · Kritisch denken mit wissenschaftlicher Psychologie

Mensch und Tier deutlich, was wiederum bei den Menschen zu


verstärkter Empathie mit ihren Mitgeschöpfen sowie zu deren
Schutz führte. Im besten Fall kommt eine Psychologie, die Inter-
2 esse am Menschen und Einfühlungsvermögen für Tiere hat,
beiden zugute.
Wie steht es mit Versuchen an Menschen? Erschreckt Sie das
Bild von Wissenschaftlern in weißen Kitteln, welche Elektro-
schocks verabreichen? Wenn ja, dann werden Sie mit Erleich-
terung zur Kenntnis nehmen, dass die meisten psychologischen
Untersuchungen ohne derartigen Stress durchgeführt werden. In
der Regel geht es bei Versuchen mit Menschen um blinkende
Lichter, flackernde Wörter und angenehme soziale Interaktionen.
Außerdem sind psychologische Experimente harmlos verglichen
. Abb. 2.22 Forschung mit Tieren nützt Tieren. Diese Gorillas im Zoo
mit dem Stress und der Demütigung, die in Reality-TV-Shows
der Bronx in New York verdanken ihre bessere Lebensqualität teilweise den erzeugt werden. In einer Folge von Der Bachelor gab ein Mann
Untersuchungen zu den positiven Auswirkungen von Anregung, Kontrolle – auf Wunsch des Regisseurs – seiner neuen Verlobten vor laufen-
und dem Kontakt mit neuen, unbekannten Dingen. (D. Shapiro, © Wildlife der Kamera den Laufpass und entschied sich für eine Frau, die
Conservation Society)
zuvor auf dem zweiten Platz gelandet war (Collins 2009).
Gelegentlich allerdings müssen Wissenschaftler die Men-
gemeinsame ethische Richtlinien zum Einsatz von Tieren in For- schen hinters Licht führen oder sie einem kurzen Stress aus-
schung und Lehre formuliert. Sie stellen eine grundsätzliche Ver- setzen, doch nur, wenn es ihnen zur Klärung einer wichtigen
pflichtung der Psychologen zur Achtung des Lebens fest und for- Frage unabdingbar erscheint. Ich denke dabei an Versuche zum
dern, Schmerzen, Leiden und Schäden für Versuchstiere soweit Verständnis und zur Kontrolle gewalttätigen Verhaltens oder
möglich zu verhindern. Die Richtlinien der American Psycho- Untersuchungen zu Stimmungsschwankungen. Manche Expe-
logical Association fordern, dass Forscher das »Wohl, die Gesund- rimente erbrächten kein Ergebnis, wenn die Teilnehmer vorher
heit und die humane Behandlung« von Tieren gewährleisten und wüssten, was auf sie zukommt. (In der Absicht, hilfreich zu sein,
»Infektionen, Krankheit und Schmerzen« auf ein Minimum redu- würden die Teilnehmer möglicherweise versuchen, die Erwar-
zieren (APA 2002). Das Europäische Parlament ist nun dabei, die tungen des Versuchsleiters zu erfüllen.)
Ausarbeitung von Standards für die Behandlung und Unterbrin- Die von der American Psychological Association wie auch
gung von Tieren in Auftrag zu geben (Vogel 2010). die von der Deutschen Gesellschaft für Psychologie und dem
Berufsverband Deutscher Psychologinnen und Psychologen
» Vergessen Sie bitte nicht jene von uns, die an unheilbaren
erarbeiteten ethischen Grundsätze fordern von den Versuchs-
Krankheiten oder an Behinderungen leiden und die auf
leitern, dass sie
Heilung hoffen; hier hilft eine Forschung, bei der Tiere ein-
1. die informierte Einwilligung (»informed consent«) der
gesetzt werden.
potenziellen Teilnehmer einholen,
Der Psychologe Dennis Feeney (1987)
2. die Teilnehmer vor schädlichen Einflüssen und Unan-
» Die Größe einer Nation kann man an ihrem Umgang nehmlichkeiten schützen,
mit Tieren ablesen. 3. Informationen über einzelne Teilnehmer vertraulich
Mahatma Gandhi (1869–1948) behandeln und
4. die Versuchspersonen in einer Nachbesprechung
Die Tiere selbst sind auch Nutznießer der Tierexperimente (»debriefing«) vollständig aufklären (hinterher die Unter-
(. Abb. 2.22). Ein psychologisches Forscherteam in Ohio maß suchung erklären).
die Ausschüttung von Stresshormonen bei Stichproben von
Millionen von Hunden, die jedes Jahr in Tierheime gebracht Außerdem haben viele Universitäten heute einen Ethikrat einge-
werden. Die Psychologen entwickelten Methoden, wie man die setzt, der Forschungsanträge prüft und das Wohlergehen der
Tiere behandeln und streicheln müsste, um den Stress zu mildern Teilnehmer sicherstellt.
und ihnen den Übergang in eine neue Familie zu erleichtern
(Tuber et al. 1999). Andere Studien trugen dazu bei, die Betreu- Informierte Einwilligung (»informed consent«) – ein ethischer Grundsatz,
der darin besteht, dass Versuchsteilnehmer genügend informiert werden,
ung und die Behandlung von Tieren in ihrer natürlichen Umge-
um entscheiden zu können, ob sie an einem Versuch teilnehmen möchten.
bung zu verbessern. In Versuchen wurde auch die bemerkens-
Nachbesprechung (»debriefing«) – Aufklären der Versuchsteilnehmer
werte Intelligenz von Schimpansen, Gorillas und anderen Tieren nach Abschluss des Experiments über die Studie, inklusive ihres Ziels und
nachgewiesen; ebenso wurde die Ähnlichkeit des Verhaltens bei der verwendeten Täuschungen.
2.4 · Häufig gestellte Fragen zur Psychologie
45 2

a b
. Abb. 2.23a,b Was sehen Sie auf dem rechten Bild? Unsere Erwartungen beeinflussen unsere Wahrnehmung. Haben Sie hier eine Ente oder ein
Kaninchen gesehen? Zeigen Sie dieses Bild einigen Freunden, wobei Sie das nebenstehende Foto des Kaninchens abdecken. Finden Sie heraus, ob Ihre
Freunde unter dieser Bedingung eher eine Ente sehen, die auf dem Rücken liegt. (Nach Shepard 1990; a: © Eric Isselée / Fotolia; b: © Roger Shepard)

? 2.12 Ist die Psychologie frei von Werturteilen? » Es ist völlig unmöglich, an irgendein menschliches Problem
mit unverstelltem Blick heranzugehen.
Die Psychologie ist eindeutig nicht wertfrei. Unser Wertesystem Simone de Beauvoir, Das andere Geschlecht, 1953
bestimmt, was wir untersuchen, wie wir es untersuchen und
wie wir die Ergebnisse interpretieren. Die Wertvorstellungen Manche Menschen halten Psychologie für nichts weiter als ge-
der Psychologen beeinflussen ihre Wahl des Forschungsthemas. sunden Menschenverstand, doch andere betrachten sie mit
Sollen wir die Produktivität der Arbeiter oder ihre Arbeitsmoral Sorge: Sie befürchten, die Psychologie könnte eine gefährliche
untersuchen? Geschlechtsdiskriminierung oder Geschlechts- Macht erlangen. Ist es Zufall, dass die Astronomie die älteste
rollenunterschiede? Sozial angepasstes oder unabhängiges Ver- Wissenschaft ist, die Psychologie dagegen die jüngste? Manche
halten? Die »nackten Tatsachen« sind auch von unseren Über- Menschen halten die Erforschung des äußeren Universums für
zeugungen beeinflusst. Wie zuvor erwähnt, können unsere Vor- weit sicherer als die Erkundung unseres eigenen inneren Univer-
annahmen unsere Beobachtungen und Interpretationen verzer- sums. Sie fragen sich, ob die Psychologie dazu benutzt werden
ren; manchmal sehen wir genau das, was wir sehen wollen oder könnte, Menschen zu manipulieren.
zu sehen erwarten (. Abb. 2.23). Wie jede Macht kann die Macht des Wissens für gute oder
Sogar in den Worten, mit denen wir ein Phänomen beschrei- schlechte Zwecke eingesetzt werden. Atomkraft wird genutzt, um
ben, können sich unsere Wertvorstellungen spiegeln. Handelt Städte zu beleuchten – und auch, um sie zu zerstören. Überzeu-
es sich bei sexuellen Praktiken, die uns nicht vertraut sind, gungskraft dient dazu, Menschen zu erziehen – und dazu, sie zu
um »Perversionen« oder um »Varianten«? Mit Bezeichnungen täuschen. Obwohl die Psychologie die Macht hat zu täuschen,
beschreiben wir nicht nur, sondern bewerten gleichzeitig – in liegt ihr Zweck doch darin aufzuklären. Tag für Tag suchen
der Psychologie wie auch in unserer Alltagssprache: Was wir Psychologen nach neuen Wegen, um Lernen, Kreativität und
rigide nennen, nennen andere unbeugsam; was dem einen als Menschlichkeit zu fördern. Die Psychologie spricht viele der
fester Glaube gilt, ist für den anderen Fanatismus. Die »erweiter- großen Probleme unserer Welt an: Krieg, Überbevölkerung, Vor-
ten Befragungsmethoden« eines Landes, wie Eintauchen in kaltes urteile, zerfallende Familien und Verbrechen; denn alle diese
Wasser, werden zur Folter, wenn sie von dessen Feinden an- Probleme haben mit Einstellungen und Verhaltensweisen zu tun.
gewandt werden. Wenn wir jemanden als standhaft oder stur, Und die Psychologie spricht unser tiefes inneres Verlangen an,
vorsichtig oder mäkelig, verschwiegen oder heimlichtuerisch be- unser Bedürfnis nach Nahrung, Liebe und Glück. Freilich kann
zeichnen, kommen darin unsere eigenen Einstellungen zum die Psychologie nicht alle großen Lebensfragen ansprechen, wohl
Ausdruck. aber einige, die uns auf den Nägeln brennen (. Abb. 2.24).
Auch in den gängigen praktischen Anwendungen enthält die
Prüfen Sie Ihr Wissen
Psychologie verborgene Wertvorstellungen. Wenn Sie bei der
Gestaltung Ihres Lebens »professionellen« Rat berücksichtigen, 5 Wodurch werden Versuchsteilnehmer (Mensch oder Tier)
etwa, wie Sie Ihre Kinder erziehen, persönliche Erfüllung finden, geschützt?
mit sexuellen Gefühlen umgehen oder mit Ihrer Arbeit voran-
kommen sollen, dann akzeptieren Sie wertebeladene Antworten.
Eine Wissenschaft vom Verhalten und von mentalen Prozessen
kann uns helfen, unsere Ziele zu erreichen, doch sie kann nicht
entscheiden, welche Ziele wir erreichen sollten.
46 Kapitel 2 · Kritisch denken mit wissenschaftlicher Psychologie

2.8 Wie können wir herausfinden, ob sich ein beobachteter


Unterschied auf eine andere Population übertragen lässt?

2 jHäufig gestellte Fragen zur Psychologie


2.9 Können Laborversuche etwas über den Alltag aussagen?
2.10 Ist Verhalten kulturabhängig und geschlechtsspezifisch?
2.11 Warum machen Psychologen Experimente mit Tieren und
welche ethischen Richtlinien schützen menschliche und tierische
Versuchsteilnehmer?
2.12 Ist die Psychologie frei von Werturteilen?

2.5.2 Schlüsselbegriffe
. Abb. 2.24 Die Psychologie sagt aus.1954 fällte das oberste Gericht der
USA, der Supreme Court, seine historische Entscheidung, dass nach Rassen 4 Abhängige Variable
getrennte Schulen verfassungswidrig sind. Es berief sich dabei auf die 4 Befragung
Expertenaussage und Forschung der Psychologen Kenneth Clark und Mamie
4 Beobachtung in natürlicher Umgebung
Phipps Clark (1947). Die Clarks berichteten, dass, wenn man afroamerika-
nischen Kindern die Wahl zwischen schwarzen und weißen Puppen ließ, 4 Doppelblindversuch
sich die meisten von ihnen für die weißen entschieden. Dies war ein Hinweis 4 Einzelfallstudie
auf internalisierte Vorurteile gegenüber Schwarzen. (Image courtesy of 4 Experiment
University Archives, Columbia University in the City of New York)
4 Hindsightbias
4 Hypothese
4 Informierte Einwilligung
2.5 Kapitelrückblick 4 Kontrollgruppe
4 Korrelation
2.5.1 Verständnisfragen 4 Korrelationskoeffizient
4 Kritisches Denken
jDie Notwendigkeit der Psychologie als Wissenschaft 4 Kultur
2.1 Wie illustrieren der Verzerrungseffekt durch nachträgliche 4 Median
Einsicht (Hindsightbias), die übertriebene Selbstsicherheit und 4 Mittelwert
die Tendenz, in zufälligen Ereignissen eine Ordnung wahrzuneh- 4 Modalwert
men, weshalb wissenschaftlich fundierte Antworten der Intui- 4 Nachbesprechung
tion und dem gesunden Menschenverstand überlegen sind? 4 Normalverteilung
2.2 Wie hängen die drei Hauptkomponenten der wissenschaft- 4 Operationale Definition
lichen Haltung mit dem kritischen Denken zusammen? 4 Placeboeffekt
4 Population
jWie stellen und beantworten Psychologen Fragen? 4 Randomisierung
2.3 Wie bringen Theorien die Psychologie als Wissenschaft 4 Replikation
voran? 4 Standardabweichung
2.4 Wie nutzen Psychologen Einzelfallstudien, Feldbeobach- 4 Statistische Signifikanz
tungen und Umfragen, um Verhalten zu beobachten und zu be- 4 Störvariable
schreiben, und weshalb ist es wichtig, Zufallsstichproben zu 4 Streudiagramm
ziehen? 4 Theorie
2.5 Was sind positive und negative Korrelationen und wieso er- 4 Unabhängige Variable
möglichen sie Vorhersagen, nicht aber Ursache-Wirkungs-Er- 4 Variationsbreite
klärungen? 4 Versuchsgruppe
2.6 Welches sind die Eigenschaften von Experimenten, die es 4 Zufallsstichprobe
möglich machen, Ursache und Wirkung auseinanderzuhalten?

jStatistische Argumentation im Alltagsleben


2.7 Wie können wir mit Hilfe der Maße der zentralen Tendenz
und der Variabilität Daten beschreiben?
2.5 · Kapitelrückblick
47 2
2.5.3 Weiterführende deutsche Literatur

Bortz, J., & Schuster, C. (2010). Statistik für Human- und Sozialwissenschaftler
(7. Aufl.). Heidelberg: Springer.
Döring, N., & Bortz, J. (2014). Forschungsmethoden und Evaluation in den
Sozial- und Humanwissenschaften (5. Aufl.). Heidelberg: Springer.
DGPs, & BDP (2005). Ethische Richtlinien der DGPs und des BDP. http://
www.bdp-verband.de/bdp/verband/ethik.shtml. Gesehen 17. Jan 2014.
Eid, M., Gollwitzer, M., & Schmitt, M. (2010). Statistik und Forschungsmethoden.
Weinheim: Beltz.
Gadenne, V. (2004). Philosophie der Psychologie. Göttingen: Hogrefe.
Herrmann, T., & Tack, W. H. (Hrsg). (1994). Methodologische Grundlagen der
Psychologie. Enzyklopädie der Psychologie (Bd. 1. Forschungsmethoden
der Psychologie). Göttingen: Hogrefe.
Moosbrugger, H., & Kelava, A. (2012). Testtheorie und Fragebogenkonstruk-
tion. (2. Aufl.). Heidelberg: Springer.
Rasch, B., Friese, M., Hofmann, W., & Naumann, E. (2010). Quantitative
Methoden. Einführung in die Statistik für Psychologen und Sozialwissen-
schaftler (3. Aufl., Bd. 1 u. 2). Heidelberg: Springer.
Westermann, R. (2000). Wissenschaftstheorie und Experimentalmethodik. Ein
Lehrbuch zur psychologischen Methodenlehre. Göttingen: Hogrefe.
49 3

Neurowissenschaft und Verhalten


David G. Myers

3.1 Biologie, Verhalten und Verstand – 50

3.2 Neuronale Kommunikation – 52


3.2.1 Neurone – 52
3.2.2 Wie Nervenzellen kommunizieren – 54
3.2.3 Wie uns Neurotransmitter beeinflussen – 55

3.3 Nervensystem – 58
3.3.1 Peripheres Nervensystem – 59
3.3.2 Zentrales Nervensystem – 61

3.4 Endokrines System – 62

3.5 Gehirn – 64
3.5.1 Forschungswerkzeuge – 64
3.5.2 Ältere Hirnstrukturen – 67
3.5.3 Zerebraler Kortex – 72
3.5.4 Zur Zweiteilung des Gehirns – 82
3.5.5 Unterschiede zwischen der linken und der rechten Hemisphäre
im intakten Gehirn – 85

3.6 Kapitelrückblick – 87
3.6.1 Verständnisfragen – 87
3.6.2 Schlüsselbegriffe – 88
3.6.3 Weiterführende deutsche Literatur – 88

D. G. Myers, Psychologie,
DOI 10.1007/978-3-642-40782-6_3, © Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2014
50 Kapitel 3 · Neurowissenschaft und Verhalten

Ein Lehrer aus Virginia begann im Jahr 2000, Sexmagazine zu


sammeln und Internetseiten mit kinderpornografischen In-
halten zu besuchen. Zudem unternahm er nach und nach
Annäherungsversuche gegenüber seiner Stieftochter. Nachdem
seine Frau die Polizei verständigt hatte, wurde er festgenommen
3 und einige Zeit später vom Gericht wegen Kindesbelästigung zu
einer Gefängnisstrafe verurteilt. Obwohl er aufgrund seiner
pädophilen Neigung an Rehabilitationsmaßnahmen teilnahm,
fühlte er sich immer noch überwältigt von seinen sexuellen
Wünschen. Am Tag vor seiner Verurteilung ging er zum ärzt-
lichen Notfalldienst im Ort, da er Kopfschmerzen und suizidale
Gedanken hatte. Ebenso war er aufgrund seiner unkontrollier-
baren Dränge, die ihn dazu brachten, die Krankenschwestern zu
belästigen, verzweifelt.
Eine Untersuchung seines Gehirns konnte das Problem in
dessen neuronalem Aufbau lokalisieren. Hinter seiner rechten
Schläfe befand sich ein Gehirntumor von der Größe eines Hüh-
nereis. Nachdem dieser chirurgisch entfernt wurde, verschwan-
den seine Gelüste und er konnte zurück nach Hause zu seiner
Frau und seiner Stieftochter. Nach einem Jahr kehrte der Tumor
teilweise zurück und mit ihm die pädophile Neigung – diese ver-
schwand aber nach einer weiteren Operation zur Entfernung des
Tumors (Burns u. Swerdlow 2003).
. Abb. 3.1 (© ScienceCartoonsPlus.com)
Dieser Fall verdeutlicht, was auch Sie wahrscheinlich anneh-
men: Dass wir in unseren Köpfen »wohnen«. Wenn Chirurgen
alle Ihre Organe unterhalb des Halses sowie Ihre Haut, Arme und Hinterkopf behalten: Körperlos zu denken, zu fühlen oder zu
Beine transplantieren würden, würden Sie (tatsächlich?) immer handeln, wäre wie laufen ohne Beine (. Abb. 3.1).
noch Sie selbst sein. Eine Bekannte von mir erhielt ein neues Seit Urzeiten versuchen die Menschen, zu verstehen, wie
Herz von einer anderen Frau. Letztere benötigte eine selten in unserem Gehirn Verstand oder Seele entstehen kann. Schon
durchgeführte Herz-Lungen-Transplantation. Als sich die bei- der griechische Philosoph Platon lokalisierte unsere Seele rich-
den zufällig auf der Krankenstation trafen, stellte sie sich meiner tigerweise im Kopf – dessen kugelähnliche Form er als perfekt
Bekannten vor: »Ich glaube, Sie haben mein Herz«. Aber nur ihr empfand. Sein Schüler Aristoteles glaubte dagegen, dass die
Herz. Ihr Selbst, wie sie annahm, befand sich noch immer in Seele ihren Platz im Herzen habe, das Wärme und Lebenskraft
ihrem Kopf. Wir gehen richtigerweise davon aus, dass es unser durch den Körper des Menschen pumpt. Heute steht das Herz
Gehirn ist, welches unseren Verstand (und unsere Seele) ermög- zwar noch als Symbol für die Liebe, aber beim Thema »Verstand«
licht. Tatsächlich ist kein Prinzip für die heutige Psychologie – hat die Wissenschaft die Philosophie inzwischen überholt.
und auch für dieses Buch – so zentral wie das folgende: Alles, was Heute ist klar: Es ist Ihr Gehirn, das sich verliebt, und nicht
psychisch ist, ist gleichzeitig auch biologisch. Ihr Herz.
Anfang des 19. Jahrhunderts entwickelte der deutsche Phy-
siker Franz Gall die Phrenologie. Nach dieser Auffassung konnte
3.1 Biologie, Verhalten und Verstand man aus den Unebenheiten und Einkerbungen im Schädel eines
Menschen auf seine mentalen Fähigkeiten und Charaktereigen-
schaften schließen (. Abb. 3.2). Auf dem Höhepunkt der Bewe-
? 3.1 Wieso beschäftigen sich Psychologen mit der mensch-
gung gab es in Großbritannien 29 phrenologische Gesellschaften
lichen Biologie?
und Phrenologen reisten nach Nordamerika, um Vorträge über
Jede Idee, die Sie haben, jede Stimmung und jedes Bedürfnis Schädel zu halten (Hunt 1993). Der satirische Schriftsteller Mark
ist ein biologisches Geschehen. Sie lieben, lachen und weinen Twain nahm einen berühmten Phrenologen aufs Korn, als er zu
mit Ihrem Körper. Ohne Ihren Körper, d. h. ohne Ihre Gene, Ihr einer solchen Veranstaltung ging und sich dabei unter einem
Gehirn und ohne Ihre äußere Erscheinung, sind Sie einfach anderen Namen anmeldete. »Er fand eine Vertiefung und über-
niemand, ein »nobody«. Obwohl es für uns üblich ist, die bio- raschte mich, als er sagte, diese Vertiefung spräche dafür, dass ich
logische und die psychologische Seite unseres Verhaltens als überhaupt keinen Sinn für Humor hätte!« Drei Monate später
zwei unterschiedliche Dinge zu sehen, müssen wir Folgendes im kam Twain zu einer zweiten Sitzung und gab sich diesmal zu
3.1 · Biologie, Verhalten und Verstand
51 3

. Abb. 3.2a,b Eine unglückselige Theorie. a Obwohl die Annahmen von Gall zunächst weite Verbreitung fanden, ist heute klar, dass Dellen und Uneben-
heiten des Schädels keine Aussagen über die tatsächlichen Funktionen des Gehirns zulassen (© Bettmann/CORBIS). b Einige der Annahmen der Phrenologie
haben sich jedoch bestätigt. So z. B., dass verschiedene Teile des Gehirns verschiedene Verhaltensaspekte steuern – auch wenn dies nicht die von Gall vor-
geschlagenen Aspekte sind. Mehr dazu können Sie in diesem Kapitel lesen

erkennen. Jetzt »war die Vertiefung verschwunden, und an seine 4 bestimmte Gehirnsysteme bestimmte Funktionen haben
Stelle trat der am stärksten emporragende Humorhöcker, den er (jedoch nicht die, die Gall vorschlug),
je in seinem Leben gesehen hatte« (Lopez 2000). Obwohl ihre 4 wir durch die Informationen, die in diesen verschiedenen
damalige Beliebtheit schwand, gelang es der Phrenologie, den Systemen verarbeitet werden, unsere Erfahrungswelt auf-
Fokus auf die Lokalisation von Funktion zu richten – die Idee, bauen: was wir sehen und hören, welche Bedeutungen wir
dass die einzelnen Gehirnregionen verschiedene, festgelegte erkennen, sowie Erinnerungen, Schmerzen und Leiden-
Funktionen haben. schaften und
Wir leben in einer Zeit, von der Gall nur träumen könnte. 4 die Nervenzellen in unserem adaptiven Gehirn durch
Die Untersuchung der Zusammenhänge zwischen biologischer unsere Erfahrungen vernetzt werden.
Aktivität und psychischem Geschehen ermöglichten der biolo-
gischen Psychologie in zunehmendem Maß Entdeckungen zum
» Wäre ich heute Student, könnte ich, glaube ich,
nicht widerstehen, Neurowissenschaften zu studieren.
Zusammenspiel zwischen Biologie einerseits und den Verhal-
Der Schriftsteller Tom Wolfe, 2004
tens- und Denkprozessen andererseits.
Wir haben auch gelernt, dass jeder von uns ein System ist, das aus
Biologische Psychologie oder Perspektive (»biological psychology« oder
»biological perspective«) – Teilbereich der Psychologie, der sich mit dem Subsystemen besteht, die wiederum aus anderen, noch kleineren
Zusammenspiel von Biologie und Verhalten beschäftigt. Bezieht Psycholo- Subsystemen bestehen. Kleine Zellen organisieren sich zu Orga-
gen ein, die in den Neurowissenschaften, Verhaltensgenetik und der evolu- nen wie dem Magen, dem Herz und dem Gehirn. Diese Organe
tionären Psychologie arbeiten. Diese können sich als Verhaltensneurowis-
wiederum bilden größere Systeme, die Verdauung, Durchblutung
senschaftler, Neuropsychologen, Verhaltensgenetiker, physiologische Psycho-
logen oder Biopsychologen bezeichnen. und Informationsverarbeitung erst möglich machen. Und auch
diese Prozesse sind Teil eines noch größeren Systems – das Indi-
Etwa seit Beginn des letzten Jahrhunderts wissen wir von neuro- viduum, das seinerseits Teil einer Familie, einer Kultur und einer
wissenschaftlichen Untersuchungen, dass Gemeinschaft ist. Jeder von uns ist ein biopsychosoziales System.
4 der Körper aus Zellen zusammengesetzt ist, Um das menschliche Verhalten verstehen zu können, müssen wir
4 darunter Nervenzellen sind, die kleinen elektrischen also untersuchen, wie diese biologischen, psychologischen und
Leitungen ähneln und miteinander »sprechen«, indem sie soziokulturellen Systeme funktionieren und interagieren.
chemische Botschaften über die winzigen Zellzwischen- In diesem Buch beginnen wir mit der kleinsten Einheit des
räume hinweg senden, Systems und arbeiten uns dann weiter in komplexere Bereiche
52 Kapitel 3 · Neurowissenschaft und Verhalten

. Abb. 3.3 Motoneuron

vor – in diesem Kapitel von den Nervenzellen zum Gehirn, dann 3.2.1 Neurone
in den nächsten Kapiteln zu Umwelt- und kulturellen Einflüssen
und ihren Interaktionen mit den biologischen Prozessen. Wir
? 3.2 Was sind Neurone und wie übermitteln sie Informationen?
werden aber auch die umgekehrte Wirkrichtung kennenlernen
und sehen, wie unsere Gedanken und Gefühle unser Gehirn und Das neuronale Informationssystem unseres Körpers ist ein kom-
unsere Gesundheit beeinflussen. plexes System, das aus einfachen Bausteinen zusammengesetzt
ist. Die Grundbausteine sind Neurone, also Nervenzellen. Um
Prüfen Sie Ihr Wissen
unsere Gedanken und Handlungen, Erinnerungen und Stim-
5 Was haben die Phrenologie und die biologische Psycho- mungen zu ergründen, müssen wir zunächst verstehen, wie Neu-
logie gemein? ronen funktionieren und untereinander kommunizieren.
Neuron (»neuron«) – Nervenzelle, der Grundbaustein des Nervensystems.

Es gibt unterschiedliche Arten von Nervenzellen, aber alle sind


3.2 Neuronale Kommunikation Variationen desselben Bauplans (. Abb. 3.3). Jede besteht aus
einem Zellkörper und den davon abzweigenden Fasern, den
Für Wissenschaftler ist es ein glücklicher Umstand der Natur, dass Dendriten. Diese empfangen die Informationen und leiten sie
die Informationssysteme von Menschen und Tieren in ihrer zum Zellkörper weiter. Von dort aus übermitteln die langen
Funktionsweise einander ähnlich sind. Dies geht so weit, dass es Axonbündel der Zelle die Botschaft über die axonalen
bei einer kleinen Probe von Hirngewebe nicht möglich ist, zu Endigungen an andere Neuronen, Muskeln oder Drüsen. Die
bestimmen, ob sie vom Menschen oder vom Affen stammt. Diese Dendriten hören zu. Die Axone sprechen.
Ähnlichkeit erlaubt es Wissenschaftlern, anhand einfacherer Le- Dendriten (»dendrites«) – vielfach verzweigte Erweiterungen einer
bewesen (Tintenfischen oder Wasserschnecken) herauszufinden, Nervenzelle, mit denen Botschaften empfangen und Impulse an den
wie unsere neuronalen Systeme funktionieren. Sie ermöglicht es Zellkörper weitergegeben werden.

ihnen, anhand von Gehirnen anderer Säugetiere zu erkennen, wie Axon (»axon«) – Erweiterung eines Neurons, mit der Botschaften an
andere Neurone bzw. an Muskeln oder Drüsen weitergeleitet werden; die
unser Gehirn aufgebaut ist. Jedes Auto ist anders, aber alle Autos
Verzweigungen des Axons werden axonale Endigungen oder Kollaterale
haben einen Motor, ein Gaspedal, ein Lenkrad und Bremsen. Ein genannt.
Marsmensch könnte jedes Einzelne von ihnen untersuchen und
die Funktionsprinzipien verstehen. Entsprechend unterscheiden Anders als die kurzen Dendriten sind die Axone manchmal sehr
sich die Lebewesen, doch ihre Nervensysteme funktionieren ganz lang und erstrecken sich über weite Bereiche innerhalb des Kör-
ähnlich. Obwohl das Gehirn des Menschen komplexer ist als das pers. Beispielsweise entspricht ein Neuron, das einen Befehl an
einer Ratte, unterliegen beide den gleichen Prinzipien. einen Muskel im Bein weiterleitet, einem Basketball, der an
3.2 · Neuronale Kommunikation
53 3
einem 6 km langen Seil hängt. Ähnlich wie Stromkabel isoliert Ähnlich wie beim Zugang zu einem gut bewachten Gebäude ist
sind, sind einige Axone von einer Myelinschicht umgeben, eine die Oberfläche des Axons sehr wählerisch darin, wen oder was
Schicht aus Fettgewebe, die isolierend wirkt und die Weiterlei- sie durchlässt. Man sagt, die Oberfläche ist semipermeabel. Wenn
tung der Impulse beschleunigt. Da Myelin bis zum Alter von jedoch die Weiterleitung eines Impulses beginnt – wir reden da-
25 Jahren gebildet wird, wächst bis dahin die Effizienz der Ner- von, dass »das Neuron feuert« –, verändert sich die Durchlässig-
ven, die Fähigkeit zur Bewertung von Reizen sowie die eigene keit. Am Beginn des Axons öffnen sich Tore in der Zellmembran,
Kontrollfähigkeit (Fields 2008). Bildet sich die Myelinschicht ähnlich wie Kanaldeckel, die von unten aufgedrückt werden, und
zurück, entsteht multiple Sklerose; Folge ist eine Verlangsamung die positiv geladenen Natriumionen strömen durch die Mem-
der Steuerung der Muskeln bis hin zum vollständigen Verlust der bran ins Neuron hinein (. Abb. 3.4). Der betroffene Abschnitt
Kontrolle über die Muskeln. des Axons wird depolarisiert und dies bewirkt wiederum, dass
sich die Tore in der Membran ein Stück weiter hinten öffnen.
Myelinschicht (auch Markscheide; »myelin sheath«) – Schicht von
fettreichem Gewebe, das die Axone vieler Neuronen abschnittsweise Danach öffnen sich die Tore noch ein Stück weiter hinten, und
umspannt. Durch die Myelinisierung wird die Geschwindigkeit der immer so weiter, ähnlich wie bei einer Reihe umfallender Domi-
Informationsvermittlung erhöht, weil die Impulse von einem Knoten nosteine, die sich nacheinander auslösen.
(Ranvier-Schnürring) zum nächsten springen.
Während einer Ruhepause (der Refraktärphase, ähnlich wie
Nervenzellen übermitteln Botschaften, wenn sie von Sinnes- beim Blitz einer Kamera, der nach dem Einsatz eine gewisse
rezeptoren oder von benachbarten Neuronen durch chemi- Zeit benötigt, um sich wieder aufzuladen) pumpt das Neuron die
sche Botenstoffe stimuliert wurde. Daraufhin löst die Ner- positiv geladenen Natriumionen aus seinem Inneren wieder
venzelle einen Impuls aus. Dieser Impuls, Aktionspotenzial ge- heraus. Erst dann kann es erneut depolarisiert werden, sprich
nannt, ist eine kurze elektrische Ladung, die das Axon entlang- »feuern«. (In myelinisierten Neuronen, wie in . Abb. 3.4, wird
wandert. die Weiterleitung dadurch beschleunigt, dass das Aktionspoten-
zial von einem Ende der wurstähnlich geformten Myelinschicht
Aktionspotenzial (»action potential«) – Nervenimpuls, also eine kurz-
fristige elektrische Ladung, die am Axon entlangwandert. zum nächsten springt. Diese »Würste« entstehen durch sog.
Ranvier-Schnürringe, die die Myelinschicht von Axonen jeweils
Abhängig von der Art des Gewebes, wandert der Nervenimpuls an der Grenze zweier Zellgebiete ringförmig einschnüren.) Es ist
mit Geschwindigkeiten von gemütlichen 3 km/h bis zu hals- kaum zu fassen, dass sich diese chemischen Prozesse 100- bis
brecherischen 290 km/h. Trotzdem ist sogar diese Höchstge- 1000-mal pro Sekunde wiederholen. Doch solch unglaublichen
schwindigkeit noch 3 Mio. Mal langsamer als die Geschwin- Vorgängen werden wir noch öfter begegnen.
digkeit, mit der sich Elektrizität durch ein Stromnetz bewegt. Jede Nervenzelle ist wie ein winziger Computer, der Ent-
Gehirnaktivität wird in Millisekunden gemessen (tausendstel scheidungen trifft und dafür sehr komplizierte Berechnungen
Sekunden), Computeraktivität dagegen in Nanosekunden (mil- anstellen muss, während sie Signale von Hunderten, wenn nicht
liardstel Sekunden). Das erklärt zum Teil, warum menschliche Tausenden anderen Neuronen empfängt. Die meisten dieser
Reaktionen auf ein plötzliches Ereignis, wie z. B. ein vor Ihrem Signale sind exzitatorisch (erregend); sie wirken wie das Gas-
Auto auftauchendes Kind, eine Viertelsekunde oder länger pedal der Nervenzelle. Andere wiederum sind inhibitorisch
dauern als die beinahe unverzögerte Reaktion eines Hoch- (hemmend) und drücken auf die Bremse. Wenn trotz der hem-
geschwindigkeitscomputers. Ihr Gehirn ist einem Computer menden Impulse die erregenden Impulse eine Mindestintensität,
zwar in der Komplexität der Verarbeitung um ein Vielfaches den sog. Schwellenwert, übersteigen, wird durch die Menge an
überlegen, nicht aber, wenn es darum geht, wie schnell einfache erregenden Impulsen ein Aktionspotenzial ausgelöst. (Stellen Sie
Reaktionen ausgeführt werden. Noch langsamer sind die Reflexe sich das so vor: Wenn auf einer Party die Anzahl der gut ge-
bei Elefanten. Wird ihnen am Schwanz gezogen, dauert es launten Stimmungskanonen größer ist als die Zahl derjenigen,
100 Mal länger als bei einer kleinen Spitzmaus, bis der Nerven- die gelangweilt in der Küche herumsitzen, kann die Party los-
impuls vom Elefantenschwanz hin zum Gehirn und wieder zu- gehen.) Das Aktionspotenzial bewegt sich am Axon entlang fort,
rück gewandert ist (More et al. 2010). das sich verzweigt und Verbindungen mit Hunderten oder Tau-
Neuronen erzeugen durch chemische Prozesse Elektrizität, senden anderer Neuronen oder mit den Muskeln und Drüsen des
so wie Batterien es tun. Der Prozess der Umwandlung von Che- Körpers herstellt.
mie in Elektrizität erfolgt durch den Austausch von elektrisch
Schwellenwert (»threshold«) – Grad an Stimulation, der benötigt wird,
geladenen Atomen, sog. Ionen. Im Ruhezustand befindet sich im um einen neuronalen Impuls auszulösen.
flüssigen Innenraum der Neuronen ein Überschuss an negativ
geladenen Ionen, während in der Flüssigkeit außerhalb des Es ist allerdings nicht möglich, durch die Verstärkung des stimu-
Neurons vor allem positiv geladene Ionen enthalten sind. Dieser lierenden Impulses auch die Stärke des Aktionspotenzials zu ver-
Zustand eines positiv geladenen Umfelds und eines negativ ge- größern, das an der Zelle entsteht. Die Reaktion des Neurons ist
ladenen Inneren am Axon wird als Ruhepotenzial bezeichnet. eine Alles-oder-nichts-Reaktion: Wie eine Pistole feuert es oder
54 Kapitel 3 · Neurowissenschaft und Verhalten

. Abb. 3.4 Aktionspotenzial

feuert nicht. Wie aber spüren wir dann die Intensität eines Rei- ler, dass die Axone der Zellen direkt mit den Dendriten der an-
zes? Wie unterscheiden wir eine leichte Berührung von einer deren Zellen verbunden sind. Dann aber entdeckte der britische
heftigen Umarmung? Ein starker Reiz kann insgesamt mehr Physiologe Sir Charles Sherrington (1857–1952), dass neuronale
Neuronen dazu bringen, zu feuern und häufiger zu feuern. Er hat Impulse unerwartet lange brauchen, um sich auf den Nerven-
aber keinen Einfluss auf die Stärke oder Schnelligkeit des Ak- bahnen fortzubewegen. Er folgerte, dass es bei der Übertragung
tionspotenzials, ebenso wie das stärkere Drücken des Pistolen- kurze Unterbrechungen geben musste und nannte die Verbin-
abzugs nicht dafür sorgt, dass die Kugel schneller fliegt. dungsstelle zwischen den Neuronen Synapse.

Prüfen Sie Ihr Wissen Synapse (»synapse«) – Verbindungsstelle zwischen der axonalen Endigung
des präsynaptischen Neurons, das Impulse weitergibt, und einem Dendriten
5 Wenn ein Neuron ein Aktionspotenzial auslöst, wandert oder dem Zellkörper des postsynaptischen Neurons, das die Impulse emp-
fängt. Der winzige Zwischenraum zwischen den beiden Zellen wird als
die Information durch das Axon, die Dendriten und
synaptischer Spalt bezeichnet.
die axonalen Endigungen, jedoch nicht in dieser Reihen-
folge. Bringen Sie diese drei Strukturen in die richtige Heute wissen wir, dass die axonale Endigung eines Neurons in
Reihenfolge. Wirklichkeit von der nachfolgenden, sprich postsynaptischen
5 Wie lässt uns unser Nervensystem den Unterschied Zelle, die die Informationen erhält, durch den synaptischen Spalt
zwischen einem harten Schlag und einem leichten getrennt ist. Dieser Spalt zwischen beiden Zellen ist nur wenige
Klopfen auf den Rücken erkennen? Nanometer groß. Der spanische Anatom Santiago Ramon y Cajal
(1852–1934) war von diesen »Beinahe-Verbindungen« wie ver-
zaubert und bezeichnete sie als »protoplasmische Küsse«. »Ver-
gleichbar mit eleganten Damen, die ihr Make-up nicht ruinieren
3.2.2 Wie Nervenzellen kommunizieren wollen und nur so tun, als würden sie jemanden küssen, be-
rühren sich die Dendriten und Axone nicht richtig«, merkt die
Lyrikerin Diane Ackerman (2004) an. Wie aber bewerkstelligen
? 3.3 Wie kommunizieren Nervenzellen miteinander?
die Neuronen diesen protoplasmischen Kuss? Wie gelangen
Neuronen sind so dicht miteinander verwoben, dass selbst mit die Informationen über den synaptischen Spalt? Die Antwort auf
einem Mikroskop schwer zu erkennen ist, wo ein Neuron endet diese Frage ist eine der wichtigen wissenschaftlichen Erkennt-
und wo das nächste beginnt. Früher glaubten die Wissenschaft- nisse unseres Zeitalters.
3.2 · Neuronale Kommunikation
55 3

. Abb. 3.5 Wie Neurone kommunizieren

» Bei jeder Informationsverarbeitung im Gehirn sprechen die Wiederaufnahme (»reuptake«) – Prozess, bei dem die ausgeschütteten
Neurotransmitter aus dem synaptischen Spalt wieder vom präsynaptischen
Neuronen an den Synapsen miteinander.
Neuron aufgenommen werden.
Solomon H. Snyder, Neurowissenschaftler (1984)
Prüfen Sie Ihr Wissen
Wenn das Aktionspotenzial die runden Endigungen des Axons
erreicht, bewirkt es die Ausschüttung von chemischen Boten- 5 Was geschieht im synaptischen Spalt? Was versteht man
stoffen, sog. Neurotransmittern (. Abb. 3.5). Im 10.000sten Teil unter Reuptake (Wiederaufnahme)?
einer Sekunde überqueren die Neurotransmittermoleküle den
synaptischen Spalt und docken an einem Rezeptor am post-
synaptischen Neuron an, so präzise, wie ein Schlüssel ins richtige
Schloss passt. Für einen Moment bewirken die angedockten 3.2.3 Wie uns Neurotransmitter beeinflussen
Neurotransmitter, dass die Rezeptormoleküle dann kleine Ka-
näle am postsynaptischen Neuron öffnen. Dadurch können
? 3.4 Wie beeinflussen Neurotransmitter das Verhalten
Ionen, d. h. elektrisch geladene Atome, in das Neuron strömen
und welche Auswirkungen haben Drogen und andere
und damit die Wahrscheinlichkeit für das Auslösen eines Ak-
chemische Stoffe auf die neuronale Übertragung?
tionspotenzials erhöhen oder verringern. Die Neurotransmitter,
die sich noch im Spalt befinden, werden vom präsynaptischen Bei dem Versuch, die neuronale Informationsübermittlung zu
Neuron wieder aufgenommen. Dieser Vorgang wird auch als verstehen, entdeckten Wissenschaftler Dutzende verschiedener
Reuptake (Wiederaufnahme) bezeichnet. Neurotransmitter. Dadurch ergaben sich auch vergleichbar viele
Neurotransmitter (»neurotransmitter«) – chemische Botenstoffe, die den neue Fragen: Sind spezielle Transmitter nur in bestimmten Berei-
synaptischen Spalt zwischen den Neuronen überqueren. Die Stoffe werden chen zu finden? Wie wirken sie bei uns auf Stimmungen, Erinne-
vom präsynaptischen Neuron ausgeschüttet und wandern über den Spalt
rungen und geistige Fähigkeiten? Kann man ihre Wirkung da-
zum postsynaptischen Neuron, wo sie an Rezeptormoleküle gebunden wer-
den. Damit haben die Neurotransmitter einen Einfluss darauf, ob in der durch verstärken oder abschwächen, dass man spezielle Medika-
postsynaptischen Zelle ein neuronaler Impuls entsteht. mente zu sich nimmt oder sich auf eine bestimmte Weise ernährt?
56 Kapitel 3 · Neurowissenschaft und Verhalten

. Abb. 3.6a,b Bahnen der Neurotransmitter. Die verschiedenen chemischen Botenstoffe des Gehirns sind jeweils in eigenen Transmittersystemen
organisiert. Als Beispiel werden hier die Transmittersysteme von a Dopamin und b Serotonin dargestellt. (Carter 1998; Bilder aus Rita Carter, Mapping the
Mind © 1989, University of California Press / The Orion Publishing Group, London)

» Beim Gehirn gilt Folgendes: Wollen Sie es in Aktion sehen, men (. Abb. 3.6) und dass bestimmte Neurotransmitter be-
dann folgen Sie den Neurotransmittern. stimmte Effekte auf unser Verhalten und unsere Emotionen
Floyd Bloom, Neurowissenschaftler (1993) haben. . Tab. 3.1 zeigt Beispiele dafür. Die Neurotransmitter-
gruppen arbeiten aber nicht jede für sich; vielmehr interagie-
In späteren Kapiteln werden wir näher darauf eingehen, ren sie miteinander. Ihre Wirkung variiert dabei zwischen den
welchen Einfluss Neurotransmitter bei der Entstehung von Rezeptoren, die sie durch das Andocken stimulieren. Acetyl-
Hunger und Gedanken, von Depressionen und Euphorie sowie cholin (ACh) ist einer der am besten untersuchten Neurotrans-
von Sucht haben und welche Rolle sie in der Therapie spielen. mitter. Neben der Rolle des Acetylcholins bei Prozessen wie
Hier wollen wir jedoch schon einmal einen Blick darauf werfen, Lernen und Gedächtnis ist ACh auch ein Botenstoff, der in
wie Neurotransmitter unsere Motorik und unsere Emotionen jeder Verbindungsstelle zwischen einem Motoneuron, welches
beeinflussen. Heute wissen wir, dass in bestimmten Gehirn- Informationen vom Gehirn und vom Rückenmark an das
bahnen jeweils nur ein oder zwei Neurotransmitter vorkom- Körpergewebe weiterleitet, und einem Skelettmuskel vorkommt.

. Tab. 3.1 Einige Neurotransmitter und ihre Funktionen

Neurotransmitter Funktion Beispiele für Fehlfunktionen

Acetylcholin (ACh) Ermöglicht Muskelbewegungen, Lernen Bei der Alzheimer-Krankheit sterben die Neuronen ab, die ACh
und Gedächtnis produzieren

Dopamin Beeinflusst Bewegung, Lernen, Aufmerksam- Eine übermäßige Aktivität von Dopaminrezeptoren wird mit Schizo-
keit und Gefühle phrenie in Verbindung gebracht. Wenn zu wenig Dopamin vorhanden
ist, kommt es zum Zittern und zur eingeschränkten Beweglichkeit bei
der Parkinson-Krankheit

Serotonin Hat einen Einfluss auf Stimmung, Hunger, Eine Unterversorgung ist bei Depressionen zu finden, Antidepressiva wie
Schlaf und Erregung Fluctin und andere erhöhen den Serotoninspiegel

Noradrenalin Trägt zur Steuerung von Wachheit und Eine Unterversorgung kann zu gedrückter Stimmung führen
Erregung bei

GABA (γ-Aminobutter- Einer der wichtigsten hemmenden Neuro- Die Unterversorgung korreliert mit Anfällen, Zittern und Schlaflosigkeit
säure) transmitter

Glutamat Einer der wichtigsten anregenden Neuro- Eine Überversorgung kann zu einer Überstimulation des Gehirns führen
transmitter; am Gedächtnisprozess beteiligt und Migräne oder Anfälle auslösen (darum vermeiden manche Menschen
Natriumglutamat im Essen)
3.2 · Neuronale Kommunikation
57 3
Wenn das ACh zu den Muskelzellen ausgeschüttet wird, kontra- dem Gehirn eigene »Gutfühlchemie«? Ein Problem dabei ist,
hiert der Muskel. Wird die Übertragung des ACh blockiert, dass das Gehirn, wenn es mit Opiaten wie Heroin oder Mor-
wie es z. B. bei bestimmten Betäubungsmitteln der Fall ist, phium überschwemmt wird, aufhören könnte, die eigenen,
können die Muskeln nicht kontrahiert werden und wir sind so- natürlichen Opiate zu produzieren. Bei Drogenentzug wären
mit gelähmt. dann im Gehirn plötzlich gar keine Opiate mehr vorhanden, was
Eine aufregende Entdeckung im Bereich der Neurotrans- zu körperlichen Qualen führen würde. Wer die Produktion von
mitter machten Pert u. Snyder (1973), als sie Morphium radio- Neurotransmittern im eigenen Körper unterdrückt, muss also
aktiv markierten. Morphium ist eine Droge, ein sog. Opiat mit einen hohen Preis dafür zahlen.
schmerzlindernder und stimmungsaufhellender Wirkung. Die Viele Drogen und andere chemische Stoffe beeinflussen die
Markierung lieferte ihnen einen Hinweis darauf, wo dieser Stoff Vorgänge an den Synapsen, oft durch Erregung oder Hemmung
im Gehirn eines Tieres aufgenommen wird. Ihre Entdeckung: der Reizweiterleitung. Ein Molekül eines Agonisten kann einem
Die Droge bindet genau in jenen Gehirnbereichen an Rezepto- Neurotransmitter so sehr ähneln, dass es beim Binden an den
ren, die mit Stimmung und Schmerzempfindung in Zusammen- Rezeptor die gleichen Effekte hat, d. h., in diesem Fall erregend
hang gebracht wurden. Warum aber sollte das Gehirn solche wirkt. Beispielsweise sind manche Opiate Agonisten und machen
»Opiatrezeptoren« bereitstellen, wenn ihm nicht selbst irgend- zeitweise »high«, indem sie das normale Gefühl von Erregung
welche natürlich vorkommenden Opiate, die an diese Rezep- oder Lust verstärken.
toren andocken, zur Verfügung stünden? Warum sollte das Ge- Antagonisten binden sich zwar auch an die Rezeptoren, wir-
hirn ein chemisches Schloss haben, aber keinen dazu passenden ken aber hemmend, indem sie z. B. die Ausschüttung von Neuro-
Schlüssel besitzen? transmittern verhindern. Botulin, ein Gift, das sich in unsach-
Wissenschaftler bestätigten bald darauf, dass es im Gehirn gemäß hergestellten Dosengerichten bilden kann, führt zu einer
tatsächlich einige Arten von im Körper produzierten Neuro- Lähmung, weil es die Ausschüttung des ACh beim postsynap-
transmittern gibt, die Morphinen ähneln. Diese natürlichen tischen Neuron blockiert (so glätten geringe Injektionen von
Opiate werden ausgeschüttet, wenn der Mensch Schmerzen Botulin oder Botox-Spritzen Falten dadurch, dass sie die darun-
empfindet oder hart trainiert. Sie wurden Endorphine genannt ter liegenden Gesichtsmuskeln lähmen). Oder ein Antagonist
(kurz für endogene [im Körper produzierte] Morphine) und ähnelt dem natürlichen Neurotransmitter so sehr, dass er an die
mögen auch die guten Gefühle erklären, die z. B. beim Joggen spezifischen Rezeptoren andocken und seine Wirkung blockie-
aufkommen, ebenso die schmerzlindernde Wirkung von Aku- ren kann (. Abb. 3.7), jedoch nicht genug, dass er auch den Re-
punktur, oder warum manche schwerverletzten Menschen keine zeptor stimulieren könnte (ähnlich ausländischen Münzen, die
Schmerzen mehr spüren. Doch wieder einmal führte das neue in einen Zigarettenautomaten zwar hineinpassen, mit denen
Wissen auch zu neuen Fragen. man aber keine Zigaretten ziehen kann). Curare, ein Gift, das
bestimmte Indio-Völker Südamerikas zum Jagen auf die Pfeil-
Endorphine (»endorphins«) – »innere Morphine«; natürliche, den Opiaten
ähnelnde Neurotransmitter, die mit Schmerzlinderung und Lust in Zusam- spitzen auftragen, besetzt und blockiert die ACh-Rezeptoren von
menhang gebracht werden. Muskeln. Wenn ein Tier von einem dieser Pfeile getroffen wird,
ist es sofort gelähmt.
Der Physiker Lewis Thomas über Endorphine:
Prüfen Sie Ihr Wissen
» Da ist er, ein biologisch universeller Gnadenakt. Ich kann
ihn nicht erklären, außer vielleicht mit den folgenden 5 Eine Curare-Vergiftung führt bei den Betroffenen
Worten: Ich hätte ihn einbauen lassen, wenn ich ganz am zur Lähmung, weil die ACh-Rezeptoren, die an
Anfang Mitglied des Planungsausschusses gewesen wäre. den Muskelbewegungen beteiligt sind, blockiert
The Youngest Science, 1983 werden. Morphium wiederum ahmt die Wirkung von
Endorphinen nach. Welcher Stoff ist ein Agonist,
Prüfen Sie Ihr Wissen welcher ein Antagonist?

5 Wie werden die chemischen Botenstoffe Serotonin,


Dopamin und Endorphine auch bezeichnet?

Wie Drogen und andere chemische Stoffe


die neuronale Übertragung verändern
Wenn die Endorphine tatsächlich Schmerzen lindern und die
Stimmung heben, warum überschwemmen wir unser Gehirn
nicht einfach mit künstlichen Opiaten und verstärken damit die
58 Kapitel 3 · Neurowissenschaft und Verhalten

. Abb. 3.7 Agonisten und Antagonisten

Nervensystem (»nervous system«) – elektrochemisches Hochgeschwindig-


3.3 Nervensystem keitskommunikationsnetz in unserem Körper, das aus allen Nervenzellen
des peripheren und zentralen Nervensystems besteht.

? 3.5 Welche Funktionen haben die Hauptkomponenten des Zentrales Nervensystem (ZNS; »central nervous system«) – Gehirn und
Rückenmark.
Nervensystems und wie heißen die drei Hauptgruppen von
Peripheres Nervensystem (PNS; »peripheral nervous system«) – senso-
Neuronen?
rische Neuronen und Motoneuronen, die das zentrale Nervensystem (ZNS)
mit dem Rest des Körpers verbinden, sowie die Neuronen des autonomen
Leben bedeutet, Informationen von der Umwelt und aus dem
Nervensystems.
Körpergewebe aufzunehmen, Entscheidungen zu treffen und
Nerven (»nerves«) – neuronale »Kabel«, die aus vielen gebündelten Axonen
schließlich die Informationen und Befehle zurück an das Kör- bestehen. Diese sind Teil des peripheren Nervensystems und verbinden das
pergewebe zu senden. All dies ermöglicht uns unser Nerven- zentrale Nervensystem mit Muskeln, Drüsen und Sinnesorganen.
system (. Abb. 3.8). Das Gehirn und das Rückenmark bilden
das zentrale Nervensystem (ZNS), den Entscheidungsträger In unserem Nervensystem werden die Informationen mit Hilfe
unseres Körpers. Das periphere Nervensystem (PNS) sammelt dreier Arten von Neuronen weitergeleitet. Die sensorischen
Informationen und leitet die Entscheidungen des ZNS an andere Neuronen schicken Informationen von der Körperoberfläche und
Körperpartien weiter. Axone sind zu elektrischen Kabeln gebün- den Sinnesorganen in den Körper hinein zum Gehirn und zum
delt, die uns als Nerven bekannt sind und verbinden das zentra- Rückenmark, die die eingehenden Informationen verarbeiten.
le Nervensystem mit den Sinnesrezeptoren, den Muskeln und Motoneurone wiederum erhalten Informationen vom ZNS und
den Drüsen. Der Sehnerv z. B. ist ein einziges Kabel bestehend leiten diese an die Muskeln weiter. Zwischen sensorischem Input
aus einem Bündel aus 1 Mio. Axone; sie übertragen die Informa- und motorischem Output werden Informationen durch die inter-
tionen, die jedes der beiden Augen zum Gehirn sendet (Mason ne Kommunikation des Gehirns mit Hilfe der Interneuronen ver-
u. Kandel 1991). arbeitet. Dass dieser Prozess so komplex ist, liegt vor allem am
3.3 · Nervensystem
59 3

. Abb. 3.8 Funktionelle Aufteilung des menschlichen Nervensystems

System der Interneurone. Unser Nervensystem besteht aus einigen inneren Organe aus. So steuert es unsere Körperfunktionen,
Millionen sensorischer Neuronen, einigen Millionen Motoneuro- z. B. unseren Herzschlag, die Verdauung und die Drüsenaktivität.
nen sowie Milliarden und Abermilliarden von Interneuronen. Wie ein Autopilot wird es gelegentlich bewusst außer Kraft ge-
setzt, meistens jedoch arbeitet es eigenständig (autonom).
Sensorische Neuronen (»sensory neurons«) – Nervenzellen, die von den
Sinnesrezeptoren eingehende Informationen zum zentralen Nervensystem Autonomes (vegetatives) Nervensystem (ANS bzw. VNS; »autonomic
(Gehirn und Rückenmark) übermitteln. nervous system«) – Teil des peripheren Nervensystems, der die Drüsen und
Motoneurone (»motor neurons«) – Neuronen, die den Muskeln und Muskeln der Körperorgane (z. B. des Herzens) kontrolliert. Der sympathische
Drüsen die Informationen vom zentralen Nervensystem übermitteln. Teil sorgt für Erregung, der parasympathische für Beruhigung.
Interneurone (»interneurons«) – Neuronen des zentralen Nervensystems,
deren Aufgabe es ist, die interne Kommunikation zu gewährleisten sowie Das autonome Nervensystem erfüllt zwei wichtige, grund-
zwischen sensorischem Input und motorischem Output zu vermitteln.
legende Funktionen (. Abb. 3.9). Der Sympathikus versetzt
uns in Erregung und verbraucht dabei Energie. Das heißt, er
3.3.1 Peripheres Nervensystem bereitet uns in Gefahr- bzw. Stresssituationen oder bei Heraus-
forderungen (wie etwa bei einem heiß ersehnten Vorstellungs-
Das periphere Nervensystem hat zwei Komponenten: eine soma- gespräch) auf eine angemessene Reaktion vor. Dies geschieht
tische und eine vegetative. Das somatische Nervensystem ermög- dadurch, dass er die Herzfrequenz zunehmen lässt, den Blut-
licht es uns, die Bewegungen unserer Skelettmuskulatur willkür- druck erhöht, die Verdauung verlangsamt, den Blutzucker-
lich unter Kontrolle zu halten. Wenn Sie die nächste Seite umblät- spiegel steigen lässt und uns durch Schwitzen abkühlt. Dadurch
tern müssen, wird das somatische Nervensystem Ihrem Gehirn sind wir aufmerksam und bereit, uns der Situation zu stellen.
Informationen über den momentanen Zustand Ihrer Skelettmus- Lässt der Stress nach (wenn das Vorstellungsgespräch vorbei
keln übermitteln und daraufhin Instruktionen über die Bewegun- ist), ruft der Parasympathikus die umgekehrten Effekte hervor.
gen zurücksenden, die zum Umblättern erforderlich sind. Energie wird nicht verbraucht, sondern eingespart, während
der Parasympathikus u. a. durch Verlangsamung des Herz-
Somatisches Nervensystem (»somatic nervous system«) – Teil des peri-
pheren Nervensystems, der die Skelettmuskulatur kontrolliert. schlags und Senkung des Blutzuckers beruhigend wirkt. In jeder
alltäglichen Situation arbeiten Sympathikus und Parasym-
Das vegetative bzw. autonome Nervensystem (VNS bzw. ANS) pathikus zusammen, um unseren inneren Zustand stabil zu
übt die Kontrolle über die Drüsen und die Muskeln unserer halten.
60 Kapitel 3 · Neurowissenschaft und Verhalten

. Abb. 3.9 Funktionelle Zweiteilung des vegetativen Nervensystems. Das vegetative Nervensystem kontrolliert die eher autonomen (oder selbstregu-
lierenden) internen Funktionen. Der sympathische Teil sorgt für Erregung und verbraucht Energie, während der parasympathische Teil für Beruhigung
und die Neuaufladung mit Energie sorgt, wobei die normale Erhaltungsaktivität bestehen bleibt. Zum Beispiel erhöht der Sympathikus den Herzschlag,
während der Parasympathikus ihn verlangsamt

Sympathikus (»sympathetic nervous system«) – Teil des vegetativen kam, bevor die 20-minütige Gefangenschaft vorbei war. »Das
Nervensystems, der für körperliche Erregung und damit für das Bereit-
haben Sie gut gemacht!«, teilte mir die Technikerin mit, nichts
stellen von Energie in Stresssituationen sorgt.
ahnend von der Achterbahnfahrt meines ANS.
Parasympathikus (»parasympathetic nervous system«) – Teil des vege-
tativen Nervensystems, der für Beruhigung sorgt und es damit dem Körper Prüfen Sie Ihr Wissen
ermöglicht, neue Energie zu speichern bzw. Energie zu sparen.
5 Ordnen Sie die Beschreibungen den verschiedenen Arten
Vor Kurzem erlebte ich mein ANS in Aktion. Bevor ich für eine von Neuronen zu
Routineuntersuchung meiner Schulter in eine MRT-Maschine – Neurone:
geschickt wurde, fragte die Technikerin, ob ich Klaustrophobie 1. Motoneurone
habe. »Nein, enge Räume machen mir nichts aus«, versicherte ich 2. sensorische Neurone
ihr, mit ein wenig Machogehabe. Minuten später, als ich auf 3. Interneurone
meinem Rücken in einer sarggroßen Box lag und mich nicht – Beschreibungen:
bewegen konnte, hatte mein Sympathikus aber eine andere a. übermitteln Input der Sinnesrezeptoren an
Meinung. Als mich die Klaustrophobie überwältigte, begann das ZNS
mein Herz schneller zu schlagen und ich fühlte den dringenden b. sorgen für interne Kommunikation im ZNS und
Zwang zu fliehen. Kurz bevor ich danach schrie, hinausgelassen vermitteln zwischen In- und Output
zu werden, fühlte ich, wie mein beruhigender Parasympathikus c. übermitteln Informationen vom ZNS an Muskeln
zu arbeiten begann. Mein Herzschlag wurde langsamer und mein und Drüsen
Körper entspannte sich, obwohl meine Aufregung wieder auf-
3.3 · Nervensystem
61 3
3.3.2 Zentrales Nervensystem

Aus der einfachen Kommunikation der einzelnen Neuronen


untereinander entwickelt sich die Komplexität unseres Gehirns
und Rückenmarks, also des zentralen Nervensystems.
Es ist unser Gehirn, das uns erst zu Menschen macht: unsere
Gefühle, unsere Gedanken und unser Handeln. Zigmilliarden
von Neuronen, jedes davon mit Tausenden anderen verbunden,
bieten ein sich ständig veränderndes Schaltbild. Bei ungefähr
40 Mrd. Neuronen, die jeweils um die 10.000 Kontaktstellen zu
anderen Neuronen haben, kommen wir auf etwa 400 Billionen
synaptische Verbindungen, also Orte, an denen die Neuronen
auf ihre Nachbarn treffen und sie begrüßen (De Courten-
Myers 2005). Ein sandkorngroßes Stück Ihres Gehirns enthält
etwa 100.000 Neuronen und 1 Mrd. »sprechende« Synapsen
(Ramachandran u. Blakeslee 1998; . Abb. 3.10).
Die Neuronen im Gehirn schließen sich zu Arbeitsgruppen,
sog. neuronalen Netzen, zusammen. Zum besseren Verständnis . Abb. 3.10 (© Tom Swick / Search ID: tswn96, Rights Available from
dieser Tatsache schlagen uns Kosslyn u. Koenig (1992, S. 12) vor, CartoonStock.com)
»darüber nachzudenken, warum Städte existieren: Warum ver-
teilen sich die Menschen nicht einfach gleichmäßig auf die länd-
lichen Gegenden?« Genauso wie sich Menschen zusammen- vensystem zum Gehirn reisen und umgekehrt. Aufsteigende
schließen, schließen sich auch Neuronen mit benachbarten Neu- Nervenfasern übermitteln sensorische Informationen nach
ronen zusammen, mit denen sie dann schnell Verbindung auf- oben, während absteigende Nervenfasern motorische Infor-
nehmen können. Wie in . Abb. 3.11 zu sehen ist, sind die Zellen mationen zurücksenden. Die Nervenbahnen, die für unsere
in jeder Schicht eines neuronalen Netzes mit vielen Zellen aus der Reflexe, also für unsere automatischen Reaktionen auf Reize
nächsten Schicht verbunden. Lernprozesse – beim Spielen einer zuständig sind, sind das beste Beispiel für die Aufgaben des
Geige, beim Sprechen einer fremden Sprache oder beim Lösen Rückenmarks. Ein einfacher Reflexbogen über das Rückenmark
eines mathematischen Problems – finden statt, wenn durch das besteht aus einem einzigen sensorischen Neuron und einem ein-
Feedback über das erreichte Ergebnis neuronale Verbindungen zigen Motoneuron. Oft sind diese durch ein Interneuron mitei-
entstehen bzw. gestärkt werden. Neuronen, die bei einer Tätigkeit nander verbunden. Der Kniesehnenreflex z. B. besteht aus solch
gemeinsam feuern, werden also miteinander verbunden. einer einfachen Nervenbahn; er könnte sogar noch ausgelöst
Das Rückenmark ist als weiterer Teil des Zentralnervensys- werden, wenn die Reizleitung zum Gehirn völlig unterbrochen
tems die Autobahn, auf der Informationen vom peripheren Ner- ist.

. Abb. 3.11 Vereinfachtes neuronales Netz. Neurone bauen Netzwerke mit benachbarten Neuronen auf. In diese Netze aus miteinander verbundenen
Nervenzellen ist Ihre eigene, beständige Identität (als Musiker, Sportler, treuer Freund) und die Wahrnehmung Ihres Selbst mit eingewebt, die sich über
die Jahre hinweg erweitert. Wie sich neuronale Netze von selbst in komplexe Netzwerke verwandeln, durch die Lernprozesse, Emotionen und Gedanken
entstehen, ist bislang immer noch eines der größten wissenschaftlichen Rätsel. Wie können aus der reinen Biologie Verstand und Bewusstsein entstehen?
62 Kapitel 3 · Neurowissenschaft und Verhalten

. Abb. 3.12 Einfacher Reflex

Reflex (»reflex«) – automatische Reaktion auf einen sensorischen Reiz, stein 2000). Frauen mit einer ähnlichen Lähmung können auf
wie z. B. der Kniesehnenreflex.
Stimulation mit vaginaler Lubrikation reagieren. Aber es hängt
Ein anderer derartiger Reflexbogen ist für den Schmerzreflex vom Ort und vom Ausmaß der Verletzung des Rückenmarks
verantwortlich (. Abb. 3.12). Wenn Sie eine Flamme mit dem ab, ob solcherart gelähmte Patienten überhaupt noch auf ero-
Finger berühren, wandert die neuronale Aktivität, die durch die tische Bilder reagieren und ob sie noch Gefühle im Genitalbe-
Wahrnehmung der Hitze entstanden ist, über sensorische Neu- reich haben (Kennedy u. Over 1990; Sipski u. Alexander 1999).
ronen zu Interneuronen in Ihrem Rückenmark. Diese Inter- Um körperlichen Schmerz oder körperliche Lust zu verspüren,
neurone wiederum reagieren mit einer Aktivierung der Moto- müssen die sensorischen Informationen bis zum Gehirn vor-
neurone, die zu den Muskeln im Arm führen. Da die einfache dringen.
Reflexbahn für die Schmerzempfindung nur durch das Rücken-
mark geht, wird die Hand von der Flamme zurückgezogen, bevor
» Ist das Nervensystem zwischen dem Gehirn und anderen
Körperregionen unterbrochen, dann sind Erfahrungen
das Gehirn die Informationen über den Schmerz erhält und
dieser anderen Teile für den Geist gar nicht vorhanden. Das
darauf reagieren kann. Darum hat man den Eindruck, dass die
Auge ist dann blind, das Ohr taub, die Hand ist empfindungs-
Hand nicht willentlich zurückgezogen wird, sondern von selbst
und bewegungslos.
zurückzuckt.
William James, Principles of Psychology, 1890
Informationen bewegen sich über das Rückenmark zum Ge-
hirn und wieder zurück. Wäre der obere Teil Ihres Rückenmarks
durchtrennt, könnten Sie Schmerz unterhalb der durchtrennten
Stelle nicht empfinden, genauso wenig wie angenehme Berüh- 3.4 Endokrines System
rungen. Ihr Körper wäre im wörtlichen Sinne außer Reichweite
Ihres Gehirns. Es würden bei Ihnen sämtliche Empfindungen
? 3.6 Wie übermittelt das endokrine System Informationen
und die Willkürmotorik in den Körperregionen ausfallen, die
und welche Wechselwirkung besteht mit dem Nervensystem?
über Neuronen mit den Teilen des Rückenmarks unterhalb der
Verletzung verbunden sind. Ihr Knie würde bei der Unter- Bisher haben wir uns mit dem schnellen elektrochemischen In-
suchung des Kniesehnenreflexes hochschnellen, ohne dass Sie formationssystem des Körpers beschäftigt. Mit dem Nervensys-
die Berührung des kleinen Gummihammers spüren. Wenn bei tem ist jedoch noch ein anderes Kommunikationssystem ver-
einem von der Taille ab gelähmten Mann der Teil des Gehirns bunden, das endokrine System (. Abb. 3.13). Die Drüsen des
vom Rest abgeschnitten ist, der für die Hemmung von Erek- endokrinen Systems schütten eine andere Art von chemischen
tionen zuständig ist, erigiert er oft, wenn sein Geschlechtsteil Botenstoffen aus, die Hormone. Hormone werden durch die
stimuliert wird, da die Erektion ein einfacher Reflex ist (Gold- Blutbahn weitergeleitet und beeinflussen andere Gewebe, auch
3.4 · Endokrines System
63 3
einem Fall wieder beruhigen. So gibt das autonome Nerven-
system z. B. in einer gefährlichen Situation den Nebennieren, die
sich auf den Nieren befinden, den Befehl, Adrenalin und Norad-
renalin auszuschütten (auch Epinephrin und Norepinephrin ge-
nannt). Diese Hormone beschleunigen den Herzschlag, erhöhen
den Blutdruck und den Blutzuckerspiegel und stellen uns damit
einen zusätzlichen Energieschub zur Verfügung. Ist der Notfall
dann vorbei, dauert es eine Weile, bis die Hormone wieder ab-
gebaut sind; deshalb bleibt auch das Gefühl der Erregung noch
eine Weile bestehen.
Nebennieren (»adrenal glands«) – Paar endokriner Drüsen direkt
oberhalb der Niere. Sie schütten die Hormone Adrenalin (oder Epinephrin)
und Noradrenalin (oder Norepinephrin) aus, die den Körper bei Stress-
situationen in Erregung versetzen.

Die endokrine Drüse mit dem größten Einfluss ist die Hypo-
physe, eine erbsengroße Struktur im mittleren Teil des Gehirns;
dort wird sie von einer angrenzenden Struktur, dem Hypotha-
lamus, gesteuert (mehr dazu gleich). Die Hypophyse schüttet
bestimmte Hormone aus. Eins davon ist ein Wachstumshormon,
das die körperliche Entwicklung anregt. Ein weiteres, Oxytocin,
. Abb. 3.13 Endokrines System sorgt beim Gebären für die Wehen, für den Milchfluss beim
Stillen und für Orgasmen. Oxytocin fördert zudem die Bindung
zwischen zwei Menschen in einer Beziehung, den Zusammen-
das Gehirn. Wenn sie auf das Gehirn wirken, beeinflussen sie halt von Gruppen und soziales Vertrauen (De Dreu et al. 2010).
unser Interesse an Nahrung, Sexualität und Aggression. So vertrauten Versuchspersonen, die mit einem Nasenspray
Endokrines System (»endocrine system«) – »langsames« chemisches
Oxytocin verabreicht bekamen, während einer Simulation im
Kommunikationssystem des Körpers; es besteht aus einer Reihe von Labor Fremden eher ihr Geld an, als Personen, die ein Placebo
Drüsen, die Hormone ins Blut ausschütten. erhielten (Kosfeld et al. 2005).
Hormone (»hormones«) – von den endokrinen Drüsen hergestellte
Hypophyse (»pituitary gland«) – wichtigste Drüse des endokrinen
chemische Botenstoffe, die sich durch den Blutkreislauf fortbewegen
Systems. Unter dem Einfluss des Hypothalamus reguliert sie das Wachstum
und andere Gewebe beeinflussen.
und kontrolliert die Aktivität anderer endokriner Drüsen.
Manche Hormone sind chemisch identisch mit Neurotransmittern
(den chemischen Botenstoffe, die in eine Synapse ausgeschüttet Zudem schüttet die Hypophyse Hormone aus, die die Hormon-
werden und die postsynaptische Nervenzelle erregen oder hem- ausschüttung in anderen endokrinen Drüsen beeinflussen. Die
men). Das endokrine System und das Nervensystem sind somit Hypophyse ist also so etwas wie die Königsdrüse (deren Kaiser
eng miteinander verwandte Systeme: Beide sorgen für die Produk- der Hypothalamus ist). Zum Beispiel bringt die Hypophyse unter
tion und das Ausschütten von Molekülen, die bei Rezeptoren an dem Einfluss des Gehirns die Sexualdrüsen dazu, Sexualhor-
einer anderen Stelle im Körper wirken. Aber im Unterschied zum mone auszuschütten. Diese beeinflussen wiederum das Gehirn
schnellen Nervensystem, das Botschaften in Bruchteilen einer und das Verhalten. Gleiches gilt für eine stressige Situation: Hier
Sekunde vom Auge zum Gehirn zur Hand schwirren lässt, werden schüttet die Hypophyse unter dem Einfluss des Hypothalamus
endokrine Botschaften deutlich langsamer übermittelt. Einige Hormone aus, die wiederum die Nebennieren dazu veranlassen,
Sekunden oder mehr vergehen, bis ein Hormon über die Blutbahn den Körper mit Kortisol zu versorgen, einem Stresshormon, das
von einer endokrinen Drüse bis ins Zielgewebe gespült wird. den Blutzuckerspiegel erhöht.
Wenn das Nervensystem Informationen wie per SMS übermittelt, Dieses Rückkopplungssystem (Gehirn → Hypophyse → ande-
ist das endokrine System wie das Schicken eines Briefes. re Drüsen → Hormone → Körper und Gehirn) ist ein Hinweis auf
Zwar ist die Informationsübertragung des endokrinen Sys- die direkte Verbindung zwischen Nervensystem und endokri-
tems vergleichsweise langsam, dafür halten die Effekte der endo- nem System: Das Nervensystem bewirkt die Ausschüttung von
krinen Botschaften meist länger an als die einer neuronalen Bot- Hormonen durch das endokrine System, die dann wiederum das
schaft. Und dadurch können wir erklären, warum wir uns z. B. Nervensystem beeinflussen. Und dieses ganze elektrochemische
immer noch ärgern, auch wenn der Grund dafür nicht mehr Orchester wird vom großen Maestro, den wir Gehirn nennen,
vorhanden ist. Es dauert also noch etwas, bis wir uns in solch dirigiert und koordiniert.
64 Kapitel 3 · Neurowissenschaft und Verhalten

Prüfen Sie Ihr Wissen

5 Warum wird die Hypophyse als »Königsdrüse«


bezeichnet?
5 Worin ähneln und worin unterscheiden sich das Nerven-
und das endokrine System?
3

3.5 Gehirn

In einem Glasbehälter im Psychologischen Institut der Cornell


University wird das gut erhaltene Gehirn von Edward Bradford
Titchener ausgestellt, einem bedeutenden Experimentalpsycho-
logen des späten 19. Jahrhunderts und Vertreter der Bewusst-
seinsforschung. Stellen Sie sich doch einmal vor, vor dieser zer-
furchten Masse aus grauem Gewebe zu stehen und sich dabei
zu fragen, ob noch etwas von Titcheners Geist darin verblieben
ist (. Abb. 3.14).1
Ihre Antwort wäre möglicherweise, dass ohne das leben-
dige Zirpen der elektrochemischen Aktivität nichts mehr von . Abb. 3.14 (© Claudia Styrsky)
Titchener in seinem konservierten Gehirn zu finden ist. Stellen
Sie sich dann ein Experiment vor, von dem der neugierige
Titchener selbst geträumt haben mag: Malen Sie sich aus, sammengehöriges Ganzes. Aber wo genau und wie sind die
wie jemand Titcheners Gehirn unmittelbar vor seinem Tod Funktionen des Denkens mit dem Gehirn verknüpft? Wir wollen
aus dem Körper entfernt und durch die Zufuhr von mit Sauer- uns zunächst damit beschäftigen, wie Wissenschaftler solchen
stoff angereichertem Blut am Leben erhalten hätte. Würde Fragen nachgehen.
dann noch etwas von Titchener in seinem Gehirn erhalten
bleiben? Stellen Sie sich nun vor, jemand hätte das noch leben-
» Ich bin ein Gehirn, Watson. Der Rest von mir ist nur ein
Anhängsel.
de Gehirn damals in den Körper eines Menschen mit einem
Sherlock Holmes in Arthur Conan Doyles The Adventure
schweren Gehirnschaden transplantiert. Hätte der Patient nach
of the Mazarin Stone
seiner Erholung in sein Haus oder in das von Titchener zurück-
kehren sollen?
Dass wir uns diese Fragen stellen können, belegt, wie über-
zeugt wir davon sind, dass wir »irgendwo nördlich unseres Halses 3.5.1 Forschungswerkzeuge
wohnen« (Fodor 1999). Und dies mit gutem Grund: Schließlich
macht das Gehirn unsere komplexen Verstandesleistungen erst
? 3.7 Wie untersuchen Neurowissenschaftler die Verbin-
möglich – sehen, hören, riechen, fühlen, erinnern, denken, spre-
dungen vom Gehirn zum Verhalten und zum Verstand bzw.
chen und träumen. Zudem analysiert das Gehirn selbstreflexiv
Bewusstsein?
das Gehirn. Wenn wir über unser Gehirn nachdenken, denken
wir mit dem Gehirn – indem unsere Synapsen millionenmal Über Jahrhunderte hinweg hatte man keine Werkzeuge, die leis-
feuern und Milliarden von Transmittermolekülen ausschütten. tungsstark, aber behutsam genug waren, um ein noch lebendes
Die Effekte von Hormonen auf Erfahrungen wie die erste Liebe menschliches Gehirn zu erkunden. Frühere klinische Beobach-
erinnern uns daran, dass wir als körperloses Gehirn nicht das- tungen durch Ärzte und andere Wissenschaftler konnten bereits
selbe empfinden würden, d. h., dass wir unseren Körper und zeigen, dass es einige Verbindungen zwischen Gehirn und Geist
unsere Hormone für derartige Empfindungen ebenso benötigen gibt. Verletzungen auf einer Seite des Gehirns führten oft zu
wie das Gehirn. Körperlos zu denken, zu fühlen oder zu handeln Taubheitsgefühlen oder Lähmungen auf der gegenüberliegenden
wäre wie laufen ohne Beine. Gehirn + Körper = Geist. Dennoch Seite des Körpers, woraus gefolgert wurde, dass die rechte Seite
sagen Neurowissenschaftler, unser Geist sei das Ergebnis unserer des Körpers mit dem linken Teil des Gehirns verbunden ist und
Gehirntätigkeit. Gehirn, Verhalten und Kognition sind ein zu- umgekehrt. Andere leiteten aus ihren Beobachtungen ab, dass
eine Verletzung des hinteren Teils des Gehirns zu Störungen der
1 Carl Sagans Broca's Brain (1979) inspirierte diese Frage. visuellen Wahrnehmung führt und Verletzungen des vorderen
3.5 · Gehirn
65 3

. Abb. 3.15 Ein Elektroenzephalogramm zeigt verstärkte Wellen elektrischer Aktivität im Gehirn an. (© Klaus Rose, Bildjournalist)

linken Teils zu Störungen der Sprache. Nach und nach lokalisier- auf denen die energetischen Prozesse im Gehirn farblich darge-
ten die frühen Forscher die einzelnen Hirnareale. stellt sind.
Dies hat sich jetzt innerhalb einer Generation geändert: Die Genau in diesem Moment sendet Ihre geistige Aktivität
heutigen »neuralen Kartografen« erforschen das faszinierendste eine Fülle »verräterischer« elektrischer, metabolischer und mag-
Organ des uns bekannten Universums und ordnen bestimmten netischer Impulse aus, die es einem Neurowissenschaftler er-
Gehirnarealen bestimmte Tätigkeiten und Funktionen zu. Wis- lauben würden, die Aktivität in Ihrem Gehirn zu beobachten.
senschaftler können heutzutage gezielt kleine Zellansammlun- Die elektrische Aktivität der Milliarden von Neuronen des
gen von Gehirnzellen zerstören, am Gehirn also sog. Läsionen Gehirns rauscht in regelmäßigen Wellen über seine Oberfläche.
setzen, ohne das umliegende Gewebe zu schädigen. Zum Beispiel Beim Elektroenzephalogramm (EEG) werden Hirnstromwellen
haben Laborversuche dieser Art gezeigt, dass eine Läsion eines verstärkt und zum Ablesen dargestellt. Forscher zeichnen
Bereichs des Hypothalamus der Ratte dazu führt, dass sie weni- die Gehirnwellen durch eine Duschkappen-ähnliche Kopfbe-
ger isst und verhungert, während eine Läsion in einem anderen deckung auf. Diese ist übersät von Elektroden, die von einem
Bereich zu verstärkter Nahrungsaufnahme führt. leitfähigen Gel bedeckt sind. Ein EEG der Gehirnaktivität zu
betrachten ist so, als wolle man den Motor eines Autos an-
Läsion (»lesion«) – Zerstörung von Gewebe. Eine Hirnläsion ist eine
auf natürliche Weise, durch ein Experiment oder eine andere Operation hand seines Motorengeräusches begutachten. Ohne das Gehirn
entstandene Zerstörung von Hirngewebe. operativ direkt zugänglich machen zu müssen, können die
Forscher mit einem EEG allein durch die wiederholte Dar-
Wissenschaftler sind heutzutage ebenso in der Lage, verschie- stellung eines Reizes die elektrische Welle, die durch den Reiz
dene Teile des Gehirns elektrisch, chemisch oder magnetisch verursacht wird, beobachten (. Abb. 3.15). Dies geschieht
zu stimulieren und zu beobachten, welche Effekte dadurch her- mit Hilfe eines geeigneten Computerfilters, der die Gehirn-
vorgerufen werden. Abhängig davon, welcher Teil des Gehirns aktivität, die nicht mit dem Reiz zusammenhängt, aussortiert,
stimuliert wird, fangen die betroffenen Personen z. B. an zu sodass nur die durch den Reiz ausgelösten Gehirnwellen gemes-
kichern, Stimmen zu hören, ihren Kopf zur Seite zu bewegen, das sen werden.
Gefühl zu haben, sie würden fallen, oder sie haben eine Elektroenzephalogramm (EEG; »electroencephalogram«) – Verstär-
außerkörperliche Erfahrung (Selimbeyoglu u. Parvizi 2010). kung von Hirnstromwellen, also Wellen elektrischer Aktivität, die über die
Wissenschaftler können sogar die Botschaften einzelner Oberfläche des Gehirns laufen. Diese Wellen werden von Elektroden
gemessen, die am Schädel befestigt werden.
Neurone verfolgen. Die Spitzen der modernen Mikroelektroden
sind so fein, dass sie die elektrischen Impulse eines einzigen »Du musst das Innere ebenso betrachten wie das Äußere« riet
Neurons entschlüsseln können. So können wir z. B. heutzutage Lord Chesterfield seinem Sohn in einem Brief von 1746. Mit
genau beobachten, wie die Informationen über die Berührung neueren, bildgebenden Techniken können wir, anders als beim
der Schnurrhaare einer Katze in ihrem Gehirn weitergeleitet EEG, wie Superman mit seinem Röntgenblick ins lebende Ge-
werden. Forscher können außerdem die Kommunikation von hirn blicken. Eines dieser Verfahren ist die Positronenemis-
Milliarden von Neuronen abhören und Bilder analysieren, sionstomografie (PET; . Abb. 3.16), die das Gehirn in Aktion
66 Kapitel 3 · Neurowissenschaft und Verhalten

. Abb. 3.16 Positronenemissionstomografie (PET). Um eine PET durchführen zu können, injizieren Wissenschaftler freiwilligen Versuchspersonen
eine niedrige und harmlose Dosis radioaktiven Zuckers mit kurzer Halbwertszeit. Detektoren rund um den Kopf der Versuchsperson messen den Ausstoß
der Gammastrahlen des Zuckers, der sich in den aktiven Teilen des Gehirns konzentriert hat. Ein Computer verarbeitet und übersetzt dann aus diesen
Signalen einen Plan vom arbeitenden Gehirn. (© HANK MORGAN / SPL / Agentur Focus)

zeigt, indem sie den Glukoseverbrauch jedes Teils des Gehirns mit Hirnflüssigkeit gefüllt sind (in . Abb. 3.17 durch die roten
sichtbar macht (Glukose ist der »chemische Brennstoff« des Ge- Pfeile markiert).
hirns). Aktive Neuronen verbrauchen große Mengen an Glukose.
Magnetresonanztomografie (MRT, auch Kernspintomografie; »magnetic
Injiziert man einer Person schwach radioaktiv angereicherte Glu- resonance imaging« oder MRI) – ein Verfahren, das mit Hilfe von Magnet-
kose, so kann man mit Hilfe der PET, die die Gammastrahlung feldern und elektromagnetischen Wellen computergestützt Bilder von
lokalisiert, beobachten, wie sich das »Nervenfutter« im Gehirn weichem Gewebe erstellt. MRT-Scans stellen die Strukturen innerhalb des
Gehirns dar.
verteilt, während die Person eine bestimmte Aufgabe bearbeitet.
In etwa so wie ein Wetterradar, das Regenfälle anzeigt, zeigen Mit einer speziellen Anwendung der MRT, der fMRT (der funk-
PET-Scans anhand sog. Hot Spots an, welche Areale des Gehirns tionellen MRT), kann man die Funktionsweise, aber auch die
am aktivsten sind, wenn der Mensch Rechenaufgaben löst, Bilder Struktur des Gehirns erkennbar machen. Das Blut fließt an die
von Gesichtern anschaut oder Tagträumen nachhängt. Stellen, wo das Gehirn besonders aktiv ist. Durch den Vergleich
von MRT-Scans, die im Abstand von weniger als einer Sekunde
Positronenemissionstomografie (PET; »positron-emission tomography«) –
Form der Visualisierung von Gehirnaktivität, bei der die Verteilung radioaktiv gemacht werden, können die Forscher sehen, wie bestimmte
markierter Glukose im Gehirn beobachtet werden kann, während eine Stellen im Gehirn aktiviert werden (da dort mehr sauerstoffreiches
vorgegebene Aufgabe ausgeführt wird. Blut fließt), wenn die betreffende Person verschiedene Denkauf-
gaben löst. Schaut die Person z. B. ein Gesicht an, dann weist eine
Bei der Kernspintomografie oder Magnetresonanztomografie funktionelle MRT Blutfluss in den hinteren Teil des Gehirns auf,
(MRT) wird der Kopf der Testperson in ein starkes Magnetfeld in dem visuelle Informationen verarbeitet werden (zu Funktio-
gelegt, das die sich drehenden Atomkerne des Gehirns zum nen des Kortex s. auch . Abb. 3.30).
Magnetfeld hin ausrichtet. Dann wird die Ausrichtung der Kerne
fMRT (funktionelle MRT; »functional MRI«) – ein Verfahren zur Darstellung
kurz durch eine elektromagnetische Welle gestört. Kehren sie von Blutfluss und damit Hirnaktivität, indem man zeitlich aufeinander
daraufhin in ihren ursprünglichen Zustand zurück, senden sie folgende MRT-Scans miteinander vergleicht. Mit Hilfe von fMRT-Scans kann
Signale aus, aus denen man ein detailliertes Bild von weichem man die Hirnfunktionen erkennen.
Gewebe wie dem Gehirn erstellen kann. MRT-Scans lassen bei
Musikern mit dem absoluten Gehör ein größeres neuronales Diese Momentaufnahmen der sich verändernden Aktivität des
Areal in der linken Hirnhälfte erkennen als bei der Durch- Gehirns liefern uns – wenn auch manchmal etwas übertrieben
schnittsbevölkerung (Schlaug et al. 1995). Ebenso zeigten sie bei dargestellt (Vul et al. 2009a, b) – neue Erkenntnisse darüber, wie
manchen Patienten mit Schizophrenie, einer schweren psychi- das Gehirn seine Arbeit aufteilt. Eine Menge aktueller fMRT-
schen Erkrankung, vergrößerte Ventrikel – Teile des Gehirns, die Studien zeigt, welche Areale des Gehirns am aktivsten sind, wenn
3.5 · Gehirn
67 3

. Abb. 3.17a,b Magnetresonanztomografie (MRT) eines gesunden Menschen (a) und eines Schizophreniepatienten (b). Auffallend sind die vergrößerten, mit
Gehirnflüssigkeit gefüllten Bereiche neben der Pfeilspitze auf dem rechten Bild. (Courtesy of Daniel R. Weinberger, M.D., Lieber Institute for Brain Development)

Menschen Schmerzen oder Zurückweisung empfinden, sich ver-


ärgerte Stimmen anhören, an gruselige Dinge denken, glücklich – Beschreibung
oder sexuell erregt sind. Die Technologie ermöglicht bislang aber a. zeigt die Verteilung radioaktiver Glukose im Gehirn,
nur ein ungenaues Gedankenlesen. Nachdem sie die Gehirne von um Gehirnaktivität zu visualisieren
129 Personen per fMRT untersucht hatten, während diese acht b. vergleicht nacheinander aufgenommene Bilder
verschiedene mentale Aufgaben bearbeiteten (wie z. B. Lesen, vom Hirngewebe, um die Hirnfunktionen sichtbar
Wetten oder Reimen), konnten Neurowissenschaftler beim An- zu machen
sehen der Scans zu 80% korrekt benennen, welche der Aufgaben c. nutzt Magnetfelder und elektromagnetische Wellen,
von den Personen durchgeführt wurden (Poldrack et al. 2009). um die Anatomie des Gehirns darzustellen
Andere Studien haben sich mit der Gehirnaktivität, die mit reli-
giösen Erfahrungen assoziiert wird, beschäftigt – dies aber ohne
die Frage zu klären, ob das Gehirn Gott erschafft oder wahr-
nimmt (Fingelkurts u. Fingelkurts 2009; Inzlicht et al. 2009; 3.5.2 Ältere Hirnstrukturen
Kapogiannis et al. 2009).
Die heutigen Techniken, um in das denkende und fühlende
? 3.8 Aus welchen Strukturen besteht der Hirnstamm
Gehirn hineinzuschauen, sind für die Psychologie in etwa das,
und welche Funktionen haben Hirnstamm, Thalamus und
was das Mikroskop für die Biologie und das Fernrohr für die
Kleinhirn?
Astronomie war. Durch sie haben wir in den letzten 30 Jahren
mehr über das Gehirn erfahren als in den 30.000 Jahren davor. Die Fähigkeiten eines Tieres sind in dessen Hirnstrukturen be-
Heute Neurowissenschaften zu studieren, ist vielleicht vergleich- gründet. Bei einfachen Wirbeltieren, wie z. B. dem Hai, reguliert
bar damit, in der Zeit, als Magellan die Weltmeere erforschte, das wenig komplexe Gehirn vor allem die grundlegenden lebens-
Geograf gewesen zu sein. Wir leben heute tatsächlich im golde- erhaltenden Funktionen: Atmung, Schlaf und Nahrungsauf-
nen Zeitalter der Neurowissenschaften. nahme. Einfachere Säugetiere (wie z. B. Nager) haben ein kom-
plexeres Gehirn, das Gefühle und ein besseres Gedächtnis
Prüfen Sie Ihr Wissen ermöglicht. Bei weiter entwickelten Säugetieren, wie uns Men-
schen, verarbeitet das Gehirn mehr Informationen, und wir sind
5 Ordnen Sie den Forschungswerkzeugen die korrekte
deshalb imstande, vorausschauend zu handeln.
Beschreibung zu
Diese zunehmende Komplexität entstand dadurch, dass
– Forschungswerkzeug
sich bei den einzelnen biologischen Arten neue Gehirnsysteme
1. fMRT
über den alten gebildet haben, ähnlich wie auf der Erde neue
2. PET
Landschaften die älteren bedecken. Wenn man etwas tiefer gräbt,
3. MRT
6 entdeckt man die fossilen Überreste aus der Vergangenheit –
Komponenten des Hirnstamms, die noch immer fast genau die
68 Kapitel 3 · Neurowissenschaft und Verhalten

. Abb. 3.18 Hirnstamm und Thalamus. Der Hirnstamm mit der Medulla oblongata und der Brücke ist die Verlängerung des Rückenmarks. Der Thalamus
liegt am oberen Ende des Hirnstamms. Die Formatio reticularis reicht durch beide Strukturen hindurch

gleichen Funktionen haben wie schon bei unseren entfernten ren laufen und das Gehirn mit der anderen Seite des Körpers
Vorfahren. Um das Gehirn zu erkunden, fangen wir mit dem verbinden (. Abb. 3.19). Diese sonderbare Überkreuzver-
Hirnstamm, dem »Untergeschoss des Gehirns«, an und gehen bindung ist nur eine der Überraschungen, die das Gehirn zu
dann weiter nach oben zu den neueren Systemen. bieten hat.

Hirnstamm Prüfen Sie Ihr Wissen

Der Hirnstamm ist der älteste und innerste Teil des Gehirns. Er 5 Nerven von der linken Hemisphäre sind meistens
fängt dort an, wo das Rückenmark in den Schädel eintritt und verbunden mit der Seite des Körpers
etwas dicker wird. Dieser Abschnitt wird Medulla oblongata und vice versa.
genannt (. Abb. 3.18). Von hier aus werden Herzschlag und
Atmung kontrolliert. Wie man an einigen hirngeschädigten
Patienten im vegetativen Zustand sehen kann, brauchen wir kein
komplexes Gehirn oder einen bewussten Verstand, um unser Thalamus
Herz zum Schlagen und unsere Lungen zum Atmen zu bekom- Über dem Hirnstamm sitzt die Umschaltzentrale für sensori-
men. Der Hirnstamm übernimmt diese Aufgaben. sche Signale, ein Paar eiförmiger Strukturen, das Thalamus
genannt wird (. Abb. 3.18). Der Thalamus empfängt Informa-
Hirnstamm (»brain stem«) – ältester Teil und Kern des Gehirns, der dort
beginnt, wo das Rückenmark in den Schädel eintritt und etwas dicker wird. tionen von allen Sinnen mit Ausnahme des Geruchssinns und
Der Hirnstamm ist für die automatische Aufrechterhaltung der Lebens- leitet sie zu den höheren kortikalen Arealen weiter, die für Sehen,
funktionen zuständig. Hören, Schmecken und die Empfindung von Berührung und
Medulla oblongata (»medulla«) – unterer Teil des Hirnstamms, der Herz- Schmerz zuständig sind. Der Thalamus empfängt aber auch die
schlag und Atmung kontrolliert.
Antworten der höheren Gehirnregionen, die er dann wiederum
Direkt über der Medulla befindet sich die Brücke (Pons), die dazu an die Medulla oblongata und an das Kleinhirn weiterleitet
beiträgt, die Bewegungen miteinander zu koordinieren. Wird bei (s. unten). Stellen Sie sich den Thalamus als Knotenpunkt für
einer Katze der Hirnstamm vom Rest des darüber liegenden Ge- sensorische Signale vor, so wie London Knotenpunkt für das eng-
hirns abgetrennt, überlebt das Tier; es atmet, rennt, klettert und lische Bahnsystem ist: Alle Züge fahren hindurch und werden zu
putzt sogar sein Fell (Klemm 1990). Doch da dieser Teil von den den verschiedenen Zielen weitergeleitet.
höheren Gehirnbereichen abgeschnitten ist, wird das Tier nicht
Thalamus (»thalamus«) – Umschaltzentrale für sensorische Signale im
mehr absichtlich rennen oder klettern, um an Futter zu gelangen.
Gehirn, die am oberen Ende des Hirnstamms lokalisiert ist. Der Thalamus
Außerdem ist der Hirnstamm der Kreuzungspunkt, durch übermittelt Informationen zu sensorischen Arealen im Kortex und leitet
den hindurch viele Nerven zu und von den beiden Hemisphä- die Reaktionen zum Kleinhirn sowie zur Medulla oblongata weiter.
3.5 · Gehirn
69 3

. Abb. 3.20 Der für Bewegungen zuständige Teil des Gehirns. Hinten am
Gehirn liegt das Kleinhirn, das unsere willkürlichen Bewegungen koordiniert

wachte. Was lässt sich daraus schließen? Die Formatio reticularis


ist der Hirnbereich, der für Erregung zuständig ist.

Kleinhirn
Am hinteren Teil des Hirnstamms liegt das Kleinhirn (Zerebel-
lum), das etwa so groß ist wie eine Orange, zwei gefurchte Hälf-
ten hat und damit wirklich aussieht wie ein kleines Gehirn
(. Abb. 3.20). Wie Sie in 7 Kap. 9 sehen werden, ist das Kleinhirn
an einer Form von nonverbalem Lernen und Gedächtnis be-
. Abb. 3.19 Die Nervenverbindungen des Körpers
teiligt. Es trägt auch dazu bei, Zeit abzuschätzen, unsere Emo-
tionen zu regulieren sowie Töne und Muster zu unterscheiden
(Bower u. Parsons 2003). Zusätzlich koordiniert das Kleinhirn
Formatio reticularis die Willkürbewegung. Wenn beispielsweise einem Fußballspieler
Im Inneren des Hirnstamms, zwischen Ihren Ohren, liegt die ein perfekter Fallrückzieher gelingt, hat auch sein Kleinhirn
Formatio reticularis (»vernetztes Gebilde«), ein neuronales etwas Beifall verdient. Wenn Ihr Kleinhirn verletzt würde, hätten
Netz, das wie ein Finger geformt ist und vom Rückenmark durch Sie Schwierigkeiten beim Gehen und mit dem Gleichgewicht,
den Thalamus reicht. Wenn die sensorischen Informationen vom oder Ihre Hände würden zittern. Ihre Bewegungen wären ruck-
Rückenmark zum Thalamus weitergeleitet werden, wird ein Teil artig und übertrieben. Vorbei wären die Träume, ein Tänzer oder
davon durch die Formatio reticularis geschleust, wo die ein- Gitarrist zu werden. Unter dem Einfluss von Alkohol auf das
gehenden Informationen gefiltert und wichtige Informationen Kleinhirn leidet wiederum die Koordination, was schon viele
an andere Gehirnbereiche weitergeleitet werden. alkoholisierte Fahrer feststellen mussten, als sie von der Polizei
angehalten wurden und geradeaus auf einer weißen Linie laufen
Formatio reticularis (»reticular formation«) – neuronales Netz im Hirn-
stamm, das eine wichtige Rolle bei der Steuerung der Erregung spielt. sollten.
Kleinhirn (Zerebellum; »cerebellum«) – »kleines Gehirn« am hinteren Teil
1949 stellten Moruzzi u. Magoun fest, dass die elektrische Stimu- des Hirnstamms, das für die Verarbeitung der sensorischen Signale sowie
lation der Formatio reticularis einer schlafenden Katze fast sofort für die Koordination zwischen motorischen Reaktionen und dem Gleichge-
dazu führt, dass sie aufwacht und sehr aufmerksam ist. Als wichtssinn zuständig ist.
Magoun die Verbindungen zu und von der Formatio reticularis
abtrennte, ohne dabei die umliegenden sensorischen Verbindun- Es bleibt festzuhalten: All diese älteren Hirnfunktionen laufen
gen zu zerstören, waren die Auswirkungen ähnlich aufsehener- ohne jede bewusste Anstrengung ab. Damit wird eines der immer
regend: Die Katze fiel in ein Koma, aus dem sie nie wieder er- wiederkehrenden Themen dieses Buches illustriert: Unser Ge-
70 Kapitel 3 · Neurowissenschaft und Verhalten

hirn verarbeitet einen Großteil aller Informationen, ohne dass wir


uns dessen bewusst sind. Wir sind uns zwar bewusst, zu welchen
Ergebnissen die Arbeit unseres Gehirns führt (als Beispiel: wir
merken ja, dass wir sehen), aber nicht wie wir die visuellen Bilder
konstruieren. Genauso übt der Hirnstamm seine lebenserhalten-
3 den Funktionen aus, ganz gleich, ob wir wach sind oder schlafen,
sodass die neueren Gehirnregionen den Freiraum bekommen zu
träumen, nachzudenken, zu reden oder einer Erinnerung nach-
zuhängen.
Prüfen Sie Ihr Wissen

5 In welcher Hirnregion würde eine Schädigung sehr


wahrscheinlich dazu führen, dass 1. Ihre Fähigkeit, Seil
zu springen, gestört wird, 2. Ihre Fähigkeit zu hören und
zu schmecken gestört wird, 3. Sie in ein Koma fallen
könnten, 4. Ihr Herz stehen bleibt und Sie aufhören zu
atmen?

. Abb. 3.21 Limbisches System. Das neuronale System befindet sich


zwischen den älteren Teilen des Gehirns und den beiden zerebralen
Limbisches System Hemisphären. Als Teil des limbischen Systems steuert der Hypothalamus
die unter ihm liegende Hypophyse
? 3.9 Was sind die Strukturen und Funktionen des limbischen
Systems?

Wir haben bisher die ältesten Areale des Gehirns betrachtet, anderen Tieren (darunter Luchse, Wölfe und wilde Ratten) führ-
uns aber noch nicht seinen neuesten und am weitesten oben ten zum gleichen Ergebnis.
liegenden Regionen, den zerebralen Hemisphären (den beiden
Amygdala (auch Mandelkern; »amygdala«) – zwei bohnengroße
Hälften des Gehirns) beschäftigt. An der Grenze zwischen Neuronenverbände, die Teil des limbischen Systems und an der Entstehung
den ältesten und den neuesten Bereichen des Gehirns liegt das von Emotionen beteiligt sind.
limbische System (lat. »limbus« = Rand, Begrenzung). Dieses
System besteht aus der Amygdala, dem Hypothalamus und Was könnte aber geschehen, wenn wir die Amygdala bei norma-
dem Hippocampus (. Abb. 3.21). Der Hippocampus verarbeitet len, friedlichen Haustieren wie einer Katze elektrisch stimu-
bewusste Erinnerungen. Wenn Tiere oder Menschen ihren lieren? Stimulieren Sie im Experiment eine bestimmte Stelle,
Hippocampus durch einen Unfall oder einen chirurgischen wird sich die Katze zum Angriff bereit machen, fauchen und den
Eingriff verlieren, verlieren sie auch die Fähigkeit, neue Erinne- Rücken zum Buckel hochdrücken, während sich die Pupillen
rungen von Fakten und Erlebnissen zu bilden. 7 Kap. 9 er- weiten und das Fell sich sträubt. Bewegen Sie die Elektrode in der
klärt, wie unser Verstand unsere Erinnerungen verarbeitet. Amygdala nur ein wenig weiter und sperren Sie die Katze mit
An dieser Stelle wollen wir nun einen Blick auf die Verbindung einer kleinen Maus in einen Käfig, wird sich die Katze verschreckt
des limbischen Systems zu Gefühlen wie Angst und Wut wer- ducken.
fen, außerdem zu den grundlegenden Trieben wie Hunger und Diese Experimente bestätigen die Rolle der Amygdala bei
Sexualtrieb. Prozessen wie Angst und Wut, ebenso wie bei der Wahrnehmung
dieser Emotionen und der Speicherung von emotionalen Er-
Limbisches System (»limbic system«) – neuronales System (beinhaltet
den Hippocampus, die Amygdala und den Hypothalamus), das unter den innerungen (Anderson u. Phelps 2000; Poremba u. Gabriel
zerebralen Hemisphären liegt. Die Aktivität des Systems wird in Zusammen- 2001). Dennoch müssen wir vorsichtig sein. Das Gehirn ist nicht
hang gebracht mit Gefühlen und Trieben. fein säuberlich in Strukturen aufgeteilt, die sich unmittelbar auf
Verhaltenskategorien übertragen lassen. Wenn wir uns aggressiv
jAmygdala oder ängstlich fühlen oder verhalten, entwickelt sich neuronale
Die Forschung hat einen Einfluss der Amygdala (Mandelkern), Aktivität auf vielen Ebenen des Gehirns. Sogar im limbischen
zwei bohnengroßen Neuronenverbänden, auf Aggression und System gibt es Bereiche außerhalb der Amygdala, deren Stimula-
Angst festgestellt. 1939 entfernten der Psychologe Heinrich tion zu solchem Verhalten führen kann. Wenn Sie Ihre leere
Klüver und der Neurochirurg Paul Bucy bei einem Rhesusaffen Autobatterie neu aufladen, können Sie zwar den Motor wieder
operativ die Amygdala, woraufhin das vorher eher gereizte Tier starten, jedoch stellt die Batterie nur einen Teil des komplexen
die sanfteste aller Kreaturen wurde. Spätere Untersuchungen an Systems Motor dar.
3.5 · Gehirn
71 3

Prüfen Sie Ihr Wissen

5 Elektrische Stimulation der Amygdala einer Katze führt


zu angriffslustigen Reaktionen, was einen Einfluss der
Amygdala auf Aggression nahelegt. Welcher Teil des
autonomen Nervensystems wird durch die Stimulation
aktiviert?

jHypothalamus
Direkt unterhalb des Thalamus liegt der Hypothalamus (lat.
»hypo« = unter), ein wichtiges Glied in der Befehlskette, das die
Versorgung und Erhaltung des Körpers steuert (. Abb. 3.22).
Einige Neuronencluster im Hypothalamus beeinflussen das
Hungergefühl, andere regulieren den Durst, die Körpertempe-
ratur und das Sexualverhalten. Zusammen helfen sie, einen sta-
bilen inneren Zustand aufrechtzuerhalten.
. Abb. 3.22 Der Hypothalamus. Diese kleine, aber wichtige Struktur, auf
Hypothalamus (»hypothalamus«) – neuronale Struktur, die unterhalb diesem MRT-Scan rot bzw. orange dargestellt, trägt dazu bei, die Lebens-
(»hypo«) des Thalamus liegt; steuert die lebenserhaltenden Aktivitäten funktionen des Körpers im Gleichgewicht zu halten. (© ISM / Phototake, Inc.)
(wie Essen, Trinken und die Körpertemperatur), beeinflusst über die
Hypophyse das endokrine System und wird mit Emotionen in Zusammen-
hang gebracht.
In einer akribischen Experimentalreihe versuchte Olds
Der Hypothalamus überwacht den Zustand Ihres Körpers, in- (1958), noch weitere »Lustzentren« im Gehirn auszumachen, wie
dem er auf die chemische Zusammensetzung Ihres Blutes und er sie genannt hatte. (Was die Ratten tatsächlich erleben, wissen
jegliche Anweisungen von anderen Teilen des Gehirns achtet. nur sie; sie erzählen es uns nicht. Deshalb bezeichnen die heu-
Wenn Sie z. B. an Sex denken, empfängt Ihr Hypothalamus Sig- tigen Forscher diese Zentren lieber als »Belohnungszentren«
nale vom zerebralen Kortex und schüttet daraufhin Hormone oder »Verstärkerzentren«, denn sie wollen den Ratten ja keine
aus. Über diese Hormone steuert der Hypothalamus wiederum menschlichen Gefühle andichten.) Als sich die Ratten selbst
die wichtigste aller Drüsen, die Hypophyse (. Abb. 3.21), die stimulieren konnten, indem sie einen kleinen Hebel drückten,
ihrerseits die Hormonausschüttung bestimmter Drüsen beein- taten sie dies fieberhaft, bis zu 7000-mal pro Stunde, bis sie vor
flusst. Deren Hormone verstärken dann die Gedanken an Sex in Erschöpfung umfielen. Darüber hinaus waren sie sogar bereit,
Ihrem zerebralen Kortex. (Wieder einmal sehen wir das Zu- ein elektrisches Gitter zu überqueren, was nicht einmal eine hun-
sammenspiel von Nerven- und Hormonsystem: Das Gehirn gernde Ratte täte, um an Futter zu kommen (. Abb. 3.23).
beeinflusst das Hormonsystem; dies wiederum wirkt auf das Weitere Belohnungszentren des limbischen Systems, wie
Gehirn zurück.) der Nucleus accumbens vor dem Hypothalamus, wurden später
Die Geschichte einer bemerkenswerten Erkenntnis über bei vielen anderen Arten entdeckt, darunter bei Delphinen und
den Hypothalamus zeigt, auf welche Weise es zu Fortschritten
in der wissenschaftlichen Forschung kommt: nämlich wenn
neugierige, aufgeschlossene Wissenschaftler unerwartete Beob-
achtungen machen. Zwei junge Neuropsychologen der McGill
University, James Olds und Peter Milner, versuchten 1954, eine
Elektrode in der Formatio reticularis einer Ratte zu implantieren,
machten dabei jedoch einen großen Fehler: Sie implantierten
die Elektrode an einer falschen Stelle (Olds 1975). Interessanter-
weise lief die Ratte immer wieder zu dem Ort zurück, an dem
sie durch die falsch eingesetzte Elektrode der Stimulation aus-
gesetzt war, als ob sie immer mehr Stimulation haben wollte.
Als Olds und Milner bemerkten, dass sie die Elektrode ver-
sehentlich in einen Bereich, der zum Hypothalamus gehörte, . Abb. 3.23 Ratte mit implantierter Elektrode. Mit einer im Belohnungs-
zentrum des Gehirns implantierten Elektrode überquert eine Ratte bereit-
gesetzt hatten, erkannten sie, dass sie auf einen Teil des Gehirns
willig ein elektrisches Gitter und nimmt dabei die schmerzvollen Schocks in
gestoßen waren, der das angenehme Gefühl vermittelt, belohnt Kauf, um einen Hebel zu drücken, der einen elektrischen Impuls ins »Lust-
zu werden (Olds 1975). zentrum« sendet
72 Kapitel 3 · Neurowissenschaft und Verhalten

Affen. Tatsächlich fand man in Tierversuchen heraus, dass es ein


generelles Belohnungssystem gibt, das die Ausschüttung des
Neurotransmitters Dopamin bewirkt, und zusätzlich spezifische
Zentren, die mit der Lust an Essen, Trinken und Sexualität asso-
ziiert sind. Tiere sind anscheinend mit Systemen ausgestattet, die
3 lebenserhaltende Aktivitäten belohnen.

» Wenn Sie einen mobilen Roboter entwerfen würden, der


in die Zukunft reisen und überleben soll, …würden Sie ihn
so verdrahten, dass Verhalten, das das eigene Überleben
oder das Überleben der Art gewährleistet – wie etwa Sexua-
lität oder Essen –, auf natürliche Weise verstärkend wäre.
Candace Pert (1986)

Heutzutage experimentieren Forscher mit neuen Möglichkei-


ten, die limbische Stimulation zur Verhaltenssteuerung von Tie- . Abb. 3.24 Roboratte auf Erkundungstour. Wenn diese Ratte mit
ren zu nutzen und diese in Zukunft z. B. bei Such- und Rettungs- einer Fernsteuerung stimuliert wird, kann sie dazu gebracht werden, über
ein Feld zu rennen und sogar auf einen Baum zu klettern. (Mit freundlicher
aktionen zu nutzen. Indem sie Ratten durch Stimulation ent-
Genehmigung von Sanjiv Talwar, SUNY Downstate)
sprechender Hirnareale belohnten, wenn sie sich richtig nach
rechts oder links wandten, konnte ein Forschungsteam Ratten
darin trainieren, sich in einer natürlichen Umgebung zurecht- defizitsyndrom stammen könnten, also von genetisch prädispo-
zufinden, auch wenn sie vorher noch nie im Freien waren (Talwar nierten Störungen bei den Gehirnsystemen, die für Glück und
et al. 2002; . Abb. 3.24). Durch Drücken einer Taste auf einem Wohlbefinden zuständig sind. Menschen mit dieser Störung
Laptop konnten die Forscher die Ratten steuern, die einen greifen laut dieser Theorie nach allem, was ihnen ein wenig der
Empfänger, eine Stromquelle und einen Videorekorder auf ihnen sonst fehlenden Befriedigung verspricht oder wenigstens
dem Rücken trugen. Die Ratten bewegten sich auf Knopfdruck, die negativen Gefühle vermindert (Blum et al. 1996).
kletterten auf Bäume, rannten über Äste, drehten sich um und In . Abb. 3.25 sind die Areale des Gehirns, die wir bis jetzt
kamen zurück. behandelt haben dargestellt, ebenso der zerebrale Kortex, mit
Haben auch Menschen ein limbisches Lustzentrum? Das dem wir uns im nächsten Abschnitt beschäftigen.
ist tatsächlich der Fall. Ein Neurochirurg machte den Versuch,
Prüfen Sie Ihr Wissen
Elektroden in solchen Arealen zu implantieren, um gewalttätige
Patienten zu beruhigen. Die solcherart stimulierten Personen 5 Aus welchen drei Hauptstrukturen besteht das limbische
erklärten, leichte Glücksgefühle zu haben, wurden jedoch im System und welche Funktionen erfüllen diese?
Gegensatz zu Olds Ratten nicht zur Raserei getrieben (Deutsch
1972; Hooper u. Teresi 1986).
Experimente haben auch die Effekte eines über Dopamin
wirkenden Belohnungssystems bei Menschen aufgedeckt. Ein 3.5.3 Zerebraler Kortex
Forscherteam ließ Versuchspersonen die Anziehungskraft ver-
schiedener Urlaubsziele bewerten. Danach erhielten die Ver-
? 3.10 Was sind die Funktionen der verschiedenen Regionen
suchspersonen entweder eine Pille aus Zucker oder eine mit einer
des zerebralen Kortex?
Substanz, die den Dopaminspiegel im Körper erhöht. Nach der
Einnahme stellten sie sich für die Hälfte der Ziele vor, dort ihren Die älteren Netzwerke im Gehirn sorgen für die Aufrecht-
Urlaub zu verbringen. Am Tag darauf wurden ihnen die Urlaubs- erhaltung der grundlegenden Lebensfunktionen und machen
orte gezeigt, die von ihnen ursprünglich eine gleiche Bewertung Gedächtnis, Emotionen und elementare Triebe erst möglich. Die
erhalten hatten. Nun zeigte sich, dass nur die Versuchspersonen, neueren neuronalen Netze im Großhirn – die Hemisphären, die
die das Dopamin eingenommen hatten, die von ihnen gedank- 85% des Gewichts unseres Gehirns ausmachen – bilden spezia-
lich vorgestellten Orte besser bewerteten als die nicht imagi- lisierte Arbeitsgruppen, die es uns ermöglichen wahrzunehmen,
nierten Ziele (Sharot et al. 2009). Die Versuchsteilnehmer, so zu denken und zu sprechen. Wie andere Strukturen über dem
scheint es, assoziierten die von ihnen ausgemalten Erinnerungen Hirnstamm (z. B. der Thalamus, der Hippocampus und die
mit den durch das Dopamin erzeugten, angenehmen Gefühlen. Amygdala), kommen auch die zerebralen Hemisphären als Paar
Manche Forscher glauben, dass Suchterkrankungen wie vor. Wie die Rinde eines Baumes werden die zerebralen Hemis-
Alkoholismus, Drogenabhängigkeit oder Essstörungen mit un- phären vom zerebralen Kortex, auch Großhirnrinde genannt,
kontrollierten Essattacken (Bulimie) von einem Belohnungs- bedeckt, einer dünnen Oberflächenschicht bestehend aus mit-
3.5 · Gehirn
73 3

. Abb. 3.25 Gehirnstrukturen und ihre Funktionen

einander verbundenen Neuronen. Der zerebrale Kortex ist die Prüfen Sie Ihr Wissen
denkende Oberfläche des Gehirns, das oberste Steuerungs- und
5 Welches Areal des menschlichen Gehirns ist dem von
Informationsverarbeitungszentrum des Körpers.
weniger komplexen Tieren am ähnlichsten? Welcher Teil
Zerebraler Kortex (»cerebral cortex«) – komplizierte Struktur miteinander des menschlichen Gehirns differenziert uns am meisten
verbundener Nervenzellen, die die Hirnhälften abdeckt; das oberste Steue-
von weniger komplexen Tieren?
rungs- und Informationsverarbeitungszentrum des Körpers.

Die Menschen, die als Erste das Gehirn präparierten und benann-
ten, benutzten die Sprachen der Gelehrten, Latein und Griechisch.
Struktur des Kortex
Die Namen sind ein Versuch, das Benannte anschaulich zu
Wenn Sie einen menschlichen Schädel öffnen würden und einen
beschreiben: Zum Beispiel bedeutet Kortex »Rinde«, Zerebellum
Blick auf das darunter liegende Gehirn werfen könnten, würden
bedeutet »kleines Gehirn« und Thalamus »inneres Zimmer«.
Sie ein gefurchtes Organ sehen, das ungefähr wie ein riesiger
Je höher entwickelt das Gehirn von Tieren ist, desto größer ist der Walnusskern aussieht. Ohne diese Furchen würde der zerebrale
zerebrale Kortex, der starke Einfluss der Gene wird abgeschwächt Kortex dreimal so groß sein und dementsprechend auch mehr
und die Anpassungsfähigkeit des Organismus wächst. Frösche Platz benötigen – etwa so viel wie eine große Pizza. Die beiden
und andere Amphibien haben einen kleinen Kortex und handeln ballonförmigen Hirnhälften bestehen vor allem aus axonalen
starr nach genetischen Vorgaben. Der größere Kortex der Säuge- Verbindungen zwischen der Oberfläche, also dem Kortex,
tiere bietet mehr Möglichkeiten, Lern- und Denkfähigkeiten zu und anderen Bereichen des Gehirns. Der zerebrale Kortex – die
steigern und zu verbessern und ermöglicht es ihnen, anpassungs- dünne Oberflächenschicht – enthält 20–23 Mrd. Nervenzellen
fähiger zu werden. Was uns zum Menschen macht, ist vor allem und etwa 300 Billionen synaptische Verbindungen (De Courten-
auf die komplexen Funktionen des zerebralen Kortex zurückzu- Myers 2005). Um Mensch zu sein, braucht man ganz schön viele
führen. Nerven.
74 Kapitel 3 · Neurowissenschaft und Verhalten

. Abb. 3.26 Hauptunterteilung des Kortex

Diese Milliarden Nervenzellen werden von 9-mal so vielen Frontallappen (»frontal lobes«) – Teil des zerebralen Kortex, der direkt
hinter der Stirn liegt. Beteiligt an der Sprache und Willkürmotorik und an
spinnenförmigen Gliazellen (»Klebezellen«) gestützt. Neuronen
der Planung und Urteilsfindung.
sind wie Bienenköniginnen; auf sich allein gestellt, können sie
Parietallappen (»parietal lobes«) – Teil des zerebralen Kortex, der oben
sich nicht ernähren oder ummanteln. Gliazellen sind die Arbei- und weiter hinten am Kopf liegt. Erhält sensorische Signale für Berührun-
terbienen, die Nährstoffe und isolierendes Myelin zur Verfügung gen und Körperposition.
stellen, neuronale Verbindungen leiten sowie Ionen und Neuro- Okzipitallappen (»occipital lobes«) – Teil des zerebralen Kortex, der am Hin-
transmitter aufnehmen. Sie spielen möglicherweise auch eine terkopf liegt. Umfasst Areale, die Informationen aus dem Blickfeld erhalten.
wichtige Rolle beim Lernen und Denken. Sie kommunizieren Temporallappen (»temporal lobes«) – Teile des zerebralen Kortex, die
mit den Neuronen und sind dadurch möglicherweise an der etwas oberhalb der Ohren liegen; sie enthalten die auditorischen Areale,
die hauptsächlich Informationen vom jeweils gegenüberliegenden Ohr
Informationsweiterleitung und am Gedächtnis beteiligt (Fields
empfangen.
2009; Miller 2005).
Gliazellen (»glial cells«) – Zellen innerhalb des Nervensystems, die
die Neuronen stützen, ernähren und schützen und möglicherweise beim
Funktionen des Kortex
Lernen und Denken eine Rolle spielen. Schon vor mehr als einem Jahrhundert zeigten Autopsien von
Menschen, die partiell gelähmt oder stumm waren, dass Teile
Wenn wir die Entwicklung der Lebewesen auf eine höhere Stufe ihres Kortex geschädigt waren. Diese etwas unscharfen Befunde
verfolgen, so nimmt der Anteil der Gliazellen gegenüber den konnten nicht belegen, dass bestimmte Teile des Kortex kom-
Neuronen zu. Bei einer an Einsteins Gehirn durchgeführten plexe Funktionen wie Bewegung oder Sprache kontrollieren.
Untersuchung fand man nicht mehr oder größere Neuronen als Denn wenn Sprache und Bewegung auf dem gesamten Kortex
gewöhnlich, sondern es zeigte sich eine viel stärkere Konzen- repräsentiert wären, könnte eine Schädigung in fast jedem Teil
tration der Gliazellen, als man sie üblicherweise im Kopf eines der Oberfläche zum selben Effekt führen. Wenn man das Strom-
Menschen findet (Fields 2004). kabel vom Fernseher durchtrennt, wird der Bildschirm schwarz;
Jede Hirnhemisphäre ist in vier Lappen unterteilt, die durch aber wir würden uns lächerlich machen, wenn wir deswegen an-
herausragende Furchen (Fissuren) oder Falten getrennt werden nähmen, die Bilder befänden sich im Kabel.
(. Abb. 3.26). Wenn man an der Vorderseite des Gehirns beginnt
und dann über den Scheitel weitergeht, trifft man zunächst auf jMotorische Funktionen
die Frontallappen (Stirnlappen; hinter der Stirn), dann auf die Einfachere Gehirnfunktionen konnten jedoch von Wissenschaft-
Parietallappen (Scheitellappen; oben und weiter hinten), die lern lokalisiert werden. Die deutschen Ärzte Gustav Fritsch und
Okzipitallappen (Hinterhauptslappen; am Hinterkopf) und die Eduard Hitzig machten z. B. eine wichtige Entdeckung: Leichte
Temporallappen (Schläfenlappen; an der Seite Ihres Kopfes, ge- elektrische Stimulation an den Kortizes von Tieren veranlasste
nau über den Ohren). Jeder Lappen erfüllt zahlreiche Funktio- verschiedene Körperteile dazu, sich zu bewegen. Die Effekte
nen, und viele Funktionen machen es erforderlich, dass mehrere waren aber selektiv: Sie traten nur dann auf, wenn eine bestimmte
Hirnlappen zusammenwirken. bogenförmige Region am hinteren Teil des Frontallappens stimu-
3.5 · Gehirn
75 3

. Abb. 3.27 Zuordnung des Hirngewebes der linken Hemisphäre im motorischen und sensorischen Kortex zu den Körperteilen. Wie Sie auf diesem
klassischen, aber nicht sehr exakten Bild sehen können, ist die Größe des Kortexabschnitts, der jedem Körperteil zugeordnet ist, nicht proportional zur
Größe des Körperteils selbst. Es ist vielmehr so, dass für die Teile, die sehr sensitiv sind oder für die sehr präzise motorische Kontrolle benötigt wird, mehr
Hirngewebe zur Verfügung steht. Deshalb sind die Finger auf einer größeren Fläche repräsentiert als der Oberarm

liert wurde, die in etwa von Ohr zu Ohr oben am Gehirn entlang- kKartierung des motorischen Kortex
läuft. Darüber hinaus zeigte sich, dass die Stimulation von Teilen Zum Glück für Gehirnchirurgen und ihre Patienten verfügt das
dieser Region auf der linken oder rechten Hemisphäre zur Be- Gehirn nicht über Schmerzsensoren. Dies wissend konnten die
wegung bestimmter Körperteile auf der gegenüberliegenden Seite Neurochirurgen Otfrid Foerster und Wilder Penfield die moto-
des Körpers führte. Fritsch und Hitzig hatten damit die heute als rischen Kortizes bei Hunderten wacher Patienten vermessen. Sie
motorischer Kortex bekannte Hirnregion entdeckt. stimulierten verschiedene kortikale Areale und notierten die
Reaktionen des Körpers. Sie fanden heraus, dass die Teile des
Motorischer Kortex (»motor cortex«) – Areal im hinteren Teil des Frontal-
lappens, das die Willkürbewegung steuert. Körpers, die Bewegungen präzise steuern müssen, z. B. die Finger
und der Mund, den größten kortikalen Platz beanspruchen
Prüfen Sie Ihr Wissen
(. Abb. 3.27).
In einer seiner vielen Demonstrationen davon, welche Me-
5 Versuchen Sie, Ihre rechte Hand kreisförmig zu bewegen, chanismen dem motorischen Verhalten zugrunde liegen, stimu-
als ob Sie einen Tisch polieren wollten. Nun bewegen lierte der spanische Neurowissenschaftler José Delgado einen
Sie Ihren rechten Fuß synchron mit Ihrer Hand. Dann Punkt auf dem linken motorischen Kortex eines Patienten und
bewegen Sie Ihren Fuß andersherum im Kreis, aber nicht brachte ihn so dazu, die rechte Hand zur Faust zu ballen. Als der
Ihre Hand. Zum Schluss lassen Sie Ihren linken statt Patient gebeten wurde, bei der nächsten Stimulation die Finger
dem rechten Fuß in die der Hand entgegengesetzte gespreizt zu halten, dies aber nicht schaffte, merkte er an: »Herr
Richtung kreisen. Doktor, ich glaube, Ihre Elektrizität ist stärker als mein Wille«
1. Warum ist es so schwer, den rechten Fuß entgegen- (Delgado 1969, S. 114).
gesetzt zur rechten Hand im Kreis zu bewegen? Wissenschaftler bewerkstelligten es vor einiger Zeit auch,
2. Warum ist es einfacher, den linken Fuß entgegengesetzt die Armbewegung eines Affen eine Zehntelsekunde vor der tat-
zur rechten Hand im Kreis zu bewegen? sächlichen Bewegung vorherzusagen: Sie hatten wiederholt die
Aktivität im motorischen Kortex unmittelbar vor spezifischen
76 Kapitel 3 · Neurowissenschaft und Verhalten

. Abb. 3.28a–d Sieg des Geistes über die Materie. Von einem kleinen, 100 Elektroden umfassenden Hirnimplantat geleitet, lernten Affen, eine mechanische
Hand zu führen, die kleine Snacks greifen und in ihren Mund legen kann (Velliste et al. 2008). Obwohl sie noch nicht permanent effektiv sind, lassen solche
Implantate darauf hoffen, dass Menschen mit gelähmten Gliedmaßen eines Tages in der Lage sein werden, ihre eigenen Hirnsignale zu nutzen, um Computer
und mechanische Gliedmaßen zu kontrollieren. (© Motorlab, University of Pittsburgh)

Bewegungen gemessen (Gibbs 1996). Solche Ergebnisse führten puter den Joystick steuern. Wenn ein Affe nur an eine Bewegung
zu der Erforschung der Möglichkeit, Computer mit dem Gehirn dachte, bewegte der Gedanken lesende Computer den Cursor
bzw. gedanklich zu steuern. mit fast derselben Genauigkeit wie der Belohnung suchende
Affe. In einem weiteren Experiment (. Abb. 3.28) wurden zwei
kGehirn-Computer-Schnittstellen Affen trainiert, einen Roboterarm, der Essen greifen und aus-
Wenn wir ein Gehirn belauschen könnten, könnten wir es dann händigen konnte, zu kontrollieren (Velliste et al. 2008).
vielleicht einem gelähmten Menschen ermöglichen, die Glied- In der Forschung wurden nicht nur die Botschaften der
maßen eines Roboters zu bewegen? Könnte eine Verbindung Motoneuronen aufgezeichnet, die den Arm des Affen steuern,
zwischen Gehirn und Computer einen Cursor steuern, um eine sondern auch die aus einem Gehirnareal, das an Planung und
E-Mail zu schreiben oder im Internet zu surfen? Um das heraus- Absicht beteiligt ist (Leuthardt et al. 2009; Musallam et al. 2004).
zufinden, implantierten Forscher an der Brown University bei In einer Studie wartete ein Affe auf einen Hinweisreiz, der ihn
drei Affen 100 kleine Elektroden in die motorischen Kortizes aufforderte, nach einem Punkt zu greifen (um Saft als Belohnung
(Nicolelis u. Chapin 2002; Serruya et al. 2002). Die Affen benutz- zu bekommen), der an einer von bis zu acht möglichen Stellen
ten einen Joystick, um mit einem Cursor ein rotes Zielobjekt zu auf dem Bildschirm aufgeblitzt war. Ein Computerprogramm
verfolgen (um Belohnungen zu erhalten); gleichzeitig brachten zeichnete seine neuronale Aktivität in der Hirnregion, die für
die Wissenschaftler die Signale aus dem Gehirn mit den Pfoten- die Planung von Vorhaben zuständig ist, auf. Dadurch dass die
bewegungen in einen Zusammenhang. Dann ließen sie die Sig- Gehirnaktivität mit der anschließenden Zeigebewegung des
nale von einem Computerprogramm beobachten und den Com- Affen in Zusammenhang gebracht wurde, konnten die Gedan-
3.5 · Gehirn
77 3

. Abb. 3.29 Interaktion zwischen Gehirn und Computer. Einem Patienten mit Querschnittslähmung wurden Elektroden in einer Region des Parietallappens,
die bei der Planung von Greifbewegungen des Arms involviert ist, implantiert. Das resultierende Signal kann es dem Patienten ermöglichen, einen Roboterarm
zu bewegen, Muskeln zu stimulieren, die eine gelähmte Gliedmaße bewegen, einen Rollstuhl zu steuern, den Fernseher zu kontrollieren und das Internet zu
nutzen. (Adaptiert nach Andersen et al. 2010, with permission of Annual Reviews, Inc., permission conveyed through Copyright Clearance Center, Inc.)

ken lesenden Forscher nun einen Cursor so programmieren, dass zeitig auch biologisch ist – wenn z. B. jeder Gedanke auch ein
er sich in Reaktion auf die Gedanken des Affen bewegte. Der Affe neuronales Geschehnis ist – dann könnten Mikroelektroden
denkt, der Computer handelt. Gedanken möglicherweise so gut messen, dass einer Person die
Wenn diese Technik funktioniert, warum sollte man sie nicht Kontrolle der in . Abb. 3.29 dargestellten Tätigkeiten ermöglicht
dazu einsetzen, die Worte zu erfassen, die eine Person denken, würde.
aber nicht sagen kann (z. B. nach einem Schlaganfall)? Der
Neurowissenschaftler Richard Andersen (2004, 2005) von der jSensorische Funktionen
TU Kaliforniens (Cal Tech) mutmaßte, dass Forscher Elektroden Der motorische Kortex sendet Informationen zu den Körper-
in Sprachzentren implantieren und »einen Patienten auffordern teilen, aber wo im Kortex kommen die eingehenden Nachrichten
könnten, an verschiedene Wörter zu denken, um zu beobachten, an? Penfield (1969, 1975) machte einen kortikalen Bereich aus,
wie die Neuronen bei den unterschiedlichen Begriffen feuern. So der darauf spezialisiert ist, Informationen von den Sinnes-
würde man eine Datenbank aufbauen. Wenn die Patienten dann rezeptoren der Haut und über die Bewegung von Körperteilen
an ein bestimmtes Word denken, vergleicht man die Signale mit zu empfangen. Dieses Gebiet, das sich an der Vorderseite des
denen in der Datenbank und man kann das Wort, an das gedacht Parietallappens, parallel zu und direkt hinter dem motorischen
wurde, vorhersagen. Diese Informationen verknüpft man an- Kortex befindet, wird heute als sensorischer Kortex bezeichnet
schließend mit einem Sprachgenerator. Dies wäre identisch zu (. Abb. 3.27). Stimuliert man einen Punkt oben auf dem Teil
dem, was wir bereits im Bereich der Motorik tun.« dieses Kortex, berichtet die Versuchsperson vielleicht, dass sie an
Klinische Untersuchungen solcher kognitiven neuronalen der Schulter berührt worden sei, bei der Stimulierung eines
Prothetik werden mittlerweile mit Personen, die gelähmt oder Punkts an der Seite fühlt sie möglicherweise eine Berührung im
amputiert sind, durchgeführt (Andersen et al. 2010; Nurmikko Gesicht.
et al. 2010). Der erste Patient, ein gelähmter 25-jähriger Mann, Sensorischer Kortex (»sensory cortex«) – vorderer Teil des Parietallappens,
konnte mit seinen Gedanken einen Fernseher steuern, an einem in dem die Empfindungen für Körperberührungen und Bewegungen regis-
Computer Formen zeichnen und Videospiele spielen – alles triert und verarbeitet werden.

dank eines Aspirin-großen Chips mit 100 Mikroelektroden, Je sensibler ein Bereich des Körpers ist, desto größer ist der Ab-
der die Aktivität in seinem motorischen Kortex aufzeichnete schnitt des sensorischen Kortex, der diese Region repräsentiert
(Hochberg et al. 2006). Wenn alles, was psychisch ist, gleich- (. Abb. 3.27). So sind Ihre sehr sensiblen Lippen z. B. mit einem
78 Kapitel 3 · Neurowissenschaft und Verhalten

. Abb. 3.31 Visueller und auditorischer Kortex. Der visuelle Kortex


des Okzipitallappens hinten am Gehirn erhält Input von den Augen. Ein
auditorisches Gebiet, das auf dem Temporallappen über den Ohren liegt,
erhält Informationen von den Ohren
. Abb. 3.30 Das Gehirn in Aktion. Diese funktionelle MRT zeigt den
visuellen Kortex im Okzipitallappen, der aktiviert ist, da die Versuchsperson
Gesichter ansieht. Das Gebiet hebt sich farblich ab, da in diesem Bereich
der Blutfluss erhöht ist. Wenn die Person das Gesicht nicht mehr ansieht, tizes aktiviert sind, wenn sie akustische Halluzinationen haben
nimmt die Aktivität in dieser Region sofort ab. (Bildrechte: V.P. Clark, K. Keill, (Lennox et al. 1999). Sogar die Scheingeräusche, die Menschen
J. Ma. Maisog, S. Courtney, L.G. Ungerleider und J.V. Haxby, National
Institute of Mental Health)
mit schlechter werdendem Gehör wahrnehmen, hängen mit
einer Aktivität des Temporallappens auf der gegenüberliegenden
Seite des betroffenen Ohrs zusammen (Muhlnickel 1998).
größeren Gebiet verbunden als Ihre Zehen, was auch einer der
Prüfen Sie Ihr Wissen
Gründe ist, warum wir mit den Lippen küssen, statt uns mit den
Zehen zu berühren. Bei Ratten wiederum widmet sich ein großer 5 Der Kortex unseres Gehirns registriert
Teil des Gehirns den Berührungsempfindungen der Schnurr- und verarbeitet Informationen unserer Haut und von
haare und bei Eulen geht es vor allem um die Hörempfindung Bewegungen. Der Kortex unseres
mit Hilfe der Ohren. Gehirns kontrolliert unsere willkürlichen Bewegungen.
In der Forschung wurden weitere Kortexareale entdeckt, die
Signale von den anderen Sinnen als dem Berührungssinn be-
kommen. In diesem Augenblick erreichen visuelle Informatio- jAssoziationsfelder
nen den visuellen Kortex in Ihrem Okzipitallappen im hinteren Bis jetzt haben wir uns mit den kleinen kortikalen Arealen be-
Teil Ihres Gehirns (. Abb. 3.30, . Abb. 3.31). Durch einen Schlag fasst, die entweder sensorische Signale empfangen oder Signale
auf diese Stelle könnten Sie, wenn er stark genug ist, blind wer- an die Muskeln aussenden. Zusammen machen diese etwa ein
den. Würden Sie aber dort stimuliert, sähen Sie Lichtblitze oder Viertel der dünnen, gefurchten Oberfläche des menschlichen
Farben. (Also ist es doch wahr, wir haben Augen hinten im Kopf!) Gehirns aus. Was geschieht dann in diesem großen Bereich des
Von Ihrem Okzipitallappen aus werden die visuellen Informa- Gehirns? Die Nervenzellen in diesen Assoziationsfeldern (die
tionen nun in andere Gehirnareale weitergeleitet, die darauf hellrosa hervorgehobenen Gebiete in . Abb. 3.32) führen höhere
spezialisiert sind, z. B. Wörter, Emotionen und Gesichter zu er- mentale Funktionen aus – viele von den Aufgaben, die uns zu
kennen. Menschen machen.
Jedes Geräusch, das Sie in diesem Moment hören, wird im Assoziationsfelder (»association areas«) – Bereiche des zerebralen Kortex,
auditorischen Kortex des Temporallappens verarbeitet (direkt die nicht an den primären motorischen und sensorischen Funktionen be-
über Ihren Ohren, . Abb. 3.31). Der größte Teil dieser audito- teiligt sind, sondern an höheren geistigen Fähigkeiten wie Lernen, Erinnern,
Denken und Sprechen.
rischen Informationen durchläuft den Weg von einem Ohr zum
auditorischen Kortex über dem anderen Ohr. Wenn Sie dort sti- Werden die Assoziationsfelder elektrisch stimuliert, zeigt sich
muliert würden, würden Sie wahrscheinlich ein Geräusch hören. keine beobachtbare Reaktion. Deshalb können wir – im Gegen-
Etwas Ähnliches scheint bei schizophrenen Patienten abzulau- satz zu den sensorischen und motorischen Arealen – die Funk-
fen: MRT-Untersuchungen zeigen, dass ihre auditorischen Kor- tionen dieser Gebiete nicht so eindeutig angeben. Ihre Stille führ-
3.5 · Gehirn
79 3

. Abb. 3.32 Kortexareale von vier Säugetieren. Intelligentere Tiere haben im Kortex erweiterte »unverbundene« Bereiche oder Assoziationsfelder.
Diese ausgedehnten Areale des Gehirns haben die Aufgabe, die Informationen, die von den sensorischen Kortizes aufgeschlüsselt und verarbeitet wurden,
zu integrieren und in Handlung umzusetzen

te wohl zu »eine[m] der hartnäckigsten Unkräuter im Garten der respektlos und unaufrichtig. Dieser Mensch, so seine Freunde,
Psychologie«, wie es McBurney (1996, S. 44) formulierte: dass wir sei »nicht mehr Gage«. Obwohl seine Intelligenz und sein Ge-
normalerweise nur 10% unseres Gehirns benutzen (wenn dies dächtnis intakt waren, war doch seine Persönlichkeit verändert.
stimmen würde, würde dies nicht eine Chance von 90% bedeu- (Er verlor seinen Arbeitsplatz, doch mit der Zeit konnte er sich
ten, dass eine Kugel Ihr Gehirn in einem Areal trifft, das Sie nicht seiner Verletzung anpassen und fand Arbeit als Postkutschen-
nutzen?). Aber anhand von chirurgisch läsionierten Tieren und führer [Macmillan u. Lena 2010].)
von Menschen mit Hirnschäden wurde nachgewiesen, dass die Neuere Studien mit Menschen mit geschädigtem Frontallap-
Assoziationsfelder beileibe nicht schlafen. Es ist im Gegenteil so, pen haben ähnliche Effekte aufgezeigt. Sie werden nicht nur ent-
dass diese Areale die Informationen aus den sensorischen Korti- hemmter (ohne die »Impulsbremse« des Frontallappens), ihre
zes zusammenführen, interpretieren, mit vorhandenen Erinne- moralischen Entscheidungen scheinen zudem nicht von norma-
rungen verknüpfen und entsprechende Reaktionen veranlassen len Emotionen beeinflusst zu sein. Würden Sie dazu raten, je-
– ein sehr wichtiger Teil des Denkprozesses. manden vor ein außer Kontrolle geratenes Fahrzeug zu schubsen,
Assoziationsfelder finden sich in allen vier Hirnlappen. In um fünf andere Menschen zu retten? Die meisten würden dies
den Frontallappen ermöglichen diese Areale es uns, zu urteilen, nicht tun, aber Menschen mit Schädigungen in einem hinter den
zu planen und neues Wissen zu verarbeiten. Menschen mit Augen sitzenden Hirnareal schon (Koenigs et al. 2007). Durch
einem verletzten Frontallappen haben zwar vielleicht ein intaktes die Verletzung des Frontallappens scheint der moralische Kom-
Gedächtnis, erreichen hohe Werte bei Intelligenztests und sind pass bei diesen Menschen keinen Einfluss mehr auf das Verhal-
in der Lage, einen Kuchen zu backen – trotzdem ist es ihnen nicht ten zu haben.
möglich, so weit im Voraus zu planen, dass sie schon vor der Assoziationsfelder erfüllen auch andere geistige Funktionen.
Geburtstagsfeier damit beginnen, einen Kuchen zu backen (Huey So ermöglichen z. B. Teile des parietalen Kortex, die bei Einsteins
et al. 2006). ansonsten normalem Gehirn größer und ungewöhnlich geformt
Eine Schädigung des Frontallappens kann auch zu einer Ver- waren, rechnerisches und räumliches Denken (Witelson et al.
änderung der Persönlichkeit führen und die persönlichen Hem- 1999). Bei Patienten, die am Gehirn operiert wurden, führte die
mungen wegfallen lassen. Dies lässt sich am Fall des Bahnarbei- Stimulation eines Areals des Parietallappens zu dem Gefühl,
ters Phineas Gage veranschaulichen. Eines Nachmittags im Jahre einen Arm, die Lippen oder die Zunge zu bewegen (jedoch ohne
1848 war Gage, damals 25-jährig, gerade dabei, Sprengstoff mit die tatsächliche Bewegung durchzuführen). Bei verstärkter Sti-
einem Eisen in ein Bohrloch zu stopfen. Das Schießpulver wurde mulation glaubten die Patienten fälschlicherweise, dass sie sich
durch einen Funken entzündet und die Explosion katapultierte tatsächlich bewegt hätten. Wenn Chirurgen ein anderes Asso-
das längliche Werkzeug durch seinen Schädel. Es trat durch die ziationsfeld nahe des motorischen Kortex im Frontallappen sti-
linke Wange ein, am oberen Teil der Schädeldecke wieder heraus mulierten, bewegten sich die Patienten zwar, waren sich dessen
und führte zu einer massiven Verletzung des Frontallappens interessanterweise aber nicht bewusst (Desmurget et al. 2009).
(. Abb. 3.33). Zur allgemeinen Verwunderung war Gage sofort Diese erstaunlichen Befunde legen nahe, dass unsere Wahrneh-
in der Lage, sich aufrecht hinzusetzen und zu sprechen; nachdem mung von Bewegung nicht von der Bewegung an sich ausgelöst
die Wunde geheilt war, kehrte er wieder an seine Arbeitsstelle wird, sondern vielmehr von unserer Absicht und den Ergebnis-
zurück. Aber der freundliche, sanfte Gage war nun reizbar, sen, die wir erwarteten.
80 Kapitel 3 · Neurowissenschaft und Verhalten

. Abb. 3.33a–c Phineas Gage neu betrachtet. a Gages Schädel blieb der Forschung erhalten. b Durch das Ausmessen von Gages Schädel und mit Hilfe
moderner bildgebender Verfahren konnten Forscher den Weg rekonstruieren, den das Werkzeug vermutlich durch Gages Hirn genommen hatte ( Van Horn
et al. 2012). c Dieses 2010 entdeckte Foto zeigt Gage nach seinem Unfall. Das Bild wurde gedreht, um sein Gesicht korrekt darzustellen (frühere Fotos, so
wie dieses, sind tatsächlich spiegelverkehrt). (a: Aus Van Horn et al. 2012, this work with the title »Simulated_Connectivity_Damage_of_Phineas_Gage_
SkullDisplayWarren.jpg« [http://en.wikipedia.org/wiki/File:Simulated_Connectivity_Damage_of_Phineas_Gage_SkullDisplayWarren.jpg] is licenced under
CC-BY-2.5 [http://creativecommons.org/licenses/by/2.5/deed.en], no modifications were made; b: Aus Van Horn et al. 2012, this work with the title »Simulat-
ed_Connectivity_Damage_of_Phineas_Gage_4_vanHorn_PathwaysDamaged_left.jpg« [http://en.wikipedia.org/wiki/File:Simulated_Connectivity_
Damage_of_Phineas_Gage_4_vanHorn_PathwaysDamaged_left.jpg] is licenced under CC-BY-2.5 [http://creativecommons.org/licenses/by/2.5/deed.en],
no modifications were made; c: This image is in the public domain because its copyright has expired)

Ein weiteres Assoziationsfeld, ein Gebiet am unteren rechten Prüfen Sie Ihr Wissen
Temporallappen, befähigt uns, Gesichter zu erkennen. Wenn
ein Schlaganfall oder eine Kopfverletzung dieses Areal in 5 Warum sind Assoziationsfelder so wichtig?
Ihrem Gehirn schädigen würde, könnten Sie noch immer
die Einzelheiten eines Gesichts beschreiben sowie das Ge-
schlecht und das ungefähre Alter der Person nennen, die vor Plastizität des Gehirns
Ihnen steht. Sie wären jedoch plötzlich nicht mehr in der Lage,
? 3.11 In welchem Ausmaß kann sich ein geschädigtes
diese Person als Lady Gaga oder gar als Ihre Großmutter zu
Gehirn neu organisieren? Was ist Neurogenese?
identifizieren.
Dennoch sollten wir uns davor hüten, Scans von aktiven Das Gehirn wird nicht nur durch unsere Gene modelliert, son-
Hirnarealen im Sinne einer neuen Phrenologie so zu inter- dern auch durch unsere Erfahrungen. MRT-Scans zeigen, dass
pretieren, dass komplexen Funktionen bestimmte Hirnareale erfahrene Pianisten im Vergleich einen größeren auditorischen
zugeordnet werden (Uttal 2001). Komplexe geistige Fähig- Kortex (hier werden die Klänge des Klaviers enkodiert) als ande-
keiten sind nicht an einen bestimmten Ort im Gehirn ge- re Menschen aufweisen (Bavelier et al. 2000; Pantev et al. 1998).
bunden. Es gibt keinen Punkt im kleinen Assoziationskortex In 7 Kap. 5 werden wir uns stärker darauf konzentrieren, wie die
einer Ratte, dessen Zerstörung dazu führen würde, dass der Erfahrung das Gehirn formt. Doch befassen wir uns zunächst
Gang durch ein Labyrinth nicht mehr erlernt oder erinnert mit einem anderen Aspekt der Plastizität des Gehirns: seiner
werden könnte. Das Gedächtnis, die Sprache und die Auf- Fähigkeit, sich nach einer Schädigung selbst zu verändern.
merksamkeit sind das Ergebnis des engen Zusammenwirkens
Plastizität (»plasticity«) – Fähigkeit des Gehirns, sich anzupassen, vor allem
vieler verschiedener Gehirnareale (Knight 2007; differenzierte während der Kindheit. Geschieht durch Reorganisation nach einer Verlet-
Informationen zu neuronalen Sprachnetzwerken finden Sie in zung oder durch Bilden neuer Verbindungen basierend auf Erfahrungen.
7 Kap. 10). Das gleiche gilt für religiöse Erfahrungen. Dass
über 40 bestimmte Gehirnregionen in verschiedenen religiösen Einige der bereits beschriebenen Auswirkungen von Hirnschä-
Phasen, z. B. Beten und Meditation, aktiv sind, deutet darauf digungen lassen sich auf zwei harte Fakten zurückführen:
hin, dass es nicht den einen »Religionspunkt« (Fingelkurts u. 1. Die meisten beschädigten Neuronen werden sich nicht
Fingelkurts 2009) gibt. Und was lernen wir daraus? Unsere wieder neu bilden, wie Ihre Haut, wenn Sie sich geschnitten
geistigen Erfahrungen entstehen durch koordinierte Gehirn- haben (wäre z. B. Ihr Rückenmark durchtrennt worden,
aktivität. würden Sie für immer gelähmt bleiben).
3.5 · Gehirn
81 3

. Abb. 3.34a,b Gehirnplastizität. a Diese Dreieinhalbjährige wurde operiert, um ihre lebensbedrohlichen epileptischen Anfälle zu beenden. Obwohl
eine Hirnhälfte komplett entfernt wurde (b MRT einer Hemisphärektomie), glich die übrig gebliebene Hirnhälfte dies aus, indem sie andere zusätzliche
Areale veranlasste zu arbeiten. Ein medizinisches Team der Johns Hopkins University nahm sich noch einmal die Hemisphärektomien vor, die es an Kindern
vorgenommen hatte, und berichtete, dass man – auch wenn die Nutzung der Hand, die von der nun entfernten Hirnhälfte gesteuert wurde, beeinträchtigt
war – »von Ehrfurcht ergriffen« gewesen sei, wie gut die Kinder ihr Gedächtnis, ihre Persönlichkeit und ihren Humor behalten hatten ( Vining et al. 1997).
Je jünger das Kind ist, desto größer sind die Chancen, dass die verbleibende Hirnhälfte die Funktionen der chirurgisch entfernten übernehmen kann
(Choi 2008). (a: © Joe McNally / Getty Images; b: © Science Source / Ag. Focus)

2. Einigen Hirnfunktionen scheinen von vornherein Hand bewegungsunfähig gemacht waren. Mit der Zeit erlangte
bestimmten Arealen zugewiesen zu werden. Ein Neugebo- der »schlechte« Arm seine Fähigkeiten wieder. Die Fähigkeiten,
renes, das eine Hirnschädigung in Arealen erlitt, die in die vorher in nun geschädigten Hirnarealen gespeichert waren,
beiden Temporallappen für die Gesichtserkennung wanderten durch die Übung in andere Hirnregionen über. Schritt
zuständig sind, erlangte nie wieder die normale Fähigkeit, für Schritt erlernte der Chirurg wieder das Lesen und sogar das
Gesichter zu erkennen (Farah et al. 2000). Tennisspielen (Doidge 2007).
Das Wissen um die Plastizität des Gehirns bietet neue Perspek-
Doch es gibt auch gute Nachrichten: Einige Neuronen können tiven für blinde oder taube Menschen. Blind- oder Taubheit be-
sich nach einer Verletzung reorganisieren. Unter der Oberfläche deutet, dass die ungenutzten Hirnareale für andere Verwendungen
unseres Bewusstseins verändert sich das Gehirn ständig und bil- zur Verfügung stehen (Amedi et al. 2005). Bei blinden Menschen,
det neue Verbindungen, während es sich an kleine Missgeschicke die mit ihrem Finger Blindenschrift (Braille) lesen, vergrößert sich
und neue Erfahrungen anpasst. der Abschnitt des sensorischen Kortex, der diesen Finger reprä-
Auch nach einer schwerwiegenden Schädigung zeigt sich die sentiert, in dem Maße, in dem der Tastsinn dann auch den visuel-
Plastizität unseres Gehirns und das besonders deutlich bei klei- len Kortex besetzt, der sonst dem Sehen gewidmet ist (Baringa
nen Kindern (Kolb 1989; . Abb. 3.34). Die Constraint-Induced 1992a; Sadato et al. 1996). Wenn bei einer von Geburt an blinden
Therapie (im Deutschen u. a. als »einschränkungsinduzierte Person der visuelle Kortex durch magnetische Stimulation zeit-
Therapie« bezeichnet) zielt darauf ab, neue neuronale Verbin- weilig außer Kraft gesetzt wird, wird sie mehr Fehler bei verbalen
dungen im Gehirn zu bilden und das Gehirn sozusagen neu Aufgaben machen (Amedi et al. 2004). Plastizität erklärt auch,
zu verdrahten. Durch die Therapie sollen die Fertigkeiten eines warum man bei einigen Untersuchungen herausfand, dass gehör-
Kindes mit Hirnschädigung oder sogar eines erwachsenen lose Menschen eine bessere Fähigkeit zum peripheren Sehen auf-
Schlaganfallpatienten verbessert werden (Taub 2004). Durch weisen (Bosworth u. Dobkins 1999). Bei gehörlosen Menschen,
das Einschränken einer voll funktionsfähigen Extremität wird die sich normalerweise in Gebärdensprache unterhalten, wartet
der Patient dazu gezwungen, die »schlechte« Hand oder das der auditorische Kortex im Temporallappen sozusagen vergeblich
»schlechte« Bein zu nutzen, wodurch das Gehirn nach und nach auf Signale und sucht sich schließlich Stimulation aus anderen
umprogrammiert wird. Ein Schlaganfallopfer, ein Chirurg in Quellen, z. B. vom visuellen System, um sie zu verarbeiten.
seinen Fünfzigern, bekam die Aufgabe, Tische zu putzen, wäh- Ähnliche Neuzuordnungen können auftreten, wenn durch
rend sein noch funktionierender Arm und die funktionierende Krankheit oder Schädigung andere Hirnareale nicht mehr für ihre
82 Kapitel 3 · Neurowissenschaft und Verhalten

normalerweise vorgesehenen, spezifischen Funktionen genutzt nisse haben gezeigt, dass Unfälle, Schlaganfälle und Tumore in
werden. Wenn ein langsam wachsender Tumor in der linken der linken Hemisphäre das Lesen, Schreiben, Sprechen, mathe-
Hirnhälfte die Sprache stört (die zum größten Teil von der linken matisch-logische Denken sowie das Verstehen beeinträchtigen
Hirnhälfte gesteuert wird), kann die rechte Hirnhälfte dies können. Ähnliche Läsionen in der rechten Hemisphäre haben
kompensieren (Thiel et al. 2006). Wenn man einen Finger verliert, nur selten solche dramatischen Auswirkungen.
3 wird der sensorische Kortex, an den dessen Signale weitergeleitet Bedeutet dies, dass die rechte Gehirnhälfte nur ein stiller Be-
wurden, anfangen, Signale von den benachbarten Fingern zu er- gleiter – eine »unterlegene« oder »weniger wichtige« Hemisphäre
halten, die dann sensibler werden (Fox 1984). Was glauben Sie – ist? Viele dachten so, bis Forscher 1960 herausfanden, dass die
also, fühlte ein Patient, dessen Unterschenkel amputiert wurde, »weniger wichtige« rechte Hemisphäre doch nicht so einge-
beim Sex? (Bedenken Sie auch, dass, wie in . Abb. 3.27 zu sehen schränkt ist. Die Geschichte dieser Entdeckung ist ein weiteres
ist, die Zehen neben den Genitalien repräsentiert werden.) »Ich faszinierendes Kapitel in der Geschichte der Psychologie.
fühle meinen Orgasmus jetzt im Fuß. Und dort ist er weitaus
stärker als früher, weil er nicht mehr nur auf meine Genitalien Hemisphärentrennung
beschränkt ist« (Ramachandran u. Blakeslee 1998, S. 36). Zwei Neurochirurgen aus Los Angeles, Philip Vogel und Joseph
Obwohl das Gehirn oft den Versuch unternimmt, sich selbst Bogen, stellten 1961 die Hypothese auf, dass viele epileptische
wieder instand zu setzen, indem es vorhandenes Gewebe reorga- Anfälle auf eine Verstärkung abnormaler Gehirnaktivität zu-
nisiert, versucht es manchmal auch, sich selbst zu reparieren, rückgehen, die zwischen den beiden Hemisphären hin- und her-
indem es neue Gehirnzellen produziert. Dieser Prozess der Neu- springt. Wenn dies der Fall wäre, fragten sie sich, ob sie dieses
rogenese wurde bei erwachsenen Mäusen, Vögeln, Affen und biologische Tennisspiel beenden könnten, indem sie das Corpus
Menschen nachgewiesen (Jessberger et al. 2008). Diese neuen callosum (. Abb. 3.35) durchtrennten. Dieses breite Band aus
Neuronen entstehen tief im Gehirn und können dann an eine Axonfasern verbindet die beiden Hemisphären miteinander
andere Stelle wandern und Verbindungen mit benachbarten und übermittelt Nachrichten zwischen ihnen. Vogel und Bogen
Neuronen eingehen (Aimone et al. 2010; Gould 2007). wussten, dass die Psychologen Roger Sperry, Ronald Myers und
Neurogenese (»neurogenesis«) – Bildung neuer Neuronen.
Michael Gazzaniga Katzen- und Affengehirne derartig durch-
trennt hatten, ohne gravierende Effekte hervorzurufen.
Beim menschlichen Embryo wurden übergeordnete Stamm-
Corpus callosum (auch Balken; »corpus callosum«) – breites Band aus
zellen gefunden, die sich in jede Form von Gehirnzellen ent- Nervenfasern, das die beiden Gehirnhälften miteinander verbindet und
wickeln können. Könnten diese neuronalen Stammzellen in über das Informationen weitergeleitet werden.
großen Mengen im Labor nachgezüchtet und in verletzte Ge-
hirne injiziert werden, damit sie dort die zerstörten Gehirnzellen Also operierten die Chirurgen. Und was war das Ergebnis? Die
ersetzen? Könnten wir so vielleicht eines Tages geschädigte Ge- Anfälle traten fast gar nicht mehr auf, und die sog. Split-Brain-
hirne wieder aufbauen, so wie wir einen zerstörten Rasen durch Patienten waren überraschend normal; ihre Persönlichkeit und
neuen Samen auffrischen? Könnten neue Medikamente zur Pro- ihr Intellekt kaum betroffen. Ein Patient konnte sogar nach dem
duktion neuer Nervenzellen anregen? Bleiben Sie dran. Die Aufwachen aus der Narkose das Späßchen machen, dass er »ge-
Firmen im Bereich der Biotechnologie arbeiten jedenfalls mit teilte Kopfschmerzen« habe (Gazzaniga 1967). Dadurch, dass sie
vollem Einsatz an diesen Möglichkeiten. In der Zwischenzeit ihre Erfahrungen mitgeteilt haben, konnten diese Patienten un-
können wir jedoch alle von den natürlichen Förderern der Neu- ser Verständnis der komplementären Funktionen der beiden
rogenese profitieren, wie z. B. Sport, Schlaf und einer anregen- Hemisphären in einem noch intakten Gehirn erheblich er-
den, aber nicht stressigen Umgebung (Iso et al. 2007; Pereira weitern.
et al. 2007; Stranahan et al. 2006).
Split-Brain (»split-brain«) – Zustand nach einer Operation, bei der die
beiden Gehirnhälften voneinander getrennt wurden, nachdem die sie
verbindenden Fasern, vor allem die des Corpus callosum, durchgeschnitten
3.5.4 Zur Zweiteilung des Gehirns wurden.

Um diese Befunde angemessen verstehen zu können, müssen


? 3.12 Wie trägt die Forschung zur Trennung der Hemisphären
wir uns zunächst kurz mit der seltsamen Verkabelung unseres
zu einem besseren Verständnis der Funktionen unserer rech-
visuellen Systems beschäftigen. Wie . Abb. 3.36 zeigt, werden
ten und linken Hirnhälfte bei?
die Informationen aus der linken Hälfte Ihres Blickfeldes in der
Wir haben bereits feststellen können, dass unsere beiden ähnlich rechten Gehirnhälfte repräsentiert und die aus der rechten Hälfte
aussehenden Gehirnhälften unterschiedliche Funktionen haben. des Blickfelds in der linken Gehirnhälfte, wo normalerweise auch
Diese Lateralisierung wird bei geschädigten Gehirnen deutlich. die Sprache repräsentiert ist. (Trotzdem ist es so, dass jedes Auge
Seit mehr als einem Jahrhundert gesammelte Forschungsergeb- Informationen aus dem rechten und linken Blickfeld erhält.) Die
3.5 · Gehirn
83 3

. Abb. 3.35a,b Corpus callosum. Dieses breite Band neuronaler Fasern verbindet die beiden Gehirnhälften. a Um die links abgebildete Gehirnhälfte
zu fotografieren, wurden die Hemisphären durch das Durchschneiden des Corpus callosums und tieferer Gehirnregionen chirurgisch getrennt. b Für das
rechte Bild wurde Gehirngewebe entfernt, um das Corpus callosum und die aus ihm heraustretenden Fasern zu zeigen. (a: Aus Tillmann 2009; b: Courtesy
of Terence Williams, University of Iowa)

Daten, die in einer Hemisphäre ankommen, werden dann schnell


über das Corpus callosum zur anderen Hemisphäre übermittelt.
Diese Informationsübertragung geschieht allerdings nicht
mehr, wenn das Corpus callosum bei einem Menschen durch-
trennt ist.
Dies wissend konnten Sperry und Gazzaniga gezielt Informa-
tionen in die linke oder in die rechte Hemisphäre des Patienten
einspeisen. Dazu musste der Patient auf einen Punkt schauen,
dann wurde links oder rechts davon für kurze Zeit ein Stimulus
eingeblendet. Man könnte das auch mit Ihnen machen, aber in
Ihrem intakten Gehirn würde die Hemisphäre, die die Informa-
tion empfängt, die Neuigkeit sofort an die andere Seite weiter-
erzählen. Doch die Split-Brain-Operation hatte die Kommunika-
tionsmöglichkeit zwischen den Hemisphären gekappt. Dadurch
wurde es den Wissenschaftlern möglich, jede Hemisphäre ein-
zeln zu befragen.
In einem frühen Experiment bat Gazzaniga (1967) die Split-
Brain-Patienten, einen Punkt auf einem Bildschirm zu betrach-
ten, und blendete HE•ART ein (. Abb. 3.37). HE erschien im
linken Blickfeld (das mit der rechten Hemisphäre verbunden ist)
und ART im rechten (verbunden mit der linken Gehirnhälfte).
Als die Patienten dann gefragt wurden, was sie gesehen hatten,
sagten sie, dass sie das Wort ART gesehen hatten. Wenn sie je-
doch gebeten wurden, auf das Wort zu zeigen, waren sie selbst
erstaunt darüber, dass ihre linke Hand (von der rechten Hemi-
sphäre gesteuert) auf das Wort HE zeigte. Gibt man jeder Hemi-
sphäre einzeln die Möglichkeit sich auszudrücken, teilt sie nur
das mit, was sie wahrgenommen hat. Die rechte Hirnhälfte, die
die linke Hand steuert, wusste genau, was sie gesehen hatte, auch
wenn sie es nicht verbal ausdrücken konnte. . Abb. 3.36 Informationsbahnen vom Auge zum Gehirn
84 Kapitel 3 · Neurowissenschaft und Verhalten

. Abb. 3.37a–c Untersuchungen am geteilten Gehirn. Wenn man in einem Experiment das Wort HEART ins Blickfeld einer Split-Brain-Patientin ein-
blendet, berichtet diese, nur den Teil des Wortes zu sehen, der die linke Hemisphäre erreicht hat. Zeigt sie jedoch mit der linken Hand auf das Wort, das
sie gesehen hatte, zeigte sie auf das, welches die rechte Hemisphäre erreicht hatte. (Aus Gazzaniga 1983. This material originally appeared in English.
Copyright © 1983 by the American Psychological Association. Translated and reproduced with permission of the publisher and the author. The American
Psychological Association is not responsible for the accuracy of this translation. The use of APA information does not imply endorsement by APA)

» … lass deine linke Hand nicht wissen, was deine rechte tut. der ins Regal stellte, die von der rechten Hand gerade in den
Matthäus 6, Vers 3 Wagen gelegt worden waren. Es erschien, als ob jede Hemisphäre
unabhängig für sich dachte: »Ich bin mir halb sicher, dass ich
Als man der rechten Gehirnhälfte der Patienten das Bild eines heute mein blaues (oder eben zur anderen Hälfte: mein grünes)
Löffels »zeigte«, konnten die Patienten nicht sagen, was sie ge- Hemd tragen sollte.« Es ist laut Sperry (1964) tatsächlich so, dass
sehen hatten. Wenn sie jedoch gebeten wurden, den gesehenen die Split-Brain-Chirurgie Menschen mit »zwei einzelnen Ge-
Gegenstand zu identifizieren, indem sie mit der linken Hand hirnen« erschafft. Mit voneinander abgetrennten Hirnhälften
einen Haufen verschiedener, versteckter Gegenstände ertasteten, können beide Hemisphären eine Anweisung verstehen und ihr
wählten sie zielsicher den Löffel aus. Wenn der Versuchsleiter die folgen, sodass sie – gleichzeitig – unterschiedliche Figuren mit
Wahl als korrekt bestätigte, hätte die Antwort lauten können: der linken und mit der rechten Hand nachzeichnen sollen (Franz
»Was? Richtig? Wie ist es möglich, dass ich den richtigen Gegen- et al. 2000; . Abb. 3.38). (Als ich diese Berichte las, stellte ich mir
stand aufnehme, wenn ich nicht einmal weiß, was ich gesehen vor, wie ein Split-Brain-Patient mit sich allein das Spiel »Schere
habe?« Hier spricht natürlich die linke Hemisphäre, die sich da- – Stein – Papier« spielt, und zwar linke gegen rechte Hand.)
rüber wundert, was die nonverbale rechte Hemisphäre weiß. Wenn die »beiden Gehirne« sich nicht mehr miteinander
Einige Menschen, die sich einer Split-Brain-Operation unter- verständigen können, versucht die linke Gehirnhälfte verzweifelt,
zogen hatten, waren für einige Zeit von der ungewöhnlichen Un- die Reaktionen zu erklären, die sie nicht verstehen kann. Wenn
abhängigkeit ihrer linken Hand beunruhigt. Es konnte ihnen der Patient also einer Anweisung folgt, die der rechten Hemis-
passieren, dass die linke Hand ein Hemd aufknöpfte, das die phäre gegeben wurde (»Geh!«), passiert etwas Seltsames. Sich
rechte Hand gerade zuknöpfte, oder im Supermarkt Sachen wie- der Anweisung nicht bewusst, weiß die linke Hemisphäre nicht,
3.5 · Gehirn
85 3

. Abb. 3.39 Wie sich die Populärpsychologie die hemisphärische Spezia-


lisierung vorstellt. Leider ist die Realität komplexer. (© Claudia Styrsky)

Aufgabe ausführt, die etwas mit Wahrnehmung zu tun hat,


zeigen die Gehirnwellen, der Blutfluss und der Glukoseverbrauch
eine verstärkte Aktivität in der rechten Gehirnhälfte; wenn sie
aber spricht oder rechnet, ist vor allem die linke Hemisphäre
. Abb. 3.38 Versuchen Sie das mal! Joe, ein Split-Brain-Patient, kann
gleichzeitig zwei verschiedene Formen malen. (© BBC / Andrew Cohen) aktiviert (. Abb. 3.39).
Eine eindrucksvolle Demonstration der spezialisierten Funk-
tionen der Hemisphären findet vor bestimmten Arten von Gehirn-
warum der Patient anfängt zu laufen. Fragt man den Patienten operationen statt. Um festzustellen, wo im Gehirn eines Patienten
aber nach dem Grund dafür, dass er losgelaufen ist, sagt dieser die Sprache repräsentiert ist, kann ein Arzt Sedativa in die Nacken-
nicht: »Ich weiß es nicht.« Stattdessen improvisiert die linke, arterie des Patienten injizieren, die die linke Hemisphäre, die nor-
interpretative Hemisphäre – »Ich möchte ins Haus gehen, um mir malerweise die Sprache und das Sprechen kontrolliert, mit Blut
eine Cola zu holen.« Daraus schloss Gazzaniga (1988), der diese versorgt. Bevor das Medikament gegeben wird, legt sich der Patient
Patienten als die »interessantesten Menschen der Welt« ansieht, hin und streckt die Arme in die Luft, dabei unterhält er sich mit
dass die bewusste linke Hemisphäre als »Interpret« oder Presse- dem Arzt. Können Sie vorhersagen, was wahrscheinlich passieren
agent sofort Theorien aufstellt, die unser Verhalten erklären wird, wenn das Medikament die linke Gehirnhälfte in den Schlaf
sollen. versetzt? Schon nach wenigen Sekunden fällt der rechte Arm des
Patienten schlaff herab. Falls die Sprache in seiner linken Hemis-
Prüfen Sie Ihr Wissen
phäre repräsentiert ist, verstummt er, bis die Wirkung des Medika-
5 1. Wenn wir im Sichtfeld der rechten Hemisphäre ments abnimmt. Wird das Medikament aber in die Arterie inji-
eines Split-Brain-Patienten ein rotes Licht aufleuchten ziert, die die rechte Hemisphäre versorgt, fällt der linke Arm schlaff
lassen und im Sichtfeld der linken Hemisphäre ein herunter, aber der Patient kann immer noch sprechen.
grünes Licht, würde jede Hemisphäre nur die jeweilig Für das Gehirn ist Sprache Sprache, ganz gleich, ob gespro-
gezeigte Farbe wahrnehmen? 2. Würde sich die Person chen oder in Gebärden. Ebenso wie Hörende gewöhnlich ihre
bewusst sein, dass sich die Farben unterscheiden? linke Hemisphäre für das Sprachverstehen nutzen, nutzen Ge-
3. Wenn die Person verbal ausdrückt, was sie gesehen hat, hörlose ihre linke Gehirnhälfte für das Verstehen von Zeichen
was würde sie sagen? (Corina et al. 1992; Hickok et al. 2001). Ein Schlaganfall in der
linken Hemisphäre würde die Zeichensprache eines gehörlosen
Menschen genauso beeinträchtigen wie die Sprechfähigkeit eines
hörenden Menschen. Dasselbe Hirnareal ist an beidem beteiligt
3.5.5 Unterschiede zwischen der linken und der (Corina 1998; mehr Informationen darüber, wie das Gehirn die
rechten Hemisphäre im intakten Gehirn Sprache ermöglicht, in 7 Kap. 10).
Obwohl die linke Hemisphäre die Sprache schnell und wört-
Aber was ist mit den mehr als 99,99% der Menschen, die kein lich versteht, ist es die rechte Hemisphäre, die:
geteiltes Gehirn haben? Erfüllen auch unsere Gehirnhälften 4 unübertrefflich darin ist, ausgeklügelte Schlussfolgerungen zu
jeweils bestimmte Funktionen? Viele verschiedene Arten von ziehen (Beeman u. Chiarello 1998; Bowden u. Beeman 1998;
Studien deuten darauf hin. Wenn eine Versuchsperson z. B. eine Mason u. Just 2004). Wenn man der linken Hemisphäre das
86 Kapitel 3 · Neurowissenschaft und Verhalten

Wort Fuß nur für den Bruchteil einer Sekunde als Prime Wenn man die beiden Hemisphären betrachtet, die für das
(Reiz, der Erwartungen weckt) darbietet, gelingt es ihr bloße Auge genau gleich aussehen, wer würde vermuten, dass
besonders schnell, das Wort Ferse zu erkennen, das mit Fuß sie beide in ihrer eigenen Art zur Harmonie des Ganzen bei-
eng assoziiert ist. Aber wenn man kurzzeitig die Wörter tragen? Wenn man sich jedoch die Fülle der heute vorliegenden
Fuß, Schrei und Glas einblendet, erkennt die rechte Gehirn- Beobachtungen – bei Split-Brain-Patienten, bei Menschen mit
3 hälfte schneller als die linke das Wort Schnitt, das mit einem normalen Gehirn und sogar bei Gehirnen anderer Spezies
den drei ersten nur entfernt assoziiert ist. Gibt man den – ansieht, lässt sich daraus zweifellos schließen, dass unser
Versuchspersonen eine Verständnisaufgabe – »Welches Gehirn ein Ganzes mit spezialisierten Teilen ist (Hopkins u.
Wort lässt sich mit den folgenden verbinden: lernen, Kind, Cantalupo 2008; MacNeilage et al. 2009; s. auch 7 Unter der Lupe:
Gebäude?« –, kommt die rechte Hemisphäre schneller auf Händigkeit).
die Lösung (Schule) als die linke. Ein Patient erklärte nach Resümee: In diesem Kapitel konnten wir einen kurzen Ein-
einem Schlaganfall, der die rechte Hemisphäre schädigte: blick in ein übergreifendes Prinzip erhalten: Alles, was psychisch
»Ich verstehe die Wörter, aber nicht ihre subtile Bedeutung.« ist, ist gleichzeitig auch biologisch. Wir haben uns damit be-
4 uns hilft, die Wörter so zu betonen, dass die Bedeutung schäftigt, wie unsere Gedanken, Gefühle und Handlungen aus
erkennbar wird. Dies geschieht z. B., wenn wir sagen: »Ich unserem spezialisierten und dennoch ganzheitlichen Gehirn
möchte so klug wie Einstein sein!« Dies könnte sonst auch entstehen. In weiteren Kapiteln werden wir die Bedeutung
verstanden werden als: »Ich möchte so klug wie ein Stein der biologischen Revolution in der Psychologie noch näher er-
sein!« (abgewandelt bei Heller 1990) läutern.
4 uns hilft, unsere Selbstwahrnehmung abzugleichen. Personen, Es war ein langer Weg von der Phrenologie des 19. Jahrhun-
die unter einer partiellen Lähmung leiden, werden ihre dert bis zur heutigen Neurowissenschaft. Trotzdem stellt das,
Beeinträchtigung manchmal hartnäckig leugnen und, was wir nicht wissen, noch immer das, was wir wissen, in den
seltsamerweise, behaupten, sie könnten eine gelähmte Schatten. Wir können das Gehirn beschreiben. Wir können ler-
Gliedmaße bewegen – wenn die Schädigung in der rechten nen, welche Funktionen seine verschiedenen Teile haben. Und
Hemisphäre vorhanden ist (Berti et al. 2005). wir können untersuchen, wie die einzelnen Teile miteinander

Unter der Lupe

Händigkeit lutschen mehr als 9 von 10 Föten am rechten Architekten und Künstlern zu finden – wie z. B.
Fast 90% der Menschen sind primär Rechtshän- Daumen (Hepper et al. 1990, 2004). Zwillings- die Koryphäen Michelangelo, Leonardo da Vinci
der (Leask u. Beaton 2007; Medland et al. 2004; studien deuten darauf hin, dass die Gene nur und Picasso2. Obwohl Linkshänder Scheren
Peters et al. 2006). Etwa 10% (etwas mehr bei einen geringen Einfluss auf die individuelle und Schreibtische für Rechtshänder tolerieren
Männern, etwas weniger bei Frauen) sind Links- Händigkeit haben ( Vuoksimaa et al. 2009). Aber müssen sowie bei Dinnerpartys häufiger mit
händer. (Einige wenige Menschen schreiben die Tatsache, dass weltweit Rechtshändigkeit dem Ellenbogen angestoßen zu werden,
mit der rechten Hand und werfen einen Ball mit bei Menschen und anderen Primaten häufiger scheinen sich die Vor- und Nachteile davon,
der linken Hand oder umgekehrt.) Nahezu alle vorkommt, weist darauf hin, dass die Händig- Linkshänder zu sein, ziemlich auszugleichen
(96%) Rechtshänder verarbeiten Sprache primär keit entweder erblich ist oder durch pränatale (. Abb. 3.42).
in der linken Gehirnhälfte, die tendenziell die Faktoren beeinflusst wird.
etwas größere Hemisphäre ist (Hopkins 2006). » Die meisten Menschen nehmen
Bei Linkshändern ist dies unterschiedlicher. Bei Also ist es in Ordnung, Linkshänder zu sein? den rechten Fuß zum Treten,
sieben von zehn Linkshändern ist die Sprache Aus dem, was wir so bei Gesprächen im Alltag schauen mit dem rechten Auge
in der linken Hemisphäre repräsentiert, genau- mitbekommen, könnte man schließen, dass es
durch ein Mikroskop und (ist es
so wie bei Rechtshändern. Bei dem Rest wird nicht in Ordnung ist, Linkshänder zu sein. Wer
sie in der rechten oder beiden Hemisphären ab- sich »link verhält« oder eine »linke Zecke« ist, Ihnen aufgefallen?) küssen, indem
gebildet. ist nicht gerade beliebt. Viel eher sollte man sie den Kopf nach rechts drehen
doch »das rechte Verhalten« zeigen, oder? Güntürkün (2003)
Wird die Händigkeit vererbt? Linkshänder sind unter den Menschen mit Lese-
Rückschlüsse aus prähistorischen Höhlenzeich- schwächen, mit Allergien und mit Migräne 2 Die Tatsache, dass es im Sport einen höheren
nungen, den Werkzeugen und den Hand- und häufiger vertreten (Geschwind u. Behan 1984). Prozentsatz von Linkshändern gibt als sonst,
Armknochen deuten darauf hin, dass bereits Aber im Iran, wo Studierende bei der Hoch- lässt sich durch strategische Faktoren erklären.
damals eher die rechte Hand genutzt wurde schuleingangsprüfung angeben müssen, mit Beispielsweise ist es für eine Fußballmann-
(Corballis 1989; MacNeilage et al. 2009). Rechts- welcher Hand sie schreiben, zeigen die Links- schaft hilfreich, wenn sie auf dem linken Spiel-
händigkeit überwiegt in allen menschlichen händer in allen Fächern bessere Leistungen feld einen Spieler hat, der bevorzugt seinen
Kulturen und sogar bei Menschenaffen und als die Rechtshänder (Noroozian et al. 2003). linken Fuß einsetzt ( Wood u. Aggleton 1989).
Affen. Darüber hinaus scheint sich die Händig- Ebenso ist Linkshändigkeit häufiger unter Beim Golf jedoch hat bis 2003 kein Linkshän-
keit zu entwickeln, bevor kulturelle Einflüsse Musikern, Mathematikern, professionellen der das American Masters gewonnen; erst der
wirksam werden können: Durchschnittlich Baseball- (. Abb. 3.41) und Kricketspielern, Kanadier Mike Weir schaffte es.
3.6 · Kapitelrückblick
87 3

. Abb. 3.40 Geist und Gehirn als holistisches System. Nach Roger Sperrys
Ansicht erschafft das Gehirn den Verstand und ist auch sein Steuerorgan,
doch beeinflusst der Verstand wiederum das Gehirn. (Stellen Sie sich lebhaft
vor, in eine Zitrone zu beißen und Sie werden möglicherweise vermehrten
Speichelfluss haben)

kommunizieren. Aber wie kann aus diesem Zellhaufen unser


Verstand entstehen? Wie kann ein elektrochemisches Summen
in einem Gewebebrocken von der Größe eines Kopfsalats zu
einem Hochgefühl, einer kreativen Idee oder zur Erinnerung an
unsere Großmutter führen? . Abb. 3.42 (© Claudia Styrsky)

Ähnlich wie aus Gas und Luft etwas Neues entstehen kann,
nämlich Feuer, so könnte auch das komplexe menschliche Ge-
hirn etwas Neues erschaffen: den Verstand. Davon war zumin- chologie mehr als angewandte Physik. Sexuelle Liebe ist mehr als
dest Sperry überzeugt. Verstand, argumentierte er, entsteht aus verstärkte Blutzufuhr in den Genitalien. Moral und Verantwor-
dem Tanz der Ionen im Gehirn, kann jedoch nicht auf ihn redu- tungsbewusstsein lassen sich erst erklären, wenn wir unseren
ziert werden. Zellen können nicht allein durch die Aktivitäten Verstand als »holistisches System«, d. h. als ganzheitlich, ver-
von Atomen erklärt werden, ebenso wenig kann der Verstand stehen, wie Sperry (1992) feststellte (. Abb. 3.40). Wir sind mehr
durch die Aktivität von Zellen erklärt werden. Die Psychologie als plappernde Roboter.
hat ihre Wurzeln in der Biologie, die wiederum auf der Chemie Der Verstand versucht, das Gehirn zu verstehen; dies ist in
beruht, die ihrerseits auf der Physik basiert. Trotzdem ist die Psy- der Tat eine der größten Herausforderungen der Wissenschaft.
Und das wird immer so sein. Um es mit den Worten des Kosmo-
logen John Barrow zu sagen: Ein Gehirn, das so einfach ist, dass
man es verstehen kann, ist zu einfach, um einen Verstand hervor-
zubringen, der es versteht.

Prüfen Sie Ihr Wissen

5 Fast alle Rechtshänder (96%) verarbeiten Sprache in


der Hemisphäre; die meisten Links-
händer (70%) verarbeiten Sprache in der
Hemisphäre.

3.6 Kapitelrückblick

. Abb. 3.41 Eine absolute Seltenheit im Baseball: Ein beidhändiger


3.6.1 Verständnisfragen
Werfer. Einen Handschuh mit zwei Daumen nutzend warf Pat Venditte,
hier in einem Spiel von 2013 zu sehen, mit der rechten Hand einem rechts- jBiologie, Verhalten und Bewusstsein
händigen Schläger zu, um dann bei einem linkshändigen Schläger zur
3.1 Wieso beschäftigen sich Psychologen mit der menschlichen
linken Hand zu wechseln. Nachdem ein Schläger, der auch beide Hände
nutzen konnte, die Seiten wechselte, wechselte auch Venditte seine Wurf- Biologie?
hand. Daraufhin wollte der Schläger erneut die andere Hand benutzen
und so weiter. Die Schiedsrichter beendeten diese lustige Show, indem sie jNeuronale Kommunikation
eine wenig bekannte Regel anwandten: Ein Werfer muss vor seinem ersten
Wurf dem Schläger ansagen, welchen Arm er benutzen wird. (Schwarz 3.2 Was sind Neuronen und wie übermitteln sie Informationen?
2007; Foto: © EPA/RHONA WISE/picture alliance / dpa) 3.3 Wie kommunizieren Nervenzellen miteinander?
88 Kapitel 3 · Neurowissenschaft und Verhalten

3.4 Wie beeinflussen Neurotransmitter das Verhalten und welche 4 Läsion


Auswirkungen haben Drogen und andere chemische Stoffe auf 4 Limbisches System
die neuronale Übertragung? 4 Magnetresonanztomografie (MRT, auch Kernspintomo-
grafie)
jNervensystem 4 Medulla oblongata
3 3.5 Welche Funktionen haben die Hauptkomponenten des 4 Motoneurone
Nervensystems und wie heißen die drei Hauptgruppen von 4 Motorischer Kortex
Neuronen? 4 Myelinschicht
4 Nebennieren
jEndokrines System 4 Nerven
3.6 Wie übermittelt das endokrine System Informationen und 4 Nervensystem
welche Wechselwirkung besteht mit dem Nervensystem? 4 Neurogenese
4 Neuron
jGehirn 4 Neurotransmitter
3.7 Wie untersuchen Neurowissenschaftler die Verbindungen 4 Okzipitallappen
vom Gehirn zum Verhalten und zum Verstand bzw. Bewusstsein? 4 Parasympathikus
3.8 Aus welchen Strukturen besteht der Hirnstamm und welche 4 Parietallappen
Funktionen haben Hirnstamm, Thalamus und Kleinhirn? 4 Peripheres Nervensystem (PNS)
3.9 Was sind die Strukturen und Funktionen des limbischen Sys- 4 Plastizität
tems? 4 Positronenemissionstomografie (PET)
3.10 Was sind die Funktionen der verschiedenen Regionen des 4 Reflex
zerebralen Kortex? 4 Schwellenwert
3.11 In welchem Ausmaß kann sich ein geschädigtes Gehirn neu 4 Sensorische Neuronen
organisieren? Was ist Neurogenese? 4 Sensorischer Kortex
3.12 Wie trägt die Forschung zur Trennung der Hemisphären zu 4 Somatisches Nervensystem
einem besseren Verständnis der Funktionen unserer rechten und 4 Split-Brain
linken Hirnhälfte bei? 4 Sympathikus
4 Synapse
4 Temporallappen
3.6.2 Schlüsselbegriffe 4 Thalamus
4 Wiederaufnahme (Reuptake)
4 Aktionspotenzial 4 Zentrales Nervensystem (ZNS)
4 Amygdala 4 Zerebraler Kortex
4 Assoziationsfelder
4 Autonomes (vegetatives) Nervensystem (ANS bzw. VNS)
4 Axon 3.6.3 Weiterführende deutsche Literatur
4 Biologische Psychologie oder Perspektive
4 Corpus callosum (auch Balken) Birbaumer, N., & Schmidt, R.F. (2010). Biologische Psychologie (7. Aufl.).
Heidelberg: Springer.
4 Dendriten Hülshoff, T. (2008). Das Gehirn. Funktionen und Funktionseinbußen (3. Aufl.).
4 Elektroenzephalogramm (EEG) Bern: Huber.
4 Endokrines System Jäncke, L., & Edelmann, B. (2013). Lehrbuch Kognitive Neurowissenschaften.
Bern: Huber.
4 Endorphine
Kandel, E.R., Schwartz, J.H., & Jessel, T.M. (2012). Neurowissenschaften. Eine
4 fMRT (funktionelle MRT) Einführung. Heidelberg: Spektrum.
4 Formatio reticularis Karnath, H.O., & Thier, P. (2012). Kognitive Neurowissenschaften. Heidelberg:
4 Frontallappen Springer.
Lautenbacher, S., Güntürkün, O., & Hausmann, M. (2007). Gehirn und
4 Gliazellen Geschlecht. Heidelberg: Springer.
4 Hirnstamm Markowitsch, H.J. (Hrsg). (1996). Grundlagen der Neuropsychologie.
4 Hormone Enzyklopädie der Psychologie: Biologische Psychologie (Bd. 1).
Göttingen: Hogrefe.
4 Hypophyse
Thompson, R.F. (2001). Das Gehirn. Von der Nervenzelle zur Verhaltens-
4 Hypothalamus steuerung (3. Aufl.). Heidelberg: Spektrum.
4 Interneurone
4 Kleinhirn (Zerebellum)
89 4

Bewusstsein und der zweigleisige


Verstand
David G. Myers

4.1 Gehirnzustände und Bewusstsein – 90


4.1.1 Definition von Bewusstsein – 90
4.1.2 Die Biologie des Bewusstseins – 91
4.1.3 Selektive Aufmerksamkeit – 94

4.2 Schlaf und Träume – 97


4.2.1 Biologischer Rhythmus und Schlaf – 97
4.2.2 Schlaftheorien – 103
4.2.3 Schlafentzug und Schlafstörungen – 105
4.2.4 Träume – 111

4.3 Hypnose – 115


4.3.1 Häufig gestellte Fragen zu Hypnose – 116
4.3.2 Der Zustand der Hypnose – 117

4.4 Drogen und Bewusstsein – 119


4.4.1 Toleranz, Abhängigkeit und Sucht – 119
4.4.2 Arten psychoaktiver Substanzen – 121
4.4.3 Einflussfaktoren auf den Drogenkonsum – 130

4.5 Kapitelrückblick – 133


4.5.1 Verständnisfragen – 133
4.5.2 Schlüsselbegriffe – 134
4.5.3 Weiterführende deutsche Literatur – 134

D. G. Myers, Psychologie,
DOI 10.1007/978-3-642-40782-6_4, © Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2014
90 Kapitel 4 · Bewusstsein und der zweigleisige Verstand

Das Bewusstsein ist manchmal eine komische Sache. Es beschert 4.1.1 Definition von Bewusstsein
uns seltsame Erlebnisse – z. B. kurz vor dem Einschlafen oder
Aufwachen – und manchmal fragen wir uns, wer wirklich die
? 4.1 Wo lässt sich das Bewusstsein in der Geschichte
Kontrolle über unsere Gedanken hat. Nachdem mich mein
der Psychologie verorten?
Zahnarzt mit Lachgas in eine Halbnarkose versetzt hat, sagt er
mir, ich solle meinen Kopf nach links drehen. Mein Verstand In ihren Anfängen wurde die Psychologie als die Wissenschaft
widerspricht und ich denke: »Nein, du kannst mich nicht herum- der »Beschreibung und Erklärung von Bewusstseinszuständen«
4 kommandieren«. Dennoch dreht sich mein Kopf automatisch – er (Ladd 1887) verstanden. Während der ersten Hälfte des 20. Jahr-
gehorcht somit dem Zahnarzt und ignoriert meinen Verstand. hunderts erwies sich die wissenschaftliche Untersuchung des
Während meines mittäglichen Basketballspielens bin ich Bewusstseins jedoch zunehmend als schwierig, was viele Psycho-
manchmal ein bisschen verwirrt, wenn mein Körper den Ball logen dazu veranlasste, sich dem direkt beobachtbaren Verhalten
abgeben will, während mein Verstand sagt: »Stopp! Sarah wird zuzuwenden. Unter diesen Psychologen waren auch einige aus
ihn abfangen!«. Dennoch vollführt mein Körper die Ballabgabe. der neu entstehenden Schule des Behaviorismus (7 Kap. 8).
In Illusion of Conscious Will (2002) schreibt der Psychologe In den 1960er Jahren verlor die Psychologie das Bewusstsein
Daniel Wegner, dass Menschen glauben, ihr Verstand kontrol- fast völlig aus dem Blick und verstand sich als »Wissenschaft vom
liere ihre Taten – auch wenn dies nicht der Fall sei. In einem Verhalten«. Das Bewusstsein wurde mit dem Tacho eines Autos
Experiment haben zwei Personen zusammen eine Computer- verglichen: »Er bringt das Auto nicht zum Laufen, er spiegelt
maus bedient. Sogar als ihr Partner (der in Wahrheit ein Assistent lediglich wider, was geschieht« (Seligman 1991).
des Experimentators war) die Maus auf einer vorher bestimmten
Markierung stoppte, glaubten die Teilnehmer, sie selbst hätten
» Die Psychologie muss sich jeglichen Bezugs auf das
Bewusstsein entledigen.
die Maus dort zum Stehen gebracht.
Der Behaviorist John B. Watson (1913)
Darüber hinaus gibt es Zeiten, in denen sich das Bewusstsein
in zwei Teile zu spalten scheint. Wenn ich einem meiner Vor- Nach 1960 tauchten mentale Konzepte wieder in der Psychologie
schüler Green Eggs and Ham zum x-ten Mal vorlese, kann auf. Dank der Fortschritte in den Neurowissenschaften konnte
mein Mund die Wörter aussprechen, während meine Gedanken man die Aktivitäten des Gehirns verschiedenen Bewusstseins-
woanders sind. Und falls jemand an meinem Büro vorbeikommt, zuständen zuordnen, wie z. B. schlafen oder träumen. Die Wissen-
während ich diesen Satz schreibe, ist das auch kein Problem. schaftler begannen, das durch Hypnose oder Drogen veränderte
Meine Finger können den Satz beenden, obwohl ich mich gleich- Bewusstsein zu untersuchen. Psychologen aller Fachrichtungen
zeitig unterhalte. erkannten die zentrale Bedeutung der Kognition, also der menta-
Was zeigen solche Erlebnisse nun? War mein von Medika- len Prozesse. Die Psychologie hatte das Bewusstsein wieder für
menten beeinflusstes Erlebnis beim Zahnarzt ähnlich wie die Er- sich entdeckt. Heute bedeutet Bewusstsein für die meisten
fahrungen anderer Personen mit psychoaktiven Drogen (stim- Psychologen die bewusste Wahrnehmung von uns selbst und
mungs- und wahrnehmungsverändernden Substanzen)? Ist mein unserer Umgebung. Diese bewusste Wahrnehmung erlaubt uns,
automatisches Gehorchen auf den Befehl meines Zahnarztes zu vielfältige Informationen zu sammeln und zu nutzen, wenn wir
vergleichen mit der Reaktion bei einer Hypnose? Kann eine Spal- unsere Vergangenheit reflektieren und unsere Zukunft planen.
tung des Bewusstseins – z. B. wenn die Gedanken beim Lesen oder Zudem lenkt es beim Lernen komplexer Konzepte oder Verhal-
Schreiben woanders sind – das Verhalten während einer Hypnose tensweisen unsere Aufmerksamkeit auf genau diese Sache.
erklären? Und wie sieht es im Schlaf aus: Wann und vor allem So konzentrieren wir uns beim Fahrenlernen ausschließlich auf
warum tauchen diese seltsamen Träume auf? Bevor wir diese und das Auto und den Verkehr. Mit fortschreitender Übung wird das
weitere Fragen betrachten, sollten wir uns eine grundlegende Autofahren zu einer halbautomatisierten Tätigkeit und bean-
Frage stellen: Was ist Bewusstsein? sprucht unsere ungeteilte Aufmerksamkeit nicht mehr. Im Laufe
der Zeit springen wir immer zwischen verschiedenen Bewusst-
seinszuständen hin und her – Schlafen, Wachsein und vielfältigen
4.1 Gehirnzustände und Bewusstsein veränderten Zuständen (. Abb. 4.1).
Bewusstsein (»consciousness«) – Gesamtheit der unmittelbaren Erfahrung,
In jeder Wissenschaft gibt es Konzepte, die derart fundamental die sich aus der Wahrnehmung von uns selbst und unserer Umgebung,
sind, dass es beinahe unmöglich ist, sie zu definieren. Biologen unseren Kognitionen, Vorstellungen und Gefühlen zusammensetzt.
sind zwar einer Meinung darüber, was lebendig ist, aber nicht,
was genau Leben an sich bedeutet. In der Physik entziehen sich Die heutige Wissenschaft erforscht die Biologie des Bewusst-
die Begriffe Materie und Energie einer einfachen Definition. seins. Evolutionspsychologen vermuten, dass das Bewusstsein
Gleichermaßen stellt das Bewusstsein für Psychologen zwar ein einen reproduktiven Vorteil bieten muss (Barash 2006). Indem
fundamentales, aber dennoch unscharfes Konzept dar. wir die jeweiligen Konsequenzen berücksichtigen, hilft uns
4.1 · Gehirnzustände und Bewusstsein
91 4

. Abb. 4.1 Bewusstseinszustände. Zusätzlich zum normalen Wach-


bewusstsein gibt es verschiedene andere Bewusstseinszustände, dazu
gehören Tagträumen, Schlafen, Meditieren und durch Drogen
hervorgerufenes Halluzinieren

das Bewusstsein gemäß unserer langfristigen Interessen zu


handeln – anstatt den Fokus lediglich auf die kurzzeitige
Befriedigung und die Vermeidung von Schmerzen zu legen.
Zudem befördert das Bewusstsein unser Überleben, da wir er-
ahnen, wie wir auf andere wirken und gleichzeitig andere ein- . Abb. 4.2 Beweis von Bewusstsein? Wenn ein vegetativer Patient
schätzen können: »Er sieht wirklich verärgert aus, ich laufe lieber gebeten wird, sich vorzustellen, er würde Tennis spielen oder in seinem
davon!« Haus herumlaufen, so zeigt sein Gehirn (oben) ähnliche Aktivitäten wie das
Gehirn einer gesunden Person (unten). Forscher möchten herausfinden,
Solche Erklärungen helfen uns jedoch immer noch nicht bei
ob solche fMRT-Scans ein »Gespräch« mit Patienten, die nicht antworten
dem grundsätzlichen Problem weiter: Wie kann die Kommuni- können, ermöglichen. So könnten die Patienten z. B. mit »ja« auf eine Frage
kation der Gehirnzellen untereinander unsere Wahrnehmung antworten, indem sie sich vorstellen, Tennis zu spielen (oben und unten
vom Geschmack eines Tacos, die Idee von Unendlichkeit oder links) – und mit »nein«, indem sie sich vorstellen, im Haus herumzulaufen
(oben und unten rechts). (Mit freundlicher Genehmigung von Adrian M. Owen,
das Gefühl von Angst hervorrufen? Hierauf suchen Wissen-
Brain and Mind Institute, Department of Psychology, Western University,
schaftler aktuell nach Antworten. London, Ontario)

4.1.2 Die Biologie des Bewusstseins Die Frau zeigt seit einem Autounfall keine äußerlichen Zeichen
einer bewussten Wahrnehmung (Owen et al. 2006). Als Forscher
sie jedoch darum baten, sich vorzustellen, dass sie Tennis spielt,
? 4.2 Was versteht man in der Kognitiven Neurowissenschaft
zeigten fMRT-Scans eine Gehirnaktivität in den Bereichen,
unter Parallelverarbeitung?
die normalerweise die Bewegung von Armen und Beinen steuert
Kognitive Neurowissenschaften (. Abb. 4.2). Die Forscher schlossen daraus, dass das Gehirn –
Gemäß den Worten des Neurowissenschaftlers Marvin Minsky und der Verstand – selbst in einem bewegungslosen Körper aktiv
(1986) vermuten Wissenschaftler, »der Verstand ist das, was das sein kann. In einer weiterführende Studie mit 22 »vegetativen«
Gehirn tut«. Wir wissen nur nicht, dass es das tut. Selbst mit Patienten zeigten drei davon ebenfalls sinnvolle Gehirnaktivi-
sämtlichen Chemikalien, Computerchips und Energien der Welt täten auf Fragen (Monti et al. 2010).
haben wir noch immer keine Ahnung, wie man einen mit Viele kognitive Neurowissenschaftler erforschen und ver-
Bewusstsein ausgestatteten Roboter baut. Die heutige kognitive orten die Bewusstseinsfunktionen des Kortex. Ausgehend von
Neurowissenschaft, welche als interdisziplinäre Disziplin die Ihren kortikalen Aktivitätsmustern können sie nun sogar Ihre
Gehirnfunktionen mit Denkprozessen verknüpft, macht den- Gedanken lesen – natürlich nur in bestimmtem Maße (Bor
noch erste Fortschritte, indem sie bestimmte Gehirnzustände in 2010). So können sie z. B. sagen, welches von 10 ähnlichen
Beziehung zu Bewusstseinserfahrungen setzt. Objekten Sie gerade anschauen (Shinkareva et al. 2008). Trotz
solcher Fortschritte bleibt viel Uneinigkeit unter den Forschern.
Kognitive Neurowissenschaft (»cognitive neuroscience«) – interdisziplinäre
Studie der Gehirnaktivität in Zusammenhang mit Kognition (u. a. Wahrneh- Einige vertreten die Ansicht, bewusste Erfahrungen werden
mung, Denken, Gedächtnis und Sprache). hervorgerufen durch synchrone Aktivitäten im Gehirn (Gaillard
et al. 2009; Koch u. Greenfield 2007; Schurger et al. 2010). Wenn
Eine beeindruckende Demonstration von Bewusstsein zeigt sich ein Reiz genug aufeinander abgestimmte Nerven im Gehirn
in Ultraschallbildern des Gehirns einer 23-jährigen Patientin. aktiviert – mit starken Signalen in einem Gehirnbereich, sodass
92 Kapitel 4 · Bewusstsein und der zweigleisige Verstand

an anderer Stelle eine Aktivität ausgelöst wird – so übertritt er die Manchmal bestätigt die Wissenschaft weit verbreitete Meinun-
Schwelle zum Bewusstsein. Ein schwächerer Reiz – vielleicht ein gen. Manchmal ist die Wissenschaft jedoch seltsamer als Science
Wort, das nicht bewusst wahrgenommen wird – löst eventuell Fiction – wie folgende Geschichte zeigt.
nur Aktivitäten in der näheren Umgebung des visuellen Kortex Während meiner Aufenthalte in Schottland an der University
aus, wird jedoch nicht weitergeleitet. Ein stärkerer Reiz wird in of St. Andrews lernte ich die Neurowissenschaftler David Milner
andere Gehirnbereiche eindringen, z. B. in solche, die für Sprache, und Melvyn Goodale (2008) kennen. Nachdem eine Frau aus
Aufmerksamkeit und Gedächtnis zuständig sind. Diese zurück- dem Ort einer großen Menge Kohlenmonoxid ausgesetzt war,
4 strahlenden Aktivitäten, die sich durch Ultraschallbilder des Ge- erlitt sie einen Gehirnschaden, sodass sie Objekte weder visuell
hirns nachweisen lassen, sind ein Musterbeispiel für bewusste erkennen noch unterscheiden konnte. Bewusst konnte sie nichts
Wahrnehmung. Wie genau jedoch die synchrone Aktivität Be- mehr sehen. Dennoch zeigte sie »blindes Sehen« – sie verhielt
wusstsein hervorruft – wie also die Materie den Verstand er- sich so, als könnte sie sehen. Auf die Bitte, sie solle eine Postkarte
schafft – bleibt ein Rätsel. in einen vertikalen oder horizontalen Briefschlitz stecken, tat sie
dies ohne Fehler. Obwohl sie nicht die Größe eines vor ihr liegen-
Prüfen Sie Ihr Wissen den Schreibblocks sagen konnte, griff sie nach diesem, als würde
5 Diejenigen, die in dem interdisziplinären Bereich der sie genau wissen, wo er liegt. Wenn Sie temporäre Blindheit er-
arbeiten, untersuchen den Zusammen- fahren würden (mittels magnetischer Impulse auf Ihren primä-
hang zwischen Gehirnaktivität und Wahrnehmung, ren visuellen Kortex), könnte dies ebenfalls blindes Sehen her-
Denken, Gedächtnis sowie Sprache. vorrufen – Sie könnten nun die Farbe oder Lage eines Objektes
richtig raten, obwohl sie dieses nicht bewusst sehen (Boyer et al.
2005).
Blindes Sehen (»blindsight«) – Zustand, in dem eine Person auf einen
Parallelverarbeitung: Der zweigleisige Verstand visuellen Stimulus reagieren kann, ohne diesen bewusst zu erleben.
Viele Entdeckungen der kognitiven Neurowissenschaft berichten
uns von einer bestimmten Gehirnregion (wie z. B. dem zuvor Wie kann das sein? Haben wir nicht nur ein einziges visuelles
erwähnten visuellen Kortex), die bei einem bestimmten be- System? Goodale und Milner wissen aus Tierexperimenten, dass
wussten Erlebnis aktiv wird. Solche Erkenntnisse finden viele das Auge Informationen gleichzeitig an verschiedene Gehirnbe-
Menschen interessant, aber nicht überaus erstaunlich. (Wenn reiche sendet, welche wiederum unterschiedliche Aufgaben er-
alles Psychologische gleichzeitig biologisch ist, dann müssen all füllen (Weiskrantz 2009, 2010). Sicherlich zeigt eine Schichtauf-
unsere Ideen, Emotionen und Spiritualität in irgendeiner Weise nahme vom Gehirn der genannten Frau normale Aktivitäten in
enthalten sein.) Was für viele wirklich erstaunlich ist, ist der zu- den Bereichen, die für das Armausstrecken, Festhalten und Be-
nehmend sichere Beweis, dass wir sozusagen ein zweigeteiltes wegen von Objekten zuständig sind, aber Schädigungen in jenen
Bewusstsein haben, wobei jeder Teil von seiner eigenen neuro- Bereichen, die für das bewusste Erkennen von Objekten benötigt
nalen Ausstattung unterstützt wird. werden (ein weiteres Beispiel sehen Sie in . Abb. 4.3).
Zu jeder Zeit nehmen wir kaum mehr als das, was auf der Würde nun ein umgekehrter Schaden gegenteilige Symptome
Oberfläche unseres Bewusstseins ist, wahr. Aber unterhalb der auslösen? Tatsächlich gibt es einige solcher Patienten, die Objekte
Oberfläche findet unbewusste Informationsverarbeitung auf sehen und erkennen können, jedoch Schwierigkeiten beim
mehreren parallelen Ebenen gleichzeitig statt. Wenn wir einen darauf Zeigen oder danach Greifen haben.
Vogel fliegen sehen, ist uns das Ergebnis unserer kognitiven Ver- Wie seltsam komplex das Sehen doch ist, schlussfolgern
arbeitung bewusst (»Es ist ein Kolibri!«), nicht aber die unter- Goodale und Milner in ihrem Buch mit dem treffenden Titel
schwellige Verarbeitung der Informationen. Unbewusst nehmen Sight Unseen. Wir mögen unser Sehvermögen als ein System zur
wir wahr, welche Farbe und Form der Vogel hat, wie er fliegt und Steuerung unserer visuell geleiteten Taten sehen, vielmehr ist es
wie weit er entfernt ist. Eine der bedeutendsten Ideen der moder- jedoch ein parallel ablaufendes System: Eine visuelle Wahrneh-
nen kognitiven Neurowissenschaft ist, dass ein Großteil unserer mungsspur erlaubt es uns, »über die Welt zu denken« – Dinge zu
Gehirnarbeit unbewusst abläuft, ohne dass wir es mitbekommen. erkennen und unsere zukünftigen Taten zu planen – und eine
Wahrnehmung, Gedächtnis, Denken, Sprache und Verhalten visuelle Aktionsspur leitet unsere Bewegung in jedem Moment.
laufen alle auf zwei Spuren ab – einer bewussten, reflektierten In seltenen Fällen kollidieren beide Spuren. Bekommen Per-
Spur und einer unbewussten, automatischen Spur. Heutige For- sonen die »hollow face illusion« zu sehen, so werden sie das
scher nennen dies Parallelverarbeitung. Wir wissen mehr, als Innere der Maske irrtümlich für ein hervorstehendes Gesicht
wir glauben zu wissen. halten (. Abb. 4.4). Dennoch werden sie ohne zu zögern und sehr
präzise in die umgekehrte Maske greifen, um ein kleines Objekt
Parallelverarbeitung (»dual processing«) – Prinzip, dass Informationen
oftmals gleichzeitig auf getrennten bewussten und unbewussten Spuren vom Gesicht zu nehmen (Króliczak et al. 2006). Was ihr bewuss-
verarbeitet werden. ter Verstand nicht weiß, tun ihre Hände.
4.1 · Gehirnzustände und Bewusstsein
93 4

. Abb. 4.3 Wenn Blinde »sehen« können. In einer beeindruckenden . Abb. 4.4 Hollow Face Illusion. Was Sie sehen (die Illusion eines hervor-
Demonstration von »blindem Sehen« und zweigleisigem Verstand stehenden Gesichts von einer umgedrehten Maske, wie in dem kleinen
beobachtete der Forscher Lawrence Weiskrantz einen blinden Patienten, Bild oben rechts) kann von dem abweichen, was Sie tun (Ihren Finger aus-
während dieser durch einen zugestellten Gang lief. Obwohl ihm gesagt strecken, um ein kleines Objekt vom Gesicht in der Maske zu nehmen).
wurde, der Gang wäre leer, umwanderte der Patient alle Hindernisse, (Courtesy Melvyn Goodale)
ohne sie bewusst wahrzunehmen

Ein anderer Patient kann aufgrund des Verlustes seines ge- Ausgangsrate. Sogar wenn Sie schlafen, wirbeln »Schübe dunkler
samten visuellen Kortex keine Objekte in seinem rechten Blick- Energie« durch Ihren Kopf (Reichle 2010).
feld sehen – dennoch kann er den Ausdruck in anderen Ge- Experimente zeigen, dass man die Entscheidung für die
sichtern spüren, die er nicht bewusst wahrnimmt (De Gelder willentliche Bewegung des Handgelenkes ca. 0,2 Sekunden vor
2010). Das Gleiche gilt für Personen ohne Einschränkung des der tatsächlichen Bewegung erlebt (Libet 1985, 2004). Das ist
Sehvermögens, deren visueller Kortex nun jedoch mit Hilfe von noch keine Überraschung. Aber die Aktivität Ihrer Gehirn-
magnetischer Stimulation abgeschaltet wird. Dies lässt ver- wellen nimmt bereits 0,35 Sekunden vor Ihrer bewussten Ent-
muten, dass Gehirnbereiche unterhalb des Kortex emotions- scheidung sprunghaft zu (. Abb. 4.5)!
bezogene Informationen verarbeiten. Dieses Bereitschaftspotenzial ermöglicht es Forschern mit-
Menschen haben oftmals Schwierigkeiten zu verstehen, dass tels fMRT-Scans des Gehirns, die Entscheidung eines Teilneh-
ein Großteil unseres alltäglichen Denkens, Fühlens und Han- mers, einen Knopf mit dem linken oder dem rechten Finger zu
delns außerhalb unserer bewussten Wahrnehmung abläuft drücken, bis zu 7 Sekunden im Voraus und mit einer Wahr-
(Bargh u. Chartrand 1999). Wir sind verständlicherweise vor- scheinlichkeit von 60% vorherzusagen (Soon et al. 2008). Die
eingenommen in unserem Glauben, dass unsere Intentionen und verblüffende Schlussfolgerung aus diesen Experimenten lautet:
durchdachten Entscheidungen unser Leben bestimmen. Aber Das Bewusstsein kommt manchmal etwas zu spät zu der Party,
obwohl uns das Bewusstsein ermöglicht, willentliche Kontrolle auf der die Entscheidung getroffen wird.
durchzuführen und unsere inneren Befindlichkeiten mit ande- Indem unser Bewusstsein auf Autopilot läuft, kann es – als
ren zu kommunizieren, so ist es doch nur die Spitze des Eisberges »Firmenchef« des Verstandes – das gesamte System überwachen
der Informationsverarbeitung. Bei einer hohen Konzentration und auf neue Herausforderungen reagieren, während viele
auf eine Tätigkeit (wie hoffentlich beim Lesen dieses Kapitels) »Assistenten« im Nervensystem automatisch die Routinearbeit
übersteigt Ihre absolute Gehirnaktivität nicht mehr als 5% ihrer erledigen. Sind Sie mit dem Auto auf einer bekannten Strecke
94 Kapitel 4 · Bewusstsein und der zweigleisige Verstand

geschieht, dann hat sie unser Bewusstsein geschaffen, damit wir


nicht alles gleichzeitig denken und tun.

Prüfen Sie Ihr Wissen

5 Welches sind die zwei Spuren des Verstandes und was


bedeutet »Parallelverarbeitung«?

4
4.1.3 Selektive Aufmerksamkeit

? 4.3 Wie viele Informationen können wir gleichzeitig


beachten?

Selektive Aufmerksamkeit bedeutet, dass wir unser Bewusstsein


in jedem Moment – wie im Licht eines Scheinwerfers – immer
. Abb. 4.5 Ist das Gehirn dem Denken voraus? In einer entsprechenden nur auf einen begrenzten Aspekt von all dem richten, was wir
Studie beobachteten Freiwillige eine Uhr auf einem Computerbildschirm,
erleben. Einer Schätzung zufolge nehmen unsere 5 Sinne pro
deren Zeiger alle 2,56 Sekunden eine Umdrehung macht, und notierten die
Zeit, in der sie sich entscheiden, ihr Handgelenk zu bewegen. Ungefähr ein Sekunde 11.000.000 Bits an Informationen auf, von denen wir
Drittel einer Sekunde, bevor sich eine Person entscheidet, sich zu bewegen, bewusst nur etwa 40 Bits verarbeiten (Wilson 2002). Intuitiv
steigt die Aktivität der Hirnwellen stark an, was auf ein »Bereitschaftspoten- macht die unbewusste Spur unseres Verstandes jedoch auch von
zial« zur Bewegung hindeutet. Wenn sich die Forscher die Videobilder
den anderen 10.999.960 Bits Gebrauch. Bevor Sie diesen Satz ge-
der Szene erneut in Zeitlupe ansehen, können sie vorhersagen, wann sich
die Person in etwa entscheiden wird, sich zu bewegen (worauf sich das
lesen haben, war Ihnen nicht bewusst, dass Ihre Schuhe Ihre
Handgelenk tatsächlich bewegen wird) (Libet 1985, 2004). Andere Forscher Füße einengen oder dass Ihre Nase in Ihrer Blickrichtung liegt.
stellen diese Methode allerdings in Frage (Miller et al. 2011) Jetzt plötzlich verschiebt sich der Fokus Ihrer Aufmerksamkeit.
Ihre Füße fühlen sich eingezwängt, und Ihre Nase schiebt sich
beim Lesen dieser Seite hartnäckig in Ihr Blickfeld. Während Sie
unterwegs, so erledigen Ihre Hände und Füße das Fahren, wäh- sich auf diese Worte konzentrieren, haben Sie gleichzeitig Ihre
rend Ihr Verstand den nächsten Tag plant. Das Gehirn und der Aufmerksamkeit gegenüber anderen Informationen aus Ihrem
Körper eines geübten Tennisspielers reagieren automatisch auf Umfeld blockiert, obwohl Sie sie aus dem Augenwinkel leicht
einen nahenden Aufschlag, bevor er bewusst die Flugbahn des sehen könnten. Aber das können Sie ändern. Schauen Sie auf
Tennisballs wahrnimmt – dies dauert etwa 0,3 Sekunden. Das das unten abgebildete X und achten Sie dabei auf alles, was um
gleiche gilt für andere talentierte Sportler, bei denen die Aktion das Buch herum ist (den Seitenrand, den Schreibtisch, den Fuß-
der Wahrnehmung vorausgeht. boden).
Zusammengefasst bedeutet dies: Im alltäglichen Leben funk- X
tionieren wir meist wie eine automatische Kamera, jedoch mit
Selektive Aufmerksamkeit (»selective attention«) – Konzentration
manueller (bewusster) Beeinflussung. des Bewusstseins auf einen bestimmten Stimulus, wie etwa beim Cocktail-
Unsere unbewusste Parallelverarbeitung läuft schneller als partyeffekt.
der Reihe nach ablaufende bewusste Prozesse – beide sind jedoch
notwendig. Nacheinander ablaufende Prozesse sind bedeutend Ein klassisches Beispiel für selektive Aufmerksamkeit ist der sog.
bei der Lösung neuer Probleme, die unsere ungeteilte Aufmerk- Cocktailpartyeffekt – Ihre Fähigkeit, sich im Stimmengewirr auf
samkeit benötigen. Versuchen Sie einmal Folgendes: Falls Sie nur eine Stimme zu konzentrieren. Spricht jedoch eine andere
Rechtshänder sind, können Sie Ihren rechten Fuß kreisförmig Stimme Ihren Namen aus, wird Ihnen Ihr kognitiver Radar auf
gegen den Uhrzeigersinn bewegen, und Sie sind in der Lage, mit der unbewussten Spur Ihres Verstandes sofort diese Stimme zu
der rechten Hand die Zahl 3 mehrmals zu schreiben – aber wahr- Bewusstsein bringen. Dieser Effekt hätte vielleicht eine peinliche
scheinlich nicht beides zur selben Zeit. Wenn Sie musikalisch und zugleich gefährliche Situation im Jahre 2009 verhindern
sind, probieren Sie etwas vergleichbar Schweres: Klopfen Sie mit können, als zwei Piloten der Northwest Airlines »sich in der Zeit
der linken Hand einen gleichmäßigen Rhythmus mit 3 Schlägen, vertan haben«. Vertieft in ein Gespräch ignorierten sie die ver-
während Sie mit der rechten einen Rhythmus mit 4 Schlägen zweifelten Rufe der Fluglotsen, während sie 150 Meilen an ihrem
klopfen. Beide Aufgaben erfordern bewusste Aufmerksamkeit, Ziel Minneapolis vorbeiflogen. Wenn die Fluglotsen doch nur
die zur gleichen Zeit nur auf eine Aufgabe gerichtet sein kann. gewusst hätten, dass sie nur die Namen der Piloten hätten nennen
Hat die Natur die Zeit geschaffen, damit nicht alles gleichzeitig müssen, um deren Aufmerksamkeit zu bekommen.
4.1 · Gehirnzustände und Bewusstsein
95 4
Es sind jedoch nicht nur Trucker, die diesem Risiko ausge-
setzt sind. Einer von 14 Fahrern mit Handy gibt zu, dieses wäh-
rend der Fahrt zum Nachrichtenschreiben zu nutzen (Pew 2009).
Multitasking hat seinen Preis. fMRT-Bilder bieten eine biolo-
gische Darstellung dazu, wie Multitasking die Gehirnressourcen
für das Fahren ablenkt. Die Gehirnaktivität nimmt in den Be-
reichen, die wichtig beim Fahren sind, um durchschnittlich
37% ab, wenn der Fahrer in ein Gespräch verwickelt ist (Just
et al. 2008).
Selbst die Benutzung von Freisprechanlagen lenkt mehr ab,
als ein Gespräch mit Beifahrern – diese bekommen bestimmte
Verkehrssituationen mit und können das Gespräch an dieser
Stelle anhalten. Forscher der Universität Sydney untersuchten
Telefonaufzeichnungen in den Momenten kurz vor einem Auto-
. Abb. 4.6 Ablenkung beim Fahren. In Fahrsimulationsexperimenten
unfall und fanden heraus, dass die Handynutzer (auch die mit
machen Fahrer, die durch Handygespräche abgelenkt sind, häufiger Fehler. Freisprechanlagen) einem 4-mal höheren Risiko ausgesetzt
(© Claudia Styrsky) waren (McEvoy et al. 2005, 2007). Mit einem Beifahrer stieg das
Risiko eines Autounfalls um nur 1,6-mal. Dieser Unterschied
tauchte ebenfalls in einem Experiment auf: Autofahrer wurden
» Hat eine Generation von Textern, Internetsurfern und
gebeten, an einer Autobahnraststätte in 8 Meilen Entfernung
Twitterern die beneidenswerte Fähigkeit entwickelt, mehr-
anzuhalten – von den Fahrern mit Beifahrer taten dies 88%, von
fache Stränge neuer Informationen gleichzeitig zu verar-
den Fahrern, die mit ihrem Handy telefonierten, fuhr die Hälfte
beiten? Die meisten kognitiven Psychologen bezweifeln es.
einfach weiter (Strayer u. Drews 2007).
Steven Pinkler, Not At All, 2010
Die meisten europäischen und einige amerikanische Staaten
verbieten mittlerweile die Nutzung von Handys ohne Freisprech-
Selektive Aufmerksamkeit und Unfälle funktion während des Fahrens (Rosenthal 2009). So ist in
Wenn man beim Autofahren telefoniert oder das Radio oder Deutschland während des Autofahrens das Telefonieren mit dem
Navigationssystem bedient, so wird die selektive Aufmerksam- Handy ohne Freisprecheinrichtung bereits seit 2004 verboten.
keit zwischen der Straße und seiner elektronischen Konkurrenz Zudem entwickeln Ingenieure technische Möglichkeiten, den
hin und her wechseln. Aber sobald eine schwierige Situation ein- Blick des Fahrers zu beobachten und seine Aufmerksamkeit ge-
tritt, werden Sie wahrscheinlich Ihre volle Aufmerksamkeit gebenenfalls wieder auf die Straße zu lenken (Lee 2009).
der Straße widmen. Sie werden wahrscheinlich auch weniger
blinzeln. Wenn man sich auf eine Aufgabe konzentriert, z. B. Selektive Unaufmerksamkeit
beim Lesen, blinzelt man weniger, als wenn die Gedanken ab- Auf dem Level der bewussten Aufmerksamkeit sind wir »blind«
schweifen (Smilek et al. 2010). Wenn Sie wissen möchten, ob sich gegenüber dem Großteil der visuellen Reize. Neisser (1979) sowie
Ihr Gegenüber beim Abendessen auf Ihr Gespräch konzentriert, Becklen u. Cervone (1983) demonstrierten diese Blindheit durch
achten Sie auf das Blinzeln – und hoffen Sie, dass es nicht zu oft Unaufmerksamkeit (oder auch Unaufmerksamkeitsblindheit) auf
erfolgt. eindrucksvolle Weise. Sie zeigten Versuchsteilnehmern ein einmi-
Wir bezahlen für zu schnelles Fahren, insbesondere wenn nütiges Video, bei dem Bilder von drei Männern in schwarzen
komplexe Aufgaben hinzukommen, wie z. B. andere Autos wahr- Trikots, die einen Basketball hin und her warfen, andere Bilder von
nehmen und einen Zusammenstoß vermeiden. Die Gebühr ist drei Männern in weißen Trikots überlagerten, die dasselbe mach-
eine leichte, manchmal fatale Verspätung in der Bewältigung ten. Die Zuschauer wurden gebeten, jedes Mal einen Knopf zu
(Rubenstein et al. 2001). Etwa 28% der Verkehrsunfälle passie- drücken, wenn zwischen den Spielern im schwarzen Trikot ein
ren, weil die Fahrer mit dem Handy telefonieren oder Nachrich- Ballwechsel stattfand. Etwa nach der Hälfte des Videos schlenderte
ten schreiben (National Safety Council 2010; . Abb. 4.6). In einer eine junge Frau mit einem Regenschirm über den Bildschirm. Die
Studie wurden Langstreckenfahrer 18 Monate lang beobachtet. meisten hatten ihre Aufmerksamkeit so vollständig auf die Spieler
Die Videokameras in den Fahrerkabinen zeigten, dass das Risiko im schwarzen Trikot konzentriert, dass sie die Frau gar nicht be-
eines Unfalls 23-mal höher war, wenn die Fahrer Nachrichten merkten. Als ihnen die Wissenschaftler das Video noch einmal
auf dem Handy schrieben (VTTI 2009). Die Vereinigten Staaten vorspielten, waren sie erstaunt, sie zu sehen (Mack u. Rock 2000).
wurden aufmerksam durch dieses Ergebnis und verboten im Diese Blindheit durch Unaufmerksamkeit ist ein Nebenprodukt
Jahre 2010 Truckern und Busfahren das Nachrichtenschreiben eines Prozesses, in dem wir sehr gut sind: die Aufmerksamkeit auf
während des Fahrens (Halsey 2010). einen bestimmten Teil unserer Umwelt zu fokussieren.
96 Kapitel 4 · Bewusstsein und der zweigleisige Verstand

Studenten entdeckte dabei den Einradfahrer im Clownskostüm


mitten unter ihnen (Hyman et al. 2010). Fast alle, die nicht
telefonierten, hatten ihn allerdings bemerkt. Aufmerksamkeit
ist stark selektiv. Ihr bewusster Verstand ist nur an einem Ort zur
gleichen Zeit.
Die meisten Menschen bemerken eine andere Person im
Gorilla- oder Clownskostüm nicht, während ihre Aufmerksam-
4 keit woanders gefesselt ist – im Hinblick auf diese Tatsache kann
man sich den Spaß vorstellen, den Zauberer bei der Manipula-
tion unserer selektiven Aufmerksamkeit haben können. Lenke
die Aufmerksamkeit der Zuschauer in eine bestimmte Richtung
und sie werden die Hand, die in die Tasche gleitet, nicht bemer-
ken. »Jedes Mal, wenn du einen Zaubertrick vorführst, arbeitest
du in der experimentellen Psychologie«, sagt der Magier und
Meister der Verstandsverwirrungsmethoden Teller (2009).
Magier nutzen darüber hinaus unsere Veränderungs-
blindheit. Indem sie unsere Aufmerksamkeit selektiv auf die
. Abb. 4.7 Gorillas mitten unter uns. Wenn sie ihre Aufmerksamkeit Bewegung der linken Hand lenken, bemerken wir Änderungen
auf eine Aufgabe richten (sie zählen die Ballwechsel beim Basketball von mit der rechten Hand nicht. In Laborversuchen bemerkten
einer Person zu einer weiteren in der Mannschaft), zeigt die Hälfte der Zuschauer nach einer kurzen Unterbrechung des Blickkon-
Beobachter Blindheit durch Unaufmerksamkeit, indem sie nicht imstande
takts nicht, dass sich die Kleiderfarbe einer Person geändert
sind, zu bemerken, dass ein deutlich sichtbarer Gorilla durch die Spieler
hindurch läuft. (Simons u. Chabris 1999, figure provided by Daniel Simons, hatte, eine große Cola-Flasche von der Szene verschwunden
mit freundlicher Genehmigung) oder ein Geländer höher geworden war (Chabris u. Simons
2010; Resnick et al. 1997). In einem anderen Experiment
sollten die Teilnehmer einem Passanten Anweisungen geben.
Blindheit durch Unaufmerksamkeit (auch Unaufmerksamkeitsblindheit;
»inattentional blindness«) – die Unfähigkeit, sichtbare Objekte zu sehen, Dabei wurde er während einer kurzen visuellen Unter-
wenn die Aufmerksamkeit woanders ist. brechung durch einen anderen Mann ersetzt – zwei von drei
Personen bemerkten dies nicht (. Abb. 4.8). Aus den Augen, aus
Bei einer Wiederholung des Experiments schickten die For- dem Sinn.
scher Simons und Chabris (1999) einen Assistenten im Gorilla-
Veränderungsblindheit (»change blindness«) – Unfähigkeit, Verände-
kostüm durch eine Gruppe herumwirbelnder Basketballspieler rungen in der Umgebung wahrzunehmen.
(. Abb. 4.7). Bei seinem 5–9 Sekunden dauernden Komparsen-
auftritt hielt der Gorilla inne und trommelte sich auf die Brust. Eine vergleichbar erstaunliche Form der Unaufmerksamkeit ist
Dennoch sah die Hälfte der Teilnehmer, die gewissenhaft die die Wahlblindheit. In einem schwedischen Supermarkt probier-
Ballwechsel im Spiel zählten, den Gorilla nicht. In einem weite- ten Kunden zwei Marmeladen, von denen sie eine als Favorit
ren Experiment sollten Studenten mit ihrem Handy telefonieren nennen sollten. Dann sollten sie ihren Favoriten erneut pro-
und dabei den Campus überqueren. Lediglich einer von vier bieren und ihre Wahl begründen. Getäuscht durch Trick-Gläser

. Abb. 4.8a–c Veränderungsblindheit. a Während der Mann rechts einem Passanten mit Karte einen Weg erklärt, b drängen sich zwei eingeweihte Mit-
arbeiter der Versuchsleiter, die eine Tür tragen, plump zwischen ihnen hindurch. c Bei dieser Unterbrechung wird der ursprüngliche Passant durch eine
andere Person mit andersfarbigen Kleidern ersetzt. Die meisten Menschen, die darauf konzentriert sind, Anweisungen zu geben, bemerken gar nicht, dass
die Personen ausgetauscht wurden. (Aus Simons u. Levin 1998)
4.2 · Schlaf und Träume
97 4

. Abb. 4.9a–d Markt-Magie. Die Forscher Lars Hall, Petter Johansson und ihre Kollegen (2010) baten Kunden, zwei Marmeladen zu probieren und daraus
ihren Favoriten zu wählen. Diesen durften sie erneut probieren. Heimlich wurden jedoch die Gläser getauscht, sodass die Kunden ihre nicht gewählte
Marmelade noch einmal probierten. Selbst wenn die Kunden gefragt wurden, ob ihnen irgendetwas seltsam vorkam, zeigten die meisten Wahlblindheit.
Selbst bei sehr unterschiedlichen Marmeladen bemerkten sie nicht, dass die Gläser vertauscht worden waren. (Reprinted from Hall et al. 2010, with permis-
sion from Elsevier)

(. Abb. 4.9) haben die meisten Personen nicht bemerkt, dass Forscher beim Schlafen beobachtet. Die Schlafforscher zeichnen
sie eigentlich die andere Marmelade probierten, die nicht ihr die Gehirnwellen und die Muskelaktivität eines Schläfers auf,
Favorit war. sie beobachten ihn und wecken ihn hin und wieder auf. Dabei
Einige Reize sind so wirkungsvoll – so auffallend eindeutig entdecken sie Tatsachen und Zusammenhänge, die der gesunde
– dass wir ein »pop-out« erleben, wie mit einem einzigen lächeln- Menschenverstand in Tausenden von Jahren nicht ergründen
den Gesicht in einer Gruppe ernst blickender Menschen. Wir konnte. Vielleicht können Sie einige ihrer Entdeckungen er-
entscheiden uns nicht bewusst dazu, diese Reize zu beachten – ahnen: Sind die folgenden Aussagen wahr oder falsch?
sie ziehen unseren Blick auf sich und fordern unsere Auf- 1. Wenn Menschen davon träumen, dass sie sich bewegen,
merksamkeit. Unsere selektive Aufmerksamkeit bleibt selbst bewegen sich ihre Glieder häufig im Gleichklang mit dem
während des Schlafs erhalten, wie wir im nächsten Abschnitt Traum.
sehen werden. 2. Ältere Erwachsene schlafen mehr als jüngere Erwachsene.
3. Schlafwandler spielen ihren Trauminhalt nach.
4. Schlafexperten raten, Schlaflosigkeit mit der gelegentlichen
4.2 Schlaf und Träume Einnahme eines Schlafmittels zu behandeln.
5. Manche Menschen träumen jede Nacht, andere fast nie.
Schlaf – die unwiderstehliche Versuchung, der wir letztlich
immer erliegen. Schlaf – der keinen Unterschied zwischen Alle diese Aussagen (nach Palladino u. Carducci 1983) sind
Präsidenten und Bauern macht. Schlaf – süßer, erholsamer und falsch. Warum das so ist, werden Sie gleich erfahren.
mysteriöser Schlaf. Während Sie schlafen, fühlen Sie sich viel-
leicht weit weg von allem, was um Sie herum passiert – aber
das sind Sie nicht. Selbst wenn Sie tief und fest schlafen, ist Ihr 4.2.1 Biologischer Rhythmus und Schlaf
Wahrnehmungsfenster ein Stück weit geöffnet. Sie bewegen
sich auf Ihrem Bett, fallen aber nicht herunter. Vorbeifahrende Wie der Ozean folgt auch das Leben einer Art Gezeitenrhythmus.
Autos mögen Ihren Schlaf nicht stören, der Schrei eines Babys Unsere Körperfunktionen folgen einem Rhythmus, und so auch
unterbricht ihn jedoch plötzlich. Genauso wie der Klang Ihres unser Seelenleben. Zwei dieser biologischen Rhythmen wollen
Namens. EEG-Aufzeichnungen bestätigen, dass der audito- wir genauer betrachten: unsere biologische 24-Stunden-Uhr und
rische Kortex sogar im Schlaf auf Geräuschreize reagiert (Kutas unsere 90-minütigen Schlafphasen.
1990). Ob Sie nun wach sind oder schlafen – die meisten In-
formationen verarbeiten Sie außerhalb Ihrer bewussten Wahr- Zirkadianer Rhythmus
nehmung.
? 4.4 Wie beeinflussen unsere biologischen Rhythmen unser
» Ich liebe es zu schlafen. Sie auch? Ist es nicht wunderbar? alltägliches Leben?
Es ist wirklich das Beste beider Welten. Man ist lebendig und
Der Rhythmus eines Tages ähnelt dem des Lebens – vom Auf-
unbewusst.
wachen bei der Geburt eines neuen Tages zur allnächtlichen
Comedian Rita Rudner, 1993
Rückkehr zum »Abbild des Todes«, wie Shakespeare den
Die uralten Geheimnisse des Schlafs werden nun gelöst: In Schlaf nannte. Unsere Körper passen sich dem 24-Stunden-
Schlaflabors werden die schlafenden Versuchspersonen an Ge- Rhythmus von Tag und Nacht annähernd mit Hilfe einer bio-
räte angeschlossen, die ihren Schlaf aufzeichnen, und durch logischen Uhr an, die als zirkadiane Rhythmik bezeichnet
98 Kapitel 4 · Bewusstsein und der zweigleisige Verstand

wird (lat. »circa« = ungefähr, »diem« = Tag). Unsere Körper- zacklinie auf dem Papier. War die Maschine etwa immer noch
temperatur steigt an, wenn sich der Morgen nähert, erreicht kaputt?
ihren Höhepunkt mitten am Tag, sinkt am frühen Nachmittag Im weiteren Verlauf der Nacht trat die Aktivität in regelmä-
für kurze Zeit ab (dann halten viele Menschen einen Mittags- ßigen Abständen immer wieder auf. Aserinsky schloss daraus,
schlaf) und fällt noch weiter in den Abendstunden. Unser Den- dass die schnellen, ruckartigen Augenbewegungen von einer
ken und unser Gedächtnis funktionieren am besten, wenn wir energetischen Gehirnaktivität begleitet wurden. Als Armond
uns auf dem Höhepunkt unseres zirkadianen Aktivierungs- während einer solchen Phase aufwachte, berichtete er von einem
4 niveaus befinden. Wenn Sie die ganze Nacht durchmachen oder Traum. Aserinsky hatte das entdeckt, was wir heute als REM-
in der Nachtschicht arbeiten, werden Sie sich mitten in der Nacht Schlaf bezeichnen (»rapid eye movements« = Schlaf mit schnel-
am müdesten fühlen, aber zu ihrer gewöhnlichen Aufstehzeit len Augenbewegungen).
neue Energie gewinnen. REM-Schlaf (»REM sleep«) – Schlafphase, in der sich die Augen schnell
Zirkadiane Rhythmik (»circadian rhythm«) – biologische Uhr; reguläre bewegen (»rapid eye movements«). In diesem sich wiederholenden Schlaf-
Rhythmik der Körperfunktionen (z. B. der Körpertemperatur und des Wach- stadium kommt es in der Regel zu lebhaften Träumen. Der REM-Schlaf
zustands) in einem 24-stündigen Zyklus. wird auch als paradoxer Schlaf bezeichnet, weil die Muskeln entspannt sind
(kleinere Zuckungen ausgenommen), andere Körperfunktionen aber aktiv.

Alter und Erfahrung können unseren zirkadianen Rhythmus ver- Ähnliche Testverfahren mit tausenden Freiwilligen haben gezeigt,
ändern. Die meisten 20-Jährigen sind nachtaktive »Eulen« (May u. dass diese Zyklen ein normaler Bestandteil des Schlafes sind
Hasher 1998), deren Leistungsfähigkeit normalerweise im Laufe (Kleitman 1960). Um diese Studien nachvollziehen zu können,
des Tages immer besser wird. Die meisten älteren Menschen sind versetzen Sie sich doch einmal selbst in die Lage einer solchen Ver-
dagegen »Lerchen«, die den frühen Morgen lieben. Ihre Leistungs- suchsperson. Mit fortschreitender Zeit werden Sie immer müder
fähigkeit lässt im Laufe des Tages nach. In Altersheimen ist es am und gähnen in Folge eines herabgesetzten Gehirnstoffwechsels.
frühen Abend schon ruhig, während für viele junge Erwachsene Das Gähnen streckt die Muskulatur in Ihrem Nacken und erhöht
der Tag erst so richtig beginnt. Der Übergang von »Eule« zu die Frequenz Ihres Herzschlags, wodurch Sie wieder etwas wacher
»Lerche« setzt etwa im Alter von 20 Jahren ein, bei Frauen ein werden (Moorcroft 2003). Wenn Sie nun kurz vor dem Einschlafen
wenig eher (Roenneberg et al. 2004). Bei Frauen ist der frühere sind, befestigt der Untersuchungsleiter Elektroden an Ihrem Kopf
Übergang auch damit zu erklären, dass sie Kinder haben und (um Ihre Gehirnwellen zu messen), an Ihrem Kinn (um dort die
zudem in die Menopause kommen (Leonhard u. Randler 2009; Muskelspannung festzustellen) und direkt neben den Augen (um
Randler u. Bausback 2010). Die Frühaufsteher sind oftmals besser Ihre Augenbewegungen zu registrieren) (. Abb. 4.10). Zusätzliche
in der Schule, zeigen mehr Initiative und sind weniger anfällig für Messinstrumente erfassen Ihren Herzschlag, Ihren Atemrhythmus
Depressionen (Randler 2008, 2009; Randler u. Frech 2009). und den Grad der sexuellen Erregung.
Während Sie mit geschlossenen Augen im Bett liegen, sieht
Delfine, Schweinswale und Wale schlafen immer nur mit einer
der Beobachter im Nebenzimmer auf dem EEG die relativ lang-
Seite des Gehirns (Miller et al. 2008).
samen α-Wellen (Alphawellen), die auftreten, wenn Sie sich in
einem entspannten Wachzustand befinden (. Abb. 4.11). Wäh-
Schlafstadien rend Sie sich an all die Gerätschaften gewöhnen und schließlich
müde werden, gleiten Sie allmählich in den Schlaf (. Abb. 4.12).
? 4.5 Wie sieht der biologische Rhythmus unserer Schlaf-
Der Übergang in den Schlaf ist gekennzeichnet durch eine ver-
und Traumstadien aus?
langsamte Atmung sowie durch die unregelmäßige Hirnwellen-
Wenn uns der Schlaf früher oder später übermannt und die ver- aktivität des 1. Schlafstadiums. Laut der Klassifikation der Schlaf-
schiedenen Teile des Kortex aufhören, miteinander zu kommuni- stadien der neuen American Academy of Sleep Medicine wird
zieren, lässt das Bewusstsein nach (Massimini et al. 2005). Das dieses Stadium als NREM-1 bezeichnet (Silber et al. 2008).
schlafende Gehirn meldet sich nicht unablässig, sondern folgt Alphawellen (α-Wellen; »alpha waves«) – relativ langsame Hirnwellen,
seinem eigenen biologischen Rhythmus. Etwa alle 90 Minuten die kennzeichnend für einen entspannten Wachzustand sind.
durchlaufen wir vier verschiedene Schlafstadien. Diese grund- Schlaf (»sleep«) – periodischer, natürlicher, reversibler Bewusstseinsverlust
legende Erkenntnis war nicht bekannt, bis der 8-jährige Armond – im Gegensatz zu Bewusstseinsverlusten, die durch Koma, Narkose oder
Winterschlaf hervorgerufen werden (nach Dement 1978).
Aserinsky eines Nachts im Jahre 1952 zu Bett ging. Sein Vater
Eugene, der an der Universität von Chicago studierte, musste An einer seiner 15.000 schlafenden Versuchspersonen beobach-
einen Elektroenzephalografen testen, den er tags zuvor repariert tete der Schlafforscher Dement (1999) den Zeitpunkt, an dem
hatte (Aserinsky 1988; Seligman u. Yellen 1987). Er befestigte die sich das Wahrnehmungsfenster des Gehirns zur Außenwelt
Elektroden nahe Armonds Augen, um die Augenbewegungen schließt. Dement bat einen jungen Mann, dem man den Schlaf
aufzuzeichnen, die angeblich im Schlaf auftraten. Kurz darauf entzogen hatte und der mit künstlich offen gehaltenen Augen-
arbeitete das Gerät wie wild und produzierte eine große Zick- lidern auf dem Rücken lag, immer dann eine Taste zu drücken,
4.2 · Schlaf und Träume
99 4

. Abb. 4.10 Messung der Schlafaktivität. Schlafforscher messen die Aktivität der Gehirnwellen, Augenbewegungen und die Muskelspannung über Elek-
troden, die selbst schwache elektrische Signale von Gehirn, Augen und Gesichtsmuskeln registrieren. (Aus Dement 1978, mit freundlicher Genehmigung)

wenn ihn der Lichtreiz eines Stroboskops blendete – dies geschah


ca. alle 6 Sekunden. Nach ein paar Minuten verpasste er einen
Lichtreiz und reagierte nicht. Als er nach dem Grund gefragt
wurde, antwortete er: »Weil kein Lichtreiz da war.« Er hatte den
Lichtreiz übersehen, weil er für 2 Sekunden eingeschlafen war –
das Muster seiner Gehirnwellen verriet dies. Ohne es zu merken,
entging ihm damit nicht nur der 20 cm von seiner Nase entfernte
Lichtreiz, sondern auch die Wahrnehmung des Augenblicks, in
dem er eingeschlafen war.
Während dieses leichten NREM-1-Schlafes nehmen Sie
unter Umständen faszinierende Bilder wahr, die an Halluzina-
tionen erinnern – sensorische Eindrücke, die ohne sensorische
Reizaufnahme erlebt werden. Sie mögen das Gefühl haben zu
fallen (dann zuckt Ihr Körper vielleicht plötzlich) oder schwe-
relos dahinzuschweben. Solche »hypnoiden« Empfindungen
können später als Teile von Erinnerungen wieder auftauchen.
Menschen, die behaupten, von Außerirdischen entführt worden
zu sein – oft kurz, nachdem sie zu Bett gegangen waren – berich-
ten häufig, aus ihren Betten emporgeschwebt oder an ihr Bett
geheftet zu sein (Clancy 2005).
Halluzinationen (»hallucinations«) – irrtümliche sensorische Wahrneh-
mungen, wie etwa das Sehen von Objekten ohne äußere visuelle Reize.

Um Ihre eigene hypnagoge Erfahrung zu machen, können Sie


die Snooze-Funktion Ihres Weckers benutzen.

Kurz nach dem 1. Schlafstadium vertieft sich Ihre Entspannung


und Sie verbringen ungefähr 20 Minuten im 2. Schlafstadium . Abb. 4.11 Gehirnwellen und Schlafstadien. Die Betawellen des alarmierten
NREM-2. Dieses ist gekennzeichnet durch periodische, kurzfris- Wachzustandes sowie die regelmäßigen Alphawellen des entspannten Wach-
tig stark ansteigende rhythmische Aktivitäten der Gehirnwellen, zustandes unterscheiden sich deutlich von den langsameren, stärker ausge-
prägten Deltawellen des Tiefschlafs im 4. Schlafstadium. Obwohl die hochfre-
sog. Schlafspindeln (. Abb. 4.11). Obwohl Sie während dieses
quenten Wellen des REM-Schlafs den Wellen im 1. Schlafstadium ähnlich sind, ist
Stadiums immer noch relativ einfach aufzuwecken sind, schlafen der Körper während des REM-Schlafs deutlich stärker erregt als im NREM-Schlaf.
Sie bereits eindeutig. (Rebecca Spencer, University of Massachusetts, half bei dieser Abbildung)
100 Kapitel 4 · Bewusstsein und der zweigleisige Verstand

. Abb. 4.12 Der Moment des Einschlafens. Wir scheinen uns des Moments des Einschlafens nicht bewusst zu sein, aber jemand, der unsere Gehirn-

4 aktivität beobachtet, könnte ihn bestimmen. (Aus Dement 1999, mit freundlicher Genehmigung)

Anschließend gehen Sie über in das 3. Schlafstadium NREM- Schlafs schneller, zudem atmen Sie schneller und unregelmäßiger.
3. Während dieser etwa 30 Minuten andauernden Tiefschlaf- Dazu bewegen sich Ihre Augäpfel ungefähr alle 30 Sekunden
phase strahlt Ihr Gehirn stark ausgeprägte, langsame Delta- ruckartig hinter den geschlossenen Augenlidern. Diese Augen-
wellen ab – Sie sind nun sehr schwer zu wecken. Am Ende bewegungen kündigen den Beginn eines Traums an, welcher oft
dieser Tiefschlafphase kann es vorkommen, dass Kinder das Bett emotional und reichlich sinnestäuschend sowie üblicherweise wie
nässen. eine Geschichte aufgebaut ist. Da diese Augenbewegungen von
jedem wahrnehmbar sind, der die Augen eines Schläfers beobach-
Deltawellen (δ-Wellen; »delta waves«) – langsame Hirnwellen mit großer
Amplitude. δ-Wellen gehen mit Tiefschlaf einher. tet, ist es erstaunlich, dass der REM-Schlaf bis 1952 nicht von der
Wissenschaft zur Kenntnis genommen wurde.
Mit Ausnahme von Schlafphasen mit Albträumen kommt es
REM-Schlaf während des REM-Schlafes zu Erregungen im Genitalbereich.
Ungefähr eine Stunde, nachdem Sie eingeschlafen sind, geschieht Sie haben daher eine Erektion oder eine stärker durchblutete
etwas Merkwürdiges. Anstatt in den Tiefschlaf überzugehen, tau- Vagina in Verbindung mit einer vergrößerten Klitoris – un-
chen Sie aus ihrem anfänglichen Schlafstadium wieder auf. Sie abhängig davon, ob der Traum sexuellen Inhalts ist oder nicht
kehren zurück zum NREM-2-Schlaf (in dem Sie fast die Hälfte (Karacan et al. 1966). Die morgendliche Erektion, die bei
der Nacht verbringen) und treten dann in die faszinierendste Männern oft kurz vor dem Erwachen auftritt, ist ein Überbleibsel
Schlafphase ein, den REM-Schlaf (. Abb. 4.13, . Abb. 4.14). Für der letzten REM-Phase. Bei jungen Männern überdauert die
etwa 10 Minuten sind Ihre Hirnwellen schnell und zackenförmig sexuelle Erregung die REM-Phasen und bleibt durchschnittlich
ausgeprägt, ungefähr so wie in der 1. Schlafphase. Aber im Gegen- für 30–45 Minuten erhalten (Karacan et al. 1983; Schiavi u.
satz zum 1. Schlafstadium schlägt ihr Herz während des REM- Schreiner-Engel 1988). Der typische 25-jährige Mann hat daher
während nahezu der Hälfte seines Schlafes eine Erektion, ein
65-jähriger Mann noch während eines Viertels der Nacht. Viele
Männer mit Erektionsproblemen (Impotenz) haben morgend-
liche Erektionen, die darauf hindeuten, dass sich das Problem
nicht zwischen ihren Beinen befindet.
Obwohl der motorische Kortex Ihres Gehirns während der
REM-Phasen aktiv ist, blockiert der Hirnstamm dessen Signale.
Dadurch bleiben Ihre Muskeln so entspannt, dass Sie – abge-
sehen von einer gelegentlich auftretenden Bewegung eines
Fingers, eines Zehs oder einem Zucken der Gesichtsmuskulatur
– vollständig gelähmt sind. Es ist nicht einfach, Sie in dieser
Phase aufzuwecken. Wenn man aus dem REM-Schlaf aufwacht,
bleibt diese Unbeweglichkeit manchmal bestehen und verursacht
ein beunruhigendes Erlebnis von Schlafparalyse (Santomauro u.
French 2009). Aus diesem Grund wird der REM-Schlaf auch als
paradoxer Schlaf bezeichnet – der Körper ist im Inneren erregt
und zeigt Gehirnaktivitäten wie im wachen Zustand, gleichzeitig
schläft er jedoch und scheint nach außen hin ruhig.

Pferde verbringen 92% ihres Tages mit Stehen und können auch
. Abb. 4.13 »Junge, Junge, sind meine Augen müde! Ich war die ganze im Stehen schlafen – für den REM-Schlaf müssen sie sich jedoch
Nacht im REM-Schlaf.« (© ScienceCartoonsPlus.com) hinlegen (Morrison 2003).
4.2 · Schlaf und Träume
101 4

. Abb. 4.14a,b Typische Nachtschlafphasen. Mehrmals in der Nacht durchläuft man einen mehrphasigen Schlafzyklus, wobei der Anteil der Tiefschlaf-
phasen abnimmt und der Anteil der REM-Phasen zunimmt. Je älter man wird, desto schwächer wird der Schlaf – Aufwachen mitten in der Nacht ist bei älteren
Menschen normal. (Kamel u. Gammack 2006, with permission from Elsevier; Neubauer 1999)

Der Schlafzyklus wiederholt sich etwa alle 90 Minuten. Während Prüfen Sie Ihr Wissen
die Nacht weiter voranschreitet, nimmt der Tiefschlafanteil
NREM-3 immer weiter ab und verschwindet schließlich vollstän- 5 Warum bringt gemeinschaftliches Schlafen zusätzlichen
dig. Die REM- und NREM-2-Phasen dauern dafür immer länger Schutz für diejenigen, deren Sicherheit von Wachsamkeit
an (. Abb. 4.14). Wenn wir morgens aufwachen, haben wir unge- abhängt, wie bei diesen Soldaten in . Abb. 4.15?
fähr 25% der Nacht im REM-Schlaf verbracht – das entspricht 5 Können Sie das kognitive Erlebnis der jeweiligen Schlaf-
etwa 100 Minuten. 37% der Menschen geben an, selten oder nie phase zuordnen?
einen Traum gehabt zu haben, »an den man sich am nächsten 1. NREM-1
Morgen erinnern kann« (Moore 2004). Dennoch werden sie sich 2. NREM-3
in über 80% der Fälle an einen Traum erinnern, nachdem sie aus 3. REM
dem REM-Schlaf aufgeweckt wurden. Wir verbringen etwa a. geschichtenähnlicher Traum
600 Stunden pro Jahr träumend und erleben dabei ungefähr b. vorbeiziehende Bilder
1500 Träume, das entspricht mehr als 100.000 Träumen umge- c. geringe Aufmerksamkeit
rechnet auf die durchschnittliche Lebensspanne – Träume, die im 5 Welches sind die vier Schlafphasen und in welcher
Dunkeln der Nacht verborgen bleiben, aber aufgrund der schüt- Reihenfolge durchleben wir sie normalerweise?
zenden Lähmung des REM-Schlafes nie ausgelebt werden.
102 Kapitel 4 · Bewusstsein und der zweigleisige Verstand

. Abb. 4.15 Sicherheit in der Menge? Bundeswehrsoldaten ruhen sich nach einer anstrengenden Nacht nahe Kundus, Afghanistan, aus. (© Maurizio
Gambarini / dpa / picture alliance)

Was beeinflusst unsere Schlafmuster? Helles Licht am Morgen bringt die zirkadiane Uhr in Schwung,
indem lichtsensitive Proteine in der Retina aktiviert werden.
? 4.6 Wie wirken sich Biologie und Umfeld auf unsere
Diese Proteine steuern wiederum die zirkadiane Uhr durch das
Schlafmuster aus?
Auslösen von Signalen zum Nucleus suprachiasmaticus im Ge-
Die Vorstellung, jeder wäre auf 8 Stunden Schlaf angewiesen, hirn – zwei reiskorngroße Gewebegruppen bestehend aus etwa
entspricht nicht der Wirklichkeit. Neugeborene verbringen etwa 10.000 Zellen, die sich im Hypothalamus befinden (Wirz-Justice
zwei Drittel des Tages schlafend, die meisten Erwachsenen nicht 2009). Die Aufgabe des Nucleus suprachiasmaticus besteht darin,
mehr als ein Drittel. Dennoch ist die Dauer des Schlafs nicht nur die Produktion des schlaffördernden Hormons Melatonin in der
vom Alter abhängig. Manche Menschen schlafen weniger als Epiphyse (Zirbeldrüse) im Gehirn zu steuern. So wird die Pro-
6 Stunden pro Nacht, während andere regelmäßig 9 Stunden duktion von Melatonin morgens herabgesetzt und abends wieder
und mehr schlafen. Solche Schlafmuster sind genetisch bedingt gesteigert (. Abb. 4.16).
(Hor u. Tafti 2009). Als Webb u. Campbell (1983) Schlafmuster Ständig von Licht umgeben, wird unsere biologische Uhr in
und -dauer an ein- und zweieiigen Zwillingen untersuchten, ihrem 24-Stunden-Rhythmus gestört (Czeisler et al. 1999;
wiesen nur die Daten eineiiger Zwillinge signifikante Ähnlich- Dement 1999). Die innere Uhr unserer Vorfahren war auf den
keit auf. Heutzutage entdecken Forscher die Gene, die den Schlaf Auf- und Untergang der Sonne an einem 24-Stunden-Tag ein-
von Menschen und Tieren regulieren (Donlea et al. 2009; He et gestellt. Erstaunlicherweise schaffen es heute viele junge Erwach-
al. 2009). sene, sich auf einen 25-Stunden-Tag einzustellen, indem sie zu
Darüber hinaus sind Schlafmuster auch kulturell beeinflusst. lange wach bleiben, um 8 Stunden schlafen zu können. Dafür
In den Vereinigten Staaten und Kanada liegt die durchschnittliche können wir Thomas Edison, dem Erfinder der Glühbirne, dan-
Schlafdauer eines Erwachsenen bei 7–8 Stunden pro Nacht (Hurst ken (oder ihn beschuldigen). Das erklärt zum Teil, warum wir
2008; National Sleep Foundation 2010; Robinson u. Martin 2009). uns gerade in späteren Jahren dazu zwingen müssen, früher ins
Der werktägliche Schlaf vieler Studenten und Arbeiter liegt unter Bett zu gehen oder früher aufzustehen. Die meisten Tiere bleiben
diesem Durchschnitt (NSF 2008). Nordamerikaner schlafen je- ebenso 24 Stunden wach, wenn sie konstant künstlichem Licht
doch generell weniger als ihre Vorfahren vor etwa einem Jahrhun- ausgesetzt werden. Künstliches Licht verzögert den Schlaf.
dert. Aufgrund von künstlicher Beleuchtung, Schichtarbeit und
Ein zirkadianer Nachteil: Eine Studie über 24.121 Baseballspiele
verändertem Freizeitverhalten bleiben viele Menschen bis 23 Uhr
der Major League ergab, dass die Teams, die über drei Zeitzonen
oder später auf, anstatt wie üblich um 21 Uhr ins Bett zu gehen. So
gereist sind, mit einer Wahrscheinlichkeit von 60% ihr erstes Spiel
wie im wachen Zustand interagieren Biologie und Umfeld auch
verlieren ( Winter et al. 2009).
im Schlaf.
Schlaf entzieht sich meist denjenigen, die abends lange wach blei-
Menschen schnarchen selten, während sie träumen. In der Regel ben oder am Wochenende lange schlafen, um dann mit Blick auf
hört das Schnarchen auf, sobald die REM-Phasen einsetzen. die kommende Arbeitswoche am Sonntagabend wieder früh ins
4.2 · Schlaf und Träume
103 4

. Abb. 4.16a,b Die biologische Uhr. Licht, das auf die Retina trifft, veranlasst den Nucleus suprachiasmaticus, die Produktion des Schlafhormons Melatonin
in der Zirbeldrüse zu unterdrücken. In der Nacht ist der Nucleus suprachiasmaticus normalerweise ruhig, sodass die Zirbeldrüse Melatonin in den Blutkreislauf
abgeben kann

Bett zu gehen (Oren u. Terman 1998). Sie sind wie New Yorker, hatten größere Chancen, Nachkommen zu hinterlassen.
deren innere Uhr auf die kalifornische Zeit eingestellt ist. Nord- Dies entspricht einem weiteren Grundsatz: Die Schlafge-
amerikanern, die nach Europa geflogen sind, hilft helles Licht, wohnheiten einer Spezies entsprechen ihrer ökologischen
ihre biologische Uhr zurückzusetzen (z. B. indem sie den nächs- Nische (Siegel 2009). Tiere, die viel Zeit mit Grasen verbrin-
ten Tag draußen verbringen), wenn sie aufbleiben müssen, aber gen oder sich nicht gut verstecken können, schlafen am
ihr zirkadianer Rhythmus »SCHLAF« schreit (Czeisler et al. wenigsten (für ein Beispiel von Schlafzeiten s. . Abb. 4.17).
1986, 1989; Eastman et al. 1995). 2. Schlaf dient der Erholung. Er trägt zur Wiederherstellung
und Erholung des Gehirngewebes bei. Fledermäuse und
Prüfen Sie Ihr Wissen
andere Tiere mit einer starken Stoffwechselaktivität im
5 Der Nucleus unterstützt die Frei- Wachzustand verbrennen viele Kalorien und produzieren
setzung von Melatonin im Gehirn, welches unseren viele freie Radikale – das sind Moleküle, die Gift für die
Rhythmus beeinflusst. Nervenzellen sind. Wenn man viel schläft, verschafft man
ruhenden Nervenzellen die Zeit, sich selbst zu reparieren,
während gleichzeitig ungenutzte Verbindungen schwächer
werden (Gilestro et al. 2009; Siegel 2003; Vyazovskiy et al.
4.2.2 Schlaftheorien 2008). Stellen Sie sich das so vor: Wenn das Bewusstsein
das Haus verlässt, kommen die Handwerker des Gehirns,
um alles zu renovieren.
? 4.7 Welche Funktionen hat der Schlaf?
3. Schlaf ist wichtig für das Gedächtnis. Im Schlaf werden
unsere verblassenden Erinnerungen an die Erlebnisse des
» Schlaf schneller, wir brauchen die Kissen.
Tages wiederhergestellt und neu aufgebaut. Schlaf festigt
Jüdisches Sprichwort
unser Gedächtnis – er stärkt und stabilisiert neuronale Ge-
Unsere Schlafmuster unterscheiden sich also von Person zu Per- dächtnisspuren (Racsmány et al. 2010; Rasch u. Born 2008).
son und von Kultur zu Kultur. Aber warum haben wir überhaupt Menschen, denen man beigebracht hatte, eine Aufgabe
dieses Bedürfnis nach Schlaf? Psychologen glauben, dass sich der auszuführen, konnten sich nach einer Nacht Schlaf, oder
Schlaf aus folgenden fünf Gründen entwickelt hat: auch nur nach einem kurzen Nickerchen, besser daran
1. Schlaf hat eine schützende Funktion. Wenn das Ein- erinnern, als wenn sie mehrere Stunden wach blieben
brechen der Dunkelheit dem Jagen und Sammeln unserer (Stickgold u. Ellenbogen 2008). Bei älteren Menschen hilft
Vorfahren tagtäglich ein natürliches Ende bereitete und mehr Schlaf dabei, kürzlich gelernte Dinge besser zu be-
das Umherziehen in der Dämmerung zunehmend von halten (Drummond 2010). Nachdem sie gut geschlafen
Gefahren begleitet war, waren sie schlafend in einer Höhle haben, können sich Senioren an mehr Dinge erinnern.
besser und sicherer aufgehoben. Diejenigen unserer ent- Und sowohl bei Menschen als auch bei Ratten setzt die
fernten Vorfahren, die nicht versucht haben, sich mitten neuronale Aktivität während des Schlafs mit langsamen
in der Nacht um Felsen und Klippen herum zu bewegen, EEG-Wellen wieder ein und fördert die Erinnerung an
104 Kapitel 4 · Bewusstsein und der zweigleisige Verstand

. Abb. 4.17a–h Schlafzeiten von Tieren. Wären Sie lieber eine Fledermaus, die 20 Stunden am Tag schläft, oder eine Giraffe, die täglich nur 2 Stunden
schläft? (a, b, e–h: © Getty Images / iStockphoto; c: © gitusik / Fotolia; d: © caan2gobelow / Fotolia)

zuvor neuartige Erlebnisse (Peigneux et al. 2004; Ribeiro 5. Schlaf unterstützt das Wachstum. Während der Tiefschlaf-
et al. 2004). Schlaf scheint also das Gedächtnis in einer stadien schüttet die Schilddrüse ein Wachstumshormon
Weise zu stärken, wie es der Wachzustand nicht tut. aus, welches wichtig für die Muskelentwicklung ist. Der
4. Schlaf fördert kreatives Denken. In einigen Fällen haben gewöhnliche Schlaf einer ganzen Nacht kann zudem »eine
Träume nennenswerte literarische, künstlerische und dramatische Steigerung Ihrer sportlichen Fähigkeiten be-
wissenschaftliche Leistungen hervorgebracht. So z. B. der wirken«, sagen James Maas und Rebecca Robbins (7 Unter
Traum, der den Chemiker August Kekulé auf die Struktur der Lupe: Schlaf und sportliche Leistung). Mit zunehmendem
von Benzol gebracht hat (Ross 2006). Weitaus gewöhnlicher Alter verringert sich die Ausschüttung des Wachstums-
ist der Anstieg unserer Denk- und Lernleistung, nachdem hormons, und die Menschen verbringen weniger Zeit im
wir eine komplette Nacht geschlafen haben. Nachdem sie an Tiefschlaf (Pekkanen 1982).
einer Aufgabe gearbeitet und danach geschlafen haben, lösen
Menschen Probleme einsichtiger als jene, die wach geblieben Betrachtet man all diese Vorteile von Schlaf, so ist es kein Wunder,
sind (Wagner et al. 2004). Zudem finden sie schneller Zu- dass uns Schlafmangel so zusetzt.
sammenhänge in neuen Informationen (Ellenbogen et al.
2007). Um clever zu denken und Zusammenhänge zu be- Prüfen Sie Ihr Wissen

greifen, lohnt es sich meist, eine Nacht darüber zu schlafen. 5 Welche fünf Theorien erklären unser Bedürfnis nach
Schlaf?
» Vergiss nicht zu schlafen, denn du brauchst den Schlaf,
um nichts zu vergessen.
James B. Maas, 2010
4.2 · Schlaf und Träume
105 4

Unter der Lupe

Schlaf und sportliche Leistung

Sport verbessert den Schlaf. Nicht allgemein Die REM- und NREM-2-Phasen, die hauptsäch- die körperliche Anstrengung den Schlaf stört.
bekannt ist allerdings, so James Maas und lich in den letzten Stunden eines langen Schlafs Präzises Muskeltraining, wie z. B. Tontauben-
Rebecca Robbins (2010), dass Schlaf auch die auftreten, unterstützen die Stärkung der Ner- schießen, ist jedoch günstig vor dem Schlafen-
sportliche Leistung verbessert. Ausgeruhte venverbindungen des Langzeitgedächtnisses. gehen.
Athleten haben schnellere Reaktionszeiten, Dies umfasst auch das »Muskelgedächtnis« Maas arbeitete als Schlafberater für studen-
mehr Energie, eine höhere Ausdauer und nach der sportlichen Übung, wie z. B. Tennis- tische und professionelle Athleten und Teams.
zeigen eine bessere Leistung – dabei sind spielen oder Körbewerfen beim Basketball. Auf seinen Ratschlag hin hörten die Spieler des
8–10 Stunden Schlaf pro Tag am besten. Die optimale Zeit zum Üben ist laut Maas und Vereins Orlando Magic mit dem Training am
Berühmte Geigenspieler berichten von durch- Robbins der späte Nachmittag oder frühe frühen Morgen auf. Er beriet außerdem eine
schnittlich 8,5 Stunden Schlaf pro Tag und Abend, wenn die natürliche Kühlfunktion des junge Frau, Sarah Hughes, die bei sich keinen
sehen Übung und Schlaf als die wichtigsten Körpers am besten funktioniert. Übungen am Fortschritt beim Eiskunstlauf sah. »Lass die
Aktivitäten zur Leistungssteigerung an (Ericsson frühen Morgen sind hingegen weniger gut, frühmorgendlichen Übungen sein«, empfahl
et al. 1993). sie erhöhen das Risiko einer Verletzung und er ihr als Teil der vorgeschlagenen Schlafkur.
Kurzwelliger Schlaf, der hauptsächlich in der rauben den Athleten wertvollen Schlaf. Darüber Bald darauf verbesserte sich ihre Leistung
ersten Hälfte der Nacht auftritt, produziert das hinaus sollte zu viel Sport in den drei Stunden und sie gewann 2002 die olympische Gold-
Wachstumshormon für die Muskelentwicklung. vorm Schlafengehen vermieden werden, da medaille.

4.2.3 Schlafentzug und Schlafstörungen Wenn sie so lange schlafen können, wie sie möchten, wer-
den die meisten Erwachsenen mindestens 9 Stunden pro Nacht
schlafen (Coren 1996). Mit so viel Schlaf wachen wir frisch und
? 4.8 Welche Auswirkungen hat Schlafmangel und was sind
erholt auf, sind in besserer Stimmung und leisten effizientere
die wesentlichen Schlafstörungen?
und präzisere Arbeit. Die U.S. Navy und das amerikanische
Wenn unser Körper nach Schlaf verlangt, ihn aber nicht be- National Institute of Health wollten in zwei Experimenten die
kommt, fühlen wir uns entsprechend schlecht. Wer versucht, Vorteile des uneingeschränkten Schlafens demonstrieren. Zu
wach zu bleiben, verliert letzten Endes immer. In diesem ermü- diesem Zweck haben Freiwillige mindestens eine Woche lang
denden Kampf geht der Schlaf immer als Sieger hervor. mindestens 14 Stunden pro Tag im Bett verbracht. In den ersten
paar Tagen schliefen die Versuchspersonen beider Untersu-
1989 wurde Michael Doucette mit dem Titel des sichersten
chungen pro Tag durchschnittlich 12 Stunden und mehr. Offen-
Autofahrers von Amerika unter 20 Jahren ausgezeichnet. Als er
bar glichen sie dadurch ein Schlafdefizit von durchschnittlich
1990 von der Universität nach Hause fuhr, schlief er am Steuer
25–30 Stunden Schlaf aus. Als dies erledigt war, pendelte sich
ein und prallte frontal mit einem entgegenkommenden Wagen
ihr Schlafbedürfnis bei 7,5–9 Stunden pro Nacht ein, und frei
zusammen. Bei dem Unfall kamen er selbst und der andere
von jeglichem Schlafdefizit fühlten sie sich fitter und zufrie-
Fahrer ums Leben. Michaels Fahrlehrer gestand später ein,
dener (Dement 1999). Bei einer Gallup-Umfrage (Mason 2005)
er hätte mit ihm nie über Übermüdung im Straßenverkehr
berichteten 63% der Erwachsenen, die ihren Angaben nach
gesprochen. (Dement 1999)
genügend Schlaf bekamen, dass sie mit ihrem persönlichen
Leben »sehr zufrieden« seien (dies war bei nur 36% derjenigen
Auswirkungen von Schlafmangel der Fall, die mehr Schlaf bräuchten). Als 909 berufstätige Frauen
Mehr denn je lassen uns unsere heutigen Schlafmuster schläf- ihre tägliche Stimmung angeben sollten, waren die Forscher
rig fühlen und rauben uns darüber hinaus Energie und gute erstaunt, welche Faktoren dabei eine Rolle spielen. So hat Geld
Laune. Schlafen wir mehrmals hintereinander nur 5 Stunden nur sehr wenig Einfluss auf die Stimmung (solange die Frau nicht
pro Nacht, häufen wir ein Schlafdefizit an, welches zwar nicht mit Armut zu kämpfen hatte), wohingegen weniger Zeitdruck
vollständig aufgeholt werden muss, aber auch nicht durch einen am Arbeitsplatz und guter Schlaf am wichtigsten seien (Kahne-
einzigen langen Schlaf ausgeglichen werden kann. »Das Gehirn man et al. 2004). Vielleicht ist es nicht verwunderlich, dass 3 von
führt über mindestens zwei Wochen Buch über die Schlafzeiten«, 10 Amerikanern auf die Frage, ob sie sich am vorigen Tag aus-
schreibt Schlafforscher William Dement (1999, S. 64). Haben reichend ausgeruht haben, mit »nein« antworten (Pelham 2010;
wir zu wenig geschlafen, fühlen wir uns entsprechend schlecht, . Abb. 4.18).
da der Körper nach Schlaf verlangt. Es ist also offensichtlich, Insbesondere Studenten an Colleges und Universitäten sind
dass wir Schlaf brauchen. Er bestimmt ungefähr ein Drittel von Schlafmangel betroffen: 69% berichten einer nationalen
unseres Lebens – das sind im Durchschnitt etwa 25 Jahre. Studie zufolge, sie hätten sich innerhalb der letzten 2 Wochen an
Aber weshalb? einigen oder vielen Tagen »müde gefühlt« oder »wenig Energie
106 Kapitel 4 · Bewusstsein und der zweigleisige Verstand

. Abb. 4.18 Schlaflos und leidend. Diese müden und schlafberaubten Rettungskräfte beim Erdbeben in Peru 2007 haben möglicherweise ein geschwächtes
Immunsystem, Konzentrationsstörungen und ein höheres Risiko für Unfälle. (© EPA / SERGIO URDAY / picture-alliance / dpa)

gehabt« (AP 2009). In einer anderen Studie mit High-School- mehr Schlaf unter der Woche (Mason 2003, 2005). Dennoch:
Schülern bemerkten 28%, sie würden mindestens einmal pro Wer nach dem morgendlichen Weckerklingeln aus dem Bett
Woche während des Unterrichts einschlafen (Sleep Foundation taumelt, sich durch die ersten Vorlesungsstunden gähnt und sich
2006). (Um zu testen, ob auch Sie einer von vielen Studenten mit die meiste Zeit des Tages über halb depressiv fühlt, kann gegen
Schlafdefizit sind, schauen Sie sich . Tab. 4.1 an.) 23 Uhr wieder energiegeladen sein – ungeachtet der drohenden
Schläfrigkeit am folgenden Tag (Carskadon 2002). »Schlafentzug
Bei einer Umfrage des Gallup-Instituts von 2001 gaben 61%
hat seine Konsequenzen – Schwierigkeiten beim Lernen, gerin-
der Männer, aber nur 47% der Frauen an, in ausreichendem Maß
gere Produktivität, Reizbarkeit, Erschöpfung und die Tendenz,
Schlaf zu bekommen.
häufiger Fehler zu machen«, so Dement (1999, S. 231). Ein hohes
Schlaflosigkeit ist ein Vorbote von Depressionen. Eine Studie mit Schlafdefizit »macht Sie dumm«.
15.500 jungen Leuten im Alter von 12 bis 18 Jahren zeigt, dass Darüber hinaus kann es Sie auch dicker machen. Infolge
diejenigen, die maximal 5 Stunden pro Nacht schliefen, ein um von Schlafentzug steigt die Produktion von Ghrehlin, einem
71% höheres Risiko für eine Depression besaßen, als die Jugend- Hunger auslösenden Hormon, – gleichzeitig sinkt die Produk-
lichen mit mindestens 8 Stunden Schlaf pro Nacht (Gangwisch et tion des Hunger unterdrückenden Hormons Leptin (mehr dazu
al. 2010). Dieser Zusammenhang erklärt jedoch nicht die Schlaf- in 7 Kap. 12). Zudem wird mehr vom Stresshormon Cortisol
probleme, die durch Depressionen auftreten. Wenn man Kinder produziert, welches wiederum die Fettproduktion anregt. Man
und Jugendliche im Laufe der Jahre beobachtet, so bedingt kann mit Sicherheit sagen, dass die Kinder und Erwachsenen mit
Schlafmangel eher eine Depression als andersherum (Gregory et zu wenig Schlaf dicker sind, als die mit mehr Schlaf (Chen et al.
al. 2009). Darüber hinaus schützt die Verarbeitung der emotio- 2008; Knutson et al. 2007; Schoenborn u. Adams 2008). In Expe-
nalen Erlebnisse im REM-Schlaf vor Depressionen (Walker u. rimenten beobachteter Schlafentzug bei Erwachsenen zeigte
van der Helm 2009). Nach einem erholsamen Schlaf fühlen wir einen Anstieg des Appetits und Essens (Nixon et al. 2008; Patel
uns meist am nächsten Tag besser. Und dies mag erklären, warum et al. 2006; Spiegel et al. 2004; Van Cauter et al. 2007). Dies mag
bei Kindern, deren Eltern feste Schlafenszeiten vorgeben, weni- die verbreitete Gewichtszunahme bei Studenten mit zu wenig
ger Depressionen zu finden sind, und warum ein späterer Schul- Schlaf erklären (Hull et al. 2007).
beginn am Morgen den Schlaf und folglich die Aufmerksamkeit Neben einem erhöhten Risiko für Fettleibigkeit kann der
und Stimmung der Jugendlichen verbessert (Gregory et al. 2009; Schlafentzug zu einer Unterdrückung der Produktion von
Owens et al. 2010). Immunzellen führen, die Virusinfektionen und Krebs bekämp-
Selbst im wachen Zustand arbeiten Schüler und Studenten fen (Motivala u. Irwin 2007). In einem Experiment wurden Frei-
oftmals unter ihrer Höchstleistung. Und sie wissen es: 4 von 5 Ju- willige einem Erkältungsvirus ausgesetzt. Diejenigen, die durch-
gendlichen und 3 von 5 der 18- bis 29-Jährigen wünschen sich schnittlich weniger als 7 Stunden Schlaf pro Nacht hatten, waren
4.2 · Schlaf und Träume
107 4

. Tab. 4.1 Schlafen Sie zu wenig? Maas (1999) berichtet, dass die meisten Studierenden an den Folgen von Schlafmangel leiden. Beantworten Sie
die folgenden Fragen, wenn Sie feststellen wollen, ob Sie selbst auch zur betroffenen Personengruppe gehören:

Stimmt Stimmt nicht

  1. Um rechtzeitig aufzuwachen, bin ich auf einen Wecker angewiesen.

  2. Morgens komme ich schwer aus dem Bett.


  3. An Wochentagen nutze ich morgens mehrmals die Schlummerfunktion meines Weckers, um noch ein bisschen
mehr Schlaf zu bekommen.
  4. Unter der Woche fühle ich mich müde, reizbar und gestresst.
  5. Ich habe Konzentrations- und Gedächtnisprobleme.
  6. Ich habe den Eindruck, beim kritischen Denken, beim Lösen von Problemen und bei kreativen Tätigkeiten
langsam zu sein.

  7. Oft schlafe ich vor dem Fernseher ein.


  8. Bei langweiligen Meetings, Vorlesungen oder in warmen Räumen schlafe ich häufig ein.
  9. Nach üppigen Mahlzeiten oder geringen Mengen Alkohol neige ich dazu einzuschlafen.
  10. Oft schlafe ich ein, wenn ich mich abends nach dem Essen entspanne.
  11. Häufig schlafe ich innerhalb der ersten 5 Minuten ein, nachdem ich zu Bett gegangen bin.
  12. Beim Autofahren fühle ich mich häufig müde.
  13. Am Wochenende schlafe ich morgens ein paar Stunden länger.
  14. Tagsüber brauche ich oft einen kurzen Mittagsschlaf, um über die Runden zu kommen.

  15. Ich habe dunkle Augenringe.

Sollten Sie 3 oder mehr Fragen mit »stimmt« beantwortet haben, schlafen Sie wahrscheinlich zu wenig. Um Ihrem Schlafbedürfnis gerecht zu
werden, empfiehlt Maas, dass Sie in der kommenden Woche 15 Minuten früher als normal zu Bett gehen. In der nächsten Woche verlängern Sie Ihre
Schlafzeit wiederum um 15 Minuten und so weiter, bis Sie ohne Wecker aufwachen und sich den ganzen Tag über aufnahmebereit und wach fühlen.
(Adaptiert nach Maas 1999)

3-mal so anfällig für eine Erkältung, wie diejenigen mit mindes- das Desaster bei Union Carbid in Bhopal (Indien) 1984 sowie an
tens 8 Stunden Schlaf pro Nacht (Cohen et al. 2009). Der schüt- die Reaktorunfälle auf Three Mile Island 1979 und in Tschernobyl
zende Effekt des Schlafs mag erklären, weshalb Menschen, die 1986: Alle ereigneten sich nach Mitternacht, also zu einem Zeit-
jede Nacht 7–8 Stunden schlafen, im Durchschnitt länger leben punkt, als die Müdigkeit der verantwortlichen Diensthabenden
als jene, die chronisch unter Schlafmangel leiden, und weshalb wahrscheinlich ihren Höhepunkt erreicht hatte. So auch 2011, als
ältere Erwachsene, die keine Einschlaf- und Durchschlafpro- Piloten, die eine Landeerlaubnis benötigten, die schlafenden Flug-
bleme haben, in der Regel länger leben als Gleichaltrige mit lotsen mehrerer amerikanischer Flughäfen nicht aufwecken konn-
wenig Schlaf (Dement 1999; Dew et al. 2003). Wenn Infektionen ten. Wenn schläfrige Frontallappen mit einer unerwarteten Situa-
auftreten, schlafen wir in der Regel auch länger, um unsere tion konfrontiert werden, geschehen oft Unglücke.
Immunzellen zu stärken. Stanley Coren befasste sich mit einem Phänomen, welches
für die meisten Nordamerikaner und auch Europäer wohl ein
» So shut your eyes, kiss me goodbye, and sleep, just sleep.
halbjährliches, den Schlaf beeinflussendes Experiment ist – die
Song von My Chemical Romance
Umstellung von Sommer- auf Winterzeit und andersherum. Die
Schlafentzug verlangsamt die Reaktion und vermehrt die Fehler Recherche von Millionen von Berichten ergab, dass sowohl in
bei visuellen Aufgaben, wie etwa bei der Überprüfung des Ge- Kanada als auch in den Vereinigten Staaten die Anzahl der
päcks auf einem Flughafen, bei chirurgischen Eingriffen und bei Unfälle kurz nach der Zeitumstellung, die den Schlaf verkürzt,
der Bewertung von Röntgenbildern (Lim u. Dinges 2010). Daraus ansteigt (. Abb. 4.19).
resultieren unter anderem verheerende Folgen für den Straßen- . Abb. 4.20 fasst die negativen Auswirkungen von Schlafent-
verkehr, die Luftfahrt und die Bedienung technischer Anlagen. zug zusammen. Aber es gibt auch eine gute Botschaft! Psycholo-
Müdigkeit des Fahrers war der Grund für etwa 20% der Verkehrs- gen haben eine Behandlung entdeckt, durch die das Gedächtnis
unfälle in Amerika (Brody 2002) sowie etwa 30% der Verkehrs- besser wird, die Konzentration zunimmt, die Stimmung heiterer
unfälle mit Todesfolge auf australischen Autobahnen (Maas 1999). wird, der Hunger und die Fettleibigkeit zurückgehen, die körper-
Denken Sie auch an die Tankerkatastrophe der Exxon Valdez 1989, eigene Immunabwehr gestärkt wird und das Risiko für Unfälle
108 Kapitel 4 · Bewusstsein und der zweigleisige Verstand

ins Bett gehen und nach 6 Stunden vom grauenhaften Lärm eines
Weckers aus dem Bett getrieben werden, ist die Behandlung
ziemlich einfach: Schlafen Sie pro Nacht eine Stunde länger.

Die wesentlichen Schlafstörungen


Unabhängig von ihrem individuellen Bedürfnis nach Schlaf
klagen einer von zehn Erwachsenen und einer von vier älteren
4 Erwachsenen über Insomnie – anhaltende Einschlaf- oder
Durchschlafprobleme. Damit unterscheidet sich die Insomnie
von gelegentlich vorkommenden Schlafproblemen, die wir in
Stresssituationen oder bei Aufregung erleben (Irwin et al. 2006).
Insomnie (»insomnia«) – wiederholt auftretende Einschlaf- oder Durch-
schlafschwierigkeiten.

. Abb. 4.19 Autounfälle in Kanada. An den Montagen nach der Umstel- Gelegentliches Aufwachen aus dem Schlaf ist ab etwa der
lung der Uhr auf Sommerzeit (als die Menschen 1 Stunde weniger schliefen) Mitte unseres Lebens durchaus normal und kein Grund, sich Sor-
kam es zu mehr Autounfällen als am Montag vorher. Im Herbst gibt es
gen zu machen oder auf Medikamente zurückzugreifen (Vitello
wegen Schnee, Glätte und Dunkelheit mehr Unfälle, aber nach der Zeit-
umstellung werden es wieder weniger. (Nach Coren 1996) 2009). Insomnie wird ironischerweise umso schlimmer, je mehr
Sorgen man sich darum macht. In Laborstudien schliefen Men-
schen, die über Insomnie klagten, zwar weniger als beschwerde-
mit tödlichem Ausgang sinkt. Und eine noch bessere Botschaft: freie Personen, schätzten aber in der Regel die Zeit, die sie zum
Die Behandlung vermittelt ein gutes Gefühl, sie kann ohne Einschlafen benötigten, doppelt so hoch ein, als sie tatsächlich
fremde Hilfe begonnen werden, und sie ist frei verfügbar! Wenn war. Gleichzeitig unterschätzten sie die schlafend verbrachte Zeit
Sie zu den typischen Studierenden gehören, oft erst gegen 2 Uhr um fast 50%. Auch wenn wir nur 1 oder 2 Stunden wach gelegen

. Abb. 4.20 Wie sich Schlafentzug auf uns auswirkt


4.2 · Schlaf und Träume
109 4
haben, denken wir oftmals, wir hätten nur sehr wenig geschlafen,
da wir uns nur an die wach verbrachte Zeit erinnern.
Die gebräuchlichen Mittel gegen Insomnie – Schlaftabletten
und Alkohol – verschlimmern das Problem, da sie den Anteil
des REM-Schlafes reduzieren und dazu führen können, dass
man sich am nächsten Tag unausgeglichen fühlt. Die Einnahme
solcher Hilfsmittel führt zu einer höheren Toleranz, sodass man
immer höhere Dosen einnehmen muss, um den gleichen Effekt
zu erzielen. Ein optimales Schlafmittel müsste die natürlichen
Substanzen imitieren, die im Schlaf reichlich vorhanden sind,
und keine Nebenwirkungen hervorrufen. Bis die Forschung
diese magische Pille anbieten kann, geben Schlafexperten einige
Tipps für einen besseren Schlaf:

Einige natürliche Einschlafhilfen


5 Treiben Sie regelmäßig Sport, aber nicht am späten Abend
(der späte Nachmittag ist am besten).
5 Vermeiden Sie Koffein nach dem frühen Nachmittag und
essen und trinken sie nicht kurz vor dem Zubettgehen.
Ausnahme wäre ein Glas Milch, die das Ausgangsmaterial
zur Produktion von Serotonin bereitstellt, einem Neuro-
transmitter, der das Einschlafen erleichtert.
. Abb. 4.21 Konjunkturschwäche und Stress können Schlaf rauben.
5 Entspannen Sie sich vor dem Zubettgehen, indem Sie das Eine Studie der National Sleep Foundation (2009) fand bei 27% der
Licht dimmen. Personen, die über Schlafmangel berichteten, einen Zusammenhang mit
5 Schlafen Sie nach einem regelmäßigen Plan (stehen Sie der Wirtschaft, der persönlichen finanziellen Situation und der Situation
am Arbeitsmarkt. (© Photodisc / Thinkstock)
immer zur gleichen Zeit auf, auch wenn Sie in der Nacht
wenig geschlafen haben) und vermeiden Sie es, zwischen-
durch kleine Nickerchen zu machen.
und »lepsis« = Anfall, Ergreifung). Diese Personen haben plötz-
5 Drehen Sie die Uhr um, sodass sie nicht versucht sind,
liche Anfälle von überwältigender Müdigkeit, die in der Regel
ständig die Uhrzeit zu prüfen.
weniger als 5 Minuten dauern. Diese Anfälle können jedoch zu
5 Machen Sie sich klar, dass zeitweise Schlaflosigkeit Sie
den unpassendsten Gelegenheiten auftreten, beispielsweise
nicht ernsthaft beeinträchtigt.
direkt nach einem großartigen Schlag beim Softball, wäh-
5 Vergegenwärtigen Sie sich, dass es für jeden gestressten
rend sie gerade laut lachen, verärgert schreien oder während
Organismus normal und angepasst ist, wachsam zu sein
des Geschlechtsverkehrs (Dement 1978, 1999). In besonders
(. Abb. 4.21). Ein persönlicher Konflikt während des Tages
schweren Fällen können Betroffene direkt in kurze REM-Perio-
führt oft zu einem unruhigen Schlaf (Akerstedt et al. 2007;
den abgleiten, einschließlich des Verlusts an Muskelspannung.
Brissette u. Cohen 2002). Und ein traumatisches stress-
Narkoleptiker müssen ihr Leben daher mit einer Extrapor-
volles Ereignis fordert seinen Tribut beim Schlaf (Babson u.
tion Vorsicht führen – nach Schätzung des Stanford University
Feldner 2010). Haben Sie ihr Stressniveau im Griff, dann
Center for Narcolepsy (2000) trifft die Erkrankung 1 von
wird Ihnen das auch einen ruhigeren Schlaf bescheren
2000 Menschen.
(mehr zum Stress in 7 Kap. 14).
Laut American Sleep Disorder Association ist das höchste
5 Wenn das alles nicht hilft, dann begnügen Sie sich mit
Risiko im Straßenverkehr nach dem Alkoholeinfluss die Über-
weniger Schlaf, indem sie entweder später zu Bett gehen
müdung, wobei Narkoleptiker zu der am stärksten betroffenen
oder früher aufstehen.
Risikogruppe gehören (Aldrich 1989).
Narkolepsie (»narcolepsy«) – Schlafstörung, die durch unkontrollierbare
» Der Löwe und das Lamm werden sich gemeinsam zur Ruhe Schlafattacken gekennzeichnet ist. Betroffene Personen fallen unter Umstän-
den direkt in REM-Schlafstadien, oft zu den unpassendsten Gelegenheiten.
legen, doch das Lamm wird nicht besonders schläfrig sein.
Woody Allen im Film Die letzte Nacht des Boris Gruschenko (1975)
» Schlaf ist wie Liebe oder Freude.
Einzuschlafen ist hingegen kein Problem für Personen, die an Wenn du ihn zu sehr verfolgst, wird er dir entkommen.
Narkolepsie leiden (griech. »narke« = Erstarrung, Lähmung Wilse Webb, Sleep: The Gentle Tyrant, 1992
110 Kapitel 4 · Bewusstsein und der zweigleisige Verstand

Stellen Sie sich einmal vor, Sie würden im Mittelalter einen


Menschen beobachten, der an Narkolepsie leidet. Wäre es nicht
denkbar, dass seine Symptome (insbesondere die sofortigen
Träume des REM-Schlafes) als Zeichen dafür interpretiert worden
wären, er sei von einem Dämonen besessen?

Forscher entdeckten ein Gen, das Narkolepsie bei Hunden und


4 Menschen verursacht (Miyagawa et al. 2008; Taheri 2004). Die
Gene spielen eine wichtige Rolle bei der Ausbildung des Gehirns,
und Neurowissenschaftler sind auf der Suche nach Anomalien
des Gehirns, die mit Narkolepsie in Zusammenhang gebracht
werden können. Ein Forscherteam entdeckte das teilweise Fehlen
eines neuronalen Zentrums im Hypothalamus, welches Orexin
(auch Hypocretin genannt) produziert, einen Neurotransmitter
der mit Wachheit assoziiert ist (Taheri et al. 2002; Thannickal
et al. 2000). (Diese Entdeckung führte zu klinischen Tests einer
neuen Schlafpille, die die munter machende Wirkung von Orexin
blockiert.) Mittlerweile steht fest, dass Narkolepsie eine Erkran-
kung des Gehirns ist; sie liegt nicht einfach »in der Psyche«. Das
weckt die Hoffnung, dass es einmal möglich wird, Narkolepsie
durch einen Wirkstoff zu heilen, der das fehlende Orexin imitiert
und durch die Blut-Hirn-Schranke hindurchkommt (Fujiki et al.
2003; Siegel 2000). Bis dahin verschreiben Apotheker andere
Medikamente, um Menschen von narkoleptischen Schlafanfäl- . Abb. 4.22 War Brahms auf seine eigenen Wiegenlieder angewiesen?
len zu befreien. Der reizbare und übergewichtige Johannes Brahms, der gerne ein Nickerchen
Eine weitere Schlafstörung, das Schlafapnoesyndrom, war machte, zeigte einige der für Apnoe typischen Symptome (Margolis 2000;
bis zur modernen Schlafforschung nicht bekannt, obwohl einer This image is in the public domain because its copyright has expired)

von 20 Menschen davon betroffen ist. »Apnoia« bedeutet Atem-


losigkeit, und betroffene Menschen hören während des Schlafens Herzinfarkt erhöht (Dement 1999). Wenn es einem nichts aus-
kurzzeitig auf zu atmen. Nach ungefähr 1 Minute ohne Atmung macht, im Dunkeln ein bisschen komisch auszusehen (stellen Sie
wacht der Schläfer aufgrund des gesunkenen Sauerstoffgehalts sich einen Schnorchler auf einer Pyjamaparty vor), dann kann eine
im Blut für einige Sekunden lang auf, um schnarchend nach Luft effektive Behandlung von den Symptomen befreien. Dazu muss
zu schnappen. Dieser Prozess kann sich im Laufe der Nacht hun- der Betroffene ein maskenartiges Gerät mit einer Luftpumpe
derte Male wiederholen, wodurch gleichzeitig ein Mangel an tragen, die den Atemweg offen hält und regelmäßiges Atmen ge-
niederwelligen Schlafphasen eintritt. Betroffene können sich am stattet.
nächsten Morgen jedoch nicht daran erinnern. Abgesehen von Im Gegensatz zum Schlafapnoesyndrom sind die Opfer von
Klagen über Müdigkeit und Niedergeschlagenheit – und den Be- Pavor nocturnus meist Kinder, die beispielsweise nachts im Bett
schwerden der Zimmergenossen über das laute Schnarchen – sitzen oder aufstehen, zusammenhangslos vor sich hin sprechen
sind sie sich also ihres Leidens oft nicht bewusst (Peppard et al. und erschreckt wirken. Ihr Herzschlag und ihre Atemfrequenz
2006; . Abb. 4.22). haben sich verdoppelt (Hartmann 1981). Währenddessen wachen
sie selten richtig auf und erinnern sich am nächsten Morgen nur
Schlafapnoesyndrom (»sleep apnea«) – Schlafstörung, die durch ein
gelegentliches Aussetzen der Atmung während des Schlafes und das an- vage oder überhaupt nicht – es bleibt höchstens ein flüchtiges,
schließende kurze Erwachen gekennzeichnet ist. beängstigendes Bild zurück. Pavor nocturnus ist nicht verwandt
mit Albträumen (die wie andere Träume auch überwiegend
Das Schlafapnoesyndrom wird in Verbindung mit Fettleibigkeit in den frühmorgendlichen REM-Phasen stattfinden); Pavor
gebracht: Mit der steigenden Zahl von Fettleibigen in den Vereinig- nocturnus ereignet sich in der Regel während der ersten Stunden
ten Staaten, aber auch in Deutschland, steigt auch die Zahl der des NREM-3-Schlafes.
Apnoepatienten, insbesondere bei übergewichtigen Männern –
inklusive einiger Footballspieler (Keller 2007). Andere Warnsigna- Pavor nocturnus (»night terrors«) – hohes Erregungsniveau und ein
Gefühl starker Angst sind typisch für diese Schlafstörung. Im Gegensatz zu
le für die Apnoe-Erkrankung sind lautes Schnarchen, Müdigkeit Albträumen treten diese Phasen nächtlicher Panik im NREM-3-Schlaf
am Tage, Reizbarkeit und eventuell ein erhöhter Blutdruck, innerhalb der ersten 2–3 Stunden nach dem Einschlafen auf; in der Regel
welcher wiederum das Risiko für einen Schlaganfall oder einen können sich die Betroffenen am nächsten Tag nicht daran erinnern.
4.2 · Schlaf und Träume
111 4
Schlafwandeln – eine weitere Störung im NREM-3-Schlaf – und
Sprechen im Schlaf kommen ebenfalls überwiegend bei Kindern
vor und werden, wie auch Narkolepsie, innerhalb der Familie
vererbt. (Das Sprechen im Schlaf ist meist verzerrt oder sinn-
frei und kann in jeder Schlafphase auftreten [Mahowald u.
Ettinger 1990].) Ein zweieiiger Zwilling schlafwandelt mit
einer Wahrscheinlichkeit von etwa 30%, wenn die Schwester
oder der Bruder das auch tut. Die Wahrscheinlichkeit erhöht
sich bei eineiigen Zwillingen auf ca. 50%. Entsprechendes gilt
für das Sprechen im Schlaf (Hublin et al. 1997, 1998). Schlaf-
wandeln ist normalerweise ein harmloses Phänomen. Nachdem
die Schlafwandler von allein in ihr Bett zurückkehren oder von
einem Familienmitglied zurückbegleitet werden, können sich
die wenigsten am nächsten Tag daran erinnern. Etwa 20% der
3- bis 12-Jährigen sind mindestens einmal für durchschnittlich . Abb. 4.23 Ein traumhafter Film über die Traumwelt. Der Film Incep-
2–10 Minuten schlafgewandelt, knapp 5% schlafwandeln mehr- tion (2010) spielt kreativ mit unserem Interesse, Sinn in unseren Träumen
zu entdecken und die verschiedenen Ebenen unseres Bewusstseins zu
mals (Giles et al. 1994). Am häufigsten sind junge Kinder von
verstehen. Darüber hinaus zeigt er die Idee, falsche Erinnerungen durch
Schlafwandeln und Pavor nocturnus betroffen, da sie durch- die Macht der Suggestion zu erzeugen – eine Idee, die wir in 7 Kap. 9
schnittlich den am stärksten ausgeprägten Anteil an Tiefschlaf- untersuchen. (© imago / ITAR-TASS)
phasen im NREM-3 haben. Wenn wir älter werden und der
Anteil an Tiefschlafphasen geringer wird, verschwinden auch
die Phänomene Pavor nocturnus und Schlafwandeln. Wenn Was wir träumen
wir jedoch aufgrund von Schlafentzug anschließend tiefer
? 4.9 Wovon träumen wir?
schlafen, erhöht dies die Wahrscheinlichkeit des Schlafwandelns
(Zadra et al. 2008). » Ich glaube nicht, dass ich jetzt gerade träume, aber ich kann
es auch nicht beweisen.
Der Philosoph Bertrand Russell (1872–1970)
4.2.4 Träume
Tagträume haben oftmals vertraute Details unseres Lebens zum
Jetzt in einem inneren Kino ganz in der Nähe: Die Premiere des Inhalt – z. B. wie wir unserem Dozenten erklären, warum wir
lebhaften Traums eines schlafenden Menschen. Ein innerer Film, unsere Hausarbeit später abliefern, oder wir erinnern uns an
wie er noch nie zuvor gesehen wurde und dessen Mitwirkende in Begegnungen, die uns gefallen haben oder die wir bedauern.
eine derart originelle und unwahrscheinliche, doch gleichzeitig Träume während des REM-Schlafs – »Halluzinationen des
so wirklichkeitsgetreue und scheinbar reale Handlung verstrickt schlafenden Verstandes« (Loftus u. Ketcham 1994) – sind leb-
sind, dass der Betrachter dieser Schöpfung voll Verwunderung haft, emotional gefärbt und bizarr. So lebhaft, dass wir sie manch-
gegenüber steht. Wer von uns hat sich beim Erwachen aus einem mal mit der Realität verwechseln (. Abb. 4.24). Aus einem
aufwühlenden Traum nicht über diesen bizarren Bewusst- Albtraum erwachend mag ein 4-Jähriger sicher sein, ein Bär sei
seinszustand gewundert – noch immer mitgerissen von den eben im Haus.
erlebten Emotionen. Wie erzeugt unser Gehirn – so kreativ,
Traum (»dream«) – Abfolge von Bildern, Emotionen und Gedanken, die
farbenfroh und detailliert – diese alternative, bewusst erfahrene sich im Geist eines Schläfers abspielt. Bemerkenswert an Träumen sind
Welt? In der Grauzone zwischen Traum- und Wachbewusstsein die halluzinationsartigen Bilder, die Wandelbarkeit und Inkongruenz des
fragen wir uns manchmal sogar für einen Moment, welche von Traumgeschehens sowie die beinahe wahrhafte Bereitschaft des Träumen-
den, das Traumgeschehen und den inhaltlich oft nicht nachvollziehbaren
diesen Welten die reale ist (. Abb. 4.23).
Zusammenhang des Erlebten zu akzeptieren.
Die Entdeckung des Zusammenhangs von REM-Schlaf und
dem Träumen öffnete die Tür für eine neue Ära der Traum- Nehmen Sie an, dass Menschen träumen, obwohl sie von Geburt
forschung. Im Gegensatz zu den vagen Traumberichten eines an blind sind? Studien in Frankreich, Ungarn, Ägypten und den
Menschen Stunden oder Tage nachdem er geträumt hatte, sind Vereinigten Staaten zeigten, dass blinde Menschen träumen,
Forscher nun in der Lage, Träume direkt zum Zeitpunkt des indem sie ihre nichtvisuellen Sinne benutzen – hören, fühlen,
Geschehens zu beobachten. Sie können einen Schläfer wäh- riechen, schmecken (Buquet 1988; Taha 1972; Vekassy 1977).
rend des REM-Schlafs oder innerhalb eines Zeitraums von
3 Minuten danach aufwecken und sich dessen lebhaften Bericht Wir verbringen ungefähr 6 Jahre unseres Lebens in Träumen,
anhören. manche davon sind allerdings alles andere als angenehm. Sowohl
112 Kapitel 4 · Bewusstsein und der zweigleisige Verstand

4 Menschen aus Jäger- und Sammlergemeinschaften träumen


häufiger von Tieren als in Städten lebende Menschen
(Mestel 1997). Musiker berichten doppelt so häufig von
Träumen mit Musik wie Nichtmusiker (Uga et al. 2006).

» Wobei du am Tag verweiltest, das wird dir folgen in die Nacht.


Menander von Athen (342–292 v.Chr., Fragmente)

4 Ein verbreiteter Mythos zum Thema Schlaf: Wenn sie träumen,


sie fielen und würden auf den Boden aufprallen (oder wenn
sie träumen, sie würden sterben), sterben sie. (Leider stehen uns
die Menschen, die diese Vorstellung bestätigen könnten,
nicht mehr zur Verfügung, um sie befragen zu können. Einige
Menschen jedoch haben solche Träume gehabt, sind noch am
Leben und können darüber berichten.)

Während wir schlafen, beobachtet unser zweigleisiger Verstand


auch unser Umfeld. Sensorische Reize - ein bestimmter Geruch
oder das Klingeln eines Telefons – werden manchmal unmittelbar
in das Traumgeschehen integriert. In einem klassischen Experi-
ment bespritzten die Forscher die Gesichter der träumenden Ver-
suchsteilnehmer mit kaltem Wasser (Dement u. Wolpert 1958). Im
Vergleich zu anderen Versuchspersonen, denen diese Prozedur
erspart blieb, hatte ihr Traumgeschehen häufiger mit Wasser zu
tun: Sie träumten von einem Wasserfall, von einem undichten
Dach oder sogar davon, mit Wasser bespritzt zu werden.
Wäre es also möglich, eine Sprache im Schlaf zu lernen, in-
. Abb. 4.24 (© Claudia Styrsky) dem wir entsprechende Kassetten anhören? Wenn es doch nur
so einfach wäre! Während des Schlafes sind wir in der Lage,
eine Assoziation zwischen einem Klang und einem schwachen
bei Frauen als auch bei Männern sind 8 von 10 Träumen von elektrischen Schock herzustellen (und auf den Klang ent-
mindestens einem negativen Ereignis oder Gefühl belastet sprechend zu reagieren). Allerdings können wir uns nicht an
(Domhoff 2007). Häufig träumen Menschen davon, angegriffen, Tonbandinformationen erinnern, die während des Schlafes
verfolgt oder zurückgewiesen zu werden, wiederholt vergeblich abgespielt werden (Eich 1990; Wyatt u. Bootzin 1994). Tat-
etwas zu versuchen, oder Unglücksfälle zu erleben (Hall et al. sächlich entzieht sich alles dem Gedächtnis, was während der
1982). Träume mit sexuellen Bildern treten weniger häufig auf, letzten 5 Minuten vor dem Einschlafen passiert (Roth et al. 1988).
als Sie vielleicht vermuten. Während einer Studie hatte lediglich Das erklärt, weshalb Apnoepatienten sich nicht daran erinnern
1 von 10 Träumen junger Männer und 1 von 30 Träumen junger können, wenn sie nachts mehrmals nach Luft japsend auf-
Frauen einen sexuellen Inhalt (Domhoff 1996). Für gewöhnlich wachen und unmittelbar darauf wieder einschlafen. Und deshalb
tauchen in unseren Träumen nichtsexuelle Erlebnisse und können wir uns morgens nicht an Träume erinnern, bei denen
Sorgen der letzten Tage auf (De Koninck 2000): wir für einen kurzen Moment aufgewacht sind. Wenn Sie sich
4 Nach einem Trauma berichten viele Personen von Alb- also an einen Traum erinnern wollen, stehen Sie auf und bleiben
träumen. Diese helfen bei der Bewältigung von Ängsten Sie ein paar Minuten lang wach.
(Levin u. Nielsen 2007, 2009). Einige Amerikaner, die im
September 2001 ihre Träume aufzeichneten, berichteten
» Lebe deine Träume – außer jenen, in dem du nackt auf der
Arbeit bist.
von einer starken Zunahme von Albträumen nach dem
Henny Youngman gewidmet
9/11-Anschlag (Propper et al. 2007).
4 Versuchspersonen spielten 7 Stunden lang das Computer-
spiel »Tetris« und gingen anschließend schlafen. In der Warum wir träumen
ersten Stunden ihres Schlafs wurden sie wiederholt auf-
? 4.10 Was sind die Aufgaben von Träumen?
geweckt – 3 von 4 Personen berichteten, Bilder von den
im Spiel herabfallenden Bausteinen vor Augen gehabt zu Traumforscher bieten verschiedene mögliche Erklärungen dafür,
haben (Stickgold et al. 2000). warum wir träumen. Dazu gehören die folgenden:
4.2 · Schlaf und Träume
113 4
Erfüllung unserer Wünsche In seinem berühmten Buch Die hatten, konnten die Aufgabe am nächsten Tag nicht so gut aus-
Traumdeutung (1900) sprach Sigmund Freud von etwas, das er für führen, wie diejenigen, die ungestört schlafen konnten (Stickgold
»die wertvollste aller Entdeckungen, die ich machen durfte«, hielt. et al. 2000, 2001). In weiteren Experimenten hörten Versuchs-
Er argumentierte, dass Träume als psychisches Sicherheitsventil personen kurz vor dem Einschlafen ungewöhnliche Textphrasen
wirken, indem sie dem Träumenden das Ausleben von Gefühlen oder erfuhren, an welchem Ort Bilder versteckt waren. Wurden
ermöglichen, die im gewohnten Umfeld des Alltags inakzeptabel sie anschließend zu Beginn jeder REM-Phase geweckt, erinnerten
wären. Nach Freud sei der manifeste Inhalt eines Traumes (die sie sich am nächsten Morgen weniger an die gelernten Dinge, als
offensichtliche und erinnerte Handlung) eine zensierte und sym- nach Nächten, in denen sie während anderer Schlafstadien ge-
bolische Version des latenten Inhaltes, der aus unbewussten Trie- weckt wurden (Empson u. Clarke 1970; Karni u. Sagi 1994).
ben und Wünschen besteht, die offen geäußert bedrohlich wären. Gehirnscans bestätigen den Zusammenhang zwischen
Obwohl die meisten Träume keine offenkundig sexuell gefärbten REM-Schlaf und Gedächtnis. Die aktiven Regionen des Gehirns,
Bilder zeigen, ging Freud davon aus, dass die meisten Träume während eine Ratte lernt, durch ein Labyrinth zu laufen, oder
Erwachsener »durch eine analytische Betrachtung auf erotische während Versuchspersonen eine visuelle Unterscheidungsauf-
Wünsche zurückgeführt werden können«. Somit könnte eine gabe lernen, sind später während des REM-Schlafs erneut aktiv
Pistole beispielsweise die versteckte Darstellung eines Penis sein. (Louie u. Wilson 2001; Maquet 2001). Die Aktivierungsmuster
Manifester Trauminhalt (»manifest content«) – nach Freud die erinnerte stimmten so genau überein, dass die Forscher angeben konnten,
Handlung eines Traums (im Unterschied zu seinem latenten Inhalt). an welcher Stelle im Labyrinth sich die Ratte gerade befinden
Latenter Trauminhalt (»latent content«) – nach Freud die verborgene würde, wenn sie wach wäre. Andere Forscher bemerkten wiede-
Bedeutung eines Traumes (im Gegensatz zum manifesten Inhalt). Freud rum, dass die Festigung des Gedächtnisses auch während der
war davon überzeugt, dass der latente Inhalt von Träumen die Funktion
NREM-Phasen auftreten könne (Siegel 2001; Vertes u. Siegel
eines Sicherheitsventils hat.
2005). Insgesamt lässt sich also sagen: Eine Nacht mit tiefem
Freud betrachtete Träume als Schlüssel für das Verständnis Schlaf (und Träumen) hat einen wichtigen Stellenwert in unserem
innerer Konflikte. Freuds Kritiker plädieren allerdings dafür, Leben. Schlaf festigt ganz nebenbei Erinnerungen.
dass es an der Zeit sei, sich von dieser Traumtheorie zu verab- Das sind wichtige Neuigkeiten für Schüler und Studierende,
schieden, die nichts anderes als ein wissenschaftlicher Albtraum findet der Forscher Robert Stickgold (2000): Viele Studierende
sei. Auf Basis der wissenschaftlichen Befunde »gibt es keinen leiden an einer Art von Schlafbulimie, mit extremen Schlaf-
Grund, irgendeiner der spezifischen Behauptungen von Freud perioden am Wochenende. »Wenn Sie nicht gut und nicht genug
über Träume und die dahinter liegenden Ursachen Glauben zu schlafen, nachdem Sie neuen Stoff gelernt haben, werden Sie
schenken«, bemerkt der Traumforscher William Domhoff (2003). diesen neuen Lernstoff nicht effektiv in Ihrem Gedächtnis ver-
Einige Kritiker wenden ein, dass Träume – selbst wenn sie einen ankern«, warnt Stickgold. Das könnte erklären, weshalb ältere
Symbolcharakter besitzen – immer unterschiedlich interpretiert Schüler mit guten Leistungen durchschnittlich 25 Minuten pro
werden können. Andere behaupten wiederum, dass in Träumen Nacht mehr schlafen als ihre Mitschüler mit schlechteren Leis-
überhaupt nichts Verborgenes zu finden sei. Ein Traum von einer tungen (Wolfson u. Carskadon 1998).
Pistole bleibt ein Traum von einer Pistole. Der Legende nach sagte
selbst Freud, der Zigarren liebte, dass »eine Zigarre manchmal Entwicklung und Erhalt von Nervenbahnen Vielleicht haben
eben nur eine Zigarre ist.« Freuds Theorie der Wunscherfüllung Träume – oder die damit in Zusammenhang stehende Gehirnak-
in Träumen ist zum großen Teil anderen Theorien gewichen. tivität während der REM-Phasen – eine physiologische Funktion,
indem sie eine regelmäßige Stimulation des schlafenden Gehirns
» Wenn Menschen einen Traum so interpretieren, als habe
bewirken. Entwicklungsphysiologisch klingt diese Theorie ein-
er eine Bedeutung und dann anderen diese Interpretation
leuchtend. Wie Sie in 7 Kap. 6 sehen werden, erhalten und er-
des Traums aufschwatzen, ist das Quacksalberei.
weitern stimulierende Ereignisse die neuronale Vernetzung des
Der Schlafforscher J. Allan Hobson (1995)
Gehirns. Bei Kleinkindern vollzieht sich die neuronale Vernet-
zung in ungeheurem Tempo – der Anteil an REM-Phasen ist bei
Abspeicherung von Erinnerungen Forscher, die Träume als In- ihnen besonders hoch (. Abb. 4.25).
formationsverarbeitungsprozess betrachten, glauben, dass Träume
Schnelle Augenbewegungen versetzen auch die Flüssigkeit
dazu dienen, die Erlebnisse des Tages zu verarbeiten, zu ordnen
hinter der Netzhaut in Schwingung; Dadurch wird frischer
und im Gedächtnis zu verankern. Einige Studien bestätigen
Sauerstoff in die Zellen der Netzhaut transportiert und deren
diese Theorie. Seit einiger Zeit weiß man, dass die Funktion des
Unterversorgung verhindert.
REM-Schlafs darin besteht, die Speicherung von Gedächtnis-
inhalten zu erleichtern (McGrath u. Cohen 1978). Versuchsper-
sonen, die nach dem Lernen einer Aufgabe zu wenig Schlaf mit Erregungsmuster sinnvoll interpretieren Andere Theorien deu-
langsamen EEG-Wellen oder zu wenig REM-Schlaf bekommen ten Träume als Ergebnis neuronaler Aktivität, die sich vom Hirn-
114 Kapitel 4 · Bewusstsein und der zweigleisige Verstand

. Abb. 4.25 Schlaf im Verlauf des Lebens. Wenn wir älter werden, ändern sich unsere Schlafgewohnheiten. In den ersten Lebensmonaten nimmt der Anteil
an REM-Schlaf immer weiter ab. Die Gesamtschlafdauer sinkt während der ersten 20 Lebensjahre. (From Roffwarg, H. P., Muzio, J. N., & Dement, W. C. [1966].
Ontogenetic development of the human sleep-dream cycle. Science, 152, 604–619. Reprinted with permission from AAAS)

stamm aus nach oben hin ausbreitet (Antrobus 1991; Hobson Ausdruck der kognitiven Entwicklung Einige Traumforscher
2003, 2004, 2009). Eine Theorie besagt, dass diese neuronale Ak- lehnen sowohl Freuds Theorie als auch das Aktivierungs-
tivität zufällig geschieht und die Träume ein Versuch des Gehirns Synthese-Modell ab. Sie gehen stattdessen davon aus, dass
sind, diese Erregungsmuster sinnvoll zu interpretieren. So wie ein Träume eine Rolle bei der Reifung des Gehirns und der kogniti-
Neurochirurg Halluzinationen durch die Reizung verschiedener ven Entwicklung spielen (Domhoff 2010, 2011; Foulkes 1999).
Bereiche des Kortex eines Patienten hervorrufen kann, kann dies Vor dem 9. Lebensjahr gleichen die Träume von Kindern bei-
auch durch eine dem Gehirn entstammende Stimulation gesche- spielsweise eher einer Art Diashow mit aufeinander folgenden
hen. Diese inneren Reize aktivieren Gehirnareale, die visuelle Bildern und weniger einer Geschichte, an der der Träumende
Bilder verarbeiten – aber nicht die Sehrinde, welche unverarbei- aktiv beteiligt ist. Träume überlappen sich mit der Wahrneh-
tete Sinnesreize von den Augen empfängt. Wie Freud wohl ver- mung im Wachzustand und weisen eine kohärente Sprache auf.
mutet haben mag, zeigen PET-Schichtaufnahmen schlafender Sie simulieren unsere Realität, indem sie sich unserer Begriffe
Menschen während des REM-Schlafs ebenfalls eine erhöhte Ak- und unseres Wissens bedienen. Sie nehmen Netzwerke des Ge-
tivität in Teilen des limbischen Systems, die an der Entstehung hirns ein, die auch während des Tagträumens aktiv sind. Ent-
von Emotionen beteiligt sind (in der Amygdala). Im Gegensatz gegen der Idee, dass Träume durch Gehirnaktivität hervorge-
dazu scheinen die Areale des Frontallappens, die für Hemmung rufen werden, wird der Trauminhalt laut dieser kognitiven Sicht-
und logisches Denken verantwortlich sind, vor sich hinzudäm- weise durch den Verstand bestimmt (Nir u. Tononi 2010). In
mern. Das könnte erklären, weshalb unsere Träume hemmungs- . Tab. 4.2 werden die wichtigsten Traumtheorien miteinander
loser sind, als wir im wachen Zustand (Maquet et al. 1996). Mi- verglichen.
schen Sie die emotionale Einfärbung des limbischen Systems mit Obwohl sich Schlafforscher über die Funktion von Träumen
den visuellen Erregungsausbrüchen des Gehirns, und – voilà! – uneinig sind – einige glauben auch, dass Träume keiner Aufgabe
wir träumen. Werden das limbische System oder die visuellen dienen – stimmen sie in einem Punkt überein: Wir brauchen
Zentren, die während des Träumens aktiv sind, geschädigt, so den REM-Schlaf. Menschen, denen der REM-Schlaf durch
wird die gesamte Traumaktivität beeinträchtigt (Domhoff 2003). wiederholtes Aufwecken entzogen wird, fallen nach dem er-
neuten Einschlafen immer schneller in dieses Schlafstadium.
Frage: Träumt man mehr, wenn man scharfe Gerichte gegessen Sobald es den Versuchspersonen wieder gestattet wird, ungestört
hat? zu schlafen, schlafen sie im wahrsten Sinne des Wortes wie Babys
Antwort: Jedes Essen, das ein häufiges Aufwachen in der Nacht – nämlich mit einem erhöhten REM-Schlaf-Anteil. Dieses Phä-
bewirkt, erhöht Ihre Chancen, sich an einen Traum zu erinnern nomen wird als REM-Rebound bezeichnet. Werden Schlafmittel,
(Moorcroft 2003). die den REM-Schlaf unterdrücken, wieder abgesetzt, tritt er
4.3 · Hypnose
115 4

. Tab. 4.2 Traumtheorien

Theorie Erklärung Kritische Anmerkungen

Freuds Konzept Träume liefern ein »psychisches Sicherheitsventil« – bringen Dafür fehlt jeglicher wissenschaftliche Beleg;
der Wunscherfüllung ansonsten nicht akzeptierbare Gefühle zum Ausdruck; enthalten Träume können auf viele unterschiedliche
einen manifesten (erinnerten) Inhalt und eine tiefer liegende Weisen gedeutet werden
Schicht mit einem latenten Inhalt – einer versteckten Bedeutung

Informationsverarbeitung Träume tragen dazu bei, sich Klarheit über die Ereignisse des Tages Aber warum träumen wir manchmal über
zu verschaffen und unsere Erinnerungen zu festigen etwas, was wir gar nicht erlebt haben?

Physiologische Funktion Eine regelmäßige Stimulierung des Gehirns durch REM-Schlaf kann Das mag stimmen, aber es erklärt nicht,
dazu beitragen, dass Nervenbahnen entwickelt und erhalten werden warum wir bedeutungsvolle Träume erleben

Aktivierungs-Synthese- REM-Schlaf löst eine neuronale Aktivität aus, die zufällige Das Gehirn eines Individuums fügt die
Modell visuelle Erinnerungen hervorruft, die unser Gehirn zu Geschichten Geschichten zusammen, die uns allerdings
zusammenfügt etwas über den Träumenden sagen

Kognitive Theorie Der Inhalt eines Traums bringt die kognitive Entwicklung eines Beschäftigt sich nicht mit der Neurowissen-
Träumenden zum Ausdruck – sein Wissen und sein Verständnis schaft der Träume

ebenfalls verstärkt wieder auf, allerdings häufig begleitet von 4.3 Hypnose
Albträumen.
REM-Rebound (»REM rebound«) – Tendenz zur Verlängerung der ? 4.11 Was ist Hypnose, und welchen Einfluss hat ein
REM-Schlaf-Phasen nach einem REM-Schlaf-Entzug (beispielsweise durch Hypnotiseur auf eine hypnotisierte Person?
wiederholtes Erwachen während der REM-Phasen).
Stellen Sie sich vor, Sie werden hypnotisiert. Der Hypnotiseur
Bei den meisten anderen Säugetieren kommt der REM-Rebound bittet Sie, sich zurückzulehnen, Ihren Blick auf einen Punkt oben
ebenfalls vor. Die Gründe und Funktionen des REM-Schlafs an der Wand zu richten und sich zu entspannen. Mit ruhiger
scheinen folglich tief biologisch verwurzelt zu sein. Die Tatsache, Stimme erteilt er seine Anweisungen: »Ihre Augen werden müde
dass nur Säugetiere REM-Schlaf zeigen, nicht aber andere Tier- … Ihre Augenlider werden schwer … immer schwerer und schwe-
gattungen wie z. B. Fische, deren Verhalten weniger von Lernen rer … Ihre Augen fallen zu … Sie entspannen sich noch mehr …
bestimmt wird, unterstützt die Informationsverarbeitungstheo- Ihre Atmung ist nun tief und gleichmäßig … Ihre Muskeln ent-
rie der Träume. Wenn Träume also physiologischen Zwecken spannen sich mehr und mehr … Ihr ganzer Körper fühlt sich an
dienen und die normale Kognition erweitern, verlieren sie dann wie Blei.« Wenige Minuten nach dieser hypnotischen Einleitung
ihre psychologische Relevanz? Nicht unbedingt. Jede psycholo- erleben Sie vielleicht Hypnose. Suggeriert der Hypnotiseur, dass
gisch bedeutsame Erfahrung basiert auf einem aktiven Gehirn. sich »Ihre Augenlider so fest schließen, dass Sie sie nicht öffnen
All das erinnert uns wieder an eine zentrale Aussage: Biologische können, selbst wenn Sie es versuchen«, mag es Ihnen vielleicht
und psychologische Erklärungsansätze sind Partner, keine Kon- tatsächlich so vorkommen, als könnten Sie Ihre Augenlider nicht
kurrenten. öffnen. Werden Sie dazu aufgefordert, die Zahl 6 zu vergessen,
Träume sind faszinierend veränderte Bewusstseinszustände. stellen Sie vielleicht verwirrt fest, 11 Finger an den Händen haben.
Aber sie sind nicht die einzigen veränderten Zustände. Hypnose Bittet man Sie, an einem sinnlichen Parfum zu riechen, das in
und Drogen verändern ebenfalls unsere bewusste Wahrneh- Wirklichkeit Ammoniak ist, verweilen Sie vielleicht erfreut bei
mung. diesem ätzenden Geruch. Wird Ihnen gesagt, dass Sie ein be-
stimmtes Objekt wie z. B. einen Stuhl nicht sehen können,
Prüfen Sie Ihr Wissen werden Sie tatsächlich berichten, dass er nicht da ist – obwohl Sie
5 Welche fünf Theorien erklären, warum wir träumen? es schaffen, beim Hin- und Herlaufen nicht dagegen zu stoßen
(was einmal mehr Ihren zweigleisigen Verstand veranschaulicht).
Hypnose (»hypnosis«) – soziale Interaktion, in der eine Person (der Hypno-
tiseur) einer anderen (dem Hypnotisierten) suggeriert, dass bestimmte Wahr-
nehmungen, Gefühle, Gedanken oder Verhaltensweisen spontan auftreten.

Aber ist Hypnose wirklich ein veränderter Bewusstseinszustand?


Lassen Sie uns zunächst einige häufig gestellte Fragen zur Hyp-
nose betrachten (. Abb. 4.26).
116 Kapitel 4 · Bewusstsein und der zweigleisige Verstand

jKann man sich unter Hypnose an vergessene Ereignisse


erinnern?
Die meisten Menschen glauben fälschlicherweise (wie in 7 Kap. 9
gezeigt wird), dass alle unsere Erfahrungen »innen drin« sind –
gespeichert in unserem Gehirn und abrufbar, wenn wir nur
unsere eigenen Schutzbarrieren durchbrechen könnten (Loftus
1980). Aber 60 Jahre Gedächtnisforschung widerlegen derartige
4 Behauptungen. Wir verschlüsseln nicht alles, was um uns herum
geschieht. Wir speichern immer nur einige unserer Erlebnisse,
und von diesen können wir nicht alle wiedergeben. »Hypnotisch
aufgefrischte« Erinnerungen sind eine Kombination aus Fakt und
Fiktion. Seit 1980 berichten Tausende von Menschen, von UFOs
entführt worden zu sein – die meisten dieser Berichte stammen
jedoch von Menschen, die schon vorher an Außerirdische glaub-
ten, hoch empfänglich für Hypnose sind und bereits einmal hyp-
notisiert wurden (Newman u. Baumeister 1996; Nickell 1996).
Ohne dass die Person sich bewusst ist, was vor sich geht, kön-
nen die Hinweise des Hypnotiseurs – »Haben Sie laute Geräusche
gehört?« – Vorstellungen einimpfen, die zur Pseudoerinnerung
der Betreffenden werden. Sollte eine Aussage unter Hypnose also
vor Gericht erlaubt sein? Amerikanische, britische, australische
. Abb. 4.26 (© Claudia Styrsky) und deutsche Gerichte haben sich dagegen entschieden. Sie ver-
bieten grundsätzlich Aussagen von Zeugen, die hypnotisiert
wurden (Druckman u. Bjork 1994; Gibson 1995; McConkey
4.3.1 Häufig gestellte Fragen zu Hypnose 1995).

Hypnotiseure besitzen keine magische Macht über den Verstand.


» Hypnose ist kein psychologisches Wahrheitsserum. Diese
Annahme hat bereits erheblichen Schaden angerichtet.
Ihre Macht liegt in der Empfänglichkeit der Versuchsperson für
Der Forscher Kenneth Bowers (1987)
Suggestionen und ihrer Fähigkeit, sich auf bestimmte Bilder und
Verhaltensweisen zu konzentrieren (Bowers 1984). Aber wie In 7 Kap. 9 finden Sie eine genauere Diskussion dazu,
empfänglich sind wir eigentlich für Suggestionen? wie Menschen möglicherweise falsche Erinnerungen erzeugen.

jKann jeder hypnotisiert werden? jKann Hypnose Menschen dazu zwingen,


Bis zu einem gewissen Punkt ist jeder empfänglich für Sugges- gegen ihren Willen zu handeln?
tionen. Wenn Menschen mit geschlossenen Augen aufrecht stehen Forscher haben hypnotisierte Menschen dazu gebracht, eine
und ihnen gesagt wird, dass sie vor und zurück schwanken, werden offensichtlich gefährliche Aufgabe durchzuführen: Die Teilneh-
die meisten tatsächlich ein wenig schwanken. mer sollten ihre Hand kurz in eine qualmende »Säure« halten
Ein Schwanken der Körperhaltung ist sogar eines der und dann die »Säure« ins Gesicht eines Assistenten schütten
Items der »Stanford Hypnotic Susceptibility Scale«, mit der (Orne u. Evans 1965). Bei einer Befragung am nächsten Tag zeig-
die Hypnotisierbarkeit eines Menschen erfasst wird. Wer auf ten sie keinerlei Erinnerung an ihre Handlungen und bestritten
solche Suggestionen reagiert, ohne hypnotisiert zu sein, rea- ausdrücklich, solchen Anweisungen Folge zu leisten. Hatten die
giert auch während der Hypnose (Kirsch u. Braffman 2001). Hypnotiseure durch die Hypnose solche Macht erlangt, dass sie
Die Menschen, die sehr gut hypnotisierbar sind – etwa die 20%, die Personen gegen deren Willen kontrollieren konnten? Um das
die in Folge einer Suggestion den Geruch aus einer Flasche herauszufinden, setzten die Forscher Martin Orne und Frederich
mit Ammoniak unter ihrer Nase ignorieren bzw. nicht darauf Evans den Feind vieler Irrglauben frei: die Kontrollgruppe. Orne
reagieren –, können sich intensiv in imaginative Aktivitäten ver- bat einige Versuchsteilnehmer, so zu tun, als seien sie hypno-
tiefen (Barnier u. McConkey 2004; Silva u. Kirsch 1992). Viele tisiert. Der Versuchsleiter wusste nicht, dass die Personen dieser
Forscher bezeichnen diese Empfänglichkeit für Hypnose als Kontrollgruppe nicht hypnotisiert waren, und behandelte alle
hypnotische Fähigkeit – die Fähigkeit, unsere Aufmerksamkeit Teilnehmer gleich. Das Ergebnis? Alle nicht hypnotisierten Teil-
vollkommen auf eine Aufgabe zu richten, mit unserer Vorstel- nehmer (die vielleicht glaubten, dass der Kontext des Labora-
lungskraft völlig in sie vertieft zu sein und uns phantasievolle toriums ihnen Sicherheit garantierte) handelten genauso wie die
Dinge auszumalen. hypnotisierten.
4.3 · Hypnose
117 4

» Es ist nicht das, was ich erwartet hatte. Aber Tatsachen Prüfen Sie Ihr Wissen
sind Tatsachen. Und wenn bei einer nachgewiesen wird,
dass sie nicht stimmt, muss man sich dem in Demut 5 Wann ist eine Hypnose potenziell gefährlich und wann
beugen und noch einmal von Neuem anfangen. kann sie helfen?
Agatha Christies Miss Marple

jKann Hypnose Menschen heilen oder ihre Schmerzen


lindern? 4.3.2 Der Zustand der Hypnose
Hypnotherapeuten versuchen, die Selbstheilungskräfte ihrer
Patienten zu nutzen (Baker 1987). Posthypnotische Sugges-
? 4.12 Ist Hypnose eine Erweiterung des normalen Bewusst-
tionen erweisen sich als hilfreich, um Kopfschmerzen, Asthma
seins oder ein veränderter Zustand?
und stressbedingte Hauterkrankungen zu lindern.
Wir haben gesehen, dass man unter Hypnose empfänglicher für
Posthypnotische Suggestionen (»posthypnotic suggestion«) – Suggestion,
die während einer Hypnosesitzung gegeben wird, aber erst nach Auflösung Suggestionen ist. Genauso haben wir gesehen, dass hypnotische
der Hypnose ausgeführt werden soll; wird von einigen Hypnotherapeuten Prozeduren einen Menschen nicht mit speziellen Kräften aus-
verwendet, um unerwünschte Symptome und Verhaltensweisen besser zu statten können. Aber manchmal können sie einem Menschen bei
kontrollieren.
der Bewältigung stressbedingter Beschwerden oder der Linde-
In einer statistischen Auswertung von 18 Studien zeigte sich, rung von Schmerzen helfen. Was also ist Hypnose? Psychologen
dass dem durchschnittlichen Klienten, dessen Therapie durch bieten zwei Erklärungen.
Hypnose ergänzt wurde, besser geholfen werden konnte, als 70%
der anderen Therapiepatienten (Kirsch et al. 1995, 1996). Hyp- Hypnose als soziales Phänomen
nose schien insbesondere bei der Behandlung von Fettleibigkeit Unsere Interessen und Interpretationen haben einen starken Ein-
hilfreich zu sein. Dagegen scheint sich Drogen-, Alkohol- und fluss auf unsere normale Wahrnehmung. Können hypnotische
Nikotinsucht nicht gut mit Hypnose behandeln zu lassen (Nash Phänomene diese Arbeitsweise des normalen Bewusstseins und
2001). In kontrollierten Studien beschleunigt Hypnose das Ver- die Macht des sozialen Einflusses widerspiegeln (Lynn et al. 1990;
schwinden von Warzen, aber genau dasselbe geschieht auch, Spanos u. Coe 1992)? Vertreter der Theorie des sozialen Ein-
wenn positive Suggestionen ohne Hypnose gegeben werden flusses der Hypnose glauben daran.
(Spanos 1991, 1996). Bedeutet dies, dass die Versuchsteilnehmer die Hypnose be-
Hypnose kann Schmerzen vermindern (Druckman u. Bjork wusst vortäuschen? Nein – vielmehr gehen sie wie Schauspieler
1994; Jensen 2008). Legen nichthypnotisierte Menschen ihre ganz in ihrer Rolle auf und fangen an, so zu empfinden und sich
Arme in eisiges Wasser, spüren sie nach 25 Sekunden intensive so zu verhalten, wie es für die Rolle eines »guten hypnotischen
Schmerzen. Nachdem hypnotisierten Menschen suggeriert wur- Versuchsteilnehmers« angemessen wäre. Je mehr sie den Hypno-
de, dass sie dabei keine Schmerzen fühlen sollen, berichten sie tiseur mögen und ihm vertrauen, desto mehr gestatten sie dieser
tatsächlich, kaum Schmerzen zu haben. Wie Zahnärzte wissen, Person, ihre Aufmerksamkeit und ihre Fantasien zu lenken
genügt schon eine leichte Hypnose, um Angst zu reduzieren, und (Gfeller et al 1987). »Die Ideen des Hypnotiseurs werden zu den
damit auch eine Überempfindlichkeit gegenüber Schmerzen. Gedanken des Hypnotisierten«, erklärt Theodore Barber (2000),
Hypnose hemmt die für den Schmerz verantwortliche Hirn- »und aus den Gedanken des Hypnotisierten resultieren seine
aktivität. hypnotischen Erfahrungen und Verhaltensweisen«. Wenn Ver-
In Experimenten, bei denen Patienten vor einer Operation suchspersonen aufgefordert werden, sich später am Ohr zu krat-
hypnotisiert wurden, brauchten diese danach eine geringere zen, sobald sie das Wort »Psychologie« hören, werden die Ver-
Dosis an Medikamenten, erholten sich schneller und verließen suchspersonen das auch tun – allerdings nur, wenn sie denken,
das Krankenhaus früher als nicht hypnotisierte Personen aus das Experiment dauert immer noch an. Untergräbt der Versuchs-
der Kontrollgruppe (Askay u. Patterson 2007; Hammond 2008; leiter die Motivation der Teilnehmer, sich wie in Hypnose zu
Spiegel 2007). Fast 10% von uns können so stark hypnotisiert verhalten – indem er sagt, die Hypnose zeige, wie leichtgläubig
werden, dass sogar größer chirurgische Eingriffe ohne Narkose sie seien – werden die Teilnehmer unwillig, weiter mitzuspielen.
durchgeführt werden können. 50% von uns können zumin- Diese Ergebnisse unterstützen die Theorie, dass hypnotische
dest teilweise ihre Schmerzen durch Hypnose lindern. Der Phänomene eine Erweiterung der normalen sozialen und kogni-
Gebrauch von Hypnose bei chirurgischen Eingriffen hat in tiven Entwicklung sind.
Europa stark zugenommen; ein belgisches Ärzteteam führte Diese Ansichten veranschaulichen einen Grundsatz, welcher
über 5000 Operationen mit einer Kombination aus Hypnose, in 7 Kap. 15 herausgestellt wird: Eine autoritäre Person kann
Lokalanästhesie und schwachen Beruhigungsmitteln durch andere Personen – hypnotisiert oder nicht – in einem seriösen Kon-
(Song 2006). text dazu veranlassen, einige ungewöhnliche Dinge zu tun. Oder
118 Kapitel 4 · Bewusstsein und der zweigleisige Verstand

wie es der Hypnoseforscher Nicholas Spanos (1982) sagte: »Die


offenen Verhaltensweisen hypnotisierter Personen bewegen sich
im normalen Rahmen.«

Hypnose als geteiltes Bewusstsein


Andere Hypnoseforscher glauben, dass Hypnose mehr sei als nur
der Versuch, »ein guter Versuchsteilnehmer zu sein«. Warum
4 sonst sollten hypnotisierte Versuchspersonen manchmal sug-
gerierte Verhaltensweisen auf einen Hinweisreiz hin ausfüh-
ren, auch wenn sie meinen, niemand schaue zu (Perugini et al.
1998)? Und warum sonst geht Hypnose mit einer charakteris-
tischen Gehirnaktivität einher (Oakley u. Halligan 2009)? In
einem Experiment wurden tief hypnotisierte Personen gebeten,
sich eine Farbe vorzustellen. Daraufhin leuchteten auf den
Schichtaufnahmen bestimmte Stellen ihres Gehirns auf, als
. Abb. 4.27 Dissoziation oder Rollenspiel? Eine hypnotisierte Versuchs-
sähen sie wirklich eine Farbe. Was in normalem Zustand eine
person, mit der Ernest Hilgard einen Test durchführt, zeigt keinen Schmerz,
bloße Vorstellung gewesen wäre, ist nun für das Gehirn der als ihr Arm in ein Becken mit Eiswasser gelegt wird. Wird sie aber gebeten,
hypnotisierten Person zu einer überzeugenden Halluzination einen Knopf zu drücken, wenn ein Teil von ihr den Schmerz spürt, reagiert
geworden (Kosslyn et al. 2000). In einem anderen Experiment sie. Für Hilgard war dies der Beweis einer Dissoziation. Befürworter der
Theorie des sozialen Einflusses glauben jedoch, dass Menschen sich
sollten hypnotisierbare und nichthypnotisierbare Teilnehmer
so verhalten, weil sie in ihre Rolle als »gute Versuchsperson« vertieft sind.
die Farbe von Buchstaben sagen. An sich eine leichte Aufgabe – (© Jose Mercado / Stanford News Service)
aber es wird erschwert, wenn z. B. das Wort »Rot« in grünen
Buchstaben geschrieben wird (Raz et al. 2005). Als den leicht zu
hypnotisierenden Personen der Rat gegeben wurde, sie sollten Eine weitere Form der Parallelverarbeitung – selektive Auf-
sich auf die Farbe konzentrieren und die Buchstaben als un- merksamkeit – kann ebenfalls bei der Schmerzlinderung durch
wichtiges Geschwafel ansehen, so wurden sie nicht mehr so Hypnose von Bedeutung sein. PET-Schichtaufnahmen zeigen,
lange durch den Wort-Farbe-Konflikt aufgehalten (Bereiche dass die Hypnose die Aktivität in einer Gehirnregion verringert,
im Gehirn, die Wörter entschlüsseln und Konflikte aufdecken, die Schmerzreize verarbeitet – jedoch nicht im sensorischen
blieben nun inaktiv). Kortex, welcher den ursprünglichen sensorischen Input emp-
Diese Ergebnisse hatten den bekannten Forscher Ernest fängt (Rainville et al. 1997). Die Hypnose blockiert nicht den
Hilgard (1986, 1992) nicht überrascht. Er glaubte, dass Hypnose sensorischen Input, aber möglicherweise unsere Aufmerksam-
nicht nur einen sozialen Einfluss beinhaltet, sondern auch keit für diese Reize. Das kann erklären, warum ein verletzter
einen speziellen, dual ablaufenden Zustand der Dissoziation – Sportler im Wettkampf nur wenig oder keinen Schmerz spürt,
eine Spaltung zwischen den verschiedenen Ebenen des Bewusst- bis das Spiel zu Ende ist. Obwohl die Theorie der Hypnose als
seins. Hilgard betrachtete die hypnotische Dissoziation als geteiltes Bewusstsein umstritten ist, scheint eins klar zu sein:
eine lebendige Form der gewöhnlichen Bewusstseinsspaltun- Ohne Zweifel spielt sich mehr in unserem Denken und Handeln
gen – wenn Sie z. B. beim Zuhören einer Vorlesung gleichzeitig ab, als uns bewusst ist. Unsere Informationsverarbeitung, die mit
zeichnen oder einen Satz fertig schreiben und gleichzeitig selektiver Aufmerksamkeit beginnt, ist in bewusste und unbe-
ein Gespräch beginnen. Hilgard sagte, wenn eine hypnotisierte wusste Bereiche aufgeteilt, die wir gleichzeitig wahrnehmen. So-
Person z. B. ihren Arm in Eiswasser hält, wie in . Abb. 4.27, wohl unter Hypnose als auch im normalen Leben wird ein großer
so trennt die Hypnose das Empfinden des Schmerzreizes Teil unseres Verhaltens automatisch gesteuert. Wir besitzen einen
(welcher der Person immer noch bewusst ist) von dem emo- zweigleisigen Verstand (. Abb. 4.28).
tionalen Leiden, welches das Erlebnis des Schmerzes definiert. Es ist umstritten, ob Hypnose den Verstand ändert, aber es
Das Eiswasser fühlt sich demnach kalt an – sehr kalt – aber nicht gibt kaum Zweifel daran, dass einige Drogen dies tun.
schmerzhaft.
Prüfen Sie Ihr Wissen
Dissoziation (»dissociation«) – Spaltung des Bewusstseins, die ermöglicht,
dass bestimmte Gefühle und Gedanken gleichzeitig mit anderen auftreten. 5 Hilgard glaubte, dass Hypnose einen Zustand
des gespaltenen Bewusstseins hervorruft, der auch als
» Das vorstellbare Gesamtbewusstsein könnte aus ver- bezeichnet wird. Andere Forscher
schiedenen Teilen bestehen, die nebeneinander existieren, glauben, dass Einfluss eine große Rolle
sich aber gegenseitig ignorieren. spielt.
William James (Principles of Psychology, 1890)
4.4 · Drogen und Bewusstsein
119 4

. Abb. 4.28 Analyseebenen für die Hypnose. Ausgehend von einem


biopsychosozialen Ansatz betrachten Forscher die Hypnose aus komple-
mentären Perspektiven . Abb. 4.29 Drogentoleranz

4.4 Drogen und Bewusstsein dieser Kulturen. Auf den folgenden Seiten schauen wir uns diese
Einflussfaktoren in Bezug auf die Nutzung und den potenziellen
Stellen wir uns einen Tag im Leben eines Konsumenten von Missbrauch psychoaktiver Drogen genauer an. Aber zuerst be-
legalen Drogen vor. Er beginnt mit einem Aufwachkaffee. Bis zur trachten wir, wie unser Körper auf den anhaltenden Konsum
Mittagszeit haben bereits einige Zigaretten die angespannten psychoaktiver Drogen reagiert.
Nerven beruhigt, bevor bei einem Termin bei einem plastischen
Psychoaktive Droge (»psychoactive drug«) – ein chemischer Stoff,
Chirurgen mit Botox-Injektionen die Falten geglättet werden. der Wahrnehmungen und Stimmungen verändert.
Eine Schlankheitspille vor dem Abendessen verringert den
Appetit, und ihre anregenden Effekte können später mit einem
Glas Wein und einer Schlaftablette gemildert werden. Und wenn 4.4.1 Toleranz, Abhängigkeit und Sucht
die Leistungsfähigkeit verbessert werden soll, gibt es Betablocker
für Bettakrobaten: Viagra für Männer und hormonabgebende
? 4.13 Was bedeuten Toleranz, Abhängigkeit und Sucht, und
»Libidopflaster« für Frauen im mittleren Alter. Darüber hinaus
welches sind verbreitete falsche Vorstellungen von Sucht?
hoffen Studierende, mit Amphetaminen ihre Konzentrations-
fähigkeit zu verbessern. Bevor er in einen Schlaf mit künstlich Woran liegt es, dass ein Mensch, der selten Alkohol trinkt,
unterdrückten REM-Phasen fällt, ist unser erdachter Drogen- möglicherweise nach einer Flasche Bier beschwipst ist, ein
konsument bestürzt über einen Bericht im Fernsehen über den gewohnheitsmäßiger Trinker jedoch erst beim zweiten Six-Pack?
steigenden Drogenkonsum bei College-Studenten. Die Antwort lautet Toleranz. Der regelmäßige Konsum von
Die meisten von uns konsumieren nicht verschreibungs- Alkohol und anderen Drogen bewirkt eine Anpassung der
pflichtige Drogen in Maßen und ohne negative Auswirkungen Chemie des Gehirns, um die Wirkung auszugleichen. Dieser
auf unser Leben. Aber einige von uns entwickeln selbstschädi- Prozess wird als Neuroadaptation bezeichnet; der Konsument
gende Störungen durch den Konsum von Substanzen. Diese Subs- benötigt mehr und mehr von der Droge, um die gleiche Wir-
tanzen sind psychoaktive Drogen – chemische Stoffe, die Wahr- kung zu spüren (. Abb. 4.29). So werden beispielsweise das
nehmungen und Stimmungen verändern. Der Gesamteffekt Gehirn, das Herz und die Leber eines Alkoholikers durch
einer Substanz hängt nicht nur von ihren biologischen Auswir- den exzessiven Alkoholgenuss geschädigt, obwohl der Begriff
kungen ab, sondern auch von den psychologischen Erwartungen Alkohol-»Toleranz« ja scheinbar auf etwas anderes hindeutet.
des Konsumenten, die sich abhängig von sozialem Kontext sowie Die immer größer werdende Dosis kann eine ernstzuneh-
dem Kulturkreis unterscheiden (Ward 1994). Herrscht in einer mende Gefahr für die Gesundheit darstellen und darüber
Kultur die Annahme vor, dass eine bestimmte Substanz Euphorie hinaus zu Sucht führen: Das starke Verlangen nach einer Subs-
bewirkt (oder Aggression oder sexuelle Erregung), in einer an- tanz und der Konsum trotz nachteiliger Folgen (7 Kritisch nach-
deren aber nicht, dann erfüllen sich die jeweiligen Erwartungen gefragt: Sucht). Die Weltgesundheitsorganisation (World Health
120 Kapitel 4 · Bewusstsein und der zweigleisige Verstand

Kritisch nachgefragt

Sucht
In der heutigen Alltagspsychologie wird die rend der ersten 10 Jahre ihres Konsums ab- und häufig wiederholten Verhaltensweisen?
unwiderstehliche Verlockung, die das Charak- hängig«, berichten Terry Robinson und Kent Das können wir, und das haben wir bereits,
teristikum einer Sucht ausmacht, auf andere Berridge (2003). aber ist das richtig? Die Vorstellung von Sucht
Verhaltensweisen übertragen, die früher als 2. Ist zur Überwindung einer Sucht eine als Krankheit, die eine Therapie erfordert, wur-
schlechte Angewohnheiten oder sogar als Therapie erforderlich? Eine Sucht kann sehr de auf eine ganze Reihe von Verhaltensweisen
4 Sünde bezeichnet wurden. Wurde der Begriff stark sein und manch Abhängiger profitiert und Beschäftigungen angewandt, darunter
zu weit ausgedehnt? Kann man einer Sucht tatsächlich von Behandlungsprogrammen übermäßiges Essen, Shopping, Glücksspiele,
so schwer widerstehen, wie gemeinhin ange- oder Selbsthilfegruppen. Die Anonymen Arbeit und Sex. Anfangs benutzten wir den
nommen wird? Lassen Sie uns drei wesentliche Alkoholiker haben z. B. schon viele Menschen Begriff eher metaphorisch (»Ich bin süchtig
Fragen untersuchen: dabei unterstützt, ihre Alkoholabhängigkeit nach Science-Fiction«), aber wenn wir nun
1. Wird man schnell süchtig und steigt dann zu überwinden. Kritiker merken jedoch an, beginnen, die Metapher als Realität zu be-
auf härtere Drogen um? Führt z. B. Morphium, dass die Heilungsraten von Behandelten und trachten, kann der Suchtbegriff zur Allzweck-
das zur Schmerzlinderung eingenommen wird, Unbehandelten sich weniger unterscheiden, erklärung werden (. Abb. 4.30). Außerdem:
schnell zu Heroinmissbrauch? Generell nicht. als man annehmen könnte. Außerdem kann Ein Verhalten zu benennen, erklärt es noch
Patienten, die Morphium erhalten, um ihre die Definition einer Abhängigkeit als Krankheit lange nicht. Ständige Seitensprünge mit »Sex-
Schmerzen zu lindern, entwickeln normaler- das Selbstvertrauen eines Menschen und sucht« zu entschuldigen, wie im Fall von Tiger
weise nicht das starke Verlangen nach dem seinen Willen zur Überwindung des Verlan- Woods, erklärt nicht die sexuelle Leidenschaft,
Stoff wie Süchtige, die Morphium als stim- gens untergraben. Und das kann tragisch sein, betonen Kritiker (Radford 2010).
mungsaufhellende Droge verwenden (Melzack wie Kritiker anmerken, da viele Menschen Manchmal werden Verhaltensweisen wie
1990). Manchen Menschen – vielleicht 10% – freiwillig und ohne Behandlung aufhören, ab- Spielen oder Internetsurfing jedoch zwanghaft
fällt es nach der Einnahme einer psychoakti- hängig machende Substanzen einzunehmen. und dysfunktional, genauso wie Drogenkon-
ven Droge tatsächlich schwer, sie in Zukunft Die meisten der 41 Mio. Ex-Raucher in den sum (Gentile 2009; Griffiths 2001; Hoeft et al.
nur moderat einzunehmen oder ganz damit USA, die ihre schlechte Angewohnheit auf- 2008). So halten es z. B. einige Internet-User
aufzuhören. Trotzdem gibt es viel mehr Men- gaben, taten dies aus eigener Motivation nicht lange aus, nicht eingeloggt zu sein,
schen, die Drogen wie Alkohol oder Marihuana heraus – oftmals, nachdem vorige Bemühun- selbst wenn dieses exzessive Verhalten ihre
kontrolliert und nur gelegentlich nutzen, als gen oder Behandlungen gescheitert waren. Beziehungen oder ihre Arbeit beeinträchtigt
echte Substanzabhängige (Gazzaniga 1988; 3. Können wir das Suchtkonzept auch auf (Ko et al. 2005). Ist es gerechtfertigt, das Sucht-
Siegel 1990). »Sogar bei einer Droge, die Bereiche außerhalb der Substanzabhängig- konzept auf bestimmte soziale Verhaltens-
starke Abhängigkeit erzeugt (wie z. B. Kokain), keiten übertragen, nämlich auf ein ganzes weisen auszudehnen? Die Debatten über das
werden nur 15–16% der Konsumenten wäh- Spektrum von Lustgewinn versprechenden Krankheitskonzept der Sucht gehen weiter.

Organisation 2008) berichtet, dass weltweit etwa 90 Mio. ren, doch sie werden trotzdem ein wichtiger Bestandteil im Le-
Menschen unter Problemen mit Alkohol und anderen Drogen ben des Konsumenten, meist als Mittel zur Milderung von nega-
leiden. tiven Gefühlen. Ob physisch oder psychisch abhängig: Der
Drang, die Drogen zu bekommen und einzunehmen, wird jeden
Toleranz (»tolerance«) – die abnehmende Wirkung, wenn man dieselbe
Dosis einer Droge regelmäßig nimmt; der Konsument muss dann immer Tag zum wichtigsten Ziel.
größere Dosen nehmen, bis er die Wirkung der Droge erlebt.
Sucht (»addiction«) – zwanghaftes Verlangen nach einer Droge und ihrem
Konsum.

Prüfen Sie Ihr Wissen

5 Wie entwickelt sich eine Drogentoleranz?

Personen, die regelmäßig Drogen konsumieren, versuchen oft-


mals, ihre Sucht zu bekämpfen. Wenn sie allerdings plötzlich
damit aufhören, Drogen zu nehmen, können unerwünschte
Nebenwirkungen des Entzugs einsetzen. Der Körper reagiert auf
das Fehlen des Stoffes und der Konsument kann körperliche
Schmerzen empfinden sowie einen starken Drang verspüren, die
Droge wieder zu nehmen. Dies weist auf eine körperliche Abhän-
gigkeit hin. Ebenso kann man psychisch abhängig werden, vor
allem bei stressreduzierenden Mitteln wie z. B. Alkohol. Solche
Drogen mögen nicht immer zur physischen Abhängigkeit füh- . Abb. 4.30 Internet-Sucht? (© David Horsey/Seattlepi.com)
4.4 · Drogen und Bewusstsein
121 4
Entzug (»withdrawal«) – unangenehme und quälende Folgen des Ab- Dämpfende Substanzen (»depressant«) – Substanzen (wie Alkohol,
setzens der suchterzeugenden Substanz. Barbiturate und Opiate), die die neuronale Aktivität reduzieren und die
Physische (körperliche) Abhängigkeit (»physical dependence«) – phy- Körperfunktionen verlangsamen.
sisches Bedürfnis nach der Droge, gekennzeichnet durch unangenehme
Entzugssymptome beim Absetzen der Droge.
jAlkohol
Psychische Abhängigkeit (»psychological dependence«) – psychisches
Verlangen nach einer Droge, um negative Gefühle zu dämpfen. Wahr oder falsch? In geringen Mengen gehört Alkohol zu den
Stimulanzien.
Falsch. Geringe Dosen von Alkohol können den Trinker tat-
Was versteht man unter Substanzabhängigkeit? sächlich beleben, aber sie tun dies durch die verlangsamte Ge-
Gemäß »Diagnostischem und statistischem Handbuch hirnaktivität in Bereichen, die die Urteilskraft und Hemmung
psychischer Störungen« (»Diagnostic and Statistical Manual steuern. Alkohol wirkt je nach Situation unterschiedlich: Er ver-
of Mental Disorders«, DSM) der American Psychiatric stärkt (enthemmt) die Tendenzen, anderen zu helfen, z. B. wenn
Association kennzeichnet die Anwesenheit von drei oder ein angetrunkener Restaurantbesucher ungewöhnlich hohe
mehr der folgenden Merkmale eine Substanzabhängigkeit: Trinkgelder gibt (Lynn 1988). Auf der anderen Seite verstärkt
5 Toleranz (mit wiederholtem Gebrauch, wobei der ge- Alkohol negative Absichten, wenn beispielsweise sexuell erregte
wünschte Effekt eine immer höhere Dosis erfordert) Männer eher zu sexueller Gewalt neigen. Eine Studie der Univer-
5 Entzugserscheinungen (Beschwerden und Leiden beim sity of Illinois ergab, dass vor einem sexuellen Übergriff 80%
Absetzen der Substanz) der männlichen Täter und 70% der weiblichen Opfer Alkohol
5 Einnahme der Substanz über einen längeren Zeitraum oder getrunken hatten (Camper 1990). Eine weitere Studie mit
in einer größeren Menge als ursprünglich beabsichtigt 89.874 amerikanischen College-Studenten zeigt, dass in 79% der
5 Unfähigkeit den Konsum zu kontrollieren Fälle von ungewolltem sexuellem Verkehr Alkohol oder andere
5 Erhebliche Zeitinvestition, um die Substanz zu be- Drogen konsumiert wurden (Presley et al. 1997).
schaffen Sowohl Männer als auch Frauen sind eher zu unverbind-
5 Normale Aktivitäten werden aufgegeben oder reduziert lichem Sex bereit, wenn sie Alkohol getrunken haben (Davis et
5 Fortgesetzter Gebrauch trotz des Wissens, dass dies die al. 2006; Ebel-Lam et al. 2009; Grello et al. 2006). Über 600 Stu-
Probleme verschlimmert dien haben den Zusammenhang zwischen Alkoholkonsum und
riskantem Sex untersucht – die überwiegende Mehrheit entdeck-
te einen Zusammenhang (Cooper 2006). Es sind die Bedürfnisse,
Wahrscheinlichkeit, abhängig zu werden, nachdem man eine
die Sie im nüchternen Zustand haben, die Sie höchstwahrscheinlich
Droge ausprobiert hat (gemäß National Academy of Science,
im betrunkenen Zustand befriedigen.
Institute of Medicine; Brody 2003):
5 Tabak: 32%
Verlangsamung der Verarbeitung im Nervensystem Geringe
5 Heroin: 23%
Dosen von Alkohol entspannen den Trinker durch eine Ver-
5 Alkohol: 15%
langsamung der Aktivität des sympathischen Nervensystems. Bei
5 Marihuana: 9%
größeren Dosen kann Alkohol zu einem folgenschweren Problem
werden: Die Reaktionen verlangsamen sich, die Sprache wird
schleppend, die Bewegungen werden ungelenk. Zusammen mit
4.4.2 Arten psychoaktiver Substanzen Schlafentzug wirkt Alkohol wie ein Beruhigungsmittel. Diese
physiologischen Effekte können in Verbindung mit der herab-
Es gibt mindestens drei Klassen psychoaktiver Substanzen: gesetzten Hemmschwelle tödlich enden: Weltweit passieren
Dämpfende Substanzen, Stimulanzien und Halluzinogene. Alle hunderttausende tödlich ausgehende Unfälle und Gewalttaten
davon entfalten ihre Wirkung an den Synapsen im Gehirn, indem pro Jahr, bei denen Alkohol im Spiel ist. Im nüchternen Zustand
sie die Aktivität der chemischen Botenstoffe des Gehirns – der glauben die meisten Menschen, dass alkoholisiertes Fahren
Neurotransmitter – verstärken, hemmen oder nachahmen. falsch ist und beteuern, dass sie das nie tun würden. Doch mit
steigender Promillezahl sinkt das moralische Urteilsvermögen
Dämpfende Substanzen und die Bedenken gegenüber alkoholisiertem Fahren schwinden
(. Abb. 4.31). So gut wie jeder würde von der Bar nach Hause
? 4.14 Was sind dämpfende Substanzen und welche Auswir-
fahren, selbst wenn bei einem Alkoholtest festgestellt wird, dass
kungen haben sie?
er betrunken ist (Denton u. Krebs 1990; MacDonald et al. 1995).
Dämpfende Substanzen sind Drogen wie z. B. Alkohol, Barbi- Moderates Trinken unterdrückt den Brechreiz – gefolgt von star-
turate (Tranquilizer) und Opiate, die die neuronale Aktivität ab- kem Trinken können sich die Alkoholkonsumenten mit einer
flauen lassen und die Körperfunktionen verlangsamen. Überdosis vergiften, die sie normalerweise erbrechen würden.
122 Kapitel 4 · Bewusstsein und der zweigleisige Verstand

. Abb. 4.31 Gefährliche Enthemmung. Alkoholkonsum erzeugt ein Gefühl der Unverwundbarkeit, welches besonders gefährlich beim Autofahren ist –
so wie bei diesem Auto mit Totalschaden, den ein betrunkener Teenager verursacht hat. Die »Alcohol Awareness Week« der Colorado University veranlasste
viele Studenten, ihre eigenen Anti-Alkohol-Vorsätze zu veröffentlichen (weiße Flaggen). (© Ray Ng / Time & Life Pictures / Getty Images)

Gedächtnisstörungen Alkohol beeinträchtigt die Verarbeitung Trinken zur Schrumpfung des Gehirns führen (. Abb. 4.32).
aktueller Erfahrungen im Langzeitgedächtnis. So können sich Frauen sind besonders gefährdet, da bei ihnen ein Magenenzym
starke Trinker am nächsten Tag nicht mehr an Leute erinnern, zum Abbau des Alkohols fehlt (Wuethrich 2001). Mädchen und
die sie getroffen haben, oder daran, was sie in der letzten Nacht junge Frauen können zudem schneller von Alkohol abhängig
gesagt oder getan haben. Gedächtnislücken nach dem Trinken werden als Jungen und junge Männer; und bei ihnen werden
resultieren teilweise daraus, dass Alkohol den REM-Schlaf unter- schon bei einem weniger extremen Konsumniveau Lunge, Ge-
drückt, welcher dazu beiträgt, die täglichen Erlebnisse auf Dauer hirn und Leber geschädigt (CASA 2003).
im Gedächtnis zu speichern. Zudem kann häufiges exzessives
Alkoholabhängigkeit (»alcohol dependance«) – gewohnheitsgemäßer
Trinken das Gehirn und die Kognition dauerhaft beeinträchti- Konsum von Alkohol, der zu körperlichen und psychischen Schädigungen
gen. Bei Ratten führt exzessives Trinken – in einer Entwicklungs- führt; starker, übermächtiger Wunsch oder Zwang, Alkohol zu konsumieren,
phase, die der menschlichen Jugend ähnelt – zum Absterben von der meist dann bewusst wird, wenn versucht wird, den Alkoholkonsum zu
kontrollieren oder zu beenden.
Nervenzellen und zu einer reduzierten Produktion neuer Ner-
venzellen. Ebenfalls beeinträchtigt es das Wachstum von synap-
tischen Verbindungen (Crews et al. 2006; 2007). Bei Personen Verringerung von Selbstaufmerksamkeit (Ich-Bewusstsein) und
mit Alkoholabhängigkeit kann das anhaltende und exzessive Selbstkontrolle Alkohol kann darüber hinaus auch die Selbst-

. Abb. 4.32a,b Alkohol lässt das Gehirn schrumpfen. Bei MRT-Schichtaufnahmen zeigt sich bei a Frauen mit Alkoholproblemen eine Verringerung der
Gehirnmasse, wenn man dies mit b Frauen aus der Kontrollgruppe vergleicht. (Mit freundlicher Genehmigung des National Institute on Alcohol Abuse and
Alcoholism/National Institutes of Health, Daniel Hommer)
4.4 · Drogen und Bewusstsein
123 4
aufmerksamkeit verringern (Hull et al. 1986). In einem Experi- jOpiate
ment schweiften diejenigen, die Alkohol konsumierten (statt Opiate – Opium und seine Derivate, Morphium und Heroin –
eines Placebo-Getränks), während einer Leseaufgabe etwa verringern ebenfalls die neuronale Aktivität. Die Pupillen veren-
doppelt so oft mit ihren Gedanken ab – bemerkten aber seltener, gen sich, die Atmung wird langsamer, der Konsument wird
dass sie dies taten (Sayette et al. 2009). Alkohol kann zu einer Art lethargisch. Für einige Stunden werden Schmerz und Angst von
»Kurzsichtigkeit« führen: Er richtet die Aufmerksamkeit auf Glückseligkeit abgelöst. Aber für dieses kurze Glück muss ein
die unmittelbare Situation, wie z. B. eine Provokation, so dass hoher Preis bezahlt werden: Das quälende Bedürfnis nach
normale Hemmungen wegfallen und zukünftige Konsequenzen dem nächsten Schuss, dem Drang nach immer höheren Dosen
nicht mehr bedacht werden (Giancola et al. 2010; Steele u. (mit zunehmender Toleranz) und extreme Beschwerden des
Josephs 1990). Entzugs. Wird das Gehirn immer wieder mit einem künstlichen
Dieser Effekt der verringerten Selbstaufmerksamkeit kann Opiat überschwemmt, hört es irgendwann auf, Endorphine
erklären, warum diejenigen, die ihr Gefühl des Versagens und zu produzieren – seine eigenen Opiate. Kommt es dann zum
der Unzulänglichkeit verdrängen wollen, eher zum Trinken Entzug, fehlt dem Gehirn die normale Menge dieser schmerz-
neigen als selbstbewusste Menschen. Nach dem Scheitern einer lindernden Neurotransmitter. Diejenigen, die diesen Zustand
geschäftlichen Transaktion, einem verlorenen Spiel oder einer nicht tolerieren können oder wollen, zahlen schließlich den
Trennung kommt es leicht zu exzessivem Alkoholgenuss. höchsten Preis: Tod durch Überdosis. Das künstliche Opiat
Methadon wird als Ersatz für Heroin oder als Schmerzmittel
Erwartungseffekte Wie bei anderen psychoaktiven Substanzen verschrieben, kann allerdings auch zu Toleranz und Abhängig-
beeinflusst die Erwartung des Konsumenten dessen Verhalten. keit führen.
Sobald Menschen glauben, Alkohol beeinflusse das soziale Ver-
Opiate (»opiates«) – Opium und seine Derivate wie Morphium und Heroin
halten auf eine bestimmte Weise, und zudem glauben, sie hätten vermindern die neuronale Aktivität und lindern daher zeitweise Schmerzen
Alkohol konsumiert – ob es nun stimmt oder nicht – verhalten sie und Angstgefühle.
sich auch so, als hätten sie tatsächlich getrunken (Moss u. Albery
2009). In einem mittlerweile klassischen Experiment wurde Prüfen Sie Ihr Wissen

Männern der Rutgers University (die sich freiwillig für eine Studie 5 Alkohol, Barbiturate und Opiate gehören alle zur
zum Thema »Alkohol und sexuelle Stimulation« gemeldet hatten) Kategorie der .
ein alkoholisches oder ein nicht alkoholisches Getränk gegeben
(Abrams u. Wilson 1983). (Beide Getränke hatten einen so star-
ken Geschmack, dass der Geschmack des teilweise vorhandenen
Alkohols überdeckt wurde.) In jeder Gruppe dachte die Hälfte der Stimulanzien
Männer, sie tränken Alkohol, und die andere Hälfte, sie tränken
? 4.15 Was sind Stimulanzien und welche Auswirkungen
ein alkoholfreies Getränk. Dann zeigte man ihnen einen ero-
haben sie?
tischen Videofilm. Die Männer, die dachten, sie hätten Alkohol
getrunken, berichteten mit höherer Wahrscheinlichkeit, dass sie Stimulanzien wirken sich zeitweilig anregend auf die neuro-
starke sexuelle Phantasien gehabt hätten, sich aber nicht schuldig nale Aktivität und die Körperfunktionen aus. Sie erweitern
fühlten. Die Möglichkeit, ihre sexuelle Reaktion dem Alkohol zu- die Pupillen, beschleunigen den Herzschlag und die Atmung
zuschreiben, nahm ihnen die Hemmungen, unabhängig davon, ob und bewirken eine Steigung des Blutzuckerspiegels und folglich
sie tatsächlich getrunken hatten oder nicht. Die Auswirkungen eine Verringerung des Appetits. Zudem steigern sie die Energie
von Alkohol sind zum Teil abhängig vom Verstand. und das Selbstbewusstsein. Zu den Stimulanzien gehören Kof-
fein, Nikotin, die Amphetamine, Kokain, Methamphetamine
jBarbiturate (»Speed«) und Ecstasy. Menschen verwenden diese Substan-
Wie Alkohol unterdrücken Barbiturate oder Tranquilizer die zen, um wach zu bleiben, abzunehmen und die Stimmung
Aktivität des Nervensystems. Barbiturate wie z. B. Nembutal, oder die sportliche Leistungsfähigkeit zu steigern. Allerdings
Seconal und Amytal werden manchmal als Schlafmittel und zur können Stimulanzien abhängig machen. Sie wissen das viel-
Angstreduzierung verordnet. In größeren Dosen können sie zu leicht, wenn Sie einer von vielen sind, die täglich koffeinhaltige
Gedächtnisstörungen und einer Verminderung der Urteilsfähig- Getränke wie Kaffee, Tee, Limonade oder Energydrinks kon-
keit führen. In Kombination mit Alkohol – wenn man etwa nach sumieren. Sobald Sie nicht ihre gewöhnliche Dosis erhalten,
einem »feuchtfröhlichen« Abend eine Schlaftablette nimmt – kann leiden Sie möglicherweise an Müdigkeit, Kopfschmerzen, Reiz-
der hemmende Effekt auf die Körperfunktionen tödlich sein. barkeit oder sogar Depression (Silverman et al. 1992). Eine
geringe Dosis Koffein hält normalerweise 3–4 Stunden an,
Barbiturate (»barbiturates«) – Substanzen, die zur Verringerung der
Aktivität des zentralen Nervensystems führen. Sie wirken angstreduzierend, am Abend konsumiert kann somit der Schlaf beeinträchtigt
schränken jedoch das Gedächtnis und die Urteilsfähigkeit ein. werden.
124 Kapitel 4 · Bewusstsein und der zweigleisige Verstand

Stimulanzien (»stimulants«) – Substanzen (wie Koffein, Nikotin und


stärkere, wie Amphetamine und Kokain), die die neuronale Aktivität ver-
stärken und die Körperfunktionen beschleunigen.
Amphetamine (»amphetamines«) – Substanzen, die die neuronale
Aktivität stimulieren und zu einer Beschleunigung der Körperfunktionen
führen. Der Energiepegel steigt an und die Stimmung verbessert sich.

jNikotin

4 Eine der am meisten abhängig machenden Stimulanzien ist


Nikotin, welches sich in Zigaretten und anderen Tabakproduk-
ten befindet. Stellen Sie sich vor, Zigaretten wären völlig unge-
fährlich – bis auf eine von 25.000 Schachteln, in der eine harmlos . Abb. 4.33 Einfluss der Gleichaltrigen. Kinder rauchen nicht, wenn es
aussehende Zigarette nicht mit Tabak, sondern mit Dynamit ihre Freunde nicht tun (Philip Morris 2003). Beweist dieser enge Zusammen-
hang den Einfluss der Gleichaltrigen? Oder suchen sich Jugendliche
gefüllt ist. Ihr Risiko, in die Luft zu gehen, wäre also nicht beson-
vielmehr Freunde aus, die gleichen Interessen haben? Oder sogar beides?
ders hoch. Aber bei über 250 Mio. Schachteln Zigaretten, die
täglich weltweit geraucht werden, könnten wir mit über
10.000 grauenvollen Todesfällen pro Tag rechnen – das sollte aus- oder die Universität besuchen und die Zigarettenhersteller sie
reichen, Zigaretten überall verbieten zu lassen (modifiziert nach bisher noch nicht zum anhänglichen Kunden machen konnten,
Saunders, zit. nach Cole 1998). werden sie es vermutlich niemals schaffen.) Heranwachsende –
sich ihrer selbst sehr bewusst und glaubend, die Welt beobachte
Nikotin (»nicotine«) – eine stimulierende und höchst süchtig machende
psychoaktive Substanz in Tabak. jede einzelne ihrer Regungen – sind sehr anfällig für die Reize des
Rauchens. Sie fangen vielleicht mit dem Rauchen an, um be-
» In Medizin und Wissenschaft herrscht einhellig die Meinung, rühmte Stars nachzuahmen, reifer zu wirken oder als soziale
dass das Rauchen von Zigaretten bei Rauchern zu Belohnung die Anerkennung anderer Raucher zu erhalten (Cin
Lungenkrebs, Herzkrankheiten, Lungenemphysemen und et al. 2007; Tickle et al. 2006). Unbeeindruckt von solchen
anderen schweren Krankheiten führt. Raucher haben Tendenzen gestalten die Zigarettenkonzerne das Rauchen mit
ein wesentlich höheres Risiko, Lungenkrebs zu bekommen, Themen, die Jugendliche ansprechen: Reife, Unabhängigkeit,
als Nichtraucher. Abenteuerlust, soziale Anerkennung. Typischerweise haben Ju-
Philip Morris Companies Inc. (1999) gendliche, die mit dem Rauchen beginnen, auch Freunde, die
bereits rauchen, ihnen suggerieren, dass Rauchen toll sei, und
Die vielen Leben, die durch diese mit Dynamit gefüllten Zigaret- ihnen Zigaretten anbieten (Rose et al. 1999). Unter den Jugend-
ten verloren gingen, entsprechen annähernd der aktuellen Zahl lichen, deren Eltern und beste Freunde Nichtraucher sind, liegt
an Toten durch Zigaretten. Wer als Jugendlicher mit dem die Raucherquote fast bei null (Moss et al. 1992; auch . Abb. 4.33;
Rauchen angefangen hat und bis zum Tod raucht, stirbt mit . Abb. 4.34).
50%iger Wahrscheinlichkeit an dieser Gewohnheit, und jedes Wer erst einmal nikotinabhängig ist, dem fällt es sehr schwer,
Jahr tötet Tabak fast 5,4 Millionen der insgesamt 1,3 Milliarden wieder aufzuhören. Das liegt daran, dass Tabakprodukte ebenso
Raucher weltweit. (Stellen Sie sich das Entsetzen vor, wenn süchtig machen wie Heroin und Kokain. Versuche, mit dem
Terroristen heute einen Anschlag auf die gleiche Menge Rauchen aufzuhören, scheitern oft – sogar, wenn man bereits in
Menschen in 25 Jumbojets ausgeübt hätten, nicht zu sprechen den ersten Wochen, nachdem man zu Rauchen angefangen hat,
von morgen und jedem einzelnen Tag danach.) Bis 2030 werden wieder aufhören möchte (DiFranza 2008). Wie bei jeder Sucht
die jährlichen Todesfälle Schätzungen zufolge auf 8 Mio. an- wird auch ein Raucher abhängig und entwickelt eine Toleranz.
steigen. Das würde bedeuten, dass 1 Milliarde Menschen im Aufhören führt zu Entzugserscheinungen, u. a. starkes Verlangen
21. Jahrhundert durch Tabak getötet würden (WHO 2008). nach Nikotin, Schlaflosigkeit, Angst, Reizbarkeit und Ablenk-
Das Verbot von Nikotinkonsum würde die Lebenserwartung barkeit. Raucher zeigen nach dem Aufhören eine 3-mal so hohe
mehr als jede andere präventive Maßnahme steigern. Warum Ablenkungsrate wie Nichtraucher, wenn sie sich auf eine Aufgabe
also rauchen so viele Menschen? konzentrieren sollen (Sayette et al. 2010). Wenn sie sich gerade
nicht nach einer Zigarette sehnen, unterschätzen selbst Raucher
Rauche eine Zigarette, und das Leben wird dir dafür 12 Minuten
die Stärke ihres Verlangens bei einem zukünftigen Entzug
berechnen – ironischerweise ist das in etwa die Zeit, die man für
(Sayette et al. 2008).
eine Zigarette braucht (Discover, 1996).

Rauchen beginnt normalerweise in der frühen Adoleszenz – in Auf die Frage: »Wenn Sie noch einmal ganz von vorn anfangen
Deutschland im Durchschnitt mit 14,4 Jahren (Bundeszentrale könnten, würden Sie dann anfangen zu rauchen?« antworteten
für gesundheitliche Aufklärung 2013). (Wenn Sie das College über 85% der erwachsenen Raucher: »Nein« (Slovic et al. 2002).
4.4 · Drogen und Bewusstsein
125 4
Man braucht nur eine einzige Zigarette – einen transportablen
Nikotinautomaten –, um sich von den unangenehmen Zu-
ständen des Entzugs zu befreien. Innerhalb von 7 Sekunden löst
der Nikotinstoß im zentralen Nervensystem eine Ausschüttung
von Neurotransmittern aus (. Abb. 4.35). Adrenalin und Norad-
renalin zügeln den Appetit und steigern Aufmerksamkeit sowie
geistige Leistungsfähigkeit. Dopamin und Opioide vermindern
Angstgefühle und Schmerzempfinden (Nowak 1994; Scott
et al. 2004).
Diese Belohnungen lassen die Menschen weiter rauchen,
auch wenn sie gerne aufhören würden – bei 8 von 10 Rauchern
ist dies der Fall (Jones 2007). Jedes Jahr schafft es weniger als
einer von sieben Rauchern, aufzuhören – auch wenn sie wissen,
dass sie Selbstmord auf Raten begehen (Saad 2002). Dennoch
lohnt es sich, nicht sofort aufzugeben. Die Hälfte aller Amerika-
ner, die je geraucht haben, hat endgültig aufgehört – manchmal
mit Hilfe von Nikotinersatzmitteln, telefonischer Beratung
oder einer Selbsthilfegruppe. Der Erfolg ist unabhängig davon,
ob man abrupt oder schrittweise aufhört (Fiore et al. 2008;
Lichtenstein et al. 2010; Lindson et al. 2010). Bei denjenigen,
die durchhalten, lassen das akute Verlangen und die Entzugs-
symptome allmählich in den folgenden 6 Monaten nach (Ward et
. Abb. 4.34 Nic-A-Teen. Kaum jemand fängt nach den leicht beeinfluss- al. 1997). Nach einem Jahr Abstinenz werden nur 10% im darauf-
baren Teenager-Jahren mit dem Rauchen an. Zigarettenhersteller fokussie- folgenden Jahr rückfällig (Hughes 2010). Diese Nichtraucher
ren sich auf Jugendliche, um Kunden für die nächsten Jahrzehnte zu binden
leben nicht nur gesünder, sondern wahrscheinlich auch glück-
und somit ihren Gewinn zu sichern. Fotos von rauchenden Promis, so
wie Wilson Gonzalez Ochsenknecht, verleiten die Jugendlichen zum Nach- licher. Rauchen korreliert mit höheren Depressionsraten, chro-
ahmen. (© Marijan Murat / dpa / picture alliance) nischen Behinderungen und Scheidung (Doherty u. Doherty

. Abb. 4.35 Wo Rauch ist …: Die physiologischen Effekte von Nikotin. Nikotin erreicht das Gehirn innerhalb von 7 Sekunden, ist also doppelt so schnell
wie intravenöses Heroin. Innerhalb von Minuten dringt die inhalierte Nikotinmenge in den gesamten Blutkreislauf
126 Kapitel 4 · Bewusstsein und der zweigleisige Verstand

. Abb. 4.36a–c Kokaineuphorie und Zusammenbruch

1998; Vita et al. 1998). Gesund zu leben bedeutet nicht nur, dass für müde ältere Menschen. Zwischen 1896 und 1905 war die
man länger lebt, sondern auch, dass man in diesen Jahren mehr Coke tatsächlich »the real thing«. Aber auch nicht länger. Kokain
vom Leben hat. wird nun gesnifft, injiziert oder geraucht. Es erreicht den
Blutkreislauf sehr schnell und bewirkt einen Euphorierausch,
» Argumente gegen das Rauchen: ›Es handelt sich um eine
welcher wiederum den Vorrat des Gehirns an den Neurotrans-
abstoßende Sucht, die Sie langsam, aber sicher in einen
mittern Dopamin, Serotonin und Noradrenalin aufbraucht
keuchenden, grauhäutigen, von einem Tumor geplagten
(. Abb. 4.36). Innerhalb einer Stunde kommt es zum Absturz in
Pflegefall verwandelt, der bräunliche Klumpen giftigen
eine agitierte Depression, sobald die Drogenwirkung nachlässt.
Abfalls aus einer seiner noch verbliebenen Lungenhälften
Viele regelmäßige Kokainkonsumenten werden süchtig, da sie
hustet.‹ Argumente für das Rauchen: ›Andere Teenager
dieses intensive »High« erleben wollen. In Laborversuchen
machen es auch.‹ So viel dazu. Lasst uns eine rauchen!
waren Affen so abhängig, dass sie mehr als 12.000 Mal auf
Der Komiker Dave Barry (1995), der sich daran erinnert,
einen Hebel drückten, um eine Kokaininjektion zu erhalten
warum er in dem Sommer, in dem er 15 wurde, seine erste
(Siegel 1990).
Zigarette rauchte.

» Mit dem Rauchen aufzuhören ist die leichteste Sache, » Kokain macht aus Ihnen einen neuen Menschen.
die ich je vollbracht habe; ich sollte es wissen, denn ich habe Und das Erste, was dieser neue Mensch will, ist Kokain.
es schon 1000-mal gemacht. Der Komiker George Carlin (1937–2008)
Mark Twain (1835–1910).
In Situationen, die Aggressionen hervorrufen können, kann
Prüfen Sie Ihr Wissen
Kokain die Aggressivität noch steigern. Eingesperrte Ratten
5 Warum versuchen Zigarettenhersteller unbedingt, kämpfen, wenn sie Elektroschocks erhalten, und sie kämpfen
Jugendliche als Kunden zu gewinnen? umso mehr, wenn sie Kokain und Elektroschocks erhalten. Men-
schen, die eine hohe Dosis Kokain eingenommen haben, muten
bei Laborexperimenten einem Gegner höhere Elektroschocks zu,
jKokain als diejenigen, denen ein Placebo verabreicht wurde (Licata et al.
Der Konsum von Kokain ist wie eine Autobahn von der Euphorie 1993). Der Konsum von Kokain kann zudem zu emotionalen
zum Absturz. Das Rezept für Coca-Cola enthielt im Original Störungen, Misstrauen, Krämpfen, Herzstillstand oder Atem-
einen Extrakt der Kokapflanze, war also ein Kokaintonikum versagen führen.
4.4 · Drogen und Bewusstsein
127 4

. Abb. 4.37a,b Dramatischer drogeninduzierter Abbau. Die Methamphetaminsucht dieser Frau führte zu augenscheinlichen körperlichen Veränderungen.
Ihr Abbau wird deutlich, wenn man die beiden Fotos miteinander vergleicht; sie wurden im Alter von 36 Jahren (links) und im Alter von 40 Jahren (rechts)
aufgenommen – nach 4 Jahren Drogensucht. (© The Image Works / National Pictures / Topham)

In nationalen Studien gaben 3% der amerikanischen Ober- losigkeit, Bluthochdruck, Krampfanfälle, soziale Isolation, De-
stufenschüler und 6% der britischen 18- bis 24-Jährigen an, im pression und gelegentlich gewalttätiges Verhalten (Homer et al.
vorigen Jahr Kokain probiert zu haben (ACMD 2009; Johnston 2008). Langfristig scheint Methamphetamin auch das Ausgangs-
et al. 2011). Fast die Hälfte unter ihnen sagte, sie hätten Crack niveau des Dopaminspiegels zu verringern, was beim Konsu-
geraucht – eine kristalline Form von Kokain, die schneller wirkt. menten zu einer dauerhaft herabgesetzten Funktionsfähigkeit
In Deutschland berichten laut »Europäischer Schülerstudie zu führt (. Abb. 4.37).
Alkohol und anderen Drogen« (Kraus et al. 2011) 3,1% der Schü-
Methamphetamin (»methamphetamine«) – stark süchtig machende
ler der 9. und 10. Klasse, schon einmal Kokain genommen zu Droge, die das zentrale Nervensystem stimuliert; führt zu beschleunigten
haben. 1,9% geben an, Erfahrung mit Crack zu haben. Crack Körperfunktionen und Veränderungen in Bezug auf Energie und Stimmung;
produziert ein kürzeres, aber intensiveres »High«, gefolgt von mit der Zeit scheint sie das Ausgangsniveau des Dopaminspiegels zu ver-
ringern.
einem ebenso heftigeren Absturz. Das Verlangen nach mehr
Crack nimmt nach einigen Stunden ab, tritt allerdings Tage
später wieder auf (Gawin 1991). jEcstasy
Der psychologische Effekt von Kokain ist zum Teil abhängig MDMA (3-Methoxy-4,5-Methylen-Dioxyphenil-isopropyl-
von der Dosierung und der Art der Verabreichung. Aber wie bei Amin), bekannt unter dem Namen Ecstasy, ist gleichzeitig Sti-
allen psychoaktiven Substanzen spielen auch die jeweilige Situa- mulanz und schwaches Halluzinogen. Als Derivat von Amphe-
tion sowie die Erwartungen und die Persönlichkeit des Kon- tamin verstärkt es die Ausschüttung von Dopamin. Doch der
sumenten eine große Rolle. Gibt man Kokainkonsumenten ein Haupteffekt liegt in der Ausschüttung von gespeichertem Sero-
Placebo, während sie glauben, sie würden Kokain erhalten, sind tonin und der Blockade seiner Wiederaufnahme – und somit in
ihre Erfahrungen häufig die gleichen wie nach einem tatsäch- der Verlängerung des Wohlgefühls durch das Serotonin (Braun
lichen Kokainkonsum (Van Dyke u. Byck 1982). 2001). Den Effekt erleben die Konsumenten meist eine halbe
Stunde nach der Einnahme einer Ecstasypille. Für 3–4 Stunden
jMethamphetamine fühlen sie sich sehr energiegeladen und erleben ein emotionales
Methamphetamine lassen sich chemisch von den Amphetami- Hochgefühl und (in einem entsprechenden sozialen Kontext)
nen ableiten (NIDA 2002, 2005), haben aber noch stärkere Aus- ein Gefühl der Verbundenheit mit den anderen Anwesenden
wirkungen. Methamphetamin löst die Freisetzung des Neuro- (»Ich liebe alle«).
transmitters Dopamin aus, wodurch wiederum die Gehirnzellen
Ecstasy (auch MDMA, »ecstasy«) – synthetisches Stimulans und schwa-
stimuliert werden, die für die Steigerung der Energie und der ches Halluzinogen. Führt zu Euphorie und dem Gefühl sozialer Nähe, birgt
Stimmung zuständig sind. Das kann z. B. zu einem mehr als jedoch kurzfristige Gesundheitsrisiken und beschädigt längerfristig sero-
8 Stunden andauernden Zustand höherer Energie und Euphorie tonerge Neuronen; wirkt auf Stimmung und Kognition.
führen. Zu den Nachwirkungen gehören Reizbarkeit, Schlaf-
128 Kapitel 4 · Bewusstsein und der zweigleisige Verstand

Halluzinogene
? 4.16 Was sind Halluzinogene und welche Auswirkungen
haben sie?

Halluzinogene verzerren die Wahrnehmung und wecken senso-


rische Vorstellungen ohne sensorischen Input (weswegen einige
dieser Substanzen als psychedelisch bezeichnet werden, also als
4 »bewusstseinserweiternd«). Manche von ihnen sind natürliche
Substanzen, wie z. B. das schwächere Halluzinogen Marihuana.
Andere werden synthetisch hergestellt, wie LSD und MDMA
(Ecstasy).
Halluzinogene (»hallucinogens«) – psychedelische (»bewusstseins-
erweiternde«) Substanzen, wie LSD, die Wahrnehmungen verzerren und
sensorische Bilder ohne sensorischen Input generieren.

jLSD
Der Chemiker Albert Hofmann kreierte LSD (Lysergsäure-
diethylamid) – und nahm an einem Freitagnachmittag im Jahre
1943 zufällig etwas von dem Stoff zu sich. Die Wirkung – »ein
ununterbrochener Strom phantastischer Bilder und unglaub-
licher Formen in einem intensiven, kaleidoskopischen Farben-
spiel« – erinnerte ihn an ein mystisches Erlebnis in der Kindheit,
nach welchem er einen weiteren Blick einer »wunderbaren, kraft-
vollen, unergründlichen Realität« erhaschen wollte (Siegel 1984;
Smith 2006).
. Abb. 4.38 Die Schmusedroge. MDMA, auch bekannt als Ecstasy, ruft
Euphorie und Gefühle der Intimität hervor. Regelmäßiger Konsum zerstört LSD (Lysergsäurediethylamid; »lysergic acid diethylamide«) – starke
jedoch die serotoninproduzierenden Nervenzellen und kann somit dauer- halluzinogene Droge, auch als »Acid« bekannt.
haft die Stimmung trüben und das Gedächtnis schädigen. (© Getty Images /
iStockphoto) Die Gefühle, die bei einem LSD-Trip entstehen, reichen von
Euphorie bis zu Panik. Wie bei jedem Drogenkonsum färben
die momentane Stimmungslage und die Erwartungen des Kon-
In den 1990er Jahren war Ecstasy als »Partydroge« äußerst sumenten die Erfahrungen bei dem Trip deutlich ein. Trotz der
beliebt in Clubs und Diskotheken, wenn man die ganze Nacht unterschiedlichen Gefühle haben die Wahrnehmungsverzer-
tanzen wollte (Landry 2002). Die Droge gewann über nationale rungen und Halluzinationen einige Gemeinsamkeiten. Wird
Grenzen hinaus an Popularität – allein in Großbritannien wer- das Gehirn zum Halluzinieren gebracht – sei es durch Drogen,
den jährlich schätzungsweise 60 Mio. Ecstasypillen konsumiert Sauerstoffmangel oder extreme sensorische Deprivation – so
(ACMD 2009). Es gibt jedoch keinen Grund zur Ekstase gegen- halluziniert es im Wesentlichen auf die gleiche Art und Weise
über Ecstasy. Ein unmittelbarer Effekt ist die Dehydrierung des (Siegel 1982). Zuerst sieht man normalerweise einfache geo-
Körpers, die – verbunden mit lang anhaltendem Tanzen – zur metrische Formen wie Gitter, Spinnennetze und Spiralen. Die
starken Überhitzung, Blutdruckanstieg und zum Tod führen nächste Phase besteht aus bedeutungsreicheren Bildern. So
kann. Einer der Langzeiteffekte des ständig erhöhten Serotonin- dehnen sich einige zu Trichtern und Tunneln aus, oder spiegeln
spiegels ist die Zerstörung von Neuronen, die Serotonin pro- frühere emotionale Erfahrungen wieder. Erreicht die halluzino-
duzieren – die Folge ist eine Senkung des Serotoninspiegels und gene Erfahrung ihren Höhepunkt, fühlen sich die Konsumen-
eine Erhöhung des Risikos für eine dauerhaft gedrückte Stim- ten häufig von ihrem Körper getrennt und erleben Traumszenen
mung (Croft et al. 2001; McCann et al. 2001; Roiser et al. 2005). so real, dass sie in Panik kommen oder sich selbst verletzen
Weitere Untersuchungen zeigen, dass Ecstasy das Immunsystem können.
hemmt, das Gedächtnis und andere kognitive Funktionen be- Diese Empfindungen weisen auffallende Ähnlichkeiten zu
einträchtigt sowie Schlafstörungen verursacht, da es in den Nahtoderfahrungen auf – einem veränderten Bewusstseinszu-
durch Serotonin gesteuerten zirkadianen Rhythmus eingreift stand, von dem etwa 15% derjenigen, die nach einem Herzstill-
(Laws u. Kokkalis 2007; Pacifici et al. 2001; Schilt et al. 2007). stand wieder zum Leben erwacht sind, berichtet haben (Agrillo
Ecstasy erhellt die Nacht, verdunkelt jedoch den nächsten 2011; Greyson 2010). Oftmals tauchen alte Erinnerungen wieder
Morgen (. Abb. 4.38). auf, oder es entstehen Visionen von Tunneln (. Abb. 4.39), hellen
4.4 · Drogen und Bewusstsein
129 4
zu einem euphorischen Hochgefühl führen. Beide Drogen
schränken die motorische Koordination, die Wahrnehmung
und die Reaktionsfähigkeit ein, welche nötig sind, um Auto zu
fahren oder Maschinen zu bedienen. »Durch THC werden Tiere
dazu gebracht, Situationen falsch einzuschätzen«, berichtet
Ronald Siegel (1990). »Tauben reagieren nicht rechtzeitig auf
die Töne oder Lichter, die ihnen signalisieren, dass für kurze
Zeit Futter zur Verfügung steht, und Ratten verirren sich in
Labyrinthen.«
THC (Tetrahydrocannabinol; »tetrahydrocannabinol«) – Hauptwirkstoff
von Marihuana. Hat verschiedene Wirkungen, unter anderem führt es zu
leichten Halluzinationen.

Im Gegensatz zu Alkohol bleiben THC und seine Nebenproduk-


te jedoch nicht für ein paar Stunden im Körper, sondern für eine
Woche oder länger. So erreichen Personen, die regelmäßig THC
konsumieren, das Hochgefühl mit geringeren Mengen der Subs-
tanz als gelegentliche Benutzer. Dieser Effekt stellt das Gegenteil
. Abb. 4.39 Nahtoderfahrung oder Halluzination? Psychologe Ronald der normalen Toleranzentwicklung dar, bei der ein regelmäßiger
Siegel (1977) berichtet, dass Menschen unter dem Einfluss halluzinogener Konsument eine immer höhere Dosis für die gleiche Wirkung
Drogen häufig »ein helles Licht im Zentrum ihres Blickfelds sehen … einnehmen muss.
Die Stelle, an der sich dieser Lichtpunkt befindet, vermittelt eine tunnelähn-
Wie bei anderen Drogen sind auch die Erlebnisse der Mari-
liche Perspektive.« Dies entspricht auch den Berichten anderer Personen
mit Nahtoderfahrungen. (Reproduced with permission. Copyright © 1997
huanakonsumenten unterschiedlich und von der Situation ab-
Scientific American, Inc. All rights reserved) hängig. Fühlt sich der Konsument ängstlich oder depressiv, kann
die Einnahme der Droge diese Gefühle verstärken. Und je mehr
man sie konsumiert, desto größer ist das Risiko von Angstgefüh-
Lichtern oder Lichtgestalten. Zudem erleben viele das Gefühl, len oder einer Depression – insbesondere bei jugendlichen Kon-
aus ihrem Körper herausgetreten zu sein und sich selbst von sumenten (Bambico et al. 2010; Hall 2006; Murray 2007). Dabei
außen zu betrachten (Siegel 1980). Die Tatsache, dass Sauerstoff- ist täglicher Konsum schlimmer als gelegentlicher.
mangel oder andere Gefahren für das Gehirn Halluzinationen Marihuana stört auch die Gedächtniseinspeicherung und
erzeugen, lässt vermuten, dass Stress eine Nahtoderfahrung her- den Abruf von Informationen, die nur einige Minuten zuvor
vorrufen kann. Patienten mit Krampfanfällen im Temporallap- gelernt wurden. Solche kognitiven Effekte halten länger an als
pen berichten ebenfalls von ähnlichen mystischen Erfahrungen. während des Rauchens (Messinis et al. 2006). Ein häufiger Kon-
Einsame Segler und Polarforscher haben ebenfalls solche Erleb- sum über 20 Jahre hinweg wird als Ursache für die Schrumpfung
nisse, wenn sie unter der Monotonie, Isolation und Kälte leiden von Gehirnbereichen gesehen, die für die Verarbeitung von Er-
(Suedfeld u. Mocellin 1987). innerungen und Gefühlen zuständig sind (Yücel et al. 2008).
Während der Schwangerschaft beeinträchtigt der Konsum von
Nahtoderfahrung (»near-death experience«) – veränderter Bewusstseins-
zustand, der häufig von Menschen erlebt wird, die dem Tod nahe sind (z. B. Marihuana die Gehirnentwicklung (Berghuis et al. 2007; Huizink
bei einem Herzstillstand); ähnelt oft drogeninduzierten Halluzinationen. u. Mulder 2006).
In einigen Ländern ist der Konsum von Marihuana zu medizi-
jMarihuana nischen Zwecken gesetzlich erlaubt, um Schmerzen und Übelkeit,
Seit 5000 Jahren wird die Hanfpflanze wegen ihrer Fasern kulti- wie z. B. bei einer Aids- oder Krebserkrankung, zu lindern. In die-
viert. Die Blätter und Blüten, die als Marihuana verkauft werden, sen Fällen empfiehlt das Institute of Medicine, THC über einen
enthalten den Hauptwirkstoff THC (Tetrahydrocannabinol). Inhalator aufzunehmen. Somit vermeidet man die Toxizität des
Die Droge Marihuana ist schwer zu klassifizieren. Die Substanz Marihuanarauchs, welche wie Zigarettenrauch zu Krebs, Lungen-
kann geraucht oder gegessen werden und produziert so schäden und Schwangerschaftskomplikationen führen kann.
unterschiedliche Effekte. (Geraucht erreicht die Droge in un- Wie verändert Marihuana nun Kognition, Stimmung und
gefähr 7 Sekunden das Gehirn und wirkt stärker, gegessen wird motorische Fähigkeiten, und wie werden Schmerzen gelindert?
die stärkste Wirkung langsamer und unberechenbarer erreicht.) Forscher entdeckten Rezeptoren, die mit THC interagieren und
Marihuana ist ein schwaches Halluzinogen, indem es die Farb-, in den Frontallappen, dem limbischen System und den motori-
Geräusch-, Geschmacks- und Geruchswahrnehmung verändert. schen Kortizes vorkommen (Iversen 2000). In den 1970er Jahren
Wie Alkohol entspannt und enthemmt Marihuana und kann führte die Entdeckung von Morphinrezeptoren zur Entdeckung
130 Kapitel 4 · Bewusstsein und der zweigleisige Verstand

. Tab. 4.3 Zusammenstellung einiger psychoaktiver Substanzen

Substanz Art Erwünschte Wirkung Unerwünschte Wirkung

Alkohol Dämpfend Hochgefühl, gefolgt von Entspan- Depression, Gedächtnislücken, Organschädigungen,


nung und Enthemmung schlechtere Reaktionsfähigkeit
Heroin Dämpfend Euphorierausch, Schmerzlinderung Verlangsamung der Körperfunktionen, qualvoller Entzug
Koffein Stimulierend Wachheit und Energie Ängstlichkeit, Unruhe und Schlaflosigkeit bei hohen
4 Dosen; unangenehmer Entzug
Methamphetamin Stimulierend Euphorie, Wachheit, Energie Reizbarkeit, Schlaflosigkeit, Bluthochdruck, Krampfanfälle
Kokain Stimulierend Ausbruch einer Euphorie, Belastung des Herz-Kreislauf-Systems, Misstrauen,
Selbstvertrauen, Energie Absturz in die Depression
Nikotin Stimulierend Anregung und Entspannung, Herzerkrankungen, Krebs (durch den Teer)
Wohlgefühl
Ecstasy (MDMA) Stimulierend, Stimmungsaufhellend, enthemmend Dehydrierung und Überhitzung, Depression und Störung
leicht halluzinogen der kognitiven Funktionen
Marihuana Leicht halluzinogen Verstärkte Empfindungen, Linderung Störung des Gedächtnisses, Lungenschaden durch den
von Schmerzen, Verlust des Zeit- Rauch
gefühls, Entspannung

der morphinähnlichen Neurotransmitter (der Endorphine). größer, die beim Fehlen der Substanz entstehen (Entzug). Um
Ganz ähnlich führte die Entdeckung der »cannabinoiden Re- die Entzugssymptome zu lindern, muss wiederum mehr von
zeptoren« dazu, dass natürlich vorkommende THC-ähnliche der Substanz genommen werden (was zur Abhängigkeit führen
Moleküle entdeckt wurden, die an cannabinoide Rezeptoren an- kann).
docken und möglicherweise zu einer natürlichen Schmerzreduk-
Prüfen Sie Ihr Wissen
tion beitragen. Dies könnte die schmerzlindernde Wirkung von
Marihuana erklären. »Was für ein eigenes Ding, ihr Männer, ist es doch um das,
Trotz all der Unterschiede der psychoaktiven Drogen, die was die Menschen angenehm nennen; wie wunderlich es
in . Tab. 4.3 zusammengefasst sind, zeigt sich doch eine Ge- sich verhält zu dem, was ihm entgegengesetzt zu sein
meinsamkeit: Die negativen Nachwirkungen übersteigen die scheint, dem Unangenehmen ... wenn jemand das eine hat,
kurzzeitigen positiven Wirkungen der Substanzen bei weitem komme ihm das andere nach.«
und verstärken sich bei regelmäßigem Konsum (. Abb. 4.40). Platon, Phaidon, 4. Jahrhundert v. Chr.
So erklären sich die Toleranzentwicklung und die Entzugs- 5 Wie passt diese Beschreibung von Freude und
problematik. Werden die gegenteiligen, negativen Nachwir- Schmerz zum regelmäßigen Konsum von psychoaktiven
kungen stärker, müssen immer größere Mengen der Substanzen Substanzen?
eingenommen werden, um den erwünschten Effekt zu erzeu-
gen (Toleranz); dadurch werden auch die Nachwirkungen

4.4.3 Einflussfaktoren auf den Drogenkonsum

? 4.17 Warum werden manche Menschen zu regelmäßigen


Konsumenten von bewusstseinsverändernden Drogen?

Der Drogenkonsum amerikanischer Jugendlicher stieg in den


1970er Jahren an. Dank der Drogenaufklärung und einer realis-
tischen, weniger glamourösen Darstellung von Drogen in den
Medien sank der Konsum wieder rapide ab. Nach den frühen
1990er Jahren wurden die Stimmen leiser, die sich in der Gesell-
schaft gegen Drogen aussprachen, und Drogen wurden in be-
stimmten Musikrichtungen und Filmen für eine gewisse
Zeit wieder positiver dargestellt. Sehen Sie sich einige der Trends
. Abb. 4.40 (© Claudia Styrsky) an:
4.4 · Drogen und Bewusstsein
131 4

. Abb. 4.41 Trends des Drogenkonsums. Der Prozentsatz der US-amerikanischen Schulabgänger, die angaben, in den letzten 30 Tagen Alkohol, Marihuana
oder Kokain konsumiert zu haben, ging von den späten 1970er Jahren bis 1992 zurück. Seither stieg der Drogenkonsum teilweise für einige Jahre wieder an.
(Aus Johnston et al. 2011; Monitoring the Future, Institute for Social Research, University of Michigan)

4 Bei der jährlichen Umfrage der Universität von Michigan Für manche Heranwachsenden dient die gelegentliche Drogen-
unter 15.000 amerikanischen Oberstufenschülern lag der einnahme dazu, etwas Spannung in ihr Leben zu bringen.
Anteil derer, die glauben, dass der regelmäßige Konsum Warum aber werden andere Jugendliche zu regelmäßigen Kon-
von Marihuana ein »großes Risiko« birgt, 1978 bei 35%, sumenten? Bei der Beantwortung dieser Fragen sehen Forscher
stieg 1991 auf 79% und sank 2010 wieder auf 47% (Johnston biologische, psychologische und soziokulturelle Aspekte als rele-
et al. 2011). vant an.
4 1978 erreichte der Marihuanakonsum von Oberstufen-
schülern in den USA seinen Höhepunkt, sank dann bis Biologische Einflüsse
1992, stieg erneut wieder an, nimmt aber seit Kurzem nicht Möglicherweise haben manche Menschen eine biologisch be-
mehr zu (. Abb. 4.41). dingte Anfälligkeit für bestimmte Drogen. Verschiedene Er-
4 In Deutschland wie im gesamteuropäischen Raum nahm gebnisse zeigen z. B., dass einige Aspekte der Alkoholprobleme
spätestens seit Mitte der 1990er Jahre – insbesondere bei genetisch bedingt sind, vor allem jene, die im frühen Erwachse-
Jugendlichen und jungen Erwachsenen – die Popularität nenalter auftreten (Crabbe 2002):
von Ecstasy und verwandten Substanzen zu, und zwar mit 4 Adoptivkinder werden eher alkoholabhängig, wenn die bio-
steigender Tendenz. Der Konsum dieser Substanz erreichte logischen Eltern (oder auch nur ein Elternteil) Alkoholiker
Anfang bis Mitte des ersten Jahrzehnts des 21. Jahrhunderts waren.
seinen höchsten Wert und war zwischen 2006 und 2011 in 4 Ist ein eineiiger Zwilling Alkoholiker, so hat der andere
den meisten Ländern gleichbleibend bis rückläufig (Euro- ein erhöhtes Risiko, selbst auch Alkoholprobleme zu
päische Beobachtungsstelle für Drogen und Drogensucht bekommen – bei zweieiigen Zwillingen ist dies nicht so
2013). Der Konsum sedierender Substanzen verlor dagegen (Kendler et al. 2002).
an Bedeutung: Tendenziell ist die Gesamtzahl der neuen 4 Jungen, die im Alter von 6 Jahren leicht reizbar, impulsiv
Heroinpatienten in Europa seit 2007 rückläufig (Europäische und furchtlos sind (genetisch beeinflusste Merkmale),
Beobachtungsstelle für Drogen und Drogensucht 2013). werden mit größerer Wahrscheinlichkeit rauchen, trinken
4 Gemäß einer Studie der Europäischen Beobachtungsstelle und andere Drogen nehmen (Masse u. Tremblay 1997).
für Drogen und Drogensucht (2012) ist Cannabis nach 4 Forscher züchteten Ratten und Mäuse, die lieber Alkohol
wie vor die am häufigsten konsumierte Droge in Europa, als Wasser trinken. Bei einer dieser Unterarten fand man
wobei zahlreiche Länder die Lebenszeitprävalenz (Anteil ein reduziertes Niveau des chemischen Stoffes NPY im
derjenigen, die in ihrem bisherigen Leben die Droge kon- Gehirn. Mäuse, deren Gehirne dagegen NPY im Übermaß
sumiert haben) mit über 20% der Allgemeinbevölkerung produzieren, reagieren sehr empfindlich auf die sedierende
angeben. In der Gruppe der 15- bis 24-Jährigen liegt Wirkung von Alkohol und trinken wenig.
der Konsum mit knapp 30% im europäischen Durchschnitt 4 Forscher haben Gene identifiziert, die bei Menschen und
allerdings deutlich höher. Tieren mit einer häufigeren Prädisposition für Alkoholis-
132 Kapitel 4 · Bewusstsein und der zweigleisige Verstand

mus vorkommen; sie sind jedoch weiterhin auf der Suche


nach Genen, die zur Tabaksucht beitragen (NIH 2006;
Nurnberger u. Bierut 2007). Diese Gene könnten für eine
Unterfunktion des natürlichen dopaminergen Belohnungs-
systems des Gehirns verantwortlich sein: Die Drogen lösen
ein durch Dopamin produziertes Hochgefühl aus und
stören das normale Dopamingleichgewicht. Studien zur
4 Umprogrammierung des Belohnungssystems im Gehirn
durch Drogen wecken die Hoffnung auf nicht abhängig
machende Mittel, die den Effekt von Alkohol und anderen
Drogen blockieren oder mindern können (Miller 2008;
Wilson u. Kuhn 2005).

Warnzeichen von Alkoholismus: . Abb. 4.42 Analyseebenen beim Drogenkonsum. Der biopsychosoziale
5 Exzessiver Alkoholgenuss Ansatz erlaubt es den Forschern, Drogenkonsum aus komplementären
5 Reue über das, was man gesagt oder getan hat, als man Perspektiven zu betrachten

betrunken war
5 Schuldgefühle oder Depressionen nach dem Trinken
das Rauchen auszuprobieren und zum Raucher zu werden. For-
5 Gescheiterte Beschlüsse, weniger zu trinken
scher wiesen nach, dass dieses Ergebnis unabhängig von Persön-
5 Trinken, um Niedergeschlagenheit oder Angst zu lindern
lichkeit, Erziehungsmethode oder Familienstand ist (Heatherton
5 Vermeidung von Begegnungen mit der Familie oder Freunden,
u. Sargent 2009). Die meisten Jugendlichen trinken Alkohol aus
wenn man trinkt
sozialen Gründen und nicht, um mit Problemen fertig zu werden
(Kuntsche et al. 2005). Verlassen junge unverheiratete Erwach-
Psychologische und soziokulturelle Einflüsse sene ihr Elternhaus, steigt der Alkohol- und Drogenkonsum an;
Überall in diesem Buch werden Sie sehen, dass biologische, wenn sie heiraten und Kinder bekommen, nimmt er wieder ab
psychologische und soziokulturelle Einflüsse zusammenspielen (Bachman et al. 1997).
und Verhalten hervorrufen. So ist es auch mit dem Drogenkonsum Die Abhängigkeitsraten unterscheiden sich bei den verschie-
(. Abb. 4.42). In Studien zur Situation von Jugendlichen und denen kulturellen und ethnischen Gruppen. Eine Erhebung
jungen Erwachsenen tauchte der psychologische Faktor auf, dass von 100.000 Jugendlichen aus 35 europäischen Ländern ergab,
die Teilnehmer ihr eigenes Leben als bedeutungslos und ohne dass 0–1% der Jugendlichen aus Rumänien und Schweden, aber
bestimmte Richtung ansehen (Newcomb u. Harlow 1986). Dieses 20–22% der Jugendlichen aus Großbritannien, Frankreich und
Gefühl ist weit verbreitet bei unterprivilegierten Schulabbrechern, der Schweiz in den letzten 30 Tagen Mariuhana konsumierten
die ohne Qualifikationen und Zukunftsaussichten leben. (ESPAD 2003). Bei unabhängigen Untersuchungen der Regie-
Manchmal ist der psychologische Einfluss eindeutig. Men- rung über den Drogenkonsum in Haushalten landesweit und
schen, die mehr als nur gelegentlich Alkohol, Marihuana oder unter Oberstufenschülern in allen Regionen der USA zeigte sich,
Kokain konsumieren, leiden häufig unter großem Stress, Versa- dass afroamerikanische Jugendliche deutlich geringere Raten
gen oder einer Depression. Mädchen, die eine Depression, Ess- beim Trinken, Rauchen und beim Kokainkonsum aufweisen
störung, Misshandlung oder Missbrauch hinter sich haben, haben (Johnston et al. 2007). In den USA sind die Abhängigkeitsraten
ein größeres Risiko für Substanzabhängigkeit. Dies gilt auch für bei religiös Aktiven gering und bei den Amish, Mennoniten,
junge Menschen nach einem Schulwechsel oder Umzug in eine Mormonen und den orthodoxen Juden extrem niedrig (Trimble
neue Nachbarschaft (CASA 2003; Logan et al. 2002). Studenten, 1994; Yeung et al. 2009). Vergleichsweise drogenfreie kleine
die noch keine klare Identität entwickelt haben, sind ebenfalls Städte und ländliche Gegenden setzen denjenigen Grenzen,
anfälliger für Drogen (Bishop et al. 2005). Alkohol und andere die eine genetische Prädisposition für Drogenkonsum haben
Drogen betäuben den Schmerz der Selbsterkenntnis für eine (Legrand et al. 2005). Ebenso mindert aktive elterliche Beglei-
Weile und bieten dadurch einen Fluchtweg aus Depressionen, tung das Risiko, Drogen zu konsumieren (Lac u. Crano 2009).
Aggressionen, Ängsten oder Schlafstörungen. Wie in 7 Kap. 8 er- Für jene, die die genetische Prädisposition zum Substanz-
läutert wird, lässt sich Verhalten eher durch sofortige als durch missbrauch treibt, bieten die Städte mehr Möglichkeiten und
spätere Konsequenzen steuern. üben weniger soziale Kontrolle aus. Unabhängig von Stadt oder
Insbesondere bei Teenagern hat der Drogenkonsum seinen Land beeinflussen Gleichaltrige die Einstellung zu Drogen. Sie
Ursprung häufig im sozialen Umfeld. Teenager sehen zudem schmeißen auch die Partys und besorgen die Drogen – oder eben
Zigarettenkonsum in Filmen. Diejenigen, die häufig Filme mit nicht. Konsumiert der Freund eines Jugendlichen Drogen, wird
rauchenden Personen sehen, haben ein 3-mal so hohes Risiko, er oder sie das mit großer Wahrscheinlichkeit auch probieren.
4.5 · Kapitelrückblick
133 4
Nehmen die Freunde keine Drogen, ergibt sich vielleicht nie eine Menschen verfallen selten dem Drogenmissbrauch, wenn sie be-
Gelegenheit zum Ausprobieren. Teenager aus glücklichen Fa- greifen, welche physischen und psychischen Folgen sich daraus
milien, die frühestens ab 15 Jahren Alkohol trinken und gut in ergeben, wenn sie sich selber mögen, wenn sie zufrieden mit ihrem
der Schule sind, neigen nicht dazu, Drogen zu nehmen – vor Leben sind und wenn ihr Umfeld den Drogenkonsum missbilligt.
allem, weil sie kaum in Kontakt mit Menschen kommen, die Diese psychologischen, soziokulturellen und Bildungsfaktoren er-
Drogen nehmen (Bachman et al. 2007; Hingson et al. 2006; klären zum Teil, warum 26% der amerikanischen Schulabbrecher
Odgers et al. 2008). rauchen, aber nur 6% der Studierenden (CDC 2011).
Der Einfluss der Gleichaltrigen besteht nicht nur in dem,
was diese tatsächlich sagen oder tun. Die Erwartungen eines Prüfen Sie Ihr Wissen

Jugendlichen – was er glaubt, dass seine Freunde tun oder welche 5 Studien zeigen, dass Personen, die bereits im Jugend-
Interessen sie haben – beeinflussen sein eigenes Verhalten (Vitória alter Alkohol konsumierten, ein höheres Risiko einer
2009). In einer Umfrage unter Sechstklässlern in 22 amerikani- Alkoholsucht haben als Personen, die frühestens im Alter
schen Bundesstaaten glaubten 14%, dass ihre Freunde Marihuana von 21 Jahren Alkohol trinken. Welche Erklärung mag es
geraucht hätten, doch nur 4% bestätigten diese Annahme (Wren für den Zusammenhang zwischen frühem Konsum und
1999). Selbst Universitätsstudenten schätzen das Verhalten ande- späterer Abhängigkeit geben?
rer Personen oftmals falsch ein: Unter Studierenden dominiert
Alkohol bei sozialen Aktivitäten zum Teil deshalb, weil sie die
Begeisterung ihrer Kommilitonen für Alkohol überschätzen und
ihre eigene Besorgnis über die Risiken unterschätzen (Prentice u. 4.5 Kapitelrückblick
Miller 1993; Self 1994). Korrigiert man diese Fehleinschätzung
der Jugendlichen, dann verringert sich ihr eigener Alkoholkon- 4.5.1 Verständnisfragen
sum meistens (Moreira et al. 2009).
Menschen, die unter dem Einfluss Gleichaltriger mit dem jGehirnzustände und Bewusstsein
Drogenkonsum begonnen haben, hören mit höherer Wahr- 4.1 Wo lässt sich das Bewusstsein in der Geschichte der Psycho-
scheinlichkeit auf, Drogen zu konsumieren, wenn auch ihre logie verorten?
Freunde damit aufhören oder wenn sich ihr soziales Netzwerk 4.2 Was versteht man in der Kognitiven Neurowissenschaft unter
verändert (Kandel u. Raveis 1989). In einer Studie wurden Parallelverarbeitung?
12.000 Erwachsene über einen Zeitraum von 32 Jahren beobach- 4.3 Wie viele Informationen können wir gleichzeitig bewusst
tet und es stellte sich heraus, dass Raucher meist in Gruppen mit beachten?
dem Rauchen aufhören (Christakis u. Fowler 2008). Innerhalb
eines sozialen Netzwerkes erhört sich die Wahrscheinlichkeit, jSchlaf und Träume
dass eine Person mit dem Rauchen aufhört, sobald ein Bekann- 4.4 Wie beeinflussen unsere biologischen Rhythmen unser all-
ter, Freund oder Arbeitskollege damit aufhört. Ebenso gaben die tägliches Leben?
meisten Soldaten, die in Vietnam süchtig wurden, die Drogen 4.5 Wie sieht der biologische Rhythmus unserer Schlaf- und
auf, als sie nach Hause zurückkehrten (Robins et al. 1974). Traumstadien aus?
Wie immer bei Korrelationen kann man nicht sagen, in wel- 4.6 Wie wirken sich Biologie und Umfeld auf unsere Schlaf-
cher Richtung ein Kausalzusammenhang zwischen dem eigenen muster aus?
Drogenkonsum und dem der Freunde besteht: Unsere Freunde 4.7 Welche Funktionen hat der Schlaf?
und sozialen Netzwerke beeinflussen uns. Aber wir suchen uns 4.8 Welche Auswirkungen hat Schlafmangel und was sind die
auch die Freunde aus, die unsere Vorlieben teilen. wesentlichen Schlafstörungen?
Diese Ergebnisse zeigen drei Möglichkeiten, wie Drogen- 4.9 Wovon träumen wir?
prävention und Behandlungsprogramme wirken können: 4.10 Was sind die Aufgaben von Träumen?
4 Aufklärung insbesondere junger Leute über die lang-
fristigen Nachteile und den hohen Preis für das kurzfristige jHypnose
Vergnügen des Drogenkonsums. 4.11 Was ist Hypnose, und welchen Einfluss hat ein Hypnotiseur
4 Stärkung des Selbstbewusstseins der Betroffenen und auf eine hypnotisierte Person?
Unterstützung bei der Suche nach dem Sinn und Zweck des 4.12 Ist Hypnose eine Erweiterung des normalen Bewusstseins
Lebens. oder ein veränderter Zustand?
4 Versuche, den Freundeskreis zu verändern, oder aber
»Impfen« von Jugendlichen gegen Gruppendruck durch jDrogen und Bewusstsein
Selbstsicherheitstraining, indem sie darin trainiert werden, 4.13 Was bedeuten Toleranz, Abhängigkeit und Sucht, und
etwas abzulehnen. welches sind verbreitete falsche Vorstellungen von Sucht?
134 Kapitel 4 · Bewusstsein und der zweigleisige Verstand

4.14 Was sind dämpfende Substanzen und welche Auswirkungen 4 Stimulanzien


haben sie? 4 Sucht
4.15 Was sind Stimulanzien und welche Auswirkungen haben 4 THC
sie? 4 Toleranz
4.16 Was sind Halluzinogene und welche Auswirkungen haben 4 Traum
sie? 4 Veränderungsblindheit
4.17 Warum werden manche Menschen zu regelmäßigen Kon- 4 Zirkadiane Rhythmik
4 sumenten von bewusstseinsverändernden Drogen?

4.5.3 Weiterführende deutsche Literatur


4.5.2 Schlüsselbegriffe
Koch, C. (2013). Bewusstsein: Bekenntnisse eines Hirnforschers. Heidelberg:
Springer Spektrum.
4 Alkoholabhängigkeit Lindenmeyer, J. (2005). Alkoholabhängigkeit. Fortschritte der Psychotherapie
4 Alphawellen (2. Aufl.). Göttingen: Hogrefe.
4 Amphetamine Mulder, T. (2006). Das adaptive Gehirn. Über Bewegung, Bewusstsein und
Verhalten. Stuttgart: Thieme.
4 Barbiturate
Revenstorf, D., & Peter, B. (2008). Hypnose in Psychotherapie, Psychosomatik
4 Bewusstsein und Medizin (2. Aufl.). Heidelberg: Springer.
4 Blindes Sehen Roth, G. (2009). Aus Sicht des Gehirns (2. Aufl.). Frankfurt: Suhrkamp.
4 Blindheit durch Unaufmerksamkeit
4 Dämpfende Substanzen
4 Deltawellen
4 Dissoziation
4 Ecstasy (MDMA)
4 Entzug
4 Halluzinationen
4 Halluzinogene
4 Hypnose
4 Insomnie
4 Kognitive Neurowissenschaft
4 Latenter Trauminhalt
4 LSD
4 Manifester Trauminhalt
4 Methamphetamin
4 Nahtoderfahrung
4 Narkolepsie
4 Nikotin
4 Opiate
4 Parallelverarbeitung
4 Pavor nocturnus
4 Physische (körperliche) Abhängigkeit
4 Posthypnotische Suggestionen
4 Psychische Abhängigkeit
4 Psychoaktive Droge
4 REM-Rebound
4 REM-Schlaf
4 Schlaf
4 Schlafapnoesyndrom
4 Selektive Aufmerksamkeit
135 5

Anlage, Umwelt und die Vielfalt


der Menschen
David G. Myers

5.1 Verhaltensgenetik: Die Vorhersage individueller Unterschiede – 136


5.1.1 Gene: Unsere Codes für das Leben – 136
5.1.2 Zwillings- und Adoptionsstudien – 138
5.1.3 Temperament und Vererbung – 142
5.1.4 Molekulargenetik: Eine neue Herausforderung – 143
5.1.5 Erblichkeit – 144
5.1.6 Anlage-Umwelt-Interaktion – 145

5.2 Evolutionspsychologie: Wie man die Natur des Menschen versteht – 147
5.2.1 Natürliche Selektion und Anpassung – 147
5.2.2 Evolutionärer Erfolg hilft, Ähnlichkeiten zu erklären – 148
5.2.3 Evolutionstheoretische Erklärung der menschlichen Sexualität – 150

5.3 Wie beeinflussen Erfahrungen die Entwicklung? – 152


5.3.1 Frühe Erfahrungen und Gehirnentwicklung – 153
5.3.2 Wie viel Lob (oder Tadel) haben die Eltern verdient? – 155
5.3.3 Einfluss der Gleichaltrigen – 157

5.4 Kulturelle Einflüsse – 158


5.4.1 Unterschiede zwischen Kulturen – 158
5.4.2 Veränderungen im Laufe der Zeit – 159
5.4.3 Kultur und Selbst – 160
5.4.4 Kultur und Kindererziehung – 162
5.4.5 Gruppenübergreifende Ähnlichkeiten in der Entwicklung – 163

5.5 Entwicklung des sozialen Geschlechts – 164


5.5.1 Geschlechtsbezogene Ähnlichkeiten und Unterschiede – 165
5.5.2 Biologische Grundlagen des Geschlechts – 168
5.5.3 Soziale Einflüsse auf das Geschlecht – 170

5.6 Überlegungen zu Anlage und Umwelt – 172

5.7 Kapitelrückblick – 175


5.7.1 Verständnisfragen – 175
5.7.2 Schlüsselbegriffe – 176
5.7.3 Weiterführende deutsche Literatur – 176

D. G. Myers, Psychologie,
DOI 10.1007/978-3-642-40782-6_5, © Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2014
136 Kapitel 5 · Anlage, Umwelt und die Vielfalt der Menschen

Was macht den Menschen zum Menschen? In wichtigen Aspek-


ten sind wir jeder für uns einzigartig. Wir sehen unterschiedlich
aus. Wir hören uns anders an. Was die Persönlichkeit, die Inte-
ressen, den kulturellen und familiären Hintergrund angeht,
unterscheiden wir uns erheblich.
Wir sind aber auch wie Blätter am selben Baum. Die Familie
Mensch hat nicht nur ein gemeinsames biologisches Erbe – wir
alle bluten, wenn wir uns schneiden –, sondern auch gemeinsame
Verhaltenstendenzen: Der uns allen gemeinsame Aufbau des
Gehirns legt von vornherein fest, wie wir mit Hilfe der gleichen
5 Mechanismen die Welt über unsere Sinnesorgane wahrnehmen,
unsere Sprache entwickeln und Hunger empfinden. Ganz gleich,
ob wir nun in der Arktis oder den Tropen leben, wir bevorzugen
süße Geschmacksrichtungen gegenüber sauren. Wir teilen das
Farbspektrum in die gleichen Farben ein. Und wir fühlen uns zu
. Abb. 5.1 Die Umwelt der Anlage. Überall auf der Welt fragen sich
Verhaltensweisen hingezogen, die Nachkommenschaft hervor- Eltern: Wird mein Baby später ein friedlicher oder ein aggressiver Mensch?
bringen und schützen. Unattraktiv oder attraktiv? Wird er erfolgreich sein oder wird er um jeden
Unsere Verwandtschaft zeigt sich auch in unserem Sozial- einzelnen Schritt kämpfen müssen? Was ist angeboren und was beruht
verhalten. Ganz gleich, ob unser Familienname Wong, Nkomo, auf Erziehung? Und wie funktioniert das? Die Forschung zeigt, dass Anlage
und Umwelt gemeinsam unsere Entwicklung prägen: für jeden Schritt auf
Meier, Smith oder Gonzales lautet, wir beginnen mit ungefähr
diesem Weg. (© Michael Barton)
8 Monaten zu fremdeln, während wir als Erwachsene die Gesell-
schaft von Menschen suchen, deren Einstellungen und Merk-
male den unseren ähnlich sind. Auch wenn wir aus unterschied- 5.1 Verhaltensgenetik: Die Vorhersage
lichen Teilen der Erde stammen, so wissen wir doch das Lächeln individueller Unterschiede
und das Stirnrunzeln der anderen einzuschätzen. Als Angehö-
rige einer Spezies schließen wir uns mit anderen Menschen zu-
? 5.1 Was sind Gene und wie erklären Verhaltensgenetiker
sammen, passen uns an, tauschen Gefälligkeiten aus, bestrafen
unsere individuellen Unterschiede?
Vergehen, organisieren Statushierarchien und betrauern den Tod
eines Kindes. Ein außerirdischer Besucher könnte irgendwo auf Wenn sich Jaden Agassi, Sohn der früher sehr erfolgreichen Ten-
der Erde landen und würde immer Menschen finden, die tanzen nisspieler Andre Agassi und Steffi Graf, später zu einem Tennis-
und Feste feiern, singen und beten, Sport treiben und spielen, star entwickelt, sollten wir dann seine Begabung seinen Grand-
lachen und weinen, in Familien leben und Gruppen bilden. Zu- Slam-Genen zuschreiben? Der Tatsache, dass er in einer Umwelt
sammenfassend lässt sich sagen: Solche universellen Verhaltens- aufgewachsen ist, in der es immer um Tennis ging? Den hohen
weisen definieren unsere menschliche Natur. Erwartungen? Solche Fragen beschäftigen die Verhaltensgene-
Was ist die Ursache für die erstaunliche Unterschiedlichkeit tiker, die die Unterschiede zwischen uns untersuchen und die
der Menschen, aber auch unsere gemeinsame menschliche Effekte und das Zusammenspiel von Anlage und Umwelt zu ge-
Natur? Wie sehr werden unsere Verhaltensunterschiede von wichten versuchen (. Abb. 5.1).
unseren genetischen Unterschieden beeinflusst? Und wie sehr
Verhaltensgenetik (»behavior genetics«) – die Untersuchung der relativen
durch unsere Umwelt? Durch jeden äußeren Einfluss, angefan- Gewichte und Grenzen von genetischen und Umwelteinflüssen auf das Ver-
gen mit der Ernährung im Mutterleib bis hin zur sozialen Unter- halten.
stützung kurz vor dem Tod. Genauer: Wie stark werden wir Umwelt (»environment«) – jeder nichtgenetische Einfluss, von der pränata-
durch unsere Erziehung geformt? Durch unsere Kultur? Durch len Ernährung bis zu den Menschen und Dingen in unserer Umgebung.
unsere momentanen Lebensumstände? Durch die Reaktionen
anderer Menschen auf unsere genetischen Dispositionen? Das 5.1.1 Gene: Unsere Codes für das Leben
folgende Kapitel beschäftigt sich mit der komplexen Frage, wie
unsere Gene (Anlage) und unsere Umwelt (äußere Einflüsse) uns Hinter der Geschichte unseres Körpers und unseres Gehirns –
definieren. sicherlich das Beeindruckendste auf unserem kleinen Planeten
– steckt die Vererbung, die mit unseren Erfahrungen inter-
agiert und so sowohl unsere universelle Eigenart als Menschen
hervorbringt als auch unsere individuelle und soziale Vielfalt
(. Abb. 5.2). Vor kaum mehr als einem Jahrhundert hätte nie-
mand geglaubt, dass jeder Zellkern in unserem Körper den ge-
5.1 · Verhaltensgenetik: Die Vorhersage individueller Unterschiede
137 5

. Abb. 5.2 (© Claudia Styrsky)

samten genetischen Code für den ganzen Körper enthält. Das


ist so, als befände sich in jedem Raum des Burj Khalifa in Dubai
. Abb. 5.3 Die Bausteine des menschlichen Körpers. Der Zellkern
(das höchste Gebäude der Welt) ein Buch, in dem die Baupläne jeder menschlichen Zelle enthält Chromosomen, welche jeweils aus zwei
für das ganze Gebäude aufbewahrt werden. Die Pläne für dein DNA-Strängen bestehen, die in einer Doppelhelix verbunden sind
eigenes Lebensbuch umfassen 46 Kapitel – 23 stammen von der
Eizelle deiner Mutter und 23 von der Samenzelle deines Vaters.
Jedes dieser 46 Kapitel, die sog. Chromosomen, ist jeweils Genom (»genome«) – enthält die vollständigen Informationen, um einen
aus einer spiralförmig zusammengerollten Kette des Moleküls Organismus herzustellen; besteht aus dem gesamten genetischen Material
in den Chromosomen des Organismus.
DNA (Desoxyribonukleinsäure) zusammengesetzt. Die Gene,
die kleinen Segmente dieser gigantischen DNA-Moleküle, bil-
den sozusagen die Wörter in diesen Chromosomenbüchern
» Ihre DNA und meine sind zu 99,9% gleich. ...
Auf der Ebene der DNA sind wir ganz klar alle Teil einer
(. Abb. 5.3). Alles in allem besitzt jeder von uns 20.000 bis
großen, weltweiten Familie.
25.000 Gene. Sie können entweder aktiv (exprimiert) oder inaktiv
Francis Collins, Leiter des Human Genome Project, 2007
sein. Umweltereignisse »schalten Gene an«, so wie heißes Wasser
dazu führt, dass das im Teebeutel eingeschlossene Aroma sich Wir unterscheiden uns eigentlich gar nicht so sehr von einem
entfaltet. Wenn sie »angeschaltet« werden, stellen Gene einfach Schimpansen, mit dem wir etwa 96% unserer DNA-Sequenzen
den Code bereit, um die Proteinmoleküle, die Bausteine für gemeinsam haben (Mikkelsen et al. 2005). An »funktional wich-
unseren Körper, aufzubauen. tigen« Stellen der DNA, so berichtete ein Team von Molekular-
genetikern, beträgt die DNA-Ähnlichkeit zwischen Menschen
Chromosomen (»chromosomes«) – fadenähnliche Strukturen aus
DNA-Molekülen, die Gene enthalten. und Schimpansen 99,4% (Wildmann et al. 2003). Dieser winzige
DNA/DNS (Desoxyribonukleinsäure; »deoxyribonucleic acid«) – komplexes Unterschied ist allerdings von Bedeutung. Trotz einiger bemer-
Molekül, das die genetische Information enthält, die die Chromosomen kenswerter Fähigkeiten geben Schimpansen nur Laute von sich.
bildet. Shakespeare dagegen hat zur Erschaffung seiner Meisterwerke
Gene (»genes«) – biochemische Bausteine für die Vererbung, aus denen 17.677 Wörter auf eine komplexe Weise kombiniert.
die Chromosomen bestehen. Gene sind Segmente der DNA, die fähig sind,
Proteine zu synthetisieren (aufzubauen). » Die Banane und wir haben 50% unserer Gene gemeinsam.
Robert May, Evolutionsbiologe und Präsident der britischen
Genetisch gesprochen ist jedes menschliche Wesen nahezu unser
Royal Society, 2001
eineiiger Zwilling. Genomforscher haben die gemeinsame Se-
quenz innerhalb der menschlichen DNA entdeckt. Genau dieses Und selbst kleine Unterschiede zwischen Schimpansen sind
gemeinsame genetische Profil macht uns zu Menschen und nicht durchaus von Bedeutung. Zwei Arten, die sich in Bezug auf
zu Schimpansen oder Tulpen. ihr Genom um viel weniger als 1% unterscheiden, weisen
offensichtliche Unterschiede in ihrem Verhalten auf. Gewöhn-
liche Schimpansen sind aggressiv und von den Männchen domi-
138 Kapitel 5 · Anlage, Umwelt und die Vielfalt der Menschen

niert. Bonobos sind friedvoll und werden von den Weibchen


angeführt.
Genetiker und Psychologen sind an den zufälligen Verände-
rungen interessiert, die man an bestimmten Genorten in der
DNA findet. Geringe interpersonelle Abweichungen vom ge-
meinsamen Muster geben Hinweise auf unsere Einzigartigkeit.
Warum leidet der eine unter einer Krankheit und der andere
nicht? Warum ist eine Person klein und die andere groß? Warum
ist jemand kontaktfreudig und ein anderer schüchtern?
Die Persönlichkeitsmerkmale des Menschen werden meist
5 von einer Vielzahl von Genen beeinflusst. Wie groß ein Mensch
ist, kommt letztendlich auch in der Länge seines Gesichts, der
Ausdehnung der Wirbelsäule, der Länge der Beinknochen etc.
zum Ausdruck – wobei jeder Größenindikator durch verschiede- . Abb. 5.4 Zwillinge. Sven und Lars Bender sind eineiige Zwillinge
ne Gene in ihrer Wechselwirkung mit der Umwelt beeinflusst und Profifußballer, der eine bei Borussia Dortmund, der andere bei Bayer 04
werden kann. Ähnlich werden komplexe menschliche Eigen- Leverkusen, und beide in der deutschen Fußballnationalmannschaft
(© Andreas Gebert / picture alliance / dpa)
schaften wie Intelligenz, Fröhlichkeit und Aggressivität durch
Gruppen von Genen beeinflusst. Unsere genetischen Prädispo-
sitionen tragen folglich dazu bei, sowohl unsere gemeinsamen
Merkmale als Menschen als auch die Vielfalt der Menschen zu
erklären.

Prüfen Sie Ihr Wissen

5 Ordnen Sie die folgenden Zellstrukturen nach ihrer


Größe, beginnend mit dem kleinsten: Nucleus, Gen,
Chromosom
5 Wenn die Eizelle der Mutter und die Samenzelle
des Vaters sich vereinigen, steuert jeder 23
bei.

5.1.2 Zwillings- und Adoptionsstudien

Um Umwelt- und Vererbungseinflüsse wissenschaftlich von-


einander trennen zu können, müssten Verhaltensgenetiker zwei
Arten von Experimenten durchführen. Im ersten Experiment
wäre die häusliche Umgebung kontrolliert, während die Ver-
erbungsfaktoren variieren. Im zweiten wären die Vererbungsfak-
toren kontrolliert, während die häusliche Umgebung variiert.
Solche Experimente mit menschlichen Kindern durchzuführen
wäre unethisch, aber glücklicherweise hat uns die Natur diese
Arbeit abgenommen.

Eineiige und zweieiige Zwillinge im Vergleich


Eineiige Zwillinge entwickeln sich aus einer einzigen (mono-
zygotisch) befruchteten Eizelle, die sich in zwei Eizellen aufteilt.
Folglich sind sie genetisch identisch – es handelt sich um natür-
. Abb. 5.5 Dieselbe befruchtete Eizelle, die gleichen Gene; unter-
liche Klone (. Abb. 5.4, . Abb. 5.5, . Abb. 5.6). Tatsächlich haben
schiedliche Eizellen, unterschiedliche Gene. Eineiige Zwillinge entwickeln
sie nicht nur dieselben Gene, sondern teilen auch die Empfängnis sich aus einer einzelnen befruchteten Eizelle, zweieiige Zwillinge aus zwei
und die Gebärmutter, und für gewöhnlich das Geburtsdatum und Eizellen
den kulturellen Hintergrund. Zwei kleine Einschränkungen:
5.1 · Verhaltensgenetik: Die Vorhersage individueller Unterschiede
139 5
4 Obwohl eineiige Zwillinge dieselben Gene haben, haben
sie nicht immer die gleiche Anzahl an Kopien dieser Gene.
Dies hilft zu erklären, weshalb ein Zwilling ein größeres
Risiko für bestimmte Krankheiten haben kann (Bruder
et al. 2008).
4 Die meisten eineiigen Zwillinge teilen sich eine Plazenta
während der pränatalen Entwicklung, aber eines von
drei Zwillingspärchen hat zwei getrennte Plazentas. Die
Plazenta des einen Zwillings könnte ihn oder sie ein wenig
besser mit Nahrung versorgen, was zu Unterschieden
zwischen eineiigen Zwillingen beitragen könnte (Davis et al.
1995; Phelps et al. 1997; Sokol et al. 1995).
Eineiige Zwillinge (»identical twins«) – Zwillinge, die sich aus einer
einzigen (monozygotisch) befruchteten Eizelle entwickeln, die sich dann in
zwei Eizellen teilt und somit zwei genetisch identische Organismen bildet.

Zweieiige Zwillinge entwickeln sich aus separaten (dizygotisch)


befruchteten Eizellen. Als Mitbewohner im Mutterleib teilen sie
eine fötale Umgebung, genetisch sind sie sich allerdings nicht
ähnlicher als gewöhnliche Geschwister.
Zweieiige Zwillinge (»fraternal twins«) – Zwillinge, die sich aus separaten
(dizygotisch) Eizellen entwickeln. Sie sind sich genetisch nicht näher als
Geschwister, aber sie teilen als Föten eine gemeinsame Umwelt.

Geteilte Gene können zu geteilten Erfahrungen führen. So hat


ein Mensch, dessen eineiiger Zwilling an der Alzheimer-Krank-
heit leidet, ein 60%iges Risiko, auch daran zu erkranken; wenn
der Betroffene ein zweieiiger Zwilling ist, beträgt das Risiko nur
noch 30% (Plomin et al. 1997). Um die Effekte von Anlage und
Umwelt zu untersuchen, haben hunderte von Forschern etwa
800.000 eineiige und zweieiige Zwillingspärchen untersucht
(Johnson et al. 2009).
Weisen eineiige Zwillinge als genetische Klone auch mehr
Verhaltensähnlichkeiten auf als zweieiige Zwillinge? Studien mit
tausenden von Zwillingspaaren in Schweden, Finnland und Aus-
tralien haben gezeigt, dass sich eineiige Zwillinge in Bezug auf
Extraversion und Neurotizismus (emotionale Instabilität) sehr
viel ähnlicher sind als zweieiige Zwillinge. Wenn sich Gene auf
Persönlichkeitsmerkmale wie emotionale Instabilität auswirken,
. Abb. 5.6a–c Mehr Zwillinge. Interessanterweise unterscheidet sich
könnten sie dann auch die sozialen Auswirkungen dieser Per- die Häufigkeit von Zwillingsgeburten bei unterschiedlichen ethnischen
sönlichkeitsmerkmale beeinflussen? Um dies herauszufinden, Gruppen. So ist die Häufigkeit bei Weißen nahezu 2-mal so hoch wie bei
untersuchten McGue u. Lykken (1992) die Scheidungsraten bei Asiaten und nur halb so groß wie bei Afrikanern. In Afrika und Asien
sind die meisten Zwillinge eineiig. Im Westen sind die meisten Zwillinge
1500 gleichgeschlechtlichen Zwillingspaaren im mittleren Le-
zweieiig. Außerdem nimmt die Anzahl zweieiiger Zwillinge mit dem Einsatz
bensalter. Sie kamen zu folgenden Ergebnissen: Wenn man einen von Medikamenten im Rahmen von Fertilitätsbehandlungen zu (Hall 2003;
zweieiigen geschiedenen Zwilling hat, liegt die eigene Scheidungs- Steinhauer 1999). (a: Kitty / Fotolia; b, c: © Getty Images / iStockphoto)
rate um das 1,6-fache höher, als wenn man einen nicht geschiede-
nen Zwilling hat. Hat man einen eineiigen geschiedenen Zwilling, als ihre Gene für diese Ähnlichkeit verantwortlich? Nein. Studien
erhöht sich die Rate entsprechend auf das 5,5-fache. McGue u. haben gezeigt, dass eineiige Zwillinge, die von ihren Eltern nahe-
Lykken schlossen aus diesen Daten, dass die Scheidungsraten zu zu gleich erzogen wurden, sich psychologisch nicht ähnlicher
ungefähr 50% auf genetische Faktoren zurückzuführen sind. waren als unterschiedlich behandelte eineiige Zwillinge (Loehlin
Eineiige Zwillinge berichteten häufiger als zweieiige, gleich u. Nichols 1976). Auf der Suche nach Erklärungen für indivi-
behandelt worden zu sein. Sind demnach eher ihre Erfahrungen duelle Unterschiede spielen die Gene also eine Rolle.
140 Kapitel 5 · Anlage, Umwelt und die Vielfalt der Menschen

Getrennt aufwachsende Zwillinge


Stellen Sie sich folgendes Science-Fiction-Experiment vor: Ein
skrupelloser Wissenschaftler beschließt, eineiige Zwillinge nach
der Geburt voneinander zu trennen und sie dann in verschie-
denen Umwelten aufzuziehen. Aber halten wir uns lieber an eine
wahre Geschichte:
An einem kühlen Februarmorgen im Jahr 1979 wachte
Jim Lewis in seinem kleinen bescheidenen Haus neben seiner
zweiten Frau Betty auf. Er war vor einiger Zeit von seiner ersten
Frau Linda geschieden worden. Jim hatte sich vorgenommen,
5 dass diese Ehe nun halten sollte, und hatte es sich zur Gewohn-
heit gemacht, für Betty überall im Haus Zettelchen mit Liebes-
bezeugungen zu hinterlassen. Als Jim so im Bett lag, dachte er an
die Menschen, die er geliebt hatte, besonders an seinen Sohn . Abb. 5.7 Eineiige Zwillinge sind Doppelgänger. Die eineiigen Zwillinge
James Alan und seinen treuen Hund Toy. Jim Lewis und Jim Springer wurden kurz nach der Geburt getrennt und
Jim hatte sich in einer Kellerecke einen Arbeitsplatz einge- wuchsen in verschiedenen Familien auf, ohne voneinander zu wissen. In
der Forschung konnte man bemerkenswerte Ähnlichkeiten bei den Lebens-
richtet und freute sich darauf, einige Stunden seinem Schreiner-
entscheidungen getrennt aufgewachsener eineiiger Zwillinge nachweisen;
hobby zu widmen. Beim Anfertigen von Möbeln, Bilderrahmen, dies liefert gute Argumente für genetische Einflüsse auf die Persönlichkeit.
einigen anderen Gegenständen und vor allem einer runden (© 2014 Bob Sacha)
weißen Bank um einen Baum in seinem Vorgarten hatte er viele
zufriedene Stunden verbracht. Jim fuhr in seiner Freizeit auch
gerne seinen Chevy durch die Gegend, sah sich Formel-1-Auto- und Modulation der Stimme ähnelten sich derartig, dass Jim
rennen an und trank Bier der Marke »Miller Lite«. Springer sagte: »Das bin ich«, als ihm die Aufnahme eines Inter-
Im Großen und Ganzen konnte man Jim als gesund bezeich- views auf Tonband vorgespielt wurde. Falsch – es war sein
nen. Gelegentlich hatte er Migräne – Kopfschmerzen, die jeweils Bruder. Nachdem man Persönlichkeit, Intelligenz, Herzfre-
einen halben Tag andauerten –, und sein Blutdruck war etwas quenz und Gehirnwellen untersucht hatte, stellte man fest,
hoch, was vielleicht auf sein Kettenrauchen zurückzuführen war. dass sich die Zwillinge trotz ihrer 38 Jahre andauernden
Vor einer Weile schon war er etwas übergewichtig geworden, Trennung praktisch so ähnlich waren, als wäre dieselbe Person
hatte aber schon wieder einige Pfunde abgenommen. Nach einer 2-mal getestet worden. Beide heirateten eine Frau namens
Vasektomie konnte er außerdem keine Kinder mehr zeugen. Dorothy Jane Scheckelburger. Gut, das Letzte war nur ein Witz.
Das Ungewöhnliche an Jim Lewis war (und das ist jetzt keine Wie jedoch Judith Rich Harris (2006) anmerkt, ist es kaum
Erfindung!), dass es zur selben Zeit einen anderen Mann gab, der verrückter, als einige andere Ähnlichkeiten, die berichtet wurden
auch Jim hieß und für den all diese Dinge einschließlich des (. Abb. 5.7).
Namens, den er seinem Hund gegeben hatte, ebenfalls zutrafen1.
Der andere Jim – Jim Springer – war 38 Jahre zuvor sein Mit-
» In einigen Bereichen sieht es so aus, dass sich unsere
Zwillinge, die getrennt aufwuchsen, ... einander genauso
bewohner im Mutterleib gewesen. 37 Tage nach ihrer Geburt
ähnlich sind wie die zusammen aufwachsenden Zwillinge.
wurden diese genetisch gleichen Zwillinge voneinander getrennt,
Das ist nun aber ein erstaunlicher Befund, und ich
jeweils von einer Arbeiterfamilie adoptiert und wuchsen ohne
kann Ihnen versichern, dass keiner von uns diesen Grad an
Kontakt miteinander und ohne Wissen über den Verbleib des
Ähnlichkeit erwartet hätte.
anderen auf – bis zu dem Tag, an dem Jim Lewis’ Telefon klingel-
Thomas Bouchard (1981)
te. Der Anrufer war sein genetischer Klon (der sich auf die Suche
nach ihm gemacht hatte, nachdem ihm von seinem Zwilling er- Mit Hilfe von Zeitungsannoncen haben Bouchard (2009) und
zählt worden war). seine Kollegen 74 nicht gemeinsam aufgewachsene Zwillings-
Einen Monat später wurden die Brüder als erstes Zwillings- paare ausfindig gemacht und untersucht. Sie fanden Gemein-
paar von Thomas Bouchard und seinen Kollegen an der Uni- samkeiten, die sich nicht nur auf Geschmack und Körpermerk-
versität von Minnesota getestet. So entstand eine Studie mit male bezogen, sondern auch auf die Persönlichkeit (charakteris-
getrennt aufgewachsenen Zwillingen, die bis heute fortge- tische Muster des Denkens, Fühlens und Handelns), Fähigkeiten,
setzt wird (Holden 1980a, 1980b; Wright 1998). Intonation Einstellungen, Interessen und sogar Ängste.
In Schweden stießen Pedersen et al. (1988) auf 99 getrennt
lebende eineiige und mehr als 200 getrennt lebende zweieiige
1 Tatsächlich gibt es einen Fehler in dieser Beschreibung der beiden Jims: Jim
Lewis nannte seinen Sohn James Alan. Jim Springer nannte seinen Sohn Zwillingspaare. Im Vergleich zu einer Stichprobe aus gemeinsam
James Allan. aufgewachsenen eineiigen Zwillingen hatten die getrennt aufge-
5.1 · Verhaltensgenetik: Die Vorhersage individueller Unterschiede
141 5
wachsenen eineiigen Zwillinge eher voneinander abweichende wandten: den genetischen Verwandten (biologische Eltern und
Persönlichkeiten. Dennoch waren sich die getrennt aufgewach- Geschwister) und denjenigen, mit denen die Adoptivkinder eine
senen, genetisch gleichen Zwillinge immer noch ähnlicher als gemeinsame Umwelt teilen (Adoptiveltern und -geschwister). Bei
zweieiige. Eine Trennung kurz nach ihrer Geburt (im Gegensatz der Untersuchung von Persönlichkeitsmerkmalen kann man da-
zu beispielsweise im Alter von 8 Jahren) bewirkte keine Zunahme her immer danach fragen, ob Adoptivkinder eher ihren Adoptiv-
ihrer Persönlichkeitsunterschiede. eltern gleichen (die Teil der Familienumwelt sind) oder ihren
Bouchards Kritiker, die uns daran erinnern, dass »der Plural biologischen Eltern (die die Gene beisteuerten). Können adop-
von Anekdote nicht Belege heißt«, lassen sich von den aufregen- tierte Kinder, die gemeinsam mit den leiblichen Kindern eines
den Geschichten über die Ähnlichkeiten der Zwillinge nur wenig Paares aufwachsen und demnach denselben familiären Bedin-
beeindrucken. Sie behaupten, dass zwei beliebige, einander gungen ausgesetzt sind, auch dieselben Persönlichkeitsmerkmale
unbekannte Menschen, die stundenlang ihre Verhaltens- und entwickeln wie die biologischen Kinder?
Lebensgeschichten vergleichen müssten, mit hoher Wahrschein- Das völlig überraschende Forschungsergebnis aus Unter-
lichkeit viele zufällige Ähnlichkeiten entdecken würden. Würden suchungen, die an Hunderten von Adoptivfamilien durchge-
denn Paare, die zu einer von den Forschern gebildeten Kontroll- führt wurden, lautet, dass sich zusammen aufwachsende
gruppe aus biologisch nicht verwandten Paaren des gleichen Menschen wenig in Bezug auf ihre Persönlichkeitsmerkmale
Alters, des gleichen Geschlechts und der gleichen ethnischen ähneln, und zwar unabhängig von ihrer biologischen Verwandt-
Gruppe gehörten und nicht zusammen aufgewachsen waren, schaft (McGue u. Bouchard 1998; Plomin 2011; Rowe 1990).
sich aber bezüglich ihres wirtschaftlichen und kulturellen Hin- Adoptivkinder haben in ihren Persönlichkeitsmerkmalen (Ex-
tergrundes genauso ähnlich wären wie viele der getrennt aufge- traversion, Verträglichkeit etc.) mehr Ähnlichkeiten mit ihren
wachsenen Zwillinge, nicht genauso frappierende Ähnlichkeiten biologischen Eltern als mit den für sie sorgenden Adoptiveltern
aufweisen (Joseph 2001)? Bouchard entgegnet darauf, dass sich (. Abb. 5.8).
getrennt aufwachsende zweieiige Zwillinge in Bezug auf ihre Das Ergebnis ist so bedeutsam, dass man es noch einmal
Ähnlichkeiten nicht mit getrennt aufwachsenden eineiigen Zwil- wiederholen sollte: Die Umweltfaktoren, die für die Kinder inner-
lingen vergleichen lassen. halb einer Familie die gleichen sind, haben praktisch keinen
Selbst die besonders eindrucksvollen Befunde aus der Per- Einfluss auf ihre Persönlichkeit. Zwei in derselben Familie
sönlichkeitsdiagnostik werden davon überschattet, dass sich aufgewachsene, adoptierte Kinder haben in Bezug auf ihre
viele der Zwillinge bereits einige Jahre vor Durchführung der Persönlichkeitsmerkmale ebenso wenig miteinander gemein
Tests wiedergefunden hatten. Zudem haben eineiige Zwillinge wie mit irgendeinem Kind, das nur in derselben Gegend wohnt.
dasselbe Aussehen und können mit denselben Reaktionen darauf Die Anlagen formen die Persönlichkeit auch bei anderen Pri-
rechnen. Auch versuchen die Stellen, die über Adoptionen ent- maten. So zeigen Makaken, die von Pflegemüttern großgezo-
scheiden, voneinander getrennte Zwillinge in ähnlichen fami- gen werden, ein Sozialverhalten, das eher dem ihrer biologi-
liären Verhältnissen unterzubringen. Trotz dieser Kritik haben schen Mütter ähnelt als dem ihrer Pflegemütter (Maestripieri
die erstaunlichen Ergebnisse der Zwillingsstudien dazu geführt, 2003). Dies sollte zusammen mit dem Befund gesehen werden,
dass genetischen Einflüssen in wissenschaftlichen Theorien dass sich eineiige Zwillinge so ähnlich sind, wie wir es aufgrund
mehr Bedeutung beigemessen wird. ihrer gemeinsamen Gene erwarten würden, ob sie nun zusam-
men oder getrennt aufwachsen; und die Auswirkung einer Um-
Zufälle sind nicht nur Zwillingen vorbehalten. Patricia Kern aus
welt, in der sie gemeinsam groß werden, scheint bestürzend
Colorado wurde am 13. März 1941 geboren und Patricia Ann
gering zu sein.
Campbell genannt. Patricia DiBiasi aus Oregon wurde ebenfalls
Steven Pinker (2002) behauptet, dass wir hier vielleicht »auf
am 13. März 1941 geboren und ebenfalls Patricia Ann Campbell
das wichtigste Puzzle in der Geschichte der Psychologie« ge-
genannt. Beide hatten Väter, die den Namen Robert trugen,
stoßen sind: Warum sind Kinder aus derselben Familie so unter-
arbeiteten in der Buchhaltung und hatten zu dieser Zeit Kinder
schiedlich? Warum hat die gemeinsame Umwelt so geringe Aus-
im Alter von 19 und 21 Jahren. Beide machten eine Ausbildung
wirkungen auf die Persönlichkeiten der Kinder? Liegt es daran,
als Kosmetikerin, hatten Ölmalerei als Hobby und heirateten
dass jedes Kind verschiedenen Einflüssen durch Altersgenossen
in einem Abstand von 11 Tagen Männer, die beim Militär
und Lebensereignisse unterliegt? Oder ist es eher darauf zurück-
arbeiteten. Im genetischen Sinne gibt es zwischen den beiden
zuführen, dass die Beziehungen zwischen Geschwistern zur Ent-
keine Verwandtschaft.
fremdung führen, was wiederum ihre Unterschiede verstärkt?
(Aus einem AP Bericht vom 2. Mai 1983)
Geht es darauf zurück, dass Geschwister, obwohl sie die Hälfte
der Gene gemeinsam haben, sehr unterschiedliche Genkom-
Biologische und Adoptivfamilien im Vergleich binationen aufweisen und sehr unterschiedliche Erziehungsstile
Für Verhaltensgenetiker führt ein weiteres praktisches, realitäts- hervorrufen können? Solche Fragen nähren die Neugier der Ver-
nahes Experiment, die Adoption, zu zwei Gruppen von Ver- haltensgenetiker.
142 Kapitel 5 · Anlage, Umwelt und die Vielfalt der Menschen

. Abb. 5.8 Anlage, Umwelt oder beides? Wenn Talent in der Familie vorhanden ist, wie bei Monika Hansen, Meret Becker, Ben Becker und Otto Sander,
wie arbeiten Vererbung und Umwelt dann zusammen? (© SCHROE‘WIG / Redaktionsbuero / picture-alliance)

» Mag sein, dass Mama ein ›Full House‹ auf der Hand hat Kinder, deren biologische Mütter sie zuerst zur Adoption frei-
und Papa einen ›Straight Flush‹: Wenn der Junior von jedem geben wollten und sich dann doch anders entschieden hatten
eine Zufallshälfte bekommt, mag sein Pokerblatt dennoch (Bohman u. Sigvardsson 1990). Gleichgültig wie groß die Persön-
das Blatt eines Verlierers sein. lichkeitsunterschiede zwischen Eltern und ihren Adoptivkindern
David Lykken (2001) sind, die meisten Kinder profitieren von der Adoption.
Die größere Einheitlichkeit von Adoptivfamilien – meist gesunde,
Der minimale Effekt geteilter Umwelt bedeutet nicht, dass die
positiv auf die Kinder einwirkende Familien – trägt zur Erklärung
Erziehung von Adoptivkindern ein fruchtloses Unterfangen ist.
der Tatsache bei, dass es nicht so viele auffallende Unterschiede
Die genetischen Vorgaben begrenzen zwar den Einfluss der
gibt, wenn man die Ergebnisse bei unterschiedlichen Adoptiv-
Familienumwelt auf die Persönlichkeit, aber die Eltern beein-
familien miteinander vergleicht (Stoolmiller 1999).
flussen Einstellungen, Werte, das Benehmen, Vorstellungen in
Glaubensfragen und politische Auffassungen ihrer Kinder (Reif- Prüfen Sie Ihr Wissen
man u. Cleveland 2007). Zwei adoptierte Kinder oder eineiige
Zwillinge verfügen über ähnlichere religiöse Vorstellungen, wenn 5 Wie nutzen Forscher Zwillings- und Adoptionsstudien,
sie dasselbe Zuhause haben, vor allem solange sie als Jugendliche um mehr über psychologische Prinzipien zu erfahren?
noch im Elternhaus wohnen (Koenig et al. 2005). Die Erziehung
hat also durchaus eine Bedeutung!
Darüber hinaus sind Vernachlässigung, Misshandlung und 5.1.3 Temperament und Vererbung
Missbrauch von Kindern und sogar Ehescheidungen bei Adoptiv-
eltern selten. (Adoptiveltern werden im Gegensatz zu leiblichen Die meisten Eltern mit zwei Kindern berichten, dass sich Babys
Eltern sorgfältig überprüft.) Es überrascht folglich nicht, dass sich bereits vor ihrem ersten Atemzug voneinander unterscheiden.
die meisten Adoptivkinder trotz eines größeren Risikos für psy- Vererbung legt einen früh erkennbaren Aspekt der Persönlich-
chische Störungen gut entwickeln, vor allem wenn sie als Klein- keit fest – das Temperament. Das Temperament eines Kindes
kinder adoptiert wurden (Loehlin et al. 2007; van IJzendoorn u. drückt sich in seiner angeborenen emotionalen Erregbarkeit aus
Juffer 2006; Wierzbicki 1993). Sieben von acht Kindern berichten, (Rothbart 2007).
dass sie sich einem oder beiden Adoptivelternteilen stark ver-
Temperament (»temperament«) – charakteristische emotionale Reaktions-
bunden fühlen. Als Kinder von sich selbst aufopfernden Eltern bereitschaft und Reaktionsstärke eines Menschen.
wachsen sie so auf, dass sie sich auch selbst mehr einbringen und
altruistischer verhalten als der Durchschnitt (Sharma et al. 1998). Einige Babys reagieren bereits in den ersten Lebenswochen auf-
In Intelligenztests erreichen viele höhere Werte als ihre biologi- brausend und intensiv und zappeln herum. Andere nehmen Din-
schen Eltern und die meisten werden glücklichere und stabilere ge eher leicht und sind ruhig und gelassen. »Schwierige« (»dif-
Erwachsene, als diese es waren. In einer schwedischen Studie ficult«) Babys sind irritierbarer, reagieren heftiger und weniger
wuchsen adoptierte Kleinkinder mit weniger Problemen auf als vorhersagbar. Dagegen sind »unkomplizierte« (»easy«) Babys
5.1 · Verhaltensgenetik: Die Vorhersage individueller Unterschiede
143 5
vergnügt, entspannt und in Bezug auf Füttern und Schlafen besser
vorhersagbar. »Langsam warm werdende« (»Slow-to-warm-up«)
Babys neigen dazu, sich neuen Personen oder Situationen zu wi-
dersetzen oder zu entziehen (Chess u. Thomas 1987; Thomas u.
Chess 1977). Und Temperamentsunterschiede bleiben normaler-
weise bestehen. Schauen Sie sich die folgenden Ergebnisse an:
4 Die Neugeborenen, die am stärksten emotional reagieren,
zeigen diese Reaktionsbereitschaft auch im Alter von
9 Monaten (Wilson u. Matheny 1986; Worobey u. Blajda
1989).
4 Extrem gehemmte und furchtsame 2-Jährige sind oft
auch als 8-Jährige noch relativ schüchtern; ungefähr
die Hälfte davon entwickelt sich zu introvertierten Jugendli-
chen (Kagan et al. 1992, 1994).
4 Die meisten der heftig reagierenden Vorschulkinder zeigen
auch als junge Erwachsene vergleichsweise vehemente
Reaktionen (Larsen u. Diener 1987). Eine Studie mit
900 Neuseeländern ergab, dass stark emotional reagierende
und impulsive Kinder sich zu noch impulsiveren, aggres- . Abb. 5.9 (Copyright © The New Yorker Collection, 1999, Nick Downes /
siveren und konfliktsuchenden 21-Jährigen entwickelten cartoonbank.com)
(Caspi 2000).

Der Effekt der Gene zeigt sich in physiologischen Unterschieden. Wie wir bereits gesehen haben, werden beim Menschen die meis-
Ängstliche, gehemmte Kinder haben einen erhöhten und un- ten Merkmale durch Gruppen von Genen beeinflusst. So wird
regelmäßigen Herzschlag sowie ein leicht erregbares Nerven- zwar aus Zwillings- und Adoptionsstudien berichtet, dass sich
system. Wenn sie mit neuen und fremden Situationen konfron- die Vererbung auf das Körpergewicht auswirkt; doch es gibt nicht
tiert werden, reagieren sie mit einer stärkeren physiologischen ein einzelnes »Übergewichtsgen«. Wahrscheinlicher ist, dass
Erregung (Kagan u. Snidman 2004). Eine Form eines Gens, einige Gene Einfluss darauf ausüben, wie schnell der Magen dem
das den Neurotransmitter Serotonin reguliert, prädisponiert ein Gehirn mitteilt: »Ich bin voll.« Andere Gene geben möglicher-
ängstliches Temperament und, in Kombination mit nicht unter- weise vor, wie viel Energie die Muskeln verbrauchen, wie viele
stützender Erziehung, ein gehemmtes Kind (Fox et al. 2007). Kalorien durch Herumzappeln verbrannt werden und wie wir-
Derartige Befunde führen ebenfalls zu der Schlussfolgerung, dass kungsvoll der Körper zusätzliche Kalorien in Fett umwandelt
unser in der Biologie verankertes Temperament an der Bildung (Vogel 1999). Angesichts der Tatsache, dass Gene normalerweise
unserer überdauernden Persönlichkeit beteiligt ist (McCrae et al. keine Einzelspieler sind, ist eines der Ziele der molekularen Ver-
2000, 2007; Rothbart et al. 2000). haltensgenetik, einige der vielen Gene zu finden, die zusammen
die Merkmale des Menschen beeinflussen, wie etwa das Körper-
gewicht, die sexuelle Orientierung und die Extraversion (Holden
5.1.4 Molekulargenetik: 2008; Tsankova et al. 2007; . Abb. 5.9).
Eine neue Herausforderung Mit Hilfe genetischer Tests lässt sich jetzt bei mehreren Dut-
zend Krankheiten herausfinden, für welche Unterpopulation ein
Erkrankungsrisiko besteht. In Laboren rund um die Welt, in
? 5.2 Was sind die potenziellen Möglichkeiten der molekular-
denen Molekulargenetiker mit Psychologen zusammenarbeiten,
genetischen Forschung?
geht die Suche weiter. Sie wollen Gene ausfindig machen, die für
Verhaltensgenetiker sind mittlerweile über die Frage »Beeinflus- bestimmte Menschen ein Risiko für solche genetisch beeinfluss-
sen Gene unser Verhalten?« hinweg. Die neue Herausforderung ten Störungen wie Lernstörungen, Depression, Schizophrenie
in der verhaltensgenetischen Forschung ist die »Bottom-up«- und Alkoholismus darstellen. (In 7 Kap. 16 werden wir z. B. auf
Suche (datengeleitete Suche) der Molekulargenetik, um die spe- die weltweiten Forschungsanstrengungen zur Entdeckung von
zifischen Gene zu identifizieren, die letztlich das Verhalten beein- Genen hinweisen, auf die die erhöhte Anfälligkeit für die emotio-
flussen. nalen Schwankungen der bipolaren Störung zurückgeht. Früher
war diese als manisch-depressive Störung bekannt.) Um heraus-
Molekulargenetik (»molecular genetics«) – Teilgebiet der Biologie,
das sich mit der Untersuchung der molekularen Struktur und Funktion
zufinden, welche Gene daran beteiligt sind, suchen Molekular-
von Genen befasst. genetiker Familien, in denen eine bestimmte Störung über meh-
144 Kapitel 5 · Anlage, Umwelt und die Vielfalt der Menschen

rere Generationen hinweg bestanden hat. Anschließend entneh-


men sie Blutproben oder Speichelabstriche sowohl bei betroffe-
nen als auch bei nicht betroffenen Familienmitgliedern und
untersuchen ihre DNA auf Unterschiede. »Das stärkste Potenzial
der DNA«, so Robert Plomin und John Crabbe (2000), »liegt in
der Vorhersage eines Risikos, sodass entsprechende Schritte ein-
geleitet werden können, um bestimmte Probleme gar nicht erst
entstehen zu lassen.«
Mit Hilfe neuer, erschwinglicher DNA-Scan-Techniken
(optisches Abtasten) werden die Mediziner bald in der Lage sein,
5 werdenden Eltern mitzuteilen, wie stark die Gene ihres Fötus
vom normalen Muster abweichen und welche Bedeutung das hat.
Dieser Vorteil ist jedoch auch mit Risiken verbunden. Könnte
es z. B. zu einer Diskriminierung führen, wenn man einen Fötus
als »lernstörungsgefährdet« abstempelt? Die pränatale Diagnos-
tik führt zu ethischen Problemen. Für werdende Eltern ist es . Abb. 5.10 (Copyright © The New Yorker Collection, 2003, Michael Shaw /
bereits leicht möglich, das Geschlecht ihres Kindes zu erfahren. cartoonbank.com)
In China und Indien, wo Jungen einen hohen Stellenwert haben,
hat der Test, mit dem die Geschlechtszugehörigkeit des Nach-
kommen untersucht wird, selektive Abtreibungen ermöglicht tischen Einflüssen zuschreiben können. Dieser Punkt wird so
und zu Millionen (!) »fehlender Frauen« geführt. häufig missverstanden, dass ich es wiederholen möchte: Wir
Angenommen, es wäre möglich: Sollten dann künftige Eltern können nicht sagen, zu welchem Prozentsatz die Persönlichkeit
ihre Eizelle und seine Samenzellen in einem gentechnischen oder Intelligenz einer bestimmten Person vererbt ist. Es ist un-
Labor untersuchen lassen, bevor sie verschmelzen und ein sinnig, zu sagen, Ihre Persönlichkeit gehe zu x Prozent auf Ihre
Embryo entsteht? Sollen wir es Eltern ermöglichen, die Gesund- Anlagen und zu y Prozent auf Ihre Umwelt zurück. Bei pro-
heit ihrer befruchteten Eizelle zu untersuchen – und das Denk- zentualen Angaben zur Erblichkeit geht es vielmehr um das Aus-
vermögen oder die Schönheit? Fortschritt ist ein zweischneidiges maß, in dem die Unterschiede zwischen Menschen allgemein auf
Schwert: Er führt sowohl zu hoffnungsvollen Möglichkeiten als Gene zurückzuführen sind.
auch zu schwierigen Problemen. Indem wir bestimmte Persön- Erblichkeit (»heritability«) – Ausmaß, in dem individuelle Unterschiede auf
lichkeitsmerkmale einfach durch Selektion verschwinden lassen, Gene zurückgeführt werden können. Die Erblichkeit eines Persönlichkeits-
werden wir vielleicht verhindern, dass künftig Händels, van merkmals kann in Abhängigkeit von der ausgewählten Population und den
untersuchten Umweltbedingungen variieren.
Goghs, Hölderlins und Nietzsches, Churchills und Lincolns,
Tolstois und Dickinsons auf die Welt kommen – sie waren alle- Sogar diese Schlussfolgerung muss differenziert werden, da die
samt Menschen mit großen Problemen. Erblichkeit von einer Studie zur anderen variieren kann. Würden
wir dem Vorschlag des für seine sarkastischen Beschreibungen
bekannten Schriftstellers Mark Twain (1835–1910) folgen, Jungen
5.1.5 Erblichkeit bis zum Alter von 12 Jahren in Fässern aufzuziehen und sie durch
ein Loch zu füttern, würden sie einen vergleichsweise geringen
Intelligenzquotienten aufweisen. Da sie alle unter den gleichen
? 5.3 Was ist Erblichkeit und in welchem Zusammenhang
Umweltbedingungen leben, könnte man dann jedoch die indivi-
steht sie zu Individuen und Gruppen?
duellen Unterschiede bezüglich ihres Intelligenzquotienten als
Anhand von Zwillings- und Adoptionsstudien können Verhal- 12-Jährige ausschließlich auf Vererbungsfaktoren zurückführen.
tensgenetiker die Erblichkeit eines Persönlichkeitsmerkmals Mit anderen Worten: Die intellektuellen Unterschiede zwischen
mathematisch berechnen, d. h. das Ausmaß, in dem die Unter- ihnen wären zu fast 100% anlagebedingt (. Abb. 5.10).
schiede zwischen Individuen auf ihre unterschiedlichen Gene Je ähnlicher die Umweltbedingungen sind, desto größer wird
zurückgeführt werden können. Wenn die Erblichkeit von Intel- der Stellenwert der Vererbung als Erklärung für die Unterschiede.
ligenz z. B. 50% beträgt, so bedeutet das nicht, dass deine Intelli- Hätten alle Schulen die gleiche Qualität, alle Familien eine gleich
genz zu 50% genetisch bedingt ist (7 Kap. 11). (Der Erblichkeits- liebevolle Atmosphäre und funktionierte das Leben in allen sozia-
grad für die Körpergröße beträgt 90%, aber dies heißt nicht, dass len Gemeinschaften gleichermaßen gut, so würde die Erbanlage
eine 1,70 m große Frau 153 cm ihren Genen und die restlichen – also die genetisch bedingten Unterschiede – mehr Gewicht be-
17 cm ihrer Umwelt zuschreiben kann). Es bedeutet vielmehr, kommen (da Unterschiede, die auf die Umwelt zurückgeführt
dass wir 50% der beobachteten Variation unter Menschen gene- werden könnten, abnehmen). Andererseits wäre der Einfluss der
5.1 · Verhaltensgenetik: Die Vorhersage individueller Unterschiede
145 5
Erbanlage relativ gering, wenn alle Menschen ähnliche Erbfak- gehärtete, mit Schwielen bedeckte Füße; dies ist eine biologische
toren hätten, aber in drastisch unterschiedlichen Umgebungen Anpassung an die Reibung. Gleichzeitig wird Ihr Schuhe tragen-
aufwüchsen (z. B. einem Fass im Gegensatz zu einer gut situierten der Nachbar seine zarten Füße behalten. Der Unterschied zwi-
Familie). schen Ihnen beiden ist natürlich umweltbedingt. Gleichzeitig ist
Können wir dieses Denken auf Gruppenunterschiede aus- er auch das Ergebnis eines biologischen Mechanismus, genannt
weiten? Wenn genetische Einflüsse zur Erklärung der indivi- Adaptation. Unsere gemeinsame biologische Ausstattung er-
duellen Vielfalt bei Persönlichkeitsmerkmalen wie beispielsweise möglicht uns die Entwicklung unserer Vielfalt (Buss 1991).
Aggressivität beitragen, stellt sich die Frage, ob das nicht auch
auf Gruppenunterschiede zwischen Männern und Frauen oder
» Das Wesen der Menschen ist ähnlich; es sind ihre Gewohn-
heiten, die sie weit auseinandertreiben.
zwischen Angehörigen verschiedener ethnischer Gruppen zu-
Konfuzius, Analekten, 500 v. Chr.
trifft. Die Antwort lautet: nicht notwendigerweise. Individuelle
Unterschiede z. B. in Bezug auf Körpergröße und Gewicht sind Eine Analogie kann dies weiter veranschaulichen: Die Gene und
zu einem Großteil vererbt. Will man erklären, warum die Gruppe die Umwelt – Vererbung und äußere Einflüsse – arbeiten zusam-
der Erwachsenen heute größer und schwerer ist als im letzten men wie zwei Hände beim Klatschen. Gene sind selbstregulie-
Jahrhundert, so muss man jedoch eher Ernährungs- als geneti- rend. Statt als Planvorgaben zu handeln, die egal in welchem
sche Einflüsse heranziehen. Die beiden Gruppen unterscheiden Kontext immer zu demselben Ergebnis führen, reagieren die
sich nicht etwa, weil sich die menschlichen Gene innerhalb Gene. Ein afrikanischer Schmetterling, der im Sommer grün ist,
dieser winzigen Zeitspanne von einem Jahrhundert verändert ändert im Herbst aufgrund eines genetischen Schalters, der von
hätten. Obwohl Körpergröße zu 90% erblich bedingt ist, sind der Außentemperatur gesteuert wird, seine Farbe: Er wird braun.
Südkoreaner dank ihrer besseren Ernährung durchschnittlich Diejenigen Gene, die in der einen Situation braun produzieren,
15 cm größer als Nordkoreaner, trotz ihrer gleichen genetischen produzieren in einer anderen Situation grün. Menschen mit den-
Grundausstattung (Johnson et al. 2009). selben Genen, aber einem unterschiedlichen Erfahrungshinter-
Was für die Größe und das Gewicht zutrifft, gilt auch für Wer- grund haben somit eine ähnliche, aber nicht dieselbe psychische
te in Persönlichkeits- und Intelligenztests: Vererbbare Unterschie- Ausstattung. Ein Zwilling kann sich in eine Person verlieben, die
de zwischen Individuen müssen keine vererbbaren Gruppen- ganz anders ist als die, in die sich der Zwillingsbruder verliebt.
unterschiede mit sich bringen. Auch wenn einige Menschen eine Somit ist die Frage, ob Ihre Persönlichkeit eher ein Produkt
stärkere genetische Disposition für die Entwicklung von Aggres- Ihrer Gene oder Ihrer Umwelt ist, vergleichbar damit, dass man
sivität haben, erklärt das nicht, warum sich einige Gruppen aggres- darüber rätselt, ob sich die Fläche eines Feldes eher aus seiner Länge
siver verhalten als andere. Versetzt man Menschen in einen neuen oder seiner Breite ergibt. Wir könnten jedoch die Frage stellen, ob
sozialen Kontext, kann sich dadurch ihre Aggressivität verändern. die unterschiedlichen Flächen verschiedener Felder eher das Er-
Die friedvollen Skandinavier von heute tragen viele Gene in sich, gebnis von Unterschieden in der Länge oder in der Breite sind und
die ihnen von ihren Wikingervorfahren vererbt wurden. ob die Unterschiede zwischen einer Person und einer anderen eher
durch die Anlage oder die Umwelt beeinflusst werden.
Prüfen Sie Ihr Wissen
Wenn man sagt, dass sowohl die Gene als auch Erfahrungen
5 Die Personen, die die Erblichkeit eines Persönlichkeits- wichtig sind, ist das nicht falsch. Präziser ausgedrückt müsste
merkmals untersuchen, versuchen zu bestimmen, man jedoch sagen, dass sie interagieren. Stellen Sie sich zwei
in welchem Ausmaß unsere individuellen Unterschiede Babys vor, von denen das eine genetisch prädisponiert ist,
in diesem Persönlichkeitsmerkmal auf unsere attraktiv, kontaktfreudig und unbeschwert zu sein, während das
zurückzuführen sind. andere nur eine geringe Prädisposition für diese Eigenschaften
mitbringt. Nehmen Sie weiter an, dass das erste Baby mehr liebe-
volle und anregende Fürsorge erhält als das zweite und sich inso-
5.1.6 Anlage-Umwelt-Interaktion fern zu einer warmherzigeren und offeneren Person entwickelt.
Wenn es älter wird, sucht sich das von Natur aus offenere Kind
häufiger Aktivitäten und Freunde, die zum Aufbau weiteren so-
? 5.4 Wie arbeiten Anlage und Umwelt zusammen?
zialen Zutrauens ermutigen.
Die wichtigste gemeinsame Eigenschaft der Menschen ist ihre
Interaktion (»interaction«) – das Zusammenspiel, das auftritt,
enorme Anpassungsfähigkeit. Sie ist zugleich ein untrügliches wenn die Auswirkung eines Faktors (z. B. der Umwelt) von einem anderen
Verhaltenskennzeichen unserer Art. Einige menschliche Merk- Faktor abhängt (z. B. den Anlagen).
male wie z. B. die Tatsache, dass wir zwei Augen haben, ent-
wickeln sich praktisch in jeder Umwelt gleich. Andere Merk- » Die Erbanlage verteilt die Karten, die Umwelt
male kommen nur in einer spezifischen Umwelt zum Ausdruck. spielt das Blatt aus.
Gehen Sie einen Sommer lang barfuß, dann bekommen Sie ab- Der Psychologe Charles L. Brewer (1990)
146 Kapitel 5 · Anlage, Umwelt und die Vielfalt der Menschen

Was führte nun am Ende zu den Persönlichkeitsunterschieden?


Weder die Vererbung noch die Erfahrung haben für sich ge-
nommen einen Einfluss. Umwelten lösen eine Genaktivität aus.
Und unsere genetisch beeinflussten Persönlichkeitsmerkmale
rufen bedeutsame Reaktionen bei anderen hervor. Bei einem
Lehrer lösen z. B. die Impulsivität und Aggressivität eines Kindes
möglicherweise Ärger aus – während er auf vorbildliche Klassen-
kameraden des Kindes freundlich reagiert. Auch Eltern verhalten
sich gegenüber ihren Kindern unterschiedlich; ein Kind verleitet
sie dazu, es zu bestrafen, das andere nicht. In diesen Fällen inter-
5 agieren die Anlage des Kindes und die Erziehung durch die
Eltern. Keins von beiden funktioniert unabhängig vom anderen.
Anlage und Umwelt agieren gemeinsam.
Solche Interaktionen helfen uns dabei, zu verstehen, warum
sich in unterschiedlichen Familien aufgewachsene, eineiige
Zwillinge an die Herzlichkeit ihrer Eltern in bemerkenswert
ähnlicher Weise erinnern – fast so ähnlich, als hätten sie die-
selben Eltern gehabt (Plomin et al. 1988, 1991, 1994). Zweieiige
Zwillinge haben stärker variierende Erinnerungen an ihr frühes
Familienleben – sogar dann, wenn sie in der gleichen Familie
aufgezogen wurden! »Je nachdem, welche Eigenschaften Kinder
selbst haben, erleben sie uns als andere Eltern«, merkt Sandra
Scarr (1990) an. Außerdem suchen wir uns mit zunehmendem
Alter die Umweltbedingungen, die gut zu uns passen.
Rufen wir uns noch einmal ins Gedächtnis, dass Gene ent-
weder aktiv sind (exprimiert; also in etwa so, wie wenn das heiße
. Abb. 5.11 Die Epigenetik beeinflusst die Genexpression. Beginnend
Wasser den Teebeutel aktiviert) oder inaktiv. Ein neues For- mit der Zeit im Mutterleib hinterlassen Lebenserfahrungen epigenetische
schungsfeld, die Epigenetik (was »zusätzlich zur Genetik« oder Marker – organische Methylmoleküle – die die Aktivierung jedes Gens im
»über Genetik hinaus« bedeutet), untersucht die molekularen zugehörigen DNA-Segment blockieren können. (Aus Champagne 2010;
Copyright © 2010 by SAGE Publications. Reprinted by Permission of SAGE
Mechanismen, durch welche die Umwelt Genexpressionen aus-
Publications)
lösen kann. Obwohl Gene das Potenzial haben, die Entwicklung
zu beeinflussen, können Auslöser aus der Umwelt diese an- und
abschalten – gerade so, wie die Software eines Computers den die Opfer auf ähnliche Weise beeinflussen. Menschen, die Suizid
Drucker steuert. Ein solcher epigenetischer Marker ist ein organi- begangen haben, zeigen den gleichen epigenetischen Effekt,
sches Methylmolekül, das an einem Teil eines DNA-Strangs an- wenn sie Opfer von Kindesmissbrauch gewesen sind (McGowan
gehängt ist (. Abb. 5.11). Es gibt der Zelle die Instruktion, jedes et al. 2009). Die Forscher fragen sich nun, ob dank der Epigenetik
Gen, das auf diesem DNA-Abschnitt vorhanden ist, zu ignorie- einige wissenschaftliche Rätsel gelöst werden könnten. Dazu ge-
ren und verhindert dadurch, dass die DNA die Proteine produ- hören Fragen wie, warum nur einer von zwei eineiigen Zwil-
ziert, die durch diese Gene codiert sind. lingen eine genetisch beeinflusste psychische Störung ent-
wickelt, und wie Erfahrung ihre Spuren in unserem Gehirn hin-
Epigenetik (»epigenetics«) – die Untersuchung der Einflüsse auf die
Genexpression, die auftreten ohne die DNA zu verändern. terlässt.
Folglich sind wir ab dem Zeitpunkt der Empfängnis das Pro-
Umweltfaktoren, wie Ernährung, Drogen und Stress, können dukt einer Abfolge von Interaktionen zwischen unseren geneti-
die epigenetischen Moleküle, die die Genexpression regulieren, schen Anlagen und der uns umgebenden Umwelt (McGue 2010).
beeinflussen. In einem Experiment, in welchem Rattennach- Unsere Gene beeinflussen, wie andere Menschen auf uns rea-
wuchs nicht von der Mutter abgeleckt wurde, wie dies normaler- gieren und wirken. Biologische Äußerlichkeiten haben soziale
weise der Fall ist, besaßen die jungen Ratten eine höhere Anzahl Konsequenzen (. Abb. 5.12). Also, vergessen Sie Anlage gegen
an Molekülen, die den Zugang zum Schalter für die Entwicklung Umwelt, denken Sie stattdessen Anlage via Umwelt.
von Stresshormonrezeptoren im Gehirn blockieren. Wenn die
Tiere gestresst wurden, hatten sie mehr sich frei bewegende
Stresshormone und waren stärker gestresst (Champagne et al.
2003; Champagne u. Mashoodh 2009). Kindesmissbrauch kann
5.2 · Evolutionspsychologie: Wie man die Natur des Menschen versteht
147 5

. Abb. 5.12a,b Anlage-Umwelt-Interaktion. Die Menschen reagieren nicht in gleicher Weise auf einen Ryan Gosling (hier bei der Premiere von
The Ides of March beim Toronto International Film Festival 2011) wie auf seinen Schauspielkollegen Sacha Baron Cohen (hier in seiner Rolle als Borat).
(a: © Hubert Boesl / picture alliance / dpa; b: © Mary Evans Picture Library 2009 / picture-alliance)

Prüfen Sie Ihr Wissen nennt natürliche Selektion »die wohl bedeutsamste Idee, die je-
mals einem Menschen in den Sinn gekommen ist«.
5 Verbinden Sie die folgenden Begriffe mit der jeweils
Evolutionspsychologie (»evolutionary psychology«) – die Untersuchung
richtigen Erklärung:
der Evolution des Verhaltens und des Denkens mithilfe der Prinzipien der
1. Epigenetik natürlichen Selektion.
2. Molekulargenetik Natürliche Selektion (»natural selection«) – Prinzip, dass von den unter-
3. Verhaltensgenetik schiedlichen vererbten Merkmalen eher diejenigen an nachfolgende
a. Untersuchung der relativen Gewichte von genetischen Generationen weitergegeben werden, die zu vermehrter Reproduktion
und zum Überleben führen.
und Umwelteinflüssen auf das Verhalten
b. Untersuchung der Struktur und Funktion von be- Die Idee ist vereinfacht diese:
stimmten Genen 4 Der Nachwuchs verschiedener Organismen konkurriert im
c. Untersuchung der Umweltfaktoren, die einen Einfluss Kampf ums Überleben.
darauf haben, wie unsere Gene exprimiert werden 4 Gewisse biologische und Verhaltensvarianten erhöhen ihre
Fortpflanzungs- und Überlebenswahrscheinlichkeit in ihrer
jeweiligen Umwelt.
4 Nachwuchs, der überlebt, gibt die eigenen Gene mit höherer
5.2 Evolutionspsychologie: Wie man die Natur Wahrscheinlichkeit an die darauffolgenden Generationen
des Menschen versteht weiter.
4 Folglich können sich die Merkmale einer Population im
Laufe der Zeit verändern.
? 5.5 Wie erklären Evolutionspsychologen mithilfe der
Prinzipien der natürlichen Selektion Verhaltenstendenzen?
Um zu verstehen, wie diese Prinzipien wirken, lassen Sie uns
Verhaltensgenetiker untersuchen die genetischen und umwelt- zunächst auf ein einfaches Beispiel eingehen: auf Füchse.
bedingten Ursachen für Unterschiede zwischen den Menschen. Im
Gegensatz dazu konzentrieren sich die Vertreter der Evolutions-
psychologie meist darauf, was uns Menschen einander so ähnlich 5.2.1 Natürliche Selektion und Anpassung
macht. Sie benutzen die Prinzipien der natürlichen Selektion von
Charles Darwin um die Wurzeln bestimmter Verhaltensweisen Ein Fuchs ist ein unbändiges und misstrauisches Tier. Wenn Sie
und mentaler Prozesse zu verstehen. Richard Dawkins (2007) einen Fuchs einfangen und versuchen, sich mit ihm anzufreun-
148 Kapitel 5 · Anlage, Umwelt und die Vielfalt der Menschen

den, rate ich Ihnen, auf der Hut zu sein. Stecken Sie Ihre Hand denen Umweltbedingungen anzupassen – von der Tundra bis hin
in den Käfig und der scheue Fuchs kann nicht fliehen, so wird er zum Dschungel. Sowohl die Gene als auch Erfahrungen beein-
wahrscheinlich Ihre Finger verspeisen. Der russische Wissen- flussen die Nervenverbindungen in unserem Gehirn. Unsere
schaftler Dmitri Belyaew fragte sich, wie unsere Vorfahren es Flexibilität bei der Anpassung der Reaktionen auf verschiedene
bewerkstelligt haben, die Hunde, die von genauso wilden Wölfen Umweltbedingungen trägt zu unserer Fitness bei – und somit zu
abstammen, zu zähmen. Er überlegte, ob er es schaffen würde, in unserer Überlebens- und Reproduktionsfähigkeit.
einer vergleichsweise kurzen Zeitspanne ein ähnliches Kunst- Mutation (»mutation«) – Zufallsfehler bei der Genreplikation, der zu einer
stück zu vollbringen, und einen furchtsamen Fuchs in einen kon- Veränderung führt.
taktfreudigen Fuchs verwandeln könnte.
Dieses Ziel vor Augen begann Belyaew, mit 30 männlichen
5 und 100 weiblichen Füchsen zu arbeiten. Von ihren Nachkom-
Prüfen Sie Ihr Wissen

men wählte er die zahmsten 5% der männlichen und die zahms- 5 Worin ähnelt das Vorgehen von Belyaev und Trut bei
ten 20% der weiblichen Füchse aus und paarte sie (er maß die der Züchtung von Füchsen dem normalen Verlauf der
Zähmbarkeit durch die Reaktion der Füchse auf Fütterungs- und natürlichen Selektion, worin unterscheidet es sich?
Berührungsversuche wie Anfassen und Streicheln). Über 5 In welcher Gruppe wäre die Erblichkeit von Aggressivität
30 Fuchsgenerationen hinweg wiederholten Belyaew und seine größer – unter den Füchsen von Belyaev und Trut oder
Nachfolgerin Lyudmilla Trut diese einfache Vorgehensweise. in einer wilden Fuchspopulation?
Vierzig Jahre und 45.000 Füchse später hatten sie eine neue Auf-
zucht von Füchsen, die nach Trut (1999) »sanftmütig und kon-
taktfreudig sind und unzweifelhaft als gezähmt gelten können. ... 5.2.2 Evolutionärer Erfolg hilft, Ähnlichkeiten
Da das aggressive Verhalten des wilden Rudels (Vorfahren) voll- zu erklären
ständig verschwand, verwandelte sich das wilde Tier vor unseren
Augen in ein zahmes Haustier.« Sie sind derart zugänglich und Obwohl es eher die Unterschiede zwischen Menschen sind, die
versessen auf menschliche Kontakte – sie lieben es zu winseln, unsere Aufmerksamkeit auf sich ziehen, müssen auch die großen
um Aufmerksamkeit zu erregen, und lecken Menschen ab wie Ähnlichkeiten erklärt werden. Insgesamt betrachtet sind die Le-
anhängliche Hunde –, dass das mittellose Institut dazu überging, bensweisen über alle Kulturen hinweg verblüffend ähnlich.
seine Füchse als Haustiere zu vermarkten, um sich zusätzliche Schauen Sie sich im internationalen Ankunftsbereich des Frank-
finanzielle Mittel zu erschließen. furter Flughafens um, wo Passagiere aus der ganzen Welt ein-
Bestimmte Merkmale, die selektiert werden, können einem treffen und von ihren freudig erregten Angehörigen erwartet
einzelnen Lebewesen oder einer Art einen Vorteil bei der Fort- werden. Sie werden sehen, dass die Gesichter aller indonesischen
pflanzung einräumen und so nach einer gewissen Zeit über- Großmütter, aller chinesischen Kinder und aller heimkehrenden
wiegen. Experimente mit Tierzüchtungen manipulieren die ge- Deutschen genau gleich vor Freude strahlen. Der Evolutions-
netische Selektion und zeigen ihre Macht. Hundezüchter gaben psychologe Steven Pinker (2002, S. 73) glaubt, dass die gemein-
uns Hirtenhunde zum Hüten der Schaf- oder Rinderherden, samen Merkmale der Menschen »durch die natürliche Selektion
Apportierhunde, Such- und Spürhunde für die Jagd (Plomin et geformt wurden, die im Laufe der Evolution des Menschen wirk-
al. 1997). Psychologen züchteten ebenfalls Tiere, deren Gene sie sam war«. Dann ist es kein Wunder, dass unsere Emotionen,
dazu prädisponierten, gelassen oder schnell zu reagieren und Triebe und Denkfähigkeiten »über die Kulturen hinweg einer
schnelle oder langsame Lerner zu sein. gemeinsamen Logik unterliegen«.
Funktioniert derselbe Prozess auch mit natürlich auftre-
tender Selektion? Kann die natürliche Selektion auch die mensch- Unser genetisches Erbe
liche Entwicklung erklären? Die Natur hat tatsächlich vorteil- Diese Ähnlichkeiten in Bezug auf Verhalten und Biologie sind
hafte Variationen unter den Mutationen (Zufallsfehler in der das Resultat unseres gemeinsamen menschlichen Genoms,
Genkopie) und unter den mit jeder Empfängnis entstehenden unseres gemeinsamen genetischen Profils. Nicht mehr als 5% der
neuen Genkombinationen selektiert. Aber die spezifischen gene- genetischen Unterschiede zwischen Menschen gehen auf Unter-
tischen Anlagen, die Hunde zum Apportieren, Katzen zum An- schiede zwischen den Gruppen in der Population zurück. Mehr
springen oder Ameisen zum Bau eines Hügels prädisponieren, als 95% der genetischen Variation tritt innerhalb einer Popula-
sind wie eine straff geführte Leine: Sie geben einen engen Korri- tion auf (Rosenberg et al. 2002). Der spezifische genetische
dor für ein bestimmtes Verhalten vor. Anders beim Menschen: Unterschied zwischen zwei isländischen Dorfbewohnern oder
Unsere Gene, die im Lauf der Geschichte unserer Vorfahren zwischen zwei Kenianern ist viel größer als der durchschnittliche
selektiert wurden, sind weitaus mehr als eine lange Leine, an der Unterschied zwischen diesen beiden Gruppen. Das bedeutet,
wir uns bewegen: Sie statten uns mit einer großen Lernfähigkeit selbst wenn nach einer weltweiten Katastrophe nur Isländer und
und somit einer Fähigkeit aus, uns an ein Leben unter verschie- Kenianer überleben würden, müsste die menschliche Spezies
5.2 · Evolutionspsychologie: Wie man die Natur des Menschen versteht
149 5
lediglich eine im Grunde »belanglose Reduktion« ihrer geneti- haben. In gewisser Weise sind wir biologisch für eine Welt kon-
schen Vielfalt hinnehmen (Lewontin 1982). zipiert, die es gar nicht mehr gibt. Wir lieben den Geschmack von
Und wie hat sich dieses gemeinsame menschliche Genom Süßem und Fettem, Dinge, die einst schwer zu bekommen waren,
entwickelt? In den Anfängen der menschlichen Geschichte aber unsere Vorfahren dazu befähigten, in Hungersnöten zu
waren unsere Vorfahren mit bestimmten Fragen konfrontiert: überleben. Da Hungersnöte in westlichen Kulturen selten auf-
Wer ist mein Verbündeter, wer mein Feind? Welche Nahrung soll treten und Süßigkeiten und Fette uns ständig aus den Geschäfts-
ich zu mir nehmen? Mit wem soll ich Nachkommen zeugen? regalen, Imbisstheken und Verkaufsautomaten anlachen, ent-
Manche Individuen beantworteten diese Fragen mit mehr Erfolg behrt es nicht einer gewissen Ironie, dass Dickleibigkeit bei uns
als andere. Beispielsweise prädisponiert manche Frauen das zu einem immer größeren Problem geworden ist. Unsere natür-
Erlebnis, dass ihnen in den wichtigen ersten drei Monaten der lichen Dispositionen, die tief in unserer Geschichte verwurzelt
Schwangerschaft schlecht wird, dazu, bestimmte bittere, intensiv sind, passen einfach nicht zu unserer heutigen Umwelt mit all
schmeckende und neuartige Nahrungsmittel zu meiden. Die ihrem Fastfood und ihren Bedrohungen, wie beispielsweise dem
Meidung dieses Essens hat einen Sinn fürs Überleben, da es sich Klimawandel (Colarelli u. Dettman 2003).
gerade um jene Nahrungsmittel handelt, die am häufigsten Gift
für die embryonale Entwicklung sind (Schmitt u. Pilcher 2004). Evolutionspsychologie heute
Diejenigen, die es schafften, gesunde anstelle von giftiger Nah- Seit langem ist die Evolution als organisierendes Prinzip der Bio-
rung zu sich zu nehmen, überlebten und konnten ihre Gene an logie anerkannt. Jared Diamond (2001) merkt an, dass »praktisch
spätere Generationen weitergeben; diejenigen, die Leoparden für kein zeitgenössischer Wissenschaftler glaubt, Darwin habe sich
nette Streicheltiere hielten, überlebten oft nicht. grundlegend geirrt«. Darwins Theorie lebt weiter als Organisa-
Ähnlich erfolgreich waren jene, die sich einen Partner such- tionsprinzip für die Biologie und erst vor kurzem durch die »Zwei-
ten, mit dem sie Nachkommen zeugen und ernähren konnten. te Darwinsche Revolution« für die Psychologie. Charles Darwin
Über Generationen hinweg gingen gewöhnlich die Gene der In- (1859) nahm die Anwendung der Evolutionstheorien auf die Psy-
dividuen, die diese Disposition nicht hatten, dem menschlichen chologie vorweg: In der Zusammenfassung seines Werkes On The
Genpool verloren. Durch die fortlaufende Selektion erfolgreicher Origin of Species (dtsch. Über die Entstehung der Arten) sah er
Gene ergaben sich Verhaltenstendenzen und ein Denk- und »offene Felder für weitaus wichtigere Forschungen voraus. Die
Lernvermögen, das schon unsere Vorfahren im Steinzeitalter Psychologie wird auf einer neuen Grundlage basieren« (S. 346).
zum Überleben, zur Fortpflanzung und damit zur Weitergabe
Diejenigen, die der scheinbare Konflikt zwischen wissenschaft-
ihrer Gene an zukünftige Generationen befähigte.
licher und religiöser Darstellung der Herkunft des Menschen
Quer durch alle Kulturen teilen wir sogar »eine universelle
beunruhigt, mögen es hilfreich finden, sich an den Prolog dieses
moralische Grammatik«, bemerkt Evolutionspsychologe Marc
Textes zu erinnern, der besagt, dass verschiedene Ansichten des
Hauser (2006, 2009). Männer und Frauen, Junge und Alte,
Lebens sich ergänzen können. Zum Beispiel versucht die
Liberale und Konservative, Bewohner von Sidney oder Seoul, alle
wissenschaftliche Darstellung uns zu sagen, wann und wie; die
reagieren auf negative Weise, wenn sie Folgendes gefragt werden:
religiöse Schöpfungsgeschichte zielt darauf ab, uns über das wer
»Wenn ein tödliches Gas durch ein Loch in die Lüftung gelangt
und warum zu erzählen. Wie Galileo es der Großherzoginmutter
und zu einem Raum mit sieben Menschen strömt, ist es okay
Christine von Lothringen erklärte, »daß es nämlich die Absicht
jemanden in den Lüftungsschacht zu schubsen – und ihn damit
des Heiligen Geistes ist, uns zu lehren, wie man in den Himmel
umzubringen, aber dafür die anderen sieben zu retten?« Und sie
kommt, nicht, wie der Himmel sich bewegt«.
alle reagieren eher zustimmend, wenn sie gefragt werden, ob es
okay ist zuzulassen, dass eine Person in den Lüftungsschacht fällt, In noch folgenden Kapiteln werden wir Fragen behandeln, für
sodass wiederum diese Person stirbt, die anderen sieben jedoch die sich Evolutionspsychologen heute interessieren. Dazu ge-
gerettet werden. Hauser argumentiert, dass unsere gemeinsamen hören beispielsweise folgende: Warum beginnen Kinder zu
moralischen Instinkte aus einer fernen Vergangenheit stammen, fremdeln, sobald sie sich fortbewegen können? Warum ist es bei
in welcher wir in kleinen Gruppen gelebt haben, innerhalb biologischen Vätern sehr viel unwahrscheinlicher, dass sie ihre
welcher das direkte Zufügen von Leid bestraft wurde. Für alle Kinder missbrauchen und ermorden, als bei nicht verwandten
solchen universellen menschlichen Verhaltenstendenzen, an- Partnern, die mit den Kindern zusammenleben? Warum haben
gefangen bei dem starken Bedürfnis, als Eltern für Nachwuchs zu so viel mehr Menschen Angst vor Spinnen, Schlangen und Höhe
sorgen, bis zu unseren gemeinsamen Ängsten und Gelüsten, bie- als vor Waffen und Elektrizität, die eigentlich gefährlicher sind?
tet die Evolutionspsychologie eine »Alles-aus-einer-Hand«-Er- Und warum fürchten wir uns so viel mehr vor dem Fliegen als
klärung (Schloss 2009). vor dem Autofahren?
Als Erben dieses prähistorischen genetischen Vermächt- Lassen Sie uns eine kurze Pause machen und den folgenden
nisses sind wir dazu prädisponiert, Verhaltensweisen zu zeigen, zwei Fragen nachgehen, um zu sehen, wie Evolutionspsycholo-
die unseren Vorfahren das Überleben und Fortpflanzen gesichert gen denken und argumentieren: Wie ähnlich sind sich Mann und
150 Kapitel 5 · Anlage, Umwelt und die Vielfalt der Menschen

. Abb. 5.13 Was Evolutionspsychologen untersuchen. Die Größe jedes Wortes in dieser »Wortwolke« zeigt, wie häufig es in den Titeln von evolutions-
psychologischen Artikeln erschienen ist. (Abgeleitet von Gregory Webster, Peter Jonason und Tatiana Schember [2009] aus allen in der Zeitschrift Evolution
and Human Behavior veröffentlichten Artikeln in den Jahren 1979 bis 2008)

Frau? Wie und warum unterscheiden sich aus der Sicht der Evo- Sozial beeinflusste Geschlechtsunterschiede
lutionspsychologen die weibliche und die männliche Sexualität? in Bezug auf die Sexualität
Und wir unterscheiden uns doch. Denken Sie an den Sexualtrieb
Prüfen Sie Ihr Wissen von Männern und an denjenigen von Frauen. Wer von beiden
denkt mehr an Sex, masturbiert häufiger, ergreift eher die Initia-
5 Verhaltensgenetiker sind mehr daran interessiert, tive, um sexuelle Kontakte zu haben, und schaut häufiger porno-
(Gemeinsamkeiten/Unterschiede) in grafische Filme? Die Antworten lauten weltweit: »die Männer«
unserem Verhalten zu untersuchen und Evolutions- (Baumeister et al. 2001; Lippa 2009; Petersen u. Hyde 2010). Es
psychologen sind am meisten daran interessiert, ist daher wenig überraschend, dass in einer von der BBC in
(Gemeinsamkeiten/Unterschiede) zu 53 Ländern durchgeführten Befragung von mehr als 200.000 Per-
erforschen. sonen, Männer aus allen Ländern stärker den Aussagen »Ich
habe einen starken Sexualtrieb« und »Es braucht nicht viel, um
mich sexuell zu erregen« zustimmten (Lippa 2008).
5.2.3 Evolutionstheoretische Erklärung In der Tat sind sich Marshall Segall, ein interkultureller
der menschlichen Sexualität Psychologe, und seine Kollegen (1990, S. 244) darin einig, dass
Männer »bis auf wenige Ausnahmen mit höherer Wahrschein-
lichkeit als Frauen sexuelle Aktivitäten initiieren.« Dies ist einer
? 5.6 Wie könnte ein Evolutionspsychologe Geschlechts-
der größten Unterschiede zwischen den Geschlechtern – doch
unterschiede in der Sexualität und in den Vorlieben bei der
es gibt noch mehr (Hyde 2005; Petersen u. Hyde 2010; Regan u.
Partnerwahl erklären?
Atkins 2007).
Angesichts vieler ähnlicher Herausforderungen in ihrer Ge- Geschlecht (»sex« bzw. »gender«) – in der Psychologie Bezeichnung für
schichte haben Männer und Frauen ähnliche Vorgehensweisen die biologisch (»sex«) oder sozial (»gender«) beeinflussten Charakteristika,
die Menschen als männlich oder weiblich definieren.
entwickelt, um damit umzugehen. Ob wir nun männlich oder
weiblich sind, wir essen das Gleiche, meiden dieselben Raubtiere, In einer Befragung von 289.452 amerikanischen Studienanfän-
nehmen ähnlich wahr, lernen auf ähnliche Weise und erinnern gern stimmten 58% der Männer und nur 34% der Frauen der
uns ähnlich. Die Evolutionspsychologen sagen, dass wir uns nur Aussage zu, »dass zwei Menschen, die sich ehrlich zueinander
in jenen Bereichen unterscheiden, in denen wir mit unterschied- hingezogen fühlen, miteinander schlafen sollten, selbst wenn
lichen Herausforderungen zur Anpassung konfrontiert waren – sie sich erst sehr kurz kennen« (Pryor et al. 2005). Bei einer wei-
am offensichtlichsten bei Verhaltensweisen, die etwas mit Fort- teren Befragung von 4901 Australiern (Bailey et al. 2000) be-
pflanzung zu tun haben (. Abb. 5.13). richteten 48% der Männer und 12% der Frauen: »Ich kann mir
vorstellen, Gelegenheitssex mit verschiedenen Partnern zu ge-
nießen.« Folglich bevorzugten männliche Studenten in einer
Studie lockere Affären, während Frauen geplante Dates vorzogen
5.2 · Evolutionspsychologie: Wie man die Natur des Menschen versteht
151 5
(Bradshaw et al. 2010). Männer mit traditionell männlichen Ein- seine Gene über viele andere Frauen weiterverbreiten. Unser
stellungen haben am häufigsten impulsiven Gelegenheitssex natürliches Verlangen entspricht der Vorgehensweise, mit der
(Pleck et al. 1993). sich unsere Gene reproduzieren. Bereits bei unseren Vorfahren
Derartige Geschlechtsunterschiede sind sowohl bei hetero- gaben Frauen ihre Gene durch kluge Partnerwahl an zukünf-
als auch bei homosexuellen Menschen zu finden. Im Gegen- tige Generationen weiter. Männer dagegen suchten sich viele
satz zu lesbischen Frauen berichten schwule Männer über Partnerinnen. »Menschen sind lebende Fossilien – eine An-
ein stärkeres Interesse an ungebundenem Sex, ein vermehrtes sammlung von Mechanismen, die durch früheren Selek-
Ansprechen auf visuelle sexuelle Stimuli und eine größere tionsdruck entstanden sind«, so der Evolutionspsychologe David
Bedeutung der körperlichen Attraktivität des Partners (Bailey Buss (1995).
et al. 1994; Doyle 2005; Schmitt 2007). Schwule Paare berichten Was finden heterosexuelle Männer und Frauen denn nun
zudem von häufigerem Sex als lesbische Paare (Peplau u. Fin- attraktiv am anderen Geschlecht? Einige Aspekte der Attraktivi-
gerhut 2007). Und im ersten Jahr, in dem in Vermont eingetra- tät, wie eine jugendliche Ausstrahlung bei Frauen, scheinen un-
gene Partnerschaften möglich waren, sowie unter den ersten abhängig von Zeit und Ort zu sein (Buss 1994). Nach Ansicht der
12.000 gleichgeschlechtlichen Hochzeiten im Staat Massachu- Evolutionspsychologen hatten Männer, wenn sie sich zu gesun-
setts, zeichnete sich eine auffällige Tatsache ab: Obwohl Männer den Frauen hingezogen fühlten, die fruchtbar wirkten und mit
etwa zwei Drittel der Homosexuellen ausmachen, bildeten sie ihrer weichen Haut und jugendlichen Figur viele kinderreiche
nur etwa ein Drittel der Personen, die eine gesetzliche Partner- Jahre versprachen, eine höhere Wahrscheinlichkeit, ihre Gene an
schaft eingingen (Crary 2009; Rothblum 2007). zukünftige Generationen weiterzugeben. Tatsächlich fühlen sich
Männer überall auf der Welt am meisten von Frauen angezogen,
» Das heißt nicht, dass Schwule ein übersteigertes sexuelles deren Taille – dank ihrer Gene oder eines Chirurgen – gut ein
Interesse haben; sie sind einfach nur Männer, deren Drittel schmaler ist als ihre Hüften; denn dies wird als Zeichen
männliche Bedürfnisse mit anderen männlichen Bedürfnis- künftiger Fruchtbarkeit interpretiert (Perilloux et al. 2010). Da-
sen statt mit weiblichen Bedürfnissen zusammentreffen. rüber hinaus fühlen sich Männer, geradeso wie es die Evolutions-
Steven Pinker, Wie das Denken im Kopf entsteht, 1997 psychologie vorhersagt, am stärksten von Frauen angezogen,
deren Alter in der Vergangenheit unserer Vorfahren (als der
In einer weiteren Befragung von 3432 US-Bürgern im Alter zwi- Eisprung später einsetzte als heute) mit dem Höhepunkt ihrer
schen 18 und 59 Jahren nannten 48% der Frauen – im Gegensatz Fruchtbarkeit assoziiert wurde (Kenrick et al. 2009). Folglich
zu nur 25% der Männer – Zuneigung als Grund für ihren ersten fühlen sich Jungen im Teenageralter am stärksten von Frauen,
Geschlechtsverkehr. Doch wie oft denken beide an Sex? 19% die einige Jahre älter sind als sie selber, angezogen, während
der Frauen und 54% der Männer bekannten: »jeden Tag« oder Mittzwanziger Frauen ihres Alters bevorzugen und ältere
»mehrmals am Tag« (Laumann et al. 1994). Gleiches gilt für Männer am liebsten junge Frauen haben. Dieses Muster zeigt
die sexuellen Gedanken der Kanadier: »mehrmals am Tag« sich konsistent und quer durch europäische Zeitungsannoncen,
gaben 11% der Frauen an und 46% der Männer (Fischtein et al. indische Heiratsanzeigen und Heiratsakten aus Nord- und
2007). Südamerika, Afrika und von den Philippinen (Singh 1993; Singh
Es zeigte sich auch, dass Männer herzliche Reaktionen schnel- u. Randall 2007).
ler als sexuelle Avancen deuten. In zahlreichen Studien attribuie- Frauen wiederum wollen lieber einen Mann haben, der zu
ren Männer Freundlichkeit häufiger auf sexuelles Interesse als Hause bleibt, als einen, der ständig ausgeht. Sie fühlen sich zu
Frauen (Abbey 1978; Johnson et al. 1991). Diese Fehlattribution Männern hingezogen, die reif, dominant, kühn und wohlhabend
der von Frauen ausgehenden Herzlichkeit als Anmache trägt zur aussehen, die Potenzial für eine lange Partnerschaft haben und
Erklärung der größeren sexuellen Selbstsicherheit bei Männern sich für ihre gemeinsamen Nachkommen einsetzen (Gangestad
bei, entschuldigt sie aber nicht (Kolivas u. Gross 2007). Die nega- u. Simpson 2000; Singh 1995). In einer Studie mit hunderten von
tiven Konsequenzen können von sexueller Belästigung bis hin zur walisischen Fußgängern bewerteten Männer eine Frau als gleich
Vergewaltigung bei einer Verabredung reichen. attraktiv, unabhängig davon, ob sie auf dem Bild am Steuer eines
bescheidenen Ford Fiesta oder eines eleganten Bentley saß. Im
Natürliche Selektion und Vorlieben Gegensatz dazu fanden Frauen einen Mann attraktiver, wenn er
bei der Partnerwahl im Luxusauto saß (Dunn u. Searle 2010). In einem anderen Expe-
Die natürliche Selektion dient Evolutionspsychologen als Erklä- riment erkannten Frauen geschickt, welche Männer am liebsten
rung dafür, dass Frauen – weltweit – beim Sex eher Beziehungs- Babyfotos anschauten, und bewerteten diese Männer eher als po-
aspekte wichtig finden, während bei Männern die sexuelle tenzielle Partner für eine lange Partnerschaft (Roney et al. 2006).
Entspannung im Vordergrund steht (Schmitt 2005, 2007). Die Nach Ansicht der Evolutionspsychologen stehen solche Attribute
Erklärung lautet wie folgt: In der Zeit, in der eine Frau nor- für die Fähigkeit zu Versorgung und Schutz einer Familie (Buss
malerweise ein einziges Kind austrägt und stillt, kann ein Mann 1996, 2009; Geary 1998; . Abb. 5.14, . Abb. 5.15).
152 Kapitel 5 · Anlage, Umwelt und die Vielfalt der Menschen

. Abb. 5.15 (Copyright © The New Yorker Collection, 1999, Robert Mankoff /
. Abb. 5.14 (© Claudia Styrsky) cartoonbank.com)

Nach Meinung der Evolutionspsychologen gilt folgendes Prüfen Sie Ihr Wissen
Prinzip: Die Natur wählt Verhaltensweisen aus, die es wahr-
scheinlicher werden lassen, dass sich die eigenen Gene künftig 5 Wie erklären Evolutionspsychologen sozial beeinflusste
ausbreiten. Als mobile Gentransportmaschinen sind wir dafür Geschlechtsunterschiede in Bezug auf die Sexualität?
ausgestattet, solchen Verhaltensweisen den Vorzug zu geben, 5 Welches sind die drei Hauptkritikpunkte an der
die auch für unsere Vorfahren innerhalb ihrer Umwelt nützlich evolutionstheoretischen Erklärung der menschlichen
waren. Sie waren dazu prädisponiert, so zu handeln, dass sie Sexualität?
Enkel bekommen; wären sie es nicht gewesen, dann gäbe es uns
gar nicht. Als Träger ihres genetischen Erbes haben wir ähnliche
Prädispositionen. ? 5.7 Welches sind die Hauptkritikpunkte an evolutionspsy-
Ohne die natürliche Selektion von Eigenschaften, die das chologischen Erklärungen menschlicher Verhaltensweisen
Weitergeben der Gene fördern, abstreiten zu wollen, sehen Kri- und wie antworten Evolutionspsychologen darauf
tiker einige Probleme mit dieser Erklärung unserer Vorlieben (7 Kritisch nachgefragt: Kritik am evolutionstheoretischen
bei der Partnerwahl. Sie glauben, dass die evolutionstheore- Ansatz zur Erklärung der menschlichen Sexualität)?
tische Sichtweise über einige wichtige Einflüsse auf die mensch-
liche Sexualität hinwegsieht (7 Kritisch nachgefragt: Kritik am 5.3 Wie beeinflussen Erfahrungen
evolutionstheoretischen Ansatz zur Erklärung der menschlichen die Entwicklung?
Sexualität).
Wir haben erfahren, wie unsere Gene, die in bestimmten Um-
welten zum Ausdruck kommen, einen Einfluss auf Entwick-
lungsunterschiede haben. Wir sind keine »unbeschriebenen
Blätter«, merken Douglas Kenrick und seine Kollegen (2009) an.
Wir sind eher wie Malbücher mit bestimmten Linien, die fest-
gelegt sind und die durch Erfahrungen zu einem vollständigen
5.3 · Wie beeinflussen Erfahrungen die Entwicklung?
153 5
5.3.1 Frühe Erfahrungen
und Gehirnentwicklung

? 5.8 Wie können frühe Erfahrungen das Gehirn verändern?

Unsere Gene bestimmen unsere allgemeine Gehirnstruktur,


aber die Erfahrung füllt die Details aus, trägt zur Ausbildung
der Nervenverbindungen im Gehirn bei und bereitet damit
unser Gehirn auf das Denken und den Spracherwerb und auch
auf spätere Erfahrungen vor. Doch wie hinterlassen diese frühen
Erfahrungen ihre Spuren im Gehirn? Mark Rosenzweig und
David Krech erlaubten Einblicke in diesen Prozess, als sie
einige junge Ratten jeweils getrennt in einem Einzelkäfig auf-
. Abb. 5.16 Die Schaltkreise früh besaiten. Spieler von Streichinstru- zogen und andere auf einem allen zugänglichen »Rattenspiel-
menten, die vor dem Alter von 12 Jahren mit dem Spielen beginnen, weisen platz«. Als im Anschluss daran ihre Gehirne untersucht wurden,
größere und komplexere Nervenschaltkreise auf, die die Finger der linken
hatten die Ratten mit dem meisten Spielzeug einen Vorteil.
Hand kontrollieren, mit denen die Tonhöhe kontrolliert wird, als Streicher,
die später mit dem Unterricht angefangen haben (Elbert et al. 1995). Diejenigen, die in einer gut ausgestatteten Umwelt lebten, die
(© Getty Images / iStockphoto) eine natürliche Umgebung simulierte, entwickelten für ge-
wöhnlich einen stärkeren und dickeren Kortex (Großhirnrinde)
(. Abb. 5.17).
Bild ausgefüllt werden. Wir werden geformt durch Anlage und Rosenzweig war von seiner Entdeckung so überrascht, dass
Umwelt. Aber was sind die wirkungsvollsten Elemente dieser er vor der Veröffentlichung seiner Ergebnisse das Experiment
äußeren Einflüsse? Wie wird unsere Entwicklung durch die einige Male wiederholte (Renner u. Rosenzweig 1987; Rosen-
frühen Erfahrungen, die Familie und die Freunde geleitet, und zweig 1984). Die Effekte waren so deutlich, dass man beim An-
wie trägt all dies zu unserer Vielfalt bei? sehen eines kurzen Videoclips allein aufgrund der Aktivität und
Die formende Umwelt, die mit den Anlagen zusammen- Neugier der Ratten sagen konnte, ob sie in einer reizarmen oder
wirkt, fängt bei der Empfängnis mit der pränatalen Entwicklung gut ausgestatteten Umwelt aufgezogen worden waren (Renner u.
an. Umweltunterschiede gibt es bereits im Mutterleib, wenn Renner 1993). Nach 60 Tagen der Aufzucht in einer gut ausge-
Embryos – entsprechend den Ernährungsgewohnheiten der statteten Umwelt, so berichten Kolb u. Whishaw (1998), nimmt
Mütter – verschiedene Arten von Nahrung bekommen und in das Gewicht des Gehirns um 7–10% zu, und die Anzahl der
unterschiedlichem Maße toxischen Substanzen ausgesetzt sind Synapsen vermehrt sich um ungefähr 20%.
(mehr dazu in 7 Kap. 6). Die Unterschiede in der Umwelt setzen Derartige Ergebnisse waren Anlass dafür, dass die Lebens-
sich außerhalb des Mutterleibs fort, wenn unsere frühen Erfah- bedingungen für Tiere in Labors, auf Bauernhöfen und auch im
rungen die Entwicklung des Gehirns fördern (. Abb. 5.16). Zoo verbessert wurden – aber auch für Heimkinder. Stimulation

. Abb. 5.17 Erfahrung wirkt sich auf die Gehirnentwicklung aus. Rosenzweig und Krech zogen Ratten entweder in einer Umwelt ohne Spielzeug allein
auf oder zusammen mit anderen in einer Umwelt, die mit täglich wechselndem Spielzeug ausgestattet war. In 14 von 16 Wiederholungen dieses grundle-
genden Experiments entwickelten die Ratten in der gut ausgestatteten Umwelt signifikant mehr Gewebe in der Großhirnrinde (im Vergleich zum restlichen
Hirngewebe) als jene, die der reizarmen Umwelt ausgesetzt waren. (Nach Rosenzweig et al. 1972, mit freundlicher Genehmigung von Scientific American)
154 Kapitel 5 · Anlage, Umwelt und die Vielfalt der Menschen

Kritisch nachgefragt

Kritik am evolutionstheoretischen Ansatz zur Erklärung der menschlichen Sexualität


Es wird kritisiert, dass in der Evolutions- genetischem Erbe und soziokulturellen Tradi- Evolutionspsychologen geben zu, dass sie
psychologie von einem bestimmten Effekt tionen verwischen. Wenn Alice Eagly und Mühe haben, einige Eigenschaften und Ver-
(z. B. dem unterschiedlichen Verhalten der Wendy Wood (1999; Eagly 2009) in ihren haltensweisen, wie beispielsweise gleichge-
Geschlechter in der Sexualität) im Nachhinein Studien auf eine Kultur mit ungleichen Ge- schlechtliche Liebe und Suizid, zu erklären
auf eine Erklärung geschlossen wird. Stellen schlechterrollen stießen – in der Männer die (Confer et al. 2010). Aber sie unterstreichen
Sie sich vor, wir machen eine ganz andere Versorgerrolle und Frauen die Rolle am Herd auch die Erklärungs- und Vorhersagemöglich-
Beobachtung und schließen zurück. Wenn einnehmen –, so handelte es sich dabei auch keiten, die der evolutionstheoretische Ansatz
sich alle Männer ihren Partnerinnen gegen- um eine Kultur, in der Männer nach potenziel- ermöglicht. Evolutionspsychologen sagten
5 über gleichermaßen loyal verhielten, müssten len Partnerinnen mit jugendlichem Aussehen vorher, und dies wurde bestätigt, dass wir an-
wir dann nicht schlussfolgern, dass die Kinder und häuslichen Fähigkeiten verlangen, wäh- dere in dem Maße bevorzugen, in dem sie
von engagierten, sie umsorgenden Vätern rend sich Frauen Männer mit einem ansehn- uns genetisch ähneln oder sich für einen Ge-
häufiger überlebt und deren Gene weiter- lichen Status und einem potenziell hohen fallen später revanchieren können. Sie sagten
gegeben haben? Täten Männer nicht besser Verdienst suchen. Fanden Eagly und Wood weiter vorher, und auch dies wurde bestätigt,
daran, wenn sie mit nur einer Frau zusammen dagegen eine Kultur, in der die Geschlechter dass das menschliche Gedächtnis geeignet
wären, um die ansonsten geringe Anzahl an gleichgestellt waren, so konnten sie dort im ist, um überlebensrelevante Informationen
Befruchtungen zu erhöhen und die Frau selben Maße auch die Existenz von weniger zu speichern (wie beispielsweise nahrungs-
von Avancen konkurrierender Männer ab- ausgeprägten Geschlechtsunterschieden bei reiche Stellen, für welche Frauen eine Überle-
zuschirmen? Könnte nicht eine ritualisierte der Partnersuche belegen. genheit aufweisen). Viele weitere männliche
Verbindung wie die Ehe die Frauen auch vor Ein Großteil dessen, was wir sind, ist nicht und weibliche Strategien der Partnerwahl
männlichen Belästigungen bewahren? Tat- in uns angelegt – und das bestreiten die wurden von Evolutionspsychologen ebenfalls
sächlich werden solche Argumente als evolu- Evolutionspsychologen auch gar nicht. »Die vorhergesagt und bestätigt.
tionstheoretische Erklärung der menschlichen Evolution weist einen genetischen Determi- Und sie erinnern uns daran, dass die Suche
Vorliebe für monogame Beziehungen heran- nismus mit Nachdruck zurück«, insistiert ein danach, wie wir so geworden sind, wie wir
gezogen (Gray u. Anderson 2010). Man Forschungsteam (Confer et al. 2010). Evolu- es jetzt sind, nicht notwendigerweise eine
kommt kaum über Erklärungen hinaus, die tionspsychologen versichern uns, dass die Anweisung dafür ist, wie wir handeln sollen.
auf Rückschlüssen basieren, und mit denen Geschlechter weitaus ähnlicher sind als unter- Manchmal trägt es, wenn wir unsere Vorlie-
man meist auf der sicheren Seite ist. Wie der schiedlich. Sie betonen, dass Menschen über ben verstehen, schon dazu bei, sie zu über-
Paläontologe Stephen Jay Gould (1997) an- eine ausgeprägte Fähigkeit zum Lernen verfü- winden.
merkt, handelt es sich eher »um Spekulation gen und damit für sozialen Fortschritt sorgen.
[und] Raterei, wie sie auf Partys üblich ist«. Tatsächlich sind wir durch die natürliche Se- » Es ist gefährlich, einem Mann zu
Einige machen sich Sorgen über die sozialen lektion für die Anpassung und das Überleben genau zu zeigen, wie ähnlich er
Folgen der Evolutionspsychologie. Wird hier ausgestattet, ganz gleich ob wir in Iglus oder dem Tier ist, ohne ihm gleichzeitig
ein genetischer Determinismus propagiert, in Baumhäusern leben. Außerdem sind sie
seine Größe zu zeigen. Es ist eben-
der progressive Bestrebungen zur Verände- sich einig, dass Kulturen sich unterscheiden,
rung der Gesellschaft im Kern trifft (Rose sich verändern und kulturelle Erwartungen falls gefährlich, ihm eine zu klare
1999)? Ist diese Lehre die Totengräberin für die Geschlechter formen können. Man könnte Vorstellung seiner Größe zu erlau-
ethische Überlegungen und moralische daher vermuten, dass Männer, die dazu er- ben, ohne eine Vorstellung seiner
Verantwortlichkeit (Buller 2005, 2009)? Könn- zogen wurden, lebenslangen Verpflichtungen
Niedrigkeit. Am gefährlichsten ist
te sie dazu genutzt werden, um zu rechtferti- einen hohen Stellenwert zu geben, Sexual-
gen, dass »Männer mit einem hohen Status beziehungen mit nur einer Partnerin pflegen. es, ihn über beides in Unwissen-
eine Reihe junger, fruchtbarer Frauen heira- Im Unterschied dazu werden Frauen, deren heit zu lassen.
ten« (Looy 2001)? Sozialisation Gelegenheitssex nicht mit einem Blaise Pascal, Gedanken, 1659
Andere argumentieren, dass evolutionstheo- Tabu belegte, möglicherweise sexuelle Bezie-
retische Erklärungen die Grenze zwischen hungen mit vielen Partnern eingehen.

durch Berührung oder Massage wirkt sich sowohl auf junge bahnen ausgestattet hat, löst Erfahrung einen Selektionsprozess
Ratten als auch auf frühgeborene Babys positiv aus (Field et al. (»pruning process«) aus. Bilder und Gerüche, sanfte Berührun-
2007). Beide, Ratten und Kinder, die häufig berührt werden, gen und harsches Zerren aktivieren und stärken unsere aktivier-
nehmen rascher an Gewicht zu und weisen eine schnellere ten Nervenverbindungen, während unsere nicht genutzten Ner-
neurologische Entwicklung auf. Intensivstationen in Entbin- venverbindungen degenerieren. Wie Waldwege werden häufig
dungskliniken nutzen diesen Befund so, dass die Frühgebo- genutzte Verbindungen verbreitert, während weniger benutzte
renen mit Massagetherapie behandelt werden, so dass sie sich langsam verschwinden. Das Resultat ist ein massiver Verlust an
schneller entwickeln und die Klinik rascher verlassen können nicht genutzten Verbindungen bis zur Pubertät.
(Field et al. 2006). Hier an der Schnittstelle von Umwelt und Anlage aktiviert
Sowohl Anlage wie auch Umwelt formen unsere Synapsen. und bewahrt die gut ausgestattete Umwelt eines Kindes jene
Nachdem das reifende Gehirn uns mit einer Fülle von Nerven- Nervenbahnen, die im Falle spärlicher Erfahrungen aufgrund
5.3 · Wie beeinflussen Erfahrungen die Entwicklung?
155 5

. Abb. 5.18a,b Ein trainiertes Gehirn. Eine gut gelernte Fingerklopfaufgabe aktiviert mehr Nervenzellen im motorischen Kortex (b, orangefarbene
Fläche), als vor dem Training im selben Gehirn aktiv waren (a). (Aus Karni et al. 1998, both photos courtesy of Avi Karni and Leslie Ungerleider, National
Institute of Mental Health)

von mangelndem Gebrauch abgestorben wären. Es gibt also eine 5.3.2 Wie viel Lob (oder Tadel) haben die Eltern
biologische Realität der Früherziehung. Während der frühen verdient?
Kindheit können die Kleinen am leichtesten die Grammatik und
den Akzent einer Fremdsprache meistern, solange nämlich noch
? 5.9 Inwiefern formen Eltern und Gleichaltrige
das Übermaß an Verbindungen abrufbereit ist. Kommt es jedoch
die Entwicklung eines Kinds?
vor der Adoleszenz nicht zu irgendeiner Auseinandersetzung mit
einer geschriebenen Sprache oder Zeichensprache, so wird ein Wie beim Kartenspiel mischen Frau und Mann bei der Fort-
Betroffener nie irgendeine Sprache beherrschen (7 Kap. 10). pflanzung ihre Genkarten. Sie geben ein lebensentscheidendes
Entsprechend entwickeln Menschen, die wegen eines grauen Blatt an ihr künftiges Kind aus, das dann zahllosen Einflüssen
Stars während der Kindheit mit unzureichenden visuellen Erfah- ausgesetzt sein wird, die ihrer Kontrolle entzogen sind. Trotzdem
rungen aufwuchsen, keine normale Wahrnehmung, selbst wenn sind Eltern im Allgemeinen sehr zufrieden mit den Erfolgen
ihr Sehvermögen durch die Entfernung des grauen Stars wieder- ihrer Kinder, entwickeln aber auch Schuld- und Schamgefühle,
hergestellt wird (mehr dazu in 7 Kap. 7). Die Hirnzellen, die nor- wenn diese versagen. Angesichts eines Kindes, das gerade eine
malerweise für das Sehen zuständig sind, sterben ab oder werden Auszeichnung erhalten hat, strahlen sie vor Freude. Andererseits
für andere Zwecke umfunktioniert. Beim reifenden Gehirn fragen sie sich, was sie mit ihrem Kind falsch gemacht haben,
scheint eine Regel besonders wichtig zu sein: Nutze es, sonst geht wenn sie mehrmals hintereinander ins Dienstzimmer des Schul-
es verloren. leiters gebeten werden. Psychoanalytische Ansätze in der Psy-
chiatrie und Psychologie ließen die Vorstellung aufkommen,
» Gene und Erfahrungen sind nur zwei Arten dasselbe
»unzureichende mütterliche Fürsorge« sei die Ursache für Pro-
zu machen – Synapsen miteinander zu verbinden.
bleme von Asthma bis Schizophrenie. Die Gesellschaft verstärkt
Joseph LeDoux, The Synaptic Self, 2002
diese Kritik an den Eltern noch: Wer glaubt, dass Eltern ihre
Obwohl normale Stimulation in den ersten Lebensjahren ent- Nachkommen formen wie ein Töpfer den Ton, ist schnell dabei,
scheidend ist, endet die Hirnentwicklung allerdings nicht mit Eltern für die Tugenden ihrer Kinder zu rühmen und sie für ihre
der Kindheit. Wie wir in 7 Kap. 3 im Rahmen der Diskussion schlechten Angewohnheiten zu tadeln. Populäre Medien schrie-
über die Gehirnplastizität erfahren haben, verändert sich unser ben immer wieder über den psychischen Schaden, den »Raben-
Nervengewebe das ganze Leben hindurch und neue Neuronen eltern« ihren zarten, schwachen Kindern zufügen. Da ist es wenig
werden gebildet. Wenn ein Affe mehrere tausend Mal am Tag verwunderlich, dass es als riskant erscheinen kann, Kinder zu
übt, mit einem Finger einen Hebel zu drücken, verändert sich das haben und sie großzuziehen (. Abb. 5.19).
Hirnareal, das den Finger steuert, und es bildet auf diese Weise Ist es denn wirklich so, dass zu gutmütige – oder unbeteiligte
die Erfahrung ab. Menschliche Gehirne funktionieren ähnlich – Eltern zukünftige Erwachsene mit einem »inneren verwunde-
(. Abb. 5.18). Ob wir nun lernen, auf einem Keyboard zu spielen ten Kind« produzieren? Oder sind es die Eltern, die ihre Kinder
oder Skateboard zu fahren, wir verbessern in dem Maße unsere zu sehr antreiben, oder die, die sich nicht durchsetzen können?
Fähigkeiten, in dem unser Gehirn den Lernprozess verinnerlicht Liegt das Problem vielleicht bei den überbehütenden oder etwa
(Ambrose 2010). bei den zu distanzierten Eltern? Sind Kinder tatsächlich so leicht
156 Kapitel 5 · Anlage, Umwelt und die Vielfalt der Menschen

Auch bei Schimpansen ist es so: Wird ein Junges von einem
anderen verletzt, dann greift dessen Mutter oft die Mutter des
Schuldigen an (Goodall 1968).

Eltern sind wirklich wichtig. In Extremsituationen wird die


Macht des elterlichen Einflusses am deutlichsten: Missbrauchte
Menschen, die selbst missbrauchen, vernachlässigte Menschen,
die ihre Kinder vernachlässigen, die geliebten, aber streng er-
zogenen Kinder, die selbstbewusst und sozial kompetent werden.
Welch starke Wirkung die Familie hat, kommt zum Vorschein
5 in den bemerkenswerten schulischen und beruflichen Erfolgen
der Kinder von Flüchtlingen, die aus Vietnam und Kambodscha
geflohen waren – Erfolge, die man auf die eng miteinander ver-
bundenen, unterstützenden, ja sogar fordernden Familien zu-
rückführt (Caplan et al. 1992).
Doch in Bezug auf Persönlichkeitsmerkmale können die
gemeinsamen Umwelteinflüsse von der Zeit im Mutterleib an ge-
. Abb. 5.19 (Copyright © The New Yorker Collection, 2007, Julia Suits / nerell nur weniger als 10% der Unterschiede zwischen den Kin-
cartoonbank.com) dern erklären. In den Worten der Verhaltensgenetiker Robert
Plomin und Denise Daniels (1987; Plomin 2011) heißt das: »Zwei
Kinder aus derselben Familie sind im Durchschnitt (abgesehen
verwundbar? Wenn dem so ist: Ist es dann richtig, unsere Eltern von ihren gemeinsamen Genen) so unterschiedlich wie zwei
für unsere Fehler und uns selbst für das Versagen unserer Kinder Kinder, die zufällig aus einer Population ausgewählt werden.« Die
verantwortlich zu machen (. Abb. 5.20)? Oder ist es denkbar, Entwicklungspsychologin Sandra Scarr (1993) zieht daraus die
dass durch das ganze Gerede über verletzte, schwache Kinder Schlussfolgerung, dass »Eltern für Kinder, die sich großartig ent-
normaler Eltern die Brutalität einer wirklichen Misshandlung wickeln, weniger gelobt, und für Kinder, bei denen das nicht der
trivialisiert wird? Fall ist, weniger gescholten werden sollten«. Wenn Eltern wissen,

. Abb. 5.20 (Copyright © The New Yorker Collection, 2001, Barbara Smaller / cartoonbank.com)
5.3 · Wie beeinflussen Erfahrungen die Entwicklung?
157 5

. Abb. 5.21 Die Macht der Gleichaltrigen. Während wir uns entwickeln, spielen wir mit unseren Altersgenossen, wir arbeiten und gehen freundschaft-
liche Beziehungen mit ihnen ein. Es ist deshalb kein Wunder, dass Kinder und Jugendliche so sensibel auf die Einflüsse der Gleichaltrigengruppe reagieren.
(© photos.com)

dass Kinder nicht so einfach durch Erziehung geformt werden weigerlich den Akzent der Altersgenossen an und nicht
können, können sie sich möglicherweise ein bisschen entspannen den der Eltern. Akzent (und Slang) reflektieren die Kultur,
und ihre Kinder für das lieben, was sie sind. »und Kinder erhalten ihre Kultur durch Gleichaltrige«,
bemerkt Judith Rich Harris (2007).
» Wenn Sie Ihre Eltern für Ihre eigenen Probleme als 4 Jugendliche, die anfangen zu rauchen, haben üblicherweise
Erwachsener verantwortlich machen wollen, dann haben Freunde, die ihnen das Rauchen vormachen, ihnen seine
Sie ein Anrecht darauf, den Genen, die Sie von ihnen Vorzüge vorgaukeln und ihnen Zigaretten anbieten (Rose, J. S.
haben, die Schuld dafür zu geben; Sie haben aber – so viel et al. 1999; Rose, R. J. et al. 2003). Zum Teil mag die Ähnlich-
ich weiß – kein Anrecht darauf, Ihre Eltern für die Art keit unter Gleichaltrigen auch auf einen Selektionseffekt zu-
und Weise, wie sie Sie behandelt haben, verantwortlich rückzuführen sein. Denn Kinder suchen sich Altersgenossen
zu machen. … Wir sind keine Gefangenen unserer aus, die ähnliche Einstellungen und Interessen haben wie sie
Vergangenheit. selbst. Die Raucher (oder Nichtraucher) suchen sich Freunde,
Martin Seligman, What You Can Change and What You Can’t, die ebenfalls rauchen (oder eben nicht).
1994
Howard Gardner (1998) kommt zu dem Schluss, dass Eltern und
Freunde komplementär sind:
5.3.3 Einfluss der Gleichaltrigen
» Eltern sind wichtiger, wenn es um Bildung und Ausbildung,
» Mehr als ihren Vätern gleichen die Menschen ihrer Zeit. Disziplin, Verantwortung, Ordnung, Hilfsbereitschaft und die
Altes arabisches Sprichwort Art des Umgangs mit Autoritätspersonen geht. Freunde
Welche Rolle spielen äußere Einflüsse, wenn die Kinder heran- sind wichtiger, um Zusammenarbeit zu lernen, zu erfahren,
wachsen? In jedem Alter, aber insbesondere in der Kindheit und wie man sich beliebt macht und welcher Stil für die Inter-
Jugend, sind wir bestrebt, uns in verschiedene Gruppen einzu- aktionen mit Altersgenossen der richtige ist. Die jungen
passen, und werden von ihnen beeinflusst (Harris 1998, 2000; Menschen finden ihre Freunde vielleicht interessanter, ver-
. Abb. 5.21): lassen sich aber auf ihre Eltern, wenn sie an ihre Zukunft
4 Kleinkinder, die trotz elterlichen Drängens eine bestimmte denken. Außerdem wählen die Eltern [oft] die Wohngegend
Mahlzeit verschmähen, essen sie, wenn andere Kinder dabei und die Schule der Kinder aus, in der ihre Altersgenossen
sind, die dieses Essen mögen. die Freunde sein werden.
4 Ein Kind, das zu Hause seine Muttersprache mit einem
bestimmten Akzent hört und gleichzeitig einen anderen Diese Macht der Eltern, die Wohngegend und Schulen ihrer
Akzent in seiner Nachbarschaft und Schule, nimmt un- Kinder auszuwählen, ermöglicht ihnen, auf das soziale Umfeld
158 Kapitel 5 · Anlage, Umwelt und die Vielfalt der Menschen

einzuwirken, und so Einfluss auf die Gruppe der Gleichaltrigen, das andere Geschlecht. Kleinere Schimpansen und Makaken
die Peergroup, zu nehmen. Und da der Einfluss der Wohngegend entwickeln manchmal Gewohnheiten – in einem bekannten Bei-
wichtig ist, möchten Eltern an Interventionsprogrammen, die auf spiel das Waschen von Kartoffeln – und geben sie an Gleich-
die ganze Schule und das gesamte Wohnviertel abzielen, beteiligt altrige und an Nachkommen weiter. Aber bei der Kultur des
sein. Wenn ein schlechtes allgemeines Klima kennzeichnend für Menschen geschieht mehr. Sie trägt viel dazu bei, dass wir über-
die Umgebung eines Kindes ist, muss dieses Klima – und nicht leben und uns fortpflanzen; dies geschieht mit Hilfe sozialer und
das Kind alleine – geändert werden. Gleichaltrige sind nur eine ökonomischer Systeme, die uns einen Vorteil verschaffen.
von vielen Quellen kulturellen Einflusses. Ein afrikanisches Dank der Tatsache, dass wir die Sprache beherrschen, ge-
Sprichwort besagt denn auch: »Man braucht ein Dorf, um ein nießen wir Menschen die dauerhafte Bewahrung der Innovation.
Kind großzuziehen.« Aufgrund unserer Kultur standen mir heute Post-it-Klebezettel,
5 Google und digitale Hörtechnologien zur Verfügung; das alles
Prüfen Sie Ihr Wissen hatte für mich einen Nutzen. Wir haben es auch dem gesammel-
ten Wissen der Kultur zu verdanken, dass sich im letzten Jahr-
5 Was ist der Selektionseffekt und wie kann er die Ent- hundert unsere Lebenserwartung in den meisten Ländern, in
scheidung eines Teenagers, bestimmten Sportgruppen denen dieses Buch gelesen wird, um 30 Jahre erhöhte. Außerdem
an der Schule beizutreten, beeinflussen? ermöglichte die Kultur eine kosteneffiziente Arbeitsteilung.
Obwohl eine Person das Glück hat, dass ihr Name auf dem Um-
schlag dieses Buchs steht, ist das Produkt eigentlich das Ergebnis
der Koordinierung und des Engagements eines Teams von
5.4 Kulturelle Einflüsse Frauen und Männern, von denen keiner allein in der Lage ist, es
hervorzubringen.
Über die Kulturen hinweg unterscheiden wir uns in Bezug
? 5.10 Wie beeinflussen kulturelle Normen unser Verhalten?
auf die Sprache, das Währungssystem, die Sportarten, darin,
Im Vergleich zu dem schmalen Grat, auf dem sich Fliegen, Fische mit was für einer Gabel – wenn überhaupt – wir essen und auf
und Füchse bewegen, hat die Natur für uns eine längere und welcher Seite der Straße wir Auto fahren. Doch hinter diesen
breitere Straße gebaut, auf der uns die Umwelt vorantreibt. Die Unterschieden steckt eine ganz große Ähnlichkeit – unsere
Fähigkeit, zu lernen und uns anzupassen, ist das Kennzeichen Fähigkeit zur Kultur, zu gemeinsamen und überlieferten Sitten
unserer Spezies und damit das größte Geschenk der Natur an und Gebräuchen sowie zu Überzeugungen, die uns in die Lage
uns. Wir kommen zur Welt, ausgestattet mit einer riesigen zere- versetzen zu kommunizieren, Geld gegen Dinge einzutauschen,
bralen Festplatte, und sind bereit, viele Gigabytes kultureller zu spielen, zu essen und Auto nach Regeln zu fahren, auf die wir
Software aufzunehmen. uns geeinigt haben, und dabei nicht miteinander zu kollidieren.
Kultur umfasst die Verhaltensweisen, Vorstellungen, Einstel-
lungen, Werte und Traditionen, die von einer Gruppe von Men-
schen geteilt und von einer Generation an die nächste weiter- 5.4.1 Unterschiede zwischen Kulturen
gegeben werden (Brislin 1988; Cohen 2009). Roy Baumeister
(2005) merkt an, dass die Eigenart des Menschen für die Kultur Die Eigenheit des Menschen zeigt sich in der Vielfalt der Men-
gemacht zu sein scheint. Wir sind soziale Lebewesen, aber noch schen. Den Grad unserer Anpassungsfähigkeit erkennt man an
mehr. Wölfe sind soziale Lebewesen; sie leben und jagen in kulturellen Unterschieden in unseren Überzeugungen und Wert-
Rudeln. Ameisen sind unaufhörlich sozial und nie allein. Doch vorstellungen, daran, wie wir unsere Kinder erziehen und unsere
Baumeister schreibt: »Kultur ist eine bessere Methode, sozial Toten begraben, sowie daran, welche Kleidung wir tragen (sofern
zu sein.« Wölfe leben noch ungefähr genauso, wie sie es vor wir überhaupt bekleidet sind). Ich bin mir bewusst, dass die Leser
10.000 Jahren taten. Sie und ich kommen in den Genuss von dieses Buches sich kulturell unterscheiden. Sie und Ihre Vorfah-
Dingen, die den meisten unserer Vorfahren vor 100 Jahren un- ren erstrecken sich von Australien nach Afrika und von Singapur
bekannt waren; und dazu gehören Elektrizität, sanitäre Einrich- nach Schweden.
tungen und Antibiotika. Die Kultur funktioniert. Das Mitschwimmen in einer vereinheitlichten Kultur ist ver-
gleichbar mit dem Radfahren in Windrichtung: Während wir
Kultur (»culture«) – überdauernde Verhaltensweisen, Vorstellungen, Einstel-
lungen, Werte und Traditionen, die von einer großen Gruppe von Menschen fortgetragen werden, spüren wir kaum einen Widerstand. Wenn
geteilt und von einer Generation an die nächste weitergegeben werden. wir allerdings versuchen, gegen den Wind zu fahren, bemerken
wir, wie stark er ist. Erst im Augenblick der Konfrontation mit
Andere Tiere weisen rudimentäre Elemente von Kultur auf. einer bestimmten Kultur werden uns die kulturellen »Strö-
Primaten verfügen über lokal angepasste Gewohnheiten beim mungen« bewusst. So fallen den meisten Amerikanern bei einem
Werkzeuggebrauch, bei der Körperpflege und beim Werben um Besuch in Europa z. B. die kleineren Autos, der linkshändige Ge-
5.4 · Kulturelle Einflüsse
159 5
brauch der Gabel und das ungehemmte Aus- und Anziehen an
den Stränden auf. Europäische und amerikanische Soldaten
merkten erst, als sie in Irak, Afghanistan und Kuwait stationiert
waren, wie liberal ihre heimatlichen Kulturen waren. Für die in
Nordamerika ankommenden Besucher aus Japan und Indien ist
es schwer zu verstehen, warum Menschen im Haus schmutzige
Straßenschuhe tragen.
Dennoch teilen Menschen aus verschiedensten Kulturen –
wie wir bereits ausgeführt haben – gewisse moralische Grund-
sätze. Schon bevor Babys überhaupt gehen können, zeigen sie
einen Sinn für Moral, indem sie Dinge, die falsch oder ungezogen
sind, missbilligen (Bloom 2010). Doch jede kulturelle Gruppe
entwickelt auch eigene Normen – Regeln für akzeptiertes und
erwartetes Verhalten. So benutzen viele Menschen aus Südasien
zum Essen nur die Finger ihrer rechten Hand. Die Briten haben
die Norm, sich ordentlich in einer Reihe anzustellen. Manchmal
wirken soziale Normen einengend: »Warum sollte es von Be-
deutung sein, wie ich mich anziehe?« Andererseits ölen Normen
die soziale Maschinerie. Vorgeschriebene, gut gelernte Verhal-
tensweisen machen es unnötig, uns ausschließlich mit uns selbst . Abb. 5.22 Das neue Au-pair-Mädchen. (© Claudia Styrsky)
zu beschäftigen.
Norm (»norm«) – allgemein verstandene Regel für akzeptiertes und er-
wartetes Verhalten. Normen schreiben ein »angemessenes« Verhalten vor.
5.4.2 Veränderungen im Laufe der Zeit
Wenn Kulturen aufeinandertreffen, sorgen die verschiedenen
Normen häufig für Verwirrung. Soll man jemanden mit der Wie biologische Lebewesen variieren Kulturen, kämpfen um
Hand oder mit einem Wangenkuss begrüßen? Die Antwort ist Ressourcen und entwickeln sich so im Laufe der Zeit (Mesoudi
abhängig von der Kultur. Wenn wir wissen, wann wir klatschen 2009). Denken Sie doch einmal daran, wie schnell sich Kulturen
oder uns verbeugen sollen, welche Gabel wir bei einer Einladung über die Zeit hinweg verändern können. Der englische Dichter
zum Abendessen als erste benutzen sollen und welche Kompli- Geoffrey Chaucer (1342–1400) ist von einem modernen Briten
mente und Gesten angemessen sind, können wir uns entspannen nur 20 Generationen entfernt, doch die beiden würden nur unter
und die Gesellschaft anderer ohne Angst vor Verlegenheit oder größten Schwierigkeiten eine Unterhaltung führen können. In
Kränkungen genießen. dem kürzeren Kapitel der Geschichte seit 1960 haben sich die
Wenn wir nicht verstehen, welches Verhalten erwartet meisten westlichen Kulturen mit bemerkenswerter Geschwin-
oder akzeptiert wird, können wir einen Kulturschock erleben digkeit verändert. Menschen aus der Mittelschicht fliegen an
(. Abb. 5.22). Bewohner der Mittelmeerregionen sehen Nord- Orte, über die sie einst höchstens gelesen hatten. Sie genießen die
europäer als effizient an, nehmen sie aber gleichzeitig auch als Bequemlichkeit einer klimatisierten Wohnumgebung, des Ein-
kalt und pünktlichkeitsbesessen wahr (Triandis 1981). Dagegen kaufens per Internet und der überall und jederzeit verfügbaren
bemerken Menschen aus dem zeitbewussten Japan – wo die elektronischen Kommunikationsmittel. Sie essen – ermöglicht
Uhren der Banken immer die exakte Zeit anzeigen, die Fuß- durch die Verdoppelung ihres Realeinkommens – mehr als zwei-
gänger flott gehen und Postangestellte Wünsche in Höchst- mal so oft im Restaurant wie ihre Großeltern in den 60ern. Viele
geschwindigkeit erfüllen – vielleicht, dass sie bei einem Besuch Minderheitengruppen profitieren von einer zunehmenden Um-
in Indonesien zunehmend ungeduldiger werden. Dort geben die setzung der Menschenrechte. Bedingt durch größere ökono-
Uhren die Zeit weniger genau an und das Tempo ist im Allge- mische Unabhängigkeit heiraten die Frauen von heute eher aus
meinen langsamer (Levine u. Norenzayan 1999). Die ersten Frei- Liebe und müssen mit geringerer Wahrscheinlichkeit aus ökono-
willigen des US-Friedenscorps berichteten darüber, dass es, mischer Notwendigkeit heraus Beziehungen ertragen, in denen
nachdem sie die Sprache des Gastlands gelernt hatten, zwei große sie misshandelt oder missbraucht werden.
Kulturschocks bei der Anpassung an ihre Gastländer gab: das Doch manche Veränderungen waren durchaus nicht positiv.
andere Lebenstempo und den anderen Umgang mit Pünktlich- Wären Sie im Jahre 1960 in den USA eingeschlafen und heute
keit (Spradley u. Phillips 1972). aufgewacht, hätten Sie Ihre Augen in einer Kultur mit mehr
Scheidungen und Depression geöffnet. Zudem verbringen die
Amerikaner – genau wie ihre Kollegen in Großbritannien, Aus-
160 Kapitel 5 · Anlage, Umwelt und die Vielfalt der Menschen

tralien und Neuseeland – mehr Stunden bei der Arbeit, weniger auf sich selbst bezogen sind, wechseln sie leichter ihre sozialen
Stunden mit Schlaf und weniger Stunden mit Freunden und der Gruppen. Sie empfinden es als ihre Entscheidung, eine Arbeits-
Familie (Frank 1999; Putnam 2000). Obwohl nach den Angaben stelle oder einen Andachtsort zu wechseln oder sogar die Groß-
des Statistischen Bundesamtes die Deutschen in Umfragen an- familie zu verlassen und sich an einem anderen Ort anzusiedeln.
geben, im Vergleich zu den 50er Jahren heute deutlich mehr Eine Ehe hält häufig nur so lange, wie beide Partner es wollen.
Freizeit zu haben, zeigen sich auch negative Entwicklungen: Im Wenn man als Kollektivist in einem fremden Land hilflos
Vergleich zu den 1970er Jahren hat sich laut Bundesministerium ausgesetzt wird, würde man wahrscheinlich einen sehr viel
des Inneren die Anzahl der Raubüberfälle auf Straßen, Wegen schlimmeren Identitätsverlust erleben als ein Individualist. Abge-
und Plätzen mehr als verdoppelt und die Anzahl der Drogen- schnitten von der Familie, von Gruppen und loyalen Freunden,
toten stieg um das 15-fache. Die Arbeitslosigkeit, die 1960 zu würde man die Verbindungen verlieren, die darüber bestimmten,
5 Zeiten der Vollbeschäftigung überhaupt keine Rolle spielte, ist wer man ist. In einer kollektivistischen Kultur verschafft dem Be-
inzwischen zu einem der zentralen gesellschaftspolitischen Pro- treffenden die Identifikation mit der Gruppe ein Zugehörigkeits-
bleme geworden. gefühl, sie bietet einen Satz von Wertvorstellungen, ein Netz
Ganz gleich, ob uns diese Veränderungen gefallen oder nicht: von Personen, die sich um die eigene Person kümmern und die
Ihr atemberaubendes Tempo ist beeindruckend. Sie lassen sich Sicherheit gewährleisten. Im Gegenzug haben die Kollektivisten
nicht durch Veränderungen im menschlichen Genpool erklären, eine tiefere und stabilere Bindung an ihre Gruppe, die oft die
da sich dieser für solche kulturellen Hochgeschwindigkeitstrans- Familie, der Clan oder die Firma ist. In Südkorea z. B. legen die
formationen viel zu langsam entwickelt. Kulturen sind unter- Menschen weniger Wert darauf, ein konsistentes einzigartiges
schiedlich, Kulturen verändern sich, und sie geben unserem Selbstkonzept zum Ausdruck zu bringen, sondern betonen eher
Leben eine bestimmte Form. die Tradition und die gemeinsam praktizierten Handlungsweisen
(Choi u. Choi 2002).
Kollektivismus (»collectivism«) – die Ziele der Gruppe (oft die Groß-
5.4.3 Kultur und Selbst familie oder die Arbeitsgruppe) haben Priorität, die Definition der eigenen
Identität richtet sich an ihnen aus.

? 5.11 Wie beeinflussen individualistische


Menschen in kollektivistischen Kulturen legen Wert auf Ge-
und kollektivistische Kulturen die Menschen?
meinschaft und Solidarität, deshalb ist es ihnen sehr wichtig, die
Stellen Sie sich einmal vor, Sie würden aus Ihren sozialen Bezü- Harmonie aufrechtzuerhalten und darauf zu achten, dass andere
gen herausgerissen und wären ein allein lebender Flüchtling in nie ihr Gesicht verlieren. Was jemand sagt, drückt sowohl aus,
einem fremden Land: Wie viel von Ihrer Identität würde intakt was er fühlt (seine innere Einstellung), als auch, was er annimmt,
bleiben? dass der andere es fühlt (Kashima et al. 1992). Um das Gruppen-
Wären Sie als unser allein lebender Flüchtling Individualist, gefühl zu bewahren, werden die direkte Konfrontation, scho-
dann bliebe ein Großteil Ihrer Identität intakt: Der innerste Kern nungslose Ehrlichkeit und kontroverse Themen vermieden, man
Ihres Seins, Ihr Ich-Gefühl, wäre nicht berührt, auch nicht beugt sich den Wünschen anderer, man ist höflich und demütig
Ihre Überzeugungen und Wertvorstellungen. Der Individualist (Markus u. Kitayama 1991). Man zollt Älteren und Vorgesetzten
(häufig Personen aus Nordamerika, Westeuropa, Australien oder Respekt und die Verpflichtung gegenüber der eigenen Familie
Neuseeland) räumt seinen persönlichen Zielen eine relativ hohe kann wichtiger sein als die eigene berufliche Karriere oder Vor-
Priorität ein, und seine Identität definiert sich hauptsächlich lieben bei der Partnerwahl (Zhang u. Kline 2009; . Abb. 5.23).
über persönliche Merkmale (Schimmack et al. 2005). Er strebt Der Kollektivist verhält sich in einer neuen Gruppe schüchtern
nach persönlicher Kontrolle und individueller Leistung. In der und gerät leichter in Verlegenheit als sein individualistisches Ge-
amerikanischen Kultur mit ihrer relativ starken Betonung des genstück (Singelis et al. 1995, 1999). Verglichen mit Menschen
»Ich« und dementsprechend einer geringen Betonung des »Wir« aus dem Westen zeigen Personen in der japanischen oder chine-
lautet die Aussage von 85% der Menschen, es sei möglich, »mehr sischen Kultur eine größere Schüchternheit gegenüber Fremden,
oder weniger das zu sein, was du sein willst« (Sampson 2000). und sie kümmern sich mehr um soziale Harmonie und Loyalität
(Bond 1988; Cheek u. Melchior 1990; Triandis 1994). Wenn das
Individualismus (»individualism«) – die Priorität für die eigenen Ziele
ist höher als die für Gruppenziele; die eigene Identität definiert sich eher »Wir« Priorität hat, und nicht das »Ich«, hört sich der individu-
über persönliche Eigenschaften als über Gruppenmerkmale. alisierte Kaffeewunsch – großer Latte macchiato mit Karamell
und besonders heiß –, der bei uns nicht ungewöhnlich ist, in
Individualisten teilen das menschliche Bedürfnis nach Zuge- Seoul eher als selbstsüchtiges forderndes Auftreten an (Kim u.
hörigkeit. Sie treten Gruppen bei. Aber sie achten weniger stark Markus 1999; . Abb. 5.24).
auf die Harmonie innerhalb der Gruppe und ihre Pflichten für Selbstverständlich gibt es Unterschiede innerhalb der Kultu-
dieselbe (Brewer u. Chen 2007). Und da sie im Wesentlichen ren. Selbst in den am stärksten individualistisch ausgerichteten
5.4 · Kulturelle Einflüsse
161 5

. Abb. 5.23 Kollektivismus. Obwohl die Vereinigten Staaten mehrheitlich


individualistisch geprägt sind, herrscht in vielen kulturellen Untergruppen
der Kollektivismus. So beispielsweise bei den Eingeborenen aus Alaska, die
den Stammesältesten Respekt zollen und deren Identität mehrheitlich aus
ihrer Gruppenzugehörigkeit entspringt. (© f59 / ZUMA Press / Newscom)

Ländern gibt es Personen, die kollektivistische Werte vertreten.


In vielen Ländern existieren zudem unterschiedliche Kulturen,
die mit der jeweiligen Religion, dem ökonomischen Status
und der Region in Zusammenhang stehen (Cohen 2009). Und im
kollektivistischen Japan kennzeichnet ein individualistischer
Geist die »nördliche Grenzinsel« Hokkaido (Kitayama et al.
2006). Aber im Allgemeinen bieten individualistische Kulturen
(vor allem für Männer) mehr persönlichen Freiraum, erlauben
mehr Stolz auf die eigene Leistung; ihre Mitglieder sind geogra- . Abb. 5.24 Rücksichtsvolle Kollektivisten. Die kollektivistischen Werte
fisch weniger an die Familie gebunden und haben mehr Privat- Japans, dazu gehören die Verpflichtung gegenüber anderen und soziale
sphäre (. Tab. 5.1). Harmonie, zeigten sich 2011 nach dem verheerenden Erdbeben mit an-
schließendem Tsunami. Es wurden praktisch keine Plünderungen gemeldet
» Man muss den Geist kultivieren, bei dem man das kleine Ich und die Einwohner blieben ruhig und geordnet, wie hier auf dem Bild
opfert, um an die Vorteile des großen Ichs zu gelangen. beim Warten auf den Bus. (© picture alliance / dpa)
Chinesisches Sprichwort

Die Psychologin Jean Twenge bemerkte bei der Suche nach die auf der Babynamen-Website der amerikanischen Social
einem Namen für ihr erstes Kind, dass Mitglieder individualis- Security geordnet nach Jahren aufgelistet werden, unbeliebter.
tischer Kulturen sogar ungewöhnliche Namen bevorzugen. Im Als Twenge und ihre Kollegen (2010) die Vornamen von 325 Mil-
Laufe der Zeit wurden die häufigsten amerikanischen Namen, lionen amerikanischen Babys, die zwischen 1880 und 2007 gebo-

. Tab. 5.1 Entgegengesetzte Wertvorstellungen bei Individualismus und Kollektivismus. (Adaptiert nach Schoeneman 1994; Triandis 1994)

Konzept Individualismus Kollektivismus

Selbst Unabhängig (Identität durch individuelle Merkmale) Wechselseitige Abhängigkeiten (Identität durch Zugehörigkeit)

Lebensaufgabe Die eigene Einmaligkeit entdecken und ausdrücken Beziehungen aufrechterhalten, sich einpassen, eine Rolle
ausfüllen

Wichtig ist Ich: persönliche Leistung und Erfüllung; Rechte und Wir: Gruppenziele und Solidarität; soziale Verantwortung
Freiheiten; Selbstwertgefühl und soziale Beziehungen; Pflichten innerhalb der Familie

Methoden Die Realität verändern Sich der Realität anpassen

Moral und Ethik Vom Einzelnen definiert (Basis: das eigene Selbst) Von sozialen Netzen definiert (Basis: Pflichtgefühl)

Beziehungen Zahlreiche, häufig kurzfristige oder Gelegenheits- Wenige, enge und beständige Beziehungen; Harmonie hoch
beziehungen; Konfrontation akzeptabel bewertet

Attributionsverhalten Bringt Persönlichkeit und Einstellungen zum Ausdruck Bringt soziale Normen und Rollen zum Ausdruck
162 Kapitel 5 · Anlage, Umwelt und die Vielfalt der Menschen

setzt die eheliche Beziehung einem größeren Druck aus (Dion u.


Dion 1993). In einer Umfrage wurde »romantische Liebe leben-
dig halten« von 78% der amerikanischen Frauen als wichtig für
eine gute Ehe bewertet, aber nur 29% der japanischen Frauen
vertraten diese Auffassung (American Enterprise, 1992). In China
geht es in Liebesliedern häufig um eine lebenslange Bindung
und um Freundschaft (Rothbaum u. Tsang 1998). In einem Lied
heißt es: »Wir werden von nun an zusammen sein … ich werde
von nun an für immer die Gleiche sein.«
In westlichen Ländern hat der Individualismus in den letzten
5 100 Jahren stark zugenommen. Wie lassen sich solche Verände-
rungen innerhalb einer Kultur oder Unterschiede zwischen Kul-
turen vorhersagen? Die soziale Geschichte ist von Bedeutung.
Freiwillige Migration, eine bevölkerungsarme, herausfordernde
. Abb. 5.25 Ein Kind wie kein anderes. Die individualistischen Tendenzen
der Amerikaner spiegeln sich in der Namenswahl für ihre Kinder wider.
Umwelt und die Verschiebung zu einer kapitalistischen Wirtschaft
In den vergangenen Jahren ist der Anteil an amerikanischen Babys, die haben Unabhängigkeit und Individualismus gefördert (Kitayama
einen der 10 häufigsten Namen ihres Jahrgangs bekamen, rasant gesunken. et al. 2009, 2010; Varnum et al. 2010). Könnte die Biologie auch
(Nach Twenge et al. 2010; Copyright © 2010 by SAGE Publications. Reprinted eine Rolle spielen? Auf der Suche nach biologischen Ursprüngen
by Permission of SAGE Publications)
dieser kulturellen Unterschiede – erinnern wir uns daran, dass
alles, was psychologisch ist, auch biologisch ist – untersucht ein
ren wurden, analysierten, konnten sie diesen Trend bestätigen. neues Forschungsfeld, die kulturelle Neurowissenschaft, wie die
. Abb. 5.25 illustriert, dass der Anteil an Jungen und Mädchen, Neurobiologie und kulturelle Eigenschaften sich gegenseitig be-
die einen der 10 häufigsten Namen ihres Jahrgangs bekamen, vor einflussen (Ambady u. Bharucha 2009; Chiao 2009). Ein Forscher
allem in den letzten Jahren rasant gesunken ist. (Kein Wunder untersuchte in 29 Ländern die unterschiedlichen Formen eines
haben mir meine Eltern, die mich in einer weniger individualis- Gens, das Serotonin reguliert. Die Menschen in kollektivistischen
tischen Zeit geboren haben, einen so gewöhnlichen Vornamen Kulturen besaßen eher eine Genvariante, die mit mehr Ängstlich-
gegeben.) keit assoziiert wird, obwohl das Leben in solchen Kulturen hilft,
Die Kluft zwischen individualistischen und kollektivisti- die Menschen vor Ängstlichkeit zu schützen (Chiao u. Blizinsky
schen Kulturen zeigte sich in den Reaktionen der Medaillen- 2010). Wir werden immer wieder feststellen, dass die biologische,
gewinner während der Olympischen Spiele in den Jahren 2000 die psychologische und die soziokulturelle Sichtweise sich kreu-
und 2002. Amerikanische Goldmedaillengewinner und die ame- zen. Wir sind biopsychosoziale Lebewesen.
rikanischen Medien, die über sie berichteten, schrieben die Leis-
tung meistens den Athleten selber zu (Markus et al. 2006). »Ich
glaube, ich blieb einfach fokussiert«, erklärte der Schwimmer 5.4.4 Kultur und Kindererziehung
Misty Hyman, der eine Goldmedaille gewonnen hatte. »Es war
an der Zeit, der Welt zu zeigen, wozu ich fähig bin. Ich bin einfach Auch in den Erziehungspraktiken zeigen sich je nach Ort und
froh, dass ich diese Leistung erbringen konnte.« Die japanische Zeit unterschiedliche kulturelle Werte (. Abb. 5.26). Hätten Sie
Goldmedaillengewinnerin im Marathonlauf, Naoko Takahashi, lieber selbstständige Kinder, die unabhängig sind? Oder möch-
hatte eine andere Erklärung: »Ich habe den besten Trainer der ten Sie Kinder, die sich dem anpassen, was andere denken? Wenn
Welt, den besten Manager der Welt und alle diese Menschen, die Sie in einer westlichen Kultur leben, sind die Chancen dafür
mich unterstützen – alle diese Dinge kamen zusammen und wur- hoch, dass Sie sich für die erste Wahlmöglichkeit entscheiden.
den so zur Goldmedaille.« Selbst beim Beschreiben von Freun- Westliche Familien und Schulen bringen ihren Kindern Prin-
den tendieren Menschen aus dem Westen dazu, Adjektive, die zipien bei wie: »Du bist für dich selbst verantwortlich. Folge
Eigenschaften beschreiben, zu verwenden (»sie ist hilfsbereit«), deinem Gewissen. Sei ehrlich zu dir selbst. Entdecke deine Fähig-
während Ostasiaten eher Verben, die ein Verhalten in seinem keiten. Denk an deine persönlichen Bedürfnisse.« Noch vor
Kontext beschreiben, gebrauchen (»sie hilft ihren Freunden«) einem halben Jahrhundert legten die Eltern im Westen mehr
(Heine u. Buchtel 2009; Maass et al. 2006). Wert auf die Vermittlung von Eigenschaften wie Gehorsam,
Die Vorteile des Individualismus gehen jedoch möglicher- Respekt und Sensibilität gegenüber anderen (Alwin 1990; Remley
weise auf Kosten von mehr Einsamkeit, mehr Scheidungen, mehr 1988). Sie lehrten ihre Kinder: »Bleibt euren Traditionen treu«
Morden und mehr stressbedingten Krankheiten (Popenoe 1993; und »Seid loyal gegenüber eurem kulturellen Erbe und eurem
Triandis et al. 1988). Individualisten erwarten von einer Ehe auch Land. Habt Respekt vor euren Eltern und Vorgesetzten.« Kultu-
eher romantische Liebe und mehr persönliche Erfüllung; das ren können sich verändern.
5.4 · Kulturelle Einflüsse
163 5

. Abb. 5.26 Kulturen unterscheiden sich. Überall auf der Welt lieben Eltern ihre Kinder, aber sie erziehen und beschützen sie unterschiedlich, abhängig von
der sie umgebenden Kultur. Eltern, die ihre Kinder in New York aufziehen, behalten sie nahe bei sich. In Stromness, einer Stadt auf den schottischen Orkney-
Inseln, macht es das Vertrauen in die soziale Gemeinschaft möglich, Kinderwagen samt Kleinkindern vor einem Geschäft abzustellen. (© Steve Reehl)

Viele Asiaten und Afrikaner leben in Kulturen, die auf den


Aufbau emotionaler Nähe ausgerichtet sind. Anstatt ein eigenes
Schlafzimmer zu haben und einer Tagesmutter anvertraut zu
werden, schlafen die Kinder und Kleinkinder üblicherweise bei
ihren Müttern und verbringen ihre Tage in der Nähe eines Fa-
milienmitglieds (Morelli et al. 1992; Whiting u. Edwards 1988).
Diese Kulturen fördern einen starken Sinn für das Familien-
Selbst. Damit ist ein Gefühl gemeint, das sich darin äußert, dass
die Schande des Kindes auch die Schande der Familie ist. Ande-
rerseits bringt das, was der Familie zur Ehre gereicht, auch dem
Selbst des Kindes Ehre ein.
Kinder haben sich unabhängig von Ort und Zeit unter den
verschiedensten Erziehungssystemen gut entwickelt. Britische
Eltern aus der Oberschicht überließen die alltägliche Erziehung . Abb. 5.27 Elterliches Engagement fördert die Entwicklung. In jeder
Kultur helfen Eltern ihren Kindern, die Welt zu entdecken. Allerdings unter-
traditionell einem Kindermädchen und schickten ihre Kinder
scheiden sich die Kulturen darin, was sie als wichtig erachten. Im Vergleich
schon mit etwa 10 Jahren auf ein Internat. Diese Kinder sollten zum nordamerikanischen und europäischen Kulturkreis liegt in asiatischen
sich zu den tragenden Säulen der britischen Gesellschaft ent- Kulturen die Betonung in stärkerem Maße auf Schule und harter Arbeit. Dies
wickeln, wie es ja auch bei ihren Eltern und ihren Mitschülern im mag als Erklärung dafür dienen, dass japanische und taiwanesische Kinder
Internat der Fall war. In der afrikanischen Gesellschaft der Gusii bessere Werte in mathematischen Leistungstests erzielen. (© photos.com)

wachsen die Babys ziemlich frei auf, verbringen aber die meiste
Zeit des Tages auf dem Rücken ihrer Mutter. Somit haben sie viel
Körperkontakt, aber wenig direkte und sprachliche Interaktion. von abhalten, einfach zu unterstellen, dass die Kindererziehung in
Wenn die Mutter wieder schwanger wird, wird das Kleinkind ent- unserer Kultur die einzig erfolgversprechende ist (. Abb. 5.27).
wöhnt und jemand anderem, oft einem älteren Geschwister, über-
geben. Angehörige westlicher Kulturen fragen sich vielleicht,
welche negativen Effekte diese mangelnde verbale Interaktion 5.4.5 Gruppenübergreifende Ähnlichkeiten
haben könnte. Auf der anderen Seite würden sich die afrikanischen in der Entwicklung
Gusii über westliche Mütter wundern, die ihre Babys im Kinder-
wagen umherschieben und sie in Laufställchen setzen (Small Da wir uns so sehr auf unsere Unterschiede konzentrieren,
1997). Eine solche Vielfalt bei der Kindererziehung sollte uns da- vernachlässigen wir häufig die Ähnlichkeiten, die durch unsere
164 Kapitel 5 · Anlage, Umwelt und die Vielfalt der Menschen

gemeinsame biologische Ausstattung bereits im Voraus angelegt den Prinzipien des menschlichen Einflusses wider (7 Kap. 15).
sind. Eine Studie, an welcher Personen aus 49 Ländern teilnah- Interkulturelle Forschung kann uns helfen, sowohl unsere kul-
men, zeigte, dass die Länderunterschiede bei Persönlichkeits- turelle Vielfalt als auch unsere menschliche Ähnlichkeit zu
eigenschaften wie Gewissenhaftigkeit und Extraversion kleiner schätzen.
waren, als dies erwartet wurde (Terracciano et al. 2006). Länder-
stereotype übertreiben Unterschiede, die zwar vorhanden, aber
» Sollte jemand herausfinden, warum die Männer in der Bond
Street schwarze Hüte tragen, dann würde er im gleichen
eher bescheiden sind: Australier sehen sich selber als kontakt-
Moment den Grund dafür entdecken, dass die Männer in
freudig, Deutschschweizer empfinden sich als gewissenhaft und
Timbuktu rote Federn tragen.
Kanadier halten sich für liebenswürdig. Im Vergleich zu den
G. K. Chesterton, Heretics, 1905
Unterschieden zwischen Personen innerhalb einer Gruppe sind
5 die Unterschiede zwischen Gruppen jedoch nur gering. Ganz Prüfen Sie Ihr Wissen
unabhängig von unserer Kultur sind wir Menschen uns eher ähn-
lich als verschieden. Wir unterliegen alle demselben Lebenszyk- 5 Wie unterscheiden sich individualistische und kollek-
lus. Wir alle reden ähnlich mit unseren Kindern, reagieren ähn- tivistische Kulturen?
lich auf ihr Brabbeln und ihr Schreien (Bornstein et al. 1992a, b).
Überall auf der Welt entwickeln die Kinder von warmherzigen
und helfenden Eltern ein besseres Selbstbild und verhalten sich
weniger feindselig als die Kinder von Eltern, die häufig mit Be- 5.5 Entwicklung des sozialen Geschlechts
strafung arbeiten und sich ablehnend verhalten (Rohner 1986;
Scott et al. 1991). Wie wir in 7 Kap. 10 über Denken und Sprache erfahren werden,
Sogar Unterschiede innerhalb einer Kultur, die manchmal haben wir Menschen einen unwiderstehlichen Drang, unsere
auf die Zugehörigkeit zu einer Ethnie attribuiert werden, können Welt in einfachen Kategorien zu ordnen. Unter den Arten, wie
oft eine Folge der Interaktion zwischen unserer Biologie und wir Personen (und uns selbst) klassifizieren – als groß oder
unserer Kultur sein. David Rowe und seine Kollegen (1994, 1995) klein, schlank oder fett, klug oder dumm –, sticht eine besonders
illustrieren dies durch folgende Analogie: Schwarze Männer hervor: Bei der Geburt wollen die Menschen insbesondere eins
haben gewöhnlich einen höheren Blutdruck als weiße Männer. wissen: »Junge oder Mädchen?« Um diese Frage zu beantworten,
Nehmen Sie an, dass zum einen in beiden Gruppen der Salz- geben uns Krankenhäuser und Eltern häufig einen Hinweis
konsum mit dem Blutdruck korreliert und zum anderen der durch rosa oder blaue Babykleidung.
Salzkonsum bei schwarzen Männern höher ist als bei weißen Unser biologisches Geschlecht (»sex«) trägt dazu bei, un-
Männern. Ein Unterschied zwischen den beiden ethnischen ser soziales Geschlecht (»gender«) zu definieren, also die cha-
Gruppen in Bezug auf den Blutdruck wäre dann – zumindest rakteristischen Merkmale, von denen man annimmt, dass sie
teilweise – eigentlich ein Ernährungsunterschied – eine kulturelle weiblich oder männlich sind. Wenn man sich Gedanken darü-
Vorliebe für bestimmte Nahrungsmittel. ber macht, wie Anlage und Umwelt zusammen zu sozialer
Rowe et al. sehen hierzu auch eine Parallele bei psychologi- Vielfalt führen, ist das soziale Geschlecht ein gutes Beispiel
schen Forschungsergebnissen: Obwohl sich spanischsprachige, dafür.
asiatische, schwarze und weiße Amerikaner sowie amerikanische Zuvor haben wir uns mit einem bedeutsamen Unterschied
Ureinwohner in den Schulleistungen und in der Kriminalität im Hinblick auf das soziale Geschlecht beschäftigt: Geschlechts-
unterscheiden, sind diese Unterschiede im Grunde kaum der unterschiede bei sexuellen Interessen und Verhaltensweisen.
Rede wert. Aufgrund der Einflüsse von Familienstruktur, Lassen Sie uns noch einmal das zentrale Thema dieses Kapitels
Freunden und Altersgenossen und aufgrund der elterlichen durchgehen – nämlich dass bei uns Anlage und Umwelt in ihrem
Erziehung kann man das Verhalten für eine bestimmte ethnische Zusammenspiel zu Unterschieden und Gemeinsamkeiten führen
Gruppe genauso gut oder schlecht vorhersagen wie für alle ande- –, indem wir andere Variationen in Bezug auf das soziale Ge-
ren Gruppen. schlecht behandeln.
Deshalb mögen wir uns als Angehörige verschiedener eth-
nischer und kultureller Gruppen zwar an der Oberfläche unter- Rosa und blaue Babykleidung ist ein weiteres Beispiel davon,
scheiden, doch scheinen wir als Angehörige einer Spezies wie sich kulturelle Normen unterscheiden und verändern.
denselben psychologischen Zwängen unterworfen zu sein. Zwar »Die allgemein akzeptierte Regel ist rosa für Jungen und blau
unterscheiden sich unsere Sprachen – und doch beruhen sie für Mädchen«, verkündete die Zeitschrift Ladies Home Journal
auf universellen grammatikalischen Prinzipien ( 7 Kap. 10). im Juni 1918 (Frassanito u. Pettorini 2008). »Der Grund dafür ist,
Unser Geschmack ist unterschiedlich, dennoch liegt ihm als dass rosa als entschlossenere und stärkere Farbe angemessener
gemeinsames Prinzip der Hunger zugrunde (7 Kap. 12). Unser ist für Jungen, während blau, eine zartere und anmutigere
Sozialverhalten variiert, doch spiegelt es die überall wirken- Farbe, hübscher ist an Mädchen.«
5.5 · Entwicklung des sozialen Geschlechts
165 5
5.5.1 Geschlechtsbezogene Ähnlichkeiten
und Unterschiede

? 5.12 Welche biologischen und psychologischen Ähnlichkeiten


sowie Unterschiede gibt es zwischen Männern und Frauen?

In den meisten Aspekten sind sich Männer und Frauen, die ja


mit ähnlichen adaptiven Herausforderungen konfrontiert waren,
sehr ähnlich. Wenn Sie mir sagen, dass Sie eine Frau oder ein
Mann sind, geben Sie mir praktisch keine Hinweise auf Ihren
Wortschatz, Ihre Intelligenz, Ihre Zufriedenheit oder auf die
Mechanismen, mit deren Hilfe Sie sehen, hören, lernen und
sich erinnern. Das »andere« Geschlecht ist in Wahrheit ein
sehr ähnliches Geschlecht. Und ist das wirklich so eine Über-
raschung? 45 von den 46 Chromosomen sind für beide Ge-
. Abb. 5.28 Viel Aufhebens um kleine Unterschiede im Selbstwertge-
schlechter gleich. fühl. Diese zwei Normalverteilungen unterscheiden sich in der ungefähren
Aber es gibt einige Unterschiede, und diese rufen Aufmerk- Größe (0,21 Standardabweichung) des Geschlechtsunterschieds im Selbst-
samkeit hervor – und regten zu etwa 18.000 Studien an (Ellis u. wertgefühl, gemittelt über alle vorhandenen Stichproben (Hyde 2005;
Boyce 2008). Obwohl Männer tendenziell zufriedener sind mit Copyright © 2005 by the American Psychological Association. Adapted with
permission. The use of APA information does not imply endorsement
ihrem Aussehen und Frauen mit ihrem Verhalten und ihren by APA). Zudem zeigen solche Vergleiche nur die Unterschiede zwischen
moralischen Werten (Gentile et al. 2009), gibt es kaum einen der durchschnittlichen Frau und dem durchschnittlichen Mann. Die Streuung
Geschlechtsunterschied im allgemeinen Selbstwertgefühl innerhalb der Gruppe der Frauen übertrifft diesen Unterschied in hohem
(. Abb. 5.28) Andere Unterschiede zwischen Männern und Maße, genauso die Streuung innerhalb der Gruppe der Männer

Frauen sind offensichtlicher. Im Vergleich zum Durchschnitts-


mann ist die Durchschnittsfrau mit 70% mehr Fett ausgestattet, sich aggressiver zu verhalten, z. B. etwas zu verabreichen, was sie
verfügt über 40% weniger Muskeln und ist etwa 13 cm kleiner. als schmerzvollere elektrische Stromstöße ansehen (Card et al.
Auch kommt sie 2 Jahre früher in die Pubertät und wird ihr 2008). Der Geschlechtsunterschied in Bezug auf Aggression
männliches Gegenstück um 5 Jahre überleben. Im gesamten Buch betrifft eher direkte körperliche Aggression (z. B. Schlagen) als
werden wir es immer wieder mit Geschlechtsunterschieden zu verbale, relationale Aggression (z. B. jemanden ausschließen)
tun haben. Frauen können unmittelbar nach dem Orgasmus und zeigt sich auch im Alltag in unterschiedlichen Altersgruppen
erneut sexuell erregt sein, nehmen schwächere Gerüche wahr, und Kulturen, insbesondere in Kulturen mit ungleichen Ge-
bringen Emotionen freier zum Ausdruck und ihnen wird häufiger schlechterrollen (Archer 2009). In Beziehungen sind gewalt-
Hilfe angeboten. Sie sind auch doppelt so anfällig für Depres- same Handlungen (wie eine Ohrfeige und das Nachwerfen von
sionen und Ängste und haben ein 10-mal höheres Risiko für Ess- Objekten) oft gegenseitig (Straus 2008). Die Häufigkeiten von
störungen. Bei Männern dagegen ist es 4-mal so wahrscheinlich, Gewaltverbrechen veranschaulichen den Unterschied stärker.
dass sie Selbstmord begehen oder unter Alkoholismus leiden; es Beispielsweise werden Männer in den USA 9-mal so häufig und
ist weitaus wahrscheinlicher, dass sie die Diagnose Autismus, Far- in Kanada 8-mal so häufig wegen Mordes festgenommen wie
benblindheit, Hyperaktivität (bei Kindern) und Antisoziale Per- Frauen (FBI 2009; Statistics Canada 2010).
sönlichkeitsstörung (bei Erwachsenen) bekommen. Entscheiden
Aggression (»aggression«) – jedes körperliche oder verbale Verhalten, das
Sie sich für ein Geschlecht, dann entscheiden Sie sich auch für mit der Absicht ausgeführt wird, jemanden zu verletzen.
dessen Anfälligkeit für diese Störungen bzw. Krankheiten.
Welchen Einfluss hat die Biologie auf das soziale Geschlecht, Überall auf der Welt sind Jagen, Kämpfen und Kriegsführung
und welcher Anteil an den Unterschieden ist sozial bedingt – vorwiegend Aktivitäten von Männern (Wood u. Eagly 2002,
durch Geschlechtsrollen, die die Kultur uns zuweist, und durch 2007). Männer bringen auch eher ihre Unterstützung für einen
die Art und Weise, wie wir als Kinder sozialisiert werden? Um Krieg zum Ausdruck. Der Irakkrieg wurde beispielsweise kons-
diese Fragen zu beantworten, gehen wir nun näher auf einige tant von mehr amerikanischen Männern als amerikanischen
durchschnittliche Geschlechtsunterschiede bei der Aggression, Frauen unterstützt (Newport et al. 2007; . Abb. 5.29).
der sozialen Macht und der sozialen Einbindung ein.
Soziales Geschlecht und soziale Macht
Soziales Geschlecht und Aggression Überall auf der Welt, von Nigeria bis Neuseeland, nehmen
In Umfragen geben mehr Männer als Frauen zu, Aggressionen Menschen Männer als dominanter wahr, als kräftiger und unab-
zu haben, und Experimente bestätigen, dass Männer dazu neigen, hängiger, Frauen hingegen als rücksichtsvoller, emotional unter-
166 Kapitel 5 · Anlage, Umwelt und die Vielfalt der Menschen

Derartige Verhaltensweisen tragen dazu bei, die Ungleich-


heiten sozialer Macht aufrechtzuerhalten. In den traditionell
männlichen Beschäftigungsbereichen sind die Gehälter höher.
Wenn Politiker gewählt werden, handelt es sich gewöhnlich um
Männer, die im Jahre 2011 81% der Sitze in den Parlamenten der
Welt einnahmen (IPU 2011). Wenn Frauen als machthungrig
wahrgenommen werden (und damit die Geschlechternormen
verletzen), erleiden sie stärker als Männer einen Rückgang im
Wähleranteil (Okimoto u. Brescoll 2010). Bei Männern wird
Machthunger eher erwartet und akzeptiert.
5
2011 reichte der Anteil an weiblichen Repräsentantinnen
in nationalen Parlamenten von 11% in den arabischen Staaten
bis 42% in Skandinavien (IPU 2011).

Soziales Geschlecht und soziale Einbindung


Geschlechtsunterschiede in der sozialen Einbindung zeigen
sich schon früh, nämlich beim Spiel von Kindern. Jungen spielen
typischerweise in großen Gruppen mit einem Fokus auf Akti-
vitäten und weniger auf Gesprächen im kleinen Kreis (Rose u.
Rudolph 2006). Mädchen spielen gewöhnlich in kleineren
Gruppen, oft nur mit einer Freundin. Ihr Spiel ist weniger wettbe-
werbsorientiert als bei Jungen und imitiert eher soziale Be-
ziehungen. Sowohl beim Spiel als auch in anderen Situationen sind
Mädchen offener und reagieren stärker auf Rückmeldungen als
Jungen (Maccoby 1990; Roberts 1991). Wenn man schwierige Fra-
gen stellt (»Haben Sie irgendeine Vorstellung davon, warum der
. Abb. 5.29 Geschlechtsunterschiede in der Aggression. Auf der ganzen Himmel blau ist?« oder »Haben Sie irgendeine Vorstellung davon,
Welt sind Kämpfe, Gewaltverbrechen und Dinge in die Luft jagen Taten, warum kleine Menschen länger leben?«), wagen Männer eher als
die hauptsächlich von Männern ausgeführt werden. Deshalb waren viele
so überrascht zu hören, dass weibliche Selbstmordattentäter für den Bom-
Frauen eine Antwort, statt zuzugeben, dass sie es nicht wissen. Hier
benangriff in der Moskauer U-Bahn im Jahr 2010 verantwortlich waren, bei handelt es sich um ein Phänomen, das Giuliano et al. (1998a,b) als
welchem Dutzende von Menschen getötet wurden. (© Vladimir Fedorenko / das männliche Antwortsyndrom bezeichnen.
picture alliance / dpa)
Frage: Warum braucht man 200 Millionen Samenzellen, um eine
Eizelle zu befruchten?
stützender und geselliger (Williams u. Best 1990). Und tatsäch-
Antwort: Weil sie nicht anhalten, um nach dem Weg zu fragen.
lich sind Männer in den meisten Gesellschaften sozial dominant
und sie legen mehr Wert auf Macht und Leistung (Schwartz u. Frauen sind in stärkerem Maße interdependent als Männer. Als
Rubel-Lifschitz 2009). Wenn Gruppen gebildet werden, sei es Jugendliche verbringen Mädchen mehr Zeit mit Freundinnen
nun bei Geschworenengerichten oder bei Firmen, so werden und Freunden und weniger Zeit alleine (Wong u. Csikszentmihalyi
sie gewöhnlich von Männern geleitet (Colarelli et al. 2006). In 1991). In der späten Jugend verbringen sie mehr Zeit in sozialen
leitenden Positionen neigen Männer stärker dazu, direktiv, ja Netzwerken im Internet (Pryor et al. 2007, 2011). Als Erwachsene
sogar autokratisch zu sein; Frauen neigen dazu, demokratischer haben Frauen mehr Vergnügen daran, von Angesicht zu An-
zu sein und die Mitwirkung von Mitarbeitern an Entscheidungen gesicht miteinander zu reden und nutzen Gespräche eher dazu,
zu fördern (Eagly u. Carli 2007; van Engen u. Willemsen 2004). Beziehungen zu erkunden. Männer haben Spaß an Aktivitäten,
Wenn Menschen miteinander interagieren, äußern Männer eher die sie Seite an Seite machen und nutzen Gespräche eher dazu, um
Meinungen, Frauen dagegen bringen Unterstützung zum Aus- Lösungen mitzuteilen (Tannen 1990; Wright 1989). Die Unter-
druck (Aries 1987; Wood 1987). Diese Unterschiede übertragen schiede in der Kommunikation zeigen sich sogar in E-Mails von
sich auf das alltägliche Verhalten, wo sich Männer eher so ver- Studenten: So konnten die Teilnehmer einer Studie in Neuseeland
halten, wie es mächtige Menschen oft tun: selbstbewusst reden, in zwei Dritteln der Fälle das richtige Geschlecht des Absenders
unterbrechen, Berührungen initiieren, weniger lächeln und ent- erraten (Thomson u. Murachver 2001).
schuldigen, starren (Leaper u. Ayres 2007; Major et al. 1990; Diese Geschlechtsunterschiede spiegeln sich manchmal auch
Schumann u. Ross 2010). im Kommunikationsverhalten per Telefon wider. In Amerika
5.5 · Entwicklung des sozialen Geschlechts
167 5

. Abb. 5.30a,b Konkurrenz oder Miteinander? Zu Geschlechtsunterschieden bezogen darauf, wie wir mit anderen interagieren, kommt es schon in
einem sehr frühen Alter. (a, b: © photos.com)

sendet und bekommt ein durchschnittliches Mädchen im Teen- und Verletzungen sprechen können, wenden sich gewöhnlich
ageralter pro Tag 80 Kurznachrichten, ein durchschnittlicher sowohl Männer als auch Frauen an Frauen. Und sowohl Männer
Junge hingegen 30 (Lenhart 2010). In Frankreich führen Frauen als auch Frauen berichten darüber, dass ihre Freundschaft mit
63% der Telefongespräche; und wenn sie mit einer Frau sprechen, Frauen intimer, vergnüglicher und hilfreicher ist (Rubin 1985;
dann bleiben sie im Durchschnitt länger (7,2 Minuten) am Tele- Sapadin 1988).
fon, als dies Männer machen, wenn sie mit anderen Männern Bindungen und Gefühle der Unterstützung sind bei Frauen
sprechen (4,6 Minuten) (Smoreda u. Licoppe 2000). Bestätigen stärker als bei Männern (Rossi u. Rossi 1993). Die Verbindungen
diese Befunde die Annahme, dass Frauen einfach redseliger sind zwischen den Frauen – als Mütter, Töchter, Schwestern, Tanten
als Männer? Als Forscher (Mehl et al. 2007) bei 396 Studenten und Großmütter – sind das gemeinsame Band der Familie. Als
zählten, wie viele Wörter sie an einem durchschnittlichen Tag Freundinnen reden Frauen häufiger und offener miteinander
sprachen, fanden sie heraus, dass die Redseligkeit stark variierte (Berndt 1992; Dindia u. Allen 1992). »Vielleicht aufgrund des
– 45.000 Wörter war die Differenz zwischen dem redseligsten (bei den Frauen) größeren Bedürfnisses nach Intimität«, be-
und dem schweigsamsten Teilnehmer. (Wie viele Wörter sagen merken Joyce Benenson und Kollegen (2009), ist es bei Frauen
Sie ihrer Schätzung nach pro Tag?) Im Gegensatz zum Stereotyp doppelt so wahrscheinlich wie bei Männern, dass sie im ersten
der plappernden Frau sprachen sowohl Männer als auch Frauen Jahr am College oder an der Universität ihre Mitbewohner wech-
im Durchschnitt etwa 16.000 Wörter pro Tag. seln. Und wenn Frauen Stress bewältigen, wenden sie sich wegen
Weltweit orientieren Frauen ihre Interessen und Talente eher Unterstützung häufiger als Männer an andere – sie gehen auf
an Menschen als an Dingen (Eagly 2009; Lippa 2006, 2006, 2008). andere zu und schließen Freundschaft (Tamres et al. 2002; Taylor
Die Antworten von mehr als einer halben Million Menschen 2002; . Abb. 5.30).
in verschiedenen Interessensfragebögen zeigen, dass »Männer Wie Menschen mit Macht allgemein betonen Männer gerne
lieber mit Dingen arbeiten und Frauen Arbeit mit Menschen Freiheit und Selbstsicherheit. Das kann zu einer Erklärung der
bevorzugen« (Su et al. 2009). Bei Studienbeginn zeigen Männer Tatsache beitragen, dass Männer aller Altersgruppen weltweit
mit 7-mal höherer Wahrscheinlichkeit Interesse an Computer- der Religion und dem Beten weniger Bedeutung beimessen
wissenschaften und sie steuern 87% der Wikipedia-Artikel als Frauen (Benson 1992; Stark 2002). Auch unter den Berufs-
bei (Cohen 2011; Pryor et al. 2011). Am Arbeitsplatz werden skeptikern nehmen Männer eine dominierende Stellung ein. Alle
Frauen weniger häufig von Geld und Status angetrieben und 10 Gewinner und 14 Zweitplatzierte auf der Liste der Zeitschrift
sind eher geneigt, ein reduziertes Arbeitspensum zu wählen. Zu Skeptical Inquirer, in der herausragende rationalistische Skep-
Hause beanspruchen sie mit 5-mal höherer Wahrscheinlichkeit tiker des 20. Jahrhunderts aufgeführt werden, waren Männer. In
die Hauptverantwortung für die Kinderbetreuung für sich einer Umfrage der Skeptics Society waren fast 80% der Antwor-
(Time 2009). Dass Frauen der Fürsorge ein so starkes Gewicht tenden Männer (Shermer 1999). In der Rubrik »Die Natur-
geben, bietet eine Erklärung für einen weiteren interessanten wissenschaft und das Paranormale« beim Verlag Prometheus
Befund: Obwohl 69% der Menschen angeben, dass sie eine enge Books (dem führenden Haus für Skeptizismus) zählte ich im
Beziehung zu ihrem Vater haben, empfinden 90% der Menschen Prospekt für 2010 98 Autoren und nur 4 Autorinnen. (Frauen
Nähe zu ihrer Mutter (Hugick 1989). Wenn sie Verständnis sind mit weitaus größerer Wahrscheinlichkeit Autoren von Bü-
haben wollen und eine Person brauchen, mit der sie über Sorgen chern über Spiritualität.)
168 Kapitel 5 · Anlage, Umwelt und die Vielfalt der Menschen

Geschlechtsunterschiede in der sozialen Einbindung, Macht schiede können genetisch (durch unsere unterschiedlichen
und anderen Eigenschaften erreichen ihren Höhepunkt in der Geschlechtschromosomen) sowie physiologisch (durch die Unter-
späten Jugend und im jungen Erwachsenenalter – und das sind schiede in der Konzentration von Sexualhormonen) beeinflusst
auch diejenigen Jahre, die am meisten untersucht werden (und werden.
in denen Verabredungen getroffen und Beziehungen einge- Männer und Frauen sind Variationen eines einzigen Wesens.
gangen werden). Als Teenager werden Mädchen immer weniger Nach der Zeugung gibt es sieben Wochen lang keine anato-
bestimmend und flirten mehr; Jungen werden dominanter und mischen Unterschiede zwischen den Geschlechtern. Dann erst
zeigen weniger Gefühle. Nach der Geburt des ersten Kindes beginnen die Gene, das biologische Geschlecht zu determinie-
werden Eltern (insbesondere die Frauen) traditioneller in ihren ren. Dies geschieht durch das 23. Chromosomenpaar, die Ge-
geschlechtsspezifischen Einstellungen und Verhaltensweisen schlechtschromosomen. Von der Mutter erhält man ein X-Chro-
5 (Ferriman et al. 2009; Katz-Wise et al. 2010). Doch im Alter von mosom. Vom Vater kommt das Einzige der 46 Chromosomen,
50 Jahren sind die mit der Elternschaft verbundenen Geschlechts- das nicht bei beiden Geschlechtern vorhanden ist. Dabei handelt
unterschiede abgeflaut. Männer können sich dann besser in es sich entweder um ein X-Chromosom, was die Entwicklung
andere Personen einfühlen und werden weniger dominant und eines Mädchens zur Folge hat, oder um ein Y-Chromosom, wo-
Frauen, insbesondere diejenigen, die außer Haus arbeiten, kön- durch ein Junge entsteht (. Abb. 5.31). Das Y-Chromosom ent-
nen sich besser behaupten und werden selbstbewusster (Kasen et hält ein einzelnes, alles entscheidendes Gen, das das Hoden-
al. 2006; Maccoby 1998). wachstum und die Produktion des wichtigsten männlichen Hor-
mons, des Testosterons, auslöst. Auch Frauen haben Testoste-
» In den vielen langen Jahren müssen sie einander ron, nur weniger. Durch die stärkere Testosteronproduktion bei
ähnlicher werden; der Mann muss mehr wie eine Frau männlichen Embryos kommt es wiederum ungefähr in der
werden, sie mehr wie ein Mann. 7. Schwangerschaftswoche dazu, dass die äußeren männlichen
Alfred Lord Tennyson, The Princess, 1847 Geschlechtsorgane ausgebildet werden.
X-Chromosom (»X chromosome«) – Geschlechtschromosom, das
sowohl bei Frauen als auch bei Männern vorhanden ist. Aus jeweils einem
5.5.2 Biologische Grundlagen des Geschlechts X-Chromosom von beiden Elternteilen entsteht ein Kind mit weiblichem
Geschlecht. Frauen haben also zwei X-Chromosomen, Männer dagegen nur
eines.
? 5.13 Wie wird das biologische Geschlecht festgelegt Y-Chromosom (»Y chromosome«) – Geschlechtschromosom, das
und welche Rolle spielen die Sexualhormone bei der Ent- nur bei Personen männlichen Geschlechts vorhanden ist. Wenn es mit
wicklung des sozialen Geschlechts? einem X-Chromosom der Mutter zusammentrifft, entsteht daraus
ein Kind mit männlichem Geschlecht.
Wodurch lässt sich die Vielfalt des sozialen Geschlechts erklä- Testosteron (»testosterone«) – wichtigstes der männlichen Sexual-
ren? Ist die Biologie unser Schicksal? Werden wir von unserer hormone. Es ist bei Frauen und Männern vorhanden, allerdings stimuliert
Kultur geformt? Nach der biopsychosozialen Auffassung ist die zusätzliche Menge an Testosteron bei Männern die Entwicklung
männlicher Sexualorgane im Fötus sowie das Wachstum der männlichen
beides richtig; und dies geht auf das Zusammenspiel zwischen Geschlechtsmerkmale während der Pubertät.
unseren biologischen Dispositionen, unseren Erfahrungen
während der Entwicklung und unserer momentanen Situation Eine weitere kritische Phase der sexuellen Differenzierung stel-
zurück (Eagly 2009). len der 4. und 5. Schwangerschaftsmonat dar, wenn die Sexual-
In Bereichen, in denen Männer und Frauen mit ähn- hormone das Gehirn des Fötus benetzen und die neuronale Ver-
lichen Herausforderungen konfrontiert waren (wie z. B. der drahtung beeinflussen. Unter dem Einfluss des bei Männern
Regulierung des Wärmehaushalts durch die Schweißproduk- stärker vorhandenen Testosterons und der weiblichen Ovarial-
tion, der Entwicklung des Geschmackssinns zum Erkennen hormone entwickeln sich unterschiedliche neuronale Mecha-
von Nahrung oder dem Entwickeln von Hornhaut an Stellen, nismen im Gehirn (Hines 2004; Udry 2000). Die Forschung
wo es viel Reibung gibt), sind sich die Geschlechter ähnlich. bestätigt, dass es während der Entwicklung in Hirnarealen mit
Sowohl Männer als auch Frauen setzen bei der Beschreibung sehr vielen Rezeptoren für Sexualhormone Unterschiede zwi-
des idealen Partners Persönlichkeitsmerkmale wie freund- schen männlichen und weiblichen Wesen gibt (Cahill 2005).
lich, aufrichtig und intelligent an die Spitze ihrer Prioritätenliste. Im Erwachsenenalter sind Teile des Frontallappens, eines
Evolutionspsychologen behaupten allerdings, dass Männer Gebiets, das etwas mit der Wortflüssigkeit zu tun hat, bei Frauen
in Bereichen, die mit dem Paarungsverhalten in Zusammen- dicker. Ein Teil des parietalen Kortex, eines Schlüsselareals für
hang stehen, ein typisch männliches Verhalten zeigen – die räumliche Wahrnehmung, ist dagegen bei Männern dicker.
ganz gleich, ob es sich um Elefanten, See-Elefanten, einfache In anderen Studien wird darüber berichtet, dass es Geschlechts-
Leute vom Lande oder Vorsitzende eines großen Unterneh- unterschiede gibt im Hippocampus, in der Amygdala und beim
mens handelt (Geary 2010). Solche sozialen Geschlechtsunter- Volumen der grauen Substanz (der Nervenzellkörper) im Ge-
5.5 · Entwicklung des sozialen Geschlechts
169 5

. Abb. 5.31 (Courtesy of Nick Downes)

hirn, wenn man es mit der weißen Substanz (den Axonen und ren sportlichen Erfolg bei Jungen und Mädchen vorher (Auyeung
Dendriten) vergleicht. et al. 2009; Kolata 2010).
Was passiert Ihrer Meinung nach, wenn Drüsenfehlfunk-
tionen oder Hormoninjektionen einen weiblichen Embryo ei-
» Gene sind für sich genommen wie Samen,
die man auf dem Bürgersteig fallen lässt: nicht imstande,
ner übermäßigen Testosteronkonzentration aussetzen? Diese
irgendetwas hervorzubringen.
genetisch weiblichen Kinder werden mit männlich aussehenden
Der Primatologe Frans B. M. de Waal (1999)
Genitalien geboren, die entweder akzeptiert oder chirurgisch
umgewandelt werden können. Solche Mädchen tendieren bis Wenn dem so ist, können wir dann daraus schließen, dass
zur Pubertät dazu, sich aggressiver und jungenhafter zu verhal- biologische Geschlechtsunterschiede auch zu Unterschieden
ten als die meisten anderen Mädchen und sich auch so anzu- im Geschlechtsverhalten führen? Das Bild ist komplexer, dies
ziehen und zu spielen, dass es eher der Art eines Jungen als der sehen wir, wenn wir die sozialen Einflüsse näher betrachten.
eines Mädchens entspricht (Berenbaum u. Hines 1992; Ehr- Mädchen, die im Mutterleib einer übermäßigen Testosteron-
hardt 1987). Haben sie die Möglichkeit, zwischen verschiedenen konzentration ausgesetzt waren, sehen oft maskulin aus, und
Spielsachen auszuwählen, so spielen sie (wie Jungen) lieber sie werden als »anders« wahrgenommen, deshalb werden sie
mit Autos und Spielzeugwaffen als mit Puppen und Zeichen- vielleicht auch eher wie Jungen behandelt. Eine frühe Gabe
stiften. Doch kehren die Hormone ihre Geschlechtsidentität von Sexualhormonen wirkt sich demnach unmittelbar auf un-
nicht um; sie sehen sich selbst als Mädchen, nicht als Jungen ser biologisches Aussehen aus, wirkt zugleich jedoch auch in-
(Berenbaum u. Bailey 2003). Einige davon entwickeln sich zu direkt durch den Einfluss des Aussehens auf prägende soziale
lesbischen Frauen, doch die meisten entwickeln sich – wie Erfahrungen.
nahezu alle Mädchen mit traditionell weiblichen Interessen – Dies bedeutet jedoch nicht, dass die Biologie keinen Einfluss
heterosexuell. auf die Entwicklung des sozialen Geschlechts hat. Betrachten
Wie kann man das jungenhafte Verhalten dieser Mädchen Sie die Studien über Personen, die von den Genen her Männer
erklären? Kann es auf die pränatale Hormongabe zurückgeführt waren, die aber trotz eines normalen Sexualhormonspiegels und
werden? Tierstudien geben Hinweise auf einige Antworten. trotz Hoden ohne oder mit einem sehr kleinen Penis geboren
Experimente an vielen Arten, von Ratten bis Affen, bestätigen, wurden. Bis vor kurzem rieten Kinderärzte und andere medizi-
dass weibliche Embryos, denen man männliche Hormone gab, nische Experten in solchen Fällen jeweils zu einem chirurgischen
später ein typisch maskulines Aussehen hatten und sich auch Eingriff, um für diese Kinder eine weibliche Identität zu schaffen.
aggressiver verhielten (Hines u. Green 1991). Genauso verhält es In einer Studie mit 14 Jungen, die zu einem frühen Zeitpunkt
sich bei den Menschen. Ein relativ hoher Testosteronspiegel im einer Operation zur Geschlechtsumwandlung unterzogen wur-
Fruchtwasser sagt mehr typisch jungenhaftes Spielen und größe- den und als Mädchen aufwuchsen, erklärten sich 6 später zu
170 Kapitel 5 · Anlage, Umwelt und die Vielfalt der Menschen

Männern, 5 lebten als Frauen, und bei 3 Personen war die Ge- Familien mit zwei Elternteilen blieb in ungefähr 90% der Zeit die
schlechtsidentität unklar (Reiner u. Gearhart 2004). Mutter mit einem kranken Kind zu Hause, organisierte einen
Bei einem anderen Fall folgten die Eltern eines Jungen, der Babysitter oder rief den Arzt an (Maccoby 1995). Selbst heute
seinen Penis bei einer misslungenen Beschneidung verlor, dem noch verbringen berufstätige Männer in den USA etwa 1½ Stun-
Rat eines Psychiaters und zogen ihn als Mädchen auf, nicht als den mehr pro Tag bei der Arbeit als berufstätige Frauen sowie
beschädigten Jungen. Aber »Brenda« Reimer war nicht wie die etwa 1 Stunde weniger mit Aktivitäten im Haushalt und bei der
anderen Mädchen. »Sie« mochte Puppen nicht. Sie zerriss beim Kinderbetreuung (Amato et al. 2007; Bureau of Labor Statistics
wild herumtollenden Spielen ihre Kleider. In der Pubertät wollte 2004; Fisher et al. 2006). In Australien verbringen Frauen 54%
sie keine Jungen küssen. Am Ende erklärten Brendas Eltern, mehr von ihrer Zeit mit unbezahlter Hausarbeit und 71% mehr
was geschehen war. Daraufhin legte Brenda sofort ihre weibliche Zeit mit der Kindererziehung als Männer (Trewin 2001).
5 Identität ab, ließ sich die Haare kurz schneiden und nahm
Rolle (»role«) – Reihe von Erwartungen (Normen) an eine soziale Position.
einen Männernamen an, David. Er heiratete schließlich eine Sie definiert, wie sich jemand in dieser Position verhalten sollte.
Frau, wurde Stiefvater und brachte sich traurigerweise später um Geschlechtsrolle (»gender role«) – Reihe von Erwartungen an das Verhalten
(Colapinto 2000). von Männern und Frauen.
Geschlechtsumwandlungen werden für genetische Männer
in Fällen wie diesem nicht mehr empfohlen. »Das biologi- Geschlechtsrollen können wie ein Gleitmittel in sozialen Bezie-
sche Geschlecht ist wichtig«, schließt die National Academy of hungen wirken, weil man sich lästige Diskussionen darüber
Sciences (2001). Zusammen mit der Umwelt führen geschlechts- spart, wer das Auto zur Reparatur bringen soll und wer den Kin-
bezogene Gene und die damit zusammenhängenden physiolo- dern das Frühstück zubereitet. Oft sind diese schnellen und
gischen Prozesse »zu Verhaltensunterschieden und zu kogni- einfachen Vermutungen jedoch auch mit Nachteilen verbunden:
tiven Unterschieden zwischen Männern und Frauen«. Anlage Es kann beängstigend sein, von solchen Konventionen abzu-
und Umwelt arbeiten zusammen. weichen.
Sind Geschlechtsrollen Ausdruck dessen, was für Männer
und Frauen von der Biologie her natürlich ist? Oder werden sie
5.5.3 Soziale Einflüsse auf das Geschlecht durch Kulturen konstruiert? Die Vielfalt der Geschlechtsrollen
über die Kulturen und über die Zeit hinweg deutet darauf hin,
dass die Kultur hier einen starken Einfluss hat. In nomadischen
? 5.14 Wie beeinflussen Geschlechtsrollen und Geschlechts-
Sammelgesellschaften gibt es kaum eine geschlechtsspezifische
typisierung die Entwicklung des sozialen Geschlechts?
Arbeitsteilung. Jungen und Mädchen wachsen nahezu gleich auf.
Das Geschlecht unterliegt nicht nur dem biologischen Einfluss, In Ackerbaugesellschaften hingegen arbeiten die Frauen auf den
es ist auch ein soziales Konstrukt. Die Kultur akzentuiert, was die Feldern nahe beim Haus; Männer ziehen oft ungebunden von
Biologie initiiert hat. einem Ort zum anderen und hüten die Rinder oder Schafe. Der-
artige Gesellschaften sozialisieren ihre Kinder normalerweise
Geschlechtsrollen in deutlicher voneinander unterschiedenen Geschlechtsrollen
Die Geschlechtszugehörigkeit ist wichtig. Aber aus einer biopsy- (Segall et al. 1990; Van Leeuwen 1978).
chosozialen Perspektive sind auch die Kultur und die unmittel-
bare Situation wichtig. Wie bereits erwähnt ist Kultur alles, was » Je mehr ich wie eine Frau behandelt wurde,
einer Gruppe gemeinsam ist und was über die Generationen desto mehr Frau wurde ich.
hinweg weitergegeben wird. Die formende Kraft der Kultur kann Jan Morris, Transsexuelle, die als Mann geboren wurde
man an den sozialen Erwartungen erkennen, von denen das Ver-
halten von Männern und Frauen geleitet wird. Doch innerhalb der Industrieländer variieren die Geschlechts-
Wie im Theater versteht man in der Psychologie unter einer rollen und Einstellungen beträchtlich. Australien und die skan-
Rolle eine Reihe vorgeschriebener Handlungen bzw. Verhaltens- dinavischen Länder weisen den höchsten Grad an Geschlechter-
weisen, die wir von denen erwarten, die eine bestimmte soziale gleichheit auf, die nordafrikanischen Länder sowie die Staaten im
Position einnehmen. Geschlechtsrollen sind Erwartungen zu Nahen Osten den geringsten (Social Watch 2006). Und überlegen
der Art und Weise, wie sich Frauen und Männer in einer be- Sie sich dies: Würden Sie der folgenden Aussage zustimmen:
stimmten Kultur verhalten sollen. Traditionell wurde von ame- »Wenn es wenige Arbeitsstellen gibt, sollten Männer ein größeres
rikanischen Männern erwartet, dass sie die Initiative für ein Recht auf eine Arbeit haben«? In Amerika, Großbritannien und
Rendezvous ergreifen, das Auto fahren und die Bankgeschäfte Spanien stimmt etwa einer von acht Erwachsenen zu, in Nigeria,
tätigen; Frauen dagegen sorgten dafür, dass es zu Hause schön Pakistan und Indien sind es etwa vier von fünf Erwachsenen
war, kümmerten sich um die Kinder, kauften Kleidung für sie (Pew 2010). Wir gehören alle derselben Spezies an – aber Mensch,
ein und suchten die Hochzeitsgeschenke aus. In amerikanischen wie sind wir doch verschieden!
5.5 · Entwicklung des sozialen Geschlechts
171 5
Die Vorstellungen zur Rolle der Geschlechter variieren auch
über die Zeit hinweg. Zu Beginn des 20. Jahrhunderts gewährte
nur ein Land den Frauen das Wahlrecht, nämlich Neuseeland
(Briscoe 1997). In den späten 1960er und frühen 1970er Jahren
nahm die Anzahl von amerikanischen Collegestudentinnen, die
sich ein Leben als Vollzeithausfrauen erhofften, rapide ab – der
Wind der Zeit trug die Hausfrauenschürze davon. Heute machen
Frauen fast 50% der amerikanischen Angestellten sowie 54% der
Collegeabgänger aus – vier Jahrzehnte davor waren es noch 36%
(Fry u. Cohn 2010). In Deutschland lag der Anteil weiblicher
Studierender 1960 sowohl in der Bundesrepublik als auch in der
DDR bei etwa einem Viertel: 28 bzw. 25% (Geißler 2002); inzwi-
schen hat sich der Frauenanteil mit 47% fast verdoppelt (Statisti-
sches Bundesamt 2013). In der heutigen postindustriellen Wirt-
schaft sind diejenigen Berufe, die die größten Wachstumserwar-
tungen für die kommenden Jahre haben auch die, von denen sich
Frauen am stärksten angezogen fühlen. Es sind Tätigkeiten, die
weder Größe noch Kraft benötigen, sondern soziale Intelligenz,
offene Kommunikation und die Fähigkeit, still zu sitzen und sich
auf etwas zu konzentrieren (Rosin 2010). Hier hat sich in einem
kurzen Kapitel der menschlichen Geschichte sehr viel bei den
Geschlechtern verändert (. Abb. 5.32).

Geschlecht und Kindererziehung


In der Theorie des sozialen Lernens wird angenommen, dass
Kinder Geschlechtsidentität (das Gefühl, Mann oder Frau zu
sein) lernen, indem sie geschlechtstypisches Verhalten bei ande-
ren beobachten und dies nachahmen und dafür belohnt bzw.
bestraft werden. »Nicole, du bist so eine gute Puppenmutter«;
. Abb. 5.32 Der geschlechtsspezifische Tsunami. In Sri Lanka, Indonesien
»Große Jungen weinen nicht, Alex«. Einige Kritiker erheben Ein- und Indien trägt die Arbeitsteilung zwischen den Geschlechtern dazu bei,
wände dagegen und sagen, dass Eltern als Rollenmodelle und zu erklären, warum beim Tsunami im Jahre 2004 mehr Frauen als Männer
ihre Belohnungen geschlechtstypischen Verhaltens nicht aus- starben. In einigen Dörfern waren 80% der Getöteten Frauen, die sich meist
reichend sind, um Geschlechtstypisierung zu erklären – also die im Haus befanden, während die Männer eher auf dem Meer beim Fischen
waren oder Arbeiten außerhalb des Haushalts verrichteten. (Oxfam 2005;
Tatsache, dass manche Kinder sich stärker als andere an tradi- © Saurabh Das / AP Photo / picture alliance)
tionell männliche oder weibliche Rollen anpassen (Lytton u.
Romney 1991). Tatsächlich ist es so, dass sich Kinder selbst dann,
wenn ihre Familien versuchen, geschlechtsspezifisches Verhalten um typische Jungen- oder Mädcheneigenschaften zu organi-
zu vermeiden, von selbst in »Jungen- und Mädchenwelten« sieren (Bem 1987, 1993). Das Geschlechtsschema ist dann
organisieren, die jeweils regeln, wie man sich als Junge oder vergleichbar mit einer Linse, durch die man auf seine Erfahrun-
Mädchen zu verhalten hat (. Abb. 5.33). gen blickt.
Theorie des sozialen Lernens (»social learning theory«) – besagt, dass wir Soziales Lernen formt die Geschlechtsschemata: Vor dem
Sozialverhalten lernen, indem wir etwas beobachten und nachahmen und Alter von 1 Jahr beginnen Kinder, männliche und weibliche
indem wir dafür belohnt oder bestraft werden. Stimmen und Gesichter zu unterscheiden (Martin et al. 2002).
Geschlechtsidentität (»gender identity«) – das Gefühl einer Person, Mann Nach dem Ende des 2. Lebensjahres zwingt die Sprache die
oder Frau zu sein.
Kinder, damit zu beginnen, ihre Welt auf der Grundlage von Ge-
Geschlechtstypisierung (»gender-typing«) – bezeichnet den Erwerb einer
schlechtsrollen zu organisieren. Es werden z. B. die Pronomina
traditionell männlichen oder weiblichen Rolle.
»er« und »sie« benutzt, viele Sprachen klassifizieren Objekte als
Kognition (das Denken) hat auch einen Einfluss. In Ihrer männlich (»der Zug«) oder weiblich (»die Gabel«).
Kindheit haben Sie sich – wie andere Kinder – bemüht, die Welt »Kleine Kinder sind Detektive in Fragen des sozialen Ge-
zu verstehen, Sie haben Konzepte oder Schemata entwickelt, schlechts«, erklären Carol Lynn Martin und Diane Ruble (2004).
die Ihnen geholfen haben, Sinn in Ihre Umwelt zu bringen. Haben sie erst einmal begriffen, dass es zwei Sorten von Men-
Eines davon war Ihr Geschlechtsschema, Ihre Rahmenstruktur, schen gibt – und dass sie selbst zu einer dieser Sorten gehören –,
172 Kapitel 5 · Anlage, Umwelt und die Vielfalt der Menschen

. Abb. 5.33 Das soziale Lernen des sozialen Geschlechts. Kinder beobachten und imitieren elterliche Modelle. (Photo courtesy of David Myers)

suchen sie nach Hinweisreizen für das Geschlecht und finden sie Prüfen Sie Ihr Wissen
in der Sprache, in der Kleidung, im Spielzeug und in Liedern.
Mädchen, so könnten sie entscheiden, sind die mit den langen 5 Was sind Geschlechtsrollen, und was verrät uns ihre

Haaren. Nachdem sie die Welt in zwei Hälften eingeteilt haben, Variation über die Lern- und Anpassungsfähigkeit des

sind 3-Jährige lieber mit ihren eigenen Geschlechtsgenossen zu- Menschen?

sammen und wählen sich ihre eigene Gruppe zum Spielen aus.
Im weiteren Verlauf vergleichen sich Kinder dann selbst mit
ihrem Geschlechterkonzept und passen ihr Verhalten dem an 5.6 Überlegungen zu Anlage und Umwelt
(»Ich bin ein Junge und deswegen männlich, stark und aggressiv«
oder »Ich bin ein Mädchen und deshalb weiblich, süß und hilfs-
? 5.15 Was beinhaltet der biopsychosoziale Ansatz
bereit«). Die Rigidität der Stereotype über Jungen und Mädchen
der Entwicklung?
erreicht im Alter von etwa 5 oder 6 Jahren ihren Höhepunkt.
Wenn der neue Nachbar ein Junge ist, nimmt ein 6-jähriges Mäd- »Es gibt triviale Wahrheiten und große Wahrheiten«, so die
chen vielleicht schlichtweg an, dass er keine gemeinsamen Inte- Überlegungen des Physikers Niels Bohr zu einigen Paradoxa der
ressen mit ihr hat. Bei kleinen Kindern spielen Geschlechts- modernen Wissenschaft. »Das Gegenteil einer trivialen Wahr-
schemata eine große Rolle. heit ist einfach falsch. Das Gegenteil einer großen Wahrheit kann
Für einige Menschen hat der Vergleich zwischen sich selbst allerdings auch wahr sein.« Wahr zu sein scheint jedenfalls, dass
und diesem Geschlechtskonzept Verwirrung und ein Gefühl des die Geschichte unserer Vorfahren einen wesentlichen Beitrag
Konflikts zur Folge. Bei transidentischer Persönlichkeit stimmt zu unserer Entwicklung als Spezies leistete. Dort, wo es Verände-
das Gefühl der Zugehörigkeit zu einem Geschlecht nicht mit rung, eine natürliche Selektion und Vererbung gibt, findet auch
dem biologischen Geschlecht bei der Geburt überein (APA Evolution statt. Als sich die Eizelle der Mutter mit der Samenzelle
2010). So mag eine Person sich wie ein Mann in einem Frauen- des Vaters vereinigte, prädisponierte uns die dabei entstandene
körper fühlen oder wie eine Frau in einem Männerkörper – und einzigartige Genkombination sowohl zu unseren Gemeinsam-
kleidet sich dann ihrem Gefühl entsprechend. Zu dieser Gruppe keiten als Menschen als auch zu unseren individuellen Unter-
gehören transsexuelle Personen, die als Mitglieder des anderen schieden. Dies ist eine große Wahrheit über die menschliche
Geschlechts leben, oder so leben wollen. Dabei wird oft durch Natur. Gene prägen uns.
medizinische Behandlungen, die eine Geschlechtsumwandlung Genauso wahr ist allerdings, dass unsere Erfahrungen einen
unterstützen, nachgeholfen. wesentlichen Beitrag zu unserer Entwicklung leisten. Wir lernen
in der Familie und in den sozialen Beziehungen zu den Men-
Transidentische Persönlichkeit (»transgender«) – Überbegriff für
Personen, deren Geschlechtsidentität oder Ausdruck ihres Geschlechts sich schen unserer Generation, wie wir denken und handeln sollen.
von dem, was man mit ihrem Geburtsgeschlecht assoziiert, unterscheidet. Sogar anlagebedingte Unterschiede können durch äußere Ein-
5.6 · Überlegungen zu Anlage und Umwelt
173 5
flüsse und Erfahrung verstärkt werden. Wenn die genetische
Ausstattung und die Hormone Männer dazu prädisponieren,
sich körperlich aggressiver zu verhalten als Frauen, mag die Kul-
tur diesen Geschlechtsunterschied noch verstärken. Dies ge-
schieht anhand von Normen, die Männer zu einem Macho-
verhalten und Frauen zu der Rolle als Repräsentantinnen des
freundlicheren und sanfteren Geschlechts ermutigen. Wenn
Männer stärker in Rollen gedrängt werden, die körperliche Kraft
erfordern, und Frauen zu Rollen, die mit der Erziehung von Kin-
dern zu tun haben, dann zeigen vielleicht beide Geschlechter
genau das Verhalten, das von den jeweiligen Rolleninhabern er-
wartet wird. Dabei mögen sie feststellen, dass sie entsprechend
beeinflusst werden. Die Rollen definieren ihre Rolleninhaber.
Präsidenten verhalten sich während ihrer Präsidentschaft zu-
nehmend präsidentenhaft, während sich Bedienstete immer
stärker als Bedienstete geben. In ähnlicher Weise prägen uns Ge-
schlechtsrollen (. Abb. 5.34).
Aber die Unterschiede zwischen den Geschlechtsrollen
schwinden. In dem Maße, in dem die rohe Kraft für Macht und
Status immer irrelevanter geworden ist (denken Sie etwa an Bill . Abb. 5.34 Kultur ist von Bedeutung. Kinder erlernen ihre Kultur, wie
Gates und Hillary Clinton), sind »sowohl Männer als auch dieses Ausstellungsstück im Museum of Man in San Diego zeigt. Der Fuß
eines Babys kann in jede Kultur schlüpfen. (San Diego Museum of Man,
Frauen in vollem Umfang dazu fähig, auf allen Ebenen einer
photograph by Rose Tyson)
Organisation Rollen zu übernehmen«, so Wendy Wood und
Alice Eagly (2002). Und in dem Maße, in dem die Beschäftigung
von Frauen in früher männlichen Berufen zunahm, sind die Ge- Entscheidungen beteiligt. Unsere Entscheidungen von heute
schlechtsunterschiede in Bezug auf Männlichkeit bzw. Weiblich- beeinflussen unsere Umwelt von morgen. Dafür haben wir den
keit und in Bezug auf das, was man bei einem Partner sucht, Verstand. Die menschliche Umwelt ist nicht wie das Wetter, das
geringer geworden (Twenge 1997). In dem Maße, in dem sich sich einfach ereignet. Vielmehr sind wir die Architekten unserer
unsere Rollen mit der Zeit verändern, verändern wir uns mit Umwelt. Unsere Hoffnungen, Ziele und Erwartungen wirken
ihnen. sich auf unsere Zukunft aus. Genau dies führt dazu, dass sich
Wenn uns nun beides prägt, Anlage und Umwelt, sind wir Kulturen so stark unterscheiden und so rasch verändern.
dann nichts anderes als ein »Produkt« aus Anlage und Umwelt?
Sind wir rigide auf etwas festgelegt? jEin Wort zum Schluss …
Wir sind das Produkt aus Anlage und Umwelt (. Abb. 5.35), Ich weiß aus meiner Post und aus öffentlichen Meinungsum-
doch darüber hinaus sind wir auch ein offenes System. Gene fragen, dass einige Leser nicht so glücklich sind damit, dass
durchdringen alles, sind aber nicht allmächtig. Manchmal trot- der Naturalismus und die Evolutionstheorie in der heutigen
zen Menschen ihrem genetischen Drang zur Fortpflanzung und Forschung einen solch wichtigen Platz einnehmen. Ich bitte die
entscheiden sich für das Zölibat. Auch die Kultur durchdringt Leser aus anderen Ländern um Nachsicht, aber in den USA gibt
alle Bereiche, sie ist aber nicht allmächtig. Manchmal widerste- es eine große Kluft zwischen den wissenschaftlichen Ansichten
hen Menschen dem Erwartungsdruck ihres Freundeskreises, zur Evolution und denjenigen des Laien. »Die Vorstellung, dass
indem sie auf ihrer Freiheit bestehen und das Gegenteil von dem der menschliche Verstand ein Produkt der Evolution ist, ... ist
tun, was man von ihnen erwartet. Der Philosoph und Schrift- eine unanfechtbare Tatsache«, verkündete ein Leitartikel 2007 in
steller Jean-Paul Sartre nannte die Angewohnheit, Anlage und der Zeitschrift Nature, einem führenden Wissenschaftsmagazin.
Umwelt als Rechtfertigung für unser Versagen heranzuziehen, Diese Ansicht stimmt überein mit einem Bericht über »auf Be-
einen »Irrglauben«: Damit ist gemeint, dass man die Verantwor- weisen basierenden Tatsachen« über die Evolution, der 2006 von
tung für das eigene Schicksal nicht selbst übernimmt, sondern den nationalen wissenschaftlichen Akademien aus 66 Ländern
schlechten Genen oder schlechten Einflüssen anlastet. gemeinsam veröffentlicht wurde (IAP 2006). In seinem Buch
Tatsächlich sind wir sowohl Geschöpfe als auch Schöpfer The Language of God (dtsch. Die Sprache Gottes) trägt der Leiter
unserer je eigenen Welt. Wir sind – und das ist eine unumstöß- des Human Genome Project Francis Collins (2006, S. 141, 146),
liche Wahrheit – Produkte unserer Gene und unserer Umwelten. nach eigener Beschreibung Protestant, »absolut überzeugende«
Dennoch – und das ist eine andere große Wahrheit – sind an der Beweise zusammen, die ihn schlussfolgern lassen, dass Darwins
Kausalkette, die unsere Zukunft bestimmt, unsere momentanen große Idee »unzweifelhaft korrekt« ist. Dennoch berichtet
174 Kapitel 5 · Anlage, Umwelt und die Vielfalt der Menschen

. Abb. 5.35 Der biopsychosoziale Ansatz zur Entwicklung

Gallup, dass die Hälfte der erwachsenen Amerikaner nicht an die wurden. Seine Erklärung trug am Ende den Sieg davon, denn sie
Rolle der Evolution dabei, »wie wir Menschen auf der Erde zu erklärte die Dinge auf eine Art, die Sinn machte und kohärent
existieren begonnen haben«, glaubt (Newport 2007). Viele von war. Ebenso ist Darwins Evolutionstheorie eine stimmige Dar-
denjenigen, die die wissenschaftliche Sichtweise anzweifeln, stellung der Geschichte der Natur. Sie bietet ein Organisations-
befürchten, dass eine Wissenschaft des Verhaltens (und im Spe- prinzip, das verschiedene Beobachtungen miteinander in Ein-
ziellen eine evolutionstheoretische Wissenschaft) unser Gefühl klang bringt.
für die Schönheit, das Geheimnis und die geistige Bedeutung des Collins ist nicht die einzige gläubige Person, die die wissen-
menschlichen Wesens zerstören wird. Für diejenigen, die davon schaftliche Vorstellung der menschlichen Herkunft als mit seiner
betroffen sind, habe ich einige beruhigende Gedanken. Spiritualität kompatibel ansieht. Im 5. Jahrhundert schrieb
Augustinus von Hippo (zit. nach Wilford 1999): »Das Universum
» Hoffen wir, dass es nicht wahr ist; aber falls es wahr ist,
begann zu existieren, als es noch nicht fertig geformt war. Aber
hoffen wir, dass nicht viele es wissen werden.
es wurde beschenkt mit der Möglichkeit, sich aus ungeformter
Lady Ashley, Kommentar zu Darwins Evolutionstheorie
Materie in eine wahrhaftig wunderbare Anordnung von Struktu-
Als Isaac Newton den Regenbogen als Licht mit unterschiedlichen ren und Lebensformen zu verwandeln.« Etwa 1600 Jahre später
Wellenlängen erklärte, befürchtete der Poet Keats, dass Newton begrüßte Papst Johannes Paul II. 1996 einen Dialog zwischen
die geheimnisvolle Schönheit des Regenbogens zerstört hatte. Wissenschaft und Religion und fand es erwähnenswert, dass die
Doch Newtons Analyse, so Richard Dawkins (1998) in seinem Evolutionstheorie »von Wissenschaftlern zunehmend akzeptiert
Buch Unweaving the Rainbow (dtsch. Der entzauberte Regen- wird, nachdem in verschiedenen Wissensgebieten eine Reihe von
bogen), führte zu einem noch größeren Mysterium – Einsteins Entdeckungen gemacht wurden.«
Relativitätstheorie. Zudem muss nichts an Newtons Optik unsere Währenddessen sind viele Wissenschaftler von Ehrfurcht
Wertschätzung der eindrucksvollen Eleganz eines Regenbogens, ergriffen in Anbetracht des zunehmenden Verständnisses des
der sich über den aufhellenden Himmel wölbt, verringern. Universums und des menschlichen Wesens. Die Vorstellung ist
einfach umwerfend – das ganze Universum, das vor 14 Mrd.
» Es ist nicht beunruhigend, zu verstehen, wie die Welt tatsäch-
Jahren aus einem Punkt herausspringt und sofort zu kosmolo-
lich funktioniert – dass weißes Licht aus Farben besteht,
gischer Größe anwächst. Wäre die Energie des Urknalls nur das
dass die Farbe die Länge der Lichtwelle bestimmt, dass durch-
kleinste bisschen geringer gewesen, wäre das Universum wieder
sichtige Luft Licht reflektiert ...? Es schadet der Romantik eines
in sich selbst zusammengefallen. Wäre die Energie das kleinste
Sonnenuntergangs nicht, ein bisschen darüber zu wissen.
bisschen größer gewesen, wäre das Resultat eine Suppe gewesen,
Carl Sagan, Skies of Other Worlds, 1988
die zu dünn gewesen wäre, um Leben zu ermöglichen. Der
Als Galileo Belege dafür sammelte, dass die Erde sich um die Astronom Sir Martin Rees beschrieb in seinem Buch Just Six
Sonne dreht und nicht umgekehrt, fand er keinen unwiderleg- Numbers (1999, dtsch. Nur sechs Zahlen) sechs Zahlen, die bei
baren Beweis für seine Theorie. Er bot eher eine schlüssige Erklä- der leichtesten Veränderung einen Kosmos produzieren würden,
rung für eine Vielzahl von Beobachtungen, wie die sich verän- in welchem Leben nicht möglich wäre. Wäre die Erdanziehungs-
dernden Schatten, die von den Bergen auf dem Mond geworfen kraft ein bisschen stärker oder schwächer oder das Gewicht eines
5.7 · Kapitelrückblick
175 5
Kohlenstoffprotons ein winziges bisschen anders gewesen, hätte 5.7 Kapitelrückblick
unser Universum nicht funktioniert.
Was verursachte dieses fein abgestimmte Universum, das fast 5.7.1 Verständnisfragen
zu gut ist, um wahr zu sein? Warum ist hier etwas statt nichts?
Wie wurde es, um es mit den Worten des Harvard Astrophysikers jVerhaltensgenetik: Die Vorhersage individueller
Owen Gingerich (1999) zu sagen, »so außergewöhnlich richtig, Unterschiede
dass es scheint, das Universum wurde ausdrücklich dazu konzi- 5.1 Was sind Gene und wie erklären Verhaltensgenetiker unsere
piert, intelligente, empfindsame Wesen zu erzeugen«? Steckt eine individuellen Unterschiede?
wohlwollende Superintelligenz hinter all dem? Wurde statt- 5.2 Was sind die potenziellen Möglichkeiten der molekulargene-
dessen eine unbegrenzte Anzahl an Universen geboren und wir tischen Forschung?
hatten einfach das Glück, Bewohner von einem zu sein, das zu- 5.3 Was ist Erblichkeit und in welchem Zusammenhang steht sie
fälligerweise darauf abgestimmt war, uns hervorzubringen? Oder zu Individuen und Gruppen?
verletzt diese Vorstellung »Ockhams Rasiermesser«, das Prinzip, 5.4 Wie arbeiten Anlage und Umwelt zusammen?
das besagt, dass man die einfachste aller konkurrierenden Er-
klärungen bevorzugen soll? Bei solchen Themen ist ein demüti- jEvolutionspsychologie: Wie man die Natur
ges, ehrfürchtiges wissenschaftliches Schweigen angemessen, des Menschen versteht
meinte der Philosoph Ludwig Wittgenstein: »Worüber man nicht 5.5 Wie erklären Evolutionspsychologen mithilfe der Prinzipien
sprechen kann, darüber soll man schweigen.« der natürlichen Selektion Verhaltenstendenzen?
Statt die Wissenschaft zu fürchten, können wir ihr Vermö- 5.6 Wie könnte ein Evolutionspsychologe Geschlechtsunter-
gen, unseren Verstand zu erweitern und unsere Ehrfurcht zu schiede in der Sexualität und in den Vorlieben bei der Partner-
wecken, begrüßen. In seinem Buch The Fragile Species (dtsch. wahl erklären?
Die fragile Spezies) beschrieb Lewis Thomas (1992) sein großes 5.7 Welches sind die Hauptkritikpunkte an evolutionspsycho-
Erstaunen darüber, dass die Erde seinerzeit Bakterien hervor- logischen Erklärungen menschlicher Verhaltensweisen und wie
brachte und schließlich Bachs Messe in h-Moll. In der kurzen antworten Evolutionspsychologen darauf?
Zeitspanne von 4 Mrd. Jahren wurde das Leben auf der Erde von
einem Nichts zu so komplexen Strukturen wie einem 6 Mrd. jWie beeinflussen Erfahrungen die Entwicklung?
Einheiten umfassenden DNA-Strang und der unglaublichen 5.8 Wie können frühe Erfahrungen das Gehirn verändern?
Komplexität des menschlichen Gehirns. Atome, die sich nicht 5.9 Inwiefern formen Eltern und Gleichaltrige die Entwicklung
von denjenigen unterschieden, die einen Stein bildeten, formten eines Kinds?
irgendwie dynamische Einheiten, die Bewusstsein entwickelten.
Die Natur, so der Kosmologe Paul Davies (2007), scheint schlau jKulturelle Einflüsse
und raffiniert ausgedacht, um außergewöhnliche, sich selbst 5.10 Wie beeinflussen kulturelle Normen unser Verhalten?
reproduzierende, informationsverarbeitende Systeme – uns – 5.11 Wie beeinflussen individualistische und kollektivistische
hervorzubringen. Obwohl es scheint, dass wir aus Staub erschaf- Kulturen die Menschen?
fen wurden, ist das Resultat nach Äonen ein unschätzbares Lebe-
wesen, mit einem Potenzial, das weit über unsere Vorstellungen jEntwicklung des sozialen Geschlechts
hinausgeht. 5.12 Welche biologischen und psychologischen Ähnlichkeiten
sowie Unterschiede gibt es zwischen Männern und Frauen?
» Die Gründe für die Geschichte des Lebens (können)
5.13 Wie wird das biologische Geschlecht festgelegt und welche
das Rätsel vom Sinn des Lebens nicht lösen.
Rolle spielen die Sexualhormone bei der Entwicklung des sozia-
Stephen Jay Gould, Rock of Ages: Science and Religion in the
len Geschlechts?
Fullness of Life, 1999
5.14 Wie beeinflussen Geschlechtsrollen und Geschlechtstypi-
sierung die Entwicklung des sozialen Geschlechts?
Prüfen Sie Ihr Wissen

5 Wie erklärt der biopsychosoziale Ansatz unsere jÜberlegungen zu Anlage und Umwelt
individuelle Entwicklung? 5.15 Was beinhaltet der biopsychosoziale Ansatz der Entwick-
lung?
176 Kapitel 5 · Anlage, Umwelt und die Vielfalt der Menschen

5.7.2 Schlüsselbegriffe

4 Aggression
4 Chromosomen
4 DNA/DNS (deoxyribonucleic acid; Desoxyribonukleinsäure)
4 Eineiige Zwillinge
4 Epigenetik
4 Erblichkeit
4 Evolutionspsychologie
4 Gene
5 4 Genom
4 Geschlecht (sex/gender)
4 Geschlechtsidentität
4 Geschlechtsrolle
4 Geschlechtstypisierung
4 Individualismus
4 Interaktion
4 Kollektivismus
4 Kultur
4 Molekulargenetik
4 Mutation
4 Natürliche Selektion
4 Norm
4 Rolle
4 Temperament
4 Testosteron
4 Theorie des sozialen Lernens
4 Transidentische Persönlichkeit
4 Umwelt
4 Verhaltensgenetik
4 X-Chromosom
4 Y-Chromosom
4 Zweieiige Zwillinge

5.7.3 Weiterführende deutsche Literatur

Hennig, W. (2010). Genetik (5. Aufl.). Heidelberg: Springer.


Kasten, H. (2003). Weiblich – männlich: Geschlechterrollen durchschauen.
München: Reinhardt.
Lautenbacher, S., Güntürkün, O., & Hausmann, M. (2007). Gehirn und
Geschlecht. Heidelberg: Springer.
Wink, M. (Hrsg.). (2001). Vererbung und Milieu. Heidelberg: Springer.
177 6

Entwicklung
über die Lebensspanne
David G. Myers

6.1 Hauptfragen der Entwicklungspsychologie – 178

6.2 Pränatale Entwicklung und erste Lebenswochen – 179


6.2.1 Empfängnis – 179
6.2.2 Pränatale Entwicklung – 179
6.2.3 Fähigkeiten des Neugeborenen – 181

6.3 Kleinkindzeit und Kindheit – 183


6.3.1 Körperliche Entwicklung – 183
6.3.2 Kognitive Entwicklung – 186
6.3.3 Soziale Entwicklung – 195

6.4 Adoleszenz – 205


6.4.1 Körperliche Entwicklung – 205
6.4.2 Kognitive Entwicklung – 208
6.4.3 Soziale Entwicklung – 211
6.4.4 Übergang ins Erwachsenenalter – 215
6.4.5 Überlegungen zur kontinuierlichen und stufenweisen Entwicklung – 216

6.5 Erwachsenenalter – 217


6.5.1 Körperliche Entwicklung – 217
6.5.2 Kognitive Entwicklung – 222
6.5.3 Soziale Entwicklung – 224
6.5.4 Gedanken zu Stabilität und Veränderung – 229

6.6 Kapitelrückblick – 231


6.6.1 Verständnisfragen – 231
6.6.2 Schlüsselbegriffe – 232
6.6.3 Weiterführende deutsche Literatur – 232

D. G. Myers, Psychologie,
DOI 10.1007/978-3-642-40782-6_6, © Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2014
178 Kapitel 6 · Entwicklung über die Lebensspanne

Das Leben ist eine Reise, vom Bauch bis zur Bahre. Das gilt für Auch Stabilität bestimmt unsere Entwicklung: Wir erleben
mich ebenso wie für Sie. Unsere Geschichten begannen jeweils uns als beständiges Selbst. Wenn ich in den Spiegel schaue, sehe
mit einem Mann und einer Frau, die mehr als 20.000 Gene zu ich nicht den Menschen, der ich einmal war, aber ich fühle mich
einer Eizelle zusammenbrachten, die schließlich zu einem ein- wie derjenige, der ich schon immer gewesen bin. Ich bin dieselbe
zigartigen Menschen heranwuchs. Jene Gene codierten die Person, die im späten Jugendalter Basketball spielte und die
Proteinbausteine, die mit erstaunlicher Präzision unsere Körper Liebe entdeckte. Ein halbes Jahrhundert später spiele ich noch
hervorbrachten und unsere Persönlichkeitsmerkmale vor- immer Basketball und liebe (mit weniger Leidenschaft, aber
bestimmten. Meine Großmutter vermachte meiner Mutter eine mehr Sicherheit) dieselbe Lebenspartnerin, mit der ich die
seltene Einschränkung des Gehörs, das sie ihrerseits an mich Freuden und Sorgen des Lebens geteilt habe.
weitergab (nicht gerade ihr schönstes Geschenk). Mein Vater war Kontinuität wandelt sich über die Lebensphasen – aufwach-
ein liebenswerter Extravertierter und auch mir fällt es manchmal sen, Kinder großziehen, eine Karriere genießen und schließlich
schwer, mit dem Reden aufzuhören. Als Kind stotterte ich schwer, der letzte Lebensabschnitt, der meine Anwesenheit erfordert.
6 weswegen ich in der Seattle Public Schools eine Sprachtherapie Während ich mich in diesem Kreislauf von Leben und Tod bewe-
bekam. ge, denke ich daran, dass das Leben eine Reise ist, ein fortlaufen-
Gemeinsam mit den Anlagen meiner Eltern wurde mir auch der Entwicklungsprozess, von der Natur gesät und von der Um-
ihre Umwelt zuteil. Genau wie Sie wuchs auch ich in einer ganz welt geformt, durch Liebe beseelt und durch Arbeit fokussiert,
bestimmten Familie innerhalb einer ganz bestimmten Kultur auf, dass es mit weit aufgerissenen, neugierigen Augen begann und
die ihre ganz eigene Weltanschauung vertritt. Mein persönliches – für diejenigen, die das Glück haben, ein gesundes hohes Alter
Wertesystem setzt sich aus mehreren Einflüssen zusammen: zu erreichen – mit Frieden und nie endender Hoffnung seinen
einem familiären Umfeld voll von Unterhaltungen und gemein- Abschluss findet.
samem Lachen, einem religiösen Umfeld, das Liebe und Ge-
rechtigkeit lehrt, und einem akademischen Umfeld, das zum
kritischen Denken anregt (etwa mit den Fragen: Was meinst du 6.1 Hauptfragen der Entwicklungspsychologie
damit? Woher weißt du das?).
Sowohl unsere Gene als auch unsere Umgebung formen
? 6.1 Mit welchen drei Fragestellungen befassen sich
uns, sodass sich unsere Lebensgeschichten voneinander unter-
Entwicklungspsychologen?
scheiden. Doch in vielerlei Hinsicht sind wir genau wie die
meisten anderen Menschen dieser Welt. Als Menschen teilen wir Die Entwicklungspsychologie befasst sich mit der physischen,
das Bedürfnis nach Zugehörigkeit. Meine mentale Videothek, die kognitiven und sozialen Entwicklung über die Lebensspanne.
nach meinem vierten Lebensjahr einsetzt, ist voller Aufzeich- Bei dieser Forschung geht es immer wieder um drei große
nungen, die soziale Bindungen zeigen. Mit der Zeit wurde die Themen:
Beziehung zu meinen Eltern immer sporadischer, während neue 1. Anlage und Umwelt: Wie wirken unsere genetischen
Freundschaften mit Gleichaltrigen entstanden. Nachdem mir in Anlagen (»nature«) mit unseren Erfahrungen (»nurture«)
der High School der Mut gefehlt hatte, mit Mädchen auszugehen, zusammen, um unsere Entwicklung zu beeinflussen?
verliebte ich mich in eine Kommilitonin an der Universität und 2. Kontinuität und stufenweiser Verlauf: Welche Bereiche der
heiratete mit 20. Die natürliche Selektion verlangt von uns, zu Entwicklung sind ein geradliniger und kontinuierlicher
überleben und unsere Gene weiterzugeben, und tatsächlich be- Prozess, der wie eine Fahrt im Lift vor sich geht?
kamen wir 2 Jahre später ein Kind und ich wurde vertraut mit Welche Bereiche erfolgen abrupt in einer Abfolge ver-
einer neuen Form der Liebe, deren Stärke mich überraschte. schiedener Stufen, so wie man die Sprossen einer Leiter
Aber Leben bedeutet Veränderung. Unser Kind lebt heute emporsteigt?
2000 Meilen entfernt und eines seiner beiden Geschwister fand 3. Stabilität und Veränderung: Welche unserer Eigenschaften
seine eigene Berufung in Südafrika. Das enge Gummiband, das bleiben über unser ganzes Leben hinweg erhalten?
Eltern und Kinder zusammenhält, hat sich gelöst, wie es gewiss Wie verändern wir uns mit dem Alter?
auch bei Ihnen irgendwann der Fall war.
Entwicklungspsychologie (»developmental psychology«) – Teildisziplin
Veränderungen bestimmen auch das Berufsleben. Für mich der Psychologie, die die im Verlauf des Lebens auftretenden Veränderungen
bedeutete das den Übergang von der Arbeit in der Versiche- auf der physischen, kognitiven und sozialen Ebene untersucht.
rungsagentur meiner Familie als Jugendlicher über ein auf den
Arztberuf vorbereitendes Chemiestudium mit Stelle als Kran- In 7 Kap. 5 haben wir das Thema Anlage und Umwelt behandelt.
kenpfleger zum Psychologieprofessor und Autor (nachdem ich In diesem Kapitel werden wir am Ende unserer Ausführungen
meine halb ausgefüllte Bewerbung für die Medical School ver- zur Adoleszenz über das Thema Kontinuität und Entwicklungs-
worfen hatte). Ich bin mir sicher, dass auch Sie in zehn Jahren stufen und am Ende des Abschnitts zum Erwachsenenalter über
etwas tun werden, das Sie heute noch nicht erahnen können. Stabilität und Veränderung nachdenken.
6.2 · Pränatale Entwicklung und erste Lebenswochen
179 6

» Anlage ist alles, was der Mensch mit sich in die Welt bringt; Spermium einzudringen beginnt (. Abb. 6.1b), blockiert die
Erfahrung ist jeder Einfluss, der nach seiner Geburt Einfluss Oberfläche der Eizelle allen anderen Spermien den Zugang. Ehe
auf ihn nimmt. ein halber Tag vergangen ist, verschmelzen der Zellkern der
Francis Galton, English Men of Science, 1874 Eizelle und der des Spermiums. Sie werden eins. Das können Sie
als den glücklichsten Augenblick Ihres Lebens betrachten. Von
den 200 Mio. Spermien hat genau dasjenige, das sich mit genau
6.2 Pränatale Entwicklung dieser Eizelle verbinden musste, das Rennen gemacht, damit Sie
und erste Lebenswochen der Mensch werden konnten, der Sie sind. Und auf ebendiese
Weise fand es in unzählbaren Generationen vor uns statt. Wenn
nur ein einziger unserer Vorfahren durch ein anderes Spermium
? 6.2 Wie verläuft die pränatale Entwicklung und wie wirken
oder eine andere Eizelle gezeugt worden oder vor der Empfäng-
Teratogene auf diese Entwicklung?
nis verstorben wäre oder wenn er oder sie keinen Partner hätte
finden können oder … Unser Verstand ist nicht in der Lage, die
6.2.1 Empfängnis unwahrscheinliche, ununterbrochene Ereigniskette zu durch-
dringen, die Sie und mich hervorgebracht hat.
Nichts ist natürlicher, als dass sich eine Spezies fortpflanzt. Und
doch gibt es nichts Erstaunlicheres. Nehmen wir einmal die
Fortpflanzung des Menschen. Der Prozess kommt in Gang, wenn 6.2.2 Pränatale Entwicklung
die Eierstöcke einer Frau eine reife Eizelle abstoßen, die ungefähr
so groß ist wie der Punkt am Ende dieses Satzes. Eine Frau bringt Nicht einmal die Hälfte aller befruchteten Eizellen, die Zygoten,
bei ihrer Geburt bereits alle ihre Eizellen mit zur Welt, allerdings überlebt die ersten 2 Wochen (Grobstein 1979; Hall 2004).
in unreifem Zustand, und nur je eine von 5000 reift heran Doch Ihnen und mir war das Schicksal gnädig. Am Anfang
und löst sich vom Eierstock. Ein Mann beginnt dagegen erst in unserer Existenz steht eine einzelne Zelle, dann werden es 2,
der Pubertät mit der Spermienproduktion. Diese läuft für den dann 4 Zellen, und jede Zelle ist mit der ersten identisch. Im
Rest seines Lebens rund um die Uhr, doch die Menge der produ- Verlauf der 1. Woche, wenn die Zygote etwa 100 Zellen groß ist,
zierten Spermien – anfangs über 1000 Spermien in dem kurzen beginnen sich die Zellen zu differenzieren, d. h. sie spezialisieren
Moment, den Sie brauchen, um diesen Satz zu lesen – nimmt mit sich je nach Funktion in ihrer Struktur. Wie diese identischen
dem Alter ab. Zellen das bewerkstelligen – so als ob jemand entscheidet:
Wie Astronauten beim Anflug auf einen riesigen Planeten »Ich werde eine Hirnzelle, du wirst eine Darmzelle« –, ist für die
nähern sich die 200 Mio. oder mehr Spermien einer Zelle, die Wissenschaftler ein Rätsel, bei dessen Lösung die Entwicklungs-
85.000-mal größer ist als sie selbst. Die verhältnismäßig wenigen biologie erst am Anfang steht.
Spermien, die es bis zur Eizelle schaffen, geben Enzyme ab, die Zygote (»zygote«) – befruchtete Eizelle; tritt in eine 2-wöchige Phase
die Schutzhülle der Eizelle wegfressen (. Abb. 6.1a). Sobald ein rascher Zellteilung ein und entwickelt sich zu einem Embryo.

. Abb. 6.1a,b Leben wird sexuell übertragen. a Spermienzellen umrunden eine Eizelle. b Dringt ein Spermium in die gallertartige Außenhaut, dann
startet der Ablauf einer Reihe von chemischen Vorgängen, die bewirken, dass das Spermium und die Eizelle zu einer einzigen Zelle verschmelzen.
Wenn alles klappt, wird sich diese Zelle immer wieder teilen, bis sie 9 Monate später als ein 100-Billionen-Zellen-Mensch ins Leben tritt. (a, b: © Sebastian
Schreiter / Springer Verlag GmbH)
180 Kapitel 6 · Entwicklung über die Lebensspanne

6
. Abb. 6.2a–c Pränatale Entwicklung. a Der Embryo wächst und entwickelt sich rasch. Im Alter von 40 Tagen wird die Wirbelsäule sichtbar, und Arme und
Beine beginnen zu wachsen. b Am Ende des 2. Monats beginnt die Fötalzeit. Gesichtszüge, Hände und Füße haben sich gebildet. c Zu Beginn des 4. Monats
passt der knapp 60 g schwere Fötus noch mühelos auf eine Handfläche. (a–c: Computergrafiken; © SCIEPRO / SCIENCE PHOTO LIBRARY / Agentur Focus)

Etwa 10 Tage nach der Empfängnis binden sich diese zunehmend Fötus ab dem 6. Monat auf Geräusche reagiert und den gedämpf-
unterschiedlichen Zellen an die Uteruswand der Mutter. Nun ten Klang der mütterlichen Stimme hört (Ecklund-Flores 1992;
beginnen die etwa 37 Wochen der engsten menschlichen Bezie- Hepper 2005). Unmittelbar nach der Geburt reagiert das Kind
hung, die es gibt. Aus den inneren Zellen der Zygote bildet sich mehr auf diese Stimme als auf die Stimme einer anderen Frau
der Embryo (. Abb. 6.2a). Die äußeren Teile bilden mit der Ute- oder auf die seines Vaters (Busnel et al. 1992; DeCasper et al.
ruswand die Plazenta, die lebenswichtige Verbindung, die Nähr- 1984, 1986, 1994). Zudem bevorzugt es auch den Klang jener
stoffe und Sauerstoff von der Mutter zum Embryo transportiert. Sprache, die die Mutter spricht. In Fällen, in denen die Mutter
Im Lauf der folgenden 6 Wochen bilden sich allmählich die Or- während der Schwangerschaft zwei Sprachen spricht, zeigen
gane und nehmen ihre Arbeit auf. Das Herz beginnt zu schlagen. Neugeborene ein Interesse an beiden (Byers-Heinlein et al. 2010).
Embryo (»embryo«) – sich entwickelnder menschlicher Organismus.
Direkt nach der Geburt trägt das Auf und Ab von Babyschreien
Die Embryonalphase dauert etwa von der 2. Woche nach der Befruchtung die melodischen Eigenschaften der von ihrer Mutter gesproche-
bis zum Ende des 2. Monats. nen Sprache (Mampe et al. 2009). Babys französischsprachiger
Mütter neigen dazu, mit der steigenden Intonation des Franzö-
Für eines von 270 Elternpaaren gibt es allerdings einen Bonus. sischen zu schreien, wohingegen etwa Babys deutschsprachiger
Zwei Herzschläge offenbaren, dass sich die Zygote während der Mütter in den abfallenden Tönen des Deutschen weinen. Hätten
frühen Tage ihrer Entwicklung in zwei geteilt hat. Wenn alles Sie das geahnt? Der Spracherwerb beginnt im Mutterleib.
gut geht, werden zwei genetisch vollkommen identische Babys In den 2 Monaten vor der Geburt zeigen Föten noch weitere
8 Monate später ihr Leben gemeinsam beginnen (7 Kap. 5). Lernfähigkeiten, etwa wenn sie sich an einen vibrierenden und
Etwa 9 Wochen nach der Empfängnis hat der Embryo ein- hupenden Apparat gewöhnen, der am Bauch ihrer Mutter ange-
deutig menschliche Züge (. Abb. 6.2b) und ist jetzt ein Fötus (lat. bracht wird (Dirix et al. 2009). Genau wie Personen, die sich auf
Leibesfrucht, Kind). Während des 6. Monats sind Organe wie der den Lärm vorbeifahrender Züge in ihrer Nachbarschaft ein-
Magen hinreichend ausgebildet, um einem zu früh geborenen stellen, gewöhnen sich Föten an das Hupen. Darüber hinaus er-
Fötus eine Überlebenschance zu bieten. innern sie sich noch 4 Wochen später an das Geräusch (wie ihre
Fötus (»fetus«) – Bezeichnung für den sich entwickelnden menschlichen
gleichgültige Reaktion im Vergleich zu anderen Föten, die mit
Organismus ab der 9. Woche nach der Empfängnis bis zur Geburt. dem Hupen nicht vertraut waren, gezeigt hat).
Geräusche sind nicht die einzigen Reize, denen Föten im Mut-
Pränatale Entwicklung
terleib ausgesetzt sind. Die Plazenta leitet Nährstoffe und Sauer-
5 Zygote: Empfängnis bis 2. Schwangerschaftswoche
stoff von der Mutter zum Fötus und hält dabei viele potenziell
5 Embryo: 2. Schwangerschaftswoche bis 8. Schwangerschafts-
schädliche Substanzen zurück. Doch manche Substanzen schlüp-
woche
fen durch die Kontrolle. Der Plazentaschutzwall lässt manche
5 Fötus: 9. Schwangerschaftswoche bis Geburt
Teratogene passieren: Schadstoffe wie etwa bestimmte Viren und
In jeder pränatalen Phase wird die Entwicklung sowohl durch Drogen. Dies ist einer der Gründe dafür, dass schwangeren Frauen
genetische Faktoren als auch durch Umweltfaktoren beeinflusst. davon abgeraten wird, Alkohol zu trinken. Eine schwangere Frau
Mikrofonaufnahmen aus dem Uterus haben gezeigt, dass der trinkt niemals allein. Der Alkohol geht ins Blut der Mutter über –
6.2 · Pränatale Entwicklung und erste Lebenswochen
181 6

. Abb. 6.3a,b Darauf vorbereitet, zu füttern und zu essen. Tiere


und Menschen sind von Natur aus darauf angelegt, auf die Nahrungs-
bedürfnisse ihrer Jungen zu reagieren. (a: © Alexandr Ozerov / Fotolia;
b: © iStockphoto / Thinkstock)

und somit auch in das des Fötus – und lässt bei beiden die Aktivi- » Siehe, du wirst schwanger werden und einen Sohn gebären.
tät des Zentralnervensystems geringer werden. Alkoholkonsum in So trinke nun keinen Wein noch starkes Getränk und iss
der Schwangerschaft kann dazu führen, dass der Nachwuchs der nichts Unreines …
trinkenden Mütter Alkohol lieber mag. Dies führt zu einem erhöh- Bibel, Buch der Richter, Kap. 13, Vers 7
ten Risiko übermäßigen Alkoholkonsums und sogar Alkoholab-
Prüfen Sie Ihr Wissen
hängigkeit im Jugendalter. In Tierversuchen konnte nachgewiesen
werden, dass Rattenkinder, deren Mütter während der Schwanger- 5 Die ersten beiden Wochen der pränatalen Entwicklung
schaft Alkohol getrunken hatten, später den Geschmack und Ge- werden als Phase der bezeichnet. Die
ruch von Alkohol mögen (Youngentob et al. 2007, 2009). Phase des dauert von der 9. Lebenswo-
Teratogene (wörtlich: »Monstermacher«; »teratogens«) – Wirkstoffe (wie che nach der Empfängnis bis zur Geburt. Der Zeitraum
chemische Stoffe und Viren), die zum Embryo bzw. Fötus durchdringen und zwischen diesen beiden Abschnitten wird als Phase des
ihn während der pränatalen Entwicklung schädigen können. bezeichnet.

Sogar mäßiges Trinken oder nur gelegentlicher exzessiver Konsum


(»binge drinking«) können einen Einfluss auf das fötale Gehirn
haben (Braun 1996; Ikonomidou et al. 2000; Sayal et al. 2009). Ist 6.2.3 Fähigkeiten des Neugeborenen
die Mutter eine starke Trinkerin, dann besteht für den Säugling ein
erhöhtes Risiko, mit Geburtsschäden zur Welt zu kommen, sowie
? 6.3 Über welche Fähigkeiten verfügen Neugeborene
für spätere Verhaltensprobleme, Hyperaktivität und geringere In-
und wie untersuchen Forscher die mentalen Fähigkeiten
telligenz. Bei einem von 800 Neugeborenen zeigt sich die Wirkung
von Säuglingen?
als fötales Alkoholsyndrom (FAS): missgestalteter, kleiner Kopf
und lebenslange Gehirnanomalien (May u. Gossage 2001). Der Babys verfügen über so manche vorinstallierte Software auf ihrer
fötale Schaden kann auftreten, weil Alkohol einen Einfluss nimmt, neuronalen Festplatte. Haben wir die Risiken und Gefahren der
der in 7 Kap. 5 als epigenetischer Effekt bezeichnet wurde: Er hin- pränatalen Zeit überstanden, dann kommen wir zur Welt, und
terlässt chemische Marker in der DNS, durch die Gene anormal zwar ausgestattet mit Reflexen, die unser Überleben auf hervor-
ein- und ausgeschaltet werden (Liu et al. 2009). ragende Weise sichern. Wir ziehen die Gliedmaßen zurück, um
einem Schmerz auszuweichen. Legt uns jemand ein Tuch aufs
Fötales Alkoholsyndrom (FAS, »fetal alcohol syndrome«) – körperliche
Gesicht, das uns am Atmen hindert, dann drehen wir den Kopf
und kognitive Anomalien, verursacht durch mütterlichen Alkohol-
missbrauch während der Schwangerschaft. In schweren Fällen kann es zu von einer Seite zur anderen und versuchen, das Tuch wegzu-
auffallenden Veränderungen der Gesichtsproportionen kommen. schieben.
182 Kapitel 6 · Entwicklung über die Lebensspanne

Junge Eltern sind oft erstaunt über die koordinierten Reflex-


abfolgen, mit Hilfe derer ihr Baby Nahrung aufnimmt. Berührt
man das Baby an der Wange, dann dreht es sich zu der Berührung
um, öffnet den Mund und sucht nach einer Brustwarze. Sobald
es sie findet, schließt es den Mund fest um die Warze und beginnt
zu saugen, wobei das Saugen bereits eine koordinierte Abfolge
von Zungenbewegung, Schlucken und Atmen erfordert. Wird
dem Baby die Befriedigung versagt, beginnt es zu schreien – ein
Verhalten, das Eltern höchst unerfreulich finden. Sie sind dann
sehr rasch bereit, diesen Zustand zu beenden (. Abb. 6.3). . Abb. 6.4 Schnell antworten: Welches ist die Katze? Wissenschaftler
William James, ein Pionier der amerikanischen Psychologie, verwendeten Hybridbilder wie diese von Hund und Katze, um herauszu-
finden, nach welchen Kriterien Kleinkinder Tiere in eine Kategorie einord-
nahm an, dass das Neugeborene in einer Art »blühender und
6 summender Verwirrung« lebt, und bis in die 60er Jahre des letzten
nen. (Aus Quinn 2002; Copyright © 2002 by SAGE Publications. Reprinted
by Permission of SAGE Publications)
Jahrhunderts hinein widersprach ihm auch kaum jemand. Doch
dann entdeckten Wissenschaftler, dass einem ein Baby vieles er-
zählen kann – vorausgesetzt, man weiß, wie man fragen muss. Tatsächlich sind wir von Geburt an für soziale Beziehungen
Beim Fragen muss man sich an dem orientieren, was ein Baby prädestiniert und bringen die entsprechenden Fähigkeiten mit.
tun kann: schauen, saugen und den Kopf drehen. Und ausgestattet Ein Neugeborenes dreht den Kopf dorthin, wo es menschliche
mit Geräten, die die Augenbewegungen registrierten, und mit Stimmen hört; ein Bild, das Ähnlichkeit mit einem Gesicht hat
Schnullern, die mit Elektronik versehen waren, machten sich die (. Abb. 6.5), wird länger betrachtet als ein rundes Muster. Das
Wissenschaftler auf, die uralten Fragen der Eltern zu beantwor- Neugeborene richtet den Blick am liebsten auf Gegenstände in
ten: Was kann mein Baby sehen, hören, schmecken und denken? 10–15 cm Entfernung. Und wen wundert es, dass das in etwa
Betrachten wir etwa, wie Forscher Habituation nutzen – das die Entfernung zwischen den Augen des Kindes und denen der
abnehmende Ansprechen auf einen wiederholten Reiz. Wir Mutter beim Stillen ist (Maurer u. Maurer 1988)?
haben dieses Phänomen bereits oben beschrieben: Föten, die sich Schon in den ersten Tagen nach der Geburt wird das Neuro-
an einen vibrierenden, hupenden Apparat, der auf dem Bauch nennetz im Gehirn auf den Geruch des mütterlichen Körpers
der Mutter angebracht wurde, gewöhnt haben. Ein neuer Stimu- geprägt. Wenn man ein Baby, das gestillt wird, im Alter von 1 Wo-
lus zieht die Aufmerksamkeit des Kindes auf sich, wenn er zum che zwischen zwei Stilleinlagen legt, von denen eine aus dem BH
ersten Mal dargeboten wird. Doch je öfter der Reiz präsentiert seiner Mutter stammt und die andere von einer anderen stillen-
wird, desto schwächer fallen die Reaktionen des Babys aus. den Mutter, dann wendet sich das Baby i. Allg. zu dem Stück Mull
Diese scheinbare Langeweile, mit der das Baby auf schon be-
kannte Reize reagiert, gibt uns die Möglichkeit herauszufinden,
was ein Säugling sehen und woran er sich erinnern kann.
Habituation (»habituation«) – Abnahme der Reaktionsbereitschaft
bei wiederholter Stimulusdarbietung. In dem Maß, wie ein Säugling durch
wiederholte Darbietung mit einem visuellen Stimulus vertraut wird,
schwindet sein Interesse; er fixiert den Stimulus immer kürzer und wendet
früher den Blick ab.

Ein Beispiel: Wissenschaftler nutzten die visuellen Vorlieben von


Babys für neue Stimuli, um 4 Monate alte Säuglinge zu »fragen«,
wie sie Hunde und Katzen wiedererkennen (Quinn 2002; Spencer
et al. 1997). Zunächst zeigten sie den Säuglingen eine Reihe
von Bildern mit Katzen oder Hunden. Danach zeigten sie ihnen
Bilder von Hund-Katze-Hybriden (. Abb. 6.4). Welches der bei-
den Tiere würde ein Kind, dem man vorher Bilder von Katzen
gezeigt hatte, Ihrer Meinung nach als neu und ungewöhnlich
. Abb. 6.5a,b Neugeborene zeigen eine Vorliebe für Gesichter. Werden
erleben (gemessen an der Fixationsdauer)? Das Kind entschied diese beiden Reize dargeboten, die aus identischen Elementen zusammen-
sich für das zusammengesetzte Tier mit dem Hundekopf (bzw. gesetzt sind, dann schauen italienische Neugeborene fast doppelt so
für das mit dem Katzenkopf, wenn das Kind vorher Bilder von viele Sekunden auf das Bild, das an ein Gesicht erinnert (Johnson u. Morton
1999, mit freundlicher Genehmigung von Wiley-Blackwell). In einer Studie
Hunden gesehen hatte). Daraus kann man die Annahme ab-
mit kanadischen Neugeborenen (Mondloch et al. 1999), die im Durchschnitt
leiten, dass Säuglinge genau wie Erwachsene zuerst das Gesicht erst 53 Minuten alt waren, zeigte sich die gleiche, offenbar angeborene
wahrnehmen und erst danach den Körper. Präferenz für Gesichter
6.3 · Kleinkindzeit und Kindheit
183 6
hin, das den spezifischen Geruch seiner Mutter aufgenommen
hat (MacFarlane 1978). Darüber hinaus bleibt die Präferenz er-
halten: Ein Experiment nutzte den Umstand, dass einige stillende
Mütter in einer französischen Entbindungsstation einen Balsam
mit Kamillengeruch anwandten, um Schmerzen an den Brust-
warzen vorzubeugen (Delaunay-El Allam 2010). 21 Monate spä-
ter spielten ihre Kinder lieber mit Spielzeugen, die nach Kamille
rochen! Gleichaltrige, die diesen Geruch beim Stillen nicht ge-
rochen hatten, zeigten keine solche Präferenz. (Das wirft die
Frage auf: Werden Erwachsene, die den Geruch von Kamille als
Säuglinge mit der mütterlichen Brust assoziierten, leidenschaft-
liche Kamillenteetrinker?)

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5 Entwicklungspsychologen nutzen visuelle Vorlieben,


um die von Kindern an einen Stimulus
. Abb. 6.6 Schematische Darstellung von Schnitten durch den Kortex
zu untersuchen.
des Menschen. Der Mensch kommt mit einem unausgereiften Gehirn zur
Welt. Während des biologischen Reifungsprozesses bildet das neuronale
Netz immer neue Verbindungen aus und wird zunehmend komplexer

6.3 Kleinkindzeit und Kindheit


6.3.1 Körperliche Entwicklung
Während der Kleinkindzeit wächst der Säugling vom Neuge-
borenen zum Kleinkind heran; im Verlauf der Kindheit wird aus
? 6.4 Wie entwickeln sich unser Gehirn und unsere moto-
dem Kleinkind ein Teenager. Jeder von uns durchläuft diesen
rischen Fähigkeiten im Kleinkind- und Kindesalter?
Weg der körperlichen, kognitiven und sozialen Entwicklung.

» Es ist ein seltsames Glück, das Erwachen, das Wachsen


Entwicklung des Gehirns
und die ersten schwachen Betätigungen eines lebendigen
Bereits im Mutterleib nimmt die Zahl der Nervenzellen explo-
Geistes zu beobachten.
sionsartig zu: fast eine Viertelmillion pro Minute. In der Auf-
Annie Sullivan in Helen Kellers Mein Weg aus dem Dunkel.
bauphase des Kortex kommt es zu einer Überproduktion von
Blind und gehörlos – das Leben einer mutigen Frau, die ihre
Neuronen, in der 28. Schwangerschaftswoche erreicht die Pro-
Behinderung besiegte, 1903
duktion ihren Höhepunkt und pendelt sich dann bis zum Zeit-
Eine Blume entfaltet sich entsprechend ihren genetischen Inst- punkt der Geburt bei etwa 23 Mrd. ein (Rabinowicz et al. 1996,
ruktionen. Auch der Mensch erlebt eine geordnete Abfolge von 1999; de Courten-Myers 2002).
biologischen Wachstumsprozessen, die genetisch begründet Von Geburt an entwickeln sich Gehirn und Verstand – neu-
sind. Diese Prozesse werden Reifung genannt. Die Reifung hat ronale Hardware und kognitive Software – gemeinsam. Am Tag
einen bestimmenden Einfluss auf viele menschliche Gemein- Ihrer Geburt waren bereits fast alle Gehirnzellen vorhanden, die
samkeiten im Entwicklungsverlauf: Jedes Kind lernt stehen, ehe Sie je haben werden. Zu diesem Zeitpunkt war das Nervensystem
es laufen lernt, und es verwendet Substantive früher als Adjek- jedoch noch unreif: Das neuronale Netz, das Ihnen die Fähigkeit
tive. Schwere Deprivation, Misshandlung oder Missbrauch kön- zu laufen verleiht, zu sprechen und sich zu erinnern, legte einen
nen diesen Prozess verzögern. Doch die Tendenz zum Wachsen stürmischen Wachstumsschub hin (. Abb. 6.6). Zwischen dem
und zur Entwicklung ist genetisch bedingt, also angeboren. Die 3. und dem 6. Lebensjahr wachsen die Nervenverbindungen in
Reifung (»nature«) legt die grundlegende Richtung der Entwick- den Frontallappen am schnellsten; sie sind für rationales Planen
lung fest, über die Erfahrungen (»nurture«) erfolgt die Feinab- zuständig. Deswegen entwickelt sich die Fähigkeit, Aufmerksam-
stimmung. Hierin zeigt sich ein weiteres Mal das Zusammenspiel keit und Verhalten zu kontrollieren, bei Kindern im Vorschul-
von Genen und Umfeld. alter sehr schnell (Garon et al. 2008).
Die Assoziationsfelder des Großhirns – die mit Denken, Ge-
Reifung (»maturation«) – biologische Wachstumsprozesse, die die
Grundlage für systematisch und von äußeren Verhältnissen und Erfahrun- dächtnis und Sprache in Zusammenhang gebracht werden – sind
gen relativ unbeeinflusst ablaufende Verhaltensänderungen sind. die letzten Bereiche des Gehirns, die sich entwickeln. In dem
Maße, wie dies geschieht, nehmen die geistigen Fähigkeiten ra-
pide zu (Chugani u. Phelps 1986; Thatcher et al. 1987). Die Ner-
184 Kapitel 6 · Entwicklung über die Lebensspanne

1. Geburtstag und 90% mit 15 Monaten (Frankenburg et al.


1992). Das für Säuglinge empfohlene Schlafen in Rückenlage
(wenn man Babys zum Schlafen auf den Rücken legt, verringert
sich das Risiko eines plötzlichen Kindstods) wurde damit in Zu-
sammenhang gebracht, dass sie etwas später krabbeln, aber nicht
damit, dass sie später gehen können (Davis et al. 1998; Lipsitt
2003).

Nachdem im Jahr 1994 in den USA die Kampagne »Back to Sleep«


(»Schlafen in Rückenlage«) angelaufen war, fiel der Prozentsatz
von Säuglingen, die auf dem Bauch schliefen, von 70% auf
11%. In derselben Zeit reduzierte sich die Auftretenshäufigkeit
6 des plötzlichen Kindestodes um die Hälfte (Braiker 2005).

Die genetische Veranlagung spielt eine wichtige Rolle. Eineiige


Zwillinge können typischerweise fast zeitgleich laufen (Wilson
1979). Der biologische Reifungsprozess – und dazu gehört die
rasche Entwicklung des Kleinhirns an der Rückseite des Gehirns
– schafft die Voraussetzungen dafür, dass wir mit etwa 1 Jahr
laufen lernen. Vorheriges Üben hat nur begrenzte Wirkung. Das
gilt auch für andere körperliche Fähigkeiten, z. B. für die Kon-
trolle von Blase und Darm. Ehe die dazu erforderlichen Muskeln
und Nerven nicht ausgereift sind, wird das Kind nicht sauber,
weder mit Bitten noch mit Drängen oder Strafen.

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5 Der biologische Prozess der erklärt,


. Abb. 6.7 Die körperliche Entwicklung. Sitzen – krabbeln – laufen –
warum die meisten Kleinkinder zwischen dem 12. und
rennen: Die Reihenfolge dieser Stufen der motorischen Entwicklung
des Kleinkindes ist überall auf der Welt gleich; variabel ist jedoch das Alter, dem 15. Lebensmonat laufen lernen.
in dem das Kind eine neue Stufe erobert. (© photos.com)

venbahnen, die eine unterstützende Funktion für die Sprache Reifungsprozess und kindliches Gedächtnis
und die Beweglichkeit haben, breiten sich bis zur Pubertät weiter Können Sie sich an Ihren ersten Kindergartentag oder an die
aus; danach werden in einem Ausdünnungsprozess nach dem Feier zu Ihrem 3. Geburtstag erinnern? Unsere frühesten Erinne-
Prinzip »use it or lose it« überzählige Verbindungen gestutzt und rungen reichen selten in die Zeit vor unserem 3. Geburtstag zu-
verschwinden allmählich, während andere Nervenbahnen ver- rück (. Abb. 6.8). Sehr deutlich wurde diese »infantile Amnesie«
stärkt werden (Paus et al. 1999; Thompson et al. 2000). bei den Erinnerungen einer Gruppe von Vorschulkindern, die
ein Feuer erlebt hatten, verursacht durch eine in Brand geratene
Motorische Entwicklung Popcornpfanne. Nach 7 Jahren konnten sie sich noch an den
Die Entwicklung des Gehirns ermöglicht die Koordination der Alarm und seine Ursache erinnern – falls sie zu diesem Zeit-
Bewegungen. Mit dem fortschreitenden Reifungsprozess der punkt 4 bis 5 Jahre alt waren. Die Kinder, die damals erst 3 Jahre
Muskeln und des Nervensystems werden komplexere Bewe- alt waren, konnten sich nicht an die Ursache erinnern, und ins-
gungsabläufe möglich. Bis auf wenige Ausnahmen verläuft die gesamt wussten sie nicht sicher, ob sie schon im Freien waren, als
körperliche (motorische) Entwicklung überall auf der Welt in der Alarm ausgelöst wurde (Pillemer 1995). Diese und andere
derselben Reihenfolge. Ehe das Baby ohne Hilfe sitzen kann, rollt Untersuchungen bestätigen, dass das Durchschnittsalter der frü-
es sich herum; bevor es laufen kann, krabbelt es auf allen Vieren hesten bewussten Erinnerung bei 3,5 Jahren liegt (Bauer 2002,
(. Abb. 6.7). Dieses Verhalten ist keine Nachahmung – auch blin- 2007). Die infantile Amnesie nimmt allmählich ab, wenn Kinder
de Kinder krabbeln, ehe sie laufen –, sondern es ist Ausdruck des 4, 6 und schließlich 8 Jahre alt werden. In dieser Zeit nimmt
reifenden Nervensystems. ihre Fähigkeit zu, sich an Erfahrungen zu erinnern, und das
Allerdings ist der Zeitpunkt individuell verschieden. So kön- auch für längere Zeiträume von einem Jahr oder sogar darüber
nen im westlichen Kulturkreis beispielsweise 25% aller Babys mit hinaus (Bruce et al. 2000; Morris et al. 2010). Die Gehirnre-
11 Monaten laufen, 50% innerhalb einer Woche nach ihrem gionen, die bedeutsam sind für das Gedächtnis, wie etwa der
6.3 · Kleinkindzeit und Kindheit
185 6

. Abb. 6.8 (Copyright © The New Yorker Collection, 2008, Michael Maslin/cartoonbank.com)

Hippocampus und der Frontallappen, reifen noch bis ins Jugend- der Bewegung des Mobiles gelernt. In Fällen allerdings, in denen
alter (Bauer 2007). Kinder am Folgetag mit einem anderen Mobile verbunden wur-
Zwar gibt es so gut wie keine bewussten Erinnerungen an die den, zeigten die Säuglinge keinerlei Anzeichen des beobachteten
Zeit vor dem Alter von 4 Jahren, doch arbeitet das Gedächtnis Lernprozesses. Diese Beobachtung zeigte, dass sich die Kinder an
bereits in dieser Zeit. Während sie im Jahre 1965 ihre Doktor- das ursprüngliche Mobile erinnern konnten und den Unter-
arbeit in Psychologie fertig schrieb, beobachtete Carolyn Rovee- schied zum neuen Mobile erkannten. Darüber hinaus erkannten
Collier eine frühkindliche Erinnerung. Sie war auch eine junge sie das ursprüngliche Mobile auch noch einen Monat später und
Mutter und ihr 2 Monate alter, unruhiger Sohn Benjamin be- begannen zu treten, wenn ihre Füße erneut mit ihm verbunden
ruhigte sich beim Anblick der Bewegung eines Mobile, das über wurden (. Abb. 6.9).
seinem Kinderbett angebracht war. Als sie vom Anstoßen des Auch Spuren einer als Kind gehörten Sprache können erhal-
Mobile gelangweilt war, brachte sie eine Stoffschnur an, die das ten bleiben. In einer Studie zu diesem Thema wurden englisch-
Mobile mit Benjamins Fuß verband. Bald darauf begann er mit sprachige britische Erwachsene untersucht, die keine bewussten
seinem Fuß zu treten, um das Mobile in Bewegung zu setzen. Als Erinnerungen an die Sprachen Hindi und Zulu hatten, die sie
sie über ihr unbeabsichtigtes Heimexperiment nachdachte, er- als Kleinkinder gesprochen hatten. Dennoch konnten sie bis
kannte Rovee-Collier, dass Babys entgegen der weit verbreiteten zum Alter von 40 Jahren feine Lautunterscheidungen in diesen
Meinung der 1960er Jahre durchaus zum Lernen imstande sind. Sprachen wiedererlernen, die andere Probanden nicht erlernen
Um sicherzustellen, dass es sich bei ihrem Sohn nicht einfach nur konnten (Bowers et al. 2009). Das Nervensystem erinnert sich an
um einen Senkrechtstarter handelte, wiederholte sie das Experi- etwas, was vom Bewusstsein nicht erkannt wird und nicht in
ment mit anderen Säuglingen (Rovee-Collier 1989, 1999). Und Worten ausgedrückt werden kann.
tatsächlich traten auch diese Säuglinge häufiger mit ihren Füßen,
wenn sie mit einem Mobile verbunden waren, und das sowohl
am Tag des Experiments als auch noch am Folgetag. Die Kinder
hatten die Verknüpfung zwischen ihren eigenen Fußtritten und
186 Kapitel 6 · Entwicklung über die Lebensspanne

. Abb. 6.9 Säugling bei der Arbeit. Wenn man den Fuß eines Säuglings . Abb. 6.10 Jean Piaget (1896–1980). »Wenn wir die intellektuelle
durch eine Schnur mit einem Mobile verbindet, können schon 3 Monate Entwicklung eines Individuums oder der gesamten Menschheit betrachten,
alte Säuglinge lernen, dass Strampeln das Mobile in Bewegung setzt, und müssen wir feststellen, dass der menschliche Verstand durch eine be-
sie können sich an das Gelernte etwa 1 Monat lang erinnern. (Rovee-Collier stimmte Anzahl von Stufen verläuft, die sich alle voneinander unterschei-
1989, 1997; © Michael Barton) den« (Piaget 1930). (© picture alliance / Everett Collection)

6.3.2 Kognitive Entwicklung erwachsenen Denkens ist. Wenn wir heute Verständnis dafür
aufbringen, dass »Kinder in höchst unlogischer Weise mit Pro-
blemen umgehen, deren Lösung einem Erwachsenen absolut
? 6.5 Wie entwickelt sich der kindliche Verstand aus der Sicht
selbstverständlich ist« (Brainerd 1996), dann verdanken wir das
von Piaget, Vygotsky und heutiger Wissenschaftler?
zum Teil den Arbeiten von Piaget.
Der Begriff Kognition bezieht sich auf die Gesamtheit der geisti- Des Weiteren glaubte Piaget, dass die Entwicklung des
gen Aktivitäten im Zusammenhang mit Denken, Wissen, Erin- kindlichen Denkens in Stadien erfolgt, eine Art Vorwärts-
nern und Kommunizieren. An irgendeiner Stelle auf unserer bewegung von den einfachen Reflexen des Neugeborenen
heiklen Reise »vom Ei zur Person« (Broks 2007) werden wir uns hin zur Abstraktionsfähigkeit des Erwachsenen. Ein 8-jäh-
unserer selbst bewusst. Doch wann geschah dies und wie hat sich riges Kind versteht Dinge und Zusammenhänge, die ein 3-jäh-
unser Verstand von diesem Moment an weiterentwickelt? Der riges nicht verstehen kann. Ein 8-jähriges Kind kann die
Entwicklungspsychologe Jean Piaget widmete sich zeit seines Analogie erfassen, die in dem Satz ausgedrückt wird: »Einen
Lebens der Beantwortung dieser Fragen. Sein Interesse am Gedanken entwickeln, ist wie Licht im Kopf anschalten.« Ferner
Denken von Kindern wurde 1920 geweckt, als er in Paris Fragen versteht es z. B. auch, dass die Miniaturausgabe einer Rutsche zu
zu einem Intelligenztest für Kinder ausarbeitete (. Abb. 6.10). klein ist, um darauf herunterzurutschen, und dass die Miniatur-
Als er die Tests durchführte, war er fasziniert von den falschen ausgabe eines Autos viel zu klein ist, um hineinzuklettern
Antworten, die bei Kindern einer bestimmten Altersgruppe er- (. Abb. 6.11).
staunlich ähnlich waren. Wo andere nur den Fehler sahen, sah Piaget war der Auffassung, dass die treibende Kraft hinter
Piaget Intelligenz in Aktion. diesem intellektuellen Wachstum der unaufhörliche Kampf
des Menschen ist, seinen Erfahrungen Sinn zu verleihen. Um
Kognition (»cognition«) – Gesamtheit der geistigen Aktivitäten im
Zusammenhang mit Denken, Wissen, Erinnern und Kommunizieren. dieses Ziel zu erreichen, konstruiert der heranreifende Geist
Konzepte, die Piaget Schemata nannte. Unter einem Schema
Ein halbes Jahrhundert Arbeit mit Kindern überzeugte Piaget verstand er eine Art kognitive Struktur, in die unsere Erfah-
davon, dass das kindliche Denken keine Miniaturausgabe des rungen eingeordnet werden (. Abb. 6.12). Als Erwachsene
6.3 · Kleinkindzeit und Kindheit
187 6

. Abb. 6.12 Ein unmögliches Objekt. Betrachten Sie diese »Teufels-


stimmgabel« aufmerksam. Schauen Sie dann woanders hin – nein, betrach-
ten Sie sie lieber noch einmal –, dann schauen Sie weg und versuchen
Sie, sie zu zeichnen … Nicht ganz einfach, nicht wahr? Diese Stimmgabel ist
nämlich ein unmögliches Objekt, und Sie haben kein Schema für solch
einen Gegenstand

gepasst, oder, wie Piaget es nannte, akkommodiert. Das Kind


. Abb. 6.11 Fehler bei der Größeneinschätzung. Die Psychologen Judy aus unserem Beispiel lernt sehr schnell, dass das anfängliche
DeLoache, David Uttal und Karl Rosengren (2004) berichten, dass 18 bis Wauwau-Schema zu grob ist, und akkommodiert es, indem es
30 Monate alte Kinder möglicherweise nicht die Größe eines Gegenstands die Kategorien verfeinert. In dem Maße, wie Kinder mit ihrer
in ihre Überlegungen einbeziehen können, wenn sie versuchen, damit
Umwelt interagieren, konstruieren sie ihre Schemata und modi-
etwas zu machen, was einfach nicht möglich ist. (© Hemera / Thinkstock)
fizieren sie, wenn neue Erfahrungen in ihr Weltbild integriert
werden müssen (. Abb. 6.13).
verfügen wir über eine Vielzahl von Schemata, von unserem
Assimilation (»assimilation«) – Interpretation neuer Erfahrungen mit Hilfe
Bild von Hunden und Katzen bis zu unserer Vorstellung von von Begriffen der bereits existierenden Schemata.
Liebe. Akkommodation (»accommodation«) – Modifizierung des bisherigen
Schemas, um neue Informationen integrieren zu können.
Schema (»schema«) – kognitive Struktur, mit der Informationen geordnet
und erklärt werden.
Wie stehen wir heute zu Piagets Theorie?
Für die Anwendung und Erweiterung der Schemata schlug Piaget war der Ansicht, dass Kinder ihr Weltverständnis auf-
Piaget zwei Prozesse vor. Neue Erfahrungen werden zunächst bauen, während sie parallel dazu mit ihrer Umgebung inter-
assimiliert, d. h. sie werden mit den Begriffen des jeweils aktu- agieren. Die kognitive Entwicklung des Kindes verläuft sprung-
ellen Verständnisses (Schema) erklärt. Hat ein Kleinkind bei- haft, wobei nach jedem kognitiven Entwicklungssprung eine
spielsweise ein einfaches Schema für den Begriff Hund, dann Phase der relativen Ruhe eintritt. Jedes der vier Entwicklungs-
wird es wahrscheinlich alle Vierbeiner zunächst einmal »Wau- stadien ist durch ganz spezifische Merkmale gekennzeichnet, die
wau« nennen. Dann wird das Schema der neuen Erfahrung an- eine spezifische Art des Denkens bewirken (. Tab. 6.1).

. Abb. 6.13 Neue Erfahrungen in kognitive Strukturen integrieren. Wir wenden unsere vorhandenen Schemata an, um neue Erfahrungen zu assimilieren.
Doch manchmal müssen wir unsere Schemata akkomodieren (anpassen), um eine neue Erfahrung integrieren zu können
188 Kapitel 6 · Entwicklung über die Lebensspanne

. Tab. 6.1 Stadien der kognitiven Entwicklung nach Piaget

Typischer Altersbereich Stadienbeschreibung Entwicklungsmerkmale

Geburt bis ca. 2 Jahre Sensumotorisch - Objektpermanenz


Erfahren der Welt durch Handlungen und Sinneswahrnehmung - Fremdeln
(schauen, hören, anfassen, in den Mund nehmen, greifen)

Ca. 2.–6. oder 7. Lebensjahr Präoperatorisch - So-tun-als-ob-Spiel


Darstellen von Dingen mit Worten oder Bildern; eher Einsatz des - Egozentrismus
intuitiven als des logischen Denkens

Ca. 7.–11. Lebensjahr Konkret-operatorisch - Mengenerhaltung


Logisches Nachdenken über konkrete Ereignisse; konkrete Analogien - Mathematische Transformationen
erfassen; mathematische Operationen durchführen
6 Ca. 12. Lebensjahr bis zum Formal-operatorisch - Abstrakte Logik
Erwachsenenalter Abstraktes Denken - Potenzial für reifes moralisches Denken

jSensumotorisches Stadium
Während des von Piaget postulierten sensumotorischen Sta-
diums (von der Geburt bis etwa zum 2. Lebensjahr) erlebt der
Säugling die Welt durch die sensorische und motorische Inter-
aktion mit den Objekten seiner Umwelt: durch Sehen, Hören,
Berühren, Belutschen und Greifen. In dem Maß, in dem sich
seine Hände und Glieder bewegen können, lernt er, auf seine
Umwelt einzuwirken.
Sensumotorisches Stadium (»sensorimotor stage«) – nach Piagets
Theorie wird auf dieser Stufe (von der Geburt bis etwa zum 2. Lebensjahr)
die Welt primär als Sinneseindruck wahrgenommen und mit motorischen
Aktivitäten erforscht.

Ganz kleine Kinder leben offenbar nur in der Gegenwart: Was sie
nicht sehen können, existiert nicht. Einer von Piagets Versuchen
bestand darin, dem Kleinkind ein begehrenswertes Spielzeug
zu zeigen und es dann unter seiner Mütze verschwinden zu
lassen. Vor ihrem 6. Lebensmonat verhielten die Säuglinge sich
so, als existiere das Spielzeug nicht mehr. Kinder bis zu diesem
Alter haben keine Objektpermanenz, d. h. es ist ihnen nicht be-
wusst, dass ein Gegenstand weiterhin existiert, auch wenn sie
ihn nicht sehen können. Mit etwa 8 Monaten zeigt das Kind, dass
es sich an Dinge erinnert, die es in diesem Augenblick nicht
sehen kann. Wird das Spielzeug versteckt, dann wird das Kind
unmittelbar nach dem Verschwinden des Spielzeugs danach
suchen (. Abb. 6.14). Ein bis zwei Monate später wird das Kind
auch dann nach dem Spielzeug suchen, wenn es ein paar Sekun-
den lang davon abgehalten wurde.
Objektpermanenz (»object permanence«) – Wissen, dass ein Gegen-
stand weiterhin existiert, auch wenn er gerade nicht wahrgenommen
werden kann.

Kommt die Objektpermanenz bei Kindern mit 8 Monaten tat-


. Abb. 6.14 Objektpermanenz. Für Kinder unter 6 Monaten gilt: Aus den
sächlich mit einer solchen Selbstverständlichkeit, wie die Tulpen
Augen, aus dem Sinn. Sie können nicht begreifen, dass ein Gegenstand
im Frühling blühen? Heutige Entwicklungspsychologen sehen weiter existiert, auch wenn er nicht mehr sichtbar ist. (Fotos aus Lohaus u.
den Entwicklungsprozess stärker als ein Kontinuum, als Piaget Vierhaus 2013, mit freundlicher Genehmigung)
6.3 · Kleinkindzeit und Kindheit
189 6

. Abb. 6.15 Mathematik für Babys. Zeigt man einem Säugling ein zahlenmäßig unmögliches Ergebnis,
dann schaut er länger hin. (Aus Wynn 1992. Reprinted and translated by permission from Macmillan
Publishers Ltd: Nature, Copyright © 1992)

dies tat; und die Objektpermanenz entfaltet sich ihrer Meinung eine Daffy-Duck-Puppe immer 3-mal auf der Bühne hoch-
nach allmählich und schrittweise. Auch ganz kleine Kinder su- springt, dann sind die Kinder daran gewöhnt und reagieren
chen schon zumindest für eine gewisse Zeit nach einem Spiel- mit Erstaunen, wenn die Puppe nur 2-mal springt.
zeug, wenn sie gesehen haben, wie es gerade eben versteckt wur-
de (Wang et al. 2004). Ganz offensichtlich sind Babys klüger, als Piaget annahm. Auch
Die Wissenschaftler glauben heute, dass Piaget und seine An- schon als Babys haben wir viel im Kopf.
hänger die Kompetenz der Kleinen und Kleinsten unterschätzt
haben. Betrachten wir etwa folgende einfache Experimente: jEgozentrismus
4 Kindliches Verständnis von Physik: Erwachsene starren Piaget stellte die Behauptung auf, Vorschulkinder seien ego-
ungläubig auf einen Zaubertrick (das »Na, sowas« im zentrisch: Sie hatten Schwierigkeiten damit, die Dinge aus der
Blick); Kleinkinder tun dasselbe, wenn sie länger auf eine Perspektive eines anderen zu sehen. Die 2-jährige Gabriella
unerwartete Szene schauen, bei der ein Auto scheinbar sollte ihrer Mutter das Bild zeigen, das sie gemalt hatte: Sie hielt
durch einen festen Gegenstand hindurchfährt. Oder wenn es sich selbst vor die Augen. Der 3-jährige Gary machte sich
ein Ball einfach in der Luft stehen bleibt oder wenn ein unsichtbar, indem er sich die Augen zuhielt: Er glaubte, wenn er
Gegenstand die Gesetze der Objektpermanenz verletzt und seine Großeltern nicht sehen könne, dann können ihn auch seine
auf magische Weise verschwindet (Baillargeon 1995, 2008; Großeltern nicht sehen (. Abb. 6.16). Der kindliche Egozentris-
Wellman u. Gelman 1992). mus kommt auch in folgendem Gespräch mit einem kleinen Jun-
4 Kindliches Verständnis von Mathematik: Karen Wynn (1992, gen zum Ausdruck (Phillips 1969, S. 61):
2000; . Abb. 6.15) zeigte 5 Monate alten Kindern einen oder »Hast du einen Bruder?«
zwei Gegenstände. Dann versteckte sie die Gegenstände »Ja.«
hinter einem Stück Pappe und fügte anschließend – gut sicht- »Wie heißt er denn?«
bar für die Kinder – entweder einen weiteren Gegenstand »Jim.«
hinzu oder nahm einen weg. Wurde die Pappe entfernt, dann »Hat Jim einen Bruder?«
schauten die Babys zweimal hin bzw. fixierten die Gegen- »Nein.«
stände länger, wenn die Anzahl falsch war. Dabei ist noch Steht ein Vorschulkind vor dem Fernseher und versperrt
unklar, ob sich die Reaktion der Babys tatsächlich auf die ver- Ihnen die Sicht, dann geht es wie Gabriella davon aus, dass
änderte Anzahl der Gegenstände oder nur auf das veränderte Sie dasselbe sehen, was es selbst sieht. Das Kind hat noch nicht
Erscheinungsbild bezog, das sich ihnen bot, nachdem die die Fähigkeit entwickelt, einen anderen Standpunkt als den
Pappe entfernt wurde (Feigenson et al. 2002). Spätere Ver- eigenen einzunehmen. Selbst als Erwachsene überschätzen wir
suche zeigten aber, dass sich der Zahlensinn von Babys auch noch das Ausmaß, in dem andere unsere Meinungen und Stand-
auf größere Zahlen sowie auf Verhältnisse, Töne (Trommel- punkte teilen, eine Eigenschaft, die als »Fluch des Wissens« be-
schläge) und Bewegungen erstreckt (Libertus u. Brannon zeichnet wird. Wir nehmen an, dass Dinge, die uns klar er-
2009; McCrink u. Wynn 2004; Spelke u. Kinzler 2007). Wenn scheinen, auch anderen Personen klar sind, oder dass ein Emp-
190 Kapitel 6 · Entwicklung über die Lebensspanne

Piaget glaubte nicht, dass sich der Übergang von einem Entwick-
lungsstadium zum nächsten abrupt vollzieht. Wir wissen jedoch
heute, dass symbolisches Denken schon in einem früheren Alter
stattfindet, als er annahm. DeLoache (1987) machte dazu folgen-
des Experiment: Sie zeigte Kindern das Puppenstubenmodell
eines Zimmers und versteckte darin ein Spielzeug, das in der
Größe zu der Puppenstube passte: Ein Spielzeughund wurde hin-
ter dem Spielzeugsofa versteckt. Zweieinhalbjährige Kinder
konnten sich gut daran erinnern, wo der Spielzeughund versteckt
war, konnten jedoch das Spielzeugmodell nicht auf die Wirklich-
keit übertragen: Den Stoffhund hinter dem Sofa im Zimmer fan-
den sie nicht. Doch 3-jährige Kinder – nur 6 Monate älter! – gin-
6 gen in der Regel direkt zum Stoffhund hinter dem konkreten
Sofa. Das heißt, sie waren fähig, das Puppenhaus als Symbol für
das konkrete Zimmer zu sehen. Piaget hätte sich sehr darüber
gewundert.

jTheory of Mind
. Abb. 6.16 Roger hat seinen kindlichen Egozentrismus noch nicht Als Rotkäppchen erkennt, dass ihre »Großmutter« in Wirklich-
überwunden. (Copyright © The New Yorker Collection, 2007, David Sipress/ keit ein Wolf ist, revidierte es seine Vorstellungen über die Ab-
cartoonbank.com)
sichten dieser Kreatur. Obwohl Vorschulkinder noch egozent-
risch sind, entwickeln sie diese Fähigkeit, Schlüsse über mentale
Zustände anderer Personen zu ziehen, wenn sie anfangen, eine
fänger merken wird, wenn wir in einer E-Mail etwas schreiben, Theory of Mind (Theorie über mentale Zustände) zu bilden. Hier
das nur scherzhaft gemeint ist (Epley et al. 2004; Kruger et al. handelt es sich um einen Begriff, der von den Psychologen David
2005). Kinder sind aber noch anfälliger für solche Annahmen. Premack und Guy Woodruff geprägt wurde, um die bei Schim-
Egozentrismus (»egocentrism«) – in Piagets Entwicklungstheorie die
pansen scheinbar vorhandene Fähigkeit zu beschreiben, anderen
mangelnde Fähigkeit des Kindes im präoperatorischen Stadium, den Stand- Absichten am Gesicht abzulesen.
punkt eines anderen Menschen einzunehmen.
Theory of Mind (Theorie über mentale Zustände; »theory of mind«) –
naive Psychologie, mit deren Hilfe sich Menschen die mentalen Zustände
jPräoperatorisches Stadium und inneren Prozesse anderer Menschen erklären. Dadurch sind sie in der
Piaget glaubte, dass Kinder im Vorschulalter und bis zum 6. Lage, die Gefühle, Wahrnehmungen und Gedanken anderer einzuordnen
und Verhaltensweisen vorab einzuschätzen.
oder 7. Lebensjahr ein präoperatorisches Stadium durchlau-
fen, in dem sie noch keine Denkprozesse vollziehen können Schon mit 7 Monaten verfügen Säuglinge teilweise über Wissen
(z. B. sich eine Handlung vorstellen, etwas in Gedanken rück- über die Vorstellungen anderer Menschen (Kovács et al. 2010).
gängig machen). Gibt man einem 5-jährigen Kind ein schmales, Allmählich entwickelt sich beim Kleinkind die Fähigkeit, innere
hohes Glas Milch, dann findet es, dass das »zu viel« ist, akzeptiert Zustände anderer Menschen zu erkennen. Es wird versuchen, zu
jedoch die gleiche Menge, wenn man die Milch in ein kleines, verstehen, was den Spielkameraden geärgert hat, wann die große
breites Glas gießt. Offenbar sieht das Kind nur die Dimension Schwester wohl bereit ist zu teilen und wie man es anstellen muss,
der Höhe und ist nicht fähig, eine Operation auszuführen, bei der damit der Vater ein Spielzeug kauft. In dem Maß, in dem das
die Milch in der Vorstellung ins schmale, hohe Glas zurückge- Kind die Fähigkeit entwickelt, die Perspektive eines anderen
gossen wird. Nach Piaget fehlt Kindern vor dem 6. Lebensjahr Menschen einzunehmen, wächst auch seine Fähigkeit zu necken,
das Konzept der Mengenerhaltung, das Prinzip nämlich, dass etwas nachdrücklich zu verlangen und andere zu überzeugen. Im
eine Menge gleich bleibt, auch wenn sie eine andere Form an- Alter von 3½–4½ Jahren wird den Kindern in allen Kulturen
nimmt (. Abb. 6.17). allmählich klar, dass andere Menschen falsche Überzeugungen
Präoperatorisches Stadium (»preoperational stage«) – in Piagets Theorie haben können (Callaghan et al. 2005; Sabbagh et al. 2006).
die Phase (etwa vom 2. bis zum 6. oder 7. Lebensjahr), in der ein Kind lernt, Jennifer Jenkins und Janet Astington (1996) machten folgenden
Sprache zu verwenden, jedoch die Denkoperationen der konkreten Logik Versuch mit Kindern aus Toronto: Sie zeigten ihnen eine Heft-
noch nicht begreift.
pflasterschachtel und fragten sie, was da wohl drin sei. Da die
Mengenerhaltung (»conservation«) – Wissen, dass Masse, Volumen und
Kinder dachten, es sei Heftpflaster drin, waren sie sehr erstaunt,
Anzahl von Gegenständen gleich bleiben, wenn diese die Form verändern.
Piaget hielt das Erfassen dieses Prinzips für einen Bestandteil des konkret- als sie entdeckten, dass die Schachtel Bleistifte enthielt. Auf die
operatorischen Denkens. Frage, was wohl ein Kind, das nicht in die Schachtel gesehen
6.3 · Kleinkindzeit und Kindheit
191 6

. Abb. 6.18 Untersuchung der Theory of Mind von Kindern. Dieses


einfache Problem ist ein Beispiel dafür, auf welche Weise Wissenschaftler
herausfinden, wie sich ein Kind das Denken anderer Menschen vorstellt.
(Nach Baron-Cohen et al. 1985, with permission from Elsevier)

. Abb. 6.17 Piagets Test zum Prinzip der Mengenerhaltung. Dieses Kind Puppe Anne holt den Ball heraus und legt ihn in einen blauen
im präoperatorischen Stadium versteht das Prinzip der Mengenerhaltung Schrank. Dann wird das Kind gefragt: In welchem Schrank wird
noch nicht. Wenn der Orangensaft in das niedrige, breite Glas gegossen Sally nach ihrem Ball suchen, wenn sie zurückkommt? Autis-
wird, erscheint es ihm auf einmal weniger zu sein, als es im hohen, dünnen
Glas war. In etwa einem Jahr wird das Kind verstehen, dass das Volumen tische Kinder (7 Unter der Lupe: Autismus) haben Probleme, zu
unverändert bleibt. (Fotos aus Lohaus u. Vierhaus 2013, mit freundlicher begreifen, dass Sallys Gedankengang nicht der gleiche ist wie
Genehmigung) ihrer und dass Sally, die ja nicht weiß, dass der Ball herausgenom-
men wurde, ihren Ball in dem roten Schrank sucht. Autistische
hatte, glauben würde, was in der Schachtel wäre, lautete die typi- Kinder können auch ihre eigenen inneren Zustände nicht erken-
sche Antwort der 3-Jährigen: »Bleistifte«. Bei 4- bis 5-jährigen nen. Sie verwenden beispielsweise die Personalpronomina »ich«
Kindern hat die Theory of Mind einen Entwicklungssprung ge- und »mir« oder »mich« relativ selten. Ähnliche Probleme haben
macht, und sie erwarten, ihre Freunde könnten irrigerweise glau- gehörlose Kinder, deren Eltern normal hören und die wenig Ge-
ben, in der Schachtel sei Heftpflaster. legenheit zur Kommunikation haben. Auch sie können nur müh-
In einem späteren Experiment sahen Kinder, wie die Puppe sam die Gefühlszustände anderer Menschen erkennen (Peterson
Sally ihren Ball in einen roten Schrank legt (. Abb. 6.18). Die u. Siegal 1999).
192 Kapitel 6 · Entwicklung über die Lebensspanne

Autismus (»autism«) – Störung, die im Kindesalter auftritt und durch das


Fehlen von Kommunikation, sozialer Interaktion und dem Verständnis für
die seelischen Zustände anderer Menschen gekennzeichnet ist.

Prüfen Sie Ihr Wissen

5 Wie hängt die Theory of Mind mit Autismus zusammen?

jKonkret-operatorisches Stadium
Nach Piagets Theorie erreichen 6- bis 7-jährige Kinder das
konkret-operatorische Stadium. Bietet man ihnen die ent-
sprechenden konkreten Möglichkeiten zum Ausprobieren,
6 begreifen sie sehr schnell das Prinzip der Mengenerhaltung,
dass nämlich eine veränderte Form nicht bedeutet, dass die
Menge verändert wurde. Sie brauchen auch keinen prakti-
schen Beweis mehr, sondern können sich vorstellen, Milch
von einem hohen schmalen in ein kleines breites Glas zu gießen.
In diesem Alter haben Kinder Spaß an Witzen, bei denen sie ihr
neu erworbenes Verständnis für die Mengenerhaltung anwenden
können:
Mr. Jones geht in ein italienisches Lokal und bestellt eine . Abb. 6.19 Lev Vygotsky (1896–1934). Der russische Entwicklungspsy-
chologe Lev Vygotsky (hier mit seiner Tochter) erforschte, wie das kindliche
ganze Pizza zum Abendessen. Der Kellner fragt ihn, ob er die
Denken durch Sprache und soziale Interaktion angeregt wird. (Bildrechte:
Pizza in 6 oder in 8 Stücke schneiden soll. Mr. Jones antwortet: James V. Wertsch / Washington University)
»Bitte nur 6 Stücke, denn 8 Stücke würde ich nicht schaffen.«
(McGhee 1976)
Obwohl die vollständig ausgeprägte Logik und das Schlussfol-
Konkret-operatorisches Stadium (»concrete operational stage«) –
in Piagets Theorie das Stadium der kognitiven Entwicklung (vom 6./7. bis gern bis in die Adoleszenz warten müssen, setzt rudimentäres
zum 11. Lebensjahr), in dem Kinder die geistigen Operationen entwickeln, Denken in formalen Operationen früher ein, als Piaget dachte.
die sie dazu befähigen, logisch über konkrete Ereignisse nachzudenken. Der Entwicklungsschritt vom konkreten zum formalen Denken
wird an folgendem einfachen Beispiel deutlich:
Piaget glaubte, dass Kinder während des konkret-operatorischen Wenn John in der Schule ist, dann ist Mary in der Schule.
Stadiums anfangen, mathematische Transformationen und Er- John ist in der Schule. Was kannst du über Mary aussagen?
haltung zu verstehen. Als meine Tochter Laura 6 Jahre alt war, Kinder, die das formal-operatorische Stadium erreicht haben,
war ich überrascht, dass sie arithmetische Operationen nicht haben keinerlei Schwierigkeiten, diese Frage richtig zu beant-
umkehren konnte. Für die Antwort auf die Frage: »Wie viel ist worten, doch auch die meisten 7-jährigen Kinder können das
8+4?« brauchte sie 5 Sekunden, und dann nochmals 5 Sekunden, (Suppes 1982).
um auszurechnen, wie viel 12–4 ist. Mit 8 Jahren konnte sie die
zweite Aufgabe sofort beantworten. Ein alternativer Standpunkt:
Das Entwicklungsgerüst des Lev Vygotsky
jFormal-operatorisches Stadium Genau wie Jean Piaget eine Theorie der kognitiven Entwick-
Laut Piaget erweitern sich unsere Denkprozesse vom konkreten lung aufstellte, befasste sich auch der russische Psychologe Lev
(auf Erfahrung basierenden) zum abstrakten Denken (ein- Vygotsky (1896–1934) mit dem kindlichen Denken und Lernen
schließlich der Fähigkeit, Fantasiewelten zu schaffen und Sym- (. Abb. 6.19). Er bemerkte, dass Kinder mit 7 Jahren in Wörtern
bole zu verstehen), wenn wir das 12. Lebensjahr erreichen. Viele denken und mit Hilfe dieser Wörter Probleme lösen. Dies gelingt,
Kinder erlangen in der Adoleszenz die Fähigkeit, hypothetische indem die Kinder die Sprache ihrer Kultur internalisieren und
Probleme zu lösen und Konsequenzen abzuleiten. Das Kind auf den inneren Dialog vertrauen. Wenn Eltern die Hand des
verwendet »Wenn-dann«-Denkmuster. Dieses systematische Kindes vom Kuchen wegschieben und dabei »nein« sagen, dann
Schlussfolgern nannte Piaget formale Operationen. geben sie dem Kind ein Werkzeug zur Selbstkontrolle an die
Hand. Ist es später einmal nötig, einer Versuchung zu widerste-
Formal-operatorisches Stadium (»formal operational stage«) –
nach Piaget das Stadium der kognitiven Entwicklung, das normalerweise
hen, dann sagt das Kind wahrscheinlich »nein« zu sich selbst.
mit dem 12. Lebensjahr beginnt. In dieser Phase erwirbt das Kind die Zweitklässler, die beim Rechnen vor sich hin murmeln, erfassen
Fähigkeit, logisch über abstrakte Konzepte nachzudenken. die Mathematik der 3. Klasse im folgenden Jahr leichter (Berk
6.3 · Kleinkindzeit und Kindheit
193 6
1994). Laute oder auch unhörbare Selbstgespräche helfen Kin-
dern, Verhalten und Gefühle zu steuern und neue Fertigkeiten
zu erwerben.
Während Piaget betonte, wie sich das kindliche Denken
durch die Interaktion mit der physischen Umwelt entwickelt,
setzte Vygotsky seinen Schwerpunkt auf die Entwicklung durch
die Interaktion mit der sozialen Umwelt. Während das Kind in
Piagets Vorstellung ein junger Wissenschaftler war, machte Vy-
gotsky Kinder zu jungen Lehrlingen. Wenn Eltern und andere als
Mentoren agieren und Kindern Wörter präsentieren, liefern sie
ihnen ein Gerüst, auf das Kinder steigen können, um ein höheres
Denkniveau zu erreichen (Renninger u. Granott 2005). Vygotsky
(der im selben Jahr geboren wurde wie Piaget, jedoch jung an
Tuberkulose starb) sah die Sprache als zentralen Bestandteil des
sozialen Umfeldes, der die Bausteine des Denkens bereitstellt
(. Abb. 6.20).
. Abb. 6.20 »Kannst du dich nicht daran erinnern, Oma? Du warst doch
Prüfen Sie Ihr Wissen mit mir da.« (© Bil Keane Inc. / King Features Syndicate, Inc. / Distr. Bulls)

5 Für welche Stadien nach Piaget stellen Objekt-


permanenz, So-tun-als-ob-Spiel, Mengenerhaltung Was ist von Piagets Vorstellungen über das Denken von Kindern
und abstrakte Logik jeweils Meilensteine in der und seine Entwicklung geblieben? Viel, sehr viel, und auf jeden
Entwicklung dar? Fall genug, dass die Wochenzeitschrift Time ihn zu einem der
5 Ordnen Sie die folgenden Entwicklungsphänomene einflussreichsten Wissenschaftler und Denker des 20. Jahrhun-
(1–8) den jeweiligen Stadien der kognitiven Entwicklung derts ernannte und er nach einer Umfrage unter britischen Psy-
(a–d) zu: chologen als der bedeutendste Psychologe des 20. Jahrhunderts
a. Sensumotorisch, eingestuft wurde (Psychologist 2003). Piaget entdeckte die Mei-
b. Präoperatorisch, lensteine der kognitiven Entwicklung und lenkte überall auf der
c. Konkret-operatorisch, Welt das Interesse auf die Frage, wie sich das Denken entwickelt.
d. Formal-operatorisch Er legte die Betonung weniger auf das Alter, in dem ein Kind
1. Nachdenken über abstrakte Konzepte, z. B. »Freiheit«. ein bestimmtes Entwicklungsstadium erreicht, sondern eher
2. Starke Angst vor unbekannten Personen. auf die Reihenfolge der Stadien. Rund um den Erdball, bei den
3. Spaß an Phantasiespielen (z. B. Verkleiden). Aborigines in Australien über Algerien bis nach Nordamerika,
4. Fähigkeit, über moralische Werte nachzudenken. wurden Studien durchgeführt, die von seinen Vorstellungen ge-
5. Verständnis, dass physikalische Eigenschaften leitet waren; sie stützten seine Auffassung, dass die kognitive
auch dann erhalten bleiben, wenn Objekte ihre Form Entwicklung des Menschen im Wesentlichen so verläuft, wie er
verändern. es dargestellt hat (Lourenco u. Machado 1996; Segall et al. 1990).
6. Fähigkeit, mathematische Operationen umzukehren. Heute sehen Wissenschaftler jedoch die Entwicklung stärker
7. Verständnis, dass etwas nicht verschwindet, wenn man als Piaget als kontinuierlichen Prozess. Sie entdeckten, dass die
es nicht mehr sehen kann, z. B. wenn die Mutter hinter Anfänge bestimmter typischer Denkprozesse früher liegen, als
dem Duschvorhang »verschwindet«. Piaget annahm, und sie fanden konzeptuelle Fähigkeiten, die
8. Schwierigkeiten dabei, den Standpunkt einer Piaget übersah. Während Piaget die formale Logik für einen ent-
anderen Person einzunehmen (z. B. wenn man die scheidenden Teil der Kognition hielt, messen heutige Wissen-
Sicht einer anderen Person auf den Fernseher schaftler ihr etwas weniger Bedeutung in Bezug auf die Kogni-
versperrt). tion bei. Piaget wäre wahrscheinlich nicht überrascht darüber,
dass seine Vorstellungen heute zu einem Bestandteil unserer
eigenen kognitiven Entwicklung geworden sind: Wir passen
Überlegungen zu Piagets Theorie seine Ideen unseren Vorstellungen an, um neue Befunde akkom-
modieren zu können.
» Wenn man Piagets Einfluss auf die Entwicklungspsychologie
einschätzen soll, dann ist das so, als wolle man den Einfluss jImplikationen für Eltern und Lehrer
von Shakespeare auf die englische Literatur einschätzen. Zukünftige Eltern und Lehrer sollten nicht vergessen, dass die
Der Entwicklungspsychologe Harry Beilin (1992) Logik der Erwachsenen für Kinder nicht nachvollziehbar ist.
194 Kapitel 6 · Entwicklung über die Lebensspanne

Unter der Lupe

Autismus
Aktuellen Schätzungen zufolge haben Autis- Intelligenz aus, die oft zusammenfällt mit schaftler sind heute Anzeichen in den Synap-
musdiagnosen – eine psychische Störung, außergewöhnlichen Fähigkeiten oder einem sen und der grauen Substanz des Gehirns
die sich durch soziale Schwierigkeiten und besonderen Talent in einem spezifischen Be- auf der Spur, die Autismus-Spektrum-Störun-
repetitives Verhalten auszeichnet – zugenom- reich. Gleichzeitig zeigen sich jedoch einge- gen anzeigen könnten (Crawley 2007; Ecker
men. Während früher angenommen wurde, schränkte soziale und kommunikative Fähig- et al. 2010; Garber 2007).
dass eines von 2500 Kindern von Autismus keiten sowie die Tendenz, sich leicht von irrele- Die Rolle der Biologie beim Autismus zeigt sich
betroffen ist, findet sich Autismus oder eine vanten Reizen ablenken zu lassen (Remington auch in Hirnfunktionsstudien. Personen ohne
verwandte Störung heute bei einem von et al. 2009). Autismus gähnen häufig, wenn sie andere
110 US-amerikanischen Kindern und in etwa In einem Verhältnis von 4:1 sind Jungen häufi- Personen gähnen sehen. Und wenn sie sehen,
einem von 100 Kindern in Großbritannien ger von Autismus betroffen als Mädchen. wie eine andere Person lächelt oder die Stirn
6 (CDC 2009; Lilienfeld u. Arkowitz 2007; NAS
2011). Die Zunahme von Autismusdiagnosen
Kinder, bei denen Fruchtwasseruntersuchun-
gen ein höheres pränatales Testosteronniveau
runzelt, und dies imitieren, dann empfinden
sie etwas davon nach, was diese andere Person
ist mit einer Abnahme von Kindern, bei denen zeigen, entwickeln mehr männliche und autis- fühlt. Bei Personen mit Autismus zeigt sich
geistige Behinderung oder Lernstörungen tische Wesenszüge (Auyeung et al. 2009). Der jedoch viel weniger Imitationsverhalten.
diagnostiziert wurden, einhergegangen, was Psychologe Simon Baron-Cohen (2008, 2009) Zudem weisen sie auch sehr viel weniger Akti-
den Verdacht nahelegt, dass es sich in vielen vertritt die Auffassung, der Autismus repräsen- vität in Hirnarealen auf, die mit dem Nach-
Fällen um eine Umbenennung der Diagnosen tiere ein »extrem männliches Gehirn«. Er be- ahmen anderer Personen zusammenhängen
handelt (Gernsbacher et al. 2005; Grinker 2007; hauptet, Mädchen seien dafür prädisponiert, (Dapretto et al. 2006; Perra et al. 2008; Senju
Shattuck 2006). Die National Children Study, empathisch, also mitfühlend zu sein. Sie sind et al. 2007). Wenn Autisten beispielsweise die
eine umfangreiche, mit 6,7 Mrd. Dollar budge- eher imstande, etwas aus Gesichtern und von Handbewegung einer anderen Person beob-
tierte Studie, verfolgt das Ziel, 100.000 schwan- Gesten abzulesen, jedoch verschlechtert sich achten, zeigt ihr Gehirn weniger Spiegelungs-
gere Frauen in 105 Ländern in ihre Stichprobe diese Fähigkeit bei der Gabe von Testosteron aktivität, als dies gewöhnlich der Fall ist
aufzunehmen und ihre Kinder bis zu ihrem (van Honk et al. 2011). Gesichter zu lesen ist (Oberman u. Ramachandran 2007; Théoret et
21. Lebensjahr zu begleiten. Teilweise geht es für Autisten eine Herausforderung. Obwohl es al. 2005). Wissenschaftler sind dabei, die Idee
dabei darum, die steigenden Zahlen von Autis- eine gewisse Überlappung zwischen den eines »kaputten Spiegels« bei Personen mit
musdiagnosen zu erklären, wie auch Frühge- Geschlechtern gibt, neigen Jungen seiner Autismus näher zu erforschen und kontrovers
burten, Übergewicht in der Kindheit und Asth- Meinung nach eher dazu, »Systematisierer« zu zu diskutieren (Gallese et al. 2011).
ma (Belluck 2010; Murphy 2008). sein – die Dinge nach Regeln und Gesetzen Auf der Suche nach einem Weg, um »Empathie
Dem Autismus scheint eine unzureichende wie in mathematischen und mechanischen zu systematisieren«, arbeiteten Baron-Cohen
Kommunikation zwischen Hirnarealen zugrun- Systemen zu verstehen. und seine Kollegen an der Cambridge Univer-
de zu liegen, die normalerweise zusammen- Wenn zwei Systematisierer ein Kind haben, sity (2007; Golan et al. 2010) mit der britischen
arbeiten, um uns die Übernahme fremder Sicht- wird gemäß dieser Theorie das Risiko größer National Autistic Society und einer Filmpro-
weisen zu gestatten. Menschen mit Autismus sein, dass sie ein Kind mit Autismus haben duktionsfirma zusammen. Basierend auf der
wird deswegen eine beeinträchtigte Theory of werden. Und wegen »passender Partnerwahl« Beobachtung, dass sich Fernsehsendungen,
Mind nachgesagt (Rajendran u. Mitchell 2007; – der Neigung von Menschen, sich Partner in denen Fahrzeuge vorkommen, bei Kindern
Senju et al. 2009). Sie haben Schwierigkeiten, auszuwählen, die ihre eigenen Interessen mit Autismus großer Beliebtheit erfreuen,
die Gedanken und Gefühle anderer Menschen teilen –werden zwei Systematisierer, so merkt entwickelten sie Animationen, in denen Spiel-
wahrzunehmen. Sie können nicht akzeptieren, er an, tatsächlich oft zum Paar. »Ich möchte zeugstraßenbahnen, -züge und -traktoren im
dass Spielkameraden oder Eltern die Dinge die Bedeutung von Umweltfaktoren nicht un- Kinderzimmer eines fiktiven Jungen Gesichter
anders sehen als sie selbst. Intuitives Gedanken- berücksichtigt lassen; ich sage nur: Vergessen mit verschiedenen Emotionsausdrücken auf-
lesen (bringt das Gesicht ein selbstzufriedenes Sie die Biologie nicht.« gesetzt wurden (. Abb. 6.21). Nachdem der
Lächeln oder ein verächtliches Grinsen zum Zwillings- und Geschwisterstudien liefern Indi- Junge sein Zimmer verlassen hatte, um zur
Ausdruck?) ist für Menschen mit Autismus eine zien für biologische Einflüsse. Wenn ein ein- Schule zu gehen, beginnen die Fahrzeuge,
schwierige Angelegenheit. Fast alle Kinder eiiger Zwilling die Diagnose Autismus erhält, sich zu bewegen. Dabei machen sie verschie-
lernen, dass die herabgezogenen Mundwinkel dann liegt die Wahrscheinlichkeit dafür, dass dene Erfahrungen, bei denen sie unterschied-
eines anderen Kindes bedeuten, dass es traurig auch beim zweiten Zwilling Autismus vorliegt, liche Emotionen empfinden und ausdrücken
ist und dass ein Glitzern in den Augen ein Zei- bei 50–70% (Lichtenstein et al. 2010; Sebat (es wird Ihnen bestimmt gefallen, sich die Ani-
chen von Glück oder Unheil ist. Ein autistisches et al. 2007). Jüngere Geschwister von Kindern mationen unter http://www.thetransporters.
Kind kann diese Zeichen nicht deuten (Frith u. mit Autismus weisen ebenfalls ein erhöhtes com anzusehen). Die Forscher waren über-
Frith 2010). In der Hoffnung darauf, ein Heilmit- Risiko auf (Sutcliffe 2008). Auch zufällige rascht über das Ausmaß, in dem es den
tel zu finden, setzen Eltern ihre Kinder teilweise Mutationen in Zellen, die Spermien produzie- Kindern gelang, das Gelernte auf neue, reale
fragwürdigen Methoden aus (Shute 2010). ren, könnten eine Rolle spielen. Bei älteren Situationen zu übertragen. Am Ende der
Der Begriff Autismus-Spektrum-Störung umfasst Männern kommt es häufiger zu solchen Muta- Intervention entsprach ihre zuvor einge-
zahlreiche Störungsbilder. Eine davon ist als tionen, was erklären könnte, weswegen Män- schränkte Fähigkeit, Gefühle an echten Ge-
Asperger-Syndrom bekannt – eine sog. hoch- ner über 40 ein sehr viel höheres Risiko haben, sichtern abzulesen, derjenigen von Kindern
funktionale Form des Autismus. Das Asperger- Kinder mit Autismus zu zeugen, als Männer ohne Autismus.
Syndrom zeichnet sich durch eine normale unter 30 (Reichenberg et al. 2007). Wissen-
6.3 · Kleinkindzeit und Kindheit
195 6
. Abb. 6.21a,b Fahrzeuge in einer Welt der Gefühle. a Ein Forscher-
team am Autism Research Centre der Cambridge University zeigte Kindern
mit Autismus Spielzeugfahrzeuge, die Gefühle empfanden und zeigten.
(© Autism Research Trust, www.thetransporters.com, courtesy Autism
Transporters CIC) b Nachdem die Kinder 4 Wochen lang solche Anima-
tionen gesehen hatten, zeigten sie eine bemerkenswerte Verbesserung
darin, Gefühle nicht nur in den Spielzeuggesichtern, sondern auch bei
Menschen abzulesen. Sie konnten den jeweiligen Gesichtsausdruck der
Geschichte und dem Foto zuordnen; die Grafik zeigt die Daten für beide
Versuche, Zeitpunkt 1 vor und Zeitpunkt 2 nach der Intervention

Vorschulkinder, die unsere Sicht auf den Fernseher versperren, 6.3.3 Soziale Entwicklung
haben einfach noch nicht gelernt, die Perspektive einer anderen
Person einzunehmen. Ein für uns Erwachsene simpler und
? 6.6 Wie entsteht die Eltern-Kind-Bindung?
offensichtlicher Tatbestand – wenn das eine Kind von der Wippe
springt, schlägt das andere Kind heftig auf dem Boden auf – ist Säuglinge sind von Geburt an gesellig. In allen Kulturen ent-
für ein 3-jähriges Kind nicht einsichtig. Darüber hinaus sind wickeln sie eine intensive Beziehung zu ihren Betreuungsper-
Kinder keine passiven Aufnahmebehälter, die darauf warten sonen. Neugeborene zeigen von Anfang an eine Vorliebe für
mit Wissen gefüllt zu werden. Es ist besser, an die Dinge anzu- vertraute Gesichter und Stimmen, und bald reagieren sie mit
knüpfen, die sie bereits wissen, sie durch Vormachen anzuregen Gurren und Glucksen, wenn die Mutter oder der Vater sich ihnen
und sie dazu zu bringen, selbst nachzudenken. Wir müssen die zuwendet. Doch dann geschieht etwas Merkwürdiges: Kaum
fehlende kognitive Reife von Kindern als Anpassungsprozess kann ein Kind sich aus eigener Kraft fortbewegen (krabbeln)
verstehen, als eine von der Natur vorgesehene Strategie, deren und entwickelt ein Gefühl für Objektpermanenz, zeigt es in den
Zweck es ist, Kinder im Schutz von Erwachsenen aufwachsen zu meisten Kulturen Angst vor unbekannten Personen: Es »frem-
lassen und ihnen dadurch Zeit zum Lernen und zur Sozialisation delt« (. Abb. 6.22). Mit etwa 8 Monaten reagiert es möglicher-
zu geben (Bjorklund u. Green 1992). weise mit Schreien auf unbekannte Menschen und streckt die
Ärmchen nach den vertrauten Bezugspersonen aus, als wolle es
» Die Kindheit hat ihre eigene Art zu sehen, zu denken und zu
sagen: »Nein! Lass mich nicht allein!« In diesem Alter verfügen
empfinden; nichts ist unvernünftiger, als unsere Art an Stelle
Kinder über Schemata für vertraute Gesichter, und wenn sie ein
dessen zu setzen.
neues Gesicht nicht in diese Schemata assimilieren können,
Jean-Jacques Rousseau, Philosoph, 1798
geraten sie aus der Fassung (Kagan 1984). Einmal mehr zeigt sich
hier ein wichtiges Prinzip: Das Gehirn, der Verstand und das
sozial-emotionale Verhalten entwickeln sich gemeinsam.
Fremdeln (»stranger anxiety«) – Furcht vor Menschen, die dem Kind
unbekannt sind. Das Fremdeln tritt allgemein bei Kindern im 8. Lebens-
monat erstmals auf.
196 Kapitel 6 · Entwicklung über die Lebensspanne

6
. Abb. 6.22 Fremdeln. Die neu auftauchende Fähigkeit, Menschen als
unbekannt und damit möglicherweise als bedrohlich einzuschätzen, trägt
dazu bei, Säuglinge im Alter von 8 oder mehr Monaten vor Schaden zu
bewahren. (© klickerminth / Fotolia)

. Abb. 6.23 Harlows Mütter. Die Psychologen Harry und Margaret Harlow
Ursprünge des Bindungsverhaltens zogen Affen mit zwei künstlichen Müttern auf: Die eine war ein nur aus
Mit 12 Monaten klammern sich viele Kinder an einen Eltern- Draht bestehender Zylinder und hatte einen hölzernen Kopf. An dieser
»Mutter« war eine Nuckelflasche befestigt. Die andere »Mutter« war auch
teil, wenn sie Angst haben oder eine Trennung befürchten. Sind ein Drahtzylinder, hatte keine Nuckelflasche, war aber mit Schaumstoff
Kind und Bezugsperson nach einer Trennung wieder vereint, umhüllt und mit einer Plüschdecke bezogen. Was die Harlows entdeckten,
überschüttet das Kind den vermissten Menschen mit Lächeln überraschte viele Psychologen: Die Äffchen suchten weit mehr den
und Umarmungen. Kein anderes Sozialverhalten ist so beein- Kontakt mit der tröstlich-weichen Plüschmutter, obwohl die Nuckelflasche
an der anderen Mutter hing. (Mit freundlicher Genehmigung des Harlow
druckend wie diese starke wechselseitige Eltern-Kind-Bindung.
Primate Laboratory, University of Wisconsin)
Der Bund durch Bindung ist eine wirkungsvolle Triebkraft zum
Überleben, die Kinder nah bei ihren Betreuungspersonen blei-
ben lässt. Der Säugling entwickelt eine Bindung an die Menschen Diese Bindung an die Decke widersprach nach Auffassung
– normalerweise seine Eltern –, die ihm vertraut sind und die der Harlows der Vorstellung, dass sich Bindungsverhalten auf
ihm Geborgenheit bieten. Viele Jahre lang hatten die Entwick- die Assoziation mit Nahrung zurückführen lässt. Doch wie ließ
lungspsychologen geglaubt, Säuglinge bauten eine Bindung zu sich das noch überzeugender demonstrieren? Die Harlows
den Menschen auf, die ihr Bedürfnis nach Nahrung befriedigen. wollten die Anziehungskraft einer Futterquelle gegen den tröst-
Das klang einleuchtend. Doch ein Zufallsbefund stellte diese lichen Kontakt mit der Decke ausspielen und schufen deshalb
Erklärung radikal in Frage. zwei künstliche »Mütter«. Die eine war ein Drahtzylinder mit
einem Kopf aus Holz, an der eine Saugflasche angebracht war,
Bindung (»attachment«) – emotionales Band zwischen dem sehr kleinen
Kind und seiner Bezugsperson. Das Kind sucht die Nähe zur Bezugsperson die andere ein Drahtzylinder, der von einer Plüschdecke um-
und reagiert auf Trennung mit Kummer und Schmerz. hüllt war.
Wurden die Äffchen mit beiden großgezogen, dann zogen
jKörperkontakt sie mit überwältigender Mehrheit die tröstliche Plüschmutter vor
In den 50er Jahren des vorigen Jahrhunderts zogen die Psy- (. Abb. 6.23). Wie Säuglinge, die sich an ihre Mutter klammern,
chologen Margaret und Harry Harlow von der University of klammerten sich die Äffchen an ihre Plüschmutter, wenn sie
Wisconsin Affen groß, die sie für ihre Lernexperimente brauch- Angst hatten. Sie benutzten sie auch als geschützte Basis, von der
ten. Sie wollten alle Affenkinder unter den gleichen Bedingungen aus sie Ausflüge in die Umgebung wagten, als wären sie durch ein
aufziehen und sie gegen Krankheiten abschirmen. Deshalb unsichtbares Gummiband, das sich ein Stück weit dehnte und
trennten sie die Affenkinder kurz nach der Geburt von ihren dann das Affenkind zurückzog, mit der Mutter verbunden. In
Müttern, brachten sie in hygienisch sauberen Käfigen unter weiteren Studien wurden noch andere Eigenschaften gefunden,
und gaben ihnen eine weiche Babydecke aus Mull (Harlow et al. die das Bindungsverhalten beeinflussen: auf den Armen wiegen,
1971). Zur Überraschung der Wissenschaftler entwickelten die Wärme und Nahrung spenden – all das machte die Plüschmutter
Affenbabys eine intensive Beziehung zu ihrer Decke: Nahm man nur noch attraktiver.
sie ihnen weg, um sie zu waschen, zeigten die kleinen Affen alle Auch Babys entwickeln eine Bindung zu den Eltern, die
Zeichen von Kummer und Stress. weich und warm sind, das Kind in den Armen wiegen, füttern
6.3 · Kleinkindzeit und Kindheit
197 6
und streicheln. Ein Großteil der emotionalen Kommunikation
zwischen Säugling und Eltern vollzieht sich über Berührungen
(Hertenstein et al. 2006), die entweder tröstend (Kuscheln) oder
erregend (Kitzeln) sein können. Auch bei Menschen bedeutet
Bindungsverhalten, dass ein Mensch für den anderen ein sicherer
Zufluchtsort in Augenblicken der Not ist und eine geschützte
Basis, von der aus man die Umgebung erforschen kann. In dem
Maß, wie wir heranwachsen und uns entwickeln, verlagert sich
dieses Sicherheitsgefühl von den Eltern auf Gleichaltrige und auf
Partner (Cassidy u. Shaver 1999). Gesellige Wesen sind wir aller-
dings in jedem Alter. Wenn uns jemand mit Worten oder Taten
ein Gefühl der Sicherheit gibt, gibt uns dies Stärke: »Ich bin da.
Mein Interesse gilt dir. Komme, was da kommen mag, ich unter-
stütze dich« (Crowell u. Waters 1994).

Für manche Menschen hat die wahrgenommene Beziehung zu


Gott die gleiche Funktion wie andere Bindungen – sie bietet eine
geschützte Basis zum Erkunden und einen sicheren Zufluchtsort
bei Bedrohungen (Granqvist et al. 2010; Kirkpatrick 1999).

jVertrautheit
Kontakt ist der eine Schlüsselbegriff für Bindungsverhalten,
ein anderer ist Vertrautheit. Bei vielen Tieren bildet sich eine
auf Vertrautheit beruhende Bindung während einer kritischen
Phase aus. Dabei handelt es sich um einen optimalen Zeitpunkt . Abb. 6.24 Prägung. Schreikraniche lernen ihr Wanderverhalten nor-
kurz nach der Geburt, zu dem bestimmte Dinge geschehen malerweise dadurch, dass sie ihren Eltern folgen. Diese Kraniche wurden
beim Schlüpfen auf einen kranichförmigen Ultraleicht-Flieger geprägt,
müssen, wenn die Entwicklung richtig verlaufen soll (Bornstein
der sie im Winter zu Brutgebieten führen kann. (Mooallem 2009; © Boris
1989). Roessler / picture-alliance / dpa)
Kritische Phase (»critical period«) – wird ein Organismus zu diesem opti-
malen, frühen Zeitpunkt bestimmten Reizen oder Erfahrungen ausgesetzt,
so wird der angemessene Entwicklungsprozess in Gang gesetzt.
haben. Das bloße Zusammensein mit Menschen und Dingen
Wenn ein Gänse-, Enten- oder Hühnerküken aus dem Ei schlüpft, verstärkt die Zuneigung (7 Kap. 15). Kinder lieben es, immer
ist normalerweise die Mutter das erste Objekt, das es erblickt und wieder dasselbe Buch vorgelesen zu bekommen, denselben Film
das sich bewegt. Von diesem Moment an folgt das Junge der Mut- anzuschauen und Familientraditionen nachzuspielen. Sie bevor-
ter und zwar nur ihr. zugen es, bekannte Speisen zu essen, dieselben vertrauten Nach-
Dieser starre Bindungsprozess, Prägung genannt, wurde von barn zu haben und mit denselben alten Freunden zur Schule zu
Konrad Lorenz (1937) erforscht. Er stellte sich folgende Frage: gehen. Vertrautheit bedeutet für Kinder Sicherheit und schafft
Was würden Entenküken tun, wenn er selbst das erste Lebe- Zufriedenheit.
wesen wäre, das sie erblickten? Nun, sie taten, was sie tun
Prüfen Sie Ihr Wissen
mussten: Sie folgten ihm überall hin. Weitere Tests zeigten,
dass bei Vogeljungen zwar die beste Prägung die auf ein Tier 5 Inwiefern unterscheidet sich Prägung von Bindung?
ihrer eigenen Art war, dass sie sich jedoch auch auf Tiere einer
anderen Gattung oder auf bewegliche Objekte prägen ließen,
etwa auf eine Kiste auf Rädern oder einen hüpfenden Gummi-
ball (Colombo 1982; Johnson 1992; . Abb. 6.24). Hat sich diese Unterschiede in der Bindung
Bindung erst einmal entwickelt, lässt sie sich nur schwer rück-
? 6.7 Wie haben Forscher Unterschiede in der Bindung unter-
gängig machen.
sucht und zu welchen Erkenntnissen kamen sie dadurch?
Prägung (»imprinting«) – Vorgang, der bei manchen Tieren zur Ausbildung
eines Bindungsverhaltens führt. Die Prägung erfolgt in der kritischen Phase. Wie lassen sich Unterschiede bei der Bindung erklären? Um
dieser Frage nachzugehen, entwickelte Mary Ainsworth (1979)
Kinder sind keine Entenküken, bei ihnen findet keine Prägung einen Test, der als »fremde Situation« bezeichnet wird. Während
statt. Sie entwickeln Bindungen zu dem, was sie kennengelernt der ersten 6 Lebensmonate beobachtete sie Mutter-Kind-Dyaden
198 Kapitel 6 · Entwicklung über die Lebensspanne

charakteristischen emotionalen Reaktionsbereitschaft und -in-


tensität? Kurz nach der Geburt sind einige Babys deutlich er-
kennbar »schwierig« – irritierbar, heftig und unvorhersehbar
reagierend. Andere sind »einfach« – fröhlich, entspannt, mit
vorhersagbaren Schlaf- und Nahrungsmustern (Chess u. Tho-
mas 1987). Werden bei diesen Studien derartige angeborene Un-
terschiede nicht berücksichtigt, dann werden »Jagdhunde, die im
Zwinger aufgezogen wurden, mit Pudeln verglichen, die in einer
Wohnung aufgewachsen sind«, kommentiert Judith Harris
(1998). Um also die Faktoren Anlage und Umwelt voneinander
zu trennen, müsste man das elterliche Verhalten variieren und
. Abb. 6.25 Soziale Deprivation und Furcht. Junge Affen, die von künst-
lichen Müttern aufgezogen worden waren, waren starr vor Angst, wenn gleichzeitig das Temperament des Kindes kontrollieren. (Legen
6 man sie ohne ihre Ersatzmütter dem »Fremde-Situation«-Test unterzog. Sie das Buch einen Augenblick beiseite und denken Sie nach: Wie
(Heute achtet man mehr darauf, dass sich die Tiere wohlfühlen, und dieses wären Sie an dieses Problem herangegangen?)
Klima des respektvolleren Umgangs mit Tieren verhindert, dass solche Stu-
Die niederländische Wissenschaftlerin Dymphna van den
dien durchgeführt werden.) (Mit freundlicher Genehmigung des Harlow
Primate Laboratory, University of Wisconsin) Boom entschied sich für folgende Lösung: Sie wies 100 Kinder im
Alter von 6–9 Monaten, die ein eher »schwieriges« Temperament
hatten, entweder einer Versuchsgruppe zu, in der die Mütter in
im häuslichen Umfeld. Spätere Beobachtungen mit einjährigen einfühlsamem Verhalten trainiert wurden, oder einer Kontroll-
Kindern fanden in einer fremden Umgebung statt, üblicher- gruppe, in der die Mütter nicht trainiert wurden. Im Alter von
weise das Spielzimmer eines Psychologischen Instituts. In sol- 12 Monaten wurde bei den Kindern das Bindungsverhalten ge-
chen Beobachtungen zeigen ungefähr 60% der Kinder ein siche- testet, und es zeigte sich, dass 68% von ihnen aus der Versuchs-
res Bindungsverhalten: In Gegenwart der Mutter spielen sie un- gruppe ein sicheres Bindungsverhalten zeigten, während in der
befangen und erforschen fröhlich die neue Umgebung. Verlässt Kontrollgruppe nur 28% so eingestuft wurden. Bei anderen
die Mutter den Raum, werden sie unruhig; kommt die Mutter Studien fand man ebenfalls heraus, dass man durch Interven-
zurück, suchen sie den Kontakt mit ihr. tionsprogramme die Sensibilität der Eltern verbessern kann
Andere Kinder vermeiden eine Bindung oder zeigen ein und, in geringerem Maße, die Bindungssicherheit des Säuglings
unsicheres Bindungsverhalten, das sich durch Ängstlichkeit oder (Bakermans-Kranenburg et al. 2003; Van Zeijl et al. 2006).
das Vermeiden von Vertrauensbeziehungen auszeichnet. Sie Diese Beispiele zeigen, dass die Betreuung durch die Mutter
sind weniger eifrig damit beschäftigt, die neue Umgebung zu häufiger Gegenstand der Forschung war als die Betreuung durch
erforschen, manchmal klammern sie sich in dieser Situation den Vater. Wenn Kleinkinder nicht von der Mutter betreut
sogar an die Mutter. Wenn diese den Raum verlässt, weinen sie werden, dann nennt man das »Deprivation«; fehlt jedoch die
laut und wirken verstört, oder sie reagieren überhaupt nicht auf Betreuung durch den Vater, dann heißt es lediglich, das Kind
das Verschwinden und die Rückkehr der Mutter (Ainsworth mache die Erfahrung des »abwesenden Vaters«. »Fathering a
1973, 1989; Kagan 1995; van Ijzendoorn u. Kroonenberg 1988). child« bedeutet im Englischen, ein Kind zu zeugen; »mothering«
Die Ergebnisse von Ainsworth und anderen Forschern zei- dagegen bedeutet, ein Kind zu betreuen. Auch im Deutschen gibt
gen, dass die Kinder von aufgeschlossenen, einfühlsamen Müt- es nur den Ausdruck »bemuttern« für das Verhalten einer über-
tern, die beobachteten, was ihr Baby tat, und angemessen darauf behütenden Mutter; das väterliche Gegenstück fehlt. Doch es
reagierten, ein sicheres Bindungsverhalten zeigten (De Wolff u. zeigt sich immer deutlicher, dass Väter mehr sind als mobile
van Ijzendoorn 1997). Kinder von wenig aufgeschlossenen, we- Samenbanken. In fast 100 Studien, die weltweit durchgeführt
nig einfühlsamen Müttern – Mütter, die sich nur um ihr Kind wurden, waren väterliche Liebe und Akzeptanz und mütterliche
kümmerten, wenn ihnen gerade danach zu Mute war, es aber Liebe bei Prognosen über die Gesundheit und das Wohlbefinden
ansonsten ignorierten – zeigten häufig ein unsicheres Bindungs- der Kinder miteinander vergleichbar (Rohner u. Veneziano
verhalten. Die Versuche der Harlows mit jungen Affen, bei denen 2001). Bei einer groß angelegten britischen Studie, bei der
die Drahtgestelle sicher die prototypische Form einer uneinfühl- 7259 Kinder von der Geburt bis ins Erwachsenenalter wissen-
samen Mutter darstellten, erbrachten noch deutlichere Effekte: schaftlich begleitet wurden, zeigte sich, dass jene, deren Väter
Wurden die Äffchen ohne ihre künstliche Mutter einer »fremden sich am stärksten in ihrer Elternrolle engagierten (dazu gehörten
Situation« ausgesetzt, reagierten sie mit Angst und Schrecken Ausflüge, Vorlesen und aktives Interesse an der Erziehung der
(. Abb. 6.25). Kinder), in der Schule gewöhnlich bessere Leistungen erbrach-
Die Frage ist allerdings, ob Bindungsverhalten als Folge von ten, selbst wenn man nachträglich viele weitere Faktoren kon-
Erziehung anzusehen ist oder ob der Bindungsstil vom genetisch trollierte wie den Bildungsstand der Eltern und die materielle
beeinflussten Temperament des Kindes abhängt – also von der Stellung der Familie (Flouri u. Buchanan 2004).
6.3 · Kleinkindzeit und Kindheit
199 6
eine furchtsame Haltung entwickeln, die sie ihr Leben lang bei-
behalten.
Urvertrauen (»basic trust«) – laut Erik Erikson ist Urvertrauen das Gefühl,
dass die Welt ein sicherer und vertrauenerweckender Ort ist. Dieses Ver-
trauen entsteht in der frühen Kindheit durch die entsprechenden Erfahrun-
gen mit aufgeschlossenen und einfühlsamen Bezugspersonen.

» Aus dem Konflikt zwischen Vertrauen und Misstrauen ent-


wickelt das Kind Hoffnung; dies ist die früheste Form dessen,
was allmählich zum Sich-Verlassen auf Erwachsene wird.
Erik Erikson, 1983

Wenngleich das letzte Wort in dieser Diskussion noch nicht


gesprochen ist, glauben heute viele Wissenschaftler, dass unser
frühes Bindungsverhalten die Grundlage für unsere Beziehun-
gen als Erwachsene bildet und beeinflusst, wie wohl wir uns bei
Zuneigung und Intimität fühlen (Birnbaum et al. 2006; Fraley
2002). Romantische Liebe im Erwachsenenalter zeigt so ent-
. Abb. 6.26 Die Trennung von den Eltern ist für kleine Kinder eine weder Züge von sicherer, vertrauensvoller Bindung, von un-
schmerzliche Erfahrung. Im Rahmen eines Versuchs mussten sich Gruppen sicherer, ängstlicher Bindung oder der Vermeidung von Bindung
von Kindern ohne ihre Mütter in einem Raum aufhalten, den sie nicht kann- (Feeney u. Noller 1990; Rholes u. Simpson 2004; Shaver u. Miku-
ten. Bei beiden Gruppen war der Prozentsatz der Kinder, die mit Schreien
lincer 2007). Dieses Bindungsverhalten erwachsener Menschen
reagierten, wenn die Mutter hinausging, im Alter von 13 Monaten am höch-
sten (nach Kagan 1976). Ob die Kinder in einer Kindertagesstätte oder zu
beeinflusst wiederum die Beziehung zu den eigenen Kindern, da
Hause betreut wurden, machte kaum einen Unterschied vermeidende Personen die Kindeserziehung als stressiger und
unbefriedigender wahrnehmen (Rholes et al. 2006).
Das Bindungsverhalten hat auch Einfluss auf die Motivation
Ob in Nordamerika, Europa, Guatemala oder der Kalahari- (Elliot u. Reis 2003). Sicher gebundene Personen zeigen weniger
Wüste, ob ein Kind zu Hause betreut wird oder in einer Kinder- Furcht vor Misserfolg und einen stärkeren Antrieb, Ziele zu er-
tagesstätte: Die Furcht vor einer Trennung von den Eltern er- reichen. Aber den unsicher gebundenen Personen (und dazu
reicht ihren Höhepunkt mit etwa 13 Monaten und nimmt zählt etwa die Hälfte aller Menschen) muss man auch zugutehal-
dann allmählich ab (. Abb. 6.26). Heißt dies, dass auch das ten, dass ihre ängstlichen und vermeidenden Verhaltensweisen
Bedürfnis nach anderen Menschen oder die Liebe zu ihnen dabei hilfreich sind, Gefahren zu erkennen und ihnen aus dem
dahinschwindet? Wohl kaum. Die Liebesfähigkeit nimmt zu, Weg zu gehen (Ein-Dor et al. 2010).
und die Lust, die es uns bereitet, die Menschen, die wir lieben,
zu berühren oder im Arm zu halten, hört nie auf. Doch die Fehlende oder mangelhafte Bindung
frühe Bindung verliert allmählich ihre Macht, so dass wir uns
? 6.8 Inwiefern beeinflusst es das kindliche Bindungsverhal-
in neue Bereiche und Situationen hinauswagen, leichter mit
ten, wenn Kinder vernachlässigt oder misshandelt werden
fremden Menschen Kontakt aufnehmen und trotz räumlicher
oder ihre Familien auseinanderbrechen?
Entfernung an die Personen, die wir lieben, emotional ge-
bunden bleiben können.
» Was man in der Wiege lernt, bleibt bis zum Grab erhalten.
Französisches Sprichwort
jBindungsverhalten und spätere Beziehungen
Den Entwicklungstheoretiker Erik Erikson (1902–1994) hätte Wenn, wie wir gesehen haben, ein sicheres Bindungsverhalten
das nicht überrascht. Erikson und seine Frau und Mitarbeiterin zur Ausbildung sozialer Kompetenz führt, was geschieht dann,
Joan Erikson stellten fest, dass Kinder mit sicherem Bindungs- wenn ein Kind kein Bindungsverhalten entwickeln kann, weil es
verhalten auf das Leben mit einem Grundgefühl von Urver- die Umstände nicht erlauben? In der gesamten psychologischen
trauen zugehen – mit dem Gefühl, dass die Welt vertrauenswür- Fachliteratur gibt es nichts Traurigeres als die Ergebnisse dieser
dig und verlässlich ist. Er schrieb dieses Grundvertrauen nicht Untersuchungen. Babys, die zu Hause in eine Ecke abgeschoben
nur dem positiven Umfeld oder einer angeborenen Veranlagung und misshandelt oder extrem vernachlässigt werden, ziehen sich
zu, sondern der Art, wie die Eltern mit dem Neugeborenen häufig in sich selbst zurück, sind ängstlich und schreckhaft,
und dem Säugling umgingen. Seine Theorie lautete, dass Kinder, manchmal sogar sprachlos. Dasselbe gilt für solche Kinder, die in
die unter dem segensreichen Einfluss von einfühlsamen und Institutionen aufwachsen, in denen ihnen die Anregung und
liebenden Bezugspersonen leben, eher eine vertrauensvolle als Aufmerksamkeit durch eine ständige Bezugsperson fehlt. Im
200 Kapitel 6 · Entwicklung über die Lebensspanne

. Abb. 6.27 Bindungsdeprivation. In diesem rumänischen Waisenhaus liegt das Verhältnis der 250 Kinder zwischen 1 und 5 Jahren zu ihren Pflegern
bei 10:1. (© Mike Carroll mike@carrollmj.com)

Rumänien der 70er und 80er Jahre des letzten Jahrhunderts wachsenen heranzuwachsen (Helmreich 1992; Masten 2001).
wurde dies für viele Kinder auf tragische Weise Realität. Nach- Dies gilt auch für die meisten Kinder, die Opfer sexueller Miss-
dem er den Entschluss gefasst hatte, dass für eine Anregung des handlung werden, wie die Harvard-Forscherin Susan Clancy
Wirtschaftswachstums des verarmten Landes mehr Human- (2010) berichtet. Dabei betont sie, dass sexueller Missbrauch
kapital vonnöten war, verbat der kommunistische Diktator von Kindern stets abscheulich und niemals auf ein Verschulden
Rumäniens Nicolai Ceauşescu Empfängnisverhütung und Ab- der Opfer zurückzuführen ist.
treibungen und führte erhöhte Steuerabgaben für Familien ein, Doch nicht alle Kinder sind so flexibel, vor allem nicht die,
die weniger als fünf Kinder hatten. Tatsächlich stieg die Gebur- bei denen es keinen scharfen Bruch zwischen dem erlittenen
tenrate sprunghaft an. Da jedoch vielen Familien die Mittel fehl- Missbrauch in ihrer Vergangenheit und einem normalen Leben
ten, sich um ihre Kinder, zu welchen sie regelrecht gezwungen gibt. Die Äffchen der Harlows, die nicht einmal mit einer künst-
worden waren, zu kümmern, gaben sie sie an vom Staat einge- lichen Mutter in vollkommener Isolation aufwuchsen, trugen
richtete Waisenhäuser ab, und überließen sie damit dem dortigen Narben davon, die ein Leben lang blieben. Sie verkrochen sich
ungeschulten und überforderten Personal. Das Verhältnis zwi- ängstlich oder wurden sehr aggressiv, wenn man sie als er-
schen Kindern und Pflegern lag in vielen Fällen bei 15:1 (und wachsene Tiere mit Gleichaltrigen zusammenbrachte. Bei Er-
Sie dachten vielleicht, Drillinge seien anstrengend), sodass den reichen der Geschlechtsreife waren die meisten nicht dazu
Kindern eine gesunde Bindung an zumindest einen Erwachse- fähig, sich zu paaren. Weibchen, die künstlich befruchtet wur-
nen verwehrt blieb (. Abb. 6.27). Nach Ceauşescus Hinrichtung den, vernachlässigten oder missbrauchten häufig ihre erstge-
im Jahr 1989 zeigte eine Untersuchung, dass diese Kinder gerin- borenen Jungen. Manchmal brachten sie diese sogar um. Eine
gere Intelligenzwerte und das Doppelte der 20% von Ängstlich- weitere Primatenstudie bestätigt den Befund, dass Misshandlung
keitssymptomen aufwiesen, die bei Kindern gefunden wurden, wiederum Misshandlung hervorbringt. In dieser Studie zeigten
die in besseren Waisenhäusern großgezogen worden waren 9 von 16 Weibchen, die von ihren Müttern misshandelt worden
(Nelson et al. 2009). Zahlreiche weitere Studien aus 19 Ländern waren, selbst misshandelndes Elternverhalten, wohingegen dies
konnten bestätigen, dass verwaiste Kinder bessere Intelligenz- auf keines der nicht selbst misshandelten Weibchen zutraf
werte erreichen, wenn sie in einer neuen Familie aufwachsen. (Maestripieri 2005).
Dies ist besonders dann der Fall, wenn sie bei der Adoption noch Auch für Menschen gilt, dass die Nichtgeliebten manchmal
sehr jung sind (Van Ijzendoorn et al. 2008). zu Nichtliebesfähigen werden. Die meisten Eltern, die ihre Kin-
Von den Kindern, die unter extrem schwierigen Bedingun- der auf die eine oder andere Weise missbrauchen, – und viele
gen aufwuchsen (etwa Überlebende des Holocaust), haben die verurteilte Mörder – berichten, dass sie als Kinder vernachlässigt
meisten genügend Widerstandskraft, um zu ganz normalen Er- oder geschlagen worden sind (Kempe u. Kempe 1978; Lewis
6.3 · Kleinkindzeit und Kindheit
201 6
et al. 1988). Etwa 30% der Personen, die als Kinder misshandelt Tagesbetreuung
wurden, misshandeln später ihre eigenen Kinder. Obwohl dieser
? 6.9 Wie wirkt Tagesbetreuung auf Kinder?
Wert geringer ist als derjenige, der in den Primatenstudien ge-
funden wurde, liegt er doch um das Vierfache über der natio- In den 50er Jahren des 20. Jahrhunderts, als »Mutter bleibt zu
nalen Rate von Kindesmisshandlung in den USA (Dumont et al. Hause« die allgemeine soziale Norm war, fragten sich Wissen-
2007; Kaufman u. Zigler 1987). schaftler: »Ist Tagesbetreuung schädlich für das Kind? Wird da-
Obwohl die meisten misshandelten Kinder später keine durch die Bindung des Kindes zu seinen Eltern unterbrochen?«
Gewaltverbrechen begehen oder selbst misshandelnde Eltern Die Antwort lautete Nein, zumindest was die Tagesbetreuungs-
werden, können frühe Traumata dennoch Spuren im Gehirn programme von hoher Qualität betraf, die normalerweise
hinterlassen. Misshandelte Kinder zeigen eine Hypersensi- untersucht wurden. Die Entwicklungspsychologin Sandra Scarr
tivität für wütende Gesichter (Pollak 2008). Als Erwachsene schrieb 1986 in ihrem Buch Mother Care, Other Care (dtsch.
haben sie stärkere Schreckreaktionen (Jovanovic et al. 2009). Wenn Mütter arbeiten – wie Kinder und Beruf sich verbinden
Werden Goldhamster, die normalerweise recht gelassen sind, lassen, 1987), dass Kinder – »biologisch gesehen – robuste Indi-
als Jungtiere wiederholt bedroht oder angegriffen, verhalten sie vidualisten sind, die auch in einer Vielzahl verschiedener Situa-
sich wie Feiglinge, wenn sie mit gleichgroßen Hamstern zu- tionen gedeihen können«. Scarr sprach vielen Entwicklungs-
sammengebracht werden, allerdings geradezu tyrannisch, so- psychologen aus dem Herzen, deren Forschung ergeben hatte,
fern sie mit schwächeren Hamstern eingesperrt werden (Ferris dass die Berufstätigkeit der Mutter keinen schädlichen Einfluss
1996). Bei diesen Goldhamstern findet man Veränderungen auf Entwicklung, Bindung und Leistungen der Kinder hatte
beim Serotoninspiegel im Gehirn (Serotonin dämpft aggressive (Friedman u. Boyle 2008; Goldberg et al. 2008; Lucas-Thompson
Impulse). Eine vergleichbar träge Serotoninproduktion fand et al. 2010).
sich bei missbrauchten Kindern, die sich als Teenager und Er- Dann wandte sich die Forschung der Frage zu, ob die unter-
wachsene aggressiv verhielten. »Stress kann hormonelle Verän- schiedliche Qualität der Tagesstätten Auswirkungen auf die un-
derungen hervorrufen, die das Gehirn eines Kindes dahingehend terschiedlichen Temperamente der Kinder hat (Vandell et al.
›verdrahten‹, dass die Welt als ein feindseliger Ort wahrge- 2010). Scarr (1997) erklärte: Überall auf der Welt bietet »Tages-
nommen wird, mit dem man irgendwie fertig werden muss«, betreuung von hoher Qualität Gelegenheit für freundliche und
lautet die Schlussfolgerung des Missbrauchsforschers Martin stützende Interaktionen mit Erwachsenen in einer sicheren, ge-
Teicher (2002). sunden und anregenden Umgebung. … Schlechte Tagesbetreu-
Solche Befunde helfen uns dabei zu verstehen, warum Kin- ung ist langweilig, und man geht dort nicht auf die Bedürfnisse
der, die schwerwiegende oder langandauernde physische und der Kinder ein.« Gut geführte Waisenhäuser können gesunde,
sexuelle Misshandlung durchgestanden haben oder während lebensfrohe Kinder hervorbringen (. Abb. 6.28). Waisenhäuser
eines Krieges Grausamkeiten miterleben mussten, ein erhöhtes in Afrika und Asien, wo viele Kinder aufgrund von Aids und
Risiko für Gesundheitsprobleme, psychische Störungen, Subs- anderer Krankheiten ihre Eltern verlieren, unterscheiden sich in
tanzmissbrauch und Kriminalität haben (Freyd et al. 2005; aller Regel von denen in Ceauşescus Rumänien. Den Kindern,
Kendall-Tackett et al. 1993, 2004; Wegman u. Stetler 2009). Opfer die in solchen Waisenhäusern von hoher Qualität aufwachsen,
von Misshandlung sind einem beträchtlichen Depressionsrisiko ergeht es ebenso gut wie solchen, die in Gemeinschaften groß
ausgesetzt, sofern sie eine Genvariante in sich tragen, die die werden (Whetten et al. 2009).
Produktion von Stresshormonen anregt (Bradley et al. 2008). Angesichts der kulturell so unterschiedlichen Bindungsstile
Wie wir wieder und wieder sehen werden, entstehen Verhalten sollte uns die Fähigkeit der Kinder nicht verwundern, unter ver-
und Emotionen durch die Interaktion zwischen einer bestimm- schiedenen Arten von Betreuung zu gedeihen, wenn diese
ten Umgebung mit bestimmten Genen. nur empathisch und einfühlsam ist. In westlichen Ländern heißt
Auch Erwachsene leiden, wenn eine Bindung zerbricht. Sei Bindung: ein oder zwei Bezugspersonen und ihre Nachkommen-
es durch Tod oder durch Trennung, der Bruch führt zu einer schaft. In anderen Kulturen, etwa bei den Efe-Pygmäen in Zaire
vorhersagbaren Abfolge von Verhaltensweisen: Erregung, Be- sind zahlreiche Bezugspersonen die Norm (Field 1996; Whaley
schäftigung mit dem verlorenen Partner, dann tiefe Trauer und et al. 2002). Noch ehe die Mutter ihr Kind zum ersten Mal auf den
vielleicht die ersten Anzeichen einer emotionalen Loslösung und Arm nimmt, wird es schon herumgereicht und von mehreren
schließlich die Rückkehr zum normalen Leben (Hazan u. Shaver Frauen gehalten. In den darauffolgenden Wochen wird der Säug-
1994). Paare, deren Trennung noch nicht lange zurückliegt und ling ständig von anderen Frauen getragen und gestillt. Das Er-
die schon lange keine Zuneigung mehr empfinden, sind manch- gebnis sind starke multiple Bindungen. Ein bekanntes afrika-
mal von ihrem Bedürfnis überrascht, dem früheren Partner nahe nisches Sprichwort sagt: »Man braucht ein ganzes Dorf, um ein
zu sein. Tiefe und lang anhaltende Bindungen brechen selten Kind großzuziehen.«
schnell ab. Loslösung ist kein einmaliges Ereignis, sondern ein In einer Langzeitstudie wurden 1100 Kinder in 10 ameri-
Prozess. kanischen Städten vom 1. Lebensmonat an beobachtet. Die
202 Kapitel 6 · Entwicklung über die Lebensspanne

. Abb. 6.28 Ein Beispiel für hochqualifizierte Tagespflege. Die wissenschaftliche Forschung hat nachgewiesen, dass sich Kinder in einer sicheren und
anregenden Umgebung sozial und geistig am besten entwickeln. Günstig ist ein Verhältnis von 3–4 Kindern pro Erzieher/in. (© Monika Adamczyk / Fotolia)

Forscher fanden bei Kindern im Alter von 4½–6 Jahren heraus, Selbstkonzept
dass bei denen, die die meiste Zeit über eine Kindertagesstätte
? 6.10 Wie entwickelt sich das kindliche Selbstkonzept?
besucht hatten, die Denk- und Sprachfähigkeit etwas über der
Altersnorm lag; sie waren aber auch aggressiver und frecher In der Säuglings- und Kleinkindzeit ist es die wichtigste soziale
(NICHD 2002; NICHD 2003; NICHD 2006). Für die Ent- Errungenschaft, Bindungen zu entwickeln und Bindungsverhal-
wicklungspsychologin Eleanor Maccoby (2003) deutet die ten zu lernen. Die größte soziale Errungenschaft in der Kindheit
positive Korrelation zwischen der erhöhten Häufigkeit des ist die Ausbildung eines positiven Selbstgefühls. Mit etwa 12 Jah-
Problemverhaltens und der Zeit, die diese Kinder in der Tages- ren, also am Ende der Kindheit, haben die meisten Kinder ein
betreuung verbrachten, darauf hin, dass »es ein gewisses Risiko Selbstkonzept entwickelt, ein Gefühl für die eigene Identität
für einige Kinder gibt, die längere Zeit in einer Tagesbetreu- und den eigenen Wert. Eltern fragen sich oft, wann und auf
ung, wie sie heute organisiert ist, verbringen«. Doch die Qua- welche Weise dieses Selbstgefühl entsteht. »Ist sich mein Baby
lität der Familie, das Temperament des Kindes, die Sensibilität seiner selbst bewusst? Weiß mein kleines Mädchen, wer sie ist?
der Mutter und das materielle und Bildungsniveau der Familie Weiß sie, dass sie eine eigenständige Persönlichkeit ist, anders als
hatten mehr Einfluss als die Zeit, die das Kind in der Tagesstätte alle anderen?«
verbrachte.
Selbstkonzept (»self-concept«) – Gefühl für die eigene Identität und den
Es wird wohl kaum jemand der Aussage widersprechen, dass eigenen Wert.
Kleinkinder, die jeden Tag 9 Stunden in einer personell unter-
besetzten und schlecht ausgestatteten Tagesstätte verbringen Auch hier können wir das Baby nicht direkt befragen, doch wir
müssen, ein besseres Los verdient haben. Kinder brauchen eine können wieder einmal das betrachten, was es kann. Denn das
beständige, warme Beziehung zu Menschen, zu denen sie Ver- Verhalten des kleinen Mädchens liefert uns die Hinweise darauf,
trauen entwickeln können. Die Bedeutung solcher Beziehungen wann es beginnt, sich seiner selbst bewusst zu sein. Der Natur-
reicht über das Vorschulalter hinaus: Die finnische Psychologin forscher Charles Darwin vertrat dazu 1877 die folgende Auf-
Lea Pulkkinen (2006) verfolgte über ihre ganze berufliche Lauf- fassung: Das Bewusstsein des eigenen Selbst beginnt dann, wenn
bahn hinweg in einer Studie 285 Individuen zwischen ihrem 8. wir uns in einem Spiegel wiedererkennen (. Abb. 6.29). Doch
und 41. Lebensjahr. Dabei fand sie heraus, dass eine kontrol- woher wissen wir, wann das Kind erkennt, dass das Mädchen im
lierende Begleitung durch Erwachsene positive Auswirkungen Spiegel tatsächlich es selbst ist und nicht einfach eine nette
auf die Kinder hatte. Diese Ergebnisse veranlassten sie dazu, mit Spielkameradin? Wissenschaftler variierten auf sehr einfache
Unterstützung durch das finnische Parlament ein landesweites Weise den Spiegeltest, indem sie den Kindern heimlich einen
Programm aufzubauen, in dem die Aktivitäten von Kindern in Tupfer Rot auf die Nase verpassten, ehe sie sie vor den Spiegel
der 1. und 2. Klasse von Erwachsenen überwacht wurden (Pulk- setzten. Der Prozess beginnt grob gerechnet im 6. Lebensmonat,
kinen 2004; Rose 2004). wenn ein Kind nach dem Spiegel greift und das Spiegelbild so
6.3 · Kleinkindzeit und Kindheit
203 6

. Abb. 6.29 Selbstwahrnehmung bei Tieren. Wenn man sie längere Zeit vor einen Spiegel setzt, ließ sich bei Schimpansen, Orang-Utans, Gorillas,
Delphinen, Elefanten und Elstern in ähnlicher Weise zeigen, dass sie sich selbst im Spiegel wiedererkennen (Gallup 1970; Reiss u. Marino 2001; Prior
et al. 2008). Das asiatische Elefantenweibchen Happy versuchte in einem Experiment von Plotnik et al. (2006) mehrfach mit ihrem Rüssel ein »X«, das ihr
über ihr Auge gemalt worden war, zu berühren, wenn sie in einen Spiegel blickte (sie zeigte dieses Verhalten jedoch nicht bei einer ähnlichen Kenn-
zeichnung, die nur bei Schwarzlicht zu sehen war). Ein Reporter drückte es folgendermaßen aus: »She’s Happy and she knows it!« (»Sie ist Happy und
sie weiß es.«). (Bildrechte: AP Photo/National Academy of Sciences, Courtesy of Joshua Plotnik, Frans de Waal, and Diana Reiss)

berührt, als sei dort ein anderes Kind (Courage u. Howe 2002;
Damon u. Hart 1982, 1988, 1992; . Abb. 6.30). Mit etwa 15–
18 Monaten fangen Kinder an, ihre eigene Nase anzufassen,
wenn sie den roten Fleck im Spiegel sehen (Butterworth 1992;
Gallup u. Suarez 1986). Offensichtlich haben Kinder im Alter
von 18 Monaten ein Schema davon, wie ihr Gesicht aussehen
sollte und wundern sich: »Was macht denn dieser Fleck auf mei-
nem Gesicht?«
Ungefähr im Schulalter beschreiben Kinder sich selbst
mit Begriffen der Geschlechtszugehörigkeit, als Mitglieder
einer Gruppe und mit psychologischen Merkmalen, und sie
vergleichen sich mit anderen Kindern (Newman u. Ruble
1988; Stipek 1992). Sie beurteilen sich selbst bei manchen
Dingen als geschickt, bei anderen jedoch nicht. Sie bilden ein
Konzept aus, das beinhaltet, welche Charakterzüge sie gerne
hätten, und entwickeln eine Vorstellung von ihrem idealen
Selbst. Mit 8–10 Jahren verfügen sie über ein recht stabiles
Selbstbild.
Was ein Kind tut, wird davon beeinflusst, wie es sich selbst
sieht. Kinder mit positivem Selbstkonzept haben mehr Ver-
trauen, sind unabhängig, optimistisch, durchsetzungsfähig und
gesellig (Maccoby 1980). Dieser Befund wirft wichtige Fragen
. Abb. 6.30 Selbstwahrnehmung. Vom 6. Lebensmonat an sind Kinder
von Spiegelbildern fasziniert. Doch erst mit etwa 18 Monaten erkennt ein auf: Wie können Eltern die Bildung eines positiven, aber reali-
Kind, dass das Bild im Spiegel »Ich« ist. (© Oleg Seleznev / Fotolia) tätsangemessenen Selbstkonzepts fördern?
204 Kapitel 6 · Entwicklung über die Lebensspanne

Erziehungsstile denen Erwachsene als Rollenmodelle für gutes und erfolgreiches


Leben fungieren (Commission of Children at Risk 2003).
? 6.11 Welche drei Erziehungsstile werden unterschieden
Doch stopp! Der Zusammenhang zwischen bestimmten Er-
und wie hängen Persönlichkeitseigenschaften von Kindern
ziehungsstilen (offen, aber konsequent) und bestimmten Merk-
mit ihnen zusammen?
malen beim Kind (soziale Kompetenz) ist eine Korrelation und
Manche Eltern versohlen ihren Kindern den Hintern, während Korrelation ist nicht dasselbe wie Kausalität. Es gibt zwei andere
andere mit ihnen über Fehlverhalten sprechen. Manche Eltern mögliche Erklärungen für diesen Zusammenhang:
sind streng, andere sind nachsichtig. In manchen Familien wird 4 Vielleicht werden Eltern mehr von den Charakterzügen
Zuneigung kaum gezeigt, in anderen dagegen wird viel ge- des Kindes beeinflusst als umgekehrt. Freundlichkeit und
schmust und geküsst. Wirken sich diese Unterschiede auf die Kontrolle variieren in gewisser Weise von einem Kind
Kinder aus? zum anderen, sogar in derselben Familie (Holden u. Miller
Der Aspekt der elterlichen Kontrolle wurde am besten unter- 1999). Es könnte auch sein, dass Kinder mit angenehmem
6 sucht: Auf welche Weise, wie stark und wie weit kontrollieren Charakter und einer gewissen sozialen Reife, Kinder, die
Eltern ihre Kinder? Die Forscher haben drei Erziehungsstile aus- keine besonderen Probleme bereiten, mehr Vertrauen
gemacht: und Zuwendung seitens der Eltern hervorrufen bzw. dass
1. Autoritäre Eltern stellen Regeln auf und erwarten Gehor- weniger kompetente und kooperative Kinder auch weniger
sam. »Unterbrich mich nicht!« »Räum dein Zimmer auf!« Vertrauen und Zuwendung auslösen. Zwillingsstudien
»Komm nicht so spät nach Hause, sonst gibt’s Ärger!« stützen diesen möglichen Zusammenhang (Kendler 1996).
»Warum? Weil ich es gesagt habe.« 4 Vielleicht liegt diesem Zusammenhang aber auch ein dritter
2. Permissive Eltern geben den Wünschen der Kinder nach, Faktor zugrunde. Kompetente Eltern und ihre gleichfalls
stellen wenig Ansprüche und bestrafen nur selten. kompetenten Kinder haben z. B. vielleicht die gleichen
3. Auf autoritative Eltern trifft beides zu: Sie stellen Forderun- Gene, und zwar solche, die eine Prädisposition für Kom-
gen und sie sind empathisch. Sie üben Kontrolle nicht da- petenz bewirken. Zwillingsstudien stützen auch diesen
durch aus, dass sie Regeln aufstellen und sie durchsetzen, möglichen Zusammenhang (South et al. 2008).
sondern sie begründen die Regeln und ermuntern ihre
Kinder (vor allem größere Kinder) dazu, diese Regeln offen
» Ihr seid die Bogen, von denen aus eure Kinder als lebende
Pfeile ausgeschickt werden.
mit ihnen zu diskutieren, und sie lassen es zu, dass es Aus-
Kahlil Gibran, Der Prophet (1923)
nahmen von der Regel gibt.
Wenn sich Eltern mit dem Stress der Kindererziehung und mit
Zu streng, zu weich und genau richtig wurden diese Stile ge- einander widersprechenden Ratschlägen herumschlagen, dann
nannt. Untersuchungen von Coopersmith (1967), Baumrind sollten sie daran denken, dass alle Ratschläge das Wertesystem des
(1996) und Buri et al. (1988) zeigen, dass die Eltern der Kinder Beraters widerspiegeln. Für die, die Wert auf strikten Gehorsam
mit dem höchsten Selbstwertgefühl, dem stärksten Selbstver- bei den Kindern legen, mag ein autoritärer Stil die gewünschte
trauen und der größten sozialen Kompetenz freundlich, interes- Wirkung erbringen. Den Eltern, die Wert darauf legen, aufge-
siert und autoritativ waren. Kinder mit autoritären Eltern haben schlossene und selbstständige Kinder zu haben, ist der offene und
gewöhnlich weniger soziale Fertigkeiten und ein geringeres dabei konsequente autoritative Erziehungsstil zu empfehlen.
Selbstwertgefühl; Kinder mit permissiven Eltern sind oft aggres- In die Erziehung der Kinder werden viele Jahre investiert, und
siver und unreifer. Die Teilnehmer an den meisten Studien waren dabei geht es nicht immer nur um Freude und Liebe, sondern oft
weiße Mittelschichtfamilien, sodass einige Kritiker anmerken, auch um Kummer und Sorgen. Doch für die meisten Eltern ist ein
dass sich effektive Erziehungsstile über Kulturen hinweg von- Kind ein biologisches und soziales Vermächtnis, eine Investition
einander unterscheiden könnten. Allerdings bestätigen Studien in die Zukunft der Menschheit. Um es mit C. G. Jung zu sagen:
mit Familien aus anderen Ethnien und Studien in mehr als Durch unsere Eltern sind wir mit der Vergangenheit verbunden,
200 verschiedenen Kulturen die Korrelation von Sozialverhalten durch unsere Kinder mit der Zukunft und durch deren Kinder
und Bildung mit liebevollem und autoritativem Erziehungsstil wiederum mit einer Zukunft, die wir nicht erleben werden, um
der Eltern (Rohner u. Veneziano 2001; Sorkhabi 2005; Steinberg die wir uns aber trotzdem kümmern müssen.
u. Morris 2001). Beispielsweise zeigten zwei Studien mit einigen
Prüfen Sie Ihr Wissen
tausend Teilnehmern in Deutschland, dass diejenigen, deren
Eltern eine Ausgangssperre verhängt hatten, als junge Erwach- 5 Die drei Erziehungsstile sind als »zu streng«, »zu weich«
sene besser angepasst und erfolgreicher waren als Personen, und »genau richtig« bezeichnet worden. Welcher ist
deren Eltern einen permissiven Erziehungsstil gezeigt hatten »zu streng«, welcher »zu weich« und welcher »genau
(Haase et al. 2008). Diese Effekte sind besonders stark, wenn richtig«? Warum ist das so?
Kinder in autoritative Gemeinschaften eingebunden sind, in
6.4 · Adoleszenz
205 6
6.4 Adoleszenz ihrer Altersgenossen abhing, die Richtung, die man im Leben
einschlagen wollte, sich nur undeutlich abzeichnete und das Ge-
fühl der Entfremdung von den Eltern am stärksten war (Arnett
? 6.12 Wie wird Adoleszenz definiert und durch welche
1999; Macfarlane 1964).
physischen Veränderungen zeichnet sich dieser Lebens-
Doch für viele ist die Adoleszenz eine Zeit der Vitalität und
abschnitt aus?
Lebensfreude ohne die Sorgen des Erwachsenenlebens, eine Zeit
Früher glaubten viele Psychologen, dass sich unsere Persönlich- tiefer Freundschaften, eine Zeit, in der der Idealismus Höhen-
keitsmerkmale (»traits«) in der Kindheit bilden und dann nicht flüge unternimmt, und auch die Zeit, in der man sehr stark fühlt,
mehr verändern. Heute sehen Psychologen die Entwicklung als welche aufregenden Möglichkeiten das Leben zu bieten hat.
lebenslangen Prozess. Bei Klassentreffen wenige Jahre nach dem
Schulabschluss sind ehemalige enge Freunde vielleicht erstaunt
darüber, welch unterschiedliche Wege sie eingeschlagen haben; 6.4.1 Körperliche Entwicklung
10 Jahre später haben sie möglicherweise sogar Probleme, ein
Gespräch miteinander zu führen. Die Adoleszenz beginnt mit der Pubertät, der Zeit der beginnen-
Als die Vorstellung von Entwicklung als lebenslanger Prozess den Geschlechtsreife. Der Pubertät voraus geht ein Hormon-
aufkam, interessierten sich Psychologen dafür, auf welche Weise schub, der die Stimmungsschwankungen verstärkt und eine
Individuen durch den Reifeprozess und die Erfahrungen geformt 2-jährige Phase intensiven körperlichen Wachstums auslöst. Bei
werden, und zwar nicht nur während Kleinkindzeit und Kind- Mädchen beginnt diese Phase normalerweise im 11., bei Jungen
heit, sondern auch in der Adoleszenz und in der Zeit danach. im 13. Lebensjahr. Während der Pubertät wachsen Jungen mehr
Das Jugendalter ist die Spanne zwischen Kindheit und Erwach- als Mädchen, so dass sie letztlich im Durchschnitt körperlich
senenalter. Sie beginnt mit den ersten körperlichen Anzeichen größer werden (. Abb. 6.31). In dieser Wachstumsphase ent-
der Geschlechtsreife und endet mit dem Erreichen des Status
eines unabhängigen und selbstständigen Erwachsenen (was be-
deutet, dass in manchen Kulturen, in denen sich Jugendliche um
sich selbst kümmern müssen, kaum von einer Adoleszenz ge-
sprochen werden kann).
Adoleszenz oder Jugendalter (»adolescence«) – Übergangsperiode
zwischen Kindheit und Erwachsenenalter. Sie beginnt mit der Pubertät und
endet mit dem Erreichen der Selbstständigkeit im Erwachsenenalter.

Und wie sehen diese Jahre in industrialisierten Ländern aus, in


denen wir als Teenager leben? Tolstoi lässt seine »Anna Karenina«
sagen, diese Jahre seien »die glückliche Zeit, in der die Kindheit
allmählich endet und sich aus dem großen, fröhlichen und un-
beschwerten Kreis allmählich ein Pfad herausschält«. Doch Anne
Frank notierte in ihrem Tagebuch, das sie schrieb, als sie sich vor
den Nazis verbergen musste, die Gefühlsstürme der Teenager:

» Ich werde unterschiedlich behandelt. Den einen Tag ist Anne so


vernünftig und darf alles wissen, am nächsten höre ich wieder,
dass Anne noch ein kleines dummes Schaf ist, das nichts weiß
und nur glaubt, Wunder was aus Büchern gelernt zu haben! …
Ach, mir kommt so viel hoch, wenn ich abends allein bin, wenn
ich die Leute aushalten muss, die mir zum Hals heraushängen
oder meine Absichten immer verkehrt auffassen.

G. Stanley Hall, einer der ersten Psychologen, die das Jugendalter


beschrieben haben, nannte den Spannungszustand zwischen der . Abb. 6.31 Größenunterschiede. Über die gesamte Kindheit hinweg sind
biologischen Reife und der sozialen Abhängigkeit die »Sturm- Jungen und Mädchen in etwa gleich groß. In der Pubertät überragen die
und-Drang-Phase«. Viele Menschen über 30, die in der west- Mädchen kurzzeitig die Jungen, doch dann holen die Jungen sie etwa im
Alter von 14 Jahren wieder ein (nach Tanner 1978). Kürzlich durchgeführte
lichen Gesellschaft mit ihrer starken Betonung von Selbststän-
Untersuchungen deuten darauf hin, dass die sexuelle Entwicklung und der
digkeit und Unabhängigkeit aufgewachsen sind, wollen diese Wachstumsschub etwas früher einsetzen, als dies noch vor einem halben
Zeit nicht noch einmal durchleben müssen, als so viel vom Urteil Jahrhundert der Fall war (Herman-Giddens et al. 2001)
206 Kapitel 6 · Entwicklung über die Lebensspanne

. Abb. 6.32 Körperliche Veränderungen in der Pubertät. Mit etwa 11 Jahren bei Mädchen und 13 Jahren bei Jungen kommt es zu einem Hormonschub,
der eine Reihe von körperlichen Veränderungen auslöst

wickeln sich die primären Geschlechtsmerkmale – die Fort- Menarche vorbereitet, dann erleben sie sie i. Allg. als positiv.
pflanzungsorgane und die äußeren Genitalien – mit atembe- Auch die meisten Männer erinnern sich an ihre erste Ejakulation,
raubender Geschwindigkeit, desgleichen die sekundären Ge- von der sie meistens eines Nachts überrascht werden (Fuller u.
schlechtsmerkmale, d. h. die nicht unmittelbar für die Fort- Downs 1990).
pflanzung erforderlichen Geschlechtsmerkmale: Brüste bei den
Menarche (»menarche«) – die erste Regelblutung bei Mädchen.
Mädchen, Barthaare und tiefere Stimme bei den Jungen, Scham-
und Achselhöhlenbehaarung bei beiden (. Abb. 6.32). Doch die Wie in den früheren Entwicklungsphasen ist die Reihenfolge
ersten Anzeichen von Hinwendung zum anderen (oder zum der körperlichen Veränderungen in der Pubertät (z. B. Brüste
eigenen) Geschlecht treten bereits 1–2 Jahre vor Einsetzen der und sichtbare Schambehaarung vor der Menarche) immer die
Pubertät auf (McClintock u. Herdt 1996). gleiche, der Zeitpunkt jedoch ist individuell verschieden. Bei
manchen Mädchen setzt der Wachstumsschub mit 9 Jahren
Pubertät (»puberty«) – Zeit, in der der menschliche Körper die Ge-
schlechtsreife und damit die biologische Fortpflanzungsfähigkeit erlangt. ein, bei manchen Jungen vielleicht erst mit 16. Auf die Körper-
Primäre Geschlechtsmerkmale (»primary sex characteristics«) – zur Fort- größe des Erwachsenen haben solche Abweichungen nur wenig
pflanzung nötige Organe und Strukturen (Eierstöcke, Hoden und äußere Einfluss, doch haben sie manchmal psychische Konsequenzen.
Genitalien). Eine frühe Entwicklung kann für einen Jungen positive und
Sekundäre Geschlechtsmerkmale (»secondary sex characteristics«) – negative Folgen haben. Solche Jungen sind schon in den ersten
nicht zur Fortpflanzung erforderliche Merkmale wie weibliche Brüste und
Hüften sowie männliche Stimme und Körperbehaarung.
Teenagerjahren stärker und athletischer, dadurch sind sie
auch beliebter, selbstsicherer und unabhängiger. Allerdings lau-
Bei Mädchen ist das erste Signal der beginnenden Pubertät das fen sie auch eher Gefahr, zu früh zu viel zu trinken, mit dem
Wachstum der Brüste, das heute häufig schon mit 10 Jahren ein- Gesetz in Konflikt zu geraten und verfrüht sexuell aktiv zu
setzt (Biro et al. 2010). Aber die eigentlichen Marksteine werden (Conley u. Rudolph 2009; Copeland et al. 2010; Lynne
der Pubertät sind die erste Ejakulation, Spermarche genannt, bei et al. 2007). Für Mädchen kann Frühreife zum Stressfaktor
Jungen mit etwa 14 Jahren und die erste Regelblutung, Menarche werden (Mendle et al. 2007). Wenn sich der Körper eines jungen
genannt, bei Mädchen mit etwa 12½ Jahren (Anderson et al. Mädchens nicht im Gleichklang mit seiner emotionalen Reife
2003). Die Menarche scheint sich bei Mädchen, die Belastungen entwickelt, wenn ihre eigene Entwicklung und ihre Erfahrun-
aufgrund der Abwesenheit des Vaters, durch sexuellen Miss- gen nicht synchron zu denen seiner Freundinnen verlaufen,
brauch oder eine unsichere Bindung erlebt haben, ein paar dann identifiziert es sich möglicherweise mit älteren Mädchen,
Monate früher zu ereignen (Belsky et al. 2010; Vigil et al. 2005; wird gehänselt oder leidet unter sexuellen Belästigungen (Ge u.
Zabin et al. 2005). Fast alle Frauen erinnern sich an dieses Ereig- Natsuaki 2009).
nis und an ihre Gefühle: eine Mischung aus Stolz, Aufregung, Aber nicht nur die Frage danach, wann die körperlichen
Scham und furchtsamen Vorahnungen (Greif u. Ulman 1982; Veränderungen beginnen, spielt eine Rolle, sondern auch die
Woods et al. 1983). Werden die Mädchen auf das Einsetzen der Art, wie die Menschen in unserer Umgebung auf unsere gene-
6.4 · Adoleszenz
207 6

. Abb. 6.33 (Copyright © The New Yorker Collection, 2006, Barbara Smaller/cartoonbank.com)

tisch bedingte körperliche Entwicklung reagieren. In ver- beschleunigt und den Informationsaustausch zwischen verschie-
schiedenen Kulturen setzen Brustwachstum und Pubertät bei denen Hirnarealen verbessert (Kuhn 2006; Silveri et al. 2006).
Mädchen heute früher ein als in der Vergangenheit. Für dieses Diese Entwicklungen verbessern Urteilsvermögen, Impulskon-
Phänomen werden verschiedene Ursachen in Betracht ge- trolle und langfristiges Planen.
zogen, etwa ein erhöhter Körperfettanteil, eine stärkere Ein-
Wie werden Sie in 10 Jahren auf ihr Leben zurückblicken?
nahme hormonähnlicher Chemikalien und ein erhöhter Stress
Treffen Sie heute Entscheidungen, mit denen sie eines Tages
in auseinanderfallenden Familien (Biro et al. 2010). Wissen-
zufrieden sein werden?
schaftler fragen sich deshalb, ob die Mädchen von heute einen
zu hohen Preis zahlen, sollte eine früh einsetzende Pubertät Doch die Reifung des Frontallappens hinkt der des limbischen
ihnen Nachteile einbringen. Auch für die Entwicklung in der Systems, das mit Emotionen assoziiert ist, hinterher. Die Hor-
Adoleszenz gilt: Anlage und Umwelt sind interagierende Faktoren. monaufwallungen und die Entwicklung des limbischen Systems
Einige Befunde deuten an, dass Mädchen, bei denen körper- können als Erklärung für die gelegentliche Impulsivität von
liche Reifungsprozesse früh eingesetzt haben, als Erwachsene Teenagern dienen, für ihr risikoreiches Verhalten und für ihre
besorgter auf männliche Gesichter und Stimmen reagieren Gefühlsstürme – Türenknallen und das laute Aufdrehen von
(Belles et al. 2010). Stereoanlagen (Casey et al. 2008). Es ist also kein Wunder, dass
Auch das Gehirn gleicht während des Jugendalters einer jüngere Teenager (deren noch nicht ganz entwickelter Frontal-
Baustelle. Wie ein Baum immer mehr Wurzeln und Zweige lappen nicht vollständig darauf vorbereitet ist, langfristige Pläne
treibt, so lassen die Hirnzellen bis zur Pubertät immer weitere zu machen und Impulse zu kontrollieren) so oft der Versuchung
Verbindungen sprießen. In der Zeit der Adoleszenz werden dann des Rauchens erliegen, von dem ihnen die meisten erwachsenen
die nicht genutzten Neuronen und Verbindungen gestutzt Raucher sagen werden, dass sie es später bedauern werden.
(Blakemore 2008). Was wir nicht benutzen, geht verloren. Dieser Allerdings unterschätzen Jugendliche die Gefahren des Rau-
Prozess erinnert ein bisschen an Verkehrsplaner, die Engpässe chens (oder zu schnellen Autofahrens und ungeschützten Ge-
dadurch beseitigen, dass sie bestimmte Straßen sperren und schlechtsverkehrs) keineswegs. Bei Bauchentscheidungen ge-
stattdessen neue Umgehungsstraßen bauen, durch die der Ver- wichten sie die Vorzüge solchen Verhaltens einfach stärker
kehr leichter fließt. (Reyna u. Farley 2006; Steinberg 2007, 2013). Sie sind auf der
Zur Entwicklung des Frontallappens während der Adoles- Suche nach Nervenkitzel und Belohnungen, allerdings noch
zenz gehört auch das Wachstum des Myelins, des Fettgewebes nicht in der Lage dazu, das Bremspedal für ihre Impulse auszu-
um die Axone, das die Übertragung der neuronalen Impulse machen (. Abb. 6.33).
208 Kapitel 6 · Entwicklung über die Lebensspanne

» Gelangt ein Gewehr unter die Kontrolle des präfrontalen » Als der Pilot uns sagte, wir sollten unsere Fußknöchel fest
Kortex eines verletzten, rachsüchtigen 15-Jährigen und ist umklammern, war das Erste, was mir durch den Kopf ging,
es auf ein menschliches Ziel gerichtet, dann wird es sehr dass wir nun alle ziemlich blöd aussehen müssen.
wahrscheinlich auch knallen. Jeremiah Rawlings, 12 Jahre, nach dem Absturz einer DC-10
Der Neurologe Daniel R. Weinberger, A Brain Too Young for in Sioux City (Iowa) im Jahr 1989
Good Judgment, 2001
Die Fähigkeit zum Schlussfolgern
Wenn der Jugendliche also rücksichtslos Auto fährt und sich Sobald Jugendliche die höchste Stufe der kognitiven Entwicklung
in der Schule selbstzerstörerisch verhält, sollten die Eltern dann erreichen, die Jean Piaget als formal-operatorisches Stadium be-
zu sich selbst sagen: »Er kann nichts dafür, sein Frontalkortex zeichnete, setzen sie ihre neuen Fähigkeiten ein, um über die
ist noch nicht vollständig entwickelt«? Es besteht zumindest Welt, die sie umgibt, nachzudenken. Sie denken darüber nach,
Hoffnung. Das Gehirn zu Beginn des Teenageralters ist anders was idealerweise möglich wäre, und vergleichen diese Vorstel-
6 als das Gehirn am Ende dieser Zeitspanne; es wird bis etwa lung mit der unvollkommenen Realität ihrer Gesellschaft, ihrer
zum Alter von 25 Jahren weiter reifen (Beckman 2004; Crews Eltern und sogar sich selbst. Sie führen Gespräche und Diskus-
et al. 2007). sionen über die menschliche Natur, gut und böse, Wahrheit und
Im Jahr 2004 brachte die American Psychological Associa- Gerechtigkeit. Ihre Vorstellung davon, was gerecht ist, verändert
tion (gemeinsam mit sieben weiteren Berufsverbänden aus dem sich von einem einfachen Gleichheitsbegriff über Verteilungs-
Bereich der Medizin und der Versorgung psychisch Kranker) die gerechtigkeit hin zu einer Verteilung gemäß individueller Leis-
Todesstrafe für 16- und 17-Jährige vor den Obersten Gerichtshof tungen (Almås et al. 2010). Nachdem Jugendliche die anschau-
der Vereinigten Staaten. Im Schriftsatz wurde die Unreife des lichen Bilder aus ihrer Kindheit abgelegt haben, suchen sie nun
Gehirns bei Teenagern »in Bereichen, die erwachsene Entschei- nach einem weniger oberflächlichen Bild von Gott und dem
dungen voraussetzen«, dokumentiert. Teenagern kommt »wegen Leben (Elkind 1970; Worthington 1989). Mit ihrer neu gewon-
der Adoleszenz eine geringere Schuld« zu, trugen der Psychologe nenen Fähigkeit, hypothetisch zu denken und Konsequenzen
Laurence Steinberg und die Juraprofessorin Elizabeth Scott abzuleiten, entdecken sie die logischen Fehler in den Ausführun-
(2003; Steinberg et al. 2009) vor. Im Jahr 2005 wurde in den USA gen anderer und legen den Finger auf alles, was ihnen geheuchelt
die Todesstrafe für Jugendliche, so entschied das Gericht mit scheint. Das führt manchmal zu hitzigen Diskussionen mit den
einer Mehrheit von 5 zu 4 Stimmen, als verfassungswidrig er- Eltern und bei den Jugendlichen zu dem geheimen Schwur,
klärt. nie, nie die eigenen Ideale aus dem Blick zu verlieren (Peterson
et al. 1986).

6.4.2 Kognitive Entwicklung Moralisches Denken und Urteilen


Zwei entscheidende Aufgaben müssen in der Kindheit und in der
Jugend bewältigt werden: die Unterscheidung von richtig und
? 6.13 Wie haben Piaget, Kohlberg und spätere Wissenschaftler
falsch und die Ausbildung eines Charakters, wobei Charakter so
die kognitive und moralische Entwicklung im Jugendalter
etwas ist wie die psychischen Muskeln, die zur Impulskontrolle
beschrieben?
benötigt werden. Eine moralische Haltung haben bedeutet,
In den frühen Teenagerjahren kreist das Denken oft um die moralisch zu denken und entsprechend zu handeln (. Abb. 6.34).
eigene Person. Jugendliche neigen dazu, zu glauben, ihre Er- Jean Piaget und Lawrence Kohlberg nahmen an, dass morali-
fahrungen seien einzigartig, etwas, was ihre Eltern einfach nicht sches Denken moralischem Handeln zugrunde liegt. Eine neuere
verstehen können. »Aber Mami, du weißt doch nun wirklich Sichtweise basiert auf der wegweisenden Erkenntnis, dass vieles,
nicht, wie es ist, verliebt zu sein« (Elkind 1978). In dem Maße, was wir tun, nicht durch bewusstes, gesteuertes Denken zustande
wie bei jungen Teenagern die Fähigkeit zunimmt, über ihr kommt, sondern seine Ursachen in unbewussten, automatischen
eigenes Denken nachzudenken und sich Gedanken darüber zu Prozessen hat.
machen, wie andere Menschen denken, fangen sie auch an, sich
vorzustellen, was andere über sie denken. (Die Jugendlichen jMoralisches Denken
würden sich weniger Sorgen darum machen, was andere über sie Piaget (1932) glaubte, dass das moralische Urteil bei Kindern auf
denken, wenn ihnen klar wäre, dass ihre Kameraden genauso ihrer kognitiven Entwicklung beruht. Kohlberg (1981, 1984)
stark mit sich selbst beschäftigt sind wie sie selber.) Zunehmend nahm Piagets Gedanken auf und versuchte, die Entwicklung des
gelingt es ihnen jedoch, abstrakter zu denken. moralischen Denkens zu beschreiben, d. h. wie wir und was wir
denken, wenn wir uns die Frage nach richtig und falsch stellen.
Kohlberg stellte Kinder, Jugendliche und Erwachsene vor ein
moralisches Dilemma (z. B. ob eine Person ein Medikament
6.4 · Adoleszenz
209 6

. Abb. 6.34 Sie demonstrieren ihre Fähigkeit zum schlussfolgernden Denken. Alle diese Jugendlichen demonstrieren ihre Fähigkeit, logisch über
abstrakte Themen nachzudenken. Nach Piaget befinden sie sich in der letzten Phase ihrer kognitiven Entwicklung, dem formal-operatorischen Stadium.
(© Geisler-Fotopress / Golejewski / picture alliance)

stehlen sollte, um das Leben eines geliebten Menschen zu retten) Moralisches Empfinden
und fragte, ob diese Handlung richtig oder falsch war. Er ana- Der Sozialpsychologe Jonathan Haidt (2002, 2006, 2010) glaubt,
lysierte dann ihre Antworten, um verschiedene Entwicklungs- dass menschliche Moral in moralischem Empfinden verwurzelt
stufen des moralischen Denkens nachzuweisen: Seine Befunde ist, das sich als »kurzes instinktives Gefühl oder eine affektge-
führten ihn zu der Auffassung, dass wir, wenn wir uns geistig ladene Intuition« beschreiben lässt. Nach dieser Sichtweise fällt
entwickeln, drei grundlegende Niveaus des moralischen Den- der Verstand moralische Urteile, wie er ästhetische Urteile fällt:
kens durchlaufen: präkonventionelle Moral, konventionelle schnell und automatisch. Wir sind angeekelt, wenn wir erleben,
Moral und postkonventionelle Moral (. Tab. 6.2). Kohlberg sah wie Menschen herabwürdigende oder unmenschliche Handlun-
diese Stufen als eine Art moralischer Stufenleiter. Wie bei allen gen begehen. Selbst ein ekliger Geschmack im Mund verstärkt
Theorien, die mit Stufen arbeiten, gibt es auch hier keine Ab- den Ekel, den wir bei verschiedenen moralischen Abschweifun-
weichung von der Reihenfolge: Wir fangen auf der untersten gen empfinden (Eskine et al. 2011). Andererseits fühlen wir uns
Sprosse an und steigen unterschiedlich weit empor ( . Abb. 6.35). »erhaben« – uns wird warm ums Herz –, wenn ein Mensch sich
Kritiker der Theorie Kohlbergs haben vor allem bemängelt, dass besonders großzügig, mitfühlend oder mutig verhält. Nach Haidt
die postkonventionelle Stufe kulturellen Einschränkungen un- veranlassen uns diese Gefühle zu moralischem Denken.
terworfen ist, sodass sie vor allem bei solchen Menschen auf- Eine Frau erinnert sich an eine Fahrt durch ihre verschneite
zufinden ist, die Individualismus einen hohen Wert einräumen Nachbarschaft in Gesellschaft von drei jungen Männern. Sie
(Eckensberger 1994; Miller u. Bersoff 1995). fuhren an »einer älteren Frau vorbei, die mit einer Schaufel in

. Tab. 6.2 Stufen des moralischen Denkens nach Kohlberg

Stufe (ungefähres Alter) Fokus Beispiel

Präkonventionelle Moral Eigenes Interesse; gehorchen, um Strafe zu vermeiden oder um eine »Wenn du deine Ehefrau rettest,
(bis 9 Jahre) konkrete Belohnung zu bekommen bist du ein Held.«

Konventionelle Moral Sich an Gesetze und soziale Regeln halten, um soziales Ansehen zu erlangen »Wenn du das Medikament stiehlst,
(frühes Jugendalter) oder die soziale Ordnung aufrechtzuerhalten wird jeder denken,
dass du ein Verbrecher bist.«

Postkonventionelle Moral Handlungen reflektieren den Glauben an Grundrechte und selbst definierte »Menschen haben das Recht
(Jugendalter und älter) ethische Prinzipien zu leben.«
210 Kapitel 6 · Entwicklung über die Lebensspanne

Sie diesen Schalter umlegen? Die meisten sagen Ja. Einen


Menschen opfern, um fünf zu retten.
Aber nun stellen Sie sich dasselbe Dilemma vor, allerdings
mit veränderten Bedingungen: Sie können die fünf Menschen
nur retten, wenn Sie einen hochgewachsenen Fremden auf das
Gleis stoßen. Sein Körper wird den Straßenbahnwagen stoppen,
und er wird dabei ums Leben kommen. Einen Menschen töten
und fünf retten? Beide Entscheidungen unterliegen derselben
Logik, doch die meisten Menschen verneinen die zweite Frage.
Auf der Suche nach den Gründen dafür setzten Greene et al.
(2001) in Princeton bildgebende Verfahren ein, um neuronale
Reaktionen aufzuspüren, die im Gehirn der Menschen ablaufen,
6 wenn sie über ein solches Dilemma nachdenken. Nur in dem
moralischen Dilemma, in dem es darum ging, einen Menschen
zu schubsen, leuchteten die Emotionsareale im Gehirn auf. Die
. Abb. 6.35 Moralisches Denken. Im Jahr 2010 waren Überlebende des
Logik ist zwar die gleiche, doch das persönliche Eingreifen schuf
Erdbebens in Haiti mit einem moralischen Dilemma konfrontiert: Sollten sie
sich das, was sie zum Leben brauchten, durch Diebstahl besorgen? Ihre ein Dilemma, an dem Emotionen beteiligt waren, und diese
Denkweise und die Schlussfolgerungen daraus brachten entsprechend Emotionen veränderten das moralische Urteil.
unterschiedliche Niveaus moralischen Denkens zum Ausdruck, selbst Während die neuere Moralpsychologie viele Situationen auf-
wenn sich die Betreffenden ähnlich verhielten. (© EPA / David Fernandez /
zeigt, in denen moralische Intuition einen weitaus größeren Ein-
picture alliance / dpa)
fluss hat als moralisches Denken, bestätigen andere die Bedeu-
tung moralischen Denkens. Beispielsweise formt das religiöse
ihrer Einfahrt stand. Ich dachte mir nichts dabei, doch einer von und moralische Denken der Amish zentrale Werte der Gemein-
den Jungen auf der Rückbank bat den Fahrer, ihn aussteigen zu schaft wie Vergebung, Gemeinschaftsleben und Bescheidenheit
lassen. Als ich sah, wie er ausstieg und auf die Frau zuging und (Narvaez 2010). Joshua Greene (2010) vergleicht unser mora-
mir klar wurde, dass er ihr anbot, den Schnee aus ihrer Einfahrt lisches Denken mit einer Kamera: Normalerweise verlassen wir
wegzukehren, blieb mir vor Staunen der Mund offen stehen.« uns auf den Automatikmodus und knipsen einfach darauf los.
Diese unerwartete Freundlichkeit zu erleben, löste ein Gefühl Gelegentlich nehmen wir jedoch bewusste Veränderungen an
der Erhabenheit aus. »Mir war, als müsste ich sofort aus dem den automatischen Einstellungen vor.
Auto springen und den Mann umarmen. Mir war, als müsste ich
singen und rennen oder lachen und hüpfen. Ich hatte Lust, Nettes
» Es ist eine wunderbare Harmonie, wenn Wort und Tat
übereinstimmen.
über die Menschen zu sagen« (Haidt 2000).
Michel Eyquem de Montaigne (1533–1592)
»Kann die Moral des Menschen tatsächlich von den mora-
lischen Gefühlen geleitet werden?«, lautet seine Frage. »Das
moralische Denken behauptet doch immer großspurig, es sei die jMoralisches Handeln
Steuerzentrale.« Betrachten wir den Wunsch, andere zu bestra- Unser moralisches Denken und Fühlen hat zweifellos Einfluss
fen. Laboruntersuchungen zeigen, dass das Bedürfnis danach, auf unsere moralischen Aussagen. Aber sprechen kostet nicht
Fehlverhalten zu bestrafen, vor allem durch emotionale Reak- viel, und Emotionen kommen und gehen. Zur Moral gehört, das
tionen, wie etwa Empörung, ausgelöst wird. Rationale Über- Richtige zu tun, und was wir tun, hängt gleichfalls von sozialen
legungen – z. B. die objektive Annahme, dass Bestrafung anderen Einflüssen ab. Die Politologin und Philosophin Hannah Ahrendt
Vergehen vorbeugen kann – spielen eine untergeordnete Rolle (1963) bemerkte, dass viele Wachposten in den Konzentrations-
(Darley 2009). Unser moralisches Denken versucht nach dem lagern des NS-Regimes im Zweiten Weltkrieg ganz normale
emotionalen Impuls als eine Art Pressesprecher unseres Verstan- »moralische« Menschen waren, korrumpiert von der Banalität
des, uns selbst und andere von der Logik unserer Intuition zu des Bösen, der sie ausgesetzt waren.
überzeugen. Die heute in den USA bestehenden Programme zur Charak-
Unterstützt wird die These von der sozialen Intuition durch terbildung konzentrieren sich gewöhnlich sowohl auf Diskussio-
eine Studie, in der ein moralisches Paradox untersucht wurde. nen über moralische Themen und auf die Schlussfolgerungen
Stellen Sie sich folgende Szene vor: Ein Straßenbahnwagen hat daraus als auch darauf, wie man moralisch richtig handeln kann.
sich losgerissen und rast auf eine Gruppe von fünf Menschen In dem Ausmaß, in dem das kindliche Denken reift, nimmt auch
zu. Die werden alle überfahren werden und tot sein, wenn Sie die Selbstsucht ihres Handelns ab und sie werden mitfühlender
nicht einen Schalter umlegen und den Wagen auf ein anderes (Krebs u. van Hesteren 1994; Miller et al. 1996). Die Trainings-
Gleis lenken, wo er nur einen Menschen überfahren wird. Sollten programme bringen Kindern bei, auf die Gefühle anderer Men-
6.4 · Adoleszenz
211 6
schen helfen, nimmt ihr Gefühl der eigenen Kompetenz und ihr
Bedürfnis zu helfen zu; in der Schule fehlen sie seltener unent-
schuldigt, und die Wahrscheinlichkeit sinkt, dass sie vorzeitig die
Schule verlassen (Andersen 1998; Piliavin 2003). Moralisches
Handeln führt zu moralischen Einstellungen (. Abb. 6.36).

Prüfen Sie Ihr Wissen

5 Im Rahmen von Kohlbergs Theorie basiert


Moral auf sozialen Regeln und Gesetzen,
Moral auf dem eigenen Interesse und
Moral auf selbst definierten ethischen Prinzipien.

6.4.3 Soziale Entwicklung


. Abb. 6.36 (© Claudia Styrsky)

? 6.14 Welche sind die sozialen Aufgaben und Herausforde-


rungen des Jugendalters?
schen mit Empathie zu reagieren, sie lehren auch die Selbstdiszi-
plin, die Kinder brauchen, um ihre eigenen Impulse zu bremsen. Der Theoretiker Erik Erikson (1963) vertrat die Auffassung, dass
Sie können lernen, das Bedürfnis nach einer unmittelbaren, aber jede Lebensphase ihre eigene psychosoziale Aufgabe hat, eine
kleinen Belohnung zugunsten einer größeren aufzuschieben, die Krise, die es zu lösen gilt. Kleine Kinder ringen mit Themen wie
sie später bekommen. Kinder, die das gelernt haben, entwickeln Vertrauen, später geht es dann um Autonomie (Selbstständig-
mehr soziale Verantwortung, erbringen bessere Schulleistungen keit) und Initiative. Schulkinder kämpfen um Kompetenz, um
und sind insgesamt produktiver (Funder u. Block 1989; Mischel sich als fähig und produktiv erleben zu können, während laut
et al. 1988, 1989). Wenn Teenager im Rahmen von Programmen Erikson die Aufgabe der Jugendlichen darin besteht, frühere,
zum gesellschaftlichen Engagement Nachhilfestunden geben, in aktuelle und zukünftige Möglichkeiten zu einem deutlicheren
ihrer Nachbarschaft den Dreck wegräumen und älteren Men- Selbstgefühl zusammenzuschweißen (. Tab. 6.3). Jugendliche

. Tab. 6.3 Stufen der psychosozialen Entwicklung nach Erikson

Identitätsstufe (ungefähres Alter) Themen Aufgabenbeschreibung

Säugling und Kleinkind Vertrauen vs. Misstrauen Wenn Bedürfnisse angemessen befriedigt werden, entwickelt das
(0–1 Jahr) Kleinkind ein Urvertrauen

Kleinkind (1–3 Jahre) Autonomie vs. Scham und Das Kind lernt, seinen Willen durchzusetzen und Dinge selbstständig
Selbstzweifel zu erledigen, oder es zweifelt an seinen Fähigkeiten
Vorschulkind (3–6 Jahre) Initiative vs. Schuld Das Vorschulkind lernt, Dinge aus eigener Initiative zu erledigen und
Pläne durchzuführen, oder es entwickelt Schuldgefühle wegen seiner
Unabhängigkeitsbestrebungen
Schulkind (ab 6. Lebensjahr Kompetenz vs. Minderwertigkeit Das Kind erfährt die Lust an der Erfüllung einer Aufgabe, oder es fühlt
bis zur Pubertät) sich minderwertig
Adoleszenz (vom 13. bis etwa Identität vs. Rollendiffusion Der Teenager verfeinert sein Selbstbild durch Erproben verschiedener
20. Lebensjahr) Rollen, die dann integriert werden und die Identität bilden, oder er gerät
in Verwirrung und weiß nicht, wer er ist
Frühes Erwachsenenalter Intimität vs. Isolation Junge Erwachsene kämpfen darum, enge Beziehungen einzugehen
(von etwa 20 bis etwa 40 Jahre) und die Fähigkeit zu Liebe und Intimität zu erlangen, oder sie fühlen sich
einsam und isoliert
Mittleres Erwachsenenalter Generativität vs. Stagnation Im mittleren Erwachsenenalter will der Mensch seinen Beitrag zur Welt
(40–60 Jahre) leisten, meist durch Familiengründung und Arbeit, sonst entwickelt er
ein Gefühl der Sinn- und Zwecklosigkeit

Spätes Erwachsenenalter Ich-Integrität vs. Verzweiflung Denkt der ältere Mensch über sein Leben nach, geschieht dies mit dem
(ab 60 Jahre) Gefühl der Befriedigung oder dem des Gescheitertseins
212 Kapitel 6 · Entwicklung über die Lebensspanne

fragen sich: »Wer bin ich? Was will ich mit meinem Leben anfan-
gen? Welche Werte sollen mein Leben bestimmen? Woran glaube
ich?« Diese Fragen der Jugendlichen nannte Erikson die Suche
nach der eigenen Identität.

» Irgendwo zwischen dem 10. und 13. Lebensjahr (in Abhän-


gigkeit davon, wie viele Hormone ihrem Fleisch beigesetzt
waren) treten Kinder in die Adoleszenz ein, auch bekannt als
›Entniedlichung‹.
Jon Stewart et al., Earth (The Book), 2010

Wie es bisweilen in der Psychologie vorkommt, waren Eriksons


Interessen aus seiner eigenen Lebenserfahrung erwachsen. Mit
6 einer jüdischen Mutter und einem dänischen, nicht jüdischen
Vater war er »in doppelter Hinsicht ein Außenseiter«, schreibt
Hunt (1993, S. 391). Er wurde »in der Schule als Jude verspottet
und in der Synagoge wegen seines blonden Haares und seiner
blauen Augen als Goj belächelt.« Aus solchen Erlebnissen speiste
sich sein Interesse an dem Kampf um die eigene Identität, den
jeder Jugendliche in der Adoleszenz durchfechten muss.
. Abb. 6.37 Wer will ich heute sein? Jugendliche verändern ihr Aussehen
Identitätsbildung und probieren auf diese Weise verschiedene »Selbste« aus. Zwar entwickeln
wir eine konsistente und stabile Identität, doch das »Selbst«, das wir dar-
Jugendliche in individualistischen Kulturen probieren in unter- stellen, kann je nach Situation ein anderes sein. (© photos.com)
schiedlichen Situationen verschiedene »Selbste« aus und schär-
fen dadurch ihr Gefühl für ihre eigentliche Identität. Sie haben
vielleicht ein Selbst für zu Hause, ein anderes Selbst für das Zu- Doch kann der Prozess auch anders verlaufen. Erikson bemerkte,
sammentreffen mit Freunden und noch ein anderes für Schule dass sich manche Jugendliche schon sehr früh auf eine Identität
und auf Facebook. Treffen zwei Situationen – und zwei Selbste festlegen, indem sie einfach die Werte und Erfahrungen ihrer
– aufeinander (etwa, wenn man Freunde mit nach Hause bringt), Eltern übernehmen. (In traditionellen, weniger individualisti-
dann kann das zu erheblichem Unbehagen führen. Der Teenager schen Kulturen bestimmt die Gesellschaft über die Identität der
fragt sich: »Welches Selbst sollte ich sein? Welches ist mein wirk- Jugendlichen und gestattet ihnen nicht, selbst herauszufinden,
liches Ich?« Die Lösung ist eine Selbstdefinition, die die verschie- wer sie sind.) Andere Jugendliche nehmen die Identität einer be-
denen »Selbste« miteinander verknüpfen kann und zu einem stimmten Peergroup an: Sportler, Computerfreak, Nerd, Gothic
konsistenten und angenehmen Gefühl davon führt, wer man ist: (. Abb. 6.37).
eine Identität. Die meisten jungen Leute sind mit ihrem Leben zufrieden.
Wenn man amerikanische Jugendliche fragt, welche einer Reihe
Identität (»identity«) – Gefühl für das eigene Selbst. Nach Erikson
besteht die Aufgabe der Adoleszenz darin, das Selbstgefühl zu festigen; von Aussagen sie am besten beschreibt, sagen 81%: »Ich würde
dabei werden verschiedene Rollen erprobt und ggf. integriert. mich für das Leben entscheiden, wie ich es jetzt lebe.« Die ande-
ren 19% stimmten der Aussage zu: »Ich wünschte, ich wäre je-
Sowohl bei Jugendlichen als auch bei Erwachsenen werden Grup- mand anders« (Lyons 2004). Wenn sie über ihr Leben nach-
penidentitäten oft aufgrund der Unterschiede zu Menschen in denken, sagen 75% der amerikanischen Studierenden, dass sie
unserer unmittelbaren Umgebung gebildet. Wenn ich in Groß- mit Freunden »über Religion oder Spiritualität diskutieren«,
britannien lebe, wird mir meine US-amerikanische Herkunft be- »beten« und stimmen der Aussage zu, dass »wir alle spirituelle
wusst. Wenn ich mit meiner Tochter Zeit in Afrika verbringe, wird Wesen sind« und »nach einem Sinn bzw. Ziel im Leben suchen«
mir (als Minderheit) meine weiße Hautfarbe bewusst. Wenn ich (Astin et al. 2004; Bryant u. Astin 2008). Das wäre für den Psy-
von Frauen umgeben bin, bin ich mir über meine Geschlechts- chologen William Damon und seine Kollegen in Stanford keine
identität im Klaren. Bei internationalen Studierenden, Personen, Überraschung; denn sie behaupten, dass es eine Schlüsselaufgabe
die einer ethnischen Minderheit angehören, Personen mit körper- der Entwicklung während der Adoleszenz sei, ein Ziel zu errei-
licher Behinderung und solchen, die einem Team beitreten, bildet chen – ein Bedürfnis, etwas persönlich Sinnvolles zu leisten, was
sich um ihre Unterschiedlichkeit herum oft eine soziale Identität. eine große Bedeutung für die Welt außerhalb ihres eigenen Be-
reichs hat (Damon et al. 2003).
Soziale Identität (»social identity«) – das Wir-Gefühl als Teil unseres
Selbstkonzepts; derjenige Teil unserer Antwort auf die Frage »Wer bin ich?«, Die letzten Teenagerjahre, wenn die Jugendlichen in indus-
der durch unsere Gruppenzugehörigkeit bestimmt wird. trialisierten Ländern entweder ins Berufsleben eintreten oder
6.4 · Adoleszenz
213 6

. Abb. 6.38 (Copyright © The New Yorker Collection, 2010, Barbara Smaller/cartoonbank.com)

auf die Universität wechseln, bieten neue Möglichkeiten, andere wachsenenalter geschaffen werden. Solche Beziehungen sind
Rollen auszuprobieren. Am Ende ihres Studiums haben viele für die meisten von uns etwas, was uns große Freude bereitet. Als
Studenten ein klareres Bild von ihrer Identität als zu Beginn Mihaly Csikszentmihalyi (ausgesprochen als Tschicksendmihaji)
(Waterman 1988). Studenten mit einem klareren Selbstbild sind und Jeremy Hunter (2003) einen Piepser einsetzten, um die all-
weniger anfällig für Alkoholmissbrauch (Bishop et al. 2005). täglichen Erfahrungen amerikanischer Jugendlicher zu doku-
In mehreren landesweiten Untersuchungen haben Wissen- mentieren, fanden sie heraus, dass diese sich am unglücklichsten
schaftler gezeigt, dass das Selbstwertgefühl bei jungen US-Ame- fühlten, wenn sie allein waren, und am glücklichsten, wenn sie
rikanern von den frühen bis zu den mittleren Teenagerjahren zusammen mit Freunden waren. Wir Menschen sind »staaten-
zunächst abnimmt und bei Mädchen Depressionen oft zuneh- bildende Lebewesen«, wie Aristoteles schon vor langer Zeit er-
men. Das Selbstwertgefühl festigt sich dann bis zum Ende der kannte.
Teenagerzeit und mit Anfang 20 wieder (Robins et al. 2002;
Intimität (»intimacy«) – nach Eriksons Theorie die Fähigkeit, enge Liebes-
Twenge u. Campbell 2001; Twenge u. Nolen-Hoeksema 2002). beziehungen einzugehen. Intimität zulassen zu können, ist die primäre
Die späte Adoleszenz ist auch die Zeit, in der Verträglichkeit und Entwicklungsaufgabe der späten Adoleszenz und der ersten Jahre als jun-
emotionale Stabilität zunehmen (Klimstra et al. 2009). ger Erwachsener.
Erikson postulierte, dass auf die Stufe der Identitätsfindung
in der Jugend die beginnende Fähigkeit zur Intimität folgt, d. h., Beziehungen zu Eltern und Gleichaltrigen
der junge Erwachsene kann nun enge emotionale Beziehungen
? 6.15 Wie werden Jugendliche von ihren Eltern und Gleich-
aufnehmen. Zwei von drei 17-Jährigen in Nordamerika berich-
altrigen beeinflusst?
ten davon, sich in Liebesbeziehungen zu befinden, die sich durch
besonders starke Emotionalität auszeichnen. In kollektivisti- Auf der Suche nach der eigenen Identität beginnen Jugendliche
schen Kulturen wie China sind das weniger (Collins et al. 2009; in westlichen Kulturen, sich von den Eltern zu lösen (Shanahan
Li et al. 2010). Diejenigen, die gute (also enge und unterstützen- et al. 2007; . Abb. 6.38). Aus dem Kindergartenkind, das gar
de) Beziehungen zu Familie und Freunden unterhalten, haben nicht nah genug bei der Mutter sein kann, sie anfassen und sich
oft auch ebensolche romantischen Beziehungen im Jugendalter, an sie klammern will, wird der Teenager, der um keinen Preis
in dem die Voraussetzungen für gesunde Beziehungen im Er- gesehen werden möchte, wenn er mit der Mutter Hand in Hand
214 Kapitel 6 · Entwicklung über die Lebensspanne

waren tendenziell auch die Freundschaften mit anderen Mäd-


chen sehr eng (Gold u. Yanof 1985). Und Teenager, die sich ihren
Eltern verbunden fühlen, sind tendenziell gesund und glücklich
und sind gute Schüler (Resnick et al. 1997). Natürlich können
wir diese Korrelation auch anders interpretieren: Teenager, die
Regeln nicht respektieren, haben mit größerer Wahrscheinlich-
keit eine gespannte Beziehung zu ihren Eltern.
Es ist typisch für das Jugendalter, dass der elterliche Einfluss
ab- und der Einfluss der Gleichaltrigen zunimmt. In einer Studie
wurden Eltern in den USA gefragt, ob sie »je ein ernstes Ge-
spräch« mit ihrem Kind über illegale Drogen geführt hätten. 85%
der Eltern bejahten die Frage. Doch scheinen diese ernst gemein-
6 ten Ratschläge bei den Teenagern nicht anzukommen, denn nur
45% konnten sich an ein solches Gespräch erinnern (Morin u.
Brossard 1997).
Wie schon in 7 Kap. 5 ausgeführt, lässt sich vieles, wenn es
um Ausbildung individueller Unterschiede in Bezug auf den
Charakter und die Persönlichkeit geht, durch die Erbanlagen er-
klären. Für den Rest ist jedoch vor allem die Peergroup aus-
schlaggebend. Teenager sind Herdentiere. Sie sprechen, handeln
und kleiden sich eher wie ihre Altersgenossen und nicht wie ihre
Eltern. Sie werden oft so, wie ihre Freunde bereits sind, und
. Abb. 6.39 Veränderungen in der Eltern-Kind-Beziehung. Interviews im sie machen das, »was jeder macht«. Bei den Anrufen bei Stellen,
Rahmen einer breit angelegten Studie mit kanadischen Familien erbrach- die jungen Menschen telefonische Beratung und Hilfe bei Pro-
ten, dass sich die normale enge und warme Beziehung zwischen Eltern und
Vorschulkindern lockert, wenn die Kinder älter werden. (Daten aus Statistics
blemen anbieten, sind die Beziehungen zu Gleichaltrigen das
Canada 1999) am häufigsten angesprochene Thema (Boehm et al. 1999). Eine
Studie fand heraus, dass der durchschnittliche US-amerikanische
Jugendliche zwischen 13 und 17 Jahren jeden Monat über
geht. Der Übergang vollzieht sich allmählich (. Abb. 6.39). In der 1700 SMS schreibt und empfängt (Steinhauer u. Holson 2008).
Adoleszenz kommt es häufiger zum Streit, meist über sehr banale Viele Jugendliche werden in den Bann sozialer Netzwerke ge-
Dinge: Hilfe im Haushalt, Schlafenszeit, Hausaufgaben (Tesser et zogen, der manchmal zu einer zwanghaften Nutzung ausartet,
al. 1989). Die Konflikte zwischen Eltern und Kindern während die zu einer »Facebook-Müdigkeit« führt. Online-Kommunika-
der Übergangszeit zur Pubertät fallen mit Erstgeborenen heftiger tion regt intime Selbstoffenbarungen an. Dies zeigt sich sowohl
aus als mit späteren Kindern und sind in der Regel stärker zwi- in positiven Bereichen (Online-Hilfegruppen) als auch in nega-
schen Kindern und ihren Müttern als ihren Vätern (Burk et al. tiven Bereichen (Sexualstraftaten im Internet und extremistische
2009; Shanahan et al. 2007). Vereinigungen) (Subrahmanyam u. Greenfield 2008; Valkenburg
u. Peter 2009).
» I love u guys.
Aus der Peergroup ausgeschlossen zu werden, ist überaus
Die letzte SMS von Emily Keyes an ihre Eltern,
schmerzlich. Der Sozialpsychologe Elliot Aronson machte die
bevor sie bei einer Schießerei in einer Schule in Colorado
Beobachtung, dass »die soziale Atmosphäre an den meisten High
2006 getötet wurde.
Schools von Cliquenwesen vergiftet und von Abgrenzung ge-
Bei einigen wenigen Eltern mit heranwachsenden Kindern füh- prägt« ist. Die meisten Schüler, die ausgegrenzt werden, »leiden
ren diese Differenzen zu Entfremdung und zu Stress (Steinberg stillschweigend … manche gehen gewalttätig auf ihre Klassen-
u. Morris 2001). Doch die meisten erleben die Streitereien und kameraden los«. Diejenigen, die sich zurückziehen, sind anfällig
das Gezänk nicht als destruktiv. Eine Studie mit 6000 Jugend- für Einsamkeit, ein niedriges Selbstwertgefühl und Depression
lichen aus 10 Ländern, darunter Australien, Bangladesh und die (Steinberg u. Morris 2001). Auf Ablehnung reagieren Jugend-
Türkei ergab, dass die meisten ihre Eltern mochten (Offer et al. liche mit Rückzug, sie werden anfällig für Einsamkeit, geringes
1988). »Wir kommen normalerweise miteinander aus, aber …« Selbstwertgefühl und Depressionen (Steinberg u. Morris 2001).
berichten Jugendliche oft (Galambos 1992; Steinberg 1987). Von Gleichaltrigen akzeptiert zu werden, ist wichtig.
Positive Beziehungen zu den Eltern sind hilfreich für positive
Beziehungen zu Gleichaltrigen. Bei Mädchen im Alter von 14–
17 Jahren, die die liebevollste Beziehung zu ihrer Mutter hatten,
6.4 · Adoleszenz
215 6

. Abb. 6.40 Die Adoleszenz beginnt früher und endet später. Um 1890 lagen zwischen der ersten Menstruation einer Frau und ihrer Heirat, die typi-
scherweise für den Übergang ins Erwachsenenalter stand, durchschnittlich 7 Jahre; heute sind es in den Industrienationen ungefähr 12 Jahre (Guttmacher
Institute 1994, 2000, mit freundlicher Genehmigung). Obwohl viele Erwachsene unverheiratet sind, trägt die späte Heirat zusammen mit einer längeren
Ausbildung und einer früheren Menarche dazu bei, die Adoleszenz zu verlängern

6.4.4 Übergang ins Erwachsenenalter Die verzögerte Unabhängigkeit fällt zusammen mit einem
früheren Einsetzen der Pubertät. Die frühe Geschlechtsreife in
heutigen Zeiten hängt einerseits mit dem zunehmenden Fettan-
? 6.16 Was bedeutet der Übergang ins Erwachsenenalter?
teil am Körpergewicht bei Mädchen (der bei Schwangerschaft
In der westlichen Welt entspricht die Adoleszenz heute grob und Kinderbetreuung hilfreich sein kann) und andererseits mit
den Teenagerjahren, in früheren Zeiten jedoch – und in einigen der schwächeren Bindung des Kindes an die Eltern zusammen;
Teilen der Welt auch heute – war die Adoleszenz ein kurzes und dazu gehört auch die Abwesenheit von Vätern (Ellis 2004).
Zwischenspiel zwischen der Abhängigkeit in der Kindheit und Die später einsetzende Unabhängigkeit hat zusammen mit
der Selbstverantwortung im Erwachsenenalter (Baumeister u. der früher einsetzenden Geschlechtsreife das einst kurze Zwi-
Tice 1986). Kurz nach der Geschlechtsreife verlieh die Gesell- schenspiel zwischen biologischer Reife und sozialer Unabhän-
schaft dem jungen Menschen die Selbstverantwortung und den gigkeit verlängert (. Abb. 6.40). Die Zeit zwischen dem 18. und
Status des Erwachsenen, wobei dies oft mit einem komplizierten dem 25. Lebensjahr ist in wohlhabenden Gesellschaften immer
Initiationsritus begangen wurde. Der frisch gebackene Erwach- mehr eine Lebensphase, in der man noch nicht ganz fertig ist
sene arbeitete dann, er heiratete und hatte Kinder. und die von manchen heute als Übergang ins Erwachsenenalter
Mit dem Aufkommen der Schulpflicht in vielen westlichen bezeichnet wird (Arnett 2006, 2007; Reitzle 2006). Diese »all-
Nationen dauerte die Abhängigkeit länger an. Von Europa bis mählich erwachsen Werdenden« kann man nicht mehr zu den
Australien brauchen die jungen Menschen länger, um erwachsen Adoleszenten rechnen, doch die Verantwortung des selbststän-
zu werden. So ist in den USA beispielsweise das durchschnitt- digen Erwachsenen haben sie auch noch nicht übernommen. Sie
liche Heiratsalter seit 1960 um 4 Jahre angestiegen (auf 28 Jahre fühlen sich irgendwo »dazwischen«. Nach dem Ende der Schul-
für Männer und 26 Jahre für Frauen). In Deutschland liegt das zeit kümmern sich diejenigen, die in den Arbeitsmarkt eintreten
Heiratsalter sogar noch höher: Während 1960 Frauen durch- oder auf eine Universität gehen, mehr als jemals zuvor um ihre
schnittlich im Alter von knapp 24 Jahren heirateten, lag ihr Hei- eigene Zeit und ihre eigenen Prioritäten. Dabei leben sie aller-
ratsalter im Jahr 2011 bei 30½ Jahren. Bei Männern stieg im dings oft noch mit ihren Eltern zusammen, da sie sich oft keine
gleichen Zeitraum das Heiratsalter von ca. 26 Jahren auf etwas eigene Wohnung leisten können und eventuell auch emotional
mehr als 33 Jahre (Statistisches Bundesamt 2013). 3 von 4 Frauen noch von ihren Eltern abhängig sind. Als Reaktion auf diesen
und 2 von 3 Männern hatten 1960 im Altern von 30 Jahren bereits schrittweise verlaufenden Übergang ins Erwachsenenalter er-
ihre schulische Laufbahn abgeschlossen, ihr Elternhaus verlas- laubt die US-Regierung von ihren Eltern abhängigen Kindern
sen, standen finanziell bereits auf eigenen Beinen, waren verhei- neuerdings bis zum Alter von 26 Jahren, in der elterlichen Ge-
ratet und hatten ein Kind. Heutzutage haben in den USA weniger sundheitsversicherung zu bleiben (Cohen 2010); in Deutschland
als die Hälfte aller 30-jährigen Frauen und ein Drittel aller können Kinder, die noch in der Berufsausbildung sind, bis zum
30-jährigen Männer diese Meilensteine erreicht (Henig 2010). Alter von 25 Jahren bei den Eltern mitversichert bleiben.
216 Kapitel 6 · Entwicklung über die Lebensspanne

Grob gesehen gibt es zwei Richtungen in der Entwicklungs-


psychologie: Die Wissenschaftler, die den Akzent auf Lernen und
Erfahrung legen, sehen Entwicklung als langsamen, kontinuier-
lichen Prozess der Ausformung. Steht aber die biologische Rei-
fung im Vordergrund, dann wird Entwicklung als eine Abfolge
durch genetische Prädispositionen festgelegter Stufen oder
Schritte gesehen; die Stufen können schnell oder langsam durch-
laufen werden, doch die Reihenfolge ist für alle Menschen die
gleiche (. Abb. 6.41).
Gibt es in der psychischen Entwicklung diese scharf von-
einander abgegrenzten Stadien, die wir aus der körperlichen Ent-
wicklung kennen, bei der jedes Kind erst krabbelt, ehe es zu lau-
6 fen beginnt? Wir haben Jean Piaget und seine Theorie von den
Stadien der kognitiven Entwicklung kennengelernt, desgleichen
die Stufen der moralischen Entwicklung, die Lawrence Kohlberg
definierte, und nicht zuletzt die von Erik Erikson beschriebenen
Stufen der psychosozialen Entwicklung (. Abb. 6.42). Kleine
Kinder verfügen bereits über manche Fähigkeiten, die Piaget erst
für spätere Stadien postulierte. Kohlbergs Stufenmodell hatte
anscheinend den gebildeten Mann im Blick, der einer individua-
. Abb. 6.41 Lebensphasen. (© Shannon Wheeler) listischen Kultur angehört, und legte deshalb den Akzent zu sehr
auf das Denken, während das Handeln eine geringere Rolle
Übergang ins Erwachsenenalter (»emerging adulthood«) – in modernen spielt. Und wie der folgende Abschnitt dieses Kapitels zeigen
Kulturen der Zeitraum zwischen dem späten Jugendalter und etwa 25 Jah- wird, verläuft das Leben des erwachsenen Menschen nicht in
ren, der als Zwischenstadium zwischen jugendlicher Abhängigkeit und
festen, vorhersagbaren Schritten, wie es sich Erikson vorgestellt
vollkommener Unabhängigkeit und Verantwortung des Erwachsenenalters
angesehen wird. hatte. Der Zufall kann unser Leben in Richtungen lenken, die wir
niemals für möglich gehalten hätten.
Zwar meldet die Forschung Zweifel an der Vorstellung an,
6.4.5 Überlegungen zur kontinuierlichen dass das Leben in klar definierten, altersbedingten Stufen ab-
und stufenweisen Entwicklung läuft, doch kann das Stufenkonzept auch weiterhin nützlich
sein. In Kindheit und Jugend durchläuft das Gehirn des Men-
Erwachsene und Kinder unterscheiden sich sehr voneinander. schen Phasen raschen Wachstums, die in etwa den Stadien
Aber: Unterscheiden sie sich auf die gleiche Weise, wie die alte von Piagets Modell entsprechen (Thatcher et al. 1987). Darüber
Eiche sich vom Eichenschößling unterscheidet – ein Unter- hinaus stärken Stadientheorien die Betrachtungsweise der
schied, der auf allmählichem Wachstum beruht? Oder lässt Entwicklung über die gesamte Lebensspanne, indem sie An-
sich der Unterschied zwischen Erwachsenen und Kindern nahmen darüber formulieren, auf welche Weise Personen einer
eher mit dem zwischen Raupe und Schmetterling vergleichen? bestimmten Altersgruppe denken und handeln, wenn sie älter
Durchlaufen wir in unserer Entwicklung verschiedene Stadien? werden.

. Abb. 6.42 Stadientheorien im Vergleich. (Vielen Dank an Dr. Sandra Gibbs, Muskegon Community College, für die Inspiration zu diesem Schaubild)
6.5 · Erwachsenenalter
217 6

Prüfen Sie Ihr Wissen

5 Verbinden Sie die Stadien der psychosozialen Entwick-


lung (1–8) mit den jeweiligen Themen, deren Bewälti-
gung nach Erikson jeweils zentral ist (a–h).
1. Säuglingsalter
2. Kleinkindalter
3. Vorschulalter
4. Schulalter
5. Jugendalter
6. Frühes Erwachsenenalter
7. Mittleres Erwachsenenalter
8. Hohes Erwachsenenalter
a. Generativität vs. Stagnation
b. Ich-Integrität vs. Verzweiflung
c. Initiative vs. Schuld
d. Intimität vs. Isolation
e. Identität vs. Rollendiffusion
f. Kompetenz vs. Minderwertigkeit
g. Vertrauen vs. Misstrauen
h. Autonomie vs. Scham und Selbstzweifel

. Abb. 6.43 (© Claudia Styrsky)

6.5 Erwachsenenalter

Früher betrachteten Psychologen die Lebensmitte, also die Betrachtungen berücksichtigen, indem wir drei Abschnitte
Jahre zwischen Jugend und Alter, als langes Plateau, als Phase voneinander unterscheiden: frühes Erwachsenenalter (etwa in
ohne Veränderungen. Heute sehen sie es anders. Wer sich mit der den 20ern und 30ern), mittleres Erwachsenenalter (bis etwa
Entfaltung des Lebens eines Erwachsenen näher beschäftigt, 65 Jahre) und hohes Erwachsenenalter (ab etwa 65 Jahre). Inner-
kommt schnell zu der Überzeugung, dass die Entwicklung halb jedes dieser Lebensabschnitte zeigen sich große physische,
weitergeht. psychologische und soziale Unterschiede zwischen verschie-
denen Personen.
» Ich lerne immer noch.
Michelangelo (1560, im Alter von 85 Jahren)

6.5.1 Körperliche Entwicklung


Welches Alter muss ein Mensch haben, ehe Sie ihn oder sie für
alt halten? Die Aussage der 18- bis 29-Jährigen lautet 67 Jahre;
die 60-Jährigen und Älteren sagen 76 Jahre ( Yankelovich 1995). ? 6.17 Wie verändern wir uns im mittleren und hohen
Erwachsenenalter körperlich?
Generelle Aussagen über die Phasen des Erwachsenenlebens
lassen sich nicht so leicht formulieren wie die über die ersten All unsere körperlichen Fähigkeiten – Muskelkraft, Reaktions-
Jahre des Lebens. Wenn Sie wissen, dass James 1 Jahr alt ist und zeit, Sinnesschärfe und Herztätigkeit – erreichen ihren Höhe-
Jamal 10, dann könnten Sie schon eine ganze Menge über jedes punkt Mitte 20. So wie das Tageslicht nach Sonnenuntergang
der Kinder aussagen. Der gleiche Altersunterschied bei Erwach- allmählich abnimmt, so setzt der Prozess des Absinkens der
senen lässt keine generellen Aussagen zu. Ein Chef kann ebenso Höchstleistung fast unmerklich ein. Leistungssportler sind oft
gut 30 wie 60 Jahre alt sein, ein Marathonläufer mag 20 oder die ersten, die es spüren. Weltrekordläufer und Schwimmer
50 sein, ein 19-Jähriger kann ein Kind haben, für das er sorgt, bringen ihre Höchstleistung mit Anfang 20. Frauen erreichen
er kann aber auch selbst noch ein Kind sein, das Unterstüt- die Reife früher als Männer und demzufolge auch den Höhe-
zung braucht. Trotzdem gibt es Ähnlichkeiten bei unseren punkt der Leistungsfähigkeit. Doch die meisten von uns, vor
Lebensläufen. In körperlicher, kognitiver und vor allem in sozia- allem die, denen der Alltag keine körperlichen Höchstleistungen
ler Hinsicht sind wir mit 50 Jahren ganz anders als mit 25 Jahren. abverlangt, spüren diese frühen Zeichen des Nachlassens kaum
Wir werden solche Unterschiede in unseren anknüpfenden (. Abb. 6.43).
218 Kapitel 6 · Entwicklung über die Lebensspanne

Körperliche Veränderungen im mittleren bensjahr hinaus sexuell aktiv zu sein (Schick at al. 2010). In der
Erwachsenenalter Sexualitätsbefragung der American Association of Retired Per-
Sportler in den mittleren Jahren (nach 40) sind nur zu gut ver- sons gaben erst im Alter von 75 Jahren die meisten Frauen und
traut mit der Tatsache, dass der körperliche Abbau sich allmäh- mehr als die Hälfte der Männer an, wenig Verlangen nach Sexua-
lich beschleunigt. Als 68-Jähriger, der regelmäßig Basketball lität zu verspüren (DeLamater u. Sill 2005). Obwohl die Aktivität
spielt, stelle ich fest, dass ich nicht mehr jedem Ball hinterher- heruntergefahren wird, bleibt das sexuelle Verlangen bei guter
laufe. Doch für normale Aktivitäten ist auch die verminderte Gesundheit und einem ebenfalls gewillten Partner erhalten. In
Kraft ausreichend. Zudem hat die Körperkraft im frühen und den Worten von Alex Comfort (1992, S. 240): »Die Gründe, die
mittleren Erwachsenenleben weniger mit den Jahren als mit dem Sie im Alter davon abhalten, Sex zu haben, sind genau die glei-
Gesundheitszustand und den Trainingsgewohnheiten zu tun. chen, die Sie davon abhalten, Fahrrad zu fahren (schlechter
Viele 50-Jährige, die körperlich fit sind, laufen mit Leichtigkeit Gesundheitszustand; die Auffassung, das sähe blöd aus; kein
6 km, während 23-Jährige, die vorwiegend sitzen, schon bei Fahrrad).«
6 2 Stockwerken ins Schnaufen und Pusten kommen.
Für Frauen geht mit dem Altern eine Abnahme der Frucht- Körperliche Veränderungen in späteren Jahren
barkeit einher. Für eine Frau zwischen 35 und 39 führt ein Ge- Muss man das Alter »mehr fürchten als den Tod« (Juvenal,
schlechtsverkehr nur halb so oft zu einer Schwangerschaft wie bei Satiren)? Oder ist das Leben »am köstlichsten, wenn es zur
einer Frau zwischen 19 und 26 (Dunson et al. 2002). Männer Neige geht« (Seneca, Epistulae ad Lucilium)? Wie fühlt sich Alt-
erleben ein allmähliches Absinken der Spermienzahl und des werden an?
Testosteronspiegels und ein Nachlassen der Erektions- und Eja-
kulationsgeschwindigkeit. Für Frauen ist das hervorstechende jLebenserwartung
Zeichen des Alterns das allmähliche Aufhören des Monatszyklus, Weltweit steigt die Lebenserwartung: 1950 betrug sie 49 Jahre,
die Menopause, ein Prozess, der normalerweise kurz vor dem stieg bis 2010 auf 69 Jahre an und erreichte in den weiter ent-
50. Lebensjahr einsetzt. Welchen Einfluss die Menopause auf wickelten Ländern sogar 80 Jahre (PRB 1998; Sivard 1996). Das
die Gefühle einer Frau hat, hängt von ihren Erwartungen und bedeutet ein zwei Jahrzehnte längeres Leben! In China, den USA,
Einstellungen ab. Sieht sie darin ein Zeichen, dass sie ihre Weib- Großbritannien, Kanada und Australien (einige der Länder, in
lichkeit und sexuelle Anziehungskraft eingebüßt hat? Oder erlebt denen Studierende dieses Buch lesen) ist die Lebenserwartung
sie die Menopause als Befreiung vom Menstruationszyklus und auf jeweils 75, 78, 70, 81 und 82 Jahre angestiegen (CIA 2010).
der Angst vor einer Schwangerschaft? Wie so oft wird die Wahr- Diese steigende Lebenserwartung (einige meinen, dies sei die
nehmung von Erwartungen beeinflusst. Manche Männer mögen größte Errungenschaft der Menschheit) in Verbindung mit sin-
auch eine Zeit der Trauer über die schwindende Männlichkeit kenden Geburtenraten lässt die Gruppe der Älteren zu einem
oder die abnehmenden körperlichen Fähigkeiten durchmachen. immer größeren Bevölkerungssegment werden. Dies vergrößert
Doch die meisten Männer altern ohne derartige Probleme. den Bedarf an Hörhilfen, Altenpflegeheimen und Senioren-
zentren. Heute ist eine von 10 Personen auf der Welt älter als
Menopause (»menopause«) – das natürliche Ende der Menstruation. Be-
zieht sich auch auf die biologischen Veränderungen, die mit der Abnahme 60 Jahre. Die Vereinten Nationen (2001, 2010) prognostizieren,
der Reproduktionsfähigkeit der Frau einhergehen. dass sich diese Zahl bis 2050 auf 2 von 10 verdoppeln wird (und
in Europa sogar 4 von 10 erreichen wird).
Daten aus Afrika bekräftigen eine evolutionäre Theorie der Über die gesamte Lebensspanne hinweg haben Männer ein
Menopause: Kinder, die mit einer mütterlichen Großmutter zu- höheres Todesrisiko als Frauen. Zwar kommen 126 männliche
sammenlebten, die typischerweise ein fürsorgliches und enga- auf 100 weibliche Embryos, doch liegt das Verhältnis der Ge-
giertes Familienmitglied ohne eigene Kinder ist, hatten größere schlechter bei der Geburt nur noch bei 105 Jungen auf 100 Mäd-
Überlebenschancen (Shanley et al. 2007). chen (Strickland 1992). Im 1. Lebensjahr übersteigt die Sterblich-
Die sexuelle Aktivität nimmt mit dem Alter ab. 9 von 10 US- keit männlicher Säuglinge die der weiblichen um ein Viertel.
Amerikanern zwischen 25 und 29 geben an, im Laufe des ver- Frauen überleben Männer weltweit um 4 Jahre. (Anstatt einen
gangenen Jahres Geschlechtsverkehr gehabt zu haben, wohin- Mann zu heiraten, der älter ist als sie, sollten 20-jährige Frauen,
gegen es bei den über 70-Jährigen nur 22% der Frauen und 43% die einen Ehemann haben möchten, der so lange lebt wie sie,
der Männer sind (Herbenick et al. 2010; Reece et al. 2010). Den- besser darauf warten, dass die 16-jährigen Jungen erwachsen
noch können die meisten Männer und Frauen auch weiterhin werden.) Im Alter von 100 Jahren gibt es 5-mal mehr Frauen als
eine befriedigende Sexualität genießen. Dies traf in Befragungen Männer (. Abb. 6.44).
auf 70% der zwischen 40 und 64 Jahre alten Befragten in Kanada Doch nur wenige von uns erreichen das 100. Lebensjahr.
zu sowie auf 75% der Befragten zwischen 65 und 74 in Finnland Krankheiten schlagen zu. Der Körper altert. Die Körperzellen
(Kontula u. Haavio-Mannila 2009; Wright 2006). In einer weite- hören auf, sich zu teilen. Der Körper wird gebrechlich, ist anfällig
ren Befragung gaben 75% der Befragten an, bis über ihr 80. Le- für geringfügige Beeinträchtigungen – eine Hitzewelle, ein Sturz,
6.5 · Erwachsenenalter
219 6

. Abb. 6.44a,b Der Weltrekord in Langlebigkeit? Die Französin Jeanne Calment war der älteste Mensch, dessen Alter bestätigt worden ist. Sie starb 1998
im Alter von 122 Jahren. Mit 100 fuhr sie noch Fahrrad. Mit 114, als sie in dem Film Vincent and Me sich selbst spielte, wurde sie die älteste Filmschauspiele-
rin, die es je gegeben hat. Das Bild auf der linken Seite zeigt sie 1885 im Alter von 20 Jahren (a: This image is in the public domain because its copyright has
expired; b: © picture-alliance / dpa)

eine leichte Erkältung –, die mit 20 Jahren lächerlich gewesen Lebensalter werden die Treppen steiler, alles ist kleiner gedruckt,
wären. Die Chromosomenspitzen, Telomere genannt, nutzen und die Leute nuscheln mehr. Die Sehschärfe und Distanz-
sich allmählich ab, ganz so wie die Enden von Schnürsenkeln. wahrnehmung verringern sich und die Adaption des Auges auf
Diese Abnutzung wird durch Rauchen, Übergewicht und Stress wechselnde Helligkeit erfolgt langsamer. Muskelkraft, Reak-
verstärkt. In dem Ausmaß, in dem Telomere absterben, sterben tionszeit und Ausdauer nehmen gleichfalls deutlich ab, ebenso
auch alternde Zellen, ohne dabei von perfekten genetischen Re- die Hörfähigkeit und der Geruchssinn. In einem Lebensmittel-
plikaten ersetzt zu werden (Epel 2009). laden in Wales wurden herumhängende Jugendliche mit einem
Genau wie geringer Stress und förderliches Gesundheits- hohen Ton vertrieben, den beinahe niemand über 30 hören
verhalten Langlebigkeit begünstigen, wirkt sich auch eine gute kann (Lyall 2005). Einige Studierende nutzen solche Tonhöhen
Stimmung positiv aus. Chronische Wut und Depression erhöhen ebenfalls zu ihrem Vorteil, indem sie auf ihren Mobiltelefonen
das Risiko, frühzeitig zu sterben (mehr dazu in 7 Kap. 13). Wis- Klingeltöne einstellen, die ihre Dozenten nicht hören können
senschaftler konnten auch ein faszinierendes Phänomen aus- (Vitello 2006).
machen, das den Tod hinauszögern kann (Shimizu u. Pelham
2008). In einer kürzlich über einen 15-Jahres-Zeitraum durch-
» Aus irgendeinem Grund, wahrscheinlich um Druckerschwär-
ze zu sparen, haben die meisten Restaurants begonnen,
geführten Studie zeigte sich, dass 2000 bis 3000 mehr US-Ameri-
ihre Speisekarten mit Buchstaben in der Größe eines Bakte-
kaner an den beiden Tagen nach Weihnachten starben als an
riums zu drucken.
Weihnachten selbst oder den beiden Tagen davor (. Abb. 6.45).
Dave Barry, Dave Barry Turns Fifty, 1998
Die Todesrate erhöht sich ebenfalls dann, wenn Menschen ihren
Geburtstag erreichen, oder wenn sie bis zu einem bestimmten Mit zunehmendem Alter schrumpfen die Pupillen, die Augen-
Schlüsselereignis, wie dem ersten Tag des neuen Jahrtausends, linsen sind nicht mehr so durchsichtig; dadurch kommt weniger
überleben. Licht in die Retina. Zu der Retina eines 65-Jährigen dringt tat-
sächlich nur noch ein Drittel des Lichts, das eine 20-jährige
jSensorische Fähigkeiten Retina empfängt (Kline u. Schieber 1985). Deshalb braucht ein
Wie oben dargestellt, setzt der körperliche Abbau bereits im 65-jähriger Mensch zum Lesen und zum Autofahren 3-mal so
frühen Erwachsenenalter ein, doch normalerweise bemerken viel Licht wie ein 20-Jähriger und sollte beim Autokauf auf
wir dies in seiner ganzen Tragweite erst viel später. Im höheren nicht getönte Scheiben achten. Das erklärt auch, warum Ältere
220 Kapitel 6 · Entwicklung über die Lebensspanne

6
. Abb. 6.45 Lässt sich die Verabredung mit dem Sensenmann aufschieben? Die Anzahl täglicher Todesfälle in den USA nahm zwischen 1987 und
2002 an den Tagen direkt nach Weihnachten zu. Für die Forscherer Mitsuru Shimizu und Brett Pelham (2008, reprinted by permission of Taylor & Francis Ltd.,
http://www.informaworld.com) steht dies in Einklang mit anderen Befunden, die zeigen, dass bestimmte Phänomene den Tod hinauszögern können

manchmal jüngere Leute fragen: »Brauchst du nicht mehr Licht Poon 1987). Die meisten 70-Jährigen können sich bei Videospie-
zum Lesen?« len nicht mit einem 20-Jährigen messen. Und, wie . Abb. 6.46
zeigt, steigt die Zahl der Unfälle mit Todesfolge bei den über
Die meisten Treppenstürze von älteren Leuten passieren auf der
75-Jährigen steil an. Ab dem Alter von 85 Jahren liegt sie höher
obersten Stufe, genau dort, wo sie von einem hellen Flur in
als bei 16-Jährigen. Trotzdem macht dies weniger als 10% der
ein dunkleres Treppenhaus kommen (Fozard u. Popkin 1978).
Zusammenstöße aus, weil ältere Menschen weniger fahren
Unser Wissen über das Altern könnte uns dabei helfen, die
(Coughlin et al. 2004).
Umwelt so zu gestalten, dass solche Unfälle verringert werden
Im Verlauf des Alterungsprozesses schrumpfen allmählich
könnten (National Research Council 1990).
die Hirnregionen, die für das Gedächtnis wichtig sind (Schacter
jGesundheit 1996). Im jungen Erwachsenenalter setzt ein allmählicher Ver-
Für die Alternden gibt es zum Thema Gesundheit sowohl gute lust von Hirnzellen ein, der bis zum Alter von 80 Jahren zu einer
als auch schlechte Nachrichten. Zunächst die schlechte: Das Reduktion des Hirngewichts um etwa 5% führt. Wir haben be-
körpereigene Immunsystem wird schwächer, kann Krankheiten reits gesehen, dass die späte Entwicklung des Frontallappens
nicht mehr so gut abwehren und macht ältere Leute anfälliger bei Jugendlichen zu erhöhter Impulsivität führt. Im hohen Er-
für lebensbedrohliche Krankheiten wie Krebs oder Lungenent- wachsenenalter lassen sich die manchmal etwas direkten Fragen
zündung. Die gute Nachricht: Dank der lebenslangen Akkumu- (»Hast du zugenommen?«) und überaus offenen Kommentare
lation von Antikörpern leiden alte Menschen seltener an relativ auf Abbauprozesse im für die Inhibitionskontrolle wichtigen
harmlosen Krankheiten wie einer normalen Grippe oder Virus- Frontallappen zurückführen (von Hippel 2007).
erkältungen. So ist die Wahrscheinlichkeit, sich jedes Jahr eine Hier eine gute Nachricht: Körperliches Training verlangsamt
Infektion der oberen Atemwege zuzuziehen, für über 65-Jährige das Altern. Wenn man sportlich aktiv ist, so wird auch das Ge-
nur halb so hoch wie für einen 20-Jährigen und nur ein Fünftel hirn trainiert. Körperliches Training verstärkt Muskeln und
so hoch wie für ein Vorschulkind (National Center for Health Knochen, verschafft Energie und verhindert Übergewicht und
Statistics 1990). Herzkrankheiten. Körperliches Training stimuliert auch die Ent-
Das Alter verlangt seinen Tribut auch beim Gehirn, indem es wicklung von Hirnzellen und -verbindungen, möglicherweise
das Tempo der neuronalen Informationsverarbeitung drosselt. aufgrund der erhöhten Sauerstoff- und Nährstoffzufuhr (Erick-
Bis zum Alter von 20 Jahren verarbeiten wir die eingehenden son et al. 2010; Pereira et al. 2007). Und das mag eine Erklärung
Informationen mit ständig wachsender Geschwindigkeit (Fry u. dafür sein, dass ältere Erwachsene mit vorwiegend sitzender
Hale 1996; Kail 1991). Doch im Vergleich zu Teenagern und Lebensweise, die nach dem Zufallsprinzip einem Programm
jungen Erwachsenen brauchen ältere Menschen ein bisschen mit aerobischen Übungen zugewiesen wurden, anschließend
länger für ihre Reaktionen oder beim Lösen von Problemen, die bessere Gedächtnisleistungen, ein schärferes Urteilsvermögen
etwas mit der Wahrnehmung zu tun haben; sie brauchen auch und ein geringeres Risiko, an Demenz zu erkranken, aufwiesen
etwas mehr Zeit, um sich an Namen zu erinnern (Bashore et al. (Colcombe et al. 2004; Liang et al. 2010; Nazimek 2009). Körper-
1997; Verhaeghen u. Salthouse 1997). Bei komplexen Aufgaben liche Betätigung fördert die Neurogenese (Entstehung neuer
ist der Unterschied am deutlichsten ausgeprägt (Cerella 1985; Nervenzellen) im Hippocampus, einer Gehirnstruktur, die eine
6.5 · Erwachsenenalter
221 6

. Abb. 6.46 Alter und Unfälle mit Todesfolge. Langsamere Reaktionen erhöhen das Unfallrisiko ab 75 und die zunehmende körperliche Gebrechlich-
keit erhöht das Risiko, bei einem Unfall auch zu sterben (NHTSA 2000, mit freundlicher Genehmigung). Würden Sie eine Fahrprüfung auf der Basis von
Fahrtüchtigkeit statt auf der Basis des Lebensalters befürworten, damit die Fahrer herausgefiltert werden können, deren langsame Reaktionen oder ein-
geschränkte Wahrnehmung ein Unfallrisiko anzeigen?

wichtige Rolle spielt für das Gedächtnis, und hilft dabei, Telo- sie solle »besser nachdenken«, während die Mutter, verwirrt und
mere an den Enden von Chromosomen zu schützen (Cherkas verlegen, das Haus nach verloren gegangenen Gegenständen
et al. 2008; Erickson 2009; Pereira et al. 2007). Für uns alle gilt: durchsuchte. Im Verlauf der Krankheit kommt es nach 5–20 Jah-
»Wer rastet, der rostet«, d. h. wir rosten eher durch Nichtge- ren zu einer Gefühlsverflachung, dann verliert der Betreffende
brauch, als dass wir uns durch übermäßigen Gebrauch abnutzen. die Orientierung an Ort und Zeit, wird inkontinent, enthemmt
und zuletzt geistig leer, eine Art lebender Toter, nur noch ein
jDemenz und Alzheimer-Krankheit
Die meisten Menschen, die über das 90. Lebensjahr hinaus leben,
bewahren ein klares Bewusstsein, aber einige leiden unter einem
massiven Verlust von Hirnzellen, der nicht mit dem normalen
Altern zusammenhängt. Auch eine Reihe kleinerer Schlaganfälle,
ein Hirntumor oder Alkoholismus können zu einer zunehmen-
den Schädigung des Gehirns und damit zu dem Krankheitsbild
führen, das wir Demenz nennen. Starkes Rauchen im mittleren
Erwachsenenalter kann das Risiko späterer Demenz mehr als ver-
doppeln (Rusanen et al. 2011). Die gefürchtetste aller Krankheiten
des Gehirns, die Alzheimer-Krankheit, betrifft weltweit 3% der
75-Jährigen. Bis zum Alter von 95 Jahren verdoppelt sich das Vor-
kommen von geistigem Verfall etwa alle 5 Jahre (. Abb. 6.47).

» Wir halten die Leute am Leben, damit sie alt genug werden
können, um an Alzheimer zu erkranken.
Steve McConnell, Vizepräsident der Alzheimer Association,
2007

Die Alzheimer-Krankheit zerstört auch die klügsten Köpfe. Zu-


erst wird das Gedächtnis schlechter, dann die Fähigkeit zum lo-
gischen Denken. (Ab und an zu vergessen, wo man die Auto-
schlüssel hingelegt hat, ist kein Grund zur Sorge; zu vergessen, . Abb. 6.47 Häufigkeit von Neuerkrankungen an Demenz in Abhängig-
keit vom Alter. Das Risiko für eine Demenz aufgrund einer Alzheimer-Er-
wie man nach Hause kommt, könnte ein Anzeichen für Alz-
krankung oder aufgrund mehrerer Schlaganfälle erhöht sich mit dem Alter
heimer sein.) Robert Sayre (1979) erinnert sich, wie sein Vater (Brookmeyer et al. 2011, with permission from Elsevier). Dennoch sind die
die von der Alzheimer-Erkrankung betroffene Mutter anschrie, meisten Menschen in den 90ern bei klarem Verstand
222 Kapitel 6 · Entwicklung über die Lebensspanne

tage lange vor dem Ausbruch der Krankheit bestimmt werden,


indem Tests auf verantwortliche Gene vorgenommen werden
oder über die Entnahme von Rückenmarksflüssigkeit das Vor-
kommen verantwortlicher Proteinfragmente überprüft wird
(De Meyer et al. 2010; Luciano et al. 2009). Aufgrund solcher
Entdeckungen begannen Wissenschaftler fieberhaft, Medika-
mente zu entwickeln und zu testen, mit deren Hilfe der Ausbruch
der Krankheit verhindert werden soll, indem ein bestimmtes
Enzym, das Proteinfragmente abtrennt, blockiert wird (Kolata
2010; Stix 2010). Die neuerliche Entdeckung fünf hiermit zu-
sammenhängender Gene könnte neue Erkenntnisse liefern
(Hollingworth et al. 2011).
6 Ein verschlechterter Geruchssinn scheint ebenfalls mit Ab-
weichungen zusammenzuhängen, die Alzheimer vorhersagen
lassen (Wilson et al. 2007). Bei Menschen, bei denen ein Risiko
für diese Krankheit besteht, zeigt möglicherweise eine Kern-
spintomografie des Gehirns (. Abb. 6.48) schon vor dem Auf-
treten von Symptomen, dass die hier entscheidenden Hirnzellen
in verräterischer Weise degeneriert sind (Apostolova et al. 2006;
Johnson et al. 2006; Wu u. Small 2006) und dass die Hirnaktivität
beim Erinnern von Wörtern weniger klar abgegrenzt ist. Es ist
fast so, als wäre eine größere Anstrengung erforderlich, um die-
selbe Leistung zu erbringen (Bookheimer et al. 2000).
Alzheimer-Demenz tritt weniger häufig bei Menschen auf,
die sowohl ihren Verstand als auch ihren Körper aktiv trainieren.
Was für die Muskeln gilt, gilt auch für das Gehirn: Die, die es
benutzen, büßen es nicht so oft ein. Probanden über 60 schnei-
den in Gedächtnistests besser ab, wenn sie in einem Land leben,
in dem sie bis über 60 arbeiten müssen. In Ländern, in denen
Probanden früher in den Ruhestand treten, lässt auch die Ge-
. Abb. 6.48a,b Möglichkeiten der Vorhersage der Alzheimer-Erkran- dächtnisleistung früher nach (Rohwedder u. Willis 2010).
kung. Eine Kernspintomografie des Gehirns von Alzheimer-Risikopatienten
(a) während eines Gedächtnistests zeigte im Vergleich mit einem gesunden
Gehirn (b) stärkere Aktivität (gelb, gefolgt von orange und rot). Man
kann mit Hilfe von Schichtaufnahmen des Gehirns und genetischen Unter- 6.5.2 Kognitive Entwicklung
suchungen Menschen identifizieren, die wahrscheinlich die Alzheimer-
Krankheit bekommen werden: Würden Sie sich diesem Test unterziehen? In
welchem Alter? (Aus Bookheimer et al. 2000; Copyright © 2000 Massa- ? 6.18 Wie verändert sich das Gedächtnis mit dem Alter?
chusetts Medical Society. Reprinted with permission from Massachusetts
Medical Society) Eine sehr umstrittene Frage bei der Untersuchung der Lebens-
dauer des Menschen ist folgende: Nehmen die kognitiven Fähig-
keiten – Gedächtnis, Kreativität und Intelligenz – parallel zu den
Leib, dem fast alles verloren gegangen ist, was einen Menschen körperlichen Fähigkeiten ab?
ausmacht. An manche Dinge erinnern wir uns gut, wenn wir älter wer-
Was den Alzheimer-Symptomen zugrunde liegt, ist ein Ver- den. Werden Personen gebeten, sich an ein oder zwei sehr wich-
lust von Hirnzellen und ein Abbau von Neuronen, die den tige Ereignisse der letzten 50 Jahre zu erinnern, tendieren sie
Neurotransmitter Acetylcholin ausschütten. Ohne diesen lebens- dazu, Dinge zu nennen, die sich in ihrer Teenagerzeit oder in
wichtigen chemischen Botenstoff können Gedächtnis und Denk- ihren Zwanzigern ereignet haben (Conway et al. 2005; Rubin et
fähigkeit nicht arbeiten. Eine Autopsie zeigt zwei aufschluss- al. 1998). Was immer man in diesem Alter erlebt haben mag –
reiche Anomalien bei den Acetylcholin produzierenden Neu- den Zweiten Weltkrieg, die Teilung Deutschlands, die Studenten-
ronen: schrumpelige Proteinfäden im Zellkörper und Plaques bewegung, die Ölkrise, die Wiedervereinigung Deutschlands
(Klumpen frei herumtreibender Proteinfragmente) an den oder den Krieg im Irak –, es war von zentraler Bedeutung (Pille-
Enden der Neuronenverzweigungen. Mit Hilfe neuer Technolo- mer 1998; Schuman u. Scott 1989). Die Zeit als Teenager bis Ende
gien kann die Anfälligkeit für eine Alzheimer-Demenz heutzu- 20 ist auch die Zeit, in der so viele erinnerungswürdige Dinge
6.5 · Erwachsenenalter
223 6

. Abb. 6.49 Gedächtnistests. Neue Namen zu erinnern, die ein-, zwei- . Abb. 6.50 Reproduktion und Wiedererkennen bei Erwachsenen. Die-
oder dreimal gezeigt werden, fällt jüngeren Erwachsenen leichter als äl- ses Experiment zeigt, dass die Fähigkeit zur Reproduktion neuer Informatio-
teren. (Daten aus Crook u. West 1990) nen im frühen und mittleren Erwachsenenalter abnimmt, das gilt jedoch
nicht für die Fähigkeit, neue Information wiederzuerkennen. (Aus Schonfield
u. Robertson 1966)

zum ersten Mal in unserem Leben passieren: das erste Rendez- als es vor 10 Jahren noch war (KRC 2001). Wie gut sich ältere
vous, die erste Arbeitsstelle, das erste Semester an der Uni, die Menschen an etwas erinnern können, scheint von der jeweiligen
erste Begegnung mit den Schwiegereltern. Aufgabe abzuhängen. In einem weiteren Experiment (Schonfield
u. Robertson 1966) zeigte sich nur eine geringe Abnahme in der
Wenn Sie zwischen 15 und 25 sind: Welche Erfahrungen, die
Gedächtnisleistung, wenn die Probanden darum gebeten wur-
Sie im vergangenen Jahr gemacht haben, werden Sie wahr-
den, eine Liste von 24 Wörtern, die sie sich zuvor hatten merken
scheinlich nie vergessen? (Das ist die Zeit in Ihrem Leben, an die
sollen, wiederzuerkennen. Die Gedächtnisabnahme war größer,
Sie sich am besten erinnern werden, wenn Sie einmal 50 sind.)
wenn sich die Probanden ohne jeden Anhaltspunkt an die Wör-
Für gewisse Arten des Lernens und Erinnerns sind tatsächlich ter erinnern sollen (. Abb. 6.50).
die frühen Erwachsenenjahre die beste Zeit. In einem Expe- Jugendliche und junge Erwachsene übertreffen sowohl junge
riment baten Crook u. West (1990) 1205 Menschen, ein paar Kinder als auch 70-Jährige bei Aufgaben zum prospektiven
Namen zu lernen. Auf einem Videoband sagten 14 Menschen Gedächtnis (»Denk daran …«) (Zimmerman u. Meier 2006). Das
ihren Namen, so wie man sich normalerweise vorstellt: »Hallo, prospektive Gedächtnis lässt einen nicht im Stich, wenn ein be-
ich bin Larry.« Dann tauchten dieselben Leute noch einmal auf stimmtes Ereignis (an einem Lebensmittelladen vorbeigehen)
und sagten beispielsweise: »Ich bin aus Philadelphia.« Sie liefer- als Auslöser (»… Milch einzukaufen«) eingesetzt werden kann.
ten damit einen visuellen und einen akustischen Anhaltspunkt, Termingebundene Pflichten (»Vergessen Sie die Sitzung um 15 Uhr
an dem die Erinnerung an den Namen festgemacht werden nicht«) und vor allem regelmäßig zu erfüllende Aufgaben (»Nimm
konnte. Wie . Abb. 6.49 zeigt, erinnerten sich alle Teilnehmer die Medikamente um 9, 14 und 18 Uhr«) stellen für Menschen
nach dem 2. oder 3. Durchgang an mehr Namen, doch junge fortgeschrittenen Alters eher ein Problem dar (Einstein et al. 1990,
Erwachsene erinnerten sich jedes Mal an mehr Namen als die 1995, 1998). Um die Probleme im Zusammenhang mit dem ab-
älteren Erwachsenen. nehmenden prospektiven Gedächtnis möglichst gering zu halten,
Vielleicht ist es keine Überraschung, dass fast zwei Drittel der müssen sich ältere Erwachsene stärker auf Maßnahmen zur
Menschen über 40 Jahre sagen, dass ihr Gedächtnis schlechter ist, Zeitstrukturierung und auf den Einsatz von Hinweisreizen als
224 Kapitel 6 · Entwicklung über die Lebensspanne

Gedächtnishilfen verlassen, wie etwa Notizzettel für sich selbst Forscher sprechen in diesem Zusammenhang von einem »Ter-
(Henry et al. 2004). Dies hätte vielleicht auch dem 76-jährigen minal Decline« (Backman u. MacDonald 2006).
John Basinger geholfen, der bezüglich eines Artikels in einer psy-
Querschnittstudie (»cross-sectional study«) – eine Vorgehensweise,
chologischen Fachzeitschrift darüber, dass er im hohen Alter alle bei der zu einem Untersuchungszeitpunkt Menschen verschiedener Alters-
12 Bände des epischen Gedichts Paradise Lost von John Milton stufen miteinander verglichen werden.
auswendig wusste, von einer Lokalzeitung interviewt werden Längsschnittstudie (»longitudinal study«) – eine wissenschaftliche
sollte (Seamon et al. 2010; Weir 2010). Er vergaß seinen Termin Methode, bei der die gleichen Menschen über einen längeren Zeitraum
hinweg immer wieder untersucht und getestet werden.
mit dem Reporter. Als er bei der Zeitung anrief, um sich zu ent-
schuldigen, verwies er auf die Situationskomik, dass er ein Inter-
view über das Gedächtnis vergessen hatte.
Auch in unseren späten Jahren gleichen wir uns nicht einan- 6.5.3 Soziale Entwicklung
der an, sondern wir driften weiter auseinander und werden viel-
6 fältiger. 20-Jährige unterscheiden sich beträchtlich in ihrem
? 6.19 Welche Themen und Einflüsse sind entscheidend für
Lern- und Erinnerungsvermögen, aber die Unterschiede inner-
unsere soziale Entwicklung zwischen dem frühen Erwachse-
halb der Gruppe der 70-Jährigen sind viel ausgeprägter. Laut dem
nenalter und dem Tod?
Wissenschaftler Patrick Rabbitt (2006) gilt: »Die Unterschiede
zwischen den 70-Jährigen mit den größten und den geringsten Viele Unterschiede zwischen jüngeren und älteren Erwachsenen
Fähigkeiten sind viel größer als dieselben Unterschiede bei entstehen durch kritische Lebensereignisse (»life events«). Eine
50-Jährigen.« Manche 70-Jährige bleiben mit ihrer Leistung neue Arbeitsstelle bedeutet gleichzeitig neue Beziehungen, neue
unterhalb des Niveaus fast aller 20-Jährigen, aber es gibt auch Erfahrungen und neue Anforderungen. Eine Heirat bringt das
70-Jährige, die es dem durchschnittlichen 20-Jährigen gleichtun Glück der intimen Beziehung und gleichzeitig den Stress, der
oder ihn sogar übertreffen. damit verbunden ist, das eigene Leben mit dem eines anderen
Unabhängig davon, wie schnell oder langsam wir jeweils Menschen zu einem gemeinsamen Leben zu verschmelzen. Die
sind, unsere Erinnerungsleistung scheint auch davon abzu- drei Jahre vor und nach der Geburt eines Kindes erhöhen die
hängen, welche Art von Information wir abrufen möchten. Für Lebenszufriedenheit der Eltern (Dyrdal u. Lucas 2011). Der Tod
bedeutungslose Informationen – etwa sinnfreie Silben oder un- eines geliebten Menschen bedeutet einen unersetzlichen Verlust.
wichtige Ereignissen – gilt, dass wir viel eher Fehler machen, Bilden diese normalen Ereignisse im Leben eines Erwachsenen
wenn wir älter werden. Ist die Information jedoch bedeutungs- eine vorhersagbare Abfolge von Veränderungen?
haltig, wie es Paradise Lost für John Basinger war, finden ältere
Menschen Unterstützung durch ihr umfangreiches Netz aus Vor- Stufen und Phasen des Erwachsenenalters
wissen. Es kann jedoch länger als bei jüngeren Erwachsenen dau-
ern, die Wörter und Dinge, die sie wissen, zu produzieren: Ge-
» Gerade in der Mitte unsrer Lebensreise befand ich mich in
einem dunklen Walde, weil ich den rechten Weg verloren hatte.
winner von Game Shows, bei denen es um schnelles Nachdenken
Dante, Die göttliche Komödie, 1314
geht, sind in der Regel jüngere bis mittelalte Erwachsene (Burke
u. Shafto 2004). Die Fähigkeit, neue Fertigkeiten zu erlernen und Wenn Menschen 40 werden, kommen sie ins mittlere Erwachse-
sich an sie zu erinnern, nimmt bei älteren Menschen stärker ab nenalter. In diesen Jahren wird einem klar, dass der größere Teil
als die Fähigkeit, sich an verbale Informationen zu erinnern des Lebens nicht mehr vor, sondern bald hinter einem liegt. Man-
(Graf 1990; Labouvie-Vief u. Schell 1982; Perlmutter 1983). che Psychologen vertreten die Ansicht, dass dieser Übergang in
7 Kap. 11 wird sich mit einer weiteren Dimension der kog- der Mitte des Lebens eine kritische Zeit ist, eine Zeit, in der große
nitiven Entwicklung befassen: der Intelligenz. Wie wir sehen Kämpfe ausgefochten werden, in der man vieles bedauert und
werden, haben Querschnittstudien, bei denen Personen ver- manchmal sogar das Gefühl hat, vom Leben besiegt worden zu
schiedener Altersgruppen miteinander verglichen werden, und sein. Ein weit verbreitetes Bild der Midlifecrisis ist der Mann An-
Längsschnittstudien, bei denen dieselben Personen über einen fang 40, der für eine jüngere Freundin und einen schnittigen
Zeitraum wiederholt untersucht werden, verschiedene mentale Sportwagen seine Familie aufgibt. Doch die Fakten, die sich den
Fähigkeiten ausgemacht, die sich mit dem Alter verändern oder Berichten einer großen Stichprobe entnehmen lassen, sehen an-
nicht. Das Alter ist weniger aussagekräftig für die Vorhersage von ders aus: sich unglücklich fühlen, am Arbeitsplatz nicht zufrieden
Gedächtnisleistung und Intelligenz als die Nähe zum Tod. Wenn sein, nicht glücklich verheiratet sein, Scheidung, Angst und Selbst-
Sie mir sagen, ob eine Person 8 Monate oder 8 Jahre davon ent- mord treten nicht Anfang 40 auf (Hunter u. Sundel 1989; Mroczek
fernt ist zu sterben, geben Sie mir unabhängig vom Alter dieser u. Kolarz 1998). Am häufigsten ist die Scheidung bei Menschen
Person einen wichtigen Hinweis auf ihre mentalen Fähigkeiten. zwischen 20 und 30; Selbstmord wird am häufigsten von 70- bis
Gerade in den letzten 3 oder 4 Jahren des Lebens beschleunigt 80-Jährigen verübt. Eine Untersuchung, in die fast 10.000 Män-
sich der kognitive Abbau typischerweise (Wilson et al. 2007). ner und Frauen einbezogen waren, erbrachte »nicht den gerings-
6.5 · Erwachsenenalter
225 6
ten Hinweis« darauf, dass Kummer und Leid (»distress«) irgend- tung, Bindung und Produktivität, Verpflichtung und Kompetenz.
wann in den mittleren Jahren besonders gravierend sind. Sigmund Freud (1935) drückte es sehr einfach aus. Er sagte: Der
gesunde Erwachsene ist ein Mensch, der lieben und arbeiten
» Die wichtigen Ereignisse im Leben eines Menschen sind
kann.
das Ergebnis einer Verkettung höchst unwahrscheinlicher
Vorkommnisse.
jLiebe
Joseph Traub, Traub’s Law, 2003
In der Regel flirten wir, verlieben uns und gehen eine Verpflich-
Bei einem von vier Erwachsenen, die angeben, eine Lebenskrise tung gegenüber dem anderen ein, und zwar nur gegenüber einem
durchzumachen, ist der Auslöser nicht das Alter, sondern ein Partner auf einmal. »Die Paarbindung ist ein Merkmal des
wichtiges Ereignis wie Krankheit, Scheidung oder Verlust des menschlichen Wesens«, beobachtete die Anthropologin Helen
Arbeitsplatzes (Lachman 2004). Einige Menschen im mittleren Fisher (1993). Evolutionär gesehen ist das ein sinnvolles Arran-
Erwachsenenalter sehen sich selbst als Teil einer »Sandwich- gement: Eltern, die kooperierten, um ihre Kinder zur Reife zu
Generation«, die sich gleichzeitig sowohl um ihre alternden bringen, konnten mit größerer Wahrscheinlichkeit ihre Gene an
Eltern als auch um ihre Kinder, die gerade im Übergang zum die Nachkommen weitergeben als Eltern, die das nicht taten.
Erwachsenenalter sind, oder gar um Enkelkinder kümmern Die Liebesbindung bei Erwachsenen ist am stabilsten und
muss (Riley u. Bowen 2005). bringt die größte Befriedigung, wenn sie auf gleich gelagerten
Lebensereignisse können Übergänge zu neuen Lebensab- Interessen und ähnlichen Wertvorstellungen beruht, wenn emo-
schnitten in unterschiedlichem Alter einläuten. Die soziale Uhr, tionale und materielle Unterstützung von beiden getragen wird
die kulturellen Vorgaben für »den richtigen Zeitpunkt« be- und wenn sich die Partner in einer intimen Beziehung einander
stimmter einschneidender Veränderungen – das Elternhaus ver- öffnen (7 Kap. 15). Beziehungen, in denen Paare eine Verpflich-
lassen, eine Arbeit annehmen, heiraten, Kinder haben, in Ruhe- tung eingehen – dies war in einer Studie in Vermont für hetero-
stand gehen – geht nicht in allen Kulturen im gleichen Takt und sexuelle Paare die Eheschließung und für homosexuelle Paare die
ändert sich auch von einer Generation zur anderen. Und auch die eingetragene Lebenspartnerschaft –, halten mit größerer Wahr-
einst rigide Vorgabe für westliche Frauen – Schülerin, Erwerbs- scheinlichkeit (Balsam et al. 2008). Die eheliche Bindung hält
tätige, Hausfrau und Mutter, wieder Erwerbstätige – hat sich ge- besonders dann, wenn das Paar erst nach Erreichen des 20. Le-
lockert. Heute spielen die Frauen diese Rollen in jeder beliebigen bensjahres heiratet und beide Partner eine gute Bildung haben. Im
Reihenfolge, manchmal auch alle gleichzeitig. Die soziale Uhr Vergleich zur Situation vor 40 Jahren verfügen die Menschen in
tickt zwar immer noch, aber die Menschen fühlen sich ihr nicht den westlichen Ländern heute über eine höhere Bildung und
mehr unterworfen. heiraten später. Es entbehrt nicht einer gewissen Ironie, dass sie
sich dennoch doppelt so häufig scheiden lassen. In den USA und
Soziale Uhr (»social clock«) – die in einer Kultur vorgegebenen Zeiträume
für bestimmte soziale Ereignisse wie Heirat, Elternschaft oder Ruhestand.
Kanada kommt heute eine Scheidung auf zwei Eheschließungen
(Bureau of the Census 2007). In Europa liegen die Scheidungsraten
Auch zufällige Ereignisse können dauerhafte Folgen haben, denn nur wenig niedriger; auch in Deutschland kamen laut Statisti-
oft lassen sie uns von dem bereits eingeschlagenen Weg ab- schem Bundesamt (2013) im Jahr 2012 auf rund 387.423 Ehe-
weichen und einen anderen beschreiten (Bandura 1982). So ver- schließungen über 187.640 Scheidungen. In den Scheidungsraten
liebt man sich beispielsweise nicht selten infolge einer zufälligen spiegeln sich zum Teil die heute geringeren ökonomischen Abhän-
Begegnung. Bandura (2005) erinnert sich an die witzige, aber gigkeiten der Frauen, zum Teil auch die gestiegenen Erwartungen
wahre Geschichte von einem Verlagslektor, der zu einer seiner wider. Wir erhoffen uns heute nicht nur eine dauerhafte Bindung,
Vorlesungen über die »Psychologie der zufälligen Begegnungen sondern wir suchen auch nach einem Gefährten, der für das Ein-
und Lebenswege« kam und am Ende die Frau heiratete, die zu- kommen sorgt, einem Versorger, einem echten Freund sowie
fällig neben ihm saß. Der Auslöser dafür, dass ich dieses Buch einem warmherzigen und einfühlsamen Liebhaber.
geschrieben habe (es war nicht meine Idee), war, dass ich wäh- Bewirkt das »Zusammenleben auf Probe«, dass das Schei-
rend einer internationalen Konferenz einen angesehenen Kol- dungsrisiko geringer wird? In einer Gallup-Umfrage unter 20-
legen kennengelernt habe. Zufällige Ereignisse können unser bis 30-Jährigen vertraten 62% die Meinung, dass dies der Fall
Leben verändern. ist (Whitehead u. Popenoe 2001). Tatsächlich zeigten jedoch
Untersuchungen, die in Europa, Kanada und den USA durchge-
Verpflichtungen des Erwachsenseins führt wurden, dass Paare, die vor der Heirat zusammenwohnten,
Zwei grundlegende Aspekte beherrschen das Leben des erwach- höhere Scheidungsraten und mehr Eheprobleme hatten als die,
senen Menschen. Erik Erikson nannte sie Intimität (enge Bezie- die nicht zusammengewohnt hatten (Jose et al. 2010). Das Risiko
hungen eingehen) und Generativität (sich fortpflanzen und die für eine schlechte Ehe scheint am höchsten für Paare zu sein, die
neue Generation unterstützen). Auch andere Begriffe werden vor der Verlobung zusammenwohnen (Goodwin et al. 2010;
von den Wissenschaftlern verwendet: Zugehörigkeit und Leis- Rhoades et al. 2009).
226 Kapitel 6 · Entwicklung über die Lebensspanne

US-amerikanische Kinder, deren Eltern bei ihrer Geburt un- Häufig entstehen aus einer Liebesbeziehung auch Kinder. Für
verheiratet zusammenleben, haben eine 5-mal höhere Wahr- die meisten Menschen ist diese auf einen längeren Zeitraum
scheinlichkeit, eine elterliche Trennung zu erleben, als Kinder, angelegte Veränderung ihrer Lebensumstände ein glückliches
deren Eltern verheiratet sind (Osborne et al. 2007). Zwei Fakto- Ereignis. 93% der US-amerikanischen Mütter stimmten in einer
ren sind hierbei von Bedeutung: Einerseits sind Paare, die zusam- nationalen Umfrage folgender Aussage zu: »Ich empfinde eine
menleben, von vornherein weniger überzeugt vom Konzept ei- überwältigende Liebe für meine Kinder, die anders ist als alles,
ner dauerhaften Ehe; andererseits nimmt diese Überzeugung was ich für irgendjemanden sonst empfinde« (Erickson u. Aird
während der Zeit, in der sie zusammenleben, noch weiter ab. 2005). Viele Väter berichten dasselbe Gefühl. Einige Wochen
nach der Geburt meines ersten Kindes realisierte ich mit einem
Was glauben Sie: Korreliert Ehe mit dem Gefühl des Glücks,
Mal: »Dasselbe fühlten meine Eltern also auch mit mir.«
weil aus der intimen Beziehung und der partnerschaftlichen
Unterstützung ein Glücksgefühl entsteht oder weil es häufiger » Die Liebe zu unseren Kindern unterscheidet sich grund-
6 die glücklichen Menschen sind, die heiraten und verheiratet legend von allen anderen menschlichen Gefühlen. Beinahe
bleiben? Oder ist beides richtig? völlig unabhängig von ihren jeweiligen Eigenschaften,
verliebte ich mich so schnell und schwer in meine Kinder.
Die Ehe als Institution besteht jedoch weiter. Nach einem Bericht
Dennoch war ich 20 Jahre später (mehr oder weniger)
der Vereinten Nationen heiraten weltweit 9 von 10 heterosexu-
glücklich, sie gehen zu sehen – ich musste glücklich darüber
ellen Erwachsenen. Die Ehe ist nicht nur ein Prädiktor für Glück,
sein, sie gehen zu sehen. Wir lieben sie hingebungsvoll,
sondern auch für physische und psychische Gesundheit, sexuel-
wenn sie klein sind, und doch ist alles, was wir als Lohn
le Befriedigung und Einkommen (Scott et al. 2010). So zeigten
erwarten können, wenn sie erwachsen sind, dass sie uns mit
Befragungen von mehr als 48.000 Amerikanern seit 1972 durch
irritierter und tolerierender Zuneigung betrachten.
das National Opinion Research Center, dass 40% der verheira-
Entwicklungspsychologin Alison Gopnik, The Supreme Infant,
teten Erwachsenen angaben, »sehr glücklich« zu sein, aber nur
2010
23% der unverheirateten Erwachsenen. Auch lesbische Paare
berichten von mehr Wohlbefinden als die, die allein leben Doch kann es geschehen, dass die Zufriedenheit mit dem Ehe-
(Peplau u. Fingerhut 2007; Wayment u. Peplau 1995). Darüber leben abnimmt, wenn die Kinder allmählich Zeit, Geld und emo-
hinaus ist in Stadtvierteln mit einem hohen Anteil an Ehen der tionale Energie absorbieren (Doss et al. 2009). Das gilt besonders
Anteil an typischen sozialpathologischen Phänomenen wie Kri- für berufstätige Frauen, die traditionell die Last der Hausarbeit
minalität, Delinquenz und emotionalen Störungen bei Kindern tragen, und zwar in größerem Maße, als sie erwartet hatten. Doch
geringer (Myers u. Scanzoni 2005). die Mühe, die es kostet, eine faire Partnerschaft zu entwickeln,
Ehen, die Bestand haben, sind nicht immer konfliktfrei. kann einen doppelten Nutzen haben; denn sie sorgt für mehr
Manche Paare streiten sich heftig, doch sie überschütten einan- Zufriedenheit in der Ehe, und das wiederum führt zu besseren
der auch mit Zeichen der Zuneigung. Andere wiederum werden Eltern-Kind-Beziehungen (Erel u. Burman 1995).
nie laut, loben einander aber auch nur selten und sind auch nicht Auch wenn aus einer Liebesbeziehung Kinder entstehen, ver-
zärtlich zueinander. Jeder dieser Stile kann sich als dauerhaft lassen Kinder irgendwann das Elternhaus. Ihr Fortgehen ist ein
erweisen. John Gottman (1994) beobachtete die Interaktionen wichtiges Ereignis, und manchmal fällt die Trennung schwer.
von 2000 Paaren und fand einen Indikator für eine erfolgreiche Für die meisten ist das »leere Nest« ein glücklicher Ort (Adel-
Ehe: Das Verhältnis zwischen positiven und negativen Interak- mann et al. 1989; Gorchoff et al. 2008). Viele Eltern erleben das,
tionen muss mindestens 5:1 betragen. In stabilen Ehen gibt was die Soziologen White u. Edwards (1970) »zweite Flitter-
es 5-mal mehr Gelegenheiten, einander anzulächeln, sich zu wochen« nennen, vor allem, wenn die Beziehung zu den Kindern
berühren, zu loben und miteinander zu lachen als Anlässe für weiterhin eng bleibt. So sagte es auch Daniel Gilbert (2006): »Das
Sarkasmus, Kritik und Kränkungen. Wenn Sie also eine Pro- einzige bekannte Symptom des ›Empty-Nest-Syndrom‹ ist ver-
gnose darüber abgeben wollen, welches frisch verheiratete stärktes Lächeln.«
Paar zusammenbleiben wird, dann achten Sie weniger darauf,
wie leidenschaftlich die beiden ineinander verliebt sind. Es sind Als Sie von zu Hause weggingen, litten da Ihre Eltern unter dem
die Paare, die sich damit zurückhalten, ihren Partner herabzu- »Empty-Nest-Syndrom«, dem Gefühl von Trauer um den Verlust
setzen, die das Ziel erreichen und zusammenbleiben. Um das des Lebenszwecks und der Beziehung? Trauerten sie der Freude
Krebsgeschwür der negativen Interaktionen gar nicht erst auf- nach, die sie empfunden hatten, wenn sie samstags vor Sonnen-
kommen zu lassen, lernen erfolgreiche Paare, fair zu streiten (die aufgang die Ohren spitzten, um Sie heimkommen zu hören –
eigenen Gefühle in Worte fassen, ohne den Partner zu kränken) eine Freude, die nun aus ihrem Leben verschwunden war? Oder
und Konflikte zu umschiffen mit Aussagen wie »Ich weiß, dass entdeckten sie eine neue Freiheit, ein Gefühl der Entspannung
du nicht schuld bist« oder »Ich bin mal einen Moment still und und (falls sie noch verheiratet waren) eine neue Befriedigung in
höre dir zu«. ihrer eigenen Beziehung?
6.5 · Erwachsenenalter
227 6
jArbeit »Meine Ausbildung hätte ich ernster nehmen und mehr dafür
Für viele Erwachsene hängt die Antwort auf die Frage »Wer bist arbeiten sollen« (Kinnier u. Metha 1989; Roese u. Summerville
du?« unmittelbar mit der Frage »Was machst du?« zusammen. 2005). Auch andere Äußerungen des Bedauerns – »Ich hätte
Es ist für Frauen und Männer gleichermaßen schwierig, sich meinem Vater sagen sollen, dass ich ihn lieb habe« oder »Es tut
für einen Berufsweg zu entscheiden, besonders heute, wo das mir leid, dass ich nie nach Europa gereist bin« – zielen weniger
Arbeitsleben so starken Veränderungen unterworfen ist. In den auf Fehler, die man vielleicht gemacht hat, sondern auf die Dinge,
ersten beiden College- oder Universitätsjahren können nur die man zu tun versäumt hat (Gilovich u. Medvec 1995).
wenige Studenten vorhersagen, wo sie später arbeiten werden.
Letztlich ist man glücklich, wenn man eine Arbeit hat, die
» Wenn du geboren wirst, weinst du, während sich die Welt
um dich herum freut. Lebe so, dass, wenn du stirbst, die Welt
den eigenen Interessen entspricht und einem das Gefühl gibt,
weint und du dich freust.
etwas zu leisten und kompetent zu sein. Und im privaten Bereich
Sprichwort amerikanischer Ureinwohner
gehört zum Glück und zu einem erfüllten Leben ein Partner, ein
enger, verlässlicher und vertrauter Gefährte, der das Besondere Vom frühen Erwachsenenalter an bis zur Lebensmitte machen
an seiner Frau oder seinem Mann erkennt (Gable et al. 2006), die Menschen typischerweise Erfahrung mit einem gestärkten
und dazu gehören – für manche – Kinder, die man liebt und auf Gefühl der Identität, des Selbstvertrauens und des Selbstwertes
die man stolz ist. (Huang 2010; Robins u. Trzesniewski 2005). Im späteren Leben
werden die Herausforderungen größer: Das Einkommen
Prüfen Sie Ihr Wissen
schrumpft, die Arbeit wird einem häufig genommen, der Körper
5 Freud charakterisierte einen gesunden Erwachsenen als baut ab, das Gedächtnis wird schlechter, die Energie versickert,
Menschen, der und kann. Familienmitglieder und Freunde sterben oder ziehen weg, und
der Tod, der große Feind, rückt immer näher. Für diejenigen in
der Phase des Terminal Decline am Ende des Lebens sinkt die
Lebenszufriedenheit in dem Maß, in dem der Tod näher rückt
Wohlbefinden über die Lebensspanne hinweg (Gerstorf et al. 2008).

? 6.20 Verändern sich Selbstbewusstsein und Zufriedenheit » Ich hoffe, ich sterbe, bevor ich alt werde.
über die Lebensspanne? Pete Townshend von The Who (geschrieben mit 20 Jahren)

Wir alle werden älter. In diesem Augenblick sind Sie so alt, wie So ist es nicht verwunderlich, dass viele glauben, die Lebens-
Sie noch nie waren, und so jung, wie Sie nie wieder sein werden. zufriedenheit nehme im späten Lebensabschnitt ab (Lacey et al.
Das bedeutet, jeder hat etwas, auf das er mit Befriedigung oder 2006). Wissenschaftler des Gallup-Instituts fanden allerdings
mit Bedauern zurückschaut, und etwas, was man sich erhofft heraus, dass die Jahre jenseits der 65 nicht sonderlich unglücklich
oder vor dem man sich fürchtet. Fragt man die Menschen, was sind (. Abb. 6.51). Wenn überhaupt, dann nehmen positive Ge-
sie anders machen würden, wenn sie ihr Leben noch einmal von fühle, die durch größere Emotionskontrolle unterstützt werden,
vorn beginnen könnten, dann lautet die häufigste Antwort: zu, während negative Gefühle abnehmen (Stone et al. 2010; Urry

. Abb. 6.51 Alter und Zufriedenheit. Das Gallup-Institut bat 142.682 Personen weltweit darum, ihr Leben anhand einer Skala von 0 (»das schlechteste
denkbare Leben«) bis 10 (»das bestmögliche Leben«) zu bewerten. Das Alter gab keinen Hinweis auf das Ausmaß der Lebenszufriedenheit. (Crabtree 2010.
Copyright © 2010 Gallup, Inc. All rights reserved. The content is used with permission; however, Gallup retains all rights of republication.)
228 Kapitel 6 · Entwicklung über die Lebensspanne

u. Gross 2010). Ältere Erwachsene verwenden immer häufiger


Wörter, die positive Emotionen vermitteln (Pennebaker u. Stone
2003). Sie richten ihre Aufmerksamkeit immer weniger auf
negative Informationen. Sie nehmen z. B. langsamer als junge
Erwachsene negative Gesichter wahr und sind aufmerksamer
gegenüber positiven Neuigkeiten (Carstensen u. Mikels 2005;
Scheibe u. Carstensen 2010). Ältere Erwachsene haben auch we-
niger Probleme in ihren sozialen Beziehungen (Fingerman u.
Charles 2010) und sie erleben Ärger, Stress und Sorge mit gerin-
gerer Intensität (Stone et al. 2010).
Das alternde Gehirn könnte dabei helfen, diese positiven Ge-
fühle zu unterstützen. Gehirn-Scans älterer Personen zeigen,
6 dass ihre Amygdala, ein Zentrum für die neuronale Verarbeitung
von Emotionen, eine abnehmende Aktivität in Reaktion auf
negative Ereignisse zeigt (aber nicht auf positive Ereignisse). Zu-
dem interagiert sie weniger stark mit dem Hippocampus, einem . Abb. 6.52 Biopsychosoziale Einflüsse auf erfolgreiches Altern.
Zentrum für die Verarbeitung von Gedächtnisinformationen Zahlreiche biologische, psychologische und soziokulturelle Faktoren haben
(Mather et al. 2004; St. Jacques et al. 2010; Williams et al. 2006). einen Einfluss auf die Art und Weise, wie wir altern. Ausgestattet mit
den richtigen Genen haben wir eine gute Chance, erfolgreich zu altern,
Auch die Reaktion der Gehirnströme auf negative Bilder nimmt
wenn wir uns eine positive Lebenseinstellung bewahren, geistig und
mit dem Alter ab (Kisley et al. 2007). körperlich aktiv bleiben und die Verbindung mit der Familie und mit den
Freunden in der Nachbarschaft aufrechterhalten
» Mit 20 sorgen wir uns darum, was andere über uns denken.
Mit 40 ist uns egal, was andere über uns denken. Und mit 60
merken wir, dass sie nie über uns nachgedacht haben.
Steinchen auf einem Berg kumulierter Lobeshymnen und Tadel
Anonym
darstellen. Im Alter gleicht das Leben immer weniger einer emo-
Außerdem schwächen sich bei allen Altersgruppen die schlech- tionalen Achterbahn.
ten Gefühle, die wir mit negativen Ereignissen verbinden, schnel-
ler ab, als dies bei den guten Gefühlen, die wir mit positiven Er-
» Das Beste daran, 100 Jahre alt zu sein, ist,
dass es keinen Druck von Seiten der Gleichaltrigen gibt.
eignissen verbinden, der Fall ist (Walker et al. 2003). Bei den
Lewis W. Kuester, als er 100 wurde
meisten älteren Menschen trägt dies zu einem Gefühl bei, dass
das Leben alles in allem meist gut war. Dies hat etwas Tröstliches
Prüfen Sie Ihr Wissen
angesichts der Tatsache, dass Älterwerden etwas ist, was sich aus
dem Leben zwangsläufig ergibt (etwas, was fast jedem Menschen 5 Welche sind einige der bedeutsamsten Herausforderun-
lieber ist als ein früher Tod). Mehr und mehr Menschen leben gen und Vorzüge des Älterwerdens?
heute dank biologischer, psychologischer und soziokultureller
Einflüsse bis ins hohe Alter (. Abb. 6.52).
Das erstaunlich gleichbleibende Wohlbefinden über das
ganze Leben hinweg überschatten jedoch einige interessante Sterben und Tod
Befunde zu altersbezogenen Unterschieden im Bereich Emo-
? 6.21 Welche Reaktionen kann der Tod einer nahestehenden
tionen. Mihaly Csikszentmihalyi und Reed Larson (1984) legten
Person auslösen?
eine »emotionale Landkarte« an, indem sie ihre Versuchsteil-
nehmer mit einem elektronischen Piepser in regelmäßigen Ab- Eine Warnung vorweg: Wenn Sie den nachfolgenden Abschnitt
ständen anpiepsten und um einen Bericht über ihre augen- lesen, werden Sie sterben.
blickliche Beschäftigung und ihre Gefühlslage baten. Sie fanden,
dass Teenager typischerweise immer gerade von einer Hoch-
» Liebe – nun, ich sage dir, was Liebe ist: Es ist du mit 75
und sie mit 71, jeder von euch den Schritten des anderen im
stimmung herunter oder aus einem Tief herauskamen, und das
Nebenzimmer lauschend, jeder von euch in der Angst
in weniger als einer Stunde. Bei Erwachsenen ist die Stimmungs-
davor, dass mit einem Mal Stille herrscht, dass ein plötzlicher
lage weniger von Extremen geprägt und dafür stabiler. Mit den
Schrei das Ende eines lebenslangen Gesprächs bedeutet.
Jahren werden unsere Gefühlslagen abgeklärter (Costa et al.
Brian Moore, The Luck of Ginger Coffey, 1960
1987; Diener et al. 1986). Hochgefühle sind weniger hoch und
Tiefpunkte weniger tief. Komplimente lösen weniger Stolz aus Aber natürlich wären Sie auch dann gestorben, wenn Sie diesen
und Kritik weniger Verzweiflung, da beide lediglich zusätzliche Satz nicht gelesen hätten. Der Tod ist unser unausweichliches
6.5 · Erwachsenenalter
229 6
chen Kulturen wird Weinen und Klagen in der Öffentlichkeit
gutgeheißen, andere Kulturen trauern im Verborgenen. Inner-
halb einer Kultur trauern manche Menschen offener und heftiger
als andere (Ott et al. 2007). Doch im Gegensatz zu allgemein
verbreiteten Fehlannahmen lässt sich Folgendes feststellen:
4 Todkranke und Hinterbliebene durchlaufen keine vorher-
sagbaren Phasen wie etwa Verleugnung, Wut etc. (Friedman
u. James 2008; Nolen-Hoeksema u. Larson 1999). Eine Yale-
Studie an 233 Hinterbliebenen fand jedoch heraus, dass
die Sehnsucht nach der verstorbenen Person etwa 4 Monate
nach dem Verlust einen Höhepunkt erreicht, während
dies auf Wut etwa 1 Monat später zutrifft (Maciejewski et al.
2007).
. Abb. 6.53 Zufriedenheit mit dem Leben in Abhängigkeit vom Tod des
4 Diejenigen, die ihre Trauer sehr stark und unmittelbar
Ehegatten: vorher, im Todesjahr und danach. Lucas et al. (2003) werteten ausdrücken, werden nicht schneller damit fertig (Bonanno
eine in jährlichem Abstand durchgeführte Längsschnittumfrage von über u. Kaltman 1999; Wortman u. Silver 1989).
30.000 Deutschen aus. Die Wissenschaftler stießen auf 513 Paare, bei denen 4 Bei den meisten Menschen tragen eine Therapie für Trauer-
ein Ehepartner gestorben war und der verbliebene Partner nicht wieder
fälle und Selbsthilfegruppen wenig dazu bei, die heilende
geheiratet hatte. Sie fanden, dass die Zufriedenheit im Jahr vor der Verwit-
wung leicht und im Todesjahr deutlich absank. Danach kam es schließlich Kraft der Zeit und unterstützender Freunde noch wirk-
zu einem erneuten Anstieg bis fast zum Ausgangsniveau. (Copyright © 2003 samer werden zu lassen (Baddeley u. Singer 2009; Brown
by the American Psychological Association. Adapted with permission. The et al. 2008; Neimeyer u. Currier 2009). Trauernde hinter-
use of APA information does not imply endorsement by APA. This material
bliebene Ehepartner, die häufig mit anderen sprechen oder
originally appeared in English. Translated and reproduced with permission
of the publisher and the author. The American Psychological Association is die in einer Beratung für Trauernde sind, werden mit dem
not responsible for the accuracy of this translation.) Tod des Partners nicht besser fertig als die, die eher für
sich allein trauern (Bonanno 2001, 2004; Genevro 2003;
Stroebe et al. 2001, 2002, 2005).
Ende. Die meisten Menschen leiden auch unter dem Tod von
Verwandten und Freunden und müssen damit fertig werden.
» Bedenke, Freund, der du hier stehst: Wie du jetzt bist,
so war auch ich, wie ich jetzt bin, so wirst du sein. Bereite
Die schwerste Trennung ist normalerweise die vom Ehepartner,
dich vor, du wirst mir folgen.
ein Verlust, den 5-mal mehr Frauen erleiden als Männer. Wenn
Inschrift auf einem schottischen Grabstein
der Tod wie normalerweise zu einem erwarteten Zeitpunkt spät
im Leben eintritt, kann die Trauer etwas relativ Kurzlebiges Wir haben allen Grund, dankbar dafür zu sein, dass sich die
sein (. Abb. 6.53 zeigt die typische Entwicklung des emotionalen Einstellung gegenüber dem Tod allmählich verändert. Dem Tod
Zustands vor und nach dem Tod eines Ehepartners). würdevoll und offen zu begegnen, hilft dem Menschen, seinen
Die Trauer ist besonders groß, wenn der Tod eines geliebten Lebenszyklus mit dem Gefühl zu vollenden, dass es ein einma-
Menschen plötzlich eintritt, ehe man ihn nach der sozialen Uhr liges und sinnvolles Leben war, dem Gefühl, dass das Leben
erwarten konnte. Der Unfalltod eines Kindes oder eine plötzliche gut war und das Leben und Tod Bestandteile eines anhaltenden
Krankheit, die einem den 45-jährigen Partner nimmt, kann ein Zyklus sind (. Abb. 6.54). Der Tod ist zwar oft nicht willkommen,
Jahr der Trauer auslösen, in dem man von Erinnerungen über- doch im Augenblick des Todes findet das Leben seine Bestäti-
schwemmt wird, und kann sogar zu einer Depression führen, die gung. Das gilt insbesondere für die Menschen, die nicht voll Ver-
manchmal mehrere Jahre lang anhält (Lehman et al. 1987). zweiflung auf ihr Leben zurückblicken, sondern, wie Erikson
Für einige Menschen ist der Verlust unerträglich. In einer sagt, mit einem Gefühl der Integrität, dass alles zusammengehört
Studie, in die mehr als 1 Mio. Dänen während der zweiten Hälfte und dass das eigene Leben einen Sinn hatte und wert war, gelebt
des 20. Jahrhundert einbezogen waren, fand man heraus, dass zu werden.
mehr als 17.000 Menschen unter dem Tod eines Kindes gelitten
hatten, das jünger als 18 Jahre alt war. In den 5 Jahren nach die-
sem Todesfall war der Prozentsatz des ersten Aufenthalts in einer 6.5.4 Gedanken zu Stabilität und Veränderung
psychiatrischen Klinik mit 3% um 67% höher als der Prozentsatz,
der für Eltern berichtet wurde, die kein Kind verloren hatten (Li » Ich würde sagen, der Vorteil um die 70 ist es, dass man
et al. 2005). das Leben ruhiger nimmt. Man weiß, dass ‚auch das vorüber-
Die normale Bandbreite der Reaktionen auf den Tod eines gehen wird‘!
geliebten Menschen ist breiter, als man annehmen sollte. In man- Eleanor Roosevelt, 1954
230 Kapitel 6 · Entwicklung über die Lebensspanne

kameradin darauf, dass sie vor langer Zeit seine erste Ehefrau
gewesen sei.)
Die Forschung zeigt, dass unser Leben sowohl von Stabilität
als auch von Veränderung geprägt ist. Einige unserer Merkmale,
wie etwa unser Temperament, sind sehr stabil:
4 In einer Studie an 1000 3-jährigen Kindern in Neuseeland
zeigte sich, dass Vorschulkinder, die geringere Ausprägun-
gen in Gewissenhaftigkeit und Selbstkontrolle aufwiesen,
mit 32 anfälliger waren für Krankheit, Substanzmissbrauch,
Haft und ein Leben als alleinerziehender Elternteil (Moffitt
et al. 2011).
4 Eine andere Studie zeigte, dass hyperaktive und unauf-
6 merksame 5-Jährige mit 12 Jahren mehr Anstrengung durch
ihre Lehrer erforderten (Houts et al. 2010).
4 Ein weiteres Forscherteam interviewte Erwachsene, deren
Redseligkeit, Impulsivität und Bescheidenheit 40 Jahre
zuvor von Grundschullehrern bewertet worden waren
(Nave et al. 2010). Die Persönlichkeit war in erstaunlichem
. Abb. 6.54 (Copyright © The New Yorker Collection, 2008, William Hamil-
ton/cartoonbank.com)
Ausmaß gleich geblieben.

»Wie mit 7, so mit 70« besagt ein jüdisches Sprichwort. Die-


Es ist an der Zeit, über die dritte Frage der Entwicklungspsycho- jenigen, die auf Fotos aus der Kindheit und im Studienalter am
logie nachzudenken: Bleibt die Persönlichkeit eines Menschen strahlendsten lächeln, haben später mit größerer Wahrschein-
über die Zeit hinweg konstant oder verändert sie sich? Wenn Sie lichkeit eine beständige Ehe (Hertenstein et al. 2009). Während
einen alten Schulfreund wieder treffen, den Sie seit der Schulzeit 1 von 4 mit den verhaltensten Lächeln auf Studienbildern später
nicht gesehen haben, erkennen Sie dann sofort den »guten alten eine Scheidung durchlebte, traf dies nur auf 1 von 20 der-
Peter« wieder? Oder ist der Mensch, den Sie heute treffen, nicht jenigen zu, die am strahlendsten lächelten (. Abb. 6.55). Je älter
mehr derselbe wie damals? (Zumindest einer meiner Bekannten Menschen werden, desto mehr festigt sich ihre Persönlichkeit
würde letzter Aussage zustimmen. Er erkannte eine ehemalige (Ferguson 2010; Hopwood et al. 2011; Kandler et al. 2010;
Klassenkameradin auf einem Klassentreffen 40 Jahre nach dem . Abb. 6.56). Die Herausforderungen von heute können das Fun-
College nicht. Schließlich verwies die entgeisterte Klassen- dament für eine glücklichere Zukunft legen.

. Abb. 6.55a,b Das Lächeln kann die Stabilität der Ehe vorhersagen. In einer Untersuchung mit 306 Universitätsabsolventen zeigte sich, dass Schei-
dungen bei 1 von 4 Personen, die im Jahrbuch einen Gesichtsausdruck wie auf der linken Seite hatten, aber nur bei 1 von 20 Personen mit einem Lächeln
wie auf der rechten Seite auftraten. (Hertenstein et al. 2009; © Photodisc / Thinkstock)
6.6 · Kapitelrückblick
231 6
uns Identität und ist das Motiv für die Mühe, die wir in die ge-
sunde Entwicklung von Kindern investieren. Veränderung lässt
uns auf eine bessere Zukunft hoffen. Veränderung treibt uns, uns
dafür zu interessieren, welchen aktuellen Einflüssen wir ausge-
setzt sind und gibt uns die Möglichkeit, uns anzupassen und
durch Erfahrungen zu wachsen.

Prüfen Sie Ihr Wissen

5 Welche Befunde unterstützen 1. Stadientheorien der


Entwicklung und 2. die Annahme einer stabilen
Persönlichkeit über die Lebensspanne? Welche Befunde
stellen diese Ideen in Frage?

6.6 Kapitelrückblick
. Abb. 6.56 Mit zunehmendem Alter zeigt sich bei Erwachsenen
eine Kontinuität des Selbst. (Copyright © The New Yorker Collection, 1998,
Peter Mueller/cartoonbank.com) 6.6.1 Verständnisfragen

jHauptfragen der Entwicklungspsychologie


Allerdings können wir nicht alle späteren Persönlichkeits- 6.1 Mit welchen drei Fragestellungen befassen sich Entwick-
merkmale aufgrund von Beobachtungen während der ersten lungspsychologen?
beiden Lebensjahre vorhersagen (Kagan et al. 1978, 1998). Man-
che Merkmale wie beispielsweise das Temperament erweisen jPränatale Entwicklung und erste Lebenswochen
sich als stabiler als andere, z. B. soziale Einstellungen (Moss u. 6.2 Wie verläuft die pränatale Entwicklung und wie wirken
Susman 1980). Ältere Kinder und Jugendliche erlernen neue Teratogene auf diese Entwicklung?
Wege mit Schwierigkeiten umzugehen. Obwohl straffällig ge- 6.3 Über welche Fähigkeiten verfügen Neugeborene und wie
wordene Kinder erhöhte Raten bei Problemen mit Arbeit, untersuchen Forscher die mentalen Fähigkeiten von Säuglingen?
Substanzmissbrauch und Kriminalität aufweisen, sind doch aus
vielen Kindern mit Störungen, die falsche Wege eingeschlagen jKleinkindzeit und Kindheit
haben, letztlich reife und erfolgreiche Erwachsene geworden 6.4 Wie entwickeln sich unser Gehirn und unsere motorischen
(Moffitt et al. 2002; Roberts et al. 2001; Thomas u. Chess 1986). Fähigkeiten im Kleinkind- und Kindesalter?
Für sie ist es ein großes Glück, dass das Leben ein immerwäh- 6.5 Wie entwickelt sich der kindliche Verstand aus der Sicht von
render Entstehungsprozess ist. Piaget, Vygotsky und heutiger Wissenschaftler?
In gewisser Weise verändert sich jeder Mensch mit zuneh- 6.6 Wie entsteht die Eltern-Kind-Bindung?
mendem Alter. Die meisten schüchternen, ängstlichen Kleinkin- 6.7 Wie haben Forscher Unterschiede in der Bindung untersucht
der beginnen mit 4 Jahren, offener zu werden, und die meisten und zu welchen Erkenntnissen kamen sie dadurch?
Menschen werden in den Jahren nach der Adoleszenz ruhiger 6.8 Inwiefern beeinflusst es das kindliche Bindungsverhalten,
und zeigen mehr Selbstdisziplin, sie werden liebenswürdig und wenn Kinder vernachlässigt oder misshandelt werden oder ihre
selbstsicher (Lucas u. Donnellan 2009; Roberts et al. 2003, 2006, Familien auseinanderbrechen?
2008; Shaw et al. 2010). So mancher, der mit 18 unverantwortlich 6.9 Wie wirkt Tagesbetreuung auf Kinder?
handelte, reifte zum verantwortungsbewussten Leiter eines Ge- 6.10 Wie entwickelt sich das kindliche Selbstkonzept?
schäfts oder einer kulturellen Institution heran. (Wenn Sie sich 6.11 Welche drei Erziehungsstile werden unterschieden und wie
selbst als Teil der ersteren Gruppe sehen, bedenken Sie: Sie sind hängen Persönlichkeitseigenschaften von Kindern mit ihnen zu-
noch nicht fertig.) Solche Veränderungen können eintreten, sammen?
ohne dass sich die Position im Verhältnis zu den Gleichaltrigen
ändert: Der ehrgeizige junge Erwachsene mag wohl im späteren jAdoleszenz
Leben etwas weicher werden, doch wird er im Vergleich zu an- 6.12 Wie wird Adoleszenz definiert und durch welche physi-
deren immer noch ehrgeizig sein. schen Veränderungen zeichnet sich dieser Lebensabschnitt aus?
Letztlich sollten wir uns daran erinnern, dass wir im Leben 6.13 Wie haben Piaget, Kohlberg und spätere Wissenschaftler
beides brauchen: Stabilität und Veränderung. Stabilität macht es die kognitive und moralische Entwicklung im Jugendalter be-
möglich, sich auf andere Menschen zu verlassen, sie vermittelt schrieben?
232 Kapitel 6 · Entwicklung über die Lebensspanne

6.14 Welche sind die sozialen Aufgaben und Herausforderungen 4 Selbstkonzept


des Jugendalters? 4 Sensumotorisches Stadium
6.15 Wie werden Jugendliche von ihren Eltern und Gleich- 4 Soziale Identität
altrigen beeinflusst? 4 Soziale Uhr
6.16 Was bedeutet der Übergang ins Erwachsenenalter? 4 Teratogene
4 Theory of Mind (Theorie über mentale Zustände)
jErwachsenenalter 4 Übergang ins Erwachsenenalter
6.17 Wie verändern wir uns im mittleren und hohen Erwach- 4 Urvertrauen
senenalter körperlich? 4 Zygote
6.18 Wie verändert sich das Gedächtnis mit dem Alter?
6.19 Welche Themen und Einflüsse sind entscheidend für unse-
re soziale Entwicklung zwischen dem frühen Erwachsenenalter 6.6.3 Weiterführende deutsche Literatur
6 und dem Tod?
6.20 Verändern sich Selbstbewusstsein und Zufriedenheit über Berk, L., Schönpflug, U., & Petersen, K. (2011). Entwicklungspsychologie –
Die Entwicklung des Menschen von Geburt bis Lebensende im Überblick
die Lebensspanne? (5. Aufl.). Pearson Studium.
6.21 Welche Reaktionen kann der Tod einer nahestehenden Lohaus, A., & Vierhaus, M. (2013). Entwicklungspsychologie des Kindes- und
Person auslösen? Jugendalters für Bachelor (2. Aufl.). Heidelberg: Springer.
Oswald, W.-D., Gatterer, G., & Fleischmann, U.M. (2008). Gerontopsychologie.
Grundlagen und klinische Aspekte zur Psychologie des Alterns. Wien:
Springer.
6.6.2 Schlüsselbegriffe Pinquart, M., Schwarzer, G., & Zimmermann, P. (2011). Entwicklungspsycho-
logie des Kindes- und Jugendalters. Göttingen: Hogrefe.
Schneider, W., & Lindenberger, U. (2012). Entwicklungspsychologie (7. Aufl.).
4 Adoleszenz oder Jugendalter Weinheim: Beltz.
4 Akkommodation Siegler, R., DeLoache, J., & Eisenberg, N. (2011). Entwicklungspsychologie
4 Assimilation im Kindes- und Jugendalter (3. Aufl.). Heidelberg: Springer Spektrum.
Trautner, H. M. (2003). Allgemeine Entwicklungspsychologie (2. Aufl.).
4 Autismus
Stuttgart: Kohlhammer.
4 Bindung
4 Egozentrismus
4 Embryo
4 Entwicklungspsychologie
4 Formal-operatorisches Stadium
4 Fötales Alkoholsyndrom (FAS)
4 Fötus
4 Fremdeln
4 Habituation
4 Identität
4 Intimität
4 Kognition
4 Konkret-operatorisches Stadium
4 Kritische Phase
4 Längsschnittstudie
4 Menarche
4 Mengenerhaltung
4 Menopause
4 Objektpermanenz
4 Prägung
4 Präoperatorisches Stadium
4 Primäre Geschlechtsmerkmale
4 Pubertät
4 Querschnittstudie
4 Reifung
4 Schema
4 Sekundäre Geschlechtsmerkmale
233 7

Wahrnehmung
7.1 Grundprinzipien sensorischer Wahrnehmung – 234
7.1.1 Transduktion – 235
7.1.2 Schwellen – 236
7.1.3 Sensorische Adaptation – 238
7.1.4 Wahrnehmungsset – 241
7.1.5 Kontexteffekte – 243
7.1.6 Emotion und Motivation – 244

7.2 Sehen – 245


7.2.1 Reizinput Lichtenergie – 245
7.2.2 Das Auge – 246
7.2.3 Visuelle Informationsverarbeitung – 249
7.2.4 Farbensehen – 253
7.2.5 Visuelle Organisation – 254
7.2.6 Visuelle Interpretation – 264

7.3 Hören – 266


7.3.1 Reizinput Schallwellen – 266
7.3.2 Das Ohr – 266

7.4 Andere wichtige Sinne – 271


7.4.1 Tastsinn – 271
7.4.2 Schmerz – 272
7.4.3 Geschmackssinn – 276
7.4.4 Geruchssinn – 279
7.4.5 Lage und Bewegung des Körpers im Raum – 281

7.5 Exkurs: Außersinnliche Wahrnehmung –


Wahrnehmung ohne Empfindung? – 283

7.6 Kapitelrückblick – 287


7.6.1 Verständnisfragen – 287
7.6.2 Schlüsselbegriffe – 287
7.6.3 Weiterführende deutsche Literatur – 288

D. G. Myers, Psychologie,
DOI 10.1007/978-3-642-40782-6_7, © Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2014
234 Kapitel 7 · Wahrnehmung

»Ich sehe perfekt«, erklärt meine Kollegin Heather Sellers, eine motte nur ein Milliardstel Gramm dieses Stoffes pro Sekun-
gefeierte Schriftstellerin und Lehrerin. Ihr Sehvermögen mag de absondern muss, um jede männliche Seidenraupen-
ausgezeichnet sein, aber sie hat ein Problem mit ihrer Wahrneh- motte im Umkreis von anderthalb Kilometern anzulocken.
mung. Sie kann keine Gesichter erkennen. Deshalb gibt es heute auch immer noch Seidenraupen.
In ihren Memoiren You Don’t Look Like Anyone I Know 4 Unsere Ohren reagieren am empfindlichsten auf Schall-
(dtsch. Du ähnelst niemandem, den ich kenne), erzählt Sellers frequenzen, die den Lauten der menschlichen Stimme und
(2010) von peinlichen Momenten, die durch ihre lebenslange besonders dem Schrei eines Babys entsprechen.
Prosopagnosie entstehen – durch ihre Gesichtsblindheit.
In diesem Kapitel werden wir uns genauer damit beschäftigen,
» Als ich noch auf dem College war, bin ich bei einer Verab-
was Psychologen darüber herausgefunden haben, wie wir die
redung von den Toiletten zurückgekommen und habe
Welt um uns herum fühlen und wahrnehmen. Wir betrachten
mich in einen Sessel am falschen Tisch fallen lassen – dem
zunächst einige grundlegende Prinzipien.
falschen Mann gegenüber. Ich bemerkte nicht, dass er nicht
mein Date war, sogar als mein Date (für mich ein Fremder)
mein Gegenüber ansprach und dann aus dem Restaurant
7 7.1 Grundprinzipien sensorischer
stürmte. Ich kann keine Schauspieler in Filmen und im Fern-
Wahrnehmung
sehen unterscheiden. Ich erkenne mich selbst nicht auf
Fotos oder in Videoaufnahmen. Ich erkenne meine Stief-
söhne nicht beim Fußballspielen. Ich habe es auf Partys, im ? 7.1 Was verstehen wir unter Sinnesempfindung und Wahr-
Einkaufszentrum oder auf dem Markt nicht geschafft, fest- nehmung? Und was unter »Top-down«- und »Bottom-up«-
zustellen, welcher mein Ehemann war. Verarbeitung?

Ihre Unfähigkeit, Bekannte zu erkennen, führt dazu, dass ande- Sellers seltsame Mischung aus »perfektem Sehvermögen« und
re sie manchmal als versnobt oder abgehoben wahrnehmen. Gesichtsblindheit verdeutlicht die Unterscheidung zwischen
»Warum bist du an mir vorbeigelaufen?«, könnte ein Nachbar sie Empfindung und Wahrnehmung. Wenn sie einen Freund ansieht,
später fragen. Ähnlich wie bei den Schwerhörigen unter uns, die ist ihre Sinnesempfindung normal: Ihre Sinne erkennen die
in banalen sozialen Gesprächen vortäuschen zu hören, täuscht gleichen Informationen wie Ihre es auch tun würden, und sie
Sellers manchmal das Wiedererkennen vor. Sie lächelt oft Leute übermitteln die Informationen an ihr Gehirn. Und ihre Wahr-
an, an denen sie vorbeigeht, falls sie diese kennen sollte. Oder sie nehmung – der Prozess, bei dem ihr Gehirn sensorischen Input
gibt vor, die Person, mit der sie redet, zu kennen. (Um den Stress organisiert und interpretiert – ist fast normal. So mag sie Men-
zu vermeiden, der mit solchen Wahrnehmungsausfällen verbun- schen an ihrer Frisur, ihrem Gang, ihrer Stimme oder ihrem
den ist, scheuen Menschen mit schweren Gehörschädigungen jeweiligen Körperbau erkennen, nur nicht an ihrem Gesicht. Was
oder mit Prosopagnosie belebte soziale Situationen.) sie erlebt, ist vergleichbar mit der Mühe, die Sie oder ich hätten,
Aber es gibt auch eine gute Seite: Wenn sie jemanden trifft, wenn wir versuchen würden, einen bestimmten Pinguin in einer
über den sie sich zuvor geärgert hat, wird sie üblicherweise Gruppe watschelnder Pinguine zu erkennen.
keinen Groll gegen ihn hegen, weil sie diese Person nicht erkennt.
Sinnesempfindung (»sensation«) – Prozess, bei dem unsere Sinnes-
Anders als Sellers, haben die meisten von uns ein funktionie- rezeptoren und unser Nervensystem Reizenergien aus unserer Umwelt
rendes Areal an der Unterseite unserer rechten Hemisphäre des empfangen und darstellen.
Gehirns, das uns hilft, ein vertrautes menschliches Gesicht zu Wahrnehmung (»perception«) – Prozess, bei dem die sensorischen
erkennen, sobald wir es entdecken. Diese Fähigkeit illustriert ein Informationen organisiert und interpretiert werden; dies ermöglicht uns,
die Bedeutung von Gegenständen und Ereignissen zu erkennen.
allgemeines Prinzip. Die von der Natur angelegte sensorische Aus-
stattung befähigt jeden Organismus dazu, an die Informationen
heranzukommen, die er benötigt. Hier einige Beispiele: In unseren täglichen Erfahrungen gehen Sinnesempfindung
4 Ein Frosch, der sich von fliegenden Insekten ernährt, hat und Wahrnehmung in einen zusammenhängenden Prozess
Augen, die mit Rezeptorzellen ausgestattet sind, die nur über. In diesem Kapitel wollen wir diesen Prozess langsam ab-
auf kleine, dunkle Objekte in Bewegung reagieren. Ein laufen lassen, um die einzelnen Vorgänge klarer zu sehen, aber
Frosch könnte also verhungern, obwohl er bis zu den Knien im echten Leben arbeiten unsere Empfindungs- und Wahrneh-
in unbeweglichen Fliegen steht. Aber fliegt nur eine davon mungsprozesse zusammen, um uns dabei zu helfen, die Welt um
an ihm vorbei, schalten die »Fliegendetektor«-Zellen des uns herum zu entschlüsseln.
Froschs auf Alarm. 4 Unsere Bottom-up-Verarbeitung (aufsteigende oder
4 Männliche Seidenraupenmotten besitzen Rezeptoren, die datengesteuerte Informationsverarbeitung) beginnt bei
so empfindlich auf den Geruch des weiblichen Sexual- den Sinnesrezeptoren und arbeitet sich bis auf die höheren
sekrets reagieren, dass eine einzige weibliche Seidenraupen- Ebenen der Verarbeitung vor.
7.1 · Grundprinzipien sensorischer Wahrnehmung
235 7
bombardieren? Gleichzeitig befindet sich unser Gehirn in einer
stillen, abgeschirmten inneren Welt in völliger Dunkelheit. Ohne
Verbindung nach außen sieht es nichts. Es hört nichts und es
fühlt auch nichts. Aber wie gelangt dann die äußere Welt in unser
Inneres? Oder um diese Frage in moderner Begrifflichkeit zu
formulieren: Wie konstruieren wir unsere Repräsentationen von
der äußeren Welt? Wie aktiviert das Flackern, Knistern und der
rauchige Geruch eines Lagerfeuers neuronale Verbindungen?
Und wie lassen wir aus dieser lebendigen Neurochemie unsere
bewusste Erfahrung der Bewegung und Temperatur des Feuers,
seines Geruchs und seiner Schönheit entstehen? Auf der Suche
nach Antworten auf solche Fragen, betrachten wir einige Pro-
zesse, die sich durch alle unsere sensorischen Systeme ziehen.

7.1.1 Transduktion

? 7.2 Welche drei Schritte sind grundlegend für alle senso-


rischen Systeme?

Jede Sekunde an jedem Tag vollbringen unsere sensorischen Sys-


teme eine beeindruckende Meisterleistung: Sie wandeln eine
Form von Energie in eine andere um. Beim Sehen wird Licht-
energie verarbeitet. Beim Hören Schallwellen. Alle unsere Sinne
4 nehmen sensorische Informationen auf, oft über speziali-
sierte Rezeptorzellen;
4 wandeln diese Reize in neuronale Impulse um;
. Abb. 7.1 Was geht hier vor? Zum Verständnis komplexer Bilder (so wie
4 überbringen diese neuronalen Informationen an unser
bei dem versteckten Paar in Sandro Del-Pretes Zeichnung »La vie en rose«)
arbeiten unsere Empfindungs- und Wahrnehmungsprozesse zusammen. Gehirn.
(© Sandro Del-Prete)
Der Prozess, bei dem eine Form von Energie in eine andere, die
von unserem Gehirn verarbeitet werden kann, umgewandelt
4 Unsere Top-down-Verarbeitung (absteigende oder kon- wird, heißt Transduktion. Später in diesem Kapitel werden wir
zeptgesteuerte Informationsverarbeitung) konstruiert uns auf einzelne sensorische Systeme konzentrieren. Wie sehen
Wahrnehmungen aus dem sensorischen Input und greift wir? Wie hören wir? Wie nehmen wir Schmerz wahr? Und
dabei auf unsere Erfahrungen und Erwartungen zurück. Geschmack? Geruch? Wie halten wir unser Gleichgewicht? Bei
jeder dieser Fragen werden wir diese drei Schritte betrachten –
Bottom-up-Verarbeitung (aufsteigende, datengesteuerte Informations-
verarbeitung; »bottom-up processing«) – Analyse, die mit den Sinnes- Information aufnehmen, umwandeln und an das Gehirn weiter-
rezeptoren beginnt und aufsteigend bis zur Integration der sensorischen geben. Wir werden auch sehen, welche Entdeckungen die Psycho-
Information durch das Gehirn erfolgt. physik über die physikalische Energie, die wir erfassen können,
Top-down-Verarbeitung (absteigende, konzeptgesteuerte Informations- und deren Auswirkungen auf unser psychologisches Erleben
verarbeitung; »top-down processing«) – Informationsverarbeitung, ge-
gemacht hat.
steuert durch höhere mentale Prozesse, beispielsweise wenn wir Wahrneh-
mungen aufgrund unserer Erfahrungen und Erwartungen interpretieren. Transduktion (»transduction«) – Umwandlung einer Energieform in
eine andere. Im sensorischen Bereich die Umwandlung von Reizenergien
Wenn unser Gehirn die Informationen in . Abb. 7.1 aufnimmt, (wie Sehreize, Töne und Gerüche) in Nervenimpulse, die unser Gehirn
ermöglicht die Bottom-up-Verarbeitung es unserem sensori- interpretieren kann.
schen System, die Linien, Winkel und Farben zu erkennen, die Psychophysik (»psychophysics«) – Untersuchung der Beziehungen
zwischen den physikalischen Merkmalen von Reizen, z. B. Reizintensität,
die Blume und Blätter bilden. Indem wir die Top-down-Ver-
und unserem psychischen Erleben dieser Reize.
arbeitung nutzen, interpretieren wir das, was unsere Sinne auf-
nehmen. Aber zuerst werden wir einige Stärken und Schwächen unserer
Aber wie tun wir das? Wie gewinnen wir Bedeutung aus dem Fähigkeit untersuchen, Reize im weiten Meer von Energie um
Ansturm sensorischer Reize, die unsere Körper rund um die Uhr uns herum zu entdecken und zu interpretieren.
236 Kapitel 7 · Wahrnehmung

Prüfen Sie Ihr Wissen spezialist Ihre beiden Ohren jeweils Tönen variierender Laut-
stärke aussetzen. Für jeden Ton würde der Test die Lautstärke
5 Worin besteht grob ausgedrückt der Unterschied ermitteln, bei der Sie in der Hälfte aller Fälle das Geräusch kor-
zwischen Sinnesempfindung und Wahrnehmung? rekt wahrnehmen, in der anderen jedoch nicht. Für jeden Ihrer
Sinne legt dieser 50/50-Punkt die absolute Schwelle fest.
Absolute Schwelle (»absolute threshold«) – Mindeststimulation, die
erforderlich ist, um einen bestimmten Reiz in mindestens 50% der Fälle
7.1.2 Schwellen wahrzunehmen.

Unsere Fähigkeit, einen schwachen Reiz oder ein schwaches


? 7.3 Was versteht man unter absoluter Schwelle und Unter-
Signal wahrzunehmen, hängt nicht allein von der Signalstärke ab
schiedsschwelle, und haben Reize, die unterhalb der absolu-
(wie der Ton bei einem Hörtest), sondern auch von unserem
ten Schwelle liegen, überhaupt irgendeinen Einfluss auf uns?
seelischen Zustand – unseren Erfahrungen und Erwartungen,
Genau in diesem Moment werden Sie und ich von Röntgenstrah- unserer Motivation, Aufmerksamkeit und Wachsamkeit. Die
7 len, Radiowellen, UV- und Infrarotlicht sowie Schallwellen sehr Signaldetektionstheorie (SDT) dient zur Voraussage, wann wir
hoher und sehr niedriger Frequenz getroffen. Für all diese schwache Signale noch wahrnehmen, und zwar durch Ermitt-
Frequenzen sind wir blind und taub. Andere Tiere mit anderen lung der Trefferrate im Verhältnis zu den Fehlalarmen. Wissen-
Bedürfnissen nehmen eine Welt wahr, die jenseits der mensch- schaftler, die sich mit der SDT beschäftigen, versuchen zu ver-
lichen Erfahrung liegt. Zugvögel bleiben mithilfe eines inneren stehen, warum Menschen auf denselben Reiz unterschiedlich
magnetischen Kompasses auf Kurs. Fledermäuse und Delphine reagieren und warum die Reaktionen derselben Person bei ver-
orten ihre Beute mit Sonar (durch Entfernungseinschätzung änderten Umgebungsbedingungen unterschiedlich sind. Er-
mithilfe der vom Objekt zurückgeworfenen Schallwellen). An be- schöpfte Eltern eines Neugeborenen nehmen das leiseste Wim-
wölkten Tagen orientieren sich die Bienen mit Hilfe des polarisier- mern aus dem Kinderbettchen war, nicht jedoch lautere, unwich-
ten Lichts einer (für uns in dem Moment) unsichtbaren Sonne. tige Geräusche. Einsame, ängstliche Menschen reagieren beim
Unsere Sinne scheinen mit Rollläden versehen zu sein, die Speed-Dating auch mit einer niedrigen Schwelle und tendieren
nur einen winzigen Spalt geöffnet sind und nur eine beschränkte deshalb dazu, nicht wählerisch zu sein, wenn sie die Hand nach
Wahrnehmung dieser ungeheuren Energiemenge zulassen. Aber einem potenziellen Partner ausstrecken (McClure et al. 2010).
für unsere Bedürfnisse ist das genug.
Signaldetektionstheorie (SDT; Signalentdeckungstheorie; »signal detec-
tion theory«) – Theorie, die vorhersagt, wie und wann wir das Vorhandensein
Absolute Schwellen eines schwachen Reizes (Signal) unter Hintergrundstimulation (Lärm) wahr-
Auf manche Reize reagieren wir höchst empfindlich. Wenn wir nehmen; geht davon aus, dass es keine feste absolute Schwelle gibt, sondern
dass die Signalwahrnehmung teilweise von der Erfahrung, den Erwartungen,
in einer stockdunklen, klaren Nacht auf dem Gipfel eines Berges
der Motivation und dem Grad an Müdigkeit der jeweiligen Person abhängt.
stehen, könnten die meisten von uns bei normal ausgeprägten
Sinnen ein Kerzenlicht auf einem 45 km entfernten Berg erken-
Prüfen Sie Ihr Wissen
nen. Wir könnten es spüren, wenn uns der Flügel einer Biene an
der Wange berührt. Wir können sogar einen einzigen Tropfen 5 Welche drei Faktoren erhöhen die Wahrscheinlichkeit,
Parfüm in einer Dreizimmerwohnung riechen (Galanter 1962). dass Sie eine SMS richtig bemerken?

Probieren Sie einmal dieses uralte Rätsel mit verschiedenen


Freunden aus. »Du fährst einen Bus mit 12 Fahrgästen. An der
Reize, die man in weniger als 50% der Fälle entdeckt, sind sub-
ersten Haltestelle steigen 6 Fahrgäste aus. An der zweiten
liminal, also unter der absoluten Schwelle (. Abb. 7.2). Unter
Haltestelle steigen 3 aus. An der dritten Haltestelle steigen noch
bestimmten Bedingungen kann man von Reizen beeinflusst wer-
einmal 2 aus, aber 3 neue Passagiere steigen zu. Welche Augen-
den, die so schwach sind, dass sie unbemerkt bleiben. Ein nicht
farbe hat der Busfahrer?« Entdecken Ihre Freunde das Signal, wer
sichtbares Bild oder Wort kann Ihren visuellen Kortex erreichen
der Busfahrer ist, trotz des ganzen »Tohuwabohus« drum herum?
und als kurzer Prime (Vorreiz) Ihre Antwort auf eine später ge-
Der deutsche Wissenschaftler und Philosoph Gustav Fechner stellte Frage beeinflussen. Bei einem typischen Experiment blitzt
(1801–1887) erforschte unsere bewusste Wahrnehmung dieser das Bild oder das Wort kurz auf und wird dann durch einen
schwachen Reize und nannte sie absolute Schwellen – die mini- maskierenden Reiz ersetzt, der noch vor der bewussten Wahrneh-
male Stimulation, die notwendig ist, um ein bestimmtes Licht, mung die Verarbeitung des ersten Reizes im Gehirn unterbricht
einen bestimmten Schall, Druck, Geschmack oder Geruch in (Van den Bussche et al. 2009). Wir wollen ein solches Experiment
mindestens 50% aller Fälle wahrzunehmen. Um Ihre absolute betrachten, das auch die tiefliegende Verankerung der sexuellen
Schwelle für Geräusche und Töne zu testen, würde ein Gehör- Orientierung verdeutlicht. Die Forscher baten Teilnehmer, in die
7.1 · Grundprinzipien sensorischer Wahrnehmung
237 7

. Abb. 7.2 Absolute Schwelle. Kann ich diesen Ton hören oder nicht? Eine
absolute Schwelle ist die Reizstärke, bei der eine Person einen Stimulus in
der Hälfte der Fälle wahrnehmen kann. Hörtests ermitteln diese Schwellen
für verschiedene Frequenzen

Mitte eines Bildschirms zu schauen und ließen dann auf einer


Seite ein Foto einer nackten Person aufblitzen und auf der ande- . Abb. 7.3 Die versteckte Psyche. Nachdem das Bild eines nackten
Mannes oder einer nackten Frau auf einer Seite aufgeblitzt ist und maskiert
ren eine stark verpixelte Version des gleichen Fotos (Jiang et al.
wurde, bevor es wahrgenommen werden konnte, wurde die Aufmerk-
2006; . Abb. 7.3). Weil die Bilder sofort von einem farbigen samkeit der Personen unbewusst auf die Bilder gelenkt, die ihre sexuelle
Schachbrettmuster maskiert wurden, sahen die Freiwilligen nur Orientierung widerspiegelten. (Jiang et al. 2006. Copyright © 2006 National
Farbblitze und waren nicht in der Lage, zu erahnen, wo die nack- Academy of Sciences, U.S.A.)

te Person erschienen war. Dann ließen die Forscher eine geome-


trische Figur auf einer der beiden Seiten aufblitzen, auf die der
maskierende Reiz folgte. Sie baten die Freiwilligen, die Ecke an- (Blankenburg et al. 2003; Haynes u. Rees 2005, 2006). Nur wenn
zugeben, in der die Figur auftauchte. Heterosexuelle Männer der Stimulus in mehreren Hirnarealen zeitgleich Aktivität aus-
machten genauere Angaben, wenn die geometrische Figur dort löst, erreicht er das Bewusstsein (Dehaene 2009). Hier ist aber-
erschien, wo direkt zuvor eine nackte Frau erschienen war. mals unser zweigleisiger Verstand am Werk: Ein Großteil unserer
Homosexuelle Männer und heterosexuelle Frauen schätzten Informationsverarbeitung erfolgt automatisch, ohne dass wir es
besser, wenn die geometrische Figur einen nackten Mann er- bemerken, jenseits des Radarschirms unseres Bewusstseins.
setzte. Wie weitere Experimente bestätigen, können wir einen Haben also subliminale Botschaften Macht über uns? Mehr
Reiz sogar dann bewerten, wenn wir uns des Reizes nicht be- zu dieser Frage finden Sie unter 7 Kritisch nachgefragt: Können
wusst sind – und sogar, wenn wir uns nicht darüber bewusst sind, subliminale Botschaften unser Verhalten kontrollieren?
dass wir ihn bewerten (Ferguson u. Zayas 2009).
Unterschiedsschwellen
Subliminal (»subliminal«) – unter der absoluten Schwelle der bewussten
Wahrnehmung. Um effektiv zu funktionieren, brauchen wir absolute Schwellen,
Priming (»priming«) – oft unbewusste Aktivierung bestimmter Assozia- die niedrig genug sind, um wichtige Dinge zu sehen und wichtige
tionen; damit wird die Wahrnehmung, das Gedächtnis oder die Reaktion Geräusche, Oberflächenstrukturen, Geschmäcker und Gerüche
in bestimmter Weise empfänglich gemacht. zu erkennen. Wir müssen aber auch kleine Unterschiede zwi-
schen diesen Reizen ausmachen können. Ein Musiker muss beim
» Das Herz hat seine Gründe, die der Verstand nicht kennt.
Stimmen seines Instruments minimale Tonunterschiede bemer-
Blaise Pascal, Pensées, 1670
ken. Eltern müssen den Klang der Stimme ihres eigenen Kindes
Wie fühlen wir das, was wir nicht kennen und nicht beschrei- inmitten anderer Kinderstimmen hören können. Sogar nachdem
ben können? Und wie reagieren wir darauf? Ein unmerklicher ich 2 Jahre in Schottland gelebt habe, hört sich das Mäh von ver-
kurzer Reiz löst oft eine schwache Reaktion aus, die man mit schiedenen Schafen für meine Ohren immer noch gleich an.
Hilfe bildgebender neurologischer Verfahren aufdecken kann Nicht aber so für die Mutterschafe. Ich habe beobachtet, wie sie,
238 Kapitel 7 · Wahrnehmung

Kritisch nachgefragt

Können subliminale Botschaften unser Verhalten kontrollieren?


In der Hoffnung, in unser Unbewusstes ein- die Werbung für ein durststillendes Getränk die vor dem Hören der Bänder und nach
zudringen, kommen Firmen mit Tonbändern für diese Personen für kurze Zeit überzeugen- 5 Wochen erhoben worden waren, zeigten sich
und Videos auf den Markt, die uns helfen der machen (Strahan et al. 2002). Ebenso sowohl in Bezug auf das Selbstwertgefühl als
sollen, abzunehmen, mit dem Rauchen auf- wählen durstige Personen, die mit Lipton auch auf das Gedächtnis keine Effekte.
zuhören und unser Gedächtnis zu verbessern. Eistee geprimt wurden, eher diese Marke Und trotzdem nahmen die Studierenden es
Auf diesen Tonbändern ist ein leises Meeres- (Karremans et al. 2006; Veltkamp et al. 2011; so wahr, als hätten sie daraus den Nutzen ge-
rauschen zu hören, das unhörbare Botschaften Verwijmeren et al. 2011a, b). Doch die Werbe- zogen, den sie erwartet hatten. Diejenigen, die
wie »Ich bin dünn«, »Rauch schmeckt scheuß- päpste mit ihren subliminalen Botschaften dachten, sie hätten sich ein Tonband zur Ge-
lich« oder »Ich bin immer gut in Prüfungen; behaupten etwas ganz anderes: nämlich einen dächtnisaufbesserung angehört, glaubten, ihr
ich erinnere mich an alles« überdeckt. Der- starken, anhaltenden Effekt auf unser Verhalten. Gedächtnis sei besser geworden. Diejenigen,
artige Behauptungen gehen von zwei An- Um zu überprüfen, ob subliminale Aufnahmen die dachten, sie hätten sich ein Tonband zur
nahmen aus: (1) Wir nehmen unterbewusst diesen anhaltenden Effekt haben, teilten Verbesserung des Selbstwertgefühls angehört,
subliminale (»unterschwellige«) Reize wahr. Greenwald et al. (1991, 1992) Studierende nach glaubten, ihr Selbstwert sei gestiegen. (Wenn
7 (2) Diese Stimuli üben auf uns, ohne dass wir dem Zufallsprinzip in zwei Gruppen ein. Die man von dieser Studie liest, meint man, das
uns dessen bewusst sind, eine außerordentlich Teilnehmer mussten sich 5 Wochen lang kom- Echo der Lobeshymnen zu hören, von denen
starke Suggestionskraft aus. Können wir sie merziell vertriebene subliminale Tonbänder die Kataloge der Versandhäuser für diese
wahrnehmen? Haben sie diese Macht über uns? anhören, von denen behauptet wurde, dass Tonbänder voll sind. Einige Kunden, die etwas
Wie wir gesehen haben, ist subliminale Emp- sie entweder das Selbstwertgefühl oder das kauften, was man angeblich nicht hören kann
findung eine Tatsache. Erinnern Sie sich daran, Gedächtnis besser werden ließen. Bei der [und was sie tatsächlich auch nicht gehört
dass eine »absolute« Schwelle nur den Punkt Hälfte der Bänder trieben die Forscher einen haben!], offerieren Anpreisungen wie: »Ich
darstellt, an dem wir den Stimulus in der Hälfte folgenreichen Schabernack, indem sie die weiß, Ihre Bänder hatten einen unschätzbaren
aller Fälle wahrnehmen. Direkt an oder unter Etiketten austauschten. Einige Studierende Wert, um meinen Kopf umzuprogrammieren.«)
dieser Schwelle spüren wir den Reiz auch dachten, sie würden jetzt eine Steigerung ihres Über ein Jahrzehnt hinweg führte Greenwald
manches andere Mal. Selbstwertgefühls verspüren, obwohl sie in Doppelblind-Experimente durch, bei denen
Aber bedeutet das, dass Behauptungen über Wirklichkeit die Tonbänder hörten, die das subliminale Selbsthilfe-Tonbänder einer Über-
subliminale Beeinflussung auch Tatsachen sind? Gedächtnis verbessern sollten. Andere be- prüfung unterzogen wurden. Seine Ergebnisse
Forscher sind einhellig der Meinung, dass dem kamen das Band zur Hebung des Selbstwert- stimmten überein: Nicht eins bewirkte mehr
nicht so ist. Laboruntersuchungen lassen einen gefühls, dachten aber, dass ihr Gedächtnis ver- als einen Placebo-Effekt (Greenwald 1992).
leichten, vorübergehenden Effekt erkennen. bessert werden sollte (. Abb. 7.4). Und Placebos funktionieren, wie Sie sich
Werden durstige Menschen dem subliminalen Hatten die Tonbänder irgendwelche Auswir- erinnern, nur, weil wir glauben, dass sie funk-
Prime-Wort »Durst« ausgesetzt, kann das also kungen? Bei den Testwerten der Studierenden, tionieren.

nachdem sie geschoren wurden, direkt zum Blöken ihres Lammes in der Lichtintensität unterscheiden, zwei Gewichte müssen einen
inmitten des Chors anderer bekümmerter Lämmer rannten. Gewichtsunterschied von 2% und zwei Töne eine unterschied-
Die Unterschiedsschwelle ist der eben noch merkliche Unter- liche Tonfrequenz von nur 0,3% aufweisen (Teghtsoonian 1971).
schied, den ein Mensch in der Hälfte aller Fälle zwischen zwei
Weber’sches Gesetz (»Weber’s law«) – Prinzip, das besagt, dass sich zwei
Reizen ausmachen kann. Die Unterschiedsschwelle nimmt mit Reize um einen konstanten minimalen Prozentsatz (und nicht um
der Intensität des Reizes zu. Wenn Sie z. B. zu einem Gewicht von einen konstanten Absolutbetrag) unterscheiden müssen, damit sie als
100 g noch 10 g hinzugeben, merken Sie den Unterschied. Geben unterschiedlich wahrgenommen werden.
Sie hingegen 10 g zu 1 kg hinzu, merken Sie den Unterschied Prüfen Sie Ihr Wissen
wahrscheinlich nicht.
Unterschiedsschwelle (»difference threshold«) – minimaler Unterschied 5 Unterscheiden Sie am Beispiel Ton zwischen folgenden
zwischen zwei Reizen, der erforderlich ist, damit er in 50% der Fälle erkannt Konzepten: absolute Schwelle, subliminale Stimulation
wird. Wir erleben die Unterschiedsschwelle als den eben noch merklichen und Unterschiedsschwelle.
Unterschied (»just noticeable difference«).

Vor mehr als einem Jahrhundert stellte Ernst Weber etwas so


Einfaches und so umfassend Anwendbares fest, dass wir es immer
noch als Weber’sches Gesetz bezeichnen. Dieses Gesetz besagt, 7.1.3 Sensorische Adaptation
dass sich zwei Reize in einem konstanten Verhältnis (nicht einer
konstanten Größe) unterscheiden müssen, damit der Unterschied
? 7.4 Welchen Nutzen ziehen wir aus sensorischer Adaptation?
zwischen ihnen für eine Durchschnittsperson wahrnehmbar ist
(. Abb. 7.5). Das genaue Verhältnis variiert je nach Reiz. Zwei Sie kommen in das Wohnzimmer Ihrer Nachbarn und riechen
Lichtquellen müssen sich beispielsweise durchschnittlich um 8% einen muffigen Geruch. Sie wundern sich, wie Ihre Nachbarn
7.1 · Grundprinzipien sensorischer Wahrnehmung
239 7
ihn aushalten können, doch schon nach wenigen Minuten fällt
er Ihnen selbst nicht mehr auf. Die sensorische Adaptation ist
Ihnen zu Hilfe gekommen. Werden wir einem gleichbleibenden
Reiz ausgesetzt, sinkt unsere Empfindlichkeit für diesen Reiz,
weil die Häufigkeit der Reizimpulse abnimmt, die von den Ner-
venzellen weitergeleitet werden. (Um dieses Phänomen nach-
zuempfinden, verschieben Sie Ihre Armbanduhr einfach um ein
paar Zentimeter an Ihrem Handgelenk: Sie spüren sie – aber nur
ein paar Augenblicke lang.)
Sensorische Adaptation (»sensory adaptation«) – verminderte Sensibilität
als Folge konstanter Stimulation.

» Wir müssen vor allem Veränderungen erkennen; niemand


will oder muss 16 Stunden am Tag daran erinnert werden,
dass er Schuhe anhat.
Der Neurowissenschaftler David Hubel (1979)

Ein Gegenstand, den wir starr anschauen, müsste mit der Zeit aus
unserem Gesichtsfeld verschwinden. Warum ist das aber nicht
so? Weil wir, ohne es zu merken, unsere Augen ständig bewegen.
Diese schnellen Augenbewegungen, sog. Sakkaden, sorgen dafür,
. Abb. 7.4 Subliminale Überzeugung? Obwohl subliminale Reize Men- dass sich die Stimulation der Rezeptoren in den Augen ständig
schen tatsächlich leicht beeinflussen können, haben Tests gezeigt, dass Ver- verändert (. Abb. 7.6).
suche, mit subliminalen Botschaften in der Werbung und zur Selbstkontrol-
Was würde jedoch passieren, wenn wir der Bewegung unse-
le das Verhalten von Personen zu verändern, fehlgeschlagen sind. (Die
scherzhafte Botschaft dieses Bildes ist jedoch nicht subliminal – denn Sie rer Augen tatsächlich Einhalt gebieten könnten, würden sich
können sie ja wahrnehmen.) dann die Bilder auflösen, wie es die Gerüche scheinbar tun? Um

. Abb. 7.5 Die Unterschiedsschwelle. In dieser vom Computer erzeugten Fassung des 23. Psalms verändert sich die Schriftgröße in jeder Zeile unmerk-
lich. Wie viele Zeilen sind nötig, bis Sie einen eben merklichen Unterschied feststellen?
240 Kapitel 7 · Wahrnehmung

. Abb. 7.6 Das sprunghafte Auge. Unsere Blicke springen etwa dreimal in der Sekunde von einem Punkt zum anderen, wie man an diesem Bild von den
Princes Street Gardens in Edinburgh sehen kann, welches mit Hilfe einer Eye-Tracking-Vorrichtung entstand (Henderson 2007, Courtesy of John M. Henderson).
Die Kreise stehen für Fixationen und die Zahlen geben die Dauer der Fixation in Millisekunden an (300 ms = 3 Zehntel einer Sekunde)

das herauszufinden, haben Psychologen geniale Instrumente er- Was sieht Maria wohl, wenn wir nun Bilder mit Hilfe eines
funden, um ein konstantes Bild auf der Netzhaut, der inneren solchen Instruments projizieren? Zuerst sieht sie das komplette
Oberfläche des Auges, beizubehalten. Stellen Sie sich vor, wir Bild. Doch innerhalb von wenigen Sekunden beginnen ihre
hätten eine Versuchsteilnehmerin namens Maria mit einem Sinnesrezeptoren zu ermüden und seltsame Dinge geschehen.
dieser Instrumente ausgestattet – einer Art Miniprojektor, der Stück um Stück löst sich das Bild auf, taucht dann wieder auf
auf einer Kontaktlinse befestigt ist (. Abb. 7.7a). Wenn sich und verschwindet wieder, in erkennbaren Fragmenten oder als
Marias Augen bewegen, bewegt sich das vom Projektor erzeugte Ganzes (. Abb. 7.7b).
Bild ebenfalls mit. Egal wohin sie schaut, sie sieht immer die Zwar verringert die sensorische Adaptation unsere Sensi-
gleiche Szene. bilität, doch sie bietet uns auch einen entscheidenden Vorteil:

. Abb. 7.7a,b Sensorische Anpassung: Mal sieht man es, mal ist es weg! a Ein auf eine Kontaktlinse montierter Projektor lässt das projizierte Bild mit
dem Auge mitwandern. b Anfangs sieht die Versuchsperson das stabilisierte Bild, doch bald darauf sieht sie Fragmente davon verschwinden und wieder
auftauchen. (Aus Pritchard 1961. Copyright © 1961 Scientific American, Inc. All rights reserved.)
7.1 · Grundprinzipien sensorischer Wahrnehmung
241 7

. Abb. 7.8 Visuelle Erfahrungen lassen sich mittels Wahrnehmungs-


adaption wesentlich verändern – in der Regel … (© Claudia Styrsky)

Sie versetzt uns in die Lage, uns auf informative Veränderungen


in unserer Umgebung zu konzentrieren, ohne uns von Hinter-
grundstörgeräuschen ablenken zu lassen. Stinkende oder stark
parfümierte Personen bemerken ihren Geruch nicht, weil sie
. Abb. 7.9 Vorsicht mit frühkindlichen Wahrnehmungssets. Sie können zu
sich, wie Sie und ich, an alles, was konstant ist, gewöhnen und Spätfolgen führen … (© Claudia Styrsky)
nur Veränderungen bemerken. Unsere Sinnesrezeptoren reagie-
ren aufmerksam auf alles Neue. Langweilen wir sie mit Wieder-
holungen, geben sie unsere Aufmerksamkeit für wichtigere Prüfen Sie Ihr Wissen

Dinge frei. Damit bestätigt sich wieder das grundlegende Prinzip: 5 Warum ist es so, dass Sie nach einer Weile aufhören,
Wir nehmen die Welt nicht so wahr, wie sie ist, sondern wie es für zu spüren, dass Sie Schuhe tragen (bis Fragen wie diese
uns nützlich ist, sie wahrzunehmen. Ihre Aufmerksamkeit wieder darauf lenken)?
Unsere Sensibilität für eine sich verändernde Stimulation
hilft uns, die Macht des Fernsehens zu verstehen, die unsere
Aufmerksamkeit derartig fesselt. Schnitte, Überblendungen,
Nahaufnahmen, Schwenke und plötzliche Geräusche – alles ver- 7.1.4 Wahrnehmungsset
langt Aufmerksamkeit. Selbst Forscher, deren Spezialgebiet das
Fernsehen ist, wundern sich darüber, wie viel Aufmerksamkeit
? 7.5 Wie nehmen unsere Erwartungen, Emotionen, Kontexte
das Fernsehen auch bei ihnen selbst auf sich zieht. So gibt ein
und unsere Motivation Einfluss auf unsere Wahrnehmung?
Medienforscher freimütig zu, dass er selbst bei höchst interes-
santen Gesprächen nicht umhin könne, zumindest ab und zu mal Jeder weiß: Sehen heißt glauben. Was wir aber nicht so recht
kurz zum Bildschirm zu schauen (Tannenbaum 2002). wahrhaben wollen, ist, dass ebenfalls das Umgekehrte gilt:
Die sensorische Adaptation und die sensorischen Schwellen Glauben heißt sehen. Durch Erfahrungen erwarten wir be-
sind wichtige Bestandteile, wenn wir die Welt um uns herum stimmte Ergebnisse. Diese Erwartungen können uns ein Wahr-
wahrnehmen. Vieles von dem, was wir wahrnehmen, stammt nehmungsset vorgeben, ein Set mentaler Tendenzen und An-
nicht nur aus der Welt »dort draußen«, sondern hat seinen Ur- nahmen, welches das, was wir wahrnehmen, entscheidend be-
sprung auch in dem, was hinter unseren Augen und zwischen einflusst (top-down). Ein Wahrnehmungsset kann beeinflussen,
unseren Ohren sitzt (. Abb. 7.8). was wir hören, schmecken, fühlen und sehen (. Abb. 7.9).
242 Kapitel 7 · Wahrnehmung

. Abb. 7.10 Wahrnehmungsset. Zeigen Sie einem Freund entweder das rechte oder das linke Bild. Dann zeigen Sie ihm das mittlere Bild und fragen Sie:
7 »Was siehst du?« Ob Ihr Freund angibt, einen Saxofonisten oder ein Frauengesicht zu sehen, mag daran liegen, welche der anderen beiden Zeichnungen er
zuerst gesehen hat. In jedem dieser Bilder ist die Bedeutung eindeutig und wird Wahrnehmungserwartungen entstehen lassen

Wahrnehmungsset (»perceptual set«) – mentale Prädisposition, etwas wurden«, so der Kommentar der Zeitung. Wenn diese Infor-
Bestimmtes wahrzunehmen und nicht etwas anderes. mation bei Ihnen dieselben Erwartungen hervorruft wie bei den
Und nun fragen Sie sich einmal: Handelt es sich bei dem Bild in meisten Lesern dieser Zeitung, werden auch Sie in dem Foto von
der Mitte von . Abb. 7.10 um einen Mann, der Saxofon spielt . Abb. 7.11 ein Monster sehen. Doch als sich ein skeptischer
oder um das Gesicht einer Frau? Was wir in einer solchen Zeich- Forscher die Fotos mit anderen Erwartungen anschaute, sah er
nung sehen, kann davon beeinflusst sein, welches der beiden darin einen gekrümmten Baumstamm, den auch andere an je-
eindeutigeren Bilder daneben wir zuerst angeschaut haben nem Tag, als das Foto aufgenommen wurde, im Wasser gesehen
(Boring 1930). hatten (Campbell 1986).
Jeden Tag begegnen uns viele Beispiele von Wahrnehmungs- Darüber hinaus werden Sie jetzt mit diesem anderen Wahr-
sets. Im Jahr 1972 veröffentlichte eine britische Zeitung die un- nehmungsset feststellen, dass der Gegenstand bewegungslos im
retuschierten Originalbilder eines »Monsters« im schottischen Wasser treibt und keine kleinen Wirbel oder Wellenbewegungen
Loch Ness – »die faszinierendsten Fotos, die je aufgenommen um sich herum erzeugt. Das passt nicht gerade zu dem, was wir

. Abb. 7.11 Glauben ist Sehen. Was nehmen Sie auf diesem Foto wahr? Ist das Nessie, das Monster von Loch Ness, oder ein Baumstamm? (© Mary Evans
Picture Library / picture-alliance)
7.1 · Grundprinzipien sensorischer Wahrnehmung
243 7

. Abb. 7.12 Kultur und Kontexteffekte. Was befindet sich über dem Kopf der Frau? In einer Studie sagten fast alle Ostafrikaner, die befragt wurden,
dass die Frau eine Metallkiste oder -dose auf ihrem Kopf balanciere und dass die Familie unter einem Baum sitze. Menschen aus dem westlichen Kulturkreis,
für die Ecken und kastenartige Architektur alltäglicher sind, nahmen mit größerer Wahrscheinlichkeit eine Familie wahr, die in einem Gebäude ist und eine
Frau, die unter einem Fenster sitzt. (Nach Gregory u. Gombrich 1973)

von einem lebendigen Monster erwarten würden. Aber sobald » Wir hören und begreifen nur, was wir schon halb wissen.
wir einmal eine falsche Vorstellung von der Realität entwickelt Henry David Thoreau, Journal, 1860
haben, haben wir Schwierigkeiten, die Wahrheit zu erkennen.
Ein Wahrnehmungsset kann auch das beeinflussen, was wir Was legt unser Wahrnehmungsset fest? Wie in 7 Kap. 6 erklärt,
hören. Ein Beispiel dafür ist der freundliche Pilot, der beim Be- bilden wir aufgrund unserer Erfahrungen Konzepte oder Sche-
schleunigen zum Starten zu seinem deprimierten Kopiloten mata, mit Hilfe derer wir unbekannte Informationen organisie-
hinüberschaute und sagte: »Cheer up« (Kopf hoch). Der Kopilot ren und interpretieren. Unsere bereits bestehenden Schemata
hörte das übliche »Gear up« (Fahrgestell einfahren) und fuhr von Saxofonisten und Frauengesichtern, Monstern und Baum-
prompt die Räder ein, bevor das Flugzeug abgehoben hatte stämmen haben einen Einfluss darauf, wie wir nicht eindeutige
(Reason u. Mycielska 1982). Empfindungen nach dem Top-down-Prinzip interpretieren.
In gleicher Weise beeinflusst ein Wahrnehmungsset den Ge- Im Alltag können Geschlechterstereotype (ein weiteres Bei-
schmack. Bei einem Experiment wurden Kneipeninhaber dazu spiel für ein Wahrnehmungsset) die Wahrnehmung färben.
aufgefordert, Freibier zu kosten (Lee et al. 2006). Als die Forscher Ohne die offenkundigen Hinweise der Farben Rosa oder Blau,
ein paar Tropfen Essig in ein Markenbier kippten, bevorzugten quälen Leute sich mit der Frage, ob sie ein Neugeborenes »er«
die Verkoster es gegenüber einem namenlosen Bier – es sei denn oder »sie« nennen sollen. Aber sobald ihnen gesagt wird, dass
ihnen wurde gesagt, dass sie Bier mit Essig trinken. Dann erwar- das Kleinkind »David« heißt, werden die Menschen (besonders
teten sie einen schlechteren Geschmack und erlebten ihn für Kinder) »ihn« als größer und stärker wahrnehmen, als wenn das
gewöhnlich auch. In einem anderen Experiment bewerteten Vor- gleiche Kind »Diana« genannt wird (Stern u. Karraker 1989).
schulkinder Pommes frites auf einer Skala von 6 bis 1. Sie urteil- Einige Unterschiede existieren, wie es scheint, nur im Auge des
ten, dass die gleichen Pommes dann besser schmeckten, wenn sie Betrachters.
in einer McDonalds-Tüte serviert wurden, als in einer einfachen
weißen Tüte (Robinson et al. 2007).
7.1.5 Kontexteffekte
Zeigt man den Beginn des Kinderreims
Mary had a Ein bestimmter Reiz kann extrem unterschiedliche Wahrneh-
a little lamb mungen auslösen (. Abb. 7.12). Das liegt z. T. an den verschie-
dann sehen die meisten Menschen, was sie erwarten, und über- denen Wahrnehmungsschemata, aber auch am unmittelbaren
lesen die Wiederholung des »a«. Wie war das bei Ihnen? Kontext. Hier einige Beispiele:
244 Kapitel 7 · Wahrnehmung

7.1.6 Emotion und Motivation

Wahrnehmungen werden top-down nicht nur von unseren Er-


wartungen und dem Kontext, sondern auch von unseren Emo-
tionen und unserer Motivation beeinflusst.
Wenn Menschen traurige statt fröhlicher Musik hören, kann
es sie dahingehend beeinflussen, dass sie bei gesprochenen, homo-
phonen (gleichklingenden) Wörtern eher eine traurige Bedeutung
wahrnehmen (z. B. Leere statt Lehre; Halberstadt et al. 1995).
Dennis Proffitt (2006a,b; Schnall et al. 2008) und andere
haben die Macht der Emotionen mit weiteren geschickten Expe-
rimenten bewiesen. Sie zeigten, dass
4 Wanderziele für diejenigen weiter weg scheinen, die durch
vorherige körperliche Anstrengung ermüdet sind.
7 4 ein Hügel für diejenigen steiler aussieht, die einen schweren
Rucksack tragen oder kurz zuvor traurige klassische Musik
gehört haben statt leichter, lebhafter Musik. Wie bei so
vielen Herausforderungen des Alltags, erscheint ein Hügel
auch denjenigen weniger steil, die einen Freund an ihrer
Seite haben.
4 ein Ziel für diejenigen weiter entfernt scheint, die einen
schweren statt eines leichten Gegenstands dorthin werfen.
. Abb. 7.13 Das Wechselspiel zwischen Kontext und emotionaler Wahr-
nehmung. Der Kontext lässt das verfolgende Monster aggressiver erschei- Sogar ein Softball wirkt größer, wenn man ihn gut trifft, wie Witt
nen als das verfolgte. Aber dem ist nicht so. (Aus Shepard 1990, mit freund-
u. Proffitt (2005) beobachteten: Sie hatten Spieler gebeten, einen
licher Genehmigung)
Kreis auszuwählen, der genau die Größe hat wie der Ball, den sie
gerade gut oder schlecht getroffen hatten. Menschen nehmen
4 Stellen Sie sich vor, Sie hörten ein Geräusch, das von den neutrale Objekte öfter als Waffen wahr, wenn sie wütend sind
Worten »ad am Wagen« unterbrochen würde. In diesem (Bauman u. DeSteno 2010).
Fall würden Sie das erste Wort wahrscheinlich als »Rad«
wahrnehmen. Lauteten die Worte hingegen »ad und WC«, » Wenn du den Ball triffst, sieht er aus wie eine Grapefruit,
würden Sie »Bad« hören. Dieses kuriose, von Richard wenn er auf dich zukommt. Wenn du ihn nicht triffst, sieht er
Warren entdeckte Phänomen deutet darauf hin, dass das aus wie eine Bohne.
Gehirn zeitlich gesehen rückwärts arbeiten kann und so Ehemaliger Spitzen-Baseball-Spieler George Scott
einem späteren Reiz die Möglichkeit gibt, zu bestimmen,
wie ein früher dargebotener Reiz von uns wahrgenommen Auch Motive spielen eine Rolle. Begehrte Objekte erscheinen
wird. Ein Zusammenhang erzeugt eine Erwartung, die nach näher, wie etwa eine Flasche Wasser, wenn man durstig ist
dem Top-down-Prinzip wiederum unsere Wahrnehmung (Balcetis u. Dunning 2010). Dieser Wahrnehmungsbias gibt
beeinflusst (Grossberg 1995). uns den Antrieb, uns dafür anzustrengen. Ferner lenken unsere
4 Sieht das verfolgende Monster von . Abb. 7.13 aggressiv Motive unsere Wahrnehmung von mehrdeutigen Bildern
aus? Wirkt das andere gleichartige Monster, das verfolgt (. Abb. 7.14).
wird, ängstlich? Wenn das Ihr Eindruck war, haben Sie Emotionen färben ebenfalls unsere soziale Wahrnehmung.
einen Kontexteffekt erlebt. Ehepartner, die sich geliebt und geschätzt fühlen, nehmen belas-
tende Ereignisse in der Ehe als weniger bedrohlich wahr: »Er hat
Prüfen Sie Ihr Wissen
nur einen schlechten Tag« (Murray et al. 2003). Profi-Schieds-
richter geben, nachdem sie auf Video aufgezeichnete Fouls ge-
5 Erfordert ein Wahrnehmungsset Bottom-up- oder sehen haben, mehr gelbe und rote Karten, wenn ihnen gesagt
Top-down-Verarbeitung? Warum? wird, dass eine Fußballmannschaft schon oft aggressives Ver-
halten an den Tag legte (Jones et al. 2002).
7.2 · Sehen
245 7
7.2 Sehen

? 7.6 Welche Form von Energie sehen wir als sichtbares


Licht und wie wandelt das Auge Lichtenergie in neuronale
Botschaften um?

Unsere Augen empfangen Lichtenergie und wandeln diese in


neuronale Botschaften um, die das Gehirn anschließend zu
dem verarbeitet, was Sie bewusst sehen. Wie vollzieht sich dieser
bemerkenswerte Prozess, den wir als selbstverständlich voraus-
setzen, im Einzelnen?

7.2.1 Reizinput Lichtenergie

Wenn Sie eine leuchtend rote Tulpe betrachten, sind das, was auf
Ihr Auge trifft, nicht rote Farbpartikel, sondern es sind Wellen
elektromagnetischer Energie, die unser visuelles System als rot
. Abb. 7.14 Zweideutige Seehund-Pferd-Figur. Wenn sie dazu motiviert
wurden, Bauernhoftiere wahrzunehmen, sahen ca. 7 von 10 Personen sofort wahrnimmt. Was wir als sichtbares Licht sehen, ist nur ein win-
ein Pferd. Wenn sie dazu motiviert wurden, Meerestiere wahrzunehmen, sahen ziger Ausschnitt aus dem gesamten Spektrum der elektromagne-
ca. 7 von 10 einen Seehund. (Balcetis u. Dunning 2006; Abb. aus Fisher 1968) tischen Strahlung. Wie aus . Abb. 7.15 deutlich wird, reicht das

. Abb. 7.15 Das sichtbare Spektrum. Was wir als Licht sehen ist nur ein winziger Ausschnitt eines breiten Spektrums elektromagnetischer Energie,
das sich von den γ-Strahlen (Gammastrahlen), die so kurz sind wie der Durchmesser eines Atoms, bis zu den Radiowellen, die über eine Meile lang sind,
erstreckt. Die Wellenlängen, die für das menschliche Auge sichtbar sind (hier in Vergrößerung gezeigt), reichen von den kürzeren Wellen des blau-
violetten Lichts bis zu den längeren Wellen des roten Lichts
246 Kapitel 7 · Wahrnehmung

. Abb. 7.16a,b Physikalische Eigenschaften von Wellen. a Wellen unterscheiden sich durch die Wellenlänge, d. h. den Abstand zwischen zwei aufeinan-
7 der folgenden Wellenbergen. Die Frequenz, d. h. die Anzahl der vollständigen Wellen oder Schwingungen, die einen bestimmten Punkt pro Zeiteinheit pas-
sieren kann, hängt von der Wellenlänge ab. Je kürzer die Wellenlänge, desto höher die Frequenz. b Wellen unterscheiden sich auch durch ihre Amplitude,
d. h. den Höhenunterschied zwischen Wellenberg und Wellental. Die Amplitude einer Welle bestimmt die Intensität von Farben

elektromagnetische Spektrum von den für uns nicht wahrnehm- kleine verstellbare Öffnung. Die Größe der Pupille wird von der
baren kurzen Wellenlängen der γ-Strahlen (Gammastrahlen), bis Iris reguliert, einem farbigen Muskel, der die Pupille umgibt. Die
hin zu den langen Wellen der Radioübertragung. Andere Orga- Iris reguliert den Lichteinfall ins Auge, indem sie die Pupille als
nismen verfügen über Sensibilität für andere Ausschnitte des Reaktion auf die Lichtintensität, aber auch auf die Gefühle in un-
Spektrums. So können Bienen beispielsweise kein Rot, dafür aber serm Innern, erweitert oder verengt. (Wenn wir uns verliebt füh-
ultraviolettes Licht sehen. len, signalisieren unsere sprichwörtlich geweiteten Pupillen und
Zwei physikalische Eigenschaften von Licht tragen dazu bei, somit dunklen Augen auf subtile Art unser Interesse.) Aufgrund
zu bestimmen, wie wir es sensorisch erleben. Die Wellenlänge der Einzigartigkeit jeder Iris kann mit Hilfe von Irisscannern die
des Lichts – der Abstand zwischen den Scheiteln von zwei auf- Identität eines Menschen eindeutig festgestellt werden.
einander folgenden Wellenbergen (. Abb. 7.16a) – bestimmt den
Pupille (»pupil«) – regulierbare Öffnung in der Mitte des Auges, durch die
Farbton (die Farbe, die wir wahrnehmen, wie etwa die grünen das Licht einfällt.
Blätter oder roten Blütenblätter der Tulpe). Hingegen beeinflusst Iris (auch Regenbogenhaut; »iris«) – Ring aus Muskelgewebe, der den
die Intensität oder Stärke des Lichts, d. h. die Energiemenge von farbigen Teil des Auges um die Pupille bildet und als Blende zur Regulierung
Lichtwellen (die durch die Amplitude oder den Ausschlag der der Pupillenöffnung fungiert.
Welle bestimmt wird), die Leuchtkraft der Farben (. Abb. 7.16b).
Um zu verstehen, wie wir physikalische Energie in Farbe und Hinter der Pupille sitzt eine Linse, die die einfallenden Licht-
Bedeutung umwandeln, müssen wir zunächst verstehen, wie das strahlen bündelt und auf der Retina (Netzhaut), einem mehr-
Auge, das Fenster unseres Sehvermögens, funktioniert. schichtigen Gewebe auf der lichtempfindlichen inneren Ober-
fläche des Augapfels, zu einem Bild vereinigt. Dazu wird die
Wellenlänge (»wavelength«) – Abstand zwischen den Scheitelpunkten von
zwei aufeinander folgenden Wellen. Das Spektrum der elektromagnetischen Linsenwölbung verändert, ein Vorgang, der auch Akkommoda-
Wellenlägen reicht von den kurzen Impulsen der kosmischen Strahlen bis zu tion genannt wird.
den Langwellen, die für die Radioübertragung verwendet werden.
Linse (»lens«) – durchsichtiger Körper hinter der Pupille, der zur Scharf-
Farbton (»hue«) – Farbdimension, die durch die Wellenlänge des Lichts
stellung der Bilder auf der Retina seine Form verändern kann.
bestimmt wird und die wir als die uns bekannten Farben Blau, Grün etc.
wahrnehmen. Retina (auch Netzhaut; »retina«) – lichtempfindliche innere Oberfläche des
Auges, in der die Stäbchen und Zapfen der Fotorezeptoren sowie Neuro-
Intensität (»intensity«) – Energiemenge von Licht oder Klangwellen, die
nenschichten enthalten sind, in denen die Verarbeitung der visuellen Infor-
wir als Helligkeit oder Lautstärke wahrnehmen und die von der Amplitude
mation beginnt.
der Wellen abhängt.
Akkommodation (»accommodation«) – Anpassungsvorgang, bei dem die
Augenlinse ihre Form verändert, um nahe oder entfernte Gegenstände auf
der Retina scharf abzubilden.
7.2.2 Das Auge
Seit Jahrhunderten kennen Wissenschaftler folgendes Phänomen:
Das Licht dringt in das Auge durch die Kornea (Hornhaut) ein, Projiziert man das Bild einer Kerze durch eine kleine Öffnung auf
die das Auge schützt und das Licht beugt, um die Strahlen zu einen dunklen Hintergrund, dann steht ihr Abbild hinter der Öff-
bündeln (. Abb. 7.17). Das Licht passiert dann die Pupille, eine nung auf dem Kopf. Wenn also die Retina ein auf dem Kopf
7.2 · Sehen
247 7

. Abb. 7.17 Das Auge. Die von einer Kerze reflektierten Lichtstrahlen fallen durch die Kornea (Hornhaut), die Pupille und die Linse in das Auge ein. Die
Krümmung und die Dicke der Linse verändern sich, um jeweils ein scharfes Bild von entfernten oder nahen Gegenständen auf der Retina entstehen zu las-
sen. Die Lichtstrahlen von der Spitze der Kerze treffen auf den unteren Teil der Retina auf und die von links kommenden Lichtstrahlen auf den rechten Teil.
Das auf die Retina projizierte Bild ist damit seitenverkehrt und steht auf dem Kopf

stehendes Bild empfängt, wie in . Abb. 7.17, wie kommt es dann, Hörnerv, der das Hören ermöglicht, kann viel weniger Informa-
dass wir die Welt nicht auf dem Kopf sehen? Der stets neugierige tionen durch seine 30.000 Nervenfasern übermitteln). An der
Leonardo da Vinci hatte eine Idee: Vielleicht lag es an den wäss- Stelle, an der der Sehnerv das Auge verlässt, sind keine Rezep-
rigen Flüssigkeiten, die die Lichtstrahlen beugen und so eine torzellen vorhanden, wodurch ein sog. blinder Fleck entsteht
erneute Umkehrung des auf dem Kopf stehenden Bildes bei (. Abb. 7.19). Wenn Sie ein Auge schließen, dann werden Sie
Auftreffen auf der Retina erzeugen. Schließlich wies jedoch der allerdings kein schwarzes Loch sehen. Ohne Ihre Zustimmung
Astronom Johannes Kepler, der sich auch mit den theoretischen einzuholen, füllt Ihr Gehirn das Loch aus.
Grundlagen der Optik beschäftigte, im Jahre 1604 nach, dass die
Stäbchen (»rods«) – Fotorezeptoren auf der Retina, die Schwarz, Weiß
Retina tatsächlich auf dem Kopf stehende Bilder von der Welt und Grau erkennen können und für das periphere Sehen und das Sehen in
empfängt (Crombie 1964). Wie können wir aber eine solche »ver- der Dämmerung erforderlich sind, wenn die Zapfen nicht reagieren.
kehrte« Welt verstehen? Der ratlose Kepler erwiderte darauf: »Das Zapfen (»cones«) – Fotorezeptorzellen, die insbesondere um die Mitte der
überlasse ich den eigentlichen Philosophen.« Retina angesiedelt sind und die am besten bei hellem Tageslicht und bei
guter Beleuchtung funktionieren. Mit Hilfe der Zapfen können feine Details
Irgendwann wurde die Antwort klar: Die Retina »sieht« das
unterschieden und Farben empfunden werden.
Bild nicht als Ganzes. Vielmehr wandeln ihre Millionen von Re-
Sehnerv (N. opticus; »optic nerve«) – Nerv, über den die Nervenimpulse
zeptorzellen Lichtenergie in Nervenimpulse um. Diese Impulse vom Auge ins Gehirn gelangen.
werden an das Gehirn weitergeleitet und dort zu einem wahrge- Blinder Fleck (»blind spot«) – Punkt der Netzhaut, an dem der Sehnerv
nommenen Bild zusammengebaut, das nicht auf dem Kopf steht. das Auge verlässt und ein »blinder« Fleck entsteht, weil hier keine Rezeptor-
zellen vorhanden sind.
Retina
Wenn Sie einem einzelnen Lichtenergieteilchen in Ihr Auge
Prüfen Sie Ihr Wissen
folgen könnten, würden Sie sehen, dass es zunächst die äußere
Zellschicht der Retina durchdringt und dann zu den Foto- 5 An der Stelle, an der der Sehnerv das Auge verlässt
rezeptorzellen darunter, den Stäbchen und Zapfen, gelangt (. Abb. 7.18), gibt es keine Rezeptorzellen. Das erzeugt
(. Abb. 7.18). Dort bewirkt die auftreffende Lichtenergie chemi- beim Sehen einen blinden Fleck. Hier eine kleine
sche Veränderungen, die wiederum neuronale Signale erzeugen. Demonstration: Schließen Sie das linke Auge, schauen
Diese Signale aktivieren die benachbarten Bipolarzellen, die Sie auf den Punkt in . Abb. 7.19 und bewegen Sie dann
ihrerseits die daneben liegenden Ganglienzellen aktivieren. Die diese Seite langsam vom Gesicht weg bis zu dem Ab-
Axone aus dem Netz von Ganglienzellen laufen wie die Stränge stand (etwa 25–40 cm), bei dem eines der beiden Autos
eines Seils im Sehnerv (Nervus opticus) zusammen, von dem plötzlich nicht mehr sichtbar ist (welches wird das wohl
aus die Informationen ins Gehirn weitergeleitet werden (wo der sein?). Wiederholen Sie das mit dem anderen Auge – und
Thalamus die Informationen entgegennimmt und verteilt). Der Sie werden sehen, dass nun das andere Auto verschwin-
Sehnerv ist in der Lage, nahezu 1 Mio. Botschaften gleichzeitig det. Können Sie erklären, warum das so ist?
zu übersenden und zwar durch fast 1 Mio. Ganglienfasern. (Der
248 Kapitel 7 · Wahrnehmung

. Abb. 7.18 Reaktion der Retina auf Licht

. Abb. 7.19 Der blinde Fleck

Die Stäbchen und die Zapfen unterscheiden sich darin, wo sie fes Bild davon auf den Zapfen Ihrer Fovea erhalten. Bemerken
sich befinden und welche Aufgaben sie erfüllen (. Tab. 7.1). Die Sie, dass die Wörter, die ein paar Zentimeter seitlich davon sind,
Zapfen treten gehäuft um die Fovea (Sehgrube) herum auf, den verschwommen erscheinen? Das Bild dieser Wörter reicht bis
Bereich des schärfsten Sehens der Retina (. Abb. 7.17). Viele in die periphere Region Ihrer Netzhaut, in der überwiegend
Zapfen haben eine direkte Verbindung zum Gehirn – Bipolar- Stäbchen vorkommen. Wenn Sie also Auto oder Fahrrad fahren,
zellen, mit deren Hilfe die einzelnen Botschaften der Zapfen an können Sie ein Auto in Ihrem peripheren Gesichtsfeld aus-
die Sehrinde weitergeleitet werden, von der ein großer Bereich machen, schon lange bevor Sie dessen Details wahrnehmen.
den Signalen aus der Fovea vorbehalten ist. Durch diese direkten
Verbindungen bleiben die präzisen Informationen der Zapfen
erhalten, die eher imstande sind, feine Einzelheiten zu unter- . Tab. 7.1 Rezeptorzellen im menschlichen Auge: stäbchenförmige
Stäbchen und zapfenförmige Zapfen
scheiden.
Fovea (auch Sehgrube; »fovea«) – Punkt des schärfsten Sehens auf der Zapfen Stäbchen
Retina, um den herum die Zapfen des Auges gehäuft vorkommen.
Anzahl 6 Mio. 120 Mio.

Bei den Stäbchen gibt es keine solche Direktschaltung. Sie teilen Ort auf der Netzhaut Zentrum Peripherie

sich die Bipolarzellen mit anderen Stäbchen, so dass ihre ein- Dämmerungsempfindlichkeit Gering Hoch
zelnen Botschaften kombiniert werden. Zur Veranschaulichung Farbempfindlichkeit Ja Nein
dieses Unterschieds in Ihrer Netzhaut: Suchen Sie sich aus
Detailempfindlichkeit Ja Nein
diesem Satz ein Wort aus und fixieren Sie es, so dass Sie ein schar-
7.2 · Sehen
249 7
Die Zapfen ermöglichen Ihnen auch das Farbensehen. Doch der sensorischen Information bei. Die dritte Nervenschicht im
bei schwacher Beleuchtung werden die Zapfen wirkungslos; Auge eines Frosches enthält beispielsweise seine »Fliegendetek-
daher sehen Sie dann keine Farben. Die Stäbchen, die uns zum torzellen«, die nur auf sich bewegende, fliegenähnliche Reize
Schwarz-Weiß-Sehen befähigen, bleiben auch bei schwachem reagieren.
Licht hochempfindlich. Mehrere Stäbchen lassen ihre schwache Nachdem die Informationen von den ca. 130 Mio. Fotore-
Energie in dämmrigem Licht auf einer einzigen Bipolarzelle zu- zeptorzellen der Stäbchen und Zapfen die Bipolarzellen passiert
sammenlaufen. So verfügen sowohl Zapfen als auch Stäbchen haben, werden sie von den ca. 1 Mio. Ganglienzellen, deren
über eine besondere Sensibilität: Zapfen für Details und Farbe, Axone den Sehnerv bilden, empfangen und an das Gehirn
Stäbchen für schwaches Licht. weitergeleitet. Jeder einzelne Bereich der Retina gibt seine Infor-
Wenn Sie in ein abgedunkeltes Theater kommen oder bei mationen an eine damit verbundene Stelle im Okzipitallappen
Nacht das Licht ausmachen, passen sich Ihre Augen an. Ihre weiter – die Sehrinde (auch optischer oder visueller Kortex ge-
Pupillen weiten sich, um mehr Licht auf die Retina zu lassen. In nannt) im hinteren Teil des Gehirns (. Abb. 7.20).
der Regel dauert es aber etwa 20 Minuten oder mehr, bis sich Ihre Dieselbe Sensibilität, die die Retinazellen befähigt, Botschaf-
Augen vollständig adaptiert haben. Sie können die Adaptation ten weiterzureichen, erzeugt bisweilen auch falsche Botschaften.
an die Dunkelheit nachvollziehen, indem Sie ein Auge bis zu Das können Sie selbst ausprobieren: Drehen Sie Ihre Augen nach
20 Minuten schließen oder abdecken. Verdunkeln Sie dann das links, und schließen Sie sie. Reiben Sie nun mit der Fingerspitze
Zimmer so stark, dass es für Ihr offenes Auge gerade noch ein sanft die rechte Seite Ihres rechten Augenlids. Sehen Sie den
bisschen zu dunkel ist, um dieses Buch zu lesen. Machen Sie Lichtfleck links, der sich mit den Bewegungen Ihres Fingers
nun das Auge auf, das sich an die Dunkelheit gewöhnt hatte, und mitbewegt? Warum sehen Sie Licht? Und warum auf der linken
lesen Sie (ohne jegliche Schwierigkeiten). Die Zeit, die es braucht, Seite?
um die Augen an die Dunkelheit zu adaptieren, dauert genau so Ihre Retinazellen sind so reaktionsempfindlich, dass sie sogar
lange, wie der durchschnittliche Übergang zwischen Sonnen- durch Druck in Aktion gesetzt werden. Doch das Gehirn inter-
untergang und Nacht (die Dämmerung). Welch ein Wunder der pretiert die eingehenden Botschaften als Licht, und zwar als
Schöpfung! Licht, das von links kommt, also aus der Richtung, aus der das
Licht normalerweise kommt, wenn die rechte Seite der Retina
Prüfen Sie Ihr Wissen
aktiviert wird.
5 Manche Nachttiere wie Kröten, Mäuse, Ratten und
Merkmalserkennung
Fledermäuse sehen auch bei schwachem Licht noch
sehr gut, weil sie viel mehr (Stäbchen/ David Hubel und Torsten Wiesel (1979) bekamen einen Nobel-
Zapfen) als (Stäbchen/Zapfen) in ihrer preis für ihre Arbeit zu Merkmalsdetektoren. Diese spezifischen
Retina haben. Allerdings sehen diese Tiere wahrschein- Neuronen in der Sehrinde des Okzipitallappens erhalten In-
lich nur sehr schlecht (Farben/Schwarz formationen von einzelnen Ganglienzellen in der Retina. Merk-
und Weiß). malsdetektorzellen tragen ihren Namen wegen ihrer Fähigkeit,
5 Katzen können ihre viel weiter öffnen auf spezifische Merkmale einer Szenerie zu reagieren, d. h. auf
als wir und damit mehr Licht hineinlassen, sodass sie in besondere Kanten, Linien, Winkel und Bewegungen. Diese
der Nacht besser sehen können. Zellen leiten diese Informationen an andere Areale des Kortex
weiter, wo Zellverbindungen (Gruppen von Superzellen), auf
komplexere Reizmuster antworten. Wie schon beschrieben, er-
möglicht es uns ein Areal des Temporallappens direkt hinter
7.2.3 Visuelle Informationsverarbeitung unserem rechten Ohr, Gesichter wahrzunehmen (. Abb. 7.21).
Dank eines spezialisierten neuronalen Netzwerks können wir
diese auch von verschiedenen Standpunkten aus erkennen
? 7.7 Wie verarbeiten das Auge und das Gehirn visuelle
(Connor 2010). Bei Beschädigung dieses Gehirnbereichs könn-
Informationen?
ten Sie andere Formen und Gegenstände weiterhin erkennen,
Die visuellen Informationen werden auf ihrem Weg durch aber, so wie Heather Sellers, keine bekannten Gesichter. Wenn
den Thalamus und zum visuellen Kortex nach und nach durch Forscher die Areale, die im Gehirn für die Verarbeitung von
immer abstraktere Ebenen weitergeleitet. Auf der Eingangsebene Gesichtern zuständig sind, vorübergehend mit magnetischen
wird die Information zunächst von den Neuronenschichten der Impulsen unterbrechen, sind Menschen unfähig, Gesichter zu
Retina verarbeitet – die eigentlich Hirngewebe ist, das während erkennen.
der frühen Entwicklung des Fötus ins Auge wandert. Doch die
Merkmalsdetektoren (»feature detectors«) – Nervenzellen im Gehirn,
Nervenschichten der Retina leiten nicht einfach elektrische die auf bestimmte Merkmale von Reizen (z. B. Form, Winkel oder Bewegung)
Impulse weiter, sie tragen auch zur Enkodierung und Analyse reagieren.
250 Kapitel 7 · Wahrnehmung

. Abb. 7.20 Leitungsbahnen zwischen den Augen und der Sehrinde. Die Axone der Ganglien, aus denen sich der Nervus opticus bildet, setzen sich bis
zum Thalamus fort und sind dort mittels Synapsen mit Neuronen verschaltet, die wiederum mit dem visuellen Kortex verbunden sind

Häuser jedoch erkennen sie, weil die Gesichtswahrnehmung Die Forschung hat gezeigt, dass das Affenhirn (und sicher
des Gehirns getrennt von der Objektwahrnehmung stattfindet. auch unseres) für biologisch signifikante Objekte und Ereignisse
So kann man bei der funktionellen Kernspintomografie (fMRT) eine »riesige visuelle Enzyklopädie« zur Verfügung hat, die in
beobachten, dass verschiedene Gehirnareale aktiviert werden, Form von spezialisierten Zellen verteilt ist (Perrett et al. 1988,
wenn der Patient Bilder von unbelebten Objekten sieht (Downing 1992, 1994). Diese sprechen jeweils nur auf einen ganz be-
et al. 2001). Die Hirnaktivität ist so spezifisch (. Abb. 7.22), dass stimmten Reiz an, wie z. B. einen bestimmten Blick, eine Neigung
ein Forscher (Haxby 2001) erklärt: »Wir können am Muster der des Kopfes, eine bestimmte Haltung oder Bewegung des Körpers.
Gehirnaktivität erkennen, ob jemand einen Schuh, einen Stuhl Andere Gruppen von Superzellen führen diese Informationen
oder ein Gesicht anschaut.« dann zusammen und übermitteln ihre Reizantwort erst, wenn die

. Abb. 7.21 Verarbeitung der Gesichtserkennung. Bei in Gruppen . Abb. 7.22 Unser verräterisches Gehirn. Gesichter, Häuser und
lebenden Lebewesen wie den Menschen weist das ausgefeilte Gehirnsys- Stühle aktivieren unterschiedliche Areale in diesem Gehirn (rechte Seite =
tem (hier in der linken Gehirnhälfte dargestellt) der wichtigen Aufgabe vorne)
der Gesichtserkennung eine beträchtliche neuronale Bandbreite zu
7.2 · Sehen
251 7

. Abb. 7.23 Gut entwickelte Superzellen. Bei diesem Bundesligaspiel 2014 verarbeitete der Schalker Stürmer Klaas-Jan Huntelaar seine visuelle
Information über die Positionen und Bewegungen der Augsburger Verteidiger und des Torhüters unmittelbar, und so gelang es ihm, irgendwie den Ball
an ihnen vorbei und ins Netz zu bekommen. (© imago / MIS)

Hinweisreize kollektiv auf die Richtung der Aufmerksamkeit und lichen Teams zu einem Ganzen vereinen und dabei parallel vor-
Annäherung eines Menschen hindeuten. Diese umgehende Reiz- gehen (. Abb. 7.24).
auswertung, die unseren Vorfahren das Überleben sicherte, hilft
Parallelverarbeitung (»parallel processing«) – gleichzeitiges Verarbeiten
auch beispielsweise einem Fußballtorwart die Richtung eines kurz mehrerer Aspekte eines Problems. Die natürliche Arbeitsweise des
bevorstehenden Schusses und einem Autofahrer die nächste Be- Gehirns bei der Informationsverarbeitung für eine Vielzahl von Funktionen
wegung eines Fußgängers vorherzusehen (. Abb. 7.23). (u. a. beim Sehen). Es handelt sich dabei um das Gegenteil der schritt-
weisen (seriellen) Verarbeitung der meisten Computer und der bewussten
Problemlösung.
Parallelverarbeitung
Unser Gehirn bewerkstelligt diese und andere bemerkenswerte Um z. B. ein Gesicht zu erkennen, integriert das Gehirn die In-
Meisterleistungen anhand von Parallelverarbeitung: Es macht formationen, die die Retina auf die Sehfelder im visuellen Kortex
mehrere Dinge auf einmal. Das Gehirn unterteilt eine visuell vor- projiziert, vergleicht sie mit den gespeicherten Informationen
gegebene Szenerie in Unterdimensionen wie Farbe, Bewegung, und versetzt Sie in die Lage, ein Gesicht wie etwa das Ihrer Groß-
Form und Tiefe und arbeitet gleichzeitig an jedem einzelnen mutter zu erkennen. Die Wissenschaft ist sich uneinig, ob diese
Aspekt (Livingstone u. Hubel 1988). Dann konstruieren wir gespeicherte Information in einer einzigen Zelle enthalten oder
unsere Wahrnehmungen, indem wir die Arbeit der unterschied- über ein Netzwerk verteilt ist. Einige Superzellen, die sog. Groß-

. Abb. 7.24 Parallelverarbeitung. Untersuchungen an hirngeschädigten Patienten haben gezeigt, dass das Gehirn die Verarbeitung von Farbe,
Bewegung, Form und Tiefe auf unterschiedliche Gehirnareale verteilt. Aber wie integriert das Gehirn, nachdem es die Szene auseinandergenommen hat,
anschließend diese Unterbereiche zu einem wahrgenommenen Bild? Die Antwort auf diese Frage ist die Gralssuche der Sehforschung
252 Kapitel 7 · Wahrnehmung

mutterzellen, scheinen tatsächlich sehr selektiv nur auf ein oder tet. Diese getrennten visuellen Systeme für Wahrnehmung einer-
zwei von hundert Gesichtern zu antworten (Bowers 2009). Der seits und Handlung andererseits sind ein Beispiel für duale Ver-
gesamte Vorgang der Gesichtserkennung benötigt enorme Res- arbeitung – den zweigleisigen Verstand.
sourcen im Gehirn – etwa 30% des Kortex. Das ist zehnmal so
viel, wie das Gehirn dem Hören widmet.
» Ich danke dir dafür, dass ich wunderbar gemacht bin.
König David, Psalm 139, Vers 14
Zerstört man jedoch den neuronalen Hochgeschwindigkeits-
rechner für eine visuelle Unteraufgabe oder beeinträchtigt man Denken Sie einmal über die Wunder der visuellen Verarbeitung
ihn in seiner Funktionsfähigkeit, wie dies bei »Frau M.« geschah nach: Wenn Sie den Tiger im Zoo anschauen, wird die visuelle
(vgl. Hoffman 1998), passiert etwas Seltsames: Sie hat einen Information umgewandelt und in Form von Millionen von Ner-
Schlaganfall hinter sich, der beidseitig Schäden im hinteren Teil venimpulsen an Ihr Gehirn weitergeleitet. Während Ihr Gehirn
des Gehirns verursachte. Sie kann daher keine Bewegungen vor lauter Arbeit heiß läuft, fokussieren sich mehrere Areale auf
mehr wahrnehmen. Menschen, die sich im Zimmer herumbe- verschiedene Aspekte des Tigers. Schließlich bündeln diese einzel-
wegen, »scheinen plötzlich hier oder dort aufzutauchen, aber nen Teams ihre Ergebnisse auf noch unbekannte, geheimnisvolle
ich habe nicht gesehen, wie sie sich bewegten.« Für sie ist es Weise zu einem sinnvollen Bild. Dieses Bild wird dann von Ihnen
7 eine echte Herausforderung, sich Tee in eine Tasse zu gießen, da mit Bildern verglichen, die Sie in der Vergangenheit gespeichert
die Flüssigkeit wie gefroren wirkt, und sie das Ansteigen des haben, und Sie erkennen: ein kauernder Tiger (. Abb. 7.25).
Flüssigkeitspegels in der Tasse nicht wahrnehmen kann. Denken Sie auch darüber nach, was passiert, während Sie
Andere, deren Sehrinde durch chirurgische Eingriffe im diese Seite lesen. Die gedruckten Kringel werden von reflektier-
Gehirn oder durch einen Schlaganfall zum Teil zerstört wurde, ten Lichtstrahlen auf Ihre Retina übermittelt. Das setzt einen
können Blindsehen ausgesetzt sein (ein Phänomen, das wir in Prozess in Gang, der formlose Nervenimpulse an mehrere Ihrer
7 Kap. 4 kennengelernt haben). Zeigt man ihnen eine Reihe von Hirnareale sendet, die die Information integrieren und die Be-
Stäben, geben sie an, nichts zu sehen. Werden sie jedoch gebeten deutung entschlüsseln. So wird die Informationsübertragung
zu raten, ob die Stäbe waagerecht oder senkrecht daliegen oder über Zeit und Raum hinweg von meinem Verstand zu Ihrem
-stehen, liefern sie meist untrüglich die richtige Antwort. Wenn vollendet. Dass all dies in einem einzigen Augenblick ohne jeg-
man ihnen dann mitteilt: »Sie haben sie alle richtig geraten«, sind liche Anstrengung und ständig passiert, ist wirklich unglaublich
sie erstaunt. Es gibt anscheinend einen zweiten »Denkapparat« eindrucksvoll. Wie Roger Sperry (1985) feststellte: »Die Ein-
– ein System der Parallelverarbeitung, das im Verborgenen arbei- sichten der Wissenschaft liefern uns mehr und nicht weniger

. Abb. 7.25 Vereinfachte Zusammenfassung der visuellen Informationsverarbeitung


7.2 · Sehen
253 7
Gründe, der Natur gegenüber Ehrfurcht, Achtung und Ehrerbie- Lichtwellen der drei Grundfarben Rot, Grün und Blau erzeugen
tung zu empfinden.« lässt. Daraus schlossen sie, dass das Auge drei verschiedene
Arten von Farbrezeptoren haben muss, eine für jede Grundfarbe
Prüfen Sie Ihr Wissen
des Lichts. Jahre später stellten Wissenschaftler Messungen hin-
5 Beschreiben Sie die schnelle Abfolge von Ereignissen, die sichtlich der Reaktion von verschiedenen Zapfen auf verschie-
ablaufen, wenn Sie einen Freund sehen und erkennen. dene Farbreize an und bestätigten die Dreifarbentheorie von
Young und Helmholtz, die einfach besagt, dass die Retina über
drei verschiedene Farbrezeptortypen verfügt, von denen jeder
spezifisch empfindlich auf eine der drei Grundfarben reagiert.
7.2.4 Farbensehen Diese Farben sind tatsächlich Rot, Grün oder Blau. Wenn wir
Kombinationen dieser Zapfen stimulieren, sehen wir andere Far-
ben. Es gibt beispielsweise keine Rezeptoren, die eine spezifische
? 7.8 Welche Theorien helfen uns, das Farbensehen zu ver-
Sensibilität für Gelb hätten. Gelb sehen wir dann, wenn wir rotes
stehen?
und grünes Licht mischen, welches sowohl rotempfindliche als
Wir reden, als hätten Gegenstände eine Farbe. Wir sagen: »Eine auch grünempfindliche Zapfen stimuliert.
Tomate ist rot.« Vielleicht haben Sie schon einmal über die alte
Dreifarbentheorie von Young und Helmholtz (»Young-Helmholtz trichro-
Frage nachgedacht: »Und wenn nun ein Baum im Wald umfällt matic theory«) – Theorie, die besagt, dass die Retina drei verschiedene
und niemand es hört, macht er dann ein Geräusch?« Wir können Farbrezeptortypen enthält, von denen einer besonders empfindlich auf
uns dasselbe für die Farben fragen: Wenn niemand die Tomate Rot reagiert, ein anderer auf Grün und ein dritter auf Blau. Werden sie
in Kombination stimuliert, können sie die Wahrnehmung jedes beliebigen
sieht, ist sie dann rot?
Farbtons erzeugen.
Die Antwort ist: Nein. Zunächst ist die Tomate alles andere
als rot, vielmehr wirft sie die langen Wellenlängen von Rot zu- Die meisten Menschen, die Farben nicht richtig sehen können,
rück, d. h., sie reflektiert sie. Und zweitens ist die Farbe der sind nicht wirklich »farbenblind«. Ihnen fehlt es einfach an rot-
Tomate ein Produkt unseres Verstands. Denn wie Isaac Newton oder grünempfindlichen Zapfen, manchmal auch an beiden. Ihre
(1704) es ausdrückte: »Lichtstrahlen haben keine Farbe.« Die Farbenfehlsichtigkeit – vielleicht wissen sie gar nicht davon, weil
Farbe ist, wie alle Aspekte des Sehens, keine Eigenschaft des Ge- ihnen das, was sie ein Leben lang gesehen haben, normal er-
genstands, sondern des »Spektakels« in unserem Gehirn. Sogar scheint – wird als monochromatisch (eine Farbe) oder als dichro-
beim Träumen können wir Dinge in Farbe wahrnehmen. matisch (zwei Farben) bezeichnet, wodurch es ihnen unmöglich
ist, zwischen dem Rot und dem Grün in . Abb. 7.26 zu unter-
» Nur die Seele kann hören und sehen; alles andere ist taub
und blind.
Epicharmos (Fragmente, 550 v. Chr.)

Wenn wir uns genauer mit dem Sehen beschäftigen, ist eines
der grundlegenden und faszinierenden Geheimnisse die Frage,
wie wir die Welt in Farbe sehen. Wie stellt es das Gehirn an, aus
der Lichtenergie, die auf die Retina trifft, unsere Erfahrung von
Farbe zu erzeugen, noch dazu von einem so großen Spektrum
von Farben? Unsere Unterschiedsschwelle für Farben ist so
niedrig, dass wir etwa 7 Mio. verschiedene Farbabstufungen
unterscheiden können (Neitz et al. 2001). Zumindest können das
die meisten von uns. Unter 50 Personen gibt es etwa eine, deren
Fähigkeit des Farbensehens eingeschränkt ist. Diese Person ist in
der Regel männlich, denn der Defekt ist genetisch bedingt und
geschlechtsspezifisch.
Warum können manche Menschen keine Farben sehen? Um
diese Frage zu beantworten, ist es hilfreich, zuerst zu verstehen,
wie normales Farbensehen funktioniert. Die moderne Detektiv-
arbeit hinsichtlich des Geheimnisses des Farbensehens begann
im 19. Jahrhundert, als Hermann von Helmholtz, aufbauend
auf den Erkenntnissen des englischen Physikers Thomas Young,
. Abb. 7.26 Farbenfehlsichtigkeit. Menschen, die an einer Rotgrünfehl-
sich mit dieser Frage beschäftigte. Young und von Helmholtz sichtigkeit leiden, haben Schwierigkeiten, die Zahl in dieser Abbildung zu
wussten, dass sich jede Farbe durch eine Kombination aus den erkennen
254 Kapitel 7 · Wahrnehmung

. Abb. 7.27 Nachbildeffekt. Fixieren Sie 1 Minute lang die Mitte der Flagge und schauen Sie dann mit den Augen auf den Punkt in dem weißen Feld
daneben. Was sehen Sie? (Nachdem Sie die Reaktion Ihrer Nerven auf Schwarz, Grün und Gelb erschöpft haben, müssten Sie eigentlich ihre Gegenfarben
sehen.) Starren Sie auf eine weiße Wand und stellen Sie fest, wie die Größe der Flagge mit der Projektionsentfernung zunimmt!

7 scheiden (Boynton 1979). Auch Hunde haben einen Mangel an nicht gleichzeitig passieren. Deshalb nehmen wir kein rötliches
Rezeptoren für die Wellenlängen von Rot, was dazu führt, dass Grün wahr. (Rot und Grün sind somit Gegenspieler.) Aber Rot
sie nur über ein beschränktes Farbensehen verfügen, das dichro- und Blau laufen durch getrennte Kanäle, daher können wir ein
matisch ist (Neitz et al. 1989). rötlich-blaues Magenta sehen.
Wie kommt es aber, dass Menschen, die farbenblind für Rot Wie erklären wir also das Phänomen der Nachbilder, wie
oder Grün sind (sog. Rotgrünblindheit), häufig trotzdem noch beim Beispiel der Flagge? Wir ermüden unsere Grünreaktion
Gelb sehen können? Und warum kommt uns Gelb wie eine durch das Starren auf Grün. Wenn wir danach auf Weiß schauen
reine Farbe und nicht wie eine Mischung aus Rot und Grün vor, (das alle Farben enthält, u. a. auch Rot), reagiert nur der rote Teil
wie das bei Lila als Mischung von Rot und Blau der Fall ist? Bald des Gegenfarbenpaars Grün/Rot normal.
nach Bekanntwerden der Dreifarbentheorie von Young und Die Farbverarbeitung erfolgt demnach nach heutigem For-
Helmholtz wies Ewald Hering darauf hin, dass nicht alle Ge- schungsstand grob gesprochen in zwei Phasen. Wie von der Drei-
heimnisse des Farbensehens dadurch erklärt würden. farbentheorie von Young und Helmholtz vorgeschlagen, reagie-
Der Physiologe Hering fand die Lösung im wohlbekannten ren die Zapfen der Retina für Rot, Grün und Blau in unterschied-
Auftreten von Nachbildern. Wenn Sie eine Weile ein grünes lichen Abstufungen auf verschiedene Farbreize. Diese Signale
Quadrat fixieren und dann auf ein weißes Blatt blicken, sehen Sie werden dann vom Nervensystem auf dem Weg zur Sehrinde
Rot, die Gegenfarbe von Grün. Fixieren Sie hingegen ein gelbes durch die Gegenfarbenzellen verarbeitet, wie es Hering vor-
Viereck, werden Sie später dessen Gegenfarbe Blau auf dem schlug.
weißen Papier sehen (wie beim Beispiel der Flagge in . Abb. 7.27).
Prüfen Sie Ihr Wissen
Hering vermutete, dass es noch 2 zusätzliche Farbprozesse geben
müsse: einen, der für die Rotwahrnehmung im Gegensatz zur 5 Welches sind die beiden Schlüsseltheorien des Farb-
Grünwahrnehmung zuständig ist, und einen für die Blauwahr- sehens? Würden Sie sagen, dass sie sich widersprechen
nehmung im Gegensatz zur Gelbwahrnehmung. oder ergänzen? Erklären Sie beide.
Ein Jahrhundert später bestätigten Wissenschaftler tatsäch-
lich auch Herings Gegenfarbentheorie. Drei Gegenfarbenpro-
zesse in der Retina ermöglichen das Farbensehen: Rot und Grün,
Blau und Gelb sowie Schwarz und Weiß. In der Retina und im 7.2.5 Visuelle Organisation
Thalamus (der als Relaisstation bei der Übermittlung von Im-
pulsen von der Retina zur Sehrinde fungiert), werden manche
? 7.9 Wie haben die Gestaltpsychologen Wahrnehmungsorga-
Neuronen durch Rot »eingeschaltet« und durch Grün »abge-
nisation verstanden und was tragen das Figur-Grund-Prinzip
schaltet«. Andere werden wiederum durch Grün »eingeschaltet«
und Gruppierungsprinzipien zu unserer Wahrnehmung bei?
und durch Rot »abgeschaltet« (DeValois u. DeValois 1975).
Es ist eine Sache, zu verstehen, wie wir Formen und Farben
Gegenfarbentheorie (»opponent-process theory«) – Theorie, derzufolge
das Farbensehen auf den retinalen Erregungsverhältnissen der Gegen- sehen. Aber wie organisieren und interpretieren wir das, was wir
farbenpaare beruht (Rot/Grün, Gelb/Blau und Schwarz/Weiß). So werden da sehen (oder hören, schmecken oder riechen), so, dass es eine
beispielsweise manche Zellen durch Grün stimuliert und durch Rot ge- bedeutungsvolle Wahrnehmung wird – eine blühende Rose, ein
hemmt, andere werden durch Rot stimuliert und durch Grün gehemmt.
bekanntes Gesicht, ein Sonnenuntergang?
Wie rote und grüne Murmeln, die man durch eine enge Röhre Anfang des 20. Jahrhunderts stellte eine Gruppe deutscher
rollen lässt, können »rote« und »grüne« Nachrichten die Röhre Psychologen Folgendes fest: Wenn wir eine Reihe von Empfin-
7.2 · Sehen
255 7
psychologen begeistert vertraten: Bei der Wahrnehmung ist das
Ganze mehr als die Summe seiner Teile. Bringen Sie Natrium (ein
hochreaktives Metall) mit Chlor (einem giftigen Gas) zusam-
men, so kommt etwas ganz anderes dabei heraus – Tafelsalz.
Analog dazu kann in unserer Wahrnehmung aus den Bestand-
teilen eines Reizes eine ganz andere, neue Form entstehen (Rock
u. Palmer 1990).
Gestalt (»gestalt«) – organisiertes Ganzes. Die Gestaltpsychologen heben
unsere Tendenz hervor, einzelne Informationselemente zu einem sinnvollen
Ganzen zusammenzufügen.

Über die Jahre hinweg haben die Gestaltpsychologen viele Orga-


nisationsprinzipien aufgezeigt, mithilfe derer wir unsere Emp-
findungen als Wahrnehmungen organisieren.
Ihnen allen liegt eine elementare Wahrheit zugrunde: Unser
. Abb. 7.28 Ein Necker-Würfel. Was sehen Sie hier: Kreise mit weißen Gehirn macht mehr, als nur Informationen über die Welt zu regis-
Linien oder einen Würfel? Wenn Sie den Würfel fixieren, merken Sie, dass er
trieren. Wahrnehmung besteht nicht nur darin, den Kamera-
zwischen verschiedenen Positionen hin und her wechselt, wobei sich das
kleine X in der Mitte von der Vorderkante des Würfels zur rückwärtigen Kante verschluss zu öffnen und passiv ein Bild im Gehirn abzulegen.
bewegt. Manchmal mag es Ihnen so erscheinen, als schwebe der Würfel Ständig filtern wir sensorische Informationen und schließen in
vor der Seite und die Kreise befänden sich hinter ihm. Ein anderes Mal wer- einer Art und Weise, die für uns einen Sinn ergibt, auf Wahr-
den die Kreise zu Löchern in der Seite, durch die der Würfel zu sehen ist, der
nehmungen. Der Verstand und das Denken sind durchaus von
hinter der Seite zu schweben scheint. Da unsere Aufmerksamkeit selektiv ist,
sehen wir jeweils immer nur eine Variante. (Aus Bradley et al. 1976. Reprinted Bedeutung dabei.
by permission from Macmillan Publishers Ltd: Nature, copyright © 1976)
Formwahrnehmung
Stellen Sie sich vor, Sie müssten ein System mit einer Video-
dungen haben, organisieren wir sie so, dass eine Gestalt (also kamera und einem Computer entwickeln, das wie Ihr »System
etwas Ganzes) entsteht. Sehen Sie sich beispielsweise . Abb. 7.28 mit Augen und Gehirn« Gesichter auf einen Blick erkennen
an. Achten Sie darauf, dass die einzelnen Elemente der Figur in kann. Welche Fähigkeiten müsste dieses System haben?
Wirklichkeit nichts anderes sind als 8 blaue Kreise, von denen
jeder 3 zusammenlaufende weiße Linien aufweist. Schauen wir jFigur und Grund
sie uns jedoch alle im Zusammenhang an, sehen wir einen sog. Zunächst einmal müsste dieses System die Gesichter als etwas
Necker-Würfel, der manchmal seine Richtung umkehrt. Dieses wahrnehmen, was sich vom Hintergrund abhebt. So besteht auch
Phänomen ist ein gutes Beispiel für die These, die die Gestalt- unsere erste Wahrnehmungsaufgabe darin, jedes Objekt, Figur

. Abb. 7.29 Umkehrbare Figur-Grund-Beziehung. (Time Saving Suggestion, © 2003 Roger Shepard, mit freundlicher Genehmigung)
256 Kapitel 7 · Wahrnehmung

. Abb. 7.30a–c Gruppierung von Reizen

genannt, als ein Gebilde wahrzunehmen, das sich von seinem Geschlossenheit Wir füllen die Lücken, um uns ein vollstän-
Hintergrund, Grund genannt, abhebt. Von den Stimmen, die Sie diges, ganzes Objekt zu schaffen. Wir nehmen also an, dass die
7 bei einer Party hören, wird diejenige, auf die Sie achten, zur Figur. Kreise links vollständig sind, aber teilweise von einem (illusio-
Alle anderen gehören zum Grund. Beim Lesen sind die Wörter nären) Dreieck verdeckt werden. Man muss gar nicht mehr als
die Figur. Das weiße Papier ist der Grund. Manchmal kann der- ein paar kleine Kreisabschnitte hinzufügen, die den Kreis jeweils
selbe Reiz mehr als eine Wahrnehmung auslösen. Bei . Abb. 7.29 schließen, und schon hört Ihr Gehirn auf, ein Dreieck konstru-
kehrt sich die Figur-Grund-Beziehung ständig um, doch immer ieren zu wollen.
organisieren wir den Reiz zu einer Figur vor einem Grund. In der Regel helfen uns diese Gruppierungsprinzipien, die
Wirklichkeit nachzubilden. Manchmal führen sie uns jedoch auf
Figur-Grund-Beziehung (»figure-ground«) – Organisation des Gesichts-
felds in Objekte (Figuren), die sich von ihrer Umgebung abheben (Grund). Abwege, wie etwa wenn wir uns die Hundehütte in . Abb. 7.31
anschauen.

jGruppierung
Nachdem wir (und unser System aus Videokamera und Compu-
ter) die Figur vom Grund unterschieden haben, müssen wir nun
die Figur zu einer sinnvollen Form organisieren. Manche Grund-
merkmale einer Szene, wie Farbe, Bewegung und Hell-Dunkel-
Kontrast, verarbeiten wir sofort und automatisch (Treisman
1987). Um Ordnung und Form in diese grundlegenden Emp-
findungen zu bringen, folgt unser Denken bestimmten Gesetzen
der Gruppierung dieser Reize. Diese Gesetze, die von den Ge-
staltpsychologen entdeckt wurden und sogar schon bei Babys zur
Anwendung kommen, veranschaulichen die Auffassung, dass
sich das wahrgenommene Ganze von der Summe seiner Teile
unterscheidet (Quinn et al. 2002; Rock u. Palmer 1990).
Gruppierung (»grouping«) – Tendenz unserer Wahrnehmung, Reize zu
kohärenten Gruppen zusammenzufassen.

Hier drei Beispiele (. Abb. 7.30):

Nähe Wir gruppieren Figuren, die räumlich nahe beieinander


liegen. Wir sehen nicht 6 einzelne Linien, sondern 3 Gruppen
von 2 Linien.

Kontinuität Wir nehmen Figuren als glatte, durchgehende und . Abb. 7.31 Gruppierungsprinzipien. Worin besteht das Geheimnis
weniger als unterbrochene Muster wahr. Dieses Muster könnte bei dieser nicht möglichen Hundehütte? Wahrscheinlich nehmen Sie die
auch als eine Reihe von Halbkreisen bezeichnet werden, die Hundehütte als Gestalt wahr – als ganze Struktur (obwohl das nicht
möglich ist). Tatsächlich verleitet Ihr Gehirn Sie bei diesem Bild dazu, eine
abwechselnd oberhalb und unterhalb der Linie liegen, aber wir
Ganzheit zu empfinden. Wie . Abb. 7.35 zeigt, sind hier Gestaltgruppie-
nehmen das Muster als zwei durchgehende Linien wahr: eine rungsprinzipien wie Geschlossenheit und Kontinuität im Spiel. (Mit freund-
Wellenlinie und eine Gerade. licher Genehmigung von Walter Wick)
7.2 · Sehen
257 7

Prüfen Sie Ihr Wissen

5 Im Sinne der Wahrnehmung würde der Leadsänger


einer Band als (Figur/Grund) betrachtet
werden, und die anderen Musiker als
(Figur/Grund).
5 Was meinen wir, wenn wir sagen, dass bei der Wahrneh-
mung das Ganze mehr ist als die Summe seiner Teile?

Tiefenwahrnehmung

? 7.10 Wie benutzen wir binokulare und monokulare Hinweise,


um die Welt in drei Dimensionen wahrzunehmen und Bewe-
gung wahrzunehmen?

Auf unsere Retina fallen zweidimensionale Bilder, aber irgend-


wie organisieren wir sie zu dreidimensionalen Wahrnehmungen.
Das Sehen von Gegenständen in drei Dimensionen, die Tiefen-
wahrnehmung, sorgt dafür, dass wir deren Entfernung von
uns abschätzen können. Auf einen Blick schätzen wir die Höhe
eines Hauses oder die Entfernung eines Autos, das auf uns
zukommt. Diese Fähigkeit ist teilweise angeboren. Eleanor
Gibson und Richard Walk (1960) entdeckten dies bei einem Ver-
such, bei dem eine Miniaturklippe mit einem steilen Abgrund
zum Einsatz kam; diese wurde mit stabilem Glas abgedeckt.
Gibson wurde zu diesem Experiment mit der visuellen Klippe . Abb. 7.32a,b Visuelle Klippe. Diese Miniaturklippe mit einem glas-
bei einem Picknick am Rande des Grand Canyon inspiriert. Sie überdeckten, steilen Abgrund wurde von Eleanor Gibson und Richard Walk
überlegte sich, ob ein Kleinkind, das über den Rand blickt, wohl konzipiert, um herauszufinden, ob Krabbelkinder und neugeborene Tiere
den gefährlichen Abgrund wahrnehmen und zurückweichen Tiefe wahrnehmen können. Auch wenn Kinder von ihren Müttern immer
wieder dazu aufgefordert werden, sich auf das Glas über der Klippe hinaus-
würde? zubegeben, sträuben sie sich dagegen. (Fotos aus Lohaus u. Vierhaus 2013,
Tiefenwahrnehmung (»depth perception«) – Fähigkeit, Gegenstände in mit freundlicher Genehmigung)
drei Dimensionen zu sehen, obwohl die Bilder, die auf die Retina projiziert
werden, zweidimensional sind. Die Tiefenwahrnehmung befähigt uns zur
Einschätzung der Entfernung. logisch angelegt, und unsere Erfahrung lässt ihn noch größer
Visuelle Klippe (»visual cliff«) – Laboreinrichtung zum Testen der Tiefen- werden.
wahrnehmung bei Kleinkindern und Jungtieren.
Wie machen wir das? Wie wandeln wir zwei verschiedene
Wieder zurück im Labor der Cornell University setzten Gibson zweidimensionale Bilder aus der Retina in eine dreidimensio-
und Walk Babys im Alter von 6–14 Monaten an den Rand eines nale Wahrnehmung um? Unser Gehirn konstruiert diese Wahr-
sicheren Abgrunds (. Abb. 7.32). Die Mütter versuchten dann, nehmungen, indem es Informationen nutzt, die von einem oder
die Babys zu überreden, auf das Glas zu krabbeln. Die meisten beiden Augen bereitgestellt werden.
weigerten sich, was darauf hindeutete, dass sie Tiefe wahrneh-
men konnten. jBinokulare Hinweisreize
Haben sie gelernt, Tiefe wahrzunehmen? Lernen scheint Machen Sie einmal folgenden Test: Blicken Sie mit offenen Augen
ein Teil der Antwort zu sein, denn die Vorsicht von Babys nimmt geradeaus, halten Sie zwei Kulis oder Bleistifte vor sich hin, und
mit ihrer Erfahrung beim Krabbeln zu, ganz gleich, in welchem bewegen Sie sie so aufeinander zu, dass sie sich an den Spitzen
Alter sie zu krabbeln anfangen (Campos et al. 1992). Doch die berühren. Probieren Sie nun dasselbe mit einem geschlossenen
Forscher beobachteten, dass neugeborene Tiere, die sich fort- Auge. Die Aufgabe dürfte mit einem Auge deutlich schwieriger
bewegen können, schon mit Tiefenwahrnehmungsfähigkeiten werden. Dies zeigt anschaulich, wie wichtig binokulare Hinweis-
auf die Welt kommen. Sogar solche, die praktisch keine visuelle reize bei der Beurteilung der Entfernung von Objekten in unmit-
Erfahrung haben – wie etwa junge Katzen, eine erst einen Tag telbarer Nähe sind. Zwei Augen sehen mehr als eins.
alte Ziege und frisch geschlüpfte Küken – wagen sich nicht über Binokulare Hinweisreize (»binocular cues«) – Tiefenmerkmale, wie retinale
die visuelle Klippe. Also scheint unser Respekt vor Höhe bio- Disparität, die voraussetzen, dass man beide Augen zu Hilfe nimmt.
258 Kapitel 7 · Wahrnehmung

jMonokulare Hinweisreize
Wie können wir beurteilen, ob eine Person 10 oder 100 m ent-
fernt ist? In diesem Fall ist uns die retinale Disparität keine Hilfe,
weil es zwischen den Bildern, die auf die linke und die rechte
Retina fallen, keinen großen Unterschied gibt. Bei diesen Entfer-
nungen stützen wir uns auf monokulare Hinweisreize (Tiefen-
hinweise, die beiden Augen jeweils getrennt zur Verfügung
stehen). In . Abb. 7.34 sehen Sie einige Beispiele.
Monokulare Hinweisreize (»monocular cues«) – Entfernungsmerk-
male, wie Zentralperspektive (auch Linearperspektive) und Überlappung,
die jedes Auge für sich alleine erkennen kann.

Fleischfresser – auch der Mensch – haben Augen, die die


Ausrichtung nach vorne auf ein Beutetier erlauben und durch
. Abb. 7.33 Die Wurst aus den schwebenden Fingern. Halten Sie die Binokularsehen für verbesserte Tiefenwahrnehmung sorgen.
7 beiden Zeigefinger ca. 13 cm vor Ihre Augen, wobei die Fingerspitzen etwa Grasende Pflanzenfresser, wie Pferde und Schafe, haben die
1 cm voneinander entfernt sind. Jetzt blicken Sie über sie hinaus und bemer-
Augen typischerweise an den Seiten ihres Schädels. Wenngleich
ken einen verrückten Effekt. Wenn Sie die beiden Finger voneinander weg
bewegen, wird die retinale Disparität – und die Fingerwurst – schrumpfen ihnen die binokulare Tiefenwahrnehmung fehlt, haben sie eine
weitreichende periphere Sicht.

Prüfen Sie Ihr Wissen


Da der Abstand zwischen unseren Augen etwa 6 cm beträgt, be-
kommt die Retina der beiden Augen jeweils leicht unterschied- 5 Wie nehmen wir normalerweise Tiefe wahr?
liche Bilder von der Welt. Wenn das Gehirn diese beiden Bilder
miteinander vergleicht, kann es beurteilen, wie weit entfernt von
Ihnen ein Objekt ist. Je größer die retinale Disparität (der Un-
terschied zwischen den beiden Bildern), desto näher ist das
Objekt. Probieren Sie es selbst. Wenn Sie Ihre beiden Zeigefinger
direkt vor die Nase halten, wobei die Fingerspitzen ungefähr 1 cm
. Abb. 7.34a-f Monokulare Tiefenhinweisreize. a Relative Höhe: Objekte, 7
voneinander entfernt sind, bekommt die Retina Ihrer beiden
die weiter oben in unserem Blickfeld liegen, nehmen wir als weiter entfernt
Augen ziemlich verschiedene Ansichten (Sie können das sehen, wahr. Da wir den unteren Teil eines Figur-Grund-Bildes als näher wahr-
wenn Sie erst ein Auge schließen und dann das andere, oder nehmen, nehmen wir ihn als Figur wahr ( Vecera et al. 2002, mit freundlicher
kreieren Sie eine Wurst aus Fingern wie in . Abb. 7.33). Bei einer Genehmigung). Wenn Sie dieses Bild auf den Kopf stellen, wird der
schwarze Teil zum Grund und sieht wie ein Nachthimmel aus. b Relative
größeren Entfernung, wenn Sie z. B. Ihren Finger in Armlänge
Größe: Gehen wir von der Annahme aus, dass zwei Gegenstände nahezu
vor Ihre Nase halten, ist die Disparität geringer. gleich groß sind, nehmen die meisten Menschen den Gegenstand, der das
kleinere Bild auf der Retina erzeugt als weiter entfernt wahr (© photos.
Retinale Disparität (»retinal disparity«) – binokulares Merkmal zur Tiefen-
com). c Interposition: Versperrt uns ein Gegenstand teilweise die Sicht auf
wahrnehmung: Anhand des Vergleichs der beiden von den Augäpfeln
einen anderen, nehmen wir ihn als näher wahr. Die Interposition sorgt für
übermittelten Bilder berechnet das Gehirn die Entfernung – je größer die
Tiefenhinweisreize (© elemental imaging / Fotolia). d Relative Bewegung
Disparität (der Unterschied) zwischen den beiden Bildern, desto näher
(Bewegungsparallaxe): Wenn wir uns bewegen, scheinen sich Objekte, die
das Objekt.
eigentlich unbeweglich sind, ebenfalls zu bewegen. Fixieren Sie beispiels-
Diese Besonderheit könnten wir ganz einfach in unseren Seh- weise bei einer Zugfahrt irgendein Objekt, sagen wir einmal ein Haus, dann
scheinen sich alle Gegenstände, die näher als das Haus (Fixationspunkt)
computer einbauen. Die Hersteller von Filmen simulieren
sind, rückwärts zu bewegen. Hingegen scheinen sich Gegenstände hinter
oder überbetonen die retinale Disparität, indem sie eine Szene dem Fixationspunkt mit Ihnen mit zu bewegen. Je weiter entfernt vom
mit zwei Kameras aufnehmen, die mehrere Zentimeter von- Fixationspunkt ein Gegenstand ist, desto schneller wird er sich bewegen.
einander entfernt aufgestellt werden. Wenn wir uns den Film e Zentralperspektive: Parallele Linien scheinen in der Ferne zusammen-
mit einer 3D-Brille ansehen, die dafür sorgt, dass das linke Auge zulaufen. Je stärker die Linien konvergieren, desto größer ist die wahr-
genommene Entfernung (© Getty Images / iStockphoto). f Licht und
nur die Bilder der linken Kamera sieht und das rechte Auge Schatten: »Die gezeigten Scheiben unterscheiden sich in ihrer Schattierung
nur die Bilder der rechten Kamera, ahmt der 3D-Effekt die nor- nicht, sondern allein in ihrer Orientierung. Diejenigen, die oben hell sind,
male retinale Disparität nach oder übertreibt sie, wie alle Avatar- erscheinen als Vorwölbungen, während die übrigen, die oben dunkel
Fans wissen. In ähnlicher Weise können Doppelkameras in Flug- sind, als Vertiefungen imponieren. Stellt man die Abbildung auf den Kopf,
kehrt sich die Wahrnehmung um; dreht man sie um 90°, bricht die Tiefen-
zeugen das Gelände so fotografieren, dass aus den Aufnahmen,
wahrnehmung zusammen – in dieser Situation haben wir keine Präferenz
die sich daraus ergeben, 3D-Landkarten hergestellt werden für die Lokalisation der Lichtquelle, als die wir natürlicherweise die von
können. oben scheinende Sonne annehmen können« (aus Karnath u. Thier 2012)
7.2 · Sehen
259 7

. Abb. 7.34a–f
260 Kapitel 7 · Wahrnehmung

Bewegungswahrnehmung
Stellen Sie sich einmal vor, Sie könnten die Welt als etwas wahr-
nehmen, was über Farbe, Form und Tiefe verfügt, könnten aber
keine Bewegung sehen. Es wäre dann für Sie nicht nur unmög-
lich, Fahrrad oder Auto zu fahren, sondern Sie hätten wahr-
scheinlich sogar Schwierigkeiten, zu schreiben, zu essen und zu
gehen.
Normalerweise berechnet Ihr Gehirn die Bewegung z. T. auf-
grund der Annahme, dass schrumpfende Objekte sich zurück-
ziehen (nicht kleiner werden) und größer werdende Objekte sich
nähern. Aber unsere Bewegungswahrnehmung ist nicht perfekt.
Große Objekte, wie etwa Züge, scheinen sich in unseren Augen
langsamer zu bewegen als kleine, etwa Autos, die sich mit dersel-
ben Geschwindigkeit bewegen. (Vielleicht haben Sie auf einem
7 Flughafen schon einmal bemerkt, dass Jumbojets scheinbar lang-
samer landen als kleine Jets.)
Um einen hochfliegenden Ball zu erwischen, will ein Volley-
ballspieler (im Gegensatz zum Autofahrer) eine Kollision mit
dem Ball erreichen, der ihm entgegenfliegt. Um das zu bewerk-
stelligen, hält man sich an eine unbewusste Regel – eine die man
. Abb. 7.35 Die Lösung. Eine andere Ansicht der nicht möglichen Hunde-
nicht erklären kann, aber instinktiv kennt: der Spieler sollte so hütte von . Abb. 7.31 zeigt uns, worin das Geheimnis dieser Täuschung
laufen, dass er den Ball in einem gleichmäßig anwachsenden besteht. Aus dem Blickwinkel der Kamera in . Abb. 7.31 verleitet uns das
Blickwinkel behält (McBeath et al. 1995). Ein Hund, der mit dem Gruppierungsprinzip der Geschlossenheit, die Bretter als durchgehend
wahrzunehmen. (Mit freundlicher Genehmigung von Walter Wick)
Maul eine Frisbee-Scheibe auffängt, wird genau dasselbe machen
(Shaffer et al. 2004).

» Manchmal frage ich mich: Warum wird diese Frisbee-


Wahrnehmungskonstanz
Scheibe größer? Und dann trifft sie mich.
Anonym ? 7.11 Wie helfen uns Wahrnehmungskonstanzen, unsere
Empfindungen als bedeutungsvolle Wahrnehmungen zu
Wie Trickfilmmachern weithin bekannt, nimmt das Gehirn
organisieren?
auch, wenn ihm eine rasche Abfolge geringfügig unterschiedli-
cher Bilder dargeboten wird, diese als kontinuierliche Bewegung Bisher haben wir also herausgefunden, dass unser System aus
wahr (ein Phänomen, das auch stroboskopische Bewegung ge- Videokamera und Computer Objekte zunächst so wahrnehmen
nannt wird). Ein Film ruft diese Täuschung dadurch hervor, dass muss, wie wir es tun – mit klarer Form, Position und möglicher-
in jeder Sekunde 24 Einzelaufnahmen projiziert werden. Die Be- weise Bewegung. Die nächste Aufgabe ist etwas schwieriger: Es
wegung, die wir dann in berühmten Action- oder Abenteuer- muss das Objekt erkennen, ohne sich durch Veränderungen von
filmen sehen, existiert im Film gar nicht, der eigentlich nichts dessen Form, Größe, Helligkeit oder Farbe täuschen zu lassen –
weiter ist als eine Diashow im Schnelldurchlauf. Wir erzeugen ein Top-down-Prozess, der Wahrnehmungskonstanz genannt
diese Bewegung in unserem Kopf, genau wie wir Bewegung wird. Unabhängig davon, aus welchem Blickwinkel, aus welcher
beim Betrachten blinkender Laufschriften und Lichterketten Entfernung und in welcher Beleuchtung wir sie sehen, können
konstruieren. Wenn zwei stationäre Lichter dicht nebeneinander wir Menschen und Dinge in einer Zeitspanne, die kürzer ist als
in rascher Folge ein- und ausgeschaltet werden, nehmen wir sie ein Atemzug, erkennen. Diese Aufgabe, der die Wahrnehmungs-
als ein einziges Licht wahr, das sich zwischen zwei Punkten hin forscher jahrzehntelang mit großem Engagement nachgegangen
und her bewegt. Leuchtreklametafeln nutzen das Phi-Phänomen sind, stellt sogar für hochentwickelte Computer eine enorme He-
durch eine Reihenfolge von Lichtern aus, die beispielsweise den rausforderung dar. Das wäre eine riesige Herausforderung für ein
Eindruck eines Pfeils, der sich bewegt, aufkommen lassen. System aus Videokamera und Computer.
Phi-Phänomen (»phi phenomenon«) – Scheinbewegung, die durch zwei Wahrnehmungskonstanz (»perceptual constancy«) – Fähigkeit, Objekte
oder mehr nebeneinander angeordnete Lichter erzeugt wird, die in rascher als unverändert (mit gleichbleibender Helligkeit, Farbe, Form und Größe)
Folge an- und ausgehen. wahrzunehmen, auch wenn sich die Beleuchtung und die Bilder auf der
Retina verändern.
Erinnern Sie sich noch an die Aufgabe in . Abb. 7.31? Hier
kommt endlich die Lösung (. Abb. 7.35).
7.2 · Sehen
261 7
jFarb- und Helligkeitskonstanz aussehen kann. Trotzdem haben wir keine Probleme damit, diese
Farbe wohnt einem Objekt nicht inne. Unser Farbempfinden Scheiben als blau zu sehen.
hängt vom Kontext des Objekts ab. Wenn wir eine einzelne Auf ähnliche Weise hängt auch Helligkeitskonstanz vom
Tomate durch eine Papierrolle sehen, scheint sich ihre Farbe mit Kontext ab. Wir nehmen einen Gegenstand mit einer konstanten
dem wechselnden Licht – und damit den Wellenlängen, die von Helligkeit wahr, auch wenn sich die Beleuchtung verändert. Die
ihrer Oberfläche reflektiert werden – zu verändern. Aber wenn wahrgenommene Helligkeit hängt von der relativen Luminanz
wir die Tomate als einen Gegenstand in einer Schüssel mit (Leuchtdichte) ab, der Menge an Licht, die ein Gegenstand, rela-
frischem Gemüse sehen, empfinden wir ihre Farbe auch bei tiv zu seiner Umgebung, reflektiert (. Abb. 7.37). Weißes Papier
wechselnden Lichtverhältnissen als mehr oder weniger gleich- reflektiert 90% des Lichts, das darauf fällt, schwarzes Papier nur
bleibend. Diese Wahrnehmung von konstanten Farben ist unter 10%. Wenn man sich ein schwarzes Papier im Sonnenlicht an-
dem Namen Farbkonstanz bekannt. sieht, kann es bis zu 100-mal mehr Licht reflektieren als ein
weißes Blatt Papier, das man sich innen im Haus betrachtet; doch
Farbkonstanz (»color constancy«) – Fähigkeit, bekannte Gegenstände
auch unter stark wechselnden Lichtverhältnissen, die die von den Gegen- es sieht immer noch schwarz aus (McBurney u. Collins 1984).
ständen reflektierten Wellenlängen verändern, mit gleichbleibender Aber wenn Sie sich ein sonnenbeschienenes schwarzes Papier
Farbe wahrzunehmen. durch ein enges Rohr anschauen (so dass nichts anderes sichtbar
Obwohl wir die Farbkonstanz als etwas Selbstverständliches ist), kann es grau wirken; denn im grellen Sonnenlicht reflektiert
ansehen, ist dieses Phänomen höchst bemerkenswert. Eine es eine recht große Lichtmenge. Schauen Sie es sich noch einmal
blaue Spielmarke bei Innenlichtverhältnissen reflektiert Wellen- nicht durch das Rohr an, ist es wieder schwarz. Denn es reflek-
längen, die denen einer goldenen Spielmarke im Sonnenlicht tiert sehr viel weniger Licht als die Gegenstände drum herum.
entsprechen (Jameson 1985). Bringen Sie hingegen einen Star Dieses Prinzip der Wahrnehmung von Objekten nicht als
mit blauschimmernden Federn ins Haus, so wird doch kein isolierte Gegenstände, sondern in ihrem Kontext, ist besonders
Goldfink daraus. Die Farbe steckt nicht in den Vogelfedern. für Künstler, Innenarchitekten und Modedesigner interessant.
Dank der Berechnungen unseres Gehirns sehen wir die Farben Unsere Wahrnehmung von der Farbe und Helligkeit einer Wand
des Lichts, das von einem Gegenstand reflektiert wird, im Ver- oder eines Pinselstrichs auf einer Leinwand wird nicht nur von
hältnis zu den Gegenständen in seinem Umfeld. (Aber nur wenn der Farbe in der Dose bestimmt, sondern auch durch die umge-
wir in normalem Licht aufwachsen, scheint dies so zu sein. benden Farben. Was Sie sich merken sollten: Unsere Wahrneh-
Affen, die in einer eingeschränkten Bandbreite von Wellenlängen mungen beruhen auf Vergleichen und sind damit umgebungs-
groß wurden, hatten später große Schwierigkeiten damit, abhängig.
dieselbe Farbe zu erkennen, wenn die Beleuchtung wechselte
[Sugita 2004].) jForm- und Größenkonstanz
An . Abb. 7.36 wird besonders deutlich, dass ein blaues Ob- Manchmal scheint ein Gegenstand, der seine tatsächliche Form
jekt in verschiedenen Zusammenhängen sehr unterschiedlich nicht ändern kann, sie dennoch je nach unserem Blickwinkel zu

. Abb. 7.36a,b Farbe hängt vom Kontext ab. Ob Sie es glauben oder nicht: Diese drei blauen Punkte haben alle dieselbe Farbe (a). Entfernen Sie den
umliegenden Kontext und betrachten Sie das Ergebnis (b). (© R. Beau Lotto)
262 Kapitel 7 · Wahrnehmung

7 . Abb. 7.38 Formwahrnehmung. Haben die Oberflächen dieser beiden


. Abb. 7.37 Relative Luminanz. Ob Sie es glauben oder nicht: Quadrat A Tische verschiedene Maße? Es scheint so. Aber, ob Sie es glauben oder
und B haben dieselbe Farbe. (Wenn Sie es nicht glauben, fotokopieren Sie nicht, sie sind gleich. (Messen Sie es nach, und Sie werden es selbst sehen.)
die Seite, schneiden Sie die Quadrate aus und vergleichen Sie sie.) Dennoch Bei diesen beiden Tischen gleichen wir unsere Wahrnehmung dem
nehmen wir B wegen des umliegenden Kontexts als heller wahr. (Courtesy Blickwinkel entsprechend an. (Shepard’s tables, © 2003 Roger Shepard, mit
Edward Adelson) freundlicher Genehmigung)

verändern (. Abb. 7.38). Häufiger kommt es jedoch vor, dass wir zu ihnen variiert. Durch die Größenkonstanz können wir ein
aufgrund der Formkonstanz die Form bekannter Gegenstände Auto als ausreichend groß zur Beförderung mehrerer Personen
als konstant wahrnehmen, wie die Tür in . Abb. 7.39. Und das wahrnehmen, auch wenn wir es zwei Häuserblocks entfernt als
obwohl sich unsere Bilder von ihnen auf der Retina verändern. winzig kleines Bild sehen. An diesem Beispiel lässt sich die enge
Unser Gehirn vollbringt diese Meisterleistung mithilfe von Verbindung zwischen der wahrgenommenen Entfernung und
Neuronen im visuellen Kortex, die sehr schnell lernen, verschie- der wahrgenommenen Größe eines Objekts erkennen. Wenn wir
dene Blickwinkel auf einen Gegenstand zu verknüpfen (Li u. die Entfernung eines Objekts wahrnehmen, können wir daraus
DiCarlo 2008). Rückschlüsse auf seine Größe ziehen. Oder wenn wir die norma-
Aufgrund der Größenkonstanz nehmen wir Objekte als etwas le Größe eines Objekts, etwa eines Autos, kennen, liefert uns das
wahr, was eine konstante Größe hat, auch wenn unser Abstand Hinweisreize für seine Entfernung.

. Abb. 7.39 Formkonstanz. Beim Öffnen einer Tür wird das Bild, das auf unsere Retina fällt, immer trapezförmiger, doch wir nehmen die Tür weiterhin als
rechteckig wahr
7.2 · Sehen
263 7

. Abb. 7.40a,b Täuschung vom schrumpfenden und wachsenden Mädchen. Dieses verzerrte Zimmer, entworfen von Adelbert Ames, scheint eine
ganz normale rechteckige Form zu haben, wenn man mit einem Auge durch ein Guckloch schaut. Das Mädchen in der rechten Ecke scheint unverhältnis-
mäßig groß zu sein, da wir bei der Einschätzung ihrer Größe von der falschen Annahme ausgehen, es sei gleich weit von uns entfernt wie das Mädchen
in der hinteren Ecke. (Aus Karnath u. Thier 2012)

Sogar wenn wir sowohl die Größe als auch die Entfernung die eines normalen rechteckigen Zimmers, das man mit beiden
beurteilen, betrachten wir den Kontext eines Gegenstandes. Ob- Augen betrachtet. Das Gehirn zieht den logischen Schluss, dass
wohl die Monster in . Abb. 7.13 dieselben Bilder auf unsere es sich tatsächlich um ein normales Zimmer handelt und jedes
Retina werfen, teilt die Zentralperspektive (. Abb. 7.34e) unse- Mädchen daher gleich weit von uns entfernt ist. Durch die unter-
rem Gehirn mit, dass das Monster, das das andere verfolgt, weiter schiedliche Größe der Bilder auf unserer Retina bleibt unserem
weg ist. Und deshalb nehmen wir es als größer wahr. Aber das ist Gehirn nichts anderes übrig, als aufgrund seiner Berechnungen
es nicht. zu der Schlussfolgerung zu kommen, dass die Mädchen ganz
Das Wechselspiel zwischen wahrgenommener Größe und unterschiedlich groß sind.
wahrgenommener Entfernung erklärt viele der wohlbekannten Wahrnehmungstäuschungen bestätigen eine grundlegende
optischen Täuschungen, wie die Mondtäuschung: Können Sie Erkenntnis: Bei der Wahrnehmung wird nicht einfach die Welt
sich vorstellen, weshalb der Mond in der Nähe des Horizonts um auf unser Gehirn projiziert. Vielmehr werden die Empfindungen
bis zu 50% größer wirkt, als wenn er hoch am Himmel steht? auseinandergenommen in kleine Informationseinheiten, die
Über 2000 Jahre haben sich die Gelehrten den Kopf über die unser Gehirn dann wieder in ein eigenes funktionales Modell der
Gründe für diese »Mondtäuschung« zerbrochen und darüber Außenwelt zusammenbaut. Während dieses Prozesses können
gestritten (Hershenson 1989). Ein Grund besteht darin, dass uns unsere eigenen Annahmen – wie die gewohnten Beziehun-
die Hinweisreize für die Entfernung von Objekten am Horizont gen zwischen Entfernung und Größe – in die Irre führen. Unser
dafür sorgen, dass der Mond hinter ihnen weiter entfernt er- Gehirn konstruiert unsere Wahrnehmungen.
scheint – genau wie das weiter entfernte Monster in . Abb. 7.13. Zusammenfassend lässt sich festhalten: Anhand von Form-
Unser Gehirn nimmt an, dass er, wenn er weiter weg ist, auch wahrnehmung, Tiefenwahrnehmung, Bewegungswahrnehmung
größer sein muss als der Mond hoch oben am Nachthimmel und Wahrnehmungskonstanz wird deutlich, wie wir unsere visu-
(Kaufman u. Kaufman 2000). Beseitigen Sie diese Hinweisreize ellen Erfahrungen organisieren. Aber Wahrnehmungsorganisa-
auf Entfernung dadurch, dass Sie beispielsweise den Mond (oder tion ist auch etwas, was mit den anderen Sinnen zu tun hat. Sie
jedes Monster) durch ein Papprohr anschauen, so fängt das Ob- erklärt, weshalb wir das regelmäßige Ticken einer Uhr nicht als
jekt sofort an zu schrumpfen. ein tick-tick-tick wahrnehmen, sondern beispielsweise zu TICK-
Die Beziehung zwischen Größe und Entfernung erklärt auch, tick-TICK-tick-Mustern gruppieren. Wenn wir eine Sprache
warum die beiden Mädchen in . Abb. 7.40 unterschiedlich groß hören, die wir nicht kennen, fällt es uns häufig schwer, heraus-
scheinen, obwohl sie etwa gleich groß sind: Der Raum ist ver- zuhören, wo ein Wort endet und das nächste beginnt. Wenn wir
zerrt. Schaut man nun mit einem Auge durch ein Guckloch, unsere Sprache hören, hören wir automatisch einzelne Wörter.
rufen die trapezförmigen Wände dieselben Bilder hervor wie Auch das ist eine Form von Wahrnehmungsorganisation. Es han-
264 Kapitel 7 · Wahrnehmung

delt sich sogar um noch mehr. Denn wir organisieren eine Buch- boren wurden und später ihr Sehvermögen wiedererlangt haben
stabenreihe wie THEDOGATEMEAT zu Wörtern, die einen lo- (Gregory 1978; von Senden 1932). Die meisten waren mit einem
gischen Satz bilden. Und das ist eher »The dog ate meat« (Der Katarakt (grauer Star) zur Welt gekommen, einer Linsentrübung,
Hund fraß Fleisch) als »The do gate me at« (McBurney u. Collins die sie nur diffuses Licht sehen ließ (als ob Sie durch einen hal-
1984). Dieser Prozess beruht nicht nur auf der Organisation, mit bierten Tischtennisball nur diffusen Nebel sehen würden). Nach-
der wir uns bisher befasst haben, sondern auch auf Interpretation: dem der Katarakt operativ beseitigt worden war, konnten die
Wir erkennen Sinn und Bedeutung in dem, was wir wahrnehmen. Patienten zwischen Figur und Grund unterscheiden und Farben
nachempfinden. Dies deutete darauf hin, dass diese Aspekte der
Wahrnehmung angeboren sind. Doch ganz wie Locke vermutet
7.2.6 Visuelle Interpretation hatte, konnten die ehemals blinden Patienten Objekte häufig
nicht visuell unterscheiden, die ihnen vom Betasten her vertraut
Philosophen haben darüber diskutiert, ob unsere Wahrneh- waren.
mungsfähigkeit auf Anlage oder Umwelt zurückgeht. Inwieweit Um eine höhere Kontrollierbarkeit der Testbedingungen als
lernen wir wahrzunehmen? Der deutsche Philosoph Immanuel bei klinischen Fällen zu erreichen, haben Forscher das imaginäre
7 Kant (1724–1804) war der Meinung, dass Wissen auf unserer Experiment von Molyneux mit jungen Katzen und Affen durch-
angeborenen Fähigkeit zur Organisation von Sinneseindrücken geführt. Bei einem Experiment setzten sie den Tieren eine Art
beruht. Wenn wir auf die Welt kommen, sind wir in der Tat schon Schwimmbrille auf, durch die sie nur diffuses, unstrukturiertes
mit einem System zur Verarbeitung sensorischer Informationen Licht sehen konnten (Wiesel 1982). Als die jungen Tiere er-
ausgestattet. Der britische Philosoph John Locke (1632–1704) wachsen wurden und ihnen die Brille abgenommen wurde,
ging hingegen davon aus, dass wir durch unsere Erfahrungen waren bei ihnen, ganz ähnlich wie bei den Menschen mit ange-
auch lernen, die Welt wahrzunehmen. Wir lernen ja tatsächlich, borener Linsentrübung, Einschränkungen der Wahrnehmung
eine Verbindung zwischen der Entfernung eines Gegenstands erkennbar. Sie konnten sowohl Farben als auch Helligkeiten
und seiner Größe herzustellen. Wie wichtig ist also die Erfah- unterscheiden, nicht aber die Form eines Kreises von der eines
rung? Wie stark beeinflusst sie unsere Wahrnehmungsinterpre- Vierecks differenzieren. Ihre Augen waren nicht degeneriert; ihre
tationen? Retina übermittelte immer noch Signale an die Sehrinde. Doch
aufgrund mangelnder Stimulierung hatten die Sehrindenzellen
» Wir wollen also einmal annehmen, der Geist sei ein leeres
keine normalen Verbindungen entwickelt. So blieben die Tiere
Blatt, frei von Merkmalen oder Gedanken. Doch auf welche
funktional blind für Formen. Die neuronale Organisation der
Weise füllt sich das leere Blatt? … Meine Antwort ist ein
Wahrnehmung im Gehirn wird durch Erfahrung geleitet, unter-
einziges Wort: ERFAHRUNG.
stützt und aufrechterhalten, weil die Erfahrung die Bahnen, die
John Locke, An Essay Concerning Human Understanding
unsere Wahrnehmungen beeinflussen, formt.
(1690; dtsch. Versuch über den menschlichen Verstand)
Tritt eine ähnlich lange Zeit sensorischer Einschränkung
später im Leben auf, hat sie weder bei Tieren noch bei Menschen
Erfahrung und visuelle Wahrnehmung bleibende Schäden zur Folge. Wenn Sie das Auge eines erwach-
senen Tieres mehrere Monate lang abdecken, wird sein Sehver-
? 7.12 Welchen Beitrag hat die Forschung zur Wiederher-
mögen, wenn Sie ihm die Augenklappe abnehmen, unverändert
stellung des Sehvermögens, zur sensorischen Deprivation
sein. Auch beim Menschen stellt sich bei operativer Entfernung
und zur Wahrnehmungsadaptation für unser Verständnis
von Katarakten, die sich nach der frühen Kindheit entwickelt
davon geleistet, wie Erfahrungen unsere Wahrnehmung be-
hatten, im Anschluss an den Eingriff das normale Sehvermögen
einflussen?
ein.
Die Auswirkungen sensorischer Deprivation in der frühen
jWiederhergestelltes Sehvermögen und sensorische Kindheit (von Katze, Affe und Mensch) weisen darauf hin, dass es
Deprivation eine kritische Phase (7 Kap. 6) für die normale Sinnes- und
In einem Brief an John Locke warf William Molyneux die Frage Wahrnehmungsentwicklung geben muss. Äußere Einflüsse mo-
auf, ob wohl ein Mensch, der blind geboren ist und dem beige- dellieren das, was uns von Natur aus mitgegeben wurde. Trotz der
bracht wurde, über seinen Tastsinn zwischen einem Würfel und Bedenken wegen ihrer sozialen Risiken (mehr dazu in 7 Kap. 15)
einer Kugel zu unterscheiden, diese beiden Körper auch visuell schärfen Action-Videospiele räumliche Fähigkeiten wie visuelle
unterscheiden könne, wenn er als Erwachsener sein Sehver- Aufmerksamkeit, Auge-Hand-Koordination und Reaktionsge-
mögen wiedererlangt. Lockes Antwort lautete: nein. Denn dieser schwindigkeit und das gleichzeitige Verfolgen mehrerer Objekte
Mensch habe nie gelernt, den Unterschied zu sehen. (Spence u. Feng 2010).
Dieser hypothetische Fall von Molyneux ist seitdem bei Experimente zum Thema Wahrnehmungseinschränkungen
einigen Dutzend Erwachsenen untersucht worden, die blind ge- und Wahrnehmungsvorteile, die sich durch eine frühe sensori-
7.2 · Sehen
265 7

. Abb. 7.41 Sehen lernen. Mit 3 Jahren hat Mike May sein Augenlicht bei . Abb. 7.42 Wahrnehmungsadaptation. »Hoppla, das ging daneben«,
einer Explosion verloren. Als dann Jahrzehnte später durch Einsetzen einer denkt der Forscher Hubert Dolezal beim Betrachten der Welt durch eine
neuen Kornea das Sehvermögen seines rechten Auges wiederhergestellt Umkehrbrille. Verblüffenderweise können Katzen, Affen und Menschen
wurde, konnte er einen ersten Blick auf seine Frau und seine Kinder werfen. jedoch lernen, sich an eine Welt anzupassen, die auf dem Kopf steht.
Doch obwohl Signale seine Sehrinde erreichten, mangelte es ihm an (Courtesy of Hubert Dolezal)
Erfahrung, diese zu interpretieren. Mit Ausnahme solcher Merkmale wie
Haare waren die Gesichter für ihn nicht erkennbar. Den Gesichtsausdruck
konnte er nicht erfassen. Er kann jedoch einen Gegenstand in Bewegung
die Welt extrem verändert erscheinen lässt und z. B. die Lage der
erkennen und lernt langsam, sich in seiner neuen Welt zurechtzufinden
und über solche Dinge wie flirrenden Staub im Sonnenlicht zu staunen. Objekte um 40 Grad nach links verschiebt. Würden Sie sie zum
(Abrams 2002; © picture alliance / AP Images) ersten Mal aufsetzen und einem Freund einen Ball zuwerfen, wür-
de der weit links an ihm vorbeifliegen. Würden Sie einen Schritt
nach vorne machen, um jemand mit Handschlag zu begrüßen,
sche Deprivation ergeben haben, liefern teilweise eine Antwort würden Sie weit links am Ziel vorbeischießen (. Abb. 7.42).
auf die bleibende Frage nach der Erfahrung: Hält die Wirkung
Wahrnehmungsadaptation (»perceptual adaptation«) – Fähigkeit zur
früher Erfahrungen ein ganzes Leben lang an? Im Hinblick auf Anpassung an ein künstlich verzerrtes oder gar auf den Kopf gestelltes
manche Aspekte der visuellen Wahrnehmung muss diese Frage Blickfeld.
klar bejaht werden: »Nutze sie früh, sonst geht sie verloren.« Die
Prägung durch frühe Sinneserfahrungen hält bis weit in die Zu- Glauben Sie, Sie könnten sich an eine so verzerrte Welt anpassen?
kunft an (. Abb. 7.41). Küken können das nicht. Verpasst man ihnen solche Brillen,
dann picken sie weiterhin auf die Stelle, an der die Körner zu sein
Wahrnehmungsadaptation scheinen (Hess 1956; Rossi 1968). Doch wir Menschen gewöhnen
Wenn wir eine neue Brille bekommen, kann es sein, dass wir uns uns rasch an verzerrende Brillengläser. Schon nach wenigen Mi-
zunächst etwas desorientiert fühlen oder uns sogar schwindelig nuten würden Ihre Ballwürfe wieder treffen, und Sie würden
wird. Innerhalb von 1 oder 2 Tagen gewöhnen wir uns dann wieder zielstrebig auf die andere Person zugehen. Nach Absetzen
daran. Unsere Wahrnehmungsadaptation an veränderte visuelle dieser Brille würde zunächst der gegenteilige Effekt eintreten.
Reize sorgt dafür, dass uns die Welt bald wieder normal erscheint. Ihre ersten Würfe würden in die entgegengesetzte Richtung ins
Aber stellen Sie sich einmal vor, Sie bekämen eine neue Brille, die Leere gehen, also rechts vorbeifliegen. Aber auch in diesem Fall
266 Kapitel 7 · Wahrnehmung

würde es nur wenige Minuten dauern, bis Sie sich wieder an die Augenblick, in dem er »Hallo« sagt. Den Bruchteil einer Sekun-
neue Situation angepasst hätten. de später stimulieren solche Ereignisse die Rezeptoren im Ohr;
Wenn man Ihnen nun tatsächlich eine noch extremere Brille Millionen von Neuronen wurden simultan koordiniert, um die
gäbe, die buchstäblich die Welt auf den Kopf stellt, könnten Sie wesentlichen Merkmale herauszukristallisieren, sie mit Vor-
sich dennoch daran anpassen. Der Psychologe George Stratton erfahrungen zu vergleichen und den Reiz zu identifizieren
(1896) machte diese Erfahrung am eigenen Leibe, als er ein Lin- (Freeman 1991). Beim Hören wie beim Sehen bleibt eine der
sensystem zum Aufsetzen erfand, das links mit rechts und gleich- Grundfragen: Wie stellen wir es an?
zeitig oben mit unten vertauschte, und es 8 Tage lang trug. Er
wurde damit zum ersten Menschen, der in aufrechter Position
Erfahrung mit einem seitenverkehrten und auf dem Kopf stehen- 7.3.1 Reizinput Schallwellen
den Bild auf der Retina machte. Der Boden war oben, der Him-
mel unten. Wenn Sie mit dem Bogen über eine Geige streichen, besteht die
Zunächst hatte Stratton, wenn er gehen wollte, Schwierig- daraus entstandene Reizenergie aus Schallwellen: sich gegen-
keiten, seine Füße zu finden, die jetzt »oben« waren. Essen war seitig anstoßende Luftmoleküle, die den Anstoß von hinten nach
7 fast unmöglich. Ihm wurde übel, und er war deprimiert. Doch vorne weitergeben. Die daraus entstehenden Wellen kompri-
Stratton ließ nicht locker, und am achten Tag konnte er dann mierter und sich ausdehnender Luft gleichen den sich von der
problemlos in die richtige Richtung nach einem Gegenstand Mitte her ausbreitenden Wellen, die entstehen, wenn man einen
greifen und herumlaufen, ohne ständig anzustoßen. Als er Stein in einen See wirft. Während wir uns nun in einer Unmenge
schließlich diese Umkehrbrille wieder absetzte, konnte er sich von sich bewegenden Luftmolekülen bewegen, nehmen unsere
schnell wieder readaptieren. Ohren diese kurzen Veränderungen im Luftdruck wahr. (Wenn
In späteren Experimenten waren die Versuchspersonen in wir einem lauten, tiefen Basston ausgesetzt sind – vielleicht von
der Lage, Motorrad zu fahren, in den Alpen Ski zu fahren und ein einer Bassgitarre oder einem Cello –, können wir die Vibration
Flugzeug zu fliegen (Dolezal 1982; Kohler 1962). Die Welt um sie spüren, und wir hören sowohl die Übertragung von Impulsen
herum schien immer noch auf dem Kopf zu stehen und seiten- über die Luft als auch die über den Knochen.)
verkehrt zu sein. Aber durch aktive Bewegung in dieser verkehr- Wie die Lichtwellen, haben auch Schallwellen unterschied-
ten Welt passten sie sich an den Kontext an und lernten, ihre liche Formen. Die Stärke oder Amplitude von Schallwellen be-
Bewegungen zu koordinieren. stimmt ihre Lautstärke. Die Länge oder Frequenz der Schall-
wellen legt die von ihnen erzeugte Tonhöhe fest, die wir wahr-
nehmen: Lange Wellen haben eine niedrige Frequenz und damit
7.3 Hören eine tiefe Tonhöhe. Kurze Wellen haben eine hohe Frequenz und
damit eine hohe Tonhöhe. Eine Violine erzeugt viel kürzere,
schnellere Schallwellen als beispielsweise ein Cello oder eine
? 7.13 Welche Eigenschaften haben Luftdruckwellen, die wir
Bassgitarre (. Abb. 7.43).
als Klang erleben, und wie wandelt das Ohr Schallenergie in
neuronale Botschaften um? Frequenz (»frequency«) – Anzahl von vollständigen Schwingungen,
die einen bestimmten Punkt in einem vorgegebenen Zeitraum passieren
Wie unsere anderen Sinne ist auch unser Gehör äußerst an- (z. B. pro Sekunde).
passungsfähig. Wir hören eine große Bandbreite von Tönen und Tonhöhe (»pitch«) – Höhe oder Tiefe eines Tons; sie hängt von der Fre-
Geräuschen, am besten hören wir jedoch die Töne, die der quenz ab.
menschlichen Stimme entsprechen. Darüber hinaus reagieren
alle normal hörenden Menschen außerordentlich sensibel auf Die Maßeinheiten für Schallenergie sind Dezibel (dB). Die ab-
schwache Geräusche (z. B. das Wimmern eines Kindes). Das ist solute Hörschwelle wurde willkürlich als 0 dB festgelegt. Jeder
augenscheinlich ein Segen, der auf unsere Vorfahren zurückgeht, Schritt von 10 dB entspricht der Verzehnfachung der Lautstärke.
deren Überleben, wenn sie jagten oder gejagt wurden, von dieser Damit ist normales Sprechen (60 dB) zehntausendmal lauter als
Fähigkeit abhing. (Wären unsere Ohren noch um einiges emp- Flüstern (20 dB). Und das gerade noch erträgliche Geräusch
findlicher, würden wir durch die Bewegung der Luftmoleküle ein einer an uns vorbeifahrenden U-Bahn (100 dB) ist 10 Mrd. Mal
ständiges Rauschen hören.) lauter als das schwächste wahrnehmbare Geräusch.
Gehör (»audition«) – Sinneskanal des Hörens.

Des Weiteren reagiert unser Gehör extrem sensibel auf Klang- 7.3.2 Das Ohr
unterschiede. Wir können spielend die Unterschiede unter Tau-
senden von menschlichen Stimmen ausmachen. Wenn wir einen Um zu hören, müssen wir Schallwellen auf irgendeine Weise in
Anruf entgegennehmen, erkennen wir einen Freund im selben Nervenaktivität umwandeln, die unser Gehirn als Töne ent-
7.3 · Hören
267 7

. Abb. 7.43a,b Der Klang von Musik. Die kurzen, schnellen Schallwellen
einer Geige erzeugen hohe Töne in einer hohen Tonlage. Die längeren,
langsameren Schallwellen eines Cellos erzeugen tiefe Töne. Unterschiede
im Ausschlag von Schwingungen – in der Amplitude – erzeugen auch eine
unterschiedliche Lautstärke (a: © Getty Images / Fuse; b: © Getty Images /
iStock)

schlüsseln kann. Das menschliche Ohr löst diese Meisterleistung Kochlea (Schnecke; »cochlea«) – spiralförmig aufgerollte, flüssigkeits-
durch eine ausgeklügelte mechanische Kettenreaktion. Zunächst gefüllte knöcherne Röhre im Innenohr, über die die Schallwellen Nerven-
impulse auslösen.
leitet das sichtbare äußere Ohr die Schallwellen durch den Ge-
Innenohr (»inner ear«) – innerster Teil des Ohrs, der u. a. aus Kochlea,
hörgang zum Trommelfell, einer straff gespannten Membran,
Bogengängen und Sacculi des Vestibularapparats besteht.
die mit den akustischen Schwingungen mitschwingt. Das Mittel-
ohr leitet dann die Schwingungen des Trommelfells durch einen Wenn ich den magischsten Teil des Hörvorgangs wählen müsste,
Mechanismus aus drei kleinen Knöchelchen (Hammer, Amboss so würde ich die Haarzellen wählen: »zitternde Bündel, die
und Steigbügel) zur Kochlea, einer schneckenförmigen Röhre uns hören lassen«, und zwar dank ihrer »extremen Sensibilität
im Innenohr weiter. Die zugeleiteten Schwingungen sorgen
dafür, dass die Membran der Kochlea (das ovale Fenster)
schwingt, wodurch die Flüssigkeit, mit der die Röhre gefüllt
ist, in Bewegung versetzt wird. Dies führt zu wellenartigen
Schwingungen in der Basilarmembran, die mit Haarzellen aus-
gekleidet ist. Die Haarzellen werden durch die wellenartigen
Bewegungen der Basilarmembran zur Seite gebogen, als wenn
der Wind über ein wogendes Weizenfeld streicht (. Abb. 7.44).
Die Bewegung der Haarzellen löst Impulse in den benachbarten
Nervenfasern aus, die ihrerseits zusammenlaufen und den
Hörnerv bilden, der wiederum neuronale Botschaften (über
den Thalamus) zur Hörrinde im Temporallappen des Gehirns
schickt (. Abb. 7.45). Von schwingender Luft über ein beweg-
liches Ventil zu Flüssigkeitswellen und zuletzt zu elektrischen
Impulsen, die ans Gehirn weitergeleitet werden: Voilà! Und
schon hören wir.

Mittelohr (»middle ear«) – Kammer zwischen Trommelfell und Kochlea; . Abb. 7.44 Seien Sie nett zu den Haarzellen Ihres Innenohrs. Die durch
sie enthält drei Knöchelchen (Hammer, Amboss und Steigbügel), die dafür den Schall erzeugten Schwingungen der hier dargestellten Haarzellen auf
sorgen, dass sich die Schwingungen des Trommelfells auf das ovale Fenster der Kochlea lösen ein elektrisches Signal aus. (© Dr. Fred Hossler / Visuals
der Kochlea konzentrieren. Unlimited)
268 Kapitel 7 · Wahrnehmung

. Abb. 7.45a,b Wie wir Schallwellen in Nervenimpulse umwandeln, die unser Gehirn dann deutet. a Das äußere Ohr leitet die Schallwellen an das
Trommelfell weiter. Die Mittelohrknöchelchen (Hammer, Amboss und Steigbügel) verstärken die Schwingungen des Trommelfells und leiten sie durch das
ovale Fenster in die flüssigkeitsgefüllte Gehörgangschnecke (Kochlea) weiter. b Wie an dieser Detailzeichnung des Mittel- und Innenohrs erkennbar, erzeu-
gen die daraus entstehenden Druckveränderungen in der Flüssigkeit der Kochlea wellenartige Bewegungen der Basilarmembran, durch die die Haarzellen
an deren Oberfläche gebeugt werden. Die Bewegungen der Haarzellen lösen Impulse an der Basis der Nervenzellen aus, deren Fasern zusammenlaufen
und den Gehörnerv bilden. Dieser Nerv sendet neuronale Botschaften zum Thalamus und weiter zum auditorischen Kortex

und Schnelligkeit« (Goldberg 2007). In der Kochlea befinden die mit der Anlage, dem Altern oder längerer Einwirkung von
sich 16.000 Haarzellen. Das hört sich zwar viel an, ist aber noch ohrenbetäubendem Lärm oder lauter Musik in Zusammenhang
gar nichts im Vergleich zu den etwa 130 Mio. Fotorezeptoren gebracht werden.
des Auges. Aber man bedenke nur ihre Reaktionsfreudigkeit!
Schallempfindungsschwerhörigkeit (»sensorineural hearing loss«) –
Werden die winzigen Bündel aus Flimmerhaaren an der Spitze Schwerhörigkeit infolge von Verletzungen der Rezeptorzellen der Kochlea
einer Haarzelle auch nur um die Breite eines Atoms zur Seite oder der Hörnerven; auch als Nervenschwerhörigkeit bezeichnet.
gebogen (was dem Verschieben des Eiffelturms um etwa einen Schallleitungsschwerhörigkeit (»conduction hearing loss«) – Schwer-
Zentimeter entsprechen würde), löst die stets wachsame Haar- hörigkeit infolge einer Schädigung des mechanischen Systems, das Schall-
wellen zur Kochlea weiterleitet.
zelle dank eines speziellen Proteins an ihrem oberen Ende sofort
eine neuronale Reaktion aus (Corey et al. 2004).
Verletzungen der Haarzellrezeptoren der Kochlea oder der Haarzellen können mit den Fasern eines Teppichs verglichen
damit verbundenen Nerven können zu Schallempfindungs- werden. Läuft man auf ihnen herum, so können sie nach kurzer
schwerhörigkeit führen (auch Nervenschwerhörigkeit genannt). Reinigung mit dem Staubsauger wieder in ihren alten Zustand
(Eine seltenere Form der Schwerhörigkeit ist die Schallleitungs- versetzt werden. Stellt man jedoch lange Zeit ein schweres Mö-
schwerhörigkeit, die durch Beschädigungen des mechanischen belstück darauf, bleiben sie für immer platt und werden sich
Systems entsteht, das die Schallwellen zur Kochlea weiterleitet.) nie mehr in ihren früheren Zustand zurückversetzen lassen. Als
Gelegentlich entsteht Schallempfindungsschwerhörigkeit in Faustregel kann gelten, dass ein Geräusch, besonders wenn es
Folge einer Krankheit. Als häufigere Ursache für diese Form anhaltend ist und wiederholt wird, potenziell schädlich ist, wenn
der Schwerhörigkeit gelten jedoch biologische Veränderungen, man sich dabei überhaupt nicht unterhalten kann (Roesser
7.3 · Hören
269 7

. Abb. 7.47 Hardware zum Hören. Das Röntgenbild zeigt das Gewirr von
Drähten bei einem Kochleaimplantat; es führt zu 12 Stimulationsstellen am
Hörnerv. (Bildrechte: Wolfgang Gstöttner)

einer Art bionischem Ohr, dem Kochleaimplantat (. Abb. 7.47).


Dieses elektronische Gerät wurde bis zum Jahr 2009 schon
188.000 Menschen weltweit eingesetzt (NIDCD 2011). Es ver-
wandelt Geräusche in elektrische Signale, die verschiedene
Schallinformationen über eine Verbindungsleitung zu den Ner-
. Abb. 7.46 Lautstärke einiger alltäglicher Geräusche
ven der Kochlea und anschließend zum Gehirn weiterleiten.
Kochleaimplantate, die taube Kinder oder Kätzchen erhalten
haben, scheinen das entsprechende Hirnareal zum »Aufwachen«
1998). Solche Erfahrungen sind verbreitet, wenn der Ton 100 De- zu bringen (Klinke et al. 1999; Sireteanu 1999). Das Implantat
zibel überschreitet, wie dies an allen möglichen Schauplätzen hilft Kindern dabei, mündlich kommunizieren zu können (vor
der Fall ist, von Sportarenen über das Dudelsackkonzert bis hin allem, wenn es noch vor der Schulzeit bei ihnen eingesetzt wird)
zu iPods, die fast auf volle Lautstärke gestellt sind (. Abb. 7.46). (Dettman et al. 2007; Schorr et al. 2005). Der Einsatz von Koch-
Und wenn uns nach lautem Maschinengeräusch oder lauter leaimplantaten bei Kindern ist allerdings sehr umstritten (mehr
Musik die Ohren klingeln, sind wir nicht gut mit unseren armen, dazu in 7 Kap. 10).
unglückseligen Haarzellen umgegangen. Genauso wie uns
Kochleaimplantat (»cochlear implant«) – Gerät zur Umwandlung
Schmerzen warnen, dass unser Körper möglicherweise Schaden elektrischer Signale und zur Stimulation des Hörnervs über Elektroden,
nimmt oder genommen hat, warnt uns das Ohrenklingeln oder die in die Kochlea eingefädelt werden.
Ohrensausen vor einer möglichen Schädigung des Gehörs. Im
Bereich des Hörens ist das so etwas wie Bluten. Die neuesten Kochleaimplantate können auch bei Erwachsenen
Der Anteil der Teenager mit Gehörschädigung ist seit den dazu führen, dass die Hörfähigkeit wiederhergestellt wird (wenn
frühen 1990er Jahren um ein Drittel angestiegen (Shargorodsky auch nicht bei Erwachsenen, deren Gehirn in der Kindheit nie
et al. 2010). Männliche Jugendliche dröhnen sich mehr als gelernt hat, Töne zu verarbeiten). Auch ausgewachsene Katzen,
Mädchen oder Erwachsene über lange Zeiträume mit hohen die taub geboren waren, konnten durch Kochleaimplantate kein
Lautstärken zu (Zogby 2006). Das mag erklären, warum Männer Hörvermögen erlangen. Dies war allerdings möglich, wenn sie die
im Durchschnitt eher ein weniger feines Gehör haben als Frauen. Implantate im Alter von 8 Wochen bekamen (Ryugo et al. 2010).
Aber egal ob Mann oder Frau: Diejenigen, die viele Stunden
in lauten Diskotheken, an einem Motorrasenmäher oder an Es gibt bereits verschiedene Experimente zur Wiederherstellung
einem Presslufthammer verbringen, sollten einen Hörschutz der Sehfunktion durch eine bionische Retina (ein Mikrochip von
tragen. In der Sexualerziehung sagt man: »Kondome oder, was 2 mm Durchmesser mit Fotozellen, die die geschädigten Retina-
noch sicherer ist, Abstinenz.« In der Hörerziehung sagen die zellen stimulieren) sowie eine Videokamera mit Computer, die
Spezialisten: »Hörschutz oder weggehen.« die Sehrinde stimulieren. In Teststudien konnte bei Blinden mit
Bisher besteht für Menschen mit Nervenschwerhörigkeit die Hilfe dieser beiden Geräte eine teilweise Wiederherstellung der
einzige Möglichkeit, das Hörvermögen wiederherzustellen, in Sehfunktion erreicht werden (Boahen 2005; Steenhuysen 2002).
270 Kapitel 7 · Wahrnehmung

Prüfen Sie Ihr Wissen Reaktion auf Schallwellen ins Schwingen gerät, und zwar
ähnlich wie ein Bettlaken, das man ausschüttelt. Hohe
5 Die Amplitude einer Schallwelle bestimmt unsere Wahr- Frequenzen erzeugen große Schwingungen nahe dem An-
nehmung der (Lautstärke/Tonhöhe). fang der Basilarmembran der Kochlea, niedrige Frequenzen
5 Je länger die Schallwellen, desto (niedriger/ hingegen nahe dem Ende. Zwar erklärt die Ortstheorie,
höher) sind ihre Frequenzen und desto wie wir hohe Töne hören, nicht jedoch, wie wir tiefe Töne
(höher/tiefer) ist die Tonhöhe. hören, da sich die Nervensignale, die dadurch erzeugt
5 Was sind die grundlegenden Schritte, wenn Schallwellen werden, nicht so genau auf der Basilarmembran lokalisieren
in wahrnehmbare Töne umgewandelt werden? lassen.
4 Eine Alternativerklärung bietet die Frequenztheorie: Das
Gehirn kann die Tonhöhe von der Frequenz der Nerven-
Lautstärke wahrnehmen impulse ableiten, die den Hörnerv entlanglaufen. Die ge-
Wie erkennen wir die Lautstärke? Nicht durch die Intensität der samte Basilarmembran schwingt mit der ankommenden
Reaktion der Haarzellen, wie man vielleicht vermuten könnte. Schallwelle mit, wodurch Nervenimpulse ausgelöst und ge-
7 Ein zarter, reiner Ton aktiviert nur die wenigen Haarzellen, die nauso schnell wie die Schallwelle ans Gehirn weitergeleitet
auf seine Frequenz ansprechen. Werden die Geräusche nun lau- werden. Hat die Schallwelle eine Frequenz von 100 Schwin-
ter, reagieren auch deren Nachbarzellen. Das Gehirn kann also gungen pro Sekunde, dann werden 100 Impulse pro Sekun-
die Lautstärke an der Anzahl der aktivierten Haarzellen ablesen. de den Hörnerv entlang geschickt. Aber auch diese Theorie
Wenn eine Haarzelle ihre Sensibilität für leise Töne verliert, hat ihre Tücken, denn die einzelnen Neuronen können
kann sie häufig immer noch auf laute Geräusche reagieren. Das nicht mehr als 1000-mal pro Sekunde einen Impuls aus-
erklärt eine andere überraschende Tatsache: Sehr laute Geräu- lösen. Wie können wir dann Geräusche mit Frequenzen
sche können für Schwerhörige und für Menschen, die normal über 1000 Schwingungen pro Sekunde hören (grob gesagt,
hören, laut erscheinen. Als Schwerhöriger fragte ich mich schon das obere Drittel der Klaviertastatur)?
oft, wenn ich wirklich lauter Musik ausgesetzt war, wie das für 4 Hier kommt das Salvenprinzip ins Spiel: Wie Soldaten, die
Personen klingen muss, die normal hören. Inzwischen habe ich abwechselnd Salven abfeuern, damit ein Teil schießen kann,
erkannt, dass es vermutlich in etwa genauso klingt; wir unter- während die anderen nachladen, können sich Nervenzellen
scheiden uns bei der Empfindung leiser Töne. Genau daher beim Entladen abwechseln. Durch Feuern in rascher Folge
wollen wir schwerhörigen Menschen nicht, dass alle Geräusche können die Neuronen so eine kombinierte Frequenz von
(laute und leise) verstärkt werden. Leise Töne sollten bei uns über 1000 Impulsen pro Sekunde erzielen. Damit erklärt
idealerweise mehr verstärkt werden als laute (eine typische die Ortstheorie am besten, wie wir hohe Töne wahrnehmen,
Eigenschaft der modernen digitalen Hörhilfen). und die Frequenztheorie erklärt am besten, wie wir tiefe
Töne wahrnehmen, und für die Töne im Zwischenbereich
Tonhöhe wahrnehmen scheint eine Kombination dieser beiden Theorien zuzu-
treffen.
? 7.14 Welche Theorien helfen uns, die Wahrnehmung der
Tonhöhe zu verstehen? Ortstheorie (»place theory«) – besagt, dass beim Gehör jede Tonhöhe
der Erregung eines bestimmten Orts der Basilarmembran der Kochlea
Wie wissen wir, ob es sich bei einem Geräusch um das hoch- entspricht.
frequente, hohe Zwitschern eines Vogels oder das niedrigfre- Frequenztheorie (»frequency theory«) – besagt, dass beim Gehör die
quente, tiefe Brummen eines Lastwagens handelt? Die heutige Anzahl der über den Hörnerv übertragenen Nervenimpulse der Frequenz
eines Tons entspricht und uns damit ermöglicht, die Höhe dieses Tons
Vorstellung von der Art und Weise, wie wir die Tonhöhe unter-
wahrzunehmen.
scheiden, beruht – wie die heutige Vorstellung von der Diskrimi-
nation von Farben – auf der Kombination von zwei Theorien.
Prüfen Sie Ihr Wissen
4 Die Ortstheorie von Hermann von Helmholtz geht davon
aus, dass wir verschiedene Tonhöhen hören, weil ver- Welche Theorie zur Wahrnehmung von Tonhöhe würde
schiedene Schallwellen an verschiedenen Orten der Basilar- am besten die Freude des Publikums eines Symphonie-
membran in der Kochlea Aktivität auslösen. Somit kann orchesters über die hohen Töne der Pikkoloflöte erklären?
das Gehirn also die Höhe eines Tones dadurch feststellen, Und wie ist das mit den tiefen Tönen des Cellos?
von welcher Stelle auf der Basilarmembran die neuronalen
Signale ausgehen. Als der spätere Nobelpreisträger Georg
von Békésy (1957) Löcher in die Kochlea von Meerschwein-
chen und menschlichen Leichen schnitt und mit einem
Mikroskop hineinschaute, entdeckte er, dass die Kochlea als
7.4 · Andere wichtige Sinne
271 7
Sinne funktionieren auf außergewöhnliche Weise: der Tastsinn,
der Geschmackssinn, der Geruchssinn und unser kinästhe-
tischer Sinn für die Lage des Körpers im Raum und für Bewe-
gungen. Haie und Hunde verlassen sich auf ihren ausgeprägten
Geruchssinn, der durch große, dem Geruchssinn vorbehaltene
Hirnareale unterstützt wird. Ohne unseren Tastsinn, den Ge-
schmacks- und Geruchssinn oder den kinästhetischen Sinn
wären auch wir Menschen ernsthaft behindert, und unsere Fä-
higkeiten, die Welt zu genießen, wären äußerst eingeschränkt.

7.4.1 Tastsinn

? 7.16 Wie spüren wir Berührung?

Obwohl der Tast- oder Berührungssinn nicht unbedingt die


erste Sinnesempfindung ist, die uns einfällt, könnte es jedoch
. Abb. 7.48 Wie wir Geräusche lokalisieren. Schallwellen treffen auf das diejenige sein, der wir den Vorrang vor allen anderen geben. Von
eine Ohr früher und lauter als auf das andere. Diese Information benutzt Anfang an sind Berührungen für unsere Entwicklung entschei-
unser flinkes Hirn, um den Entstehungsort des Geräuschs zu berechnen. dend. Ganz kleine Ratten, denen man die Berührung der für-
Wie nicht anders zu erwarten, haben daher Menschen mit einem völligen
sorglichen Pflege ihrer Mutter vorenthält, produzieren weniger
Hörverlust auf einem Ohr Schwierigkeiten, Geräusche zu orten
Wachstumshormone und haben einen herabgesetzten Stoff-
wechsel. Das ist ein guter Schutzmechanismus, um am Leben
zu bleiben, bevor die Mutter zurückkommt, aber auch eine
Geräusche lokalisieren Reaktion, die das Wachstum behindert, wenn sie länger anhält.
Ganz kleine Äffchen, die ihre Mutter sehen, hören und riechen,
? 7.15 Wie lokalisieren wir Geräusche?
sie aber nicht berühren dürfen, werden schrecklich unglücklich.
Warum haben wir nicht einfach ein großes Ohr, beispiels- Werden sie hingegen von ihrer Mutter durch eine Trennwand
weise über der Nase? »Damit ich dich besser hören kann«, mit Löchern getrennt, die ihnen eine Berührung ermöglicht,
sagte schon der Wolf zu Rotkäppchen. Ebenso wie uns die Posi- sind sie entschieden weniger unglücklich. Wie wir bereits in
tion unserer Augen erlaubt, einen optischen Eindruck von räum- 7 Kap. 5 aufgezeigt haben, nehmen zu früh geborene Babys
licher Tiefe zu gewinnen, ermöglicht uns die Position unserer schneller zu und können früher aus dem Krankenhaus entlassen
Ohren den Genuss des räumlichen Hörens, auch Stereohören werden, wenn sie durch Massage mit den Händen stimuliert
genannt. werden. Und sogar Fremde, die sich gegenseitig nur am Unter-
Aus mindestens zwei Gründen sind zwei Ohren besser als arm berühren können und durch einem Vorhang getrennt sind,
eins. Wenn rechts von uns ein Auto hupt, empfängt unser rechtes können Ärger, Furcht, Ekel, Liebe, Dankbarkeit und Mitgefühl
Ohr ein lauteres Geräusch, und dies erreicht das rechte Ohr etwas deutlich über dem Zufallsniveau kommunizieren (Hertenstein
früher als das linke (. Abb. 7.48). Weil die Schallgeschwindigkeit et al. 2006). Wie schon William James in Die Prinzipien der
1200 km pro Stunde beträgt und unsere Ohren nur etwa 15 cm Psychologie (1890) schrieb, ist »Berührung das A und O der Zu-
auseinander liegen, sind der Lautstärkenunterschied und die neigung«.
Zeitverschiebung extrem gering. Der gerade noch erkennbare Der Satiriker Dave Barry mag Recht haben, darüber zu spot-
Unterschied in der Richtung der beiden Schallquellen entspricht ten, dass die Haut »andere Menschen davon abhält, ins Innere
einem Zeitunterschied von nur 0,000027 Sekunden! Doch unser unseres Körpers zu schauen, das abstoßend ist, und unsere
hochempfindliches Gehör kann solche winzigen Unterschiede Organe davon abhält, auf den Boden zu fallen«. Aber die Haut
glücklicherweise wahrnehmen (Brown u. Deffenbacher 1979; kann noch viel mehr: Unser Tast- oder Berührungssinn ist in
Middlebrooks u. Green 1991). Wirklichkeit eine Mischung aus mindestens vier verschiedenen
Sinneswahrnehmungen der Haut: der Wahrnehmung von
Druck, Wärme, Kälte und Schmerz. Berührt man verschiedene
7.4 Andere wichtige Sinne Punkte auf der Haut mit einem weichen Haar, einem warmen
oder kalten Draht oder einer Nadelspitze, so entdeckt man, dass
Bei der Zuteilung von Hirnrindengewebe gibt unser Gehirn manche Punkte besonders empfindlich auf Druck reagieren,
Sehen und Hören den Vorrang. Aber auch unsere anderen vier manche auf Wärme, andere auf Kälte und wieder andere auf
272 Kapitel 7 · Wahrnehmung

er Ihre Aufmerksamkeit auf eine Verbrennung, einen Hautriss


oder einen Bruch lenkt, meldet er Ihnen, dass Sie Ihr Verhalten
sofort ändern müssen: »Tritt bloß nicht auf den verdrehten
Knöchel!« Die wenigen Menschen, die ohne die Fähigkeit zur
Schmerzempfindung geboren werden, können sich schwere
Verletzungen zuziehen oder erreichen nicht einmal das frühe
Erwachsenenalter. Ohne das Unbehagen zu empfinden, das uns
gelegentlich dazu veranlasst, die Stellung oder Körperhaltung
zu wechseln, neigen sie zu einer Überbeanspruchung ihrer Ge-
lenke, und ohne die Warnsignale des Schmerzes akkumulieren
sich die Auswirkungen von unkontrollierten Infektionen und
Verletzungen (Neese 1991, . Abb. 7.50).
Um einiges größer hingegen ist die Zahl der Menschen,
die mit chronischem Schmerz leben, was etwa mit einem Alarm-
7 signal vergleichbar ist, das sich nie abschaltet. Das Leiden solcher
Menschen und anderer mit ständigen oder ständig wieder-
kehrenden Rückenschmerzen, Kopfschmerzen und arthritis-
oder krebsbedingten Schmerzen wirft zwei Fragen auf: Was ist
. Abb. 7.49 Warm + kalt = heiß. Wenn durch ein Rohr eiskaltes
eigentlich Schmerz? Und wie können wir ihn unter Kontrolle
Wasser fließt und durch das andere angenehm warmes, nehmen wir die bringen?
kombinierte Empfindung als kochend heiß wahr
Schmerz verstehen
Unsere Schmerzerfahrungen sind sehr unterschiedlich. Frauen
Schmerz. Andere Hautempfindungen sind Abwandlungen der sind schmerzempfindlicher als Männer (Wickelgren 2009). Unser
vier Grundqualitäten (Druck, Wärme, Kälte und Schmerz): individuelles Schmerzerleben ist auch unterschiedlich, es hängt
4 Benachbarte Druckstellen zu streicheln, lässt ein Kitzeln von unseren Genen, unserer Physiologie, unseren Erfahrungen
aufkommen. und unserer Aufmerksamkeit und von der uns umgebenden Kul-
4 Wiederholtes sanftes Streicheln eines Schmerzpunktes, lässt tur ab (Gatchel et al. 2007; Reimann et al. 2010). So beinhaltet
ein Juckgefühl entstehen. Schmerzempfindung sowohl konzeptgesteuerte als auch datenge-
4 Berühren von benachbarten kälte- und druckempfindlichen steuerte Verarbeitung.
Punkten löst ein Gefühl von Nässe aus, das Sie spüren
können, wenn Sie trockenes, kaltes Metall anfassen. jBiologische Einflüsse
4 Durch Stimulation von benachbarten kälte- und wärme- Es gibt nicht nur einen Typ von Reiz, der Schmerzen auslöst (wie
empfindlichen Punkten wird eine Empfindung von »heiß« etwa Licht das Sehen auslöst). Stattdessen gibt es verschiedene
erzeugt (. Abb. 7.49). Nozizeptoren – sensorische Rezeptoren, die schädigende Tempe-
raturen, Druck oder Chemikalien aufspüren (. Abb. 7.51).
Zur Berührungsempfindung gehört allerdings mehr als nur die Obwohl es keine Schmerztheorie gibt, die alle heute zur Ver-
taktile Stimulation. Ein selbst ausgelöstes Kitzeln führt zu einer fügung stehenden Erkenntnisse erklären könnte, ist die klas-
sehr viel geringeren somatosensorischen Kortexaktivierung, als sische Gate-Control-Theorie des Psychologen Ronald Melzack
dies beim selben Kitzeln der Fall wäre, wenn es durch etwas oder und des Biologen Patrick Wall noch immer ein nützliches
jemand anderen ausgelöst wird (Blakemore et al. 1998). (Das Modell. Das Rückenmark enthält dünne Nervenfasern, über die
Gehirn ist weise genug, um auf eine unerwartete Stimulierung die meisten Schmerzsignale weitergeleitet werden, und dickere
am empfindlichsten zu reagieren.) Fasern, über die die meisten der anderen sensorischen Signale
übermittelt werden. Melzack u. Wall (1965, 1983) gehen davon
aus, dass es im Rückenmark ein neurologisches »Tor« (»gate«)
7.4.2 Schmerz gibt. Wenn Gewebe verletzt wird, aktivieren und öffnen die
dünnen Fasern das neuronale Tor, und Sie spüren Schmerzen.
Durch die Aktivität der dickeren Fasern kann das Schmerztor
? 7.17 Wie können wir Schmerz am besten verstehen und
geschlossen werden, wodurch die Schmerzsignale blockiert und
kontrollieren?
daran gehindert werden, zum Gehirn vorzudringen. Eine Me-
Seien Sie dankbar für gelegentliche Schmerzen. Durch Schmer- thode für die Behandlung chronischer Schmerzen besteht des-
zen teilt Ihnen Ihr Körper mit, dass etwas nicht stimmt. Indem halb in der Stimulierung (durch Massage, elektrische Stimulation
7.4 · Andere wichtige Sinne
273 7

. Abb. 7.50 Ein schmerzfreies, aber problematisches Leben. Ashlyn Blocker (rechts), die hier mit ihrer Mutter und ihrer Schwester abgebildet ist, hat
eine seltene genetisch bedingte Störung. Sie empfindet weder Schmerz noch extreme Kälte oder Hitze. Sie muss oft daraufhin untersucht werden, ob sie
sich zufällig selbst Verletzungen zugefügt hat, die sie selbst nicht spürt. »Manche Menschen würden sagen, dass es eine gute Sache ist [Schmerz nicht zu
spüren]«, sagte die Mutter. »Aber das ist nicht so. Schmerzen haben einen Grund. Durch sie weiß unser Körper, dass da etwas nicht stimmt und es repariert
werden muss. Ich würde alles dafür geben, dass sie Schmerzen empfinden kann.« (Zitiert nach Bynum 2004; © picture alliance / AP Images)

. Abb. 7.51 Der Schmerzschaltkreis. Sensorische Rezeptoren (Nozizeptoren) antworten auf möglicherweise schädliche Reize, indem sie Impulse an das
Rückenmark senden, wo die Botschaft ans Gehirn weitergeleitet wird. Dort wird das Signal als Schmerz interpretiert
274 Kapitel 7 · Wahrnehmung

oder Akupunktur) der »torschließenden« Aktivität in den dicke- anderes sind als unbedrohliche Halluzinationen (Ramachandran
ren Nervenfasern (Wall 2000). u. Blakeslee 1998). Nervenschädigungen im Geschmackszen-
trum können auf ganz ähnliche Weise einen Phantomgeschmack
Gate-Control-Theorie (»gate-control theory«) – besagt, dass das Rücken-
mark über ein neurologisches »Tor« (»gate«) verfügt, das Schmerzsignale hervorrufen, beispielsweise Eiswasser, das ekelhaft süß zu schme-
aufhält oder zum Gehirn durchlässt. Das »Tor« wird geöffnet durch die Akti- cken scheint (Goode 1999). Andere Menschen haben wiederum
vität von Schmerzsignalen, die über feine Nervenfasern nach oben steigen, Phantomgerüche erlebt, wie von verfaulenden Lebensmitteln,
und geschlossen durch die Aktivität in dickeren Fasern oder durch vom
die jedoch gar nicht vorhanden waren. Und was ist die Moral
Gehirn kommende Informationen.
daraus? Wir sehen, hören, schmecken, riechen und fühlen mit
Aber Schmerz ist nicht einfach nur ein physisches Problem, das unserem Gehirn, das auch ohne funktionierende Sinnesorgane
durch verletzte Nerven verursacht wird, die ihre Impulse dann ans wahrnehmen kann.
Gehirn übermitteln, als zöge man an einem Seil, um die Glocken
zu läuten. Melzack und Wall merkten an, dass das Schmerztor auch jPsychologische Einflüsse
durch vom Gehirn ausgehende Informationen geschlossen wer- Die psychologischen Effekte der Ablenkung werden bei Ge-
den kann. Diese vom Gehirn zum Rückenmark übermittelten schichten von Sportlern deutlich, die, wenn sie aufs Gewinnen
7 Botschaften erklären manche der bisweilen verblüffenden Ein- fokussiert sind, bis zum Ende weiterspielen, obwohl sie Schmer-
flüsse auf Schmerzen. Wenn wir vom Schmerz abgelenkt werden zen haben. Auch hinter unseren Erinnerungen an Schmerz
(ein psychologischer Einfluss) und durch die Ausschüttung von verbirgt sich mehr als der Schmerz, den wir empfunden haben.
Endorphinen, der natürlichen Schmerzabtöter, beruhigt werden Bei Untersuchungen und nach medizinischen Eingriffen sehen
(ein biologischer Einfluss), kann unser Schmerzempfinden deut- Menschen über die Dauer des Schmerzes leicht hinweg. In Erin-
lich verringert werden. Es kann vorkommen, dass Sportverletzun- nerung behalten sie nur zwei Faktoren: den schlimmsten Schmerz-
gen bis zur Dusche nach dem Spiel unbemerkt bleiben. Menschen, moment (was dazu führen kann, dass sie verschiedenartige
die ein Gen haben, das die Verfügbarkeit der Endorphine im Kör- Schmerzen, mit besonders schmerzhaften Spitzen, insgesamt als
per deutlich zunehmen lässt, empfinden Schmerzen nicht so sehr, schlimmer in Erinnerung behalten [Stone et al. 2005]), und wie
und ihr Gehirn reagiert nicht so stark darauf (Zubieta et al. 2003). viel Schmerz sie am Ende spürten.
Andere haben ein mutiertes Gen, das die Erregungsübertragung Im Rahmen eines Experiments wurden die Teilnehmer ge-
zwischen den Nervenzellen des Schmerzschaltkreises unterbricht. beten, eine Hand 60 Sekunden lang in schmerzhaft kaltes Wasser
Dadurch spüren sie nur wenig Schmerzen (Cox et al. 2006). Solche zu tauchen und dann die andere Hand 60 Sekunden lang in das-
Entdeckungen könnten den Weg zu neuen Schmerzmedikamen- selbe eiskalte Wasser zu stecken sowie anschließend nochmals
ten weisen, die diese genetischen Effekte imitieren. 30 Sekunden in etwas weniger kaltes (Kahneman et al. 1993).
Das Gehirn kann den Schmerz auch kreieren. Denken Sie an Welche Erfahrung bleibt wohl am schmerzhaftesten in Erinne-
Menschen mit Phantomempfindungen. Das Gehirn kann die rung? Interessanterweise gaben die meisten Testpersonen auf die
spontane Aktivität des Zentralnervensystems, die in Abwesen- Frage, welche der beiden Prozeduren sie eher noch einmal über
heit von normalem sensorischem Input auftritt, falsch deuten. sich ergehen lassen würden, die längere an. Diese war zwar ins-
Wie Träumende mit geschlossenen Augen sehen können, so gesamt mit mehr Schmerz verbunden, aber mit weniger Schmerz
können nach Angaben von Melzack (1992, 1993) 70% der am Ende. Bei einem Versuch hielt sich ein Arzt bei einigen Pa-
Menschen mit Amputationen Schmerzen oder Bewegungen in tienten, die eine Kolonuntersuchung über sich ergehen lassen
nicht mehr vorhandenen Gliedern empfinden. Es kann auch mussten, an diese Vorgabe: Er dehnte das unangenehme Gefühl
vorkommen, dass ein Amputierter mit seinem nicht mehr um 1 Minute aus, verringerte jedoch die Intensität (Kahneman
vorhandenen Bein aus dem Bett aufstehen oder eine Tasse mit 1999). Obwohl dieses andauernde leicht unangenehme Gefühl
der nicht vorhandenen Hand hochheben will. Sogar Menschen, die Schmerzempfindung insgesamt stärker werden ließ, erinner-
denen von Geburt an einzelne Gliedmaßen fehlen, nehmen ten sich die Patienten, die diese »ausklingende« Behandlung er-
manchmal Empfindungen in ihrem nicht vorhandenen Arm lebt hatten, später an die Untersuchung als weniger schmerzhaft
oder Bein wahr. Melzack (1998) stellte daher die Vermutung an, als diejenigen, bei denen der Schmerz abrupt endete. (Wenn der
unser Gehirn sei bereits von vornherein mit der Information Kieferchirurg Sie nach einer schmerzhaften Wurzelbehandlung
ausgestattet, »dass es Impulse von einem Körper erhalten wird, fragt, ob Sie nach Hause gehen möchten, oder noch ein paar
der über Glieder verfügt«. Minuten etwas weniger Unangenehmes ertragen wollen, spricht
Ein ähnliches Phänomen ist auch bei unseren anderen Sin- viel dafür, dass Sie Ihren Schmerz noch verlängern.)
nen zu beobachten. Menschen, vor allem Schwerhörige, empfin-
den oft den Klang der Stille, d. h. Phantomgeräusche, wie Ohren- » Schmerz wird noch verstärkt durch die Aufmerksamkeit,
sausen, auch Tinnitus genannt. Und wer durch Glaukom, grauen die man ihm schenkt.
Star, Diabetes oder Makuladegeneration das Sehvermögen ver- Charles Darwin, Der Ausdruck der Gemütsbewegungen bei
loren hat, sieht manchmal Phantom- oder Trugbilder, die nichts dem Menschen und den Tieren, 1872
7.4 · Andere wichtige Sinne
275 7

. Abb. 7.52 Biopsychosozialer Ansatz der Schmerztheorie. Unser


Schmerzerleben ist mehr als nur eine neuronale Botschaft, die zum Gehirn
geschickt wird . Abb. 7.53 (© Claudia Styrsky)

jSoziokulturelle Einflüsse mittel simuliert (Eippert et al. 2009; Wager 2005). Nach einer
Unsere Schmerzwahrnehmung hängt auch von unserer sozialen Injektion mit brennender Kochsalzlösung in den Kiefer haben
Situation und unseren kulturellen Traditionen ab. Menschen Männer in einem Experiment ein Placebo erhalten, das angeblich
nehmen mehr Schmerz wahr, wenn auch andere Schmerzen zu die Schmerzen lindern sollte – und sofort fühlten sie sich besser.
erleben scheinen (Symbaluk et al. 1997). Dieses Phänomen kann Dadurch dass ihnen angeblich schmerzstillende Chemikalien
als Erklärung für die offensichtlichen sozialen Einflüsse auf gegeben wurden, wurde das Gehirn veranlasst, echte auszu-
Schmerz dienen. Dies war der Fall, als in Australien ganze Grup- schütten. Das kann man an der Aktivität in einem Gehirnareal
pen von Sekretärinnen in den 80er Jahren beim Schreibmaschi-
neschreiben oder anderen sich ständig wiederholenden Arbeiten
plötzlich unter schweren Schmerzen litten – ohne jede erkenn-
bare körperliche Anomalie (Gawande 1998). Manchmal sitzt
körperlicher Schmerz hauptsächlich im Gehirn. Und wenn sie
wegen der Schmerzen Mitgefühl mit einem anderen Menschen
empfinden, kann die eigene Hirnaktivität in Bezug auf den
Schmerz teilweise eine gespiegelte Hirnaktivität des anderen sein
(Singer et al. 2004).
Also ist unsere Wahrnehmung von Schmerz ein biopsycho-
soziales Phänomen (. Abb. 7.52). Wenn wir Schmerz so be-
trachten, kann uns das helfen, besser zu verstehen, wie wir mit
Schmerzen umgehen und sie behandeln können (. Abb. 7.53).

Schmerz kontrollieren
Wenn Schmerz dort ist, wo Körper und Seele aufeinander-
treffen, wenn er also tatsächlich ein physisches und psychisches
Phänomen darstellt, müsste er eigentlich sowohl mit physischen
als auch mit psychischen Methoden behandelbar sein. Je nach
Art der Symptome wählen die Schmerzkliniken eine oder
mehrere Therapien aus einer Liste aus, die Medikamente, chirur-
gische Eingriffe, Akupunktur, Elektrostimulation, Massage, Kör-
perübungen, Hypnose, Entspannungstraining und Ablenkung
der Gedanken umfasst (. Abb. 7.54).
. Abb. 7.54 Akupunktur: ein gut gesetzter Stich. Dieser Akupunkteur
Selbst ein inaktives Placebo kann helfen, indem es die Auf-
versucht, einer Frau dabei zu helfen, dass ihre Rückenschmerzen nach-
merksamkeit und die Reaktionen des Zentralnervensystems auf lassen, indem er Nadeln an bestimmten Stellen auf der Hand der Patientin
schmerzvolle Erfahrungen abschwächt und damit ein Schmerz- anbringt. (© Getty Images / FogStock)
276 Kapitel 7 · Wahrnehmung

ablesen, das natürliche schmerztötende Opiate ausschüttet (Scott


et al. 2007; Zubieta et al. 2005). »Der Glaube wird Realität«, be-
merkte ein Kommentator (Thernstrom 2006), und zwar sobald
»sich der Geist mit dem Körper vereinigt«.
In einem anderen Experiment wurden zwei Placebos – un-
echte Pillen und vorgespielte Akupunktur – miteinander ver-
glichen (Kaptchuk et al. 2006). 270 Menschen mit anhaltenden
Armschmerzen erhielten entweder Scheinakupunktur (mit
Tricknadeln, die sich zurückzogen, ohne die Haut zu durch-
stechen) oder blaue Pillen aus Speisestärke, die wie Pillen aus-
sahen, die oft bei Verletzungen durch Überanstrengung ver-
schrieben werden. Ein Viertel jener Personen, die die schein-
baren Nadelstiche bekamen, und 31% von denen, die die Pillen
bekamen, klagten über Nebenwirkungen, wie etwa schmerzende
7 Haut oder trockenen Mund und Müdigkeit. Nach 2 Monaten be-
richteten beide Gruppen über weniger Schmerz, wobei die
Scheinakupunktur-Gruppe den größeren Schmerzrückgang ver-
meldete.
Das Ablenken mit Hilfe angenehmer Bilder (»Stellen Sie
sich eine warme, behagliche Umgebung vor«) oder das Ablenken
der Aufmerksamkeit – weg von der schmerzhaften Situation
(»Zählen Sie in Dreierschritten rückwärts«) – ist eine besonders
wirksame Methode zur Aktivierung von schmerzhemmenden
Kreisläufen und zur Erhöhung der Schmerztoleranz (Edwards et
al. 2009). Eine gut ausgebildete Krankenschwester lenkt Patien-
ten, die Angst vor Spritzen haben, häufig dadurch ab, dass sie sie
in ein angenehmes Gespräch verwickelt und sie bittet, beim Ein-
stechen der Nadel wegzusehen. Wenn Brandopfer schmerzhafte
Hautbehandlungen über sich ergehen lassen müssen, können die
Schmerzen deutlich verringert werden, wenn die Betreffenden in
eine 3-D-Welt eintauchen, die vom Computer generiert wird, wie
die Winterszene in . Abb. 7.55. Schichtaufnahmen mit Hilfe der
funktionalen Kernspintomografie zeigen, dass man die schmerz-
bedingte Hirnaktivität verringern kann, wenn man ein Spiel mit
virtueller Realität spielt (Hoffman 2004). Da der Schmerz im
Kopf sitzt, könnte es Linderung verschaffen, wenn man die Auf-
merksamkeit ablenkt.

7.4.3 Geschmackssinn

. Abb. 7.55a–c Schmerzkontrolle mit Hilfe von virtueller Wirklichkeit.


? 7.18 Wie erfahren wir Geschmack und Geruch und wie
Wenn Brandopfer schmerzhafte Hautbehandlungen über sich ergehen
hängen diese beiden zusammen? lassen müssen, können die Schmerzen und die Reaktion des Gehirns auf die
schmerzvolle Stimulierung mit Hilfe der Konzentration auf eine imaginäre
Wie der Tastsinn kann der Geschmackssinn mehrere Grund- virtuelle Wirklichkeit, die die Aufmerksamkeit ablenkt, deutlich verringert
empfindungen unterscheiden. Bis vor kurzem dachte man noch, werden. Die fMRT-Aufnahmen zeigen rechts eine geringere Schmerz-
die Grundqualitäten der Geschmacksempfindung seien süß, antwort, wenn der Patient abgelenkt ist. (Image by Todd Richards and
sauer, salzig und bitter (McBurney u. Gent 1979) und alle übrigen Aric Bills, U.W., © Hunter Hoffman, www.vrpain.com)

Geschmacksempfindungen ließen sich auf Mischungen aus


diesen vier Geschmacksqualitäten zurückführen. Als dann Wis-
senschaftler auf der Suche nach spezialisierten Nervenfasern für
die vier Geschmacksqualitäten waren, entdeckten sie schließlich
7.4 · Andere wichtige Sinne
277 7
nicht weiter schlimm. Doch mit dem Alter nehmen die Anzahl
. Tab. 7.2 Die überlebenswichtigen Funktionen der Grund-
qualitäten des Geschmackssinns. (Adaptiert nach Cowart 2005)
der Geschmacksknospen und die Geschmacksempfindung ab
(Cowart 1981). (Deshalb ist es nicht überraschend, dass Er-
Geschmack Anzeichen für wachsene gerne kräftig schmeckende Speisen zu sich nehmen,
die Kinder oft nicht so gerne mögen.) Rauchen und Alkohol-
Süß Energielieferant
konsum beschleunigen die Verringerung der Geschmacksknos-
Salzig Für physiologische Prozesse lebenswichtiges
pen und ihrer Sensibilität. Menschen, die ihren Geschmackssinn
Natrium
verlieren, berichten, dass Nahrung wie »Stroh« schmeckt und
Sauer Eventuell giftige Säure
schwer zu schlucken ist (Cowart 2005).
Bitter Mögliche Gifte So wichtig die Geschmacksknospen auch sind: Es steckt mehr
Umami Proteine, die zum Wachsen und für Reparaturen hinter dem Geschmackssinn als nur die Zunge. Erwartungen
des Gewebes benötigt werden können den Geschmack beeinflussen. Wenn Ihnen gesagt wurde,
dass ein Wurstbrötchen »vegetarisch« ist, urteilten die Teilnehmer
in einem Experiment, dass es deutlich schlechter schmeckte als
einen Rezeptor für eine fünfte Qualität – die fleischige Ge- das identische Wurstbrötchen mit der Aufschrift »Fleisch« (Allen
schmacksqualität des Umami-Geschmacks, der im Geschmacks- et al. 2008). In einem anderen Experiment wurde den Versuchs-
verstärker Glutamat weit verbreitet ist. personen gesagt, dass ein Wein, der in Wahrheit 8 Euro kostete,
Den Geschmackssinn gibt es nicht nur, damit wir genießen 70 Euro wert sei. Dadurch schmeckte er ihnen besser und es wur-
können (. Tab. 7.2). Genussvolle Geschmacksempfindungen de mehr Aktivität in einem Gehirnareal ausgelöst, das auf ange-
lenkten die Aufmerksamkeit unserer Vorfahren auf energie- nehme Erfahrungen reagiert (Plassmann et al. 2008).
und proteinreiche Nahrungsmittel, die es ihnen ermöglichten
zu überleben. Abstoßende Geschmacksempfindungen hielten sie Sensorische Interaktion
von neuen Nahrungsmitteln fern, die giftig sein könnten. Das Geschmack illustriert noch ein weiteres interessantes Phänomen.
Erbe dieser biologischen Weisheit können wir bis heute bei 2- bis Halten Sie sich einmal die Nase zu, schließen Sie die Augen, und
6-jährigen Kindern sehen, die normalerweise wählerisch beim lassen Sie sich dann von jemand anderem mit verschiedenen
Essen sind, vor allem wenn man ihnen ungewohnte Fleisch- Dingen füttern. Ein Stück Apfel erscheint Ihnen dann kaum un-
sorten oder bitter schmeckendes Gemüse wie Spinat oder Rosen- terscheidbar von einem Stück roher Kartoffel. Ein Stück Steak
kohl vorsetzt (Cooke et al. 2003). Fleisch- und Pflanzengifte kann wie Pappe schmecken. Ohne ihren Geruch kann eine Tasse
waren bei unseren Vorfahren potenzielle Auslöser für gefährliche kalter Kaffee schwer von einem Glas Rotwein zu unterscheiden
Nahrungsmittelvergiftungen, vor allem bei Kindern. Wenn man sein. Um einen Geschmack auszukosten, atmen wir normaler-
Kindern heutzutage unbeliebte ungewohnte Nahrungsmittel weise das Aroma über die Nase ein. Das ist auch der Grund dafür,
wiederholt in kleinen Mengen anbietet, werden sie sie allmählich weshalb Essen so wenig Spaß macht, wenn man stark erkältet ist.
akzeptieren (Wardle et al. 2003). Der Geruch kann auch unsere Wahrnehmung von Geschmack
Der Geschmackssinn ist eine chemische Sinnesempfindung. ändern: Der Erdbeergeruch eines Getränks verstärkt unsere
In jeder der kleinen Erhebungen oben auf der Zunge und an den Wahrnehmung seiner Süße. Dieses Phänomen ist auf die sen-
Seiten befinden sich mehr als 200 Geschmacksknospen, die je- sorische Interaktion zurückzuführen, das Prinzip, dass eine
weils eine Pore enthalten, die die Chemikalien der Nahrung ein- Sinnesempfindung eine andere beeinflussen kann. Geruch plus
fängt. Diese Moleküle werden von 50–100 Geschmacksrezeptor- Oberflächenbeschaffenheit plus Geschmack gleich Aroma.
zellen, von denen ausgehend antennenartige Haare in die Pore
Sensorische Interaktion (»sensory interaction«) – Prinzip der gegen-
hineinragen, sensorisch aufgenommen. Manche dieser Rezep- seitigen Beeinflussung verschiedener Sinne, wie beispielsweise der Geruch
toren reagieren hauptsächlich auf süß schmeckende Moleküle, von Essen seinen Geschmack beeinflusst.
andere auf salzig, sauer oder bitter schmeckende. Es dauert nicht
lange, um eine Reaktion auszulösen, die den Temporallappen in Die sensorische Interaktion kann in gleicher Weise das beein-
einen Alarmzustand versetzt. Wenn über Ihre Zunge ein Wasser- flussen, was wir hören. Wenn ich als Schwerhöriger ein Video mit
schwall gepumpt wird, wird der Zusatz eines konzentrierten Untertitel anschaue, habe ich keine Probleme, die Wörter zu
salzigen oder süßen Geschmacks für eine Zehntelsekunde aus- hören, die ich sehe (und könnte deswegen denken, ich bräuchte
reichen, um Ihre Aufmerksamkeit zu erregen (Kelling u. Halpern keine Untertitel). Wenn ich dann den Untertitel ausschalte, merke
1983). Wenn eine Freundin sagt, sie wolle »nur einmal kurz« Ihr ich plötzlich, dass ich ihn brauche (. Abb. 7.56). Aber was glauben
Getränk probieren, können Sie also den Strohhalm schon nach Sie passiert, wenn wir sehen, wie ein Sprecher eine Silbe spricht,
einem Sekundenbruchteil zudrücken. während wir eine andere hören? Überraschung: wir würden eine
Die Geschmacksrezeptoren erneuern sich alle 1–2 Wochen. dritte Silbe wahrnehmen, in der beide Eindrücke miteinander
Wenn Sie also mit heißem Essen Ihre Zunge verbrennen, ist das verschmolzen werden. Wenn wir die Mundbewegungen für ga
278 Kapitel 7 · Wahrnehmung

. Abb. 7.56 Sensorische Interaktion. Wenn ein Schwerhöriger ein animiertes Gesicht dabei beobachtet, wie es am anderen Ende der Telefonleitung die
gesprochenen Wörter formt, sind die Wörter für ihn besser zu verstehen (Knight 2004). Die Augen leiten die Ohren. (Courtesy of RNID, www.rnid.org.uk)

sehen und ba hören, können wir letztendlich da wahrnehmen. eher eine linke politische Einstellung (Oppenheimer u. Trail
Dieses Phänomen ist unter dem Namen McGurk-Effekt bekannt, 2010).
benannt nach seinen Entdeckern, dem Psychologen Harry
McGurk und seinem Assistenten John MacDonald (1976). Diese Beispiele von Embodied Cognition verdeutlichen, wie
Unsere Sinne – Sehen, Hören, Berühren, Schmecken und neuronale Schaltkreise, die unsere körperlichen Empfindungen
Riechen – sind keine völlig voneinander getrennten Informa- verarbeiten, sich im Gehirn mit solchen Schaltkreisen vernetzen,
tionskanäle. Zur Interpretation der Welt vermischt das Gehirn die für unsere Kognition verantwortlich sind.
die verschiedenen Inputs der Sinne. Es mischt sogar unsere tak-
Embodied Cognition (auch Embodiment; »embodied cognition«) – in der
tilen und sozialen Urteile: psychologischen Wissenschaft der Einfluss von körperlichen Empfindun-
4 Wenn Menschen ein warmes Getränk anstelle eines kalten gen, Gesten und anderen Zuständen auf kognitive Vorlieben und Urteile.
gehalten haben, schätzen sie jemanden eher als warm ein,
fühlen sich dieser Person näher und verhalten sich groß- Sensorische Interaktion tritt auch beim Hören und Sehen auf.
zügiger (IJzerman u. Semin 2009; Williams u. Bargh 2008). Ein schwaches Flackern, das wir kaum wahrnehmen können,
Physische Wärme begünstigt soziale Wärme. wird besser sichtbar, wenn es von einem kurzen Ton begleitet
4 Nachdem einem von anderen in einem Experiment die wird (Kayser 2007). Beim Erkennen von Ereignissen kann das
kalte Schulter gezeigt wurde, beurteilt man den Raum Gehirn mit Hilfe von Neuronen, die die Erregungen vom soma-
kälter, als wenn man freundlich behandelt wurde (Zhong tosensorischen Kortex bis nach hinten zur Sehrinde leiten,
u. Leonardelli 2008). Soziale Ausgrenzung fühlt sich wort- gleichzeitige taktile und visuelle Signale miteinander kombinie-
wörtlich kalt an. ren (Macaluso et al. 2000).
4 Bewerber um einen Arbeitsplatz erscheinen einem wich- Auch der Tastsinn und der Geschmack beeinflussen sich ge-
tiger, wenn man ein schweres statt eines leichten Klemm- genseitig. Abhängig von ihrer Konsistenz »schmecken« Chips
bretts in der Hand hält. Wenn man raue Objekte hält, frisch oder alt (Smith 2011). Sogar mit dem Hören interagiert der
scheint soziale Interaktion schwieriger zu sein (Ackerman Tastsinn. In einem Experiment wurde den Versuchspersonen
et al. 2010). ein Lufthauch (wie der Mund ihn erzeugt, wenn wir pa oder
4 Wenn man sich nach links lehnt (indem man auf einem ta sagen) in den Nacken oder auf die Hände geblasen, während
Stuhl sitzt, der nach links statt nach rechts gerichtet ist, oder sie entweder diese Silben oder die eher luftlosen Silben ba oder
indem man einen Griff mit der linken Hand drückt oder da hörten. Zu meiner – und vielleicht auch Ihrer – Überraschung
eine Maus mit der linken Hand benutzt), zeigt man auch haben die Leute, wenn sie den schwachen Luftstoß bekamen,
7.4 · Andere wichtige Sinne
279 7

. Abb. 7.57 Der Geruchssinn. Wenn Sie den Duft einer Rose riechen wollen,
müssen die Moleküle ihres Dufts über die Luft zu den Rezeptoren oben in
der Nasenhöhle gelangen. Durch Schnüffeln an der Rose wird Luft zu den Re-
zeptoren hochgewirbelt und der Duft verstärkt. Die Rezeptorzellen schicken
Botschaften zum Bulbus olfactorius (Riechkolben) im Gehirn und dann
weiter zur primären Riechrinde des Temporallappens und zu jenen Teilen des
limbischen Systems, die für Gedächtnis und Gefühle zuständig sind

öfter statt ba oder da fälschlicherweise pa oder ta gehört (Gick u. und dem Tod. Dazwischen atmen Sie jeden Tag nahezu 20.000
Derrick 2009). Durch die sensorische Interaktion hörten sie mit Mal lebenserhaltende Luft ein und aus und füllen dabei Ihre
ihrer Haut. Nasenflügel mit einem Strom von Molekülen, die mit Duftstoffen
Die verschiedenen Sinne beeinflussen sich also gegenseitig: angereichert sind. Die Geruchserfahrungen, die daraus ent-
Um die Welt zu entschlüsseln vermischt das Gehirn die verschie- stehen (Olfaktion), sind auffallend intim: Sie atmen etwas von
denen Inputs aus den Kanälen von Sehen, Hören, Berühren, allem und jedem, was sie riechen, ein.
Schmecken und Riechen. Bei einigen wenigen Menschen vereinen Ebenso wie der Geschmackssinn ist auch der Geruchs-
sich die Sinne zu einem Phänomen, das als Synästhesie bezeichnet sinn eine chemische Sinneserfahrung. Wir riechen etwas,
wird. Dabei erzeugt eine Art von Empfindung (wie etwa einen Ton wenn in der Luft schwebende Moleküle einer Substanz eine
zu hören) eine andere (wie etwa Farbe zu sehen). So kann das winzige Gruppe der 5 Mio. Rezeptorzellen im oberen Bereich
Hören von Musik oder das Sehen einer bestimmten Zahl farbemp- jeder der beiden Nasenhöhlen erreichen (. Abb. 7.57). Die
findliche Regionen im Kortex aktivieren und eine Farbempfin- Riechrezeptorzellen, die wie Seeanemonen auf einem Korallen-
dung auslösen (Brang et al. 2008; Hubbard et al. 2005). Wenn man riff hin- und her wiegen, reagieren selektiv – auf den Duft
die Zahl 3 sieht, kann das bei Synästhetikern eine Geschmacks- eines frisch gebackenen Kuchens, auf eine Rauchwolke, auf den
empfindung erzeugen (Ward 2003). Für viele Menschen kann ein Parfümduft einer Freundin. Über ihre Axonfasern versetzen
Geruch, z. B. Pfefferminz oder Schokolade eine Geschmacksemp- sie das Gehirn sofort in einen Zustand höchster Aufmerk-
findung auslösen (Stevenson u. Tomiczek 2007). samkeit.
Sogar bei Babys und ihren stillenden Müttern stimmt buch-
Überraschen Sie Ihre Freunde mit Ihrem neuen Wort des Tages:
stäblich die »Chemie« ihrer Beziehung, sie lernen schnell, sich
Von Menschen, die nichts sehen können, sagt man, dass sie unter
gegenseitig am Geruch zu erkennen (McCarthy 1986). Über
Blindheit leiden. Von Leuten, die nichts hören können, sagt man,
ihren Geruchssinn findet eine Robbe, die an einen Strand mit
dass sie unter Taubheit leiden. Und von Menschen, die nichts
einer Unmenge von Robbenbabys kommt, ihr eigenes Junges.
riechen können, sagt man, dass sie unter Anosmie leiden.
Unser Geruchssinn ist in der Regel weniger scharf ausgeprägt
als unser Gehör und unser Sehvermögen. Wenn wir auf einen
7.4.4 Geruchssinn Garten hinausschauen, können wir die Formen und Farben
darin bis ins kleinste Detail wahrnehmen und verschiedene
Einatmen, ausatmen. Einatmen, ausatmen. Das Atmen erfolgt in Vögel singen hören, aber wir riechen nur wenig davon, es sei
zwei Schritten, außer in zwei Momenten des Lebens: der Geburt denn, wir stecken die Nase direkt in die Blüte.
280 Kapitel 7 · Wahrnehmung

7
. Abb. 7.58 Alter, Geschlecht und Geruchssinn. Bei einem von der Zeitschrift National Geographic propagierten Rubbel- und Riechtest, an dem
sich ca. 1,2 Mio. Menschen beteiligten, waren es die Frauen und jungen Erwachsenen, die die sechs Geruchsproben am erfolgreichsten identifizierten.
(Aus Wysocki u. Gilbert 1989)

Geruchsmoleküle gibt es in vielen Formen und Größen, so danach langsam ab (. Abb. 7.58). Trotz unserer Fähigkeit zur
viele, dass eine ungeheure Menge verschiedener Rezeptoren Differenzierung von Gerüchen sind wir nicht halb so gut darin,
erforderlich ist, um sie zu erkennen. Eine große Familie von sie zu beschreiben. Mit den uns zur Verfügung stehenden
Genen ist für die Erzeugung von etwa 350 Rezeptorproteinen Wörtern lässt sich beispielsweise das Geräusch des Kaffee-
zuständig, die bestimmte Geruchsmoleküle erkennen können kochens leichter beschreiben als sein Aroma. Im Vergleich zu
(Miller 2004). Linda Buck und Richard Axel (1991) entdeckten unseren Eindrücken und Erinnerungen von Dingen, die wir ge-
bei einer Forschungsarbeit, für die sie 1994 den Nobelpreis sehen oder gehört haben, scheinen Gerüche fast primitiv zu sein.
erhielten, dass diese Rezeptorproteine auf der Oberfläche der Auf jeden Fall sind sie schwerer zu beschreiben und zu erinnern
Neuronen in der Nasenhöhle sitzen. Wie ein Schlüssel genau in (Richardson u. Zucco 1989; Zucco 2003).
das dazugehörige Schlüsselloch passt, so passen die Geruchs-
moleküle in diese Rezeptoren. Allerdings hat es nicht den An-
» In unserem Wohnzimmer könnte ein Haufen LKW-Reifen
brennen und ich würde das nicht unbedingt riechen. Meine
schein, als besäßen wir einen individuellen Rezeptor für jeden
Frau dagegen kann eine einzelne verdorbene Traube zwei
unterscheidbaren Geruch. Das deutet möglicherweise darauf
Häuser weiter aufspüren.
hin, dass manche Düfte eine Kombination von Rezeptoren an-
Dave Barry, 2005
sprechen, deren Aktivität von der Riechrinde interpretiert
wird. Wie die 26 Buchstaben des Alphabets in allen möglichen Wie uns jeder Hund oder jede Katze mit einer guten Nase ver-
Kombinationen auftreten und eine Vielzahl von Wörtern bil- sichern könnte, hat jeder von uns eine ganz persönliche »chemi-
den können, so binden Geruchsmoleküle an bestimmte Grup- sche« Note. (Mit einer erwähnenswerten Ausnahme: Ein Hund
pen von Rezeptoren und lassen so die etwa 10.000 Geruchs- folgt den Geruchsspuren eines eineiigen Zwillings, als stammten
qualitäten, die wir unterscheiden können, entstehen (Malnic sie vom anderen Zwilling [Thomas 1974].) Tiere haben viel mehr
et al. 1999). Es sind die Kombinationen der olfaktorischen Re- Geruchsrezeptoren als Menschen und benutzen ihren Geruchs-
zeptoren, die verschiedene Neuronenmuster aktivieren und es sinn auch zum Kommunizieren und Navigieren. Lange bevor ein
uns so ermöglichen, zwischen dem Aroma eines frisch gebrüh- Hai seine Beute oder das Mottenmännchen sein Weibchen sehen
ten und dem eines abgestandenen Kaffees zu unterscheiden (Zou kann, werden sie von Gerüchen geleitet. Auch die Lachse folgen
et al. 2005). bei ihrer Wanderung schwachen Geruchsreizen zurück zu ihrem
Frauen haben einen besseren Geruchssinn als Männer Heimatfluss. Lachse, die an ihrem Laichplatz einem von zwei
(Wickelgren 2009; Wysocki u. Gilbert 1989). Bei Rauchern, Geruchsstoffen ausgesetzt wurden, werden bei ihrer Rückkehr
Alzheimer- und Parkinson-Patienten sowie Alkoholkonsumen- nach 2 Jahren nach einem Fluss suchen, der mit dem bekannten
ten ist der Geruchssinn nachgewiesenermaßen herabgesetzt Geruch versetzt ist (Barinaga 1999).
(Doty 2001). Obwohl das Geschlecht und die körperliche Ver-
fassung die Fähigkeit zur Geruchserkennung beeinflussen, hat Der Mensch verfügt in der Regel über 10–20 Mio. Geruchsrezep-
sie ihren Höhepunkt im frühen Erwachsenenalter und nimmt toren. Ein Bluthund hat hingegen etwa 200 Mio. (Herz 2001).
7.4 · Andere wichtige Sinne
281 7
Auch beim Menschen hängt die Attraktivität von Gerüchen
von gelernten Assoziationen ab (Herz 2001). Babys haben keine
»eingebaute« Vorliebe für den Geruch der Brust ihrer Mutter;
erst beim Stillen bildet sich diese Vorliebe heraus. Wenn gute
Erfahrungen mit einem bestimmten Geruch verknüpft werden,
fangen Menschen auch an, diesen Geruch zu mögen. So kann
erklärt werden, warum US-Amerikaner den Geruch von Winter-
grün (den sie mit Bonbons und Kaugummi verbinden) mehr
mögen als Briten (wo er oft mit Medizin assoziiert wird). Bei
einem weiteren Experiment zu Gerüchen, die unangenehme
Emotionen auslösen, frustrierten Herz et al. (2004) Studierende
der Brown University mit einem manipulierten Computerspiel
in einem duftenden Zimmer. Wenn man sie später bei der Arbeit
an einer verbalen Aufgabe dem gleichen Geruch aussetzte, wurde
ihre Frustration neu belebt, und sie gaben eher auf als Studie-
rende, die einem anderen Geruch oder gar keinem ausgesetzt
wurden.
. Abb. 7.59 Geschmack, Geruch, Gedächtnis. Die Informationen von
Laboruntersuchungen bestätigen, dass es uns zwar schwer
den Geschmacksknospen (gelber Pfeil) wandern in ein Gebiet zwischen den
fällt, uns über die Namen und Bezeichnungen von Gerüchen an Frontal- und Temporallappen des Gehirns. Dies ist nicht weit entfernt von
sie zu erinnern, dass wir jedoch eine bemerkenswerte Fähig- der Stelle, wo das Gehirn Informationen über Gerüche erhält, die mit dem
keit haben, lang vergessene Gerüche und die damit assoziier- Geschmackssinn eine Wechselwirkung eingehen. Die Schaltkreise des
Gehirns für den Geruchssinn (roter Pfeil) sind auch mit Arealen verbunden,
ten persönlichen Erlebnisse wiederzuerkennen (Engen 1987;
die etwas mit der Speicherung von Erinnerung zu tun haben. Das ist auch
Schab 1991). Der Geruch des Meeres, der Duft eines Parfüms eine Erklärung dafür, warum ein Geruch eine Explosion von Erinnerungen
oder der typische Geruch der Küche einer unserer Lieblings- auslösen kann
verwandten kann uns an glückliche Zeiten erinnern. Der briti-
sche Reiseveranstalter Lunn Poly ist sich dieses Phänomens
offenbar sehr bewusst. Um Erinnerungen an das Herum- Prüfen Sie Ihr Wissen
faulenzen an sonnigen, warmen Stränden wachzurufen, erfüllt
5 Wie unterscheidet sich unser Geruchssystem von
er seine Reisebüros mit dem Duft von Kokosnusssonnenöl
den sensorischen Systemen für Sehen, Tasten und
(Fracassini 2000).
Geschmack?
Die Schaltkreise in unserem Gehirn können erklären, warum
Gerüche Erinnerungen und Gefühle hervorrufen können
(. Abb. 7.59). Zwischen der Hirnregion, die die Informationen
von der Nase empfängt, und den entwicklungsgeschichtlich alten
limbischen Zentren des Gehirns, die für Gedächtnis und Gefühle 7.4.5 Lage und Bewegung des Körpers
von Bedeutung sind, besteht eine direkte Verbindung. So haben im Raum
Versuchspersonen, wenn sie in einem faulig riechenden Raum
saßen, härtere Urteile über unmoralische Handlungen gefällt
? 7.19 Wie spüren wir Lage und Bewegung unseres Körpers
(z. B. lügen oder ein gefundenes Portemonnaie behalten). Auch
im Raum?
gegenüber homosexuellen Männern hatten sie negativere Ein-
stellungen (Inbar et al. 2011; Schnall et al. 2008). Wichtige Sensoren in Ihren Gelenken, Sehnen, Knochen, und
Gerüche sind tatsächlich primitiv. Lange Zeit bevor die hoch- Ohren, wie auch Ihre Hautsensoren befähigen Sie zur Kinäs-
spezifischen analytischen Regionen unserer Hirnrinde voll thesie – der Sinn für die Lage und Bewegung Ihrer Gliedmaßen.
ausgebildet waren, suchten unsere Vorfahren aus der Welt der Man kann sich einen Moment lang vorstellen, blind oder taub
Säugetiere durch Schnüffeln ihre Nahrung, aber auch Spuren zu sein. Machen Sie die Augen zu, verschließen Sie Ihre Ohren
von Raubtieren, die ihnen gefährlich werden konnten. Der Gou- mit Ohrstöpseln, und erleben Sie die dunkle Stille. Aber wie wäre
verneurskandidat des Bundesstaates New York, Carl Paladino, es wohl, ohne Berührung oder Kinästhesie leben zu müssen,
wusste darüber Bescheid, wie primitive, abstoßende Gerüche ohne beispielsweise die Lage Ihrer Gliedmaßen zu spüren, wenn
Urteile beeinflussen können. Er verschickte Flugblätter, die nach Sie nachts aufwachen? Ian Waterman aus Hampshire in Eng-
verrottendem Müll rochen und in denen sein Gegner angegriffen land weiß, wie es ist. Im Alter von 19 Jahren bekam er 1972
wurde. Er gewann mit 62 zu 38% in der innerparteilichen repu- eine seltene Virusinfektion, die die Nerven zerstörte, die ihm
blikanischen Vorwahl (Liberman u. Pizarro 2010). das Empfinden von leichten Berührungen sowie der Position
282 Kapitel 7 · Wahrnehmung

und Bewegung des Körpers vermittelten. Menschen mit dieser


Krankheit berichten, dass sie sich körperlos fühlen, als sei
ihr Körper tot, nicht real oder nicht ihr eigener (Sacks 1985). Mit
viel Übung hat Waterman gehen und essen gelernt, indem er
sich visuell auf seine Gliedmaßen konzentriert und sie entspre-
chend lenkt. Aber wenn das Licht ausgeht, fällt er auf den Boden
(Azar 1998). Auch bei gesunden Menschen findet eine Inter-
aktion zwischen Sehen und Kinästhesie statt. Stellen Sie Ihre
rechte Ferse vor die Zehen Ihres linken Fußes. Das ist einfach.
Schließen Sie nun die Augen. Wahrscheinlich fangen Sie jetzt an
zu wackeln.
Kinästhesie (»kinesthesis«) – Fähigkeit zur Wahrnehmung der Position
und Bewegung einzelner Gliedmaßen.

7 Ein eng damit zusammenhängender Sinn, der Gleichgewichts-


sinn (auch vestibulärer Sinn genannt) überwacht die Lage und
Bewegung des Kopfes (und damit des Körpers). Die biologischen
»Messgeräte« für das Gleichgewicht befinden sich im Innen-
ohr. Die Bogengänge, die wie dreidimensionale Brezeln aussehen
(. Abb. 7.45), und die Sacculi des Vestibularapparats, die die
. Abb. 7.60 Sensorische Informationen werden an verschiedene Areale
Bogengänge mit der Kochlea verbinden, enthalten Flüssigkeiten, des Kortex geschickt
die sich bewegen, wenn sich der Kopf dreht oder kippt. Durch
diese Bewegung werden haarähnliche Rezeptoren stimuliert,
die daraufhin Botschaften an das Kleinhirn (Zerebellum) im
hinteren Teil des Gehirns senden und es somit möglich machen, . Tab. 7.3 Zusammenfassung der Sinne
dass wir die Lage des Körpers im Raum wahrnehmen und das
Sensorisches Quelle Rezeptoren
Gleichgewicht halten.
System
Gleichgewichtssinn (auch vestibulärer Sinn; »vestibular sense«) –
Sehen Lichtwellen, die das Zapfen und Stäbchen
Sinnessystem zur Wahrnehmung der Bewegung und Lage des Körpers.
Auge treffen in der Retina

Wenn Sie sich schnell im Kreis drehen und plötzlich stehen Hören Schallwellen, die auf Haarzellen in
bleiben, werden weder die Flüssigkeit in den Bogengängen der das äußere Ohr treffen der Kochlea des
Innenohrs
Ohren noch die kinästhetischen Rezeptoren sofort wieder in ihre
Ausgangsposition zurückkehren. Die Nachwirkung gaukelt Tastsinn Druck, Wärme oder Hautrezeptoren
Kälte auf der Haut erfassen Druck,
Ihrem schwindeligen Gehirn die Empfindung vor, Sie würden Wärme, Kälte und
sich immer noch drehen. Daran wird ein Prinzip deutlich, das Schmerz
die Grundlage der Wahrnehmungstäuschungen bildet: Mecha- Geschmack Chemische Moleküle Rezeptoren auf der
nismen, die uns normalerweise eine genaue Wahrnehmung von im Mund Zunge für süß,
der Welt um uns herum liefern, können uns unter bestimmten sauer, salzig, bitter,
Umständen in die Irre führen. Wenn wir verstehen, wie wir aus- und umami

getrickst werden, gibt uns das Anhaltspunkte zum Verständnis Geruch Chemische Moleküle, Millionen von Rezep-
der Art und Weise, wie unser Wahrnehmungssystem normaler- die durch die Nase toren oben in der
eingeatmet werden Nasenhöhle
weise funktioniert.
Körperposition Jegliche Veränderung Kinästhetische
Prüfen Sie Ihr Wissen – Kinästhesie der Position eines Sensoren am ganzen
Körperteils im Körper
5 Wo befinden sich die Rezeptoren für den Gleich- Zusammenspiel mit
gewichtssinn? dem Sehen

Körperbe- Bewegung von Flüs- Haarähnliche


wegung - Gleich- sigkeiten im Innenohr, Rezeptoren in den
Einen Überblick über unsere Sinnessysteme finden Sie in gewichtssinn die durch Kopf- oder Bogengängen und
Körperbewegung Sacculi des Vestibular-
. Tab. 7.3 und . Abb. 7.60. Der Strom der Wahrnehmungen
verursacht wird apparates
wird von Empfindungen, Kognitionen und Emotionen gespeist.
7.5 · Exkurs: Außersinnliche Wahrnehmung – Wahrnehmung ohne Empfindung?
283 7

. Abb. 7.61 Wahrnehmung ist ein biopsychosoziales Phänomen. Psy-


chologen erforschen, wie wir über verschiedene Analyseebenen hinweg
wahrnehmen – von der biologischen bis zur soziokulturellen

Und deshalb brauchen wir mehrere verschiedene Analyseebenen


(. Abb. 7.61).
Wenn Wahrnehmung das Produkt dieser drei Quellen ist, . Abb. 7.62 (© Dan Piraro, Bizarro. Dist. by Bulls Press)
was können wir dann über außersinnliche Wahrnehmung sagen?
Diese behauptet, dass Wahrnehmung unabhängig von sensori-
schem Input auftreten kann. Mehr zu dieser Frage finden Sie im 4 das Hellsehen (. Abb. 7.62) oder das Wahrnehmen von
folgenden Exkurs. räumlich oder zeitlich weit entfernten Geschehnissen,
wie beispielsweise spüren, dass das Haus eines Freundes in
einem anderen Land gerade brennt,
7.5 Exkurs: Außersinnliche Wahrnehmung – 4 das Wahrnehmen künftiger Ereignisse (auch als Präkogni-
Wahrnehmung ohne Empfindung? tion bezeichnet), etwa einen unerwarteten Todesfall im
kommenden Monat.

? 7.20 Was wird im Rahmen der außersinnlichen Wahrneh-


Eng verbunden mit diesen Themen ist die Psychokinese (der
mung behauptet und welchen Schluss ziehen die meisten
direkte seelische Einfluss eines Menschen auf materielle Dinge
forschenden Psychologen, wenn sie diese Behauptungen
bzw. Vorgänge), durch die ein Tisch zum Schweben gebracht
auf den Prüfstand gestellt haben?
oder der Fall eines Würfels beeinflusst werden kann. (Der An-
Sind wir auch ohne sensorische Information zu außersinnlicher spruch der Psychokinese wird am besten durch die sarkastische
Wahrnehmung in der Lage? Gibt es wirklich Leute, die Ge- Frage veranschaulicht: »Können bitte alle, die an Psychokinese
danken lesen, durch eine Wand hindurchsehen oder die Zukunft glauben, meine Hand heben?«)
voraussagen können? Fast die Hälfte der Amerikaner glaubt da- Wenn es außersinnliche Wahrnehmung wirklich gäbe,
ran (AP 2007; Moore 2005). müssten wir unser wissenschaftliches Verständnis davon, dass wir
Geschöpfe sind, deren Denken an unser physisches Gehirn ge-
Außersinnliche Wahrnehmung (»extrasensory perception«, ESP) –
umstrittene These, dass Wahrnehmung auch stattfinden kann, wenn bunden ist und deren Wahrnehmungserfahrungen auf Empfin-
keine sensorischen Signale eintreffen. Zusammenfassender Begriff für dungen beruhen, völlig umkrempeln. Tatsächlich kommt es
Phänomene wie Telepathie, Hellsehen und Präkognition. manchmal vor, dass wir unsere wissenschaftlichen Vorannahmen
aufgrund neuer Erkenntnisse über den Haufen werfen müssen.
Die am leichtesten überprüfbaren und für dieses Kapitel relevan- Die Wissenschaft ist immer wieder für die unterschiedlichsten
testen Formen der außersinnlichen Wahrnehmung sind: Überraschungen gut: über den Anteil des unbewussten Denkens,
4 die Telepathie oder Gedankenübertragung, bei der eine über die Auswirkungen der Emotion auf die Gesundheit, darüber,
Person einer anderen Gedanken übermittelt oder die was zur Heilung beiträgt und was nicht, sowie über noch viel
Gedanken einer anderen Person wahrnimmt, mehr.
284 Kapitel 7 · Wahrnehmung

Die meisten Psychologen und Naturwissenschaftler an den präsidien weiß man das. Als Sweat u. Durm (1993) in den Polizei-
Universitäten, darunter 96% der Wissenschaftler der National präsidien der 50 größten Städte der USA Umfragen durchführten,
Academy of Sciences, sind diesem Feld gegenüber weiterhin ob sie zur Lösung ihrer Kriminalfälle jemals Hellseher hinzuge-
skeptisch eingestellt (McConnell 1991). Doch angesehene Uni- zogen hätten, verneinten 65% dies. Von all jenen, die Hellseher
versitäten auf der ganzen Welt, auch in Großbritannien, den befragt hatten, hatte dies keiner als sehr hilfreich empfunden.
Niederlanden und Australien haben Lehrstühle oder Forschungs- Darüber hinaus können vage formulierte Vorhersagen im Nach-
abteilungen für Parapsychologie (Turpin 2005). Diese Forscher hinein so interpretiert (»nachträglich angepasst«) werden, dass sie
führen wissenschaftliche Experimente durch und suchen dabei zu Ereignissen passen, die ein Wahrnehmungsset für ihre Inter-
nach möglichen außersinnlichen Wahrnehmungen und anderen pretation darstellen. Nostradamus, ein berühmter französischer
paranormalen Phänomenen. »Prophet« des 16. Jahrhunderts, sagte einmal in einem unvorsich-
tigen Augenblick, dass seine nicht eindeutigen Prophezeiungen
Parapsychologie (»parapsychology«) – beschäftigt sich mit paranormalen
Phänomenen wie außersinnlicher Wahrnehmung und Psychokinese. »eigentlich nicht verstanden werden könnten, bevor sie nach Ein-
treten des Ereignisses und durch dieses eine Deutung erführen«.
Aber lassen Sie uns, bevor wir uns ansehen, wie Parapsychologen Sind die spontanen »Visionen« ganz normaler Durchschnitts-
7 über außersinnliche Wahrnehmungen forschen, einige verbrei- menschen genauer? Können Träume zum Beispiel die Zukunft
tete Ansichten betrachten. voraussagen? Sowohl Menschen aus östlichen als auch aus west-
lichen Kulturen neigen dazu, das zu glauben und manchen wider-
jVorahnungen oder Einbildungen? strebt es deshalb noch mehr, in einen Flieger zu steigen, nachdem
Gibt es Menschen mit übernatürlichen Fähigkeiten, die in die sie von einem Flugzeugabsturz geträumt haben (Morewedge u.
Zukunft sehen können? Auch wenn wir uns möglicherweise Norton 2009). Oder kommt uns das nur so vor, weil wir dazu
jemanden wünschen würden, der uns die Börsenentwicklung neigen, uns eher an Träume zu erinnern oder jene zu rekonstru-
voraussagt, zeichnen sich die überprüften Vorhersagen »führen- ieren, die sich scheinbar bewahrheitet haben? Zwei Psychologen
der Hellseher« durch eine geringe Präzision aus. In den 1990er von der Harvard University (Murray u. Wheeler 1937) überprüf-
Jahren erwiesen sich alle Vorhersagen der Hellseher in der ten die prophetische Aussagekraft von Träumen, nachdem der
Boulevardpresse über überraschende Ereignisse als falsch kleine Sohn des Fliegers Charles Lindbergh 1932 gekidnappt und
(Madonna wurde keine Gospelsängerin, die Freiheitsstatue ermordet, aber seine Leiche noch nicht aufgefunden worden war.
verlor nicht bei einem Terroranschlag beide Arme, Königin Als die Forscher die Öffentlichkeit baten, ihnen ihre Träume über
Elisabeth von England verzichtete nicht auf ihren Thron, um in das Kind mitzuteilen, lieferten 1300 »Visionäre« Traumberichte
ein Kloster zu gehen). Und die Wahrsager und Hellseher des ab. In wie vielen davon wurde der Wahrheit entsprechend voraus-
neuen Jahrtausends machten keine Angaben zu den großen Er- gesagt, dass das Kind tot war? In 5% der Fälle. Und in wie vielen
eignissen, die in den Schlagzeilen standen, wie den schrecklichen Träumen wurde außerdem vorausgesehen, wo sich die Leiche
Ereignissen des 11. September. Wo waren die Präkognostiker, als genau befand (nämlich unter Bäumen vergraben)? In nur 4 von
wir sie wirklich brauchten, nämlich am 10. September? Warum 1300. Auch wenn diese Zahl sicher nicht besser war als der Zufall,
konnte trotz einer ausgesetzten Belohnung von 50 Mio. Dollar muss diesen vier Träumern die Genauigkeit ihrer scheinbaren
keiner von ihnen helfen, Osama bin Laden nach dem 11. Sep- Präkognition höchst unheimlich vorgekommen sein.
tember ausfindig zu machen oder vortreten und den drohenden Bei den Milliarden von Ereignissen pro Tag und bei einer aus-
Börsenkrach 2008 vorhersagen? In den letzten 30 Jahren sind reichenden Anzahl von Tagen muss es einfach zu einigen verblüf-
ungewöhnliche Vorhersagen fast nie eingetroffen und Medien fenden Zufällen kommen. Nach einer vorsichtigen Schätzung lässt
haben praktisch nie irgendeines der Ereignisse vorhergesagt, das sich nur aufgrund des Zufalls vorhersagen, dass mehr als 1000 Mal
in die Schlagzeilen kam (Emery 2004, 2006). Als 2010 33 Berg- pro Tag jemand auf der Erde an jemanden denkt und dann
leute bei einem Minenunglück eingeschlossen wurden, befragte innerhalb der nächsten 5 Minuten vom Tod dieser Person erfährt
die chilenische Regierung Berichten zufolge vier Menschen mit (Charpak u. Broch 2004). Wenn man also ein erstaunliches Ereig-
übernatürlichen Fähigkeiten. Ihre Vorhersage? »Sie sind alle tot« nis erklärt, sollte man dem Zufall eine Chance geben (Lilienfeld
(Kraul 2010). Aber 69 Tage später wurden alle 33 gerettet. 2009). Das Unwahrscheinliche wird also unvermeidlich, wenn
Analysen der Visionen von Hellsehern, die der Polizei ihre man nur genügend Zeit und Menschen zur Verfügung hat.
Dienste angeboten haben, ergaben, dass diese auch nicht genauer
sind als Vermutungen, die von anderen Menschen angestellt
» Wer viel erzählt, hat manchmal auch Recht.
Spanisches Sprichwort
wurden (Nickell 1994, 2005; Radford 2010; Reiser 1982). Hell-
seher, die mit der Polizei zusammenarbeiten, machen allerdings » Um sicher zu sein, dass Sie das Ziel treffen, sollten Sie zuerst
Hunderte von Vorhersagen. Dadurch wird die Chance größer, schießen und dann das als Ziel benennen, was Sie getroffen
dass bisweilen eine korrekte darunter ist, mit der sich der Betref- haben.
fende dann in der Öffentlichkeit rühmen kann. In den Polizei- Schriftsteller und Künstler Ashleigh Brilliant
7.5 · Exkurs: Außersinnliche Wahrnehmung – Wahrnehmung ohne Empfindung?
285 7

. Abb. 7.63 Überprüfung der übernatürlichen Fähigkeiten an der britischen Bevölkerung. Der Psychologe Richard Wiseman von der Universität
Hertfordshire hat eine »Mind Machine« geschaffen, um herauszufinden, ob Menschen den Fall einer Münze beeinflussen oder vorhersagen können. Mit
Hilfe eines berührungsempfindlichen Bildschirms (Touchscreen) wurde Besuchern von Festivals und Volksfesten überall im Land die Gelegenheit geboten,
bei vier Versuchen Kopf oder Zahl vorherzusagen. Mit Hilfe eines Zufallsgenerators entschied der Computer dann das Ergebnis des fiktiven Münzwurfs.
Nach Abschluss des Experiments im Januar 2000 hatten nahezu 28.000 Menschen 110.972 Vorhersagen abgegeben, von denen 49,8% richtig waren.
(Courtesy of Claire Cole)

jAußersinnliche Wahrnehmung auf dem Prüfstand die Rollbahn zu prallen. Es hat nie für längere Zeit zum Fliegen
Wie können wir, wenn wir mit Behauptungen über Gedanken- abgehoben«.
lesen, Astralreisen oder Kommunikation mit den Verstorbenen Wie könnten wir die Thesen der außersinnlichen Wahr-
konfrontiert werden, seltsame Ideen von solchen unterscheiden, nehmung in einem kontrollierten, replizierbaren Experiment
die seltsam klingen, aber wahr sind? Die Grundlage der Wissen- überprüfen? Ein Experiment ist etwas ganz anderes als eine
schaft hat eine einfache Antwort darauf: Ausprobieren und sehen, Vorführung auf der Bühne. Im Labor kontrolliert der Versuchs-
ob sie funktionieren. Wenn sie funktionieren, umso besser für leiter, was der »Übernatürliche« sieht und hört. Auf der Bühne
diese Ideen. Wenn nicht, dann umso besser für unsere Skepsis. kontrolliert der Übernatürliche, was das Publikum sieht und
Diese wissenschaftliche Haltung hat dazu geführt, dass Be- hört.
fürworter und Skeptiker in Folgendem übereinstimmen: Die Aus der Suche nach einer validen und reliablen Überprüfung
Parapsychologie braucht, wenn sie glaubwürdig sein will, ein der außersinnlichen Wahrnehmung ergaben sich Tausende von
reproduzierbares Phänomen und eine erklärende Theorie. Die Experimenten (. Abb. 7.63). Nachdem sie Daten aus 30 Studien
Parapsychologin Rhea White (1998) gesteht durchaus zu, dass untersucht hatten, kamen der Parapsychologe Lance Storm und
»das Bild von der Parapsychologie, das mir nach fast 44 Jahren seine Kollegen (2010a,b) zu dem Schluss, dass es, sofern man
der Beschäftigung mit diesem Gebiet in den Sinn kommt, das Teilnehmer hat, die schon Erfahrung mit außersinnlicher Wahr-
eines kleinen Flugzeugs ist, das seit 1882 ständig die Landebahn nehmung hatten oder daran glauben, »konsistente und reliable«
des Flughafens der empirischen Wissenschaft herunterfährt. ... parapsychologische Beweise gibt. Der Psychologe Ray Hyman
Seine Bewegung wird gelegentlich dadurch unterbrochen, dass (2010), der seit 1957 parapsychologische Forschung eingehend
es einige Meter vom Boden abhebt, um dann wieder einmal auf prüft, antwortet darauf, dass diese Beweise – sollten diese schon
286 Kapitel 7 · Wahrnehmung

die besten sein – nicht beeindrucken können: »Die Parapsycho- Obwohl die Publikation kritische Reviews einer hochrangi-
logie wird nur dann wissenschaftlich akzeptiert werden, wenn gen Zeitschrift überlebt hat, fanden andere Kritiker die Methoden
sie eine schlüssige Theorie liefert mit … unabhängigen, replizier- »voller grober Fehler« (Alcock 2011) oder die statistischen Ana-
baren Belegen. Das ist etwas, was sie nach einem Jahrhundert lysen »verzerrt« (Wagenmakers et al. 2011). »Ein Ergebnis – vor
immer noch erfüllen muss.« allem eines von solcher Bedeutung – muss mehrmals in Tests von
unabhängigen und skeptischen Wissenschaftlern wiederauftau-
» Im Herzen der Wissenschaft gibt es eine fundamentale
chen, um wissenschaftliche Glaubwürdigkeit zu erlangen«, be-
Spannung zwischen zwei scheinbar einander widerspre-
merkte der Astronom David Helfand (2011). »Ich habe wenig
chenden Einstellungen: einer Offenheit gegenüber neuen
Zweifel daran, dass Professor Bems Experimente durch diese
Ideen, ganz gleich wie seltsam oder gegen die Intuition
Tests durchfallen.«
gerichtet sie sein mögen, und die unbarmherzigste skepti-
Weil er diese Skepsis vorhersah, hat Bem seine Computer-
sche Überprüfung aller Ideen, seien sie nun alt oder neu.
materialien jedem zugänglich gemacht, der seine Studien replizie-
Carl Sagan (1987)
ren möchte. Im Moment sind Replikationen im Gange. Ein For-
schungsteam hat schon fünf Replikationen von Bems Gedächtnis-
7 » Der Zauberer Harry Houdini sagte, nachdem er Sir Arthur
experimenten an verschiedenen Universitäten durchgeführt und
Conan Doyle mit einem pseudo-übernatürlichen Trick
keine Präkognition festgestellt (Galak et al. 2011). Aber egal, was
hereingelegt hat: ›Nun bitte ich Sie, Sir Arthur, ziehen Sie
am Ende herauskommt – es wird das Resultat guter wissenschaft-
nicht voreilig den Schluss, dass bestimmte Dinge, die Sie
licher Arbeit sein, die sich dadurch auszeichnet, offen zu sein für
sehen, zwangsläufig übernatürlich oder von Geisterhand
eine Entdeckung, die den bisherigen Standpunkt in Frage stellt,
sind, nur weil Sie sie nicht erklären können.‹
um diese dann durch weitere Untersuchungen zu validieren.
Nach William Kalush und Larry Sloman, The Secret Life of
Ein Skeptiker, der Zauberer James Randi, hatte jahrelang
Houdini, 2007
einen Preis von 1 Mio. US-Dollar ausgesetzt (der 2010 verfallen
Daryl Bem (2011), ein angesehener Sozialpsychologe, der immer ist) – »für jeden, der eine genuine übernatürliche Kraft unter
ein Skeptiker der Bühnenhellseher war, scherzte einmal: »Ein korrekten Beobachtungsbedingungen nachweist« (Randi 1999;
Medium ist ein Schauspieler, der die Rolle eines Mediums spielt« Thompson 2010). Französische, australische und indische Grup-
(1984). Und doch hat er wieder Hoffnungen aufflammen lassen, pen haben parallel dazu ähnliche Preise von bis zu 200.000 Euro
replizierbare Beweise zu finden. Dazu führte er neun Experi- ausgesetzt (CFI 2003). So groß diese Summen sind, das Siegel
mente durch, die scheinbar zeigten, wie Menschen zukünftige der Anerkennung durch die Wissenschaft wäre weit mehr wert.
Ereignisse voraussehen. Bei einem davon haben Teilnehmer an Um diejenigen zu widerlegen, die sagen, es gebe keine außersinn-
der Cornell Universität in 53,1 der Fälle richtig geraten, wenn ein liche Wahrnehmung, brauchte man lediglich eine einzige Person,
erotisches Motiv auf einer von zwei zufällig ausgewählten Positi- die ein einziges reproduzierbares Phänomen der außersinn-
onen auf einem Bildschirm erschien (womit sie knapp, aber sta- lichen Wahrnehmung vorführen kann. (Um diejenigen zu wider-
tistisch signifikant über 50% lagen). Bei einem anderen haben legen, die sagen, Schweine könnten nicht sprechen, brauchte man
die Teilnehmer einige Wörter gesehen, danach einen Gedächtnis- bloß ein sprechendes Schwein.) Bisher hat sich nicht eine Person
test mit diesen Wörtern gemacht und anschließend eine zufällig dieser Art gemeldet.
ausgewählte Teilmenge aus diesen Wörtern geübt. Die Teilneh-
Prüfen Sie Ihr Wissen
mer haben sich besser an die eingeübten Wörter erinnert – sogar
dann, wenn die Übung erst nach dem Gedächtnistest stattfand. 5 Welches Forschungsfeld beschäftigt sich mit den Thesen
Die bevorstehende Übung, also ein zukünftiges Ereignis, wirkte der außersinnlichen Wahrnehmung?
offenbar auf ihre Fähigkeit, sich an Wörter zu erinnern.
Bem fragte sich, ob seine »von der Norm abweichenden« Er-
gebnisse einen evolutionären Vorteil für diejenigen darstellen, Abschließend bleibt festzuhalten: Um Ehrfurcht zu empfinden
die präkognitiv zukünftige Gefahren antizipieren können. Kriti- und tiefen Respekt vor dem Leben zu haben, brauchen wir uns
ker machten sich darüber lustig. »Wenn auch nur eine dieser nur unser eigenes Wahrnehmungssystem anzusehen und dessen
Behauptungen wahr wäre«, schrieb der Kognitionswissenschaft- Fähigkeit, formlose Nervenimpulse in bunte Bilder, lebhafte
ler Douglas Hofstadter (2011), »dann würde das Fundament, das Geräusche und verführerische Gerüche umzuorganisieren.
der zeitgenössischen Forschung zugrunde liegt, in sich zusam- Shakespeares Hamlet erkannte schon: »Es gibt mehr Ding’ im
menstürzen und wir müssten alles über die Natur des Univer- Himmel und auf Erden, als Eure Schulweisheit sich träumt,
sums neu überdenken.« Außerdem, wenn zukünftige Ereignisse Horatio.« Unter unseren ganz normalen Wahrnehmungserfah-
gegenwärtige Gefühle rückwirkend beeinflussen können, warum rungen gibt es vieles, was wirklich außerordentlich ist – sicher-
kann dann niemand intuitiv Ergebnisse im Casino oder die Zu- lich viel mehr, als wir bisher innerhalb der Psychologie zu träu-
kunft des Aktienmarktes vorhersagen? men gewagt hätten.
7.6 · Kapitelrückblick
287 7
7.6 Kapitelrückblick 7.20 Was wird im Rahmen der außersinnlichen Wahrnehmung
behauptet und welchen Schluss ziehen die meisten forschenden
7.6.1 Verständnisfragen Psychologen, wenn sie diese Behauptungen auf den Prüfstand
gestellt haben?
jGrundprinzipien sensorischer Wahrnehmung
7.1 Was verstehen wir unter Sinnesempfindung und Wahr-
nehmung? Und was unter »Top-down«- und »Bottom-up«-Ver- 7.6.2 Schlüsselbegriffe
arbeitung?
7.2 Welche drei Schritte sind grundlegend für alle sensorischen 4 Absolute Schwelle
Systeme? 4 Akkommodation
7.3 Was versteht man unter absoluter Schwelle und Unter- 4 Außersinnliche Wahrnehmung
schiedsschwelle, und haben Reize, die unterhalb der absoluten 4 Binokulare Hinweisreize
Schwelle liegen, überhaupt irgendeinen Einfluss auf uns? 4 Blinder Fleck
7.4 Welchen Nutzen ziehen wir aus sensorischer Adaptation? 4 Bottom-up-Verarbeitung
7.5 Wie nehmen unsere Erwartungen, Emotionen, Kontexte und 4 Dreifarbentheorie von Young und Helmholtz
unsere Motivation Einfluss auf unsere Wahrnehmung? 4 Embodied Cognition
4 Farbkonstanz
jSehen 4 Farbton
7.6 Welche Form von Energie sehen wir als sichtbares Licht und 4 Figur-Grund-Beziehung
wie wandelt das Auge Lichtenergie in neuronale Botschaften um? 4 Fovea
7.7 Wie verarbeiten das Auge und das Gehirn visuelle Informa- 4 Frequenz
tionen? 4 Frequenztheorie
7.8 Welche Theorien helfen uns, das Farbensehen zu verstehen? 4 Gate-Control-Theorie
7.9 Wie haben die Gestaltpsychologen Wahrnehmungsorganisa- 4 Gegenfarbentheorie
tion verstanden und was tragen das Figur-Grund-Prinzip und 4 Gehör
Gruppierungsprinzipien zu unserer Wahrnehmung bei? 4 Gestalt
7.10 Wie benutzen wir binokulare und monokulare Hinweise, 4 Gleichgewichtssinn
um die Welt in drei Dimensionen wahrzunehmen und Bewe- 4 Gruppierung
gung wahrzunehmen? 4 Innenohr
7.11 Wie helfen uns Wahrnehmungskonstanzen, unsere Empfin- 4 Intensität
dungen als bedeutungsvolle Wahrnehmungen zu organisieren? 4 Iris
7.12 Welchen Beitrag hat die Forschung zur Wiederherstellung 4 Kinästhesie
des Sehvermögens, zur sensorischen Deprivation und zur Wahr- 4 Kochlea
nehmungsadaptation für unser Verständnis davon geleistet, wie 4 Kochleaimplantat
Erfahrungen unsere Wahrnehmung beeinflussen? 4 Linse
4 Merkmalsdetektoren
jHören 4 Mittelohr
7.13 Welche Eigenschaften haben Luftdruckwellen, die wir als 4 Monokulare Hinweisreize
Klang erleben und wie wandelt das Ohr Schallenergie in neuro- 4 Ortstheorie
nale Botschaften um? 4 Parallelverarbeitung
7.14 Welche Theorien helfen uns, die Wahrnehmung der Ton- 4 Parapsychologie
höhe zu verstehen? 4 Phi-Phänomen
7.15 Wie lokalisieren wir Geräusche? 4 Priming
4 Psychophysik
jAndere wichtige Sinne 4 Pupille
7.16 Wie spüren wir Berührung? 4 Retina
7.17 Wie können wir Schmerz am besten verstehen und kon- 4 Retinale Disparität
trollieren? 4 Schallempfindungsschwerhörigkeit
7.18 Wie erfahren wir Geschmack und Geruch und wie hängen 4 Schallleitungsschwerhörigkeit
diese beiden zusammen? 4 Sehnerv
7.19 Wie spüren wir Lage und Bewegung unseres Körpers im 4 Sensorische Adaptation
Raum? 4 Sensorische Interaktion
288 Kapitel 7 · Wahrnehmung

4 Signaldetektionstheorie (SDT)
4 Sinnesempfindung
4 Stäbchen
4 Subliminal
4 Tiefenwahrnehmung
4 Tonhöhe
4 Top-down-Verarbeitung
4 Transduktion
4 Unterschiedsschwelle
4 Visuelle Klippe
4 Wahrnehmung
4 Wahrnehmungsadaptation
4 Wahrnehmungskonstanz
4 Wahrnehmungsset
7 4 Weber’sches Gesetz
4 Wellenlänge
4 Zapfen

7.6.3 Weiterführende deutsche Literatur

Anderson, J. R. (2013). Kognitive Psychologie (7. Aufl.). Heidelberg: Springer


Spektrum.
Birbaumer, N., & Schmidt, R. F. (2010). Biologische Psychologie (7. Aufl.).
Heidelberg: Springer.
Goldstein, E. B. (2007).Wahrnehmungspsychologie (7. Aufl.). Heidelberg:
Springer Spektrum.
Schönhammer, R. (2013). Einführung in die Wahrnehmungspsychologie:
Sinne, Körper, Bewegung (2. Aufl.). Stuttgart: UTB.
Guski, R. (2000). Wahrnehmung. Eine Einführung in die Psychologie der
menschlichen Informationsaufnahme. Stuttgart: Kohlhammer.
289 8

Lernen
David G. Myers

8.1 Wie lernen wir? – 290

8.2 Klassische Konditionierung – 292


8.2.1 Pawlows Experimente – 292
8.2.2 Pawlows Erbe – 298

8.3 Operante Konditionierung – 300


8.3.1 Skinners Experimente – 300
8.3.2 Skinners Erbe – 307
8.3.3 Gegenüberstellung von klassischer und operanter Konditionierung – 310

8.4 Biologische Veranlagungen, Kognition und Lernen – 311


8.4.1 Biologische Veranlagungen – 311
8.4.2 Der Einfluss von Kognitionen auf die Konditionierung – 315

8.5 Beobachtungslernen – 318


8.5.1 Spiegelneurone und Beobachtungslernen im Gehirn – 319
8.5.2 Anwendungsbereiche des Beobachtungslernens – 321

8.6 Kapitelrückblick – 325


8.6.1 Verständnisfragen – 325
8.6.2 Schlüsselbegriffe – 326
8.6.3 Weiterführende deutsche Literatur – 326

D. G. Myers, Psychologie,
DOI 10.1007/978-3-642-40782-6_8, © Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2014
290 Kapitel 8 · Lernen

Wenn ein Lachs zum ersten Mal auf dem Kiesbett eines Flusses auf signifikante Ereignisse wie etwa Nahrung oder Schmerz vor-
aus seinem Ei schlüpft, verfügen seine Gene über fast alle lebens- zubereiten (klassische Konditionierung). Auch lernen wir, Hand-
notwendigen Verhaltensvorgaben. Er weiß instinktiv, wie und lungen mit positiven Ergebnissen zu wiederholen und Handlun-
wohin er schwimmen, was er fressen muss und wie er wieder gen mit negativen Ergebnissen zu vermeiden (operante Kondi-
zu seinem Geburtsort zurückkommt. Geleitet durch den Duft tionierung). Dadurch, dass wir Ereignisse beobachten, lernen wir
seiner heimischen Gewässer beginnt er eine Odyssee strom- neue Verhaltensweisen. Und durch die Sprache lernen wir auch
aufwärts bis hin zum Laichplatz seiner Vorfahren und macht dort Dinge, die wir weder erlebt noch beobachtet haben (kognitives
genau jene Umweltbedingungen (Kies und Fließgeschwin- Lernen). Aber wie lernen wir?
digkeit) ausfindig, die ihm seine Fortpflanzung erleichtern.
Lernen (»learning«) – relativ dauerhafte Veränderung im Verhalten eines
Dann paart er sich und stirbt, nachdem er seine Lebensaufgabe Organismus aufgrund von Erfahrung.
erfüllt hat.
Anders als der Lachs werden wir nicht mit einem genetischen Vor mehr als 200 Jahren griffen Philosophen wie John Locke und
Lebensplan geboren. Viele Dinge, die wir tun, lernen wir durch David Hume eine These auf, die Aristoteles 2000 Jahre zuvor
Erfahrung. Zwar müssen wir darum kämpfen, eine Richtung aufgestellt hatte: Wir lernen durch Assoziation. Unser Verstand
in unserem Leben zu finden – eine Fähigkeit, die dem Lachs verbindet auf natürliche Weise aufeinander folgende Ereignisse.
angeboren ist –, doch unser Lernen schenkt uns größere Flexibi- Wenn Sie, nachdem Sie frisch gebackenes Brot gesehen und ge-
8 lität. Wir können lernen, wie man Grashütten baut oder Iglus, rochen haben, es essen und es Ihnen schmeckt, wird Ihre Er-
U-Boote oder Raumstationen, und dadurch passen wir uns fahrung Sie das nächste Mal, wenn Sie frisches Brot sehen und
fast jeder Umgebung an. Tatsachlich ist wohl das wichtigste riechen, zu der Erwartung veranlassen, dass es Ihnen wieder
Geschenk, das wir von der Natur erhalten haben, unsere An- schmeckt, wenn Sie es essen. Und wenn Sie mit einem Geräusch
passungsfähigkeit – unsere Fähigkeit, neue Verhaltensweisen zu eine erschreckende Folgereaktion in Verbindung bringen, dann
lernen, die es uns ermöglichen, mit wechselnden Bedingungen kann es sein, dass Ihre Angst allein durch dieses Geräusch aus-
zurechtzukommen. gelöst wird. Nachdem ein 4-jähriges Kind gerade im Fernsehen
Das Lernen weckt Hoffnungen. Was erlernbar ist, können wir gesehen hatte, wie jemand ausgeraubt worden war, rief es aus:
unter Umständen auch lehren – eine ermutigende Tatsache für »Wenn ich diese Musik gehört hätte, wäre ich nicht um die Ecke
Eltern, Lehrer, Trainer und Tierausbilder. Was bereits gelernt gegangen!« (Wells 1981).
wurde, können wir möglicherweise durch erneutes Lernen ver- Gelernte Assoziationen werden oft unmerklich ausgelöst.
ändern – auf dieser Annahme beruhen Beratungsgespräche, Gibt man Menschen einen roten Stift (der mit der Markierung
Psychotherapie und Rehabilitationsmaßnahmen. Ganz gleich- von Fehlern verbunden wird) anstelle eines schwarzen Stifts,
gültig, wie unglücklich, erfolglos oder gefühlskalt wir sind: Es werden sie beim Korrigieren von Aufsätzen mehr Fehler ent-
muss nicht zwangsläufig so bleiben. decken und schlechtere Noten geben (Rutchick et al. 2010). Bei
Kein Thema kommt dem Kern der Psychologie näher als Abstimmungen sind die Menschen eher bereit, Steuern zu unter-
das Lernen. In den vorausgegangenen Kapiteln haben wir uns stützen, die für die Bildung verwendet werden, wenn die Ab-
beispielsweise schon mit dem Lernen bei Kleinkindern, der Be- stimmung in einer Schule stattfindet (Berger et al. 2008). Wenn
deutung des Lernens bei der visuellen Wahrnehmung, beim er- der Abstimmungsort eine Kirche im konservativen amerika-
warteten Effekt von Drogen und bei Geschlechterrollen befasst. nischen Süden ist, unterstützen die Menschen eher ein Verbot
In den folgenden Kapiteln werden wir noch darauf eingehen, wie der gleichgeschlechtlichen Ehe (Rutchick 2010).
Lernen unser Denken und unsere Sprache, unsere Motivation Gelernte Assoziationen prägen unsere Gewohnheiten (Wood
und unsere Gefühle, unsere Persönlichkeit und unsere Einstel- u. Neal 2007). Wenn wir ein Verhalten in einem bestimmten
lungen prägt. In 7 Kap. 9 werden wir sehen, wie das Gehirn Ge- Kontext wiederholen – im Bett in einer bestimmten Körper-
lerntes speichert und abruft. haltung schlafen, auf dem Campus bestimmte Strecken laufen,
im Kino Popcorn essen – wird das Verhalten mit dem Kontext
assoziiert. Unsere nächste Erfahrung mit dem Kontext löst
8.1 Wie lernen wir? dann unsere gewohnheitsbedingte Reaktion aus. Doch wie lange
dauert es, bis sich solche Gewohnheiten formen? Um dies
herauszufinden, bat ein britisches Team von Forschern 96 Uni-
? 8.1 Was versteht man unter Lernen und welches sind die
versitätsstudenten, sich ein gesundes Verhalten auszusuchen –
grundlegenden Formen des Lernens?
z. B. vor dem Abendessen zu joggen oder Obst zum Mittagessen
Psychologen definieren Lernen als eine mehr oder weniger zu essen – und dieses täglich für 84 Tage auszuführen. Die Stu-
dauerhafte Veränderung im Verhalten eines Organismus auf- denten sollten weiterhin festhalten, ob sich das Verhalten auto-
grund von Erfahrung. Durch Lernen passen wir Menschen uns matisch anfühlte (wie etwas, was sie taten, ohne darüber nach-
unserer Umwelt an. Wir lernen, Ereignisse zu erwarten und uns zudenken und es ihnen schwer fallen würde, es nicht zu tun). Im
8.1 · Wie lernen wir?
291 8

. Abb. 8.1 Klassische Konditionierung

Durchschnitt wurde das Verhalten nach 66 Tagen zur Gewohn- mit, einen Hering zu bekommen. In beiden Fällen haben die
heit (Lally et al. 2010). (Gibt es etwas, das Sie gerne zu einem Tiere etwas Überlebenswichtiges gelernt: die unmittelbare Zu-
routinemäßigen Bestandteil Ihres Lebens machen würden? Tun kunft vorherzusagen.
Sie dies einfach täglich 2 Monate lang, oder zur Übung etwas
Assoziatives Lernen (»associative learning«) – Lernen, dass bestimmte
länger, und Sie werden wahrscheinlich bald eine neue Gewohn- Ereignisse zusammen auftreten. Bei den Ereignissen kann es sich (in
heit haben.) der klassischen Konditionierung) um zwei Reize oder (in der operanten
Auch andere Lebewesen lernen Assoziationen. Wenn die Konditionierung) um eine Reaktion und ihre Konsequenzen handeln.
Meeresschnecke Aplysia von spritzendem Wasser belästigt wird,
zieht sie zu ihrem Schutz die Kiemen zurück. Wenn es weiter Konditionierung nennt man den Prozess des Erlernens von Asso-
spritzt, wie dies bei rauer See geschieht, nimmt ihre Rückzugsre- ziationen und hierbei werden zwei Arten unterschieden.
aktion ab. Bekommt die Meeresschnecke immer wieder einen 4 Bei der klassischen Konditionierung lernen wir, zwei Reize
Elektroschock, nachdem sie bespritzt wurde, wird ihre Rück- miteinander zu verbinden und auf diese Weise Ereignisse
zugsreaktion auf das Spritzen stärker. Das Tier verbindet den vorwegzunehmen (Reize können alle Ereignisse oder Situa-
Spritzer mit dem drohenden Schock. tionen sein, die eine Reaktion auslösen). Wir lernen, dass
Höher entwickelte Lebewesen können Assoziationen zwi- ein Blitzschlag ein Signal für den darauf folgenden Donner
schen ihrem eigenen Verhalten und seiner Wirkung lernen. ist, und wir beginnen, auf Donner gefasst zu sein, wenn es
Seehunde in einem Aquarium wiederholen Verhaltensweisen in der Nähe blitzt (. Abb. 8.1).
wie Klopfen oder Bellen, die die Menschen dazu bringen, ihnen 4 Durch die operante Konditionierung lernen wir
einen Hering zuzuwerfen. (und andere Lebewesen), eine Reaktion (unser Verhalten)
und deren Folgen in Verbindung zu bringen und auf
Die meisten von uns könnten die Reihenfolge der Titel auf
diese Weise Handlungen mit guten Ergebnissen zu wieder-
ihrer Lieblings-CD nicht nennen. Wenn wir aber das Ende eines
holen (. Abb. 8.2) und Handlungen mit schlechten
Stückes hören, löst dies (durch Assoziation) die Vorwegnahme
Ergebnissen zu vermeiden.
des nächsten aus. Ebenso verbinden wir, wenn wir unsere
Nationalhymne singen, das Ende jeder Zeile mit dem Beginn der Reiz (Stimulus; »stimulus«) – alle Ereignisse oder Situationen, die eine
nächsten. (Nehmen Sie eine Zeile aus der Mitte heraus und Reaktion auslösen.

achten Sie darauf, wie viel schwieriger es ist, sich an die vorher-
Zum besseren Verständnis werden wir diese beiden Typen des
gehende Zeile zu erinnern.)
assoziativen Lernens getrennt betrachten. Sie treten jedoch oft
Die Meeresschnecke und die Seehunde setzen zwei Ereignisse, in derselben Situation auf. Ein cleverer japanischer Landwirt
die kurz nacheinander eintreten, zueinander in Beziehung und hütet sein Vieh, indem er es mit elektronischen Piepsern aus-
demonstrieren damit das Prinzip des assoziativen Lernens. Die stattet, die er von seinem Handy aus aktiviert. Nach einer Woche
Meeresschnecke verbindet den Spritzer mit dem drohenden Training lernen die Tiere, die beiden Reize – den Piepston und
Elektroschock; die Seehunde verbinden Klopfen und Bellen da- die Ankunft des Futters miteinander zu verbinden (klassische
292 Kapitel 8 · Lernen

. Abb. 8.2 Operante Konditionierung

Konditionierung). Aber sie lernen auch, ihren eiligen Gang zum Klassische Konditionierung (»classical conditioning«) – Form des
8 Futtertrog mit dem Fressvergnügen zu verbinden (operante Lernens, bei der ein Organismus zwei oder mehr Reize miteinander asso-
ziiert und Ereignisse vorwegnimmt.
Konditionierung).
Konditionierung ist jedoch nicht die einzige Form des Pawlows Arbeit bildete auch die Grundlage für viele der Thesen
Lernens. Durch kognitives Lernen erwerben wir mentale Infor- des amerikanischen Psychologen John B. Watson. Während er
mationen, die unser Verhalten leiten. Beim Beobachtungslernen, die grundlegenden Gesetze des Lernens erforschte, drängte
einer Form des kognitiven Lernens, lernen wir aus den Erfah- Watson (1913) seine Kollegen dazu, den Bezugsrahmen von
rungen anderer. Schimpansen beispielsweise lernen manchmal Gedanken, Gefühlen und innerer Motivationen aufzugeben.
Verhaltensweisen nur dadurch, dass sie andere Schimpansen bei Stattdessen, so Watson, sollte die psychologische Forschung
ihren Tätigkeiten beobachten. Wenn ein Tier einem anderen da- untersuchen, wie Organismen auf Reize in ihrer Umgebung
bei zuschaut, wie es lernt, ein Puzzle zu legen, wofür es mit Futter reagieren. »Das Ziel der Theorie ist die Vorhersage und Kon-
belohnt wird, führt das beobachtende Tier das Kunststück mög- trolle des Verhaltens. Introspektion steht nicht im Mittelpunkt
licherweise schneller vor. Dies funktioniert auch bei Menschen: der Methodik der Psychologie.« Kurz gesagt sollte die Psycho-
Wir können zusehen und lernen. logie eine objektive Wissenschaft sein, die auf beobachtbarem
Verhalten basiert.
Kognitives Lernen (»cognitive learning«) – der Erwerb mentaler Informa-
tion durch das Beobachten von Ereignissen, anderer Menschen oder durch Diese Position, die die nordamerikanische Psychologie in
Sprache. der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts beeinflusste, nannte
Watson Behaviorismus. Pawlow und Watson teilten beide eine
Zunächst betrachten wir die klassische Konditionierung genauer. Geringschätzung mentalistischer Konzepte wie etwa des Be-
wusstseins; ebenso waren sie sich darin einig, dass die grund-
Prüfen Sie Ihr Wissen
legenden Lerngesetze für alle Lebewesen – seien es Hunde oder
5 Warum sind Gewohnheiten, wie beispielsweise etwas Menschen – dieselben seien. Obwohl die heutigen Forscher
Süßes zu einer Tasse Kaffee zu essen, so schwer zu ändern? i. Allg. darin übereinstimmen, dass die Psychologie mentale
Prozesse untersuchen sollte, würden sie auch darin überein-
stimmen, dass das klassische Konditionieren eine grundlegen-
de Form des Lernens ist, durch die sich alle Organismen ihrer
8.2 Klassische Konditionierung Umgebung anpassen.
Behaviorismus (»behaviorism«) – Sichtweise von der Psychologie als
? 8.2 Was sind die grundlegenden Elemente der klassischen 1. einer objektiven Wissenschaft, die 2. das Verhalten ohne Bezugnahme auf
mentale Prozesse untersucht. Heute stimmen die meisten Psychologen,
Konditionierung und wie lässt sich Lernen aus der Sicht des
die in der Forschung tätig sind, lediglich der 1. Aussage zu.
Behaviorismus beschreiben?

Viele Menschen kennen den Namen Iwan Pawlow (1849–1936). 8.2.1 Pawlows Experimente
Seine Experimente zu Beginn des 20. Jahrhunderts – die wohl
berühmteste Forschungsarbeit in der Psychologiegeschichte – Pawlow wurde sein Leben lang von der Leidenschaft für die For-
sind Klassiker, und das Phänomen, das er erforscht hat, nennen schung getrieben (. Abb. 8.3). Nachdem er seinen anfänglichen
wir zu Recht klassische Konditionierung. Plan fallen gelassen hatte, wie sein Vater russisch-orthodoxer
8.2 · Klassische Konditionierung
293 8
Speichel in einen Messbehälter leitete. Vom Nachbarraum aus
konnten sie ihn mit Futter versorgen. Zunächst schoben sie
es ihm in einem Futternapf hin, später bliesen sie in einem
bestimmten Moment Fleischpulver in das Maul des Hundes.
Sie koppelten dann neutrale Reize (NS) – etwas, das der Hund
sehen oder hören konnte, aber nicht mit Futter assoziierte – mit
Futter im Maul des Hundes. Wenn der neutrale Reiz regelmäßig
signalisierte, dass das Futter kommt, würde der Hund dann die
beiden Reize miteinander assoziieren? Wenn ja, würde durch
den neutralen Reiz in Erwartung des Futters Speichelfluss ent-
stehen?
Neutraler Stimulus bzw. Reiz (NS; »neutral stimulus«) – in der klassischen
Konditionierung ein Reiz, der vor der Konditionierung keine Reaktion auslöst.

Beide Fragen konnten mit ja beantwortet werden. Unmittelbar


bevor das Futter ins Maul des Hundes kam, um Speichelfluss
hervorzurufen, ließ Pawlow einen Ton erklingen. Nach einigen
Ton-Futter-Kombinationen begann der Hund beim Hören des
Tons mit dem Speichelfluss, da er das Fleischpulver vorausahnte.
Dies geschah auch, wenn der Ton allein erklang (. Abb. 8.4).
. Abb. 8.3 Iwan Pawlow. »Experimentelle Forschung … sollte das un- In späteren Experimenten konditionierte Pawlow Hunde, auf
erschütterliche Fundament der zukünftigen wirklich wissenschaftlichen
Psychologie bilden.« (1927; This image is in the public domain because its
andere Reize mit Speichelfluss zu reagieren – auf einen Summer,
copyright has expired.) auf Licht, auf eine Berührung des Beins, sogar auf das Sehen eines
Kreises. (Das funktioniert auch mit Menschen. Als Gottfried
et al. [2003] einigen hungrigen jungen Menschen in London
Priester zu werden, machte er mit 33 Jahren seinen Abschluss abstrakte Figuren zeigten, bevor sie dem Aroma von Erdnuss-
als Arzt und verbrachte die nächsten zwei Jahrzehnte damit, butter oder Vanille ausgesetzt wurden, reagierte ihr Gehirn
das Verdauungssystem zu untersuchen. Diese Tätigkeit brachte schon bald in freudiger Erwartung auf die abstrakten Bilder
ihm im Jahre 1904 Russlands ersten Nobelpreis ein. Aber erst allein.)
durch seine neuen Experimente zur Lernforschung, denen er Da Speichelfluss als Reaktion auf Futter im Maul nicht ge-
die letzten drei Jahrzehnte seines Lebens widmete, erhielt der lernt war, nannte Pawlow dies eine unkonditionierte Reaktion
engagierte Forscher seinen Platz in der Geschichte. (UR). Futter löst im Maul automatisch, unkonditioniert, einen
Zu Pawlows Richtungswechsel in der Forschung kam es, als Speichelfluss beim Hund aus. Daher nannte Pawlow den Futter-
sein schöpferischer Geist sich auf ein zufälliges Ergebnis stürzte. reiz einen unkonditionierten Stimulus oder unkonditionierten
Er fand heraus, dass ein Hund unwillkürlich Speichelfluss Reiz (US).
aufwies, sobald er ihm Futter ins Maul gab. Ihm fiel auch auf,
Unkonditionierte Reaktion (UR; auch unbedingte Reaktion;
dass dieser Hund nicht nur auf den Geschmack des Futters mit »unconditioned response«) – in der klassischen Konditionierung die nicht
Speichelfluss reagierte, sondern etwa auch auf den bloßen An- gelernte, natürlich auftretende Reaktion auf einen unkonditionierten
blick des Futters, des Futternapfs oder auf die Anwesenheit der Stimulus (US), wie etwa Speichelfluss, wenn sich Futter im Maul befindet.
Person, die normalerweise das Futter brachte, oder sogar auf das Unkonditionierter Stimulus bzw. Reiz (US; auch unbedingter Stimulus;
»unconditioned stimulus«) – in der klassischen Konditionierung ein
Geräusch, das die sich nähernden Schritte dieser Person ver-
Reiz, der unkonditioniert (ungelernt) – natürlich und automatisch – eine
ursachten. Zuerst betrachtete Pawlow diese »psychischen Sekre- Reaktion (UR) auslöst.
tionen« als Ärgernis – bis er erkannte, dass sie auf eine einfache,
aber wichtige Form des Lernens hindeuteten. Speichelfluss als Reaktion auf den Ton wurde dadurch zu einem
Pawlow und seine Assistenten versuchten, sich vorzustellen, bedingten Reflex, dass der Hund lernte, den Ton mit dem Futter
was der Hund wohl dachte und fühlte, wenn er in Erwartung des zu koppeln. Diese gelernte Reaktion nennen wir konditionierte
Futters sabberte. Dies führte sie nur zu fruchtlosen Debatten. Um Reaktion (CR). Den zunächst neutralen Reiz (in diesem Fall der
das Phänomen objektiver zu erforschen, begannen sie zu expe- zuvor bedeutungslose Tonreiz, der dann den konditionierten
rimentieren. Um einen möglichen Einfluss äußerer Reize aus- Speichelfluss auslöste) nennen wir den konditionierten Stimu-
zuschließen, isolierten sie den Hund in einem kleinen Zimmer, lus (CS). Diese beiden Arten von Reizen und Reaktionen lassen
banden ihn mit einem Hundegeschirr fest und brachten an sich leicht unterscheiden; merken Sie sich einfach: konditioniert
seinem Maul eine Vorrichtung an, die den abgesonderten = gelernt, unkonditioniert = nicht gelernt (. Abb. 8.5).
294 Kapitel 8 · Lernen

. Abb. 8.4 Pawlows klassisches Experiment. Pawlow bot einen neutralen Reiz (einen Ton) unmittelbar vor einem unkonditionierten Reiz (Futter im Maul)
dar. Der neutrale Reiz wurde dann zum konditionierten Reiz, der eine konditionierte Reaktion auslöste

Konditionierte Reaktion (CR; auch bedingte Reaktion; »conditioned Prüfen Sie Ihr Wissen
response«) – in der klassischen Konditionierung die gelernte Antwort auf
einen zunächst neutralen, nun jedoch konditionierten Reiz (CS). 5 Ein Versuchsleiter lässt einen Ton erklingen, kurz bevor
Konditionierter Stimulus bzw. Reiz (CS; auch bedingter Stimulus; er einen Luftstoß in Ihr Auge bläst. Nach einigen Wieder-
»conditioned stimulus«) – in der klassischen Konditionierung ein zunächst
holungen blinzeln Sie, auch wenn nur der Ton allein er-
irrelevanter Reiz, der nach der Assoziation mit einem unkonditionierten
Reiz (US) eine konditionierte Reaktion (CR) auslöst. klingt. Was ist der NS, der US, die UR, der CS und die CR?

Wenn Pawlows Nachweis des assoziativen Lernens so einfach


war, fragt man sich, was er in den folgenden drei Jahrzehnten Erwerb
getan hat. Welche Entdeckung wurde in seiner Forschungsfabrik
? 8.3 Was versteht man in der klassischen Konditionierung
gemacht, so dass anschließend 532 Arbeiten über Speichelkondi-
unter folgenden Prozessen: Erwerb, Löschung, Spontan-
tionierung geschrieben wurden (Windholz 1997)? Er und seine
erholung, Reizgeneralisierung und Reizdiskrimination?
Kollegen fanden durch ihre Experimente fünf zentrale Kondi-
tionierungsprozesse: Erwerb, Löschung, Spontanerholung, Reiz- Um den ursprünglichen Lernprozess, den Erwerb des Zusam-
generalisierung und Reizdiskrimination. menhangs zwischen Reiz und Reaktion, zu verstehen, mussten

. Abb. 8.5 (© Peanuts Worldwide LLC./Dist. By Universal Uclick/Distr. Bulls)


8.2 · Klassische Konditionierung
295 8

. Abb. 8.6 Ein unerwarteter CS. Der Psychologe Tirrell (1990) erinnert sich: »Meine erste Freundin mochte Zwiebeln, so dass ich schließlich Zwiebel-
geruch mit Küssen assoziierte. Bald führte der Zwiebelgeruch zu einem wunderbaren Kribbeln im Bauch. Oh, was für ein Gefühl!«

sich Pawlow und seine Kollegen zuerst mit der Frage nach ter wurde. Außerdem entwickelte das Wachtelmännchen eine
dem Faktor Zeit auseinandersetzen: Wie viel Zeit sollte zwischen Vorliebe für den Rotlicht-Bereich des Käfigs. Wenn Wachtel-
der Darbietung des neutralen Reizes (Ton, Licht, Berührung) männchen sexuell konditionierten Reizen ausgesetzt waren,
und dem unkonditionierten Reiz (Futter) vergehen? Sie fan- paarten sie sich schneller mit dem Weibchen, wenn es kam, und
den heraus, dass die Antwort »nicht viel« hieß. Bei diversen produzierten mehr Sperma und Samenflüssigkeit (Matthews
Arten und Versuchsreihen ist eine halbe Sekunde wirklich aus- et al. 2007). Die Fähigkeit des Wachtelmännchens, sich klassisch
reichend. konditionieren zu lassen, erweist sich somit als Vorteil für die
Fortpflanzung.
Erwerb (»acquisition«) – erste Phase der klassischen Konditionierung;
die Phase, in der ein neutraler Reiz mit einem unkonditionierten Reiz Auch bei Menschen werden Gegenstände, Gerüche und An-
gekoppelt wird, sodass der neutrale Reiz eine konditionierte Reaktion aus- blicke – selbst eine geometrische Figur in einem Experiment –,
löst. Bei der operanten Konditionierung: die Bekräftigung einer ver- die mit sexuellen Lustgefühlen verbunden werden, zu konditio-
stärkten Reaktion.
nierten Reizen für sexuelle Erregung (Byrne 1982). Zwiebel-
Was glauben Sie, würde passieren, wenn das Futter (US) vor dem duftender Atem löst normalerweise keine sexuelle Erregung aus.
Ton (NS) und nicht danach gebracht würde? Würde eine Kondi- Aber wenn er mehrmals mit einem leidenschaftlichen Kuss ver-
tionierung eintreten? Wahrscheinlich nicht. Zu einer Kondi- bunden ist, kann er zu einem CS werden und Erregung auslösen
tionierung kommt es, abgesehen von einigen Ausnahmen, nur (. Abb. 8.6). Hierbei wird auch deutlich, dass Konditionierung
selten, wenn der NS auf den US folgt. Dieses Forschungsergebnis eine bestimmte Funktion hat: Sie hilft einem Tier, zu überleben
passt zu der Annahme, dass die klassische Konditionierung eine und sich fortzupflanzen – indem es auf Zeichen reagiert, die dazu
biologische Anpassung ist. Sie hilft den Organismen, sich auf gute beitragen, dass es Futter findet, Gefahren vermeidet, Weibchen auf-
und schlechte Ereignisse vorzubereiten. Für Pawlows Hund ist der spürt und Nachwuchs bekommt (Hollis 1997).
ursprünglich neutrale Ton zu einem CS geworden, nachdem Durch Konditionierung höherer Ordnung kann ein neuer
dieser ein wichtiges biologisches Ereignis signalisierte: Es gibt NS zu einem neuen CS werden. Hierzu muss dieser lediglich mit
Futter (US). Das Geräusch eines knackenden Zweiges (CS) kann einem zuvor konditionierten Reiz verbunden werden. Wenn ein
für einen Hirsch im Wald ein Hinweis auf einen Jäger (US) sein. Ton regelmäßig Futter vorhersagt und Speichelfluss verursacht,
Wenn das gute oder schlechte Ereignis bereits eingetreten ist, kann ein Licht, welches mit dem Ton verbunden wird, eben-
würde der Ton oder das Geräusch wahrscheinlich nicht als Signal falls Speichelfluss auslösen. Auch wenn diese Konditionierung
für irgendetwas dienen. höherer Ordnung (auch Konditionierung zweiter Ordnung ge-
Domjan (1992, 1994, 2005) zeigte, wie der CS ein wichtiges nannt) meist schwächer ausgeprägt ist als die Konditionierung
biologisches Ereignis ankündigt, indem er die sexuelle Erregung erster Ordnung, beeinflusst sie unser tägliches Leben. Stellen Sie
eines japanischen Wachtelmännchens konditionierte. Die For- sich vor, dass Ihnen etwas große Angst bereitet – vielleicht ein
scher schalteten ein rotes Licht ein, kurz bevor sie ihm ein paa- Pitbull, der Sie kürzlich gebissen hat. Wenn nun etwas anderes
rungsfähiges Weibchen präsentierten. Dies führte nach und nach – wie z. B. das Bellen eines Hundes – Sie an diesen Pitbull erin-
dazu – wenn das Licht weiterhin das nahende Kommen eines nert, könnte das Bellen alleine schon ein wenig Angst in Ihnen
Weibchens ankündigte –, dass das Wachtelmännchen aufgereg- auslösen.
296 Kapitel 8 · Lernen

. Abb. 8.7 Idealisierte Kurve für Erwerb, Löschung und Spontanerholung. Die ansteigende Kurve zeigt, dass die CR schnell stärker wird, wenn der NS
wiederholt mit dem US gekoppelt wird und dadurch zum CS wird (Erwerb), und sich abschwächt, sobald der CS allein dargeboten wird (Löschung). Nach
einer Pause kehrt die CR zurück (Spontanerholung)

8
Konditionierung höherer Ordnung (»higher-order conditioning«) – Löschung (auch Extinktion; »extinction«) – kontinuierliches Schwächer-
Prozess, bei dem der konditionierte Reiz aus einer konditionierten Erfah- werden der konditionierten Reaktion. In der klassischen Konditionierung
rung mit einem neuen neutralen Reiz verbunden wird und dadurch tritt Löschung ein, wenn dem konditionierten Reiz (CS) kein unkonditionier-
ein zweiter (oftmals schwächerer) konditionierter Reiz geschaffen wird. ter Reiz (US) folgt; in der operanten Konditionierung geschieht dies, wenn
Wenn ein Tier z. B. gelernt hat, dass ein Ton Futter vorhersagt, könnte eine Reaktion nicht mehr verstärkt wird.
es lernen, dass ein Lichtsignal den Ton vorhersagt und dann schon auf das Spontanerholung (»spontaneous recovery«) – erneutes Auftreten einer
Lichtsignal reagieren. (Auch Konditionierung zweiter Ordnung genannt.) gelöschten konditionierten Antwort nach einer Pause.

Merken Sie sich:


US = Unkonditionierter Stimulus oder Reiz Prüfen Sie Ihr Wissen

UR = Unkonditionierte Reaktion
5 Der erste Schritt in der klassischen Konditionierung,
CS = Konditionierter Stimulus oder Reiz
in der ein NS zum CS wird, heißt .
CR = Konditionierte Reaktion
Wenn einem CS kein US mehr folgt und die CR abge-
schwächt wird, handelt es sich um .
Prüfen Sie Ihr Wissen

5 Wenn Ihnen aufgrund von Kuchenduft das Wasser


Reizgeneralisierung
im Mund zusammenläuft, was ist dann der US, der CS
und die CR? Pawlow und seinen Studenten fiel auf, dass ein Hund nach der
Konditionierung auf den Klang eines Tons auch in gewisser
Weise auf den Klang eines anderen Tons reagierte. Ähnliche
Auswirkungen hatte auch die Konditionierung eines Hundes,
Löschung und Spontanerholung der Speichelfluss zeigte, wenn er gekrault wurde: Er reagierte
Was geschieht, wenn der CS nach einer Konditionierung wieder- nun auch in gewisser Weise mit Speichelfluss, wenn er gekratzt
holt ohne den US auftritt? Löst der CS weiterhin die CR aus? wurde (Windholz 1989) oder wenn er an einem anderen Körper-
Pawlow fand heraus, dass die Hunde, wenn er den Ton immer teil stimuliert wurde (. Abb. 8.8). Diese Tendenz, auf Reize zu
wieder erklingen ließ, ohne dabei Futter zu geben, immer reagieren, die dem CS ähnlich sind, wird Reizgeneralisierung
weniger Speichelfluss aufwiesen. Der abnehmende Speichelfluss genannt.
veranschaulicht die Löschung (Extinktion), die verminderte
Reizgeneralisierung (»generalization«) – Tendenz, dass nach Konditionie-
Reaktion, die auftritt, wenn der CS (Ton) nicht als Signal für einen rung einer Reaktion bestimmte Reize, die dem konditionierten Reiz ähneln,
bevorstehenden US (Futter) dient. Pawlow fand aber auch heraus, ähnliche Reaktionen hervorrufen.
dass der Speichelfluss als Reaktion auf den Ton spontan wieder
auftrat (. Abb. 8.7), wenn er einige Stunden verstreichen ließ, Reizgeneralisierung kann adaptiv sein, etwa, wenn kleinen
bevor er erneut den Ton erklingen ließ. Diese Spontanerholung Kindern beigebracht wird, sich vor fahrenden Autos auf der
– das Wiederauftreten einer (abgeschwächten) CR nach einer Straße in Acht zu nehmen, und diese dann auf Lastwagen oder
Pause – brachte Pawlow auf den Gedanken, dass der Prozess der Motorräder ähnlich reagieren. Und die Reizgeneralisierung kann
Löschung die CR eher unterdrückte als ausschaltete. lange bestehen bleiben: Ein argentinischer Schriftsteller, der
8.2 · Klassische Konditionierung
297 8

. Abb. 8.9 Missbrauch als Risikofaktor. Die sensibilisierten Gehirne von


Kindern, die missbraucht wurden, reagieren intensiv auf zornige Gesichter
(Pollak et al. 1998). Diese generalisierte Angstreaktion kann dazu beitragen,
zu erklären, warum sie ein größeres Risiko für eine psychische Störung
haben. (© UW–Madison News & Public Affairs, Photo by Jeff Miller. Diese
Fotografie stellt Forschung dar, die an der University of Wisconsin-Madison
durchgeführt wurde.)

wütendes Gesicht auf dem Computerbildschirm, dann wiesen


die Gehirnwellen dieser Kinder dramatisch stärkere und länger
andauernde Reaktionen auf (Pollak et al. 1998).
. Abb. 8.8 Reizgeneralisierung. Pawlow wies Reizgeneralisierung nach, Reizgeneralisierung bewirkt, dass Reize, die von Natur aus
indem er an verschiedenen Körperstellen eines Hundes kleine Vibratoren ekelerregenden Objekten ähneln, durch Kopplung Ekel auslösen.
anbrachte. Nachdem er Speichelfluss durch die Stimulierung des Ober- Normalerweise ansprechendes Essen, wie z. B. Schokoladen-
schenkels ausgelöst hatte, stimulierte er andere Bereiche des Körpers. Je
pudding, ist nicht mehr appetitanregend, wenn er in der ekel-
näher der stimulierte Punkt dem Oberschenkel kam, desto stärker war die
konditionierte Reaktion. (Nach Pawlow 1927) erregenden Form eines Hundehaufens gereicht wird (Rozin et al.
1986). Ebenso fand man heraus, dass wir fremde Menschen eher
mögen, wenn diese jemandem ähnlich sehen, den wir mögen,
unter Folter leiden musste, zuckt immer noch vor Angst zu- als wenn sie jemandem ähnlich sehen, den wir nicht mögen
sammen, wenn er schwarze Schuhe sieht; dies war das Erste, was (Verosky u. Todorov 2010). (Hierzu wurden die Gesichtszüge
er von seinen Folterern sah, als sie sich der Zelle näherten. Die einer Person, die gemocht wurde oder nicht gemocht wurde,
Reizgeneralisierung wurde in Vergleichsstudien von misshan- subtil zu einem neuen Gesicht umgewandelt.) In beiden Fällen
delten und nicht misshandelten Kindern wissenschaftlich auf- werden emotionale Reaktionen auf einen Reiz auf ähnliche Reize
gegriffen (. Abb. 8.9). Zeigte man misshandelten Kindern ein übertragen (. Abb. 8.10).

. Abb. 8.10 Reizgeneralisierung (© Claudia Styrsky)


298 Kapitel 8 · Lernen

Reizdiskrimination ein wissenschaftliches Modell dafür, wie der junge Forschungs-


Pawlows Hunde lernten auch, auf den Klang eines bestimmten bereich der Psychologie vorgehen könnte: Man isoliert elemen-
Tons und nicht auf andere Töne zu reagieren. Reizdiskrimination tare Bausteine komplexer Verhaltensweisen und untersucht diese
ist die erlernte Fähigkeit, zwischen einem konditionierten Reiz in objektiven Versuchsreihen.
(der auf den bevorstehenden US hinweist) und anderen, irrele-
Prüfen Sie Ihr Wissen
vanten Reizen zu unterscheiden. Die Fähigkeit, diese Unterschie-
de zu erkennen, stellt eine Anpassungsleistung dar. Geringfügig 5 In blutrünstigen Filmen werden manchmal sexuell
unterschiedliche Reize haben manchmal deutlich unterschied- erregende Bilder von Frauen mit Gewalt gegen Frauen
liche Folgen. Wenn Sie einem Pitbull gegenüberstehen, wird kombiniert. Was könnte aufgrund der Prinzipien
Ihr Herz möglicherweise schnell schlagen; bei einem Golden der klassischen Konditionierung die Auswirkung dieser
Retriever wäre das wahrscheinlich nicht der Fall. Kombination sein?
Reizdiskrimination (»discrimination«) – bei der klassischen Konditionie-
rung die gelernte Fähigkeit, den konditionierten Reiz von anderen Reizen
zu unterscheiden, die keinen unkonditionierten Reiz ankündigen.
Anwendungsgebiete der klassischen
8.2.2 Pawlows Erbe Konditionierung
8 Andere Kapitel in diesem Buch über Bewusstsein, Motivation,
Emotion, Gesundheit, psychische Störungen und Therapie zei-
? 8.4 Warum ist Pawlows Beitrag zu unserem Verständnis
gen, wie sich Pawlows Prinzipien der klassischen Konditionie-
des Lernens immer noch so wichtig und welche Anwendun-
rung zugunsten von Gesundheit und Wohlbefinden anwenden
gen der klassischen Konditionierung zur Verbesserung der
lassen. Zwei Beispiele:
Gesundheit und des Wohlbefindens der Menschen gibt es?
4 Ehemalige Drogenkonsumenten empfinden oft ein er-
Was bleibt also von dem, was Pawlow über Konditionierung neutes dringendes Verlangen nach der Droge, wenn sie auf
herausgefunden hat? Sehr viel. Die meisten Forscher stimmen Hinweisreize (Menschen, Orte) treffen, die sie mit den
heute darin überein, dass die klassische Konditionierung eine einstigen ekstatischen Zuständen verbinden. Daher raten
Grundform des Lernens ist. Wenn man Pawlows Annahmen Drogenberater Abhängigen, das Umfeld zu meiden, das
unter dem Gesichtspunkt des heutigen Wissens über biologische dieses dringende Verlangen auslösen könnte (Siegel 2005).
Veranlagungen, kognitive Prozesse und soziokulturelle Umwelt- 4 Die klassische Konditionierung wirkt sogar auf der Ebene
einflüsse betrachtet, so waren sie sicherlich unvollständig. Aber des körpereigenen Immunsystems im Kampf gegen
wenn wir mehr wissen als Pawlow, liegt das daran, dass wir jetzt Krankheiten. Wenn ein Medikament, das die Immunreak-
auf seinen Erkenntnissen aufbauen können. tionen beeinflusst, nebenbei einen bestimmten Geschmack
Warum bleibt Pawlows Arbeit so wichtig? Wenn er uns ledig- hat, kann es sein, dass dieser Geschmack allein eine Im-
lich gezeigt hätte, dass alte Hunde neue Tricks lernen können, munreaktion auslöst (Ader u. Cohen 1985).
hätte man seine Experimente schon längst vergessen. Warum
sollte sich jemand dafür interessieren, dass ein Hund konditio- Pawlows Arbeit stellte die Grundlage für Watsons (1913) Annah-
niert werden kann, auf das Erklingen eines Tons mit Speichel- me dar, dass menschliche Gefühle und menschliches Verhalten,
fluss zu reagieren? Wichtig ist seine Arbeit zunächst vor allem wenngleich biologisch beeinflusst, vor allem aus einer Reihe
wegen des folgenden Befunds: Viele andere Reaktionen auf konditionierter Reaktionen bestehen (. Abb. 8.11). In ihrer be-
viele andere Reize können bei vielen anderen Organismen klas- rühmten Studie zeigten Watson u. Rayner (1920; Harris 1979),
sisch konditioniert werden – tatsächlich bei allen getesteten wie spezifische Ängste möglicherweise konditioniert werden.
Arten, angefangen bei den Regenwürmern über die Fische, Ihre Versuchsperson war ein 11 Monate altes Kind namens
die Hunde, die Affen bis hin zu den Menschen (Schwartz 1984). Albert (. Abb. 8.12). Wie die meisten Kinder hatte »der kleine
Deshalb ist die klassische Konditionierung für praktisch alle Albert« Angst vor lauten Geräuschen, aber nicht vor weißen
Organismen eine Möglichkeit zu lernen, sich an ihre Umwelt Ratten. Watson u. Rayner präsentierten ihm eine weiße Ratte
anzupassen. und schlugen mit einem Hammer gegen eine Eisenstange direkt
Zudem zeigte uns Pawlow, wie ein Prozess wie das Lernen hinter seinem Kopf, gerade als er anfangen wollte, die Ratte zu
objektiv untersucht werden kann. Pawlow war stolz darauf, dass berühren. Nach 7 Wiederholungen dieses Vorgangs brach Albert
seine Methoden nahezu gänzlich von subjektiven Urteilen un- schon in Tränen aus, wenn er die Ratte nur sah. Weiterhin zeigte
abhängig waren, ebenso von Annahmen darüber, was in den Albert 5 Tage später eine Generalisierung seiner konditionierten
Köpfen der Hunde vorging. Die Speichelflussreaktion ist ein Reaktion, indem er auf einen Hasen, einen Hund und einen See-
sichtbares, beobachtbares Verhalten, das anhand der Kubik- hundfellmantel mit Angst reagierte, nicht aber auf unähnliche
zentimeter Speichel nachzuweisen ist. Daher bot Pawlows Erfolg Objekte wie etwa Spielzeug.
8.2 · Klassische Konditionierung
299 8

. Abb. 8.11 John B. Watson. Watson (1924) gab zu, »etwas zu weit
gegangen zu sein«, als er sich rühmte: »Gebt mir ein Dutzend gesunde,
wohlgeratene Kinder, gebt mir meine eigene spezielle Welt, in der ich
sie aufziehen kann, und ich verspreche euch, dass ich aus jedem beliebigen,
den ich herausnehme und trainiere, jede mögliche Art von Spezialisten
machen kann: Arzt, Rechtsanwalt, Künstler, Kaufmann, ja, sogar Bettler oder
Dieb, und das völlig unabhängig von seinen Talenten, Neigungen, Tenden-
zen, Fähigkeiten, Berufungen oder gar der Rasse seiner Vorfahren.« . Abb. 8.12a,b Der kleine Albert. (© Archives of the History of American
(This image is in the public domain because its copyright has expired.) Psychology, The Center for the History of Psychology, The University of Akron)

Jahrelang fragte man sich, was aus dem kleinen Albert gewor- zu betreten, riet ein Therapeut, sich selbst dazu zu zwingen,
den war. Erst im Jahr 2009 konnte er von Psychologen mit detek- 20 Aufzüge pro Tag zu betreten. Innerhalb von 10 Tagen war die
tivischem Gespür als Douglas Merritte, Sohn einer Amme an Angst des Patienten fast verschwunden (Ellis u. Becker 1982). Mit
einem Universitätskrankenhaus, identifiziert werden. Seine der Unterstützung der Fluglinie AirTran gelang es dem Komiker
Mutter erhielt 1 Dollar für die Teilnahme ihres Sohnes an und Schriftsteller Mark Malkoff, seine Angst vorm Fliegen in
Watsons Versuchen. Traurigerweise starb Albert im Alter von ähnlicher Weise loszuwerden. Er lebte 30 Tage lang in einem Flug-
6 Jahren, wahrscheinlich an einer Hirnhautentzündung (Beck et zeug, mit dem er in dieser Zeit 135-mal flog, wobei er täglich
al. 2009, 2010). Auch fragte man sich, was aus Watson geworden 14 Stunden in der Luft verbrachte (National Public Radio [NPR]
war. Als Psychologe in der Werbeagentur J. Walter Thompson 2009). Nach eineinhalb Wochen war seine Angst verflogen und er
nutzte er sein Wissen über assoziatives Lernen dazu, viele erfolg- fing an, Spiele mit anderen Fluggästen zu spielen. (Sein Lieblings-
reiche Werbekampagnen zu lancieren, u. a. eine Kampagne für streich war das »Toilettenpapier-Experiment«: Er warf das eine
die Firma Maxwell House, die dazu beitrug, die »Kaffeepause« zu Ende der Rolle in die Toilette und rollte den Rest entlang des
einer amerikanischen Gepflogenheit zu machen (Hunt 1993). Ganges aus. Dann drückte er die Spülung. Die ganze Rolle wurde
Die Behandlung des kleinen Albert wäre nach den heutigen innerhalb von drei Sekunden hinuntergesogen.) In den 7 Kap. 16
Standards aus ethischen Gründen problematisch. Einige Psycho- und 7 Kap. 17 werden wir an weiteren Beispielen sehen, wie
logen, die anmerkten, dass Alberts Furcht nicht schnell erlernt Psychologen Verhaltenstechniken zur Behandlung emotionaler
wurde, hatten Schwierigkeiten, Watsons u. Rayners Versuchser- Störungen einsetzen und das persönliche Wachstum fördern.
gebnisse mit anderen Kindern zu replizieren. Trotzdem erlangte
Prüfen Sie Ihr Wissen
der Fall des kleinen Albert für viele Psychologen eine legendäre
Bedeutung. Einige fragten sich, ob wir nicht alle ein ganzes Bündel 5 In den Versuchen von Watson und Rayner lernte der
konditionierter Emotionen mit uns herumtragen. Ob man wohl kleine Albert, sich vor einer weißen Ratte zu fürchten,
unsere schlimmsten Empfindungen in den Griff bekommen nachdem er wiederholt ein lautes Geräusch gehört
könnte, wenn man Löschungsvorgänge in Gang setzt oder neue hatte, als er die Ratte sah. Was war in diesem Versuch der
Reaktionen auf entsprechende Reize konditioniert? Einem Pa- US? Die UR? Der NS? Der CS? Die CR?
tienten, der 30 Jahre lang Angst gehabt hatte, allein einen Aufzug
300 Kapitel 8 · Lernen

8.3 Operante Konditionierung

Bei der klassischen Konditionierung ist es eine Sache, einem


Tier beizubringen, mit Speichelfluss auf den Klang eines Tons zu
reagieren, oder einem Kind, dass es sich vor den Autos auf der
Straße in Acht nimmt. Um aber einem Elefanten beizubringen,
dass er auf den Hinterbeinen geht, oder ein Kind dazu zu ver-
leiten, dass es »bitte« sagt, greift man auf die operante Konditio-
nierung zurück.
Sowohl die klassische als auch die operante Konditionierung
sind Formen assoziativen Lernens, doch ihr Unterschied ist klar:
4 In der klassischen Konditionierung werden Assoziationen
zwischen Reizen erzeugt (einem CS und dem US, den
dieser signalisiert). Hier muss auch das respondente Verhal-
ten betrachtet werden, ein Verhalten, das als automatische
Reaktion auf einen Reiz auftritt (wie etwa der Speichelfluss
8 als Reaktion auf Fleischpulver und später als Reaktion auf
einen Ton).
4 In der operanten Konditionierung koppeln Organismen
ihre eigenen Verhaltensweisen mit deren Konsequenzen.
Dabei nehmen Verhaltensweisen, auf die Verstärker folgen,
in ihrer Häufigkeit zu; Verhaltensweisen, für die man be-
straft wird, nehmen in ihrer Häufigkeit ab. Zur operanten
Konditionierung gehört das operante Verhalten, das so
genannt wird, weil die jeweilige Handlung gewissermaßen
»einen operativen Eingriff« auf die Umgebung ausführt,
d. h., auf sie einwirkt, um belohnende oder bestrafende
. Abb. 8.13a,b Katze im Problemkäfig (»puzzle box«). Thorndike (1898)
Reize zu produzieren. nutzte einen Fisch als Belohnung, um Katzen dazu zu verleiten, dass
sie durch eine Reihe von Bewegungen ihren Weg aus einem rätselhaften
Operante Konditionierung (»operant conditioning«) – Form des Lernens,
Kasten (a) fanden. Die Leistung der Katzen wurde gewöhnlich mit auf-
bei der ein Verhalten dadurch bekräftigt wird, dass ihm ein Verstärker folgt,
einander folgenden Versuchsdurchgängen besser (b). Dies ist eine Veran-
oder abgeschwächt wird, weil eine Bestrafung folgt.
schaulichung für Thorndikes Effektgesetz (»law of effect«). (Nach Thorndike
1898; a: Yale University Library, reproduced with the permission of the
Prüfen Sie Ihr Wissen
estate of E.L. Thorndike)

5 Bei der Konditionierung lernt ein


Organismus Assoziationen zwischen Ereignissen, die
er nicht unter Kontrolle hat. Bei der Edward L. Thorndike (1874–1949) das Effektgesetz (»law of
Konditionierung werden Assoziationen zwischen dem effect«) nannte: Wird ein Verhalten belohnt, dann wird es wahr-
eigenen Verhalten und den sich daraus ergebenden scheinlich wiederholt (. Abb. 8.13). Ausgehend von Thorndikes
Ereignissen gelernt. Effektgesetz entwickelte Skinner eine »Verhaltenstechnologie«,
die gewisse Prinzipien der Verhaltenssteuerung aufdeckte. Mit
Hilfe dieser Prinzipien konnte er Tauben so untypische Verhal-
tensweisen beibringen, wie etwa eine 8 abzulaufen, Tischtennis
8.3.1 Skinners Experimente zu spielen und eine Rakete auf ihrem Kurs zu halten, indem sie
auf einen Punkt auf einem Bildschirm pickten.

? 8.5 Wie wird operantes Verhalten verstärkt und geformt? Effektgesetz (»law of effect«) – Thorndikes Prinzip, dass Verhaltensweisen,
die angenehme Konsequenzen zur Folge haben, häufiger auftreten,
Burrhus F. Skinner (1904–1990) hatte seinen Bachelor in Eng- während Verhaltensweisen, denen unangenehme Konsequenzen folgen,
lisch gemacht und war ein angehender Schriftsteller, der sich seltener gezeigt werden.

beruflich verändern wollte; daher begann er ein Master-Studium Für seine Pionierarbeit entwarf Skinner eine »operante Kam-
in Psychologie. Er sollte zur einflussreichsten und umstrittensten mer«, besser bekannt als Skinner-Box (. Abb. 8.14). Die typische
Gestalt des modernen Behaviorismus werden. Skinners Arbeit Box verfügt über einen Hebel oder eine Taste. Diese Vorrich-
beruhte auf der einfachen Lebensweisheit, die der Psychologe tungen werden von dem Tier gedrückt oder angepickt, wofür es
8.3 · Operante Konditionierung
301 8

. Abb. 8.14 Skinner-Box. In der Box betätigt eine Ratte einen Druckhebel,
um mit Futter belohnt zu werden. Ein Messinstrument an der Außenseite
(hier nicht zu sehen) zeichnet die akkumulierte Häufigkeit der Reaktionen
des Tieres auf

mit Futter oder Wasser belohnt wird. Ein Messinstrument zeich-


net diese Reaktionen auf. In dieser Versuchsanordnung ist es
Ratten und anderen Tieren möglich, Skinners Konzept der Ver-
stärkung zu veranschaulichen: jedes beliebige Ereignis, durch
das eine vorausgehende Reaktion bekräftigt wird oder durch das . Abb. 8.15 Verstärker variieren je nach den Umständen. Was für den
sie in ihrer Häufigkeit zunimmt. Verstärker variieren je nach Tier einen Organismus (ein frierendes Erdmännchen) ein Verstärker (eine Infra-
rotlampe) ist, muss es nicht unbedingt für einen anderen Organismus (ein
und den Umständen (. Abb. 8.15). Für die meisten Menschen
überhitztes Kind) sein. Was in einer bestimmten Situation verstärkend wirkt
sind Lob, Aufmerksamkeit oder ein Gehaltsscheck Verstärker. (einem Kälteeinbruch im Taronga Zoo in Sydney, Australien), muss es in ei-
Für hungrige und durstige Ratten eignen sich Futter und Wasser ner anderen nicht sein (einem heißen Sommertag). (© Reuters/CORBIS)
gut. Skinners Experimente waren weit mehr als die Möglichkeit,
etwas über die Gewohnheiten von Ratten herauszufinden. In
diesen Experimenten wurden die genauen Bedingungen er- sie belohnt wird, und dann noch ein bisschen näher. Schließlich
forscht, die effizientes und dauerhaftes Lernen fördern. würden Sie voraussetzen, dass sie den Hebel berührt, bevor Sie
ihr das Futter geben. Mit dieser Methode der schrittweisen An-
Skinner-Box (»operant chamber« oder »Skinner box«) – Kammer, in
der sich ein Hebel oder eine Taste befindet, die ein Tier betätigen kann, um näherung belohnen Sie Reaktionen, die dem letztlich gewünsch-
Futter oder Wasser als Belohnung zu erhalten; dazu gehören Messgeräte, ten Verhalten immer näher kommen, und gleichzeitig ignorieren
die die Häufigkeit des Hebel- oder Tastendrückens durch das Tier aufzeich- Sie alle anderen Reaktionen. Forscher und Tierausbilder trainie-
nen. Wird in der Forschung zur operanten Konditionierung verwendet.
ren ihren Tieren Schritt für Schritt komplexe Verhaltensweisen
Verstärkung (»reinforcement«) – in der operanten Konditionierung jedes
an, indem sie die Belohnungen von den erwünschten Verhaltens-
Ereignis, durch das ein vorausgehendes Verhalten verstärkt wird.
weisen abhängig machen (Shaping).
Shaping (Verhaltensformung; »shaping«) – Vorgang innerhalb der
Shaping ( Verhaltensformung) operanten Konditionierung; die Verstärkung führt das Verhalten immer
Stellen Sie sich vor, Sie wollten eine hungrige Ratte darauf kondi- näher an das gewünschte Ziel heran.
tionieren, einen Hebel zu betätigen. Wie Skinner, könnten Sie
diese Handlung durch Shaping (Verhaltensformung) hervor- Wenn ein Psychologe Organismen, die nicht sprechen können,
rufen, einen Vorgang, durch den die Handlungen eines Tiers beibringt, Reize zu unterscheiden, kann er auch feststellen, was
allmählich in Richtung auf ein erwünschtes Verhalten gelenkt diese wahrnehmen. Kann ein Hund Farben unterscheiden?
werden. Sie beobachten also zunächst, wie sich das noch nicht Kann ein Baby Laute unterscheiden? Wenn wir ihnen beibringen
trainierte Tier von Natur aus verhält; dadurch könnten Sie sich können, auf diesen speziellen Reiz zu reagieren, nicht aber auf
auf dieses beobachtete Verhalten stützen. Sie könnten die Ratte einen anderen, dann können sie natürlich auch den Unterschied
jedes Mal mit Futter belohnen, wenn sie dem Hebel näher zwischen beiden wahrnehmen (. Abb. 8.16). Versuche zeigen,
kommt. Sobald sich die Ratte regelmäßig dem Hebel nähert, dass einige Tiere die erstaunliche Fähigkeit haben, ihre Wahr-
würden Sie voraussetzen, dass sie sich noch weiter nähert, bevor nehmungen in Kategorien einzuteilen; sie zeigen dies, indem sie
302 Kapitel 8 · Lernen

über die wir uns ärgern. Wenn Benny quengelt, ärgert das z. B.
seine ratlosen Eltern, aber schauen Sie, wie sie normalerweise mit
Benny umgehen.
Benny: Kannst Du meine Schuhe zubinden?
Vater: (liest weiter Zeitung)
Benny: Papa, du musst mir die Schuhe zubinden.
Vater: Oh, ja, Moment, bitte.
Benny: PAAAPAAAA! BIND MIR MEINE SCHUHE ZU!
Vater: Wie oft habe ich dir schon gesagt, dass du nicht quengeln sollst?
Also, welchen Schuh machen wir zuerst?

Bennys Quengeln wird verstärkt, weil er etwas bekommt, was er


haben möchte: die Aufmerksamkeit seines Vaters. Die Reaktion
des Vaters wird verstärkt, weil dadurch etwas aufhört, was er
nicht mag: Bennys Quengeln.
Oder achten Sie darauf, wie manche Lehrer Verstärker ein-
setzen. An der Tafel klebt der Lehrer goldene Sterne hinter die
8 Namen der Kinder, die im Diktat alles richtig hatten. Alle Kinder
machen die gleiche Prüfung. Wie dann jeder sehen kann, fällt
es einigen besonders begabten Kindern leicht, alles richtig zu
machen. Die anderen, die möglicherweise mehr gelernt hatten,
erhalten keine Belohnung. Der Lehrer täte besser daran, die Prin-
zipien der operanten Konditionierung anzuwenden: alle Kinder
für schrittweise Verbesserungen zu belohnen (die allmähliche
Annäherung daran, alle Wörter orthografisch richtig zu schrei-
ben, wird dann für sie zur Herausforderung).
. Abb. 8.16a,b Verhaltensformung bei Ratten, um Leben zu retten.
Die gemeinnützige Organisation Apopo setzt Ratten für humanitäre Zwecke Verstärkungsprinzipien
ein, etwa zur Aufspürung von Landminen oder zur Erkennung von Tuber-
kulose. Sie sind dafür bekannt, zu den Tieren mit den besten olfaktorischen ? 8.6 Wie unterscheiden sich positive und negative Verstärkung
Fähigkeiten zu gehören und können erschnüffeln, wo eine Mine vergraben
und was sind die grundlegenden Arten von Verstärkern?
liegt oder welche Laborprobe einen Krankheitserreger enthält. Auf den Fotos
sieht man die vom Springer-Verlag adoptierte HeroRAT Julius, eine Afrika-
Bisher haben wir uns hauptsächlich mit der positiven Verstär-
nische Riesenhamsterratte. a Julius mit seinem Trainer Ezekiel. b Julius beim
Erschnüffeln von Tuberkulose-Proben. Unter http://www.apopo.org/de/ad-
kung beschäftigt, die eine Reaktion dadurch verstärkt, dass nach
opt können auch Sie eine Ratte adoptieren. (©APOPO) dieser Reaktion ein typischer angenehmer Reiz geboten wird. Aber
es gibt zwei grundlegende Arten von Verstärkung (. Tab. 8.1), wie
wir in der Geschichte des quengelnden Benny gesehen haben.
zwischen bestimmten Kategorien von Ereignissen oder Dingen
Positive Verstärkung (»positive reinforcement«) – Zunahme der Häufigkeit
unterscheiden. Belohnt ein Forscher eine Taube dafür, dass sie eines Verhaltens, wenn positive Reize wie Essen dargeboten werden.
pickt, nachdem sie ein menschliches Gesicht sah, aber nicht, Ein positiver Verstärker ist jeder Reiz, der, wenn er dargeboten wird, die
nachdem sie andere Bilder sah, wird die Taube lernen, mensch- Reaktion bekräftigt.
liche Gesichter zu erkennen (Herrnstein u. Loveland 1964). In
diesem Experiment ist ein Gesicht ein diskriminativer Reiz; wie Negative Verstärkung verstärkt eine Reaktion, indem ein aver-
ein Ampelsignal deutet es darauf hin, dass eine Reaktion ver- siver Reiz verringert oder beseitigt wird. Bennys Quengeln wurde
stärkt werden wird. Wenn Tauben beigebracht wurde, Blumen, positiv verstärkt, weil er etwas bekam, was er haben wollte: die
Menschen, Autos und Stühle voneinander zu unterscheiden, Aufmerksamkeit seines Vaters. Die Reaktion seines Vaters
können sie normalerweise feststellen, zu welcher dieser Katego- auf das Quengeln (Bennys Schuhe zubinden) wurde negativ ver-
rien ein neues Objekt gehört (Bhatt et al. 1988; Wasserman 1993). stärkt, da dadurch etwas aufhörte, was er nicht mag: Bennys
Durch Training konnte man Tauben sogar beibringen, zwischen Quengeln. Ähnlich ist es mit dem Aspirin, das man nimmt, da-
der Musik von Bach und der von Strawinsky zu unterscheiden mit Kopfschmerzen abnehmen und dem Wecker, den man ab-
(Porter u. Neuringer 1984). stellt, damit das nervige Klingeln aufhört. All diese Folgeerschei-
Auch im Alltag belohnen und prägen wir ständig das Verhal- nungen bewirken eine negative Verstärkung und erhöhen die
ten anderer, sagt Skinner, aber wir machen das oft nicht ab- Wahrscheinlichkeit, dass diese Verhaltensweisen wiederholt
sichtlich. Manchmal belohnen wir unbewusst Verhaltensweisen, werden. Für Drogenabhängige kann die negative Verstärkung
8.3 · Operante Konditionierung
303 8

. Tab. 8.1 Methoden, um die Häufigkeit eines Verhaltens zunehmen


zu lassen

Begriff beim operan- Beschreibung Mögliche Beispiele


ten Konditionieren

Positive Verstärkung Hinzufügen eines Einen Hund strei-


angenehmen cheln, der kommt,
Reizes wenn man ihn ruft;
die Person bezahlen,
die das Haus gestri-
chen hat

Negative Verstärkung Entfernen eines Schmerzmittel ein-


unangenehmen nehmen, um Schmer-
Reizes zen zu beenden;
Sicherheitsgurt
anlegen, um lauten
Piepston zu beenden

durch das Beenden der Entzugserscheinungen ein verlockender


Grund sein, weiterhin Drogen zu nehmen (Baker et al. 2004).
Beachten Sie bitte: Negative Verstärkung ist nicht dasselbe wie
Bestrafung. (Ein gut gemeinter Ratschlag: Wiederholen Sie die . Abb. 8.17 (© Dave Coverly/Speed Bump)
letzten sieben Wörter im Geiste.) Negative Verstärkung entfernt
vielmehr ein bestrafendes (aversives) Ereignis.
lernt, dass ein Licht verlässlich anzeigt, dass Futter kommt, wird
Negative Verstärkung (»negative reinforcement«) – Zunahme der Häufig-
keit eines Verhaltens, wenn negative Reize wie ein Elektroschock nicht sie sich bemühen, das Licht einzuschalten. Das Licht wurde also
mehr oder schwächer dargeboten werden. Ein negativer Verstärker ist jeder zu einem sekundären Verstärker, der mit Futter gekoppelt ist.
Reiz, der, wenn er nach einer Reaktion entfernt wird, die Reaktion bekräf- Unser Leben ist voller sekundärer Verstärker: Geld, gute Noten,
tigt. (Beachten Sie bitte, dass negative Verstärkung nicht dasselbe wie
eine angenehme Stimme – all das wurde einmal mit Belohnungen
Bestrafung ist.)
in Verbindung gebracht, die grundlegende Bedürfnisse befriedig-
Manchmal können negative und positive Verstärkung gleich- ten. Wenn Geld ein konditionierter Verstärker ist – wenn das Ver-
zeitig stattfinden. Stellen Sie sich einen besorgten Studenten vor, langen der Menschen nach Geld von ihrem Verlangen nach Nah-
der, nachdem er eine Prüfung vermasselte und eine schlechte rung stammt –, dann sollte Hunger Menschen auch hungriger
Note bekam, für die nächste Prüfung mehr arbeitet. Das Lern- nach Geld machen, folgerte ein europäisches Forscherteam
verhalten des Studenten kann durch weniger Angst (negative (Briers et al. 2006). Und tatsächlich waren die Menschen in ihrem
Verstärkung) und durch eine bessere Note (positive Verstärkung) Experiment weniger gewillt, für einen guten Zweck zu spenden,
gefördert werden. Gleichgültig, ob etwas Wünschenswertes ge- wenn sie hungrig waren. Auch war es weniger wahrscheinlich,
geben oder etwas Unangenehmes reduziert wird: Verstärkung ist dass sie Geld mit einem anderen Versuchsteilnehmer teilten,
jedwede Konsequenz, durch die ein Verhalten verstärkt wird. wenn sie sich in einem Raum befanden, in dem Gerüche ver-
strömt wurden, die Hunger auslösten.
Prüfen Sie Ihr Wissen
Primärer Verstärker (»primary reinforcer«) – von Geburt an verstärkender
5 Auf welche Weise wirkt die operante Konditionierung in Reiz, der beispielsweise ein natürliches Bedürfnis befriedigt.
dem Cartoon in . Abb. 8.17? Konditionierter Verstärker (»conditioned reinforcer«) – Reiz, der dadurch
verstärkend wirkt, dass er mit einem primären Verstärker gekoppelt wird;
auch bekannt als sekundärer Verstärker.
jPrimäre und konditionierte Verstärker
Nahrung erhalten, wenn man hungrig ist, oder das Nachlassen jSofortige und verzögerte Verstärker
von Kopfschmerzen – das alles sind Verstärker, die biologische Wenden wir uns nun dem imaginären Shaping-Versuch zu, bei
Bedürfnisse befriedigen. Diese primären Verstärker sind unge- dem Sie eine Ratte auf das Drücken eines Hebels konditionieren
lernt. Konditionierte Verstärker, auch sekundäre Verstärker ge- wollen. Die hungrige Ratte wird sich mehreren »unerwünsch-
nannt, sind erlernbar und verdanken ihre Wirkung der Kopplung ten« Verhaltensweisen widmen, sich vielleicht kratzen, herum-
mit primären Verstärkern. Wenn eine Ratte in einer Skinner-Box schnuppern oder herumlaufen, bevor sie das »gewünschte« Ver-
304 Kapitel 8 · Lernen

halten zeigt. Wenn der Verstärker (Futter) unmittelbar auf eine


dieser Verhaltensweisen folgt, wird sie mit höherer Wahrschein-
lichkeit wieder auftreten. Wenn die Ratte den Hebel drückt, Sie
aber abgelenkt sind und den Verstärker um mehr als 30 Sekunden
verzögern, wird die Ratte nicht lernen, den Hebel zu drücken.
Andere, zufällige Aktivitäten werden dazwischen kommen und
verstärkt werden.
Im Gegensatz zu Ratten reagieren Menschen auch auf Ver-
stärker, die mit großer Verzögerung kommen, wie etwa auf
die Gehaltszahlung am Ende des Monats, auf die gute Note am
Ende des Semesters oder den Pokal am Ende der Fußballsaison.
Um effektiv zu sein, müssen wir tatsächlich lernen, sofortige
Belohnungen zugunsten von größeren Langzeitbelohnungen
aufzuschieben (. Abb. 8.18). In Laborversuchen zeigen manche
4-jährigen Kinder die Fähigkeit, eine Belohnung aufzuschie-
ben: Wenn sie sich eine Süßigkeit aussuchen dürfen, dann
. Abb. 8.18 (Copyright © The New Yorker Collection, 1993, Tom Cheney/
8 hätten sie lieber morgen eine größere Belohnung als jetzt gleich cartoonbank.com)
eine kleine. Ein großer Schritt hin zur Reife besteht darin,
zu lernen, dass man Belohnungen aufschiebt und die eigenen
Impulse kontrolliert, um dadurch höher bewertete Belohnungen eine Woche später eine Spontanerholung erzielen können, indem
erreichen zu können (Logue 1998a,b). Es ist also nicht ver- wir es erneut probieren).
wunderlich, dass Kinder, die solche Entscheidungen treffen,
Verstärkungsplan (»reinforcement schedule«) – ein Muster, das definiert,
wahrscheinlich über soziale Kompetenz verfügen werden und wie oft ein erwünschtes Verhalten verstärkt wird.
sehr leistungsorientiert sein werden, wenn sie heranwachsen Kontinuierliche Verstärkung (»continuous reinforcement«) – Verstärkung
(Mischel et al. 1989). der erwarteten Reaktion bei jedem Auftreten.
Leider sind jedoch kleine, aber sofortige Belohnungen (z. B.
das Vergnügen, spät in der Nacht fernzusehen) manchmal ver- Im Alltag kommt die kontinuierliche Verstärkung nicht sehr
führerischer als zeitverzögerte Belohnungen (am nächsten Tag häufig vor. Eine Verkäuferin hat nicht bei jedem Beratungs-
ausgeschlafen zu sein). Für viele Jugendliche ist die sofortige Be- gespräch einen Verkaufserfolg. Aber sie macht weiter, weil ihre
friedigung durch risikoreichen, ungeschützten Sex in leiden- Bemühungen gelegentlich belohnt werden. Diese Beständigkeit
schaftlichen Momenten wichtiger als die verzögerte Befriedi- ist typisch für partielle (intermittierende) Verstärkungspläne,
gung durch sicheren oder aufgeschobenen Sex. Ähnlich setzen bei denen Reaktionen teilweise verstärkt, teilweise nicht verstärkt
sich die unmittelbaren Belohnungen durch heutige benzin- werden. Lernen durch intermittierende Verstärkung vollzieht
fressende Fahrzeuge, Flugreisen und Klimaanlagen gegenüber sich langsamer, führt jedoch zu größerer Löschungsresistenz als
den weitreichenderen Folgen der künftigen globalen Erwärmung die kontinuierliche Verstärkung. Stellen Sie sich eine Taube vor,
durch, dem steigenden Meeresspiegel und den extremen Wetter- die es gelernt hat, auf eine Taste zu picken, um Futter zu erhalten.
bedingungen. Wenn der Versuchsleiter die Phasen zwischen zwei Futterliefe-
rungen schrittweise verlängert, bis es nur noch selten und bei
Verstärkungspläne unvorhersehbaren Gelegenheiten dazu kommt, kann es gesche-
hen, dass Tauben bis zu 150.000 Mal picken, ohne dafür belohnt
? 8.7 Wie beeinflussen die unterschiedlichen Verstärkungs-
zu werden (Skinner 1953). Spielautomaten belohnen Spieler auf
pläne das Verhalten?
ähnliche Weise – gelegentlich und unvorhersehbar. Diese inter-
In den meisten unserer bisherigen Beispiele wurde die erwünsch- mittierende Verstärkung beeinflusst sie wie die Tauben: Sie ver-
te Reaktion bei jedem Eintreten verstärkt. Aber Verstärkungs- suchen es immer wieder, manchmal ohne Ende. Bei intermittie-
pläne können variieren. Bei der kontinuierlichen Verstärkung render Verstärkung bleibt die Hoffnung ewig bestehen.
ist schnelles Lernen möglich, weshalb sie die beste Wahl ist, wenn
Partielle (intermittierende) Verstärkung (»partial or intermittent
ein Verhalten beherrscht werden soll. Aber es kommt rasch zu reinforcement«) – nur gelegentliche Verstärkung einer Reaktion. Intermit-
einer Löschung. Wenn die Verstärkung gestoppt wird – weil wir tierende Verstärkung führt zu langsamerem Erlernen einer Reaktion, ist
die Nahrungszufuhr unterbinden –, hört die Ratte bald auf, den aber deutlich löschungsresistenter als eine Reaktion, die durch kontinuier-
liche Verstärkung gelernt wird.
Hebel zu drücken. Wenn ein normalerweise funktionstüchtiger
Süßigkeitenautomat zweimal hintereinander keinen Schoko- Es gibt auch einen wertvollen Hinweis für Eltern: Wenn sie den
riegel ausgibt, hören wir auf, Geld einzuwerfen (auch wenn wir Wutanfällen ihrer Kinder gelegentlich um des lieben Friedens
8.3 · Operante Konditionierung
305 8
willen nachgeben, so verstärkt dies die Wutanfälle intermittie-
rend. Dies ist die beste Methode, zu erreichen, dass ein Verhalten
weiter auftritt.
Skinner (1961) und seine Mitarbeiter verglichen vier Arten
partieller Verstärkung. Einige sind genau festgelegt, andere un-
vorhersehbar variabel.
Feste Quotenpläne verstärken eine Verhaltensweise nach
einer bestimmten Anzahl von Reaktionen. Cafés belohnen uns
mit einem Gratisgetränk nach jedem 10. gekauften Getränk.
Auch bei Versuchstieren kann eine Verstärkung nach einer festen
Quote erfolgen, z. B. jeweils ein Verstärker nach 30 Reaktionen.
Wenn das Tier einmal konditioniert ist, wird es nach einem Ver-
stärker nur eine kurze Pause einlegen und dann zu einer hohen
Reaktionsrate zurückkehren (. Abb. 8.19).
Fester Quotenplan (»fixed-ratio schedule«) – ein Verstärkungsplan in
der operanten Konditionierung, bei dem eine Reaktion erst nach einer
. Abb. 8.19 Intermittierende Verstärkungspläne. Diese Reaktions-
bestimmten Anzahl von Reaktionen verstärkt wird.
muster zeigten Skinners Versuchstauben bei vier verschiedenen Verstär-
kungsplänen. (Verstärker sind mit schwarzen kurzen Strichen gekenn-
Variable Quotenpläne liefern Verstärker nach einer unvorher- zeichnet.) Sowohl bei Menschen als auch bei Tauben führt eine an die
sehbaren Zahl von Reaktionen. Diese Erfahrung machen Spieler Reaktionen geknüpfte Verstärkung (Quotenplan) zu einer höheren Reak-
tionsrate als eine Verstärkung, die mit der Zeit gekoppelt ist (Intervallplan).
an Spielautomaten und Angler beim Fliegenfischen (unvorher-
Aber auch die Vorhersehbarkeit einer Belohnung spielt eine Rolle. Ein
sehbare Verstärkung), und das ist der Grund, warum man vom unvorhersehbarer (variabler) Plan führt zu ausdauernderen Reaktionen
Spielen oder vom Fliegenfischen nur so schwer loskommt, auch als ein vorhersehbarer (fester) Plan
wenn man in beiden Fällen manchmal nichts für seinen Einsatz
erhält. Der variable Quotenplan führt zu hohen Reaktionsraten,
weil die Verstärker im selben Maße zunehmen, wie die Anzahl normalerweise kommt, oder ein hungriges Kind, das öfter am
der Reaktionen. Wackelpudding rüttelt, um zu sehen, ob er schon fest ist, picken
Tauben während eines festen Intervallplans häufiger, wenn die
Variabler Quotenplan (»variable-ratio schedule«) – ein Verstärkungsplan
in der operanten Konditionierung, bei dem die Anzahl der Reaktionen, angenommene Zeit der Belohnung näher kommt; die Tiere zeigen
die gezeigt werden, bevor eine Verstärkung gegeben wird, von einer Ver- also ein eher unregelmäßiges Stopp-Start-Muster (. Abb. 8.19) als
stärkungsphase zur anderen variiert. eine stetige Reaktionsrate.

» Der Reiz des Angelns besteht darin, etwas zu verfolgen, Fester Intervallplan (»fixed-interval schedule«) – ein Verstärkungsplan
was erreichbar ist, sich jedoch entzieht: Das bietet unendlich in der operanten Konditionierung, bei dem die erste Reaktion nach einer
vorab festgelegten Zeitspanne verstärkt wird.
viele Gelegenheiten, Hoffnungen aufzubauen.
Der schottische Autor John Buchan (1875–1940)
Bei variablen Intervallplänen wird die erste Reaktion nach
Bei festen Intervallplänen wird die erste Reaktion nach einem einem variablen Zeitintervall verstärkt. So wie die Nachricht, die
festgelegten Zeitraum verstärkt. Tiere werden das Verhalten hier- schließlich die Ausdauer belohnt, nach dem E-Mail- oder dem
bei häufiger zeigen, wenn die Zeit näher rückt, zu der eine Be- Facebook-Account zu schauen, lösen variable Intervallpläne ten-
lohnung erwartet wird. Ähnlich wie Menschen, die häufiger nach denziell langsame, beständige Reaktionen aus. Das ist sinnvoll,
der Post sehen, wenn sich die Zeit nähert, zu der der Briefträger weil man nicht weiß, wann die Wartezeit vorbei ist (. Tab. 8.2).

. Tab. 8.2 Verstärkungspläne

Fest Variabel

Quote Nach jedem x-ten Mal: Verstärkung nach jedem n-ten Ver- Nach einer unvorhersehbaren Anzahl: Verstärkung nach einer
halten, wie 1 Kaffee gratis nach 10 gekauften zu erhalten oder willkürlichen Anzahl von Reaktionen, wie beim Spielen an Spiel-
der Bezahlung nach Stückzahl automaten oder beim Fliegenfischen

Intervall Nach einer x-beliebigen Zeit: Verstärkung eines Verhaltens Unvorhersehbar oft: Verstärkung eines Verhaltens nach einer
nach einer festgelegten Zeitspanne, wie z. B. Sonderpreise willkürlichen Zeitspanne, wie beim Nachsehen nach einer Antwort
an Dienstagen auf Facebook
306 Kapitel 8 · Lernen

Variabler Intervallplan (»variable-interval schedule«) – ein Verstärkungs- die Aussicht auf ein hartes Strafmaß (Darley u. Alter 2011). Im
plan in der operanten Konditionierung, bei dem eine Reaktion in unvorher- Bundesstaat Arizona wurde eine außergewöhnlich harte Be-
sehbaren Zeitabständen verstärkt wird.
strafung für Autofahrer, die zum ersten Mal wegen Trunkenheit
Allgemein kann man sagen, dass die Reaktionsraten bei einer am Steuer auffällig wurden, eingeführt. An der Zahl betrunkener
Verstärkung, die an die Anzahl von Reaktionen geknüpft ist Autofahrer änderte sich nicht viel. Anders bei der Polizei von
(Quotenplan), höher sind, als bei einer Verstärkung, die an die Kansas City, die in einem Gebiet mit hoher Kriminalität Streife
Zeit gekoppelt ist (Intervallplan). Allerdings ist die Reaktion aus- fuhr, um schnelle und gezielte Bestrafung zu erhöhen: Die
dauernder, wenn die Verstärkung unvorhersehbar ist (variabler Kriminalitätsrate in dieser Stadt sank dramatisch.
Plan), als wenn sie vorhersehbar ist (fester Plan). Das Verhalten Wie soll man diese Befunde zur Bestrafung nun im Hinblick
von Tieren unterscheidet sich, doch Skinner (1956) behauptete, auf elterliche Erziehungspraktiken interpretieren? Viele Psycho-
diese Verstärkungsprinzipien der operanten Konditionierung logen und Fürsprecher der gewaltlosen Erziehung zeigen vier
seien universell anwendbar. Er sagte, es mache wenig Unter- wesentliche Nachteile körperlicher Bestrafung auf (Gershoff
schied, mit welcher Reaktion, mit welchem Verstärker oder mit 2002; Marshall 2002):
welcher Gattung man arbeite. Die Wirkung eines bestimmten 1. Bestraftes Verhalten ist nicht vergessen; es wird lediglich
Verstärkungsplans sei nahezu immer die gleiche: »Taube, Ratte, unterdrückt. Diese zeitweilige Unterdrückung des Verhaltens
Affe, was ist was? Das ist ganz egal. … Das Verhalten weist er- kann das Bestrafungsverhalten der Eltern (negativ) verstär-
8 staunlich ähnliche Eigenschaften auf.« ken. Das Kind flucht, die Eltern schlagen, die Eltern hören
das Kind nicht mehr fluchen und haben das Gefühl, dass
Prüfen Sie Ihr Wissen
die Bestrafung das Verhalten erfolgreich unterbunden hat.
5 Nach welchem Verstärkungsplan werden Telefonver- Es ist kein Wunder, dass der Klaps bei so vielen Eltern
käufer verstärkt? Welchen Plan verfolgen Menschen, 3- und 4-Jähriger derartig beliebt ist – mehr als 90% von
die in den Ofen schauen, um zu sehen, ob die Plätzchen ihnen geben zu, dass sie ihren Kindern einen Klaps geben
fertig sind? Welchen Verstärkungsplan nutzen Vielflieger- (Kazdin u. Benjet 2003).
Programme, die einen Freiflug nach 25.000 Flugmeilen 2. Bestrafung lehrt zwischen Situationen zu diskriminieren. In
anbieten? der operanten Konditionierung tritt Reizdiskrimination auf,
wenn ein Organismus lernt, dass bestimmte Reaktionen
verstärkt werden, andere hingegen nicht. Hat die Bestrafung
das Fluchen des Kindes also wirklich effektiv unterbunden?
Bestrafung Oder hat das Kind lediglich gelernt, dass es nicht in Ordnung
ist, in der Nähe des Hauses zu fluchen, aber anderswo schon?
? 8.8 Wie unterscheiden sich Bestrafung und negative Verstär-
3. Bestrafung kann Angst auslösen. In der operanten Kondi-
kung und wie wirkt sich Bestrafung auf das Verhalten aus?
tionierung tritt Reizgeneralisierung auf, wenn die Reaktion
Bestrafung bewirkt das genaue Gegenteil von Verstärkung. Durch eines Organismus auf ähnliche Reize verstärkt wird. Wer
Verstärkung nimmt ein Verhalten zu, durch Bestrafung nimmt es bestraft wird, verbindet die Angst vielleicht nicht nur mit
ab. Daher versteht man unter Bestrafung jede Art von Konse- dem unerwünschten Verhalten, sondern auch mit der
quenz, die die Häufigkeit eines vorausgehenden Verhaltens ver- strafenden Person oder mit der Situation, in der gestraft
ringert (. Tab. 8.3). Schnelle und gezielte Bestrafung kann wurde. Folglich könnte ein Kind den strafenden Lehrer
unerwünschtes Verhalten massiv unterbinden. Sowohl die Ratte, fürchten und daher nicht mehr in die Schule gehen wollen
die einen Elektroschock bekommt, nachdem sie einen verbote- oder ängstlicher werden (Gershoff et al. 2010). Aus diesen
nen Gegenstand berührt hat, als auch das Kind, das sich verbrannt Gründen wurde in den meisten europäischen Ländern
hat, weil es eine heiße Herdplatte angefasst hat, werden lernen, ihr und U.S.-Bundesstaaten die Prügelstrafe in Schulen und
Verhalten nicht zu wiederholen. Einige Formen der Bestrafung anderen Kinder- und Jugendeinrichtungen abgeschafft
sind, wenn auch unbeabsichtigt, trotzdem recht wirkungsvoll: (StopHitting.com). Elf Länder, darunter Skandinavien,
Ein Hund, der es gelernt hat, beim Geräusch des elektrischen haben die Prügelstrafe auch für Eltern verboten und da-
Dosenöffners angelaufen zu kommen, wird nicht mehr kommen, durch Kinder unter den gleichen gesetzlichen Schutz ge-
wenn sein Herrchen anfängt, das Gerät laufen zu lassen, um den stellt wie Ehegatten (EPOCH 2000). In Deutschland wurde
Hund herzulocken und ihn dann in den Keller zu verbannen. im Jahr 2000 ein Gesetz zur Ächtung von Gewalt in der
Erziehung beschlossen und umgesetzt. Die neue Fassung
Bestrafung (»punishment«) – Ereignis, das das vorausgehende Verhalten
reduziert. des § 1631 des Bürgerlichen Gesetzbuches besagt nun in
Absatz 2: »Kinder haben ein Recht auf gewaltfreie Erzie-
Kriminelles Verhalten, das meistens impulsiv ist, wird auch eher hung. Körperliche Bestrafungen, seelische Verletzungen
durch schnellere und gezieltere Bestrafung beeinflusst, als durch und andere entwürdigende Maßnahmen sind unzulässig.«
8.3 · Operante Konditionierung
307 8

. Tab. 8.3 Bestrafungsformen

Form Beschreibung Beispiele

Positive Bestrafung Hinzufügen eines unangenehmen Reizes Einen bellenden Hund mit Wasser bespritzen; einen Strafzettel für zu
schnelles Fahren bekommen

Negative Bestrafung Entfernen eines angenehmen Reizes Den Führerschein abgeben müssen; den Bibliotheksausweis abgeben
müssen wegen nicht bezahlter Säumnisgebühr

4. Körperliche Bestrafung verstärkt Aggressivität möglicher- Wenn man darüber nachdenkt, dann sind viele Strafandrohun-
weise dadurch, dass sie Folgendes zeigt: Aggression ist eine gen ebenso nützlich und vielleicht sogar wirksamer, wenn sie
Möglichkeit zur Problemlösung. In vielen Studien konnte positiv umformuliert werden. Also sollte »Wenn du deine
festgestellt werden, dass geschlagene Kinder ein erhöhtes Hausaufgabe nicht machst, bekommst du das Auto nicht!« besser
Aggressions- und Depressionsrisiko haben und eher ein umformuliert werden in …
geringeres Selbstbewusstsein aufweisen als andere Kinder. Dieser Ansatz funktioniert auch im Klassenzimmer. Anmer-
Das könnte eine Erklärung dafür sein, warum so viele ag- kungen des Lehrers wie etwa »Nein, aber probiere einmal …«
gressive Straftäter und missbrauchende Eltern aus Familien und »Ja, genau!« reduzieren unerwünschtes Verhalten dadurch,
kommen, in denen Missbrauch vorkam (Straus u. Gelles dass alternative Verhaltensweisen verstärkt werden. Merkens Sie
1980; Straus et al. 1997). sich: Bestrafung sagt dir, was du nicht tun sollst; Verstärkung sagt
dir, was du tun sollst.
Einige Forscher weisen auf ein Problem hin. Nun ja, sagen sie, Die Bestrafung lehrt oft, so Skinner, wie sie vermieden
Kinder, die oft mit körperlicher Bestrafung Erfahrung machen, werden kann. Die meisten Psychologen treten heute dafür ein,
könnten aus demselben Grund aggressiver sein, aus dem Men- auf Verstärkung zu setzen: Achten Sie darauf, wenn Menschen
schen, die eine Psychotherapie gemacht haben, eher an Depres- etwas richtig machen und bestärken Sie sie darin.
sionen leiden – weil bei ihnen schon vorher Probleme vorlagen,
die zu diesen Behandlungen führten (Larzelere 2000, 2004). Das Prüfen Sie Ihr Wissen
ist also die Frage: Was war zuerst da, das Huhn oder das Ei? Die
5 Vervollständigen Sie die unten stehende Tabelle
Korrelation gibt uns keine Antwort auf die Frage.
mit den folgenden Begriffen: Positive Verstärkung (PV),
Wenn man weiß, dass ein antisoziales Verhalten bereits vor-
negative Verstärkung (NV), positive Bestrafung (PB)
handen ist, dann erscheinen ein oder zwei gelegentliche Klapse
und negative Bestrafung (NB). Die erste Antwort (PV)
bei 2- bis 6-Jährigen als wirkungsvolle Behandlung, merken
wurde bereits vorgegeben.
Baumrind et al. (2002) sowie Larzelere u. Kuhn (2005) an. Dies
Form des Reizes Hinzufügen Entfernen
gilt vor allem dann, wenn zwei weitere Bedingungen erfüllt sind:
1. Der Klaps dient nur als Unterstützung, um die Wirksamkeit Erwünscht (z. B. das Auto zu 1. PV 2.
bekommen):
milderer Disziplinierungstaktiken, wie etwa Auszeiten
Unerwünscht/unangenehm 3. 4.
(Herausnehmen aus einer verstärkenden Umgebung) zu er-
(z. B. geschimpft zu werden)
höhen.
2. Der Klaps wird mit genügend Argumenten und verstärken-
der Fürsorge verbunden.
8.3.2 Skinners Erbe
Andere Forscher hingegen sind davon nicht überzeugt. Wenn
man weiß, dass ungezogenes Verhalten bereits vorhanden ist,
? 8.9 Warum werden Skinners Auffassungen zum Verhalten
führt häufigeres Schlagen bei jüngeren Kindern später zu Aggres-
des Menschen kontrovers diskutiert und wie könnte
sivität (Grogan-Kaylor 2004; Taylor et al. 2010).
man seine Prinzipien der operanten Konditionierung in der
Eltern straffälliger Jugendlicher wissen oft nicht, wie sie er-
Schule, im Sport, bei der Arbeit und zu Hause anwenden?
wünschte Verhaltensweisen verstärken könnten, ohne zu schrei-
en oder zu schlagen (Patterson et al. 1982). Übungsprogramme Skinner stach in ein Wespennest, als er immer wieder darauf
können betroffenen Eltern helfen, Drohungen in positive An- bestand, dass Verhalten durch äußere Einflüsse (nicht aber durch
regungen umzukehren. Aus »Entweder du räumst dein Zimmer innere Gedanken und Gefühle) geprägt werde; ferner drängte er
auf, oder du bekommt kein Abendbrot!« wird dann »Komm darauf, operante Prinzipien zu nutzen, um das menschliche Ver-
dann zum Abendbrot, wenn du dein Zimmer aufgeräumt hast.« halten an Schulen, am Arbeitsplatz und zu Hause zu beeinflus-
308 Kapitel 8 · Lernen

8
. Abb. 8.20 Burrhus F. Skinner. »Manchmal werde ich gefragt: ›Sehen . Abb. 8.21 Computergestütztes Lernen. Computer trugen dazu bei,
Sie sich selbst auch als einen dieser Organismen, die Sie studieren?‹ Darauf Skinners Ziel des individuell angepassten Unterrichtstempos mit sofor-
lautet meine Antwort ›Ja‹. Nach allem, was ich weiß, war mein Verhalten in tigem Feedback zu erreichen. (© Getty Images / iStockphoto)
jedem beliebigen Moment nichts anderes als das Produkt aus meiner gene-
tischen Veranlagung, meiner persönlichen Geschichte und den jeweiligen
Umständen.« (Skinner 1983; © Everett Collection / picture alliance) des Lernens in kleine Schritte einteilen und sofortige Verstärker
für richtige Antworten liefern sollten. Solche Maschinen und
solcherart aufbereitetes Lehrmaterial würde, so sagte er, das
sen. Wenn wir akzeptieren, dass Verhalten durch die sich daraus Bildungswesen revolutionieren und Lehrerinnen und Lehrern
ergebenden Konsequenzen geformt wird, sollten wir, so argu- die Freiheit geben, sich auf die individuellen Bedürfnisse ihrer
mentierte er, Belohnungen in einer Weise einsetzen, die er- Schüler zu konzentrieren.
wünschtes Verhalten besser fördert. Um Skinners Vorschlag zu illustrieren, stellen Sie sich bitte
Skinners Kritiker widersprachen und warfen ihm vor, dass er zwei Mathematiklehrer vor, die beide eine Klasse mit sehr unter-
die Menschenwürde verletze, weil er keine Achtung vor der per- schiedlich begabten Schülerinnen und Schülern unterrichten.
sönlichen Freiheit des Einzelnen habe und er sein Handeln kon- Lehrer A gibt der ganzen Klasse die gleiche Mathematikaufgabe,
trollieren wolle. Skinners Antwort: Das Verhalten des Menschen obwohl er weiß, dass einige Schüler das Problem schnell ver-
wird bereits willkürlich von äußeren Einflüssen kontrolliert. stehen, andere dagegen daran scheitern und frustriert sein
Warum sollte man dann diese Konsequenzen nicht zu Gunsten werden. Wie kann ein Lehrer so unterschiedliche Schüler indivi-
der Menschen einsetzen? Wäre es nicht menschlicher, Verstärker duell anleiten?
einzusetzen, statt zu Hause, in der Schule und in Gefängnissen Lehrer B, der eine ähnliche Klasse hat, passt den Schwierig-
mit Strafen zu arbeiten? Und wenn es demütigend erscheint, zu keitsgrad der Aufgaben dem Lerntempo des jeweiligen Schülers
denken, dass wir durch unsere Vergangenheit geformt werden, an und gibt durch positive Verstärkung sowohl den langsamen
so lässt uns genau dieser Gedanke auch hoffen, dass wir unsere als auch den schnellen Lernern ein umgehendes Feedback. Doch
eigene Zukunft gestalten können (. Abb. 8.20). wie könnte man diesen individuellen Unterricht umsetzen?
Zuletzt hoffte Skinner auf Computer. »Guter Unterricht er-
Anwendung der operanten Konditionierung fordert zwei Dinge«, sagte er. »Den Schülern muss umgehend
In späteren Kapiteln werden wir sehen, wie Psychologen die gesagt werden, ob sie etwas richtig oder falsch machen. Und
Prinzipien der operanten Konditionierung einsetzen, um Men- wenn sie es richtig machen, muss ihnen gezeigt werden, welcher
schen mit hohem Bluthochdruck zu helfen oder um soziale Schritt als nächster folgt.« Bei Lese- und Mathematikaufgaben
Fertigkeiten zu entwickeln. Verstärkungstechniken finden auch könnte der Computer Lehrer B sein – er kann den Stoff dem
im Schulalltag, im Sport, im Geschäftsleben und zu Hause An- Lerntempo des Schülers anpassen, den Schüler testen, um Ver-
wendung (Flora 2004). ständnislücken zu finden, sofortiges Feedback geben und dem
beaufsichtigenden Lehrer lückenlose Leistungsnachweise liefern
jSchule (. Abb. 8.21). Auch wenn die vorhergesagte Revolution im Bil-
Eine Generation vor uns setzte sich Skinner für die Verwendung dungswesen nicht eingetreten ist – zum Teil deshalb, weil die
von Lernmaschinen und Lehrbüchern ein, die den Prozess frühen Lernmaschinen zumeist nur das Auswendiglernen und
8.3 · Operante Konditionierung
309 8

. Abb. 8.22 (© The New Yorker Collection, 1989, Jack Ziegler/cartoonbank.com)

nicht die tiefergehende Verarbeitung trainierten – glaubte Einfluss auf die Produktivität haben. Andere Unternehmen legen
Skinner (1986, 1988, 1989) bis zu seinem Tod, dass dieses Ideal den Fokus auf die Verstärkung guter Arbeit: Diese steigert die
erreichbar wäre. Dank immer interaktiverer Lernsoftware für Produktivität besonders effektiv, wenn die erwünschte Leistung
Schülerinnen und Schüler, dank des internetbasierten Lernens klar definiert ist und im Rahmen der Möglichkeiten liegt. Was
und dank der Leistungsüberprüfung im Netz sind wir Skinners bedeutet das für Sie als Manager? Belohnen Sie bestimmte, mach-
Ideal näher gekommen als je zuvor. bare Tätigkeiten, nicht vage definierte Verdienste.
Auch lohnt es sich, die Verstärkung sofort durchzuführen.
jSport Wenn der legendäre IBM-Manager Thomas Watson eine er-
Mit Hilfe von Verstärkungsprinzipien lassen sich aber auch folgreiche Leistung beobachtete, schrieb er dem Mitarbeiter so-
sportliche Leistungen verbessern. Der Schlüssel hierfür ist fort einen Scheck aus (Peters u. Waterman 1982). Belohnungen
wieder, dass zunächst kleine Erfolge verstärkt werden und dann müssen allerdings nicht unbedingt materiell oder üppig sein. Ein
die Anforderungen allmählich zunehmen. Golfschüler fangen erfolgsorientierter Manager kann seine Mitarbeiterinnen und
mit Schlägen über eine sehr kurze Distanz an. In dem Maß, wie Mitarbeiter einfach auf dem Flur in ihrer guten Arbeit bestätigen
sie besser werden, können sie immer weiter vom Ball zurück- oder eine gute Bewertung zu einem abgeschlossenen Projekt
treten. Wer Schlagmann beim Baseball werden will, übt zuerst, schreiben (. Abb. 8.22). Wie Skinner sagte: »Wäre die ganze Welt
einen Ball mit Übergröße zu schlagen, der von nicht allzu weit nicht um vieles reicher, wenn im Alltag die Verstärker deutlicher
entfernt geworfen wird. Mit jedem gelungenen Treffer wachsen von der geleisteten Arbeit abhingen?«
sein Vertrauen und sein Können; dann kann der Ball schritt-
weise aus einer immer größeren Entfernung geworfen und jZu Hause
der große Ball schließlich durch einen normalen Ball ersetzt Auch Eltern können einen Nutzen aus der operanten Kondi-
werden. Bei einem Vergleich mit Kindern, die nach herkömm- tionierung ziehen. Die Wissenschaftler Wierson u. Forehand
lichen Methoden trainiert wurden, zeigten die Kinder mit (1994), die für Eltern Kurse zur richtigen Kindererziehung an-
diesem Verhaltenstraining schnellere Lernerfolge (Simek u. bieten, erinnern uns daran, dass Eltern, die sagen: »Mach dich
O’Brien 1981, 1988). fertig, schlafen zu gehen« und dann Protesten und Trotzverhal-
ten nachgeben, derartige Verhaltensweisen verstärken. Schließ-
jArbeitsplatz lich schreien sie in ihrer Verzweiflung ihr Kind möglicherweise
Viele Firmen bieten ihren Angestellten heute Gewinnbeteiligun- an oder gestikulieren drohend, wobei die ängstliche Fügsamkeit
gen und Firmenanteile an, da sie wissen, dass Verstärker einen des Kindes wiederum das verärgerte Verhalten der Eltern ver-
310 Kapitel 8 · Lernen

stärkt. Mit der Zeit entsteht daraus ein destruktives Eltern-Kind-


Verhältnis.
Um diesen Teufelskreis zu durchbrechen, sollten Eltern
die grundlegende Regel des Shapings (Verhaltensformung) be-
achten: Achten Sie darauf, wenn Menschen etwas richtig machen
und bestärken Sie sie darin. Schenken Sie Kindern Aufmerk-
samkeit und andere Verstärker, wenn sich diese richtig verhalten.
Wählen Sie ein bestimmtes Verhalten aus, belohnen Sie es, und
beobachten Sie, wie es häufiger auftreten wird. Wenn sich Ihre
Kinder falsch verhalten oder trotzig sind, dann schreien Sie sie
nicht an und schlagen Sie sie nicht. Erklären Sie ihnen einfach ihr
Fehlverhalten und geben Sie ihnen eine Auszeit: Nehmen Sie sie
für einen festgelegten Zeitraum aus der sie verstärkenden Um-
gebung heraus.
Schließlich können wir die operante Konditionierung auch
bei uns selbst anwenden (7 Unter der Lupe: Den Partner trainie-
8 ren; . Abb. 8.23), indem wir unsere am meisten erwünschten
Verhaltensweisen (z. B. öfter Sport treiben) verstärken und uner-
wünschtes Verhalten (z. B. das Rauchen) löschen. Hierfür schla-
gen Psychologen Ihnen vor, diese Maßnahmen zu ergreifen:
1. Legen Sie Ihr Ziel messbar fest und verkünden Sie Ihren
Vorsatz. Sie könnten beispielsweise täglich eine Stunde
länger lernen wollen und dieses Ziel Freunden mitteilen,
. Abb. 8.23 (© Claudia Styrsky)
die Sie darin unterstützen.
2. Beobachten Sie, wie oft das Verhalten, das Sie fördern möch-
ten, bei Ihnen auftritt. Sie könnten Ihre derzeitige Lernzeit
stoppen und notieren, unter welchen Bedingungen Sie ler- Löschung, Spontanerholung, Generalisierung und Reizdiskrimina-
nen und unter welchen nicht. (Als ich anfing, Lehrbücher tion eine Rolle. Aber es gibt auch Unterschiede zwischen diesen
zu schreiben, hielt ich während des gesamten Tages fest, beiden Formen des Lernens (. Tab. 8.4). Bei der klassischen Kon-
wie ich meine Zeit verbrachte, und war erstaunt darüber, zu ditionierung (Pawlow) assoziiert ein Organismus verschiedene
entdecken, wie viel Zeit ich vergeudete.) Reize, die er nicht unter Kontrolle hat und auf die er automatisch
3. Verstärken Sie das erwünschte Verhalten. Wenn Sie länger reagiert (respondentes Verhalten). Bei der operanten Kondi-
lernen möchten, dann gönnen Sie sich erst nach der zusätz- tionierung koppelt ein Organismus sein operantes Verhalten –
lichen Stunde einen Snack (oder eine andere verstärkende Beeinflussung der Umwelt, wodurch belohnende oder bestra-
Aktivität). Vereinbaren Sie mit Ihren Freunden, dass Sie fende Reize ausgelöst werden – mit den sich jeweils daraus er-
am Wochenende nur dann etwas mit ihnen unternehmen gebenden Konsequenzen.
werden, wenn Sie Ihr realistisches wöchentliches Lernziel
Respondentes Verhalten (»respondent behavior«) – Verhalten, das auto-
erreicht haben. matisch als Reaktion auf einen Reiz auftritt.
4. Reduzieren Sie allmählich in dem Maße die Anreize, in dem Operantes Verhalten (»operant behavior«) – Verhalten, das die Umwelt
die neuen Verhaltensweisen immer stärker zur Gewohnheit beeinflusst und Konsequenzen auslöst.
werden, und klopfen Sie sich innerlich auf die Schulter, an-
statt einen Keks zu essen. Wie wir als nächstes sehen werden, unterliegen beide Formen des
Konditionierens (klassisch und operant) den Beschränkungen
der biologischen Veranlagungen und werden von kognitiven
8.3.3 Gegenüberstellung von klassischer Prozessen beeinflusst.
und operanter Konditionierung Prüfen Sie Ihr Wissen

5 Speichelfluss als Reaktion auf einen Ton, der mit Futter


? 8.10 Wie unterscheiden sich klassische und operante
gekoppelt ist, ist eine Verhaltensweise;
Konditionierung?
das Drücken eines Hebels, um Nahrung zu erhalten, ist
Sowohl die klassische als auch die operante Konditionierung sind eine Verhaltensweise.
Formen assoziativen Lernens, und bei beiden spielen Erwerb,
8.4 · Biologische Veranlagungen, Kognition und Lernen
311 8

Unter der Lupe

Den Partner trainieren (von Amy Sutherland)


Als ich ein Buch über eine Schule für Trainer welches ich nicht mochte, ignorieren sollte. te, konnte ich gar nicht mehr aufhören, so zu
exotischer Tiere schrieb, pendelte ich von Man bringt schließlich auch keinen Seelöwen denken. In der Schule in Kalifornien machte
Maine nach Kalifornien, wo ich meine Tage dazu, einen Ball auf der Nase zu balancieren, ich mir Notizen darüber, wie man einen Emu
damit verbrachte, den Schülern dabei zu- indem man nörgelt. Dasselbe gilt auch für den führt oder wie man einen Wolf dazu bringt,
zusehen, wie sie das Unmögliche möglich amerikanischen Ehemann. jemanden als Mitglied des Rudels anzusehen.
machten. Sie brachten Hyänen bei, wie man Wieder zurück in Maine begann ich damit, Dabei dachte ich die ganze Zeit: »Ich kann es
auf Kommando eine Pirouette dreht, sie mich bei Scott zu bedanken, wenn er ein kaum erwarten, das bei Scott anzuwenden …«
trainieren Pumas, die Pfote hinzuhalten, damit schmutziges T-Shirt in den Wäschekorb warf. Nach zwei Jahren exotischen Tiertrainings
die Nägel gestutzt werden konnten und Wenn er zwei hinein warf, bekam er einen verlief meine Ehe weitaus reibungsloser und
brachten Pavianen bei, Skateboard zu fahren. Kuss. Unterdessen stieg ich über jegliche ver- es war leichter, meinen Ehemann zu lieben.
Gespannt hörte ich zu, als professionelle Trai- schmutzte Kleidung, die auf dem Boden lag, Früher nahm ich seine Fehler persönlich; seine
ner erklärten, wie sie Delfinen einen Salto oder ohne eine spitze Bemerkung zu machen. Nur schmutzige Kleidung auf dem Boden waren
Elefanten das Malen beibrachten. Schließlich manchmal trat ich die Schmutzwäsche unter eine Beleidigung, ein Symbol dafür, dass er
kam mir der Gedanke, dass dieselbe Technik das Bett. Aber während er sich in meiner mich nicht wichtig genug nahm. Aber meinen
vielleicht auch bei dieser störrischen, aber Anerkennung sonnte, wurden die Haufen Ehemann als eine Art exotischer Gattung zu
liebenswerten Gattung – dem amerikanischen schmutziger Wäsche immer kleiner. betrachten, gab mir die nötige Distanz, unsere
Ehemann – funktionieren könnte. Ich nutze das, was Trainer »Annäherung« Differenzen objektiver zu betrachten.
Die wesentliche Lektion, die ich von diesen nennen: das Belohnen kleiner Schritte auf dem (Auszug mit Genehmigung aus Amy Suther-
Tiertrainern lernte, war, dass ich Verhalten, Weg zum Erlernen einer neuen Verhaltens- land, What Shamu taught me about a happy
das ich mochte, belohnen und Verhalten, weise … Als ich einmal damit angefangen hat- marriage. New York Times, 25.6.2006)

. Tab. 8.4 Klassische und operante Konditionierung im Vergleich

Klassische Konditionierung Operante Konditionierung

Grundlegende Idee Organismen assoziieren Ereignisse Organismen assoziieren Verhalten und dessen
Konsequenzen

Reaktion Unwillkürlich, automatisch Willentlich, beeinflusst die Umgebung

Erwerb Ereignisse werden assoziiert; ein NS, der mit einem US Eine Reaktion wird mit einer Konsequenz gekoppelt
gekoppelt wird, wird zum CS (Verstärker oder bestrafender Reiz)

Löschung CR nimmt ab, wenn CS wiederholt alleine dargeboten wird Die Reaktion nimmt ab, wenn die Verstärkung aufhört

Spontanerholung Erneutes Auftreten einer gelöschten CR nach einer Pause Erneutes Auftreten einer gelöschten Reaktion nach
einer Pause

Generalisierung Tendenz, auf Reize zu reagieren, die dem CS ähnlich sind Die Reaktion eines Organismus auf ähnliche Reize wird
ebenfalls verstärkt

Reizdiskrimination Die gelernte Fähigkeit, den CS von anderen Reizen zu unter- Der Organismus lernt, dass bestimmte Verhaltensweisen
scheiden, die keinen US ankündigen verstärkt werden, aber andere nicht

8.4 Biologische Veranlagungen, 8.4.1 Biologische Veranlagungen


Kognition und Lernen
? 8.11 Wie beeinflussen biologische Beschränkungen das
Durch sabbernde Hunde, rennende Ratten und pickende Tauben
Lernen durch klassische und operante Konditionierung?
haben wir viel über grundlegende Lernprozesse gelernt. Doch die
Konditionierungsprinzipien allein reichen nicht aus. Heutige Bereits seit Charles Darwin gingen Wissenschaftler davon aus,
Lerntheoretiker sehen Lernen als ein Produkt aus der Interaktion dass alle Tiere eine gemeinsame Entwicklungsgeschichte haben,
biologischer, psychologischer und soziokultureller Einflüsse aus der sich Gemeinsamkeiten in Bezug auf Struktur und Funk-
(. Abb. 8.24). tionsfähigkeit ergeben. Pawlow und Watson glaubten z. B., dass
die grundlegenden Gesetze des Lernens bei allen Lebewesen im
Wesentlichen ähnlich waren. Es wäre also relativ gleichgültig,
312 Kapitel 8 · Lernen

. Abb. 8.25 Geschmacksaversion. Wenn Sie nach dem Konsum von


Muscheln schwer krank würden, würden Sie wahrscheinlich danach nur
ungern wieder Muscheln essen. Ihr Geruch und Geschmack wäre ein
. Abb. 8.24 Biopsychosoziale Einflüsse auf das Lernen. Lernen ist CS für Übelkeit geworden. Dieses Lernen erfolgt problemlos, weil unsere
8 nicht nur ein Resultat von Umwelterfahrungen, sondern auch von kogni- Biologie uns darauf vorbereitet, Geschmacksaversionen gegen giftiges
tiven und biologischen Einflüssen Essen zu lernen. (© Getty Images / iStockphoto)

ob man Tauben oder Menschen untersuchte. Außerdem sah es so Erstens mieden die Ratten, auch wenn sie erst mehrere Stunden,
aus, als ob jede natürliche Reaktion mit jedem neutralen Reiz nachdem sie einen bestimmten neuen Geschmack probiert
gekoppelt werden könnte. hatten, krank wurden, danach diese Geschmacksrichtung. Da-
durch wurde die Annahme widerlegt, dass Konditionierung nur
Grenzen der klassischen Konditionierung dann eintritt, wenn der US unmittelbar auf den CS folgt.
1956 erklärte der Lernforscher Kimble, dass »praktisch jede Zweitens entwickelten die erkrankten Ratten eine Abneigung
Aktivität, zu der der menschliche Organismus fähig ist, kondi- gegen bestimmte Geschmacksrichtungen, nicht aber gegen Bilder
tioniert werden kann und … diese Reaktionen können wiederum oder Geräusche. Dies widersprach der Annahme der Verhaltens-
mit jedem Reiz gekoppelt werden, den der Organismus wahrneh- forscher, dass jeder wahrnehmbare Reiz als CS dienen könne. Ein
men kann« (ebd., S. 195). 25 Jahre später gestand Kimble (1981) solches Verhalten dient jedoch der Anpassung an die Umgebung;
bescheiden ein, dass rund 500 wissenschaftliche Berichte ihm denn Ratten erkennen verdorbenes Futter am leichtesten, wenn sie
seinen Irrtum nachgewiesen hätten. Die Fähigkeit eines Tieres es probieren. Wenn sie erkrankten, nachdem sie neues Futter pro-
zur Konditionierung wird stärker durch seine biologischen Ge- biert hatten, mieden sie danach dieses Futter. Diese Reaktion, die
gebenheiten eingeschränkt, als dies den frühen Behavioristen sich Geschmacksaversion nennt, macht es schwierig, eine Popula-
bewusst war. Die Prädispositionen jeder Art bereiten diese darauf tion von Ratten zu vergiften, die einem Köder aus dem Weg geht.
vor, die Assoziationen zu lernen, die ihr das Überleben erleich- Auch Menschen scheinen biologisch darauf vorbereitet zu
tern. Die Umwelt ist also nur eine Seite der Medaille. sein, manche Dinge leichter als andere zu lernen. Wenn Sie ver-
John Garcia gehörte zu denen, die die vorherrschende Mei- dorbene Muscheln vorgesetzt bekommen und 4 Stunden später
nung, dass alle Assoziationen gleich gut gelernt werden können, schwer erkranken, werden Sie wahrscheinlich eine Abneigung
fundamental in Frage stellten. Als Garcia u. Koelling (1966) die gegen den Geschmack von Muscheln entwickeln, nicht aber ge-
Auswirkungen von radioaktiver Strahlung bei Versuchstieren gen den Anblick des Restaurants, den Teller, die anderen Gäste
untersuchten, stellten sie fest, dass Ratten auf einmal anfingen, oder die Musik, die Sie dort hörten (. Abb. 8.25). Im Gegensatz
das Wasser aus den Plastikflaschen in den Strahlenkammern dazu, scheinen Vögel, die beim Jagen auf das Sehen angewiesen
nicht mehr zu trinken. Sie fragten sich, ob das an der klassischen sind, über die biologische Veranlagung zu verfügen, Aversionen
Konditionierung liegen könnte. Hatten die Ratten das nach Plas- gegen den Anblick von unbekömmlichem Futter zu entwickeln
tik schmeckende Wasser (einen CS) mit der Krankheit gekoppelt (Nicolaus et al. 1983).
(UR), die durch die Strahlung (US) ausgelöst wurde? Garcias Forschungsergebnissen zur Abneigung gegen be-
Um ihren Verdacht zu überprüfen, boten sie den Ratten stimmte Geschmacksrichtungen wurde mit einem Ansturm von
einen bestimmten Geschmack, ein Bild oder ein Geräusch als Kritik begegnet. Der deutsche Philosoph Arthur Schopenhauer
CS und verabreichten ihnen später auch radioaktive Strahlen (1788–1860) sagte einmal, dass bedeutende Ideen zuerst lächer-
oder Medikamente (US), die zu Übelkeit und Erbrechen (UR) lich gemacht, dann angegriffen und schließlich als selbstver-
führten. Dabei kamen zwei erstaunliche Ergebnisse heraus: ständlich angesehen werden. Zuerst weigerten sich die führen-
8.4 · Biologische Veranlagungen, Kognition und Lernen
313 8

. Abb. 8.26 Geschmacksaversion bei Tieren. Als Alternative zur Tötung von Wölfen und Kojoten, die Schafe fraßen, brachten einige Rancher die Tiere
dazu, Lamm zu fressen, welches mit einem Mittel versetzt war, das bei ihnen Übelkeit hervorrief. (© blickwinkel / Alamy)

den Zeitschriften, Garcias Arbeit zu veröffentlichen. Die Er- All diese Fälle stützen Darwins These, dass die natürliche
gebnisse seien nicht möglich, sagten einige Kritiker. Aber wie Selektion Eigenschaften begünstigt, die dem Überleben dienen.
dies oft in der Forschung geschieht, sind Garcias u. Koellings Wer rasch eine Abneigung gegen eine Geschmacksrichtung er-
Untersuchungen zur Geschmacksaversion heute grundlegendes lernt, wird wahrscheinlich dasselbe giftige Essen nicht ein zwei-
Lehrbuchmaterial. tes Mal zu sich nehmen und daher eher überleben und Nach-
Die folgende Untersuchung ist nur ein Beispiel für eine kommen hinterlassen. Tatsächlich dienen alle unangenehmen
psychologische Studie, die mit Unannehmlichkeiten für einige Gefühle, angefangen von der Übelkeit bis hin zu Angst und
Versuchstiere begann und zum Wohlergehen von vielen Tieren Schmerz, einem guten Zweck. Wie der Ölstandsmesser am Arma-
beitrug. In einer Untersuchung zur konditionierten Geschmacks- turenbrett des Autos weisen sie den Körper auf eine Gefahr hin
aversion wurden Kojoten und Wölfe dazu gebracht, Schafska- (Neese 1991).
daver zu fressen, die mit einem Übelkeit hervorrufenden Toxin Und erinnern Sie sich an dieses japanische Wachtelmänn-
versetzt worden waren. Daraufhin entwickelten sie eine Ab- chen, das darauf konditioniert wurde, durch ein rotes Licht, das
neigung gegen Schaffleisch. Zwei Wölfe, die später mit einem als Signal für die Ankunft eines geschlechtsreifen Weibchens
lebenden Schaf eingesperrt wurden, schienen dies dann tatsäch- diente, erregt zu werden. Domjan et al. (2004) berichten, dass
lich zu fürchten (Gustavson et al. 1974, 1976). In diesem Fall sich eine solche Konditionierung sogar als noch schneller, stärker
rettete die Studie das Schaf vor den Raubtieren. Diese wurden und dauerhafter erweist, wenn der CS »ökologisch relevant« ist
wiederum vor wütenden Ranchern und Farmern bewahrt, die – etwas Ähnliches wie die Reize, die mit sexueller Aktivität in der
nicht mehr so hartnäckig für deren Tötung eintraten, da ihr Vieh natürlichen Umwelt assoziiert werden, wie etwa der ausgestopfte
nun weniger gefährdet war (. Abb. 8.26). In ähnlichen Expe- Kopf eines Wachtelweibchens. In der realen Welt, so beobachtete
rimenten konnten Paviane erfolgreich davon abgehalten werden, es Domjan (2005), haben konditionierte Reize eine natürliche
in afrikanische Gärten einzudringen, Waschbären davon, Hüh- Verbindung mit den unkonditionierten Reizen, die sich auf-
ner anzugreifen, Raben und Krähen, Kranicheier zu fressen, grund der konditionierten Reize vorhersagen lassen.
und mexikanische Wölfe davon, Schafe zu fressen; gleichzeitig Die Tendenz, Verhalten zu lernen, welches von der natür-
wurden Tierarten erhalten, die eine wichtige ökologische Nische lichen Selektion begünstigt ist, könnte helfen, die natürliche Prä-
einnehmen (Dingfelder 2010, Garcia u. Gustavson 1997). disposition des Menschen zu verstehen, Assoziationen zwischen
der Farbe Rot und Sexualität zu lernen. Weibliche Primaten
» Auf ihrer Reise durch die Zeit steuern alle Tiere eine Zukunft zeigen Rot, wenn sie sich dem Eisprung nähern. Bei Frauen führt
an, die ihr Überleben begünstigt, und weg von einer die erhöhte Durchblutung beim Flirten und bei sexueller Er-
Zukunft, die dieses bedroht. Lust und Schmerz sind ihre regung zu einer erröteten Gesichtsfarbe. Führt also die wieder-
wegweisenden Sterne. holte, gleichzeitige Darbietung der Farbe Rot und Sexualität –
Die Psychologen Daniel T. Gilbert und Timothy D. Wilson, z. B. durch Herzen am Valentinstag, Rotlichtbezirke und roten
Prospection: Experiencing the Future, 2007 Lippenstift – zu einer natürlich erhöhten Anziehungskraft von
314 Kapitel 8 · Lernen

8
. Abb. 8.27a,b Romantisches Rot. In einer Serie von Experimenten, in der andere Faktoren (z. B. die Helligkeit des Bildes) kontrolliert wurden, fanden
Männer Frauen attraktiver und sexuell begehrenswerter, wenn ihnen diese in einem roten Rahmen präsentiert wurden (Elliot u. Niesta 2008; Courtesy of
Kathryn Brownson, Hope College)

Frauen auf Männer? Experimente lassen vermuten, dass dem Grenzen der operanten Konditionierung
so ist, auch wenn sich Männer dessen nicht bewusst sind Ebenso wie bei der klassischen Konditionierung schränken die
(. Abb. 8.27; Elliot u. Niesta 2008). In nachfolgenden Untersu- natürlichen Veranlagungen eines Tieres auch seine Fähigkeit zur
chungen zeigte sich, dass Männer, die eine potenzielle weibliche operanten Konditionierung ein. Mark Twain (1835–1910) sagte
Gesprächspartnerin in einem roten Oberteil sahen, näher an den treffenderweise: »Versuche nie, einem Schwein das Singen bei-
Platz rückten, an dem die Gesprächspartnerin vermutlich sitzen zubringen, denn du verschwendest deine Zeit und verärgerst das
würde, als wenn sie die potenzielle Gesprächspartnerin in einem Schwein.«
grünen Oberteil sahen. Außerdem beabsichtigten sie, intimere Am leichtesten werden Verhaltensweisen gelernt und beibe-
Fragen zu stellen (Kayser et al. 2010). Und dies gilt nicht nur für halten, die biologische Veranlagungen reflektieren. Wenn man
Männer: Frauen neigen dazu, Männer attraktiver zu finden, das Verhalten eines Hamsters durch Futter verstärkt, kann man
wenn sie diese vor einem roten Hintergrund oder in roter Klei- ihn leicht darauf konditionieren, zu graben oder sich aufzu-
dung sehen (Elliot et al. 2010). bäumen, weil dies zu den natürlichen Verhaltensweisen dieses
Die genetische Prädisposition, einen CS mit einem US zu Tieres gehört, wenn es Futter sucht. Aber es ist schwierig, Futter
koppeln, der darauf vorhersehbar und unmittelbar folgt, dient als Verhaltensverstärker einzusetzen, wenn man einen Hamster
der Anpassung: Ursachen gehen der Wirkung oft unmittelbar zu einem anderen Verhalten veranlassen will, das normalerweise
voraus. Oft, aber nicht immer, wie wir bei der Abneigung gegen nichts mit Futter oder Hunger zu tun hat – wie etwa, sich das
bestimmte Geschmacksrichtungen gesehen haben. Hin und Gesicht zu putzen (Shettleworth 1973). Das gilt auch für Tauben:
wieder können uns unsere Prädispositionen täuschen. In diesen Sie lernen leicht, mit den Flügeln zu schlagen, um einen Elektro-
Fällen muss die Wirkung nicht unmittelbar der Ursache folgen. schock zu vermeiden, oder zu picken, um Futter zu erhalten;
Wenn eine Chemotherapie mehr als eine Stunde nach der Be- denn es ist bei ihnen ein natürliches Verhalten, die Flügel zur
handlung Übelkeit und Erbrechen hervorruft, können Krebs- Flucht zu benutzen bzw. den Schnabel zum Fressen. Schwierig
patienten mit der Zeit eine klassisch konditionierte Übelkeit wird es allerdings für Tauben, wenn sie picken sollen, um einen
(und manchmal auch Ängstlichkeit) entwickeln, die auftritt, Schock zu vermeiden, oder mit den Flügeln schlagen sollen, um
sobald sie etwas sehen, hören oder riechen, was mit der Klinik Futter zu erhalten (Foree u. LoLordo 1973). Die Ursache: Auf-
assoziiert wird (. Abb. 8.28; Hall 1997). Allein schon die Rück- grund ihrer biologischen Veranlagungen fällt es Organismen leich-
kehr ins Wartezimmer der Klinik oder der Anblick der Kranken- ter, Kopplungen zu lernen, die ihrem natürlichen Verhalten nahe-
schwester kann diese Gefühle auslösen (Burish u. Carey 1986; kommen.
Davey 1992). Unter normalen Umständen ist ein solcher Ekel vor In den frühen 1940er Jahren wurden Marian und Keller
krankmachenden Reizen eine biologische Anpassungsleistung. Breland, Absolventen der Universität von Minnesota, unter
8.4 · Biologische Veranlagungen, Kognition und Lernen
315 8

. Abb. 8.28 Übelkeitskonditionierung bei Krebspatienten

ihrem Mentor Burrhus F. Skinner Zeuge der Kraft der operanten stießen sie mit der Schnauze an, wie dies Schweine normaler-
Konditionierung (1961; Bailey u. Gillaspy 2005). Beeindruckt weise tun, schnappten sie wieder und wiederholten dann diese
von seinen Ergebnissen fingen sie an, Hunde, Katzen, Hühner, Sequenz – und verzögerten dadurch die Verabreichung ihres
Sittiche, Truthähne, Schweine, Enten und Hamster zu trainieren. Futterverstärkers. Wie diese »instinktive Tendenz« zeigt, kam
Der Rest ist Geschichte. Das Unternehmen, das sie gründeten, es zu »Fehlverhalten«, wenn die Tiere zu ihren angeborenen
verbrachte die nächsten 50 Jahre damit, mehr als 15.000 Tiere aus Mustern zurückkehrten.
140 Gattungen für Filme, Wanderzirkusse, Freizeitparks, Unter-
nehmen und die Regierung zu trainieren. Darüber hinaus stan-
den die Brelands auch anderen als Mentoren zur Verfügung, so 8.4.2 Der Einfluss von Kognitionen
z. B. dem ersten Trainingsleiter von Sea World. auf die Konditionierung
Die Brelands hatten ursprünglich angenommen, dass ope-
rante Prinzipien bei fast allen Reaktionen, zu denen ein Tier fähig
? 8.12 Welche Bedeutung haben kognitive Prozesse bei der
ist, funktionieren würden. Aber schließlich kamen sie zu dem
klassischen und operanten Konditionierung?
Schluss, dass biologische Beschränkungen mehr Gewicht hatten,
als sie angenommen hatten (. Abb. 8.29). Einmal trainierten sie
Schweine, große »Dollars« aus Holz aufzuschnappen und sie Kognition und klassische Konditionierung
zu einer »Schweinebank« zu bringen. Doch nachdem die Tiere Pawlows und Watsons Ablehnung »mentalistischer« Konzepte
dieses Verhalten gelernt hatten, kehrten sie allmählich wieder zu wie des Konzepts des Bewusstseins führte nach und nach zu der
ihrem natürlichen Verhalten zurück. Sie ließen die Münze fallen, Erkenntnis, dass sie die Bedeutung kognitiver Prozesse (Ge-

. Abb. 8.29 Natürliche Athleten. Tiere können am leichtesten Verhaltensweisen lernen und behalten, die ihren biologischen Veranlagungen entspre-
chen, wie etwa die den Hunden angeborene Tendenz, sich für Bewegungen und Gleichgewicht auf ihre vier Pfoten zu verlassen. (© Rolf Klebsattel / Fotolia)
316 Kapitel 8 · Lernen

danken, Wahrnehmungen, Erwartungen) und biologischer Be- wenn Personen sich der gelernten Assoziationen bewusst werden
schränkungen für die Lernfähigkeit des Organismus unter- (Shanks 2010). Kognitionen spielen also eine Rolle.
schätzten. Frühe Vertreter des Behaviorismus glaubten, dass Dieses Prinzip erklärt, warum Behandlungen, die auf der
erlernte Verhaltensweisen verschiedener Organismen auf geist- klassischen Konditionierung beruhen und die dabei auftreten-
lose mechanische Prozesse reduziert werden können. Deshalb den Kognitionen nicht zur Kenntnis nehmen, oft nur begrenzt
ließen viele Psychologen die Vorstellung, dass man bei Ratten erfolgreich sind. Beispielsweise erhalten Alkoholiker manchmal
und Hunden Kognitionen unterstellen könne, als unnötig fallen. in der Therapie Alkohol, der mit einem Übelkeit auslösenden
Heute ist das anders. Rescorla u. Wagner (1972) vertraten die Mittel vermischt ist. Werden sie deshalb Alkohol mit Übelkeit
These, dass ein Tier dann, wenn zwei bedeutsame Ereignisse verbinden? Wäre die klassische Konditionierung nur eine Vorge-
kurz hintereinander auftreten, die Vorhersagbarkeit des zweiten hensweise, den Menschen Reizassoziationen »aufzudrücken«,
Ereignisses lernt. Wenn einem Elektroschock immer ein Ton könnten wir auf eine solche Reaktion hoffen, und – in gewisser
vorausgeht und ab und zu zum Ton noch ein Licht hinzukommt, Weise – tritt dies auch so ein (wie wir später in 7 Kap. 17 sehen
wird die Ratte zwar ängstlich auf den Ton, aber nicht auf das Licht werden). Allerdings sind sich diejenigen, die dieses Getränk be-
reagieren. Obwohl dem Licht immer der Schock folgt, kommt kommen, der Tatsache bewusst, dass ihre Übelkeit auf das beige-
keine neue Information hinzu; durch den Ton kann man den fügte Mittel zurückgeht und nicht auf den Alkohol. Diese Wahr-
drohenden Schock besser vorhersagen. Je vorhersehbarer die nehmung schwächt oft die Kopplung zwischen dem Alkohol und
8 Kopplung ist, desto stärker ist die konditionierte Reaktion. Es ist, dem Gefühl, krank zu sein. Selbst bei der klassischen Kondi-
als würde das Tier lernen, einzuschätzen, wie wahrscheinlich das tionierung ist vor allem bezogen auf den Menschen nicht nur die
Auftreten des US ist. einfache CS-US-Kopplung wichtig, sondern auch das Denken.

» Im Grunde ist jedes Gehirn ein Gerät zur Antizipation.


Kognition und operante Konditionierung
Daniel C. Dennett, Philosophie des menschlichen Bewusstseins,
Skinner wusste sehr wohl, dass es innere Denkprozesse und bio-
1994
logische Grundlagen für das Verhalten gibt. Dennoch kritisierten
Mehr Informationen zum Verhalten von Tieren finden Sie ihn viele Psychologen, weil er die Bedeutung dieser Prozesse und
in den Büchern von – und das ist nicht erfunden – Robin Fox Veranlagungen zu wenig beachtete.
und Lionel Tiger. Nur 8 Tage, bevor er an Leukämie starb, hielt Skinner (1990)
einen Vortrag auf einer Konferenz des amerikanischen Psycho-
Auch wenn Assoziationen nicht bewusst wahrgenommen wer- logenverbandes APA und kritisierte zum letzten Mal die »kogni-
den, können sie zu bestimmten Einstellungen führen (Hofmann tive Wissenschaft«, die für ihn ein Rückfall in die Introspektions-
et al. 2010). Wenn britischen Kindern neue Zeichentrickfigu- manie zu Beginn des 20. Jahrhunderts war. Bis zu seinem Tod
ren einmal zusammen mit Eiscreme (lecker!) und einmal zu- widersetzte sich Skinner der sich immer stärker ausbreitenden
sammen mit Rosenkohl (igitt!) gezeigt wurden, mochten sie die Auffassung, dass kognitive Prozesse – Gedanken, Wahrnehmun-
Figuren am liebsten, die mit Eiscreme assoziiert wurden (Field gen, Erwartungen – einen wichtigen Platz in der psychologischen
2006). Olson u. Fazio (2001) entdeckten dies, als sie die Einstel- Forschung haben und sogar für das Verständnis des Konditionie-
lungen von Menschen gegenüber relativ unbekannten Pokemon- rens von großer Bedeutung sind. (Er betrachtete Gedanken und
Figuren klassisch konditionierten. Den Teilnehmern, die die Gefühle als Verhaltensweisen, die den gleichen Gesetzen folgen,
Rolle von Aufsichtspersonen spielten, die einen Videobild- wie jedes andere Verhalten auch.)
schirm überwachen, wurde eine Reihe von Wörtern, Bildern und Doch vieles weist darauf hin, dass kognitive Prozesse beim
Pokemon-Figuren gezeigt. Man bat sie, auf eine bestimmte operanten Konditionieren eine Rolle spielen könnten. Beispiels-
Pokemon-Figur mit einem Knopfdruck zu reagieren. Die Teil- weise zeigen Tiere mit einem festen Intervallplan für Verstärker
nehmer wussten nicht, dass eine der beiden Figuren auf dem zunehmend häufigere Reaktionen, wenn sich die Zeit nähert, in
Bildschirm bewusst mit verschiedenen positiven Wörtern und der eine Reaktion zu einer Verstärkung führt. Die Tiere verhalten
Bildern gekoppelt war (wie etwa mit »beeindruckend« oder mit sich, als ob sie erwarteten, dass das Wiederholen der Reaktion
Schokoladeneis) und die andere mit negativen Wörtern und bald zu einer Belohnung führen würde. (Ein strikter Behaviorist
Bildern (wie etwa mit »scheußlich« oder mit Kakerlake). Als man hält es dagegen für unnötig, von »Erwartungen« zu sprechen;
die Teilnehmer danach bat, alle Pokemon-Figuren zu bewerten, ihm genügt es, dass Reaktionen, wenn sie unter bestimmten Be-
zogen sie diejenigen vor, die mit positiven Reizen gekoppelt dingungen verstärkt wurden, wieder auftreten, wenn diese Be-
waren. Ohne sich bewusst an die Kopplungen zu erinnern, hatten dingungen erneut vorliegen.)
die Teilnehmer intuitiv positive oder negative Einstellungen ent- Die Beobachtung von Ratten im Labyrinth lieferte den Beleg
wickelt. für kognitive Prozesse. Ratten, die ohne offensichtliche Be-
Weitere Studien deuten darauf hin, dass konditionierte Vor- lohnung ein Labyrinth erkunden, verhalten sich wie Menschen,
lieben und Abneigungen sogar noch stärker ausgeprägt sind, die eine Tour durch eine fremde Stadt machen. Die Ratten schei-
8.4 · Biologische Veranlagungen, Kognition und Lernen
317 8

. Abb. 8.30 (© Claudia Styrsky)

nen eine kognitive Landkarte zu entwickeln, eine mentale Dar- für Lesen mit Spielzeug oder Süßigkeiten belohnt wurden, an-
stellung des Labyrinths (. Abb. 8.30). Wenn ein Versuchsleiter schließend weniger Zeit mit Lesen verbrachten (Marinak u.
dann eine Belohnung in den Ausgang des Labyrinths legt, ver- Gambrell 2008). Es scheint, als würden die Kinder denken:
halten sich diese Ratten sehr schnell ebenso wie die Ratten, die »Wenn ich belohnt werden muss, damit ich das tue, dann ist es
für den Gang durch das Labyrinth mit Futter belohnt wurden. wohl nichts wert, wenn ich es einfach so mache.«
Wie Menschen, die eine Tour durch eine fremde Stadt machen,
Intrinsische Motivation (»intrinsic motivation«) – Wunsch, ein Verhalten
scheinen die Ratten bei ihren Erkundungsgängen latentes um seiner selbst willen zu zeigen.
Lernen zu praktizieren: eine Form des Lernens, die nur dann
sichtbar wird, wenn es einen Anreiz dafür gibt. Auch Kinder Wenn Sie wissen wollen, worin der Unterschied zwischen intrin-
können lernen, wenn sie ein Elternteil beobachten, aber das sischer und extrinsischer Motivation (der Wunsch, sich in be-
Lernen kann sich erst viel später zeigen, wenn es benötigt wird stimmter Weise zu verhalten, um äußere Belohnungen zu er-
(. Abb. 8.31). Daraus folgt: Zum Lernen gehört mehr, als eine halten oder um eine drohende Bestrafung zu vermeiden) besteht,
Reaktion mit einer Konsequenz (Belohnung oder Bestrafung) zu sollten Sie über Ihre eigenen Erfahrungen im Alltag nachdenken.
verbinden. Auch Kognitionen spielen eine Rolle. In 7 Kap. 10 wer-
den Sie weitere überzeugende Beispiele für die kognitiven Fähig-
keiten finden, die Tiere beim Problemlösen und beim Einsatz
sprachlicher Aspekte einsetzen.
Kognitive Landkarte (»cognitive map«) – mentale Darstellung der eigenen
Umgebung. Beispielsweise verhalten sich Ratten, nachdem sie ein Labyrinth
erkundet haben, als hätten sie eine kognitive Landkarte dieses Labyrinths
entwickelt.
Latentes Lernen (»latent learning«) – Form des Lernens, die erst sichtbar
wird, wenn ein Anreiz besteht, das Gelernte zu zeigen.

Die kognitive Sichtweise hat auch zu einer wichtigen Einschrän-


kung geführt, was den Einfluss von Belohnungen angeht: Kin-
dern eine Belohnung für eine Aufgabe zu versprechen, die ihnen
bereits Spaß macht, kann negative Folgen haben. Aufgrund der
übermäßigen Rechtfertigung eines Verhaltens durch exzessive
Belohnungen kann die intrinsische Motivation untergraben
werden, d. h. der Wunsch, etwas effektiv und um seiner selbst . Abb. 8.31 Latentes Lernen. Tiere können ebenso wie Menschen aus
willen zu tun. In Versuchen zeigte sich, dass Kinder, denen Geld Erfahrung und ohne Verstärkung lernen. Ratten erforschten 10 Tage lang
versprochen wurde, wenn sie mit einem interessanten Puzzle ein Labyrinth, ehe sie eine Belohnung in Form von Futter am Ende des
Labyrinths fanden. Sehr schnell zeigten sie, dass sie gelernt hatten, durch
oder Spielzeug spielten, später seltener mit diesem Spielzeug
das Labyrinth zu laufen: Sie waren auf Anhieb genauso erfolgreich
spielten als Kinder, die nicht fürs Spielen bezahlt wurden (Deci (sogar erfolgreicher) wie die Ratten, die für den Gang durchs Labyrinth ver-
et al. 1999; Tang u. Hall 1995). Auch zeigte sich, dass Kinder, die stärkt worden waren ( Tolman u. Honzik 1930; © fergregory / Fotolia)
318 Kapitel 8 · Lernen

. Tab. 8.5 Biologische und kognitive Einflüsse auf die Konditionierung

Klassische Konditionierung Operante Konditionierung

Kognitive Prozesse Organismen entwickeln die Erwartung, dass der CS Organismen entwickeln die Erwartung, dass eine Reaktion
ein Signal für das baldige Auftreten eines US ist verstärkt oder bestraft wird; sie zeigen auch latentes Lernen
ohne Verstärkung

Biologische Prädis- Biologische Prädispositionen sind eine Einschränkung Organismen lernen am besten Verhaltensweisen, die ihren natür-
positionen dafür, welche Reize und Reaktionen leicht miteinander lichen Verhaltensweisen ähneln; unnatürliche Verhaltensweisen
assoziiert werden können lassen sie instinktiv auf natürliche Verhaltensweisen zurückfallen

Fühlen Sie sich unter Druck, dieses Kapitel bis zu einem be- 8.5 Beobachtungslernen
stimmten Termin fertig zu lesen? Machen Sie sich Sorgen über
die Note in einer Prüfung? Sind Ihnen Belohnungen, die von
? 8.13 Was versteht man unter Beobachtungslernen
Ihrem Erfolg abhängen, besonders wichtig? Wenn ja, dann sind
und warum glauben manche Forscher, dass dieses durch
8 Sie extrinsisch motiviert (wie es fast alle Studierenden in gewisser
Spiegelneurone ermöglicht wird?
Weise sein müssen). Finden Sie das Lernmaterial auch interes-
sant? Gibt es Ihnen ein Gefühl größerer Kompetenz, wenn Sie es Kognitionen spielen sicherlich auch eine Rolle beim Beobach-
lernen? Wären Sie wissbegierig genug, diesen Stoff um seiner tungslernen, bei dem höhere Lebewesen, insbesondere Men-
selbst willen zu lernen, auch wenn Sie dafür keine Note bekom- schen, ohne direkte Erfahrung lernen, sondern durch das Beob-
men würden? Wenn das der Fall ist, dann sind Sie auch intrin- achten und Imitieren anderer. Ein Kind, das sieht, wie sich die
sisch für Ihre Anstrengungen motiviert. große Schwester die Finger am Ofen verbrennt, hat auf diese
Weise gelernt, dass es ihn besser nicht berühren sollte. Wir lernen
Extrinsische Motivation (»extrinsic motivation«) – Wunsch, ein Verhalten
wegen versprochener Belohnungen oder drohender Bestrafung zu zeigen. unsere Muttersprache und viele andere Verhaltensweisen da-
durch, dass wir andere beobachten und nachahmen, ein Prozess,
Wenn Jugendtrainer im Sport dauerhaftes Interesse und Engage- der Modelllernen genannt wird.
ment fördern und nicht nur Spieler zum Sieg zwingen wollen,
Beobachtungslernen (»observational learning«) – durch die Beobachtung
sollten sie sich vor allem auf die intrinsische Freude am Spiel und anderer Menschen lernen.
die Förderung des Potenzials der einzelnen Spieler konzentrie- Modelllernen (»modeling«) – Prozess des Beobachtens und Nachahmens
ren, stellen die Motivationsforscher Deci u. Ryan fest (1985, 1992, eines bestimmten Verhaltens.
2000). Auch wenn man Menschen verschiedene Wahlmöglich-
keiten gibt, erhöht sich ihre intrinsische Motivation (Patall et al. Stellen Sie sich die folgende Szene aus einem berühmten Versuch
2008). Dennoch bleibt das Interesse an einer bestimmten Tätig- von Albert Bandura vor, dem Pionier auf dem Gebiet der Er-
keit oft erhalten, wenn eine Belohnung weder als Bestechung forschung des Beobachtungslernens (Bandura et al. 1961): Ein
noch als Kontrolle eingesetzt wird, sondern signalisiert, dass eine Vorschulkind ist gerade dabei, ein Bild zu malen. Ein Erwach-
Sache gut gemacht wurde, wie etwa eine Auszeichnung für den sener beschäftigt sich in einem anderen Teil des Zimmers.
Spieler, der sich am meisten verbessert hat (Boggiano et al. 1985). Dann steht der Erwachsene auf und schlägt, tritt und wirft eine
Wenn eine Belohnung Ihr Kompetenzgefühl nach einer erfolg- »Bobo-Puppe« – eine große Puppe, die mit Luft gefüllt und an
reich erledigten Aufgabe steigert, kann Ihre Freude an dieser den Füßen mit einem Gewicht beschwert ist – durch den Raum,
Aufgabe zunehmen. Richtig eingesetzte Belohnungen können während er Sätze wie etwa »Schlag ihm auf die Nase. … Schlag
Ausdauer und Kreativität fördern (Eisenberger u. Aselage 2009; ihn zusammen. … Tritt ihn!« herausbrüllt (. Abb. 8.32).
Henderlong u. Lepper 2002). Und extrinsische Belohnungen Nachdem das Kind diesen Ausbruch beobachtet hat, wird es
(wie Stipendien, Zulassung zu bestimmten Studiengängen und in einen anderen Raum gebracht, wo es viel schönes Spielzeug
gute berufliche Positionen, die oft eine Folge guter Noten sind) gibt. Bald unterbricht die Versuchsleiterin das Spiel des Kindes
werden nicht verschwinden. . Tab. 8.5 vergleicht zusammenfas- und erklärt, dass sie beschlossen habe, dieses schöne Spielzeug
send die biologischen und kognitiven Einflüsse auf die klassische »für die anderen Kinder« aufzuheben. Dann nimmt sie das frus-
und operante Konditionierung. trierte Kind in einen Nebenraum mit, wo es nur wenig Spielzeug,
wohl aber eine aufblasbare Bobo-Puppe gibt. Was wird das Kind
tun, wenn es allein ist?
Im Vergleich zu Kindern, die nicht mit dem Erwachsenen-
modell konfrontiert worden waren, tendierten diejenigen, die
8.5 · Beobachtungslernen
319 8
Wodurch wird festgelegt, ob wir ein Modell nachahmen?
Bandura glaubt, dass Verstärkung und Bestrafung ein Teil der
Antwort sind, wobei beides sowohl das Modell als auch den
Nachahmenden betrifft. Wenn wir zuschauen, lernen wir. Indem
wir beobachten, lernen wir, vorwegzunehmen, welche Folgen
das Verhalten in einer Situation hat, die der Situation gleicht,
die wir gerade beobachten. Wir neigen in starkem Maße dazu,
Menschen nachzuahmen, von denen wir meinen, dass sie uns
selbst ähnlich sind, und die wir für erfolgreich oder bewunde-
rungswürdig halten. fMRT-Schichtaufnahmen haben bei Men-
schen, die andere dabei beobachten, wie sie eine Belohnung er-
halten (und besonders, wenn diese Person als sympathisch oder
ähnlich wahrgenommen wird), gezeigt, dass das eigene Beloh-
nungssystem im Gehirn aktiviert wird, so als hätten sie selbst
die Belohnung bekommen (Mobbs et al. 2009). Wenn wir uns mit
jemandem identifizieren, empfinden wir dessen Erfolge nach.
Lord Chesterfield (1694–1773) hatte die folgende Idee: »In
. Abb. 8.32 Albert Bandura. »Die Bobo-Puppe folgt mir, wohin ich auch Wahrheit sind wir mehr als die Hälfte dessen, was wir sind, durch
gehe. Die Fotos wurden in jedem Einführungstext für Psychologie veröf- Nachahmung.«
fentlicht und praktisch jeder Erstsemester belegt einen Kurs zur Einführung
in die Psychologie. Ich checkte neulich in einem Washingtoner Hotel ein.
Der Angestellte an der Rezeption fragte: ›Sind Sie nicht der Psychologe, der
das Experiment mit der Bobo-Puppe gemacht hat?‹ Ich antwortete: 8.5.1 Spiegelneurone und Beobachtungslernen
›Vermutlich wird dies das Vermächtnis sein, das ich hinterlasse.‹ Er erwiderte: im Gehirn
›Es muss unbedingt aktualisiert werden. Ich gebe Ihnen eine Suite in
einem ruhigen Teil des Hotels.‹ « (Bandura 2005; Courtesy of Albert Bandura)
An einem heißen Sommertag 1991 in Parma, Italien, wartete ein
Laboraffe darauf, dass der Forscher vom Mittagessen zurück-
kehrte. Der Forscher hatte Kabel neben den motorischen Kortex
den aggressiven Ausbruch des erwachsenen Vorbilds beobachtet des Affen, in einer Hirnregion des Frontallappens implantiert,
hatten, viel eher dazu, auf die Puppe einzuschlagen. Offensicht- die es dem Affen ermöglichte, Bewegungen zu planen und aus-
lich verringerte das erwachsene Vorbild, das die Puppe schlug, zuführen. Ein Überwachungsgerät machte den Forscher auf
ihre Hemmschwelle. Aber es ging nicht nur um die Hemm- Aktivitäten in dieser Hirnregion des Affen aufmerksam. Wenn
schwelle, denn die Kinder verhielten sich genau so, wie sie es der Affe beispielsweise eine Erdnuss zu seinem Mund führte,
beobachtet hatten, und benutzten auch genau die Worte, die sie summte das Gerät. Als an diesem Tag einer der Forscher wieder
gehört hatten (. Abb. 8.33). das Labor mit einer Eiswaffel in der Hand betrat, starrte der Affe

. Abb. 8.33 Das berühmte Experiment mit der Bobo-Puppe. Beachten Sie, wie die Kinder die Verhaltensweisen des Erwachsenen detailgetreu nach-
ahmen. (Mit freundlicher Genehmigung von Albert Bandura)
320 Kapitel 8 · Lernen

ihn an. Als der Forscher die Waffel zu seinem Mund führte, um Spiegelneurone (»mirror neurons«) – Stirnlappenneuronen, die – wie
daran zu lecken, summte das Überwachungsgerät des Affen, so manche Forscher glauben – reagieren, wenn bestimmte Tätigkeiten ausge-
führt werden oder wenn jemand anderes bei der Ausführung beobachtet
als ob der regungslose Affe sich selbst bewegt hätte (Blakeslee
wird. Der im Gehirn ablaufende Vorgang des Spiegelns der Tätigkeit eines
2006; Iacoboni 2008, 2009). anderen Menschen könnte zur Nachahmung und zur Empathie beitragen.
Das gleiche Summen war schon zuvor gehört worden, wenn
der Affe Menschen oder andere Affen dabei beobachtete, wie sie Nachahmung ist auch unter anderen Lebewesen weit verbreitet.
Erdnüsse zu ihrem Mund führten. Die verblüfften Forscher, In einem Experiment beobachtete ein Affe, wie ein anderer Affe
angeführt von Giacomo Rizzolatti (2002, 2006), waren, so glaub- für die Auswahl bestimmter Bilder eine Belohnung erhielt und
ten sie, über eine bisher unbekannte Art von Neuronen gestol- lernte, die Reihenfolge der gewählten Bilder nachzuahmen
pert. Sie nahmen an, dass diese Spiegelneurone eine neuronale (. Abb. 8.34). In anderen Experimenten versöhnten sich Rhesus-
Basis für die alltägliche Nachahmung und das Beobachtungs- affen selten schnell nach einer Auseinandersetzung – es sei denn,
lernen liefern. Wenn ein Affe eine Aufgabe, wie etwa Greifen, sie wuchsen zusammen mit älteren, versöhnlichen Stummel-
Halten oder Reißen durchführt, reagieren diese Neuronen. Aber schwanzmakaken auf. Dann folgt auch ihren Kämpfen oft eine
sie reagieren auch, wenn der Affe einen anderen Affen bei der Versöhnung (de Waal u. Johanowicz 1993). Auch Ratten, Tauben,
Durchführung dieser Aufgabe beobachtet. Wenn der Affe etwas Kühe und Gorillas beobachten andere und lernen dadurch
sieht, spiegeln diese Neuronen, was der andere Affe tut. (Byrne et al. 2011; Dugatkin 2002). Wie wir in 7 Kap. 10 sehen
8 werden, beobachten und ahmen Schimpansen viele neuartige
Möglichkeiten der Nahrungssuche und des Werkzeuggebrauchs
nach, die dann von Generation zu Generation innerhalb ihrer
lokalen Kultur weitergegeben werden (Hopper et al. 2008;
Whiten et al. 2007).
Bei den Menschen ist das Lernen durch Nachahmung von
ganz besonderer Bedeutung. Unsere Redensarten, Rocklängen,
Feste, Speisen, Traditionen, Laster und Modeerscheinungen ver-
breiten sich dadurch, dass ein Mensch einen anderen nachahmt.
Das Nachahmen von Modellen hat sogar einen Einfluss auf die
Entwicklung des Verhaltens von ganz kleinen Kindern (Bates u.
Byrne 2010). Einem Säugling gelingt es möglicherweise bereits
kurz nach der Geburt, einen Erwachsenen nachzuahmen, der
seine Zunge herausstreckt. Im Alter von 8 bis 16 Monaten werden

. Abb. 8.34a,b Kognitives Nachahmen. Wenn Affe A (links) zusieht, wie Affe B vier Bilder auf einem Bildschirm in einer bestimmten Reihenfolge
berührt, um eine Banane zu bekommen, lernt Affe A, diese Reihenfolge nachzuahmen, auch wenn man ihm eine andere Anordnung zeigt. (Subiaul et al.
2004; © Herb Terrace)
8.5 · Beobachtungslernen
321 8

. Abb. 8.35a–c Nachahmung. Dieses 12 Monate alte Kleinkind sieht eine Erwachsene nach links schauen und folgt direkt ihrem Blick. (Aus Meltzoff et al.
2009. Reprinted with permission from AAAS.)

Kleinkinder verschiedene neuartige Gesten nachahmen (Jones 2010). Unabhängig davon ermöglicht das Gehirn Kindern,
2007). Im Alter von 12 Monaten (. Abb. 8.35) schauen sie da hin, Empathie zu empfinden und sich in den mentalen Zustand eines
wo ein Erwachsener hinschaut (Meltzoff et al. 2009). Und mit anderen hineinzuversetzen – eine Fähigkeit, die als Theory of
14 Monaten werden Kinder Szenen nachmachen, die im Fern- Mind bekannt ist.
sehen laufen (Meltzoff 1988; Meltzoff u. Moore 1989, 1997). So- Die Reaktion des Gehirns auf die Beobachtung anderer ist
gar im Alter von 2½ Jahren, wenn die mentalen Fähigkeiten das, was Emotionen ansteckend macht. Durch das neurologische
denen eines erwachsenen Schimpansen nahekommen, sind diese Echo empfindet und ahmt unser Gehirn nach, was wir beobach-
jungen Menschen den Schimpansen bei sozialen Aufgaben – wie ten. Diese mentalen Wiederholungen sind so real, dass wir
z. B. im Nachahmen der Problemlösung eines anderen – über- manchmal eine beobachtete Handlung fälschlicherweise als
legen (Herrmann et al. 2007). »Children see, children do« – Handlung erinnern, die wir selbst durchgeführt haben (Lindner
Kinder machen alles nach. et al. 2010). Aber durch dieses Nachspielen können wir den men-
Die menschliche Prädisposition, durch Beobachtung Er- talen Zustand anderer erfassen. Beim Beobachten der Haltung,
wachsener zu lernen, ist so stark ausgeprägt, dass Kinder zwi- Gesichter, Stimmen und des Schreibstils anderer passen wir uns
schen 2 und 5 Jahren sogar zur Überimitation neigen. Egal, ob unbewusst an sie an, was uns dabei hilft, zu fühlen, was sie fühlen
sie in einer städtischen Gegend in Australien oder in einem (Bernieri et al. 1994; Ireland u. Pennebaker 2010). Wir gähnen,
ländlichen Gebiet Afrikas leben, sie ahmen sogar irrelevante wenn sie gähnen und lachen, wenn sie lachen.
Handlungen Erwachsener nach. Bevor sie nach einem Spiel- Wenn Figuren in einem Film beim Rauchen beobachtet
zeug in einem Plastikbehälter greifen, streichen sie zuerst mit werden, ahmen die Gehirne von Rauchern automatisch das
einer Feder über den Behälter, wenn sie dies zuvor bei einem Rauchen nach, was ihr Verlangen erklärt (Wagner et al. 2011).
Erwachsenen beobachtet hatten (Lyons et al. 2007). Oder sie Wenn man sieht, wie jemand, den man gerne mag, Schmerzen
ahmen einen Erwachsenen nach, indem sie mit einem Stock hat, dann ist es nicht nur unser Gesicht, das die Emotion spiegelt,
über eine Schachtel wedeln und benutzen dann den Stock um sondern auch unser Gehirn. Wie die fMRT-Schichtaufnahme in
einen Knopf zu betätigen, wodurch sich die Schachtel öffnet. . Abb. 8.36 zeigt, löst der Schmerz, den man sich bei einem ge-
Alles was sie eigentlich hätten tun müssen, um die Schachtel liebten Menschen vorstellt, einige derselben Hirnaktivitäten aus,
zu öffnen, wäre gewesen, den Knopf zu drücken (Nielsen u. wie sie auch der durchmacht, der tatsächlich die Schmerzen hat
Tomaselli 2010). (Singer et al. 2004). Sogar das Lesen von Romanen kann solche
Aktivitäten auslösen, dadurch dass die beschriebenen Erfahrun-
» Für Kinder sind Vorbilder wichtiger als Kritiker.
gen mental nachgeahmt und nachempfunden werden (Mar u.
Joseph Joubert, Pensées, 1842
Oatley 2008; Speer et al. 2009). Das Fazit lautet: Gehirnaktivitäten
Menschen verfügen – ebenso wie Affen – über Gehirne, die unterliegen auch unserem äußerst sozialen Wesen.
Empathie und Nachahmung ermöglichen. Forscher können
für Versuche zwar keine Elektroden in das menschliche Ge-
hirn implantieren, aber sie können fMRT-Schichtaufnahmen 8.5.2 Anwendungsbereiche
nutzen, um die Gehirnaktivität beim Ausführen von Hand- des Beobachtungslernens
lungen und beim Beobachten anderer sichtbar zu machen. Ist
also die menschliche Fähigkeit, Handlungen anderer nach- Die wesentliche Erkenntnis aus Banduras Studien und der Spie-
zuahmen oder deren Erfahrungen zu teilen, auf spezialisierte gelneuronenforschung ist, dass wir schauen, mental nachahmen
Spiegelneuronen zurückzuführen? Oder sind dafür verteilte und lernen. Modelle – sei es in unserer Familie, Nachbarschaft
Gehirnnetzwerke zuständig? Diese Frage wird gerade disku- oder im Fernsehen – können Einfluss nehmen, und zwar sowohl
tiert (Gallese et al. 2011; Iacoboni 2008, 2009; Mukamel et al. guten als auch schlechten.
322 Kapitel 8 · Lernen

. Abb. 8.36a,b Erlebte und vorgestellte Schmerzen im Gehirn. Die Hirnaktivität im Zusammenhang mit tatsächlichen Schmerzen (a) wird im Gehirn
eines Beobachters, der den anderen gerne mag, gespiegelt (b). An Empathie sind im Gehirn mehrere Emotionszentren beteiligt, nicht jedoch der somato-
sensorische Kortex, an den Signale über körperlichen Schmerz gehen. (Aus Subiaul et al. 2004. Reprinted with permission from AAAS.)

8
Prosoziale Effekte zum Lesen ermutigen, lesen Sie ihm vor, und umgeben Sie es mit
Büchern und Menschen, die lesen. Wenn Sie die Wahrscheinlich-
? 8.14 Welchen Einfluss haben prosoziale Vorbilder und anti-
keit vergrößern wollen, dass Ihre Kinder Ihre Religion prakti-
soziale Vorbilder?
zieren, dann beten Sie mit ihnen und besuchen Sie gemeinsam
Die gute Nachricht ist, dass prosoziale (positive, hilfsbereite) Gottesdienste. Viele Eltern scheinen nach dem Prinzip »Mach,
Vorbilder prosoziale Effekte haben können. In vielen Unterneh- was ich sage, nicht was ich tue« vorzugehen. Versuche deuten
men wird das Modelllernen bestimmter Verhaltensweisen effektiv darauf hin, dass Kinder lernen, beides zu machen (Rice u. Grusec
eingesetzt, um neuen Mitarbeitern Fähigkeiten in den Bereichen 1975; Rushton 1975). Wenn sie mit einem Heuchler zu tun
Kommunikation, Verkauf und Kundendienst beizubringen haben, neigen sie dazu, die Heuchelei nachzuahmen, indem sie
(Taylor et al. 2005). Auszubildende erlernen diese Fähigkeiten tun, was das Vorbild tat, und sagen, was es sagte.
schneller, wenn sie beobachten können, wie diese von erfahrenen
Kollegen effektiv vorgelebt werden (oder durch Schauspieler, die Antisoziale Effekte
diese nachahmen). Die schlechte Nachricht aus Banduras Studien lautet, dass anti-
Menschen, die gewaltloses, hilfsbereites, d. h. prosoziales soziale Vorbilder auch antisoziale Wirkungen haben können. Be-
Verhalten vorleben, können ähnliche Verhaltensweisen bei an- obachtungslernen hilft uns auch, zu verstehen, warum Eltern, die
deren auslösen (. Abb. 8.37). Mahatma Gandhi in Indien und ihre Kinder missbrauchen, möglicherweise aggressive Kinder
Martin Luther King Jr. in den USA stützten sich auf ihre Vorbild- haben und warum viele Männer, die ihre Frau schlagen, Väter
wirkung, um gewaltfreies Handeln zu einer starken, gesell- hatten, die ihrerseits ihre Frau schlugen (Stith et al. 2000). Kriti-
schaftsverändernden Kraft werden zu lassen. Auch Eltern sind ker merken an, dass über Generationen hinweg übertragener
einflussreiche Vorbilder. Die europäischen Christen, die ihr Missbrauch genetisch bedingt sein könnte. An den Affen sehen
Leben riskierten, um Juden vor den Nationalsozialisten zu retten, wir, dass umweltbedingte Ursachen im Spiel sind. Eine Studie
hatten gewöhnlich eine enge Beziehung zu mindestens einem nach der anderen zeigt auf, dass sich junge Affen, die weitab von
Elternteil, der ein starkes moralisches oder humanitäres Be- ihren Müttern aufgezogen wurden und mit starker Aggression
wusstsein vorlebte; das Gleiche gilt für die amerikanischen Bür- konfrontiert waren, später besonders aggressiv zeigten (Chamove
gerrechtler in den 1960er-Jahren (London 1970; Oliner u. Oliner 1980). Die Lektionen, die wir als Kinder lernen, verlernen wir als
1988). Beobachtungslernen von Moral beginnt früher. Aus sozial Erwachsene nicht so leicht; und manchmal werden sie an die
aufgeschlossenen Kleinkindern, die gerne ihre Eltern nach- nachfolgenden Generationen weitergegeben (. Abb. 8.38).
ahmen, werden in der Regel Vorschulkinder mit einem starken Wo es Fernsehen gibt, wird es zu einer wichtigen Quelle für
internalisierten Gewissen (Forman et al. 2004). Beobachtungslernen. Dadurch, dass Kinder fernsehen, lernen sie
möglicherweise, dass körperliche Einschüchterung eine wirk-
Prosoziales Verhalten (»prosocial behavior«) – positives, konstruktives,
hilfsbereites Verhalten. Das Gegenteil von antisozialem Verhalten. same Methode ist, um andere in den Griff zu bekommen, dass
freier und leichtfertiger Sex Lust ohne spätere Reue oder Krank-
Vorbilder bewirken am meisten, wenn das, was sie tun, überein- heit verschafft oder dass Männer harte Kerle und Frauen sanfte
stimmt mit dem, was sie sagen. Manchmal sagen jedoch Vorbil- Lämmchen sein müssen. Und sie haben reichlich Zeit, solche
der das eine und tun etwas ganz anderes. Möchten Sie Ihr Kind Lektionen zu lernen. Die meisten Kinder aus Industrienationen
8.5 · Beobachtungslernen
323 8

. Abb. 8.38 Machen Kinder das, was sie sehen? Kinder, die oft mit kör-
perlicher Bestrafung Erfahrung machen, neigen dazu, mehr Aggression zu
zeigen. (© Getty Images / Comstock Images)

blieb, dass in 58% der Fälle die Schmerzen der Opfer nicht gezeigt
wurden, dass es in nahezu der Hälfte der Vorfälle um »gerecht-
fertigte« Gewalt ging und bei der Hälfte um einen attraktiven
Täter. Diese Fakten sind das Rezept für den in vielen Studien be-
schriebenen Effekt, der sich aus dem Betrachten von Gewalt er-
gibt (Donnerstein 1998, 2011). Um mehr über diesen Effekt zu
erfahren, lesen Sie 7 Kritisch nachgefragt: Bringt Gewalt im Fern-
. Abb. 8.37 Eine vorbildliche Pflegerin. Das Mädchen lernt die Pflege
sehen Menschen dazu, selbst gewalttätig zu werden?.
von Tieren und zugleich Mitgefühl, indem sie einen Erwachsenen dabei
beobachtet und ihm hilft. Ein englisches Sprichwort aus dem 16. Jahrhun-
dert sagt: »Ein Beispiel ist besser als eine Unterweisung.« (© Getty Images)
» Das Problem beim Fernsehen besteht darin, dass die
Menschen wie festgeklebt dasitzen und die Augen nicht
vom Bildschirm losreißen können. Eigentlich hat die
amerikanische Durchschnittsfamilie gar keine Zeit dafür.
verbringen während ihrer ersten 18 Lebensjahre mehr Zeit vor
Deshalb … sind die Fernsehleute überzeugt, dass das
dem Fernseher als in der Schule. In den USA, wo 9 von 10 Jugend-
Fernsehen niemals eine ernst zu nehmende Konkurrenz für
lichen täglich fernsehen, werden sie bis zum Alter von 75 Jahren
den Rundfunk werden wird.
9 Jahre vor der Glotze verbracht haben (Gallup 2002; Kubey u.
New York Times (1939)
Csikszentmihalyi 2002). Amerikanische Jugendliche sehen im
Durchschnitt mehr als 4 Stunden am Tag fern, Erwachsene im Die Auswirkungen des Fernsehens könnten auf das zurückzu-
Durchschnitt 3 Stunden (Robinson u. Martin 2009; Strasburger führen sein, was es ersetzt. Kinder und Erwachsene, die täglich
et al. 2010). CNN erreicht 212 Länder, MTV sendet in 33 Spra- 4 Stunden mit Fernsehen verbringen, verbringen 4 Stunden
chen: Auf diese Weise ist durch das Fernsehen eine globale Pop- weniger mit aktiveren Betätigungen, wie z. B. Reden, Lernen,
kultur entstanden. Spielen, Lesen oder sich mit Freunden zu treffen. Was hätten
Fernsehzuschauer lernen etwas über das Leben von einem Sie mit der zusätzlichen Zeit gemacht, wenn Sie niemals fernge-
eher eigenartigen Geschichtenerzähler, einem der die Mythologie sehen hätten? Und wären Sie deshalb anders?
der Kultur widerspiegelt, nicht ihre Realität. Ende des 20. Jahr-
Prüfen Sie Ihr Wissen
hunderts sah das durchschnittliche Kind im Fernsehen ungefähr
8000 Morde und 100.000 andere Gewalttaten, bevor es die Grund- 5 Jasons Eltern und alle seine älteren Freunde rauchen,
schule abschloss (Huston et al. 1992). Zwischen 1998 und 2006 aber sie raten ihm, es nicht zu tun. Die Eltern von Juan
hat sich die Gewalt zur Haupteinschaltzeit Berichten zufolge um und seine Freunde rauchen nicht, aber sie sagen nichts,
weitere 75% erhöht (Pacific Telecommunications Council [PTC] um ihn davon abzuhalten. Wer fängt eher mit dem
2007). Rechnet man das Kabelprogramm und Leihvideos dazu, Rauchen an, Jason oder Juan?
eskaliert die Zahl der Gewalttaten. Eine Auswertung von mehr als
3000 Sendungen der großen Fernsehsender und der Kabelpro-
gramme, die 1996/1997 ausgestrahlt wurden, ergab, dass in 6 von Unser Wissen über die Lernprinzipien basiert auf der Arbeit
10 Sendungen Gewalt vorkam, dass 74% der Gewalt unbestraft tausender Forscher. In diesem Kapitel wurden als Schwerpunkt
324 Kapitel 8 · Lernen

Kritisch nachgefragt

Bringt Gewalt im Fernsehen Menschen dazu, selbst gewalttätig zu werden?


Hatte der Richter Recht, der 1993 zwei 10-Jäh- sion verursacht (Freedman 1988; McGuire sie später eine Schlägerei sehen, sei es im
rige aus Großbritannien wegen Mordes an 1986). Vielleicht mögen aggressive Kinder Fernsehen oder im wirklichen Leben (Fanti et
einem 2-Jährigen verurteilte, als er vermutete, Gewaltszenen im Fernsehen besonders gern. al. 2009; Rule u. Ferguson 1986). In einem Ex-
die Tatsache, dass die beiden Beschuldigten Vielleicht sind Kinder, die von ihren Eltern periment verbrachten männliche Zuschauer
häufig Gewaltvideos anschauten, habe mög- vernachlässigt oder missbraucht werden, so- drei Abende damit, Filme anzusehen, die sexu-
licherweise ihr Verhalten beeinflusst? Hatten wohl aggressiver als auch öfter allein vor dem elle Gewalt enthielten; danach waren sie im-
die amerikanischen Medien Recht, anzu- Fernseher. Vielleicht sind Fernsehsendungen mer weniger berührt von den Vergewaltigun-
nehmen, dass die jugendlichen Mörder, die mit Gewalt einfach eher Ausdruck gewalttäti- gen und Schlägen. Verglichen mit den Teil-
13 Klassenkameraden ihrer Columbine ger Tendenzen in der Gesellschaft, als dass sie nehmern an der Untersuchung, die diese Filme
High School umbrachten, vom wiederholten diese auslösen. nicht sahen, brachten sie auch weniger Mit-
Ansehen des Films »Natural Born Killers« Um den kausalen Zusammenhang zu über- gefühl für Opfer häuslicher Gewalt zum Aus-
und vom regelmäßigen Spiel von gewaltver- prüfen, führten Psychologen Experimente druck. Außerdem hielten sie die Verletzungen
herrlichenden Computerspielen wie etwa durch. Versuchsleiter zeigten einigen nach der Opfer für weniger gravierend (Mullin u.
»Doom« beeinflusst wurden? Um solche dem Zufallsprinzip ausgewählten Fernseh- Linz 1995). Auch Kinobesucher, die gerade
Fragen zu beantworten, haben Forscher etwa zuschauern Szenen, die Gewalt enthielten, einen gewalttätigen Film gesehen hatten,
600 Korrelationsstudien und Experimente anderen Testzuschauern dagegen gewaltfreie waren weniger bereit, einer verletzten Frau
8 durchgeführt (Anderson u. Gentile 2008; Unterhaltung. Verleitet das Anschauen von beim Aufheben ihrer Krücken zu helfen, als
Comstock 2008; Murray 2008). Gewalt Menschen dazu, gewalttätiger zu rea- Kinobesucher, die einen gewaltfreien Film
Korrelationsstudien bringen das Betrachten gieren, wenn sie gereizt werden? In gewisser gesehen hatten (Bushman u. Anderson 2009).
von Gewalt mit gewalttätigem Verhalten in Weise sicherlich. Dies trifft insbesondere Aufgrund derlei Ergebnisse verständigte die
Verbindung. dann zu, wenn ein attraktiver Mensch eine American Academy of Pediatrics (2009) – die
5 In den USA und Kanada verdoppelten sich scheinbar gerechtfertigte Gewalttat verübt, Vereinigung amerikanischer Kinderärzte – Kin-
die Mordfälle zwischen 1957 und 1974; die ungestraft bleibt und keinen sichtbaren derärzte darüber, dass »Gewalt in den Medien
während dieser Zeit setzte die Verbreitung Schmerz oder Schaden verursacht (Donner- zu aggressivem Verhalten, verringerter Sensi-
des Fernsehens ein. In Gegenden, die das stein 1998, 2011). bilität gegenüber Gewalt, Alpträumen und zur
Fernsehen später einführten, kam es ent- Der Gewalteffekt geht anscheinend auf eine Angst davor, verletzt zu werden, beitragen
sprechend später zu einem sprunghaften Kombination von Faktoren zurück, und dazu kann«. Donnerstein et al. (1987) wiesen darauf
Anstieg der Mordzahlen. gehört auch die Nachahmung (Geen u. Thomas hin, dass es für einen böswilligen Psychologen
5 Weiße Südafrikaner kamen 1975 zum 1986). Wie schon erwähnt, werden Kinder kaum einen besseren Weg geben könne,
ersten Mal mit dem Medium Fernsehen in bereits mit 14 Monaten Handlungen nach- Menschen gleichgültig gegenüber Gewalt zu
Kontakt. Auch hier war nach 1975 fast ahmen, die sie im Fernsehen beobachten machen, als sie einer abgestimmten Reihe von
eine Verdoppelung der Mordrate zu ver- (Meltzoff u. Moore 1989). Beim Zusehen ahmen Szenen auszusetzen, angefangen von Kämpfen
zeichnen (Centerwall 1989). ihre Gehirne das beobachtete Verhalten nach über Morde bis hin zu Verstümmelungen in
5 Je mehr Stunden Grundschulkinder mit und durch diese »innere Übung« wird es wahr- Horrorfilmen. Die ständige Konfrontation mit
Gewalt in den Medien (über das Fernsehen, scheinlicher, dass sie das Verhalten auch aus- Grausamkeit bewirkt Gleichgültigkeit.
Videos und Videospiele) verbrachten, desto führen. Ein Forschungsteam beobachtete eine
häufiger waren sie in gewalttätige Ausein- 7-fache Zunahme von Gewalt im Spiel bei » 30 Sekunden Verherrlichung
andersetzungen verwickelt (. Abb. 8.39; Kindern, die »Power Rangers« angeschaut eines Stücks Seife verkauft Seife.
. Abb. 8.40). Als Jugendliche sind sie an- hatten (Boyatzis et al. 1995). Wie es auch im Ex- 25 Minuten Verherrlichung von
fälliger für gewalttätiges Verhalten (Boxer periment mit der Bobo-Puppe geschehen war,
Gewalt verkauft Gewalt.
et al. 2009). ahmten die Kinder häufig die im Sprung aus-
geführten Karatetritte und andere Gewaltakte U.S. Senator Paul Simon, Äußerung
Aber wie wir aus 7 Kap. 2 wissen, zeigen der Fernsehcharaktere detailgetreu nach. gegenüber The Communitarian
Korrelationen keine Kausalzusammenhänge. Wer über längere Zeit Gewaltszenen aus- Network, 1993
Daher sind die Korrelationsstudien kein Beweis gesetzt ist, verliert an Sensibilität; solche Fern-
dafür, dass das Anschauen von Gewalt Aggres- sehzuschauer werden gleichgültiger, wenn

die Ideen einiger Pioniere behandelt: Pawlow, Watson, Skinner nens klar. Wie ihr Vermächtnis zeigt, wird Wissenschafts-
und Bandura. Sie veranschaulichen die Bedeutung, die aus dem geschichte oft von Menschen geschrieben, die es wagen, sich mit
konzentrierten Engagement für einige genau definierte Pro- extremen Bereichen zu beschäftigen und mit ihren Ideen in
bleme und Gedanken entstehen kann. Diese Forscher definierten Grenzbereiche vorzustoßen (Simonton 2000).
die Themenbereiche und machten uns die Bedeutung des Ler-
8.6 · Kapitelrückblick
325 8

Prüfen Sie Ihr Wissen

Ordnen Sie die Beispiele (1–5) den zugehörigen unter-


liegenden Lernprinzipien (a–e) zu:
a. Klassische Konditionierung
b. Operante Konditionierung
c. Latentes Lernen
d. Beobachtungslernen
e. Biologische Prädispositionen
1. Sie kennen den Weg vom Bett zum Badezimmer
im Dunkeln
2. Ihr kleiner Bruder gerät in eine gewalttätige Aus-
einandersetzung, nachdem er sich einen gewalttätigen
Action-Film angeschaut hat
3. Ihr Speichelfluss wird angeregt, wenn Sie Kekse im Ofen
riechen
. Abb. 8.39 Gewalt in den Medien als Prädiktor für späteres aggressives
4. Sie haben eine Abneigung gegen den Geschmack Verhalten. In einer Studie mit mehr als 400 Dritt- und Viertklässlern berichten
von Chili, seit Ihnen ein paar Stunden, nachdem Sie Chili Gentile et al. (2004) über eine erhöhte Aggression bei jenen, die in starkem
Maße Gewalt im Fernsehen, in Videos und in Videospielen ausgesetzt
gegessen hatten, sehr übel war
waren. Die Daten, die in der Abbildung dargestellt sind, wurden in Bezug auf
5. Ihr Hund rennt auf Sie zu, wenn Sie nach Hause kommen die vorher bestehenden Unterschiede bei Feindseligkeit und Aggression
korrigiert

. Abb. 8.40 (© Claudia Styrsky)

8.6 Kapitelrückblick jKlassische Konditionierung


8.2 Was sind die grundlegenden Elemente der klassischen
8.6.1 Verständnisfragen Konditionierung und wie lässt sich Lernen aus der Sicht des
Behaviorismus beschreiben?
jWie lernen wir? 8.3 Was versteht man in der klassischen Konditionierung unter
8.1 Was versteht man unter Lernen und welches sind die grund- folgenden Prozessen: Erwerb, Löschung, Spontanerholung, Reiz-
legenden Formen des Lernens? generalisierung und Reizdiskrimination?
326 Kapitel 8 · Lernen

8.4 Warum ist Pawlows Beitrag zu unserem Verständnis des 4 Konditionierung höherer Ordnung
Lernens immer noch so wichtig und welche Anwendungen der 4 Kontinuierliche Verstärkung
klassischen Konditionierung zur Verbesserung der Gesundheit 4 Latentes Lernen
und des Wohlbefindens der Menschen gibt es? 4 Lernen
4 Löschung
jOperante Konditionierung 4 Modelllernen
8.5 Wie wird operantes Verhalten verstärkt und geformt? 4 Negative Verstärkung
8.6 Wie unterscheiden sich positive und negative Verstärkung 4 Neutraler Stimulus bzw. Reiz (NS)
und was sind die grundlegenden Arten von Verstärkern? 4 Operante Konditionierung
8.7 Wie beeinflussen die unterschiedlichen Verstärkungspläne 4 Operantes Verhalten
das Verhalten? 4 Partielle (intermittierende) Verstärkung
8.8 Wie unterscheiden sich Bestrafung und negative Verstärkung 4 Positive Verstärkung
und wie wirkt sich Bestrafung auf das Verhalten aus? 4 Primäre Verstärker
8.9 Warum werden Skinners Auffassungen zum Verhalten des 4 Prosoziales Verhalten
Menschen kontrovers diskutiert und wie könnte man seine 4 Reiz (Stimulus)
Prinzipien der operanten Konditionierung in der Schule, im 4 Reizdiskrimination
8 Sport, bei der Arbeit und zu Hause anwenden? 4 Reizgeneralisierung
8.10 Wie unterscheiden sich klassische und operante Kondi- 4 Respondentes Verhalten
tionierung? 4 Shaping (Verhaltensformung)
4 Skinner-Box
jBiologische Veranlagungen, Kognition und Lernen 4 Spiegelneurone
8.11 Wie beeinflussen biologische Beschränkungen das Lernen 4 Spontanerholung
durch klassische und operante Konditionierung? 4 Unkonditionierte Reaktion (UR)
8.12 Welche Bedeutung haben kognitive Prozesse bei der klas- 4 Unkonditionierter Stimulus bzw. Reiz (US)
sischen und operanten Konditionierung? 4 Variabler Intervallplan
4 Variabler Quotenplan
jBeobachtungslernen 4 Verstärkung
8.13 Was versteht man unter Beobachtungslernen und warum 4 Verstärkungsplan
glauben manche Forscher, dass dieses durch Spiegelneurone er-
möglicht wird?
8.14 Welchen Einfluss haben prosoziale Vorbilder und anti- 8.6.3 Weiterführende deutsche Literatur
soziale Vorbilder?
Edelmann, W., & Wittmann, S. (2012). Lernpsychologie (7. Aufl.). Weinheim:
Beltz PVU.
Hoffmann, J., & Engelkamp, J. (2013). Lern- und Gedächtnispsychologie.
8.6.2 Schlüsselbegriffe Heidelberg: Springer.
Kiesel, A. (2012). Lernen: Grundlagen der Lernpsychologie. Wiesbaden:
Springer VS.
4 Assoziatives Lernen
Lefrancois, G. R., (2014). Psychologie des Lernens (5. Aufl.). Heidelberg:
4 Behaviorismus Springer.
4 Beobachtungslernen Winkel, S., Petermann, F., & Petermann, U. (2006). Lernpsychologie. Stuttgart:
4 Bestrafung UTB.

4 Effektgesetz
4 Erwerb
4 Extrinsische Motivation
4 Fester Intervallplan
4 Fester Quotenplan
4 Intrinsische Motivation
4 Klassische Konditionierung
4 Kognitive Landkarte
4 Kognitives Lernen
4 Konditionierte Reaktion (CR)
4 Konditionierter Stimulus bzw. Reiz (CS)
4 Konditionierter Verstärker
327 9

Gedächtnis
David G. Myers, Janie Wilson1

9.1 Die Erforschung des Gedächtnisses – 328


9.1.1 Gedächtnismodelle – 329

9.2 Enkodieren: Erinnerungen herstellen – 332


9.2.1 Enkodierung und automatische Verarbeitung – 332
9.2.2 Enkodierung und bewusste Verarbeitung – 332

9.3 Speichern: Erinnerungen ablegen – 338


9.3.1 Das Behalten von Informationen – 338
9.3.2 Amygdala, Emotionen und Gedächtnis – 340
9.3.3 Synaptische Veränderungen – 341

9.4 Abrufen: Informationen wieder hervorholen – 344


9.4.1 Messung der Behaltensleistung – 344
9.4.2 Abrufhinweise – 345

9.5 Vergessen – 348


9.5.1 Vergessen und der zweigleisige Verstand – 349
9.5.2 Scheitern der Enkodierung – 351
9.5.3 Speicherzerfall – 352
9.5.4 Scheitern des Abrufs – 352

9.6 Fehler beim Gedächtnisaufbau – 356


9.6.1 Fehlinformationen und Imaginationseffekte – 356
9.6.2 Quellenamnesie – 358
9.6.3 Unterscheiden von echten und falschen Erinnerungen – 359
9.6.4 Das Augenzeugengedächtnis von Kindern – 360
9.6.5 Verdrängte oder konstruierte Erinnerungen an Missbrauch – 361

9.7 Gedächtnistraining – 363

9.8 Kapitelrückblick – 364


9.8.1 Verständnisfragen – 364
9.8.2 Schlüsselbegriffe – 364
9.8.3 Weiterführende deutsche Literatur – 365

1 Dieses Kapitel der Neuauflage wurde mitverfasst von Janie Wilson, Professor of Psychology an der Georgia Southern
University und Vice President for Programming der Society for the Teaching of Psychology.

D. G. Myers, Psychologie,
DOI 10.1007/978-3-642-40782-6_9, © Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2014
328 Kapitel 9 · Gedächtnis

Seien Sie dankbar für Ihr Gedächtnis. Wir halten es für etwas Gedächtnis (»memory«) – dauerhaftes Fortbestehen von aufgenom-
Selbstverständliches, außer wenn es nicht richtig funktioniert. menen Informationen über die Zeit; es ermöglicht die Speicherung und
das Abrufen von Informationen.
Doch es ist unser Gedächtnis, das der Zeit Rechnung trägt und
Abruf oder aktive, freie Reproduktion (»recall«) – Maß für die Erinne-
unser Leben überhaupt ausmacht. Es ist unser Gedächtnis, das es
rungsfähigkeit, bei dem die Versuchsperson vorher gelernte Informationen
uns ermöglicht, unsere Familie zu erkennen, unsere Sprache zu aktiv abrufen muss, etwa beim Ausfüllen eines Lückentexts.
sprechen, den Weg nach Hause zu finden und an Nahrung und Wiedererkennen (»recognition«) – Maß für die Erinnerungsfähigkeit.
Wasser zu gelangen. Es ist unser Gedächtnis, das es möglich Wie bei einem Multiple-Choice-Test muss die Versuchsperson lediglich
macht, uns über ein Erlebnis zu freuen, es dann mental wieder Items identifizieren, die sie vorher erlernt hat.
abzuspielen und uns nochmal darüber zu freuen. Unsere ge- Erneutes Lernen (»relearning«) – Maß für die Erinnerungsfähigkeit, mit
meinsamen Erinnerungen verbinden uns zu einer zusammen- dem erfasst wird, wie viel schneller bereits erlerntes Material zum wieder-
holten Mal gelernt wird.
gehörigen Gruppe von Mitteleuropäern oder Australiern, Serben
oder Albanern. Und es ist unser Gedächtnis, das gelegentlich Untersuchungen der Extremfälle von Gedächtnisleistungen
dafür sorgt, dass wir Feindseligkeiten gegenüber Menschen ent- haben Forschern zum Verständnis der Funktionsweise des Ge-
wickeln, deren Beleidigungen wir nicht vergessen können. dächtnisses verholfen. Im Alter von 92 Jahren erlitt mein Vater
Wir sind zum größten Teil das, woran wir uns erinnern. Ohne einen kleinen Schlaganfall, der nur einen besonderen Effekt
Gedächtnis – unseren Speicher angehäuften Wissens – gäbe es hatte: Zwar war er noch genauso beweglich wie zuvor. Auch seine
kein Schwelgen in Erinnerungen an glückliche Momente in der geniale Persönlichkeit wurde nicht beeinträchtigt. Er erkannte
Vergangenheit, keine Schuld- oder Wutgefühle, ausgelöst durch uns und konnte sich beim Durchblättern von Alben mit Fami-
9 schmerzliche Erinnerungen. Stattdessen würden wir in einer lienfotos stundenlang über seine Vergangenheit auslassen. Doch
ständigen Gegenwart leben. Jeder Moment wäre neu. Auch jeder er hatte größtenteils seine Fähigkeit verloren, neue Erinnerungen
Mensch wäre ein Fremder, alles Gesprochene eine unverständliche über Gespräche und Alltagsereignisse zu speichern. Er konnte
Fremdsprache, jede Aufgabe – sich anzuziehen, zu kochen, Fahr- mir nicht sagen, welcher Wochentag gerade war oder was er zu
rad zu fahren – eine neue Herausforderung. Sogar Sie selbst wären Mittag gegessen hatte. Obwohl ihm bereits mehrmals der Tod
sich fremd, da es Ihnen an dem durchgehenden Bewusstsein Ihrer seines Schwagers mitgeteilt worden war, bestürzte ihn diese
selbst fehlen würde, das sich von der weit zurückliegenden Ver- Nachricht wie aus heiterem Himmel jedes Mal aufs Neue.
gangenheit bis zum gegenwärtigen Augenblick erstreckt. Das andere Extrem sind Menschen, die bei einer Gedächtnis-
olympiade sichere Goldmedaillengewinner wären. Ein Beispiel
dafür war der russische Zeitungsreporter Schereschewski oder
9.1 Die Erforschung des Gedächtnisses »S.«, der bloß zuzuhören brauchte, während andere Reporter
sich Notizen machten (Luria 1968). Menschen wie Sie und ich
können aus dem Gedächtnis eine Folge von etwa 7 – eventuell
? 9.1 Was versteht man unter Gedächtnis?
sogar 9 – Ziffern wiederholen. S. konnte bis zu 70 wiederholen,
Das Gedächtnis besteht aus Lernergebnissen, die über die Zeit wenn sie mit 3 Sekunden Abstand in einem Zimmer ohne ande-
fortbestehen, es enthält Informationen, die gespeichert wurden re Geräusche vorgelesen wurden. Er konnte Ziffern oder Wörter
und wieder abgerufen werden können. Vom psychologischen sogar genauso leicht rückwärts wie vorwärts erinnern. Seine
Standpunkt aus gesehen kommt Evidenz dafür, dass Erlerntes Genauigkeit war treffsicher, auch wenn er gebeten wurde, sich bis
dauerhaft bestehen bleibt, in drei Formen vor: zu 15 Jahre später an eine bestimmte Liste zu erinnern. Er sagte
4 Abruf bzw. freie Reproduktion ist die Fähigkeit, Informa- dann etwa: »Ja, ja, das war eine Reihe, die Sie mir einmal dar-
tionen aus dem Gedächtnis zu reproduzieren, die sich zwar geboten haben, als wir in Ihrer Wohnung waren. … Sie saßen
nicht momentan im Bewusstsein befinden, aber zu einem am Tisch und ich im Schaukelstuhl. … Sie trugen einen grauen
früheren Zeitpunkt gelernt wurden; es handelt sich um eine Anzug. …«
Abfrage wie bei einem Lückentext. Eine beeindruckende Glanzleistung? Mit Sicherheit, aber
4 Wiedererkennen ist die Fähigkeit, Items, die man zuvor denken Sie einmal an Ihr eigenes erstaunliches Gedächtnis. Sie
gelernt hat, lediglich zu identifizieren; ein solches Wieder- erinnern sich an unzählige Stimmen, Klänge und Lieder, Ge-
erkennen wird etwa bei einem Test mit Multiple-Choice- schmäcke, Gerüche und Texturen, Gesichter, Orte und Ereig-
Fragen verlangt. nisse (. Abb. 9.1). Stellen Sie sich vor, Sie müssten mehr als
4 Erneutes Lernen ist die Fähigkeit, sich etwas bei einem 2500 Dias von Gesichtern und Orten anschauen. Für jedes Dia
zweiten oder späteren Lernversuch schneller anzueignen. haben Sie jeweils 10 Sekunden Zeit. Später werden Ihnen nach-
Beim Lernen für eine Abschlussprüfung oder der Wieder- einander 280 von diesen Dias noch einmal vorgeführt, jeweils in
beschäftigung mit einer Sprache, die als Kind gesprochen Kombination mit einem zuvor nicht gezeigten Dia. Die Teilneh-
wurde, läuft das erneute Lernen leichter ab als das ur- mer an diesem von Haber (1970) tatsächlich durchgeführten
sprüngliche. Experiment waren in der Lage, in 90% der Fälle das zuvor bereits
9.1 · Die Erforschung des Gedächtnisses
329 9

. Abb. 9.2 Was ist das? Personen, die 17 Jahre zuvor das komplette Bild
gesehen hatten (. Abb. 9.4), konnten dieses Fragment häufiger wiederer-
kennen, selbst wenn sie sich an ihre frühere Beschäftigung damit über-
haupt nicht mehr erinnerten. (Aus Mitchell 2006; Copyright © 2006 by SAGE
Publications. Reprinted by Permission of SAGE Publications)

wir uns auch Tipps, wie wir unser eigenes Erinnerungsvermögen


verbessern können.

. Abb. 9.1 (© Claudia Styrsky) 9.1.1 Gedächtnismodelle

? 9.2 Wie beschreiben Psychologen das menschliche


gesehene Dia wiederzuerkennen. In einem Folgeexperiment
Gedächtnissystem?
konnten Personen, denen 2800 Bilder für jeweils nur 3 Sekunden
gezeigt wurden, die Wiederholungen mit einer Trefferquote von Architekten bauen Miniaturmodelle von Häusern, um ihren
82% ausmachen (Konkle et al. 2010). Klienten eine Vorstellung von ihrem zukünftigen Heim zu ver-
Oder stellen Sie sich vor, Sie betrachteten ein Bildfragment, mitteln. Auf eine entsprechende Weise entwerfen Psychologen
wie das in . Abb. 9.2. Stellen Sie sich dann des Weiteren vor, Gedächtnismodelle, um für uns anschaulicher zu machen, wie
Sie hätten das vollständige Bild 17 Jahre vorher für ein paar das Gehirn Erinnerungen bildet und wieder abruft. Informa-
Sekunden gesehen. Auch das war ein reales Experiment, und tionsverarbeitungsmodelle sind diesbezüglich Analogien, die
Teilnehmer, die einst die kompletten Bilder gesehen hatten, das menschliche Gedächtnis mit den Arbeitsvorgängen eines
konnten die Fragmente häufiger identifizieren als Personen aus Computers vergleichen. Zur Erinnerung an ein bestimmtes Er-
einer Kontrollgruppe (Mitchell 2006). Diese bildliche Erinne- eignis müssen wir also:
rung konnte sogar bei denjenigen festgestellt werden, die sich 4 eine Information ins Gehirn aufnehmen, ein Vorgang,
nicht mehr bewusst an die Teilnahme an dem lange zurück- der als Enkodieren bezeichnet wird;
liegenden Experiment erinnern konnten! 4 diese Information behalten, ein Prozess, der Speichern
Was befähigt uns zu solchen Gedächtnisleistungen? Wie ent- genannt wird;
nimmt unser Gehirn der Welt um uns herum Informationen und 4 diese Information schließlich wiedergewinnen, ein Vorgang,
lagert sie für späteren Gebrauch ein? Weshalb können wir uns an der Abrufen genannt wird.
Dinge erinnern, über die wir jahrelang nicht nachgedacht haben,
gleichzeitig aber den Namen eines Menschen vergessen, mit dem Wie alle Analogien stoßen Computermodelle an ihre Grenzen.
wir erst vor einer Minute gesprochen haben? Wie werden Er- Unsere Erinnerungen sind weniger ausdrücklich und weitaus
innerungen in unserem Gehirn gespeichert? Wieso werden Sie fragiler als die Daten eines Computers. Darüber hinaus erfolgt
später in diesem Kapitel wahrscheinlich den folgenden Satz beim Computer die Informationsverarbeitung sequenziell, auch
falsch reproduzieren: »Der wütende Randalierer warf den Stein wenn verschiedene Aufgaben abwechselnd ausgeführt werden.
gegen das Fenster«? In diesem Kapitel gehen wir diesen und Unser zweigleisiger Verstand dagegen verarbeitet viele Dinge
weiteren faszinierenden Fragen nach, darüber hinaus widmen gleichzeitig (manche davon unbewusst), also parallel. Dieser
330 Kapitel 9 · Gedächtnis

. Abb. 9.3 Ein modifiziertes Dreistufen-Verarbeitungsmodell des Gedächtnisses. Das klassische Dreistufenmodell von Atkinson und Shiffrin hilft uns
bei der Vorstellung, wie Erinnerungen verarbeitet werden, doch die heutigen Gedächtnisforscher haben andere Wege gefunden, auf denen sich Lang-
zeiterinnerungen bilden. Zum Beispiel schlüpfen einige Informationen sozusagen »durch die Hintertür« ins Langzeitgedächtnis, ohne dass man bewusst
seine Aufmerksamkeit auf sie gerichtet hat (automatische Verarbeitung). Und im Kurzzeitgedächtnis findet so viel aktive Verarbeitung statt, dass eine etwas
andere Bezeichnung, nämlich Arbeitsgedächtnis, heute von vielen als treffender angesehen wird

Aspekt, die komplexe, simultane Verarbeitung, steht im Mittel- Das Arbeitsgedächtnis


punkt des Konnektionismus, einer Theorie zur Informationsver- Alan Baddeley und andere (Baddeley 2001, 2002; Engle 2002)
arbeitung, die Erinnerungen als Produkte miteinander verbun- haben Kritik an der Sichtweise von Atkinson und Shiffrin ge-
dener neuronaler Netzwerke betrachtet (7 Kap. 3). Einzelne Er- übt, nach der das Kurzzeitgedächtnis nur ein kleiner, befristeter
innerungen ergeben sich aus bestimmten Aktivierungsmustern Speicher für aktuelle Gedanken und Erfahrungen sein soll.
9 innerhalb dieser Netzwerke. Jedes Mal, wenn Sie etwas Neues Die Forschung hat gezeigt, dass diese Stufe nicht nur eine tem-
lernen, verändern sich die neuronalen Verbindungen Ihres Ge- poräre Ablage zur Aufbewahrung eingehender Informationen
hirns, bilden und verstärken Pfade, mit deren Hilfe Sie mit Ihrer ist. Sie ist eine aktive Arbeitsfläche, auf der das Gehirn Infor-
sich dauerhaft ändernden Umwelt interagieren und von dieser mationen verarbeitet, neuen Eingaben einen Sinn verleiht und
lernen können. sie mit Langzeiterinnerungen verbindet. Ob wir einen gespro-
chenen Satzbestandteil als »mit Nichten« oder »mitnichten«
Enkodieren (»encoding«) – Verarbeitung von Informationen zur Ein-
gabe in das Gedächtnissystem, z. B. durch Herstellen eines Bedeutungs- hören, hängt davon ab, wie uns Kontext und Erfahrungen bei der
zusammenhangs. Interpretation und Enkodierung der Laute leiten. Mit deutlicher
Speichern (»storage«) – dauerhaftes Behalten der enkodierten Informa- Betonung der aktiven Verarbeitung, die in dieser mittleren Phase
tionen. stattfindet, benutzen Psychologen den Begriff Arbeitsgedächt-
Abrufen (»retrieval«) – Wiederauffinden gespeicherter Informationen nis. Gerade in diesem Moment machen Sie von Ihrem Arbeits-
im Gedächtnisspeicher.
gedächtnis Gebrauch, um die Inhalte, die Sie lesen, mit vorher
Zur Erklärung dieses Prozesses der Erinnerungsbildung haben gespeicherten Informationen zu verbinden (Cowan 2010; Kail u.
Richard Atkinson und Richard Shiffrin (1968) ein Dreistufen- Hall 2001).
modell vorgeschlagen:
Arbeitsgedächtnis (»working memory«) – ein neueres Verständnis
1. Zunächst registrieren wir die Informationen, an die wir uns des Kurzzeitgedächtnisses, zu dem die bewusste, aktive Verarbeitung von
erinnern sollen, im flüchtigen sensorischen Gedächtnis. eingehenden auditiven und visuell-räumlichen Informationen sowie von
2. Anschließend verarbeiten wir die Informationen im Informationen aus dem Langzeitgedächtnis gehört.
Kurzzeitgedächtnis, wo sie durch Wiederholung enkodiert
werden. Bei den meisten von Ihnen gelangen die Seiten, die Sie lesen,
3. Schließlich gelangen die Informationen für einen späteren über den Sehsinn ins Arbeitsgedächtnis. Außerdem können Sie
Abruf ins Langzeitgedächtnis. die Informationen durch inneres Nachsprechen wiederholen.
Während Sie diese Gedächtniseingaben in Ihr bestehendes
Andere Psychologen haben dieses Modell überarbeitet (. Abb. Langzeitgedächtnis integrieren, ist Ihre Aufmerksamkeit fokus-
9.3), um wichtige neuere Konzepte darin aufzunehmen, darunter siert. Baddeley (1998, 2002) hat diese gezielte Verarbeitung
das Arbeitsgedächtnis und die automatische Verarbeitung. einer Komponente namens zentrale Exekutive zugeschrieben
Sensorisches Gedächtnis (»sensory memory«) – unmittelbare, sehr kurze (. Abb. 9.5).
Zwischenspeicherung sensorischer Informationen im Gedächtnissystem. Ohne fokussierte Aufmerksamkeit verschwinden Infor-
Kurzzeitgedächtnis (»short-term memory«) – aktiviertes Gedächtnis, mationen sehr häufig. In einem Experiment lasen und tippten
das einige Items für kurze Zeit festhält (wie z. B. die 7 Ziffern einer Handy- Personen neue Informationen, die sie später benötigen würden,
nummer ohne Vorwahl, während die Nummer gewählt wird), um sie
wie z. B.: »Bei einem Strauß ist das Auge größer als das Gehirn.«
dann entweder abzuspeichern oder zu vergessen.
Wenn Sie wussten, dass die Informationen online verfügbar
Langzeitgedächtnis (»long-term memory«) – relativ zeitüberdauernder
und unbegrenzt aufnahmefähiger Speicher des Gedächtnissystems; dazu waren, investierten sie weniger Energie in ihre Gedächtnis-
gehören Wissen, Fertigkeiten und Erfahrungen. arbeit und erinnerten sich weniger gut an die Nebensächlich-
9.1 · Die Erforschung des Gedächtnisses
331 9
hinter den Kulissen, jenseits der Stufen von Atkinson und Shiff-
rin, überspringen andere Informationen unsere bewusste Enko-
dierung und landen direkt im Speicher. Diese automatische
Verarbeitung, die ohne unsere Bewusstheit passiert, produziert
implizite Erinnerungen (auch nondeklarative Erinnerungen ge-
nannt).
Explizites Gedächtnis (»explicit memory«) – Gedächtnis für Fakten
und Erfahrungen, die man bewusst wissen und »deklarieren« kann (auch als
deklaratives Gedächtnis bezeichnet).
Bewusste Verarbeitung (»effortful processing«) – Form der Enkodierung,
die Aufmerksamkeit und bewusste Anstrengung erfordert.
Automatische Verarbeitung (»automatic processing«) – unbewusste
Enkodierung zufällig anfallender Informationen, wie Raum, Zeit und
Häufigkeit, sowie erlernter, aber inzwischen wohlbekannter Informationen
. Abb. 9.4 Jetzt wird es deutlich. Personen, die dieses komplette Bild ge- (z. B. Wortbedeutungen).
sehen hatten, waren 17 Jahre später eher dazu in der Lage, das Fragment Implizites Gedächtnis (»implicit memory«) – Behalten, das unabhängig
aus . Abb. 9.2 wiederzuerkennen. (Aus Mitchell 2006; Copyright © 2006 by von bewusster Erinnerung ist (auch als nondeklaratives Gedächtnis be-
SAGE Publications. Reprinted by Permission of SAGE Publications) zeichnet).

Das zweigleisige Gedächtnissystem unterstreicht ein bedeuten-


keiten (Sparrow et al. 2011). Manchmal ersetzt Google Wieder- des Prinzip, das in 7 Kap. 7 bei der Darstellung paralleler Ver-
holung. arbeitung eingeführt wurde: Mentale Fähigkeiten wie Sehen,
Denken und Erinnern mögen wie einzelne Funktionen erschei-
Der zweigleisige Verstand: Bewusste versus nen, aber dem ist nicht so. Eher teilen wir Informationen in ver-
automatische Verarbeitung schiedene Komponenten auf, die dann separat und simultan
verarbeitet werden.
? 9.3 Wie lassen sich explizite und implizite Erinnerungen
unterscheiden? Prüfen Sie Ihr Wissen

Das Modell von Atkinson und Shiffrin hat sich darauf konzent- 5 Welche beiden neueren Konzepte haben zu einer
riert, wie wir unsere expliziten Erinnerungen verarbeiten – die Aktualisierung des klassischen Dreistufen-Infor-
Fakten und Erfahrungen, die wir bewusst wissen und deklarieren mationsverarbeitungsmodells von Atkinson und Shiffrin
können (weshalb sie auch deklarative Erinnerungen genannt geführt?
werden). Aber wie wir bisher in diesem Buch gesehen haben, 5 Welche beiden Grundfunktionen erfüllt das Arbeits-
operiert unser Verstand auf zwei Gleisen. Er verarbeitet explizite gedächtnis?
Erinnerungen durch angestrengte bewusste Verarbeitung. Aber

. Abb. 9.5 Das Arbeitsgedächtnis. Das Modell des Arbeitsgedächtnisses von Alan Baddeley (2001, mit freundlicher Genehmigung der American Psycho-
logical Association), hier vereinfacht dargestellt, enthält visuelle und auditive Verarbeitungseinheiten für neue Informationen. Eine hypothetische zentrale
Exekutive (mit »Managerfunktion«) fokussiert die Aufmerksamkeit und bezieht Informationen aus dem Langzeitgedächtnis, um uns dabei zu helfen, neuen
Eingaben Sinn zu verleihen
332 Kapitel 9 · Gedächtnis

9.2 Enkodieren: Erinnerungen herstellen Lesen automatisiert. Stellen Sie sich jetzt vor, Sie müssten umge-
drehte Sätze wie den folgenden lesen lernen:
9.2.1 Enkodierung und automatische .nedrew hcsitamotua nnak gnutiebrareV etssuweB
Verarbeitung Zunächst ist dazu Anstrengung erforderlich. Aber mit einiger
Übung können auch solche Aufgaben fast gänzlich automatisch
ausgeführt werden. Wir entwickeln viele unserer Fertigkeiten auf
? 9.4 Welche Informationen verarbeiten wir automatisch?
diese Weise: Wir lernen nur mit Mühe, wie man Auto fährt, wie
Unser implizites Gedächtnis umfasst prozedurale Erinnerungen man Texte schreibt oder wie man eine neue Sprache spricht, aber
für automatisierte Fertigkeiten, wie z. B. Fahrradfahren, und dann werden diese Aufgaben automatisch.
klassisch konditionierte Assoziationen zwischen Stimuli. Dank
Letzterer werden Sie vielleicht einem Besuch beim Zahnarzt – Sensorisches Gedächtnis
aufgrund einer konditionierten Assoziation, die die Zahnarzt-
? 9.5 Wie funktioniert das sensorische Gedächtnis?
praxis mit dem schmerzhaften Bohrer verbindet – mit schwit-
zenden Handflächen entgegensehen. Sie hatten nicht die Absicht, Bewusste Verarbeitung beginnt im sensorischen Gedächtnis
sich derart zu fühlen, als Sie die Praxis betraten; es passierte (erinnern Sie sich an . Abb. 9.3), das unser aktives Arbeitsge-
automatisch. dächtnis versorgt. Unser sensorisches Gedächtnis nimmt ein
Ohne bewusste Anstrengung verarbeiten Sie ebenso automa- momentanes Bild einer Szene oder ein Echo eines Geräuschs auf.
tisch Informationen über: Wie viel von dieser Seite könnten Sie wahrnehmen und repro-
9 4 Raum: Während Sie dieses Lehrbuch lesen, enkodieren duzieren, wenn Sie sie kürzer als einen Lichtblitz sehen würden?
Sie oft die Stelle auf der Seite, auf der ein bestimmter Lern- In einem Experiment (Sperling 1960) betrachteten Versuchsteil-
stoff erwähnt wird; später, wenn Sie damit ringen, die nehmer 3 Reihen mit je 3 Buchstaben für nur ein Zwanzigstel
Informationen über automatische Verarbeitung aus dem einer Sekunde (. Abb. 9.6). Nachdem die 9 Buchstaben ver-
Gedächtnis abzurufen, können Sie möglicherweise ihre schwunden waren, konnten die Teilnehmer nur etwa die Hälfte
Position auf der Seite visualisieren. davon wiedergeben.
4 Zeit: Während Sie Ihren Tag durchleben, merken Sie sich Hatten die Versuchspersonen nicht genug Zeit, einen Blick
unabsichtlich die Abfolge der darin stattfindenden Ereig- darauf zu werfen? Nein, denn der Forscher, George Sperling, de-
nisse. Später, wenn Sie feststellen, dass Sie Ihren Mantel monstrierte sehr einfallsreich, dass die Teilnehmer tatsächlich
irgendwo vergessen haben, versetzt Sie die Ereignissequenz, alle Buchstaben sehen und sich an sie erinnern konnten, aller-
die Ihr Gehirn automatisch enkodiert hat, in die Lage, Ihre dings nur für einen kurzen Augenblick. Statt seine Teilnehmer zu
einzelnen Schritte zurückzuverfolgen. bitten, sich an alle 9 Buchstaben auf einmal zu erinnern, ließ er
4 Häufigkeit: Mühelos verfolgen Sie, wie oft bestimmte
Dinge geschehen, wie wenn Ihnen z. B. plötzlich bewusst
wird: »Das ist schon das dritte Mal, dass ich ihr heute über
den Weg laufe.«

Unser zweigleisiger Verstand hat sich eine beeindruckend effi-


ziente Informationsverarbeitung zum Ziel gesetzt. Während auf
dem einen Pfad automatisch viele Routinedetails zur Seite ge-
schafft werden, besteht auf dem anderen freie Bahn, um sich auf
bewusste, angestrengte Verarbeitung zu konzentrieren.

9.2.2 Enkodierung und bewusste Verarbeitung

Automatische Verarbeitung funktioniert so mühelos, dass sie


sich nur schwer abschalten lässt. Wenn Sie Wörter in Ihrer
Muttersprache sehen, wie etwa eine Aufschrift seitlich auf einem
Lastwagen, dann können Sie gar nicht anders, als sie zu lesen und . Abb. 9.6 Ikonisches Gedächtnis. Als George Sperling eine Buchstaben-
ihre Bedeutung zu registrieren. Das Lesenlernen war dagegen gruppe (ähnlich der hier abgebildeten) ein Zwanzigstel einer Sekunde
lang aufblitzen ließ, konnten die Versuchsteilnehmer nur etwa die Hälfte
nicht automatisch. Vielleicht erinnern Sie sich daran, wie sehr Sie
der Buchstaben reproduzieren. Wurden sie jedoch mit einem Signal aufge-
sich abmühten, Buchstaben herauszupicken und mit bestimmten fordert, sich an eine bestimmte Zeile zu erinnern, sofort nachdem die
Lauten zu verbinden. Aber mit Erfahrung und Übung wurde Ihr Buchstaben verschwunden waren, schafften sie die Aufgabe fast perfekt
9.2 · Enkodieren: Erinnerungen herstellen
333 9
unmittelbar nach dem Aufleuchten der Buchstaben einen hohen,
mittleren oder tiefen Ton erklingen. Dieser Ton leitete die Teil-
nehmer an, jeweils nur die Buchstaben der oberen, mittleren
oder unteren Reihe zu reproduzieren. Nun entging ihnen kaum
ein Buchstabe. So konnte nachgewiesen werden, dass alle 9 Buch-
staben einen Augenblick lang auf Abruf bereitstehen.
Sperlings Experiment zeigte, dass wir über ein ikonisches
Gedächtnis verfügen, ein flüchtiges sensorisches Gedächtnis für
visuelle Stimuli. Für einige wenige Zehntelsekunden registrieren
unsere Augen eine fotografische oder bildhafte Erinnerung an
eine Szene, und wir können uns an jede Einzelheit mit erstaun-
licher Genauigkeit erinnern. Verzögerte Sperling das Tonsignal
um mehr als eine halbe Sekunde, dann war das Bild verschwun-
den, und die Versuchsteilnehmer konnten sich wieder nur an
höchstens die Hälfte der Buchstaben erinnern. Unser visueller
Bildschirm wird sehr schnell wieder grau, sodass neue Bilder die
alten überlagern können.
Ikonisches Gedächtnis (»iconic memory«) – kurzzeitiges sensorisches
Gedächtnis für visuelle Eindrücke, ähnlich wie eine Momentaufnahme oder
. Abb. 9.7 Zerfall der Kurzzeiterinnerung. Verbale Information kann
ein Bild, das nur wenige Zehntelsekunden lang erinnert werden kann.
schnell vergessen werden, wenn sie nicht wiederholt oder geübt wird.
(Aus Peterson u. Peterson 1959; s. auch Brown 1958)
Wir haben auch ein einwandfreies, obwohl fast ebenso flüchtiges
sensorisches Gedächtnis für auditive Reize, das Echogedächtnis
(Cowan 1988; Lu et al. 1992). Stellen Sie sich vor, Sie sind mitten 12 Sekunden gab es kaum noch eine Erinnerung (. Abb. 9.7).
in einer Unterhaltung, und Ihre Aufmerksamkeit schweift zum Ohne die aktive Verarbeitung, die wir heute als Teil des Konzepts
Fernseher ab. Wenn Ihr leicht verärgerter Gesprächspartner Sie des Arbeitsgedächtnisses verstehen, haben Kurzzeiterinnerun-
dann testet und fragt: »Was habe ich gerade gesagt?«, können Sie gen nur eine begrenzte Lebensdauer.
die letzten paar Wörter aus der Echokammer Ihres Gedächt-
The Magical Number Seven (Miller 1956) ist der Beitrag der Psycho-
nisses wieder hervorholen. Auditive Echos scheinen 3 oder
logie zu einer beeindruckenden Liste magischer 7er geworden –
4 Sekunden lang in der Luft zu schweben.
die 7 Weltwunder, die 7 Weltmeere, die 7 Todsünden, die 7 Primär-
Echogedächtnis (»echoic memory«) – kurzzeitiges sensorisches farben, die 7 Noten der musikalischen Skala, die 7 Tage der Woche
Gedächtnis für auditive Reize; wenn die Aufmerksamkeit abgelenkt ist, – 7 magische 7er.
können Wörter oder Geräusche noch in einem Zeitfenster von 3 oder
4 Sekunden erinnert werden. Die Kapazität des Arbeitsgedächtnisses variiert in Abhängigkeit
vom Alter und anderen Faktoren. Im Vergleich zu Kindern und
Die Kapazität des Kurzzeit- und Arbeits- älteren Erwachsenen haben jüngere Erwachsene eine größere
gedächtnisses Arbeitsgedächtniskapazität, also können sie ihren mentalen Ar-
beitsplatz effizienter nutzen. Das bedeutet, ihre Fähigkeit zum
? 9.6 Wie groß sind die Kapazitäten des Kurzzeit- und Arbeits-
Multitasking ist vergleichsweise höher. Doch egal wie alt wir
gedächtnisses?
sind, leisten wir bessere und effizientere Arbeit, wenn wir kon-
George Miller (1956) ging davon aus, dass das Kurzzeitgedächt- zentriert sind, und zwar, möglichst ohne Ablenkungen, auf eine
nis etwa 7 Informationseinheiten (± 2) behalten kann. Andere Aufgabe nach der anderen. Soll heißen: Es ist wahrscheinlich
Forscher haben bestätigt, dass wir, wenn wir nicht abgelenkt eine schlechte Idee, zur gleichen Zeit zu versuchen, fernzusehen,
werden, ungefähr 7 Ziffern reproduzieren können, oder etwa Ihren Freunden zu mailen und nebenbei noch eine psycholo-
6 Buchstaben oder 5 Wörter (Baddeley et al. 1975). Wie schnell gische Arbeit zu schreiben (Willingham 2010)!
verschwinden unsere Kurzzeiterinnerungen? Um diese Frage Anders als die Kapazität des Kurzzeitgedächtnisses scheint
zu beantworten, baten Lloyd und Margaret Peterson (1959) Ver- diejenige des Arbeitsgedächtnisses das Intelligenzniveau zu re-
suchspersonen, sich Buchstabengruppen aus 3 Konsonanten flektieren (Cowan 2008; Shelton et al. 2010). Stellen Sie sich vor,
(z. B. CHJ) zu merken. Um Übungseffekte auszuschließen, Sie sehen einen Buchstaben des Alphabets, anschließend eine
forderten sie die Teilnehmer z. B. auf, laut in Dreierschritten von einfache Frage, dann einen weiteren Buchstaben, gefolgt von
100 an rückwärts zu zählen. Nach 3 Sekunden erinnerten sich einer erneuten Frage, und so weiter. Diejenigen, die in solchen
die Teilnehmer nur noch an die Hälfte der Buchstaben, nach Experimenten mit den meisten mentalen Bällen jonglieren
334 Kapitel 9 · Gedächtnis

konnten – indem sie die meisten Buchstaben trotz der Unter-


brechungen erinnern konnten –, zeigten im alltäglichen Leben
hohe Intelligenz und die Fähigkeit, ihre Konzentration beizu-
behalten (Kane et al. 2007; Unsworth u. Engle 2007). Wenn sie
zu einer Rückmeldung zu verschiedenen Zeitpunkten angehal-
ten wurden, berichteten sie viel seltener als andere, dass ihre Ge-
danken abschweiften.

Bewusste Verarbeitungsstrategien

? 9.7 Welche bewussten Verarbeitungsstrategien können uns


beim Erinnern an neue Informationen helfen?

Die Forschung hat gezeigt, dass einige bewusste Verarbeitungs-


strategien zur Verbesserung unserer Fähigkeit, neue Erinnerun-
gen zu bilden, geeignet sind. Wenn wir eine Erinnerung später . Abb. 9.8 Die Effekte von Chunking auf das Gedächtnis. Sobald wir
wieder abzurufen versuchen, können diese Strategien den Unter- Informationen in Form von Einheiten mit Bedeutung wie Buchstaben,
Wörter oder Sätze organisieren, können wir Sie leichter abrufen. (Aus Hintz-
schied zwischen Erfolg und Scheitern ausmachen. man 1978, mit freundlicher Genehmigung)

9 jChunking
Schauen Sie sich ein paar Sekunden lang die 1. Reihe in . Abb. 9.8
an. Sehen Sie dann wieder weg und versuchen Sie, das Gesehene
zu reproduzieren. Es geht nicht, sagen Sie? Aber die 2. Reihe kön-
nen Sie ganz leicht wiedergeben, obwohl sie nicht weniger kom-
plex ist. Ganz ähnlich geht es Ihnen wahrscheinlich auch mit
Reihe 4, die Sie sich viel leichter merken können als Reihe 3,
obwohl beide die gleichen Buchstaben enthalten. Und auch die
Reihen unter Punkt 6 können Sie sich viel leichter einprägen als
die unter Punkt 5, obwohl sie aus den gleichen Wörtern bestehen.
Wie diese Beispiele zeigen, erlaubt uns das Chunking von Infor-
mationen – das Organisieren von Items zu vertrauten, handhab-
baren Einheiten –, diese leichter zu behalten. Versuchen Sie,
51 einzelne Zahlen und Buchstaben zu erinnern. Es wäre nahezu
unmöglich, wenn sie nicht aus, sagen wir, 9 bedeutungstragenden
Chunks zusammengesetzt sind, wie z. B.: »Versuchen Sie, 51 ein-
zelne Zahlen und Buchstaben zu erinnern«. -
Chunking (»chunking«) – Organisieren einzelner Items in handhabbare
und/oder vertraute Einheiten; geschieht häufig automatisch. . Abb. 9.9 Ein Beispiel für Chunking – für alle, die Chinesisch lesen
können. Nachdem Sie diese Zeichen angeschaut haben, können Sie sie
Chunking ist etwas so Natürliches, dass wir es als selbstverständ- exakt reproduzieren? Wenn ja, dann können Sie Chinesisch lesen
lich ansehen. Wenn Sie einigermaßen gut Deutsch verstehen,
können Sie die ca. 140 Liniensegmente, aus denen die Wörter in
den drei Zeilen von Item 6 in . Abb. 9.8 bestehen, ohne Weiteres jMnemotechniken
perfekt reproduzieren. Jeden, der des Deutschen nicht mächtig Um sich das Enkodieren längerer Textpassagen und Reden zu
ist, würde dies erstaunen. Auf ganz ähnliche Weise verwundert erleichtern, entwickelten griechische Gelehrte und Redner in der
es mich immer wieder, wenn Menschen, die Chinesisch beherr- Antike zudem Mnemotechniken (von griech. mnémē = Ge-
schen, nach einem kurzen Blick auf . Abb. 9.9 alle Striche der dächtnis). Viele dieser Gedächtnisstützen gebrauchen bildliche
chinesischen Zeichen wiedergeben können, oder wenn ein Bas- Vorstellungskraft, weil wir besonders gut darin sind, uns an
ketballspieler der Unimannschaft 4 Sekunden lang einem Basket- mentale Bilder zu erinnern. Wir erinnern uns beispielsweise
ballspiel zuschaut und dann die genaue Position jedes einzelnen leichter an konkrete, bildlich vorstellbare Wörter als an abstrakte
Spielers angeben kann (Allard u. Burnett 1985). Wir alle erinnern Begriffe. (Welche 3 Wörter der folgenden Reihe – Fahrrad,
uns dann am besten an Informationen, wenn wir sie in persön- Nichts, Zigarette, innewohnend, Feuer, Prozess – werden Sie wohl
lich bedeutsame Zusammenhänge organisieren können. am ehesten reproduzieren können, wenn ich Sie später danach
9.2 · Enkodieren: Erinnerungen herstellen
335 9

. Abb. 9.10 Organisation nützt dem Gedächtnis. Wenn wir Wörter oder Konzepte in hierarchischen Gruppen organisieren, wie hier mit Konzepten aus
diesem Kapitel dargestellt, dann erinnern wir uns besser an sie, als wenn sie uns in rein zufälliger Reihenfolge präsentiert werden

frage?) Möglicherweise erinnern Sie sich auch noch an den Satz gezählt wird.) Ein anderes Beispiel: Fällt es Ihnen schwer, alle
von dem Steine werfenden Randalierer, nicht nur wegen der Sparten der deutschen Sozialversicherung ohne Umschweife
Bedeutung, die Sie enkodiert haben, sondern auch, weil der Satz nennen zu können? Benutzen Sie als »Eselsbrücke« einfach
ein deutliches Bild bei Ihnen hinterlassen hat. KURA (Kranken- und Pflegeversicherung, Unfallversicherung,
Rentenversicherung und Arbeitslosenversicherung). In diesem
Mnemotechniken (»mnemonics«) – Gedächtnishilfen, insbesondere jene
Techniken, die eindringliche Bilder und Ordnungsstrukturen nutzen. Fall bringen wir, so wie beim Chunking, Informationen in eine
vertrautere Form, indem wir ein spezielles Wort (ein sogenann-
Das »Peg-Word-System« (die »Garderobenmethode«) zieht seinen tes Akronym) aus den Anfangsbuchstaben der Wörter bilden, die
Nutzen aus unserer überlegenen visuellen Vorstellungskraft. wir uns merken wollen.
Diese Mnemotechnik verlangt von Ihnen, sich zunächst Merk-
verse einzuprägen: »Eins ist Mainz, Zwei ist Schrei, Drei ist Brei, jHierarchien
Vier ist Bier, Fünf ist Strümpf, Sechs ist Hex‘, Sieben ist Rüben, Acht Wenn Menschen Expertise auf einem Gebiet erwerben, dann
ist Nacht, Neun ist Scheun‘ und Zehn ist Feen.« Ohne viel Mühe verarbeiten sie Informationen nicht nur in Chunks, sondern
werden Sie bald in der Lage sein, mit diesen Aufhängern statt auch in Hierarchien, die sich aus ein paar relativ weitgefassten
mit Zahlen zu zählen: Mainz, Schrei, Brei... und dann bildlich die Konzepten zusammensetzen, die wiederum in engere Konzepte
Aufhänger mit Items, die Sie im Gedächtnis behalten möchten, und Fakten geteilt und unterteilt sind. Das Ziel dieses Abschnitts
zu assoziieren. Sie haben jetzt das Zeug dazu, gegen jeden anzu- ist es z. B., Ihnen dabei zu helfen, Gedächtniskonzepte zu organi-
treten, der Ihnen eine Einkaufsliste gibt, an die Sie sich erinnern sieren (. Abb. 9.10).
sollen. Karotten? Stellen Sie sich einen Gemüsegroßhandel in der Wissen in Hierarchien zu organisieren hilft uns dabei, In-
Landeshauptstadt vor. Milch? Denken Sie einfach an schreiende formationen effizient wieder abzurufen, wie Gordon Bower und
Babys. Papiertaschentücher? Decken Sie den vorgestellten Brei Kollegen (1969) demonstriert haben, indem sie Versuchsper-
damit zu. Denken Sie Mainz, Schrei, Brei und Sie sehen die damit sonen Wörter darboten, und zwar entweder in zufälliger Reihen-
assoziierten Bilder vor sich: Karotten, Milch, Taschentücher. folge oder nach Kategorien gruppiert. Bei den nach Kategorien
Relativ fehlerfrei werden Sie in der Lage sein, die Artikel in jeder gruppierten Wörtern war die Erinnerungsleistung 2- bis 3-mal
Reihenfolge zu erinnern und jeden beliebigen zu benennen besser. Solche Ergebnisse zeigen Ihnen, welche Vorteile es hat,
(Bugelski et al. 1968). Gedächtniskünstler haben das Potenzial Ordnung in Ihren Lernstoff zu bringen – indem Sie dem Kapitel-
solcher Systeme erfasst. In einer Studie über die herausragends- vorspann, den Überschriften, den »Prüfen Sie Ihr Wissen«-
ten Kandidaten bei den World Memory Championships zeigte Fragen sowie den Verständnisfragen (wie Frage 9.8 weiter unten)
sich, dass diese keine außergewöhnliche Intelligenz aufwiesen, und dem Kapitelrückblick besondere Aufmerksamkeit zuwen-
sondern eher besonders gut darin waren, Mnemotechniken zu den. Vorlesungsmitschriften und Notizen mit einer Gliederung
nutzen (Maguire et al. 2003). zu versehen, seinerseits eine Art hierarchischer Organisation,
Chunking und Mnemotechniken kombiniert können große könnte sich ebenfalls als hilfreich erweisen.
Erinnerungshilfen bei unvertrautem Material sein. Sollten Sie je
den Wunsch verspüren, sich die Namen der Planeten unseres jVerteilte Übung
Sonnensystems zu merken, dann denken Sie einfach an den Satz Wir behalten Informationen besser, wenn unsere Enkodierung
»Mein Vater erklärt mir jeden Samstag unseren Nachthimmel«: über die Zeit verteilt ist (wie z. B. beim Lernen der Namen
Merkur –Venus – Erde – Mars – Jupiter – Saturn – Uranus – unserer Klassenkameraden). Mehr als 300 Experimente haben
Neptun. (Sollten Sie in der Aufzählung Pluto vermissen, beden- das letzte Jahrhundert hindurch übereinstimmend die Vorteile
ken Sie, dass dieser astronomisch nicht mehr zu den Planeten dieses Spacing-Effekts nachgewiesen (Cepeda et al. 2006).
336 Kapitel 9 · Gedächtnis

Massierte Übung (»cramming«) kann schnelles Kurzzeitlernen einflusst. Oberflächliche Verarbeitung enkodiert Informatio-
und Vertrautheitsgefühle hervorrufen. Aber um es im Sinne des nen auf einer sehr basalen Ebene, wie z. B. die Buchstaben eines
Pioniers der Gedächtnisforschung Hermann Ebbinghaus (1885) Wortes oder, auf einer dazwischenliegenden Ebene, den Klang
zu sagen: Wer schnell lernt, vergisst auch schnell. Verteilte Übung eines Wortes. Tiefe Verarbeitung enkodiert Informationen
führt zu besserer Langzeiterinnerung. Nachdem Sie einen Stoff semantisch, basierend auf der Bedeutung von Wörtern. Je tiefer
lange genug studiert haben, um ihn zu beherrschen, wird weiteres (bedeutungsvoller) die Verarbeitung ist, desto besser ist unsere
Lernen ineffizient (Rohrer u. Pashler 2007). Da ist es sinnvoller, Behaltensleistung.
wenn Sie die zusätzliche Wiederholungszeit später aufbringen –
Oberflächliche Verarbeitung (»shallow processing«) – Enkodierung auf
einen Tag später, wenn Sie etwas von da an 10 Tage lang erinnern einer sehr einfachen Stufe, die auf der Struktur oder dem Erscheinungsbild
wollen, oder einen Monat später, wenn Sie es 6 Monate lang von Wörtern basiert.
behalten wollen (Cepeda et al. 2008). Tiefe Verarbeitung (»deep processing«) – semantische Enkodierung, die
auf der Bedeutung von Worten beruht; erzielt im Durchschnitt die beste
Spacing-Effekt (»spacing effect«) – Tendenz, dass durch zeitlich verteiltes Behaltensleistung.
Lernen oder Üben bessere langfristige Behaltenserfolge erzielt werden als
bei massiertem Lernen oder Üben. In einem klassischen Experiment ließen Fergus Craik und Endel
Tulving (1975) vor den Augen von Versuchsteilnehmern Wörter
Wenn man das Lernen über mehrere Monate verteilt, statt in kür- kurz aufblitzen. Dann stellten sie den Personen eine Frage, die
zeren Abständen zu lernen, kann dies dazu beitragen, dass wir das verschiedene Ebenen der Verarbeitung anregen sollte. Um selbst
Gelernte ein Leben lang nicht vergessen werden. In einem 9 Jahre ein Gefühl von dieser Aufgabe zu bekommen, antworten Sie
9 dauernden Experiment lernten Harry Bahrick und drei seiner rasch auf folgende Fragen mit Ja oder Nein:
Familienmitglieder (1993) mit einer vorher festgelegten Anzahl
von Lektionen Wörter einer fremden Sprache und ihre Über- Beispielfragen zur Auslösung von Verarbeitung Gezeigtes Wort

setzung – in Abständen, die von 14 Tagen bis zu 56 Tagen dauern 1. Ist das Wort in Großbuchstaben geschrieben? STUHL
konnten. Das einheitliche Ergebnis: Je länger der Abstand zwi- 2. Reimt sich das Wort auf »Zug«? klug
schen den einzelnen Übungsdurchgängen war, desto besser wur-
3. Würde das Wort in folgenden Satz passen? Puppe
den die Wörter behalten (bis zu 5 Jahre nach dem Experiment). Das Mädchen legte die auf
den Tisch.
» Der Verstand vergisst nur langsam etwas, wenn er lange
dafür gebraucht hat, es zu lernen.
Welche Art von Verarbeitung könnte Sie wahrscheinlich am bes-
Der römische Philosoph Seneca (4 v. Chr. – 65 n. Chr.)
ten darauf vorbereiten, die Wörter zu einem späteren Zeitpunkt
Eine effektive Möglichkeit für verteilte Übung ist wiederholte wiederzuerkennen? Bei dem Experiment von Craik und Tulving
Selbsttestung, ein Phänomen, das die Forscher Henry Roediger ergab die 3. Frage (das tiefere, semantische Enkodieren) deutlich
und Jeffrey Karpicke (2006) den Testeffekt nannten. In diesem bessere Erinnerungsleistungen als die eher oberflächliche Ver-
Buch bieten beispielsweise die Fragen unter »Prüfen Sie Ihr arbeitung, die durch Frage 2 und vor allem durch Frage 1 (die
Wissen« eine solche Gelegenheit. Es ist besser, das Abrufen zu besonders ineffizient war) angeregt wurde (. Abb. 9.11).
üben (wie es Ihnen jede Klausur abverlangen wird) als die
Lehrinhalte bloß nochmal zu lesen (was Sie leicht zu einem Material mit persönlicher Bedeutung ausstatten
falschen Gefühl von Sicherheit verführen könnte). Neue Informationen, die keine Bedeutung oder keinen Bezug zu
unserer Erfahrung haben, verarbeiten wir oft nur mit Schwierig-
Testeffekt (»testing effect«) – verbesserte Gedächtnisleistung, nach-
dem Informationen reproduziert und nicht bloß nochmal gelesen wurden; keiten. Versetzen Sie sich einmal in die Situation der Studieren-
manchmal auch als »retrieval practice effect« oder »test-enhanced den, die von John Bransford und Marcia Johnson (1972) gebeten
learning« bezeichnet. wurden, sich folgende auf Band aufgenommene Textpassage ein-
zuprägen:
Fazit: Zeitlich verteiltes Studieren und Selbstabfragen sind mas-
sierter Übung und wiederholtem Lesen überlegen. » Die Prozedur ist eigentlich ganz einfach. Zunächst ordnen
Sie die Dinge in verschiedene Gruppen. Natürlich kann, je
Ebenen der Informationsverarbeitung nachdem, wie viel es zu tun gibt, ein Haufen genügen. …
Nachdem der Vorgang abgeschlossen ist, ordnen Sie die
? 9.8 Welche Informationsverarbeitungsebenen gibt es und
Dinge wieder in verschiedene Gruppen. Anschließend kön-
wie beeinflussen sie die Enkodierung?
nen sie an dem für sie vorgesehenen Ort abgelegt werden.
Gedächtnisforscher haben herausgefunden, dass wir verbale Nach einiger Zeit werden sie dann wieder verwendet, und
Informationen auf unterschiedlichen Ebenen verarbeiten und der ganze Zyklus beginnt von vorne. Aber das ist ein Teil des
dass die Tiefe der Verarbeitung unsere Langzeiterinnerung be- Lebens.
9.2 · Enkodieren: Erinnerungen herstellen
337 9

. Abb. 9.11 Verarbeitungsniveaus. Die tiefgehende Verarbeitung eines Wortes aufgrund seiner Bedeutung (semantische Enkodierung) sorgt zu einem
späteren Zeitpunkt für eine bessere Wiedererkennung als die oberflächlichere Verarbeitung durch Merken des äußeren Erscheinungsbildes oder des Klanges.
(Aus Craik u. Tulving 1975, mit freundlicher Genehmigung der American Psychological Association)

Wenn die Studierenden den Textabschnitt, den Sie eben gelesen strengung erforderte. Oder wie es der Gedächtnisforscher Wayne
haben, ohne sinnvollen Kontext hörten, erinnerten sie sich später Wickelgren (1977, S. 346) ausdrückte: »Die Zeit, die Sie mit
nur an wenig. Wenn ihnen aber mitgeteilt wurde, dass es bei Nachdenken über das, was Sie lesen, und damit zubringen, es
diesem Text ums Wäschewaschen ging (etwas, das dem Text eine mit dem früher gespeicherten Material in Beziehung zu setzen,
Bedeutung gab), erinnerten sie sich an sehr viel mehr – Ihnen ist praktisch das Nützlichste, was Sie für das Lernen von neuen
ginge es wahrscheinlich nach nochmaligem Lesen ähnlich. Themen tun können.«
Das Psychologen- und Schauspielerpaar Helga und Tony
Hier ist ein weiterer Satz, nach dem ich Sie später fragen werde:
Noice (2006) hat dargestellt, wie Schauspieler der mühseligen
Der Fisch griff den Schwimmer an.
Aufgabe, »all diese Zeilen« zu lernen, Bedeutung verleihen. Es
Können Sie den Satz über den Randalierer vom Anfang dieses gelingt ihnen, indem sie zuerst ein Verständnis für den Bedeu-
Kapitels noch einmal wiederholen? (»Der wütende Randalierer tungsfluss entwickeln: »Ein Schauspieler unterteilte einen halb-
warf…«) Vielleicht erinnern Sie sich an den Satz wie die Versuchs- seitigen Dialog in drei [Absichten]: ›ihm schmeicheln‹, ›ihn aus
teilnehmer im Experiment von William Brewer (1977) aufgrund der Reserve locken‹, und ›seine Bedenken zerstreuen‹.« Mit
der Bedeutung, die Sie beim Lesen enkodiert haben (z. B. »Der dieser sinnvollen Sequenz im Hinterkopf konnte er sich die Verse
wütende Randalierer warf den Stein durch das Fenster«), und leichter behalten.
nicht aufgrund des tatsächlichen Wortlauts (»Der wütende Ganz besonders gut können wir uns an Dinge erinnern, die
Randalierer warf den Stein gegen das Fenster«). Mit Blick auf einen persönlichen Bezug zu uns selbst haben. Wenn wir gefragt
solche mentalen Fehlleistungen verglichen Gordon Bower und werden, wie gut bestimmte Adjektive einen anderen Menschen
Daniel Morrow (1990) unser Denken mit einem Theater- beschreiben, vergessen wir diese Adjektive oft wieder. Werden
intendanten, dem ein Manuskript in die Hand gedrückt wird und wir hingegen gefragt, wie gut diese Adjektive zu uns selbst pas-
der vor seinem geistigen Auge sofort die fertige Bühnen- sen, erinnern wir uns später gut an die Wörter. Dieses Phänomen,
produktion sieht. Wenn wir später gefragt werden, was wir ge- das Selbstbezugseffekt genannt wird, tritt besonders stark bei Mit-
hört oder gelesen haben, erinnern wir uns nicht an den wört- gliedern individualistischer westlicher Kulturen auf (Symons u.
lichen Text, sondern an das, was wir enkodiert haben. Beim Johnson 1997; Wagar u. Cohen 2003). Informationen, die wir als
Lernen für eine Prüfung erinnern Sie sich möglicherweise besser »für uns persönlich wichtig« einschätzen, werden tiefer verarbei-
an Ihre eigenen Mitschriften aus der Vorlesung als an die Vor- tet und bleiben damit besser zugänglich. Also profitieren Sie da-
lesung selbst. von, wenn Sie sich Zeit nehmen, eine persönliche Bedeutung in
Wir können einige dieser Fehler vermeiden, indem wir das, dem zu finden, was Sie gerade lernen.
was wir sehen und hören, in bedeutungsvollen Begriffen refor- Fazit: Die Menge des Erinnerten hängt sowohl von der Zeit
mulieren. Aufgrund seiner Selbsttests kam Ebbinghaus (1850– ab, die man mit dem Lernen verbringt, als auch davon, dass wir
1909) zu dem Schluss, dass im Vergleich zum Lernen von sinn- den Inhalten Bedeutung verleihen und sie damit tiefer ver-
losem das Erlernen von sinnvollem Stoff ein Zehntel der An- arbeiten.
338 Kapitel 9 · Gedächtnis

Prüfen Sie Ihr Wissen 9.3.1 Das Behalten von Informationen

5 Wo liegt der Unterschied zwischen automatischer Über meine alternde Schwiegermutter, eine ehemalige Pianis-
und bewusster Verarbeitung, und welche Beispiele gibt tin und Organistin, konnte ich nur staunen. Im Alter von
es für die jeweilige Verarbeitungsart? 88 Jahren war sie blind und konnte keine Noten mehr lesen.
5 Auf welcher der drei Stufen im Modell von Atkinson Doch kaum saß sie vor einem Tasteninstrument, spielte sie
und Shiffrin würden sich ikonische und echoische Erinne- fehlerlos jedes beliebige aus Hunderten von Kirchenliedern, da-
rungen ereignen? runter auch solche, an die sie 20 Jahre lang nicht gedacht hatte.
5 Welche Strategien sind für das langfristige Behalten Wo hatte ihr Gehirn diese Tausenden von Notensequenzen ge-
geeigneter: Material massiert üben und nochmal lesen speichert?
oder das Lernen über die Zeit verteilen und sich wieder- Manche Gedächtnisforscher und Chirurgen glaubten eine
holt selbst testen? Zeit lang, dass das, was wie lebhafte Erinnerungen aussah und
5 Verarbeiten Sie Lerninhalte beim Versuch, ihnen eine scheinbar durch die Stimulierung des Gehirns während eines
persönliche Bedeutung zu geben, auf einer ober- chirurgischen Eingriffs entstand, ein Nachweis dafür sein könnte,
flächlichen oder tieferen Ebene? Welche Ebene führt zur dass unsere gesamte Vergangenheit – nicht nur gut eingeübte
besseren Behaltensleistung? Musik – mit allen Einzelheiten »da drin« stecke und nur darauf
warte, wieder abgespielt zu werden. Aber bei einer näheren Ana-
lyse entpuppten sich diese scheinbaren »Flashbacks« als erfunden,
9 nicht wiederholt (Loftus u. Loftus 1980). Der Psychologe Karl
9.3 Speichern: Erinnerungen ablegen Lashley (1950) lieferte ferner Belege dafür, dass Erinnerungen
nicht an einer einzelnen, spezifischen Stelle lokalisiert sind. Er
trainierte Ratten darauf, den Weg durch ein Labyrinth zu finden.
? 9.9 Wie groß ist die Kapazität des Langzeitgedächtnisses
Dann schnitt er chirurgisch Teile ihres Kortex heraus und prüfte
und wo ist es lokalisiert?
die Erinnerung der Ratten. Doch ganz gleich, welche feinen Aus-
In Arthur Conan Doyles Roman Eine Studie in Scharlachrot schnitte er aus dem Kortex machte, die Ratten hatten immer
vertritt Sherlock Holmes eine weit verbreitete Theorie über die noch zumindest teilweise eine Erinnerung daran, wie sie durch
Kapazität des Gedächtnisses: das Labyrinth laufen mussten.
Fazit: Trotz der riesigen Speicherkapazität des Gehirns spei-
» Ich schätze, das menschliche Gehirn ist ursprünglich so
chern wir Informationen nicht so wie Bibliotheken ihre Bücher
etwas Ähnliches wie eine kleine leere Dachkammer, die man
aufbewahren, an diskreten, genauen Orten. Stattdessen inter-
nach eigener Wahl mit Möbeln einrichten muss. … Man
agieren viele Teile des Gehirns miteinander, wenn wir die Infor-
sollte nicht den Irrtum begehen, zu glauben, dieser kleine
mationen enkodieren, speichern und wieder abrufen, die unsere
Raum habe Gummiwände und ließe sich beliebig aus-
Erinnerungen ausmachen.
dehnen. Glauben Sie mir: Der Zeitpunkt kommt, wo Sie für
jeden weiteren Wissensbrocken, den Sie erwerben, etwas
Das explizite Gedächtnissystem: Frontallappen
vergessen, was Sie vorher wussten.
und Hippocampus
Aber im Gegensatz zu Holmes‘ »Gedächtnismodell« ist unsere
? 9.10 Welche Rolle spielen der Frontallappen und der Hippo-
Speicherkapazität für Langzeiterinnerungen quasi unbegrenzt.
campus beim Speichern von Erinnerungen?
Unser Gehirn ist keine Dachkammer, auf der man irgendwann
nur noch etwas Neues unterbringen kann, wenn man vorher So wie es auch bei Wahrnehmung, Sprache, Emotionen und
etwas Altes wegwirft. noch einigem mehr der Fall ist, erfordert das Gedächtnis Netz-
werke im Gehirn. Das Netzwerk, das Ihre expliziten Erinnerun-
» Unser Gedächtnis ist flexibel, Erinnerungen lassen sich
gen verarbeitet und speichert, umfasst Ihre Frontallappen
überschreiben. Unser Gedächtnis ist wie eine Panoramatafel
und den Hippocampus. Wenn Sie die mentale Wiederholung
mit unerschöpflichen Vorräten an Kreide und Wischlappen.
eines vergangenen Erlebnisses in Gang setzen, senden viele
Elizabeth Loftus und Katherine Ketcham, The Myth of
Hirnregionen Informationen, die zur Verarbeitung im Ar-
Repressed Memory, 1994
beitsgedächtnis bestimmt sind, an die Frontallappen (Fink et al.
1996; Gabrieli et al. 1996; Markowitsch 1995). Die linke und
die rechte Hälfte des Frontallappens verarbeiten dabei jeweils
verschiedene Arten von Erinnerungen. Sich an ein Passwort
zu erinnern und es im Arbeitsgedächtnis festzuhalten würde
z. B. den linken Frontallappen aktivieren. Sich eine visuelle Party-
9.3 · Speichern: Erinnerungen ablegen
339 9

. Abb. 9.12 Hippocampus. Explizite Erinnerungen an Fakten und Ereig-


nisse werden im Hippocampus verarbeitet und zur Speicherung an andere
Hirnareale weitergeleitet

szene vorzustellen würde eher den rechten Frontallappen akti-


vieren.
Kognitive Neurowissenschaftler haben herausgefunden, . Abb. 9.13 Der Held des Hippocampus. Bei den Tieren wäre der An-
wärter auf das beste Erinnerungsvermögen ein simples Vogelhirn:
dass der Hippocampus, ein neuronales Zentrum des limbischen
der nordamerikanische Tannenhäher, der im Winter und im Frühjahr bis
Systems im Temporallappen, das Äquivalent des Gehirns zu zu 6000 Verstecke mit Kiefernsamen, die er vorher dort vergraben hat,
einer »Speichern«-Taste für explizite Erinnerungen darstellt wieder auffinden kann (Shettleworth 1993; © photos.com)
(. Abb. 9.12; Anderson et al. 2007). Gehirnscans, wie beispiels-
weise PET-Aufnahmen von Personen, die Wörter reproduzieren,
und die Autopsie von Verstorbenen, die an Amnesie litten, haben Erinnerungen bleiben nicht permanent im Hippocampus
gezeigt, dass neue explizite Erinnerungen an Namen, Bilder oder gespeichert. Stattdessen scheint diese Struktur als eine Art Lade-
Ereignisse via Hippocampus im Gedächtnis verfestigt werden station zu fungieren, in der das Gehirn die Elemente einer er-
(Squire 1992). innerten Episode registriert und zeitweise speichert: die damit
verbundenen Gerüche, Empfindungen, Geräusche und den
Hippocampus (»hippocampus«) – neuronales Zentrum im limbischen
System, das an der Verarbeitung expliziter Erinnerungen für die endgültige Ort. Doch später kommen die Erinnerungen – so ähnlich wie
Speicherung beteiligt ist. ältere Ordner in den Keller gebracht werden – zur Speicherung
an eine andere Stelle. Wenn man einer Ratte 3 Stunden, nach-
Läsionen dieser Struktur unterbrechen deshalb den Wiederabruf dem sie das Versteck von appetitlicher neuer Nahrung gelernt
expliziter Erinnerungen. Meisen und andere Vogelarten legen hat, den Hippocampus entfernt, unterbricht das diesen Vor-
Hunderte von Vorratsplätzen für Futter an und kehren Monate gang und verhindert die Bildung von Langzeiterinnerungen; die
später zu diesen unmarkierten Verstecken zurück – allerdings gleiche Operation 48 Stunden später hat keinen solchen Effekt
tun sie das nicht, wenn ihnen der Hippocampus entfernt wurde (Tse et al. 2007).
(Kamil u. Cheng 2001; Sherry u. Vaccarino 1989; . Abb. 9.13). Schlafen fördert die Konsolidierung des Gedächtnisses.
Mit Schäden des linken Hippocampus haben Menschen Schwie- Denn im Tiefschlaf verarbeitet der Hippocampus Erinne-
rigkeiten, verbale Informationen zu erinnern, doch haben sie rungen für den späteren Wiederabruf. Je größer nach einer
keine Probleme mit der Erinnerung an visuelle Strukturen oder Trainingserfahrung die Aktivität des Hippocampus während
an Orte. Bei einer Verletzung des rechten Hippocampus liegt des Schlafs ist, desto besser ist am nächsten Tag die Erinnerung
genau das umgekehrte Problem vor (Schacter 1996). daran (Peigneux et al. 2004). Forscher konnten beobachten, dass
Unterregionen des Hippocampus erfüllen ebenso verschie- der Hippocampus und der Kortex simultane Aktivitätsrhyth-
dene Funktionen. Ein Teil ist dann aktiv, wenn Menschen lernen, men während des Schlafs zeigen, als führten sie einen Dialog
Namen mit Gesichtern zu assoziieren (Zeineh et al. 2003). Ein (Euston et al. 2007; Mehta 2007). Man vermutet, dass das Ge-
anderer Teil ist aktiv, wenn Gedächtniskünstler räumliche hirn die Erlebnisse des Tages wieder abspielt, während es sie
Mnemotechniken verwenden (Maguire et al. 2003b). Bei einem für das langfristige Behalten in den Kortex überführt. Korti-
Londoner Taxifahrer wird das hintere Areal, das räumliche Erin- kale Areale um den Hippocampus unterstützen die Verarbei-
nerungen verarbeitet, größer, je länger er durch das Labyrinth tung und Speicherung expliziter Erinnerungen (Squire u. Zola-
der Straßen gefahren ist (Maguire et al. 2003a). Morgan 1991).
340 Kapitel 9 · Gedächtnis

Das implizite Gedächtnissystem: Zerebellum


und Basalganglien

? 9.11 Welche Rolle spielen das Zerebellum und die Basal-


ganglien bei unseren Gedächtnisprozessen?

Ihr Hippocampus und die Frontallappen sind Verarbeitungsorte


für Ihre expliziten Erinnerungen. Doch selbst wenn Sie diese
Areale verlieren würden, könnten Sie dennoch, dank auto-
matischer Verarbeitung, implizite Erinnerungen an Fertigkeiten
und konditionierte Assoziationen speichern. Joseph LeDoux
(1996) erzählte die Geschichte über eine Patientin mit einer
Hirnverletzung, deren Amnesie bewirkte, dass sie ihren Arzt
nicht erkannte, der ihr tagtäglich die Hand schüttelte und sich
vorstellte. Eines Tages zog sie ihre Hand hastig zurück, denn der
Arzt hatte sie mit einer Reißzwecke gepiekst, die in seiner Hand-
. Abb. 9.14 Zerebellum (Kleinhirn). Das Zerebellum oder Kleinhirn spielt
fläche verborgen war. Als er sich beim nächsten Besuch wieder eine wichtige Rolle beim Bilden und Speichern impliziter Erinnerungen
vorstellen wollte, weigerte sie sich, seine Hand zu ergreifen,
konnte allerdings nicht erklären, warum. Nach dieser klassischen
9 Konditionierung konnte sie seine Hand einfach nicht mehr faktoren tragen zur Kindheitsamnesie bei: Erstens speichern wir
schütteln. viele unserer expliziten Erinnerungen in Wörtern, die ein Kind
Das Zerebellum oder Kleinhirn spielt eine Schlüsselrolle bei in der vorsprachlichen Phase noch nicht gelernt hat, und zwei-
der Bildung und Speicherung impliziter Erinnerungen, die durch tens ist der Hippocampus erst als eine der letzten Hirnstrukturen
klassische Konditionierung geschaffen wurden. Menschen mit voll ausgereift.
einer Verletzung des Zerebellums sind außerstande, bestimmte
Prüfen Sie Ihr Wissen
konditionierte Reflexe zu entwickeln, wie etwa einen Ton mit
einem bevorstehenden Luftstoß zu assoziieren und somit in Vor- 5 Welche Areale des Gehirns sind grundlegend für die
wegnahme des Luftstoßes zu blinzeln (Daum u. Schugens 1996; Verarbeitung von impliziten Erinnerungen, und welche
Green u. Woodruff-Pak 2000). Als Forscher die Funktionsfähig- Bereiche spielen eine Schlüsselrolle bei der Verarbeitung
keit verschiedener Nervenbahnen im Zerebellum von Kanin- expliziter Erinnerungen?
chen systematisch unterbrachen, konnten die Kaninchen eine 5 Ein Freund von Ihnen hat nach einem Unfall einen
konditionierte Blinzelreaktion nicht mehr erlernen (Krupa et al. Hirnschaden erlitten. Er kann sich daran erinnern, wie
1993; Steinmetz 1999). Zur Bildung einer impliziten Erinnerung man sich die Schuhe zubindet, hat aber große Schwierig-
ist das Zerebellum erforderlich (. Abb. 9.14). keiten, sich an irgendetwas zu erinnern, was man
Die Basalganglien, tiefliegende Hirnstrukturen, die an moto- ihm in einem Gespräch erzählt hat. Was hat das zu be-
rischen Bewegungen beteiligt sind, fördern die Bildung unserer deuten?
prozeduralen Erinnerungen an Fertigkeiten (Mishkin 1982;
Mishkin et al. 1997). Die Basalganglien erhalten Eingaben aus
dem Kortex, aber erwidern diesen Gefallen nicht durch Rück-
sendung von Informationen zum Kortex, um bewusste Wahr- 9.3.2 Amygdala, Emotionen und Gedächtnis
nehmung von prozeduralem Lernen zu ermöglichen. Wenn Sie
gelernt haben, Fahrrad zu fahren, danken Sie Ihren Basal-
? 9.12 Wie beeinflussen Emotionen unsere Verarbeitung von
ganglien.
Erinnerungen?
Unser implizites Gedächtnissystem, das uns durch Zerebel-
lum und Basalganglien ermöglicht wird, kann auch erklären, Unsere Emotionen setzen Stresshormone frei, die die Bildung
warum die Reaktionen und Fertigkeiten, die wir in der Kindheit des Gedächtnisses beeinflussen. Wenn wir erregt oder gestresst
gelernt haben, weit in unsere Zukunft reichen. Doch als Erwach- sind, führen diese Hormone dazu, dass mehr Energie in Form von
sene erinnern wir uns auf bewusste Weise an nichts aus den ersten Glukose verfügbar ist, um die Hirnaktivität zu beschleunigen;
3 Lebensjahren, ein Phänomen, das Kindheitsamnesie genannt dies signalisiert dem Gehirn, dass etwas Wichtiges geschehen ist.
wird. In einer Studie konnten sich Kinder an Ereignisse, die sie Darüber hinaus provozieren Stresshormone die Amygdalae (zwei
im Alter von 3 Jahren erlebt und mit ihren Müttern besprochen Verarbeitungscluster für Emotionen im limbischen System), eine
hatten, zu 60% im Alter von 7 Jahren erinnern, aber nur noch zu Gedächtnisspur in den Frontallappen und Basalganglien anzu-
34% im Alter von 9 Jahren (Bauer et al. 2007). Zwei Einfluss- legen und die Aktivität der Hirnareale, die das Gedächtnis bilden,
9.3 · Speichern: Erinnerungen ablegen
341 9
erwachsenen Amerikaner an, sie könnten sich exakt daran er-
innern, wo sie gewesen seien und was sie getan hätten, als sie zum
ersten Mal die Nachricht vom Terroranschlag am 11. September
hörten. Diese wahrgenommene Klarheit der Erinnerungen an
überraschende, einschneidende Ereignisse hat einige Psycholo-
gen dazu gebracht, in diesem Fall von »flashbulb memories«
(Blitzlichterinnerungen) zu sprechen. Es ist, als gäbe das Gehirn
den Befehl: »Halte das jetzt fest!«
Blitzlichterinnerungen (»flashbulb memories«) – sehr klare Erinnerungen
an emotional bedeutsame Momente oder Ereignisse.

Die Menschen, die das Erdbeben von San Francisco 1989 mit-
erlebt haben, taten offenbar genau das. 1½ Jahre später erinner-
. Abb. 9.15 Überblick über für das Gedächtnis bedeutsame Gehirnstruk- ten sie sich perfekt daran, wo sie sich zu diesem Zeitpunkt aufge-
turen. Frontallappen und Hippocampus: Bildung expliziter Erinnerungen. halten hatten und womit sie gerade beschäftigt gewesen waren
Zerebellum und Basalganglien: Bildung impliziter Erinnerungen. Amygdala:
(bestätigt durch die Angaben, die sie 1–2 Tage nach dem Beben
Bildung emotionsbezogener Erinnerungen
auf Band gesprochen hatten). Die Erinnerung anderer Menschen
an die Umstände, unter denen sie bloß von dem Beben gehört
zu erhöhen (Buchanan 2007; Kensinger 2007). Und das Ergebnis? hatten, enthielt dagegen durchaus Irrtümer (Neisser et al. 1991;
Bestimmte Ereignisse können durch emotionale Erregung dem Palmer et al. 1991).
Gehirn quasi fest eingeprägt werden, während gleichzeitig die
Was ist wichtiger – Ihre Erfahrungen oder Ihre Erinnerungen
Erinnerung an neutrale Ereignisse unterbrochen wird (Birnbaum
an sie?
et al. 2004; Brewin et al. 2007; . Abb. 9.15).
Emotionen halten sich oft hartnäckig, ohne dass wir uns be- Unsere Blitzlichterinnerungen sind aufgrund ihrer Lebendigkeit
wusst daran erinnern, was sie ausgelöst hat. In einem besonders und der hohen subjektiven Sicherheit, mit der wir uns an sie er-
raffinierten Experiment sahen Patienten mit Schäden des Hippo- innern, bemerkenswert. Allerdings können uns auch diese Er-
campus (durch die sie keine neuen expliziten Erinnerungen bil- innerungen täuschen, nachdem wir sie wieder durchlebt, wieder-
den konnten) einen traurigen Film und später einen lustigen holt und mit anderen diskutiert haben und Fehlinformationen
Film. Anschließend konnten sie sich nicht bewusst an den je- einsickern (Conway et al. 2009; Talarico et al. 2003; Talarico u.
weiligen Film erinnern, aber das traurige oder fröhliche Gefühl Rubin 2007).
hielt noch an (Feinstein et al. 2010).
Äußerst belastende Ereignisse rufen manchmal fast un-
auslöschliche Erinnerungen hervor. Nach traumatischen Erleb- 9.3.3 Synaptische Veränderungen
nissen – ein Angriff aus dem Hinterhalt im Krieg, ein Feuer im
Haus, eine Vergewaltigung – können sich lebendige Erinnerun-
? 9.13 Wie wirken sich Veränderungen auf der Ebene der
gen an das grauenhafte Ereignis immer wieder aufdrängen. Es ist
Synapsen auf die Verarbeitung von Erinnerungen aus?
so, als hätten sie sich eingebrannt: »Stärkere emotionale Erfah-
rungen führen zu stärkeren, zuverlässigeren Erinnerungen«, be- Während Sie dieses Kapitel lesen, über die Merkmale und Pro-
merkte James McGaugh (1994, 2003). Dahinter steht eine adap- zesse des Gedächtnisses nachdenken und etwas lernen, ver-
tive Bedeutung. Emotionen haben die Aufgabe, die Zukunft ändert sich Ihr Gehirn. Durch erhöhte Aktivität auf bestimmten
vorherzusagen und uns über potenzielle Gefahren zu alarmieren. Pfaden entstehen und verstärken sich neuronale Zwischenver-
Umgekehrt gehen schwächere Emotionen auch mit schwächeren bindungen (7 Kap. 5).
Erinnerungen einher. Verabreicht man einem Menschen ein Der Versuch, die physiologische Basis des Gedächtnisses –
Medikament, das die Wirkung der Stresshormone ausschaltet, wie Informationen in Hirnmaterie eingebettet werden – zu ver-
hat er anschließend Schwierigkeiten, die Einzelheiten einer auf- stehen, hat das Studium der synaptischen »Treffpunkte« ange-
regenden Geschichte wiederzugeben (Cahill 1994). regt, wo Neuronen durch Boten in Form ihrer Neurotransmitter
Die hormonellen Veränderungen, die durch Emotionen miteinander kommunizieren. Eric Kandel und James Schwartz
ausgelöst werden, sind eine Erklärung dafür, dass wir uns lange (1982) beobachteten synaptische Modifikationen durch Lern-
an aufregende Ereignisse, wie unseren ersten Kuss, oder an vorgänge an den präsynaptischen Neuronen der kalifornischen
schockierende Momente erinnern, wie die Umstände, unter Meeresschnecke Aplysia, einem sehr unkomplizierten Geschöpf.
denen wir vom Tod eines geliebten Menschen erfahren haben. Sie verfügt nur über etwa 20.000 Nervenzellen, doch diese
In einer 2006 durchgeführten Meinungsumfrage gaben 95% der sind ungewöhnlich groß und leicht zugänglich (. Abb. 9.16). In
342 Kapitel 9 · Gedächtnis

. Abb. 9.16 Aplysia. Dieser kalifornischen Meeresschnecke, die der


Neurowissenschaftler Eric Kandel 45 Jahre lang studiert hat, verdanken wir
wichtige Erkenntnisse über die neuronale Basis von Lernprozessen.
(© David Wrobel / OKAPIA / picture-alliance)

9 7 Kap. 8 wurde erwähnt, wie die Meeresschnecke (durch Elek-


troschocks) klassisch darauf konditioniert werden kann, ihre
Kiemen zurückzuziehen, wenn sie mit Wasser bespritzt wird, so
wie ein Soldat, der einen Schock durch Granateneinschlag er-
litten hat, schon beim Knacken eines Astes hochspringt. Indem
sie die neuronalen Verbindungen vor und nach dem Konditio-
nierungsprozess beobachteten, zeichneten Kandel und Schwartz
. Abb. 9.17a,b Verdoppelter Rezeptor. Das Bild eines Elektronenmikros-
Veränderungen auf. Im Verlauf des Lernvorgangs schüttet die kops zeigt, wie sich vor der Langzeitpotenzierung nur ein Rezeptor (grau)
Schnecke an manchen Synapsen mehr von dem Neurotrans- zum aussendenden Neuron hin streckt (a), während es nach der Langzeit-
mitter Serotonin aus. Dadurch werden diese Synapsen bei der potenzierung (b) zwei Rezeptoren sind. Das bedeutet, dass das postsynap-
tische Neuron eine stärker ausgeprägte Sensibilität entwickelt hat, um das
Weiterleitung der Signale effizienter.
Vorhandensein der Neurotransmittermoleküle zu entdecken, die vom

» In diesem (neuen) Jahrhundert wird die Biologie des Geistes präsynaptischen Neuron freigesetzt werden können. (Aus Toni et al. 1999;
reprinted by permission from Macmillan Publishers Ltd: Nature, copyright
für die Wissenschaft die gleiche Bedeutung bekommen wie
© 1999; mit freundlicher Genehmigung von Dominique Muller)
die Biologie der Gene im 20. Jahrhundert.
Eric Kandel, Rede anlässlich der Verleihung des Nobelpreises
2000
4 Wenn man Ratten ein Medikament verabreicht, das die LTP
Bei Experimenten mit menschlichen Versuchsteilnehmern zeigte verstärkt, dann lernen sie den Weg durch ein Labyrinth mit
sich, dass die rasche Stimulierung gewisser Verbindungen in nur halb so vielen Fehlern wie sonst üblich (Service 1994).
Gedächtnisschaltkreisen zu einer erhöhten Empfindlichkeit führt, 4 Injiziert man Ratten eine Chemikalie, die die Beständigkeit
die Stunden oder sogar Wochen anhalten kann. Das präsynap- der LTP blockiert, wird kürzlich Gelerntes gelöscht (Pastal-
tische Neuron braucht nun weniger Anreiz für die Ausschüttung kova et al. 2006).
seines Neurotransmitters, und zwischen den Neuronen entstehen
Langzeitpotenzierung (LTP; »long-term potentiation«) – Zunahme des
mehr Verbindungen (. Abb. 9.17). Diese erhöhte Effizienz des Potenzials einer Synapse, nach einer kurzen, schnellen Stimulierung feuern
potenziellen Feuerns von Neuronen, Langzeitpotenzierung (LTP , zu können. Man nimmt an, dass dies eine neuronale Grundlage für Lernen
»long-term potentiation«) genannt, stellt die neuronale Grundlage und Gedächtnis ist.
des Lernens und Behaltens von Assoziationen dar (Lynch 2002;
Whitlock et al. 2006). Es liegt Evidenz in mehrfacher Hinsicht vor, Ist es erst einmal zur LTP gekommen, kann auch ein Stromstoß,
dass LTP eine physiologische Basis des Gedächtnisses ist: der durch das Gehirn geleitet wird, alte Erinnerungen nicht aus-
4 Medikamente, die eine blockierende Wirkung auf die LTP löschen, wohl aber die vor sehr kurzer Zeit gebildeten Erinnerun-
haben, stören Lernvorgänge (Lynch u. Staubli 1991). gen. Das sind jedenfalls die Ergebnisse, die man bei Versuchen mit
4 Genveränderte Mäuse, denen ein bestimmtes, für die LTP Labortieren und bei Patienten mit schwerer Depression fand, die
notwendiges Enzym abgezüchtet wurde, lernen nicht, den mit Elektrokrampftherapie (EKT) behandelt wurden (7 Kap. 17).
Weg aus einem Labyrinth zu finden (Silva et al. 1992). Ein Schlag auf den Kopf kann die gleiche Wirkung haben.
9.3 · Speichern: Erinnerungen ablegen
343 9

. Abb. 9.18 Unsere beiden Gedächtnissysteme

Boxer und Footballspieler, die vorübergehend k. o. waren, tische Erfahrung gemacht haben und bereitwillig etwas einneh-
haben im typischen Fall keine Erinnerung an Ereignisse direkt men würden, um eindringliche Erinnerungen daran abzuschwä-
vor dem K. o. (Yarnell u. Lynch 1970). Den Informationen im chen. Bei Mäusen hat das Blockieren von CREB-produzierenden
Kurzzeitgedächtnis blieb nicht genug Zeit, um im Langzeit- Neuronen der Amygdalae eine auditorische Angsterinnerung
gedächtnis konsolidiert zu werden, bevor sie das Bewusstsein permanent ausgelöscht (Han et al. 2009). In einem anderen Ex-
für ihre Umgebung verloren. periment erhielten Opfer von Autounfällen, Vergewaltigungen
Einige Gedächtnisbiologen haben zur Gründung von Unter- und anderen Traumata für 10 Tage nach ihrer grauenhaften Er-
nehmen beigetragen, die miteinander konkurrieren, um Medika- fahrung entweder ein solches Medikament, Propranolol, oder ein
mente zu einer Modifizierung des Gedächtnisses zu entwickeln. Placebo. Bei einem Test 3 Monate später zeigte die Hälfte der
Die Zielgruppe für Medikamente, die das Gedächtnis verbessern Placebogruppe, aber niemand aus der medikamentös behandel-
sollen, sind Millionen von Patienten mit der Alzheimer-Krankheit, ten Gruppe Symptome einer Belastungsstörung (Pitman et al.
Millionen von Menschen mit leichten kognitiven Einbußen, die oft 2002, 2005).
eine Vorstufe der Alzheimer-Erkrankung sind, und viele weitere
Wenn Sie ein traumatisches Erlebnis gehabt hätten, würden
Millionen, die gerne in Bezug auf den altersbedingten Gedächtnis-
Sie ein Medikament nehmen wollen, um Ihre Erinnerungen daran
abbau die Uhr zurückdrehen würden. Aus dem Geschäft mit opti-
auszulöschen?
mierten Erinnerungen könnten sich riesige Gewinne ergeben.
Ein Ansatz zur Gedächtnisverbesserung besteht darin, Medi- Werden wir zu Lebzeiten jemals Zugang zu sicheren und legalen
kamente zu erzeugen, die die Wirkung des LTP-verstärkenden Medikamenten haben, die unsere schnell verblassenden Erinne-
Neurotransmitters Glutamat erhöhen. Ein weiterer Ansatz bein- rungen verstärken, ohne riskante Nebenwirkungen zu haben
haltet die Entwicklung von Medikamenten, die die Produktion oder unser Denken mit trivialen Dingen zu überladen, die wir
von CREB antreiben, eines Proteins, das ebenso den Prozess der besser vergessen hätten? Das bleibt abzuwarten. In der Zwischen-
LTP verstärkt (Fields 2005). Wenn die CREB-Produktion an- zeit gibt es für Studierende bereits ein wirksames, sicheres und
steigt, könnte dies zu einer verstärkten Produktion von anderen frei erhältliches Mittel zur Verbesserung des Gedächtnisses: mit
Proteinen führen, die ihrerseits dazu beitragen, dass Synapsen effektiven Strategien studieren und ausreichend schlafen! (Sie
eine neue Form annehmen und eine Kurzzeiterinnerung in eine finden Tipps zum Lernen in 7 Kap. 1 und mehr zum Thema
Langzeiterinnerung umgewandelt wird. Meeresschnecken, Schlaf in 7 Kap. 4.)
Mäuse und Fruchtfliegen mit verstärkter CREB-Produktion . Abb. 9.18 fasst das Enkodieren sowohl impliziter (automa-
wiesen jedenfalls ein besseres Lernvermögen auf. tischer) als auch expliziter (bewusster) Erinnerungen noch ein-
Andere Menschen hoffen auf Medikamente, die Erinnerun- mal zusammen und zeigt, wie das Gehirn Erinnerungen in seiner
gen blockieren. Zu ihnen gehören diejenigen, die eine trauma- zweigleisigen Organisationsstruktur speichert.
344 Kapitel 9 · Gedächtnis

Prüfen Sie Ihr Wissen messen. Lange nachdem Sie die Erinnerungen an die meisten
Ihrer Klassenkameraden aus der Abschlussklasse nicht mehr frei
5 Welches Gehirnareal antwortet auf Stresshormone, reproduzieren können, sollten Sie noch in der Lage sein, sie auf
indem es zur Herausbildung von stärkeren Erinnerungen Klassenfotos wiederzuerkennen und die richtigen Namen aus
beiträgt? einer Liste auszuwählen. In einem Experiment zeigte sich, dass
5 Die neuronale Basis für Lernen und Gedächtnis, die Leute, die 25 Jahre zuvor das College abgeschlossen hatten, sich
an den synaptischen Verbindungen in Gedächtnisschalt- nur an wenige ihrer damaligen Kameraden erinnern konnten;
kreisen entdeckt wurde und aus kurzer, schneller doch konnten sie 90% der Fotos und der Namen wiedererkennen
Stimulation resultiert, nennt sich . (Bahrick et al. 1975; . Abb. 9.19). Wenn es sich bei Ihnen so
verhält wie bei den meisten Studierenden, dann könnte es auch
sein, dass Sie von den 7 Zwergen mehr Namen wiedererkennen
als frei reproduzieren könnten (Miserandino 1991).
9.4 Abrufen: Informationen wieder hervorholen Beim Wiedererkennen ist unser Gedächtnis erstaunlich flink
und umfangreich. »Trägt Ihr Freund alte oder neue Sachen?«
Nach der Zauberkunst des Enkodierens und Speicherns von Er- »Alte.« »Stammt dieser 5-Sekunden-Clip aus einem Film, den Sie
innerungen im Gehirn haben wir immer noch die ungeheure mal gesehen haben?« »Ja.« »Haben Sie diesen Menschen – diese
Aufgabe vor uns, diese Informationen wieder abzurufen. Was geringfügige Variation der bekannten menschlichen Gesichts-
löst das Wiedererinnern aus? Wie erforschen Psychologen dieses züge (zwei Augen, Nase und so weiter) – schon einmal gesehen?«
9 Phänomen? »Nein.« Ehe der Mund die Antwort auf diese und Millionen
ähnlicher Fragen formulieren kann, weiß das Gehirn bereits Be-
scheid und weiß, dass es etwas weiß.
9.4.1 Messung der Behaltensleistung Unsere Geschwindigkeit beim erneuten Lernen zeugt ebenso
von unserem Gedächtnis. Hermann Ebbinghaus hat dies vor
über einem Jahrhundert in seinen Lernexperimenten mit sinn-
? 9.14 Auf welche drei verschiedenen Arten kann die Be-
losen Silben demonstriert. Er wählte zufällig eine Stichprobe
haltensleistung gemessen werden?
dieser Silben aus, übte sie ein und testete sich anschließend selbst.
In einem früheren Abschnitt dieses Kapitels haben wir fest- Um ein Gefühl dafür zu bekommen, wie Ebbinghaus vorging,
gestellt, dass freie Reproduktion, Wiedererkennen und die Ge- lesen Sie laut und relativ schnell 8-mal hintereinander folgende
schwindigkeit des erneuten Lernens drei Möglichkeiten sind, mit Liste (aus Baddeley 1982). Schauen Sie dann weg und versuchen
denen Psychologen die Behaltensleistung des Gedächtnisses Sie, sich an die Items zu erinnern:

. Abb. 9.19a,b Sich an Vergangenes erinnern. Auch wenn Madonna und Brad Pitt nicht berühmt geworden wären, würden ihre Klassenkameraden
aus der High School sie mit großer Wahrscheinlichkeit auf den Fotos ihres Jahrbuchs wiedererkennen. (Mit freundlicher Genehmigung von Seth Poppel /
Yearbook Library)
9.4 · Abrufen: Informationen wieder hervorholen
345 9
Stellen Sie sich eine Spinne vor, die in der Mitte ihres Netzes sitzt,
gehalten von den vielen Fäden, die von ihr weg in alle Richtungen
zu unterschiedlichen Punkten gespannt sind. Wenn Sie einen
Weg zu der Spinne verfolgen wollten, müssten Sie zunächst einen
Pfad von einem dieser Ankerpunkte auswählen und dann dem
Faden folgen, der von diesem Punkt hinein in das Netz führt.
Der Vorgang, bei dem wir eine Erinnerung aus dem Ge-
dächtnis abrufen, folgt einem ähnlichen Prinzip. Denn Erinne-
rungen werden durch ein Netz von Assoziationen im Speicher
gehalten, jede Informationseinheit ist über Zwischenverbin-
dungen mit anderen verbunden. Wenn Sie eine Zielinformation
im Gedächtnis enkodieren, wie etwa den Namen der Person,
die im Seminarraum neben Ihnen sitzt, assoziieren Sie damit
andere Informationseinheiten über die Umgebung, die Stim-
mung, die Sitzposition und so weiter. Diese anderen Einzelin-
formationen können als Abrufhinweise dienen, die man später
nutzen kann, um Zugang zur Zielinformation zu bekommen.
Je mehr Abrufhilfen man hat, desto besser sind die Chancen,
. Abb. 9.20 Behaltenskurve nach Ebbinghaus. Ebbinghaus fand, dass dass man einen Weg zu der Erinnerung findet, die im Netz auf-
er umso weniger Wiederholungsdurchgänge brauchte, um eine Liste
von sinnlosen Silben am 2. Tag wieder zu erlernen, je häufiger er am 1. Tag
gehängt ist.
geübt hatte. Die Geschwindigkeit des erneuten Lernens ist ein Maß für
die Behaltensleistung. (Aus Baddeley 1982)
» Das Gedächtnis ist nicht so etwas wie ein Behälter, der sich
allmählich auffüllt; es ist eher so etwas wie ein Baum, an
dem Haken wachsen, an denen wiederum die Erinnerungen
aufgehängt werden.
JIH, BAZ, FUB, YOX, SUJ, XIR, DAX, LEQ, VUM, PID, KEL,
Peter Russell, The Brain Book, 1979
WAV, TUV, ZOF, GEK, HIW.
Einen Tag, nachdem Ebbinghaus eine derartige Liste gelernt
hatte, konnte er sich nur an wenige der Silben erinnern. Aber Priming (Voraktivierung, Bahnung)
hatte er sie völlig vergessen? Wie aus . Abb. 9.20 hervorgeht, Die besten Abrufhilfen sind die Assoziationen, die wir zu dem
brauchte er am 2. Tag zum erneuten Lernen der Liste umso Zeitpunkt bilden, wenn wir eine Erinnerung enkodieren – ein
weniger Durchgänge, je häufiger er sie am 1. Tag laut wiederholt Geschmack, ein Geruch oder ein Anblick, der unsere Erinne-
hatte. Zusätzliches Wiederholen (Überlernen) verbaler Informa- rung an eine damit assoziierte Person oder Erfahrung wach-
tionen erhöht die Behaltensleistung, besonders wenn die Übung rufen kann. Um einen visuellen Abrufreiz beim Versuch der
über die Zeit verteilt wird. Reproduktion einer Erinnerung zu gebrauchen, können wir
Fazit: Tests, die das Wiedererkennen oder die für erneutes uns innerlich in den ursprünglichen Kontext zurückversetzen.
Lernen benötigte Zeit erfassen, zeigen, dass wir uns an mehr er- Nachdem er sein Augenlicht verloren hatte, beschrieb John Hull
innern, als wir direkt abrufen können. (1990, S. 174) seine Schwierigkeiten, sich an solche Details zu
erinnern:
Prüfen Sie Ihr Wissen
» Ich weiß, ich war irgendwo und habe irgendwas mit irgend-
5 Wenn Sie sichergehen möchten, etwas Gelerntes in welchen Leuten gemacht, aber wo war das? Ich konnte die
einem kommenden Test wiedergeben zu können, Gespräche ... nicht in einen Kontext stellen. Es gab keinen
wäre es dann besser, Ihr Gedächtnis durch freie Repro- Hintergrund, keine besonderen Merkmale, nichts, wodurch
duktion oder durch Wiedererkennen zu prüfen? ich den Ort hätte identifizieren können. Normalerweise wird
Und warum? die Erinnerung an die Menschen, mit denen man im Laufe
des Tages gesprochen hat, in Rahmenvorstellungen gespei-
chert, zu denen auch der Hintergrund gehört.

9.4.2 Abrufhinweise Stellen Sie einem Freund ein paar Kreuzfeuerfragen: a) Wie nennt
man die Verbindung zwischen Stecker und Radio? b) Wer in
? 9.15 Wie beeinflussen externe Hinweise, innere Empfin- der Bibel wurde von seinem Bruder Kain erschlagen? c) Womit isst
dungen und die Reihenfolge der Präsentation den Abruf man Suppe? Wenn Ihr Freund dann auf die 3. Frage antwortet:
von Informationen aus dem Gedächtnis? »Gabel!«, dann haben Sie den Priming-Effekt demonstriert.
346 Kapitel 9 · Gedächtnis

. Abb. 9.21 Priming: Assoziationen wecken. Wenn Sie das Wort »rabbit«
(Kaninchen) lesen oder hören, werden Sie mit größerer Wahrscheinlichkeit
9 später ein gesprochenes Wort als »hare« (Hase) und nicht als »hair« (Haar) . Abb. 9.22 Kontexteffekte und Gedächtnis. Wörter, die unter Wasser
buchstabieren. Die unbewusste Ausbreitung der Assoziationen aktiviert vorgelesen werden, werden auch unter Wasser am besten reproduziert;
andere, damit zusammenhängende Assoziationen. Dieses Phänomen wird Wörter, die am Strand vorgelesen werden, werden am Strand am besten
Priming genannt. (Nach Bower 1986, with permission from Elsevier) reproduziert. (Nach Godden u. Baddeley 1975)

Oft werden unsere Assoziationen aktiviert, ohne dass wir uns mit Güte und Großzügigkeit assoziiert war (Joly u. Stapel 2009).
dessen bewusst sind. Der Philosoph und Psychologe William Primingeffekte sind nicht immer nur positiv. In einer anderen
James nannte diesen Prozess, den wir als Priming oder Vor- Studie waren Teilnehmer, die als Prime Wörter mit Bezug zu
aktivierung bezeichnen, das »Wecken von Assoziationen«. Es Geld sahen, weniger wahrscheinlich bereit, jemand anderem zu
werden Assoziationen mit einem Hasen aktiviert, wenn wir das helfen, wenn sie darum gebeten wurden (Vohs 2006). In solchen
Wort »Kaninchen« sehen oder hören, auch wenn wir uns gar Fällen scheint Geld eher unseren Materialismus und unser
nicht daran erinnern können, »Kaninchen« gesehen oder gehört Eigeninteresse zu aktivieren als die sozialen Normen, die uns
zu haben (. Abb. 9.21). zum Helfen ermutigen (Ariely 2009).
Priming (Voraktivierung; »priming«) – häufig unbewusst erfolgende
Aktivierung spezieller Assoziationen im Gedächtnis.
Kontextabhängiges Gedächtnis
Wenn Sie sich in den Kontext zurückversetzen, in dem Sie etwas
Priming ist oft »eine erinnerungslose Erinnerung« – eine un- erlebt haben, kann dies den Abruf aus dem Gedächtnis als Prime
sichtbare Erinnerung, derer Sie sich nicht bewusst sind. Wenn Sie beeinflussen. Wie . Abb. 9.22 zeigt, erinnerten sich Taucher, die
einen Gang entlang gehen und ein Poster mit einem Kind sehen, eine Liste von Wörtern an zwei verschiedenen Orten (entweder
das vermisst wird, werden Sie unbewusst dem Prime ausgesetzt, 3 Meter unter Wasser oder am Strand sitzend) gehört hatten, an
anschließend eine mehrdeutige Interaktion zwischen einem Er- mehr Wörter, wenn sie später am selben Ort getestet wurden
wachsenen und einem Kind als mögliche Entführung zu inter- (Godden u. Baddeley 1975).
pretieren (James 1986). Obwohl Sie sich nicht bewusst an das Wahrscheinlich haben Sie selbst schon ähnliche Kontext-
Poster erinnern, prädisponiert es Ihre Interpretation. Treffen wir effekte erlebt. Stellen Sie sich einmal das folgende Szenario vor:
jemanden, der uns an eine Person erinnert, der wir schon mal Während Sie sich zu diesem Buch Notizen machen, bemerken
begegnet sind, können unsere mit dieser früheren Person asso- Sie, dass Sie Ihren Bleistift spitzen müssen. Sie stehen auf und
ziierten Gefühle geweckt und in den neuen Kontext überführt gehen in einen anderen Raum, aber dann können Sie sich nicht
werden (Andersen u. Saribay 2005; Lewicki 1985). (Und wie wir mehr erinnern, warum Sie dorthin gegangen sind. Nachdem Sie
in 7 Kap. 7 gesehen haben, können sogar subliminale Reize kurz- an Ihren Schreibtisch zurückgekehrt sind, fällt es Ihnen plötzlich
zeitig die Reaktion auf spätere Reize primen.) wieder ein: »Ich wollte doch den Bleistift spitzen!« Wie kommt es
Priming kann auch Verhaltensweisen beeinflussen. Hollän- zu dieser frustrierenden Situation? In einem Kontext (am Schreib-
dische Kinder, die mit Items voraktiviert wurden, die mit dem tisch, bei der Lektüre eines Psychologiebuchs) stellen Sie fest, dass
Nikolaus assoziiert waren, teilten mehr Süßigkeiten miteinander Sie den Bleistift spitzen wollen. Wenn Sie einen anderen Raum
als Kinder, die als Prime eine Figur gesehen hatten, die nicht und damit einen anderen Kontext betreten, stehen Ihnen dort nur
9.4 · Abrufen: Informationen wieder hervorholen
347 9

. Abb. 9.23 (Copyright © The New Yorker Collection, 2005, David Sipress / cartoonbank.com)

wenige Hinweisreize zur Verfügung, um Sie auf diesen Gedanken in gewisser Weise stimmungskongruent. Wenn man einen
zurückzubringen. Sobald Sie wieder an Ihrem Schreibtisch sind, schlechten Abend gehabt hat – wenn man bei einer Verabredung
befinden Sie sich wieder in dem Kontext, in dem Sie den Gedan- versetzt wurde, der Fan-Schal vom Hamburger SV verschwun-
ken enkodiert haben (»Dieser Bleistift ist stumpf«). den ist oder der Fernseher 10 Minuten vor dem Ende eines Spiel-
In mehreren Experimenten fand Carolyn Rovee-Collier films den Geist aufgegeben hat – kann die betrübte Stimmung
(1993) heraus, dass ein vertrauter Kontext sogar bei 3 Monate die Erinnerung an andere schlechte Zeiten vereinfachen. Wenn
alten Kindern Erinnerungen aktivieren kann. Nachdem die man niedergeschlagen ist, sind die Erinnerungen durch einen
Kinder gelernt hatten, dass sie ein Mobile mit einem Fußtritt in Prime auf negative Assoziationen belastet, die wir dann wieder-
Bewegung versetzen konnten (mit Hilfe einer Verbindungsschnur um als Erklärung für unsere momentane Stimmung heranzie-
zwischen dem Mobile und ihrem Knöchel), traten sie häufiger zu, hen. Bringt man Menschen, wie es in vielen Experimenten ge-
wenn sie im selben Kinderbett lagen und dasselbe Mobile vor sich schehen ist, in eine überschwängliche Stimmung – sei es durch
hatten als wenn sie in einem fremden Kontext waren. Hypnose oder schlicht durch die Ereignisse des Tages (in einer
Studie mit deutschen Teilnehmern war das ein Gewinn bei der
Zustandsabhängiges Gedächtnis Fußballweltmeisterschaft) –, dann erinnern sie die Welt in rosa-
Eng verwandt mit dem kontextabhängigen Gedächtnis ist das roten Farben (DeSteno et al. 2000; Forgas et al. 1984; Schwarz et
zustandsabhängige Gedächtnis. Was wir in einem bestimmten al. 1987). Sie halten sich für kompetent und tüchtig, schätzen
Zustand – z. B. betrunken oder nüchtern – lernen, wird manch- andere Menschen wohlwollender ein und erwarten mit größerer
mal leichter erinnert, wenn wir wieder in diesem Zustand sind. Wahrscheinlichkeit, dass positive Ereignisse eintreten.
Zwar wird das, was eine Person im Zustand der Betrunkenheit
Stimmungskongruente Erinnerung (»mood-congruent memory«) –
lernt, in keinem Zustand gut reproduziert werden (Alkohol stört Tendenz, sich an Erfahrungen zu erinnern, die mit der aktuellen guten oder
den Speichervorgang). Es wird jedoch ein klein wenig besser er- schlechten Stimmung übereinstimmen.
innert, wenn man wieder in diesem Zustand ist. Jemand, der
während des Betrunkenseins Geld irgendwo versteckt, kann Angesichts dieses Zusammenhangs zwischen Stimmung und
möglicherweise die Stelle solange vergessen, bis er wieder be- Gedächtnis sollte es uns nicht verwundern, dass in manchen
trunken ist (. Abb. 9.23). Studien akut depressive Menschen ihre Eltern als Personen in
Unsere Stimmungslage liefert ein weiteres Beispiel für die Erinnerung haben, die ablehnend und strafend waren und
Zustandsabhängigkeit des Gedächtnisses. Emotionen, die posi- Schuldgefühle provozierten, während die Beschreibungen von
tive oder negative Ereignisse begleiten, werden zu Abrufhin- Menschen, die ihre Depression überwinden konnten, eher so po-
weisen (Fiedler et al. 2001). Demnach sind unsere Erinnerungen sitiv ausfallen wie bei Menschen, die nie unter einer Depression
348 Kapitel 9 · Gedächtnis

gelitten haben (Lewinsohn u. Rosenbaum 1987; Lewis 1992).


Ganz ähnlich geben die Einschätzungen Jugendlicher bezüglich
der von ihren Eltern gezeigten Zuneigung aus einer Woche kaum
Hinweise darauf, wie ihre Bewertungen 6 Wochen später aus-
fallen werden (Bornstein et al. 1991). Wenn Teenager nieder-
geschlagen sind, kommen ihnen die Eltern wie Unmenschen vor;
sobald sie wieder etwas aufleben, verwandeln sich die Eltern von
Teufeln in Engel. Vielleicht veranlasst Sie das zu einem wissenden
Nicken. Und doch, ob gut oder schlecht gelaunt, wir bleiben
dabei, der Wirklichkeit unsere eigenen wechselhaften Urteile,
Erinnerungen und Interpretationen zuzuschreiben. Sind wir
schlecht gelaunt, bewerten wir einen Blick von jemandem als
wütendes Anstarren und fühlen uns noch schlechter. Wenn wir
jedoch gut gelaunt sind, interpretieren wir den gleichen Blick als
Interesse und fühlen uns dagegen besser. Begeisterung macht
jede Empfindung noch intensiver.

» Wenn ein Gefühl da war, glaubten sie, es würde nie ver-


. Abb. 9.24 Der serielle Positionseffekt. Wenn Menschen eine Liste von
gehen; war es dann vergangen, meinten sie, es sei nie da
9 gewesen, und wenn es zurückkehrte, glaubten sie, es
Namen und Wörtern vorgetragen wird, erinnern sie sich normaler-
weise sofort an die letzten Punkte der Aufzählung (vielleicht weil sie noch
sei ihnen nie abhanden gekommen. auf unserem geistigen »Monitor« eingeblendet sind) und fast ebenso
George MacDonald, What‘s Mine‘s Mine, 1886 gut an die allerersten. Später jedoch erinnern sie sich am besten an die
ersten Items der Liste. (Nach Craik u. Watkins 1973)
Dieser Abrufeffekt erklärt auch, warum unsere jeweilige Stim-
mung andauert. Wenn Sie glücklich sind, erinnern Sie sich an
glückliche Augenblicke und nehmen deshalb die Welt als einen geben wird und sie diese anschließend sofort in beliebiger Reihen-
glücklichen Ort wahr, was seinerseits die gute Stimmung ver- folge wiederholen sollen, werden sie zu Opfern des seriellen Posi-
längert. Sind Sie niedergeschlagen, dann erinnern Sie sich an tionseffekts (Reed 2000). Kurzfristig erinnern sie sich an die letzten
traurige Vorfälle, was wiederum Ihre Interpretation aktueller Items besonders schnell und gut (sog. Recency Effekt), wahrschein-
Ereignisse überschattet. Für diejenigen von uns, die eine Prädis- lich weil sich diese letzten Items noch im Arbeitsgedächtnis be-
position zu Depressionen aufweisen, kann dieser Prozess einen finden. Aber nach einer Weile, wenn sie ihre Aufmerksamkeit von
dunklen, unheilvollen Teufelskreis aufrechterhalten. den letzten Items abgewendet haben, erinnern sie sich am besten
an die ersten Items (sog. Primacy Effekt, . Abb. 9.24).
Serieller Positionseffekt
Prüfen Sie Ihr Wissen
Eine weitere Eigenart beim Abrufen von Erinnerungen, der seri-
elle Positionseffekt, kann die Ursache sein, dass wir uns manch- 5 Was ist Priming?
mal über große Gedächtnislücken wundern, wenn wir an eine 5 Wenn wir sofort nach dem Lesen einer Wortliste getestet
Serie erst kürzlich eingetretener Ereignisse zurückdenken. Stellen werden, neigen wir dazu, die ersten und letzten
Sie sich vor, es sei der erste Tag auf einer neuen Arbeitsstelle, und Punkte am besten zu reproduzieren, ein Effekt, der als
Ihr Vorgesetzter stellt Sie Ihren Kollegen vor. Jedes Mal, wenn Sie bezeichnet wird.
einen Kollegen treffen, wiederholen Sie im Stillen die Namen aller
Mitarbeiter, beginnend mit dem ersten. Nachdem die letzte Per-
son sich lächelnd vorgestellt hat und zu ihrem Arbeitsplatz zu-
rückgekehrt ist, sind Sie zuversichtlich, Ihre neuen Kollegen am 9.5 Vergessen
nächsten Tag mit ihrem Namen begrüßen zu können.
Serieller Positionseffekt (»serial position effect«) – unsere Tendenz, uns ? 9.16 Warum vergessen wir?
am besten an die ersten und letzten Items einer Liste zu erinnern.

Verlassen Sie sich nicht darauf. Da Sie mehr Zeit damit verbracht
» Amnesie sickert in die Ritzen unseres Gehirns,
und Amnesie heilt.
haben, die ersten Namen zu wiederholen als die letzten, werden Sie
Joyce Carol Oates, Words Fail, Memory Blurs, Life Wins, 2001
am nächsten Tag wahrscheinlich die ersten Namen leichter aus
dem Gedächtnis abrufen. Wenn Personen in Experimenten eine Bei all dem Beifall für das Gedächtnis, all den Versuchen, es zu
Liste von Items (Wörter, Namen, Daten oder sogar Gerüche) ge- verstehen, all den Büchern mit Methoden zur Gedächtnisver-
9.5 · Vergessen
349 9

. Abb. 9.25 Die Frau, die nicht vergessen kann. »A. J.«, im wahren Leben Jill Price, erzählte ihre Geschichte, zusammen mit dem Schriftsteller Bart Davis, in
ihren 2008 veröffentlichten Memoiren. Price erinnert sich an jeden Tag ihres Lebens, seit sie 14 war, mit äußerst detaillierter Klarheit, sowohl an die freudigen
wie an die unvergessen schmerzhaften Momente. (© Dan Tuffs / Getty Images)

besserung: Wer hätte je das Vergessen gepriesen? William James Häufiger ist allerdings der Fall, dass unser Gedächtnis un-
(1890, S. 680) hat es einmal getan: »Wenn wir uns an alles er- berechenbar ist und uns frustriert und entmutigt. Erinnerungen
innerten, wären wir meistens genauso übel dran, als wenn wir sind launisch. Mein eigenes Gedächtnis liefert mir problemlos
uns an gar nichts erinnerten.« Die Ansammlung unnötiger oder Erinnerungen an Episoden wie jenen wunderbaren ersten Kuss
überholter Informationen – wo wir gestern das Auto geparkt mit der Frau, die ich liebe, oder so banale Fakten wie die Entfer-
hatten, die alte Telefonnummer eines Freundes, ein im Restau- nung von London nach Detroit mit dem Flugzeug. Dann lässt es
rant bestelltes Essen, das schon lange gekocht und serviert wurde mich wieder im Stich, wenn ich bemerke, dass ich nicht enkodie-
– entsorgen zu können, ist zweifellos ein Segen. Der russische ren, speichern oder abrufen konnte, wie einer meiner Studenten
Gedächtniskünstler S., dem wir am Anfang dieses Kapitels be- heißt oder wo ich meine Sonnenbrille hingelegt habe.
gegnet sind, fühlte sich regelrecht verfolgt von seinem Haufen
Der Cellist Yo-Yo Ma vergaß sein 266 Jahre altes Cello mit einem
sinnloser Erinnerungen. Sie beherrschten sein Bewusstsein. Er
Wert von 2,5 Mio. Dollar in einem New Yorker Taxi. (Später bekam
konnte nur mit Schwierigkeiten abstrakt denken – also Inhalte
er es wieder.)
generalisieren, ordnen und evaluieren. Nachdem er eine Ge-
schichte gelesen hatte, konnte er sie rezitieren, jedoch nur mit
Mühe ihren eigentlichen Sinn zusammenfassen. 9.5.1 Vergessen und der zweigleisige Verstand
Einen aktuelleren Fall, in dem ein Leben durch Erinnerungen
quasi überwältigt wird, stellt »A. J.« dar, deren Erfahrungen von Der englische Schriftsteller und Kritiker C. S. Lewis beschrieb
einem Forschungsteam der University of California untersucht das Vergessen als eine Plage, die uns alle heimsucht:
und geprüft wurden (Parker et al. 2006; . Abb. 9.25). A. J., die sich
selbst als Jill Price zu erkennen gegeben hat, vergleicht ihr Ge- » Jeder von uns ist davon überzeugt, dass jeder Moment in
dächtnis mit einem »laufenden Film, der nie anhält. Es ist wie ein [unserem] eigenen Leben vollständig ausgefüllt ist.
geteilter Bildschirm. Ich spreche mit jemandem und sehe noch [Wir werden] in jeder Sekunde geradezu bombardiert von
etwas ganz anderes ... immer wenn ich ein Datum im Fernsehen Eindrücken, Emotionen, Gedanken ... von denen [wir] neun
(oder wo auch immer) auftauchen sehe, reise ich automatisch Zehntel schlicht ignorieren müssen. Die Vergangenheit [ist]
zurück zu diesem Tag und erinnere mich daran, wo ich war, ein tosender Wasserfall aus Milliarden über Milliarden
was ich dort tat, auf welchen Tag es fiel und so weiter und so fort. solcher Momente: jeder davon zu komplex, ihn in seiner
Es hört niemals auf, ist unkontrollierbar und absolut erschöp- Gänze zu erfassen, eine Zusammenballung jenseits aller Vor-
fend«. Ein gutes Gedächtnis ist mehr als hilfreich, doch das gilt stellungskraft ... Mit jedem Ticken einer Uhr, an jedem
auch für die Fähigkeit zu vergessen. Wenn eine Pille auf den bewohnten Ort der Welt, fällt eine unvorstellbare Fülle und
Markt kommen sollte, mit der wir unser Gedächtnis verbessern Vielfalt an ›Geschichte‹ aus der Welt heraus und der totalen
können, sollte sie am besten auch nicht zu wirksam sein. Vergessenheit anheim.
350 Kapitel 9 · Gedächtnis

. Abb. 9.26 Henry Molaison. Wissenschaftler der University of California in San Diego haben Molaisons Gehirn zum Nutzen zukünftiger Generationen
konserviert. Ihre sorgfältige Arbeit soll in einem frei zugänglichen Online-Gehirnatlas aufgehen. Auf dem Foto sieht man Henry Molaison 1986 im Alter
von 60 Jahren im neuropsychologischen Testlabor am Massachusetts Institute of Technology, Cambridge, Massachusetts. (Copyright Jenni Ogden, first
published in her book Trouble In Mind: Stories from a Neuropsychologist’s Casebook, OUP, New York, 2012; Scribe Publications, Melbourne, 2013)
9
Für manche ist dieser Gedächtnisverlust schwerwiegend und Jimmie wurde aschfahl, umklammerte den Stuhl, fluchte und
permanent. Bedenken Sie den Fall Henry Molaison (bekannt als wurde dann panisch: »Was ist hier los? Was ist mit mir passiert?
»H. M.«, 1926–2008). 55 Jahre lang, nach einer Gehirnoperation, Ist das ein Albtraum? Bin ich verrückt? Ist das ein Witz?« Als
die schwere Anfälle unterbinden sollte, war Molaison nicht in der seine Aufmerksamkeit aber auf einige Kinder, die Baseball spiel-
Lage, neue bewusste Erinnerungen zu bilden. Wie vor seinem Ein- ten, gelenkt wurde, hörte seine Panik auf, und der schreckliche
griff war er intelligent und löste täglich Kreuzworträtsel. Doch Spiegel war vergessen.
berichtete die Neurowissenschaftlerin Suzanne Corkin (2005): Sacks zeigte Jimmie ein Foto aus dem National Geographic.
»Ich kenne H. M. seit 1962, und er weiß immer noch nicht, wer »Was ist das?«, fragte er. »Der Mond«, antwortete Jimmie.
ich bin.« Etwa 20 Sekunden lang konnte er etwas während einer »Nein«, erwiderte Sacks. »Es ist ein Foto von der Erde, das vom
Unterhaltung im Hinterkopf behalten. Wenn er abgelenkt wurde, Mond aus aufgenommen wurde.« »Sie machen Witze! Dann
verlor er die Erinnerung an das, was gerade gesagt worden war müsste man doch einen Fotoapparat da raufgebracht haben.«
oder sich ereignet hatte. So konnte er beispielsweise nie lernen, mit »Klar.« »Zum Teufel, was für ein blöder Witz! Wie sollte das denn
einer Fernbedienung umzugehen (Dittrich 2010; . Abb. 9.26). gehen?« Jimmies Staunen war das eines cleveren jungen Mannes
Molaison litt an anterograder Amnesie – er konnte sich an von vor 60 Jahren, der voller Verwunderung auf seine Reise zu-
seine Vergangenheit erinnern, aber keine neuen Erinnerungen rück in die Zukunft reagierte.
bilden. (Diejenigen, die sich an ihre Vergangenheit – die alten Testet man Menschen mit dieser seltenen Störung eingehend,
Informationen, die im Langzeitgedächtnis gespeichert sind – zeigen sich noch merkwürdigere Dinge: Obgleich sie sich an
nicht mehr erinnern können, leiden an retrograder Amnesie). neue Fakten oder an etwas, was sie vor Kurzem getan haben,
nicht erinnern können, sind Molaison, Jimmie und andere mit
Anterograde Amnesie (»anterograde amnesia«) – das Unvermögen,
neue Erinnerungen zu bilden. ähnlichen Einschränkungen doch imstande, nonverbale Aufga-
Retrograde Amnesie (»retrograde amnesia«) – das Unvermögen, ben zu erlernen. Zeigt man ihnen Bilder mit Figuren, die schwer
Erinnerungen aus der Vergangenheit wieder abzurufen. zu entdecken sind (aus der Buchreihe »Wo ist Walter?«), dann
können sie diese später schnell wieder ausmachen. Sie können
Der Neurologe Oliver Sacks (1985, S. 26–27) beschrieb einen an- den Weg ins Badezimmer finden, ohne jedoch angeben zu
deren Patienten, Jimmie, der eine anterograde Amnesie in Folge können, wo es sich befindet. Sie können lernen, Spiegelschrift zu
eines Hirnschadens aufwies. Jimmie hatte keinerlei Erinnerung lesen oder ein Puzzle zusammenzusetzen, sogar komplizierte
an die Zeit nach seiner Verletzung im Jahr 1945, also auch kein Handgriffe im Rahmen einer Arbeit wurden ihnen schon an-
Gefühl dafür, dass die Zeit vergeht. trainiert (Schacter 1992, 1996; Xu u. Corkin 2001). Sie können
Als Jimmie sein Alter mit 19 angab, setzte ihm Sacks einen auch klassisch konditioniert werden. Doch all das tun sie ohne ein
Spiegel vor und sagte: »Schauen Sie in den Spiegel und sagen Sie Bewusstsein dafür, etwas gelernt zu haben.
mir, was Sie sehen. Ist das ein 19-Jähriger, der Ihnen aus dem Molaison und Jimmie verloren ihre Fähigkeit zur Bildung
Spiegel entgegenblickt?« neuer expliziter Erinnerungen. Jedoch blieb ihre Fähigkeit zur
9.5 · Vergessen
351 9

. Abb. 9.27 Vergessen als Scheitern der Enkodierung. Was nicht enkodiert wurde, das kann auch nicht erinnert werden

automatischen Verarbeitung intakt. So wie Alzheimer-Patienten, Doch ganz unabhängig davon, wie jung wir sind, richten wir
deren explizite Erinnerungen an Personen und Ereignisse ver- unsere Aufmerksamkeit selektiv auf nur wenig aus der über-
schwunden sind, können sie neue implizite Erinnerungen bilden wältigenden Fülle an Anblicken und Lauten, die ununterbrochen
(Lustig u. Buckner 2004). Sie können lernen, wie etwas zu tun auf uns einprasseln. Nehmen Sie dieses Beispiel: Wenn Sie in
ist, aber sie entwickeln keine bewusste Erinnerung daran, dass Europa leben, haben Sie im Laufe der letzten Jahre wohl schon
sie ihre neue Fähigkeit gelernt haben. Solche traurigen Fälle be- Hunderte von europäischen Cent-Münzen in der Hand gehabt,
stätigen, dass wir zwei unterschiedliche Gedächtnissysteme und Sie können sich sicher an ihre Größe und Farbe erinnern.
besitzen, die von verschiedenen Teilen des Gehirns kontrolliert Aber können Sie sich erinnern, wie die Seite aussieht, auf der die
werden. Zahl abgebildet ist? Wenn nicht, dann machen wir den Test leich-
Für die meisten von uns ist das Vergessen ein weniger dras- ter: Können Sie in . Abb. 9.28 die richtige Münze wenigstens
tischer Prozess. Lassen Sie uns einige Gründe dafür erörtern, wiedererkennen?
warum wir vergessen. In dem gleichen Test mit amerikanischen Penny-Stücken
stellte sich heraus, dass es den meisten Menschen nicht gelingt
(Nickerson u. Adams 1979). Auch bei den Briten können nur
9.5.2 Scheitern der Enkodierung wenige die 1-Pence-Münze aus dem Gedächtnis zeichnen
(Richardson 1993). Die Details einzelner Münzen haben nicht
Vieles von dem, was auf unsere Sinne trifft, registrieren wir viel Bedeutung, und man braucht sie auch nicht, um sie von
überhaupt nicht, und an das, was wir nicht enkodieren konnten, anderen Münzen zu unterscheiden. Münzsammler mögen die
erinnern wir uns nicht (. Abb. 9.27). Die Effizienz der Enko- kritischen Merkmale der Münzen dem bewussten Verarbei-
dierung kann auch vom Alter beeinflusst werden. Die Hirn- tungsprozess unterziehen, der nötig ist, sie zu enkodieren. Aber
areale, die sofort anspringen, wenn junge Erwachsene eine von den übrigen von uns werden solche Einzelheiten niemals
neue Information enkodieren, arbeiten bei älteren Erwachsenen enkodiert. Ohne Anstrengung können viele potenzielle Erin-
deutlich langsamer. Dieses langsamere Enkodieren erklärt nerungen nie entstehen. – Und hier kommt die Auflösung zur
das mit zunehmendem Alter nachlassende Gedächtnis (Grady Frage aus . Abb. 9.28: Die letzte Cent-Münze in der zweiten Zeile
et al. 1995). ist die richtige.

. Abb. 9.28 Testen Sie Ihr Erinnerungsvermögen. Welche dieser europäischen Centmünzen ist die richtige? Die Antwort finden Sie im Text. (Nach Nickerson
u. Adams 1979, with permission from Elsevier; mit freundlicher Genehmigung von Kay Niebank)
352 Kapitel 9 · Gedächtnis

. Abb. 9.29a,b Vergessenskurve nach Ebbinghaus. Ebbinghaus lernte Listen mit sinnlosen Silben auswendig und untersuchte dann, wie viele davon
er bis zu 30 Tage später noch behalten hatte. Er fand heraus, dass die Erinnerung an neue Informationen schnell verblasst und dann nur noch unmerk-
9 lich schwächer wird. (Nach Ebbinghaus 1885; a: Mit freundlicher Genehmigung von Dover Publications; b: This image is in the public domain because its
copyright has expired)

9.5.3 Speicherzerfall Erinnerungen aus vielen Gründen unzugänglich sein. Manche


wurden nie erworben (enkodiert). Andere wurden ausge-
Selbst wenn eine Information gut enkodiert worden ist, wird mustert (gespeicherte Erinnerungen zerfallen). Und andere
sie manchmal später vergessen. Um die Dauerhaftigkeit der ge- sind außer Reichweite, da wir sie nicht mehr hervorholen
speicherten Erinnerungen zu untersuchen, lernte Ebbinghaus können.
(1885) noch weitere Listen mit sinnlosen Silben auswendig. Be-
ginnend mit 20 Minuten bis hin zu 30 Tagen nach dem Erlernen
erfasste er, wie viel er behalten hatte, wenn er jede Liste noch 9.5.4 Scheitern des Abrufs
einmal lernte. Das Ergebnis, das durch spätere Experimente be-
stätigt wurde, war seine berühmte Vergessenskurve: Vergessen Oft bedeutet Vergessen weniger, dass Erinnerungen gelöscht
erfolgt zu Beginn schnell und pendelt sich dann auf einem wurden, sondern eher, dass sie nicht abgerufen werden können.
bestimmten Niveau ein, das mit der Zeit immer langsamer absinkt Was für uns von Bedeutung ist oder was wir durch Wiederho-
(. Abb. 9.29; Wixted u. Ebbesen 1991). Harry Bahrick (1984) lungen gelernt haben, wird im Langzeitgedächtnis gespeichert.
entdeckte eine ähnliche Vergessenskurve für spanische Voka- Aber manchmal widersetzen sich wichtige Inhalte unseren Ver-
beln, die in der Schule gelernt worden waren. Bei einem Ver- suchen, Zugang zu ihnen zu finden (. Abb. 9.31). Wie frustrie-
gleich zwischen den Schülern, die gerade einen High-School- rend ist es, wenn uns ein Name auf der Zunge liegt, nur knapp
oder Collegekurs für Spanisch abgeschlossen hatten, und den- außer Reichweite. Wenn man uns eine Abrufhilfe gibt (»es fängt
jenigen, die die Schule bereits 3 Jahre zuvor verlassen hatten, mit einem M an«), können wir eine schwer fassbare Erinnerung
war Letzteren vieles von dem verloren gegangen, was sie einmal leichter abrufen. Abrufprobleme können die Ursache für die
gelernt hatten (. Abb. 9.30). Doch was die Befragten zu diesem gelegentlichen Gedächtnisausfälle älterer Menschen sein, die
Zeitpunkt noch behalten hatten, daran konnten sie sich auch häufiger die frustrierende Erfahrung des Tip-of-the-Tongue-
noch 25 Jahre später oder länger erinnern. Ihr Vergessen hatte Phänomens machen (Abrams 2008).
sich auf gewisse Weise eingependelt.
Gehörlose, die Gebärdensprache gut beherrschen, erleben
Eine Erklärung für diese Vergessenskurven ist das graduelle
ein ähnliches Phänomen: Es liegt ihnen nicht auf der Zunge,
Verblassen der physischen Erinnerungsspur. Kognitive Neuro-
sondern »auf den Fingerspitzen« ( Thompson et al. 2005).
wissenschaftler nähern sich dem Mysterium des physiologi-
schen Gedächtnisspeichers auf der Suche nach der Lösung Erinnern Sie sich an das Wesentliche in dem zweiten Satz, den
immer weiter an und mehren unser Verständnis davon, wie ich Ihnen zum Behalten gegeben habe? Falls nicht, ist das Wort
dieser Gedächtnisspeicher zerfallen könnte. Wie Bücher, die Sie »Hai« ein geeigneter Abrufhinweis? Experimente belegen, dass
in Ihrer Universitätsbibliothek nicht finden können, können der Begriff »Hai« (den Sie wahrscheinlich visualisiert haben) Ihr
9.5 · Vergessen
353 9

. Abb. 9.30 Vergessenskurve für in der Schule erlerntes Spanisch. Studenten, die vor 3 Jahren an einem Spanischkurs teilgenommen hatten, erinnerten
sich an viel weniger als die, die ihren Kurs gerade beendet hatten. Die Studenten, deren Spanischkurs noch länger zurücklag, hatten jedoch nicht sehr viel
mehr vergessen als die, die vor 3 Jahren Spanisch gelernt hatten. (Nach Bahrick 1984)

. Abb. 9.31 Scheitern des Abrufens. Zu einer gespeicherten Information gibt es manchmal keinen Zugang, dann wird sie vergessen

gespeichertes Bild eher wieder hervorholt als das eigentliche innern waren, und konnten sie in späteren Tests besser reprodu-
Wort in dem Satz, »Fisch« (Anderson et al. 1976). (Der Satz zieren (Kuhl et al. 2007).
lautete: »Der Fisch griff den Schwimmer an.«) Manchmal jedoch behält das Gerümpel die Oberhand, und
Gelegentlich jedoch entstehen Abrufprobleme durch Inter- neu Gelerntes und Altes kollidieren. Proaktive (vorwärts ge-
ferenz und, möglicherweise, durch beabsichtigtes Vergessen. richtete) Interferenz (auch proaktive Hemmung) tritt ein, wenn
etwas, was Sie früher gelernt haben, die Reproduktion von neuen
Interferenz Informationen unterbricht. Wenn Sie ein neues Kombinations-
Während Sie immer mehr Informationen sammeln, füllt sich schloss kaufen, dann können die Erinnerungen an die alte Kom-
Ihr mentaler Dachboden zunehmend. Er wird zwar nie ganz bination eventuell damit interferieren.
vollgestellt sein, doch es wird zweifellos etwas eng. Die Fähig-
Proaktive Interferenz (auch proaktive Hemmung; »proactive interference«)
keit, das Gerümpel zur Seite zu schaffen, hilft uns dabei, uns zu – Störeffekt von früher Gelerntem auf die Reproduktion neuer Informationen.
konzentrieren, und Konzentration hilft uns dabei, Informa-
tionen zu reproduzieren. In einem Experiment wurde Teilneh- Retroaktive (rückwärts gerichtete) Interferenz (auch retroaktive
mern die Aufgabe gestellt, sich an bestimmte neue Wortpaare aus Hemmung) passiert, wenn neu Gelerntes die Reproduktion
einer Multiple-Choice-Liste zu erinnern (»DACHBODEN- von alten Informationen stört. Wenn jemand einen neuen
Staub«, »DACHBODEN-Krempel« etc.). Diejenigen, die die Text zur Melodie eines alten Lieds singt, könnten Sie Schwierig-
irrelevanten Paare leichter vergessen konnten (wie es durch ver- keiten bekommen, sich an die ursprünglichen Worte zu er-
ringerte Aktivität in einem entsprechenden Hirnareal verifiziert innern. Es ist so, als würde man einen zweiten Stein in einen
wurde), konzentrierten sich auch eher auf die Paare, die zu er- Teich werfen; er bringt die kreisförmigen Wellen durcheinander,
354 Kapitel 9 · Gedächtnis

. Abb. 9.32 Retroaktive Interferenz. Versuchspersonen vergaßen mehr, wenn sie wach blieben und anderes neues Material aufnahmen. (Nach Jenkins
u. Dallenbach 1924)

9
die der erste hervorgerufen hat (7 Unter der Lupe: Sich an Pass- leichtern uns auch oft das Lernen neuer Informationen (z. B.
wörter erinnern). Französisch). Dieser Effekt wird positiver Transfer genannt.
Retroaktive Interferenz (auch retroaktive Hemmung; »retroactive inter-
ference«) – Störeffekt neu gelernter Informationen auf die Reproduktion
Absichtliches Vergessen
alter Informationen. Sich an die eigene Vergangenheit erinnern bedeutet häufig auch,
sie zu überarbeiten. Vor ein paar Jahren war die große Keksdose
Informationen, die in der Stunde vor dem Einschlafen präsen- in unserer Küche randvoll mit frisch gebackenen Schokoladen-
tiert werden, sind vor retroaktiver Interferenz geschützt, denn plätzchen, und eine weitere Ladung kühlte auf dem Küchentisch
die Gelegenheiten für interferierende Ereignisse sind stark re- ab. 24 Stunden später war kein Krümel mehr davon zu finden.
duziert (Benson u. Feinberg 1977; Fowler et al. 1973; Nesca u. Wer hatte die Schokoladenplätzchen geklaut? Nur meine Frau,
Koulack 1994). Die Forscher John Jenkins und Karl Dallenbach unsere drei Kinder und ich waren in der Zwischenzeit im Haus
(1924) entdeckten dies in einem heute klassischen Experiment gewesen. Deshalb führte ich, solange die Erinnerungen noch
zuerst. Tag für Tag lernten zwei Versuchspersonen jeweils einige frisch waren, einen kleinen Gedächtnistest durch. Andy gab zu,
sinnlose Silben auswendig und versuchten, sie bis zu 8 Stunden ganze 20 Plätzchen verschlungen zu haben, Peter glaubte, 15
später zu reproduzieren. Der eine Teilnehmer schlief eine Nacht gegessen zu haben, und Laura meinte, ihren damals 6-jährigen
lang, während der andere wach blieb. Wie . Abb. 9.32 zeigt, Körper ebenso ungefähr mit 15 vollgestopft zu haben. Meine
setzte das Vergessen schneller ein, wenn man wach blieb und mit Frau Carol entsann sich, 6 gegessen zu haben, und ich selbst
anderen Aktivitäten beschäftigt war. Das führte die Forscher zu erinnerte mich daran, 15 verzehrt und weitere 18 mit ins Büro
der Vermutung, dass es sich beim »Vergessen weniger um den genommen zu haben. Beschämt mussten wir also die Verantwor-
Zerfall alter Eindrücke und Assoziationen handelt, sondern viel- tung für 89 Plätzchen übernehmen. Doch hatten wir das Rätsel
mehr um Interferenz, Hemmung oder Überlagerung des Alten noch nicht gelöst, denn es waren ursprünglich 160 gewesen.
durch Neues« (ebd., S. 612). Warum lässt unser Gedächtnis uns im Stich? Zum Teil passiert
Die Stunde vor Beginn des Nachtschlafs ist ein guter Zeit- es, wie Carol Tavris und Elliot Aronson hervorgehoben haben,
punkt, um dem Gedächtnis Informationen anzuvertrauen (Scullin weil das Gedächtnis ein »unzuverlässiger, sich selbst dienender
u. McDaniel 2010), obwohl Informationen, die in den Sekunden Historiker« ist (2007, S. 6, 79; . Abb. 9.33). In einer Studie unter-
kurz vor dem Einschlafen präsentiert werden, selten erinnert richteten Forscher einige Versuchsteilnehmer über die Vorteile
werden (Wyatt u. Bootzin 1994). Wenn Sie mit dem Gedanken regelmäßigen Zähneputzens. Diese Teilnehmer erinnerten sich
spielen, während des Schlafs zu lernen, vergessen Sie es. Wir be- daraufhin (mehr als andere) daran, ihre Zähne in den vorherigen
halten kaum Informationen, die uns laut im Zimmer vorgespielt beiden Wochen regelmäßig geputzt zu haben (Ross et al. 1981).
werden, wenn wir schlafen, auch wenn die Ohren sie registrieren . Abb. 9.34 führt uns vor Augen, dass wir, während wir
(Wood et al. 1992). Informationen verarbeiten, viele davon filtern, verändern oder
Altes und neu Gelerntes wetteifern natürlich nicht immer verlieren. Warum also haben sich meine Familie und ich so sehr
miteinander. Früher gelernte Informationen (z. B. Latein) er- darin verschätzt, wie viele Plätzchen wir gegessen hatten? War es
9.5 · Vergessen
355 9

Unter der Lupe

Sich an Passwörter erinnern


Es gibt etwas, was Sie häufig brauchen und Der Gedächtnisforscher Henry Roediger ver- inhalten oft geläufige Telefon- oder Identifika-
womit Ihre Großeltern in Ihrem Alter nichts zu folgte einen einfachen Ansatz, um all diese tionsnummern.
tun hatten: Passwörter. Um sich auf Facebook Daten zu speichern: »Ich habe einen Zettel in Beim Online-Banking oder in anderen Situa-
oder iTunes einzuloggen, Ihre Mailbox abzu- meiner Hemdtasche mit allen Nummern, die tionen, in denen Sicherheit ein wesentlicher
hören, um Bargeld aus einem Geldautomaten ich benötige«, sagte Roediger (2001). Er fügte Faktor ist, raten Experten dazu, eine Mischung
zu ziehen, den Kopierer zu benutzen oder hinzu, dass er nicht alle behalten könne, also aus Buchstaben und Ziffern zu verwenden
um das Keypad davon zu überzeugen, die warum sich die Mühe machen? Diejenigen, (Brown et al. 2004). Wenn Sie ein solches Pass-
Haus- oder Autotür zu öffnen, müssen Sie sich die vielleicht zu sorglos in Bezug auf einen wort zusammenstellen, wiederholen Sie es,
an Ihr Passwort erinnern. Ein typischer Student möglichen Passwort-Diebstahl sind, nutzen dann wiederholen Sie es einen Tag später und
ist mit 8 Anforderungen für Passwörter andere Überlebensstrategien. Erstens: Sie immer wieder mit wachsenden Zeitintervallen
konfrontiert (Brown et al. 2004). kopieren. Der Durchschnittsstudent verwendet dazwischen. Auf diese Weise werden sich
Wenn man so viele Passwörter braucht, wie 4 unterschiedliche Passwörter für diese 8 Be- langfristige Erinnerungen herausbilden, die
soll man damit umgehen? Immerhin werden dürfnisse. Zweitens: Sie verwenden Abrufhilfen. am Geldautomaten und am Kopierer abrufbar
wir dabei von proaktiver Interferenz durch Umfragen in Großbritannien und in den USA sein werden.
irrelevante alte Passwörter wie auch von retro- haben gezeigt, dass etwa die Hälfte unserer
aktiver Interferenz durch andere, vor kurzem Passwörter einen vertrauten Namen oder
gelernte Passwörter heimgesucht. ein bekanntes Datum beinhaltet. Andere be-

. Abb. 9.33 »Schatz, ich unterstelle dir ja keine Absicht – aber dass du
unseren Hochzeitstag wieder vergessen hast, nehme ich langsam persön-
lich!« (© Claudia Styrsky)

ein Problem bei der Enkodierung? (Hatten wir einfach nicht be-
merkt, wie viele wir gegessen hatten?) War es ein Problem beim
Speichern? (Könnten sich unsere Erinnerungen an die Schoko-
plätzchen, wie die Erinnerungen von Ebbinghaus an die sinnlosen . Abb. 9.34 Wann vergessen wir? Zum Vergessen kann es in jeder Phase
des Erinnerungsprozesses kommen. Bei der Verarbeitung werden viele In-
Silben, genauso schnell in Luft aufgelöst haben wie die Plätzchen
formationen gefiltert, verändert oder gehen verloren
selbst?) Oder waren die Informationen noch intakt, aber nicht
abrufbar, weil die Erinnerungen zu peinlich gewesen wären?2

2 Einer meiner Plätzchen vertilgenden Söhne gestand Jahre später, nachdem


er im Buch seines Vaters darüber gelesen hatte, dass er »ein wenig« ge-
mogelt hatte.
356 Kapitel 9 · Gedächtnis

Sigmund Freud hätte vermutlich argumentiert, dass unser len« einer Erinnerung ersetzen wir das Original durch eine leicht
Gedächtnissystem diese Informationen selbst zensiert haben modifizierte Version (Hardt et al. 2010). (Gedächtnisforscher
könnte. Er postulierte, dass wir schmerzhafte oder ungewollte bezeichnen dies als Rekonsolidierung.) Im Prinzip also, meinte
Erinnerungen verdrängen, um unser Selbstkonzept zu schützen Joseph LeDoux (2009), »ist Ihr Gedächtnis nur so gut wie Ihre
und unsere Angst zu vermindern. Doch die unterdrückte Erin- letzte Erinnerung. Je weniger häufiger es gebraucht wird, desto
nerung bleibt, wie er glaubte, erhalten und kann durch einen verlässlicher ist es«. Das bedeutet, bis zu einem bestimmten Grad
späteren Hinweisreiz oder während einer Therapie wieder abge- »sind alle Erinnerungen falsch« (Bernstein u. Loftus 2009).
rufen werden. Für Freuds Psychologie war Verdrängung ein zen- Lassen Sie uns einige der Wege beleuchten, auf denen wir unsere
trales Thema (7 Kap. 14) und stellte in der Mitte des letzten Jahr- Vergangenheit neu schreiben.
hunderts ein weit verbreitetes Konzept in der Psychologie dar.
Verdrängung (»repression«) – in der psychoanalytischen Theorie der wich-
tigste Abwehrmechanismus, mit dessen Hilfe Angst auslösende Gedan- 9.6.1 Fehlinformationen
ken, Gefühle und Erinnerungen aus dem Bewusstsein verbannt werden. und Imaginationseffekte

Eine norwegische Studie hat herausgefunden, dass gebildete Elizabeth Loftus hat in über 200 Experimenten mit mehr als
Menschen mehr dazu tendieren, an verdrängte Erinnerungen zu 20.000 Teilnehmern nachgewiesen, wie Augenzeugen nach
glauben, als diejenigen mit geringerer Schulbildung (Magnussen einem Verbrechen oder einem Unfall ihre Erinnerungen re-
et al. 2006). In einer amerikanischen Studie stimmten 9 von konstruieren. In einem Experiment führte man zwei Gruppen
9 10 Universitätsstudenten der Aussage zu, dass »die Erinnerung von Teilnehmern einen Film vor, in dem ein Verkehrsunfall ge-
an schmerzliche Erfahrungen manchmal ins Unbewusste ver- zeigt wurde, und fragte sie anschließend danach, was sie gesehen
schoben wird« (Brown et al. 1996). Therapeuten arbeiten häufig hatten (Loftus u. Palmer 1974). Die Teilnehmer, deren Frage-
mit dieser Annahme. Doch eine steigende Zahl von Gedächt- stellung lautete: »Wie schnell fuhren die Autos, als sie aufein-
nisforschern glaubt heute, dass Verdrängung selten, wenn über- ander krachten?«, schätzten die Geschwindigkeit höher ein als
haupt, stattfindet. Wenn Menschen sich bemühen, mit Absicht die, deren Frage lautete: »Wie schnell fuhren die Autos, als sie
neutrales Material zu vergessen, haben sie oft Erfolg, aber nicht, zusammenstießen?« (im Original: »smashed into each other«
wenn das zu vergessende Material emotionaler Art ist (Payne u. versus »hit each other«). Eine Woche später wurden die Teil-
Corrigan 2007). Deshalb können wir ausgerechnet an die trau- nehmer gefragt, ob sie sich daran erinnerten, Glassplitter gesehen
matischen Erlebnisse, die wir am allermeisten vergessen wollen, zu haben. Diejenigen, die die Wörter »aufeinander krachten«
eindringliche Erinnerungen haben. gehört hatten, bejahten die Frage mit mehr als doppelt so hoher
Wahrscheinlichkeit (. Abb. 9.35). Tatsächlich waren im Film
Prüfen Sie Ihr Wissen
keine Glassplitter zu sehen gewesen.
5 Aus welchen drei Gründen vergessen wir, und wie In vielen Folgeexperimenten überall auf der Welt wurde den
kommt es in jedem dieser Fälle dazu? Teilnehmern ein Vorfall gezeigt, sie erhielten dazu irreführende
Informationen bzw. erhielten sie nicht und wurden dann einem
Gedächtnistest unterzogen. Das Ergebnis war immer gleich: Es
gibt einen Fehlinformationseffekt. Werden wir irreleitenden
9.6 Fehler beim Gedächtnisaufbau Informationen ausgesetzt, neigen wir dazu, uns falsch zu erin-
nern. Ein »Vorfahrt gewähren«-Schild wird zu einem Stopp-
schild, aus Hämmern werden Schraubenzieher, Coladosen gehen
? 9.17 Wie beeinflussen Fehlinformationen, Imagination
als Erdnussdosen durch, Frühstücksflocken als Eier, und an die
und Quellenamnesie das Gedächtnis und wie stellen wir
Stelle eines glatt rasierten Mannes tritt ein Herr mit Schnurrbart
fest, ob eine Erinnerung wahr oder falsch ist?
(Loftus et al. 1992; . Abb. 9.36). Dieser Effekt hat ein solches
Unsere Erinnerungen sind nicht präzise. So wie Wissenschaftler, Gewicht, dass er auch spätere Einstellungen und Verhaltens-
die das Erscheinungsbild eines Dinosauriers aus dessen Über- weisen beeinflussen kann (Bernstein u. Loftus 2009).
resten erschließen, erschließen wir unsere Vergangenheit aus den
Fehlinformationseffekt (»misinformation effect«) – der Einbau von
gespeicherten Informationen ergänzt durch das, was wir später irreführenden Informationen in die Erinnerung an ein Ereignis.
gesehen, gehört, erwartet oder uns vorgestellt haben. Wir holen
Erinnerungen nicht bloß wieder hervor, wir weben sie neu, wie Da sich der Fehlinformationseffekt außerhalb unserer bewussten
Daniel Gilbert anmerkt (2006, S. 79): »Informationen, die wir Wahrnehmung ereignet, ist es fast unmöglich, die suggerierten
nach einem Ereignis erwerben, verändern die Erinnerung an Vorstellungen aus der größeren Menge realer Erinnerungen
dieses Ereignis.« Oft konstruieren wir unsere Erinnerungen, herauszufiltern (Schooler et al. 1986). Möglicherweise haben Sie
während wir sie enkodieren, und bei jedem »erneuten Abspie- auch schon einmal einem Freund von einem Kindheitserlebnis
9.6 · Fehler beim Gedächtnisaufbau
357 9

. Abb. 9.35 Konstruktion von Erinnerungen. Versuchspersonen sahen einen Film über einen Autounfall, dann stellte man ihnen eine Frage, die sie in
eine bestimmte Richtung lenkte. Daraufhin erschien der Unfall in ihrer Erinnerung schwerwiegender als der, den sie gesehen hatten. (Nach Loftus u. Palmer
1974, with permission from Elsevier)

erzählt und dabei Erinnerungslücken durch plausible Vermu- worden wären (Geraerts et al. 2008). Nach Verinnerlichung
tungen und Annahmen ausgefüllt. Es ist etwas, was wir alle tun, dieser Suggestion war bei einer signifikanten Minderheit die
und nach wiederholtem Nacherzählen erinnern wir uns an diese Wahrscheinlichkeit gesunken, Sandwiches mit Eiersalat zu essen,
vermuteten Einzelheiten – da sie inzwischen vom Gedächtnis und zwar sowohl unmittelbar danach als auch noch 4 Monate
vereinnahmt wurden –, als hätten wir sie tatsächlich so erlebt später.
(Roediger et al. 1993). Selbst die wiederholte Imagination von Handlungen und
Vorfällen, die niemals eingetreten sind, kann falsche Erinne-
» Eine Erinnerung hat keine Substanz. Sie kann überlagert
rungen heraufbeschwören. Amerikanische und britische Stu-
werden. Ihre Fotosammlung kann Ihrem Gedächtnis nach-
dierende wurden gebeten, sich bestimmte Erfahrungen aus der
helfen, kann aber auch die Erinnerungen zerstören. …
Kindheit vorzustellen, etwa dass sie ein Fenster mit der Hand
Die einzige Erinnerung, die Ihnen von Ihrer Reise bleibt, ist
zerbrochen hätten oder dass sie eine Probe von der Haut ihres
diese verflixte Ansammlung von Schnappschüssen.
Fingers hätten abgeben müssen. Ein Viertel erinnerte sich später
Annie Dillard, To Fashion a Text, 1988
daran, als ob das vorgestellte Ereignis wirklich passiert wäre
Auch wenn wir bloß den lebhaften Bericht eines Ereignisses (Garry et al. 1996; Mazzoni u. Memon 2003).
hören, kann dies falsche Erinnerungen in unserem Gedächt- Digital veränderte Fotos lösen ebenfalls eine solche Vorstel-
nis verankern. In einem Experiment wurde einigen holländi- lungsinflation aus. In einigen Studien manipulierten Forscher
schen Studierenden fälschlicherweise suggeriert, dass sie als Fotos aus Familienalben, so dass darauf Familienmitglieder auf
Kind nach dem Verzehr von verdorbenem Eiersalat krank ge- der Fahrt mit einem Heißluftballon zu sehen waren. Nachdem

. Abb. 9.36a,b Eine falsche Erinnerung. Mehr als 5000 Leser des Slate Magazins wurden befragt, ob sie sich an verschiedene Weltereignisse erinnerten –
davon drei reale und ein zufällig ausgewähltes falsches Ereignis. Als man z. B. fragte, ob sie sich an einen Handschlag zwischen Barack Obama und dem
damaligen iranischen Präsidenten Ahmadinedschad erinnerten, bejahten dies 26% – obwohl es nie passiert war (Ahmadinedschads Kopf war in ein anderes
Foto montiert worden). (Photo illustration by Natalie Matthews-Ramo, based on photographs of Mahmoud Ahmadinejad by Juan Barreto / AFP / Getty
Images and of Barack Obama by Saul Loeb / AFP / Getty Images)
358 Kapitel 9 · Gedächtnis

. Abb. 9.37 (DOONESBURY © 1994 G. B. Trudeau. Reprinted with permission of UNIVERSAL UCLICK. All rights reserved)
9
Kinder diese Fotos gesehen hatten (statt solchen, auf denen nur ihren neugeborenen Sohn nicht mit einem öffentlichen Verkehrs-
der Ballon zu sehen war), gaben sie mehr falsche Erinnerungen mittel nach Hause gebracht hatten. Der menschliche Verstand
wieder und zeigten auch großes Vertrauen in diese Erinnerun- scheint, wie es aussieht, über eine Art eingebaute Bildbearbei-
gen. Bei einem Interview mehrere Tage später berichteten sie tungssoftware zu verfügen.
sogar noch weiter ausgearbeitete Einzelheiten ihrer falschen Er-
innerungen (Strange et al. 2007; Wade et al. 2002).
» Nicht die Anzahl der Dinge, an die ich mich erinnere, ist
erstaunlich, sondern die Anzahl der Dinge, die gar nicht
Fehlinformations- und Imaginationseffekte kommen zum
so waren, wie ich sie erinnere.
Teil deshalb vor, weil ähnliche Hirnbereiche aktiviert werden,
Mark Twain (1835–1910)
wenn man etwas visualisiert und wenn man tatsächlich etwas
wahrnimmt (Gonsalves et al. 2004). Imaginierte Ereignisse wir- Und hier kommt die Auflösung der Erinnerungsaufgabe – die
ken im Nachhinein auch vertrauter, und vertraute Dinge er- sechs Wörter waren: Fahrrad, Nichts, Zigarette, innewohnend,
scheinen uns realer. Je lebhafter wir uns etwas vorstellen können, Feuer, Prozess.
desto eher wird es zu einer unserer Erinnerungen (Loftus 2001;
Porter et al. 2000; . Abb. 9.37).
9.6.2 Quellenamnesie
Bei der Beschreibung von Mnemotechniken habe ich Ihnen sechs
Wörter vorgegeben und gesagt, ich würde Sie später darauf Zu den empfindlichsten Teilen einer Erinnerung gehört ihre
testen. Wie viele von diesen Wörtern können Sie jetzt erinnern? Quelle. So kann es passieren, dass wir einen Menschen wiederer-
Wie viele davon sind sehr bildhafte Wörter? Wie viele sind wenig kennen, jedoch keine Ahnung haben, wo wir ihm schon einmal
bildhaft? (Versuchen Sie sich zunächst zu erinnern – danach begegnet sind. Es kommt auch vor, dass wir von einem Erlebnis
können Sie Ihre Liste mit den am Ende dieses Abschnitts versteck- träumen und später nicht sicher sind, ob es tatsächlich statt-
ten Wörtern abgleichen.) gefunden hat. Oder wir erinnern uns falsch daran, wie wir von
etwas erfahren haben (Henkel et al. 2000). Auch Psychologen
In Umfragen an britischen und kanadischen Universitäten hat fast sind gegen diese Möglichkeit nicht gefeit. Zu seiner großen Ver-
ein Viertel der Studierenden von autobiografischen Erinnerungen blüffung erfuhr der berühmte Entwicklungspsychologe Jean
berichtet, die sich später für sie als nicht zutreffend herausstellten Piaget als Erwachsener, dass eine äußerst lebendige und detail-
(Mazzoni et al. 2010). Ich kann dem nur zustimmen. Jahrzehnte- reiche Erinnerung aus seiner Kindheit – an ein Kindermädchen,
lang war meine früheste, sehr wertvolle Erinnerung an meine das seine Entführung vereitelt hatte – völlig falsch war. Offen-
Eltern die, dass sie aus dem Bus stiegen und auf unser Haus zu- sichtlich hatte er die Erinnerung konstruiert, weil die Geschichte
gingen, um meinen kleinen Bruder aus dem Krankenhaus nach immer wieder erzählt wurde (sein Kindermädchen gestand
Hause zu bringen. Als ich diese Erinnerung als Erwachsener ir- später, nachdem es einen anderen Glauben angenommen hatte,
gendwann mit meinem Vater teilte, versicherte er mir, dass sie dass alles frei erfunden war). Indem er seine »Erinnerung« mehr
9.6 · Fehler beim Gedächtnisaufbau
359 9
seiner eigenen Erfahrung als den Geschichten seines Kinder- nis? Die Hälfte der Teilnehmer berichtete Déjà-vu-Erlebnisse –
mädchens zuschrieb, machte Piaget Erfahrung mit Quellen- ein Gefühl der Vertrautheit, ohne bewusst angeben zu können,
amnesie (auch Quellen-Fehlattribution genannt). Fehlattribu- woher es kam. Brown und Marsh nehmen an, dass manche All-
tionen bilden die Ursache vieler falscher Erinnerungen. Manch- tagserfahrungen darin bestehen, dass man äußerst kurz eine
mal sind auch Autoren und Songschreiber davon betroffen. Sie visuelle Szene betrachtet, wegsieht, ohne sie bewusst zu verarbei-
halten einen Einfall für das Ergebnis ihrer eigenen kreativen ten, und dann wieder hinsieht – nur um das untrügliche Gefühl
Geistesarbeit, während es sich in Wahrheit um ein unbeab- zu erleben, sie schon einmal gesehen zu haben.
sichtigtes Plagiat von etwas handelt, das sie vorher gelesen oder Das Schlüsselmerkmal eines Déjà-vu scheint Vertrautheit
gehört haben. mit einem Reiz zu sein, ohne eine klare Vorstellung davon zu
haben, wo wir ihm bereits begegnet sind (Cleary 2008). Norma-
Quellenamnesie (»source amnesia«) – man ordnet ein erlebtes Ereignis
oder etwas, das man gehört, gelesen oder sich vorgestellt hat, einer lerweise erleben wir ein Gefühl von Familiarität (aufgrund der
falschen Quelle zu (auch Quellen-Fehlattribution genannt). Zusammen mit Verarbeitungsprozesse im Temporallappen), bevor wir uns be-
dem Fehlinformationseffekt ist die Quellenamnesie der Ursprung vieler wusst an Details erinnern (aufgrund der Verarbeitung im Hippo-
falscher Erinnerungen.
campus und Frontallappen). Wenn diese Funktionen (und Hirn-
Debra Poole und Stephen Lindsay (1995, 2001, 2002) demons- regionen) desynchronisiert sind, ist es möglich, dass wir ein
trierten Quellenamnesie bei Vorschulkindern. Sie inszenierten Vertrautheitsgefühl ohne bewusste Erinnerung haben. Unser
eine Begegnung der Kinder mit »Mr. Science«, der sie für ver- erstaunliches Gehirn versucht, Sinn in diesem so widersprüch-
schiedene Kunststücke begeisterte wie beispielsweise das Auf- lichen Sachverhalt zu sehen, und es entsteht das unheimliche
blasen eines Luftballons mit Hilfe von Backpulver und Essig. Gefühl, dass wir einen früheren Teil unseres Lebens wieder er-
Drei Monate später lasen die Eltern den Kindern an drei auf- leben. Schließlich scheint die Situation bekannt, ohne dass wir
einander folgenden Tagen eine Geschichte vor, in der Dinge be- angeben könnten, warum. Unsere Quellenamnesie zwingt uns
schrieben wurden, die sie mit Mr. Science erlebt oder nicht erlebt dazu, das Beste zu tun, um einem solchen Moment Sinn zu
hatten. Als ein anderer Interviewer sie fragte, was Mr. Science verleihen.
ihnen vorgeführt hatte, wie etwa: »Hatte Mr. Science eine Ma-
schine mit Seilen, an denen gezogen werden konnte?«, erinner-
ten sich vier von zehn Kindern spontan daran, dass Mr. Science 9.6.3 Unterscheiden von echten und falschen
Sachen gemacht hatte, die nur in der Geschichte vorgekommen Erinnerungen
waren.
Quellenamnesie kann auch Déjà-vu-Erfahrungen erklären Aus dem Grund, dass Erinnerungen also gleichermaßen Repro-
(franz. »déjà vu« = schon einmal gesehen). Zwei Drittel der duktion wie Rekonstruktion sind, können wir nicht sicher sein,
Menschen haben schon einmal das flüchtige, aber äußerst ob eine Erinnerung real ist, nur weil sie sich so anfühlt. So wie
eigenartige Erlebnis gehabt, dass sie irgendwann zuvor bereits uns eine Wahrnehmungstäuschung als echte Wahrnehmung er-
»genau in dieser Situation« gewesen sein müssen. Meist passiert scheinen kann, empfinden wir auch eine nicht reale Erinnerung
es relativ gebildeten, fantasievollen jungen Erwachsenen, be- als sehr real.
sonders wenn sie müde oder gestresst sind (Brown 2003, 2004; Falsche Erinnerungen, die durch Suggestion von Fehlinfor-
McAneny 1996). Manche fragen sich: »Wie kann ich eine Situa- mationen oder durch die Fehlattribution der Quelle entstehen,
tion wiedererkennen, die ich zum ersten Mal erlebe?« Andere können dem Betreffenden nicht nur genau so real vorkommen
denken an Reinkarnation (»Das ist sicher eine Erfahrung aus wie echte Erinnerungen, sondern auch sehr hartnäckig sein.
einem früheren Leben«) oder an Präkognition (»Ich habe diese Stellen Sie sich bitte vor, ich lese Ihnen eine Liste mit Wörtern
Szene vor meinem inneren Auge gesehen, ehe ich sie tatsächlich wie »Bonbon«, »Zucker«, »Honig« und »Geschmack« vor. Etwas
erlebte«). später fordere ich Sie auf, die dargebotenen Wörter auf einer
längeren Liste wiederzuerkennen. Wenn Sie so reagieren wie
Déjà-vu-Erfahrung (»déjà vu«) – der unheimliche Eindruck, etwas schon
einmal erlebt zu haben. Hinweisreize aus der aktuellen Situation könnten die Versuchsteilnehmer von Henry Roediger und Kathleen
unbewusst die Erinnerung an eine frühere Situation auslösen. McDermott (1995), dann irren Sie sich in 3 von 4 Fällen – Sie
erinnern sich fälschlicherweise an ein ähnliches Wort, das nicht
Alan Brown und Elizabeth Marsh (2009) haben sich eine ver- vorgelesen wurde, vielleicht das Wort »süß«. Wir erinnern uns
blüffende Methode ausgedacht, Déjà-vu-Erfahrungen im Labor leichter an das Wesentliche als an die Wörter selbst.
zu induzieren. Sie luden Versuchspersonen dazu ein, Symbole Die Konstruktion von Erinnerung erklärt auch, warum 79%
auf einem Bildschirm zu betrachten und anzugeben, ob sie diese von 200 Straftätern, die später durch DNA-Analysen freige-
je zuvor gesehen hatten. Was die Teilnehmer nicht wussten: Vor- sprochen wurden, ursprünglich aufgrund falscher Identifizie-
her waren diese Symbole subliminal auf dem Bildschirm erschie- rungen durch Augenzeugen verurteilt worden waren (Garrett
nen, zu kurz für eine bewusste Wahrnehmung. Und das Ergeb- 2008). Dieses Konzept erklärt, weshalb »hypnotisch aufgefrisch-
360 Kapitel 9 · Gedächtnis

der das Leben von Erwachsenen über einen gewissen Zeitraum


hinweg verfolgte, merkte einmal an: »Aus einer Raupe wird nur
zu gerne ein Schmetterling, der dann behauptet, schon in der
Kindheit ein kleiner Schmetterling gewesen zu sein. Der Rei-
fungsprozess macht uns alle zu Lügnern.«

9.6.4 Das Augenzeugengedächtnis von Kindern

? 9.18 Wie verlässlich sind Augenzeugenaussagen jüngerer


Kinder und warum werden Berichte über verdrängte und
wiederentdeckte Erinnerungen so hitzig debattiert?

Wenn auch völlig real empfundene Erinnerungen manchmal


völlig falsch sein können, wäre es dann denkbar, dass die Erinne-
rung von Kindern an sexuellen Missbrauch ein Irrtum sein
könnte? Stephen Ceci (1993) stellt fest, »dass es verheerend wäre,
wenn wir das ungeheure Ausmaß des sexuellen Missbrauchs an
9 Kindern aus den Augen verlieren würden«. Doch die Studien, die
Ceci und Maggie Bruck (1993, 1995) über das Gedächtnis von
Kindern durchführten, sensibilisierten sie auch dafür, wie leicht
. Abb. 9.38 (Copyright © The New Yorker Collection, 1993, Lee Lorenz /
cartoonbank.com) es ist, die Erinnerungen von Kindern zu beeinflussen. Zum Bei-
spiel forderten sie 3-jährige Kinder auf, an einer anatomisch kor-
rekten Puppe zu zeigen, wo der Kinderarzt sie angefasst hatte.
te« Erinnerungen an Verbrechen so häufig Fehler enthalten, von 55% der Kinder, deren Genitalien nicht untersucht worden
denen einige durchaus von den leitenden Fragen des Hypnoti- waren, zeigten entweder auf den Genital- oder den Analbereich.
seurs herrühren können (»Haben Sie laute Geräusche gehört?«; In anderen Experimenten untersuchten die Forscher die Wir-
. Abb. 9.38). Es erklärt, warum zwei Menschen, die sich ineinan- kung von suggestiven Fragetechniken (Bruck u. Ceci 1999, 2004).
der verlieben, ihren ersten Eindruck vom anderen überschätzen In einem Fall wählte ein Kind aus einem Stapel von Karten, auf
(»Es war Liebe auf den ersten Blick«), während Paare, deren Be- denen bestimmte Ereignisse beschrieben waren, eine Karte aus,
ziehung zerbricht, ihre frühere Liebe eher unterschätzen (»Wir die ihm dann von einem Erwachsenen vorgelesen wurde. Etwa:
haben eigentlich nie richtig zusammengepasst«) (McFarland u. »Denk mal gut nach und sag mir, ob dir das schon mal passiert
Ross 1987). Und es erklärt, warum sich Personen auf die Frage, ist. Kannst du dich daran erinnern, dass du mit einer Mausefalle
welche Haltung sie vor 10 Jahren gegenüber Marihuana oder bei am Finger ins Krankenhaus musstest?« In Befragungen forderte
der Diskussion um Geschlechterrollen einnahmen, an Einstel- dann derselbe Erwachsene die Kinder auf, wiederholt über ver-
lungen erinnern, die mehr Ähnlichkeit mit ihrer aktuellen Mei- schiedene tatsächliche und fiktive Ereignisse nachzudenken.
nung aufweisen als mit derjenigen, die sie ein Jahrzehnt früher Nach 10 Wochen solcher Fragerunden kam ein neuer Erwachse-
wirklich vertreten haben (Markus 1986). Das aktuelle Gefühl von ner und stellte den Kindern dieselben Fragen. Das verblüffende
Menschen tendiert stark dazu, dem zu entsprechen, wie sie sich Ergebnis: 58% der Vorschulkinder produzierten falsche (oft leb-
immer schon gefühlt zu haben glauben (Mazzoni u. Vannucci hafte) Geschichten von einem oder mehreren Ereignissen, die sie
2007; erinnern Sie sich auch an unsere Neigung zum Rückschau- nie erlebt hatten (Ceci et al. 1994), wie beispielsweise diese:
fehler aus 7 Kap. 2).
Ein Forscherteam befragte 73 Jungen im Alter von etwa
» Mein Bruder Colin wollte mir Blowtorch (eine Spielzeugfi-
gur) wegnehmen. Ich wollte Blowtorch aber nicht loslassen,
15 Jahren und wiederholte die Befragung 35 Jahre später. Als sie
deshalb schubste er mich in den Holzstapel, in dem die
sich beim zweiten Mal zu erinnern versuchten, was sie damals
Mausefalle war. Und da kam mein Finger in die Falle. Und
über ihre Einstellungen, Aktivitäten und Erfahrungen berichtet
dann fuhren wir zum Krankenhaus, meine Mama, mein Papa,
hatten, reproduzierten die meisten Teilnehmer Aussagen, deren
Colin und ich, wir fuhren mit unserem Kleinbus zum
Übereinstimmung mit ihren tatsächlichen früheren Aussagen
Krankenhaus, denn das war weit. Und der Doktor hat dann
bestenfalls im Zufallsbereich lag. Nur ein Drittel der Männer er-
den Finger verbunden.
innerte sich als Erwachsene an körperliche Bestrafung in Kind-
heit und Jugend; als Jugendliche hatten jedoch 82% davon Von Geschichten, die so viele Details enthalten, ließen sich auch
gesprochen (Offer et al. 2000). George Vaillant (1977, S. 197), professionelle, auf die Befragung von Kindern spezialisierte
9.6 · Fehler beim Gedächtnisaufbau
361 9
Psychologen täuschen und konnten echte Erinnerungen nicht losen Erwachsenen erheblichen Schaden zufügt? Oder haben sie
mit Sicherheit von falschen unterscheiden. Die Kinder selbst tatsächlich die Wahrheit ans Licht gebracht?
konnten es auch nicht. Als man das Kind aus dem obigen Bericht Die Forschung über Quellenamnesie und Fehlinformations-
darauf hinwies, dass seine Eltern ihm mehrfach gesagt hatten, effekte weckt jedenfalls Bedenken gegenüber Erinnerungen,
diese Mausefallengeschichte sei nie passiert, sondern er habe die unter therapeutischer Anleitung wieder aufgedeckt werden.
sie sich ausgedacht, protestierte er: »Aber es ist wirklich passiert. Einige Therapeuten haben bei ihren Patienten folgendes Argu-
Ich kann mich daran erinnern!« In einem anderen Experiment ment vorgebracht: »Menschen, die missbraucht worden sind,
hörten Vorschulkinder bloß eine fälschliche Bemerkung mit, haben häufig die Symptome, die Sie haben. Deshalb sind Sie
dass sich das entlaufene Kaninchen eines Zauberers in ihrer wahrscheinlich missbraucht worden. Wir wollen sehen, ob Sie
Klasse aufhalten solle. Nach späteren suggestiven Fragen er- das mit Hilfe von Hypnose oder Medikamenten, durch die
innerten sich 78% der Kinder daran, das Kaninchen tatsächlich Beschäftigung mit der Vergangenheit oder durch die Visuali-
gesehen zu haben (Principe et al. 2006). »[Die] Forschung be- sierung Ihres Traumas aufdecken können.« Solche Techniken
reitet mir Sorgen wegen der Möglichkeiten falscher Anschuldi- können dann bei Patienten bewirken, dass sie tatsächlich das
gungen. Man erweist der wissenschaftlichen Integrität keine Bild einer Person sehen, von der sie bedroht werden. Durch
Ehre, wenn man keine eindeutige Aussage trifft, obwohl die Be- weitere Visualisierung wird dieses Bild immer lebendiger und
funde in eine Richtung deuten«, äußerte sich Ceci (1993). versetzt den Patienten in einen Zustand der Überwältigung
Bedeutet das, dass Kinder niemals verlässliche Augenzeugen und der Wut, in dem er bereit ist, den mutmaßlichen Täter da-
sein können? Nein – denn befragt man Kinder in neutralen mit zu konfrontieren oder vor Gericht zu bringen. Dort weist
Worten, die sie verstehen, über ihre Erlebnisse, dann können sie dann der ebenso entsetzte und überwältigte Betroffene, häufig
oft genau berichten, was geschehen ist und wer es getan hat ein Elternteil oder ein Verwandter, den Vorwurf aufs Heftigste
(Goodman 2006; Howe 1997; Pipe 1996). Wenn die Interviewer zurück.
weniger suggestive, sondern effektivere Techniken anwenden, Kritiker stellen nicht die Professionalität der meisten Thera-
geben selbst 4- bis 5-Jährige genauere Erinnerungen an (Holliday peuten in Frage. Genauso wenig sprechen sie denen, die solche
u. Albon 2004; Pipe et al. 2004). Kinder sind dann besonders Anschuldigungen erheben, ihre Ehrlichkeit ab; schließlich sind
präzise, wenn vor dem Interview kein Erwachsener mit ihnen ihre Erinnerungen, selbst wenn sie falsch sind, völlig echt emp-
spricht, der in die Sache involviert ist, und wenn sie ihre Aussage funden. Skeptische Vorwürfe richten sich jedoch speziell gegen
in einer ersten Befragung mit einer neutralen Person machen klinische Psychologen, die Techniken zur »Gedächtnisarbeit«
können, deren Fragen nicht in eine bestimmte Richtung weisen. einsetzen, wie etwa »geführte Imagination«, Hypnose oder
Traumdeutung, um Erinnerungen aufzudecken. »Tausende von
Wie Kinder (deren Frontallappenentwicklung noch nicht ganz
Familien wurden brutal entzweit«, indem »einst liebevolle
abgeschlossen ist), sind ältere Erwachsene – insbesondere
Töchter« als Erwachsene plötzlich ihre Väter beschuldigten
diejenigen, deren Frontallappenfunktionen nachlassen – anfäl-
(Gardner 2006). Aufgebrachte klinische Psychologen entgegnen
liger für falsche Erinnerungen als junge Erwachsene. Dadurch
darauf, dass diejenigen, die wiederentdeckte Erinnerungen an
werden ältere Menschen eher zu Opfern von Betrugsversuchen,
Missbrauch leugnen, ihrerseits das Trauma der Missbrauchten
z. B. wenn ein Handwerker einen zu hohen Preis verlangt, indem
verstärkten und das Spiel der Kinderschänder mitmachten.
er fälschlicherweise behauptet: »Ich habe Ihnen gesagt, dass
In dem Bemühen, einen vernünftigen gemeinsamen Nenner
es so viel kostet, und Sie waren bereit zu zahlen« (Jacoby et al.
zu finden, um diesen »Gedächtniskrieg« der Psychologie zu be-
2005; Jacoby u. Rhodes 2006; Roediger u. Geraci 2007; Roediger
enden, haben einige Berufsverbände (die American Medical,
u. McDaniel 2007).
American Psychological und American Psychiatric Association;
die Australian Psychological und British Psychological Society
9.6.5 Verdrängte oder konstruierte und die Canadian Psychiatric Association) Untersuchungsaus-
Erinnerungen an Missbrauch schüsse eingerichtet und öffentliche Verlautbarungen bekannt
gegeben. Die, die mit dem Schutz der missbrauchten Kinder be-
Zwei Tragödien sind mit der Wiedererinnerung von Erwach- auftragt sind, und die, die mit der Verteidigung der fälschlich
senen an Missbrauch in der Kindheit verbunden. Eine ereignet angeklagten Erwachsenen betraut sind, haben sich auf folgende
sich, wenn Missbrauchsopfern, die ihr Geheimnis preisgeben, Punkte verständigt:
nicht geglaubt wird. Die andere passiert, wenn Unschuldige 4 Sexueller Missbrauch ist Realität. Und er kommt häufiger
falsch bezichtigt werden. Was sollen wir also davon halten, wenn vor, als wir früher angenommen haben. Wenngleich sexu-
Menschen durch klinische Psychologen darin bestärkt wurden, eller Missbrauch bei den Opfern zu einer Prädisposition
Erinnerungen an eine Missbrauchserfahrung in der Kindheit für Probleme führen kann, die von sexueller Dysfunktion
»aufzudecken«? Könnten die guten Absichten dieser Therapeu- bis zur Depression reichen (Freyd et al. 2007), gibt es kein
ten eine falsche Erinnerung ausgelöst haben, die einem schuld- typisches »Überlebendensyndrom« – keine Gruppe von
362 Kapitel 9 · Gedächtnis

Symptomen, anhand derer wir die Opfer sexuellen Miss- lichem Stress führen kann (McNally 2003, 2007). Menschen,
brauchs eindeutig identifizieren könnten (Kendall-Tackett die bei einem Unfall, an dessen Hergang sie sich nicht
et al. 1993). erinnern können, bewusstlos werden, wissen das nur allzu
4 Ungerechtigkeit ist Realität. Schuldlose Menschen wurden gut. Manchmal entwickeln sie später eine posttrauma-
in manchen Fällen zu Unrecht verurteilt. Und Schuldige tische Belastungsstörung, wenn sie von Erinnerungen ver-
entzogen sich der Verantwortung, indem sie Zweifel an der folgt werden, die sie aus Fotos, Zeitungsberichten und den
Glaubwürdigkeit der Ankläger säten, obwohl diese die Aussagen von Freunden konstruiert haben (Bryant 2001).
Wahrheit erzählten.
4 Vergessen ist Realität. Viele der tatsächlich Missbrauchten
» Wenn Erinnerungen nach einer langen Zeit der Amnesie
›aufgedeckt‹ werden, vor allem wenn außergewöhnliche
waren entweder sehr jung, als sie missbraucht wurden,
Mittel eingesetzt werden, um die Aufdeckung der Erinne-
oder haben möglicherweise die Bedeutung dessen, was sie
rung sicherzustellen, dann ist die Wahrscheinlichkeit groß,
erlebt haben, noch nicht verstanden – unter solchen
dass die Erinnerungen falsch sind.
Umständen kommt Vergessen sehr häufig vor. Es gehört zur
Royal College of Psychiatrists Working Group on
Normalität unseres Alltags, vereinzelte Ereignisse zu ver-
Reported Recovered Memories of Child Sexual Abuse
gessen, ganz gleich, ob sie negativ oder positiv waren.
(Brandon et al. 1998)
4 Wieder aufgedeckte Erinnerungen sind nicht ungewöhn-
lich. Mit einer Bemerkung oder einem Ereignis als Auslöser Die Debatte über Verdrängung und sexuellen Missbrauch in der
wecken wir alle gelegentlich Erinnerungen an längst ver- Kindheit hat wie viele andere wissenschaftliche Diskussionen
9 gessene Ereignisse, seien es angenehme oder unangenehme. neue Forschungsarbeiten und neue Theorien angeregt. Richard
Worüber viele Psychologen streiten, ist zweierlei: einmal McNally und Elke Geraerts (2009) gehen davon aus, dass die
die Frage, ob das Unbewusste manchmal schmerzhafte Er- meisten Opfer von sexuellem Missbrauch in der Kindheit ihre
fahrungen gewaltsam verdrängt, und falls es so ist, ob solche Erfahrung nicht verdrängen, sondern vielmehr einfach aufhö-
Erfahrungen dann durch bestimmte therapeutische Tech- ren, Gedanken und Emotionen darauf zu verwenden. McNally
niken der Erinnerung wieder zugänglich gemacht werden und Geraerts glauben, dass dieses Loslassen der Erinnerungen
können. (Erinnerungen, die auf natürlichem Wege wieder am ehesten eintritt, wenn:
an die Oberfläche gelangen, können zumindest eher bestä- 4 das Erlebnis, als es geschah, eher als merkwürdig, un-
tigt werden [Geraerts et al. 2007].) angenehm und verwirrend empfunden wurde statt folgen-
4 Erinnerungen aus den ersten 3 Lebensjahren sind nicht ver- schwer traumatisierend.
lässlich. Wir erinnern uns nicht wirklich an Geschehnisse 4 der Missbrauch nur einmal oder wenige Male vorge-
aus den ersten 3 Lebensjahren. Wie bereits erwähnt, besteht kommen ist.
diese kindliche Amnesie, während unsere Gehirnstrukturen 4 die Opfer keine Zeit damit verbracht haben, über den Miss-
noch nicht ausreichend entwickelt sind, um die Art von brauch nachzudenken, entweder aufgrund ihrer eigenen
Erinnerungen zu bilden, die wir später im Leben bilden Resilienz oder weil es nichts gab, was sie daran erinnerte.
werden. Deshalb sind die meisten Psychologen – klinische
wie auch in der Beratung tätige – skeptisch gegenüber McNally und Geraerts räumen zwar ein, dass prägnante
»wieder aufgedeckten« Erinnerungen an einen Missbrauch Erinnerungen an Missbrauch in der Kindheit von den Opfern
in der frühen Kindheit (Gore-Felton et al. 2000; Knapp u. manchmal spontan wiedererinnert werden. Aber im Normalfall
VandeCreek 2000). Je älter ein Kind ist, wenn es Opfer kehren diese Erinnerungen außerhalb einer Therapiesitzung
von sexuellem Missbrauch wird, und je schwerwiegender zurück. Darüber hinaus entwickeln Personen, die sich spontan
der Missbrauch war, desto wahrscheinlicher ist es, dass er an einen Missbrauch erinnern, kaum falsche Erinnerungen in
erinnert wird (Goodman et al. 2003). Laborexperimenten. Diejenigen, die während einer suggestiven
4 Erinnerungen, die unter Hypnose oder unter Medikamen- Therapie auf Missbrauchserinnerungen stoßen, neigen umge-
teneinfluss »wieder aufgedeckt« werden, sind besonders kehrt jedoch zu lebhaften Vorstellungen und erzielen ein hohes
unzuverlässig. Menschen, die in Hypnose versetzt werden, Ergebnis in Tests, die falsche Erinnerungen im Labor überprüfen
nehmen alle Arten von Suggestionen und Mutmaßungen (Clancy et al. 2000; McNally 2003).
in ihre Erinnerungen auf, sogar Erinnerungen an »frühere Kommt die Verdrängung bedrohlicher Erinnerungen also
Leben«. überhaupt jemals vor? Oder ist dieses Konzept – der Eckpfeiler
4 Erinnerungen, ob richtig oder falsch, können emotional von Freuds Theorie und eines großen Teils der Populärpsycho-
aufwühlen. Sowohl der Ankläger als auch der Angeklagte logie – irreführend? In 7 Kap. 14 kehren wir zu diesem heiß dis-
können darunter leiden, wenn etwas, das nur durch kutierten Thema zurück. Bis dahin scheint so viel sicher zu sein:
Suggestion ins Leben gerufen wurde, wie ein echtes Trauma Die häufigste Reaktion auf eine traumatische Erfahrung (Zeuge
zu einer schmerzenden Erinnerung wird, die zu körper- zu werden, wie eine geliebte Person ermordet wird, Opfer eines
9.7 · Gedächtnistraining
363 9
Entführers oder Vergewaltigers zu werden oder Hab und Gut
in einer Naturkatastrophe zu verlieren) besteht nicht in der Ver-
bannung dieser Erfahrung ins Unbewusste. Solche Erlebnisse
bleiben üblicherweise eher als lebendige, dauerhafte und qual-
volle Erinnerung in unserem Gedächtnis haften (Porter u. Peace
2007). Wie hat es Robert Kraft (2000) in Bezug auf die Erfahrun-
gen der Gefangenen eines KZ ausgedrückt: »Der Schrecken
durchzuckt das Gedächtnis und hinterlässt ... zehrende Erinne-
rungen an Gräueltaten.«

Prüfen Sie Ihr Wissen

5 Wenn man an die Verbreitung von Quellenamnesie


denkt, wie sähe unser Leben aus, wenn wir uns an
all unsere Erlebnisse im Wachzustand und all unsere
Träume erinnern könnten?

9.7 Gedächtnistraining

? 9.19 Wie können Sie die Erkenntnisse der Gedächtnisfor-


schung nutzen, um im Studium bessere Leistungen zu zeigen?

Wie die Biologie der Medizin nützt und die Botanik der Land- . Abb. 9.39 Denken und Gedächtnis. Die besten Behaltenseffekte erzielt
man, wenn man aktiv beim Lesen nachdenkt, wenn man wiederholt, die
wirtschaft, so kann auch die Gedächtnispsychologie bei Bildung Gedanken zueinander in Bezug setzt und die Lerninhalte mit Bedeutung
und Lernen von Nutzen sein. Über das ganze Kapitel verstreut füllt. (© Wavebreak Media / Thinkstock)
– und hier zur leichteren Verwendung zusammengefasst – finden
Sie konkrete Vorschläge, wie Sie sich besser an Informationen
erinnern können, sobald es erforderlich ist. Die in 7 Kap. 1 vor- Verleihen Sie dem Gelernten eine Bedeutung Um ein Assozia-
gestellte Lerntechnik mit dem Kürzel SQ3R (Survey, Question, tionsnetz aus Hinweisreizen aufzubauen, sollten Sie Notizen zu
Read, Retrieve, Review) – also Überblick verschaffen, Fragen diesem Text und zu Vorlesungen in Ihren eigenen Worten anfer-
stellen, lesen, abrufen und nochmal durchdenken – beinhaltet tigen. Wenden Sie die Konzepte auf Ihr eigenes Leben an. Ent-
mehrere dieser Strategien. wickeln Sie Bilder. Durchdringen Sie die Informationen und
betten Sie sie in eine Organisationsstruktur ein. Stellen Sie einen
Wiederholtes Lernen verankert den Lernstoff besser Wenden Bezug zu bereits Gelerntem oder zu Ihren eigenen Erfahrungen
Sie verteilte Übung an, um neue Inhalte zu lernen, und lernen her (. Abb. 9.39). William James (1890) hat vorgeschlagen: »Ver-
Sie ein Konzept in vielen separaten Lektionen. Nutzen Sie dazu knüpfen Sie alles Neue mit etwas von dem, was Sie bereits erwor-
die kleinen Intervalle, die das Leben Ihnen bietet: eine Fahrt mit ben haben.« Formulieren Sie Konzepte in eigenen Worten neu.
dem Bus, einen Gang über das Universitätsgelände oder die Bloßes Wiederholen der Worte eines anderen versorgt Sie nicht mit
Wartezeit bis zur nächsten Vorlesung. Neue Erinnerungen sind vielen Abrufhinweisen. Es könnte dazu führen, dass Sie in einer
schwach: Wenn Sie sie einüben, werden Sie sie festigen. Um be- Klausur an einer Frage hängenbleiben, wenn diese nicht in den
stimmte Fakten oder Persönlichkeiten zu behalten, hat Thomas gleichen Worten formuliert ist, an die Sie sich erinnern können.
Landauer (2001) vorgeschlagen: »Sprechen Sie den Namen oder
die Zahl, die Sie sich merken wollen, innerlich nach, warten Sie Aktivieren Sie Abrufhilfen Versetzen Sie sich mental in die Situa-
ein paar Sekunden und wiederholen Sie es; warten Sie etwas tion und Ihre Stimmung zu dem Zeitpunkt zurück, als Sie den
länger, und wiederholen Sie es noch einmal; warten Sie dann Lernstoff durchgearbeitet haben. Betreiben Sie Gehirnjogging,
noch länger und wiederholen Sie es erneut. Sie sollten so lange indem Sie jeden Gedanken zum Auslöser für einen weiteren wer-
wie möglich warten, ohne dass die Information verlorengeht.« den lassen.
Das Lesen von komplexem Material ohne ausreichendes inneres
Nachsprechen führt zu geringer Behaltensleistung. Wiederholen Benutzen Sie Mnemotechniken Assoziieren Sie Begriffe mit
und kritisches Nachdenken sind eher hilfreich. Es zahlt sich aus, »Aufhängern«. Erfinden Sie eine Geschichte, in der die Items
aktiv zu lernen. auf bildhafte Weise lebendig werden. Verwenden Sie Chunks
364 Kapitel 9 · Gedächtnis

aus Akronymen und rhythmische Reime (»Wer nämlich mit h jSpeichern: Erinnerungen ablegen
schreibt, ist dämlich«). 9.9 Wie groß ist die Kapazität des Langzeitgedächtnisses und wo
ist es lokalisiert?
Vermeiden Sie Interferenz Lernen Sie vor dem Zubettgehen. 9.10 Welche Rolle spielen der Frontallappen und der Hippo-
Versuchen Sie sich nicht direkt nacheinander an zwei Themen- campus beim Speichern von Erinnerungen?
bereichen, die leicht miteinander interferieren könnten, wie etwa 9.11 Welche Rolle spielen das Zerebellum und die Basalganglien
spanische und französische Vokabeln. bei unseren Gedächtnisprozessen?
9.12 Wie beeinflussen Emotionen unsere Verarbeitung von Er-
Schlafen Sie mehr Im Schlaf organisiert Ihr Gehirn Informa- innerungen?
tionen neu und konsolidiert sie für die Aufnahme ins Langzeit- 9.13 Wie wirken sich Veränderungen auf der Ebene der Synap-
gedächtnis. Schlafmangel unterbricht diesen Vorgang. sen auf die Verarbeitung von Erinnerungen aus?

Testen Sie Ihr Wissen erstens, um es zu wiederholen, und zweitens, jAbrufen: Informationen wieder hervorholen
um herauszufinden, was Sie noch nicht wissen Lassen Sie sich 9.14 Auf welche drei verschiedenen Arten kann die Behaltens-
nicht durch übermäßiges Vertrauen in Ihre Fähigkeit, Informa- leistung gemessen werden?
tionen wiederzuerkennen, täuschen. Überprüfen Sie, woran Sie 9.15 Wie beeinflussen externe Hinweise, innere Empfindungen
sich erinnern, lieber mit Hilfe der »Prüfen Sie Ihr Wissen«-Fragen, und die Reihenfolge der Präsentation den Abruf von Informa-
die Sie in jedem Kapitel verteilt finden, und den Antworten zu den tionen aus dem Gedächtnis?
9 Verständnisfragen in Anhang A3 oder auf der Website zum Buch.
Fassen Sie Abschnitte auf einem leeren Blatt Papier zusammen. jVergessen
Versuchen Sie, die Fachbegriffe und Konzepte, die am Ende eines 9.16 Warum vergessen wir?
Kapitels aufgeführt sind, kurz zu definieren, ehe Sie zum Text
zurückgehen und die Definition nachlesen. Machen Sie prakti- jFehler beim Gedächtnisaufbau
sche Tests; eine gute Quelle dafür sind die Websites und die Lern- 9.17 Wie beeinflussen Fehlinformationen, Imagination und
hilfen, die viele Bücher begleiten – auch das, das Sie gerade lesen. Quellenamnesie das Gedächtnis und wie stellen wir fest, ob eine
Erinnerung wahr oder falsch ist?
Prüfen Sie Ihr Wissen
9.18 Wie verlässlich sind Augenzeugenaussagen jüngerer Kinder
5 Welche Gedächtnisstrategien wurden Ihnen im gerade und warum werden Berichte über verdrängte und wiederent-
gelesenen Abschnitt empfohlen? deckte Erinnerungen so hitzig debattiert?

jGedächtnistraining
9.19 Wie können Sie die Erkenntnisse der Gedächtnisforschung
9.8 Kapitelrückblick nutzen, um im Studium bessere Leistungen zu zeigen?

9.8.1 Verständnisfragen
9.8.2 Schlüsselbegriffe
jDie Erforschung des Gedächtnisses
9.1 Was versteht man unter Gedächtnis? 4 Abruf oder aktive, freie Reproduktion
9.2 Wie beschreiben Psychologen das menschliche Gedächtnis- 4 Abrufen
system? 4 Anterograde Amnesie
9.3 Wie lassen sich explizite und implizite Erinnerungen unter- 4 Arbeitsgedächtnis
scheiden? 4 Automatische Verarbeitung
4 Bewusste Verarbeitung
jEnkodieren: Erinnerungen herstellen 4 Blitzlichterinnerungen
9.4 Welche Informationen verarbeiten wir automatisch? 4 Chunking
9.5 Wie funktioniert das sensorische Gedächtnis? 4 Déjà-vu-Erfahrung
9.6 Wie groß sind die Kapazitäten des Kurzzeit- und Arbeits- 4 Echogedächtnis
gedächtnisses? 4 Enkodieren
9.7 Welche bewussten Verarbeitungsstrategien können uns beim 4 Erneutes Lernen
Erinnern an neue Informationen helfen? 4 Explizites Gedächtnis
9.8 Welche Informationsverarbeitungsebenen gibt es und wie 4 Fehlinformationseffekt
beeinflussen sie die Enkodierung? 4 Gedächtnis
9.8 · Kapitelrückblick
365 9
4 Hippocampus
4 Ikonisches Gedächtnis
4 Implizites Gedächtnis
4 Kurzzeitgedächtnis
4 Langzeitgedächtnis
4 Langzeitpotenzierung (LTP)
4 Mnemotechniken
4 Oberflächliche Verarbeitung
4 Priming
4 Proaktive Interferenz
4 Quellenamnesie
4 Retroaktive Interferenz
4 Retrograde Amnesie
4 Sensorisches Gedächtnis
4 Serieller Positionseffekt
4 Spacing-Effekt
4 Speichern
4 Stimmungskongruente Erinnerung
4 Testeffekt
4 Tiefe Verarbeitung
4 Verdrängung
4 Wiedererkennen

9.8.3 Weiterführende deutsche Literatur

Anderson, J. R. (2013). Kognitive Psychologie (7. Aufl.). Wiesbaden:


Springer VS.
Hoffmann, J. & Engelkamp, J. (2013). Lern- und Gedächtnispsychologie.
Heidelberg: Springer.
Markowitsch, H. J. (2009). Dem Gedächtnis auf der Spur: Vom Erinnern
und Vergessen. Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft.
Sacks, O. (2009). Der Mann, der seine Frau mit einem Hut verwechselte
(35. Aufl.). Reinbek: Rowohlt.
Schacter, D. L. (2002). Wir sind Erinnerung, Gedächtnis und Persönlichkeit.
Reinbek: Rowohlt.
Schermer, F. J. (2013). Lernen und Gedächtnis (5. Aufl.). Stuttgart: Kohlhammer.
367 10

Denken und Sprache


David G. Myers

10.1 Denken – 368


10.1.1 Begriffe – 368
10.1.2 Problemlösen: Strategien und Hindernisse – 369
10.1.3 Entscheidungsfindung und Urteilsbildung – 371
10.1.4 Teilen andere Spezies unsere kognitiven Fähigkeiten? – 379

10.2 Sprache – 381


10.2.1 Struktur und Aufbau von Sprache – 382
10.2.2 Sprachentwicklung – 382
10.2.3 Gehirn und Sprache – 388
10.2.4 Verfügen andere Arten über Sprache? – 390

10.3 Denken und Sprache – 393


10.3.1 Einfluss der Sprache auf das Denken – 393
10.3.2 Denken in Bildern – 395

10.4 Kapitelrückblick – 396


10.4.1 Verständnisfragen – 396
10.4.2 Schlüsselbegriffe – 396
10.4.3 Weiterführende deutsche Literatur – 397

D. G. Myers, Psychologie,
DOI 10.1007/978-3-642-40782-6_10, © Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2014
368 Kapitel 10 · Denken und Sprache

Seit jeher beklagen wir Menschen unsere Torheit und rühmen irrationale. Wir werden sehen, wie wir mit den Informationen
uns unserer Weisheit. Der Dichter T.S. Eliot zeigte sich beein- umgehen, die wir aufnehmen, wahrnehmen, speichern und
druckt von der »Nichtigkeit des Menschen … mit Stroh im abrufen – manchmal zielgerichtet, manchmal fehlgeleitet. Wir
Kopf«. Shakespeares Hamlet dagegen preist des Menschenge- werden näher auf unsere Sprachfähigkeit eingehen und uns an-
schlechtes »edlen Geist … grenzenlose Fähigkeiten … gott- schauen, wie und warum sie sich entwickelt. Am Ende wollen wir
gleiche Fassungskraft«. In den vorangehenden Kapiteln haben darüber nachdenken, ob wir die Bezeichnung Homo sapiens –
auch wir über unsere Fähigkeiten genauso gestaunt wie über der weise Mensch – wirklich verdienen.
unsere Irrtümer.
Wir haben uns mit dem Gehirn des Menschen beschäftigt –
3 Pfund feuchtes Gewebe, etwa so groß wie ein kleiner Kohlkopf 10.1 Denken
und doch komplexer verschaltet als die Telefonleitungen des ge-
samten Planeten. Wir haben die Fähigkeiten von neugeborenen 10.1.1 Begriffe
Kindern bewundert. Wir haben über die menschliche Sinnes-
wahrnehmung gestaunt, die Sehreize in Nervenimpulse zerlegt,
? 10.1 Was ist Kognition und was sind die Funktionen
diese parallel verarbeitet und dann wieder zu klaren und farbigen
von Begriffen?
Bildern zusammensetzt. Wir haben uns Gedanken gemacht über
die anscheinend unbegrenzten Fähigkeiten unseres Gedächtnis- Die Kognitive Psychologie befasst sich mit mentalen Aktivitäten,
ses und die Leichtigkeit, mit der wir bewusst und unbewusst In- die mit Prozessen wie Denken, Wissen, Erinnern und Kommuni-
formationen verarbeiten. Es überrascht daher nicht, dass es der zieren verbunden sind. Eine dieser Aktivitäten ist das Bilden von
Menschheit kollektiv gelungen ist, die Fotografie, das Auto und Begriffen bzw. Kategorien: Dabei werden ähnliche Gegenstände,
den Computer zu erfinden, dass wir gelernt haben, Atome zu Ereignisse, Ideen, Personen usw. mental in Gruppen unterteilt
10 spalten und den genetischen Code zu entschlüsseln sowie in den und zusammengefasst. Der Begriff Stuhl umfasst eine Vielzahl
Weltraum und die Tiefen unseres Gehirns vorgedrungen sind. von Einzelelementen – den Hochstuhl für Babys, den Lehnstuhl,
Wir haben aber auch gesehen, dass unsere Spezies mit den den Zahnarztstuhl – welche alle zum Sitzen gedacht sind
anderen Tieren verwandt ist und dass in uns die gleichen Lern- (. Abb. 10.1). Begriffe vereinfachen unser Denken. Stellen Sie sich
mechanismen am Werk sind wie bei Ratten und Tauben. Wir ein Leben ohne sie vor. Für jede Person, jedes Ereignis, jedes
haben bemerkt, wie leicht wir nicht-ganz-so-weisen Menschen Objekt und jede Idee bräuchten wir ein eigenes Wort. Wir könn-
uns von Wahrnehmungstäuschungen in die Irre führen lassen, ten zu einem Kind nicht sagen: »Wirf den Ball«, denn den Begriff
Behauptungen über angebliche paranormale Ereignisse erliegen werfen oder Ball gäbe es gar nicht. Statt zu sagen: »Sie waren
und falschen Erinnerungen auf den Leim gehen. wütend«, müssten wir Gesichtsausdrücke, Intensitäten und
In diesem Kapitel werden wir weitere Beispiele für diese bei- Äußerungen beschreiben. Begriffe wie Ball und Wut geben uns
den Seiten des Menschen kennenlernen – die rationale und die mit wenig kognitivem Aufwand viele Informationen an die Hand.

. Abb. 10.1 (Copyright © The New Yorker Collection, 1977, Jeff Kaufman / cartoonbank.com)
10.1 · Denken
369 10
Kognition (»cognition«) – alle mentalen Aktivitäten, die mit Denken, Alte –, so nehmen wir sie oft nicht als solche wahr. Vorurteile von
Wissen, Erinnerung und Kommunikation zu tun haben.
Männern gegenüber Frauen werden schneller entdeckt als solche
Begriff (»concept«) – mentale Gruppierung ähnlicher Gegenstände, von Frauen gegenüber Männern oder Frauen gegenüber Frauen
Ereignisse, Ideen oder Personen.
(Inman u. Baron 1996; Marti et al. 2000). Begriffe beschleunigen
Häufig bilden wir Kategorien mit Hilfe von Prototypen – ein unser Denken und machen es zielgerichteter, aber sie machen
geistiges Bild oder ein typischer Fall einer Kategorie (Rosch uns nicht immer weise.
1978). Der Satz »Ein Spatz ist ein Vogel« wird intuitiv als sinnvol-
ler wahrgenommen als der Satz »Ein Pinguin ist ein Vogel«. Für
die meisten Menschen ist der Spatz irgendwie »vogeliger«; er 10.1.2 Problemlösen: Strategien und Hindernisse
entspricht eher unserem Prototyp eines Vogels. Und je näher ein
Gegenstand dem Prototyp einer Kategorie kommt – Vogel oder
? 10.2 Welche kognitiven Strategien helfen uns beim
Auto –, desto bereitwilliger ordnen wir ihn der betreffenden Ka-
Problemlösen und welche Hindernisse stehen uns im Weg?
tegorie zu.
Unsere Fähigkeit zum Problemlösen macht einen wesentlichen
Prototyp (»prototype«) – Vorstellungsbild oder typisches Beispiel für eine
Kategorie. Wenn man neue Wahrnehmungen mit dem Prototyp abgleicht, Teil unserer Rationalität aus. Wie umfahren wir am besten diesen
hat man ein schnelles und einfaches Verfahren, Wahrnehmungen in Verkehrsstau? Wie sollen wir mit der Kritik eines Freundes
Kategorien zu sortieren (z. B. wenn man gefiederte Lebewesen mit proto- umgehen? Wie kommen wir ins Haus, wenn wir den Schlüssel
typischen Vögeln wie dem Spatz vergleicht).
verloren haben?
Wenn wir etwas einer Kategorie zuordnen, verwandelt sich un- Manche Probleme lösen wir durch Versuch und Irrtum.
sere Erinnerung daran später in Richtung zum Prototyp für die Thomas Edison probierte Tausende von Glühfäden durch, bevor
Kategorie. So erging es auch belgischen Studenten, die Gesichter er zufällig auf einen stieß, der funktionierte. Bei anderen Pro-
betrachteten, die ethnische Mischformen darstellten. Wenn sie blemen folgen wir einem Algorithmus, einem Verfahren, das in
z. B. ein Gesicht sahen, das aus einer Mischung von 70% Merk- Einzelschritten garantiert zu einer Lösung führt. Allerdings
malen eines Weißen und 30% Merkmalen eines Asiaten bestand, können solche schrittweise vorgehenden Algorithmen arbeitsin-
kategorisierten die Befragten das Gesicht als weiß. Als sich ihre tensiv sein. Wenn wir z. B. ein sinnvolles Wort aus den Buch-
Erinnerung daran später in Richtung zum prototypischen Wei- staben SPLOYOCHEIG bilden sollen, könnten wir sämtliche
ßen verschoben hatte, erinnerten sie sich eher an ein zu 80% Buchstabenkombinationen durchprobieren – insgesamt
weißes Gesicht als an ein Gesicht, das zu 70% weiß war, wie sie es 39.916.800 Permutationen. Anstatt uns mit einem Gehirn mit
tatsächlich gesehen hatten (Corneille et al. 2004). Wenn man der Rechenleistung eines Computers auszustatten, stellt uns die
ihnen ein zu 70% asiatisches Gesicht zeigte, erinnerten sie sich Natur ein einfacheres Verfahren zur Verfügung, das man Heuris-
später eher an ein prototypisch asiatisches Gesicht. Das Gleiche tik nennt. So könnten wir die Anzahl der Möglichkeiten im
gilt für das soziale Geschlecht (»gender«): Diejenigen, denen SPLOYOCHEIG-Beispiel verringern, indem wir bestimmte
man zu 70% männliche Gesichter gezeigt hatte, kategorisierten Buchstaben kombinieren, die häufig zusammen erscheinen
sie als männlich (das überrascht nicht), und später erinnerten sie (beispielsweise C-H), und unwahrscheinliche Buchstabenkom-
sich an sie fälschlicherweise als sogar noch prototypischer männ- binationen (beispielsweise C-G-P) von vornherein ausschließen.
lich (Huart et al. 2005). Indem man ein heuristisches Verfahren verwendet und dann das
Wenn wir uns von unseren Prototypen verabschieden, Prinzip von Versuch und Irrtum, findet man vielleicht die Ant-
könnte es sein, dass die Kategorien nicht mehr so klar gegenein- wort (. Abb. 10.2). Haben Sie sie erraten?1
ander abgegrenzt sind. Ist die Tomate eine Frucht? Ist eine
Algorithmus (»algorithm«) – eine systematische, logische Regel oder Vor-
17-Jährige ein Mädchen oder eine Frau? Ist ein Wal ein Fisch gehensweise, die garantiert zur Lösung des vorliegenden Problems führt.
oder ein Säugetier? Weil ein Wal nicht unserem Prototyp eines Im Gegensatz dazu die schnellere, aber auch fehleranfälligere Heuristik.
Säugetiers ähnelt, werden wir ihn nicht ohne Weiteres als Säuge- Heuristik (»heuristic«) – einfache Denkstrategie für effizientere Urteile und
tier einstufen. Ähnlich steht es mit der Diagnose einer Krankheit, Problemlösungen; schneller, aber auch fehleranfälliger als der Algorithmus.

wenn die Symptome nicht zu unserem Prototyp der Krankheit


passen (Bishop 1991). Wenn bei jemandem die Symptome eines Manchmal mühen wir uns vergeblich mit einem Problem ab und
Herzinfarkts (Kurzatmigkeit, Erschöpfung, dumpfer Druck auf plötzlich fallen die Dinge wie Puzzleteile an ihren Platz, und in
der Brust) nicht zu seinem Prototyp Herzinfarkt (heftiger Folge dieser plötzlichen Einsicht haben wir eine spontane,
Schmerz in der Brust) passen, so bemüht er sich möglicherweise scheinbar korrekte und oft befriedigende Lösung (Topolinski u.
nicht um Hilfe. Reber 2010). So half eine spontane, kreative Eingebung dem
Und wenn uns Formen von Diskriminierung begegnen, die 10-jährigen Johnny Appleton bei der Lösung eines Problems, an
nicht unserem Prototyp von Diskriminierung entsprechen –
Weiße gegen Schwarze, Männer gegen Frauen, Junge gegen 1 Lösung zum SPLOYOCHEIG-Anagramm: PSYCHOLOGIE
370 Kapitel 10 · Denken und Sprache

10 . Abb. 10.2 Heuristische Suche. Auf der Suche nach Mascarpone könnte . Abb. 10.3 Der Aha-Moment. Lösungen verbaler Probleme durch
man jeden Gang des Supermarkts absuchen (ein Algorithmus) oder Einsicht gehen mit einer plötzlich zunehmenden Aktivität im rechten
aber bei den Milchprodukten im Kühlregal nachsehen (Heuristik). Das Temporallappen einher. (Aus Jung-Beeman et al. 2004, mit freundlicher
heuristische Verfahren ist oft schneller, aber der Algorithmus führt garan- Genehmigung von Mark Jung-Beeman, Northwestern University, und
tiert irgendwann zum Ziel. (© mangostock / Fotolia) John Kounios, Drexel University)

dem Bauarbeiter gescheitert waren: der Rettung eines jungen vität im rechten Temporallappen, direkt über dem Ohr, war zu
Rotkehlchens, das in einen 1 m tiefen Spalt zwischen zwei Beton- beobachten (. Abb. 10.3).
platten gefallen war. Johnnys Lösung: Er ließ Sand in den Spalt Einsicht tritt plötzlich ein, ohne dass man zuvor das Gefühl
rieseln, aber so langsam, dass das Rotkehlchen auf dem entste- hat, der Lösung nahe zu sein (Knoblich u. Oellinger 2006; Metcalfe
henden Sandberg in die Höhe klettern konnte (Ruchlis 1990). 1986). Wenn uns die Antwort plötzlich einfällt (»apple!«), sind
wir glücklich und verspüren Befriedigung. Auch die Freude über
Einsicht (»insight«) – plötzliche und oft überraschend auftauchende
Lösung eines Problems; im Unterschied zu strategisch angelegten einen Witz könnte mit unserer Fähigkeit zur Einsicht zu tun
Lösungen. haben – uns verblüfft eine überraschende Wendung, oder es geht
uns plötzlich ein Doppelsinn auf: »Für einen Sprung aus dem
Forscherteams fanden eine Hirnaktivität, die mit blitzartig Flugzeug braucht man keinen Fallschirm. Einen Fallschirm
auftretenden Einsichten in Zusammenhang steht (Kounios u. braucht man nur, wenn man es zwei Mal machen möchte.«
Beeman 2009; Sandkühler u. Bhattacharya 2008). Sie gaben den Auch wenn wir erfindungsreich im Umgang mit Problemen
Versuchsteilnehmern folgendes Problem vor: Finden Sie ein sind, können uns andere Tendenzen im Kognitionsprozess in die
Wort, das mit jedem von drei anderen Wörtern aus einer Wort- Irre führen. Zum Beispiel sind wir eher darauf aus, Informatio-
gruppe (z. B. »pine«, »crab«, »sauce«) ein zusammengesetztes nen zu suchen und zu bevorzugen, die unsere Auffassungen be-
Wort oder einen Ausdruck bildet und drücken Sie einen Knopf, stätigen, als solche, die sie widerlegen könnten (Klayman u. Ha
wenn Sie eine Lösung gefunden haben. (Falls Sie einen Tipp 1987; Skov u. Sherman 1986). Wason (1960) demonstrierte diese
brauchen: Das Wort ist eine Frucht.2) Mit Hilfe von EEG- oder Neigung, die man als Bestätigungstendenz (»confirmation
fMRT-Aufnahmen (funktionelle MRT) beobachteten die bias«) bezeichnet, indem er britischen Studierenden die Zahlen-
Forscher die Gehirnaktivität der Problemlösenden. Im ersten folge 2–4–6 vorlegte und sie bat, die Regel zu erraten, nach der er
Experiment kamen etwa die Hälfte der Lösungen ganz plötzlich die Zahlenfolge gebildet hatte (die Regel war einfach: 3 beliebige
(Aha-Erlebnis). Vor dem Aha-Moment waren die Frontallappen Zahlen in aufsteigender Größe). Bevor sie Lösungen nannten,
(die in die Fokussierung von Aufmerksamkeit involviert sind) sollten sie selber Zahlenfolgen nach dem vermuteten Muster
der Problemlösenden aktiv und ein plötzlicher Anstieg der Akti- bilden und erfuhren dann jedes Mal von Wason, ob diese
Zahlenfolgen der Regel entsprachen oder nicht. Erst wenn sie
2 Das Wort ist »apple«: »pineapple«, »crabapple«, »applesauce«. sich ihrer Lösung sicher waren, sollten sie die vermutete Regel
10.1 · Denken
371 10
nennen. Das Ergebnis? Selten richtig, aber immer frei von Selbst-
zweifeln. Die meisten Studierenden kamen zu einer falschen
Vermutung (»vielleicht in Zweierschritten«) und suchten dann
nur noch nach bestätigenden Indizien (indem sie 6–8–10,
100–102–104 usw. ausprobierten).
Bestätigungstendenz (»confirmation bias«) – Tendenz, nach Informatio-
nen zu suchen, die eine vorgefasste Meinung bestätigen, und Hinweise zu
ignorieren oder zu verzerren, die dieser Meinung widersprechen.

»Die Menschen«, sagte Wason (1981), »gehen den Tatsachen aus


dem Weg, verwickeln sich in Widersprüche oder schotten sich
. Abb. 10.4 Das Streichholzproblem. Wie kann man 6 Streichhölzer so
systematisch gegen die Bedrohung durch neue Informationen ab,
anordnen, dass sie 4 gleichseitige Dreiecke bilden? (Foto: Svenja Wahl)
die für das Thema von Belang wären«.
Wenn sich Menschen also erst einmal eine Meinung gebildet
haben – dass Impfungen Autismus auslösen, dass Barack Obama lich lassen sich Lösungen, die sich in der Vergangenheit bewährt
ein kenianischer Muslim ist, dass Waffenkontrolle Leben rettet haben, oft mit Erfolg wieder verwenden. Zum Beispiel:
(oder es nicht tut) – bevorzugen sie Informationen, die ihre vor- Gegeben ist die Buchstabenfolge E–Z–D–V–?–?–? Was sind
gefasste Meinung bestätigen. die folgenden drei Buchstaben?
Den meisten Menschen fällt es schwer, darauf zu kommen,
» Der Verstand des Menschen lässt sich am meisten von dem
dass es die Buchstaben F(ünf)–S(echs)–S(ieben) sind. Aber wer
beeindrucken, was auffällig ist und sofort und plötzlich in
dieses Problem gelöst hat, tut sich vielleicht mit dem folgenden
den Geist dringt und unverzüglich die Vorstellungskraft
Problem leichter:
erfüllt und ausweitet. Er beginnt dann fast unmerklich, zu
Gegeben ist die Buchstabenfolge J–F–M–A–?–?–? Wie lauten
glauben und davon auszugehen, dass die ganze Welt den
die folgenden 3 Buchstaben? (Wenn Sie nicht drauf kommen,
wenigen Objekten ähnelt, die vom Geist Besitz ergriffen
überlegen Sie, welcher Monat gerade ist.)
haben.
Francis Bacon, Novum Organum, 1620 Mentales Set (»mental set«) – Tendenz, ein Problem auf eine bestimmte
Weise anzupacken, insbesondere auf eine Weise, die schon einmal
Die Folgen können schwerwiegend sein. Die USA begannen ih- erfolgreich war.
ren Krieg gegen den Irak unter der Annahme, dass Saddam Hus-
sein Massenvernichtungswaffen besaß, die eine unmittelbare Ähnlich wie Stereotype unsere Wahrnehmung einschränken, be-
Bedrohung darstellten. Als sich herausstellte, dass die Annahme schränkt ein mentales Set unser Denken. Manchmal hindert uns
falsch war, gehörte die Bestätigungstendenz zu den Fehlern im dies daran, eine neue Lösung für ein neues Problem zu finden.
Urteilsprozess, die das überparteiliche U.S. Senate Select Com- So prädisponiert uns unser mentales Set basierend auf unserer
mittee on Intelligence (2004) in seiner Untersuchung identifi- Vorerfahrung mit Streichhölzern dazu, sie in zwei Dimensionen
zierte. Die Analysten der staatlichen Stellen »neigten dazu, Infor- zu legen.
mationen, die [ihre Vorannahmen] stützten, bereitwilliger zu
akzeptieren …, als Informationen, die [ihnen] widersprachen«.
Informationsquellen, die die Existenz solcher Waffen in Abrede 10.1.3 Entscheidungsfindung und Urteilsbildung
stellten, wurden folgendermaßen eingeschätzt: »Entweder als
verlogen oder als uninformiert über die Probleme des Irak, wäh-
? 10.3 Was ist Intuition und wie können die Verfügbarkeits-
rend jene Quellen, die über laufende Aktivitäten im Zusammen-
heuristik, systematische Selbstüberschätzung, Beharren auf
hang mit Massenvernichtungswaffen berichteten, so beurteilt
Überzeugungen und Framing-Effekte unsere Entscheidungs-
wurden, als ob sie wertvolle Informationen geliefert hätten.«
findung und Urteilsbildung beeinflussen?
Wenn wir einmal ein Problem falsch erfasst haben, ist es
schwer, einen neuen Zugang zu finden. Wer sich mit der Lösung Bei Hunderten von Urteilen und Entscheidungen im Alltag
des Streichholzproblems in . Abb. 10.4 schwer tut, erlebt viel- (Lohnt es sich, einen Regenschirm mitzunehmen? Kann ich die-
leicht Fixierung – eine Unfähigkeit, ein Problem aus einem neuen sem Menschen vertrauen? Soll ich versuchen, den Basketball in
Blickwinkel zu sehen. (Um die Lösung zu sehen, blättern Sie den Korb zu werfen, oder lieber an einen günstiger stehenden
weiter und betrachten Sie . Abb. 10.8.) Spieler passen?) wenden wir nur selten die Zeit und Mühe auf,
Ein gutes Beispiel für eine Fixierung ist ein mentales Set, systematisch vorzugehen. Wir lassen uns von unserer Intuition
d. h. unsere Neigung, ein Problem mit der geistigen Vorein- leiten, unseren schnellen, automatischen, nicht rational be-
stellung anzugehen, die zuvor bei uns funktioniert hat. Tatsäch- gründeten Gefühlen und Gedanken (. Abb. 10.5). Der Sozial-
372 Kapitel 10 · Denken und Sprache

. Abb. 10.6 »Beim Erstellen dieser Probleme waren wir nicht darauf aus,
Menschen irrezuführen. Alle unsere Problemstellungen haben uns selbst
in die Irre geleitet.« (Amos Tversky 1985; Mit freundlicher Genehmigung von
Barbara Tversky und Grawemeyer Award, University of Louisville)

10 ren Gedanken sind. Casinos verführen uns zum Glücksspiel, indem


sie schon geringe Gewinne durch Klingelzeichen und Lichtsignale
hervorheben – so dass diese lebhaft in Erinnerung bleiben –, wäh-
. Abb. 10.5 (© Bradford Veley)
rend große Verluste lautlos und unsichtbar über die Bühne gehen.
Verfügbarkeitsheuristik (»availability heuristic«) – Einschätzung der
Wahrscheinlichkeit von Ereignissen je nach ihrer Verfügbarkeit in der
psychologe Irving Janis (1986) interviewte Entscheidungsträger Erinnerung; wenn uns Beispiele schnell einfallen (vielleicht weil sie
in Politik, Geschäftsleben und Erziehung und kam zu dem spektakulär sind), halten wir ein solches Ereignis für normal.

Schluss, dass diese »oft keine durchdachte Problemlösestrategie


einsetzen. Wie aber kommen sie im Normalfall zu ihren
» Kahneman und seine Kollegen und Studenten haben unser
Denken über das menschliche Denken verändert.
Entscheidungen? Fragt man sie, bekommt man wahrscheinlich
Sharon Brehm, Präsident der American Psychological
zu hören, dass sie nach dem Gefühl entscheiden«.
Association, 2007
Intuition (»intuition«) – ein müheloser, plötzlicher und automatischer
Gefühlszustand oder Gedanke – im Gegensatz zu explizitem, bewusstem Die Verfügbarkeitsheuristik kann uns beim Beurteilen anderer
Überlegen. Menschen in die Irre leiten. Alle Faktoren, die dazu führen, dass
uns Informationen »plötzlich einfallen« – dazu gehört, wie lange
Verfügbarkeitsheuristik es her ist, dass wir davon gehört haben, aber auch wie lebendig
Wenn schnelles Handeln erforderlich ist, helfen uns die geistigen und besonders die Informationen sind – erhöhen die subjektiv
Abkürzungswege, die wir als Heuristiken bezeichnen, Grobent- wahrgenommene Verfügbarkeit (. Abb. 10.6, . Abb. 10.7). Wenn
scheidungen zu fällen. Automatische Informationsverarbeitung ein Angehöriger einer bestimmten ethnischen Gruppe einen
hilft uns, intuitive Entscheidungen spontan und in der Regel effek- Terroranschlag verübt, so wie am 11. September 2001 in Amerika,
tiv zu treffen. Mit ihrer Arbeit zur Verfügbarkeitsheuristik können unsere leicht greifbaren Erinnerungen an dieses drama-
demonstrierten die Kognitionspsychologen Tversky u. Kahneman tische Ereignis unseren Gesamteindruck dieser Gruppe prägen.
(1974) jedoch, wie diese generell hilfreichen Abkürzungswege Selbst in diesem schrecklichen Jahr verloren vergleichsweise
selbst die klügsten Menschen zu dummen Entscheidungen verlei- wenig Menschen bei Terroranschlägen ihr Leben. Wenn man
ten können3. Wir nutzen die Verfügbarkeitsheuristik, wenn unsere jedoch die statistische Realität größerer Gefahren (. Abb. 10.9)
Urteile darauf beruhen, wie gut verfügbar Informationen in unse- gegen ein einziges anschauliches Ereignis misst, so gewinnt das
einprägsame Ereignis, weil die emotional geladenen Bilder des
Terrors unsere Ängste vertiefen (Sunstein 2007).
3 Tverskys und Kahnemans gemeinsame Arbeit zum Thema Entscheidungs-
findung erhielt 2002 den Nobelpreis; traurigerweise war nur noch Kahne- Wir haben oft vor den falschen Dingen Angst. Wir haben
man am Leben, um diese Auszeichnung entgegenzunehmen. Angst vorm Fliegen, weil wir in unserem Kopf Szenarien von
10.1 · Denken
373 10

. Abb. 10.8 Lösung des Streichholzproblems. Um dieses Problem zu


bewältigen, muss man es aus einer anderen Perspektive sehen und die
gedankliche Fixierung auf zweidimensionale Lösungen durchbrechen.
(Foto: Svenja Wahl)

. Abb. 10.7 »Intuitives Denken [liegt] meist völlig richtig … Aber


manchmal kann uns diese Angewohnheit unseres Verstandes auch in
Schwierigkeiten bringen.« (Daniel Kahneman 2005; © picture-alliance /
dpa / dpaweb)

Flugzeugabstürzen durchspielen. Wir haben Angst davor, unsere


Kinder alleine zur Schule gehen zu lassen, weil wir in unseren
Köpfen Filme von Entführungen und misshandelten Kindern
abspielen. Wir haben Angst davor im Meer zu schwimmen, weil
wir in unseren Köpfen Der Weiße Hai sehen.

» Glauben Sie nicht alles, was Sie denken.


Aufkleber auf einem Auto

Schon an einer Person vorbeizugehen, die niest und hustet, er-


höht unsere Wahrnehmung diverser Krankheitsrisiken (Lee et al.
. Abb. 10.9 Wahrscheinlichkeit unterschiedlicher Todesursachen in
2010). Und so fürchten wir uns, dank dieser leicht verfügbaren
den USA im Jahr 2001. (Daten von unterschiedlichen Regierungsquellen,
Bilder, vor extrem seltenen Ereignissen (7 Kritisch nachgefragt: zusammengestellt von Randall Marshall et al. 2007)
Der Angstfaktor – Warum wir an der falschen Stelle Angst haben).
Gleichzeitig führt das Fehlen vergleichsweise einprägsamer
Bilder vom globalen Klimawandel – den einige Wissenschaftler einschließlich der USA, Kanada und vieler europäischer Staaten
als einen zukünftigen »Weltuntergang in Zeitlupe« bezeichnen – bereits versucht, die positive Macht konkreter, einprägsamer
– dazu, dass die meisten Menschen sich darüber kaum Sorgen Bilder zu nutzen, indem sie Warnungen und anschauliche Fotos,
machen (Pew 2007). Wenn es heute vor der eigenen Haustür die einem ins Auge springen, auf Zigarettenpackungen drucken
klirrend kalt ist, verringert die Anschaulichkeit eines solchen (Wilson 2011). Diese Kampagne könnte funktionieren, wo an-
Wintertages die Sorge um eine langfristige globale Erwärmung dere gescheitert sind. Wie der Psychologe Paul Slovic (2007) fest-
und verdrängt die weniger einprägsamen wissenschaftlichen stellt: Wir urteilen emotional und vernachlässigen Wahrschein-
Daten (Li et al. 2011). Dramatische Ereignisse lassen uns erstar- lichkeiten. Wir lassen uns zu sehr von unserem Gefühl und zu
ren; Wahrscheinlichkeiten dagegen sind für uns nur schwer wenig von unserem Verstand leiten. Im Rahmen eines Experi-
greifbar. Bis zum Jahr 2012 haben allerdings etwa 40 Nationen – ments erhöhte sich die Spendenbereitschaft für ein hungerndes
374 Kapitel 10 · Denken und Sprache

Kritisch nachgefragt

Der Angstfaktor – Warum wir an der falschen Stelle Angst haben


Nach dem 11. September 2001 hatten viele Psychologen haben vier Faktoren identifiziert, werden. Bill Gates merkte an, dass jedes
Menschen mehr Angst vor dem Fliegen als vor die unsere Ängste schüren und uns dazu ver- Jahr eine halbe Million Kinder weltweit am
dem Autofahren. In einer Gallup-Umfrage aus leiten, größere Risiken zu ignorieren. Rotavirus sterben – das entspricht vier Boe-
dem Jahr 2006 gaben nur 40% der Amerikaner 1. Wir haben Angst vor dem, was wir von ing 747 voller Kinder pro Tag –, und kein
an, dass sie »absolut keine Angst« davor unserer Entwicklungsgeschichte als Men- Mensch spricht darüber (Glass 2004).
hatten, zu fliegen. Trotzdem war für Amerika- schen her zu fürchten gelernt haben. Die
ner im Zeitraum von 2005 bis 2007 das Risiko, Emotionen des Menschen wurden schon in Die Nachrichten und unsere eigenen einpräg-
bei einem Autounfall ums Leben zu kommen, der Steinzeit in der Praxis erprobt. Das er- samen Erlebnisse können in uns übertriebene
105,5-mal größer, als bei einem Flugzeugun- erbte Risikoempfinden lehrt uns, Schlan- Ängste vor den unwahrscheinlichsten Ge-
glück zu sterben – gemessen pro Reisekilome- gen, Eidechsen und Spinnen zu fürchten fahren auslösen. Wie ein Risikoanalyst erklärt:
ter (National Safety Council 2010). Allein im (obwohl alle drei zusammen im Vergleich »Wenn etwas in den Nachrichten ist, dann
Jahr 2009 sind 33.808 Amerikaner bei Ver- zu modernen Gefahren, wie Autos und machen Sie sich keine Sorgen darum. Nach-
kehrsunfällen ums Leben gekommen – das Zigaretten, nur einen Bruchteil an Men- richten sind per Definition ›Dinge, die so gut
sind 650 Tote jede Woche. Zugleich hat im Jahr schenleben fordern). Und es bereitet uns wie nie passieren‹ « (Schneier 2007). Obwohl
2009 (ebenso wie 2007 und 2008) kein einzi- darauf vor, Angst vor Enge und Höhe – und viele Menschen große Angst davor haben, auf-
ger Amerikaner bei einem Flugzeugunglück damit Flugangst – zu empfinden. grund eines Terroranschlags im Flugzeug zu
sein Leben verloren. 2. Wir haben Angst vor dem, was wir nicht sterben, gab es in den letzten 10 Jahren einen
In einem Aufsatz von Ende 2001 habe ich kontrollieren können. Autofahren können Terroranschlag auf umgerechnet 10,4 Mio.
Folgendes berechnet: Wenn wir – wegen der wir kontrollieren, Fliegen nicht. Flüge – das ist weniger als ein Zwanzigstel der
Ereignisse am 11. September 2001 – 20% 3. Wir haben Angst vor dem unmittelbar Be- Wahrscheinlichkeit, dass irgendjemand von
weniger fliegen und stattdessen die Hälfte vorstehenden. Die subjektive Bedrohung uns vom Blitz getroffen wird (Silver 2009).
dieser nicht geflogenen Kilometer mit dem durch das Fliegen konzentriert sich vor Denken Sie daran: Angst vor Gewaltanwen-
10 Auto zurücklegen würden, würden etwa allem auf Start und Landung, während sich dung durch Menschen, die uns hassen, ist
800 Menschen mehr in dem Jahr nach dem die Gefahren des Autofahrens auf viele ganz normal. Bei jedem neuen Terroranschlag
11. September bei Verkehrsunfällen ums Leben künftige Zeitpunkte verteilen, von denen erstarren wir vor Schreck. Aber wer klug ist,
kommen (Myers 2001). Der deutsche Psycholo- jeder für sich genommen nicht besonders wird seine Ängste auch an der Realität über-
ge Gerd Gigerenzer (2004, 2006) verglich diese gefährlich ist. prüfen und denen widerstehen, die versuchen
Schätzung später mit den tatsächlichen Unfall- 4. Dank der Verfügbarkeitsheuristik haben wir eine Kultur der Angst zu schaffen. Indem wir
zahlen. (Warum bin ich nicht auf diese Idee Angst vor dem, was uns am lebhaftesten im das tun, nehmen wir den Terroristen ihre
gekommen?) In den letzten 3 Monaten des Gedächtnis bleibt. Schreckensbilder wie die stärkste Waffe: unsere übertriebene Angst.
Jahres 2001 waren tatsächlich signifikant mehr der Passagiermaschine, die sich in das World
Menschen bei Verkehrsunfällen ums Leben Trade Center bohrt, beeinflussen, wie wir » Ängstliche Menschen sind
gekommen (. Abb. 10.12). Bis Ende 2002 Risiken beurteilen. Tausende von sicheren abhängiger, leichter zu manipulieren
hatten Gigerenzers Schätzungen zufolge etwa Autofahrten haben unsere Angst vor dem und zu kontrollieren, empfänglicher
1.600 Amerikaner »ihr Leben im Straßenver- Fahren ausgelöscht. Auf ähnliche Weise er-
für scheinbar einfache, starke und
kehr verloren, während sie versuchten das innern wir uns an aufsehenerregende Ereig-
Risiko des Fliegens zu umgehen«. Obwohl un- nisse (Orkane, Tornados, Erdbeben), bei harte Maßnahmen und unerbittliche
sere Angst vor dem Fliegen größer ist, ist der denen unzählige Menschen ums Leben ge- Positionen.
gefährlichste Teil des Fliegens für die meisten kommen sind, und fürchten diese. Aber wir Medienforscher George Gerbner
Menschen die Fahrt zum Flughafen. Warum haben zu wenig Angst vor solchen Bedro-
gegenüber dem Unterausschuss
haben wir Angst vor etwas, was wir gar nicht hungen, die auf unspektakuläre Weise ein
so stark fürchten müssten? Warum haben wir Todesopfer nach dem anderen fordern, und für Kommunikation im U.S. Kongress,
mehr Angst vor Terrorismus als vor Unfällen? dies auch noch in der fernen Zukunft tun 1981

7-jähriges Mädchen, wenn ihr Foto nicht von statistischen Infor- lungen überschätzen Versuchspersonen ihre Leistung (Metcalfe
mationen begleitet wurde, die auf Millionen ebenso bedürftiger 1998). Wenn 60% der Menschen eine Frage nach Faktenwissen
afrikanischer Kinder hinwiesen (Small et al. 2007). »Wenn ich korrekt beantworten, wie z. B. »Ist Absinth ein Schnaps oder
die Massen betrachte, werde ich niemals handeln«, soll Mutter ein wertvoller Stein?«, dann fühlen sich die Befragten im typi-
Teresa gesagt haben. »Wenn ich mir den einzelnen anschaue, schen Fall zu 75% sicher (Fischhoff et al. 1977). (Es ist ein nach
dann werde ich es tun.« »Je mehr sterben, desto weniger küm- Lakritz schmeckender Schnaps.) Diese Tendenz, die Verläss-
mert es uns«, bemerkte Slovic (2010). lichkeit unseres Wissens und unserer Einschätzungen zu über-
schätzen, wird systematische Selbstüberschätzung genannt
Systematische Selbstüberschätzung (. Abb. 10.10).
Manchmal liegen wir mit unseren Entscheidungen und Urteilen
Systematische Selbstüberschätzung (»overconfidence bias«) – Tendenz, mit
einfach deshalb daneben, weil wir mit großem Selbstvertrauen großem Selbstvertrauen auf falschen Aussagen zu beharren – die Verlässlich-
an falschen Überzeugungen festhalten. Bei vielen Aufgabenstel- keit der eigenen Überzeugungen und Einschätzungen zu überschätzen.
10.1 · Denken
375 10

. Abb. 10.10 Vertrauen ist gut – Aussteigen ist besser … . Abb. 10.11 Machen Sie eine Prognose über Ihr eigenes Verhalten. Wann
(© Claudia Styrsky) werden Sie mit dem Lesen dieses Kapitels fertig sein? (© Renate Schulz)

Selbstüberschätzung verleitete die Firma BP dazu, vor der Explo-


sion ihrer Ölbohrplattform, die den Golf von Mexiko mit einem
Ölteppich überzog, Sorgen um Sicherheitsvorkehrungen herun-
terzuspielen und später die Ausmaße der Ölkatastrophe schön-
zureden (Mohr et al. 2010; Urbina 2010). Aktienhändler und
Investmentmanager preisen ihre Dienste an in der Selbstüber-
schätzung, sie könnten durch die Auswahl der Aktien überdurch-
schnittliche Gewinne am Aktienmarkt erzielen, trotz über-
wältigender Befunde, die auf das Gegenteil hindeuten (Malkiel
2004). Dem Erwerb einer Aktie X – auf Empfehlung eines Ak-
tienhändlers, der der Meinung ist, es sei der richtige Zeitpunkt,
um zu kaufen – entspricht gewöhnlich der Verkauf der Aktie
durch jemanden, der zu dem Urteil kommt, dies sei genau der
richtige Zeitpunkt, um sie zu verkaufen. Käufer und Verkäufer
können trotz ihrer Selbstgewissheit nicht beide Recht haben.
Die Geschichte ist voll von Führungspersönlichkeiten, die
sich sehr sicher waren und sich trotzdem geirrt haben. Und
Klassenräume sind voll von Schülerinnen und Schülern, die
sich selbst überschätzen, wenn es darum geht, ihre Hausaufgaben
. Abb. 10.12 Die Angst, die auf tödliche Straßen treibt. Bilder vom
und ihre Referate vor dem geplanten Zeitpunkt fertig zu be-
11. September haben sich stärker in unser Gedächtnis eingegraben
kommen (Buehler et al. 1994; . Abb. 10.11). Tatsächlich werden als die Millionen unfallfreien Flüge im Jahre 2002. Da solche dramatischen
die Projekte jedoch i. Allg. nach etwa doppelt so vielen Tagen wie Ereignisse der Erinnerung leicht zugänglich sind, bestimmen sie unsere
Risikowahrnehmung. In den 3 Monaten nach dem 11. September ver-
vorhergesagt fertig.
leiteten diese fehlerhaften Wahrnehmungen mehr Menschen dazu,
Wenn wir einschätzen, wie viel wir schaffen werden, über- mit dem Auto zu verreisen, und manche starben dabei. (Nach Gigerenzer
schätzen wir auch die freie Zeit, die uns zur Verfügung stehen 2004)
376 Kapitel 10 · Denken und Sprache

wird (Zauberman u. Lynch 2005). Wir haben die Erwartung, dass


wir in einem Monat mehr freie Zeit haben werden als heute.
Deswegen sagen wir »ja«, wenn wir für eine Zeit in weiter Zukunft
um etwas gebeten werden – und entdecken dann, dass wir in
der Zukunft genauso beschäftigt sind. Weil wir darin scheitern,
unsere eigenen Fehlermöglichkeiten realistisch einzuschätzen,
und glauben, dass wir im nächsten Jahr mehr Geld zur Verfügung
haben werden, nehmen wir ein Darlehen auf oder kaufen auf
Kredit. Trotz schmerzhafter Fehleinschätzungen in der Vergan-
genheit überschätzen wir uns bei der nächsten Vorhersage wieder.
Selbstüberschätzung kann einen adaptiven Wert haben.
Menschen, die sich in Richtung Selbstüberschätzung irren, leben
glücklicher, finden es leichter, schwere Entscheidungen zu tref-
fen, und wirken glaubwürdiger (Baumeister 1989; Taylor 1989).
Wenn man Menschen zudem sofort ein klares Feedback zur Ge-
nauigkeit ihres Urteils gibt – wie es bei den Meteorologen jeweils
einen Tag nach dem Wetterbericht geschieht –, lernen sie bald,
ihre Genauigkeit selbst realistischer einzuschätzen (Fischhoff
1982). Die Weisheit, zu wissen, wann wir etwas wissen und wann
nicht, kommt mit der Erfahrung.
10
» Wenn du etwas weißt, daran festhalten, dass du es weißt;
. Abb. 10.13 (Copyright © The New Yorker Collection, 1973, Dana Fradon /
wenn du etwas nicht weißt, zugeben, dass du es nicht weißt; cartoonbank.com)
das ist Wissen.
Konfuzius (551–479 v. Chr.), Analekten
teiische Bewertung der Untersuchungsergebnisse keineswegs
abnehmen. Eine andere Gruppe baten sie, zu überlegen, ob sie
Beharren auf Überzeugungen »zu der gleichen Einschätzung der Untersuchungsergebnisse ge-
Unsere Selbstüberschätzung bezüglich unserer Einschätzungen kommen wären, wenn genau dieselbe Studie zu anderen Ergeb-
ist verblüffend; ebenso überraschend ist unsere Tendenz, trotz nissen geführt hätte«. Wenn sich die Versuchsteilnehmer solche
gegenteiliger Informationen an unseren Überzeugungen fest- gegensätzlichen Ergebnisse vorstellen und sie bewerten mussten,
zuhalten. Beharren auf Überzeugungen ist oft eine Quelle waren sie bei der Bewertung der Untersuchungen wesentlich un-
sozialer Konflikte. Dies zeigte sich in einer klassischen Studie voreingenommener.
mit Menschen mit entgegengesetzten Auffassungen zum Thema Je mehr Gründe wir haben, weshalb unsere Überzeugung
Todesstrafe (Lord et al. 1979). Befürwortern und Gegnern der stimmen könnte, desto stärker halten wir daran fest. Wer sich erst
Todesstrafe wurden zwei angeblich neue Untersuchungen vorge- einmal klargemacht hat, warum ein bestimmtes Kind als »be-
legt, von denen eine die Abschreckungswirkung der Todesstrafe gabt« oder aber als »lernbehindert« gilt, warum Kandidat X oder
belegte, die andere diese aber eher bestritt. Beide Parteien zeigten Y besser geeignet ist, für den Frieden einzutreten, oder weshalb
sich tiefer beeindruckt von der Studie, die ihre Überzeugung die Firma Z eine gute Investition ist, neigt dazu, Hinweise zu
untermauerte, während sie die gegenteilige Studie scharf kriti- ignorieren, die gegen diese Überzeugungen sprechen. Das Vor-
sierten. Befürworter und Gegner bekamen also dieselben, einan- urteil bleibt bestehen. Wenn sich eine Überzeugung erst einmal
der widersprechenden Informationen, und dadurch verstärkte gebildet hat und sie öffentlich gerechtfertigt wurde, so bedarf
sich ihre Uneinigkeit noch. es stärkerer Argumente, um sie zu verändern, als dies bei ihrer
Entstehung erforderlich war (. Abb. 10.13).
Beharren auf Überzeugungen (»belief perseverance«) – Festhalten an den
ursprünglichen Auffassungen, nachdem die Grundlage, auf der sie gebildet
wurden, zweifelhaft geworden ist. Framing-Effekte
Die Art und Weise, wie ein Sachverhalt dargestellt wird, der
Wenn man etwas gegen dieses Phänomen tun will, so gibt es ein sog. Framing-Effekt (Rahmeneffekt), beeinflusst unsere Ent-
einfaches Gegenmittel: Bedenken Sie das Gegenteil. Als diesel- scheidungen und Einschätzungen. Stellen Sie sich zwei Chirur-
ben Wissenschaftler das Experiment wiederholten, forderten sie gen vor, die die Risiken einer Operation erklären. Der eine erklärt
einige der Teilnehmer auf, »möglichst objektiv und unvorein- den Patienten, dass es bei dieser bestimmten Operation 10%
genommen« zu sein (Lord et al. 1984). Der Appell ließ die par- Todesfälle gibt. Der andere Chirurg spricht von 90% Überlebens-
10.1 · Denken
377 10
chance. Der Informationsgehalt ist derselbe. Die Wirkung dage- Gibt es angesichts der globalen Erwärmung und der gleich-
gen nicht. Umfragen zufolge erscheint beiden, dem Patienten wie zeitig abnehmenden Besorgnis unter Briten und Amerika-
dem Arzt, das Risiko größer, wenn von 10% Todesfällen die Rede nern bessere Wege, um dieses Thema in den Medien zu
ist (Marteau 1989; McNeil et al. 1988; Rothman u. Salovey 1997). präsentieren (Krosnick 2010; Rosenthal 2010)? Obwohl
Ebenso halten 9 von 10 Studierenden ein Kondom für wirksam, beispielsweise eine »CO2-Steuer« der effektivste Weg sein
wenn ihm beim Schutz gegen Aids eine »Erfolgsrate von 95%« könnte, um den Ausstoß von Treibhausgasen zu verringern,
attestiert wird; nur 4 von 10 sind derselben Meinung, wenn sprechen sich viele Menschen gegen neue Steuern aus. Auf
von einer »Fehlerquote von 5%« die Rede ist (Linville et al. 1992). der anderen Seite halten sie die Förderung neuer Energie-
Um Menschen vor Gefahren zu warnen, sollte man die Risiken arten oder die Reduktion von Kohlenstoff durch eine
in absoluten Zahlen und nicht in Prozentwerten benennen. Emissionssteuer eher für sinnvoll (Hardisty et al. 2010).
Wer erfährt, dass der Kontakt mit einer chemischen Substanz in
10 von 10 Mio. Fällen zum Tode führt (stellen Sie sich 10 Tote Denken Sie daran: Wer die Macht des Framing-Effekts versteht,
vor!), hat davor mehr Angst, als wenn man ihm sagt, dass das kann ihn nutzen, um unsere Entscheidungen zu beeinflussen.
Mortalitätsrisiko bei zu vernachlässigenden 0,000001% liegt
(Kraus et al. 1992). Gefahren und Macht der Intuition
Framing-Effekt (auch Rahmeneffekt; »framing effect«) – Auswirkung der ? 10.4 Wie nutzen kluge Denker ihre Intuition?
Darstellungsweise eines Gegenstands oder Themas; Framing-Effekte kön-
nen einen großen Einfluss auf Entscheidungen und Urteile ausüben. Wie wir gesehen haben, kann unser irrationales Denken unsere
Bemühungen um Problembewältigung, um weise Entscheidun-
Der Framing-Effekt kann ein wirksames Überzeugungsmittel gen, verlässliche Urteile und logisches Argumentieren torpedie-
sein. Sorgfältig präsentierte Optionen können Menschen zu Ent- ren. Darüber hinaus nähren diese Fallstricke der Intuition tief
scheidungen anregen, von denen sie oder die gesamte Gesell- sitzende Ängste und Vorurteile. Und sie sind sogar dann vorhan-
schaft profitieren könnten (Thaler u. Sunstein 2008). den, wenn Menschen eigens für scharfes Denken bezahlt werden
4 Warum die Entscheidung zur Organspende davon abhängt, oder wenn sie Rechenschaft über ihre Ergebnisse ablegen
wo man lebt. In vielen europäischen Ländern sowie in den müssen; sie finden sich auch bei Fachärzten und Klinikern
USA können Menschen entscheiden, ob sie Organspender (Shafir u. LeBoeuf 2002). Sind unsere Köpfe also tatsächlich mit
sein wollen, wenn sie ihren Führerschein verlängern. In Stroh gefüllt?
einigen Ländern ist man automatisch ein Organspender, Die guten Nachrichten: Kognitionswissenschaftler zeigen
aber es gibt auch die Möglichkeit, sich dagegen zu ent- auch, welche Kräfte in der Intuition stecken. Hier ist eine Zusam-
scheiden. Beinahe 100% der Menschen in diesen Ländern menfassung einiger Höhepunkte der Forschung:
sind dazu bereit, Organe zu spenden. In den USA, Groß-
britannien und Deutschland ist man nicht automatisch Intuition ist eine großartige Sache. Die heutige Kognitions-
Organspender, aber man kann sich dafür entscheiden. In wissenschaft demonstriert viele Beispiele von unbewussten Ein-
diesen Ländern willigen nur etwa 25% der Menschen ein, flüssen auf unsere Entscheidungen (Custers u. Aarts 2010). Die
Organspender zu sein (Johnson u. Goldstein 2003). meisten Menschen vermuten, dass man komplexere Entschei-
4 Wie man Angestellten hilft, sich für einen Beitrag zur Alters- dungen besser rational statt intuitiv treffen sollte (Inbar et al.
vorsorge zu entscheiden. Ein amerikanisches Rentengesetz 2010). Niederländische Psychologen haben allerdings gezeigt,
von 2006 hat das Prinzip des Framing-Effekts verstanden. dass wir in komplexen Entscheidungssituationen davon profitie-
Bevor dieses Gesetz in Kraft trat, mussten sich Angestellte, ren, wenn wir unser Gehirn an einem Problem arbeiten lassen,
die sich an einem Rentenplan beteiligen wollten, in der ohne darüber nachzudenken (Strick et al. 2010). In einer Reihe
Regel für ein geringeres Einkommen entscheiden, was von Experimenten legten sie drei Gruppen von Versuchsteil-
wenige Menschen tun würden. Jetzt können Firmen ihre nehmern umfangreiche Informationen (über Appartements
Mitarbeiter automatisch in diesen Rentenplan einbeziehen oder Mitbewohner oder Kunstposter oder Fußballspiele) vor. Sie
und ihnen freistellen auszusteigen (wobei Letzteres das forderten eine Gruppe auf, ihre Präferenz für eine von vier Mög-
Einkommen der Angestellten steigern würde). In beiden lichkeiten direkt nach dem Lesen der Informationen anzugeben.
Fällen ist es die Entscheidung der Mitarbeiter, am Renten- Eine zweite Gruppe, die einige Minuten Zeit hatte, die Informa-
plan teilzunehmen oder nicht. Einer Analyse von 3,4 Mio. tionen zu analysieren, traf etwas bessere Entscheidungen. Aber
Angestellten zufolge stieg allerdings die Teilnehmerquote die Teilnehmer der dritten Gruppe entschieden sich insgesamt
in der Version mit der Ausstiegsmöglichkeit von 59 auf 86% am klügsten. Sie waren für einige Zeit abgelenkt worden, so dass
(Rosenberg 2010). ihre Gehirne Zeit hatten, die komplexen Informationen un-
4 Wie man dazu beitragen kann, die Erde zu retten. Einige bewusst zu verarbeiten. Kritiker dieser Forschungsarbeit er-
Psychologen beschäftigen sich mit der folgenden Frage: innern uns daran, dass auch überlegtes, bewusstes Nachdenken
378 Kapitel 10 · Denken und Sprache

zu klugem Denken dazugehört (González-Vallejo et al. 2008;


Lassiter et al. 2009; Newell et al. 2008; Payne et al. 2008). Nichts-
destotrotz kann es sich auszahlen, innerlich ein Problem weiter
›im Hinterkopf arbeiten‹ zu lassen, während wir uns mit anderen
Dingen beschäftigen (Sio u. Ormerod 2009). Wenn wir vor einer
schwierigen Entscheidung stehen, die viele Dinge involviert, sind
wir gut beraten, alle Informationen zu sammeln und dann zu
sagen: »Gib mir etwas Zeit, nicht darüber nachzudenken.« Indem
wir uns die Zeit nehmen, darüber zu schlafen, lassen wir unsere
unbewussten geistigen Mechanismen an dem Problem arbeiten
– und so können wir beruhigt das intuitive Ergebnis unserer un-
bewussten Verarbeitung abwarten.

Intuition ist in der Regel adaptiv. Unmittelbare intuitive Reak-


tionen versetzen uns in die Lage, schnell zu reagieren. Unsere
schnellen und unaufwändigen Heuristiken verhelfen uns beispiels-
weise zu der Annahme, dass unscharf erscheinende Objekte weit
entfernt sind – was sie in der Regel auch sind, außer vielleicht an
einem nebligen Morgen. Unsere erlernten Assoziationen zeigen
sich in Form unseres Bauchgefühls, der Intuition unseres Geistes.
Wenn ein Fremder jemandem ähnelt, der uns in der Vergangenheit
10 verletzt oder bedroht hat, reagieren wir vielleicht ein wenig miss-
trauisch – ohne dass wir uns bewusst an das vergangene Erlebnis
erinnern. Die automatischen und unbewussten Assoziationen, die
Menschen mit einer politischen Meinung verbinden, können sogar
ihre zukünftigen Entscheidungen vorhersagen, bevor sie sich be-
wusst für etwas entschieden haben (Galdi et al. 2008).
. Abb. 10.14 Geschlechtsbestimmung bei Küken. Wenn das erworbene
Expertenwissen zu einer automatischen Gewohnheit wird, wie dies bei
Intuition ist Wiedererkennen, das aus Erfahrung entsteht. Intui- einer erfahrenen Geschlechtsbestimmerin für Küken der Fall ist, ähnelt es
tion ist unbewusstes Wissen – etwas, das wir gelernt haben, aber subjektiv einer Intuition. Auf einen Blick weiß man es einfach, kann aber
nicht beschreiben, woher man es weiß. (© BSIP / Universal Images Group /
nicht gänzlich erklären können, so wie die Technik des Radfah-
Getty Images)
rens. Wir beobachten dieses unausgesprochene Expertenwissen
bei Schachgroßmeistern, wenn sie »Blitzschach« spielen, wo jeder
Zug kurz nach dem Hinschauen ausgeführt wird. Sie können auf denken dem kreativen Flüstern unseres unsichtbaren Geistes
ein Schachbrett blicken und erkennen intuitiv den richtigen Zug lauscht, und dann Hinweise bewertet, Schlussfolgerungen über-
(Burns 2004). Wir können das bei erfahrenen Krankenschwestern, prüft und Pläne für die Zukunft entwirft.
Feuerwehrleuten, Kunstkritikern, Automechanikern und Hockey-
spielern beobachten (. Abb. 10.14). Und sie werden das vielleicht
Prüfen Sie Ihr Wissen
auch bei sich selbst auf allen Gebieten feststellen, in denen Sie
besondere Fertigkeiten entwickelt haben. In jedem dieser Fälle be- 5 Ordnen Sie die hier aufgelisteten Prozesse oder
ruht der unmittelbare Eindruck auf der erworbenen Fähigkeit, Strategien (1–9) den passenden Beschreibungen (a–i) zu.
eine Situation in einem ganz kurzen Augenblick einzuschätzen. 1. Algorithmus
Wie der Nobelpreisträger und Psychologe Herbert Simon (2001) 2. Intuition
anmerkte: Intuition ist Analyse, die »zur Gewohnheit erstarrt ist«. 3. Einsicht
4. Heuristik
Fazit Unsere Intuition kann uns gefährlich werden, besonders 5. Fixierung
wenn wir uns bei der Einschätzung von Risiken zu sehr auf unser 6. Bestätigungstendenz
Gefühl und zu wenig auf unser Denken verlassen. Die heutige 7. Systematische Selbstüberschätzung
Wissenschaft der Psychologie erinnert uns daran, unsere Intuiti- 8. Framing-Effekt
on an der Realität zu überprüfen, aber auch unsere Intuition stär- 9. Beharren auf Überzeugungen
ker wertzuschätzen. Unser Verstand ist zweigleisig angelegt und 6
es entsteht eine süße Harmonie, wenn kluges, kritisches Nach-
10.1 · Denken
379 10
Begriffe zu bilden, wie z. B. »Katze« und »Hund«. Nachdem
a. Unfähigkeit, ein Problem aus einem neuen Blickwinkel Affen diese unterschiedlichen Kategorien erlernt haben, feuern
zu sehen; fokussiert den Denkprozess, ist aber sehr bestimmte Neuronen im Frontallappen in Reaktion auf neue
hinderlich bei der kreativen Problembewältigung. »katzenähnliche« Bilder, andere auf neue »hundeähnliche«
b. Systematische Regel oder Vorgehensweise, die Bilder (Freedman et al. 2001).
garantiert zur Lösung führt, aber Zeit und Aufwand Bis zu seinem Tod im Jahr 2007 hat Alex, ein afrikanischer
erfordert. Graupapagei, Objekte kategorisiert und benannt (Pepperberg
c. Schneller, automatischer und unbedachter Gefühlzu- 2006, 2009). Zu seinen verblüffenden numerischen Kenntnissen
stand oder Gedanke, der auf Erfahrung basiert; stark zählte die Fähigkeit, die Zahlen bis 6 zu verstehen. Er konnte
und adaptiv, kann aber dazu führen, zu viel zu fühlen die Anzahl von Objekten benennen. Er konnte zwei kleine
und zu wenig zu denken. Gruppen von Objekten addieren und die Summe verkünden. Er
d. Einfache Denkstrategien, die es uns ermöglichen, konnte entscheiden, welche von zwei Zahlen größer war. Und er
schnell und effizient zu handeln, aber auch fehleran- gab die richtige Antwort, wenn man ihm neuartige Anordnungen
fällig sind. von Gegenständen zeigte. Zum Beispiel konnte Alex auf die
e. Plötzlicher Aha-Moment, in dem wir überraschend die Frage »Welche Farbe vier?« (d. h. »Was ist die Farbe der Objekte,
Lösung eines Problems erkennen. die 4-mal vorhanden sind?«) die richtige Antwort geben.
f. Tendenz, nach Informationen zu suchen, die eine vorge-
fasste Meinung bestätigen, und Hinweise zu ignorieren jEinsicht zeigen
oder zu verzerren, die dieser Meinung widersprechen. Der deutsche Psychologe Wolfgang Köhler (1925) zeigte, dass
g. Ignorieren von Hinweisen, die unserer Meinung wider- wir nicht die einzigen Lebewesen sind, die in der Lage sind, Ein-
sprechen; verschließt unseren Geist gegenüber neuen sicht zu zeigen. Er platzierte eine Frucht und einen langen Stock
Ideen. außerhalb des Käfigs eines Schimpansen namens Sultan, so dass
h. Überschätzung der Genauigkeit unserer eigenen Über- dieser beides nicht erreichen konnte. In den Käfig legte er einen
zeugungen und Einschätzungen; ermöglicht es uns, kurzen Stock, den Sultan ergriff und mit dem er versuchte, an die
unbeschwert zu sein und leicht Entscheidungen zu Frucht heranzukommen. Nach einigen frustrierenden Ver-
treffen, aber prädestiniert uns für Irrtümer. suchen ließ er den Stock fallen und schien die Lage zu überden-
i. Formulierung einer Frage oder Aussage auf eine be- ken. Plötzlich sprang Sultan auf, als hätte er ein Aha-Erlebnis
stimmte Art und Weise, so dass eine erwünschte Ant- gehabt, und griff wieder nach dem kurzen Stock. Diesmal angelte
wort hervorgerufen wird; kann die Entscheidungen an- er sich damit den langen Stock – und holte sich mit diesem
derer beeinflussen und zu fehlgeleiteten Ergebnissen die Frucht. Darüber hinaus demonstrieren Menschenaffen
führen. Weitsicht, indem sie Werkzeuge aufheben, mit denen sie sich
am nächsten Tag wieder Nahrung sichern können (Mulcahy u.
Call 2006).

10.1.4 Teilen andere Spezies unsere jDer Gebrauch von Werkzeugen und die Weitergabe
kognitiven Fähigkeiten? von Kultur
Genauso wie Menschen entwickeln viele andere Arten neuartige
Verhaltensweisen und geben kulturelle Handlungsmuster an ihre
? 10.5 Was wissen wir darüber, wie Tiere denken?
Altersgenossen und Nachkommen weiter (Boesch-Achermann u.
Tiere sind oft klüger als wir glauben. Wie die wegweisende Boesch 1993). Im Wald lebende Schimpansen wählen unter-
Psychologin Margaret Floy Washburn in ihrem Buch The Animal schiedliche Werkzeuge für unterschiedliche Zwecke – einen
Mind von 1908 erklärt, kann man aufgrund des Verhaltens schweren Stock, um Löcher zu bohren, und einen leichten,
von Tieren darauf schließen, dass sie über Bewusstsein und In- biegsamen Stock, um nach Termiten zu fischen (Sanz et al. 2004).
telligenz verfügen. Sie reißen ein Schilfrohr oder einen Zweig ab, streifen die Blätter
davon ab und fischen damit dann in einem Termitenhügel, indem
jDer Gebrauch von Begriffen und Zahlen sie ihn mit geschickten Drehungen in eine Öffnung einführen
Sogar Tauben können, obwohl sie nur ein Vogelhirn haben, Ge- und dann vorsichtig herausziehen. Termiten zum Mittagessen!
genstände (Bilder von Autos, Katzen, Sesseln und Blumen) einer (Für einen Schimpansen ist das ausgesprochen verstärkend.) Ein
Kategorie zuordnen und Begriffe formen. Wenn man Tauben ein Anthropologe versuchte, diese hohe Kunst des Termitenfischens
Bild von einem Sessel zeigt, das sie nie zuvor gesehen haben, nachzuahmen, versagte dabei aber jämmerlich.
werden sie zuverlässig auf die Taste picken, die für »Sessel« steht Forscher haben bei Schimpansen mindestens 39 lokal unter-
(Wasserman 1995). Auch Menschenaffen sind in der Lage, schiedliche Gewohnheiten beim Werkzeuggebrauch, bei der
380 Kapitel 10 · Denken und Sprache

10

. Abb. 10.15a–d Werkzeuggebrauch bei Tieren. a Die Geradschnabelkrähen, die Chris Bird und Nathan Emery (2009) untersucht haben, haben es schnell
gelernt, das Wasserlevel in einem Glaszylinder anzuheben, indem sie Steine in das Wasser hineinfallen ließen, um an einen darin schwimmenden Wurm he-
ranzukommen. Andere Raben haben Zweige benutzt, um nach Insekten zu fischen, und Metallstreifen verbogen, um damit Nahrung zu erreichen. b Kapu-
zineraffen haben nicht nur gelernt, schwere Steine zu benutzen, um Palmenkerne zu öffnen, sondern auch Steinhammer zu testen und einen kräftigeren,
weniger zerbrechlichen auszuwählen ( Visalberghi et al. 2009). c Ein männlicher Schimpanse im schwedischen Furuvik Zoo wurde dabei beobachtet, wie
er jeden Morgen Steine sammelte und zu einem kleinen, ordentlichen Hügel zusammenstapelte, den er später am Tag als Munition nutzte, um Besucher
auf sich aufmerksam zu machen (Osvath 2009). d Delfine bilden Koalitionen, jagen gemeinsam und lernen voneinander, Werkzeuge zu benutzen (Bearzi
u. Stanford 2010). Dieser Delfin in der Shark Bay in West-Australien gehört zu einer kleinen Gruppe, die Meeresschwämme als Nasenschützer benutzen,
wenn sie den Meeresgrund nach Fischen absuchen (Krützen et al. 2005). (a: Bildrechte: Chris Bird und Nathan Emery; b: Photo by Elisabetta Visalberghi,
with permission from Elsevier; c: mit freundlicher Genehmigung von Mathias Osvath; d: © Amanda K. Coakes)

Körperpflege und beim Paarungsverhalten beobachtet (Whiten sich Schimpanse C verhalten, nachdem er Schimpanse B be-
u. Boesch 2001). Die eine Gruppe von Schimpansen schleckt obachtet hat. Entlang einer Reihe von sechs Tieren beobachten
vielleicht die Ameisen direkt vom Stock ab, während eine andere Schimpansen Verhalten und ahmen es nach. Auch andere
sie einzeln mit den Fingern absammelt. Die eine Gruppe benutzt Tiere demonstrieren überraschende kognitive Begabungen
einen Stein zum Nüsseknacken, eine andere verwendet dagegen (. Abb. 10.15).
ein Stück Holz als Hammer. Solche Gruppenunterschiede
scheinen also ebenso wie Dialektunterschiede bei den Laut- jAndere kognitive Fähigkeiten
äußerungen und Unterschiede bei den Jagdtechniken nicht gene- Ein Pavian erkennt die Stimme jedes einzelnen Mitglieds inner-
tisch bedingt zu sein. In ihnen kommt vielmehr eine Art kultu- halb eines Rudels von 80 Tieren (Jolly 2007). Schafe können in-
reller Vielfalt in der Schimpansenwelt zum Ausdruck. dividuelle Gesichter erkennen und sich an sie erinnern (Morell
In einigen Experimenten haben Forscher begonnen, die 2008). Schimpansen und zwei weitere Affenarten können sogar
Weitergabe von kulturellen Verhaltensweisen bei Schimpansen im Ihre Absichten erkennen. Die Tiere würden mehr Interesse an
Labor zu untersuchen (Horner et al. 2006). Wenn Schimpanse A einem Nahrungsbehälter zeigen, den Sie vorsätzlich gegriffen
Nahrung erhält, indem er eine Tür entweder zur Seite schiebt haben, als an einem, den Sie wie zufällig mit der Hand berühren
oder anhebt, so wird Schimpanse B gewöhnlich das Gleiche (Wood et al. 2007). Menschenaffen und Delphine haben Ich-
tun, um an Nahrung heranzukommen. Und genauso wird Bewusstsein demonstriert (indem sie sich selbst in einem Spiegel
10.2 · Sprache
381 10

. Abb. 10.16 Sprache vermittelt Kultur. Egal ob gesprochen, geschrieben oder durch Gebärden dargestellt, Sprache – die ursprüngliche drahtlose Kom-
munikation – ermöglicht uns eine Informationsweitergabe von Geist zu Geist und damit die Weitergabe des angesammelten Wissens einer Zivilisation an
nachfolgende Generationen. (© picture alliance / AP Images)

erkannt haben). Auch Elefanten tun dies und beweisen darüber uns, und wir schaffen es, dass sie bestimmte Dinge machen, und
hinaus in Tests ihre Fähigkeit zu lernen, sich zu erinnern, Ge- erhalten damit Beziehungen aufrecht (Guerin 2003). Je nach-
rüche zu unterscheiden, Mitgefühl zu empfinden, zusammenzu- dem, wie man die Luft zum Schwingen bringt, nachdem man den
arbeiten, zu lehren und spontan Werkzeuge zu benutzen (Byrne Mund geöffnet hat, kann man sich entweder eine Ohrfeige ein-
et al. 2009). Als soziale Wesen zeigen Schimpansen Altruismus, fangen – oder einen Kuss.
Zusammenarbeit und Gruppenaggression. Genauso wie Aber Sprache ist mehr als vibrierende Luft. Während ich
Menschen töten sie ihren Nachbarn, um Land zu gewinnen, und diesen Absatz verfasse, erzeugen meine Finger auf einer Tastatur
sie trauern um verstorbene Verwandte (Anderson et al. 2010; elektronische binäre Zahlen, die in Schnörkel getrockneter
Biro et al. 2010; Mitani et al. 2010). Druckerschwärze überführt und auf die Seite vor Ihnen gepresst
Es besteht kein Zweifel daran, dass andere Arten viele be- werden. Diese werden mit Hilfe von reflektierten Lichtstrahlen
merkenswerte kognitive Fähigkeiten demonstrieren. Aber eine auf Ihre Retina übertragen und lösen dort formlose Nervenim-
große Frage bleibt bestehen: Verfügen sie, ebenso wie der pulse aus. Diese wiederum sprechen mehrere Ihrer Hirnareale
Mensch, über Sprache? an, die diese Informationen integrieren, mit abgespeicherten In-
formationen vergleichen und ihre Bedeutung entschlüsseln.
Sprache (»language«) – unsere gesprochenen, geschriebenen oder durch
10.2 Sprache Gebärden ausgedrückten Wörter und die Art und Weise, wie wir diese mit-
einander verbinden, um Bedeutungen auszudrücken.
Stellen Sie sich Aliens vor, die Gedanken von einem Kopf zum
anderen weiterleiten können, indem sie die Luftmoleküle im Dank der Sprache bewegen sich Informationen von meinem in
Raum zum Pulsieren bringen. Vielleicht könnten diese seltsamen Ihren Geist. Affen wissen fast nur, was sie sehen. Dank der
Wesen ja in einem künftigen Film von Spielberg vorkommen? Sprache (gesprochen, geschrieben oder durch Gebärden darge-
Eigentlich sind wir diese Kreaturen! Wenn wir sprechen, stellt) wissen wir vieles, was wir noch nie gesehen haben, und was
zaubern unser Gehirn und unser Sprechapparat Luftdruckwellen unsere entfernten Vorfahren nie wussten. Heute, so Daniel
hervor, die wir absenden und gegen das Trommelfell des anderen Gilbert (2006), »weiß der durchschnittliche Zeitungsausträger in
prallen lassen – dies ermöglicht es uns, Gedanken von unserem Pittsburgh mehr über das Universum als Galileo, Aristoteles, Le-
in sein Gehirn zu leiten (. Abb. 10.16). Wie der Kognitions- onardo oder irgendeiner dieser anderen Typen, die so klug wa-
forscher Steven Pinker (1998) anmerkte, kann man stundenlang ren, dass sie nur einen Namen brauchten«.
dasitzen »und den Geräuschen zuhören, die andere Menschen Für Pinker (1990) ist die Sprache das »Juwel in der Krone
beim Ausatmen machen, weil dieses Zischen und Quietschen der Kognition«. Wenn Sie nur eine einzige kognitive Funktion
eben Information enthält«. Und wegen all dieser seltsamen Ge- aufrechterhalten könnten, dann wählen Sie die Sprache, rät die
räusche, die in unserem Kopf aus Luftdruckwellen erzeugt und Forscherin Lera Boroditsky (2009). Auch wenn Sie nicht mehr
ausgesandt werden, richten die Leute ihre Aufmerksamkeit auf sehen oder hören könnten, könnten Sie immer noch Freunde,
382 Kapitel 10 · Denken und Sprache

Familie und einen Job haben. Aber wäre das auch ohne Sprache
möglich? »Die Sprache ist ein so fundamentaler Teil unseres
Erlebens, ein so fester Bestandteil dessen, was uns zum
Menschen macht, dass es schwer ist, sich ein Leben ohne sie vor-
zustellen.«

10.2.1 Struktur und Aufbau von Sprache

? 10.6 Welches sind die strukturellen Grundbestandteile


einer Sprache?

Überlegen Sie: Wie würden wir vorgehen, um selbst eine Sprache


zu erfinden? Für eine gesprochene Sprache würden wir drei Bau-
steine benötigen:
4 Phoneme sind die kleinsten unterscheidbaren Lautein-
heiten in einer Sprache. Wenn wir das Wort Ton aus- . Abb. 10.17 »Let me get this straight now. Is what you want to build a
sprechen, müssen wir die Phoneme t, o und n artikulieren. jean factory or a gene factory?« (From The Wall Street Journal – permission
(Phoneme sind nicht das Gleiche wie Buchstaben. Das Wort Cartoon Features Syndicate)
schon besteht ebenfalls aus 3 Phonemen, nämlich sch, o und
n.) Bei der Untersuchung von fast 500 Sprachen haben die
10 Linguisten 869 verschiedene Phoneme der menschlichen Die Sprache wird von Stufe zu Stufe immer komplexer. Im Deut-
Sprache ausmachen können, aber keine Sprache benutzt sie schen lässt sich beispielsweise die relativ kleine Zahl von etwa
alle (Holt 2002; Maddieson 1984). Sowohl das Englische als 40 Phonemen zu mehr als 60.000 Morphemen zusammensetzen,
auch das Deutsche kennen etwa 40; die Zahl der Phoneme die allein oder miteinander kombiniert die etwa 350.000 Stich-
in anderen Sprachen liegt zwischen halb so viel und mehr wörter des Duden ergeben. Aus diesen Wörtern können wir dann
als doppelt so viel. Im Allgemeinen enthalten Konsonanten- eine unbegrenzte Zahl von Sätzen bilden, von denen wir die
phoneme mehr Information als Vokalphoneme. Dar karza meisten (so wie diesen hier) vorher nie gehört oder gelesen
Satz, dan Saa garada lasan, balagt das abarzaagand. Ebenso: haben. So wie das Leben selbst auf dem einfachen Alphabet
draa Chanasan mat dam Kantrabass (. Abb. 10.17). des genetischen Codes beruht, entsteht die Komplexität der
4 Morpheme sind die kleinsten bedeutungstragenden Bau- Sprache aus allereinfachsten Grundelementen. Ich weiß, dass Sie
steine einer Sprache. Im Englischen sind einige Morpheme verstehen, warum ich mir Sorgen mache, Sie könnten glauben,
zugleich Phoneme – z. B. das Personalpronomen I und der dieser Satz würde allmählich zu kompliziert werden, aber diese
Artikel a. Aber die meisten Morpheme sind Kombinationen Komplexität – und unsere Fähigkeit, diese mitzuteilen und zu
aus 2 oder mehr Phonemen. Einige – wie beispielsweise verstehen – macht eben das Sprachvermögen des Menschen aus
Hund – sind Wörter. Andere – wie das Präfix Vor- in Vor- (Hauser et al. 2002; Premack 2007).
schau oder das Suffix -te als Zeichen für die Vergangen-
Prüfen Sie Ihr Wissen
heitsform – sind nur Wortbestandteile.
4 Eine Grammatik ist ein System von Regeln, das es uns 5 Wie viele Morpheme hat das Wort Katzen? Und wie viele
ermöglicht, mit anderen Menschen zu kommunizieren. Phoneme?
Grammatikalische Regeln zeigen uns, wie man Bedeutung
aus Tönen ableitet (Semantik) und Wörter zu Sätzen zu-
sammenfügt (Syntax).
Phonem (»phoneme«) – kleinste unterscheidbare Lauteinheit in einer 10.2.2 Sprachentwicklung
gesprochenen Sprache.
Morphem (»morpheme«) – kleinster bedeutungstragender Baustein einer Überschlagen Sie einmal: Wie viele Wörter haben Sie zwischen
Sprache; kann ein Wort oder ein Wortbestandteil sein. Ihrem 1. Geburtstag und Ihrem Abitur erlernt? Sie benutzen
Grammatik (»grammar«) – System von Regeln in einer Sprache, mit deren zwar nur 150 Wörter, um etwa die Hälfte all dessen zu sagen, was
Hilfe wir uns anderen Menschen mitteilen und sie verstehen können. Die Sie sagen, aber Sie haben in dieser Zeit wahrscheinlich ca.
Semantik (»semantics«) ist die Gesamtheit aller Regeln, mit deren Hilfe wir
60.000 Wörter in Ihrer Muttersprache erlernt (Bloom 2000;
in einer gegebenen Sprache aus Morphemen, Wörtern und Sätzen Bedeu-
tung ableiten; und die Syntax (»syntax«) beschreibt die Regeln, nach denen McMurray 2007). Das bedeutet, dass Sie (nach dem 2. Lebens-
Wörter zu sinnvollen Sätzen kombiniert werden. jahr) durchschnittlich fast 3500 Wörter pro Jahr oder 10 pro Tag
10.2 · Sprache
383 10
gelernt haben! Wie Sie das hingekriegt haben und warum die jSprachproduktion
3500 Wörter pro Jahr so viel mehr sind als die ca. 200 Wörter pro Die Fähigkeit von Babys zur Sprachproduktion, ihre Fähigkeit,
Jahr, die die Lehrer Ihnen in der Schule bewusst beigebracht Wörter hervorzubringen, entwickelt sich im Anschluss an ihre
haben, ist eines der großen Wunder der Menschheit. Fähigkeit zum Sprachverstehen. Sie erkennen Unterschiede
Könnten Sie überhaupt alle syntaktischen Regeln (die kor- zwischen Verben und Substantiven – wie ihre Reaktionen auf ein
rekte Art und Weise, Wörter zu Sätzen zusammenzusetzen) Ihrer fehlplatziertes Verb oder Substantiv zeigen –, bevor sie Sätze mit
Sprache formulieren? Die meisten von uns können das nicht. Verben und Substantiven sprechen (Bernal et al. 2010).
Aber schon ehe Sie in der Lage waren, 2 und 2 zusammenzu- Bevor die Natur damit beginnt, die Sprache von Säuglingen
zählen, haben Sie ihre eigenen, neuartigen und dabei grammati- zu formen, befähigt sie Babys erst einmal dazu, eine Vielzahl
kalisch korrekten Sätze gebildet. Noch vor dem Schuleintritt unterschiedlicher Laute hervorzubringen. Dieses sog. Lall-
haben Sie Ihre Sprache mit einer Leichtigkeit verstanden und stadium beginnt etwa im Alter von 4 Monaten. Viele der spontan
gesprochen, die jeden Studenten in den Schatten stellt, der sich auftretenden Lalllaute sind Konsonant-Vokal-Paare, die
mühsam eine Fremdsprache aneignet. entstehen, wenn einfach die Zunge gegen den vorderen Teil
Wir Menschen zeigen ein erstaunliches Sprachtalent. Mit des Mundes gedrückt wird (da-da, na-na, ta-ta), oder durch
bemerkenswerter Effizienz wählen wir Zehntausende von Wör- Öffnen und Schließen der Lippen (ma-ma) gebildet werden;
tern aus unserem Gedächtnis aus, verbinden sie in Windeseile, beide Bewegungen treten beim Säugling während des Fütterns
mühelos und syntaktisch fast perfekt miteinander, um sie dann spontan auf (MacNeilage u. Davis 2000). Mit dem Lallen ahmen
in einem Tempo von 3 Wörtern pro Sekunde auszuspucken sie nicht die Sprache der Erwachsenen nach; denn es enthält
(Vigliocco u. Hartsuiker 2002). Nur selten bilden wir Sätze im Laute verschiedener Sprachen, einschließlich derer, die in
Kopf, bevor wir sie aussprechen. Vielmehr stellen wir sie spontan der Umgebung des Kindes gar nicht gesprochen werden.
zusammen, während wir sprechen. Und während wir all das tun,
Lallstadium (»babbling stage«) – beginnt mit etwa 4 Monaten. Die Phase
passen wir unsere Sprache auch an den sozialen und kulturellen der Sprachentwicklung, in der ein Säugling spontan verschiedene Laute
Kontext an, wobei wir bestimmten Regeln bezüglich des hervorbringt, zunächst auch solche, die nicht in der Sprache seiner Umge-
Sprechens (Wie weit sollten wir auseinander stehen?) und des bung vorkommen.
Zuhörens (Ist es okay zu unterbrechen?) folgen. In Anbetracht der
vielen Möglichkeiten, Fehler zu machen, ist es erstaunlich, wie Mit Hilfe des frühen Lallens kann ein Zuhörer nicht entscheiden,
wir diesen sozialen Tanz meistern. Wann und wie kommt es also ob es sich z. B. um ein französisches, ein koreanisches oder ein
dazu? äthiopisches Kind handelt. Gehörlose Kinder, die beobachten,
wie ihre Eltern in Gebärdensprache kommunizieren, beginnen,
Wann lernen wir zu sprechen? in Gebärdensprache zu kommunizieren (Petitto u. Marentette
1991).
? 10.7 Was sind die einzelnen Stufen des Spracherwerbs?
Im Alter von ca. 10 Monaten hat sich das Lallen dahin ver-
jSprachverstehen ändert, dass ein geschultes Ohr die Umgebungssprache des
Die sprachliche Entwicklung von Kindern schreitet von ein- Säuglings heraushören kann (de Boysson-Bardies et al. 1989).
fachen zu komplexen Gebilden voran. Säuglinge haben zunächst Wenn sie keine andere Sprachen zu hören bekommen, verlieren
noch keine Sprache. Aber schon im Alter von 4 Monaten können Säuglinge die Fähigkeit, Laute zu unterscheiden und zu pro-
sie Sprachlaute voneinander unterscheiden (Stager u. Werker duzieren, die in ihrer Muttersprache nicht vorkommen (Meltzoff
1997). Sie können auch Laute von den Lippen ablesen: Sie blicken et al. 2009; Pallier et al. 2001). Daher können ausschließlich eng-
vorzugsweise zu einem Gesicht hin, dessen Ausdruck dem zu lischsprachige Erwachsene bestimmte japanische Phoneme nicht
hörenden Laut entspricht; daher wissen wir, dass sie bereits ver- mehr voneinander unterscheiden. Und Japaner ohne englische
stehen, dass der Laut ah von weit geöffneten Lippen kommt, der Sprachkenntnisse können den Unterschied zwischen »r« und »l«
Laut i dagegen von einem Mund mit zurückgezogenen Mund- beim Sprechen nicht wahrnehmen. Für einen erwachsenen Japa-
winkeln (Kuhl u. Meltzoff 1982). Dies markiert bei Babys den ner kann »la-la-ra-ra« wie eine Wiederholung von 4 gleichen
Anfang einer Entwicklung der Fähigkeit zum Sprachverstehen, Silben klingen. (Überrascht Sie das ebenso wie mich?) Es ist eine
also ihrer Fähigkeit, zu verstehen, was zu ihnen und über sie Herausforderung für den japanischen Touristen, der erfährt, der
gesagt wird. Ab dem 7. Lebensmonat erweitern Babys ihre Fähig- Bahnhof liege »just after the next light«. »Was denn nun?«, mag
keit, etwas zu tun, was Sie und ich schwierig finden, wenn wir er sich fragen. »Hinter der nächsten Abbiegung rechts, oder ein
eine fremde Sprache hören: gesprochene Laute in individuelle Stück hinter der nächsten Ampel?«
Wörter zu zerlegen. Darüber hinaus sagt die Leichtigkeit, mit der Um den 1. Geburtstag herum treten die meisten Kinder in
sie diese Aufgabe meistern (gemessen an ihrem Zuhörverhalten), das Einwortstadium ein. Sie haben bereits gelernt, dass Laute
etwas über ihre Sprachfähigkeit im Alter von 2 und 5 Jahren aus eine Bedeutung haben, und wenn sie wiederholt darin trainiert
(Newmann et al. 2006). werden, z. B. »Fisch« mit einem Bild von einem Fisch zu assozi-
384 Kapitel 10 · Denken und Sprache

. Tab. 10.1 Sprachentwicklung im Überblick

Ungefähres Alter Stadium


in Monaten

4 Lallt viele Sprachlaute (»Ah-goo«).

10 Lallt Laute der Umgebungssprache (»Ma-ma«).

12 Einwortstadium (»Katze!«).

24 Zweiwortstadium, Telegrammstil (»Ball holen«).

über 24 Sprache entwickelt sich schnell hin zur Bildung


vollständiger Sätze

großer«. Im Spanischen ist es genau andersherum, so wie in »casa


blanca«.
Zweiwortstadium (»two-word stage«) – beginnt mit etwa 2 Jahren; Phase
der Sprachentwicklung, während der das Kind hauptsächlich in Sätzen aus
2 Wörtern spricht.
Telegrammstil (»telegraphic speech«) – frühe Sprechphase, in der das Kind
ähnlich den Formulierungen in einem Telegramm spricht – »Auto gehen« -
. Abb. 10.18 »Idee gehabt. Besser sprechen. Verbinde Wörter. d. h. es verwendet vorzugsweise Substantive und Verben.
10 Mach Sätze.« (© ScienceCartoonsPlus.com)
Wenn die Kinder das Zweiwortstadium hinter sich haben, bilden
sie bald längere Sätze (Fromkin u. Rodman 1983). Wenn sie spät
ieren, werden 1-Jährige einen Fisch angucken, wenn der For- anfangen, eine bestimmte Sprache zu lernen, wie z. B. nach einer
scher sagt: »Fisch, Fisch. Guck mal, ein Fisch!« (Schafer 2005). Kochleaimplantation, oder wenn sie von einer Familie in einem
Sie fangen nun an, selber Laute – in der Regel nur eine kaum anderen Land adoptiert wurden, schreitet ihre Sprachentwick-
erkennbare Silbe, wie ma oder da – zur Mitteilung von Bedeu- lung auch in der gleichen Reihenfolge voran, aber in der Regel
tung einzusetzen. Aber die Familienmitglieder lernen schnell, um einiges schneller (Ertmer et al. 2007; Snedeker et al. 2007).
die Sprache des Säuglings zu verstehen, und allmählich nähert Beim Eintritt in die Grundschule versteht das Kind komplexe
sich diese immer mehr der Sprache der Familie an. Überall in der Sätze und hat Spaß an Wortspielen: »Welche Meise kann nicht
Welt sind die ersten Worte eines Säuglings oft Substantive, die singen? – Die A-meise.«
Objekte oder Personen bezeichnen (Tardif et al. 2008). In diesem
Prüfen Sie Ihr Wissen
Einwortstadium kann eine Wortform einen ganzen Satz bein-
halten. »Wau-wau!« kann dann bedeuten: »Sieh mal, der Hund 5 Was ist der Unterschied zwischen Sprachverstehen
da draußen!« und Sprachproduktion, und wann erreichen Kinder in
Einwortstadium (»one-word stage«) – Phase der Sprachentwicklung, die der Regel diese Stadien der Sprachentwicklung?
ungefähr das 2. Lebensjahr umfasst, während der das Kind hauptsächlich in
einzelnen Wörtern spricht.

Im Alter von etwa 18 Monaten steigt das Lerntempo von einem Erklärungsmodelle zur Sprachentwicklung
Wort pro Woche auf ein Wort pro Tag an. Bis zum 2. Geburtstag
? 10.8 Wie erwerben wir Sprache?
haben sie dann in der Regel das Zweiwortstadium erreicht
und bilden nun Sätze aus 2 Wörtern (. Tab. 10.1; . Abb. 10.18). Die etwa 7000 Sprachen in der Welt sind strukturell sehr unter-
Die Sprache in diesem Stadium hat einen charakteristischen schiedlich (Evans u. Levinson 2009). Der Linguist Noam Choms-
Telegrammstil. Wie in Textnachrichten der heutigen Zeit ky hat nichtsdestotrotz einmal gesagt, dass alle Sprachen einige
oder Telegrammen in der Vergangenheit, deren Preis pro Wort grundlegende Bestandteile gemeinsam hätten, die er als Univer-
berechnet wurde (BEDINGUNG AKZEPTIERT. SCHICKE salgrammatik bezeichnet. Alle menschlichen Sprachen haben
GELD), verwendet ein 2-jähriges Kind hauptsächlich Substan- z. B. Substantive, Verben und Adjektive als grammatikalische
tive und Verben (»will Saft«). Dabei hält es sich wie ein Tele- Bausteine. Nach Chomsky verfügen wir außerdem über eine an-
gramm an die syntaktischen Regeln: Die Wörter haben die geborene Fähigkeit, grammatikalische Regeln zu lernen. Diese
richtige Reihenfolge. Das Kind setzt normalerweise die Adjektive Annahme hilft zu erklären, warum Kinder schon vor Schul-
vor die Substantive – »großer Wauwau« und nicht »Wauwau beginn mit Leichtigkeit Sprachkenntnisse erwerben und gram-
10.2 · Sprache
385 10

. Abb. 10.19 Die Erschaffung einer Sprache. Gehörlose Kinder aus Nicaragua, die wie auf einer einsamen Insel zusammenleben konnten (in einer
Schule), entwickelten im Lauf der Zeit mit Hilfe von Gebärden von zu Hause ihre eigene voll ausgebildete nicaraguanische Gebärdensprache mitsamt
Wortschatz und ausgefeilter Grammatik. Unsere biologische Disposition lässt Sprachen nicht in einem Vakuum entstehen. Aber wenn ein sozialer Rahmen
gegeben ist, können Anlage und Umwelt schöpferisch zusammenwirken (Osborne 1999; Sandler et al. 2005; Senghas u. Coppola 2001; © Susan Meiselas /
Magnum Photos / Agentur Focus)

matikalische Regeln korrekt benutzen (. Abb. 10.19). Das ge- Computerstimme vorgespielt wurde, die eine eintönige un-
schieht so natürlich – wie ein Vogel fliegen lernt –, dass bewuss- unterbrochene Folge von unsinnigen Silben von sich gab (bida-
tes Üben kaum hilft. kupadotigolabubidaku …), waren die Säuglinge in der Lage (das
Wir kommen allerdings nicht mit einer bestimmten angebo- war an ihrer Aufmerksamkeit abzulesen), wiederkehrende Folgen
renen Sprache auf die Welt. Europäer und eingeborene austra- von 3 Silben zu erkennen (Saffran et al. 1996, 2009).
lisch-neuseeländische Völker können, obwohl sie über einen Folgeuntersuchungen liefern weitere Belege für diese
Zeitraum von 50.000 Jahren geografisch voneinander getrennt erstaunliche Fähigkeit des Säuglings, Sprache aufzunehmen. Bei-
waren, relativ einfach die Sprache des jeweils anderen erlernen spielsweise können 7 Monate alte Säuglinge einfache Satz-
(Chater et al. 2009). Mit Leichtigkeit lernen wir die spezielle strukturen erfassen. Nachdem sie wiederholt Silbenfolgen gehört
Grammatik und das Vokabular jeder beliebigen Sprache, mit der haben, die nach einer bestimmten Regel gebildet sind (einem
wir als Kinder aufwachsen, sei es nun eine gesprochene Sprache ABA-Muster, wie z. B. ga-ti-ga und li-na-li), lauschen Säuglinge
oder eine Gebärdensprache (Bavelier et al. 2003). Und gleichgültig länger Silbenfolgen, die nach einer anderen Regel gebildet
um welche Sprache es geht: Wir beginnen meistens, in Substan- wurden (einem ABB-Muster, wie z. B. wo-fe-fe, eher als wo-fe-
tiven (Hund, Mama) zu sprechen, und nicht so sehr in Verben wo). Die Tatsache, dass sie zwischen den beiden Mustern unter-
und Adjektiven (Bornstein et al. 2004). Biologie und Erfahrung scheiden können, ist ein Indiz dafür, dass Säuglinge über die
arbeiten Hand in Hand. angeborene Fähigkeit verfügen, grammatikalische Regeln zu er-
fassen (Marcus et al. 1999; . Abb. 10.20).
jStatistisches Lernen
Wenn Erwachsene eine unbekannte Sprache hören, nehmen sie jKritische Phasen
nur ein Durcheinander von Silben wahr. Ein junges sudanesi- Können wir Erwachsenen beibringen, dieses selbe Wunderwerk
sches Paar, das in die Vereinigten Staaten kommt und über keine der statistischen Auswertung über ihre gesamte Lebensspanne
Englischkenntnisse verfügt, würde z. B. statt »United Nations« hinweg zu vollbringen? Viele Forscher bezweifeln das. Die Kind-
möglicherweise »Uneye Tednay Shuns« heraushören. Ihre heit scheint eine kritische (oder »sensible«) Phase zu sein, um
7-Monate alte Tochter würde dieses Problem nicht haben. bestimmte Aspekte der Sprache beherrschen zu lernen, bevor
Menschliche Säuglinge haben die bemerkenswerte Fähigkeit, die sich das Fenster des Spracherwerbs schließt (Hernandez u. Li
statistischen Aspekte einer menschlichen Sprache zu erfassen. 2007). Wer als Erwachsener eine Zweitsprache lernt, spricht sie
Ihre Gehirne erkennen nicht nur, wo die Wortzwischenräume in der Regel mit dem Akzent seiner Muttersprache und hat auch
liegen, sondern werten auch statistisch aus, welche Silbenkombi- mehr Schwierigkeiten im Umgang mit der neuen Grammatik. In
nationen besonders häufig sind, wie etwa bei »hap-py-ba-by«. einem Experiment wurde koreanischen und chinesischen Immi-
Nachdem 8 Monate alten Säuglingen nur 2 Minuten lang eine granten in den USA ein englischer Grammatiktest vorgelegt, bei
386 Kapitel 10 · Denken und Sprache

. Abb. 10.20 Ein Naturtalent. Menschliche Säuglinge haben eine erstaunliche Fähigkeit, Sprache regelrecht aufzusaugen. Diejenige Sprache, die sie
erlernen, reflektiert allerdings ihre individuellen Interaktionen mit anderen Menschen. (Foto: Joachim Coch)

dem 276 Sätze (»Yesterday the hunter shoots a dear«) als gramma-
10 tikalisch richtig oder falsch einzustufen waren (Johnson u. New-
port 1991). Alle Probanden hatten etwa 10 Jahre in den USA
verbracht: Einige waren in früher Kindheit eingewandert, andere
erst als Erwachsene. Wie . Abb. 10.21 zeigt, beherrschten dieje-
nigen, die die Zweitsprache früh erlernt hatten, diese besser. Je
älter man ist, wenn man in ein Land einwandert, desto schwerer
wird es, die dortige Sprache zu erlernen und die Kultur aufzu-
nehmen (Cheung et al. 2011; Hakuta et al. 2003).

» Die Kindheit ist zweifellos die wichtigste Zeit für die


Sprache. Kleine Kinder sind gut darin, je jünger, desto
besser; das ist ein Kinderspiel für sie. Dies ist ein einmaliges
Geschenk an unsere Spezies.
Lewis Thomas, The Fragile Species, 1992

» Kinder sind in der Lage, mehrere Sprachen akzentfrei und


grammatikalisch korrekt zu erlernen, wenn sie vor Beginn
der Pubertät mit der Sprache in Berührung kommen. Aber
nach der Pubertät ist es sehr schwierig, eine zweite Sprache
so gut zu erlernen. Ganz ähnlich erging es mir, als ich das
erste Mal nach Japan gereist bin. Man hat mir gesagt, ich
solle nicht einmal versuchen, mich zu verbeugen, da es etwa
. Abb. 10.21 Das Erlernen neuer Sprachen wird mit zunehmendem
ein Dutzend verschiedener Verbeugungen gebe und ich Alter immer schwieriger. 10 Jahre nachdem sie in die USA eingewandert
mich immer ›mit Akzent verbeugen‹ würde. waren, unterzogen sich Einwanderer aus asiatischen Ländern einem
Psychologe Stephen M. Kosslyn, The World in the Brain, 2008 Grammatiktest. Obwohl es keine klar definierte kritische Phase für den
Erwerb einer Zweitsprache gibt, beherrschten diejenigen, die in einem
Das Fenster zum Spracherwerb schließt sich in der frühen Kind- Alter von weniger als 8 Jahren gekommen waren, die Grammatik des
amerikanischen Englischs genauso gut wie die Muttersprachler. Wer bei
heit allmählich. Ungewöhnlich später Erstkontakt mit der
der Einwanderung schon älter war, tat dies dagegen nicht. (Nach Johnson
Sprache (im Alter von 2 oder 3 Jahren) führt dazu, dass die brach- u. Newport 1991)
liegenden verbalen Fähigkeiten des Gehirns freigesetzt werden,
so dass sich die Sprachkompetenz sprunghaft entwickelt. Wer
aber im Alter von 7 Jahren weder mit einer Laut- noch mit einer
10.2 · Sprache
387 10
Gebärdensprache Erfahrung gemacht hat, verliert allmählich
seine Fähigkeit, irgendeine Sprache zu beherrschen.
Der Einfluss frühkindlicher Erfahrungen wird deutlich,
wenn wir den Spracherwerb der mehr als 90% gehörlosen Kinder
betrachten, deren hörende Eltern keine Gebärdensprache be-
herrschen. Diese Kinder machen während ihrer ersten Lebens-
jahre normalerweise gar keine Erfahrung mit Lautsprache. Von
Geburt an gehörlose Kinder, die erst im Alter von mehr als 9 Jah-
ren eine Gebärdensprache lernen, werden sie nicht so gut wie
Kinder beherrschen, die mit 9 Jahren gehörlos werden, aber vor-
her Englisch gelernt haben (. Abb. 10.22). Sie können auch Eng-
lisch nicht so gut lernen wie andere von Geburt an gehörlose
Kinder, die schon als Kinder Gebärdensprache gelernt haben
(Mayberry et al. 2002).
Menschen, die erst als Jugendliche oder Erwachsene Gebär-
densprache erlernen, sind wie die Immigranten, die Englisch erst
nach ihrem Kindheitsalter lernen: Sie lernen die wichtigsten
Wörter und können daraus Sätze bilden. Aber sie werden nicht
so versiert wie Gebärden-Muttersprachler, wenn es darum geht,
grammatische Feinheiten zu unterscheiden und zu verstehen
(Newport 1990). Und die späten Lerner zeigen weniger Gehirn-
aktivität in den Regionen der rechten Hemisphäre, die aktiv sind,
wenn Gebärden-Muttersprachler ihre Sprache praktizieren . Abb. 10.22 Bruder heißt Bruder, egal wie man es sagt. Gehörlose
(Newman et al. 2002). Wie eine Pflanze ohne Nährstoffe ver- Kinder gehörloser Eltern, die Gebärdensprache benutzen, haben viel mit
hörenden Kindern hörender Eltern gemeinsam. Sie eignen sich sprachliche
kümmert, so verkümmert ein Kind auf sprachlicher Ebene, wenn
Fähigkeiten in ungefähr dem gleichen Tempo an und sind gleich stark,
es während der kritischen Lernphase an sprachlichen Kontakten wenn es darum geht, sich den elterlichen Wünschen zu widersetzen und
gehindert wird. den eigenen Weg zu gehen. (© Getty Images / Huntstock)
Das ist ein wichtiger Aspekt für die Eltern gehörlosen Kinder.
Mehr als 90% der gehörlosen Kinder haben hörende Eltern und
die meisten von diesen wollen, dass ihre Kinder ihre Welt voller stellen, wie sich Ihre Aufmerksamkeit auf Ihre anderen Sinne
Töne und Gespräche erleben dürfen. Kochleaimplantate ermög- richtet. In einem Experiment wurden Versuchsteilnehmer, die
lichen dies, indem sie Geräusche in elektrische Signale umwan- 90 Minuten lang schweigend mit verbundenen Augen dagesessen
deln und den Hörnerv stimulieren. Dies geschieht durch Elekt- hatten, genauer bei der Lokalisierung eines Geräuschs (Lewald
roden, die in die Kochlea des Kindes eingeführt werden. Wenn 2007). Wenn sich Liebende küssen, schließen sie ihre Augen und
ein Implantat seine Wirkung nicht verfehlen soll, können die erreichen dadurch, dass die Ablenkung möglichst gering und die
Eltern die Entscheidung nicht so lange hinausschieben, bis ihr Sensibilität für Tastempfindungen möglichst groß wird.
Kind ein Alter erreicht, in dem es dem zustimmen kann. Der Menschen, die einen Sinneskanal verlieren, scheinen dies
Einsatz von Kochleaimplantaten bei Kindern ist allerdings sehr durch eine leichte Verbesserung ihrer anderen sensorischen
umstritten. Die Fürsprecher der Gehörlosenkultur sind dagegen, Fähigkeiten auszugleichen (Backman u. Dixon 1992; Levy u.
dass diese Implantate bei Kindern eingesetzt werden, die das Ge- Langer 1992). Blinde Musiker haben eine höhere Wahrschein-
hör verloren haben, bevor sie sprechen lernen. Die National As- lichkeit als sehende, ein absolutes Gehör zu entwickeln (Hamil-
sociation of the Deaf, der amerikanische Gehörlosenverband, ton 2000). Blinde sind auch mit einem verschlossenen Ohr in der
z. B. vertritt die These, dass Gehörlosigkeit keine Behinderung Lage, die Schallquelle eines Geräuschs genauer zu lokalisieren als
sei, weil Menschen, die von Geburt an die Gebärdensprache be- sehende Menschen (Gougoux et al. 2005; Lessard et al. 1998).
nutzt haben, linguistisch nicht behindert seien: Vor über 50 Jah- Und beim Lesen der Braille-Schrift (der Punktschrift der
ren demonstrierte der Linguist William Stokoe von der Gallaudet Blinden) – wofür eine hohe Sensibilität für Berührungseindrücke
University (1960), dass die Gebärdensprache eine vollständige erforderlich ist – benutzen Blinde ungenutzte Verarbeitungs-
Sprache mit eigener Grammatik, Syntax und Semantik ist. kapazitäten ihres visuellen Kortex (Amedi et al. 2003).
Einige Fürsprecher der Gehörlosenkultur sind zudem der Bei gehörlosen Katzen stellen sich Gehirnareale, die norma-
Meinung, dass man Gehörlosigkeit ebenso gut als »verbesserte lerweise zum Hören verwendet werden, dem visuellen System
Sehfähigkeit« wie als »mangelndes Hörvermögen« bezeichnen zur Verfügung (Lomber et al. 2010). Das Gleiche gilt für
kann. Schließen Sie Ihre Augen und sofort werden sofort fest- Menschen, die gehörlos geboren wurden: Sie zeigen gesteigerte
388 Kapitel 10 · Denken und Sprache

Unter der Lupe

Leben in einer stillen Welt


Die Gruppe der über 500 Mio. Gehörlosen auf Sogar Erwachsene, die zu einem späteren Zeit- aktion mit Menschen außerhalb des engsten
der Welt ist ein buntes Völkchen (Phonak 2007). punkt im Leben einen Hörverlust erleiden, se- Familien- und Bekanntenkreises verursachte.
Manche sind absolut gehörlos, andere (mehr hen sich meistens besonderen Herausforde- Jetzt, da ich merke, wie sich mein eigenes Hör-
Männer als Frauen) haben ein begrenztes Hör- rungen gegenüber. Wenn ältere Menschen mit vermögen ebenso verschlechtert, beobachte
vermögen (Agrawal et al. 2008). Manche waren begrenztem Hörvermögen sich anstrengen ich, wie ich mich bei Theateraufführungen und
bereits prälingual (vor dem Spracherwerb) ge- müssen, um Worte zu verstehen, dann bleibt auf Konferenzen plötzlich in die vorderen und
hörlos, andere haben die Welt der Hörenden ihnen weniger kognitive Kapazität übrig, um mittleren Reihen setze, wie ich mir in Restau-
kennengelernt. Manche benutzen die Gebär- sich an Dinge zu erinnern oder sie zu begrei- rants stille Eckchen suche, wie ich meine Frau
densprache und identifizieren sich mit der auf fen ( Wingfield et al. 2005). In mehreren Studi- bitte, wichtige Anrufe für mich zu erledigen,
dieser Sprache basierenden Gehörlosenkultur. en haben Menschen mit begrenztem Hörver- wenn es gilt, Freunde mit einem anderen Dia-
Andere, besonders jene, die erst nach Ausbil- mögen, vor allem jene, die keine Hörhilfe tra- lekt als dem unsrigen zu kontaktieren. Ich be-
dung ihrer Sprachfähigkeit gehörlos wurden, gen, angegeben, dass sie trauriger und weni- nutze ein Wunderwerk der Technik (s. http://
sind »oral« (auf die Lautsprache) ausgerichtet ger sozial engagiert sind und dass sie häufiger www.hearingloop.org), das mein Hörgerät auf
und kommunizieren mit der Welt der Hören- erleben, dass andere Menschen verärgert re- Knopfdruck in einen Lautsprecher im Ohr ver-
den über Lippenlesen oder geschriebene agieren (Chisolm et al. 2007; Fellinger et al. wandelt, auf den akustische Signale vom Tele-
Botschaften. Wieder andere benutzen eine 2007; Kashubeck-West u. Meyer 2008; National fon, vom Fernsehgerät und von einem öffent-
Mischung aus beiden Kulturen. Council on Aging 1999). Sie können auch lich zugänglichen Sendesystem übertragen
Ein Leben ohne Hörvermögen kann vor allem eine Art von Schüchternheit erleben: »Es ist werden. Nichtsdestotrotz erlebe ich Frustratio-
für Kinder eine große Herausforderung sein. Da beinahe ein universelles Phänomen unter Ge- nen, wenn ich mit oder ohne Hörhilfe den Witz,
gehörlose Kinder zur üblichen Kommunikation hörlosen, dass man den Hörenden so wenig über den sich alle totlachen, nicht höre; wenn
nicht imstande sind, müssen sie darum kämp- Unannehmlichkeiten wie möglich machen ich nach wiederholten Versuchen die Frage
10 fen, mit ihren hörenden Spielkameraden ge-
meinsam Spiele zu koordinieren. Schulische
möchte«, berichtet Henry Kisor (1990, S. 244),
der Herausgeber einer Zeitung in Chicago und
eines ärgerlich gewordenen Menschen einfach
nicht verstehe und die Situation sich nicht
Leistungen können auch darunter leiden, da Kolumnist, der sein Hörvermögen im Alter von überspielen lässt; wenn Familienmitglieder auf-
die akademischen Fächer in der gesprochenen 3 Jahren verlor. »Wir können bis zur Unsicht- geben und sagen: »Ach, war sowieso nicht so
Sprache verwurzelt sind. Jugendliche können barkeit zurückhaltend und schüchtern sein. wichtig!«, nachdem sie dreimal versucht haben,
unter sozialer Ausgrenzung und einem sich da- Manchmal kann diese Neigung lähmend auf mir etwas Unwichtiges mitzuteilen.
raus ergebenden geringen Selbstwertgefühl uns wirken. Ich muss immer dagegen ankämp- Je älter meine Mutter wurde, desto mehr spürte
leiden. fen.« Helen Keller, die sowohl blind als auch sie, dass es einfach den Aufwand nicht wert
Kinder, die in einer Umgebung mit anderen Ge- gehörlos war, erklärte: »Blindheit stellt sich war, auf soziale Interaktion aus zu sein. Doch ich
hörlosen aufwachsen, identifizieren sich häufi- zwischen die Menschen und die Dinge, doch teile die Meinung des Zeitungskolumnisten Ki-
ger mit der Gehörlosenkultur als andere und Gehörlosigkeit stellt sich zwischen Menschen sor, dass Kommunikation die Anstrengung
haben in der Regel ein positives Selbstwert- und andere Menschen.« lohnt (Kisor 1990, S. 246): »Deshalb ... beiße ich
gefühl. Wenn sie in einem Haushalt aufwach- Ich kenne mich da aus. Meine Mutter, mit der die meiste Zeit eben die Zähne zusammen und
sen, in dem die Gebärdensprache benutzt wird, wir mit Hilfe von geschriebenen Botschaften wage den Sprung nach vorn.« Sich nach außen
sei es von gehörlosen oder hörenden Eltern, auf auslöschbaren »Zaubertafeln« kommuni- zu wenden, mit anderen Kontakt aufzunehmen
haben sie in der Regel auch ein stärker ausge- zierten, hat die letzten 12 Jahre ihres Lebens in und mit ihnen zu kommunizieren, und sei es
prägtes Selbstwertgefühl und empfinden sich einer stillen Welt zugebracht; sie mied den über eine Kluft der Stille hinweg, bedeutet, un-
als besser akzeptiert (Bat-Chava 1993, 1994). Stress und die Anstrengung, die ihr die Inter- ser Menschsein als soziale Wesen zu bejahen.

Aufmerksamkeit für ihr peripheres Sehen (Bavelier et al. 2006). 10.2.3 Gehirn und Sprache
Die Hörrinde von gehörlosen Menschen, die praktisch nach
sensorischem Input hungert, bleibt größtenteils intakt und wird
? 10.9 Welche Gehirnregionen sind an Sprachverarbeitung
sensibel für Berührungseindrücke und visuelle Sinneseindrücke
und Sprachproduktion beteiligt?
(Emmorey et al. 2003; Finney et al. 2001; Penhune et al. 2003).
(Wenn Sie mehr über das Leben ohne Hörvermögen erfahren Wir glauben, dass sprechen und lesen, schreiben und lesen oder
möchten, lesen Sie 7 Unter der Lupe: Leben in einer stillen Welt.) singen und sprechen insgesamt Aspekte einer einzigen Fähigkeit
sind – der Sprache. Aber denken Sie einmal über diesen seltsa-
Prüfen Sie Ihr Wissen
men Befund nach: Eine Schädigung vieler verschiedener Gehirn-
5 Wie lautet die Kernannahme des Linguisten Noam areale kann zur Aphasie führen, bei der Teilfunktionen der
Chomsky über die Sprachentwicklung? gesprochenen Sprache verloren gehen. Noch viel interessanter
5 Warum ist es im Erwachsenenalter so schwer, eine neue ist, dass einige Menschen mit Aphasie zwar flüssig reden, aber
Sprache zu erlernen? nicht lesen können (obwohl sie auch gut sehen können), wäh-
rend andere zwar verstehen können, was sie lesen, aber nicht
10.2 · Sprache
389 10
schaft unser Verständnis davon, wie die Sprachverarbeitung in
unserem Gehirn funktioniert. Wir wissen nun, dass das Broca-
Zentrum Sprache durch eine Reihe neuronaler Berechnungen
verarbeitet (Sahin et al. 2009). Sprachfunktionen sind auch über
andere Gehirnareale verteilt. Funktionelle MRT-Aufnahmen zei-
gen, dass durch Substantive und Verben, durch Objekte und
Handlungen, durch unterschiedliche Vokale und auch durch das
Lesen von Geschichten über visuelle im Vergleich zu motori-
schen Erlebnissen jeweils unterschiedliche neuronale Netzwerke
aktiviert werden (Shapiro et al. 2006; Speer et al. 2009). Darüber
hinaus ermöglichen unterschiedliche neuronale Netzwerke den
Gebrauch der Muttersprache und den einer zweiten, später er-
. Abb. 10.23a,b Hirnaktivität beim Hören und Sprechen von Wörtern lernten Sprache (Perani u. Abutalebi 2005).

» Wenn man nicht jegliche Fähigkeit zum Staunen verloren


hat, ist es schlicht ehrfurchtgebietend, wie Systeme mitein-
sprechen können. Wieder andere können schreiben, aber nicht
ander interagieren und eine dynamische Wechselbeziehung
lesen, Zahlen erkennen, aber keine Buchstaben, oder singen,
unterhalten.
aber nicht sprechen. Diese Fälle legen nahe, dass Sprache kom-
Simon Conway Morris, The Boyle Lecture, 2005
plex ist und dass unterschiedliche Gehirnregionen unterschied-
lichen Sprachfunktionen dienen müssen. Und noch ein amüsanter Befund aus dem Bereich der funktio-
nellen MRT: Witze, die eine inhaltliche Pointe haben (»Warum
Aphasie (»aphasia«) – Sprachstörung, die normalerweise durch eine
Schädigung der linken Hemisphäre, entweder im Broca-Zentrum beißen Haie keine Anwälte? – Höflichkeit unter Kollegen«), ak-
(gestörte Sprechfähigkeit) oder im Wernicke-Zentrum (gestörtes Sprach- tivieren andere Teile des Gehirns als Wortspiele (»Welche Art
verständnis) entsteht. von Beleuchtung benutzte Noah auf der Arche? – Flutlicht«)
(Goel u. Dolan 2001).
Und tatsächlich beschrieb der französische Arzt Paul Broca im Merken Sie sich also unbedingt: Bei der Sprachverarbeitung,
Jahre 1865, dass nach der Schädigung eines bestimmten Teils des so wie bei anderen Arten der Informationsverarbeitung, funkti-
linken Frontallappens (später als Broca-Zentrum bezeichnet) oniert das Gehirn so, dass es seine geistigen Fähigkeiten wie Spre-
der betroffene Patient beim Sprechen um jedes Wort ringen chen, Wahrnehmen, Denken und Erinnern in Unterfunktionen
muss, während er weiterhin fähig ist, bekannte Lieder zu singen aufteilt. Ihr bewusstes Erleben des Lesens dieser Seite scheint
und zu verstehen, was gesprochen wird. unteilbar, aber Ihr Gehirn entschlüsselt die einzelnen Buch-
staben, den Wortlaut und seine Bedeutung in verschiedenen
Broca-Zentrum (»Broca’s area«) – steuert den sprachlichen Ausdruck;
Teil des Frontalkortex, meist in der linken Hemisphäre; steuert die Muskel- neuronalen Netzen (Posner u. Carr 1992). Wir haben dies bereits
bewegungen, die an der Lautbildung beteiligt sind. in 7 Kap. 7 anhand des Sehvorgangs besprochen, für den das Ge-
hirn die visuelle Wahrnehmung in spezialisierte Unterfunktio-
1874 entdeckte der deutsche Wissenschaftler Carl Wernicke, dass nen aufteilt, wie Wahrnehmung von Farbe, Tiefe, Bewegung oder
die Schädigung eines bestimmten Teils des linken Temporallap- Form. Beim Sehen und bei der Sprache kann ein räumlich be-
pens (des Wernicke-Zentrums) dazu führte, dass die Patienten grenztes Trauma, das eines dieser neuronalen Netze zerstört,
nur sinnlose Sätze von sich gaben. Bat man sie, ein Bild zu be- gleichermaßen dazu führen, dass bei den Patienten nur ein
schreiben, das zeigte, wie zwei Jungen einer Frau hinter dem Aspekt der Verarbeitung verloren geht. Bei der visuellen Wahr-
Rücken Kekse klauten, sagte ein Patient: »Die Mutter ist weg von nehmung kann ein Schlag die Fähigkeit zerstören, eine Be-
der Arbeit bei ihrer Arbeit, damit es ihr besser geht; aber wenn sie wegung wahrzunehmen, ohne die Farbwahrnehmung zu be-
die beiden Jungen ansieht, schauen die in die andere Richtung. einträchtigen. Bei der Sprachverarbeitung kann ein Schlag die
Dann arbeitet sie wieder mal« (Geschwind 1979). Schädigungen Fähigkeit zu sprechen schädigen, ohne die Fähigkeit zu lesen zu
des Wernicke-Areals unterbrechen auch das Sprachverständnis. verletzen.
Denken Sie einmal darüber nach: Was Ihnen als endloser,
Wernicke-Zentrum (»Wernicke’s area«) – steuert die Aufnahme von
Sprache; Bereich des Gehirns, der am Sprachverstehen und am sprachlichen unteilbarer Strom der Wahrnehmung erscheint, ist in Wirklich-
Ausdruck beteiligt ist und sich meist im linken Temporallappen befindet. keit nur die sichtbare Spitze eines Eisbergs der unterteilten Infor-
mationsverarbeitung.
Die heutige Neurowissenschaft hat Gehirnaktivität im Broca-
sowie im Wernicke-Zentrum während der Sprachverarbeitung
bestätigt (. Abb. 10.23). Allerdings verfeinert die Neurowissen-
390 Kapitel 10 · Denken und Sprache

. Abb. 10.24a,b Sprechende Hände. a Unter Schimpansen baut der Gebrauch von Gebärdensprache auf ihren natürlich gestikulierten Wörtern auf (z. B.
eine ausgestreckte Hand für »Ich möchte etwas«). Bei frei lebenden Schimpansen haben Wissenschaftler 66 unterscheidbare Gesten identifiziert (Hobaiter
u. Byrne 2011). Die menschliche Sprache scheint sich aus einer solchen gestischen Kommunikation heraus entwickelt zu haben (Corballis 2002, 2003; Pol-
lick u. de Waal 2007). b Auch heute noch assoziieren wir Gesten ganz natürlich mit spontaner Sprache, vor allem wenn es um räumliche Zusammenhänge
geht. Sowohl Gesten als auch Sprache teilen etwas mit, und wenn sie die gleichen statt unterschiedlicher Informationen vermitteln (so wie sie es in der Zei-
chensprache des Baseballs tun), dann verstehen wir Menschen schneller und besser (Hostetter 2011; Kelly et al. 2010). Der Outfielder William Hoy, der erste
gehörlose Spieler in den oberen Spielklassen (1892), erfand Handzeichen für »Strike!«, »Safe!« (wie hier gezeigt) und »Yerr Out!« (Pollard 1992). Schiedsrich-
ter aller Sportarten benutzen heutzutage eigens entwickelte Zeichen, und Fans sprechen diese Zeichensprache des Sports fließend. (b: © John G. Ma-
banglo / picture-alliance / dpa)

10 lichen Tieren warnen: Bellen bedeutet Leopard, eine Art Husten


Prüfen Sie Ihr Wissen
Adler, und ein Schnatterlaut warnt vor einer Schlange. Wenn sie
5 ist der Teil des Gehirns, der im Fall einer den Warnruf für Leopard hören, klettern die Äffchen auf den
Verletzung Ihre Fähigkeit zum Aussprechen von Worten nächsten Baum. Beim Adlerwarnruf flüchten sie ins Gebüsch.
beeinträchtigen kann. Bei einer Verletzung vom Beim Schlangengeschnatter richten sie sich auf und beäugen den
kann die Fähigkeit zum Sprachverstehen umliegenden Boden (Byrne 1991). Um solche Dinge als bestimmte
verloren gehen. Gefahrenarten zu kennzeichnen – einen Adler, Leoparden, fallen-
den Baum oder eine benachbarte Gruppe –, kombinieren Affen
sechs unterschiedliche Schreie zu einer 25-teiligen Abfolge von
Schreien (Balter 2010). Aber ist dies Sprache, in dem Sinne, wie
10.2.4 Verfügen andere Arten über Sprache? Menschen Sprache gebrauchen? Diese Frage führte zu zahl-
reichen Studien, größtenteils wurden Schimpansen untersucht.
In den späten 1960er Jahren stießen die Psychologen Allen
? 10.10 Besitzen auch andere Tiere unsere sprachliche
und Beatrix Gardner (1969) in Wissenschaft und Öffentlich-
Ausdrucksfähigkeit?
keit auf enormes Interesse, als sie die natürliche Tendenz der
Seit jeher verkünden die Menschen voll Stolz, dass die Sprache Schimpansen zur Kommunikation durch Gebärden ausbauten
uns über die anderen Tiere erhebt. »Wenn wir die Sprache und einer Schimpansin namens Washoe (ca. 1965–2007)
des Menschen untersuchen«, versichert der Linguist Noam Gebärdensprache beibrachten. Nach 4 Jahren konnte Washoe
Chomsky (1972), »kommen wir dem nahe, was man als die 132 Zeichen verwenden. Gegen Ende ihres Lebens verfügte sie
›Essenz des Menschenwesens‹ bezeichnen könnte, also all den über einen Wortschatz von 245 Zeichen (Metzler et al. 2010; Sanz
geistigen Qualitäten, die nach allem, was wir wissen, ausschließ- et al. 1998). Nachdem sie in einem Primatenzentrum der Central
lich beim Menschen« vorkommen. Washington University untergebracht worden waren, demonst-
Wenn wir Menschen mit unserem sprachlichen Ausdrucks- rierten Washoe und andere Schimpansen ein kontinuierlich
vermögen, wie der Verfasser der Psalmen vor langer Zeit wachsendes Vokabular (Metzler et al. 2010).
schwärmte, »nur wenig geringer als Gott sind«, wo rangieren In den 70er Jahren, als immer mehr Berichte erschienen,
dann die anderen Tiere in der Weltordnung? Sind sie »nur wenig schien es, dass die Menschenaffen tatsächlich als »nur wenig ge-
geringer als der Mensch«? Lassen Sie uns hierzu die Erkenntnis- ringer als der Mensch« einzuordnen waren (. Abb. 10.24). Ein
se aus dem Bereich der Sprache bei Tieren betrachten. Reporter der New York Times, der von seinen gehörlosen Eltern
Zweifellos kommunizieren Tiere auf beeindruckende Weise. die Gebärdensprache gelernt hatte, lernte Washoe kennen und
Grüne Meerkatzen-Äffchen haben z. B. unterschiedliche Warn- war begeistert: »Plötzlich wurde mir klar, dass ich mich mit
rufe, mit denen sie ihre Artgenossen vor verschiedenen feind- einem fremden Wesen in meiner Muttersprache unterhielt.«
10.2 · Sprache
391 10
Andere Schimpansen setzten Gebärden zu verständlichen
Sätzen zusammen, so wie Washoe gestikulierte: »Du ich ausge-
hen, bitte.« Einige Wortzusammensetzungen erschienen überaus
kreativ – die Bezeichnung eines »Schwans« als Wasser-Vogel oder
einer Pinocchio-Puppe mit langer Nase als Elefant-Baby oder der
Gebrauch von Apfel-der-ist-orange für »Orange« (Patterson 1978;
Rumbaugh 1977).
Gegen Ende der 70er Jahre wurden einige Psychologen all-
mählich skeptisch. Waren die Schimpansen nun Sprachgenies
oder die Forscher Idioten? Die Skeptiker führten die folgenden
Argumente ins Feld:
4 Das Vokabular und die Sätze von Affen sind sehr einfach,
eher wie die eines 2-jährigen Kindes. Und sie sind mit
sprechenden oder Gebärdensprache benutzenden Kindern
kaum zu vergleichen, da diese Dutzende von neuen
Wörtern pro Woche aufschnappen (und 60.000 bis zum Er-
wachsenenalter), während Affen ihr begrenztes Vokabular
nur unter großen Mühen erwerben (Wynne 2004, 2008). Zu
sagen, Affen könnten sprechen lernen, nur weil sie Wort-
gebärden erlernen können, ist wie die Behauptung, der
Mensch könne fliegen, bloß weil er Sprünge macht.
4 Schimpansen können Gebärden machen oder Knöpfe in
einer festgelegten Reihenfolge drücken, um eine Belohnung
zu bekommen. Aber auch Tauben können in einer be-
stimmten Reihenfolge mit dem Schnabel Tasten berühren, . Abb. 10.25 Verstehen bei Hunden. Der Border Collie Rico verfügt über
um Körner zu bekommen (Straub et al. 1979). Die Gebär- einen Wortschatz von 200 (menschlichen) Wörtern. Wenn er aufgefordert
wird, ein neuartiges Spielzeug zu suchen, dessen Namen er noch nicht
den der Affen könnten nichts weiter bedeuten, als dass sie
gehört hat, wird Rico das neuartige Item aus einer Gruppe vertrauter Items
die Gebärden des Trainers nachahmen und gelernt haben, auswählen (Kamininski et al. 2004). Wenn er dieses neuartige Wort
dass bestimmte Armbewegungen Belohnungen zur Folge 4 Wochen später zum 2. Mal hört, wird Rico allerdings den Gegenstand in
etwas mehr als 50% der Fälle apportieren. Ein anderer Border Collie, Chaser,
haben (Terrace 1979).
hat einen Rekord innerhalb der Tierwelt aufgestellt, indem sie 1022 Objekt-
4 Studien zu »Wahrnehmungssets« (7 Kap. 7) zeigen, dass namen gelernt hat (Pilley u. Reid 2011). Wie ein 3-jähriges Kind kann sie
Menschen dazu neigen, aus mehrdeutigen Informationen diese auch nach Funktion und Gestalt kategorisieren. Sie ist in der Lage,
das herauszulesen, was sie erhoffen oder erwarten. Die In- korrekt auf »Hol‘ einen Ball« und »Hol‘ eine Puppe« zu reagieren. (Copyright
S. Baus & W. Krzeslowski)
terpretation der Gebärden eines Schimpansen als Sprache
könnte nicht viel mehr sein als Wunschdenken des Trainers
(Terrace 1979). Als Washoe »Wasser-Vogel« gestikulierte, sich Washoe trauernd zurück, wenn es hieß: »Baby tot, Baby weg,
signalisierte sie vielleicht einfach die Einzelwörter für Baby Ende.«
»Wasser« und »Vogel«. Zwei Wochen später hatte Roger Fouts (1992, 1997), der be-
4 »Orange ich geben essen Orange ich essen Orange ...« ist treuende Forscher, bessere Nachrichten für Washoe: »Ich habe
himmelweit entfernt von der vollendeten Syntax eines Baby für dich.« Auf die Gebärdennachricht hin wurde Washoe
3-Jährigen (Anderson 2004b; Pinker 1995). Für das Kind hat sofort ganz aufgeregt. Ihr Fell sträubte sich, sie rannte nach
»du kitzelst« und »kitzelst du« zwei unterschiedliche Be- Luft schnappend hin und her und gestikulierte unaufhörlich:
deutungen. Ein Schimpanse, der die Syntax des Menschen »Baby, mein Baby.« Es dauerte einige Stunden bis sich Pflege-
nicht beherrscht, wird die beiden Sätze in der Gebärden- mutter und Kind aneinander gewöhnt hatten, aber dann brach
sprache vermutlich auf dieselbe Weise verwenden. Washoe das Eis mit dem Gebärdensatz »Kommen Baby«
und nahm Loulis in den Arm. In den folgenden Monaten
Kontroversen können Fortschritte bewirken. In diesem Fall lernte Loulis, ohne menschliche Unterstützung, 68 Gebärden-
haben sie mehr Hinweise für die Denk- und Kommunikations- wörter allein dadurch, dass er seiner Mutter und drei anderen
leistungen von Schimpansen erbracht. Eine überraschende Schimpansen zuschaute, die Gebärdensprache beherrschten
Beobachtung war, dass Washoe ihrem Adoptivsohn Loulis (siehe auch . Abb. 10.25).
beibrachte, die Zeichen zu benutzen, die sie erlernt hatte. Es Noch verblüffender ist die Entdeckung, dass Kanzi, ein
begann folgendermaßen: Als ihr zweites Junges starb, zog Bonobo mit einem dokumentierten Vokabular von 384 Wörtern,
392 Kapitel 10 · Denken und Sprache

. Abb. 10.26 Aber ist das Sprache? Die Fähigkeit von Schimpansen, sich mit Hilfe der amerikanischen Gebärdensprache verständlich zu machen, wirft
Fragen über die Natur der Sprache auf. Hier sieht man die Schimpansin Washoe zusammen mit Allen und Beatrix Gardner (aus Gardner u. Gardner 1973;
© Psychological Cinema Register, Pennsylvania State University). Washoe war Ende der 1960er Jahre das erste Tier, das Zeichen der amerikanischen Gebärden-
sprache erlernte und aktiv benutzte

10
in der Lage war, die Syntax (Regeln der Wortreihenfolge) in ge- Mensch allein in der Lage ist, komplexe Sätze zu bilden. Darüber
sprochenem Englisch zu verstehen (Savage-Rumbaugh et al. 1993, hinaus zeigen 2½-jährige Kinder einige kognitive Fähigkeiten,
2009). Kanzi kam ganz zufällig mit Sprache in Kontakt, als er wie z. B. dem Blick einer handelnden Person hin zu einem Objekt
seine Adoptivmutter beim Sprachtraining beobachtete. Für je- zu folgen, die nicht einmal von Schimpansen erreicht werden
manden, der die Syntax nicht versteht, kann es sein, dass »Kannst (Herrmann et al. 2010). Nichtsdestotrotz zeigen andere Spezies
du mir die Taschenlampe zeigen?«, »Kannst du mir die Taschen- Einsicht, weisen familiäre Bindungen auf, kommunizieren unter-
lampe bringen?« und »Kannst du die Taschenlampe anknipsen?« einander, kümmern sich umeinander und geben kulturelle Errun-
alle gleich erscheinen. Kanzi, der anscheinend die grammatischen genschaften an die nächste Generation weiter. Die ethischen Kon-
Fähigkeiten eines 2-jährigen Menschen besitzt, kennt den Unter- sequenzen von all dem zu begreifen und umzusetzen ist eine
schied. Als man ihm Tierpuppen gab und ihm – zum ersten Mal Aufgabe, die unsere denkende Spezies noch zu leisten hat.
– sagte »der Hund soll die Schlange beißen«, führte er richtig die
Schlange an das Maul des Hundes (siehe auch . Abb. 10.26).
Wie sollen wir also diese Studien interpretieren? Sind
Menschen die einzige Art, die Sprache gebraucht? Die meisten
Psychologen wären sich einig: Wenn man unter Sprache ge-
sprochene oder durch Gebärden ausgedrückte Wörter mitsamt
einer komplexen Grammatik versteht, dann verfügt nur der
Mensch über Sprache. Wenn man bescheidener darunter die
Fähigkeit zur Kommunikation mittels sinnvoller Aneinander-
reihung von Symbolen versteht, verfügen Affen tatsächlich über
Sprache (. Abb. 10.27).
Eins steht fest: Die Untersuchung von Sprache und Denken
bei Tieren hat Psychologen dazu veranlasst, anderen Arten mehr
Wertschätzung entgegenzubringen, nicht nur aufgrund der
Eigenschaften, die wir mit ihnen teilen, sondern auch wegen ihrer
eigenen, außergewöhnlichen Fähigkeiten. In der Vergangenheit
haben viele Psychologen bezweifelt, dass andere Spezies planen,
Begriffe bilden, zählen, Werkzeuge gebrauchen, Mitleid empfin-
den oder Sprache verwenden könnten (Thorpe 1974). Dank der
Tierforscher wissen wir es heute besser. Es stimmt, dass der . Abb. 10.27 (© Claudia Styrsky)
10.3 · Denken und Sprache
393 10

Prüfen Sie Ihr Wissen Linguistischer Determinismus (»linguistic determinism«) – Whorfs


Hypothese, dass die Sprache unsere Denkweise bestimmt.
5 Wenn Ihre Hündin einen Fremden an der Haustür anbellt,
kann man das dann als Sprache charakterisieren? Was ist, Nichtsdestotrotz scheint es für jemanden, der zwei sehr unter-
wenn die Hündin verräterisch jault, um Sie wissen zu schiedliche Sprachen wie Englisch und Japanisch spricht, offen-
lassen, dass sie nach draußen möchte? sichtlich zu sein, dass man in unterschiedlichen Sprachen unter-
schiedlich denkt (Brown 1986). Während die englische oder
auch die deutsche Sprache einen reichen Wortschatz für selbst-
Kommen wir auf unsere Frage zurück, inwieweit wir Menschen bezogene Gefühle wie Ärger hat, kennt das Japanische viele Wör-
die Bezeichnung Homo sapiens verdient haben, und geben wir ter für zwischenmenschliche Gefühle wie Sympathie (Markus u.
ein vorläufiges Votum ab. Im Bereich Entscheidungsfindung und Kitayama 1991). Zweisprachige Menschen berichten oft, dass sie
Urteilsbildung schneidet unsere fehleranfällige Spezies nicht be- in den beiden Sprachen verschiedene Persönlichkeiten haben
sonders gut ab – wir bekämen vielleicht eine 3+. Beim Problem- (Matsumoto 1994). In einer Reihe von Studien mit zweisprachi-
lösen sind wir Menschen erfindungsreich, aber auch für Fixie- gen israelischen Arabern (die Arabisch und Hebräisch sprechen)
rungen anfällig; wir würden in diesem Bereich wahrscheinlich dachten die Teilnehmer auf unterschiedliche Weise über ihre
besser abschneiden, vielleicht mit einer 2. Was die kognitive Ef- soziale Umgebung nach, wobei sie unterschiedliche automati-
fizienz angeht, haben wir uns für unsere fehleranfällige, aber sche Assoziationen mit Arabern und Juden hatten, je nachdem
schnelle Heuristik eine 1 verdient. Und beim Lernen und An- welche Sprache der Testdurchlauf benutzte (Danziger u. Ward
wenden einer Sprache ist die Spezies Mensch einfach unschlag- 2010).
bar. Die von Ehrfurcht ergriffenen Experten würden ihr hier si-
»Das Mädchen schubst den Jungen.« – Lesen Sie zunächst noch
cher eine 1+ erteilen.
nicht weiter, sondern nehmen Sie zuerst einen Stift, um diese
kleine Szene auf ein Blatt Papier aufzuzeichnen.
Haben Sie das erledigt? Gut, dann lesen Sie jetzt weiter:
10.3 Denken und Sprache
Wie haben Sie »Das Mädchen schubst den Jungen« illustriert?
Anne Maass und Aurore Russo (2003) berichten, dass Menschen,
? 10.11 Welche Beziehung besteht zwischen Sprache und deren Sprache von links nach rechts gelesen wird, das
Denken, und welchen Nutzen hat es, in Bildern zu denken? schubsende Mädchen meistens auf der linken Seite platzieren.
Diejenigen, die Arabisch lesen und schreiben, eine Sprache, die
Denken und Sprache sind untrennbar miteinander verknüpft. Zu
von rechts nach links geschrieben wird, positionieren das
fragen, was zuerst kam, hieße auf dem Gebiet der Psychologie die
Mädchen meist auf der rechten Seite. Die räumliche Vorliebe
Frage nach der Henne und dem Ei zu stellen. Sind zuerst unsere
zeigt sich nur bei denjenigen, die alt genug sind, um die Schrift
Ideen da, und suchen wir dann nach dem richtigen Wort, um sie
ihrer Kultur erlernt zu haben (Dobel et al. 2007).
auszudrücken? Oder sind unsere Gedanken so sehr an Worte
gebunden, dass wir sie ohne Sprache gar nicht denken könnten? Zweisprachige Individuen zeigen unter Umständen sogar ver-
schiedene Persönlichkeitsmerkmale, je nachdem in welcher
Sprache sie einen Persönlichkeitstest beantworten (Dinges u.
10.3.1 Einfluss der Sprache auf das Denken Hull 1992). Dies war beispielsweise der Fall, als zweisprachige
Studenten chinesischer Abstammung in Kanada aufgefordert
Der Linguist Benjamin Lee Whorf (1956) hat behauptet, dass die wurden, ihre eigene Persönlichkeit auf Englisch bzw. auf
Sprache die Art und Weise bestimmt, wie wir denken: »Die Chinesisch zu charakterisieren (Ross et al. 2002). Ihre Selbstdar-
Sprache selbst formt die Grundgedanken des Menschen.« Die stellung auf Englisch war typisch kanadisch mit überwiegend
Hopi-Indianer, die keine Vergangenheitsformen für ihre Verben positivem Selbstbild und Lebensgefühl. Ihre Selbstdarstellung
kennen, können nicht ohne weiteres an die Vergangenheit den- auf Chinesisch dagegen war auch typisch chinesisch: Sie antwor-
ken, behauptet Whorf. teten eher im Einklang mit chinesischen Wertvorstellungen und
Whorfs Hypothese des linguistischen Determinismus ist zu zeigten ein ausgewogenes Verhältnis von positivem und negati-
drastisch. Wir alle denken über Dinge nach, für die wir keine vem Selbstbild und Lebensgefühl. »Erlerne eine neue Sprache
Wörter haben. (Können Sie an einen Blauton denken, den Sie und du erhältst eine neue Seele«, besagt ein tschechisches Sprich-
nicht benennen können?) Und wir haben regelmäßig »nichtsym- wort. Ähnliche Persönlichkeitsveränderungen wurden aufge-
bolisierte« (wortlose, gestaltlose) Gedanken, so wie sich jemand zeigt, wenn zweisprachige Amerikaner und Mexikaner, die in
fragt, der zwei Männer eine Ladung Ziegelsteine tragen sieht, ob beiden Kulturen beheimatet waren, zwischen den kulturellen
ihnen die Ladung wohl herunterfällt (Heavey u. Hurlburt 2008; Bezugsrahmen des Englischen und des Spanischen wechselten
Hurlburt u. Akhter 2008). (Ramírez-Esparza et al. 2006).
394 Kapitel 10 · Denken und Sprache

Unsere Worte mögen also nicht determinieren, was wir


denken, aber sie beeinflussen unsere Denkweise (Boroditsky
2011). Wir benutzen unsere Sprache, um Begriffe zu bilden. In
Brasilien haben die isoliert wohnenden Völker vom Stamm der
Piraha Wörter für die Zahlen 1 und 2, doch die Zahlen darüber
hinaus sind einfach »viele«. Wenn man ihnen 7 Nüsse in einer
Reihe zeigt, empfinden sie es als ausgesprochen schwierig, die- . Abb. 10.28 Sprache und Wahrnehmung. Wenn man Menschen ver-
selbe Anzahl von Nüssen auf einem eigenen Haufen anzuordnen schiedene Farben darbietet, die sich in gleichem Maß voneinander unter-
(Gordon 2004). scheiden, dann nehmen sie Farben mit unterschiedlichen Bezeichnungen
als unterschiedlicher wahr. Deshalb unterscheiden sich das »Grün« und das
Wörter beeinflussen auch, was wir über Farben denken. Ob
»Blau« in der Gegenüberstellung A anscheinend stärker als zwei ähnlich
jemand in England, Neuguinea oder in Namibia lebt, jeder sieht unterschiedliche Blautöne in der Gegenüberstellung B (Özgen 2004;
die Farben mehr oder weniger auf die gleiche Weise, aber jeder Copyright © 2004 by Association for Psychological Science. Reprinted by
benutzt beim Klassifizieren und Erinnern von Farben seine eige- Permission of SAGE Publications)

ne Sprache (Davidoff 2004; Roberson et al. 2004, 2005). Ein deut-


scher Muttersprachler beschreibt vielleicht von drei Farben, die
ihm gezeigt werden, zwei als »gelb« und eine als »blau«. Später verwenden, da jeder Mensch doch wisse, dass die männliche
würde er dann in der Erinnerung die beiden Gelbtöne als ähnli- Wortform als Obergriff dient und auch Frauen einschließt. Viele
cher beschreiben. Ein Mensch vom Volk der Berinmo in Papua Studien sind sich jedoch darin einig, dass es nicht gleichgültig ist,
Neuguinea dagegen, dessen Sprache für diese beiden Gelbtöne ob der maskuline Oberbegriff oder geschlechtsneutrale Formu-
zwei ganz verschiedene Wörter kennt, würde sich eher an den lierungen benutzt werden – spricht beispielsweise jemand von
Unterschied zwischen diesen beiden Gelbtönen erinnern. Und »dem Künstler und seinem Werk« stellen sich die meisten Leute
10 ein russischer Muttersprachler mag sich vielleicht besser an das eher einen Mann als eine Frau vor (Henley 1989; Ng 1990). Für
Blau erinnern, da seine Sprache über unterschiedliche Wörter das Deutsche zeigten dies z. B. Scheele u. Gauler (1993) oder
für Blautöne, wie z. B. »goluboy« und »sinly«, verfügt. Wörter Heise (2000). Wären die maskulinen Oberbegriffe wirklich von
machen einen Unterschied. geschlechtsbezogenen Konnotationen frei, würden wir bei
Empfundene Farbunterschiede werden größer, wenn wir folgendem Satz auch nicht stutzen: »Der Mensch – ebenso
Farben unterschiedliche Namen zuordnen. Im Farbspektrum wie andere Säugetiere – säugt seine Jungen.« (Noch deutlicher
geht blau in grün über – bis zu der Trennlinie, die wir zwischen wird es im Englischen: »Man, like other mammals, nurses his
dem ziehen, was wir als »blau« und als »grün« bezeichnen. young.«)
Obwohl sie denselben Abstand im Farbspektrum haben, sind Die Erweiterung der sprachlichen Ausdrucksfähigkeit be-
zwei Farben, die denselben Namen teilen (wie die zwei deutet, die Denkfähigkeit zu erweitern. Wie in 7 Kap. 6 beschrie-
»Blaus« in . Abb. 10.28, Gegenüberstellung B), viel schwerer zu ben, entwickelt sich bei kleinen Kindern das Denken parallel
unterscheiden, als wenn sie unterschiedliche Namen haben zum Spracherwerb (Gopnik u. Meltzoff 1986). Es ist tatsächlich
(»blau« und »grün« in . Abb. 10.28, Gegenüberstellung A) recht schwierig, ohne Sprache über bestimmte abstrakte Ideen
(Özgen 2004). (Bindung, Freiheit oder Reimen) nachzudenken oder sie be-
grifflich zu fassen! Und was für Vorschulkinder gilt, gilt für alle
Der geschätzte Abstand zwischen Städten vergrößert sich
Menschen: Es lohnt sich, den eigenen Wortschatz zu pflegen. Des-
ebenfalls, wenn zwei Städte in unterschiedlichen Ländern liegen
wegen führen die meisten Lehrbücher – und auch dieses hier
anstatt im selben Land (Burris u. Branscombe 2005; Mishra u.
macht keine Ausnahme – neue Wörter ein, um neue Ideen und
Mishra 2010).
Denkweisen zu vermitteln. Und das ist auch der Grund dafür,
Angesichts des subtilen Einflusses der Sprache auf das Denken dass der Psychologe Steven Pinker (2007) The Stuff of Thought
sollten wir vorsichtig mit unserer Wortwahl sein. Hat es etwas (Der Stoff des Denkens) als Titel für sein neues Buch über
mit dem niedrigeren sozialen Status der Frauen zu tun, wenn Sprache gewählt hat.
man Frauen als »Mädchen« bezeichnet und »Mädelsabend in der Größere Ausdrucksfähigkeit kann auch zum Teil erklären,
Bar« sagt? Was ist mit der männlichen Form von Substantiven was Wallace Lambert (1992; Lambert et al. 1993), Forscher an der
(»Student«, »Künstler«), die häufig als Oberbegriff für beide McGill University, als Vorteil der Zweisprachigkeit bezeichnet.
Geschlechter verwendet wird? Im Deutschen haben Substantive Obwohl ihr Wortschatz in jeder Sprache etwas kleiner ist als der
(anders als im Englischen) ein grammatisches Geschlecht von Menschen, die nur eine Sprache sprechen, sind zweisprachi-
(Genus), das Maskulinum, Femininum oder Neutrum sein kann. ge Menschen geschickt darin, jeweils eine Sprache auszublenden,
Der ausschließliche Gebrauch der maskulinen Form, des sog. während sie eine andere nutzen; dank ihrer geübten exekutiven
»generischen Maskulinums«, ist im Deutschen grammatikalisch Kontrolle können sie auch ihre Aufmerksamkeit besser von
richtig; es wird häufig argumentiert, es sei ausreichend, diesen zu nebensächlichen Informationen abwenden (Bialystok u. Craik
10.3 · Denken und Sprache
395 10
2010). Diese überlegene Aufmerksamkeitskontrolle zeigt sich » Wenn jemand die Straße hinuntergeht und mit sich selbst
vom 7. Lebensmonat an bis ins Erwachsenenalter (Emmorey et redet, vermuten wir in der Regel, dass diese Person verrückt
al. 2008; Kovács u. Mehler 2009). ist. Aber wir reden alle durchgängig mit uns selbst – wir
Lambert war an der Entwicklung eines Programms in haben nur die gesunde Intuition, unseren Mund dabei ge-
Kanada beteiligt, bei dem englischsprachigen Kindern eine Art schlossen zu halten ... Es ist so, als hätten wir ein Gespräch
»Eintauchen« in die französische Sprache ermöglicht wird. (Die mit einem imaginären Freund, der unendlich viel Geduld
Zahl der Schulkinder, die nicht ursprünglich aus dem fran- hat. Mit wem reden wir?
zösischsprachigen Quebec kamen, stieg von 65.000 im Jahr 1981 Sam Harris, We Are Lost in Thought, 2011
auf 300.000 im Jahr 2007 an [Statistics Canada 2010].) Während
ihrer ersten drei Schuljahre werden die englischsprachigen In der Tat denken wir oft in Bildern. Künstler denken in Bildern.
Kinder fast ausschließlich auf Französisch unterrichtet, dann all- Komponisten, Dichter, Mathematiker, Sportler und Wissen-
mählich immer weniger, bis sie gegen Ende der Schulzeit fast nur schaftler ebenfalls. Albert Einstein berichtete, dass er einige sei-
noch englischsprachigen Unterricht bekommen. Es überrascht ner größten Erkenntnisse in Form von bildhaften Vorstellungen
nicht, dass diese Kinder eine Wortgewandtheit im Französischen hatte, die er erst nachträglich in Worte fasste. Der Pianist Liu
erlangen, an die andere Methoden des Sprachunterrichts nicht Ching Kung belegt, wie wichtig das Denken in Bildern ist. Ein
heranreichen. Und wenn man sie mit ähnlich begabten Kindern Jahr nachdem er 1958 beim Tschaikowski-Wettbewerb der
in einer Kontrollgruppe vergleicht, zeigt sich, dass ihre englische Zweitplatzierte war, wurde er im Zuge der chinesischen Kultur-
Sprachkompetenz dadurch nicht beeinträchtigt ist. Sie erzielen revolution inhaftiert. Sieben Jahre lang konnte er keine Klavier-
in Eignungstests bessere Noten und zeigten mehr Kreativität und taste anfassen, aber bald nach seiner Freilassung war er schon
ein besseres Verständnis der frankokanadischen Kultur (Genesee wieder auf Konzerttournee, und die Kritiker rühmten seine ge-
u. Gándara 1999; Lazaruk 2007). reifte Musikalität. Wie hatte er sich ohne Üben weiterentwickeln
können? »Aber ich habe doch geübt«, sagte er, »jeden Tag! Ich bin
Viele englische Muttersprachler sind einsprachig, so auch
jedes Stück, das ich je gelernt habe, Ton für Ton in meinem Kopf
die meisten Amerikaner. Die meisten Menschen aber sind
durchgegangen« (Garfield 1986).
zwei- oder mehrsprachig. Engt Einsprachigkeit die Fähigkeit
Bei jemandem, der eine Fähigkeit erlernt hat, wie etwa Ballett-
eines Volkes zum Verständnis der Denkweise fremder
tanz, wird schon das reine Ansehen eine innere Stimulierung des
Kulturen ein?
Gehirns aktivieren, berichtete ein britisches Forscherteam, nach-
Ob wir der sprachlichen Mehrheit oder Minderheit angehören, dem es Kernspintomografien von Menschen erstellt hatte, die
Sprache verbindet uns untereinander. Sprache verbindet uns sich Videos ansahen (Calvo-Merino et al. 2004). Das Gleiche ge-
auch mit der Vergangenheit und der Zukunft. Der Dichter Joy schieht, wenn man sich eine körperliche Handlung vorstellt – es
Harjo hat es so ausgedrückt: »Willst du ein Volk vernichten, so werden einige der neuronalen Netze aktiviert, die auch aktiv sind,
vernichte seine Sprache.« wenn die Handlung ausgeführt wird (Grèzes u. Decety 2001). Es
ist daher kaum verwunderlich, dass für Sportler, die an den olym-
Prüfen Sie Ihr Wissen
pischen Spielen teilnehmen, mentales Üben inzwischen zu einem
5 Benjamin Lee Whorfs umstrittene Hypothese wird normalen Bestandteil des Trainings geworden ist (Suinn 1997).
genannt und behauptet, dass wir nicht Bei einem Experiment zum mentalen Training des Freiwurfs
über Dinge nachdenken können, wenn wir keine Wörter beim Basketball wurde das Frauenteam der Universität Tennessee
für diese Begriffe oder Ideen kennen. über 35 Spiele hinweg wissenschaftlich begleitet (Savoy u. Beitel
1996). In diesem Zeitraum stieg die Trefferquote im Freiwurf von
ca. 52% in Spielen, die mit dem Standard-Trainingsprogramm
vorbereitet wurden, auf etwa 65% nach mentalem Training als
10.3.2 Denken in Bildern Vorbereitung. Dabei stellten sich die Sportlerinnen wiederholt
Freiwürfe unter verschiedenen Bedingungen vor, sogar mit rüden
Führen Sie manchmal Selbstgespräche, wenn Sie allein sind? Beschimpfungen von Seiten ihrer Gegnerinnen. Dramatischer
Bedeutet »Denken« für Sie, einen inneren Dialog zu führen? Schlusspunkt war das Endspiel in einem bundesweiten Wettbe-
Zweifellos drücken Worte Gedanken aus. Aber kommt es nicht werb, bei dem Tennessee nach Verlängerung einen Sieg davon-
vor, dass Gedanken den Worten vorausgehen? Wenn Sie das kalte trug, der zum Teil auf die Leistungen beim Freiwurf zurückging.
Wasser im Badezimmer aufdrehen, in welche Richtung drehen Mentales Üben kann auch dabei helfen, akademische Ziele zu
Sie den Wasserhahn? Bei der Beantwortung dieser Frage haben erreichen, wie Forscher anhand von zwei Gruppen von Studie-
Sie wahrscheinlich nicht in Worten gedacht, sondern das proze- renden demonstrierten, die eine Woche später eine Klausur in
durale Gedächtnis zu Hilfe genommen – ein mentales Bild der einem Seminar zur Einführung in die Psychologie schreiben
Handlung (7 Kap. 9). mussten (Taylor et al. 1998). (Die Noten anderer Studenten, die
396 Kapitel 10 · Denken und Sprache

an keinem mentalen Training teilnahmen, stellten eine Kontroll-


gruppe dar.) Die erste Gruppe stellte sich täglich 5 Minuten lang
vor, wie sie in der aushängenden Ergebnisliste überglücklich und
stolz ihre Note 1 fanden. Diese Ergebnissimulation zeigte aber
wenig Wirkung und brachte den Studierenden nur 2 Punkte zu-
sätzlich zu ihrer durchschnittlichen Punktzahl ein. Eine zweite
Gruppe dachte sich täglich 5 Minuten in die tatsächliche
Prüfungsvorbereitung hinein – sie sollten in ihrer Vorstellung
Lehrbücher studieren, Aufzeichnungen durchsehen, Ablenkun-
gen vermeiden und Angebote zum Ausgehen ablehnen. Diese
Prozesssimulation erwies sich als vorteilhaft: Studierende dieser . Abb. 10.29 Das Zusammenspiel zwischen Denken und Sprache. Die
zweiten Gruppe begannen früher mit den Prüfungsvorberei- Wirkung erfolgt in beiden Richtungen. Das Denken beeinflusst unsere Spra-
tungen, blieben ausdauernder dabei und erzielten im Schnitt che, die wiederum auf unser Denken einwirkt

8 Punkte mehr als ihre Mitstudierenden.


Fazit: Es ist besser, in Gedanken den Weg zu einem
Ziel durchzuspielen, als sich in das erwünschte Ziel hineinzufan- 10.4 Kapitelrückblick
tasieren.
10.4.1 Verständnisfragen
Wie spät ist es jetzt? Als ich Sie gebeten habe (in dem Abschnitt
zur Selbstüberschätzung), zu schätzen, wie schnell Sie dieses
jDenken
Kapitel beenden würden – haben Sie sich unterschätzt oder
10.1 Was ist Kognition und was sind die Funktionen von Be-
10 überschätzt?
griffen?
Was aber ist dann über das Verhältnis von Denken und Sprache 10.2 Welche kognitiven Strategien helfen uns beim Problem-
zu sagen? Wie wir gesehen haben, beeinflusst die Sprache tat- lösen und welche Hindernisse stehen uns im Weg?
sächlich unser Denken. Aber würde das Denken nicht auch die 10.3 Was ist Intuition und wie können die Verfügbarkeitsheu-
Sprache beeinflussen, hätten nie neue Wörter entstehen können. ristik, systematische Selbstüberschätzung, Beharren auf Über-
Und neue Wörter und neue Verbindungen zwischen alten zeugungen und Framing-Effekte unsere Entscheidungsfindung
Wörtern drücken neue Gedanken aus. Der Basketball-Begriff und Urteilsbildung beeinflussen?
»Slam-Dunk« (eine spektakuläre Dunking-Variante, bei der der 10.4 Wie nutzen kluge Denker ihre Intuition?
Ball nach einem Sprung vom Spieler von oben in den Korb 10.5 Was wissen wir darüber, wie Tiere denken?
gedrückt wird) wurde erst geprägt, als diese Spieltechnik schon
ziemlich verbreitet war. Also lassen Sie uns festhalten, dass das jSprache
Denken unsere Sprache beeinflusst, die wiederum das Denken be- 10.6 Welches sind die strukturellen Grundbestandteile einer
einflusst (. Abb. 10.29). Sprache?
In der psychologischen Forschung zum Thema Denken und 10.7 Was sind die einzelnen Stufen des Spracherwerbs?
Sprache kommen auch die recht unterschiedlichen Auffassungen 10.8 Wie erwerben wir Sprache?
vom Homo sapiens zum Ausdruck, die sich in Bereichen wie 10.9 Welche Gehirnregionen sind an Sprachverarbeitung und
Religion und Literatur finden. Der Geist des Menschen ist Sprachproduktion beteiligt?
gleichermaßen fähig zu kapitalen Irrtümern wie zu eindrucks- 10.10 Besitzen auch andere Tiere unsere sprachliche Aus-
vollen intellektuellen Höhenflügen. Fehlurteile kommen vor und drucksfähigkeit?
können katastrophale Folgen haben. Deshalb sollten wir uns un-
serer Fehleranfälligkeit sehr wohl bewusst sein. Dennoch leisten jDenken und Sprache
uns unsere effizienten heuristischen Fähigkeiten oft einen guten 10.11 Welche Beziehung besteht zwischen Sprache und Den-
Dienst. Und unser Erfindungsreichtum beim Problemlösen und ken, und welchen Nutzen hat es, in Bildern zu denken?
unser außerordentliches sprachliches Ausdrucksvermögen sind
charakteristisch für das Menschengeschlecht »mit seinen nahezu
unbegrenzten Fähigkeiten«. 10.4.2 Schlüsselbegriffe
Prüfen Sie Ihr Wissen
4 Algorithmus
5 Was ist »mentales Training« und wie kann es Ihnen 4 Aphasie
helfen, sich für anstehende Ereignisse vorzubereiten? 4 Begriff
4 Beharren auf Überzeugungen
10.4 · Kapitelrückblick
397 10
4 Bestätigungstendenz
4 Broca-Zentrum
4 Einsicht
4 Einwortstadium
4 Framing-Effekt
4 Grammatik
4 Heuristik
4 Intuition
4 Kognition
4 Lallstadium
4 Linguistischer Determinismus
4 Mentales Set
4 Morphem
4 Phonem
4 Prototyp
4 Sprache
4 Systematische Selbstüberschätzung
4 Telegrammstil
4 Verfügbarkeitsheuristik
4 Wernicke-Zentrum
4 Zweiwortstadium

10.4.3 Weiterführende deutsche Literatur

Anderson, J. R. (2013). Kognitive Psychologie (7. Aufl.). Heidelberg: Spektrum.


Betsch, T., Funke, J. & Plessner, H. (2011). Allgemeine Psychologie für Bachelor:
Denken – Urteilen, Entscheiden, Problemlösen. Heidelberg: Springer.
Funke, J. (2003). Problemlösendes Denken. Stuttgart: Kohlhammer.
Herrmann, T. & Grabowski J. (Hrsg.). (2003). Sprachproduktion. Enzyklopädie
der Psychologie: Sprache – Band 1. Göttingen: Hogrefe.
Lammel, U. & Cleve, J. (2004). Künstliche Intelligenz. Stuttgart: Hanser.
Mayer, J. & Hermann, H.-D. (2011). Mentales Training (2. Aufl.). Heidelberg:
Springer.
Russell, S. & Norvig, P. (2012). Künstliche Intelligenz (3. Aufl.). München:
Pearson.
Szagun, G. (2013). Sprachentwicklung beim Kind. Weinheim: Beltz.
399 11

Intelligenz
David G. Myers

11.1 Was ist Intelligenz? – 400


11.1.1 Intelligenz als eine umfassende oder
als verschiedene spezifische Fähigkeiten? – 401
11.1.2 Intelligenz und Kreativität – 405
11.1.3 Emotionale Intelligenz – 407
11.1.4 Ist Intelligenz neurologisch messbar? – 408

11.2 Intelligenzmessung – 409


11.2.1 Ursprünge der Intelligenzmessung – 409
11.2.2 Moderne Tests der geistigen Fähigkeit – 412
11.2.3 Prinzipien des Testaufbaus – 414

11.3 Die Dynamik der Intelligenz – 417


11.3.1 Stabilität oder Veränderung? – 417
11.3.2 Intelligenzextreme – 421

11.4 Genetische und umweltbedingte Einflüsse


auf die Intelligenz – 424
11.4.1 Zwillings- und Adoptionsstudien – 424
11.4.2 Umweltbedingte Einflüsse – 426
11.4.3 Gruppenunterschiede bei Intelligenztests – 428
11.4.4 Probleme der Verzerrung in Intelligenztests – 433

11.5 Kapitelrückblick – 435


11.5.1 Verständnisfragen – 435
11.5.2 Schlüsselbegriffe – 435
11.5.3 Weiterführende deutsche Literatur – 436

D. G. Myers, Psychologie,
DOI 10.1007/978-3-642-40782-6_11, © Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2014
400 Kapitel 11 · Intelligenz

Drei große Kontroversen bestimmen die jüngsten Diskussionen


in der Psychologie und reichen sogar über das Fach hinaus. Das
ist zum einen der Disput um sog. verdrängte Erinnerungen, ob
also traumatische Erlebnisse verdrängt werden und später mit
Hilfe eines Therapeuten wieder aufgedeckt werden können, und
zum zweiten die große Kontroverse um die Geschlechtsrolle, bei
der es darum geht, in welchem Ausmaß Anlage und Umwelt un-
ser Verhalten als Mann oder Frau bestimmen. In diesem Kapitel
wollen wir uns aber mit dem dritten kontrovers diskutierten
Thema, der Intelligenz, beschäftigen: Hat jeder von uns eine
angeborene allgemeine geistige Fähigkeit (Intelligenz), und
kann diese Fähigkeit in Form eines aussagekräftigen Wertes
quantifiziert werden?
Schulbehörden, Gerichte und Wissenschaftler streiten über
Nutzen und Gerechtigkeit von Tests, die versuchen, die geistigen
Fähigkeiten eines Menschen zu erfassen und ihnen einen Ge-
samtwert zuzuordnen. Sind Intelligenztests eine konstruktive
Methode, um Menschen zu helfen, die für sie richtigen Möglich-
keiten und Gelegenheiten zu erkennen? Oder sind sie nur eine
potente Waffe zur Diskriminierung, die sich als wissenschaftli-
che Methode ausgibt? Wir sollten vielleicht zunächst eher einige
grundlegende Fragen stellen:
4 Was ist Intelligenz eigentlich?
11 4 Wie können wir sie am besten messen?
4 Wie viel davon ist vererbt, und wie viel geht auf die Umwelt
zurück?
4 Was sagen die Unterschiede in den Testergebnissen
zwischen einzelnen Personen und Gruppen wirklich aus?
Sollen wir solche Unterschiede verwenden, um Menschen
einzustufen, sie zu bestimmten Hochschulen zuzulassen, . Abb. 11.1 Heilwissen. Das gesellschaftlich konstruierte Konzept der In-
telligenz variiert von Kultur zu Kultur. Dieser Medizinmann in Ecuador zeigt
sie für einen bestimmten Job einzustellen?
seine Intelligenz durch sein Wissen über medizinisch wirksame Pflanzen
und durch das Verstehen der Menschen, denen er hilft. (© Erwin Patzelt /
In diesem Kapitel wollen wir einige Antworten auf diese Fragen picture-alliance / dpa)
geben und Sie immer wieder daran erinnern, dass es eine ganze
Vielfalt geistiger Begabungen gibt und dass der Garant für
Leistung in jedem Bereich die geeignete Mischung aus Begabung besten in der Schule auszeichnet. Aber Intelligenz ist keine
und Entschlossenheit ist. Eigenschaft wie Größe oder Gewicht, die für jeden Menschen auf
der Welt die gleiche Bedeutung hat. Verschiedene Kulturen
halten etwas für »intelligent«, was in ihrer Zeit und ihrer Kultur
11.1 Was ist Intelligenz? zum Erfolg führt (Sternberg u. Kaufman 1998). Im Regenwald
am Amazonas kann Intelligenz die Gabe sein, unterscheiden zu
können, welche einheimischen Kräuter sich zur wirksamen Be-
? 11.1 Wie wird Intelligenz definiert?
handlung von verschiedenen Krankheiten eignen (. Abb. 11.1).
Die Psychologen sind sich in einem Punkt überhaupt nicht einig: In einer nordamerikanischen High-School oder einem deut-
Sollte Intelligenz als eine Fähigkeit oder als mehrere Fähigkeiten schen Gymnasium kann Intelligenz bedeuten, mit schwierigen
angesehen werden? Hat sie etwas mit schneller Auffassungsgabe Begriffen in anspruchsvollem Unterricht umgehen zu können.
zu tun? Ist sie neurologisch messbar? In einem Punkt sind sich In jedem Kontext ist Intelligenz die Fähigkeit, aus Erfahrung
die Intelligenzexperten jedoch einig: Intelligenz ist ein Konstrukt zu lernen, Probleme zu lösen und das Wissen zur Anpassung
und kein greifbares Objekt. an neue Situationen einzusetzen. Ein Intelligenztest stellt die
In vielen wissenschaftlichen Studien wurde Intelligenz geistigen Fähigkeiten von Menschen fest und vergleicht sie
definiert als das, was mit Hilfe von Intelligenztests messbar ist. unter Verwendung numerischer Werte mit denen anderer
Dabei handelt es sich häufig zugleich um das, was die Klassen- Menschen.
11.1 · Was ist Intelligenz?
401 11
Intelligenz (»intelligence«) – mentale Eigenschaft, die in der Fähigkeit be- Die Vorstellung von einer allgemeinen geistigen Fähigkeit, die
steht, aus Erfahrung zu lernen, Probleme zu lösen und Wissen einzusetzen, sich in einem einzigen Intelligenzwert ausdrücken lässt, war zu
um sich an neue Situationen anzupassen.
Spearmans Zeit sehr umstritten und ist es bis zum heutigen Tag.
Intelligenztest (»intelligence test«) – ein Verfahren, um die geistigen
Einer von Spearmans frühen Kontrahenten war Louis L.
Fähigkeiten eines Menschen zu erfassen und sie anhand numerischer
Testwerte mit denen anderer zu vergleichen. Thurstone (1887–1955). Er legte seinen Probanden 56 ver-
schiedene Tests vor, aus denen er anschließend mathematisch
7 Cluster »primärer geistiger Fähigkeiten« (»primary mental
11.1.1 Intelligenz als eine umfassende oder als abilities«: Wortflüssigkeit, Sprachbeherrschung, Raumvorstel-
verschiedene spezifische Fähigkeiten? lung, Auffassungsgeschwindigkeit, Rechengewandtheit, schluss-
folgerndes Denken und Gedächtnis) ableitete. Thurstone fasste
diese Komponenten nicht in einer einzigen Skala einer allgemei-
? 11.2 Was sind die Argumente für und gegen den Gedanken,
nen Fähigkeit zusammen. Doch als andere Wissenschaftler die
dass Intelligenz eine allgemeine geistige Fähigkeit ist?
Profile seiner Testpersonen näher untersuchten, entdeckten sie,
Sie kennen wahrscheinlich einige Personen, die in den natur- dass auch hier eine gewisse Tendenz erkennbar war: Personen,
wissenschaftlichen Fächern besonders begabt sind oder aber in die in einem der 7 Faktoren hervorragende Ergebnisse erzielten,
den Geisteswissenschaften herausragende Leistungen erbringen schnitten auch in den anderen gut ab. Sie schlossen daraus, dass
oder sich sportlich, künstlerisch, musikalisch oder tänzerisch es auch hier noch einige Hinweise auf einen g-Faktor gab.
besonders hervortun. Sie kennen vielleicht auch einen talentier- In diesem Sinne könnten wir die geistigen Fähigkeiten mit
ten Künstler, der die einfachsten Rechenaufgaben nicht lösen den körperlichen Fähigkeiten vergleichen. Sportlichkeit ist nicht
kann, oder einen brillanten Mathematikschüler, der bei literari- etwas Einheitliches, sondern etwas Vielfältiges. Die Fähigkeit
schen Diskussionen nicht gerade glänzt. Sind all diese Menschen zum schnellen Laufen unterscheidet sich von der Koordination
intelligent? Kann man ihre Intelligenz auf einer einzigen Werte- zwischen den Augen und den Händen, die nötig ist, um einen
skala quantifizieren oder benötigt man dafür mehrere verschie- Ball zielgenau zu werfen. Ein Weltmeister im Gewichtheben hat
dene Skalen? selten das Zeug zu einem wieselflinken Eisschnellläufer. Doch
Charles Spearman (1863–1945), war davon überzeugt, dass auch hier lässt sich eine gewisse Tendenz erkennen, dass
es eine allgemeine Intelligenz gibt, auch g-Faktor (g von engl. verschiedene gute Eigenschaften in Kombination miteinander
»general« = allgemein) genannt. Spearman räumte ein, dass auftreten. Auf der Grundlage allgemeiner Sportlichkeit gibt
Menschen zwar häufig besondere Befähigungen haben, durch es einen Zusammenhang zwischen Laufgeschwindigkeit und
die sie sich besonders hervortun und er war maßgeblich an der Wurfgenauigkeit. So verhält es sich auch mit der Intelligenz. Ver-
Entwicklung der Faktorenanalyse beteiligt, einer statistischen schiedene Einzelfähigkeiten treten meist zusammen auf und
Methode, die dabei hilft, Cluster verwandter Items zu identifizie- korrelieren ausreichend hoch miteinander, um einen gewissen
ren. Doch er wies andererseits darauf hin, dass diejenigen, die in allgemeinen Intelligenzfaktor definieren zu können.
einem Faktor, wie etwa Begriffsverständnis, ein hohes Ergebnis Satoshi Kanazawa (2004, 2010) argumentiert, dass sich die
erzielten, in der Regel auch bei anderen Faktoren, wie etwa allgemeine Intelligenz als eine Form von Intelligenz entwickelt
räumliches Denken oder induktives/deduktives Denken, über hat, die Menschen dabei hilft, neuartige Probleme zu lösen: wie
dem Durchschnitt lagen. Spearman glaubte, dass diese Gemein- man verhindert, dass sich ein Feuer ausbreitet, wie man bei einer
samkeit, der g-Faktor, unserem gesamten intelligenten Verhalten Dürre Nahrung findet, wie man die eigene Gruppe wieder zu-
zugrunde liegt – und das reicht vom Navigieren durch das Meer sammenbringt, wenn sie sich bei Hochwasser auf zwei unter-
bis zum Erzielen hervorragender Schulleistungen. schiedlichen Seiten eines Flusses befindet. Häufiger auftretende
Probleme setzen dagegen eine andere Art von Intelligenz voraus;
Allgemeine Intelligenz oder g-Faktor (»general intelligence«) – allgemeiner
Intelligenzfaktor, der nach Ansicht von Spearman und anderen Psychologen das sind z. B. die folgenden Probleme: wie man einen Partner
den spezifischen geistigen Fähigkeiten eines Menschen zugrunde liegt und findet, wie man den Gesichtsausdruck eines Fremden inter-
daher durch jede Aufgabe in einem Intelligenztest gemessen wird. pretiert, wie man den Weg zurück zu einem Campingplatz findet.
Faktorenanalyse (»factor analysis«) – statistische Methode zur Identi- Kanazawa behauptet, dass Testwerte für allgemeine Intelligenz
fizierung von Gruppen verwandter Items (die man auch Faktoren nennt)
mit der Fähigkeit korrelieren, unterschiedliche neuartige Pro-
in einem Test; wird zum Nachweis verschiedener Leistungsdimensionen
eingesetzt, aus denen sich der Gesamttestwert eines Menschen ergibt.
bleme zu lösen (wie sie sich etwa im wissenschaftlichen Bereich
und in vielen beruflichen Situationen finden lassen); sie kor-
» g ist eines der zuverlässigsten und validesten Maße im relieren jedoch nicht mit den Fertigkeiten von Individuen in
Bereich des Verhaltens … und es sagt wichtige soziale Situationen, die »uns von der Evolution her vertraut« sind – wie
Ergebnisse wie Bildungs- und Beschäftigungsniveau viel etwa heiraten und Eltern sein, enge Freundschaften bilden und
besser vorher als jede andere Eigenschaft. ohne Karte navigieren. Kein Wunder, dass wissenschaftliche und
Verhaltensgenetiker Robert Plomin (1999) soziale Fähigkeiten nicht immer Hand in Hand gehen.
402 Kapitel 11 · Intelligenz

. Abb. 11.2 Inselbegabungen: Architektur-Künstler. Nach einem 30-minütigen Helikopterflug und einem Besuch des Dachs eines Hochhauses begann
der britische Architektur-Künstler Stephen Wiltshire mit seiner Zeichnung der Tokio-Skyline, für die er 7 Tage benötigte. (© The Stephen Wiltshire Gallery)

11
Theorien multipler Intelligenzfaktoren Das verstorbene Gedächtnisgenie Kim Peek, ein Savant ohne
Autismus, diente als Inspiration für den Film Rain Man. In 8 bis
? 11.3 Wie unterscheiden sich die Theorien multipler
10 Sekunden konnte er eine Seite lesen und sie sich merken. Er
Intelligenzen von Gardner und Sternberg?
lernte in seinem Leben 9000 Bücher auswendig, darunter Shake-
Seit Mitte der 80er Jahre haben verschiedene Psychologen ver- speare und die Bibel. Er lernte Stadtpläne von der Vorderseite
sucht, die Intelligenzdefinition über die Definition als schulische von Telefonbüchern und konnte MapQuest-ähnliche Richtungs-
Hochleistung, wie sie von Spearman und Thurstone vorgenom- angaben für jede größere US-amerikanische Stadt machen. Aber
men wurde, hinaus zu erweitern. seine Kleidung zuknöpfen konnte er nicht und seine Auf-
fassungsgabe für abstrakte Konzepte war gering. Als sein Vater
jGardners 8 Intelligenzen ihn in einem Restaurant darum bat, leiser zu sprechen (»lower
Nach Howard Gardner (1983, 2006) setzt sich Intelligenz aus mul- your voice«), rutschte er tiefer in seinen Stuhl, um seinen Kehl-
tiplen Fähigkeiten zusammen, die in Form verschiedener Einzel- kopf abzusenken. Nach Lincolns Gettysburg-Rede (»Address«)
faktoren auftreten. Eine Gehirnschädigung z. B. kann zwar eine gefragt, antwortete er »227 North West Front Street. Aber er blieb
bestimmte Art von Fähigkeit einschränken, aber andere intakt nur eine Nacht dort – er hielt am nächsten Tag die Rede« (Treffert
lassen. Weiterhin haben Menschen mit dem Savant-Syndrom häu- u. Christensen 2005).
fig niedrige Werte in Intelligenztests, doch sie haben Inselbegabun- Unter Berufung auf diese Befunde argumentiert Gardner,
gen (Treffert u. Wallace 2002). Einige der Savant-Patienten haben dass wir nicht über eine Intelligenz verfügen, sondern über mul-
praktisch keine sprachlichen Fähigkeiten, sind aber in der Lage, so tiple Intelligenzfaktoren (. Abb. 11.3), die die sprachlichen und
schnell und genau zu rechnen wie ein Taschenrechner, fast sofort logisch-mathematischen Fähigkeiten einschließen, die mit Hilfe
den Wochentag zu bestimmen, der einem bestimmten historischen von Standardtests erfasst werden. Gardner (1998) zufolge
Datum entspricht oder unglaubliche Werke künstlerischer oder kommen im Software-Programmierer, im Dichter, im cleveren
musikalischer Art zu erschaffen (Miller 1999; . Abb. 11.2). Etwa Jugendlichen, der später zum gewitzten Manager wird, und im
4 von 5 Menschen mit Savant-Syndrom sind männlich, und viele Spielmacher einer Basketballmannschaft unterschiedliche Arten
haben auch Autismus, eine Entwicklungsstörung (7 Kap. 6). von Intelligenz zum Ausdruck.
Wäre es nicht wunderbar, wenn die Welt so gerecht wäre, dass
Savant-Syndrom (»savant syndrome«) – Zustand, der sich dadurch
eine Schwäche auf einem Gebiet durch eine Begabung auf einem
auszeichnet, dass ein Mensch mit einer an sich eingeschränkten geistigen
Fähigkeit über eine ganz außergewöhnliche Begabung (Inselbegabung) anderen ausgeglichen würde? Doch leider, sagen Gardners
verfügt, beispielsweise im Rechnen oder Zeichnen. Kritiker, ist die Welt nicht gerecht (Ferguson 2009; Scarr 1989).
11.1 · Was ist Intelligenz?
403 11

. Abb. 11.3 Die 8 Intelligenzen nach Gardner

Jüngere Forschung hat unter Verwendung der Faktorenanalyse Sprungkraft kein Prädiktor der Springleistung ist, wenn die
bestätigt, dass es einen allgemeinen Intelligenzfaktor gibt Stange nur 30 cm über dem Boden angebracht wird, aber zu
(Johnson et al. 2008): der g-Faktor ist eben doch wichtig. Er sagt einem Prädiktor wird, wenn die Stange höher liegt, so sagen
vorher, wie jemand bei verschiedenen komplexen Aufgaben und extrem hohe kognitive Fähigkeitswerte außergewöhnliche
bei der Ausführung verschiedener Tätigkeiten abschneiden wird Leistungen vorher, wie etwa Doktorgrade und Publikationen
(Gottfredson 2002a,b, 2003a,b; . Abb. 11.4). Genauso wie die (Kuncel u. Hezlett 2010).
Trotzdem besteht das Rezept für »Erfolg« nicht nur aus einer
einzigen Zutat. Hohe Intelligenz kann dazu beitragen, uns (über
die Schulbildung und entsprechende Ausbildungsprogramme)
den Weg in einen passenden Beruf zu ebnen, aber sie macht uns
nicht erfolgreich, wenn wir bereits im Beruf sind. Das Erfolgs-
rezept ist Begabung zusammen mit Entschlossenheit: Die, die sehr
erfolgreich werden, sind auch eher gewissenhaft, haben gute Be-
ziehungen und sind mit Begeisterung bei der Sache. K. Anders
Ericsson (2002, 2007; Ericsson et al. 2007) berichtet eine 10-Jahres-
Regel: Eine verbreitete Zutat der Expertenleistung in den Bereichen
Schach, Tanzen, Sport, Programmieren von Computern, Musik
und Medizin ist »etwa 10 Jahre intensiver täglicher Übung« (. Abb.
11.5). Verschiedene tierische Spezies wie Bienen, Vögel und Schim-
pansen benötigen ebenfalls Zeit und Erfahrung, um Höchstleis-
tungen in Fähigkeiten wie der Nahrungssuche zu erlangen (Helton
. Abb. 11.4 Clever und reich? Jay Zagorsky (2007) verfolgte 7403 Teilneh-
2008). Genau wie Menschen erreichen Tiere ihren Leistungshöhe-
mer in der U.S. National Longitudinal Survey of Youth über 25 Jahre hinweg.
Wie in diesem Scatterplot gezeigt wird, korrelierten ihre Intelligenzwerte zu punkt daher im mittleren Alter. (Mehr dazu wie selbstdisziplinier-
+0,30 mit ihrem späteren Einkommen te Entschlossenheit Leistungen fördert in 7 Kap. 12.)
404 Kapitel 11 · Intelligenz

. Abb. 11.5 Ein Genie in räumlicher Intelligenz. 1998 stellte der Weltmeister im Damespiel Ron »Suki« King auf Barbados einen neuen Rekord auf, als
er in 3 Stunden und 44 Minuten simultan Dame gegen 385 Spieler spielte. Während also seinen Gegnern oft Stunden zur Verfügung standen, um sich ihre
Spielzüge auszudenken, konnte sich King dem jeweiligen Spiel jedes Mal nur 35 Sekunden widmen. Es gelang ihm jedoch trotzdem, alle 385 Spiele zu
gewinnen. (Courtesy of Cameras on Wheels)

Prüfen Sie Ihr Wissen Zeit ist, Aufgaben und Verantwortung zu delegieren, wie
Menschen einzuschätzen sind und wie man seine eigene
11 5 Wie unterstützt die Existenz des Savant-Syndroms
Karriere vorantreiben kann. Manager und leitende Ange-
Gardners Theorie multipler Intelligenzfaktoren?
stellte, die bei diesem Test gut abschneiden, haben in der
Regel höhere Gehälter und höhere Leistungsbewertungen
als diejenigen, die geringe Testwerte erzielen.
jSternbergs 3 Intelligenzen
Sternberg (1985, 1999, 2003) stimmt zwar grundsätzlich zu, dass
» Wenn Sie in etwas gut sind, müssen Sie vorsichtig sein und
sicherstellen, dass Sie nicht der Idee verfallen, auch in anderen
es für Erfolg mehr als die traditionelle Intelligenz braucht und er
Dingen gut zu sein, in denen das nicht unbedingt zutrifft …
stimmt mit Gardners Vorstellung von den multiplen Intelligen-
Weil ich sehr erfolgreich war [mit Softwareentwicklung],
zen überein, aber in seiner triarchischen Theorie wird nur zwi-
kommen die Leute zu mir und erwarten, dass ich über Wissen
schen 3, nicht 8 Aspekten der Intelligenz unterschieden:
bei Themen verfüge, von denen ich keine Ahnung habe.
4 Analytische Intelligenz (schulische Problemlösungsintelligenz)
Bill Gates (1998)
wird erfasst durch Intelligenztests, in denen genau umrisse-
ne Aufgaben gelöst werden müssen, die eine einzige richtige Mit Unterstützung des U.S. College Boards (das den weit verbrei-
Lösung haben. Durch sie lassen sich schulische Leistungen teten »SAT Reasoning Test« bei U.S. College- und Universitäts-
recht gut voraussagen, nicht so gut jedoch der berufliche bewerbern durchführt) haben Sternberg (2006, 2007, 2010) und
Erfolg. ein Team von Mitarbeitern neue Messinstrumente der Kreativität
4 Kreative Intelligenz zeigt sich durch die Anpassungsfähigkeit (z. B. Bildunterschriften für einen Cartoon ohne Titel ausden-
an neue Situationen und durch das Entwickeln neuer Ideen. ken) und des praktischen Denkens (z. B. überlegen, wie man ein
4 Praktische Intelligenz ist häufig gefragt bei der Ausführung großes Bett eine Wendeltreppe herauftragen kann) entwickelt.
alltäglicher Aufgaben, die schlecht definiert sind und meh- Erste Daten zeigen, dass solche umfangreicheren Bewertungen
rere Lösungsmöglichkeiten zulassen (. Abb. 11.6). Der die Vorhersage der Noten amerikanischer Studenten im ersten
Erfolg eines Managers hängt beispielsweise weniger von sei- Collegejahr verbessern, und zwar bei verringerten Unterschie-
nen schulischen Fähigkeiten ab, als vielmehr vom klugen den durch ethnische Gruppenzugehörigkeit.
Umgang mit der eigenen Person, mit seinen Aufgaben Obwohl Gardner und Sternberg in manchen Punkten unter-
und mit anderen Menschen. Sternberg und Richard Wagner schiedlicher Meinung sind, stimmen sie darin überein, dass mul-
(1993, 1995) entwickelten einen Test zur Erfassung der tiple Fähigkeiten zum Erfolg im Leben beitragen können. Des
praktischen Intelligenz eines Managers. Mit seiner Hilfe Weiteren sind beide der Meinung, dass die vielfältigen Arten von
wird gemessen, ob der Getestete weiß, wie man wirkungs- Begabung dem Leben erst die richtige Würze verleihen und eine
volle Memos schreibt und andere motiviert, wann es an der große Herausforderung für das Bildungswesen darstellen. Unter
11.1 · Was ist Intelligenz?
405 11
dem Einfluss von Gardner und Sternberg sind in den USA viele
Lehrer dahingehend ausgebildet worden, die Vielfalt der Bega-
bungen zu berücksichtigen und die Theorie der multiplen Intel-
ligenzen auf den Unterricht anzuwenden. Unabhängig davon,
wie man Intelligenz definiert (. Tab. 11.1), ist eine Sache klar:
Kreativität hängt von mehr ab als nur von Intelligenztestwerten.

11.1.2 Intelligenz und Kreativität

? 11.4 Was ist Kreativität und was fördert sie?

Pierre de Fermat, ein boshaftes Genie des 17. Jahrhunderts,


forderte die Mathematiker seiner Zeit heraus, an der Lösung ver-
schiedener, von ihm aufgestellter zahlentheoretischer Probleme
zu arbeiten. Sein berühmtestes Problem – »Fermats letzter Satz«
(oder genauer: der »Große fermatsche Satz«) – blieb selbst für die
fähigsten Mathematiker ein Rätsel, sogar nachdem 1908 ein Preis
von umgerechnet 1,4 Mio. Euro für denjenigen ausgesetzt wurde,
der zuerst den Beweis liefern konnte.
Der Princeton-Mathematiker Andrew Wiles hatte sich mehr
als 30 Jahre lang mit dem Problem herumgeschlagen und war der
Lösung sehr nahe gekommen. Dann, eines Morgens, kam ihm
aus heiterem Himmel die »unglaubliche Erleuchtung« für die
Lösung der allerletzten Ungewissheit. »Es war so unbeschreiblich
schön. Sie war so einfach und gleichzeitig so elegant. Ich konnte
nicht verstehen, warum ich nicht schon früher darauf gekommen
. Abb. 11.6 Straßenschläue. Dieses Kind verkauft Flaggen und Landkarten
auf den Straßen von Mumbai, Indien, und entwickelt dadurch notgedrun- war … Das war der wichtigste Moment in meiner ganzen be-
gen schon sehr früh eine praktische Intelligenz. (© picture-alliance / dpa) ruflichen Laufbahn« (Singh 1997, S. 25).

. Tab. 11.1 Vergleich der Intelligenztheorien

Theorie Zusammenfassung Stärken Weitere Überlegungen

Spearmans Durch eine grundlegende Intelligenz Unterschiedliche Fähigkeiten, Die Fähigkeiten des Menschen sind zu vielfältig,
allgemeine lassen sich unsere Fähigkeiten in unter- wie etwa verbale und räumliche um sie in einem einzelnen Faktor der allgemei-
Intelligenz (g) schiedlichen schulischen/akademischen Fähigkeiten, weisen eine gewisse nen Intelligenz zusammenzufassen
Bereichen vorhersagen Tendenz auf, zu korrelieren
Thurstones Unsere Intelligenz lässt sich in 7 Faktoren Ein einzelner g-Wert enthält Selbst Thurstones »Mental Abilities« weisen
»Primary aufspalten: Wortflüssigkeit, Sprachbe- nicht so viele Informationen wie eine Tendenz zur Gruppenbildung auf, die auf
Mental herrschung, Raumvorstellung, Auffassungs- die Testwerte für die 7 »Primary einen zugrunde liegenden g-Faktor hindeutet
Abilities« geschwindigkeit, Rechengewandtheit, Mental Abilities«
schlussfolgerndes Denken und Gedächtnis
Gardners Unsere Fähigkeiten lassen sich am besten Intelligenz ist mehr als nur ver- Sollten alle unsere Fähigkeiten als Intelligenzen
multiple in 8 voneinander unabhängige Intelligen- bale und mathematische Fertig- angesehen werden? Oder sollten einige von
Intelligenzen zen einteilen, zu denen eine breite Vielfalt keiten; andere Fähigkeiten sind ihnen eher als Begabungen bezeichnet werden,
von Fertigkeiten jenseits unseres traditio- genauso wichtig für die Anpas- die für unser Leben weniger wichtig sind?
nellen Schulwissens gehört sungsfähigkeit des Menschen
Sternbergs Unsere Intelligenz lässt sich am besten in Diese 3 Facetten lassen sich 1. Diese 3 Facetten sind vielleicht weniger
triarchische 3 Bereiche einteilen, anhand derer sich zuverlässig erfassen unabhängig voneinander, als Sternberg meinte,
Intelligenz unser Erfolg in der realen Welt vorhersa- und ihnen kann tatsächlich ein gemeinsamer
gen lässt: analytische, kreative und prakti- g-Faktor zugrunde liegen
sche Intelligenz 2. Eine zusätzliche Überprüfung ist erforderlich,
um zu bestimmen, ob sich Erfolg mit Hilfe
dieser Facetten zuverlässig vorhersagen lässt
406 Kapitel 11 · Intelligenz

Nach der Entgegennahme eines Nobelpreises in Stockholm stoppte Mittelpunkt die Sonne steht und nicht die Erde. Die fanta-
der Physiker Richard Feynman in Queens, New York, um sich seine sievolle Lösung von Wiles ergab sich aus der Kombination
alten Schulzeugnisse anzusehen. »Meine Noten waren nicht so gut, zweier wichtiger, aber unvollständiger Lösungen.
wie ich es in Erinnerung hatte«, sagte er, »und mein IQ betrug 124, 3. Eine wagemutige Persönlichkeit sucht nach neuen Er-
ein guter, aber kein außergewöhnlicher Wert« (Faber 1987). fahrungen, toleriert Unklarheiten und Risiken und zeigt
Durchhaltevermögen bei der Überwindung von Hinder-
Der unglaubliche Moment, den Wiles da erlebt hat, zeugt von nissen. Der Erfinder Thomas Edison probierte unzählige
Kreativität, der Fähigkeit, Ideen zu haben, die sowohl neuartig als Materialien für den Glühdraht seiner Glühbirne aus, bevor
auch nützlich sind (Hennessey u. Amabile 2010). Studien deuten er die richtige fand. Wiles sagte, er hätte weit ab von der
darauf hin, dass ein gewisses Maß an Begabung – ein Wert über Mathematikergemeinschaft ganz für sich allein gearbeitet,
120 in einem Standardintelligenztest – Kreativität unterstützt. um konzentriert zu bleiben und Ablenkung zu vermeiden.
Personen, die mit 13 Jahren außergewöhnlich hohe quantitative 4. Intrinsische Motivation zeigt sich dadurch, dass eine Person
Fähigkeiten aufweisen, erreichen mit höherer Wahrscheinlichkeit mehr durch Interesse, Befriedigung und Herausforderung
naturwissenschaftliche und mathematische Hochschulabschlüsse statt durch äußeren Druck angetrieben wird (Amabile u.
und werden später ihre Arbeiten veröffentlichen oder patentieren Hennessey 1992). Kreative Menschen konzentrieren sich
lassen (Park et al. 2008; Robertson et al. 2010). Intelligenz ist nicht so sehr auf extrinsische Motivationsfaktoren wie Termi-
von Bedeutung. Zur Kreativität gehört aber weitaus mehr, als die ne, die eingehalten werden müssen, den Eindruck, den
Intelligenztests preisgeben. Tatsächlich werden für die beiden man auf andere Menschen macht, oder wie viel Geld man
Denkarten unterschiedliche Hirnareale benötigt. Intelligenztests, mit einer Arbeit verdient. Sie konzentrieren sich auf das
bei denen es nur eine richtige Antwort gibt, erfordern konvergen- intrinsische Vergnügen an einer Arbeit und die Herausforde-
tes Denken. Durch eine Verletzung des linken Parietallappens rung dabei. Wenn Isaac Newton beispielsweise gefragt wurde,
wird diese Fähigkeit beeinträchtigt. Kreativitätstests (Wie viele wie er es anstelle, solch schwierige wissenschaftliche Pro-
Verwendungsmöglichkeiten können Sie sich für einen Ziegelstein bleme zu lösen, antwortete er meistens: »Indem ich die ganze
11 vorstellen?) erfordern divergentes Denken. Bei einer Verletzung Zeit darüber nachdenke.« Wiles stimmt mit ihm überein:
bestimmter Bereiche der Frontallappen können Lesen, Schreiben »Ich war von dem Problem so besessen, dass ... ich die ganze
und rechnerische Fertigkeiten intakt bleiben, das Vorstellungs- Zeit darüber nachdachte, von dem Moment, in dem ich wach
vermögen aber zerstört werden (Kolb u. Whishaw 2006). wurde, bis zum Schlafengehen« (Singh u. Riber 1997).
5. Durch eine kreative Umgebung bekommt man die An-
Kreativität (»creativity«) – Fähigkeit, neuartige und wertvolle bzw.
nützliche Ideen hervorzubringen. regung zu kreativen Ideen, man wird darin unterstützt und
man kann sie ausfeilen. Nachdem Dean Keith Simonton
Auch wenn es kein allgemein akzeptiertes Kreativitätsmaß gibt (1992) die Karrieren von 2026 bekannten Wissenschaftlern
– es gibt keinen Kreativitätsquotienten (KQ), der dem IQ-Wert und Erfindern untersucht hatte, stellte er fest, dass die
entspricht –, haben Sternberg und seine Kollegen fünf Kompo- Größten durch ihre Beziehung zu Mentoren und Kollegen
nenten der Kreativität identifiziert (Sternberg 1988, 2003; Stern- gefördert, herausgefordert und unterstützt wurden. Viele
berg u. Lubart 1991, 1992): hatten die erforderliche emotionale Intelligenz, um in einem
1. Expertenwissen – eine gut fundierte Wissensgrundlage – Netzwerk von Kollegen effektiv zu arbeiten. Sogar Wiles bau-
liefert die Ideen, Bilder und Sätze, die wir als mentale Bau- te auf den Erfahrungen seiner Lehrer und anderer Menschen
steine verwenden. »Chancen bieten sich nur dem Denken, auf und kämpfte mit dem Problem in Zusammenarbeit mit
das gut vorbereitet ist«, sagte schon Louis Pasteur. Je mehr einem seiner früheren Studenten. Kreativitätsfördernde
mentale Bausteine uns zur Verfügung stehen, desto mehr Umgebungen unterstützen Innovation, Teamaufbau und
Gelegenheiten haben wir, sie auf neuartige Weise miteinan- Kommunikation (Hülsheger et al. 2009). Sie unterstützen
der zu kombinieren. Die gut fundierte Wissensgrundlage aber auch das Nachdenken. Nachdem Jonas Salk während
lieferte Wiles die erforderlichen mathematischen Sätze und eines Klosteraufenthalts ein Problem löste, das zum Polio-
Methoden, die er für die Beweisfindung brauchte. Impfstoff führte, legte er das Salk Institute so an, dass be-
2. Fähigkeiten zum fantasievollen Denken eröffnen uns die schauliche Plätze zur Verfügung standen, wo Wissenschaftler
Möglichkeit, Dinge auf neuartige Weise zu sehen, Muster zu ohne Unterbrechungen arbeiten konnten (Sternberg 2006).
erkennen und Verbindungen herzustellen (. Abb. 11.7).
Wenn wir die Grundelemente eines Problems gemeistert Für die, die versuchen, den kreativen Prozess anzukurbeln, bietet
haben, definieren wir das Problem neu oder untersuchen es die Forschung ein paar Ideen:
auf eine neue Weise. Kopernikus entwickelte zunächst sein 4 Entwickeln Sie Expertenwissen. Fragen Sie sich, was Ihnen
Expertenwissen zum Sonnensystem und seinen Planeten wichtig ist und was Sie am meisten genießen. Folgen Sie Ihrer
und definierte es dann kreativ als ein System, in dessen Leidenschaft und werden Sie Experte auf einem Gebiet.
11.1 · Was ist Intelligenz?
407 11
Eine Form der Intelligenz, die sich ebenfalls von der schulischen
Intelligenz unterscheidet, ist die soziale Intelligenz – das Know-
how, das es uns erlaubt, soziale Situationen zu verstehen und uns
darin erfolgreich zu verhalten. Menschen mit hoher sozialer In-
telligenz können soziale Situationen so verstehen wie ein begabter
Footballspieler die Verteidigung versteht und Seeleute das Wet-
ter. Das Konzept wurde 1920 das erste Mal von dem Psychologen
Edward Thorndike vorgeschlagen, der sagte: »Der beste Mecha-
niker einer Fabrik wird als Werksmeister scheitern, wenn ihm die
soziale Intelligenz fehlt« (Goleman 2006, S. 83). Spätere Psycho-
logen haben sich gewundert, dass hochbegabte Menschen »nicht
in einem höheren Umfang und effektiver in der Lage sind, bes-
sere Ehen zu führen, erfolgreicher bei der Kindererziehung zu
sein und besser auf ihr geistiges und körperliches Wohlergehen
hinzuarbeiten« (Epstein u. Meier 1989). Andere haben die
Schwierigkeiten untersucht, die manche kluge Menschen damit
haben, soziale Informationen zu verarbeiten und zu steuern
(Cantor u. Kihlstrom 1987; Weis u. Süß 2007). Diese Idee ist vor
allem wichtig für den Aspekt der sozialen Intelligenz, den John
Mayer, Peter Salovey und David Caruso (2002, 2008) die emo-
tionale Intelligenz genannt haben. Sie haben einen Test ent-
wickelt, der 4 Komponenten emotionaler Intelligenz bewertet:
. Abb. 11.7 Fantasievolles Denken. Karikaturisten bringen häufig ihre 4 Emotionen wahrnehmen (sie im Gesichtsausdruck, in der
Kreativität zum Ausdruck, indem sie Dinge auf eine neuartige Weise sehen Musik und in Geschichten zu erkennen),
oder ungewöhnliche Verbindungen herstellen. (© Paul Soderblom) 4 Emotionen verstehen (sie vorherzusagen und anzugeben,
wie sie sich verändern und ineinander übergehen),
4 Lassen Sie eine Inkubationszeit zu. Wenn genügend Wissen 4 mit Emotionen umgehen (zu wissen, wie man sie in unter-
für neue Verknüpfungen verfügbar ist, hilft eine Zeitspanne schiedlichen Situationen zum Ausdruck bringt),
der Unaufmerksamkeit gegenüber dem Problem (»darüber 4 Emotionen nutzen, um adaptives und kreatives Denken zu
schlafen«) bei der unbewussten Verarbeitung und der ermöglichen.
Formung von Verbindungen (Zhong et al. 2008). Denken
Emotionale Intelligenz (»emotional intelligence«) – Fähigkeit, Emotionen
Sie also intensiv über ein Problem nach, legen Sie es dann wahrzunehmen, zu verstehen, mit ihnen umzugehen und sie zu nutzen.
zur Seite und kommen Sie später darauf zurück.
4 Sparen Sie Zeit auf, in der Ihr Geist frei herumschweifen Mayer, Salovey und Caruso warnen davor, »emotionale Intelli-
kann. Verringern Sie die Zeit, die Sie mit aufmerksam- genz« so weit zu fassen, dass sie verschiedenartige Eigenschaften
keitsschluckenden Aktivitäten wie Fernsehen, Nutzung wie Selbstbewusstsein und Optimismus einschließt. Vielmehr sind
sozialer Netzwerke und Videospielen verbringen. Gehen emotional intelligente Personen sich ihrer Umwelt sowie ihrer
Sie joggen, machen Sie einen langen Spaziergang oder selbst bewusst. Sowohl in den Vereinigten Staaten als auch in
meditieren Sie. Deutschland haben Personen mit hohen Testwerten beim Um-
4 Erfahren Sie andere Kulturen und andere Denkarten. Im Aus- gang mit Emotionen qualitativ höhere Interaktionen mit Freunden
land zu leben, lässt die kreativen Säfte fließen. Auch nach (Lopes et al. 2004). Sie vermeiden es, sich von Depression, Angst
Kontrolle anderer Variablen sind Studenten, die Zeit im Aus- oder Wut übermannen zu lassen. Durch ihre Sensibilität gegen-
land verbracht haben, versierter darin, kreative Lösungen zu über emotionalen Hinweisen haben sie ein gutes Gespür dafür, was
Problemen zu finden (Leung et al. 2008; Maddux u. Galinsky man einem trauernden Freund zu sagen hat, wie man Kollegen
2009, 2010). Multikulturelle Erfahrungen setzen uns Mut macht und wie man gut mit Konflikten umgeht.
multiplen Perspektiven aus und fördern flexibles Denken. Emotionale Intelligenz ist weniger eine Angelegenheit
bewusster Anstrengung, sondern eher das Ergebnis der unbe-
wussten Verarbeitung emotionaler Informationen (Fiori 2009).
11.1.3 Emotionale Intelligenz Dennoch werden die Folgen dieser automatischen Verarbeitung
sichtbar. Über Dutzende von Studien in vielen Ländern hinweg
? 11.5 Was sind die 4 Komponenten der emotionalen zeigten diejenigen, die hohe Werte in emotionaler Intelligenz
Intelligenz? aufwiesen, auch etwas bessere berufliche Leistungen (Joseph u.
408 Kapitel 11 · Intelligenz

Newman 2010; Van Rooy u. Viswesvaran 2004; Zeidner et al. Größe und Komplexität des Gehirns
2008). Sie können darüber hinaus länger auf eine Belohnung
? 11.6 In welchem Ausmaß ist Intelligenz von der Gehirn-
warten, wenn das langfristige Vorteile für sie verspricht, und
anatomie abhängig?
lassen sich nicht von spontanen Impulsen überrumpeln. Sie sind
emotional klug und können deshalb häufig Erfolge in Beruf, Ehe Nachdem der brillante englische Dichter Lord Byron 1824 ge-
und in Erziehungssituationen verzeichnen, alles Bereiche, in storben war, entdeckten die Ärzte, dass sein Gehirn gewaltige
denen andere häufig scheitern, die im schulischen Bereich klüger 5 Pfund wog, statt der normalen 3 Pfund. Als Beethoven 3 Jahre
sind (aber emotional weniger intelligent) (Cherniss 2001a,b; danach starb, fand man heraus, dass sein Gehirn außerge-
Ciarrochi et al. 2006). wöhnlich zahlreiche und tiefe Furchungen aufwies. Diese Be-
Berichte über Hirnschädigungen stellen extreme Beispiele obachtungen brachten die Hirnforscher dazu, die Gehirne an-
der Ergebnisse verringerter emotionaler Intelligenz bei Men- derer genialer Menschen zu untersuchen, als diese mit ihrer
schen mit intakter allgemeiner Intelligenz dar. So berichtet der Weisheit am Ende, d. h. verstorben, waren (Burrell 2005). Sind
Neurowissenschaftler Antonio Damasio (1994) über Elliot, einen Menschen mit einem großen Gehirn aber wirklich klüger?
Mann, dem ein Hirntumor entfernt wurde: »In den vielen Stun- Nun ja, einige geniale Menschen hatten kleine Gehirne, und
den, die ich mit ihm im Gespräch verbracht habe, habe ich nie einige ziemlich dämliche Kriminelle hatten Gehirne wie die der
auch nur das kleinste Anzeichen einer Emotion bei ihm beobach- Wissenschaftler. Bei den neueren Studien, in denen die Gehirn-
ten können, keine Traurigkeit, keine Ungeduld und keine Frust- größe mit Hilfe der Kernspintomografie direkt gemessen wird,
ration.« Auch wenn ihm beunruhigende Bilder von verletzten ergeben sich tatsächlich Korrelationen von etwa +0,33 zwischen
Personen, zerstörten Städten und Naturkatastrophen gezeigt der Gehirngröße (relativ zur Körpergröße) und dem Intelligenz-
wurden, zeigte Elliot kein Gefühl, und er spürte, dass er keine wert (Carey 2007; McDaniel 2005). Größer ist besser.
Gefühle hat. Er wusste es, aber er konnte nichts fühlen. Da er Ein Übersichtsartikel über 37 Studien, die bildgebende Ver-
nicht mehr in der Lage war, sein Verhalten intuitiv an die Gefüh- fahren verwendeten, deckte Verbindungen zwischen der Intelli-
le anderer anzupassen, verlor Elliot seine Arbeit. Er verlor sein genz, der Gehirngröße und der Aktivität in spezifischen Hirnare-
11 ganzes Vermögen. Seine Ehe ging in die Brüche. Darauf folgte alen auf, vor allem innerhalb der Frontal- und Parietallappen
eine erneute Heirat und später noch eine Scheidung. Als Letztes (Jung u. Haier 2007; Tang et al. 2010). Intelligenz bedeutet, über
wurde von ihm bekannt, dass ein Verwandter die Vormundschaft große Mengen an grauer Substanz (Zellkörper eines Neurons)
für ihn übernommen hat und er von einer Behindertenrente lebt. und große Mengen an weißer Substanz (Axone) zu verfügen, die
Einige Wissenschaftler jedoch äußern Bedenken, dass durch zu effizienter Kommunikation zwischen den Gehirnzentren
die emotionale Intelligenz der Intelligenzbegriff zu weit gefasst beitragen (Deary et al. 2009; Haier et al. 2009).
wird. Der »Experte für multiple Intelligenzen« Gardner (1999) Sandra Witelson wäre nicht überrascht gewesen. Mit den
begrüßt es, den Begriff auf die Verarbeitung von räumlichen, Gehirnen von 91 Kanadiern als Grundlage für Vergleiche er-
musikalischen und Informationen über uns selbst und andere griffen Witelson et al. (1999) die Gelegenheit, Einsteins Gehirn
auszudehnen. Aber seiner Ansicht nach sollten wir auch emoti- zu untersuchen. Zwar war es nicht merklich schwerer oder
onale Sensibilität, Kreativität und Motivation als wichtige Ein- größer als das Gehirn eines durchschnittlichen Kanadiers, aller-
flussfaktoren gelten lassen, die jedoch etwas anderes sind als In- dings war Einsteins Gehirn im unteren Bereich des Parietal-
telligenz. Die Bedeutung eines Begriffs so weit auszudehnen, bis lappens um 15% breiter, also genau in dem Bereich, der für die
er alles umfasst, was wir schätzen, führt letztendlich dazu, dass Verarbeitung mathematischer und räumlicher Informationen
er seine Bedeutung verliert. zuständig ist.

» Mich beunruhigen unsere Definitionen [von Intelligenz], Prüfen Sie Ihr Wissen
bei denen die Testwerte für unsere kognitiven Fähigkeiten
5 Erinnern Sie sich an 7 Kap. 2, und denken Sie daran, dass
mit den Aussagen darüber zusammenfallen, welchen
die höchste negative Korrelation (–1,0) eine völlige
Menschentyp wir bevorzugen.
(Übereinstimmung/Nichtüberein-
Howard Gardner, Rethinking the Concept of Intelligence, 2000
stimmung) zwischen zwei verschiedenen Gruppen von
Werten kennzeichnet, d. h. wenn der eine Wert steigt,
11.1.4 Ist Intelligenz neurologisch messbar? (sinkt/steigt) der andere. Eine Korrelation
von gibt an, dass keinerlei Beziehung
Sie wissen es: Sie sind klüger als manche Menschen und nicht so besteht. Und die höchste positive Korrelation (+1,0) weist
klug wie andere. Was genau in ihrem Gehirn, dem Sitz unseres auf eine vollkommene (Übereinstimmung/
Verstandes, verursacht diesen Unterschied? Ist es die relative Nichtübereinstimmung) hin: Wenn der erste Wert nach
Größe Ihres Gehirns? Die Menge bestimmten Hirngewebes? Die oben geht, (sinkt/steigt) der zweite.
Effizienz ihrer Gehirnnetzwerke?
11.2 · Intelligenzmessung
409 11
Gehirnfunktion und Intelligenz

? 11.7 In welchem Ausmaß ist Intelligenz von der


Geschwindigkeit der neuronalen Verarbeitung abhängig?

Die Korrelationen zwischen der Anatomie des Gehirns und der


Intelligenz stellen erst den Anfang der Erklärung der Intelligenz-
unterschiede dar. Auf der Suche nach anderen Erklärungen ha-
ben die Neurowissenschaftler die Funktionsweise des Gehirns
näher unter die Lupe genommen.
Wenn sich Menschen Gedanken über solche Fragen machen,
die in Intelligenztests vorgegeben werden, wird ein Gehirnbe-
reich im Frontallappen direkt über dem äußeren Rand der Au-
genbrauen besonders aktiv, und zwar in der linken Gehirnhälfte,
wenn es um sprachliche Fragen geht, und in beiden Gehirnhälften, . Abb. 11.8 Ein Test zur visuellen Verarbeitungszeit. Ein Reiz wird kurz
eingeblendet, bevor er von einem überdeckenden Bild abgelöst wird. Wie
wenn es um räumliche Fragen geht (Duncan et al. 2000). In-
lange würden Sie wohl in diesem Experiment den Reiz auf der linken Seite
formationen aus verschiedenen Gehirnarealen scheinen an ansehen müssen, um die Frage richtig zu beantworten? Menschen, die den
diesem Punkt zusammenzulaufen. Dies veranlasst den Forscher Reiz sehr schnell wahrnehmen, neigen dazu, bei Intelligenztests etwas
John Duncan (2000) zu der Vermutung, dass es sich bei diesem besser abzuschneiden. (Nach Deary u. Stough 1996; Copyright © 1996 by
the American Psychological Association, adapted with permission)
Punkt um einen globalen Arbeitsbereich handele, in dem In-
formationen organisiert und koordiniert werden. Und seiner
Meinung nach scheinen eben manche Menschen mit einem Anschluss daran, ob die längere Seite links oder rechts war. Alle,
Arbeitsbereich gesegnet, der außerordentlich gut funktioniert. deren Gehirne die wenigste Betrachtungszeit benötigen, um
Gut funktionieren heißt effizient funktionieren. Gehirnscans einen einfachen Reiz wahrzunehmen, scheinen bei Intelligenz-
zeigen, dass kluge Menschen weniger Energie aufwenden, um tests etwas besser abzuschneiden (Caryl 1994; Deary u. Caryl
Probleme zu lösen (Haier 2009). Sie sind wie talentierte Athleten, 1993; Reed u. Jensen 1992).
für die gelenkige Bewegungen mühelos zu sein scheinen. Ein Vielleicht häufen Menschen, die Informationen schneller
reger Verstand sitzt in einem regen Gehirn. verarbeiten, auch mehr Informationen an. Der Befund eines
Sind intelligentere Menschen also wirklich geistig wacher australisch-holländischen Forscherteams legt nahe, dass Ver-
und schneller, wie etwa die schnellen Computerchips der heuti- arbeitungsgeschwindigkeit und Intelligenz vielleicht nicht
gen Generation eine schnellere Verarbeitung ermöglichen als deshalb korrelieren, weil eines das andere verursacht, sondern
noch ihre Vorläufermodelle? Für manche Aufgaben scheint das weil sie einen zugrunde liegenden genetischen Einfluss teilen
wirklich der Fall zu sein. Hunt (1983) fand heraus, dass die (Luciano et al. 2005).
sprachlichen Intelligenzwerte durch die Geschwindigkeit vor-
hersagbar sind, mit der Menschen Informationen aus ihrem
Gedächtnis abrufen. Alle, die schnell merken, dass sinken und 11.2 Intelligenzmessung
winken unterschiedliche Wörter sind oder dass A und a zwei
verschiedene Darstellungsformen desselben Buchstabens sind, Wie bewerten wir Intelligenz? Und was macht einen Test glaub-
haben in der Regel hohe Intelligenzwerte in Bezug auf ihre würdig? Bei der Beantwortung dieser Fragen beginnen wir mit
sprachliche Fähigkeit. Hochbegabte 12- bis 14-jährige Jugend- einem Blick darauf, warum Psychologen Tests geistiger Fähig-
liche, die vorzeitig ein Studium beginnen durften, sind beim keiten entwickelt und wie sie diese Tests eingesetzt haben.
Beantworten solcher Fragen besonders schnell (Jensen 1989).
Um Schnelldenken zu definieren, beschäftigten sich die Forscher
näher mit der Auffassungsgeschwindigkeit und der Geschwin- 11.2.1 Ursprünge der Intelligenzmessung
digkeit der neuronalen Informationsverarbeitung.
Aus einer Vielzahl von Studien geht hervor, dass die Korrela-
? 11.8 Wann und warum wurden Intelligenztests entwickelt?
tion zwischen dem Intelligenzwert und der Aufnahmegeschwin-
digkeit von Wahrnehmungsinformationen etwa zwischen +0,3 In manchen Gesellschaften gilt die erste Sorge dem allgemeinen
und +0,5 liegt (Deary u. Der 2005; Sheppard u. Vernon 2008). Ein Wohlergehen der Familie, der Gemeinschaft und der Gesell-
typisches Experiment ist z. B. folgendes: Ein unvollständiger Reiz schaft. In anderen Gesellschaften steht die Entwicklungs-
wird kurz eingeblendet (. Abb. 11.8) und dann von einem Bild möglichkeit des Einzelnen im Mittelpunkt. Platon, ein Pionier der
abgelöst, das das weiterhin vorhandene Nachbild des unvollstän- individualistischen Tradition, schrieb vor mehr als 2000 Jahren in
digen Reizes überdeckt. Der Forscher fragt den Probanden im Der Staat, »dass keiner von uns von Natur aus ganz gleich ist wie
410 Kapitel 11 · Intelligenz

der andere, sondern dass jeder verschiedene Anlagen hat, der


eine zu dieser, der andere zu jener Betätigung«. Als Erben von
Platons Individualismus haben sich die Menschen in den westli-
chen Gesellschaften immer wieder Gedanken darüber gemacht,
wie und warum sich die Individuen in Bezug auf geistige Fähig-
keiten voneinander unterscheiden.
Die ersten ernsthaften Versuche, solche Unterschiede zu mes-
sen, wurden in der westlichen Welt vor etwa einem Jahrhundert
unternommen. Der englische Wissenschaftler Francis Galton
(1822–1911) war fasziniert davon, menschliche Eigenschaften zu
messen. Als sein Cousin Charles Darwin die Annahme aufstellte,
dass die Natur erfolgreiche Eigenschaften durch das Überleben des
Stärkeren auswählt, fragte sich Galton, ob es mögliche wäre, »na-
türliche Fähigkeiten« zu messen und Menschen mit hohen Fähig-
keiten dieser Art zu ermutigen, sich miteinander zu paaren. Auf
der Londoner Messe im Jahre 1884 erhielten mehr als 10.000 Be-
sucher seine Bewertung ihrer »intellektuellen Stärken«, die auf
Dingen wie Reaktionszeit, Sinnesschärfe, Muskelstärke und
Körperproportionen basierten. Aber weder schnitten angesehene
Erwachsene und Studenten im Vergleich zu anderen auf diesen
Maßen besser ab, noch korrelierten die Maße untereinander.
Obwohl Galtons Suche nach einem einfachen Intelligenzmaß
fehlgeschlagen ist, hinterließ er uns einige statistische Techniken,
11 die wir immer noch nutzen (sowie den Ausdruck »Anlage und
Umwelt«). Und sein anhaltender Glaube an die Vererbung der
. Abb. 11.9 Alfred Binet. »Einige moderne Philosophen haben dem
Intelligenz – widergespiegelt in seinem Buch Hereditary Genius bedauerlichen Urteil ihre moralische Zustimmung gegeben, dass die
– veranschaulicht eine wichtige Lektion sowohl der Geschichte Intelligenz eines Individuums eine festgelegte Eigenschaft ist, die nicht
der Intelligenztests als auch der Geschichte der Wissenschaft: gesteigert werden kann. Wir müssen gegen diesen brutalen Pessimismus
protestieren und etwas dagegen unternehmen.« (Binet 1909, S. 141; this
Obwohl sich die Wissenschaft eigentlich um Objektivität be- image is in the public domain because its copyright has expired)
müht, werden die einzelnen Wissenschaftler von ihren eigenen
Annahmen und Einstellungen beeinflusst.
wicklung unterliegen, dass sich einige jedoch schneller ent-
Alfred Binet: Vorhersage des Schulerfolgs wickeln. In Tests müsste sich also ein »dummes« Kind genauso
Die moderne Beschäftigung mit Intelligenztests nahm während wie ein typisches jüngeres Kind verhalten, und ein »kluges« Kind
der Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert ihren Anfang, als in wie ein typisches älteres. So machten sich Binet und Simon also
Frankreich ein Gesetz verabschiedet wurde, das alle Kinder zum daran, das Intelligenzalter jedes Kindes zu messen, das Leis-
Schulbesuch verpflichtete. Manche Kinder, unter anderem viele tungsniveau, das normalerweise einem bestimmten Lebensalter
Zuzügler nach Paris, schienen dem regulären Schulunterricht entspricht. Ein durchschnittlich begabtes 9 Jahre altes Kind hat
nicht folgen zu können und speziellen Förderunterricht zu somit ein Intelligenzalter von 9. Kinder mit einem unterdurch-
brauchen. Aber wie konnten die Schulen objektiv herausfinden, schnittlichen Intelligenzalter, beispielsweise 9-Jährige, die der
welche Kinder besonders hilfsbedürftig waren? typischen Leistungsebene eines 7-Jährigen entsprechen, hätten
Die französische Regierung zögerte, sich darauf zu verlassen, wahrscheinlich Schwierigkeiten mit den schulischen Anforde-
dass die Lehrer das Lernpotenzial der Kinder subjektiv beurteil- rungen, die an diese Altersgruppe normalerweise gestellt werden.
ten. Langsames Lernen brachte möglicherweise nur eine unzu-
Intelligenzalter (»mental age«) – von Binet eingeführtes Maß zur Fest-
reichende Vorbildung der Kinder zum Ausdruck. Außerdem stellung der Intelligenztestleistung; das Lebensalter, das am typischsten
bestand die Möglichkeit, dass die Lehrer die Kinder aufgrund einer bestimmten Leistungsebene entspricht. So sagt man, wenn ein Kind
ihres sozialen Hintergrunds falsch einschätzten. Um einen Aus- die Leistungen eines durchschnittlichen 8-Jährigen vollbringt, es habe ein
Intelligenzalter von 8.
weg aus diesem Dilemma zu finden, beauftragte der französische
Erziehungsminister 1904 Alfred Binet (1857–1911) und andere Zur Messung des Intelligenzalters gingen Binet und Simon von
damit, dieses Problem zu lösen (. Abb. 11.9). der Theorie aus, dass eine geistige Begabung, ebenso wie sport-
Binet und sein Mitarbeiter Théodore Simon gingen zunächst liche Begabung, eine allgemeine Fähigkeit ist, die auf vielfältige
davon aus, dass alle Kinder demselben Ablauf der geistigen Ent- Weise zum Ausdruck kommt. Nachdem sie verschiedene Fragen
11.2 · Intelligenzmessung
411 11
zum Denken und Problemlösen an Binets beiden Töchtern und Aus diesen Tests leitete der deutsche Psychologe William Stern
dann an »hellen Köpfen« und an »Zurückgebliebenen« unter den den berühmten Intelligenzquotienten oder IQ ab. Der IQ war
Pariser Schulkindern ausprobiert hatten, identifizierten Binet einfach das Intelligenzalter eines Menschen geteilt durch sein
und Simon Testfragen (Items), mit denen sich vorhersagen ließ, Lebensalter und multipliziert mit 100 (um 2 Kommastellen los-
wie gut die französischen Kinder ihre Schulaufgaben bewältigen zuwerden):
würden.
Intelligenzalter
Es sei hier angemerkt, dass Binet und Simon keine Vermu- IQ = × 100
Lebensalter
tungen dazu äußerten, warum ein bestimmtes Kind langsam,
durchschnittlich oder frühreif war. Binet selbst neigte zu einer Somit hat ein durchschnittliches Kind, dessen Intelligenzalter
Erklärung durch umweltbedingte Faktoren. Um die Fähigkeiten und Lebensalter gleich sind, einen IQ von 100. Aber ein 8-jähri-
von Kindern mit geringen Testergebnissen zu steigern, schlug er ges Kind, das Fragen so beantwortet, wie sie ein 10-Jähriger
»Denksportaufgaben« vor, mit denen sie trainiert und ihre Auf- beantworten würde, hat einen IQ von 125.
merksamkeitsspanne und Selbstdisziplin verbessert werden
Intelligenzquotient oder IQ (»intelligence quotient«) – ursprünglich
konnten. Er bestand darauf, dass mit seinem Intelligenztest definiert als das Verhältnis von Intelligenzalter (IA) zum Lebensalter (LA)
IA
keinesfalls die angeborene Intelligenz gemessen werden könne multipliziert mit 100, nach der Formel IQ =
LA
× 100. In neueren Intelligenz-
(so wie etwa die Körpergröße mit einem Meterstab). Der Test tests wird die durchschnittliche Leistungsfähigkeit einer bestimmten Alters-
gruppe mit einem Wert von 100 gleichgesetzt.
habe vielmehr einen einzigen praktischen Zweck: Er solle fest-
stellen, welche französischen Schulkinder besondere Aufmerk-
samkeit benötigten. Binet hoffte, sein Test werde dazu verwendet Die ursprüngliche IQ-Formel ließ sich gut auf Kinder anwenden,
werden, die Bildung der Kinder zu verbessern, aber er hatte an- nicht jedoch auf Erwachsene (. Abb. 11.10). (Oder sollte viel-
dererseits auch die Befürchtung, der Test könne benutzt werden, leicht einem 40-Jährigen, der den Test gleich gut macht wie ein
um Kinder von vornherein abzustempeln und ihre Entwick- 20-Jähriger, nur ein IQ von 50 bescheinigt werden?) Bei den
lungsmöglichkeiten einzuschränken (Gould 1981). meisten neueren Intelligenztests, einschließlich des Stanford-
Binet-Tests, wird der IQ nicht mehr nach dieser Formel berech-
» Der Intelligenztest wurde zur Vorhersage der schulischen
net (trotzdem wird der Begriff »IQ« in der Alltagssprache weiter-
Leistung erfunden, zu sonst nichts. Wenn wir ein Verfahren
hin häufig als Kurzform für »Intelligenztestwert« verwendet). Bei
haben wollten, mit dem sich der Erfolg im Leben voraussagen
den heutigen Intelligenztests wird hingegen das Maß der geisti-
ließe, müssten wir einen vollkommen anderen Test erfinden.
gen Fähigkeit, das auf der Grundlage der Leistung des Getesteten
Der Sozialpsychologe Robert Zajonc (1984b)
erfasst wurde, in Beziehung gesetzt zur durchschnittlichen
Prüfen Sie Ihr Wissen
Leistung der Bevölkerung derselben Altersgruppe. Dieser durch-
schnittlichen Leistung wird willkürlich der Wert 100 zugeordnet
5 Was erhoffte sich Binet davon, das Intelligenzalter eines und etwa zwei Drittel aller getesteten Personen erzielen dabei
Kindes festzustellen? Werte zwischen 85 und 115 (. Abb. 11.11).
Terman trat für den breiten Einsatz von Intelligenztests ein.
Sein Motiv war dabei, »den Ungleichheiten von Kindern auf-
Lewis Terman: Der angeborene IQ grund ihrer angeborenen Begabung gerecht zu werden«, und
Binets Ängste wurden schon bald nach seinem Tod im Jahre 1911 zwar durch Messung ihrer »beruflichen Eignung«. Terman sym-
Wahrheit, als andere seinen Test für die Nutzung als numerischen pathisierte auch mit den Ideen der Eugenik, einer heftig kritisier-
Maßstab für vererbte Intelligenz anpassten. Es fing an, als der ten humangenetischen Bewegung des 19. Jahrhunderts. Sie trat
Stanford-Professor Lewis Terman (1877–1956) herausfand, dass für die Messung der menschlichen Charakterzüge ein, um je
sich die in Paris entwickelten Fragen und Altersmaßstäbe nur nach Ergebnis nur die klugen und wirklich überlebensfähigen
schwer auf kalifornische Schulkinder übertragen ließen. Er glich Menschen anschließend zur Fortpflanzung zu ermutigen. Vor
einige von Binets ursprünglichen Testfragen an die örtlichen Ver- diesem Hintergrund hielt es Terman (1916, S. 91–92) für mög-
hältnisse an, fügte weitere hinzu, legte neue Altersnormen fest lich, durch den Einsatz von Intelligenztests »letztendlich die
und dehnte die obere Altersgrenze des Testbereichs von Jugend- Fortpflanzung von Schwachsinn deutlich einschränken und
lichen bis zu »älteren Erwachsenen« aus. Terman gab seiner über- dadurch zur Beseitigung eines hohen Maßes an Kriminalität,
arbeiteten Version außerdem den Namen, den sie auch heute Massenarmut und Ineffizienz in der Industrie beitragen zu
noch trägt: Stanford-Binet-Intelligenztest. können« (ebd., S. 7).
Mit Termans Hilfe entwickelte die US-Regierung neue Tests,
Stanford-Binet-Intelligenztest (»Stanford-Binet«) – häufig angewandte
amerikanische Variante des ursprünglichen Binet-Intelligenztests (ab- um frisch eingereiste Einwanderer und 1,7 Mio. Rekruten der
gewandelt durch Lewis Terman von der Stanford-Universität). Armee im Ersten Weltkrieg nach ihrer Intelligenz einschätzen
zu können. Das war der weltweit erste massive Einsatz eines
412 Kapitel 11 · Intelligenz

. Abb. 11.10 (© Dave Coverly / Speed Bump)


11

Intelligenztests. Für manche Psychologen deuteten die Ergeb-


nisse auf eine Minderwertigkeit der Menschen hin, die kein
angelsächsisches Erbe hatten. Solche Aussagen beeinflussten
das kulturelle Klima; das führte schließlich 1924 zur Verab- . Abb. 11.11 (© Claudia Styrsky)
schiedung eines Einwanderungsgesetzes, durch das die Ein-
wanderungsquoten aus Süd- und Osteuropa im Vergleich zu
jenen aus Nord- und Westeuropa auf weniger als ein Fünftel 11.2.2 Moderne Tests der geistigen Fähigkeit
gesenkt wurden.
Binet wäre wahrscheinlich entsetzt gewesen, wenn er gese-
? 11.9 Worin unterscheiden sich Leistungs- von
hen hätte, wie sein Test abgewandelt und verwendet wurde, um
Eignungstests?
derartige Schlüsse zu ziehen. Tatsächlich waren den meisten Ver-
fechtern der Intelligenztests bald derart radikale Urteile peinlich. Bis zu diesem Punkt in Ihrem Leben haben Sie bestimmt schon
Selbst Terman musste sich beispielsweise eingestehen, dass die Dutzende von Tests mitgemacht, bei denen Ihre Fähigkeiten ge-
Testergebnisse nicht nur Ausdruck der angeborenen geistigen prüft wurden: Schulreife- und Schulleistungstests, bei denen
Fähigkeiten der Menschen sind, sondern auch ihrer Bildung, ih- grundlegende Lese- und Rechenkenntnisse getestet werden, Ab-
rer Muttersprache und ihrer Vertrautheit mit der Kultur, die dem schlussprüfungen am Ende eines Seminars, Intelligenztests und
Test zugrunde lag. Der Missbrauch der frühen Intelligenztests die Fahrprüfung, um nur ein paar zu nennen. Die Psychologen
kann daher immer noch dazu dienen, uns daran zu erinnern, bezeichnen diese Tests entweder als Leistungstests, die darauf
dass die Wissenschaft von ideologischen Werten beeinflusst sein angelegt sind, das wiederzugeben, was wir bisher an Wissen und
kann. Hinter dem Schleier der wissenschaftlichen Objektivität Fähigkeiten erworben haben, oder als Eignungstests, deren Ziel
verbirgt sich bisweilen eine Ideologie. es ist, unsere zukünftige Lernfähigkeit in einem neuen Gebiet vor-
herzusagen. Somit sind die Prüfungen, mit denen geprüft werden
soll, was Sie in diesem Kurs gelernt haben, Leistungstests. Ein Ein-
Prüfen Sie Ihr Wissen
gangstest für Studienanfänger, mit dem Ihre Fähigkeit zum Studie-
5 Wie lautet der IQ eines 4-jährigen Kindes mit einem ren dieses Faches vorhergesagt werden soll, ist dagegen ein Eig-
Intelligenzalter von 5? nungstest, oder wie es Howard Gardner (1999) nannte, ein nur
»wenig verschleierter Intelligenztest«. Tatsächlich berichten Mere-
11.2 · Intelligenzmessung
413 11

. Abb. 11.12 Nahe Verwandte: Eignungs- und Intelligenzwerte. Ein Streudiagramm veranschaulicht den engen Zusammenhang zwischen Intelligenz-
werten und den Werten aus dem Verbalteil und dem quantitativen Teil des SAT. (Aus Frey u. Detterman 2004)

dith Frey u. Douglas Detterman (2004), dass die Gesamttestwerte 4 Wortschatztest – Es sollen bildlich dargestellte Objekte be-
für den US-amerikanischen SAT (»Scholastic Assessment Test«, nannt oder Wörter definiert werden (»Was ist eine Gitarre?«).
früher als »U.S. Scholastic Aptitude Test« bezeichnet) mit den all- 4 Mosaiktest – Hierbei geht es um die visuelle abstrakte
gemeinen Intelligenzwerten in einer landesweiten Stichprobe von Verarbeitung, wie z. B. »Legen Sie dieses Muster unter
14- bis 21-Jährigen zu +0,82 korrelierten (. Abb. 11.12). Verwendung der 4 Blöcke nach« (. Abb. 11.13).
Leistungstest (»achievement test«) – Test, mit dem erfasst werden soll, was
eine Person in einem bestimmten Bereich gelernt hat.
Eignungstest (»aptitude test«) – Test, der die künftig zu erwartende Leis-
tung eines Menschen vorhersagen soll; Eignung ist die Fähigkeit zu lernen.

Der am häufigsten in den USA – und auch in Deutschland – ein-


gesetzte Intelligenztest ist die von dem Psychologen David
Wechsler entwickelte »Wechsler Adult Intelligence Scale« (WAIS)
bzw. im Deutschen der »Hamburg-Wechsler-Intelligenztest für
Erwachsene« (HAWIE) bzw. seit 2012 die »Wechsler Adult Intelli-
gence Scale – Fourth Edition – deutschsprachige Adaptation«
(WAIS-IV; Petermann 2012). Es gibt diesen Test auch als Version
für Schulkinder, die »Wechsler Intelligence Scale for Children«
(WISC) – im Deutschen »Hamburg-Wechsler-Intelligenztest für
Kinder«, HAWIK bzw. seit 2011 »Wechsler Intelligence Scale for
Children – Fourth Edition« (WISC-IV; Petermann u. Petermann
2011), und als spezielle Version für Vorschulkinder.
Wechsler Adult Intelligence Scale (WAIS) – in Deutschland der am häufigs-
ten verwendete Intelligenztest, zu dem Untertests gehören, die zu einem
Verbalteil und einem Handlungsteil (nonverbal) zusammengefasst sind.

Die neueste Ausgabe des WAIS (2008) besteht aus 15 Untertests,


u. a. den folgenden:
4 Gemeinsamkeiten finden – Durch logisches Denken soll die
. Abb. 11.13 Muster abgleichen. Mosaikpuzzles testen die Fähigkeit,
Gemeinsamkeit zweier Objekte oder Konzepte herausge-
Muster zu analysieren. Wechslers Intelligenztest, der als Einzeltestung
funden werden, wie z. B. »In welcher Hinsicht sind Wolle durchgeführt wird, steht als Erwachsenen- und Kinderversion zur Ver-
und Baumwolle ähnlich?«. fügung. (© Lewis Merrim / Photo Researchers, Inc.)
414 Kapitel 11 · Intelligenz

4 Buchstaben- und Zahlennachsprechen – Nach dem Anhören anstellen zu können, geben die Testentwickler deshalb den Test
einer Reihe von Zahlen und Buchstaben sollen die Zahlen zunächst einer repräsentativen Stichprobe vor. Wenn Sie dann
in aufsteigender Reihenfolge und die Buchstaben in alpha- den Test unter gleichen Umständen und Anweisungen bearbei-
betischer Reihenfolge wiedergegeben werden: »R-2-C- ten, kann Ihr Wert mit den Werten dieser Stichprobe verglichen
1-M-3«. werden, um Ihre Position im Verhältnis zu anderen festzulegen.
Dieser Vorgang der Festlegung von normierten Vergleichswerten
Der Test bietet nicht nur die Möglichkeit zur Feststellung eines anhand einer zuvor getesteten Gruppe wird als Normierung be-
allgemeinen Intelligenzwertes wie der Stanford-Binet-Test, zeichnet.
sondern er liefert zudem auch noch getrennte Werte für verbales
Normierung (»standardization«) – Festlegung sinnvoller Werte durch den
Verständnis, Auffassungsvermögen, Arbeitsgedächtnis und Vergleich mit den Werten einer zuvor getesteten Normierungsstichprobe;
Verarbeitungsgeschwindigkeit. Große Differenzen zwischen die- auch Eichung genannt.
sen Werten können Hinweise auf die kognitiven Stärken oder
Schwächen liefern, auf denen ein Lehrer oder ein Therapeut auf- Die Werte der Gruppenmitglieder verteilen sich typischerweise
bauen kann. Beispielsweise kann ein niedriger Wert für verbales auf ein glockenförmiges Gesamtbild, das die Normalverteilung
Verständnis bei ansonsten hohen Werten in den anderen Unter- darstellt (. Abb. 11.14). Unabhängig davon, was wir messen –
tests auf eine Lese- oder Sprachschwäche hindeuten. Andere Ver- Größe, Gewicht oder geistige Fähigkeiten von Menschen –, bil-
gleiche können Psychologen oder Psychiatern dabei helfen, einen den die Werte häufig diese in etwa symmetrische Verteilung. Bei
Rehabilitationsplan für Schlaganfallpatienten aufzustellen. einem Intelligenztest bezeichnen wir den Mittelpunkt, den
Solche Nutzungsmöglichkeiten sind aber natürlich nur dann Durchschnittswert, als den Wert 100. Je weiter wir uns vom
möglich, wenn man den Testergebnissen vertrauen kann. Durchschnitt in Richtung beider Extreme wegbewegen, desto
weniger Testpersonen finden wir. Sowohl beim Stanford-Binet-
Prüfen Sie Ihr Wissen
als auch beim Wechsler-Test gibt der Wert einer Person an, ob
5 Eine Arbeitgeberin hat für eine einzige verfügbare Stelle ihre Leistung über- oder unterdurchschnittlich ausfällt. Wie
11 . Abb. 11.14 zeigt, erreichen nur 2% aller Testteilnehmer einen
viele Bewerbungen erhalten und will nun als Teil ihres
Auswahlprozesses das Potenzial jedes Bewerbers testen. deutlich höheren Leistungswert als der Durchschnitt (was einem
Sie sollte einen (Leistungs-/Eignungs- Intelligenzquotienten von über 130 entspricht). Ein Testrohwert,
test) verwenden. Wenn die gleiche Arbeitgeberin die der im Gegensatz dazu unter dem Wert liegt, den 98% aller Men-
Effektivität eines neuen On-the-job-Trainingsprogramms schen erreichen, wird mit einem Intelligenzquotienten von 70
testen will, wäre sie gut beraten, einen gleichgesetzt.
(Leistungs-/Eignungstest) zu nutzen. Normalverteilung (»normal curve«) – symmetrische, glockenförmige
Kurve, mit der die Verteilung vieler körperlicher und psychischer Merkmale
beschrieben wird. Die meisten Werte liegen im Bereich unmittelbar links
und rechts des Durchschnitts. Je weiter man sich zu den Extremen hin
bewegt, desto weniger Werte findet man.
11.2.3 Prinzipien des Testaufbaus

Um den Durchschnittswert bei 100 zu halten, werden sowohl der


? 11.10 Was bedeuten die Begriffe Normierung und
Stanford-Binet-Test als auch die Wechsler-Tests in periodischen
Normalverteilung?
Abständen immer wieder neu normiert. Wenn Sie beispielsweise
Um weitestgehend akzeptiert zu werden, müssen psychologische vor einiger Zeit den HAWIE-R in seiner 2. Auflage absolviert
Tests die drei Hauptgütekriterien erfüllen: Sie müssen standardi- haben, so wurde Ihre Leistung mit einer repräsentativen Standar-
siert bzw. objektiv, reliabel und valide sein, wobei gerade beim disierungsstichprobe aus dem Jahre 1991 verglichen und nicht
Testaufbau der Normierung als Nebengütekriterium zusätzlich mit der ersten deutschen Standardisierungsstichprobe, die 1956
eine besondere Bedeutung zukommt. Der Stanford-Binet-Test untersucht worden war. Was würde sich wohl Ihrer Meinung
und die Wechsler-Intelligenztests erfüllen diese Anforderungen. nach ergeben, wenn Sie die Ergebnisse dieser Standardisierungs-
Die Gütekriterien Normierung, Reliabilität und Validität werden stichprobe mit der aus den 50er Jahren verglichen: steigende oder
in folgenden Abschnitten ausführlicher erläutert. fallende Werte? Verblüffenderweise haben sich die Intelligenz-
testwerte verbessert, obwohl die Werte der Eingangsprüfung für
Normierung alle Studienanfänger am College während der 1960er und 1970er
Die Anzahl Ihrer richtig beantworteten Fragen bei einem Intelli- Jahre gefallen sind. Dieses weltweite Phänomen wird zu Ehren
genztest allein sagt uns im Prinzip fast noch nichts. Um Ihre des neuseeländischen Forschers James Flynn (1987, 2009, 2010),
Leistung einschätzen zu können, brauchen wir als Vergleichs- der als Erster die Größe dieser Veränderung berechnet hat,
basis die Leistungen anderer Personen. Um sinnvolle Vergleiche Flynn-Effekt genannt. Wie aus . Abb. 11.15 ersichtlich wird, lag
11.2 · Intelligenzmessung
415 11

. Abb. 11.14 Normalverteilung. Die bei einem Eignungstest erzielten Werte haben die Tendenz, eine glockenförmige Normalverteilung zu bilden.
Bei den Wechsler-Intelligenztests etwa ist der Mittelwert 100

der durchschnittliche IQ in den USA im Jahre 1920 – nach dem Intelligenztests? (Aber die Zunahme setzte bereits vor dem weit
heutigen Standard – bei nur 76! Eine ähnliche Leistungssteige- verbreiteten Einsatz dieser Tests ein und wurde auch bei Vor-
rung wurde in 29 Ländern beobachtet; und dies reichte von Ka- schülern beobachtet.) Oder liegt es an der besseren Ernährung?
nada bis ins ländliche Australien (Ceci u. Kanaya 2010). Obwohl Wie durch die Ernährungserklärung vorhergesagt, sind die
der Anstieg neuerdings in Skandinavien wieder zurückgeht, ist Menschen nicht nur klüger, sondern auch größer geworden.
die historische Zunahme inzwischen weithin als wichtiges Aber obwohl im Großbritannien der Nachkriegszeit die Kinder
Phänomen anerkannt (Lynn 2009; Teasdale u. Owen 2005, 2008). der »Unterschicht« am meisten von der verbesserten Ernährung
Die Ursache des Flynn-Effekts ist bislang nicht bekannt. Liegt profitierten, war die Zunahme der Intelligenzwerte unter den
es vielleicht an der größeren Vertrautheit der Testpersonen mit Kindern der »Oberschicht« höher, merkt Flynn (2009) an. Oder
geht der Flynn-Effekt auf die bessere Schulausbildung oder das
stimulierendere Umfeld zurück, die bessere medizinische Ver-
sorgung der Kinder oder die kleineren Familien, die es den Eltern
ermöglichen, den Kindern und ihren Bedürfnissen mehr Auf-
merksamkeit zu schenken (Sundel et al. 2008)?
Unabhängig davon, welche Kombination von Faktoren das
Ansteigen der Intelligenztestwerte erklärt, widerspricht dieses
Phänomen doch zumindest den Bedenken mancher Vertreter
der Theorie des erbbedingten menschlichen Verhaltens. Sie
hatten vorausgesagt, dass im 20. Jahrhundert durch die höheren
Geburtenzahlen in den sozialen Gruppen mit niedrigen Intelli-
genzwerten das Niveau der menschlichen Intelligenzwerte insge-
samt abfallen würde (Lynn u. Harvey 2008). Bei der Suche nach
einer Erklärung für steigende Testwerte und bei der Berücksich-
. Abb. 11.15 Werden wir klüger? In jedem Land, in dem Untersuchungen
tigung einer globalen Vermischung spekulierte ein Wissen-
durchgeführt wurden, haben sich die bei Intelligenztests erzielten Werte
immer mehr verbessert, wie hier aus der Ergebniskurve von amerika- schaftler sogar über den Einfluss eines genetischen Phänomens,
nischen Wechsler- und Stanford-Binet-Tests zwischen den Jahren 1918 und das mit der »hybriden Vitalität« vergleichbar ist. Dazu kommt es
1989 abzulesen ist. In Großbritannien haben die Testwerte seit 1942 um
in der Landwirtschaft, wenn man durch Rassenkreuzung Mais
27 Punkte zugenommen (aus Hogan 1995). In Deutschland zeigt sich eine
ähnliche Entwicklung. Sehr aktuelle Daten zeigen, dass dieser Trend abge- oder Vieh hervorbringt, die den elterlichen Pflanzen oder Tieren
flacht sein könnte oder sich sogar umdrehen könnte überlegen sind (Mingroni 2004, 2007).
416 Kapitel 11 · Intelligenz

Reliabilität (Zuverlässigkeit) Vorhersagevalidität (auch Kriteriumsvalidität; »predictive validity«) –


Ausmaß, in dem ein Test das Verhalten vorhersagt, das er vorhersagen soll.
? 11.11 Was bedeuten die Begriffe Reliabilität und Validität? Der Erfolg wird durch Berechnung der Korrelation zwischen den Testwerten
und dem kriteriumsrelevanten Verhalten erfasst.
Auch wenn Ihre Testwerte mit den Werten einer Standardisie-
rungsstichprobe verglichen werden, sagt uns das noch nicht viel, Haben allgemeine Eignungstests eine genauso hohe Vorhersage-
wenn der Test keine ausreichende Reliabilität hat – also zuver- validität, wie sie reliabel sind? Kritiker beantworten diese Frage
lässig konsistente Daten liefert. Um die Zuverlässigkeit (= Relia- gern mit einem klaren Nein. Der Vorhersagewert eines Eig-
bilität) eines Tests zu überprüfen, testen die Forscher in einer nungstests ist zwar in den ersten Schuljahren ziemlich hoch,
Stichprobe dieselben Personen noch einmal. Sie können densel- nimmt jedoch später ab. So haben schulische Eignungstestwerte
ben Test verwenden oder den Test in zwei Hälften aufteilen, um einen relativ guten Vorhersagewert für Leistungen bei Kindern
zu sehen, ob die Werte, die bei den geraden Testfragen erzielt von 6 bis 12, bei denen die Korrelation zwischen den Intelligenz-
werden, mit denen der ungeraden übereinstimmen (»Odd-even- werten und der Schulleistung bei etwa +0,6 liegt (Jensen 1980).
Methode«). Wenn die beiden Werte im Großen und Ganzen Intelligenzwerte korrelieren sogar noch höher mit Werten in
übereinstimmen oder korrelieren, gilt der Test als verlässlich. Je Leistungstests: Bei einem Vergleich der Intelligenzwerte von
höher die Korrelation zwischen dem Test und dem Wieder- 70.000 englischen Kindern im Alter von 11 Jahren mit ihren
holungstest (Test-Retest-Reliabilität) oder zwischen den beiden schulischen Leistungen in nationalen Prüfungen im Alter von
Hälften desselben Tests ist (Split-half-Reliabilität), desto höher ist 16 Jahren betrug die Korrelation +0,81 (Deary et al. 2007, 2009).
seine Reliabilität. Die Tests, von denen bisher die Rede war – der Der SAT (»Scholastic Assessment Test«), der in den USA als Ein-
Stanford-Binet-Test und die Wechsler-Tests –, haben jeweils gangsprüfung für alle Studienanfänger am College eingesetzt
Reliabilitäten von etwa +0,9, was sehr hoch ist. Wenn jemand wird, sagt hingegen die Leistung im 1. Studienjahr weniger gut
einen Test zum zweiten Mal macht, liegen die erzielten Ergebnis- voraus. (Die Korrelation, die bei weniger als +0,5 liegt, ist aber
se meist nahe beim ersten Wert. etwas höher, wenn man Studenten, die hohe Werte erreichen und
schwierigere Kurse wählen, berücksichtigt und die Korrelation
11 Reliabilität (auch Zuverlässigkeit; »reliability«) – Ausmaß, in dem ein Test
daran anpasst [Berry u. Sackett 2009; Willingham et al. 1990].)
konsistente Ergebnisse liefert; wird anhand der Übereinstimmung der
Werte aus zwei getrennt durchgeführten Hälften des Tests oder bei wieder- Und wenn wir uns schließlich den GRE (»Graduate Record Exa-
holter Durchführung des Tests ermittelt. mination«) anschauen, der eine ähnliche Eingangsprüfung wie
der SAT für Bewerber an amerikanischen Graduate Schools
Validität (Gültigkeit) (Postgraduiertenabteilungen, an denen man die Master- und die
Eine hohe Reliabilität bzw. Zuverlässigkeit eines Tests ist noch Doktorprüfung ablegen kann) darstellt, liegt die Korrelation mit
keine Garantie für seine Validität oder Gültigkeit, d. h. das Aus- den später erzielten Leistungen nur noch bei bescheidenen, aber
maß, in dem der Test tatsächlich das misst oder vorhersagt, was trotzdem signifikanten +0,4 (Kuncel u. Hezlett 2007).
er messen oder vorhersagen soll. Wenn Sie ein wenig exaktes Woran liegt es, dass der Vorhersagewert der bei Eignungs-
Maßband verwenden, um die Größe von Menschen zu messen, tests erzielten Werte abnimmt, je weiter die Schüler und Studie-
hat Ihre Größenangabe zwar eine hohe Reliabilität (Konsistenz), renden auf der Ausbildungsleiter nach oben klettern? Schauen
aber eine geringe Validität. Für manche Tests reicht es aus, wenn wir uns eine parallele Situation an: Bei allen amerikanischen und
sie Inhaltsvalidität haben; dies bedeutet, dass durch den Test das kanadischen Spielern von American Football besteht normaler-
relevante Verhalten oder Kriterium überprüft wird. Die prakti- weise eine Korrelation zwischen Körpergewicht und Erfolg. Ein
sche Fahrprüfung für den Führerscheinerwerb besitzt Inhaltsva- Spieler, der 140 kg wiegt, kann einen 90 kg schweren Gegner
lidität, weil sie aus verschiedenen Stichproben von Aufgaben leicht umrennen. Doch im engen Bereich zwischen 120 und
besteht, die der Fahrer routinemäßig meistern muss. Auch Prü- 140 kg, der bei professionellen Football-Spielern die Regel ist,
fungen am Ende eines Kurses haben Inhaltsvalidität, wenn mit wird die Korrelation zwischen Gewicht und Erfolg so gering,
ihnen bewertet wird, wie viel Wissen man über eine repräsenta- dass man sie vernachlässigen kann (. Abb. 11.16). Je enger die
tive Stichprobe des Kursmaterials hat. Aber von Intelligenztests Bandbreite des Gewichts, desto niedriger wird auch der Vorher-
erwarten wir, dass sie Vorhersagevalidität haben: Sie sollen das sagewert des Körpergewichts. Wenn eine Eliteuniversität nur
Kriterium künftiger Leistung vorhersagen und zu einem gewis- Studierende zulässt, die sehr hohe Eignungstestwerte aufweisen,
sen Grad tun sie das auch. haben diese Werte keinen großen Vorhersagewert. Das gilt auch
dann noch, wenn der Test mit einer breiter gestreuten Gruppe
Validität oder Gültigkeit (»validity«) – Ausmaß, in dem ein Test das misst
von Studierenden eine ausgezeichnete Vorhersagevalidität be-
oder vorhersagt, was er messen oder vorhersagen soll (s. auch Inhaltsvalidi-
tät und Vorhersagevalidität). sitzt. Wenn wir also einen Test mit einer breit gestreuten Gruppe
Inhaltsvalidität (»content validity«) – Ausmaß, in dem ein Test das zu tes- von unterschiedlichen Menschen validieren, ihn dann aber auf
tende Verhalten tatsächlich stichprobenartig erfasst. eine eng begrenzte Gruppe anwenden, verliert er viel von seiner
6 Vorhersagevalidität.
11.3 · Die Dynamik der Intelligenz
417 11
Alter und Intelligenz
Was wird im Alter aus unseren allgemeinen intellektuellen »Mus-
keln«? Nehmen sie genauso allmählich ab wie unsere körperliche
Verfassung (auch wenn die relative intellektuelle und physische
Verfassung im fortgeschrittenen Alter aus der Kindheit vorher-
gesagt werden kann)? Oder bleiben sie erhalten? Die Suche nach
Antworten auf diese Fragen veranschaulicht einen sich selbst
korrigierenden Prozess in der Psychologie. Die Forschung dazu
hat sich in mehreren Phasen entwickelt.

jPhase I: Nachweis für die Abnahme der intellektuellen


Fähigkeiten in Querschnittstudien
In Querschnittstudien testen Wissenschaftler Menschen ver-
schiedener Altersstufen zu einem Zeitpunkt und vergleichen die
Ergebnisse. In solchen Studien haben Forscher stets herausge-
funden, dass ältere Erwachsene eine geringere Anzahl richtiger
Antworten in Intelligenztests geben als jüngere Erwachsene. Da-
vid Wechsler (1972), der den am häufigsten verwendeten Intelli-
genztest für Erwachsene entwickelt hatte, kam zu der Schlussfol-
gerung, dass »die Abnahme der geistigen Fähigkeiten im Alter
Teil des generellen Alterungsprozesses des gesamten Organismus
. Abb. 11.16 Abnehmende Vorhersagekraft. Stellen wir uns eine Kor-
ist«. Lange blieb dieser recht trübselige Befund vom geistigen
relation zwischen dem Körpergewicht von American-Football-Spielern und
ihrem Erfolg auf dem Spielfeld vor. Achten Sie darauf, wie unbedeutend Abbau unangefochten. Viele Unternehmen schufen eigens Vor-
diese Beziehung wird, wenn viele Spieler im selben eng begrenzten Bereich schriften, um Arbeitnehmer in den Ruhestand schicken zu kön-
zwischen 120 und 140 kg liegen. Je mehr sich die Bandbreite der beobach- nen. Sie gingen von der Annahme aus, dass die Firmen von der
teten Daten einschränkt, desto stärker nimmt der Vorhersagewert dieser
Daten ab
Auswechslung älterer Arbeitnehmer durch jüngere und mut-
maßlich fähigere Angestellte profitieren würden. Schließlich ist
es doch eine Binsenweisheit, dass man einem alten Hund keine
Prüfen Sie Ihr Wissen
neuen Kunststücke beibringen kann.
5 Was sind die drei Gütekriterien, die ein psychologischer
jPhase II: Nachweis für gleichbleibende intellektuelle
Test erfüllen muss, um weitestgehend akzeptiert zu
Fähigkeiten in Längsschnittstudien
werden? Erklären Sie Ihre Antwort.
1920 begannen die Hochschulen in den USA, ihre neuen Studen-
ten einem Intelligenztest zu unterziehen, was einigen Psycholo-
gen die Möglichkeit eröffnete, Intelligenz längsschnittlich zu un-
11.3 Die Dynamik der Intelligenz tersuchen. Sie testeten die gleiche Kohorte – die gleiche Gruppe
von Menschen – über einige Jahre hinweg immer wieder (Schaie
Wir sind heute in der Lage, einige Jahrhunderte alte Fragen über u. Geiwitz 1982). Was sie herausfanden, war eine Überraschung:
die Dynamik der menschlichen Intelligenz – über die Stabilität Bis spät im Leben blieb die Intelligenz gleich (. Abb. 11.17). Bei
der Intelligenz im Laufe eines Lebens und über Extremfälle der manchen Tests nahm sie sogar noch zu.
Intelligenz – anzugehen.
Kohorte (»cohort«) – Population, deren Mitglieder im selben Zeitraum
geboren wurden.

11.3.1 Stabilität oder Veränderung? Was ist also von den Ergebnissen der Querschnittuntersuchun-
gen zu halten? Nachträglich haben die Forscher das Problem
erkannt. Eine Querschnittstudie vergleicht 70-Jährige mit
? 11.12 Wie stabil sind Intelligenztestwerte über die Lebens-
30-Jährigen, damit vergleicht sie nicht nur zwei verschiedene
spanne hinweg?
Altersstufen, sondern zwei Generationen. Hier werden
Bleiben die Intelligenzwerte von Menschen gleich, wenn man sie Menschen, die generell weniger gebildet und ausgebildet sind
im Laufe ihres Lebens immer wieder einen Test absolvieren lässt? (etwa um 1900 geboren) mit Menschen verglichen, die nach 1950
Beschäftigen wir uns zuerst mit der Stabilität geistiger Fähigkei- geboren wurden und eine bessere Ausbildung erhielten.
ten im vorgerückten Alter. Menschen aus größeren Familien werden solchen aus kleineren
418 Kapitel 11 · Intelligenz

nahmen, dann zeigt sich ein steilerer Intelligenzabfall. Das gilt


besonders für Menschen über 85 (Brayne et al. 1999).
Weitere Schwierigkeiten für die Forschung ergeben sich aus
der Tatsache, dass Intelligenz kein isoliertes Merkmal ist, son-
dern mehrere verschiedene Fähigkeiten widerspiegelt. Intelli-
genztests, die das Denktempo erfassen, mögen sich für ältere
Teilnehmer als nachteilig erweisen, weil im Alter die neuronalen
Mechanismen der Informationsverarbeitung langsamer ab-
laufen. Trifft man alte Freunde auf der Straße, fallen einem die
Namen vielleicht nur allmählich ein. »Sie kommen hoch wie
Luftblasen in Sirup«, sagt Lykken (1999). Doch langsamer
denken heißt nicht unbedingt, weniger intelligent sein. In vier
Untersuchungen, in denen die Teilnehmer 15 Minuten Zeit hat-
ten, um Kreuzworträtsel der New York Times zu lösen, zeigten
Erwachsene zwischen 50 und 70 die höchsten durchschnittlichen
Leistungen (Salthouse 2004). Ergebnisse aus »Weisheitstests«,
mit denen »Expertenwissen über das Leben im Allgemeinen und
die Urteilsfähigkeit« erfasst werden, sowie die Fähigkeit, »andere
dabei zu beraten, wie man sich in komplexen und schwierigen
Lebenssituationen am besten verhalten sollte«, zeigen, dass die
älteren Testpersonen bei solchen Fragen mehr als gut abschnei-
. Abb. 11.17 Querschnitt- versus Längsschnittstudien zur Intelligenz in den (Baltes et al. 1993, 1994, 1999).
verschiedenen Lebensaltern. Hier wurde ein Bereich der verbalen Intelligenz
11 (induktives Schlussfolgern) getestet. Die Querschnittmethode erbrachte
Genau wie ältere Erwachsene verarbeiten auch ältere Gorillas
Werte, die mit dem Alter abnahmen. Die Längsschnittmethode (bei der diesel- Informationen langsamer (Anderson et al. 2005).
ben Menschen über Jahre hinweg immer wieder getestet werden) erbrachte
einen leichten Anstieg der Werte im Erwachsenenalter. (Nach Schaie 1994)
» Wissen bedeutet, dass man weiß, dass eine Tomate eine
Frucht ist; Weisheit bedeutet, dass man sie nicht in einen
Obstsalat tut.
Familien, Teilnehmer aus weniger gut situierten werden Teil-
Anonym
nehmern aus wohlhabenden Familien gegenübergestellt.
Diese optimistischere Sichtweise ließ den Mythos von Die Antworten auf unsere Alter-und-Intelligenz-Fragen hängen
dem abrupten Nachlassen der Intelligenz obsolet werden. Mit also davon ab, was wir bewerten und wie wir es bewerten. Die
70 Jahren entwickelte John Rock die Antibabypille. Im Alter von kristalline Intelligenz, das gesammelte Wissen eines Menschen,
81 Jahren – und 17 Jahre nach dem Ende seiner Karriere als das sich in Tests niederschlägt, die den Wortschatz und das Bil-
College Football-Trainer – wurde Amos Alonzo Stagg zum den von Analogien erfassen, nimmt im Alter zu. Die fluide Intel-
Trainer des Jahres ernannt. Und Frank Lloyd Wright entwarf das ligenz, das rasche und abstrakte Denken beim Lösen unbekann-
Guggenheim-Museum in New York, als er 89 war. Jeder »weiß«, ter logischer Aufgaben, beginnt zwischen dem 20. und 30. Le-
dass, wer bei guter Gesundheit ist, zum Lernen nie zu alt ist. bensjahr abzunehmen, erst allmählich bis etwa zum 75. Lebens-
jahr, dann immer schneller, vor allem nach dem 85. Lebensjahr
jPhase III: Es kommt immer drauf an (Cattell 1963; Horn 1982; Salthouse 2009). Mit dem Alter verlie-
Nachdem die beiden unterschiedlichen, ja gegensätzlichen ren wir etwas und gewinnen etwas hinzu. Wir verlieren in Bezug
Fakten über Alter und Intelligenz bekannt geworden waren, war auf den Abruf aus dem Gedächtnis und in Bezug auf die Verar-
klar, dass etwas daran eindeutig falsch sein muss. Es hat sich beitungsgeschwindigkeit, aber wir gewinnen an Wortschatz und
herausgestellt, dass auch Längsschnittstudien ihre Tücken haben. an Wissen hinzu (. Abb. 11.18). Unsere Entscheidungen werden
Die Teilnehmer, die bis zum Abschluss der Längsschnittstudien zudem weniger durch negative Emotionen wie Angst, Depressi-
am Leben bleiben, sind wahrscheinlich kluge, gesunde Men- on und Ärger verzerrt (Blanchard-Fields 2007; Carstensen u.
schen, bei denen die Wahrscheinlichkeit, dass die Intelligenz Mikels 2005). Und trotz der geringeren fluiden Intelligenz zeigen
nachlässt, nur sehr gering ist. (Vielleicht wäre es bei denen, die in ältere Erwachsene eine Zunahme in den Fähigkeiten des sozialen
jüngeren Jahren starben und aus der Studie herausfielen, zum Schlussfolgerns, z. B. durch die Einnahme multipler Perspektiven
Nachlassen der Intelligenz gekommen.) Wird dieser Verlust und das Einschätzen von Wissensgrenzen, und können dadurch
an Teilnehmern ausgeglichen, wie z. B. bei einer Studie in hilfreiche Weisheiten in Zeiten sozialer Konflikte beisteuern
Cambridge (England), an der über 2000 Menschen über 75 teil- (Grossman et al. 2010).
11.3 · Die Dynamik der Intelligenz
419 11

. Abb. 11.18 Höhepunkte und Tiefpunkte des Alterns. Daten aus den Studien von Timothy Salthouse (2010b) decken auf, dass unser Wortschatz mit
dem Alter zunimmt, während die Dimensionen fluider Intelligenz abnehmen

Kristalline Intelligenz (»crystallized intelligence«) – gesammeltes Wissen Prüfen Sie Ihr Wissen
und Ausdrucksfähigkeit eines Menschen. Diese Form der Intelligenz steigt
im Alter tendenziell an. 5 Forscher A will fundierte Ergebnisse zur Frage erhalten,
Fluide Intelligenz (»fluid intelligence«) – Fähigkeit eines Menschen, wie sich die Intelligenz über die Lebensspanne ver-
schnell und abstrakt zu denken. Diese Fähigkeit nimmt tendenziell im
ändert. Forscher B möchte die Intelligenz von Menschen
späten Erwachsenenalter ab.
untersuchen, die sich gerade in verschiedenen Lebens-
Diese kognitiven Unterschiede helfen bei der Erklärung, warum abschnitten befinden. Welcher Forscher sollte die quer-
ältere Erwachsene weniger bereit sind, neue Technologien anzu- schnittliche Methode und welcher die längsschnittliche
nehmen (Charness u. Boot 2009). Im Jahr 2010 hatten nur 31% Methode anwenden?
der Amerikaner über 65 Jahre einen Breitband-Internetzugang 5 Nutzen Sie die Konzepte der kristallinen und fluiden
zu Hause, während es bei den Erwachsenen unter 30 Jahren 80% Intelligenz, um zu erklären, warum Schriftsteller ihre
waren (Pew 2010). Die altersbezogenen kognitiven Unterschiede kreativste Arbeit im fortgeschrittenen Alter produzieren
können auch einige merkwürdige Befunde bezüglich der Kreati- und Naturwissenschaftler ihren Höhepunkt viel früher
vität erklären. Mathematiker und Naturwissenschaftler haben erreichen können.
ihre kreativste Phase Ende 20 und Anfang 30. In Literatur, Ge-
schichte und Philosophie geht die Tendenz eher dahin, dass die
besten Arbeiten aus der Zeit zwischen 40 und 50 Jahren stammen Stabilität über die Lebensspanne
oder noch später entstehen, wenn noch mehr Wissen angesam- Wie aber steht es mit der Stabilität von Intelligenzwerten in
melt wurde (Simonton 1988, 1990). Dichter beispielsweise, die jungen Jahren? Außer bei extrem beeinträchtigten und bei sehr
sich auf ihre fluide Intelligenz verlassen, erreichen den Höhe- frühreifen Kindern lassen sich die künftigen Fähigkeiten eines
punkt ihrer Schaffensperiode früher als Prosaschriftsteller, die Kindes anhand von Beobachtungen und Intelligenztests vor dem
einen größeren Vorrat an Wissen brauchen. Dieser Unterschied Alter von 3 Jahren nur schlecht vorhersagen (Humphreys u.
lässt sich in jeder großen literarischen Tradition nachweisen und Davey 1988; Tasbihsazan et al. 2003). Beispielsweise ist es nicht
gilt in gleichem Maße für lebende wie für tote Sprachen. besonders wahrscheinlich, dass Kinder, die früh sprechen (z. B.
mit 20 Monaten schon ganze Sätze wie normalerweise 3-Jährige),
» In der Jugend lernen wir, im Alter verstehen wir.
im Alter von 4½ Jahren schon lesen (Crain-Thoreson u. Dale
Marie von Ebner-Eschenbach, Aphorismen, 1883
1992). (Ein besserer Prädiktor für frühes Lesen ist die Tatsache,
dass die Eltern dem Kind viele Geschichten vorgelesen haben.)
Sogar Albert Einstein brauchte lange, um sprechen zu lernen
(Quasha 1980).
420 Kapitel 11 · Intelligenz

. Abb. 11.19 Intelligenz ist etwas Dauerhaftes. Als Deary et al. (2004) 80-jährigen Schotten einen Intelligenztest vorlegten, den sie bereits als 11-Jährige
einmal absolviert hatten, korrelierten ihre Testwerte über 7 Jahrzehnte hinweg mit +0,66. (Als 207 Überlebende noch einmal im Alter von 87 Jahren
getestet wurden, betrug die Korrelation mit ihrem Testwert im Alter von 11 Jahren +0,51 [Gow et al. 2011].)

» Meine liebe Adele, ich bin 4 Jahre alt und kann jedes Ironischerweise korrelieren die Testwerte im SAT und im GRE
englische Buch lesen. Ich kann alle lateinischen Substantive, besser untereinander als mit ihrem intendierten Kriterium, der
11 Adjektive und Aktivverben sagen und außerdem 52 Zeilen Schulleistung. Somit übersteigt ihre Reliabilität ihre Vorher-
lateinischer Dichtkunst. sagevalidität bei weitem. Wenn einer der beiden Tests in hohem
Francis Galton, Brief an seine Schwester, 1827 Ausmaß von Faktoren wie Training, Glück oder Stimmung am
Untersuchungstag beeinflusst würde (wie viele Menschen
Ab dem Alter von 4 Jahren fängt die Leistung von Kindern bei denken), wären solche Reliabilitäten unmöglich.
Intelligenztests allerdings bereits an, erste Anhaltspunkte auf ihre
Leistungswerte als Jugendliche und Erwachsene zu liefern. Die Deary et al. (2004, 2009) haben kürzlich einen Rekord für Lang-
Konsistenz der Testwerte über einen längeren Zeitraum nimmt zeit-Follow-up-Studien aufgestellt. Ihre außergewöhnlichen
mit dem Alter des Kindes zu. Die bemerkenswerte Beständigkeit Langzeitstudien wurden durch ihr Heimatland, Schottland, er-
dieser Testwerte in Eignungstests im späten Jugendalter zeigt sich möglicht, das etwas gemacht hat, was keine andere Nation vorher
in einer Studie des amerikanischen Educational Testing Service oder seitdem gemacht hat. Am 1. Juni 1932 durchlief fast jedes
an 23.000 Studierenden, die zunächst den SAT (»Scholastic As- Kind im Land, das 1921 geboren wurde – also 87.498 Kinder im
sessment Test«, in den USA Eingangsprüfung für das College) Alter von ca. 11 Jahren – einen Intelligenztest. Das Ziel dabei war,
und später den GRE (»Graduate Record Exammatiance«, in den Kinder der Arbeiterschicht zu identifizieren, die von weiterge-
USA Eingangsprüfung für Graduate Schools, an denen man ei- hender Bildung profitieren würden. 65 Jahre später fand Patricia
nen Master-Studiengang belegen kann) durchführen mussten Whalley, die Ehefrau von Ian Dearys Kollegen Lawrence Whal-
(Angoff 1988). In beiden Tests korrelierten die verbalen Testwer- ley, die Testergebnisse auf staubigen Regalen eines Abstellraums
te nur leicht mit den Mathematiktestwerten; dies zeigt, dass die- des »Scottish Council for Research and Education« nahe der Uni-
se beiden Begabungen deutlich voneinander unterschieden sind. versität von Edinburgh, wo auch Deary sein Büro hat. »Das wird
Aber die SAT-Werte für den verbalen Testteil korrelierten zu unser Leben verändern«, antwortete Deary, als Whalley ihm die
+0,86 mit den verbalen Testteilen des GRE, der 4 oder 5 Jahre Neuigkeiten erzählte.
später durchgeführt worden war. Eine ebenso erstaunlich hohe Dutzende Studien zur Stabilität und der Vorhersagekraft dieser
Korrelation von +0,86 gab es für die beiden Mathematiktests. frühen Testergebnisse haben genau das getan. Beispielsweise wur-
Wenn man den zeitlichen Abstand der Messungen und die un- de der Intelligenztest, den die 11 Jahre alten Schotten 1932 durch-
terschiedlichen Bildungserfahrungen dieser 23.000 Studieren- führen mussten, 542 Anfang des 21. Jahrhunderts noch lebenden
den berücksichtigt, ist die Stabilität ihrer Werte in den Eignungs- nahezu 80-Jährigen erneut vorgelegt. Die Korrelation zwischen
tests bemerkenswert. den beiden Gruppen von Werten – immerhin nach fast 70 Jahren
recht unterschiedlicher Lebenserfahrungen – war beeindruckend
(. Abb. 11.19). Eine spätere Studie, die 1936 geborene Schotten
11.3 · Die Dynamik der Intelligenz
421 11
4 Ein »gut verkabelter Körper«, der sich in schnellen
Reaktionszeiten zeigt, könnte Intelligenz und Langlebigkeit
unterstützen.

11.3.2 Intelligenzextreme

? 11.13 Welche Eigenschaften haben Menschen, die sich


im unteren bzw. oberen Extrembereich der Intelligenz
befinden?

Um einen Eindruck von der Validität und Bedeutung eines Tests


zu bekommen, können die Werte von Menschen verglichen wer-
. Abb. 11.20 Clever leben. Frauen, die im schottischen nationalen Intelli- den, die in den beiden Extrembereichen der Normalverteilung
genztest im Alter von 11 Jahren zu den besten 25% gehörten, lebten mit
zu finden sind. Zwischen diesen beiden Gruppen müsste es einen
höherer Wahrscheinlichkeit länger als die, die zu den schlechtesten 25%
gehörten. (Nach Whalley u. Deary 2001) deutlichen Unterschied geben. Und das ist auch der Fall.

Das untere Extrem


vom 11. bis zum 70. Lebensjahr begleitete, bestätigte die bemer- Am einen Ende der Normalverteilung befinden sich Menschen
kenswerte Stabilität der Intelligenz, die unabhängig von Lebens- mit ungewöhnlich niedrigen Intelligenztestwerten. Um die
umständen zu sein scheint (Johnson et al. 2010). Diagnose einer geistigen Behinderung zu erhalten (früher als
Die 11-Jährigen mit hohen Werten waren auch mit 77 Jahren mentale Retardierung bezeichnet), muss eine Person sowohl
tendenziell noch eher in der Lage, unabhängig zu leben und sich einen niedrigen Testwert als auch Schwierigkeiten haben, im
selbst zu versorgen und hatten mit geringerer Wahrscheinlich- normalen Alltag ein selbstständiges Leben zu führen. Die Richt-
keit eine Altersdemenz vom Alzheimer-Typ (Starr et al. 2000; linien der »American Association on Intellectual and Develop-
Whalley et al. 2000). Von den Mädchen, die zu den besten 25% mental Disabilities« (Schalock et al. 2010) definieren dies als eine
gehörten, waren 70% mit 76 Jahren noch am Leben, wohingegen Leistung, die ca. 2 Standardabweichungen unter dem Durch-
nur 45% derer noch lebten, deren Testwerte zu den unteren 25% schnitt liegt. Bei einem Intelligenztest mit einem Mittelwert von
gehörten (. Abb. 11.20). (Der Zweite Weltkrieg beendete früh- 100 und einer Standardabweichung von 15, bedeutet das (wenn
zeitig das Leben vieler männlicher Testpersonen.) Follow-up- man die Varianz der Testwerte berücksichtigt) einen IQ von un-
Studien mit anderen großen Stichproben bestätigen das Phäno- gefähr 70 oder niedriger. Das zweite Kriterium einer vergleich-
men: Intelligentere Kinder und Erwachsene leben gesünder und baren Einschränkung des Anpassungsverhaltens zeigt sich in den
länger (Deary et al. 2008, 2010; Der et al. 2009; Weiss et al. 2009). Bereichen der:
Eine weitere Studie mit 93 Nonnen bestätigte, dass diejenigen, 4 konzeptionellen Fähigkeiten, wie Sprache, Lese- und
die weniger sprachliche Begabung bei Aufsätzen an den Tag ge- Schreibfähigkeit sowie den Konzepten Geld, Zeit und
legt hatten, als sie dem Orden als Jugendliche beitraten, später Zahlen;
bzw. im Alter von über 75 Jahren, ein höheres Risiko für eine 4 sozialen Fähigkeiten, wie zwischenmenschlichen Fähig-
Alzheimer-Erkrankung hatten (Snowdon et al. 1996). keiten, sozialer Verantwortung sowie der Fähigkeit, grund-
legende Regeln und Gesetze zu befolgen und sich nicht in
» Ob Sie im Alter von Ihrer Rente profitieren, hängt teilweise
eine Opferrolle drängen zu lassen, und
von Ihrem IQ im Alter von 11 Jahren ab.
4 praktischen Fähigkeiten, wie tägliche Körperpflege,
Ian Deary, Intelligence, Health and Death, 2005
berufliche Fähigkeiten sowie dem Umgang mit Reise- und
Halten Sie einen Moment inne: Haben Sie irgendwelche Ideen, Gesundheitsangelegenheiten.
warum intelligentere Personen eher länger leben? Deary (2008)
Geistige Behinderung (»intellectual disability«) – ein Zustand einge-
berichtet vier mögliche Erklärungen: schränkter geistiger Fähigkeiten, gekennzeichnet durch einen IQ von unter
4 Intelligenz ermöglicht eine bessere Ausbildung, bessere Jobs 70 und Schwierigkeiten, den Anforderungen des normalen Alltagslebens
und eine gesündere Umgebung. gerecht zu werden; variiert von leicht bis schwer (früher als mentale
Retardierung bezeichnet).
4 Intelligenz fördert eine gesunde Lebensweise: weniger
Rauchen, bessere Ernährung, mehr Sport.
4 Pränatale Ereignisse oder frühe Kindheitserkrankungen Die geistige Behinderung ist ein Entwicklungszustand, der sich
können sowohl die Intelligenz als auch die Gesundheit vor dem 18. Lebensjahr manifestiert und manchmal bekannte
beeinflusst haben. körperliche Ursachen hat. Das Down-Syndrom ist beispielsweise
422 Kapitel 11 · Intelligenz

Anschlag zu, bei dem zwei Männer ihren Ehemann und Stiefsohn
töteten, um sich danach die Auszahlung der Lebensversicherung
zu teilen (Eckholm 2010). Wenn sie doch nur einen Wert von 69
gehabt hätte.

Prüfen Sie Ihr Wissen

5 Warum diagnostizieren Psychologen eine geistige


Behinderung nicht nur basierend auf IQ-Werten?

Das obere Extrem


In einem berühmten Projekt, das Lewis Terman 1921 begann,
wurden mehr als 1500 kalifornische Schulkinder mit einem IQ
über 135 von ihm untersucht. Im Gegensatz zur landläufigen
. Abb. 11.21 Integration in Chile. Die meisten chilenischen Kinder mit
Meinung, dass geistig hochbegabte Kinder häufig sozial nicht
Down-Syndrom besuchen separate Schulen für Kinder mit besonderen
Bedürfnissen. Dieser Junge jedoch ist Schüler an der Altamira Schule, in angepasst seien, waren die von Terman untersuchten Kinder mit
der Kinder mit unterschiedlichen Fähigkeiten dieselbe Klasse besuchen. hohen Werten – ebenso wie die in späteren Studien untersuchten
(© Reuters / Claudia Daut) – in der Regel gesund, gut angepasst und in der Schule un-
gewöhnlich erfolgreich (Koenen et al. 2009; Lubinski 2009a;
eine Krankheit unterschiedlichen Ausmaßes, die durch ein zu- Stanley 1997). Als sie im Laufe der darauffolgenden 70 Jahre
sätzliches Chromosom 21 in der Erbanlage der Person verursacht noch einmal getestet wurden, hatten die meisten Personen in
wird. Termans Gruppe (die »Termites«) ein hohes Ausbildungsniveau
11 erreicht (Austin et al. 2002; Holahan u. Sears 1995). In ihr be-
Down-Syndrom (auch Trisomie 21; »Down syndrome«) – Zustand einer
leichten bis schweren geistigen Behinderung und einer Reihe damit fanden sich viele Ärzte, Rechtsanwälte, Professoren, Wissen-
zusammenhängender körperlicher Merkmale, die durch ein zusätzliches schaftler und Schriftsteller, aber keine Nobelpreisträger.
Chromosom 21 verursacht werden.
Terman testete zwei spätere Nobelpreisträger in Physik, aber
ihre Werte lagen nicht über dem Cut-Off seiner Hochbegabten-
Lassen Sie uns eine Ursache dafür betrachten, dass es Menschen
Stichprobe (Hulbert 2005).
mit der Diagnose einer leichten geistigen Behinderung heute
eher als vor vielen Jahrzehnten ermöglicht wird, als unabhängige Eine neuere Studie mit frühreifen Jugendlichen zeigt, dass
Menschen zu leben und nicht mehr in isolierten Einrichtungen diejenigen, die beim Mathetest des SAT im Alter von 13 Jahren
untergebracht zu werden (. Abb. 11.21). Sie sollten dabei be- hervorragend abschnitten – ihre Werte lagen im oberen Viertel
denken, dass die Tests wegen des Flynn-Effekts in regelmäßigen der besten 1% ihrer Altersgruppe –, im Alter von 33 Jahren mit
Abständen immer wieder neu normiert worden sind. Wenn man doppelt so hoher Wahrscheinlichkeit Patente vorweisen konnten
das macht, verlieren die Personen, deren IQ bei früheren Tests als diejenigen, deren Werte im unteren Viertel der besten 1%
bei 70 lag, etwa 6 IQ-Punkte. Zwei Menschen mit demselben lagen (Wai et al. 2005). Verglichen mit den Matheassen waren die
Fähigkeitsniveau könnten jetzt, je nachdem, wann sie getestet 13-jährigen mit hohen Werten für verbale Fähigkeiten eher
wurden, unterschiedlich klassifiziert werden (Kanaya et al. 2003, Professoren der Geisteswissenschaften geworden oder hatten
Reynolds et al. 2010). Angesichts der neuen Normen wird mehr einen Roman geschrieben (Park et al. 2007). Ungefähr 1% der
Menschen eine sonderpädagogische Betreuung und eine US-Amerikaner erhält einen Doktortitel. Aber unter denen, die
Rentenleistung wegen einer Intelligenzminderung ermöglicht; – im gerade mal zweistündigen SAT-Test im Alter von 12 oder
und in den Vereinigten Staaten (einem der wenigen Länder mit 13 Jahren – zu den absolut Besten gehörten, waren es mehr als die
Todesstrafe) droht weniger Menschen die Exekution. (Das Hälfte (Lubinski 2009b).
Oberste Gericht der USA hat 2002 verfügt, dass die Exekution Diese »Wunderkinder« erinnern mich an Jean Piaget, der
von Menschen mit einer geistigen Behinderung »eine grausame mit 15 begann, wissenschaftliche Artikel über Mollusken zu
und nicht übliche Bestrafung« darstellt.) Für Personen mit einem schreiben, und später dann zu einem der berühmtesten Ent-
IQ von etwa 70 kann bei einem Intelligenztest viel auf dem Spiel wicklungspsychologen des Jahrhunderts wurde (Hunt 1993).
stehen. So war es auch für Teresa Lewis, eine »abhängige Per- Kinder mit außerordentlichen schulischen Begabungen sind
sönlichkeit« mit eingeschränkten geistigen Fähigkeiten, die manchmal isolierter, introvertierter und leben in ihrer eigenen
vom Staat Virginia im Jahre 2010 exekutiert wurde. Lewis, deren Welt (Winner 2000). Die meisten scheinen sich jedoch prächtig
IQ-Wert Berichten zufolge 72 betrug, stimmte angeblich einem zu entwickeln und erfolgreich zu sein.
11.3 · Die Dynamik der Intelligenz
423 11

. Abb. 11.22 Extreme der Intelligenz. Der 10-jährige Moshe Kai Cavallin, der einmal Astrophysiker werden will, hatte im 2. Studienjahr am East Los
Angeles College einen Durchschnitt von 1+ als er in diese Statistikklasse aufgenommen wurde. (© AP Photo / Damian Dovarganes)

» Mitglied bei ›Mensa International‹ zu werden, bedeutet, dass Kinder differenzierter eingegangen. Dabei wird Hochbega-
du ein Genie bist. ... Ich fand den beliebig festgelegten bung definiert als Disposition für herausragende Leistungen.
Grenzwert eines IQ von 132 für den Beitritt immer etwas Wichtig ist, zu beachten, dass die Grenzen zwischen über-
problematisch. Bis ich eines Tages jemanden mit einem IQ durchschnittlicher Begabung, Hoch- und Höchstbegabung will-
von 131 traf und der war, ehrlich gesagt, etwas langsam von kürliche, von Experten festgesetzte Größen sind. Was häufig
Begriff. vergessen wird, ist jedoch, dass sich Hochbegabung auch nur
Komiker Steve Martin, 1997 dann entwickeln kann, wenn das hochbegabte Kind von seiner
Umwelt unterstützt wird und auch selbst beispielsweise über
Es gibt Kritiker, die viele der Annahmen der gegenwärtig belieb- ausreichend Leistungsmotivation und Stressbewältigungskom-
ten Programme für das »begabte Kind« in Frage stellen, wie etwa petenz verfügt, um seine Fähigkeiten sinnvoll einsetzen zu
die Überzeugung, dass nur 3–5% der Kinder hochbegabt sind können (Heller 2000; Rost 2000). Gleichgültig, ob man nun
und dass es sich auszahlt, diese wenigen herauszufinden – sie in Kritiker oder Befürworter der Hochbegabtenförderung ist, für
speziellen Klassen zusammenzufassen und ihnen eine besondere das gesamte Intelligenzspektrum gilt: Kinder haben unterschied-
schulische Förderung zukommen zu lassen, die für ihre Freunde liche Begabungen. Manche sind besonders gut in Mathematik,
nicht zur Verfügung steht. Kritiker merken an, dass es eventuell andere im sprachlichen Ausdruck, wieder andere in Kunst und
zu einer sich selbst erfüllenden Prophezeiung führt, wenn man wieder andere in sozialen Führungsrollen. Wird bei der Schul-
Schülerinnen und Schüler nach der Begabung in Gruppen auf- bildung der Kinder unterstellt, alle seien gleich, so ist das genau-
teilt: Diejenigen, die man implizit als »nicht begabt« etikettiert, so naiv wie die Annahme, Begabung sei etwas, was man wie blaue
können dadurch dem Einfluss erliegen, tatsächlich so zu werden Augen entweder hat oder nicht. Man muss den Kindern keine
(Lipsey u. Wilson 1993; Slavin u. Braddock 1993). Wenn man Schilder umhängen, um ihre besonderen Talente zu bestätigen
Schülerinnen und Schülern mit geringeren Fähigkeiten die und um sie alle bis an die Grenzen ihrer eigenen Fähigkeiten
Möglichkeiten für eine reichhaltigere Bildung verwehrt, so kann und ihres Verstehens herauszufordern. Wenn man ihnen einen
sich der Leistungsunterschied zwischen den Fähigkeitsgruppen geeigneten Entwicklungsspielraum gewährt, der ihren Fähigkeiten
vergrößern und ihre soziale Isolierung von der anderen Gruppe und Kenntnissen entspricht, wird man allen gerecht und es lässt
verstärken (Carnegie 1989; Stevenson u. Lee 1990). Weil Jugend- sich für alle ein hohes Leistungsniveau entsprechend der Be-
liche aus Minderheiten und aus unteren sozioökonomischen gabung jedes einzelnen Kindes erreichen (Colangelo et al. 2004;
Schichten häufiger in Gruppen mit geringerer Leistung kommen, Lubinski u. Benbow 2000; Sternberg u. Grigorenko 2000,
kann die Leistungsdifferenzierung auch Absonderung und Vor- . Abb. 11.22).
urteile fördern – das ist, so merken die Kritiker an, kaum eine
vernünftige Vorbereitung auf die Arbeit und das Leben in einer
multikulturellen Gesellschaft.
In Deutschland wird durch spezielle »Hochbegabtenförder-
programme« auf die besonderen Bedürfnisse hochbegabter
424 Kapitel 11 · Intelligenz

11.4 Genetische und umweltbedingte Einflüsse


auf die Intelligenz

? 11.14 Welche Befunde sprechen für die genetische Be-


dingtheit der individuellen Intelligenz und was versteht
man unter Erblichkeit?

Intelligenz hat etwas mit der Familie zu tun. Aber woran liegt das?
Sind unsere geistigen Fähigkeiten größtenteils Vererbungssache
(. Abb. 11.23) oder werden sie von unserer Umwelt geformt?
Nur wenige Themen wurden so leidenschaftlich diskutiert
und sind mit so weitreichenden politischen Folgen verbunden.
Machen wir uns einmal Folgendes klar: Wenn also unsere unter-
schiedlichen geistigen Fähigkeiten größtenteils vererbt wären
und wenn sich diese Fähigkeiten im Erfolg zeigten, dann würde
das bedeuten, dass der wirtschaftliche und gesellschaftliche
Status von Menschen ihren angeborenen Unterschieden ent-
spräche. Das wiederum könnte dazu führen, dass diejenigen an
der Spitze glauben, ihr »intellektuelles Geburtsrecht« rechtfertige
ihre gesellschaftliche Position.
Gehen wir jedoch davon aus, unsere geistigen Fähigkeiten
würden hauptsächlich von der Umwelt beeinflusst, so würde das
bedeuten, dass Kinder aus benachteiligten Verhältnissen damit
11 rechnen können, ein benachteiligtes Leben zu führen. In diesem
Falle wäre der gesellschaftliche Status der Menschen durch
Chancenungleichheit bedingt.
Lassen wir zunächst einmal die politischen Auswirkungen so
. Abb. 11.23 (Copyright © The New Yorker Collection, 1999, Donald Reilly /
gut es geht beiseite, und betrachten wir die empirischen Befunde. cartoonbank.com)

11.4.1 Zwillings- und Adoptionsstudien Zwillinge ähnlich gebaut sind und ähnlich funktionieren.
Sie haben ein ganz ähnliches Volumen an grauer und
Haben Menschen, die über dieselben Gene verfügen, auch ver- weißer Substanz (Deary et al. 2009). Darüber hinaus
gleichbare geistige Fähigkeiten? Wie Sie in . Abb. 11.24 sehen stimmen ihre Gehirne im Gegensatz zu zweieiigen
können, in der viele Untersuchungsergebnisse zusammengefasst Zwillingen in den verschiedenen Gehirnarealen für die
sind, kann diese Frage eindeutig bejaht werden. Denken Sie ein- sprachliche und räumliche Intelligenz nahezu perfekt
mal über folgende Punkte nach: überein (Thompson et al. 2001). Und ihre Gehirne zeigen
4 Die Intelligenztestwerte eineiiger Zwillinge, die zusammen vergleichbare Aktivitätsmuster, während sie mentale
aufwuchsen, gleichen sich tatsächlich so sehr, als hätte die- Aufgaben bearbeiten (Koten et al. 2009).
selbe Person den Test zweimal gemacht (Lykken 1999; 4 Gibt es Gene für Genies? Heutige Forscher haben chromo-
Plomin 2001). (Die Testwerte zweieiiger Zwillinge, die in somale Regionen identifiziert, die wichtig für die Intelligenz
der Regel nur 50% ihrer Gene gemein haben, sind sich viel sind und exakt spezifische Gene lokalisiert, die anscheinend
weniger ähnlich.) Schätzungen der Erblichkeit der Intelli- die Varianz von Intelligenz und Lernbehinderungen beein-
genz – das Ausmaß, in dem die Varianz von Intelligenztest- flussen (Dick 2007; Plomin u. Kovas 2005; Posthuma u.
werten auf genetische Unterschiede zurückgeführt werden de Geus 2006). Aber Intelligenz scheint polygenetisch zu
kann – bewegen sich zwischen 50 und 80% (Johnson et al. sein, d. h., dass sie von vielen Genen abhängt, wobei jedes
2009; Neisser et al. 1996; Plomin 2003). Eineiige Zwillinge Gen für weniger als 1% der Intelligenzvarianz verant-
legen auch bei spezifischen Talenten wie Musik, Mathema- wortlich ist (Butcher et al. 2008). Wendy Johnson (2010)
tik und Sport erhebliche Ähnlichkeit (und Erblichkeit) an behauptet, dass es sich mit der Intelligenz wie mit der
den Tag (Vinkhuyzen et al. 2009). Körpergröße verhält: 54 spezifische Genvariationen können
4 Bei Untersuchungen des Gehirns mit Hilfe bildgebender zusammen 5% der Unterschiede zwischen unseren Körper-
Verfahren hat sich gezeigt, dass die Gehirne eineiiger größen erklären, der Rest muss noch entdeckt werden.
11.4 · Genetische und umweltbedingte Einflüsse auf die Intelligenz
425 11

. Abb. 11.24 Intelligenz: Anlage und Umwelt. Die Menschen mit der größtmöglichen genetischen Ähnlichkeit haben die ähnlichsten Intelligenzwerte.
Zur Erinnerung: 1,0 steht für eine perfekte Korrelation, 0 hingegen für keinerlei Korrelation. (Daten aus McGue et al. 1993)

Müssen wir sie wirklich alle entdecken – oder reicht es aus, warten, dass mit zunehmendem Alter der Einfluss der Familien-
zu wissen, dass wenige einzelne Gene einen großen Effekt umgebung zu- und der Effekt der Vererbung abnimmt?
auf die Körpergröße oder die Intelligenz haben? Was von Wenn Sie das annehmen, so haben die Verhaltensgenetiker
Bedeutung ist, ist die Kombination vieler Gene. eine verblüffende Überraschung für Sie. Mit zunehmendem Alter
nehmen die Ähnlichkeiten in den kognitiven Fähigkeiten zwischen
Erblichkeit (»heritability«) – Ausmaß, in dem interindividuelle Unterschie-
de auf Gene zurückgeführt werden können. Die Erblichkeit eines Persön- Adoptivkindern und ihren Adoptivfamilien ab, bis die Korrelation
lichkeitsmerkmals kann in Abhängigkeit von der ausgewählten Population im Erwachsenenalter nahezu bei null liegt (McGue et al. 1993). Je
und den untersuchten Umweltbedingungen variieren. mehr Lebenserfahrung wir sammeln, desto offensichtlicher
werden die genetischen Einflüsse – nicht die Umwelteinflüsse.
Andererseits gibt es auch verschiedene Untersuchungsergebnisse, Ähnlichkeiten zwischen eineiigen Zwillingen bleiben gleich oder
die auf Umwelteinflüsse hindeuten. Zwillingsstudien zeigen auf, nehmen bis ins 8. Lebensjahrzehnt noch zu. So berichten Deary et
dass umweltbedingte Einflüsse bei der Varianz von IQ-Werten von al. (2009), dass die Erblichkeit der allgemeinen Intelligenz von
Personen, die im obersten Bereich abschneiden, eine Rolle spielen »ungefähr 30%« in der frühen Kindheit auf »bis zu über 50% im
(Brant et al. 2009; Kirkpatrick et al. 2009). Wenn die Familienum- Erwachsenenalter« steigt. In einer groß angelegten Studie mit
gebungen höchst unterschiedlich sind, wie bei Kindern weniger 11.000 Zwillingspärchen in vier Ländern vergrößerte sich die
gebildeter Eltern, sind Umweltunterschiede ein besserer Vorher- Erblichkeit des allgemeinen Intelligenzfaktors g von 41% in der
sagewert für die Intelligenzwerte (Rowe et al. 1999; Tucker-Drob mittleren Kindheit auf 55% im Jugendalter und nochmals auf 66%
et al. 2011; Turkheimer et al. 2003). Studien zeigen auch, dass eine im jungen Erwachsenenalter (Haworth et al. 2010). In ähnlicher
Adoption die Intelligenzwerte misshandelter oder vernachlässigter Weise gleichen sie die Werte verbaler Fähigkeit von Adoptiv-
Kinder steigert (van Ijzendoorn u. Juffer 2005, 2006). kindern über die Zeit stärker denen ihrer biologischen Eltern an
Bei dem Versuch, den Einfluss von Genen und Umwelt ge- (. Abb. 11.25; . Abb. 11.26). Wer hätte das gedacht?
trennt voneinander zu betrachten, haben Forscher die Intelli-
Prüfen Sie Ihr Wissen
genztestwerte von adoptierten Kindern verglichen, und zwar (a)
mit denen ihrer Adoptivgeschwister, (b) mit denen ihrer biologi- 5 Prüfen Sie, ob Sie das Konzept der Erblichkeit verstanden
schen Eltern (die für ihre Gene verantwortlich sind) und (c) mit haben: Wenn sich die Umweltbedingungen ähnlich
denen ihrer Adoptiveltern (die für ihre Umwelt zuständig sind). werden, sollte die Erblichkeit der Intelligenz
In der Kindheit korrelieren die Intelligenztestwerte von Adoptiv- a. zunehmen.
geschwistern in bescheidenem Umfang. Während ihrer Kindheit b. abnehmen.
nehmen die adoptierten Zwillinge die Erfahrungen aus ihren c. unverändert bleiben.
unterschiedlichen Adoptivfamilien auf. Würden Sie deshalb er-
426 Kapitel 11 · Intelligenz

. Abb. 11.25 Wem gleichen Adoptivkinder? Mit der Zeit, die Adoptivkinder in ihrer Adoptivfamilie leben, gleichen sie sich in Bezug auf ihre sprachlichen
Intelligenztestwerte in bescheidenem Maße mehr an die ihrer biologischen Eltern an. (Nach Plomin u. DeFries 1998)

Frühe umweltbedingte Einflüsse


Nirgendwo ist die Verflechtung der Biologie und der Erfahrung
offensichtlicher als in verarmten Lebensumgebungen wie sie
J. McVicker Hunt (1982) in einem völlig mittellosen iranischen
Waisenhaus beobachtete. Die Kinder, die Hunt dort beobachtete,
11 konnten in der Regel im Alter von 2 Jahren noch nicht ohne
fremde Hilfe sitzen oder im Alter von 4 Jahren noch nicht alleine
laufen. Die spärliche Fürsorge, die den Kindern zuteilwurde, er-
folgte nicht als Reaktion auf ihr Weinen, Gurren oder andere
Verhaltensweisen. Die Kinder entwickelten deshalb nur wenig
Gefühl dafür, dass sie persönlich ihre Umwelt im Griff haben. Sie
wurden stattdessen zu bedrückten, passiven »Bündeln«. Die ex-
treme Deprivation löschte langsam ihre angeborene Intelligenz
aus – ein Befund der auch durch andere Studien mit Kindern, die
in Waisenhäusern in Rumänien oder anderen Ländern aufwuch-
sen, bestätigt wurde (Nelson et al. 2009; van Ijzendoorn et al.
. Abb. 11.26 (Copyright © The New Yorker Collection, 2000, Leo Cullum / 2008; . Abb. 11.27).
cartoonbank.com) Da sich Hunt sowohl des dramatischen Effektes früher Erfah-
rungen sowie des Einflusses früher Interventionen bewusst war,
begann er ein Programm, das er »erziehende menschliche Berei-
11.4.2 Umweltbedingte Einflüsse cherung« nannte. Er brachte den Kinderbetreuern bei, Lautspie-
le mit den Säuglingen und Kleinkindern zu machen. Sie machten
zuerst das Brabbeln der Kinder nach. Dann veranlassten sie die
? 11.15 Welche Befunde gibt es zu Umwelteinflüssen auf die
Babys dazu, je nachdem was der Betreuer vormachte, von einem
individuelle Intelligenz?
bekannten Laut zum andern zu wechseln. Anschließend brach-
Die Gene sind von großer Bedeutung. Selbst wenn wir alle in ten sie ihnen Laute der persischen Sprache bei. Das Ergebnis war
derselben geistig anregenden Umgebung aufwachsen würden, erstaunlich. Im Alter von 22 Monaten konnten alle 11 Kinder
hätten wir unterschiedliche Begabungen. Aber unsere Lebenser- mehr als 50 Gegenstände und Körperteile benennen und ent-
fahrungen spielen auch eine Rolle. Die Umwelt des Menschen ist zückten damit die Besucher. Die meisten der Kinder wurden
nur in seltenen Fällen so spartanisch wie die dunklen und leeren adoptiert – ein nie dagewesener Erfolg für das Waisenhaus.
Käfige, in denen deprivierte Ratten gehalten werden, die dann als Hunts Ergebnisse sind der Extremfall eines allgemeineren
Folge dünnere Hirnrinden ausbilden als unter normalen Bedin- Befunds: Unter Armut können die Umweltbedingungen die
gungen (7 Kap. 5). Aber schlimme Lebenserfahrungen hinterlas- kognitive Entwicklung behindern. Bei einer Studie in 1450 Schu-
sen ihre Spuren auch im menschlichen Gehirn. len im US-Bundesstaat Virginia fand man heraus, dass Schulen
11.4 · Genetische und umweltbedingte Einflüsse auf die Intelligenz
427 11
Reichert et al. 2010). Ihr gemeinsamer Befund war, dass sich die
beiden Gruppen nicht darin unterschieden, wie viele Wörter die
Kinder lernten.

Schulbildung und Intelligenz


In der späteren Kindheit ist allein die Schulbildung schon ein
Eingriff, der sich in Form höherer Intelligenzwerte auszahlt.
Schulbildung und Intelligenz begünstigen sich gegenseitig und
beide verbessern das spätere Einkommen (Ceci u. Williams 1997,
2009). Hunt war ein großer Anhänger der Position, dass Bildung
die Chancen von Kindern auf Erfolg verbessern kann, indem sie
ihre kognitiven und sozialen Fähigkeiten steigert. So hat sein
1961 veröffentlichtes Buch Intelligenz und Erfahrung dazu bei-
. Abb. 11.27 Verheerende Vernachlässigung. Manche rumänische getragen, 1965 in den USA das Projekt »Head Start« (Vor-
Waisenkinder, die wie dieses Kind 1990 im Waisenhaus Lagunul Pentro sprung) ins Leben zu rufen. Dabei handelte es sich um ein von
Copii nur sehr wenige Interaktionen mit ihren Betreuungspersonen hatten, der amerikanischen Regierung finanziertes Vorschulprogramm.
litten unter einer verzögerten Entwicklung. (© Josef Polleross / The Image
Works)
Es wurde mit mehr als 900.000 Kindern durchgeführt, die größ-
tenteils aus Familien kamen, deren Einkommen unter der
Armutsgrenze lag (Head Start 2010). Ist das Programm erfolg-
mit vielen Schülern aus armen Familien oft weniger gut qualifi- reich? Im Allgemeinen gehen die Begabungsvorteile mit der Zeit
zierte Lehrer hatten. Somit könnten diese Schüler eine weniger zurück (was uns daran erinnert, dass auch die Lebenserfahrung
geistig anregende Schulbildung erhalten. Und selbst wenn man nach »Head Start« eine Rolle spielt). Der Psychologe Edward
den Faktor Armut konstant hielt, konnte man aufgrund eines Zigler, der erste Leiter des Programms »Head Start«, war dennoch
weniger qualifizierten Lehrpersonals geringere Leistungswerte überzeugt davon, dass die Kinder langfristig Vorteile daraus
vorhersagen (Tuerk 2005). Auch die schlechte Ernährungslage ziehen (Ripple u. Zigler 2003; Zigler u. Styfco 2001).
spielt eine Rolle. Wenn der Unterernährung von Kleinkindern Gene und Erfahrung weben gemeinsam den Stoff, aus dem
durch Verabreichung von Nahrungsergänzungsmitteln abgehol- die Intelligenz ist. Aber was wir mit Hilfe unserer Intelligenz er-
fen wird, nehmen auch die Effekte der Armut auf die körperliche reichen, hängt auch von unseren Überzeugungen und unserer
und kognitive Entwicklung der Kinder ab (Brown u. Pollitt 1996). Motivation ab. Eine Untersuchung mit 72.431 Studenten fand
Liefern Studien über solche frühen Interventionen einen heraus, dass Studienmotivation und Studierfähigkeiten mit
Hinweis darauf, dass die Bereitstellung einer »angereicherten« früheren Noten und Fähigkeitswerten als Prädiktoren aka-
Umgebung »Ihrem Kind zu einem höheren Intellekt verhelfen demischer Leistungen konkurrierten (Credé u. Kuncel 2008).
kann«, wie manche beliebte Produkte behaupten? Die meisten Die Motivation beeinflusst sogar die Leistung im Intelligenztest.
Experten bezweifeln das (Bruer 1999). Zwar können Unter- Vier Dutzend Studien zeigen, dass Jugendliche höhere Werte
ernährung, sensorische Deprivation und soziale Isolation die erzielen, wenn ihnen für gutes Abschneiden Geld in Aussicht
normale Gehirnentwicklung hemmen; aber es gibt kein Geheim- gestellt wird (Duckworth et al. 2011).
rezept für eine Umgebung, die ein normales Kleinkind in ein
Genie verwandelt. Alle Babys sollten eine normale Reizexpositi-
» Ein hoher IQ und ein U-Bahn-Fahrschein werden dich auch
nur in die Stadt bringen.
on (Bilder, Geräusche und Stimme) erfahren. In dieser Hinsicht
Psychologe Richard Nisbett (zitiert von Michael Balter), 2011
scheint das Urteil von Sandra Scarr (1984) nichts von seiner
Gültigkeit eingebüßt zu haben: »Eltern, die sich viele Gedanken Die Psychologin Carol Dweck (2006, 2007, 2008) berichtet, dass
darüber machen und ihre Babys speziellen Lernprogrammen der Glaube an eine biologisch festgelegte und unveränderbare
unterziehen, vergeuden nur ihre Zeit.« Intelligenz zu einer »starren Denkweise« führen kann. Glaubt
Trotzdem wird nach wie vor erkundet, wie man die Intelli- man jedoch daran, dass die Intelligenz veränderbar ist, resultiert
genz fördern kann. Manche Eltern wollen beobachtet haben, wie daraus eine »wachstumsorientierte Denkweise«, bei der Lernen
der Wortschatz ihres 12–18 Monate alten Babys zunahm, nach- und Entwicklung im Fokus stehen. Jene, die daran glauben,
dem sie es pädagogischen DVDs, wie die der »Baby Einstein«- blühen als Studenten oft richtig auf (Howell 2009). Dweck hat
Serie, ausgesetzt haben. Um herauszufinden, ob solch eine kog- Interventionen entwickelt, die jungen Jugendlichen effektiv bei-
nitive Verbesserung das Ergebnis dieser DVD war oder einfach bringen, dass das Gehirn sich wie ein Muskel verhält: Er wird
nur die natürliche Sprachexplosion von Kleinkindern widerspie- stärker, wenn man ihn nutzt, da dann die neuronalen Verbindun-
gelte, ordneten zwei Forscherteams Babys entweder einer DVD- gen stärker werden. Wie wir weiter vorne schon festgestellt ha-
Gruppe oder einer Kontrollgruppe zu (DeLoache et al. 2010; ben, resultieren ausgezeichnete Leistungen in den Bereichen
428 Kapitel 11 · Intelligenz

Sport und Wissenschaft bis hin zur Musik in der Tat aus diszip-
liniertem Fleiß und ausdauernder Übung (Ericsson et al. 2007).

» Viel mehr als unsere Fähigkeiten sind es unsere Ent-


scheidungen, … die zeigen, wer wir wirklich sind.
Professor Dumbledore zu Harry Potter in J. K. Rowlings Harry
Potter und die Kammer des Schreckens, 1999

11.4.3 Gruppenunterschiede bei Intelligenztests

Gäbe es keine Gruppenunterschiede bei Eignungstests, könnten


die Psychologen in ihrem Elfenbeinturm bleiben und weiterhin
artig über Anlage- und Umwelteinflüsse diskutieren. Aber es gibt . Abb. 11.28 Geschlecht und Variabilität. Als fast 90.000 11-jährige
Gruppenunterschiede. Was versteht man darunter, und was ist Schotten 1932 einen Intelligenztest absolvierten, waren die durchschnitt-
davon zu halten? lichen IQ-Werte für Mädchen und für Jungen praktisch gleich. Doch die
Jungen waren im unteren und oberen Extrembereich überrepräsentiert,
was sich auch in anderen Studien gezeigt hat. (Nach Johnson et al. 2008)
Geschlechterähnlichkeiten und -unterschiede

? 11.16 Wie und warum unterscheiden sich die Geschlechter


schaffen in Deutschland mehr Mädchen als Jungen das Abitur
in Bezug auf geistige Fähigkeiten?
und haben dabei auch durchweg bessere Noten (Der Spiegel
In der Wissenschaft wie im Alltag sind es die Unterschiede und 2004). Jungen schneiden in Tests zu räumlichen Fähigkeiten und
nicht die Ähnlichkeiten, die das allgemeine Interesse wecken. Im komplexen mathematischen Problemen besser als Mädchen ab,
11 Vergleich zu den anatomischen und physiologischen Ähnlich- obwohl sich Mädchen und Jungen im Rechnen und der gesamten
keiten zwischen Männern und Frauen sind unsere Unterschiede Mathematikleistung kaum unterscheiden (Else-Quest et al. 2010;
relativ gering. In der Untersuchung von 1932 beispielsweise, bei Hyde u. Mertz 2009; Lindberg et al. 2010). Außerdem zeigen die
der alle schottischen 11-Jährigen getestet wurden, war der durch- Werte geistiger Fähigkeiten bei Männern eine größere Varianz
schnittliche Intelligenzwert von Mädchen 100,6 und der von Jun- als bei Frauen. Daher gibt es weltweit mehr Jungen als Mädchen
gen 100,5 (Deary et al. 2003). Was g betrifft, gehören Jungen und sowohl im unteren als auch im oberen Extrembereich (Machin
Mädchen, Männer und Frauen, zur selben Spezies. u. Pekkarinen 2008; Strand et al. 2006; . Abb. 11.28). Jungen be-
Doch die meisten Menschen finden Unterschiede berich- suchen beispielsweise viel häufiger sonderpädagogische Klassen.
tenswerter. Mädchen sind besser in der Rechtschreibung, haben Und in der Gruppe der 12- bis 14-Jährigen, die beim SAT-Mathe-
eine größere Wortflüssigkeit, sind besser darin, Gegenstände zu matiktest besonders gut abschnitten (Werte von 700 und mehr),
finden und Emotionen zu erkennen, und sind sensibler für Be- waren Jungen gegenüber Mädchen 4:1 in der Mehrzahl (Wai
rührungen, Geschmäcker und Farben (Halpern et al. 2007). Und et al. 2010).
unter den nahezu 200.000 Studienanwärtern, die früher in Worin Jungen scheinbar in der Regel verlässlich besser sind,
Deutschland den Eingangstest für das Medizinstudium absolvie- sind Aufgaben zum räumlichen Denken, wie die in . Abb. 11.29
ren mussten, waren die jungen Frauen den Männern Jahr für Jahr gezeigte, bei denen es darum geht, dreidimensionale Objekte
dabei überlegen, sich an Fakten in kurzen medizinischen Fallbe- schnell in der Vorstellung zu drehen (Collins u. Kimura 1997;
schreibungen zu erinnern (Stumpf u. Jackson 1994). Seit 1992 Halpern 2000) – die Antwort zu dieser Testaufgabe finden Sie

. Abb. 11.29 Der mentale Rotationstest. Dies ist ein Test zur Prüfung der räumlichen Fähigkeiten. (Aus Vandenberg u. Kuse 1978; republished with per-
mission of Ammons Scientific, Ltd, copyright 1978; permission conveyed through Copyright Clearance Center, Inc.)
11.4 · Genetische und umweltbedingte Einflüsse auf die Intelligenz
429 11

. Abb. 11.30 Anlage oder Umwelt. Bei diesem von Google finanzierten Programmierwettbewerb im Jahre 2005 konkurrierten die Programmierer um
Preise in Bargeld und um mögliche berufliche Positionen. Was hat ihrer Meinung nach zu der Tatsache beigetragen, dass nur eine der 100 Personen, die an
der Endausscheidung teilnahmen, eine Frau war? (© AP Photo / Paul Sakuma)

unten im Text, vor der nächsten Zwischenüberschrift. Heute ist Jungen, die als Mädchen aufwuchsen, festgestellt werden. Stephen
diese räumliche Fähigkeit äußerst nützlich, wenn es darum geht, Ceci und Wendy Williams (2010, 2011) liefern Befunde, dass auch
Koffer im Kofferraum zu verstauen, Schach zu spielen oder be- kulturell beeinflusste Präferenzen bei der Erklärung helfen kön-
stimmte Arten von geometrischen Problemen zu lösen. Aus evo- nen, warum Frauen sich eher für Berufe entscheiden, die mit
lutionspsychologischer Sicht lässt sich mutmaßen, dass dieselben »Menschen« statt mit Mathematik zu tun haben.
Fähigkeiten unseren Vorfahren halfen, ihre Beute aufzuspüren Und wie die anderen Kritiker hervorhoben, formen die
und wieder nach Hause zu finden (Geary 1995, 1996; Halpern sozialen Erwartungen und auseinander driftende Möglichkeiten
et al. 2007). Im Gegensatz dazu wurde das Überleben unserer tatsächlich die Interessen und Fähigkeiten von Jungen und
Urmütter durch ihr scharf ausgeprägtes Gedächtnis für den Ort Mädchen (Crawford et al. 1995; Eccles et al. 1990; . Abb. 11.30).
gesichert, an dem essbare Pflanzen wachsen – ein Vermächtnis, In Kulturen, in denen auf eine Gleichstellung der Geschlechter
das möglicherweise noch heute im besseren Gedächtnis von Wert gelegt wird, wie in Schweden und Island, sind die ge-
Frauen für Gegenstände und ihren Aufbewahrungsort fortlebt. schlechtsbezogenen Mathematikunterschiede deutlich geringer
Aber auch die Erfahrung ist von Bedeutung. In einem Ex- als in Kulturen wie der Türkei und Korea, in denen es keine
periment fand man heraus, dass das Spielen von Action-Video- Gleichstellung der Geschlechter gibt (Guiso et al. 2008).
spielen die räumlichen Fähigkeiten fördert (Feng et al. 2007). Und Und hier die Lösung der Aufgabe aus . Abb. 11.29: Die Alter-
Sie sind sicherlich nicht überrascht, wenn Sie hören, dass unter nativen 1 und 4 sind richtig.
amerikanischen Studienanfängern 6-mal so viele Männer (23%)
wie Frauen (4%) berichten, dass sie 6 oder mehr Stunden pro Ethnische Ähnlichkeiten und Unterschiede
Woche Video- oder Computerspiele spielen (Pryor et al. 2010).
? 11.17 Wie und warum unterscheiden sich ethnische
Der Evolutionspsychologe Steven Pinker (2005) argumentiert,
Gruppen in Bezug auf geistige Fähigkeiten?
dass es sowohl biologische als auch gesellschaftliche Einflüsse auf
Geschlechtsunterschiede in den Lebensprioritäten (das größere Zwei beunruhigende Fakten, über die sich allerdings alle einig
Interesse von Frauen an Menschen im Unterschied zu dem von sind, heizen die Diskussion über Gruppenunterschiede noch
Männern an Geld und Dingen), auf die Bereitschaft, Risiken ein- weiter an:
zugehen (Männer sind leichtsinniger), und auf mathematisches 4 Verschiedene ethnische Gruppen haben unterschiedliche
Schlussfolgern und räumliche Fähigkeiten zu geben scheint. Er Durchschnittswerte bei Intelligenztests.
merkt an, dass derartige Unterschiede über die Kulturen hinweg 4 Bei Menschen (und Gruppen) mit hohen Intelligenzwerten
beobachtet werden, über die Zeit hinweg stabil sind, einer Beein- ist die Wahrscheinlichkeit höher, dass sie ein hohes
flussung pränataler Hormone unterliegen und bei genetischen Bildungs- und Einkommensniveau erreichen.
430 Kapitel 11 · Intelligenz

. Abb. 11.31 Gruppenunterschiede und Umwelteinfluss. Auch wenn die Varianz zwischen Mitgliedern derselben Gruppe Ausdruck genetischer Unter-
schiede ist, kann der durchschnittliche Unterschied zwischen verschiedenen Gruppen ausschließlich umweltbedingt sein. Stellen Sie sich vor, Samen
derselben Samenmischung würden zum einen in mageren und zum anderen in fruchtbaren Boden gesät. Auch wenn die Größenunterschiede innerhalb
eines Blumenkastens anlagebedingt sind, sind die Größenunterschiede zwischen den beiden Gruppen umweltbedingt. (Aus Lewontin 1976; mit freund-
licher Genehmigung)

In einer Erklärung von 52 Intelligenzforschern wurde festge- wieder daran, dass »Millionen von Schwarzen einen höheren IQ
halten: »Die glockenförmige Normalverteilungskurve für Weiße haben als der durchschnittliche Weiße«.
ist etwa um einen mittleren IQ von 100 angeordnet. Bei ameri- Schweden und Bantus unterscheiden sich in der Hautfarbe
kanischen Schwarzen liegt dieser Mittelwert in etwa bei 85, wäh- und in der Sprache. Der erste Faktor ist ein genetischer, der
rend die Normalverteilungskurven von verschiedenen Unter- zweite ein umweltbedingter. Wie steht es nun mit den Intelli-
11 gruppen mit spanisch sprechenden Teilnehmern irgendwo in der genzwerten?
Mitte zwischen diesen beiden Gruppen liegen« (Avery et al. Wir haben gesehen, dass die Vererbung etwas zu den indivi-
1994). Vergleichbare Ergebnisse haben sich in anderen akademi- duellen Intelligenzunterschieden beiträgt. Heißt dies, dass sie
schen Eignungstests gezeigt. In den letzten Jahren hat sich der auch etwas zu Gruppenunterschieden beiträgt? Manche Psycho-
Unterschied zwischen der weißen und der schwarzen Bevölke- logen sind dieser Meinung – vielleicht wegen der Herausforde-
rung in den USA etwas verringert und ist in einigen Studien bei rungen, die sich durch die unterschiedlichen Klimabedingungen
Kindern sogar bis auf 10 Punkte Unterschied gesunken (Dickens und Überlebenschancen stellen (Herrnstein u. Murray 1994;
u. Flynn 2006; Nisbett 2009). Trotz allem hält sich die Kluft Lynn 2008; Rushton u. Jensen 2005, 2006).
zwischen den Intelligenztestwerten hartnäckig und Ergebnisse Wir haben aber auch festgestellt, dass Gruppenunterschiede
weiterer Studien legen nahe, dass diese sich nicht mehr weiter bezüglich einer erblichen Eigenschaft vollständig umweltbedingt
verengt, wenn man nur Personen betrachtet, die nach 1970 ge- sein können. Das sehen wir an einem der Experimente der Natur
boren wurden (Murray 2006, 2007). selbst: Manche Kinder wachsen mit der Möglichkeit auf, die in
Es wurden auch Unterschiede zwischen anderen Gruppen ihrer Kultur vorherrschende Sprache zu hören, während ande-
beobachtet. So haben beispielsweise Neuseeländer europäischen ren, die gehörlos auf die Welt kommen, diese Möglichkeit versagt
Ursprungs höhere Werte als die Urbevölkerung der Maoris. Die bleibt. Wenn man dann beide Gruppen einen Intelligenztest
Juden in Israel schneiden besser ab als die israelischen Araber. machen lässt, der in dieser Sprache verwurzelt ist, so überrascht
Die meisten Japaner erzielen höhere Werte als die stigmatisierte es kaum, dass diejenigen, die die Sprache des Tests beherrschen,
japanische Minderheit der Burakumin. Und die Hörenden über- besser abschneiden. Die individuellen Leistungsunterschiede
treffen die von Geburt an Gehörlosen (Braden 1994; Steele 1990; mögen zwar hauptsächlich genetisch bedingt sein, doch die
Zeidner 1990). Gruppenunterschiede sind es nicht (. Abb. 11.31).
Ferner stimmt wohl jeder der Aussage zu, dass solche Grup- Sehen wir uns einmal folgendes Beispiel an: Wenn jeder
penunterschiede eine nur sehr geringe Aussagekraft für die Ein- eineiige Zwilling ganz genauso groß wäre wie sein Zwillings-
schätzung einzelner Personen haben. Frauen leben weltweit in bruder oder seine Zwillingsschwester, läge die Erblichkeit bei
der Regel 4 Jahre länger als Männer, aber wenn wir das Geschlecht 100%. Stellen wir uns dann vor, wir würden einige Zwillinge als
einer Person kennen, hat das keinerlei genauen Aussagewert kleine Kinder voneinander trennen und immer nur einem von
darüber, wie lange diese Person leben wird. Sogar Charles Murray beiden äußerst nährstoffreiche Nahrung verabreichen. Nehmen
und Richard Herrnstein (1994), deren Arbeiten auf die Unter- wir weiterhin an, die gut genährten Zwillinge wären anschlie-
schiede zwischen der weißen und der schwarzen Bevölkerungs- ßend um 7 cm größer als ihre Zwillingsbrüder (bzw. -schwes-
gruppe aufmerksam gemacht haben, erinnerten uns immer tern). Das ist ein Umwelteffekt, der mit dem heutzutage in
11.4 · Genetische und umweltbedingte Einflüsse auf die Intelligenz
431 11

. Abb. 11.32 Morphing in der Natur. In der Natur werden keine klaren Trennlinien zwischen den Rassen bzw. Ethnien gezogen, die überall auf der Erde
allmählich ineinander übergehen. Aufgrund des Drangs der Menschen zur Klassifikation definieren sich die Menschen selbst gesellschaftlich in ethnischen
Kategorien, die zu Sammelbezeichnungen für körperliche Merkmale, die soziale Identität und die Nationalität werden. (© photos.com, © fux / Fotolia,
S. Frank, © René Gastinel / Fotolia, © Jean François LEFEVRE / Fotolia)

Großbritannien, Norwegen und den USA beobachteten Effekt ethnische Herkunft gibt (der Kontinent unserer jeweiligen Vor-
vergleichbar ist, dass die Jugendlichen in der Regel mehrere fahren), dass die Gesundheitsrisiken (wie Hautkrebs und hoher
Zentimeter größer sind als ihre Altersgenossen, die Mitte des Blutdruck) je nach Ethnie unterschiedlich sind und dass sich die
19. Jahrhunderts gelebt haben (Floud et al. 2011). Wie sähe es meisten Menschen mit einer bestimmten Ethnie identifizieren
nun mit der Erblichkeit der Körpergröße bei unseren gut ernähr- (Hunt u. Carlson 2007). Auch Verhaltensmerkmale können von
ten Zwillingen aus? Sie läge immer noch bei 100%. Denn die Ethnie zu Ethnie unterschiedlich sein. »Kein Kurzstreckenläufer
Varianz der Körpergröße innerhalb der Gruppe wäre aufgrund asiatischer oder europäischer Abstammung (der Mehrheit der
der Größe ihrer schlechter ernährten eineiigen Zwillinge voll- Weltbevölkerung) ist die 100 m unter 10 Sekunden gelaufen, aber
ständig vorhersehbar. Dies heißt also, dass auch eine perfekte Dutzende von Sprintern westafrikanischer Abstammung haben
Erblichkeit innerhalb von Gruppen die Möglichkeit eines starken das geschafft«, merkt der Psychologe David Rowe (2005) an. Viel
Umweltweinflusses auf die Gruppenunterschiede nicht aus- mehr Sozialwissenschaftler jedoch sehen Ethnie primär als
schließt. gesellschaftliche Konstruktion ohne klar definierte, körperlich
Ist wohl die Kluft zwischen verschiedenen Ethnien auf ähn- festzumachende Trennlinien, da jede Ethnie nahtlos in die Ethnie
liche Weise umweltbedingt? Denken Sie einmal über Folgendes ihrer geografischen Nachbarn übergeht (Helms et al. 2005;
nach: Smedley u. Smedley 2005; . Abb. 11.32). Menschen unterschied-
Die genetische Forschung hat ergeben, dass die Angehörigen licher Abstammung kategorisieren sich selbst eventuell als von
verschiedener Ethnien unter der Haut erstaunlich gleich sind. Der derselben ethnischen Herkunft. Da sich die Ethnien zunehmend
durchschnittliche genetische Gruppenunterschied zwischen vermischen, widersetzen sich außerdem immer mehr Menschen
zwei isländischen Dorfbewohnern oder zwischen zwei Kenia- einer engen ethnischen Kategorisierung und bezeichnen sich
nern übertrifft bei Weitem den Gruppenunterschied zwischen selbst als multiethnisch (Pauker et al. 2009).
Isländern und Kenianern (Cavalli-Sforza et al. 1994; Rosenberg Die Leistungen bei Intelligenztests der heutigen gut ernährten,
et al. 2002). Darüber hinaus kann das Aussehen trügen. Hell- besser gebildeten und mehr an Tests gewöhnten Bevölkerung sind
häutige Europäer und dunkelhäutige Afrikaner stehen sich besser als die der Bevölkerung in den 30er Jahren – und zwar in
unter genetischen Gesichtspunkten viel näher als dunkelhäutige größerem Ausmaß als die Intelligenztestwerte von durchschnittli-
Afrikaner und dunkelhäutige australische Aborigines. chen Weißen die von durchschnittlichen Schwarzen übertreffen. In
Ethnie ist keine klar definierbare biologische Kategorie. Einige einem Forschungsüberblick wurde angemerkt, dass die durch-
Wissenschaftler argumentieren, dass die ethnische Herkunft schnittliche Leistung im Intelligenztest heutiger Afrikaner, die
etwas Reales ist, und merken an, dass es genetische Marker für südlich der Sahara leben, der von englischen Erwachsenen im
432 Kapitel 11 · Intelligenz

Jahre 1948 entspricht – und dass ähnliche Zuwächse bei verbes-


serter Ernährung, ökonomischer Entwicklung und Bildung
möglich sind (Wicherts et al. 2010). Niemand schreibt generati-
onsbedingte Gruppenunterschiede der Vererbung zu.
Wenn Schwarze und Weiße entsprechendes Wissen haben
oder erhalten, zeigen sie ähnliche Informationsverarbeitungsfähig-
keiten. »Die Daten unterstützen die Ansicht, dass kulturelle
Unterschiede bei der Bereitstellung von Informationen für die
ethnischen Unterschiede im IQ verantwortlich sein könnten«,
berichten die Forscher Joseph Fagan und Cynthia Holland
(2007).
Schulbildung und Kultur sind von Bedeutung. Länder, deren
Wirtschaft ein großes Wohlstandsgefälle zwischen Reichen und
Armen erzeugt, weisen auch häufiger eine große Kluft zwischen
den IQ-Werten reicher und armer Menschen auf (Nisbett 2009).
Darüber hinaus sagen bildungspolitische Maßnahmen wie der
Besuch eines Kindergartens und die Schulpflicht sowie die Un-
terrichtszeit pro Jahr nationale Unterschiede in Intelligenz- und
Wissenstests vorher (Rindermann u. Ceci 2009). Studierende
asiatischer Herkunft schneiden bei Leistungs- und Eignungstests
in Mathematik besser ab als nordamerikanische Studierende.
Aber dieser Unterschied ist möglicherweise mehr auf Gewissen-
haftigkeit als auf Kompetenz zurückzuführen. Asiatische Schüler
11 haben im Durchschnitt auch 30% mehr Tage Schule im Jahr . Abb. 11.33 Die Kultur der Gelehrsamkeit. Die Kinder aus indochine-
sischen Flüchtlingsfamilien sind in der Schule immer unter den Besten
und verbringen sowohl in der Schule als auch außerhalb mehr (Caplan et al. 1992). An Wochentagen wird nach dem Abendessen in der
Zeit mit Mathelernen (Geary et al. 1996; Larson u. Verma 1999; Familie der Tisch abgeräumt, und dann macht jeder seine Hausaufgaben.
Stevenson 1992; . Abb. 11.33). Die Zusammenarbeit in der Familie wird hoch geschätzt, und die älteren
Geschwister helfen den jüngeren. (© Jason Goltz)
In verschiedenen Epochen haben verschiedene ethnische Grup-
pen ein goldenes Zeitalter erlebt – Perioden, die von außerordent-
lichen Leistungen geprägt waren. Vor 25 Jahrhunderten waren es der weißen Schüler zu, während der der schwarzen Schüler ab-
die Griechen und die Ägypter, dann die Römer, und im 8. und nahm. Dadurch entstand zwischen den beiden Gruppen eine
9. Jahrhundert schienen die Genies in der arabischen Welt be- Kluft, die in etwa um die Zeit am größten war, als die Schüler die
heimatet zu sein. Vor 500 Jahren waren es die Azteken und die Eingangsprüfung für Studienanfänger (SAT) ablegten. Während
Völker Nordeuropas. Heute bewundern wir die technologischen der Collegezeit stiegen jedoch die Werte der schwarzen Studen-
Hochleistungen in der asiatischen Welt und den kulturellen Er- ten »mehr als 4-mal so sehr« an wie die der weißen, was zu einer
folg der Juden. In den Vereinigten Staaten machen die Juden deutlichen Verringerung der Kluft führte. Joel Myerson und
heutzutage 2% der Bevölkerung, 21% der Studentenschaft an seine Kollegen (1998) erklären sich das so: »Es überrascht nicht,
Eliteuniversitäten, 37% der Regisseure, die einen Oscar gewin- dass sich die Kluft bei kognitiven Tests gerade in den Jahren
nen, und 51% der Gewinner des Pulitzer Preises für Sachliteratur vergrößert, in denen die schwarzen und weißen Schüler die
aus – weltweit stellen sie 27% der Gewinner des Nobelpreises für Highschool besuchen, die große Qualitätsunterschiede aufweist.
Physik und 54% der Schachweltmeister (Brooks 2010). Im Laufe Auf der Collegeebene dann, auf der sich die schwarzen und
der Jahrhunderte hatten Kulturen Blütezeiten und dann wieder weißen Studenten in einer Bildungsumgebung von vergleich-
schlechtere Zeiten. Die Gene sind keiner solchen Aufwärts- und barer Qualität bewegen ..., gelingt es vielen Schwarzen, bemer-
Abwärtsbewegung unterworfen. Auch diese Tatsache macht es kenswerte Fortschritte zu machen und so die Kluft zwischen den
unmöglich, die natürliche Überlegenheit irgendeiner Rasse oder Testwerten zu schließen.«
ethnischen Gruppe zu vertreten.
Prüfen Sie Ihr Wissen
Darüber hinaus ist es interessant, sich die eindrucksvollen
Ergebnisse einer landesweiten amerikanischen Studie anzu- 5 Im reichen Land X isst jeder alles, was er will. Im Land Y
schauen, die die Ergebnisse eines kognitiven Fähigkeitstests bei sind die Reichen gut ernährt, aber die halb verhungerten
weißen und schwarzen Erwachsenen nach ihrem Abgang vom Armen sind oft sehr dünn. In welchem dieser beiden
College im Rückblick untersuchte. Von der 8. Klasse bis in die Länder ist die Erblichkeit des Körpergewichts größer?
ersten Highschool-Jahre nahm der durchschnittliche Testwert
11.4 · Genetische und umweltbedingte Einflüsse auf die Intelligenz
433 11
11.4.4 Probleme der Verzerrung neue Wörter, Sprichwörter und Analogien zu lernen – »kultur-
in Intelligenztests faire« Eignungstests ermöglichen (Fagan u. Holland 2007, 2009)?
Die Befürworter existierender Eignungstests halten dem ent-
gegen, dass die ethnisch bedingten Gruppenunterschiede sich
? 11.18 Können Intelligenztests zu verzerrenden Ergebnissen
auch bei nichtverbalen Tests, wie etwa dem Rückwärts-Aufsagen
führen?
von Zahlen, zeigen (Jensen 1983, 1989). Darüber hinaus geben
sie zu bedenken, dass, wenn man den Test für die niedrigeren
» Holen Sie sich Ihre Sklaven nicht aus Britannien; denn sie
Testergebnisse einer Gruppe verantwortlich macht, das nichts
sind so dumm und so unfähig, dass man ihnen nichts
anderes sei, als den Überbringer für die schlechten Nachrichten
beibringen kann.
zu tadeln, die er überbracht hat. Warum soll der Test schuld da-
Cicero, 106–43 v. Chr.
ran sein, dass er ungleiche Erfahrungen und Chancen aufdeckt?
Wenn man annimmt, dass die Ethnie ein bedeutsames Konzept Wenn Menschen aufgrund von Mangelernährung kleinwüchsig
ist, lässt sich die Debatte über ethnische Unterschiede in drei blieben, würde man dann etwa den Meterstab dafür verantwort-
Lager unterteilen, stellen Earl Hunt und Jerry Carlson (2007) fest: lich machen, der diesen Zustand aufdeckt? Wenn ungleiche Er-
4 Ethnische Unterschiede in der Intelligenz sind genetisch fahrungen in der Vergangenheit zu ungleichem Erfolg in der
verursacht. Zukunft führen, so deckt ein guter Test diese Ungleichheiten auf.
4 Ethnische Unterschiede in der Intelligenz sind gesellschaft-
lich beeinflusst.
» Die politische Gleichberechtigung ist eine Verpflichtung ge-
genüber den allgemeinen Menschenrechten und gegen-
4 Es gibt ethnische Unterschiede in den Testwerten, aber die
über einer Politik, die Menschen als Individuen und nicht als
Tests sind unangemessen oder verzerrend.
Vertreter einer Gruppe behandelt – es ist keine empirische
Behauptung, dass alle Gruppen ununterscheidbar sind.
Sind Intelligenztests vielleicht in irgendeiner Weise verzerrt? Die
Steven Pinker (2006)
Antwort darauf hängt davon ab, welche von zwei sehr unter-
schiedlichen Definitionen von Verzerrung wir verwenden und Die zweite Bedeutung von Verzerrung, ihre wissenschaftliche Be-
was wir unter Stereotypen verstehen. deutung, sagt jedoch etwas anderes aus. Verzerrung bezieht sich
auf die Validität eines Tests – ob sich künftiges Verhalten auf-
Zwei Bedeutungen von Verzerrung grund des Tests nur für einige Gruppen von Probanden vorher-
Wenn ein Test nicht nur auf angeborene Intelligenzunterschiede sagen lässt. Wenn beispielsweise ein Schuleignungstest (wie der
hindeutet, sondern auch auf Leistungsunterschiede, die auf SAT) den Hochschulerfolg von Frauen genau vorhersagt, aber
kulturelle Erfahrungen zurückgehen, können wir ihn als ver- nicht den von Männern, dann wäre der Test verzerrt. Wie in den
zerrend ansehen. Genau dies ist osteuropäischen Immigranten in USA vom National Research Council’s Committee on Ability
den frühen 1900ern zugestoßen. Da sie nicht die Sachkenntnis Testing und der Arbeitsgruppe »Intelligenz« der amerikanischen
mitbrachten, um Fragen über ihre neue Kultur zu beantworten, Psychologenvereinigung APA zusammengefasst, besteht nahezu
wurden viele als »schwachsinnig« abgestempelt. Konsens darüber, dass die wichtigsten amerikanischen Eig-
In diesem populären Sinne sind sich alle einig, dass Intel- nungstests in diesem statistischen Sinn des Wortes nicht verzerrt
ligenztests verzerrt sind. Sie messen unsere entwickelten Fähig- sind (Hunt u. Carlson 2007; Neisser et al. 1996; Wigdor u. Garner
keiten, die zum Teil Ausdruck unserer Bildung und unserer 1982). Der Vorhersagewert der Tests ist im Großen und Ganzen
Erfahrungen sind. Möglicherweise sind Ihnen schon manchmal für Frauen und Männer, Schwarze und Weiße und für Reiche
Intelligenztestfragen begegnet, die typische Mittelklassegedan- und Arme derselbe. Wenn ein Intelligenztestwert von 95 Noten
ken zum Ausdruck bringen: z. B. das Wissen, dass Grundstücke etwas unter dem Durchschnitt vorhersagt, lässt sich diese grobe
in der Stadt gewöhnlich mehr kosten als auf dem Land (Beispiel Vorhersage auf alle gleichermaßen anwenden.
eines Test-Items des HAWIE-R). Verzerren derartige Fragen den
Prüfen Sie Ihr Wissen
Test gegenüber jenen, für die der Erwerb eines Grundstücks oh-
nehin unerschwinglich ist und die demzufolge kein konkretes 5 Was ist der Unterschied zwischen einem Test,
Wissen über Grundstückspreise haben? Könnten solche Fragen der kulturell bedingt verzerrt ist und einem Test, der
womöglich das unterschiedliche Abschneiden verschiedener aufgrund seiner Validität verzerrte Ergebnisse liefert?
ethnischer Gruppen bei den Tests erklären? Und wenn das der
Fall ist: Sind Tests dann ein Instrument zur Diskriminierung,
das potenziell begabte Kinder, von denen manche eine andere
Muttersprache haben, in Klassen oder Jobs abschiebt, die für sie Erwartungen der getesteten Personen
zur Sackgasse werden? Und könnte die Erarbeitung kulturneut- Das gesamte Buch hindurch haben wir immer wieder gesehen,
raler Fragen – wie die Bewertung der Fähigkeit von Menschen, dass unsere Erwartungen und Einstellungen unsere Wahr-
434 Kapitel 11 · Intelligenz

nehmung und unser Verhalten beeinflussen können und genau werden (wie dies bei Förderprogrammen für Minderheiten
diesen Effekt finden wir auch bei der Testung der Intelligenz. Als häufig der Fall ist), dieses Stereotyp die Leistung nach und nach
Steven Spencer und seine Kollegen (1997) gleichbegabten unterminieren wird. Mit der Zeit kann es vorkommen, dass
Männern und Frauen einen schwierigen Mathetest vorlegten, diese Schüler ihr Selbstwertgefühl von schulischen Leistungen
schnitten die Frauen schlechter als die Männer ab – außer bei loslösen und auf anderen Gebieten nach Möglichkeiten suchen,
dem Testdurchgang, bei dem den Frauen zu verstehen gegeben es zu steigern. Dies kommt häufig bei afroamerikanischen Jun-
worden war, dass bei diesem Test Frauen normalerweise gleich gen in der Übergangsphase zwischen der 8. und der 12. Klasse
gut abschneiden wie Männer. Im anderen Falle fühlten sich die vor. Ihr Selbstwertgefühl koppelt sich immer mehr von den
Frauen anscheinend eingeschüchtert, was ihre Leistungsfähig- Noten ab und sie bleiben häufig hinter den Erwartungen zurück
keit beeinträchtigte. Zusammen mit Claude Steele und Joshua (Osborne 1997). In einem Experiment wurden einige afroameri-
Aronson hat Spencer (2002) diesen sich selbst erfüllenden kanische Siebtklässler zufällig ausgewählt und hatten 15 Minuten
Stereotype Threat (die Bedrohung durch ein Stereotyp) bei lang Zeit, um über ihre wichtigsten Werte zu schreiben (Cohen
schwarzen Studierenden beobachtet. Wenn diese kurz vor der et al. 2006, 2009). Diese einfache Übung der Selbstbekräftigung
Bearbeitung sprachlicher Eignungstests an ihre Rasse erinnert hatte einen sichtbaren Effekt: Die Durchschnittsnote verbesserte
wurden, schnitten sie schlechter ab. Folgeexperimente bestäti- sich in einem ersten Experiment um 0,26 und in einer Replika-
gen, dass Minderheiten, denen negative Stereotype anhaften, und tion um 0,34. Studierende, die Minderheiten angehören, erziel-
Frauen nicht erkanntes akademisches Potenzial besitzen könnten ten deutlich bessere Noten und hatten auch weniger Studien-
(Nguyen u. Ryan 2008; Walton u. Spencer 2009). Wenn Sie bei abbrecher in ihrer Gruppe zu verzeichnen, wenn ihnen bei ihren
einer Klausur besorgt darüber sind, dass Menschen von Ihrem Universitätskursen das Gefühl vermittelt wurde, an ihr Potenzial
Typ oft nicht gut abschneiden, können Ihre Selbstzweifel und zu glauben, und dass die Auffassung einer formbaren und nicht
Selbstüberwachung Ihr Arbeitsgedächtnis belasten und somit starren Intelligenz richtig ist (Wilson 2006).
Ihre Leistung verschlechtern (Schmader 2010). Aus diesen Was können wir nun aus dem Ganzen realistischerweise im
Gründen kann der Stereotype Threat auch Aufmerksamkeit und Hinblick auf Eignungstests und Verzerrung schließen? Zum
11 Lernvorgänge beeinträchtigen (Inzlicht u. Kang 2010; Rydell einen, dass die Tests in einem Sinne tatsächlich verzerrt zu sein
et al. 2010). scheinen (angemessenerweise, wie manche sagen werden), und
zwar im Hinblick auf eine Sensibilität für Leistungsunterschiede,
Stereotype Threat (Bedrohung durch ein Stereotyp; »stereotype threat«)
– eine sich selbst bestätigende Besorgnis, die Bewertung des eigenen die auf kulturelle Erfahrung zurückgehen. Im wissenschaftlichen
Verhaltens erfolge auf der Basis eines negativen Stereotyps. Sinne sind sie jedoch nicht verzerrt, da sie für unterschiedliche
Gruppen valide statistische Vorhersagen machen.
» Mathe ist schwierig. Was heißt das nun unterm Strich? Sind die Tests »diskrimi-
›Teen Talk‹, sprechende Barbiepuppe (in den USA eingeführt nierend«? Auch hier kann die Antwort Ja oder Nein lauten. Ja in
im Juli 1992, zurückgerufen im Oktober 1992) dem Sinne, dass sie darauf ausgelegt sind zu »diskriminieren«,
d. h. zwischen verschiedenen Personen zu unterscheiden. Nein in
Kritiker merken an, dass der Stereotype Threat die Unterschiede dem Sinne, dass es jedoch gerade ihr Ziel ist, Diskriminierung zu
zwischen Eignungstestwerten von Schwarzen und Weißen nicht reduzieren, weil man sich mit ihrer Hilfe weniger auf subjektive
gänzlich erklären kann (Sackett et al. 2004, 2008). Aber er kann Kriterien für die Aufnahme in Schulen oder für die Vermittlung
erklären, warum Schwarze besser abschnitten, wenn sie von eines Arbeitsplatzes verlassen muss, wie etwa, ob Sie jemanden
Schwarzen statt von Weißen geprüft wurden (Danso u. Esses kennen, wie Sie aussehen oder ob der Mensch, der das Be-
2001; Inzlicht u. Ben-Zeev 2000). Er kann uns einen Einblick werbungsgespräch mit Ihnen führt, Sie zufällig sympathisch
geben, warum Frauen, die nicht zusammen mit Männern getestet findet. Eignungstests im öffentlichen Dienst beispielsweise
wurden, bei Mathematiktests höhere Werte erzielten, und warum wurden so entwickelt, dass sie fairer und objektiver unterschei-
ihre Leistung beim Schachspielen stark abnimmt, wenn sie den, indem sie die politische, rassische und ethnische Diskrimi-
denken, sie würden gegen einen männlichen Spieler spielen nierung verringern, die vor dem Einsatz solcher Test durchaus
(Maass et al. 2008). Und er erklärt »den Obama-Effekt« – den stattfand. Eignungstests zu verbieten, würde diejenigen, die über
Befund, dass afroamerikanische Erwachsene bei einem verbalen die Einstellungen in berufliche Positionen und die Zulassung
Eignungstest besser abschneiden, wenn sie kurz zuvor Barack zu Schulen entscheiden, dazu verleiten, sich mehr auf andere
Obamas Rede anlässlich der Annahme seiner Nominierung zum Einschätzungen zu verlassen, wie etwa auf ihre persönliche Mei-
Präsidentschaftskandidaten sehen, in der er den Stereotypen nung.
trotzt, oder wenn sie an dem Test kurz nach Obamas Sieg als Vielleicht sollten wir also im Hinblick auf Tests geistiger
Präsident im Jahre 2008 teilnahmen (Marx et al. 2009). Fähigkeiten drei Ziele verfolgen: Erstens sollten wir die Vorteile
Steele (1995, 2010) schloss daraus, dass bei Studierenden, erkennen, die Alfred Binet mit seinem Test der geistigen Fähig-
denen gesagt wird, dass sie wahrscheinlich nicht erfolgreich sein keiten bezweckte: Schulen in die Lage zu versetzen, zu erkennen,
11.5 · Kapitelrückblick
435 11
welche Schüler möglicherweise von einer frühzeitigen Förderung jIntelligenzmessung
profitieren könnten. Zweitens müssen wir aufmerksam beobach- 11.8 Wann und warum wurden Intelligenztests entwickelt?
ten, dass, wie auch Binet befürchtete, die Intelligenztestwerte 11.9 Worin unterscheiden sich Leistungs- von Eignungstests?
nicht als direkter Maßstab für den Wert eines Menschen und als 11.10 Was bedeuten die Begriffe Normierung und Normalver-
unveränderliches Potenzial fehlinterpretiert werden. Und drittens teilung?
sollten wir uns immer in Erinnerung rufen, dass die Kompetenz, 11.11 Was bedeuten die Begriffe Reliabilität und Validität?
die durch allgemeine Intelligenztests stichprobenartig festgestellt
wird, wichtig ist – sie hilft uns dabei, auf einigen Wegen unseres jDie Dynamik der Intelligenz
Lebens Erfolg zu haben. Aber sie bringt nur einen Aspekt der 11.12 Wie stabil sind Intelligenztestwerte über die Lebens-
persönlichen Kompetenz zum Ausdruck. Unsere praktische Intel- spanne hinweg?
ligenz und unsere emotionale Intelligenz spielen ebenfalls eine 11.13 Welche Eigenschaften haben Menschen, die sich im
wichtige Rolle, wie auch andere Formen der Kreativität, der Bega- unteren bzw. oberen Extrembereich der Intelligenz befinden?
bung und der Persönlichkeit. Da es viele Formen gibt, erfolgreich
zu sein, sind die Unterschiede zwischen uns Variationen dessel- jGenetische und umweltbedingte Einflüsse
ben Themas: der menschlichen Anpassungsfähigkeit. auf die Intelligenz
11.14 Welche Befunde sprechen für die genetische Bedingtheit
» Fast alle Dinge im Leben, die Spaß machen, werden nicht
der individuellen Intelligenz und was versteht man unter
durch Intelligenztests erfasst.
Erblichkeit?
Madeleine L’Engle, A Circle of Quiet, 1972
11.15 Welche Befunde gibt es zu Umwelteinflüssen auf die in-
dividuelle Intelligenz?
» [Einstein] hat gezeigt, dass Genie gleich Gehirn plus
11.16 Wie und warum unterscheiden sich die Geschlechter in
Hartnäckigkeit zum Quadrat ist.
Bezug auf geistige Fähigkeiten?
Walter Isaacson, Einstein‘s Final Quest, 2009
11.17 Wie und warum unterscheiden sich ethnische Gruppen
Letztendlich resultieren die großen Errungenschaften, die ein in Bezug auf geistige Fähigkeiten?
Leben charakterisieren, nicht nur aus den Fähigkeiten (dem 11.18 Können Intelligenztests zu verzerrenden Ergebnissen
Können), sondern auch aus der Motivation (dem Wollen), die im führen?
Fokus unseres nächsten Kapitels steht. Kompetenz + Fleiß →
Leistung.
11.5.2 Schlüsselbegriffe
Prüfen Sie Ihr Wissen

5 Die Erblichkeit von Intelligenztestwerten ist höher in 4 Allgemeine Intelligenz oder g-Faktor
einer Gesellschaft, in der Chancengleichheit herrscht, als 4 Down-Syndrom
in einer Gesellschaft von Bauern und Adligen. Warum? 4 Eignungstest
4 Emotionale Intelligenz
4 Erblichkeit
4 Faktorenanalyse
11.5 Kapitelrückblick 4 Fluide Intelligenz
4 Geistige Behinderung
11.5.1 Verständnisfragen 4 Inhaltsvalidität
4 Intelligenz
jWas ist Intelligenz? 4 Intelligenzalter
11.1 Wie wird Intelligenz definiert? 4 Intelligenzquotient oder IQ
11.2 Was sind die Argumente für und gegen den Gedanken, dass 4 Intelligenztest
Intelligenz eine allgemeine geistige Fähigkeit ist? 4 Kohorte
11.3 Wie unterscheiden sich die Theorien multipler Intelligen- 4 Kreativität
zen von Gardner und Sternberg? 4 Kristalline Intelligenz
11.4 Was ist Kreativität und was fördert sie? 4 Leistungstest
11.5 Was sind die 4 Komponenten der emotionalen Intelligenz? 4 Normalverteilung
11.6 In welchem Ausmaß ist Intelligenz von der Gehirnanatomie 4 Normierung
abhängig? 4 Reliabilität
11.7 In welchem Ausmaß ist Intelligenz von der Geschwindig- 4 Savant-Syndrom
keit der neuronalen Verarbeitung abhängig? 4 Stanford-Binet-Intelligenztest
436 Kapitel 11 · Intelligenz

4 Stereotype Threat
4 Validität oder Gültigkeit
4 Vorhersagevalidität
4 Wechsler Adult Intelligence Scale (WAIS)

11.5.3 Weiterführende deutsche Literatur

Brackmann, A. (2007). Jenseits der Norm - hochbegabt und hoch sensibel?


Die seelischen und sozialen Aspekte der Hochbegabung bei Kindern
und Erwachsenen (4. Aufl.). Stuttgart: Klett-Cotta.
Bühner, M. (2010). Einführung in die Test- und Fragebogenkonstruktion
(3. Aufl.). München: Pearson.
Gardner, H. & Spengler, U. (2013). Intelligenzen: die Vielfalt des menschlichen
Geistes (2. Aufl.). Stuttgart: Klett-Cotta.
Moosbrugger, H. & Kelava, A. (2011). Testtheorie und Fragebogenkon-
struktion (2. Aufl.). Heidelberg: Springer.
Piaget, J. (2000). Psychologie der Intelligenz (10. Aufl.). Stuttgart: Klett-Cotta.
Stumpf, H. & Jackson, D. N. (1994). Gender-related differences in cognitive
abilities: evidence from a medical school admissions program. Personality
and Individual Differences, 17, 335–344.

11
437 12

Motivation und Arbeit


David G. Myers

12.1 Motivationskonzepte – 438


12.1.1 Instinkte und Evolutionspsychologie – 439
12.1.2 Triebe und Anreize – 439
12.1.3 Optimale Erregung – 440
12.1.4 Bedürfnishierarchie – 441

12.2 Hunger – 442


12.2.1 Physiologie des Hungers – 443
12.2.2 Psychologie des Hungers – 445
12.2.3 Adipositas und Gewichtskontrolle – 448

12.3 Sexuelle Motivation – 455


12.3.1 Physiologie der Sexualität – 455
12.3.2 Psychologie der Sexualität – 458
12.3.3 Sexualität im Jugendalter – 460
12.3.4 Sexuelle Orientierung – 463
12.3.5 Sexualität und die Wertvorstellungen von Menschen – 470

12.4 Das Bedürfnis nach Zugehörigkeit – 471


12.4.1 Soziale Bindung als Überlebenshilfe – 471
12.4.2 Wunsch nach Zugehörigkeit – 471
12.4.3 Beziehungen aufrechterhalten – 472
12.4.4 Der Schmerz der Ächtung – 473
12.4.5 Soziale Netzwerke – 475

12.5 Arbeitsmotivation – 478


12.5.1 Personalpsychologie – 481
12.5.2 Organisationspsychologie: Leistungsmotivation – 485
12.5.3 Der Faktor Mensch – 491

12.6 Kapitelrückblick – 494


12.6.1 Verständnisfragen – 494
12.6.2 Schlüsselbegriffe – 494
12.6.3 Weiterführende deutsche Literatur – 494

D. G. Myers, Psychologie,
DOI 10.1007/978-3-642-40782-6_12, © Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2014
438 Kapitel 12 · Motivation und Arbeit

Nach einem unglückseligen Samstag im Frühjahr 2003 hat der einem Vorschuljungen, der von einem einarmigen Mann hoch-
erfahrene Bergsteiger Aron Ralston verstanden, in welchem gehoben wurde. Durch diese Inspiration bot er seine ganze Kraft,
Maße die Motivation Tatkraft verleiht und das Verhalten steuern die er noch hatte, und seinen ungeheuren Willen auf, am Leben
kann. Nachdem er fast alle der höchsten Gipfel von Colorado zu bleiben: Innerhalb der folgenden Stunde zerbrach er absicht-
bezwungen hatte, wagte er es, allein durch einen Canyon zu lich seine Knochen und setzte jenes stumpfe Messer dazu ein,
wandern, der ihm so risikolos zu sein schien, dass er sich keine seinen Unterarm abzutrennen. Er legte einen Stauschlauch an,
Gedanken darum machte, irgendjemandem davon zu erzählen, durchtrennte das letzte Stück Haut und befreite sich nach
wohin er ging. Im engen Bluejohn Canyon (Utah), etwa 140 m 147 Stunden. Dann seilte er sich mit seinem blutenden halben
oberhalb der Stelle, an der er sich zuletzt abgeseilt hatte, kletterte Arm an einem 20 m hohen Abhang ab und lief 8 km, um jeman-
er über einen 350 kg schweren Felsbrocken als das Unglück ge- den zu finden. Er war mit seinen eigenen Worten ausgedrückt
schah: Der Fels bewegte sich und klemmte sein rechtes Handge- »einfach nur taumelnd vor Glück … ich war tot und stand in
lenk und seinen rechten Arm fest ein. Er steckte, wie es im Titel meinem Grab, hinterließ meinen letzten Willen und mein Testa-
seines Buchs heißt, fest Between a Rock and a Hard Place (das ment, ritzte ›Ruhe in Frieden‹ in die Felswand; all das war vorbei,
Buch heißt auf Deutsch schlicht Im Canyon). und stattdessen hatte ich mein Leben wieder. Es war zweifellos
Als er erkannte, dass ihn niemand retten würde, versuchte der schönste Augenblick, den ich je erlebt habe und je erleben
Ralston mit aller Kraft, den Felsen zu verschieben. Dann ver- werde« (Ralston 2004). Ralstons Durst und Hunger, sein Gefühl
suchte er, mit seinem stumpfen Taschenmesser den Felsen auf- der Zugehörigkeit zu anderen Menschen und der dem zugrunde
zumeißeln. Als er damit keinen Erfolg hatte, verzurrte er Seile, liegende Wille zu leben und Vater zu werden, betonen die Kraft
um den Felsen zu heben. Doch das alles funktionierte nicht. der Motivation, Energien zu mobilisieren und ihnen eine Rich-
Stunde für Stunde, dann eine kalte Nacht nach der anderen saß tung zu geben (. Abb. 12.1).
er fest.
Am Dienstag waren ihm Essen und Wasser ausgegangen. Am
Mittwoch quälten ihn Durst und Hunger; er bewahrte seinen 12.1 Motivationskonzepte
Urin auf und trank davon. Mit Hilfe seines Camcorders verab-
schiedete er sich von der Familie und von Freunden, für die er
12 ? 12.1 Wie definieren Psychologen Motivation? Aus welchen
jetzt intensive Gefühle der Liebe empfand: »Noch einmal, ich
Perspektiven betrachten sie motiviertes Verhalten?
liebe euch alle. Bringt der Welt zu meiner Ehre Liebe, Frieden,
Glück und ein wunderschönes Leben. Danke. Ich liebe euch.« Unsere Motivationen entstehen aus dem Zusammenspiel zwi-
Am Donnerstag war er überrascht festzustellen, dass er schen Anlage (dem physiologischen »Druck«) und Umwelt (den
immer noch am Leben war. Ralston hatte anscheinend eine gött- kognitiven und kulturellen »Zwängen«). Lassen Sie uns zunächst
liche Einsicht in seine reproduktive Zukunft, eine Vision von vier Perspektiven behandeln, aus denen motiviertes Verhalten

. Abb. 12.1 (Copyright © The New Yorker Collection, 2000, Bob Zahn / cartoonbank.com)
12.1 · Motivationskonzepte
439 12

. Abb. 12.2a,b Gleiches Motiv, unterschiedliche Ausführung. Je komplexer das Nervensystem, desto anpassungsfähiger der Organismus. Menschen und
Vögel befriedigen beide ihr Bedürfnis nach Schutz auf eine Art und Weise, die Ausdruck ihrer ererbten Fähigkeiten ist. Das menschliche Verhalten ist flexibel;
wir können alle Fertigkeiten lernen, die wir zum Hausbau benötigen. Das Verhaltensmuster des Vogels ist festgelegt; er kann nur diese Art Nest bauen. (a: ©
Wendy Kaveney / Fotolia; b: © photos.com)

betrachtet wird. Die Instinkttheorie (heute durch die evolutionäre Um als Instinkt bezeichnet zu werden, muss eine komplexe
Perspektive ersetzt) legt ihren Schwerpunkt auf genetisch prä- Verhaltensweise als festes Muster bei allen Mitgliedern einer
disponiertes Verhalten. Die Triebtheorie betont die Interaktion Spezies vorkommen und darf nicht gelernt sein (Tinbergen 1951).
von inneren Trieben und äußeren Zwängen. Die Erregungstheo- Solche Verhaltensweisen sind uns von anderen Gattungen be-
rie geht von einem Drang nach einem optimalen Stimulierungs- kannt (erinnern Sie sich an die Prägung bei Vögeln in 7 Kap. 6 und
grad aus. Und Maslows Bedürfnishierarchie beschreibt, wie die Rückkehr der Lachse zu ihrem Geburtsort in 7 Kap. 8). Auch
sich manche Motive als drängender und wichtiger als andere im menschlichen Verhalten sind ungelernte, angeborene Muster
erweisen können. zu beobachten, darunter einfache festgelegte Reflexe wie bei
einem Kind, das nach der Brust der Mutter sucht und daran saugt.
Motivation (»motivation«) – ein Bedürfnis oder ein Wunsch, der unser
Verhalten antreibt und lenkt. Instinkt (»instinct«) – komplexes Verhalten, das bei jedem Mitglied einer
Gattung als Muster festgelegt ist und nicht gelernt werden muss.

12.1.1 Instinkte und Evolutionspsychologie Obwohl die Instinkttheorie die meisten Motive menschlichen
Handelns nicht erklären konnte, bleibt die dahinter stehende An-
Anfang des 20. Jahrhunderts und unter dem wachsenden Ein- nahme bestehen, dass arttypisches Verhalten genetisch angelegt
fluss von Darwins Evolutionstheorie wurde es modern, alle ist (. Abb. 12.2). Dieser Hypothese sind wir bereits in 7 Kap. 8 in
möglichen Verhaltensweisen als Instinkte zu klassifizieren. der Diskussion über biologische Prädispositionen bei Tieren, die
Übte jemand Kritik an sich selbst, dann tat er das wegen zum Erlernen bestimmter Verhaltensweisen führen, begegnet.
seines »Selbsterniedrigungsinstinkts«. Wenn jemand prahlte, Und später werden wir diesem Thema wieder begegnen, wenn es
war dies ein Ergebnis seines »Selbstbehauptungsinstinkts«. Ein darum geht, wie die Evolution unsere Phobien, unser Hilfever-
Soziologe durchforstete 500 Bücher und stellte dann eine Liste halten und unsere erotischen Vorlieben beeinflusst.
von 5759 vermuteten menschlichen Instinkten zusammen!
Schon nach kurzer Zeit brach diese Marotte, Instinkte zu be-
nennen, unter ihrem eigenen Gewicht zusammen. Anstatt das 12.1.2 Triebe und Anreize
menschliche Verhalten zu erklären, begnügten sich die frühen
Instinkttheoretiker damit, es zu benennen. Das Vorgehen ähnelt Nachdem die ursprüngliche Instinkttheorie der Motivation an
dem Versuch, das schlechte Abschneiden eines klugen Kindes Ansehen verlor, wurde sie durch die Triebreduktionstheorie
in der Schule damit zu »erklären«, dass man es als leistungs- ersetzt, die davon ausgeht, dass ein physiologisches Bedürfnis
schwach bezeichnet. Ein Verhalten zu benennen heißt nicht, es einen Erregungszustand bewirkt und diese Erregung den Men-
zu erklären. schen wiederum dazu antreibt, das Bedürfnis zu reduzieren, z. B.
440 Kapitel 12 · Motivation und Arbeit

. Abb. 12.3 Triebreduktionstheorie. Die Motivation zur Triebreduktion entsteht aus der Homöostase – die natürliche Tendenz eines Organismus, einen
konstanten inneren Zustand aufrechtzuerhalten. Wenn wir unter Wasserentzug stehen, verleitet uns unser Durst zum Trinken und stellt so den normalen
Körperzustand wieder her

durch Essen oder Trinken. Wenn physiologische Triebe stärker einen Einfluss auf unsere Motive hat. Je nach individueller Lern-
werden, entsteht mit wenigen Ausnahmen auch ein psychischer geschichte kann der Duft von gutem Essen, seien es nun frisch
Trieb – ein erregter, motivierter Zustand. geröstete Erdnüsse (oder auch geröstete Ameisen), unser Verhal-
ten motivieren. Und das kann auch auf das Aussehen eines Men-
Triebreduktionstheorie (»drive-reduction theory«) – Annahme, dass ein
physiologisches Bedürfnis eine erregte Spannung erzeugt (einen Trieb), der schen zutreffen, den wir attraktiv oder bedrohlich finden.
den Organismus motiviert, das Bedürfnis zu befriedigen. Haben wir ein Bedürfnis und liegt gleichzeitig auch ein
äußerer Anreiz vor, sind wir hoch motiviert. Ein Mensch, der
Das physiologische Ziel der Triebreduktion ist die Homöostase, lange nichts gegessen hat und frisches Brot riecht, fühlt einen
die Erhaltung eines stabilen inneren Zustands. Ein Beispiel für starken Hungertrieb. Ist dieser Trieb vorhanden, wird das Brot
die Homöostase (wortgetreu »Gleichstand«) ist das Temperatur- zu einem alles überwindenden Anreiz. Bei jedem Motiv können
regulationssystem des Körpers, das wie ein Thermostat arbeitet. wir uns also fragen: »Welche angeborenen Bedürfnisse treiben
Beide Systeme funktionieren über Rückkopplungsschleifen: Sen- mich an, und welche Anreize kommen aus der Umwelt?«
soren übermitteln die Raumtemperatur zu einem Messgerät.
Anreiz (»incentive«) – positiver oder negativer Reiz in der Umwelt, der ein
Kühlt sich die Raumtemperatur ab, aktiviert das Messgerät die Verhalten motiviert.
Heizung. Genauso ist es, wenn unser Körper abkühlt. Die Blut-
gefäße ziehen sich zusammen, um Wärme zu speichern, und wir
haben das Bedürfnis, mehr anzuziehen oder uns in eine wärme- 12.1.3 Optimale Erregung
12 re Umgebung zu begeben (. Abb. 12.3).
Trotzdem sind wir viel mehr als ein homöostatisches System.
Homöostase (»homeostasis«) – Tendenz, einen ausgeglichenen und kons-
tanten inneren Zustand aufrechtzuerhalten; Regulation aller Bereiche der Manches motivierte Verhalten lässt die Erregung tatsächlich
Körperchemie, wie z. B. die Regulierung des Blutzuckers auf einer bestimm- zunehmen. Satte Tiere verlassen ihre Schutzhöhle, um die Um-
ten Höhe. gebung zu erkunden und um Informationen zu erlangen, ob-
wohl offensichtlich kein auf einem Bedürfnis beruhender Trieb
Wir werden aber nicht nur durch unser »Bedürfnis« nach Trieb- vorhanden ist. Neugier regt Affen dazu an herumzuspielen,
reduktion angetrieben, sondern auch von äußeren Anreizen ange- um herauszufinden, wie ein Riegel zu öffnen ist, der nichts
zogen: von positiven oder negativen Reizen, die uns locken oder verschließt, oder wie sich ein Fenster öffnen lässt, durch das
abstoßen. Das ist eine Art wie unsere individuelle Lerngeschichte sie hinausschauen können (. Abb. 12.4; Butler 1954). Neugier

. Abb. 12.4a,b Von Neugier getrieben. Babyaffen und Kinder sind fasziniert von Dingen, die sie noch nie zuvor in der Hand hatten. Ihr Trieb, relativ unbe-
kannte Dinge zu erkunden, ist eines der Motive, die nichts mit unmittelbaren physiologischen Bedürfnissen zu tun haben. (a: Mit freundlicher Genehmigung
des Harlow Primate Laboratory, University of Wisconsin; b: © photos.com)
12.1 · Motivationskonzepte
441 12

. Abb. 12.5a,b Maslows Bedürfnishierarchie bzw. Bedürfnispyramide. Sind unsere Bedürfnisse auf einem unteren Niveau erst einmal befriedigt, begin-
nen wir, uns unsere Bedürfnisse auf einem höheren Niveau zu erfüllen (nach Maslow 1970). Für die Überlebenden der Erdbeben- und Tsunamikatastrophe
2011 in Japan war die Befriedigung ihrer Grundbedürfnisse nach Wasser, Essen und Sicherheit von oberster Wichtigkeit. Bedürfnisse auf einem höheren Niveau
in Maslows Hierarchie, wie etwa Respekt, Selbstverwirklichung und Sinn, waren während dieser Zeiten deutlich unwichtiger. (a: © picture alliance / dpa;
b: MASLOW, ABRAHAM H.; FRAGER, ROBERT D.; FADIMAN, JAMES, MOTIVATION AND PERSONALITY, 3rd Edition, © 1987. Reprinted by permission of Pearson
Education, Inc., Upper Saddle River, NJ.)

ist der Antrieb für ein 9-monatiges Kind, jeden erreichbaren 12.1.4 Bedürfnishierarchie
Winkel im Haus zu untersuchen. Sie ist auch der Antrieb
für die Wissenschaftler, deren Arbeit wir in diesem Buch Manche Bedürfnisse haben Priorität vor anderen. Jetzt gerade
kennenlernen. Und sie treibt Entdecker und Abenteurer sind Ihre Bedürfnisse nach Luft und Wasser hoffentlich befrie-
wie Aron Ralston und George Mallory. Auf die Frage, warum digt, und andere Motive werden aktuell – z. B. Ihr Wunsch nach
er unbedingt den Mount Everest besteigen wollte, antwortete Erfolg, der auch später in diesem Kapitel besprochen wird – und
George Mallory: »Weil er da ist.« Menschen, die wie Mallory aktivieren und steuern Ihr Verhalten. Ist Ihr Bedürfnis nach
und Ralston die starke Aufregung genießen, bezeichnen die Wasser nicht befriedigt, wird Ihr Durst Sie voll und ganz be-
Psychologen als »Sensation Seeker«, also als Menschen, die schäftigen. Fragen Sie nur Aron Ralston. Hätten Sie aber keine
auf neue Empfindungen aus sind; sie hören häufig auch laute Luft zum Atmen, würde Ihr Durst verschwinden.
Musik, probieren neue Gerichte aus und lieben das Risiko Abraham Maslow (1970) beschrieb diese Prioritäten als Be-
(Zuckerman 1979). dürfnishierarchie bzw. Bedürfnispyramide (. Abb. 12.5). Den
Die Motivation zielt beim Menschen nicht darauf ab, die Sockel dieser Pyramide bilden unsere physiologischen Bedürf-
Erregung zu beseitigen, sondern ein optimales Erregungsniveau nisse, wie die nach Nahrung und Wasser. Erst wenn diese Be-
zu erreichen. Auch wenn alle unsere physiologischen Bedürf- dürfnisse erfüllt sind, werden andere aktuell: das nach Sicher-
nisse erfüllt sind, fühlen wir einen Drang nach Stimulation heit, danach die einzigartigen menschlichen Bedürfnisse nach
und hungern nach Informationen. Die Neurowissen- dem Geben und Annehmen von Liebe und dem Genuss des
schaftler Irving Biederman und Edward Vessel (2006) bezeich- Selbstwerts. Laut Maslow (1971) folgt darauf das höchste der
neten uns als »infovores« – also als Personen, die Informations- menschlichen Bedürfnisse: das Bedürfnis nach Selbstverwirkli-
gewinnung genießen – nachdem sie Gehirnmechanismen ent- chung (mehr zum Thema Selbstwert und Selbstverwirklichung
deckt hatten, die uns für das Erwerben neuer Informationen in 7 Kap. 14).
belohnen. Ohne Stimulation fühlen wir uns gelangweilt und
suchen nach einer Möglichkeit, wie unsere Erregung auf ein Bedürfnishierarchie (»hierarchy of needs«) – Maslows Pyramide der
menschlichen Bedürfnisse; beginnend mit den physiologischen Bedürf-
optimales Niveau erhöht werden kann. Wenn die Stimulation
nissen, die erst erfüllt sein müssen, bevor auf einer höheren Stufe
jedoch zu stark ist, kommt Stress auf, und wir suchen nach einer das Bedürfnis nach Sicherheit und danach die psychischen Bedürfnisse
Möglichkeit, die Erregung wieder abzubauen. aktuell werden.
442 Kapitel 12 · Motivation und Arbeit

» Hunger ist die dringlichste Form der Armut. 12.2 Hunger


Alliance to End Hunger (2002)
Eine lebensnahe Demonstration der alles überlagernden Be-
Gegen Ende seines Lebens stellte Maslow die Vermutung an, dass deutung physiologischer Bedürfnisse findet man in der Unter-
manche Menschen auch ein Niveau der Selbstüberschreitung er- suchung von Keys und seinen Kollegen (1950). Sie untersuchten
reichen. Auf dem Niveau der Selbstverwirklichung versuchen die Auswirkungen des Hungerns an 36 jungen Männern, die alle
Menschen, ihr eigenes Potenzial zu realisieren. Auf dem Niveau Kriegsdienstverweigerer aus Gewissensgründen waren und die
der Selbstüberschreitung streben die Menschen nach Sinn und freiwillig am Experiment teilnahmen, indem sie ihnen nur noch
Zweck und einer transpersonalen, also einer jenseits des Selbst die Hälfte ihrer ursprünglichen Menge zu essen gaben. Ohne
liegenden, Gemeinschaft (Koltko-Rivera 2006). groß darüber nachzudenken, fingen die Männer an, Energie zu
Maslows Hierarchie ist zum Teil willkürlich festgelegt. Die sparen; sie schienen lustlos und apathisch zu sein. Ihr Körperge-
Rangfolge dieser Bedürfnisse ist nicht universell. Menschen wicht nahm rapide ab und pendelte sich schließlich bei ungefähr
haben sich schon zu Tode gehungert, um ihren politischen 75% ihres Ausgangsgewichts ein.
Standpunkt darzulegen. Die heutigen Evolutionspsychologen Doch die psychischen Auswirkungen waren besonders dra-
stimmen mit den vier Grundniveaus von Maslows Bedürfnishie- matisch. Im Einklang mit Maslows Vorstellung von der Bedürf-
rarchie überein. Aber sie heben hervor, dass das Gewinnen und nishierarchie waren die Männer wie besessen vom Thema Essen.
Behalten von Freunden und das Erziehen des Nachwuchses auch Sie sprachen über Essen. Sie fantasierten über Essen. Sie sam-
universelle menschliche Motive sind (Kenrick et al. 2010). melten Rezepte, lasen Kochbücher, und verbotene Delikatessen
Trotzdem stellt die Vorstellung, dass einige Motive stärker waren für sie eine Augenweide. Gleichzeitig verloren sie das In-
sind als andere, einen Rahmen für die Beschäftigung mit dem teresse an Sexualität und sozialen Aktivitäten. Sie waren vollauf
Thema Motivation dar, und Umfragen zum Thema Lebenszu- mit ihren unerfüllten Grundbedürfnissen beschäftigt. Ein Teil-
friedenheit in der ganzen Welt stützen diese Annahmen (Tay u. nehmer berichtete: »Als wir uns eine Sendung im Fernsehen an-
Diener 2011; Oishi et al. 1999). In ärmeren Ländern, in denen sahen, waren die Szenen, in denen Menschen aßen, die interes-
Geldmangel den Zugang zu Nahrung und Schutz erschwert, wird santesten. Ich konnte über das lustigste Bild nicht lachen, und
die subjektive Lebenszufriedenheit stärker über die Zufrieden- Liebesszenen waren für mich stumpfsinnig.«
12 heit mit der finanziellen Situation definiert. In reichen Nationen,
wo sich die meisten ihre Grundbedürfnisse erfüllen können, ist
» Wer hungrig ist, will keinen Kuss.
Dorothea Dix (1801–1887)
der Wert, den Familie und Freunde einnehmen, ein besserer Prä-
diktor. Das Selbstwertgefühl ist in individualistischen Gesell- Die Hauptbeschäftigungen der halb verhungerten Männer ver-
schaften von größter Bedeutung, in denen sich die Bürger in der deutlichen die Kraft, mit der aktivierte Motive unser Bewusst-
Regel eher auf persönliche Ziele konzentrieren als darauf, sich sein beanspruchen können. Wenn man hungrig, durstig, ermü-
mit der Familie und der Gemeinschaft zu identifizieren. det oder sexuell erregt ist, spielt kaum etwas anderes eine Rolle
Im Folgenden werden wir uns näher mit vier repräsentativen (. Abb. 12.6). Wenn man es jedoch nicht ist, erscheinen Essen,
Motiven beschäftigen: Wir beginnen mit dem grundlegenden Wasser, Schlafen oder Sex als nicht so wichtige Dinge in unserem
physiologischen Motiv des Hungers, dann kommt die sexuelle Leben, weder für den Moment noch generell. (Vielleicht können
Motivation und schließlich die Bedürfnisse auf höherer Ebene, Sie sich an einen ähnlichen Effekt – den Effekt unserer momen-
das Bedürfnis nach Zugehörigkeit und die Leistungsmotivation. tanen guten oder schlechten Laune auf unsere Erinnerungen –
Auf jeder Stufe werden wir sehen, wie die Erfahrung mit der in 7 Kap. 9 erinnern.)
Biologie interagiert.
» Die Natur stattet oft die essentiellen Dinge des Lebens –
Prüfen Sie Ihr Wissen Sex, Essen, Stillen – mit einer eingebauten Belohnung aus.
Frans de Waal, Morals Without God?, 2010
5 Nachdem Sie stundenlang in einer fremden Stadt herum-
gefahren sind, finden Sie endlich ein Restaurant. In Studien der Universität von Amsterdam fanden Nordgren und
Obwohl es verlassen und ein bisschen unheimlich aus- seine Kollegen (2006, 2007) heraus, dass sich Menschen in einem
sieht, halten Sie an, denn Sie sind wirklich hungrig. motivationalen »heißen« Zustand (durch Ermüdung, Hunger
Wie würde Maslows Bedürfnishierarchie Ihr Verhalten oder sexuelle Erregung) einfach an solche Gefühle aus ihrer
erklären? eigenen Vergangenheit erinnern können und sie als treibende
Kräfte für das Verhalten anderer Personen ansehen. Etwas Ähn-
liches ist bei Vorschulkindern festzustellen: Sie ziehen verständ-
licherweise Wasser vor, nachdem sie salzige Brezeln gegessen
haben, jedoch wählen sie im Gegensatz zu Kindern, die nicht
durstig sind, ebenfalls Wasser anstelle von Brezeln für »morgen«
12.2 · Hunger
443 12

. Abb. 12.6 (Copyright © The New Yorker Collection, 2009, Mike Twohy / cartoonbank.com)

(Atance u. Meltzoff 2006). Motive sind von überaus wichtiger das so angelegt ist, dass das normale Körpergewicht und eine an-
Bedeutung. Wenn man mit einem leeren Magen durch ein gemessene Versorgung mit Nahrung aufrechterhalten werden.
Lebensmittelgeschäft läuft, ist es wahrscheinlich, dass man die Aber was genau löst das Hungergefühl aus? Ist es das Knurren
gefüllten Berliner als genau das ansieht, was man immer geliebt eines leeren Magens? So fühlt sich Hunger zumindest an. Und
hat und was man morgen haben möchte. so war es anscheinend auch, als Washburn, der zusammen mit
Cannon arbeitete (Cannon u. Washburn 1912), zum ersten Mal
» Ein satter Mensch kann die Bedürfnisse des Hungrigen nicht
absichtlich einen Ballon geschluckt hatte. Als der Ballon in seinem
verstehen.
Magen aufgeblasen wurde, übermittelte er die Kontraktionen des
Irisches Sprichwort
Magens an einen Sensor (. Abb. 12.7). Während sein Magen
überwacht wurde, drückte Washburn jedes Mal auf einen Knopf,
wenn er hungrig wurde. Die Entdeckung: Washburns Magen zog
12.2.1 Physiologie des Hungers sich tatsächlich zusammen, wenn er hungrig war.
Was bliebe vom Hunger übrig, wenn der Magen nicht mehr
knurrte? Um diese Frage zu beantworten entfernten Forscher die
? 12.2 Welche physiologischen Faktoren rufen Hunger hervor?
Mägen einiger Ratten und befestigten die Speiseröhren am Dünn-
Die halb verhungerten Teilnehmer an Keys Experiment emp- darm (Tsang 1938). Fraßen die Ratten noch? Sie taten es tatsäch-
fanden den Hunger als Reaktion ihres homöostatischen Systems, lich. Auch Menschen, deren Mägen wegen eines Geschwürs oder

. Abb. 12.7 Die Aufzeichnung von Magenkontraktionen. Mit dieser Prozedur zeigte Washburn, dass Hungergefühle (die mit einem Knopfdruck gemel-
det wurden) mit Magenkontraktionen (übermittelt durch den Magenballon) einhergehen. (Aus Cannon 1929, mit freundlicher Genehmigung)
444 Kapitel 12 · Motivation und Arbeit

wegen Krebs entfernt wurden, empfinden noch immer einen


gewissen Hunger.
Wenn das Knurren eines leeren Magens also doch nicht
die einzige Ursache des Hungers ist, was ist sonst noch von
Bedeutung?

Körperchemie und Gehirn


Um einen Energiemangel zu vermeiden und das Körpergewicht
stabil zu halten, reguliert der Mensch – genau wie andere Tiere
– seine Kalorienaufnahme automatisch. Der Körper führt also
irgendwie und irgendwo Buch über seine verfügbaren Ressour-
cen. Die Glukose, der Blutzucker, ist eine solche Ressource. Das
Hormon Insulin, das von der Bauchspeicheldrüse ausgeschüttet
wird, baut den Blutzucker ab, indem es ihn teilweise in Körperfett
verwandelt. Wenn ihr Blutzuckerspiegel plötzlich sinkt, fühlen . Abb. 12.8 Der Hypothalamus. Wie wir schon in 7 Kap. 3 gesehen haben,
Sie diese Veränderung nicht bewusst. Ihr Gehirn, das automa- steuert der Hypothalamus (gelb) viele Funktionen zur Aufrechterhaltung
des Körpers, darunter den Hunger. Blutgefäße versorgen den Hypothalamus,
tisch die Zusammensetzung Ihres Blutes und die Verhältnisse im
dadurch kann er auf die aktuelle chemische Zusammensetzung des Blutes
Inneren Ihres Körpers überwacht, wird jedoch Hunger auslösen. und auf die eingehenden neuronalen Informationen über den Zustand des
Magen, Darm und Leber signalisieren Ihrem Gehirn, ob gerade Körpers reagieren. (Aus Birbaumer u. Schmidt 2010)
genügend Glukose vorhanden ist oder nicht, also, ob gegessen
werden soll oder nicht.
PYY, die beide Hunger mindern, und Orexin, das Hunger auslöst
Glukose (»glucose«) – Form des Zuckers, die im Blut zirkuliert und die
Hauptenergiequelle für das Körpergewebe darstellt. Sinkt der Glukose- (. Abb. 12.9).
spiegel, fühlen wir uns hungrig. Die Manipulation von Appetithormonen, die man in Expe-
rimenten vornahm, weckte durchaus die Hoffnung, dass man
12 Wie verarbeitet das Gehirn diese Signale und löst einen Alarm einen Appetitzügler finden könnte. Ein solches Nasenspray oder
aus? Die Arbeit wird von mehreren neuronalen Gebieten über- Hautpflaster könnte den Hunger produzierenden chemischen
nommen, von denen einige tief im Gehirn im Hypothalamus Stoffen des Körpers entgegenwirken oder die Wirkung der che-
liegen (. Abb. 12.8). Dieser neuronale Knotenpunkt umfasst mischen Stoffe, die den Hunger reduzieren, nachahmen oder
Gebiete, die das Essen beeinflussen. Ein neuronaler Bogen – der sogar verstärken.
sog. Nucleus arcuatus – hat beispielsweise ein Zentrum, das appe- Die komplexe Interaktion von Appetithormonen und der
titsteigernde Hormone und ein anderes Zentrum, das appetit- Gehirnaktivität könnte die offensichtliche Veranlagung des Kör-
hemmende Hormone ausschüttet. Untersuchungen an diesen pers, ein bestimmtes Gewicht zu halten, erklären. Verlieren halb
und anderen neuronalen Gebieten zeigen, dass gut genährte Tiere verhungerte Ratten Gewicht, signalisiert dieses »Gewichtsther-
bei elektrischer Stimulation eines appetitsteigernden Zentrums mostat« dem Körper, das verlorene Gewicht wiederherzustellen:
zu essen beginnen. Wurde dieser Teil aber zerstört, interessieren Der Hunger der Tiere wird größer und ihr Energieverbrauch ge-
sich auch hungernde Tiere nicht für Futter. Das Gegenteil tritt auf, ringer. Steigt das Körpergewicht an – z. B. wenn Ratten zwangs-
wenn ein appetithemmendes Gebiet elektrisch stimuliert wird: weise gefüttert werden – verringert sich ihr Hunger, und ihr Ener-
die Tiere hören auf zu essen. Zerstört man dieses Gebiet, essen die gieverbrauch steigt an. Das stabile Gewicht, auf das sich die hun-
Tiere immer mehr und werden extrem dick (Duggan u. Booth gernden und die gesättigten Ratten zubewegen, ist ihr Set Point
1986; Hoebel u. Teitelbaum 1966). (Keesey u. Corbett 1983). Bei Ratten und bei Menschen beeinflusst
Blutgefäße verbinden den Hypothalamus mit dem Rest des das Erbgut die Körperform und den Set Point (. Abb. 12.10).
Körpers, sodass er auf die aktuelle Zusammensetzung des Blutes Set Point (Sollwert; »set point«) – Punkt, auf den der individuelle »Körper-
und andere ankommende Informationen reagieren kann. Eine thermostat« ausgerichtet ist. Fällt das Körpergewicht unter diesen Punkt,
seiner Aufgaben ist die Überwachung der Hormonspiegel in führt normalerweise eine Steigerung des Hungers und eine Senkung des
Stoffwechsels dazu, dass man wieder zunimmt.
Bezug auf die Appetithormone des Körpers. So z. B. die Über-
wachung des Hormons Ghrelin, das Hunger hervorruft und Der menschliche Körper reguliert sein Gewicht über die
bei leerem Magen ausgeschüttet wird. Wenn sich Personen mit Steuerung der Nahrungsaufnahme, des Energieverbrauchs und
schwerer Fettleibigkeit einer Bypass-Operation unterziehen, des Grundumsatzes, d. h. der Energiemenge, die für die Er-
bei der ein Teil des Magens versiegelt wird, produziert der ver- haltung der grundlegenden Körperfunktionen im Ruhezustand
bleibende Magen weniger Ghrelin und der Appetit geht zurück benötigt wird. Als sie nach 6 Monaten aufhörten zu hungern,
(Lemonick 2002). Weitere Appetithormone sind Leptin und hatten sich die Männer, die an Keys Experiment teilnahmen, auf
12.2 · Hunger
445 12

. Abb. 12.10 Belege für die Steuerung des Hungers durch das Gehirn.
Das Zerstören eines appetithemmenden Zentrums des Hypothalamus führte
dazu, dass sich das Gewicht dieser Ratte verdreifachte. (© Richard Howard)

Vorstellung eines biologisch feststehenden Set Points aufgegeben.


Sie ziehen den Begriff Einstellpunkt (»settling point«) vor, um auf
. Abb. 12.9 Die Appetithormone. Insulin, von der Bauchspeicheldrüse das Niveau zu verweisen, auf das sich das Gewicht einer Person
ausgeschüttetes Hormon; steuert den Blutzuckerspiegel. Ghrelin, vom in Reaktion auf die Kalorienaufnahme und die Verausgabung
leeren Magen ausgeschüttetes Hormon, sendet das Signal ans Gehirn: »Ich einstellt (dies wird von der Umwelt, aber auch von der Biologie
bin hungrig.« Orexin, vom Hypothalamus ausgeschüttetes Hormon, das
beeinflusst).
Hunger auslöst. Leptin, von den Fettzellen ausgeschüttetes Hormon, und
PYY, Hormon des Verdauungstrakts, die beide Hunger unterdrücken
Prüfen Sie Ihr Wissen

5 Hunger entsteht als Reaktion auf einen


75% ihres Ausgangsgewichts eingependelt, obwohl sie nur halb so (niedrigen/hohen) Blutzuckerspiegel und einen
viel aßen wie zuvor. Diese Stabilisierung ergab sich aus einer Ver- (niedrigen/hohen) Ghrelinspiegel.
ringerung ihres Energieverbrauchs, der zum Teil durch körper-
liche Lethargie bewirkt wurde, und teilweise durch eine Herab-
setzung ihres Grundumsatzes um 29%.
12.2.2 Psychologie des Hungers
Grundumsatz (»basal metabolic rate«) – Energiemenge, die ein Körper im
Ruhezustand verbraucht.

? 12.3 Welche psychologischen, kulturellen und situativen


Im Laufe der nächsten 40 Jahre werden Sie etwa 20 Tonnen Essen Faktoren beeinflussen Hunger?
zu sich nehmen. Wenn Ihre tägliche Nahrungsaufnahme in dieser
Unsere Bereitschaft zu essen wird tatsächlich von unserem phy-
Zeit nur um etwa 0,28 g über ihrer benötigten Energiemenge liegt,
siologischen Zustand angetrieben, von unserer Körperchemie
werden Sie etwa 10 kg zunehmen (Martin et al. 1991).
und der Aktivität des Hypothalamus. Trotzdem spielt beim Hun-
Einige Forscher bezweifeln jedoch, dass unser Körper über eine ger nicht nur der Magen eine Rolle. Dies wurde sehr deutlich,
voreingestellte Tendenz verfügt, das optimale Körpergewicht als Rozin et al. (1998) zwei Patienten mit Amnesie untersuchten,
aufrechtzuerhalten (Assanand et al. 1998). Sie glauben, dass lang- die sich nicht an Ereignisse erinnern konnten, die länger als 1 Mi-
same, anhaltende Veränderungen des Körpergewichts zu einer nute zurücklagen. Bot man den Patienten 20 Minuten nach ih-
Anpassung des Set Points führen könnten und dass psychische rem normalen Mittagessen eine weitere Mahlzeit an, verspeisten
Faktoren manchmal auch unsere Hungergefühle beeinflussen beide Patienten auch diese bereitwillig … und normalerweise
können. Wenn sie Zugang zu einer breiten Vielfalt wohlschme- auch noch eine dritte Mahlzeit 20 Minuten nach Beendigung der
ckender Nahrungsmittel haben, neigen Menschen und andere zweiten. Daraus lässt sich folgern, dass ein Teil unseres Wissens,
Lebewesen dazu, zu viel zu essen und zuzunehmen (Raynor u. wann wir essen sollen, daraus entsteht, dass wir uns daran erin-
Epstein 2001). Aus all diesen Gründen haben einige Forscher die nern, wann wir das letzte Mal gegessen haben. Ist eine geraume
446 Kapitel 12 · Motivation und Arbeit

. Abb. 12.11a,b Erworbener Geschmack. Überall auf der Welt lernen Menschen, das fette, bittere oder scharfe Essen zu schätzen, das für ihre Kultur typisch
ist. a Für die Yupik, die Ureinwohner Alaskas, – nicht jedoch für die meisten Nordamerikaner – ist akutaq (manchmal auch »Eiscreme der Eskimos« genannt,
die traditionell mit Rentierfett, Seehundöl und Waldbeeren hergestellt wird) eine wohlschmeckende Süßigkeit. b Für Peruaner ist geröstetes Meerschweinchen
gleichermaßen köstlich. (a: © AP Photo / Al Grillo; b: © Mark Bowler / Alamy)

12
Zeit seit unserer letzten Mahlzeit verstrichen, wissen wir, dass es päer lehnen überwiegend ab, Hunde-, Ratten- und Pferdefleisch
bald wieder Essen gibt, und werden hungrig. zu essen, das in anderen Erdteilen als Delikatesse gilt.
Ratten neigen dazu, ihnen nicht vertraute Nahrung zu
Geschmacksvorlieben: Biologie oder Kultur? meiden (Sclafani 1995). Genauso ist es auch bei uns Menschen
Die Körperchemie und äußere Faktoren haben nicht nur Einfluss (besonders bei Nahrungsmitteln tierischen Ursprungs). Diese
darauf, wann wir hungrig werden, sondern auch, worauf wir Neophobie (die Angst gegenüber dem Neuen) war gewiss sinn-
Hunger haben; sie haben also Einfluss auf unsere Geschmacks- voll für unsere Vorfahren, da sie auch ein Schutz vor möglicher-
vorlieben. Wenn Sie sich angespannt oder deprimiert fühlen, weise giftigen Substanzen war. Dennoch wurde in Experimenten,
spüren Sie dann ein Verlangen nach Essen mit vielen Kohlen- in denen Menschen neue Obstsäfte oder Speisen aus einer
hydraten? Kohlenhydrate tragen dazu bei, dass der Neurotrans- anderen Kultur mehrmals probierten, gezeigt, dass ihnen der
mitter Serotonin, der beruhigend wirkt, vermehrt ausgeschüttet neue Geschmack meistens umso mehr gefiel, je häufiger sie die
wird. Sogar Ratten finden es besonders angenehm, Oreo-Kekse Nahrung zu sich nahmen. Auch erhöht sich unsere Bereitschaft,
zu verschlingen, wenn sie gestresst sind (Artiga et al. 2007; etwas Neues zu kosten, sobald wir einmal eine solche Erfahrung
Boggiano et al. 2005). gemacht haben (Pliner 1982; Pliner et al. 1993).
Unsere Vorliebe für süße und salzige Nahrungsmittel ist Andere Geschmacksvorlieben haben ebenso einen Sinn
angeboren und universell. Andere Geschmacksvorlieben werden für die Anpassung. So verhindern z. B. die Gewürze, deren Ver-
erlernt; so entwickeln Menschen z. B. eine Vorliebe für stark ge- wendung in heißen Ländern verbreitet ist, wo Speisen – vor allem
salzene Nahrungsmittel, wenn sie sie häufig bekommen haben Fleisch – schnell verderben, das Wachstum von Bakterien (. Abb.
(Beauchamp 1987). Oder sie entwickeln eine Aversion gegen ein 12.12). Schwangerschaftsübelkeit ist ein weiteres Beispiel für
bestimmtes Nahrungsmittel, wenn sie kurz danach ernsthaft nützliche Geschmacksvorlieben. Nahrungsmittelaversionen, die
krank geworden sind. (Die Häufigkeit, mit der Kinder krank auf diese Übelkeit zurückgehen und den sich entwickelnden Em-
werden, vergrößert die Wahrscheinlichkeit, dass sie Aversionen bryo schützen, treten vor allem um die 10. Woche herum auf,
gegen Nahrungsmittel erlernen.) wenn die Gefahr am größten ist, dass der Embryo durch Gift-
Auch die Kultur beeinflusst die Geschmacksvorlieben (. Abb. stoffe geschädigt wird.
12.11). Beduinen essen gerne Kamelaugen, die viele Menschen Es gibt also eine Art biologische Weisheit für unsere
aus westlichen Kulturen ekelhaft finden. Amerikaner und Euro- Geschmacksvorlieben. Kulturelle Trends können ebenso die
12.2 · Hunger
447 12
Sie schon einmal solch ein situatives Phänomen bemerkt, obwohl
Sie wahrscheinlich seine Kraft unterschätzt haben: Menschen
essen mehr, wenn sie mit anderen zusammen essen (Herman
et al. 2003; Hetherington et al. 2006). Wie wir später in 7 Kap. 15
sehen werden, kann die Anwesenheit anderer unsere natürlichen
Verhaltenstendenzen verstärken (ein Phänomen, das soziale
Erleichterung [»social facilitation«] genannt wird und das er-
klären kann, warum wir nach einer Feier bemerken, dass wir uns
übergessen haben).
Ein anderer Aspekt der Ökologie des Essverhaltens, den
Geier und seine Kollegen (2006) als Einheitstendenz (»unit bias«)
bezeichnen, tritt genauso unbewusst auf. In Zusammenarbeit mit
Forschern des France’s National Center for Scientific Research
erforschten sie eine mögliche Erklärung dafür, dass französische
. Abb. 12.12 In heißen Regionen liebt man scharfe Gewürze. In Ländern
Taillen schmaler als amerikanische Taillen sind. Franzosen
mit heißem Klima, wo Nahrung immer schon schneller verdarb, entwickel- bieten ihr Essen in kleineren Portionsgrößen an – seien es Süß-
ten sich Rezepte mit mehr Gewürzen, die Bakterien abtöten (Sherman u. getränke oder Joghurt-Verpackungen. Ist dies von Bedeutung?
Flaxman 2001). In Indien würzt man ein Fleischgericht durchschnittlich mit (Man könnte auch zwei kleine Sandwiches anstelle von einem
10, in Finnland mit 2 Gewürzen
großen bestellen.)
Um dies herauszufinden, haben Forscher Personen verschie-
dene Sorten kostenloser Snacks angeboten. Sie legten beispiels-
menschliche Genetik, die die Ernährung und den Geschmack weise in die Eingangshalle eines Mehrfamilienhauses entweder
bestimmt, beeinflussen. In Gebieten, in denen landwirtschaftlich ganze oder halbe Salzbrezeln, große oder kleine Kaubonbons
Milch produziert wurde, hatten Menschen mit Laktosetoleranz oder eine große Schüssel M&Ms mit entweder einem kleinen
bessere Überlebenschancen (Arjamaa u. Vuorisalo 2010). oder einem großen Schöpflöffel. Ihre Ergebnisse waren ein-
heitlich: Menschen nehmen mehr Kalorien zu sich, wenn ihnen
Situative Einflüsse auf das Essverhalten eine überdimensionierte Standardportion angeboten wird. Ein
Situationen beeinflussen unser Essverhalten in einem erstaun- anderes Forschungsteam unter Wansink (2006, 2007) forderte
lichen Ausmaß (. Abb. 12.13; . Abb. 12.14). Vielleicht haben Menschen dazu auf, sich selbst Eiscreme zu schöpfen. Auch sie

. Abb. 12.13 Kochsendungen verstärken den Appetit, jedoch nicht das gesunde Kochen zu Hause. Heute werden Dutzende von Kochshows, wie hier
mit Steffen Henssler (© Henning Kaiser / picture alliance / dpa), tagtäglich für Millionen von Zuschauern übertragen. Trotzdem kochen weniger Amerikaner
denn je selbst gesündere Mahlzeiten zu Hause (Pollan 2009). Nationen, die der Zubereitung von Essen zu Hause mehr Zeit widmen, haben einen nied-
rigeren Anteil an Fettleibigkeit (Cutler et al. 2003)
448 Kapitel 12 · Motivation und Arbeit

. Abb. 12.14 Analyseniveaus bei der Hungermotivation. Wir werden eindeutig von unserer Biologie dazu gebracht zu essen. Doch psychische und
soziokulturelle Faktoren haben einen Einfluss darauf, was, wann und wie viel wir essen

entdeckten die »Einheitstendenz«: Selbst Ernährungsberater Prüfen Sie Ihr Wissen


nahmen 31% mehr zu sich, wenn ihnen die große anstelle der
12 kleinen Schüssel angeboten wurde, und 15% mehr, wenn sie sich 5 Nach einer achtstündigen Wandertour ohne Essen wird
das Eis mit einem großen Löffel anstelle eines kleinen Löffels Ihnen Ihr lang ersehntes Lieblingsgericht serviert
schöpften. und Ihnen läuft das Wasser schon im Voraus im Mund
Die Auswahl an Nahrungsmitteln stimuliert ebenfalls das zusammen. Warum?
Essverhalten. Wenn uns ein Nachtischbuffet angeboten wird,
essen wir meistens mehr, als wenn wir uns eine Portion von
unserem Lieblingsnachtisch aussuchen dürfen. Dieses Verhalten 12.2.3 Adipositas und Gewichtskontrolle
macht auch biologisch Sinn. Wenn es verschiedene Sorten von
Nahrung im Überfluss gibt, versorgt das Essen uns mit mehr
? 12.4 Welche Faktoren veranlagen Menschen dazu, adipös
benötigten Vitaminen und Mineralien und produziert Fett, das
zu werden und es zu bleiben?
uns vor der Kälte im Winter und in Hungersnöten schützt. Wenn
keine großen Mengen abwechslungsreicher Nahrung verfügbar Warum nehmen manche Menschen zu, während andere genauso
sind, essen wir weniger. Dies verlängert die Nahrungsmittelver- viel essen und nur selten ein Kilo zulegen? Und warum schaffen es
sorgung bis zum Ende des Winters oder der Hungersnot (Polivy nur so wenige übergewichtige Menschen, dauerhaft abzunehmen?
et al. 2008; Remick et al. 2009). Unser Körper speichert aus gutem Grund Fett. Eigentlich ist
Für Kulturen, die mit steigenden Adipositasraten zu kämpfen Fett eine ideale Form gespeicherter Energie – eine kalorienreiche
haben, impliziert das Prinzip, dass die Ökologie unser Essverhal- Brennstoffreserve, damit der Körper Zeiten überstehen kann, in
ten beeinflusst, eine praktische Botschaft. Bevor Sie mit anderen denen Nahrungsmittel knapp sind, ein sinnvoller Mechanismus
essen, entscheiden Sie, wie viel Sie essen möchten. Reduzieren Sie zur Zeit unserer Vorfahren, als Hungersnöte und Überfluss
die Standardportionsgrößen. Servieren Sie in kleinen Schüsseln, ständig einander abwechselten. (Stellen Sie sich den Reifen um
auf kleinen Tellern und anderen kleinen Küchenutensilien. Limi- die Körpermitte als einen Energiespeicher vor – das Pendant der
tieren Sie die Vielfalt. Bewahren Sie verlockendes Essen außer Biologie zum Müsliriegel beim Wanderer.) Es ist kein Wunder,
Sicht auf. dass Adipositas heutzutage in den meisten Entwicklungsländern,
wie in Europa in früheren Jahrhunderten, ein Zeichen für Reich-
tum und für sozialen Status ist und schwergewichtige Menschen
in diesen Ländern als attraktiv angesehen werden (Furnham u.
Baguma 1994; Swarni et al. 2011).
12.2 · Hunger
449 12
an Diabetes, Bluthochdruck, Herzkrankheiten, Gallensteinen,
Arthritis oder bestimmten Krebsarten zu erkranken, und damit
auch die Kosten des Gesundheitswesens, und sie verkürzt die
Lebenserwartung (de Gonzales et al. 2010; Jarrett et al. 2010; Sun
2009). Neueste Forschungsarbeiten haben Adipositas bei Frauen
auch mit dem Risiko in Verbindung gebracht, im späteren Leben
kognitiv abzubauen – beispielsweise aufgrund einer Alzheimer-
Demenz und einem Verlust an Hirngewebe (Bruce-Keller et al.
2009; Whitmer et al. 2008). In einem Experiment fand man
heraus, dass schwer adipöse Patienten 12 Wochen nach einer
Operation zur Gewichtsreduktion und nachdem sie signifikant
Gewicht verloren hatten, eine verbesserte Gedächtnisleistung
zeigten. Die Personen, die sich keiner Operation unterzogen
hatten, zeigten weiterhin einen kognitiven Rückgang (Gunstad
et al. 2011).
Es überrascht daher nicht, was bei einer Studie (Calle et al.
1999) herauskam, bei der mehr als 1 Mio. Amerikaner über
14 Jahre hinweg wissenschaftlich begleitet wurden: Wenn
man sehr übergewichtig ist, kann dies das Leben verkürzen
(. Abb. 12.16). Eine neuere Übersichtsarbeit von 57 Studien an
900.000 Erwachsenen zeigte, dass mittelmäßig adipöse Men-
. Abb. 12.15 Adipositas, gemessen als Body Mass Index (BMI). Obwohl schen (mit einem BMI zwischen 30 und 35) 2–4 Jahre kürzer
der BMI kritisiert wird, da er nicht zwischen zusätzlichem Körpergewicht lebten als die nicht adipösen Menschen; die schwer adipösen
aufgrund von Muskeln im Gegensatz zu Fett unterscheidet, empfehlen staat-
liche Richtlinien in den USA einen Body Mass Index unter 25. Für die Welt-
Menschen lebten – ähnlich wie Raucher – im Durchschnitt
gesundheitsorganisation und viele Länder ist man adipös, wenn der BMI bei 8–10 Jahre kürzer (PCS 2009).
30 oder darüber liegt. Die Einteilung der Felder in der Abbildung beruht
auf BMI-Berechnungen für diese Größen und Gewichte. Der BMI wird an- Soziale Auswirkungen der Adipositas
hand folgender Formel errechnet: BMI = Gewicht in kg/(Größe in m)2
Adipositas kann auch in sozialer Hinsicht ein Gift sein: Sie be-
einflusst die Art, wie man von anderen behandelt wird, und hat
Gerade in den Teilen der Welt, in denen Nahrungsmittel und Einfluss darauf, wie man sich selbst fühlt. Fettleibige Menschen
Süßigkeiten im Überfluss vorhanden sind, ist die Regel (wenn kennen das Klischee: »langsam, faul und nachlässig« (Puhl u.
du energiereiches Fett oder Zucker findest, iss es!), die sich für Heuer 2009). Wenn Sie Personen auf einem Bildschirm optisch
unsere hungrigen Vorfahren als dienlich erwiesen hat, zu etwas verzerren (indem Sie sie dicker erscheinen lassen), stufen die
geworden, was gegen unsere Funktionstüchtigkeit wirkt. Ziem- Beobachter sie plötzlich als weniger ehrlich, weniger freundlich,
lich überall, wo dieses Buch gelesen wird, haben die Menschen als gemeiner und widerwärtiger ein (Gardner u. Tockerman
ein wachsendes Problem. Nach Schätzungen der Weltgesund- 1994). Die sozialen Auswirkungen der Adipositas wurden in
heitsorganisation (WHO 2007) haben weltweit mehr als 1 Mrd. einer Studie deutlich, bei der 370 adipöse 16- bis 24-jährige
Menschen Übergewicht, von denen wiederum 300 Mio. klinisch Frauen wissenschaftlich begleitet wurden (Gortmaker et al.
als adipös gelten (für die Weltgesundheitsorganisation ist man 1993). Als die Frauen nach 7 Jahren erneut untersucht wurden,
adipös, wenn der Body Mass Index bei 30 oder darüber liegt, waren zwei Drittel immer noch adipös. Sie verdienten auch
. Abb. 12.15). weniger Geld – 7000 Dollar pro Jahr weniger – als eine gleicher-
maßen intelligente Vergleichsgruppe von 5000 nichtadipösen
» Im Durchschnitt berichten Amerikaner, dass sie etwa
Frauen. Und sie waren mit einer geringeren Wahrscheinlichkeit
80 kg wiegen, aber gerne nur etwa 73 kg wiegen würden.
verheiratet.
Elizabeth Mendes, www.gallup.com, 2010
In einem ausgeklügelten Experiment gaben Pingitore et al.
In den USA hat sich die Adipositasrate unter Erwachsenen in den (1994) ein anschauliches Beispiel für eine Diskriminierung
letzten 40 Jahren mehr als verdoppelt – sie ist auf 34% angestie- wegen des Körpergewichts. Sie nahmen Probevorstellungs-
gen. Die Adipositasrate unter Kindern und Jugendlichen hat sich gespräche auf Video auf, bei denen professionelle Schauspieler
sogar vervierfacht (Flegal et al. 2010). einmal als normalgewichtige und einmal als übergewichtige
Geringfügiges Übergewicht stellt ein echtes, aber nur kleines Bewerber auftraten. In einem Vorstellungsgespräch trugen die
Gesundheitsrisiko dar. Fitness ist wichtiger, als ein wenig überge- Schauspieler Makeup und Prothesen, die sie 14 kg schwerer er-
wichtig zu sein. Ausgeprägte Adipositas erhöht jedoch das Risiko, schienen ließen. Der übergewichtig auftretende Bewerber wurde
450 Kapitel 12 · Motivation und Arbeit

. Abb. 12.16 Fettleibigkeit und Mortalitätsrisiko. Das relative Mortalitätsrisiko unter gesunden Nichtrauchern steigt mit extrem hohem oder niedrigem
Body Mass Index. (Nach einer 14 Jahre dauernden Studie mit 1,05 Mio. Amerikanern; Calle et al. 1999)

bei gleicher Gesprächsführung, gleicher Intonation und Gestik Firmenchefs und unter amerikanischen politischen Kandidaten
als weniger passend für die Stelle eingestuft (. Abb. 12.17). Bei unterrepräsentiert (Roehling et al. 2009, 2010).
weiblichen Bewerbern war die Urteilsverzerrung aufgrund des Dieses Vorurteil tritt schon sehr früh auf. Kinder verachten
Körpergewichts besonders stark. Andere Studien belegen, dass fettleibige Kinder und sogar normalgewichtige Kinder, die zu-
Diskriminierung wegen des Körpergewichts größer ist als die sammen mit einem fettleibigen Kind gesehen werden (Penny u.
12 Diskriminierung aufgrund von Hautfarbe und Geschlecht, je- Haddock 2007; Puhl u. Latner 2007). Fettleibige 6- bis 9-jährige
doch kaum diskutiert wird. Diskriminierung wegen des Körper- Kinder haben eine 60% höhere Wahrscheinlichkeit, unter Bullying
gewichts tritt in jeder Phase des Beschäftigungsverhältnisses auf: zu leiden (Lumeng et al. 2010).
bei der Einstellung, Stellenvergabe, Beförderung, Abfindung, Adipositas wurde mit einem geringeren psychologischen
Disziplinarmaßnahmen und Entlassung. Und in der Tat ist es Wohlbefinden – besonders unter Frauen – und mit einem deut-
wahrscheinlicher, dass Frauen davon betroffen sind (Roehling et lichen Anstieg in der Diagnoserate für Depression in Verbindung
al. 1999, 2007). Dementsprechend sind fettleibige Frauen unter gebracht (de Wit et al. 2010; Luppino et al. 2010; Mendes 2010;
. Abb. 12.18). Ebenso berichten Deutsche und Briten, die sich
selbst übergewichtig fühlen, von einem durchschnittlich gerin-
geren psychologischen Wohlbefinden (Oswald u. Powdthavee
2007). In Studien an Patienten, die besonders unglücklich mit
ihrem Gewicht waren – diejenigen, die nach einer Bypass-Opera-
tion am Darm im Durchschnitt 45 Kilo verloren hatten – gaben
80% an, ihre Kinder hätten sie gebeten, nicht an schulischen Ver-
anstaltungen teilzunehmen. Und 90% sagten, sie würden sich
lieber ein Bein abnehmen lassen, als wieder adipös zu sein (Rand
u. Macgregor 1990, 1991).
Warum werfen adipöse Menschen nicht einfach ihr über-
schüssiges Gewicht ab und befreien sich von all diesem Kummer?
Die Antwort darauf findet man in der Physiologie des Fetts.

Physiologie der Adipositas


Forschungen zur Physiologie der Adipositas stellen das Stereotyp
. Abb. 12.17 Diskriminierung aufgrund von Geschlecht und Körper- vom stark übergewichtigen Menschen als willensschwachen
gewicht. Als Bewerberinnen einen übergewichtigen Eindruck erweckten,
»Vielfraß« in Frage. Bedenken Sie zunächst einmal folgende Mo-
bestand bei Studierenden eine geringere Bereitschaft anzunehmen, dass
sie sie einstellen würden. Bei männlichen Bewerbern zählte das Körper- dellrechnung zum Gewichtszuwachs: Menschen nehmen in dem
gewicht weniger. (Nach Pingitore et al. 1994) Maße zu, wie sie mehr Kalorien zu sich nehmen, als sie verbrau-
12.2 · Hunger
451 12
Dreißig Jahre nach Brays Studie führten Forscher ein umge-
kehrtes Experiment durch (Levine et al. 1999). Sie überfütterten
freiwillige Teilnehmer mit 1000 Kalorien zusätzlich am Tag über
einen Zeitraum von 8 Wochen. Die Personen, die am wenigsten
Gewicht zunahmen, verbrauchten die zusätzliche Kalorien-
menge, indem sie mehr herumzappelten. Schlanke Menschen
sind auf natürliche Weise dazu veranlagt, sich mehr zu bewegen.
Dadurch verbrauchen sie mehr Kalorien als energiesparende
übergewichtige Menschen, die gewöhnlich länger sitzen (Levine
et al. 2005). (Die Forscher statteten die Versuchsteilnehmer mit
Unterwäsche aus, die für 10 Tage 2-mal pro Sekunde die Bewe-
gungen aufzeichnete.) Diese individuellen Unterschiede beim
Grundumsatz erklären auch, warum zwei Menschen von der-
. Abb. 12.18 Adipositas und Depression beeinflussen sich gegenseitig.
Langzeitstudien zeigen, dass Adipositas einen Einfluss auf Depression hat selben Größe, demselben Alter und demselben Aktivitätsniveau
und dass Depression Adipositas begünstigt (Blaine 2008; Luppino et al. 2010) das gleiche Gewicht aufrechterhalten, auch wenn der eine von
ihnen viel weniger isst als der andere.

chen. Ein Pfund Fett entspricht einer Energie von 3200 Kalorien; jDer genetische Faktor
daher hat man Menschen, die eine Schlankheitskur machen, ge- Können unsere Gene vorbestimmen, ob wir herumzappeln oder
sagt, dass sie für 3200 Kalorien weniger in ihrer Ernährung ein still sitzen? Möglicherweise. Studien zeigen den genetischen Ein-
Pfund Gewicht verlieren. Die Überraschung ist: Diese Schluss- fluss auf das Körpergewicht. Schauen Sie sich einmal Folgendes
folgerung ist falsch. Wollen Sie wissen warum? Dann lesen Sie an:
weiter. 4 Trotz gemeinsamer Mahlzeiten hängen das Körpergewicht
von Adoptivkindern und das der Adoptiveltern und
jSet Points und Stoffwechsel Adoptivgeschwistern nicht miteinander zusammen. Es ist
Sind wir erst einmal dick geworden, benötigen wir weniger Nah- vielmehr so, dass das Gewicht der Kinder mehr dem der
rung, um unser Gewicht aufrechtzuerhalten, als dies geschah, biologischen Eltern gleicht (Grilo u. Pogue-Geile 1991).
um dieses Gewicht zu erreichen. Fett hat eine geringere Stoff- 4 Eineiige Zwillinge haben ein fast identisches Körperge-
wechselrate: Man braucht weniger Energie durch Nahrung, um wicht, selbst wenn sie getrennt voneinander aufgewachsen
es zu erhalten. Wenn das Gewicht einer übergewichtigen Person sind (Hjelmborg et al. 2008; Plomin et al. 1997). Wie aus
unter den Set Point (oder Settling Point) fällt, steigt das Hunger- einigen Studien hervorgeht, korreliert ihr Gewicht mit 0,74.
gefühl der Person an, und ihre Stoffwechseltätigkeit verlangsamt Die viel geringere Korrelation von 0,32 bei zweieiigen
sich. Somit stellt sich der Körper auf das Hungern ein, indem er Zwillingen lässt darauf schließen, dass unser schwankender
weniger Kalorien verbrennt. Body Mass Index zu zwei Dritteln durch die Gene zu erklä-
In einem klassischen Experiment (Bray 1969), das über ren ist (Maes et al. 1997).
einen Monat ging, verringerten adipöse Patienten ihre tägliche 4 Im Vergleich zu einem Kind mit normalgewichtigen Eltern
Nahrungsaufnahme von 3500 auf 450 Kalorien und verloren hat ein Junge mit einem adipösen Elternteil die dreifache
dabei nur 6% ihres Gewichts – teils weil ihre Körper so reagier- und ein Mädchen die sechsfache Wahrscheinlichkeit, selbst
ten, als wären sie am Verhungern; ihre Stoffwechselrate sank adipös zu werden (Carrière 2003).
um etwa 15%. Genau deshalb wird sich Ihr Gewicht, wenn Sie 4 Wissenschaftler haben viele verschiedene Gene entdeckt, die
die Nahrungsaufnahme um 3200 Kalorien verringern, nicht unser Körpergewicht beeinflussen – die meisten von ihnen
um ein Pfund reduzieren. Das ist auch der Grund dafür, dass haben nur kleine Effekte (Plomin et al. 2009; Walters et
ein weiterer Gewichtsverlust nach einer schnellen Abnahme al. 2010). Ein Gen-Scan an 40.000 Personen weltweit identi-
durch eine strikte Diät langsam vonstattengeht. Und genau fizierte eine Variante eines Gens namens FTO, das die
darum kann die Nahrungsmenge, die man vor der Diät benö- Wahrscheinlichkeit für Adipositas fast verdoppelt (Flier u.
tigte, um das Gewicht aufrechtzuerhalten, abnehmen, wenn man Maratos-Flier 2007; Frayling et al. 2007). Andere Forschung
mit der Diät aufhört – der Körper spart immer noch Energie. Von zeigt, dass Menschen, die genetisch mit einem trägen Be-
zwei Menschen, die gleich viel wiegen und gleich aussehen, wird lohnungszentrum im Gehirn ausgestattet sind, womöglich
der vorher Übergewichtige wahrscheinlich weniger Kalorien mehr essen, um seine Aktivität anzutreiben (Stice et al. 2008).
benötigen, um dieses Gewicht aufrechtzuerhalten als der, der Forscher hoffen, dass die Identifikation von Ursprungsgenen
zuvor nie übergewichtig war. (Wer sagte, dass das Leben ge- dazu führen wird, den Weg der hungersignalisierenden
recht ist?) Proteine, die von diesen Genen codiert werden, zu finden.
452 Kapitel 12 · Motivation und Arbeit

. Abb. 12.19a,b Zu viel Essen und zu wenig Essen. Es ist ironisch, dass in einer Welt, in der noch immer 930 Mio. Menschen hungern, die Adipositas-
raten in den westlichen Ländern weiter ansteigen und somit das Leben der schwer übergewichtigen Menschen gefährdet ist (FAO 2010; Pinstrup-Andersen
u. Cheng 2007; Popkin 2007; a: © Getty Images / iStockphoto; b: © picture-alliance / Ton Koene)

Also bestimmen unsere Gene über unsere Jeansgröße. Aber der positas verstärkt sich auch in anderen Ländern und es ist wahr-
genetische Einfluss ist sicher komplex; dabei kommt die Musik scheinlich, dass es so weitergehen wird (. Abb. 12.20). Im Jahr
von unterschiedlichen Genen, die wie ein Orchester zusam- 2020 werden 3 von 4 Amerikanern übergewichtig oder adipös
menspielen. Einige Gene haben vielleicht einen Einfluss darauf, sein, was zu steigenden Gesundheitsausgaben für Krankheiten
wann unsere Eingeweide das Signal »satt« geben, und andere wie Diabetes führen wird, sagt ein internationaler Bericht hervor
legen fest, wie wirkungsvoll wir Kalorien verbrennen und zusätz- (OECD 2010).
12 liche Kalorien in Fett umwandeln; wieder andere veranlassen Was erklärt dieses wachsende Problem? Der Nahrungsmittel-
uns, herumzuzappeln oder still zu sitzen. konsum und das Aktivitätslevel verändern sich. Wir essen mehr
und bewegen uns weniger – führen Lebensstile, die denen in
jDie Faktoren Ernährung und Aktivität tierischen Mastanstalten ähnlich sind (Orte, an denen Bauern
Gene spielen eine wichtige Rolle bei Adipositas. Jedoch sind auch untätige Tiere fett werden lassen). In den USA gibt es weniger
Umweltfaktoren äußerst wichtig. Jobs, die mittlere körperliche Aktivität erfordern – ein Abfall von
Studien in Europa, Japan und den USA zeigen, dass Kinder rund 50% im Jahr 1960 auf 20% im Jahr 2011 (Church et al. 2011).
und Erwachsene, die an Schlafmangel leiden, anfälliger für Adi-
positas sind (Keith et al. 2006; Nedeltcheva et al. 2010; Taheri
» Wir verkaufen Fastfood an jeder Ecke, wir verkaufen Junkfood
in unseren Schulen, wir streichen den Sportunterricht, wir
2004a,b). Aufgrund von Schlafdeprivation fallen die Leptinwerte
verkaufen Süßigkeiten und Limonade an jeder Kasse in jedem
(Leptin informiert das Gehirn über Körperfett), und die Ghrelin-
erdenklichen Einzelhandelsgeschäft. Die Ergebnisse sind da.
werte (das appetitsteigernde Hormon des Magens) steigen an.
Es hat funktioniert.
Der soziale Einfluss ist ein weiterer Faktor. Eine Studie mit
Harold Goldstein, Executive Director of the California Center
12.067 Menschen, die über 32 Jahre ging, zeigte, dass Menschen
for Public Health Advocacy, 2009, als er sich ein großes
am wahrscheinlichsten adipös werden, wenn einer ihrer Freunde
nationales Experiment zur Förderung der Gewichtszunahme
adipös geworden war (Christakis u. Fowler 2007). Wenn der adi-
vorstellte
pöse Freund ein enger Freund war, war das Risiko, ebenfalls
adipös zu werden, fast verdreifacht. Des Weiteren konnte man Unter dem Strich heißt das: In neuen Stadien, Theatern und
die Korrelation zwischen dem Gewicht der Freunde nicht einfach U-Bahnen – aber nicht in Flugzeugen – werden breitere Sitze
damit erklären, dass man sich ähnliche Menschen als Freunde angeboten, damit man mit dieser Art von Bevölkerungswachs-
sucht. Freunde haben einen großen Einfluss. tum zurechtkommt (Hampson 2000; Kim u. Tong 2010). Die
Der stärkste Beleg dafür, dass die Umwelt einen Einfluss auf Fähren in Washington State gaben ihren 50 Jahre alten Standard
das Gewicht hat, kommt von unserer immer dicker werdenden von 45 cm pro Person auf. »Hinterteile mit 45 cm Breite sind eine
Weltbevölkerung (. Abb. 12.19). Obwohl die Industrieländer den Sache der Vergangenheit«, erklärte ein Sprecher (Shepherd
Trend anführen, werden die Menschen auf der ganzen Welt 1999). New York City hat die 44 cm breiten kübelförmigen
schwerer. Seit 1989 hat sich der Anteil übergewichtiger Mexi- U-Bahn-Sitze durch Sitze ohne Vertiefungen ersetzt (Hampson
kaner von 1 von 10 auf fast 7 von 10 erhöht (Popkin 2007). Adi- 2000). Die heutigen Menschen brauchen schließlich mehr Platz.
12.2 · Hunger
453 12

Australien
Spanien
Kanada

. Abb. 12.20 Bisherige und prognostizierte Übergewichtsraten. (Organization for Economic Coorperation and Development)

Wenn die sich verändernde Umwelt einen Teil des wach- antworten 29% der Männer und 48% der Frauen, sie würden
senden Problems der Adipositas erklärt, dann ist eine Umwelt- lieber abnehmen (Responsive Community 1996; . Abb. 12.21).
reform auch ein Teil des Gegenmittels, argumentieren die 53 Wenn Set Points, Stoffwechsel, genetische Faktoren und Um-
europäischen Gesundheitsminister, die die Charta zur Bekämp- weltfaktoren zusammen das Abnehmen zu einem solchen Prob-
fung der Adipositas der Weltgesundheitsorganisation unter- lem machen, welchen Ratschlag kann die Psychologie dann die-
schrieben (Cheng 2006). Der Psychologe Brownell (2002) setzte sen Menschen geben? Vielleicht ist der wichtigste Punkt, dass
sich für Reformen ein, die die Einrichtung einer Fastfood-freien dauerhafter Gewichtsverlust nicht einfach ist. Millionen Men-
Zone rund um Schulen und eine Steuer auf kalorienbeladenes schen bestätigen, dass es möglich ist, Gewicht zu verlieren; sie
Junkfood und Softdrinks (nach dem Vorbild der existierenden haben es viele Male getan. Einige hilfreiche Tipps finden Sie hier:
Zigarettensteuer) beinhalteten. Die Steuereinnahmen sollten 7 Unter der Lupe: Gewichtsmanagement.
dazu genutzt werden, gesunde Nahrungsmittel zu subventionie- Wir sollten nicht vergessen, dass die psychologische For-
ren und eine Werbekampagne für die gesundheitsfördernde Er- schung weder Schuldgefühle, Feindseligkeit, orale Fixierung
nährung zu finanzieren (Epstein et al. 2010). noch irgendeine andere persönliche Unzulänglichkeit als Ur-
Behalten Sie im Hinterkopf, dass diese Befunde den Inhalt sache für Adipositas gefunden hat. Auch ist Adipositas nicht ein-
einer bereits bekannten Lektion aus den Intelligenzstudien aus fach nur eine Sache mangelnder Willensstärke. Wenn Menschen,
7 Kap. 11 bestätigen: Es kann ein hohes Niveau der Erblich- die gerade eine Diät machen, dazu neigen, bei Stress oder nach
keit (genetischer Einfluss auf individuelle Unterschiede) geben, Abbruch der Diät übermäßig zu essen, dann ist das vorwiegend
ohne dass die Vererbung die Gruppenunterschiede erklärt. darauf zurückzuführen, dass sie ihr Essverhalten ständig durch
Die Gene bestimmen am ehesten, warum eine Person heute eine Diät kontrollieren. Der unerbittliche Kampf um Schlankheit
schwerer ist als eine andere, und hauptsächlich die Umwelt ist bringt die Menschen nicht nur in Gefahr, in Ausnahmesitua-
ausschlaggebend dafür, dass die Menschen heute schwerer sind tionen den Verlockungen einer Fressorgie zu erliegen; auch
als vor 50 Jahren. Unser Essverhalten zeigt ebenso die mittlerwei- ständige Gewichtsschwankungen, Unterernährung, Rauchen
le bekannte Interaktion zwischen biologischen, psychologischen und Depressionen sowie die schädlichen Nebenwirkungen von
und soziokulturellen Faktoren. Pharmaprodukten zum Abnehmen (z. B. Abführmittel) stellen
eine Gefahr dar (Cogan u. Ernsberger 1999).
Gewichtsabnahme
Vielleicht schütteln Sie jetzt den Kopf: »Wir haben eine geringe
» Fett! Na und?
Beliebtes T-Shirt auf der Versammlung der National
Chance, schlank zu werden und es zu bleiben.« Der Kampf gegen
Association to Advance Fat Acceptance im Jahr 1999
das Übergewicht wütet so heftig wie eh und je; und er ist am
schlimmsten bei Personen mit 2 X-Chromosomen. Fast zwei »Dick ist kein Schimpfwort«, verkündet die National Association
Drittel der Frauen und die Hälfte der Männer sagen, sie wollten to Advance Fat Acceptance, ebenso wie »Es ist eine schreckliche
abnehmen; etwa die Hälfte dieser Frauen und Männer geben an, Sache auf seine Taille zu achten«. Solche Aussagen lassen die Ge-
sie »versuchen es ernsthaft« (Jones 2009; Moore 2006). Auf die sundheitsrisiken, die mit signifikanter Adipositas verknüpft
Frage, ob sie »lieber 5 Jahre jünger oder 15 Pfund leichter« wären, sind, außer Acht. Aber sie betonen einen berechtigten Punkt: Es
454 Kapitel 12 · Motivation und Arbeit

. Abb. 12.21a,b Ein aussichtsloser Kampf. Ryan Benson nahm 122 Pfund ab, um die erste Staffel der Reality-TV-Show The Biggest Loser zu gewinnen.
Aber dann war das Halten des Gewichts, wie so viele andere schon festgestellt haben, eine noch größere Herausforderung. (a: Imago / ZUMA Globe;
b: © Stephanie Diani)

12
Unter der Lupe

Gewichtsmanagement
Menschen, die mit Adipositas zu kämpfen ders wenn sie von 7–8 Stunden Schlaf be- schen, die bewusst ihr Essen einschränken,
haben, sind gut beraten, sich in medizinische gleitet sind, leeren sportliche Aktivitäten die kann Alkoholkonsum oder das Gefühl, Angst
Behandlung zu begeben. Für andere, die gerne Fettzellen, bauen Muskeln auf, beschleunigen zu haben oder deprimiert zu sein, einen Drang
ein paar Pfunde abnehmen möchten, haben den Stoffwechsel und helfen dabei, ihren zum Essen auslösen (Herman u. Polivy 1980).
Forscher die folgenden Tipps anzubieten: Settling Point zu senken (Bennett 1995; Kolata Und dies kann auch geschehen, wenn man
Beginnen Sie nur, wenn Sie motiviert sind und 1987; Thompson et al. 1982). davon abgelenkt wird, auf sein Essverhalten zu
Selbstdisziplin haben. Bei den meisten Men- Ernähren Sie sich gesund. Vollkornnahrung, achten ( Ward u. Mann 2000). (Haben Sie je
schen setzt ein bleibender Gewichtsverlust Früchte, Gemüse, gesunde Fette (wie die bemerkt, dass Sie mehr essen, wenn Sie mit
voraus, dass sie einen neuen Lebensweg des im Olivenöl) und Fisch tragen dazu bei, den Freunden ausgehen?) Sind die Einschränkun-
Dünnbleibens einschlagen – eine lebenslange Appetit und das Cholesterin zu regulieren, gen beim Essen erst einmal durchbrochen,
Veränderung der Essgewohnheiten zusammen das die Arterien verstopft ( Taubes 2001, 2002). denkt die betreffende Person »Was soll’s?« und
mit einer allmählichen zunehmenden sport- Besser knackiges Grünzeug als schwere Sahne- gibt sich der Fressattacke hin (Polivy u.
lichen Aktivität. soßen. Herman 1985, 1987). Ein Lapsus muss nicht zu
Achten Sie darauf, dass Sie so wenig wie möglich Hungern Sie nicht den ganzen Tag und essen einem vollständigen Kollaps führen: Denken
verlockenden Essensreizen ausgesetzt sind. Hal- Sie dann nicht eine große Mahlzeit am Abend. Sie daran, dass den meisten Menschen einmal
ten Sie verlockendes Essen aus dem Haus bzw. Dieses Muster des Essverhaltens, das unter solch ein Ausrutscher passiert.
außer Sicht. Gehen Sie nur mit vollem Magen Übergewichtigen verbreitet ist, verlangsamt Suchen Sie sich eine Selbsthilfegruppe. Verbin-
in den Supermarkt, und meiden Sie die Regale den Stoffwechsel. Außerdem sind diejenigen, den Sie sich mit anderen, mit denen Sie ihre
mit den Süßigkeiten und den Knabbersachen. die ein ausbalanciertes Frühstück zu sich Ziele und Fortschritte teilen können – ent-
Essen Sie einfache Mahlzeiten; Menschen es- nehmen, am späten Vormittag wacher und weder von Angesicht zu Angesicht oder online
sen mehr, wenn ihnen eine größere Vielfalt zur weniger träge (Spring et al. 1992). (Freedman 2011).
Verfügung steht. Hüten Sie sich vor Fressattacken. Besonders bei
Treiben Sie Sport. Nicht aktive Menschen sind Männern führt langsames Essen dazu, dass
häufig übergewichtig (. Abb. 12.22). Beson- sie weniger essen (Martin et al. 2007). Bei Men-
12.3 · Sexuelle Motivation
455 12

. Abb. 12.23 (© Claudia Styrsky)


. Abb. 12.22 Faulenzen in den USA: Stubenhocker aufgepasst – Fern-
sehen korreliert mit Adipositas. Mit der Zunahme einer immer mehr
sitzenden Lebensweise und einer Erhöhung des Fernsehkonsums ist auch
der Anteil übergewichtiger Personen in Großbritannien, Kanada und weitergegeben zu werden. Leben wird durch Sex weitergegeben
den Vereinigten Staaten angestiegen (Pagani et al. 2010). Nachdem in Kali- (. Abb. 12.23).
fornien Kinder an einem Erziehungsprogramm zur Reduktion des Fernseh-
konsums teilgenommen hatten, sahen sie tatsächlich weniger fern – und » Es ist eine fast universelle Erfahrung – eine unsichtbare
verloren auch an Gewicht (Robinson 1999). Nicht fernsehen? Aber Vorsicht Bestimmung auf der Geburtsurkunde, die festlegt, dass man,
vor anderen Bildschirmen, auch die können Ihren Motor im Leerlauf halten
sobald man die Reife erreicht hat, den Drang fühlen wird,
an Aktivitäten teilzunehmen, die oft mit der Ausstellung von
noch mehr Geburtsurkunden einhergehen.
ist sicherlich besser, sich selbst als ein bisschen schwerer zu
Wissenschaftsautorin Natalie Angier, 2007
akzeptieren, als Diät zu halten, Fressattacken zu erliegen und sich
dauerhaft außer Kontrolle und schuldig zu fühlen.

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12.3.1 Physiologie der Sexualität
5 Welche drei der folgenden fünf Strategien helfen dabei,
ungewollte Gewichtszunahme zu vermeiden? Genauso wie der Hunger ergibt sich auch die sexuelle Erregung
a. Angemessene Schlafdauer aus einem Zusammenspiel von inneren und äußeren Reizen. Um
b. Regelmäßig Sport treiben die sexuelle Motivation verstehen zu können, müssen wir beides
c. Essen der größten Mahlzeit am Abend berücksichtigen.
d. Zusammen mit Freunden essen
Der sexuelle Reaktionszyklus
e. Den Freunden erzählen, dass man versucht abzu-
nehmen ? 12.5 Was ist der sexuelle Reaktionszyklus beim Menschen
und welche Störungen unterbrechen ihn?

In den 1960ern machten der Gynäkologe und Geburtshelfer


12.3 Sexuelle Motivation William Masters und seine Mitarbeiterin Virginia Johnson (1966)
Schlagzeilen, indem sie die physiologischen Reaktionen von Frei-
Sexualität gehört zum Leben. Hätten Ihre Vorfahren das nicht so willigen aufzeichneten, die vor ihren Augen masturbierten oder
empfunden, würden Sie dieses Buch nicht lesen. Sexuelle Moti- Geschlechtsverkehr hatten. Mit der Hilfe von 382 weiblichen und
vation ist der clevere Trick der Natur, die Menschen dazu zu 312 männlichen Freiwilligen – einer etwas unrepräsentativen
bringen, sich fortzupflanzen und damit das Überleben ihrer Art Stichprobe, da sie nur aus Menschen bestand, die in der Lage und
zu sichern. Fühlen sich zwei Menschen voneinander angezogen, bereit dazu waren, ihre Erregung und ihren Orgasmus unter Be-
halten sie selten inne, um darüber nachzudenken, dass sie gerade obachtung in einem Labor zu erleben – beobachteten und film-
von ihren Genen gesteuert werden. Ist die Lust, die wir beim ten Masters und Johnson mehr als 10.000 sexuelle »Zyklen«. Bei
Essen empfinden, die einfallsreiche Methode der Natur dafür, ihrer Beschreibung des sexuellen Reaktionszyklus machten sie
die Nahrungsaufnahme zu sichern, dann ist die Lust am und 4 Phasen aus. Während der ersten Erregungsphase füllen sich die
beim Sex die Methode unserer Gene, sich zu erhalten und Genitalien mit Blut. Die Vagina erweitert sich und wird feucht,
456 Kapitel 12 · Motivation und Arbeit

manchmal vergrößern sich außerdem die Brüste und Brustwar- Refraktärphase (»refractory period«) – Ruheperiode nach dem Orgasmus,
zen der Frau. während der ein Mann keinen weiteren Orgasmus haben kann.

Sexueller Reaktionszyklus (»sexual response cycle«) – die 4 Phasen Das Risiko für einen Herzinfarkt liegt bei einem nicht rauchenden
der sexuellen Reaktion, die von Masters und Johnson beschrieben wurden: 50-jährigen Mann in einer beliebigen Stunde bei 1:1.000.000.
Erregung, Plateau, Orgasmus und Entspannung.
Diese Wahrscheinlichkeit erhöht sich auf 2:1.000.000 in der Stunde
nach dem Geschlechtsverkehr (das gilt nicht für Männer, die regel-
In der Plateauphase erreicht die Erregung mit einem Anstieg der
mäßig Sport treiben). Wenn man das mit den Risiken bei starker
Atmung, des Pulses und des Blutdrucks ihren Höhepunkt. Der
Anstrengung oder Ärger (7 Kap. 13) vergleicht, muss man sich kei-
Penis erigiert vollständig, und etwas Flüssigkeit – die meistens
ne schlaflosen (oder sexlosen) Nächte machen (Muller et al. 1996).
genügend Sperma für eine Befruchtung enthält – tritt vorne aus.
In der Vagina wird Flüssigkeit abgesondert, die Klitoris wird
wieder kleiner, und der Orgasmus steht bevor. Sexuelle Störungen
Masters und Johnson beobachteten, dass während des Orgas- Masters und Johnson wollten den menschlichen sexuellen Reak-
mus die Muskeln im ganzen Körper angespannt sind; dies geht tionszyklus nicht nur beschreiben, sondern auch herausfinden,
mit einer weiteren Erhöhung von Atmung, Puls und Blutdruck warum manche Menschen nicht fähig sind, ihn vollständig zu
einher. Beim Orgasmus steigt die Pulsfrequenz von etwa 70 zu erleben, um eine Behandlung für diese Störung zu finden. Sexu-
115 Schlägen pro Minute an (Jackson 2009). Die Erregung und elle Störungen sind Probleme, welche die sexuelle Erregung
der Orgasmus der Frau wirken sich fördernd auf die Befruchtung oder Funktionsfähigkeit anhaltend beeinträchtigen. Manche
aus. Sie machen es leichter, dass das Sperma vom Penis aus vor- Störungen betreffen die sexuelle Motivation, es fehlt hier vor
wärts getrieben wird, und die Gebärmutter nimmt eine Position allem an sexueller Energie und der Fähigkeit, erregt zu werden.
ein, die es leichter macht, Spermien aufzunehmen und sie nach Andere Störungen, wie die vorzeitige Ejakulation oder Erek-
innen weiterzuleiten. Der weibliche Orgasmus verstärkt also tionsstörungen (die Unfähigkeit, eine Erektion zu bekommen
nicht nur den Geschlechtsverkehr, der für die natürliche Fort- oder zu halten), treten bei Männern auf. Zu Schmerzen und
pflanzung wesentlich ist, sondern führt auch dazu, dass das aus- Orgasmusstörungen (Leid über das unregelmäßige Erleben oder
geschüttete Sperma im weiblichen Körper zurückgehalten wird Ausbleiben von Orgasmen) kommt es eher bei Frauen. In unab-
12 (Furlow u. Thornhill 1996). hängigen Umfragen an etwa 3000 Frauen, die in Boston lebten,
Anscheinend sind die Empfindungen bei Männern und und 32.000 anderen amerikanischen Frauen, berichteten etwa
Frauen hier annähernd gleich. In einer Studie konnte eine Stich- 4 von 10 von einem sexuellen Problem, wie etwa Orgasmus-
probe von Experten nicht zwischen den Orgasmusbeschreibun- störungen oder vermindertem sexuellem Verlangen, jedoch be-
gen von Männern oder Frauen unterscheiden (Vance u. Wagner richtete nur etwa 1 von 8, dass dies zu persönlichem Leid führte
1976). Holstege et al. (2003a,b), Neurowissenschaftler von der (Lutfey et al. 2009; Shifren et al. 2008). Die meisten Frauen mit
Universität Groningen, wissen jetzt warum. Sie entdeckten bei sexuellen Problemen führen sie auf ihre emotionale Beziehung
PET-Schichtaufnahmen des Gehirns, dass während des Orgas- zum Partner während des Geschlechtsverkehrs zurück (Bancroft
mus bei Männern und Frauen dieselben subkortikalen Regionen et al. 2003).
auf den Bildern aufleuchteten. Und wenn man bei Personen, die
Sexuelle Störung (»sexual disorder«) – anhaltende Störung der sexuellen
leidenschaftlich verliebt sind, fMRI-Schichtaufnahmen des Ge- Erregung oder Funktionsfähigkeit.
hirns macht, während sie sich das Foto ihres Geliebten bzw. einer
fremden Person ansehen, dann sind sich die Hirnreaktionen von Eine Studie an einigen hunderten australischen eineiigen und
Männern und Frauen auf ihren Partner recht ähnlich (Fisher zweieiigen Zwillingen zeigte, dass die Häufigkeit des weiblichen
et al. 2002). Orgasmus genetisch beeinflusst ist (Dawood et al. 2005). Der
Nach dem Orgasmus kehrt der Körper nach und nach wieder genetische Faktor begründete 51% der Varianz bei der Häufigkeit
in seinen nicht erregten Zustand zurück. Aus den erweiterten des Orgasmus durch Masturbation, aber nur 31% der Varianz bei
genitalen Blutgefäßen fließt das Blut wieder ab – sehr schnell, der Häufigkeit des Orgasmus durch Geschlechtsverkehr. Wenn
wenn es zum Orgasmus gekommen ist, ansonsten ziemlich lang- ein Partner da ist, sind auch die emotionale Nähe, Sicherheit und
sam. (Genauso wie das Jucken der Nase, das nach dem Niesen Intimität von Bedeutung.
sofort weg ist, sonst aber noch länger zu spüren ist.) Während Männer und Frauen mit einer sexuellen Störung können von
dieser Entspannungsphase erlebt ein Mann eine Refraktärphase, einer Therapie profitieren: Zum Beispiel durch Verhaltensthera-
in der er keinen weiteren Orgasmus haben kann und die einige pie kann der Mann lernen, den Ejakulationsdrang zu steuern,
Minuten bis Tage dauern kann. Die viel kürzere Refraktärphase während die Frau Übungen erlernt, mit denen sie sich selbst zum
der Frau versetzt sie möglicherweise in die Lage, einen weiteren Orgasmus bringen kann. Seit der Einführung von Viagra 1998
Orgasmus zu haben, wenn sie während oder kurz nach der Ent- werden Erektionsstörungen routinemäßig mit diesem Medika-
spannungsphase erneut stimuliert wird. ment behandelt.
12.3 · Sexuelle Motivation
457 12
Hormone und Sexualität einen höheren Testosteronspiegel, wenn das T-Shirt von einer
Frau stammte, die es in den Tagen um den Eisprung getragen
? 12.6 Wie beeinflussen Hormone und äußere und innere
hatte, als wenn es von einer Frau stammte, die es an anderen Tagen
Reize die menschliche sexuelle Motivation?
getragen hatte (Miller u. Maner 2010, 2011). Bei einer Studie an
Geschlechtshormone haben zwei Wirkungen: Sie steuern die 5300 Stripteasetänzerinnen kam heraus, dass ihr stündliches
körperliche Entwicklung der männlichen und weiblichen Ge- Trinkgeld in den Tagen um den Eisprung fast doppelt so hoch war
schlechtsmerkmale und aktivieren (vor allem bei Tieren) das Se- wie an Tagen während der Menstruation (Miller et al. 2007).
xualverhalten. Bei den meisten Säugetieren sind Sexualität und Die Sexualität der Frau unterscheidet sich darin von der
Fruchtbarkeit verknüpft. Das weibliche Tier wird sexuell emp- Sexualität anderer weiblicher Säugetiere, dass Frauen stärker auf
fänglich (»heiß«), wenn die Produktion der weiblichen Hormone, den Testosteronspiegel reagieren (van Anders u. Dunn 2009).
der Östrogene (wie etwa Östradiol), während des Eisprungs ihren Sinkt der natürliche weibliche Testosteronspiegel (z. B. nach einer
Höhepunkt erreicht. In Experimenten können Wissenschaftler die Entfernung der Eierstöcke oder der Nebenniere), schwindet bei
sexuelle Empfänglichkeit weiblicher Tiere mit Östrogen stimulie- der betroffenen Frau häufig das sexuelle Verlangen. Aber durch
ren. Der Hormonspiegel des Mannes ist konstanter, und Forscher eine Testosteronersatztherapie kann das sexuelle Verlangen wie-
können das Sexualverhalten männlicher Tiere nicht so leicht mit derhergestellt werden. Dies war bei hunderten von Frauen mit
Hormonen manipulieren (Feder 1984). Trotzdem verlieren kas- chirurgisch oder natürlich eingetretener Menopause der Fall, bei
trierte Ratten ohne Hoden, die normalerweise das Geschlechts- denen durch Testosteronersatz mit Hilfe eines Pflasters die sexu-
hormon Testosteron produzieren, einen Großteil ihres Interesses elle Aktivität, die Erregung und die Lust in stärkerem Maße wie-
an empfangsbereiten weiblichen Tieren. Injiziert man ihnen Tes- derkehrte als durch ein Placebo (Braunstein et al. 2005; Buster
tosteron, kommt es jedoch nach und nach zurück. et al. 2005; Petersen u. Hyde 2011). Männern mit unnormal nied-
rigem Testosteronspiegel kann normalerweise eine Testosteron-
Östrogen (»estrogen«) – Geschlechtshormon, das bei Frauen in größerem
Umfang vorkommt als bei Männern, und das zur Entstehung weiblicher ersatztherapie helfen, die häufig ihren Geschlechtstrieb und
Geschlechtsmerkmale beiträgt. Bei nichtmenschlichen weiblichen Säuge- gleichzeitig auch ihre Energie und Vitalität steigert (Yates 2000).
tieren erreicht der Östrogenspiegel beim Eisprung seinen Höhepunkt und
regt die sexuelle Empfänglichkeit an. In einer Umfrage des National Center for Health Statistics an
Testosteron (»testosterone«) – das wichtigste männliche Geschlechtshor- erwachsenen Amerikanern, bei der computergestützte Selbst-
mon; es kommt sowohl bei Frauen als auch bei Männern vor. Aber das interviews verwendet wurden, die Privatsphäre garantierten,
zusätzliche Testosteron bei männlichen Lebewesen stimuliert das Wachs- berichteten fast 98% der 30- bis 59-jährigen, mit jemandem Sex
tum der männlichen Geschlechtsorgane im Fötus und die Entwicklung der
gehabt zu haben (Fryar et al. 2007).
männlichen Geschlechtsmerkmale während der Pubertät.
Bei Männern haben Schwankungen im Testosteronspiegel, die
Bei Menschen ist der Einfluss der Geschlechtshormone auf das von Mann zu Mann und über die Zeit hinweg auftreten, kaum
menschliche Sexualverhalten nicht so eindeutig festzumachen, Auswirkungen auf das sexuelle Verlangen (Byrne 1982). Fluk-
obwohl das sexuelle Verlangen bei Frauen mit Partnern während tuationen im männlichen Hormonspiegel entstehen nämlich als
des Eisprungs leicht zunimmt (Pillsworth et al. 2004). Wenn sie Reaktion auf sexuelle Stimulation. Wenn eine attraktive Frau
den Höhepunkt ihres Menstruationszyklus erreicht haben, anwesend ist, steigt der Testosteronspiegel australischer Skate-
zeigen Frauen erhöhte Vorlieben für maskuline Gesichter und boarder stark an, was zu riskanteren Moves und mehr Bruchlan-
eine erhöhte Fähigkeit dafür, die sexuelle Orientierung auszu- dungen führt (Ronay u. von Hippel 2010). Die sexuelle Erregung
machen. Sie zeigen jedoch ebenso erhöhte Besorgnis bei Män- kann daher sowohl Ursache als auch Ergebnis einer Erhöhung des
nern, die sexuell bedrohlich wirken (Eastwick 2009; Little et al. Testosteronspiegels sein. Auf der anderen Seite zeigten Studien in
2008; Navarrete et al. 2009; Rule et al. 2011). In einer Studie wur- Nordamerika und in China, dass verheiratete Väter tendenziell
den Frauen mit einer Beziehung, die nicht dem Risiko einer geringere Testosteronspiegel als Junggesellen und verheiratete
Schwangerschaft ausgesetzt waren, gebeten, ein Tagebuch über Männer ohne Kinder haben (Gray et al. 2006).
ihre sexuellen Aktivitäten zu führen. (Diese Frauen verwendeten Obwohl normale kurzzeitige Hormonveränderungen nur
entweder ein Intrauterinpessar oder hatten sich sterilisieren las- einen kleinen Effekt auf das Verlangen von Männern und Frauen
sen.) In den Tagen um den Eisprung hatten sie um 24% häufiger haben, haben große Hormonveränderungen im Laufe des Lebens
Geschlechtsverkehr als sonst (Wilcox et al., 2004). einen größeren Effekt. Der Wunsch nach Verabredungen und
Andere Studien zeigten, dass Frauen in den Tagen um den sexueller Stimulation nimmt in der Pubertät normalerweise in
Eisprung häufiger über Sex mit wünschenswerten Partnern fanta- dem Maße zu, in dem mehr Geschlechtshormone produziert
sieren, häufiger sexuell attraktive Kleidung tragen und eine ge- werden. Wird dieser hormonelle Anstieg unterbrochen – dies
ringfügig höhere Stimmlage haben (Bryant u. Haselton 2009; geschah im 16. und 17. Jahrhundert bei einigen Jungen, die vor
Pillsworth u. Haselton 2006; Sheldon et al. 2006). Nachdem Män- der Pubertät kastriert wurden, um ihre Sopranstimmen für die
ner an von Frauen getragenen T-Shirts gerochen hatten, hatten sie italienische Oper zu erhalten –, bleiben die normale Entwicklung
458 Kapitel 12 · Motivation und Arbeit

. Abb. 12.24 (Copyright © The New Yorker Collection, 1993, Robert Mankoff / cartoonbank.com)

der Geschlechtsmerkmale und das Verlangen nach Sexualität tun es nicht. Trotzdem gibt es Ähnlichkeiten zwischen Hunger
aus (Peschel u. Peschel 1987). Auch bei erwachsenen Männern, und Sexualität als Motivation. Beide hängen von inneren physio-
die kastriert werden, nimmt der Sexualtrieb normalerweise mit logischen Faktoren ab. Beide zeigen das Zusammenspiel von er-
der Verminderung des Testosteronspiegels ab (Hucker u. Bain regenden und hemmenden Reaktionen – die körperlichen Be-
1990). Männliche Sexualstraftäter verlieren einen Großteil schleunigungs- und Bremssysteme (Bancroft et al. 2009). Und
12 ihres Geschlechtstriebs, wenn sie freiwillig das Medikament beide werden von äußeren und vorgestellten Reizen sowie von
Depo-Provera einnehmen, das den Testosteronspiegel auf kulturellen Erwartungen beeinflusst (. Abb. 12.25). So haben,
den eines präpubertären Jungen reduziert (Bilefsky 2009; Money trotz der gemeinsamen Biologie, die der sexuellen Motivation
et al. 1983). Im späteren Leben, wenn weniger Geschlechts- zugrunde liegt, die 281 geäußerten Gründe, Sex zu haben, (nach
hormone produziert werden, nimmt auch die Häufigkeit der se- dem letzten Stand) eine ziemlich große Spannweite – von
xuellen Fantasien und des Geschlechtsverkehrs ab (Leitenberg u. »um Gott näher zu kommen« bis zu »um meinen Freund zum
Henning 1995). Schweigen zu bringen« (Buss 2008; Meston u. Buss 2007).
Zusammenfassend können wir sagen: Die menschlichen Ge-
schlechtshormone, besonders Testosteron, sind so etwas wie der Äußere Reize
Treibstoff eines Autos (. Abb. 12.24). Ohne Benzin fährt ein Auto Viele Studien bestätigen, dass Männer erregt werden, wenn sie
nicht. Tankt man aber genügend, um es wieder starten zu kön- erotisches Material sehen, hören oder lesen. Für viele überra-
nen, wird mehr Benzin nicht dazu führen, dass das Auto anders schend ist die Tatsache (weil eindeutig sexuelle Mediener-
fährt. Allerdings hinkt dieser Vergleich, weil Hormone und se- zeugnisse meist an Männer verkauft werden), dass die meisten
xuelle Motivation interagieren. Trotzdem wird daran aber recht Frauen, zumindest die weniger gehemmten Frauen, die freiwillig
deutlich, dass die Biologie zwar eine notwendige, aber nicht hin- an diesen Studien teilnahmen, berichten, von denselben Reizen
reichende Erklärung für das menschliche Sexualverhalten liefert. fast genauso stark erregt zu werden wie die Männer (Heiman
Der hormonelle Treibstoff ist von wesentlicher Bedeutung, ge- 1975; Stockton u. Murnen 1992). (Ihre Gehirne reagieren jedoch
nauso aber die psychischen Reize, die den Motor anlassen, ihn durchaus unterschiedlich: fMRT-Schichtaufnahmen des Gehirns
am Laufen halten und ihn einen Gang zulegen lassen. zeigen eine aktivere Amygdala bei Männern, die sich erotische
Bilder ansehen [Hamann et al. 2004].) In 132 Experimenten
dieser Art spiegelte sich die sexuelle Erregung in der Genital-
12.3.2 Psychologie der Sexualität reaktion bei Männern deutlich besser – und offensichtlicher –
wider als bei Frauen (Chivers et al. 2010).
Hunger und Sexualität sind verschiedene Arten der Motivation. Sexuelle Erregung kann als angenehm oder als störend an-
Hunger entsteht aus einer Notwendigkeit. Essen wir nicht, dann gesehen werden. (Diejenigen, die sich davon gestört fühlen, ver-
sterben wir. So gesehen ist Sexualität keine Notwendigkeit. Ohne suchen häufig, derartige Stimuli zu vermeiden, so wie Menschen,
Sex fühlen wir uns vielleicht, als ob wir sterben müssten, aber wir die Diät halten wollen, Schlüsselreize für Essen vermeiden.) Je
12.3 · Sexuelle Motivation
459 12

. Abb. 12.25 Analyseniveaus bei der sexuellen Motivation. Verglichen mit unserer Motivation beim Essen wird bei uns die sexuelle Motivation weniger
stark durch biologische Faktoren beeinflusst. Psychologische und soziokulturelle Faktoren spielen hier eine größere Rolle

öfter man sich erotischen Reizen aussetzt, desto stärker habi- In der Fantasie vorgestellte Reize
tuiert die emotionale Reaktion darauf, d. h., sie nimmt ab. Als in Manche sagen, das Gehirn sei unser wichtigstes Geschlechts-
den 1920er Jahren die Röcke von Frauen erstmals nur bis zum organ. Die Reize in unserem Kopf – in unserer Vorstellung –
Knie gingen, stellte das nackte Bein der Frau einen erotischen können die sexuelle Erregung und das sexuelle Verlangen be-
Reiz dar. einflussen. Menschen, die nach einer Verletzung des Rücken-
Kann sexuell eindeutiges Material auch eine negative Wir- marks ihre Genitalien nicht mehr spüren können, empfinden
kung haben? Forschungsergebnisse deuten diese Möglichkeit trotzdem noch sexuelles Verlangen (Willmuth 1987). Denken
an. Bilder von Frauen, die zum Sex gezwungen werden und es Sie auch an das erotische Potenzial von Träumen. Schlafforscher
sichtlich genießen, führen beim Betrachter zu einer Verbreitung haben entdeckt, dass jede Art von Träumen von sexueller Er-
der Vorstellung, dass Frauen Vergewaltigungen genießen, und regung begleitet wird, obwohl die meisten Träume keinen sexu-
erhöhen die Bereitschaft von Männern, Frauen zu verletzen ellen Inhalt haben. Aber fast alle Männer und ungefähr 40% der
(Malamuth u. Check 1981; Zillmann 1989). Menschen, die Bilder Frauen (Wells 1986) haben manchmal Träume mit sexuellem
attraktiver und verführerischer Frauen und Männer betrachten, Inhalt, die bis zum Orgasmus führen. Bei Männern sind nächt-
neigen dazu, ihre eigenen Partner und die Beziehung zu entwer- liche Orgasmen und Samenergüsse (»feuchte Träume«) wahr-
ten. Nachdem männliche Studenten im Fernsehen oder in Zeit- scheinlicher, wenn es in der letzten Zeit nicht zum Orgasmus
schriften Bilder von attraktiven Frauen gesehen haben, finden sie kam.
häufig durchschnittliche Frauen oder ihre eigenen Freundinnen Auch wache Menschen fühlen sexuelle Erregung nicht nur,
oder Ehefrauen weniger attraktiv (Kenrick u. Gutierres 1980; wenn sie sich an frühere sexuelle Erlebnisse erinnern; auch sexu-
Kenrick et al. 1989; Weaver et al. 1984). Auch das Anschauen von elle Fantasien lösen Erregung aus. Glückliche Menschen in auf-
Erotikfilmen führt dazu, dass die Zufriedenheit mit den eigenen blühenden neuen Beziehungen könnten über erhoffte spätere
Partnern abnimmt (Zillmann 1989). Vielleicht erzeugt das Be- Heirat und Intimität fantasieren. In einer Umfrage über Mastur-
trachten oder Lesen erotischen Materials Erwartungen, die kaum bationsfantasien (Hunt 1974) erklärten 19% der Frauen und 10%
ein Mann und kaum eine Frau wirklich erfüllen. der Männer, dass sie sich manchmal vorstellten, von jemandem
»genommen« zu werden, der von Leidenschaft für sie überwäl-
» Wir haben eine Gesellschaft, die unser Interesse an Sex durch tigt wird. Fantasie ist jedoch keine Realität. Oder im Sinne von
einen ständigen Kitzel anregt … Kino, Fernsehen und die Brownmiller (1975): Es ist ein großer Unterschied sich vorzu-
ganze riesige Vielfalt unserer Marketingtechniken projizieren stellen, dass Brad Pitt Ihr »Nein« einfach nicht als Antwort
die sehr wirkungsvollen Formen des Kitzels und die Vorur- akzeptiert, oder zu erleben, dass ein fremder Mann sich Ihnen
teile über den Mann als sexy Tier in jeden Winkel jeder Bruch- aufdrängt, den Sie als feindselig erleben.
bude auf der Welt. Ungefähr 95% der Männer und Frauen geben an, dass sie
Germaine Greer (1984) sexuelle Fantasien hatten. Aber Männer (ob homo- oder hetero-
460 Kapitel 12 · Motivation und Arbeit

sexuell) haben häufiger sexuelle Fantasien; diese richten sich Minimale Kommunikation über Verhütung Viele Teenager reden
eher auf körperliche Merkmale und sind weniger romantisch. nicht gerne mit ihren Eltern, Partnern und Gleichaltrigen über
Männer bevorzugen auch sexuelle Inhalte in Büchern und Verhütung. Jugendliche, die mit ihren Eltern frei reden können
Filmen, die weniger personalisiert sind und schneller »zur oder eine Partnerschaft haben, die es ihnen erlaubt, offen zu
Sache« kommen (Leitenberg u. Henning 1995). Sexuelle Fan- kommunizieren, benutzen mit höherer Wahrscheinlichkeit Kon-
tasien sind kein Anzeichen für sexuelle Störungen oder mangeln- dome (Aspy et al. 2007; Milan u. Kilmann 1987). Bei einer natio-
de Befriedigung. Wenn es überhaupt einen Zusammenhang nalen Umfrage im Jahr 2009 gaben etwa 3 von 4 der sexuell akti-
gibt, dann haben sexuell aktive Menschen häufiger sexuelle ven amerikanischen 14- bis 17-Jährigen an, dass sie Kondome
Fantasien. benutzen (Fortenberry et al. 2010). Erfreulich ist daher, dass das
Aufklärungsverhalten der Eltern, was die Verwendung von Ver-
Prüfen Sie Ihr Wissen
hütungsmitteln angeht, in Deutschland stetig zunimmt. Gaben
5 Wie würden die evolutionäre Perspektive, die Trieb- 1980 nur 37% der Mädchen und 25% der Jungen an, von ihren
reduktionstheorie und die Erregungstheorie unsere Eltern über Empfängnisverhütung aufgeklärt worden zu sein, so
sexuelle Motivation erklären? waren es im Jahr 2001 bereits 72% der Mädchen und 57% der
Jungen (Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung 2001).

» Kondome sollten bei jeder vorstellbaren Gelegenheit


verwendet werden.
12.3.3 Sexualität im Jugendalter
Anonymus

? 12.7 Welche Faktoren beeinflussen Teenagerschwanger-


Schuldgefühle Bei einer Umfrage gaben 72% der 12- bis 17-jäh-
schaften und das Risiko sexuell übertragbarer Infektionen?
rigen Amerikanerinnen, die Sex gehabt hatten, an, sie bedauerten
Die körperliche Entwicklung von Jugendlichen fügt ihrer Per- es (Reuters 2000). Sexuelle Hemmungen oder Ambivalenzen
sönlichkeit eine sexuelle Dimension hinzu. Die Art, wie Sexuali- können dazu führen, dass die sexuelle Aktivität seltener wird,
tät ausgelebt wird, unterscheidet sich in verschiedenen Kulturen gleichzeitig aber auch dazu, dass Verhütungsmaßnahmen ver-
12 und über die Zeit hinweg sehr stark. Von den vor 1900 geborenen nachlässigt werden, wenn die Leidenschaft stärker ist als die guten
amerikanischen Frauen hatten ganze 3% im Alter von 18 Jahren Absichten (Gerrard u. Luus 1995; MacDonald u. Hynie 2008).
voreheliche sexuelle Erfahrungen gehabt (Smith 1998). Ein Jahr-
hundert später berichten etwa die Hälfte der amerikanischen Alkoholgenuss Jugendliche, die sexuell aktiv sind, trinken typi-
Neunt- bis Zwölftklässler, sie hätten bereits Geschlechtsverkehr scherweise auch Alkohol (Zimmer-Gembeck u. Helfand 2008).
gehabt (CDC 2010). Außerdem verhüten diejenigen, die vor dem Sex Alkohol trinken,
In Deutschland geben gemäß einer Repräsentativbefragung mit geringerer Wahrscheinlichkeit mit Kondomen (Kotchick et al.
im Auftrag der Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung 2001). Alkohol wirkt hemmend auf gewisse Teile des Gehirns, die
(2001) unter den 16-Jährigen 40% der Mädchen und 37% der Hemmung, Urteilskraft und Selbstbewusstheit steuern, und kann
Jungen an, Geschlechtsverkehr gehabt zu haben. Und nur 11% daher die normale Zurückhaltung lockern – ein wohlbekanntes
der Mädchen und 13% der Jungen geben in diesem Alter an, Phänomen bei sexueller Nötigung. Auch in Deutschland geben
noch keinerlei sexuelle Erfahrungen zu haben. In arabischen und rund 20% Alkohol und Drogen als Grund für mangelnde Verhü-
asiatischen Ländern haben Teenager jedoch deutlich seltener Ge- tung beim ersten Geschlechtsverkehr an (Bundeszentrale für ge-
schlechtsverkehr. Auch amerikanische Teenager asiatischer Ab- sundheitliche Aufklärung 2001).
stammung machen seltener sexuelle Erfahrungen (McLaughlin
et al. 1997; Wellings et al. 2006). Bei dieser Menge an Unterschie-
» Wir Filmemacher sind alle Lehrer, und zwar Lehrer mit einer
sehr lauten Stimme.
den über Zeit und Ort hinweg ist es nicht überraschend, dass die
Filmproduzent George Lucas bei der Oscarverleihung 1992
Zwillingsforschung herausfand, dass Umweltfaktoren fast drei
Viertel der individuellen Varianz beim Alter der ersten sexuellen
Erfahrung erklären (Bricker et al. 2006). Familiäre und kulturel- Darstellung freizügigen sexuellen Verhaltens in den Medien Die
le Werte haben einen großen Einfluss. Medien schreiben die »sozialen Drehbücher«, die unsere Wahr-
nehmungen und unser Verhalten beeinflussen (. Abb. 12.26).
Teenagerschwangerschaften Welche sexuellen Drehbücher schreiben dann unsere heutigen
Verglichen mit europäischen Jugendlichen haben amerikanische Medien in unseren Verstand? Bei den drei großen amerikani-
Jugendliche einen höheren Anteil an Teenagerschwangerschaf- schen Fernsehanstalten enthält eine Stunde Programm zur
ten (Call et al. 2002; Sullivan/Anderson 2009). Was trägt zu Teen- Hauptsendezeit im Schnitt etwa 15 Sexualakte, sexuell eingefärbte
agerschwangerschaften bei? Wörter und sexuelle Anspielungen. In fast allen Fällen geht es
12.3 · Sexuelle Motivation
461 12

. Abb. 12.26 Mit der Hypersexualität mithalten. Bei einer Analyse der . Abb. 12.27 (© Getty Images / iStockphoto)
60 meistverkauften Videospiele fand man 489 Charaktere, von denen
86% männlich waren (wie die meisten Spieler). Die weiblichen Charaktere
waren im Gegensatz zu den männlichen mit einer höheren Wahrschein-
empfinden, dass sie sexuell freizügige Einstellungen entwickeln
lichkeit »hypersexualisiert« – teilweise nackt oder freizügig bekleidet, mit
großen Brüsten und schmalen Taillen (Downs u. Smith 2010; © Jörg Cars- und dass sie früh Geschlechtsverkehr haben (Escobar-Chaves et
tensen / dpa / picture alliance) al. 2005; Martino et al. 2005; Ward u. Friedman 2006; 7 Unter der
Lupe: Die Sexualisierung von Mädchen).
In der neueren Geschichte schwang das Pendel der sexuellen
dabei um unverheiratete Partner, die vorher keine Liebesbezie- Werte mehrfach hin und her: von der erotischen Freizügigkeit im
hung hatten, und nur für wenige sind Verhütung oder Schutz vor Europa des frühen 19. Jahrhunderts hin zur konservativen vikto-
sexuell übertragbaren Krankheiten ein Thema (Brown et al. 2002; rianischen Ära im späten 19. Jahrhundert, wieder zurück zur
Kunkel 2001; Sapolsky u. Tabarlet 1991). Je mehr Jugendliche se- sexuellen Freiheit in den »Golden Twenties« des 20. Jahrhunderts
xuellen Inhalten ausgesetzt sind (auch wenn andere Prädiktoren und dann zu einer Ära der Wertschätzung familiärer Werte in
früher sexueller Aktivität kontrolliert werden), desto wahrschein- den 50er Jahren des 20. Jahrhunderts. Heute im 21. Jahrhundert
licher ist es, dass sie ihre gleichaltrigen Freunde als sexuell aktiv scheint das Pendel mehr in Richtung einer stärkeren Verpflich-

Unter der Lupe

Die Sexualisierung von Mädchen


Wie Sie sicherlich bemerkt haben, stellen das 5 sich selbst als sexuelles Wesen für den entgegenzuwirken. Eltern, Lehrer und andere
Fernsehen, das Internet, Musikvideos und Gebrauch anderer sehen. können Mädchen beibringen, »sich selbst für
Musiktexte, Filme, Zeitschriften, Sportmedien das, was sie sind, und nicht für ihr Aussehen
und Werbung Frauen und sogar Mädchen als Die Arbeitsgruppe berichtete, dass in Experi- wertzuschätzen«. Sie können Jungen beibrin-
sexuelle Objekte dar (. Abb. 12.27). Die häufi- menten das Denken während mathematischer gen, »Mädchen als Freunde, Schwestern und
ge Folge ist – berichtet sowohl eine Arbeits- Berechnungen und logischer Argumentatio- feste Freundinnen und nicht als sexuelle
gruppe der American Psychological Associa- nen gestört wird, wenn man die betreffenden Objekte wertzuschätzen«. Und sie können
tion (APA 2007) als auch das schottische Parla- Personen – beispielsweise durch das Tragen Mädchen und Jungen dabei helfen, »Medien-
ment (2010) – eine Verletzung des Selbstbildes von Badesachen – dazu bringt, sich ihres Kör- kompetenz« zu entwickeln, die es ihnen er-
und eine ungesunde sexuelle Entwicklung. pers bewusst zu werden. Sexualisierung trägt möglicht, Botschaften, dass Frauen sexuelle
Sexualisierung tritt auf, wenn Mädchen auch zu Essstörungen und Depression bei und Objekte sind und dass ein dünnes, sexy Aus-
5 dazu veranlasst werden, sich aufgrund ih- zu unrealistischen Erwartungen hinsichtlich sehen alles ist, was zählt, zu erkennen und
rer sexuellen Anziehung wertzuschätzen; der Sexualität. Aufmerksam gegenüber den ihnen zu widerstehen.
5 sich selbst mit eng definierten Schön- heutigen sexualisierenden Medien, hat die
heitsstandards vergleichen; APA einige Vorschläge, um diesen Botschaften
462 Kapitel 12 · Motivation und Arbeit

tung dem Partner gegenüber zu schwingen, verbunden mit ab- men fand man, dass 49% der Schüler, die nicht teilgenommen
nehmenden Teenagerschwangerschaften seit 1991. hatten, im Laufe der nächsten 4–6 Jahre Sex hatten. Und wie
viele der Schüler, die an dem Enthaltsamkeitsprogramm teilnah-
Sexuell übertragbare Krankheiten men, hatten Sex? Ebenfalls 49% (Trenholm et al. 2007). In einer
Ungeschützter Sex hat zu einer größeren Verbreitung sexuell landesweiten Längsschnittstudie zur Gesundheit bei Jugend-
übertragbarer Infektionen (STI, abgeleitet von »sexually trans- lichen (National Longitudinal Study of Adolescent Health) beob-
mitted infections«; auch STD von »sexually transmitted diseases«) achtete man Teenager, die einen Schwur auf die Enthaltsamkeit
geführt. Zwei Drittel der Neuinfektionen treten bei Menschen abgelegt hatten und Teenager, die dies nicht getan hatten (zwei
unter 25 Jahren auf (CASA 2004). Junge Mädchen sind wegen übereinstimmende Stichproben von gleich konservativen Teen-
ihres noch nicht voll entwickelten Körpers und des geringeren agern, die noch nie Sex gehabt hatten). Fünf Jahre später zeigte
Anteils an Antikörpern besonders anfällig (Dehne u. Riedner sich, dass die Teenager, die einen Schwur abgelegt hatten – von
2005; Guttmacher Institute 1994). Eine Studie der Centers for denen nun 82% bestritten, je einen Schwur abgelegt zu haben –,
Disease Control fand bei sexuell erfahrenen 14- bis 19-jährigen mit gleich hoher Wahrscheinlichkeit vorehelichen Sex gehabt
amerikanischen Frauen heraus, dass 39,5% eine sexuell übertrag- hatten (Rosenbaum 2009). In einem neueren Experiment wurde
bare Infektion hatten (Forhan et al. 2008). afroamerikanischen Schülern der Mittelstufe ein Enthaltsam-
Um die mathematische Seite sexuell übertragbarer Krank- keitsprogramm angeboten, das auf sozialpsychologischen Theo-
heiten zu verstehen, stellen Sie sich einmal das folgende Szenario rien und Forschung basierte. In den folgenden 2 Jahren hatten
vor: Im Laufe eines Jahres hat Patrizia Sex mit 9 Männern, die in nur 34% der teilnehmenden Schüler Sex im Vergleich zu 49% der
derselben Zeit jeweils wieder Sex mit 9 Frauen haben, die jeweils Schüler, die zufällig einer gesundheitsfördernden Kontrollgrup-
Sex mit 9 Männern haben. Wie viele Phantom-Sexualpartner pe zugeteilt worden waren (Jemmott et al. 2010).
(verflossene Partner von Partnern) wird Patrizia haben? Brannon In der landesweiten Längsschnittstudie zur Gesundheit bei
u. Brock (1993) berichten, dass die tatsächliche Anzahl – 511 – Jugendlichen an 12.000 Jugendlichen fand man außerdem meh-
fünfmal höher ist als die Schätzung, die ein Student im Schnitt rere Prädiktoren für sexuelle Zurückhaltung:
abgibt. Oder stellen Sie sich Folgendes vor: Wenn jemand eine
Methode zur Empfängnisverhütung benutzt, die zu 98% vor einer Hohe Intelligenz Teenager mit einer überdurchschnittlichen
12 Schwangerschaft und vor Infektionen schützt, wächst eine 2-pro- Intelligenz schieben Sex oft für einen späteren Zeitpunkt auf,
zentige Fehlerwahrscheinlichkeit beim ersten Gebrauch zu einem offensichtlich weil sie mögliche negative Folgen fürchten und
Risiko von fast 50% nach 30-maligem Gebrauch an. Des Weiteren sich stärker auf die künftige Leistung konzentrieren als auf die
unterschätzen Menschen das Risiko, wenn sie sich zu einem Part- Freuden im Hier und Jetzt (Halpern et al. 2000).
ner hingezogen fühlen (Knäuper et al. 2005).
Angesichts dieser Zahlen ist die schnelle Ausbreitung sexuell Religiosität Religiös aktive Teenager und Erwachsene bewahren
übertragbarer Krankheiten nicht überraschend. Kondome schüt- sich die Sexualität oft für eine eheliche Verpflichtung auf (Lucero
zen nur begrenzt vor von Haut zu Haut übertragbaren sexuellen et al. 2008).
Krankheiten, wie z. B. Herpes (Medical Institute 1994; NIH 2001).
Über verfügbare Studien hinweg waren Kondome beim Schutz Vorhandensein eines Vaters In Studien, bei denen Hunderte von
vor einer Übertragung des HIV (Human Immunodeficiency Mädchen von 5 bis 18 Jahren in Neuseeland und in den USA
Virus – das Virus, das Aids verursacht) durch einen infizierten begleitet wurden, ergab sich eine Korrelation zwischen einem
Partner zu 80% wirksam (Weller u. Davis-Beaty 2002; WHO Haushalt ohne Vater und sexueller Aktivität vor 16 sowie Teen-
2003). Die Effekte wurden deutlich, als Thailand den 100%igen agerschwangerschaften (Ellis et al. 2003). Diese Zusammen-
Gebrauch von Kondomen durch kommerzielle Prostituierte hänge blieben auch erhalten, als man andere konkurrierende
förderte. Über einen Zeitraum von 4 Jahren, in dem der Kondom- Einflussfaktoren wie etwa Armut statistisch konstant hielt. Enge
gebrauch von 14 auf 94% anstieg, fiel die jährliche Anzahl bakte- Bindungen in der Familie – Familien, die zusammen essen und
rieller STI von 410.406 auf 27.362 stark ab (WHO 2000). In den in denen die Eltern die Freunde und Aktivitäten der Kinder ken-
USA, so berichteten die Centers for Disease Control and Pre- nen – sagen einen späteren ersten Geschlechtsverkehr vorher
vention, nahm der Kondomgebrauch bei Frauen während des (Coley et al. 2008).
ersten vorehelichen Geschlechtsverkehrs von 34% vor 1985 auf
72% zwischen 2005 und 2008 zu (Mosher u. Jones 2010). Teilnahme an gemeinnützigen Programmen In mehreren Ex-
Eine Reaktion auf diese Tatsachen war – in den USA – die perimenten kam es bei Teenagern, die sich freiwillig als Tutoren
größere Betonung der Enthaltsamkeit bei Jugendlichen; dies oder als Helfer eines Lehrers betätigten oder an Gemeinde-
geschah in einem umfassenden Programm zur Sexualerziehung. programmen teilnahmen, seltener zu Schwangerschaften als bei
In einer von der Regierung beauftragten Studie von vier städ- Teenagern, die nach dem Zufall der Kontrollgruppe zugeordnet
tischen, in der Schule durchgeführten Enthaltsamkeitsprogram- worden waren (Kirby 2002; O’Donnell et al. 2002). Über die
12.3 · Sexuelle Motivation
463 12
Gründe dafür sind sich die Forscher nicht einig. Fördert das Aus- oder Anfang zwanzig nicht selbst als schwul oder lesbisch (ihre
üben gemeinnütziger Tätigkeiten ein Gefühl für eigene Kom- sozial beeinflusste Identität) empfunden zu haben (Garnets u.
petenz, Kontrolle und Verantwortung? Ermutigt es stärker zu Kimmel 1990; Hammack 2005). Als Jugendliche ist die Qualität
zukunftsgerichtetem Denken? Oder vermindert es einfach nur ihrer Freundschaften genauso wie die von heterosexuellen Teen-
die Gelegenheit zu ungeschütztem Sex? agern, und als Erwachsene sind ihre Partnerschaften denen hetero-
sexueller Paare in Bezug auf Liebe und Zufriedenheit »bemerkens-
Prüfen Sie Ihr Wissen
wert ähnlich« (Busseri et al. 2006; Peplau u. Fingerhut 2007).
5 Welche drei der folgenden fünf Faktoren tragen zu un- Bei einer Umfrage unter 18.876 Personen gaben 1% an, asexuell
geplanten Teenagerschwangerschaften bei? zu sein und »noch nie das Gefühl gehabt zu haben, dass über-
a. Alkoholgebrauch haupt irgendjemand für sie sexuell attraktiv ist« (Bogaert 2004,
b. Höhere Intelligenz 2006b).
c. Ignoranz
d. Vorbilder in den Massenmedien
Statistiken zur sexuellen Orientierung
e. Erhöhte Kommunikation über Optionen
5 Der Kondomgebrauch beim Sex reduziert (ja/nein) das Wie viele Menschen sind ausschließlich homosexuell? Etwa 10%,
Risiko, sich mit HIV anzustecken, und schützt voll- wie die Boulevardpresse oft annahm? Fast 25%, wie amerika-
kommen (ja/nein) vor von Haut zu Haut übertragbaren nische Durchschnittsbürger in einer Gallup-Umfrage von 2011
sexuellen Infektionen. schätzten (Morales 2011)? Dies widerspricht einem Dutzend
nationaler Umfragen, die sowohl in Europa als auch in den USA
zum Thema sexuelle Orientierung durchgeführt wurden und
Methoden benutzten, die die Anonymität der Befragten schütz-
12.3.4 Sexuelle Orientierung ten. Die genaueste Schätzung scheint ungefähr 3% der Männer
und 1–2% der Frauen zu sein (Chandra et al. 2011; Herbenick et
al. 2010a). Nach Schätzungen auf der Grundlage des U.S. Census
? 12.8 Was hat uns die Forschung über sexuelle Orientie-
von 2000 sind 2,5% der Bevölkerung schwul oder lesbisch
rungen gelehrt?
(Tarmann 2002). Weniger als 1% der Befragten, z. B. nur 12 von
Motivieren bedeutet, Verhalten auszulösen und zu lenken. Bis 7076 holländischen Erwachsenen in einer Studie (Sandfort et al.
jetzt haben wir uns vor allem damit beschäftigt, wodurch sexuel- 2001), geben an, aktiv bisexuell zu sein. In einer Umfrage des U.S.
le Motivation ausgelöst wird, nicht so sehr mit ihrer Richtung. National Center for Health Statistics gab eine große Anzahl von
Wir leben die Richtung unseres sexuellen Interesses in unserer Erwachsenen – 13% der Frauen und 5% der Männer – an, dass sie
sexuellen Orientierung aus: Darunter verstehen wir unsere kon- irgendeine Form eines homosexuellen Kontakts während ihres
sistente sexuelle Ausrichtung auf Menschen unseres Geschlechts Lebens gehabt haben (Chandra et al. 2011). Und noch mehr Men-
(homosexuelle Orientierung) oder des anderen Geschlechts schen geben an, ab und an homosexuelle Fantasien zu haben.
(heterosexuelle Orientierung). Wir erkennen diese Ausrichtung Wie fühlt man sich als Homosexueller in einer heterosexu-
aufgrund unserer Interessen, Gedanken und Fantasien (Wer ist ellen Gesellschaft? Falls Sie heterosexuell sind, stellen Sie sich
die Person in deinen Vorstellungen?). Die Kulturen unterschei- doch einmal vor, geächtet oder entlassen zu werden, weil Sie
den sich in ihrer Haltung gegenüber der Homosexualität. In offen zugeben oder zeigen, dass Sie Gefühle für eine Person
Chile sagen 32% der Menschen, dass Homosexualität »nie ge- des anderen Geschlechts haben; oder zu hören, wie andere rohe
rechtfertigt« sei – genauso wie 98% der Kenianer und Nigerianer Witze über Heterosexuelle machen; oder wie es wäre, wenn fast
(Pew Research Center 2006). Unabhängig davon, ob eine Kultur alle Filme, Fernsehsendungen und Werbespots fast ausschließ-
Homosexualität verdammt oder akzeptiert, überwiegt bisher die lich homosexuelle Paare zeigen (oder darauf anspielen) würden;
Heterosexualität und die Homosexualität überlebt. oder wenn Ihre Familie Sie anbetteln würde, Ihre Heterosexuali-
tät aufzugeben und endlich eine gleichgeschlechtliche Lebens-
Sexuelle Orientierung (»sexual orientation«) – konsistente Ausrichtung
des sexuellen Interesses auf Menschen desselben Geschlechts (Homosexu- gemeinschaft einzugehen.
alität) oder des anderen Geschlechts (Heterosexualität). Die sexuelle Orientierung ist kein Indikator für psychische
Gesundheit. »Homosexualität, an und für sich, ist nicht mit psy-
Schwule Männer und lesbische Frauen erinnern sich oft daran, chischen Störungen oder emotionalen oder sozialen Problemen
in ihrer Kindheit Spiele gespielt zu haben, die eigentlich typisch verbunden«, verkündet die American Psychological Association
für das andere Geschlecht sind (Bailey u. Zucker 1995). Aber die (2007). Außerdem bieten homosexuelle Partnerschaften die glei-
meisten homosexuellen Menschen berichten auch, sich ihrer sexu- chen emotionalen, sozialen und gesundheitlichen Vorteile wie
ellen Orientierung erst während oder kurz nach ihrer Pubertät heterosexuelle Partnerschaften (Herek 2006; King u. Bartlett
bewusst geworden zu sein und sich bis im späten Teenageralter 2006; Kurdek 2005). Manche homosexuelle Individuen – beson-
464 Kapitel 12 · Motivation und Arbeit

. Abb. 12.28 Zum Selbstmord angetrieben. Der Student Tyler Clementi sprang 2010 von dieser Brücke, nachdem ein Video von ihm und einem anderen
Mann beim Geschlechtsverkehr ins Internet gestellt wurde. Berichte deckten daraufhin andere schwule und lesbische Teenager auf, die in ähnlicher tragischer
Weise reagiert hatten, nachdem sie verspottet wurden. (© gilya3 / Fotolia)

12 ders während der Jugend und wenn sie sich von den Eltern zu- weniger stark ausgeprägt und ist möglicherweise leichter zu ver-
rückgewiesen oder von Freunden schikaniert fühlen – kämpfen ändern als die männliche (Chivers 2005; Diamond 2008; Peplau
gegen ihre sexuelle Orientierung an und ziehen Selbstmord in u. Garnets 2000). Wie Baumeister (2000) bemerkte, zeigt sich die
Erwägung (Balsam et al. 2005; Kitts 2005; Plöderl u. Fartacek geringere Variabilität der männlichen Sexualität auf vielerlei
2005; Ryan et al. 2009; . Abb. 12.28). Zunächst versuchen Weise. Über die Zeit, über Kulturen und Situationen hinweg, in
sie häufig, ihre Wünsche zu ignorieren und zu verleugnen, und verschiedenen Bildungsschichten, Religionen und Sozialgefügen
hoffen, dass sie verschwinden. Aber sie verschwinden nicht. ist der weibliche Sexualtrieb flexibler und veränderlicher als der
Dann versuchen sie vielleicht, sich selbst zu ändern, durch Psy- bei männlichen Erwachsenen. Im Gegensatz zu Männern schät-
chotherapie, Willenskraft oder Gebete. Aber ihre Gefühle blei- zen es Frauen, wenn sich Phasen hoher sexueller Aktivität mit
ben normalerweise bestehen, wie die der heterosexuellen Men- Zeiten fast ohne Sex abwechseln. Und bei ihnen ist die Wahr-
schen, die ebenso wenig einfach homosexuell werden können scheinlichkeit etwas höher als bei Männern, dass sie eine bisexu-
(Haldeman 1994, 2002; Myers u. Scanzoni 2005). Außerdem ist elle Anziehung empfinden und darauf reagieren (Mosher et al.
die sexuelle Orientierung, wie wir in 7 Kap. 7 gesehen haben, eine 2005). Baumeister bezeichnet dieses Phänomen als Geschlechts-
so grundlegende Eigenschaft, dass sie unbewusst wirkt, indem unterschied in Bezug auf die erotische Plastizität.
die Aufmerksamkeit auf bestimmte aufblitzende Nacktbilder ge- Bei Männern wird ein hoher Sexualtrieb mit erhöhter
zogen wird, die gar nicht bewusst wahrgenommen werden. Anziehung zu Frauen (wenn sie heterosexuell sind) oder zu
Die meisten Psychologen nehmen deshalb heute an, dass die Männern (wenn sie homosexuell sind) assoziiert. Bei Frauen
sexuelle Orientierung weder frei gewählt wurde noch willentlich wird ein hoher Sexualtrieb mit erhöhter Anziehung zu Männern
verändert werden kann. »Anstrengungen, die sexuelle Orientie- und Frauen assoziiert (Lippa 2006, 2007a). Wenn heterosexu-
rung zu ändern, sind selten erfolgreich und beinhalten ein Ver- ellen Männern Bilder gezeigt werden, auf denen heterosexuelle
letzungsrisiko«, verkündet ein Bericht der American Psycholo- Paare in entweder erotischen oder nicht erotischen Kontexten
gical Association im Jahr 2009. Mit der sexuellen Orientierung gezeigt werden, schauen sie hauptsächlich auf die Frau, während
ist es ähnlich wie mit der Händigkeit: Die meisten Menschen heterosexuelle Frauen etwa gleich lange auf Männer und Frauen
sind so, einige anders. Die wenigsten sind sowohl als auch. Aber schauen (Lykins et al. 2008). Ebenso starren heterosexuelle
egal, wie sie sind, sie bleiben so (. Abb. 12.29). Männer mehr auf weibliche Models in Badesachen als auf männ-
Diese Schlussfolgerung hat sich hauptsächlich für Männer liche, während heterosexuelle Frauen etwa gleich lange auf beide
bewährt. Die sexuelle Orientierung bei Frauen ist fließender und schauen (Lippa et al. 2010). Und wenn Männern sexuell ein-
12.3 · Sexuelle Motivation
465 12
Die Antwort auf alle diese Fragen lautet: Nein (Storms 1983).
Interessant sind vor allem die Ergebnisse der langen Interviews
des Kinsey Instituts mit annähernd 1000 Homo- und 500 Hete-
rosexuellen (Bell et al. 1981; Hammersmith 1982). Die Forscher
fragten nach beinahe jeder nur vorstellbaren psychischen Ursa-
che für die Entstehung von Homosexualität: nach dem Verhältnis
der Eltern zueinander, sexuellen Erfahrungen in der Kindheit,
Beziehungen zu Gleichaltrigen und Erfahrungen mit Vertretern
des anderen Geschlechts. Ihre Ergebnisse waren wie folgt:
Homosexuelle wurden nicht mit höherer Wahrscheinlichkeit als
Heterosexuelle von Mutterliebe erdrückt oder von ihrem Vater
vernachlässigt. Und stellen Sie sich folgende Frage: Wenn »dis-
tanzierte Väter« ihre Söhne homosexuell »machen« würden,
müssten dann nicht die Jungen, die ganz ohne Vater aufwachsen,
häufiger schwul werden? (Sie werden es nicht.) Und sollte die
. Abb. 12.29 Persönliche Wertvorstellungen beeinflussen die sexuelle
steigende Anzahl solcher Haushalte nicht zu einem drastischen
Orientierung weniger als andere Formen des Sexualverhaltens. Verglichen
mit Menschen, die kaum einmal in die Kirche gehen, haben regelmäßige Anstieg der Zahl der Homosexuellen führen? (Das ist nicht
Gottesdienstbesucher nur eine Wahrscheinlichkeit von einem Drittel, dass der Fall.) Die meisten Kinder, die von schwulen oder lesbischen
sie schon vor der Heirat mit jemandem zusammen gelebt haben, und sie Eltern aufgezogen wurden, wachsen heterosexuell und gut ange-
berichten, dass sie viel weniger Sexualpartner hatten. Aber die Männer in
passt auf (Gartrell u. Bos 2010).
beiden Gruppen haben die gleiche Wahrscheinlichkeit, homosexuell zu sein.
(Smith 1998; © Getty Images / iStockphoto) Sie sollten darauf achten, dass die wissenschaftliche Frage nicht
lautet »Was verursacht Homosexualität?« oder »Was verursacht
Heterosexualität?«, sondern »Was verursacht unterschiedliche
deutige Filmszenen gezeigt werden, ist ihre genitale und subjek-
sexuelle Orientierungen?«. Um eine Antwort auf diese Fragen zu
tive sexuelle Erregung bei der Betrachtung sexuell bevorzugter
finden, vergleicht die wissenschaftliche Psychologie den Hinter-
Stimuli (für heterosexuelle Betrachter sind es Darstellungen von
grund und die Physiologie von Menschen, die sich in ihrer sexu-
Frauen) am stärksten. Frauen reagieren eher unspezifisch auf
ellen Orientierung unterscheiden.
Darstellungen sexueller Aktivitäten, die Männer oder Frauen be-
inhalten (Chivers et al. 2007). Homosexuelle kommen jedoch häufiger in bestimmten Gruppen
vor. Die Durchsicht der Biografien von 1004 herausragenden
Ursprünge der sexuellen Orientierung Persönlichkeiten ergab, dass homosexuelle und bisexuelle Men-
Wie entstehen diese sexuellen Vorlieben, ob sie nun heterosexu- schen (11% der Stichprobe) vor allem unter Dichtern (24%),
ell oder homosexuell sind, die wir uns nicht aussuchen und Schriftstellern (21%), Schauspielern und Musikern (15%) über-
anscheinend auch nicht verändern können (so am deutlichsten repräsentiert sind (Ludwig 1995). An Berufen wie Dekorateur,
bei Männern)? Überlegen Sie einmal, wie der aktuelle Konsens, Florist oder Stewart, die oft von Frauen ausgeübt werden, sind
der sich aus den Ergebnissen von Hunderten von Studien er- homosexuelle Männer häufiger interessiert als heterosexuelle
geben hat, heute aussehen könnte, und beantworten Sie die fol- Männer (Lippa 2002). (Nimmt man jedoch an, dass 96% der
genden Fragen mit Ja oder Nein: Männer nicht schwul sind, ist auch in diesen Berufen die Mehr-
1. Hat Homosexualität etwas mit einer problematischen zahl der Männer heterosexuell.)
Beziehung eines Kindes zu seinen Eltern zu tun? Männer, die einen älteren Bruder haben, sind mit einer
Sind z. B. die Mütter eher dominierend und die Väter eher etwas größeren Wahrscheinlichkeit schwul, wie Blanchard (1997,
schwach, oder sind die Mütter besitzergreifend und die 2008a,b) und Bogaert (2003) berichten – die Wahrscheinlichkeit
Väter ablehnend? steigt je zusätzlichen älteren Bruder um etwa ein Drittel. Liegt
2. Empfinden homosexuelle Menschen Angst oder Hass die Wahrscheinlichkeit, schwul zu sein, für den ersten Sohn bei
gegenüber Menschen des anderen Geschlechts? Richten sie etwa 2%, steigt sie auf fast 3% für den zweiten Sohn, auf 4% für
deshalb ihr sexuelles Interesse auf Menschen des eigenen den dritten Sohn und so weiter für jeden zusätzlichen älteren
Geschlechts? Bruder (. Abb. 12.30). Die Ursache für dieses sonderbare Phäno-
3. Hängt Homosexualität mit einer bestimmten Menge von men, den brüderlichen Geburtsreihenfolgeneffekt, ist unbekannt.
Geschlechtshormonen im Blut zusammen? Blanchard nimmt an, dass die Ursache in der Immunabwehr der
4. Wurden viele Homosexuelle in ihrer Kindheit von Mütter gegen die fremden Substanzen liegt, die von einem männ-
einem Erwachsenen belästigt, verführt oder auf andere lichen Fötus produziert werden. Die mütterlichen Antikörper
Weise Opfer eines erwachsenen Homosexuellen? werden vielleicht nach jeder Schwangerschaft mit einem männ-
466 Kapitel 12 · Motivation und Arbeit

. Abb. 12.31 Julia und Julia. Das beliebte Schwanenpaar »Romeo und
Julia« aus Boston war eigentlich, so wie viele andere Tierpartner, ein
gleichgeschlechtliches Paar. Der Biologe Bagemihl (1999) machte einige
. Abb. 12.30 Der brüderliche Geburtsreihenfolgeneffekt. Nach dem hundert Arten aus, bei denen zumindest gelegentlich sexuelle Bezie-
Forscher Blanchard (2008a) stellen diese ungefähren Kurven die Wahr- hungen zum gleichen Geschlecht beobachtet wurden. Auf der langen Liste
scheinlichkeit eines Mannes, homosexuell zu sein, in Abhängigkeit von der finden sich Grizzlybären, Gorillas und andere Affen, Flamingos, Eulen
Anzahl seiner großen Brüder, dar. Diese Korrelation fand man in mehreren und Albatrosse. Ein gewisses Ausmaß an Homosexualität scheint also auch
Studien, jedoch nur bei rechtshändigen Männern in der Tierwelt ganz natürlich zu sein. (© huxflux / Fotolia)

lichen Fötus stärker und könnten verhindern, dass sich das schiedlicher Gehirnzentren, der Genetik und pränataler Erfah-
Gehirn des Sohnes in einer für Männer typischen Weise ent- rungen mit Hormonen.
wickelt. Übereinstimmend mit dieser biologischen Erklärung
tritt der Geburtsreihenfolgeneffekt nur bei Männern mit älteren jGehirn und sexuelle Orientierung
12 Brüdern auf, die von derselben Mutter geboren worden sind LeVay (1991) untersuchte Abschnitte des Hypothalamus von ver-
(ob sie zusammen aufgezogen worden sind oder nicht). Die se- storbenen homo- und heterosexuellen Menschen. Als schwuler
xuelle Orientierung wird nicht durch Adoptivbrüder beeinflusst Wissenschaftler wollte er etwas tun, »das mit meiner schwulen
(Bogaert 2006b). Der Geburtsreihenfolgeneffekt tritt weder bei Identität zu tun hat«. Er wusste, wie wichtig es war, die Ergebnisse
Frauen mit älteren Schwestern und bei Frauen mit Zwillings- nicht durch irgendwelche Vorurteile systematisch zu verfälschen.
brüdern noch bei Männern, die nicht rechtshändig sind, auf Deshalb führte er seine Untersuchungen »blind« durch, ohne zu
(Rose et al. 2002). wissen, welche der Spender homosexuell waren. Neun Monate
Doch was sonst könnte Einfluss auf die sexuelle Orientierung lang betrachtete er durch sein Mikroskop eine Zellansammlung
haben? Eine Theorie besagt, dass Menschen die erotische Vor- im Hypothalamus, die ihm kritisch erschien. Eines Morgens
liebe für ihr eigenes Geschlecht entwickeln, wenn sie während entschlüsselte er dann den Code. Seine Entdeckung: Bei hetero-
der Zeit, in der sich ihr Sexualtrieb entwickelt, vom anderen Ge- sexuellen Männern war ein Zellcluster zuverlässig größer als
schlecht getrennt sind (Storms 1981). Tatsächlich erinnern sich bei Frauen und homosexuellen Männern. LeVay (1994) berichtet
schwule Männer daran, früher in die Pubertät gekommen zu über den Moment, als dieser Unterschied in den Gehirnen offen-
sein, in einem Alter, in dem der Freundeskreis noch eher nur aus sichtlich wurde: »Ich war geschockt … ich ging allein auf den
Jungen bestand (Bogaert et al. 2002). Aber sogar in Stammeskul- Klippen am Meer spazieren. Ich setzte mich eine halbe Stunde
turen, in denen homosexuelles Verhalten vor der Ehe von allen lang hin und dachte nur darüber nach, was das bedeuten könnte.«
Jungen erwartet wird, überwiegt die Heterosexualität (Hammack Die Tatsache, dass die Unterschiede in der sexuellen Orien-
2005; Money 1987). (Daran zeigt sich, dass homosexuelles Ver- tierung sich im Aufbau des Gehirns abzeichnen, sollte uns nicht
halten nicht dasselbe ist wie eine homosexuelle Orientierung.) überraschen (Savic u. Lindström 2008; Swaab 2008). Erinnern
Ein Fazit lässt sich aus einem halben Jahrhundert Theorie- Sie sich an unsere Maxime: Alles, was psychologisch ist, ist gleich-
bildung und Forschung zu den Ursachen der Homosexualität zeitig auch biologisch. Die kritische Frage ist jedoch: Wann be-
ziehen: Sollte es tatsächlich Umweltfaktoren geben, die die sexu- gann die Differenzierung des Gehirns: bei der Empfängnis, im
elle Orientierung beeinflussen, so kennen wir sie nicht. Diese Mutterleib oder erst während der Kindheit oder Jugend? Ent-
Realität hat die Forscher dazu angeregt, sorgfältiger als bisher die stand sie durch Erfahrungen oder durch Gene oder durch präna-
möglichen biologischen Einflüsse auf die Orientierung zu be- tale Hormone (oder Gene vermittelt über pränatale Hormone)?
denken. Und dazu gehören auch die Befunde zur Homosexuali- LeVay glaubt nicht, dass der Hypothalamus das Zentrum der
tät in der Tierwelt (. Abb. 12.31) und zu den Einflüssen unter- sexuellen Orientierung ist; er glaubt vielmehr, dass er ein wich-
12.3 · Sexuelle Motivation
467 12
tiger Teil der neuronalen Verbindung ist, über die das sexuelle Und außerdem hat man es durch Experimente mit Hilfe der
Verhalten gesteuert wird. Er erkennt an, dass auch das sexuelle Genmanipulation geschafft, weibliche Fruchtfliegen zu erzeu-
Verhalten den Aufbau des Gehirns beeinflussen kann. Bei Fischen, gen, die sich beim Werben um den Partner wie männliche Exem-
Vögeln, Ratten und Menschen verändert sich die Struktur des plare verhalten (Verjagen von weiblichen Fruchtfliegen), und
Gehirns durch ihre Erfahrungen, auch durch die sexuelle Er- männliche Fruchtfliegen, die sich wie weibliche Fruchtfliegen
fahrung, wie der Sexualforscher Breedlove (1997) berichtet. Aber verhalten (Demir u. Dickson 2005). »Wir haben gezeigt, dass ein
LeVay glaubt, dass die sexuelle Orientierung mit größerer Wahr- einziges Gen in der Fruchtfliege ausreicht, um alle Aspekte der
scheinlichkeit durch den Aufbau des Gehirns beeinflusst wird. sexuellen Orientierung und des Sexualverhaltens bei den Fliegen
Seine Annahme wird durch den Befund gestützt, dass sich auch zu bestimmen«, erklärte Dickson (2005). Beim Menschen ist es
die Hypothalami der »homosexuellen« Schafe von denen der wahrscheinlich, dass viele Gene – möglicherweise in Interaktion
männlichen Schafe unterscheiden, die sich von weiblichen Scha- mit anderen Einflüssen – die sexuelle Orientierung formen. Eine
fen angezogen fühlen (Larkin et al. 2002; Roselli et al. 2002, 2004). durch die U.S. National Institutes of Health finanzierte Studie
Zudem berichten die Psychologen Rahman u. Wilson (2003) von analysiert zur Zeit mehr als 1000 homosexuelle Brüder auf der
der University of London: »Die neuroanatomischen Korrelate der Suche nach solchen genetischen Kennzeichen.
Homosexualität des Mannes differenzieren sich sehr früh nach Forscher haben darüber spekuliert, warum es »Schwulen-
der Geburt heraus, wenn nicht sogar schon vorher.« gene« geben könnte. Wenn ein Paar vom gleichen Geschlecht ist,
Ein funktionaler Unterschied im Hypothalamus zeigte sich kann es sich nicht fortpflanzen. Wie konnten dann Gene, die zu
in Berichten über die Hirnreaktionen auf Gerüche, die auf Homosexualität prädisponieren, im Genpool des Menschen
Sexualhormone zurückgehen. Schwedische Forscher (Savic et al. überleben? Eine mögliche Erklärung ist die Verwandtenselek-
2005) berichten, dass bei heterosexuellen Frauen, die man nur tion. Erinnern Sie sich aus 7 Kap. 5 an das, was die evolutionäre
einem Hauch vom Geruch des Schweißes von einem Mann aus- Psychologie sagt, nämlich dass viele unserer Gene auch in unse-
setzt, in einem Bereich des Hypothalamus, der die sexuelle Er- ren biologischen Verwandten sitzen. Vielleicht leben dann die
regung steuert, Aktivität angezeigt wird. Die Gehirne schwuler Gene von Menschen dadurch weiter, dass sie das Überleben und
Männer reagierten ähnlich auf Männerschweiß, die Gehirne den Fortpflanzungserfolg ihrer Nichten, Neffen und anderen
heterosexueller Männer jedoch zeigten die Erregungsreaktion Verwandten fördern (die auch Träger vieler der gleichen Gene
nur bei Gerüchen, die an ein weibliches Hormon erinnerten. An- sind). Eine Studie an Samoanern fand heraus, dass schwule Män-
dere Studien, die die Gehirnaktivität auf Schweißgerüche mit ner großzügige Onkel sind (Vasey u. VanderLaan 2010).
sexuellem Bezug und auf Bilder mit weiblichen und männlichen Eine alternative Erklärung ist die »fertile females theory«, die
Gesichtern untersuchten, zeigten ähnliche Unterschiede zwi- besagt, dass die Gene der Mütter wirken (Bocklandt et al. 2006).
schen homosexuellen und heterosexuellen Menschen (Kranz u. Neuere in Italien durchgeführte Studien bestätigen, was andere
Ishai 2006; Martins et al. 2005). schon herausgefunden hatten – dass homosexuelle Männer mehr
homosexuelle Verwandte mütterlicherseits als väterlicherseits
» Schwule Männer haben ganz einfach nicht die Gehirnzellen,
haben (Camperio-Ciani et al. 2004, 2009; Zietsch et al. 2008).
die nötig sind, um sich von Frauen angezogen zu fühlen.
Man fand auch heraus, dass die Verwandten homosexueller
Simon LeVay, The Sexual Brain, 1993
Männer mütterlicherseits verglichen mit den Verwandten he-
terosexueller Männer mütterlicherseits mehr Nachkommen
jGene und sexuelle Orientierung hervorbringen. Vielleicht veranlassen die Gene, die die Frauen
Werden diese auf die sexuelle Orientierung bezogenen Gehirn- dazu bringen, sich stark zu Männern hingezogen zu fühlen, und
unterschiede genetisch beeinflusst? Es gibt Befunde, die bei der somit mehr Kinder zu haben, Männer (einschließlich einige
sexuellen Orientierung auf einen genetischen Einfluss hindeu- der eigenen männlichen Verwandten) dazu, dass diese sich zu
ten. »Erstens scheint Homosexualität in bestimmten Familien Männern hingezogen fühlen (LeVay 2011).
gehäuft vorzukommen«, merken Mustanski u. Bailey (2003) an.
»Zweitens wurde in Zwillingsstudien bestätigt, dass Gene eine
» Studien deuten darauf hin, dass die Homosexualität des
Mannes mit größerer Wahrscheinlichkeit von der mütterli-
wesentliche Rolle bei der Erklärung der Unterschiede in Bezug
chen Seite der Familie weitergegeben wird.
auf die sexuelle Orientierung spielen.« Ein eineiiger Zwilling hat
Robert Plomin, John DeFries, Gerald McClearn u. Michael
eine etwas größere Wahrscheinlichkeit als ein zweieiiger Zwil-
Rutter, Behavior Genetics, 1997
ling, dieselbe sexuelle Orientierung zu haben wie sein Zwillings-
bruder (Alanko et al. 2010; Lángström et al. 2008, 2010). Bei
vielen eineiigen Zwillingspaaren jedoch (vor allem bei Zwillings- jPränatale Hormone und sexuelle Orientierung
schwestern) sind die sexuellen Orientierungen der Zwillinge Bei eineiigen und zweieiigen Zwillingen findet sich eine erhöhte
durchaus unterschiedlich. Dies deutet darauf hin, dass hier Wahrscheinlichkeit, dass sie homosexuell sind; dies deutet da-
andere Faktoren außer den Genen wirksam sind. rauf hin, dass nicht nur gemeinsame Gene, sondern auch eine
468 Kapitel 12 · Motivation und Arbeit

gemeinsame pränatale Umwelt ein Faktor sein kann. Bei Tieren Kimura 1994; Mustanski et al. 2002; Sanders et al. 2002). Da
und einigen wenigen menschlichen Fällen änderte sich die sexu- die Entwicklung der Rillen des Fingerabdrucks schon in der
elle Orientierung eines Fötus durch pränatale hormonelle Be- 16. Schwangerschaftswoche abgeschlossen ist, nehmen die For-
dingungen. Der deutsche Forscher Gunter Dorner (1976, 1988) scher an, dass die Unterschiede durch pränatale Hormone
wurde zum Pionier dieser Forschung, als er die männlichen Hor- bedingt sind. Pränatale Hormone sind wahrscheinlich auch der
mone veränderte, denen eine ungeborene Ratte ausgesetzt war, Grund, warum laut 20 Studien »homosexuelle Versuchsteilneh-
und somit auch ihre sexuelle Orientierung. Auch weibliche Scha- mer mit einer um 39% größeren Wahrscheinlichkeit keine
fe zeigen homosexuelles Verhalten, wenn man ihren Müttern in Rechtshänder sind« und ebenso, warum Männer mit älteren bio-
einer kritischen Phase der Schwangerschaft Testosteron injiziert logischen Brüdern mit größerer Wahrscheinlichkeit Linkshän-
(Money 1987). der sind (Blanchard 2008; Lalumière et al. 2000). Zusätzlich
zu diesen und anderen natürlichen Kennzeichen der sexuellen
» Die moderne wissenschaftliche Forschung zeigt, dass die
Orientierung können Gesichter und Gesichtsausdrücke das
sexuelle Orientierung … teilweise von der Genetik,
menschliche »gaydar« – ein Wortspiel aus »gay« (homosexuell)
jedoch im Besonderen von der hormonellen Aktivität im
und »radar« (Radargerät) – aktivieren, weshalb Schwule und
Mutterleib bestimmt wird.
Lesben mit einer größeren Wahrscheinlichkeit als durch reinen
Glenn Wilson u. Qazi Rahman, Born Gay: The Psychobiology
Zufall als homosexuell identifiziert werden können (Freeman et
of Sex Orientation, 2005
al. 2010; Rule u. Ambady 2008; Rule et al. 2011). Solche Unter-
Bei Menschen scheint es eine kritische Phase für die Entwick- schiede stellen sich häufig schon früh durch das geschlechts-
lung des neuronalen Hormonkontrollsystems des Gehirns in der untypische Verhalten vieler, jedoch nicht aller Kinder, die
Mitte des 2. und des 5. Monats nach der Empfängnis zu geben später homosexuell werden, heraus. In einer Studie sollten die
(Ellis u. Ames 1987; Gladue 1990; Meyer-Bahlburg 1995). Wird Versuchsteilnehmer nach dem Betrachten von Videoclips die
ein Fötus während dieser Zeit den Hormonen ausgesetzt, die gerade gesehenen Kinder einschätzen, ohne dass ihnen etwas
normalerweise für weibliche Föten bestimmt sind, scheint die über ihre spätere sexuelle Orientierung gesagt wurde. Im Durch-
Vorliebe für Männer im späteren Leben festgelegt zu werden, schnitt wurden Kinder, die sich später als homosexuell heraus-
unabhängig davon, ob der Fötus männlich oder weiblich ist. stellten, als geschlechtsuntypischer eingestuft als Kinder, die
12 »Pränatale Sexualhormone kontrollieren die sexuelle Differen- sich später als heterosexuell herausstellten. Besonders deutlich
zierung der Gehirngebiete, die am sexuellen Verhalten beteiligt war dieser Unterschied bei Kindern ab dem 10. Lebensjahr
sind«, merkt LeVay an (2011, S. 216). Dadurch ist es bei weib- (Rieger et al. 2008).
lichen Föten, die hauptsächlich Testosteron ausgesetzt wurden
und bei männlichen Föten, die Testosteron am wenigsten ausge-
setzt wurden, am wahrscheinlichsten, dass sie später geschlechts- Biologische Korrelate der sexuellen Orientierung
untypische Eigenschaften zeigen und homosexuelles Verlangen Beobachtbare Unterschiede zwischen homo- und hetero-
empfinden. sexuellen Menschen
In einigen Forschungsarbeiten fand man heraus, dass homo- Die sexuelle Orientierung ist Teil einer Sammlung von Eigen-
sexuelle Personen beider Geschlechter viele Persönlichkeits- schaften. Studien, von denen einige noch repliziert werden
merkmale haben, die zwischen denen heterosexueller Frauen müssen, zeigen, dass sich Homosexuelle und Heterosexuelle
und Männer liegen (7 Biologische Korrelate der sexuellen Orien- in den folgenden biologischen und verhaltensbezogenen
tierung; s. ebenfalls LeVay 2011; Rahman u. Koerting 2008). Zum Eigenschaften unterscheiden:
Beispiel entwickeln sich die Cochlea und das auditive System von 5 Räumliches Vorstellungsvermögen
lesbischen Frauen auf eine Weise, die zwischen der von hetero- 5 Anzahl der Rillen im Fingerabdruck
sexuellen Frauen und Männern liegt. Dies scheint auf den Ein- 5 Entwicklung des auditiven Systems
fluss pränataler Hormone zurückzuführen zu sein (McFadden 5 Händigkeit
2002). Schwule Männer sind tendenziell etwas kleiner und leich- 5 Berufswahl
ter als heterosexuelle Männer, sogar schon bei der Geburt, 5 Relative Fingerlänge
während Frauen in homosexuellen Partnerschaften bei der 5 Geschlechtlicher Nonkonformismus
Geburt meistens schwerer als der Durchschnitt waren (Bogaert 5 Alter bei Pubertätseintritt bei Jungen
2010; Frisch u. Zdravkovic 2010). Ein weiterer Unterschied ist die 5 Körpergröße (Männer)
Anzahl der Rillen im Fingerabdruck: Während die meisten Men- 5 Länge des Schlafs
schen an der rechten Hand mehr Fingerabdruckrillen als an der 5 Physische Aggression
linken Hand haben, fanden einige Studien heraus, dass dieser 5 Laufstil
Unterschied zwischen den Händen bei heterosexuellen Männern 6
größer ist als bei Frauen und homosexuellen Männern (Hall u.
12.3 · Sexuelle Motivation
469 12

Im Durchschnitt (der Beleg ist für Männer jedoch stärker)


fallen die Eigenschaften homosexueller Menschen zwischen
die Eigenschaften von heterosexuellen Männern und
Frauen. Drei biologische Einflüsse – das Gehirn, die Genetik
und die Zeit vor der Geburt – könnten zu diesen Unterschie-
den beitragen.

Unterschiede im Gehirnaufbau:
5 Eine Zellansammlung im Hypothalamus ist bei hetero-
sexuellen Männern größer als bei Frauen und schwulen
Männern.
5 Die Commissura anterior ist bei schwulen Männern
größer als bei Frauen oder heterosexuellen Männern.
5 Der Hypothalamus reagiert bei schwulen Männern auf
den Geruch von Hormonen mit sexuellem Bezug wie der
einer Frau.

Genetische Einflüsse:
5 Eineiige Zwillinge haben mit einer höheren Wahr-
scheinlichkeit als zweieiige Zwillinge dieselbe sexuelle
Orientierung.
5 Die sexuelle Orientierung kann bei Fruchtfliegen gene-
tisch manipuliert werden.
5 Homosexualität bei Männern scheint von der mütter-
lichen Seite der Familie weitergegeben zu werden.

Einflüsse der pränatalen Hormone:


. Abb. 12.32a,b Räumliche Fähigkeiten und sexuelle Orientierung.
5 Bei Tieren und Menschen kann eine Veränderung des
a Welche der vier Figuren lässt sich so drehen, dass sie der Zielfigur (oben)
pränatalen Hormonspiegels zu Homosexualität führen. entspricht? Die Antwort finden Sie am Ende dieses Abschnitts im Text.
5 Rechtshändige Männer mit mehreren älteren biologi- (Aus Vandenberg u. Kuse 1978; republished with permission of Ammons
schen Brüdern sind mit höherer Wahrscheinlichkeit Scientific, Ltd, copyright 1978; permission conveyed through Copyright
Clearance Center, Inc.) b Heterosexuelle Männer empfinden diese Aufgabe
schwul, vielleicht aufgrund einer Reaktion des Immun-
gewöhnlich als leichter als heterosexuelle Frauen; Schwule und Lesben
systems der Mutter. liegen im Bereich dazwischen. (Nach Rahman et al. 2003; in jeder Gruppe
wurden jeweils 60 Personen getestet)

Eine weitere verblüffende Illustration für die Unterschiede Lage von Objekten, z. B. in Aufgaben wie bei Memory-Spielen,
zwischen hetero- und homosexuellen Personen wird in Studien jedoch bessere Ergebnisse als heterosexuelle Männer (Hassan u.
erwähnt, die zeigen, dass die räumlichen Fähigkeiten homo- Rahman 2007).
sexueller Männer denen ähneln, wie sie für heterosexuelle Frauen Die Konsistenz der Ergebnisse in Genetik, Pränataldiagnos-
typisch sind (Cohen 2002; Gladue 1994; McCormick u. Witelson tik und Gehirnforschung deutet immer stärker darauf hin,
1991; Sanders u. Wright 1997). Bei Aufgaben zur mentalen dass man die sexuelle Orientierung biologisch erklären muss
Rotation wie z. B. der, die in . Abb. 12.32 dargestellt ist, erzielen (Rahman u. Wilson 2003; Rahman u. Koerting 2008). Dies könn-
die heterosexuellen Männer meist bessere Ergebnisse als Frauen. te auch erklären, warum die sexuelle Orientierung so schwer zu
Frauen, die einen Zwillingsbruder haben, erzielen ebenfalls verändern ist, und warum eine Internetstudie von BBC bei
bessere Ergebnisse (Vuoksimaa et al 2010). Bei Studien von 200.000 Menschen auf der ganzen Welt die gleichen Interessen-
Rahman et al. (2003, 2008) fand man heraus, dass die Ergebnisse und Persönlichkeitsunterschiede zwischen hetero- und homo-
sowohl der homosexuellen Männer als auch der homosexuellen sexuellen Menschen fand (Lippa 2007a,b, 2008).
Frauen wie bei einer Reihe anderer Maße zwischen denen Trotzdem fragen sich viele Menschen, ob diese Frage über-
heterosexueller Männer und Frauen liegen. Heterosexuelle haupt von Bedeutung sein sollte. Vielleicht sollte sie es nicht, aber
Frauen und Schwule erzielen bei der Erinnerung der räumlichen menschliche Vorurteile sind von Bedeutung. Menschen, die
470 Kapitel 12 · Motivation und Arbeit

glauben, dass die sexuelle Orientierung biologisch determiniert oder als Bestandteil einer »anderen sexuellen Lebensweise«
ist, bringen in stärkerem Maße positiv-akzeptierende Einstel- etikettieren, hängt von unserer Einstellung gegenüber diesen
lungen gegenüber Homosexuellen zum Ausdruck (Allen et al. Verhaltensweisen ab. Etikettierungen beschreiben, aber sie be-
1996; Haslam u. Levy 2006; Henry J. Kaiser Foundation 2001; werten auch.
Whitley 1990). Sexualerziehung, die vom Kontext der Wertvorstellungen
Für Homosexuelle ist die neue biologische Forschung je- von Menschen losgelöst wird, könnte manchen Studierenden
doch ein zweischneidiges Schwert (Diamond 1993; Roan 2010). auch die Vorstellung vermitteln, Geschlechtsverkehr sei ein-
Ist die sexuelle Orientierung wie die Hautfarbe und das Ge- fach eine Freizeitaktivität. Baumrind (1982), eine Expertin im
schlecht erblich bedingt, ist dies ein Grund, die Bürgerrechte Bereich der Kindererziehung von der University of California,
der Homosexuellen zu schützen. Außerdem könnten sich die beobachtete, dass die Schlussfolgerung, Erwachsene seien dem
Sorgen von Eltern ausräumen lassen, dass ihre Kinder in un- Sexualverhalten von Jugendlichen gegenüber neutral eingestellt,
angemessener Weise durch homosexuelle Lehrer und deren unglückselig ist, weil Freizeitsex mit vielen Partnern bestimmte
Rollenvorbild beeinflusst werden. Allerdings wachsen Befürch- psychische, gesellschaftliche, medizinische und moralische
tungen, dass die sexuelle Orientierung eines Tages pränatal Probleme aufwirft, denen man sich realistischerweise stellen
diagnostiziert werden könnte und Kinder vielleicht nur wegen muss. Eine neue Studie befragte 2035 verheiratete Menschen,
ihrer voraussichtlich unerwünschten Orientierung abgetrie- wann sie in ihrer Beziehung das erste Mal Sex hatten (die Aus-
ben werden könnten oder durch hormonelle Behandlung im bildung, die religiöse Gesinnung und die Dauer der Beziehung
Mutterleib in eine gewünschte sexuelle Richtung dirigiert werden wurde dabei kontrolliert). Die Personen, deren Beziehung sich
könnten. am schnellsten zu einer tiefen Verpflichtung, wie z. B. Heirat,
entwickelt hatte, berichteten von einer größeren Zufriedenheit
» Es gibt keinen wissenschaftlichen Beleg dafür, dass die
mit der Beziehung, von höherer Stabilität sowie von besserem
sexuelle Orientierung verändert werden kann.
Sex (Busby et al. 2010).
UK Royal College of Psychiatrists, 2009
Vielleicht stimmen wir darin überein, dass das Wissen, das
Und hier die Antwort zur Frage in . Abb. 12.32: Es sind die die Sexualforschung liefert, dem Unwissen vorzuziehen ist und
Figuren 1 und 4. dass die Wertvorstellungen der Forscher offen ausgesprochen
12 werden sollten. Denn dies versetzt uns in die Lage, über sie zu
Prüfen Sie Ihr Wissen
diskutieren und über unsere eigenen Wertvorstellungen nachzu-
5 Welche drei der folgenden fünf Faktoren haben nach den denken. Wir sollten uns in Erinnerung rufen, dass die wissen-
Forschungsergebnissen einen Einfluss auf die sexuelle schaftliche Forschung zur sexuellen Motivation nicht darauf
Orientierung? abzielt, die persönliche Bedeutung der Sexualität in unserem
a. Eine gebieterische Mutter Leben zu definieren. Man kann zwar alle verfügbaren Einzel-
b. Die Größe bestimmter Zellansammlungen im Hypo- heiten zur Sexualität kennen – dass die anfänglichen Spasmen
thalamus beim männlichen und weiblichen Orgasmus im Abstand von
c. Pränataler Einfluss von Hormonen 0,8 Sekunden erfolgen, dass sich die Brustwarzen der Frau auf
d. Ein distanzierter oder untauglicher Vater dem Höhepunkt der sexuellen Erregung um 10 mm erweitern,
e. Bei Männern: mehrere ältere biologische Brüder dass der systolische Blutdruck um 60 Punkte ansteigt und die
Atemfrequenz auf 40 Atemzüge pro Minute – und trotzdem
nicht die Bedeutung der sexuellen Intimität für den Menschen
begreifen.
12.3.5 Sexualität und die Wertvorstellungen Gewiss ist eine Bedeutung der sexuellen Intimität, dass sie
von Menschen unsere tiefgehend soziale Natur zum Ausdruck bringt. Sex ist ein
sozial bedeutsamer Akt. Männer und Frauen können den Orgas-
mus alleine erreichen, doch die meisten Menschen empfinden
? 12.9 Ist die wissenschaftliche Forschung über die sexuelle
eine größere Befriedigung – und erleben einen sehr viel stärkeren
Motivation frei von Wertvorstellungen?
Anstieg im Hormon Prolaktin, das mit sexueller Befriedigung
Weil die meisten Sexualforscher und Sexualpädagogen er- und Sättigung in Verbindung gebracht wird – nachdem sie Ge-
kennen, dass Wertvorstellungen sowohl etwas Persönliches als schlechtsverkehr und einen Orgasmus mit einen geliebten Men-
auch etwas Kulturelles sind, streben sie an, ihre Veröffentlichun- schen gehabt haben (Brody u. Tillmann 2006). Die Befriedigung
gen möglichst wertfrei zu halten. Eben die Wörter, die wir bei durch Intimität und durch eine Beziehung übertreffen die Selbst-
der Beschreibung des Verhaltens verwenden, bringen unsere befriedigung, daher gibt es bei der sexuellen Motivation ein Ver-
persönlichen Wertvorstellungen zum Ausdruck. Ob wir Sexual- langen nach Nähe (. Abb. 12.33). Sex ist beim Menschen im
praktiken, die wir selbst nicht ausüben, als »Perversionen« besten Fall Lebensvereinigung und Liebeserneuerung.
12.4 · Das Bedürfnis nach Zugehörigkeit
471 12
gegnen, um sich zu vermehren, und dann zusammenzubleiben,
um den gemeinsamen Nachwuchs bis zur Geschlechtsreife auf-
zuziehen. Die englische Wendung »to be wretched«, die auf
Deutsch »unglücklich sein, sich miserabel fühlen« bedeutet,
hatte die ursprüngliche mittelenglische Bedeutung (»wrecche«)
»ohne nahe Verwandte sein«.
Auch die Zusammenarbeit in Gruppen erleichterte das Über-
leben. Als Einzelkämpfer waren unsere Vorfahren nicht gerade
die stärksten Raubtiere. Als Jäger lernten sie jedoch, dass sechs
Hände mehr erreichen als zwei. Und bei der Nahrungssuche
schützten sie sich gegenseitig vor Raubtieren und vor Feinden,
indem sie sich zusammen in Gruppen bewegten. Diejenigen, die
ein Bedürfnis nach Zugehörigkeit hatten, überlebten und pflanz-
ten sich erfolgreich fort; ihre Gene haben sich durchgesetzt und
dominieren noch heute. Wir sind von Geburt an auf Gemein-
schaft angelegte Geschöpfe. In jeder Gesellschaft auf dieser Erde
gehören Menschen einer Gruppe an (und, wie 7 Kap. 15 erklärt,
wird das »uns« dem »sie« vorgezogen).
Haben Sie enge Freunde? Solche, mit denen Sie freimütig über
all das Gute und Schlechte in Ihrem Leben reden können? Wir
freuen uns noch mehr über gute Neuigkeiten, wenn wir jemanden
. Abb. 12.33 Das gemeinsame Erlebnis der Liebe. Für die meisten
haben, der sich mit uns darüber freut. Dies hat auch einen posi-
Erwachsenen erfüllt sich durch eine sexuelle Beziehung nicht nur ein bio-
logisches Motiv, sondern auch ein soziales Bedürfnis nach Intimität
tiven Effekt auf die Freundschaft (Reis et al. 2010). Wie wir in
und Vertrautheit. (© Getty Images / iStockphoto) 7 Kap. 13 sehen werden, sind Menschen, die sich in guten Bezie-
hungen aufgehoben fühlen, auch gesünder und haben ein gerin-
geres Risiko, an einer psychischen Erkrankung zu leiden und
12.4 Das Bedürfnis nach Zugehörigkeit vorzeitig zu sterben, als jene, die kein soziales Netz haben. Im
Vergleich zu Singles erkranken verheiratete Menschen z. B. mit
geringerer Wahrscheinlichkeit an Depressionen, verüben seltener
? 12.10 Welchen Beleg gibt es für das menschliche Bedürfnis
Suizid und sterben seltener früh.
nach Zugehörigkeit?

Getrennt von Freunden und Familien – isoliert im Gefängnis,


» Wir müssen einander lieben oder sterben.
W.H. Auden, 1. September 1939
neu in der Schule, in einem fremden Land lebend – spüren die
meisten Menschen den Verlust der Verbindung zu ihren wich-
tigsten Bezugspersonen. Wir sind soziale Wesen, wie Aristoteles
sagte. In der Nikomachischen Ethik schrieb er: »Ohne Freund- 12.4.2 Wunsch nach Zugehörigkeit
schaft möchte niemand leben, hätte er auch alle anderen Güter.«
Wir fühlen das Bedürfnis, uns mit anderen zu verbinden, mit Das Bedürfnis nach Zugehörigkeit färbt auf unsere Gedanken
einigen – wenn möglich – sogar in dauerhaften, engen Bezie- und Gefühle ab. Wir verbringen einen großen Teil unserer Zeit
hungen. Wie der Persönlichkeitstheoretiker Alfred Adler fest- damit, über tatsächliche und erhoffte Beziehungen nachzu-
stellte, ist den Menschen ein »Streben nach Gemeinschaft« eigen denken. Wenn Beziehungen entstehen, erleben wir das oft als
(Ferguson 1989, 2001, 2010). Auch empirisch konnte dieses tiefe Freude. Menschen, die sich verlieben, spüren häufig Schmerzen
Bedürfnis nach Zugehörigkeit nachgewiesen werden (Baumeister in den Wangen, weil sie nicht mehr aufhören können zu lächeln.
u. Leary 1995). Fragt man sie: »Warum bist du so glücklich?« oder »Was gibt
deinem Leben Sinn?«, erwähnen die meisten Menschen vor
allem anderen ihre nahen, befriedigenden Beziehungen zu ihrer
12.4.1 Soziale Bindung als Überlebenshilfe Familie, ihren Freunden und Partnern (Berscheid 1985). Das
Glück liegt oft sehr nahe.
Soziale Bindungen haben die Überlebenschancen unserer Vor- Halten Sie für einen Moment inne, um über etwas nachzu-
fahren verbessert. Die Menschen behielten ihre Kinder in ihrer denken: Was war für Sie in der letzten Woche der befriedigendste
Nähe, und diese Bindung war ein machtvoller Überlebensim- Augenblick? Sheldon et al. (2001) stellten diese Frage Studieren-
puls. Bei Erwachsenen hatte die Bindung den Sinn, sich zu be- den in den USA und Südkorea und fragten dann weiter, wie sehr
472 Kapitel 12 · Motivation und Arbeit

diese höchste Erfahrung verschiedene Bedürfnisse zufrieden- diese Gruppe aufgelöst werden soll. In der Hoffnung, Beziehun-
stellte. In beiden Staaten waren die Bedürfnisse Erfüllung des gen lebendig halten zu können, versprechen wir, anzurufen, zu
Selbstwertgefühls und Beziehung/Zugehörigkeit die beiden wich- schreiben und zurückzukommen. Weggehen ist schmerzhaft.
tigsten Beiträge für den höchsten Augenblick. In einer weiteren Bindungen können Menschen sogar in Beziehungen festhalten, in
Studie fand man heraus, dass sich sehr glückliche Studierende von denen sie missbraucht werden, wenn die Angst vor dem Allein-
anderen nicht durch ihr Geld unterscheiden, sondern durch sein größer ist als der Schmerz bei körperlichem oder seelischem
»reichhaltige und befriedigende enge Beziehungen« (Diener u. Missbrauch. Menschen leiden sogar, wenn schlechte Beziehungen
Seligman 2002). Das Bedürfnis nach Zugehörigkeit geht anschei- auseinandergehen. Nach solchen Trennungen tritt oft das Gefühl
nend tiefer als irgendein Bedürfnis nach Reichtum. Wenn unser der Einsamkeit und der Wut auf – und bisweilen sogar ein selt-
Bedürfnis nach Zugehörigkeit erfüllt und mit zwei anderen sames Verlangen, in der Nähe des ehemaligen Partners zu sein. In
Grundbedürfnissen – Autonomität (ein Gefühl der persönlichen einer Umfrage in 16 Ländern und in Umfragen in den USA gaben
Kontrolle) und Kompetenz – ausgeglichen ist, ist das Resultat getrennt lebende oder geschiedene Menschen nur halb so oft wie
ein tiefes Gefühl von Wohlbefinden (Deci u. Ryan 2002, 2009; die Verheirateten an, sie seien »sehr glücklich« (Inglehart 1990;
Milyavskaya et al. 2009; Sheldon u. Niemiec 2006). Sich mit ande- NORC 2010).
ren verbunden, frei und kompetent fühlen bedeutet, dass man Die Angst, alleine zu sein oder alleine zu bleiben, entspricht
sich an einem guten Leben erfreut. zum Teil der Realität. Kinder, die in verschiedenen Pflegeheimen
Die Südafrikaner haben ein Wort für diese Verbundenheit oder Pflegefamilien aufwachsen, und deren Versuche, Beziehun-
unter den Menschen, durch die wir uns alle definieren. »Ubuntu«, gen aufzubauen, immer wieder scheitern, haben wahrscheinlich
erklärt Tutu (1999), bringt die Tatsache zum Ausdruck, dass auch später Probleme damit, sich auf echte Beziehungen einzu-
»mein Menschsein kunstvoll verschlungen ist mit deinem«. In lassen (Oishi u. Schimmack 2011). Und Kinder, die in Institutio-
einer Maxime der Zulus wird dieser Gedanke festgehalten: nen aufwachsen, in denen ihnen nicht das Gefühl vermittelt
Umuntu ngumuntu ngabantu – »Eine Person ist durch andere wird, zu irgendjemandem zu gehören, oder die zu Hause unter
Personen eine Person«. extremer Vernachlässigung weggesperrt werden, werden zu mit-
Fühlen wir uns zugehörig, akzeptiert und von den Menschen, leiderregenden Geschöpfen: in sich zurückgezogen, verängstigt,
die uns wichtig sind, geliebt, dann wächst unser Selbstbewusst- sprachlos.
12 sein. Laut Leary et al. (1998) ist das Selbstbewusstsein nämlich ein Die meisten unserer schönsten Momente im Leben treten
Maß dafür, wie anerkannt und akzeptiert wir uns fühlen. Deshalb auf, wenn enge Beziehungen beginnen – wenn eine neue Freund-
zielt ein großer Teil unseres Sozialverhaltens darauf ab, dazuzu- schaft geschlossen wird, wenn man sich verliebt oder wenn man
gehören, gesellschaftlich akzeptiert und Teil einer Gruppe zu sein. ein Baby bekommt – wohingegen die schlimmsten Momente
Um Zurückweisungen zu vermeiden, passen wir uns im Allge- auftreten, wenn enge Beziehungen enden (Jaremka et al. 2011).
meinen den jeweiligen Gruppennormen an und versuchen, einen Wenn etwas unser soziales Netz bedroht oder wenn eine Bindung
günstigen Eindruck zu vermitteln (mehr darüber in 7 Kap. 15). gelöst wird, können wir von Angst, Einsamkeit, Eifersucht oder
Wir beobachten unser eigenes Verhalten und hoffen, den richti- Schuld überwältigt werden. Für die Hinterbliebenen fühlt sich
gen Eindruck zu erwecken, um Freundschaft und Wertschätzung das Leben oft leer und nutzlos an. Sogar die ersten Wochen in
zu erlangen. Weil wir uns nach Liebe und Zugehörigkeit sehnen, einer Universität weit weg von zu Hause sind für viele Studenten
geben wir Milliarden für Kleider, Kosmetika, Diät und Fitness eine schwierige Zeit. Immigranten und Flüchtlinge, die ohne
aus: All das wird dadurch motiviert, dass wir auf Akzeptanz aus ihre Familie ihre Heimat verlassen und an einen neuen Ort
sind. ziehen müssen, können unter der Belastung und der Einsam-
Genauso wie die sexuelle Motivation zu Liebe und zu Miss- keit depressiv werden. Soziale Isolation setzt uns einem Risiko
brauch führt, führt auch das Bedürfnis nach Zugehörigkeit einer- von psychischem Verfall und Krankheit aus (Cacioppo u.
seits zu engen Bindungen, andererseits zu Bedrohungen. Aus Hawkley 2009). Je mehr man sich dann aber akzeptiert fühlt
unserem Wunsch, Teil eines »Wir« zu sein, entstehen Familien, und Beziehungen aufbaut, desto stärker werden das eigene
treue Freundschaften und Teamgeist, aber auch Gangs, ethnische Selbstwertgefühl, die positiven Gefühle (. Abb. 12.34) und der
Rivalitäten und fanatischer Nationalismus. Wunsch, anderen lieber zu helfen, als sie zu verletzen (Blackhart
et al. 2009; Buckley u. Leary 2001). Nachdem einzelne Flücht-
linge und Immigrantenfamilien jahrelang allein in Gemeinden
12.4.3 Beziehungen aufrechterhalten angesiedelt wurden, ist die heutige Politik die der »Ketten-
migration« (Pipher 2002). Die zweite sudanesische Flüchtlings-
Für die meisten von uns bedeutet Familienleben, dass man ge- familie, die in einem Ort ansässig wird, hat es meistens leichter
schätzt wird, nicht aber, dass man verachtet wird. Wir brechen als die erste.
soziale Bindungen nicht ohne weiteres ab. Als Gruppe in der
Schule, im Ferienlager oder auf einer Reise wehren wir uns, wenn
12.4 · Das Bedürfnis nach Zugehörigkeit
473 12

. Abb. 12.34 Kontaktbedürfnis. An 6 Tagen der Woche arbeiten Frauen von den Philippinen als Haushaltshilfen in 154.000 Haushalten in Hongkong.
Sonntags strömen sie ins Geschäftszentrum, um zu picknicken, zu tanzen, zu singen, sich zu unterhalten und zu lachen. »Die Menschheit könnte kein schö-
neres Bild des Glücks inszenieren«, beschrieb ein Beobachter die Szene. (Economist 2001; © AP / WideWorld Photos)

12.4.4 Der Schmerz der Ächtung schlusses – sowohl unter natürlichen Bedingungen als auch
im Labor untersucht. Überall auf der Welt setzen Menschen
Manchmal jedoch stößt das Bedürfnis nach Zugehörigkeit Ächtung ein – durch Exil, Inhaftierung und Einzelhaft – um
nicht auf Gegenliebe. Vielleicht können Sie sich an eine derartige durch die bestrafende Wirkung Sozialverhalten zu steuern
Zeit erinnern, als sie sich ausgeschlossen, ignoriert oder ausge- (. Abb. 12.36). Für Kinder kann sogar eine kurze Auszeit in
stoßen fühlten. Möglicherweise stießen Sie auf stille Ablehnung. sozialer Isolation bestrafend wirken. Wenn man Menschen per-
Eventuell wurden Sie von anderen gemieden, oder sie verdreh- sönliche Vorfälle beschreiben lässt, in denen sie sich besonders
ten, wenn Sie anwesend waren, die Augen oder spotteten hinter gut gefühlt haben, so denken sie oft an eine Leistung. Wenn man
Ihrem Rücken über Sie (. Abb. 12.35). Wenn Sie so wie andere sie jedoch persönliche Vorfälle beschreiben lässt, in denen sie
sind, dann fühlen Sie sich schon ausgeschlossen, selbst wenn Sie sich besonders schlecht gefühlt haben, werden sie – in etwa vier
nur ein sprachlicher Außenseiter in einer Gruppe von Menschen von fünf Fällen – eine Schwierigkeit in Bezug auf eine Beziehung
sind, die eine andere Sprache sprechen (Dotan-Eliaz 2009). beschreiben (Pillemer et al. 2007).
Der Sozialpsychologe Williams (2001) und seine Kollegen Ausgestoßen zu werden – jemandem die kalte Schulter zu
haben solche Erfahrungen der Ächtung – des sozialen Aus- zeigen oder ihn still abzulehnen, indem man den Blickkontakt

. Abb. 12.35 (© Claudia Styrsky)


474 Kapitel 12 · Motivation und Arbeit

. Abb. 12.36 Das Bedürfnis nach Zugehörigkeit. Aufgrund des menschlichen Bedürfnis nach Zugehörigkeit ist die Einzelhaft, abgesehen von Folterung,
die schlimmste Strafe. (© jtanki / Fotolia)

meidet – ist gleichbedeutend damit, dass man jemandem das gleichen emotionalen Unannehmlichkeit, die durch physischen
Bedürfnis nach Zugehörigkeit abspricht, merken Williams u. Schmerz ausgelöst wird, zu erleben (MacDonald u. Leary 2005).
Zadro (2001) an. »Es ist das Gemeinste, was man jemandem Schmerz, was auch immer seine Ursache ist, zieht unsere Auf-
12 antun kann, vor allem wenn man weiß, dass er sich nicht merksamkeit auf sich und motiviert uns, etwas dagegen zu
wehren kann. Ich hätte nie auf die Welt kommen sollen«, sagt unternehmen.
Lea, die ihr Leben lang ein Opfer der stillen Ablehnung durch Das Gegenteil von Ächtung, Gefühle der Liebe, aktivieren
ihre Mutter und ihre Großmutter gewesen ist. Wie Lea reagieren Belohnungszentren des Gehirns. In einem Experiment an sehr
Menschen auf soziale Ächtung oft mit depressiver Stimmung, verliebten Studenten fühlten diese deutlich weniger Schmerz,
anfänglichen Bemühungen, wieder akzeptiert zu werden, und wenn sie das Bild ihres Geliebten betrachteten (als wenn sie das
dann mit Rückzug. »Wenn ich abends nach Hause kam, Bild einer anderen Person betrachteten oder wenn sie durch eine
weinte ich immer. Ich verlor 11 Kilo, hatte kein Selbstwertgefühl Wortaufgabe abgelenkt wurden). Das Vergnügen der Liebe ist ein
mehr und hatte das Gefühl, ich sei nichts wert«, berichtete natürliches Schmerzmittel (Younger et al. 2010).
Richard, nachdem er von seinem Vorgesetzten zwei Jahre lang Werden Menschen zurückgewiesen und können nichts da-
abgelehnt worden war. gegen tun, suchen sie sich häufig neue Freunde oder bauen den
William und seine Kollegen waren überrascht, als sie in ihren Stress durch Verstärkung ihres religiösen Glaubens ab (Aydin et
Studien zur Ächtung im Internet herausfanden, dass das Er- al. 2010). Oder sie werden aggressiv. In einer Reihe von Studien
leben von Ächtung so ist, als würde man echten Schmerz er- sagten Twenge et al. (2001, 2002, 2007; Baumeister et al. 2002;
leben (Gonsalkorale u. Williams 2006). (Vielleicht können Sie Maner et al. 2007) einigen Probanden nach einem Persönlich-
sich an das Gefühl erinnern, in einem Chat ignoriert zu keitstest, sie seien »der Typ, der am Ende später im Leben allein
werden oder auf eine E-Mail keine Antwort zu erhalten.) Solch ist«, oder andere, die sie getroffen hatten, wollten sie nicht in
eine Form der Ächtung, sogar von Fremden oder einer ver- einer Gruppe haben, die sich gerade bildete. Anderen Probanden
achteten Außengruppe, wie dem australischen Zweig des wurde gesagt, dass sie »ihr Leben lang angenehme Beziehungen
Ku-Klux-Klans, belastet den Menschen: Sie löst eine erhöhte haben würden« oder dass »jeder Sie ausgewählt hat, um mit
Aktivität in Gehirnarealen wie dem anterioren cingulären Ihnen zusammenzuarbeiten«. Die Versuchsteilnehmer, die sich
Kortex aus, der bei physischen Schmerzen reagiert und aktiviert ausgeschlossen fühlten, stellten sich später häufiger schlecht dar
wird (Kross et al. 2011; Lieberman u. Eisenberger 2009). Dies und schnitten in Eignungstests schlechter ab. Außerdem be-
hilft, einen überraschenden Befund zu erklären: Das Schmerz- einflusste die Zurückweisung ihre Empathie für andere und sie
mittel Acetaminophen (wie es in Tylenor und Anacin enthalten verhielten sich unsozial, äußerten sich abschätzig oder aggressiv
ist) lindert sozialen sowie physischen Schmerz (DeWall et al. (und das nicht gerade leise) gegenüber denen, die sie beleidigt
2010). Psychologisch scheinen wir sozialen Schmerz mit der hatten.
12.4 · Das Bedürfnis nach Zugehörigkeit
475 12
12.4.5 Soziale Netzwerke

? 12.11 Wie beeinflussen uns soziale Netzwerke?

Als soziale Wesen leben wir für Zugehörigkeit. Als man den
Forscher George Vaillant (2009) danach befragte, was er durch
eine Studie an 238 Männern der Harvard University von den
1930er Jahren bis zum Ende ihres Lebens gelernt hat, antwortete
er: »Das einzige, was im Leben wirklich zählt, sind die Beziehun-
gen zu anderen Menschen.«

» Es ist keine Frage, was im Herzen der Kommunikations-


revolution steht – das menschliche Bedürfnis mit anderen
Menschen in Verbindung zu treten.
Skype-Chef Josh Silverman, 2009

Mobile Netzwerke und soziale Medien


Schauen Sie sich einmal um und schon werden Sie sehen, wie
. Abb. 12.37 Manchmal rasten Außenseiter aus. Die meisten Teenager, Menschen in Verbindung zueinander stehen: Wir sprechen
die Außenseiter sind, werden nicht gewalttätig, aber einige schon. Robert
miteinander, aber schreiben auch SMS, posten im Internet,
Steinhäuser galt bei manchen seiner Mitschüler als Außenseiter, wurde
als introvertiert oder arrogant angesehen. Mit dem Schulverweis und dem chatten, spielen Online-Spiele oder schreiben E-Mails. Die Art
Ausschluss vom Abitur kam er nicht zurecht, er erschoss 2002 in Erfurt und Weise, wie wir uns mit anderen verbinden, verändert sich
in seiner ehemaligen Schule 16 Menschen und anschließend sich selbst. schnell und umfassend.
(© Thüringer Allgemeine / picture-alliance / dpa)
4 Handys waren bisher die am schnellsten eingesetzte Techno-
logie in der Geschichte. Am Ende des Jahres 2010 gab es auf
der Welt 6,9 Mrd. Menschen und 5,3 Mrd. Handyverträge
Anmerkung: Die Forscher klärten die Teilnehmer daraufhin auf
(ITU 2010). Asien und Europa nehmen eine Vorreiterrolle
und beruhigten sie.
ein. Den Berichten zufolge besitzen in Indien etwa 618 Mio.
»Wenn intelligente, gut angepasste und erfolgreiche Studierende Menschen ein Handy, was fast doppelt so viel ist, wie
durch ein kleines Experiment im Labor so aggressiv werden die 366 Mio. Menschen mit einem Zugang zu Toiletten
können, wenn sie Erfahrung mit sozialem Ausgeschlossensein (Harper‘s 2010). Aber amerikanische Jugendliche liegen
machen, mag man sich gar nicht ausmalen, welche aggressiven an der Spitze der Welt: 85% der 15- bis 18-Jährigen sind
Tendenzen aufkommen können, wenn jemand eine Reihe von Handybenutzer (Kaiser 2010).
Zurückweisungen von anderen, ihm wichtigen Personen erlebt 4 Das Schreiben von SMS und E-Mails ersetzt das Telefonie-
und sich in seinem wirklichen Sozialleben ausgeschlossen fühlt«, ren mit dem Handy, was zurzeit nur noch weniger als die
bemerkte die Forschergruppe (. Abb. 12.37). In der Tat berichtet Hälfte des amerikanischen Mobilfunkverkehrs ausmacht
Williams (2007), dass sich Ächtung »in Schulen durch einen Ge- (Wortham 2010). Ebenso führen das Schreiben von SMS,
waltfall nach dem anderen webt«. Facebook und andere Technologien zum Verschicken
von Kurznachrichten in Kanada, und anderswo, dazu, dass
weniger E-Mails verschickt werden (IPSOS 2010a).
Prüfen Sie Ihr Wissen
4 90% aller amerikanischen Jugendlichen schreiben SMS –
5 Wie haben Studenten in Studien darauf reagiert, wenn von 50% im Jahr 2006 angestiegen. Die Hälfte (haupt-
sie sich ausgeschlossen und ungewollt gefühlt haben? sächlich Frauen) versendet 50 oder mehr SMS pro Tag; ein
Wie kann man diese Ergebnisse erklären? Drittel versendet 200 pro Tag (Lenhart 2010). Für viele
ist es so, als ob Freunde in guten wie in schlechten Tagen
immer da sind.
4 Wie viele von uns benutzen soziale Netzwerke wie z. B.
Facebook? Unter den amerikanischen College-Anfängern
im Jahr 2010 waren es 94% (Pryor et al. 2010). Wenn
eine »kritische Anzahl« Ihrer Freunde in einem sozialen
Netzwerk ist, ist es schwer, der Verlockung zu widerstehen.
Wenn man nicht beitritt, hat man oft das Gefühl, dass man
476 Kapitel 12 · Motivation und Arbeit

etwas verpasst. Das ist unser Wunsch nach Zugehörigkeit. Peter 2010). Wenn Ihnen Ihre Seite auf Facebook hilft, mit
Die durchschnittliche Anzahl von Freunden auf Facebook Freunden in Kontakt zu treten, mit einer großen Familie in Kon-
ist etwa 125 – eine Zahl nahe der 150 Freunde, mit denen takt zu bleiben, oder wenn Sie dort Unterstützung für anstehen-
man nach der Schätzung des Evolutionspsychologen de Herausforderungen finden, dann sind Sie damit nicht alleine
Dunbar (1992, 2010) bedeutungsvolle und unterstützende (Rainie et al. 2011). Und wenn Sie wie andere Studenten sind,
Beziehungen führen kann (es ist ebenso eine typische dann würden zwei Tage Facebook-Entzug von einem Überfluss
Größe von Stammesdörfern). an Facebook-Nutzung gefolgt sein; so ähnlich wie Sie nach zwei
Tagen fasten heißhungrig essen würden (Sheldon et al. 2011).
Die sozialen Effekte von sozialen Netzwerken
Das Internet wirkt als sozialer Verstärker, indem es gleichgesinn- jFördert elektronische Kommunikation gesunde
te Menschen verbindet. Es dient ebenso als eine Online-Partner- Selbstoffenbarung?
vermittlung (mehr zu diesen Themen in 7 Kap. 15). Da die elek- Wie wir in 7 Kap. 13 sehen werden, kann sich anderen anzuver-
tronische Kommunikation zu einem Teil unseres Alltags gewor- trauen ein gesunder Weg der Bewältigung von täglichen Heraus-
den ist, untersuchen Forscher, wie diese Veränderungen unsere forderungen sein. Wenn wir elektronisch anstatt von Angesicht
Beziehungen beeinflussen. zu Angesicht kommunizieren, sind wir oft weniger auf die Reak-
tionen anderer fokussiert, weniger befangen und dadurch weni-
jFühren soziale Netzwerke zu mehr oder weniger sozialer ger gehemmt. Wir sind eher bereit Freude, Sorgen und Verletz-
Isolation? lichkeiten mit anderen zu teilen. Manchmal wird dies ins Extrem
In den frühen Jahren des Internets fand die Online-Kommu- getrieben, z. B. wenn Jugendliche Nacktfotos von sich selbst ver-
nikation in Chatrooms und bei Online-Spielen hauptsächlich senden, wenn Jugendliche im Netz schikaniert werden oder
zwischen Fremden statt, sodass Jugendliche und Erwachsene, wenn von Hass getriebene Gruppierungen Nachrichten ins Netz
die mehr Zeit online verbrachten, weniger Zeit mit Freunden ver- stellen, die Fanatismus und Kriminalität fördern. Jedoch dient
brachten. Als Folge dessen litten ihre Beziehungen außerhalb des die verstärkte Selbstoffenbarung noch öfter dazu, Freundschaf-
Internets (Kraut et al. 1998; Mesch 2001; Nie 2001). Auch heute ten zu vertiefen (Valkenburg u. Peter 2010). Obwohl elektro-
noch tendieren einsame Personen dazu, mehr als die durchschnitt- nische Netzwerke sich bezahlt machen, hat uns die Natur für
12 liche Zeit im Internet zu verbringen (Bonetti et al. 2010; Stepani- Kommunikation von Angesicht zu Angesicht bestimmt, was
kova et al. 2010). Menschen, die viel Zeit in sozialen Netzwerken ein besserer Prädiktor für Lebenszufriedenheit zu sein scheint
verbringen, kennen mit einer geringeren Wahrscheinlichkeit ihre (Killingsworth u. Gilbert 2010; Lee et al. 2011). Das Schreiben
realen Nachbarn und verlassen sich mit einer um »64% geringeren von SMS und E-Mails ist zwar belohnend, eine Unterhaltung
Wahrscheinlichkeit als Menschen, die kein Internet benutzen, auf von Angesicht zu Angesicht mit der Familie und Freunden ist es
die Hilfe von Nachbarn, wenn sie selbst oder ein Familienmitglied jedoch in noch größerem Maße.
Hilfe benötigen« (Pew Research Center 2009; . Abb. 12.38).
Einige Dinge verändern sich jedoch. Das Internet verändert jSpiegeln Profile und Nachrichten in sozialen Netzwerken
unsere sozialen Netzwerke. (Ich bin jetzt mit anderen Hörgeräte- die wirkliche Persönlichkeit einer Person wider?
technologie-Befürwortern auf der ganzen Welt verbunden.) Und Wir alle haben Geschichten von Online-Straftätern gehört, die
trotz des Rückgangs des gutnachbarschaftlichen Verhaltens, ver- sich hinter falschen Persönlichkeiten, Werten und Motiven ver-
stärken soziale Netzwerke hauptsächlich unsere Beziehungen zu stecken. Normalerweise offenbaren jedoch soziale Netzwerke die
Menschen, die wir bereits kennen (DiSalvo 2010; Valkenburg u. wahren Persönlichkeiten von Menschen. In einer Studie bear-

. Abb. 12.38 (© Isabella Bannerman / King Features Syndicate, Inc. / Distr. Bulls)
12.4 · Das Bedürfnis nach Zugehörigkeit
477 12
beiteten die Teilnehmer zweifach einen Persönlichkeitstest. In
einem Test sollten sie ihre »echte Persönlichkeit« beschreiben, in
einem anderen ihr »ideales Ich«. Freiwillige stellten daraufhin
aus den Facebook-Profilen der Teilnehmer eine unabhängige
Reihe von Persönlichkeitseinschätzungen zusammen. Die auf
den Facebook-Profilen basierenden Einschätzungen entsprachen
viel eher den echten Persönlichkeiten der Teilnehmer als den
idealen Persönlichkeiten (Back et al. 2010). Eine andere Studie
zeigte, dass Menschen, die auf ihren Facebook-Profilen am
liebenswertesten erschienen, auch in Treffen von Angesicht zu
Angesicht am liebenswertesten erschienen (Weisbuch et al.
2009). Somit könnte Ihr Facebook-Profil in der Tat Ihr echtes
Selbst widerspiegeln!

jFördern soziale Netzwerke Narzissmus?


Ein sicheres und positives Selbstwertgefühl kann unserer Gesund-
heit und unserem Wohlbefinden guttun, ein schiefgegangenes
Selbstwertgefühl kann jedoch zum Narzissmus werden. Narziss-
tische Menschen sind wichtigtuerisch, selbstfokussiert und selbst-
darstellend. Manche Persönlichkeitstests beurteilen Narzissmus
mit Aussagen wie »Ich bin gerne im Zentrum der Aufmerksam-
keit«. Viele Facebook-Nutzer können dadurch, dass wir ständig im
sozialen Vergleich leben – das Messen von uns selbst im Vergleich
zu anderen –, nicht dem Drang widerstehen, die Anzahl der
Freunde mit anderen zu vergleichen. Die Menschen, die hohe
Werte im Narzissmus haben, sind besonders aktiv in sozialen
Netzwerken. Sie sammeln mehr oberflächliche »Freunde«. Sie stel-
len mehr gestellte und glanzvolle Fotos ins Netz. Und was nicht
überraschend ist, erscheinen sie auch Fremden, die ihre Seite an-
schauen, als narzisstischer (Buffardi u. Campbell 2008).
Soziale Netzwerke sind nicht nur ein Sammelpunkt für
Narzissten. Sie füttern und fördern den Narzissmus auch. In
. Abb. 12.39 (© Claudia Styrsky)
einer Studie wurden Studenten zufällig entweder einer Gruppe
zugeteilt, die ihre MySpace-Internetseite für 15 Minuten bearbei-
ten und erklären sollte, oder einer Gruppe, die diese Zeit dazu Medien nutzten (Kaiser Foundation 2010). Die stärksten Nutzer
nutzen sollte, sich die Routenplanung von GoogleMaps an- waren, außer beim Schlafen, fast durchgehend verbunden.
zuschauen und zu erklären (Freeman u. Twenge 2010). Nach- In der heutigen Welt wird jeder von uns damit herausgefor-
dem sie ihre Aufgaben gemacht hatten, wurden sie alle getestet. dert, einen gesunden Ausgleich zwischen unseren Aufgaben in
Welche Personen erzielten dabei höhere Werte auf einer Narziss- der realen Welt, unserer Zeit mit Menschen und unserer Online-
musskala? Die Personen, die mehr Zeit damit verbrachten, sich Beteiligung zu schaffen. Experten bieten einige praktische Vor-
mit sich selbst zu beschäftigen. schläge an, wie Sie es schaffen, einen gesunden Ausgleich zwi-
schen der Verbindung mit Freunden im Netz und der Erfüllung
Aufrechterhaltung von Balance und Fokus Ihrer Verantwortungen in der realen Welt herzustellen.
Soziale Netzwerke verbinden uns also. Aber sie können auch, wie 4 Überwachen Sie Ihre Zeit. Führen Sie ein Protokoll darüber,
Sie sicherlich festgestellt haben, zu einer großen zeit- und auf- wie Sie Ihre Zeit nutzen. Dann fragen Sie sich selbst:
merksamkeitsfressenden Ablenkung werden (. Abb. 12.39). In »Spiegelt meine Zeiteinteilung meine Prioritäten wider?
Taiwan und den USA wurden exzessives Online-Sozialisieren Verbringe ich mehr Zeit im Netz, als ich beabsichtigt habe?
und Online-Spielen mit schlechteren Noten in Verbindung Beeinflusst meine Zeit im Netz meine Leistungen in der
gebracht (Chen u. Fu 2008; Kaiser Foundation 2010). In einer Schule oder bei der Arbeit auf negative Weise? Haben mich
amerikanischen Umfrage erzielten 47% der stärksten Internet- meine Familie oder Freunde schon darauf angesprochen?«
Nutzer und Nutzer anderer Medien hauptsächlich die Noten 3 4 Überwachen Sie Ihre Gefühle. Fragen Sie sich selbst:
oder schlechter, im Vergleich zu 23% der Schüler, die weniger »Werde ich emotional durch exzessive Beschäftigung im
478 Kapitel 12 · Motivation und Arbeit

Netz abgelenkt? Wie fühle ich mich, wenn ich von 12.5 Arbeitsmotivation
meinem Computer weggehe?«
4 »Verstecken« Sie die Freunde im Netz, die Sie am stärksten
? 12.12 Was ist der sog. »Flow«, und welche sind die drei
ablenken. Und nutzen Sie die goldene Regel bei Ihren
Unterfelder der Arbeits- und Organisationspsychologie?
eigenen Nachrichten, die Sie ins Netz stellen. Bevor Sie
etwas posten, fragen Sie sich selbst: »Ist dies etwas, das Für die meisten von uns nimmt die Arbeit die meiste Zeit im
mich interessieren würde, wenn es jemand anderes Wachzustand des Lebens ein. Leben bedeutet Arbeiten. Durch
ins Netz stellen würde?« Arbeit können wir einige Bedürfnisniveaus, die in Maslows Be-
4 Versuchen Sie, Ihre tragbaren Geräte abzustellen oder sie dürfnishierarchie identifiziert wurden, befriedigen. Arbeit un-
woanders zu lassen. Die selektive Aufmerksamkeit – das terstützt uns. Arbeit verbindet uns. Arbeit definiert uns. Wenn
Blitzlicht Ihres Verstandes – kann zu einem Zeitpunkt wir jemanden das erste Mal treffen, stellen wir uns die Frage:
immer nur an einem Ort sein. »Eines der hartnäckigsten »Wer bist du?« Es ist wahrscheinlich, dass wir die Person darauf-
und ausdauerndsten Phänomene unseres Verstandes ist, hin fragen: »Was machst du beruflich?«
dass, wenn man zwei Dinge auf einmal macht, man keines
Manchmal weiß man als humoristischer Schriftsteller, wann man
der beiden so gut macht, wie wenn man sie einzeln machen
»einfach aus dem Weg gehen muss«, bemerkt Weingarten (2002).
würde«, bemerkt der Kognitionspsychologe Willingham
Im Folgenden einige Berufsbezeichnungen im Dictionary of
(2010). Wenn Sie produktiv lernen oder arbeiten möchten,
Occupational Titles des U.S. Department of Labor: Tierdarsteller,
unterdrücken Sie die Versuchung, Ihre E-Mails, Nachrich-
menschlicher Flugkörper, Bananen-Reifungsraum-Überwacher,
ten oder Posts, die Sie ins Netz gestellt haben, zu über-
Erzeuger, Erzeugungshelfer, Dope-Sprayer, Haarlockendreher,
prüfen. Und schalten Sie Alarmsignale und Push-Mittei-
Teppichkratzer, Eiriecher, Bodendämpfer, Keksbrecher, Gehirn-
lungen ab. Diese Ablenkungen können Ihre Arbeit unter-
pflücker, Handschläger, Brustdrücker und Mutter-Reparateur.
brechen und beanspruchen Ihre Aufmerksamkeit genau in
dem Moment, wenn Sie es hinbekommen haben, sich auf Amy Wrzesniewski und ihre Kollegen (1997, 2001) haben inter-
etwas zu konzentrieren. individuelle Unterschiede in der Arbeitseinstellung gefunden.
4 Probieren Sie ein Facebook-Fasten (geben Sie es für eine Über viele Berufsgruppen hinweg sehen manche Personen ihre
12 Stunde, einen Tag oder eine Woche auf) oder eine zeitlich Arbeit als Job an, als nicht erfüllend, aber als eine Notwendigkeit,
begrenzte Diät für soziale Medien aus (loggen Sie sich nur um Geld zu verdienen. Andere sehen ihre Arbeit als eine Karri-
nach ihrer Arbeit ein oder während einer Mittagspause). ere an, eine Gelegenheit, von einer Position zu einer besseren zu
Machen Sie sich Notizen zu den Dingen, die Sie durch die gelangen. Der Rest, also die Personen, die ihre Arbeit als Beru-
neue »Diät« verlieren oder gewinnen. fung – als erfüllend und als sozial nützliche Aktivität ansehen –
4 Frischen Sie Ihre Aufmerksamkeit mit einem Spaziergang berichten von der höchsten Arbeits- und Lebenszufriedenheit.
durch die Natur auf. Forscher der University of Michigan Dieser Befund würde Mihaly Csikszentmihalyi nicht über-
berichten, dass ein Spaziergang durch einen Wald, im raschen (1990, 1999). Er beobachtete, dass sich die Lebensqualität
Gegensatz zu einem Spaziergang auf einer beschäftigten vieler Menschen verbessert, wenn sie zielstrebig beschäftigt sind.
Straße, die Kapazität der fokussierten Aufmerksamkeit bei Zwischen der Angst davor, mit etwas überfordert und unter Stress
Menschen wieder auffüllt (Berman et al. 2008). Menschen zu stehen, und der Leidenschaftslosigkeit, wenn man unterfordert
lernen besser nach einem friedlichen Spaziergang, der die und gelangweilt ist, liegt ein Zustand, der als »Flow«-Erlebnis be-
ermüdete Aufmerksamkeit wiederherstellt. zeichnet wird. Können Sie sich daran erinnern, in einem geistes-
abwesenden Zustand gewesen zu sein, als Sie ein Videospiel ge-
» Die Lösung ist nicht, dass wir uns über die Technologie be-
spielt haben oder eine Nachricht verschickt haben? Wenn ja, dann
klagen, sondern dass wir Strategien der Selbstkontrolle
können Sie sich vielleicht in die zwei Piloten der Northwest Air-
entwickeln, so wie wir es auch bei jeder anderen Versuchung
line hineinversetzen, die 2009 so sehr auf ihre Laptops fokussiert
im Leben machen.
waren, dass Sie eine Nachricht vom Kontrollturm des Flughafens
Psychologe Steven Pinker, Mind Over Mass Media, 2010
nicht wahrgenommen haben. Die Piloten flogen etwa 240 km an
ihrem Ziel Minneapolis vorbei und verloren beide ihre Jobs.
Prüfen Sie Ihr Wissen
Flow (»flow«) – ein fokussierter Bewusstseinszustand völliger Hingabe,
5 Soziale Netzwerke (stärken/schwächen) mit verminderter Wahrnehmung des eigenen Selbst und der Zeit, aufgrund
unsere Beziehungen mit Menschen, die wir schon einer optimalen Beanspruchung der eigenen Fähigkeiten.
kennen, (verstärken/verringern) unsere
Selbstoffenbarung und (offenbaren/ Csikszentmihalyi arbeitete das Flow-Konzept aus, nachdem er
verstecken) unsere wahre Persönlichkeit. Künstler beobachtet hatte, die eine Stunde nach der anderen mit
enormer Konzentration gemalt oder Skulpturen gefertigt hatten.
12.5 · Arbeitsmotivation
479 12

. Abb. 12.40 Unterbrochenes »Flow«-Erlebnis. Ablenkungen können ein Flow-Erlebnis unterbrechen. Man braucht einige Zeit, um sich nach einer
Ablenkung durch eine E-Mail oder eine SMS wieder mental zu konzentrieren. (© Getty Images / iStockphoto)

Sie arbeiteten so versunken an ihrem Projekt, als ob sonst nichts Wissensarbeit. Immer mehr Arbeit wird auf Zeitarbeiter und Be-
zählen würde. Sie vergaßen den Zustand sofort, sobald sie die rater ausgelagert oder von Telearbeitern übernommen, die von
Arbeit beendet hatten. Die Künstler schienen weniger von äuße- virtuellen Arbeitsplätzen aus in abgelegenen Standorten elektro-
ren Belohnungen für die Produktion von Kunst – Geld, Lob, Be- nisch kommunizieren (. Abb. 12.41). Wird sich unsere Arbeits-
förderung – angetrieben zu sein, sondern von den intrinsischen einstellung ebenso wie die Arbeit selbst verändern? Wird unsere
Belohnungen durch das Erzeugen ihrer Arbeit. Arbeitszufriedenheit steigen oder fallen? Wird der psychologische
Kontakt – das Gefühl gegenseitiger Verpflichtung zwischen Ar-
Haben Sie jemals bemerkt, dass die Zeit rast, wenn Sie in einer
beitgeber und Arbeitnehmer – vertrauenswürdiger und sicherer
Aktivität versunken sind? Und dass die Zeit langsamer vergeht,
werden oder wird das Gegenteil der Fall sein? Dies sind einige
wenn Sie ständig auf die Uhr schauen? Französische Forscher be-
der Fragen, die Arbeits- und Organisationpsychologen faszinie-
stätigten, je mehr wir auf die Zeit eines Ereignisses achten, desto
ren (7 Unter der Lupe: A&O-Psychologie).
länger scheint es zu dauern (Couli et al 2004).
Die Arbeits- und Organisationspsychologie (A&O-Psy-
Csikszentmihalyis spätere Beobachtungen – an Tänzern, Schach- chologie) wendet die Prinzipien der Psychologie auf den Arbeits-
spielern, Chirurgen, Schriftstellern, Eltern, Bergsteigern, Seglern platz an. Nun betrachten wir drei Unterfelder der A&O-Psy-
und Bauern; an Australiern, Nordamerikanern, Koreanern, chologie:
Japanern, Italienern; an Menschen in ihren Teenagerjahren bis in 4 Die Personalpsychologie wendet psychologische Metho-
ihre goldenen Jahre – bestätigten ein übergeordnetes Prinzip: Es den und Prinzipien bei der Auswahl und Beurteilung
ist beglückend einen Flow bei einer Aktivität, die unsere Fähig- von Arbeitern an. Personalpsychologen ordnen Menschen
keiten völlig in Anspruch nimmt, zu erleben. Flow-Erlebnisse bestimmten Jobs zu, indem sie passende Bewerber erken-
treiben unser Selbstwertgefühl, unsere Kompetenz und unser nen und anstellen.
Wohlbefinden an. Faulheit scheint nach Glückseligkeit zu klin- 4 Die Organisationspsychologie betrachtet, wie das Arbeits-
gen, doch zielgerichtete Arbeit bereichert unser Leben. Beschäf- umfeld und die Führungsstile die Motivation, die Zufrie-
tigte Menschen sind glücklicher (Hsee et al. 2010; Robinson u. denheit und die Produktivität der Arbeiter beeinflussen.
Martin 2008). Ein Forscherteam unterbrach Menschen zu etwa Organisationspsychologen verändern Jobs und die Kontrol-
einer Viertelmillion Gelegenheiten (mit Hilfe einer speziellen le auf eine Weise, die Moral und Produktivität fördert.
iPhone-Anwendung) und fand heraus, dass die Teilnehmer in 4 Die Human-Factors-Psychologie untersucht, wie Maschi-
47% der Zeit ihren Gedanken nachhingen. Im Durchschnitt wa- nen und Umwelten entworfen werden müssen, um optimal
ren sie glücklicher, wenn ihre Gedanken nicht umherschweiften zu den menschlichen Fähigkeiten zu passen. Human-
(Killingsworth u. Gilbert 2010; . Abb. 12.40). Factors-Psychologen untersuchen die natürliche Wahrneh-
In vielen Nationen hat sich die Arbeit verändert, von land- mung und Neigungen von Menschen, um benutzerfreund-
wirtschaftlicher Tätigkeit über die Produktion in Fabriken zu liche Maschinen und Arbeitsbedingungen zu schaffen.
480 Kapitel 12 · Motivation und Arbeit

12

. Abb. 12.41 Die moderne Arbeitskraft. Das Team, das die Entstehung dieses Buches unterstützt hat, arbeitet vor Ort und verstreut aus weiter Ferne.
Von links nach rechts: Christiane Grosser, Can Akin, Joachim Coch, Michaela Baumann, Lisa Laeber, Stephanie Eilers, Reinhold Schöberl, Theresa Fehn,
Nadja Ott, Klaus Rüschhoff, Jana Krämer, Laura Dörrenbächer, Nadine Schabinger, Jasmin Kathariya, Katharina Eilers, Markus Russin, Julia Alt, Lena Wilms,
Heiko Sawczuk, Michael Barton, Judith Danziger, Peter Grumbach, Katharina Haß, Simone Pfüger, Tatjana Gackstatter, Kira Sturm, Sandy Sattler, Sophia Pfister
12.5 · Arbeitsmotivation
481 12

Unter der Lupe

A&O-Psychologie
Genauso wie Naturwissenschaftler, Berater – Identifizierung von Bedürfnissen – Erleichterung von organisatorischen
und fachkundige Geschäftsführer findet man – Entwicklung von Trainingspro- Veränderungen
Arbeits- und Organisationspsychologen grammen 5 Qualitätsverbesserung des Arbeits-
in vielen verschiedenen Arbeitsbereichen. – Evaluierung von Trainingspro- lebens
grammen – Erweiterung der individuellen Pro-
Personalpsychologie 5 Leistungsbeurteilung duktivität
5 Auswahl und Einstellung von Arbeit- – Entwicklung der Kriterien – Identifizierung von Elementen für die
nehmern – Messung der individuellen Leistung Zufriedenheit
– Entwicklung und Überprüfung von – Messung der Leistung der Organisation – Umgestaltung von Jobs
Beurteilungsmethoden für die Aus-
wahl, Einstellung und Beförderung Organisationspsychologie Human-Factors-Psychologie
von Arbeitern 5 Entwicklung von Organisationen – Gestaltung optimaler Arbeitsumfelder
– Analyse der Jobinhalte – Analyse von Organisationsstrukturen – Optimierung der Mensch-Maschinen-
– Optimierung der Arbeiterplatzierung – Maximierung der Arbeiterzufrieden- Interaktion
5 Training und Ausbildung von Angestellten heit und Produktivität – Entwicklung von Systemtechniken

Arbeits- und Organisationspsychologie (A&O-Psychologie; »industrial- (1997) beauftragt, folgendes Problem zu lösen: Kundenservice-
organizational psychology«) – Anwendung psychologischer Konzepte und Beauftragte versagten in hohem Maße. Nachdem sie daraus ge-
Methoden, um das menschliche Verhalten in der Arbeitswelt zu optimieren.
schlossen hatte, dass viele der Angestellten mit den Anforderun-
Personalpsychologie (»personnel psychology«) – ein Unterfeld der
A&O-Psychologie, das seinen Schwerpunkt auf Einstellung, Auswahl,
gen des neuen Jobs nicht zusammenpassten, entwickelte Tenopyr
Platzierung, Training, Einschätzung und Entwicklung von Arbeitern legt. ein neues Auswahlverfahren:
Organisationspsychologie (»organizational psychology«) – ein Unterfeld 1. Sie forderte neue Bewerber dazu auf, auf verschiedene
der A&O-Psychologie, das die Einflüsse der Organisation auf die Arbeiter- Fragen zu antworten (noch ohne bis dahin irgendetwas mit
zufriedenheit und Produktivität untersucht und organisatorische Verände-
den Antworten zu machen).
rungen erleichtert.
2. Sie machte eine Nachuntersuchung, bei der sie beurteilte,
Human-Factors-Psychologie (»human factors psychology«) – ein Unter-
feld der A&O-Psychologie, das untersucht, wie Mensch und Maschinen welcher der Bewerber in dem Job Erfolg hatte.
miteinander interagieren und wie Maschinen und physische Umwelten 3. Sie identifizierte einzelne Aussagen aus dem ersten Test, die
sicher und einfach nutzbar gemacht werden können. am besten den Erfolg einer Person vorhersagten.

Prüfen Sie Ihr Wissen Das glückliche Ergebnis ihrer datengesteuerten Arbeit war ein
5 Was für einen Nutzen hat es, wenn wir in unserer Arbeit neuer Test, der AT&T die Möglichkeit gab, Kundenservice-Be-
zu einem Flow finden? auftragte, die mit hoher Wahrscheinlichkeit im Beruf erfolgreich
sein werden, zu identifizieren. Verfahren zur Personalauswahl,
wie das gerade vorgestellte, zielen darauf ab, die Stärken von Per-
sonen mit der Arbeit abzustimmen. Dies führt dazu, dass sie
12.5.1 Personalpsychologie selbst, aber auch ihre Organisation, erfolgreich sind. Stimmt man
die Stärken einer Person mit den Aufgaben in der Organisation
ab, ist das Ergebnis oft Erfolg und Profit.
? 12.13 Wie helfen Personalpsychologen Organisationen
Ihre Stärken sind überdauernde Eigenschaften, die produktiv
bei der Personalauswahl, der Arbeiterplatzierung und der
angewendet werden können (. Abb. 12.42). Sind Sie von Natur
Leistungsbeurteilung?
aus neugierig? Überzeugend? Charmant? Hartnäckig? Wett-
Psychologen können Organisationen an vielen Stellen bei der bewerbsfähig? Analytisch? Empathisch? Organisiert? Redege-
Arbeiterauswahl und -beurteilung helfen. Sie können benötigte wandt? Ordentlich? Mechanisch? Jeder dieser Züge kann, wenn
Fähigkeiten für den Job identifizieren, über Auswahlmethoden er mit einer passenden Arbeit zusammentrifft, als eine Stärke
entscheiden, Bewerber einladen und beurteilen, neue Ange- fungieren (Buckingham 2007; 7 Unter der Lupe: Entdecken Sie
stellte einführen und trainieren und ihre Leistung einschätzen. Ihre Stärken).
Die Gallup-Forscher Buckingham u. Clifton (2001) argu-
Stärken nutzen mentierten, dass der erste Schritt in Richtung einer stärkeren
Als neue Leiterin der Personalabteilung des nordamerikanischen Organisation das Einführen eines auf Stärken basierenden Aus-
Telekommunikationskonzerns AT&T wurde Mary Tenopyr wahlverfahrens ist. Dadurch könnte man als Manager zunächst
482 Kapitel 12 · Motivation und Arbeit

. Abb. 12.42 Künstlerische Stärken. Henry Matisse war bis zu seinem 21. Lebensjahr ein kränklicher und oft depressiver Anwaltsangestellter. Als seine
Mutter ihm eines Tages, um ihn aufzuheitern, eine Box mit Stiften gab, merkte er, wie sich die Dunkelheit um ihn herum aufhellte und seine Energie
wuchs. Er fing an, den ganzen Tag zu malen und zu zeichnen, ging auf eine Kunstschule und wurde einer der besten Maler der Welt. Für Matisse war das
Malen wie »ein komfortabler Lehnstuhl«. So fühlt es sich oft an, wenn wir unsere Stärken ausüben. (© A. Koch / INTERFOTO)

eine Gruppe von Personen, die für eine bestimmte Rolle am Vielzahl an Hilfsmitteln, um die Stärken der Bewerber einzu-
erfolgreichsten wirken, identifizieren – solche Personen, von schätzen und um zu entscheiden, wer am besten zu dem Job passt
12 denen sie noch mehr einstellen würden – und deren Stärken mit (Sackett u. Lievens 2008). In 7 Kap. 11 haben wir gesehen, wie
denen der Gruppe, die am wenigsten erfolgreich in dieser Rolle Psychologen die Kandidaten mit Hilfe von Fähigkeitstests ein-
wirken, vergleichen. Man würde beim Einteilen der Gruppen schätzen. Und in 7 Kap. 14 werden wir Persönlichkeitstests und
versuchen, die Leistung so objektiv wie möglich zu messen. In »Assessment-Center«, die Verhaltensbeobachtungen bei simu-
einer Gallup-Studie mit mehr als 5000 Kundenservice-Beauf- lierten jobspezifischen Aufgaben möglich machen, kennenler-
tragten im Bereich der Telekommunikation erzielten die, die von nen (in 7 Abschn. 19.5.1 finden Sie die gebräuchlichen Verfahren
ihren Managern als besonders vorteilhaft für die Firma ein- der Personalauswahl). Lassen Sie uns jetzt das Einstellungs-
geschätzt wurden, hohe Werte in »Harmonie« und »Verantwor- interview betrachten.
tung«. Im Gegensatz dazu hatten die Kundenservice-Beauf-
tragten, die von den Kunden als besonders erfolgreich einge- jSagen Einstellungsinterviews die Leistung voraus?
schätzt wurden, höhere Werte in »Energie«, »Durchsetzungsver- Interviewer fühlen sich meist zuversichtlich bezüglich ihrer Fä-
mögen« und »Lerneifer«. higkeit, die langfristige Leistung im Job durch ein unstrukturier-
Ein Beispiel: Wenn Sie neue Arbeiter in der Softwareentwick- tes Einstellungsinterview zum Kennenlernen des Kandidaten
lung einstellen müssten und Sie herausgefunden hätten, dass Ihre vorherzusagen. Umso schockierender ist es daher, wie fehlerbe-
besten Softwareentwickler analytisch, diszipliniert und wissbe- lastet diese Voraussagen sind. Urteile von Interviewern sind, egal
gierig sind, dann würden Sie bei Ihrer Stellenausschreibung ob es um eine Vorhersage des Erfolgs im Job oder in der Uni-
besonders auf die identifizierten Stärken achten und weniger auf versität geht, sehr schwache Prädiktoren. Nach ihrem Überblick
Erfahrungen. Die Ausschreibung könnte z. B. wie folgt lauten: über 85 Jahre der Personalauswahlforschung bestimmten die
»Gehen Sie Probleme eher logisch und systematisch an (ana- A&O-Psychologen Schmidt u. Hunter (1998; Schmidt 2002),
lytisch)? Sind Sie ein Perfektionist, der versucht, seine Projekte dass die mentale Fähigkeit für alle, außer für weniger qualifi-
pünktlich fertigzustellen (diszipliniert)? Würden Sie gerne Java, zierte Jobs die Leistung im Job am besten voraussagt. Subjektive
C++ und PHP beherrschen (wissbegierig)? Wenn Sie auf diese Gesamtevaluationen informeller Interviews sind nützlicher als
Fragen mit ›ja‹ antworten können, dann rufen Sie bitte folgende handgeschriebene Analysen (diese sind wertlos). Jedoch sind
Nummer an …«. informelle Interviews weniger informativ als Eignungstests,
Die Stärken einer Person zu identifizieren und diese Stärken Arbeitsproben, Wissenstest in Bezug auf den Job und bisherige
der Arbeit anzupassen, ist der erste Schritt in Richtung Leis- Leistung im Job. Wenn es einen Wettstreit zwischen dem, was
tungsfähigkeit am Arbeitsplatz. Personalmanager benutzen eine uns unser Bauchgefühl sagt, und dem, was das Testergebnis, die
12.5 · Arbeitsmotivation
483 12

Unter der Lupe

Entdecken Sie Ihre Stärken


Sie können einige der Techniken, die Personal- 5 Welche Arten von Aufgaben lerne heraus. Stattdessen haben sie ihre schon be-
psychologen entwickelt haben, dazu nutzen, ich einfach? (Und mit welchen habe ich stehenden Fähigkeiten verstärkt. Aufgrund
Ihre eigenen Stärken und die genauen Arten Probleme?) unserer beständigen Eigenschaften und Tem-
von Tätigkeiten herauszufinden, die sich peramente sollten wir uns nicht auf unsere
mit hoher Wahrscheinlichkeit als befriedigend Manche Menschen erleben einen Flow – ihre Mängel konzentrieren, sondern darauf, unsere
und erfolgreich herausstellen werden. Buck- Fähigkeiten sind ausgelastet und die Zeit fliegt Talente zu identifizieren und zu nutzen. Es
ingham u. Clifton (2001) schlagen vor, dass Sie vorbei –, wenn sie unterrichten oder etwas könnte Grenzen bei einem Selbstbehaup-
sich folgende Fragen stellen sollten: verkaufen oder schreiben oder putzen oder tungstraining geben, wenn Sie sehr schüch-
5 Welche Aktivitäten bereiten mir Freude? trösten oder etwas herstellen oder etwas repa- tern sind, bei Rhetorikseminaren, wenn Sie
(Ordnung in ein Chaos bringen? Gast- rieren. Wenn sich eine Aktivität gut anfühlt, tendenziell sehr aufgeregt sind und leise
geber sein? Anderen helfen? Nachlässi- einfach von der Hand geht und wenn Sie sich sprechen, oder beim Zeichenunterricht, wenn
ges Denken herausfordern?) darauf freuen, dann schauen Sie genauer hin Sie Ihre künstlerische Seite durch Strichmänn-
5 Welche Aktivitäten lassen mich denken: und finden Sie Ihre Stärken bei der Arbeit. chen ausdrücken.
»Wann kann ich das wieder machen?« Zufriedene und erfolgreiche Menschen ver- Das Identifizieren der eigenen Talente kann
(anstelle von: »Wann ist das endlich vor- bringen viel weniger Zeit damit, ihre Mängel helfen, die Aktivitäten, die man schnell lernt
bei?«) zu korrigieren, als damit, ihre Stärken zu beto- und die man interessant findet, zu erkennen.
5 Welche Arten von Herausforderungen nen. Spitzenkräfte sind »selten Allround-Talen- Wenn Sie Ihre Stärken kennen, können Sie sie
genieße ich? (Und welche scheue ich?) te«, fanden Buckingham u. Clifton (2001, S. 26) weiter ausbauen.

Arbeitsproben und die bisherige Leistung uns sagt, gibt, sollten 4 Interviewer verfolgen öfter die erfolgreichen Karrieren derer,
wir unserem Bauchgefühl misstrauen. die sie angestellt haben, als die erfolgreichen Karrieren derer,
die sie abgelehnt und aus den Augen verloren haben. Diese
» Interviews sind schreckliche Prädiktoren für die Leistung.
fehlende Rückmeldung hält Interviewer davon ab, ihre
Laszlo Bock, Vizepräsident von Google, People Operations,
Einstellungsfähigkeit an der Realität zu prüfen.
2007
4 Interviewer nehmen an, dass Menschen so sind, wie sie in der
Situation des Interviews scheinen. Wie in 7 Kap. 15 erklärt
jDie Interviewerillusion wird, ignorieren wir den enormen Einfluss unterschied-
Richard Nisbett (1987) nannte die Überschätzung des eigenen licher Situationen, wenn wir andere treffen und nehmen
Urteilsvermögens die »Interviewerillusion«. »Ich habe hervor- fälschlicherweise an, dass das, was wir sehen, das ist, was
ragende Interviewerfertigkeiten, also brauche ich keine Empfeh- wir bekommen werden. Eine große Anzahl an Forschung
lungsschreiben zu lesen, wie jemand, der nicht wie ich die Fähig- über Geschwätzigkeit bis zu Gewissenhaftigkeit hat jedoch
keit hat, Menschen zu durchschauen.« Dies ist ein Kommentar, gezeigt, dass unser Verhalten nicht nur unsere überdauern-
den man manchmal von A&O-Beratern hört. Vier Faktoren er- den Eigenschaften widerspiegelt, sondern auch die Details
klären diese Lücke zwischen dem übermäßigen Vertrauen in ihre einer bestimmten Situation (wie z. B. der Wunsch, in
eigenen Fähigkeiten und der Realität: einem Einstellungsinterview einen bestimmten Eindruck
4 Interviews enthüllen die guten Absichten des Befragten, die zu machen).
weniger aussagen als das gewöhnliche Verhalten (Ouellette 4 Die Vorurteile und Stimmungen der Interviewer bestimmen,
u. Wood 1998). Absichten zählen. Menschen können sich wie sie die Antwort der Befragten wahrnehmen (Cable u.
verändern. Jedoch ist der beste Prädiktor für die Person, die Gilovich 1998; Macan u. Dipboye 1994). Wenn ein Inter-
wir sein werden, die Person, die wir waren. Verglichen mit viewer sofort jemanden mag, der vielleicht so ähnlich
arbeitsvermeidenden Universitätsstudenten sind die, die ist wie er selbst, könnte es sein, dass er das zuversichtliche
sich mit ihren Aufgaben beschäftigen, mit höherer Wahr- Verhalten der Person als »Selbstvertrauen« ansieht und
scheinlichkeit ein Jahrzehnt und später danach beschäftigte nicht als »Arroganz«. Interviewer bewerten Personen
Arbeiter (Salmela-Aro et al. 2009). Der Bildungsstand sagt besser, wenn ihnen vorher gesagt wurde, dass die Bewerber
die Leistung im Job teilweise hervor, da Menschen, die schon einen ersten Test bestanden haben.
jeden Tag zur Schule gegangen sind und ihre Aufgaben ge-
macht haben, auch mit höherer Wahrscheinlichkeit zur Traditionelle unstrukturierte Interviews liefern ein Gefühl für die
Arbeit gehen und dort ihre Aufgaben erledigen (Ng u. Persönlichkeit einer Person – z. B. für ihre Ausdrucksfähigkeit,
Feldman 2009). Wohin auch immer wir gehen, wir nehmen ihre Wärme und ihre sprachlichen Fähigkeiten. Unstrukturierte
uns selbst mit. Interviews geben den Bewerbern aber auch beachtliche Macht,
484 Kapitel 12 · Motivation und Arbeit

ihren Eindruck, den sie in der Interviewsituation machen, zu Situation, in der sie zwischen zwei verschiedenen Anforderun-
kontrollieren (Barrick et al. 2009). Das Interview könnte so einen gen hin- und hergerissen waren und nicht die Zeit hatten, beide
falschen Eindruck vom Verhalten einer Person gegenüber an- zu erfüllen. Wie sind Sie damit umgegangen?«
deren Menschen in einer anderen Situation vermitteln. Um die Um Verzerrungen der Erinnerungen so gering wie möglich
Vorhersage und die Auswahl zu verbessern, haben Personalpsy- zu halten, macht sich der Interviewer Notizen, bewertet schon
chologen Menschen in simulierten Arbeitssituationen beobach- während des Interviews und vermeidet irrelevante Fragen und
tet, nach Informationsquellen bisheriger Leistung gesucht, Eva- Folgefragen. Aufgrund dessen wirkt das strukturierte Interview
luationen vieler Interviews gesammelt, Tests angeordnet und weniger warm, was dem Bewerber allerdings erklärt werden
jobspezifische Interviews entwickelt. kann: »Diese Gespräch ist nicht exemplarisch für den Umgang in
unserer Organisation.«
jStrukturierte Interviews Ein Überblick über 150 Befunde zeigte, dass strukturierte
Im Gegensatz zu zwanglosen Konversationen, die dazu dienen, Interviews eine doppelt so hohe Vorhersagegenauigkeit wie un-
ein Gefühl für jemanden zu bekommen, sind strukturierte Inter- strukturierte, nach Gefühl und Intuition ablaufende Interviews
views eine disziplinierte Methode der Informationssammlung. haben (Schmidt u. Hunter 1998; Wiesner u. Cronshaw 1988).
Ein Personalpsychologe analysiert dazu einen Job, stellt Fragen Strukturierte Interviews reduzieren auch Vorurteile, wie z. B. ge-
auf und trainiert Interviewer. Die Interviewer stellen dann die genüber übergewichtigen Bewerbern (Kutcher u. Bragger 2004).
gleichen Fragen, in der gleichen Reihenfolge, allen Bewerbern Aufgrund der höheren Reliabilität und des Schwerpunktes auf
und bewerten diese auf bewährten Skalen. der Jobanalyse ist die Vorhersagekraft eines strukturierten Inter-
views etwa so gut wie die Durchschnittsbeurteilung von drei oder
Strukturierte Interviews (»structured interviews«) – Interviewverlauf, bei
dem jedem Bewerber die gleichen jobrelevanten Fragen gestellt werden, von vier unstrukturierten Interviews (Huffcutt et al. 2001; Schmidt u.
denen jede auf bewährten Skalen bewertet wird. Zimmerman 2004).
Wenn wir stattdessen den Einstellungsprozess durch unsere
In einem unstrukturierten Interview könnte jemand z. B. fragen: Intuitionen verzerren lassen, berichtet Gladwell (2000, S. 86),
»Wie organisiert sind Sie?«, »Wie gut kommen Sie mit anderen dann »ist alles, was wir machen, das ›old-boy network‹, also die
Menschen zurecht?« oder »Wie gehen Sie mit Stress um?« Bewer- Vetternwirtschaft, bei der man den Neffen eingestellt hat, durch
12 ber, die sich auskennen, wissen, wie sie hoch punkten: »Obwohl ein ›new-boy network‹ zu ersetzen, bei dem man denjenigen ein-
ich mich manchmal zu sehr antreibe, gehe ich mit Stress um, stellt, der einen beim Händedruck am meisten beeindruckt hat.
indem ich Prioritäten setze und indem ich darauf achte, dass ich Sozialer Fortschritt ist, solange wir nicht vorsichtig sind, bloß
genügend Schlaf habe und Sport treibe.« eine Methode, durch die wir das offensichtlich Willkürliche
Im Gegensatz dazu zeigen strukturierte Interviews gezielt durch das weniger offensichtlich Willkürliche ersetzen«.
Stärken (Einstellungen, Verhalten, Wissen und Fähigkeiten) auf, Um zu wiederholen, was wir bereits gelernt haben: Per-
die Spitzenkräfte in einem bestimmten Arbeitsgebiet von ande- sonalpsychologen stehen Organisationen bei der Jobanalyse,
ren unterscheiden. Dabei werden jobspezifische Situationen vor- dem Auffinden passender Bewerber, dem Auswählen und
gestellt, von denen die Kandidaten erklären sollen, wie sie damit Einstellen von Arbeitnehmern und bei der Beurteilung ihrer
umgehen würden und wie sie mit ähnlichen Situationen in ihrem Leistung – dem Thema, dem wir uns nun zuwenden – zur Seite
vorherigen Job umgegangen sind. »Berichten Sie mir von einer (. Abb. 12.43).

. Abb. 12.43 Die Aufgaben der Personalpsychologen. Personalpsychologen beraten im Personalwesen – ihre Aufgaben reichen von der Definition der
Jobs bis zur Beurteilung der Angestellten
12.5 · Arbeitsmotivation
485 12
Leistungsbeurteilung
Die Leistungsbeurteilung dient der Organisation: Sie hilft bei
der Entscheidung, wer angestellt bleiben soll, wie Menschen an-
gemessen belohnt und bezahlt werden sollen und wie die Stärken
der Angestellten besser genutzt werden können, manchmal
durch Veränderungen des Jobs oder Beförderungen. Die Leis-
tungsbeurteilung dient aber auch dem Einzelnen: Rückmeldung
bestätigt die Stärken der Arbeiter und fördert die Motivation für
benötigte Verbesserungen.
Methoden zur Leistungsbeurteilung umfassen:
4 Checklisten, auf denen Vorgesetzte einfach spezifische Ver-
haltensweisen, die den Angestellten am besten beschreiben,
ankreuzen (»geht immer auf die Bedürfnisse des Kunden
ein«, »macht lange Pausen«). . Abb. 12.44 360°-Feedback. Mit dem 360°-Feedback werden Ihr Wissen,
4 Grafische Bewertungsskalen, wie z. B. eine Fünf-Punkte- Ihre Fähigkeiten und Ihr Verhalten von Ihnen selbst und denjenigen beur-
teilt, die mit Ihnen zusammenarbeiten. Ein Professor z. B. könnte vom
Skala, auf denen der Vorgesetzte ankreuzt, wie oft ein Arbei-
Dekan, seinen Studenten und von anderen Professoren bewertet werden.
ter zuverlässig, produktiv usw. ist. Nachdem die Ratings vorliegen, diskutiert der Professor das 360°-Feed-
4 Verhaltensbezogene Bewertungsskalen, auf denen der Vor- back mit dem Dekan
gesetzte auf Skalen das Verhalten ankreuzt, das die
Leistung des Angestellten beschreibt. Wenn der Vorge-
Prüfen Sie Ihr Wissen
setzte das Ausmaß, in dem der Angestellte »Arbeitsab-
läufen folgt« einschätzt, könnte er den Angestellten 5 Ein Personalleiter erklärt Ihnen folgendes: »Ich halte
irgendwo zwischen »nimmt oft Abkürzungen« und »folgt mich nicht mit Tests oder Empfehlungsschreiben
immer den bewährten Arbeitsabläufen« einordnen auf. Es geht nur um das Einstellungsinterview.« Welche
(Levy 2003). Sorge wirft diese Aussage, basierend auf der A&O-For-
schung, auf?
In manchen Organisationen kommt Leistungsfeedback nicht nur
von Vorgesetzten, sondern von allen Ebenen der Organisation.
Wenn Sie in einer Organisation arbeiten, die 360°-Feedback
(. Abb. 12.44) unterstützt, beurteilen Sie sich selbst, ihren Ab- 12.5.2 Organisationspsychologie:
teilungsleiter und ihre anderen Kollegen, und Sie werden von Leistungsmotivation
Ihrem Abteilungsleiter, anderen Kollegen und Kunden beurteilt
(Green 2002). Das Ergebnis ist häufig eine offenere Kommuni-
? 12.14 Was ist Leistungsmotivation? Welche Rolle spielen
kation und eine umfassendere Einschätzung der Leistung (auch
Organisationspsychologen?
7 Abschn. 19.4.3).
Wie andere soziale Beurteilungen ist auch Leistungsbe- Die generelle Motivation ist genauso wichtig wie die Beurteilung
urteilung anfällig für Verzerrungen (Murphy u. Cleveland der Arbeit und der Einsatz von Talenten in der passenden Arbeit.
1995). So kann die Gesamtbeurteilung eines Angestellten oder Bevor wir betrachten, wie Organisationspsychologen helfen, die
die Bewertung einer Persönlichkeitseigenschaft, wie z. B. Angestellten zu motivieren und sie im Arbeitsverhältnis zu
Freundlichkeit, die Beurteilung eines speziell arbeitsbezogenen halten, schauen wir uns genauer an, warum ein Angestellter
Verhaltens, wie z. B. Zuverlässigkeit, verzerren (»halo error«, überhaupt hohe Leistungsstandards und schwierige Ziele an-
Halo-Effekt). Außerdem haben Beurteiler die Tendenz, andere streben wollen sollte.
entweder zu locker (»leniency error«, Mildefehler) oder aber
zu streng (»severity error«, Strengefehler) zu bewerten. Ein Entschlossenheit
weiteres Problem tritt auf, wenn die Beurteiler sich nur auf Denken Sie an jemanden, der danach strebt, erfolgreich zu sein,
ein vor kurzem aufgetretenes Verhalten, an das sie sich noch indem er versucht jede Aufgabe, bei der eine Beurteilung mög-
einfach erinnern, beziehen (»recency error«, Recency-Effekt). lich ist, hervorragend zu lösen. Denken Sie nun an jemanden, der
Personalpsychologen unterstützen die Organisationen und hel- weniger Antrieb zeigt. Der Psychologe Murray (1938) definierte
fen gleichzeitig dabei, dass die Angestellten den Beurteilungs- die Leistungsmotivation der erstgenannten Person als ein
prozess als gerecht ansehen, indem sie mehrere Beurteiler ein- Streben nach herausragenden Leistungen, zusammen mit dem
setzen und objektive, jobrelevante Methoden zur Leistungs- Wunsch nach Kontrolle und nach schnellem Erreichen eines
messung entwickeln. hohen Standards.
486 Kapitel 12 · Motivation und Arbeit

Leistungsmotivation (»achievement motivation«) – Ausmaß des Strebens


nach herausragenden Leistungen; beinhaltet einen Wunsch nach Kontrolle
und nach schnellem Erreichen eines hohen Standards.

Wie aufgrund ihrer Beharrlichkeit und ihres Eifers nach realis-


tischen Herausforderungen zu erwarten ist, leisten Menschen
mit hoher Leistungsmotivation mehr. Eine Studie verfolgte die
Lebensläufe von 1528 kalifornischen Kindern, deren Intelligenz-
testwerte im Bereich der oberen 1% lagen. 40 Jahre später ver-
glichen die Forscher diejenigen, die beruflich am erfolgreichsten,
und diejenigen, die am wenigsten erfolgreich waren, und fanden
eine unterschiedlich ausgeprägte Motivation. Die besonders Er-
folgreichen waren ambitionierter, aktiver und ausdauernder. Als
Kinder hatten sie mehr aktive Hobbys. Als Erwachsene nahmen
sie an mehr Gruppenaktivitäten teil und waren lieber im Sport
aktiv, als bloß zuzusehen (Goleman 1980). Begabte Kinder sind
fähige Lerner. Fähige Erwachsene sind hartnäckig Handelnde.
Die meisten von uns sind aktiv Handelnde, wenn wir ein Projekt
anfangen oder beenden. Es ist am einfachsten – haben Sie es
schon bemerkt? – »in der Mitte hängen zu bleiben«, genau dann,
wenn Spitzenleute weitermachen (Bonezzi et al. 2011).

» Begabung ist 1% Eingebung und 99% Transpiration. . Abb. 12.45 Calums Straße: Was Entschlossenheit vollbringen kann.
Malcolm (»Calum«) MacLeod (1911–1988), der sein ganzes Leben auf
Thomas Edison, 1847–1931
der schottischen Insel Raasay verbracht hatte, dort ein kleines Fleckchen
In anderen Studien an Sekundarstufenschülern und an Studie- Land bewirtschaftet, den Leuchtturm gepflegt und dort gefischt hatte,
fühlte sich von der lokalen Regierung gepeinigt. Sie lehnte wiederholt den
renden war die Selbstdisziplin ein besserer Prädiktor für die
Bau einer Straße ab, die es ermöglichen würde, das nördliche Ende der
12 Schul- bzw. Studienleistung, die Teilnahme an Veranstaltungen Insel mit dem Auto zu erreichen. MacLeod reagierte mit heldenhafter Ent-
und die Auszeichnung beim Abschluss als Intelligenztestwerte. schlossenheit, nachdem die ursprünglich blühende Population auf zwei
Anhaltende, tapfere Anstrengung, kombiniert mit einem posi- Personen – er selbst und seine Frau – zurückgegangen war. An einem
Morgen im Frühjahr 1964 nahm der mittlerweile 50-jährige MacLeod eine
tiven Enthusiasmus, sagt auch den Erfolg von Lehrern vorher –
Axt, ein Beil, eine Schaufel und eine Schubkarre. Mit bloßer Hand begann
indem ihre Schüler schulisch und akademisch erfolgreich sind er, den bestehenden Fußweg in eine etwa 2,8 km lange Straße umzubauen
(Duckworth et al. 2009). »Disziplin ist wichtiger als Begabung«, (Miers 2009). Ein früherer Nachbar erklärte, dass MacLeod hoffte, dass
schlossen die Forscher Duckworth u. Seligman (2005). »durch den Bau einer Straße eine neue Generation von Menschen zum
nördlichen Ende von Raasay zurückkommen würde« und ihre Kultur
Disziplin verfeinert ebenfalls das Talent. Anfang 20 können
wiederherstellen würde (Hutchinson 2006). Einen Tag nach dem anderen
Spitzengeiger auf eine Praxis von mehr als 10.000 Übungs- arbeitete er sich durch grobe Berghänge, entlang gefährlicher Klippen-
stunden zurückblicken – das sind doppelt so viele Übungs- wände und über Torfmoore hinweg. 10 Jahre später vollendete er endlich
stunden wie bei anderen Geigern, die Musiklehrer werden seine Höchstleistung. Die Straße, die die Regierung mittlerweile befestigt
hat, bleibt ein sichtbares Beispiel für das, was man mit Fantasie und ziel-
wollen (Ericsson et al. 2001, 2006, 2007). Aufgrund seiner Unter-
strebiger Entschlossenheit erreichen kann. Es sollte uns alle zum Nachden-
suchungen prägte Herbert Simon (1998), ein Psychologe, der den ken anregen: Welche »Straßen« – welche Leistungen – könnten wir, mit
Nobelpreis für Wirtschaftswissenschaften bekommen hat, den anhaltender Anstrengung, in den nächsten Jahren bauen? (© Thaf, this work
Begriff, der in 7 Kap. 11 »10-year rule« genannt wurde: Experten with the title «Calum’s_Road.jpg” [http://upload.wikimedia.org/wikipedia/
von Weltruf haben in einem Bereich typischerweise »mindestens en/a/a8/Calum%27s_Road.jpg] is licenced under CC BY-SA 3.0 [http://
creativecommons.org/licenses/by-sa/3.0/], no modifications were made)
10 Jahre harter Arbeit investiert – sagen wir 40 Stunden pro
Woche an 50 Wochen im Jahr«. In ähnlichem Sinne untersuchte
eine Studie herausragende Wissenschaftler, Sportler und Künst- mit Leidenschaft und verfolgen ehrgeizig ein langfristiges Ziel
ler, die alle hochmotiviert und diszipliniert waren; sie waren be- (. Abb. 12.45). Obwohl Intelligenz normalverteilt ist, sind es be-
reit, jeden Tag Stunden zu opfern, um ihre Ziele zu erreichen deutende Leistungen nicht. Dies zeigt uns, dass solche Leistun-
(Bloom 1985). Diese Super-Erfolgstypen unterschieden sich we- gen mehr beinhalten als die bloße Fähigkeit. Aufgrund dessen
niger in ihrem außergewöhnlichen natürlichen Talent als durch versuchen Organisationspsychologen Wege zu finden, gewöhn-
ihre außergewöhnliche Disziplin. liche Menschen zu beschäftigen und für ihren gewöhnlichen Job
Der Unterschied zwischen sehr erfolgreichen und ähnlich zu motivieren. Und deshalb führt das Trainieren der Wider-
begabten anderen Menschen, merken Duckworth u. Seligman standsfähigkeit bei Studenten – Belastbarkeit unter Stress – zu
an, liegt in der Entschlossenheit: Sie widmen sich einer Sache besseren Noten (Maddi et al. 2009).
12.5 · Arbeitsmotivation
487 12

Unter der Lupe

Gute Arbeit leisten und Gutes tun – »Das großartige Experiment«


Am Ende des 18. Jahrhunderts hatte die Baum- ansah. Die Ausbeutung von Kindern und Er- einen Blick sehen, wie die Angestellten arbei-
wollspinnerei in New Lanark, Schottland, wachsenen erzeugte, wie er bemerkte, un- teten. Es gab, wie er sagte, »keine Schläge-
mehr als 1000 Arbeiter. Viele waren Kinder aus glückliche und leistungsschwache Arbeiter. reien, keine Beleidigungen … Ich schaute bloß
Glasgows Armenhäusern. Sie arbeiteten Im Glauben, dass bessere Arbeits- und Lebens- auf die Person und dann auf die [Farbe] …
13 Stunden am Tag und lebten in schreck- bedingungen von ökonomischem Nutzen sein ich konnte unmittelbar am Ausdruck sehen,
lichen Zuständen. Ihre Ausbildung und Ge- könnten, unternahm er viele Innovationen: [welche Farbe] gezeigt wurde«.
sundheitspflege wurde vernachlässigt. Er führte eine Kindertagesstätte für Vorschul- Der folgende kommerzielle Erfolg war not-
Diebstahl und Alkoholrausch waren keine kinder ein sowie die Ausbildung für ältere wendig, um die Bewegung in Richtung huma-
Seltenheit. Die meisten Familien lebten zu- Kinder (mit Ermutigung anstelle von körper- nitärer Reformen anzustoßen. Im Jahr 1816,
sammen in nur einem Raum. licher Bestrafung), arbeitsfreie Sonntage, Jahrzehnte des Profits lagen immer noch vor
Zu Besuch in Glasgow traf der in Wales gebo- Gesundheitspflege, bezahlte Krankentage, ihm, glaubte Owen gezeigt zu haben, »dass
rene Robert Owen – ein idealistischer junger Arbeitslosengeld an Tagen, an denen in der die Gesellschaft so geformt werden kann, dass
Leiter einer Baumwollspinnerei – die Tochter Spinnerei nicht gearbeitet wurde und Läden sie ohne Kriminalität und Armut, mit stark ver-
des Besitzers der Baumwollspinnerei und ver- des Unternehmens, die Waren vergünstigt ver- besserter Gesundheit, mit möglichst wenig
liebte sich in sie. Nach ihrer Heirat kaufte er, kauften (. Abb. 12.46). Elend und mit Intelligenz und Glück, das um
zusammen mit einigen Geschäftspartnern, Owen führte ebenso ein Programm für die das Hundertfache gesteigert ist, existieren
die Spinnerei und übernahm am ersten Tag Ziel- und Arbeiterbeurteilung ein, das genaue kann«. Obwohl sich seine utopische Vorstel-
des 19. Jahrhunderts die Leitung. Bald darauf Aufzeichnungen der täglichen Produktivität lung nicht erfüllt hat, legte Owens großartiges
begann er mit dem, was er als »das wichtigste und Kosten beinhaltete. An jedem Arbeitsplatz Experiment den Grundstein für Methoden der
Experiment in Bezug auf die Zufriedenheit der zeigte eine von vier farbigen Tafeln die Leis- Anstellung, die heutzutage in großen Teilen
menschlichen Rasse, das jemals irgendwo auf tung der vorherigen Tage der Person an. Owen der Welt üblich sind.
dieser Welt durchgeführt wurde« (Owen 1814), konnte durch die Spinnerei laufen und auf

. Abb. 12.46 Das großartige Experiment. Die Baumwollspinnerei in New Lanark, die heute ein Weltkulturerbe ist (www.newlanark.org), war eine einfluss-
reiche Demonstration dafür, wie Industrien gute Arbeit leisten und dabei Gutes tun können. In ihrer Blütezeit wurde die Spinnerei in New Lanark von
vielen Angehörigen europäischer Königshäuser und Reformern besucht, die die lebhafte Arbeiterschaft und das erfolgreiche Unternehmen beobachten
wollten. (© New Lanark Trust)
488 Kapitel 12 · Motivation und Arbeit

Zufriedenheit und Engagement


Ein Grund, warum A&O-Psychologen Arbeitszufriedenheit un-
tersuchen, ist, dass Arbeit einen großen Teil unseres Lebens
einnimmt. Arbeitszufriedenheit fördert die Lebenszufrieden-
heit (Bowling et al. 2010; 7 Unter der Lupe: Gute Arbeit leisten
und Gutes tun – »Das großartige Experiment«). Außerdem fördert
verringerter Stress im Job die Gesundheit, wie wir in 7 Kap. 13
sehen werden.
Zufriedene Mitarbeiter tragen zum Erfolg von Organisa-
tionen bei. Positive Stimmung während der Arbeit fördert
Kreativität, Durchhaltevermögen und Hilfsbereitschaft (Brief u.
Weiss 2002; Kaplan et al. 2009). Fehlen engagierte, zufriedene
Arbeiter weniger oft? Ist es unwahrscheinlicher, dass sie kündi-
gen? Sind sie weniger dazu geneigt, Diebstahl zu begehen? Sind . Abb. 12.47 Ein engagierter Angestellter. Mohamed Mamow (links im
sie pünktlicher? Produktiver? Einige gehen davon aus, dass über- Bild), begleitet von seinem Arbeitgeber, beim Ablegen des Treueschwurs,
zeugende Belege für die Zufriedenheit so etwas wie der Heilige um ein Staatsbürger der USA zu werden. Mamow und seine Frau lernten
sich in einem Flüchtlingslager für Somalier kennen und sind heute Eltern
Gral der A&O-Psychologie sind. Statistische Übersichten bis- von fünf Kindern. Er unterhält seine Familie, indem er als Maschinenarbeiter
heriger Forschung zeigten eine mäßig positive Korrelation arbeitet. Mamow ist sich seiner Verantwortung bewusst: »Ich möchte
zwischen individueller Arbeitszufriedenheit und Leistung (Judge meinen Job nicht verlieren. Ich habe die Verantwortung für meine Kinder
et al. 2001; Ng et al. 2009; Parker et al. 2003). In einer Analyse von und meine Familie.« Jeden Tag kommt er eine halbe Stunde zu früh zur
Arbeit und achtet auf jedes Detail während seiner Schicht. »Er ist ein sehr
4500 Angestellten in 42 britischen Produktionsgesellschaften
hart arbeitender Angestellter«, bemerkte sein Arbeitgeber und »eine
waren die Arbeiter, die ein befriedigendes Arbeitsumfeld hatten, Erinnerung für jeden von uns, dass wir wirklich vom Glück verwöhnt sind«
am produktivsten (Patterson et al. 2004). Aber erzeugt Zufrie- (Roelofs 2010; Bildrechte: Darren Breen, Grand Rapids Press, 9/22/2010)
denheit eine bessere Arbeitsleistung? Die Debatte geht weiter:
Eine Analyse bisheriger Forschung zeigt, dass Zufriedenheit und
12 Leistung miteinander korrelieren, da beide Faktoren das Selbst- heraus, dass Geschäftsbereiche mit engagierten Angestellten
wertgefühl in Bezug zum Job (»Ich bin hier wichtig«) und das mehr loyale Kunden, weniger Verluste, höhere Produktivität und
Gefühl, dass Anstrengungen zu Belohnungen führen, wider- größere Gewinne haben.
spiegeln (Bowling 2007). Aber welche Ursachen erklären diese Korrelation zwischen
Trotzdem haben manche Organisationen ein Händchen für Erfolg eines Unternehmens und der Moral und dem Engagement
die Ausbildung von engagierteren und produktiveren Ange- der Angestellten? Verstärkt Erfolg Moral oder verstärkt hohe
stellten (. Abb. 12.47). Die von dem US-amerikanischen Wirt- Moral Erfolg? In einer Langzeitstudie von 142.000 Arbeitern
schaftsmagazin Fortune veröffentlichten »100 Best Companies to fanden Harter et al. (2010) heraus, dass über die Zeit hinweg die
Work For« erzeugten überdurchschnittlich hohe Rendite für ihre Einstellungen der Angestellten den zukünftigen Erfolg des Un-
Investoren (Fulmer et al. 2003). Weitere positive Daten kommen ternehmens voraussagten (mehr als anders herum). Eine andere
von der größten A&O-Studie, die jemals durchgeführt wurde, Analyse verglich Firmen, deren Engagement der Arbeiter im
einer Analyse von Gallup-Daten von mehr als 198.000 Angestell- oberen Viertel lag, mit Firmen, deren Engagement der Arbeiter
ten in fast 8000 Geschäftsbereichen von 36 großen Firmen (ein- unter dem Durchschnitt lag. Über einen Zeitraum von 3 Jahren
geschlossen 1100 Bankfilialen, 1200 Geschäfte und 4200 Teams stiegen die Gewinne der Firmen mit den sehr engagierten Arbei-
oder Abteilungen). Harter, Schmidt und Hayes (2002) unter- tern 2,6-mal schneller an (Ott 2007).
suchten Korrelationen zwischen vielen Maßen für den Erfolg von
Organisationen und dem Engagement der Angestellten – das Aus-
maß der Einbeziehung der Mitarbeiter, des Enthusiasmus und Drei Typen von Angestellten
der Identifikation mit ihrer Organisation (7 Drei Typen von 5 Engagiert: Sie arbeiten mit Leidenschaft und fühlen eine
Angestellten). Sie fanden heraus, dass engagierte Arbeiter (ver- tiefe Verbindung zu ihrer Firma oder Organisation.
glichen mit den nicht engagierten Mitarbeitern, die nur ihre Zeit 5 Nicht engagiert: Sie stecken Zeit in die Arbeit, aber inves-
vertrödelten) wissen, was von ihnen erwartet wird, alles haben, tieren wenig Leidenschaft und Energie.
was sie für die Erledigung ihres Jobs benötigen, sich während 5 Aktiv unengagiert: Unglückliche Arbeiter, die die Arbeit
ihrer Arbeit erfüllt fühlen, regelmäßig die Gelegenheit haben, ihrer Kollegen untergraben.
das zu tun, was sie am besten können, wahrnehmen, dass sie ein
Teil von etwas Wichtigem sind, und die Gelegenheiten haben (Quelle: Übernommen von Gallup via Crabtree 2005)
zu lernen und sich weiterzuentwickeln. Sie fanden außerdem
12.5 · Arbeitsmotivation
489 12
Gute Führung

? 12.15 Was sind erfolgreiche Führungstechniken?

Jede Führungskraft träumt davon, so zu leiten, dass die Zu-


friedenheit, das Engagement und die Produktivität der Men-
schen sowie der Erfolg der Organisation gesteigert werden.
Erfolgreiche Führungskräfte nutzen jobrelevante Stärken ihrer
Mitarbeiter, setzen Ziele und wählen einen geeigneten Füh-
rungsstil.

jNutzung jobrelevanter Stärken


»Die größte Herausforderung von Firmenchefs wird in den
nächsten 20 Jahren der erfolgreiche Einsatz menschlicher
Fähigkeiten sein«, beobachtete Buckingham (2001). Diese
Herausforderung bezieht sich auf »die Psychologie. Es geht da-
rum, Individuen dazu zu bekommen, produktiver, fokussier-
ter und erfüllter zu sein, als sie es gestern waren«. Um dies zu
erreichen, so behaupten Buckingham und andere, müssen er-
folgreiche Führungskräfte zunächst die richtigen Menschen
auswählen. Danach müssen sie versuchen, die natürlichen Ta-
lente ihrer Mitarbeiter zu erkennen, ihre Arbeitsstelle ihren
Talenten anzupassen und diese Talente zu großen Stärken zu
entwickeln (Fleming 2001). Sollte z. B. von jedem Professor an
einem College oder einer Universität erwartet werden, die
. Abb. 12.48 Positives Training. Jürgen Klopp gilt als ein Trainer, der in
gleiche Menge an Arbeit zu leisten, die gleiche Anzahl an seinen Spielern die Stärken fördert und mit positivem Coaching Erfolg er-
Studenten zu unterrichten, Mitglied der gleichen Anzahl an Ar- zielt, anstatt nur auf Fehlerkritik zu setzen. Seit er in der Saison 2008/2009
beitsgruppen zu sein und in der gleichen Menge an Forschung Borussia Dortmund übernahm, wurde mit positivem Teamgeist zweimal in
Folge die Deutsche Fußballmeisterschaft, einmal der DFB-Pokal gewonnen
tätig zu sein? Oder sollte jede Jobbeschreibung so zugeschnitten
und das Finale der UEFA Champions League erreicht. (© augenklick / firo
sein, dass die spezifischen, einmaligen Stärken der Person ge- Sportphoto / Picture alliance)
nutzt werden können?
Wie wir schon in der Diskussion über Personalpsychologen
bemerkt haben, begleiten uns unser Temperament und unsere stimmten 77% der engagierten Arbeiter und nur 23% der weniger
Wesenszüge unser ganzes Leben lang. Erfolgreiche Manager ver- engagierten Mitarbeiter stark der Aussage zu, dass »mein Vorge-
bringen weniger Zeit damit, Talente anzuerziehen, die nicht da setzter seine Aufmerksamkeit auf meine Stärken und positiven
sind, und mehr Zeit damit, zu entwickeln und auszugestalten, Charaktereigenschaften legt« (Krueger u. Killham 2005).
was bereits vorhanden ist. Tucker (2002) hat festgestellt, dass er- Die Belohnung engagierter und produktiver Angestellter in
folgreiche Manager jedem Bereich einer Organisation baut auf dem Grundprinzip
4 damit beginnen, Menschen zu helfen, ihre Talente zu iden- des operanten Konditionierens auf (7 Kap. 8): Um einer Person
tifizieren und zu messen. ein Verhalten beizubringen, muss zunächst eine Person dabei
4 Aufgaben den Talenten anpassen und dann den Menschen beobachtet werden, wie sie etwas richtig macht, und dieses Ver-
die Freiheit geben zu tun, was sie am besten können. halten muss dann verstärkt werden. Es klingt einfach, aber man-
4 sich darum kümmern, wie Menschen sich bei ihrer Arbeit che Geschäftsführer sind wie Eltern: Wenn ein Kind fast per-
fühlen. fekte Noten mit nach Hause bringt, schauen sie nur auf die eine
4 positives Verhalten durch Anerkennung und Belohnung schlechte Note in einem schwierigen Biologiekurs und igno-
verstärken. rieren den Rest. »65% der Amerikaner erhielten im letzten Jahr
auf der Arbeit kein Lob oder keine Anerkennung«, berichtete die
Anstelle sich auf die Schwächen zu fokussieren und Menschen zu Gallup Organization (2004).
Trainingsseminaren zu schicken, wo die Probleme gelöst werden
sollen, nutzen gute Manager ihre Trainingszeit dafür, Menschen jSpezifische, anspruchsvolle Ziele setzen
über ihre Stärken zu informieren und auf diese zu bauen; das Unsere Leistungsziele beinhalten in unserem täglichen Leben
bedeutet, dass Menschen nicht in Rollen gedrückt werden, die manchmal einen hohen Grad an Selbstkontrolle und Arbeits-
nicht zu ihren Stärken passen (. Abb. 12.48). In Gallup-Umfragen leistung (wie z. B. die Inhalte dieses Buches zu erlernen und eine
490 Kapitel 12 · Motivation und Arbeit

gute Note zu bekommen) und manchmal das Vermeiden von tionieren kann, wenn der Führende intelligent genug ist, gute
Fehlern (Elliot u. McGregor 2001). In vielen Situationen können Befehle zu geben (Fiedler 1987).
spezifische, anspruchsvolle Ziele, besonders dann, wenn sie mit
Aufgabenbezogener Führungsstil (»task leadership«) – zielorientierter
Fortschrittsberichten verbunden sind, die Leistung motivie- Führungsstil, bei dem Standards gesetzt werden, Arbeit organisiert und die
ren (Johnson et al. 2006; Latham u. Locke 2007). Spezifische, Aufmerksamkeit auf Ziele gelenkt wird.
messbare Ziele, wie z. B. »bis Freitag die Informationen für das
Geschichtsreferat fertig gesammelt haben«, dienen dazu, die Andere Führungskräfte haben Erfolg mit einem sozialen Füh-
Aufmerksamkeit zu lenken, Anstrengung zu fördern, Durch- rungsstil (»social leadership«) – sie erklären Entscheidungen,
haltevermögen zu motivieren und einfallsreiche Strategien an- vermitteln bei Konflikten und bauen hochleistende Teams
zuregen. auf (Evans u. Dion 1991). Ihr Führungsstil ist oft demokratisch
Wenn Menschen Ziele zusammen mit Unterzielen und Rea- (7 Abschn. 19.4.3): Sie bevollmächtigen Autoritäten und heißen
lisierungsabsichten (»implementation intentions«) – also Hand- die Mitarbeit von Gruppenmitgliedern willkommen. Viele Expe-
lungsplänen, die spezifizieren, wann, wo und wie wir uns dem rimente zeigen, dass soziale Führung gut für die Moral ist.
Ziel annähern – setzen, konzentrieren sie sich mehr auf ihre Ar- Untergeordnete fühlen sich oft befriedigter und motivierter und
beit, und die Wahrscheinlichkeit für die rechtzeitige Fertigstel- leisten mehr, wenn sie mitentscheiden dürfen (Cawley et al. 1998;
lung ist größer (Burgess et al. 2004; Fishbach et al. 2006, Koestner Pereira u. Osburn 2007). Außerdem lösen Gruppen Probleme
et al. 2002). Menschen halten in Höhen und Tiefen einer Auf- mit »kollektiver Intelligenz«, wenn die Gruppenmitglieder ein-
gabe ihre Stimmung und Motivation am besten aufrecht, wenn fühlsam gegenüber den anderen sind und alle ausgeglichen mit-
sie sich auf unmittelbare Ziele konzentrieren (wie etwa täglich zu arbeiten (Woolley et al. 2010).
lernen), als wenn sie sich auf entfernte Ziele (wie etwa eine Ab-
Sozialer Führungsstil (»social leadership«) – gruppenorientierter
schlussnote) konzentrieren. Es ist besser, hart und lange zu arbei- Führungsstil, bei dem Teamarbeit gefördert, bei Konflikten vermittelt und
ten, als das endgültige Ziel vor Augen zu haben (Houser-Marko Unterstützung angeboten wird.
u. Sheldon 2008). Bevor wir mit einer neuen Auflage dieses
Buches beginnen, vereinbaren mein Verleger, meine Mitarbeiter Da erfolgreiche Führungsstile mit der Situation und der Person
und ich die Ziele – wir legen Daten für die Fertigstellung und variieren, scheint die früher sehr beliebte »great person theory of
12 das Editieren jedes Kapitelentwurfs fest. Wenn wir uns darauf leadership« – dass alle guten Führungskräfte gewisse Eigenschaf-
konzentrieren, jedes von diesen kurzfristigen Zielen zu errei- ten teilen – heute überholt (Vroom u. Jago 2007; Wielkiewicz
chen, erledigt sich das endgültige Ziel – eine fristgerechte Fertig- u. Stelzner 2005). Der gleiche Trainer könnte, abhängig von der
stellung des Buches – wie von selbst. Um hohe Produktivität zu Stärke des Teams und der Konkurrenz, gut oder unterlegen wir-
motivieren, arbeiten erfolgreiche Führungskräfte zusammen mit ken. Die Persönlichkeit einer Führungskraft ist jedoch wichtig
den Angestellten explizite Ziele, Unterziele und Realisierungsab- (Zaccaro 2007). Erfolgreiche Führungskräfte scheinen weder
sichten aus und geben dann Rückmeldung über den Fortschritt. besonders bestimmend (die sozialen Beziehungen beeinträch-
tigend) noch besonders zögerlich (den aufgabenbezogenen Füh-
» Ich bin der Entscheidungsträger, und ich entscheide, was
rungsstil beschränkend) zu sein (Ames 2008). Erfolgreiche Füh-
das Beste ist.
rungskräfte von Labor- oder Arbeitsgruppen und großen Unter-
Früherer Präsident der USA George W. Bush, 2006
nehmen scheinen Charisma auszustrahlen (House u. Singh 1987;
Shamir et al. 1993). Ihr Charisma vermischt zielorientierten
jAuswahl eines angemessenen Führungsstils Weitblick, klare Kommunikation und Optimismus, der andere
Führung kann von einem auf den Chef fokussierten direktiven zum Folgen inspiriert.
Stil bis zu einem demokratischen Stil, bei dem die Arbeiter dazu In einer Studie bei 50 holländischen Betrieben hatten die Fir-
berechtigt sind, Ziele zu setzen und Strategien zu bilden, variie- men mit der höchsten Moral Geschäftsführer, die ihre Kollegen am
ren. Welcher davon am besten funktioniert, hängt von der Situa- meisten dazu inspirierten, »um der Gesellschaft willen über die
tion und der Führungsperson ab. Der beste Führungsstil für die eigenen Interessen hinauszugehen« (de Hoogh et al. 2004). Ein
Leitung einer Diskussion muss nicht der beste für die Führung transformationaler Führungsstil (»transformational leadership«)
einer Truppe bei einem Angriff sein (Fiedler 1981). Außerdem dieser Art motiviert andere, sich mit den Aufgaben einer Gruppe
passen unterschiedliche Führungskräfte zu unterschiedlichen zu identifizieren und sich einzubringen. Transformationale Füh-
Stilen. Einige haben Erfolg mit einem aufgabenbezogenen Füh- rungskräfte, von denen viele von Natur aus extravertiert sind,
rungsstil (»task leadership«) – sie setzen Normen, organisieren fordern hohe Normen, inspirieren Menschen dazu, ihre Ansicht
Arbeit und lenken die Aufmerksamkeit auf die Ziele. Aufgaben- zu teilen und sind persönlich aufmerksam (Bono u. Judge 2004;
bezogene Führungskräfte sind aufgrund ihrer Zielorientierung 7 Abschn. 19.4.3). Dies führt oft zu engagierteren, vertrauensvol-
gut darin, die Aufmerksamkeit einer Gruppe auf die Aufgaben zu leren und erfolgreicheren Arbeitnehmern (Turner et al. 2002).
lenken. Ihr Führungsstil ist typischerweise leitend, was gut funk- Frauen in Führungspositionen tendieren eher zu transformatio-
12.5 · Arbeitsmotivation
491 12
nalen Führungsqualitäten. Eagly (2007) glaubt, dass dies ein 100%. Je länger die Mitarbeiter in der Firma arbeiten, desto mehr
Grund dafür sein könnte, dass Firmen mit Frauen in Führungs- besitzen sie, obwohl niemand mehr als 5% besitzt. Wie jeder Fir-
positionen neuerdings bessere finanzielle Ergebnisse erzielen, menchef arbeitet Doug Ruch für seine Aktieninhaber – die auch
auch wenn Variablen wie die Firmengröße kontrolliert wurden. gleichzeitig seine Angestellten sind.
Als eine Firma, die durch den Glauben inspiriertes »Servant
» Gute Führungskräfte erwarten nicht mehr, als ihre Arbeit-
Leadership« und »Respekt und Fürsorge für jedes Teammitglied«
nehmer geben können, jedoch erwarten sie oft – und
befürwortet, kann Fleetwood die Menschen über Profite stellen.
bekommen oft – mehr, als ihre Arbeitnehmer geben wollten
Als während der neuerlichen Rezession Aufträge fehlten, ent-
oder glaubten, geben zu können.
schieden die Mitarbeiteraktionäre, dass die Jobsicherheit für sie
John W. Gardner, Excellence, 1984
wichtiger als der Profit ist. So bezahlte die Firma ansonsten un-
Smith und Tayeb (1989) sammelten Daten von Studien in Indien, beschäftigte Mitarbeiter für gemeinnützige Arbeit – für das Be-
Taiwan und Iran, die zeigten, dass erfolgreiche Geschäftsführer antworten von Telefonaten in gemeinnützigen Einrichtungen
– ob in Kohlebergwerken, Banken oder Regierungsbüros – oft oder für das Bauen von Häusern für die Organisation »Habitat
ein hohes Maß sowohl des aufgabenbezogenen als auch des for Humanity« und Ähnliches.
sozialen Führungsstils haben. Als leistungsorientierte Menschen Die Mitarbeiter von Fleetwood »verhalten sich so, als ob ih-
ist es erfolgreichen Geschäftsführern wichtig, wie gut die Arbeit nen die Firma gehören würde«, bemerkt Ruch. Mitarbeiterbetei-
gemacht wird; sie sind zur gleichen Zeit jedoch auch aufmerksam ligung zieht talentierte Menschen an und hält sie auch, »fördert
gegenüber den Bedürfnissen ihrer Untergebenen. In einer natio- Engagement« und gibt Fleetwood »einen nachhaltigen Wett-
nalen Umfrage an amerikanischen Arbeitern berichteten die- bewerbsvorteil«, behauptet er. Mit einem Aktienwachstum von
jenigen, die in einer familienfreundlichen Organisation mit durchschnittlich 17% im Jahr wurde Fleetwood im Jahr 2006 zur
flexiblen Arbeitszeiten arbeiteten, von größerer Loyalität gegen- »National ESOP of the year« ernannt.
über ihren Arbeitgebern (Roehling et al. 2001). Ein Arbeits- Wir haben uns nun die Personalpsychologie angeschaut, das
umfeld, das das Zugehörigkeitsgefühl befriedigt, gibt den Ange- Teilgebiet der A&O-Psychologie, das seinen Schwerpunkt auf
stellten Antrieb. Angestellte, die qualitativ hochwertige Bezie- Mitarbeiterauswahl, Einstellung, Einschätzung und Entwicklung
hungen mit ihren Kollegen haben, führen ihre Arbeit mit mehr legt. Und wir haben die Organisationspsychologie betrachtet, das
Energie aus (Carmeli et al. 2009). Gallup-Forscher haben mehr Teilgebiet der A&O-Psychologie, das seinen Schwerpunkt auf die
als 15 Mio. Angestellte weltweit befragt, ob sie einen »besten Arbeiterzufriedenheit und Produktivität und Veränderungen
Freund auf der Arbeit« haben. Die 30% mit einem Freund sind von Organisationen legt. Zuletzt werfen wir nun noch einen
»7-mal wahrscheinlicher engagiert bei ihrer Arbeit« als die, die Blick auf die Human-Factors-Psychologie, die die Schnittstelle
keinen Freund haben, berichten Rath und Harter (2010). von Mensch und Maschine untersucht.
Viele erfolgreiche Unternehmen haben die Mitarbeiterbe-
Prüfen Sie Ihr Wissen
teiligung in der Entscheidungsfindung verstärkt, was ein ge-
läufiger Führungsstil in Schweden und Japan und immer mehr 5 Welche Charakterzüge sind wichtig für transformationale
auch anderswo ist (Naylor 1990; Sundstrom et al. 1990). Obwohl Führungskräfte?
Geschäftsführer oft mehr von der Arbeit halten, die sie direkt
überwacht haben, zeigen Studien einen Stimmeneffekt (»voice
effect«): Wenn Menschen die Chance gegeben wird, ihrer Stimme
bei einem Entscheidungsprozess Ausdruck zu verleihen, reagie- 12.5.3 Der Faktor Mensch
ren sie positiver auf die Entscheidung (van den Bos u. Spruijt
2002). Sie fühlen sich ebenso befugter und deshalb wahrschein-
? 12.16 Wie arbeiten Arbeitspsychologen, um benutzer-
lich kreativer (Hennessey u. Amabile 2010; Huang et al. 2010).
freundliche Maschinen und Arbeitsumfelder herzustellen?
Und wie wir schon vorher festgestellt haben, sind positive, enga-
gierte Mitarbeiter ein Zeichen für erfolgreiche Organisationen. Designs vernachlässigen manchmal den menschlichen Faktor.
Das Nonplusultra der Mitarbeiterbeteiligung sind Firmen in Der Psychologe Donald Norman, der seinen Doktortitel am MIT
Mitarbeiterhand. Eine solche Firma in meiner Stadt, die »Fleet- erworben hat, beklagte sich darüber, wie kompliziert es war,
wood Group«, produziert Schulmöbel und kabellose elektro- seinen neuen HD-Fernseher, damit zusammenhängende Teile
nische Fernbedienungen mit 165 Mitarbeitern. Als der Gründer und 7 Fernbedienungen zu einem benutzbaren Heimkinosystem
45% der Firma seinen Angestellten übergab, die später andere zusammenzubauen: »Ich war Vizepräsident bei Apple für den
familiäre Aktieninhaber aufkauften, wurde Fleetwood eine von Bereich fortgeschrittene Technologien. Ich kann Dutzende von
Amerikas ersten Firmen mit einem »employee stock ownership Computern in Dutzenden von Programmiersprachen program-
plan« (ESOP), einem Mitarbeiterbeteiligungsplan. Heute besitzt mieren. Ich weiß, was in einem Fernseher vor sich geht, ja wirk-
jeder Mitarbeiter Teile der Firma und als Gruppe gehört ihnen lich. ... Ganz egal, es ist zu viel für mich.«
492 Kapitel 12 · Motivation und Arbeit

. Abb. 12.49a–c Produkte entwerfen, die zu den Menschen passen. . Abb. 12.50 Der menschliche Faktor bei der Fehleinschätzung von
Der Arbeitspsychologe Donald Norman bietet diese und andere Beispiele Entfernungen. Als Piloten am Flugsimulator eine Nachtlandung übten und
für effektiv entworfene Produkte an. a Diese faltbare Sitzbefestigung sich von einer dunklen Fläche kommend der Landebahn näherten, fehlte
für ein Handgepäckstück – entworfen von einer Mutter, die von Beruf Flug- es ihnen an Merkmalen zum Einschätzen der Entfernung. Sie neigten des-
begleiterin ist – integriert einen Koffer und einen Kinderwagen. b Dieser halb dazu, zu niedrig zu fliegen. (Aus Kraft 1978)
Messbecher von Oxo ermöglicht es dem Benutzer, die Menge von oben
zu sehen. c Diese Teekanne von Chatsford hat ein integriertes Sieb.
(a: Courtesy www.rideoncarryon.com; b: Courtesy OXO Good Grips; in einem Dreieck. Außerdem sollten die Arbeitsflächen so sein,
12 c: Courtesy The London Teapot Company Ltd.)
dass die Arbeit etwa in Höhe der Ellenbogen oder ein wenig da-
runter ausgeführt werden kann (Boehm-Davis 2005).
Wie viel einfacher könnte das Leben sein, wenn Techniker rou- Das Verständnis des Faktors Mensch trägt auch dazu bei,
tinemäßig mit Arbeitspsychologen zusammenarbeiten würden, Unglücksfälle zu vermeiden. Psychologen versuchen, durch das
um ihre Entwürfe und Anleitungen erst einmal an normalen Untersuchen des Faktors Mensch bei Autounfällen, Wege zu
Menschen zu überprüfen. Psychologen, die sich mit dem Faktor finden, um Ablenkungen, Müdigkeit und Unaufmerksamkeit,
Mensch beschäftigen (in den USA Human-Factors-Psychologen, die weltweit jährlich zu 1,3 Mio. tödlichen Unfällen führen, zu
in Deutschland Arbeitspsychologen oder spezialisierte Ergo- verringern (Lee 2008). Zwei Drittel aller Unfälle bei Fluggesell-
nomen), helfen heute mit beim Entwerfen des Arbeitsumfelds, von schaften gehen auf menschliche Fehler zurück (Nickerson 1998).
Geräten und Maschinen, die unserer natürlichen Wahrnehmung Nachdem die Boeing 727 Ende der 60er Jahre zu ihren ersten
und unseren Vorlieben entsprechen. Bankautomaten sind innen zivilen Flügen eingesetzt wurde, ereigneten sich eine Reihe von
komplexer, als es Videorekorder je waren; doch dank der Ergono- Unglücken beim Landeanflug, die alle dadurch verursacht wur-
men, die mit Ingenieuren zusammenarbeiteten, sind Bankauto- den, dass der Pilot versagte. Der Psychologe Conrad Kraft (1978)
maten leichter zu bedienen. Digitale Aufzeichnungsgeräte haben stellte fest, dass sich alle Unfälle unter ähnlichen Bedingungen
das Videorekorderproblem mit Hilfe eines Menüsystems gelöst, ereignet hatten: Sie passierten alle nachts, und bei allen hatte
auf dessen Unterpunkte man einfach klickt (»nimm den hier auf«). der Pilot nach Überfliegen einer dunklen Wasserfläche oder
Apple hat in ähnlicher Weise auch beim iPhone und iPad einfache eines unbeleuchteten Landstrichs zu früh, d. h. vor Erreichen der
Benutzerfreundlichkeit umgesetzt. Landebahn, aufgesetzt. Kraft kam zu dem Schluss, dass die
Norman (2001) betreibt eine Internetseite (www.jnd.org) zu Lichter der Stadt hinter der Landebahn ein größeres Bild auf die
dem Problem, wie man Geräte entwerfen muss, damit sie zu den Retina projizierten, wenn sie sich auf ansteigendem Terrain
Menschen passen (. Abb. 12.49). Arbeitspsychologen arbeiten befanden. Das ließ den Boden weiter entfernt erscheinen, als
auch daran, effiziente Umwelten zu schaffen. Forscher haben er tatsächlich war. Durch die Nachbildung dieser Bedingungen
herausgefunden, dass die erforderlichen Gegenstände in einer auf dem Flugsimulator entdeckte Kraft, dass die Piloten ge-
perfekten Küche in der Nähe des Bereiches, wo man sie benutzt, täuscht wurden und dachten, sie flögen in sicherer Höhe, wäh-
und in Augenhöhe verstaut sein sollten. Die Arbeitsbereiche rend sie in Wirklichkeit tiefer flogen (. Abb. 12.50). Unterstützt
sollten so angeordnet sein, dass die Arbeiten in einer Reihenfolge durch Krafts Erkenntnisse, begannen die Fluggesellschaften zu
gemacht werden können, wie z. B. Kühlschrank, Ofen und Spüle fordern, dass der Kopilot beim Landeanflug gleichzeitig den
12.5 · Arbeitsmotivation
493 12

. Abb. 12.51 Der Faktor Mensch bei sicheren Landungen. Modernes Cockpit-Design und geübte Notfallsituationen halfen dem Pilot Chesley »Sully«
Sullenberger, einem US Air Force Academy Graduate, der Psychologie und den Faktor Mensch studiert hatte. Im Januar 2009 lenkten Sullenbergers augen-
blickliche Entscheidungen sein kaputtes Flugzeug sicher auf den Hudson River in New York, wo alle 155 Passagiere und die Crew sicher evakuiert werden
konnten. (© picture alliance / AP Photo / Steven Day)

Höhenmesser kontrollierte; der Kopilot musste fortan beim »Microportanlagen« (ein besonderer Verstärker, der mit einem
Tiefergehen ständig laut die Höhe ablesen, und die Unfälle Kabel verbunden ist, das kreisförmig um das Publikum herum
nahmen ab. verläuft; www.hearingloop.org) einzubauen, die den Klang nach
Später befassten sich die Psychologen bei Boeing mit anderen dem individuellen Bedarf direkt über das eigene Hörgerät der
Problemen des Faktors Mensch (Murray 1998). Wie sollen Flug- Personen übertragen. Haben die Hörgeräte die entsprechende
gesellschaften ihre Mechaniker am besten ausbilden und ein- Ausstattung, genügt die unauffällige Betätigung eines kleinen
setzen, um die Wartungsfehler zu reduzieren, auf die 50% der Schalters, um die Hörhilfe in einen Lautsprecher im Innenohr zu
verspäteten Flüge und 15% der Flugzeugunglücke zurückgehen? verwandeln. Werden den Menschen bequeme, unauffällige und
Mit welcher Beleuchtung und Schrift sind Flugdaten auf dem individuelle Formen zur Verstärkung der Lautstärke angeboten,
Bildschirm am leichtesten zu lesen? In welcher Form sollten entscheiden sich viel mehr von ihnen dazu, von einer zusätz-
Warnhinweise abgefasst sein, um die größte Wirkung zu ent- lichen Hörhilfe Gebrauch zu machen.
falten: als Handlungsanweisung (»Gehen Sie höher«) oder eher Designs, die eine sichere, einfache und effektive Interaktion
als Problemdarstellung (»Bodennähe«)? (. Abb. 12.51). zwischen Menschen und Technologien ermöglichen, scheinen
Als letztes Beispiel seien die technischen Errungenschaften oft offensichtlich, nachdem man über die Fakten Bescheid weiß.
im Bereich der Hörhilfen in verschiedenen Vortragssälen, Gottes- Warum sind sie dann nicht alltäglicher? Die Entwickler neuer
häusern und Theatern genannt. Eine in den USA fast überall zur technischer Geräte nehmen oft fälschlicherweise an, dass andere
Verfügung stehende Technologie ist folgende: Menschen, die dieselbe Fachkenntnis wie sie selbst hätten – das, was ihnen klar
schlecht hören, können sich ein besonderes Gerät ausleihen, ist, sei entsprechend auch anderen klar (Camerer et al. 1989;
das aus einem Kopfhörer und einem kleinen Empfänger besteht, Nickerson 1999). Wenn Menschen mit den Fingern auf den Tisch
der Infrarot- oder UKW-Signale aus dem Verstärkersystem des klopfen, um ein bekanntes Lied zu vermitteln (versuchen Sie
Raumes auffängt. Die wohlmeinenden Menschen, die diese es mal mit einem Freund), erwarten sie oft, dass ihr Zuhörer es
Systeme entwerfen, kaufen und zur Verfügung stellen, verstehen erkennen wird. Für den Zuhörer ist dies jedoch eine fast un-
sich ganz gut auf die technischen Details, mit denen der Klang mögliche Aufgabe (Newton 1991). Wenn man etwas weiß, ist es
direkt ins Ohr des Benutzers gelangt. Leider setzen sich nur schwer, sich in Gedanken vorzustellen, wie es wohl ist, es nicht
wenige Leute mit einer Hörschwäche der Mühe und der pein- zu wissen. Dies nennt man den »Fluch des Wissens«.
lichen Situation aus, herauszufinden, wo es diesen auffälligen Merken Sie sich: Designer und Ingenieure sollten die mensch-
Kopfhörer gibt, danach zu verlangen, ihn zu tragen und wieder lichen Fähigkeiten und das Verhalten berücksichtigen, indem sie
zurückzubringen. Deshalb liegen viele dieser Geräte einfach im Dinge entwerfen, die menschengerecht sind, ihre Erfindungen
Schrank herum. In Großbritannien, in den skandinavischen vor der Herstellung und dem Vertrieb von Benutzern testen
Ländern und in Australien ist man hingegen dazu übergegangen, lassen und auf den Fluch des Wissens achten.
494 Kapitel 12 · Motivation und Arbeit

Prüfen Sie Ihr Wissen jArbeitsmotivation


12.12 Was ist der sog. »Flow«, und welche sind die drei Unter-
5 Welche sind die drei größten Unterfelder der Arbeits- felder der Arbeits- und Organisationspsychologie?
und Organisationspsychologie? 12.13 Wie helfen Personalpsychologen Organisationen bei der
Personalauswahl, der Arbeiterplatzierung und der Leistungs-
beurteilung?
In diesem Kapitel haben wir gesehen, dass identifizierbare 12.14 Was ist Leistungsmotivation? Welche Rolle spielen Orga-
physiologische Mechanismen manche Motive, wie z. B. Hunger nisationspsychologen?
(durch gelernte Geschmäcker und ebenfalls durch kulturelle Er- 12.15 Was sind erfolgreiche Führungstechniken?
wartungen), antreiben. Andere Motive, wie unsere Leistung bei 12.16 Wie arbeiten Arbeitspsychologen, um benutzerfreundliche
der Arbeit, sind offensichtlicher durch psychologische Faktoren Maschinen und Arbeitsumfelder herzustellen?
angetrieben, wie z. B. durch die intrinsische Suche nach Kon-
trolle und die externen Belohnungen durch Anerkennung. Was
alle Motive vereint, ist ihr gemeinsamer Effekt: der Antrieb und 12.6.2 Schlüsselbegriffe
die Lenkung von Verhalten.
Eine ausführliche Behandlung arbeits- und organisations- 4 Anreiz
psychologischer Themen, nicht nur unter dem Motivations- 4 Arbeits- und Organisationspsychologie (A&O-Psychologie)
aspekt, findet sich in 7 Kap. 19. 4 Aufgabenbezogener Führungsstil
4 Bedürfnishierarchie
4 Flow
12.6 Kapitelrückblick 4 Glukose
4 Grundumsatz
12.6.1 Verständnisfragen 4 Homöostase
4 Human-Factors-Psychologie
jMotivationskonzepte 4 Instinkt
12 12.1 Wie definieren Psychologen Motivation? Aus welchen Per- 4 Leistungsmotivation
spektiven betrachten sie motiviertes Verhalten? 4 Motivation
4 Organisationspsychologie
jHunger 4 Östrogen
12.2 Welche physiologischen Faktoren rufen Hunger hervor? 4 Personalpsychologie
12.3 Welche psychologischen, kulturellen und situativen Fak- 4 Refraktärphase
toren beeinflussen Hunger? 4 Set Point
12.4 Welche Faktoren veranlagen Menschen dazu, adipös zu 4 Sexuelle Orientierung
werden und es zu bleiben? 4 Sexuelle Störung
4 Sexueller Reaktionszyklus
jSexuelle Motivation 4 Sozialer Führungsstil
12.5 Was ist der sexuelle Reaktionszyklus beim Menschen und 4 Strukturierte Interviews
welche Störungen unterbrechen ihn? 4 Testosteron
12.6 Wie beeinflussen Hormone und äußere und innere Reize 4 Triebreduktionstheorie
die menschliche sexuelle Motivation?
12.7 Welche Faktoren beeinflussen Teenagerschwangerschaften
und das Risiko sexuell übertragbarer Infektionen? 12.6.3 Weiterführende deutsche Literatur
12.8 Was hat uns die Forschung über sexuelle Orientierungen
gelehrt? Brandstätter, V., Schüler, J., Puca, R.M. & Lozo, L. (2013). Allgemeine Psychologie
für Bachelor. Motivation und Emotion. Heidelberg: Springer.
12.9 Ist die wissenschaftliche Forschung über die sexuelle Moti- Heckhausen, J. & Heckhausen, H. (2010). Motivation und Handeln (4. Aufl.).
vation frei von Wertvorstellungen? Heidelberg: Springer.
Rheinberg, F. (2011). Motivation (8. Aufl.). Stuttgart: Kohlhammer.
jDas Bedürfnis nach Zugehörigkeit Rothermund, K. & Eder, A. (2012). Motivation und Emotion. Basiswissen
Psychologie. Wiesbaden: VS.
12.10 Welchen Beleg gibt es für das menschliche Bedürfnis nach Rudolph, U. (2013). Motivationspsychologie kompakt (3. Aufl.). Weinheim:
Zugehörigkeit? Beltz.
12.11 Wie beeinflussen uns soziale Netzwerke?
495 13

Emotionen, Stress
und Gesundheit
David G. Myers

13.1 Kognitionen und Emotionen – 496


13.1.1 Historische Emotionstheorien – 496
13.1.2 Die Kognition kann die Emotion festlegen: Schachter und Singer – 498
13.1.3 Die Kognition geht der Emotion nicht immer voraus:
Zajonc, LeDoux und Lazarus – 499

13.2 Emotion und Körper – 501


13.2.1 Emotionen und das autonome Nervensystem – 501
13.2.2 Die Physiologie der Emotionen – 502

13.3 Emotion und Ausdruck – 504


13.3.1 Emotionen bei anderen erkennen – 504
13.3.2 Geschlecht, Emotion und nonverbales Verhalten – 507
13.3.3 Emotionsausdruck im kulturellen Kontext – 508
13.3.4 Mimischer Ausdruck – 511

13.4 Emotion und Erfahrung – 512


13.4.1 Wut – 512
13.4.2 Glücklichsein – 516

13.5 Stress und Gesundheit – 525


13.5.1 Stress: Grundlegende Prinzipien – 525
13.5.2 Stress und Krankheitsanfälligkeit – 530

13.6 Gesundheitsförderung – 537


13.6.1 Bewältigung von Stress – 537
13.6.2 Stress reduzieren – 542

13.7 Kapitelrückblick – 549


13.7.1 Verständnisfragen – 549
13.7.2 Schlüsselbegriffe – 549
13.7.3 Weiterführende deutsche Literatur – 550

D. G. Myers, Psychologie,
DOI 10.1007/978-3-642-40782-6_13, © Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2014
496 Kapitel 13 · Emotionen, Stress und Gesundheit

Niemand muss Ihnen sagen, dass Ihre Gefühle Farbe in Ihr Sinne sind in hoher Alarmbereitschaft. Wenn wir unerwartet gute
Leben bringen, dass sie in angespannten Zeiten Ihr Leben stören Nachrichten bekommen, können uns Tränen in die Augen treten.
oder auch retten können. Angst, Wut, Trauer, Freude oder Liebe Wir werfen triumphierend die Arme in die Luft. Wir fühlen uns
sind psychologische Zustände, die auch physikalische Reak- überschwänglich und erleben eine neuentdeckte Zuversicht. An-
tionen mit sich bringen. Sind wir nervös wegen eines wichtigen haltende negative Gefühle können unserer Gesundheit allerdings
Zusammentreffens, haben wir ein flaues Gefühl im Magen. Sind auch schaden.
wir unruhig vor einem öffentlichen Vortrag, suchen wir häufiger
die Toilette auf. Sind wir aufgebracht wegen eines Familienstreits,
bekommen wir rasende Kopfschmerzen. 13.1 Kognitionen und Emotionen
Wir alle können uns an Momente erinnern, in denen wir von
Gefühlen überwältigt wurden. Ich werde nie den Tag vergessen,
? 13.1 Welches Wechselspiel zwischen Erregung und Aus-
an dem ich mit meinem Sohn Peter, meinem Erstgeborenen, der
drucksverhalten gibt es bei Emotionen?
damals noch ein Kleinkind war, in ein großes Einkaufszentrum
ging, um einen Film abzugeben. Als ich Peter auf seine Füße Wie meine qualvolle Suche nach Peter zeigt, sind Emotionen
stellte, um den Abholschein auszufüllen, warnte mich ein Vorüber- eine Mischung aus 1. physiologischer Erregung (Herzrasen),
gehender: »Sie sollten besser auf den Jungen aufpassen, sonst 2. Ausdrucksverhalten (beschleunigter Schritt) und 3. bewusster
kommt er Ihnen noch abhanden.« Nur wenige Augenblicke später, Erfahrung, die aus Gedanken (»Ist das eine Entführung?«) und
als ich den Film eingeworfen hatte, drehte ich mich um und sah Gefühlen (Panik, Angst, später Freude) besteht.
keinen Peter mehr neben mir.
Emotion (»emotion«) – Reaktion des gesamten Organismus, die 1. physio-
Mit einem leichten Angstgefühl schaute ich zum einen Ende logische Erregung, 2. Ausdrucksverhalten und 3. bewusste Erfahrung bein-
des Schalters. Kein Peter in Sicht. Mit etwas mehr Angst schaute haltet.
ich zum anderen Ende. Auch dort kein Peter. Nun ging ich um die
anderen Schalter herum, dabei schlug mein Herz immer schneller Nicht nur Emotionen, sondern fast alle psychischen Phänomene
und lauter. Immer noch keine Spur von Peter. Meine Angst wurde (wie Wahrnehmung, Schlaf, Gedächtnis, Sexualität und so
zur Panik, und ich rannte die Gänge zwischen den Regalen auf weiter) können unter diesen drei Aspekten betrachtet werden:
und ab. Er war nirgends zu finden. Durch mein Verhalten auf- physiologisch, kognitiv und auf der Verhaltensebene.
merksam geworden, setzte der Filialleiter die Lautsprecheranlage
13 ein, um die Kunden zu bitten, bei der Suche nach einem verloren Das Problem für die Psychologen besteht darin, herauszufinden,
gegangenen Kind zu helfen. Kurz darauf kam ich an dem Kunden wie diese drei Teile zusammenpassen. Dafür müssen Antworten
vorbei, der mich gewarnt hatte. »Ich habe Ihnen doch gesagt, dass auf zwei große Fragen gefunden werden:
Sie ihn verlieren werden!«, sagte er mit Verachtung in der Stimme. 4 Eine Huhn-oder-Ei-Debatte: Entsteht die physiologische
Mit Bildern von einem Kidnapping im Kopf (Fremde hatten Erregung vor oder nach dem bewussten »Gefühl«? (Habe
schon immer bewundert, was für ein hübsches Kind Peter sei), ich zuerst bemerkt, wie mein Herz schlägt und ich schneller
machte ich mich darauf gefasst, dass meine Achtlosigkeit mög- gehe, und merke dann, dass ich Angst habe, Peter verloren
licherweise zum Verlust des Meistgeliebten in meinem Leben zu haben? Oder kommt zuerst das Gefühl der Angst, das
führen würde, und dass ich nach Hause gehen und meiner Frau bei mir zur Reaktion des Herzens und der Füße führte?)
ohne unser einziges Kind gegenübertreten müsste. 4 In welchem Wechselspiel stehen Denken (Kognition) und
Aber dann, als ich erneut am Serviceschalter vorbeikam, war Fühlen zueinander? Kommt die Kognition immer vor der
er wieder da. Er war von einem freundlichen Kunden gefunden Emotion? (War es erforderlich, dass ich die Gefahr eines
und zurückgebracht worden. Innerhalb einer Sekunde verwan- Kidnappings bewusst einschätzte, bevor ich gefühlsmäßig
delte sich meine Angst in große Freude. Als ich meinen Sohn reagieren konnte?)
umarmte, kamen mir die Tränen, und ich war nicht einmal mehr
in der Lage, mich zu bedanken, sondern stolperte einfach aus Sowohl historische Emotionstheorien als auch die aktuelle For-
dem Laden, fast aufgelöst vor Freude. schung haben versucht, eine Antwort auf diese Fragen zu finden.
Woher kommen solche Gefühle? Warum haben wir sie? Wie
setzen sie sich zusammen? Gefühle sind die Anpassungsreaktio-
nen unseres Körpers. Es gibt sie nicht deshalb, weil sie uns inter- 13.1.1 Historische Emotionstheorien
essante Erlebnisse ermöglichen, sondern um unsere Über-
lebenschancen zu verbessern. Wenn wir uns Herausforderungen James-Lange-Theorie: Erregung entsteht
gegenübergestellt sehen, bringen uns unsere Gefühle dazu, unsere vor der Emotion
Aufmerksamkeit zu bündeln und spornen uns zum Handeln an Der gesunde Menschenverstand sagt uns, dass wir weinen, weil
(Cyders u. Smith 2008). Unser Herz rast. Wir gehen schneller. Alle wir traurig sind, auf den Tisch hauen, weil wir wütend sind, und
13.1 · Kognitionen und Emotionen
497 13

. Abb. 13.1 Freude ausdrücken. Der James-Lange-Theorie zufolge lächeln wir nicht nur, weil wir die Freude unserer Mitspieler teilen. Wir teilen die Freude
auch, weil wir mit ihnen lächeln. (© Axel Heimken / picture alliance / dpa)

zittern, weil wir ängstlich sind. Zuerst kommt die bewusste meines Körpers auslöste. Gleichzeitig wurde er zu meinem zere-
Wahrnehmung, dann folgt das Gefühl. Aber der Pionier der psy- bralen Kortex geleitet und bewirkte dort die Empfindung der
chologischen Forschung William James war der Meinung, dass Emotion. Es hat also weder mein klopfendes Herz das Gefühl der
der emotionale Prozess genau anders herum abläuft. Laut James Angst verursacht, noch führte die empfundene Angst dazu, dass
»fühlen wir uns traurig, weil wir weinen, wütend, weil wir zu- mein Herz schneller schlug.
schlagen, ängstlich, weil wir zittern« (1890, S. 1066; . Abb. 13.1).
Cannon-Bard-Theorie (»Cannon-Bard theory«) – sagt aus, dass ein
Die Idee von James wurde auch von dem dänischen Physio- emotionserregender Reiz gleichzeitig 1. physiologische Reaktionen und
logen Carl Lange unterstützt und wird deshalb heute als James- 2. die subjektive Erfahrung der Emotion auslöst.
Lange-Theorie bezeichnet. James und Lange würden annehmen,
dass ich mein rasendes Herz bemerkt habe und dann, zitternd Die Cannon-Bard-Theorie wurde durch Studien an Menschen
vor Angst, die Flut der Emotionen gespürt habe. Mein Gefühl der mit schweren Verletzungen des Rückenmarks infrage gestellt.
Angst folgte der körperlichen Reaktion. Bei einer dieser Untersuchungen wurden 25 Soldaten interviewt,
die im Zweiten Weltkrieg solche Verletzungen erlitten hatten
James-Lange-Theorie (»James-Lange theory«) – sagt aus, dass unsere
Emotionserfahrung dadurch entsteht, dass wir uns unserer physiologischen (Hohmann 1966).
Reaktionen auf emotionserregende Reize bewusst werden. Die Patienten mit Verletzungen am unteren Teil des Rücken-
marks, die nur die Empfindungen in ihren Beinen verloren hatten,
Cannon-Bard-Theorie: Erregung und Emotion berichteten von nur geringfügigen Veränderungen in der Intensi-
treten gleichzeitig auf tät ihrer Gefühle. Die Soldaten jedoch mit Verletzungen am oberen
Der amerikanische Physiologe Walter Cannon (1871–1943) war Teil des Rückenmarks, die vom Nacken abwärts nichts spüren
anderer Meinung als James und Lange. Signalisiert ein schnell konnten, berichteten von starken Veränderungen. Manche Reak-
schlagendes Herz Angst, Wut oder Liebe? Laut Cannon seien tionen seien wesentlich weniger intensiv als vor der Verletzung.
sich die Reaktionen des Körpers – Herzschlag, Schwitzen und Die Wut hat »nicht mehr die Kraft wie früher. Es ist eher eine
Körpertemperatur – zu ähnlich und veränderten sich zu lang- kognitive Art von Wut«, wie ein Mann berichtete. Andere Emo-
sam, um die vielen verschiedenen Gefühle verursachen zu kön- tionen, die hauptsächlich in Körperteilen oberhalb des Nackens
nen. Cannon, und später ein anderer Physiologe, Philip Bard, ausgedrückt werden, wurden als umso intensiver wahrgenom-
schlossen daraus, dass die körperliche Reaktion und die erlebten men. Diese Patienten berichteten, öfter weinen zu müssen als
Emotionen getrennt, aber gleichzeitig entstehen: Der Cannon- früher, öfter einen Kloß im Hals zu spüren und beim Abschied-
Bard-Theorie zufolge hat mein Herz also in dem Moment begon- nehmen, beim Beten und beim Ansehen eines emotionalen
nen heftig zu schlagen, als ich Angst empfunden habe. Der Reiz, Films stärker gerührt zu sein als früher. Unsere körperlichen
der die entsprechende Emotion verursacht hatte, wurde zu mei- Reaktionen scheinen also die Gefühle, die wir erleben, zu er-
nem sympathischen Nervensystem geleitet, wo er die Reaktion nähren.
498 Kapitel 13 · Emotionen, Stress und Gesundheit

. Abb. 13.2 Übertragung von Erregung. Die Erregung, die bei einem Fußballspiel aufkommt, kann in Kämpfe oder andere gewalttätige Konfrontationen
ausarten. (© EPA / WALTER BIERI / picture-alliance / dpa)

Aber die meisten Wissenschaftler stimmen mit Cannon und Zwei-Faktoren-Theorie (»two-factor theory«) – Schachters und Singers
Bard darin überein, dass die Emotionen, die wir empfinden, auch Theorie sagt aus, dass man, um Emotionen zu erfahren, 1. physiologisch
erregt sein und 2. diese Erregung kognitiv interpretieren muss.
Kognitionen enthalten (Averill 1993; Barrett 2006). Ob wir auf
einer dunklen Straße Angst vor dem Mann hinter uns haben, Manchmal überträgt sich die physiologische Erregung von einem
hängt ganz allein davon ab, ob wir seine Handlungen als bedroh- Ereignis auf ein darauf folgendes. Stellen Sie sich vor, dass Sie
13 lich oder als freundlich interpretieren. nach einem Dauerlauf nach Hause kommen und dort einen Brief
mit einer Einladung zu einem Bewerbungsgespräch finden, auf
Prüfen Sie Ihr Wissen
den Sie schon lange gewartet hatten. Meinen Sie, dass Sie sich,
5 Laut der Cannon-Bard-Theorie treten (a) unsere physio- erregt wie Sie durch den Lauf sind, noch mehr freuen, als Sie es
logischen Reaktionen auf einen Stimulus (z. B. ein getan hätten, wenn Sie die Nachricht nach einem kleinen Schläf-
schneller schlagendes Herz) und (b) die Emotionen, die chen erhalten hätten?
wir erleben (z. B. Angst) (gleichzeitig/ Um herauszufinden, ob es einen solchen Übertragungseffekt
sequenziell) auf. Der James-Lange-Theorie zufolge treten überhaupt gibt, lösten Schachter und Singer bei Studierenden eine
(a) und (b) (gleichzeitig/sequenziell) auf. physiologische Erregung durch eine Adrenalininjektion aus. Stel-
len Sie sich vor, einer der Versuchsteilnehmer zu sein: Nachdem
Sie die Injektion erhalten haben, gehen Sie ins Wartezimmer, wo
Sie einen anderen Versuchsteilnehmer vorfinden (in Wahrheit ein
13.1.2 Die Kognition kann die Emotion festlegen: Mitarbeiter der Forscher), der entweder euphorisch gut gelaunt
Schachter und Singer oder wütend ist. Während Sie diese Person beobachten, beginnt
Ihr Herz zu schlagen, Sie schwitzen und Ihre Atmung beschleu-
nigt sich. Wenn man Ihnen sagte, dass diese Effekte auf die Sprit-
? 13.2 Müssen wir Emotionen bewusst interpretieren und
ze zurückgehen, was würden Sie dann empfinden? Die Versuchs-
benennen, um sie erleben zu können?
teilnehmer von Schachter und Singer meinten, wenig zu fühlen,
Stanley Schachter und Jerome Singer (1962) glaubten, dass weil sie ihre Erregung dem Medikament zuschrieben. Aber wenn
eine emotionale Erfahrung eine bewusste Interpretation der Sie wüssten, dass die Injektion keinerlei Folgen hat, was würden
Erregung benötigt: Unsere körperliche Reaktion ruft zusammen Sie dann fühlen? Vielleicht würden Sie so reagieren, wie eine an-
mit unseren Kognitionen – Wahrnehmungen, Erinnerungen dere Gruppe von Versuchsteilnehmern. Diese haben die sichtbare
und Interpretationen – die Emotion hervor. Nach ihrer Zwei- Emotion der anderen Person »übernommen«. Sie wurden also
Faktoren-Theorie haben Emotionen daher zwei Bestandteile: die fröhlich, wenn ihr Gegenüber gut gelaunt war, und reizbar, wenn
körperliche Erregung und die kognitive Interpretation. der Betreffende wütend war (. Abb. 13.2).
13.1 · Kognitionen und Emotionen
499 13
Die Entdeckung, dass derselbe physiologische Erregungs- In früheren Kapiteln haben wir gesehen, dass Menschen,
zustand einmal als eine bestimmte Emotion und ein anderes Mal denen wiederholt ein Reiz gezeigt wurde, aber nur so kurz, dass
als eine völlig andere empfunden werden kann, je nachdem, wie sie ihn nicht bewusst wahrnahmen, diesen Reiz später trotzdem
die Situation interpretiert und benannt wird, wurde in Dutzen- anderen vorzogen. Obwohl sie gar nicht wussten, dass sie diesen
den von Experimenten repliziert (Reisenzein 1983; Sinclair et al. Reiz schon einmal gesehen hatten, mochten sie ihn gerne. Wir
1994; Zillmann 1986). Der Forscher Daniel Gilbert (2006) hat haben ein überaus empfindliches automatisches Radar für emo-
angemerkt, dass »das Gefühl, das man in Gegenwart einer steilen tional bedeutsame Informationen, sodass sogar ein subliminal
Klippe als Angst interpretiert, beim Anblick einer durchschei- aufblitzender Stimulus uns dahingehend beeinflussen kann, dass
nenden Bluse als Lust empfunden werden kann«. wir uns besser oder schlechter fühlen in Bezug auf einen nach-
Merke: Die physiologische Erregung treibt die Emotionen an, folgenden Stimulus (Murphy et al. 1995; Ruys u. Stapel 2008;
die Kognition weist ihnen die Richtung. Zeelenberg et al. 2006). Bei einer Versuchsreihe bekamen durs-
tige Menschen ein Getränk mit Fruchtgeschmack zu trinken,
Prüfen Sie Ihr Wissen
nachdem sie ein subliminal aufblitzendes (und daher nicht
5 Laut der Theorie von Schachter und Singer führen zwei wahrgenommenes) Gesicht betrachtet hatten. Diejenigen unter
Faktoren dazu, dass wir eine Emotion erleben: (1) physio- ihnen, die ein glückliches Gesicht betrachtet hatten, tranken
logische Erregung und (2) Bewertung. ca. 50% mehr davon als diejenigen, die ein neutrales Gesicht
angesehen hatten (Berridge u. Winkielman 2003). Wenn ein
ärgerliches Gesicht aufblitzte, tranken sie erheblich weniger.
Neurowissenschaftler sind dabei, die neuronalen Pfade der
13.1.3 Die Kognition geht der Emotion »Top-Down«- und »Bottom-Up«-Emotionen zu kartieren
nicht immer voraus: (Ochsner et al. 2009). Unsere emotionalen Reaktionen können
Zajonc, LeDoux und Lazarus zwei verschiedenen Gehirnbahnen folgen: Manche Emotionen
(vor allem komplexere Gefühle wie Hass und Liebe) folgen dem
Aber ist das Herz dem Verstand wirklich immer untertan? Müssen »oberen Wege«. Ein Stimulus, der diesem Weg folgt, würde (über
wir also immer zuerst unsere physiologische Erregung benennen, den Umweg des Thalamus) in den Kortex des Gehirn geleitet
um ein Gefühl haben zu können? Robert Zajonc (1980, 1984a) werden (. Abb. 13.3a). Dort würde er analysiert und benannt
hat behauptet, dass wir tatsächlich viele emotionale Reaktionen werden, bevor der Befehl zur Reaktion über die Amygdala
haben, die unabhängig von unserer Interpretation einer Situation (einem Steuerungszentrum für Emotionen) gesendet wird.
sind und sogar davor auftreten können. Vielleicht können Sie sich Manchmal nehmen unsere Emotionen aber auch den von
daran erinnern, irgendetwas oder irgendjemanden sofort ge- Joseph LeDoux (2002) so genannten »unteren Weg« über die
mocht zu haben, ohne zu wissen warum? Nervenbahnen, die am Kortex vorbeigehen. Ein angstinduzie-

. Abb. 13.3a,b Abkürzungswege für Emotionen im Gehirn. Im zweigleisigen Gehirn kann sensorischer Input entweder a zum Kortex (über den
Thalamus) zur weiteren Auswertung und anschließenden Übertragung an die Amygdala; oder b direkt zur Amygdala (über den Thalamus) geleitet werden,
um eine schnelle emotionale Reaktion zu ermöglichen
500 Kapitel 13 · Emotionen, Stress und Gesundheit

. Abb. 13.5 Zwei Routen zur Emotion. Zajonc und LeDoux betonen, dass
einige emotionale Reaktionen sofort erfolgen, und zwar vor jeder bewussten
Bewertung. Lazarus, Schachter und Singer hoben hervor, dass unsere Be-
wertung und Interpretation von Ereignissen auch unsere emotionalen Reak-
tionen bestimmt. Neurowissenschaftler sind dabei, die neuronalen Pfade der
»Top-Down«- und »Bottom-Up«-Emotionen zu kartieren (Ochsner et al. 2009)

. Abb. 13.4 Die Sensibilität des Gehirns für Bedrohungen. Auch wenn
die ängstlichen Augen (links) zu kurz aufblitzten, als dass sie von Menschen Der Emotionsforscher Lazarus (1991, 1998) gestand zu,
bewusst wahrgenommen werden könnten, zeigten fMRT-Schichtaufnah- dass unser Gehirn einen großen Teil der Informationsverar-
men, dass ihre überaus wachsame Amygdala darauf aufmerksam geworden beitung ohne unsere bewusste Wahrnehmung durchführt und
war (Whalen et al. 2004). Die Augen auf der rechten Seite hatten diesen
dass einige emotionale Reaktionen ohne bewusstes Denken ab-
Effekt nicht. (Courtesy of Paul J. Whalen, PhD, Dartmouth College;
www.whalenlab.info) laufen. Ein großer Teil unseres emotionalen Lebens läuft über
den automatischen und sehr schnellen unteren Weg ab. Aber
er merkte an, dass nicht einmal spontan empfundene Emo-
render Stimulus, der dem unteren Weg folgt, würde vom Auge tionen ohne irgendeine Art kognitiver Bewertung der Situation
13 oder Ohr (wieder über den Thalamus) direkt zur Amygdala zustande kommen. Denn wie würden wir sonst wissen, warum
geleitet werden (. Abb. 13.3b). Diese Abkürzung über die Amyg- wir reagieren? Die Bewertung kann zwar mühelos erfolgen,
dala am Kortex vorbei befähigt uns zu einer blitzschnellen, sozu- und wir müssen uns ihrer noch nicht einmal bewusst sein;
sagen geschmierten emotionalen Reaktion, bevor der Intellekt aber sie bleibt trotzdem eine Funktion des Geistes. Um zu wissen,
dazwischenkommt. Wie schnelle Reflexe, die getrennt vom ob ein Reiz gut oder schlecht ist, muss das Gehirn eine Vor-
Denken des Gehirns im Kortex erfolgen, sind die Reaktionen der stellung davon haben, wie er zustande gekommen ist (Storbeck
Amygdala so schnell, dass wir es gar nicht bewusst wahrnehmen et al. 2006). Folglich sagt Lazarus, dass Gefühle entstehen,
können (Dimberg et al. 2000). In einem spannenden Experiment wenn wir ein Ereignis als harmlos oder gefährlich bewerten,
verwendeten Forscher fMRT-Schichtaufnahmen, um die Reak- ob wir es nun tatsächlich wissen oder nicht. Wir bewerten das
tion der Amygdala auf subliminal dargebotene ängstliche Augen Geräusch der raschelnden Blätter so, dass eine bedrohliche
zu beobachten (. Abb. 13.4; Whalen et al. 2004). Obwohl sie Situation vorliegt. Später merken wir, dass es »nur der Wind«
niemand bewusst wahrgenommen hat, lösten die ängstlichen war.
Augen eine höhere Aktivität in der Amygdala aus. Eine Kontroll- Zusammenfassend lässt sich sagen, dass, wie von Zajonc und
bedingung, bei der das Weiß glücklicher Augen dargeboten LeDoux gezeigt, einige emotionale Reaktionen, vor allem ein-
wurde, löste diese Aktivität nicht aus. fache Sympathien, Abneigungen und Ängste, oft ohne kognitive
Von der Amygdala gehen mehr Nervenbahnen zum Kortex Beteiligung ablaufen (. Abb. 13.5). Wir können Angst vor einer
als umgekehrt. Deshalb haben unsere Gefühle mehr Gewalt Spinne haben, auch wenn wir »wissen«, dass sie harmlos ist.
über unsere Gedanken als unser Denken über unsere Gefühle Solche Reaktionen lassen sich auch durch veränderte Denkmus-
(LeDoux u. Armony 1999). Im Wald zucken wir beim Geräusch ter nur schwer verändern. Es kann passieren, dass wir eine Per-
von raschelnden Blättern zusammen und überlassen es dem son automatisch mehr mögen als eine andere. Diese sofortige
Kortex, später zu entscheiden, ob tatsächlich ein wildes Tier in Anziehungskraft kann sogar unsere politische Entscheidung be-
der Nähe war oder ob nur der Wind in den Büschen geraschelt einflussen, wenn wir denjenigen Kandidaten wählen, den wir
hat. Diese Erfahrung unterstützt Zajoncs Theorie, nach der einige mögen (wie es viele Menschen tun), anstatt uns für jenen zu ent-
unserer emotionalen Reaktionen nicht auf bewusstem Denken scheiden, der eine politische Position vertritt, die unserer eige-
aufbauen. nen näher ist (Westen 2007).
13.2 · Emotion und Körper
501 13

. Tab. 13.1 Zusammenfassung der Emotionstheorien

Theorie Erklärung der Emotionen Beispiel

James-Lange Wir sind uns unserer spezifischen körperlichen Reaktionen Wir bemerken, dass unser Herz rast, nachdem wir
auf emotionserzeugende Stimuli bewusst eine Bedrohung erlebt haben und fühlen uns dadurch
verängstigt

Cannon-Bard Körperliche Reaktion + gleichzeitige subjektive Erfahrung Unser Herz rast, wenn wir Angst erleben

Schachter-Singer Zwei Faktoren: allgemeine Erregung + eine bewusste Erregung könnte als Angst oder als Aufregung bezeichnet
kognitive Benennung werden, abhängig vom Kontext

Zajonc; LeDoux Spontan, vor der kognitiven Bewertung Wir reagieren automatisch auf einen Reiz im Wald, noch
bevor wir ihn bewerten

Lazarus Die Bewertung (»Ist es gefährlich oder nicht?«) definiert die Das Geräusch war »nur der Wind«
Emotion; manchmal auch ohne unser Bewusstsein

Aber wie Lazarus, Schachter und Singer vorhersagten, be- 13.2.1 Emotionen und das autonome
einflussen unsere Erinnerungen, Erwartungen und Interpreta- Nervensystem
tionen auch unsere Gefühle in Bezug auf Politik. Sehr emotionale
Menschen sind z. T. aufgrund ihrer Interpretationen so gefühls-
? 13.3 Was ist das Bindeglied zwischen emotionaler Erregung
betont. Sie personalisieren vielleicht Situationen, beziehen also
und dem autonomen Nervensystem? Wie beeinflusst diese
Geschehenes auf sich, und sie generalisieren ihre Erfahrungen,
Erregung die Leistung?
indem sie einzelne Ereignisse überbetonen (Larsen et al. 1987).
Wenn man also lernt, positiver zu denken, trägt das dazu bei, dass Wie wir in 7 Kap. 3 gesehen haben, bereitet der Sympathikus als
man sich besser fühlt. Obwohl der emotionale untere Weg auto- Teil unseres autonomen Nervensystems (ANS) Ihren Körper in
matisch funktioniert, erlaubt uns der gedankenbasierte obere einem kritischen Augenblick auf eine Aktivierung vor, indem er
Weg etwas Kontrolle über unser Gefühlsleben zurückzuge- den Nebennieren den Befehl gibt, die Stresshormone Adrenalin
winnen. Zusammenfassend kann man sagen, dass automa- (Epinephrin) und Noradrenalin (Norepinephrin) auszuschütten
tische Emotionen zusammen mit bewussten Gedanken unser (. Abb. 13.6). Um Energie zur Verfügung zu stellen, schüttet
Gefühlsleben bilden (. Tab. 13.1 fasst diese Emotionstheorien Ihre Leber zusätzlich Zucker ins Blut aus. Die Atmung nimmt
zusammen). zu, damit ausreichend Sauerstoff vorhanden ist, um den Zucker
zu verbrennen. Die Verdauung verlangsamt sich, da das Blut von
Prüfen Sie Ihr Wissen
den inneren Organen zu den Muskeln geleitet wird. In dem
5 Emotionsforscher sind sich uneinig darüber, ob emotio- Maße, in dem mehr Blutzucker in den großen Muskeln der Beine
nale Reaktionen in Abwesenheit von kognitiven ist, kann man leichter laufen. Die Pupillen weiten sich und lassen
Prozessen auftreten. Wie würden Sie die Ansätze der fol- mehr Licht ein. Um Ihren aufgeheizten Körper zu kühlen, schwit-
genden Forscher beschreiben: Zajonc, LeDoux, Lazarus, zen Sie. Wenn Sie verwundet würden, würde Ihr Blut schneller
Schachter und Singer? gerinnen.

» Den Füßen fügt die Furcht Flügel hinzu.


Vergil, Aeneis, 19 v. Chr.

13.2 Emotion und Körper Erregung beeinflusst unsere Leistung je nach Aufgabe unter-
schiedlich. Wenn man eine Prüfung schreibt, lohnt es sich, mäßig
Ob Sie sich verlieben oder um einen geliebten Menschen trauern, erregt zu sein – wachsam, aber nicht zitternd vor Ner vosität
Sie müssen nicht lange davon überzeugt werden, dass an diesen (. Abb. 13.7). Zu wenig Erregung (z. B. wenn man schläfrig ist)
Emotionen auch Ihr Körper beteiligt ist. Fühlen ohne einen kann allerdings störend sein und – wie wir in diesem Kapitel
Körper ist wie Atmen ohne Lungen. Einige körperliche Reaktio- später noch sehen werden – anhaltend hohe Erregung kann den
nen sind leicht zu erkennen. Andere erleben wir, ohne dass wir Körper belasten.
uns ihrer bewusst sind. Wenn der kritische Augenblick vorübergeht, reagiert der
parasympathische Teil Ihres ANS: Er fährt die Aktivität Ihres
Körpers wieder herunter, indem die Stresshormone langsam
Ihren Blutkreislauf verlassen. Denken Sie nach Ihrer nächsten
502 Kapitel 13 · Emotionen, Stress und Gesundheit

. Abb. 13.6 Emotionale Erregung. Wie ein Krisenkontrollzentrum regt das autonome Nervensystem den Körper in einer kritischen Situation an und
beruhigt ihn, wenn die Gefahr vorüber ist

kritischen Situation hieran: Ohne irgendeine bewusste Anstren- den Film und der im vierten einen ausgesprochen langweiligen
gung ist die Reaktion Ihres Körpers auf Gefahr wunderbar ko- Film. Vom Kontrollzentrum aus können Sie Schweißbildung,
13 ordiniert und anpassungsfähig – sie bereitet Sie darauf vor zu Atmung und Herzschlag jedes Teilnehmers beobachten. Könnten
kämpfen oder zu flüchten. Sie herausfinden, wer ängstlich, wer wütend, wer sexuell erregt
ist und wer sich langweilt?
Prüfen Sie Ihr Wissen
Wenn Sie eine Weile üben, können Sie wahrscheinlich den
5 Wie könnte das in . Abb. 13.7 dargestellte Phänomen gelangweilten Zuschauer herausfinden. Aber zwischen den phy-
Läufer beeinflussen?
5 Wie könnte dieses Phänomen ängstliche Studie-
rende beeinflussen, die eine schwierige Prüfung vor
sich haben?
5 Wie könnten sich Entspannungsübungen auf die Leistung
dieser ängstlichen Studierenden auswirken?

13.2.2 Die Physiologie der Emotionen

? 13.4 Rufen verschiedene Emotionen auch verschiedene


physiologische Reaktionen und Hirnaktivitätsmuster hervor?

Stellen Sie sich vor, Sie seien Versuchsleiter bei einem Experi-
ment, bei dem die physiologischen Reaktionen auf Emotionen
untersucht werden sollen. In vier Räumen sitzen Teilnehmer, die
sich einen Film ansehen: Der Versuchsteilnehmer im ersten
. Abb. 13.7 Erregung und Leistung. Die Leistung erreicht bei schwieri-
Raum sieht sich einen Horrorfilm an, der im zweiten einen, der gen Aufgaben ihren Höhepunkt, wenn die Erregung etwas niedriger ist, bei
wütend macht, der Teilnehmer im dritten einen sexuell erregen- leichten oder gut geübten Aufgaben dann, wenn die Erregung höher ist
13.2 · Emotion und Körper
503 13

» Niemand hat mir je gesagt, dass sich Trauer so sehr wie


Angst anfühlt. Ich habe keine Angst, aber das Gefühl ist so,
als hätte ich Angst. Die gleiche Unruhe im Bauch, die
gleiche Rastlosigkeit, das gleiche Gähnen. Und ich muss
ständig schlucken.
C. S. Lewis, Über die Trauer (2006)

Bei manchen Emotionen werden auch unterschiedliche Gehirn-


kreisläufe aktiviert (Panksepp 2007). Beobachter, die ängstliche
Gesichter betrachten (und sie in subtiler Weise nachahmen),
zeigen mehr Aktivität in der Amygdala als solche, die wütende
Gesichter betrachten (Whalen et al. 2001). Computertomogra-
fien des Gehirns sowie EEG-Aufzeichnungen zeigen, dass Emo-
tionen auch unterschiedliche Bereiche im Kortex aktivieren.
Wenn Sie negative Emotionen wie Ekel empfinden, zeigt sich
mehr Aktivität in Ihrem rechten präfrontalen Kortex als im
. Abb. 13.8 Emotionale Erregung. Die physiologische Erregung bei linken; das Gleiche gilt auch für Menschen, die anfällig für De-
Aufregung sieht sehr ähnlich aus wie die Erregung bei Panik. Deshalb können
pressionen sind, und diejenigen, die allgemein negativ eingestellt
wir zwischen diesen beiden Emotionen schnell hin- und herwechseln.
(© Getty Images / Photodisc)
sind (Harmon-Jones et al. 2002).
Positive Stimmungen lösen mehr Aktivität im linken Fron-
tallappen aus. Menschen mit positiver Persönlichkeitsstruktur
siologischen Reaktionen bei Angst, Wut und Sexualität zu unter- – nicht zu bändigende Kinder und aufmerksame, enthusiasti-
scheiden, ist sehr viel schwerer (Barrett 2006). Verschiedene sche, energiegeladene und beharrlich zielorientierte Erwachsene
Emotionen haben weder scharf abgrenzbare biologische Erken- – zeigen ebenfalls mehr Aktivität im linken als im rechten Fron-
nungszeichen noch beanspruchen sie deutlich unterscheidbare tallappen (Davidson 2000, 2003; Urry et al. 2004). Tatsächlich: Je
Gehirnregionen (. Abb. 13.8). stärker die Grundaktivität im Frontallappen eines Menschen auf
Man betrachte beispielsweise das breite emotionale Spek- die linke Seite konzentriert ist – oder durch perzeptuelle Aktivi-
trum der Insula, einem neuronalen Zentrum tief im Inneren des tät nach links verlagert wird – desto optimistischer ist er typi-
Gehirns. Die Insula ist aktiviert, wenn wir verschiedene soziale scherweise (Drake u. Myers 2006).
Emotionen – wie beispielsweise Lust, Stolz oder Ekel – empfin-
1966 tötete ein junger Mann namens Charles Whitman seine Frau
den. Während einer Computertomografie des Schädels »leuch-
und seine Mutter. Dann stieg er auf einen Turm an der University
tet« sie auf, wenn Menschen in irgendein widerliches Nahrungs-
of Texas und erschoss 38 Menschen. Bei der Autopsie kam Folgen-
mittel beißen, dieses Nahrungsmittel riechen oder daran denken,
des heraus: Ein Tumor hatte gegen seine Amygdala gedrückt, was
in eine widerliche Kakerlake zu beißen. Sie leuchtet aber auch
dazu beigetragen haben könnte, dass er so gewalttätig war.
dann auf, wenn sie moralische Abscheu über ein anrüchiges
Geschäft empfinden, bei dem z. B. eine arme Witwe ausgebeutet Zusammenfassend kann gesagt werden, dass wir Unterschiede
wird (Sapolsky 2010). zwischen verschiedenen Emotionen nicht so einfach an Herz-
Für Sie und mich fühlen sich sexuelle Erregung, Angst und rate, Atmung und Transpiration ablesen können. Der Gesichts-
Wut trotz allem unterschiedlich an, für andere sehen sie oft auch ausdruck und die Gehirnaktivität können allerdings zwischen
anders aus. Wir sind manchmal »starr vor Angst« oder »explo- den verschiedenen Emotionen variieren. Könnten wir uns also
dieren gleich vor Wut«. Die Forschung hat einige wirklich ein- beim Lügen wie Pinocchio durch irgendein Zeichen verraten?
deutige – wenn auch sehr feine – physiologische Indikatoren und Um mehr zu diesem Thema zu erfahren, lesen Sie 7 Kritisch
Unterschiede in den Gehirnaktivitätsmustern zwischen den ein- nachgefragt: Lügendetektoren.
zelnen Emotionen festgestellt. Manchmal unterscheiden sich
Prüfen Sie Ihr Wissen
beispielsweise die Temperatur der Finger und die Hormon-
ausschüttung, die mit Angst und Wut einhergehen (Ax 1953; 5 Wie beeinflussen die beiden Teile des autonomen
Levenson 1992). Und obwohl Angst und Freude den Herzschlag Nervensystems unsere emotionalen Reaktionen?
in gleichem Maße beschleunigen, stimulieren sie unterschied-
liche Gesichtsmuskeln. Bei Angst spannen sich die Muskeln der
Augenbrauen an. Bei Freude verziehen sich die Muskeln in den ? 13.5 Wie effektiv können Polygrafen Lügen anhand
Wangen und unter den Augen zu einem Lächeln (Witvliet u. körperlicher Zustände detektieren? (7 Kritisch nachgefragt:
Vrana 1995). Lügendetektoren)
504 Kapitel 13 · Emotionen, Stress und Gesundheit

Kritisch nachgefragt

Lügendetektoren

Kann ein Lügendetektor – ein Polygraf – Lügen Spion wurde je mit Hilfe eines Polygrafen et al. 2003), oder die die Sprache der Men-
aufdecken? Polygrafen decken nicht im wört- dingfest gemacht.« Es ist nicht so, dass man es schen, die die Wahrheit sagen, mit der von je-
lichen Sinne Lügen auf. Sie messen stattdessen nicht versucht hätte. Das FBI, die CIA und die nen vergleicht, die lügen (Letztere verwenden
verschiedene physiologische Reaktionen, die US-Ministerien für Verteidigung und Energie weniger Personalpronomina der ersten Person
normalerweise im Zusammenhang mit Emo- verwendeten Millionen von Dollars darauf, und mehr Wörter mit negativen Emotionen).
tionen auftreten, etwa eine Veränderung der Zehntausende von Angestellten zu testen. Forscher aus dem Bereich der »forensischen
Atmung, der Herz-Kreislauf-Aktivität und der Außerdem hat auch der Einsatz des Polygrafen Neurowissenschaften« beschäftigen sich un-
Transpiration. Während Sie diesen Test durch- in Europa weiter zugenommen (Meijer u. mittelbar mit der Stelle, wo die Täuschung
laufen, beobachtet ein Untersucher diese Verschuere 2010). In der Zwischenzeit kam sitzt: mit dem Gehirn. EEG-Aufzeichnungen
Reaktionen, die mit Antworten auf verschie- Aldrich Ames, ein russischer Spion innerhalb erbrachten eine Art von Gehirnwellen, die auf
dene Fragen einhergehen. Er könnte Sie der CIA, unerkannt davon. Ames »machte eine eine Vertrautheit mit dem Tatort hindeutet;
Folgendes fragen: »Haben Sie in den letzten ganze Reihe von Polygrafentests und bestand und fMRT-Schichtaufnahmen haben gezeigt,
20 Jahren jemals etwas mitgenommen, was sie alle«, merkte Park (1999) an. »Niemand dass in den Gehirnen von Lügnern Aktivität an
Ihnen nicht gehörte?« Diese Frage ist eine dachte daran, nach der Quelle für seinen plötz- Stellen im Gehirn auftritt, an denen sie in den
Kontrollfrage, die darauf abzielt, den Befragten lichen Reichtum zu suchen – schließlich hatte Gehirnen ehrlicher Menschen nicht stattfindet
etwas nervös zu machen. Wenn Sie schwindeln er die Lügendetektortests bestanden.« (Langleben et al. 2006, 2008; Lui u. Rosenfeld
und »Nein!« antworten (wie es viele Menschen Ein effektiverer Ansatz ist der Schuld-Wissens- 2009). Pinocchios verräterisches Signal fürs
tun), wird der Polygraf Erregung aufzeichnen. Test, der die physiologischen Reaktionen der Lügen war also vielleicht gar nicht seine lange
Diese Antwort etabliert eine Basislinie, die Person auf Details des Falls prüft, von denen Nase, sondern eher die verräterische Aktivität
einen wertvollen Vergleich zu Ihren Antworten nur die Polizei und der Schuldige wissen kön- an Stellen wie etwa seinem linken Frontal-
auf kritische Fragen (»Haben Sie jemals Ihren nen (Ben-Shakhar u. Elaad 2003). Wenn z. B. lappen oder dem vorderen Gyrus cinguli, die
vorigen Arbeitgeber bestohlen?«) möglich eine Kamera und Bargeld gestohlen wurden, dann aktiv werden, wenn das Gehirn sich
macht. Wenn Ihre Reaktionen auf kritische würde beispielsweise nur der Tatschuldige selbst daran hindert, die Wahrheit zu sagen
Fragen schwächer sind als die auf die Kontroll- stark auf den speziellen Markennamen dieser (. Abb. 13.10). Ein 10-Mio.-Dollar Projekt – das
fragen, schließt der Untersucher daraus, dass Handelsartikel reagieren. Wenn man genügend »Law and Neuroscience Project« – wird von
Sie die Wahrheit gesagt haben. dieser speziellen Sondierungsitems zur Verfü- dem Psychologen Michael Gazzaniga geleitet
Doch es gibt zwei Probleme dabei: Einerseits gung hat, wird nur in seltenen Fällen ein Un- und zielt darauf ab, die neue Technologie
ist die physiologische Erregung bei uns von schuldiger fälschlicherweise angeklagt werden. angemessen einzusetzen, um Terroristen zu
einer Emotion zur anderen recht ähnlich: Mehrere Forscherteams suchen nun nach neu- identifizieren, Kriminelle zu überführen
13 Angst, Unruhe und Schuld führen zu ähnlichen en Wegen, Lügner zu überführen. Der Psycho- und Unschuldige zu beschützen. 2010 hat ein
physiologischen Reaktionen. Andererseits loge Paul Ekman (2003) hat erforscht (und hält amerikanisches Bundesgericht erklärt, dass
reagieren viele unschuldige Menschen mit er- Trainingsseminare für Polizeibeamte), wie man eine Lügendetektion mittels fMRT noch nicht
höhter Spannung auf Anschuldigungen, die die flüchtigen Signale der Täuschung im Ge- ausgereift genug wäre, um im Gerichtssaal
die relevanten Fragen mit enthalten (. Abb. sichtsausdruck entdecken kann. Die Häufigkeit Anwendung zu finden (Miller 2010). Viele Neu-
13.9). Auch viele Opfer von Vergewaltigungen des Blinzelns nimmt beispielsweise während rowissenschaftler stimmen dem zu (Gazzaniga
»versagen« bei diesem Test, weil sie sehr emo- der kognitiv anspruchsvollen Tätigkeit des 2011; Wagner 2010). Andere argumentieren
tional reagieren, aber trotzdem die Wahrheit Lügens ab und steigt danach wieder an (Leal damit, dass die instinktiven Urteile von Ge-
sagen (Lykken 1991). u. Vrij 2008). Andere Forscher entwickeln schworenen und Richtern »schlechter sind als
In einem Bericht der U.S. National Academy Computer-Software, die Details des Gesichts- die Wissenschaft, die ausgeschlossen wird«
of Sciences aus dem Jahre 2002 heißt es: »Kein ausdrucks analysiert (Adelson 2004; Newman (Schauer 2010).

Polygraf (»polygraph«) – ein Gerät, das meist mit dem Ziel verwendet » Dein Angesicht, mein Than, ist wie ein Buch, wo wunderbare
wird, Lügen aufzudecken. Es misst die physiologischen Reaktionen, die mit Dinge geschrieben stehn.
Emotionen einhergehen (wie Änderungen in der Schweißproduktion,
Lady Macbeth zu ihrem Gatten in William Shakespeares
im Herzschlag und in der Atmung).
Macbeth

13.3 Emotion und Ausdruck


13.3.1 Emotionen bei anderen erkennen
Expressives Verhalten beinhaltet Emotionen. Delfine sehen fröh-
lich aus, weil sie scheinbar immer ein Lächeln im Gesicht tragen.
? 13.6 Wie kommunizieren wir nonverbal? Wie unterscheiden
Um die Emotionen von Menschen zu entschlüsseln, beobachten
sich die Geschlechter in dieser Fähigkeit?
wir die Reaktionen ihres Körpers, wir hören den Ton in ihrer
Stimme, und wir betrachten ihr Gesicht. Ist diese nonverbale Bei Menschen aus westlichen Ländern ruft ein starker Hände-
Sprache kulturspezifisch oder universell? Und beeinflusst unser druck sofort das Gefühl hervor, einer kontaktfreudigen, aus-
Ausdruck die Emotionen, die wir erleben? drucksstarken Persönlichkeit gegenüberzustehen (Chaplin et al.
13.3 · Emotion und Ausdruck
505 13

. Abb. 13.10 Beim Lügen leuchtet das Gehirn. Eine fMRT-Aufnahme


hat zwei Gehirnareale identifiziert, die besonders dann aktiv wurden,
wenn ein Proband log bezüglich einer Spielkarte, die er in der Hand hielt.
(© Lucy Reading)

. Abb. 13.9 Wie häufig lügen Lügendetektoren? In einer Studie werteten


Polygrafenexperten die Polygrafendaten von 100 Menschen aus, die des
Diebstahls verdächtigt waren (Kleinmuntz u. Szucko 1984; reprinted and
translated by permission from Macmillan Publishers Ltd: Nature, copyright
© 1984). Die Hälfte der Verdächtigen war schuldig und hatte dies gestan-
den, die Unschuld der anderen Hälfte konnte später nachgewiesen werden.
Wären die Polygrafenexperten die Richter gewesen, wäre mehr als ein
Drittel der Unschuldigen für schuldig erklärt worden und fast ein Viertel
der Schuldigen wäre für unschuldig erklärt worden

2000). Mit einem Blick, durch Abwenden oder Anstarren,


können wir Intimität, Unterordnung oder Dominanz vermitteln
(Kleinke 1986). Menschen, die sich lieben, schauen einander oft
– manchmal auch ziemlich oft – lange in die Augen (Rubin 1970). . Abb. 13.11 Eine stille Sprache der Gefühle. Traditionelle hinduistische
Würden intime Blicke solche Gefühle auch zwischen Fremden Tänzer benutzen ihren Körper und ihr Gesicht, um zehn verschiedene Gefühle
auslösen? Um das herauszufinden, baten Forscher einander un- zu vermitteln. (Hejmadi et al. 2000; © EPA / MADE NAGI / picture-alliance)

bekannte Männer und Frauen, 2 Minuten lang entweder auf die


Hand oder in die Augen des Gegenübers zu starren. Nachdem ein einzelnes fröhliches (Hansen u. Hansen 1988; Pinkham et al.
die Paare getrennt worden waren, berichteten die, die sich in die 2010). Wenn man Emotionen in verschiedenen Sprachen hört,
Augen geschaut hatten, sie hätten sich vom anderen angezogen hört man Wut am leichtesten heraus (Scherer et al. 2001).
gefühlt (Kellerman et al. 1989). Die Erfahrung kann uns dafür sensibilisieren, bestimmte
Die meisten von uns können nonverbale Hinweise gut ent- Emotionen zu erkennen. Dies konnte in einigen Experimenten
schlüsseln (. Abb. 13.11). Menschen, denen ein 10 Sekunden gezeigt werden, die eine Reihe von Gesichtsausdrücken (. Abb.
langes Video vom Ende einer Speed-Dating-Begegnung gezeigt 13.12) benutzt haben, die sich von Angst zu Wut (oder Traurig-
wird, können oft erkennen, ob sich die eine Person zu der ande- keit) verwandeln. Wenn körperlich misshandelte Kinder solche
ren hingezogen fühlt (Place et al. 2009). Besonders gut können Gesichter betrachten, können sie die Anzeichen von Wut viel
wir nonverbale Bedrohungen erkennen. Wenn wir uns sub- schneller erkennen als andere Kinder. Zeigt man ihnen ein Ge-
liminal aufblitzende Wörter ansehen, nehmen wir häufiger wahr, sicht, das zu 60% Angst und zu 40% Wut zeigt, nehmen sie zu
dass da ein negatives Wort (wie etwa Schlange oder Bombe) gleicher Wahrscheinlichkeit Wut oder Angst wahr. Ihre Wahr-
gezeigt wurde (Dijksterhuis u. Aarts 2003). Aus einer Menge nehmung reagiert empfindlich auf Anzeichen von Gefahr, die
von Gesichtern sticht ein einzelnes wütendes schneller hervor als nicht misshandelte Kinder übersehen.
506 Kapitel 13 · Emotionen, Stress und Gesundheit

. Abb. 13.12 Die Erfahrung kann beeinflussen wie wir Emotionen wahrnehmen. Beim Betrachten des mittleren Gesichts, bei dem Angst mit Wut
vermischt wurde, ist es wahrscheinlicher, dass körperlich missbrauchte Kinder (im Vergleich zu nicht missbrauchten Kindern) das Gesicht als wütend wahr-
nehmen (Pollak u. Kistler 2002, copyright 2002 National Academy of Sciences, U.S.A.; Pollak u. Tolley-Schell 2003)

Einige Gesichtsmuskeln, die schwer zu steuern sind, bringen würdigkeit abzuschätzen, wenn sie für nur ein Zehntel einer
Emotionen zum Vorschein, die Sie vielleicht verbergen wollen. Sekunde den Blick auf ein Gesicht richten konnten. Außerdem
Heben Sie nur den inneren Teil Ihrer Augenbrauen etwas an, war es ihnen möglich, die Kompetenz von Politikern einzu-
was kaum ein Mensch bewusst macht, und Sie zeigen Sorge oder schätzen und deren Unterstützung durch die Wähler vorher-
Traurigkeit. Hochgezogene und zusammengezogene Augen- zusagen (Willis u. Todorov 2006). »Der erste Eindruck … ent-
brauen signalisieren Angst. Spannt man die Muskeln unterhalb steht mit erstaunlicher Geschwindigkeit«, merkten Christopher
des Auges an und hebt die Mundwinkel, dann ergibt sich daraus Olivola und Alexander Todorov an (2010).
ein natürliches Lächeln. Ein vorgetäuschtes Lächeln, wie wir es Obwohl unser Gehirn die Fähigkeit hat, Emotionen zu er-
z. B. beim Fotografen machen, muss oft länger als 4 oder 5 Se- kennen, finden wir es schwierig herauszufinden, ob ein Gesichts-
kunden aufrechterhalten werden. Die meisten authentischen ausdruck nur vorgetäuscht wird (Porter u. ten Brinke 2008). In
Gesichtsausdrücke sind in dieser Zeitspanne schon wieder ver- einer Zusammenfassung von 206 Studien zur Unterscheidung
schwunden. Ein vorgetäuschtes Lächeln wird auch schneller zwischen Lüge und Wahrheit lagen die Befragten in nur 54% der
»eingeschaltet« und verschwindet plötzlicher als ein echtes freu- Fälle richtig – kaum besser, als wenn sie eine Münze geworfen
diges Lächeln (Bugental 1986; . Abb. 13.13). hätten (Bond u. DePaulo 2006). Entgegen der landläufigen Be-
Unser Gehirn ist erstaunlich gut in der Lage, auf subtile hauptung, dass manche Experten Lügen besser erkennen können,
Weise Emotionen zu erkennen. Wie gut es diese Aufgabe erfüllt, hat die Forschung zudem gezeigt, dass so gut wie niemand –
war klar, als Forscher ein Video von Lehrern aufzeichneten, die außer vielleicht Polizisten, die auf entsprechende Situationen
13 zu Kindern sprachen, die auf dem Band nicht zu sehen waren spezialisiert sind – die Ratewahrscheinlichkeit bemerkenswert
(Babad et al. 1991). Nur 10 Sekunden Film mit der Stimme oder überschreiten kann (Bond u. DePaulo 2008; O’Sullivan et al.
dem Gesicht des Lehrers lieferten jungen und älteren Beob- 2009). Die Verhaltensunterschiede zwischen Lügnern und denen,
achtern genügend Hinweise, um zu beurteilen, ob der Lehrer ein die die Wahrheit sagen, sind für die meisten Menschen zu winzig,
Kind mochte oder sogar bewunderte. In anderen Experimenten um sie zu entdecken (Hartwig u. Bond 2011).
konnte gezeigt werden, dass Menschen schon dann in der Lage Manche Menschen reagieren jedoch sensibler auf non-
waren, die Attraktivität von Personen oder deren Vertrauens- verbale Hinweisreize als andere. In einer Studie sollten Hunderte
von Versuchsteilnehmern die Emotionen benennen, die sie in
einem kurzen Filmausschnitt gesehen hatten. Die Ausschnitte
zeigten Teile des Gesichts oder des Körpers von Personen, die
gerade Emotionen zum Ausdruck brachten, zum Teil mit ver-
zerrter Stimme (Rosenthal et al. 1979). Beispielsweise wurde
den Versuchsteilnehmern eine 2-Sekunden-Szene gezeigt, in der
nur das Gesicht einer aufgebrachten Frau zu sehen war, und die
Forscher fragten nachher, ob die Frau jemanden kritisierte,
weil er zu spät gekommen war, oder ob sie über ihre Scheidung
redete. Manche Menschen können Emotionen besser als andere
erkennen, wenn man ihnen diese »kleinen Ausschnitte« vor-
spielt. Introvertierte Menschen scheinen begabter darin zu sein,
die Emotionen anderer zu lesen, wobei sich die Emotionen von
Extravertierten besser ablesen lassen (Ambady et al. 1995).
Durch Gesten, Gesichtsausdrücke und die Stimmfarbe wer-
. Abb. 13.13a,b Welches Lächeln von Forscher Paul Ekman ist vorge-
den wichtige Informationen vermittelt, die in geschriebener
täuscht, welches echt? Beim rechten Lächeln sind auch die Gesichtsmus-
keln beteiligt, die ein natürliches Lächeln ausmachen. (© Dr. Paul Ekman, Kommunikation fehlen (. Abb. 13.14). Wer 30 Sekunden lang
University of California, San Francisco) zuhört, wie andere Menschen ihre Scheidung beschreiben, kann
13.3 · Emotion und Ausdruck
507 13

. Abb. 13.15a,b Männlich oder weiblich? Forscher haben ein geschlechts-


. Abb. 13.14 Offensichtliche Emotionen. Comic-Autoren benutzen neutrales Gesicht manipuliert. Es war wahrscheinlicher, dass die Menschen
Gesichtsausdrücke und andere Designelemente, um Emotionen auszudrü- es als männlich einstuften, wenn es einen wütenden Gesichtsausdruck trug,
cken. Sie reduzieren dadurch die Notwendigkeit, mit Worten zu erklären, und wahrscheinlicher, dass sie es als weiblich ansahen, wenn es lächelte.
wie sich die Charaktere fühlen. (© Claudia Styrsky) (© APA / Vaughn Becker)

besser einschätzen, welche Veränderungen sie momentan und selbst ausprobieren: Fragen Sie ein paar Menschen, wie sie sich
in der Zukunft erleben werden, als derjenige, der bloß eine Ab- fühlen würden, wenn sie sich nach dem Abschlussexamen von
schrift der Aufnahme liest (Mason et al. 2010). Elektronische ihren Studienfreunden verabschieden müssten. Nach Barretts
Kommunikationsmittel übermitteln nonverbale Zeichen nur in Ergebnissen ist es wahrscheinlich, dass Männer einfach sagen
einer reduzierten Art und Weise. Um das wenigstens teilweise würden: »Ich würde mich schlecht fühlen«, während Frauen
auszugleichen, reichern wir unsere Textnachrichten, E-Mails komplexere Emotionen ausdrücken würden: »Ich wäre ge-
und Online-Beiträge mit Akronymen an, die Gemütslagen aus- spalten; einerseits würde ich mich freuen, andererseits wäre ich
drücken sollen (z. B.: LOL [»Laughing Out Loud«] für »lautes traurig.«
Auflachen«). Das Fehlen von ausdrucksstarken (Gemüts-)Bewe- Die Fähigkeit von Frauen beim Entschlüsseln von Emotionen
gungen kann zu unklaren Interpretationen führen. Ohne die könnte auch dazu beitragen, dass sie häufig emotionaler reagie-
Stimmfärbung, die signalisiert, ob eine Aussage ernst, witzig oder ren (Vigil 2009). Studien mit insgesamt 23.000 Versuchsteilneh-
sarkastisch gemeint ist, sind wir gefährdet, unseren eigenen Ego- mern aus 26 Kulturen auf der ganzen Welt ergaben, dass Frauen
zentrismus zu übermitteln, wenn unser Gegenüber unsere im häufiger als Männer berichteten, Gefühle zuzulassen (Costa et al.
Spaß gemeinte Nachricht missinterpretiert (Kruger et al. 2005). 2001). Das erklärt die weithin vertretene Einschätzung, dass
Emotionalität »eher ein weiblicher Charakterzug ist« – eine Mei-
nung, die in den USA von fast 100% der 18- bis 29-Jährigen ver-
13.3.2 Geschlecht, Emotion treten wird (Newport 2001). Die Wahrnehmung, dass Frauen
und nonverbales Verhalten emotionaler sind, wird – und wurde – allerdings dadurch noch
weiter intensiviert, dass Menschen sich die Emotionalität einer
Ist die weibliche Intuition, wie manche meinen, der männlichen Frau durch ihre entsprechende Veranlagung erklären, die eines
überlegen? In ihrem Überblick über 125 Studien zur Sensibilität Mannes hingegen durch situationelle Umstände: »Sie ist sehr
gegenüber nonverbalen Hinweisen stellte Judith Hall (1984, 1987) gefühlsbetont. Er hatte einen schlechten Tag« (Barrett u. Bliss-
fest, dass Frauen i. Allg. Männer darin übertreffen, nonverbale Moreau 2009).
Hinweisreize bei anderen Menschen zu entschlüsseln, auch wenn Eine Ausnahme gibt es jedoch: Wut scheint den meisten
ihnen nur kleine Ausschnitte eines Verhaltens präsentiert werden. Menschen eine eher maskuline Emotion zu sein. Schnell: Stellen
Und Frauen sind auch besser darin zu beurteilen, ob es sich bei Sie sich ein wütendes Gesicht vor. Welches Geschlecht hat diese
einem Paar um ein echtes Liebespaar handelt oder ob es nur Person? Wenn Sie wie drei von vier Studierenden der Arizona
schauspielert, und nach einem Foto mit zwei Menschen zu ent- State University denken, so haben Sie sich eine männliche Person
scheiden, wer wessen Vorgesetzter ist (Barnes u. Sternberg 1989). vorgestellt (Becker et al. 2007). Die Forscher haben ebenfalls he-
Die weibliche Sensibilität gegenüber nonverbalen Reizen er- rausgefunden, dass die meisten Menschen ein geschlechts-
klärt mitunter die größere emotionale Intelligenz von Frauen. Lisa neutrales Gesicht, das so gestaltet wurde, dass es wütend schaut,
Feldman Barrett und ihre Kollegen (2000) baten Männer, ihre als männlich wahrnehmen. Wenn das Gesicht hingegen lächelte,
Gefühle in bestimmten Situationen zu beschreiben. Die Männer war es wahrscheinlicher, dass sie es als weiblich einschätzten
beschrieben einfachere emotionale Reaktionen. Sie können das (. Abb. 13.15).
508 Kapitel 13 · Emotionen, Stress und Gesundheit

. Abb. 13.17 Anmerkung des Übersetzers: 1. Wir kommen in Frieden.


2. Bei der Kommunikation mit Menschen nicht vergessen: lächeln … immer
lächeln! (© Claudia Styrsky)

. Abb. 13.16 Geschlecht und Gefühlsausdruck. Obwohl weibliche und Prüfen Sie Ihr Wissen
männliche Studenten ihre emotionalen Reaktionen auf Filme ähnlich be-
schrieben und auch die Messung ihrer physiologischen Reaktionen darauf 5 (Männer/Frauen) berichten, dass sie
keine wesentlichen Unterschiede zeigte, war in den Gesichtern der Frauen Emotionen tiefer erleben. Außerdem neigen sie dazu,
mehr Gefühl zu erkennen. (Mit freundlicher Genehmigung der American
talentierter darin zu sein, nonverbales Verhalten zu lesen.
Psychological Association)

Weit häufiger als Männer beschreiben sich Frauen zudem 13.3.3 Emotionsausdruck im kulturellen Kontext
bei einer Befragung als empathisch. Wer empathisch ist, identi-
13 fiziert sich mit anderen und stellt sich vor, wie es sein muss,
? 13.7 Werden nonverbale Emotionsausdrücke universell
in der Haut einer anderen Person zu stecken. Man freut sich
verstanden?
mit denen, die sich freuen, und weint mit denen, die weinen.
Kinder und Erwachsene, die sich gekonnt die Gedanken und Die Bedeutung von Gesten variiert je nach Kultur. Der ehemalige
Gefühle von anderen erschließen können, tendieren dazu, amerikanische Präsident Richard Nixon lernte das, als er durch
mehr Spaß an positiven sozialen Beziehungen zu haben (Gleason Brasilien reiste; er machte das Zeichen, das in Nordamerika und
et al. 2009). Europa »OK« bedeutet und war sich nicht bewusst, dass das für
Erfasst man die physiologischen Komponenten von Empa- Brasilianer eine geschmacklose Beleidigung ist. Wie wichtig
thie, wie z. B. den Herzschlag von Versuchsteilnehmern, die an- die kulturspezifischen Definitionen von Gesten sein können,
dere traurige Menschen beobachten, zeigen sich Geschlechts- zeigte sich auch 1968, als die nordkoreanische Regierung ein
unterschiede, die allerdings viel kleiner sind als Befragungen mit Foto mit angeblich glücklichen Gefangenen von einem Spio-
Selbstbericht andeuten (Eisenberg u. Lennon 1983; Rueckert nageschiff der U.S. Navy veröffentlichte. Darauf waren drei der
et al. 2010). Dennoch zeigen Frauen häufiger ihre Empathie – Männer mit erhobenem Mittelfinger zu sehen; sie hatten den
indem sie weinen oder Trauer ausdrücken, wenn sie Traurigkeit Nordkoreanern, die sie gefangen genommen hatten, erzählt, dies
sehen. Wie in . Abb. 13.16 zu sehen ist, zeigt sich dieser Ge- sei »auf Hawaii das Zeichen für ›Viel Glück‹« (Fleming u. Scott
schlechterunterschied in Videoaufnahmen von männlichen und 1991; . Abb. 13.17).
weiblichen Studierenden, die traurige (Kinder bei einem ster- Hat auch die Mimik in verschiedenen Kulturen unter-
benden Elternteil), fröhliche (Slapstickkomödie) oder furchter- schiedliche Bedeutungen? Um das herauszufinden, zeigten zwei
regende Filmausschnitte (ein Mann, der fast vom Fenstersims Forschergruppen Menschen in verschiedenen Teilen der Erde
eines hohen Gebäudes fällt) ansahen (Kring u. Gordon 1998). Fotos mit diversen mimisch dargestellten Emotionen und baten
Frauen erleben gewöhnlich auch emotionale Ereignisse (z. B. das die Betrachter, die darauf gezeigten Emotionen zu erraten (Ekman
Betrachten von Bildern einer Verstümmelung) tiefer – mit einer et al. 1975, 1987, 1994; Izard 1977, 1994). Sie können diese Auf-
stärkeren Aktivierung des Gehirns in Arealen, die sensibel für gabe selbst ausprobieren, indem sie die sechs Emotionen in
Emotionen sind – und erinnern sich dann 3Wochen später bes- . Abb. 13.18 den sechs Gesichtern zuordnen. (Die Antwort steht
ser an die Szenen (Canli et al. 2002). im Text vor der nächsten Zwischenüberschrift.)
13.3 · Emotion und Ausdruck
509 13

. Abb. 13.18a–f Kulturspezifischer oder interkultureller Gesichtsausdruck? Die Sprachen der verschiedenen Kulturen unterscheiden sich. Unterscheidet
sich auch die Sprache unserer Gesichter? Welches Gesicht drückt Ekel aus? Wut? Angst? Glück? Traurigkeit? Überraschung? (Aus Matsumoto u. Ekman 1989,
mit freundlicher Genehmigung von Humintell, LLC) (Antwort: s. Ende des Textabschnitts)

Wahrscheinlich haben Sie ganz gut abgeschnitten, ganz ausgesetzt sind, nämlich dem von Filmen und TV-Sendern,
gleich, welchen kulturellen Hintergrund Sie haben. Ein Lächeln die auf der ganzen Welt gesehen werden? Auf keinen Fall. Paul
ist auf der ganzen Welt ein Lächeln. Dasselbe gilt für Wut, und in Ekman und seine Gruppe baten Menschen aus Neuguinea, die
etwas geringerem Maß auch für andere grundlegende Emo- bis dahin keinen Kontakt zur amerikanischen Zivilisation ge-
tionen (Elfenbein u. Ambady 1999). (Wir kennen keine Kultur, habt hatten, verschiedene Emotionen als Reaktion auf Sätze wie
in der Menschen die Stirn runzeln, wenn sie glücklich sind.) »Stellen Sie sich vor, Ihr Kind wäre gestorben« vorzuspielen. Als
Gesichtsausdrücke enthalten einige nonverbale Akzentuie- nordamerikanische Studierende die Videofilme mit den gefilmten
rungen, aus denen sich Hinweise auf die jeweilige Kultur ergeben Reaktionen ansahen, konnten diese die dargestellten Emotionen
(Marsh et al. 2003). Es überrascht deshalb nicht, dass die Be- der Neuguineer leicht erkennen.
funde aus 182 Studien eine leicht erhöhte Trefferquote aufweisen, Wir können also festhalten, dass die Gesichtsmuskeln eine
wenn Menschen Emotionen aus der eigenen Kultur beurteilen fast universelle Sprache sprechen. Diese Entdeckung wäre für
(Elfenbein u. Ambady 2002, 2003a,b). Dennoch sind die ver- den Pionier der Emotionsforschung Charles Darwin (1809–
räterischen Anzeichen für Emotionen i. Allg. interkulturell. 1882) keine Überraschung gewesen. Er nahm an, dass in prä-
Überall auf der Welt weinen Kinder, wenn sie Kummer haben, historischen Zeiten, bevor unsere Vorfahren mit Worten kom-
schütteln den Kopf, wenn sie trotzig sind und lächeln, wenn sie munizierten, Bedrohungen, Grüße und Unterordnung mit
sich freuen. So ist es auch bei blinden Kindern, die niemals ein Mimik übermittelt wurden. Diese universellen Gesten trugen zu
Gesicht gesehen haben (Eibl-Eibesfeldt 1971). Menschen, die ihrem Überleben bei (Hess u. Thibault 2009). Ein höhnisches
von Geburt an blind sind, zeigen spontan die »normale« Mimik, Lächeln enthält beispielsweise bestimmte Elemente des Zähne-
die mit Emotionen wie Freude, Trauer, Angst und Wut verbun- bleckens von Hunden beim Knurren. Unser emotionaler Aus-
den ist (Galati et al. 1997). druck könnte das Überleben auch noch auf eine andere Art
sichern. Sind wir überrascht, heben wir die Augenbrauen, und
» Willst du wissen, was das Herz denkt, dann frag das Gesicht.
die Augen werden größer, so dass wir mehr Informationen auf-
Sprichwort aus Guinea
nehmen können. Bei Ekel rümpfen wir die Nase und schließen
Auch der musikalische Ausdruck ist in allen Kulturen gleich. sie damit vor giftigen Dämpfen.
Fröhliche oder traurige Musik fühlt sich auf der ganzen Welt
fröhlich oder traurig an. Ob man in einem afrikanischen Dorf In der Schwerelosigkeit bewegen sich die Körperflüssigkeiten
oder einer europäischen Stadt lebt, schnelle Musik scheint fröh- von Astronauten in die höheren Körperregionen, und ihr Gesicht
lich, langsame Musik scheint traurig (Fritz et al. 2009). schwillt an. Dies erschwert die nonverbale Kommunikation, und
Haben Menschen aus verschiedenen Kulturen deswegen ähn- damit wird das Risiko für Missverständnisse größer, besonders
liche Gesichtsausdrücke, weil sie demselben kulturellen Einfluss bei Mannschaften aus verschiedenen Ländern (Gelman 1989).
510 Kapitel 13 · Emotionen, Stress und Gesundheit

. Abb. 13.19a,b Wir lesen Gesichter im Kontext. Ob wir den Mann in der oberen Reihe als angeekelt oder wütend wahrnehmen, hängt davon ab, auf
welchem Körper sein Kopf erscheint (Aviezer et al. 2008, copyright © 2008 by SAGE Publications. Reprinted by Permission of SAGE Publications). In der
zweiten Reihe wird deutlich, dass Tränen einen Gesichtsausdruck trauriger aussehen lassen (vgl. Provine et al. 2009; mit freundlicher Genehmigung von
Erin Ouslander, University of Michigan, Baltimore County)

Lächeln ist nicht nur ein emotionaler Reflex, sondern auch ein drücken. In individualistischen Kulturen wie Westeuropa, Aus-
soziales Phänomen. Bowlingspieler lachen nicht, wenn sie alle tralien, Neuseeland und Nordamerika werden Gefühle häufig
13 Zehne werfen – sie lachen, wenn sie ihr Gesicht ihren Mitspie- intensiv zur Schau gestellt (van Hemert et al. 2007).
lern zuwenden (Jones et al. 1991; Kraut u. Johnston 1979). Sogar Im Gegensatz dazu werden in kollektivistischen Kulturen wie
euphorische Gewinner von olympischen Goldmedaillen lächeln China Gefühle weniger nach außen getragen (Matsumoto et al.
normalerweise nicht, während sie auf die Siegerehrung warten, 2009b; Tsai et al. 2007). Japaner verstecken ihre Gefühle, wenn an-
wohl aber, wenn ihnen gratuliert wird oder wenn sie einer Kamera dere Menschen dabei sind. Darüber hinaus vermittelt der Mund,
oder dem Publikum gegenüberstehen (Fernández-Dols u. Ruiz- der bei Nordamerikanern so ausdrucksstark ist, weniger Emotionen
Belda 1995). Deshalb ist ein Blick auf den spontanen Gesichts- als die verräterischen Augen (Masuda et al. 2008; Yuki et al. 2007).
ausdruck der Konkurrenten nach einem olympischen Wettkampf Kulturelle Unterschiede gibt es auch innerhalb eines Landes.
im Judo ein guter Hinweis darauf, wer gewonnen hat – egal aus Die Iren und irisch-stämmigen Amerikaner kommunizieren ge-
welchem Land sie kommen (Matsumoto et al. 2006, 2009a). Sogar wöhnlich ausdrucksvoller als die Skandinavier und skandina-
von Geburt an blinde Athleten, die noch nie ein Lächeln gesehen visch-stämmigen Amerikaner (Tsai u. Chentsova-Dutton 2003).
haben, zeigen dasselbe soziale Lächeln in solchen Situationen Das erinnert uns an eine gewohnte Regel: Wie die meisten psy-
(Matsumoto u. Willingham 2009). chischen Ereignisse kann man die Emotion am besten verstehen,
Obwohl wir eine universelle Mimik teilen, scheint es nützlich wenn man sie nicht nur als ein biologisches und kognitives Phä-
für uns zu sein, die Mimik eines Menschen in einem bestimmten nomen begreift, sondern auch als ein soziokulturelles.
Kontext zu interpretieren (. Abb. 13.19). Menschen beurteilen
Prüfen Sie Ihr Wissen
ein finsteres Gesicht in einem beängstigenden Kontext als ängst-
lich. Ebenso interpretieren sie ein ängstliches Gesicht in einer 5 Menschen aus verschiedenen Kulturen unterscheiden
schmerzhaften Situation als schmerzverzerrt (Carroll u. Russell sich am häufigsten in ihrer Interpretationsweise von
1996). Filmregisseure machen sich dieses Phänomen zunutze, (Gesichtsausdrücken/Gesten).
wenn sie Kontexte und Soundtracks so inszenieren, dass die
Wahrnehmung bestimmter Emotionen verstärkt wird.
Obwohl alle Kulturen eine gemeinsame Ausdruckssprache Und hier die Lösung zu . Abb. 13.18: Von links nach rechts und
für grundlegende Emotionen teilen, unterscheiden sie sich doch oben nach unten: Glück, Überraschung, Angst, Traurigkeit, Wut,
deutlich darin, wie stark die Menschen ihre Emotionen aus- Ekel.
13.3 · Emotion und Ausdruck
511 13
13.3.4 Mimischer Ausdruck noch mehr, wenn Sie auf etwas Angenehmes oder Lustiges re-
agieren (Soussignan 2001). Wenn Sie warmherzig nach außen
lächeln, fühlen Sie sich innen besser. Wenn Sie lächeln, können
? 13.8 Beeinflusst unser Gesichtsausdruck unsere Gefühle?
Sie sogar Sätze, die schöne Ereignisse beschreiben, schneller
Als William James (1890) mit Gefühlen der Depression und verstehen (Havas et al. 2007). Wenn Sie knurren, knurrt die Welt
Trauer kämpfte, kam er zu der Auffassung, wir könnten Emo- zurück.
tionen dadurch steuern, dass wir »die äußeren Bewegungen«
Rückkopplungseffekt des Gesichtsausdrucks (»facial feedback effect«) –
jeder Emotion durchlaufen, die wir erleben wollen. »Um sich die Tendenz unserer Gesichtsmuskeln, Gefühle (wie Angst, Wut oder Glück)
vergnügt zu fühlen«, so riet er, »setzen Sie sich vergnügt hin, auszulösen, die ihrem Anspannungsmuster entsprechen.
sehen Sie vergnügt in die Gegend, und handeln Sie so, als wäre
die Vergnügtheit bereits da«.
Prüfen Sie Ihr Wissen
» Jedes Mal, wenn ich Angst habe, halte ich meinen Kopf auf-
recht und pfeife eine fröhliche Melodie. 5 Gehen Sie vor, wie in . Abb. 13.20 beschrieben.
Richard Rodgers und Oscar Hammerstein, The King and I, 1958 (1) Wie würden sich die Studierenden mit Bezug auf
den Rückkopplungseffekt des Gesichtsausdrucks fühlen,
Aktuelle Befunde zu den emotionalen Auswirkungen von Ge- wenn die Gummibänder ihre Wangen wie zu einem
sichtsausdrücken bestätigen genau das, was James vorhergesagt Lächeln anheben? (2) Wie würden die Studierenden ihr
haben könnte. Über die Mimik werden Emotionen nicht nur Gefühl beschreiben, wenn die Gummibänder ihre
kommuniziert, sondern auch verstärkt und reguliert. In seinem Wangen nach unten ziehen?
Buch The Expression of the Emotions in Man and Animals (dtsch.:
Der Ausdruck der Gemüthsbewegungen bei dem Menschen und
den Thieren) stellte Charles Darwin (1872) fest, dass »der freie Das Gesicht ist also mehr als eine Litfaßsäule, die unsere Ge-
Ausdruck von Emotionen in äußeren Anzeichen die Emotion fühle anzeigt; es facht auch unsere Gefühle an. Kein Wunder, dass
verstärkt. ... Wer seinen gewalttätigen Gesten freien Lauf lässt, Depressions-Patienten berichten, sich nach einer Botox-In-
wird seine Wut verstärken«. jektion, die die Muskeln zum Stirnrunzeln lähmt, besser zu
Lag Darwin richtig? Sie können diese Hypothese testen: fühlen (Finzi u. Wasserman 2006). Zwei Monate nach dieser Be-
Grinsen Sie mal breit. Nun schauen Sie mürrisch. Können Sie handlung waren 9 von 10 »nicht stirnrunzelnden« Patienten
den Unterschied zum Lachen einen Moment vorher spüren? Die nicht mehr depressiv. Folgeuntersuchungen haben ergeben, dass
Teilnehmer an Dutzenden von Experimenten haben den Unter- Menschen, deren Stirnrunzelmuskeln durch Botox gelähmt wor-
schied gespürt. Zum Beispiel induzierten Laird et al. (1974, 1984, den sind, Sätze über Traurigkeit oder Wut langsamer lesen als
1989) subtil einen mürrischen Gesichtsausdruck bei Studieren- zuvor und dass die Aktivität in emotionsassoziierten Hirnkreis-
den, indem sie sie baten, »diese Muskeln anzuspannen« und »die läufen verlangsamt wird (Havas et al. 2010; Hennenlotter et al.
Augenbrauen zusammenzuziehen« (vorgeblich, um den Wissen- 2008). Auf diese Weise glättet Botox also auch die Falten des
schaftlern zu ermöglichen, Elektroden im Gesicht anzubringen). Gefühlslebens.
Das Ergebnis? Die Studierenden berichteten, etwas ärgerlich zu Andere Forscher haben ein ähnliches Phänomen einer Ver-
sein. Das gleiche zeigte sich für andere Grundemotionen. Wenn haltensrückkopplung beobachtet (Snodgrass et al. 1986). Sie kön-
sie z. B. einen furchtsamen Gesichtsausdruck zeigen sollten, be- nen die Erfahrungen ihrer Versuchsteilnehmer nachvollziehen:
richteten sie eher, Angst zu empfinden als Wut, Traurigkeit oder Gehen Sie ein paar Minuten mit kurzen, schlurfenden Schritten
Ekel: »Ziehen Sie die Augenbrauen hoch, und öffnen Sie die und mit gesenktem Blick. Dann gehen Sie mit großen Schritten
Augen weit. Werfen Sie den Kopf nach hinten, und bewegen Sie und schwingenden Armen und richten Ihren Blick gerade-
Ihr Kinn in Richtung Brust. Entspannen Sie den Mund und las- aus. Können Sie fühlen, wie sich Ihre Stimmung verändert?
sen Sie ihn etwas offen stehen« (Duclos et al. 1989). Wenn man die Bewegungen durchläuft, werden die Emotionen
Dieser Rückkopplungseffekt des Gesichtsausdrucks wur- geweckt.
de viele Male repliziert, an vielen Orten und für viele Grund-
Eine Bitte des Autors: Lächeln Sie oft, während Sie dieses Buch
emotionen (. Abb. 13.20). Schon das Anspannen der Muskeln,
lesen.
die man zum Lächeln braucht, durch das Halten eines Stifts
zwischen den Zähnen (nicht zwischen den Lippen, denn da- Ein ähnlicher Befund zeigte, dass Menschen mehrdeutiges Ver-
durch werden »grimmige« Muskeln aktiviert) reicht aus, um halten unterschiedlich erleben, je nachdem welchen Finger sie
Cartoons witziger erscheinen zu lassen (Strack et al. 1988). nach oben und unten bewegen, während sie eine Geschichte
Ein herzlicheres Lächeln – das nicht nur mit dem Mund erzeugt lesen. (Ihnen wurde gesagt, dass untersucht werden sollte,
wird, sondern mit angehobenen Wangen, sodass es zu Falten welchen Effekt es hat, wenn man die Fingermuskeln benutzt, die
um die Augen kommt – verstärkt die positiven Gefühle sogar im Motorkortex in der Nähe der Lesemuskeln liegen.) Wenn die
512 Kapitel 13 · Emotionen, Stress und Gesundheit

. Abb. 13.20 Wie bringt man jemanden dazu zu lachen, ohne es ihm ausdrücklich aufzutragen? Machen Sie es, wie Kazuo Mori und Hideko Mori (2009)
es mit Studierenden in Japan gemacht haben: Befestigen Sie Gummibänder mit Klebestreifen an beiden Seiten des Gesichts. Ziehen Sie sie dann entweder über
den Kopf oder unter das Kinn. (Republished with permission of Ammons Scientific, Ltd, copyright 2009; permission conveyed through Copyright Clearance
Center, Inc.)

Probanden die Geschichte gelesen haben und gleichzeitig den Angst/Furcht, Scham und Schuld), die meist schon im Kindesal-
ausgestreckten Mittelfinger bewegten, kam ihnen das Verhalten ter zu beobachten sind (. Abb. 13.21). Jessica Tracey und Richard
in der Geschichte feindseliger vor, mit einem erhobenen Dau- Robins (2004) sind der Auffassung, Stolz sei ebenfalls eine unter-
men hingegen positiver. Feindselige Gesten bahnen eine feindse- scheidbare Emotion, die durch ein kurzes Lächeln, einen leicht
lige Wahrnehmung (Chandler u. Schwarz 2009; Goldin-Meadow nach hinten geworfenen Kopf und eine offene Körperhaltung
u. Beilock 2010). signalisiert wird. Phillip Shaver und seine Kollegen (1996) mei-
Sie können ihr Wissen über den Rückkopplungseffekt nut- nen, dass auch Liebe eine Grundemotion sein könnte. Aber Izard
zen, um empathischer zu werden: Nehmen Sie auf dem eigenen argumentiert, dass andere Emotionen Kombinationen aus diesen
Gesicht den Gesichtsausdruck des anderen an. Wie der andere zu 10 Grundemotionen sind. Liebe, führt er an, sei eine Kombina-
13 handeln, hilft uns, zu fühlen, wie der andere fühlt (Vaughn u. tion aus Freude und Interesse/Begeisterung.
Lanzetta 1981). Tatsächlich trägt die natürliche Nachahmung Zu den Bestandteilen der Emotion gehören nicht nur die
der Emotionen anderer zur Erklärung der Tatsache bei, dass Physiologie und das Ausdrucksverhalten, sondern auch unsere
Emotionen ansteckend sind (Dimberg et al. 2000; Neumann u. bewusste Erfahrung. Überall auf der Welt ordnen Menschen
Strack 2000). Primaten äffen sich auch gegenseitig nach und Emotionen auf zwei Dimensionen an, wie sie in . Abb. 13.22
tragen durch solche synchron ablaufenden Verhaltensweisen dargestellt sind: angenehme (oder positive) versus unangenehme
dazu bei, dass ihre (und unsere) Bindung gestärkt wird (de Waal (oder negative) Valenz und geringe versus starke Erregung (Rus-
2009). Ein Sozialarbeiter mit Möbius-Syndrom, einer seltenen sell et al. 1989, 1999a,b, 2009; Watson et al. 1999). Jede Emotion
Lähmung der Gesichtsmuskeln, hatte es sehr schwer, sich emo- ist eine Kombination daraus: Man fühlt sich entweder gut oder
tional in die Flüchtlinge des Hurrikans Katrina hineinzuverset- schlecht und gleichzeitig erregt und energiegeladen oder eben
zen. Wenn die Menschen ein trauriges Gesicht machten, »war ich nicht. Auf der Valenz- und auf der Erregungsdimension ist ent-
nicht fähig dies zu erwidern. Ich versuchte das mit Worten und setzt erschrockener (unangenehmer und erregter) als verängstigt,
der Stimmfarbe auszugleichen, aber es nützte nichts. Wenn man aufgebracht ist wütender als ärgerlich, entzückt ist glücklicher als
keinen Gesichtsausdruck hat, stirbt die Emotion, ohne dass man glücklich.
sie teilen kann« (Carey 2010). Wir wollen uns nun mit Wut und Glück näher beschäftigen:
Welche Funktionen haben sie? Wie wird unsere Erfahrung der
einzelnen Emotionen beeinflusst?
13.4 Emotion und Erfahrung

13.4.1 Wut
? 13.9 Welche Grundemotionen gibt es und welche beiden
Dimensionen helfen uns, sie zu unterscheiden?
? 13.10 Was sind die Auslöser und Folgen von Wut?
Wie viele unterschiedliche Emotionen gibt es? Carroll Izard
(1977) arbeitete 10 Grundemotionen heraus (Freude, Interesse/ Wut ist, wie die Weisen sagten, »ein kurzer Wahnsinn« (Horaz,
Begeisterung, Überraschung, Trauer, Wut, Ekel, Verachtung, 65–8 v. Chr.), der den »Verstand wegspült« (Vergil, 70–19 v. Chr.),
13.4 · Emotion und Erfahrung
513 13

. Abb. 13.21a–g Natürlich auftretende Emotionen bei Säuglingen. Um die von Geburt an vorhandenen Emotionen auszumachen, hat Carroll Izard
den Gesichtsausdruck bei kleinen Säuglingen analysiert. (a: © Ingram Publishing; b: © Michael Barton; c, d: © Christiane Grosser; e: © Ana Blazic / iStockphoto;
f: © Getty Images / iStockphoto; g: © Ralf Hettler / iStockphoto)

und sie kann »hundertmal so schmerzlich sein wie die Verletzung,


die sie herbeigeführt hat« (Thomas Fuller, 1654–1734). Aber
sie sprachen auch von »edler Wut« (William Shakespeare, 1564–
1616), die »jeden Feigling mutig macht« (Cato, 234–149 v. Chr.)
und »Stärke … wiederbringt« (Vergil).
Wenn uns eine Bedrohung oder eine Herausforderung bevor-
steht, triggert Angst die Flucht, Wut hingegen den Kampf – jede
der beiden Emotionen ist zu einer bestimmten Zeit ein adaptives
Verhalten. Warum werden wir wütend? Oft ist die Wut eine Re-
aktion auf etwas, was Freunde oder Partner ihrer Meinung nach
falsch gemacht haben, vor allem, wenn es mit Absicht geschah,
ungerechtfertigt und vermeidbar war (Averill 1983). Aber auch
kleine Auseinandersetzungen und zufällige Belästigungen wie
unangenehme Gerüche, Hitze, ein Verkehrsstau, Schmerzen und
Wehwehchen können uns verärgern (Berkowitz 1990).
Und Wut kann uns sogar krank machen: Chronisch ärgerlich
. Abb. 13.22 Zwei Dimensionen der Emotion. James Russell, David
oder wütend zu sein, kann zu Herzerkrankungen führen. Aber
Watson, Auke Tellegen und auch andere beschreiben Emotionen als Varia-
tionen auf zwei Dimensionen: Erregung (gering versus stark) und Valenz wie können wir unsere Wut loswerden? In einer Gallup-Umfrage
(angenehmes versus unangenehmes Gefühl) unter Jugendlichen berichteten mehr Jungen als Mädchen da-
514 Kapitel 13 · Emotionen, Stress und Gesundheit

. Abb. 13.23 Eine »coole« Kultur. Häusliche Gewalt kommt selten vor in Mikronesien. Das Gemeinschaftsleben auf der Insel Pulap, das auf diesem Foto
dargestellt ist, gibt einen Hinweis auf die Ursache dafür: Das Familienleben findet auf dieser Insel vor allem in der Öffentlichkeit statt. Die Verwandten
und Nachbarn, die Wutausbrüche beobachten, können eingreifen, bevor es zu Misshandlungen von Kindern, Ehepartnern oder Älteren kommen kann.
(© Wolfgang Kaehler, www.wkaehlerphoto.com)

rüber, dass sie vor der Situation weglaufen oder beim Sport schen, wenn sie sich gegen andere wehren, von denen sie pro-
Dampf ablassen; Mädchen gaben häufiger an, dass sie mit einer voziert wurden, manchmal tatsächlich beruhigen können. Doch
13 Freundin darüber sprachen, sich Musik anhörten oder schrieben das ist gewöhnlich nur dann der Fall, wenn ihre Gegenwehr
(Ray 2005). Populäre Bücher und Artikel raten manchmal dazu, direkt auf den ausgerichtet ist, der sie provoziert hat, wenn die
die Wut lieber in Wutausbrüchen herauszulassen, statt sie in sich Gegenwehr gerechtfertigt erscheint und wenn das Gegenüber
hineinzufressen. Wenn uns jemand ärgert, sollen wir dann auf nicht überlegen ist (Geen u. Quanty 1977; Hokanson u. Edelman
den, der uns verletzt hat, einschlagen? Liegen Ratgeber richtig, 1966). Kurz gesagt, wir fühlen uns kurzzeitig erleichtert, wenn
wenn sie uns dazu drängen, dass wir Kindern beibringen sollen, wir unseren Ärger ausgelebt haben, allerdings nur, wenn wir uns
ihrem Ärger freien Lauf zu lassen? Haben »Aufdeckungsthera- danach nicht schuldig oder ängstlich fühlen. Meine Tochter, die
peuten« recht, wenn sie uns dazu ermutigen, gegen unsere toten in Südafrika lebt, hat eine zeitweilige Katharsis erlebt, als sie ihre
Eltern zu wettern, den Chef zumindest in der Vorstellung zu ver- neue Heimat in einem Spiel der Fußballweltmeisterschaft an-
fluchen, oder denjenigen, der uns in der Kindheit missbraucht feuerte. »Jedes Mal, wenn ich wütend auf Uruguay war und dabei
hat, zu konfrontieren? in die Vuvuzela geblasen und in die verärgerten Fangesänge ein-
Die Ermutigung, unsere Wut ungehindert herauszulassen, gestimmt habe, befreite das etwas in mir.«
ist typisch für individualistische Kulturen, wird aber selten in
Katharsis (»catharsis«) – emotionale Befreiung. Die Katharsishypothese der
Kulturen zu vernehmen sein, in denen sich der Einzelne stark mit Psychologie sagt aus, dass man sich durch das »Herauslassen« aggressiver
seiner Gruppe identifiziert. Menschen, die diese Interdependenz Energie (durch Handlungen oder in der Fantasie) von aggressiven Impulsen
sehr stark empfinden, betrachten Wut und Ärger als eine Bedro- befreien kann.
hung für die Gruppenharmonie (Markus u. Kitayama 1991). In
Tahiti lernen Menschen z. B., rücksichtsvoll und höflich zu sein. Trotz der zeitweisen Besserung ist es normalerweise nicht so,
Japaner zeigen von Kindheit an ihren Ärger weniger häufig als dass die Katharsis uns tatsächlich von der Wut geläutert hätte
Menschen in westlichen Kulturen, wo in der aktuellen Politik (. Abb. 13.24). Viel häufiger führt der Ausdruck von Ärger
Wut der letzte Schrei zu sein scheint (. Abb. 13.23). zu mehr Ärger. Einerseits provoziert man durch aggressives
Der Ratschlag in westlichen Kulturen »Leben Sie Ihre Wut Handeln den Wunsch des Gegenübers nach weiterer Vergeltung;
aus« beruht auf der Annahme, dass wir durch aggressive Hand- und dadurch wird aus einem kleinen Konflikt oft eine große
lungen oder Fantasien eine emotionale Erleichterung oder sogar Konfrontation. Andererseits wird die Wut vielleicht noch größer,
Katharsis erreichen können. Forscher berichten, dass sich Men- wenn man sie zum Ausdruck bringt. (Erinnern Sie sich an die
13.4 · Emotion und Erfahrung
515 13

. Abb. 13.24 Der Mythos »Katharsis«: Ist er wahr? (© Claudia Styrsky)

Forschung zur Rückkopplung über das Verhalten: Wenn wir uns auf eine andere Art und Weise gefährlich sein: Sie können ver-
wütend verhalten, kann dies dazu führen, dass wir uns noch stärkend wirken und dadurch zur Gewohnheit werden. Wenn
wütender fühlen.) Die Wucht, die der Gegenschlag der Wut gestresste Manager die Erfahrung machen, dass sie etwas von
haben kann, zeigte sich in einer Studie, für die 100 entmutigte ihrer Anspannung ablassen können, indem sie einen Angestell-
Ingenieure und Techniker befragt wurden, die gerade von einem ten anschreien, explodieren sie mit Sicherheit wieder, wenn sie
Luftfahrtunternehmen entlassen worden waren (Ebbesen et al. sich das nächste Mal gereizt und angespannt fühlen. Denken Sie
1975). Die Forscher stellten einigen der ehemaligen Angestellten einmal darüber nach: Wenn Sie das nächste Mal wütend sind, ist
Fragen, die bei ihnen ihre Wut hervorrufen sollten, wie »Er- es wahrscheinlich, dass Sie das wiederholen, was in der Vergan-
innern Sie sich an Gelegenheiten, bei denen die Firma Sie unfair genheit einmal ihren Ärger reduziert hat.
behandelt hat?«. Nachdem sie ihrer Wut Ausdruck verliehen Wie sollte man also am besten mit Ärger und Wut umgehen?
hatten, füllten die Arbeiter später einen Fragebogen aus, der ihre Experten machen zwei Vorschläge. Erstens: Warten Sie. Sie kön-
Einstellung gegenüber der Firma erfasste. Hat die Möglichkeit nen das physiologische Erregungsniveau durch Abwarten senken.
ihrem Ärger »Luft zu machen«, ihre Feindseligkeit reduziert? »Körper funktionieren so wie Pfeile«, stellte Carol Tavris (1982)
Das Gegenteil war der Fall. Sie schienen auf die Firma noch fest, »was hoch geht, muss auch wieder runterkommen. Jede emo-
wütender zu sein als diejenigen, die zuvor über neutrale Themen tionale Erregung nimmt ab, wenn Sie nur lange genug warten«.
gesprochen hatten. Zweitens: Gehen Sie mit dem Ärger so um, dass Sie weder chro-
Andere Studien unterstützen diese Ergebnisse. In einer da- nisch ärgerlich auf alles Ungelegene reagieren noch passiv den
von wurden Menschen, die zuvor provoziert worden waren, dazu Ärger in sich hineinfressen und in Gedanken hin und her wälzen.
aufgefordert, auf einen Boxsack einzuschlagen, während sie über Denkt man ständig über die Ursachen seiner Wut nach, vergrö-
die Person grübeln, die sie wütend gemacht hat. Sobald sie später ßert man sie nur (Rusting u. Nolen-Hoeksema 1998). Versuchen
die Chance hatten, Rache zu üben, wurden sie noch aggressiver. Sie, sich auf anderen Wegen zu beruhigen, indem Sie z. B. Sport
»Die Wut herauszulassen, um den Ärger abzubauen, ist, als wür- treiben, ein Instrument spielen oder Ihre Gefühle mit einem
de man Benzin ins Feuer schütten, um es zu löschen«, folgerte Freund besprechen.
der Forscher Brad Bushman (2002).
Wenn die Wut uns dazu bringt, körperlich oder verbal
» Solange wir Groll in der Seele haben, wird die Wut nicht
verschwinden.
aggressiv zu werden, und wir das später bereuen, dann ist sie für
Buddha, 500 v. Chr.
uns schädlich. Wut ist auch ein Nährboden für Vorurteile. Nach
dem 11. September 2001 zeigten Amerikaner, die eher mit Wut Wut ist nicht immer falsch. Weitverbreitet, vermittelt sie den Ein-
als mit Angst reagierten, Intoleranz gegenüber Einwanderern druck von Stärke und Kompetenz (Tiedens 2001). Es kann aber
und Muslimen (DeSteno et al. 2004; Skitka et al. 2004). Wenn für eine Beziehung sogar nützlich und hilfreich sein, wenn die
Wutausbrüche uns zeitweilig beruhigen, kann dies auch noch Klagen so vorgebracht werden, dass Versöhnung und nicht Ver-
516 Kapitel 13 · Emotionen, Stress und Gesundheit

geltung im Vordergrund steht. Der kontrollierte Ausdruck von und sind sozial eingebundener. Sie leben insgesamt ein gesün-
Ärger ist adaptiver als ein Wutausbruch oder aufgestaute Ge- deres, energiereicheres und zufriedeneres Leben (Briñol et al.
fühle von Wut und Ärger. Als James Averill (1983) Versuchs- 2007; Liberman et al. 2009; Mauss et al. 2011). Sind Sie trüb-
teilnehmer bat, sich an Situationen zu erinnern, in denen sie sinnig, erscheint Ihr ganzes Leben deprimierend und bedeu-
wütend gewesen sind, oder über einen bestimmten Zeitraum tungslos. Sie denken insgesamt kritischer und bringen Ihrer
hinweg zu notieren, wann sie wütend oder ärgerlich wurden, Umgebung mehr Skepsis entgegen. Hellt sich Ihre Stimmung auf,
erinnerten sie sich öfter daran, selbstsicher reagiert zu haben als dann denken Sie auch über anderes nach und Ihre Gedanken
verletzend. Ihre Wut hat sie häufig dazu veranlasst, mit ihrem werden spielerisch und kreativ (Baas et al. 2008; Forgas 2008b;
Gegenüber zu sprechen und dadurch ihren Ärger zu reduzieren. Fredrickson 2006).
Zivilisation meint nicht nur, über kleine Ärgernisse zu schwei- Das liefert eine Erklärung dafür, dass die Fröhlichkeit von
gen, sondern auch über größere Ärgernisse klar und deutlich Studierenden dazu beiträgt, den Verlauf ihres weiteren Lebens
zu sprechen. Eine Bemerkung über ein Gefühl, die keine An- vorherzusagen. In einer Studie konnte gezeigt werden, dass
klage ist (z. B. einen Mitbewohner wissen zu lassen, dass »es Frauen, die auf den Jahrbuch-Fotos des College in den 1950er
mich ärgert, wenn du dein Geschirr immer stehen lässt, so dass Jahren natürlich und glücklich lächelten, mit einer größeren
ich es abspülen muss«), kann den Konflikt lösen, der zur Wut Wahrscheinlichkeit im mittleren Erwachsenenalter glücklich
geführt hat. verheiratet sind (Harker u. Keltner 2001). Eine andere Studie,
Was aber, wenn das Verhalten eines Menschen wirklich ver- in der im Jahr 1976 Tausende von amerikanischen College-
letzend wirkt und man den Konflikt nicht lösen kann? Forscher Studenten befragt und im Alter von 37 Jahren nochmals unter-
meinen, dass der jahrhundertealte Ratschlag, zu vergeben, der sucht wurden, ergab, dass glückliche Studenten signifikant mehr
richtige sein könnte. Ohne das Gegenüber aus der Verantwor- Geld verdienten als ihre unterdurchschnittlich glücklichen Kom-
tung zu entlassen oder noch mehr Verletzungen herauszu- militonen (Diener et al. 2002). Wenn wir glücklich sind, scheinen
fordern, kann man durch Vergebung die Wut abbauen und den also unsere Beziehungen, unser Selbstbild und unsere Wünsche
Körper beruhigen. Um die körperlichen Effekte von Vergebung für die Zukunft erfolgversprechender zu sein.
zu ergründen, baten Charlotte Witvliet und ihre Kollegen (2001) Außerdem – und dieses Ergebnis ist eines der konsisten-
Studierende, sich an eine Situation zu erinnern, in der sie von testen in der Psychologie – fühlt sich Glücklichsein nicht nur
anderen verletzt worden waren. Als die Studierenden in Gedan- gut an, es bewirkt auch, dass wir Gutes tun. Eine Studie nach der
ken Vergebung übten, waren ihre negativen Gefühle – und ihre anderen zeigte Folgendes: Ein stimmungsaufhellendes Ereignis
13 Schweißproduktion, der Blutdruck, Herzschlag und die An- (Geld zu finden, eine schwierige Aufgabe erfolgreich zu lösen,
spannung im Gesicht – geringer, als wenn sie über ihren Groll sich an einen glücklichen Moment zu erinnern) veranlasste
nachgrübelten. die Versuchsteilnehmer mit höherer Wahrscheinlichkeit dazu,
Geld zu spenden, fallengelassene Papiere aufzuheben, sich frei-
Prüfen Sie Ihr Wissen
willig Zeit für etwas zu nehmen und andere gute Taten zu voll-
5 Welche der folgenden Antwortmöglichkeiten ist bringen. Psychologen nennen es das Phänomen »Fühl dich
eine effektive Strategie, um Gefühle der Wut zu redu- gut, und du tust etwas Gutes« (Salovey 1990). (Das Gegenteil
zieren? trifft aber auch zu: Etwas Gutes zu tun, gibt einem auch ein
a. Verbale oder körperliche Vergeltung gutes Gefühl; hier handelt es sich um ein Phänomen, das von
b. Warten und sich beruhigen einigen Glückstrainern und Glückspädagogen nutzbar gemacht
c. Der Wut in Taten oder Gedanken Luft machen wird: Sie weisen Menschen den Auftrag zu, täglich einen »zu-
d. Über den Groll nachgrübeln fälligen Akt der Nettigkeit« auszuführen und die Ergebnisse zu
registrieren.)
Phänomen »Fühl dich gut, und du tust etwas Gutes« (»feel-good,
do-good phenomenon«) – Tendenz von Menschen, hilfreich zu sein, wenn
13.4.2 Glücklichsein sie bereits in einer guten Stimmung sind.

William James schrieb bereits 1902 darüber, wie wichtig es sei,


? 13.11 Was sind die Auslöser und Folgen des Glücklichseins?
glücklich zu sein (»das geheime Motiv all unserer Handlungen«).
Ob man glücklich oder unglücklich ist, beeinflusst alles im Als die positive Psychologie im 21. Jahrhundert entsteht, inte-
Leben. Menschen, die glücklich sind, fühlen sich sicherer in der ressieren sich Forscher zunehmend für das subjektive Wohl-
Welt, haben mehr Selbstbewusstsein, treffen leichter Entschei- befinden (7 Kap. 14), das einerseits als Glücksgefühl (manchmal
dungen, sind kooperativer und toleranter. Sie bewerten Bewer- definiert als höherer Anteil der guten im Verhältnis zu den
ber für eine Arbeitsstelle positiver, würdigen ihre vergangenen schlechten Gefühlen), andererseits als ein Gefühl der Zufrieden-
positiven Lebensereignisse ohne bei den negativen zu verharren heit mit dem Leben erfasst wird.
13.4 · Emotion und Erfahrung
517 13
Abhängigkeit vom Wochentag erfasst. Und welche waren die
Tage mit den meisten positiven Gefühlen? Freitag und Samstag
(. Abb. 13.25). Ist das bei Ihnen auch so?
Über einen längeren Zeitraum hinweg scheinen sich unsere
emotionalen Hochs und Tiefs auszugleichen. Das trifft sogar für
den Verlauf eines Tages zu (. Abb. 13.26). Positive Emotionen
nehmen meist vom frühen bis zum mittleren Teil des Tages zu
und fallen dann wieder ab (Kahneman et al. 2004; Watson 2000).
Belastende Ereignisse – wie ein Streit, ein krankes Kind oder
ein Problem mit dem Auto – sorgen für schlechte Laune. Das ist
wirklich keine Überraschung. Aber schon am nächsten Tag ver-
schwindet die schlechte Laune meist (Affleck et al. 1994; Bolger
et al. 1989; Stone u. Neale 1984). Menschen scheinen sich von
. Abb. 13.25 Internet-Forschung kann benutzt werden, um glückliche
Tage aufzuspüren. Adam Kramer (2010) verfolgte positive und negative einem schlechten Tag sogar so weit zu erholen, dass ihre Stim-
Emotionen in »Milliarden« (die genaue Anzahl ist eine geschützte Informa- mung am nächsten Tag besser ist als gewöhnlich.
tion) Statusnachrichten von amerikanischen Facebook-Nutzern zwischen Auch wenn uns negative Ereignisse für längere Zeit herunter-
dem 7. September 2007 und dem 1. November 2010
ziehen, hört die schlechte Stimmung irgendwann auf. Das Ende
einer Liebesbeziehung ist zwar ein niederschmetterndes Gefühl,
aber am Ende heilt auch diese Wunde. Universitätsangehörige,
Subjektives Wohlbefinden (»subjective well-being«) – selbst wahr-
genommenes Gefühl des Glücks im Leben oder der Zufriedenheit mit dem die sich auf eine Dauerstelle bewerben, gehen häufig davon aus,
Leben. Wird zusammen mit Maßen des objektiven Wohlbefindens ver- dass ihr Leben zerstört sei, wenn sie abgelehnt würden. Tatsäch-
wendet (beispielsweise körperliche und ökonomische Faktoren), um die lich ist es aber so, dass nach 5–10 Jahren die damals Abgelehnten
Lebensqualität eines Menschen zu erfassen.
kaum weniger glücklich als die Erfolgreichen sind (Gilbert et al.
1998).
Das kurze Leben der emotionalen Hochs Eine Trauerphase nach dem Tod eines geliebten Menschen
und Tiefs oder die Ängstlichkeit nach einem Trauma (wie z. B. Kindes-
Ist man an manchen Wochentagen glücklicher als an anderen? missbrauch, einer Vergewaltigung oder den Schrecken des
Der Sozialpsychologe Adam Kramer hat (auf meine Anfrage und Krieges) kann lange anhalten. Normalerweise führt aber keine
in Zusammenarbeit mit Facebook) mithilfe des größten psy- solcher Tragödien zu einer anhaltenden Depression. Menschen,
chologischen Datensatzes aller Zeiten Gefühlsausdrücke in die erblinden oder gelähmt sind, erholen sich häufig wieder
»Milliarden« Statusnachrichten realitätsnah beobachtet. Unter und unterliegen dann, was das Glücksniveau angeht, den nor-
Ausschluss von besonderen Tagen – wie z. B. Ferien – hat er die malen täglichen Schwankungen (Gerhart et al. 1994; Riis et al.
Häufigkeit von positiven und negativen Emotionsausdrücken in 2005; Smith et al. 2009). Ähnlich geht es Menschen, die wegen

. Abb. 13.26 Stimmungsveränderungen im Tagesablauf. Als der Psychologe David Watson (2000) eine Stichprobe von 4500 Stimmungsberichten
von 150 Menschen sammelte, fand er dieses Muster, nach dem sich das durchschnittliche Niveau positiver und negativer Emotionen verändert. (Copyright
© 2000, Guilford Press. Reprinted with permission of The Guilford Press)
518 Kapitel 13 · Emotionen, Stress und Gesundheit

. Abb. 13.27 Wie sich der Materialismus von Erstsemestern verändert. Eine Umfrage unter mehr als 200.000 Studienanfängern amerikanischer Colleges
pro Jahr zeigt einen wachsenden Wunsch nach Wohlstand seit 1970. (Aus den Umfragen »The American Freshman«, UCLA 1966–2010)

einer Nierenschädigung zur Dialyse müssen, oder Stoma-Pa- folgenden 3 Jahren wurde Anna Putt in die Lage versetzt, zu
tienten, die einen künstlichen Darmausgang haben. In euro- »sprechen« (durch Nicken angesichts von Buchstaben), einen
päischen Studien beschrieben 8–12 Jahre alte Kinder mit Zere- elektrischen Rollstuhl mit dem Kopf zu steuern und einen
bralparese ihr allgemeines Wohlbefinden als normal (Dickinson Computer zu nutzen (durch Kopfbewegungen, mit denen sie
et al. 2007). einen Cursor lenken konnte). Trotz ihrer Lähmung berichtet sie:
13 Menschen mit einer dauerhaften Behinderung können damit »Mir macht es Spaß, an die frische Luft zu gehen. Mein Motto ist:
gut umgehen, obwohl sie nicht ganz zum früheren Stand ihres ›Schau nicht zurück, beweg dich vorwärts.‹ Gott würde nicht
Gefühlslebens zurückkehren können (Diener et al. 2006; Smith wollen, dass ich aufhöre, es zu versuchen, und ich habe nicht die
et al. 2009). Eine schwerwiegende Behinderung führt oft dazu, Absicht, das zu tun. Leben ist das, was man daraus macht.«
dass die Betroffenen etwas weniger glücklich sind als der Durch- Die überraschende Wahrheit: Wir überschätzen die Dauer-
schnittsmensch, allerdings sehr viel glücklicher als Menschen haftigkeit von Emotionen und unterschätzen unsere ausdauernde
mit einem gesunden Körper, aber einer Depression (Kübler et al. Fähigkeit, uns anzupassen. (Als jemand, der den Verlust des
2005; Lucas 2007a,b; Oswald u. Powdthavee 2006; Schwartz u. Gehörs von mütterlicher Seite geerbt hat und dessen Mutter
Estrin 2004). »Wenn man querschnittsgelähmt ist«, erklärt die letzten 13 Jahre ihres Lebens komplett taub verbracht hat,
Daniel Kahneman (2005), »wird man allmählich beginnen, an schöpfe ich aus diesen Erkenntnissen Mut.)
andere Dinge zu denken; und je länger man an andere Dinge
denkt, desto weniger erbärmlich geht es einem«. Die meisten
» Den Abend lang währt das Weinen, aber des Morgens
ist Freude.
Patienten, die in einem bewegungslosen Körper gefangen sind,
Psalm 30, Vers 6
sagen nicht, dass sie sterben wollen, was einer beliebten Fehl-
vorstellung widerspricht (Bruno et al. 2008, 2011; Smith u.
Delargy 2005). Wohlstand und Wohlbefinden
Anna Putt aus den südlichen Midlands in England erlitt »Glauben Sie, dass Sie glücklicher wären, wenn Sie mehr Geld
7 Wochen nach ihrer Hochzeit im Jahre 1994 einen Schlaganfall verdienen würden?« »Ja«, antworteten 73% der Amerikaner,
im Bereich des Hirnstamms, der zu einem sog. »Locked-In-Syn- die 2006 an einer Gallup-Meinungsumfrage teilgenommen
drom« führte. Monate danach erinnerte sie sich: »Ich war vom haben. Wie wichtig ist es Ihnen »finanziell gut situiert zu sein«?
Hals herab gelähmt und nicht imstande zu kommunizieren. Das »Sehr wichtig«, sagten viele amerikanische Hochschuleinsteiger
war eine sehr, sehr erschreckende Zeit. Aber aufgrund der Er- (. Abb. 13.27). Ungefähr drei von vier Studierenden gaben als
mutigung durch die Familie und Freunde, aufgrund meines ihre zwei wichtigsten Ziele (von 21) »reich zu sein« und »Kinder
Glaubens und durch die Unterstützung vonseiten der Mediziner aufzuziehen« an und stuften diese als »extrem wichtig« oder
versuchte ich, eine positive Einstellung zu bewahren.« In den »essenziell« ein.
13.4 · Emotion und Erfahrung
519 13

. Abb. 13.28 Wohlbefinden auf der ganzen Welt. Das Gallup-Institut hat bei einer weltweiten Umfrage fast eine halbe Million Menschen aus verschie-
denen Ländern befragt, die 99% der menschlichen Bevölkerung repräsentieren. Bei einer Frage sollten sich die Menschen eine Leiter mit 10 Streben vorstellen,
wobei 10 das »bestmögliche Leben« und 0 das »schlechtestmögliche Leben« für sie darstellt. »Auf welcher Stufe der Leiter würden Sie sich gefühlsmäßig
selbst sehen?« Menschen, die ihr gegenwärtiges Leben mit 7 oder höher und ihr zukünftiges Leben mit 8 oder höher einschätzten, wurden als »Thriving« (»auf
der Sonnenseite des Lebens stehend«) bezeichnet. Wie Sie sehen können, haben sich die Menschen in den reicheren Ländern – Nordamerika, Westeuropa,
Australien und Neuseeland – höher eingestuft. (Copyright © 2010 Gallup, Inc. All rights reserved. The content is used with permission; however, Gallup retains
all rights of republication)

Und an einem Punkt steht Wohlstand in Beziehung mit Glück mitwächst (Diener et al. 2009; Kahneman u. Deaton 2010).
Wohlbefinden. Bedenken Sie: Das ist teilweise dem Phänomen der abnehmenden Erträge zu-
4 In den meisten Ländern, und vor allem in armen Ländern, zuschreiben (Wirtschaftswissenschaftlern auch als abnehmender
sind Menschen mit viel Geld etwas glücklicher als die, Grenznutzen bekannt). Luxus zu genießen vermindert unsere
die damit kämpfen, ihre Grundbedürfnisse befriedigen zu Fähigkeit, auch die kleinen Freuden des Lebens zu genießen
können (Diener u. Biswas-Diener 2009; Howell u. Howell (Quoidbach et al. 2010). Wenn Sie erst einmal in den Alpen Ski
2008; Lucas u. Schimmack 2009). Und – wie wir später im gelaufen sind, verlieren die benachbarten Hügel zum Schlitten-
Kapitel noch sehen werden – erfreuen sich diese Menschen fahren an Bedeutung.
oft einer besseren Gesundheit als diejenigen, die von Mit Daten aus Australien konnte Robert Cummins (2006)
der Armut belastet sind und keine Kontrolle über ihr Leben bestätigen, dass mehr Geld nur dann zu einem signifikant ge-
haben. steigerten Glücksempfinden führt, wenn das Ausgangsein-
4 Menschen in reichen Ländern sind ebenfalls etwas glück- kommen gering war. Bei steigendem Einkommen verschwindet
licher als solche in armen Ländern (Diener et al. 2009; dieser Effekt. Ein Lohnanstieg von 1000 Dollar pro Jahr hat einen
Inglehart 2008; . Abb. 13.28). Dasselbe gilt für diejenigen, viel größeren Einfluss auf eine Person in Malawi als auf einen
die in einkommensstarken, amerikanischen Bundesstaaten Durchschnittsbürger in der Schweiz. Das bedeutet, so Cummins
leben (Oswald u. Wu 2010). weiter, dass eine Lohnerhöhung bei niedrigen Einkommen zu
größeren Anstiegen des Glücklichseins führt als bei hohen Ein-
Es scheint also, als würde genug Geld, um sich den Ausweg aus kommen.
Hunger und Hoffnungslosigkeit zu finanzieren, auch Glück mit In den letzten 5 Jahrzehnten hat sich die Kaufkraft des Durch-
sich bringen. Hat man allerdings erst einmal genug Geld schnittsamerikaners fast verdreifacht. Konnte man mit diesem
für Komfort und Sicherheit, häuft man auch immer mehr Be- größeren Reichtum, der es uns ermöglicht, pro Person mehr
deutungsloses an. Immer mehr Geld macht es uns möglich, viele als doppelt so viele Autos zu besitzen – von iPods, Laptops
Dinge zu genießen und mehr Kontrolle über unser Leben zu und Smartphones wollen wir ja gar nicht reden –, auch mehr
empfinden, wobei es wenig dazu beiträgt, dass unser Gefühl von Glück kaufen? Wie . Abb. 13.29 zeigt, ist der heute lebende
520 Kapitel 13 · Emotionen, Stress und Gesundheit

. Abb. 13.30 (© Harley L. Schwadron)

» Die heutigen Australier sind dreimal reicher, als es ihre


. Abb. 13.29 Macht Geld glücklich? Ganz bestimmt kann man mit Geld Eltern und Großeltern in der 1950er Jahren waren. Aber sie
verschiedenste Sorgen und Kümmernisse vermeiden. Doch obwohl sich sind nicht glücklicher.
die Kaufkraft seit den 1950er Jahren fast verdreifacht hat, sagt der durch-
Ein Manifest zum Wohlbefinden (2005)
schnittliche Amerikaner nicht, dass er glücklicher ist. (Glücksangaben
aus Umfragen des »National Opinion Research Center«; Einkommensanga-
ben aus den »Historical Statistics of the United States« und »Economic
Zwei psychologische Prinzipien:
Indicators«)
13 Anpassung und Vergleich
Zwei psychologische Prinzipien bieten eine Erklärung dafür,
Durchschnittsamerikaner zwar sicherlich reicher, aber kein warum niemand, der nicht wirklich arm ist, für längere Zeit
bisschen glücklicher. 1957 sagten etwa 35% der Menschen, sie durch eine Steigerung seines Budgets glücklicher wird und
seien »sehr glücklich«, praktisch genauso viele wie die knapp warum unsere Emotionen anscheinend an Gummibändern
32% im Jahr 2008. hängen, die uns aus allen Höhen und Tiefen zurückschnellen
Ähnliches gilt für Europa, Australien und Japan, wo steigen- lassen. Auf ihre eigene Art und Weise erklären beide Prinzipien,
de Realeinkommen kein steigendes Glücksempfinden erzielt dass Glück etwas Relatives ist.
haben (Australian Unity 2008; Diener u. Biswas-Diener 2002,
2009; Di Tella u. MacCulloch 2010). Ebenso in China, wo der
» Kein Glück bleibt lange bestehen.
Seneca (Agamemnon, 60 n. Chr.)
Lebensstandard gestiegen ist, die Lebenszufriedenheit jedoch
nicht (Brockmann et al. 2009). Derartige Ergebnisse sollten in
den modernen Materialismus wie eine Bombe einschlagen: Das jGlück und Vorerfahrung
ökonomische Wachstum in reichen Ländern hat allem Anschein Das Phänomen des Anpassungsniveaus beschreibt unsere Ten-
nach nicht zu einer wahrnehmbaren Steigerung der Moral oder des denz, verschiedene Reize in ein Verhältnis zu denen zu setzen
sozialen Wohlbefindens geführt. und zu bewerten, die wir bereits kennen. Der Psychologe Harry
Ironischerweise sind in jeder Kultur diejenigen, die am stärks- Helson (1898–1977) erklärte, dass wir unseren »subjektiven Null-
ten nach Reichtum streben, eher unzufrieden mit ihrem Leben punkt« – also den Punkt, an dem sich Geräusche weder laut noch
(Ryan 1999; . Abb. 13.30). Das gilt besonders für Menschen, die leise anhören, Temperaturen weder heiß noch kalt und Ereig-
unbedingt an Geld gelangen wollen, um sich selbst etwas zu nisse weder positiv noch negativ sind – aufgrund unserer Er-
beweisen, um Macht zu erlangen oder um anzugeben, statt damit fahrung festlegen. Von diesem Niveau aus registrieren wir Ab-
ihre Familie zu unterstützen (Srivastava et al. 2001). Menschen, weichungen nach oben und unten und reagieren darauf.
die sich im Gegensatz dazu an Werten wie »Vertrautheit, persön- Anpassungsniveau (»adaptation level«) – unsere Tendenz, uns ein Urteil
liches Wachstum und Beitrag für die Allgemeinheit« orientieren, (über Töne, Lichter oder Einkommen) aufgrund eines neutralen Niveaus zu
haben eine höhere Lebensqualität (Kasser 2002, 2011). bilden, das durch unsere Vorerfahrung bestimmt wird.
13.4 · Emotion und Erfahrung
521 13

» Immerwährender Genuss nutzt sich ab. Wir brauchen immer wenn die anderen geistig rege oder agil sind. Das Gefühl, dass es
wieder etwas Neues, was wir genießen können. Wenn wir uns schlechter geht als anderen, mit denen wir uns vergleichen,
ein Bedürfnis ständig befriedigen können, genießen wir dies wird im Konzept der relativen Deprivation deutlich.
nicht mehr.
Relative Deprivation (»relative deprivation«) – Wahrnehmung, dass es
Der niederländische Psychologe Nico Frijda (1988) einem selbst schlechter geht als denen, mit denen man sich vergleicht.

Wenn sich unser momentaner Zustand – unser Einkommen, Während des zweiten Weltkriegs gab es eine recht hohe Beförde-
unsere Durchschnittsnote oder unser soziales Prestige – verbes- rungsrate bei den Soldaten der US-Luftwaffe. Trotzdem fühlten
sert, fühlen wir uns für einen Augenblick glücklicher. Dann aber sich viele Soldaten frustriert, weil ihre eigene Beförderung relativ
gewöhnen wir uns an die neue Situation, und benötigen etwas langsam vor sich ging (Merton u. Kitt 1950). Offenbar hatte die
noch Besseres, um uns noch glücklicher fühlen zu können. Ich Häufigkeit, mit der die Soldaten die Beförderung von anderen
erinnere mich an die Aufregung in meiner Kindheit, als meine miterlebt hatten, ihre Erwartungen größer werden lassen. Ent-
Familie und ich zum ersten Mal mit dem neuen Schwarz-Weiß- sprechend hat der wirtschaftliche Aufschwung, der einige Chine-
Fernsehgerät mit 12-Zoll-Röhre fernsahen. Jahre später, nach- sen in den Großstädten sehr reich werden ließ, möglicherweise
dem ich bei einem Familienmitglied Filme auf einem 60-Zoll- bei anderen ein Gefühl der relativen Deprivation aufkommen
HD-Bildschirm gesehen hatte, hat sich mein Standard nach oben lassen (Burkholder 2005a,b).
verschoben und ich war von meinem einst wundervollen Fern- Und wenn die Erwartungen größer sind als die wirklichen
seher mit 27 Zoll Bilddiagonale ziemlich unbeeindruckt. Was Erfolge, kommt es zu Enttäuschung. Relative Deprivation zeigte
früher einmal großartig war, ist heute alltäglich. sich auch wieder als der Baseballspieler Alex Rodriguez einen
Könnten wir uns also jemals ein beständiges soziales Para- auf 10 Jahre angesetzten 252-Mio.-Dollar-Vertrag bekam. Dieser
dies schaffen? Wahrscheinlich nicht (Campbell 1975; Di Tella u. Vertrag machte ihn zeitweilig bestimmt glücklich, er führte je-
MacCulloch 2010). Menschen, die einen überraschenden Geld- doch auch dazu, dass die Zufriedenheit anderer Spieler mit ihren
regen – im Lotto, durch eine Erbschaft oder einen Konjunktur- neunstelligen, aber geringer dotierten Verträgen abnahm. Zufrie-
aufschwung – erleben, empfinden gewöhnlich eine Art Hoch- denheit hängt weniger von unserem Einkommen ab als vielmehr
stimmung (Diener u. Oishi 2000; Gardner u. Oswald 2007). von unserem Einkommensrang (Boyce et al. 2010). Es ist besser
Würden Sie morgen in Utopia aufwachen – vielleicht in einer 50.000 Dollar zu verdienen, wenn andere nur 25.000 Dollar be-
Welt ohne Steuern, ohne Krankheiten, mit perfekten Noten und kommen, als 100.000 Dollar, wenn die eigenen Freunde, Nach-
einem Menschen, der Sie bedingungslos liebt – wären Sie eine barn und Kollegen 200.000 Dollar verdienen (Solnick u. Hemen-
Zeit lang euphorisch glücklich. Aber dann würden Sie allmählich way 1998, 2009).
Ihr Anpassungsniveau neu justieren und ihren subjektiven Null-
Schüler vergleichen die eigene Leistung mit der Leistung anderer.
punkt so setzen, dass er diese neuen Erfahrungen umschließt. Es
Dies erklärt auch, warum Schüler mit einem bestimmten Grad an
dauert nicht lange, und Sie würden sich wieder freuen (wenn das
schulischen Fähigkeiten ein ausgeprägteres Selbstkonzept haben,
Erreichte die Erwartungen übersteigt) oder sich schlecht fühlen
wenn sie eine Schule besuchen, die vor allem von Schülern mit
(wenn Sie nicht bekommen, was Sie haben wollen), ansonsten
geringeren Fähigkeiten besucht wird (Marsh u. Parker 1984). Wenn
würden Sie sich eher neutral fühlen.
Sie im Gymnasium zu den besten Schülern Ihres Jahrgangs ge-
Merke: Zufriedenheit und Unzufriedenheit, Erfolg und Ver-
hörten, wäre es möglich, dass Sie sich plötzlich nicht mehr so gut
sagen – all das ist relativ zu unserer persönlichen Erfahrung. Zu-
fühlen, wenn Sie auf der Universität ausschließlich mit Kommilito-
friedenheit hat, wie Richard Ryan (1999) sagte, »eine kurze Halb-
nen zusammen sind, die auch die Besten in der Schule waren.
wertszeit«. Und so ist es auch mit Enttäuschungen. Eine Nieder-
lage kann man manchmal schneller überwinden, als man denkt. Solche Vergleiche erklären, warum die Menschen in der Mittel-
und Oberklasse eines bestimmten Landes, die sich mit ihren
» Ich habe eine ›Glückskeks-Lebensweisheit‹, auf die ich sehr
ärmeren Mitbürgern vergleichen können, etwas zufriedener mit
stolz bin: Wenn Sie einmal darüber nachdenken, ist nichts
ihrem Leben sind, als die vom Glück weniger bedachten. Doch ab
im Leben wirklich so bedeutsam, wie Sie meinen. Deshalb
einem bestimmten Standard führt eine weitere Vermehrung des
wird Sie nichts so glücklich machen, wie Sie meinen.
Besitzes nicht mehr dazu, dass die Besitzenden noch glücklicher
Der Nobelpreisträger und Psychologe Daniel Kahneman in
werden. Warum? Weil sich die Menschen, die die Erfolgsleiter
einem Gallup-Interview, »What were they thinking« (2005)
hinaufklettern, meist mit denen vergleichen, die auf derselben
Stufe wie sie oder auf einer noch höheren stehen (Gruder 1977;
jGlück und das, was die anderen erreicht haben Suls u. Tesch 1978; Zell u. Alicke 2010). »Bettler beneiden nicht
Wir vergleichen uns ständig mit anderen. Und ob wir uns gut oder die Millionäre, sondern andere Bettler, die erfolgreicher sind als
schlecht fühlen, hängt davon ab, mit welchen anderen wir uns sie selbst«, bemerkte Bertrand Russell (1930, S. 90). »Napoleon
vergleichen. Begriffsstutzig oder schwerfällig sind wir nur dann, war neidisch auf Cäsar, Cäsar auf Alexander den Großen, und
522 Kapitel 13 · Emotionen, Stress und Gesundheit

. Tab. 13.2 Glück ist … (Adaptiert nach DeNeve u. Cooper 1998, Diener et al. 2003, Headey et al. 2010, Lucas et al. 2004, Myers 1993, 2000,
Myers u. Diener 1995, 1996 und Steel et al. 2008. Veenhoven 2009 stellt eine Datenbasis von über 11.000 Korrelaten zum Gücklichsein auf http://
www.worlddatabaseofhappiness.eur.nl zur Verfügung)

Forschungsergebnisse zeigen, dass glückliche Menschen eher … Jedoch scheint das Glücklichsein nicht mit anderen Faktoren
zusammenzuhängen, wie …

Ein ausgeprägtes Selbstwertgefühl haben (in individualistischen Alter


Staaten)
Optimistisch sind, aus sich herausgehen und liebenswürdig sind Geschlecht (Frauen sind häufiger niedergeschlagen, aber auch häufiger
fröhlich)
Enge Freundschaften haben oder glücklich verheiratet sind Elternschaft (ob man Kinder hat oder nicht)
Eine Arbeitsstelle und Hobbys haben, bei denen sie ihre Fähigkeiten Körperliche Attraktivität
einsetzen können
Einen Sinn stiftenden religiösen Glauben haben
Gut schlafen und Sport treiben

Alexander, wage ich zu behaupten, auf Herkules, den es wahr- individuellen Unterschiede im Glücklichsein durch genetische
scheinlich nie gegeben hat. Daher kann man nur durch Erfolg Einflüsse erklärt werden kann (Lykken u. Tellegen 1996). Andere
dem Neid nicht entkommen; denn in der Geschichte oder im Zwillingsstudien berichten ähnliche oder etwas geringere Erb-
Reich der Mythen wird es immer wieder eine Person geben, die lichkeitswerte (Bartels u. Boomsma 2009; Lucas 2008; Nes et al.
sogar noch erfolgreicher war als man selbst« (S. 68–69). 2010). Sogar getrennt aufgewachsene eineiige Zwillinge sind oft
Vergleichen wir uns also nur mit denen, denen es besser geht, in ähnlichem Maß glücklich.
werden wir neidisch. Doch unsere Zufriedenheit wird zu- Unsere persönliche Geschichte und unsere Kultur sind
nehmen, wenn wir das berücksichtigen, womit wir gesegnet sind, allerdings auch von Bedeutung. Wie wir bereits gesehen haben,
und uns mit denen vergleichen, die weniger haben. In einer streben unsere Gefühle im persönlichen Bereich danach, sich
Studie untersuchten Frauen an der Universität von Wisconsin- um ein bestimmtes Level herum, das durch unsere Erfahrun-
13 Milwaukee die Benachteiligungen und das Leiden anderer gen definiert wird, einzupendeln. Auf der Ebene der Kulturen
(Dermer et al. 1979). Nachdem die Frauen eine lebendige Dar- unterscheiden sich die Gruppen darin, welche Eigenschaften
stellung dessen gesehen hatten, wie entbehrungsreich das Leben sie stärker wertschätzen. In individualistischen westlichen
in Milwaukee im Jahr 1900 gewesen war, oder nachdem sie sich Kulturen hat das Selbstwertgefühl mehr Bedeutung als in
verschiedene persönliche Tragödien vorgestellt und sie nieder- den mehr auf Gemeinschaft und Familie ausgerichteten Kul-
geschrieben hatten, z. B. durch einen Brand entstellt zu werden, turen wie Japan, bei denen es wichtiger ist, sozial akzeptiert zu
drückten die Frauen eine größere Zufriedenheit mit ihrem Leben sein und harmonisch zu leben (Diener et al. 2003; Uchida u.
aus. Ähnlich geht es leicht depressiven Patienten, die über Men- Kitayama 2009).
schen mit einer noch stärkeren Depression lesen, und sich da- Je nach unseren genetischen Veranlagungen, Erwartungen
raufhin etwas besser fühlen (Gibbons 1986). »Ich weinte, weil ich und den Erfahrungen, die wir in letzter Zeit gemacht haben,
keine Schuhe hatte«, heißt es in einem persischen Sprichwort, scheint sich unser Glücksgefühl um einen individuellen »Glücks-
»bis ich auf einen Mann stieß, der keine Füße hatte«. Sollwert« zu bewegen; er disponiert manche Menschen dazu,
immer etwas glücklicher zu sein, und andere, etwas trauriger und
Prädiktoren für das Glücklichsein negativer eingestellt zu sein (. Abb. 13.31). Aber als Forscher das
Glückliche Menschen teilen viele Eigenschaften (. Tab. 13.2). Leben von Tausenden Personen über zwei Jahrzehnte hinweg
Warum scheinen aber manche Menschen so voller Freude zu wissenschaftlich begleiteten, beobachteten sie, dass die Lebens-
sein, während andere Tag für Tag schlecht gelaunt sind? Die Ant- zufriedenheit der Menschen nichts Feststehendes ist (Lucas u.
wort hierauf ist – wie auch in vielen anderen Bereichen – im Donnellan 2007). Die Zufriedenheit kann größer oder kleiner
Wechselspiel von Genen und Umwelt zu finden. werden; und Glück kann durch Faktoren beeinflusst werden,
durch die wir selbst es in der Hand haben, ob wir glücklich sind
Studien in Zoos zeigen, dass Glücklichsein bei Schimpansen
oder nicht. Ein gutes Beispiel: Eine deutsche Langzeitstudie zeig-
(beurteilt von 200 Zooangestellten) auch genetisch beeinflusst
te, dass verheiratete Paare in gleichem Maße zufrieden mit ihrem
ist ( Weiss et al. 2000, 2002).
Leben waren wie eineiige Zwillinge (Schimmack u. Lucas 2007).
Gene spielen eine Rolle: Aus einer Studie mit 254 ein- und zwei- Die Gene spielen also eine Rolle. Wie diese Studie aber vermuten
eiigen Zwillingen lässt sich schließen, dass die Hälfte der inter- lässt, hat auch die Beziehungsqualität einen Einfluss. (Um for-
13.4 · Emotion und Erfahrung
523 13

. Abb. 13.31 (Copyright © The New Yorker Collection, 2001, Pat Byrnes / cartoonbank.com)

schungsbasierte Tipps zu bekommen, wie man das eigene Glück- chologen glauben daran. Diener (2006, 2009) hat mit Unter-
lichsein steigern kann, siehe 7 Unter der Lupe: Wie man glücklicher stützung von 52 Kollegen Möglichkeiten vorgeschlagen, wie
wird; . Abb. 13.32.) Länder das nationale Wohlbefinden messen können. »Politiker
Wenn es möglich ist, unser Glücklichsein auf der per- sollten nicht nur deshalb am subjektiven Wohlbefinden inte-
sönlichen Ebene zu steigern, ist es dann auch möglich, die ressiert sein, weil es den Bürgern nützt, sondern auch, weil
Forschung, die sich mit diesem Thema beschäftigt, dazu zu sich das subjektive Wohlbefinden des Einzelnen positiv auf
nutzen, die nationalen Interessen wieder mehr auf die Verbes- die ganze Gesellschaft auswirken kann.« Diener und seine
serung subjektiven Wohlbefindens zu konzentrieren? Viele Psy- Kollegen behaupten, dass die Forschung zum Thema Glücklich-

. Abb. 13.32 »Ich habe mein Haus verschenkt, meine Aktien Greenpeace überschrieben und meiner Schwiegermutter die Meinung gesagt – und wann
werde ich jetzt glücklich?« (© Claudia Styrsky)
524 Kapitel 13 · Emotionen, Stress und Gesundheit

Unter der Lupe

Wie man glücklicher wird (aus Myers 1992)

Glücklichsein ist – wie der Cholesterinspiegel – Gesicht auf. Reden Sie, als ob Sie ein positives schwere Zeiten hinweghelfen. Sich jemandem
ein genetisch determiniertes Persönlichkeits- Selbstwertgefühl hätten, als ob Sie optimis- anvertrauen zu können, ist wichtig für Seele
merkmal. Wie wir auf unseren Cholesterin- tisch und extravertiert wären. Wir können und Körper. Im Vergleich zu unglücklichen
spiegel durch Ernährung und Sport Einfluss uns oft durch gezielte Handlungen in eine Menschen verbringen glückliche Menschen
nehmen können, sind wir bis zu einem ge- fröhlichere Stimmung versetzen. mehr Zeit mit sinnvollen Gesprächen als mit
wissen Grad auch in der Lage, unser Glücks- Suchen Sie sich eine Arbeit und Hobbys, bei oberflächlichem Smalltalk (Mehl et al. 2010).
gefühl durch unser persönliches Verhalten zu denen Sie Ihre Fähigkeiten einsetzen können. Entschließen Sie sich, Ihre engsten Bezie-
kontrollieren (Nes 2010; Sin u. Lyubomirsky Glückliche Menschen erleben oft ein »Flow«- hungen zu pflegen: Nehmen Sie sie nicht
2009). Hier sind einige auf Forschungser- Gefühl, also eine völlige Hingabe an eine als selbstverständlich hin, seien Sie zu Ihren
gebnissen beruhende Vorschläge, wie Sie Ihre Herausforderung, die sie jedoch nicht über- Freunden so freundlich wie zu anderen
eigene Stimmung verbessern und mehr fordert. Sehr teure Formen der Freizeitge- Menschen, festigen Sie Ihre Beziehung zu-
Lebenszufriedenheit erreichen können: staltung (auf einer Yacht sitzen) liefern häufig einander, und machen Sie etwas gemeinsam
Machen Sie sich klar, dass anhaltendes Glück weniger Flow-Erleben als Gartenarbeit, Zeit mit ihnen.
nicht von finanziellem Erfolg abhängt. Wir mit Freunden oder handwerkliche Arbeiten. Blicken Sie über sich hinaus. Helfen Sie in Not
passen uns an neue Situationen an, indem Geld führt auch eher zu einem Glücksempfin- geratenen Menschen. Glücklichsein fördert
wir unsere Erwartungen regulieren. Weder den, wenn es für Unternehmungen ausgege- Hilfsbereitschaft: Wer sich gut fühlt, tut Gutes.
Reichtum noch irgendein anderer Umstand, ben wird, auf die man sich im Vorhinein freut, Aber Gutes zu tun hilft einem auch, sich gut
nach dem wir uns sehnen, ist ein Garant für die man genießt und an die man sich später zu fühlen.
Glück. gerne erinnert, als wenn man es für materielle Seien Sie dankbar. Menschen, die ein Dank-
Behalten Sie die Entscheidungsfreiheit über Dinge ausgibt (Carter u. Gilovich 2010). barkeitstagebuch führen, fühlen sich besser
Ihre Zeit. Glückliche Menschen haben das Ge- Wie schon der Kritiker Art Buchwald sagte: (Emmons 2007; Seligman et al. 2005). Nehmen
fühl, ihr Leben im Griff zu haben. Dabei hilft »Die besten Dinge im Leben sind keine Dinge.« Sie sich jeden Tag die Zeit, über die positiven
es ihnen, sich selbst Ziele zu setzen und Schwimmen Sie auf der »Fitnesswelle« mit. Entwicklungen ihres Lebens nachzudenken
sie wiederum in Teilziele in Bezug auf das zu Aerobicübungen können leichte Depressionen und die positiven Ereignisse zu würdigen.
unter teilen, was man an diesem Tag errei- und Ängstlichkeit verringern, indem sie für Denken Sie darüber nach, warum sie sich er-
chen möchte. Das kann frustrierend sein, weil Gesundheit und Kraft sorgen. Ein gesunder eignet haben und drücken Sie ihre Dankbar-
wir alle überschätzen, wie viel wir an einem Geist wohnt in einem gesunden Körper. Be- keit anderen gegenüber aus.
bestimmten Tag erreichen können. Die gute wegt eure Hintern, Couch-Potatoes! Pflegen Sie Ihr spirituelles Selbst. Viele Men-
Nachricht ist, dass wir i. Allg. unterschätzen, Schlafen Sie so viel, wie Ihr Körper will. Glück- schen fühlen sich durch ihren Glauben in einer
13 wie viel wir in einem Jahr erreichen können, liche Menschen leben ein aktives und kraft- religiösen Gemeinschaft aufgehoben, können
wenn wir an jedem einzelnen Tag etwas volles Leben, doch sie nehmen sich auch Zeit dadurch ihren Blick nach außen wenden und
schaffen. für Erneuerung durch Schlaf und Alleinsein. empfinden ein Gefühl von Sinnhaftigkeit und
Handeln Sie, als wären Sie glücklich. Wie Sie in Viele Menschen leiden an Schlafmangel und Hoffnung. Das erklärt, warum Menschen,
diesem Kapitel bereits gesehen haben, fühlen sind deshalb müde, unaufmerksam und die in Glaubensgemeinschaften aktiv sind, be-
sich Menschen besser, wenn man sie dazu schlecht gelaunt. richten, dass sie glücklicher sind und gut mit
bringt, ihre Gesichtsmuskeln so anzuspannen, Geben Sie engen Beziehungen den Vorrang. Krisen zurechtkommen.
dass sie lächeln. Also setzen Sie ein fröhliches Enge Freundschaften können Ihnen auch über

sein neue Möglichkeiten bietet, um den Einfluss verschiede- ständen erlagen – als Folge einer stetig sinkenden Lebenszu-
ner Staatsformen zu erfassen. Glückliche Gesellschaften sind friedenheit (. Abb. 13.33).
nicht nur reich, sondern auch Orte, an denen sich Menschen Wie beeinflussen unsere Emotionen, unsere Persönlichkeit,
gegenseitig vertrauen, sich frei fühlen und enge Beziehungen unsere Einstellungen und Verhaltensweisen unser Krankheits-
untereinander pflegen (Oishi u. Schimmack 2010). Wenn also risiko? Wie können wir Krankheiten vorbeugen sowie Gesund-
über Mindestlöhne, wirtschaftliche Ungleichheit, Steuern, das heit und Wohlergehen fördern? Um zu untersuchen, wie sich
Ehescheidungsrecht, die medizinische Versorgung oder Wohn- sowohl Stress als auch gesunde und ungesunde Lebensweisen auf
gebietsplanung diskutiert wird, sollte das subjektive Wohl- Gesundheit und Krankheit auswirken, schufen Psychologen und
befinden der Bürger starke Beachtung finden. Das haben nun Ärzte das interdisziplinäre Fach der Verhaltensmedizin, das Er-
auch die Regierungen Kanadas, Frankreichs, Deutschlands kenntnisse aus der Verhaltensforschung und aus der Medizin
und Großbritanniens eingesehen und ihre politischen Pro- integriert. Die Gesundheitspsychologie liefert den psychologi-
gramme um den Punkt ergänzt, Maßnahmen für das Wohl- schen Beitrag zur Verhaltensmedizin. Betrachten wir nun einige
befinden zu ergreifen (Cohen 2011; Gertner 2010; Stiglitz Erkenntnisse der Psychologie zum Thema Stress und wie wir ihn
2009). Welch starke Vorhersagekraft die Erfassung des Wohl- bewältigen können.
befindens einer ganzen Nation haben kann, wurde 2011 ersicht- Gesundheitspsychologie (»health psychology«) – Teilbereich der Psycho-
lich, als die Regierungen von Ägypten und Tunesien Volksauf- logie, der den Beitrag der Psychologie zur Verhaltensmedizin liefert.
13.5 · Stress und Gesundheit
525 13
Kühlergrill des Lastwagens. So fuhren sie weiter, ohne dass der
Fahrer Bens Hilfeschreie hören konnte. Als sie den Highway –
ungefähr eine Stunde von meinem Zuhause entfernt – hinunter-
sausten, muss das ein bizarrer Anblick für die vorbeikommenden
Autofahrer gewesen sein: ein Lastwagen, der mit 80 Kilometern
pro Stunde einen Rollstuhl vor sich her schiebt. Sie wählten die
Nummer des Notrufs. (Der erste Anrufer sagte: »Das glauben Sie
nicht! Da ist ein Sattelschlepper auf dem Red Arrow Highway,
der einen Mann in einem Rollstuhl vor sich her schiebt!«) Ben
hatte Glück, einer der Vorbeikommenden war ein verdeckter Er-
mittler. Nachdem er eine schnelle Kehrtwende gemacht hatte,
folgte er dem Lastwagen bis zu seinem Ziel, das ein paar Kilo-
meter vom Startpunkt der wilden Fahrt entfernt lag. Dort infor-
. Abb. 13.33 Sinkendes Wohlbefinden in Ägypten und Tunesien vor den mierte er den ungläubigen Fahrer darüber, dass er mit seinem
Volksaufständen. Der Prozentsatz der Menschen, die sich »auf der Son- Kühlergrill einen Mitfahrer aufgegabelt hatte. »Es war sehr be-
nenseite des Lebens« sahen (die ihre Lebenszufriedenheit auf einer 10-stu- ängstigend«, meinte Ben, der unter Muskeldystrophie leidet.
figen Skala mit 7 oder höher einstuften und die für die nächsten 5 Jahre
In diesem Abschnitt beschäftigen wir uns mit Stress – was
eine 8 oder mehr erwarteten), nahm laut einer Gallup-Umfrage vor den Auf-
ständen 2011 stetig ab und führte letztendlich zu einem Regierungswechsel er genau ist und wie er uns beeinflusst. Außerdem sehen wir uns
(Clifton u. Morales 2011) genauer an, wie wir den Stress in unserem Leben reduzieren
können, um körperlich und geistig aufzublühen.

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13.5.1 Stress: Grundlegende Prinzipien
5 Welcher der folgenden Faktoren ist KEIN Prädiktor für
selbstberichtetes Glücklichsein? Welches sind bessere
Prädiktoren? ? 13.12 Welche Ereignisse rufen Stressreaktionen hervor?
a. Alter Wie reagieren wir auf Stress? Und wie können wir uns daran
b. Persönlichkeitseigenschaften gewöhnen?
c. enge Beziehungen
Stress ist ein schwammiger Begriff. Wir benutzen dieses Wort
d. Geschlecht
manchmal umgangssprachlich, um Bedrohungen und Heraus-
e. »Flow«-Erleben bei der Arbeit und in der Freizeit
forderungen (»Ben stand sehr stark unter Stress«), aber auch um
f. religiöser Glaube
unsere Reaktionen zu beschreiben (»Ben hat akuten Stress emp-
funden«). Für einen Psychologen war der gefährliche Lastwagen
ein Stressor, Bens körperliche und emotionale Reaktionen waren
13.5 Stress und Gesundheit eine Stressreaktion, und der Prozess, mit dem Ben auf seine Um-
welt reagierte, war Stress. Stress ist also ein Prozess, durch den
Wie oft erleben Sie Stress in Ihrem Alltag? Nie? Fast nie? Manch- wir Bedrohungen und Herausforderungen aus der Umwelt
mal? Oder häufig? Als Meinungsforscher Schülern eine ähnliche bewerten und bewältigen (. Abb. 13.34). Zu Stress kommt es
Frage stellten, antworteten fast 85%, dass sie in den letzten 3 Mo- weniger durch die Ereignisse selbst, sondern eher durch die Art
naten Stress hatten – die meisten sagten außerdem, dass dadurch und Weise, wie wir sie bewerten (Lazarus 1998). Der eine über-
mindestens einmal sogar ihre Schularbeiten unterbrochen wurden hört knarrende Geräusche, wenn er allein zu Hause ist, und emp-
(AP 2009). Zu Studienbeginn gaben 18% der Männer und 39% findet keinen Stress; ein anderer vermutet dahinter einen Ein-
der Frauen an, dass sie »häufig überfordert« waren von all den brecher und gerät in einen Alarmzustand. Eine Person sieht eine
Aufgaben, die sie im vergangenen Jahr zu erledigen hatten (Pryor neue berufliche Position als eine willkommene Herausforderung;
et al. 2010). eine andere sieht darin eher die Möglichkeit des Scheiterns.
Stress schlägt oft ohne Vorwarnung zu. Stellen Sie sich vor,
Stress (»stress«) – Prozess, durch den wir bestimmte Ereignisse (Stressoren)
Sie wären der 21 Jahre alte Ben Carpenter auf der weltweit wil- wahrnehmen und darauf reagieren. Stressoren können als Bedrohung oder
desten und schnellsten Rollstuhlfahrt. Als er an einem sonnigen als Herausforderung bewertet werden.
Nachmittag im Sommer 2007 eine Kreuzung überquerte, wurde
es plötzlich dunkel. Der Fahrer eines großen Lastwagens sah ihn Wenn Stressoren nur kurz wirken oder als Herausforderung
nicht und fuhr auf die Kreuzung. Beim Zusammenstoß drehte empfunden werden, können sie sich positiv auswirken. Ein mo-
sich Bens Rollstuhl nach vorne, die Handgriffe verhakten sich im mentaner Stress kann das Immunsystem in Gang setzen, um
526 Kapitel 13 · Emotionen, Stress und Gesundheit

. Abb. 13.34 Bewertung von Stress. Die Ereignisse in unserem Leben fließen durch einen psychologischen Filter. Wie wir ein Ereignis bewerten, hat einen
Einfluss darauf, wie viel Stress wir erleben und wie wirkungsvoll wir reagieren

Infektionen abzuwehren und Wunden zu heilen (Segerstrom ben und auf Ärger im Alltag (»daily hassles«). Alle drei können
2007). Stress erregt uns auch und motiviert uns, Schwierigkeiten schädlich für uns sein.
zu überwinden. In der weltweiten Gallup-Umfrage gaben die-
jenigen, die zwar gestresst, aber nicht deprimiert waren, an, dass jKatastrophen
sie voller Energie und zufrieden mit ihrem Leben seien – ganz im Katastrophen sind unvorhersehbare Ereignisse mit schwerwie-
Gegensatz zu denen, die deprimiert, aber nicht gestresst waren genden Folgen, beispielsweise Krieg, Naturkatastrophen und
und sich antriebslos fühlten (Ng et al. 2009). Hochleistungs- Hungersnöte. Fast jeder empfindet Katastrophen als bedrohlich.
sportler, erfolgreiche Entertainer, große Lehrer und Führungs- Auch wenn Menschen sich oft nach solchen Ereignissen gegen-
persönlichkeiten blühen unter Stress geradezu auf und sind ge- seitig helfen und einander trösten, können schwere gesundheit-
rade dann besonders gut, wenn sie gefordert werden (Blascovich liche Folgen auftreten (. Abb. 13.35). In den ersten 3 Wochen
et al. 2004). Manche Menschen, die eine Krebserkrankung über- nach den Anschlägen am 11. September sagten zwei Drittel der
wunden haben oder über den Verlust eines Arbeitsplatzes hin- befragten Amerikaner, sie hätten gewisse Konzentrations- und
weggekommen sind, entwickeln daraus ein größeres Selbst- Schlafstörungen (Wahlberg 2001). Besonders die New Yorker
13 wertgefühl, eine größere Spiritualität und Sinnhaftigkeit. In der gaben solche Symptome an und plötzlich wurden 28% mehr
Tat führt ein gewisser Stress in der Kindheit oder Jugend später Schlaftabletten verschrieben (HMHL 2002; NSF 2001). In den
zu emotionaler Widerstandskraft und körperlichem Wachs- 4 Monaten nach dem Hurrikan Katrina stieg Berichten zufolge
tum (Landauer u. Whiting 1979). Eine schwierige Lage kann zu die Suizidrate in New Orleans um das Dreifache (Saulny 2006).
Wachstum führen. Für diejenigen, die wegen einer Katastrophe in ein anderes
Starker oder langanhaltender Stress kann sich schädlich aus- Land ziehen, ist der Stress zweigeteilt. Ihr Stress resultiert zum
wirken. Die physiologischen Reaktionen von Kindern auf schwe- einen aus dem Trauma der Entwurzelung und der Trennung von
ren Missbrauch sorgen dafür, dass sie später im Leben ein höheres der Familie, zum anderen aber auch aus den Herausforderungen,
Risiko haben, chronisch krank zu werden (Repetti et al. 2002). die eine Anpassung an die neue Sprache, die Menschen, das Klima
Soldaten, die nach heftigen Kämpfen während des Vietnamkriegs und die gesellschaftlichen Normen der fremden Kultur erfordern
posttraumatische Stressreaktionen aufwiesen, litten auch später (Pipher 2002; Williams u. Berry 1991). Im ersten halben Jahr –
überdurchschnittlich häufig an Kreislauf-, Verdauungs- und bevor sich ihre Stimmung wieder normalisiert – erleben die Neu-
Atembeschwerden sowie an Infektionskrankheiten (Boscarino ankömmlinge oft eine Art Kulturschock und ihr Wohlbefinden
1997). Menschen, die ihren Job verlieren, haben vor allem in verschlechtert sich (Markovizky u. Samid 2008). Solche Umsied-
ihrem späteren Arbeitsleben ein erhöhtes Risiko, Herzprobleme lungen könnten aufgrund des Klimawandels in den kommenden
zu bekommen und zu sterben (Gallo et al. 2006; Sullivan u. von Jahren allerdings immer mehr zur Normalität werden.
Wachter 2009).
Es gibt also eine Wechselwirkung zwischen unserem Geist jBedeutsame Veränderungen im Leben
und unserer Gesundheit. Aber bevor wir diese Wechselwirkung Veränderungen im Leben werden oft sehr intensiv wahrgenom-
unter die Lupe nehmen, wollen wir erst noch einen genaueren men. Sogar fröhliche Ereignisse, wie die eigene Hochzeit, können
Blick auf Stressoren und Stressreaktionen werfen. stressig sein. Andere Veränderungen – das Verlassen des Eltern-
hauses, eine Scheidung, der Verlust des Arbeitsplatzes oder der
Stressoren Tod eines geliebten Menschen – finden oft im frühen Erwach-
Die Forschung hat sich auf drei Arten von Stressoren konzen- senenalter statt. Dies erklärt, warum von den 15.000 kanadischen
triert: auf Katastrophen, auf bedeutsame Veränderungen im Le- Erwachsenen, die gefragt wurden, ob sie versuchten, zu viele
13.5 · Stress und Gesundheit
527 13

. Abb. 13.35 Schädlicher Stress. 1994, am Tag eines Erdbebens in Los Angeles, erlebte die Stadt eine 5-fache Zunahme der Herzinfarkte, die sofort zum
Tod führten. Die meisten davon traten in den ersten beiden Stunden nach dem Beben und in der Nähe des Epizentrums auf. Sie standen nicht in Zusammen-
hang mit körperlichen Strapazen (Muller u. Verrier 1996). Das hier gezeigte Erdbeben auf Haiti im Jahr 2010 hat sicherlich auch stressbedingte Krankheiten
ausgelöst. (© Miami Herald / MCT / Landov / picture alliance)

Dinge gleichzeitig zu erledigen, die stärksten Stressreaktionen ge- geschieden worden waren, anfälliger für Krankheiten sind
rade von den jungen Erwachsenen angegeben wurden. Der Stress (Dohrenwend et al. 1982; Strully 2009). Eine finnische Unter-
der jungen Erwachsenen zeigte sich auch, als 650.000 Amerikaner suchung von 96.000 Witwen und Witwern bestätigte dieses Phä-
gefragt wurden, ob sie »gestern« sehr viel Stress erlebt hatten nomen: Ihr Mortalitätsrisiko verdoppelte sich in der Woche nach
(. Abb. 13.36). dem Tod ihres Partners (Kaprio et al. 1987). Erlebt man mehrere
Psychologen untersuchen die gesundheitlichen Folgen von Krisen gleichzeitig – verliert man beispielsweise gleichzeitig den
Lebensveränderungen, indem sie Menschen über einen längeren Job, sein Zuhause und seinen Partner – so birgt das eine entspre-
Zeitraum hinweg beobachten. Andere vergleichen die erinnerten chend größere Gefahr für die Gesundheit.
Veränderungen im Leben der Menschen, die ein spezifisches ge-
sundheitliches Problem wie etwa einen Herzinfarkt hatten, » Du musst wissen, wann du halten musst, du musst wissen,
mit den Lebenserfahrungen derer, die nichts dergleichen erlebt wann du aussteigen musst, du musst wissen, wann du weg-
hatten. Die Auswertung dieser Studien zeigte, dass Menschen, rennen musst.
die vor kurzem den Ehepartner verloren hatten, entlassen oder Kenny Rogers, The Gambler, 1978

. Abb. 13.36 Stress und Lebensalter. Eine Untersuchung von Gallup-Healthways, in der mehr als 650.000 Amerikaner von 2008 bis 2009 befragt wurden,
ergab, dass der alltägliche Stress im frühen Erwachsenenalter am stärksten ist (Newport u. Pelham 2009; Copyright © 2009 Gallup, Inc. All rights reserved.
The content is used with permission; however, Gallup retains all rights of republication)
528 Kapitel 13 · Emotionen, Stress und Gesundheit

jÄrger im Alltag den Hypothalamus und die Hypophyse) schüttet der äußere Teil
Ereignisse müssen unser Leben nicht komplett durcheinander- der Nebennieren Glukokortikoid-Stresshormone wie Kortisol aus
bringen, um Stress zu verursachen. Stress kann auch schon durch (»Hypophysen-Nebennierenrinden-Achse«). Die beiden Stress-
Ärger im Alltag entstehen: Stau auf dem Weg zur Arbeit, nervige hormonsysteme arbeiten mit unterschiedlicher Geschwindigkeit,
Nachbarn, lange Schlangen im Supermarkt, zu viel Arbeit, Frust erklärt der Biologe Robert Sapolsky (2003): »Im Kampf-Flucht-
in der Familie und Freunde, die einfach nicht ans Telefon gehen Szenario gibt das Adrenalin die Waffen aus; die Glukokortikoide
(Kohn u. Macdonald 1992; Repetti et al. 2009; Ruffin 1993). Man- dagegen entwerfen die Baupläne für neue Flugzeugträger, die für
che Menschen können solchen Alltagsärger einfach abschütteln, die kriegerischen Anstrengungen benötigt werden.« Die Waffen
andere jedoch werden dadurch fast »zum Wahnsinn getrieben«. des Adrenalins feuerten mit hoher Geschwindigkeit während
Mit der Zeit können sich kleine Stressoren summieren und unse- eines Experiments, das zufälligerweise auf einem Flug der British
rer Gesundheit und unserem Wohlergehen ihren Preis abver- Airways von San Francisco nach London durchgeführt wurde.
langen. Drei Stunden nach Abflug wurde den Passagieren fälschlicher-
Viele Menschen können aber auch mit wesentlich drastische- weise eine Durchsage vorgespielt, die ihnen mitteilte, dass das
ren täglichen Ärgernissen zurechtkommen. Während die Große Flugzeug gerade dabei wäre ins Meer zu stürzen. Obwohl die
Rezession in den Jahren 2008 und 2009 ihren Höhepunkt er- Flugbegleiter den Fehler sofort bemerkten und daraufhin ver-
reichte, standen die meistgenannten Stressoren in Bezug zu Geld suchten, die erschrockenen Passagiere zu beruhigen, benötig-
(76%), Arbeit (70%) und Wirtschaft (65%; APA 2010). Diese ten einige von ihnen eine medizinische Versorgung (Associated
Stressoren waren bisher eher bekannt für Bewohner von ver- Press 1999).
armten Gegenden, in denen die Menschen daran gewöhnt sind, Der kanadische Wissenschaftler Hans Selye (1963, 1976),
einem unzureichenden Einkommen, Arbeitslosigkeit, Alleiner- der sich 40 Jahre lang mit Stressforschung beschäftigte, ergänz-
ziehung und Übervölkerung ausgesetzt zu sein. te Cannons Ergebnisse. Seine Studien, in denen er die Reak-
Lang anhaltender Stress strapaziert unser Herz-Kreislauf- tionen von Tieren auf verschiedene Stressoren wie Elektro-
System stark. Tägliche Belastungen können sich mit Vorurteilen schocks und Operationen untersuchte, trugen dazu bei, dass
gegenüber Homosexuellen oder mit Rassismus vermischen, was Stress ein bedeutendes Konzept in Psychologie und Medizin
dann – wie andere Stressoren auch – sowohl psychische als auch wurde. Selye entdeckte, dass die adaptive Reaktion des Körpers
physische Konsequenzen haben kann (Pascoe u. Richman 2009; auf Stress so allgemein war – wie eine Alarmanlage, die unab-
Rostosky et al. 2010; Swim et al. 2009). Der Gedanke daran, dass hängig von der Art des Eindringlings reagiert –, dass er sie
13 manche Menschen, denen man jeden Tag begegnet, einen nicht allgemeines Adaptationssyndrom nannte. Er teilte das allge-
mögen, einem misstrauen oder die eigenen Fähigkeiten an- meine Adaptationssyndrom in drei Phasen ein (. Abb. 13.37).
zweifeln, macht das tägliche Leben anstrengend. Diese Art von
Allgemeines Adaptationssyndrom (»general adaptation syndrome«,
Stress fordert ihren Tribut von der Gesundheit vieler Afroame- GAS) – Selyes Konzept einer adaptiven physiologischen Reaktion auf Stress
rikaner, indem sie den Blutdruck in die Höhe treibt (Ong et al. in drei Phasen: Alarmreaktion, Widerstand, Erschöpfung.
2009; Mays et al. 2007).
Angenommen, Sie erleiden ein körperliches oder emotionales
Das Stressreaktionssystem Trauma. In Phase 1 erleben Sie eine Alarmreaktion, ausgelöst
Das medizinische Interesse an Stress lässt sich bis zu Hippo- durch eine plötzliche Aktivierung Ihres sympathischen Ner-
krates (460–377 v. Chr.) zurückverfolgen. Aber erst in den 1920er vensystems. Ihr Herzschlag wird schneller. Blut strömt in
Jahren bestätigte Walter Cannon (1929), dass die Stressreaktion Ihre Skelettmuskulatur. Sie fühlen sich durch den Schock wie
eine komplexe psychophysiologische Reaktion ist, die sich so- betäubt.
wohl auf körperlicher als auch auf kognitiver Ebene manifestiert. Sobald Ihre Ressourcen mobilisiert sind, sind Sie bereit zu
Er beobachtete, dass extreme Kälte, Sauerstoffmangel und emo- kämpfen: Das ist Phase 2, der Widerstand. Ihre Körpertempera-
tional aufwühlende Ereignisse die Ausschüttung der Stresshor- tur und Ihr Blutdruck bleiben hoch, Sie atmen weiterhin schnell,
mone Adrenalin und Noradrenalin in den Nebennieren fördern. und es kommt zu einer plötzlichen Hormonausschüttung. Sie
Wird der Sympathikus durch eine der Hirnbahnen in Alarm- sind vollkommen damit beschäftigt, all ihre Ressourcen abzuru-
zustand versetzt, beschleunigen sich auch der Herzschlag und die fen, um sich der Herausforderung zu stellen.
Atmung, das Blut wird vom Verdauungstrakt in die Skelettmus- Wenn diese Situation länger andauert, kann der Stress in
kulatur umgeleitet, der Schmerz wird verringert und Zucker und Phase 3, der Erschöpfung, die Reserven Ihres Körpers schließlich
Fett werden aus den Körperdepots freigesetzt. All dies geschieht, aufbrauchen. Im Zustand der Erschöpfung sind Sie anfälliger für
um den Körper auf jene wunderbar adaptive Reaktion vorzube- Krankheiten oder in Extremfällen gar für einen Kollaps oder
reiten, die Cannon Kampf-oder-Flucht-Reaktion nannte. Tod.
Seit Cannons Zeit haben Physiologen noch ein weiteres Selyes Grundaussage: Wenn der menschliche Körper auch
Stressreaktionssystem entdeckt: Auf Befehl der Hirnrinde (über imstande ist, eine Zeitlang mit Stress zurechtzukommen, kann
13.5 · Stress und Gesundheit
529 13

. Abb. 13.37a–c Selyes allgemeines Adaptationssyndrom. Als im Jahr 2010 eine Gold- und Kupfermine in Chile einstürzte, eilten Freunde und Familien
zum Ort des Geschehens. Sie befürchteten das Schlimmste. Viele von ihnen, die draußen vor der Mine Wache hielten, waren durch den Stress des Wartens
und Bangens komplett erschöpft. Nach 18 Tagen erhielten sie schließlich die Nachricht, dass alle 33 Minenarbeiter am Leben und wohlauf waren. (b: © UPI /
Sebastian Padilla / Landov / picture alliance; c: © EPA / GOVERNMENT HANDOUT / picture alliance / dpa)

länger anhaltender Stress körperliche Probleme verursachen. Die gischen Alter entsprach. Dies könnte eine Erklärung dafür sein,
Herstellung neuer Neurone im Gehirn wird verlangsamt und warum schwerer Stress Menschen anscheinend altern lässt. Man
zudem degenerieren manche neuronalen Schaltkreise (Dias- fand heraus, dass sogar ängstliche gestresste Ratten früher ster-
Ferreira et al. 2009; Mirescu u. Gould 2006). In einer Studie ben (etwa nach 600 Tagen) als ihre zutraulicheren Geschwister,
wiesen Frauen, die als Betreuungspersonen für Kinder mit deren Lebensspanne im Schnitt 700 Tage beträgt (Cavigelli u.
schweren Erkrankungen unter anhaltendem Stress litten, ein McClintock 2003).
Symptom auf, das als normaler Bestandteil des Alterungspro- Zum Glück gibt es aber auch noch andere Möglichkeiten, wie
zesses gilt – sie hatten kürzere Telomere – so werden die DNA- man mit Stress umgehen kann. Eine davon ist eine verbreitete
Endstücke an den Chromosomen genannt (Epel et al. 2004). Reaktion auf den Tod eines geliebten Menschen: Man zieht sich
Die Verkürzung der Telomere ist ein normaler Bestandteil des zurück und schont seine Kräfte. Wenn man mit einem furcht-
Alterungsprozesses; wenn aber die Telomere zu kurz werden, baren Unglück, wie dem Sinken eines Schiffes konfrontiert ist,
teilen sich die Zellen nicht mehr und sterben schließlich ab. Die werden manche Menschen wie gelähmt vor Angst. Eine andere
Frauen, die dem stärksten Stress ausgesetzt waren, wiesen Zellen Stressreaktion, die man vor allem unter Frauen beobachten kann,
auf, die ein Jahrzehnt älter aussahen, als es ihrem chronolo- ist Trost zu suchen und Trost zu spenden (Taylor et al. 2000, 2006).
530 Kapitel 13 · Emotionen, Stress und Gesundheit

Diese »Tend-and-befriend«-Reaktion zeigt sich in einem beacht- psychophysiologische Krankheiten; damit sind z. B. Bluthoch-
lichen Anstieg der Hilfsbereitschaft nach Naturkatastrophen. druck und bestimmte Kopfschmerzen ohne eindeutige körperli-
che Ursachen gemeint. Stress hat auch einen Einfluss auf unsere
»Tend-and-befriend«-Reaktion (»tend and befriend«) – unter Stress bieten
Menschen (vor allem Frauen) anderen ihre Unterstützung an (»tend«) und Widerstandskraft gegenüber Krankheiten. Ein relativ neues For-
schließen sich mit ihnen zusammen (»befriend«), um selbst Halt zu finden. schungsfeld – die Psychoneuroimmunologie – ist entstanden
und untersucht nun die Wechselwirkungen zwischen Körper
Wenn sie Stress erleben, tendieren Männer viel häufiger als und Geist (Kiecolt-Glaser 2009). Dieser schwierige Name ergibt
Frauen dazu, sich sozial zurückzuziehen, sich dem Alkohol zuzu- Sinn, wenn man ihn langsam ausspricht: Ihre Gedanken und
wenden oder aggressiv zu werden. Frauen hingegen reagieren auf Gefühle (psycho) beeinflussen Ihr Gehirn (neuro) und das wie-
Stress häufig eher damit, sich mit anderen zusammenzuschließen derum beeinflusst die Hormone, die sich auf Ihr krankheitsbe-
und sich um sie zu kümmern. Das könnte zumindest teilweise an kämpfendes Immunsystem auswirken. Das neue Forschungsfeld
dem stressmildernden Hormon Oxytocin liegen, das in Zusam- ist die Wissenschaft (logie) zu diesen Interaktionen.
menhang mit der Paarbindung bei Säugetieren steht und beim
Psychophysiologische Krankheit (»psychophysical illness«) – wörtlich,
Menschen durch Kuscheln, Massagen und Stillen freigesetzt wird eine »Körper-und-Geist«-Krankheit; körperliche Krankheit, die mit Stress in
(Campbell 2010; Taylor 2006). Geschlechtsunterschiede in der Zusammenhang steht, z. B. Bluthochdruck und bestimmte Formen von
Stressreaktion spiegeln sich in Aufnahmen des Gehirns wider: Kopfschmerzen.
Das Gehirn einer Frau zeigt mehr Aktivität in Bereichen, die für Psychoneuroimmunologie (»psychoneuroimmunology«) – die Wissen-
schaft darüber, wie psychologische, neuronale und endokrine Prozesse
die Gesichtserkennung und Empathie wichtig sind, das von
zusammen das Immunsystem und die daraus resultierende Gesundheit
Männern zeigt dort weniger Aktivität (Mather et al. 2010). beeinflussen.
Oftmals zahlt es sich aus, dass wir unsere Ressourcen dafür
verwenden, vor einer äußerlichen Bedrohung zu fliehen oder Belege für den Einfluss des Nervensystems und des endokrinen
diese zu bekämpfen. Das hat allerdings auch seinen Preis. Wenn Systems auf das Immunsystem finden sich in Hunderten neuerer
der Stress nur vorübergehend auftritt, sind die Kosten dafür ge- Experimente (Sternberg 2009). Ihr Immunsystem ist ein komple-
ring. Ist er allerdings von längerer Dauer, kann es sein, dass wir xes Überwachungssystem, das – wenn es gut funktioniert – Ihren
einen viel höheren Preis dafür zahlen müssen, indem wir bei- Körper gesund hält, indem es Bakterien, Viren und andere
spielsweise eine geringere Widerstandskraft gegen Infektionen Fremdkörper isoliert und zerstört. Vier Zelltypen sind an dieser
haben und auch andere Dinge unser geistiges und körperliches Mission der Suche und Zerstörung beteiligt (. Abb. 13.38). Zwei
13 Wohlbefinden bedrohen. davon sind verschiedene Arten von weißen Blutkörperchen, die
sog. Lymphozyten.
Prüfen Sie Ihr Wissen
Lymphozyten (»lymphocytes«) – zwei Arten von weißen Blutkörperchen,
5 Das Stressreaktionssystem: Wenn wir durch ein negatives die zum körpereigenen Immunsystem gehören. B-Lymphozyten werden
und unkontrollierbares Ereignis in Alarmbereitschaft im Knochenmark gebildet und setzen Antikörper frei, die bakterielle Infek-
tionen bekämpfen. T-Lymphozyten werden in der Thymusdrüse gebildet
versetzt werden, erregt uns unser Nerven-
und haben u. a. die Aufgabe, Krebszellen, Viren und körperfremde Substan-
system. Herzschlag und Atmung zen anzugreifen.
(steigen an/fallen ab). Das Blut wird vom Verdauungs-
trakt zu den Skelett- transportiert. B-Lymphozyten werden im Knochenmark (»bone marrow«)
Der Körper setzt Zucker und Fett frei. All das bereitet den gebildet und setzen Antikörper frei, die bakterielle Infektio-
Körper auf die Reaktion vor. nen bekämpfen. T-Lymphozyten werden in der Thymusdrüse
(»thymus«) und in anderem Lymphgewebe gebildet und greifen
Krebszellen, Viren und fremde Substanzen an, sogar »gute«, wie
etwa transplantierte Organe. Der dritte »Agent« des Immun-
13.5.2 Stress und Krankheitsanfälligkeit systems ist die Makrophage (»Fresszelle«), die schädliche Ein-
dringlinge und gealterte Zellen identifiziert, verfolgt und frisst.
Schließlich gibt es auch natürliche Killerzellen (NK-Zellen), die
? 13.13 Wodurch macht uns Stress anfälliger für Krankheiten?
von Krankheitserregern befallene Zellen verfolgen (solche die
Noch vor kurzem beschrieb der Begriff psychosomatisch körper- von Viren oder Krebs befallen sind). Alter, Ernährung, gene-
liche Symptome mit psychischer Ursache. Für Laien bedeutete tische Veranlagung, Körpertemperatur und Stress beeinflussen
dieser Begriff, dass es sich nicht um »echte« Krankheiten han- gemeinsam die Aktivität des Immunsystems.
delte – sie waren »nur« psychosomatisch. Um derartige Zu- Unser Immunsystem kann sich auf zwei Arten irren. Reagiert
schreibungen zu vermeiden und die wirklichen physiologischen es zu stark, greift es vielleicht sogar körpereigenes Gewebe an
Auswirkungen psychischer Zustände besser zu beschreiben, und führt dadurch zu Arthritis oder zu einer allergischen Reak-
verwenden die meisten Fachleute jetzt stattdessen den Begriff tion. Oder es reagiert zu schwach und lässt beispielsweise zu, dass
13.5 · Stress und Gesundheit
531 13

. Abb. 13.38 Ein vereinfachter Blick auf das Immunsystem

sich ein inaktives Herpes-Virus ausbreitet oder sich Krebszellen Umfeld im Vergleich zu den Affen, die in festen Gruppen lebten,
vermehren. Frauen haben ein stärkeres Immunsystem als Män- ein schwächeres Immunsystem. Das menschliche Immunsystem
ner, dadurch sind sie weniger anfällig für Infektionskrankheiten. reagiert ähnlich. Zwei Beispiele:
Aber genau diese Stärke macht sie wiederum anfälliger für 4 Bei gestressten Menschen heilen Operationswunden lang-
Krankheiten, die das eigene Gewebe angreifen, wie etwa Lupus samer. In einem Experiment wurden Studierenden der
erythematodes oder multiple Sklerose (Morell 1995; Pido-Lopez Zahnmedizin Stichwunden (präzise schmale Löcher, die
et al. 2001). in die Haut gestochen werden) zugefügt. Im Vergleich zu
den Wunden, die in den Sommerferien gestochen wurden,
» Vor den Augen Gottes oder der Biologie oder wessen
heilten die Wunden, die 3 Tage vor einer wichtigen Prüfung
auch immer ist es einfach sehr wichtig, eine Frau zu haben.
gestochen wurden, um 40% langsamer (Kiecolt-Glaser et al.
Der Immunologe Normal Talal (1995)
1998). Ein Ehestreit scheint die Wundheilung ebenfalls zu
Ihr Immunsystem ist kein kopfloser Reiter. Das Gehirn reguliert, verlangsamen (Kiecolt-Glaser et al. 2005).
wie viele Stresshormone ausgeschüttet werden, die ihrerseits die 4 Gestresste Menschen sind anfälliger für Erkältungen. Bei
krankheitsbekämpfenden Lymphozyten unterdrücken. Daher einem weiteren Versuch bekamen 47% der Teilnehmer, die
wird das Immunsystem von Tieren geschwächt, wenn diese in ein stressreiches Leben führten, eine Erkältung, nachdem
ihrer Bewegungsfreiheit beeinträchtigt sind, Elektroschocks ver- ihnen ein Virus in die Nase getropft worden war. Bei den
abreicht bekommen, denen sie nicht ausweichen können, oder Versuchsteilnehmern, die ein relativ stressfreies Leben führ-
mit Lärm, räumlicher Enge, kaltem Wasser oder sozialen Nieder- ten, passierte dies nur in 27% der Fälle (. Abb. 13.39). In
lagen konfrontiert oder von der Mutter getrennt sind (Maier et Nachfolgeversuchen zeigte sich, dass die glücklichsten und
al. 1994). Bei einer Studie wurden die Immunreaktionen von entspanntesten Menschen deutlich weniger anfällig gegen-
43 Affen 6 Monate lang beobachtet (Cohen et al. 1992). 21 von über einem experimentell verabreichten Erkältungsvirus
ihnen wurden dadurch gestresst, dass sie jeden Monat neue »Mit- waren (Cohen et al. 2003, 2006). Andere Studien zeigen
bewohner« bekamen – 3 oder 4 neue Affen. Am Ende des Expe- außerdem, dass viel Stress im Leben das Risiko einer Atem-
riments hatten die Affen mit einem ständig wechselnden sozialen wegsinfektion erhöht (Pedersen et al. 2010).
532 Kapitel 13 · Emotionen, Stress und Gesundheit

Immunsystem und macht uns anfälliger für Eindringlinge von


außen (. Abb. 13.40).
Lassen Sie uns nun überlegen, inwiefern Stress mit Aids,
Krebs und Herzkrankheiten zusammenhängt.

Prüfen Sie Ihr Wissen

5 Der Forschungsbereich beschäftigt sich


mit der Interaktion von Körper und Geist, also mit den
Effekten, die psychologische, neuronale und endokrine
Funktionen auf das Immunsystem und die allgemeine
Gesundheit haben.
5 Welche generellen Effekte hat Stress auf unsere Gesund-
heit?

. Abb. 13.39 Stress und Erkältungen. In einem Experiment von Cohen et Stress und Aids
al. (1991) waren die Personen mit den höchsten Stresswerten im Leben auch Wir wissen bereits, dass Stress die Funktion des Immunsystems
die krankheitsanfälligsten, wenn sie einem experimentell verabreichten
Virus ausgesetzt wurden
einschränkt. Aber was heißt das für Menschen mit Aids (»erwor-
benes Immundefektsyndrom«, »acquired immune deficiency
syndrome«)? Aids ist, wie der Name sagt, eine Immunschwäche-
Die Auswirkungen von Stress auf das Immunsystem lassen sich krankheit, verursacht durch das menschliche Immunschwäche-
physiologisch erklären. Es kostet Energie, Infektionen zu be- virus (HIV, »human immunodeficiency virus«). Weltweit ist Aids
kämpfen, Entzündungsreaktionen auszulösen und Fieber auf- die vierthäufigste Todesursache; in Afrika ist es sogar die Todes-
rechtzuerhalten. Unser Körper verringert daher den Energie- ursache Nr. 1.
verbrauch in den Muskeln durch Untätigkeit und mehr Schlaf. Ironischerweise können, wenn eine Krankheit durch zwi-
Stress bewirkt allerdings das Gegenteil, indem er einen konkur- schenmenschlichen Kontakt verbreitet wird (wie bei Aids durch
13 rierenden Energiebedarf erzeugt. Stress löst eine erregte Kampf- den Austausch von Körperflüssigkeiten, vor allem Sperma und
Flucht-Reaktion aus, entzieht dem Krankheitsbekämpfungs- Blut) und langsam tötet (wie dies bei Aids der Fall ist), tragischer-
system Energie zu Gunsten der Muskeln und des Gehirns und weise mehr Menschen daran sterben: Wer HIV-positiv ist, steckt
macht uns anfälliger für Krankheiten (. Abb. 13.6). Mit einem andere oft innerhalb der ersten Wochen – die hochinfektiös sind
Wort: Stress macht uns nicht krank, aber er beeinträchtigt unser – an, weil die Betroffenen nicht wissen, dass sie infiziert sind.

. Abb. 13.40 »Und nun atmen wir alle zusammen tief ein …« (© Claudia Styrsky)
13.5 · Stress und Gesundheit
533 13

. Abb. 13.41 Afrika ist der Brennpunkt in Sachen Aids. In Lesotho, Uganda und anderswo umfassen die Präventionsmaßnahmen u. a. die »ABC«-Kam-
pagne – »Abstinence, Be faithful, and use Condoms«. (© UNAIDS / G. Pirozzi)

Weltweit wurden 2009 2,6 Mio. Menschen – etwas mehr als 50% Programm (für »abstinence, being faithful, condom use«; Absti-
waren Frauen – oft ohne ihr Wissen mit dem HI-Virus infiziert nenz, Treue, Verwendung von Kondomen), das in vielen Ländern
(UNAIDS 2010). Wenn die HIV-Infektion einige Jahre nach der zur Anwendung kommt und vor allem in Uganda mit Erfolg
ursprünglichen Infektion in Form von Aids ausbricht, kann der durchgeführt wird (Altman 2004; USAID 2004; . Abb. 13.41).
Betroffene andere Krankheiten wie Lungenentzündung nicht
In Nordamerika und in Westeuropa sind 74% der Menschen
bekämpfen. Weltweit sind mehr als 25 Mio. Menschen an den
mit Aids Männer. In der Region Afrikas südlich der Sahara sind
Folgen von Aids gestorben (UNAIDS 2010).
60% der Menschen mit Aids Frauen (UNAIDS 2010).
Stress kann nicht dazu führen, dass Menschen Aids bekom-
men. Aber könnten Stress und negative Gefühle den Übergang
der HIV-Infektion zu Aids bei bereits Infizierten vielleicht be- Stress und Krebs
schleunigen? Könnte Stress die Geschwindigkeit, in der sich der Stress führt nicht dazu, dass Krebszellen entstehen. In einem ge-
Gesundheitszustand der Aids-Erkrankten verschlechtert, vorher- sunden und funktionstüchtigen Immunsystem suchen Lympho-
sagen? Die Antwort auf beide Fragen scheint »ja« zu sein (Bower zyten, Makrophagen und natürliche Killerzellen nach Krebs-
et al. 1998; Kiecolt-Glaser u. Glaser 1995; Leserman et al. 1999). zellen und krebsartig geschädigten Zellen. Wenn Stress also das
Bei HIV-Infizierten, die stressreichen Lebensumständen, wie Immunsystem einer Person schwächt, wäre es dann möglich,
etwa dem Verlust des Partners, ausgesetzt sind, ist eine stärker dass dadurch auch die Fähigkeit, Krebs zu bekämpfen, ver-
ausgeprägte Immunschwäche und ein schnelleres Fortschreiten mindert wird? Um einen möglichen Zusammenhang zwischen
der Krankheit zu beobachten. Stress und Krebs zu erforschen, wurden Nagetieren in Versuchen
Wäre es daher sinnvoll, den Stress zu verringern, um die Tumorzellen implantiert oder karzinogene (Krebs erzeugende)
Krankheit besser in den Griff zu bekommen? Auch hier scheint Substanzen verabreicht. Die Tiere, die gleichzeitig unkontrol-
die Antwort auf diese Frage wiederum »ja« zu lauten. Fortbil- lierbarem Stress ausgesetzt waren, wie etwa Stromstößen, denen
dungsinitiativen, Trauergruppen, kognitive Verhaltenstherapie sie nicht entkommen konnten, waren anfälliger für Krebs. Bei
und Übungsprogramme zur Stressreduktion haben positive Aus- Nagetieren mit einem durch Stress geschwächten Immunsystem
wirkungen auf HIV-positive Menschen (Baum u. Posluszny 1999; entwickelten sich die Tumore schneller und wurden größer
McCain et al. 2008; Schneiderman 1999). Die Vorteile dieser (Sklar u. Anisman 1981).
Maßnahmen sind im Vergleich zu den verfügbaren medikamen- Trifft diese Verbindung zwischen Stress und Krebs auch auf
tösen Behandlungen allerdings gering. Menschen zu? Die Ergebnisse sind gemischt. Einige Forscher
Obwohl Aids heute besser behandelbar ist als jemals zuvor, ist berichten, dass Menschen ein Jahr nach einer Depression, nach
es weitaus besser, eine HIV-Infektion zu verhindern. Und das ist einer ausweglosen Situation oder einem Trauerfall ein erhöhtes
der zentrale Punkt in vielen Programmen wie etwa dem ABC- Krebsrisiko haben (Chida et al. 2008; Steptoe et al. 2010). Aus
534 Kapitel 13 · Emotionen, Stress und Gesundheit

einer großen schwedischen Studie wurde deutlich, dass Men- Stress und Herzkrankheiten
schen mit Stress am Arbeitsplatz ein 5,5-mal höheres Risiko
? 13.14 Warum neigen manche Menschen mehr zu koronaren
hatten, an Dickdarmkrebs zu erkranken als Menschen ohne der-
Herzkrankheiten als andere?
artige Probleme, ein Unterschied, der sich nicht auf Alters-
unterschiede, Rauch- oder Trinkgewohnheiten oder körperliche Stress steht in einem viel stärkeren Zusammenhang mit
Merkmale zurückführen ließ (Courtney et al. 1993). Andere koronaren Herzerkrankungen – der häufigsten Todesursache in
Forscher fanden keinen Zusammenhang zwischen Stress und Nordamerika, ebenso wie in Deutschland. Bei dieser Krankheit
Krebs beim Menschen (Coyne et al. 2010; Petticrew et al. 1999, verschließen sich schrittweise die Gefäße, die den Herzmuskel
2002). Bei Insassen von Konzentrationslagern und bei ehema- versorgen. Zusätzlich zum erhöhten Blutdruck und zum Auf-
ligen Kriegsgefangenen fand man beispielsweise keine erhöhten treten der Krankheit in der Familiengeschichte steigern zahl-
Krebshäufigkeiten. reiche Verhaltensweisen und physiologische Faktoren das Risiko
Wenn Studien über einen Zusammenhang von Einstellun- einer Herzkrankheit: Rauchen, Fettleibigkeit, besonders fetthal-
gen und Krebs ins Zentrum der allgemeinen Aufmerksamkeit tige Ernährung, wenig Bewegung und ein erhöhter Cholesterin-
rücken, besteht die Gefahr, dass sich einige Patienten dazu ver- spiegel. Psychische Stressfaktoren und Persönlichkeitsfaktoren
leiten lassen können, sich selbst für ihre Krankheit die Schuld spielen ebenfalls eine wichtige Rolle.
zu geben: »Wäre ich doch nur fröhlicher, entspannter und zu-
Koronare Herzerkrankungen (»coronary heart disease«) – zusammenfas-
versichtlicher gewesen!« Eine weitere Gefahr ist die »Wellness- sende Bezeichnung für alle Erkrankungen, bei denen die Sauerstoffver-
Macho-Einstellung« unter den Gesunden, die ihrem eigenen sorgung des Herzmuskels durch verstopfte Gefäße beeinträchtigt ist; eine
»gesunden Charakter« das Verdienst an ihrer Gesundheit zu- der Haupttodesursachen in vielen Industrienationen.
schreiben und den Kranken Schuldgefühle suggerieren: »Krebs
hat sie? Das kommt davon, wenn man seine Gefühle zurückhält In einer inzwischen klassischen Studie wollten Meyer Friedman,
und immer nur nett ist.« So wird der Tod zum ultimativen Ver- Ray Rosenman und ihre Kollegen überprüfen, ob Stress die
sagen erklärt. Anfälligkeit für Herzkrankheiten erhöht, und maßen daher den
Cholesterinspiegel und die Blutgerinnungszeit von 40 ameri-
» Ich hab mir meinen Krebs nicht selbst gemacht.
kanischen Steuerberatern an verschiedenen Zeitpunkten im Jahr
Bürgermeisterin Barbara Boggs Sigmund (1939–1999),
(Friedman u. Ulmer 1984). Von Januar bis März waren beide
Princeton (New Jersey)
Werte völlig normal. Als die Steuerberater unter großem Stress
13 Wenn die organischen Ursachen einer Erkrankung nicht erkenn-
darum bemüht waren, die Steuererklärungen ihrer Klienten bis
bar sind, ist die Versuchung groß, sich psychologische Erklä-
zur Abgabefrist am 15. April fertigzustellen, stiegen ihre Choles-
rungen auszudenken. Ehe das Tuberkulosebakterium entdeckt
terin- und Blutgerinnungswerte gefährlich an. Im Mai und Juni,
wurde, wurde gern in der Persönlichkeit des Kranken nach einer
als die Abgabefrist vorüber war, gingen die Werte auf ihren nor-
Erklärung gesucht (Sontag 1978).
malen Stand zurück. Stress führte bei diesen Menschen also zu
einem erhöhten Herzinfarktrisiko. Damit waren die Voraus-
Wichtig genug, um es nochmals zu wiederholen: Durch Stress setzungen für eine klassische 9-jährige Studie mit über 3000 ge-
entstehen keine Krebszellen. Schlimmstenfalls wird deren Wachs- sunden Männern zwischen 35 und 59 gegeben.
tum möglicherweise durch eine Schwächung der natürlichen Zu Beginn der Studie befragten sie jeden Teilnehmer 15 Minu-
Abwehrkräfte des Körpers gegen einige wuchernde, bösartige ten lang zu seiner Arbeit und seinen Essgewohnheiten. Während
Zellen beeinflusst (Antoni u. Lutgendorf 2007). Auch wenn ein des Interviews hielten sie fest, wie der Mann sprach und was ihnen
entspanntes, hoffnungsvolles Befinden diese Abwehrkräfte stär- sonst an seinem Verhalten auffiel. Diejenigen, die reaktionsberei-
ken kann, sollten wir uns des schmalen Grats bewusst sein, der ter, ehrgeiziger, härter, ungeduldiger und gehetzter waren, dazu
Wissenschaft und Wunschdenken voneinander trennt. Im fort- noch übermotiviert, verbal aggressiv und leicht reizbar zu sein
geschrittenen Stadium einer Krebs- oder Aids-Krankheit läuft schienen, nannten sie Typ A. Die in etwa gleiche Anzahl Teilneh-
eine biologische Kettenreaktion ab, die durch Stressvermeidung mer, die gelassener reagierten, nannten sie Typ B (. Abb. 13.42).
nicht umgepolt werden kann, auch nicht indem man eine ent- Welche der beiden Gruppen erwies sich Ihrer Meinung nach als
spannte, aber entschlossene Haltung einnimmt (Anderson 2002; anfälliger für koronare Herzkrankheiten?
Kessler et al. 1991). Das erklärt auch, warum Forscher einstim-
Typ A (»type A«) – Friedmans und Rosenmans Bezeichnung für ehrgeizige,
mig darauf hinweisen, dass eine Psychotherapie das Leben eines gehetzte, ungeduldige, aggressive und reizbare Menschen.
Krebspatienten nicht verlängern kann (Coyne et al. 2007, 2009; Typ B (»type B«) – Friedmans und Rosenmans Bezeichnung für gelassene
Coyne u. Tennen 2010). und entspannte Menschen.

Neun Jahre später, hatten 257 Männer Herzinfarkte bekommen;


69% von ihnen waren Typ A. Mehr noch: Kein einziger der »rei-
13.5 · Stress und Gesundheit
535 13
Wut in Verbindung mit einem aggressiven, leicht erregbaren
Temperament. Wie wir aus diesem Kapitel und dem darin ent-
haltenen Abschnitt über Wut bereits wissen, lenkt unser aktives
sympathisches Nervensystem den Blutfluss zu den Muskeln und
weg von inneren Organen, wenn wir geärgert oder herausgefor-
dert werden. Eines dieser Organe – die Leber – kann ihre Auf-
gabe, Cholesterin und Fett aus dem Blut zu entfernen, nicht mehr
erfüllen. A-Typen sind öfter »kampfeslustig«. Daher enthält
ihr Blut möglicherweise zu viel Cholesterin und zu viel Fett, das
jeweils später in der Nähe des Herzens abgelagert wird. Zusätz-
licher Stress – manchmal auch Konflikte, die sich aus ihrer
eigenen schroffen Art ergeben – können zu einem veränderten
Herzrhythmus führen, was bei Menschen mit einem schwachen
Herzen zum plötzlichen Tod führen kann (Kamarck u. Jennings
1991). Feindseligkeit steht auch mit anderen Risikofaktoren –
wie Rauchen, Trinken und Übergewicht – im Zusammenhang
(Bunde u. Suls 2006). In bedeutsamer Weise spielen Herz und
Kopf zusammen.

» Am Feuer, das Sie bei Ihrem Feind legen, verbrennen Sie sich
oft stärker als er.
Chinesisches Sprichwort

Hunderte andere Studien an Männern und Frauen jungen und


mittleren Alters haben bestätigt, dass diejenigen, die mit Wut auf
Kleinigkeiten reagieren, am anfälligsten für Erkrankungen der
Herzkranzgefäße sind. Negative Emotionen zu unterdrücken,
steigert das Risiko dabei nur noch (Kupper u. Denollet 2007). In
einer Studie wurden 13.000 Personen mittleren Alters 5 Jahre
lang wissenschaftlich begleitet. Bei den Teilnehmern mit nor-
malem Blutdruck war die Wahrscheinlichkeit, einen Herzinfarkt
. Abb. 13.42 (© Claudia Styrsky) zu bekommen, 3-mal höher, wenn sie hohe Werte für Wut er-
zielten, sogar wenn die Forscher die Faktoren Rauchen und Ge-
wicht statistisch kontrollierten (Williams et al. 2000). Für eine
nen« B-Typen – die heitersten und gelassensten ihrer Gruppe – weitere Studie wurden 105 männliche Medizinstudenten ausge-
hatte einen Herzinfarkt erlitten. wählt und durchschnittlich 36 Jahre lang beobachtet. Diejenigen,
Wie so häufig in der Wissenschaft rief auch diese aufregende die sich selbst als hitzköpfig bezeichnet hatten, traf eine 5-mal
Entdeckung ein enormes öffentliches Interesse hervor. Aber nach höhere Wahrscheinlichkeit, bis zum Alter von 55 Jahren einen
der ersten Begeisterungswelle begannen sich andere Forscher zu Herzinfarkt zu erleiden (Chang et al. 2002). Spielberger u. London
fragen, ob dieses Ergebnis denn auch wirklich verlässlich war. (1982) drücken es so aus: »Wut scheint auf uns zurückzuschlagen
Wenn ja, was ist dann die schädliche Komponente des Typ-A- und den Herzmuskel zu treffen.«
Profils? Hetze, Konkurrenzverhalten und Ehrgeiz oder Wut bzw.
Feindseligkeit?
» Ein fröhlich Herz macht das Leben lustig; aber ein betrübter
Mut vertrocknet das Gebein.
Sowohl in Indien als auch in Amerika sind Busfahrer vom Typ A Sprüche 17, Vers 22
üble Autofahrer: Sie bremsen, überholen und betätigen die
Pessimismus scheint ähnlich schädlich zu sein. Laura Kubzansky
Hupe häufiger als ihre gelasseneren Kollegen vom Typ B (Evans
und ihre Kollegen (2001) untersuchten 1306 zunächst gesun-
et al. 1987).
de Männer, die 10 Jahre zuvor in die Kategorien »Optimist«,
Mehr als 700 Studien haben bisher untersucht, welche möglichen »Pessimist«, »weder–noch« eingeteilt worden waren. Auch wenn
psychologischen Korrelate oder Prädiktoren es für kardiovas- Risikofaktoren wie Rauchen ausgeschlossen wurden, war die
kuläre Gesundheit gibt (Chida u. Hamer 2008; Chida u. Steptoe Wahrscheinlichkeit, eine Herzkrankheit zu bekommen, bei den
2009). Diese haben gezeigt, dass das, was den A-Typ wirklich Pessimisten mehr als doppelt so hoch wie bei den Optimisten
toxisch werden lässt, negative Emotionen sind – insbesondere (. Abb. 13.43).
536 Kapitel 13 · Emotionen, Stress und Gesundheit

gen, die berichteten unter »viel zu hohem« Druck bei der


Arbeit zu stehen, ein um 40% erhöhtes Risiko für Herzer-
krankungen haben (Allesøe et al. 2010).
4 Der unfreiwillige Verlust des Arbeitsplatzes lässt das Herz-
infarktrisiko um mehr als das Doppelte steigen (Gallo et
al. 2006). Das zeigte eine Studie in den Vereinigten Staaten,
bei der Arbeiter mittleren Alters über 10 Jahre begleitet
wurden. Durch eine Stichprobe von 1059 Frauen, die über
einen Zeitraum von 14 Jahren beobachtet wurden, konnte
festgestellt werden, dass das Risiko für Herzerkrankungen
verdreifacht ist, wenn sie unter fünf oder mehr Stress-
symptomen leiden, die auf ein Trauma zurückzuführen
. Abb. 13.43 Pessimismus und Herzkrankheiten. Ein Team der Harvard sind (Kubzansky et al. 2009).
School of Public Health fand heraus, dass für pessimistische erwachsene
Männer das Risiko, innerhalb eines Zeitraums von 10 Jahren an einer Herz-
Forscher sind der Meinung, dass sowohl Herzkrankheiten als
krankheit zu erkranken, doppelt so hoch ist. (Aus Kubzansky et al. 2001,
mit freundlicher Genehmigung der American Psychosomatic Society und auch Depressionen daraus resultieren, dass Stress zu einer an-
Wolters Kluwer Health) haltenden Entzündung führt (Matthews 2005; Miller u. Blackwell
2006). Nach einem Herzinfarkt erhöhen Stress und Angst das
Risiko zu sterben oder aber einen weiteren Infarkt zu erleiden
Auch eine Depression kann tödlich sein. Fröhliche Menschen (Roest et al. 2010). Wie wir bereits gesehen haben, stört Stress das
tendieren dazu, gesünder zu sein und länger zu leben als ihre krankheitsbekämpfende Immunsystem, um unseren Körper da-
unglücklichen Mitmenschen (Diener u. Chan 2011; Siahpush et rauf vorzubereiten, seine Energien zu bündeln, um der Be-
al. 2008). Ernest Abel und Michael Kruger (2010) fanden heraus, drohung zu entfliehen oder sie zu bekämpfen. Stresshormone
dass sogar ein breites, fröhliches Lächeln zu einem längeren Leben fördern allerdings auch den Teil der Immunreaktion, der dazu
führt. Zu diesem Ergebnis kamen sie, nachdem sie die Fotos führt, dass Proteine produziert werden, die zur Entzündungs-
von 150 Baseball-Spielern aus der Major League untersuchten, die reaktion beitragen. Deshalb sind Menschen, die soziale Bedro-
1952 im Baseball Register erschienen und im Jahr 2009 verstorben hungen erleben – wie etwa Kinder, die in schlechten Familien-
13 waren. Im Durchschnitt waren diejenigen, die nicht lächelten, mit verhältnissen aufwachsen –, anfälliger für Entzündungsreaktio-
73 Jahren gestorben. Diejenigen, die ein breites und authentisches nen (Dickerson et al. 2009; Miller u. Chen 2010). Entzündungen
Lächeln zeigten, waren durchschnittlich mit 80 Jahren gestorben. bekämpfen Infektionen; wenn Sie sich schneiden, sorgt die Ent-
Die Befunde aus 57 Studien deuten in der Summe darauf hin, zündung dafür, dass infektionsbekämpfende Zellen vor Ort ge-
dass »Depressionen das Mortalitätsrisiko stark erhöhen, insbe- rufen werden. Anhaltende Entzündungen können allerdings zu
sondere den Tod durch nicht natürliche Ursachen und Herz- Problemen wie Asthma oder verstopften Arterien führen sowie
Kreislauf-Erkrankungen« (Wulsin et al. 1999). Nachdem sie Depressionen verschlechtern (. Abb. 13.44). Forscher sind des-
63.469 Frauen über 12 Jahre hinweg begleitet hatten, fanden For- halb nun dabei, die molekularen Mechanismen zu entschlüsseln,
scher heraus, dass die Wahrscheinlichkeit, infolge eines Herz- durch die Stress – bei manchen Menschen – Gene aktiviert, die
infarkts zu sterben, bei denjenigen Frauen, die anfangs als de- Entzündungsreaktionen kontrollieren (Cole et al. 2010).
pressiv eingestuft worden waren, mehr als doppelt so hoch war Derzeit können wir die Auswirkungen von Stress auf unsere
(Whang et al. 2009). In den Jahren nach einem Herzinfarkt sind Widerstandsfähigkeit gegen Krankheiten als den Preis ansehen,
depressive Menschen 4-mal anfälliger für weitere Herzprobleme den wir für den Nutzen von Stress bezahlen (. Abb. 13.45). Stress
als Menschen ohne Depressionen (Frasure-Smith et al. 2005). steigert unsere Lebensqualität, indem er uns anspornt und moti-
Eine Depression ist entmutigend. viert. Ein Leben ohne Stress wäre wohl kaum sehr produktiv und
Depressive Menschen rauchen mehr und bewegen sich weni- würde nicht viel Spaß machen.
ger (Whooley et al. 2008). Stress an sich ist allerdings auch ent- Die Forschung in der Verhaltensmedizin erinnert uns wieder
mutigend: an ein altes, aber immer noch aktuelles Thema der Psychologie:
4 Indem Forscher 17.415 amerikanische Frauen mittleren Körper und Seele interagieren. Alles, was psychologisch ist, ist stets
Alters beobachtet haben, konnten sie herausfinden, dass auch physiologisch. Psychische Zustände schlagen sich in physio-
das Herzinfarktrisiko unter denjenigen Frauen, die unter logischen Ereignissen nieder, die andere Teilbereiche unseres
erheblichem Stress bei der Arbeit leiden, um 88% erhöht physiologischen Systems beeinflussen. Schon allein daran zu
ist (Slopen et al. 2010). denken, in ein Stück von einer Orange zu beißen – wie der
4 In Dänemark konnte durch eine Studie an 12.116 weib- süße, geschmackvolle Saft aus der fleischigen Frucht auf
lichen Krankenschwestern festgestellt werden, dass diejeni- Ihrer Zunge zergeht –, kann bereits Speichelfluss auslösen. Der
13.6 · Gesundheitsförderung
537 13
13.6 Gesundheitsförderung

Gesundheitsförderung beginnt mit dem Einsatz von Strategien


zur Krankheitsvorbeugung und zur Steigerung des Wohlbe-
findens. Seit jeher haben die Menschen nur dann über ihre Ge-
sundheit nachgedacht, wenn etwas nicht stimmte – sie suchten
dann zur Diagnose und Behandlung einen Arzt auf. Dies ist, so
die Gesundheitspsychologen, als würde man die Wartung eines
Autos ignorieren und erst dann in die Werkstatt gehen, wenn das
Auto kaputt ist. Gesundheitsförderung umfasst heute Möglich-
keiten, mit Stress umzugehen, Krankheiten vorzubeugen und das
Wohlbefinden zu steigern.

. Abb. 13.44 Stress ൺ Entzündung ൺ Herzerkrankung und Depression.


Gregory Miller und Ekin Blackwell (2006, copyright © 2006 by SAGE Publica-
13.6.1 Bewältigung von Stress
tions. Reprinted by Permission of SAGE Publications) berichten, dass chro-
nischer Stress zu anhaltenden Entzündungen führt, was wiederum sowohl
das Risiko einer Depression als auch das Risiko verstopfter Arterien erhöht
? 13.15 Wie gehen Menschen mit Stress um? Und wie
beeinflusst ein wahrgenommener Mangel an Kontrolle die
Gesundheit?

indische Gelehrte Santi Parva erkannte diesen Zusammenhang Stressoren lassen sich nicht vermeiden. Aus dieser Tatsache,
bereits vor mehr als 4000 Jahren: »Seelische Störungen haben in Verbindung mit der wachsenden Erkenntnis, dass Stress mit
körperliche Ursachen, und ebenso haben körperliche Störungen Herzkrankheiten, Depressionen und einem geschwächten Im-
seelische Ursachen.« Es gibt ein Zusammenspiel zwischen unse- munsystem zusammenhängt, können wir eine eindeutige Bot-
rem Kopf und unserer Gesundheit. Wir sind biopsychosoziale schaft ableiten: Wir müssen lernen, den Stress in unserem Leben
Systeme. zu bewältigen, indem wir Wege finden, ihn emotional, kognitiv
und im Verhalten zu verringern. Diese Stressbewältigung wird
auch als »Coping« bezeichnet. Wir gehen einige Stressoren un-
Prüfen Sie Ihr Wissen
mittelbar an durch problemfokussierte Bewältigung. Wenn z. B.
5 Welcher Bestandteil der Persönlichkeit des A-Typs unsere Ungeduld in der Familie zu Auseinandersetzungen führt,
konnte am stärksten in Zusammenhang mit koronaren können wir direkt zu diesem Familienmitglied gehen und die
Herzkrankheiten gebracht werden? Dinge ins Reine bringen. Wir neigen dazu, problemfokussierte
Strategien einzusetzen, wenn wir meinen, eine Situation im Griff

. Abb. 13.45a,b Stress kann vielfältige Auswirkungen auf die Gesundheit haben. Dies trifft insbesondere bei »krankheitsanfälligen« wütenden, depres-
siven oder ängstlichen Menschen zu. Durch die gegenwärtige Wirtschaftsrezession Job und Einkommen zu verlieren, hat für viele Menschen zu erheblichem
Stress geführt. So wahrscheinlich auch bei diesem Chinesen, der in einem sog. »Kapselhotel« in Haikou lebt. (© Chen kang – Imaginechina / picture alliance)
538 Kapitel 13 · Emotionen, Stress und Gesundheit

. Abb. 13.46 Gesundheitliche Folgen von Kontrollverlust. Die »Chef-Ratte« links kann den Stromstoß am Schwanz ausschalten, indem sie das Rad dreht.
Da sie die Stromstöße steuern kann, ist für sie die Wahrscheinlichkeit, Geschwüre zu bekommen, nicht größer als für die Ratte auf der rechten Seite, die
keinen Stromstößen ausgesetzt ist. Die »untergeordnete« Ratte in der Mitte erhält dieselben Stromstöße wie die »Chef-Ratte«. Aber da die »untergeordnete«
Ratte keine Kontrolle über die Stromstöße hat, besteht eine größere Wahrscheinlichkeit, dass sich bei ihr Geschwüre bilden. (Nach Weiss 1977; Bildrechte:
H. W. Freeman)

zu haben, und glauben, die Umstände ändern zu können oder türe für ein Seminar nachkommen, ständig auf Partys gehen, um
zumindest uns selbst ändern zu können, damit wir kompetenter diesen Gedanken aus ihrem Kopf zu bekommen. Manchmal
mit den Umständen umgehen. Wir wenden uns emotionsfo- verringert eine problemfokussierte Strategie (die Lektüre nach-
13 kussierten Strategien zu, wenn wir eine Situation nicht ändern holen) auf wirkungsvollere Weise den Stress und fördert langfris-
können oder meinen, wir könnten sie nicht ändern. Wenn wir tig Gesundheit und Zufriedenheit.
trotz all unserer Bemühungen mit diesem Familienmitglied nicht Zahlreiche Faktoren beeinflussen unsere Fähigkeit, etwas mit
zurechtkommen, könnten wir uns z. B. unseren Freunden anver- Erfolg zu bewältigen; und dazu gehören unser Gefühl der per-
trauen, um Unterstützung und Trost zu suchen. Wenn wir in einer sönlichen Kontrolle, unser Erklärungsstil und unsere unterstüt-
schwierigen Situation sind, neigen einige unter uns dazu, beson- zenden Verbindungen.
nen und problemfokussiert zu reagieren, andere handeln emo-
tionsfokussiert (Connor-Smith u. Flachsbart 2007). Wahrgenommene Kontrolle
Wenn zwei Ratten gleichzeitig Stromstöße bekommen, eine
Coping (Bewältigung; »coping«) – Verringerung von Stress auf emotio-
nalem oder kognitivem Wege bzw. durch Verhalten. jedoch ein Rad drehen kann, um die Stromstöße zu beenden,
Problemfokussierte Bewältigung (»problem-focused coping«) – Versuch, wird die hilflose Ratte anfälliger für Magengeschwüre und ent-
den Stress direkt zu verringern, indem wir den Stressor selbst oder die Art wickelt eine verringerte Immunität gegenüber Krankheiten
und Weise ändern, wie wir damit umgehen. (Laudenslager u. Reite 1984; . Abb. 13.46). Auch beim Menschen
Emotionsfokussierte Bewältigung (»emotion-focused coping«) – Versuch, lösen unkontrollierbare Bedrohungen die stärksten Stressreak-
den Stress indirekt zu verringern, indem man einen Stressor meidet oder tionen aus (Dickerson u. Kemeny 2004). So geht etwa eine bak-
ihn ignoriert und seine Aufmerksamkeit auf emotionale Bedürfnisse richtet,
die mit der eigenen Stressreaktion zusammenhängen.
terielle Infektion oft mit unkontrollierbarem Stress einher und
ruft dann die schwersten Magengeschwüre hervor (Overmier u.
Emotionsfokussierte Strategien können einen Schritt in Rich- Murison 1997). Um das Geschwür zu bekämpfen, tötet man den
tung einer langfristig besseren Gesundheit darstellen, wenn wir Erreger mit Antibiotika ab und bringt die Säuresekretion mit
z. B. versuchen, emotionale Distanz zu einer schädlichen, ab- verringertem Stress unter Kontrolle.
gebrochenen Beziehung zu bekommen, oder wenn wir darauf Wenn wir einen Mangel an Kontrolle erleben, werden wir
achten, uns aktiv mit Hobbys zu beschäftigen, um zu vermeiden, anfällig gegenüber Krankheiten. Wenn Bewohner von Alten-
dass wir an eine alte Sucht denken. Emotionsfokussierte Stra- heimen wenig wahrgenommene Kontrolle über ihre Aktivitäten
tegien können jedoch nichtadaptiv sein, beispielsweise wenn haben, geht es gewöhnlich schneller bergab mit ihnen, und sie
Studierende, die sich Sorgen darüber machen, ob sie mit der Lek- sterben früher als diejenigen, denen man mehr Kontrolle über
13.6 · Gesundheitsförderung
539 13
ihre Aktivitäten gibt (Rodin 1986). Beschäftigte, denen man Prüfen Sie Ihr Wissen
Kontrolle über ihre Arbeitsumgebung ermöglicht – indem man
sie in die Lage versetzt, Büromöbel anders anzuordnen und 5 Um Stress bewältigen zu können, bedienen wir uns
Unterbrechungen und Ablenkungen zu steuern –, empfinden fokussierten (emotions-/problem-)
weniger Stress (O’Neill 1993). Das kann auch als Erklärung dafür Strategien, wenn wir das Gefühl haben, unser Leben
dienen, dass in Großbritannien Staatsangestellte im höheren unter Kontrolle zu haben. fokussierte
Dienst länger leben als die im mittleren und gehobenen Dienst (Emotions-/Problem-) Strategien nutzen wir hingegen
und dass finnische Arbeiter mit wenig Stress im Beruf eine um dann, wenn wir glauben, eine Situation nicht verändern
50% geringere Wahrscheinlichkeit haben, an einer Herz-Kreis- zu können.
lauf-Krankheit (Schlaganfall oder Herzkrankheit) zu sterben,
wenn man sie mit denen vergleicht, die einen fordernden Beruf
und wenig Kontrolle haben. Je mehr Kontrolle Arbeiter haben, Optimismus und Gesundheit
desto länger leben sie (Bosma et al. 1997, 1998; Kivimaki et al.
? 13.16 Was ist die Verbindung zwischen der Grundein-
2002; Marmot et al. 1997).
stellung zum Leben, sozialer Unterstützung, Stress und der
Kontrolle kann auch als Erklärung dafür dienen, dass öko-
Gesundheit?
nomischer Status und Langlebigkeit nachgewiesenermaßen zu-
sammenhängen (Jokela et al. 2009). Nach einer Studie an Ein weiterer Einfluss darauf, wie wir Stress bewältigen, besteht
843 Grabinschriften auf einem alten schottischen Friedhof in darin, wie unsere grundlegende Sicht der Dinge ist – was wir vom
Glasgow lebten diejenigen mit den teuersten, höchsten Grabstei- Leben erwarten. Pessimisten erwarten, dass die Dinge schiefge-
nen (ein Hinweis auf den größten Reichtum) am längsten (Carroll hen. Optimisten hingegen stimmen Aussagen wie »In unsicheren
et al. 1994). Entsprechend gibt es in den Bereichen Schottlands Zeiten erwarte ich normalerweise das Beste« zu, nehmen mehr
mit der geringsten Bevölkerungsdichte und Arbeitslosigkeit die Kontrolle wahr, können stressreiche Ereignisse besser bewältigen
höchste Langlebigkeit. Dort und an anderen Orten kann man und erfreuen sich besserer Gesundheit (Aspinwall u. Tedeschi
aufgrund eines hohen sozioökonomischen Status ein geringeres 2010; Carver et al. 2010; Rasmussen et al. 2009). Während der
Risiko für Erkrankungen des Herzens und der Atmungsorgane letzten Monate eines Semesters berichten Studierende, die zuvor
vorhersagen (Sapolsky 2005). Das gilt auch für Kinder (Chen als optimistisch eingestuft wurden, weniger über Müdigkeit,
2004). Ein höherer ökonomischer Status geht mit einem gerin- Husten, Schmerzen und Wehwehchen. Und während der stress-
geren Risiko für Säuglingssterblichkeit, für ein geringes Gewicht reichen ersten paar Wochen in einem juristischen Aufbau-
bei der Geburt, für Rauchen und Gewalttätigkeit einher. Selbst bei studium (»Law School«) haben diejenigen, die optimistisch
anderen Primaten werden die Tiere am unteren Ende der sozialen sind (»Es ist unwahrscheinlich, dass ich durchfalle«), eine
Hackordnung, wenn sie mit einem Erkältungsvirus in Kontakt bessere Stimmung und ein stärkeres Immunsystem zur Abwehr
kommen, mit größerer Wahrscheinlichkeit krank als ihre Art- von Infektionen (Segerstrom et al. 1998). Optimisten reagieren
genossen mit einem höheren Status (Cohen et al. 1997). Doch für auch mit einem geringeren Anstieg des Blutdrucks auf Stress,
jene Paviane und Affen mit hohem Status, die ihre dominante Po- und sie erholen sich schneller von einer Bypass-Operation am
sition oft körperlich verteidigen müssen, ist hoher Status auch mit Herzen.
Stress verbunden (Sapolsky 2005). (Um mehr über die Psycholo-
gie der persönlichen Kontrolle zu erfahren, siehe 7 Kap. 14.)
» Die älteste Holocaust-Überlebende beschreibt die 107 Jahre
ihres Lebens: ›In einem Wort: Optimismus. Ich sehe immer
Warum kann man aufgrund eines wahrgenommenen Man-
das Gute. Wenn man entspannt ist, ist auch der Körper stets
gels an Kontrolle Gesundheitsprobleme vorhersagen? Tierstudien
entspannt.‹
zeigen – und Studien an Menschen bestätigen dies –, dass Kon-
Alice Herz-Sommer, 2010
trollverlust zum Ausstoß von Stresshormonen führt. Wenn Ratten
Stromstöße nicht kontrollieren können und wenn sich Primaten Betrachten wir an dieser Stelle, wie beständig und erstaunlich
oder Menschen nicht in der Lage fühlen, ihre Umgebung zu kon- stark sich der Faktor der optimistischen und positiven Emo-
trollieren, steigt der Spiegel an Stresshormonen, nimmt der Blut- tionen in vielen anderen Studien zeigt:
druck zu und die Immunreaktionen nehmen ab (Rodin 1986; 4 Über nahezu ein Jahrzehnt wurden 941 Niederländer im
Sapolsky 2005). Daher empfinden Tiere in Gefangenschaft mehr Alter von 65 bis 85 Jahren von einer Forschergruppe
Stress und sind anfälliger für Krankheiten als wilde Tiere (Roberts begleitet (Giltay et al. 2004, 2007). Von denjenigen, deren
1988). Die Menschenansammlungen, wie sie oft in dicht bebauten Optimismuswerte im untersten Quartil lagen, starben
Wohngebieten, Gefängnissen und Studentenheimen auftreten, 57%, wohingegen nur 30% derjenigen starben, deren Opti-
sind ein weiterer Grund für das verringerte Gefühl der Kontrolle mismuswerte im obersten Quartil lagen.
– sowie für einen erhöhten Spiegel an Stresshormonen und für 4 Bei einer Studie, die 2428 finnische Männer mittleren Alters
einen höheren Blutdruck (Fleming et al. 1987; Ostfeld et al. 1987). bis zu 10 Jahre lang wissenschaftlich begleitete, entdeckte
540 Kapitel 13 · Emotionen, Stress und Gesundheit

man, dass die Anzahl der Toten unter den Männern mit Kaplan u. Kronick 2006; Sbarra 2009). Dieser Zusammenhang
einer düsteren hoffnungslosen Sicht der Dinge mehr als ist unabhängig von Alter, Geschlecht, ethnischer Zugehörigkeit
doppelt so hoch war wie unter denjenigen, die optimistisch und Einkommen (National Center for Health Statistics 2004). In
waren (Everson et al. 1996). Amerikanische Forscher sind einer über 70 Jahre angelegten Studie fand man heraus, dass bei
zu demselben Ergebnis gekommen, nachdem sie 4256 Viet- 50-Jährigen eine gute Ehe ein besserer Prädiktor für gesundes
nam-Veteranen begleitet hatten (Phillips et al. 2009). Altern ist als ein niedriger Cholesterinspiegel (Vaillant 2002). Die
4 Eine bekannte Studie hat das Leben von 180 katholischen Unterschiede in der Gesundheit zwischen Verheirateten und
Nonnen nachverfolgt, die mit 22 Jahren eine kurze Auto- Menschen, die noch nie verheiratet waren, sind allerdings kleiner
biografie geschrieben hatten. Obwohl sie danach in einer geworden (Liu 2009).
ähnlichen Lebensweise lebten und mit einem ähnlichen Wie können wir diesen Zusammenhang zwischen sozialer
Status, lebten diejenigen, die Glück, Liebe und andere posi- Unterstützung und Gesundheit erklären? Liegt es daran, dass
tive Gefühle zum Ausdruck gebracht hatten, im Schnitt alleinlebende Erwachsene mittleren und höheren Alters mit
7 Jahre länger als ihre mürrischen Mitschwestern (Danner größerer Wahrscheinlichkeit rauchen, fettleibig sind, einen er-
et al. 2001). Im Alter von 80 Jahren waren etwa 54% der höhten Cholesterinspiegel und deshalb ein verdoppeltes Risiko
Nonnen, die wenige positive Gefühle geäußert hatten, ge- für Herzinfarkte haben (Nielsen et al. 2006)? Oder liegt es etwa
storben; dies war aber nur bei 24% derjenigen der Fall, daran, dass gesunde Menschen mehr Unterstützung anbieten
die am positivsten eingestellt waren. und eher dazu neigen zu heiraten? Möglich. Die Forschung deu-
tet allerdings auf andere Möglichkeiten hin.
> Alles wird gut.
Soziale Unterstützung beruhigt uns und bewirkt, dass Blut-
(Anm. d. Verl.)
druck und Stresshormonspiegel sinken. Mehr als 50 Studien bele-
gen diese Befunde (Graham et al. 2006; Uchino et al. 1996, 1999).
Soziale Unterstützung Um herauszufinden, ob soziale Unterstützung die menschliche
Soziale Unterstützung – das Gefühl, von guten Freunden und der Reaktion auf Bedrohungen mildern kann, verabreichte eine For-
Familie gemocht, bestätigt und ermutigt zu werden – macht schungsgruppe glücklich verheirateten Frauen Elektroschocks
nicht nur glücklich, sondern erhält auch gesund. In groß an- am Fußknöchel, während sie in einem fMRT-Scanner lagen
gelegten Untersuchungen, in denen einige tausende Menschen (Coan et al. 2006). Für die Dauer des Experiments hielt ein Teil
über mehrere Jahre begleitet wurden, konnte gezeigt werden, der Frauen die Hand ihres Ehemanns. Der andere Teil hielt die
13 dass enge Beziehungen einen Einfluss auf die Gesundheit haben. Hand einer unbekannten Person oder gar keine Hand. Während
Es ist weniger wahrscheinlich, dass Menschen sterben, wenn sie sie auf den gelegentlich auftretenden Elektroschock warteten,
von engen Beziehungen getragen werden (Uchino 2009). Nach- zeigten die Frauen, die die Hand ihres Ehemanns hielten, weni-
dem Forscher der Brigham Young University Daten aus 148 Stu- ger Aktivität in den Gehirnarealen, die auf Bedrohungen anspre-
dien mit insgesamt mehr als 300.000 Versuchspersonen welt- chen. Dieser beruhigende Effekt war für diejenigen am größten,
weit analysiert hatten, bestätigte sich der durchschlagende Effekt die berichteten, in einer ausgesprochen guten Ehe zu leben.
sozialer Unterstützung (Holt-Lunstad et al. 2010). Während der Unterstützende Familien und Freunde – egal ob menschlich oder
Studien hatten diejenigen mit weitreichenden sozialen Verknüp- nicht – helfen dabei, Bedrohungen abzufedern (. Abb. 13.47).
fungen Überlebensraten, die ungefähr 50% höher lagen als bei Nach Stress auslösenden Erfahrungen suchen Patienten, die
denen, die nur spärlich gesäte Beziehungen hatten. Wenige Be- einen Hund oder ein anderes geliebtes Haustier haben, seltener
ziehungen zu haben scheint nahezu den gleichen Effekt zu haben ihren Arzt auf (Siegel 1990; 7 Unter der Lupe: Auch Haustiere sind
wie das Rauchen von 15 Zigaretten pro Tag oder eine Alkohol- Freunde).
abhängigkeit. Er ist sogar doppelt so hoch wie der, der durch Soziale Unterstützung sorgt dafür, dass unser Immunsystem
fehlende körperliche Bewegung oder Fettleibigkeit entsteht. besser funktioniert. Dieser Effekt zeigte sich bei freiwilligen Pro-
Menschen sind allerdings nicht die einzigen Wesen, die von banden, die an Studien zur Widerstandskraft gegen virale Er-
Freundschaften profitieren. Bei Pavianen führen starke soziale kältungen teilnahmen (Cohen et al. 1997, 2004). Dabei wurden
Verbindungen zu Verwandten und Freunden in ähnlicher Weise gesunden Freiwilligen Nasentropfen mit einem Erkältungsvirus
zu einer langen Lebensdauer (Silk et al. 2010). verabreicht, anschließend wurden sie unter Quarantäne gestellt
Menschen brauchen andere Menschen. Manche befriedigen und für 5 Tage beobachtet. (Bei diesen Experimenten erhielten
dieses Bedürfnis dadurch, dass sie in Kontakt mit Freunden, der mehr als 600 Probanden jeweils 800 Dollar, um diese Erfahrung
Familie, Kollegen, Mitgliedern einer Glaubensgemeinschaft oder auf sich zu nehmen.) Unter vergleichbaren Bedingungen (in Be-
anderen unterstützenden Gruppen stehen. Andere finden Unter- zug auf die Faktoren Alter, Hautfarbe, Geschlecht, Rauchverhal-
stützung in einer Ehe, die sie positiv und glücklich stimmt. Wer ten und andere Gesundheitsgewohnheiten) waren die Unter-
eine Ehe mit wenigen Konflikten führt, lebt nicht nur länger, suchungsteilnehmer mit den meisten sozialen Beziehungen am
sondern auch gesünder als Unverheiratete (De Vogli et al. 2007; wenigsten erkältungsanfällig und produzierten auch weniger
13.6 · Gesundheitsförderung
541 13

. Abb. 13.47 (© Baby Blues Partnership / Distr. King Features Syndicate / Distr. Bulls)

Schleim. Je umgänglicher jemand war, desto weniger anfällig war kenwagenfahrern bestätigte sich, welche krankmachenden Aus-
er auch. Tatsache ist – und das zeigte sich deutlich –, dass uns wirkungen die Unterdrückung der eigenen Emotionen hat, nach-
soziale Beziehungen nicht gleichgültig sein sollten. dem man ein Trauma erlebt hat (Wastell 2002).
Enge Beziehungen ermöglichen uns eine »Therapie am offenen Es kann auch hilfreich sein, persönliche Traumata einem
Herzen«, die Chance, einer Person schmerzliche Gefühle anzu- Tagebuch anzuvertrauen (Burton u. King 2008; Hemenover
vertrauen (Frattaroli 2006). Über ein belastendes Erlebnis zu 2003; Lyubomirsky et al. 2006). Als Versuchsteilnehmer dies in
sprechen, kann Menschen vorübergehend erregen, wirkt sich einem Experiment taten, hatten sie in den folgenden 4–6 Mo-
aber langfristig beruhigend aus, indem es die Aktivität des lim- naten weniger gesundheitliche Probleme (Pennebaker 1990).
bischen Systems verringert (Lieberman et al. 2007; Mendolia u. Ein Teilnehmer erklärte: »Obwohl ich noch mit niemandem
Kleck 1993). Pennebaker et al. (1989) luden 33 Holocaust-Über- über das gesprochen habe, was ich niederschrieb, schaffte ich
lebende dazu ein, 2 Stunden lang über ihre Erfahrungen zu es schließlich, mich durch den Schmerz zu arbeiten, statt zu ver-
berichten. Viele erzählten Einzelheiten, die sie noch nie zuvor suchen, ihn auszublenden. Jetzt tut es nicht mehr weh, daran zu
ausgesprochen hatten. In den darauffolgenden Wochen sahen denken.«
sich die meisten Teilnehmer Videoaufnahmen von diesen Erin- Wenn wir uns zum Ziel setzen, mehr Sport zu machen,
nerungssitzungen an und zeigten sie der Familie und Freunden. weniger Alkohol zu trinken, mit dem Rauchen aufzuhören oder
Bei denen, die sich am meisten geöffnet hatten, hatte sich der ein gesundes Gewicht zu erreichen, kann uns unser soziales Netz
Gesundheitszustand 14 Monate später am deutlichsten verbes- entweder weiter zu unserem Ziel hin oder davon weg zerren.
sert. Eine andere Studie beschäftigte sich mit den überlebenden Netzwerke, die aus Tausenden von Menschen bestehen, wurden
Partnern von Menschen, die Selbstmord begangen hatten oder bei über Jahre in einer Studie beobachtet. Die Ergebnisse weisen da-
Autounfällen ums Leben gekommen waren. Diejenigen, die ihren rauf hin, dass sich verschiedene Freundeskreise gegenseitig
Schmerz allein ertrugen, hatten größere gesundheitliche Pro- mit Verhaltensweisen »infizieren«, die entweder gut oder aber
bleme als jene, die diesen offen aussprechen konnten (Pennebaker schlecht für die Gesundheit sind (Christakis u. Fowler 2009).
u. O’Heeron 1984). Fettleibigkeit breitet sich beispielsweise innerhalb eines Netz-
werks in einer Art und Weise aus, die bei Weitem nicht dem
» Weh dem, der allein ist! Wenn er fällt, so ist keiner da,
üblichen Phänomen entspricht, dass Menschen immer auf der
der ihm aufhelfe.
Suche nach Gleichgesinnten sind.
Prediger 4, Vers 10

Die Unterdrückung von Emotionen ist manchmal schädlich für Prüfen Sie Ihr Wissen
unsere physische Gesundheit. Als der Gesundheitspsychologe
James Pennebaker (1985) über 700 Studienanfängerinnen befrag- 5 So manche Studie hat ergeben, dass Menschen, die
te, stellte er fest, dass ungefähr eine von zwölf über eine trauma- einen Hund oder ein anderes geliebtes Haustier haben,
tische sexuelle Erfahrung in der Kindheit berichtete. Im Vergleich nach Stress auslösenden Erfahrungen seltener ihren
zu den Frauen, die andere Traumata erlitten hatten, etwa den Tod Arzt aufsuchen als Menschen ohne Haustier (Siegel 1990).
eines Elternteils oder eine Scheidung, berichteten die sexuell miss- Wie kann man diese Ergebnisse vor dem Hintergrund
brauchten Frauen – besonders jene, die ihr Geheimnis für sich erklären, dass soziale Unterstützung gut für die Gesund-
behalten hatten – von häufigeren Kopfschmerzen und Magen- heit ist?
beschwerden. Bei einer weiteren Studie an 437 australischen Kran-
542 Kapitel 13 · Emotionen, Stress und Gesundheit

Unter der Lupe

Auch Haustiere sind Freunde

Haben Sie sich je einen Freund gewünscht, der haben: Die Überlebenschancen nach einem von Aktienhändlern, die allein lebten, ihre
Sie so lieben würde, wie Sie sind, der Sie nicht Herzinfarkt sind besser, Depressionen bei Aids- Arbeit als stressreich beschrieben und einen
ständig bewertet und der immer für Sie da Patienten werden gelindert, und der Spiegel hohen Blutdruck hatten. Nach dem Zufall
ist, gleichgültig in welcher Stimmung Sie sind? der Blutfette, die zum Risiko für Herz-Kreislauf- wählte sie die Hälfte dafür aus, Katzen oder
Viele Millionen Menschen haben einen sol- Krankheiten beitragen, wird gesenkt. Bereits Hunde aus einem Tierheim bei sich aufzu-
chen Freund: Es handelt sich um einen treuen Florence Nightingale (1860), die Pionierin der nehmen. Wenn sie später mit Stress konfron-
Hund oder um eine freundliche Katze. modernen Krankenpflege, sah es voraus: »Ein tiert waren, wiesen alle Probanden erhöhte
Viele Leute beschreiben ihr Haustier als lieb- kleines Haustier ist häufig ein ausgezeichneter Blutdruckwerte auf. Die neuen Tierbesitzer
gewonnenes Mitglied der Familie, das ihnen Gefährte für den Kranken.« In einer Unter- hatten allerdings einen nur halb so hohen
dabei hilft, sich ruhig, glücklich und geschätzt suchung zeigte sich, dass der Blutdruck von Blutdruckanstieg wie diejenigen, die keine
zu fühlen. Können Haustiere Menschen dabei Frauen ansteigt, wenn sie in Anwesenheit Hunde hatten. Der Effekt war am deutlichs-
helfen, mit Stress umzugehen? Wenn dies so ihres Freundes oder sogar ihres Ehegatten mit ten bei denen ohne soziale Kontakte oder
ist, könnten dann Haustiere über eine heilende schwierigen mathematischen Problemen Freunde. Die Schlussfolgerung der Forscherin
Kraft verfügen? Die Forschungsergebnisse ringen; das ist aber in Gegenwart ihres Hundes lautete: Um den Blutdruck zu senken, sind
sind dazu bisher gemischt und vor allem sehr viel weniger der Fall (Allen 2003). Haustiere kein Ersatz für wirksame Medika-
dürftig (Herzog 2010). Deborah Wells (2009) Wären also Hunde eine gute Medizin für Men- mente und Sport, aber sie sind für diejenigen,
und Karen Allen (2003) berichten jedoch, dass schen ohne Haustiere? Um etwas darüber her- die Spaß an Tieren haben und allein leben,
Haustiere tatsächlich positive Auswirkungen auszufinden, untersuchte Allen eine Gruppe ein gesundes Vergnügen.

13.6.2 Stress reduzieren gesunde Weise mit ihm umgehen (. Abb. 13.48). Aerobes Trai-
ning, Entspannung, Meditation und Spiritualität helfen uns da-
Wenn wir das Gefühl der Kontrolle haben, einen optimisti- bei, innere Stärke zu gewinnen und den Stress zu verringern.
scheren Erklärungsstil entwickeln und uns soziale Unterstüt-
zung suchen, so kann dies dazu beitragen, dass wir weniger Stress Aerobes Training
empfinden und sich damit unsere Gesundheit verbessert. Diese
? 13.17 Wie effektiv ist aerobes Training als Möglichkeit, um
Faktoren hängen darüber hinaus auch miteinander zusammen:
mit Stress umzugehen und das Wohlbefinden zu steigern?
13 Menschen, die zuversichtlich sind in Hinblick auf sich selbst und
die eigene Zukunft, neigen auch eher dazu, gesundheitsfördern- Als aerobes Training wird ein sauerstoffverbrauchendes Aus-
de soziale Netze zu genießen (Stinson et al. 2008). Doch manch- dauertraining bezeichnet, bei dem die Funktionsfähigkeit des
mal können wir Stress nicht abbauen und müssen einfach auf Herzens und der Lunge gesteigert wird. Joggen, Schwimmen

. Abb. 13.48 (© Claudia Styrsky)


13.6 · Gesundheitsförderung
543 13
und Radfahren sind verbreitete Beispiele. Eine Schätzung besagt,
dass mäßiger Sport nicht nur die Lebenserwartung steigert –
durchschnittlich um 2 Jahre – sondern durch mehr Energie
und eine bessere Stimmung auch die Lebensqualität erhöht
(Seligman 1994).
Aerobes Training (»aerobic training«) – Ausdauertraining, bei dem
die Funktionsfähigkeit des Herzens und der Lunge zunimmt, kann auch
Depressionen und Angststörungen lindern.

Sport hilft dabei, Herzerkrankungen vorzubeugen, indem er das


Herz stärkt, den Blutfluss zunehmen lässt, die Blutgefäße offen
hält und sowohl den Blutdruck als auch die Blutdruckreaktion
auf Stress in Grenzen hält (Ford 2002; Manson 2002). Menschen,
die Sport treiben, erleiden im Vergleich zu sportlich inaktiven
Menschen nur halb so oft einen Herzinfarkt (Powell et al. 1987;
Visich u. Fletcher 2009). Sport macht die Muskeln hungrig auf
»schlechte Fette«, die, wenn sie nicht von den Muskeln genutzt
werden, zur Verstopfung der Arterien beitragen (Barinaga 1997).
Eine Studie, in der erwachsene finnische Zwillinge nahezu
20 Jahre beobachtet wurden, belegte, dass tägliches Konditions-
training das Mortalitätsrisiko um 43% verringerte (Kujala et al.
1998). Im fortgeschrittenen Alter führt eine regelmäßige sport-
. Abb. 13.49 Ausdauersport und Depressionen. Leicht depressive
liche Betätigung zudem zu einer besseren kognitiven Leistungs-
Studentinnen, die an einem aeroben Trainingsprogramm teilnahmen,
fähigkeit und einem verminderten Risiko für Demenz und die zeigten eine deutlich geringere Depression im Vergleich zu jenen Ver-
Alzheimer-Krankheit (Kramer u. Erickson 2007). suchsteilnehmerinnen, die Entspannungsübungen machten oder keine
Die Gene, die wir von unseren entfernten Vorfahren be- Behandlung erhielten. (Aus McCann u. Holmes 1984, mit freundlicher
Genehmigung der American Psychological Association)
kommen haben, waren die, die uns zu körperlichen Aktivitäten
befähigen, wie sie für das Jagen, für die Nahrungssuche und die
Landwirtschaft von wesentlicher Bedeutung sind. In den Mus- Wirkung nicht eindeutig zu bestimmen sind. Dieser Widerspruch
kelzellen reagieren diese Gene, wenn sie durch sportliche Betä- wurde durch Versuche aufgelöst, bei denen gestresste, depressive
tigung aktiviert werden, dadurch, dass sie Proteine produzieren. oder ängstliche Menschen nach dem Zufallsprinzip entweder
Beim modernen inaktiven Menschen produzieren diese Gene einem Ausdauertrainingsprogramm oder anderen Behandlungs-
geringere Mengen von Proteinen und lassen uns anfällig werden programmen zugeteilt wurden. Bei einem solchen Versuch wurde
für mehr als 20 chronische Erkrankungen, wie etwa Diabetes ein Drittel aller Mitglieder aus einer Gruppe leicht depressiver
vom Typ 2, Herz-Kreislauf-Erkrankungen, die Alzheimer- Studentinnen einem aeroben Trainingsprogramm zugewiesen,
Krankheit und Krebs (Booth u. Neufer 2005). Inaktivität ist da- ein weiteres Drittel einer Behandlung mit Entspannungsver-
her potenziell schädlich. fahren, während das verbleibende Drittel als Kontrollgruppe fun-
Kurbelt Sport auch den Geist an? Viele Studien deuten darauf gierte und keine Behandlung erhielt (McCann u. Holmes 1984).
hin, dass Stress, Depressionen und Ängste durch aerobes Training Wie in . Abb. 13.49 gezeigt, berichteten die Teilnehmerinnen des
abgebaut werden können. Amerikaner, Kanadier und Briten, die Ausdauertrainings 10 Wochen später vom deutlichsten Rückgang
3-mal die Woche oder häufiger ein aerobes Training machen, ihrer Depressionen. Viele von ihnen waren buchstäblich ihren
können besser mit Stresssituationen umgehen, haben mehr Schwierigkeiten davongerannt. Dutzende anderer Experimente
Selbstvertrauen, fühlen sich lebendiger und sind seltener depres- bestätigen, dass Bewegung Depressionen und Ängsten vorbeu-
siv oder erschöpft als diejenigen, die nicht so häufig Sport treiben gen oder sie reduzieren kann (Conn 2010; Rethorst et al. 2009;
(McMurray 2004; Mead et al. 2010; Puetz et al. 2006). Eine Unter- Windle et al. 2010).
suchung von Universitätsstudenten, die sich über 21 Länder er- Kräftigende Übungen führen zu einer sofortigen »substan-
streckte, zeigte zudem, dass körperliche Betätigung ein »starker« ziellen« Stimmungsaufhellung, berichtet Watson (2000). Schon
und beständiger Prädiktor für Lebenszufriedenheit ist (Grant ein 10-minütiger Spaziergang führt zu 2 Stunden besserer Be-
et al. 2009). findlichkeit, da er das Energieniveau hebt und Spannung abbaut
Wenn wir jedoch diese Beobachtung anders herum sehen – (Thayer 1987, 1993).
nämlich dass gestresste und depressive Menschen weniger Sport Sportliche Aktivität ist nicht nur in etwa genauso wirksam wie
treiben –, wird klar, dass wie stets bei Korrelationen Ursache und Medikamente; einige Forschungsarbeiten deuten auch darauf hin,
544 Kapitel 13 · Emotionen, Stress und Gesundheit

dass sie das Wiederauftreten der Symptome besser verhindert


(Babyak et al. 2000; Salmon 2001). Auf der Suche nach Gründen
dafür, dass aerobes Training negative Emotionen lindert, haben
Forscher herausgefunden, dass Bewegung in bestimmten Berei-
chen wie ein Antidepressivum wirkt. Bewegung erhöht das Erre-
gungsniveau und wirkt dadurch dem geringen Erregungsniveau
einer Depression entgegen. Außerdem führt sie oft zu einer Ent-
spannung der Muskeln und einem tieferen Schlaf. Stimmungs-
aufhellende chemische Substanzen werden aus unserer körper-
eigenen Apotheke mobilisiert – Neurotransmitter wie Noradrena-
lin, Serotonin und Endorphine (Jacobs 1994; Salmon 2001). Zu-
sätzlich wird die Neurogenese gefördert. Bei Mäusen führt
Bewegung dazu, dass das Gehirn ein Molekül produziert, das als
natürliches Antidepressivum agiert, indem es das Wachstum von
neuen, stressresistenten Gehirnzellen anregt (Hunsberger et al.
2007; Reynolds 2009; van Praag 2009). Betrachtet man die Befun-
de auf einer einfacheren Ebene, könnte ein besserer emotionaler
Zustand auch dadurch zustande gekommen sein, dass das Gefühl,
etwas geleistet zu haben, zusammen mit der verbesserten physi-
schen Verfassung und dem positiveren Körperschema (die oft mit
einer erfolgreichen sportlichen Routine einhergehen) das eigene
Selbstbild aufwertet. Sport (mindestens eine halbe Stunde an fünf
oder mehr Tagen in der Woche) ist wie eine Droge, die Krankhei-
ten verhindert und behandeln kann, die Energie liefert, Ängste
reduziert und die Stimmung aufhellt – eine Droge, die wir alle
konsumieren würden, wenn es sie gäbe. Allerdings machen sie
sich nur wenige Menschen (nur einer von vier in den Vereinigten
13 Staaten) zu Nutze (Mendes 2010; . Abb. 13.50).
. Abb. 13.50 Stimmungsaufheller. Wenn die Energie schwächer oder die
Entspannung und Meditation Stimmung schlechter wird, gibt es nur wenige Dinge, die den Tag schneller
in einem anderen Licht erscheinen lassen, als sportliche Aktivitäten (wie
? 13.18 Wie können Entspannung und Meditation Stress ich aufgrund meines mittäglichen Basketballspielens bestätigen kann). Aus-
und Gesundheit beeinflussen? dauertraining z. B. scheint der Depression teilweise durch eine gesteigerte
Erregung entgegenzuwirken (durch die der Zustand verminderter Erregung
Können wir lernen, unserer Stressreaktion durch eine veränder- während einer Depression »ersetzt« wird). Dies geschieht aber auch durch
te Denkweise entgegenzuwirken, wo wir doch jetzt die schädlichen die natürliche Steigerung der Serotoninaktivität im Gehirn, die bei medika-
mentöser Behandlung (z. B. durch den Serotoninwiederaufnahmehemmer
Folgen von Stress kennen? In den späten 1960er Jahren begannen
Fluoxetin) bewirkt wird. (© Kathryn Brownson)
anerkannte Psychologen, unter ihnen war Neal Miller, Experi-
mente mit Biofeedback zu machen – einem System, das Informa-
tionen über kaum wahrnehmbare physiologische Reaktionen Biofeedback einmal versprach. . Abb. 13.49 hat gezeigt, dass Aus-
(viele davon sind durch das autonome Nervensystem gesteuert) dauertraining Depressionen mildern kann. Aber ist Ihnen bei
aufzeichnet, verstärkt und weiterleitet. Biofeedback-Instrumente dieser Abbildung aufgefallen, dass die Depressionen auch bei den
geben die Ergebnisse der eigenen Anstrengungen einer Person Frauen zurückgegangen sind, die in der Bedingung waren, die ein
wieder und ermöglichen es ihr dadurch, Techniken zu erlernen, Entspannungstraining erhielt? Über 60 Studien belegen, dass Ent-
mit deren Hilfe sie eine bestimmte physiologische Reaktion spannungsverfahren dazu beitragen können, Kopfschmerzen,
steuern kann. Nach 10 Jahren Forschung jedoch entschieden die Bluthochdruck, Ängste und Schlaflosigkeit zu lindern (Nestoriuc
Wissenschaftler, dass die anfänglichen Behauptungen über die et al. 2008; Stetter u. Kupper 2002). Derartige Befunde würden
Wirksamkeit des Biofeedbacks zu hoch gegriffen waren und zu Friedman und seine Kollegen nicht überraschen. Sie wollten her-
sehr bejubelt wurden (Miller 1985). Eine Gesprächsrunde am ausfinden, ob man bei Herzinfarktopfern vom Typ A durch ein
National Institute of Health kam 1995 zu dem Ergebnis, dass Bio- Entspannungstraining das Risiko verringern kann, erneut einen
feedback am besten bei Spannungskopfschmerz wirkt. Herzinfarkt zu bekommen. Dazu teilten sie Hunderte von Män-
Auch einfache Entspannungsverfahren, die keine teuren nern mittleren Alters, die einen Herzinfarkt überlebt hatten, nach
Geräte erfordern, führen zu sehr ähnlichen Erfolgen, wie sie das dem Zufallsprinzip in zwei Gruppen ein. Die erste Gruppe erhielt
13.6 · Gesundheitsförderung
545 13

. Abb. 13.51 Mehrfache Herzinfarkte und Veränderung der Lebensweise. Das San Francisco Recurrent Coronary Prevention Project bot Überlebenden
von Herzinfarkten eine Beratung durch einen Kardiologen an. Diejenigen, die auch angeleitet wurden, ihre Typ-A-Lebensweise zu verändern, erlitten seltener
erneut einen Herzinfarkt. (Aus Friedman u. Ulmer 1984)

von den Kardiologen die üblichen Ratschläge zu Medikation, Diät Ruhe, der sich durch entspannte Muskeln, verlangsamte Atmung
und Bewegungsgewohnheiten. Die zweite Gruppe bekam ähnliche und Herzfrequenz sowie durch einen niedrigeren Blutdruck
Ratschläge sowie eine kontinuierliche Beratung über Möglichkei- kennzeichnet. Entspannungsübungen, die ein- oder zweimal täg-
ten, ihre Lebensweise zu verändern: wie sie durch langsameres lich durchgeführt werden, haben eine langfristig stressreduzie-
Gehen, Reden und Essen ruhiger werden und sich entspannen rende Wirkung, so Benson.
könnten, wie sie anderen Menschen ein Lächeln schenken und Um die Entspannungsreaktion selbst erleben zu können,
über sich selbst und andere lachen könnten, wie sie Fehler ein- empfiehlt das Benson-Henry Institute for Mind Body Medicine
gestehen könnten, wie sie sich Zeit nehmen könnten, das Leben folgende Schritte: Nehmen Sie eine bequeme Körperhaltung ein.
zu genießen, wie sie ihren Glauben wiederaufleben lassen könn- Schließen Sie die Augen. Entspannen Sie Ihre Muskeln und be-
ten. . Abb. 13.51 zeigt, dass sich das Training auszahlte. In den ginnen Sie damit bei den Füßen, dann die Waden, anschließend
folgenden 3 Jahren traten in der Gruppe, die gelernt hatten, ihren weiter nach oben über die Oberschenkel, die Schultern, den
Lebensstil zu verändern, nur halb so viele Herzinfarkte auf wie in Nacken bis hin zum Kopf. Atmen Sie langsam. Konzentrieren
der ersten. Dies, so schrieb Friedman begeistert, sei ein noch nie Sie sich beim Ausatmen auf ein einzelnes Wort, einen einzelnen
dagewesener, spektakulärer Rückgang des Wiederauftretens bei Satz oder ein Gebet – etwas das Ihrem persönlichen Glauben
Herzinfarkten. Bei einer weniger großflächig angelegten britischen entspringt. Wenn andere Gedanken aufkommen, lassen Sie sie
Studie teilte man auf ähnliche Weise Menschen mit erhöhtem vorbeiziehen, und wiederholen Sie kontinuierlich Ihren Satz still
Herzinfarktrisiko in eine Kontrollgruppe und eine Gruppe zur für 10–20 Minuten. Haben Sie Ihre Übung beendet, so bleiben sie
Veränderung der Lebensweise ein (Eysenck u. Grossarth-Maticek noch 1–2 Minuten ruhig sitzen, öffnen Sie dann Ihre Augen. Ver-
1991). In den darauffolgenden 13 Jahren wurde auch hier ein weilen Sie so noch für ein paar weitere Augenblicke.
Rückgang der Mortalitätsrate um 50% unter jenen Studienteil-
Bei der Meditation handelt es sich um ein modernes Phänomen
nehmern festgestellt, denen beigebracht wurde, wie sie ihr Denken
mit einer langen Geschichte:
und ihre Lebensweise verändern können. Nachdem er selbst
»Setzen Sie sich allein und schweigend hin. Senken Sie Ihren
im Alter von 55 Jahren einen Herzinfarkt erlitten hatte, begann
Kopf, schließen Sie Ihre Augen, atmen Sie sanft aus, und stellen
Friedman, seine eigene »Verhaltensmedizin« zu nehmen – und
Sie sich vor, Sie sähen in Ihr Herz. Während Sie ausatmen, sagen
wurde damit 90 Jahre alt (Wargo 2007).
Sie: ›Herr Jesus Christus, erbarme dich meiner.‹ … Versuchen
Der Kardiologe Benson (1996) entwickelte ein Interesse für
Sie, alle anderen Gedanken abzulegen. Seien Sie ruhig, seien Sie
die meditative Entspannung, als er herausfand, dass erfahrene
geduldig, und wiederholen Sie die Vorgehensweise sehr oft.«
Meditierer ihren Blutdruck, ihre Herzfrequenz und ihren Sauer-
(Der heilige Gregor vom Sinai, gestorben 1346)
stoffverbrauch senken und die Temperatur an den Fingerspitzen
erhöhen konnten. Seine Forschungsarbeit führte ihn zu dem, Tibetische Buddhisten, die sich in die Meditation vertiefen, und
was er heute Entspannungsreaktion nennt – ein Zustand der Franziskanernonnen, die sich auf ein Gebet konzentrieren, be-
546 Kapitel 13 · Emotionen, Stress und Gesundheit

richten darüber, dass das Gefühl vom Selbst, von der Zeit und Spiritualität und Glaubensgemeinschaften
vom Raum schwächer wird. Schichtaufnahmen des Gehirns zei-
? 13.20 Was ist der Glaubensfaktor und welche möglichen
gen die neuronalen Spuren solcher spiritueller Gefühle während
Erklärungen gibt es für den dadurch beschriebenen Zusam-
dieser mystischen Erfahrungen: Ein Teil des Parietallappens,
menhang?
der verfolgt, wo im Raum wir uns befinden, ist weniger aktiv als
gewöhnlich; und ein Bereich des Frontallappens, der etwas mit Eine Vielzahl von Studien hat einen weiteren, eigenartigen Zu-
konzentrierter Aufmerksamkeit zu tun hat, wird aktiver (Cahn sammenhang aufdecken können, den sog. Glaubensfaktor. Reli-
u. Polich 2006; Newberg u. D’Aquili 2001). Eine weitere Verände- giös aktive Menschen leben tendenziell länger als diejenigen,
rung tritt im linken Frontallappen auf. Erfahrene buddhistische die nicht religiös aktiv sind. Alleine in den ersten 10 Jahren des
Mönche weisen bei einer Meditation ein erhöhtes Aktivitäts- 21. Jahrhunderts untersuchten etwa 1800 Studien die Verbindun-
niveau in diesem Bereich auf; dies wird gewöhnlich mit positiven gen zwischen Spiritualität, Gesundheit und Heilen (Koenig et al.
Emotionen in Verbindung gebracht. 2011). In einer Studie verglichen Forscher beispielsweise die Mor-
Ist diese hohe Aktivitätsrate eine Folge der Meditation oder talitätsraten von 3900 Israelis, die entweder in einer der 11 religiös
einfach nur eine Korrelation, die keine Aussage über Ursache orthodoxen Siedlungen wohnten oder in einer entsprechenden
und Wirkung machen kann? Um das herauszufinden, stellten nichtreligiösen Kollektivsiedlung (Kibbuzgemeinschaft; Kark et
Forscher einen Vorher-Nachher-Vergleich von Hirnschichtauf- al. 1996). Die Forscher berichteten, dass über einen Zeitraum von
nahmen an. Dieses Experiment wurde mit Versuchsteilnehmern 16 Jahren hinweg »die Zugehörigkeit zu einem religiösen Kollek-
durchgeführt, die keine Erfahrung in Meditation hatten (David- tiv mit einem starken beschützenden Effekt einherging«, der nicht
son et al. 2003). Zunächst wurde das Ausgangsniveau der Hirn- durch das Alter oder sozioökonomische Unterschiede erklärt
aktivität bei jedem Probanden einzeln bestimmt. Dann wurden werden konnte. In jeder Altersgruppe war es bei den Mitgliedern
sie zufällig einer Kontrollgruppe oder einem achtwöchigen Kurs der religiösen Gemeinschaft etwa nur halb so wahrscheinlich,
in »Achtsamkeitsmeditation« zugewiesen, der erwiesenermaßen dass sie gestorben waren, wie bei ihren nichtreligiösen Mitglie-
Ängste und Depressionen verringert (Hofmann et al. 2010). Im dern eines Kibbuz. Das ist ungefähr mit dem Geschlechtsunter-
Vergleich zur Kontrollgruppe und zu ihrem eigenen Ausgangs- schied in Bezug auf die Mortalität vergleichbar.
niveau wiesen die Teilnehmer nach dem Training deutlich mehr Wie sollen wir derartige Befunde interpretieren? Skeptische
Aktivität in der linken Gehirnhälfte auf und hatten auch ein bes- Forscher erinnern uns daran, dass bei bloßen Korrelationen viele
ser funktionierendes Immunsystem. Solche Effekte können dazu Faktoren unkontrolliert bleiben (Sloan et al. 1999, 2000, 2002,
13 beitragen, die Ergebnisse einer anderen Studie zu erklären, bei 2005). Denken Sie da nur an folgende Möglichkeit: Frauen sind
der Patienten mit Bluthochdruck, die einem Meditationstraining religiös aktiver und leben länger als Männer. Ist religiöses Enga-
zugewiesen wurden, (verglichen mit anderen Behandlungsgrup- gement vielleicht nur der Ausdruck des Effekts der Geschlechts-
pen) im Zeitraum der folgenden 19 Jahre eine um 30% geringere zugehörigkeit auf die Langlebigkeit? Eine Studie der U.S. National
Mortalitätsrate aufgrund von Herz-Kreislauf-Erkrankungen zu Institutes of Health begleitete 92.395 Frauen im Alter von 50–
verzeichnen hatten (Schneider et al. 2005). Diese Verbesserung 79 Jahren über einen Zeitraum von 8 Jahren. Auch nachdem viele
könnte das Ergebnis verringerter Ängstlichkeit und einer ver- Faktoren kontrolliert worden waren, zeigte sich, dass Frauen,
besserten Stimmung sein, die mit Meditation einhergehen (Hof- die jede Woche (oder öfter) Gottesdienste besuchten, während
mann et al. 2010). Die U.S. National Institutes of Health betrach- der Studienlaufzeit ein um ungefähr 20% reduziertes Sterberisiko
ten die Entspannungs- und Meditationstechniken als einen Teil hatten (Schnall et al. 2010). Der Zusammenhang zwischen
der Komplementär- und Alternativmedizin. (Um mehr über Religiosität und Langlebigkeit konnte allerdings auch bei
dieses Thema zu erfahren, siehe 7 Kritisch nachgefragt: Komple- Männern gefunden werden (Benjamins et al. 2010; McCullough
mentäre und alternative Medizin.) et al. 2000, 2005, 2009). In einer Studie, bei der 5286 Kalifornier
über 28 Jahre lang wissenschaftlich begleitet wurden, fand man
? 13.19 Was versteht man unter Komplementär- und Alter-
Folgendes heraus: Wenn man die Faktoren Alter, Geschlecht,
nativmedizin und wie können sie innerhalb der wissenschaft-
ethnische Zugehörigkeit und Bildung kontrollierte, hatten Per-
lichen Forschung am besten erfasst werden? (7 Kritisch
sonen, die häufig Gottesdienste besuchen, eine um 36% gerin-
nachgefragt: Komplementäre und alternative Medizin)
gere Wahrscheinlichkeit, im erwähnten Zeitraum gestorben zu
sein (. Abb. 13.52). Eine andere 8-jährige Studie mit mehr als
Komplementär- und Alternativmedizin (»complementary and alternative
medicine«) – bisher wissenschaftlich nicht belegte Behandlungen im 20.000 Probanden (Hummer et al. 1999) zeigte, dass sich dies auf
Rahmen der Gesundheitsversorgung, die die Schulmedizin ergänzen oder die Lebenserwartung im Alter von 20 Jahren übertragen ließ:
als Alternative dazu dienen sollen. Im Allgemeinen werden sie nicht in den 83 Jahre für eifrige und 75 Jahre für weniger eifrige Kirchgänger.
medizinischen Fakultäten gelehrt, nicht in den Krankenhäusern praktiziert
Diese korrelativen Befunde bedeuten nicht, dass Nichtkirch-
und gewöhnlich auch nicht von den Krankenkassen erstattet. Sobald die
Forschung eine Therapie als sicher und effektiv anerkennt, wird sie gewöhn- gänger, die anfangen, den Gottesdienst zu besuchen und ansons-
lich auch zu einem akzeptierten Bestandteil der medizinischen Praxis. ten nichts verändern, 8 Jahre länger leben werden. Aber sie sind
13.6 · Gesundheitsförderung
547 13

Kritisch nachgefragt

Komplementäre und alternative Medizin

In China standen Kräuterbehandlungen schon unheilbar krank sind oder gesund sind, sich man die entscheidende Frage: Wenn weder
seit langem hoch im Kurs, wie dies auch bei aber nicht gut fühlen. Dazu kommt dann noch der Therapeut noch der Patient weiß, wer
Behandlungen mit Hilfe von Akupunktur und die Heilkraft der Überzeugung – der Placebo- die wirkliche Therapie bekommen hat, ist die
Akupressur der Fall war, die von sich behaup- Effekt – und zusätzlich das natürliche Ver- wirkliche Therapie dann wirksam?
ten, die »Ungleichgewichte im Energiefluss« schwinden vieler Krankheiten (Spontanremis- Ein Großteil dessen, was heute die Schulmedi-
(genannt Qi oder Chi) an identifizierbaren sion); dann gelten die Praktiken der Alternativ- zin ist, hat gestern als alternative Medizin an-
Punkten in der Nähe der Hautoberfläche zu medizin scheinbar als wirkungsvoll, ob sie es gefangen. Das botanische Leben in der Natur
korrigieren. In Deutschland sind die Natur- nun sind oder nicht. Daher versucht vielleicht gab uns Digitalis (aus dem roten Fingerhut),
medizin und die Homöopathie ausgesprochen ein ansonsten gesunder Mensch mit einer Morphium (aus dem Schlafmohn) und Penicil-
beliebt. Solche Verfahren sind Bestandteil der Erkältung eine Kräutermedizin und sieht dann lin (aus der Gattung Penicillium oder Pinsel-
Komplementär- und Alternativmedizin, die anschließend den Grund dafür, dass er wieder schimmel). In jedem dieser Fälle wurden die
auch Massagetherapie, geistiges Heilen, Chiro- gesund wird, in der alternativen Medizin. Vor aktiven Wirkstoffe in kontrollierten Versuchs-
praxis und Aromatherapie umfassen. Als Reak- allem bei zyklisch auftretenden Krankheiten reihen gefunden. Der Medizin und den Ge-
tion auf politischen Druck, wissenschaftliche wie Arthritis und Allergien erweckt die Alter- sundheitswissenschaften sind wir zu Dank ver-
Untersuchungen zur Alternativmedizin durch- nativmedizin den Anschein, besonders wirk- pflichtet für die Antibiotika, die Impfstoffe,
zuführen, gründeten die U.S. National Insti- sam zu sein; denn die Menschen beginnen die chirurgischen Verfahren, die Hygiene und
tutes of Health ein National Center for Com- die Behandlung, wenn es bergab geht, und die Notfallmedizin, die im letzten Jahrhundert
plementary and Alternative Medicine; das nehmen an, sie wirke, wenn es anschließend dazu beigetragen haben, unsere Lebenser-
Zentrum definiert komplementäre und alter- wieder aufwärts geht. wartung um drei Jahrzehnte zu verlängern.
native Medizin als Therapien, die nicht an Bei einer deutschen Studie mit 302 Migräne- »Die Komplementär- und Alternativmedizin
medizinischen Fakultäten gelehrt werden, die patienten wurde die heilende Kraft der Gedan- verändert sich kontinuierlich, weil diejenigen
die Krankenkassen gewöhnlich nicht erstatten ken deutlich: Man fand heraus, dass 51% derer, Therapien, die sich als sicher und effektiv he-
und die nicht in Krankenhäusern zur Anwen- die eine Akupunkturbehandlung bekamen, rausgestellt haben, in das Repertoire der kon-
dung kommen (. Tab. 13.3). eine Besserung empfanden; dies war aber nur ventionellen medizinischen Versorgung aufge-
Was ist also von der Alternativmedizin zu bei 15% derer der Fall, die als Mitglieder der nommen werden«, merkt das National Center
halten? Einigen Aspekten, wie etwa den Verän- Kontrollgruppe auf eine Warteliste gesetzt wor- for Complementary and Alternative Medicine
derungen der Lebensweise und dem Umgang den waren. In der dritten Gruppe jedoch, die an. Und das sagen auch Marcia Angell und
mit Stress kommt anerkannterweise Validität eine vorgetäuschte Akupunktur bekamen (die Jerome Kassirer (1998), die Herausgeber des
zu. Andere Techniken haben sich für manche Nadeln wurden nicht an den korrekten Aku- New England Journal of Medicine: »Es kann
Krankheiten als wirksam erwiesen, wie z. B. punkturstellen eingeführt) erlebten 53% eine keine zwei Arten von Medizin geben – eine
Akupunktur, Massagetherapie und Aroma- Besserung. Derartige Resultate können, wie die konventionelle und eine alternative. Es kann
therapie für die Schmerzlinderung bei Krebs- Forscher vermuten, ein Hinweis auf »einen star- nur eine Medizin geben, die auf angemessene
patienten (Fellowes et al. 2004). Liefern die an- ken Placebo-Effekt« sein (Linde et al. 2005). Weise überprüft wurde, und eine Medizin,
deren Aspekte, wie einige meinen, ein neues Wie immer ist die Methode der Wahl, um zu bei der dies nicht so ist; eine Medizin, die
medizinisches Paradigma? erkennen, was wirkt und was nicht, das Experi- wirkt, und eine Medizin, die vielleicht wirkt
Kritiker weisen darauf hin, dass Menschen ment: Man weist die Patienten nach dem oder auch nicht. Ist eine Behandlung erst
wegen diagnostizierbarer, heilbarer Krankhei- Zufall einer Experimental- oder einer Kontroll- einmal streng überprüft worden, ist es nicht
ten zum Arzt gehen und bei der Alternativ- gruppe zu, von denen die eine die Therapie, mehr wichtig, ob sie anfangs als alternativ
medizin Zuflucht suchen, wenn sie entweder die andere ein Placebo bekommt. Dann stellt angesehen wurde.«

. Tab. 13.3 Fünf Domänen der Komplementär- und Alternativmedizin. (Adaptiert nach National Center for Complementary and Alternative
Medicine, NIH; http://nccam.nih.gov/health/whatiscam)

Alternativ-medizinisches Therapieformen, die anstatt konventioneller Medizin eingesetzt werden. Eingeschlossen sind hierbei die Homöo-
System pathie in westlichen Kulturen sowie die traditionelle chinesische Medizin und Ayurveda-Techniken in nichtwest-
lichen Kulturen

Körper-Geist-Interventionen Techniken, wie Meditation, Gebete und Geistheilung sowie Therapieformen, die kreative Ansätze (Kunst, Musik
oder Tanz) nutzen, stärken die Fähigkeit des Geistes, körperliche Funktionen und Symptome zu beeinflussen

Naturheilkunde Therapien, die natürliche Substanzen wie Kräuter, Nahrungsmittel und Vitamine einsetzen

Manuelle Medizin Techniken wie beispielsweise die Chiropraktik, Osteopathie und die Massagetherapie, die ein oder mehrere
Körperteile behandeln oder bewegen

Energiefeldtherapie Techniken, die auf der Annahme aufbauen, dass der menschliche Körper von einem Energiefeld umgeben und
durchdrungen ist. Biofeld-Therapien wie Qi Gong, Reiki und die Therapeutische Berührung sollen diese Energie-
felder beeinflussen. Bioelektromagnetische Therapien beinhalten den unkonventionellen Gebrauch von elektro-
magnetischen Feldern, wie beispielsweise gepulste oder magnetische Felder
548 Kapitel 13 · Emotionen, Stress und Gesundheit

. Abb. 13.52 Prädiktoren für Mortalität: Nichtrauchen, häufige sportliche Aktivität und regelmäßiger Besuch von Gottesdiensten. Der Epidemio-
loge William Strawbridge und seine Mitarbeiter (1997, 1999; Oman et al. 2002) begleiteten 5286 Erwachsene in Alameda (Kalifornien) mehr als 28 Jahre
wissenschaftlich. Nachdem sie den Einfluss von Alter und Bildung kontrolliert hatten, fanden die Forscher heraus, dass sich in jedem der untersuchten
Jahre aufgrund von Nichtrauchen, häufiger sportlicher Aktivität und regelmäßigem Besuch von Gottesdiensten jeweils ein geringeres Mortalitätsrisiko
vorhersagen ließ. So war das Sterberisiko in einem typischen Jahr des Projekts bei Frauen, die jede Woche den Gottesdienst besuchten, um 46% geringer
als bei Nichtkirchgängerinnen. (Mit freundlicher Genehmigung von William J. Strawbridge, University of California, Berkeley)

ein Hinweis darauf, dass religiöses Engagement als Prädiktor für Gesundheitsprobleme kontrolliert hatte, findet man in den Mor-
Gesundheit und Langlebigkeit durchaus mit den Effekten des talitätsstudien immer noch heraus, dass Menschen, die sich mit
Nichtrauchens und der sportlichen Betätigung konkurriert. Religion beschäftigen, länger leben (Chida et al. 2009).
Können Sie sich vorstellen, welche intervenierenden Variablen Daher spekulieren die Forscher, dass ein dritter Satz interve-
möglicherweise eine Erklärung für die Korrelation liefern? nierender Variablen religiös aktive Menschen vor Stress schützen
13 Zunächst einmal fördert Religion die Selbstkontrolle und zu einem verbesserten Wohlbefinden führen könne. Diese
(McCullough u. Willoughby 2009). Demzufolge haben religiös positiven Effekte könnten auf eine stabile und konsistente Welt-
aktive Menschen eine gesündere Lebensweise; beispielsweise anschauung, das Gefühl der Hoffnung für die langfristige Zu-
rauchen und trinken sie viel weniger (Koenig u. Vaillant 2009; kunft, das Gefühl der wirklichen Akzeptanz und die entspannte
Park 2007; Strawbridge et al. 2001). Eine Gallup-Umfrage unter Meditation des Gebets bzw. die Beachtung des Sabbats zurück-
550.000 Amerikanern ergab, dass 15% der sehr religiösen Men- zuführen sein (. Abb. 13.53). Diese Variablen könnten auch dazu
schen Raucher waren, unter den Nichtreligiösen waren es hin- beitragen, andere neue Befunde bei religiös aktiven Menschen zu
gegen 28% (Newport et al. 2010). Aber, so argumentierten die erklären, wie etwa das gesündere Immunsystem und weniger
israelischen Forscher, diese Unterschiede sind nicht groß genug, Krankenhauseinweisungen sowie bei Aids-Patienten weniger
um die dramatisch verringerte Mortalität in den religiösen Stresshormone und längeres Überleben (Ironson et al. 2002;
Kibbuzim zu erklären. Auch bei amerikanischen Studien bleibt Koenig u. Larson 1998; Lutgendorf et al. 2004).
ein Unterschied in der Lebenserwartung von etwa 75% erhalten,
Prüfen Sie Ihr Wissen
nachdem man die ungesunden Verhaltensweisen wie Inaktivität
und Rauchen kontrolliert hatte (Musick et al. 1999). 5 Welche Taktiken können wir anwenden, um erfolgreich
Kann soziale Unterstützung den Glaubensfaktor erklären (Ai mit Stress umzugehen, den wir nicht vermeiden können?
et al. 2007; George et al. 2002)? Im Judentum, im Christentum
und im Islam ist Spiritualität eine gemeinschaftliche Erfahrung.
Einer dieser Glaubensgemeinschaften anzugehören, bedeutet,
Teil eines unterstützenden Netzwerks zu sein. Religiös aktive
Menschen sind füreinander da, wenn das Schicksal es nicht
gut mit einem meint. Außerdem fördert Religion einen weiteren
Prädiktor für Gesundheit und Langlebigkeit: die Ehe. In den
religiösen Kibbuzim z. B. kam Scheidung praktisch nicht vor.
Aber selbst nachdem man die Faktoren soziale Bindungen, Ge-
schlecht, ungesunde Verhaltensweisen und vorher bestehende
13.7 · Kapitelrückblick
549 13

. Abb. 13.53 Mögliche Erklärungen für die Korrelation zwischen religiösem Engagement und Gesundheit bzw. höherer Lebenserwartung

13.7 Kapitelrückblick 13.13 Wodurch macht uns Stress anfälliger für Krankheiten?
13.14 Warum neigen manche Menschen mehr zu koronaren
13.7.1 Verständnisfragen Herzkrankheiten als andere?

jKognitionen und Emotionen jGesundheitsförderung


13.1 Welches Wechselspiel zwischen Erregung und Ausdrucks- 13.15 Wie gehen Menschen mit Stress um? Und wie beeinflusst
verhalten gibt es bei Emotionen? ein wahrgenommener Mangel an Kontrolle die Gesundheit?
13.2 Müssen wir Emotionen bewusst interpretieren und be- 13.16 Was ist die Verbindung zwischen der Grundeinstellung
nennen, um sie erleben zu können? zum Leben, sozialer Unterstützung, Stress und der Gesundheit?
13.17 Wie effektiv ist aerobes Training als Möglichkeit, um mit
jEmotion und Körper Stress umzugehen und das Wohlbefinden zu steigern?
13.3 Was ist das Bindeglied zwischen emotionaler Erregung und 13.18 Wie können Entspannung und Meditation Stress und Ge-
dem autonomen Nervensystem? Wie beeinflusst diese Erregung sundheit beeinflussen?
die Leistung? 13.19 Was versteht man unter Komplementär- und Alternativ-
13.4 Rufen verschiedene Emotionen auch verschiedene physio- medizin und wie können sie innerhalb der wissenschaftlichen
logische Reaktionen und Hirnaktivitätsmuster hervor? Forschung am besten erfasst werden?
13.5 Wie effektiv können Polygrafen Lügen anhand körperlicher 13.20 Was ist der Glaubensfaktor und welche möglichen Erklä-
Zustände detektieren? rungen gibt es für den dadurch beschriebenen Zusammenhang?

jEmotion und Ausdruck


13.6 Wie kommunizieren wir nonverbal? Wie unterscheiden 13.7.2 Schlüsselbegriffe
sich die Geschlechter in dieser Fähigkeit?
13.7 Werden nonverbale Emotionsausdrücke universell ver- 4 Aerobes Training
standen? 4 Allgemeines Adaptationssyndrom
13.8 Beeinflusst unser Gesichtsausdruck unsere Gefühle? 4 Anpassungsniveau
4 Cannon-Bard-Theorie
jEmotion und Erfahrung 4 Coping
13.9 Welche Grundemotionen gibt es und welche beiden Dimen- 4 Emotion
sionen helfen uns, sie zu unterscheiden? 4 Emotionsfokussierte Bewältigung
13.10 Was sind die Auslöser und Folgen von Wut? 4 Gesundheitspsychologie
13.11 Was sind die Auslöser und Folgen des Glücklichseins? 4 James-Lange-Theorie
4 Katharsis
jStress und Gesundheit 4 Komplementär- und Alternativmedizin
13.12 Welche Ereignisse rufen Stressreaktionen hervor? Wie 4 Koronare Herzerkrankungen
reagieren wir auf Stress? Und wie können wir uns daran ge- 4 Lymphozyten
wöhnen? 4 Phänomen »Fühl dich gut, und du tust etwas Gutes«
550 Kapitel 13 · Emotionen, Stress und Gesundheit

4 Polygraf
4 Problemfokussierte Bewältigung
4 Psychoneuroimmunologie
4 Psychophysiologische Krankheit
4 Relative Deprivation
4 Rückkopplungseffekt des Gesichtsausdrucks
4 Stress
4 Subjektives Wohlbefinden
4 »Tend-and-befriend«-Reaktion
4 Typ A
4 Typ B
4 Zwei-Faktoren-Theorie

13.7.3 Weiterführende deutsche Literatur

Berking, M. (2010). Training emotionaler Kompetenzen (2. Aufl.). Heidelberg:


Springer.
Brandstädter, V., Schüler, J., Puca, R.M. & Lozo, L. (2013). Motivation und
Emotion: Allgemeine Psychologie für Bachelor. Heidelberg: Springer.
Ekman, P. (2010). Gefühle Lesen. Wie Sie Emotionen erkennen und richtig
interpretieren. Heidelberg: Spektrum.
Hülshoff, Th. (2012). Emotionen. Eine Einführung für beratende, therapeu-
tische, pädagogische und soziale Berufe (4. Aufl.). Stuttgart: UTB.
Merten, J. (2003). Einführung in die Emotionspsychologie. Stuttgart:
Kohlhammer.
Petermann, F. & Wiedebusch, S. (2008). Emotionale Kompetenz bei Kindern
(2. Aufl.). Göttingen: Hogrefe.
Ehlert, U. (Hrsg.). (2003). Verhaltensmedizin. Heidelberg: Springer.
Jerusalem, M. & Weber, H. (2003). Psychologische Gesundheitsförderung.
13 Göttingen: Hogrefe.
Kaluza, G. (2011). Stressbewältigung (2. Aufl.). Heidelberg: Springer.
Schwarzer, R., Jerusalem, M. & Weber, H. (2002). Gesundheitspsychologie
von A bis Z. Göttingen: Hogrefe.
551 14

Persönlichkeit
David G. Myers

14.1 Psychodynamische Theorien – 552


14.1.1 Freuds psychoanalytische Perspektive: die Erkundung
des Unbewussten – 552
14.1.2 Neofreudianische und psychodynamische Theorien – 558
14.1.3 Erfassung unbewusster Prozesse – 560
14.1.4 Bewertung des psychoanalytischen Ansatzes und die moderne
Sichtweise des Unbewussten – 561

14.2 Humanistische Theorien – 565


14.2.1 Abraham Maslows Konzept der Selbstverwirklichung – 565
14.2.2 Carl Rogers‘ personzentrierter Ansatz – 565
14.2.3 Erfassung des Selbst – 567
14.2.4 Bewertung des humanistischen Ansatzes – 567

14.3 Trait-Theorien – 568


14.3.1 Exploration von Merkmalen – 569
14.3.2 Erfassung von Traits – 571
14.3.3 Das Fünf-Faktoren-Modell (»The Big Five«) – 573
14.3.4 Bewertung des Trait-Ansatzes – 574

14.4 Sozial-kognitive Theorien – 577


14.4.1 Reziproke (wechselseitige) Beeinflussung – 578
14.4.2 Persönliche Kontrolle – 579
14.4.3 Erfassung von Situationseinflüssen auf das Verhalten – 585
14.4.4 Bewertung des sozial-kognitiven Ansatzes – 585

14.5 Das Selbst – 587


14.5.1 Die Vorteile des Selbstwertgefühls – 587
14.5.2 Selbstwertdienliche Verzerrung – 588

14.6 Kapitelrückblick – 592


14.6.1 Verständnisfragen – 592
14.6.2 Schlüsselbegriffe – 592
14.6.3 Weiterführende deutsche Literatur – 593

D. G. Myers, Psychologie,
DOI 10.1007/978-3-642-40782-6_14, © Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2014
552 Kapitel 14 · Persönlichkeit

Der Held in Tolkiens Herr der Ringe, der Hobbit Frodo Beutlin, lichkeitstheorie beruht auf der Annahme, dass die kindliche
wusste, dass auf seiner ganzen qualvollen Reise einer ihn nie im Sexualität und unbewusste Motivationen unsere Persönlichkeit
Stich lassen würde: Sam Gamdschie, sein treuer und stets heiterer beeinflussen. Die humanistische Persönlichkeitstheorie stellt
Gefährte. Ehe sie aus ihrem geliebten Heimatdorf aufbrachen, unsere inneren Fähigkeiten zu Wachstum und Selbsterfüllung
warnte Frodo Sam vor der schwierigen Reise: in den Mittelpunkt. Diese umfassenden Sichtweisen der mensch-
lichen Natur bildeten die Grundlage für spätere Persönlich-
» ›Es wird sehr gefährlich werden, Sam. Es ist schon jetzt
keitstheoretiker und werden in diesem Kapitel ergänzt durch die
gefährlich. Höchstwahrscheinlich wird keiner von uns
Darstellung der modernen wissenschaftlichen Forschung zu
zurückkommen.‹
spezifischen Aspekten der Persönlichkeit. Heutige Persönlich-
›Wenn du nicht zurückkehrst, Herr, dann ich auch nicht,
keitsforscher beschäftigen sich mit den grundlegenden Dimen-
das ist gewiss‹, sagte Sam. ›Lass ihn nicht im Stich! haben sie
sionen der Persönlichkeit, ihren biologischen Grundlagen und
[die Elben] zu mir gesagt. Ihn im Stich lassen, habe ich
mit der Interaktion von Person und Umwelt. Sie untersuchen
gesagt, ich denke nicht daran. Ich gehe mit ihm, und wenn
das Selbstwertgefühl, selbstwertdienliche Verzerrungen und
er auf den Mond klettert, und wenn einer von diesen
kulturelle Einflüsse auf das Selbst. Und sie studieren das Unbe-
Schwarzen Reitern ihn aufzuhalten versucht, dann bekommt
wusste – und kommen zu Ergebnissen, die selbst Freud erstaunt
er es mit Sam Gamdschie zu tun.‹
hätten.
Und so geschah es auch. Als sich im Verlauf der Geschichte
herausstellte, dass Frodo es wagen musste, das furchtbare Land
von Mordor ohne seine Gefährten zu betreten, bestand Sam als 14.1 Psychodynamische Theorien
Einziger darauf, ihn zu begleiten – komme, was wolle. Mit seinen
Liedern und Geschichten aus ihrer Kindheit machte er Frodo Psychodynamische Theorien betrachten Persönlichkeit als
Mut. Und auf Sam stützte Frodo sich, als er fast nicht weitergehen eine dynamische Interaktion zwischen Bewusstem und Un-
konnte. Als Frodo von dem Bösen überwältigt wurde, welches bewusstem, die auch die dazugehörigen Motive und Konflikte
aus dem Ring kam, den er trug, war es Sam, der ihn davor beinhaltet. Diese Theorien gehen auf Sigmund Freuds Theorie
bewahrte, dem Bösen völlig zu erliegen. Und am Schluss war es der Psychoanalyse zurück, die als erste aus klinischem Interesse
wieder Sam, mit dessen Hilfe Frodo seine Reise erfolgreich die Aufmerksamkeit auf das Unbewusste richtete.
zu Ende brachte. Sam Gamdschie, der heitere, gewissenhafte,
Psychodynamische Theorien (»psychodynamic theories«) – betrachten
belastbare Optimist, der nie wankend wurde in seiner Treue oder Persönlichkeit mit dem Fokus auf das Unbewusste und die Bedeutung von
seiner Gewissheit, dass sie die drohende Dunkelheit besiegen Kindheitserlebnissen.
14 würden.
In Tolkiens Figur Sam Gamdschie zeigen sich die Eigenart
und die Beständigkeit, die eine Persönlichkeit ausmachen – ein 14.1.1 Freuds psychoanalytische Perspektive:
individuelles charakteristisches Muster des Denkens, Fühlens die Erkundung des Unbewussten
und Handelns. In den vorangegangenen Kapiteln haben wir die
Ähnlichkeiten hervorgehoben: Wir alle entwickeln uns in ähn-
? 14.1 Wie führten Sigmund Freuds Behandlungen
licher Weise, beim Wahrnehmen, Lernen, Denken und Fühlen
psychischer Störungen zu seiner Sichtweise über das
sind wir uns alle ähnlich. Doch dieses Kapitel befasst sich mit der
Unbewusste?
Einzigartigkeit.
»Wenn Sie 100 Menschen auf der Straße nach dem Namen eines
Persönlichkeit (»personality«) – das für ein Individuum charakteristische
Muster des Denkens, Fühlens und Handelns. bekannten verstorbenen Psychologen fragten«, schlägt der Psy-
chologe Stanovich (1996, S. 1) vor, »wäre Freud der Gewinner
Ein großer Teil dieses Buches beschäftigt sich mit der Persön- auf der ganzen Linie«. In der öffentlichen Meinung ist Freud für
lichkeit: In den vorangegangenen Kapiteln haben wir den Ein- die Geschichte der Psychologie das, was Elvis Presley für die
fluss der Biologie auf die Persönlichkeit kennengelernt, wir Geschichte der Rockmusik ist. Freuds Einfluss findet sich noch
haben etwas über die Entwicklung der Persönlichkeit im Verlauf immer in der Psychiatrie und in der klinischen Psychologie, aber
des Lebens erfahren und haben uns mit den Aspekten des Ler- er nahm auch Einfluss auf die Interpretation von Literatur und
nens, der Motivation, der Emotion und der Gesundheit be- Film. Fast neun von zehn US-amerikanischen College-Veranstal-
schäftigt, die in Zusammenhang mit der Persönlichkeit stehen. tungen, die sich auf die Psychoanalyse beziehen, finden außer-
Im weiteren Verlauf dieses Buches werden die sozialen Einflüsse halb psychologischer Institute statt (Cohen 2007). Freuds Kon-
auf die Persönlichkeit und Persönlichkeitsstörungen erörtert. zepte, die er zu Beginn des 20. Jahrhunderts entwickelt hat,
Zwei historisch bedeutsame Theorien wurden Teil unseres durchdringen auch die Sprache des 21. Jahrhunderts. Ohne zu
kulturellen Erbes: Sigmund Freuds psychoanalytische Persön- wissen, aus welcher Quelle die Begriffe stammen, sprechen wir
14.1 · Psychodynamische Theorien
553 14
klären waren. So kam zum Beispiel ein Patient, der in einer Hand
keinerlei Gefühl hatte. Doch es gibt keinen sensorischen Nerv,
der zu einer Taubheit in der gesamten Hand und nirgendwo
sonst führt. Die Suche nach einer möglichen Ursache beschäf-
tigte Freud sehr und brachte ihn ins Grübeln. Jene Grübeleien
führten zu einer Veränderung des menschlichen Selbstverständ-
nisses.
Könnte es sein, dass manche neurologischen Erkrankungen
eher psychische als physiologische Ursachen haben? Durch
die Beobachtung von Patienten kam Freud zur »Entdeckung«
des Unbewussten. Er nahm beispielsweise an, dass der seltsame
Verlust des Gefühls in einer Hand durch die Angst verursacht
worden sein könnte, die eigenen Geschlechtsteile zu berühren,
dass die Ursache einer unerklärten Blindheit oder Taubheit mög-
licherweise darin zu suchen sei, dass der Patient etwas nicht
hören oder sehen wollte, was große Angst auslöste. Nach einigen
frühen, jedoch weniger erfolgreichen Behandlungsversuchen
durch Hypnose, wandte sich Freud der freien Assoziation zu,
einer Methode, bei der er den Patienten lediglich aufforderte,
sich zu entspannen und einfach auszusprechen, was ihm durch
den Kopf ging, ganz gleich, ob es sich um etwas Peinliches oder
. Abb. 14.1 Sigmund Freud 1856–1939. »Ich war der einzige Arbeiter in etwas Nichtssagendes handelte. Freuds Annahme dabei war,
einem neuen Feld.« (© Writer Pictures Ltd / INTERFOTO) dass eine Reihe von seelischen Dominosteinen umfallen würde,
die aus der fernen Vergangenheit bis zu den Problemen der
Gegenwart reichte. Mit Hilfe der freien Assoziation, so glaubte
von Ich, Verdrängung, Projektion, Komplex (etwa beim »Minder- Freud, könne er die Spur zurückverfolgen und dadurch eine
wertigkeitskomplex«), Geschwisterrivalität, Freud’scher Fehlleis- Gedankenkette weiterdenken, die bis ins Unbewusste des Pa-
tung oder Fixierung. Also, wer war Freud und was lehrte er? tienten reichte, wodurch die schmerzlichen unbewussten Er-
Wie wir alle, war Freud ein Produkt seiner Zeit (. Abb. 14.1). innerungen geweckt und befreit werden könnten, die oft aus der
Die Ära des Kaiserreichs, in der er lebte, zeichnete sich zwar durch Kindheit stammten. Diese Persönlichkeitstheorie und die damit
enorme Entdeckungen und wissenschaftlichen Fortschritt aus, verbundenen therapeutischen Vorgehensweisen nannte Freud
doch heutzutage weiß man auch, dass sie von sexueller Unter- Psychoanalyse.
drückung und männlicher Dominanz geprägt war. Die Rollen
Freie Assoziation (»free association«) – psychoanalytische Methode zur
von Männern und Frauen waren klar definiert, dabei wurde von Erforschung des Unbewussten, bei der der Patient sich entspannt und alles
der Überlegenheit des Mannes ausgegangen. Ausschließlich die ausspricht, was ihm durch den Kopf geht, auch wenn es nichtssagend
männliche Sexualität wurde (im Stillen) anerkannt. oder peinlich ist.
Psychoanalyse (»psychoanalysis«) – Freuds Persönlichkeitstheorie, die alle
» Das Weib anerkennt die Tatsache seiner Kastration und unsere Gedanken und Handlungen unbewussten Motiven und Konflikten
damit auch die Überlegenheit des Mannes und seine eigene zuschreibt; der Begriff umschreibt auch die bei der Behandlung psychischer
Minderwertigkeit, aber es sträubt sich auch gegen diesen Störungen verwendeten Techniken, mit deren Hilfe unbewusste Spannun-
gen aufgedeckt und interpretiert werden.
unliebsamen Sachverhalt.
Freud, Über die weibliche Sexualität, Schriften über die
Freuds Theorie beruhte auf der Überzeugung, dass man die
Sexualität. Frankfurt: Fischer (1994/1931), S. 195
Seele mit einem Eisberg vergleichen kann: Ihr größter Teil ist
Lange bevor er 1873 die Universität Wien besuchte, war der verborgen (. Abb. 14.2). Unsere bewusste Wahrnehmung ist
junge Sigmund Freud ein brillanter Denker mit eigenständigen der Teil, der an der Oberfläche schwimmt. Unter der Oberfläche
Vorstellungen. Er hatte ein hervorragendes Gedächtnis und las liegt jedoch ein viel größerer Bereich, das Unbewusste, das Ge-
gerne Theaterstücke, Gedichte und philosophische Werke. Als danken, Wünsche, Gefühle und Erinnerungen enthält. Manche
Jugendlicher nahm er oft sein Abendessen mit auf sein winziges dieser Gedanken speichern wir eine Zeit lang in einem vorbe-
Zimmer, um ohne Zeitverlust weiterlernen zu können. Freud wussten Bereich, aus dem wir sie in die bewusste Wahrnehmung
studierte Medizin und eröffnete nach seiner Promotion eine überführen können. Noch mehr interessierte sich Freud für die
private neurologische Praxis. Doch es zeigte sich bald, dass ihn Menge an inakzeptablen Leidenschaften und Gedanken, von
Patienten aufsuchten, deren Störungen neurologisch nicht zu er- denen er annahm, dass wir sie verdrängen oder gewaltsam vom
554 Kapitel 14 · Persönlichkeit

. Abb. 14.2 Freuds Vorstellung vom Aufbau des psychischen Apparats. Psychologen haben die Vorstellung eines Eisbergs verwendet, um Freuds
Idee zu illustrieren, dass die Seele größtenteils unter der bewussten Oberfläche versteckt ist. Wie Sie sehen, ist das Es vollständig unbewusst, während Ich
und Über-Ich sowohl bewusste als auch unbewusste Anteile enthalten. Im Unterschied zu den Teilen eines gefrorenen Eisbergs, interagieren Es, Ich und
Über-Ich allerdings miteinander

Bewusstsein fernhalten, weil uns die Kenntnis dieser Dinge zu zum Unbewussten«. Den erinnerten Trauminhalt, den manifes-
sehr aus dem Gleichgewicht brächte. Freud glaubte, dass diese ten Inhalt, hielt Freud für den zensierten Ausdruck der unbe-
beunruhigenden Gefühle und Vorstellungen, auch wenn wir uns wussten Wünsche des Träumers, die den latenten Trauminhalt
14 ihrer nicht bewusst sind, uns sehr stark beeinflussen; manchmal bilden. In der Traumdeutung suchte Freud bei seinen Patienten
kommen sie in verborgener Form zum Ausdruck: in der Arbeit, nach dem Kern der inneren Konflikte.
für die wir uns entscheiden, in unseren Überzeugungen, Alltags-
gewohnheiten und beunruhigenden Symptomen. Struktur der Persönlichkeit
Das Unbewusste (»unconscious«) – ist laut Freud ein Auffangbecken für ? 14.2 Wie betrachtete Freud Persönlichkeit?
meist inakzeptable Gedanken, Wünsche, Gefühle und Erinnerungen. In
der heutigen Psychologie steht der Begriff »unbewusst« für eine Form der Freud vertrat die Auffassung, dass die Persönlichkeit eines
Informationsverarbeitung, derer wir uns nicht bewusst sind. Menschen – einschließlich der Emotionen und Triebe – aus
dem Konflikt zwischen den aggressiven und Lust suchenden bio-
Freud war ein Determinist, für ihn geschah nichts zufällig. Er logischen Triebregungen und den internalisierten sozialen
glaubte, er könne das Wirken des Unbewussten nicht nur in Zwängen erwächst, die diese Triebregungen hemmen. Die Per-
den freien Assoziationen, den Überzeugungen, Gewohnheiten sönlichkeit ist laut Freud das Ergebnis unserer Bemühungen,
und Symptomen erkennen, sondern auch in den Fehlhandlun- diesen Grundkonflikt zu lösen, indem wir diese Triebregungen
gen, den Versprechern und den unwillkürlichen Schreibfehlern in einer Weise leben, die zwar zur Befriedigung führt, aber
(. Abb. 14.3). Er sammelte viele Beispiele für solche »Fehlleistun- Strafe oder Schuldgefühle vermeidet. Um die seelische Dynamik
gen« und schildert u. a. die Aussage eines Vorsitzenden während während dieses Konflikts zu verstehen, schlug Freud drei Sys-
einer stürmischen Generalversammlung »Wir streiten jetzt zu teme vor, die miteinander in Wechselwirkung stehen: das Es, das
Punkt 4 der Tagesordnung« (statt »schreiten«) oder das Angebot Ich und das Über-Ich (. Abb. 14.2).
eines Herrn an eine junge Dame »Ich würde Sie gerne beglei-
tigen« (nach Freuds Interpretation gebildet aus dem intendierten » Ich kann mich sehr gut an Ihren Namen erinnern, aber nicht
»begleiten« und »beleidigen«). Für Freud waren solche Fehlleis- an Ihr Gesicht.
tungen und auch Witze ein Ausdruck von verdrängten sexuellen Der Oxford-Professor W. A. Spooner (1844–1930), der für
und aggressiven Tendenzen; Träume nannte er »den Königsweg seine sprachlichen Saltos bekannt war (Spoonerismen)
14.1 · Psychodynamische Theorien
555 14

. Abb. 14.4 Das Ich müht sich daran ab, die Ansprüche von Es und Über-
. Abb. 14.3 (© Claudia Styrsky) Ich miteinander in Einklang zu bringen, so Freud. (© Claudia Styrsky)

Das Es verfügt über ein Reservoir an unbewusster psychischer Ich (»ego«) – das weitgehend bewusst arbeitende »ausführende Organ«
Energie, die ständig darum kämpft, die grundlegenden Triebe der Persönlichkeit, das nach Freuds Meinung einen Kompromiss zwischen
den Forderungen des Es, des Über-Ichs und der Realität sucht. Das Ich
zu befriedigen: den Überlebens-, den Fortpflanzungs- und den
arbeitet nach dem Realitätsprinzip und befriedigt die Wünsche des Es auf
Aggressionstrieb. Das Es handelt aus dem Lustprinzip heraus: es eine Weise, dass eher Lust als Schmerz zu erwarten ist.
sucht sofortige Befriedigung. Um sich das Es besser vorstellen zu
können, sollten Sie an Neugeborene denken: Sie schreien, um die Nach Freuds Theorie beginnt ein Kind im Alter von 4–5 Jahren,
sofortige Befriedigung ihrer Bedürfnisse durchzusetzen, ohne die Forderungen des neu auftauchenden Über-Ichs zu erkennen:
sich auch nur im Geringsten um die Bedingungen und Forderun- die Stimme des Gewissens, die das Ich zwingt, nicht nur das
gen der Außenwelt zu kümmern. Oder denken Sie an Menschen, Reale zu berücksichtigen, sondern auch das Ideale; das Über-Ich
die mehr in der Gegenwart leben, als an die Zukunft zu denken: konzentriert sich ausschließlich darauf, wie man sich benehmen
Sie rauchen, trinken Alkohol und nehmen Drogen, sie feiern sollte. Das Über-Ich strebt nach Perfektion, bewertet alles, was
lieber heute, als dass sie um ihrer zukünftigen Erfolge willen wir tun, und erzeugt positive Gefühle des Stolzes oder negative
auf das Vergnügen verzichten, das der heutige Tag verspricht Schuldgefühle. Menschen mit einem sehr ausgeprägten Über-Ich
(Keough et al. 1999). können ungemein tüchtig sein, dabei aber ständig von Schuld-
gefühlen geplagt werden, während ein Mensch mit einem
Es (»id«) – enthält ein Reservoir unbewusster Energie, deren Streben laut
Freud auf die Erfüllung grundlegender sexueller und aggressiver Triebe schwachen Über-Ich überaus nachsichtig mit sich selbst ist und
gerichtet ist. Das Es handelt nach dem Lustprinzip und verlangt sofortige weniger Gewissensbisse hat.
Befriedigung.
Über-Ich (»superego«) – Teil der Persönlichkeit, der laut Freud die inter-
nalisierten Ideale und Normen repräsentiert, die Richtschnur für die Urteils-
In dem Maße, wie sich das Ich entwickelt, lernt das kleine Kind fähigkeit (Gewissen) liefert und Ziele für die Zukunft setzt.
den Umgang mit der Realität. Das Ich handelt nach dem Reali-
tätsprinzip, bemüht sich, die Triebregungen des Es so zu leben, Die Forderungen des Über-Ichs stehen häufig im Gegensatz zu
dass sie mit der Realität in Einklang stehen und auf lange Sicht den Wünschen des Es, und das Ich kämpft darum, die beiden
mehr Lust als Schmerz oder Zerstörung bringen. (Stellen Sie sich Instanzen in Einklang zu bringen. Das Ich ist das »ausführende
vor, was geschehen würde, wenn wir unsere ungebremsten sexu- Organ« der Persönlichkeit, es wirkt als Vermittler zwischen In-
ellen oder aggressiven Triebregungen auslebten, sobald wir sie nen- und Außenwelt und vermittelt zwischen den triebhaften
empfinden!) Das Ich enthält die bewussten Wahrnehmungen, Forderungen des Es, den bremsenden Forderungen des Über-Ichs
die Gedanken, Erinnerungen und Urteile. und den Forderungen der Realität in der Außenwelt (. Abb. 14.4).
556 Kapitel 14 · Persönlichkeit

. Tab. 14.1 Psychosexuelle Phasen nach Freud

Phase Fokus

Orale Phase (0–18 Monate) Lustzentrum ist der Mund – saugen, beißen, kauen

Anale Phase (18–36 Monate) Lustgewinn durch Entleerung von Blase und Darm; Umgang mit den Forderungen
nach Kontrolle
Phallische Phase (3–6 Jahre) Lustzone sind die Genitalien; Umgang mit inzestuösen sexuellen Gefühlen
Latenzphase (6 Jahre bis zur Pubertät) Phase schlummernder sexueller Gefühle

Genitale Phase (ab der Pubertät) Reifen sexueller Interessen

Wenn sich die schüchterne Jane von Markus sexuell angezogen dem rivalisierenden (gleichgeschlechtlichen) Elternteil identi-
fühlt, kann sie vielleicht ihr Es und ihr Über-Ich dadurch zufrie- fizieren (sie versuchen, ihm in jeder Hinsicht ähnlich zu sein).
denstellen, dass sie sich einer Hilfsorganisation anschließt, der Es ist, als sagte eine Instanz im Inneren des Kindes: »Wenn du
auch Markus angehört. ihn (den gleichgeschlechtlichen Elternteil) nicht ausstechen
kannst, dann verbünde dich mit ihm.« Durch diesen Prozess
Entwicklung der Persönlichkeit der Identifizierung gewinnt das Über-Ich des Kindes an Stärke,
denn das Kind übernimmt viele elterliche Wertvorstellungen
? 14.3 Von welchen Entwicklungsphasen ging Freud aus?
(. Abb. 14.5). Freud war der Meinung, dass die Identifizierung
Die Analyse der persönlichen Vergangenheit seiner Patienten mit dem gleichgeschlechtlichen Elternteil das bewirkt, was die
brachte Freud zu der Überzeugung, dass sich die Persönlichkeit Psychologen heute als Geschlechtsidentität bezeichnen: unser
eines Menschen in den ersten Lebensjahren bildet. Er folgerte Gefühl dafür, männlich oder weiblich zu sein. Freud nahm an,
daraus, dass Kinder in ihrer Entwicklung eine Reihe psycho- dass in der frühen Kindheit die Beziehungen vor allem zu Eltern
sexueller Phasen durchlaufen. In jeder dieser Phasen konzen- und Betreuungspersonen Einfluss darauf haben, wie sich unsere
trieren sich die Lust suchenden Energien des Es auf bestimmte Identität, unsere Persönlichkeit und unsere Schwächen ent-
lustbetonte Bereiche des Körpers, die Freud erogene Zonen wickeln.
nannte (. Tab. 14.1). Jede Phase stellt ihre eigenen Herausforde-
Identifizierung (»identification«) – Prozess, durch den nach Freuds Auf-
rungen. Dies sah Freud als miteinander in Konflikt stehende fassung Kinder die Wertvorstellungen ihrer Eltern in ihr eigenes Über-Ich
14 Tendenzen an. integrieren.

Psychosexuelle Phasen (»psychosexual stages«) – Entwicklungsphasen in


der Kindheit (oral, anal, phallisch, latent und genital), in denen sich laut Freud Konflikte, die während der frühen psychosexuellen Phasen
die Lust suchenden Energien des Es auf bestimmte erogene Zonen richten. auftraten und nicht gelöst worden sind, können nach Freud in
fehlangepassten Verhaltensweisen während des Erwachsenen-
Nach Freud suchen Jungen in der phallischen Phase die genitale alters zum Ausdruck kommen. An jedem Punkt der oralen, ana-
Stimulierung. Unbewusst richten sie ihre sexuellen Wünsche auf len oder phallischen Phase könnte ein starker Konflikt die Lust
die Mutter und entwickeln Eifersucht und Hass auf den Vater, suchenden Energien dieser Phase abblocken oder fixieren. Ein
den sie als Rivalen betrachten. Mit solchen Gefühlen entwickeln Mensch beispielsweise, der oral übermäßig verwöhnt oder be-
Jungen vermutlich Schuldgefühle und eine schleichende Angst nachteiligt ist (vielleicht durch ein frühes und abruptes Ab-
vor Bestrafung – vielleicht durch Kastration – durch den Vater. stillen), könnte etwa auf diese orale Phase fixiert bleiben. Dieser
Diese Ansammlung von Gefühlen nannte Freud Ödipuskom- oral fixierte Erwachsene könnte entweder in passiver Abhängig-
plex, wobei er sich auf den griechischen Mythos von Ödipus keit (wie ein Säugling) verharren oder diese Abhängigkeit – und
bezog, der, ohne es zu wissen, seinen Vater tötete und seine andere Formen davon – vehement leugnen; dies kann in beson-
Mutter heiratete. Manche Psychoanalytiker zu Freuds Zeiten ders aggressivem Verhalten oder in ständigen sarkastischen Be-
glaubten, dass Mädchen einen ähnlich gelagerten Elektrakomplex merkungen zum Ausdruck kommen. Vielleicht sucht die Person
durchleben. aber auch weiterhin nach oraler Befriedigung, indem sie exzessiv
raucht oder isst. Durch solche Erfahrungen würden laut Freud
Ödipuskomplex (»Oedipus complex«) – nach Freud die sexuellen Wünsche
von Söhnen gegenüber der Mutter und die damit verbundenen Gefühle die Zweige der Persönlichkeit schon in den ersten Lebensjahren
von Hass und Eifersucht gegenüber dem Vater, der als Rivale erlebt wird. in eine bestimmte Richtung gebogen.
Fixierung (»fixation«) – nach Freud eine Bindung der Lust suchenden
Kinder müssen sich nach Freud gegen bedrohliche Gefühle Energien an eine vorhergehende psychosexuelle Phase, in der Konflikte
wehren, und sie tun das, indem sie sie verdrängen und sich mit nicht gelöst wurden.
14.1 · Psychodynamische Theorien
557 14

. Abb. 14.5 Identifizierung. Ich möchte wie Papa sein. (Photo courtesy of David Myers)

Freuds Vorstellungen von Sexualität waren zu seiner Zeit kon- Traumsymbolen und Versprechern zum Vorschein. . Tab. 14.2
trovers diskutiert worden. Freud wurde als Pansexueller voller hält Beispiele für sechs weitere bekannte Abwehrmechanismen
schmutziger Fantasien und als Wiener Freigeist bezeichnet, so der bereit (. Abb. 14.6).
Psychologiehistoriker Morton Hunt (2007, S. 211). Heutzutage
Abwehrmechanismen (»defense mechanisms«) – in der psychoanaly-
sind seine Ansichten zum Ödipuskomplex und der Kastrations- tischen Theorie die Schutzmechanismen des Ichs, durch die Ängste ver-
angst selbst bei psychodynamischen Theoretikern und Therapeu- ringert werden, indem unbewusst die Realität verzerrt wird.
ten umstritten (Shedler 2010b). Dennoch vermitteln wir diese als Verdrängung (»repression«) – in der psychoanalytischen Theorie der
Teil der Geschichte westlicher Vorstellungen. Abwehrmechanismus, auf dem alle anderen Formen der Abwehr beruhen.
Angsterregende Gefühle, Gedanken und Erinnerungen werden aus dem
Bewusstsein verdrängt.
Abwehrmechanismen

? 14.4 Wie wehren sich Menschen, laut Freud, gegen Angst? Prüfen Sie Ihr Wissen

Angst ist der Preis, den wir für unsere Zivilisation zahlen, stellte 5 Laut Freuds Ansichten über die dreiteilige Struktur
Freud fest. Da wir einer sozialen Gruppe angehören, dürfen wir der Psyche, handelt das durch das
unsere sexuellen und aggressiven Triebregungen nicht ausleben, Realitätsprinzip, indem es die Wünsche auf eine Weise
sondern müssen sie unter Kontrolle halten. Manchmal fürchtet befriedigt, dass eher Lust als Schmerz zu erwarten ist.
das Ich jedoch, die Kontrolle über den inneren Kampf zwischen Das handelt nach dem Lustprinzip und
den Forderungen des Es und denen des Über-Ichs zu verlieren; strebt nach sofortiger Befriedigung. Das
die Folge davon ist eine unspezifische Furcht, die sich wie eine repräsentiert unsere internalisierten Ideale und Normen
dunkle Wolke über uns legt: Wir fühlen uns beunruhigt, wissen (unser Gewissen).
aber nicht genau warum. 5 Aus psychoanalytischer Sicht führen ungelöste Konflikte
Das Ich greift zu Abwehrmechanismen, um sich vor dieser während der ersten drei psychosexuellen Phasen zu
Furcht zu schützen, meinte Freud. All diese Abwehrmechanismen einer in einer dieser Phasen.
wirken indirekt und unbewusst. So wie der Körper eine Krankheit 5 Freud glaubte, dass unsere Abwehrmechanismen
unbewusst abwehrt, so wehrt nach Freud auch das Ich unbewusst (bewusst/unbewusst) wirken, um uns
die Angst ab. Beispielsweise verbannt Verdrängung angster- gegen zu schützen.
regende Gedanken und Gefühle aus dem Bewusstsein. Für Freud
liegt die Verdrängung allen anderen Abwehrmechanismen zu-
grunde. Seiner Meinung nach ist die Verdrängung oft unvoll-
ständig, und die verdrängten Gefühle kommen in Form von
558 Kapitel 14 · Persönlichkeit

. Tab. 14.2 Sechs Abwehrmechanismen. Freud glaubte, dass Verdrängung – welche angsterregende Gedanken und Gefühle verbannt – allen
anderen Abwehrmechanismen zugrunde liegt; sechs davon werden hier aufgeführt

Abwehrmechanismus Unbewusster Prozess, der dafür sorgt, dass angst- Beispiel


erregende Gedanken und Gefühle vermieden werden

Regression Ermöglicht es uns, uns in ein früheres, infantileres Ein Kind, das sich vor dem ersten Schultag fürchtet, wird
Entwicklungsstadium zurückzuziehen, in dem ein Teil vielleicht zu dem oralen Trost des Daumenlutschens
der psychischen Energie fixiert worden ist regredieren

Reaktionsbildung Das Ich verwandelt inakzeptable Triebregungen un- Um ihren Ärger zu verbergen, zeigt sich eine Person be-
bewusst in ihr Gegenteil sonders freundlich gegenüber der anderen Person

Projektion Verbirgt bedrohliche Triebregungen dadurch, dass sie Ein Sprichwort in El Salvador sagt: »Ein Dieb hält alle
sie anderen Menschen zuschreibt Menschen für Diebe.«

Rationalisierung Erklärungen zur Rechtfertigung unseres Verhaltens ab- Eine Gewohnheitstrinkerin sagt dann etwa, sie trinke mit
geben und dadurch die eigentlichen Gründe für unsere ihren Freunden, »um nicht ungesellig zu sein«
Handlungen verschleiern

Verschiebung Eigene sexuelle oder aggressive Triebregungen werden Kinder, die nicht wagen, ihre Wut auf die Eltern auszu-
auf ein Objekt oder einen Menschen umgelenkt, das oder drücken, tun das vielleicht, indem sie dem Hund einen
der psychologisch akzeptabler scheint Tritt versetzen

Verleugnung Man möchte die schmerzliche Realität nicht wahrhaben Ein Partner verleugnet die Beweislage für die Affäre seiner
oder wahrnehmen Geliebten

14

. Abb. 14.6a,b Regression. Bei der Konfrontation mit einem leichten Stressor regredieren Kinder und junge Makaken auf das, was auf einer früheren
Stufe des Verhaltens Trost bot, so zum Beispiel das Klammern an die Bezugsperson. (a: © Kitty / Fotolia; b: © Iryna_Rasko / iStockphoto)

14.1.2 Neofreudianische und psychodynamische kühnen Vordenker sammelten. Diese Pioniere der Psychoana-
Theorien lyse und andere Personen, die wir heute Neofreudianer nennen,
akzeptierten Freuds grundlegende Vorstellung: die aus Ich, Es
und Über-Ich bestehende Persönlichkeitsstruktur, die Bedeu-
? 14.5 Welche seiner Ideen verwarfen bzw. akzeptierten
tung des Unbewussten, die Ausbildung der Persönlichkeit in
Freuds Anhänger?
der Kindheit sowie die Dynamik von Angst und Abwehrmecha-
Freuds Schriften lösten Kontroversen aus, doch sie zogen bald nismen. Doch sie gingen in zwei wichtigen Punkten zu Freud auf
Anhänger an, zumeist ehrgeizige junge Ärzte, die sich um den Distanz: In stärkerem Maße betonten sie erstens die Rolle der
14.1 · Psychodynamische Theorien
559 14
bewussten Seele bei der Deutung der Erfahrung und beim Um-
gang mit der Umwelt. Und zweitens stellten sie in Zweifel, dass
Sexualität und Aggression die beiden Triebe seien, die alle Ener-
gie für sich beanspruchen. Stattdessen legten sie den Akzent auf
höhere Motive und auf die soziale Interaktion.
Alfred Adler und Karen Horney stimmten mit Freud darin
überein, dass die Kindheit wichtig ist. Aber sie waren der Über-
zeugung, dass die sozialen und nicht die sexuellen Spannungen
in der Kindheit entscheidend für die Ausbildung der Persön-
lichkeit sind (Ferguson 2003). Adler selbst (der die immer noch
populäre Vorstellung vom Minderwertigkeitskomplex entwickelt
hat) kämpfte damit, die Folgen von Krankheiten und Unfällen in
der Kindheit zu bewältigen, und er war der Auffassung, dass ein
Großteil unseres Verhaltens durch Bemühungen motiviert ist,
die Minderwertigkeitsgefühle aus der Kindheit zu überwinden
(. Abb. 14.7), Gefühle, die bei uns dazu führen, dass wir nach
Überlegenheit und Macht streben. Horney meinte, dass die
Ängste der Kindheit, die beim abhängigen Kind durch das Ge-
fühl der Hilflosigkeit verursacht werden, bei uns das Verlangen
nach Liebe und Sicherheit auslösen. Horney trat Freuds Auf- . Abb. 14.7 Alfred Adler. »Das Individuum fühlt sich im Leben gut aufge-
fassung entgegen, dass Frauen ein schwaches Über-Ich hätten hoben und hat das Gefühl, dass seine Existenz berechtigt ist, allerdings
nur insofern, als es anderen nützen und seine Gefühle der Minderwertigkeit
und unter »Penisneid« litten; und sie versuchte, den systema-
überwinden kann« (Adler 1929). (This work has been released into the
tischen Fehler zu korrigieren, den sie in seiner männlichen public domain by its author)
Sicht der Psychologie erkannte (. Abb. 14.8).
Carl Jung – ein Schüler von Freud, der sich später von ihm
abwandte – betonte weniger die sozialen Faktoren und stimmte
mit Freud darin überein, dass das Unbewusste einen machtvollen
Einfluss ausübt. Doch für Jung besteht das Unbewusste aus mehr
als unseren verdrängten Gedanken und Gefühlen. Er war der
Meinung, dass wir auch ein kollektives Unbewusstes haben,
eine gemeinsame Erbmasse an Bildern oder Archetypen, die
sich aus den universellen Erfahrungen unserer Spezies ableiten.
Seiner Auffassung nach liefert das kollektive Unbewusste eine
Erklärung dafür, dass bei vielen Menschen die Spiritualität so
tief verwurzelt ist und dass bestimmte Mythen und Bilder in
unterschiedlichen Kulturen zu finden sind, wie etwa das Bild der
Mutter als Symbol der Nährenden (. Abb. 14.9). (Die meisten
Psychologen bestreiten heute, dass es so etwas wie ererbte Er-
fahrungen gibt. Doch viele glauben trotzdem, dass unsere ge-
meinsame Evolutionsgeschichte zur Bildung einiger universeller
Dispositionen geführt hat.)
Kollektives Unbewusstes (»collective unconscious«) – Carl Jungs Konzept
einer gemeinsamen Erbmasse an Erinnerungsspuren aus der Geschichte
unserer Art.
. Abb. 14.8 Karen Horney. »Die Ansicht, dass Frauen infantile und gefühls-
betonte Wesen sind und als solche unfähig zu Verantwortung und Selbst-
Freud starb 1939. Seit dieser Zeit sind einige seiner Gedanken in ständigkeit, ist das Werk der männlichen Tendenz, die Selbstachtung der
die psychodynamische Theorie eingeflossen. »Heute fühlen sich Frauen herabzusetzen« (Horney 1933). (© Renate Horney Patterson, this
work with the title «Karen_Horney_1938.jpg” [http://upload.wikimedia.org/
die meisten Theoretiker und Praktiker nicht an die Vorstellung
wikipedia/commons/3/30/Karen_Horney_1938.jpg] is licenced under
gebunden, dass Sexualität die Basis der Persönlichkeit bildet«, CC BY-SA 3.0 [http://creativecommons.org/licenses/by-sa/3.0/], no modifica-
merkt Westen (1996) an. Man »spricht heute nicht von Es und tions were made)
Ich und klassifiziert die Patienten auch nicht nach den Kriterien
oral, anal oder phallisch«. Übereinstimmung mit Freud herrscht
560 Kapitel 14 · Persönlichkeit

. Abb. 14.10 »Der Rechtsdrall des Geweihs zeigt uns eine bestimmende
Persönlichkeit, doch weist die kleine Sonne auf einen Mangel an Selbst-
bewusstsein hin.« (© ScienceCartoonsPlus.com)

könnten psychodynamisch arbeitende Kliniker wählen, um


Persönlichkeitsmerkmale zu erfassen?
Die erste Anforderung an einen solchen Ansatz wäre, den
Weg über das Unbewusste zu wählen, um die Überbleibsel früher
14 . Abb. 14.9 Carl Gustav Jung. »Wir können einem Kind jegliche Kenntnis Kindheitserfahrungen auszugraben, unter die Oberfläche der
früher Mythen vorenthalten, doch das Bedürfnis nach Mythologie können Behauptungen zu schauen und die geheimen Triebregungen und
wir nicht aus seinem Geist entfernen« (Jung 1912). (This image is in the
Konflikte aufzudecken. Objektive Messmethoden wie Frage-
public domain because its copyright has expired)
bögen mit Ja-nein- oder Richtig-falsch-Antworten wären unge-
eignet, da diese nur die bewusste Oberfläche eines Menschen
jedoch bei der Annahme, dass viel von unserem Seelenleben un- berühren.
bewusst abläuft, dass wir häufig mit inneren Konflikten zwischen Projektive Tests dienen als psychologische Röntgenstrahlen,
unseren Wünschen, Ängsten und Wertvorstellungen zu kämpfen da die Probanden entweder einen ambivalenten Stimulus be-
haben und dass Persönlichkeit und Bindungsfähigkeit in der schreiben oder eine Geschichte darüber erzählen sollen. Der
Kindheit geformt werden. Kliniker darf somit annehmen, dass jegliche Hoffnungen, Wün-
sche und Ängste, die sie in einem solch ambivalenten Bild sehen,
Projektionen ihrer innersten Gefühle und Konflikte sind.
14.1.3 Erfassung unbewusster Prozesse
Projektiver Test (»projective text«) – Persönlichkeitstest, z. B. Rorschach-
Test, der vieldeutige Reize vorgibt, um eine Projektion der inneren Dynamik
des Probanden hervorzurufen.
? 14.6 Was sind projektive Tests, wie werden sie eingesetzt
und welche Kritikpunkte gibt es an diesen? » Wir sehen die Dinge nicht so, wie sie sind. Wir sehen sie so,
wie wir sind.
Wer sich mit dem Konzept der Persönlichkeit befasst oder wer
Der Talmud
therapeutisch arbeitet, braucht eine Methode zur Evaluation der
charakteristischen Merkmale der Persönlichkeit (. Abb. 14.10). Der am weitesten verbreitete projektive Test hat einige Flecken
Die verschiedenen Methoden zur Erfassung unterscheiden sich am Namen des Schweizer Psychiaters Hermann Rorschach hin-
voneinander, denn sie sind jeweils auf eine der unterschied- terlassen. Grundlage seines berühmten Rorschach-Tests, bei
lichen Persönlichkeitstheorien zugeschnitten. Welche Methode dem Personen beschreiben, was sie in einer Reihe Tintenkleckse
14.1 · Psychodynamische Theorien
561 14
Rücksichtslosigkeit und Ängstlichkeit – sich als valide erwie-
sen hätten (Wood 2006). Außerdem argumentieren sie, dass
ein solcher Test nicht reliabel sei. Sie verweisen darauf, dass die
Tintenklecksdiagnose so manchen normalen Erwachsenen als
pathologische Persönlichkeit diagnostizieren würde (Wood
et al. 2003, 2006). Alternative projektive Verfahren schneiden
kaum besser ab. »Selbst erfahrene Profis können sich durch ihre
Intuitionen und durch ihren Glauben an Hilfsmittel, für die es
keine guten Effektivitätsnachweise gibt, täuschen lassen«, warnen
Scott Lilienfeld, James Wood und Howard Garb (2001). »Wenn
eine ganze Reihe von Forschungsarbeiten zeigt, dass die alten
Intuitionen falsch sind, ist es an der Zeit, sich einer neuen Denk-
weise zu bedienen.«
. Abb. 14.11 Rorschach-Test. Bei diesem projektiven Test berichten
die Probanden, was sie in einer Serie symmetrischer Tintenkleckse sehen. » Der Rorschach-Test hat sich allseits diskreditiert ...
Wer mit diesem Test arbeitet, vertraut darauf, dass die Deutung der Ich bezeichne ihn als den Dracula der psychologischen Tests,
vieldeutigen Reize unbewusste Aspekte der Persönlichkeit des Probanden
weil es niemand geschafft hat, dem verfluchten Ding
aufzeigt. (This image is in the public domain because its copyright has
expired)
einen Pfahl durchs Herz zu treiben.
Carol Tavris, Mind Games: Psychological Warfare between
Therapists and Scientists (2003)
erkennen, war ein Spiel aus seiner Kindheit (. Abb. 14.11).
Rorschach und seine Freunde ließen Tinte auf ein Blatt Papier
tropfen, falteten es zusammen und erzählten sich anschließend,
was sie in dem entstandenen Klecks erkannten (Sdorow 2005). 14.1.4 Bewertung des psychoanalytischen
Erkennen sie Raubtiere oder Waffen? Vielleicht haben sie aggres- Ansatzes und die moderne
sive Tendenzen? Sichtweise des Unbewussten
Rorschach-Test (»Rorschach inkblot test«) – am weitesten verbreiteter
projektiver Test. Er besteht aus einem Satz von 10 Tintenklecksbildern, die ? 14.7 Wie beurteilt die heutige Psychologie Freuds Psycho-
von Hermann Rorschach entworfen wurden. Die Auswertung der Art
analyse?
und Weise, wie der Proband die Kleckse deutet, soll seine inneren Gefühle
deutlich machen.

Doch handelt es sich dabei um einen begründeten Verdacht? Widersprechende Befunde aus der modernen
Hierzu gehen die Meinungen von Klinikern und Kritikern aus- Forschung
einander. Einige Kliniker schätzen den Rorschach-Test und Wir kritisieren Freud aus der Perspektive des beginnenden
liefern Richtern sogar Einschätzungen zum kriminellen Gewalt- 21. Jahrhunderts, aber auch diese Sichtweise ist sicher nicht end-
potenzial bei einer Person. Andere sehen ihn als ein Diagnose- gültig. Freud hatte keinen Zugang zu all dem Wissen über die
instrument, als Quelle für suggestive Hinweise oder als Eisbrecher Entwicklung des Menschen, sein Denken und seine Emotionen,
und erfolgreiche Interviewtechnik. Die Society for Personality das wir seither erworben haben. Er wusste nichts von Neuro-
Assessment (2005) empfiehlt den verantwortungsvollen Einsatz transmittern oder von der DNA. Wenn wir also, sagen seine An-
des Rorschach-Tests. Sie erkennt an, dass man »die Befunde des hänger, Freuds Theorien mit modernen Konzepten vergleichen,
Rorschach-Tests allein nicht dazu verwenden soll, juristische dann ist das so, als wollten wir den ersten Volkswagen mit einem
Konsequenzen zu ziehen« oder zu entscheiden, ob beispielsweise heute gebauten Porsche vergleichen. Wie leicht es uns doch fällt,
ein sexueller Kindesmissbrauch stattgefunden hat. Als Reaktion Menschen, die in der Vergangenheit lebten, aus unserer Gegen-
auf vergangene Kritik an der Testauswertung und der Interpre- wartsperspektive zu kritisieren.
tation (Sechrest et al. 1998) steht heute ein forschungsbasiertes
und computerunterstütztes Hilfsmittel für die Codierung und
» Viele Aspekte der Freud‘schen Theorie sind tatsächlich über-
holt, und das sollten sie auch sein: Freud ist 1939 gestorben,
Deutung zur Verfügung, mit dem angestrebt wird, sowohl die
und er war nicht der schnellste darin, weitere Korrekturen
Übereinstimmung unter den Auswertern als auch die Validität
vorzunehmen.
des Tests zu verbessern (Erdberg 1990; Exner 2003).
Der Psychologe Drew Westen (1998)
Doch die Evidenz bleibt den Kritikern ungenügend. Sie be-
harren darauf, dass der Rorschach-Test kein Kernspintomograf Freuds Anhänger und seine Kritiker sind gleichermaßen der
für Emotionen ist. Sie wenden ein, dass nur wenige der vom Meinung, dass die neuere Forschung im Widerspruch zu vielen
Rorschach-Test abgeleiteten Punktskalen – beispielsweise für seiner spezifischen Vorstellungen steht. Heutige Entwicklungs-
562 Kapitel 14 · Persönlichkeit

psychologen sehen die Entwicklung als lebenslang und nicht als


in der Kindheit abgeschlossen. Sie zweifeln daran, dass die kind-
lichen neuronalen Netzwerke ausgereift genug sind, um einem
solchen Ausmaß an emotionalem Trauma standzuhalten, wie
Freud es annahm. Es wird auch die Ansicht vertreten, dass Freud
den elterlichen Einfluss überschätzte, den Einfluss der Gleich-
altrigen dagegen unterschätzte. Es wird auch bezweifelt, dass sich
das Gewissen und die Geschlechtsidentität ausbilden, wenn das
Kind im Alter von 5 oder 6 Jahren mit dem Ödipuskomplex kon-
frontiert ist. Die Geschlechtsidentität entsteht früher und wird
auch ohne einen gleichgeschlechtlichen Elternteil eindeutig
männlich oder weiblich. Und es wird angeführt, Freuds Theorie
über die kindliche Sexualität sei daraus entstanden, dass er den
Berichten seiner Patientinnen über sexuellen Missbrauch nicht
. Abb. 14.12 »Wenn ich einen anderen geheiratet hätte, hätte ich mit
glaubte, sondern sie ihren kindlichen sexuellen Wünschen und
dessen Geburtsdatum sicher schon gewonnen!« (© Claudia Styrsky)
Konflikten zuschrieb (Esterson 2001; Powell u. Boer 1994). Wir
wissen jedoch heute, dass, indem Freud den Missbrauch in Frage
stellte, möglicherweise falsche Erinnerungen daran hervorge- Angst vor Pferden, beim dritten geht es um die sexuelle Orien-
rufen wurden, und wir wissen auch: Sexueller Missbrauch von tierung), diese allerdings nicht vorhersagen kann (. Abb. 14.12).
Kindern ist eine traurige Realität. Wenn Sie über den Tod Ihrer Mutter zornig sind, dann ist das
Wie wir in 7 Kap. 4 gesehen haben, stellen neue Forschungs- nach Freuds Theorie ein Beleg dafür, dass »Ihre in der Kindheit
ergebnisse Freuds Auffassung in Frage, dass Träume unsere nicht erfüllten Abhängigkeitsbedürfnisse bedroht werden«.
Wünsche maskieren und erfüllen. Und ein Versprecher lässt sich Wenn Sie nicht zornig sind, dann ist das ein Beleg dafür, dass »Sie
erklären als Wettstreit zwischen ähnlich klingenden Wörtern, Ihre Wut verdrängen«. Dieses Vorgehen, sagen Hall u. Lindzey
der im Netzwerk des Gedächtnisses ausgetragen wird. Wenn je- (1978, S. 68) ist so, »als wollte man auf ein Pferd wetten, wenn das
mand sagt: »Ich will das nicht tun, ›it‘s a lot of brothel‹« (Bordell), Rennen schon gelaufen ist«. Eine gute Theorie macht überprüf-
dann ist das vermutlich einfach eine Vermischung der Wörter bare Vorhersagen.
»bother« (Unannehmlichkeit) und »trouble« (Problem) (Foss u.
Hakes 1978). Die Forscher finden auch kaum etwas, was Freuds
» Wir argumentieren wie der Mann, der sagte: ›Wenn auf
diesem Stuhl eine unsichtbare Katze säße, sähe der Stuhl
14 These von den Mechanismen der Verdrängung und Maskierung
leer aus: Der Stuhl sieht tatsächlich leer aus, folglich sitzt
sexueller und aggressiver Triebregungen belegt (obwohl wir
eine unsichtbare Katze darauf.‹
uns kognitiv drehen und winden, um unser Selbstwertgefühl
C. S. Lewis, Four Loves, 1958
zu schützen). In der Geschichte der Psychologie wurde noch
eine weitere von Freuds Theorien nicht gestützt: die Über- Sollte die Psychologie daher diese alte Theorie mit dem Vermerk
zeugung, dass unterdrückte Sexualität zu psychischen Stö- »Bitte nicht wiederbeleben« versehen? Die Anhänger von Freud
rungen führt. Seit Freuds Zeiten ist die sexuelle Gehemmtheit widersprechen. Sie sagen: Wenn man Freuds Theorie dahinge-
immer stärker zurückgegangen, die psychischen Störungen aller- hend kritisiert, dass sie keine überprüfbaren Vorhersagen macht,
dings nicht. dann ist das so, als kritisiere man Fußball dafür, dass es sich hier
Auch wegen wissenschaftlicher Mängel wird Freuds Theorie nicht um Turmspringen handelt, also für etwas, was es nie sein
von Psychologen kritisiert. Rufen Sie sich in Erinnerung, was in sollte. Im Gegensatz zu vielen späteren Psychoanalytikern hat
7 Kap. 2 über eine gute wissenschaftliche Theorie gesagt wurde: Freud für die Psychoanalyse nie die Bezeichnung »Wissenschaft
dass sie eine Erklärung bietet für das, was beobachtet wurde, und mit Vorhersagewert« in Anspruch genommen. Er hat lediglich
dass sich daraus Hypothesen generieren lassen, die überprüfbar behauptet, ein Psychoanalytiker könne in unserem Seelenzu-
sind. Freuds Theorie beruht auf wenigen objektiven Beobachtun- stand rückblickend Dinge von Bedeutung finden (Rieff 1979).
gen und liefert z. T. nur wenige Hypothesen, die sich bestätigen Freuds Anhänger verweisen auch darauf, dass einige von
lassen oder verworfen werden könnten. (Freud selbst begnügte Freuds Gedanken immer noch aktuell sind. Freud war es, der die
sich offenbar mit seinen eigenen Erinnerungen und Deutungen Aufmerksamkeit auf das Unbewusste und das Irrationale lenkte,
der freien Assoziationen, der Träume und der Versprecher seiner auf unsere uns selbst schützenden Abwehrmechanismen, auf
Patienten.) die Bedeutung, die die Sexualität für den Menschen hat, und auf
Aber das größte Problem mit Freuds Theorie besteht darin, die Spannung, die zwischen den Triebregungen unserer Biologie
dass sie nachträgliche Erklärungen für Eigenschaften und Ver- und unserem sozialen Wohlbefinden herrscht. Freud stellte
haltensweisen liefert (der eine Patient raucht, der andere hat unsere Selbstgerechtigkeit in Frage, beschäftigte sich genauer mit
14.1 · Psychodynamische Theorien
563 14
unseren Absichten und rief uns ins Gedächtnis, dass uns das » Während des Holocausts ... wurden viele Kinder gezwungen,
Böse nicht fremd ist. das Unerträgliche zu ertragen. Für diejenigen, die weiterhin
leiden, ist [der] Schmerz noch da, viele Jahre später, so real
Ist Verdrängung ein Mythos? wie am Tag, als es geschah.
Die gesamte Theorie der Psychoanalyse beruht auf Freuds An- Eric Zillmer, Molly Harrower, Barry Ritzler u. Robert Archer,
nahme, dass die Seele des Menschen schmerzliche Erfahrungen The Quest for the Nazi Personality (1995)
häufig verdrängt, indem sie sie ins Unbewusste verbannt, bis wir
sie unter Anleitung eines Helfers wiederentdecken und unver- Wie sehen wir heute das Unbewusste?
sehrt vorfinden wie längst vergessene Bücher auf einem staubi-
? 14.8 Wie hat die moderne Forschung unser Verständnis des
gen Dachboden. Werden die verdrängten schmerzlichen Erfah-
Unbewussten geprägt?
rungen unserer Kindheit wieder aufgedeckt und lösen sie sich,
sollten emotionale Verletzungen geheilt werden. Unter Freuds Freud hatte zumindest in einer Beziehung Recht: Unser Zugang
Einfluss wurde die Verdrängung zu einem weithin akzeptierten zu dem, was in unserer Seele vor sich geht, ist wirklich begrenzt
Konzept, das dazu genutzt wurde, hypnotische Phänomene, psy- (Erdelyi 1985, 1988, 2006; Norman 2010). Unser zweigleisiger
chische Störungen und scheinbar verloren gegangene und wieder Verstand umfasst einen weiten Bereich, der sich unserem Be-
aufgedeckte Erinnerungen an Kindheitstraumata zu erklären wusstsein entzieht.
(Cheit 1998). Eine Befragung von Studierenden ergab, dass 88% Nichtsdestotrotz halten viele heute das Unbewusste nicht für
von ihnen daran glaubten, schmerzliche Erfahrungen würden einen Kessel voller brodelnder Leidenschaften und einen repres-
aus der bewussten Wahrnehmung ins Unbewusste verlagert siven Zensor, sondern für einen kühlen Informationsverarbeiter,
(Garry et al. 1994). dessen Aktivität wir nicht wahrnehmen. Für diese Wissenschaft-
Heutige Wissenschaftler stimmen darin überein, dass wir ler gehört u. a. auch Folgendes zum Unbewussten:
manchmal unser Ich vor bedrohlichen Inhalten schützen, indem 4 Schemata, die unsere Wahrnehmungen und Interpreta-
wir diese unbeachtet lassen (Green et al. 2008). Tatsächlich, tionen automatisch steuern (7 Kap. 7);
so meinen viele Wissenschaftler heute, ist Verdrängung, wenn 4 Priming durch Reize, die wir nicht bewusst beachtet haben
sie überhaupt stattfindet, eine selten auftretende mentale Reak- (7 Kap. 7 und 7 Kap. 9);
tion auf ein schreckliches Trauma. Selbst diejenigen, die die Er- 4 rechtshemisphärische Aktivität, die die linke Hand eines
mordung eines Elternteils mit ansehen mussten oder die Ver- Split-Brain-Patienten in die Lage versetzt, einen Befehl
nichtungslager der Nazis überlebten, behielten die unverdräng- auszuführen, den der Patient nicht in Worten formulieren
ten Erinnerungen an jene Gräueltaten (Helmreich 1992, 1994; kann (7 Kap. 3);
Malmquist 1986; Pennebaker 1990). »Dutzende formeller Stu- 4 implizite Erinnerungen, die ohne bewussten Abruf wirken,
dien aus der gesamten Literatur über Traumata haben keinen auch bei Menschen mit Amnesie (7 Kap. 9);
einzigen überzeugenden Beweis für Verdrängung erbracht«, so 4 Emotionen, die zu sofortigen Reaktionen führen, noch vor
der Persönlichkeitsforscher John Kihlstrom (2006). der bewussten Analyse der Situation (7 Kap. 13);
4 Selbstkonzept und Stereotype, die automatisch und
» Die bisherigen Erkenntnisse fordern in ernsthafter Weise die
unbewusst Einfluss darauf nehmen, wie wir Informationen
klassische psychoanalytische Vorstellung über Verdrängung
über uns und andere verarbeiten (7 Kap. 15).
heraus.
Der Psychologe Yacov Rofé, Gibt es Verdrängung?, 2008
Mehr als wir glauben, fliegen wir mit Hilfe eines Autopilots.
Manche Forscher glauben, dass lang anhaltender extremer Stress, Unser Leben wird gelenkt durch eine nicht bewusste Informa-
wie ihn manche schwer missbrauchten Kinder erleben, das Ge- tionsverarbeitung, die unsichtbar im wirklichen Leben statt-
dächtnis durch eine Schädigung des Hippocampus beeinträch- findet. Das Unbewusste ist riesig. Dieses Verständnis der nicht
tigen kann (Schacter 1996). Doch es entspricht viel eher der bewussten Informationsverarbeitung entspricht eher den Auffas-
Realität, dass starker Stress (und die damit einhergehenden Hor- sungen aus der Zeit vor Freud: ein im Untergrund fließender
mone) das Erinnerungsvermögen verbessert (7 Kap. 9 über Strom von Gedanken, aus dem spontan kreative Ideen auf-
Gedächtnis). Tatsächlich verfolgen traumatische Ereignisse wie tauchen (Bargh u. Morsella 2008).
Vergewaltigung und Folter die Überlebenden mit ungewollten Die neuere Forschung stützte in gewisser Weise auch Freuds
Flashbacks, blitzartigen, aber deutlichen Erinnerungen, die These zu den Abwehrmechanismen (auch wenn diese nicht so
in die Seele eingebrannt sind. »Du siehst die Babys«, sagt funktionieren, wie Freud annahm). So fanden beispielsweise
die Holocaust-Überlebende Sally H. (1979). »Du siehst die Baumeister et al. (1998), dass die Menschen dazu neigen, ihre
schreienden Mütter. Du siehst, wie Menschen aufgehängt wer- eigenen Schwächen und Einstellungen bei anderen zu sehen;
den. Du sitzt da und siehst dieses Gesicht. Das kann man nicht Freud nannte dieses Phänomen Projektion, die heutige Forschung
vergessen.« nennt es Konsensüberschätzung, die Tendenz nämlich, zu über-
564 Kapitel 14 · Persönlichkeit

. Abb. 14.13 (Copyright © The New Yorker Collection, 2007, Carolita Johnson / cartoonbank.com)

schätzen, wie viele andere Menschen die gleichen Überzeugungen suchen auch verstärkt nach Weltanschauungen, die eine Antwort
und Verhaltensweisen haben wie wir. Wer bei der Steuererklärung auf die Frage nach dem Sinn des Lebens geben.
mogelt oder Geschwindigkeitsbegrenzungen nicht beachtet, neigt
zu der Auffassung, dass viele andere genauso handeln. Menschen,
» Ich möchte nicht durch meine Arbeit Unsterblichkeit erlangen;
ich möchte dadurch unsterblich werden, dass ich nicht sterbe.
die andere als glücklich, gütig und vertrauenswürdig einschätzen,
Woody Allen
sind dies meist auch selbst (Wood et al. 2010).
Es existieren Belege für Abwehrmechanismen, die das Selbst- Die Aussicht auf den Tod fördert religiöse Gefühle zu Tage.
wertgefühl festigen, wie z. B. die Reaktionsbildung. Baumeisters Tiefreligiöse Überzeugungen machen Menschen weniger de-
Schlussfolgerung: Das Motiv für Abwehrmechanismen sind fensiv (sie neigen weniger dazu, ihre Weltanschauung rigoros
14 weniger die von Freud vermuteten Triebregungen, sondern zu verteidigen), wenn sie an den Tod erinnert werden (Jonas u.
unser Bedürfnis, das Selbstbild zu schützen. Fischer 2006; Norenzayan u. Hansen 2006). Außerdem hängen
Die neuere Geschichte unterstützte Freuds Annahme, dass Menschen, die über den Tod nachdenken, an engen Beziehungen
wir uns gegen Ängste wehren. Jeff Greenberg, Sheldon Solomon (Mikulincer et al. 2003). Die Ereignisse des 11. September – ein
und Tom Pyszczynski (1997) glauben, dass eine Quelle für Angst schlagendes Beispiel für die Schrecken des Todes – brachten die
»das Erschrecken ist, das aus unserer Wahrnehmung der Ver- im World Trade Center gefangenen Menschen dazu, die letzten
wundbarkeit und des Todes rührt« (. Abb. 14.13). An die 300 Augenblicke ihres Lebens damit zu verbringen, die Menschen
Experimente, in denen sie ihre Terrormanagementtheorie anzurufen, die ihnen lieb und wichtig waren. Und sie brachten
testeten, zeigen, dass das Nachdenken über die eigene Sterb- die meisten Amerikaner dazu, die Hand nach Familie und Freun-
lichkeit – indem man beispielsweise einen kurzen Aufsatz über den auszustrecken.
das Sterben und die damit verbundenen Gefühle schreibt –
genügend Angst hervorruft, um verschiedene Abwehrhand-
» Da ich den Herrn suchte, antwortete er mir und errettete
mich aus aller meiner Furcht.
lungen im Sinne des Terrormanagements hervorzurufen (Burke
Psalm 34, 4
et al. 2010). Beispielsweise erhöht Todesangst die Gering-
schätzung anderer und das eigene Selbstwertgefühl (Koole
Prüfen Sie Ihr Wissen
et al. 2006).
5 Welche drei Beiträge entstammen Freuds psychoanaly-
Terrormanagementtheorie (»terror-management theory«) – besagt, dass
der Glaube an die eigene Weltanschauung und das Streben nach einem tischer Theorie? Nennen Sie drei Aspekte, die an Freuds
hohen Selbstwertgefühl Schutz bieten gegen eine tief verwurzelte Todes- Theorie kritisiert worden sind.
angst. 5 Welche Elemente aus der Psychoanalyse sind weiter-
hin Teil der modernen psychodynamischen Theorien und
Angesichts einer bedrohlichen Welt bemühen sich die Menschen welche Elemente nicht mehr?
nicht nur um eine Verbesserung ihres Selbstwertgefühls, sondern
14.2 · Humanistische Theorien
565 14
14.2 Humanistische Theorien

? 14.9 Was verstanden humanistische Psychologen unter


Persönlichkeit und welches Ziel verbarg sich hinter deren
Erforschung von Persönlichkeit?

Etwa um 1960 wuchs die Unzufriedenheit mancher Persönlich-


keitspsychologen mit Freuds negativem Menschenbild und mit
der mechanistischen Psychologie des Behaviorismus von B. F.
Skinner (7 Kap. 8). Freuds Interesse galt »kranken« Menschen;
dagegen interessierten sich die Vertreter humanistischer Theo-
rien dafür, auf welche Weise »gesunde« Menschen ihr Streben
nach Selbstbestimmung und Selbstverwirklichung umsetzen. . Abb. 14.14 Abraham Maslow. »Jede Motivationstheorie, die unsere
Im Gegensatz zur wissenschaftlichen Objektivität des Behavio- Aufmerksamkeit verdient, muss sich mit den größten Fähigkeiten eines
gesunden und starken Menschen ebenso befassen wie mit den Abwehr-
rismus untersuchten sie Menschen mit Hilfe ihrer eigenen, von
manövern einer verkümmerten Seele« (Maslow 1970). (© Bettmann / COR-
ihnen selbst berichteten Erlebnisse und Gefühle. BIS)
Humanistische Theorien (»humanistic theories«) – betrachten Persön-
lichkeit in Bezug auf das menschliche Potenzial zu gesundem persönlichem
Wachstum. aufwiesen: Sie waren sich ihrer selbst bewusst, akzeptierten sich,
waren offen und spontan, liebevoll und fürsorglich und ließen
Die beiden Pioniere der Bewegung – Abraham Maslow (1908– sich von der Meinung anderer nicht lähmen. Da ihnen ihr Ge-
1970) und Carl Rogers (1902–1987) – boten eine »Dritte-Kraft- fühl dafür, wer sie waren, Sicherheit verlieh, waren ihre Inte-
Perspektive« an, die besonderes Gewicht auf das Potenzial des ressen eher problemzentriert als selbstzentriert. Sie steckten ihre
Menschen legte. Energie in eine bestimmte Aufgabe, die sie oft als ihre Mission
betrachteten. Die meisten von ihnen hatten lieber einige wenige
tiefe als viele oberflächliche Beziehungen. Bei vielen stand am
14.2.1 Abraham Maslows Konzept Anfang eine persönliche oder spirituelle höchste Erfahrung, die
der Selbstverwirklichung über das normale Bewusstsein hinausging.
Das sind die Persönlichkeitsmerkmale, die ein reifer Erwach-
Maslow nahm an, dass der Mensch seine Motivation an einer sener haben sollte, sagte Maslow. Es handelt sich um die Eigen-
Bedürfnishierarchie orientiert (7 Kap. 12). Sobald die physiologi- schaften, die man bei denen findet, die genug über das Leben
schen Bedürfnisse befriedigt sind, strebt der Mensch nach Sicher- gelernt haben, um Mitgefühl zeigen zu können, denen, die aus
heit. Ist das Bedürfnis nach Sicherheit gestillt, erwacht das Be- ihren gemischten Gefühlen gegenüber den Eltern herausge-
dürfnis nach Liebe und Zugehörigkeit: Man will lieben, geliebt wachsen sind, denen, die ihre Berufung gefunden haben und
werden und sich selbst lieben. Sobald auch dieses Bedürfnis »genügend Mut erworben haben, um sich unbeliebt zu machen,
befriedigt ist, strebt der Mensch nach einem positiven Selbstwert- sich nicht zu genieren, offen ihre Tugendhaftigkeit zu zeigen
gefühl. Hat er dies erreicht, ist sein nächstes Ziel die Selbstver- etc.«. Maslows Arbeit mit Studierenden brachte ihn dazu, Mut-
wirklichung – in Maslows Theorie der Prozess der Verwirklichung maßungen anzustellen, wer wahrscheinlich bis zur Selbstver-
des eigenen Potenzials – und Selbsttranszendenz (Sinn, Zweckhaf- wirklichung gelangen würde: Es waren die, die liebenswürdig,
tigkeit und Verbundenheit über das eigene Selbst hinaus). fürsorglich waren und »sich auch privat freundschaftlich den
älteren Menschen zuwandten, die es verdient hatten« und die
Selbstverwirklichung (»self-actualization«) – nach Maslow das höchste
psychologische Bedürfnis, das auftritt, wenn alle physischen und psychischen »insgeheim ein Unbehagen gegenüber der Grausamkeit, der
Grundbedürfnisse erfüllt sind und Selbstwertgefühl erlangt wurde; Selbst- Gemeinheit und der Mobbing-Atmosphäre hatten, wie man sie
verwirklichung ist die Motivation, das eigene Potenzial zu verwirklichen. so oft unter jungen Menschen findet«.

Maslow (1970) entwickelte seine Ideen weniger bei der Untersu-


chung klinischer Problemfälle als bei der Beobachtung gesunder, 14.2.2 Carl Rogers’ personzentrierter Ansatz
kreativer Menschen (. Abb. 14.14). Als Grundlage seiner Be-
schreibung des Konzepts der Selbstverwirklichung diente ihm Rogers war ebenfalls ein humanistischer Psychologe und stimm-
eine Studie über Menschen, die für ihr erfülltes und produktives te in vielem mit Maslows Gedanken überein. Rogers glaubte, der
Leben bekannt waren, wie z. B. Abraham Lincoln. Maslow fand, Mensch sei im Grunde gut und habe die Fähigkeit zur Selbst-
dass all diese Menschen bestimmte charakteristische Merkmale verwirklichung. Wenn die Umwelt das Wachstum nicht behin-
566 Kapitel 14 · Persönlichkeit

dert oder durchkreuzt, dann ist jeder Mensch der Eichel gleich,
die keimt und wächst und als Baum ihren Lebenssinn erfüllt.
Rogers (1980) vertritt die Ansicht, dass für ein Wachstum för-
derndes Klima drei Faktoren unabdingbar sind: Echtheit, un-
bedingte Wertschätzung und Empathie.
4 Echtheit: Wenn Menschen sich echt verhalten, dann kön-
nen sie ihre eigenen Gefühle offen akzeptieren, halten keine
Fassade aufrecht, sind durchschaubar und offenherzig.
4 Wertschätzung: Auch akzeptierende Menschen fördern
unser Wachstum: Menschen, die uns das schenken, was
Rogers unbedingte Wertschätzung nannte. Damit ist eine
wohlwollende Einstellung gemeint, die unseren Wert trotz
unserer Versäumnisse schätzt. Es ist eine große Erleichte-
rung, Ansprüche fallen zu lassen, die schlimmsten Gefühle . Abb. 14.15 Empathie. Sich offen zu zeigen und vertraulich miteinander
offen einzugestehen und dann zu entdecken, dass man zu sprechen ist leichter, wenn der Zuhörer echtes Verständnis aufbringt.
In solchen Beziehungen kann man sich entspannen und das eigene Selbst
immer noch akzeptiert wird. In einer guten Ehe, einer
in seiner ganzen Fülle zum Ausdruck bringen. (© Martin Novak / iStock /
engen Familienbindung oder einer tiefen Freundschaft Thinkstock)
haben wir die Freiheit, spontan zu sein, ohne dabei be-
fürchten zu müssen, die Wertschätzung der anderen zu
verlieren.
4 Empathie: Wenn Menschen sich empathisch verhalten,
dann teilen und spiegeln sie die Gefühle anderer und deren
Bedeutung (. Abb. 14.15). »Wir hören kaum einmal mit
echtem Verständnis, wahrer Empathie zu«, sagte Rogers.
»Doch diese ganz spezielle Art des Zuhörens ist eine
der stärksten Kräfte, die ich kenne, um Veränderungen zu
bewirken.«
Unbedingte Wertschätzung (»unconditional positive regard«) – nach
Rogers eine Einstellung, die durch das vollkommene Akzeptieren eines
14 anderen Menschen gekennzeichnet ist.

Echtheit, Wertschätzung und Empathie stellen, laut Rogers, das


Wasser, Sonnenlicht und die Nährstoffe dar, die Menschen wie
kräftige Eichen gedeihen lassen (. Abb. 14.16). Wenn man Men-
schen empathisch zuhört, ermöglicht man es ihnen, genauer auf
den Fluss ihres inneren Erlebens zu achten. Der Autor Calvin
Trillin (2006) erinnert sich an das Beispiel zweier Eltern, die . Abb. 14.16 Ein Vater, der für sein Kind keine unbedingte Wertschät-
ein hohes Maß an Echtheit und unbedingter Wertschätzung zung übrig hat. (Copyright © The New Yorker Collection, 2001, Pat Byrnes /
aufwiesen. Jenes Beispiel stammt aus einem Sommerlager für cartoonbank.com)
schwerkranke Kinder, in dem seine Frau Alice arbeitete. L., ein
zauberhaftes Kind, das an einer genetischen Krankheit litt und
durch den Schlauch ernährt werden musste, konnte nur mit Eltern dieses Kindes getan haben könnten, ein solch ein-
Schwierigkeit gehen. Alice erinnerte sich: drucksvolles Kind erzogen zu haben, sie zu dem optimis-
tischsten, enthusiastischsten, hoffnungsvollsten Menschen
» Eines Tages spielten wir ›Plumpsack‹, ich saß hinter ihr und erzogen zu haben, den ich je kennengelernt habe. Ich warf
sie bat mich, ihre Post für sie zu halten, während sie sich einen schnellen Blick auf die Nachricht und meine Augen
umdrehte, um um den Kreis gejagt zu werden. Sie hat etwas blieben an folgendem Satz hängen: ›Wenn Gott uns die
länger gebraucht, um den kompletten Kreis zu umlaufen. Wahl gelassen hätte, unter allen Kindern der Welt eines
Ich hatte also Zeit dazu, eine Nachricht ihrer Mutter ganz auszusuchen, L., hätten wir dich gewählt.‹ Bevor L. zu ihrem
oben auf dem Stapel (Post) zu entdecken. Dann tat ich Platz im Kreis zurückkehren konnte, zeigte ich Bud, der ne-
etwas Schreckliches ... Ich musste einfach wissen, was die ben mir saß, die Nachricht. ›Schnell. Lies das‹, flüsterte ich.
6 ›Dies ist das Geheimnis des Lebens.‹
14.2 · Humanistische Theorien
567 14
Maslow und Rogers hätten wissend gelächelt. Für sie ist das Auch auf die Populärpsychologie unserer Zeit haben sie Ein-
Selbstkonzept ein zentrales Merkmal der Persönlichkeit: Ge- fluss genommen, manchmal sogar unabsichtlich. Viele Men-
danken und Gefühle, die als Reaktion auf die Frage »Wer bin schen haben die Gedanken von Maslow und Rogers in sich auf-
ich?« auftreten. Menschen mit positivem Selbstkonzept nehmen genommen: Ist ein positives Selbstkonzept der Schlüssel zu
die Welt positiv wahr und handeln entsprechend. Mit einem Glück und Erfolg? Können Akzeptanz und Empathie, die einem
negativen Selbstkonzept – wenn wir in unseren eigenen Augen entgegengebracht werden, die eigenen positiven Gefühle stär-
zu weit entfernt von unserem »Ideal-Selbst« sind – fühlen wir ken? Sind Menschen grundsätzlich gut und auch durchaus fähig,
uns nach Rogers unzufrieden und unglücklich. Ein sinnvolles besser zu werden? Viele Leute antworten darauf mit Ja, Ja und Ja.
Ziel ist demnach für Therapeuten, Eltern, Lehrer und Freunde, Und bei einer 1992 von der Zeitung Newsweek durchgeführten
anderen zu helfen, sich selbst zu erkennen, zu akzeptieren und zu Gallup-Befragung gaben 89% an, »Selbstwertgefühl ist sehr
sich selbst ehrlich zu sein. wichtig für die Motivation eines Menschen, hart zu arbeiten und
Erfolg zu haben«. Wenn sie die Wahl haben, bevorzugen ameri-
Selbstkonzept (»self-concept«) – alle Gedanken und Gefühle, die bei der
Beantwortung der Frage »Wer bin ich?« aufkommen. kanische Collegestudenten die Erhöhung ihres Selbstwertgefühls
durch ein Kompliment oder eine gute Note auf eine Hausarbeit
gegenüber ihrem Lieblingsgericht oder Sex (Bushman et al.
14.2.3 Erfassung des Selbst 2011). Die Botschaft der humanistischen Psychologie war an-
gekommen.
Dass der humanistische Ansatz auf eine so breite Resonanz
? 14.10 Wie erfassten humanistische Psychologen die Selbst-
stieß, führte aber auch zu heftiger Kritik. Erstens, argumen-
wahrnehmung einer Person?
tierten die Kritiker, sind die Konzepte verschwommen und
Manchmal haben humanistische Psychologen Fragebögen bei subjektiv. Nehmen wir nur einmal Maslows Beschreibung von
der Erfassung des Selbst verwendet und Menschen gebeten, »sich selbst verwirklichenden« Menschen: Sie sind offen, spon-
Fragebögen zur Bewertung des Selbstkonzepts auszufüllen. In tan, liebevoll, produktiv und akzeptieren sich selbst. Ist das
einem im Geiste Carl Rogers‘ entwickelten Fragebogen sollten eine wissenschaftliche Beschreibung? Ist das nicht vielmehr eine
die Probanden sich selbst beschreiben, und zwar einmal so, wie Beschreibung von Maslows eigenen Werten und Idealen? Smith
sie idealerweise gerne wären, und einmal so, wie sie tatsächlich (1978) merkte dazu an: Maslow lieferte uns einen Eindruck
sind. Sind ideales Selbst und tatsächliches Selbst annähernd von seinen persönlichen Heldenfiguren. Aber stellen Sie sich
gleich, sagte Rogers, hat diese Person ein positives Selbstkonzept. vor, ein anderer Theoretiker hätte andere Helden, vielleicht
Wenn Rogers im Rahmen einer Therapie das persönliche Wachs- Napoleon, Alexander den Großen und John D. Rockefeller sen.
tum seiner Klienten immer wieder erfasste, achtete er bei dem Dieser Theoretiker würde wahrscheinlich einen sich selbst ver-
Klienten vor allem auf immer näher beieinander liegende Ein- wirklichenden Menschen als »unbeeinträchtigt von den Bedürf-
stufungen des tatsächlichen und des idealen Selbst. Manche nissen anderer Menschen«, »leistungsmotiviert« und »macht-
humanistischen Psychologen vertraten die Ansicht, dass eine besessen« beschreiben.
standardisierte Erfassung der Persönlichkeit, sogar durch einen Die Kritiker hatten auch Einwände gegen folgende Formulie-
Fragebogen, eine Depersonalisierung darstellt. Sie wollten die rung von Carl Rogers: »Die einzige wirklich wichtige Frage ist:
Klienten nicht zwingen, ihre Antworten in eng gefasste Kate- ›Lebe ich auf eine Weise, die mich zutiefst befriedigt und in der
gorien zu zwängen. Diese humanistischen Psychologen gingen ich mein wahres Wesen zum Ausdruck bringen kann?‹« (Wallach
dagegen davon aus, dass ein Interview und ein offenes Gespräch u. Wallach 1985). Die humanistische Psychologie ermutigte zum
ein besseres Verständnis für die einzigartigen Erfahrungen eines Individualismus – handeln im Vertrauen auf die eigenen Gefühle,
jeden Menschen liefern würden. sich selbst gegenüber wahrhaftig sein und nach Selbsterfüllung
streben. Doch kann dies auch, wie die Kritiker anmerkten, zu
Zügellosigkeit, Selbstsucht und zur Erosion moralischer Hem-
14.2.4 Bewertung des humanistischen Ansatzes mungen führen (Campbell u. Specht 1985; Wallach u. Wallach
1983). Tatsächlich sind es jene, deren Interesse über das eigene
Selbst hinausgeht, die mit größter Wahrscheinlichkeit soziale
? 14.11 Inwiefern haben humanistische Theorien die
Unterstützung erfahren, das Leben genießen und vernünftig mit
Psychologie beeinflusst und welches sind die Kritikpunkte
Stress umgehen (Crandall 1984). Die humanistischen Psycholo-
an ihnen?
gen halten dagegen, dass eine sichere, nicht abwehrende Selbst-
Etwas, was Freud nachgesagt wird, kann man auch über die hu- akzeptanz ja nur der erste Schritt auf dem Weg zur Nächstenliebe
manistischen Psychologen sagen: Ihr Einfluss war überall zu ist. Menschen, die sich intrinsisch gemocht und akzeptiert fühlen
sehen. Ihre Gedankenwelt hat die Beratung, die Bildung, die Kin- – d. h. um ihrer selbst willen, nicht wegen ihrer Leistungen – zei-
dererziehung und das Management beeinflusst. gen nicht so viele Abwehrhaltungen (Schimel et al. 2001).
568 Kapitel 14 · Persönlichkeit

. Abb. 14.17 (Copyright © The New Yorker Collection, 1979, Dana Fradon / cartoonbank.com)

14
Ein letzter Vorwurf, welcher der humanistischen Psychologie Prüfen Sie Ihr Wissen
entgegengebracht wird, ist der der Naivität, d. h., dass sie die
Fähigkeit des Menschen, Böses zu tun, missachtet (. Abb. 14.17). 5 Inwiefern bot die humanistische Psychologie eine un-
Angesichts der globalen Erwärmung, der Überbevölkerung, des verbrauchte Perspektive?
Terrorismus und der Verbreitung von Atomwaffen könnten wir 5 Was bedeutet es, empathisch zu sein? Und was bedeutet
leicht in Apathie versinken und das auf zwei Arten rationalisie- selbstverwirklicht? Welche humanistischen Psychologen
ren: Die eine ist der naive Optimismus, der die Bedrohung leug- verwendeten diese Begriffe?
net (»Im Grunde ihres Herzens sind die Menschen gut, und alles
wird in Ordnung kommen«); die andere ist die fatalistische Ver-
zweiflung (»Es ist hoffnungslos; warum also versuchen, etwas zu 14.3 Trait-Theorien
verändern?«). Wer handelt, braucht genügend Realismus, um
der Betroffenheit Energie zu verleihen; er braucht aber auch ge-
? 14.12 Wie bedienen sich Psychologen sog. Traits, um Persön-
nügend Optimismus, um die Hoffnung nicht völlig aufzugeben.
lichkeit zu beschreiben?
Die humanistische Psychologie, sagen die Kritiker, ermutigt zwar
zu der notwendigen Hoffnung, nicht aber zu der gleichfalls not- Statt Persönlichkeit durch unbewusste Motivationen und ver-
wendigen realistischen Einstellung gegenüber dem Bösen. hinderte Möglichkeiten zum persönlichen Wachstum erklären
zu wollen, versuchen Trait-Theoretiker, die Persönlichkeit mit
Hilfe stabiler und dauerhafter Verhaltensmuster zu beschreiben,
wie etwa die Treue und den Optimismus eines Sam Gamdschie.
Die Spur der Trait-Perspektive führt zum Teil zurück zu einer
bemerkenswerten Begegnung im Jahr 1919, als der 22-jährige
14.3 · Trait-Theorien
569 14
Psychologiestudent Gordon Allport in Wien ein Gespräch mit hat und über seinen ursprünglichen Anwendungsbereich, die
Sigmund Freud führte. Allport merkte sehr bald, dass das vor- Vorhersage der Arbeitsleistung, hinausgegangen ist und dass
herrschende Interesse des Begründers der Psychoanalyse darin »die Verbreitung dieses Instruments ohne Nachweis des wissen-
bestand, verborgene Motive aufzudecken, selbst innerhalb schaftlichen Werts eine beunruhigende Vorstellung ist« (Druck-
Allports Verhalten während des Interviews. Diese Erfahrung man u. Bjork 1991, S. 101; Pittenger 1993). Seit diese Warnung
brachte Allport letztlich dazu, das zu tun, was Freud nicht tat: ausgesprochen wurde, hat sich die Forschung zum Myers-Briggs-
den Begriff der Persönlichkeit anhand von grundlegenden Test verstärkt, trotzdem wird er eher als Coaching- und Bera-
Eigenschaften, sog. Traits, zu beschreiben, d. h. anhand der tungsinstrument, denn als Forschungsinstrument genutzt.
typischen Verhaltensweisen und bewussten Motive eines
Menschen (wie beispielsweise der professionellen Neugier, die
Allport motiviert hatte, Freud kennenzulernen). Freud zu be- 14.3.1 Exploration von Merkmalen
gegnen, sagte Allport, »lehrte mich, dass [Psychoanalyse] trotz
all ihrer Verdienste vielleicht zu sehr in die Tiefe geht und Menschen als den einen oder anderen Persönlichkeitstyp zu klas-
dass Psychologen wohl gut daran täten, zunächst den manifesten sifizieren, wird ihrer vollen Individualität nicht gerecht. Wir sind
Motiven ihre volle Aufmerksamkeit zuzuwenden, ehe sie ins alle jeweils eine einzigartige Gesamtheit mehrerer Persönlich-
Unbewusste vordringen«. Es gelang Allport, eine Definition keitsmerkmale. Aber wie sonst können wir unsere Persönlich-
von Persönlichkeit zu entwickeln, die auf identifizierbaren keiten beschreiben? Wir könnten einen Apfel auch beschreiben,
Verhaltensmustern beruhte. Sein Anliegen bestand weniger da- indem wir ihn auf mehreren Merkmalsdimensionen einordnen.
rin, individuelle Eigenschaften zu erklären, sondern eher darin, Ein Apfel könnte relativ groß oder klein sein, rot oder gelb, süß
sie zu beschreiben. oder säuerlich. Bei gleichzeitiger Verwendung mehrerer Merk-
malsdimensionen kann der Psychologe unzählige individuelle
Trait (Merkmal, Persönlichkeitszug; »trait«) – für einen bestimmten
Menschen typisches Verhaltens- oder Veranlagungsmuster, das sich in Persönlichkeitsvarianten beschreiben. (Denken Sie an 7 Kap. 7, in
seiner Art zu fühlen und zu handeln ausdrückt; kann erfasst werden dem dargestellt wird, wie die Variationen auf nur drei Farb-
durch Fragebögen zur Erhebung der Selbst- und der Fremdeinschätzung. dimensionen – Schattierung, Farbsattheit und Leuchtkraft –
schon ein paar Tausend Farben hervorbringen.) Mit welchen
So wie Allport, wollten Isabel Briggs Myers (1987) und ihre Mut- Merkmals- oder Eigenschaftsdimensionen lässt sich Persön-
ter, Katharine Briggs, wichtige Unterschiede bezüglich Persön- lichkeit beschreiben? Hätten Sie sich zu einem »blind date« ver-
lichkeit beschreiben. Sie versuchten, Menschen, basierend auf abredet, welche Persönlichkeitsmerkmale könnten Ihnen dann
den Antworten auf 126 Fragen, in C. G. Jungs Schema der Per- ein genaues Gefühl von der Person vermitteln, die Sie treffen
sönlichkeitstypen einzuordnen. Der »Myers-Briggs-Typenindi- wollen? Allport und sein Kollege H. S. Odbert (1936) griffen
kator« (MBTI), der in 21 Sprachen übersetzt wurde, wird jährlich zur ungekürzten Fassung eines Lexikons der englischen Sprache
von 2 Mio. Menschen bearbeitet, meistens in Beratungsstellen, in und zählten buchstäblich alle Wörter aus, mit denen Menschen
Führungskräfte-Trainings und der Entwicklung von Arbeits- beschrieben werden. Was meinen Sie, wie viele es waren? Fast
gruppen (CPP 2008). Es werden Fragen gestellt wie beispiels- 18.000! Auf welche Weise haben nun die Psychologen diese
weise: »Bewerten Sie normalerweise Gefühl höher als Logik, Menge auf eine handhabbare Liste grundlegender Merkmale
oder bewerten Sie Logik höher als Gefühl?« Dann werden die reduziert?
Vorlieben des Probanden ausgezählt, die Antworten werden als
Indikator für einen »Fühl-« oder »Denktyp« gewertet und dann Faktorenanalyse
der Testperson mit ergänzenden Bemerkungen zurückgemeldet. Eine Möglichkeit hierzu ist die Faktorenanalyse, ein statistisches
Einem Fühltyp sagt man beispielsweise, er reagiere sensibel auf Verfahren, das in 7 Kap. 11 vorgestellt worden ist. Die Faktoren-
Wertvorstellungen, sei »sympathisch, verständnisvoll und habe analyse dient der Identifizierung der Gruppen von Testitems, die
Taktgefühl«, während ein Denktyp erfährt, dass er »objektive etwa dem Merkmal Intelligenz zugeordnet werden und in Skalen
Wahrheit zu schätzen wisse« und »gut im Analysieren« sei. (Jeder zusammengefasst werden können (z. B. räumliche Fähigkeiten
Typus hat seine Stärken, so dass jedem geschmeichelt wird.) Die oder verbale Fertigkeiten). Stellen Sie sich einen Menschen vor,
meisten Menschen stimmen diesem Typenprofil zu, das ihre der sich selbst als offen und unternehmungslustig bezeichnet:
erklärten Vorlieben widerspiegelt. Vielleicht akzeptieren sie auch Er würde wohl auch sagen, dass er Aufregung liebt, gerne Witze
ihre Kategorisierung als Basis dafür, dass sie zu den Arbeits- macht, dass aber stille Lektüre nicht so sehr sein Fall ist. Eine
partnern passen und dass man ihnen die Aufgabe überträgt, solche statistisch miteinander korrelierende Gruppe von Verhal-
die ihrem Temperament vermutlich entspricht. Ein Bericht des tensweisen ist Ausdruck eines grundlegenden Faktors – oder
amerikanischen National Research Council merkte jedoch an, eines Persönlichkeitsmerkmals –, in unserem hypothetischen Fall
dass sich der Einsatz des Tests trotz seiner Beliebtheit im hier des Merkmals Extraversion (. Abb. 14.18). Die britischen
Geschäftsleben und in der Personalberatung verselbstständigt Psychologen Hans und Sybil Eysenck glaubten, dass sich viele
570 Kapitel 14 · Persönlichkeit

. Abb. 14.19 Zwei Persönlichkeitsfaktoren. Die Hersteller von Land-


karten können uns viel erzählen über den Nutzen von zwei Achsen (Nord-
Süd- und Ost-West-Achse). Eysenck u. Eysenck (1963, © 1963 The British
Psychological Society, mit freundlicher Genehmigung von John Wiley and
. Abb. 14.18 Extravertierter Entertainer. Der Musikproduzent und Fern- Sons) verwendeten zwei primäre Persönlichkeitsfaktoren – Extraversion-
sehstar Dieter Bohlen gilt als offen und extravertiert. Eigenschaften wie Introversion und Stabilität-Labilität – als Achsen zur Beschreibung von Per-
Extraversion beschreiben Temperament und typische Verhaltensweisen. sönlichkeitsunterschieden. Andere spezifischere Merkmale werden durch
(© picture alliance / dpa) verschiedene Kombinationen definiert

unserer normalen individuellen Variationen auf zwei oder drei von Verhalten eine Rolle spielt, weniger aktiv ist als bei intro-
14 Dimensionen reduzieren lassen; dazu gehören »Extraversion- vertierten Menschen (Johnson et al. 1999). Dopamin und die
Introversion« und »emotionale Stabilität-Labilität« (. Abb. 14.19). dopaminbezogene neuronale Aktivität sind bei Extravertierten
Menschen in 35 Ländern auf der ganzen Welt, von China über tendenziell erhöht (Wacker et al. 2006).
Russland bis Uganda, haben den »Eysenck Personality Question- Unsere Biologie beeinflusst unsere Persönlichkeit auch auf
naire« durchgeführt. Nach Auswertung ihrer Antworten tauchten andere Weise. Sicherlich erinnern sie sich noch an die Zwillings-
unweigerlich die grundlegenden Persönlichkeitsdimensionen auf studien aus 7 Kap. 5. Durch sie wird deutlich, dass unsere Gene
(Eysenck 1990, 1992). Die Eysencks glaubten, dass die Faktoren für die Ausbildung des Temperaments und des Verhaltensstils,
genetisch beeinflusst sind, und durch die neuere Forschung wird die beide zur Definition unserer Persönlichkeit beitragen, be-
diese Auffassung bestätigt. deutsam sind. Jerome Kagan z. B. schreibt Unterschiede im Grad
der Schüchternheit und Gehemmtheit von Kindern der Reak-
Biologie und Persönlichkeit tionsfähigkeit ihres autonomen Nervensystems zu. Bei einem
Schichtaufnahmen von der Hirnaktivität extravertierter Men- reaktiven autonomen Nervensystem reagiert man auf Stress mit
schen fügen sich ein in die immer größer werdende Liste von größerer Angst und mehr Hemmung. Aus dem furchtlosen,
Merkmalen und mentalen Zuständen, die mit Hilfe bildgeben- neugierigen Kind mag ein Kletterer werden oder ein Erwach-
der Verfahren untersucht wurden. (Zum Zeitpunkt, als dieses sener, der schnelle Autos liebt. Gosling et al. (2003; Jones u.
Buch geschrieben wurde, gehören zu der Liste Intelligenz, Im- Gosling 2005) berichten, dass sich Persönlichkeitsunterschiede
pulsivität, suchtartiges Verlangen, sexuelle Anziehung, Aggres- bei Hunden (in Bezug auf Tatkraft, Gefühlsbetontheit, Reak-
sivität, Empathie, spirituelle Erfahrung und sogar politische bzw. tionsbereitschaft und neugierige Intelligenz) so deutlich zeigen
rassistische Einstellungen [Olson 2005].) Diese Studien deuten und so konsistent eingestuft werden wie Persönlichkeitsunter-
darauf hin, dass extravertierte Menschen Anregung suchen, schiede beim Menschen. Affen, Schimpansen, Orang-Utans und
weil bei ihnen die normale Erregung des Gehirns relativ gering selbst Vögel weisen stabile Persönlichkeiten auf (Weiss et al.
ist. PET-Untersuchungen z. B. zeigen, dass bei extravertierten 2006). Bei den Kohlmeisen sehen freche Vögel schneller neue
Menschen der Bereich des Frontallappens, der bei der Hemmung Gegenstände in ihrer Umgebung an und erkunden rascher
14.3 · Trait-Theorien
571 14
Bäume (Groothuis u. Carere 2005; Verbeek et al. 1994). Durch Persönlichkeitsinventar (»personality inventory«) – Fragebogen, bei dem
selektive Züchtung können Forscher freche oder schüchterne die Probanden auf Items (oft Richtig-falsch-Items oder Aussagen, die mit
»stimme zu – stimme nicht zu« zu beantworten sind) antworten, die so
Vögel hervorbringen. Und beide haben ihren Platz in der Ge- konzipiert sind, dass sie einen weiten Bereich von Gefühlen und Verhaltens-
schichte der Natur. In mageren Jahren finden die frechen Vögel weisen abdecken; wird zur Erfassung ausgewählter Persönlichkeitsmerk-
mit größerer Wahrscheinlichkeit etwas zu fressen; in üppigen male eingesetzt.

Jahren gehen die schüchternen Vögel bei der Nahrungssuche ein Minnesota Multiphasic Personality Inventory (MMPI) – der am besten
erforschte und in den USA am häufigsten klinisch angewandte Persönlich-
geringeres Risiko ein.
keitstest. Ursprünglich entwickelt zur Diagnose emotionaler Störungen
(was auch heute noch als sein bestes Einsatzgebiet gilt). Er wird heute für
Prüfen Sie Ihr Wissen vielfältige andere Zwecke, wie etwa zum Screening, eingesetzt.
Empirisch ermittelter Test (»empirically derived test«) – ein Test, wie
5 Welche beiden primären Dimensionen definierten Hans
der MMPI, in dem ein Itempool untersucht wird und hinterher diejenigen
und Sybil Eysenck, um Persönlichkeitsunterschiede zu Items zu Gruppen zusammengefasst werden, die am besten zwischen
beschreiben? den Dimensionen diskriminieren.

Zunächst boten Hathaway und seine Kollegen Hunderte von


Richtig-falsch-Aussagen an (»Mich scheint nie jemand zu ver-
14.3.2 Erfassung von Traits stehen«; »Ich kriege die ganze Sympathie, die mir zusteht«; »Ich
liebe Poesie«); ihre Probanden waren psychisch gestörte Patien-
ten und »normale« Menschen. Sie beachteten jede Aussage, auch
? 14.13 Was sind Persönlichkeitsinventare und was sind
wenn sie noch so dumm klang, bei der sich die Antwort der
deren Stärken und Schwächen in ihrer Funktion als Werk-
Patienten-Gruppe von der Antwort der »normalen« Gruppe
zeuge zur Erfassung von Traits?
unterschied. »Das einzige, was mich an der Zeitung interessiert,
Wenn unsere Handlungen von stabilen und dauerhaften Persön- sind die Comics«, mag sinnlos klingen; aber es kam eben vor,
lichkeitsmerkmalen gesteuert werden, können wir dann valide dass Depressive mit größerer Wahrscheinlichkeit »richtig« an-
und reliable Tests entwickeln, um sie zu erfassen? Es existieren kreuzten als nicht depressive Teilnehmer. (Trotzdem: Die Leute
mehrere Techniken zur Erfassung von Persönlichkeitsmerk- machten sich einen Spaß daraus, den MMPI zu parodieren:
malen, manche von ihnen valider als andere (7 Kritisch nachge- »Beim Weinen kriege ich Tränen in die Augen« oder »Hektisches
fragt: Wie werde ich ein »erfolgreicher« Astrologe und Handlinien- Rumgebrülle macht mich nervös« und »Ich bleibe so lange in der
leser). Manche erstellen eher ein Profil des Verhaltensmusters Badewanne, bis ich so verschrumpelt wie eine Rosine aussehe«
einer Person und erfassen schnell ein einzelnes Merkmal, etwa [Frankel et al. 1983].) Der heutige MMPI-2 enthält auch neuere
das Merkmal Extraversion, Ängstlichkeit oder Selbstwertgefühl. Skalen, die beispielsweise die Einstellung zur Arbeit, Familien-
Persönlichkeitsinventare, also längere Fragebogen, die einen probleme und Wut erfassen.
breiten Bereich von Gefühlen und Verhaltensweisen abdecken, Im Gegensatz zur Subjektivität der meisten projektiven Tests
wurden entwickelt, um mehrere Persönlichkeitsmerkmale auf werden Persönlichkeitsinventare objektiv ausgewertet – so ob-
einmal zu erfassen. Das am besten wissenschaftlich erforschte jektiv, dass ein Computer sie der Testperson vorlegen und an-
Persönlichkeitsinventar ist der Minnesota Multiphasic Persona- schließend auswerten kann. (Der Computer kann auch Beschrei-
lity Inventory (MMPI); in Deutschland ist der Test allerdings bungen von Testpersonen liefern, die zu einem früheren Zeit-
umstritten. Der Fragebogen erfasst eher »abnorme« Tendenzen punkt eine ähnliche Antwort gegeben haben.) Objektivität ist
einer Persönlichkeit als die normalen Persönlichkeitsmerkmale. allerdings kein Nachweis der Validität. Soll beispielsweise jemand
Anhand des MMPI lässt sich jedoch sehr gut veranschaulichen, bei einer Bewerbung den MMPI ausfüllen, dann kann er sozial
auf welche Weise ein Persönlichkeitsinventar entwickelt wird. erwünschte Antworten geben, um einen guten Eindruck zu
Der an der Entwicklung beteiligte Starke Hathaway (1960) machen. Allerdings sollte er dann auch hohe Werte auf der »Lü-
verglich seine Arbeit mit der von Alfred Binet. Wie in 7 Kap. 11 genskala« erreichen, die Verstellungen erfasst (z. B. wenn jemand
erwähnt, hatte Binet den ersten Intelligenztest dadurch ent- mit »falsch« auf eine universell wahre Aussage antwortet, wie
wickelt, dass er Items auswählte, mit denen er Kinder heraus- etwa »Ich werde manchmal wütend«). Die Objektivität des
filtern konnte, die später möglicherweise Probleme an franzö- MMPI trägt zu seiner Beliebtheit bei und dazu, dass er in mehr
sischen Schulen haben würden. Die Items wurden – wie bei Binet als 100 Sprachen übersetzt wurde.
– empirisch ermittelt. Aus einem großen Pool von Items wähl-
ten sie diejenigen aus, bei denen sich bestimmte diagnostische
Gruppen unterschieden. Dann gruppierten sie die Fragen in
10 klinische Skalen, darunter solche, die depressive Tendenzen,
Maskulinität und Femininität sowie Introversion und Extra-
version erfassen.
572 Kapitel 14 · Persönlichkeit

Kritisch nachgefragt

Wie werde ich ein »erfolgreicher« Astrologe und Handlinienleser


Können wir die Persönlichkeitsmerkmale von Er enthüllte die Methoden, mit denen Astro- Beschreibung seiner Persönlichkeit bekommt,
Menschen nach der Stellung der Sterne und logen, Handlinienleser und Kristallkugel- die angeblich von einem Astrologen stammt,
Planeten zum Zeitpunkt ihrer Geburt unter- wahrsager ihr Publikum für dumm verkaufen. freundet sich mit dem Gedanken an, dass
scheiden? Gibt die Handschrift Aufschluss Zuerst wenden sie eine Technik des Wahrsa- »vielleicht trotzdem irgendwas an dieser
über sie? Oder verraten die Linien der Hand- gens an, die psychologisches Wissen einbe- Astrologiegeschichte dran ist«, auch wenn er
fläche ihre tiefen Geheimnisse? Astronomen zieht. Die Technik wird im englischen Sprach- der Astrologie eigentlich skeptisch gegen-
können nur spöttisch lächeln über die Naivität raum als »stock spiel« bezeichnet und beruht übersteht. Ein Astrologe, sagt man, ist jemand,
von Astrologen: In den Jahrtausenden, die ver- auf der Beobachtung, dass jeder von uns in ge- »der darauf vorbereitet ist, dir zu erzählen, was
gangen sind, seit Astrologen ihre Vorhersagen wisser Weise einmalig ist, andererseits aber du von dir selbst hältst« (Jones 2000). Dieses
machen, haben sich die Planetenkonstella- auch genauso, wie alle anderen. Die Tatsache, Annehmen abgedroschener positiver Be-
tionen verschoben (Kelly 1997,1998). Spaß- dass manche Dinge für uns alle gelten, gibt schreibungen wird Barnum-Effekt genannt, zu
vögel machen sich darüber lustig. »Ich will Sie dem »Seher« die Möglichkeit, Aussagen zu ma- Ehren des großen Showmasters P. T. Barnum,
ja nicht kränken«, schreibt Dave Barry, »aber chen, deren Stimmigkeit beeindruckend ist: der das Wort prägte: »Jede Minute bringt
wenn Sie tatsächlich an Horoskope glauben, »Ich spüre, dass Sie sich Sorgen über etwas einen Dummkopf hervor.«
dann kann Ihr Frontallappen nicht größer sein machen, und zwar mehr Sorgen, als Sie nach Eine zweite Technik, die gern von Wahrsehern
als eine Rosine«. Psychologen stellen statt- außen zeigen, nicht einmal gegenüber Ihren angewandt wird, besteht darin, Ihre Kleidung,
dessen Fragen: Funktioniert es? Gibt es eine besten Freunden.« Eine Reihe solcher Aussa- Ihr Aussehen, Ihr nonverbales Verhalten und
Korrelation zwischen dem Zeitpunkt der Ge- gen treffen i. Allg. zu und lassen sich zu einer Ihre Reaktionen auf das, was Sie zu hören be-
burt und den Charaktermerkmalen? Können Beschreibung der Persönlichkeit zusammen- kommen, zu »lesen«. Stellen Sie sich vor, Sie
Astrologen, wenn man ihnen ein Geburts- setzen. Stellen Sie sich vor, Sie machen einen seien der Wahrseher, zu dem eine junge Frau
datum vorlegt, aus einer Liste mit Beschrei- Persönlichkeitstest und werden dann folgen- Ende 20 oder Anfang 30 kommt. Hyman be-
bungen verschiedener Persönlichkeiten die dermaßen charakterisiert: schrieb die Frau so: »Sie trug teuren Schmuck,
richtige herausfinden, und zwar mit einer einen Ehering und ein schwarzes Kleid.« Das
Genauigkeit, die höher ist als ein Zufallstreffer? » Ihr Bedürfnis, von anderen Menschen schwarze Kleid und der Ehering lassen vermu-
Kann jemand sein eigenes Horoskop aus einer geschätzt und bewundert zu werden, ten, dass ihr Mann kürzlich verstorben war.
Liste von Horoskopen herausfinden? ist stark ausgeprägt. Sie neigen dazu, Auch Sie können solche Hinweise lesen. Wenn
Die Antworten auf diese Fragen waren konsis- Menschen Sie aufsuchen, damit Sie ihnen
sich selbst zu kritisieren. ... Sie rüh-
tent: Nein, nein, nein und abermals nein (British etwas offenbaren, dann fangen Sie einfach mit
Psychological Society 1993; Carlson 1985; Kelly men sich, selbstständig zu denken einer mitfühlenden Äußerung an: »Ich spüre,
1997). Beispielsweise wertet ein Forscher und akzeptieren andere Ansichten dass Sie in letzter Zeit Probleme hatten. Sie
die Bevölkerungsdaten von England und nur, wenn diese hinreichend belegt scheinen nicht sicher zu sein, was Sie tun
Wales aus und fand heraus, dass das Stern- sollen. Ich spüre, dass das mit noch einem
werden. Sie finden es nicht klug,
14 zeichen keinerlei Einfluss auf die Wahrschein-
anderen gegenüber zu freimütig zu
anderen Menschen zu tun hat.« Anschließend
lichkeit einer Heirat oder die Stabilität einer sagen Sie ihnen, was sie hören wollen. Rufen
Ehe mit einem Angehörigen eines anderen sein und zu viel von sich selbst zu Sie sich ein paar von Barnums Aussagen aus
Sternzeichens habe ( Voas 2008). Auch bei den zeigen. Manchmal sind Sie extra- den Astrologie- und Prophezeiungsmanualen
Grafologen, die Vorhersagen aufgrund von ins Gedächtnis, und verwenden Sie sie groß-
vertiert, gesprächig und gesellig,
Schriftproben machen, lag die Trefferquote zügig. Sagen Sie den Leuten, dass sie selbst
nicht über der Zufallsquote, wenn sie nach der manchmal aber auch introvertiert, dafür verantwortlich sind zu kooperieren, in-
Untersuchung mehrerer handgeschriebener argwöhnisch und zurückhaltend. dem sie die Botschaft, die Sie ihnen vermitteln,
Seiten angeben sollten, was der Schreiber be- Manches von dem, was Sie anstre- auf ihre speziellen Erfahrungen anwenden.
ruflich macht (Beyerstein u. Beyerstein 1992; Später werden sich die Leute daran erinnern,
ben, ist ziemlich unrealistisch (Davies
Dean et al. 1992). Trotzdem sehen Grafologen dass Sie genau diese Einzelheiten vorher-
– und manchmal auch Studierende der Psy- 1997; Forer 1949). gesagt haben. Formulieren Sie Aussagen als
chologie im ersten Semester – Korrelationen Bei Experimenten wurden Beurteilungen wie Fragen, und wenn Sie eine positive Reaktion
zwischen der Persönlichkeit und der Hand- die obige, die aus einem neueren Astrologie- darauf entdecken können, bestätigen Sie Ihre
schrift, auch wenn gar keine vorhanden sind buch stammt, an Studierende verteilt. Wenn Aussage nochmals nachdrücklich.
(King u. Koehler 2000). sie den Schwindel nicht erkennen, sondern Besser ist es allerdings, wenn Sie einen
Wie aber stellen es Astrologen und ihres- glauben, ihre Persönlichkeit werde hier be- Bogen um die machen, die die Menschen mit
gleichen an, dass Tausende von Zeitungen schrieben, und wenn die Beschreibung in derlei Techniken ausbeuten und deshalb wohl
und Zeitschriften sowie Millionen Menschen allgemeinen Wendungen gehalten und vor- eher ihre eigene Zukunft vergolden, wenn
auf der ganzen Welt für ihre Ratschläge wiegend positiv ist, bewerten sie die Beschrei- sie ihnen eine goldene Zukunft prophezeien
Geld ausgeben? Ray Hyman (1981) war Hand- bung fast immer als »gut« oder »ausgezeich- (. Abb. 14.20).
linienleser, wechselte aber die Seiten und ist net« (Davies 1997). Glick et al. (1989) fanden
nun wissenschaftlich arbeitender Psychologe. Folgendes heraus: Wer eine schmeichelhafte
14.3 · Trait-Theorien
573 14

. Abb. 14.20 (© Rob Pudim)

14.3.3 Das Fünf-Faktoren-Modell (»The Big Five«) seit den 1990er Jahren das wichtigste Projekt in der Persönlich-
keitsforschung und sind auch heute die beste Annäherung an
grundlegende Persönlichkeitsdimensionen.
? 14.14 Welche Traits scheinen die brauchbarste Information
Die Forschung zu den Big Five ging verschiedenen Fragen
über Persönlichkeitsvarianten bereitzustellen?
nach:
In der heutigen Forschung über Persönlichkeitsmerkmale ist
man der Auffassung, dass die früheren Merkmalsdimensionen, Wie stabil sind diese Persönlichkeitsmerkmale? Bei Erwach-
beispielsweise Eysencks Dimensionen »introvertiert-extraver- senen sind die Big Five relativ stabil. Es zeigen sich ein paar Ten-
tiert« und »instabil-stabil«, zwar wichtig sind, aber nicht das denzen (Neurotizismus, Extraversion, Offenheit), die in den
ganze Spektrum abdecken. Eine geringfügig erweiterte Gruppe Jahren nach der Hochschule leicht abnehmen, und andere (Ver-
von Faktoren – bekannt als »The Big Five« – ist besser geeignet träglichkeit, Gewissenhaftigkeit), die zunehmen (McCrae et al.
(John u. Srivastava 1999; McCrae u. Costa 1999). Wenn man mit 1999; Vaidya et al. 2002). Gewissenhaftigkeit nimmt bei den
Hilfe eines Tests genau angeben kann, an welcher Stelle der fünf meisten Menschen bis zum 30. Lebensjahr in dem Maße zu, wie
Dimensionen (Gewissenhaftigkeit, Verträglichkeit, Neurotizis- sie reifen und lernen, ihre beruflichen Verhältnisse und ihre
mus, Offenheit für Erfahrung und Extraversion; . Tab. 14.3) Sie persönlichen Beziehungen in den Griff zu bekommen. Verträg-
stehen, dann sagt das bereits viel von dem aus, was es über Ihre lichkeit nimmt bei den meisten Menschen bis Ende 30 zu und
Persönlichkeit auszusagen gibt. Weltweit – in einer Studie über dann weiterhin zwischen 60 und 70.
56 Länder und 29 Sprachen hinweg (Schmitt et al. 2007) – be-
schreiben Menschen andere Menschen in Begriffen, die grob Welche Rolle spielt die Vererbung bei Persönlichkeitsmerkmalen?
mit diesen Merkmalsdimensionen konsistent sind. Doch das Die Erblichkeit individueller Unterschiede (d. h. das Ausmaß,
letzte Wort ist über die Big Five noch nicht gesprochen: Einige mit dem interindividuelle Unterschiede auf die Genetik zurück-
Forscher berichten, dass es nur zweier oder dreier Faktoren be- zuführen sind) variiert, je nachdem, welche Menschen unter-
darf, wie Gewissenhaftigkeit, Verträglichkeit und Extraversion, sucht werden. Ganz allgemein liegt die Erblichkeit jeder Dimen-
um die grundlegenden Persönlichkeitsdimensionen zu beschrei- sion bei etwa 50% oder etwas darüber und genetische Einflüsse
ben (Block 2010; De Raad et al. 2010). Doch bis heute bleibt fünf sind in verschiedenen Ländern ähnlich stark (Loehlin et al. 1998;
die Gewinnzahl in der Persönlichkeitslotterie (Heine u. Buchtel Yamagata et al. 2006). Viele Gene, von denen jedes einzelne einen
2009; McCrae 2009). Die Big Five – der heutige »gemeinsame geringen Effekt hat, beeinflussen in Kombination unsere Persön-
Nenner der Persönlichkeitspsychologie« (Funder 2001) – waren lichkeitsmerkmale (McCrae et al. 2010). Wissenschaftler konn-
574 Kapitel 14 · Persönlichkeit

. Tab. 14.3 Die 5 großen Faktoren der Persönlichkeit – »The Big Five«. (Adaptiert nach McCrae u. Costa 1986; dtsch: NEO-FFI; Borkenau u. Ostendorf
1993)

Desorganisiert Organisiert
Nachlässig Gewissenhaftigkeit Vorsichtig
Impulsiv Diszipliniert

Rücksichtslos Weichherzig
Misstrauisch Verträglichkeit Vertrauenswürdig
Unkooperativ Hilfsbereit

Ruhig Ängstlich
Neurotizismus
Sicher Unsicher
(emotionale Stabilität vs. Instabilität)
Selbstzufrieden Selbstmitleidig

Pragmatisch Fantasievoll
Bevorzugt Routine Offenheit für Erfahrung Bevorzugt Abwechslung
Angepasst Unabhängig

Zurückhaltend Gesellig
Ernst Extraversion Lebenslustig
Reserviert Herzlich

ten auch Gehirnregionen identifizieren, die mit den verschiede- Prüfen Sie Ihr Wissen
nen Big-Five-Persönlichkeitsfaktoren assoziiert werden können,
so z. B. der Frontallappen, der sensibel auf Belohnung reagiert 5 Was sind die Big-Five-Persönlichkeitsfaktoren und worin
und bei Extravertierten größer ist (DeYoung et al. 2010). liegen deren Stärken?

Sind die Big Five auch Prädiktoren für andere Verhaltensmerk-


male? Ja. Wenn sich Menschen als kontaktfreudig, gewissenhaft
und verträglich beschreiben, sagen sie wahrscheinlich die Wahr- 14.3.4 Bewertung des Trait-Ansatzes
heit, so der Big-Five-Forscher Robert McCrae (2011). Im Folgen-
den finden Sie einige Beispiele:
? 14.15 Wird das Konzept der zeitlichen und situativen
14 4 Schüchterne Introvertierte schreiben, anders als Extra-
Stabilität der Persönlichkeitsmerkmale durch die Forschung
vertierte, lieber eine E-Mail, um zu kommunizieren, anstatt
gestützt?
von Angesicht zu Angesicht Kontakt mit anderen aufzu-
nehmen (Hertel et al. 2008). Sind unsere Persönlichkeitsmerkmale stabil und dauerhaft?
4 Ausgesprochen gewissenhafte Menschen bekommen in der Oder hängt unser Verhalten davon ab, wo und in wessen
Schule und auf der Universität bessere Noten (Poropat 2009). Gesellschaft wir uns befinden? Tolkien schuf Charaktere wie
Sie sind mit größerer Wahrscheinlichkeit Morgentypen (auch den treuen Sam Gamdschie, dessen Eigenschaften an verschie-
»Lerchen« genannt); Abendtypen (sog. »Eulen«) sind etwas denen Orten und zu unterschiedlichen Zeiten immer gleich
extravertierter (Jackson u. Gerard 1996). blieben. Der italienische Dramatiker Pirandello vertrat eine
4 Wenn einer von zwei Ehepartnern niedrigere Werte bezüg- andere Ansicht. Für ihn war Persönlichkeit etwas, was sich stän-
lich Verträglichkeit, Stabilität und Offenheit aufweist, dig änderte, sich einer bestimmten Rolle oder Situation an-
kann die Zufriedenheit mit der Ehe und der Sexualität da- passte. In einem von Pirandellos Stücken gibt Lamberto Laudisi
runter leiden (Botwin et al. 1997; Donnellan et al. 2004). eine Beschreibung seiner eigenen Person: »Ich bin tatsächlich
4 Unsere Traits durchdringen auch unsere Sprache. In SMS der, für den Sie mich halten, obgleich, verehrte Dame, mich das
sagt Extraversion das Benutzen von Personalpronomen, nicht hindert, auch tatsächlich der zu sein, für den Ihr Gatte,
Verträglichkeit das Benutzen positiver Emotionswörter und meine Schwester, meine Nichte und Signora Cini mich halten –
Neurotizismus (emotionale Instabilität) die Verwendung denn auch sie haben allesamt recht!« Worauf Signora Sirelli
negativer Emotionswörter vorher (Holtgraves 2011). antwortet: »In anderen Worten, Sie sind für jeden von uns ein
anderer.«
Die Big-Five-Forschung zu diesen Fragen verlieh der Psychologie
der Persönlichkeitsmerkmale neuen Schwung, und die Persön- » Es gibt einen ebenso großen Unterschied zwischen
lichkeitsforschung erlangte neue Bedeutung. Persönlichkeits- uns und uns selbst wie zwischen uns und den anderen.
merkmale spielen eine Rolle. Michel de Montaigne, Essais, 1588
14.3 · Trait-Theorien
575 14
Person oder Situation?
Wen sollen wir also als repräsentativ für die Persönlichkeit eines
Menschen ansehen: Tolkiens konsistenten Sam Gamdschie
oder Pirandellos inkonsistenten Lamberto Laudisi? Die Antwort
lautet: beide. Unser Verhalten wird beeinflusst von der Interak-
tion zwischen unserer inneren Disposition und unserer Umge-
bung. Doch die Frage steht weiterhin im Raum: Welcher der
beiden Faktoren ist der wichtigere? Sind wir eher so, wie sich
Tolkien den Menschen vorstellte, oder entsprechen wir eher
Pirandellos Menschenbild? Um die Frage, ob die Person oder die
Situation wichtiger ist, genauer zu erforschen, suchen wir nach
echten Persönlichkeitsmerkmalen, die über die Zeit und über . Abb. 14.21 Stabilität der Persönlichkeit. Je älter man wird, desto sta-
Situationen hinweg unverändert bleiben. Sind manche Men- biler werden die Persönlichkeitsmerkmale. Dies zeigt sich in der Korrelation
schen immer gewissenhaft und andere unzuverlässig, manche zwischen den Testwerten für Persönlichkeitsmerkmale und den entsprechen-
den Testwerten 7 Jahre später (Befunde nach Roberts u. Del Vecchio 2000)
fröhlich und andere mürrisch, manche freundlich und aus sich
herausgehend und andere schüchtern? Wenn wir Freundlichkeit
als Merkmal ansehen sollen, dann muss ein freundlicher Mensch ten Psychologen – Tolkiens Annahme von der Stabilität der
zu verschiedenen Zeiten und an verschiedenen Orten freundlich Persönlichkeitsmerkmale unterstützen (. Abb. 14.22). Außer-
sein. Ist das so? dem sind unsere Eigenschaften sozial bedeutsam. Sie beeinflus-
sen unsere Gesundheit, unser Denken und unsere Leistungen im
Genau genommen sind die jeweiligen äußeren Einflüsse auf das
Beruf (Deary u. Matthews 1993; Hogan 1998). Langzeitstudien
Verhalten das Thema der Sozialpsychologie, während die zeit-
zeigen, dass Persönlichkeitsmerkmale mit Faktoren wie sozio-
überdauernden inneren Einflüsse zum Bereich der Persönlich-
ökonomischem Status oder kognitiver Fähigkeit als Prädiktoren
keitspsychologie gehören. Das tatsächliche Verhalten hängt von
für Sterblichkeit, Scheidung und Berufserfolg konkurrieren
der Interaktion zwischen dem Menschen und der Situation ab.
(Roberts et al. 2007).
Obwohl unsere Persönlichkeitsmerkmale sich als stabil und
Wandel und Beständigkeit können nebeneinander Bestand ha-
stark erweisen, ist aber die Konsistenz spezifischer Verhaltens-
ben. Wenn alle Menschen mit zunehmendem Alter etwas weniger
weisen über verschiedene Situationen hinweg eine andere Sache.
schüchtern wären, hätten wir eine Veränderung in der Persönlich-
Wie Walter Mischel (1968, 2009) unterstrich, ist menschliches
keit, aber auch eine relative Stabilität und Vorhersagbarkeit.
Handeln nicht in vorhersagbarer Weise konsistent. Mischel un-
In vorherigen Kapiteln hatten wir die Langzeitforschung be- tersuchte bei Studierenden das Merkmal Gewissenhaftigkeit und
handelt, die Individuen manchmal ein Leben lang begleitet. Wir fand nur einen leichten Zusammenhang zwischen der Gewissen-
haben festgestellt, dass manche Wissenschaftler (vor allem die, haftigkeit bei einer bestimmten Gelegenheit (etwa pünktlich zur
die Studien mit Kindern durchführen) davon beeindruckt sind, Vorlesung zu kommen) und bei einer anderen Gelegenheit (etwa
dass sich die Persönlichkeit verändert; andere Forscher sind Arbeiten rechtzeitig abzugeben). Pirandello wäre nicht über-
dagegen überrascht, wie stabil die Persönlichkeit eines Erwach- rascht gewesen. Wenn Sie an sich selbst schon einmal bemerkt
senen bleibt. Wie in . Abb. 14.21 dargestellt, zeigen Daten aus haben, wie sehr Sie in einigen Situationen aus sich herausgehen
152 Langzeitstudien, dass die Werte für Persönlichkeitsmerk- und wie reserviert Sie in anderen sind, überrascht es Sie vielleicht
male positiv mit Testwerten korrelieren, die 7 Jahre später er- gar nicht (obwohl Sie sich selbst möglicherweise bei bestimmten
hoben wurden, und dass sich die Persönlichkeit stabilisiert, wenn Persönlichkeitsmerkmalen, so Mischel, mit einiger Genauigkeit
die Menschen älter werden. als konsistenter einstufen). Diese Inkonsistenz in Bezug auf das
Interessen mögen sich ändern – der begeisterte Sammler Verhalten lässt Persönlichkeitstests auch zu schwachen Prädik-
tropischer Fische mag ein eifriger Gärtner werden. Karrieren toren des Verhaltens werden. So sagen die Testwerte einer Person
mögen sich ändern – aus dem überzeugten Handelsvertreter in Bezug auf Extraversion nicht eindeutig vorher, wie gesellig sie
wird vielleicht ein begeisterter Sozialarbeiter. Beziehungen bei einer bestimmten Gelegenheit ist. Wenn wir solche Ergeb-
mögen sich ändern – der feindselige Ehepartner macht vielleicht nisse im Hinterkopf behalten, sagt Mischel, dann werden wir
mit einem anderen Partner einen Neuanfang. Doch die meisten etwas vorsichtiger mit der Etikettierung und Einordnung von
Menschen erkennen ihre Eigenschaften als etwas an, was zu Individuen sein. Die Wissenschaft kann uns Jahrzehnte im Vor-
ihnen gehört, merken McCrae u. Costa (1994) an. »Und das ist aus die Mondphase für jedes beliebige Datum nennen, die Mete-
gut so. Die Anerkennung der unausweichlichen eigenen und orologie kann das Wetter des folgenden Tages vorhersagen, doch
unverwechselbaren Persönlichkeit … ist das Höchste an Lebens- wir Psychologen sind weit davon entfernt, vorhersagen zu kön-
weisheit.« Daher würden die meisten Menschen – auch die meis- nen, wie Sie sich morgen fühlen und was Sie tun werden.
576 Kapitel 14 · Persönlichkeit

. Abb. 14.22 (Copyright © The New Yorker Collection, 1984, Warren Miller / cartoonbank.com)

Allerdings ist der Durchschnitt an Extravertiertheit, Glück sauber aufgeräumten Schreibtisch). Und das trägt zu einer
oder Nachlässigkeit über viele Situationen hinweg vorhersagbar, Erklärung bei, warum ein kurzer Blick in einen Lebens-
meinte Epstein (1983a,b). Bei der Bewertung der Schüchternheit und Arbeitsraum jemanden in die Lage versetzen kann,
oder des angenehmen Wesens eines Menschen ist es diese Kon- mit einiger Genauigkeit unsere Gewissenhaftigkeit, unsere
sistenz, die bewirkt, dass die, die diesen Menschen gut kennen, Offenheit für Erfahrung und selbst unsere emotionale
der Bewertung zustimmen (Kenrick u. Funder 1988). Indem sie Stabilität zu erfassen (Gosling et al. 2002; . Abb. 14.23).
die Schnipsel der täglichen Erfahrungen ihrer Versuchspersonen 4 Persönlicher Internetauftritt. Bringt auch der persönliche
14 sammelten (hierzu nutzten sie Aufnahmegeräte, die am Körper Internetauftritt oder ein Facebook-Profil etwas über das
getragen werden), konnten Mehl et al. (2006) bestätigen, dass Selbst zum Ausdruck? Oder stellt er eine Möglichkeit für
extravertierte Menschen tatsächlich mehr reden. (Ich habe mehr- Menschen dar, sich selbst in falscher oder irreführender
fach gelobt, mein Geplapper und Gewitzel während des mittäg- Weise darzustellen? Es handelt sich eher um das Erstere
lichen Basketballspiels mit Freunden einzuschränken. Leider be- (Back et al. 2010; Gosling et al. 2007; Marcus et al. 2006).
mächtigt sich wenige Momente später wieder unvermeidlich die Besucher persönlicher Webseiten bekommen bezüglich
innere Quasselstrippe meines Körpers.) Wie unsere besten Freun- dieser Person schnell wichtige Hinweise auf die Extraver-
de bestätigen werden, haben wir tatsächlich bestimmte Per- sion, die Gewissenhaftigkeit und die Offenheit für Erfah-
sönlichkeitsmerkmale, genetisch beeinflusste Eigenschaften, wie rung. Selbst nur Bilder von Leuten und ihrer Kleidung,
wir heute wissen. Unsere Persönlichkeitsmerkmale scheinen, so ihrem Ausdruck und ihrer Körperhaltung können als Hin-
ein Bericht von Samuel Gosling und seinen Kollegen nach einer weise auf die Persönlichkeit dienen (Naumann et al. 2009).
Untersuchungsreihe, in Folgendem durch: 4 E-Mail. Wenn Sie jemals das Gefühl hatten, die Persönlich-
4 Vorlieben in Bezug auf Musik. Liebhaber von klassischer keit einer Person anhand des Tons ihrer E-Mails erkennen
Musik, Jazz, Blues und Folk sind gewöhnlich offen für neue zu können, dann haben Sie Recht!! (Was eine coole, aufre-
Erfahrungen und sind verbal intelligent; Liebhaber von gende Entdeckung!!!) Die Bewertungen der Persönlichkeit
Country, Pop und Gospel sind in der Regel fröhlich, extra- anderer nur anhand deren E-Mails (oder Blogs) korrelieren
vertiert und gewissenhaft (Rentfrow u. Gosling 2003). mit echten Persönlichkeitspunktwerten von Messungen
Wenn sie sich zum ersten Mal begegnen, geben Studierende wie z. B. Extraversion oder Neurotizismus (Gill et al. 2006;
dem anderen oft ihren Musikgeschmack preis. Hiermit Oberlander u. Gill 2006; Yarkoni 2010). Extravertierte ver-
tauschen sie Informationen über ihre Persönlichkeit aus. wenden beispielsweise mehr Adjektive.
4 Zimmer im Studentenheim und Büros. Unser persönlicher
Raum zeigt unsere Identität an und hinterlässt einen Ver- In Situationen, in denen es förmlich zugeht oder die uns nicht
haltensrest (in herumliegender Wäsche oder auf einem vertraut sind – vielleicht als Gast im Haus eines Menschen, der
14.4 · Sozial-kognitive Theorien
577 14

. Abb. 14.23 Unser persönlicher Raum ist Ausdruck der Persönlichkeit. Selbst wenn jemand einen Menschen gar nicht kennt, kann er etwas von der
Persönlichkeit des anderen mitbekommen, wenn er einen Blick auf seine Internetseite, sein Schlafzimmer oder sein Büro wirft. Wie schätzen Sie also den
Springer-Psychologie-Planer Joachim Coch (hier im Bild) ein? (© Renate Schulz)

einer anderen Kultur angehört –, mögen unsere Persönlichkeits- forderungscharakter hat (Cooper u. Withey 2009). Das Verhalten
merkmale verborgen bleiben, weil wir uns zunächst sorgfältig eines Autofahrers an einer Ampel können wir besser vorhersagen,
an gesellschaftlichen Hinweisen orientieren. In vertrauten, infor- wenn wir die Farben der Ampel kennen, als wenn wir die Persön-
mellen Situationen – mit Freunden herumhängen – fühlen wir lichkeit des Fahrers kennen. Deshalb mag ein Professor bestimm-
uns weniger eingeengt und lassen unsere Merkmale hervortreten te Studierende als unterwürfig wahrnehmen (aufgrund ihres Ver-
(Buss 1989). In diesen informellen Situationen ist unsere Expres- haltens im Seminarraum), Freunde mögen sie jedoch als ziemlich
sivität – unsere Lebhaftigkeit, die Art, wie wir sprechen und ges- wild wahrnehmen (aufgrund ihres Verhaltens bei Partys). Nimmt
tikulieren – beeindruckend konsistent. Deshalb können diese man jedoch den Verhaltensdurchschnitt über viele Gelegenheiten
minimalen Ausschnitte des Verhaltens anderer – selbst wenn es hinweg, dann zeigen sich deutlich voneinander unterschiedene
sich dabei nur um drei 2-Sekunden-Clips eines Dozenten handelt Persönlichkeitsmerkmale. Traits existieren. Wir unterscheiden
– so aufschlussreich sein (Ambady u. Rosenthal 1992, 1993). uns und unsere Unterschiede sind von Bedeutung.
Manche Menschen sind von Natur aus ausdrucksstark (und
Prüfen Sie Ihr Wissen
haben deshalb Talent für Pantomimen und Scharaden); andere
sind weniger ausdrucksstark (und sind deshalb bessere Poker- 5 Wie gut können die Ergebnisse von Persönlichkeitstests
spieler). Um die willentliche Kontrolle der Expressivität eines unser Verhalten vorhersagen? Erklären Sie!
Menschen zu erfassen, baten DePaulo et al. (1992) ein paar Test-
personen, eine Meinung zu vertreten und dabei entweder so aus-
drucksstark oder so gehemmt wie möglich zu sein. Das bemer-
kenswerte Resultat: Nicht ausdrucksstarke Menschen waren, 14.4 Sozial-kognitive Theorien
auch wenn sie Ausdrucksstärke vortäuschten, weniger aus-
drucksstark als ausdrucksstarke Menschen, die sich natürlich
? 14.16 Wer schlug zuerst eine sozial-kognitive Perspektive
gaben. Genau so war es im umgekehrten Fall: Ausdrucksstarke
vor und wie sehen jene Theoretiker die Entwicklung der Per-
Menschen wirkten weniger gehemmt, wenn sie Gehemmtsein
sönlichkeit?
vortäuschten, als die nicht ausdrucksstarken Menschen, die sich
natürlich gaben. Es ist schwer, jemand zu sein, der man nicht ist, Die heutige Psychologie als Wissenschaft sieht Personen als bio-
oder nicht zu sein, was man ist. Expressivität lässt sich nicht un- psychosoziale Organismen an. Die sozial-kognitive Perspektive,
terdrücken (. Abb. 14.24). die von Albert Bandura (1986, 2001, 2005) vorgeschlagen wurde,
Zusammenfassend kann man sagen, dass in jedem Augen- legt den Akzent auf die Interaktion von Person und Situation. So
blick die jeweilige Situation das Verhalten eines Menschen stark wie Anlage und Umwelt immer zusammenwirken, ist dies auch
beeinflusst, vor allem, wenn die Situation einen deutlichen Auf- für Person und Situation der Fall.
578 Kapitel 14 · Persönlichkeit

. Abb. 14.24 »Wieso habe ich bloß den Eindruck, dass Sie nicht der sind, für den Sie sich halten?« (© Claudia Styrsky)

Sozial-kognitive Perspektive (»social-cognitive approach«) – sieht Lassen Sie uns drei spezifische Arten der Interaktion zwischen
Verhalten als beeinflusst von der Interaktion zwischen dem Individuum Mensch und Umwelt genauer betrachten:
(und seinem Denken) und seinem sozialen Umfeld.
1. Unterschiedliche Menschen suchen sich unterschiedliche Um-
welten. Welche Schule Sie besuchen, was Sie lesen, welche
Wie die Lerntheoretiker glauben die sozial-kognitiven Theoreti- Fernsehprogramme Sie sich anschauen, welche Musik
ker, dass wir viele unserer Verhaltensweisen erlernen, sei es durch Sie hören und mit wem Sie befreundet sind: All das gehört
Konditionierung oder dadurch, dass wir andere beobachten und zu der Umwelt, die Sie für sich gewählt haben, wobei
unser Verhalten an ihrem ausrichten. (Das ist der »soziale« As- Ihre Auswahl zum Teil auf Ihren Dispositionen (Funder
pekt.) Gleichfalls hervorgehoben wird die Bedeutung mentaler 2009; Ickes et al. 1997) beruhte. Sie haben Ihre Umwelt aus-
Prozesse: Wie wir eine Situation beurteilen, beeinflusst unser Ver- gewählt, und diese Umwelt formt Sie nun.
14 halten. (Das ist der »kognitive« Aspekt.) Statt sich ausschließlich 2. Die Persönlichkeit bildet sich durch die Art und Weise, wie
darauf zu konzentrieren, in welcher Weise die Umwelt uns und wir Ereignisse interpretieren und darauf reagieren. So
unser Verhalten kontrolliert (Behaviorismus), achten die sozial- sind beispielsweise ängstliche Menschen auf bedrohliche
kognitiven Theoretiker darauf, wie wir und unsere Umwelt inter- Ereignisse eingestellt (Eysenck et al. 1987). Für sie ist die
agieren: Wie interpretieren wir äußere Ereignisse, und wie reagie- Welt bedrohlich, und sie reagieren entsprechend.
ren wir darauf? Welchen Einfluss haben Schemata, Erinnerungen 3. Unsere Persönlichkeit schafft die Situationen, auf die wir
und Erwartungen auf unsere Verhaltensmuster? reagieren. In vielen Versuchen zeigte sich, dass die Art,
wie wir Menschen sehen und mit ihnen umgehen, einen
Einfluss darauf hat, wie diese ihrerseits mit uns umgehen.
14.4.1 Reziproke (wechselseitige) Beeinflussung Wenn wir davon ausgehen, dass jemand auf uns böse ist,
dann werden wir diesem Menschen wahrscheinlich kühl
Bandura (1986) nannte den Prozess des Interagierens mit unse- begegnen und damit genau den Ärger auslösen, den wir
rer Umwelt reziproken Determinismus. »Verhalten, interne per- erwarten. Haben wir eine freundliche, positive Disposition,
sönliche Faktoren und Umwelteinflüsse«, sagte er, »wirken alle wird es uns wahrscheinlich leichter fallen, enge, unter-
als miteinander verflochtene Determinanten aufeinander ein« stützende Freundschaften zu schließen (Donnellan et al.
(. Abb. 14.25). So beeinflusst das Fernsehverhalten von Kindern 2005; Kendler 1997).
(Verhalten in der Vergangenheit) ihre Präferenzen für bestimm-
te Sendungen (innerer Faktor), was wiederum Einfluss darauf Wenn das alles für Sie sehr vertraut klingt, dann mag das daran
hat, wie sich das Fernsehen (Umweltfaktor) auf das aktuelle Ver- liegen, dass es hier Parallelen und Bestätigungen zu einem
halten der Kinder auswirkt. Die Einflüsse gehen immer in beide Dauerthema der Psychologie (und hier in diesem Buch) gibt:
Richtungen: Sie sind wechselseitig. Verhalten entsteht aus dem Zusammenspiel von äußeren und
Reziproker Determinismus (»reciprocal determinism«) – bezeichnet die inneren Einflüssen. Kochendes Wasser lässt ein Ei hart, aber eine
interagierenden Einflüsse von Persönlichkeit und Umweltfaktoren. Kartoffel weich werden. Eine bedrohliche Umgebung macht aus
14.4 · Sozial-kognitive Theorien
579 14

. Abb. 14.25 Reziproker Determinismus. Der sozial-kognitive Ansatz verweist darauf, dass die Persönlichkeit von der Interaktion zwischen persönlichen
bzw. kognitiven Faktoren (Gefühle und Gedanken), der Umwelt und den eigenen Verhaltensweisen geformt wird. (© Lovrencg / Fotolia)

dem einen einen Helden, aus dem anderen einen Halunken. 14.4.2 Persönliche Kontrolle
Extravertierte Menschen fühlen sich in einer extravertierten
Kultur wohler als in einer introvertierten (Fulmer et al. 2010). In Wenn sozial-kognitive Psychologen untersuchen, wie die Inter-
jedem Moment wird unser Verhalten von unserer Biologie, unse- aktion zwischen Persönlichkeit und Umwelt funktioniert, dann
ren sozialen und kulturellen Erfahrungen und Dispositionen betonen sie vor allem das Gefühl der persönlichen Kontrolle:
beeinflusst (. Abb. 14.26). Lernen wir, uns als jemanden wahrzunehmen, der seine Umwelt
kontrolliert, oder eher als jemanden, der von der Umwelt kon-
Prüfen Sie Ihr Wissen
trolliert wird? Die Psychologen haben zwei Möglichkeiten, um
5 Albert Bandura führte die Perspektive die Wirkung der persönlichen Kontrolle (oder jedes anderen
der Persönlichkeit ein. Diese betont die Wechselwirkun- Persönlichkeitsfaktors) zu erkennen: 1. das Gefühl der Kontrolle,
gen zwischen Mensch und Umwelt. Um die interagie- das jemand nach eigener Aussage hat, mit seinem Verhalten und
renden Einflüsse von Verhalten, Denken und Umwelt zu seinen Leistungen zu korrelieren, 2. ein Experiment durchzufüh-
beschreiben, verwendete er den Begriff . ren, bei dem das Gefühl der Kontrolle verstärkt oder vermindert
wird, und die Wirkung zu beobachten.

. Abb. 14.26 Der biopsychosoziale Ansatz zur Untersuchung der Persönlichkeit. Wie bei anderen psychologischen Phänomenen lässt sich die Persön-
lichkeit produktiv auf mehreren Niveaus untersuchen
580 Kapitel 14 · Persönlichkeit

Persönliche Kontrolle (»personal control«) – unser Gefühl, die Umwelt Keiner von uns kann die Selbstkontrolle durchgehend aufrecht-
unter Kontrolle zu haben, statt uns hilflos zu fühlen. erhalten. Selbstkontrolle erfordert Aufmerksamkeit und Energie.
Wie ein Muskel ist die Selbstkontrolle nach einem Einsatz eine
Internale versus externale Kontrollüberzeugung Zeit lang schwächer, erholt sich in Ruhephasen und wird durch
(»Locus of control«) Training stärker (Baumeister u. Exline 2000; Hagger et al. 2010;
Betrachten Sie einmal Ihr eigenes Gefühl der Kontrolle näher. Vohs u. Baumeister 2011). Willensstärke auszuüben führt zeit-
Glauben Sie, dass sich Ihr Leben Ihrer Kontrolle entzieht? Dass weise zur Erschöpfung der geistigen Energie, die wir zur Selbst-
die Welt von ein paar Mächtigen beherrscht wird? Dass eine gute kontrolle und anderen Aufgaben benötigen, ebenso wird der
Stelle hauptsächlich davon abhängt, dass man zur richtigen Zeit Blutzuckerspiegel und die neuronale Aktivität, die mit geisti-
am richtigen Ort ist? Oder glauben Sie eher, dass alles, was Ihnen ger Konzentration in Verbindung gebracht werden (Inzlicht u.
widerfährt, die Folge Ihrer Handlungen ist? Dass der Durch- Gutsell 2007), reduziert. In einem Experiment führte der Wider-
schnittsbürger die Entscheidungen der Regierung beeinflussen stand hungriger Menschen gegen die Versuchung, Schokoladen-
kann? Dass erfolgreich zu sein eher etwas mit harter Arbeit zu plätzchen zu essen, dazu, dass sie die Arbeit an einer ermüden-
tun hat als mit Glück? den Aufgabe eher abbrachen. Menschen zeigen sich auch be-
In Hunderten von Untersuchungen wurden Menschen mitei- züglich aggressiver Reaktionen auf Provokationen und ihre
nander verglichen, die sich in ihrer Wahrnehmung der Kontrolle Sexualität weniger gehemmt, nachdem ihre Willenskraft durch
unterscheiden. Auf der einen Seite gibt es die, die das haben, was Aufgaben im Laborsetting aufgebraucht wurde – beispielsweise
der Psychologe Julian Rotter externale Kontrollüberzeugung durch die Unterdrückung von Vorurteilen oder das Merken der
nennt, nämlich die Wahrnehmung, dass der Zufall oder äußere Farbe eines Wortes, z. B. rot, selbst wenn das rot geschriebene
Kräfte das eigene Schicksal bestimmen. Demgegenüber gibt es Wort »grün« lautete (DeWall et al. 2007; Gaillot u. Baumeister
die, die eine internale Kontrollüberzeugung haben und glauben, 2007). Gab man ihnen jedoch energieantreibenden Zucker – die
dass sie ihre Geschicke weitgehend selbst steuern können. In einer natürliche anstatt der künstlichen Variante – verbesserte sich ihre
Studie nach der anderen wurde nachgewiesen, dass die »Inter- Denkanstrengung (Masicampo u. Baumeister 2008).
nalen« bessere Schulleistungen erbringen, selbstständiger han- Selbstkontrolle verlangt uns langfristig Aufmerksamkeit
deln, gesünder und weniger depressiv sind als die »Externalen« und Energie ab. Menschen, die sich regelmäßig durch Sport
(Lefcourt 1982; Ng et al. 2006). Des Weiteren sind sie eher imstan- und ein zeitlich sinnvoll eingeteiltes Studium in Selbstkontrolle
de, auf Belohnungen zu warten und können besser mit verschie- üben, trainieren dadurch ihre Fähigkeit zur Selbstregulation.
denen Formen von Stress fertig werden, z. B. mit Eheproblemen Ihre antrainierte Selbstkontrolle zeigt sich zum einen in ihrer
(Miller u. Monge 1986). In einer Studie wurden 7551 Briten zwei Leistung in Aufgaben, die im Laborsetting auszuführen sind,
14 Jahrzehnte lang untersucht. Diejenigen, die im Alter von 10 Jahren und zum anderen in einem verbesserten Selbstmanagement
eine eher internale Kontrollüberzeugung hatten, litten im Alter bezüglich Essen, Trinken, Rauchen und Pflichten im Haus-
von 30 Jahren weniger häufig an Adipositas, Bluthochdruck und halt (Oaten u. Cheng 2006a,b). Wenn Sie ihre Selbstdisziplin
Stress (Gale et al. 2008). Andere Studien zeigen, dass diejenigen, für einen Bereich ihres Lebens trainieren, dann springt Ihre
die an den freien Willen oder an die Willenskraft glauben, besser verbesserte Selbstkontrolle möglicherweise auch auf andere
lernen, bessere Arbeitsleistungen zeigen und hilfsbereiter sind Bereiche über.
(Baumeister u. Tierney 2011; Job et al. 2010; Stillman et al. 2010). Fazit: Wir können unsere Willensstärke, unsere Fähigkeit zur
Selbstregulation, wie einen Muskel trainieren. Doch dies erfor-
Externale Kontrollüberzeugung (»external locus of control«) – die Wahr-
nehmung, dass das eigene Schicksal vom Zufall oder von äußeren Kräften dert (muss ich dies noch erwähnen?) unsere Willensstärke.
bestimmt wird, die sich der eigenen Kontrolle entziehen.
Internale Kontrollüberzeugung (»internal locus of control«) – die Wahr- Erlernte Hilflosigkeit versus persönliche Kontrolle
nehmung, dass man seine eigenen Geschicke steuern kann. Menschen, die sich hilflos und ausgeliefert fühlen, sind häufig
der Überzeugung, dass ihr Leben von außen kontrolliert wird.
Abbau und Stärkung der Selbstkontrolle Diese Wahrnehmung mag dann zu verstärkter Resignation füh-
Selbstkontrolle – die Fähigkeit, die eigenen Impulse zu kontrol- ren. Das ist genau das Ergebnis, das Seligman (1975, 1991) und
lieren und Belohnung aufzuschieben – ist wiederum ein Prädik- andere bei Versuchen fanden, die sie sowohl mit Tieren als auch
tor für gute Anpassungsfähigkeit, bessere Schulnoten und sozia- mit Menschen durchführten. Hunde wurden mit einem Hunde-
len Erfolg, berichten Tangney et al. (2004). Studierende, die ihren geschirr festgehalten und erhielten immer wieder Stromstöße,
Tag planen und dann auch ihre Aktivitäten wie geplant ausfüh- hatten jedoch keine Möglichkeit, den Stromstößen aus dem Weg
ren, haben auch ein geringes Depressionsrisiko (Nezlek 2001). zu gehen: Sie lernten das Gefühl der Hilflosigkeit. Später wurde
die Versuchssituation dahingehend verändert, dass sie den
Selbstkontrolle (»self-control«) – die Fähigkeit, die eigenen Impulse zu
kontrollieren und Belohnung aufzuschieben. Diese werden zugunsten lang- Stromstößen entgehen konnten, indem sie einfach über ein
fristiger, aber wertvollerer Belohnungen kontrolliert. Gitter sprangen. Doch die Hunde blieben hocken, als hätten sie
14.4 · Sozial-kognitive Theorien
581 14
waren, als sie ermuntert wurden, mehr Kontrolle auszuüben
(Rodin 1986). Die Forscherin Ellen Langer (1983, S. 291) schluss-
folgerte: »Die Erfahrung, Kontrolle ausüben zu können, spielt
eine primäre Rolle bei der Funktionsfähigkeit des Menschen.«
Es ist also kein Wunder, dass so viele Menschen ihre iPads und
DVD-Player mögen, weil sie ihnen Kontrolle darüber geben,
was sie sich ansehen, wann dies geschieht und in welcher zeit-
lichen Reihenfolge. Das aus diesen Studien abzuleitende Urteil
ist eindeutig. Unter der Bedingung der Freiheit und Befähigung
im persönlichen Bereich blühen die Menschen auf. Es ist daher
nicht verwunderlich, dass die Bürger stabiler Demokratien
höhere Glückswerte angeben und andere durch Demokratisie-
. Abb. 14.27 Erlernte Hilflosigkeit. Wenn Tiere und Menschen die Erfah-
rung machen, dass sie keine Kontrolle über wiederholt auftretende aversive rung glücklicher werden (Inglehart 1990, 2009; Ott 2010). Kurz
Ereignisse haben, erlernen sie häufig Hilflosigkeit vor dem Fall der Mauer in der früheren DDR untersuchten
Oettingen u. Seligman (1990) die aufschlussreiche Körper-
sprache von Arbeitern in den Kneipen von Ost- und Westberlin.
jegliche Hoffnung verloren. Tiere, die in der ersten Versuchssitua- Verglichen mit seinem Gegenstück auf der anderen Seite der
tion den Stromstößen entfliehen konnten, lernten dagegen per- Mauer lachte der Westberliner sehr viel häufiger, saß aufrecht,
sönliche Kontrolle und entflohen mühelos den Stromstößen, nicht geduckt, und seine Mundwinkel zeigten eher nach oben als
denen sie in der neuen Situation ausgesetzt waren. nach unten (. Abb. 14.28).
Nicht nur bei Tieren: Wird ein Mensch ständig mit trauma- Etwas Freiheit und etwas Kontrolle ist besser als gar keine,
tisierenden Ereignissen konfrontiert, die er nicht beeinflussen merkt Schwartz (2000, 2004) an. Aber führt die immer weiter
kann – über die er demnach keine Kontrolle hat –, fängt er all- zunehmende Entscheidungsfreiheit zu einem glücklicheren
mählich auch an, sich hilflos zu fühlen, verliert die Hoffnung und Leben? Offensichtlich nicht. Schwartz schreibt, dass das »Über-
wird depressiv. Psychologen nennen diese passive Resignation maß an Freiheit« in den heutigen westlichen Kulturen zu einer
erlernte Hilflosigkeit (. Abb. 14.27). abnehmenden Lebenszufriedenheit, zu mehr Depressionen und
manchmal zur Lähmung beiträgt. Immer mehr Wahlmöglich-
Erlernte Hilflosigkeit (»learned helplessness«) – Hoffnungslosigkeit und
passive Resignation, die Tiere und Menschen lernen, wenn sie wiederholt keiten für Verbraucher, etwa bei Handys oder Autos, sind ein
auftretenden aversiven Ereignissen nicht ausweichen können. zweifelhaftes Vergnügen. Nachdem Menschen die Möglichkeit
hatten, zwischen 30 Marken von Marmelade bzw. Schokolade
Der Schock, den wir mitunter in einer fremden Kultur empfin- auswählen zu können, brachten sie weniger Zufriedenheit zum
den, geht zumindest zum Teil auf das Gefühl geringerer Kontrol- Ausdruck als diejenigen, die unter einem halben Dutzend Mög-
le zurück, wenn wir die Reaktionen der Menschen in dieser neu- lichkeiten auswählen konnten (Iyengar u. Lepper 2000). Die
en Umgebung nicht sicher einschätzen können (Triandis 1994). Qual der Wahl führte zu einer Informationsüberflutung; und
Auch in Gefängnissen, Fabriken und Pflegeheimen haben die damit wächst die Wahrscheinlichkeit, dass wir es vielleicht be-
Menschen nur wenig Kontrolle über ihre Welt, was wiederum dauern werden, uns für die meisten der Wahlmöglichkeiten nicht
ihre Stimmung senkt und den Stress vergrößert. Sie sind größe- entschieden zu haben.
rem Stress ausgesetzt und haben niedrigere moralische Stan-
dards. Maßnahmen, die das Gefühl vermitteln, etwas mehr Kon- Optimismus versus Pessimismus
trolle zu haben – wenn man Strafgefangenen gestattet, die Stühle Wie hilflos oder wie lebenstüchtig wir uns fühlen, wird daran
anders hinzustellen, das Licht im Raum zu kontrollieren und gemessen, an welcher Stelle auf einem Kontinuum zwischen
das Fernsehprogramm zu wechseln, wenn Arbeiter an den Ent- Optimismus und Pessimismus wir uns befinden. Welche Erklä-
scheidungsprozessen beteiligt werden oder Heiminsassen über rung negativer und positiver Ereignisse ist typisch für Sie? Viel-
ihre Umgebung entscheiden dürfen –, führen bei den Betrof- leicht haben Sie Studierende kennengelernt, deren Attributions-
fenen zu einer merklichen Verbesserung der Stimmung und des stil negativ ist: Eine schwache Leistung schreiben sie ihren man-
Gesundheitszustands (Humphrey et al. 2007; Wang et al. 2010). gelnden Fähigkeiten zu (»Ich kann das nicht«) oder einer Situa-
Einer Umfrage der Gallup-Meinungsforscher zufolge hatten tion, die sich auf Dauer ihrer Kontrolle entzieht (»Da kann ich
diejenigen Arbeitnehmer, die ihrem Arbeitsplatz eine persön- gar nichts machen«). Für diese Studierenden ist die Wahrschein-
liche Note geben durften, eine um 55% höhere Wahrscheinlich- lichkeit, weiterhin schlechte Noten zu erzielen, höher als für Stu-
keit, hohen Arbeitseinsatz zu zeigen (Krueger u. Killham 2006). dierende, die eher zuversichtlich sind, dass Fleiß, gute Lern-
Eine berühmte Studie mit Insassen eines Pflegeheims zeigte, gewohnheiten und Selbstdisziplin sehr wohl etwas zu ändern
dass 93% der Heimbewohner lebhafter, aktiver und glücklicher vermögen (Noel et al. 1987; Peterson u. Barret 1987). Zwar kön-
582 Kapitel 14 · Persönlichkeit

. Abb. 14.28 Glücklich sind die, die sich für ihren eigenen Weg entscheiden. Diese glücklichen Ostberliner, die nach dem Fall der Mauer im Jahre 1989
nach Westberlin herüberkommen, scheinen das Gefühl zu personifizieren, das wir vom römischen Philosophen Seneca her kennen (Vom glücklichen Leben).
Langzeitstudien bestätigten eine gestiegene Lebenszufriedenheit für die ehemaligen Ostdeutschen (Cummins et al. 2009; © picture alliance / dpa)

14

. Abb. 14.29 (Copyright © The New Yorker Collection, 1995, Sam Gross / cartoonbank.com)

nen sich reine Fantasien nicht positiv auf Motivation und Erfolg Partner glauben, sich im Konflikt konstruktiv zu verhalten. Sie
auswirken, doch realistische positive Erwartungen tun das sehr fühlen sich von ihrem Partner jeweils mehr unterstützt und sind
wohl (Oettingen u. Mayer 2002; . Abb. 14.29). zufriedener mit der gefundenen Lösung und ihrer Beziehung
Der Attributionsstil spielt ebenfalls eine große Rolle, wenn (Srivastava et al. 2006). Erwarten Sie Gutes von anderen, bekom-
Liebespaare miteinander in Konflikt stehen. Optimisten und ihre men Sie oft, was sie erwarten. Derartige Studien brachten Selig-
14.4 · Sozial-kognitive Theorien
583 14
zukünftige Lebensereignisse« Vorschub leisten kann. Die meis-
ten Jugendlichen in der späten Adoleszenz halten sich selbst für
viel weniger anfällig für das Aids-Virus als ihre Altersgenossen
(Abrams 1991). Die meisten Studierenden glauben von sich
selbst, sie seien weniger gefährdet als ihre Studienkollegen, ein
Alkoholproblem zu entwickeln, das Studium abzubrechen,
im Alter von 40 Jahren einen Herzanfall zu erleiden oder hohe
Schulden durch ihre hochverzinsten Kreditkarten zu machen
(Yang et al. 2006). Wenn wir zu selbstsicher bezüglich unserer
Fähigkeit zur Impulskontrolle sind, z. B. dem Impuls zu rauchen,
so ist es wahrscheinlicher, dass wir uns verführerischen Situatio-
nen aussetzen – und scheitern (Nordgren et al. 2009). Diejenigen,
die sich voller Optimismus in Beziehungen stürzen, die nur
schlecht ausgehen können, ebenso auch diejenigen, die die Wir-
kung des Rauchens leugnen und die, welche sich auch in anderen
Situationen selbst austricksen, erinnern uns daran, dass – wie
Hochmut – blinder Optimismus vor dem Fall kommt.
Menschen fallen auch bezüglich ihrer Gruppe dem trüge-
. Abb. 14.30 »Schatz, sieh es doch positiv! Hätten wir letzte Woche den rischen Optimismus zum Opfer: Während einer Saison der US-
Neuwagen gekauft, wäre der jetzt Schrott.« (© Claudia Styrsky) amerikanischen National Football League schätzten Fans aller
Teams die Gewinnwahrscheinlichkeit des Gegners korrekt auf
50%. Aber sie schätzten – im Durchschnitt und über alle Teams
man dazu, eine positive Psychologie vorzuschlagen (7 Unter der und Wochen hinweg – fälschlicherweise die Gewinnwahrschein-
Lupe: Positive Psychologie; . Abb. 14.30). lichkeit ihres eigenen Teams auf 66% (Massey et al. 2011). Diese
optimistische und unlogische Verzerrung blieb – trotz der Erfah-
Positive Psychologie (»positive psychology«) – wissenschaftliche Unter-
suchung der optimalen Funktionsfähigkeit des Menschen; hat zum Ziel, rung mit ihrem Team und monetären Anreizen für genaue Schät-
die Stärken und guten Eigenschaften zu entdecken und zu fördern, die das zungen – bestehen.
Gedeihen des Einzelnen und der Gemeinschaft ermöglichen. Unser angeborener Verzerrungseffekt durch positives Den-
ken scheint jedoch dahinzuschwinden, sobald wir uns für eine
jExzessiver Optimismus Rückmeldung wappnen müssen, etwa für Prüfungsergebnisse
Wenn sich positives Denken angesichts von Widrigkeiten aus- (Carroll et al. 2006). (Haben Sie schon einmal bemerkt, dass,
zahlt, dann gilt das auch für eine Prise Realismus (Schneider wenn sich ein Fußballspiel dem Ende nähert, das Ergebnis un-
2001). Eine realistische Angst vor möglichen künftigen Fehlern gewisser ist, wenn Ihre Mannschaft vorne liegt, als wenn sie
kann als Ansporn dienen, diese zu vermeiden (Goodhart 1986; hinten liegt?) Die positiven Illusionen lösen sich auch in Luft auf,
Norem 2001; Showers 1992). Studierende, die bei dem Gedanken wenn man ein Trauma erlebt. So erging es den Opfern des furcht-
beunruhigt sind, sie könnten bei einer bevorstehenden Prüfung baren Erdbebens in Kalifornien, die ihre Illusionen aufgeben
versagen, lernen gründlich und überflügeln damit nicht selten mussten, sie seien für Erdbeben weniger anfällig als andere
die, die die gleichen Fähigkeiten haben, aber zu viel Vertrauen (Helweg-Larsen 1999).
in ihr Wissen setzen. Chang (2001) berichtet, dass bei einem
Vergleich zwischen Studierenden europäisch-amerikanischer jDie Schwierigkeit, unsere eigene Inkompetenz
Abstammung und Studierenden asiatisch-amerikanischer Her- zu erkennen
kunft Letztere einen größeren Pessimismus an den Tag legen, Es ist eine Ironie des Schicksals, dass häufig gerade die am we-
was, wie er vermutet, ihre beeindruckenden akademischen Leis- nigsten kompetenten Menschen die größten Optimisten sind.
tungen erklären könnte. Erfolg erfordert hinreichend viel Opti- Das liegt daran, dass man Kompetenz braucht, um Kompetenz
mismus, um Hoffnung und Zuversicht entstehen zu lassen, aber erkennen zu können, bemerken Kruger u. Dunning (1999). Sie
auch hinreichend viel Pessimismus, um Selbstzufriedenheit zu fanden heraus, dass die meisten Studierenden, die mit ihren Wer-
verhindern. Wir wollen, dass sich Piloten in der Luftfahrt den ten am unteren Ende der Skala für Grammatik und Logik lagen,
schlimmsten Konsequenzen bewusst sind. glaubten, sie lägen in der oberen Hälfte.
Exzessiver Optimismus kann uns blind gegenüber tatsäch- Wenn sie nicht wissen, was gute Grammatikkenntnisse sind,
lichen Risiken machen. Weinstein (1980, 1982, 1996) zeigte, wie dann merken sie wahrscheinlich gar nicht, wie dürftig ihre
unsere angeborene positive Denkweise zur Verzerrung der Wirk- Grammatikkenntnisse sind. Dieses Phänomen des »Unwissens
lichkeit führen und »einem unrealistischen Optimismus über über die eigene Inkompetenz« findet seine Parallele bei Schwer-
584 Kapitel 14 · Persönlichkeit

Unter der Lupe

Positive Psychologie
Im ersten Jahrhundert ihres Bestehens kon- Mit der humanistischen Psychologie teilt Glück, so argumentiert Seligman, ist ein Ne-
zentrierte sich die Psychologie vorwiegend die positive Psychologie das Interesse an der benprodukt eines angenehmen, engagierten
darauf, negative Zustände zu verstehen und Förderung eines erfüllten menschlichen Le- und sinnvollen Lebens. Bei der positiven Psy-
leichter erträglich zu machen. Psychologen bens; doch die positive Psychologie arbeitet chologie geht es nicht nur darum, ein ange-
untersuchten Missbrauch und Angst, Depres- mit wissenschaftlichen Methoden. Die positive nehmes Leben zu führen, meint Seligman,
sion und Krankheit, Armut und Vorurteile. Wie Psychologie erforscht: sondern auch ein gutes Leben, bei dem die
in 7 Kap. 13 erwähnt, stand die Zahl der seit 5 positives Wohlbefinden – hierbei werden eigenen Fähigkeiten genutzt werden, und ein
1887 über ausgewählte negative Emotionen Übungen und Interventionen erprobt, sinnvolles Leben, das über uns selbst hinaus-
veröffentlichten Artikel im Verhältnis 17:1 die Zufriedenheit steigern sollen (Schu- weist. Der zweite Eckpfeiler heißt daher positi-
zu den Veröffentlichungen über positive Emo- eller 2010; Sin u. Lyubomirsky 2009), ver Charakter. Dabei konzentriert man sich da-
tionen. 5 positive Gesundheit – hierbei wird unter- rauf, bestimmte Merkmale zu erkunden und
In der Vergangenheit, so der ehemalige Präsi- sucht, wie positive Emotionen dabei zu verbessern, wie Kreativität, Mut, Mitgefühl,
dent der American Psychological Association, helfen, das körperliche Wohlbefinden zu Integrität, Selbstkontrolle, Führungsqualitäten,
Martin Seligman (2002; . Abb. 14.31), waren steigern bzw. zu erhalten (Seligman Weisheit und Spiritualität. Der dritte Eck-
Jahre des Friedens und des Wohlstands zu- 2008; Seligman et al. 2011), pfeiler betrifft positive Gruppen, Gemeinden
gleich Zeiten, in denen sich eine Kultur oder 5 positive Neurowissenschaften – diese er- und Kulturen. Der Akzent liegt hier auf einer
eine Gesellschaft weniger um die Heilung von forschen die biologischen Grundlagen positiv ausgerichteten sozialen Ökologie, zu
Schwächen und Schädigungen bemühte als positiver Emotionen, der Resilienz bzw. der auch intakte Familien, nachbarschaftliche
um die Förderung »höchster Lebensqualität«. Widerstandsfähigkeit und des Sozialver- Gemeinschaften, gute Schulen, Medien mit
Das reiche Athen des 5. vorchristlichen Jahr- haltens (www.posneuroscience.org), und sozialem Verantwortungsbewusstsein und ein
hunderts pflegte Philosophie und Demokratie. 5 positive Pädagogik – diese prüft, welche Bürgerdialog gehören. Wird die Aufgabe der
Das blühende Florenz des 15. Jahrhunderts Anstrengungen in Bildung und Erzie- Psychologie in diesem Jahrhundert mehr auf
förderte die große Kunst. Das viktorianische hung unternommen werden müssen, die positiven Seiten des menschlichen Lebens
England ließ im Hochgefühl des britischen um Engagement, Widerstandsfähigkeit, gerichtet sein? Die Anhänger der positiven
Empires und seiner Reichtümer Tugenden ge- Charakterstärke, Optimismus und das Psychologie hoffen es, wenn auch die Notwen-
deihen wie Ehre, Disziplin und Pflichtgefühl. Gefühl der Sinnhaftigkeit bei Schülern digkeit, Schädigungen zu lindern und Krank-
Uns bietet sich in diesem neuen Jahrtausend zu verbessern (Seligman et al. 2009). heiten zu heilen, nicht auf die leichte Schulter
eine vergleichbare Gelegenheit, glaubt Martin genommen werden soll. Mit Sonderausgaben
Seligman. Die reichen Länder des hoch ent- »Positive Psychologie«, so Seligman et al. von Fachzeitschriften wie American Psychol-
wickelten Westens könnten, als »Denkmal für (2005), »ist ein umfassender Begriff für die ogist und British Psychologist zu diesem Thema,
eine menschliche Wissenschaft«, eine positive Untersuchung positiver Emotionen, positiver mit neuen Büchern, mit jüngst ausgesetzten
Psychologie schaffen, die sich nicht nur mit Charaktermerkmale und von Institutionen, Preisen, Forschungsgeldern und Sommer-
14 Schwäche und Scheitern beschäftigt, sondern die zu solchen Dingen befähigen«. Zufrieden kursen, die Stipendien zur Förderung der po-
auch mit Stärke und Erfolg. Dank seiner Tat- mit der Vergangenheit, glücklich mit der Ge- sitiven Psychologie gewähren, haben die
kraft gewinnt die neue Bewegung der posi- genwart und optimistisch beim Blick in die Psychologen allen Grund, positiv in die Zu-
tiven Psychologie an Stärke, unterstützt durch Zukunft – dies alles zusammen ergibt positive kunft zu blicken.
Forscher in 77 Ländern, von Kroatien bis Emotionen und definiert den ersten Eckpfeiler
China (IPPA 2009, 2010; Seligman 2004, 2011). der neuen Bewegung der Psychologie.

hörigen, die ein Problem damit haben, ihren eigenen Hörverlust ten Prüfungsergebnissen verblüfft sind, wenn sie in einer Prü-
zu erkennen (und das kann ich nur bestätigen). Wir sind gar fung schlecht abgeschnitten haben. Wenn Sie nicht alle Möglich-
nicht so sehr in einer »Abwehrhaltung«, wir sind uns einfach nur keiten für Scrabble-Wörter kennen, die Sie übersehen haben,
nicht der Tatsache bewusst, dass wir nicht hören. Wenn ich nicht fühlen Sie sich ganz schön schlau – bis Sie jemand darauf hin-
hören kann, wie ein Freund meinen Namen ruft, bemerkt der weist. Wie Caputo u. Dunning (2005) in Experimenten, in denen
Freund meine Unaufmerksamkeit. Doch für mich handelt es sich dieses Phänomen nachgestellt wurde, belegten, erhält unser Un-
um ein Nicht-Ereignis. Ich höre, was ich höre – was mir ziemlich wissen in Bezug auf das, was wir nicht wissen, unser Vertrauen
normal erscheint. in unsere eigenen Fähigkeiten aufrecht.
Sobald sie Teil unseres Selbstkonzeptes geworden ist, beein-
» Der Wohnzimmer-Scrabble-Spieler hat Glück ... Er hat keine
flusst auch unsere Selbstbewertung die Wahrnehmung unserer
Ahnung davon, wie elend er bei jedem Zug versagt, wie viele
eigenen Leistungen. Wenn wir glauben, eine Sache gut zu
mögliche Wörter oder optimale Spielzüge ihm unerkannt
machen, dann beeinflusst dies auch, wie wir uns dabei wahrneh-
entgehen.
men (Critcher u. Dunning 2009). Um die eigene Kompetenz be-
Stephen Fatsis, Word Freak, 2001
werten zu können, lohnt es sich, andere hierzu zu befragen, so
Die Schwierigkeit, seine eigene Inkompetenz zu erkennen, kann Dunning (2006). Basierend auf Studien, in denen Menschen und
als Erklärung dafür dienen, dass so viele Studierende mit schlech- deren Bekannte ihre Zukunft vorhersagen, können wir einen
14.4 · Sozial-kognitive Theorien
585 14
dien deuten darauf hin, dass Aufgaben in Assessment-Centern
aufschlussreicher bezüglich beobachtbarer Dimensionen sind,
beispielweise Kommunikationsfähigkeit, als bezüglich anderer
Dimensionen, beispielsweise Leistungsdrang (Bowler u. Woehr
2006). Organisationen der Armee und des Erziehungswesens und
viele »Fortune-500-Firmen« – das sind die 500 größten ameri-
kanischen Industrieunternehmen – nutzen ähnliche Strategien
noch heute alljährlich, wenn sie in Assessment-Centern Tausende
von Menschen evaluieren (Bray et al. 1991, 1997; Eurich et al.
2009). Bei großen Unternehmen, z. B. der Lufthansa, wurden
künftige Manager bei der Erledigung simulierter Managerauf-
gaben beobachtet. Universitäten erfassen die Lehrfähigkeit von
potenziellen Lehrstuhlinhabern durch Beobachtung: Sie beob-
achten während des Berufungsverfahrens ihre Art zu lehren in
. Abb. 14.31 Martin E. P. Seligman. »Das Hauptziel einer positiven Psy- einer »Probevorlesung«. Lehrproben während des Referendariats
chologie besteht darin, die Stärken und die echten Tugenden eines gehören auch zur Ausbildung bei zukünftigen Lehrern. Die
Menschen zu erheben, zu verstehen und sie dann aufzubauen.« (As a work
Armee testet ihre Soldaten im Rahmen von Militärübungen. In
of the U.S. federal government, the image is in the public domain)
den meisten amerikanischen Städten mit mehr als 50.000 Ein-
wohnern setzt man Assessment-Center ein, um Polizisten und
Ratschlag riskieren: Wenn Sie ein angehender Arzt sind und vor- Feuerwehrmänner zu bewerten (Lowry 1997). Dieser Vorgehens-
hersagen möchten, wie gut Sie in einer Chirurgieklausur ab- weise liegt die Annahme zugrunde, dass die beste Vorhersage
schneiden werden, dann bewerten Sie sich nicht selbst – fragen über künftiges Verhalten weder mit Hilfe eines Persönlichkeits-
Sie Ihre Kommilitonen um deren ehrliche Einschätzung. Wenn tests noch mit Hilfe der Intuition des Interviewers erreicht wird.
Sie ein Marineoffizier sind und Ihre Führungsqualitäten ein- Es ist vielmehr das frühere Verhalten eines Menschen in vergleich-
schätzen sollen, dann bewerten Sie sich nicht selbst, sondern baren Situationen, das hier aufschlussreich ist (Mischel 1981;
fragen Sie andere Offiziere. Wenn Sie verliebt sind und sich Ouellette u. Wood 1998; Schmidt u. Hunter 1998a). Wenn Situa-
fragen, ob die Liebe ewig halten wird, dann hören Sie nicht auf tion und Person mehr oder weniger gleich bleiben, ist die bisher
Ihr Herz – hören Sie auf ihren Mitbewohner. im Beruf gezeigte Leistung der beste Prädiktor für künftige Leis-
tungen. Der beste Prädiktor für Prüfungsnoten sind die bis-
herigen Noten; der beste Prädiktor für aggressives Verhalten ist
14.4.3 Erfassung von Situationseinflüssen aggressives Verhalten in der Vergangenheit; der beste Prädiktor
auf das Verhalten für Drogenkonsum in den frühen Erwachsenenjahren ist Dro-
genkonsum in der Schulzeit. Haben Sie keine Möglichkeit,
Informationen über das frühere Verhalten eines Menschen zu
? 14.17 Wie erkunden sozial-kognitive Forscher Verhalten
bekommen, dann ist die zweitbeste Möglichkeit eine Situation,
und mit welchen Kritikpunkten sind sie konfrontiert?
in der die Aufgabe simuliert wird. Auf diese Weise können Sie
Die sozial-kognitive Psychologie erforscht die Wechselwirkung erfassen, wie Ihr Kandidat damit fertig wird (Lievens et al. 2009;
zwischen Menschen und Situationen. Um Verhalten vorherzu- Meriac et al. 2008).
sagen, beobachtet man oft das Verhalten in realistischen Situa-
Eine Untersuchung der New York Times zeigte, dass von
tionen.
100 Amokläufen des letzten halben Jahrhunderts in 55 Fällen die
Ein ehrgeiziges Beispiel dafür war die Strategie zur Bewertung
Täter regelmäßige Wutausbrüche hatten. 63 von ihnen hatten
von Kandidaten für Spionageaufträge, die von der US-Armee
anderen Gewalt angedroht (Goodstein u. Glaberson 2000). Die
im Zweiten Weltkrieg entwickelt wurde. Die Militärpsychologen
meisten von ihnen töteten nicht aus heiterem Himmel.
verzichteten auf schriftliche Tests; stattdessen unterzogen sie die
Kandidaten simulierten geheimen Missionen. Sie testeten, wie die
Kandidaten mit Stress fertig wurden, wie sie Probleme angingen 14.4.4 Bewertung des sozial-kognitiven Ansatzes
und lösten, ob sie die Führungsrolle aufrechterhalten und einem
intensiven Verhör standhalten konnten, ohne ihre Deckung auf- Der sozial-kognitive Ansatz in der Persönlichkeitsforschung sen-
zugeben. Zwar war das langwierig und teuer, doch konnte man sibilisiert die Forscher dafür, welchen Einfluss eine Situation auf
mit dieser Form der Erfassung des Verhaltens in realistischen einen Menschen hat und wie dieser Mensch dann wiederum die
Situationen vorhersagen, ob eine spätere Spionagemission erfolg- Situation beeinflusst. Dieser Forschungsansatz beruht mehr als
reich verlaufen würde (OSS Assessment Staff 1948). Heutige Stu- andere (. Tab. 14.4) auf den Ergebnissen der Forschung im Be-
586 Kapitel 14 · Persönlichkeit

. Tab. 14.4 Vergleich der wesentlichen Persönlichkeitstheorien

Persönlichkeitstheorie Hauptvertreter Annahmen Sicht auf die Persönlichkeit Methoden zur Erfassung
von Persönlichkeit

Psychoanalytischer Freud Seelische Störungen haben ihren Die Persönlichkeit besteht Freie Assoziation,
Ansatz Ursprung in einer unbewussten aus Impulsen des Lustgewinns projektive Tests,
Dynamik, z. B. ungelösten sexu- (dem Es), einer realitätsorien- Traumdeutung
ellen und anderen Konflikten aus tierten Exekutive (dem Ich)
der Kindheit sowie Fixierungen und einer internalisierten Reihe
in verschiedenen Entwicklungs- von Idealen und Normen (dem
phasen. Abwehrmechanismen Über-Ich)
wehren Ängste ab

Psychodynamische Adler, Horney, Das Unbewusste und das Be- Das dynamische Zusammen- Projektive Tests,
Theorien Jung wusstsein arbeiten zusammen. spiel unbewusster und bewuss- Therapiesitzungen
Kindheitserfahrungen und ter Motive und Konflikte formt
Abwehrmechanismen spielen unsere Persönlichkeit
eine wichtige Rolle

Humanistischer Ansatz Rogers, Maslow Anstatt die Probleme kranker Wenn unsere Grundbedürfnisse Fragebögen,
Menschen zu untersuchen, sei erfüllt sind, streben wir nach Therapiesitzungen
es dienlicher zu beobachten, Selbstverwirklichung. In einem
wie gesunde Menschen nach Klima der unbedingten Wert-
Selbstverwirklichung streben schätzung können wir uns
unserer selbst bewusster
werden und ein positiveres
Selbstkonzept entwickeln

Trait-Ansatz Allport, Eysenck, Wir haben gewisse stabile und Die wissenschaftliche Unter- Persönlichkeitsinventare
McCrae, Costa bleibende Merkmale, die von suchung sog. Traits konnte
unseren genetischen Prädis- wichtige Persönlichkeits-
positionen beeinflusst werden dimensionen ausfindig machen.
So z. B. die Big-Five-Persönlich-
keitsfaktoren (Neurotizismus,
Extraversion, Offenheit für
Erfahrung, Verträglichkeit,
14 Gewissenhaftigkeit)

Sozial-kognitiver Ansatz Bandura Unsere Persönlichkeitsmerkmale Konditionierung und Beobach- Unser Verhalten in einer
und der soziale Kontext inter- tungslernen interagieren mit Situation wird am besten
agieren miteinander und formen den Kognitionen und lassen so durch unser früheres
somit unser Verhalten Verhaltensmuster entstehen Verhalten in ähnlichen
Situationen vorhergesagt

reich Lernen und Kognition. Kritiker bemängeln indes, dass sich einem Freund hinter der Badezimmertür, als der Gewinn be-
der sozial-kognitive Denkansatz so stark auf die Situation kon- stätigt wurde, und brach dann in Schluchzen aus. Als Gill von
zentriert, dass die inneren Merkmale nicht berücksichtigt wer- seinem Gewinn erfuhr, erzählte er es seiner Frau und ging dann
den. »Wo bleibt das Individuum bei dieser Sicht auf die Persön- schlafen.
lichkeit?«, fragen die, die anderer Meinung sind (Carlson 1984).
Prüfen Sie Ihr Wissen
Und wo sind die Emotionen? Sicher, die Situation steuert
unser Verhalten, sagen die Kritiker, doch bei vielen Gelegen- 5 Welches sind die gegensätzlichen Effekte von erlernter
heiten zeigen sich deutlich die unbewussten Motive, die Emo- Hilflosigkeit, persönlicher Kontrolle und Optimismus
tionen und die typischen Merkmale. Es hat sich gezeigt, dass auf unser Verhalten?
man aufgrund von Persönlichkeitsmerkmalen Verhalten bei der 5 Wie lässt sich am besten das zukünftige Verhalten einer
Arbeit, beim Spiel und in der Liebe vorhersagen kann. Nehmen Person vorhersagen?
Sie z. B. Percy Ray Pridgen und Charles Gill. Beide standen vor
derselben Situation: Sie hatten im Lotto einen 90-Mio.-Dollar-
Jackpot gewonnen (Harriston 1993). Als Pridgen die Gewinnzahl
erfuhr, begann er unkontrolliert zu zittern, versteckte sich mit
14.5 · Das Selbst
587 14
14.5 Das Selbst merken und bewerten. Gilovich (1996) demonstrierte diesen
»Spotlight-Effekt«: Er ließ einzelne Studierende Barry-Manilow-
T-Shirts anziehen und dann in den Raum zu den anderen Stu-
? 14.18 Wieso hat die Psychologie so viel Forschung über das
dierenden gehen. Die T-Shirt-Träger waren sich ihrer selbst be-
Selbst hervorgebracht? Wie wichtig ist das Selbstwertgefühl
wusst und schätzten, dass die Hälfte der anderen Studenten das
für die Psychologie und das menschliche Wohlbefinden?
T-Shirt bemerken würde, sobald sie hereinkämen. Tatsächlich
Das Nachdenken über das Selbstempfinden des Menschen wurden sie aber nur von 23% der Studierenden bemerkt. Diese
reicht mindestens bis zur Zeit von William James zurück, der fehlende Aufmerksamkeit betrifft nicht nur auffällige Kleidung
in seinen Principles of Psychology (1890) über 100 Seiten zu und schlecht gekämmte Haare, sondern auch unsere Nervosität,
diesem Thema schrieb. Etwa um 1943 klagte Gordon Allport, Gereiztheit oder Attraktivität: Dies alles wird von viel weniger
das Selbst sei »aus dem Blickfeld geraten«. Obwohl die huma- Menschen bemerkt, als wir annehmen (Gilovich u. Savitsky
nistische Psychologie mit ihrer Betonung des Selbst nicht zu 1999). Die anderen nehmen auch die Veränderungen – das Auf
vielen wissenschaftlichen Forschungsarbeiten führte, kam es und Ab – unserer äußeren Erscheinung und unserer Leistung
dennoch zu einer Erneuerung und Belebung des Konzepts des weniger wahr (Gilovich et al. 2002). Selbst wenn wir uns tölpel-
Selbst. Heute, mehr als 100 Jahre nach James, gehört das Selbst zu haft aufführen (die Alarmanlage in der Bibliothek auslösen,
den Themen, die in der Psychologie der westlichen Länder mit in den falschen Klamotten zu einer Party auftauchen), erregen
großem Eifer untersucht werden. Alljährlich erscheinen reihen- wir weniger Aufsehen, als wir uns einbilden (Savitsky et al. 2001).
weise neue Studien über Selbstwert, Selbstöffnung, Selbstwahr- Wenn wir uns des Spotlight-Effekts bewusst sind, kann das
nehmung, Selbstschema, Selbstüberwachung etc. Selbst Neuro- Fähigkeiten mobilisieren. Wenn man Vortragenden hilft zu ver-
wissenschaftler haben nach dem Selbst gesucht, indem sie eine stehen, dass ihre natürliche Nervosität für das Publikum nicht so
zentrale Region des Frontallappens identifizierten, die aktiviert offensichtlich ist, wird ihre Leistung beim Vortrag besser werden
wird, wenn Menschen selbstreflexive Fragen über ihre Eigen- (Savitsky u. Gilovich 2003).
schaften und Veranlagungen beantworten sollten (Damasio
Spotlight-Effekt (»spotlight effect«) – Überschätzen der Wahrnehmung und
2010; Mitchell 2009). Dieser Forschung liegt die Annahme zu- Bewertung unserer äußeren Erscheinung, Leistungen und Fehlleistungen
grunde, dass das Selbst, der Organisator unserer Gedanken, durch andere Menschen (als ob wir im Licht eines Scheinwerfers stünden).
Gefühle und Handlungen, den Dreh- und Angelpunkt der Per-
sönlichkeit darstellt. 14.5.1 Die Vorteile des Selbstwertgefühls
Das Selbst (»self«) – die moderne Psychologie vermutet hierin das Zentrum
der Persönlichkeit. Es ordnet unsere Gedanken, Gefühle und Handlungen. Was wir von uns selbst halten, ist gleichfalls von Bedeutung.
Ein hohes Selbstwertgefühl – das Gefühl für das, was man
Ein Beispiel für eine Denkrichtung ist das Konzept der »mög- wert ist – zahlt sich aus. Wer sich mit sich selbst wohl fühlt
lichen Selbste« (»possible selves«), das Markus und ihre Kolle- (wer bei selbstbestätigenden Aussagen in entsprechenden Frage-
gen entwickelt haben (Cross u. Markus 1991; Markus u. Nurius bögen hohe Zustimmung äußert), erlebt seltener schlaflose
1986). Zu Ihrem möglichen Selbst gehören Visionen, die das Nächte, erliegt weniger leicht dem Druck zur Konformität,
Selbst zeigen, zu dem Sie gern werden möchten: das reiche Selbst, zeigt mehr Ausdauer bei schwierigen Aufgaben, ist weniger
das erfolgreiche Selbst, das geliebte Selbst, das bewunderte Selbst. schüchtern, weniger einsam und einfach glücklicher (Greenberg
Dazu gehört aber auch das Selbst, das Sie zu werden befürchten: 2008; Orth et al. 2008, 2009). Wenn sie sich schlecht fühlen, dann
das arbeitslose Selbst, das einsame Selbst, das beim Studium glauben sie, dass sie Besseres verdienen und geben sich mehr
gescheiterte Selbst. Ein solches mögliches Selbst motiviert uns, Mühe, ihre Stimmung zum Positiven zu beeinflussen (Wood
uns spezifische Ziele zu setzen und die Energie aufzubringen, et al. 2009).
dass wir darauf hinarbeiten. An der University of Michigan er-
Selbstwertgefühl (»self-esteem«) – Gefühl für den hohen oder geringen
reichen Studenten, die an einem kombinierten Programm für Wert der eigenen Person.
Studienanfänger im Fach Medizin teilnehmen, bessere Noten,
wenn sie das Programm mit einer deutlichen Vision von sich Doch ist ein hohes Selbstwertgefühl wirklich dermaßen wichtig?
selbst als erfolgreichen Ärzten durchlaufen. Träume sind oft die Ist es wirklich »die schützende Rüstung der Kinder«, die vor den
Mutter dessen, was man erreicht. Problemen des Lebens bewahrt (McKay 2000)? Baumeister et al.
(2003, 2005), Damon (1995), Dawes (1994), Leary (1999) und
» Der erste Schritt auf dem Weg zu besseren Zeiten besteht
Seligman (1994, 2002) melden Zweifel an dieser These an. Das
darin, sie sich vorzustellen.
schulische Selbstkonzept, das Kinder von sich haben – also ihr
Aus einem chinesischen Glückskeks
Selbstvertrauen, dass sie in einem Fach gute Leistungen erbrin-
Unsere egozentrische Perspektive kann uns motivieren, sie kann gen können –, sagt Schulleistungen voraus. Ein generelles Selbst-
uns aber auch dazu verleiten, anzunehmen, dass andere uns be- bild hingegen nicht (Marsh u. Craven 2006; Swann et al. 2007;
588 Kapitel 14 · Persönlichkeit

Trautwein et al. 2006). Vielleicht ist das Selbstwertgefühl einfach


ein Spiegel der Realität. Vielleicht ist »sich gut fühlen« die Folge
von »etwas gut machen«. Vielleicht ist ein hohes Selbstwertgefühl
ein Nebenprodukt, das entsteht, wenn man auf Herausforderungen
stößt und Schwierigkeiten überwindet. Möglicherweise ist das
Selbstwertgefühl auch ein feines Messinstrument, das uns den
Zustand unserer Beziehungen zu anderen angibt (. Abb. 14.32).
Nehmen wir einmal an, dass dies so ist: Bedeutet es dann nicht,
wenn man das Messinstrument künstlich höher einstellt (»Du bist
etwas Besonderes!«), dass man die Benzinanzeige zwangsweise
dazu bringt, »voll« anzuzeigen, obwohl der Tank leer ist? Und
wenn Probleme und Scheitern zu einem geringen Selbstwert-
gefühl führen, wird der Auftrieb deshalb nicht daher kommen,
dass man Kindern pausenlos erzählt, wie toll sie sind? Das Selbst-
wertgefühl steigert sich eher, wenn sie mit Problemen wirkungs-
voll fertig werden und etwas Schwieriges vollbracht haben.

» Wenn sich die Selbstkontrolle eines Kindes verbessert, ver- . Abb. 14.32 (Copyright © The New Yorker Collection, 1996, Mike Twohy /
bessern sich später auch seine Noten. Doch wenn sich sein cartoonbank.com)
Selbstwertgefühl verbessert, so hat dies keinen Einfluss auf
seine Noten.
exzessiven Eigenliebe und dem Hochmut der Menschen haben.
Angela Duckworth, 2009
Er sagte dazu, die meisten Menschen, die er kennengelernt hätte,
In Experimenten zeigt sich jedoch ein Effekt des geringen Selbst- »verachten sich selbst, betrachten sich als wertlos und nicht lie-
wertgefühls. Versetzt man dem Selbstbild eines Menschen für benswert«. Mark Twain hatte eine ähnliche Idee: »In der Tiefe
einen Moment einen Schlag (indem man ihm etwa mitteilt, dass seines Herzens hat kein Mensch irgendeine Art von Achtung vor
er bei einem Leistungstest schlecht abgeschnitten hat oder indem sich selbst.« Tatsächlich haben die meisten von uns eine gute
man seine Persönlichkeit herabsetzt), dann steigt die Wahr- Meinung von sich selbst. Bei Studien zum Selbstwertgefühl
scheinlichkeit, mit der er andere Menschen herabsetzt oder bei- liegen sogar die Befragten mit einem gering ausgeprägten Selbst-
spielsweise stärkere rassistische Vorurteile zum Ausdruck bringt wertgefühl bei den Antworten etwa in der Mitte. (Ein Mensch
14 (Ybarra 1999). Wer sich selbst gegenüber eine negative Einstel- mit »geringem« Selbstwertgefühl antwortet auf Sätze wie »Ich
lung hat, ist auch tendenziell dünnhäutig und verurteilt gern habe gute Einfälle« mit einschränkenden Adverbien wie »irgend-
andere (Baumeister 1989; Pelham 1993). Bei Experimenten wie« oder »manchmal«.) Mehr noch, eine provokative und gut
werden die Teilnehmer, die dazu gebracht werden, sich unsicher gesicherte psychologische Erkenntnis aus jüngerer Zeit betrifft
zu fühlen, außerordentlich kritikfreudig, als wollten sie andere die selbstwertdienliche Verzerrung (»self-serving bias«) –
mit ihren brillanten Analysen beeindrucken (Amabile 1983). Die unsere Bereitschaft, uns selbst in einem günstigen Licht zu sehen
Forschungsergebnisse sind konsistent mit der Annahme von (Mezulis et al. 2004; Myers u. Scanzoni 2005).
Maslow und Rogers, dass sich ein gesundes Selbstbild auszahlt.
Selbstwertdienliche Verzerrung (»self-serving bias«) – Bereitschaft, uns
Akzeptiere dich selbst, und du wirst andere leichter akzeptieren selbst in einem günstigen Licht zu sehen.
können. Wenn Sie sich selbst gering schätzen, werden Sie zur
Geringschätzung anderer neigen. Manch einer »liebt seinen Sehen Sie sich dazu folgende Ergebnisse an:
Nächsten wie sich selbst«, andere hassen und verachten ihren
Nächsten wie sich selbst. Die Menschen übernehmen mehr Verantwortung für gute Taten
als für schlechte und mehr für Erfolge als für Misserfolge. Insge-
heim schreiben Sportler ihre Siege dem eigenen überragenden
14.5.2 Selbstwertdienliche Verzerrung Können zu. Aber wenn sie verlieren, hatten sie eine Pechsträhne,
der Trainer war lausig oder die Leistung der gegnerischen Mann-
schaft außergewöhnlich gut. Die meisten Studierenden üben
? 14.19 Wie zeigt sich die selbstwertdienliche Verzerrung
Kritik an der Prüfung, wenn sie schlecht abgeschnitten hatten,
und wie unterscheiden sich das defensive und das sichere
nicht an sich selbst. Auf Versicherungsformularen beschrieben
Selbstwertgefühl?
Autofahrer Unfallursachen folgendermaßen: »Ein unsichtbares
Rogers (1958) hielt der christlichen Lehre einmal vor, sie ver- Auto kam aus dem Nichts, stieß mit meinem Wagen zusammen
künde, dass die Probleme der Menschheit ihre Ursache in der und verschwand.« – »Als ich an die Kreuzung kam, tauchte plötz-
14.5 · Das Selbst
589 14

. Abb. 14.33 (© Peanuts Worldwide LLC / Dist. By Universal Uclick / Distr. Bulls)

lich eine Hecke auf und nahm mir die Sicht, und ich habe den » Wenn Sie wie die meisten Leute sind, dann glauben Sie
anderen Wagen nicht gesehen.« – »Ein Fußgänger stieß gegen (wie die meisten Leute), dass sie nicht wie die meisten Leute
meinen Wagen und schmiss sich darunter.« Die Frage »Was habe sind. Die Wissenschaft hat uns mit vielen Fakten bezüglich
ich getan, um das zu verdienen?« stellen wir uns in solch schwie- der Durchschnittsperson versorgt. Einer der verlässlichsten
rigen Situationen normalerweise nicht. Wenn wir aber erfolg- Fakten hierzu ist, dass die durchschnittliche Person nicht
reich sind, nehmen wir an, den Erfolg selbst verdient zu haben. glaubt, durchschnittlich zu sein.
Daniel Gilbert, Stumbling on Happiness, 2006
Die meisten Menschen halten sich selbst für besser als den
Durchschnitt. Das gilt für beinahe jede subjektive und sozial Komischerweise hält jeder Einzelne sich selbst für besser ge-
erwünschte Dimension. schützt gegen die selbstwertdienliche Verzerrung als andere
4 Bei landesweiten Umfragen sagen die meisten leitenden (Pronin et al. 2007; . Abb. 14.34). Die Welt ist allem Anschein
Angestellten, sie handelten ethischer als ihre durchschnitt- nach so wie in Garrison Keillors Radiosendung »Lake Wobegon«:
lichen Standesgenossen. ein Ort, wo »alle Frauen stark sind, alle Männer gutaussehend und
4 In mehreren Studien bewerteten 90% der Manager und alle Kinder überdurchschnittlich«. Und so verhält es sich auch mit
über 90% der Professoren ihre Leistung als höher als die ihren Haustieren: Drei von vier Besitzern glauben, dass ihr Haus-
ihrer durchschnittlichen Kollegen. tier schlauer als der Durchschnitt ist (Nier 2004). Die selbstwert-
4 In einer landesweiten Studie über Familien und Haushalte, dienliche Verzerrung ist ein Schlag ins Gesicht der Populärpsy-
gaben 49% der Männer an, dass sie mindestens die Hälfte chologie. »Jeder von uns hat einen Minderwertigkeitskomplex«,
oder auch einen höheren Anteil zur Kinderbetreuung bei- schrieb Powell (1989). »Die, die scheinbar keinen Minderwertig-
trügen, hingegen gaben nur 31% ihrer Ehefrauen oder keitskomplex haben, tun nur so.« Doch weitere Befunde vertrei-
Lebensgefährtinnen an, dass dies der Wahrheit entspreche ben jeglichen Zweifel (Guenther u. Alicke 2010; Myers 2010):
(Galinsky et al. 2008). 4 Unsere früheren Handlungen erinnern und rechtfertigen
4 In Australien beurteilen 86% der Menschen ihre Leistung wir in einer Weise, die uns selbst besser dastehen lässt.
im Beruf als überdurchschnittlich, nur 1% betrachtet sie 4 Wir setzen ein übertriebenes Vertrauen in unser Urteil und
als unterdurchschnittlich. unsere Überzeugungen.
4 Wir überschätzen, wie erstrebenswert wir uns in einer
Dieses Phänomen, das eher die Überschätzung des eigenen Situation verhalten würden, in der sich die meisten Men-
Selbst als die Unterschätzung anderer Menschen widerspiegelt schen weniger vorbildlich benehmen.
(Epley u. Dunning 2000), ist weniger ausgeprägt in asiatischen 4 Wir schenken einer schmeichelhaften Beschreibung
Ländern, wo Bescheidenheit als Wert gilt (Falk et al. 2009; Heine unserer eigenen Person eher Glauben als einer nicht
u. Hamamura 2007). Doch die selbstwertdienliche Verzerrung so schmeichelhaften, und wir lassen uns von psychologi-
konnte weltweit beobachtet werden: bei holländischen, austra- schen Tests beeindrucken, die uns in einem guten Licht
lischen und chinesischen Studenten, japanischen Autofahrern, zeigen.
bei Indern und Franzosen, in jedem möglichen Beruf. In jedem 4 Wir stützen unser Selbstbild dadurch, dass wir über-
der 53 untersuchten Länder erzielten die Menschen bezüglich schätzen, wie verbreitet unsere Schwächen sind, und dass
ihres Selbstbewusstseins Werte oberhalb der Mitte der gebräuch- wir unterschätzen, wie weit verbreitet unsere Stärken
lichsten Skala (Schmitt u. Allik 2005; . Abb. 14.33). sind.
590 Kapitel 14 · Persönlichkeit

. Abb. 14.34 (© Shannon Wheeler)

14 4 Wir überschätzen unseren Beitrag zum Erfolg der Gruppe dass es einfacher wird, einen Krieg zu beginnen, aber auch schwie-
(doch dies tun auch unsere Teamkameraden, wodurch riger, diesen zu beenden, so Daniel Kahneman und Jonathan
erklärt wäre, weshalb die Summe der Schätzungen des eige- Renshon (2007).
nen Beitrags aller Gruppenmitglieder oftmals über 100% Wir finden diese Tendenzen sogar bei Kindern, wo die beste
liegt). Voraussetzung für häufige Auseinandersetzungen ein hohes
4 Wir zeigen Stolz auf die eigene Gruppe: eine Tendenz, Selbstwertgefühl gepaart mit sozialer Ablehnung ist. Die aggres-
unsere Gruppe (Schule, Land oder Rasse) als überlegen sivsten Kinder neigen zu hoher Selbstbezogenheit, die durch die
anzusehen. Ablehnung durch andere Kinder angegriffen wird (van Boxtel et
al. 2004). Ein Jugendlicher oder Erwachsener, dem »der Kamm
» Die (Selbst-)Beschreibungen, an die wir eigentlich glauben,
geschwollen« ist und der sich beleidigt fühlt, ist potenziell gefähr-
wenn man uns die Freiheit lässt, sie in Worte zu fassen,
lich. Bushman u. Baumeister (1998) experimentierten mit dieser
sind wesentlich positiver, als sich realistischerweise recht-
»dunklen Seite des Selbstwerts«. Sie ließen 540 Studienanfänger
fertigen ließe.
einen kurzen Artikel schreiben, der dann von einem anderen
Shelley Taylor, Positive Illusionen, 1993
Studenten (der allerdings kein Student war, sondern zum Ver-
Authentischer Stolz, der in wahrer Leistung wurzelt, unter- suchsleiterteam gehörte) entweder sehr gelobt (»hervorragender
stützt das Selbstbewusstsein und die eigenen Führungsfähigkei- Aufsatz«) oder scharf kritisiert wurde (»selten einen so schlech-
ten (Tracy et al. 2009; Williams u. DeSteno 2009). Aber Hochmut ten Aufsatz gelesen«). Dann trat der Aufsatzschreiber gegen die-
kommt oft vor dem Fall. Selbstwertdienliche Wahrnehmungen sen anderen Studenten in einem Spiel an, in dem es um Reak-
sind oft die Ursache von Konflikten, die vom Tadel für den Part- tionszeiten ging. Nach einem Sieg durften sie ihren Kontrahen-
ner wegen ehelicher Missstimmung bis hin zur arroganten Dar- ten mit Lärm zudröhnen, so laut und so lange, wie sie wollten.
stellung der eigenen ethnischen Überlegenheit reichen. Der »Stolz Können Sie sich vorstellen, was dabei herauskam? Nach der
auf die arische Rasse« war eine der Ursachen für die Grausam- Kritik waren diejenigen mit unrealistisch hohem Selbstwert-
keiten der Nationalsozialisten. Diese Verzerrungen führen dazu, gefühl »außergewöhnlich aggressiv«. Sie drehten die Gehörfolter
14.5 · Das Selbst
591 14
3-mal stärker auf als die Personen mit einem normalen Selbst- » Wenn du dich mit anderen vergleichst, wirst du leicht eitel
wertgefühl. »Bedrohter Egoismus«, so scheint es, löst mehr und bitter, denn immer wird es jemanden geben, der größer
Aggression aus als geringes Selbstwertgefühl. »Ermuntert man oder geringer ist als du.
jemanden, eine gute Meinung über sich selbst zu haben, wenn er Max Ehrmann, Desiderata, 1927
sie nicht verdient hat«, so schafft das Probleme, ist Baumeisters
(2001) Schlussfolgerung. »Eingebildete Wichtigtuer werden Trotz der aufgezeigten Gefahren, die der Hochmut mit sich
bösartig gegenüber denen, die die Seifenblasen ihrer Eigenliebe bringt, weisen viele Menschen die Vorstellung von einer selbst-
platzen lassen.« wertdienlichen Verzerrung zurück und behaupten, diejenigen,
Von 1980 bis 2007 wurden die Texte populärer Lieder immer die sich wertlos und nicht liebenswert fühlen und sich anschei-
selbstbezogener (DeWall et al. 2011). In den Jahren 1988 bis 2008 nend selbst verachten, würden übersehen. Wenn die selbstwert-
erhöhten sich die Punktwerte bezüglich ihres Selbstbewusstseins dienliche Verzerrung so weit verbreitet ist: Warum setzen so
unter amerikanischen Studierenden und Schülern der High- viele Menschen sich selbst herab? Aus vier Gründen: Manchmal
school und Middle School (Gentile et al. 2010). In einem be- ist Selbsterniedrigung Teil einer subtilen Taktik: Sie lockt beru-
rühmten Persönlichkeitsinventar zu Selbstbewusstsein, in wel- higende Streicheleinheiten hervor (»fishing for compliments«).
chem maximal 40 Punkte erzielt werden können, erreichten Ein Satz wie »Niemand liebt mich« kann zumindest ein »Aber
51% der Collegestudierenden einen Wert von 35 oder höher. keiner hat dich bisher richtig kennengelernt!« hervorlocken.
In einer weiteren statistischen Übersicht, die 72 Studien an ame- In anderen Momenten, etwa vor einem Wettspiel oder einer
rikanischen Collegestudenten in den Jahren 1979 und 2009 Prüfung können selbsterniedrigende Kommentare uns auf ein
umfasste, fand man heraus, dass die Punktwerte für Empathie mögliches Versagen vorbereiten. Der Mannschaftsführer, der die
zurückgegangen sind. Dies zeigte sich z. B. darin, dass die Stu- Stärke und Überlegenheit des Gegners preist, lässt die Niederlage
dierenden sich weniger in andere hineinversetzen konnten verständlich und den Sieg bemerkenswert werden. Eine selbst-
oder weniger zärtliche, besorgte Gefühle gegenüber anderen erniedrigende Aussage wie »Wie konnte ich bloß so dumm
hatten, die nicht so viel Glück im Leben haben wie sie selbst sein?« hilft uns auch dabei, aus unseren Fehlern zu lernen. Selbst-
(Konrath et al. 2011). erniedrigung schließlich bezieht sich auch häufig auf ein altes
Selbst. Wenn man Menschen bittet, sich an richtig schlechtes Ver-
» Die begeisterten Behauptungen der Bewegung, die das
halten von ihnen zu erinnern, erinnern sich Menschen an Dinge,
Selbstwertgefühl propagiert, reichen vom Hirngespinst
die lange her sind. An positives Verhalten wird sich leichter aus
bis zum Gewäsch. Die Auswirkungen des Selbstwertgefühls
der jüngeren Vergangenheit erinnert (Escobedo u. Adolphs
sind gering, begrenzt und nicht immer gut.
2010). Man ist gegenüber dem Selbst der fernen Vergangenheit
Roy Baumeister (1996)
viel kritischer eingestellt als gegenüber dem aktuellen Selbst –
Nachdem er den Selbstwert anderer über Jahrzehnte verfolgt sogar, wenn es sich gar nicht verändert hat (Wilson u. Ross 2001).
hat, kommt der Psychologe Jean Twenge (2006; Twenge u. Foster »Mit 18 war ich ein Stoffel, heute bin ich viel sensibler.« Wer
2010) zu dem Ergebnis, dass die heutige Generation – die gestern ein Unhold war, ist heute ein Held.
»Generation Ich«, wie Twenge sie nennt – narzisstischer ist als Aber auch so stimmt es: Jeder fühlt sich manchmal – und
vorherige Generationen (dadurch, dass sie häufiger Aussagen manche oft – unterlegen, vor allem, wenn wir uns mit jenen ver-
wie »Wenn ich die Welt regieren würde, wäre sie ein besserer gleichen, die eine oder zwei Sprossen höher auf der Leiter für
Ort« oder »Ich denke, dass ich ein besonderer Mensch bin« Status, Aussehen, Einkommen oder Können stehen. Je tiefer
zustimmen). Zustimmung zu solchen narzisstischen Aussagen solche Gefühle gehen und je öfter wir sie haben, desto unglück-
korreliert mit Materialismus, dem Wunsch, berühmt zu sein, licher sind wir und werden sogar depressiv. Doch für die meisten
übertriebenen Erwartungen, häufigeren One-Night-Stands und Menschen hat Denken einen von Natur aus positiven Verzer-
weniger festen Beziehungen, häufigerem Spielen und häufige- rungseffekt.
rem Betrügen. All dies nahm gleichzeitig zu, als auch der Nar- Während einige Forscher die dunkle Seite der selbstwert-
zissmus häufiger wurde. Hollywoodschauspieler und Stars aus dienlichen Verzerrung und des Selbstwertgefühls anerkennen,
Reality-TV-Shows – zumindest diejenigen, die in einer natio- ziehen sie es doch vor, die Wirkungen zweier Arten des Selbst-
nalen Radiosendung zu Gast waren und sich bereit erklärten, wertgefühls zu isolieren – des defensiven und des sicheren
einen anonymen Narzissmus-Test auszufüllen – waren beson- Selbstwertgefühls (Jordan et al. 2003; Kernis 2003; Ryan u. Deci
ders narzisstisch (Young u. Pinsky 2006). Auf kollektiver Ebene 2004). Das defensive Selbstwertgefühl ist etwas Zerbrechliches. Es
(Beispielitem: »Meine Gruppe ist außergewöhnlich«) sagt Nar- konzentriert sich darauf, sich selbst zu erhalten; dies lässt Ver-
zissmus eine höhere Neigung zu Drohungen und Rache voraus sagen und Kritik als bedrohlich erscheinen, so Jennifer Crocker
(de Zavala et al. 2009). und Lora Park (2004).
Ein sicheres Selbstwertgefühl ist weniger zerbrechlich, weil es
Narzissmus (»narcisissm«) – exzessive Selbstliebe und Selbstversunkenheit. weniger stark von äußeren Bewertungen abhängig ist. Es befreit
592 Kapitel 14 · Persönlichkeit

uns von dem Druck, Erfolg haben zu müssen, wenn wir akzep- jTrait-Theorien
tiert werden, wie wir sind, und nicht dafür, wie wir aussehen, wie 14.12 Wie bedienen sich Psychologen sog. Traits, um Persönlich-
reich wir sind und wie viel Beifall wir bekommen, und es versetzt keit zu beschreiben?
uns in die Lage, über unseren Tellerrand hinauszuschauen. In- 14.13 Was sind Persönlichkeitsinventare und was sind deren
dem wir uns in Beziehungen und Ziele vertiefen, die über uns Stärken und Schwächen in ihrer Funktion als Werkzeuge zur
selbst hinausgehen, fügen Crocker u. Park hinzu, können wir Erfassung von Traits?
ein sichereres Selbstwertgefühl und eine bessere Lebensqualität 14.14 Welche Traits scheinen die brauchbarste Information über
erreichen. Persönlichkeitsvarianten bereitzustellen?
14.15 Wird das Konzept der zeitlichen und situativen Stabilität
Prüfen Sie Ihr Wissen
der Persönlichkeitsmerkmale durch die Forschung gestützt?
5 Die Tendenz, Erfolg auf sich selbst zu attribuieren und
jSozial-kognitive Theorien
Misserfolg auf die Umstände oder Pech zu schieben,
nennt man . Die Tendenz zur Überschät- 14.16 Wer schlug zuerst eine sozial-kognitive Perspektive vor
zung der Wahrnehmung und Bewertung unserer äuße- und wie sehen jene Theoretiker die Entwicklung der Persön-
ren Erscheinung, Leistungen und Fehlleistungen durch lichkeit?
andere Menschen, nennt man . 14.17 Wie erkunden sozial-kognitive Forscher Verhalten und
5 Ein (sicheres/defensives) Selbstwert- mit welchen Kritikpunkten sind sie konfrontiert?
gefühl korreliert mit aggressivem und antisozialem
jDas Selbst
Verhalten. Ein (sicheres/defensives)
Selbstwertgefühl gibt uns ein gesünderes Selbstbild, 14.18 Wieso hat die Psychologie so viel Forschung über das
das uns erlaubt, über den Tellerrand hinauszuschauen Selbst hervorgebracht? Wie wichtig ist das Selbstwertgefühl für
und eine bessere Lebensqualität zu erreichen. die Psychologie und das menschliche Wohlbefinden?
14.19 Wie zeigt sich die selbstwertdienliche Verzerrung und
wie unterscheiden sich das defensive und das sichere Selbstwert-
gefühl?
14.6 Kapitelrückblick

14.6.1 Verständnisfragen 14.6.2 Schlüsselbegriffe

14 jPsychodynamische Theorien 4 Abwehrmechanismen


14.1 Wie führten Sigmund Freuds Behandlungen psychischer 4 Das Selbst
Störungen zu seiner Sichtweise über das Unbewusste? 4 Das Unbewusste
14.2 Wie betrachtete Freud Persönlichkeit? 4 Empirisch ermittelter Test
14.3 Von welchen Entwicklungsphasen ging Freud aus? 4 Erlernte Hilflosigkeit
14.4 Wie wehren sich Menschen, laut Freud, gegen Angst? 4 Es
14.5 Welche seiner Ideen verwarfen bzw. akzeptierten Freuds 4 Externale Kontrollüberzeugung
Anhänger? 4 Fixierung
14.6 Was sind projektive Tests, wie werden sie eingesetzt und 4 Freie Assoziation
welche Kritikpunkte gibt es an diesen? 4 Humanistische Theorien
14.7 Wie beurteilt die heutige Psychologie Freuds Psychoana- 4 Ich
lyse? 4 Identifizierung
14.8 Wie hat die moderne Forschung unser Verständnis des 4 Internale Kontrollüberzeugung
Unbewussten geprägt? 4 Kollektives Unbewusstes
4 Minnesota Multiphasic Personality Inventory
jHumanistische Theorien 4 Narzissmus
14.9 Was verstanden humanistische Psychologen unter Persön- 4 Ödipuskomplex
lichkeit und welches Ziel verbarg sich hinter deren Erforschung 4 Persönliche Kontrolle
von Persönlichkeit? 4 Persönlichkeit
14.10 Wie erfassten humanistische Psychologen die Selbstwahr- 4 Persönlichkeitsinventar
nehmung einer Person? 4 Positive Psychologie
14.11 Inwiefern haben humanistische Theorien die Psychologie 4 Projektiver Test
beeinflusst und welches sind die Kritikpunkte an ihnen? 4 Psychoanalyse
14.6 · Kapitelrückblick
593 14
4 Psychodynamische Theorien
4 Psychosexuelle Phasen
4 Reziproker Determinismus
4 Rorschach-Test
4 Selbstkontrolle
4 Selbstkonzept
4 Selbstverwirklichung
4 Selbstwertdienliche Verzerrung
4 Selbstwertgefühl
4 Sozial-kognitive Perspektive
4 Spotlight-Effekt
4 Terrormanagementtheorie
4 Trait
4 Über-Ich
4 Unbedingte Wertschätzung
4 Verdrängung

14.6.3 Weiterführende deutsche Literatur

Stemmler, G., Hagemann, D., Amelang, M. & Bartussek, D. (2010). Differen-


tielle Psychologie und Persönlichkeitsforschung (7. Aufl.). Stuttgart:
Kohlhammer.
Asendorpf, J. & Neyer, J. (2012). Psychologie der Persönlichkeit (5. Aufl.).
Heidelberg: Springer.
Auhagen, A. E. (2008). Positive Psychologie. Anleitung zum »besseren« Leben.
Weinheim: Beltz.
Fisseni, H.-J. (2003). Persönlichkeitspsychologie (5. Aufl.) Göttingen: Hogrefe.
Greve, W. (2000). Psychologie des Selbst. Weinheim: Beltz.
Roth, G. (2013). Persönlichkeit, Entscheidung und Verhalten: Warum es so
schwierig ist, sich und andere zu ändern. Stuttgart: Klett-Cotta.
595 15

Sozialpsychologie
David G. Myers

15.1 Soziales Denken – 596


15.1.1 Der fundamentale Attributionsfehler – 597
15.1.2 Einstellungen und Handlungen – 598

15.2 Sozialer Einfluss – 603


15.2.1 Konformität: Sozialem Druck nachgeben – 604
15.2.2 Gehorsam: Befehle befolgen – 607
15.2.3 Gruppeneinfluss – 612

15.3 Soziale Beziehungen – 618


15.3.1 Vorurteil – 618
15.3.2 Aggression – 626
15.3.3 Interpersonale Anziehung – 633
15.3.4 Altruismus – 642
15.3.5 Konflikte und Friedensstiftung – 645

15.4 Kapitelrückblick – 651


15.4.1 Verständnisfragen – 651
15.4.2 Schlüsselbegriffe – 651
15.4.3 Weiterführende deutsche Literatur – 652

D. G. Myers, Psychologie,
DOI 10.1007/978-3-642-40782-6_15, © Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2014
596 Kapitel 15 · Sozialpsychologie

Dirk Willems musste sich 1569 entscheiden. Da er als Mit- nicht allein leben«, stellte der Schriftsteller Herman Melville fest.
glied einer religiösen Minderheit verfolgt und mit Folter und »Unser Leben ist von Tausenden unsichtbarer Fäden durch-
Tod bedroht wurde, brach er aus der Haft in Asperen, Holland, zogen.« Sozialpsychologen erforschen diese Verbindungen, in-
aus und floh über einen zugefrorenen Teich. Der stärkere und dem sie wissenschaftlich untersuchen, wie wir übereinander
schwerere Kerkermeister verfolgte ihn, brach dabei jedoch auf denken, uns gegenseitig beeinflussen und in welcher Beziehung
dem Eis ein und bettelte um Hilfe, da er nicht mehr heraus- wir zueinander stehen.
klettern konnte. Nur ein kleines Stück von der Freiheit entfernt
handelte Willems in einem Akt absoluter Selbstlosigkeit. Er
kehrte um und rettete seinen Verfolger, welcher ihn seinen 15.1 Soziales Denken
Anordnungen folgend zurück ins Gefängnis brachte. Einige
Wochen später wurde Willems dazu verurteilt »durch Feuer
? 15.1 Was erforschen Sozialpsychologen? Wie erklären wir
bis zum Tod hingerichtet zu werden«. In Gedenken an sein
das Verhalten anderer und unser eigenes?
Martyrium ist heute in Asperen eine Straße zu Ehren des Volks-
helden benannt (Toews 2004; . Abb. 15.1). Was bringt Menschen Persönlichkeitspsychologen (7 Kap. 14) konzentrieren sich auf
dazu, Mitglieder religiöser Minderheiten so wie Dirk Willems die Person. Sie untersuchen Persönlichkeitsfaktoren und deren
zu verachten und sich ihnen gegenüber so gemein zu ver- Wechselwirkungen und wollen so erklären, warum unterschied-
halten? Und welche Motivation steckte hinter der Selbstlosig- liche Menschen in einer bestimmten Situation, so wie der, in der
keit von Willems’ Verhalten und dem Verhalten so vieler anderer, sich Willems befand, unterschiedlich handeln. (Hätten Sie dem
die beim Versuch, andere zu retten, starben? Was bringt uns Kerkermeister aus dem eisigen Wasser geholfen?)
tatsächlich dazu, gegenüber anderen freundlich und großzügig Sozialpsychologen hingegen legen ihren Fokus auf die
zu sein? Situation. Sie untersuchen soziale Einflüsse, die erklären, warum
Wie solche Beispiele zeigen, sind wir Menschen soziale ein und dieselbe Person in unterschiedlichen Situationen unter-
Geschöpfe. Wir vermuten in unserem Nächsten das Beste oder schiedlich handelt. Hätte sich der Kerkermeister unter anderen
das Schlimmste. Und je nach Einstellung nähern wir uns ihm Bedingungen eventuell anders verhalten und hätte Willems
mit geballten Fäusten oder mit offenen Armen. »Wir können laufen lassen?

15

. Abb. 15.1 Ein Kupferstich von Dirk Willems vom dänischen Künstler Jan Luyken. (Aus dem Märtyrerspiegel, 1685; this image is in the public domain
because its copyright has expired)
15.1 · Soziales Denken
597 15
Sozialpsychologie (»social psychology«) – die wissenschaftliche Unter- westlichen Staaten neigen besonders stark dazu, das Verhalten
suchung davon, wie wir übereinander denken, uns gegenseitig beeinflussen den Veranlagungen von Menschen zuzuschreiben. In den öst-
und in welcher Beziehung wir zueinander stehen.
lichen asiatischen Kulturen z. B. sind die Menschen empfäng-
licher für die Wirkungskraft der Situation (Heine u. Ruby 2010;
15.1.1 Der fundamentale Attributionsfehler Kitayama et al. 2009). Dieser Unterschied wurde in Experi-
menten deutlich, in denen die Versuchspersonen verschiedene
Unser Verhalten in sozialen Situationen basiert auf unserer Szenen betrachten sollten, wie beispielsweise einen großen Fisch
Wahrnehmung von sozialen Situationen. Nachdem Fritz Heider beim Schwimmen. Amerikaner konzentrierten sich mehr auf
(1958) untersucht hatte, wie Menschen das Verhalten ihrer Mit- den einzelnen Fisch während Japaner die ganze Szene beachteten
menschen erklären, stellte er eine Attributionstheorie vor: Wir (Chua et al. 2005; Nisbett 2003).
können das Verhalten anderer entweder inneren Veranlagungen Wir alle begehen den fundamentalen Attributionsfehler. Als
(dispositionale Attribution) oder äußeren Situationen (situatio- Sie überlegten, ob Ihr Psychologiedozent schüchtern oder kon-
nale Attribution) zuschreiben. Beispielsweise stellen wir im Klas- taktfreudig ist, haben Sie vielleicht bisher gefolgert, dass er über
senzimmer fest, dass Julia nur selten etwas sagt; Jonas redet beim eine kontaktfreudige Persönlichkeit verfügt. Aber Sie kennen
Kaffeetrinken ohne Punkt und Komma. Schreiben wir ihr Ver- Ihren Dozenten nur aus dem Hörsaal, aus einer Situation, die
halten ihren persönlichen Veranlagungen zu, kommen wir zu kontaktfreudiges Verhalten erfordert. Der Dozent beobachtet
dem Schluss, dass Julia schüchtern ist und Jonas kontaktfreudig. sein eigenes Verhalten in vielen verschiedenen Situationen – im
Da Menschen dauerhafte Persönlichkeitsmerkmale haben, tref- Hörsaal, aber auch zu Hause, bei Besprechungen oder auf Reisen
fen solche Attributionen manchmal zu. Allerdings unterliegen – und er könnte vielleicht sagen: »Ich und kontaktfreudig? Das
wir oft dem fundamentalen Attributionsfehler (Ross 1977), hängt ganz von der Situation ab. Im Hörsaal oder mit guten
indem wir den Einfluss der Persönlichkeit überschätzen und die Freunden, ja, da bin ich kontaktfreudig. Aber in Versammlungen
Bedeutung von Situationen unterschätzen. Im Klassenzimmer ist bin ich wirklich eher schüchtern.« Außerhalb ihrer zugewiesenen
Jonas möglicherweise ebenso schüchtern wie Julia. Wenn man Rollen verhalten sich Professoren weniger professoral, Präsiden-
Julia auf eine Party mitnimmt, erkennt man die ruhige Klassen- ten weniger präsidentenhaft und Anwälte weniger legalistisch.
kameradin vielleicht kaum wieder. Folglich sind wir, wenn wir unser eigenes Verhalten erklären,
empfindsam dafür, wie sich das Verhalten je nach Situation
Attributionstheorie (»attribution theory«) – beschreibt, dass wir das
Verhalten eines Menschen erklären, indem wir die Verantwortung dafür ändert (Idson u. Mischel 2001). (Es gibt eine wichtige Ausnahme:
entweder der Situation oder der Veranlagung des betreffenden Men- Bewusst initiierte und beachtenswerte Handlungen attribuieren
schen zuschreiben. wir häufiger auf unsere eigenen triftigen Gründe als auf die Situa-
Fundamentaler Attributionsfehler (»fundamental attribution error«) – tion [Malle 2006; Malle et al. 2007].) Wir achten auch genau auf
Tendenz, dass ein Beobachter bei der Analyse des Verhaltens eines Men-
die jeweilige Situation, wenn wir das Verhalten von Leuten er-
schen den Einfluss der Situation unter- und den Einfluss der persön-
lichen Veranlagung überschätzt.
klären, die wir gut kennen und die wir schon in verschiedenen
Kontexten erlebt haben. Am wahrscheinlichsten erliegen wir
Ein Versuch von Napolitan und Goethals (1979) veranschau- dem fundamentalen Attributionsfehler, wenn wir sehen, wie
licht dieses Phänomen. Sie ließen jeweils einen Studenten des ein Fremder sich falsch verhält. Wenn wir nur beobachten, wie
Williams College mit einer jungen Frau sprechen, die sich ent- dieser rotgesichtige Fan den Schiedsrichter in der Hitze des Ge-
weder unnahbar und kritisch oder warmherzig und freund- fechts anschreit, würden wir annehmen, er sei ein schlechter
lich verhielt. Vorher sagten sie der einen Hälfte der Studen- Mensch. Außerhalb des Stadions kann er hingegen ein guter
ten, dass das Verhalten der Frau spontan sei. Der anderen Nachbar und ein wunderbarer Vater sein.
Hälfte sagten sie die Wahrheit – dass sie beauftragt worden Forscher kehrten die Perspektiven von Handelnden und Be-
war, sich freundlich (oder unfreundlich) zu verhalten. Was obachtern um. Sie filmten einige Situationen und zeigten den
glauben Sie, welche Auswirkung es hatte, dass man die Wahrheit Versuchsteilnehmern jeweils ein Video aus der Perspektive der
sagte? Es gab gar keine Auswirkung. Wenn sich die Frau freund- handelnden Person und eines aus der Perspektive der beobach-
lich verhielt, folgerten sie daraus, dass sie ein warmherziger tenden Person. Dadurch, dass die Versuchsteilnehmer dieselbe
Mensch sei. Verhielt sie sich unfreundlich, zogen sie daraus den Szene aus einer anderen Perspektive sahen, kehrten sich auch
Schluss, dass sie tatsächlich auch unfreundlich war. Anders ge- ihre Attributionen um (Lassiter u. Irvine 1986; Storms 1973).
sagt, schrieben sie ihr Verhalten auch dann ihrer persönlichen Wenn sie die Welt aus der Perspektive des Handelnden sahen,
Veranlagung zu, wenn ihnen gesagt wurde, dass ihr Verhalten stuften sie den Einfluss situativer Faktoren als bedeutsamer ein.
situationsbedingt sei, dass sie sich also nur zu Versuchszwecken (Wenn wir handeln, sehen wir in die Umwelt: Wir sehen die
so verhielt. Gesichter der anderen und nicht unsere eigenen.) Wenn sie die
Der fundamentale Attributionsfehler tritt in einigen Kultu- Sichtweise des Beobachters einnahmen, wurde den Handelnden
ren häufiger auf als in anderen. Menschen in individualistischen ihr persönlicher Stil bewusster.
598 Kapitel 15 · Sozialpsychologie

. Abb. 15.2 (Copyright © The New Yorker Collection, 1980, J. B. Handelsman / cartoonbank.com)

Wenn wir darüber nachdenken, wie wir vor 5 oder 10 Jahren Politisch aufgeschlossene Menschen (und Sozialwissen-
waren, ändern wir auch unsere Perspektive. Unser momentanes schaftler) machen eher frühere und momentane Situationen da-
Selbst verhält sich wie ein Beobachter und schreibt unser ver- für verantwortlich: »Wenn Sie oder ich mit derselben mangel-
gangenes Verhalten vor allem unserer Persönlichkeit zu (Pronin haften Schulbildung, demselben Mangel an Gelegenheiten und
u. Ross 2006). In 5 bis 10 Jahren wiederum kann es für uns so derselben Diskriminierung leben müssten, würden wir uns
wirken, als sei unser jetziges Selbst eine völlig andere Person. dann nicht genauso verhalten?« Um den Terrorismus zu ver-
Unsere personen- oder situationsbezogenen Attributionen stehen und ihn zu verhindern, sagen sie, sollte man sich mit
können wichtige Konsequenzen haben (Fincham u. Bradbury den Situationen beschäftigen, die Terroristen hervorbringen.
1993; Fletcher et al. 1990). Man muss entscheiden, ob das freund- Man sollte lieber die Sümpfe austrocknen, als die Moskitos tot-
15 liche Verhalten eines anderen auf romantischen oder sexuellen zuschlagen.
Absichten beruht. Das Gericht muss bewerten, ob eine Schieße- Merken Sie sich: Unsere Attributionen in Bezug auf indivi-
rei durch Feindseligkeit oder Notwehr ausgelöst wurde. Ein duelle Veranlagungen oder auf die jeweilige Situation haben reale
Wähler muss beurteilen, ob ein Kandidat seine Wahlversprechen Konsequenzen.
einhält oder nicht. In einer Beziehung muss man überlegen, ob
der Partner eine spitze Bemerkung macht, weil er einen schlech-
ten Tag hatte oder weil er eine gefühllose Person ist. 15.1.2 Einstellungen und Handlungen
7 von 10 College-Studentinnen haben schon einmal erlebt,
dass ihre Freundlichkeit von Männern als sexuelle Annäherung ? 15.2 Beeinflussen unsere Gedanken unser Handeln
fehlinterpretiert wurde. oder beeinflussen unsere Handlungen, was wir denken?

Oder denken Sie an die politischen Attributionseffekte: Wie er- Einstellungen sind Gefühle, die auf unseren Überzeugungen
klären Sie sich Armut oder Arbeitslosigkeit? Forscher in Groß- beruhen und uns dazu prädisponieren, gegenüber Dingen, Men-
britannien, Indien, Australien und den USA (Furnham 1982; schen und Ereignissen in einer bestimmten Weise zu reagieren.
Pandey et al. 1982; Wagstaff 1982; Zucker u. Weiner 1993) be- Wenn wir glauben, dass jemand uns bedroht, fühlen wir uns
richten, dass politisch Konservative dazu neigen, diese sozialen möglicherweise ängstlich und verspüren Ärger gegenüber dieser
Probleme der persönlichen Veranlagung der Armen und Ar- Person und verhalten uns deswegen abwehrend ihr gegenüber.
beitslosen selbst zuzuschreiben (. Abb. 15.2; . Abb. 15.3). »Man Die Verbindung zwischen unseren Einstellungen und unserem
bekommt im Allgemeinen das, was man verdient. Wer nicht Verhalten ist bidirektional: Unsere Einstellungen beeinflussen
arbeitet, ist oft ein Schmarotzer. Jeder, der die Initiative ergreift, unser Verhalten. Unser Verhalten wiederum beeinflusst unsere
kann auch etwas erreichen.« Einstellungen.
15.1 · Soziales Denken
599 15

. Abb. 15.3 Eine Frage der Attribution. Ob wir Armut und Obdachlosigkeit durch soziale Umstände oder Persönlichkeitsmerkmale verursacht sehen,
beeinflusst unsere politische Einstellung und spiegelt diese wieder. (© Archiv Caritasverband Hannover e.V. [Jan Liske])

Einstellung (»attitude«) – Gefühle, oft von unseren Überzeugungen beein- können uns Beweise für den Temperaturanstieg, schmel-
flusst, die Menschen prädisponieren, in einer bestimmten Art und Weise auf zende Gletscher, den Anstieg des Meeresspiegels und
Dinge, Menschen und Ereignisse zu reagieren.
eine Verschiebung der Flora und Fauna nach Norden dar-
legen. Da dies mehr Nachdenken erfordert und weniger
Einstellungen können unsere Handlungen oberflächlich ist als die Informationsverarbeitung der peri-
beeinflussen pheren Route, sind diese Informationen beständiger
Betrachten wir die Debatte um den Klimawandel. Auf der einen und es ist wahrscheinlicher, dass sie unser Verhalten beein-
Seite stehen Aktivisten gegen den Klimawandel: Das Magazin flussen.
Science meint, dass »fast alle Klimaforscher sich einig sind, dass
Periphere Route der Überzeugung (»peripheral route persuasion«) –
die Erderwärmung eine Bedrohung darstellt« (Kerr 2009). »Die tritt auf, wenn man durch nebensächliche Hinweise beeinflusst wird,
Erderwärmung ist ein Fakt, sie ist gefährlich und die gesamte wie beispielsweise die Attraktivität eines Redners.
Welt muss unverzüglich darauf reagieren.« Auf der anderen Seite Zentrale Route der Überzeugung (»central route to persuasion«) –
gibt es Personen, die den Klimawandel leugnen: Zwischen 2006 tritt auf, wenn am Thema interessierte Menschen sich auf die Argumente
konzentrieren und positiv darauf reagieren.
und 2010 stieg die Zahl der Personen, die in Meinungsumfragen
angaben, dass die Debatte um den Klimawandel »übertrieben« Menschen, die uns überzeugen wollen, versuchen unser Verhal-
sei, von 30 auf 48% (Newport 2010). In dem Wissen, dass die ten dadurch zu beeinflussen, dass sie unsere Einstellung ändern.
öffentliche Meinung auch Einfluss auf die Politik hat, versuchen Aber auch andere Faktoren – unter anderem die Situation – be-
Aktivisten auf beiden Seiten, andere von ihrer Einstellung zu einflussen unser Verhalten. Starker sozialer Druck kann die Ver-
überzeugen. Überzeugung kann auf zwei verschiedenen Wegen bindung zwischen Einstellung und Verhalten schwächer werden
erfolgen: lassen (Wallace et al. 2005). So werden Politiker in Abstimmungen
4 Die periphere Route der Überzeugung beruht nicht auf trotz persönlicher Vorbehalte manchmal gemäß den Wünschen
systematischen Denkvorgängen. Stattdessen bringt sie ihrer Anhänger stimmen (Nagourney 2002). In solchen Situa-
schnelle Ergebnisse hervor, da Menschen auf nebensäch- tionen ist der äußere Druck stärker als der Einfluss von Einstel-
liche Hinweise (wie Anerkennung von Autoritätspersonen) lungen auf das Verhalten.
reagieren und deswegen vorschnelle Urteile fällen. Eine Trotzdem können Einstellungen tatsächlich das Verhalten
Parfümwerbung kann uns beispielsweise mit Bildern von beeinflussen, wenn andere Einflüsse gering sind, wenn die Ein-
schönen, verliebten Menschen locken. stellung stabil ist und speziell auf das Verhalten abzielt und wenn
4 Überzeugung aufgrund der zentralen Route hingegen be- wir uns unserer Einstellungen deutlich bewusst sind (Glasman u.
ruht auf Argumenten und Beweisen, die unsere Gedanken Albarracín 2006). In einem Experiment wurden sehr lebendige,
positiv beeinflussen sollen. Meist geschieht dies bei von leicht abzurufende Informationen benutzt, um die Versuchsper-
Natur aus analytisch denkenden Menschen oder wenn man sonen davon zu überzeugen, dass das Hautkrebsrisiko bei lang
sich genau mit einem Thema befasst. Umweltschützer andauernden Bräunungszeiten steigt. Einen Monat später hatten
600 Kapitel 15 · Sozialpsychologie

zurück und waren überzeugt davon, dass der Kommunismus gut


für Asien war.
Wie erreichten die Chinesen diese beeindruckenden Ergeb-
nisse? Ein Hauptbestandteil ihres Programms war die wirkungs-
volle Anwendung der Foot-in-the-Door-Technik. Diese Vorge-
hensweise bringt die Menschen, die einer belanglosen Handlung
zustimmen, dazu, später an einer Handlung mit weitreichen-
deren Konsequenzen mitzuwirken. Die Chinesen begannen mit
harmlosen Forderungen und steigerten ihre Forderungen an die
Gefangenen allmählich (Schein 1956). Nachdem die Kommu-
nisten die Gefangenen »trainiert« hatten, triviale Aussagen zu
machen oder niederzuschreiben, baten sie sie, etwas Wichtigeres
abzuschreiben oder es zu entwerfen, wie z. B. die Mängel des
Kapitalismus zu notieren. Anschließend nahmen die Gefange-
nen, vielleicht um bestimmte Vorrechte zu bekommen, an Grup-
pendiskussionen teil, schrieben Selbstkritiken oder machten
öffentliche Geständnisse. Nachdem sie das getan hatten, korri-
gierten sie häufig ihre Meinung in Richtung auf eine größere
Übereinstimmung mit ihren öffentlichen Handlungen. Die Sache
verhält sich ganz einfach, stellt Cialdini (1993) fest: Um Leute
. Abb. 15.4 Einstellungen folgen dem Verhalten. Kooperative Hand-
dazu zu bringen, einer großen Sache zuzustimmen, muss man
lungen, wie etwa jene, die Menschen im Mannschaftssport ausführen,
fördern gegenseitige Sympathie. Solche Einstellungen dienen wiederum »klein anfangen und dann darauf aufbauen«. Eine vergleichs-
einem positiven Verhalten. (© photos.com) weise unbedeutende Handlung lässt eine weitere Handlung
leichter werden. Unterliegen Sie einer Versuchung, wird es bei
der nächsten Versuchung für Sie schwieriger sein zu widerstehen.
72% Prozent der Teilnehmer – im Vergleich zu 16% in einer
Foot-in-the-Door-Technik (»foot-in-the-door phenomenon«) – Neigung
Wartelisten-Kontrollgruppe – eine hellere Haut (McClendon u. von Menschen, die zunächst einer bescheidenen Forderung zugestimmt
Prentice-Dunn 2001). Die Überzeugung änderte Einstellungen, haben, später auch einer weiter gehenden Forderung zuzustimmen.
wodurch sich das Verhalten änderte.
In Dutzenden von Experimenten wurden Menschen dazu ge-
Handlungen können unsere Einstellungen bracht, ihren Einstellungen zuwider zu handeln oder ihre eige-
beeinflussen nen moralischen Standards zu missachten. Aus Worten werden
15
Lassen Sie uns nun auf ein überraschenderes Prinzip eingehen: Überzeugungen. Wenn man Menschen dazu verleitet, einem
Menschen werden nicht nur bisweilen für etwas eintreten, wovon unschuldigen Opfer Schaden zuzufügen – durch hässliche Be-
sie überzeugt sind, sie werden allmählich an die Dinge glauben, merkungen oder durch die Verabreichung elektrischer Strom-
für die sie eingetreten sind. Zahlreiche Befunde bestätigen, dass stöße –, fangen sie an, ihr Opfer zu verachten. Ähnliches gilt,
Einstellungen dem Verhalten folgen (. Abb. 15.4). wenn man dazu gebracht wird, schriftlich oder mündlich eine
Position zu vertreten, an der man vorher Zweifel hatte. Man be-
jFoot-in-the-Door-Technik ginnt dann, seinen eigenen Worten Glauben zu schenken.
Wenn man Menschen dazu überredet, gegen ihre Überzeugun- Glücklicherweise funktioniert das Prinzip »Die Einstellung
gen zu handeln, kann dies einen Einfluss auf ihre Einstellung folgt dem Verhalten« nicht nur bei schlechten, sondern auch
haben. Während des Korea-Kriegs wurden viele US-Soldaten in bei guten Taten. Die Foot-in-the-Door-Technik ist hilfreich da-
Kriegsgefangenenlagern von chinesischen Kommunisten fest- bei, karitative Beiträge, Blutspenden und Produktverkäufe zu
gehalten. Ohne brutale Mittel anzuwenden, sicherten sich die fördern. In einem Versuch gaben Forscher vor, sich für mehr
Chinesen die Mitarbeit Hunderter ihrer Gefangenen durch ver- Sicherheit im Straßenverkehr einzusetzen, und baten Kalifornier,
schiedene Aktivitäten. Einige der Gefangenen führten lediglich in ihren Vorgärten ein großes, schlecht gestaltetes Schild mit der
Aufträge aus oder taten den Chinesen einen Gefallen. Andere Botschaft »Fahren Sie vorsichtig« aufstellen zu dürfen. Nur 17%
erklärten sich zu Aufrufen im Radio und falschen Geständnissen stimmten zu. Bei anderen Hausbesitzern brachten sie zunächst
bereit. Wieder andere spionierten ihre Mitgefangenen aus und eine kleine Bitte vor, nämlich ob sie es gestatten würden, dass
gaben militärische Informationen preis. Als der Krieg zu Ende sie ein kleines Schild mit der Aufschrift »Seien Sie ein sicherer
war, entschieden sich 21 Gefangene dafür, bei den Kommunisten Fahrer« aufstellen. Fast alle stimmten zu. Als die Forscher zwei
zu bleiben. Viele kehrten nach einer »Gehirnwäsche« nach Hause Wochen später zurückkamen und sie darum baten, das große,
15.1 · Soziales Denken
601 15

. Abb. 15.5a,b Die Macht der Situation. In der Stanford-Prison-Simulation von Philip Zimbardo (1972), einer Gefängnissituation voller Sprengkraft (a),
wurde bei denjenigen, denen eine Wärterrolle zugewiesen wurde, abwertendes Verhalten ausgelöst. Im realen Leben missbrauchten im Jahr 2004 US-Militär-
wachen irakische Häftlinge im von Amerikanern geleiteten Gefängnis Abu Ghraib (b). Für Zimbardo (2004, 2007) war es in diesem Fall eher eine ganze Kiste
voller fauler Äpfel als einige einzelne, die zu solchen Grausamkeiten führten: »Wenn ganz gewöhnliche Menschen an einen neuartigen bösen Ort (wie
es etwa die meisten Gefängnisse sind) versetzt werden, wird die Situation gewinnen und die Menschen verlieren.« (a: © Philip G. Zimbardo, Inc.; b: © picture
alliance / ASSOCIATED PRESS / AP Images)

hässliche Schild in ihren Vorgärten aufstellen zu dürfen, stimm- teilweise in Versuchssituationen, teilweise aber auch in Alltags-
ten 76% zu (Freedman u. Fraser 1966). Damit ihnen jemand situationen, wie etwa vor und nach dem Antritt einer neuen
einen großen Gefallen tut, ist es also oft hilfreich »den Fuß in die Stelle.
Tür zu stellen«: Fangen Sie klein an und bauen Sie darauf auf.
Einstellungen gegenüber Ethnien folgen auf ähnliche Weise
» Fake it until you make it.
Redewendung der Anonymen Alkoholiker
dem Verhalten. In den Jahren unmittelbar nach der Aufhebung
der Rassentrennung in den USA und nach der Verabschiedung In einer bekannten Studie, in der männliche Studierende Zeit in
der Bürgerrechtsgesetze 1964 brachten weiße Amerikaner immer einem simulierten Gefängnis verbrachten, verwandelte sich ein
weniger rassistische Vorurteile zum Ausdruck. Und in dem Rollenspiel in reales Leben (Zimbardo 1972). Nach dem Zufalls-
Maße, wie sich die Amerikaner in unterschiedlichen Regionen in prinzip ernannte der Psychologe Philip Zimbardo einige der frei-
ihren Verhaltensweisen aneinander anglichen – aufgrund der willigen Teilnehmer zu Wachpersonal; er gab ihnen Uniformen,
einheitlicheren landesweiten Standards gegen Diskriminierung Knüppel und Pfeifen und leitete sie an, bestimmte Regeln durch-
–, fingen sie auch an, ähnlicher zu denken. Experimente bestäti- zusetzen. Der Rest wurde zu Gefangenen; sie wurden in leere
gen diese Beobachtung: Moralisches Handeln festigt moralische Zellen gesperrt und dazu gezwungen, erniedrigende Kleidung zu
Überzeugungen. tragen. Nach ein oder zwei Tagen, an denen die Freiwilligen
selbstbewusst ihre Rollen »spielten«, wurde die Situation real –
jRollenverhalten beeinflusst Einstellungen allzu real. Die meisten Wachleute entwickelten abschätzige Ein-
Wenn Sie eine neue Rolle einnehmen – wenn Sie zu studieren stellungen; einige führten grausame und erniedrigende Routinen
beginnen, heiraten oder eine neue Arbeit antreten –, sind Sie ein. Nach und nach brachen die Gefangenen zusammen, rebel-
bestrebt, sich an die gesellschaftlichen Vorgaben zu halten. Zu- lierten oder resignierten, was Zimbardo dazu veranlasste, die
nächst mag sich Ihr Verhalten unecht anfühlen, weil Sie eine Studie nach nur 6 Tagen abzubrechen (. Abb. 15.5).
Rolle spielen. Die ersten Wochen im Militärdienst fühlen sich Die griechische Militärjunta bediente sich in den frühen 70er
irgendwie künstlich an, als täte man nur so, als sei man ein Soldat. Jahren der Effekte des Rollenspiels, um eine Gruppe von Män-
Die ersten Wochen einer Ehe mögen sich anfühlen, als würden nern zu Folterern auszubilden (Staub 1989). Die Indoktrinierung
Sie »Verheiratetsein« spielen. Nach einer Weile geschieht jedoch der Männer erfolgte in kleinen Schritten. Zunächst stand der
Folgendes: Was als Theaterspiel auf der Bühne des Lebens be- Auszubildende vor den Verhörzellen Wache – der Foot-in-the-
gann, wird zum Leben selbst. Forscher bestätigten diesen Effekt Door-Effekt. Dann stand er Wache in der Zelle. Erst danach sollte
dadurch, dass sie die Einstellungen von Menschen vor und nach er aktiv in das Verhör und die Folter einbezogen werden. Wir
der Übernahme einer neuen Rolle untersuchten. Dies geschah werden langsam zu dem, was wir tun.
602 Kapitel 15 · Sozialpsychologie

» Betreffend Lyndon Johnsons (US-Präsident) Einsatz für lich selbst zu glauben. In solchen Situationen ist es, als würden
den Vietnamkrieg: ›Ein Präsident, der seine Handlungen nur wir denken: »Wenn ich mich dafür entscheide, es zu tun (oder
vor der Öffentlichkeit rechtfertigt, könnte dazu gebracht zu sagen), muss ich auch daran glauben.« Je weniger wir uns
werden, sie zu ändern. Ein Präsident, der seine Handlungen genötigt fühlen und je mehr Verantwortung wir für eine schwie-
vor sich selbst rechtfertigt in der Annahme, dass er recht rige Handlung empfinden, desto mehr Dissonanz nehmen wir
hat, wird sich nie selbst korrigieren.‹ wahr. Je mehr Dissonanz wir wahrnehmen, desto geneigter sind
Carol Tavris und Elliot Aronson, Ich habe recht, auch wenn ich wir, nach Harmonie zu streben, indem wir beispielsweise unsere
mich irre, 2007 Einstellungen verändern, um unser Tun dadurch eher recht-
fertigen zu können.
Dennoch sind Menschen verschieden. Sowohl in Zimbardos Der Wunsch, kognitive Dissonanz zu reduzieren, kann auch
Gefängnisexperiment als auch in anderen Situationen, die bös- die Einstellung der Amerikaner bezüglich der U.S.-Invasion
artiges Verhalten bewirken, sind manche Personen der Macht im Irak erklären. Die Invasion erfolgte hauptsächlich unter der
der Situation erlegen und andere nicht (Carnahan u. McFarland Annahme, dass man durch die Massenvernichtungswaffen von
2007; Haslam u. Reicher 2007; Mastroianni u. Reed 2006; Saddam Hussein bedroht würde. Als der Krieg begann, sagten
Zimbardo 2007). Es besteht eine Interaktion zwischen der Situa- nur 38% der befragten Amerikaner, der Krieg sei gerechtfer-
tion und der Person. Ebenso wie Wasser zwar Salz auflöst, aber tigt, auch wenn der Irak keine Massenvernichtungswaffen habe
nicht Sand, machen schlimme Situationen manche Menschen zu (Gallup 2003); und fast 80% glaubten, dass man derartige Waffen
faulen Äpfeln, während andere widerstehen (Johnson 2007). finden würde (Duffy 2003; Newport et al. 2003). Als keine
Massenvernichtungswaffen gefunden wurden, empfanden viele
jKognitive Dissonanz: Freisetzung von Spannung Amerikaner eine Dissonanz, die verstärkt wurde durch ein Be-
Bisher haben wir erfahren, dass Handlungen unsere Einstellun- wusstsein für die Kosten und die menschlichen Verluste, durch
gen beeinflussen können: Manchmal werden Gefangene zu Kol- chaotische Szenen im Irak und durch die aufkommenden anti-
laborateuren, Zweifler zu Gläubigen und gesetzestreue Wachen amerikanischen und proterroristischen Stimmungen in man-
zu Misshandlern. Aber warum? Eine Erklärung hierfür ist die chen Teilen der Welt.
Folgende: Wenn wir uns bewusst sind, dass unsere Einstellungen Um die Dissonanz zu verringern, revidierten einige Men-
und Handlungen nicht miteinander übereinstimmen, erleben schen ihre Erinnerungen an den Grundgedanken, warum man
wir einen unangenehmen Spannungszustand oder eine kognitive in den Krieg gezogen war. Aus ihm wurde nun etwas, bei dem
Dissonanz. Um diese Spannung zu verringern, bringen wir oft unterdrückte Menschen befreit wurden und die Demokratie im
laut der von Leon Festinger vorgeschlagenen Theorie der kogni- Mittleren Osten gefördert wurde. Und es dauerte nicht lange, bis
tiven Dissonanz unsere Einstellungen in Einklang mit unseren die frühere Minderheitsmeinung zur vorherrschenden Meinung
Handlungen. wurde: 58% der Amerikaner sagten, sie unterstützten den Krieg,
15 auch wenn keine Massenvernichtungswaffen gefunden würden
Theorie der kognitiven Dissonanz (»cognitive dissonance theory«) –
besagt, dass wir handeln, um den unangenehmen Zustand (kognitive Dis- (Gallup 2003; . Abb. 15.6).
sonanz) zu verringern, den wir empfinden, wenn zwei unserer Gedanken Aus dem Prinzip, dass Einstellungen dem Verhalten folgen,
(Kognitionen) miteinander inkonsistent sind. Wenn beispielsweise unsere ergibt sich eine ermutigende Schlussfolgerung. Zwar können
bewusste Einstellung unseren Handlungen widerspricht, können wir die
wir nicht alle unsere Gefühle unmittelbar steuern, doch wir
Dissonanz, die sich daraus ergibt, verringern, indem wir unsere Einstellung
ändern. können sie beeinflussen, indem wir unser Verhalten ändern.
(Erinnern Sie sich aus 7 Kap. 13 an die emotionalen Auswir-
Es gibt Dutzende von Versuchen zum Phänomen der kogni- kungen des Gesichtsausdrucks und der Körperhaltungen.) Wenn
tiven Dissonanz. Menschen wurden dazu gebracht, Verantwor- wir uns gerade schlecht fühlen, hilft es möglicherweise, wozu
tung für ein Verhalten zu übernehmen, das nicht mit ihren Ein- Verhaltenstherapeuten raten, positiver und mit mehr Selbst-
stellungen übereinstimmte und das absehbare Konsequenzen achtung von uns zu sprechen und uns weniger schlecht zu
hatte. Als Teilnehmer eines dieser Experimente sind Sie vielleicht machen. Wenn wir lieblos sind, können wir dies ändern, indem
für mickrige 2 Euro bereit, einem Forscher zu helfen, indem Sie wir uns verhalten, als wären wir liebevoll. Wir können wohl-
in einem Aufsatz Thesen vertreten, die nicht Ihrer Meinung ent- überlegt handeln, Zuneigung zum Ausdruck bringen und
sprechen (vielleicht treten Sie für höhere Studiengebühren ein). andere bestätigen. Das erklärt, warum Jugendliche, die sich
Wenn Sie sich für Ihre Aussagen (die nicht mit Ihrer Einstellung wohltätig engagieren, auch eine mitfühlendere Persönlichkeit
übereinstimmen) verantwortlich fühlen, nehmen Sie möglicher- annehmen. »Nehmt eine Tugend an, die Ihr nicht habt«, sagt
weise Dissonanz wahr, insbesondere, wenn Sie davon ausgehen, Hamlet zu seiner Mutter. »Denn die Übung kann fast das Ge-
dass ein Angestellter der Universitätsverwaltung Ihren Aufsatz präge der Natur verändern.« Aus Täuschung kann Realität
liest. Wie könnten Sie diese unangenehme Dissonanz verrin- werden. Das Verhalten verändert den Charakter. Wir werden,
gern? Eine Möglichkeit wäre, Ihren unwahren Worten allmäh- was wir tun.
15.2 · Sozialer Einfluss
603 15

. Abb. 15.6 (Copyright © The New Yorker Collection, 2004, Robert Mankoff / cartoonbank.com)

» Sitzen Sie den ganzen Tag in einer trübseligen Haltung da, 15.2 Sozialer Einfluss
seufzen Sie und antworten Sie auf alles mit einer düsteren
Stimme, und Ihre Melancholie wird bleiben … Wenn wir Die große Lektion der Sozialpsychologie ist die Erkenntnis, wie
unerwünschte emotionale Tendenzen in uns überwinden ungeheuer groß die Wirkung des sozialen Einflusses ist. Dieser
möchten, müssen wir … durch die äußeren Bewegungen Einfluss wird an unserer Konformität, unserem Gehorsam und
der konträren Stimmungen hindurchgehen, die wir lieber am Einfluss von Gruppen deutlich. Phänomene wie Selbstmord,
kultivieren würden. Bombendrohungen, Flugzeugentführungen und UFO-Sichtun-
William James, Principles of Psychology, 1890 gen haben seltsamerweise eins gemeinsam: Sie treten oft in
Gruppen auf. Auf dem Campus tragen wir Jeans; in der New
Merken Sie sich: Böse Taten formen das Selbst. Aber das trifft Yorker Wall Street oder der Frankfurter Börse tragen wir Anzug
auch auf gute Taten zu. Wenn Sie so handeln, als hätten Sie und Krawatte oder Kostüm: Das ist die Norm. Wenn wir wissen,
jemanden gern, dann werden Sie es bald tun. Wenn wir unser wie wir handeln müssen, wie wir uns zurechtmachen müssen,
Verhalten verändern, kann dies unser Denken und unsere Ge- wie wir reden müssen, geht das Leben problemlos vonstatten.
fühle verändern. Ausgerüstet mit dem Wissen um die Prinzipien der sozialen Ein-
flussnahme setzen sich Werbefachleute, Spendensammler und
Prüfen Sie Ihr Wissen
Mitarbeiter politischer Kampagnen das Ziel, Einfluss zu nehmen
5 Als Marco an einem Wintertag Auto fährt, kann er gerade auf das, was wir kaufen, spenden und wählen. Wenn Andersden-
noch einem Wagen ausweichen, der an einer roten kende nur unter sich und isoliert sind, werden sie möglicher-
Ampel weiterrutscht. »Fahr doch langsamer! Was für ein weise allmählich zu Rebellen, und aus den Rebellen werden viel-
schlechter Fahrer«, denkt er bei sich. Einige Augenblicke leicht Terroristen. Im Folgenden werden wir uns mit dem Ein-
später rutscht Marco selbst über eine Kreuzung und fluss solcher gesellschaftlicher Normen beschäftigen. Wie stark
stöhnt: »Oh je, die Straßenverhältnisse sind wirklich grau- sind sie? Wie funktionieren sie? Wann brechen wir sie?
enhaft. Die Stadt muss hier den Schneepflug mal ein-
setzen.« Welches sozialpsychologische Prinzip hat Marco
» Ist Ihnen je aufgefallen, wie ein gutes oder schlechtes
Beispiel andere zum Nachahmen verleitet? Wie ein falsch
gerade verdeutlicht? Erklären Sie, warum.
geparktes Fahrzeug anderen die Erlaubnis zu geben scheint,
5 Wie beeinflussen sich unsere Einstellungen und unser
es ebenso zu machen? Wie ein fremdenfeindlicher Witz
Verhalten gegenseitig?
Tür und Tor für viele weitere öffnet?
5 Wenn eine Person so handelt, dass dies im Widerspruch
Marian Wright Edelman, The Measure of Our Success, 1992
zu ihren Einstellungen steht und dann ihre Einstellungen
so verändert, dass sie zu diesen Handlungen passen, er-
klärt die Theorie der , wieso sie das tut.
604 Kapitel 15 · Sozialpsychologie

. Abb. 15.7 Konformismus in Nischen. Bewahren diese jungen Menschen ihre Individualität, oder identifizieren sie sich mit anderen Personen aus der
gleichen Mikrokultur? (© Philartphace / iStockphoto)

15.2.1 Konformität: Sozialem Druck nachgeben dem Fuß wackelte. Andere Studien zeigten, dass man sogar seinen
Sprachstil daran anpasst, was man gerade liest oder wem man
gerade zuhört (Ireland u. Pennebaker 2010). Vielleicht sollte es uns
? 15.3 Was ist automatische Mimikry? Wie können Expe-
dann nicht überraschen, dass komplexe Studien zeigen, dass sich
rimente zur Konformität die Macht von sozialem Einfluss
Übergewicht, Schlafprobleme, Drogenmissbrauch, Einsamkeit
demonstrieren?
und auch Glück durch soziale Netzwerke verbreiten (Christakis u.
Fowler 2009). Wir und unsere Freunde bilden ein soziales System.
Automatische Mimikry
Fische schwimmen und Vögel fliegen in Schwärmen. Und auch
» Wenn ich Synchronität und Mimikry beobachte – ob es nun
Gähnen, Lachen, Tanzen oder Nachäffen eines anderen ist –
Menschen neigen dazu, sich nach ihrer Gruppe zu richten, ihr
sehe ich soziale Bindungen.
Denken und Handeln der Gruppe entsprechend anzupassen
Primatologe Frans de Waal, The Empathy Instinct, 2009
(. Abb. 15.7). Verhalten ist ansteckend. Schimpansen gähnen mit
15 größerer Wahrscheinlichkeit, nachdem sie beobachtet haben, Automatische Mimikry hilft uns, Empathie zu empfinden –
wie ein anderer Schimpanse gähnt (Anderson et al. 2004). Eben- nachzuempfinden was andere fühlen. Damit kann man auch
so ist es bei Menschen: Wenn jemand gähnt, lacht, hustet, in den erklären, warum wir uns unter fröhlichen Menschen besser füh-
Himmel starrt oder auf sein Handy schaut, machen die anderen len als unter depressiven und warum man bei der Untersuchung
in der Regel bald dasselbe. So wie Chamäleons die Farbe ihrer verschiedener Gruppen britischer Krankenschwestern und
Umgebung annehmen, nehmen wir Menschen die Stimmung an, Steuerberater »emotionale Ansteckung« nachweisen konnte – bei
die in unserer Umgebung herrscht. Es ist ein großer Unterschied, Stimmungshochs und -tiefs gleichermaßen (Totterdell et al.
ob jemand einen neutralen Text mit einer fröhlichen oder trau- 1998). Empathische Menschen gähnen öfter als andere, wenn sie
rigen Stimme vorliest: Die Zuhörer werden von seiner Stimmung jemanden gähnen sehen (Morrison 2007). Empathische Nachah-
angesteckt (Neumann u. Strack 2000). Wir sind geborene Mi- mung wiederrum bewirkt, dass man gemocht wird (van Baaren
men, die unbewusst die Gesten, Haltungen und die Stimmlage et al. 2003, 2004). Haben Sie schon einmal bemerkt, dass Sie je-
von anderen nachahmen. manden mehr mögen, wenn er genau dann nickt, wenn Sie auch
Tanya Chartrand und John Bargh bezeichnen diese Mimikry nicken und er Ihre Worte wiederholt?
als den »Chamäleon-Effekt« (Chartrand u. Bargh 1999). Sie ließen Manchmal sind die Auswirkungen der Beeinflussbarkeit
Studierende zusammen mit einem Vertrauten des Versuchsleiters ernsterer Natur. In der Woche nach der Schießerei an der
in einem Zimmer arbeiten. Bisweilen rieb sich diese Person das Columbine High School in Colorado im Jahre 1999 wurde in
Gesicht; und ein anderes Mal wackelte sie mit dem Fuß. Mit ziem- allen amerikanischen Bundesstaaten außer in Vermont mit
licher Sicherheit neigten die Versuchsteilnehmer dazu, sich auch Nachahmungstaten gedroht. Allein in Pennsylvania kam es zu 60
das Gesicht zu reiben, wenn sie mit dem Menschen konfrontiert solcher Drohungen (Cooper 1999). Der Soziologe David Phillips
waren, der sich das Gesicht rieb, und mit ihrem eigenen Fuß zu und seine Kollegen (1985, 1989) stellten fest, dass auch Selbst-
wackeln, wenn sie mit dem Menschen zusammen waren, der mit morde zunahmen, wenn ein Selbstmord in der Presse besonders
15.2 · Sozialer Einfluss
605 15

. Abb. 15.8 (NON SEQUITUR © 2000 Wiley Ink, Inc.. Dist. By UNIVERSAL UCLICK. Reprinted with permission. All rights reserved.)

ausgeschlachtet wurde. Nach dem Selbstmord von Marilyn Mon- Wenn der 2., 3. und 4. Versuchsteilnehmer ebenfalls die falsche
roe am 6. August 1962 überstieg die Zahl der Selbstmorde in den Antwort nennen, setzen Sie sich aufrecht hin, kneifen die Augen
USA den durchschnittliche Augustwert um 200. (In Deutschland zusammen und schauen noch einmal genau hin. Wenn der
kennt man dieses Phänomen der medieninduzierten Selbst- 5. Versuchsteilnehmer mit den ersten vier übereinstimmt, mer-
tötung als »Werther-Effekt« schon seit dem Ende des 18. Jahr- ken Sie, wie Ihr Herz laut zu schlagen beginnt. Dann sind Sie an
hunderts, als Johann Wolfgang von Goethes Roman Die Leiden der Reihe. Sie sind hin- und hergerissen zwischen der Einmütig-
des jungen Werther eine Reihe von Selbstmorden in ganz Europa keit der anderen fünf Befragten und der Realität vor Ihren
auslöste.) Was ist die Ursache für diese Häufung von Selbst- Augen, Sie fühlen sich angespannt und wesentlich unsicherer
morden? Handeln Menschen ähnlich, weil sie sich gegenseitig als noch vor wenigen Minuten. Sie zögern, bevor Sie antworten,
beeinflussen? Oder weil sie gleichzeitig denselben Ereignissen und fragen sich, ob Sie es sich wirklich antun wollen, als Außen-
und Lebensbedingungen ausgesetzt sind? Auf der Suche nach seiter zu gelten. Welche Antwort geben Sie? In Aschs Experimen-
Antworten führten Sozialpsychologen Versuche zu Gruppen- ten betrug die Fehlerquote der Studenten weniger als 1%, wenn
druck und Konformität durch. sie die Fragen nach der Linienlänge alleine beantworteten. Aber
die Ergebnisse sahen ganz anders aus, wenn mehrere andere
Konformität und soziale Normen (Eingeweihte, die für den Versuchsleiter arbeiteten) falsch ant-
Beeinflussbarkeit und Mimikry sind subtile Formen der Konfor- worteten. Obwohl die meisten Teilnehmer richtig antworteten,
mität (Anpassung unseres Verhaltens oder Denkens an einen auch wenn die anderen das nicht taten, war Asch beunruhigt von
bestimmten Gruppenstandard; . Abb. 15.8). seinen Ergebnissen: Über ein Drittel dieser »intelligenten und
wohlgesonnenen« studentischen Versuchsteilnehmer waren be-
Konformität (»conformity«) – Anpassung des Verhaltens oder Denkens,
um mit dem Gruppenstandard übereinzustimmen. reit, sich ein X für ein U vormachen zu lassen, um mit der Grup-
pe übereinzustimmen. Auch wenn in späteren Versuchen nicht
Um den wahrgenommenen Druck zu untersuchen, sich konform immer ein solches Maß an Konformität nachgewiesen werden
zum Gruppenstandard zu verhalten (Konformitätsdruck), ent- konnte, zeigen sie dennoch, dass Konformität zunimmt, wenn
wickelte Solomon Asch (1955) einen einfachen Test. Als Teilneh- 4 man dazu gebracht wird, sich inkompetent oder unsicher
mer eines Versuches, von dem Sie denken, es gehe um visuelle zu fühlen.
Wahrnehmung, kommen Sie pünktlich an den Versuchsort, um 4 die Gruppe aus mindestens drei Leuten besteht.
an einem Tisch Platz zu nehmen, wo bereits fünf Personen sitzen. 4 die Gruppe sich einig ist. (Die abweichende Meinung nur
Der Versuchsleiter fragt einen Teilnehmer nach dem anderen, einer einzigen anderen Person bestärkt den Mut deutlich,
welche von drei Vergleichslinien mit einer Standardlinie identisch ebenfalls anderer Meinung zu sein.)
ist. Sie sehen deutlich, dass die Antwort Linie 2 lautet und warten, 4 man den Status und die Attraktivität der Gruppe hoch ein-
bis Sie an der Reihe sind, um nach den anderen diese Antwort zu schätzt.
geben. Dieser Versuch beginnt Sie allmählich zu langweilen, weil 4 man sich nicht vorher in irgendeiner Weise auf eine Ant-
sich auch der nächste Linientest als ganz leicht erweist. wort festgelegt hat.
Jetzt kommt der 3. Versuch, und die richtige Antwort er- 4 man von den anderen in der Gruppe beobachtet wird.
scheint ebenso offensichtlich (. Abb. 15.9), aber der erste Ver- 4 man durch die eigene Kultur besonders ermutigt wird,
suchsteilnehmer sagt etwas, was Ihnen falsch erscheint: »Linie 3«. soziale Standards zu respektieren.
606 Kapitel 15 · Sozialpsychologie

. Abb. 15.9a,b Aschs Konformitätsexperimente. a Welche der drei Vergleichslinien entspricht der Standardlinie? Was glauben Sie, würden die meisten
Leute sagen, nachdem sie 5-mal gehört haben, dass die anderen mit »Linie 3« antworteten? b In diesem Foto, das bei einem von Aschs Versuchen gemacht
wurde, zeigt der Versuchsteilnehmer in der Mitte eine deutliche Anspannung angesichts der Tatsache, dass die übrigen Gruppenmitglieder (Vertraute des
Versuchsleiters) andere Antworten gaben. (a: Nach Asch, 1955, Scientific American, 193, 31–35, mit freundlicher Genehmigung; b: Aus Asch, 1955, Scientific
American, 193, 31–35. Reproduced with permission. Copyright © 1955 Scientific American, Inc. All rights reserved.)

Warum denken wir so oft das, was andere denken, und tun das, Normativer sozialer Einfluss (»normative social influence«) – Einfluss,
was andere tun? Warum ähneln die Einstellungen von Bewoh- der sich aus dem Wunsch einer Person ergibt, Zustimmung zu bekommen
und Ablehnung zu vermeiden.
nern in Studentenwohnheimen denen ihrer Nachbarn (Cullum
Informationaler sozialer Einfluss (»informational social influence«) –
u. Harton 2007)? Wieso sind die Antworten auf eine kontroverse
Einfluss, der sich aus der Bereitschaft eines Menschen ergibt, die Meinungen
Frage viel einheitlicher, wenn man sie per Handzeichen ab- anderer über die Wirklichkeit anzunehmen.
geben muss und nicht anonym an einem elektrischen Zähl-
gerät (Stowell et al. 2010)? Warum klatschen wir, wenn andere Es hängt von unseren kulturell beeinflussten Wertvorstellungen
klatschen, warum essen wir, wie andere essen, warum glau- ab, ob wir soziale Einflüsse für gut oder schlecht halten. West-
ben wir, was andere glauben, warum sehen wir gar, was andere europäer und die meisten Menschen, die aus englischsprachigen
sehen? Ländern stammen, neigen dazu, Individualismus höher zu be-
Häufig geschieht dies, weil wir Ablehnung vermeiden wollen werten als Konformität und Gehorsam. Menschen aus Asien,
oder nach sozialer Anerkennung streben. In solchen Fällen re- Afrika und Lateinamerika hingegen legen mehr Wert darauf,
agieren wir auf das, was Sozialpsychologen normativen sozialen Gruppennormen zu entsprechen. Diese Wertvorstellungen kom-
Einfluss nennen. Wir orientieren uns an sozialen Normen (all- men in Versuchen zum sozialen Einfluss zum Ausdruck, die in
gemein gültigen Regeln für anerkanntes und erwartetes Ver- 17 Ländern durchgeführt wurden: In individualistischen Kultu-
15 halten), weil wir möglicherweise einen hohen Preis zahlen, wenn ren ist die Konformitätsrate niedriger (Bond u. Smith 1996).
wir anders sind. Wir brauchen ein Gefühl von Zugehörigkeit. Amerikanische Studenten beurteilen sich selbst beispielsweise in
Manchmal verhalten wir uns auch konform, weil wir richtig den verschiedensten Bereichen, beginnend bei ihrem Kaufver-
handeln wollen. Gruppen liefern ja möglicherweise wertvolle halten bis hin zu politischen Einstellungen, als weniger konform
Informationen, und nur ein ungewöhnlich sturer Mensch wird als andere (Pronin et al. 2007). In unseren eigenen Augen sind
nie auf andere hören. »Diejenigen, die nie ihre Meinung ändern, wir Individuen inmitten einer Schafsherde (. Abb. 15.10).
lieben sich selbst mehr als die Wahrheit«, beobachtete der
Prüfen Sie Ihr Wissen
im 18. Jahrhundert lebende französische Schriftsteller Joseph
Joubert. Wenn wir die Meinungen der anderen aus diesem Grund 5 Welcher der folgenden Punkte verstärkt Konformität?
übernehmen, reagieren wir auf den informationalen sozialen a. Man findet die Gruppe attraktiv.
Einfluss. Wie Rebecca Denton 2004 zeigte, zahlt es sich manch- b. Man fühlt sich sicher.
mal aus, anzunehmen, dass andere Recht haben und ihnen c. Man kommt aus einer individualistischen
zu folgen. Denton stellte einen Rekord auf für die weiteste Ent- Gesellschaft.
fernung, die je ein Mensch auf der falschen Seite einer briti- d. Man hat sich vorher schon auf eine Antwort
schen Autobahn mit Grünstreifen in der Mitte gefahren war: festgelegt.
48 km mit nur einem kleinen Schwenker, bevor das Ende der
walisischen Autobahn erreicht war und die Polizei ihre Reifen
mit Kugeln durchlöchern konnte. Denton erklärte später, sie sei
der Meinung gewesen, dass Hunderte anderer Fahrer, die ihr
entgegenkamen, alle auf der falschen Seite der Autobahn fuhren
(Woolcock 2004).
15.2 · Sozialer Einfluss
607 15

. Abb. 15.10 (Copyright © The New Yorker Collection, 2006, Mike Twohy / cartoonbank.com)

15.2.2 Gehorsam: Befehle befolgen Instruktionen des Versuchsleiters Folge leisten, hören Sie den
Schüler seufzen, wenn Sie den 3., 4. und 5. Schalter betätigen.
Nach Aktivierung des 8. Schalters (als »120 Volt – mittlerer
? 15.4 Was lehrten uns die Experimente von Milgram zum
Schock« gekennzeichnet) ruft der Schüler aus, dass die Schocks
Gehorsam über die Macht von sozialen Einflüssen?
schmerzhaft sind. Nach dem 10. Schalter (»150 Volt – schwer-
Der Sozialpsychologe Stanley Milgram (1963, 1974; . Abb. 15.11), wiegender Schock«) schreit er: »Lassen Sie mich hier raus! Ich
ein Schüler von Solomon Asch, wusste, dass Menschen häufig möchte nicht mehr am Versuch teilnehmen! Ich weigere mich
dem sozialen Druck nachgeben. Aber wie würden sie auf regel- weiter mitzumachen!« Wenn Sie diese Bitten hören, bäumen Sie
rechte Befehle reagieren? Um dies herauszufinden, führte er ein sich auf. Doch der Versuchsleiter spornt Sie an: »Bitte weiter-
Experiment durch, das zum berühmtesten, umstrittensten und machen! Das Experiment erfordert, dass Sie weitermachen.«
einflussreichsten der Sozialpsychologie werden sollte (Benjamin Wenn Sie immer noch zögern, insistiert er: »Es ist ganz wichtig,
u. Simpson 2009). dass Sie weitermachen« oder »Sie haben keine andere Wahl, Sie
Stellen Sie sich vor, Sie wären einer der nahezu 1000 Ver- müssen weitermachen«.
suchsteilnehmer an Milgrams 20 Experimenten. Sie haben auf
eine Anzeige geantwortet und kommen nun zum psycho-
logischen Institut der Yale-Universität, um an einem Versuch
teilzunehmen. Der Assistent von Professor Milgram erklärt
Ihnen, dass in der Studie untersucht wird, welche Auswir-
kungen Bestrafung auf das Lernen hat. Sie und eine weitere Ver-
suchsperson ziehen ein Los aus einem Hut, um zu sehen, wer
der »Lehrer« sein wird und wer der »Schüler«. Sie ziehen das
»Lehrer«-Los und werden vor einer Maschine platziert, die ver-
schieden beschriftete Schalter hat. Der Schüler, ein ruhiger
und unterwürfig wirkender Mann, wird dann in einen angren-
zenden Raum geführt und auf einem Stuhl festgeschnallt, der
durch die Wand mit »Ihrem« Gerät verkabelt ist. Ihre Aufgabe:
Sie lehren und prüfen dann eine Liste von Wortpaaren. Für
falsche Antworten müssen Sie den Schüler mit leichten Strom-
stößen bestrafen, wobei Sie mit einer Stufe beginnen, die als
»15 Volt – leichter Schock« gekennzeichnet ist. Nach jedem
Fehler des Schülers müssen Sie die nächsthöhere Stromstärke
wählen. Der Versuchsleiter macht es Ihnen am ersten Schalter
vor. Lichter blitzen auf, Relaisschalter klicken, und ein elek-
trisches Summen erfüllt den Raum.
. Abb. 15.11 Stanley Milgram (1933–1984). Das Gehorsamsexperiment
Der Versuch beginnt und Sie geben nach den ersten beiden des Sozialpsychologen »gehört zum Bildungskanon unserer Generation«
falschen Antworten jeweils einen Elektroschock. Wenn Sie den (Sabini 1986). (© The Graduate Center, CUNY)
608 Kapitel 15 · Sozialpsychologie

. Abb. 15.12a–c Milgrams Folgeexperiment zum Gehorsam. Bei einer Wiederholung des früheren Experiments gehorchten 65% der erwachsenen, männ-
15 lichen »Lehrer« ohne Widerrede den Befehlen des Versuchsleiters weiterzumachen. Sie taten dies ungeachtet der Tatsache, dass der »Schüler« zuvor eine
Herzschwäche erwähnt hatte, und obwohl sie bei 150 Volt Protestschreie und nach 330 Volt Angstschreie hörten. (a: Nach Milgram 1974; b, c: From the film
Obedience © 1968 by Stanley Milgram, © renewed 1993 by Alexandra Milgram)

Wenn Sie gehorchen, hören Sie, wie die Proteste des Schülers Als Milgram dann das Experiment mit Männern zwischen 20
zu Angstschreien eskalieren, während Sie damit fortfahren, und 50 Jahren durchführte, war er erstaunt darüber, heraus-
die Schockstufe mit jedem weiteren Fehler zu erhöhen. Nach zufinden, dass über 60% gänzlich einwilligten und bis zur letz-
dem 330-Volt-Niveau weigert sich der Schüler zu antworten ten Stufe mitmachten. Milgram wiederholte den Versuch mit
und wird plötzlich still. Der Versuchsleiter treibt Sie weiter 40 neuen »Lehrern«. Diesmal sagte der Vertraute des Versuchs-
an, bis zum Finale, der 450-Volt-Stufe, weiterzumachen, und leiters etwas von einer »Herzschwäche«. Doch auch hier hielten
befiehlt Ihnen, die Fragen zu stellen und, sollten die Antwor- sich 65% der neuen Lehrer vollständig an das, was der Versuchs-
ten falsch sein, Stromstöße auf dem nächsten Niveau auszu- leiter von ihnen verlangt hatte und gaben bis zu 450-Volt-Elek-
lösen. Wie lange würden Sie wohl den Befehlen des Versuchs- troschocks (. Abb. 15.12).
leiters Folge leisten? Bei einer Befragung, die Milgram vor Gesellschaften verändern sich mit der Zeit. Ist es heutzutage
dem Versuch durchführte, erklärten die meisten Personen, sie weniger wahrscheinlich, dass man den Befehl, jemanden zu ver-
würden bald aufhören, eine allem Anschein nach sadistische letzen, befolgt (. Abb. 15.13)? Um das herauszufinden, repli-
Rolle zu spielen, wenn der Schüler den ersten Schmerz zum zierte Jerry Burger (2009) Milgrams Experiment. 70% der Teil-
Ausdruck bringen würde, und ganz sicher, bevor er Angstschreie nehmer befolgten die Anweisungen des Versuchsleiters bis zu
ausstoßen würde. Dies sagten auch alle 40 Psychiater vorher, einer Stromstärke von 150 Volt, ein leichter Rückgang im Ver-
die Milgram bat, Vermutungen über das Ergebnis anzustellen. gleich zu Milgrams Ergebnissen. Als das Experiment in einer
15.2 · Sozialer Einfluss
609 15

. Abb. 15.13 »Drive off the cliff, James, I want to commit suicide.« (© Mel Yauk)

französischen Reality-TV-Show wiederholt wurde, gehorchten 4 derjenige, der die Befehle erteilte, ganz in der Nähe war
80% der vom Publikum angefeuerten Teilnehmer und quälten und als legitime Autoritätsperson wahrgenommen wurde.
ein schreiendes Opfer (de Moraes 2010). (So verhielt es sich im Jahr 2005, als der Basketballtrainer
Spiegelte sich in Milgrams Experimenten ein geschlechts- der Temple University einen 110 kg schweren Spieler,
spezifischer Aspekt wieder? Nein. Zehn spätere Studien, an Nehemiah Ingram, von der Reservebank ins Spiel schickte
denen auch Frauen teilnahmen, zeigten, dass die Frauen genauso und ihn aufforderte, »schwere Fouls« zu begehen. Dieser
oft einwilligten wie die Männer (Blass 1999). Durchschauten die hielt sich an die Anweisung und wurde innerhalb von
»Lehrer« die Täuschung, dass gar kein Schock ausgelöst wurde? 4 Minuten des Spielfelds verwiesen, nachdem er einem
Errieten sie korrekterweise, dass der »Schüler« eingeweiht war Spieler der gegnerischen Mannschaft den rechten Arm
und nur vorgab, Schocks zu empfinden? Erkannten sie, dass gebrochen hatte.)
dieser Versuch in Wirklichkeit ihre Bereitschaft testete, Befehlen 4 die Autoritätsperson von einer namhaften Institution unter-
zu folgen, die eine Bestrafung auslösen? Nein, die Lehrer zeig- stützt wurde – die Fügsamkeit war etwas geringer, wenn
ten normalerweise echte Belastungssymptome: Sie schwitzten, Milgram seine Versuche nicht mit der Yale-Universität in
zitterten, lachten nervös und bissen sich auf die Lippen. Verbindung brachte.
Die Tatsache, dass sich Milgram Täuschung und Stress zu- 4 das Opfer depersonalisiert wurde oder weiter entfernt war,
nutze machte, löste eine Debatte über ethische Fragen in der sogar in einem anderen Zimmer. (Damit ist vergleichbar,
Forschung aus. Zu seiner eigenen Verteidigung führte Milgram dass viele Soldaten im Gefecht mit einem Gegner, den sie
an, dass die Versuchsteilnehmer ihre Teilnahme praktisch nicht sehen können, entweder nicht schießen oder nicht genau
bereuten, nachdem ihnen die Täuschung und die eigentlichen zielen. Derartige Verweigerungen, andere zu töten, sind
Forschungsziele mitgeteilt worden waren (obwohl die Versuchs- selten unter denen, die die Distanzwaffen der Artillerie
teilnehmer vielleicht bis dahin ihre Dissonanz verringert hatten). oder der Luftwaffe verwenden [Padgett 1989].)
Als 40 der »Lehrer«, die die größten Ängste gezeigt hatten, später 4 es keine Vorbilder für Widerstand gab; d. h. es wurde
von einem Psychiater befragt wurden, schien keiner an emotio- niemand gesehen, der dem Versuchsleiter nicht gehorchte.
nalen Nachwirkungen zu leiden. Alles in allem, sagte Milgram,
lösten die Versuche weniger dauerhaften Stress aus als die Erfah- Die Macht legitimierter, unmittelbar anwesender Autoritäten
rungen von Studierenden, die wichtige Prüfungen und ein mög- wird in den Berichten derer, die auf Befehl die Gräueltaten des
liches Scheitern vor Augen hatten (Blass 1996). Holocaust ausführten, auf dramatische Weise deutlich. Nur mit
In späteren Versuchen entdeckte Milgram, dass sich Men- Gehorsam kann man den Holocaust nicht erklären; denn im
schen von subtilen Details einer Situation stark beeinflussen Dienste des nationalsozialistischen Regimes mit seiner anti-
lassen. Wenn er die sozialen Bedingungen veränderte, reichte der semitischen Ideologie standen nicht nur gehorsame Mitläufer,
Anteil der völlig loyalen Versuchsteilnehmer von 0–93%. Der sondern auch kaltblütige Mörder (Mastroianni 2002). Aber Ge-
Gehorsam war am stärksten, wenn horsam spielte ebenfalls eine Rolle. Im Sommer 1942 wurde das
610 Kapitel 15 · Sozialpsychologie

. Abb. 15.14 Einsatz für die Demokratie. Einige Individuen – etwa jeder Dritte in Milgrams Experimenten – widerstehen dem sozialen Zwang, wie 1989
dieser unbewaffnete Mann in Peking, der einen Tag, nachdem der Studentenaufstand vom Tian’anmen-Platz niedergeschlagen worden war, im Alleingang
eine vorrückende Panzerlinie herausforderte. (© picture alliance / AP Images)

Bataillon 101 der Reservepolizei, das aus nahezu 500 deutschen den, und von der Kanzel war ihnen gepredigt worden, »stets
Berufspolizisten und Reservisten mittleren Alters bestand, Widerstand zu leisten, wenn unsere Gegner von uns Gehorsam
nach Jozefow in Polen, einem von den Deutschen besetzten verlangen, der nicht den Geboten des Evangeliums entspricht«
Gebiet, versetzt. Am 13. Juli informierte der Kommandant (Rochat 1993). Als sie von der Polizei aufgefordert wurden, eine
seine Rekruten, von denen die meisten Familienväter waren, Liste der versteckten Juden zu erstellen, leistete der Dorfpfarrer
dass ihnen der Befehl erteilt worden war, die Juden des Dorfes, mustergültigen Widerstand: »Ich weiß nichts von Juden, ich
denen man nachsagte, sie würden mit dem Feind kollabo- kenne nur Menschen.« Ohne zu wissen, wie lang und schrecklich
15 rieren, zusammenzutreiben. Gesunde Männer wurden in Ar- der Krieg sein würde oder wie sehr sie bestraft werden würden
beitslager geschickt, und alle anderen wurden auf der Stelle und wie viel Armut sie würden ertragen müssen, fühlten sich die
erschossen. Als man den Soldaten die Möglichkeit gab, die »résistants« verpflichtet, Widerstand zu leisten. Gestärkt durch
Teilnahme an den Exekutionen abzulehnen, ging nur ungefähr ihren Glauben, ihre Vorbilder, ihre gegenseitige Beeinflussung
ein Dutzend der Soldaten sofort auf das Angebot ein. Innerhalb und ihre Eigeninitiative blieben sie sich selbst bis zum Kriegs-
von 17 Stunden töteten die übrigen 485 Soldaten 1500 hilflose ende treu.
Frauen, Kinder und ältere Menschen, indem sie diesen Men- Bevor wir annehmen, dass Gehorsam immer böse und Wi-
schen, die mit dem Gesicht nach unten auf dem Boden lagen, derstand immer gut ist, lassen Sie uns den Gehorsam der bri-
in den Hinterkopf schossen. Als die Soldaten dann die Hilfe- tischen Soldaten betrachten, die 1852 zusammen mit Frauen und
schreie der Opfer hörten und die grauenvollen Ergebnisse sahen, Kindern auf dem Dampfschiff Birkenhead reisten. Als sie sich
verweigerten schließlich ungefähr 20% den Gehorsam, und es dem südafrikanischen Hafen näherten, lief die Birkenhead auf
gelang ihnen entweder, ihre Opfer nicht zu treffen oder weg- einem Felsen auf. Die Soldaten, die nicht den Passagieren halfen
zulaufen und sich zu verstecken, bis das Gemetzel vorüber war oder an den Pumpen arbeiteten, sollten die Passagiere beruhigen
(Browning 1992). Aber im wirklichen Leben waren, wie auch in und gewährleisten, dass Frauen, Kinder und Zivilisten geordnet
Milgrams Experimenten, die Ungehorsamen in der Minderheit mit den drei verfügbaren Rettungsboten entkommen konnten.
(. Abb. 15.14). Daher stellten sie sich geordnet in einer Reihe auf. »Ruhig,
Eine andere Geschichte ereignete sich im französischen Dorf Männer«, sagte ihr Offizier, als die Rettungsboote sich vom Schiff
Le Chambon, wo französische Juden, die nach Deutschland de- entfernten. Heldenhaft stürmte keiner vor, um doch noch einen
portiert werden sollten, von Dorfbewohnern versteckt wurden, Sitz im Rettungsboot zu ergattern. Als das Schiff sank, stürzten
die damit öffentlich den Befehlen der neuen Machthaber trotz- sie alle ins Wasser und ertranken oder wurden von Haien gefres-
ten. Die Vorfahren der Dorfbewohner waren selbst verfolgt wor- sen (. Abb. 15.15). Fast ein Jahrhundert lang, so James Michener
15.2 · Sozialer Einfluss
611 15
Opfer oder die Befehle des Versuchsleiters reagieren sollten. Ihr
Moralempfinden warnte sie, anderen nicht zu schaden. Doch es
zwang sie auch, dem Versuchsleiter zu gehorchen und ein guter
Versuchsteilnehmer zu sein. Wenn Menschenfreundlichkeit und
Gehorsam aufeinander prallten, siegte normalerweise der Ge-
horsam. Derartige Experimente zeigen, dass starke soziale Ein-
flüsse Menschen dazu bringen können, falschen Aussagen zuzu-
stimmen oder vor der Grausamkeit zu kapitulieren. »Die wich-
tigste Lektion unserer Studie« ist nach Milgram (1974, S. 6), »dass
ganz normale Menschen, die einfach nur ihren Job machen,
in einem furchtbaren destruktiven Vorgang ohne besondere
Feindseligkeit oder Bösartigkeit zu den Ausführenden werden
können«.

» Ich habe nur Befehle ausgeführt.


Adolf Eichmann, Organisator der Deportation von Millionen
von Juden in Konzentrationslager

Wenn wir uns nur auf den Endpunkt konzentrieren – 450 Volt
oder verwerfliche Täuschung oder Gewalt im wahren Leben –,
können wir diese Unmenschlichkeit kaum verstehen. Aber wir
übersehen, mit welch kleinen Schritten jemand erst dorthin ge-
langt. Milgram verleitete seine »Lehrer« nicht, indem er sie zuerst
bat, die »Schüler« einer so geballten Ladung Elektrizität auszu-
setzen, dass ihnen die Haare zu Berge stehen würden. Vielmehr
nutzte er die Foot-in-the-Door-Technik, indem er mit leichtem
Elektrisieren begann und dies Schritt für Schritt eskalieren ließ.
Im Bewusstsein derjenigen, die den Schalter umlegten, erschien
. Abb. 15.15 Die »Birkenhead-Regel«. Um die Passagiere zu beruhigen die erste »kleine« Handlung gerechtfertigt, was wiederum auch
und deren Rettung zu ermöglichen, gehorchten die Soldaten dem Befehl,
den nächsten Schritt tolerierbar machte. In Jozefow, in Le
sich in Reih und Glied an Bord aufzustellen, während ihr Schiff sank.
(Der Untergang der Birkenhead, Thomas Hemy, this image is in the public Chambon und in Milgrams Experimenten zeigte sich: Die-
domain because its copyright has expired) jenigen, die Widerstand zeigten, taten dies sehr früh. Nach den
ersten Akten von Zusammenarbeit oder Widerstand wurden
die Einstellungen angepasst und rechtfertigten das jeweilige Ver-
(1978), »war die Birkenhead-Regel das Maß der Dinge bezüglich halten.
heldenhaften Verhaltens auf See«. So etwas geschieht, wenn sich Menschen nach und nach
dem Bösen unterwerfen. In jeder Gesellschaft kann die Ein-
Was lehren uns die Studien zu Konformität stellung, dass man sich einem geringeren Übel fügen muss, zu
und Gehorsam? schlimmen Taten führen. Die Führungsriege der National-
Was können wir aus den Experimenten von Asch und Milgram sozialisten nahm an, dass sich die meisten deutschen Beamten
über uns selbst erfahren? Was hat es mit unserem Sozialverhalten widersetzen würden, selbst Juden zu erschießen oder zu ver-
im Alltag zu tun, wenn wir die Länge einer Linie beurteilen oder gasen. Aber sie stellten fest, dass die Beamten überraschender-
einen Stromschalter betätigen? In 7 Kap. 2 wurde beschrieben, weise bereit waren, die Verwaltung des Holocausts zu über-
dass psychologische Experimente nicht darauf abzielen, das ge- nehmen (Silver u. Geller 1978).
wöhnliche Verhalten aus dem Alltagsleben nachzustellen. Es Beunruhigendes stellte auch Milgram fest, als er 40 Männer
sollen vielmehr die Prozesse erfasst und erkundet werden, die bat, den »Lerntest« durchzuführen, während jemand anders
diesen Verhaltensweisen zugrunde liegen und sie formen. Asch die Stromstöße austeilte: 93% willigten ein. Im Gegensatz zum
und Milgram entwarfen Experimente, in denen sich die Ver- Bild vom bestialischen Übeltäter erfordern Gräueltaten keine
suchsteilnehmer entscheiden mussten, ihren eigenen Standards monströsen Charaktere; man braucht dafür lediglich gewöhn-
treu zu bleiben oder sich der Meinung anderer anzuschließen, liche Menschen, die von einer problematischen Situation über-
ein Dilemma, mit dem wir alle häufig konfrontiert werden. In wältigt werden, wie etwa gewöhnliche Studenten, die neue
Milgrams Experimenten und neueren Replikationen waren die Gruppenmitglieder schikanieren, gewöhnliche Angestellte, die
Teilnehmer auch hin- und hergerissen, ob sie auf die Bitten der Anweisungen folgen und schädliche Produkte herstellen und
612 Kapitel 15 · Sozialpsychologie

vermarkten, oder gewöhnliche Soldaten, die Gefangene foltern In einem der ersten Experimente der Sozialpsychologie
(Lankford 2009). stellte Norman Triplett (1898) fest, dass Jugendliche, die eine
Angelspule aufwickelten in der Gegenwart eines weiteren An-
» Die normale Reaktion auf eine abnormale Situation ist ein
wesenden, der dasselbe tat, schneller arbeiteten. Er und spätere
abnormales Verhalten.
Sozialpsychologen untersuchten, wie die Anwesenheit anderer
James Waller, Becoming Evil: How Ordinary People Commit
unser Verhalten beeinflusst. Gruppeneinflüsse kommen sowohl
Genocide and Mass Killing, 2002
in einfachen Gruppen zum Tragen – nämlich dann, wenn ein
Prüfen Sie Ihr Wissen
Mensch mit einem anderen zusammen ist – als auch in kom-
plexeren Gruppen.
5 Die berühmtesten Experimente in der Psychologie zum
Thema Gehorsam, in denen die meisten Teilnehmer der Soziale Erleichterung
Anweisung einer Autoritätsperson Folge leisteten, einen Das von Triplett gezeigte Phänomen stärkerer Leistung in der
unschuldigen anderen lebensbedrohlichen Elektroschocks Gegenwart anderer wird soziale Erleichterung (»social facilita-
auszusetzen, wurden von dem Sozialpsychologen tion«) genannt. Bei schwierigeren Aufgaben allerdings (dem Ler-
durchgeführt. nen von sinnlosen Silben oder dem Lösen komplexer Multipli-
5 Unter welchen Bedingungen war es am wahrscheinlichs- kationsaufgaben) leisten Menschen weniger, wenn Beobachter
ten, dass die Teilnehmer gehorchten? oder andere, die mit derselben Aufgabe beschäftigt sind, an-
wesend sind. Weitere Studien zeigten, warum die Anwesenheit
anderer manchmal leistungsfördernd und manchmal leistungs-
hemmend wirkt (Guerin 1986; Zajonc 1965). Wenn andere uns
15.2.3 Gruppeneinfluss beobachten, werden wir angeregt. Diese Anregung verstärkt die
wahrscheinlichste Reaktion: eine leichte Aufgabe korrekt und
eine schwierige falsch zu lösen. Michaels et al. (1982) fanden
? 15.5 Wie wird unser Verhalten durch die Anwesenheit
heraus, dass Profi-Billardspieler mit 71% Wahrscheinlichkeit
anderer beeinflusst?
trafen, wenn sie allein waren, und mit einer Wahrscheinlichkeit
Stellen Sie sich vor, Sie stehen in einem Raum und halten eine von 80%, wenn sie von vier Zuschauern beobachtet wurden.
Angel. Ihre Aufgabe ist es, eine Spule so schnell wie möglich zu Schlechte Spieler, die mit 36% Wahrscheinlichkeit Treffer erziel-
drehen. Bei einigen Durchgängen befindet sich ein anderer Teil- ten, wenn sie allein waren, trafen nur mit 25% Wahrscheinlich-
nehmer im Raum, der ebenso versucht, die Spule schnellstmög- keit, wenn sie beobachtet wurden (. Abb. 15.16).
lich aufzuwickeln. Wird die Gegenwart des anderen Ihre eigene Soziale Erleichterung (»social facilitation«) – Leistungssteigerung durch die
Leistung beeinflussen? Anwesenheit anderer; tritt bei einfachen oder gut gelernten Aufgaben auf.

15

. Abb. 15.16 Soziale Erleichterung. Leistungsstarke Sportlerinnen und Sportler fühlen sich oft durch Zuschauer angespornt. Was sie gut machen, machen
sie sogar noch besser, wenn ihnen zugeschaut wird. (© picture-alliance / dpa)
15.2 · Sozialer Einfluss
613 15
Um dies herauszufinden, bat ein Forschungsteam der Uni-
. Tab. 15.1 Heimvorteil beim Teamsport. (Adaptiert nach Jamieson
2010)
versity of Massachusetts zufällig ausgewählte Studierende, denen
die Augen verbunden wurden, »so stark wie möglich an einem
Sportart Anzahl unter- Anzahl von Gewinnen der Seil zu ziehen«. Als den Studierenden vorgegeben wurde, dass
suchter Spiele Heimmannschaft in % noch drei andere hinter ihnen ziehen würden, zeigten sie nur
Baseball 120.576 55,6 82% der Leistung, die sie brachten, wenn sie wussten, dass sie
allein zogen (Ingham et al. 1974). In einem Versuch von Latané
Cricket 513 57,0
(1981) saßen zufällig ausgewählte Versuchspersonen, denen die
American 11.708 57,3
Augen verbunden worden waren, in einer Gruppe zusammen
Football
und klatschten oder schrien, so laut sie konnten, während sie
Eishockey 50.739 59,5
über Kopfhörer lautes Klatschen oder Schreien hörten. Wenn
Basketball 30.174 62,9 ihnen gesagt wurde, dass sie es gemeinsam mit den anderen
Rugby 2.653 63,7 machten, produzierten die Versuchsteilnehmer etwa ein Drittel
Fußball 40.380 67,4 weniger Lärm, als wenn sie dachten, ihre individuellen Anstren-
gungen wären zu erkennen.
Bibb Latané und seine Kollegen (1981; Jackson u. Williams
Der energetisierende Effekt eines begeisterten Publikums trägt 1988) beschrieben diese verringerte Anstrengung als soziales
möglicherweise auch zum Heimvorteil bei, der in Studien bei Faulenzen (»social loafing«). In Versuchen, die in den USA,
über 250.000 Sportveranstaltungen in verschiedenen Ländern Indien, Thailand, Japan, China und Taiwan durchgeführt
gezeigt werden konnte: Heimmannschaften gewinnen ungefähr wurden, zeigte sich soziales Faulenzen bei verschiedenen Auf-
in 6 von 10 Spielen (etwas seltener bei Baseball- und Football- gaben, wenngleich es unter Männern in individualistischen
spielen und etwas häufiger bei Basketball- und Fußballspielen; Kulturen besonders häufig vorkam (Karau u. Williams 1993).
. Tab. 15.1). Warum kommt es zu dieser Art sozialen Faulenzens? Dafür gibt
Merken Sie sich: Was wir gut machen, machen wir wahr- es drei Gründe:
scheinlich vor einem Publikum, insbesondere einem freund- 4 Zunächst fühlen sich Menschen, die als Teil einer Gruppe
lichen Publikum, noch besser; was wir normalerweise schwierig agieren, weniger verantwortlich und machen sich daher
finden, kann nahezu als unlösbare Aufgabe erscheinen, wenn wir weniger Gedanken, was andere über sie denken.
beobachtet werden. 4 Außerdem sehen sie vielleicht ihre Beiträge als verzichtbar
Das Konzept der sozialen Erleichterung kann auch einen ko- an (Harkins u. Szymanski 1989; Kerr u. Bruun 1983).
mischen Effekt von Menschenansammlungen erklären. Komiker 4 Wenn Gruppenmitglieder unabhängig von ihrem Beitrag
und Schauspieler wissen, dass ein volles Haus ein »gutes Haus« den gleichen Nutzen ziehen, lehnen sich manche Leute
ist. Die Erregung, die durch die Menschenmenge ausgelöst wird, in solchen Fällen zurück und schonen sich (wie Sie das viel-
verstärkt auch andere Reaktionen. Witze, die Menschen in einem leicht aus Gruppenarbeiten kennen). Wenn sie nicht hoch
eher leeren Raum nur mäßig amüsieren, scheinen in einem motiviert sind und sich in besonderem Maße mit der
vollen Raum lustiger zu sein (Aiello et al. 1983; Freedman u. Gruppe identifizieren, werden sie möglicherweise zu Nutz-
Perlick 1979). Wenn Versuchsteilnehmer eng nebeneinander nießern der Anstrengungen der anderen Gruppenmitglie-
sitzen, mögen sie einen freundlichen Menschen noch lieber, der (. Abb. 15.17).
einen unfreundlichen dagegen noch weniger (Schiffenbauer u.
Soziales Faulenzen (»social loafing«) – Tendenz, dass sich Menschen in
Schiavo 1976; Storms u. Thomas 1977). Hier eine praktische Gruppen weniger anstrengen, um ein gemeinsames Ziel zu erreichen, als
Empfehlung: Wenn man einen Seminarraum auswählt oder wenn sie allein verantwortlich sind.
Stühle für ein Treffen zusammenstellt, sollte man gerade eben
genug Sitze haben. Deindividuation
Die Anwesenheit anderer kann daher Menschen zu größerer
Soziales Faulenzen Leistung anregen (wie in den Versuchen zur sozialen Erleich-
In Versuchen zur sozialen Erleichterung wird überprüft, welche terung) oder ihr Verantwortungsgefühl verringern (wie in den
Auswirkungen die Anwesenheit oder die Leistung von anderen Versuchen zum sozialen Faulenzen). Aber manchmal wirkt die
auf eine individuelle Aufgabe hat, beispielsweise auf Pool-Billard- Anwesenheit anderer anregend und verringert zugleich das
Spiele. Aber wie entwickelt sich die Leistung, wenn Menschen die eigene Verantwortungsbewusstsein. Das Ergebnis kann dann un-
Aufgabe als Gruppe bewältigen? Stellen Sie sich eine Mannschaft gehemmtes Verhalten sein, das über einen Kampf ums Essen im
beim Tauziehen vor: Glauben Sie, dass sich jemand in einer Speisesaal bis hin zu Vandalismus oder Krawallen reicht. Dieser
Gruppe mehr, genauso oder weniger anstrengt, als wenn er oder Verlust der Selbstwahrnehmung und Zurückhaltung wird
sie an einem Einzelwettbewerb teilnehmen würde? Deindividuation genannt und tritt oft in Gruppensituationen
614 Kapitel 15 · Sozialpsychologie

. Abb. 15.17 Hart arbeiten oder kaum arbeiten? Gerade in Gruppenprojekten, wie beispielsweise beim gemeinsamen Zaunstreichen, tritt oft soziales
Faulenzen auf: Einige werden zu Nutznießern der Anstrengungen der anderen. (© Getty Images / Blend Images)

auf, die Erregung und Anonymität fördern. In einem Versuch Gruppenpolarisierung


teilten Studentinnen, die depersonalisierende Ku-Klux-Klan-
? 15.6 Was ist Gruppenpolarisierung, was Gruppendenken?
Hüte aufgesetzt hatten, doppelt so viele Stromstöße an ihr Opfer
Wie viel Macht haben wir als Individuen?
aus als identifizierbare Frauen (Zimbardo 1970). (Wie in allen
derartigen Versuchen erhielt das »Opfer« die Stromstöße nicht in Bildungsforscher haben festgestellt, dass über einen gewissen
Wirklichkeit.) Zeitraum hinweg anfängliche Unterschiede zwischen Gruppen
von Studierenden tendenziell zunehmen. Wenn im ersten Jahr
Deindividuation (»deindividuation«) – Verlust der Selbstwahrnehmung
und Zurückhaltung in Gruppensituationen, die Erregung und Anonymität Studenten der Universität X eher künstlerisch interessiert sind
fördern. und Studenten der Universität Y eher einen Sinn für Geschäft-
liches haben, werden diese Unterschiede noch größer sein, wenn
Deindividuation wirkt – ob positiv oder negativ – in vielen ver- die Studenten ihren Abschluss machen. Ebenso verstärken sich
15 schiedenen Kontexten (. Abb. 15.18). Bei Stammeskriegern, Unterschiede zwischen den Geschlechtern im Laufe der Zeit. Das
die sich durch Gesichtsbemalungen oder Masken depersonalisie- stellte Eleanor Maccoby (2002) fest, nachdem sie jahrzehntelang
ren, ist die Wahrscheinlichkeit größer, dass sie gefangene Feinde die Geschlechtsrollenentwicklung beobachtet hatte: Mädchen
töten, quälen oder verstümmeln, im Vergleich zu Kriegern, die führen intimere Gespräche als Jungen, spielen weniger aggressiv
ihr Gesicht zeigen (Watson 1973). Online verstecken sich Stö- und haben auch weniger aggressive Fantasien; und diese Ge-
renfriede, die sich nie trauen würden, jemandem ins Gesicht zu schlechtsunterschiede werden mit der Zeit ausgeprägter, da jede
sagen, dass er ein Betrüger ist, hinter der Anonymität. Wenn man Gruppe am meisten mit dem eigenen Geschlecht zu tun hat.
in einer Menschenmasse, einem Rock-Konzert, bei einer Sport- Die Verstärkung der in einer Gruppe vorherrschenden Ten-
veranstaltung oder in einem Gottesdienst die Selbstwahr- denzen, die sog. Gruppenpolarisierung, tritt auf, wenn Men-
nehmung verliert (deindividuiert ist), bedeutet dies, stärker auf schen innerhalb einer Gruppe über eine Auffassung diskutieren,
die Gruppenerfahrung anzusprechen – ob das nun gut oder die die meisten Gruppenmitglieder entweder befürworten oder
schlecht ist. ablehnen. Gruppenpolarisierung kann zu positiven Ergebnissen
Wir haben uns mit den Bedingungen beschäftigt, unter führen, wenn dadurch eine angestrebte Geisteshaltung verstärkt
denen Menschen durch die Anwesenheit anderer motiviert wird oder die Entschlossenheit in einer Selbsthilfegruppe bekräf-
werden können, sich selbst zu verausgaben oder sich auf Kosten tigt wird. Aber sie kann auch üble Folgen haben. George Bishop
anderer als Trittbrettfahrer zu betätigen; leichte Aufgaben und ich entdeckten, dass Schüler mit großen Vorurteilen, wenn
leichter und schwierige Aufgaben schwieriger werden können sie über ethnische Fragen diskutierten, hinterher noch mehr Vor-
und Humor gefördert oder Massengewalt angeheizt werden urteile hatten (. Abb. 15.19). (Schüler mit geringen Vorurteilen
kann. Die Forschung zeigt, dass es sowohl gute als auch wurden dagegen toleranter.) Also: wenn ideologische Trennung
schlechte Auswirkungen haben kann, wenn man mit anderen mit einer Diskussion in einer Gruppe zusammentrifft, kann da-
interagiert. raus Polarisierung resultieren.
15.2 · Sozialer Einfluss
615 15

. Abb. 15.18 Deindividuation. Während der Aufstände und Plünderungen in England 2011 verloren die Randalierer ihre Hemmungen durch die allge-
meine Erregung und die Anonymität, die ihnen die Dunkelheit und ihre Vermummung gaben. Als später einige Beteiligte festgenommen wurden, zeigten
sie sich fassungslos in Anbetracht ihres Verhaltens. (© David Jones / empics / picture alliance)

Gruppenpolarisierung (»group polarization«) – Extremisierung der in einer (1987; McCauley 2002; Merari 2002) fest, dass eine terroristische
Gruppe vorherrschenden Einstellungen durch Diskussionen in der Gruppe. Gesinnung nicht aus dem Nichts auftaucht. Vielmehr entwickelt
sie sich gewöhnlich unter Menschen, die aus Groll zusammen-
Dieser polarisierende Effekt kann auch Auswirkungen auf Selbst- kommen und deren Haltung dann immer extremer wird, wenn
mordterrorismus haben. Nach einer Analyse terroristischer sie abgeschottet von mäßigenden Einflüssen miteinander inter-
Organisationen auf der ganzen Welt stellten McCauley und Segal agieren. Zunehmend kategorisieren Gruppenmitglieder (die
vielleicht mit anderen »Brüdern« und »Schwestern« zusammen
isoliert in Lagern leben) die Welt in Begriffe wie »wir« und »sie«
(Moghaddam 2005; Qirko 2004). Durch diese Resonanz Gleich-
gesinnter werden die Beteiligten noch mehr polarisiert, so spe-
kulierte der US-Nachrichtendienst 2006: »Wir nehmen an, dass
die von radikalisierten Gruppierungen ausgehende operative
Bedrohung noch steigen wird.«

» Wie kann man sich den Aufstieg des Faschismus in den


1930ern erklären? Das Aufkommen radikaler Studentenbe-
wegungen in den 1960ern? Die Zunahme des Islamischen
Terrorismus in den 1990ern? … Etwas ganz Einfaches ver-
bindet diese Themen: Wenn sich eine Gruppe Gleichgesinnter
zusammenfindet, driftet ihre Meinung sehr wahrscheinlich ins
Extreme. [Das] ist das Phänomen der Gruppenpolarisierung.
Cass Sunstein, Going to Extremes, 2009

Meine ersten Erfahrungen in der Sozialpsychologie sammelte ich


mit Experimenten zur Gruppenpolarisierung. Dennoch hätte ich
mir nie vorstellen können, welche potenziellen Gefahren, aber
auch Möglichkeiten, die Polarisierung in virtuellen Gruppen ber-
. Abb. 15.19 Gruppenpolarisierung. Wenn eine Gruppe ähnlich gesinnt gen könnte. Mithilfe elektronischer Kommunikation und sozia-
ist, verstärkt eine Diskussion die vorherrschenden Meinungen. Gespräche
ler Netzwerke bildeten sich virtuelle Gemeinschaften, in denen
über ethnische Themen vergrößerten die Vorurteile einer Schülergruppe
einer Highschool mit großen Vorurteilen und verringerten diese bei einer sich Menschen von anderen isolieren können, die ihre Ansichten
Gruppe mit nur geringen Vorurteilen. (Nach Myers u. Bishop 1970) nicht teilen. Man liest Blogs, in denen die eigene Meinung ver-
616 Kapitel 15 · Sozialpsychologie

»Fiasko in der Schweinebucht«. 1961 trafen Präsident John F.


Kennedy und seine Berater die Entscheidung, in Kuba mit 1400
vom CIA instruierten Exilkubanern einzumarschieren. Als die
Angreifer einfach gefangen genommen wurden und bald mit der
US-Regierung in Verbindung gebracht wurden, fragte sich Ken-
nedy im Nachhinein: »Wie konnten wir bloß so dumm sein?«

» Meine Lektüre der Geschichtsbücher lehrte mich eines:


Eine der Gefahren im Weißen Haus ist es, dass man dem
Gruppendenken verfällt, jeder allem zustimmt und es keine
Diskussionen und abweichenden Meinungen gibt.
Barack Obama, Pressekonferenz am 1.12.2008

Um dies herauszufinden, untersuchte Janis (1982) den Entschei-


dungsfindungsprozess, der zu diesem Fiasko führte. Er stellte fest,
. Abb. 15.20 Das Netzwerk Gleichgesinnter in der Blogosphäre. Libe- dass der neu gewählte Präsident und dessen Berater, deren mora-
rale Blogs (blau) sind meist nur untereinander verlinkt, so wie auch konser-
lische Ansprüche sehr hoch waren, diesem Plan bedingungsloses
vative Blogs (rot). Die Größe jedes Blog-Punktes repräsentiert die Anzahl
der anderen Blogs, die darauf verlinken. (Aus Adamic & Glance, 2005, Vertrauen entgegenbrachten. Zugunsten des guten Gruppenge-
© 2005 Association for Computing Machinery, Inc. Reprinted by permission.) fühls unterdrückten oder zensierten andere ihre abweichenden
Meinungen selbst, insbesondere, nachdem Präsident Kennedy
seine Begeisterung für dieses Vorgehen zum Ausdruck gebracht
treten wird; von diesen wiederum wird man auf ähnliche Blogs hatte. Da sich niemand deutlich gegen diesen Vorschlag äußerte,
weitergeleitet (. Abb. 15.20). Da das Internet der Vernetzung gingen alle von einer allgemeinen Zustimmung aus. Janis prägte
Gleichgesinnter dient und ihre Meinungen hier konzentriert zu- den Begriff Gruppendenken (»groupthink«), um dieses harmo-
sammenlaufen, können Gegner des Klimawandels, Opfer von nische, aber nicht realitätsangemessene Denken einer Gruppe zu
UFO-Entführungen und Verschwörungstheoretiker sich hier beschreiben.
gegenseitig in ihren Ideen und Verdächtigungen unterstützen.
Gruppendenken (»groupthink«) – Denkweise, die dann auftritt, wenn
Weiße, die den Wunsch nach einer Vorherrschaft der weißen in einer Gruppe das Harmoniebedürfnis bei Entscheidungen stärker ist als
»Rasse« hegen, können noch rassistischer werden. Angehörige die realistische Bewertung von Alternativen.
von Milizen können sich noch mehr dem Terrorismus zuneigen.
In den Echoräumen der virtuellen Welt gilt das Gleiche wie in der Später untersuchten Janis und andere weitere historische Fiaskos,
realen Welt: Trennung und Kommunikation ergeben zusammen wie etwa die nicht gelungene Vorhersage des japanischen
15 Polarisierung. Angriffs auf Pearl Harbor im Jahre 1941, die Eskalation des
Aber das Prinzip des Internet, als sozialer Verstärker zu fun- Vietnam-Kriegs, die Watergate-Affäre, die Reaktorkatastrophe
gieren, kann auch positive Wirkungen haben. Soziale Netzwerke, von Tschernobyl (Reason 1987), die Explosion der Weltraum-
so wie Facebook, verbinden Freunde und Familienmitglieder mit fähre Challenger (Esser u. Lindoerfer 1989) und den Irak-Krieg,
gemeinsamen Interessen oder Problemen. Friedensstifter, Men- der auf der falschen Annahme basierte, dass der Irak Massenver-
schen, die Krebs überlebt haben, oder Eltern, die ihre Kinder nichtungswaffen besaß (U.S. Geheimdienstausschuss 2004). Sie
verloren haben, können Trost und Unterstützung bei Gleich- stellten fest, dass auch in diesen Fällen das Gruppendenken von
gesinnten finden. Durch das Teilen von Anliegen und Meinun- übermäßigem Vertrauen, Konformismus, Selbstrechtfertigung
gen kann die Kommunikation im Internet auch soziale Projekte und Gruppenpolarisierung gekennzeichnet war.
fördern. (Ich spreche aus persönlicher Erfahrung, da ich mit
anderen Gehörlosen über soziale Netzwerke kommuniziert habe,
» Die Wahrheit entspringt der Debatte unter Freunden.
Der Philosoph David Hume (1711–1776)
um eine Änderung der Hörassistenzsysteme in Amerika zu er-
wirken.) Trotz dieser Fiaskos und Tragödien ist eine Diskussion mit meh-
Merken Sie sich: Durch die Verbindung und Verstärkung der reren Teilnehmern sinnvoll, wenn man bestimmte Arten von
Neigungen Gleichgesinnter kann das Internet sehr, sehr schlecht, Problemen lösen will. Weil Janis das wusste, untersuchte er auch
aber auch sehr, sehr gut sein. Vorkommnisse, in denen amerikanische Präsidenten und ihre
Berater gemeinsam richtige Entscheidungen getroffen hatten,
Gruppendenken wie etwa, als die Truman-Regierung den Marshall-Plan ausar-
Gruppeninteraktionen können also unsere persönlichen Ent- beitete, der Europa nach dem Zweiten Weltkrieg unterstützte,
scheidungen beeinflussen. Können sie sogar wichtige Entschei- und als es der Kennedy-Regierung gelang, die Sowjetunion da-
dungen verzerren, die ganze Länder betreffen? Denken Sie an das von abzuhalten, Raketen auf Kuba zu stationieren. In solchen
15.2 · Sozialer Einfluss
617 15
Fällen – Janis geht im Übrigen davon aus, dass dies auch auf die
Arbeitswelt zutrifft – wird das Gruppendenken verhindert, wenn
der Gruppenleiter für unterschiedliche Meinungen offen ist, die
Kritik von Experten bei der Entwicklung von Entwürfen begrüßt
und die Teilnehmer auffordert, mögliche Probleme herauszu-
arbeiten.
Ebenso, wie die Unterdrückung von Meinungsverschieden-
heiten durch eine Gruppe falsche Entscheidungen zur Folge
haben kann, führen offene Debatten oft zu guten Ergebnissen.
Dies trifft vor allem in bunt gemischten Gruppen zu, in denen
durch das Aufeinandertreffen verschiedener Perspektiven oft
kreative und hochwertige Lösungen gefunden werden (Nemeth
u. Ormiston 2007; Page 2007). Keiner von uns ist so klug wie wir
alle zusammen.

» Wenn du einen Apfel hast und ich einen Apfel habe und wir
tauschen unsere Äpfel – dann hat jeder von uns nach wie
vor einen Apfel. Doch wenn du eine Idee hast und ich eine
Idee habe und wir tauschen diese aus – dann hat jeder von
uns zwei Ideen.
Dem Dramaturgen George Bernard Shaw (1856–1950) . Abb. 15.21 Gandhi. Wie das Leben des hinduistischen Nationalisten und
zugeschrieben spirituellen Führers Mahatma Gandhi in aller Deutlichkeit bezeugt, kann
die konsequente und beharrliche Stimme einer Minderheit manchmal die
Mehrheit überzeugen. Die gewaltlosen Aufrufe und Hungerstreiks Gandhis
Die Macht des Einzelnen trugen dazu bei, dass Indien 1947 die Unabhängigkeit von Großbritannien
erreichte. (© picture-alliance / dpa)
Wenn wir die Macht des sozialen Einflusses betonen, dürfen wir
unsere Macht als Individuen nicht übersehen. Soziale Kontrolle
(die Macht der Situation) und persönliche Kontrolle (die Macht des umstrittene Einstellung oder ein ungewöhnliches Wahrneh-
Individuums) interagieren. Menschen sind keine Billardkugeln. mungsurteil zum Ausdruck brachten. Sie stellten wiederholt fest,
Wenn wir unter Druck geraten, tun wir vielleicht das Gegenteil dass eine Minderheit, die unbeirrbar ihre Meinung vertritt,
dessen, was von uns erwartet wird, und betonen so unser Streben weit erfolgreicher dabei ist, die Mehrheit zu überzeugen, als eine
nach Freiheit (Brehm u. Brehm 1981). Das Engagement Einzelner Minderheit, die unsicher zu sein scheint. Wenn Sie konsequent
kann die Mehrheit überzeugen und Sozialgeschichte schreiben. eine Minderheitenmeinung vertreten, wird Sie das nicht belieb-
Wäre dies nicht so, wäre der Kommunismus eine obskure Theorie ter machen, aber es kann Sie einflussreicher machen. Dies trifft
geblieben, die Christen eine kleine Sekte im Nahen Osten, und die vor allem dann zu, wenn Ihr Selbstvertrauen andere dazu anregt,
Weigerung von Rosa Parks, sich im Bus nach hinten zu setzen, zu überlegen, warum Sie so reagieren. Sogar wenn der Einfluss
hätte nicht die Bürgerrechtsbewegung der afroamerikanischen einer Minderheit noch nicht sichtbar ist, kann dies dazu führen,
Bevölkerung in den USA ausgelöst (. Abb. 15.21). Auch die Ge- dass einige Anhänger der Mehrheitsmeinung ihre Auffassungen
schichte der Technik entsteht oft durch innovative Minderheiten, überdenken (Wood et al. 1994). Die Macht des sozialen Ein-
die den Widerstand der Mehrheit gegenüber Veränderungen flusses ist ungeheuer groß, aber die Macht des Engagements Ein-
überwinden. Die Eisenbahn war für viele eine verrückte Idee; zelner ebenso.
einige Bauern hatten sogar Angst, dass der Lärm der Züge ihre
Prüfen Sie Ihr Wissen
Hennen davon abhalten könnte, Eier zu legen. Die Leute ver-
höhnten Robert Fultons Dampfschiff als »Fultons Verrücktheit«. 5 Was ist soziale Erleichterung und ist es wahrscheinlicher,
Fulton sagte später: »Keine ermunternde Bemerkung, kein Hoff- dass sie bei gut gelernten oder bei neuen Aufgaben auf-
nungsschimmer, kein guter Wunsch ist mir je zu Ohren gekom- tritt? Warum?
men.« Der Druckerpresse, dem Telegrafen, der Glühbirne und 5 Menschen strengen sich tendenziell weniger an,
der Schreibmaschine wurde zunächst ähnliches Misstrauen ent- wenn sie in einer Gruppe arbeiten, als wenn sie alleine
gegengebracht (Cantril u. Bumstead 1960). arbeiten. Das nennt man .
Sozialpsychologen wollten den Einfluss von Minderheiten, 5 Sie organisieren ein Treffen von politischen Konkurren-
die Macht von einem oder zwei Individuen, Mehrheiten zu über- ten. Um es lustiger zu machen, haben Ihre Freunde
zeugen, besser verstehen (Moscovici 1985). Sie untersuchten 6
Gruppen, in denen ein oder zwei Menschen konsequent eine
618 Kapitel 15 · Sozialpsychologie

Wenn man der Überzeugung ist, dass übergewichtige Menschen


vorgeschlagen, Masken der Kandidaten an die jeweiligen gefräßig sind, man Antipathien gegenüber Übergewichtigen
Unterstützer auszuteilen. Welches Phänomen könnten hegt und niemanden einstellen oder privat treffen möchte, der
diese Masken auslösen? übergewichtig ist, dann handelt es sich um ein Vorurteil. Beim
5 Wenn in einer Gruppe das Harmoniebedürfnis stärker Vorurteil handelt es sich um eine negative Einstellung; eine
ist als die realistische Abwägung von Alternativen, tritt Diskriminierung ist ein negatives Verhalten.
auf.
Vorurteil (»prejudice«) – ungerechtfertigte (und in der Regel negative)
Einstellung gegenüber einer Gruppe und ihren Mitgliedern. Vorurteile
beinhalten i. Allg. stereotype Überzeugungen, negative Gefühle und die
Bereitschaft zu diskriminierendem Verhalten.
15.3 Soziale Beziehungen Stereotyp (»stereotype«) – verallgemeinernde (manchmal richtige,
oft aber übergeneralisierende) Einstellung gegenüber einer Gruppe von
Menschen.
Wir haben gezeigt, wie wir über andere denken und wie wir ein-
Diskriminierung (»discrimination«) – nicht zu rechtfertigendes, negatives
ander beeinflussen. Nun kommen wir zum dritten Schwerpunkt Verhalten gegenüber einer Gruppe oder ihren Mitgliedern.
der Sozialpsychologie: zu der Frage, wie wir zueinander in Be-
ziehung treten. Was bringt uns dazu, jemanden zu schädigen,
ihm zu helfen oder uns zu verlieben? Wie können wir aus einem Wie sehr sind Menschen von Vorurteilen geprägt?
zerstörerischen Konflikt eine friedliche Situation schaffen? Wir Um etwas über Vorurteilsniveaus zu erfahren, können wir er-
werden dabei positive und negative Aspekte berücksichtigen, fassen, was Menschen sagen und was sie tun. Nach dem, was
Vorurteile und Aggressionen, aber auch Attraktivität, Altruismus Amerikaner sagen, haben sich die Einstellungen gegenüber dem
und die Möglichkeiten, Frieden zu stiften. anderen Geschlecht und gegenüber ethnischen Gruppen in den
letzten 50 Jahren dramatisch verändert. Von einem Drittel der
Amerikaner, die im Jahre 1937 in einer Meinungsumfrage an-
15.3.1 Vorurteil gaben, dass sie für eine qualifizierte Frau stimmen würden, wenn
ihre Partei eine Präsidentschaftskandidatin nominieren würde,
stieg die Zahl auf 89% im Jahre 2007 an (Gallup Brain 2008; Jones
? 15.7 Was sind Vorurteile? Welche sozialen und emotionalen
u. Moore 2003). Fast alle stimmen den Aussagen zu, dass Kinder
Wurzeln haben sie?
unterschiedlicher ethnischer Gruppen dieselbe Schule besuchen
Vorurteil bedeutet »vorzeitige Beurteilung«. Es ist eine unge- und dass Frauen und Männer dasselbe Gehalt für die gleiche
rechtfertigte und normalerweise negative Einstellung gegenüber berufliche Tätigkeit bekommen sollten.
einer Gruppe – oft gegenüber einer kulturell, ethnisch oder in Auch die Unterstützung für alle Formen des Kontakts
15 Bezug auf das Geschlecht andersartigen Gruppe. Wie alle Ein- zwischen den ethnischen Gruppen nahm dramatisch zu –
stellungen, so sind auch Vorurteile eine Mischung aus dazu gehören auch Rendezvous mit Angehörigen anderer
4 Überzeugungen (Stereotype genannt), ethnischer Gruppen. 9 von 10 Amerikanern im Alter von 18
4 Emotionen (Feindseligkeit, Neid oder Angst) und der bis 29 Jahren fänden es in Ordnung, wenn ein Familienmitglied
4 Bereitschaft, sich in einer bestimmten Weise zu verhalten ein Mitglied einer anderen Rasse heiraten würde (Pew 2010;
(diskriminierend). (. Abb. 15.22).

. Abb. 15.22 Veränderung von Vorurteilen im Lauf der Zeit. Die Zustimmung bei Amerikanern zu einer Heirat zwischen zwei Mitgliedern unterschied-
licher Ethnien hat während der letzten 25 Jahre zugenommen (Pew 2010)
15.3 · Soziale Beziehungen
619 15

Unter der Lupe

Das automatische Vorurteil

Wie wir im gesamten Buch erfahren haben, halten vorhersagen können – von einfachen wurden zwei Forscherteams neugierig und
verarbeiten wir Gedanken, Erinnerungen und Akten der Freundlichkeit bis hin zur Einschät- stellten die Situation nach (Correll et al. 2002,
Einstellungen auf zwei Ebenen: der bewussten zung von Arbeitsleistung (Greenwald et al. 2007; Greenwald et al. 2003). Sie baten Ver-
und der unbewussten Ebene. In bestimmtem 2009). In der US-Präsidentschaftswahl 2008 suchsteilnehmer, so schnell wie möglich be-
Maße sind unser Denken, unsere Erinnerungen sagten sowohl implizite als auch explizite Vor- stimmte Knöpfe zu drücken, um zu »schießen«
und unsere Einstellungen explizit – sie be - urteile voraus, ob ein Wähler Barack Obama oder »nicht zu schießen«, sobald ein Mann
finden sich auf dem Radarschirm unseres Be- unterstützen würde. Die Wahl Obamas zum auf dem Bildschirm erschien, der entweder
wusstseins. In noch größerem Ausmaß sind sie Präsidenten wiederum reduzierte teilweise eine Waffe in der Hand hielt oder einen
implizit – nicht auf dem Radarschirm, so dass implizite Vorurteile in den USA (Bernstein et al. harmlosen Gegenstand wie eine Taschen-
uns nicht bewusst ist, inwiefern unsere Ein- 2010; Payne et al. 2010). lampe oder eine Flasche. Die Versuchsteil-
stellungen unser Verhalten beeinflussen. nehmer (in einer dieser Studien sowohl
Moderne Studien zu impliziten, automatischen Unbewusste Schonung Schwarze als auch Weiße) schossen häufiger
Einstellungen deuten darauf hin, dass es sich Harber (1998) bat weiße Studentinnen, einen irrtümlich auf Zielpersonen, wenn diese
beim Vorurteil oft eher um einen Reflex als um fehlerhaften Aufsatz zu bewerten, der angeb- schwarz waren. Wenn Versuchspersonen sehr
eine Entscheidung handelt. Beschäftigen wir lich von einem weißen oder einem schwarzen kurz ein schwarzes Gesicht als Prime sehen,
uns einmal mit den Befunden zu rassistischen Kommilitonen verfasst worden war. Wenn sie ist es außerdem wahrscheinlicher, dass sie ein
Vorurteilen in den USA. glaubten, der Verfasser sei ein Schwarzer, Werkzeug mit einer Waffe verwechseln, als
gaben die Studentinnen deutlich bessere Ein- wenn ein weißes Gesicht als Prime gezeigt
Implizite rassistische Assoziationen stufungen ab und brachten nie die harsche wird (. Abb. 15.23).
Greenwald et al. (1998, 2009) zeigten mit Hilfe Kritik zum Ausdruck wie bei den Aufsätzen, die
des »Impliziten Assoziationstests«, dass sogar sie weißen Verfassern zuordneten. Stimmten Reflexartige Körperreaktionen
Menschen, die bestreiten, rassistische Vorur- die Beurteilerinnen ihre Bewertungen mit Selbst Menschen, die bewusst wenige Vorur-
teile zu haben, möglicherweise negative Asso- ihrem ethnischen Stereotyp ab, fragte sich teile äußern, senden möglicherweise verräte-
ziationen aufweisen. (Bis zum Jahr 2011 haben Harber, und kann das dazu geführt haben, rische Signale aus, wenn ihr Körper selektiv auf
fast 5 Mio. Menschen den »Impliziten Asso- dass sie die schwarzen Verfasser durch weni- die Ethnie eines anderen Menschen reagiert.
ziationstest« durchgeführt, so wie auch Sie das ger strenge Standards schonten? Neurowissenschaftler können diese unmittel-
auf http://www.implicit.harvard.edu tun Wenn das bei Bewertungen in der realen Welt baren Reaktionen beim Anblick weißer und
können.) Beispielsweise brauchten 90% der so gewesen wäre, hätten die geringen Erwar- schwarzer Gesichter erfassen. In einigen Stu-
weißen Befragten länger, um ein angenehmes tungen und infolgedessen »inflationäres Lob dien fand man ein implizites Vorurteil anhand
Wort (wie »Frieden« und »Paradies«) als »gut« und ungenügende Kritik« den Erfolg von der Gesichtsmuskelreaktionen und der Akti-
einzustufen, wenn es zusammen mit schwar- Studierenden aus ethnischen Minderheiten vierung der Amygdala, einem emotionsverar-
zen Gesichtern dargeboten wurde, als wenn es behindern können. (Um derartige Verzerrun- beitenden Zentrum (Cunningham et al. 2004;
zusammen mit weißen Gesichtern präsentiert gen auszuschließen, lesen viele Dozenten Auf- Eberhardt 2005; Stanley et al. 2008).
wurde. Zudem waren Menschen, die gute sätze in anonymisierter Form.) Wenn Sie einmal selbst Ihre Bauchgefühle
Dinge schneller mit weißen Gesichtern asso- überprüfen, dann kommen dabei manchmal
ziierten, auch am schnellsten dabei, in schwar- Ethnisch beeinflusste Wahrnehmung Gefühle heraus, die Sie lieber nicht gegenüber
zen Gesichtern Wut und offene Bedrohung Unsere Erwartungen beeinflussen unsere anderen Menschen hätten. Denken Sie dann
wahrzunehmen (Hugenberg u. Bodenhausen Wahrnehmung. Als Amadou Diallo 1999 auf daran: Wichtig ist, was wir mit unseren Gefüh-
2003). sein Wohnhaus zuging, wurde er von vier Poli- len machen. Indem wir unsere Gefühle und
Auch wenn der Test sehr nützlich ist, um auto- zisten angesprochen, die nach einem Ver- Handlungen beobachten und indem wir alte
matische Vorurteile zu untersuchen, warnen gewaltiger fahndeten. Als er seine Brieftasche Gewohnheiten durch neue ersetzen, die auf
Kritiker davor, ihn zu verwenden, um Indivi- herausholen wollte, dachten die Polizisten, er neuen Freundschaften beruhen, können wir
duen einzuschätzen oder abzustempeln (Blan- ziehe eine Pistole, und durchlöcherten seinen uns von Vorurteilen befreien.
ton et al. 2006, 2007, 2009). Befürworter des Körper mit 19 Kugeln von 41 Schüssen. Durch
Tests entgegnen, dass implizite Vorurteile Ver- diese Tötung eines unbewaffnete Mannes

Aber auch wenn offene Vorurteile abnehmen, lauern die Ende des 20. Jahrhunderts viele »Gastarbeiter« und Flüchtlinge
subtilen Vorurteile im Geheimen. Trotz zunehmender verbaler zugezogen sind, hat das »moderne Vorurteil« – die Ablehnung
Unterstützung interethnischer Ehen, geben viele Menschen zu, von Minderheiten mit Migrationshintergrund bei der Bewerbung
dass sie sich in einer intimen sozialen Situation (Rendezvous, um eine berufliche Position aus angeblichen nichtrassistischen
Tanzen, Heirat) unwohl fühlen würden, wenn jemand von einer Gründen – das offene Vorurteil ersetzt (Jackson et al. 2001; Lester
anderen ethnischen Gruppe dabei wäre. Und viele, die sagen 2004; Pettigrew 1998, 2006). Bei einer ganzen Reihe kürzlich
sie würden sich über rassistische Äußerungen ärgern, reagieren durchgeführter Experimente zeigte sich, dass ein Vorurteil nicht
vollkommen unbeteiligt, wenn sie wirklich solchen Äußerun- nur subtil sein kann, sondern auch automatisch und unbewusst
gen ausgesetzt sind (Kawakami et al. 2009). In Westeuropa, wo am (7 Unter der Lupe: Das automatische Vorurteil).
620 Kapitel 15 · Sozialpsychologie

. Abb. 15.23a–c Ethnische Hinweise beeinflussen unsere Wahrnehmung. In Experimenten von Keith Payne (2006) sahen die Teilnehmer die folgende
Bildersequenz: ein weißes oder ein schwarzes Gesicht, sofort danach eine Pistole oder ein Werkzeug und danach eine visuelle Maskierung. Die Teilnehmer
verwechselten das Werkzeug wahrscheinlicher mit einer Waffe, wenn sie vorher ein schwarzes Gesicht gesehen hatten. (a: © Getty Images / iStockphoto;
b: © reka100 / Fotolia; c: Aus Payne 2006, Copyright © 2006 by SAGE Publications. Reprinted by Permission of SAGE Publications)

Dennoch bleiben Vorurteile in vielen Bereichen bestehen. Mortalität und das normale Zahlenverhältnis von 105 Jungen zu
Nach den Ereignissen des 11. September 2001 und der Kriege im 100 Mädchen bei der Geburt erklären die geschätzten 163 Mio.
Irak und in Afghanistan gaben 4 von 10 Amerikanern zu, »Vor- (sprechen Sie sich diese Zahl ganz langsam selbst vor) »fehlenden
urteile gegenüber Muslimen« zu haben; ungefähr die Hälfte der Frauen« wohl kaum (Hvistendahl 2011). An vielen Orten wird
nichtmuslimischen Europäer und Amerikaner nahm Muslime den Jungen ein höherer Wert beigemessen als ihren Schwestern.
als »gewalttätig« wahr (Saad 2006; Wike u. Grim 2007). Auf- Aufgrund medizinischer Tests, die Abtreibungen in Abhängig-
grund der gefühlten Bedrohung der Amerikaner durch die keit vom Geschlecht des Fötus ermöglichen, ist in mehreren süd-
Araber und der aufbrausenden Opposition gegenüber dem Bau asiatischen Ländern ein Rückgang der Geburten von Mädchen
islamischer Moscheen und der Einwanderung stellte ein Beob- registriert worden (. Abb. 15.24). Obwohl China die Abtreibung
achter 2010 fest: »Die Muslime sind eine der letzten Minder- in Abhängigkeit vom Geschlecht – den Femizid – zum krimi-
heiten, die man in den USA immer noch öffentlich erniedrigen nellen Vergehen erklärt hat, beträgt das Zahlenverhältnis bei
darf« (Kristof 2010; Lyons et al. 2010). Die Muslime erwiderten Neugeborenen 118 Jungen zu 100 Mädchen (Hvistendahl 2009,
diese negative Einstellung – so sehen die meisten Muslime in 2010, 2011). Auch 95% der Kinder in chinesischen Waisenhäu-
Jordanien, Ägypten, der Türkei und Großbritannien Angehörige sern sind Mädchen (Webley 2009). Da es 32 Mio. mehr Männer
westlicher Kulturen als »gierig« und »unmoralisch« an.
15 » Leider muss die Welt erst noch lernen, mit der Vielfalt
zu leben.
Papst Johannes Paul II., Ansprache vor der UNO, 1995

Bis heute können Schwule und Lesben an kaum einem Ort der
Welt leicht preisgeben, wer sie sind und wen sie lieben. Aber auch
das Vorurteil gegenüber dem anderen Geschlecht und die Dis-
kriminierung bestehen weiter fort. Trotz der Gleichheit der
Geschlechter bei den Intelligenztestwerten neigen Menschen
dazu, ihre Väter als intelligenter wahrzunehmen als ihre Mütter
(Furnham u. Rawles 1995). In Saudi-Arabien dürfen Frauen
nicht Auto fahren. In westlichen Ländern bekommen diejenigen,
die Maschinen bedienen, mit denen unsere Straßen repariert
werden (in der Regel Männer), mehr Lohn als diejenigen, die sich
um unsere Kinder kümmern (in der Regel Frauen). Weltweit
leben Frauen mit einer größeren Wahrscheinlichkeit in Armut
(Lipps 1999) und zwei Drittel der erwachsenen Analphabeten
sind Frauen (CIA 2010).
Weibliche Säuglinge werden nicht mehr in den Bergen aus-
. Abb. 15.24 Mädchenmangel. In mehreren asiatischen Ländern, vor
gesetzt, damit sie an Unterkühlung sterben, wie dies im antiken allem in China, wo die Ein-Kind-Politik gilt, sind männliche Säuglinge in der
Griechenland praktiziert wurde. Doch die natürliche weibliche Überzahl (Abrevaya 2009)
15.3 · Soziale Beziehungen
621 15

. Abb. 15.25a,b Wer ist Ihnen sympathischer? Wer von beiden gab eine Anzeige auf, in der er eine besondere Frau suchte, die er immer lieben und ehren
wird? Antwort: s. im Text. (Courtesy of David Perrett, St. Andrews University)

unter 20 gibt als Frauen, werden viele chinesische Junggesellen Die gesellschaftlichen Wurzeln von Vorurteilen
nicht imstande sein, eine Partnerin zu finden. In den USA tritt Warum kommt es zur Bildung von Vorurteilen? Ungleichheiten
bei chinesischen, koreanischen und indisch-asiatischen Eltern und das Vorhandensein unterschiedlicher gesellschaftlicher
ein bemerkenswerter Effekt bezüglich des Geschlechterverhält- Gruppierungen gehören zu den Ursachen.
nisses auf, wenn sie ein drittes Kind bekommen. Wenn die ersten
beiden Kinder Mädchen sind, ist die Wahrscheinlichkeit, einen jSoziale Ungleichheit
Jungen zu gebären 50% höher als die, ein Mädchen zu bekom- Wenn es Menschen gibt, die Geld, Macht und Prestige haben,
men. Wenn allerdings vorher ein Junge geboren wurde oder die und andere, die diese Dinge nicht haben, dann entwickeln die
Eltern kaukasischer Herkunft sind, kommt dieser Effekt nicht Erstgenannten in der Regel Einstellungen, die diesen Zustand
vor (Almond u. Edlund 2008). rechtfertigen. Dieser Gerechte-Welt-Glaube (»just-world phe-
Viele Studien zeigten jedoch, dass die meisten Menschen in nomenon«) ist eine Vorstellung, die wir gern an unsere Kinder
Bezug auf Frauen im Allgemeinen positivere Gefühle als in Bezug weitergeben: Das Gute wird belohnt, und das Böse wird bestraft.
auf Männer haben (Eagly 1994; Haddock u. Zanna 1994). Auf der Von da aus ist es nur ein kleiner Schritt zu der Annahme, dass die
ganzen Welt sehen Menschen es so, dass Frauen bestimmte Per- Erfolgreichen auch gut sein müssen und die Leidenden schlecht.
sönlichkeitsmerkmale (wie etwa fürsorglich, sensibel und weni- Aufgrund dieser Argumentation können die Reichen sowohl
ger aggressiv) haben, die ihnen besser gefallen (Glick et al. 2004; ihren eigenen Wohlstand als auch das Unglück der Armen als
Swim 1994). Dies kann eine Erklärung dafür sein, dass Frauen gerechtfertigt ansehen (. Abb. 15.26).
gewöhnlich Frauen lieber mögen als Männer ihre Geschlechts-
Gerechte-Welt-Glaube (»just-world phenomenon«) – Tendenz von
genossen (Rudman u. Goodwin 2004). Und vielleicht ziehen die Menschen, zu glauben, dass die Welt gerecht ist und dass Menschen des-
meisten darum auch leicht »feminisierte« am Computer gene- halb bekommen, was sie verdienen, und verdienen, was sie bekommen.
rierte Gesichter – von Männern und Frauen – leicht »masku-
linisierten« Gesichtern vor. Perrett et al. (1998) spekulierten, Weiter verbreitet ist die Wahrnehmung von Frauen als unsicher,
dass ein etwas ins Feminine verändertes Gesicht für Freundlich- aber gefühlvoll, was zu ihrer traditionellen Aufgabe der Kinder-
keit, Kooperationsbereitschaft und andere Persönlichkeits- erziehung passt (Hoffman u. Hurst 1990). Im Extremfall haben
merkmale eines guten Vaters steht. Die BBC bat 18.000 Frauen Sklavenbesitzer die Sklaven als von Natur aus faul, ignorant und
zu raten, welcher der beiden Männer von . Abb. 15.25 wohl verantwortungslos wahrgenommen; sie schrieben ihnen also ge-
eine Kontaktanzeige aufgegeben hatte, in der er auf der Suche nau die Eigenschaften zu, die ihre Versklavung »rechtfertigten«.
nach einer »besonderen Frau, die er immer mögen und zärtlich Durch Vorurteile werden Ungleichheiten als rational dargestellt.
lieben wird«, war. Was denken Sie, auf welches Gesicht tippten Diskriminierung kann in einem Opfer entweder Schuld-
die Frauen? Die Antwort finden Sie am Ende des nächsten Ab- gefühle oder Wut auslösen (Allport 1954). Beide Reaktionen
schnitts im Text. können über die klassische Dynamik der Schuldzuweisung an das
622 Kapitel 15 · Sozialpsychologie

. Abb. 15.26 (Copyright © The New Yorker Collection, 1981, Robert Mankoff / cartoonbank.com)

Opfer ein Nährboden für neue Vorurteile sein. Wenn die Lebens- Fremdgruppe. Derartige Identifizierungen mit einer Gruppe
umstände der Armut zu einer höheren Kriminalitätsrate führen, fördern typischerweise eine Eigengruppenverzerrung, die Be-
kann genau diese höhere Rate dazu verwendet werden, die vorzugung der eigenen Gruppe. Sogar wenn die Unterscheidung
Diskriminierung gegenüber denjenigen zu rechtfertigen, die in zwischen »uns« und »denen« auf reinem Zufall basiert, wenn
Armut leben. Gruppen nach dem Zufallsprinzip des Münzwurfs zusammenge-
stellt werden, führt dies dazu, dass Menschen ihre eigene Gruppe
jWir und sie: Eigengruppe und Fremdgruppe bevorzugen, wenn es darum geht, Belohnungen oder Ähnliches
Von unseren Vorfahren aus der Steinzeit haben wir ein Verlangen aufzuteilen (Tajfel 1982; Wilder 1981).
nach Zugehörigkeit und dem Leben und Lieben in einer Gruppe
Eigengruppe (»in-group«) – »Wir« – die Menschen, mit denen man eine
geerbt. Durch Zusammenhalt erlangte man Sicherheit (wer sich gemeinsame Identität teilt.
nicht in Gruppen zusammenschloss, hatte weniger Nachkom- Fremdgruppe (»out-group«) – »Sie« – diejenigen, die als verschieden oder
men). Egal ob bei der Jagd, der Verteidigung oder im Angriff: getrennt von der eigenen Gruppe wahrgenommen werden.
Zehn Hände waren besser als zwei. Die Welt aufzuteilen in »wir« Eigengruppenverzerrung (»in-group bias«) – Tendenz, die eigene Gruppe

15 und »sie« zieht Rassismus und Krieg nach sich – doch es bringt anderen vorzuziehen.
uns ebenso die Vorteile von Zusammenhalt innerhalb einer
Gruppe. Wir feuern unsere Gruppe an, wir töten für sie, wir Die Notwendigkeit, Feinde von Freunden zu unterscheiden und
sterben für sie. Tatsächlich definieren wir uns selbst, d. h. unsere der eigenen Gruppe zu Dominanz zu verhelfen, legt den Grund-
Identität, teilweise über Gruppenzugehörigkeiten. Die austra- stein für Vorurteile gegenüber Fremden (Whitley 1999). Für die
lischen Psychologen Turner (1987, 2007) und Hogg (1996, 2006) Griechen des Altertums waren alle Nichtgriechen »Barbaren«. Die
stellen fest, dass wir uns über unsere sozialen Identitäten als mit meisten Kinder glauben, dass ihre Schule besser ist als die anderen
bestimmten Gruppen verbunden erleben und uns von anderen Schulen in der Stadt. Auf vielen höheren Schulen bilden die Schü-
abgrenzen. Wenn Stefan sich als Mann, als Deutscher, als Mit- ler Cliquen – Kiffer, Gothics, Skater, Gangster, Freaks, Nerds – und
glied der Grünen, als Student der Universität Bochum, als Katho- machen alle schlecht, die außerhalb stehen. Sogar Schimpansen
lik und als ein »Meier« identifiziert, dann weiß er, wer er ist; wurden dabei beobachtet, wie sie sich die Stelle abwischten, an
und das trifft auch auf uns zu. der sie von einem Schimpansen aus einer anderen Gruppe be-
Die Evolution hat uns darauf vorbereitet, Fremde sofort einzu- rührt worden waren (Goodall 1986). Schimpansen zeigen auch
ordnen: Sind sie Freunde oder Feinde? Wir tendieren dazu, Men- Empathie mit ihrer Eigengruppe: Sie gähnen häufiger, wenn sie
schen aus unserer Gruppe, die so aussehen wie wir und so klingen Mitglieder der Eigengruppe (im Gegensatz zu denen der Fremd-
wie wir – die also den gleichen Dialekt haben – sofort zu mögen. gruppe) gähnen sehen (Campbell u. de Waal 2011).
Dieser Effekt zeigt sich schon in der Kindheit (Gluszek u. Dovidio
2010; Kinzler et al. 2009). Wenn man im Geist einen Kreis zieht, » Denn wenn die Menschen aus allen Bräuchen der Welt
definiert er, wer »wir« sind (Eigengruppe; . Abb. 15.27). Doch wählen könnten, würden sie am Ende doch ihre eigenen
die soziale Definition dessen, was man ist, legt gleichzeitig fest, bevorzugen.
was man nicht ist. Menschen außerhalb des Kreises sind »sie« – die Der griechische Historiker Herodot, 400 v. Chr.
15.3 · Soziale Beziehungen
623 15

. Abb. 15.27 Die Eigengruppe. Schalke-Fans – hier 2013 beim Spiel gegen Bayer 04 Leverkusen – teilen eine soziale Identität, die »uns« (die Schalke-Eigen-
gruppe) und »die anderen« (die Leverkusen-Fremdgruppe) definiert. (© augenklick / firo Sportphoto / dpa)

Die Bevorzugung der Eigengruppe erklärt auch, welch starken Zimbardo (2001) fest. Ein Jahrzehnt nach dem 11. September
Einfluss Parteilichkeit auf unsere Wahrnehmung haben kann 2001 loderte die Wut gegen Muslime immer noch auf: Moscheen
(Cooper 2010; Douthat 2010). In den 1980ern glaubten die meis- wurden angezündet und es gab Bemühungen, den Bau eines is-
ten Demokraten in den USA, dass die Inflation unter Ronald lamischen Gemeindezentrums in der Nähe des »Ground Zero«
Reagan gestiegen sei – in Wirklichkeit fiel sie. 2010 waren die zu stoppen.
meisten Republikaner der Meinung, die Steuern seien unter
Sündenbocktheorie (»scapegoat theory«) – besagt, dass Vorurteile
dem demokratischen Präsidenten Barack Obama gestiegen – ein Ventil für Aggressionen darstellen, indem sie jemanden als Schuldigen
zum Großteil waren sie gesunken. definieren.
Hier die Lösung zu . Abb. 15.25: Forschungsergebnisse legen
nahe, dass leicht feminisierte Gesichter einen sympathischen » Wenn der Tiber die Mauern überflutet, wenn der Nil die
Eindruck machen und eher mit aufopferungsvollen Vätern als Felder nicht flutet, wenn der Himmel stehen bleibt, wenn
mit umtriebigen Schurken assoziiert werden. 66% der befragten die Erde sich bewegt, wenn Hunger herrscht, wenn eine
Frauen wählten als Antwort auf beide oben gestellten Fragen das Krankheit wütet, heißt es sofort: Die Christen vor die Löwen!
am Computer veränderte Gesicht b. Tertullian, Apologeticus, 197 n. Chr.

Emotionale Wurzeln des Vorurteils Belege für diese Sündenbocktheorie des Vorurteils liefern die
Vorurteile gehen nicht nur darauf zurück, dass es unterschied- stark ausgeprägte Vorurteilsbildung unter Menschen, die mit
liche Gruppierungen in der Gesellschaft gibt, sondern auch ihrer wirtschaftlichen Lage unzufrieden sind, sowie Experi-
auf Affekte. Die Sündenbocktheorie sagt Folgendes: Wenn die mente, in denen eine zeitlich begrenzte Frustration die Vorur-
Dinge schief laufen und man einen Schuldigen dafür ausmacht, teile intensiviert. Bei Experimenten, in denen Schüler eine
hat man ein Ziel für den Ärger. Nach dem 11. September 2001 Niederlage erleben oder verunsichert werden, bauen diese oft
ließen einige Menschen ihre Wut an unschuldigen Amerikanern ihr Selbstwertgefühl wieder auf, indem sie eine rivalisierende
arabischer Herkunft aus. Es mehrten sich auch die Rufe danach, Schule oder eine andere Person abwerten (Cialdini u. Richard-
Saddam Hussein zu beseitigen, der bis dahin von den Ameri- son 1980; Crocker et al. 1987). Wenn wir unser eigenes Status-
kanern zähneknirschend toleriert worden war. »Angst und Wut gefühl heben wollen, nützen uns andere, die wir schlecht
führen zu Aggressionen, und Aggressionen gegen Bürger ver- machen können. Aus diesem Grund bereitet uns das Pech
schiedener Abstammungen oder Rassen erzeugen Rassismus eines Konkurrenten manchmal leises Vergnügen. Im Gegen-
und, im Gegenzug, neue Formen von Terrorismus«, stellte satz dazu werden diejenigen, die sich geliebt und unterstützt
624 Kapitel 15 · Sozialpsychologie

fühlen, offener und toleranter gegenüber denen, die anders sind (2011) zeigten diesen Effekt von gelernten Assoziationen, indem
(Mikulincer u. Shaver 2001). sie Neuseeländern Gesichter zeigten, die teils chinesische, teils
kaukasische Gesichtszüge hatten. Im Vergleich zu Versuchs-
» Das Unglück anderer schmeckt nach Honig.
personen chinesischer Abstammung identifizierten die Neu-
Japanisches Sprichwort
seeländer kaukasischer Abstammung viel häufiger nicht ein-
Negative Emotionen verstärken Vorurteile: Im Angesicht des deutig chinesische oder kaukasische Gesichter als chinesisch
Todes, bei Angst vor Bedrohung oder durch frustrierende Erfah- (. Abb. 15.28).
rungen hält man sich stärker an seine Eigengruppe und Freunde. Um Menschen in Gruppen kategorisieren zu können,
Unter lebensbedrohlichen Umständen nimmt der Patriotismus müssen wir sie oft auf Stereotype reduzieren. Wir erkennen, wie
zu und Abscheu und Aggressionen entstehen gegenüber denen, sehr wir uns von anderen Individuen in unserer Gruppe unter-
die die eigene Weltanschauung bedrohen (Pyszczynski et al. scheiden. Aber wir überschätzen die Ähnlichkeit von Personen
2002). Die wenigen Menschen, bei denen man Angst und die in anderen Gruppen (. Abb. 15.29). »Die« (zu einer anderen
damit zusammenhängende Aktivität der Amygdala nicht nach- Gruppe Gehörenden) scheinen alle gleich auszusehen und das
weisen kann (beispielsweise Kinder mit dem erblichen Williams- Gleiche zu tun, aber »wir« unterscheiden uns voneinander (Both-
Syndrom) denken ebenso deutlich weniger in rassistischen well et al. 1989). Für Menschen einer bestimmten ethnischen
Stereotypen und Vorurteilen. Gruppe wirken die Menschen einer anderen oft ähnlicher in
ihrer Erscheinung, ihrer Persönlichkeit und ihren Meinungen,
Kognitive Wurzeln von Vorurteilen als es wirklich der Fall ist. Das Phänomen, dass wir Gesichter
von Mitgliedern unserer eigenen Ethnie besser erkennen – der
? 15.8 Was sind die kognitiven Wurzeln von Vorurteilen?
»Other-Race-Effekt« (auch »Cross-Race-Effekt« oder »Own-
Vorurteile entstehen aus gesellschaftlichen Ungleichheiten, aus Race-Bias« genannt) – manifestiert sich in der frühen Kindheit,
starken Gefühlen und auch aus der Art, wie unser Denken von zwischen 3 und 9 Monaten (Gross 2009; Kelly et al. 2007).
Natur aus funktioniert. Stereotype Überzeugungen sind eine Be-
Other-Race-Effekt (auch Cross-Race-Effekt, Own-Race-Bias; »other-race
gleiterscheinung davon, dass wir die Welt kognitiv vereinfachen. effect«) – Tendenz, sich an Gesichter der eigenen Ethnie besser zu erinnern,
als an die von Mitgliedern anderer Herkunft.
jKategorisierung
Eine Methode, um unsere Welt zu vereinfachen, ist die Bildung Durch Anstrengung und Erfahrung werden Menschen besser
von Kategorien. Ein Chemiker kategorisiert Moleküle als orga- darin, individuelle Gesichter einer anderen Gruppe zu erkennen
nisch und anorganisch. Ein Psychiater kategorisiert psychische (Hugenberg et al. 2010). Zum Beispiel identifizieren Europäer
Störungen. Wir kategorisieren Menschen nach ihrer ethnischen individuelle Gesichter von schwarzen Menschen genauer, wenn
Herkunft, wobei wir uns meistens auf ihre Zugehörigkeit zu Min- sie sich sehr oft Basketball im Fernsehen ansehen. Denn dadurch
15 derheiten beziehen. Obwohl er gemischter Abstammung ist und werden sie mit vielen afroamerikanischen Gesichtern konfron-
von seiner weißen Mutter und ihren Eltern aufgezogen wurde, tiert (Li et al. 1996). Und je länger Chinesen in einem westlichen
wird der amerikanische Präsident Obama von weißen Amerika- Land leben, desto weniger zeigen sie den Cross-Race-Effekt
nern immer als schwarz wahrgenommen. Forscher erklären das (Hancock u. Rhodes 2008).
so: Nachdem wir die Merkmale einer uns gut bekannten ethni-
schen Gruppe gelernt haben, wird unsere selektive Aufmerk- jErinnerungen an beeindruckende Fälle
samkeit vor allem auf die Merkmale von weniger bekannten Wie wir in 7 Kap. 10 gesehen haben, beurteilen wir die Häufig-
Gruppen gelenkt, die anders sind. Jasmin Halberstadt et al. keit von Ereignissen oft danach, wie schnell uns Beispiele dafür

. Abb. 15.28 Kategorisierung von Menschen gemischter Herkunft. Neuseeländer sollten 104 Gesichter schnell entsprechend ihrer Ethnie klassifizieren.
Dabei ordneten die Teilnehmer europäischer Abstammung die zwei mittleren, uneindeutigen Gesichter viel öfter als chinesisch ein als die Teilnehmer mit
chinesischer Abstammung (Halberstadt et al. 2011, Copyright © 2011 by SAGE Publications. Reprinted by Permission of SAGE Publications)
15.3 · Soziale Beziehungen
625 15

. Abb. 15.30 Beeindruckende Beispiele fördern die Bildung von Stereo-


typen. Die islamischen Terroristen des 11. September haben in vielen
Köpfen ein übertriebenes Stereotyp von Muslimen als potenziellen Atten-
tätern geschaffen. Tatsächlich sind jedoch die meisten Terroristen keine
Muslime, berichtete ein Ausschuss des National Research Council zum Terro-
rismus, als er diese ungenaue Illustration veröffentlichte, und »die große
Mehrheit der islamischen Menschen habe keine Verbindung zum Terroris-
mus und sympathisiere auch nicht damit« (Smelser u. Mitchell 2002)

dass diese bekommen hätten, was sie verdienten? In manchen


Ländern, beispielsweise in Pakistan, werden Frauen nach einer
Vergewaltigung teilweise hart bestraft mit der Begründung, dass
sie ein Gesetz gegen Ehebruch verletzt hätten (Mydans 2002).
Ein Experiment von Janoff-Bulman et al. (1985) illustriert
dieses Phänomen der Schuldzuweisung an das Opfer (»blaming
. Abb. 15.29 (© Dave Coverly / Speed Bump)
the victim«). Wenn die Teilnehmer die detaillierte Schilderung
eines Treffens erhielten, das damit endete, dass die Frau
einfallen. In einem klassischen Experiment teilten Rothbart vergewaltigt wurde, wurde das Verhalten der Frau zumin-
et al. (1978) Studierende in zwei Gruppen auf und gaben dest teilweise dafür mitverantwortlich gemacht. Rückblickend
ihnen dann Informationen über 50 Menschen. Auf der Liste dachten sie: »Sie hätte es besser wissen müssen.« (Dem Opfer
der ersten Gruppe waren zehn Menschen aufgeführt, die die Schuld zu geben, dient Menschen auch zu ihrer eigenen Be-
wegen nicht gewalttätiger Verbrechen, etwa Fälschung, inhaf- stätigung, dass ihnen selbst so etwas nicht passieren könnte.)
tiert waren. Die andere Gruppe erhielt eine Liste, auf der zehn Andere, denen derselbe Ablauf geschildert worden war, nur
Menschen aufgeführt waren, die wegen Gewaltverbrechen, ohne die Vergewaltigung am Schluss, beurteilten das Verhalten
beispielsweise Überfällen, inhaftiert waren. Als dann später der Frau nicht so, dass es quasi zur Vergewaltigung einge-
beide Gruppen aus dem Gedächtnis sagen sollten, wie viele laden hätte.
Männer von ihrer Liste irgendeine Art von Verbrechen begangen Wir Menschen tendieren außerdem dazu, die sozialen Sys-
hatten, überschätzten die Mitglieder der zweiten Gruppe die teme innerhalb unserer eigenen Kultur zu rechtfertigen (Jost et
Anzahl. Beeindruckende (gewalttätige) Fälle bleiben uns eher al. 2009; Kay et al. 2009): Dinge sind so, weil sie so sein sollen.
im Gedächtnisund beeinflussen unser Urteil über eine Gruppe Diese konservative Ansicht erschwert die Gesetzgebung bezüg-
(. Abb. 15.30). lich bedeutsamer sozialer Veränderungen – beispielsweise in
Bezug auf die Gesundheitspolitik oder den Klimawandel. Sobald
jGlaube an eine gerechte Welt solche Veränderungen aber stattgefunden haben, werden sie
Wie bereits ausgeführt, rechtfertigen Menschen ihre Vorurteile durch unsere Rechtfertigung des Systems auch bewahrt.
dadurch, dass sie diejenigen, gegen die die Vorurteile gerichtet
Prüfen Sie Ihr Wissen
sind, für schuldig halten. Die Welt ist gerecht, und deshalb »kriegt
jeder, was er verdient«. Wie es ein deutscher Zivilist ausgedrückt 5 Wenn wir durch vorurteilsbehaftete Urteilsbildung einen
haben soll, als er kurz nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs das Unschuldigen für ein Problem verantwortlich machen,
KZ Bergen-Belsen besuchte: »Was für schreckliche Verbrecher wird diese Person genannt.
müssen diese Gefangenen gewesen sein, dass sie so behandelt
wurden.«
Das Phänomen der Verzerrung durch nachträgliche Einsicht
(Hindsight-Bias) spielt hier ebenfalls eine Rolle (Carli u. Leonard
1989). Haben Sie jemals jemanden über Opfer von Vergewal-
tigungen oder Missbrauch oder über Aidskranke sagen hören,
626 Kapitel 15 · Sozialpsychologie

15.3.2 Aggression

? 15.9 Inwiefern unterscheidet sich die psychologische Defi-


nition von Aggression von der Verwendung des Begriffs
im Alltag? Welche biologischen Faktoren bringen uns dazu,
anderen wehzutun?

Vorurteile können verletzend sein. Doch noch verletzender ist


meist die Aggression. In der Psychologie gilt als Aggression jedes
physische oder verbale Verhalten, mit dem die Absicht verfolgt
wird, zu verletzen oder zu zerstören, egal ob es reaktiv aus Feind-
seligkeit entsteht oder aktiv als kalkuliertes Mittel zum Zweck
fungiert. Der selbstbewusste, beharrliche Verkäufer ist nicht ag-
gressiv. Auch der Zahnarzt nicht, der Sie vor Schmerzen wim-
mern lässt. Aggressiv jedoch ist die Person, die ein übles Gerücht
über Sie weitergibt, die Person, die Sie verbal angreift, und der
Räuber, der Sie ausraubt.
Aggression (»aggression«) – jedes körperliche oder verbale Verhalten,
das mit der Absicht ausgeführt wird, zu verletzen oder zu zerstören.

Aggressives Verhalten entsteht aus einer Interaktion von Bio-


logie und Erfahrung (. Abb. 15.31, . Abb. 15.32). Damit ein
. Abb. 15.31 (Copyright © The New Yorker Collection, 1995, Donald Reilly /
Revolver feuert, muss der Abzug gedrückt werden; bei manchen
cartoonbank.com)
Leuten ist es wie bei Waffen, deren Abzug extrem leichtgängig
ist: Es braucht nicht viel, um den Schuss auszulösen. Sehen wir
uns also erst die biologischen Faktoren an, die unsere Hemm- die hinsichtlich Geschlecht, Ethnie, Alter und Wohnumfeld diesel-
schwelle für aggressives Verhalten beeinflussen, und anschlie- ben Voraussetzungen haben, tragen diejenigen mit einer Waffe im
ßend die psychologischen Faktoren, die uns auf den Abzug Haus (paradoxerweise als Selbstschutz gedacht) ein 3-fach höheres
drücken lassen. Risiko, zu Hause ermordet zu werden – fast immer von einem Fa-
milienmitglied oder einem nahen Bekannten. Auf jeden Gebrauch
In den letzten 40 Jahren wurden in den USA weit über 1 Mio. Men- der Waffe zur Selbstverteidigung kommen 4 unbeabsichtigte

15 schen durch Schusswaffen getötet – mehr als in allen Kriegen der Schüsse, 7 kriminelle Angriffe oder Morde sowie 11 Suizidversuche
amerikanischen Geschichte zusammen. Verglichen mit Menschen, oder vollzogene Suizide (Kellermann et al. 1993, 1997, 1998).
6

. Abb. 15.32 Auch das moderne männliche Revierverhalten lässt zeitweise noch vorgeschichtliche Züge erkennen. (© Claudia Styrsky)
15.3 · Soziale Beziehungen
627 15
Biologie der Aggression Reifung der Frontallappen wird das Auftreten von
Aggression ist von Kultur zu Kultur, von Jahrhundert zu Jahr- Aggression gefördert (Amen et al. 1996; Davidson 2000;
hundert und von Person zu Person sehr unterschiedlich. Weil Raine 1999, 2005).
Aggression so variiert, kann man sie nicht als angeboren, son-
dern muss sie als erlernt ansehen. Aber die Biologie beeinflusst jBiochemische Einflussfaktoren
die Aggression. Wir können auf drei Niveaus nach biologischen Unsere Gene bauen unser individuelles Nervensystem auf, das
Einflussfaktoren suchen: auf dem genetischen, dem neuronalen elektrochemisch funktioniert. Das Hormon Testosteron beispiels-
und dem biochemischen Niveau. weise ist im Blutkreislauf vorhanden und beeinflusst die neuro-
nalen Systeme, die für die Kontrolle von Aggression zuständig
jGenetische Einflussfaktoren sind. Ein wilder Stier wird zu einem zahmen Ochsen, wenn eine
Gene beeinflussen Aggression. Wir wissen das, da Tiere so ge- Kastration seinen Testosteronspiegel verringert. Dasselbe passiert
züchtet werden, dass sie aggressiv sind, manchmal für den Sport, mit kastrierten Mäusen. Wenn den kastrierten Mäusen dann
manchmal zu Forschungszwecken. Zwillingsstudien geben Hin- Testosteron injiziert wird, werden sie wieder aggressiv. Obwohl
weise darauf, dass Gene auch die menschliche Aggression be- Menschen weniger sensibel auf hormonelle Veränderungen
einflussen (Miles u. Carey 1997; Rowe et al. 1999). Wenn ein reagieren, verringert sich bei Männern mit zunehmendem Alter
Zwilling eines eineiigen Paares zugesteht, »ein zu Gewalt neigen- der Testosteronspiegel – und die Aggressivität. Hormongeladene,
des Temperament« zu haben, gibt der andere Zwilling oft un- aggressive 17-Jährige werden zu weniger durch Hormone beein-
abhängig davon dasselbe zu. Bei zweieiigen Zwillingen ist die flussten, liebenswürdigen 70-Jährigen. Gewalttätige Kriminelle
Wahrscheinlichkeit viel geringer, dass sie die gleiche Antwort sind häufig muskulöse junge Männer mit einem unterdurch-
geben. Forscher suchen jetzt nach genetischen Besonderheiten schnittlichen Intelligenzquotienten, niedrigem Spiegel des Neuro-
bei denen, die am meisten Gewalt ausüben. (Eine ist bereits transmitters Serotonin und überdurchschnittlich hohem Testos-
gut bekannt und bei der Hälfte der Menschheit vorhanden: das teronspiegel (Dabbs et al. 2001a; Pendick 1994). Männer haben
Y-Chromosom.) auch im Gegensatz zu Frauen vorwiegend breite Gesichter (an-
statt runde oder lange Gesichter) – ein Merkmal das durch Tes-
jNeuronale Einflussfaktoren tosteron beeinflusst wird. Die Breite von männlichen Gesichtern
Es gibt nicht einen einzelnen Punkt im Gehirn, der die Aggres- ist auch ein Prädiktor dafür, wie aggressiv die Männer sind (Carré
sion steuert, denn Aggression ist ein komplexes Verhalten, das et al. 2009; Stirrat u. Perrett 2010).
in bestimmten Kontexten auftritt. Doch die Gehirne von Tieren
und Menschen enthalten neuronale Netzwerke, die aggressives
» Wir könnten zwei Drittel aller Verbrechen vermeiden, einfach
indem wir alle kräftigen jungen Männer im Alter von 12
Verhalten entweder hemmen oder hervorrufen, wenn sie sti-
bis 28 Jahren in einen kryptogenetischen Schlaf versetzen.
muliert werden (Denson 2011; Moyer 1983). Dazu folgende Hin-
David T. Lykken, The Antisocial Personalities, 1995
weise:
4 Der dominante Anführer einer in Gefangenschaft leben- Ein hoher Testosteronspiegel korreliert mit Reizbarkeit, ge-
den Affenkolonie bekam eine über Funk kontrollierbare ringer Frustrationstoleranz, Selbstsicherheit und Impulsivität –
Elektrode in ein Hirnareal implantiert, das Aggression Qualitäten, die dazu prädisponieren, auf Provokationen oder
hemmt, wenn es stimuliert wird. Nachdem die Forscher in Wettbewerbssituationen etwas aggressiver zu reagieren (Dabbs
einen Schalter im Käfig installiert hatten, mit dem die Elek- et al. 2001b; Harris 1999; McAndrew 2009; . Abb. 15.33). So-
trode aktiviert werden konnte, lernte ein kleiner Affe, wohl unter männlichen Jugendlichen als auch unter erwach-
diesen Schalter zu drücken, wann immer der Boss bedroh- senen Männern korreliert ein hoher Testosteronspiegel mit
lich wurde. Delinquenz, dem Konsum harter Drogen und aggressiv-laut-
4 Einer sanftmütigen Frau wurde von Neurochirurgen, die starken Reaktionen auf Frustration (Berman et al. 1993; Dabbs
nach der Diagnose für eine Störung suchten, eine Elektrode u. Morris 1990; Olweus et al. 1988). Medikamente, die ihren
ins limbische System ihres Gehirns (in die Amygdala) ein- Testosteronspiegel deutlich verringern, hemmen auch ihre ag-
gesetzt. Weil das Gehirn keine sensorischen Rezeptoren hat, gressiven Neigungen.
konnte sie die Stimulation nicht spüren. Aber einen Augen- Eine andere Droge, die zeitweise im Blutkreislauf vorhanden
blick später knurrte sie: »Messen Sie meinen Blutdruck. ist, verleitet zu aggressiven Reaktionen auf Frustrationen: Alko-
Und zwar sofort.« Dann stand sie auf und fing an, auf den hol. Polizeiliche Daten und Erhebungen in Gefängnissen be-
Arzt einzuschlagen. stätigen die Schlussfolgerungen, die aus Experimenten zu Alko-
4 Studien über Gewaltverbrecher haben eine verminderte hol und Aggression gezogen wurden. Wer zu Aggressionen neigt,
Aktivität in den Frontallappen gezeigt, die eine wichtige wird mit größerer Wahrscheinlichkeit trinken und im Rausch
Rolle bei der Impulskontrolle spielen. Durch Beschädigung, gewalttätig werden (White et al. 1993). Menschen, die getrunken
Inaktivierung, Abtrennung oder noch nicht vollständiger haben, begehen 4 von 10 gewalttätigen Straftaten und 3 von 4
628 Kapitel 15 · Sozialpsychologie

Dieses Phänomen wird Frustrations-Aggressions-Prinzip


genannt: Durch Frustration entsteht Wut, die bei manchen
Menschen zu Aggressionen führen kann. In einer Analyse von
27.667 Vorfällen in der obersten Baseball-Liga zwischen 1960
und 2004, bei denen der Schlagmann von einem Ball des Pitchers
getroffen wurde, zeigte sich folgender Zusammenhang: Es war
wahrscheinlicher, dass die Pitcher den Schlagmann trafen, wenn
4 sie frustriert waren, da der Schlagmann vor ihnen einen
Home Run schaffte;
4 der momentane Schlagmann das letzte Mal als er dran war,
einen Home Run schaffte;
4 ein Teammitglied im letzten halben Inning von einem Ball
des Pitchers getroffen wurde.
Frustrations-Aggressions-Prinzip (»frustration aggression principle«) –
besagt, dass durch Frustration, d. h. wenn man daran gehindert wird, ein
Ziel zu erreichen, Wut entsteht, die zu Aggressionen führen kann.

. Abb. 15.33 Eine kleine Kampfmaschine: die weibliche Hyäne voller Wie Frustrationen, so können auch andere aversive Reize, wie
Testosteron. Die ungewöhnliche Embryonalentwicklung der Hyäne be- z. B. körperliche Schmerzen, persönliche Beleidigungen, üble
wirkt, dass weibliche Föten viel Testosteron im Blut haben. Das Ergebnis Gerüche, hohe Temperaturen, Zigarettenrauch und große
sind aufgedrehte, junge weibliche Hyänen, die wie zum Kampf geboren
Menschenmengen feindselige Gefühle hervorrufen. Wenn es
zu sein scheinen. (© Getty Images / iStockphoto)
für Menschen heißer als gewöhnlich ist, denken, fühlen und
handeln sie in Laborexperimenten aggressiver. Die Zahl der
Vergewaltigungen in der Partnerschaft (Karberg u. James 2005). Schlagmänner, die von einem Ball getroffen werden, steigt in
Allein zu denken, man hätte Alkohol getrunken, hat schon einen Baseball-Spielen mit steigenden Temperaturen (Reifman et al.
Effekt in dieser Richtung; aber ebenso, wenn einem Getränk 1991; . Abb. 15.34). Weltweit kommen Gewaltverbrechen und
Alkohol zugesetzt wurde, ohne dass man es wusste. Wenn Men- Vergewaltigung in der Partnerschaft in heißen Jahren, Jahres-
schen nicht abgelenkt werden, wird durch Alkohol ihre Aufmerk- zeiten, Monaten und an heißen Tagen im Schnitt häufiger vor
samkeit eher auf eine Provokation gelenkt als auf aggressions- (Anderson u. Anderson 1984). Auf der Grundlage der zur Ver-
hemmende Situationsmerkmale (Giancola u. Corman 2007). fügung stehenden Daten sagen Anderson et al. (2000) vorher,
Außerdem neigen wir nach dem Konsum von Alkohol eher dazu, dass die globale Erwärmung um 4° Fahrenheit (etwa 2° Celsius)
15 zweideutige Verhaltensweisen (z. B. wenn man in einer Men- zu mehr als 50.000 zusätzlichen Vergewaltigungen und Morden
schenmenge geschubst wird) als Provokationen zu deuten (Bègue führen würde. Und diese Zahlen berücksichtigen noch nicht die
et al. 2010). zusätzliche Gewalt durch Dürreperioden, Armut, Nahrungs-
engpässe und Migration – Faktoren die durch den Klimawandel
Psychologische und soziokulturelle ausgelöst würden.
Einflussfaktoren
jVerstärkung und Modelllernen
? 15.10 Welche psychologischen und soziokulturellen
Aggression ist möglicherweise eine natürliche Reaktion auf
Faktoren können aggressives Verhalten auslösen?
aversive Ereignisse, aber Lernen kann die natürlichen Reak-
Biologische Faktoren beeinflussen die Leichtigkeit, mit der der tionen verändern. Wie in 7 Kap. 8 gezeigt, lernen wir, wenn unser
Abzug betätigt werden kann. Aber welche psychologischen und Verhalten verstärkt wird oder wenn wir andere beobachten.
soziokulturellen Faktoren führen dazu, dass man dies dann Wir reagieren mit einer höheren Wahrscheinlichkeit aggres-
auch tut? siv in Situationen, in denen die Erfahrung uns gelehrt hat, dass
Aggression sich auszahlt. Kinder, deren Aggression andere
jAversive Ereignisse Kinder mit Erfolg einschüchtert, werden vielleicht noch aggres-
Obwohl unangenehme und belastende Erfahrungen manchmal siver. Tiere, die erfolgreich um Futter oder Paarung gekämpft
den Charakter stärken, können sie auch das Schlechteste in uns haben, werden zunehmend wilder. Um eine freundlichere, liebe-
zum Vorschein bringen. Studien, bei denen Tiere oder Menschen vollere Welt zu fördern, wäre es das Beste, wenn Sensibilität und
unangenehme Erfahrungen machen mussten, zeigten, dass die Kooperationsfähigkeit schon im frühen Alter vorgelebt und
Unglücklichen oft auch andere unglücklich machten (Berkowitz belohnt würden, z. B. indem den Eltern beigebracht würde, ge-
1983, 1989). waltfrei zu erziehen.
15.3 · Soziale Beziehungen
629 15
kontrolliert werden, ist es für männliche Jugendliche, deren Väter
nicht zu Hause wohnen, doppelt so wahrscheinlich wie für
ihre Altersgenossen, ins Gefängnis zu kommen (Harper u.
McLanahan 2004).
Nisbett u. Cohen (1996) zeigen, welche Unterschiede in
Bezug auf Gewalt es von Kultur zu Kultur und innerhalb eines
Landes gibt. Sie analysierten Gewalttaten unter weißen Ame-
rikanern in Städten der amerikanischen Südstaaten, die durch
schottische und irische Hirten besiedelt worden waren. In ihrer
Tradition wurden die »Mannesehre«, der Waffengebrauch zum
Schutz der Herde und die Geschichte der Zwangsversklavung
betont. Die Abkömmlinge aus dieser Kultur sind 3-mal so häufig
an Morden beteiligt und unterstützen in stärkerem Maße
die körperliche Züchtigung von Kindern, Initiativen für einen
Krieg und den unkontrollierten Waffenbesitz als ihre weißen
Pendants in den Städten Neuenglands, die von Puritanern,
. Abb. 15.34 Temperatur und Vergeltung. Richard Larrick et al. (2011)
untersuchten Vorfälle, bei denen ein Schlagmann von einem Ball des Quäkern sowie von holländischen Bauern und Handwerkern
Pitchers getroffen wurde. Dazu betrachteten sie 4.566.468 Vorfälle zwischen gegründet wurden. In Staaten, in denen die »Ehre« seit jeher
Schlagmännern und Pitchern in 57.293 Baseball-Spielen der Oberliga seit stark betont wird, bringen auch mehr Schüler Waffen mit in
1952. Die Wahrscheinlichkeit, dass ein Schlagmann getroffen wurde,
die Schule und es finden mehr Amokläufe an Schulen statt
stieg, wenn ein Teammitglied des Pitchers vorher getroffen wurde – oder
bei höheren Temperaturen (Brown et al. 2009).

jVorbilder für Aggression in den Medien


Eltern straffällig gewordener Jugendlicher werden häufig Eltern sind kaum die einzigen Modelle für Aggression. In den
weich, wenn ihre Kinder weinen und einen Wutausbruch haben USA und anderen Ländern werden uns im Fernsehen, Kino und
(Belohnung). Dadurch erschöpft disziplinieren sie ihre Kinder in Videospielen riesige Portionen Gewalt dargeboten. Durch das
dann typischerweise durch Schläge (Patterson et al. 1982, 1992). ständige Betrachten von Gewalt im Fernsehen eignen wir uns
Bei Elterntrainingsprogrammen wird Eltern empfohlen, es soziale Skripte an: ein Film, der im Kopf abläuft und von unserer
zu vermeiden, den Kindern durch Schreien und Schlagen ein Kultur bereitgestellt wird, damit man weiß, wie man sich ver-
schlechtes Vorbild zu sein. Stattdessen werden Eltern ermutigt, halten soll. Wenn wir uns in neuen Situationen befinden und
erwünschte Verhaltensweisen zu verstärken und ihre Aussagen unsicher sind, wie wir uns verhalten sollen, verlassen wir uns auf
positiv zu formulieren (»Wenn du die Spülmaschine fertig ein- soziale Skripte. Nach ungezählten Actionfilmen kann es sein,
geräumt hast, kannst du spielen gehen« statt »Wenn du die Spül- dass die jungen Zuschauer ein Skript erlernen, das abgespielt
maschine nicht einräumst, ist nichts mit Spielen«.) wird, wenn sie im realen Leben einen Konflikt erleben. Wenn
Ein »Aggressionsersatzprogramm«, mit dessen Hilfe die Häu- sie sich bedroht fühlen, können sie »ihren Mann stehen«, indem
figkeit erneuter Verhaftungen jugendlicher Straftäter und Ban- sie den Angreifer einschüchtern oder die Gefahr beseitigen. In
denmitglieder gesenkt wurde, brachte den Jugendlichen und gleicher Weise können Jugendliche sexuelle Skripts erwerben,
ihren Eltern Kommunikationsfertigkeiten bei, trainierte sie die sie später in ihren realen Beziehungen umsetzen, weil sie die
darin, wie man seine Wut in den Griff bekommen kann, und vielfältigen sexuellen Anspielungen und Handlungen im Fern-
förderte eine überlegtere, an Moral orientierte Art zu argumen- sehen – meistens zur Hauptsendezeit – anschauten, in denen
tieren (Goldstein et al. 1998). Das Ergebnis: Die Rate der Wieder- oft impulsive oder kurzfristige Beziehungen eine Rolle spielen
verhaftungen ging zurück. (Kunkel et al. 2001; Sapolsky u. Tabarlet 1991).
Verschiedene Kulturen haben hinsichtlich Gewalt unter-
Soziales Skript (»social script«) – kulturell geformter Leitfaden,
schiedliche Vorbilder: Sie verstärken und evozieren unterschied- der bestimmt, wie man sich in bestimmten Situationen verhalten soll.
liche Verhaltenstendenzen. So sind z. B. die Verbrechensraten
höher (und das durchschnittliche Glücksgefühl geringer) in Auch Liedtexte »schreiben« soziale Skripte. In einer Reihe von
Ländern, die durch eine große Diskrepanz zwischen Reich und Experimenten an einer deutschen Universität hörten Männer
Arm gekennzeichnet sind (Triandis 1994). In den USA zeigt sich Liedtexte an, in denen Frauen als »Hassobjekte« dargestellt
sich, dass Gewalt häufig in Kulturen und Familien vorkommt, in wurden. Danach hatten sie die Möglichkeit, einer Frau Chilisoße
denen es wenig väterliche Zuwendung gibt (Triandis 1994). Selbst zu geben: Sie gaben den Frauen extrem scharfe Soße und berich-
wenn Variablen wie Bildungsniveau der Eltern, ethnische Her- teten auch über sehr negative Gefühle und Einstellungen gegen-
kunft, Einkommen und sehr frühe Schwangerschaft der Mutter über Frauen. Der gleiche Effekt auf aggressives Verhalten zeigte
630 Kapitel 15 · Sozialpsychologie

sich auch andersherum, als Frauen negative Liedtexte über Personen, die im Fernsehen häufig Straftaten sehen, nehmen
Männer hörten (Fischer u. Greitemeyer 2006). die Welt als gefährlicher wahr. Personen, die häufig pornogra-
Sexuelle Aggression wird manchmal in altersbeschränkten fische Filme sehen, nehmen die Welt als sexueller wahr. Wer
und pornografischen Filmen dargestellt. Inhaltsanalysen zeigen, wiederholt nicht jugendfreie pornografische Filme (sogar, wenn
dass in den meisten Filmen, die nicht für Jugendliche unter sie keine Gewalt enthalten) ansieht, für den wirkt später der
18 Jahren freigegeben sind, schneller Gelegenheitssex zwischen eigene Partner weniger attraktiv (7 Kap. 12), außerehelicher
Fremden dargestellt wird, dass aber auch durchaus Szenen ge- Sex wird als weniger schlimm angesehen (Zillmann 1989), die
zeigt werden, in denen Frauen von Männern vergewaltigt und Freundlichkeit einer Frau wird eher sexualisiert wahrgenommen
sexuell ausgebeutet werden (Cowan et al. 1988; NCTV 1987; und sexuelle Aggression wird als weniger schwerwiegend be-
Yang u. Linz 1990). Die meisten Szenen zeigen auch Darstellun- trachtet (Harris 1994; Zillmann 1989). Diese Effekte tragen zu
gen des »Vergewaltigungsmythos«: die Vorstellung, dass manche den Bestandteilen der Nötigung von Frauen bei.
Frauen zu Vergewaltigung einladen, sie genießen und »hinge- In einem Experiment zeigten Zillmann u. Bryant (1984) Stu-
rissen sind«, wenn sie »genommen werden«. (In Wirklichkeit ist denten sechs kurze, sexuell eindeutige Filme pro Woche über
eine Vergewaltigung traumatisch, und häufig nehmen – ganz einen Zeitraum von 6 Wochen. Eine Kontrollgruppe sah während
abgesehen von dem psychischen Trauma – dadurch die sexuelle derselben Zeit nichterotische Filme. Drei Wochen später lasen
Gesundheit und die Gebärfähigkeit der Frau Schaden [Golding beide Gruppen einen Zeitungsbericht über einen Mann, der für
1996].) Die meisten Vergewaltiger halten diesen Mythos für wahr schuldig befunden worden war, eine Tramperin vergewaltigt zu
(Brinson 1992). Ebenso tun dies Männer und Frauen, die viel haben, aber noch nicht verurteilt war. Darum gebeten, eine an-
Fernsehen schauen: Im Vergleich zu denen, die dies wenig tun, gemessene Gefängnisstrafe vorzuschlagen, nannten diejenigen,
akzeptieren sie eher den »Vergewaltigungsmythos« (Kahlor u. die die pornografischen Filme gesehen hatten, Strafen, die halb so
Morrison 2007). hoch waren wie die Empfehlungen der Kontrollgruppe.
Umfragen bei amerikanischen und australischen Teenagern, Bei Experimenten kann man keine tatsächliche sexuelle Ge-
Studenten und jungen Erwachsenen zeigten einen beträchtlichen walt auslösen; doch kann man hier erfassen, wie hoch die Bereit-
Geschlechterunterschied in den Gewohnheiten der Befragten: schaft eines Mannes ist, eine Frau zu verletzen. In der Forschung
Männer sehen sich um ein Vielfaches öfter altersbeschränkte wird der Effekt gewaltverherrlichender versus gewaltloser ero-
Filme und Internet-Pornografie an als Frauen (Carroll et al. 2008; tischer Filme oft daran gemessen, wie sehr ein Mann dazu bereit
Flood 2007; Wolak et al. 2007). Könnte die Darstellung sexuell ist, einer Frau, die Männer zuvor provoziert hat, für real gehal-
expliziter Vorbilder in der 97 Mrd. schweren, weltweit verbrei- tene Stromstöße zuzufügen. Diese Experimente legen nahe, dass
teten Pornografiebranche dazu beitragen, dass sich sexuelle es nicht die Erotik, sondern die Darstellung sexueller Gewalt
Aggression verstärkt (D’Orlando 2011)? ist (egal ob in ab 17 freigegebenen Slasher-Filmen oder nicht
Die meisten Konsumenten von Pornografie (egal ob mit jugendfreien Filmen), die sich bei Männern am unmittelbarsten
15 Kindern oder Erwachsenen) begehen keine Sexualverbrechen darauf auswirkt, dass Gewalt gegen Frauen akzeptiert und ausge-
(Seto 2009). Jedoch ist es bei ihnen wahrscheinlicher, dass sie den führt wird. Bei einer Konferenz von 21 Sozialwissenschaftlern,
»Vergewaltigungsmythos« als Realität ansehen (Kingston et al. unter ihnen viele der Forscher, die diese Experimente durch-
2009). In Interviews berichten kanadische und amerikanische geführt hatten, wurde ein Konsenspapier verabschiedet (Surgeon
Sexualstraftäter von einem ungewöhnlich großen Verlangen General 1986): »Pornografie, die sexuelle Aggression als Ver-
nach sexuell eindeutigem und in der Regel Gewalt verherr- gnügen für das Opfer darstellt, lässt die Akzeptanz und die An-
lichendem, pornografischem Material (Kingston et al. 2009; wendung von Gewalt in sexuellen Beziehungen zunehmen.« Im
Marshall 1989, 2000; Oddone-Paolucci et al. 2000). Beispiels- Widerspruch zu einer verbreiteten Ansicht wirkt das Betrachten
weise berichtete das Los Angeles Police Department, dass in 62% solcher Darstellungen nicht als Ventil für aufgestaute Impulse.
der Fälle von Kindesmissbrauch außerhalb der Familie während Vielmehr zeigt sich »in Laboruntersuchungen, die die kurzfris-
der 1980er Jahre »verdächtig oft« pornografisches Material ge- tigen Effekte messen, dass die Konfrontation mit pornogra-
funden wurde (Bennett 1991). Selbst wenn man andere Prädik- fischem Material ein strafendes Verhalten gegenüber Frauen
toren antisozialen Verhaltens kontrolliert, sagt ein hoher Porno- verstärkt«.
grafiekonsum sexuelle Aggression bei männlichen Studenten In geringerem Ausmaß kann auch Pornografie ohne Gewalt-
voraus (Vega u. Malamuth 2007). Kritiker widersprechen dem: darstellungen Aggression beeinflussen. In einer Reihe von Expe-
Seit 1990 sinkt die Zahl der Vergewaltigungen in den USA, wäh- rimenten benutzten Lambert et al. (2011) verschiedene Metho-
rend die Nutzung von Pornografie seitdem zunimmt (Ferguson den, um herauszufinden, welche Effekte Pornografie auf Partner
u. Hartley 2009). Nutzen Straftäter bei sexuellen Delikten, wie in einer Beziehung hat. Es zeigte sich, dass das Sehen porno-
der Sexualforscher Money (1988) vermutete, Pornografie »als grafischer Inhalte voraussagte, wie hoch man die eigene Aggres-
Alibi, um sich selbst und ihren Polizisten zu erklären, was sivität einschätzen würde und bis zu welcher Lautstärke man
ansonsten unerklärlich wäre«? seinen Partner im Labor Lärm aussetzen würde. »Pornoabsti-
15.3 · Soziale Beziehungen
631 15

. Abb. 15.35 Männer, die Frauen sexuell nötigen. Sexuelle Nötigung von
Frauen geht auf die Überzeugung zurück, dass Sex unpersönlich ist, und
tritt in Kombination mit feindseligem Macho-Gehabe auf. (Nach Malamuth
1996, Copyright © 2006, John Wiley and Sons)

nenz« bei Personen, die regelmäßig pornografische Inhalte


nutzten, reduzierte die Aggression (im Gegensatz dazu wurde
die Aggression durch Abstinenz vom Lieblingsessen nicht ge- . Abb. 15.36 Zufall oder Ursache? 2011 verübte der Norweger Anders
ringer). Behring Breivik einen Bombenanschlag auf Regierungsgebäude in Oslo
Neil Malamuth (1996) zeigte, dass Männer, die Frauen sexu- und ging danach zu einer Jugendfreizeit, wo er 69 Menschen erschoss und
tötete – zum Großteil Jugendliche. Breivik, der Ego-Shooter spielte, stieß
ell nötigen, meist zu Promiskuität und Feindseligkeit in Bezie-
mit folgendem Kommentar eine Debatte an: »Ich sehe MW2 [Modern War-
hungen mit Frauen neigen (. Abb. 15.35). Viele Faktoren können fare 2] hauptsächlich als Teil meines Trainings.« Trugen die Gewaltspiele zu
eine Prädisposition für sexuelle Gewalt schaffen (Malamuth et al. seiner Gewalttätigkeit bei oder war das eine zufällige Verbindung? Um sol-
1991, 1995). Dazu gehören die Medien, aber auch Dominanz- che Fragen zu klären, führen Psychologen Experimente durch. (© picture
alliance / dpa)
motive, Enthemmung durch Alkohol und eine Missbrauchser-
fahrung in der eigenen Biografie. Dennoch, wenn Darstellungen
von Gewalt in den Medien enthemmen und unsensibel machen Fußgänger umzufahren, die dann mit Fäusten geschlagen und als
können, wenn das Betrachten von sexueller Gewalt feindselige, blutige Leichen zurückgelassen werden (Kolker 2002). Anschlie-
dominierende Einstellungen und Verhaltensweisen fördert und ßend gingen sie hinaus, um wirklich Auto zu fahren, begegneten
wenn das Anschauen von Pornografie dazu führt, Vergewalti- einem 38-jährigen Mann auf einem Fahrrad, fuhren ihn mit dem
gung zu bagatellisieren und den eigenen Partner zu entwerten, Auto um, stiegen aus, prügelten ihn, traten auf ihn ein und kehr-
dann ist der Einfluss der Medien kein peripheres Thema. ten nach Hause zurück, um weiterzuspielen. (Der Mann, ein
Kann das Bewusstsein der Öffentlichkeit sensibilisiert wer- dreifacher Vater, starb 6 Tage später.)
den, wenn man den Menschen die Informationen bewusst macht, Wie wir in 7 Kap. 8 feststellten, führt das Beobachten von
die Sie eben gelesen haben? In den 1940ern wurde der Afroame- Gewalt im Fernsehen dazu, dass man gegenüber Gewalt desen-
rikaner in Filmen oft als kindlicher, abergläubischer Hanswurst sibilisiert wird und aggressiver reagiert, wenn man provoziert
dargestellt. Heute würde so eine Darstellung nicht mehr toleriert. wird. Kann dieser Effekt der Beobachtung von Gewalt auch auf
Viele Menschen hoffen, dass Entertainer, Produzenten und Zu- Videospiele übertragen werden (. Abb. 15.36)? Sollten Eltern
schauer eines Tages mit Empörung auf die Tage zurückschauen sich Sorgen machen, inwiefern die in Rollenspielen ausgelebte
werden, in denen Filme mit Folter-, Verstümmelungs- und sexu- Aggression ihre Kinder beeinflusst? Experimente legen nahe,
ellen Gewaltszenen »zur Unterhaltung« gezeigt wurden. dass das Spielen positiver Spiele auch positive Effekte hat. Wenn
man beispielsweise das Spiel »Lemminge« spielt, in dem es da-
jLernen wir durch Videospiele soziale Skripte für Gewalt? rum geht, anderen zu helfen, steigert das auch das Hilfeverhalten
Gewalthaltige Videospiele wurden zum Thema der öffentlichen in der realen Welt (Greitemeyer u. Osswald 2010). Wäre es also
Diskussion, als es so schien, als hätten Jugendliche an mehr als möglich, dass ein paralleler Effekt auftritt, nachdem man Ge-
einem Dutzend Orte die Gemetzel aus ihren Splatter-Spielen waltspiele gespielt hat?
nachgeahmt, die sie so oft gespielt hatten. Drei junge Männer aus Anderson et al. (2010) sammelten Daten aus 400 Studien
Grand Rapid (Michigan) verbrachten 2002 einen Teil der Nacht mit insgesamt 130.296 Teilnehmern und fanden genau so einen
damit, Bier zu trinken und ein Computerspiel namens »Grand Effekt: Das Spielen von Gewaltspielen hatte erhöhte Aggression
Theft Auto III« zu spielen, in dem Autos dazu verwendet werden, zur Folge. Unterstützt von 100 anderen Sozialwissenschaftlern
632 Kapitel 15 · Sozialpsychologie

reichte Anderson 2012 eine Stellungnahme zu einem Verfahren wirkungen haben, die stärker sind als die gut dokumentierten
am obersten Gerichtshof in den USA ein. Sie erklärte, dass »die Auswirkungen von Gewalt auf die Zuschauer beim Fernsehen
solchen Effekten zugrunde liegenden psychologischen Prozesse oder im Kino (Anderson et al. 2007). Manche sind der Meinung,
gut erforscht [seien] und Imitation, Lernen durch Beobachtung, dass die Effekte von gewaltverherrlichenden Spielen vergleich-
Priming von kognitiven, emotionalen und verhaltensbezogenen bar sind mit denen von giftigem Asbest oder Passivrauchen
Skripts, physiologische Erregung und emotionale Desensibilisie- (Bushman et al. 2010). »Das Spielen von Gewaltspielen wird ihr
rung [beinhalten]«. Kind nicht in einen psychopathischen Mörder verwandeln«, gibt
Denken Sie einmal über die folgenden Ergebnisse nach: Forscher Brad Bushman (2011) zu, »doch ich würde schon gerne
4 Männliche Studierende, die die meisten Stunden mit wissen, wie solche Kinder ihre Eltern und ihre Geschwister be-
Gewaltvideospielen verbracht hatten, neigten auch am handeln und wie mitfühlend sie sind«.
stärksten dazu, körperlich aggressiv zu sein (z. B. gaben sie Andere lassen sich von den Befunden zu Gewaltspielen nicht
zu, schon einmal jemanden geschlagen oder angegriffen beeindrucken (Ferguson u. Kilburn 2010). Sie bemerken, dass
zu haben) (Anderson u. Dill 2000). die von Jugendlichen ausgehende Gewalt im Zeitraum von 1996
4 In einem Experiment wurden diejenigen feindseliger, die bis 2006 sank, wohingegen die Verkaufszahlen von Videospielen
per Zufall dazu ausgesucht wurden, ein Spiel zu spielen, stiegen. Andere weisen darauf hin, dass eifrige Videospieler
in dem blutige Morde und stöhnende Opfer vorkamen (im sehr schnell und genau reagieren: Sie entwickeln die Fähigkeit,
Vergleich zu den Spielern des gewaltfreien Spiels »Myst«). schneller zu reagieren, und verbessern ihre visuellen Fähigkeiten
In einer Folgeaufgabe waren sie auch diejenigen, die mit (Dye et al. 2009; Green et al. 2010). Der Spaß am Spielen kann
höherer Wahrscheinlichkeit einen Kommilitonen intensi- elementare Bedürfnisse nach Kompetenz, Kontrolle und sozialen
vem Lärm aussetzten. Bindungen befriedigen (Przbylski et al. 2010). Damit kann man
4 Wer umfassende Erfahrung mit Gewaltvideospielen hat, auch die Befunde eines Experiments mit Grundschulkindern
ist weniger sensibel für Gewalt (nachgewiesen durch ge- erklären: Zufällig ausgewählte Jungen erhielten eine Spielkon-
dämpfte Hirnreaktionen) und wird auch weniger wahr- sole. In den folgenden 4 Monaten verbrachten sie einen Großteil
scheinlich einem Verletzten helfen (Bartholow et al. 2006; ihrer Zeit mit der Konsole und nahmen sich weniger Zeit für
Bushman u. Anderson 2009). Hausaufgaben, so dass ihre schulischen Leistungen sanken (Weis
4 Nach dem Spielen eines Gewaltspieles (im Gegensatz zu u. Cerankosky 2010).
Spielen mit neutralem oder prosozialem Inhalt) ist es wahr- So viel scheint klar: Wir fühlen uns nicht besser, wenn
scheinlicher, dass man Fremdgruppen »entmenschlicht«, wir »Dampf ablassen«, indem wir unsere Emotionen ausleben
sie also nicht mehr als vollwertige Individuen sieht. (7 Kap. 13). Stattdessen erhöht das Spielen von Gewalt verherr-
lichenden Videospielen die Häufigkeit aggressiver Gedanken,
Studien an jungen Erwachsenen von Gentile (2009) zeigen zu- Gefühle und Verhaltensweisen. Wie der griechische Philosoph
15 dem, dass Kinder, die oft gewalthaltige Videospiele spielen, die Aristoteles schon sagte: »Wir sind, was wir immer wieder tun.«
Welt als feindseliger ansehen, sich häufiger streiten oder prügeln Trotz alledem wurde 2011 durch den Obersten Gerichtshof
und schlechtere Noten bekommen. Aber liegt das nicht nur da- ein in Kalifornien gültiges Gesetz gekippt, welches den Verkauf
ran, dass sich feindselige Kinder aufgrund ihrer Anlage zu von Videospielen an Kinder verbot (ähnlich dem Verbot des Ver-
solchen Spielen hingezogen fühlen? Offensichtlich nicht. Sogar kaufs von explizit sexuellen Artikeln an Kinder). Der Großteil
unter Spielern gewalthaltiger Spiele, die geringe Werte in Bezug der Jury ließ sich nicht von den Beweisen für die Schädlichkeit
auf Feindseligkeit aufweisen, waren die 38%, die sich an kör- von Videospielen überzeugen und berief sich auf das Recht auf
perlichen Auseinandersetzungen beteiligt hatten, fast 10-mal so Meinungsfreiheit, unter das auch gewaltverherrlichende Spiele
viele wie die 4% unter ihren Altersgenossen, die solche Spiele fielen. Doch die Diskussion ist noch nicht zu Ende. Der Richter
nicht spielten. Mehr noch, diejenigen, die diese Spiele nicht spiel- Stephen Breyer schrieb in einer Gegendarstellung: »Welchen
ten, waren nur dann mit größerer Wahrscheinlichkeit in kör- Sinn macht es, den Verkauf eines Magazins mit dem Bild einer
perliche Auseinandersetzungen verwickelt, wenn sie anfingen, nackten Frau an einen 13-Jährigen zu verbieten, während man
gewalthaltige Spiele zu spielen (Anderson 2004a). Eine Studie ihn bedenkenlos ein Videospiel kaufen lässt, in dem er aktiv –
mit deutschen Jugendlichen zeigte, dass das momentane Aus- wenn auch in einer virtuellen Realität – eine Frau fesselt, knebelt,
maß, in dem jemand Gewaltspiele spielt, vorhersagen kann wie foltert und dann tötet?«
aggressiv er später wird. Hingegen ist das heutige Ausmaß an Zusammenfassend lässt sich sagen, dass bedeutsame Verhal-
Aggression kein Prädiktor dafür, wie häufig jemand später Ge- tensweisen – so wie Aggression – normalerweise durch viele Fak-
waltspiele spielen wird (Möller u. Krahé 2008). toren beeinflusst werden. Eine Erklärung durch nur einen Faktor
Manche Forscher glauben, dass unter anderem aufgrund der wäre also zu stark vereinfachend. Die Frage danach, was Gewalt
häufigen Wiederholungen und der aktiven Teilnahme an solchen verursacht, ist also vergleichbar mit der Frage, was Krebs verur-
Spielen Videospiele, in denen Gewalt belohnt wird, sogar Aus- sacht. Asbest beispielsweise ist in der Tat eine Ursache von Krebs –
15.3 · Soziale Beziehungen
633 15

. Abb. 15.37 Biopsychosoziales Verständnis der Aggression. Viele Faktoren tragen zu aggressivem Verhalten bei, doch es gibt auch viele Möglichkeiten,
gegen diese Einflüsse anzukämpfen. Und dazu gehören, dass man es lernt, mit Wut umzugehen und zu kommunizieren, und dass man Gewalt in den Medien
und in Videospielen meidet

jedoch nur eine unter vielen. Die Forschung belegt biologische, romantische Liebesgefühle auslöst. Was verbindet uns mit be-
psychologische und soziale Einflüsse auf aggressives Verhalten. stimmten Menschen in einer so besonderen Art von Freund-
Wie so vieles andere ist Aggression ein biopsychosoziales Phäno- schaft, dass uns dies hilft, mit Problemen in anderen Beziehun-
men (. Abb. 15.37). gen fertig zu werden? Die Sozialpsychologie hält hierzu einige
Es ist wichtig, zu erwähnen, wie viele Individuen auch trotz Antworten bereit.
sozialer Stressoren ein friedliches Leben führen, ohne gewalttätig
zu werden. Das erinnert uns erneut daran, dass sich Menschen Psychologie der interpersonalen Anziehung
voneinander unterscheiden. Die Person ist wichtig. Dass sich
? 15.11 Wieso freunden wir uns mit bestimmten Personen an
die Menschen unterscheiden, je nachdem, in welcher Zeit der
oder verlieben uns in sie, aber nicht in andere?
Geschichte und an welchem Ort der Welt sie leben, erinnert uns
daran, dass die Umwelt unterschiedlich ist. Aus den plündernden Wir fragen uns immer wieder, wie wir die Zuneigung anderer
Wikingern von gestern sind heute friedliebende Skandinavier gewinnen können und was unsere Zuneigung aufblühen oder
geworden. Wie jedes Verhalten entsteht auch Aggression aus abflachen lässt. Ruft Vertrautheit Geringschätzung hervor oder
einer Interaktion von Personen und Situationen. lässt sie unsere Zuneigung stärker werden? Was ist richtig: »gleich
und gleich gesellt sich gern« oder »Gegensätze ziehen sich an«?
Prüfen Sie Ihr Wissen
Ist Schönheit etwas Oberflächliches oder hat Attraktivität wirk-
5 Durch Interaktion welcher psychologischen, biologi- lich einen großen Einfluss? Um diese Fragen zu beantworten,
schen und soziokulturellen Einflüsse entsteht aggressives wollen wir auf drei Faktoren eingehen, die dazu beitragen,
Verhalten? dass wir andere mögen: Nähe, physische Attraktivität und Ähn-
lichkeit.

jNähe
15.3.3 Interpersonale Anziehung Bevor Freundschaften eng werden, bedürfen sie eines Anfangs.
Nähe – geografische Nähe – ist der wirkungsvollste Prädiktor von
Halten Sie einen Moment inne, und denken Sie über Ihre Be- Freundschaft. Nähe bietet Gelegenheit zu aggressivem Verhalten,
ziehungen zu zwei Menschen nach: zu einem engen Freund aber viel häufiger entstehen daraus Bindungen. In zahlreichen
oder einer engen Freundin und zu einer Person, die in Ihnen Studien wurde nachgewiesen, dass Menschen am ehesten die-
634 Kapitel 15 · Sozialpsychologie

. Abb. 15.38 Vertrautheit fördert Akzeptanz. Wenn seltene Albino-Tiere


geboren werden, werden sie häufig zunächst von ihren Artgenossen geäch-
tet. Meist werden die Albinos jedoch nach einigen Wochen allmählich
akzeptiert. (© Getty Images / iStockphoto)

jenigen mögen und sogar heiraten, die im selben Viertel wohnen,


die im Klassenzimmer in der Nähe sitzen, die im selben Büro
arbeiten, im gleichen Parkhaus parken oder in derselben Kantine . Abb. 15.39 (© Dave Coverly / Speed Bump)
essen. Schauen Sie sich um. Bindungen beginnen damit, dass
man sich trifft. (Eine Technologie des 21. Jahrhunderts, die
Menschen auch ohne räumliche Nähe zusammenbringt, ist ihn zu heiraten. Sie heiratete – allerdings den Briefträger (Stein-
dargestellt in 7 Unter der Lupe: Online-Partnerbörsen und Speed- berg 1993).
Dating.) Kein Gesicht kennen wir besser als unser eigenes (. Abb.
Nähe ist zum Teil aufgrund des Mere-Exposure-Effekts (Ef- 15.40). Dies erklärt auch einen interessanten Befund von Lisa
fekt der bloßen Darbietung) so nützlich für Bindungen. Tatsache DeBruine (2004): Wir mögen andere, wenn ihr Gesicht einige
ist, dass der wiederholte Kontakt mit neuen Reizen – seien dies durch Morphing etwas veränderte Merkmale unseres eigenen
sinnlose Silben, Musikausschnitte, geometrische Figuren, chine- Gesichts enthält. Als DeBruine (2002) männliche und weibliche
15 sische Zeichen, menschliche Gesichter oder die Buchstaben Studenten mit einem fiktiven Mitspieler eine Art Gefangenen-
unseres eigenen Namens – unsere Beziehung zu diesen Dingen dilemmaspiel spielen ließ, zeigten diese sich vertrauensseliger
festigt (Moreland u. Zajonc 1982; Zajonc 2001; Nuttin 1987). Die und kooperativer, wenn in das Bild mit dem Gesicht des anderen
Menschen heiraten sogar mit etwas größerer Wahrscheinlichkeit Menschen einige Züge eingearbeitet waren, die auch ihr eigenes
eine Person, deren Vor- oder Nachname ihrem eigenen ähnelt Gesicht hatte. Mir selbst vertraue ich (. Abb. 15.41).
(Jones et al. 2004; . Abb. 15.38). Bei unseren Vorfahren diente das Mere-Exposure-Phäno-
men der Anpassung an die Bedingungen der Evolution. Was
Mere-Exposure-Effekt (»mere exposure effect«) – Phänomen, dass die
wiederholte bloße Darbietung neuer Reize dazu beiträgt, daran Gefallen einem vertraut vorkam, war im Allgemeinen sicher und man
zu finden. konnte sich ihm nähern. Was unvertraut war, war häufiger ge-
fährlich und bedrohlich. Zajonc (1998) kommt zu dem Schluss,
Innerhalb bestimmter Grenzen (Bornstein 1989, 1999) führt dass die Evolution in uns die Tendenz verankert hat, mit den
Vertrautheit also zu Zuneigung. Moreland u. Beach (1992) Menschen, die uns vertraut sind, Bindungen einzugehen und uns
zeigten dies, indem sie vier gleichermaßen attraktive Frauen vor denen in Acht zu nehmen, die uns nicht vertraut sind. Ge-
schweigend an einer Vorlesung mit 200 Studierenden 5-, 10-, fühlsmäßige Vorurteile gegenüber Angehörigen anderer Kul-
15-mal oder gar nicht teilnehmen ließen. Am Semesterende turen können daher eine elementare, automatische emotionale
wurden den Studierenden Bilder von jeder dieser Frauen gezeigt, Reaktion darstellen (Devine 1995). Viele Forscher sind der Mei-
und sie wurden gebeten, die Attraktivität jeder einzelnen nung, dass es darauf ankommt, wie wir mit unseren reflexartigen
einzustufen. Welche waren die Attraktivsten? Diejenigen, die Vorurteilen umgehen. Lassen wir zu, dass unsere Gefühle unser
sie am häufigsten gesehen hatten. Nicht unbekannt wird dieses Verhalten kontrollieren? Oder überwachen wir unsere Gefühle
Phänomen dem jungen Taiwanesen vorkommen, der seiner und verhalten uns so, dass wir bewusst unsere Wertschätzung für
Freundin über 700 Liebesbriefe schrieb und sie dazu drängte, die Gleichheit aller Menschen ausdrücken?
15.3 · Soziale Beziehungen
635 15

Unter der Lupe

Online-Partnerbörsen und Speed-Dating

Wenn Sie in Ihrer unmittelbaren Nähe zu, wenn das (ohne ihr Wissen) dieselbe Eindrucks eines potenziellen Partners zu un-
keinen Partner gefunden haben – wieso das Person war! Über das Internet geschlossene tersuchen. Einige neuere Befunde dazu:
Netz nicht ein bisschen weiter auswerfen? Freundschaften fühlen sich für die Betroffenen 5 Männer sind leichter zu durchschauen.
Schließen Sie sich den geschätzt 30 Mio. meist genauso real und wichtig an, wie per- Beobachter (männliche und weibliche),
Menschen an, die jedes Jahr eine der ungefähr sönliche Beziehungen. Kein Wunder, dass die Videos von Begegnungen beim
1500 Online-Partnervermittlungen nutzen das Marktforschungsinstitut Harris Interactive Speed-Dating betrachten, können das
(Ellin 2009; . Abb. 15.39). (2010) herausfand, dass ein Marktführer im Interesse an einer (Liebes-)Beziehung
Obwohl es bisher wenige Veröffentlichungen Online-Dating in den USA mehr als 500 Hoch- der Männer leichter einschätzen als das
darüber gibt, wie effektiv Online-Partner- zeiten pro Tag ermöglichte. von Frauen (Place et al. 2009).
börsen sind, scheint so viel klar zu sein: Einige Beim Speed-Dating wird bei der Suche nach 5 Je mehr Auswahlmöglichkeiten man hat,
Personen, darunter auch manche Sexualstraf- einer Romanze noch einen Gang hochgeschal- desto oberflächlicher entscheidet man
täter, lügen, was ihr Alter, ihr Aussehen, ihren ten. Ein jüdischer Rabbi, der Hochzeiten ver- sich. Wenn man viele potenzielle Partner
Beruf oder andere persönliche Details angeht mittelte, entwickelte folgenden Prozess: Man auf einmal trifft, konzentriert man sich
– sie sind also nicht, wer sie zu sein scheinen. trifft eine Reihe möglicher Partner, entweder eher auf Merkmale, die leicht einzuschät-
Dennoch veröffentlichten Katelyn McKenna, persönlich oder per Webcam (Bower 2009). zen sind, so wie Größe und Gewicht
John Bargh und ihre Kollegen einen über- Nachdem man sich 3-8 Minuten unterhalten (Lenton u. Francesconi 2010). Das trifft
raschenden Befund: Im Vergleich zu in der hat, geht man zur nächsten Person weiter. auch zu, wenn die Versuchsleiter den
»realen« Welt entstandenen Beziehungen (Bei persönlichen Treffen bleibt ein Partner – Faktor der Zeit, die man mit jedem ein-
halten im Internet geschlossene Freundschaf- meistens die Frau – sitzen, während der zelnen verbrachte, kontrollierten.
ten und Beziehungen im Durchschnitt länger andere im Kreis weiterrückt.) Wer sich noch 5 Männer wollen häufiger den Kontakt
als 2 Jahre (Bargh et al. 2002, 2004; McKenna u. einmal treffen will, kann ein weiteres Date zu ihren Speed-Dates aufrechterhalten,
Bargh 1998, 2000; McKenna et al. 2002). In ausmachen. Für viele Teilnehmer reichen Frauen hingegen sind wählerischer.
einer ihrer Studien öffneten sich die Teilneh- 4 Minuten aus, um ein erstes Gefühl für Dieser Geschlechtereffekt verschwindet
mer mehr denen gegenüber, die sie online den anderen zu entwickeln und einzuordnen, allerdings, wenn die traditionellen
kennengelernt hatten, und verstellten sich ob der Partner sie mag (Eastwick u. Finkel Rollen vertauscht werden, wenn also
weniger. Wenn sie sich für 20 Minuten online 2008a,b). die Männer sitzen bleiben während die
mit jemandem unterhielten, fanden sie ihn Die Wissenschaft hat schnell erkannt, dass Frauen weiterziehen (Finkel u. Eastwick
sympathischer als jemanden, mit dem sie Speed-Dating eine einzigartige Möglichkeit 2009).
persönlich gesprochen hatten. Dies traf sogar darstellt, um die Einflüsse unseres ersten

. Abb. 15.40a,b Der Mere-Exposure-Effekt. Der Mere-Exposure-Effekt ist sogar auf uns selbst anwendbar. Da das menschliche Gesicht nicht voll-
kommen symmetrisch ist, ist das Gesicht, das wir im Spiegel sehen, nicht dasselbe, das unsere Freunde sehen. Die meisten von uns mögen das bekannte
Spiegelbild lieber, während unsere Freunde das andere Bild vorziehen (Mita et al. 1977). Der deutsche Außenminister Frank-Walter Steinmeier ist
auf der linken Seite abgebildet, wie wir ihn kennen. Auf der rechten Seite ist Steinmeier so abgebildet, wie er sich selbst im Spiegel sieht und auf diesem
Foto würde er sich wahrscheinlich besser gefallen. (© picture alliance / BREUEL-BILD)
636 Kapitel 15 · Sozialpsychologie

. Abb. 15.41 Ich bin für den Kandidaten, der ein bisschen aussieht wie ich selbst. Bailenson et al. (2005) arbeiteten Gesichtszüge von Wählern
in die Gesichter der US-Präsidentschaftskandidaten von 2004, George Bush und John Kerry, ein. Ohne, dass sie sich dessen bewusst waren, präferierten
die Versuchsteilnehmer nun die Kandidaten, deren Gesichter einige ihrer eigenen Gesichtszüge beinhalteten. (© Jeremy Bailenson & Nick Yee)

jPhysische Attraktivität Attraktive, gut gekleidete Menschen machen mit größerer Wahr-
Wodurch wird der erste Eindruck am stärksten beeinflusst, wenn scheinlichkeit einen guten Eindruck auf potenzielle Arbeitgeber
es durch räumliche Nähe zu einem Kontakt gekommen ist? Durch und sind vermutlich im Beruf erfolgreicher (Cash u. Janda 1984;
die Ehrlichkeit eines Menschen, seine Intelligenz, seine Persön- Langlois et al. 2000; Solomon 1987). Einkommensanalysen zei-
lichkeit? Hunderte von Experimenten zeigen, dass es etwas weit gen, dass man für Unansehnlichkeit oder Fettleibigkeit bestraft
Oberflächlicheres ist: die äußere Erscheinung. Auch Menschen, und für Schönheit belohnt wird (Engemann u. Owyang 2005).
die gelernt haben, dass »Schönheit etwas Oberflächliches ist« und Eine Analyse von 100 sehr beliebten Filmen ab 1940 ergab,
dass »Äußerlichkeiten täuschen können«, können angesichts der dass attraktive Charaktere als moralisch einwandfreier por-
Wirkungskraft physischer Attraktivität schon einmal schwach trätiert wurden als unattraktive (Smith et al. 1999). Aber Holly-
werden. woods Vorstellungen darüber, wer ein Vorbild ist, liefern keine
In einer frühen Studie stellten Walster et al. (1966) anlässlich Erklärung dafür, dass sogar Babys, gemessen an der Dauer
einer Disco für Erstsemester Tanzpaare nach dem Zufallsprinzip ihres Hinschauens, attraktive Gesichter unattraktiven vorziehen
zusammen. Vor dem Tanz mussten alle Studierenden mehrere (Langlois et al. 1987). Ebenso ist es bei manchen Blinden, wie der
Persönlichkeits- und Eignungstests machen. Am Abend des in Birmingham lehrende Professor John Hull (1990, S. 23) fest-
»Blind Date« tanzten und redeten die Paare mehr als 2 Stunden stellen musste, nachdem er sein Augenlicht verlor. Die Bemer-
15 miteinander und machten danach eine kurze Pause, in der sie ihre kung eines Kollegen über die Schönheit einer Frau beeinflusste
Partnerin oder ihren Partner einschätzen sollten. Was war ent- Hulls Gefühlsleben auf unerwartete Weise. Er fand dies »bedau-
scheidend dafür, ob sie einander mochten? Soweit die Forscher ernswert … Was interessiert es mich, was sehende Männer über
dies feststellen konnten, war nur ein Gesichtspunkt wichtig: phy- Frauen denken … dennoch ist es mir wichtig, was sie denken und
sische Attraktivität (die von den Forschern vorab erfasst und be- ich bin nicht in der Lage, mich dieses Vorurteiles zu entledigen«.
wertet worden war). Sowohl Männer als auch Frauen mochten ein
gut aussehendes Gegenüber am liebsten. Auch wenn Frauen mit
» Schönheit ist ein besserer Fürsprecher als jedes Empfeh-
lungsschreiben.
einer größeren Wahrscheinlichkeit als Männer sagen, dass das
Aristoteles, 300 v. Chr.
Aussehen des anderen sie nicht beeinflusst (Lippa 2007), hat das
Aussehen eines Mannes sehr wohl Einfluss auf das weibliche Ver- Diejenigen, die es unfair und rückständig finden, wie wichtig
halten (Feingold 1990; Sprecher 1989; Woll 1986). Experimente Aussehen ist, können sich von den folgenden zwei Forschungs-
im Kontext von Speed-Dating bestätigen, dass die Attraktivität ergebnissen zur Attraktivität beruhigen lassen. Zunächst hat die
des Gegenübers bei beiden Geschlechtern den ersten Eindruck Attraktivität des Menschen überraschend wenig mit seinem
beeinflusst (Belot u. Francesconi 2006; Finkel u. Eastwick 2008). Selbstbewusstsein und seinem Glück zu tun (Diener et al. 1995;
Die physische Attraktivität von Menschen hat weitreichende Major et al. 1984). Ein Grund hierfür könnte sein, dass sich nur
Folgen. Durch sie wird die Häufigkeit von Verabredungen, das wenige Menschen (vielleicht aufgrund des Mere-Exposure-
Gefühl, gemocht zu werden, und der erste Eindruck vorhersag- Effekts) selbst für unattraktiv halten, es sei denn, sie vergleichen
bar, den jemand von einer bestimmten Person hat. Wir nehmen sich mit überdurchschnittlich attraktiven Menschen (Thornton
attraktive Menschen als gesünder, glücklicher, sensibler, erfolg- u. Moore 1993). Ein anderer Grund hierfür besteht darin, dass
reicher und geselliger wahr, allerdings nicht als mitfühlender auffällig attraktive Menschen manchmal argwöhnen, dass ein
(Eagly et al. 1991; Feingold 1992; Hatfield u. Sprecher 1986). Lob für ihre Arbeit möglicherweise nur eine Reaktion auf ihr
15.3 · Soziale Beziehungen
637 15

. Abb. 15.42 (© Claudia Styrsky)

Aussehen ist. Wenn weniger attraktive Menschen gelobt werden, Wer nicht als natürliche Schönheit geboren ist, kann versuchen,
gehen sie mit größerer Wahrscheinlichkeit davon aus, dass es sich Schönheit zu kaufen. Amerikaner geben derzeit mehr Geld
ehrlich gemeint ist (Berscheid 1981). für ihre Schönheit aus als für Bildung und soziale Unterstützung
zusammen. Und wenn sie immer noch nicht zufrieden sind,
Prozentsatz von Männern und Frauen,
lassen sich Millionen mit Hilfe der kosmetischen Medizin be-
die »ständig an ihr Aussehen denken«. (Aus McCool 1999)
handeln; dazu gehören plastische Chirurgie, Hautglättung mit
Männer Frauen
Botox-Injektionen, Verkronung oder Bleichen der Zähne und
Kanada 18 20
Haarentfernung durch einen Laser (ASPS 2010).
USA 17 32
Mexiko 40 45 91% aller kosmetischen Behandlungen werden an Frauen durch-
Venezuela 47 65
geführt (ASPS 2010). Ebenso sind es Frauen, die sich besser an
das Aussehen anderer erinnern als Männer (Mast u. Hall 2006).
Schönheit liegt im Auge des Betrachters bzw. seiner Kultur
Insgesamt werden von amerikanischen Schönheitschirurgen
(. Abb. 15.42). In der Hoffnung, attraktiv auszusehen, haben
pro Jahr ca. 1,67 Meter Nase abgenommen (Harper’s 2009).
sich Menschen verschiedener Kulturen die Nasen gepierct, den
Hals verlängert, die Füße eingebunden oder die Haut geschminkt Einige Aspekte der Attraktivität sind jedoch unabhängig von Ort
und das Haar gefärbt. Sie haben übermäßig gegessen, um eine und Zeit (Cunningham et al. 2005; Langlois et al. 2000). Sexuelle
füllige Figur zu erlangen, oder sich Fett absaugen lassen, um Anziehung wird insofern durch körperliche Merkmale beein-
schlank zu werden, haben chemische Stoffe in der Hoffnung ver- flusst, als dass sie Hinweise auf die Reproduktionsfähigkeit eines
wendet, dass sie so ungewollten Haarwuchs loswerden oder dass Individuums geben. Wie in 7 Kap. 5 erläutert, halten Männer aus
an den richtigen Stellen wieder Haare wachsen. Man hat Leder- vielen Kulturen, von Australien bis Sambia, Frauen für attrakti-
unterwäsche getragen, um die Brüste kleiner erscheinen zu las- ver, wenn sie eine jugendliche Erscheinung haben und fruchtbar
sen, oder die Brüste mit Silikon aufgefüllt und mit Wonderbras wirken – was durch ein niedriges Verhältnis von Taillen- zu Hüft-
hochgepusht, damit sie größer aussehen. Kulturell bestimmte umfang angezeigt wird.
Schönheitsideale verändern sich außerdem im Laufe der Zeit. In Frauen fühlen sich von gesund aussehenden Männern
Nordamerika wich das ultraschlanke Ideal der »Goldenen Zwan- angezogen, vor allem aber von denen, die einen reifen, domi-
ziger Jahre« dem weichen, sinnlichen Marilyn-Monroe-Ideal der nanten, männlichen und wohlhabenden Eindruck machen – vor
50er Jahre, um dann durch das heutige schlanke, aber vollbusige allem während ihres Eisprungs (Gallup u. Frederick 2010;
Ideal ersetzt zu werden. Gangestad et al. 2010). Doch auch Gesichter sind wichtig.
Wenn Personen unabhängig voneinander Gesichter und Körper
Maureen Dowd, Kolumnistin der New York Times, über Fettab- von Personen des anderen Geschlechts beurteilen sollen, sind
saugung (19. Januar 2000): »Frauen in den 50er Jahren mussten die Gesichter ein besserer Prädiktor für die allgemeine phy-
den Teppich absaugen. Frauen im Jahr 2000 werden selbst ab- sische Attraktivität (Currie u. Little 2009; Peters et al. 2007;
gesaugt. Unsere Staubsauger haben sich gegen uns gerichtet.« . Abb. 15.43).
638 Kapitel 15 · Sozialpsychologie

. Abb. 15.43a–c In den Augen des Betrachters. Was für attraktiv gehalten wird, ist von Kultur zu Kultur unterschiedlich. Dennoch werden einige Merkmale
Erwachsener überall als attraktiv wahrgenommen, so wie ein jugendlicher Körper und ein junges Gesicht. (a: © IMAGE Créations / Fotolia; b: © photos.com;
c: © mbot / iStock / Thinkstock)

Ebenfalls scheinen Menschen auf der ganzen Welt eine Vor- mein. Welche Person ist attraktiver? Die meisten Menschen be-
liebe für körperliche Merkmale zu haben – Körperbau, Nasen urteilen die Person mit den angenehmen Eigenschaften auch als
oder Beine –, die weder ungewöhnlich groß noch ungewöhn- physisch attraktiver (Lewandowski et al. 2007). Die Menschen
lich klein sein sollten. Ein Durchschnittsgesicht gilt als attraktiv die wir mögen, finden wir attraktiv.
(. Abb. 15.44). In einem Musical von Rodgers und Hammerstein fragt
Langlois u. Roggman (1990) veranschaulichten dies auf cle- Prince Charming Cinderella: »Liebe ich dich, weil du so schön
vere Weise: Sie digitalisierten die Gesichter von 32 Studierenden bist, oder bist du so schön, weil ich dich liebe?« Es ist sehr wahr-
und erstellten daraus mit Hilfe eines Computers Durchschnitts- scheinlich, dass beides stimmt. Wenn wir einen geliebten Men-
gesichter. Die Studierenden hielten die zusammengesetzten Ge- schen immer wieder sehen, verlieren die körperlichen Unvoll-
sichter für weit attraktiver als 96% der individuellen Gesichter. kommenheiten der betreffenden Person an Bedeutung, und die
Ein Grund besteht darin, dass Durchschnittsgesichter sym- Attraktivität rückt stärker in den Vordergrund (Beaman u. Klentz
metrisch sind und Menschen mit symmetrischen Gesichtern 1983; Gross u. Crofton 1977). Shakespeare drückte dieses Phä-
und Körpern sexuell attraktiver sind (Rhodes et al. 1999; Singh nomen im Sommernachtstraum wie folgt aus: »Die Liebe schaut
1995; Thornhill u. Gangestad 1994). Kombinieren Sie die Hälfte nicht mit den Augen, sondern mit dem Geist.« Beginnen Sie je-
Ihres Gesichts mit Ihrem Spiegelbild, und Ihr neues symmetri- manden zu lieben, werden Sie sehen, wie seine Schönheit zu-
15 sches Gesicht würde Ihre Attraktivität um ein Vielfaches steigern nimmt (. Abb. 15.46).
(. Abb. 15.45).
Auch unsere Gefühle beeinflussen, ob wir jemanden attraktiv jÄhnlichkeit
finden. Stellen Sie sich zwei Personen vor. Die erste ist ehrlich, Nehmen wir an, dass räumliche Nähe Sie in Kontakt mit jeman-
humorvoll und höflich. Die zweite ist unhöflich, unfair und ge- dem gebracht hat und dass der erste Eindruck Ihres Äußeren gut

. Abb. 15.44a–d Durchschnitt ist attraktiv. Welches dieser Gesichter, die von dem Psychologen David Perrett (2002, 2010) vorgelegt wurden, ist das at-
traktivste? Die meisten Menschen sagen, es sei das Gesicht auf der rechten Seite, das Gesicht einer nicht existierenden Frau, das aus dem Durchschnitt die-
ser drei Fotos links und 57 weiterer realer Gesichter gebildet wurde. (Mit freundlicher Genehmigung von David Perrett, University of St. Andrews)
15.3 · Soziale Beziehungen
639 15

. Abb. 15.45 Extreme Ummodellierung. In wohlhabenden, schönheitsbewussten Kulturen haben sich immer mehr Menschen (wie diese Frau aus der
US-amerikanischen Fernsehsendung »Extreme Makeover«) der kosmetischen Chirurgie bedient, um schöner auszusehen. Wenn Geld keine Rolle spielte,
würden Sie dann je so etwas machen? (© action press / Everett Collection, Inc.)

war. Wodurch wird jetzt beeinflusst, ob aus Bekanntschaften einer einfachen Belohnungstheorie der Attraktivität erklärt
Freundschaften werden? Wenn Sie z. B. jemanden kennenlernen, werden: Wir mögen diejenigen, durch deren Verhalten wir be-
stimmt dann die Chemie eher, wenn Sie sehr verschieden sind lohnt werden, und wir erhalten jene Beziehungen aufrecht, die
oder wenn Sie sich ähneln? uns mehr Belohnungen bieten, als sie Aufwand erfordern. Wenn
Eine spannende Geschichte kann entstehen, wenn extrem jemand in nächster Nähe eines anderen Menschen lebt oder
unterschiedliche Arten von Menschen harmonisch zusammen- arbeitet, kostet es weniger Zeit und Anstrengung, diese Freund-
leben: Douglas Heffernan und seine Frau Carrie aus »King of schaft zu entwickeln und ihren Nutzen zu genießen. Attraktive
Queens« oder die Freunde Franz von Hahn, Johnny Mauser und Menschen gefallen uns wegen ihres Äußeren; es kann sich gesell-
der dicke Waldemar aus den Kinderbüchern von Helme Heine. schaftlich auszahlen, wenn man mit ihnen zusammen ist. Men-
Diese Geschichten gefallen uns, weil sie das ausdrücken, was wir
so selten in unserem Alltag erleben; denn wir neigen dazu,
andersartige Menschen nicht zu mögen (Rosenbaum 1986).
Freunde und Paare haben mit einer viel größeren Wahrschein-
lichkeit gemeinsame Einstellungen, Meinungen und Interessen
(und in diesem Zusammenhang auch Übereinstimmungen in
Bezug auf Alter, Religion, Hautfarbe, Bildung, Intelligenz, Rauch-
verhalten und ökonomischen Status) als zufällig zusammen-
gebrachte Menschen. Weiterhin hat sich herausgestellt: Je ähn-
licher sich Menschen sind, desto länger bleiben die Sympathien
bestehen (Byrne 1971). Der Journalist Walter Lippmann hat zu
Recht angenommen, dass Liebe am beständigsten ist, »wenn die
Liebenden nicht nur einander, sondern auch viele Dinge gemein-
sam mögen«. Ähnlichkeit fördert Zufriedenheit. Verschieden-
heit hingegen bewirkt oft Spannungen. Dies kann auch erklären,
wieso viele heterosexuelle Männer nicht viel von Schwulen
halten. Sie unterscheiden sich in zweierlei Hinsicht von ihnen:
bezüglich der sexuellen Orientierung und auch ihrer Geschlech-
terrolle (Lehavot u. Lambert 2007).
Nähe, Attraktivität und Ähnlichkeit sind nicht die einzigen . Abb. 15.46 Schönheit nimmt durch bloße Darbietung zu. Der »Aeron«-
Schreibtischstuhl der Firma Herman Miller wurde zu Beginn als sehr ge-
Determinanten für Anziehungskraft. Wir mögen auch die- mütlich, aber abgrundtief hässlich bewertet. Manche verglichen ihn mit
jenigen, die uns mögen. Dies gilt insbesondere, wenn wir ein »Gartenmöbeln«, andere mit einem »gigantischen prähistorischen Insekt«
geringes Selbstwertgefühl haben. Wenn wir glauben, dass je- (Gladwell 2005). Doch als er Design-Preise gewann, oft in den Medien zu
mand uns mag, fühlen wir uns gut und reagieren warmherziger. sehen war und von vielen anderen Möbelherstellern imitiert wurde, wurde
das hässliche Entlein zum Verkaufsschlager der Firma und wurde auf ein-
Dies führt dazu, dass man uns sogar noch lieber mag (Curtis u.
mal als schön wahrgenommen. Auch was Menschen betrifft liegt Schönheit
Miller 1986). Gemocht werden ist sehr lohnenswert. Tatsächlich oft im Auge des Betrachters und kann zunehmen, wenn man jemanden
können alle Ergebnisse, die wir bisher einbezogen haben, mit nur oft genug sieht. (Aeron work chair, © Herman Miller, Inc.)
640 Kapitel 15 · Sozialpsychologie

schen mit ähnlichen Ansichten belohnen uns dadurch, dass sie Eine attraktive, junge Mitarbeiterin des Versuchsteams fing die
unsere eigenen Ansichten bestätigen. vorbeigehenden Studierenden hinter beiden Brücken ab, bat sie,
einen kurzen Fragebogen auszufüllen, und gab ihnen dann ihre
Prüfen Sie Ihr Wissen
Telefonnummer, falls sie mehr über ihr Projekt wissen wollten.
5 Man heiratet wahrscheinlich jemanden, der in der Nähe Weit mehr Versuchsteilnehmer, die gerade die Hängebrücke
wohnt oder arbeitet. Das ist ein Beispiel dafür, wie der überquert hatten und deren Herz immer noch pochte, nahmen
wirkt. die Telefonnummer an und meldeten sich später bei der Frau.
5 Wie beeinflusst physische Attraktivität, wie man wahr- Auf Touren gebracht zu werden und einen Teil dieser Erregung
genommen wird? mit einem begehrenswerten Menschen zu assoziieren, bedeutet,
den Kick der Leidenschaft zu spüren. Adrenalin verstärkt die
Gefühle. Und wenn zu sexuellem Verlangen auch noch wachsen-
de Zuneigung kommt, entsteht die Leidenschaft romantischer
Romantische Liebe Liebe (Berscheid 2010).

? 15.12 Wie verändert sich romantische Liebe im Laufe


jKameradschaftliche Liebe
der Zeit?
Auch wenn der Funke der romantischen Liebe oft die Zeit über-
Gelegentlich gehen Menschen schnell vom ersten Eindruck über dauert, schwinden doch das vollkommene Ineinander-Aufge-
die Freundschaft zum intensiveren, komplexeren und geheim- hen, die Aufregung der Romanze, das »schwindelerregende«
nisvolleren Zustand romantischer Liebe über. Hatfield (1988) Gefühl, im siebten Himmel zu schweben. Haben also die Fran-
unterscheidet zwei Arten der Liebe: die temporäre leidenschaft- zosen Recht, wenn sie sagen: »Die Liebe lässt die Zeit vergehen,
liche Liebe und eine beständigere kameradschaftliche Liebe. die Zeit lässt die Liebe vergehen«? Oder können Freundschaft
und Zuneigung eine Beziehung aufrechterhalten, wenn die Lei-
jLeidenschaftliche Liebe denschaft abkühlt?
Erregung zu spüren ist das, was leidenschaftliche Liebe im Hatfield stellt fest, dass die Liebe dann, wenn sie heranreift,
Wesentlichen ausmacht. Hatfield nimmt an, dass die Zwei-Fak- zu einer beständigeren kameradschaftlichen Liebe, einer tiefen,
toren-Theorie der Emotion (7 Kap. 13) dazu beitragen kann, liebevollen Zuneigung wird. Die Flut von Hormonen, die die
diese intensive Verschmelzung mit der oder dem anderen zu ver- Leidenschaft entfachen (Testosteron, Dopamin, Adrenalin), lässt
stehen. Diese Theorie geht davon aus, dass zum einen nach und ein anderes Hormon, Oxytocin, verstärkt jetzt Ge-
4 Emotionen zwei Bestandteile haben, die physische Erregung fühle wie Vertrauen und Ruhe und fördert die Bindung mit dem
und die kognitive Beurteilung und dass Partner. In den glücklichsten Ehen bleiben die Anziehungskraft
4 zum anderen Erregung, wo auch immer sie herrührt, und das sexuelle Verlangen zwischen den Partnern bestehen,
15 unsere Gefühle vertiefen kann, je nachdem, wie wir die während die Leidenschaft der ersten Phase der Beziehung ver-
Erregung interpretieren und bewerten. schwindet (Acevedo u. Aron 2009).
Leidenschaftliche Liebe (»passionate love«) – erregter Zustand inten- Kameradschaftliche Liebe (»companionate love«) – tiefe, liebevolle
siven, vollkommenen Ineinander-Aufgehens, der in der Regel zu Beginn Bindung, die wir gegenüber Menschen empfinden, mit denen unser Leben
einer Liebesbeziehung auftritt. in komplexer Weise verbunden ist.

Um diese Theorie zu überprüfen, wurden männliche Studieren- Diese Veränderung von der Leidenschaft zur Zuneigung könnte
de durch Angst, Laufen auf der Stelle, das Anschauen erotischen adaptiv sein (Reis u. Aron 2008). Aus leidenschaftlicher Liebe
Materials oder das Hören humorvoller oder abstoßender Mono- entstehen oft Kinder, zu deren Überleben es beiträgt, wenn die
loge in Erregung versetzt. Dann wurden sie einer attraktiven Eltern nicht mehr nur wie besessen voneinander sind. Berscheid
Frau vorgestellt und gebeten, diese (oder ihre eigene Freundin) et al. (1984) stellen fest, dass es einer Beziehung schaden kann,
zu bewerten. Im Gegensatz zu den nicht erregten männlichen wenn man sich der begrenzten Dauer der leidenschaftlichen
Versuchsteilnehmern attribuierten diejenigen, die erregt worden Liebe nicht bewusst ist. Und tatsächlich sehen einige Gesell-
waren, einen Teil ihrer Erregung auf die Frau bzw. die Freundin schaften, die um die kurze Dauer einer leidenschaftlichen Liebe
und fühlten sich von ihr stärker angezogen (Carducci et al. 1978; wissen, solche Gefühle als irrationalen Grund für eine Heirat
Dermer u. Pyszczynski 1978; White u. Kight 1984). an. Es sei besser, so sagt man in diesen Kulturen, sich für einen
Dutton u. Aron (1974, 1989) verließen für ihre Versuche Partner mit vereinbarem Hintergrund und passenden Interessen
das Labor und testeten die Reaktionen der Teilnehmer auf zwei zu entscheiden (oder jemand anders entscheiden zu lassen).
Brücken über den felsigen Capilano River in British Columbia. Nichtwestliche Kulturen, in denen die Menschen Liebe als we-
Eine der beiden Brücken, eine schwingende Fußgängerbrücke, niger wichtig für eine Heirat ansehen, haben niedrigere Schei-
hing 70 m über den Felsen; die andere war niedrig und massiv. dungsraten (Levine et al. 1995).
15.3 · Soziale Beziehungen
641 15

» Wenn zwei Menschen unter dem Einfluss der heftigsten, ver-


rücktesten, trügerischsten und vergänglichsten aller Leiden-
schaften stehen, wird von ihnen verlangt zu schwören,
dass sie bis zum Tode in diesem erregten, abnormalen und
erschöpfenden Zustand bleiben wollen.
George Bernard Shaw, Getting Married, 1908

Ein Schlüssel zu einer gelungenen und dauerhaften Beziehung ist


Equity (ausgewogenes Verhältnis von Geben und Nehmen): Das
Verhältnis von Nutzen und Kosten beider Partner ist gleich.
Wenn es einen Ausgleich gibt, d. h. wenn beide Partner frei geben
und nehmen und wenn sie gemeinsame Entscheidungen treffen,
sind ihre Chancen gut, in dauerhafter und befriedigender kame-
radschaftlicher Liebe zusammenleben zu können (Gray-Little u.
Burks 1983; Van Yperen u. Buunk 1990). In einer nationalen Um-
frage lag »Hausarbeiten aufteilen« auf dem 3. Platz nach »Treue«
und »gute sexuelle Beziehung« auf einer Liste von neun Dingen,
die die Teilnehmer mit glücklichen Ehen in Verbindung brach-
ten. »Ich mag Umarmungen. Ich mag Küsse. Aber was ich wirk-
lich liebe, ist wenn man mir beim Abspülen hilft«, fasste das Pew
Research Center (2007) diese Befunde zusammen.
Equity (ausgewogenes Verhältnis von Geben und Nehmen; »equity«) –
ein Zustand, in dem Menschen aus einer Beziehung genauso viel bekommen,
wie sie geben. . Abb. 15.47 Liebe ist etwas Uraltes. 2007 wurde nahe Rom ein 5000
bis 6000 Jahre altes Pärchen ausgegraben: Romeo und Julia, eng in einer
Die Bedeutung von Equity erstreckt sich über das Zusammen- Umarmung verschlungen. (© AP Photo / Archaelogical Society SAP, ho)

leben in der Ehe hinaus. Materielles und Immaterielles teilen,


zusammen Entscheidungen treffen, emotionale Unterstützung
geben und empfangen, das Wohlergehen des anderen fördern zuletzt in Anwesenheit eines anderen Menschen geweint und
und pflegen gehört zum Wesen jeder Liebesbeziehung (Stern- wann allein?« Bei Versuchsende fühlten sich diejenigen wesent-
berg u. Grajek 1984). Dies trifft für Liebende, Eltern und Kinder lich verbundener mit ihrem Gesprächspartner, die die wachsen-
und enge Freundinnen und Freunde zu. de Vertrautheit erfahren hatten, als andere Teilnehmer der Kon-
Ein weiterer lebenswichtiger Bestandteil von Liebesbezie- trollgruppe, die ihre Zeit mit Smalltalk-Fragen wie etwa »Wie
hungen ist die Selbstoffenbarung (»self-disclosure«), das Preis- war deine High School?« verbracht hatten (Aron et al. 1997).
geben intimer Details über uns selbst, unsere Vorlieben und Ab- Intimität kann auch wachsen, wenn wir einmal innehalten
neigungen, unsere Träume und Sorgen, unsere stolzen und und unsere Gefühle aufschreiben. In einer Studie wurde je eine
unsere peinlichen Momente. »Wenn ich mit meinem Freund Person von 86 Pärchen dazu aufgefordert, 3 Tage lang je 20 Minu-
zusammen bin«, schrieb der römische Staatsmann Seneca, »habe ten entweder ihre innersten Gedanken und Gefühle in Bezug auf
ich das Gefühl, ich wäre allein; ich habe dann die gleiche Freiheit, ihre Beziehung aufzuschreiben oder einfach nur, was sie am
alles auszusprechen, was ich sonst nur denke«. Offenheit fördert jeweiligen Tag getan hatten (Slatcher u. Pennebaker 2006). Die
das Mögen, und Gemochtwerden fördert wiederum die Offen- Gruppe, die über ihre Gefühle geschrieben hatte, schrieb ihrem
heit (Collins u. Miller 1994). Wenn sich der eine etwas öffnet, Partner in den folgenden Tagen auch gefühlvollere SMS. Aus
erwidert der andere dies; dann öffnet sich der Erste etwas mehr dieser Gruppe waren nach 3 Monaten noch 77% der Paare zu-
und so weiter und so fort, bis Freunde oder Liebende zu tieferer sammen – im Vergleich zu 52% der Paare aus der Gruppe, die
Intimität kommen (Baumeister u. Bratslavsky 1999). ihre täglichen Aktivitäten notiert hatte (. Abb. 15.47).
Neben Equity und Selbstoffenbarung ist positive Unterstüt-
Selbstoffenbarung (»self-disclosure«) – anderen Menschen intime Aspekte
von sich selbst mitteilen. zung ein dritter Schlüssel zu langanhaltender Liebe. Konflikte
sind in Beziehungen unvermeidbar. So können wir uns selber
Bei einem Experiment wurden freiwillig teilnehmende Studie- fragen, ob wir in Gesprächen öfter Sarkasmus oder Unter-
rende paarweise durch ein 45-minütiges Gespräch geführt, das stützung ausdrücken, Verachtung oder Sympathie vermitteln
immer mehr Offenheit erforderte: Es begann mit »Wann hast du und ein höhnisches oder ein freundliches Lächeln zeigen. Bei
zuletzt vor dich hingesungen?« und endete mit »Wann hast du unglücklichen Paaren bestimmen Meinungsverschiedenheiten,
642 Kapitel 15 · Sozialpsychologie

Kritik am anderen und Herabsetzungen der Alltag. Bei glück- Miliz und telefonierte mit einflussreichen Personen im Ausland,
lichen Paare mit stabilen Beziehungen kommen positive Interak- um Druck auf die lokalen Behörden auszuüben. So rettete er das
tionen (Komplimente, Berührungen, Lachen) mindestens 5-mal Leben der Hotelbewohner inmitten einer chaotischen Situation.
so häufig vor wie negative (Sarkasmus, Missbilligung, Beleidi- Eine derartig selbstlose Güte ist ein Beispiel für Altruismus,
gungen) (Gottman 2007; s. auch Sullivan et al. 2010). dem uneigennützigen Interesse am Wohlergehen anderer. Nach
In der Mathematik der Liebe, gilt folgende Rechnung: selbst- einem besonders niederträchtigen Akt sexueller Gewalt wurde
offenbarende Intimität + gegenseitige Unterstützung und Gleich- Altruismus zum wichtigen Thema für Sozialpsychologen. Am
berechtigung = andauernde kameradschaftliche Liebe. 13. März 1964 stach ein Stalker wiederholt auf Kitty Genovese ein
und vergewaltigte sie; um 3.30 Uhr nachts lag sie dann sterbend
Prüfen Sie Ihr Wissen
vor ihrer Wohnung in Queens (New York). »Oh, mein Gott,
5 Wie kann durch die 2-Faktoren-Theorie der Emotion er sticht auf mich ein!«, schrie sie laut in die Stille des frühen
leidenschaftliche Liebe erklärt werden? Morgens hinein. »Bitte helfen Sie mir!« Fenster öffneten sich und
5 Zwei unerlässliche Komponenten, um kameradschaft- Lichter gingen an, als Nachbarn ihre Schreie hörten (in einem
liche Liebe aufrechtzuerhalten, sind Bericht der New York Times werden 38 Nachbarn genannt, diese
und . Zahl wurde jedoch später angezweifelt). Der Angreifer floh und
kehrte dann zurück, um noch weiter auf sie einzustechen und
sie erneut zu vergewaltigen. Erst um 3.50 Uhr, als er endgültig
geflohen war, rief schließlich jemand die Polizei.
15.3.4 Altruismus
» Es gibt wahrscheinlich keinen anderen Vorfall, der die
Aufmerksamkeit der Sozialpsychologen so stark auf einen
? 15.13 Wann ist es am wahrscheinlichsten bzw. am unwahr- Aspekt sozialen Verhaltens gelenkt hat, wie der Mord an
scheinlichsten, dass Menschen helfen? Kitty Genovese.
R. Lance Shotland, 1984
Altruismus ist das selbstlose Interesse am Wohlergehen anderer,
so wie es beispielsweise Dirk Willems zeigte, als er seinen Ge-
fängniswärter rettete. Ebenso handelten Carl Wilkens und Paul Zuschauerintervention
Ruesabagina in Kigali, Ruanda. Wilkens, ein Adventistenmis- Die meisten Kommentatoren, die über den Mord an Kitty
sionar, lebte 1994 mit seiner Familie dort, als die Hutu-Milizen Genovese und über andere Tragödien berichteten, waren empört
begannen, die Tutsi abzuschlachten. Die amerikanische Regie- über die »Apathie« und die »Gleichgültigkeit« der Zuschauer.
rung, die Kirchenleitung und die Freunde, alle flehten Wilkens Die Sozialpsychologen Darley u. Latané (1968b) suchten jedoch
an, das Land zu verlassen. Er weigerte sich. Nachdem seine Fa- weniger die Schuld bei den Zuschauern, sondern schrieben
15 milie evakuiert worden war und alle anderen Amerikaner Kigali deren Untätigkeit einem wichtigen situativen Faktor zu: der Prä-
verlassen hatten, blieb er allein da und stritt gegen den Völker- senz anderer. Unter bestimmten Umständen, so nahmen sie an,
mord an 800.000 Menschen. Als die Milizen kamen, um ihn und würden sich die meisten von uns ähnlich verhalten.
seine Tutsi-Bediensteten zu töten, hielten seine Hutu-Nachbarn Nach inszenierten Notfällen unter verschiedenen Bedingun-
sie zurück. Trotz wiederholter Todesdrohungen verbrachte er gen fassten Darley und Latané ihre Forschungsergebnisse in
seine Tage damit, durch die gefährlichen Straßenblockaden hin- einem Entscheidungsschema zusammen: Wir helfen nur dann,
durch Essen und Wasser in die Waisenheime zu bringen, zu ver- wenn es uns die Situation zunächst ermöglicht, den Vorfall zu
handeln, zu bitten und drängelnd seinen Weg durch das Blutbad bemerken, ihn dann als Notfall zu interpretieren und schließlich
zu finden; dabei rettete er immer wieder Menschenleben. »Es Verantwortung zu übernehmen sowie zu helfen (. Abb. 15.48).
schien einfach die richtige Sache zu sein, die man tun musste«, Bei jedem Schritt hält die Anwesenheit weiterer Zuschauer die
erklärte er später (Kristof 2004). Menschen davon ab zu helfen.
Darley und Latané interpretierten die Ergebnisse verschie-
Altruismus (»altruism«) – selbstloses Interesse am Wohlergehen anderer.
dener Experimente und kamen so zu ihren Schlussfolgerungen.
An einem anderen Ort in Kigali beherbergte Paul Rusesabagina, Zum Beispiel simulierten sie in ihrem Labor einen Notfall. Stu-
ein mit einer Tutsi verheirateter Hutu und damals Manager eines dierende nahmen über eine Gegensprechanlage an einer Diskus-
Luxushotels, mehr als 1200 vom Schrecken gezeichnete Tutsis sion teil. Jeder Studierende befand sich in einem abgeschlossenen
und gemäßigte Hutus. Als die internationale Friedenstruppe die kleinen Raum und nur derjenige, dessen Mikrofon angeschaltet
Stadt aufgab und die feindselige Miliz seine Gäste im »Hotel war, konnte gehört werden. Ein Student arbeitete mit den For-
Rwanda« (wie es 2004 in einem Film genannt wurde) bedrohte, schern zusammen. Als er an der Reihe war, machte er Geräusche,
begann der couragierte Rusesabagina, jene alten Kontakte zu ak- als hätte er einen epileptischen Anfall und rief um Hilfe (Darley
tivieren, die ihm noch einen Gefallen schuldeten. Er bestach die u. Latané 1968a). Wie reagierten die anderen Studierenden?
15.3 · Soziale Beziehungen
643 15

. Abb. 15.48a,b Entscheidungsfindungsprozess darüber, ob ein Zuschauer eingreifen soll. Bevor man hilft, muss man zunächst bemerken, dass es
sich um einen Notfall handelt, diesen dann korrekt interpretieren und sich schließlich verantwortlich fühlen. (a: Aus Darley u. Latané 1968b, © Psychology
Today; b: © Daniel Sch... / Fotolia)

Diejenigen, die davon ausgingen, dass nur sie das Opfer hören der Fälle. In Anwesenheit von fünf weiteren Zuschauern halfen
konnten – und daher glaubten, sie stünden allein in der Ver- nur 20%.
antwortung, ihm beizustehen –, kamen ihm in der Regel zu Hilfe
Zuschauereffekt (»bystander effect«) – Tendenz eines einzelnen
(. Abb. 15.49). Diejenigen, die dachten, auch andere könnten ihn Zuschauers, seltener zu helfen, wenn weitere Zuschauer anwesend sind.
hören, reagierten eher wie die Nachbarn von Kitty Genovese.
Wenn sich mehrere Menschen die Verantwortung zur Hilfe teilten Verhaltensstudien an Tausenden solcher »Notfälle« (einen Notruf
– also Verantwortungsdiffusion vorlag – war die Wahrscheinlich- tätigen, einem stehen gebliebenen Autofahrer helfen, Blut spen-
keit zu helfen bei dem einzelnen Hörer geringer. den, hinuntergefallene Bücher aufheben, Geld spenden und Zeit
In Hunderten weiterer Experimente wurde dieser Zuschauer- opfern; . Abb. 15.50) zeigen, dass wir am ehesten helfen, wenn
effekt (»bystander effect«) bestätigt. Beispielsweise unternah- 4 das Opfer offensichtlich Hilfe benötigt und verdient.
men Latané u. Dabbs (1975) und ihre Mitarbeiter in drei Städten 4 das Opfer uns in gewisser Weise ähnelt.
1497 Fahrten mit dem Fahrstuhl und ließen »zufällig« vor ins- 4 das Opfer eine Frau ist.
gesamt 4813 Passagieren Münzen oder Bleistifte fallen. Wenn 4 wir gerade jemand beobachtet haben, der geholfen hat.
man mit der Person in der Situation allein war, half man in 40% 4 wir nicht in Eile sind.

. Abb. 15.49 Reaktionen auf einen simulierten Notfall. Wenn Menschen


davon ausgingen, sie würden als Einzige die Hilferufe eines Menschen
hören, von dem sie glaubten, er habe einen epileptischen Anfall, halfen sie
im Normalfall. Aber wenn sie annahmen, dass noch vier andere den Hilferuf
hörten, reagierte weniger als ein Drittel. (Nach Darley u. Latané 1968a) . Abb. 15.50 (© Nick Downes)
644 Kapitel 15 · Sozialpsychologie

4 wir uns in einer Kleinstadt oder in einem ländlichen Gebiet kennung, gutes Gefühl) ab. Wenn die zu erwartende Belohnung
befinden. die Kosten übersteigt, werden Sie helfen.
4 wir uns schuldig fühlen.
Theorie des sozialen Austauschs (»social exchange theory«) – besagt,
4 wir offen sind für andere und nicht innerlich anderweitig dass es sich bei unserem Sozialverhalten um einen Austauschprozess
beschäftigt sind. handelt, dessen Ziel es ist, den Nutzen zu maximieren und die Kosten zu
4 wir gut gelaunt sind. minimieren.
Andere sind der Meinung, dass wir helfen, weil wir dazu soziali-
Das letzte Ergebnis, d. h., dass glückliche Menschen hilfsbereit siert wurden, dies zu tun, aufgrund von Normen, die vorschrei-
sind, gehört zu den konsistentesten Erkenntnissen der Psycholo- ben, wie wir uns verhalten sollten. Durch Sozialisation lernen wir
gie. Wie der Dichter Robert Browning (1868) es ausdrückte: »Oh, die Reziprozitätsnorm, also die Erwartung, dass wir denen, die
mach uns glücklich und du machst uns zu guten Menschen!« uns geholfen haben, auch helfen sollten, statt ihnen zu schaden.
Unabhängig davon, wie Menschen in eine gute Stimmung kom- In unseren Beziehungen zu anderen, die einen ähnlichen Status
men, sei es, dass sie dazu gebracht werden, sich erfolgreich und haben, regt uns die Reziprozitätsnorm an, ungefähr so viel zu
intelligent zu fühlen, sei es durch glückliche Gedanken, durch geben (Gefallen, Geschenke oder gesellschaftliche Einladungen),
Geldfunde oder sogar durch posthypnotische Suggestion – sie wie wir erhalten. Als Dave Tally, ein Obdachloser aus Tempe,
werden dadurch großzügiger und hilfsbereiter (Carlson et Arizona, 3300 Dollar in einem Rucksack fand, kam die Rezipro-
al. 1988). Ein Hochgefühl, nachdem wir selbstloses Handeln an- zitätsnorm zum Tragen. Der Rucksack gehörte einem Studenten
derer beobachtet haben, wird unsere Hilfsbereitschaft sogar noch der Arizona State University, der ihn auf dem Weg zum Ge-
mehr steigern (Schnall et al. 2010). brauchtwagenhändler verlor (Lacey 2010). Statt das Geld dazu zu
Glücksgefühle bewirken also, dass wir hilfsbereit sind. Es ist benutzen, eine dringende Fahrradreparatur, Essen und ein Ob-
jedoch auch der Fall, dass Hilfsbereitschaft uns glücklich macht. dach zu bezahlen, übergab Tally den Rucksack dem Sozialdienst,
Das Spenden für einen guten Zweck aktiviert Gehirnareale, die in dem er freiwillig arbeitete. Der Student bedankte sich bei Ihm
mit Belohnung assoziiert sind (Harbaugh et al. 2007). Dadurch mit einem Finderlohn. Als andere von Tallys selbstloser Hand-
kann man ein eigenartiges Phänomen erklären: Menschen, die lung hörten, schickten ihm Dutzende anderer Geld und Job-
ihr Geld verschenken, sind glücklicher als die, die fast alles für angebote.
sich selbst ausgeben. In einem Experiment erhielten die Ver-
Reziprozitätsnorm (»reciprocity norm«) – Erwartung, dass wir denen, die
suchspersonen einen Umschlag mit Geld und die Anweisung, es uns geholfen haben, helfen und ihnen keinen Schaden zufügen sollten.
entweder für sich selbst oder für andere auszugeben (Dunn et al.
2008). Welche Gruppe am Ende glücklicher war? Tatsächlich Wir lernen auch die Norm der sozialen Verantwortung: dass
waren es die Versuchspersonen, die aufgefordert wurden, alles wir denen, die unsere Hilfe benötigen – kleinen Kindern und
für andere auszugeben. anderen, die nicht so viel geben können, wie sie bekommen –,
15 helfen sollten, selbst dann, wenn die Kosten höher sind als der
Prüfen Sie Ihr Wissen
Nutzen. Ein Beispiel hierfür gab der Bauarbeiter Wesley Autrey
5 Wieso half niemand Kitty Genovese? Welches am 2. Januar 2007. Er wartete in New York mit seinen 4- und
Prinzip sozialer Beziehungen veranschaulicht dieser 6-jährigen Töchtern auf die U-Bahn, als ein Mann in einem
Vorfall? Anfall hinfiel, wieder aufstand und dann über die Bahnsteig-
kante auf die Schienen fiel. Da schon die Scheinwerferlichter
des einfahrenden Zuges zu erkennen waren, »musste ich eine
schnelle Entscheidung treffen«, erinnert sich Autrey später
Normen des Helfens (Buckley 2007). Unter den entsetzten Blicken seiner Töchter
sprang er vom Bahnsteig, schubste den Mann von den Gleisen in
? 15.14 Wie erklären die Theorie des sozialen Austauschs und
den Raum zwischen den Gleisen und legte sich auf ihn. Als der
soziale Normen Hilfeverhalten?
Zug quietschend zum Stillstand kam, fuhren fünf Waggons
Warum helfen wir? Eine weit verbreitete Meinung ist, dass allen direkt über seinen Kopf hinweg und hinterließen Schmieröl auf
menschlichen Interaktionen ein Eigeninteresse zugrunde liegt, seiner Strickmütze. Als Autrey rief: »Meine zwei Töchter sind da
dass unser ständiges Ziel darin besteht, Belohnungen zu maxi- oben, sagt ihnen, dass es ihrem Vater gut geht«, brachen die Zu-
mieren und Kosten zu minimieren. Betriebswirte sprechen dabei schauer in Applaus aus (. Abb. 15.51).
von der Kosten-Nutzen-Analyse. Philosophen nennen es Utilita-
Norm der sozialen Verantwortung (»social responsibility norm«) – Erwar-
rismus. Sozialpsychologen nennen es die Theorie des sozialen tung, dass wir denen, die von uns abhängig sind, helfen.
Austauschs. Wenn Sie überlegen, ob Sie Blut spenden sollen,
wägen Sie vielleicht die Kosten (Zeit, Unannehmlichkeiten und Menschen, die regelmäßig den Gottesdienst besuchen, werden
Angst) mit den Vorteilen (weniger Schuldgefühle, soziale Aner- oft dazu ermahnt, die Norm der sozialen Verantwortung anzu-
15.3 · Soziale Beziehungen
645 15
roristischen Akten und Krieg; weltweit werden weiterhin täglich
3 Mrd. Dollar für Armeen und ihre Waffen ausgegeben – Geld,
das für Wohnungen, Ernährung, Erziehung und Gesundheit ver-
wendet werden könnte. In dem Wissen, dass Kriege in den Köp-
fen der Menschen anfangen, haben sich Psychologen gefragt:
Was im Denken der Menschen verursacht destruktive Konflikte?
Wie könnte das Gefühl, von gesellschaftlichen Divergenzen be-
droht zu sein, durch einen Gemeinschaftssinn ersetzt werden?

Elemente von Konflikten

? 15.15 Wie können soziale Fallen und spiegelbildliche Wahr-


nehmung soziale Konflikte anheizen?

Für einen Sozialpsychologen ist ein Konflikt die scheinbare Un-


vereinbarkeit von Handlungen, Zielen oder Ideen. Die Elemente
eines Konflikts sind im Wesentlichen immer dieselben, ganz
gleich, auf welcher Ebene der Konflikt stattfindet, ob es sich um
kriegführende Staaten handelt, um kulturelle Auseinanderset-
zungen innerhalb einer Gesellschaft, bis hin zu Paaren, die einen
Ehestreit haben. In jeder dieser Situationen werden Menschen in
einen potenziell destruktiven sozialen Prozess hineingezogen,
der zu Resultaten führen kann, die niemand will. Zu diesen des-
. Abb. 15.51 Der U-Bahn-Held Wesley Autrey. »Ich finde nicht, dass ich truktiven Prozessen gehören soziale Fallen und verzerrte Wahr-
etwas Besonderes getan habe. Ich habe nur jemanden gesehen, der Hilfe
nehmungen.
brauchte.« (© picture-alliance / dpa)
Konflikt (»conflict«) – wahrgenommene Unvereinbarkeit von Handlungen,
Zielen oder Ideen.
wenden und manchmal tun sie das auch. Fragt man sie, wie viele
Stunden sie freiwillig mit Hilfe für Arme und Gebrechliche ver- jSoziale Fallen
bringen, so ist die Zahl doppelt so hoch wie bei Menschen, In manchen Situationen fördern wir unser kollektives Wohl-
die selten oder nie den Gottesdienst besuchen (Hodgkinson u. befinden, wenn wir unsere persönlichen Interessen verfolgen. So
Weitzman 1992; Independent Sector 2002). Zwischen 2006 und schrieb der Kapitalismustheoretiker Adam Smith in The Wealth
2008 wurden in Meinungsumfragen mehr als 300.000 Menschen of Nations (1776): »Nicht dank der Mildtätigkeit des Metzgers,
in 140 Ländern befragt, um »sehr religiöse« Menschen (die sag- Brauers oder Bäckers bekommen wir unser Abendessen, son-
ten, Religion wäre wichtig für sie und die in der vergangenen dern weil es in ihrem eigenen Interesse liegt.« In anderen Situa-
Woche zur Messe gingen) mit weniger religiösen zu vergleichen. tionen mindern wir unser kollektives Wohlbefinden, wenn wir
Obwohl sie ärmer waren, gaben die religiöseren Teilnehmer mit unseren persönlichen Interessen nachgehen. Solche Situationen
einer 50% höheren Wahrscheinlichkeit an, »im letzten Monat werden soziale Fallen genannt.
Geld an eine Wohltätigkeitsorganisation gespendet zu haben«
Soziale Falle (»social trap«) – Situation, in der sich die am Konflikt beteilig-
und freiwillig in einer solchen mitgearbeitet zu haben (Pelham u. ten Parteien in wechselseitig destruktivem Verhalten verfangen, weil jede
Crabtree 2008). Doch obwohl positive soziale Normen Groß- Partei rational die eigenen Interessen verfolgt.
zügigkeit fördern und ein Zusammenleben in Gruppen ermög-
lichen, bringen uns Konflikte oft auseinander. Betrachten Sie die einfache Spielmatrix in . Abb. 15.52, die in
Experimenten mit Tausenden von Menschen verwendet wurde.
In diesem Spiel können beide Seiten gewinnen oder verlieren,
15.3.5 Konflikte und Friedensstiftung abhängig von den individuell gewählten Schritten der Spielen-
den. Stellen Sie sich vor, Sie seien Person 1 und Sie und Person 2
Wir leben in einer Zeit, die immer wieder für Überraschungen erhielten jeweils den angezeigten Betrag, nachdem Sie getrennt
gut ist. Mit erstaunlicher Geschwindigkeit wurden die alten tota- voneinander A oder B gewählt hätten. (Sie können jemanden
litären Systeme in den osteuropäischen und arabischen Ländern bitten, sich mit Ihnen die Matrix anzuschauen und die Rolle der
durch demokratische Bewegungen zu Fall gebracht, und nach Person 2 einzunehmen.) Was wählen Sie, A oder B?
dem Ende des Kalten Krieges scheint sich eine neue Weltordnung Wenn Sie über das Spiel nachdenken, werden Sie feststellen,
zu etablieren. Und dennoch begann das 21. Jahrhundert mit ter- dass Sie und Person 2 sich in einem Dilemma befinden. Wenn Sie
646 Kapitel 15 · Sozialpsychologie

. Abb. 15.52 Matrix eines sozialen Dilemmas. Wenn wir nur unseren
eigenen Vorteil verfolgen und anderen nicht trauen, können wir am Ende
als Verlierer dastehen. Um dies zu illustrieren, stellen Sie sich vor, dieses Spiel
zu spielen. Die orangefarbenen Dreiecke zeigen die Ergebnisse für Person 1,
die abhängig sind von den Entscheidungen beider Personen. Wenn Sie Per-
son 1 wären, würden Sie dann A oder B wählen? (Dieses Spiel wird »Nicht-
Nullsummen-Spiel« genannt, weil die Summe der Ergebnisse nicht Null er-
geben muss; beide Seiten können gewinnen oder beide können verlieren.)

beide A wählen, werden Sie beide profitieren, nämlich jeweils . Abb. 15.53 Nicht in meinem Ozean! Viele Menschen sind für alternative
5 Euro gewinnen. Niemand hat einen Nutzen, wenn Sie beide B Energiequellen, auch für Windräder. Doch Projekte zum Bau von Wind-
kraftparks in der eigenen Nachbarschaft finden nur wenig Unterstützung.
wählen; denn niemand erhält dann einen Gewinn. Dennoch Ein solches Projekt, bei dem Windräder vor der Küste von Nantucket Island
handeln Sie in jedem Fall in Ihrem eigenen Interesse, wenn Sie B (Massachusetts) aufgestellt werden sollten, führte zu einer hitzigen Debatte
wählen: Sie können nicht verlieren, und möglicherweise ge- über die Vorteile sauberer Energie für die Zukunft im Vergleich zu den
winnen Sie 10 Euro. Aber das trifft auch für die andere Person Kosten dafür, dass man den finanziell lukrativen Blick auf den Ozean ver-
15 baut und möglicherweise auch die Wanderrouten von Vögeln beeinträch-
zu. Daraus ergibt sich die soziale Falle: Wenn Sie nämlich beide
tigt. (© kwarner / Fotolia)
Ihren eigenen unmittelbaren Vorteil verfolgen und B wählen,
werden Sie beide am Ende nichts gewinnen – das typische Ergeb-
nis –, obwohl Sie 5 Euro hätten bekommen können. Soziale Fallen stellen eine Herausforderung dar. Wir müssen
In vielen Situationen des wirklichen Lebens stehen sich un- Wege finden, wie wir das Recht darauf, unser persönliches Wohl
sere eigenen Interessen und das Gemeinwohl in ähnlicher Weise anzustreben, mit der Verantwortung für das Wohl aller in Ein-
gegenüber. Einzelne Walfänger argumentierten, dass sie mit den klang bringen können (. Abb. 15.53). Psychologen erforschen
wenigen Walen, die sie fingen, nicht deren Spezies gefährdeten deshalb, auf welchem Weg Menschen dazu gebracht werden kön-
und dass diese Tiere, wenn nicht von ihnen, sowieso von anderen nen, zugunsten ihres gegenseitigen Vorteils zu kooperieren –
Walfängern gefangen werden würden. Fazit: Manche Walarten durch gemeinsam vereinbarte Regeln, durch bessere Kommuni-
sind in ihrem Bestand bedroht. Das Gleiche gilt für die Büffel- kation und durch die Förderung eines Bewusstseins für unsere
wilderer von gestern und die Elfenbeinjäger von heute. Der indi- Verantwortung gegenüber der Gemeinschaft, dem Staat und der
viduelle Autohalter und Hausbesitzer argumentiert: »Es würde Menschheit insgesamt (Linder 1982; Dawes 1980; Sato 1987).
mir Umstände oder Kosten verursachen, ein Auto oder eine Denn unter diesen Bedingungen kooperieren Menschen häufi-
Heizung mit sparsamerem Verbrauch zu kaufen. Außerdem ger miteinander, sei es beim Spielen in einer Laborsituation oder
tragen die fossilen Brennstoffe, die ich verbrauche, nicht wesent- im wirklichen Leben.
lich zum Treibhauseffekt bei.« Wenn genügend andere auf die
gleiche Weise argumentieren, ist das kollektive Ergebnis eine be- jWahrnehmung des Feindes
drohliche Katastrophe: die globale Erwärmung, der drohende Psychologen haben festgestellt, dass diejenigen, die sich in
Anstieg des Meeresspiegels und das extremere Wetter. einem Konflikt miteinander befinden, die merkwürdige Neigung
15.3 · Soziale Beziehungen
647 15
haben, diabolische Bilder vom jeweils anderen zu entwickeln. telligenten, hart arbeitenden, disziplinierten, kraftvollen japani-
Diese verzerrten Bilder gleichen sich komischerweise, und zwar schen Verbündeten« (Gallup 1972).
so sehr, dass wir sie spiegelbildliche Wahrnehmungen nennen:
Prüfen Sie Ihr Wissen
So wie wir »die anderen« sehen, etwa als nicht vertrauenswürdig
und mit bösen Absichten, so sehen »sie« uns. Jeder dämonisiert 5 Warum verspüren Sportbegeisterte Befriedigung,
den anderen. Spiegelbildliche Wahrnehmungen können oft zu wenn ihre Erzrivalen ein Spiel verlieren? Warum wird
einem tödlichen Kreislauf der Feindseligkeit führen. Wenn durch solche Gefühle die Konfliktbewältigung in anderen
Thorsten meint, Julia habe sich über ihn geärgert, kann er sie Kontexten erschwert?
dumm anreden; das wiederum verleitet sie dazu, so zu handeln,
dass seine Wahrnehmung gerechtfertigt erscheint. Wie bei Indi-
viduen ist es auch bei Staaten. Wahrnehmungen können zu sich
selbst erfüllenden Prophezeiungen werden. Frieden stiften
Spiegelbildliche Wahrnehmungen (»mirror-image perceptions«) – ? 15.16 Wie können wir Vorurteile, Aggression und Konflikte
gegenseitige Wahrnehmung, die konfligierende Parteien häufig haben, in friedensfördernde Einstellungen umwandeln?
wenn sie beispielsweise sich selbst jeweils als ethisch korrekt und
friedlich, die andere Seite hingegen als böse und aggressiv sehen. Wie können wir Frieden stiften? Können Gegensätze, die durch
Vorurteile und Konflikte geschürt wurden, durch Zusammen-
Teilnehmer in Experimenten neigen dazu, ihre eigenen Hand- arbeit, Kommunikation und Versöhnung in friedensfördernde
lungen als Reaktion auf eine Provokation zu sehen und nicht als Einstellungen umgewandelt werden? Forschungen zeigen, dass
Ursache für das, was folgt. Sie selbst nehmen ihre Handlungen so dies in manchen Fällen möglich ist.
wahr, als ob sie einfach dem Motto »wie du mir, so ich dir« folgen.
Wie die Teilnehmer eines Experimentes am University College jKontakt
London zeigten (Shergill et al. 2003), schlagen sie deshalb umso Nützt es etwas, zwei Konfliktparteien in engen Kontakt mit-
härter zurück. Die Aufgabe: Nachdem Druck auf ihren Finger einander zu bringen? Es kommt darauf an. Wenn ein solcher
ausgeübt wurde, sollten sie mit Hilfe einer Maschine Druck auf Kontakt nicht kompetitiv ist und zwischen zwei Parteien mit
den Finger eines anderen Teilnehmers ausüben. Obwohl sie sich gleichem Status stattfindet, wie etwa unter Kollegen, so kann er
bemühten, genauso stark zu drücken, wie es bei ihnen geschah, hilfreich sein. Kollegen unterschiedlicher ethnischer Zugehörig-
verwendeten sie im Gegenzug meistens ungefähr 40% mehr keiten, die zunächst gegenseitig Vorurteile hegten, gelingt es un-
Kraft. Trotz des Versuchs, gleich stark zu drücken, uferten ihre ter derartigen Umständen normalerweise, einander zu akzep-
Berührungen bald zu starkem Drücken aus – ähnlich wie wenn tieren. Dieser Befund wird durch eine statistische Auswertung
ein Kind sich nach einem Streit verteidigt: »Ich habe ihn nur von über 500 Studien zum Kontakt mit Fremdgruppen (wie
geschubst, aber er hat fester zugeschlagen.« ethnische Minderheiten, Senioren oder Behinderte), an denen
Wahrgenommene Provokationen können auch auf interna- 250.000 Personen aus 38 Ländern teilnahmen, bestätigt: Kontakt
tionaler Ebene Kreisläufe von Feindseligkeit bewirken. 2001 korrelierte mit positiven Einstellungen gegenüber anderen bzw.
sagte der neu gewählte amerikanische Präsident George W. Bush führte in Experimenten dazu (Pettigrew u. Tropp 2011). Einige
über Saddam Hussein: »Manche Tyrannen von heute sind von Beispiele:
einem erbitterten Hass auf die Vereinigten Staaten von Amerika 4 Durch Kontakt glichen sich die Einstellungen von weißen
infiziert. Sie hassen unsere Freunde, sie hassen unsere Werte, und und schwarzen Südafrikanern aneinander an (Dixon et al.
sie hassen Demokratie und Freiheit und individuelle Unabhän- 2007; Finchilescu u. Tredoux 2010). In Südafrika, wie auch
gigkeit. Viele von ihnen kümmern sich wenig darum, wie ihr in anderen Ländern, ist dieser Effekt von Kontakt etwas
eigenes Volk lebt.« Hussein (2002) hatte eine reziproke Wahr - geringer, wenn es um die Meinung von Menschen aus der
nehmung: Er sah die USA als »einen bösen Tyrannen«, der, mit Unterschicht über Menschen aus der Oberschicht geht
Satan als Beschützer, nach Öl gierte und alle diejenigen aggressiv (Durrheim u. Dixon 2010; Gibson u. Claassen 2010).
angriff, die »die gerechte Sache verteidigen«. 4 Die Einstellung von Heterosexuellen gegenüber Schwulen
Es geht hier nicht darum, dass die Wahrheit genau zwischen ist nicht nur dadurch beeinflusst, was sie wissen, sondern
den beiden Sichtweisen liegen muss (die eine kann durchaus zu- auch dadurch, wen sie kennen (Smith et al. 2009). Eine
treffender sein als die andere). Worum es geht, ist das Phänomen, nationale Meinungsumfrage zeigte: Wer wusste, dass ein
dass die Wahrnehmungen von Feinden oft spiegelbildlich sind. Familienmitglied oder ein enger Freund schwul ist, befür-
Darüber hinaus verändern sich die Wahrnehmungen, wenn sich wortete mit doppelt so hoher Wahrscheinlichkeit (55%
die Feindbilder verändern. In den Köpfen der Amerikaner und vs. 25%) die Schwulenehe wie jemand, in dessen Familie
in den Medien wurden aus den »blutrünstigen, grausamen, ver- und Freundeskreis niemand schwul war (Neidorf u. Morin
räterischen« Japanern des Zweiten Weltkriegs später unsere »in- 2007).
648 Kapitel 15 · Sozialpsychologie

4 Freundlicher Kontakt, beispielsweise zwischen Schwarzen mit abgewürgtem Motor liegen; dies machte es erforderlich, dass
und Weißen, verbessert nicht nur die Einstellungen gegen- die Jungen mit vereinten Kräften gemeinsam zogen und schoben,
über dem jeweils anderen, sondern auch die zu anderen um ihn wieder flott zu machen. Sherif machte sich die Isolation
Fremdgruppen, wie Lateinamerikanern (Tausch et al. 2010). und den Wettkampf zunutze, um aus Fremden Feinde werden zu
4 Sogar indirekter Kontakt mit Mitgliedern einer Fremdgrup- lassen, und er nutzte die gemeinsame Notlage sowie gemeinsame
pe (z. B. durch das Lesen einer Geschichte oder durch Ziele, um die Feinde miteinander zu versöhnen und zu Freunden
einen Freund, der mit einem Mitglied der Fremdgruppe zu machen. Der Konflikt wurde nicht durch Kontakt allein, son-
befreundet ist) kann Vorurteile reduzieren (Cameron u. dern vielmehr durch kooperativen Kontakt verringert.
Rutland 2006; Pettigrew et al. 2007).
Übergeordnete Ziele (»superordinate goals«) – gemeinsame Ziele,
durch die Differenzen unter Menschen überwunden werden, weil sie deren
Kontakt allein genügt allerdings nicht immer. In den meisten Kooperation erfordern.
gemischtrassigen amerikanischen Highschools trennen sich
weiße und schwarze Schülerinnen und Schüler im Speisesaal, im Geteiltes Leid hatte in den Wochen nach dem 11. September eine
Klassenzimmer und auf dem Schulhof selbst wieder (Alexander ähnlich starke, einigende Wirkung. Patriotische Gefühle kamen
u. Tredoux 2010; Clack et al. 2005; Schofield 1986). Personen auf, als die Amerikaner sofort das Gefühl hatten, dass »wir« an-
in beiden Gruppen glauben oft, dass sie mehr Kontakt mit der gegriffen werden. Die Zustimmung für »unseren Präsidenten«
anderen Gruppe durchaus begrüßen würden, aber sie unter- George W. Bush stieg in Gallup-Umfragen von 51% in der Woche
stellen, dass die andere Gruppe den Wunsch nicht erwidert vor dem Angriff auf die noch nie da gewesene Höchstquote von
(Richeson u. Shelton 2007). »Ich strecke ihnen nicht die Hand 90% 10 Tage danach. Sogar in Chats und in Alltagsgesprächen
entgegen, weil ich nicht zurückgestoßen werden möchte; sie trat das Wort »wir« (im Vergleich zu »ich«) unmittelbar nach
strecken ihre Hand nicht zu mir aus, weil sie einfach nicht daran dem 11. September häufiger auf (Pennebaker 2002).
interessiert sind.« Wenn solche spiegelbildlichen Fehlwahrneh- In solchen Zeiten kann Zusammenarbeit Menschen dazu
mungen korrigiert werden, können sich Freundschaften bilden bringen, frühere Untergruppen aufzulösen und gemeinsam eine
und Vorurteile auflösen. neue Gruppe zu bilden (Dovidio u. Gaertner 1999). Setzen Sie die
Mitglieder zweier Gruppen nicht auf die gegenüberliegenden
» Mit geballter Faust kann man keine Hand schütteln.
Seiten eines Tisches, sondern im Wechsel nebeneinander um den
Indira Gandhi (1971)
Tisch herum. Geben Sie ihnen einen neuen, gemeinsamen Namen.
Lassen Sie sie zusammenarbeiten. Solche Experimente verwan-
jKooperation deln das »wir und die« in ein »wir«. Ein 18-Jähriger aus New Jersey
Um zu sehen, ob Gegner ihre Differenzen hinter sich lassen kön- wäre nicht überrascht. Nach dem 11. September 2001 erklärte er
nen, löste Sherif (1966) bei seinen Forschungen einen Konflikt den Wandel seiner sozialen Identität: »Ich hielt mich selbst ein-
15 aus. Er verteilte 22 Jungen aus Oklahoma City auf zwei getrennte fach für einen Schwarzen. Doch heute fühle ich mich als Ameri-
Bereiche eines Pfadfinderlagers. Dann veranstaltete er mit den kaner, mehr denn je« (Sengupta 2001). In einem Experiment von
beiden Gruppen eine Reihe von Wettkampfspielen, bei denen die Dovidio et al. (2004) äußerten weiße Amerikaner, die einen Zei-
Gewinner Preise erhielten. Innerhalb kurzer Zeit wurde jede tungsartikel über eine terroristische Drohung gegen alle Ameri-
Gruppe äußerst stolz auf sich selbst und entwickelte Feindselig- kaner lasen, weniger Vorurteile gegenüber Afroamerikanern.
keiten gegenüber den »hinterhältigen, besserwisserischen Stin- Wenn kooperative Kontakte zwischen Mitgliedern rivali-
kern« aus der anderen Gruppe. Während der Mahlzeiten brachen sierender Gruppen positive Einstellungen fördern, könnten wir
Kriege ums Essen aus. Zelte wurden durchwühlt. Schlägereien dieses Prinzip dann in multikulturellen Schulen anwenden?
mussten von der Gruppenleitung beendet werden. Als Sherif die Könnten wir Freundschaften unter verschiedenen ethnischen
beiden Gruppen zusammenbrachte, gingen sie einander aus dem Gruppen fördern, indem wir kompetitive Klassenzimmersitua-
Weg, und suchten nur den Kontakt, um einander zu verspotten tionen durch kooperative ersetzen? Und könnte kooperatives
und zu bedrohen. Lernen die Leistungen der Schülerinnen und Schüler aufrechter-
Ungeachtet dessen machte Sherif aus diesen kleinen Feinden halten oder sogar verbessern? Experimente mit Jugendlichen aus
innerhalb weniger Tage gute Kameraden. Er gab ihnen überge- 11 Ländern bestätigen, dass die Antwort auf alle drei Fragen »Ja«
ordnete Ziele, gemeinsame Ziele, die über ihre Differenzen hin- lautet (Roseth et al. 2008). Mitglieder verschiedener ethnischer
weg reichten und nur durch Kooperation erreicht werden konn- Gruppen, die gemeinsame Projekte bearbeiten und zusammen in
ten. Eine (absichtliche) Unterbrechung der Wasserversorgung im Sportmannschaften spielen, sind in der Regel den Mitgliedern der
Lager erforderte, dass alle 22 Jungen zusammenarbeiteten, um die anderen ethnischen Gruppierung wohlgesonnen. Dies trifft auch
Wasserversorgung wiederherzustellen. Einen Film auszuleihen auf diejenigen zu, die im Klassenzimmer kooperativ lernen. Diese
erforderte in Zeiten, als es noch keinen Videorecorder gab, dass sie Ergebnisse sind so ermutigend, dass Tausende von Lehrern das
dafür einige Geldmittel bereitstellen mussten. Ein Lastwagen blieb Konzept eines ethnisch gemischten, kooperativen Lernens nutzen.
15.3 · Soziale Beziehungen
649 15

. Abb. 15.54 Kofi Annan. »Die meisten von uns haben Identitäten, die einander überlappen und uns mit sehr unterschiedlichen Gruppen verbinden.
Wir können lieben, was wir sind, ohne zu hassen, was und wer wir nicht sind. Wir können uns in unserer eigenen Tradition weiterentwickeln und dabei sogar
noch von den anderen lernen.« (Vortrag anlässlich der Verleihung des Friedensnobelpreises, 2001; © picture-alliance / dpa)

Der große Einfluss kooperativer Aktivitäten, die aus früheren hätten, hätten sie zur Gewinner-Gewinner-Lösung finden
Feinden Freunde werden lassen, hat Psychologen dazu gebracht, können und einer hätte den ganzen Saft, die andere die ganze
auf einen verstärkten Austausch und eine bessere Zusammen- Schale bekommen (. Abb. 15.55).
arbeit auf internationaler Ebene zu drängen. Wenn wir uns für
einen Handel engagieren, der beiden Seiten Gewinne bringt, jVersöhnung
wenn wir daran arbeiten, unser gemeinsames Leben auf diesem Verständigungen und kooperative Lösungen dieser Art werden
gefährdeten Planeten zu schützen, und wenn uns deutlicher dringend gebraucht, sind aber in Zeiten der Wut oder der Krise
bewusst wird, dass wir alle dieselben Hoffnungen und Ängste sehr unwahrscheinlich (Bodenhausen et al. 1994; Tetlock 1988).
haben, können wir Missverständnisse, die zu Zersplitterung und
Konflikten führen, in eine auf gemeinsamen Interessen beruhen-
de Solidarität verwandeln (. Abb. 15.54).

jKommunikation
Wenn alltägliche Konflikte übermächtig werden, kann eine
dritte Partei als Vermittler dazu beitragen, die dringend benö-
tigte Kommunikation zu erleichtern. Dabei kann es sich um eine
Eheberaterin, einen Berufsberater, einen Diplomaten oder einen
freiwilligen Helfer aus der Nachbarschaft handeln (Rubin et al.
1994). Vermittler helfen jeder Partei, ihre Sichtweise zum Aus-
druck zu bringen und die Bedürfnisse und Ziele der anderen
Seite zu verstehen. Wenn er Erfolg hat, trägt der Vermittler dazu
bei, die kämpferische Gewinner-Verlierer-Orientierung durch
eine kooperative Gewinner-Gewinner-Orientierung zu ersetzen,
bei der eine für beide Seiten Gewinn bringende Lösung an-
gestrebt wird. Ein klassisches Beispiel: Zwei Freunde, die sich
wegen einer Orange gestritten hatten, kamen überein, sie zu
teilen. Der eine presste seine Hälfte aus, um den Saft heraus-
. Abb. 15.55 Übergeordnete Ziele sind stärker als Unterschiede. Ko-
zudrücken. Die andere verwendete die Schale ihrer Hälfte zum operative Anstrengungen, um gemeinsame Ziele zu erreichen, sind eine
Kuchenbacken. Wenn beide die Motive des anderen gekannt wirksame Methode zum Abbau sozialer Barrieren. (© Getty Images / Fuse)
650 Kapitel 15 · Sozialpsychologie

. Abb. 15.56 (Copyright © The New Yorker Collection, 1983, Warren Miller / cartoonbank.com)

Wenn die Konflikte zunehmen, werden die Ansichten stereoty- als Erwiderung eine Reihe versöhnlicher Gesten aus, die 1963 in
per, die Urteile rigider und die Kommunikation schwieriger oder einem Vertrag gipfelten, durch den Atomtests in der Atmosphäre
sogar unmöglich. Jede Partei neigt dazu, die andere zu bedrohen, verboten wurden.
sie zu nötigen oder sich zu rächen (. Abb. 15.56). In den Wochen
GRIT (»Graduated and Reciprocated Initiatives in Tension-Reduction«) –
vor dem Golfkrieg drohte der amerikanische Präsident George schrittweise und wechselseitige Initiativen zur Spannungsreduktion – eine
Bush in aller Öffentlichkeit damit, Saddam »einen Tritt in den Strategie zur Verringerung internationaler Spannungen.
Hintern zu geben«. Saddam Hussein kommunizierte auf ähn-
15 liche Weise und drohte damit, die Amerikaner »in ihrem eigenen Wie uns die Arbeit an gemeinsamen Zielen ins Gedächtnis ruft:
Blut schwimmen zu lassen«. Zwischen uns Menschen bestehen mehr Gemeinsamkeiten als
Gibt es unter solchen Bedingungen eine Alternative zum Unterschiede. Durch Konflikte und kulturelle Isolation kann die
Krieg oder zur Kapitulation? Der Sozialpsychologe Charles Zivilisation keine Fortschritte machen, wohl aber durch das An-
Osgood (1962, 1980) trat für eine Strategie der schrittweisen und zapfen von Wissen, durch die Beschäftigung mit den Fähigkeiten
wechselseitigen Initiativen zur Spannungsreduktion, kurz GRIT und Künsten, die ein Vermächtnis jeder einzelnen Kultur für die
(»Graduated and Reciprocated Initiatives in Tension-Reduc- ganze Menschheit sind. Sowell (1991) beobachtete, dass dank des
tion«) ein. Bei der Anwendung der GRIT-Strategie erkennt eine kulturellen Austauschs jede moderne Gesellschaft durch kultu-
Seite zunächst die gemeinsamen Interessen an und gibt ihre Ab- relle Vermischung bereichert wird. China haben wir das Papier
sicht bekannt, die Spannungen zu verringern. Dann initiiert sie und das Drucken sowie den Magnetkompass zu verdanken, der
eine oder mehrere kleine, versöhnliche Gesten. Ohne die eigene uns den Weg zu großartigen Entdeckungen wies. Ägypten ver-
Vergeltungsfähigkeit zu schwächen, gibt solch ein bescheidener danken wir die Trigonometrie. Der islamischen Welt und den
Anfang der anderen Partei die Möglichkeit, dies zu erwidern. Hindus in Indien verdanken wir u. a. unsere Zahlzeichen. Wäh-
Sollte der Feind allerdings feindselig reagieren, kann man rezip- rend wir diese vielfältigen kulturellen Traditionen feiern und
rok agieren. Das Gleiche jedoch gilt für eine versöhnliche Reak- nutzen, können wir auch die Bereicherung unserer heutigen
tion. Kleine Gesten (ein Lächeln, eine Berührung, eine Ent- sozialen Vielfalt willkommen heißen. Wir können uns selbst als
schuldigung) ermöglichten beiden Parteien in Laborversuchen, Instrument im Orchester der Menschheit begreifen. Und wir –
Spannungen zu verringern, so dass Kommunikation und gegen- die Leser dieses Buches auf der ganzen Welt – können zu unse-
seitiges Verständnis beginnen konnten (Lindskold et al. 1978, rem eigenen kulturellen Erbe stehen und dabei Brücken der
1988). In einem Konflikt in der echten Welt löste Präsident Kommunikation, des Verständnisses und der Zusammenarbeit
Kennedys Geste, die Atomtests in der Atmosphäre zu beenden, über alle kulturellen Traditionen hinweg errichten.
15.4 · Kapitelrückblick
651 15

Prüfen Sie Ihr Wissen 15.4.2 Schlüsselbegriffe

5 Welche Wege gibt es, um Konfliktparteien zu versöhnen 4 Aggression


und Frieden zu stiften? 4 Altruismus
4 Attributionstheorie
4 Deindividuation
4 Diskriminierung
15.4 Kapitelrückblick 4 Eigengruppe
4 Eigengruppenverzerrung
15.4.1 Verständnisfragen 4 Einstellung
4 Equity
jSoziales Denken 4 Foot-in-the-Door-Technik
15.1 Was erforschen Sozialpsychologen? Wie erklären wir das 4 Fremdgruppe
Verhalten anderer und unser eigenes? 4 Frustrations-Aggressions-Prinzip
15.2 Beeinflussen unsere Gedanken unser Handeln oder beein- 4 Fundamentaler Attributionsfehler
flussen unsere Handlungen, was wir denken? 4 Gerechte-Welt-Glaube
4 GRIT
jSozialer Einfluss 4 Gruppendenken
15.3 Was ist automatische Mimikry? Wie können Experimen- 4 Gruppenpolarisierung
te zur Konformität die Macht von sozialem Einfluss demons- 4 Informationaler sozialer Einfluss
trieren? 4 Kameradschaftliche Liebe
15.4 Was lehrten uns die Experimente von Milgram zum Gehor- 4 Konflikt
sam über die Macht von sozialen Einflüssen? 4 Konformität
15.5 Wie wird unser Verhalten durch die Anwesenheit anderer 4 Leidenschaftliche Liebe
beeinflusst? 4 Mere-Exposure-Effekt
15.6 Was ist Gruppenpolarisierung, was Gruppendenken? Wie 4 Norm der sozialen Verantwortung
viel Macht haben wir als Individuen? 4 Normativer sozialer Einfluss
4 Other-Race-Effekt
jSoziale Beziehungen 4 Periphere Route der Überzeugung
15.7 Was sind Vorurteile? Welche sozialen und emotionalen 4 Reziprozitätsnorm
Wurzeln haben sie? 4 Selbstoffenbarung
15.8 Was sind die kognitiven Wurzeln von Vorurteilen? 4 Soziale Erleichterung
15.9 Inwiefern unterscheidet sich die psychologische Definition 4 Soziale Falle
von Aggression von der Verwendung des Begriffs im Alltag? 4 Soziales Faulenzen
Welche biologischen Faktoren bringen uns dazu, anderen weh- 4 Soziales Skript
zutun? 4 Sozialpsychologie
15.10 Welche psychologischen und soziokulturellen Faktoren 4 Spiegelbildliche Wahrnehmungen
können aggressives Verhalten auslösen? 4 Stereotyp
15.11 Wieso freunden wir uns mit bestimmten Personen an oder 4 Sündenbocktheorie
verlieben uns in sie, aber nicht in andere? 4 Theorie der kognitiven Dissonanz
15.12 Wie verändert sich romantische Liebe im Laufe der Zeit? 4 Theorie des sozialen Austauschs
15.13 Wann ist es am wahrscheinlichsten bzw. am unwahr- 4 Übergeordnete Ziele
scheinlichsten, dass Menschen helfen? 4 Vorurteil
15.14 Wie erklären die Theorie des sozialen Austauschs und so- 4 Zentrale Route der Überzeugung
ziale Normen Hilfeverhalten? 4 Zuschauereffekt
15.15 Wie können soziale Fallen und spiegelbildliche Wahrneh-
mung soziale Konflikte anheizen?
15.16 Wie können wir Vorurteile, Aggression und Konflikte in
friedensfördernde Einstellungen umwandeln?
652 Kapitel 15 · Sozialpsychologie

15.4.3 Weiterführende deutsche Literatur

Aronson, E. (2008). Sozialpsychologie (6. Aufl.). München: Pearson.


Bierhoff, H. W. (2006). Sozialpsychologie. Ein Lehrbuch (6. Aufl.). Stuttgart:
Kohlhammer.
Fischer, P., Asal, K. & Krueger, J. (2013). Sozialpsychologie für Bachelor. Heidel-
berg: Springer.
Frey, D. & Irle, M. (Hrsg.). (2008). Theorien der Sozialpsychologie (3 Bde.,
3. Aufl.). Bern: Huber.
Gollwitzer, M. (2009). Sozialpsychologie kompakt. Weinheim: Beltz.
Jonas, K., Stroebe, W., Hewstone, M. R. C. (Hrsg.). (2014). Sozialpsychologie
(6. Aufl.). Heidelberg: Springer.
Milgram, S. (2003). Das Milgram-Experiment: zur Gehorsamsbereitschaft
gegenüber Autorität (13. Aufl.). Hamburg: Rowohlt.
Sommer, G. & Fuchs, A. (Hrsg.). (2004). Krieg und Frieden – Handbuch
der Konflikt- und Friedenspsychologie. Weinheim: Beltz.
Stürmer, S. (2009). Sozialpsychologie. Stuttgart: UTB.

15
653 16

Klinische Psychologie:
Psychische Störungen
David G. Myers

16.1 Aspekte psychischer Störungen – 654


16.1.1 Definition psychischer Störungen – 654
16.1.2 Erklärungsansätze – 656
16.1.3 Klassifikation psychischer Störungen – 659
16.1.4 Etikettierung psychischer Störungen – 660

16.2 Angststörungen – 663


16.2.1 Generalisierte Angststörung – 664
16.2.2 Panikstörung – 664
16.2.3 Phobien – 664
16.2.4 Zwangsstörung – 666
16.2.5 Posttraumatische Belastungsstörung – 667
16.2.6 Erklärungsansätze – 668

16.3 Affektive Störungen – 671


16.3.1 Major Depression – 671
16.3.2 Bipolare Störung – 673
16.3.3 Erklärungsansätze für affektive Störungen – 674

16.4 Schizophrenie – 682


16.4.1 Symptome der Schizophrenie – 682
16.4.2 Beginn und Entwicklung von Schizophrenie – 684
16.4.3 Erklärungsansätze – 685

16.5 Andere Störungen – 689


16.5.1 Dissoziative Störungen – 689
16.5.2 Essstörungen – 692
16.5.3 Persönlichkeitsstörungen – 695

16.6 Prävalenz psychischer Störungen – 698

16.7 Kapitelrückblick – 700


16.7.1 Verständnisfragen – 700
16.7.2 Schlüsselbegriffe – 700
16.7.3 Weiterführende deutsche Literatur – 701

D. G. Myers, Psychologie,
DOI 10.1007/978-3-642-40782-6_16, © Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2014
654 Kapitel 16 · Klinische Psychologie: Psychische Störungen

» Zu Hause in Indianapolis hatte ich jeden Sonntag das all dieser Lebensjahre auf das Konto psychischer Störungen –
Bedürfnis, mein Zimmer 4 bis 5 Stunden lang zu putzen. Ich dieser Wert liegt nur knapp unter dem für Herz-Kreislauf-Er-
zog jedes Buch aus dem Bücherschrank, staubte es ab krankungen und sogar etwas über dem für Krebserkrankungen
und stellte es wieder zurück … ich konnte nicht mehr damit (Murray u. Lopez 1996). Auftretenshäufigkeiten und Symptome
aufhören. psychischer Störungen variieren kulturabhängig, aber zwei
Marc, Diagnose: Zwangsstörung (aus Summers 1996) ernste Störungen kommen in jeder der uns bekannten Kulturen
vor: Depression und Schizophrenie.
» Ich fühle mich immer dann niedergeschlagen, wenn ich
mich selbst nicht mehr spüre. Ich kann keine Gründe
dafür finden, mich zu mögen. Ich denke, dass ich hässlich
16.1 Aspekte psychischer Störungen
bin. Ich denke, niemand mag mich.
Greta, Diagnose: Depression (aus Thorne 1993)
Die meisten Menschen würden wohl zustimmen, dass jemand,
» Ich hörte Stimmen. Sie hörten sich an wie das Gebrüll der wochenlang zu depressiv ist, um zu einem bestimmten Zeit-
einer Menschenmenge. Ich fühlte mich wie Jesus; ich sollte punkt aus dem Bett zu kommen, an einer psychischen Störung
gekreuzigt werden. leidet. Doch was ist mit jenen, die nach einem Verlust nicht mehr
Stuart, Diagnose: Schizophrenie (aus Emmons et al. 1997) imstande sind, ihre normalen sozialen Aktivitäten wieder auf-
zunehmen? Wo sollen wir die Grenze ziehen zwischen Traurig-
Menschen sind fasziniert von außergewöhnlichen, seltenen und keit und Depression, zwischen witziger Kreativität und bizarrer
abnormen Dingen. »Die Sonne scheint, wärmt uns und leuchtet Irrationalität, zwischen Normalität und Abnormität? Lassen Sie
für uns, und wir sind nicht neugierig darauf, zu erfahren, warum uns mit den folgenden Fragen beginnen:
das so ist«, beobachtete der amerikanische Schriftsteller Ralph 4 Wie sollen wir psychische Störungen definieren?
Waldo Emerson. »Anders verhält es sich, wenn es darum geht, 4 Mit welchem Konzept sollen wir an eine Störung heran-
nach Gründen für alles Schlechte, Schmerzen, Hunger und [un- gehen: Handelt es sich um Krankheiten, die diagnostiziert
gewöhnliche] Menschen zu suchen.« und geheilt werden müssen, oder um natürliche Reaktionen
Aber was interessiert uns so an psychischen Krankheiten? auf schwierige Umweltbedingungen?
Sehen wir in den betroffenen Menschen auch einen Teil von uns, 4 Wie sollten wir psychische Störungen klassifizieren? Und
selbst wenn es uns gut geht? In manchen Augenblicken fühlen, können wir das überhaupt in einer Art und Weise tun,
denken oder handeln wir alle genauso, wie es psychisch kranke die es uns ermöglicht, Menschen zu helfen, ohne sie durch
Menschen oft tun. Auch wir fühlen uns ängstlich und niederge- bestimmte Krankheitsbezeichnungen zu stigmatisieren?
schlagen, ziehen uns zurück, sind misstrauisch oder verwirrt.
Wir machen das nur weniger intensiv und nicht dauerhaft. Des-
» Wer kann eine Linie im Regenbogen ziehen, wo das Violett
endet und das Orange beginnt? Sehen können wir den
halb ist es nicht weiter verwunderlich, dass die Beschäftigung mit
Unterschied der Farben deutlich, doch wo genau vermischt
psychischen Störungen manchmal zu einer Art Selbsterkenntnis
sich die eine mit der anderen? So ist es auch mit geistiger
führt, die ein schauriges Gefühl in uns hervorruft und zugleich
16 ein Licht auf unsere eigene Persönlichkeit wirft. Nach William
Gesundheit und Geisteskrankheit.
Herman Melville, Billy Budd, 1924/2002
James (1842–1910) ist »die Beschäftigung mit dem Abnormen
der beste Weg, um das Normale zu verstehen«.
Ein weiterer Grund für unsere Neugier ist der, dass bereits
viele von uns entweder am eigenen Leib oder bei Freunden oder 16.1.1 Definition psychischer Störungen
Familienmitgliedern die Verwirrung und den Schmerz gespürt
haben, der mit einer psychischen Störung verbunden ist. Die
? 16.1 Wo ist die Grenze zwischen Normalität und Störung?
Störung geht mit unerklärlichen körperlichen Symptomen, mit
irrationalen Ängsten oder dem Gefühl einher, dass das Leben Menschen, die mit psychisch Kranken arbeiten, betrachten psy-
nicht lebenswert ist. Tatsächlich werden die meisten von uns in chische Störungen als dauerhaft schädliche Gedanken, Gefühle
der menschlichen Gesellschaft irgendwann auf eine Person mit und Handlungen, die abweichend, quälend und dysfunktional
einer psychischen Störung treffen. sind (Comer 2004; Stein et al. 2010).
Laut Bericht der Weltgesundheitsorganisation (WHO 2010)
Psychische Störung (»psychological disorder«) – abweichendes, beein-
leiden ungefähr 450 Mio. Menschen weltweit unter psychischen trächtigendes und dysfunktionales Muster von Gedanken, Gefühlen oder
Störungen. Fasst man über alle Menschen hinweg die Jahre zu- Verhalten.
sammen, die durch diese Erkrankungen mit eingeschränkter
Lebensführung verbracht werden, und die Jahre, um die sich die Sich innerhalb einer Kultur von den meisten anderen Menschen
Lebenserwartung der Betroffenen verkürzt, dann gehen 15,4% zu unterscheiden, ist ein Teil, der zur Definition einer psychi-
16.1 · Aspekte psychischer Störungen
655 16

. Abb. 16.1 Kultur und Normalität. Die jungen Männer des westafrikanischen Wodaabe-Stamms legen ein kunstvoll gemachtes Make-up auf und ziehen
Kostüme an, um für Frauen attraktiv zu wirken. Junge amerikanische Männer kaufen beispielsweise auffällige Autos mit lauten Stereoanlagen, um das-
selbe zu erreichen. Jede Kultur mag das Verhalten der Angehörigen der jeweils anderen Kulturen als anormal ansehen. (© Robert Harding World Imagery /
picture alliance)

schen Störung herangezogen werden kann. 1862 beobachtete die ? 16.2 Warum gibt es eine Kontroverse über die Aufmerksam-
öffentlichkeitsscheue Dichterin Emily Dickinson Folgendes: keitsdefizit-Hyperaktivitätsstörung?

Aufmerksamkeitsdefizit-Hyperaktivitätsstörung (ADHS; »attention-deficit


Stimme zu – und du bist gesund – hyperactivity disorder«, ADHD) – psychische Störung, gekennzeichnet
Widersprich – und schon bist du gefährlich – durch Auftreten von einem oder mehr der drei Schlüsselsymptome vor
und wirst an eine Kette gelegt. dem 7. Lebensjahr: extreme Unaufmerksamkeit, Hyperaktivität und Impul-
sivität.

Standards für abweichendes Verhalten sind von Kultur zu Kultur


und von Kontext zu Kontext unterschiedlich (. Abb. 16.1). Wäh- Doch zu einer Störung gehört mehr, als nur abweichend zu
rend eines Krieges kann eine Massentötung als normal oder sein. Goldmedaillengewinner bei den Olympischen Spielen
sogar heldenhaft angesehen werden. In manchen Kontexten wer- weichen in Bezug auf ihre körperlichen Fähigkeiten von der
den Menschen als verrückt angesehen, wenn sie Stimmen hören. Norm ab, aber sie haben ein hohes Ansehen in der Gesellschaft.
In Kulturen, die Ahnenverehrung praktizieren, behaupten ver- Soziale Abweichung – die einige politische Regimes nutzen, um
nünftig wirkende Menschen jedoch, mit den Toten reden zu ihre Feinde zu identifizieren und zu isolieren – kann Schande
können (Friedrich 1987). bringen. Damit ein abweichendes Verhalten aber als gestört
Auch die Standards dafür, was eine Abweichung ist, sind angesehen wird, muss es die betreffende Person auch in arge
über die Zeit hinweg unterschiedlich. Von 1952 bis zum 9. De- Bedrängnis bringen. Marc, Greta und Stuart aus der Einleitung
zember 1973 galt die Homosexualität in den USA als Krankheit. dieses Kapitels waren eindeutig verzweifelt über ihre Verhaltens-
Mit Beginn des 10. Dezembers änderte sich das plötzlich: Die weisen.
American Psychiatric Association strich die Homosexualität von Abweichendes und verzweifeltes Verhalten wird eher als ge-
ihrer Liste der Krankheiten, weil ein immer größerer Teil ihrer stört angesehen, wenn man es auch als dysfunktional beurteilt
Mitglieder es nicht mehr als ein psychisches Problem ansah, (Wakefield 1992, 2006). Beispielsweise störten die ablenkenden
wenn jemand schwul war. (Später zeigte die Forschung, dass je- Zwangshandlungen Marc bei seiner Arbeit und in seiner Freizeit.
doch das Stigma und der Stress, der damit verbunden war, dass Daran gemessen können selbst typische Verhaltensweisen wie
jemand schwul ist, das Risiko für seelische Gesundheitsprobleme die gelegentliche Mutlosigkeit, die viele Studierende empfinden,
höher werden lassen [Hatzenbuehler et al. 2009; Meyer 2003].) ein Signal für eine psychische Störung sein, wenn sie einen Men-
In unserem neuen Jahrhundert gibt es eine heftige Kontroverse schen arbeitsunfähig machen. Dysfunktion ist der Schlüssel-
darüber, dass bei Kindern die Diagnose Aufmerksamkeitsde- begriff, wenn man definieren will, was eine Störung ist: Eine
fizit-Hyperaktivitätsstörung so häufig gestellt wird (7 Kritisch starke Angst vor Spinnen ist möglicherweise abweichend, doch
nachgefragt: ADHS – nur ein hohes Level an Energie oder eine echte wenn sie einen Menschen nicht in seinem Leben beeinträchtigt,
Störung?). handelt es sich nicht um eine Störung.
656 Kapitel 16 · Klinische Psychologie: Psychische Störungen

Kritisch nachgefragt

ADHS – nur ein hohes Level an Energie oder eine echte Störung?
Der 8-jährige Michael ist immer schon energie- kanischer Kinder, die aufgrund von ADHS be- Was ist bekannt über die Ursachen von ADHS?
geladen gewesen. Zu Hause schießt er von handelt werden, nahezu vervierfacht (Olfson et Sie wird nicht durch zu viel Zuckerkonsum
einer Aktivität zur nächsten; selten nur setzt er al. 2003). Wie weit verbreitet die Diagnose ist, oder durch schlechte Schulen verursacht. Es
sich hin und liest ein Buch oder konzentriert hängt zum Teil von den Einschätzungen der gibt widersprüchliche Belege, ob Fernsehen
sich auf ein Spiel. Beim Spielen ist er leicht- Lehrer ab. Einige Lehrer schicken viele Kinder und Videospiele mit einer reduzierten Selbst-
sinnig und reagiert in übertriebener Weise auf zu einer Überprüfung auf ADHS, andere gar regulationsfähigkeit und ADHS zusammen-
Spielkameraden, die mit ihm zusammenstoßen keine. Die relativen Häufigkeiten unterscheiden hängen (Bailey et al. 2011; Courage u. Setliff
oder ihm eines seiner Spielzeuge wegnehmen. sich in den einzelnen Kreisen des US-Bundes- 2010; Ferguson 2011). Sie tritt oft zusammen
In der Schule beklagt sich die aufgebrachte staates New York um das Zehnfache (Carlson mit einer Lernstörung oder mit einem ab-
Lehrerin darüber, dass der zappelige Michael 2000). Obwohl afroamerikanische Jugendliche weichenden und zu Wutausbrüchen neigen-
nicht hört bzw. nicht ihren Anweisungen folgt mehr ADHS-Symptome zeigen als kaukasische den Verhalten auf. ADHS ist erblich, und For-
und dass er nicht still sitzen bleibt und seine Jugendliche, erhalten sie seltener eine ADHS- schungsteams untersuchen die verantwort-
Aufgaben macht. Wenn er älter wird, wird Mi- Diagnose (Miller et al. 2009). Abhängig vom lichen Gene und abnormen neuronalen
chaels Hyperaktivität wahrscheinlich abneh- Wohnviertel erhalten Kinder, die der Schule Bahnen (Nikolas u. Burt 2010; Poelmans et al.
men, seine Unaufmerksamkeit wird aber viel- ein ewiger Dorn im Auge sind, oft eine ADHS- 2011; Volkow et al. 2009; Williams et al. 2010).
leicht bestehen bleiben (Kessler et al. 2010). Diagnose und bekommen dann starke, ver- Sie ist behandelbar mit Hilfe von nicht abhän-
Wenn man Michael von einem Psychologen schreibungspflichtige Medikamente, merkt gig machenden Medikamenten wie Ritalin
oder Psychiater begutachten ließe, würde der Peter Gray an (2010). Das Problem liege aber und dem in Deutschland nicht zugelassenen
die Diagnose Aufmerksamkeitsdefizit-Hyper- weniger im Kind, als in der heutigen unnatür- Adderall; hier handelt es sich um Stimulanzien,
aktivitätsstörung (ADHS) attestieren, unter lichen Umwelt, in der Kinder zu etwas gezwun- die jedoch die Hyperaktivität vermindern und
der ca. 5% der Kinder und 3% der Jugend- gen werden, was die Evolution so nicht für sie die Konzentrationsfähigkeit fördern – und
lichen leiden, die eines oder mehr der drei vorgesehen hat, nämlich stundenlang ruhig helfen in der Schule normal voranzukommen
Schlüsselsymptome (extreme Unaufmerk- auf ihrem Stuhl zu sitzen, argumentierte er. (Barbaresi et al. 2007). Psychologische Thera-
samkeit, Hyperaktivität und Impulsivität) Auf der anderen Seite der Debatte stehen die- pien, die sich darauf konzentrierten, das Ver-
aufweisen (Polanczyk et al. 2007). Studien jenigen, die argumentieren, dass die Tatsache, halten im Klassenzimmer und zu Hause durch
belegen, dass auch 2,5% der Erwachsenen dass die Diagnose heute häufiger gestellt wird, Shaping zu formen, waren hilfreich dabei,
ADHS-Symptome haben, deren Anzahl mit Ausdruck eines gestiegenen Bewusstseins für die durch ADHS ausgelöste Verzweiflung anzu-
zunehmendem Alter aber abnimmt (Simon die Störung sein kann, vor allem in Gegenden, gehen (Fabiano et al. 2008).
et al. 2009). in denen die Diagnose verbreiteter ist. Obwohl Die Schlussfolgerung: Extreme Unaufmerk-
Für Skeptiker hört sich die Tatsache, dass je- die World Federation for Mental Health (2003) samkeit, Hyperaktivität und Impulsivität
mand ablenkbar, zappelig und impulsiv ist, diagnostische Subjektivität und Inkonsistenz können dazu führen, dass soziale, schulische
wie eine »Störung« an, die auf eine einzelne einräumt – ADHS ist nicht so objektiv definiert und berufliche Leistungen kippen, und diese
genetische Variation zurückgeht: auf das wie ein gebrochener Arm – gab sie folgende Symptome können mit Hilfe von Medikamen-
Y-Chromosom. Und es ist auch so, dass die Erklärung heraus: »In der internationalen wis- ten und anderen Verfahren behandelt werden.
Diagnose ADHS 2- bis 3-mal häufiger bei Jun- senschaftlichen Gemeinschaft stimmt man Aber die Diskussion darüber geht weiter, ob
gen gestellt wird als bei Mädchen. Führen allgemein darin überein, dass ADHS eine reale eine normale Wildheit zu oft als psychiatrische
energiegeladene Kinder und langweilige neurobiologische Störung ist, über deren Störung diagnostiziert wird und ob die Nach-
Schulen zur Überdiagnostizierung von ADHS? Existenz nicht mehr diskutiert werden sollte.« teile der langfristigen Einnahme von Stimu-
16 Wird das Etikett für gesunde Schulkinder ver- Die Störung ist bei Studien mit Hilfe von bild- lanzien bei der Behandlung von ADHS über-
wendet, die in einer natürlicheren Umgebung gebenden Verfahren auch durch eine verräte- wiegen.
draußen völlig normal wirken würden? rische Hirnaktivität gekennzeichnet, merkt ein
Skeptiker stimmen dem zu. Im Jahrzehnt nach Konsenspapier von 75 Wissenschaftlern an
1987, merken sie an, hat sich der Anteil ameri- (Barkley et al. 2002).

Prüfen Sie Ihr Wissen 16.1.2 Erklärungsansätze

5 Ein Anwalt leidet unter dem Gefühl, seine Hände hundert


Mal am Tag waschen zu müssen. Er hat keine Zeit mehr, ? 16.3 Wie erklären das medizinische Modell und der bio-
sich mit Klienten zu treffen, und seine Kollegen zweifeln psychosoziale Ansatz psychische Störungen?
an seiner Kompetenz. Sein Verhalten würde wahrschein- Früher nahmen die Menschen häufig an, dass rätselhafte Verhal-
lich als gestört bezeichnet werden, da er (1) unter seinem tensweisen das Werk unbekannter Gewalten seien, und zogen
Verhalten leidet und es zudem (2) vom Verhalten der z. B. die Bewegung der Sterne, gottähnliche Mächte oder böse
anderen Menschen um ihn herum und Geister zur Erklärung heran. Hätten Sie im Mittelalter gelebt,
es (3) ihn in seinem Alltag . hätten Sie vielleicht gesagt: »Der Teufel ließ ihn das tun.« Die
Heilung hätte dann vielleicht darin bestanden, diese bösen
16.1 · Aspekte psychischer Störungen
657 16
Behandlung das Ziehen von Zähnen, das Entfernen von Darm-
schlingen, das Ausbrennen der Klitoris und die Verabreichung
von Tierbluttransfusionen gehört (Farina 1982; . Abb. 16.2).

Medizinischer Ansatz
Als Gegner dieser brutalen Behandlungen bestanden Reformer
wie z. B. Philippe Pinel (1745–1826) in Frankreich darauf, dass
Verrücktheit keine Dämonenbesessenheit, sondern eine Er-
krankung des Geistes war, verursacht durch starke Belastungen
und unmenschliche Bedingungen. Für Pinel und andere Reformer
bedeutete eine »ethische Behandlung« der Patienten, sie von ihren
Fesseln zu befreien, mit ihnen zu reden und die Brutalität durch
Freundlichkeit, die Isolation durch Aktivität und den Schmutz
. Abb. 16.2 »Behandlung« von gestern. Zu anderen Zeiten und an ande-
durch saubere Luft und Sonnenschein zu ersetzen (. Abb. 16.3).
ren Orten waren psychisch gestörte Menschen manchmal einer brutalen
Behandlung ausgesetzt; dazu gehörte auch die Trepanation (Öffnung des
Auch wenn durch diese Behandlungen selten Patienten geheilt
Schädels), wie man sie hier an einem Schädel aus der Steinzeit sehen kann. wurden, waren sie mit Sicherheit menschenwürdiger.
Derartige Löcher sind vielleicht bei dem Versuch, böse Geister zu befreien Als Ärzte um 1800 entdeckten, dass Syphilis das Gehirn
und Personen mit psychischen Störungen zu heilen, in den Schädel gebohrt schädigt und den Verstand zerstört, war dies die Triebkraft für
worden. Dieser Patient kann die Behandlung überlebt haben, möglicher-
weise aber auch nicht. (Mit freundlicher Genehmigung von John W. Verano)
eine weitere Reform. Krankenhäuser ersetzten die Irrenanstalten
und die medizinische Welt wandte sich den körperlichen Ur-
sachen und Behandlungen für seelische Störungen zu. Heutzu-
Kräfte loszuwerden, indem man den Dämon austreibt. Bis vor tage zeigt sich der medizinische Ansatz deutlich in der Termino-
zwei Jahrhunderten wurden »verrückte« Menschen manchmal logie der Psychiatrie: Eine psychische Erkrankung (Psychopatho-
unter Bedingungen wie im Zoo eingesperrt oder »Therapien« logie) muss aufgrund ihrer Symptome diagnostiziert und durch
unterzogen, die auf einen Dämon gemünzt waren: Schlagen, eine Therapie behandelt werden, zu der auch eine Behandlung in
Verbrennung oder Kastration. In noch früheren Zeiten hätte zur einem psychiatrischen Krankenhaus gehören kann. Heute spricht

. Abb. 16.3 »Moralische Behandlung«. Unter dem Einfluss von Philippe Pinel finanzierten Krankenhäuser manchmal Tanzabende für Patienten, die oft
»Irren-Bälle« (»lunatic balls«) genannt wurden. Solch ein Ball wird auf diesem Gemälde von George Bellows dargestellt. (Tanz in einem Irrenhaus, Quelle:
http://www.zeno.org – Contumax GmbH & Co. KG)
658 Kapitel 16 · Klinische Psychologie: Psychische Störungen

. Abb. 16.4 Der biopsychosoziale Ansatz bei psychischen Störungen. Die heutige Psychologie untersucht, wie biologische, psychologische und soziale/
kulturelle Faktoren bei der Entstehung spezifischer psychischer Störungen interagieren

man allerdings von psychischen Störungen statt von psychischen spezifische Quellen für Stress und auch unterschiedliche Strate-
Krankheiten. gien, damit umzugehen. Die Essstörungen Anorexie und Bulimie
z. B. sind Störungen, die zumeist in westlichen Kulturen auftre-
Medizinischer Ansatz (»medical model«) – Konzept, dass Krankheiten,
in diesem Fall psychische Störungen, auf physischen Ursachen beruhen, die ten. In Malaysia bezeichnet der Begriff »amok« einen plötzlichen
diagnostiziert, behandelt und in den meisten Fällen auch geheilt werden Ausbruch aggressiven Verhaltens (daher kommt die Redewen-
können, oft durch Behandlung in einem Krankenhaus. dung »Amok laufen«). »Susto«, gekennzeichnet durch massive
Ängste, Rastlosigkeit und Furcht vor schwarzer Magie, findet
Durch die neuesten Entdeckungen, dass genetisch beeinflusste man in Lateinamerika. Unter »Taijin-kyofusho« versteht man das
Abnormitäten in der Hirnstruktur und Biochemie zu einigen Auftreten sozialer Ängste, die sich auf das eigene Aussehen be-
Störungen beitragen, gewinnt die medizinische Perspektive ziehen; es tritt in Verbindung mit der Bereitschaft zu erröten und
immer mehr an Glaubwürdigkeit. Wir werden aber sehen, dass einer Furcht vor Blickkontakten auf. Diese Störung kommt in
auch psychische Faktoren, wie z. B. chronischer oder traumati- Japan vor und führt zu extremem sozialem Rückzug, »hikikomo-
scher Stress, eine wichtige Rolle spielen. ri«. All diesen Störungen liegt möglicherweise dieselbe Dynamik
zugrunde (beispielsweise Angst), sie unterscheiden sich jedoch
16 Biopsychosozialer Ansatz in ihren Symptomen (z. B. ein Essproblem oder eine besondere
Die Psychologen von heute behaupten, dass jegliches Verhalten, Furcht), die sich in einer bestimmten Kultur manifestieren.
ganz unabhängig davon, ob es als normal oder gestört angesehen
Mit der Verbreitung von McDonald‘s und MTV kommt
wird, auf einer Wechselwirkung von Anlage (genetische und phy-
es zu einer Ausbreitung westlicher Krankheiten, wie z. B. Ess-
siologische Faktoren) und Umwelt (vergangene und gegenwärtige
störungen, in der ganzen Welt ( Watters 2010).
Lernerfahrungen) beruht. Die Annahme, dass ein Mensch »geis-
teskrank« ist, führt diesen Zustand auf eine »Krankheit« zurück, Aber nicht alle Störungen sind kulturabhängig. Depression und
die gefunden und geheilt werden muss. Schwierigkeiten in der Schizophrenie treten überall auf der Welt auf. Von Asien bis nach
Umwelt dieses Menschen, seine gegenwärtigen Bewertungen von Afrika und über Nord- und Südamerika hinweg gehören irratio-
Lebensereignissen oder schlechte Gewohnheiten und geringe so- nales Denken und inkohärente Sprache oft zu den Symptomen
ziale Fähigkeiten können aber auch wichtige Faktoren sein. der Schizophrenie.
Um die Gesamtheit der Einflussfaktoren – genetische Prädis-
» Es ist kein Maß für Gesundheit, in einer zutiefst kranken
positionen, physische Zustände, innere psychologische Dyna-
Gesellschaft gut angepasst zu sein.
mik, soziale und kulturelle Umstände zu verstehen, müssen wir
Jiddu Krishnamurti (1895–1986)
uns des biopsychosozialen Ansatzes bedienen (. Abb. 16.4), der
Umwelteinflüsse lassen sich nachweisen, wenn man Zusammen- anerkennt, dass sich Körper und Geist nicht voneinander tren-
hänge zwischen bestimmten psychischen Störungen und Kultu- nen lassen. Negative Emotionen tragen zu körperlichen Erkran-
ren findet (Beardsley 1994; Castillo 1997). In jeder Kultur gibt es kungen bei, und körperliche Abnormitäten führen zu emotio-
16.1 · Aspekte psychischer Störungen
659 16
nalem Unbehagen. Unsere Seele ist letztlich ein Teil unseres liche als auch psychische Störungen (Kapitel V) umfasst, wird
Körpers und umgekehrt. 2017 erwartet.

Prüfen Sie Ihr Wissen DSM-IV-TR (»Diagnostic and Statistical Manual of Mental Disorders,
4th Edition, Text Revision«) – Diagnostisches und Statistisches Manual
5 Sind psychische Störungen universell oder kultur- Psychischer Störungen (4. Ausgabe) der American Psychiatric Association mit
aktualisierter Textrevision, ein weithin genutztes System zur Klassifikation
spezifisch? Geben Sie in Ihrer Antwort Beispiele!
psychischer Störungen.

Mehrere Beispiele dieses Kapitels stammen aus einem Buch mit


Fallbeispielen, das zum DSM-IV-TR herausgegeben wurde.
16.1.3 Klassifikation psychischer Störungen
Trotz der medizinischen Terminologie (Diagnose, Symptome,
Krankheit), ist das DSM-IV-TR in der Praxis als hilfreiches und
? 16.4 Wie und warum klassifizieren Kliniker psychische
praktisches Instrument angesehen. Für den Einsatz gibt es auch
Störungen?
finanzielle Notwendigkeiten: Die meisten Krankenversicherungen
Innerhalb der Biologie und anderer wissenschaftlicher Bereiche Nordamerikas verlangen eine ICD-/DSM-Diagnose, bevor sie eine
trägt die Klassifikation zu einer gewissen Ordnung bei. Wird ein Therapie bezahlen. In Deutschland sind Kassenärzte verpflichtet,
Tier als Säugetier klassifiziert, sagt das eine Menge aus: dass es eine Diagnosedokumentation mit Hilfe von ICD-10-Schlüssel-
sich beispielsweise um einen Warmblüter handelt, es Haare oder nummern vorzunehmen. Ein Ziel des neuen DSM-V ist, die Inte-
einen Pelz hat und seine Jungen mit Milch ernährt. Auch inner- gration psychiatrischer Diagnosen in die durchschnittliche medi-
halb der Psychiatrie und Psychologie werden Symptome mit zinische Praxis zu unterstützen (Kupfer u. Regier 2010).
Hilfe eines Klassifikationssystems beschrieben und zugeordnet. Das DSM-IV-TR definiert einen diagnostischen Prozess
Wird die psychische Störung eines Menschen als Schizophrenie und 16 klinische Syndrome (7 Übersicht: Wie werden psychische
bezeichnet, bedeutet dies, dass dieser Mensch inkohärent spricht, Störungen diagnostiziert?). Es beschreibt die Störungen, inklusive
halluziniert oder einen Wahn (bizarre Vorstellungen) hat, ent- der psychotischen Störungen, ohne vermutliche Ursachen zu er-
weder wenig oder unangemessene Emotionen zeigt oder sich klären. Um hilfreich und nützlich zu sein, müssen die Kategorien
von den Menschen zurückgezogen hat. Die Diagnose Schizo- und diagnostischen Richtlinien reliabel sein, was sie in einem
phrenie ermöglicht eine praktische Kurzzusammenfassung für angemessenen Umfang sind. Wenn ein Psychiater oder Psycho-
die Beschreibung einer komplexen Störung. loge bei jemandem z. B. die Diagnose »katatone Schizophrenie«
Innerhalb der Psychiatrie und Psychologie zielt die diagnos- stellt, stehen die Chancen gut, dass auch ein anderer Spezialist für
tische Klassifikation nicht ausschließlich darauf ab, eine Störung psychische Erkrankungen unabhängig davon dieselbe Diagnose
zu beschreiben. Sie dient auch der Vorhersage des zukünftigen vergibt. Diese Richtlinien gehen so vor, dass sie dem Kliniker
Verlaufs, schließt eine bestimmte Form der Behandlung ein und eine Reihe objektiver Fragen zu beobachtbaren Verhaltensweisen
regt die Forschung nach den Ursachen an. Tatsächlich müssen stellen. So eine Frage könnte z. B. lauten: »Fürchtet sich die Per-
wir eine Störung zuerst benennen und beschreiben, um sie un- son davor, das Haus zu verlassen?« In einer Studie verwendeten
tersuchen zu können. Ein gegenwärtig maßgebliches System, 16 Psychologen ein strukturiertes Interview (Structured Clinical
um psychische Störungen zu klassifizieren, ist das DSM-IV-TR. Interview for DSM, SCID), um 75 psychiatrische Patienten zu
Dieses Werk ist das von der American Psychiatric Association diagnostizieren, die unter (1) einer Depression, (2) einer genera-
herausgegebene Diagnostische und Statistische Manual psychi- lisierten Angststörung oder (3) anderweitigen Störungen litten
scher Störungen (4. Ausgabe) (Diagnostic and Statistical Manual (Riskind et al. 1987). Ohne die Diagnose des zuerst untersuchen-
of Mental Disorders [Fourth Edition]; dtsch. Saß et al. 1996), kurz den Psychologen zu kennen, schaute sich der zweite eine Video-
DSM-IV genannt. 2010 veröffentlichte die American Psychiatric kassette an, auf der jedes Interview mit dem Patienten aufge-
Association den ersten Entwurf des DSM-V, eine Überarbeitung, zeichnet war, und gab eine zweite Einschätzung ab. Bei 83% der
die 2013 erschienen ist (Clay 2011; http://www.DSM5.org; Miller Patienten stimmten die beiden Einschätzungen überein.
u. Holden 2010). Einige vorgeschlagene Änderungen beziehen
sich auf die Bezeichnungen der Diagnosen. »Mentale Retardie-
Wie werden psychische Störungen diagnostiziert?
rung« wird als »intellektuelle Entwicklungsstörung« bezeichnet. Auf Grundlage von Einschätzungen, Interviews und Beob-
Einige vorgeschlagene Kategorien wie »hypersexuelle Störung«, achtungen stellen viele Kliniker Diagnosen, indem sie die
»Hoarding-Disorder (Messie-Syndrom)« und »Binge-eating folgenden Fragen der fünf Level bzw. Achsen des DSM-IV-TR
Störung« sind neu. Die 11. Auflage der von der Weltgesundheits- beantworten. (Kapitelnummern in Klammern geben an,
organisation (WHO) herausgegebenen Internationalen Klassi- wo die Themen im vorliegenden Buch zu finden sind.)
fikation der Krankheiten (International Classification of Diseases; 6
dtsch. Dilling et al. 1994), kurz ICD-11, welche sowohl körper-
660 Kapitel 16 · Klinische Psychologie: Psychische Störungen

wurf des DSM-V die Pathologisierung des Alltags noch vergrö-


Achse I: Ist ein klinisch relevantes Syndrom vorhanden? ßert, indem z. B. normale Trauerreaktionen als Depression und
Auf Grundlage genau definierter Kriterien können Kliniker jungenhafte Wildheit als Hyperaktivität angesehen wird (Shorter
kein, ein oder mehrere Syndrome aus der folgenden Liste 2010). Andere erwidern, dass Depression und Hyperaktivität
wählen: zwar eine sorgfältige Definition benötigen, aber eine wirkliche
5 Störungen, die gewöhnlich zuerst im Kleinkindalter, in Störung darstellen, auch wenn sie durch belastende Lebens-
der Kindheit oder Adoleszenz diagnostiziert werden ereignisse wie den Tod einer nahestehenden Person ausgelöst
5 Delir, Demenz, amnestische und andere kognitive werden und zwar dann, wenn die Trauer nicht vorübergeht
Störungen (7 Kap. 6 und 7 Kap. 9) (Kendler 2011).
5 Psychische Störungen aufgrund eines medizinischen
Prüfen Sie Ihr Wissen
Krankheitsfaktors
5 Störungen im Zusammenhang mit psychotropen 5 Was ist die biopsychosoziale Perspektive und warum ist
Substanzen sie so wichtig für das Verständnis psychischer Störungen?
5 Schizophrenie und andere psychotische Störungen
(7 Abschn. 16.4)
5 Affektive Störungen (7 Abschn. 16.3)
5 Angststörungen (7 Abschn. 16.2) 16.1.4 Etikettierung psychischer Störungen
5 Somatoforme Störungen
5 Vorgetäuschte Störungen (absichtlich erzeugt)
? 16.5 Warum kritisieren einige Psychologen die Verwendung
5 Dissoziative Störungen (7 Abschn. 16.5.1)
diagnostischer Etikettierungen?
5 Essstörungen
5 Sexuelle und Geschlechtsidentitätsstörungen (7 Kap. 12) Das DSM hat andere Kritiker auf den Plan gerufen, die sich über
5 Schlafstörungen (7 Kap. 4) etwas Grundsätzlicheres beklagen: dass diese Etikettierungen
5 Störungen der Impulskontrolle, nicht andernorts klassi- bestenfalls willkürlich sind und schlimmstenfalls Werturteile,
fiziert die sich als wissenschaftlich verkleiden. Sobald wir einen Men-
5 Anpassungsstörungen schen mit einem Etikett versehen, betrachten wir ihn mit ande-
5 Andere klinisch relevante Probleme ren Augen (Farina 1982). Etikettierungen führen zu Vorannah-
men, die unsere Wahrnehmungen und Interpretationen leiten.
Achse II: Ist eine Persönlichkeitsstörung oder mentale Retar- In einer klassischen Studie über die verzerrende Macht von
dierung (intellektuelle Entwicklungsstörung) vorhanden? Etikettierung begaben sich David Rosenhan (1973) und sieben
Kliniker können einen dieser Zustände wählen, aber müssen andere Personen in psychiatrische Ambulanzen und klagten
nicht. darüber, »Stimmen zu hören«, die »leer«, »hohl« und »dumpf«
Achse III: Ist auch eine allgemeinmedizinische Erkrankung sagten. Abgesehen von ihren Beschwerden und der Tatsache,
wie Diabetes, Bluthochdruck oder Arthritis vorhanden? dass sie falsche Namen und Berufe angaben, beantworteten sie
16 Achse IV: Bestehen auch psychosoziale oder umweltbezogene Fragen wahrheitsgemäß. Alle acht normalen Personen wurden
Probleme wie Schul- oder häusliche Probleme? fälschlich als psychisch krank diagnostiziert.
Achse V: Wie ist die globale Einschätzung des Funktions-
niveaus der Person?
» Eine der unverzeihlichsten Sünden in den Augen der
meisten Menschen ist, ohne Etikettierung zu sein. Die Welt
Kliniker geben einen Wert zwischen 0 und 100 an.
betrachtet eine solche Person wie die Polizei einen Hund
ohne Maulkorb, nämlich als nicht genügend unter Kontrolle.
T. H. Huxley, Evolution and Ethics, 1893
Einige Kritiker tadeln das DSM dafür, zu breit gefasste Katego-
rien zu haben und damit »nahezu jede Verhaltensweise in den Doch sollte uns das überraschen? Ein Psychiater meinte: Hätte
psychiatrischen Bereich zu rücken« (Eysenck et al. 1983). Andere jemand Blut geschluckt, ginge in eine Notaufnahme und würgte
kritisieren, dass die Anzahl der Erwachsenen, die die Kriterien es hoch: Würden wir dann dem Arzt unterstellen, er hätte fälsch-
für wenigstens ein psychiatrisches Krankheitsbild erfüllten, ge- lich ein blutendes Magengeschwür diagnostiziert? Sicherlich
nauso wie die Anzahl der Störungskategorien angewachsen ist nicht. Alarmierend war, was auf die Diagnosestellung folgte.
(die heutigen 300 Störungen sind das Fünffache der Anzahl von Bis zu ihrer Entlassung (im Durchschnitt nach 19 Tagen) zeigten
Störungen in der ersten Version 1952) – 26% erfüllen die Krite- die Patienten keinerlei Symptome, wie z. B. Stimmenhören,
rien laut U.S. National Institute of Mental Health (2008) jährlich mehr. Trotzdem konnten die Ärzte, nach der Analyse der je-
und 46% erfüllen die Kriterien zu irgendeinem Zeitpunkt ihres weiligen (ziemlich normalen) Lebensgeschichte, Gründe für die
Lebens (Kessler et al. 2005). Kritiker sind besorgt, dass der Ent- Störung »entdecken«, wie z. B. mit gemischten Gefühlen auf
16.1 · Aspekte psychischer Störungen
661 16

. Abb. 16.5 Korrekte Darstellung. Beliebte Filme wie »Das Schweigen der Lämmer« und »Psycho« stellen Menschen mit psychischen Störungen oft
als aggressiv und gefährlich dar. Die Fernsehserie »Law & Order: Criminal Intent« stellt eher typische Leiden und persönliche Zerrüttung dar. (© imago /
ZUMA Globe)

einen Elternteil zu reagieren. Sogar das normale Verhalten der mieten. Das Stigma scheint sich allerdings in dem Maße abzu-
»Patienten«, etwa sich Notizen zu machen, wurde fälschlicher- schwächen, in dem wir verstehen, dass es sich bei vielen psy-
weise als Symptom interpretiert. chischen Störungen um eine Störung im Gehirn und nicht um
Etikettierungen haben Auswirkungen. In einer anderen Stu- einen Charakterfehler handelt (Solomon 1996). Personen des
die sahen Versuchsteilnehmer eine Videoaufnahme von einem öffentlichen Lebens fühlen sich freier und bekennen sich zu ihrer
Interview an. Diejenigen, denen gesagt wurde, es handle sich bei Krankheit, sprechen offen über ihren Kampf gegen psychische
den Interviewten um Bewerber für einen Job, nahmen diesen als Störungen wie Depression. Je öfter die Menschen Kontakt mit
normal wahr (Langer et al. 1974, 1980). Andere, denen erzählt psychisch kranken Personen haben, desto mehr steigt auch ihre
wurde, der Interviewte sei ein Psychiatrie- oder Krebspatient, Akzeptanz (Kolodziej u. Johnson 1996). Das größte Verständnis
nahmen diesen als »anders als die meisten Menschen wahr«. erhalten Personen, deren Störungen geschlechtsuntypisch sind:
Therapeuten, die dachten sie würden einen Psychiatriepatienten Männer mit Depressionen (tritt häufiger bei Frauen auf) oder
beurteilen, nahmen den Interviewpartner als »erschreckt von Frauen, die an einer Alkoholabhängigkeit leiden (Wirth u.
seinen eigenen aggressiven Impulsen« und als »passiv-abhängi- Bodenhausen 2009).
gen Typus« etc. wahr. Eine diagnostische Etikettierung kann, wie Stereotype halten sich aber in den medialen Darstellungen
Rosenhan entdeckte, »ein Eigenleben entwickeln und selbst Ein- von psychischen Störungen (. Abb. 16.5). Manchmal sind es
fluss ausüben«. einigermaßen zutreffende und sympathische Schilderungen.
Aber zu oft stellen sie psychisch kranke Patienten als Witzfiguren
» Meine Schwester leidet an einer bipolaren Störung und
(»As Good as It Gets«; dtsch. Filmtitel: »Besser geht’s nicht«),
mein Neffe an einer schizoaffektiven Störung. Es gibt
als mörderische Irre (Hannibal Lecter in »Das Schweigen der
tatsächlich viele Personen mit Depressionen oder Alkohol-
Lämmer«) oder als Freaks dar (Nairn 2007). Abgesehen von
problemen in meiner Familie, aber niemand hat je darüber
wenigen Patienten, die erschreckende Wahnvorstellungen und
gesprochen. Das wurde einfach nicht getan. Das Stigma ist
Halluzinationen von Stimmen haben, die ihnen Gewalttaten be-
giftig.
fehlen, und von Patienten, deren Erkrankung Substanzmiss-
Glenn Close, Schauspielerin, Mental Illness: The Stigma
brauch beinhaltet, führen psychische Störungen selten zu Gewalt
of Silence, 2009
(Douglas et al. 2009; Elbogen u. Johnson 2009; Fazel et al. 2009,
Studien in Europa und Nordamerika haben die stigmatisie- 2010). Tatsächlich sind Menschen mit psychischen Störungen
rende Macht diagnostischer Etikettierungen nachgewiesen (Page eher Opfer von Gewalt als Täter (Marley u. Bulia 2001). Die
1977). Für Menschen, die gerade aus dem Gefängnis oder aus der Direktion der U.S. Public Health Services (Surgeon General
Psychiatrie entlassen wurden, kann es zur Herausforderung Office 1999, S. 7) berichtet, dass für einen Fremden tatsächlich
werden, eine Arbeit zu bekommen oder eine Wohnung zu nur ein geringes Gewalt- oder Verletzungsrisiko besteht, wenn
662 Kapitel 16 · Klinische Psychologie: Psychische Störungen

Kritisch nachgefragt

Psychische Krankheit und Verantwortung


»Mein Gehirn … meine Gene … meine 1998 wütend, als der 15-jährige Kip Kinkel, soll die Gesellschaft mit denen tun, die es
schwere Kindheit haben mich dazu gebracht.« geleitet durch »diese Stimmen in meinem sind? Viele Menschen, die hingerichtet wurden
Solche Rechtfertigungen wurden bereits von Kopf«, seine Eltern und zwei Mitschüler in oder auf ihre Hinrichtung warten, sind durch
Shakespeares Hamlet vorweggenommen. Springfield (Oregon) tötete sowie 25 weitere geistige Behinderung eingeschränkt oder
Wenn ich einem anderen Unrecht zufüge, verletzte. Man war auch 2002 wütend, als geben an, von wahnhaften Stimmen getrieben
während ich nicht ich selbst bin, erklärte er, Andrea Yates, nachdem man ihre antipsycho- zu sein. Der Staat Arkansas zwang einen
»dann tut es Hamlet nicht; Hamlet verleugnets. tischen Medikamente abgesetzt hatte, in Texas Mörder mit Schizophrenie, Charles Singleton,
Wer tut es denn? Sein Wahnsinn«. Hier zeigt vor Gericht stand, weil sie ihre fünf Kinder zwei antipsychotische Medikamente zu
sich schon das Wesentliche einer juristischen ertränkt hatte. Und man war wütend, als 2011 nehmen, um ihn geistig zurechnungsfähig zu
Verteidigung bei psychischen Erkrankungen, der verwirrte Jared Loughner eine Gruppe von machen, sodass die Todesstrafe angewandt
die 1843 geschaffen wurde, als ein verwirrter Menschen auf einem Supermarkt-Parkplatz in werden konnte.
Schotte versucht hatte, den Premierminister Arizona niederschoss, inklusive der überleben- Welche der beiden Gruppen der Geschwore-
zu erschießen (von dem er sich verfolgt fühl- den Kongressabgeordneten Gabrielle Giffords nen traf bei Yates die richtige Entscheidung?
te), aber aus Versehen dessen Mitarbeiter (. Abb. 16.6). All diese Menschen wurden Die erste, die entschied, dass Menschen, die
tötete. Wie der Beinahemörder des ehema- nach der Verhaftung nicht in ein Krankenhaus solche seltenen, aber schrecklichen Ver-
ligen amerikanischen Präsidenten Reagan, gebracht, sondern in ein Gefängnis (allerdings brechen begehen, zur Verantwortung gezogen
John Hinckley, wurde der Schotte Daniel wurde Yates nach einer zweiten Verhandlung werden sollen? Oder die zweite, die entschied,
M’Naughten in ein psychiatrisches Kranken- stattdessen hospitalisiert). Wie das Schicksal die »Verrücktheit« verantwortlich zu machen,
haus und nicht in ein Gefängnis gesteckt. von Yates zeigt, werden 99% derjenigen, deren die die Gedanken der Täter vernebelte? Selbst
In beiden Fällen ging ein wütender Aufschrei Zurechnungsunfähigkeit anerkannt wird, wenn wir in der Lage wären, bei allen mensch-
durch die Öffentlichkeit. So lautete eine trotzdem in eine Anstalt eingewiesen, oft lichen Verhaltensweisen – von der Großzügig-
Schlagzeile: »Hinckley verrückt, die Öffentlich- genauso lange wie diejenigen, die wegen keit bis hin zum Vandalismus – die biologische
keit wütend«. Und man war wieder wütend, solcher Verbrechen verurteilt werden (Lilien- und umweltbedingte Grundlage zu erklären,
als ein gestörter Jeffrey Dahmer 1991 zugab, feld u. Arkowitz 2011). wann sollen wir die Menschen für ihre Taten
15 junge Männer ermordet und Teile ihrer Die meisten Menschen mit psychischen zur Verantwortung ziehen – und wann sollen
Körper gegessen zu haben. Man war auch Störungen sind nicht gewalttätig. Aber was wir dies nicht tun?

16

. Abb. 16.6 Gefängnis oder Krankenhaus? Jared Lee Loughner wurde 2011 angeklagt, weil er in einer Schießerei in Tucson, Arizona, sechs Menschen getötet
und über ein Dutzend weitere verletzt hatte, inklusive der US-Kongressabgeordneten Gabrielle Giffords. Loughner wies eine Krankengeschichte psychischer
Störungen auf, inklusive paranoider Überzeugungen, und hatte die Diagnose einer Schizophrenie. Normalerweise wird Schizophrenie nur bei gleichzeitigem
Substanzmissbrauch in Verbindung mit Gewalttätigkeit gebracht (Fazel et al. 2009; © EPA / UNITED STATES MARSHALS SERVICE / picture alliance / dpa)

er auf einen Menschen mit einer psychischen Störung trifft. Diagnostische Etikettierungen können nicht nur Wahrneh-
(Auch wenn die meisten Menschen mit psychischen Störungen mungen verzerren, sondern auch die Realität verändern. Wenn
nicht gewalttätig sind, die, die es doch sind, stellen ein morali- z. B. Lehrern über die Begabung eines bestimmten Schülers be-
sches Dilemma für die Gesellschaft dar. Für nähere Informa- richtet wird, wenn Schüler ein feindseliges Verhalten von jeman-
tionen zu diesem Thema: 7 Kritisch nachgefragt: Psychische dem erwarten oder wenn Interviewer nachprüfen, ob jemand
Krankheit und Verantwortung.) extravertiert ist, verhalten sie sich vielleicht so, dass genau diese
16.2 · Angststörungen
663 16

. Abb. 16.7 Ein Zwang bezüglich Zwangsstörungen. (© Claudia Styrsky)

Verhaltensweisen hervorgerufen werden (Snyder 1984). Jemand, 16.2 Angststörungen


der zu der Auffassung verleitet wurde, Sie seien gemein, wird
Sie vielleicht kühl behandeln. Dies könnte dazu führen, dass Sie
? 16.6 Welches sind die verschiedenen Angststörungen?
so reagieren, als wären Sie wirklich ein unangenehmer böser
Mensch. Diagnostische Etikettierungen können im Sinne sich Angst gehört zu unserem Leben. Jeder von uns würde wohl
selbst erfüllender Prophezeiungen funktionieren. Angst empfinden, wenn er vor einem großen Publikum sprechen
Aber lassen Sie uns noch einmal auf die Vorteile diagnos- müsste, von einem Felsvorsprung in die Tiefe schauen oder da-
tischer Bezeichnungen zurückkommen: Die Fachleute im Ge- rauf warten würde, an einem wichtigen Spiel teilzunehmen. Ab
sundheitssystem verwenden Diagnosen, um miteinander über und zu fühlen wir uns so ängstlich, dass wir es nicht schaffen,
ihre Fälle zu kommunizieren, um die zugrunde liegenden Ur- Blickkontakt aufzunehmen, oder es vermeiden, jemanden anzu-
sachen zu begreifen und um über wirkungsvolle Behandlungs- sprechen. Das nennen wir dann »Schüchternheit«. Glücklicher-
programme zu entscheiden. Diagnostische Definitionen beein- weise ist dieses Unbehagen für die meisten von uns weder
flussen auch das Selbstverständnis des Patienten. Und sie sind in sehr intensiv, noch hält es lange an. Einige neigen jedoch stärker
Untersuchungen nützlich, die die Gründe und Behandlungs- dazu, Angst zu empfinden und zu erinnern (Mitte 2008). Diese
möglichkeiten von Störungen erforschen. Tendenz kann jemanden anfälliger dafür machen, eine Angst-
störung zu entwickeln, die gekennzeichnet ist durch quälende,
» ›Was bringen ihnen ihre Namen‹, fragte Gnat, ›wenn sie
überdauernde Angst und unangemessene Verhaltensweisen zum
nicht auf sie reagieren?‹ ›Ihnen nützen sie nichts‹, sagte
Abbau der Angst. In diesem Abschnitt stehen fünf Angststörun-
Alice, ›aber den Menschen, die Ihnen die Namen gegeben
gen im Mittelpunkt:
haben, denke ich.‹
4 Generalisierte Angststörung: Die Betroffenen sind aus
Lewis Carroll, Alice hinter den Spiegeln, 1871
unerklärlichen Gründen dauerhaft angespannt und fühlen
Prüfen Sie Ihr Wissen
sich unwohl.
4 Panikstörung: Die Betroffenen erleben plötzlich auftretende
5 Was sind die Vorteile und Gefahren in der Verwendung Episoden intensiver Angst.
diagnostischer Etikettierungen? 4 Phobien: Die Betroffenen fürchten sich intensiv und auf irra-
tionale Weise vor spezifischen Objekten oder Situationen.
4 Zwangsstörungen: Die Betroffenen leiden unter immer
wiederkehrenden Gedanken oder Handlungen (. Abb. 16.7).
664 Kapitel 16 · Klinische Psychologie: Psychische Störungen

4 Posttraumatische Belastungsstörung: Die Betroffenen haben 16.2.2 Panikstörung


noch Wochen nach einem schlimmen erschreckenden,
unkontrollierbaren Ereignis andauernde Erinnerungen, Eine Panikstörung ist wie ein Tornado. Er ist plötzlich da, hinter-
Albträume und andere Symptome. lässt eine Verwüstung und verschwindet. Eine von 75 Personen
ist von dieser Störung betroffen. Bei ihr steigert sich die Angst
Angststörungen (»anxiety disorders«) – psychische Störungen,
die gekennzeichnet sind durch eine quälende, überdauernde Angst oder plötzlich zu einer furchteinflößenden Panikattacke – einer Epi-
unangemessene Verhaltensweisen, um die Angst zu reduzieren. sode von mehreren Minuten mit einer intensiven Angst davor,
dass etwas Schreckliches passiert. Herzklopfen, Kurzatmigkeit,
Erstickungsgefühle, Zittern oder Schwindel sind typische Be-
16.2.1 Generalisierte Angststörung gleiterscheinungen der Panik, die möglicherweise als Herzin-
farkt oder als ein anderes schweres Leiden fehlinterpretiert wird.
Der 27-jährige Elektriker Tom klagt seit zwei Jahren über Raucher haben mindestens ein doppelt so hohes Risiko, eine
Schwindelgefühle, feuchte Hände, Herzklopfen und Klingel- Panikstörung zu bekommen (Zvolensky u. Bernstein 2005). Da
geräusche im Ohr. Er ist nervös und stellt manchmal fest, dass Nikotin ein Stimulans ist, führt das Anstecken einer Zigarette
er zittert. Diese Symptome verbirgt er mit beachtlichem Erfolg nicht zu einer Entspannung.
vor seiner Familie und seinen Kollegen. Dennoch hat er wenig
Panikstörung (»panic disorder«) – Angststörung, die sich durch unvorher-
sozialen Kontakt, und gelegentlich muss er die Arbeit verlassen. sehbare Episoden intensiver Angst auszeichnet, die einige Minuten an-
Sein Hausarzt und ein Neurologe konnten keine körperlichen dauern und in denen die Betroffenen Todesangst erleben, verbunden mit
Ursachen finden. Schmerzen im Brustkorb, dem Gefühl zu ersticken oder anderen furcht-
erregenden Empfindungen.
Die auf nichts Bestimmtes gerichteten, unkontrollierbaren,
negativen Gefühle von Tom lassen auf eine generalisierte Angst- Eine Frau erinnerte sich daran: »Mir wurde plötzlich heiß und
störung schließen, welche durch pathologische Sorge gekenn- es war, als würde ich keine Luft mehr bekommen. Mein Herz
zeichnet ist. Die Symptome dieser Störung sind zunächst nichts raste, ich fing an zu schwitzen und zu zittern und ich glaubte, dass
Besonderes, ihr Überdauern für sechs Monate oder länger da- ich jeden Moment in Ohnmacht fallen würde. Dann wurden
gegen schon. Die Betroffenen, zwei Drittel von ihnen Frauen meine Finger taub und kribbelten, und alles kam mir unwirklich
(McLean u. Anderson 2009), sind kontinuierlich besorgt, oft vor. Es war so schlimm, dass ich dachte, ich sterbe, und ich habe
angespannt und nervös und leiden unter Schlaflosigkeit. Die meinen Mann gebeten, mich zur Notaufnahme zu bringen.
Konzentration ist gestört, weil die Aufmerksamkeit einer Be- Bis wir dort waren (etwa 10 Minuten) war das Schlimmste über-
fürchtung nach der anderen gilt; die Anspannung und Sorge standen, und ich fühlte mich einfach nur noch erschöpft« (Greist
kann sich durch zusammengezogene Augenbrauen äußern, et al. 1986).
durch zuckende Augenlider, Zittern, Schwitzen oder nervöses
Zappeln. Eines der unangenehmsten Kennzeichen der generali-
sierten Angststörung ist, dass die betroffene Person den Auslöser 16.2.3 Phobien
der Angst nicht identifizieren und deshalb auch nicht damit
16 umgehen oder ihn vermeiden kann. Um Freuds Ausdruck zu Phobien sind Angststörungen, bei denen irrationale Angst
verwenden, ist diese Angst »frei flottierend«. Die generalisierte die Person dazu bringt, bestimmte Objekte, Aktivitäten oder
Angststörung geht oft mit einer depressiven Stimmung einher, Situationen zu vermeiden. Viele Menschen akzeptieren ihre
doch selbst ohne eine Depression wirkt sie gewöhnlich lähmend Phobie und leben mit ihr (. Abb. 16.8), doch einige Menschen
(Hunt et al. 2004, Moffitt et al. 2007b). Zudem kann sie zu kör- sind durch ihre Anstrengungen, die gefürchtete Situation zu
perlichen Problemen wie hohem Blutdruck führen. vermeiden, eingeschränkt. Die 28-jährige Hausfrau Marilyn ist
ansonsten glücklich und gesund, aber sie fürchtet sich so sehr
Generalisierte Angststörung (»generalized anxiety disorder«) – Angst-
störung, bei der die Betroffenen kontinuierlich angespannt und besorgt sind vor Gewittern, dass sie schon Angst empfindet, sobald in einer
und eine anhaltende Erregung des autonomen Nervensystems aufweisen. Wettervorhersage mögliche Unwetter erwähnt werden, die im
Laufe der Woche auftreten könnten. Wenn ihr Mann nicht da
Viele Menschen mit einer generalisierten Angststörung wurden ist und ein Gewitter vorhergesagt wurde, kann es sein, dass sie
als Kind misshandelt oder unterdrückt (Moffitt et al. 2007a). Mit zu einem anderen nahen Verwandten geht. Während eines
der Zeit scheinen die Emotionen jedoch abzuklingen, und im Gewitters hält sie sich von den Fenstern fern und vergräbt
Alter von 50 Jahren tritt die generalisierte Angststörung nur noch ihren Kopf unter einem Kissen, um die Blitze nicht sehen zu
selten auf (Rubio u. López-Ibor 2007). müssen.
Phobie (»phobia«) – Angststörung, gekennzeichnet durch anhaltende
irrationale Angst und Vermeidung eines spezifischen Objekts, einer be-
stimmten Aktivität oder Situation.
16.2 · Angststörungen
665 16

. Abb. 16.8 Berühr mich nicht. Wie der Titel seines Programms 2009 zeigt, hat der Comedian und Moderator Howie Mandel (2. v. l.) eine humorvolle
Art gefunden, um mit der Realität psychischer Störungen umzugehen. Eine Zwangsstörung und eine Phobie vor Bakterien zwangen ihn dazu, seinen Kopf
zu rasieren, um »sich sauberer zu fühlen«. (© picture-alliance / dpa)

Andere spezifische Phobien beziehen sich auf bestimmte Tiere, Angst, in der Öffentlichkeit zu schwitzen – Angstsymptome för-
Insekten, Höhen, Blut oder geschlossene Räume (. Abb. 16.9). dern (Olatunji u. Wolitzky-Taylor 2009). Menschen, die mehrere
Diese Menschen vermeiden den Angst auslösenden Reiz, in- Male eine Panikattacke erlebt haben, fangen eventuell an, Situa-
dem sie sich während eines Gewitters verstecken oder Höhen tionen zu vermeiden, in denen die Panikattacke zuvor stattge-
meiden. funden hat. Wenn die Furcht intensiv genug geworden ist, kann
Nicht alle Phobien haben solche spezifischen Auslöser. Die sie zur Agoraphobie werden, der Angst vor oder das Vermeiden
soziale Phobie ist eine extreme Form von Schüchternheit. Men- von Situationen, aus denen ein Entkommen schwierig oder in
schen mit einer sozialen Phobie, der intensiven Angst von ande- denen keine Hilfe erreichbar ist, wenn Panik auftritt. Menschen
ren gemustert zu werden, vermeiden potenziell peinliche Situa- mit dieser Angst vermeiden es möglicherweise, ihr Haus zu ver-
tionen wie in Gegenwart anderer zu sprechen, zum Essen auszu- lassen, sich in eine Menschenmenge zu begeben, einen Bus oder
gehen oder Partys zu besuchen – tun sie es aber doch, schwitzen einen Fahrstuhl zu benutzen.
oder zittern sie dabei. Charles Darwin begann im Alter von 28 Jahren, unter einer
So wie das Grübeln über Schlafstörungen ironischerweise Panikstörung zu leiden, nachdem er 5 Jahre lang die Welt um-
Schlafstörungen verursacht, so können Sorgen und Gedanken segelt hatte. Wegen der Panikanfälle zog er aufs Land, vermied
über die Angst – z. B. Angst vor einer erneuten Panikattacke oder gesellschaftliche Veranstaltungen und verreiste nur noch in Be-

. Abb. 16.9 Häufig und weniger häufig vorkommende spezifische Ängste. Diese nationale Befragung gibt die Verbreitung verschiedener Formen von
spezifischen Ängsten an. Eine starke Angst wird dann zu einer Phobie, wenn sie mit dem zwingenden, aber irrationalen Bedürfnis einhergeht, das angst-
besetzte Objekt bzw. die bedrohliche Situation zu meiden. (Nach Curtis et al. 1998)
666 Kapitel 16 · Klinische Psychologie: Psychische Störungen

gleitung seiner Frau. Doch gerade diese relative Abgeschiedenheit


. Tab. 16.1 Häufig vorkommende zwanghafte Gedanken und Ver-
machte es ihm möglich, sich ganz auf die Entwicklung seiner Evo- haltensweisen bei Kindern und Jugendlichen mit Zwangsstörung.
lutionstheorie zu konzentrieren. »Auch meine gesundheitlichen (Adaptiert nach Rapoport 1989)
Probleme«, äußerte er, »haben mich vor gesellschaftlichen Zer-
streuungen und Vergnügungen bewahrt« (zitiert in Ma 1997). Gedanke oder Verhalten Symptom-
Nennungen in %

Zwangsgedanken (wiederkehrend):
16.2.4 Zwangsstörung – bezüglich Schmutz, Bakterien oder Giftstoffen 40
– dass etwas Schlimmes passieren wird 24
So wie bei der generalisierten Angststörung und wie bei den (Feuer, Tod, Krankheit)
Phobien können wir auch in der Zwangsstörung Aspekte unseres – bezüglich Symmetrie, Ordnung oder 17
eigenen Verhaltens wiedererkennen. Vielleicht werden auch wir Genauigkeit
zeitweise heimgesucht von sinnlosen oder aufdringlichen Gedan- Zwangshandlungen (wiederkehrend):
ken, die sich nicht stoppen lassen. Oder wir legen ein zwanghaftes
– exzessives Händewaschen, Baden, 85
Verhalten an den Tag, indem wir unsere Bücher und Stifte »nur Zähneputzen oder sich pflegen
so« in einer Reihe anordnen, bevor wir anfangen zu arbeiten.
– Wiederholen von Ritualen (durch eine Tür 51
Zwangsstörung (»obsessive-compulsive disorder«, OCD) – Angststörung, gehen, sich auf einen Stuhl setzen/von einem
die charakterisiert ist durch sich aufdrängende, wiederholte Zwangsgedan- Stuhl aufstehen)
ken und/oder Zwangshandlungen. – Kontrolle von abgeschlossenen Türen, 46
Schlössern, Geräten, Autobremsen, Hausarbeit
Zwangsgedanken (»obsessions«) und Zwangshandlungen (»com-
pulsions«) überschreiten dann die subtile Grenze zwischen Nor-
malität und Störung, wenn sie sich so ausweiten, dass sie uns im fene Person weiß, dass sie irrational sind, werden die aufdring-
täglichen Leben stören und beim Betreffenden zu Leidensdruck lichen Gedanken so quälend und die Zwangsrituale zu solch einer
führen. Zu überprüfen, ob die Tür wirklich abgeschlossen ist, ist sinnlosen Zeitvergeudung, dass effektive Funktionsfähigkeit un-
normal; es 10-mal zu tun, ist nicht mehr normal. Unsere Hände möglich wird (. Abb. 16.10).
zu waschen, ist normal; sie so oft zu waschen, dass die Haut wund Jugendliche und junge Erwachsene leiden öfter unter
wird, ist es nicht (weitere Beispiele in . Tab. 16.1). In bestimmten Zwangsstörungen als alte Menschen (Samuels u. Nestadt 1997).
Lebensphasen, oft zwischen 17 und 20 Jahren oder kurz vor dem Eine Follow-up-Studie in Schweden ergab, dass bei den meisten
30. Lebensjahr, überschreiten 2–3% der Menschen diese Grenze von 144 Betroffenen, denen die Diagnose »Zwangsstörung« ge-
von normaler Geschäftigkeit und Kleinlichkeit hin zu einer ein- stellt wurde, die zwanghaften Gedanken und Verhaltensweisen
schränkenden Krankheit (Karno et al. 1988). Obwohl die betrof- in den folgenden 40 Jahren kontinuierlich weniger geworden

16

. Abb. 16.10 »… und das hier ist zurzeit noch mein Therapieraum. Sobald ich es geschafft habe, ihn zu reinigen, hat mein Mann versprochen, daraus ein
Gästezimmer zu machen.« (© Claudia Styrsky)
16.2 · Angststörungen
667 16
waren, auch wenn nur einer von 5 Teilnehmern vollkommen tomen. Die Rate variierte zwischen 10% bei denen, die nie im
symptomfrei war (Skoog u. Skoog 1999). Gefecht gewesen waren, und 32% bei denen, die an schweren
Kämpfen teilgenommen hatten (Dohrenwend et al. 2006). Ähn-
liche Variationen in den Prozentraten wurden bei heutigen
16.2.5 Posttraumatische Belastungsstörung Kriegsveteranen, Überlebenden von Naturkatastrophen und bei
Menschen, die entführt, gefangen gehalten, gefoltert oder ver-
Als Soldat im Irak sah Jesse »den Mord an Kindern und Frauen. gewaltigt wurden, gefunden (Brewin et al. 2000; Brody 2000;
Diese Erfahrungen waren schrecklich für jeden«. Nach einem Kessler 2000; Stone 2005; Yaffe et al. 2010).
Helikopterangriff auf ein Haus, wo er beobachtet hatte, dass Das Ausmaß scheint bei den Veteranen des Irak-Kriegs ähn-
Munitionskisten hineingebracht wurden, hörte er von drinnen lich hoch zu sein, von denen in den Monaten nach der Rückkehr
Schreie von Kindern. »Ich wusste nicht, dass dort Kinder waren«, in die USA einer von 6 US-Soldaten aus den Kampfgruppen der
erinnert er sich. Zurück in Texas litt er unter »wirklich schlim- Infanterie Symptome einer posttraumatischen Belastungsstö-
men Flashbacks« (Welch 2005). rung, Depression oder schweren Angst angab (Hoge et al. 2006,
Unsere Erinnerungen existieren zum Teil, um uns in Zukunft 2007). In einer Studie mit 103.788 Veteranen, die aus dem Irak
zu schützen. Es liegt also ein biologischer Nutzen darin, dass man oder aus Afghanistan zurückgekehrt waren, wurde bei jedem
emotionale oder traumatisierende Ereignisse im Leben nicht ver- vierten eine psychische Störung diagnostiziert, am häufigsten
gessen kann – unsere größten Blamagen, unsere schlimmsten war es die PTBS (Seal et al. 2007).
Unfälle, unsere entsetzlichsten Erfahrungen. Bei manchen Men- Aber was bestimmt, ob jemand eine PTBS nach einem trau-
schen ergreift das Unvergessliche aber Besitz vom Leben. Die matischen Ereignis bekommt? Untersuchungen zeigen, dass das
Beschwerden von den durch Krieg erschütterten Veteranen wie Risiko, posttraumatische Symptome zu entwickeln, umso höher
Jesse – wiederkehrende quälende Erinnerungen und Albträume, ist, je größer das emotionale Leid während der Traumatisierung
sozialer Rückzug, nervöse Angst, Schlaflosigkeit – sind typisch ist (Ozer et al. 2003). Unter den New Yorkern, die Zeugen des
für das, was früher »Kriegsneurose« oder »Kriegsmüdigkeit« Anschlags am 11. September 2001 waren, war die PTBS-Rate
und heute posttraumatische Belastungsstörung (PTBS) ge- unter den Überlebenden, die sich im World Trade Center befan-
nannt wird (Babson u. Feldner 2010; Yufik u. Simms 2010). Die den, doppelt so hoch wie bei jenen, die sich außerhalb aufhielten
PTBS definiert und beschreibt sich weniger durch das Ereignis (Bonanno et al. 2006). Umso häufiger Angriffe erlebt werden,
an sich als durch die Schwere und das Andauern der trauma- desto unangenehmer sind tendenziell die Langzeitwirkungen
tischen Erinnerung (Rubin et al. 2008). (Golding 1999). In den ersten 30 Jahren nach dem Vietnam-
Krieg hatten Veteranen, die mit einer PTBS zurückkehrten, eine
Posttraumatische Belastungsstörung (PTBS; »posttraumatic stress
disorder«, PTSD) – Angststörung, die charakterisiert ist durch quälende verdoppelte Sterbewahrscheinlichkeit (Crawford et al. 2009).
Erinnerungen, Albträume, sozialen Rückzug, nervöse Angst und/oder Ein sensibles limbisches System scheint die Vulnerabilität zu
Schlaflosigkeit, die 4 Wochen oder länger nach einer traumatischen erhöhen, indem es den Körper immer wieder mit Stresshor-
Erfahrung anhalten.
monen überflutet, wenn Bilder des traumatischen Ereignisses ins
Viele Überlebende von Unfällen und Katastrophen sowie Opfer Bewusstsein gelangen (Kosslyn 2005; Ozer u. Weiss 2004).
körperlicher und sexueller Gewalttaten (dazu gehören schät- Gehirnscans von PTBS-Patienten mit Erinnerungs-Flashbacks
zungsweise zwei Drittel der Prostituierten) haben mit Symp- weisen eine abweichende und anhaltende Aktivierung des rech-
tomen der posttraumatischen Belastungsstörung Erfahrung ten Temporallappens auf (Engdahl et al. 2010). Auch Gene könn-
gemacht (Brewin et al. 1999; Farley et al. 1998; Taylor et al. 1998). ten eine Rolle spielen. Einige kriegserfahrene Männer haben
Einen Monat nach dem terroristischen Anschlag vom 11. Septem- eineiige Zwillinge ohne Kriegserfahrung. Die Zwillinge ohne
ber ergab eine Untersuchung, dass 8,5% der Bewohner Manhat- Kriegserfahrung schienen jedoch das Risiko für kognitive
tans unter einer posttraumatischen Belastungsstörung litten; in Schwierigkeiten wie z. B. unfokussierte Aufmerksamkeit mit dem
den meisten Fällen trat sie als Folge des Anschlags auf (Galea et kriegserfahrenen Zwilling gemeinsam zu haben. Diese Befunde
al. 2002). Unter denjenigen, die in der Nähe des World Trade legen nahe, dass einige PTBS-Symptome genetisch veranlagt sind
Centers lebten, berichteten 20% über verdächtige Symptome wie (Gilbertson et al. 2006).
Albträume, starke Angst und Furcht vor öffentlichen Plätzen Manche Psychologen glauben jedoch, dass die Diagnose
(Susser et al. 2002). posttraumatische Belastungsstörung zu häufig gestellt wird. Dies
Um die Häufigkeit von posttraumatischen Belastungsstörun- könnte zum Teil daran liegen, dass die Definition von Trauma
gen zu erfassen, verglichen die Centers for Disease Control erweitert wurde (Dobbs 2009; McNally 2003). Die posttrauma-
(1988) in den USA 7000 Vietnam-Veteranen mit 7000 Veteranen, tische Belastungsstörung tritt seltener auf, so die Kritiker, und
die nicht an Kampfhandlungen teilgenommen hatten, aber zur gut gemeinte Versuche, Menschen ihr Trauma wiedererleben zu
selben Zeit ihren Dienst ableisteten. Im Schnitt berichteten 19% lassen, könnten ihre Emotionen verschlimmern und normale
aller Vietnam-Veteranen von posttraumatischen Belastungssymp- Stressreaktionen pathologisieren (Wakefield u. Spitzer 2002). Ein
668 Kapitel 16 · Klinische Psychologie: Psychische Störungen

sog. »Debriefing«, wenn man Überlebende direkt nach einem tive Kraft hat, ist eine alte Erkenntnis, die dem Judentum, dem
Trauma befragt und sie veranlasst, ihre Erfahrungen noch einmal Christentum, dem Hinduismus, dem Buddhismus und auch dem
zu durchleben und Emotionen herauszulassen, hat sich tatsäch- Islam gemeinsam ist. Diese Idee ist durch Studien an Durch-
lich allgemein als unwirksam und manchmal als schädlich er- schnittspersonen bestätigt worden. Menschen, die einige Wid-
wiesen (Bonanno et al. 2010). Manchmal verschlimmern sich die rigkeiten in ihrem Leben überwinden mussten, tendieren zu
negativen Emotionen eines Menschen, wenn er das Trauma noch einer besseren geistigen Gesundheit und einem besseren Wohl-
einmal durchlebt. befinden als Menschen, die traumatische Lebensereignisse erlebt
Die Forscher weisen auch auf die eindrucksvolle Resilienz, haben, oder als Menschen, die keine bedeutenden herausfor-
d. h. Widerstandsfähigkeit, hin, die diejenigen zeigen, die keine dernden Widrigkeiten erfahren haben (Seery et al. 2010). Selbst
PTBS entwickeln (Bonanno et al. 2010). Etwa die Hälfte der Er- aus unseren schlimmsten Erfahrungen kann etwas Gutes ent-
wachsenen macht mindestens einmal in ihrem Leben mit stehen. Wie der Körper hat auch der Geist große selbstheilende
einem traumatischen Ereignis Erfahrung, aber nur etwa 10% der Kräfte und kann durch Anstrengung stärker werden.
Frauen und 5% der Männer entwickeln eine posttraumatische
Posttraumatisches Wachstum (»post-traumatic growth«) – positive
Belastungsstörung (Olff et al. 2007; Ozer u. Weiss 2004; Tolin u. psychologische Veränderungen als Ergebnis einer Auseinandersetzung
Foa 2006). Mehr als 9 von 10 New Yorkern haben auf den 11. Sep- mit extrem herausfordernden Lebensumständen und -krisen.
tember nicht pathologisch reagiert, obwohl auch sie verständ-
licherweise von Trauer und Entsetzen wie betäubt waren. Bis
Prüfen Sie Ihr Wissen
zum darauffolgenden Januar waren auch die Stresssymptome der
übrigen weitgehend zurückgegangen (Galea et al. 2002). Ebenso 5 Unfokussierte Aufmerksamkeit, Besorgnis und Erregung
fand sich bei den meisten Kriegsveteranen und den meisten wird Störung genannt. Wenn eine
politischen Dissidenten, die Dutzende von Folterprozeduren Person Angst bezüglich eines spezifischen gefürchteten
überlebt haben, später keine posttraumatische Belastungsstö- Objekts oder einer Situation zeigt, hat sie ggf. eine
rung (Mineka u. Zinbarg 1996). Gleichermaßen zeigten Überle- . Wer Angst durch ungewollte wieder-
bende des Holocaust in 71 Studien »bemerkenswerte Resilienz«. holende Gedanken oder Handlungen äußert, hat
Trotz einiger andauernder Stresssymptome sind die meisten im wahrscheinlich eine Störung. Angst, die
Großen und Ganzen physisch gesund und haben angemessene durch wiederkehrende Erinnerungen und Alpträume,
kognitive Funktionen (Barel et al. 2010). sozialen Rückzug und Schlafstörungen Wochen nach
Ein 125 Mio. Dollar teures 5-Jahres-Projekt der U.S. Army einem traumatischen Ereignis gekennzeichnet ist, kann
erfasst das Wohlbefinden von 800.000 Soldaten und trainiert als Störung diagnostiziert werden. Die-
ihre emotionale Resilienz (Stix 2011). jenigen, die unvorhersehbare Perioden von Schrecken
und intensiver Furcht erleben, die begleitet sind von
» Auch etwas Schlechtes kann etwas Gutes bewirken. furchterregenden körperlichen Empfindungen, haben
Englisches Sprichwort eventuell eine Störung.
16 Der Psychologe Peter Suedfeld (1998, 2000; Cassel u. Suedfeld
2006), der als Junge den Holocaust unter Entbehrungen über-
lebte, während seine Mutter in Auschwitz starb, hat die Wider- 16.2.6 Erklärungsansätze
standsfähigkeit der Holocaust-Überlebenden dokumentiert, von
denen die meisten ein produktives Leben führen. »Das Sprich-
? 16.7 Wie erklären lerntheoretische und biologische Perspek-
wort ›Was dich nicht umbringt, macht dich stärker‹, stimmt nicht
tiven Angststörungen?
immer, aber es stimmt oft; und außerdem kann dir das, was dich
nicht tötet, zeigen, wie stark du wirklich bist.« Angst ist sowohl ein Gefühl als auch eine Kognition – eine von
Tatsächlich kann man aus Leiden auch einen »Nutzen zie- Zweifeln geprägte Einschätzung unserer Sicherheit oder sozia-
hen« (Aspinwall u. Tedeschi 2010a,b; Helgeson et al. 2006) und len Kompetenz. Wie entstehen diese angstvollen Gefühle und
es kann zu dem führen, was Richard Tedeschi und Lawrence Kognitionen? In Freuds psychoanalytischem Ansatz wird ange-
Calhoun (2004) als posttraumatisches Wachstum bezeichnen. nommen, dass Menschen bereits in ihrer Kindheit beginnen,
Tedeschi u. Calhoun fanden heraus, dass der Kampf gegen her- unerträgliche Triebregungen, Gedanken und Gefühle zu unter-
ausfordernde Krisen, wie z. B. der Kampf gegen Krebs, die Men- binden, und dass diese unterdrückte psychische Energie manch-
schen oft dazu bringt, später über eine zunehmende Wert- mal rätselhafte Symptome wie Angst hervorbringt. Viele der
schätzung des Lebens, bedeutungsvollere Beziehungen, größere heutigen Psychologen haben sich jedoch zwei zeitgenössischen
persönliche Stärke, veränderte Prioritäten und ein reichhaltige- Erklärungsansätzen zugewandt – dem lerntheoretischen und
res spirituelles Leben zu berichten. Dass Leiden eine transforma- dem biologischen Ansatz.
16.2 · Angststörungen
669 16
Lerntheoretischer Ansatz wollte erklären, warum fast alle Affen, die in der Wildnis auf-
jAngstkonditionierung gewachsen sind Schlangen fürchten, Affen, die im Labor aufge-
Wenn unangenehme Ereignisse unvorhersehbar und unkon- zogen worden sind, diese Angst jedoch nicht zeigen. Sicherlich
trollierbar auftreten, entsteht dadurch oft Angst (Field 2006; leiden nicht alle wild lebenden Affen an Schlangenbissen. Lernen
Mineka u. Oehlberg 2008). Erinnern Sie sich daran (7 Kap. 8), Sie ihre Angst durch Beobachtung? Um dies herauszufinden,
dass Hunde lernen, vor neutralen Reizen Angst zu haben, wenn untersuchte Mineka sechs Affen, die in der Wildnis aufge-
diese in Verbindung mit Stromstößen auftreten, und dass Kinder wachsen sind (alle hatten große Angst vor Schlangen), und deren
Angst vor einem Tierfell entwickeln, wenn es mit erschrecken- im Labor aufgewachsenen Nachwuchs (diese fürchteten keine
den Geräuschen assoziiert wird. In Laborversuchen schuf man Schlangen). Nachdem die jüngeren Affen mehrfach beobachtet
mittels klassischer Konditionierung chronisch ängstliche, zu hatten, dass ihre Eltern oder ihre Artgenossen während der
Magengeschwüren neigende Ratten, indem man die Tiere un- Anwesenheit von Schlangen nicht versuchten an Essen zu kom-
vorhersehbaren Stromstößen aussetzte (Schwartz 1984). Wie das men, entwickelten sie eine ähnlich starke Angst vor Schlangen.
Opfer einer Gewalttat, das bei Rückkehr zum Tatort Angst emp- Nach 3 Monaten bestand diese Angst immer noch. Menschen
findet, so werden auch die Ratten in ihrem Laborkäfig unruhig. erlernen Ängste ebenfalls durch die Beobachtung anderer
Die Verbindung zwischen konditionierter Angst und genereller (Olsson et al. 2007).
Ängstlichkeit kann zur Erklärung beitragen, warum ängst-
liche Menschen ganz besonders aufmerksam auf mögliche Be- jDenkprozesse
drohungen achten und wie Menschen, die zur Panik neigen, ihre Beobachtungslernen ist nicht der einzige kognitive Einfluss auf
Angst mit bestimmten Hinweisreizen in Verbindung bringen Angst. Wie die Diskussion über kognitive Verhaltenstherapie im
(Bar-Haim et al. 2007; Bouton et al. 2001). In einer Umfrage nächsten Kapitel (7 Kap. 17) zeigt, führen auch unsere Inter-
gaben 58% der Menschen, die unter einer sozialen Phobie litten, pretationen und irrationalen Überzeugungen zu Angst. Ob wir
an, dass sie die Störung erstmals nach einem traumatischen Er- das knackende Geräusch im alten Haus einfach als Wind oder
lebnis feststellten (Ost u. Hugdahl 1981). potenziellen Einbrecher, der mit einem Messer bewaffnet ist,
Über solche Konditionierungen können die wenigen Ereig- interpretieren, entscheidet darüber, ob wir in Panik ausbrechen.
nisse, die von Natur aus schmerzlich und beängstigend sind, ihre Menschen mit einer Angststörung tendieren dazu hypervigilant
Wirkung um ein Vielfaches verstärken, und es entsteht eine (in erhöhtem Maße wachsam) zu sein. Ein klopfendes Herz wird
ganze Reihe menschlicher Ängste. So hatte ich beim Autofahren zum Zeichen eines Herzinfarkts. Eine einzelne Spinne am Bett
einen Zusammenstoß mit einem anderen Auto, dessen Fahrer wird zur drohenden Verseuchung. Eine alltägliche Auseinander-
ein Stoppschild übersehen hatte. Noch Monate später empfand setzung mit einem Freund oder dem Chef stellt ein mögliches
ich ein leichtes Unbehagen, wenn sich irgendein Auto aus einer Todesurteil für die gesamte Beziehung dar. Angst ist besonders
Seitenstraße näherte. Die Phobie Marilyns vor Gewittern (eine verbreitet, wenn Menschen die aufdringlichen Gedanken nicht
Phobie, die auch Superstar Madonna hat) wurde möglicherweise abstellen können und Kontrollverlust und Hilflosigkeit wahr-
auf ähnliche Art konditioniert, als sie während eines Gewitters nehmen (Franklin u. Foa 2011).
eine beängstigende oder schmerzvolle Erfahrung machte.
Zwei spezifische Lernprozesse können an solcher Angst be- Biologischer Ansatz
teiligt sein. Reizgeneralisierung tritt z. B. auf, wenn jemand von Für Angst gibt es jedoch weitaus mehr Ursachen als nur die ein-
einem Kampfhund angegriffen wird und später vor allen Hunden fache Konditionierung, Beobachtungslernen und Kognitionen.
Angst hat. Sobald Phobien und Zwänge auftreten, werden sie Die biologische Sichtweise hilft uns, zu erklären, warum einige
mit Hilfe von Verstärkung aufrechterhalten. Eine angstbesetzte Menschen anhaltende Phobien nach traumatischen Erleb-
Situation zu vermeiden oder aus ihr zu fliehen, verringert die nissen entwickeln, warum wir manche Ängste leichter erwerben
Angst und verstärkt so das phobische Verhalten. Jemand, der als andere und warum manche Menschen anfälliger dafür sind
Angst hat oder eine Panikattacke befürchtet, geht vielleicht nach (. Abb. 16.11).
Hause und wird dort dadurch bestärkt, dass sich seine Angst
vermindert und er sich beruhigt (Antony et al. 1992). Zwang- jNatürliche Selektion
haftes Verhalten vermindert die Angst auf dieselbe Weise. Wenn Wir Menschen sind anscheinend biologisch darauf vorbereitet,
durch Händewaschen Ihr Unbehagen abnimmt, werden Sie es Bedrohungen zu fürchten, denen unsere Vorfahren ausgesetzt
möglicherweise erneut tun, wenn die unangenehmen Gefühle waren. Die meisten unserer Phobien gelten spezifischen Objek-
zurückkehren. ten wie Spinnen, Schlangen und anderen Tieren, ebenso auch
geschlossenen Räumen und Höhen, Unwetter und Dunkelheit.
jBeobachtungslernen (Wer solchen gelegentlichen Bedrohungen furchtlos gegen-
Wir können Angst auch durch Beobachtung lernen, indem überstand, hatte eine geringere Überlebenswahrscheinlichkeit
wir die Ängste anderer beobachten. Susan Mineka (1985, 2002) und weniger Chancen, Nachkommen zu hinterlassen.) Deshalb
670 Kapitel 16 · Klinische Psychologie: Psychische Störungen

tion hat uns nicht darauf vorbereitet, Bomben, die vom Himmel
fallen, zu fürchten.
So wie sich unsere Phobien auf Gefahren beziehen, denen
unsere Vorfahren ausgesetzt waren, sind unsere Zwänge typischer-
weise Übertreibungen von Verhaltensweisen, die zum Überleben
unserer Spezies beigetragen haben. Körperpflege, die außer Kon-
trolle gerät, wird zum Herausreißen von Haaren. Sich waschen
wird zum rituellen Händewaschen. Die Kontrolle der territorialen
Grenzen wird zu einem ständigen Überprüfen einer bereits ab-
geschlossenen Tür (Rapoport 1989).

jGene
Manche Menschen sind ängstlicher als andere. Gene spielen da-
bei eine Rolle. Wenn ein traumatisches Ereignis und ein sensib-
les, leicht erregbares Temperament zusammentreffen, kann das
Ergebnis eine neue Phobie sein (Belsky u. Pluess 2009). Manche
Menschen haben Gene, die sie zu Orchideen machen – verletz-
lich, aber unter günstigen Bedingungen zu Schönheit fähig.
Andere sind wie Butterblumen – abgehärtet und fähig, unter
verschiedenen Umständen zu gedeihen (Ellis u. Boyce 2008).
Bei Affen ist Furchtsamkeit eine Familieneigenschaft. Ein-
zelne Affen reagieren stärker auf Stress, wenn ihre nahen Ver-
wandten zu Ängstlichkeit neigen (Suomi 1986). Bei Menschen
steigt die Anfälligkeit für Angststörungen an, wenn der von
Angst betroffene Angehörige ein eineiiger Zwilling ist (Hettema
et al. 2001; Kendler et al. 1992, 1999, 2002a,b). Eineiige Zwillinge
entwickeln oft ähnliche Phobien, sogar, wenn sie getrennt auf-
wachsen (Carey 1990; Eckert et al. 1981). Zwei 35-jährige ein-
. Abb. 16.11 Angstfrei. Die biologische Perspektive hilft uns, zu ver- eiige weibliche Zwillinge entwickelten unabhängig voneinander
stehen, warum die meisten Menschen Angst hätten, die Tricks vom olym- eine derartig große Angst vor Wasser, dass jede nur rückwärts
pischen U.S. Snowboardfahrer Shaun White auszuprobieren. White hat
und nur bis zu den Knien ins Meer watete.
weniger Angst vor Höhen als die meisten anderen Menschen. (© Vianney
Tisseau / ESPN Images / picture alliance / dpa)
Forscher suchen die zuständigen Übeltäter, seit die genetische
Komponente bei Angststörungen bekannt ist. Ein Forschungsteam
hat 17 Gene identifiziert, die häufig bei typischen Angststörungs-
16 fürchten sich selbst Menschen in Großbritannien oft vor Schlan- symptomen vorhanden sind (Hovatta et al. 2005). Andere Teams
gen, obwohl es dort nur eine giftige Schlangenart gibt. Auch Vor- haben Gene gefunden, die besonders mit Zwangsstörungen zu-
schulkinder entdecken Schlangen in einem Bild schneller als sammenhängen (Dodman et al. 2010; Hu et al. 2006).
Blumen, Raupen oder Frösche (LoBue u. DeLoache 2008). Es ist Gene beeinflussen Störungen, indem sie Neurotransmitter
leicht, Angst vor solchen »evolutionär relevanten« Reizen zu regulieren. Einige Studien weisen auf ein Gen für Angst hin, das
konditionieren, und schwer, sie zu löschen (Coelho u. Purkis auf den Serotoninspiegel wirkt, ein Neurotransmitter, der Schlaf
2009; Davey 1995; Öhman 2009). und Stimmung beeinflusst (Canli 2008). Andere Studien deuten
Für viele unserer heutigen Ängste gibt es möglicherweise auf Gene hin, die den Neurotransmitter Glutamat regulieren
auch eine evolutionsbiologische Erklärung. So kann z. B. Flug- (Lafleur et al. 2006; Welch et al. 2007). Wenn zu viel Glutamat
angst aus unserer biologischen Vergangenheit herrühren, die uns vorhanden ist, werden die Alarmsysteme des Gehirns überaktiv.
dazu prädisponiert, Eingeschlossensein und Höhen zu fürchten.
Außerdem gilt es zu bedenken, welche Furcht von Menschen jGehirn
eher nicht gelernt wird. Die Luftangriffe im Zweiten Weltkrieg Generalisierte Angst, Panikattacken, PTBS und sogar Zwänge
riefen bemerkenswert wenige dauerhafte Phobien hervor. Bei sind biologisch messbar als Übererregung der Hirnregionen,
fortwährenden Luftangriffen bekamen die Briten, Japaner und die an der Impulskontrolle und der Steuerung gewohnheits-
Deutschen nicht etwa mehr Angst, sondern wurden eher gleich- mäßigen Verhaltens beteiligt sind. Wenn das gestörte Gehirn
gültiger gegenüber Flugzeugen, die außerhalb ihrer unmittel- entdeckt, dass etwas verkehrt läuft, erzeugt es so etwas wie einen
baren Umgebung flogen (Mineka u. Zinbarg 1996). Die Evolu- »mentalen Schluckauf«, indem sich Gedanken oder Handlungen
16.3 · Affektive Störungen
671 16
16.3 Affektive Störungen

? 16.8 Was sind affektive Störungen? Wie unterscheiden sich


Major Depression und bipolare Störung?

Die bei affektiven Störungen auftretenden emotionalen Ex-


treme manifestieren sich in zwei Hauptformen: (1) der Major
Depression, in der ein Mensch eine anhaltende Hoffnungslosig-
keit und Lethargie erlebt, und (2) der bipolaren Störung (früher:
manisch-depressive Störung), bei der ein Mensch zwischen einer
Depression und einer Manie (einem reizbaren, hyperaktiven Zu-
stand) hin und her wechselt.

. Abb. 16.12 Gehirn eines Menschen mit Zwangsstörung. Neurowissen- Affektive Störungen (»mood disorders«) – psychische Störungen,
schaftler Ursu et al. (2003, Copyright © 2003 by SAGE Publications. Reprinted die durch emotionale Extreme charakterisiert sind (s. Major Depression,
by Permission of SAGE Publications) setzten die Kernspintomografie (fMRT) Manie, bipolare Störung).
ein, um Schichtaufnahmen der Gehirne von Menschen mit und ohne
Zwangsstörungen zu vergleichen, während sie eine schwierige kognitive
Aufgabe lösen mussten. Die Schichtaufnahmen zeigten bei Menschen
mit einer Zwangsstörung eine erhöhte Aktivität im anterioren Cingulum des
16.3.1 Major Depression
Kortex im Frontallappen
Wenn es Ihnen so geht wie den meisten Studierenden, werden Sie
vielleicht ein paar Mal im Jahr – eher in den dunklen Winter-
wiederholen (Gehring et al. 2000). Schichtaufnahmen des Ge- monaten als an hellen Sommertagen – einige Symptome der
hirns zeigen bei Menschen mit Zwangsstörungen eine erhöhte Depression spüren. Möglicherweise fühlen Sie sich zutiefst ent-
Aktivität in bestimmten Hirnregionen (Insel 2010; Mataix-Cols mutigt, wenn Sie an Ihre Zukunft denken, sind unzufrieden mit
et al. 2004, 2005). Wie . Abb. 16.12 zeigt, scheint das anteriore Ihrem Leben, oder Sie fühlen sich isoliert. Vielleicht fehlt Ihnen die
Cingulum im Kortex, eine Hirnregion, die unsere Handlungen Energie, um Ihre Angelegenheiten zu erledigen, oder Sie müssen
überwacht und auf Fehler überprüft, mit großer Wahrschein- sich sogar aus dem Bett quälen; Sie sind unfähig, sich zu konzen-
lichkeit bei Personen mit einer Zwangsstörung hyperaktiv zu sein trieren, zu essen oder normal zu schlafen; Sie fragen sich vielleicht
(Ursu et al. 2003). Durch Erfahrungen, die zum Erlernen von sogar, ob es nicht besser wäre, tot zu sein. Vielleicht flog Ihnen der
Angst führen, können das Gehirn traumatisiert und auch Angst- Erfolg in der Schule einfach zu und nun gefährden enttäuschende
kreisläufe in der Amygdala geschaffen werden (Etkin u. Wager Noten Ihre Ziele. Möglicherweise hat sozialer Stress wie z. B. das
2007; Kolassa u. Elbert 2007; Maren 2007). Einige Antidepressiva Gefühl, nicht dazuzugehören, oder das Ende einer Beziehung
dämpfen diesen Kreislauf der Angst und das damit einher- Sie in Verzweiflung gestürzt. Und eventuell hat manchmal Ihr
gehende zwanghafte Verhalten. Grübeln Ihre innere Zerrissenheit noch verschlimmert. Doch sie
Wie in 7 Kap. 9 dargestellt, kann Angst auch durch die Gabe sind weniger allein mit solchen negativen Gefühlen als Sie denken
von Substanzen wie Propranolol oder D-Cycloserine gedämpft (Jordan et al. 2011). In einer nationalen Befragung bestätigten 31%
werden, weil diese traumatische Erinnerungen wieder erinnern der amerikanischen Studenten, dass Sie sich im vergangenen
lassen und sie neu speichern (»Rekonsolidierung«; Kindt et al. Jahr manchmal »so deprimiert gefühlt haben, dass es schwer war,
2009; Norberg et al. 2008). Auch wenn die Erfahrung nicht ver- den Alltag zu bewältigen« (ACHA 2009). Kummer und Not haben
gessen wird, wird die verbundene Emotion größtenteils gelöscht. mehr Leidensgenossen als die meisten Menschen vermuten.

Prüfen Sie Ihr Wissen Bei einigen Menschen kommt es während der dunklen Winter-
monate zur »saisonalen affektiven Störung«, einer wieder-
5 Forscher glauben, dass Angststörungen beeinflusst kehrenden Depression. Auch andere sind im Winter eher schwer-
werden durch Konditionierung, Beobachtungslernen mütig. Auf die Frage »Haben Sie heute geweint?« antworteten
und Denkprozesse. Welche biologischen Faktoren tragen Amerikaner im Winter öfter mit »Ja« (Time/CNN 1994).
zu diesen Störungen bei? Prozentsatz derjenigen, die mit »Ja« geantwortet haben:
Männer Frauen
August 4% 7%
Dezember 8% 21%

Die Depression ist der »harmlose Schnupfen« der psychischen


Störungen: Dieser Vergleich drückt sehr genau das weit verbrei-
672 Kapitel 16 · Klinische Psychologie: Psychische Störungen

tete Vorkommen der Erkrankung aus, wird aber der Schwere zelne Punkte auf einem Kontinuum, Punkte, an denen sich jeder
nicht gerecht. Obwohl Phobien weitaus weiter verbreitet sind, von uns irgendwann befindet. Der Unterschied zwischen der
ist die Depression der Hauptgrund dafür, dass Menschen psy- Niedergeschlagenheit nach einer schlechten Nachricht und einer
chiatrische und psychologische Einrichtungen aufsuchen. 12% affektiven Störung ist wie der Unterschied zwischen dem einige
der erwachsenen Kanadier und 17% der erwachsenen US-Ame- Minuten andauernden Keuchen nach einem anstrengenden Lauf
rikaner leiden irgendwann in ihrem Leben an einer Depression und einer chronischen Kurzatmigkeit.
(Holden 2010; Patten et al. 2006). Weltweit stellt sie sogar die
Hauptursache für eine gesundheitliche Einschränkung dar
» Wenn dir jemand eine Tablette anbieten würde, die dich
durchgängig glücklich machen würde, dann solltest du
(WHO 2002). Jedes Jahr sind 5,8% der Männer und 9,5% der
schnell und weit fortlaufen. Emotionen sind ein Kompass,
Frauen von einer depressiven Episode betroffen, berichtet die
der uns sagt, was wir tun sollen, und ein Kompass, der immer
Weltgesundheitsorganisation.
nur nach Norden zeigt, ist nutzlos.
» Plötzlich war mein Leben zum Stillstand gekommen. Ich Daniel Gilbert, The Science of Happiness, 2006
konnte atmen, essen, trinken und schlafen. Tatsächlich
Eine Major Depression liegt vor, wenn mindestens 5 Symptome
konnte ich gar nicht anders, als diese Dinge zu tun, aber es
einer Depression 2 Wochen oder länger andauern (7 Übersicht:
war kein echtes Leben in mir.
Klassifikation der Major Depression). Um zu spüren, wie sich eine
Leo Tolstoi, Aufzeichnungen eines Wahnsinnigen, 1887
Major Depression anfühlt, schlagen einige Ärzte vor, sich die
So wie die Angst eine Reaktion auf die Bedrohung durch zu- Kombination aus den seelischen Qualen einer Trauer und der
künftige Verluste darstellt, erfolgt auch die Depression oft auf Schlappheit aufgrund eines Jetlags vorzustellen.
einen vergangenen oder gegenwärtigen Verlust. Ungefähr jede
Major Depression (»major depressive disorder«) – affektive Störung,
vierte Person mit der Diagnose einer Depression ist geschwächt bei der ein Mensch für 2 Wochen oder länger eine depressive Stimmung
durch einen bedeutsamen Verlust wie den Tod eines geliebten oder ein vermindertes Interesse oder nur wenig Freude an den meisten
Menschen, eine gescheiterte Ehe oder den Verlust eines Jobs Aktivitäten zusammen mit 4 weiteren Symptomen verspürt, ohne dass
Drogenkonsum oder andere medizinische Gründe vorliegen.
(Wakefield et al. 2007). Wenn man sich als Reaktion auf ein tief-
greifendes, trauriges Ereignis schlecht fühlt, bedeutet das, mit der
Realität im Kontakt zu sein. In solchen Zeiten hat es Vorteile,
Klassifikation der Major Depression
wenn es einem schlecht geht. Traurigkeit ist wie die Ölkontroll-
Laut DSM-IV-TR liegt eine Major Depression vor, wenn min-
leuchte beim Auto – ein Warnsignal, das uns darauf hinweist,
destens 5 der folgenden Symptome 2 Wochen lang vorlie-
anzuhalten und Schutzmaßnahmen zu ergreifen. Erinnern Sie
gen (einschließlich depressiver Stimmung oder dem Verlust
sich, dass – biologisch gesprochen – der Sinn des Lebens nicht
von Interessen oder Freude). Die Symptome müssen Leiden
Frohsinn, sondern das Überleben und die Fortpflanzung sind. So
oder Beeinträchtigung erzeugen und sollten nicht besser
gesehen schützen Husten, Erbrechen, Schwellungen und diverse
durch Substanzmissbrauch, eine normale Trauerreaktion
Formen von Schmerz den Körper vor gefährlichen Giften. Bei
oder einen anderen medizinischen Krankheitsfaktor erklärt
diesem Vergleich ist die Depression eine Art psychischer Winter-
16 schlaf: Sie verlangsamt unsere Körperfunktionen, entschärft Ag-
werden.
5 die meiste Zeit des Tages depressive Stimmung
gressionen, hilft uns, von unerreichbaren Zielen abzulassen und
5 merklich vermindertes Interesse oder Freude an
hält uns davon ab, Risiken einzugehen (Andrews u. Thomson
Aktivitäten
2009a,b; Wrosch u. Miller 2009). Der vorübergehende Stillstand
5 deutlicher Gewichtsverlust oder Zunahme ohne Diät
und das Grübeln, das typisch für depressive Menschen ist,
oder deutliche Ab- oder Zunahme des Appetits
bedeuten, bei einer wahrgenommenen Bedrohung das eigene
5 Schlafstörungen oder gesteigerte Schlafdauer
Leben neu zu bewerten und die Energie in neue, Erfolg verspre-
5 physische Unruhe oder Trägheit
chende Bahnen zu lenken (Watkins 2008). Moderate Traurigkeit
5 fast jeden Tag Müdigkeit oder Energieverlust
kann sogar die Erinnerung verbessern, eine genauere Wahr-
5 sich nutzlos fühlen oder übermäßige oder unange-
nehmung schaffen und bei komplexen Entscheidungen helfen
messene Schuld empfinden
(Forgas 2009). Leiden hat also einen Sinn.
5 tägliche Probleme in Denken, Konzentration oder
» Die Depression … ist gut für Lebewesen geeignet, um Entscheidungen zu fällen
sich vor jeglicher Art eines großen oder plötzlichen Übels zu 5 wiederkehrende Gedanken an Tod und Suizid
schützen.
Charles Darwin, The Life and Letters of Charles Darwin, 1887

Wann aber wird aus dieser Reaktion eine ernste Fehlanpassung?


Freude, Zufriedenheit, Traurigkeit und Verzweiflung sind ein-
16.3 · Affektive Störungen
673 16

. Abb. 16.13a–d Kreativität und bipolare Störung. Es gibt viele kreative Künstler, Komponisten, Schriftsteller und Musiker mit bipolarer Störung, wie
z. B. Catherine Zeta-Jones (a), Virginia Woolf (b), Samuel Clemens (Mark Twain, c) und Tim Burton (d). Madeleine L‘Engler schrieb in A circle of Quiet (1972):
»All diese Menschen in der Geschichte, Literatur und Kunst, die ich bewundere: Mozart, Shakespeare, Homer, El Greco, St. John, Tschechow, Gregory von
Nyssa, Dostojewski und Emily Brontë: nicht einem würde psychische Gesundheit bescheinigt werden.« (a: © D. Long / Globe Photos / Globe-ZUMA / picture
alliance; b: © Bianchetti / Leemage / picture-alliance; c: © picture-alliance / akg-images; d: © Matt Sayles / Invision / AP Photo / picture alliance)

16.3.2 Bipolare Störung zwischen Depression und Wut anderen Kategorien zugeordnet
werden (Miller 2010).
Die einzelnen Episoden der Major Depression finden nor- Während der manischen Phase einer bipolaren Störung ist
malerweise mit oder ohne Therapie irgendwann ein Ende, der Betroffene typischerweise überaus gesprächig, hyperaktiv
und die Menschen kehren vorübergehend oder für immer zu und freudig erregt (obwohl leicht zu irritieren, wenn man ihn
ihren vorherigen Verhaltensmustern zurück. Einige Menschen damit konfrontiert); er benötigt wenig Schlaf und zeigt weniger
jedoch fallen ins entgegengesetzte emotionale Extrem bzw. ihre sexuelle Hemmungen. Die Sprache ist laut, sprunghaft, und er
Störung beginnt bisweilen damit – mit dem euphorischen, ist schwer zu unterbrechen. Obwohl Menschen im manischen
hyperaktiven, unbezähmbar optimistischen Zustand einer Zustand Ratschläge irritierend finden, müssen sie vor ihrem
Manie. Fühlt sich die Depression so an, als lebe man in Zeitlupe, eigenen mangelhaften Urteilsvermögen geschützt werden, das
so ist die Manie dagegen ein Zeitraffer. Ein Wechsel zwischen sie zu sinnloser Verschwendung oder Sex ohne Verhütung ver-
Depression und Manie ist das Kennzeichen einer bipolaren leiten kann.
Störung. Bei schwächeren Formen können jedoch die in der Manie
vorhandene Energie und das frei fließende Denken auch die
Manie (»mania«) – affektive Störung, die durch einen hyperaktiven,
überaus optimistischen Zustand charakterisiert ist. Kreativität fördern (. Abb. 16.13). Georg Friedrich Händel
Bipolare Störung (»bipolar disorder«) – affektive Störung, bei der ein (1685–1759), von dem viele glauben, er habe an einer schwachen
Mensch zwischen der Hoffnungslosigkeit und Lethargie der Depression Form der bipolaren Störung gelitten, hat seinen 4-stündigen
und dem übererregten Zustand der Manie hin und her wechselt (früher »Messias« (1742) während einer 3 Wochen andauernden, inten-
manisch-depressive Störung genannt).
siven, kreativen Energiephase komponiert (Keynes 1980). Robert
Jugendliche Stimmungsschwankungen von wütend zu quirlig Schumann komponierte 51 musikalische Werke während zweier
können, wenn sie andauern, zu einer bipolaren Störung werden. manischer Jahre (1840 und 1849) und kein einziges Werk im
Zwischen 1994 und 2003 erfasste eine jährliche Ärztebefragung Jahre 1844, als er unter schweren Depressionen litt (Slater u.
des U.S. National Center for Health Statistics bei Jugendlichen bis Meyer 1959). Berufe, bei denen es um Präzision und Logik geht
zu 19 Jahren einen erstaunlichen 40-fachen Anstieg der Diagnose (Architekten, Designer, Journalisten) leiden weniger häufig
»bipolare Störung« – von geschätzten 20.000 auf 800.000 (Carey unter bipolaren Störungen als diejenigen, die sich stark auf ihren
2007; Flora u. Bobby 2008; Moreno et al. 2007). Die neue Beliebt- emotionalen Ausdruck und ihre lebhaften Vorstellungen ver-
heit dieser Diagnose, die in zwei Dritteln der Fälle an Jungen ver- lassen, berichtet Ludwig (1995). Bipolare Störungen sind be-
geben wird, war ein Segen für Firmen, deren Medikamente gegen sonders unter Komponisten, Künstlern, Dichtern, Autoren
Stimmungsschwankungen verschrieben wurden. Änderungen, und Entertainern verbreitet (Jamison 1993, 1995; Kaufman u.
die für das DSM-V vorgeschlagen wurden, werden wahrschein- Baer 2002; Ludwig 1995).
lich die Anzahl der Diagnosen bei Kindern und Jugendlichen Für Emotionen gilt dasselbe wie für alles andere: Was nach
reduzieren, indem Personen mit emotionalen Schwankungen oben geht, kommt auch wieder herunter. Früher oder später
674 Kapitel 16 · Klinische Psychologie: Psychische Störungen

kehrt die Hochstimmung wieder auf Normalmaß zurück, oder


der Betreffende verfällt in eine Depression. Auch wenn die bi-
polare Störung seltener als die Major Depression ist, ist sie oft
schädlicher und verursacht jährlich doppelt so viele verlorene
Arbeitstage (Kessler et al. 2006). Bei Erwachsenen betrifft sie
Männer und Frauen gleich häufig.

16.3.3 Erklärungsansätze für affektive Störungen

? 16.9 Wie erklären biologische und sozial-kognitive Ansätze


affektive Störungen?

In tausenden Studien haben Psychologen Befunde zusammenge-


tragen, um affektive Störungen zu erklären und wirkungsvollere
Methoden zu entwickeln, um Depressionen zu behandeln und zu
. Abb. 16.14 Das Leben nach der Depression. Die Autorin J. K. Rowling litt
verhindern (. Abb. 16.14). Lewinsohn et al. (1985, 1998, 2003)
zwischen 25 und 28 unter einer akuten Depression – einer »dunklen Zeit«
fassten die Fakten zusammen, die jede Theorie über die Depres- mit suizidalen Gedanken. Sie sagt, dass es ein »schrecklicher Ort« war, der
sion erklären können muss. Dazu gehören folgende: jedoch eine Grundlage schuf, die ihr ermöglichte »gestärkt zurückzukehren«.
4 Depressionen gehen mit einer Reihe von Veränderungen im (McLaughlin 2010; © epa Robert Ghement / EPA / picture-alliance / dpa)

Verhalten und in den Kognitionen einher. Depressive


Menschen sind inaktiv und fühlen sich unmotiviert. Sie
sind empfindlich gegenüber negativen Ereignissen die Diagnose einer Depression erhalten hatten, bejahten
(Peckham et al. 2010), erinnern sich häufiger an negative dies 13% der Männer und 22% der Frauen (Pelham 2009).
Informationen und erwarten negative Ergebnisse (mein Dieser Geschlechtsunterschied wurde weltweit gefunden
Team wird verlieren, meine Noten werden sich verschlech- (. Abb. 16.15). Der Trend beginnt schon in der Jugend; vor-
tern, meine Beziehung wird scheitern). Wenn die Depres- pubertäre Mädchen neigen eher zu Depressionen als Jungen
sion vorübergeht, verschwinden diese Begleiterscheinungen (Hyde et al. 2008).
im Verhalten und im Denken. Über nahezu die Hälfte
der Zeit zeigen depressive Menschen auch Symptome einer Die Faktoren, die Frauen anfällig für Depressionen machen (ge-
anderen Störung, wie z. B. eine Angststörung oder Sub- netische Prädispositionen, Kindesmissbrauch, niedriger Selbst-
stanzmissbrauch. wert, Eheprobleme usw.), machen Männer ebenfalls anfällig
4 Depressionen sind weit verbreitet. Ihr häufiges Auf- (Kendler et al. 2006). Aber Frauen sind anfälliger für Störungen,
treten lässt darauf schließen, dass auch ihre Ursachen weit bei denen es um internalisierte Gefühlszustände geht, wie De-
16 verbreitet sein müssen. pression, Angst und unterdrückte sexuelle Wünsche. Störungen
4 Im Vergleich zu Männern sind Frauen nahezu doppelt so von Männern sind eher external: Alkoholmissbrauch, anti-
anfällig für eine Major Depression. Als Gallup 2009 mehr soziales Verhalten, Verlust der Impulskontrolle (. Abb. 16.16).
als eine Viertelmillion Amerikaner befragte, ob sie jemals Werden Frauen traurig, so werden sie oft trauriger als Männer.

. Abb. 16.15 Geschlecht und Major Depression. Interviews mit 89.037 Erwachsenen in 18 Ländern bestätigen die Befunde vieler kleinerer Studien:
Frauen haben ein nahezu doppelt so hohes Risiko, an einer Major Depression zu erkranken, wie Männer
16.3 · Affektive Störungen
675 16

. Abb. 16.16 (© Paula Niedenthal)

Wenn Männer ausrasten, rasten sie häufig schlimmer aus als das Feuer erstickt«. In einer Langzeitstudie (Kendler 1998)
Frauen. wurden bei 2000 Personen die Depressionsraten erfasst.
4 Die meisten Episoden der Major Depression enden von selbst. Man fand heraus, dass das Risiko für das Auftreten einer
Eine Therapie kann in der Regel die Genesung beschleuni- Depression für diejenigen, die kein stressreiches Erlebnis
gen, aber dennoch kehren Menschen, die an einer Major hatten, weniger als 1% betrug, während es für diejenigen,
Depression leiden, schließlich auch ohne professionelle die drei solcher Ereignisse hinter sich hatten, auf bis zu 24%
Hilfe zum Normalzustand zurück. Die Last einer Depres- im jeweils darauffolgenden Monat anstieg.
sion kommt und geht normalerweise nach ein paar Wochen 4 Mit jeder neuen Generation steigt auch die Depressionsrate
oder Monaten wieder, obwohl sie ungefähr bei der Hälfte und setzt die Störung früher ein (nun häufiger in der späten
der Personen erneut auftritt (Burcusa u. Iacono 2007; Adoleszenz), mit den höchsten Raten unter jungen Erwach-
Curry et al. 2011; Hardeveld et al. 2010). Nur bei 20% ist senen in entwickelten Ländern. Dies trifft zu für Kanada,
der Verlauf chronisch (Klein 2010). Im Durchschnitt die USA, England, Frankreich, Deutschland, Italien, den
verbringen Patienten mit einer Major Depression heute Libanon, Neuseeland, Puerto Rico und Taiwan (Collishaw
ca. drei Viertel des nächsten Jahrzehntes in einem norma- et al. 2007; Cross-National Collaborative Group 1992;
len, nicht depressiven Zustand (Furukawa et al. 2009). Kessler et al. 2010; Twenge et al. 2008). In einer Studie zeig-
Anhaltende Erholung ist wahrscheinlicher, je später die ten 12% der befragten australischen Jugendlichen Symp-
erste Episode auftritt, je länger die Person gesund bleibt, je tome einer Depression (Sawyer et al. 2000). Die meisten
weniger frühere Episoden es gab, je weniger Stress erlebt verbargen es vor ihren Eltern; fast 90% der Eltern nahmen
wurde und je mehr soziale Unterstützung vorhanden ist ihre depressiven Kinder nicht als depressiv wahr. In Nord-
(Belsher u. Costello 1988; Fergusson u. Woodward 2002; amerika berichteten heutige junge Erwachsene mit einer
Kendler et al. 2001). 3-mal höheren Wahrscheinlichkeit als ihre Großeltern dar-
4 Einer Depression gehen oft stressreiche Ereignisse voraus, die über, kürzlich oder überhaupt jemals eine Depression erlit-
mit Arbeit, Heirat und engen Beziehungen zusammenhängen. ten zu haben (obwohl die Großeltern aufgrund des höheren
Der Tod eines Familienmitglieds, der Verlust des Arbeits- Alters ein höheres Risiko hatten). Der Anstieg scheint teil-
platzes, eine Ehekrise oder das Erleiden physischer Gewalt weise echt zu sein, kann aber auch die größere Bereitschaft
erhöhen das Depressionsrisiko (Kendler et al. 2008; Monroe junger Erwachsener zum Ausdruck bringen, eine Depres-
u. Reid 2009; Orth et al. 2009). »Wenn eine mit Stress sion zu offenbaren. Genauso wurde in Deutschland in einer
zusammenhängende Angst so etwas wie ein knisterndes, Reihe neuerer epidemiologischer Studien ein Zuwachs in
bedrohliches Feuer im Gebüsch ist«, merkt der Biologe der Prävalenz der Major Depression in jüngeren Geburts-
Robert Sapolsky (2003) an, »handelt es sich bei der Depres- kohorten und ein sinkendes Ersterkrankungsalter dieser
sion um die schwere Decke, die man darüber wirft und so Störung beobachtet (Knäuper u. Wittchen 1995).
676 Kapitel 16 · Klinische Psychologie: Psychische Störungen

oder Selbstmord begehen (Wender et al. 1986; 7 Unter der Lupe:


Suizid und Selbstverletzung).

? 16.10 Welche Faktoren beeinflussen Suizid und selbst-


verletzendes Verhalten, und was sind einige der wichtigen
Warnhinweise, auf die in der Prävention eines Suizides
geachtet werden sollte?

Um herauszufinden, welche Gene manche Menschen einem er-


höhten Risiko für Depressionen aussetzen, führen Forscher
Verwandtschaftsanalysen durch. Zuerst suchen sie Familien, die
die Störungen über mehrere Generationen hinweg aufweisen.
Dann untersuchen sie die DNA von betroffenen und nicht be-
troffenen Familienmitgliedern und suchen nach Unterschieden.
Die Verwandtschaftsanalyse verweist auf ein chromosomales
. Abb. 16.17 Die Erblichkeit verschiedener psychischer Störungen. Die Nachbarschaftsgebiet, merken die Verhaltensgenetiker Robert
Forscher Joseph Bienvenu, Dimitry Davydow und Kenneth Kendler (2011) Plomin u. Peter McGuffin (2003) an: »Wir brauchen eine Suche
fassten Daten aus Studien mit ein- und zweieiigen Zwillingen zusammen, von Haus zu Haus, um das schuldige Gen zu finden.« Solche
um die Erblichkeit der bipolaren Störung, Schizophrenie, Anorexia nervosa,
Studien bekräftigen die Sichtweise, dass die Depression ein kom-
Major Depression und der generalisierten Angststörung einzuschätzen
plexes Leiden ist. Viele Gene arbeiten zusammen und ergeben
ein Mosaik aus kleinen Einflüssen, die mit anderen Faktoren
interagieren und zu einem erhöhten Risiko führen. Wenn die zu-
» Ich sehe die Depression als Plage des neuen Zeitalters an.
ständigen Genveränderungen identifiziert würden – die Chro-
Lewis Judd, früherer Chef des National Institute of Mental
mosom-3-Gene werden von unterschiedlichen britischen und
Health, 2000
amerikanischen Studien in Betracht gezogen (Breen et al. 2011;
Die heutigen Forscher schlagen biologische und kognitive Erklä- Pergadia et al. 2011) – könnte dies der Anfang einer verbesserten
rungen der Depression vor, die oft in einer biopsychosozialen pharmakologischen Therapie sein.
Perspektive kombiniert werden.
jDas depressive Gehirn
Biologischer Ansatz Durch den Einsatz moderner Technologie erlangen Forscher
jGenetische Einflüsse auch Einsicht in die Gehirnaktivitäten während depressiver und
Affektive Störungen treten innerhalb von Familien gehäuft auf. manischer Phasen und in die Effekte bestimmter Neurotrans-
Wie ein Forscher bemerkte: »Emotionen sind Postkarten unserer mitter während dieser Zustände. In einer Studie machten 13 ka-
Gene« (Plotkin 1994). Das Risiko, an einer Major Depression nadische Eliteschwimmer eine qualvolle Erfahrung, indem sie
oder an einer bipolaren Störung zu erkranken, ist größer, wenn ein Video ansahen, wie sie in der Qualifikation für das olym-
16 man einen depressiven Elternteil oder Geschwister hat, die an pische Team scheiterten oder wie sie während der olympischen
einer Depression leiden (Sullivan et al. 2000). Wenn bei einem Spiele versagten (Davis et al. 2008). Funktionelle MRT-Scans
eineiigen Zwilling eine Major Depression diagnostiziert wird, zeigten, dass die Muster der Hirnaktivität der Schwimmer, die
liegt die Wahrscheinlichkeit bei 50%, dass der andere Zwilling die Enttäuschung erlebten, denen von Patienten mit depressiven
ebenfalls irgendwann betroffen sein wird. Wenn ein eineiiger Stimmungen ähnlich waren.
Zwilling eine bipolare Störung entwickelt, stehen die Chancen In vielen neueren Studien zeigt das Gehirn weniger Aktivität
7:10, dass bei dem anderen Zwilling eine ähnliche Störung in den verlangsamten depressiven Phasen und mehr Aktivität in
diagnostiziert wird. Bei zweieiigen Zwillingen ist die Chance manischen Phasen (. Abb. 16.19). Der linke Frontallappen und
gerade unter 20% (Tsuang u. Faraone 1990). Die gemeinsame ein angrenzendes Belohnungszentrum, die während positiver
Neigung zur Depression bei eineiigen Zwillingen zeigt sich auch Emotionen aktiv sind, sind im depressiven Zustand eher inaktiv
dann, wenn sie getrennt aufgewachsen sind (DiLalla et al. 1996). (Davidson et al. 2002; Heller et al. 2009). In einer Studie an Men-
Nach einer Zusammenfassung der wichtigsten Zwillingsstudien schen mit einer schweren Depression fand man bei MRT-Unter-
(. Abb. 16.17) schätzte ein Forschungsteam die Erblichkeit (Aus- suchungen heraus, dass die Frontallappen um bis zu 7% kleiner
maß, in welchem individuelle Unterschiede Genen zuzuschrei- sind als normal (Coffey et al. 1993). In anderen Studien sah man,
ben sind) bei der Major Depression auf 37%. dass der Hippocampus, ein Zentrum für die Verarbeitung von
Darüber hinaus haben adoptierte Menschen, die an einer Erinnerungen, das mit den emotionsverarbeitenden Hirnbe-
affektiven Störung leiden, oft nahe biologische Verwandte, die reichen verbunden ist, sehr anfällig für durch Stress verursachte
auch affektive Störungen aufweisen, alkoholabhängig werden Schädigungen ist.
16.3 · Affektive Störungen
677 16

Unter der Lupe

Suizid und Selbstverletzung

» Das Leben, dieser Erden- höher (Hoyer u. Lund 1993; Stack 1992;
Stengel 1981). Schwule und lesbische
Menschen wählen Selbstmord oft als Alterna-
tive zu ihrem gegenwärtigen oder zukünftigen
schranken satt,
Jugendliche unternehmen häufiger Leiden. Bei Menschen aller Altersgruppen
Hat stets die Macht, sich selber Selbstmordversuche, wenn sie auf eine kann Suizid eine Möglichkeit sein, nicht mehr
zu entlassen. wenig unterstützende Umgebung, wie auszuhaltende Schmerzen auszuschalten und
William Shakespeare, Julius Cäsar, die Ablehnung durch Familie oder die Familienmitglieder von der subjektiv wahr-
Freunde, treffen (Goldfried 2001; Haas et genommenen Last zu befreien. »Menschen
1599
al. 2011; Hatzenbuehler 2011). wünschen sich zu sterben, wenn zwei funda-
Jedes Jahr entscheiden sich ungefähr 1 Mio. 5 Wochentag: 25% der Suizide erfolgen mentale Bedürfnisse überhaupt nicht mehr
verzweifelter Menschen weltweit für die irre- an einem Mittwoch (Kposowa u. D’Auria erfüllt werden«, erklärt Thomas Joiner (2006,
versible Lösung eines Problems, das sehr wohl 2009). S. 47): »Das Bedürfnis, zu anderen zu gehören
vorübergehender Natur sein mag. Beim Ver- oder mit Ihnen verbunden zu sein, und das
gleich der Selbstmordraten in unterschied- Diejenigen, die eine Depression haben, haben Bedürfnis, sich wirksam zu erleben oder ande-
lichen Gruppen fanden die Forscher Folgendes ein mindestens 5-mal so hohes Suizidrisiko re zu beeinflussen.« Suizidwünsche treten
heraus: wie die Allgemeinbevölkerung (Bostwick u. typischerweise auf, wenn Menschen sich von
5 Nationale Unterschiede: Die Selbstmord- Pankratz 2000). Menschen begehen jedoch anderen als getrennt erleben und sich selbst
raten in England, Italien und Spanien selten Selbstmord, wenn sie tief in einer als Last für diese empfinden (Joiner 2010)
sind etwa halb so hoch wie die in Kanada, Depression stecken; dann fehlt es an der oder wenn sie sich unterlegen und gefangen
Australien und den USA. Österreichs nötigen Energie und Initiative. Die Suizidge- in einer unausweichlichen Situation fühlen
und Finnlands Raten sind ca. doppelt so fahr steigt jedoch, sobald sie sich erholen ( Taylor et al. 2011). Deshalb steigen die Suizid-
hoch (WHO 2011). Deutschland liegt mit und wieder in der Lage sind, etwas zu tun. raten während eines wirtschaftlichen Ab-
13,5 Suiziden pro 100.000 Einwohnern Verglichen mit Menschen, die an keiner Stö- schwunges etwas an (Luo et al. 2011). Suizida-
(Männer 20,3; Frauen 7,3) im Mittelfeld rung leiden, sind Alkoholabhängige ca. le Gedanken können auch steigen, wenn
der weltweiten Statistik der Weltgesund- 100-mal stärker selbstmordgefährdet; ca. 3% Menschen dazu gedrängt werden, ein Ziel zu
heitsorganisation (WHO 2003). Innerhalb von ihnen führen ihn aus (Murphy u. Wetzel erreichen oder einem Vorbild zu entsprechen –
Europas hatten die Menschen mit der 1990; Sher 2006). dünn, erfolgreich oder reich zu werden –,
höchsten Suizidtendenz (die Weißrussen) Weil Suizid sehr oft eine impulsive Tat ist, und dies unerreichbar finden (Chatard u.
eine 16-mal höhere Wahrscheinlichkeit, können Hindernisse in der Umwelt (z. B. Ge- Selimbegovic 2011).
sich umzubringen als die mit der gerings- länder an hohen Brücken und Unerreichbar- Im Rückblick können sich Familien und Freun-
ten Tendenz (die Georgier). keit geladener Waffen) Suizide reduzieren de an Zeichen erinnern, die sie hätten vor-
5 Ethnische Unterschiede: Die Wahrschein- (Anderson 2008). Auch wenn der gesunde warnen sollen – z. B. verbale Hinweise, das Ver-
lichkeit, sich umzubringen, ist bei Menschenverstand nahelegt, dass entschlos- schenken von Besitztümern, der Rückzug oder
weißen Amerikanern doppelt so hoch sene Personen einfach einen anderen Weg die Beschäftigung mit dem Thema Tod. Laut
wie bei schwarzen (AAS 2010). finden, um den Suizid zu begehen, schaffen Befragungen von 84.850 Menschen aus
5 Geschlechtsunterschiede: Frauen be- solche Einschränkungen Zeit, dass sich die 17 Ländern haben 9% schon irgendwann ein-
gehen viel eher einen Selbstmordver- selbstzerstörerischen Impulse legen. mal ernsthaft darüber nachgedacht sich um-
such als Männer (WHO 2011). Allerdings Auch Medieneinflüsse können diese letzte zubringen. Ca. 30% von ihnen (3% der Men-
haben Männer eine 2- bis 4-mal (je nach Handlung auslösen. Nach öffentlichkeits- schen) haben es auch wirklich versucht (Nock
Land) höhere Wahrscheinlichkeit, sich wirksamen Selbstmorden und Fernsehserien, et al. 2008). Nur einer von 25, die es versuchen,
tatsächlich umzubringen. Männer ver- die Suizid thematisieren, steigt die Anzahl der kommt auch zu Tode (AAS 2009). Ein Drittel
wenden tödlichere Methoden, wie z. B. Selbstmorde, die als solche erkannt werden. derer, die sich umbringen, haben bereits einen
einen Kopfschuss, die Methode der Wahl Das gilt auch für tödliche Autounfälle und Selbstmordversuch hinter sich. Auch in
in den USA in 6 von 10 Fällen. private Flugzeugabstürze. Eine 6-jährige Deutschland wird geschätzt, dass 10- bis
5 Altersunterschiede und Trends: Die Suizid- Studie erfasste alle Suizidfälle, die sich unter 15-mal so viele Suizidversuche unternommen
rate steigt im späten Jugendalter und den 1,2 Mio. Einwohnern der Metropole wie Suizide schließlich vollendet werden.
hat ihren Höhepunkt im mittleren Alter Stockholm zu irgendeinem Zeitpunkt während Dabei ist auch bei uns die Zahl der Suizid-
und darüber hinaus. In der letzten Hälfte der 90er Jahre ereigneten (Hedström et al. versuche bei Frauen weitaus höher als bei
des 20. Jahrhunderts hat sich die globale 2008). Männer, in deren Familie ein Suizid Männern; die Rate der erfolgreichen Suizide
jährliche Suizidrate fast verdoppelt stattgefunden hatte, hatten ein 8-fach höheres liegt aber bei Männern höher (Schmidtke et al.
(WHO 2008). In Deutschland zeigt sich Risiko, Suizid zu begehen, als Männer ohne 2000). Dennoch haben die meisten derjenigen,
ein etwas anderes Bild: Die Zahl der solch einen Vorfall. Zwar lässt sich dieser die letztlich Selbstmord begingen, zuvor
Suizide hat seit den 80er Jahren stark Befund teilweise Genen zuschreiben, aber darüber geredet. Wenn also ein Freund von
abgenommen und sich danach stabili- genetische Prädispositionen erklären nicht, Selbstmord redet, ist es wichtig, zuzuhören
siert (Fiedler 2003). warum Männer, deren Arbeitskollege Suizid und ihn auf professionelle Hilfe hinzuweisen.
5 Andere Gruppenunterschiede: Bei reichen, begangen hatte, ebenfalls ein 3,5-fach er- Jeder, der mit Suizid droht, sendet zumindest
nicht religiösen, alleinstehenden, ver- höhtes Risiko hatten, Suizid zu begehen. Signale aus, die seine Verzweiflung und Mut-
witweten oder geschiedenen Menschen Selbstmord ist nicht notwendigerweise ein losigkeit deutlich machen.
liegt die Selbstmordrate wesentlich feindseliger Akt oder Racheakt. Ältere
6
678 Kapitel 16 · Klinische Psychologie: Psychische Störungen

Nicht suizidales selbstverletzendes Emotionen schlechter ertragen, sind extrem Führt nicht suizidales selbstverletzendes
Verhalten selbstkritisch und haben oft schlechte Kom- Verhalten zu Suizid? Üblicherweise nicht.
Suizid ist nicht der einzige Weg, eine Nach- munikations- und Problemlösefähigkeiten Personen, die sich selbstverletzend verhalten,
richt zu senden oder mit Belastungen (Nock 2010). Sie greifen zu nicht suizidalem zeigen typischerweise suizidale Gesten, aber
umzugehen. Einige Menschen, besonders selbstverletzendem Verhalten, um verüben keinen Suizid (Nock u. Kessler 2006).
Jugendliche und junge Erwachsene, greifen 5 durch die Ablenkung durch Schmerz Suizidale Gesten treten als verzweifelte, aber
zu nicht suizidalem selbstverletzendem Ver- Erleichterung von intensiven negativen nicht lebensbedrohliche Form der Kommuni-
halten (. Abb. 16.18). Solch ein Verhalten um- Gedanken zu erfahren, kation auf, oder wenn sich die Betroffenen
fasst das Schneiden oder Verbrennen der 5 um Hilfe zu bitten und Aufmerksamkeit von Gefühlen überwältigt fühlen. Aber selbst-
Haut, sich selbst zu schlagen, sich Haare aus- zu bekommen, verletzendes Verhalten hat sich als Risikofaktor
zureißen, Objekte unter die Nägel oder 5 Schuldgefühle durch Selbstbestrafung für spätere Suizidversuche herausgestellt
Haut zu schieben und selbstgemachte Tattoos zu lindern, ( Wilkinson u. Goodyer 2011). Wenn Menschen
(Fikke et al. 2011). 5 andere dazu zu bringen, ihr negatives keine Hilfe finden, kann ihr nicht suizidales
Warum verletzen sich Menschen selbst? Per- Verhalten (Mobbing, Kritik) zu verändern Verhalten eskalieren und zu Suizidgedanken
sonen, die dies tun, können oft unangenehme oder in eine Gruppe zu passen. führen, die schließlich umgesetzt werden.

. Abb. 16.18 Raten nicht tödlicher Selbstverletzungen in den USA. Die Häufigkeiten von selbstverletzendem Verhalten sind bei Frauen höher als bei
16 Männern (CDC 2009)

. Abb. 16.19 Die Höhen und Tiefen einer bipolaren Störung. PET-Untersuchungen zeigen, dass der Energieverbrauch im Gehirn mit den jeweiligen
emotionalen Zuständen des Patienten zu- oder abnimmt. Rote Bereiche zeigen an, wo das Gehirn schnell Glukose verbraucht. (Courtesy of Dr. Lewis Baxter,
University of Florida and Dr. Michael Phelps, David Geffen School of Medicine at UCLA)
16.3 · Affektive Störungen
679 16
Auch die bipolare Störung korreliert mit der Hirnstruktur. völlig. Der sozial-kognitive Ansatz erkundet die Rolle des Den-
Neurowissenschaftler haben strukturelle Unterschiede, wie ver- kens und Handelns.
minderte axonale weiße Substanz oder vergrößerte, mit Flüssigkeit Depressive Menschen sehen das Leben durch die dunkle
gefüllte Ventrikel, im Gehirn von Menschen mit einer bipolaren Brille eines niedrigen Selbstbewusstseins (Orth et al. 2009). Ihre
Störung gefunden (Kempton et al. 2008; van der Schot et al. 2009). immens negativen Annahmen über sich selbst, ihre Situation
Neurotransmittersysteme beeinflussen affektive Störungen. und ihre Zukunft bringen sie dazu, das Vorkommen schlechter
Noradrenalin, ein Neurotransmitter, der die Erregung steigert Erfahrungen zu überschätzen und das guter Erfahrungen zu un-
und die Stimmung hebt, ist bei einer Depression spärlich und bei terschätzen. Lesen Sie, was der kanadische Universitätsprofessor
einer Manie im Überschuss vorhanden. (Medikamente, die eine Norman Endler (1982, S. 45–49) dazu zu sagen hat, der sich an
Manie lindern, senken den Noradrenalinspiegel.) Viele Men- seine eigene Depression erinnert:
schen, die in ihrer Lebensgeschichte Depressionen aufweisen,
sind Raucher, und Rauchen erhöht das Risiko für zukünftige
» Ich hatte alle Hoffnung aufgegeben, jemals wieder ein
Mensch zu sein. Ich fühlte mich so minderwertig, minderwer-
Depressionen (Pasco et al. 2008). Dies kann ein Hinweis darauf
tiger als das letzte Ungeziefer. Des Weiteren verleugnete ich
sein, dass sie sich selbst durch das Inhalieren von Nikotin the-
mich selbst und konnte nicht verstehen, warum sich jemand
rapieren, dies lässt ihren Noradrenalinspiegel vorübergehend
mit mir abgeben, geschweige denn mich lieben wollte … Ich
ansteigen und verbessert ihre Laune (HMHL 2002).
war überzeugt, dass ich ein Schwindler und Scharlatan war
Forscher untersuchen noch einen zweiten Neurotransmitter:
und meinen Doktortitel nicht verdient hatte. Ich hatte es auch
Serotonin (Carver et al. 2008). Eine bekannte Studie aus Neusee-
nicht verdient, den Forschungsposten zu haben, ich hatte es
land mit jungen Erwachsenen fand heraus, dass das Rezept für
nicht verdient, Professor zu sein … Ich hatte die Forschungs-
Depression zwei notwendige Inhaltsstoffe kombiniert – signifi-
stipendien nicht verdient, die ich bekam … ich konnte nicht
kant belastende Lebensereignisse und eine Veränderung eines
verstehen, wie ich Bücher und Artikel geschrieben hatte …
Serotoninkontrollgens (Caspi et al. 2003; Moffitt et al. 2006).
Ich musste wohl jede Menge Menschen hereingelegt haben.
Depressionen entstehen aus der Interaktion einer aversiven
Umwelt und genetischer Anfälligkeit, aber nicht durch einen der Die Forschung zeigt, wie selbstabwertende Gedanken und ein
beiden Faktoren allein. Aber seien Sie sicher: Die Geschichte der negativer Erklärungsstil den Teufelskreis verstärken.
Gen-Umwelt-Interaktion wird noch weiter erforscht, da andere
Forscher über die Reliabilität dieser Befunde diskutieren (Caspi jNegative Gedanken und negative Stimmungen
et al. 2010; Karg et al. 2011; Munafò et al. 2009; Risch et al. 2009; interagieren
Uher u. McGuffin 2010). Selbstabwertende Gedanken können das Ergebnis von erlernter
Medikamente zur Depressionsbehandlung erhöhen gewöhn- Hilflosigkeit sein. Wie wir in 7 Kap. 13 gesehen haben, verhalten
lich die Noradrenalin- oder Serotoninversorgung, indem ent- sich sowohl Hunde als auch Menschen nach unkontrollierbaren
weder deren Wiederaufnahme blockiert wird (wie es z. B. Prozac, schmerzhaften Erfahrungen depressiv, passiv und introvertiert.
Zoloft und Paxil in Bezug auf Serotonin machen) oder aber ihren Erlernte Hilflosigkeit ist bei Frauen verbreiteter als bei Männern,
Abbau verhindern. Wiederholte körperliche Anstrengung wie und Frauen reagieren eventuell stärker auf Stress (Hankin u.
Joggen lindert eine Depression, da es den Serotoninspiegel erhöht Abramson 2001; Mazure et al. 2002; Nolen-Hoeksema 2001,
(Ilardi et al. 2009; Jacobs 1994). Den Serotoninspiegel zu er- 2003). Ein Beispiel: 38% der Frauen und 17% der Männer, die an
höhen, kann die Erholung von der Depression fördern, indem es amerikanische Colleges und Universitäten kommen, berichten,
das Wachstum der Neuronen im Hippocampus stimuliert (Airan dass sie sich zumindest ab und zu »überwältigt fühlen, von all
et al. 2007; Jacobs et al. 2000). dem, was ich zu tun habe« (Pryor et al. 2006). (Männer berichten
Was gut für das Herz ist, ist auch gut für Hirn und Psyche. darüber, mehr ihrer Zeit mit Aktivitäten zu verbringen, die nur
Menschen, die eine für das Herz gesunde mediterrane Ernäh- geringe Angst hervorrufen, wie Sport, Fernsehen und Partybe-
rung pflegen (basierend auf Gemüse, Fisch und Olivenöl), haben suche; möglicherweise vermeiden sie damit Aktivitäten, die in
ein vergleichsweise niedriges Risiko für Herzkrankheiten, alters- ihnen das Gefühl hervorrufen könnten, überfordert zu sein.)
bedingten kognitiven Zerfall und Depressionen – all dies ist auch Dies hilft zu erklären, warum Frauen von Beginn der Pubertät
mit Entzündungen assoziiert (Dowlati et al. 2010; Sánchez- an Depressionen gegenüber fast doppelt so anfällig sind. Susan
Villegas et al. 2009; Tangney et al. 2011). Exzessiver Alkoholkon- Nolen-Hoeksema (2003) glaubt, dass das höhere Risiko für De-
sum korreliert ebenfalls mit Depression – besonders weil Alko- pressionen bei Frauen vielleicht auch damit zusammenhängt,
holmissbrauch zu Depressionen führt (Fergusson et al. 2009). was sie als Tendenz, Dinge zu überdenken, also zu grübeln, be-
zeichnet. Grübeln – fokussiert auf ein Problem zu bleiben (dank
Sozial-kognitiver Ansatz der kontinuierlichen Aktivität eines Frontallappenareals, das die
Depressionen sind eine Störung des gesamten Körpers. Biologi- Aufmerksamkeit aufrechterhält) – kann adaptiv sein (Altamirano
sche Einflüsse tragen zur Depression bei, erklären sie aber nicht et al. 2010; Andrews u. Thomson 2009a,b). Wenn es aber unab-
680 Kapitel 16 · Klinische Psychologie: Psychische Störungen

. Abb. 16.20 Erklärungsstil und Depression. Nach einer negativen Erfahrung kann es sein, dass eine Person, die zu Depressionen neigt, mit einem nega-
tiven Erklärungsstil reagiert

lässig stattfindet, hält uns selbstfokussiertes Grübeln davon ab, Depressive Menschen neigen dazu, negative Ereignisse mit Aus-
über andere Aufgaben im Leben nachzudenken und führt zu sagen zu erklären, die etwas Stabiles (»Es wird immer so weiterge-
negativer emotionaler Trägheit (Kuppens et al. 2010). hen«), Globales (»Es wirkt sich auf alles aus, was ich tue«) und
Internales (»Es ist alles meine Schuld«) ausdrücken (. Abb. 16.20).
» Die Epidemie des krankhaften Nachdenkens ist eine Krank-
Depressionsanfällige Menschen reagieren auf schlechte Ereignis-
heit, an der viel mehr Frauen leiden als Männer. Frauen
se auf eine besonders selbstzentrierte, sich selbst beschuldigende
16 können über alles Mögliche grübeln – unser Aussehen, un-
Weise (Mor u. Winquist 2002; Pyszczynski et al. 1991; Wood et al.
sere Familien, unsere Karriere, unsere Gesundheit.
1990a,b). Ihr Selbstwertgefühl schnellt bei einer Verstärkung
Nolen-Hoeksema (2003)
rasch in die Höhe und fällt bei einer Bedrohung rapide ab (Butler
Aber warum stürzen unvermeidliche Fehlschläge im Leben man- et al. 1994).
che Menschen in Depressionen und andere nicht? Die Antwort Das Ergebnis dieser pessimistischen, übergeneralisierten,
liegt zum Teil im Erklärungsstil – wen oder was wir für unser selbstbeschuldigenden Erklärungen ist ein deprimierendes Ge-
Versagen verantwortlich machen. Denken Sie daran, wie Sie sich fühl der Hoffnungslosigkeit (Abramson et al. 1989; Panzarella et
fühlen würden, wenn Sie einen Test nicht bestehen. Verlagern Sie al. 2006). »Ein Rezept für eine schwere Depression ist ein bereits
die Schuld nach außen – vielleicht, indem Sie Ihr Versagen auf existierender Pessimismus, der auf eine Versagenshaltung trifft«,
einen unfairen Test zurückführen –, fühlen Sie sich eher wütend. bemerkt Seligman (1991, S. 78). Was könnte man von Studienan-
Wenn Sie einen Test nicht bestehen und sich selbst dafür verant- fängern erwarten, die nicht deprimiert sind, aber einen pessi-
wortlich machen, halten Sie sich möglicherweise für dumm und mistischen Erklärungsstil aufweisen? Alloy et al. (1999) unter-
werden depressiv. suchte Studierende der Temple University und der University of
Wisconsin 2,5 Jahre lang alle 6 Wochen. Unter denen mit einem
» Ich habe gelernt, meine Fehler zu akzeptieren, indem ich pessimistischen Erklärungsstil hatten 17% eine erste Episode
sie einem Teil der persönlichen Vergangenheit zuschrieb, einer Major Depression, was nur bei 1% derjenigen der Fall war,
den ich nicht beeinflussen konnte. die ihr Studium mit einem optimistischen Erklärungsstil be-
B.F. Skinner (1983) gonnen hatten.
16.3 · Affektive Störungen
681 16
Seligman (1991, 1995) argumentiert, dass die Depression
unter westlichen jungen Erwachsenen so weit verbreitet ist, weil
der Individualismus zunimmt und die Verpflichtung gegenüber
Religion und Familie abnimmt, was die jungen Menschen dazu
zwingt, selbst Verantwortung für Versagen oder Zurückweisung
zu übernehmen. In nichtwestlichen Kulturen, wo enge Beziehun-
gen und Kooperation die Norm sind, ist die Major Depression
weniger verbreitet und weniger an Selbstvorwürfe über persön-
liches Versagen gebunden (WHO 2004a). In Japan beispielsweise
berichten depressive Menschen oft von ihren Schamgefühlen,
weil sie andere im Stich gelassen haben (Draguns 1990a).
Zieht man den sozial-kognitiven Ansatz zur Erklärung von
Depressionen heran, dann ist man in einer »Henne-Ei-Situa-
tion«. Selbstabwertende Gedanken, negative Attributionen und . Abb. 16.21 Der Teufelskreis des depressiven Denkens. Kognitive
Selbstanschuldigungen gehen mit einer depressiven Stimmung Therapeuten versuchen, diesen Teufelskreis zu durchbrechen. Dies bewerk-
einher und sind Indikatoren für eine Depression. Doch verur- stelligen sie, wie wir in 7 Kap. 17 sehen werden, indem sie die Art und
sachen sie eine Depression? Verursacht ein Tacho, der 70 km/h Weise verändern, wie Menschen Ereignisse verarbeiten. Psychiater versu-
chen, mit Hilfe von Medikamenten die biologischen Ursprünge anhaltend
anzeigt, die Geschwindigkeit des Autos? Vor oder nach der De-
depressiver Stimmungen zu verändern
pression sind die Gedanken der Menschen weniger negativ. Viel-
leicht ist das so, weil eine deprimierte Stimmung negative Gedan-
ken fördert, worauf wir in der Diskussion um zustandsabhängige Übriges zu der bereits bestehenden Depression. Ablehnung und
Erinnerung bereits hingewiesen haben (7 Kap. 9). Bringt man Depression schaukeln sich gegenseitig hoch. Elend sucht sich
Menschen vorübergehend in eine schlechte oder traurige Stim- vielleicht Gesellschaft, aber die Gesellschaft sucht nicht eines an-
mung, werden ihre Erinnerungen, Beurteilungen und Erwartun- deren Elend.
gen plötzlich viel pessimistischer.
» Ein Mensch denkt niemals so viel nach und wird so
introspektiv, wie wenn er leidet, weil er bestrebt ist,
jDer Teufelskreis der Depression
den Grund seines Leidens zu erfahren.
Wie wir gesehen haben, wird die Depression oft durch stress-
Luigi Pirandello, Six Characters in Search of an Author, 1922
reiche Erfahrungen hervorgerufen – wenn man seinen Job ver-
liert, eine Scheidung erlebt oder Zurückweisung erfährt oder an
körperlichen Beschwerden leidet –, all das stört Ihr Gespür dafür,
» Einige erzeugen Freude, wohin sie auch kommen;
andere, wann immer sie gehen.
wer Sie sind und warum Sie ein wertvolles menschliches Wesen
Irischer Schriftsteller Oscar Wilde (1854–1900)
sind. Diese Störung führt zu Grübeln, was wiederum negative
Gefühle erhöht. Das In-sich-gekehrt-Sein, die Ausrichtung auf Wir können nun einige der Teile des Depressionspuzzles zusam-
die eigene Person und die ewigen Klagelieder können wiederum menfügen (. Abb. 16.21):
selbst Ablehnung hervorrufen (Furr u. Funder 1998; Gotlib u. 1. Es treten negative, stressvolle Ereignisse auf.
Hammen 1992). In einer Studie stellten Stephen Strack u. James 2. Diese Ereignisse werden durch einen grübelnden, pessi-
Coyne (1983) fest, dass »depressive Menschen Feindseligkeit, mistischen Denkstil bewertet.
Depression und Angst bei anderen wecken und deshalb abge- 3. Es ergibt sich ein hoffnungsloser, deprimierter Zustand.
lehnt werden. Ihre Vermutungen, dass sie nicht akzeptiert wer- 4. Der deprimierte Zustand beeinflusst die Art und Weise, wie
den, beruhen nicht auf einer kognitiven Verzerrung«. Tatsächlich die betreffende Person denkt und handelt.
sind Menschen in den Fängen einer Depression einem erhöhten 5. Es kommt zu negativen, belastenden Erfahrungen wie etwa
Risiko ausgesetzt, sich scheiden zu lassen, den Job zu verlieren Ablehnung (vgl. Punkt 1).
oder andere stressreiche Vorfälle zu erleben. Ein Partner oder
eine Partnerin drohen vielleicht damit zu gehen, da sie der Niemand ist immun gegen Niedergeschlagenheit, geminderten
ständigen Erschöpfungszustände, der Hoffnungslosigkeit und Selbstwert und negative Gedanken durch Ablehnung oder durch
Lethargie des Partners überdrüssig sind. Ein Vorgesetzter mag eine Niederlage. Edward Hirt und seine Kollegen (1992) de-
vielleicht beginnen, die Kompetenz des Mitarbeiters infrage monstrierten, dass auch kleine Verluste unser Denken zeitweise
zu stellen. (Dies stellt ein weiteres Beispiel für die Interaktion betrüben können. Sie untersuchten einige begeisterte Basketball-
zwischen Genetik und Umwelt dar: Menschen, die eine genetisch fans der Indiana University, die das Team als Erweiterung der
bedingte Disposition für Depressionen haben, erleben öfter de- eigenen Person anzusehen schienen. Nachdem die Fans das
primierende Ereignisse.) Die Verluste und der Stress tun nur ein Team gewinnen oder verlieren sahen, ließen die Forscher sie die
682 Kapitel 16 · Klinische Psychologie: Psychische Störungen

. Abb. 16.22 (© Claudia Styrsky)

Zukunft des Teams und die eigene Zukunft vorhersagen. Nach 16.4 Schizophrenie
einer Niederlage schätzten die missmutigen Fans nicht nur die
Zukunft des Teams, sondern auch die eigene Leistung beim Die chronische Schizophrenie ist das Krebsgeschwür der psychi-
Dartspielen, Anagrammelösen und die Chance, ein Date zu be- schen Erkrankungen. Nahezu einer von 100 (ca. 60% Männer)
kommen, düster ein. Wenn Dinge nicht so gelaufen sind, wie wir bekommt eine Schizophrenie und gehört damit zu den 24 Mio.
es uns vorgestellt haben, scheint es so, als würden sie dies nie Menschen weltweit, die an einer der gefürchtetsten Störungen
mehr tun. der Menschheit leiden (Abel et al. 2010; WHO 2011).
Es handelt sich um einen Teufelskreis, den wir alle erkennen
können. Schlechte Stimmung nährt sich selbst: Wenn wir uns
niedergeschlagen fühlen, denken wir negativ und erinnern uns 16.4.1 Symptome der Schizophrenie
an schlechte Erfahrungen. Positiv ist jedoch, dass wir an jedem
dieser Punkte aus dem Depressionskreislauf ausbrechen können
? 16.11 Welche Muster des Denkens, Wahrnehmens, Fühlens
– indem wir die Umgebung wechseln, unsere Selbstvorwürfe und
und Verhaltens charakterisieren die Schizophrenie?
negativen Ursachenzuschreibungen verändern, unsere Auf-
merksamkeit nach außen wenden oder indem wir uns erfreu- Übersetzt man es wortwörtlich, so bedeutet Schizophrenie »ge-
16 licheren Tätigkeiten zuwenden und kompetentere Verhaltens- spaltener Verstand«. Diese Abspaltung bezieht sich nicht auf
weisen lernen. multiple Persönlichkeiten, sondern eher auf eine Abspaltung von
Winston Churchill nannte die Depression einen »schwarzen der Realität, die sich in einem desorganisierten Denken, einer
Hund«, der ihn periodisch quälte. Die Dichterin Emily Dickinson gestörten Wahrnehmung und unangemessenen Emotionen und
fürchtete sich so sehr davor, in der Öffentlichkeit in Tränen aus- Handlungen offenbart (. Abb. 16.22). Damit ist sie das wichtigs-
zubrechen, dass sie den Großteil ihres Erwachsenenlebens in Ab- te Beispiel für eine Psychose, eine Störung, die durch Irrationa-
geschiedenheit verbrachte (Patterson 1951). Diese Beispiele er- lität und Realitätsverlust gekennzeichnet ist.
innern uns daran, dass Menschen gegen Depressionen ankämp-
Schizophrenie (»schizophrenia«) – Gruppe schwerer Störungen, die
fen können und es auch tun. Die meisten erlangen ihre Fähigkeit durch desorganisiertes und wahnhaftes Denken, gestörte Wahrnehmungen
wieder, zu lieben, zu arbeiten und sogar Erfolge auf dem höchsten und unangemessene Emotionen und Handlungen gekennzeichnet sind.
Niveau zu erzielen. Psychose (»psychosis«) – psychische Störung, bei der eine Person den
Kontakt mit der Realität verliert, indem sie irrationale Ideen und eine ge-
Prüfen Sie Ihr Wissen störte Wahrnehmung hat.

5 Was bedeutet es, wenn man sagt, dass »Depression


Desorganisiertes Denken
eine Störung des ganzen Körpers« ist?
Stellen Sie sich vor, Sie versuchen, sich mit Maxine zu unter-
halten, einer jungen Frau, deren Gedanken ohne eine logische
Ordnung aus ihr heraussprudeln. Susan Sheehan, die Verfasserin
16.4 · Schizophrenie
683 16

. Abb. 16.23a,b Kunstwerke von Personen mit der Diagnose Schizophrenie. Der Dichter und Kunstkritiker John Ashbery schrieb in seinem Kommentar
über die hier abgebildete Art von Kunstwerken: »Die Anziehungskraft dieser Arbeiten ist genauso stark wie das Entsetzen über die nicht zu lösenden
Rätsel, die hier zum Ausdruck kommen.« (a: August Natterer, Hexenkopf, Inv. Nr. 184, Universitätsklinikum Heidelberg, Sammlung Prinzhorn; b: Berthold L.,
[ohne Titel], Inv. Nr. 4641, Universitätsklinikum Heidelberg, Sammlung Prinzhorn)

von Maxines Biografie (1982, S. 25), beobachtete, wie sie laut mitteilen will, abgelenkt werden. So erinnerte sich ein früherer
vor sich hinsprach: »Heute Morgen im Hillside-Krankenhaus Patient: »Was mit mir geschah … war ein Zusammenbruch des
machte ich einen Film. Ich war umgeben von Filmstars. … Ich Filters. Ein Mischmasch nicht zusammengehöriger Reize lenkte
bin Mary Poppins. Wurde dieser Raum blau gestrichen, damit ich mich von Dingen ab, denen ich meine uneingeschränkte Auf-
mich aufrege? Meine Großmutter ist vier Wochen nach meinem merksamkeit hätte widmen sollen« (MacDonald 1960, S. 218).
18. Geburtstag gestorben.« Diese Schwierigkeit mit selektiver Aufmerksamkeit ist einer von
In diesem Monolog zeigt sich das zerfahrene, bizarre und Dutzenden kognitiven Unterschieden, die mit Schizophrenie
durch falsche Überzeugungen verzerrte Denken eines Men- einhergehen (Reichenberg u. Harvey 2007).
schen mit Schizophrenie – diese falschen Überzeugungen
nennen wir Wahnvorstellungen (»Ich bin Mary Poppins«). Wahrnehmungsstörungen
Personen mit paranoiden Tendenzen neigen besonders stark zu Ein Mensch mit einer Schizophrenie kann Halluzinationen
Verfolgungswahn. Sogar innerhalb eines Satzes kann es passieren, (Sinneserfahrungen ohne sensorische Stimulation) haben.
dass jemand von einer Idee zur nächsten springt, sodass eine Art Manchmal sehen, fühlen, schmecken oder riechen Menschen
»Wortsalat« daraus entsteht. Ein junger Mann bat um »ein biss- Dinge, die nicht vorhanden sind. Meist handelt es sich jedoch
chen mehr Allegro in der Behandlung« und regte an, dass die um akustische Halluzinationen, und sie nehmen oft die Form
»Befreiungsbewegung zur Erweiterung des Horizonts ergo etwas von Stimmen an, die beleidigende Kommentare abgeben oder
Verstand in den Vorlesungen erzwingen« wird (. Abb. 16.23). Befehle erteilen. Die Stimmen können der Person sagen, dass sie
schlecht ist oder dass sie sich mit einem Feuerzeug verbrennen
Wahnvorstellungen (»delusions«) – falsche Überzeugungen (häufig zu
Verfolgung oder eigener Großartigkeit), die mit psychotischen Störungen soll. Stellen Sie sich Ihre eigene Reaktion vor, wenn ein Traum in
einhergehen können. Ihr Wachbewusstsein eindringen würde. Wenn das Irreale real
erscheint, sind die sich daraus ergebenden Wahrnehmungen
Desorganisiertes Denken kann sich aus einem Zusammenbruch bestenfalls bizarr, schlimmstenfalls aber grauenvoll.
der selektiven Aufmerksamkeit ergeben. Erinnern Sie sich an das,
was in 7 Kap. 4 gesagt wurde: Normalerweise verfügen wir über Unangemessene Emotionen und Handlungen
eine bemerkenswerte Fähigkeit, unsere ungeteilte Aufmerksam- Die bei einer Schizophrenie auftretenden Emotionen sind oft
keit einer Quelle sensorischer Reize zuzuwenden, während wir völlig unangemessen und abgespalten von der Realität (Kring u.
andere Reize ausblenden. Menschen, die an Schizophrenie lei- Caponigro 2010). Maxine lachte, nachdem sie sich an den Tod
den, sind gerade dazu nicht imstande. Folglich kann durch einen ihrer Großmutter erinnert hatte. Manchmal weinte sie, wenn
irrelevanten, winzigen Reiz, wie z. B. die Rillen auf einem Ziegel- andere lachten oder wurde ohne ersichtlichen Grund wütend.
stein oder die Modulation einer Stimme, ihre Aufmerksamkeit Andere Schizophreniepatienten verfallen bisweilen in einen
vom ganzen Szenario oder von dem, was der Sprecher ihnen emotionslosen Zustand »flachen Affekts«. Die meisten haben
684 Kapitel 16 · Klinische Psychologie: Psychische Störungen

auch Schwierigkeiten, Emotionen im Gesicht wahrzunehmen


. Tab. 16.2 Subtypen der Schizophrenie
und die Gemütsverfassung von anderen einzuschätzen (Green u.
Horan 2010; Kohler et al. 2010). Subtyp Merkmale
Auch das motorische Verhalten kann unangemessen sein.
Paranoider Typus Beschäftigung mit Wahnvorstellungen
Einige führen sinnlose Zwangshandlungen aus (z. B. das fort-
oder Halluzinationen; Themen sind oft
währende Wiegen oder Reiben des Armes). Andere verfallen Verfolgung oder die eigene Großartigkeit
eher in einen katatonen Zustand und verharren für Stunden
Desorganisierter Typus Desorganisierte Sprache und Verhalten
in Bewegungslosigkeit und werden dann unruhig. Wie Sie sich oder flacher, unangemessener Gefühls-
sicher vorstellen können, zerstören derart desorganisierte ausdruck
Denkmuster, verzerrte Wahrnehmungen und unangemessene Katatoner Typus Immobilität (oder exzessive, nicht ziel-
Emotionen und Handlungen jegliche soziale Beziehung grund- gerichtete Bewegungen), extremer
legend und machen es schwer, die berufliche Stellung weiter- Negativismus, und/oder papageienartiges
Wiederholen des Sprechens oder der
hin zu behalten. Während ihrer schwersten Episoden leben
Bewegungen anderer
schizophrene Menschen in ihrer eigenen Innenwelt und be-
Undifferenzierter Typus Viele verschiedene Symptome
schäftigen sich mit unlogischen Ideen und unwirklichen Bildern.
In einer stützenden Umgebung und unter Medikation haben Residualzustand Rückzug, nachdem Halluzinationen und
Wahnvorstellungen verschwunden sind
über 40% der Schizophreniepatienten Phasen von einem Jahr
oder länger, in denen sie ein normales Leben führen können
(Jobe u. Harrow 2010). Viele andere verbringen die meiste Zeit
ihres Lebens ohne soziale Beziehungen und isoliert oder abge- wickelt sich die Schizophrenie allmählich, so wie es bei Maxine
lehnt (Hooley 2010). der Fall war. Die Störung taucht auf, nachdem sich die Menschen
schon über einen längeren Zeitraum hinweg in sozialen Situa-
» Wenn mich jemand bittet, zu erklären, was Schizophrenie
tionen inadäquat verhalten haben und in schulischen Bereichen
ist, sage ich: Du weißt doch, wie das mit den Träumen ist.
schwache Leistungen zeigten (MacCabe et al. 2008). Es ist also
Manchmal bist du richtig drin in deinen Träumen, und
nicht verwunderlich, dass Menschen mit einer Disposition für
manche sind die reinsten Albträume. Als ich schizophren
Schizophrenie oft in niedrigeren sozialen Schichten enden oder
war, hatte ich das Gefühl, durch einen Traum hindurchzu-
sogar als Obdachlose leben.
gehen. Aber um mich herum war alles real. Manchmal
Bislang haben wir die Schizophrenie so beschrieben, als
kommt mir die Welt so langweilig vor, dass ich denke, ich
ginge es um eine einzige Störung. Tatsächlich handelt es sich je-
würde gern in meine schizophrene Traumwelt zurück-
doch um eine ganze Gruppe von Störungen. Die einzelnen Sub-
kehren. Aber dann fallen mir alle die furchterregenden und
typen haben sowohl gemeinsame Merkmale als auch unter-
schrecklichen Erfahrungen wieder ein.
schiedliche Symptome (. Tab. 16.2). Schizophreniepatienten mit
Stuart Emmons, Craig Geiser, Kalman J. Kaplan u. Martin
diesen sog. positiven Symptomen können Halluzinationen er-
Harrow, Living With Schizophrenia, 1997
leben, auf desorganisierte und wahnhafte Weise sprechen und
16 demonstrieren vielleicht unpassendes Gelächter, Tränen oder
Wut. Menschen mit negativen Symptomen haben tonlose Stim-
16.4.2 Beginn und Entwicklung men, ausdruckslose Gesichter bzw. ausdruckslose und rigide
von Schizophrenie Körperhaltungen. Demzufolge sind positive Symptome gekenn-
zeichnet durch das Vorhandensein unangemessener Verhaltens-
weisen, während negative Symptome durch ein Fehlen angemes-
? 16.12 Welches sind die Subtypen der Schizophrenie?
sener Verhaltensweisen charakterisiert sind. Da die Schizophre-
Wie unterscheiden sich chronische und akute Schizophrenie?
nie eine Gruppe von Störungen ist, könnten die verschiedenen
Die Krankheit tritt in der Regel beim Eintritt ins Erwachsenen- Symptome auch mehrere Ursachen haben.
alter auf, kennt keine nationalen Grenzen und betrifft sowohl Eine Regel hat sich überall auf der Welt bewahrheitet: Stellt
Männer als auch Frauen, wenn auch Männer meist früher davon die Schizophrenie einen sich langsam entwickelnden Prozess dar
betroffen sind sowie heftiger und etwas öfter daran erkranken (chronische Schizophrenie, engl. auch »process schizophrenia«), so
(Aleman et al. 2003; Picchioni u. Murray 2007). Studien mit ist eine Genesung eher unwahrscheinlich (World Health Organi-
schwedischen und dänischen Männern zeigen, dass dünne junge zation 1979). Menschen mit chronischer Schizophrenie zeigen
Männer und diejenigen, die nicht gestillt wurden, anfälliger sind oft das anhaltende und handlungsunfähig machende Negativ-
(Sørensen et al. 2005, 2006; Zammit et al. 2007). symptom »sozialer Rückzug« (Kirkpatrick et al. 2006). Männer,
In manchen Fällen tritt die Schizophrenie ganz plötzlich auf bei denen sich die Schizophrenie durchschnittlich 4 Jahre früher
und scheint eine Reaktion auf Stress zu sein. Bei anderen ent- entwickelt als bei Frauen, leiden häufiger unter einer Negativ-
16.4 · Schizophrenie
685 16
symptomatik und chronischer Schizophrenie (Räsanen et al. folge würden wir erwarten, dass Medikamente, die die Dopamin-
2000). Entwickelt dagegen ein ehemals gut angepasster Mensch rezeptoren blockieren, die Symptome mildern; Drogen wie z. B.
innerhalb kurzer Zeit eine Schizophrenie als Reaktion auf Be- Amphetamine und Kokain, die die Dopaminkonzentration er-
lastungen (akute oder reaktive Schizophrenie), dann ist eine höhen, wirken mitunter symptomverstärkend (Seemann, 2007;
Genesung sehr viel wahrscheinlicher. Sie haben häufiger positive Swerdlow u. Koob 1987).
Symptome, die eher auf eine medikamentöse Therapie an-
sprechen (Fenton u. McGlashan 1991, 1994; Fowles 1992). jAbnorme Hirnaktivität und -anatomie
Moderne bildgebende Verfahren zeigen, dass viele Menschen mit
chronischer Schizophrenie eine abnorme Aktivität in mehreren
16.4.3 Erklärungsansätze Bereichen des Gehirns aufweisen. Bei manchen ist die Gehirn-
aktivität in den Frontallappen, die entscheidend sind für Schluss-
Die Schizophrenie ist nicht nur eine der gefürchtetsten, sondern folgerungen, Planung und Problemlösen, ungewöhnlich gering
auch eine der am intensivsten untersuchten psychischen Störun- (Morey et al. 2005; Pettegrew et al. 1993; Resnick 1992). Men-
gen. Die meisten neueren Studien bringen sie mit Gehirn- schen mit einer Schizophrenie weisen auch eine erkennbare
abnormitäten und einer genetischen Disposition in Verbindung. Abnahme der Hirnwellen auf, die Ausdruck eines synchronisier-
Bei der Schizophrenie handelt es sich um eine Erkrankung des ten Feuerns der Nervenzellen in den Frontallappen sind (Spencer
Gehirns, die sich hauptsächlich in psychischen Symptomen et al. 2004; Symond et al. 2005). Nicht synchronisierte Nerven-
manifestiert. zellen unterbrechen die integrierte Funktionsweise des neuro-
nalen Netzes und tragen möglicherweise zu schizophrenen
Gehirnanomalien Symptomen bei.
Eine Studie untersuchte PET-Aufnahmen von der Gehirn-
? 16.13 Wie helfen Gehirnanomalien und virale Infektionen,
aktivität halluzinierender Patienten (Silbersweig et al. 1995).
Schizophrenie zu erklären?
Wenn die Teilnehmer eine Stimme hörten oder etwas sahen,
Könnte es sein, dass der Schizophrenie Ungleichgewichte in der wurden ihre Gehirne in mehreren Kernbereichen überaus aktiv.
Gehirnchemie zugrunde liegen? Die Wissenschaftler wussten seit Dazu gehörte auch der Thalamus, eine tief liegende Gehirnstruk-
langem, dass ein seltsames Verhalten sonderbare chemische tur, die ankommende sensorische Signale filtert und sie zum
Ursachen haben kann. Die englische Redensart »verrückt wie ein Kortex weiterleitet. Bei einer weiteren PET-Studie zur Hirn-
Hutmacher« (»mad as a hatter«) bezieht sich auf die Verschlech- aktivität von Menschen mit Paranoia fand man eine erhöhte
terung des psychischen Zustands der britischen Hutmacher, Hirnaktivität im angstverarbeitenden Zentrum, der Amygdala
deren Gehirne – wie später entdeckt wurde – langsam vergiftet (Epstein et al. 1998).
wurden, weil sie mit ihren Lippen die Hutkrempen der mit Viele Studien entdeckten bei Menschen mit Schizophrenie
Quecksilber belasteten Filzhüte befeuchteten (Smith 1983). Wie vergrößerte und mit Flüssigkeit gefüllte Hirnbereiche und eine
wir bereits in 7 Kap. 4 gesehen haben, beginnen die Wissenschaft- entsprechende Schrumpfung und Ausdünnung des Gehirn-
ler allmählich, den Mechanismus zu verstehen, wie Chemikalien gewebes (Goldman et al. 2009; Wright et al. 2000). In einigen
(z. B. LSD) Halluzinationen erzeugen. Diese Entdeckungen geben Studien fand man sogar solche Abnormitäten in den Gehirnen
Hinweise darauf, dass biochemische Ursachen ein Erklärungs- von Menschen, die erst später eine Schizophrenie entwickeln
ansatz für die Schizophreniesymptomatik sein könnten. würden und bei deren nahen Verwandten (Karlsgodt et al. 2010).
Je stärker die Gehirnschrumpfung, desto schwerwiegender die
Die meisten Schizophreniepatienten rauchen, oft sehr stark.
Denkstörung (Collinson et al. 2003; Nelson et al. 1998; Shenton
Nikotin stimuliert anscheinend bestimmte Gehirnrezeptoren,
et al. 1992). Eine von den Regionen, die kleiner sind als normal,
die bei der Aufmerksamkeitsfokussierung helfen (Diaz et al.
ist der Kortex. Eine weitere ist die Corpus-callosum-Verbindung
2008; Javitt u. Coyle 2004).
zwischen den beiden Hemisphären (Arnone et al. 2008). Noch
eine andere Region ist der Thalamus, was eine Erklärung dafür
jDopaminüberschuss sein könnte, dass Menschen mit einer Schizophrenie Schwierig-
Forscher entdeckten eine solche Ursache, als sie die Gehirne keiten haben, den sensorischen Input zu filtern und ihre Auf-
von schizophrenen Patienten nach deren Tod untersuchten und merksamkeit zu konzentrieren (Andreasen et al. 1994; Ellison-
einen Überschuss an Dopaminrezeptoren fanden – eine 6-fach Wright et al. 2008). Andreasen (1997, 2001) berichtet über eine
erhöhte Menge an sog. D4-Dopaminrezeptoren (Seemann et al. grundlegende Erkenntnis, die durch verschiedene Studien ge-
1993; Wong et al. 1986). Sie vermuten, dass ein derart hyperreak- wonnen wurde: Bei der Schizophrenie handelt es sich nicht um
tives Dopaminsystem bei einer Schizophrenie die Gehirnsignale eine isolierte Gehirnabnormität, sondern um Probleme mit meh-
intensiver werden lässt und dadurch positive Symptome wie reren Gehirnregionen und ihren Verbindungen untereinander
Halluzinationen und Paranoia hervorruft (Grace 2010). Demzu- (. Abb. 16.24).
686 Kapitel 16 · Klinische Psychologie: Psychische Störungen

Viruserkrankungen ausgesetzt sind, ein höheres Schizo-


phrenierisiko? Auch hier lautet die Antwort: »ja«, wie in
einer Studie mit 1,75 Mio. Dänen bestätigt wurde (Jablensky
1999; Mortensen et al. 1999).
4 Sind diejenigen, die während der Winter- und Frühlings-
monate geboren werden, also nach der Herbst-Winter-
Grippewelle, ebenfalls einem erhöhten Risiko ausgesetzt?
Auch wenn der Anstieg mit einem um 5–8% erhöhten
Risiko nur klein ist, lautet die Antwort »ja« (Fox 2010;
Torrey et al. 1997, 2002).
4 Finden die Monate, in denen auf der Nordhalbkugel über-
durchschnittlich viele Menschen mit einer Schizophrenie
geboren werden, eine Entsprechung auf der Südhalbkugel,
wo die Jahreszeiten zeitlich versetzt ablaufen? Auch diese
Frage kann man wieder mit »ja« beantworten, obwohl die
Sache nicht ganz so eindeutig ist. In Australien z. B. hatten
Menschen, die zwischen August und Oktober geboren
. Abb. 16.24 Analyse der Neurophysiologie der Schizophrenie. Der wurden, ein größeres Risiko, wenn sie nicht von der Nord-
Psychiater E. Fuller Torrey sammelt die Gehirne von hunderten Menschen, halbkugel emigriert waren; waren sie jedoch emigriert,
die im jungen Erwachsenenalter starben und an Krankheiten wie Schizo-
dann war das Risiko bei einer Geburt zwischen Januar und
phrenie oder einer bipolaren Störung litten. Torrey stellt Gewebeproben für
Forscher auf der ganzen Welt bereit. (© Chris Usher)
März entsprechend größer (McGrath et al. 1995, 1999).
4 Gebären Mütter, die über eine grippale Erkrankung wäh-
rend ihrer Schwangerschaft berichteten, mit einer höheren
Selbstverständlich fragen sich die Wissenschaftler, wodurch Wahrscheinlichkeit Kinder, die eine Schizophrenie entwi-
diese Abnormitäten verursacht werden. Es wäre möglich, dass ckeln? In einer Studie, an der nahezu 8000 Frauen beteiligt
ein Problem während der pränatalen Entwicklung oder bei der waren, lautete die Antwort »ja«. Das Schizophrenierisiko
Entbindung dafür verantwortlich ist (Fatemi u. Folsom 2009; stieg vom gewöhnlichen 1%-Risiko auf ungefähr 2% an,
Walker et al. 2010). Ein geringes Geburtsgewicht, mütterliche allerdings nur bei Infektionen, die während des 2. Schwan-
Diabetes, ein höheres Alter der Eltern und Sauerstoffmangel gerschaftsdrittels stattfanden (Brown et al. 2000). Eine
während der Geburt sind Risikofaktoren der Schizophrenie mütterliche Grippeinfektion während der Schwangerschaft
(King et al. 2010). Hungersnöte können das Risiko wahrschein- hatte auch Auswirkungen auf die Hirnentwicklung von
lich ebenfalls erhöhen. Menschen, die gezeugt wurden, während Affen (Short et al. 2010).
die kriegsbedingte Hungersnot in Holland ihren Höhepunkt er- 4 Zeigt das Blut, das man schwangeren Frauen abnahm,
reichte, wiesen später eine doppelt so hohe Schizophrenierate deren Kinder später eine Schizophrenie entwickelten,
16 auf, wie es auch während einer Hungersnot im östlichen China eine abnorm hohe Antikörpermenge, die auf eine virale
1959–1961 der Fall war (St. Clair et al. 2005; Susser et al. 1996). Infektion hinweist? In einer Studie mit 27 Frauen, deren
Kinder später eine Schizophrenie entwickelten, wurde das
jViruserkrankung der Mutter in der Mitte bestätigt (Buka et al. 2001). In einer riesigen Studie in
der Schwangerschaft Kalifornien, bei der bei etwa 20.000 schwangeren Frauen
Ein anderer möglicher Schuldiger ist eine virale Infektion in der in den 1950er und 1960er Jahren Blutproben gesammelt
Mitte der Schwangerschaft mit negativen Auswirkungen auf die wurden, war die Antwort wieder »ja« (Brown et al. 2004).
fötale Gehirnentwicklung (Patterson 2007). Können Sie sich Eine andere Studie fand Hinweise eines spezifischen Retro-
vorstellen, wie man diese Annahme über ein Virus beim Fötus virus (HERV) bei fast der Hälfte der Personen mit Schizo-
überprüft? Wissenschaftler, die diese Möglichkeit erforschen, phrenie und so gut wie bei keinem der gesunden Menschen
stellten folgende Fragen: (Perron et al. 2008).
4 Haben Menschen ein höheres Schizophrenierisiko, wenn
in der Mitte ihrer fötalen Entwicklung in ihrem Land eine Diese übereinstimmenden Befunde deuten darauf hin, dass
Grippeepidemie ausbricht? Die Frage wurde mehrmals mit pränatale virale Infektionen zum Erkrankungsrisiko von Schizo-
»ja« beantwortet (Mednick et al. 1994; Murray et al. 1992; phrenie beitragen. Sie sprechen auch für die Empfehlung,
Wright et al. 1995). dass »Frauen, die während der Grippesaison bereits länger als
4 Haben Menschen, die in dicht bevölkerten Gebieten auf- 3 Monate schwanger sind«, eine Grippeschutzimpfung erhalten
wachsen und dadurch einer leichteren Ausbreitung von sollten (CDC 2003).
16.4 · Schizophrenie
687 16

. Abb. 16.25 Das Risiko, eine Schizophrenie zu entwickeln. Das Risiko, irgendwann einmal im Leben eine Schizophrenie zu entwickeln, ist unterschiedlich,
je nach der genetischen Verwandtschaft mit jemandem, der Schizophrenie hat. Über die verschiedenen Länder hinweg beträgt die Quote für zweieiige Zwil-
linge kaum mehr als 1:10. Bei eineiigen Zwillingen beträgt die Quote 5:10. (Nach Gottesman 2001)

Warum könnte eine während des 2. Schwangerschaftsdrittels eineiigen Zwillinge teilen sich auch die Plazenta und die Blutver-
auftretende Grippeerkrankung den Fötus einem Risiko aus- sorgung; das übrige Drittel hat zwei einzelne Plazentas. Wenn ein
setzen? Ist es das Virus selbst, oder ist es die Immunreaktion der eineiiger Zwilling Schizophrenie hat, stehen die Chancen, dass
Mutter, oder sind es etwa die eingenommenen Medikamente auch der andere Zwilling in einer ähnlichen Weise betroffen ist,
(Wyatt et al. 2001)? Schwächt die Infektion die schützenden bei 6:10, wenn sie sich dieselbe Plazenta geteilt haben. Wuchsen
Gliazellen des Gehirns, was eine geringere Anzahl synaptischer sie jedoch in getrennten Plazentas heran, so wie zweieiige Zwil-
Verbindungen zur Folge hat (Moises et al. 2002)? Im Laufe der linge, so liegt die Wahrscheinlichkeit nur bei 1:10 (Davis et al.
Zeit werden wir auf diese Fragen eine eindeutige Antwort geben 1995a; Phelps et al. 1997). Zwillinge, die sich eine Plazenta teilen,
können. bekommen mit höherer Wahrscheinlichkeit dieselben pränata-
len Viren. Somit ist es möglich, dass sowohl gemeinsame Keime
Genetische Faktoren als auch gemeinsame Gene für Ähnlichkeiten zwischen eineiigen
Zwillingen verantwortlich sind.
? 16.14 Gibt es genetische Einflüsse auf die Schizophrenie?
Adoptionsstudien bestätigen, dass die genetische Kom-
Welche Faktoren könnten frühe Warnsignale für Schizo-
ponente real ist (Gottesman 1991). Kinder, die von jemandem
phrenie bei Kindern sein?
adoptiert wurden, der eine Schizophrenie entwickelt, »fingen«
Fetale Virusinfektionen scheinen die Wahrscheinlichkeit zu er- sich die Störung nur selten ein. Vielmehr haben adoptierte
höhen, dass ein Kind eine Schizophrenie entwickeln wird. Diese Kinder vor allem dann ein erhöhtes Risiko, wenn ein biologischer
Theorie kann aber nicht erklären, warum nur 2% der Frauen, Elternteil eine Schizophreniediagnose erhalten hatte.
die eine Grippe während des zweiten Schwangerschaftsdrittels Nachdem der Einfluss eines genetischen Faktors festzustehen
haben, ein Kind gebären, das Schizophrenie entwickelt. Könnten scheint, fahnden Forscher nun nach spezifischen Genen, die in
Menschen auch eine Prädisposition für diese Störung vererbt einer bestimmten Kombination dafür prädisponieren könnten,
bekommen? Es gibt starke Argumente dafür, dass dies bei einigen dass es zu Gehirnabnormitäten kommt, die zu einer Schizo-
Menschen der Fall ist. Bei einem Durchschnittsmenschen be- phrenie führen (Levinson et al. 2011; Mitchell u. Porteous 2011;
trägt das Risiko einer Schizophreniediagnose nahezu 1:100. Es Vacic et al. 2011; Wang et al. 2010). (Es sind nicht die Gene,
steigt auf 1:10, wenn eine Schwester bzw. ein Bruder oder ein sondern es ist unser Gehirn, das unser Verhalten unmittelbar
Elternteil die Störung hat, und ziemlich genau auf 1:2, wenn das steuert.) Einige dieser Gene beeinflussen die Effekte, die Dopa-
betroffene Geschwister ein eineiiger Zwilling ist (. Abb. 16.25). min und andere Neurotransmitter auf das Gehirn haben. Andere
Obwohl kaum mehr als ein Dutzend solcher Fälle bekannt ist, wirken sich auf die Produktion von Myelin aus, ein fetthaltiger
scheint es so zu sein, dass ein eineiiger Zwilling einer Person mit Stoff, der die Axone der Nervenzellen ummantelt und ermög-
Schizophrenie diese 1:2-Wahrscheinlichkeit behält, selbst wenn licht, dass Impulse in hoher Geschwindigkeit durch das Nerven-
die Zwillinge getrennt aufwachsen (Plomin et al. 1997). system gelangen können.
Doch erinnern Sie sich, dass eineiige Zwillinge auch eine ge- Es steht außer Frage, dass es bei der Schizophrenie gene-
meinsame pränatale Umwelt haben. Ungefähr zwei Drittel der tische Einflüsse gibt. Die Rolle der Gene ist jedoch nicht so
688 Kapitel 16 · Klinische Psychologie: Psychische Störungen

liche Krankheit haben? Könnte es sein, dass sie ihre Eizelle bzw.
ihre Samenzellen ins Genlabor zu einer Vorsorgeuntersuchung
bringen, bevor sie sie zusammenführen, um einen Embryo zu
erzeugen? Oder werden die Kinder auf genetische Risiken unter-
sucht und präventiv angemessen behandelt? In dieser schönen
neuen Welt des 21. Jahrhundert müssen derartige Fragen be-
antwortet werden.

Psychologische Faktoren
Wenn pränatale Viren und genetische Prädispositionen nicht für
sich genommen eine Schizophrenie verursachen, dann kann
man auch nicht davon ausgehen, dass familiäre und soziale
Faktoren allein dafür verantwortlich sind. Wie Susan Nicol und
. Abb. 16.26a,b Schizophrenie bei eineiigen Zwillingen. Wenn sich
Zwillinge voneinander unterscheiden, hat nur der von einer Schizophrenie Irving Gottesman (1983) bereits vor über 30 Jahren bemerkten,
Betroffene die typisch vergrößerten, flüssigkeitsgefüllten Hirnventrikel bleibt es unbestritten, dass »keine umweltbedingten Ursachen
(links; Suddath et al. 1990). Dieser Unterschied zwischen den Zwillingen entdeckt wurden, die unausweichlich oder auch nur mit einer
weist darauf hin, dass hier ein nicht genetischer Faktor (z. B. ein Virus) betei-
mäßigen Wahrscheinlichkeit bei Menschen eine Schizophrenie
ligt ist. (Courtesy of Daniel R. Weinberger, M.D., Lieber Institute for Brain
Development) hervorriefen, die nicht mit einem schizophrenen Menschen ver-
wandt waren«.
In der Hoffnung, für die Schizophrenie verantwortliche Aus-
eindeutig definiert wie bei der Augenfarbe. Genomstudien mit löser in der Umwelt ausfindig zu machen, verfolgten mehrere
tausenden von Teilnehmern mit und ohne Schizophrenie zeigen, Forscher die Entwicklung von Kindern mit einem »hohen Risi-
dass Schizophrenie von mehreren Genen beeinflusst wird, die ko«. Dazu gehören z. B. Kinder, die einen Elternteil mit einer
jeweils einen kleinen Teil dazu beitragen (International Schizo- Schizophrenie haben oder pränatalen Risiken ausgesetzt waren
phrenia Consortium 2009; Pogue-Geile u. Yokley 2010). Wie be- (Freedman et al. 1998; Olin u. Mednick, 1996; Susser, 1999). Bei
reits in 7 Kap. 5 erwähnt, beeinflussen epigenetische Faktoren einer Studie wurden 163 Teenager und junge Erwachsene, die
(also sozusagen »zusätzlich zu den Genen«) die Genexpression. zwei Verwandte mit einer Schizophrenie hatten, wissenschaftlich
Wie heißes Wasser den Teebeutel aktiviert, können Umweltfak- begleitet. Während der 2½ Jahre dauernden Studie zeigten 20%
toren, wie virale Infektionen, Nahrungsknappheit und mütter- derjenigen, die eine Schizophrenie entwickelten, eine gewisse
licher Stress, die Gene »einschalten«, die Schizophrenie prädis- Tendenz, sich vor Ausbruch der Störung sozial zurückzuziehen
ponieren (. Abb. 16.26). Die unterschiedlichen Entwicklungen und seltsam zu verhalten (Johnstone et al. 2005). Indem die For-
eineiiger Zwillinge im und außerhalb des Mutterleibes erklären, scher die Erfahrungen von sog. »High-risk«-Kindern und von
warum nur ein Zwilling eine abweichende Genexpression zeigt »Low-risk«-Kindern verglichen, die entweder eine Schizo-
(Walker et al. 2010). Wie schon oft gesehen interagieren hier phrenie entwickeln oder nicht erkranken, haben sie bisher die
16 Natur und Erziehung. Eine Hand klatscht auch nicht von alleine. folgenden möglichen Frühwarnzeichen herausgearbeitet:
Dank unseres wachsenden Verständnisses der genetischen 4 eine Mutter, die eine schwere und lange andauernde Schizo-
und hirnspezifischen Einflüsse auf Krankheiten wie Schizophre- phrenie hatte,
nie, schreibt die Öffentlichkeit psychischen Störungen immer 4 Geburtskomplikationen, die oft einen Sauerstoffmangel
mehr biologische Faktoren zu (Pescosolido et al. 2010). 2007 ver- und ein geringes Geburtsgewicht mit einschließen,
kündete ein privates Forschungsinstitut sein ambitioniertes Ziel: 4 eine Trennung von den Eltern,
»In 10 Jahren sollen Patienten mit psychischen Störungen allein 4 eine kurze Aufmerksamkeitsspanne und eine schlechte
aufgrund ihrer DNA-Sequenz eindeutig diagnostiziert werden Muskelkoordination,
können« (Holden 2007). Eine Anschubfinanzierung von 120 Mio. 4 störendes oder verschlossenes Verhalten,
Dollar im Jahr 2010 ermöglichte mutige, neue Bemühungen, um 4 emotionale Unberechenbarkeit,
die neurologischen und genetischen Grundlagen der Schizo- 4 wenig Beziehungen mit Gleichaltrigen, das Kind spielt allein.
phrenie und anderer psychischer Störungen zu untersuchen
(Kaiser 2010; . Abb. 16.27). Können also Wissenschaftler Gen- Die meisten von uns können das Auf und Ab affektiver Störun-
tests entwickeln, mit denen man herausfinden kann, wer ein gen besser verstehen als die seltsamen Gedanken, Wahrnehmun-
Risiko hat zu erkranken? Wenn dies so ist, werden die Menschen gen und Verhaltensweisen von Schizophrenen. Hin und wieder
in Zukunft ihre Embryos einem Gentest aussetzen (und die Gene erleben auch wir Gedankensprünge, aber wir sprechen in Ab-
reparieren oder den Embryo abtreiben), wenn sie ein erhöhtes wesenheit einer Störung nicht in einer Weise, die keinen Sinn
Risiko für diese oder irgendeine andere psychische oder körper- ergibt. Ab und zu verdächtigen wir jemanden ungerechtfertigt.
16.5 · Andere Störungen
689 16

. Abb. 16.27 Die Genain-Vierlinge. Die Wahrscheinlichkeit, dass jeder eine Schizophreniediagnose bekommt, beträgt für vier beliebige, zufällig ausge-
wählte Menschen 1:100 Mio. Doch die genetisch identischen eineiigen Vierlingsschwestern Nora, Iris, Myra und Hester Genain sind allesamt erkrankt.
Zwei der Schwestern haben eine schwerere Form der Störung als die beiden anderen, was sowohl auf Umwelt- als auch auf genetische Einflüsse schließen
lässt. (Courtesy of Genain family)

Trotzdem befürchten wir nicht, dass sich die ganze Welt gegen 16.5 Andere Störungen
uns wendet. Auch wir irren uns oft in unseren Wahrnehmungen,
aber wir hören oder sehen selten Dinge, die nicht vorhanden 16.5.1 Dissoziative Störungen
sind. Wir bedauern es, wenn wir über ein Missgeschick eines
Menschen lachen, doch lachen wir nur selten in Reaktion auf
? 16.15 Was sind dissoziative Störungen, und warum sind sie
schlechte Nachrichten. Manchmal wollen wir einfach allein sein,
umstritten?
aber wir leben nicht in sozialer Isolation. Es ist jedoch so, dass
Millionen von Menschen auf der ganzen Welt seltsame Dinge Zu den verwirrendsten Störungen gehören die seltenen dis-
sagen, unter Wahnideen leiden, nicht vorhandene Stimmen soziativen Störungen. Dies sind Störungen des Bewusstseins, bei
hören und Sachen sehen, die nicht da sind. Sie lachen oder denen die Betroffenen einen plötzlichen Gedächtnisverlust oder
weinen zu unpassenden Gelegenheiten oder ziehen sich in ihre eine Veränderung der Identität zu erleben scheinen, oft als Reak-
private innere Welt zurück. Die Forderung, das grausame Rätsel tion auf eine überwältigende anstrengende Situation. Ein Viet-
»Schizophrenie« zu lösen, bleibt daher nach wie vor bestehen nam-Veteran, den der Tod eines Kameraden verfolgte und der
und muss tatkräftiger als je zuvor angegangen werden. sein Büro im World Trade Center kurz vor dem Anschlag des
11. Septembers verlassen hatte, verschwand eines Tages auf dem
Prüfen Sie Ihr Wissen
Weg zur Arbeit und tauchte 6 Monate später in einem Obdach-
5 Eine Person mit Schizophrenie, die losenheim in Chicago wieder auf, angeblich ohne Erinnerung an
(positive/negative) Symptome hat, hat meist ein aus- seine Identität oder Familie (Stone 2006). In solchen »Dämmer-
drucksloses Gesicht und eine tonlose Stimme. Diese zuständen« dissoziiert (spaltet sich ab) das bewusste Erleben von
Symptome sind am meisten verbreitet bei den schmerzhaften Erinnerungen, Gedanken und Gefühlen. (Be-
(chronischer/akuter) Schizophrenie, die eher nicht auf achten Sie, dass diese Erklärung die Existenz von verdrängten
medikamentöse Therapie anspricht. Personen mit Erinnerungen voraussetzt, was von Gedächtnisforschern infrage
(positiven/negativen) Symptomen gestellt wurde, so wie es in 7 Kap. 9 und 7 Kap. 14 diskutiert wird.)
erleben eher Wahnvorstellungen, was als Dissoziative Störungen (»dissociative disorders«) – Störungen, bei denen
(chronische/akute) Schizophrenie diagnostiziert wird, die sich das Bewusstsein von früheren Erinnerungen, Gedanken und Gefühlen
eher auf eine medikamentöse Therapie anspricht. abspaltet (dissoziiert).

5 Welche Faktoren tragen zum Beginn und Verlauf der


Schizophrenie bei? Dissoziation an sich ist gar nicht so selten. Möglicherweise haben
viele Menschen hin und wieder ein Gefühl von Unwirklichkeit
690 Kapitel 16 · Klinische Psychologie: Psychische Störungen

. Abb. 16.28 Multiple Persönlichkeiten. Chris Sizemores Geschichte, die im Buch und Film The Three Faces of Eve erzählt wird, brachte erste Einblicke
in das, was heute dissoziative Identitätsstörung genannt wird. (© picture alliance / Mary Evans Picture Library)

oder das Gefühl, von ihrem Körper getrennt zu sein, oder sie sehen Obwohl Menschen mit der Diagnose dissoziative Identitäts-
sich selbst wie in einem Film. Manchmal sagen wir möglicherweise: störung (früher multiple Persönlichkeitsstörung genannt) in der
»Zu diesem Zeitpunkt war ich nicht ich selbst.« Vielleicht können Regel nicht gewalttätig sind, gab es Fälle, bei denen die betref-
Sie sich daran erinnern, wie Sie selbst einmal aufgestanden sind, fende Person in eine »gute« und in eine »schlechte« (oder aggres-
um irgendwo hinzugehen und zu irgendeinem Ort gingen, zu dem sive) Persönlichkeit dissoziiert wurde – eine abgeschwächte
Sie gar nicht wollten, während Sie in Gedanken mit etwas anderem Form von Dr. Jekyll und Mr. Hyde, die in der Geschichte
beschäftigt waren. Oder vielleicht können Sie eine gut geübte Der seltsame Fall von Dr. Jekyll und Mr. Hyde von Robert Louis
Melodie auf der Gitarre oder dem Klavier spielen, während Sie mit Stevenson verewigt wurde. Bei einem weiteren ungewöhnlichen
jemandem reden. Im Zusammenhang mit einem Trauma könnte Fall ging es um Kenneth Bianchi, der wegen Vergewaltigung und
eine solche dissoziative Spaltung einen Menschen davor schützen, Mord an zehn Frauen in Kalifornien vor Gericht stand (»Hillside
16 von seinen Gefühlen überwältigt zu werden. Strangler«). Während einer Hypnosesitzung mit Bianchi rief
der Psychologe John Watkins (1984) eine verborgene Persönlich-
Dissoziative Identitätsstörung keit hervor: »Ich habe ein wenig mit Ken gesprochen, aber ich
Die extremste dissoziative Störung ist die dissoziative Identi- glaube, dass es vielleicht einen anderen Teil von Ken geben
tätsstörung, bei der man annimmt, dass eine massive Dis- könnte, mit dem ich nicht geredet habe, ein anderer Teil, der
soziation des Selbst vom gewöhnlichen Bewusstsein stattfindet. anscheinend vielleicht etwas anders ist als der Teil, mit dem ich
Von den betroffenen Menschen wird behauptet, sie hätten zwei gesprochen habe. ... Würden Sie, Teil, mit mir sprechen, indem
oder mehrere voneinander getrennte Identitäten, die abwech- Sie ›Ich bin da‹ sagen? Bianchi antwortete mit ›Ja‹ und behaup-
selnd das Verhalten bestimmen. Jede Persönlichkeit hat eine tete, ›Steve‹ zu sein.«
eigene Stimme und ein eigenes Benehmen. Ein Mensch mit Während er als Steve redete, behauptete Bianchi, dass er Ken
dieser Störung könnte also zunächst steif und bieder sein und im hasse, weil dieser nett sei, und dass er (Steve) mit Hilfe seines
nächsten Moment vorlaut und keck. Typischerweise leugnet in Vetters Frauen umgebracht hätte. Er behauptete auch, dass Ken
der Regel die Originalpersönlichkeit, die andere(n) zu kennen nichts von seiner Existenz wisse und dass Ken an den Morden
(. Abb. 16.28). nicht schuldig sei. War Bianchis zweite Persönlichkeit ein Trick,
einfach eine Methode, um die Verantwortung für seine Hand-
Dissoziative Identitätsstörung (»dissociative identity disorder«) – seltene
lungen zu leugnen? Tatsächlich wurde Bianchi – ein erfahrener
Form einer dissoziativen Störung, bei der eine Person zwei oder mehrere
voneinander unterscheidbare und einander abwechselnde Persönlichkeiten Lügner, der in Psychologiebüchern etwas über multiple Persön-
zeigt; früher bezeichnet als multiple Persönlichkeitsstörung. lichkeiten gelesen hatte – später verurteilt (. Abb. 16.29).
16.5 · Andere Störungen
691 16
Die durchschnittliche Anzahl der gezeigten Persönlichkeiten
erhöhte sich ebenfalls sprunghaft – von 3 auf 12 pro Patient
(Goff u. Sims 1993). Das Krankheitsbild kommt außerhalb Nord-
amerikas weniger oft vor, obwohl es in anderen Kulturen von
manchen Menschen heißt, sie seien von einem fremden Geist
»besessen« (Aldridge-Morris 1989; Kluft 1991). In Großbritan-
nien ist diese Diagnose selten – von manchen wird sie als »eine
verrückte amerikanische Marotte« betrachtet (Cohen 1995). In
Indien und Japan existiert die Krankheit so gut wie gar nicht
(oder wird zumindest nicht berichtet).
Für die Skeptiker deuten diese Befunde auf ein kulturelles Phä-
nomen hin – ein Krankheitsbild, das von Therapeuten in einem
bestimmten sozialen Kontext geschaffen wurde (Merskey 1992).
. Abb. 16.29 Der »Hillside-Strangler«. Kenneth Bianchi ist hier auf einem Dissoziative Symptome tendieren eher dazu, bei beeinflussbaren,
Polizeifoto von 1979 zu sehen. (This image is in the public domain)
fantasievollen Personen aufzutreten, als durch ein Trauma hervor-
gerufen zu werden (Giesbrecht et al. 2008, 2010). Patienten kom-
Erklärungsansätze für die dissoziative men nicht in die Therapie und sagen: »Dürfen wir uns Ihnen vor-
Identitätsstörung stellen?« Es ist vielmehr so, sagen die Skeptiker, dass einige Thera-
Skeptiker stellen infrage, ob die dissoziative Identitätsstörung peuten nach multiplen Identitäten suchen: »Haben Sie jemals das
eine ernsthafte Störung ist oder eine Erweiterung der normalen Gefühl gehabt, dass ein anderer Teil von Ihnen Dinge tut, die Sie
Fähigkeit zu Persönlichkeitswechseln. Nicholas Spanos (1986, nicht kontrollieren können? Hat dieser Teil einen Namen? Kann ich
1994, 1996) bat Studierende, zu spielen, sie stünden unter Mord- zu dem wütenden Teil von Ihnen sprechen?« Sobald die Patienten
anklage und würden psychiatrisch untersucht. Unter derselben dem Therapeuten einmal erlaubt haben, »den Teil, der diese wüten-
hypnotischen Instruktion wie Bianchi präsentierten die meisten den Sachen sagt«, namentlich anzusprechen, fangen sie an, ihren
spontan eine zweite Persönlichkeit. Diese Entdeckung führte Fantasien Ausdruck zu verleihen. Wie Schauspieler, die sich selbst
Spanos zu folgender Frage: Sind die dissoziierten Identitäten in ihrer Rolle verlieren, können anfällige Patienten »zu den Teilen
lediglich eine extremere Version unserer normalen mensch- werden«, die sie gerade ausagieren. Das Ergebnis kann mög-
lichen Fähigkeit, das »Selbst«, das wir anderen präsentieren, zu licherweise das Erleben eines anderen Selbst sein (. Abb. 16.30).
verändern – so wie wir vielleicht ein albernes und lautes Selbst Andere Forscher und Kliniker sehen die dissoziative Identität
zeigen, wenn wir mit Freunden unterwegs sind, und ein be- als eine reale Störung an. Unterstützt wird diese Sichtweise durch
herrschtes und respektvolles Selbst bei unseren Großeltern? die unterschiedlichen Hirn- und Körperzustände, die mit den
Kann es sein, dass die Kliniker, die eine dissoziative Identitäts- verschiedenen Persönlichkeiten verbunden sind (Putnam 1991).
störung diagnostizieren, nichts anderes tun, als mit einer leb- Manchmal kommt es vor, dass eine Persönlichkeit rechtshändig
haften Fantasie ausgestattete Menschen dazu zu bringen, eine ist, während bei einer anderen die linke Hand dominiert (Hen-
bestimmte Rolle zu spielen? Wenn ja: Können solche Menschen ninger 1992). In einer Studie entdeckten Augenärzte eine Ver-
sich selbst von der Echtheit ihrer Rolle überzeugen? Sind sie wie änderung der Sehschärfe und der Koordination der Augen-
Schauspieler, die gemeinhin behaupten, sich selbst in der Rolle muskeln, wenn die Patienten ihre Persönlichkeit wechselten.
»zu verlieren«? Spanos war diese Denkweise nicht fremd. Er Diese Veränderungen zeigten sich nicht bei den Personen der
stellte diese Fragen auch in Bezug auf den hypnotischen Zustand. Kontrollgruppe, die versuchten, dissoziative Identitäten zu simu-
Da die meisten Patienten mit dissoziativen Identitätsstörungen lieren (Miller et al. 1991). Patienten mit einer dissoziativen Stö-
zugleich sehr leicht hypnotisierbar sind, kann die Erklärung – rung zeigen auch eine erhöhte Aktivität in Hirnregionen, die mit
egal ob die der Dissoziation oder des Rollenspiels – auch zur der Kontrolle und Inhibition traumatischer Erinnerungen asso-
Erklärung des jeweils anderen Phänomens beitragen. ziiert sind (Elzinga et al. 2007).
Forscher und Kliniker haben die dissoziative Identitäts-
» Die Maske kann zum Gesicht werden.
störung sowohl aus psychoanalytischer als auch aus lerntheore-
Chinesisches Sprichwort
tischer Sicht betrachtet. Beide Sichtweisen stimmen überein,
Die Skeptiker dagegen finden es zudem verdächtig, dass diese dass die Symptome der Bewältigung von Angst dienen. Psycho-
Störung zeitlich und örtlich begrenzt ist. In Nordamerika stieg analytiker sehen sie als Abwehrmechanismen gegen die Angst,
die Anzahl der Diagnosen exponentiell an: Von 1930 bis 1960 gab die infolge von inakzeptablen Triebregungen entsteht; eine bös-
es nur zwei dokumentierte Fälle pro Jahrzehnt, in den 1980er willige zweite Persönlichkeit ermöglicht es, verbotene Trieb-
Jahren stieg die Zahl auf über 20.000 – als das DSM erstmals die regungen herauszulassen. Lerntheoretiker sehen die Symptome
formale Kodierung für diese Störung aufführte (McHugh 1995a). als Verhaltensweisen, die durch Angstabbau verstärkt werden.
692 Kapitel 16 · Klinische Psychologie: Psychische Störungen

. Abb. 16.30 (Copyright © The New Yorker Collection, 2001, Leo Cullum / cartoonbank.com)

» Ist dies schon Tollheit, hat es doch Methode. Prüfen Sie Ihr Wissen
William Shakespeare, Hamlet, 1600
5 Die psychodynamischen und lerntheoretischen Ansätze
Andere betrachten dissoziative Störungen als posttraumatische stimmen überein, dass die Symptome der dissoziativen
Störungen – als eine natürliche Schutzreaktion auf »eine Vor- Identitätsstörung ein Weg sind, mit Angst umzugehen.
geschichte mit kindlicher Traumatisierung« (Putnam 1995; Wie unterscheiden sich ihre Erklärungen?
Spiegel 2008). Viele Patienten mit dissoziativer Identitätsstörung
haben als Kinder unter physischem, sexuellem oder emotionalem
Missbrauch gelitten (Gleaves 1996; Lilienfeld et al. 1999). Eine
Studie an zwölf Mördern mit der Diagnose dissoziative Identitäts- 16.5.2 Essstörungen
störung ergab, dass elf von ihnen als Kinder qualvolle Miss-
brauchserfahrungen gemacht hatten (Lewis et al. 1997). Einer
16 war von seinen Eltern in Brand gesteckt worden. Ein anderer war
? 16.16 Inwiefern zeigen Anorexia nervosa, Bulimia nervosa und
die Binge-Eating-Störung den Einfluss psychologischer Kräfte?
für Kinderpornografie missbraucht worden und hatte Narben,
weil er gezwungen worden war, auf einem Brennofen zu sitzen. Unser Körper ist von Natur aus dazu gemacht, das normale Kör-
Einige Kritiker geben jedoch zu bedenken, dass möglicherweise pergewicht zu erhalten, was auch beinhaltet, dass Energiereser-
eine lebhafte Fantasie oder die Suggestion durch den Therapeuten ven für Zeiten, in denen keine Nahrung verfügbar ist, gespeichert
zu solchen Erinnerungen beitragen könnte (Kihlstrom 2005). werden. Aber manchmal überwältigen psychologische Einflüsse
Und so geht die Debatte weiter. Auf der einen Seite stehen die biologische Weisheit. Dies wird bei drei Essstörungen
diejenigen, die davon ausgehen, dass multiple Persönlichkeiten schmerzlich bewusst.
der verzweifelte Versuch von traumatisierten Personen sind, sich 4 Die Anorexia nervosa beginnt typischerweise mit einem
von einer schrecklichen Existenz abzuspalten. Auf der anderen Versuch abzunehmen. Menschen mit dieser Störung –
Seite denken Skeptiker, dass die dissoziative Identitätsstörung ein gewöhnlich Jugendliche und in 9 von 10 Fällen weiblich –
Zustand ist, den sich zu ausschweifender Fantasie neigende, liegen dann deutlich unter ihrem Normalgewicht (meist
emotional anfällige Menschen bisweilen ausdenken und ihn sich 15% oder mehr). Sie fühlen sich aber trotzdem noch dick,
aus der Interaktion mit dem Therapeuten heraus konstruieren. haben Angst zuzunehmen und sind weiterhin davon be-
Wenn das so ist, sagt der Psychiater Paul McHugh (1995b) Fol- sessen abzunehmen, manchmal trainieren sie auch exzessiv.
gendes vorher: »Diese Epidemie wird auf dieselbe Weise zu Ende Ungefähr die Hälfte der an Anorexie Erkrankten haben
gehen wie der Hexenwahn in Salem. Das [Phänomen der multi- auch Fress-Brech-Anfälle mit anschließender Depression
plen Persönlichkeit] wird man dann als Hirngespinst ansehen.« (. Abb. 16.31).
16.5 · Andere Störungen
693 16
Anorexia nervosa (»anorexia nervosa«) – Essstörung, bei der eine
Person (meistens ein Mädchen in der Adoleszenz) Diät hält und deutlich
untergewichtig wird (15% oder mehr), aber trotzdem weiter hungert.
Bulimia nervosa (»bulimia nervosa«) – Essstörung, die durch Fress-
episoden gekennzeichnet ist, bei denen meistens riesige Kalorienmengen
aufgenommen werden, gefolgt von Erbrechen, der Verwendung von Ab-
führmitteln oder Fasten.
Binge-Eating-Störung (»binge-eating disorder«) – deutliche Fress-
episoden, gefolgt von Leiden, Ekel oder Schuld, aber ohne die Kompensa-
tion durch Erbrechen oder Fasten, wie bei der Bulimia nervosa.

Eine nationale Studie des U.S. National Institute of Mental


Health berichtete, dass zu irgendeinem Zeitpunkt im Leben 0,6%
der Menschen die Kriterien der Anorexie, 1% die Kriterien der
Bulimie und 2,8% die Kriterien der Binge-Eating-Störung er-
füllen (Hudson et al. 2007). Wie können wir diese Störungen also
erklären?
Essstörungen sind kein offenkundiges Zeichen für sexuellen
Missbrauch in der Kindheit, wie von manchen vermutet wurde
(Smolak u. Murnen 2002; Stice 2002). Trotzdem ist die Familie
häufig ein fruchtbarer Boden für die Entwicklung einer Ess-
störung, wenn auch auf andere Weise.
4 Die Mütter essgestörter Mädchen beschäftigen sich
häufig intensiv mit ihrem Gewicht sowie mit Gewicht und
Aussehen ihrer Töchter (Pike u. Rodin 1991).
4 Bei Familien von Bulimiepatientinnen kommt Fettleibigkeit
. Abb. 16.31 Zum Sterben dünn. Anorexie wurde in den 1870er Jahren in der Kindheit und eine negative Selbstbewertung häufiger
erstmals beschrieben und diagnostiziert, als sie unter Mädchen aus wohl- als gewöhnlich vor (Jacobi et al. 2004).
habenden Familien auftrat (Brumberg 2000). Dieses Foto zeigt den körper-
lichen Zustand einer anorektischen Frau. (© imago / United Archives)
4 Familien von Anorexiepatienten tendieren dazu, kon-
kurrenzorientiert, sehr leistungsfähig und beschützend zu
sein (Pate et al. 1992; Yates 1989, 1990).
4 Die Bulimia nervosa setzt fast immer ein, wenn eine Person,
die eine Schlankheitskur macht, die Beschränkungen, die sie Die Betroffenen haben oft ein schlechtes Selbstwertgefühl,
sich in der Kur auferlegt hat, durchbrochen und gierig etwas setzen sich perfektionistische Standards, machen sich Sorgen,
verschlungen hat. Die meisten Bulimikerinnen sind Frauen dass sie die Erwartungen nicht erfüllen, und machen sich sehr
kurz vor oder Anfang 20. Sie essen so, wie einige Menschen viele Gedanken darüber, wie andere sie wahrnehmen (Pieters
mit Alkoholabhängigkeit trinken – in Schüben, manchmal et al. 2007; Polivy u. Herman 2002; Sherry u. Hall 2009;
beeinflusst durch Freundinnen, die Fressanfälle haben . Abb. 16.32). Aufgrund einiger dieser Faktoren lässt sich auch
(Crandall 1988). Personen mit Bulimie durchlaufen wieder- bei Jungen im Teenageralter vorhersagen, dass sie ein unrea-
holte Episoden mit Fressanfällen, auf die eine Kompensation listisches Muskelwachstum anstreben werden (Ricciardelli u.
durch Erbrechen, Benutzung von Abführmitteln, Fasten McCabe 2004).
oder durch exzessive sportliche Aktivität folgt (Wonderlich Auch genetische Einflüsse spielen bei der Entstehung von Ess-
et al. 2007). Bulimiekranke beschäftigen sich vor allem mit störungen eine Rolle. Bei eineiigen Zwillingen ist im Vergleich zu
dem Thema Essen (sie gieren nach süßen und fettreichen zweieiigen Zwillingen die Wahrscheinlichkeit höher, dass ein
Speisen) und haben Angst davor, übergewichtig zu werden, Zwilling erkrankt, wenn der andere bereits krank ist (Culbert et
sie machen depressive Verstimmungen und Angstattacken al. 2009; Klump et al. 2009; Root et al. 2010). Wissenschaftler
durch, die während und nach den Fressanfällen am suchen nach den zuständigen Genen, die eventuell das verfüg-
schlimmsten sind (Hinz u. Williamson 1987; Johnson et al. bare Serotonin und Östrogen des Körpers beeinflussen (Klump u.
2002). Im Gegensatz zu Anorektikerinnen fluktuiert das Ge- Culbert 2007).
wicht von Bulimikerinnen um ihr Normalgewicht. Dadurch
kann die Störung besser verborgen werden. » Warum haben Frauen ein so geringes Selbstwertgefühl?
4 Deutliche Fressanfälle, gefolgt von Reue – aber ohne zu er- Es gibt viele komplexe psychische und gesellschaftliche
brechen, fasten oder exzessiv zu trainieren – kennzeichnen Gründe dafür; und ein wichtiger Grund ist Barbie.
die Binge-Eating-Störung. Dave Barry (1999)
694 Kapitel 16 · Klinische Psychologie: Psychische Störungen

. Abb. 16.33 (© 1999 Shannon Burns,www.shannonburns.com/


cartoon4.htm)

jungen Mädchen für 15 Monate ein Abonnement einer Mode-


zeitschrift für Teenager schenkten (anderen aber nicht). Im Ver-
gleich zu jenen Mädchen, die keine Zeitschrift erhalten hatten,
zeigten sich bei diesen gefährdeten Mädchen – definiert als be-
reits unzufrieden, Schlankheit idealisierend und mit fehlender
sozialer Unterstützung – eine größere Unzufriedenheit mit
ihrem Körper und stärkere Tendenzen zu Essstörungen. Aber
sogar die ultradünnen Models entsprechen nicht dem nahezu
unerreichbaren Standard der klassischen Barbiepuppe. Wäre
Barbie 1,80 Meter groß, wären ihre Maße 82–41–73 (Norton et
. Abb. 16.32 Ein zu dickes Körperbild liegt der Anorexie zugrunde. al. 1996; . Abb. 16.34).
(© Getty Images / iStockphoto) Es scheint klar zu sein, dass das Krankhafte an den heutigen
Essstörungen nicht nur in den Betroffenen zu suchen ist, sondern
auch in unserer von Schlankheit besessenen Kultur. Es ist eine
Es gibt außerdem noch kulturelle und geschlechtliche Kompo- Kultur, die auf vielfältige Weise sagt: »Dick ist gleichbedeutend
nenten. Die Vorstellungen vom idealen Körper sind von Kultur mit schlecht.« Dies motiviert Millionen von Frauen dazu, ständig
zu Kultur je nach der Zeit unterschiedlich. In verarmten Ge- Diäten zu machen – und löst gleichzeitig Fressanfälle aus, da
bieten auf der Welt, große Teile Afrikas eingeschlossen – wo Frauen permanent in einem Zustand leben, in dem sie halb
16 die Reichen pummelig sind und Schlankheit ein Signal für verhungert sind. Wenn kulturelles Lernen zum Essverhalten
Armut und Krankheit sein kann – ist dicker gleichbedeutend beiträgt, können dann Präventionsprogramme die Akzeptanz
mit besser (Knickmeyer 2001; Swami et al. 2010). In westlichen des eigenen Körpers erhöhen? Berichte über Präventionsstudien
Kulturen scheint dicker nicht besser zu sein, wie 222 Studien mit beantworten dies mit Ja, und zwar besonders, wenn die Pro-
141.000 Personen zeigten. Hier fiel der Anstieg der Essstörungen gramme interaktiv und auf Mädchen über 15 Jahren gerichtet
während der letzten 50 Jahre mit einer dramatischen Zunahme sind (Stice et al. 2007; Vocks et al. 2010).
von Frauen zusammen, die ein negatives Bild von ihrem Körper
Prüfen Sie Ihr Wissen
haben (Feingold u. Mazzella 1998; . Abb. 16.33).
Menschen, die am anfälligsten für Essstörungen sind, sind 5 Menschen mit (Anorexia nervosa/
diejenigen, die Schlankheit am stärksten idealisieren und die mit Bulimia nervosa) wollen weiterhin Gewicht verlieren,
ihrem Körper am unzufriedensten sind (Feldman u. Meyer 2010; selbst wenn sie untergewichtig sind. Diejenigen mit
Kane 2010; Stice et al. 2010). Es überrascht nicht, dass Frauen, die (Anorexia nervosa/Bulimia nervosa)
in Modemagazinen immer wieder reale retuschierte Fotos von haben eher Gewichtsfluktuationen im oder um den
Models sehen, die unnatürlich dünn zu sein scheinen, sich oft Normalbereich.
genieren, depressiv werden und mit ihrem Körper unzufrieden
sind – genau diese Haltung führt jedoch zu Essstörungen (Grabe
et al. 2008; Myers u. Crowther 2009; Tiggeman u. Miller 2010).
Stice et al. (2001) testeten diese Annahme, indem sie einigen
16.5 · Andere Störungen
695 16
Cluster zeigt dramatische oder impulsive Verhaltensweisen, wie
z. B. die aufmerksamkeitserregende histrionische Persönlichkeits-
störung und die selbstbezogene und selbsterhöhende narzisstische
Persönlichkeitsstörung. Die Kategorien der Persönlichkeits-
störung sind jedoch nicht eindeutig unterscheidbar, und einige
sind Kandidaten, die in der nächsten Version des DSM überar-
beitet oder herausgenommen werden (Holden 2010).
Persönlichkeitsstörung (»personality disorder«) – psychische Störung,
die gekennzeichnet ist durch unflexible, andauernde Verhaltensmuster, die
die soziale Funktionsfähigkeit beeinträchtigen.

Antisoziale Persönlichkeitsstörung
Unter den Persönlichkeitsstörungen ist die antisoziale Persön-
lichkeitsstörung die Besorgnis erregendste und die am besten
erforschte. Es handelt sich typischerweise um einen Mann (früher
Soziopath oder Psychopath genannt), dessen schwach ausgebilde-
tes Gewissen sich bereits vor dem Alter von 15 Jahren zeigt, wenn
er anfängt zu lügen, zu stehlen, zu prügeln oder ein hemmungs-
loses Sexualverhalten an den Tag legt (Cale u. Lilienfeld 2002).
Ungefähr die Hälfte dieser Kinder entwickeln sich zu antisozialen
Erwachsenen – Menschen, die nicht in der Lage sind, eine Ar-
beitsstelle zu behalten, die sich als unverantwortliche Ehepartner
oder Eltern erweisen, andere angreifen oder sich anderweitig
kriminell verhalten (Farrington 1991). Wenn bei der antisozialen
Persönlichkeit eine wache Intelligenz und fehlende Moralvor-
stellungen zusammenkommen, kann daraus ein charmanter, cle-
verer Trickbetrüger, ein rücksichtsloser Unternehmensmanager
(Menschenschinder oder Manager ist ein Buch über antisoziales
Verhalten im Job) werden – oder gar Schlimmeres (. Abb. 16.35).

. Abb. 16.34 »Skelette auf dem Laufsteg.« Ein Zeitungsartikel benutzte Antisoziale Persönlichkeitsstörung (»antisocial personality disorder«) –
diesen Titel um superdünne Models zu kritisieren. Machen solche Models Persönlichkeitsstörung, bei der der Betreffende (in der Regel ein Mann)
Hungern schick? (© Daniel Dal Zennaro / ANSA / picture alliance / dpa ) ein schwach ausgebildetes Gewissen hinsichtlich des eigenen Fehlver-
haltens, auch gegenüber Freunden und Familienmitgliedern, aufweist;
er kann aggressiv und rücksichtslos oder ein cleverer Trickbetrüger sein.
16.5.3 Persönlichkeitsstörungen
Trotz ihres erbarmungslosen und manchmal kriminellen Verhal-
tens ist Kriminalität keine essenzielle Komponente antisozialen
? 16.17 Was sind die drei Cluster der Persönlichkeits-
Verhaltens (Skeem u. Cooke 2010). Die meisten Straftäter ent-
störungen? Welches Verhalten und welche Gehirnaktivität
sprechen nicht den Kriterien, die für die Beschreibung der anti-
charakterisieren die antisoziale Persönlichkeit?
sozialen Persönlichkeitsstörung herangezogen werden. Warum
Einige fehlangepasste Verhaltensmuster beeinträchtigen die ist das so? Die meisten Straftäter sorgen sich durchaus in einer
soziale Funktionsfähigkeit von Menschen, ohne dass sie eine verantwortungsvollen Weise um ihre Familie und ihre Freunde.
Depression oder Wahnvorstellungen haben. Bei diesen zer- Antisoziale Persönlichkeiten verhalten sich impulsiv und
störerischen Mustern, die man als Persönlichkeitsstörungen fühlen und fürchten dann wenig (Fowles u. Dindo 2009). Die
bezeichnet, handelt es sich um unflexible und überdauernde Ver- Ergebnisse können, wie im Fall Henry Lee Lucas, schrecklich
haltensmuster, die einen Menschen in sozialen Funktions- sein. Im Alter von 13 Jahren tötete er sein erstes Opfer. Er fühlte
bereichen behindern. Das Merkmal des ersten Clusters dieser damals wie auch später wenig Bedauern. Er gestand, in den
Störung ist Angst, wie z. B. eine ängstliche Empfindlichkeit auf 32 Jahren seiner kriminellen Karriere mehr als 360 Frauen,
Zurückweisung, was für die zurückgezogene vermeidende Persön- Männer und Kinder niedergeknüppelt, erstickt, erstochen, er-
lichkeitsstörung prädisponiert. Ein zweites Cluster zeigt exzen- schossen und verstümmelt zu haben. Während der letzten
trische oder seltsame Verhaltensweisen, wie z. B. die emotionslose 6 Jahre seiner Schreckensherrschaft machte er das zusammen mit
Loslösung einer schizoiden Persönlichkeitsstörung. Ein drittes Elwood Toole, der den Berichten nach 50 Menschen abschlach-
696 Kapitel 16 · Klinische Psychologie: Psychische Störungen

. Abb. 16.36 Kaltblütige Erregbarkeit und Kriminalitätsrisiko. In zwei


. Abb. 16.35 Keine Reue. Dennis Rader, bekannt als der »BTK Killer« aus Gruppen 13-jähriger schwedischer Jungen wurden die Konzentrationen
Kansas, wurde 2005 des Mordes von 10 Menschen innerhalb von 30 Jahren des Stresshormons Adrenalin gemessen. Diejenigen, die später (als 18- bis
überführt. Rader demonstrierte ein extremes fehlendes Gewissen, das die 26-Jährige) eines Verbrechens überführt wurden, zeigten sowohl in stress-
antisoziale Persönlichkeitsstörung charakterisiert. (© picture-alliance / dpa / reichen als auch in nicht so stressigen Situationen eine vergleichsweise
dpaweb) geringe Erregung. (Nach Magnusson 1990)

tete, von denen er meinte, »sie seien ohnehin nicht lebenswert« In einigen Untersuchungen wurde entdeckt, dass Jungen im
(Darrach u. Norris 1984). Vorschulalter, die später in der Adoleszenz zu aggressiven oder
antisozialen Jugendlichen wurden, zu Impulsivität tendierten,
Erklärungsansätze bei der antisozialen ungehemmt waren, sich wenig um soziale Belohnungen küm-
Persönlichkeitsstörung merten und eine niedrige Angstschwelle hatten (Caspi et al. 1996;
Die antisoziale Persönlichkeitsstörung besteht aus biologischen Tremblay et al. 1994). Eine derartige Furchtlosigkeit kann, wenn
und psychologischen Komponenten. Es gibt auch hier keine sie in produktivere Richtungen gebahnt wird, zu unerschrocke-
einzelnen Gen-Codes, die hinter einem so komplexen Verhalten nem Heldenmut oder zu Abenteuerlust führen, oder es kann sich
16 wie einem Verbrechen stehen. Allerdings enthüllen Zwillings- ein herausragender Hochleistungssportler daraus entwickeln
und Adoptionsstudien, dass die biologischen Verwandten von (Poulton u. Milne 2000). Ist jedoch die Wahrnehmung für soziale
Menschen mit antisozialen und gefühllosen Tendenzen ein er- Verantwortung mangelhaft entwickelt, kann dieselbe Disposi-
höhtes Risiko für antisoziales Verhalten in sich tragen (Larsson tion einen kalten Betrüger oder Killer hervorbringen (Lykken
et al. 2007; Livesley u. Jang 2008). Forscher der molekularen 1995). Die Gene, die das Risiko für antisoziales Verhalten er-
Genetik haben einige spezifische Gene identifiziert, die bei Men- höhen, erhöhen ebenfalls das Risiko für Alkohol- oder Drogen-
schen mit einer antisozialen Persönlichkeitsstörung häufiger abhängigkeit, was erklärt, warum diese Störungen häufig ge-
auftreten (Gunter et al. 2010). Ihre genetisch bedingte Vulnera- meinsam auftreten (Dick 2007).
bilität zeigt sich darin, dass sie furchtlos auf das Leben zugehen. Genetische Einflüsse, oft in Kombination mit Kindes-
So zeigen sie nur geringe Erregung im autonomen Nerven- missbrauch, tragen dazu bei, das Gehirn mit Nervenbahnen zu
system, während sie auf aversive Ereignisse wie Elektroschocks durchziehen (Dodge 2009). Adrian Raine (1999, 2005) verglich
oder laute Geräusche warten (Hare 1975; van Goozen et al. 2007). PET-Aufnahmen der Gehirne von 41 Mördern mit den Gehirnen
Langzeitstudien zeigen, dass sie sogar als junge Menschen, bevor von Menschen desselben Alters und Geschlechts. Raine fand
sie irgendein Verbrechen begangen haben, im Vergleich zu eine verringerte Aktivität im Frontallappen der Mörder, einem
Gleichaltrigen eine geringere Konzentration an Stresshormonen Bereich des Kortex, der eine wichtige Rolle bei der Impulskon-
haben (. Abb. 16.36). Dreijährige, die nur langsam konditio- trolle spielt (. Abb. 16.37). Diese Verringerung trat vor allem bei
nierte Ängste entwickeln, begehen später eher ein Verbrechen denen auf, die impulsiv mordeten. In einer Folgestudie fanden
(Gao et al. 2010). Raine und sein Team heraus, dass gewaltbereite Wiederholungs-
16.5 · Andere Störungen
697 16

. Abb. 16.37a,b »Mörderischer Verstand«. Diese PET-Aufnahmen eines Mörders (b) zeigen im Vergleich mit einer psychisch unauffälligen Person (a)
eine geringere Aktivierung im Frontalkortex (weniger rote und gelbe Einfärbungen) – einem Bereich des Gehirns, der zur Hemmung eines impulsiven und
aggressiven Verhaltens beiträgt. (Aus Raine 1999; Courtesy of Adrian Raine, University of Pennsylvania)

täter 11% weniger Gewebe im Frontallappen hatten als andere beides aufwiesen, nämlich sowohl biologische als auch soziale
Menschen. Dies könnte erklären, warum Menschen mit einer Risikofaktoren. Diese biosoziale Gruppe hatte ein doppelt so
antisozialen Persönlichkeitsstörung auffällige Defizite in den hohes Risiko, ein Verbrechen zu begehen (. Abb. 16.38). In einer
kognitiven Funktionen zeigen, die mit dem Frontallappen asso- 25 Jahre andauernden Studie, die 1037 Kinder wissenschaftlich
ziiert sind. Dazu gehört beispielsweise das Planen und Organi- begleitete, fand man ähnliche Ergebnisse: Die antisozialen Pro-
sieren, aber auch die Hemmung (Morgan u. Lilienfeld 2000). bleme ließen sich durch eine Kombination aus zwei Faktoren
Verglichen mit Personen, die Empathie fühlen und zeigen, vorhersagen: schlechte Behandlung in der Kindheit und ein Gen,
reagierte ihr Gehirn auch weniger auf die Darstellung von Ge- das das Gleichgewicht zwischen den Neurotransmittern ver-
sichtern, die Leid ausdrücken (Deeley et al. 2006). änderte (Caspi et al. 2002). Weder »schlechte« Gene noch eine
Vielleicht trägt eine biologisch festgelegte Furchtlosigkeit »schlechte« Umwelt allein prädisponierten für ein späteres anti-
ebenso wie die frühe Umwelt dazu bei, die Familienzusammen- soziales Verhalten. Vielmehr prädisponierten die Gene einige
führung der lange getrennten Geschwister Joyce Lott, 27, und Kinder dazu, eine höhere Sensibilität gegenüber schlechter Be-
Mary Jones, 29, in einem Gefängnis von South Carolina zu er- handlung zu entwickeln. In »genetisch anfälligen Schichten der
klären, wo beide eine Haftstrafe wegen eines Drogenvergehens Bevölkerung« sind Umwelteinflüsse wichtig – sowohl im Guten
antreten mussten. Nach dem Zeitungsbericht über ihre Zusam- als auch im Schlechten (Belsky et al. 2007; Moffitt 2005).
menführung rief der lange verloren geglaubte Halbbruder Frank
Werden einige Menschen bei Vollmond »verrückt«? Rotton u.
Strickland an. Er sagte, es würde eine Weile dauern, bevor er
Kelly (1985) untersuchten die Daten von 37 Studien, die Mond-
kommen könne, um sie zu treffen – weil auch er im Gefängnis
phasen mit Verbrechen, Morden, Krisenanrufen und Einweisun-
säße, wegen Drogenbesitz, Einbruch und Diebstahl (Shepherd
gen in psychiatrische Krankenhäuser in Verbindung brachten. Sie
et al. 1990).
kamen zu folgendem Schluss: Es gibt praktisch keinerlei Belege
Trotz alledem ist es unwahrscheinlich, dass die ganze Ge-
für eine »mondabhängige Verrücktheit«. Genauso wenig gibt es
schichte des antisozialen Verbrechens durch die Genetik allein
Zusammenhänge zwischen Mondphase einerseits und Selbst-
erklärt werden kann. Eine Untersuchung über die kriminellen
morden, gewaltsamen Übergriffen, Notfallaufnahmen oder Ver-
Tendenzen junger dänischer Männer spricht für die Brauch-
kehrsunfällen andererseits (Martin et al. 1992; Raison et al. 1999).
barkeit eines umfassenden biopsychosozialen Ansatzes. Raine et
al. (1996) untersuchten Berichte über Kriminaltaten von nahezu Auch hinsichtlich des antisozialen Verhaltens besteht eine Wech-
400 Männern im Alter von 20–22 Jahren. Sie wussten, dass alle selwirkung zwischen Anlage und Umwelt, die ihre Spuren im
diese Männer entweder einen geburtsbedingten biologischen Gehirn hinterlassen, wie bei so vielem anderen auch. Um die
Risikofaktor hatten (z. B. durch eine Frühgeburt) oder von Fami- neuronale Grundlage der antisozialen Störung zu erkunden, er-
lien abstammten, die durch Armut und eine ausgeprägte familiäre fassen Neurowissenschaftler die Unterschiede der Hirnaktivitä-
Instabilität gekennzeichnet waren. Die Forscher verglichen jede ten von Kriminellen mit einer antisozialen Persönlichkeits-
dieser Gruppen mit einer »biosozialen« Gruppe, deren Mitglieder störung. Während der Präsentation emotional erregender Fotos,
698 Kapitel 16 · Klinische Psychologie: Psychische Störungen

. Tab. 16.3 Prozentsatz von Amerikanern, die in den letzten 12 Mo-


naten ausgewählte psychische Störungen aufwiesen. (Adaptiert
nach National Institute of Mental Health 2008)

Psychische Störung USA Prozentsatz

Generalisierte Angststörung 3,1

Soziale Phobie 6,8

Spezifische Phobie 8,7

Affektive Störung 9,5

Zwangsstörung 1,0

Schizophrenie 1,1

Posttraumatische Belastungsstörung (PTBS) 3,5

Aufmerksamkeitsdefizit-Hyperaktivitätsstörung 4,1
(ADHS)
. Abb. 16.38 Biopsychosoziale Wurzeln der Kriminalität. Dänische Babys,
deren Vorgeschichte mit Geburtskomplikationen und sozialen Stressoren Alle psychischen Störungen 26,2
aufgrund von Armut verbunden war, wurden im Alter von 20–22 Jahren mit
doppelt so hoher Wahrscheinlichkeit kriminell wie diejenigen, die nur zu
einer, der biologischen (Geburtskomplikationen) oder der sozialen (Armut
als Stressor), Risikogruppen gehörten. (Nach Raine et al. 1996) Wie viele Menschen leiden oder litten an einer psychischen
Störung? Es sind mehr, als die meisten von uns annehmen:
4 Das U.S. National Institute of Mental Health (2008, basie-
wie z. B. ein Mann, der einer Frau ein Messer an den Hals hält, rend auf Kessler et al. 2005) schätzt, dass 26% der er-
zeigen sie verminderte Herzraten- und Schweißreaktionen und wachsenen Amerikaner in den letzten 12 Monaten an einer
weniger Aktivität in Gehirnregionen, die typischerweise auf klinisch relevanten psychischen Störung gelitten hätten
emotionale Stimuli reagieren (Harenski et al. 2010; Kiehl u. (. Tab. 16.3).
Buckholtz 2010). Außerdem zeigen die Betroffenen ein hyper- 4 In Deutschland litten 31,1% in den letzten 12 Monaten an
reaktives Dopamin-Belohnungssystem, das die impulsive Nei- irgendeiner Form psychischer Störungen, für die gesamte
gung prädisponiert, trotz drohender Konsequenzen etwas Beloh- Lebenszeit betrug die Rate sogar 42,6%. Mit Ausnahme
nendes zu tun (Buckholtz et al. 2010). Solche Daten erinnern von Suchterkrankungen haben Frauen dabei ein höheres
daran: Alles Psychologische ist auch biologisch. Lebenszeitrisiko als Männer (Wittchen u. Jacobi 2001).
4 Eine Studie der Weltgesundheitsorganisation (WHO
Prüfen Sie Ihr Wissen
2004a), die auf 90-Minuten-Interviews mit 60.463 Personen
5 Wie tragen biologische und psychologische Faktoren zur beruhte, schätzte die Anzahl der psychischen Störungen in
16 Entstehung einer antisozialen Persönlichkeitsstörung bei? den letzten 12 Monaten bezogen auf 20 Staaten ein. Wie
. Abb. 16.39 zeigt, lag die geringste Rate angegebener psy-
chischer Störungen in Shanghai vor, die höchste in den
16.6 Prävalenz psychischer Störungen USA. Menschen, die von Mexiko, Afrika oder Asien in die
USA eingewandert sind, haben eine bessere psychische
Gesundheit als die einheimischen US-Amerikaner (Breslau
? 16.18 Wie viele Menschen leiden oder litten an einer
et al. 2007; Maldonado-Molina et al. 2011). Beispielsweise
psychischen Störung? Ist Armut ein Risikofaktor?
haben Amerikaner mexikanischen Ursprungs, die in den
Wer ist am anfälligsten für psychische Störungen? In welchen USA geboren wurden, im Vergleich zu Menschen, die kürz-
Lebensphasen ist man am anfälligsten? Um eine Antwort auf lich aus Mexiko immigrierten, ein höheres Risiko für eine
diese Fragen zu finden, führten mehrere Staaten an repräsenta- psychische Störung – ein Phänomen, das das Immigranten-
tiven Stichproben lange, strukturierte Interviews mit Tausenden paradoxon genannt wird (Schwartz et al. 2010).
ihrer Bürger durch. Nachdem sie zur Erhebung der Symptome
Hunderte von Fragen gestellt hatten (z. B. »Gab es jemals eine Wer ist am anfälligsten für psychische Störungen? Wie wir ge-
Phase von zwei Wochen oder länger, in der Sie sich so fühlten, sehen haben, ist die Antwort abhängig von der Störung. Ein
als wollten Sie sterben?«), schätzten die Forscher die Punkt-, kultur- und geschlechtsübergreifender Prädiktor für psychische
12-Monats- und die Lebenszeitprävalenz der verschiedenen Störungen ist Armut. Bei Menschen, die unterhalb der Armuts-
Störungen. grenze leben (Centers for Disease Control 1992), kommen
16.6 · Prävalenz psychischer Störungen
699 16
schwerwiegende psychische Störungen doppelt so häufig vor.
Wie bei vielen anderen Korrelationen stellt sich auch beim Zu-
sammenhang zwischen Armut und einer Störung die Frage nach
der Henne und dem Ei: Verursacht Armut die Störungen oder
verursacht die Störung Armut? Es trifft wohl beides zu, obwohl
die Antworten je nach Störung unterschiedlich sind. Die Schizo-
phrenie führt verständlicherweise häufig zu Armut. Dennoch
können die armutsbedingten Belastungen und Entmutigungen
auch den Störungen vorangehen. Dies ist vor allem bei Depres-
sionen von Frauen und bei Substanzmissbrauch von Männern
der Fall (Dohrenwend et al. 1992). In einem naturalistischen
Experiment zum Zusammenhang zwischen Armut und Patho-
logie verfolgten Forscher die Raten für Verhaltensprobleme
bei amerikanischen Kindern in North Carolina, als dort die
wirtschaftliche Entwicklung eine drastische Verringerung der
Armutsrate in der Bevölkerung ermöglichte. Zu Beginn der
Studie zeigten die Kinder aus armen Schichten abweichendere
und aggressivere Verhaltensweisen. Nach vier Jahren wiesen
die Kinder, deren Familien es geschafft hatten, aus der Armut
herauszukommen, eine 40%ige Abnahme an Verhaltenspro-
blemen auf, während diejenigen, die weiterhin unterhalb oder
oberhalb der Armutsgrenze lagen, keine Veränderung zeigten
(Costello et al. 2003).
Wie die . Tab. 16.4 zeigt, gibt es bei psychischen Störungen
eine breite Vielfalt an Risikofaktoren und an schützenden Fak-
toren. In welchen Lebensphasen treten Störungen auf? Für ge-
wöhnlich im frühen Erwachsenenalter.
. Abb. 16.39 12-Monats-Prävalenz psychischer Störungen in ausgewähl-
ten Regionen. Aus Interviews der Weltgesundheitsorganisation (WHO 2004a) Ȇber 75% unserer Stichprobe von Menschen mit irgend-
in 20 Ländern einer Form von Störung hatten ihre ersten Symptome im Alter

. Tab. 16.4 Risikofaktoren und schützende Faktoren bei psychischen Störungen. (Adaptiert nach WHO 2004b,c)

Risikofaktoren Schützende Faktoren

Schulversagen Ausdauertraining (aerobes Training)


Geburtskomplikation Gemeinschaft bietet Weiterbildung, Möglichkeiten und Sicherheit
Versorgung chronisch Kranker oder von Demenzpatienten Wirtschaftliche Unabhängigkeit
Kindesmissbrauch und -vernachlässigung Gefühl der Sicherheit
Chronische Schlaflosigkeit Gefühl der Beherrschbarkeit und der Kontrolle
Chronische Schmerzen Gute Betreuung durch die Eltern
Desorganisation oder Konflikt in der Familie Alphabetisierung
Geringes Gewicht bei der Geburt Positive Bindung und früher Aufbau einer engen Beziehung
Geringer sozioökonomischer Status Positive Beziehung zwischen Eltern und Kind
Medizinische Krankheit Fähigkeiten zur Problemlösung
Neurochemisches Ungleichgewicht Zähe Bewältigung von Stress und widrigen Bedingungen (Resilienz)
Psychische Krankheit eines Elternteils Selbstwertgefühl
Substanzmissbrauch durch einen Elternteil Soziale und berufliche Fähigkeiten
Persönlicher Verlust und Trauerfall Soziale Unterstützung durch Familie und Freunde
Schlechte berufliche Fähigkeiten und Gewohnheiten
Mangelnde Lesefähigkeit
Sensorische Defizite
Soziale Inkompetenz
Stressreiche Lebensereignisse
Substanzmissbrauch
Erfahrungen mit einem Trauma
700 Kapitel 16 · Klinische Psychologie: Psychische Störungen

von 24 Jahren«, berichteten Lee Robins und Darrel Regier (1991, 16.9 Wie erklären biologische und sozial-kognitive Ansätze
S. 331). Die Symptome der antisozialen Persönlichkeitsstörung affektive Störungen?
und der Phobien gehören zu denen, die am frühesten auftreten, 16.10 Welche Faktoren beeinflussen Suizid und selbstverletzen-
durchschnittlich im Alter von 8 bzw. 10 Jahren. Symptome des des Verhalten, und was sind einige der wichtigen Warnhinweise,
Alkoholmissbrauchs, der Zwangsstörung, der bipolaren Störung auf die in der Prävention eines Suizides geachtet werden sollte?
und der Schizophrenie treten durchschnittlich im Alter von
knapp 20 Jahren auf. Die Major Depression schlägt oft etwas jSchizophrenie
später zu, durchschnittlich im Alter von 25 Jahren. Die oben auf- 16.11 Welche Muster des Denkens, Wahrnehmens, Fühlens und
geführten Ergebnisse verdeutlichen den Bedarf an weiterer For- Verhaltens charakterisieren die Schizophrenie?
schung und Behandlung, um der steigenden Anzahl von Men- 16.12 Welches sind die Subtypen der Schizophrenie? Wie unter-
schen zu helfen, vor allem den Teenagern und jungen Erwach- scheiden sich chronische und akute Schizophrenie?
senen, die der Verwirrung und dem Schmerz einer psychischen 16.13 Wie helfen Gehirnanomalien und virale Infektionen,
Störung ausgesetzt sind. Schizophrenie zu erklären?
Obwohl wir uns des Schmerzes durchaus bewusst sind, 16.14 Gibt es genetische Einflüsse auf die Schizophrenie? Welche
können wir uns auch von den vielen erfolgreichen Menschen Faktoren könnten frühe Warnsignale für Schizophrenie bei Kin-
ermutigen lassen, die trotz ihrer psychischen Probleme brillante dern sein?
Karrieren verfolgten. Dazu gehören Leonardo da Vinci, Isaac
Newton und Leo Tolstoi. Dasselbe gilt für 18 US-Präsidenten, jAndere Störungen
u. a. den zeitweise depressiven Abraham Lincoln, was eine psy- 16.15 Was sind dissoziative Störungen, und warum sind sie um-
chiatrische Analyse ihrer Biografien zeigt (Davidson et al. stritten?
2006). Die durch psychische Störungen bedingte Verwirrung, 16.16 Inwiefern zeigen Anorexia nervosa, Bulimia nervosa und
Furcht und Sorgen sind real. Doch die Hoffnung hat, wie wir in die Binge-Eating-Störung den Einfluss psychologischer Kräfte?
7 Kap. 17 sehen werden, ebenfalls eine reale Grundlage. 16.17 Was sind die drei Cluster der Persönlichkeitsstörungen?
Welches Verhalten und welche Gehirnaktivität charakterisieren
Prüfen Sie Ihr Wissen
die antisoziale Persönlichkeit?
5 Wie sieht die Beziehung zwischen Armut und psychischen
Störungen aus? jPrävalenz psychischer Störungen
16.18 Wie viele Menschen leiden oder litten an einer psychi-
schen Störung? Ist Armut ein Risikofaktor?
16.7 Kapitelrückblick

16.7.1 Verständnisfragen 16.7.2 Schlüsselbegriffe

jAspekte psychischer Störungen 4 Affektive Störungen


16 16.1 Wo ist die Grenze zwischen Normalität und Störung? 4 Angststörungen
16.2 Warum gibt es eine Kontroverse über die Aufmerksamkeits- 4 Anorexia nervosa
defizit-Hyperaktivitätsstörung? 4 Antisoziale Persönlichkeitsstörung
16.3 Wie erklären das medizinische Modell und der biopsycho- 4 Aufmerksamkeitsdefizit-Hyperaktivitätsstörung (ADHS)
soziale Ansatz psychische Störungen? 4 Binge-Eating-Störung
16.4 Wie und warum klassifizieren Kliniker psychische Stö- 4 Bipolare Störung
rungen? 4 Bulimia nervosa
16.5 Warum kritisieren einige Psychologen die Verwendung 4 Dissoziative Identitätsstörung
diagnostischer Etikettierungen? 4 Dissoziative Störungen
4 DSM-IV-TR
jAngststörungen 4 Generalisierte Angststörung
16.6 Welches sind die verschiedenen Angststörungen? 4 Major Depression
16.7 Wie erklären lerntheoretische und biologische Perspektiven 4 Manie
Angststörungen? 4 Medizinischer Ansatz
4 Panikstörung
jAffektive Störungen 4 Persönlichkeitsstörung
16.8 Was sind affektive Störungen? Wie unterscheiden sich 4 Phobie
Major Depression und bipolare Störung? 4 Posttraumatische Belastungsstörung (PTBS)
16.7 · Kapitelrückblick
701 16
4 Posttraumatisches Wachstum
4 Psychische Störung
4 Psychose
4 Schizophrenie
4 Wahnvorstellungen
4 Zwangsstörung

16.7.3 Weiterführende deutsche Literatur

Berking, M. & Rief, W. (2012). Klinische Psychologie und Psychotherapie für


Bachelor. Band 1: Grundlagen und Störungswissen. Heidelberg: Springer.
Dilling, H. & Freyberger, H. J. (Hrsg.). (2006). Taschenführer zur ICD-10-Klassifi-
kation psychischer Störungen (7. Aufl.). Bern: Huber.
Döring, S. & Möller, H. (2008). Frankenstein und Belle de Jour. 30 Film-
charaktere und ihre psychischen Störungen. Heidelberg: Springer.
Perrez, M. & Baumann, U. (Hrsg.). (2011). Lehrbuch Klinische Psychologie –
Psychotherapie (5. Aufl.). Bern: Huber.
Reinecker, H. (Hrsg.). (2003). Lehrbuch der klinischen Psychologie und
Psychotherapie. Modelle psychischer Störungen. Göttingen: Hogrefe.
Wittchen, H.-U. & Hoyer, J. (2011). Klinische Psychologie & Psychotherapie
(2. Aufl.). Heidelberg: Springer.
703 17

Klinische Psychologie: Therapie


David G. Myers

17.1 Behandlung psychischer Störungen – 704

17.2 Psychotherapien – 705


17.2.1 Psychoanalyse und psychodynamische Therapie – 705
17.2.2 Humanistische Therapien – 708
17.2.3 Verhaltenstherapie – 710
17.2.4 Kognitive Therapien – 715
17.2.5 Gruppen- und Familientherapien – 719

17.3 Therapieevaluation – 721


17.3.1 Ist Psychotherapie effektiv? – 721
17.3.2 Die relative Wirksamkeit verschiedener Psychotherapien – 725
17.3.3 Evaluation alternativer Therapien – 726
17.3.4 Gemeinsamkeiten verschiedener Therapieformen – 728
17.3.5 Kultur, Geschlecht und Wertvorstellungen in der Psychotherapie – 730

17.4 Biomedizinische Therapien – 731


17.4.1 Medikamentöse Therapien – 732
17.4.2 Stimulation des Gehirns – 735
17.4.3 Psychochirurgie – 738
17.4.4 Therapeutische Änderung des Lebensstils – 739

17.5 Prävention psychischer Störungen – 741

17.6 Kapitelrückblick – 742


17.6.1 Verständnisfragen – 742
17.6.2 Schlüsselbegriffe – 743
17.6.3 Weiterführende deutsche Literatur – 743

D. G. Myers, Psychologie,
DOI 10.1007/978-3-642-40782-6_17, © Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2014
704 Kapitel 17 · Klinische Psychologie: Therapie

Kay Redfield Jamison, eine preisgekrönte klinische Psychologin


und weltbekannte Expertin für die emotionalen Extreme bipola-
rer Störungen, kennt ihr Fachgebiet aus erster Hand. »Seit ich
mich entsinnen kann«, erinnert sie sich in An Unquiet Mind,
»war ich erschreckend, wiewohl oft wundervoll, mit Stimmun-
gen verbunden. Als Kind äußerst emotional, als junges Mädchen
launenhaft, zuerst massiv depressiv als Jugendliche und dann
unerbittlich in den Zyklen einer manisch-depressiven Erkran-
kung gefangen, wurde ich, als mein Berufsleben begann – sowohl
aus dem Bedürfnis als auch aus der intellektuellen Neigung her-
aus – eine Studentin der Stimmungen« (1995, S. 4f.). Ihr Leben
war mit Zeiten starken Feingefühls und leidenschaftlicher Tat-
kraft gesegnet. Aber wie das Leben ihres Vaters wurde es gele-
gentlich auch von rücksichtslosen Kaufanfällen, rasenden Ge-
sprächen und Schlaflosigkeit beeinträchtigt, abwechselnd mit
Schwankungen in »die schwärzesten Abgründe des Geistes«.
Dann, »inmitten des heillosen Durcheinanders«, traf sie eine
vernünftige und ungemein hilfreiche Entscheidung. Sie riskierte
eine berufliche Peinlichkeit und vereinbarte einen Termin mit
einem Therapeuten, einem Psychiater, den sie in den kommen-
. Abb. 17.1 Dorothea Dix (1802–1887). »Ich … mache Sie aufmerksam
den Jahren wöchentlich aufsuchen würde. auf den Zustand der geisteskranken Menschen, die in diesem Common-
wealth in Käfigen gefangen sind.« (© picture alliance / Everett Collection)
» Er hielt mich zigtausendfach am Leben. Er begleitete mich
durch Wahnsinn, Verzweiflung, wundervolle und furchtbare
Liebesbeziehungen, Enttäuschungen und Erfolge, Wieder-
cher in die Köpfe gebohrt, sie wurden angebunden, zur Ader
erkrankungen, einen fast tödlichen Selbstmordversuch,
gelassen oder »der Teufel« wurde aus ihnen heraus geprügelt.
den Tod eines Mannes, den ich sehr liebte, und durch die
Aber man verordnete ihnen auch warme Bäder und Massagen
immensen Freuden und Ärgernisse meines Berufslebens …
und brachte sie in sonnigen, freundlichen Umgebungen unter.
Er war sehr hartnäckig, ebenso war er sehr gütig, und selbst
Man gab ihnen Medikamente und Elektroschocks. Und man
wenn er besser als jeder andere verstand, wie viel ich durch
sprach mit den Patienten über Kindheitserfahrungen, derzeitige
die Medikamente zu verlieren glaubte – Kraft, Lebhaftigkeit
Gefühle und über ungünstige Gedanken und Verhaltensweisen.
und Eigenständigkeit – war er nie dazu verleitet, den Über-
Die Reformer Philippe Pinel und Dorothea Dix (. Abb. 17.1)
blick darüber aus den Augen zu verlieren, wie verlustreich,
drängten auf sanftere, humanere Behandlungsmethoden und
schädlich und lebensbedrohlich meine Krankheit war …
auf den Bau psychiatrischer Kliniken. Seit den 1950er Jahren hat
Obwohl ich zu ihm ging, um wegen einer Krankheit behan-
die Einführung effektiver medikamentöser Therapien und Ge-
delt zu werden, lehrte er mich … die völlige Verbundenheit
meindepsychiatrie dazu geführt, dass sich die meisten dieser
17 des Gehirns zum Geist und des Geistes zum Gehirn.
Krankenhäuser leerten (. Abb. 17.2).
Jamison, An Unquiet Mind, 1995, S. 87f.
Die heutzutage eingesetzten Therapien kann man in zwei
»Psychotherapie heilt«, erzählt Jamison. »Sie gibt dem Durch- Hauptkategorien einteilen: Die Psychotherapie, bei der ein aus-
einander einen Sinn, schränkt die furchteinflößenden Gedanken gebildeter Therapeut psychologische Techniken anwendet, um
und Gefühle ein, gibt einem ein bisschen Kontrolle, Hoffnung jemanden zu unterstützen, der Schwierigkeiten überwinden
und eröffnet neue Möglichkeiten.« oder persönliches Wachstum erreichen will. Die biomedizini-
schen Therapien nutzen Medikamente oder andere biologische
Behandlungen.
17.1 Behandlung psychischer Störungen Einige Therapeuten kombinieren Techniken. Jamison erhielt
eine Psychotherapie in den Treffen mit ihrem Psychiater und sie
nahm Medikamente, um ihre Stimmungsschwankungen zu be-
? 17.1 Wie unterscheiden sich Psychotherapie, die bio-
herrschen. Die Hälfte aller Psychotherapeuten sagen von sich,
medikamentöse Therapie und ein eklektischer Ansatz?
dass sie mit einem eklektischen Ansatz arbeiten, d. h. sie setzen
In der langen Geschichte der Behandlung psychischer Störungen eine Mischung verschiedener Psychotherapien ein. Wie Jamison
gibt es eine verblüffende Vielfalt von brutalen und sanften Me- können viele Patienten auch eine Kombination aus Psychothera-
thoden: Kranken wurden von wohlmeinenden Menschen Lö- pie und Medikation erhalten.
17.2 · Psychotherapien
705 17

. Abb. 17.2a,b Geschichte der Behandlungsmethoden. Besucher psychiatrischer Kliniken des 18. Jahrhunderts bezahlten Eintritt, um die Patienten zu be-
gaffen, als handele es sich um Tiere im Zoo. a William Hogarths (1697–1764) Gemälde zeigt einen dieser Besuche im Londoner Krankenhaus St. Mary of
Bethlehem (auch Bedlam genannt). b Benjamin Rush (1746–1813), einer der Begründer der Bewegung für einen menschlicheren Umgang mit Geisteskranken,
entwickelte diesen Stuhl »zum Heil manischer Patienten«. Er glaubte, die Patienten müssten gefesselt werden, um ihre Vernunft zurückzuerlangen. (a: The work
of art depicted in this image and the reproduction thereof are in the public domain worldwide; b: © The Granger Collection, NYC – All rights reserved.)

Psychotherapie (»psychotherapy«) – Behandlung, die psychologische 17.2.1 Psychoanalyse und psychodynamische


Techniken beinhaltet. Besteht aus Interaktion zwischen einem ausge-
bildeten Therapeuten und jemandem, der psychologische Schwierigkeiten
Therapie
überwinden oder persönliches Wachstum erreichen will.
Biomedikamentöse Therapie (»biomedical therapy«) – verschriebene
? 17.2 Welches sind die Ziele und Techniken der Psychoana-
Medikamente oder medizinische Verfahren, die direkt auf das Nerven-
system des Patienten einwirken. lyse und wie wurden sie in der psychodynamischen Therapie
Eklektischer Ansatz (»eclectic approach«) – Form der Psychotherapie, angepasst?
bei der je nach dem Problem des Klienten Techniken aus unterschiedlichen
Sigmund Freuds Psychoanalyse war die Erste der psychologi-
Therapieformen eingesetzt werden.
schen Therapien. Obwohl heute nur noch wenige Kliniker die
Lassen Sie uns zuerst die psychotherapeutischen »Gesprächs- Therapie so praktizieren wie Freud es tat, verdient es seine Arbeit
therapien« betrachten. trotzdem erwähnt zu werden, denn sie ist ein Teil der Grundlage
für die Behandlung psychischer Störungen.
Psychoanalyse (»psychoanalysis«) – von Sigmund Freud entwickelte
17.2 Psychotherapien therapeutische Vorgehensweise. Freud nahm an, dass die freien Assoziatio-
nen des Patienten, sein Widerstand, seine Träume und Übertragungen –
Unter den Dutzenden von Arten der Psychotherapie wollen wir und deren Deutung durch den Therapeuten – zuvor verdrängte Gefühle
freisetzen; dies gestattet es dem Patienten, Selbsteinsicht zu erlangen.
nur die einflussreichsten näher betrachten. Jede Psychotherapie
baut auf einer oder mehreren der großen psychologischen The-
orien auf: auf der Theorie der Psychoanalyse, dem humanis- Ziele
tischen Ansatz, der Lerntheorie oder der kognitiven Theorie. Die Die Psychoanalyse beruht auf der Annahme, dass ein gesünderes
meisten dieser Techniken können bei Einzelpersonen oder in und weniger von Ängsten eingeschränktes Leben möglich wird,
Gruppen angewendet werden. sobald der Betreffende die Energie freisetzen kann, die bis dahin
durch den Konflikt zwischen Es, Ich und Über-Ich gebunden war
(7 Kap. 14).
Freud nahm an, dass wir uns selbst nicht vollständig kennen.
Es gibt bedrohliche Dinge, die wir nicht wissen zu wollen schei-
706 Kapitel 17 · Klinische Psychologie: Therapie

. Abb. 17.3 »Sie sagen: ›Kopf ab‹, aber ich höre heraus: ›Ich fühle mich vernachlässigt‹.« (© Claudia Styrsky)

nen – die wir leugnen oder abstreiten. »Wir können sowohl lie- Vielleicht machen Sie eine witzige Bemerkung oder wechseln
bevolle als auch hasserfüllte Gefühle gegenüber derselben Person das Thema und sprechen über etwas, das weniger bedrohlich ist
haben«, stellt Jonathan Shedler (2009) fest, und »wir können eine (. Abb. 17.3).
Sache begehren und sie gleichzeitig fürchten«. Für den Psychoanalytiker weisen solche Unterbrechungen im
Freuds Therapie hatte das Ziel, verdrängte oder verleugnete Fluss Ihrer freien Assoziationen auf einen Widerstand hin. Sie
Gefühle der Patienten in die bewusste Wahrnehmung zu brin- deuten darauf hin, dass Angst im Hintergrund lauert und dass
gen. Indem er ihnen dabei half, ihre unbewussten Gedanken und Sie etwas abwehren, was mit Ihren Gefühlen zu tun hat. Der
Gefühle wiederzuerlangen, und ihnen Einblick in den Ursprung Analytiker wird Ihre Widerstände bemerken und Ihnen dann
ihrer Erkrankung gab, wollte er ihnen dabei helfen, die das in- Einsicht in ihre Bedeutung ermöglichen. Wenn sie im richtigen
nere Wachstum störenden inneren Konflikte abzubauen. Augenblick kommt, kann diese Deutung – wenn Sie beispiels-
weise nicht über Ihre Mutter sprechen wollen – ein Licht auf
Methoden grundlegende Wünsche oder Gefühle werfen, oder auch auf
Die Psychoanalyse ist eine Rekonstruktion der Lebensge- Konflikte, die sie vermeiden. Der Analytiker gibt Ihnen vielleicht
schichte des Patienten. Die psychoanalytische Theorie betont auch eine Erklärung dazu, wie dieser Widerstand zu den anderen
die prägende Kraft der Kindheitserfahrungen und ihre Fähig- Teilen Ihres seelischen Puzzles passt, einschließlich derer, die auf
keit, den Erwachsenen zu formen. Somit ist es ihr Ziel, die Ver- der Deutung ihrer Trauminhalte basieren.
gangenheit zutage zu bringen, um die Gegenwart von den Be-
Widerstand (»resistance«) – bedeutet in der Psychoanalyse, dass mit Angst
lastungen der Vergangenheit zu befreien. Freud wandte sich von verbundenes Material vom Bewusstsein ferngehalten wird.
17 der Hypnose ab, als er merkte, dass sie als Technik zur Analyse Deutung (»interpretation«) – heißt in der Psychoanalyse, dass der Analy-
nicht verlässlich war. Er entwickelte die Methode der freien tiker die Bedeutung der Träume, des Widerstands und anderer aufschluss-
Assoziation. reicher Verhaltensweisen interpretiert, um den Patienten auf dem Weg
zur Einsicht weiterzubringen.
Stellen Sie sich vor, Sie seien Patient und nutzten die freie
Assoziation. Zunächst einmal entspannen Sie sich, vielleicht Im Lauf der vielen Sitzungen werden Ihre Beziehungsmuster in der
liegen Sie auf einer Couch. Während der Psychoanalytiker außer- Interaktion mit Ihrem Therapeuten zutage treten. Sie werden viel-
halb Ihres Gesichtsfeldes sitzt, sprechen Sie laut aus, was Ihnen leicht entdecken, dass Sie Ihrem Analytiker starke positive oder
in den Sinn kommt. Einmal beziehen Sie sich auf eine Kindheits- negative Gefühle entgegenbringen. Der Analytiker wird Sie darauf
erinnerung. Ein anderes Mal beschreiben Sie einen Traum oder hinweisen, dass sie Gefühle – wie Abhängigkeit oder eine Mi-
eine kürzlich erlebte Erfahrung. Das klingt kinderleicht, aber schung aus Liebe und Wut – übertragen, die Sie in früheren Be-
Sie werden bald bemerken, wie oft Sie Ihre Gedanken einer ziehungen zu Familienmitgliedern oder anderen wichtigen Men-
Zensur unterwerfen, sobald Sie sie aussprechen. Sie hören einen schen erlebt haben. Indem Sie solche Gefühle enthüllen, können
Moment auf zu sprechen, ehe Sie einen peinlichen Gedanken Sie besser verstehen, was in Ihren aktuellen Beziehungen abläuft.
äußern. Sie lassen aus, was Ihnen banal oder unwichtig scheint
Übertragung (»transference«) – bedeutet in der Psychoanalyse, dass
oder was mit Scham verbunden ist. Manchmal ist Ihr Geist leer der Patient Emotionen aus anderen Beziehungen (wie etwa Liebe oder Hass
oder Sie können sich an wichtige Einzelheiten nicht erinnern. für einen Elternteil) auf den Analytiker überträgt.
17.2 · Psychotherapien
707 17

. Abb. 17.4 Therapie mit Blickkontakt. Bei dieser Art von Therapiesitzungen ist die Couch verschwunden. Der Einfluss der psychoanalytischen Theorie
ist aber möglicherweise geblieben, vor allem, wenn der Therapeut nach Informationen aus der Kindheit des Patienten sucht und dem Patienten dabei hilft,
unbewusste Gefühle aufzuarbeiten. (© Getty Images / Wavebreak Media)

Die Psychoanalyse im engeren Sinne, d. h. die »klassische Prüfen Sie Ihr Wissen
Psychoanalyse«, bildet zwar die Grundlage der in Deutsch-
land eingesetzten und anerkannten psychoanalytischen 5 In der Psychoanalyse nennt man es , wenn
Behandlungsformen, sie ist aber selbst als langfristige Behand- Patienten starke Gefühle gegenüber ihrem Therapeuten
lung mit jeweils mindestens 4 Wochenstunden keine Kassen- empfinden. Man sagt, dass es auf Ängste des Patienten
leistung. hinweist, wenn wegen heikler Erinnerungen Unterbre-
Vergleichsweise wenige Therapeuten in den Vereinigten chungen in ihrer freien Assoziation auftreten – sie zeigen
Staaten bieten eine traditionelle Psychoanalyse an. Ein großer . Der Therapeut wird versuchen, dem Patien-
Teil der zugrunde liegenden Theorie wird nicht durch wissen- ten Einblick in die eigentlichen Ängste zu geben, indem er
schaftliche Forschung gestützt (7 Kap. 14). Die Interpretationen eine der mentalen Blockaden vorschlägt.
der Analytiker können weder bestätigt, noch kann ihr Gegenteil
bewiesen werden. Außerdem kostet die Psychoanalyse eine be-
trächtliche Menge Geld und Zeit, oft werden Jahre mit mehreren Psychodynamische Therapie
wöchentlichen Sitzungen benötigt. Psychodynamische Therapeuten sprechen nicht oft über Ich,
In Deutschland gibt es heute drei sog. Richtlinienverfahren, Es und Über-Ich. Stattdessen versuchen sie, ihren Patienten zu
deren Kosten von den Krankenkassen getragen werden. Dazu helfen, aktuelle Probleme zu verstehen. Sie konzentrieren sich
zählt auch die »analytische Psychotherapie«, die der hier darge- auf Themen, die einen Bezug zu wichtigen Beziehungen aufwei-
stellten klassischen Psychoanalyse sehr ähnlich ist. Sie wird aber sen (einschließlich der Kindheitserfahrungen und der Beziehung
im Gegensatz zu dieser mit einer Wochenstundenfrequenz von zum Therapeuten). Anstatt auf einer Couch zu liegen, außerhalb
nur 2–3 Stunden durchgeführt. Maximal 300 Therapiestunden des Blickfeldes des Therapeuten, sitzen die Patienten ihren The-
werden von den Kassen übernommen. rapeuten gegenüber (. Abb. 17.4). Diese Sitzungen finden ein-
Manche der genannten Probleme werden in der modernen oder zweimal wöchentlich statt (nicht mehrmals wöchentlich),
psychodynamischen Sichtweise aufgegriffen, die sich aus der und die Therapie dauert oft nur einige Wochen oder Monate
Psychoanalyse entwickelt hat. (und nicht mehrere Jahre).
Psychodynamische Therapie (»psychodynamic therapy«) – von der
» Ich habe meinen Analytiker seit 200 Jahren nicht mehr psychoanalytischen Tradition abgeleitete Therapie, die annimmt, dass
gesehen. Er war ein rigoroser Freudianer. Wenn ich während das Handeln von Individuen durch unbewusste Kräfte und Kindheits-
all dieser Zeit hingegangen wäre, wäre ich möglicherweise erinnerungen beeinflusst wird, und die die Verbesserung der Selbstein-
sicht anstrebt.
inzwischen geheilt.
Woody Allen im Film »Sleeper« (dtsch. »Der Schläfer«), Bei den Sitzungen erkunden die Patienten Gedanken und Gefühle,
nachdem er aus dem Scheintod erwacht ist gegen die sie sich wehren, und erlangen Einsicht in diese. Der The-
708 Kapitel 17 · Klinische Psychologie: Therapie

rapeut David Shapiro (1999, S. 8) veranschaulicht dies mithilfe aufzulösen und Deutungen anzubieten, fokussiert sich der The-
des Falles eines jungen Mannes, der Frauen gesagt hatte, dass er sie rapeut vorwiegend auf die bestehenden Beziehungen und hilft
liebe, obwohl er wusste, dass er es nicht tat. Sie erwarteten es, also den Betroffenen, ihre Beziehungsfähigkeit zu verbessern.
sagte er es. Wenn es aber um seine Frau geht, die sich wünscht, er Am Fall Anna, einer 34-jährigen verheirateten Akademike-
würde ihr sagen, dass er sie liebt, erkennt er, dass er das »nicht tun rin, lassen sich die Ziele der interpersonalen Therapie gut ver-
kann« – »Ich weiß nicht warum, aber ich kann nicht.« anschaulichen. Fünf Monate nach ihrer Beförderung auf eine
4 Therapeut: Denken Sie, dass Sie es gerne tun würden, wenn Stelle mit größerer Verantwortung und längeren Arbeitszeiten
Sie es könnten? kam es zu Spannungen zwischen ihr und ihrem Mann, der sich
4 Patient: Nun ja, ich weiß nicht …Vielleicht kann ich es ein zweites Kind wünschte. Anna fing an, sich deprimiert zu füh-
nicht sagen, weil ich mir nicht sicher bin, ob es wahr ist. len, schlief schlecht, wurde reizbar und nahm zu. Ein typisch
Vielleicht liebe ich sie gar nicht. psychodynamischer Therapeut hätte Anna wahrscheinlich dabei
geholfen, ihre zornigen Triebregungen und ihre Abwehr dieser
Weitere Gespräche ließen erkennen, dass er wahre Liebe nicht Wut verstehen zu lernen. Ein interpersonaler Therapeut hätte
ausdrücken kann, weil es sich »weich« und »schwächlich« und das auch getan, doch er hätte ihre Gedanken auch auf die The-
damit unmännlich anfühlen würde. Er steht »im Konflikt mit men gelenkt, die sie unmittelbar berühren: auf die Frage, wie
sich selbst und ist von der wahren Natur dieses Konflikts ab- sie ein Gleichgewicht zwischen Arbeit und Familie herstellen,
geschnitten«. Shapiro merkte an, dass psychodynamische Thera- wie sie den Streit mit ihrem Mann beilegen und ihre Emotionen
peuten bei solchen Patienten, die sich von sich selbst entfremdet besser zum Ausdruck bringen könnte (Markowitz et al. 1998).
haben, »die Möglichkeit haben, diese mit sich selbst bekannt zu
machen. Wir können ihr Bewusstsein für ihre eigenen Wünsche
und Gefühle wiederherstellen, genauso wie das Bewusstsein 17.2.2 Humanistische Therapien
ihrer Reaktionen auf diese Wünsche und Gefühle«.
Psychodynamische Therapeuten können auch dabei helfen,
? 17.3 Was sind die grundlegenden Themen der humanisti-
vergangene Beziehungsprobleme als den Ursprung gegenwär-
schen Therapie? Welches sind die speziellen Ziele und
tiger Schwierigkeiten aufzudecken. Jonathan Shedler (2010a)
Techniken der klientenzentrierten Therapie nach Carl Rogers?
erinnert sich an seinen Patienten Jeffrey, der Schwierigkeiten im
Umgang mit seinen Kollegen und seiner Frau hatte, die ihn als Der humanistische Ansatz (7 Kap. 14) legte den Schwerpunkt auf
übertrieben kritisch sahen. Jeffrey begann dann, »mir zu ant- das dem Menschen innewohnende Potenzial zur Selbsterfüllung.
worten, als sei ich ein unberechenbarer, böser Feind«. Shedler Wie die psychodynamischen Therapien versuchen die humanis-
nutzte diese Gelegenheit, um Jeffrey zu helfen, das Beziehungs- tischen Therapien, die Konflikte zu verringern, die die natürliche
muster zu erkennen, dessen Wurzeln die Angriffe und Demüti- Wachstumsentwicklung behindern, indem sie ihren Klienten zu
gungen waren, die er durch seinen alkoholabhängigen Vater er- mehr Einsicht verhelfen. Tatsächlich werden die psychodyna-
fahren hatte – und er half ihm dabei, die abwehrenden Reaktio- mischen und die humanistischen Therapien oft als Einsicht-
nen gegenüber anderen zu bearbeiten und diese loszulassen. therapien bezeichnet. Aber humanistische Therapeuten unter-
In Deutschland ist die hier beschriebene Therapieform unter scheiden sich von psychoanalytischen Therapeuten auf viele
dem Namen »tiefenpsychologisch fundierte Psychotherapie« andere Arten:
17 bekannt (die Bezeichnung tiefenpsychologisch konnte sich inter- 4 Humanistische Therapeuten sind darum bemüht, die Selbster-
national jedoch nicht durchsetzen). Die Therapieform ist in füllung der Menschen zu unterstützen, indem sie ihnen helfen,
Deutschland wie auch die analytische Psychotherapie ein Richt- ihre Selbstwahrnehmung und Selbstakzeptanz zu verbessern.
linienverfahren, dessen Kosten von den Krankenkassen getragen 4 Das Unterstützen dieser Entwicklung, nicht die Heilung von
werden; sie wird mit einer Frequenz von 1–2 Wochenstunden Krankheiten, ist der Schwerpunkt der Therapie. Deshalb
durchgeführt. Reimer u. Rüger (2003) zufolge wird inzwischen wird bei dieser Therapieform von »Klienten« oder einfach
die tiefenpsychologisch fundierte Psychotherapie 4-mal so häu- nur von »Personen« und nicht von »Patienten« gesprochen
fig angewandt wie die ihrem Anspruch nach tiefer gehende, aber (eine Veränderung, die viele Therapeuten übernahmen).
zeitaufwändigere analytische Psychotherapie. 4 Der Weg zur Weiterentwicklung verlangt die unmittelbare
Die interpersonale Therapie, eine Kurzzeittherapie (12–16 Sit- Verantwortung für die eigenen Gefühle und Handlungen,
zungen) und Variante psychodynamischer Therapie, erwies sich statt verborgene Determinanten aufzudecken.
bei der Behandlung der Depression als wirkungsvoll (Cuijpers 4 Bewusste Gedanken sind wichtiger als unbewusste.
2011). Obwohl bei der interpersonalen Therapie ein Therapieziel 4 Die Gegenwart und die Zukunft sind wichtiger als die
die Einsicht des Patienten in die Ursachen seiner Probleme ist, ist Vergangenheit. Das Ziel ist eher, Gefühle zu erkunden,
ihr Hauptziel die Verringerung der Symptome im Hier und Jetzt. wenn sie auftreten, als Einsicht in den Ursprung dieser
Statt sich vor allem darauf zu konzentrieren, alte Verletzungen Gefühle in der Kindheit zu erlangen.
17.2 · Psychotherapien
709 17

. Abb. 17.5 Aktives Zuhören. Bei einer Gruppentherapiesitzung demonstriert Carl Rogers (rechts im Bild) empathisches Zuhören. (© Michael Rougier /
The LIFE Picture Collection / Getty Images)

Einsichttherapien (»insight therapies«) – Vielzahl von Therapien, ten, ganz persönlichen Bedeutungen aufgenommen habe,
deren Ziel es ist, die seelische Gesundheit zu verbessern, indem sie das dann geschehen viele Dinge. Zunächst ist da ein dankbarer
Bewusstsein einer Person für ihre grundlegenden Beweggründe und
Blick. Er fühlt sich erlöst. Er möchte mir mehr über seine Welt
Abwehrreaktionen stärkt.
erzählen. Er fährt mit einem neuen Gefühl der Freiheit fort.
Carl Rogers (1902–1987) entwickelte die weit verbreitete huma- Er wird offener für den Prozess der Veränderung. Ich habe
nistische Vorgehensweise, die er klientenzentrierte Therapie oft festgestellt, dass, je tiefer ich die Bedeutungen einer
nannte, die sich auf die bewussten Selbstwahrnehmungen der Person höre, desto mehr passiert. Fast immer, wenn eine
Person konzentriert. In dieser nichtdirektiven Therapie hört der Person feststellt, dass ich ihr wirklich zuhöre, bekommt
Therapeut zu, ohne zu urteilen oder zu deuten, er verzichtet auch sie feuchte Augen. Ich denke, sie weint vor Freude und das
darauf, den Klienten in Richtung bestimmter Einsichten zu lenken. in seiner wahren Bedeutung. Es ist so, als würde sie sagen:
›Gott sei Dank, endlich hat mich jemand gehört. Jemand
Klientenzentrierte Therapie (»client-centered therapy«) – von Carl Rogers
entwickelte humanistische Therapie, bei der der Therapeut in einem weiß, was es heißt, ich zu sein.‹
echten, akzeptierenden und empathischen Setting Techniken wie aktives
Zuhören anwendet, um das Wachstum des Klienten zu fördern (auch als Mit »Hören« bezeichnet Rogers seine Vorgehensweise des
personzentrierte Therapie bezeichnet).
aktiven Zuhörens: Das Gesagte wiedergeben, die Aussage mit
Aus der Überzeugung heraus, dass die meisten Menschen über eigenen Worten verdeutlichen und durch Nachfragen klären,
ein Wachstumspotenzial verfügen, ermutigte Rogers (1961, was der Klient (verbal und nonverbal) ausdrückt, und die aus-
1980) die Therapeuten dazu, Echtheit, Akzeptanz und Empathie gedrückten Gefühle anerkennen (. Abb. 17.5). Aktives Zuhören
zu zeigen. ist heute eine allgemein akzeptierte Technik in der therapeu-
Wenn sich ein Therapeut nicht hinter seiner Fassade versteckt, tischen Beratungsarbeit in vielen Schulen, Hochschulen und
wenn er seine wahren Gefühle mit Echtheit ausspricht, wenn er Kliniken. Der Berater hört aufmerksam zu und unterbricht nur,
dem Klienten das Gefühl vermittelt, bedingungslos akzeptiert zu um die Gefühle des Klienten erneut darzustellen und zu bestä-
werden, und wenn er voll Empathie die Gefühle des Klienten tigen, um zum Ausdruck zu bringen, dass er akzeptiert, was der
wahrnimmt und sie spiegelt, dann wird das Verständnis des Klien- Klient sagt, oder um Unklarheiten zu beseitigen.
ten für sein eigenes Selbst tiefer, und damit auch die Selbstakzep-
Aktives Zuhören (»active listening«) – empathisches Zuhören, bei dem
tanz (Hill u. Nakayama 2000). Rogers (1980, S. 10) erklärte das so:
der Zuhörer das Gehörte wiederholt, in eigenen Worten wiedergibt und
verdeutlicht, was er gehört hat; Merkmal der klientenzentrierten Therapie
» Hören hat Konsequenzen. Wenn ich einen Menschen und von Carl Rogers.
die Bedeutungen, die in diesem Augenblick für ihn wichtig
sind, wirklich höre – nicht bloß seine Worte, sondern ihn –, » Wir haben zwei Ohren und einen Mund, sodass wir mehr
und wenn ich ihm zu erkennen gebe, dass ich seine priva- zuhören und weniger sprechen mögen.
6 Zenon von Kition, 335–263 v. Chr.
710 Kapitel 17 · Klinische Psychologie: Therapie

Der folgende kurze Auszug eines Gesprächs zwischen Rogers 2. Zur Klarstellung auffordern. »Könntest du mir dafür ein
und einem männlichen Klienten (Meador u. Rogers 1984, S. 167) Beispiel geben?« könnte den Gesprächspartner dazu ver-
zeigt, wie er darum bemüht ist, das Verhalten des Klienten anlassen, sich ausführlicher zu äußern.
psychologisch zu spiegeln und damit dem Klienten zu helfen, 3. Gefühle spiegeln. »Das klingt frustrierend« könnte
sich selbst deutlicher wahrzunehmen. spiegeln, was Sie in der Körpersprache und Sprechweise
4 Rogers: So fühlen Sie sich jetzt, nicht wahr? Dass Sie für Ihres Gesprächspartners spüren.
sich selbst zu nichts von Nutzen sind und auch für sonst
niemanden. Und auch nie für jemanden von Nutzen sein
werden. Einfach wertlos, ganz und gar, oder? Das sind 17.2.3 Verhaltenstherapie
wirklich miserable Gefühle. Sich zu fühlen, als wäre man
nie für jemanden von Nutzen.
? 17.4 Wie unterscheidet sich die Grundannahme der Ver-
4 Klient: Ja (murmelt leise und mutlos vor sich hin). Jedenfalls
haltenstherapie von denen der psychodynamischen und
hat mir das der Typ gesagt, mit dem ich neulich in die Stadt
humanistischen Therapien? Welche Techniken werden
gegangen bin.
bei den Expositionstherapien und der Aversionskonditio-
4 Rogers: Der Typ, mit dem Sie neulich in die Stadt gegangen
nierung genutzt?
sind, der hat tatsächlich gesagt, Sie wären für niemanden
von Nutzen? Ist es das, was Sie sagen? Habe ich das richtig Die Einsichttherapien beruhen auf der Annahme, dass viele
verstanden? psychische Probleme in dem Maße zurückgehen, wie die Be-
4 Klient: Hmh. wusstheit vom Selbst zunimmt. Psychodynamische Therapeuten
4 Rogers: Wenn ich das richtig verstanden habe, denke ich, gehen davon aus, dass ein Problem behoben ist, wenn der betrof-
das bedeutet, dass da jemand ist, der Ihnen wichtig ist und fene Mensch seine ungelösten und unbewussten Spannungen
auch, was er von Ihnen hält? Also, und der hat gesagt, er erkennt. Die humanistischen Therapeuten nehmen an, dass die
glaubt, dass Sie für niemanden von Nutzen sind, kein biss- Probleme geringer werden, wenn der Betroffene mit seinen Ge-
chen. Und das zieht Ihnen glatt den Boden unter den Füßen fühlen Verbindung aufnimmt. Vertreter der Verhaltenstherapie
weg. (Klient weint still vor sich hin.) Das bringt Sie zum bezweifeln indes die heilende Kraft der Selbstwahrnehmung. (Es
Weinen. (20 Sekunden Schweigen.) kann Ihnen durchaus bewusst sein, warum Sie während Prü-
4 Klient: (Ziemlich trotzig) Aber das ist mir egal. fungen sehr ängstlich sind, trotzdem können Sie Angst haben.)
4 Rogers: Sie sagen sich, dass es Ihnen egal ist, aber irgendwie Sie gehen davon aus, dass die problematischen Verhaltensweisen
hab ich das Gefühl, dass da ein Teil von Ihnen ist, dem ist es das Problem sind und dass die Anwendung von Lernprinzipien
nicht egal, denn ein Teil von Ihnen weint deswegen. das problematische Verhalten beseitigen kann. Anstatt weit unter
der Oberfläche nach inneren Ursachen zu forschen, sehen Verhal-
Kann ein Therapeut wirklich ein Spiegel sein, ohne auszuwählen tenstherapeuten fehlangepasste Symptome – wie Phobien oder
und zu interpretieren, was gespiegelt wird? Rogers gab zu, dass sexuelle Störungen – als erlernte Verhaltensweisen an, die man
seine Vorgehensweise nicht vollständig nichtdirektiv ist. Trotz- durch konstruktive Verhaltensweisen ersetzen kann (. Abb. 17.6).
dem glaubte er, der wichtigste Beitrag des Therapeuten bestehe
Verhaltenstherapie (»behavior therapy«) – Therapie, die Lernprinzipien
darin, den Klienten zu akzeptieren und Verständnis zu zeigen. anwendet, um unerwünschte Verhaltensweisen zu löschen.
17 In einer nicht wertenden, verständnisvollen Umgebung, die
bedingungslose positive Wertschätzung bietet, können Per- Bei der Verhaltenstherapie handelt es sich übrigens um das dritte
sonen selbst ihre schlimmsten Persönlichkeitsmerkmale akzep- Richtlinienverfahren in Deutschland, dessen Kosten von den
tieren und sich geschätzt und gesund fühlen. Krankenkassen getragen werden.
Bedingungslose positive Wertschätzung (»unconditional positive
regard«) – mitfühlende, akzeptierende, nicht wertende Haltung, von der
Techniken des klassischen Konditionierens
Carl Rogers glaubte, dass sie Klienten dabei helfen würde, Selbstwahr- Ein Teil der verhaltenstherapeutischen Techniken leitet sich von
nehmung und Selbstakzeptanz zu entwickeln. den Pawlow‘schen Konditionierungsexperimenten im frühen
20. Jahrhundert ab (7 Kap. 8). Wie Pawlow und andere Forscher
Wenn Sie selbst in Ihren Beziehungen aktiver zuhören wollen, nachweisen konnten, lernen wir viele Verhaltensweisen und
können die folgenden drei Hinweise vielleicht hilfreich sein. Emotionen durch klassische Konditionierung. Könnten fehl-
1. Paraphrasieren. Anstatt zu sagen »Ich weiß, wie Sie sich angepasste Symptome Beispiele für konditionierte Reaktionen
fühlen«, überprüfen Sie, ob Sie wirklich verstanden haben, sein? Falls ja, könnte dann eine Neukonditionierung die Lösung
was Ihr Gesprächspartner gesagt hat, indem Sie das Ge- sein? Der Lerntheoretiker O.H. Mowrer war dieser Meinung
sagte noch einmal mit Ihren eigenen Worten zusammen- und entwickelte eine erfolgreiche Konditionierungstherapie für
fassen. chronische Bettnässer. Das Kind schläft auf einem Kissen, das
17.2 · Psychotherapien
711 17

. Abb. 17.6 (© ScienceCartoonsPlus.com)

auf Flüssigkeit reagiert und mit einem Alarmgeber verbunden jExpositionstherapien


ist. Sobald Feuchtigkeit auf das Kissen gelangt, wird der Alarm Stellen Sie sich die Szene vor, die Mary Cover Jones 1924 be-
ausgelöst und weckt das Kind auf. Wird dieses Vorgehen oft ge- richtete: Der 3-jährige Peter erstarrt vor Angst beim Anblick von
nug wiederholt, dann stoppt die Assoziation zwischen austreten- Kaninchen und anderen pelzigen Objekten. Jones‘ Ziel war es,
dem Harn und Gewecktwerden das Bettnässen. In 3 von 4 Fällen Peters Angst vor Kaninchen durch eine konditionierte Reaktion
erwies sich die Behandlung als erfolgreich, und dieser Erfolg zu ersetzen, die mit Angst unvereinbar war. Ihre Strategie be-
verbessert wiederum das Selbstbild des Kindes (Christophersen stand darin, das angsterregende Kaninchen mit der angenehmen
u. Edwards 1992; Houts et al. 1994). und entspannten Reaktion des Essens zu koppeln. Als Peter seine
Noch ein Beispiel: Wenn eine klaustrophobische Angst vor Nachmittagsmahlzeit einnimmt, bringt Jones ein Kaninchen im
Aufzügen eine gelernte Aversion gegen den Aufenthalt in einem Käfig herein und stellt es auf die andere Seite des großen Raums.
engen Raum (Reiz) darstellt, könnte dann der Betroffene diese Peter knabbert weiter an seinen Crackern und trinkt seine Milch
Angst durch eine Gegenkonditionierung der Angstreaktion und nimmt das Kaninchen kaum zur Kenntnis. An den folgen-
nicht wieder verlernen? Die Gegenkonditionierung koppelt den den Tagen bringt Jones das Kaninchen immer näher heran.
auslösenden Reiz (in diesem Fall der enge Raum des Aufzugs) Innerhalb von 2 Monaten kann Peter das Kaninchen, während er
mit einer neuen Reaktion (Entspannung), die mit Angst un- isst, auf den Schoß nehmen und streichelt es sogar. Gleichzeitig
vereinbar ist. Und tatsächlich haben Verhaltenstherapeuten verschwindet auch seine Angst vor pelzigen Objekten, denn sie
solche Ängste erfolgreich mit Hilfe der Gegenkonditionierung wurde ersetzt durch einen Zustand der Entspannung, der nicht
behandelt. gleichzeitig zusammen mit Angst auftreten kann (Fisher 1984;
Jones 1924).
Gegenkonditionierung (»counterconditioning«) – Verfahren der Verhal-
tenstherapie, das die klassische Konditionierung nutzt, um neue Reaktionen Leider – und zum Schaden der Menschen, denen diese
auf jene Reize zu erzeugen, die unerwünschte Verhaltensweisen auslösen. Gegenkonditionierung hätte helfen können – fand Jones‘ Ge-
Schließt Expositionstherapien und die Aversionskonditionierung ein. schichte von Peter und dem Kaninchen nicht sofort Eingang ins
psychologische Wissen ihrer Zeit. Erst 30 Jahre später verfeinerte
Zwei spezifische Techniken der Gegenkonditionierung – die der Psychiater Joseph Wolpe (1958; Wolpe u. Plaud 1997) Jones‘
Expositionstherapie und die Aversionskonditionierung – ersetzen Technik und entwickelte das, was heute eine der am häufigsten
ungewollte Reaktionen. eingesetzten Methoden der Verhaltenstherapie ist: die Exposi-
tionstherapie. Dabei werden Menschen genau mit den Dingen
Prüfen Sie Ihr Wissen
konfrontiert, die sie normalerweise vermeiden oder vor denen
5 Was könnte ein psychodynamischer Therapeut über sie fliehen (Verhaltensweisen, die durch das Sinken der Angst
Mowrers Therapie für das Bettnässen sagen? Was würde verstärkt werden). Bei Expositionstherapien müssen sie sich
ein Verhaltenstherapeut antworten? ihrer Angst stellen, und somit ihre Angst vor der Angstreaktion
selbst überwinden. So wie sich ein Mensch in einer neuen Woh-
712 Kapitel 17 · Klinische Psychologie: Therapie

nung an das Geräusch eines vorbeifahrenden Zuges gewöhnen nen, die mehr Angst auslösen. Wenn Sie Ihre Angst nicht nur in
kann, so kann er weniger heftig auf Dinge reagieren, vor denen einer fantasierten Situation, sondern in der Realität besiegen
er einmal vor Angst erstarrt ist, wenn er wiederholt mit dem können, wird Ihr Selbstbewusstsein zunehmen (Foa u. Kozak
angstauslösenden Reiz konfrontiert wird (Rosa-Alcázar et al. 1986; Williams 1987). Vielleicht werden Sie sogar schließlich ein
2008; Wolitzky-Taylor et al. 2008). Redner mit großem Selbstvertrauen.
Wenn eine angsterregende Situation zu teuer, zu schwierig
Expositionstherapie (»exposure therapy«) – Technik der Verhaltens-
modifikation – wie die systematische Desensibilisierung und die Exposi- oder zu peinlich ist, um sie in der Realität bereitzustellen, gibt es
tionstherapie mit Hilfe virtueller Realität –, die Ängste bekämpft, indem die Expositionstherapie in virtuellen Realitäten, die ein wir-
Menschen (in der Vorstellung oder in der Realität) mit den Dingen konfron- kungsvolles Übungsfeld darstellt. Mit einem am Kopf angebrach-
tiert werden, vor denen sie Angst haben und die sie vermeiden.
ten Gerät, das eine dreidimensionale virtuelle Welt projiziert,
Eine weit verbreitete Form der Expositionstherapie ist die sys- würden Sie eine Reihe lebensechter Szenen sehen, die genau an
tematische Desensibilisierung. Wie Jones ging Wolpe von der Ihre spezielle Angst angepasst wären. Wenn Sie Ihren Kopf dre-
Annahme aus, dass man nicht ängstlich und gleichzeitig ent- hen, verändert sich die Szenerie entsprechend. In Experimenten,
spannt sein kann. Wenn Sie sich also jedes Mal entspannen, die von mehreren Forscherteams durchgeführt wurden, wurden
sobald Sie auf einen angsterregenden Reiz stoßen, werden Sie viele verschiedene Menschen mit vielen unterschiedlichen Ängs-
allmählich Ihre Angst löschen. Der Trick besteht darin, in Ab- ten behandelt - Flugangst, Höhenangst, Angst vor bestimmten
stufungen vorzugehen. Tieren und Angst vor öffentlichen Auftritten (Parsons u. Rizzo
2008). So können beispielsweise Personen mit Flugangst aus dem
Systematische Desensibilisierung (»systematic desensitization«) –
eine Art Expositionstherapie, die einen angenehm entspannten Zustand virtuellen Fenster eines simulierten Flugzeugs schauen, die Vibra-
mit allmählich immer stärker angstauslösenden Reizen koppelt. Wird tionen spüren und die Maschinen donnern hören, während das
häufig zur Behandlung von Phobien eingesetzt. Flugzeug über die Rollbahn fährt und abhebt. In Studien haben
die Klienten, die mit Exposition in einer virtuellen Realität behan-
Wir wollen das am Beispiel einer verbreiteten Phobie genauer delt wurden, im wirklichen Leben ein deutlicheres Nachlassen
betrachten. Stellen Sie sich vor, Sie litten unter der Angst, in der ihrer Ängste erlebt als die Kontrollgruppe (Hoffman 2004; Krijn
Öffentlichkeit zu sprechen. Ein Verhaltenstherapeut würde et al. 2004; . Abb. 17.7; . Abb. 17.8).
Sie wahrscheinlich zuerst bitten, ihm bei der Erstellung einer
Expositionstherapie mit Hilfe virtueller Realität (»virtual reality expo-
Hierarchie der Angst auslösenden Situationen behilflich zu sein. sure therapy«) – eine Angstbehandlung, bei der Menschen zunehmend
Ihre Angsthierarchie würde vielleicht von einer nur wenig angst- mit simulierten Beispielen für ihre größten Ängste konfrontiert werden
auslösenden Situation (vor einer kleinen Gruppe von Freunden (z. B. Fliegen in einem Flugzeug, Spinnen, Sprechen vor Publikum).
zu sprechen) bis zu den panikauslösenden Situationen reichen
(etwa vor einem großen Publikum eine Rede zu halten). Weiterentwicklungen in der Therapie mit virtuellen Realitäten
Der Therapeut würde die Technik der progressiven Muskel- deuten darauf hin, dass es wahrscheinlich bald immer raffinier-
entspannung benutzen und mit Ihnen üben, eine Muskel- tere simulierte Welten geben wird, in denen Personen mithilfe
gruppe nach der anderen zu entspannen, bis Sie in den leicht eines Avatars (eine elektronische Verkörperung ihrer selbst) neue
benommenen Zustand der völligen Entspannung und des Wohl- Verhaltensweisen in virtuellen Umgebungen ausprobieren kön-
befindens gleiten. Dann bittet Sie der Therapeut, sich mit ge- nen (Gorini 2007). Jemand mit einer sozialen Phobie könnte zum
17 schlossenen Augen in eine wenig angstauslösende Situation zu Beispiel virtuelle Partys oder Gruppendiskussionen besuchen, an
versetzen: Sie trinken Kaffee mit Ihren Freunden und versuchen denen auch andere teilnehmen können.
zu entscheiden, ob Sie sprechen sollen. Wenn die Vorstellung
dieser Szene bei Ihnen Angstgefühle auslöst, signalisieren Sie die jAversionskonditionierung
Spannung, die Sie empfinden, indem Sie einen Finger heben. Bei der systematischen Desensibilisierung besteht das Ziel darin,
Daraufhin gibt Ihnen der Therapeut die Instruktion, das innere eine negative (furchtsame) Reaktion auf einen harmlosen Reiz
Bild abzuschalten und in die tiefe Entspannung zurückzugehen. durch eine positive (entspannte) Reaktion zu ersetzen. Bei der
Die angsterregende Szene wird so lange immer wieder mit Ent- Aversionskonditionierung ist es das Ziel, die positive Reaktion
spannung gekoppelt, bis Sie keine Spur von Angst mehr emp- auf einen schädlichen Reiz (beispielsweise Alkohol) durch eine
finden. negative (aversive) Reaktion zu ersetzen. Demnach ist die Aver-
Dann geht der Therapeut auf der vorher erstellten Angst- sionskonditionierung die Umkehrung der systematischen
hierarchie weiter und nutzt den Entspannungszustand, um Sie Desensibilisierung – es wird versucht, eine Aversion auf etwas zu
bei jeder einzelnen der vorgestellten Situationen zu desensibi- konditionieren, was der Klient vermeiden sollte.
lisieren. Nach ein paar Sitzungen üben Sie in der Praxis das, was
Aversionskonditionierung (»aversive conditioning«) – Form der
Sie bisher mental geübt haben. Sie beginnen mit relativ leichten Gegenkonditionierung, die einen unangenehmen Zustand (Übelkeit)
Aufgaben und steigern sich nach und nach bis zu den Situatio- mit unerwünschtem Verhalten (Alkohol trinken) koppelt.
17.2 · Psychotherapien
713 17

. Abb. 17.7 »Jetzt reiß dich endlich zusammen, sonst verpassen wir wegen deiner Flugangst wieder den Abflug in den Süden!« (© Claudia Styrsky)

. Abb. 17.8 Expositionstherapie mit Hilfe virtueller Realität. Die Expositionstherapie mit Hilfe virtueller Realität setzt Personen lebhaften Simulationen
gefürchteter Reize aus. Ein am Kopf angebrachtes Gerät projiziert eine dreidimensionale, naturgetreue Reihe lebensechter Szenen. Wenn der Klient den
Kopf dreht, passen Bewegungssensoren die Szene entsprechend an. (Mit freundlicher Genehmigung von Andreas Mühlberger, Universität Würzburg)
714 Kapitel 17 · Klinische Psychologie: Therapie

. Abb. 17.9 Aversionstherapie bei Alkoholabhängigkeit. Manche Menschen mit einer länger andauernden Alkoholabhängigkeit entwickeln zumindest
für eine gewisse Zeit eine konditionierte Aversion gegen Alkohol, wenn sie mehrfach ein alkoholisches Getränk zu sich nehmen, das mit einem Medikament
versetzt wurde und daher heftige Übelkeit auslöst. (Denken Sie daran: US heißt unkonditionierter Reiz, UR heißt unkonditionierte Reaktion, NS heißt neutra-
ler Reiz, CS heißt konditionierter Reiz und CR heißt konditionierte Reaktion.)

Das Vorgehen ist einfach: Das unerwünschte Verhalten wird Operantes Konditionieren
mit unangenehmen Gefühlen gekoppelt. Zur Behandlung des
? 17.5 Was ist die Grundannahme der Verhaltensmodifika-
Nägelkauens kann man beispielsweise die Fingernägel mit einem
tion, und was sind die Auffassungen der Befürworter und
widerlich schmeckenden Nagellack bestreichen (Baskind 1997).
der Kritiker dieses Ansatzes?
Um eine Alkoholabhängigkeit zu behandeln, bietet der Aver-
sionstherapeut dem Klienten verlockende Drinks an, die jedoch Eine wesentliche Vorstellung der operanten Konditionierung
mit einem Medikament versetzt sind, das schwere Übelkeit ver- (7 Kap. 8) ist, dass willkürliche Verhaltensweisen stark von den
ursacht. Durch die Verbindung von Alkohol mit heftigem Er- Konsequenzen beeinflusst werden. Diese simple Tatsache macht
brechen (denken Sie auch an die Experimente zur Geschmacks- es möglich, dass Verhaltenstherapeuten Verhaltensmodifikation
aversion mit Ratten und Kojoten in 7 Kap. 8), versucht der The- betreiben – dass sie ein gewünschtes Verhalten verstärken und die
rapeut die positive Reaktion des Patienten auf Alkohol in eine Verstärkung für unerwünschtes Verhalten nicht gewähren. Das
negative umzuwandeln (. Abb. 17.9). operante Konditionieren bei spezifischen Verhaltensproblemen
Wirkt die Aversionskonditionierung? Kurzfristig gesehen tut weckte Hoffnungen für Problemfälle, die man bislang für hoff-
sie das. Arthur Wiens und Carol Menustik (1983) arbeiteten mit nungslos gehalten hatte. Kindern mit Intelligenzminderung
685 alkoholabhängigen Patienten, die sich in einem Kranken- wurde beigebracht, für sich selbst zu sorgen. Autistische Kinder,
haus in Portland (Oregon) einer Aversionstherapie unterzogen. die sich in sich selbst zurückziehen, haben gelernt, mit anderen zu
17 Danach durchliefen sie wiederholte Behandlungen, die die Ver- interagieren. Schizophreniepatienten konnten dazu gebracht
bindung Alkohol – Übelkeit fördern sollten. Nach einem Jahr werden, sich innerhalb des klinischen Settings berechenbarer zu
waren 63% immer noch abstinent. Doch nach 3 Jahren waren nur verhalten. In solchen Fällen arbeitet der Therapeut mit positiver
noch 33% abstinent geblieben. Verstärkung. Um das Verhalten Schritt für Schritt zu formen, wird
Wie wir in 7 Kap. 8 gesehen haben, besteht das Problem jede weitere Annäherung an das gewünschte Verhalten belohnt.
darin, dass die Kognition einen Einfluss auf Konditionierung hat. Für Extremfälle ist eine intensive Behandlung erforderlich. In
Die Patienten wissen sehr wohl, dass sie außerhalb der Praxis- einer 2 Jahre dauernden Studie nahmen 19 autistische 3-jährige
räume des Therapeuten trinken können, ohne Angst vor Übel- Kinder, die nicht sprachen, an einem Programm teil, bei dem die
keit haben zu müssen. Sie sind durchaus fähig, zwischen der Eltern 40 Stunden pro Woche versuchten, das Verhalten ihres
Situation der Aversionskonditionierung und der realen Welt zu Kindes zu formen (Lovaas 1987). Die Kombination von Verstär-
unterscheiden, und dieses Wissen kann die Wirkung der Be- kung des gewünschten Verhaltens und Ignorieren oder Bestrafen
handlung einschränken. Deshalb wird die Aversionskonditionie- von aggressivem oder selbstschädigendem Verhalten wirkte bei
rung gern mit anderen Behandlungsverfahren kombiniert. einigen Kindern Wunder. In der 1. Klasse gliederten sich 9 der
19 Kinder erfolgreich ein und zeigten eine normale Intelligenz.
In einer Gruppe von 40 vergleichbaren Kindern, die nicht an der
aufwendigen Behandlung teilgenommen hatten, zeigte nur eins
17.2 · Psychotherapien
715 17
eine ähnliche Verbesserung seines Zustands. (Folgestudien kon- Unterbringung in einer Institution oder eine Bestrafung und dass
zentrierten sich auf den wirksamen Aspekt – positive Verstär- das Recht auf eine wirkungsvolle Behandlung und ein besseres
kung – ohne Bestrafung.) Leben die kurzzeitige Deprivation rechtfertigt.
Zur Modifikation des Problemverhaltens werden ganz unter-
Prüfen Sie Ihr Wissen
schiedliche Belohnungen verwendet. Für manche Fälle genügen
Aufmerksamkeit und Lob als Verstärkung. Andere brauchen kon- 5 Was sind Einsichttherapien und wie unterscheiden sie
krete Belohnungen, beispielsweise etwas zu essen. Im klinischen sich von Verhaltenstherapien?
Setting baut der Therapeut häufig ein Tokensystem auf. Verhält sich 5 Manche ungünstigen Verhaltensweisen sind erlernt.
eine Person in der gewünschten Weise – steht auf, wäscht sich, zieht Was kann man sich dadurch erhoffen?
sich an, isst, spricht zusammenhängend, räumt ihr Zimmer auf 5 Expositionstherapien und Aversionskonditionierung
oder beteiligt sich an einem Spiel –, dann erhält sie ein symboli- sind Anwendungsmöglichkeiten der
sches Geldstück (»Token«) oder einen Plastikchip als positiven Ver- Konditionierung. Tokensysteme sind eine Anwendungs-
stärker. Zu einem späteren Zeitpunkt kann sie ihre gesammelten möglichkeit der Konditionierung.
Tokens gegen verschiedene Belohnungen eintauschen (etwa Süßig-
keiten, Fernsehen, Ausflüge in die Stadt oder ein besseres Zimmer).
Dieses Tokensystem wurde in verschiedenen Settings erfolgreich
eingesetzt (zu Hause, im Klassenzimmer, in Krankenhäusern oder 17.2.4 Kognitive Therapien
Erziehungsheimen) und auch mit verschiedenen Bevölkerungs-
gruppen (einschließlich verhaltensgestörter Kinder, Schizophrenie-
? 17.6 Welches sind die Ziele und Techniken der kognitiven
patienten oder Menschen mit anderen psychischen Störungen).
Therapie und der kognitiven Verhaltenstherapie?
Tokensystem (»token economy«) – Verfahren der operanten Konditionie-
rung, bei dem Personen Symbolgeld erhalten, wenn sie das gewünschte Wir haben nun gesehen, wie Verhaltenstherapeuten spezifische
Verhalten zeigen. Anschließend können sie die Chips gegen verschiedene Ängste behandeln und wie sie mit Problemverhalten umgehen.
Vergünstigungen oder Leckereien eintauschen. Doch wie gehen Sie gegen eine Major Depression vor? Oder ge-
gen eine generalisierte Angststörung, bei der die Angst nicht auf
Die Kritiker der Verhaltensmodifikation äußern zwei Bedenken. etwas Bestimmtes gerichtet ist und bei der es schwierig ist, eine
Zum einen geht es um die praktische Seite: Wie beständig sind die Hierarchie der angstauslösenden Situationen zu erstellen? Ver-
Verhaltensänderungen? Wird der Patient vielleicht so abhängig haltenstherapeuten, die diese weniger eindeutig definierten psy-
von extrinsischer Belohnung, dass das angemessene Verhalten chischen Probleme behandelten, kam dieselbe kognitive Wende
ohne Belohnung wieder verschwindet? Die Befürworter der Ver- zu Hilfe, die im letzten halben Jahrhundert andere Gebiete der
haltensmodifikation glauben, dass das Verhalten anhält, wenn der Psychologie grundlegend verändert hat.
Therapeut den Patienten von den Tokens entwöhnt. Dies ist Die kognitiven Therapien basieren auf der Annahme, dass
möglich, indem er ihn auf andere Verstärker verweist, etwa auf unsere Gedanken unseren Gefühlen eine bestimmte Färbung
soziale Anerkennung, also etwas, wovon das Leben außerhalb der geben. Zwischen einem Ereignis und der Reaktion darauf schal-
Institution geprägt ist. Sie betonen auch, dass das angemessene tet sich der Verstand ein. Selbstbeschuldigungen und über-
Verhalten selbst intrinsisch verstärkend sein kann. Wenn z. B. ein generalisierte Erklärungen für unerfreuliche Vorfälle sind oft
in sich gekehrter Mensch mehr soziale Kompetenz gewinnt, dann wesentliche Bestandteile des Teufelskreises der Depression
mag die intrinsische Befriedigung über die soziale Interaktion (7 Kap. 16; . Abb. 17.10). Ein Mensch, der unter einer Depression
dem Betroffenen helfen, dieses Verhalten beizubehalten. leidet, interpretiert eine Anregung als Kritik, fehlende Zu-
Zum anderen geht es um eine ethische Frage: Ist es richtig, stimmung als Ablehnung seiner Person, Lob als Schmeichelei,
dass ein Mensch das Verhalten eines anderen kontrolliert? Wer mit Freundlichkeit als Mitleid. Das ständige Brüten über solchen
dem Tokensystem arbeitet, entzieht dem Menschen möglicher- Gedanken hält die schlechte Stimmung aufrecht. Wenn aber
weise etwas, was dieser sich wünscht, und entscheidet dann, depressive Denkmuster erlernt sind, können sie sicher auch ver-
welches Verhalten verstärkt werden soll. Für die Kritiker ist der lernt und durch positivere ersetzt werden. Kognitive Therapeu-
gesamte Vorgang der Verhaltensmodifikation mit dem Makel des ten versuchen daher auf verschiedene Weise, den Betroffenen zu
Autoritären behaftet. Die Befürworter antworten, dass manche einer anderen, neuen und konstruktiveren Denkweise zu ver-
Patienten diese Therapie durchaus verlangen. Außerdem besteht helfen. Wenn ein Mensch sich jämmerlich fühlt, kann man ihm
ohnehin schon eine Kontrolle; Belohnungen und Bestrafun- helfen, seine Einstellung zu ändern (. Abb. 17.11).
gen erhalten bereits zerstörerische Verhaltensmuster aufrecht.
Kognitive Therapie (»cognitive therapy«) – lehrt die Patienten neue,
Warum sollte man nicht stattdessen das angemessene Verhalten
besser an die Realität angepasste Denkweisen. Beruht auf der Annahme,
verstärken? Ein Argument der Befürworter ist auch, dass eine dass zwischen Ereignissen und emotionalen Reaktionen Gedanken ver-
Behandlung mit positiven Belohnungen menschlicher ist als die mittelnd Einfluss nehmen.
716 Kapitel 17 · Klinische Psychologie: Therapie

. Abb. 17.10 Der kognitive Ansatz bei Essstörungen mit Hilfe von Tagebucheinträgen. Therapeuten helfen ihren Patienten dabei, ihre guten und
schlechten Erfahrungen erklären zu können. Diese Frau könnte sich ihrer Selbstkontrolle stärker bewusst und so optimistischer werden, wenn sie positive
Ereignisse eines Tages und wie sie diese ermöglicht hat, aufzeichnet. (© Lara Jo Regan / Gamma Liason)

Rational-emotive Verhaltenstherapie
Laut Albert Ellis (1962, 1987, 1993), dem Urheber der rational-
emotiven Verhaltenstherapie (REVT), entstehen viele Probleme
durch irrationale Gedanken. Er beschrieb z. B. eine erkrankte
Frau und schlug eine Therapie vor, die ihre unlogischen, selbst-
zerstörerischen Annahmen ändern sollte (Ellis 2011, S. 198f.):

» [Sie] denkt nicht nur, dass es schlimm ist, wenn ihr Geliebter
sie zurückweist. Sie neigt auch dazu, Folgendes zu glauben:
(a) es ist schrecklich; (b) sie kann es nicht ertragen; (c) sie
sollte, sie darf nicht zurückgewiesen werden; (d) sie wird nie
von einem begehrenswerten Partner akzeptiert werden;
17 (e) sie ist eine wertlose Person, weil ein Liebhaber sie zurück-
gewiesen hat; und (f ) sie verdient es, zurückgewiesen zu
werden, weil sie so wertlos ist. Solche häufig berichteten
Hypothesen sind unlogisch, unrealistisch und zerstörerisch
… Sie können leicht von jedem Wissenschaftler entkräftet
werden, der sein Geld wert ist; und der rational-emotive
. Abb. 17.11 Der kognitive Ansatz bei der Behandlung psychischer Therapeut ist genau das: ein Wissenschaftler, der unsinnige
Störungen. Die emotionalen Reaktionen eines Menschen auf ein Ereignis Gedanken aufdeckt und ausmerzt.
werden nicht unmittelbar von dem betreffenden Ereignis hervorgerufen,
sondern durch seine Gedanken in Reaktion auf dieses Ereignis
Rational-emotive Verhaltenstherapie (REVT; »rational-emotive behavior
therapy«, REBT) – von Albert Ellis entwickelte konfrontative kognitive
Therapie, die energisch die unlogischen, selbstzerstörerischen Ansichten
» Das Leben besteht nicht hauptsächlich, nicht einmal größten- und Annahmen von Personen infrage stellt.
teils, aus Tatsachen und Ereignissen. Es besteht hauptsäch-
lich aus den Gedankenstürmen, die für immer durch unseren Ändere die Gedanken der Menschen, indem du die »Sinn-
Geist strömen. losigkeit« ihrer selbstzerstörerischen Ansichten enthüllst, glaubte
Mark Twain, 1835–1910 der scharfzüngige Ellis, und du wirst ihre selbstzerstörerischen
17.2 · Psychotherapien
717 17
Gefühle ändern und gesündere Verhaltensweisen möglich 4 Beck: Richtig, und wer entscheidet über die Wichtigkeit?
machen. 4 Patient: Ich.
4 Beck: Deshalb müssen wir prüfen, wie Sie die Prüfung
Aaron Becks Therapie bei Depressionen sehen (oder wie Sie über die Prüfung denken) und wie
Der kognitive Therapeut Aaron Beck glaubt auch, dass die Än- dadurch Ihre Chancen, das Referendariat zu beginnen,
derung der Gedanken von Menschen ihr Verhalten ändern kann, beeinflusst werden. Sind Sie einverstanden?
allerdings wählte er einen schonenderen Ansatz. Ursprünglich 4 Patient: Ja.
war er in den Freudschen Techniken ausgebildet worden und 4 Beck: Stimmen Sie mir zu, dass die Art, wie Sie die Prüfungs-
analysierte dabei die Träume von Menschen mit Depression. Er ergebnisse interpretieren, Sie insgesamt beeinträchtigt? Sie
stieß auf immer wiederkehrende negative Themen wie Verlust, sind möglicherweise deprimiert, haben Schlafstörungen und
Zurückweisung und Verlassenheit, die selbst in den Wachgedan- keinen Appetit, und Sie denken vielleicht sogar daran, das
ken der Patienten auftauchten. Sogar bis in die Therapie hinein Studium aufzugeben.
erstreckten sich diese negativen Themen, denn die Patienten 4 Patient: Ich habe schon daran gedacht, dass ich es nicht
erinnerten sich immer wieder an ihr Scheitern und an ihre schaffe. Ja, ich gebe Ihnen Recht.
schlimmsten Triebregungen (Kelly 2000). Beck et al. (1979) ver- 4 Beck: Welche Bedeutung hatte der Misserfolg also?
suchten mit Hilfe der kognitiven Therapie, die verhängnisvolle 4 Patient: (Unter Tränen) Dass ich nicht ins Referendariat
Einstellung der Klienten zur eigenen Person, zu ihrer aktuellen komme.
Situation und ihrer Zukunft umzukehren. Mit sanften Fragen, 4 Beck: Und was bedeutet das für Sie?
die darauf abzielen, den Menschen zu helfen, ihre Irrationalitäten 4 Patient: Dass ich einfach nicht klug genug bin.
zu entdecken, bewegen sie die Patienten dazu, die schwarze 4 Beck: Sonst noch etwas?
Brille abzusetzen, durch die sie ihr Leben sehen (Beck et al. 1979, 4 Patient: Dass ich nie glücklich sein kann.
S. 145–146, republished with permission of Guilford Publica- 4 Beck: Und wie fühlen Sie sich bei diesem Gedanken?
tions, Copyright © 1979; permission conveyed through Copy- 4 Patient: Sehr unglücklich.
right Clearance Center, Inc.): 4 Beck: Was Sie unglücklich macht, ist also die Bedeutung,
4 Patient: Ich bin damit einverstanden, wie Sie mich beschrei- die das Nichtbestehen einer Prüfung für Sie hat. Zu
ben. Aber ich denke, ich bin nicht einverstanden damit, glauben, dass Sie nie glücklich sein können, ist tatsächlich
dass mich meine Art zu denken depressiv machen soll. ein wichtiger Faktor bei der Entstehung des Gefühls,
4 Beck: Wie erklären Sie es sich dann? unglücklich zu sein. Sie sind also in eine Falle geraten –
4 Patient: Ich werde depressiv, wenn etwas schiefgeht. Wenn nämlich dadurch, dass Sie Ihr mögliches Scheitern im
ich z. B. durch eine Prüfung falle. Grundstudium mit »Ich kann nie mehr glücklich sein«
4 Beck: Wie kann Sie der Misserfolg bei einer Prüfung gleichsetzen.
depressiv machen?
4 Patient: Na ja, wenn ich durchfalle, werde ich das Rechts- Wir denken oft in Worten. Daher ist es eine wirksame Methode,
referendariat nicht beginnen können. das Denken der Menschen zu verändern, indem man sie dazu
4 Beck: Es bedeutet Ihnen also viel, wenn Sie die Prüfung nicht bringt, zu verändern, was sie über sich selbst sagen (. Abb. 17.12).
bestehen. Aber wenn das Versagen bei einer Prüfung ernst- Vielleicht können Sie sich ja mit dem ängstlichen Studenten iden-
hafte Depressionen auslösen könnte, müsste dann nicht jeder, tifizieren, der vor der Prüfung durch selbstabwertende Ge-
der durchfällt, depressiv werden? Wurde jeder, der durchfiel, danken alles nur noch schlimmer macht: »Diese Prüfung wird
depressiv genug, um eine Behandlung zu benötigen? wahrscheinlich unmöglich zu schaffen sein. All diese anderen
4 Patient: Nein, doch das hängt davon ab, wie wichtig die Studenten scheinen so entspannt und selbstbewusst zu sein. Ich
Prüfung für diese Person war. wünschte mir, ich wäre besser vorbereitet. Ich bin so nervös, dass

. Abb. 17.12 (© Peanuts Worldwide LLC. / Dist. By Universal Uclick / Distr. Bulls)
718 Kapitel 17 · Klinische Psychologie: Therapie

. Tab. 17.1 Ausgewählte Techniken der kognitiven Therapie

Ziel der Technik Technik Hinweise des Therapeuten

Überzeugungen aufdecken Interpretationen hinterfragen Erkunden Sie Ihre Überzeugungen, decken Sie fehlerhafte Annahmen auf,
wie: »Ich muss von jedem gemocht werden.«

Gedanken und Gefühle in eine Erlangen Sie einen anderen Blickwinkel, indem Sie Ihre Gedanken in eine
Rangreihe bringen Rangreihe bringen, von wenig bis extrem schlimm.

Überzeugungen überprüfen Konsequenzen prüfen Erkunden Sie schwierige Situationen, indem Sie mögliche Konsequenzen
bewerten und fehlerhafte Schlussfolgerungen hinterfragen.

Denken entkatastrophisieren Durchdenken Sie die tatsächlich schlimmstmögliche Konsequenz der


Situation, in der Sie sich gerade befinden (es ist oft nicht so schlimm wie
befürchtet). Dann entscheiden Sie, wie Sie mit der eigentlichen Situation
umgehen, vor der Sie stehen.

Überzeugungen ändern Angemessene Verantwortung Begegnen Sie Schuldzuweisungen gegenüber sich selbst und negativem
übernehmen Denken. Beachten Sie Punkte, für die Sie wirklich verantwortlich sind,
genauso wie Punkte, die nicht in Ihren Verantwortungsbereich fallen.

Extremen widerstehen Entwickeln Sie neue Arten zu denken und zu fühlen, um ungünstige
Gewohnheiten zu ersetzen. Zum Beispiel denken Sie statt »Ich bin ein
totaler Versager« lieber »Für diese Hausarbeit habe ich eine schlechte
Note bekommen, aber ich kann die Hinweise annehmen, um es das
nächste Mal besser zu machen«.

ich alles vergessen werde.« Um ein solches negatives Selbst- Kognitive Verhaltenstherapie (»cognitive behavior therapy«) – verbrei-
gespräch zu verändern, bot Donald Meichenbaum (1977, 1985) tete integrative Therapie, bei der die Techniken der kognitiven Therapie
(Veränderung der selbstabwertenden Gedankenmuster) mit den Techniken
sein Stressimpfungstraining an, bei dem er den Beteiligten bei- der Verhaltenstherapie (Verhaltensänderung) kombiniert werden.
brachte, in stressigen Situationen ihr Denken neu zu strukturie-
ren. Manchmal reicht es vielleicht einfach aus, etwas Positiveres Angststörungen und affektive Störungen teilen ein gemeinsames
über die eigene Person zu sagen: »Entspann dich. Die Prüfung Problem: die Emotionsregulation (Aldao u. Nolen-Hoeksema
ist vielleicht schwer, aber sie wird auch für alle anderen schwer 2010). In einem wirksamen Behandlungsprogramm für diese
sein. Ich habe mehr gelernt als die anderen. Außerdem brauche emotionalen Störungen lernen die Patienten einerseits, ihre
ich keine tolle Note, um eine gute Gesamtnote zu bekommen.« katastrophisierenden Gedanken durch realistischere Annahmen
In Experimenten war bei Kindern und Studierenden, die zu De- zu ersetzen, und andererseits, als Hausaufgabe, Verhaltensweisen
pressionen neigen, künftig die Häufigkeit für eine Depression nur zu üben, die mit ihrem Problem nicht vereinbar sind (Kazantzis
halb so groß, nachdem man ihnen beigebracht hatte, ihre nega- et al. 2010a,b; Moses u. Barlow 2006). Eine Person könnte zum
tiven Gedanken infrage zu stellen (Seligman 2002). Großenteils Beispiel ein Tagebuch über alltägliche Situationen führen, die sie
17 ist es der Gedanke, der eigentlich zählt. . Tab. 17.1 bietet eine mit negativen oder positiven Emotionen verbunden hat, und
Übersicht über einige Techniken, die häufig in der kognitiven dann öfter die Tätigkeiten ausführen, die sie dazu führen, sich
Therapie genutzt werden. gut zu fühlen. Ein anderes Beispiel wäre, dass Personen, die sich
vor sozialen Situationen fürchten, angewiesen werden, die An-
Kognitive Verhaltenstherapie näherung an andere Menschen zu üben.
Die kognitive Verhaltenstherapie, eine weit verbreitete inte-
grative Therapie, hat nicht nur zum Ziel, die Art und Weise zu
» Das Problem der meisten Therapien ist, dass sie einem
helfen, sich besser zu fühlen. Aber es geht dir nicht besser.
ändern, wie Menschen denken (kognitive Therapie), sondern
Man muss es mit Taten, Taten, Taten sicherstellen.
auch, wie sie sich verhalten (Verhaltenstherapie). Es wird daran
Therapeut Albert Ellis (1913–2007)
gearbeitet, den Betroffenen ihr irrationales negatives Denken
bewusst zu machen und es durch eine neue Art des Denkens zu In einer Studie über Zwangsstörungen lernten Patienten, ihre
ersetzen; gleichzeitig wird geübt, wie man sich im Alltag positiver Zwänge anders zu benennen (Schwartz et al. 1996). Wenn der
verhält. Typischerweise wird zuerst die Verhaltensänderung um- Drang auftrat, sich wieder die Hände zu waschen, sollten sie
gesetzt, gefolgt von Sitzungen, die die kognitiven Veränderungen sich sagen: »Ich habe einen Drang, der mich zwingt«; sie sollten
behandeln; die Therapie schließt ab mit dem Fokus, beides bei- diesen Drang dann mit der abnormen Aktivität ihres Gehirns
zubehalten und Rückfälle zu verhindern. erklären, die sie in ihren PET-Aufnahmen gesehen hatten. Statt
17.2 · Psychotherapien
719 17
dem Drang nachzugeben, ließen sie sich für die nächste Viertel- Minuten pro Woche leitet der Therapeut die Interaktionen
stunde auf eine andere angenehme Beschäftigung ein, etwa ein der Teilnehmer, während sie über bestimmte Themen
Instrument zu spielen, spazieren zu gehen oder im Garten zu diskutieren und neue Verhaltensweisen ausprobieren.
arbeiten. Dadurch konnte das Gehirn den Zwangsgedanken 4 Sie ermöglicht es den Teilnehmern, zu sehen, dass andere
loslassen, die Aufmerksamkeit wurde auf etwas anderes gelenkt ihre Probleme teilen. Es kann eine Erleichterung sein, festzu-
und so andere Hirnareale aktiviert. Die Therapie mit wöchent- stellen, dass man nicht allein ist – zu erfahren, dass andere
lichen Sitzungen dauerte 2–3 Monate und umfasste auch die Auf- trotz ihrer Gelassenheit die gleichen störenden Gefühle und
gabe, zu Hause Zwänge neu zu benennen und die Aufmerksam- Verhaltensweisen erfahren.
keit auf etwas anderes zu richten. Als die Studie beendet wurde, 4 Sie ermöglicht es den Patienten eine Rückmeldung zu
hatten sich bei den meisten Patienten die Symptome gebessert, bekommen, wenn sie neue Verhaltensweisen ausprobieren.
und ihre PET-Aufnahmen zeigten eine normale Hirnaktivität. Es kann sehr beruhigend sein, wenn man hört, dass
Viele andere Studien bestätigen die Wirksamkeit der kognitiven man selbstsicher wirkt, obwohl man sich ängstlich und ge-
Verhaltenstherapie für Patienten, die an einer Angststörung, hemmt fühlt.
Depression oder Anorexia nervosa leiden (Covin et al. 2008;
Gruppentherapie (»group therapy«) – wird mit Gruppen statt Einzelper-
Mitte 2005; Norton u. Price 2007). Es gibt auch Studien, die zei- sonen durchgeführt, ermöglicht therapeutische Vorteile durch die Gruppen-
gen, dass kognitiv-verhaltensbezogene Fähigkeiten wirkungsvoll interaktion.
gelehrt werden können und dass die Therapie auch über das
Internet durchgeführt werden kann (Barak et al. 2008; Kessler et Familientherapie
al. 2009; Marks u. Cavanaugh 2009; Stross 2011). Eine besondere Form der Interaktion in Gruppen, die Familien-
therapie, geht davon aus, dass niemand für sich allein existiert:
Prüfen Sie Ihr Wissen
Wir leben und wachsen in der Beziehung zu anderen, insbeson-
5 Wie unterscheiden sich die humanistischen und die dere in der Familie. Wir führen heftige Kämpfe, um uns von der
kognitiven Therapien? Familie zu lösen, doch brauchen wir sie auch als emotionalen
5 Die konfrontative REVT (rational-emotive Verhaltens- Rückhalt. Manche unserer Konflikte entstehen aus der Spannung
therapie) wurde von entwickelt. Eine zwischen diesen beiden Bedürfnissen, die dann familiäre Pro-
sanftere kognitive Therapie für Depressionen wurde bleme verursachen können (. Abb. 17.13).
von entwickelt. Familientherapie (»family therapy«) – Therapie, die die Familie als Gesamtsys-
5 Was macht die kognitive Verhaltenstherapie aus, und für tem behandelt. Sie geht davon aus, dass das unerwünschte Verhalten des Einzel-
welche Art von Problemen ist diese Therapie am besten nen von anderen Familienmitgliedern beeinflusst oder auf sie gerichtet ist.

geeignet?
Anders als bei den meisten Psychotherapien, die sich auf das
konzentrieren, was sich im tiefsten Innern des Patienten abspielt,
arbeiten Familientherapeuten mit mehreren Familienmitgliedern
17.2.5 Gruppen- und Familientherapien daran, gestörte Beziehungen wieder in Ordnung zu bringen und
Kräfte innerhalb der Familie zu wecken. Sie sehen die Familie
als System, in dem die Handlungen jeder Person Reaktionen der
? 17.7 Welches sind die Ziele und die Vorteile der Gruppen-
anderen hervorrufen, und sie helfen den Familienmitgliedern
therapie und der Familientherapie?
dabei, ihre Rolle zu entdecken, die sie im sozialen System der
Gruppentherapie Familie einnehmen. Die Aufsässigkeit eines Kindes zum Beispiel
Mit Ausnahme der traditionellen Psychoanalyse sind die meisten hat Auswirkungen auf Spannungen in der Familie und wird da-
Therapieverfahren auch für Kleingruppen geeignet. In einer von wiederum beeinflusst. Familientherapeuten versuchen auch
Gruppentherapie geht der Therapeut weniger auf den Einzelnen – i. Allg. erfolgreich, wie die Forschung belegt –, die Kommu-
ein. Jedoch bietet sie auch Vorteile: nikation innerhalb der Familie offener zu gestalten oder den
4 Sie kostet den Therapeuten weniger Zeit und den Klienten Familienmitgliedern zu helfen, neue Wege zu finden, um Kon-
weniger Geld – und sie ist oft genauso wirkungsvoll flikte zu vermeiden oder zu lösen (Hazelrigg et al. 1987; Shadish
(Fuhriman u. Burlingame 1994). et al. 1993).
4 Sie bietet ein soziales Experimentierfeld, um zwischen-
menschliche Verhaltensweisen erkunden und soziale Fähig- Selbsthilfegruppen
keiten entwickeln zu können. Therapeuten raten Menschen Viele Menschen nehmen an Selbsthilfe- und Unterstützungs-
mit beständigen Problemen häufig zu einer Gruppen- gruppen teil (Yalom 1985). Eine Studie zu Unterstützungsgruppen
therapie, ebenso auch Personen, die durch ihr Verhalten im Internet und zu mehr als 14.000 Selbsthilfegruppen berichtet,
Schwierigkeiten im Umgang mit anderen haben. Bis zu 90 dass sich die meisten Organisationen zur Unterstützung der Be-
720 Kapitel 17 · Klinische Psychologie: Therapie

. Abb. 17.13 Familientherapie. Diese Art der Therapie fungiert oft als präventive Strategie für die Sicherung der geistigen Gesundheit. Der Therapeut
hilft Familienmitgliedern dabei zu verstehen, wie ihre Art miteinander umzugehen, Probleme hervorruft. Der Behandlungsschwerpunkt ist nicht, die Indivi-
duen, sondern ihre Beziehungen und Interaktionen zu verändern. (© CEFutcher / iStockphoto)

troffenen auf Krankheiten konzentrieren, die stigmatisiert sind Mit mehr als 2 Mio. Mitgliedern weltweit gelten die Anonymen
oder über die man nur schwer sprechen kann (Davison et al. 2000). Alkoholiker als »die größte Organisation auf der Erde,
Bei Aids-Patienten ist die Wahrscheinlichkeit 250-mal größer, der niemand jemals beitreten wollte« (Finlay 2000).
dass sie in einer Unterstützungsgruppe sind, als bei Patienten mit
hohem Blutdruck. Diejenigen, die mit Magersucht und Alkohol- In einer von Individualismus geprägten Zeit, in der immer mehr
abhängigkeit kämpfen, treten oft Gruppen bei; Menschen mit Menschen allein wohnen oder sich vereinsamt fühlen, scheint
Migräne und Magengeschwüren tun dies üblicherweise nicht. die Beliebtheit von Gruppen, die soziale Unterstützung bieten –
Menschen mit Hörverlust haben eine landesweite Organisation für Süchtige, für Trauernde, für Geschiedene oder einfach für
mit kommunalen Ortsverbänden; Menschen mit Sehschwäche diejenigen, die nach sozialem Kontakt und persönlicher Ent-
sind mit ihren Problemen öfter auf sich selbst gestellt. wicklung suchen –, Ausdruck eines Verlangens nach Gemein-
Die Anonymen Alkoholiker (AA), die sozusagen den Proto- schaft und Verbundenheit zu sein. Mehr als 100 Mio. Amerika-
typen der Selbsthilfegruppen darstellen, haben nach Berichten ner gehören kleinen Religionsgemeinschaften, Interessens- oder
mehr als 2 Millionen Mitglieder in 114.000 Untergruppen welt- Selbsthilfegruppen an, die sich regelmäßig treffen – und 90% von
weit. Sie verlangen in ihrem berühmten, von vielen anderen ihnen geben an, dass die Gruppenmitglieder »sich gegenseitig
Selbsthilfegruppen nachgeahmten 12-Punkte-Programm, die emotional unterstützen« (Gallup 1994).
eigene Machtlosigkeit zuzugeben, Hilfe bei einer höheren Macht Eine Übersicht über die modernen Formen der Psychothera-
17 oder den anderen Mitgliedern zu suchen sowie (das ist der 12. pie, die bisher besprochen wurden, ist in . Tab. 17.2 zu finden.
Schritt) die Botschaft an andere weiterzugeben, die sie brauchen.
Prüfen Sie Ihr Wissen
Bei einer Untersuchung, die 8 Jahre dauerte und 27 Mio. Dollar
kostete, verringerten Menschen, die bei den AA teilnahmen, ihr 5 Welcher der folgenden ist KEIN Vorteil der Gruppen-
Trinkverhalten drastisch. Aber das war auch bei denjenigen der therapie?
Fall, die einer kognitiven Verhaltenstherapie oder einer »motiva- a. Mehr konzentrierte Aufmerksamkeit durch den
tionalen Therapie« zugewiesen wurden (Project Match 1997). Therapeuten
Auch andere Studien haben gezeigt, dass solche 12-Punkte-Pro- b. Weniger teuer
gramme, wie das der AA, vergleichbar gut dabei geholfen haben, c. Soziale Rückmeldungen
Alkoholabhängigkeit zu reduzieren, wie andere Behandlungen d. Bestätigung, dass die anderen die eigenen Probleme
(Ferri et al. 2006; Moos u. Moos 2005). Je mehr Treffen die Pa- teilen
tienten besuchen, desto langfristiger bleiben sie abstinent (Moos 5 Welche therapeutische Technik konzentriert sich mehr
u. Moos 2006). In einer Studie an 2300 Kriegsveteranen, die um auf die Gegenwart und die Zukunft als auf die Ver-
eine Behandlung wegen Alkoholabhängigkeit baten, ging ein gangenheit und bezieht bedingungslose, positive Wert-
starkes Engagement bei den AA mit geringeren Alkoholpro- schätzung und aktives Zuhören ein?
blemen einher (McKellar et al. 2003).
17.3 · Therapieevaluation
721 17

. Tab. 17.2 Unterscheidung moderner Psychotherapien

Therapie Vermutetes Problem Therapieziel Therapietechnik

Psychodynamisch Unbewusste Konflikte aus Ängste durch Selbsteinsicht Erinnerungen und Gefühle des Patienten inter-
Kindheitserfahrungen vermindern pretieren

Klientenzentriert Hindernisse für Selbstver- Wachstum durch bedingungslose Aktives Zuhören und Spiegeln
ständnis und Selbstakzeptanz positive Wertschätzung, Echtheit
und Empathie

Verhaltensbezogen Ungünstige Verhaltensweisen Günstige Verhaltensweisen erlernen, Nutzung der klassischen Konditionierung
sich von problematischen lösen (per Expositions- oder Aversionstherapie)
oder der operanten Konditionierung (wie in
Tokensystemen)

Kognitiv Negatives, selbst- Gesündere Gedanken und innere Menschen beibringen, negative Gedanken und
zerstörerisches Denken Monologe fördern Zuschreibungen anzuzweifeln

Kognitiv- Selbstschädigende Gedanken Gesündere Gedanken und vorteil- Menschen beibringen, gegen selbstschädigende
verhaltensbezogen und Verhaltensweisen hafte Verhaltensweisen fördern Gedanken und Verhaltensweisen vorzugehen

Gruppe und Familie Konflikthafte Beziehungen Beziehungen verbessern Verständnis für Familie und andere soziale
Systeme entwickeln, Rollen erkunden und
Kommunikation verbessern

17.3 Therapieevaluation Wirkung bemessen? Daran, ob wir selbst das Gefühl haben, Fort-
schritte zu machen? Daran, wie unser Therapeut über unseren
Ratgeberkolumnisten raten den besorgten Ratsuchenden häufig, Fortschritt denkt? Daran, wie unsere Familie und unsere Freun-
sich professionelle Hilfe zu suchen: »Geben Sie nicht auf! Finden de das erleben? Daran, wie sich unser Verhalten verändert hat?
Sie einen Therapeuten, der Ihnen helfen kann. Vereinbaren Sie
einen Termin.« Die Sichtweise der Klienten
Viele Menschen teilen dieses Vertrauen in die Wirksamkeit Wären die Aussagen der Klienten der einzige Maßstab, ließe
von Psychotherapie. Vor 1950 waren nur Psychiater für die psy- sich die Wirksamkeit von Psychotherapie gut bestätigen. Als
chische Gesundheitsversorgung zuständig. Heutzutage sind auch 2900 Leser der Consumer Reports (1995; Kotkin et al. 1996;
klinische und beratende Psychologen eingebunden, außerdem Seligman 1995) von ihren Erfahrungen mit niedergelassenen
Sozialarbeiter, die Kirchen, Eheberater und Berater in Schulen. Psychotherapeuten berichteten, sagten 89%, sie seien zumindest
In Deutschland gilt seit 1999 das Psychotherapeutengesetz, »ziemlich zufrieden« gewesen. Von denen, die sich zu Beginn der
nach dem Psychologen durch eine mehrjährige Ausbildung ihre Therapie »ziemlich schlecht« oder »sehr schlecht« fühlten,
Approbation erhalten. Außerdem gibt es neuere Facharztausbil- sagten 9 von 10, sie fühlten sich jetzt »sehr gut«, »gut« oder zu-
dungen, die zu den Titeln »Facharzt für Psychiatrie und Psycho- mindest »es geht so«. Wir haben also ihre Aussagen – und wer
therapie« oder »Facharzt für Psychotherapeutische Medizin« sollte es besser wissen als sie?
führen. Bei diesem riesigen Aufwand an Zeit und Geld, Mühe Wir sollten diese Aussagen nicht leichtfertig vom Tisch
und Hoffnung darf man die Frage stellen: Ist der Glaube gerecht- wischen. Doch aus mehreren Gründen lassen sich die, die der
fertigt, den Millionen von Menschen auf der ganzen Welt in die Psychotherapie skeptisch gegenüberstehen, von den Aussagen
heilende Kraft der Psychotherapie setzen? der Betroffenen nicht überzeugen:
4 Wer in Therapie geht, steckt oft in einer Krise. Wenn die
Krise durch das normale Auf und Ab der alltäglichen
17.3.1 Ist Psychotherapie effektiv? Geschehnisse vorbeigeht, schreibt der Betroffene die Besse-
rung seines Zustands möglicherweise der Therapie zu.
4 Vielleicht braucht der Klient den Glauben, dass die Thera-
? 17.8 Funktioniert Psychotherapie? Wer entscheidet das?
pie den Aufwand wert war. Zuzugeben, dass man Zeit
Diese Frage ist leicht gestellt, aber nicht leicht zu beantworten. und Geld in etwas investiert, was keine Wirkung hat, ist so,
Zum einen lässt sich die Wirkung einer Therapie nicht so leicht als müsste man zugeben, dass man sein Auto immer
messen wie die Körpertemperatur, anhand derer man feststellen wieder einem Mechaniker zur Wartung überlässt, der es
kann, ob das Fieber gesunken ist. Wenn Sie oder ich uns einer nie repariert. Die Rechtfertigung des eigenen Handelns
Psychotherapie unterziehen sollten: Woran würden wir deren ist ein starkes menschliches Motiv.
722 Kapitel 17 · Klinische Psychologie: Therapie

4 Die meisten Klienten sprechen freundlich von ihrem


Therapeuten. Und zwar auch dann, sagen die Kritiker,
wenn das Problem weiterhin besteht. »Sie geben sich große
Mühe, etwas Positives zu sagen. Der Therapeut war sehr
einfühlsam, der Klient hat eine neue Perspektive gewonnen,
er hat gelernt, besser zu kommunizieren, sein Herz wurde
leichter … alles Mögliche wird gesagt, damit man nicht
gestehen muss, dass die Behandlung gescheitert ist«
(Zilbergeld 1983, S. 117).

Wie die früheren Kapitel gezeigt haben, sind wir anfällig für
selektive und verzerrte Erinnerungen und auch geneigt, Urteile
zu fällen, die unsere Überzeugungen bestätigen. Lassen Sie uns
ein Experiment mit über 500 Jungen aus Massachusetts zwischen
5 und 13 Jahren näher betrachten, von denen viele offensichtlich
straffällig zu werden drohten. Die Hälfte dieser Jungen wurde
nach dem Zufallsprinzip – Kopf oder Zahl eines Münzwurfs –
einem 5 Jahre dauernden Behandlungsprogramm zugewiesen.
Zweimal monatlich kamen Berater zu den behandelten Jungen.
Sie nahmen an Gemeindeaktivitäten teil und sie erhielten schu- . Abb. 17.14 »Ähm – hi Doc! Ich wollte nur sagen, dass Ihre Therapie
lische Unterstützung, medizinische Versorgung und Familien- schon wirkt. Ich konnte dem Schmuck widerstehen und habe nur den Fern-
hilfe, falls dies benötigt wurde. Etwa 30 Jahre nach Beendigung seher mitgenommen!« (© Claudia Styrsky)
des Programms machte Joan McCord (1978, 1979) 485 der da-
maligen Teilnehmer ausfindig, schickte ihnen Fragebögen und
überprüfte die Akten bei Gericht, in psychiatrischen Institu- Fülle. Das Problem dabei ist, dass der Klient den Beginn der The-
tionen und nutzte auch andere Quellen. War die Behandlung rapie damit rechtfertigt, dass er sein Unglück stärker betont, und
wirksam? die Beendigung der Therapie damit, dass er sein Wohlbefinden
Die Aussagen der Teilnehmer ergaben ermutigende Resul- hervorhebt. Außerdem hütet jeder Therapeut einen Schatz von
tate, sogar zum Teil überschwängliche Berichte. Manche Männer Dankesbezeugungen seiner Klienten, die beim Abschied oder
schrieben, es sei nur ihrem Berater zu verdanken, dass sie »nicht später geäußert werden, aber er hört wenig von den Klienten, die
im Gefängnis gelandet« seien. Sie sagten »Mein Leben wäre nur eine teilweise Verbesserung erfahren und einen anderen
anders verlaufen« oder »Ich glaube, ich wäre schließlich auf die Therapeuten für ihre wiederkehrenden Probleme aufsuchen.
schiefe Bahn gekommen«. Die Gerichtsakten lieferten offen- Folglich kann ein und derselbe Patient – immer noch mit den
sichtliche Unterstützung für diese Aussagen. Sogar von den alten Ängsten, der Depression oder den Eheproblemen – bei
»schwierigen« Jungen der Behandlungsgruppe hatten 66% keine mehreren Therapeuten in der Erfolgsstatistik auftauchen.
Vorstrafen (. Abb. 17.14). Weil die Menschen extrem unglücklich sind, wenn sie eine
17 Aber erinnern Sie sich an das wichtigste Werkzeug der Psy- Therapie beginnen, und sie normalerweise bei Beendigung der
chologie, wenn man zwischen Wunsch und Wirklichkeit unter- Therapie etwas weniger als »extrem unglücklich« sind, sprechen
scheiden will: die Kontrollgruppe. Auf jeden Jungen im Pro- die meisten Therapeuten, genau wie die meisten Klienten, von
gramm kam ein Junge in der Kontrollgruppe, der in ähnlichen einem Erfolg der Therapie – ganz gleich, nach welcher Methode
Umständen lebte, aber nicht am Programm teilgenommen hatte. sie behandelt wurden (7 Kritisch nachgefragt: Die »Regression«
70% dieser unbehandelten Männer hatten keine Vorstrafen. Bei vom Ungewöhnlichen zum Gewöhnlichen).
zahlreichen anderen Maßen, etwa die in Bezug auf wiederholte
Regression zur Mitte (»regression toward the mean«) – Tendenz
Straftaten, Alkoholabhängigkeit, Todesrate und Zufriedenheit extremer oder ungewöhnlicher Werte, auf ihren Durchschnittswert zurück-
mit der Arbeitsstelle, hatten die nicht betreuten Jungen sogar zufallen (Regression).
etwas weniger Probleme. Die begeisterten Berichte der betreuten
Gruppe waren eine Täuschung gewesen, wenn auch eine unab- Wirkungsforschung
sichtliche (. Abb. 17.15). Wie können wir also die Wirksamkeit einer Psychotherapie ob-
jektiv messen, wenn weder Klienten noch Kliniker sie beurtei-
Die Sichtweise der Therapeuten len können? Wie können wir feststellen, welchen Menschen mit
Gibt uns die Sichtweise der Kliniker auch einen Grund zu feiern? welchen Problemen am besten geholfen werden kann, und durch
Fallstudien über erfolgreiche Behandlungen gibt es in Hülle und welche Art von Psychotherapie?
17.3 · Therapieevaluation
723 17

. Abb. 17.15 Trauma. Diese Menschen betrauern den tragischen Verlust von Leben und Eigenheimen durch das Erdbeben von 2010 in China. Die Menschen,
die unter einem solchen Trauma leiden, könnten von Beratungen profitieren, obwohl viele Menschen sich selbstständig, oder durch die Hilfe unterstützen-
der Beziehungen zu Freunden und Familie, wieder erholen. »Das Leben selbst ist immer noch ein sehr wirksamer Therapeut«, bemerkte die psychodynamische
Therapeutin Karen Horney (Our Inner Conflicts, 1945; © EPA / NI YUXING / picture alliance / dpa)

Auf der Suche nach Antworten haben sich Psychologen den Kräutertees und metallischen Substanzen) skeptisch gegenüber-
kontrollierten Studien zugewandt. Im 19. Jahrhundert führte standen, begannen zu erkennen, dass viele Patienten auch ohne
eine vergleichbare Forschung zur Veränderung des Feldes der diese Behandlungen wieder gesund wurden, und dass andere
Medizin. Ärzte, die den herkömmlichen Behandlungsmethoden trotz dieser Mittel starben. Wenn man Fakten von abergläubi-
(zur Ader lassen, Abführmittel oder die Verabreichung von schen Überzeugungen unterscheiden wollte, musste man den

Kritisch nachgefragt

Die »Regression« vom Ungewöhnlichen zum Gewöhnlichen


Die Bewertung der Wirksamkeit einer Therapie Zustands führen anstatt zu einer weiteren Ver- »psychische Kraft« fast immer, wenn sie
durch Klienten und Therapeuten enthält schlechterung. noch einmal getestet werden (ein Phäno-
oft Übertreibungen, denn sie wird von zwei men, das Parapsychologen den »Rück-
Phänomenen beeinflusst: Das eine ist der » Ist man erst einmal für die gangseffekt« genannt haben).
Placeboeffekt, die Kraft des Glaubens an eine Regression zur Mitte sensibilisiert, 5 Trainer stauchen ihre Spieler oft nach einer
Behandlung. Wenn Sie glauben, die Behand- sieht man sie überall. ungewöhnlich schlechten ersten Halbzeit
lung werde wirken, dann mag es (dank der zusammen. Sie fühlen sich möglicherweise
Der Psychologe Daniel Kahneman
heilenden Kraft Ihrer positiven Erwartungen) dafür belohnt, das getan zu haben, wenn
durchaus so kommen. (1985) die Leistung der Mannschaft sich in der
Das zweite Phänomen ist die Regression zweiten Halbzeit wieder verbessert (d. h.
zur Mitte, die Tendenz von ungewöhnlichen Das Entscheidende dabei scheint so offen- zum Normalzustand zurückkehrt).
Ereignissen (oder Gefühlen), auf den Durch- sichtlich zu sein, trotzdem übersehen wir es
schnittszustand zurückzufallen. Demnach hat regelmäßig: Was eine normale Regression sein In jedem dieser Fälle mag tatsächlich eine Ver-
ein ungewöhnliches Ereignis (sich schlecht kann (also die erwartete Rückkehr in den bindung zwischen Ursache und Wirkung be-
fühlen) die Tendenz, dass darauf gewöhn- Normalzustand), schreiben wir manchmal dem stehen. Wahrscheinlicher ist allerdings, dass es
lichere Ereignisse folgen (die Rückkehr in zu, was wir unternommen haben. Betrachten sich dabei um ein Beispiel für die natürliche
einen gewöhnlicheren Zustand). Weil wir in Sie einmal Folgendes: Tendenz des Verhaltens handelt, von dem, was
einen gewöhnlicheren Zustand zurückgekehrt 5 Studenten, die in einer Prüfung deutlich aus dem Rahmen des Üblichen fällt, wieder
sind, scheint vielleicht das, was wir in der besser oder schlechter abschneiden, als zum Üblichen zurückzukehren. Und damit
Zwischenzeit unternommen haben, diese Ver- sie es normalerweise tun, werden wahr- wird auch die Aufgabe der Therapieforschung
änderung bewirkt zu haben. Wenn wir uns scheinlich bei einer erneuten Prüfung wie- definiert: Ist die Verbesserung eines Klienten
ganz am Boden fühlen, wird, was auch immer der ihren normalen Durchschnitt erreichen. infolge einer bestimmten Therapie tatsächlich
wir versuchen – einen Therapeuten aufsuchen, 5 Personen mit übersinnlichen Fähigkeiten, größer, als aufgrund von Placebo- und Re-
Yoga oder Ausdauertraining –, mit großer die bei der ersten Testung nicht auf den gressionseffekten zu erwarten wäre, die sich
Wahrscheinlichkeit zu einer Besserung unseres Zufall zurückzuführen sind, verlieren ihre bei Kontrollgruppen zeigen?
724 Kapitel 17 · Klinische Psychologie: Therapie

. Abb. 17.16 Behandlung versus keine Behandlung. Diese beiden normalverteilten Kurven, die auf den Ergebnissen aus 475 Studien beruhen, zeigen,
wie sich der Zustand bei nicht behandelten Menschen und bei Psychotherapieklienten besserte. Die Wirkung für den durchschnittlichen Therapieklienten
übertrifft die von 80% der nicht behandelten Personen. (Nach Smith et al. 1980; Smith, Mary Lee, Gene V. Glass and Thomas I. Miller. The Benefits of Psycho-
therapy. p. 88, Figure 5-1. © 1980 Johns Hopkins University Press. Translated and reprinted with permission of Johns Hopkins University Press)

Krankheitsverlauf von Menschen mit und ohne eine bestimmte Die Ergebnisse vieler solcher Studien werden dann mit Hilfe
Behandlung genau beobachten. Der Zustand von Typhuspatien- der Technik der Metaanalyse weiter bearbeitet. Das ist ein statis-
ten besserte sich beispielsweise oft nach einem Aderlass, weshalb tisches Verfahren, bei dem die Schlussfolgerungen einer großen
die meisten Ärzte von der Wirksamkeit dieser Methode über- Anzahl verschiedener Studien zusammengefasst werden. Ein-
zeugt waren. Erst als man einer Kontrollgruppe einfach nur Bett- fach ausgedrückt sagen uns Metaanalysen, was unter dem Strich
ruhe verordnete – und 70% nach 5 Wochen genesen waren –, bei einer großen Menge von Studien herausgekommen ist.
merkten die Ärzte, so ein Schreck, dass die Behandlung wertlos
Metaanalyse (»meta-analysis«) – Verfahren zur statistischen Zusammen-
war (Thomas 1992). fassung der Resultate vieler unterschiedlicher Studien.
In der Psychologie war es der britische Psychologe Hans
Eysenck (1952), der sich als Erster mit der Therapieforschung Psychotherapeuten begrüßten die erste Metaanalyse von unge-
beschäftigte. Er fasste Studien zusammen, die nachwiesen, fähr 475 Studien über die Wirkung der Psychotherapie (Smith et
dass sich bei zwei Dritteln der Patienten mit nichtpsychotischen al. 1980). Es zeigte sich, dass es dem durchschnittlichen Therapie-
Störungen der Zustand nach einer psychotherapeutischen Be- klienten nach Beendigung der Behandlung besser geht als 80%
handlung deutlich gebessert hatte und löste damit eine lebhafte der unbehandelten Personen, die auf der Warteliste stehen
Diskussion aus. Bis heute bestreitet niemand diese optimistische (. Abb. 17.16). Doch das Ergebnis ist bescheidener, als es zunächst
17 Schätzung. Warum diskutieren wir dann immer noch über die den Anschein hat – per Definition fühlen sich etwa 50% der nicht
Wirksamkeit der Psychotherapie? Weil Eysenck auch von einer behandelten Klienten besser als der durchschnittliche nicht
vergleichbaren Verbesserung des Zustands bei nicht behandelten behandelte Klient. Trotzdem jubelten Mary Lee Smith und ihre
Patienten berichtete, z. B. bei denen, die auf einer Warteliste Kollegen: »Psychotherapie hilft Menschen aller Altersstufen
standen. Ob mit oder ohne Psychotherapie, sagte er, ging es so zuverlässig, wie der Schulbesuch ihre Bildung fördert, die
ca. zwei Dritteln der Patienten deutlich besser. Die Zeit erwies Medizin sie heilt oder ein Geschäft einen Profit abwirft« (1980,
sich als große Heilerin. S. 183).
Spätere Forschung deckte Mängel in Eysencks Analysen auf. Dutzende nachfolgende Zusammenfassungen haben diese
Seine Stichprobe war klein (1952 waren es nur 24 Studien über Frage jetzt genauer untersucht. In ihnen wiederholen sich die
die Wirkung von Psychotherapien). Heute sind hunderte Studien Ergebnisse früherer Wirksamkeitsstudien: Oft bessert sich der
verfügbar. Die besten sind randomisierte klinische Versuche, bei Zustand der Patienten auch ohne Therapie; doch für Patienten, die
denen Forscher Personen nach dem Zufallsprinzip entweder auf sich einer Therapie unterziehen, sind die Chancen auf eine schnel-
eine Warteliste für eine Therapie setzen, oder die Personen keine lere Besserung höher und das Rückfallrisiko ist geringer.
Therapie bekommen. Hinterher werden alle evaluiert, wobei Ist Psychotherapie auch kostengünstig? Noch einmal ist die
man Tests und Berichte von anderen verwendet, die nicht wissen, Antwort Ja. Studien zeigen, dass die Personen, die sich in eine
ob der Klient psychotherapeutisch behandelt wurde oder nicht. psychotherapeutische Behandlung begeben, weniger häufig
17.3 · Therapieevaluation
725 17
eine andere medizinische Behandlung benötigen. Bis zu 16% » Was immer es an Unterschieden bei der Wirksamkeit
weniger medizinische Behandlungen fand man in einer Zusam- verschiedener Behandlungsformen geben mag: Sie sind
menfassung von 91 Studien (Chiles et al. 1999). Die alljährlich offenbar bestenfalls sehr gering.
durch psychische Störungen und Substanzmissbrauch ent- Bruce Wampold et al. (1997)
stehenden Kosten – einschließlich Verbrechen, Unfälle, Arbeits-
platzverlust und Behandlungen – sind schwindelerregend hoch. Hatte der Dodo-Vogel aus Alice im Wunderland also Recht: »Alle
Psychotherapie ist eine gute Investition, genauso wie Geld, das haben gewonnen und alle müssen einen Preis bekommen«?
in prä- und postnatale Präventionsmaßnahmen investiert wird. Nicht ganz. Manche Therapieformen sind die besten für be-
Beides senkt die langfristigen Kosten. Alles, was beispiels- stimmte Probleme, obwohl es oft eine Überlagerung – oder Ko-
weise das seelische Wohlbefinden der Angestellten einer Firma morbidität – von Störungen gibt. Die auf Konditionierung be-
verbessert, kann die Kosten für medizinische Behandlung ruhenden Verhaltenstherapien haben beispielsweise besonders
verringern, Fehlzeiten reduzieren und die Effizienz der Arbeit günstige Ergebnisse bei spezifischen Verhaltensproblemen er-
erhöhen. zielt, etwa bei Bettnässen, Phobien, Zwängen, Eheproblemen
Sie sollten jedoch dabei beachten, dass sich die Behauptung, oder sexuellen Störungen (Baker et al. 2008; Hunsley u. Di Giulio
die Psychotherapie sei im Durchschnitt auf irgendeine Weise 2002; Shadish u. Baldwin 2005). Die psychodynamische Thera-
wirksam, nicht auf eine spezielle Therapieform bezieht. Das ist pie hatte Erfolg bei Depressionen und Ängsten (Driessen et al.
so, als teilte man einem Patienten mit Lungenkrebs mit, dass die 2010; Leichsenring u. Rabung 2008; Shedler 2010b). Und
medizinische Behandlung von Gesundheitsproblemen »im neue Studien bestätigen die Wirksamkeit (manche sagen auch
Durchschnitt« wirksam ist. Was ein Betroffener erfahren möch- Überlegenheit) der kognitiven Therapie und der kognitiven
te, ist wie gut eine bestimmte Behandlung bei seinem speziellen Verhaltenstherapie bei der Bewältigung von Ängsten, der post-
Problem wirkt. traumatischen Belastungsstörung und der Depression (Baker et
al. 2008; De Los Reyes u. Kazdin 2009; Stewart u. Chambless
Prüfen Sie Ihr Wissen
2009; Tolin 2010).
5 Wie beeinflussen (a) der Placeboeffekt und (b) die Regres- » Für jede Wunde ist ein eigenes Kraut gewachsen.
sion zur Mitte die Bewertung der Wirksamkeit von Psy- Englisches Sprichwort
chotherapien durch Klienten und Kliniker?
Außerdem können wir sagen, dass eine Therapie am wirksams-
ten ist, wenn das Problem klar umrissen ist (Singer 1981; Westen
u. Morrison 2001). Für diejenigen, die Phobien oder Panik-
17.3.2 Die relative Wirksamkeit verschiedener attacken erleben, die selbstunsicher sind oder die von Problemen
Psychotherapien bei ihrer sexuellen Leistungsfähigkeit geplagt werden, besteht
Hoffnung auf Besserung. Diejenigen, die unter weniger klar um-
grenzten Problemen (z. B. Depression und Angst) leiden, profi-
? 17.9 Sind manche Psychotherapien bei bestimmten Störun-
tieren gewöhnlich kurzfristig davon, erleben aber später oft einen
gen wirksamer als andere?
Rückfall. Und diejenigen mit den Negativsymptomen einer chro-
Was also können wir den Menschen sagen, die daran denken, in nischen Schizophrenie oder mit dem Verlangen, ihre gesamte
eine Therapie zu gehen – und jenen, die dafür bezahlen –, wenn Persönlichkeit zu ändern, profitieren selten von einer Psycho-
sie uns fragen, welche Therapie für ihr spezielles Problem am therapie allein (Pfammatter et al. 2006; Zilbergeld 1983). Je spe-
besten ist? Statistische Übersichten und Studien scheitern daran, zifischer das Problem, desto größer die Hoffnung auf Besserung.
einer einzigen Therapieform eine generelle Überlegenheit nach- Aber bestimmte andere Therapien bekommen keine Aus-
zuweisen (Smith et al. 1977, 1980). Consumer Reports zog die zeichnungen – und sie sind auch nicht oder nur geringfügig wis-
Schlussfolgerung, dass alle Klienten gleich zufrieden sind, senschaftlich gestützt. (Arkowitz u. Lilienfeld 2006). Wir täten
ganz unabhängig davon, ob sie von einem Psychiater, Psycho- deshalb alle gut daran, Energietherapien zu meiden, die das Ziel
logen oder von einem Sozialarbeiter behandelt wurden, ob haben, die unsichtbaren Energiefelder von Menschen zu beein-
allein oder im Gruppenkontext oder ob der Therapeut sehr flussen, ebenso Therapien mit wiedergefundenen Erinnerungen,
viel oder nur relativ wenig Übung und Erfahrung hatte (Selig- die das Ziel haben, »unterdrückte Erinnerungen« an frühkind-
man 1995). Andere Studien stimmen damit überein. Es besteht lichen Missbrauch aufzudecken (7 Kap. 9) und Wiedergeburts-
praktisch kein oder nur ein geringer Zusammenhang zwischen therapien, die Menschen dazu bringen, das vermutliche Trauma
der Berufserfahrung, Ausbildung, Supervision und behörd- ihrer Geburt nachzuspielen.
lichen Zulassung des Therapeuten einerseits und den mit Klien- Genau wie bei manchen medizinischen Therapien ist es
ten erzielten Ergebnissen andererseits (Luborsky et al. 2002; möglich, dass psychologische Behandlungen nicht nur wir-
Wampold 2007). kungslos, sondern sogar schädlich sind – indem sie Menschen
726 Kapitel 17 · Klinische Psychologie: Therapie

dazu bringen, sich schlechter zu fühlen oder sie davon abhalten,


gesund zu werden (Barlow 2010; Castonguay et al. 2010; Dimid-
jian u. Hollon 2010). Der National Science and Technology
Council führt das Programm »Scared Straight« (das Kinder und
Jugendliche von Verbrechen abhalten soll) als Beispiel für ein gut
gemeintes Programm an, das sich als wirkungslos oder sogar
schädlich herausgestellt hat. Die Frage der Bewertung – welche
Therapien werden als wirksam bezeichnet und welche nicht – ist
das Herzstück dessen, was manche als den Bürgerkrieg der
Psychologie bezeichnen. In welchem Maße sollte die Wissen-
schaft die Richtschnur sein, und das sowohl für die klinische
Praxis als auch für die Bereitschaft der Kostenträger im Gesund-
heitswesen und der Krankenkassen, die Psychotherapie zu be-
zahlen?
Da sind auf der einen Seite die forschenden Psychologen, die
. Abb. 17.17 Treffen evidenzbasierter klinischer Entscheidungen.
wissenschaftliche Methoden dazu nutzen, die Liste wohldefinier- Das Treffen einer idealen klinischen Entscheidung ähnelt einem dreibeini-
ter und validierter Therapien für viele Störungen zu erweitern. gen Hocker, der von Forschungsbefunden, klinischer Erfahrung und
Sie prangern Kliniker an, die »ihren persönlichen Erfahrungen Wissen über den Patienten getragen wird
mehr Bedeutung zumessen« (Baker et al. 2008). Und da sind
andererseits die nichtwissenschaftlichen Therapeuten, die ihre
Tätigkeit eher als Kunst denn als Wissenschaft ansehen, die Prüfen Sie Ihr Wissen
sagen, dass Menschen zu komplex sind und die Therapie zu in-
tuitiv ist für die Beschreibung in einem Handbuch oder für 5 Eine Therapie hilft wahrscheinlicher bei den Patienten
die Überprüfung durch ein Experiment. Zwischen diesen zwei mit (klar/weniger klar) umrissenen Problemen.
Fraktionen befinden sich die wissenschaftsorientierten Kliniker,
die wollen, dass die klinische Praxis auf empirischen Befunden
aufgebaut wird und dass man die Praktiker im Bereich der seeli- 17.3.3 Evaluation alternativer Therapien
schen Gesundheit für die Wirksamkeit ihrer Methoden zur Ver-
antwortung zieht.
? 17.10 Wie schneiden alternative Therapien unter dem
Um die evidenzbasierte Praxis in der Psychologie zu stär-
prüfenden Blick der Wissenschaft ab?
ken, sind die American Psychological Association (Verband der
amerikanischen Psychologen) und andere (2006; Baker et al. Die Tendenz ungewöhnlicher Bewusstseinszustände, wieder
2008; Levant u. Hasan 2008) dem Hinweis des Instituts für in den Normalzustand zurückzukehren, schafft zusammen mit
Medizin gefolgt: Kliniker sollten die besten verfügbaren For- dem Placeboeffekt einen fruchtbaren Boden für Pseudothera-
schungsbefunde, ihre klinische Erfahrung und die Vorlieben und pien. Durch anekdotische Berichte gestützt, in den Medien ver-
Eigenschaften der Patienten vereinen. Verfügbare Therapien kündet und im Internet gepriesen breiten sich alternative The-
17 »sollen streng bewertet« und dann von Klinikern angewendet rapien wie Strohfeuer aus. Nach einer landesweiten Umfrage
werden, die sich ihrer Fähigkeiten und der einzigartigen Situa- nahmen 57% derjenigen mit Angstattacken und 54% derjenigen
tion eines jeden Patienten bewusst sind (. Abb. 17.17). Die Ver- mit einer Depression in ihrer Krankengeschichte Zuflucht zu
sicherungsgesellschaften und die Regierung unterstützen es zu- alternativen Behandlungen wie Kräutermedizin, Massage und
nehmend, dass die Anbieter von psychologischen Gesundheits- Geistheilen (Kessler et al. 2001).
angeboten evidenzbasierte Methoden benötigen. 2007 beispiels- Von den Empfehlungen einmal abgesehen, was sagen die Be-
weise kündigte der britische National Health Service an, er werde funde dazu? Das ist schwer zu beantworten, für die meisten
den Gegenwert von 600 Mio. Dollar investieren, um neue Ar- gibt es keine Befunde – weder dafür, noch dagegen –, für ihre
beitskräfte im Bereich der geistigen Gesundheit in evidenz- Befürworter reicht die persönliche Erfahrung als Befund
basierten Methoden (wie die kognitive Verhaltenstherapie) aus. Manche jedoch waren Gegenstand kontrollierter Studien.
auszubilden und Informationen über solche Behandlungen zu Lassen Sie uns auf zwei alternative Therapien näher eingehen.
verbreiten (DeAngelis 2008). Wenn wir dies tun, sollten Sie im Hinterkopf behalten, dass wir
eine wissenschaftliche Haltung bewahren sollten, wenn wir die
Evidenzbasierte Praxis (»evidence-based practice«) – Treffen klinischer
Entscheidungen, bei dem die besten verfügbaren Forschungsbefunde,
Spreu vom Weizen trennen wollen: skeptisch bleiben, aber nicht
klinische Erfahrung und die Vorlieben und Eigenschaften der Patienten zynisch werden, offen für Überraschungen sein, doch nicht
vereint werden. leichtgläubig.
17.3 · Therapieevaluation
727 17
Eye Movement Desensitization and Reprocessing leben in einem sicheren und geschützten Raum, der ein wenig
(EMDR) emotionalen Abstand von der Erfahrung bietet. Hätte man
EMDR (»eye movement desensitization and reprocessing«) ist eine Mesmers Pseudotherapie mit einer Kontrollbedingung ohne
Therapie, die Tausende bewundern und Tausende als Scharla- jegliche Behandlung verglichen, hätte man (dank der heilenden
tanerie abtun. »Es handelt sich um ein hervorragendes Beispiel, Kraft des positiven Glaubens) vielleicht herausgefunden, dass
um die Unterschiede zwischen wissenschaftlichen und pseudo- auch sie »wahrscheinlich wirkungsvoll« ist, merkte Richard
wissenschaftlichen Therapietechniken zu illustrieren«, merken McNally (1999) an.
James Herbert und sieben andere (2000) an. Francine Shapiro
(1989, 2007) entwickelte EMDR, während sie in einem Park
» Studien weisen darauf hin, dass EMDR genauso wirksam
ist mit unbewegten Augen. Falls diese Schlussfolgerung
spazieren ging und dabei die Erfahrung machte, dass angstvolle
richtig ist, ist das Nützliche an der Therapie nicht neu (haupt-
Gedanken verschwanden, wenn sie ihre Augen spontan um-
sächlich behaviorale Desensibilisierung), und was daran
herschweifen ließ. Ihre neue Form der Angstbehandlung bot sie
neu ist, ist überflüssig.
anderen an: Während der Patient vor seinem inneren Auge trau-
Harvard Mental Health Letter, 2002
matische Szenen ablaufen ließ, löste Shapiro bei ihm dadurch
Augenbewegungen aus, dass sie einen Finger schnell hin und
her bewegte. Sie versetzte ihn dadurch angeblich in die Lage, Lichttherapie
zuvor eingefrorene traumatische Erinnerungen herauszulassen Haben Sie jemals festgestellt, dass Sie in der Zeit der wolkenver-
und neu zu verarbeiten. Zigtausende Angehörige der professio- hangenen und trüben Wintertage morgens verschlafen, dass Sie
nellen Heilberufe aus mehr als 75 Ländern haben seitdem die an Gewicht zunehmen und sich antriebslos fühlen? Anscheinend
Ausbildung durchlaufen (EMDR 2011). Seit der ähnlich charis- war es ein Überlebensvorteil unserer frühen Vorfahren, es wäh-
matische Franz Anton Mesmer den animalischen Magnetismus rend der dunklen Wintertage etwas langsamer angehen zu lassen
(Hypnose) vor mehr als 200 Jahren einführte (er hatte sich auch und Energie zu sparen. Bei manchen Menschen jedoch, be-
durch eine Erfahrung in der freien Natur inspiriert gefühlt), hat sonders bei Frauen und jenen, die weit vom Äquator entfernt
eine neue Therapie nicht so schnell so viele begeisterte Anhänger wohnen, entwickelt sich die winterliche Unzufriedenheit zu einer
angezogen. Form der Depression, der affektiven Störung mit saisonalem
Aber funktioniert es auch? Bei 84–100% der Teilnehmer an Muster (»seasonal affective disorder«, SAD). Um diesen dunklen
vier neueren Studien, die ein einzelnes Trauma zu bewältigen Geistern entgegenzuwirken, hatten die Forscher des National
haben, lautet die Antwort »ja«, berichtet Shapiro (1999, 2002). Institute of Mental Health in den frühen 80er Jahren eine Idee:
Übrigens benötigt man für eine Behandlung nur drei Sitzungen Menschen, die unter SAD leiden, sollten jeden Tag eine wohl-
von jeweils 90 Minuten. Die Arbeitsgruppe der Society of Clini- berechnete Dosis an intensiver Lichtbestrahlung erhalten. Tat-
cal Psychology hat nach einer empirischen Validierung an- sächlich berichteten die Personen, dass sie sich besser fühlten
erkannt, dass die EMDR-Behandlung bei Patienten mit post- (. Abb. 17.18).
traumatischer Belastungsstörung nichtmilitärischen Ursprungs War das eine leuchtende Idee oder ein weiteres geistloses
»wahrscheinlich wirkungsvoll« ist (Chambless et al. 1997; be- Beispiel für den Placeboeffekt? Neuere Studien trugen im Hin-
achten Sie auch Bisson u. Andrew 2007; Rodenburg et al. 2009; blick auf diese Therapie etwas zur Aufklärung bei. Bei einer
Seidler u. Wagner 2006). dieser Studien setzte man einige Personen mit SAD 90 Minuten
Warum sollte es therapeutisch wirksam sein, fragen sich lang einem hellen Licht aus, während andere eine Placebobe-
die Skeptiker, seine Augen zu bewegen, während man sich an handlung erhielten: Ein fauchender »Generator für negative
ein Trauma erinnert? Manche argumentieren, dass Augen- Ionen«, über den sich das Personal genauso enthusiastisch
bewegungen dazu dienen, die Patienten zu entspannen oder ab- äußerte (der aber gar nicht eingeschaltet war). Nach 4 Wochen
zulenken; somit wird es möglich, die erinnerungsabhängigen ging es 61% der Patienten, die einem hellen Morgenlicht aus-
Emotionen zu löschen (Gunter u. Bodner 2008). Andere glau- gesetzt worden waren, deutlich besser, genauso wie 50% derer,
ben, dass die Augenbewegungen selbst wohl nicht das therapeu- die man dem Abendlicht ausgesetzt hatte und 32% der Patien-
tisch wirksame Mittel sind. In Studien, in denen sich Patienten ten, die mit einem Placebo behandelt worden waren (Eastman
traumatische Szenen vorstellten und mit einem Finger klopften et al. 1998). Weitere Studien ergaben, dass 30 Minuten Exposi-
oder nur strikt geradeaus blickten, während der Therapeut tion mit weißem, fluoreszierendem 10.000-Lux-Licht bei über
mit dem Finger wedelte, waren die therapeutischen Ergebnisse der Hälfte der Patienten, die Morgenlicht erhielten, eine Bes-
die gleichen (Devilly 2003). EMDR wirkt besser, als nichts zu tun, serung bewirkte (Flory et al. 2010; Terman et al. 1998, 2001).
räumen Skeptiker ein (Lilienfeld u. Arkowitz 2007), aber viele Nach 20 sorgfältig kontrollierten Versuchsdurchgängen kommt
vermuten, dass das therapeutisch Wirksame daran die Kom- man zu folgendem Urteil (Golden et al. 2005; Wirz-Justice
bination eines robusten Placeboeffekts und einer Expositions- 2009): Bei vielen Menschen kann helles Licht am Morgen tat-
therapie ist – traumatische Erinnerungen immer wieder durch- sächlich die Symptome einer affektiven Störung mit saiso-
728 Kapitel 17 · Klinische Psychologie: Therapie

und die Hormone des Körpers beeinflusst (Ishida et al. 2005;


. Abb. 17.19).

Prüfen Sie Ihr Wissen

5 Welche der folgenden alternativen Therapien hat


gezeigt, dass sie eine wirksame Behandlung ist?
a. Lichttherapie
b. Wiedergeburtstherapien
c. Therapien mit wiedergefundenen Erinnerungen
d. Energietherapien
5 Wie werden evidenzbasierte Entscheidungen
getroffen?

17.3.4 Gemeinsamkeiten verschiedener


Therapieformen

? 17.11 Welche drei Merkmale haben alle Formen der Psycho-


. Abb. 17.18 (© Kathryn LeMieux / King Features Syndicate, Inc. / therapie gemein?
Distr. Bulls)
Warum haben verschiedene Studien nur geringe Korrela-
tionen zwischen der Ausbildung und Erfahrung von Thera-
nalem Muster lindern. Außerdem ist es genauso wirkungsvoll peuten und der Wirkung auf die Patienten gefunden? Auf
wie die Einnahme von Antidepressiva oder wie eine kognitive der Suche nach ein paar Antworten haben Jerome Frank
Verhaltenstherapie (Lam et al. 2006; Rohan et al. 2007). Die (1982), Marvin Goldfried (Goldfried u. Padawer 1982), Hans
Effekte sind auch bei Gehirnuntersuchungen zu sehen; die Strupp (1986) und Bruce Wampold (2001, 2007) die gemein-
Lichttherapie aktiviert eine Gehirnregion, welche die Erregung samen Bestandteile verschiedener Therapieformen untersucht.

17

. Abb. 17.19 Lichttherapie. Um der Winterdepression entgegenzuwirken, verbringen manche Menschen jeden Morgen eine gewisse Zeit vor einer
Box, die intensives Licht ausstrahlt, das dem natürlichen Licht im Freien ähnlich ist. Norwegische Oberschüler erhalten während der Wintermonate eine
regelmäßige Lichttherapie in der Schule. In den Vereinigten Staaten kann man Lichtboxen, die SAD entgegenwirken, in Geschäften für medizinischen
Bedarf und in Lampengeschäften kaufen. (© Klaus Rose, Bildjournalist)
17.3 · Therapieevaluation
729 17

. Abb. 17.20 Eine fürsorgliche Beziehung. Wirkungsvolle Therapeuten bilden ein Band des Vertrauens zu ihren Klienten. (© Getty Images / iStockphoto)

Sie kamen zu dem Schluss, dass sie alle zumindest drei Vorzüge der Therapiesitzungen von 36 anerkannt guten Therapeu-
haben: ten. Manche von ihnen waren kognitive Verhaltensthera-
4 Hoffnung für entmutigte Menschen: Menschen, die sich peuten, andere psychodynamische Therapeuten. Aber das
um eine Therapie bemühen, fühlen sich i. Allg. ängstlich, spielte keine große Rolle, denn der überraschende Befund
niedergeschlagen, wertlos und nicht imstande, mit dem der Studie war, wie ähnlich sie sich waren. In gewissen
Leben fertigzuwerden. Was jede Therapie anbietet, ist die Schlüsselmomenten halfen die empathischen Therapeuten
Erwartung, dass durch die aktive Mithilfe dessen, der die beider Schulrichtungen dem Klienten bei der Bewertung
Therapie aufsucht, alles besser werden kann und besser seiner Person, beim Herstellen einer Verbindung zwischen
werden wird. Dieser Glaube allein mag schon jenseits aller bestimmten Aspekten seines Lebens und beim Verstehen
therapeutischen Techniken als Placebo dienen, indem er seiner Interaktion mit anderen Menschen.
eine positivere innere Einstellung fördert, ein neues Gefühl
der Selbstwirksamkeit hervorruft und damit eine Verringe- Das emotionale Band zwischen Therapeut und Klient – das the-
rung der Symptome bewirkt (Prioleau et al. 1983). rapeutische Bündnis – ist ein Kernaspekt der wirksamen The-
4 Eine neue Perspektive: Jede Therapie bietet dem Hilfe- rapie (Klein et al. 2003; Wampold 2001; . Abb. 17.20). In einer
suchenden eine plausible Erklärung für seine Symptome Studie des amerikanischen National Institute of Mental Health
und gleichzeitig andere Möglichkeiten, sich selbst zu zur Behandlung von Depressionen erwiesen sich jene Thera-
sehen und auf die Welt zu reagieren. Mit Hilfe einer neuen peuten als die wirksamsten, die als die empathischsten und für-
Sichtweise kann der Klient das Leben mit einer neuen sorglichsten wahrgenommen wurden und die die engste the-
Haltung angehen, offen für die Veränderung seiner Verhal- rapeutische Bindung zu ihren Klienten aufbauten (Blatt et al.
tensweisen und seiner Sicht auf sich selbst. 1996). Alle Therapien wecken dadurch Hoffnung, dass ein für-
4 Eine empathische, vertrauensvolle und fürsorgliche Bezie- sorglicher Mensch eine unverbrauchte Perspektive anbietet. Das
hung: Die Aussage, dass die Therapiewirkung nicht mit ist es, was es auch »Paraprofessionellen« (kurz ausgebildeten
Ausbildung oder Erfahrung zusammenhängt, bedeutet Helfern) ermöglicht, so vielen belasteten Menschen so wirkungs-
nicht, dass alle Therapeuten gleich wirksam sind. Unab- voll zu helfen (Christensen u. Jacobson 1994).
hängig davon, welche therapeutische Technik sie nutzen,
Therapeutisches Bündnis (»therapeutic alliance«) – ein Band des Vertrauens
sind wirkungsvolle Therapeuten empathische Menschen, und gegenseitigen Verständnisses zwischen Therapeut und Klient, die zusam-
die versuchen, die Erfahrungen des Anderen nachzuvoll- men versuchen, zielführend das Problem des Klienten zu bewältigen.
ziehen. Sie kommunizieren ihre Fürsorge und ihr Interesse
für die Bedürfnisse ihres Klienten. Und sie gewinnen das Diese drei Eigenschaften sind auch ein Teil dessen, was die wach-
Vertrauen des Klienten durch respektvolles Zuhören, sende Anzahl von Unterstützungs- und Selbsthilfegruppen für
beruhigende Worte und Ratschläge. Marvin Goldfried und ihre Mitglieder bereithält. Und sie sind ein Teil dessen, was tra-
Kollegen (1998) fanden diese Eigenschaften in Mitschnitten ditionelle Heiler den Leidenden geboten haben (Jackson 1992).
730 Kapitel 17 · Klinische Psychologie: Therapie

Heiler – jene besonderen Menschen, denen man sein Leid klagen können dann leicht Schwierigkeiten haben, wenn ihr Therapeut
kann, seien es Psychiater, Hexer oder Schamanen – haben zu- von ihnen erwartet, sie sollten nur an ihr eigenes Wohlbefinden
gehört, um zu verstehen und mitzufühlen, zu beruhigen, zu denken. Und Frauen aus einer kollektivistischen Kultur, die eine
beraten, zu trösten, zu deuten oder zu erklären (Torrey 1986). Therapie anstreben, könnte das doppeltes Unbehagen bereiten.
Solche Eigenschaften mögen eine Erklärung dafür sein, warum Diese Unterschiede mögen auch eine Erklärung dafür sein,
Menschen, die sich durch enge Beziehungen gestützt fühlen – die warum Angehörige mancher Minderheiten die staatlichen Ge-
die Kameradschaft und die Freundschaft fürsorglicher Menschen sundheitsdienste nur sehr zögerlich in Anspruch nehmen und
erleben –, seltener eine Therapie benötigen oder nach therapeu- auch für die Tendenz, die Therapie vorzeitig zu beenden (Chen
tischer Hilfe suchen (Frank 1982; O’Connor u. Brown 1984). et al. 2009; Sue 2006). In einem Experiment nahmen asiatisch-
Lassen Sie uns rekapitulieren: Menschen, die Hilfe annehmen, amerikanische Klienten, die Berater mit den gleichen kulturellen
erleben üblicherweise eine Besserung ihres Zustands. Das gilt Wertvorstellungen zugewiesen bekamen (und nicht solche, bei
auch für viele von denen, die sich keiner Psychotherapie unter- denen das nicht der Fall war), beim Berater eine stärkere Empa-
ziehen – und das ist eine Anerkennung unseres menschlichen thie wahr und empfanden ein stärkeres Bündnis mit ihm (Kim
Einfallsreichtums und unserer Fähigkeit, uns umeinander zu et al. 2005). Dass Therapeut und Klient nicht die gleiche Sprache
kümmern. Trotzdem muss gesagt werden, dass Menschen, die sprechen, nicht den gleichen Kommunikationsstil und unter-
eine Psychotherapie machen, eine deutlichere Besserung spüren schiedliche Wertvorstellungen haben, wurde als Problem erkannt
als die, die das nicht tun, auch wenn die therapeutische Orientie- und hat dazu geführt, dass die American Psychological Associa-
rung und Erfahrung keine besondere Rolle zu spielen scheinen. tion Kurse in Therapieausbildungen anerkannt hat, die für kultu-
Am meisten profitieren in der Regel die Menschen von einer relle Unterschiede sensibilisieren sollen. Eine weitere Maßnahme
Therapie, die klar umrissene, spezifische Probleme haben. besteht darin, Angehörige unterrepräsentierter Bevölkerungs-
gruppen für ein Psychologiestudium zu interessieren.
Prüfen Sie Ihr Wissen
Ein anderes Gebiet potenzieller Konflikte ist die Religion.
5 Diejenigen, die eine Psychotherapie machen, erleben Stark religiöse Menschen könnten stärker von religiös ähnlich
(wahrscheinlicher/unwahrscheinlicher) eine Besserung ausgerichteten Therapeuten profitieren und diese auch bevor-
ihres Zustands als diejenigen, die sich keiner Psycho- zugen (Masters 2010; Smith et al. 2007; Wade et al. 2006).
therapie unterziehen. Möglicherweise haben sie Probleme damit, ein emotionales
Band zu einem Therapeuten aufzubauen, der nicht ihre
Wertvorstellungen teilt.
Albert Ellis, der die offensive rational-emotive Verhaltens-
17.3.5 Kultur, Geschlecht und Wertvorstellungen therapie (REVT) befürwortet, und Allen Bergin, Mitherausgeber
in der Psychotherapie des Handbook of Psychotherapy and Behavior Change, zeigten
anschaulich, wie stark sich Therapeuten unterscheiden und wie
diese Unterschiede ihre Vorstellung einer gesunden Person be-
? 17.12 Wie beeinflussen Kultur, Geschlecht und Wertvor-
einflussen. Ellis (1980) nahm an, dass »niemand und nichts ein
stellungen die Beziehung zwischen Therapeut und Klient?
höheres Wesen ist«, dass »Selbstbekräftigung« gefördert werden
Alle Therapien bieten Hoffnung und fast alle Therapeuten ver- sollte und dass »bedingungslose Liebe, Bindung, Hilfe und …
17 suchen, die Sensibilität, Offenheit, persönliche Verantwortung Treue gegenüber jeder Form von Bindung an eine andere Person,
und Sinnhaftigkeit des Klienten zu verstärken (Jensen u. Bergin vor allem gegenüber der Ehe, schädliche Folgen nach sich zieht«.
1988). Doch im Hinblick auf ihre Moral- und Wertvorstellungen Bergin (1980) nimmt das Gegenteil an – dass, »weil Gott das
und im Hinblick auf kulturelle Besonderheiten unterscheiden höchste Wesen ist, Demut und Hinnahme der göttlichen Auto-
sich die Therapeuten von ihren Klienten (Delaney et al. 2007; rität Tugenden sind«, dass »Selbstkontrolle und Liebe mit Bin-
Kelly 1990). dung sowie Selbstaufopferung gefördert werden sollten« und
Diese Differenzen werden beispielsweise da deutlich, wo dass »Untreue gegenüber irgendeiner Form zwischenmensch-
ein Therapeut einer Kultur (oder eines Geschlechts) mit einem licher Bindung, vor allem der Ehe, schädliche Folgen hat«.
Klienten aus einer anderen Kultur (oder eines anderen Ge- Bergin und Ellis unterschieden sich in ihrer Meinung da-
schlechts) arbeitet. Die meisten nordamerikanischen, euro- rüber, welche Wertvorstellungen am ehesten der Gesundheit
päischen und australischen Therapeuten vertreten beispielsweise förderlich sind, grundlegender als die meisten Therapeuten.
den für ihre Kultur typischen Individualismus, der persönlichen Damit zeigen sie jedoch auch, worin sie übereinstimmen: dass
Bestrebungen und der eigenen Identität Vorrang einräumt, be- die persönlichen Überzeugungen von Psychotherapeuten einen
sonders bei Männern. Schwierig kann das für Klienten sein, die Einfluss auf ihre Praxis haben. Weil sie wissen, dass Klienten
aus einem asiatischen Land eingewandert sind, wo Menschen dazu neigen, die Wertvorstellungen ihrer Therapeuten zu über-
aufmerksamer gegenüber den Erwartungen anderer sind. Sie nehmen (Worthington et al. 1996), glauben manche Psycho-
17.4 · Biomedizinische Therapien
731 17

Unter der Lupe

Therapieführer für Klienten


Für jeden von uns ist das Leben ein bunter 5 Hören von Stimmen oder das Sehen Kassenzulassung verfügt, für den Patienten
Mix aus Heiterkeit und Ärger, Segen und von Dingen, die andere nicht wahr- in der Regel kostenlos. Sie können den Thera-
Trauer, guter und schlechter Laune. Wann nehmen peuten nach seinen Wertvorstellungen,
sollte also jemand die Dienste eines Fach- seiner Ausbildung (. Tab. 17.3) und ggf. nach
manns oder einer Fachfrau für psychische Wenn Sie einen Therapeuten suchen, kann es dem Honorar fragen. Und Sie können fest-
Probleme in Anspruch nehmen? Die American sinnvoll sein, bei zwei oder drei Therapeuten stellen, was Ihr Gefühl zu jedem dieser Thera-
Psychological Association nennt folgende eine Probesitzung zu vereinbaren. Die Ge- peuten meint. Das emotionale Band zwischen
Kennzeichen für seelische Probleme: sundheitszentren der Universitäten sind allge- Therapeut und Klient ist möglicherweise der
5 Gefühle der Hoffnungslosigkeit mein ein guter Anfangspunkt, dort können wichtigste Einflussfaktor einer wirksamen
5 tiefe Depression, die nicht vorübergeht auch kostenlose Dienste angeboten werden. Therapie. Der Berufsverband Deutscher Psy-
5 selbstzerstörerisches Verhalten Sie können Ihr Problem schildern und die chologinnen und Psychologen (BDP) unter-
(z. B. Alkohol- und Drogenabhängigkeit) unterschiedlichen Arbeitsweisen der Thera- hält in Deutschland zudem den Psychothera-
5 beklemmende Angstgefühle peuten kennenlernen. In Deutschland sind pie-Informationsdienst PID, der kostenlos bei
5 plötzliche Stimmungswechsel sogar oftmals die ersten 5 Sitzungen »pro- der Wahl der geeigneten Therapeutin oder
5 Selbstmordgedanken batorische Sitzungen«, d. h. sie sind, falls die des geeigneten Therapeuten berät.
5 Zwangsrituale (z. B. Hände waschen) Therapie von einer Krankenkasse übernom-
5 sexuelle Probleme men wird und der Therapeut auch über eine

logen, dass Therapeuten ihre Wertvorstellungen in stärkerem 17.4 Biomedizinische Therapien


Maße offenlegen sollten. (Denjenigen, die darüber nachdenken,
einen Therapeuten um Hilfe zu bitten, finden hier einige Tipps Psychotherapie ist die eine Möglichkeit, psychische Störungen zu
dazu, wann man um Hilfe bitten und wie man sich auf die Suche behandeln. Die andere Möglichkeit, die oft bei schweren Störun-
nach einem Therapeuten machen kann, der ähnliche Ansichten gen zum Einsatz kommt, ist die biomedizinische Therapie: die
und Ziele wie man selbst hat: 7 Unter der Lupe: Therapieführer für physische Veränderung der Hirnfunktionen durch Eingriff in die
Klienten.) Körperchemie mit Hilfe von Medikamenten, durch die Beein-
flussung der Verschaltungen im Gehirn mit Hilfe von Elektro-
? 17.13 Auf was sollte eine Person achten, die einen Thera- schocks, magnetischen Impulsen oder Psychochirurgie. Psycho-
peuten auswählen will? logen können psychologische Therapien anbieten. Aber mit ein

. Tab. 17.3 Berufsgruppen in Therapie und Beratung

Art der Ausbildung Beschreibung

Klinischer Psychologe/ Diplom-Psychologe mit Schwerpunkt auf Ätiologie, Diagnostik und Therapie psychischer Störungen;
Klinische Psychologin der Titel »Diplom-Psychologe« ist gesetzlich geschützt, er wird durch ein abgeschlossenes Psychologie-
Studium erlangt. Ungefähr die Hälfte von ihnen arbeitet in Behörden und Therapieeinrichtungen, die
andere Hälfte in privaten Praxen.

Psychiater/Psychiaterin Mediziner mit Facharztweiterbildung »Psychiatrie und Psychotherapie«; erst eine psychotherapeutische
Zusatzausbildung berechtigt einen Psychiater, auch Psychotherapie auszuüben und neben der Facharzt-
bezeichnung Psychiater die Zusatzbezeichnung »Psychotherapie« oder »Psychoanalyse« zu führen.
Psychiater können Medikamente verschreiben. Deshalb werden sie meist von Patienten mit schweren
Störungen aufgesucht. Viele haben ihre eigene, private Praxis.

Psychotherapeut/Psychotherapeutin – Diplom-Psychologe mit psychotherapeutischer Zusatzausbildung (»Psychologischer Psychotherapeut«);


Psychologen dürfen keine Medikamente verschreiben.
– Mediziner (Psychiater oder andere Fachärzte) mit psychotherapeutischer Zusatzausbildung (»Ärztlicher
Psychotherapeut«)

Berater/Beraterin Der Begriff des Beraters ist nicht geschützt (nur der des systemischen Beraters). Berater kommen häufig
aus anderen sozialen Berufen als der Psychologie, z. B. der Sozialarbeit oder Sozialpädagogik, oder sie
sind Laienhelfer ohne professionelle Ausbildung. Angeboten werden u. a. Ehe- und Familienberatung,
spezialisiert auf Familienprobleme; kirchliche Berater bieten Beratung in allen Lebenslagen; Drogenberater
arbeiten mit Substanzabhängigen.
732 Kapitel 17 · Klinische Psychologie: Therapie

paar Ausnahmen können nur Psychiater (also medizinische


Ärzte) biomedizinische Therapien anbieten.

17.4.1 Medikamentöse Therapien

? 17.14 Was sind medikamentöse Therapien? Wie helfen


Doppelblindstudien Forschern dabei, die Wirksamkeit eines
Medikaments zu beurteilen?

Die weltweit am häufigsten eingesetzten biomedizinischen The-


rapien sind die medikamentösen Therapien. Seit den 50er Jahren
revolutionierten die Entdeckungen der Psychopharmakologie
(die Untersuchung der Wirkung bestimmter Substanzen auf
psychische Prozesse und auf das Verhalten) die Behandlung von
Patienten mit schweren Störungen und befreiten Hunderttau-
sende aus der Enge psychiatrischer Anstalten. Dank der medika-
mentösen Therapie – und auch dank der Bemühungen, die Zahl
der Zwangseinweisungen zu verringern und die Unterstützung
der Kranken durch die Gemeindepsychiatrie zu sichern – ist die
Zahl der Dauerpatienten öffentlicher psychiatrischer Kliniken in
den USA verglichen mit der Zeit vor einem halben Jahrhundert . Abb. 17.21 Medikament oder Placeboeffekt? Bei vielen Menschen
auf ein Bruchteil zurückgegangen. Auch in Deutschland wurde bessert sich eine Depression, während sie Antidepressiva einnehmen. Aber
Menschen, denen ein Placebo gegeben wurde, können denselben Effekt
seit Mitte der 60er Jahre des vorigen Jahrhunderts die Enthos-
erfahren. Klinische Studien, die die Doppelblindtechnik nutzen, weisen
pitalisierung, d. h. die Entlassung möglichst vieler Langzeitpa- darauf hin, dass Antidepressiva besonders für diejenigen mit einer schwe-
tienten angestrebt. Für manche, die nicht für sich selbst sorgen ren Depression zumindest einen mäßigen klinischen Effekt nach sich
konnten, hat die Entlassung aus den Krankenhäusern jedoch ziehen. (© Claudia Styrsky)

Obdachlosigkeit, nicht Befreiung, bedeutet.


Psychopharmakologie (»psychopharmacology«) – die Untersuchung der
Effekte von Medikamenten auf seelische Vorgänge und das Verhalten. Medikamente, die eigentlich für andere medizinische Zwecke
gedacht waren, Patienten mit Psychosen (Störungen, bei denen
Beinahe jede neue Behandlungsmethode, auch die medikamen- Halluzinationen oder Wahnvorstellungen auf einen Verlust des
töse Therapie, wird zunächst von einer Welle des Enthusiasmus Kontakts mit der Realität hinweisen) ruhigstellten. Diese anti-
willkommen geheißen, denn vielen Menschen geht es nach einer psychotischen Medikamente, z. B. Chlorpromazin (wird als
Behandlung offensichtlich besser. Doch dieser Enthusiasmus Thorazin verkauft), dämpften die Reaktionsbereitschaft auf irre-
wird dann häufig gebremst, wenn die Forscher von den Gene- levante Reize. Deshalb waren sie besonders gut geeignet für Schi-
17 sungszahlen jene abziehen, die (1) durch die normale Erholung zophreniepatienten mit positiven Symptomen wie auditorische
bei nicht behandelten Personen und (2) durch die Erholung auf- Halluzinationen und Paranoia (Lehman et al. 1998; Lenzenweger
grund von Placeboeffekten zustande kommen, die auf das Konto et al. 1989).
der positiven Erwartungen von Patient und Therapeut gehen.
Antipsychotika (Neuroleptika; »antipsychotic drugs«) – Medikamente,
Um also die Wirksamkeit eines neuen Medikaments zu evaluie- die genutzt werden, um Schizophrenie und andere schwere Formen von
ren, geben Forscher der Hälfte der Patienten das Medikament, Störungen der Gedanken zu behandeln.
der anderen Hälfte ein gleich aussehendes Placebo. Weil weder
das Krankenhauspersonal noch der Patient wissen, welcher Pa- Die Moleküle der meisten üblichen antipsychotischen Medika-
tient was bekommen hat, nennt man dieses Vorgehen die Dop- mente sind denen des Neurotransmitters Dopamin gerade so
pelblindtechnik. Die gute Nachricht lautet, dass manche Medika- ähnlich, dass sie an dessen Rezeptoren andocken und seine
mente sich in Doppelblindstudien als nützlich erwiesen haben Aktivität hemmen können. Dieser Befund stützt die Auffassung,
(. Abb. 17.21). dass ein überaktives dopaminerges System zu Schizophrenie
beiträgt.
Antipsychotische Medikamente: Neuroleptika Neuroleptika haben starke Nebenwirkungen. Manche führen
Die Revolution der medikamentösen Behandlung psychischer zu Trägheit, Tremor (Muskelzittern) und Zuckungen, sie rufen
Störungen begann mit der Zufallsentdeckung, dass manche also ähnliche Symptome hervor wie die Parkinson-Krankheit
17.4 · Biomedizinische Therapien
733 17
(Kaplan u. Saddock 1989). Der langfristige Einsatz dieser Medi- In den letzten 12 Jahren des 20. Jahrhunderts hat sich der
kamente kann das dystone Syndrom hervorrufen, das mit un- Anteil der Patienten mit Angststörungen, die außerhalb einer
willkürlichen Bewegungen der Gesichtsmuskeln (z. B. Grimas- Klinik behandelt wurden, nahezu verdoppelt. Der Anteil der
sieren), der Zunge und der Gliedmaßen einhergeht. Patienten, die während dieser Zeit ein Medikament erhielten,
Obwohl sie nicht mehr so wirksam Schizophreniesymptome nahm von 52% auf 70% zu (Olfson et al. 2004). Und was sind
kontrollieren, haben viele Neuroleptika der neuen Generation, die neuen Standardmedikamente gegen Angststörungen? Anti-
z. B. Risperidon (Risperdal) und Olanzapin (Zyprexa), weniger depressiva.
dieser Nebenwirkungen. Diese Medikamente scheinen jedoch
das Risiko von Adipositas und Diabetes zu vergrößern (Buchanan Medikamente gegen Depression: Antidepressiva
et al. 2010; Tiihonen et al. 2009). Antidepressiva wurden nach ihrer Fähigkeit benannt, die Pa-
tienten aus ihrer Depression herauszureißen und das war bis vor
Vielleicht können Sie erraten, welchen Nebeneffekt L-Dopa, ein
kurzem auch ihr Haupteinsatzgebiet. Die Bezeichnung ist etwas
Medikament, das den Dopaminspiegel bei Parkinson-Patienten
irreführend, da diese Medikamente heute auch mit zunehmen-
erhöht, gelegentlich hat: Halluzinationen.
dem Erfolg dazu verwendet werden, um Angststörungen wie
Neuroleptika haben vielen Personen mit Schizophrenie, in Kom- etwa die Zwangsstörung zu behandeln. Diese Klasse von Medi-
bination mit einem Kompetenztraining und dem Halt ihrer Fa- kamenten wirkt dadurch, dass sie die Verfügbarkeit von Norad-
milie, neue Hoffnung gegeben (Guo 2010). Hundertausende renalin oder Serotonin verbessert; das sind Neurotransmitter, die
Patienten haben die Abteilungen der psychiatrischen Kranken- die Erregung erhöhen, die Stimmung aufhellen und während
häuser verlassen, sind an ihren Arbeitsplatz und in ein fast nor- einer Depression anscheinend knapp sind. Fluoxetin, das viele
males Leben zurückgekehrt (Leucht et al. 2003). Millionen Menschen auf der ganzen Welt unter dem Namen
Prozac kennen (in Deutschland wird es u. a. als Fluctin vertrie-
Medikamente gegen Angst: Anxiolytika ben), blockiert teilweise die Wiederaufnahme und Entfernung
Anxiolytika, beispielsweise Xanax oder Ativan, verringern, ähn- von Serotonin von den Synapsen (. Abb. 17.22). Weil Medika-
lich wie Alkohol, die Aktivität des Zentralnervensystems (und mente wie Prozac, Fluctin oder verwandte Wirkstoffe wie Zoloft
sollten deshalb nie in Verbindung mit Alkohol eingenommen und Paxil die synaptische Aktivität beim Abbau von Serotonin
werden). Anxiolytika werden oft mit einer psychologischen verlangsamen, werden sie selektive Serotoninwiederaufnahme-
Therapie kombiniert. Ein bestimmtes Anxiolytikum, das Anti- hemmer (»selective serotonin reuptake inhibitors«, SSRIs) be-
biotikum D-Cycloserin, wirkt auf einen Rezeptor, was zusam- zeichnet. (Da sie auch bei der Behandlung anderer Krankheiten
men mit verhaltenstherapeutischer Behandlung die Löschung genutzt werden, von Angst bis zu Schlaganfällen, bezeichnen
gelernter Ängste erleichtert. Experimente weisen darauf hin, dass manche Experten sie als SSRI-Medikamente anstatt als »Anti-
das Medikament die Vorteile der Expositionstherapie verstärkt depressiva« [Kramer 2011].) Andere Antidepressiva blockieren
und auch dabei hilft, die Symptome der posttraumatischen die Wiederaufnahme oder Aufspaltung der beiden Neurotrans-
Belastungsstörung und von Zwangsstörungen zu verringern mitter Noradrenalin und Serotonin. Obwohl die doppelt wirken-
(Davis 2005; Kushner et al. 2007). den Antidepressiva wirksam sind, haben sie mehr potenzielle
Nebenwirkungen (trockener Mund, Gewichtszunahme, Blut-
Anxiolytika (»antianxiety drugs«) – Medikamente, die genutzt werden,
um Ängstlichkeit und Erregung zu kontrollieren. hochdruck oder Schwindelanfälle [Anderson 2000; Mulrow
1999]). Werden diese Medikamente mit Hilfe eines Pflasters
Ein Vorwurf, den die Kritiker den Verhaltenstherapeuten verabreicht – und dadurch der Verdauungstrakt und die Leber
manchmal machen – nämlich dass die Symptome verringert umgangen –, können diese Nebenwirkungen weniger stark sein
würden, ohne die auslösenden Probleme aufzudecken –, wird (Bodkin u. Amsterdam 2002).
auch gegen die medikamentösen Therapien vorgebracht. Im Ge- Antidepressiva (»antidepressant drugs«) – Medikamente, die genutzt
gensatz jedoch zu einer verhaltenstherapeutischen Behandlung, werden, um Depressionen und manche Angststörungen zu behandeln.
die eines Tages abgeschlossen ist, könnte es aber sein, dass diese Unterschiedliche Varianten wirken, indem sie die Verfügbarkeit verschiede-
Medikamente ständig eingenommen werden. Doch beim leises- ner Neurotransmitter verändern.

ten Anzeichen von Spannung einfach »ein Xanax einzuwerfen«, Nach der Einführung der SSRI-Medikamente erhöhte sich der
kann zu einer psychischen Abhängigkeit führen; das sofortige Anteil der Patienten, die wegen einer Depression medikamentös
Nachlassen der Spannung wirkt als Verstärker für die Neigung behandelt wurden, drastisch von 70% im Jahr 1987 (ein Jahr be-
des Patienten, ein Medikament zu nehmen, sobald er Angst vor SSRI eingeführt wurden) auf 89% im Jahr 2001 (Olfson et al.
verspürt. Medikamente gegen Angst können auch zu einer 2003; Stafford et al. 2001). Von 1996 bis 2005 verdoppelte sich
physiologischen Abhängigkeit führen. Wer häufig Zuflucht zu die Anzahl der Amerikaner, die Antidepressiva verschrieben
ihnen sucht und dann damit aufhört, kann stärkere Angstgefühle, bekamen von 13 auf 27 Mio. (Olfson u. Marcus 2009). Zwischen
Schlaflosigkeit oder andere Entzugssymptome erleben. 2002 und 2007 erhöhte sich der Gebrauch von Antidepressiva in
734 Kapitel 17 · Klinische Psychologie: Therapie

. Abb. 17.22a–c Biologie der Antidepressiva. Die Abbildung zeigt die Wirkung von Fluoxetin, das die Wiederaufnahme von Serotonin teilweise blockiert

Australien um 41% (Hollingworth et al. 2010). Auch in Deutsch- der Bildung von Emotionen beteiligte limbische System wirken)
land hat sich seit 1992 die Anzahl der verordneten Tagesdosen in Verbindung mit einer kognitiven Verhaltenstherapie (die
bis 2001 fast verdoppelt (Lohse et al. 2003) quasi von oben wirkt und mit einer veränderten Aktivität der
Aber Vorsicht: Patienten, die mit der Einnahme von Anti- Frontallappen beginnt) einzusetzen.
depressiva anfangen, werden nicht gleich am nächsten Tag Niemand widerspricht der Aussage, dass es depressiven Pa-
aufwachen und »Oh, what a beautiful morning!« singen. Zwar tienten nach einem Monat Einnahme von Antidepressiva häufig
dauert es nur wenige Stunden, bis die Antidepressiva auf die besser geht. Doch wenn wir die natürliche Erholung (die Rück-
Neurotransmitter wirken, aber die volle psychische Wirkung kehr zum Normalzustand, auch als Spontanremission bezeich-
entfaltet sich oft erst nach 4 Wochen (und kann die Nebenwir- net) und den Placeboeffekt berücksichtigen, wie stark ist dann
kung verringerten sexuellen Verlangens mit sich bringen). die Wirkung des Medikaments? Nicht überwältigend, berichten
Ein Grund für diese verzögerte Wirkung könnte darin liegen, Irving Kirsch und seine Kollegen (1998, 2002, 2010). Ihre Aus-
dass ein erhöhter Serotoninspiegel anscheinend die Neuro- wertung klinischer Doppelblindstudien weist darauf hin, dass
genese, die Bildung neuer Hirnzellen, anregt und dadurch viel- Placebos für 75% der Medikamentenwirkung verantwortlich
leicht eine Umkehrung des durch Stress verursachten Zellver- sind (. Abb. 17.23). In einem darauffolgenden Überblicksartikel,
lusts bewirkt (Becker u. Wojtowicz 2007; Jacobs 2004). der unveröffentlichte klinische Studien enthielt, war der Effekt
Antidepressiva sind aber nicht die einzige Möglichkeit, den der Antidepressiva auch mäßig (Kirsch et al. 2008). Der Placebo-
17 Patienten wieder in Schwung zu bringen: Ein Aerobictraining effekt war für diejenigen mit einer schweren Depression geringer,
trägt dazu bei, dass sich Menschen, die sich ängstlich fühlen, was den zusätzlichen Nutzen des Medikaments für sie etwas
beruhigen und dass diejenigen, die sich deprimiert fühlen, neue größer machte. »Wenn man diese Ergebnisse bedenkt, scheint es
Energie tanken. Deshalb tut dieses Training manchen Personen wenige Gründe zu geben, Antidepressiva irgendjemandem außer
mit einer leichten bis mittelschweren Depression fast ebenso gut den schwer depressiven Patienten zu verschreiben, es sei denn
und hat zusätzliche positive Nebenwirkungen (lesen Sie mehr zu alternative Behandlungen sind fehlgeschlagen«, schloss Kirsch
diesem Thema später in diesem Kapitel). Eine kognitive Thera- (BBC 2008). Eine neuere Analyse bestätigt, dass der Nutzen von
pie, die dem Patienten hilft, die nun schon zur Gewohnheit ge- Antidepressiva verglichen mit Placebos »im Durchschnitt bei
wordene negative Denkweise zu überwinden, kann die durch Patienten mit milden oder mittelschweren Symptomen minimal
das Medikament hervorgerufene Milderung der Depression ver- oder nicht vorhanden ist«. Für sie ist Aerobictraining oder Psy-
stärken und die Gefahr eines Rückfalls verringern, wenn das chotherapie oft wirksam. Aber bei den Patienten mit einer
Medikament abgesetzt wird (Hollon et al. 2002; Keller et al. 2000; »schweren Depression« wird der Vorteil der Medikamente »be-
Vittengl et al. 2007). Noch besser ist es, wie einige Studien emp- trächtlich« (Fournier et al. 2010).
fehlen, die Depression (und auch die Ängstlichkeit) von oben
und von unten anzugehen (Cuijpers et al. 2010; Walkup et al. » Kein verdrehter Gedanke ohne ein verdrehtes Molekül.
2008) und Antidepressiva (die sozusagen von unten auf das an Dem Psychologen Ralph Gerard zugeschrieben
17.4 · Biomedizinische Therapien
735 17

. Abb. 17.23 (Copyright © The New Yorker Collection, 2000, P. C. Vey / cartoonbank.com)

Stimmungsstabilisierende Medikamente kürzlich herausfand, dass es bei der Kontrolle manischer Epi-
Zusätzlich zu den Neuroleptika, den Anxiolytika und den Anti- soden wirkt, die im Zusammenhang mit einer bipolaren Störung
depressiva haben die Psychiater stimmungsstabilisierende Medi- auftreten.
kamente in ihrem Arsenal. Das simple Salz Lithium kann
ein wirkungsvoller Stimmungsstabilisator für Patienten sein,
» Lithium verhindert meine verlockenden, aber verhängnis-
vollen Höhenflüge, vermindert meine Depressionen, macht
die unter den emotionalen Hochs und Tiefs der bipolaren Stö-
mein ungeordnetes Denken frei von allem Wirren, verlang-
rung leiden. Der australische Arzt John Cade machte diese
samt mich, macht mich sanfter, hindert mich daran, meine
Entdeckung, als er in den 40er-Jahren einem Patienten mit
Karriere und Beziehungen zu zerstören, hält mich vom
einer schweren Manie Lithium verordnete. Nach nicht einmal
Krankenhaus fern, am Leben und macht die Psychotherapie
einer Woche stellte er fest, dass der Zustand seines Patienten
erst möglich.
wieder sehr gut war (Snyder 1986). Nachdem sie jahrelang unter
Kay Redfield Jamison, An Unquiet Mind, 1995
den Stimmungsumschwüngen der bipolaren Störung gelitten
haben, profitieren 7 von 10 Patienten von dieser Langzeitthe-
rapie, bei der täglich eine bestimmte Dosis des günstigen Salzes Prüfen Sie Ihr Wissen

eingenommen wird, das dabei hilft, manische Episoden zu ver-


5 Die Medikamente, die am häufigsten genutzt werden,
hindern oder zu lindern und, in geringerem Ausmaß, De-
um Depressionen zu behandeln, heißen .
pressionen mildert (Solomon et al. 1995). Es fördert auch die
Die Medikamente, die heute meistens gegeben werden,
neuronale Gesundheit und reduziert damit die Anfälligkeit von
um Angststörungen zu behandeln, werden
bipolaren Patienten, später an Demenz zu erkranken (Kessing
genannt. Die Schizophrenie wird oft mit
et al. 2010).
behandelt.
Ihr Selbstmordrisiko beträgt nur noch ein Sechstel des Risi-
5 Wie bewerten Forscher die Wirksamkeit von bestimmten
kos von Patienten mit bipolarer Störung, die kein Lithium ein-
medikamentösen Therapien?
nehmen (Tondo et al. 1997). Die Lithiummenge im Trinkwasser
korrelierte auch mit geringeren Selbstmordraten (in 18 japa-
nischen Groß- und Kleinstädten) und mit geringeren Krimina-
litätsraten (in 27 texanischen Bezirken) (Ohgami et al. 2009; 17.4.2 Stimulation des Gehirns
Schrauzer u. Shrestha 1990, 2010; Terao et al. 2010). Lithium
wirkt, obwohl wir noch gar nicht genau wissen, warum. Und so ? 17.15 Wie werden die Stimulation des Gehirns und die
ist es auch bei Depakote, einem Medikament, das ursprünglich Psychochirurgie bei der Behandlung bestimmter Störungen
zur Behandlung der Epilepsie eingesetzt wurde und bei dem man genutzt?
736 Kapitel 17 · Klinische Psychologie: Therapie

. Abb. 17.24 Elektrokrampftherapie. Zwar ist die Elektrokrampftherapie (EKT) umstritten, doch ist sie immer noch die Methode der Wahl für Patienten
mit Depression, die auf Medikamente nicht ansprechen

Elektrokrampftherapie Association schlussfolgerte, dass »die Ergebnisse der Elektro-


Ein umstrittenerer Eingriff in das Gehirn ist die Schockbehand- krampftherapie bei der Behandlung schwerer Depressionen zu
lung oder Elektrokrampftherapie (EKT). Bei ihrer ersten An- den positivsten Behandlungseffekten der gesamten Medizin ge-
wendung im Jahr 1938 wurde der hellwache Patient auf einem hörten« (Glass 2001). In ihrem Buch Schock: Die heilende Kraft
Tisch festgeschnallt und erhielt Stromstöße mit etwa 100 Volt ins der Elektrokrampftherapie (2006) schreibt die Befürworterin der
Gehirn, was schmerzhafte Zuckungen und eine kurze Bewusst- EKT Kitty Dukakis: »Es war mir … nicht möglich, die Angst ab-
losigkeit hervorrief. Das verschaffte der Elektrokrampftherapie zuschütteln, auch wenn ich mich gut fühlte, denn ich wusste, dass
den Ruf einer barbarischen Behandlung, der immer noch nicht die schlechten Gefühle wiederkommen würden. Die EKT hat
17 vergessen ist. Heute erhalten die Patienten allerdings zuerst ein diese Vorahnungen fortgewischt. Sie hat mir ein Gefühl der Kon-
Betäubungsmittel, außerdem ein Muskelrelaxans (um Verletzun- trolle gegeben, jedenfalls hoffe ich das.«
gen durch die Zuckungen zu verhindern), bevor der Psychiater Elektrokrampftherapie (EKT; »electroconvulsive therapy«) – biomedizini-
das Gehirn des Patienten 30–60 Sekunden lang dem elektrischen sche Therapie für schwer depressive Patienten, bei der ein kurzer Stromstoß
Strom aussetzt (. Abb. 17.24). Innerhalb von 30 Minuten erwacht durch das Gehirn des anästhesierten Patienten geschickt wird.
der Patient wieder und erinnert sich nicht an die Behandlung oder
Die Verwendung von Elektrizität in der Medizin ist eine alte
an die vorangegangenen Stunden. Nach 3 solcher wöchentlichen
Praxis. Der römische Kaiser Claudius (10 v. Chr. – 54 n. Chr.) wurde
Sitzungen, die 2–4 Stunden dauern, zeigt sich bei 80% der Patien-
wegen seiner Kopfschmerzen von seinen Ärzten mit Zitteraalen,
ten, die die EKT erhalten, eine deutliche Besserung des Befindens.
die an seine Schläfen gesetzt wurden, behandelt.
Zwar ist ein gewisser Gedächtnisverlust für den Zeitraum der Be-
handlung festzustellen, aber keine merkliche Hirnschädigung. Wie lindert die Elektrokrampftherapie eine schwere Depression?
Eine Studie nach der anderen bestätigt, dass die Elektrokrampf- Auch nach mehr als 70 Jahren weiß das niemand ganz genau.
therapie bei schweren Depressionen eine wirksame Behandlungs- Ein Behandelter verglich die EKT mit dem Pockenimpfstoff, der
methode für Patienten ist, die auf eine medikamentöse Therapie Leben rettete, ehe man wusste, wie er wirkt. Andere sehen sie als
nicht ansprachen (Bailine et al. 2010; Fink 2009; UK ECT Review Neustart ihres zerebralen Computers. Aber was macht die EKT
Group 2003). Ein Leitartikel im Journal of the American Medical wirksam? Vielleicht beruhigen die schockinduzierten Anfälle
17.4 · Biomedizinische Therapien
737 17

. Abb. 17.25 Magneten für die Seele. Bei der wiederholten transkraniellen Magnetstimulation (rTMS) wird ein schmerzfreies Magnetfeld durch die
Kopfhaut auf die Oberfläche des Kortex ausgestrahlt; dort können die Pulswellen dazu genutzt werden, die Aktivität in bestimmten kortikalen Arealen
zu stimulieren oder zu dämpfen. (Aus George 2003, mit freundlicher Genehmigung von Scientific American)

neuronale Zentren, deren Überaktivität die Depression auslöst. Norman Endler (1982) schrieb, nachdem eine Elektrokrampf-
Die EKT scheint auch, wie Antidepressiva und körperliche An- therapie seine schwere Depression gelindert hatte: »Innerhalb
strengung, die Produktion neuer Hirnzellen anzuregen (Bolwig von 2 Wochen ist ein Wunder geschehen.«
u. Madsen 2007).
Skeptiker haben eine andere Erklärungsmöglichkeit dafür ge- Alternative Neurostimulationstherapien
liefert, wie die EKT wirkt: mit dem Placeboeffekt. Die meisten Zwei andere neuronale Stimulationstechniken steigern die Hoff-
EKT-Studien haben es nicht geschafft, mit einer Kontrollbedin- nung auf sanftere Alternativen – magnetische Stimulation und
gung zu arbeiten, bei der Personen zufällig zu einer Gruppe zuge- tiefe Hirnstimulation – sie geben den neuronalen Netzwerken in
teilt werden, welche die gleiche Anästhesie und eine simulierte den Gehirnen Depressiver Starthilfe.
EKT erhält, ohne dass tatsächlich Stromstöße erteilt werden. Wenn
diese Placebobehandlung verabreicht wird, merken John Read und jMagnetstimulation
Richard Bentall (2010) an, ist die positive Erwartung allein wir- Eine depressive Stimmung wendet sich anscheinend zum
kungsvoll, ohne die Schocks, obwohl eine Überblicksarbeit der Besseren, wenn wiederholte elektrische Impulse durch eine
Food and Drug Administration (2011) schlussfolgert, dass die Magnetspule geschickt werden, die dem Patienten dicht an die
EKT wirkungsvoller ist als ein Placebo, speziell auf kurze Sicht. Schädeldecke gehalten wird (. Abb. 17.25). Diese schmerzlose
Heute wird die EKT mit kürzeren Stromstößen verabreicht, Prozedur, die wiederholte transkranielle Magnetstimulation,
manchmal auch nur für die rechte Gehirnhälfte, es treten auch wird über mehrere Wochen am wachen Patienten vorgenom-
weniger Gedächtnisschwierigkeiten auf (HMHL 2007). Ganz men. Im Gegensatz zur Elektrokrampftherapie ruft die trans-
gleich, wie beeindruckend die Ergebnisse sind: Der Gedanke, kranielle Magnetstimulation keine Krämpfe, Gedächtnisverlust
Krämpfe durch elektrische Schocks bei einem Menschen auszu- oder andere starke Nebenwirkungen hervor (außer möglichen
lösen, kommt vielen barbarisch vor, vor allem da ja niemand Kopfschmerzen).
weiß, warum diese Therapie überhaupt wirkt. Hinzu kommt,
Wiederholte transkranielle Magnetstimulation (»repetitive transcranial
dass 4 von 10 Patienten, die mit der Elektrokrampftherapie be- magnetic stimulation«, rTMS) – sich wiederholende Einwirkung von
handelt wurden, innerhalb von 6 Monaten einen Rückfall in die Pulswellen magnetischer Energie auf das Gehirn; kommt zum Einsatz, um
Depression erlitten haben (Kellner et al. 2006). Trotzdem ist die Gehirnaktivität zu stimulieren oder zu unterdrücken.
Elektrokrampftherapie in den Augen vieler Psychiater und Pa-
tienten ein kleineres Übel als eine schwere Depression mit ihrem Erste Studien haben einen »mäßigen« positiven Nutzen
Elend, ihren Qualen und der ständigen Suizidgefahr. Und wie der rTMS gefunden (Daskalakis et al. 2008; George et al. 2010;
738 Kapitel 17 · Klinische Psychologie: Therapie

. Abb. 17.26 Ein Schalter für Depressionen. Indem sie die Gehirne von Patienten mit und ohne Depressionen verglich, identifizierte die Forscherin Helen
Mayberg ein Gehirnareal, das bei depressiven oder traurigen Personen aktiv zu sein scheint und dessen Aktivität durch tiefe Hirnstimulation beruhigt wer-
den könnte. (© Eric S. Lesser)

López-Ibor et al. 2008). Wie sie wirkt, ist jedoch unklar. Eine erhalten wurde (Kennedy et al. 2011). Manche fühlten sich plötz-
mögliche Erklärung besteht darin, dass die Stimulierung den lich wacher und wurden gesprächiger und kontaktfreudiger;
linken Frontallappen anregt, der bei depressiven Patienten relativ anderen ging es nur geringfügig besser, wenn überhaupt. Die zu-
inaktiv ist (Helmuth 2001). Wenn die Nervenzellen wiederholt künftige Forschung wird erkunden, ob Mayberg einen Schalter
stimuliert werden, können sie durch einen Prozess, der als Lang- entdeckt hat, der Depressionen vermindern kann. Andere
zeitpotenzierung (LTP) beschrieben wurde, funktionierende Forscher verfolgen die Idee, dass die tiefe Hirnstimulation Er-
Schaltkreise im Gehirn ausbilden. (In 7 Kap. 9 finden Sie mehr leichterung für Personen mit einer Zwangsstörung bieten kann
Details zur LTP.) (Rabins et al. 2009).

Eine Metaanalyse von 17 klinischen Experimenten fand heraus, Prüfen Sie Ihr Wissen
dass auch eine andere Stimulationstechnik Depressionen mildert:
die Massagetherapie (Hou et al. 2010). 5 Schwere Depressionen, die nicht auf andere Therapien
ansprachen, können mit der behandelt
werden, die Anfälle und Gedächtnisverlust hervorrufen
jTiefe Hirnstimulation
kann. Eher milde neuronale Stimulationstechniken, die
Andere Patienten, deren Depression weder auf Medikamente, entwickelt wurden, um Depressionen zu vermindern,
die den Körper überschwemmen, noch auf Elektrokrampfthera- umfassen Magnetstimu-
17 pie ansprachen, die mindestens das halbe Gehirn anstößt, haben lation und stimulation.
von einer experimentellen Behandlung profitiert, die von einem
Gehirn-Depressions-Forschungszentrum entwickelt wurde. Die
Neuroforscherin Helen Mayberg und ihre Kollegen (2005, 2006,
2007, 2009) haben sich auf ein neuronales Zentrum konzentriert, 17.4.3 Psychochirurgie
welches die denkenden Frontallappen und das limbische System
verbindet (. Abb. 17.26). Dieses Gebiet, das im Gehirn depres- Weil ihre Folgen unumkehrbar sind, ist die Psychochirurgie –
siver oder zeitweise trauriger Personen überaktiviert ist, beruhigt chirurgische Eingriffe, bei denen Hirngewebe zerstört oder ent-
sich bei der Behandlung mit der EKT oder unter Antidepressiva. fernt wird – die drastischste und am wenigsten genutzte biome-
Um Neuronen experimentell zu erregen, die die verstärkende dizinische Intervention bei Verhaltensstörungen. Der portugie-
Aktivität von negativen Emotionen hemmen, nutzte Mayberg sische Arzt Egas Moniz entwickelte in den 1930er Jahren die
die Technologie der tiefen Hirnstimulation, die manchmal ge- Lobotomie, die der wohl bekannteste psychochirurgische Ein-
nutzt wird, um das Zittern bei Parkinson-Patienten zu behandeln. griff wurde. Moniz fand Folgendes heraus: Wenn man die Ner-
Von den ersten 20 Patienten, die Elektroden und einen Schritt- ven, die die Frontallappen mit den emotionssteuernden Zentren
macher implantiert bekamen, erlebten 12 eine Erleichterung, im Inneren des Gehirns verbinden, durchtrennt, werden unkon-
was während der 3- bis 6-jährigen Follow-up-Phase aufrecht- trollierbar emotionale und gewalttätige Patienten ruhiggestellt.
17.4 · Biomedizinische Therapien
739 17

. Abb. 17.27 Gescheiterte Lobotomie. Dieses Foto von 1931 zeigt Rosemary Kennedy (rechts unten) im Alter von 12 Jahren im Kreise ihrer Familie, u. a.
mit ihrem Bruder (und zukünftigem US-Präsidenten) John (2. v. l.). Als Rosemary 23 Jahre alt war, stimmte ihr Vater (5. v. l.) auf medizinischen Rat hin einer
Lobotomie zu, die versprach, ihre berichteten heftigen Stimmungsschwankungen zu kontrollieren. Die Prozedur ließ sie mit einer kindlichen Mentalität in
einem Krankenhaus zurück, bis zu ihrem Tod im Jahre 2005 im Alter von 86 Jahren. (This image is in the public domain)

Bei der groben aber einfachen Prozedur, die nur ca. 10 Minuten Wenn etwa ein Patient unter unkontrollierbaren Krämpfen
dauerte, versetzte ein »Neurochirurg« den Patienten mittels leidet, kann ein Chirurg das spezielle Bündel von Nervenfasern
Schock in ein Koma, schlug ein Instrument, das einem kleinen deaktivieren, das die Zuckungen verursacht oder weiterleitet. Die
Eispickel ähnelte, durch die Höhlen beider Augen ins Gehirn und MRT-gestützte Präzisionschirurgie wird auch gelegentlich ein-
drehte und wendete es hin und her, um die Nervenverbindungen gesetzt, um die Verschaltungen von Neuronen zu durchtrennen,
zu kappen, die zu den Frontallappen führten. Zwischen 1936 und die an schweren Zwangsstörungen beteiligt sind (Carey 2009,
1954 wurden Zehntausende schwer gestörter Menschen »loboto- 2011; Sachdev u. Sachdev 1997). Da diese Eingriffe jedoch irre-
misiert« (Valenstein 1986). versibel sind, sind sie umstritten und Neurochirurgen nehmen
Psychochirurgie (»psychosurgery«) – chirurgischer Eingriff zur Entfernung nur als letztes Mittel Zuflucht zu ihnen.
oder Zerstörung von Hirngewebe mit dem Ziel, dadurch eine Verhaltens-
änderung zu bewirken.
Lobotomie (»lobotomy«) – psychochirurgischer Eingriff, der früher 17.4.4 Therapeutische Änderung des Lebensstils
angewendet wurde, um unkontrollierbar emotionale oder gewalttätige
Patienten ruhigzustellen. Bei dem Eingriff wurden die Nervenverbin-
dungen zwischen den Frontallappen und den emotionssteuernden Zen- ? 17.16 Wie können Menschen eine Erleichterung von ihren
tren im Inneren des Gehirns durchtrennt.
Depressionen erfahren, indem sie mit einem gesunden
Lebensstil auf sich selbst achten, und inwiefern spiegelt das
Beabsichtigt war zwar einfach nur die chirurgische Trennung
unsere biopsychosozialen Systeme wider?
von Emotion und Gedanken, doch das Ergebnis einer Lobotomie
war häufig viel drastischer: Die Lobotomie senkte die Not und Die Wirksamkeit der biomedizinischen Therapien erinnert uns
Spannung der Person, aber sie brachte gewöhnlich eine nur an eine elementare Wahrheit: Wir sprechen zwar gern entweder
noch lethargische, unreife und unkreative Persönlichkeit hervor von psychologischen oder von biologischen Einflüssen, als seien
(. Abb. 17.27). Nachdem bis in die 50er Jahre allein in den USA das getrennte Bereiche, aber alles, was psychologisch ist, ist
rund 35.000 Menschen lobotomisiert worden waren, kamen gleichzeitig auch biologisch (. Abb. 17.28). Jeder Gedanke, jedes
die Beruhigungsmittel auf den Markt und die Psychochirurgie Gefühl hängt von der Funktionsfähigkeit des Gehirns ab. Jede
wurde weitgehend aufgegeben. Heute gehört die Lobotomie zur kreative Idee, jeder Augenblick der Freude oder des Ärgers und
Medizingeschichte. Aber die mehr zielgerichtete Mikropsycho- auch jede depressive Phase entsteht aus der elektrochemischen
chirurgie wird manchmal in extremen Fällen vorgenommen. Aktivität des lebendigen Gehirns. Der Einfluss wirkt sich in bei-
740 Kapitel 17 · Klinische Psychologie: Therapie

stils werben. Er merkt an, dass die menschlichen Gehirne und


Körper für körperliche Aktivität und soziale Bindungen angelegt
wurden. Unsere Vorfahren jagten, sammelten und lebten in
Gruppen, und es gibt wenige Hinweise darauf, dass sie unter
belastenden Depressionen gelitten haben. In der Tat erleben die-
jenigen selten eine Depression, deren Lebensstil anstrengende
körperliche Aktivität mit sich bringt, außerdem starke gemein-
schaftliche Verbindungen, viel Sonnenlicht und Schlaf (denken
sie an Gruppen auf Nahrungssuche in Papua Neuguinea oder an
die Bauernschaften der Amish in Nordamerika). Für Kinder und
. Abb. 17.28 Wechselwirkung zwischen Körper und Geist. Die biomedi-
zinischen Therapien gehen von der Annahme aus, dass Körper und Seele Erwachsene vermindern Außenaktivitäten in natürlichen Um-
eine Einheit bilden: Wenn man das eine beeinflusst, beeinflusst man auch gebungen – vielleicht ein Waldspaziergang (. Abb. 17.29) –
das andere Stress und unterstützen die Gesundheit (NEEF 2011; Phillips
2011). »Einfach gesagt: Menschen waren nie für das sesshafte,
ungebundene, sozial isolierte Lebenstempo mit unzureichender
den Richtungen aus: Wenn sich ein Zwang durch Psychotherapie Ernährung und zu wenig Schlaf des amerikanischen Lebens im
unter Kontrolle bringen lässt, dann zeigen PET-Aufnahmen auch 21. Jahrhundert bestimmt.«
ein ruhigeres Gehirn (Schwartz et al. 1996). Das Team um Ilardi war auch von Forschungsarbeiten be-
Angststörungen, die Major Depression, die bipolare Störung eindruckt, die zeigen, dass regelmäßiges Aerobictraining es mit
und die Schizophrenie sind alle biologisch hervorgerufene Er- der heilenden Kraft von Antidepressiva aufnehmen kann, und
eignisse. Doch wie wir immer wieder gesehen haben, ist ein dass ein kompletter Nachtschlaf die Stimmung und das Energie-
menschliches Wesen ein integriertes biopsychosoziales System. niveau steigert. Deshalb luden sie kleine Gruppen von Menschen
Jahrelang haben wir unseren Leib einem Arzt anvertraut und mit einer Depression ein, die ein 12-wöchiges Trainingspro-
unsere Seele einem Psychologen oder Psychiater. Diese saubere gramm mit den folgenden Zielen absolvierten:
Trennung der beiden Bereiche scheint keine Gültigkeit mehr zu 4 Aerobictraining, 30 Minuten pro Tag, mindestens 3-mal
besitzen. Stress wirkt sich auf die Körperchemie und die Gesund- pro Woche (erhöht Fitness und Lebensfreude, regt Endor-
heit aus. Und chemisches Ungleichgewicht – woran immer es phinproduktion an);
liegen mag – kann zu Schizophrenie und Depression führen. 4 Ausreichend Schlaf, mit einem Ziel von 7–8 Stunden pro
Diese Erkenntnis wendet Stephen Ilardi (2009) in Lehrgangs- Nacht (erhöht Energieniveau und Aufmerksamkeit, steigert
seminaren an, die für eine therapeutische Änderung des Lebens- Abwehrkräfte);

17

. Abb. 17.29 »Baden im Wald«. In zahlreichen kleinen Studien haben japanische Forscher herausgefunden, dass Waldspaziergänge dabei helfen,
das Niveau von Stresshormonen und den Blutdruck zu senken (Phillips 2011; © kristian sekulic / iStockphoto)
17.5 · Prävention psychischer Störungen
741 17

. Tab. 17.4 Vergleich biomedizinischer Therapien

Therapie Angenommenes Problem Therapieziel Therapietechnik

Medikamentöse Therapie Fehlsteuerung der Symptome von psychischen Gehirnchemie durch Medikamente
Neurotransmitter Störungen kontrollieren verändern

Gehirnstimulation Schwere, »behandlungs- Depression mildern, die nicht auf Gehirn durch Elektrokrampftherapie,
resistente« Depression medikamentöse Therapie anspricht magnetische Impulse oder tiefe Hirn-
stimulation anregen

Psychochirurgie Fehlfunktion des Gehirns Schwere Störungen verbessern Gehirngewebe entfernen oder zerstören

Therapeutische Änderung Stress und ungesunder Gesunden biologischen Zustand Lebensstil ändern durch genügend Bewe-
des Lebensstils Lebensstil wiederherstellen gung, Schlaf und andere Veränderungen

4 Lichtaufnahme, jeden Morgen mindestens 30 Minuten mit 17.5 Prävention psychischer Störungen
einer Lichtbox (verstärkt Erregung, beeinflusst Hormone);
4 Soziale Bindungen, mit weniger Zeit allein und mindestens
? 17.17 Was ist der Grundgedanke von Präventionsprogram-
zwei bedeutsamen Verabredungen pro Woche (erfüllt das
men für psychische Gesundheit?
menschliche Bedürfnis nach Zugehörigkeit);
4 Kein Grübeln, indem negative Gedanken erkannt und ver- Wir haben gesehen, dass die Änderung des Lebensstils dabei
ändert werden (fördert positives Denken); helfen kann, einige der Symptome von psychischen Krankheiten
4 Nahrungsergänzungsmittel, einschließlich einem Fischöl- umzukehren. Kann eine solche Veränderung auch manche
Zusatz mit Omega-3-Fettsäuren (unterstützt ein gesundes Störungen verhindern, indem sie die Resilienz erhöht – eine
Funktionieren des Gehirns). Fähigkeit, mit Stress umzugehen und sich von Widrigkeiten zu
erholen? Wenn sie mit einem unvorhergesehenen seelischen
In einer Studie mit 74 Personen erlebten 77% derer, die das Pro- Schock konfrontiert werden, zeigen die meisten Erwachsenen
gramm abgeschlossen haben, eine Erleichterung ihrer depres- Resilienz. Das galt auch für die New Yorker in der Folgezeit des
siven Symptome, verglichen mit 19% derer, die einer Kontroll- 11. Septembers, besonders für jene, die unterstützende, nahe
bedingung zugeordnet waren, in der weiterhin ihre übliche Beziehungen genossen und nicht kürzlich ein anderes stress-
Behandlung angeboten wurde. Die zukünftige Forschung wird reiches Erlebnis hatten (Bonanno et al. 2007). Mehr als 9 von
versuchen, dieses bemerkenswerte Ergebnis durch die Änderung 10 New Yorkern hatten nach dem 11. September keine dys-
des Lebensstils zu wiederholen. Außerdem müssen diejenigen funktionale Stressreaktion, obwohl auch sie verständlicherweise
Bestandteile der Behandlung ermittelt werden (zusätzlich oder von Trauer und Entsetzen wie betäubt waren. Bis zum darauf-
in einer Kombination), die den therapeutischen Effekt folgenden Januar waren auch die Stresssymptome der übrigen
hervorrufen. In der Zwischenzeit gibt es kaum Anlass dazu, die weitgehend zurückgegangen (Person et al. 2006). Sogar in Grup-
Wahrheit des lateinischen Sprichworts anzuzweifeln, Mens sana pen von kampferprobten Veteranen und politischen Dissidenten,
in corpore sano: »In einem gesunden Körper wohnt ein gesunder die Dutzende von Folterprozeduren überlebt haben, entwickel-
Geist.« ten die meisten später keine posttraumatische Belastungsstörung
. Tab. 17.4 fasst einige Aspekte der biomedizinischen Thera- (Mineka u. Zinbarg 1996).
pien zusammen, die hier besprochen wurden.
Resilienz (»resilience«) – die persönliche Stärke, die den meisten Menschen
dabei hilft, mit Stress umzugehen und sich von Widrigkeiten und sogar von
Prüfen Sie Ihr Wissen
Traumen zu erholen.

5 Welches sind Beispiele für die Änderung unseres Lebens-


stils, die wir beachten können, um unsere Resilienz Psychotherapien und biomedizinische Therapien neigen dazu,
zu erhöhen und unsere seelische Gesundheit zu ver- die Ursache psychischer Störungen in erster Linie im Innern
bessern? des Menschen zu lokalisieren, der die Störung hat. Wenn ein
Mensch grausam handelt, schließen wir daraus, dass er grau-
sam sein muss und wenn sich Menschen »verrückt« aufführen,
dass sie wohl »krank« sein müssen. Wir hängen solchen Men-
schen ein Etikett an und können sie dadurch von den »Nor-
malen« unterscheiden. Daraus ergibt sich, dass wir versuchen,
»abnorme« Menschen zu behandeln, indem wir ihnen Ein-
742 Kapitel 17 · Klinische Psychologie: Therapie

sicht in ihre Probleme vermitteln, ihre Denkweise verändern Prävention gegen mentale oder emotionale Störungen betrachtet
und ihnen helfen, sich durch Medikamente unter Kontrolle zu werden« (Kessler u. Albee 1975, S. 557). Dazu gehört auch das
bringen. kognitive Training, das Kinder mit Depressionsrisiko zu einer
Man kann diese Dinge auch anders sehen. Wir könnten positiven Denkweise ermutigt (Brunwasser et al. 2009; Gillham
etliche psychische Störungen als verständliche Reaktionen auf et al. 2006; Stice et al. 2009).
eine krank machende und Stress verursachende Gesellschaft in- Eine Studie des National Research Council and Institue of
terpretieren. Dieser Ansicht folgend, ist es nicht nur der Mensch, Medicine von 2009 – Mentale, emotionale und Verhaltensstörun-
der eine Behandlung braucht, sondern auch der soziale Kontext gen junger Menschen verhindern – bietet Ermutigung. Sie belegt,
dieses Menschen. Es ist besser, der Entstehung eines Problems dass Interventionsanstrengungen, die oft auf den Prinzipien
dadurch vorzubeugen, dass man eine kranke Situation schritt- der kognitiven Verhaltenstherapie basieren, das Gedeihen von
weise ändert und die Bewältigungskompetenzen der Menschen Kindern und Jugendlichen bedeutsam unterstützen. Durch
verbessert, als zu warten, bis ein Problem entsteht, und es dann solche vorbeugenden Maßnahmen und einen gesunden Lebens-
zu behandeln. stil werden weniger von uns in den reißenden Fluss der psychi-
Eine kleine Anekdote über die Rettung eines Ertrinkenden schen Störungen fallen.
aus einem reißenden Fluss soll diesen Gesichtspunkt illustrieren:
Der Retter hatte gerade das erste Opfer erfolgreich mit Erste-
» Seelische Störungen entstehen aus körperlichen und eben-
so entstehen körperliche Krankheiten aus seelischen.
Hilfe-Maßnahmen behandelt, da sieht er eine Frau, die kurz vor
Der Mahabharata, 200 v. u. Z.
dem Ertrinken war, und zieht auch sie an Land. Nachdem sich
die Geschichte sechsmal wiederholt, dreht sich der Retter plötz- Prüfen Sie Ihr Wissen
lich um und läuft davon, während der Fluss einen weiteren Er-
trinkenden heranträgt. »Willst du den denn nicht retten?«, fragt 5 Was ist der Unterschied zwischen präventiver Therapie
jemand, der in der Nähe steht. »Zum Teufel, nein«, erwidert der für die seelische Gesundheit und psychologischen oder
Retter. »Ich gehe jetzt flussaufwärts und schaue nach, was alle biomedizinischen Therapien?
diese Leute ins Wasser treibt.«

» Vorbeugen ist besser als heilen.


Peruanische Volksweisheit
17.6 Kapitelrückblick
Präventive Gesundheitsfürsorge heißt, flussaufwärts zuzu-
packen. Mit der Gesundheitsfürsorge will man psychische Katas- 17.6.1 Verständnisfragen
trophen verhindern und deshalb die verursachenden Bedingun-
gen ausmachen und ihren Einfluss verringern. Wie George Albee jBehandlung psychischer Störungen
(1986) glaubte, gebe es eine Fülle von Indizien dafür, dass Armut, 17.1 Wie unterscheiden sich Psychotherapie, die biomedikamen-
sinnentleerte Arbeit, unablässige Kritik, Arbeitslosigkeit, Rassis- töse Therapie und ein eklektischer Ansatz?
mus und Sexismus das Gefühl der Menschen für ihre eigene
Kompetenz, ihr Gefühl der Eigenverantwortung und ihr Selbst- jPsychotherapien
wertgefühl untergraben. Solche Formen von Stress verstärken 17.2 Welches sind die Ziele und Techniken der Psychoanalyse
17 die Gefahr, in Depression oder Alkoholabhängigkeit zu geraten und wie wurden sie in der psychodynamischen Therapie ange-
oder Selbstmord zu begehen. passt?
Albee meinte, dass wir, denen daran gelegen ist, psychische 17.3 Was sind die grundlegenden Themen der humanistischen
Katastrophen zu vermeiden, Programme unterstützen sollten, Therapie? Welches sind die speziellen Ziele und Techniken der
deren Ziel es ist, diese demoralisierenden Zustände abzubauen. klientenzentrierten Therapie nach Carl Rogers?
Wir haben die Pocken nicht dadurch ausgerottet, dass wir die 17.4 Wie unterscheidet sich die Grundannahme der Verhaltens-
Kranken versorgt haben, sondern durch Impfprogramme für die therapie von denen der psychodynamischen und humanis-
Gesunden. Wir haben das Gelbfieber besiegt, indem wir die tischen Therapien? Welche Techniken werden bei den Exposi-
Stechmücken bekämpft haben. Prävention psychischer Probleme tionstherapien und der Aversionskonditionierung genutzt?
bedeutet, denen Kraft zu geben, die sich hilflos fühlen; es bedeu- 17.5 Was ist die Grundannahme der Verhaltensmodifikation,
tet, Lebensräume zu verändern, die Einsamkeit hervorbringen, und was sind die Auffassungen der Befürworter und der Kritiker
die zerfallenden Familien mit neuer Kraft zu versehen, Kommu- dieses Ansatzes?
nikationstrainings für Paare anzubieten und die Fähigkeiten von 17.6 Welches sind die Ziele und Techniken der kognitiven The-
Eltern und Lehrern zu stärken. »Alles, was darauf abzielt, die rapie und der kognitiven Verhaltenstherapie?
Situation des Menschen zu verbessern und das Leben erfüllender 17.7 Welches sind die Ziele und die Vorteile der Gruppenthera-
und sinnvoller zu machen, kann als Bestandteil einer primären pie und der Familientherapie?
17.6 · Kapitelrückblick
743 17
jTherapieevaluation 4 Metaanalyse
17.8 Funktioniert Psychotherapie? Wer entscheidet das? 4 Psychoanalyse
17.9 Sind manche Psychotherapien bei bestimmten Störungen 4 Psychochirurgie
wirksamer als andere? 4 Psychodynamische Therapie
17.10 Wie schneiden alternative Therapien unter dem prüfenden 4 Psychopharmakologie
Blick der Wissenschaft ab? 4 Psychotherapie
17.11 Welche drei Merkmale haben alle Formen der Psycho- 4 Rational-emotive Verhaltenstherapie (REVT)
therapie gemein? 4 Regression zur Mitte
17.12 Wie beeinflussen Kultur, Geschlecht und Wertvorstellun- 4 Resilienz
gen die Beziehung zwischen Therapeut und Klient? 4 Systematische Desensibilisierung
17.13 Auf was sollte eine Person achten, die einen Therapeuten 4 Therapeutisches Bündnis
auswählen will? 4 Tokensystem
4 Übertragung
jBiomedizinische Therapien 4 Verhaltenstherapie
17.14 Was sind medikamentöse Therapien? Wie helfen Dop- 4 Widerstand
pelblindstudien Forschern dabei, die Wirksamkeit eines Medika- 4 Wiederholte transkranielle Magnetstimulation
ments zu beurteilen?
17.15 Wie werden die Stimulation des Gehirns und die Psycho-
chirurgie bei der Behandlung bestimmter Störungen genutzt? 17.6.3 Weiterführende deutsche Literatur
17.16 Wie können Menschen eine Erleichterung von ihren De-
pressionen erfahren, indem sie mit einem gesunden Lebensstil Esser, G. (2011). Lehrbuch der Klinischen Psychologie und Psychotherapie bei
Kindern und Jugendlichen (4. Aufl.). Stuttgart: Thieme.
auf sich selbst achten, und inwiefern spiegelt das unsere bio- Margraf, J. & Schneider, S. (Hrsg.). (2008). Lehrbuch der Verhaltenstherapie.
psychosozialen Systeme wider? Bd. 2: Störungen im Erwachsenenalter (3. Aufl.). Heidelberg: Springer.
Reimer, Ch. & Rüger U. (Hrsg.). (2012). Psychodynamische Psychotherapie:
jPrävention psychischer Störungen Lehrbuch der tiefenpsychologisch fundierten Psychotherapieverfahren
(4. Aufl.). Heidelberg: Springer.
17.17 Was ist der Grundgedanke von Präventionsprogrammen Reinecker, H. (Hrsg.). (2003). Lehrbuch der klinischen Psychologie und Psy-
für psychische Gesundheit? chotherapie. Modelle psychischer Störungen (4. Aufl.). Göttingen:
Hogrefe.
Reinecker, H. (Hrsg.). (2003). Lehrbuch der klinischen Psychologie und Psy-
chotherapie. Modelle psychischer Störungen. Göttingen: Hogrefe.
17.6.2 Schlüsselbegriffe Urban, A. (2011). Psychotherapie für Dummies. Weinheim: Wiley.
Wittchen, H.-U. & Hoyer, J. (2011). Klinische Psychologie & Psychotherapie (2.
Aufl.). Heidelberg: Springer.
4 Aktives Zuhören
4 Antidepressiva
4 Antipsychotika
4 Anxiolytika
4 Aversionskonditionierung
4 Bedingungslose positive Wertschätzung
4 Biomedikamentöse Therapie
4 Deutung
4 Einsichttherapien
4 Eklektischer Ansatz
4 Elektrokrampftherapie (EKT)
4 Evidenzbasierte Praxis
4 Expositionstherapie
4 Expositionstherapie mit Hilfe virtueller Realität
4 Familientherapie
4 Gegenkonditionierung
4 Gruppentherapie
4 Klientenzentrierte Therapie
4 Kognitive Therapie
4 Kognitive Verhaltenstherapie
4 Lobotomie
745 18

PädagogischeP sychologie:
Übersicht und ausgewählte Themen
Siegfried Hoppe-Graff

18.1 Überblick über die Pädagogische Psychologie – 746


18.1.1 Gegenstand und Aufgabe – 747
18.1.2 Geschichte der deutschsprachigen Pädagogischen Psychologie – 749
18.1.3 Pädagogische Psychologie in der Praxis: Das Arbeitsfeld
der Schulpsychologie – 751

18.2 Bedeutung der elterlichen Erziehung – 752


18.2.1 Spielt die elterliche Erziehung eine Rolle? – 753
18.2.2 Welcher Erziehungsstil ist am günstigsten? – 756

18.3 Erziehungseinflüsse auf die Internalisierung von moralischen


Regeln und Normen – 762
18.3.1 Hoffmans Theorie zum Einfluss der elterlichen Erziehung
auf die Internalisierung – 763
18.3.2 Überprüfung, Kritik und Erweiterungen der Theorie Hoffmans – 766
18.3.3 Pädagogische Schlussfolgerungen – 769

18.4 Aggressionen und Gewalt unter Kindern und Jugendlichen – 769


18.4.1 Gespielte und ernsthafte Aggressionen – 770
18.4.2 Mobbing unter Kindern – eine besondere Form der Gewalt – 772
18.4.3 Das Early-Starter-Modell – 774
18.4.4 Längsschnittbeobachtungen zu elterlichen Einflüssen auf die Genese
von Problemverhalten – 776

18.5 Neue Aufgaben und Herausforderungen der Pädagogischen


Psychologie – 777
18.5.1 Auswirkungen der außerfamiliären Kleinkindbetreuung – 779
18.5.2 Modelle zur Erklärung von Schulleistungsunterschieden – 780

18.6 Kapitelrückblick – 782


18.6.1 Verständnisfragen – 782
18.6.2 Schlüsselbegriffe – 783
18.6.3 Weiterführende deutsche Literatur – 783

D. G. Myers, Psychologie,
DOI 10.1007/978-3-642-40782-6_18, © Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2014
746 Kapitel 18 · Pädagogische Psychologie: Übersicht und ausgewählte Themen

Andere Kulturen, andere Perspektiven Märchen gehören zum tradierten Erbe jeder Kultur. Sie erlauben
Das Eingreifen des Großvaters uns deshalb einen Einblick in die kulturellen Normen und Werte,
Yu Kang, der in allen Ehren die höchsten Ränge bei Hofe er- die zum Teil früher einmal gültig waren, zum Teil aber auch noch
reicht hatte und ob seiner Untadeligkeit und Weisheit allseits in die heutige Zeit hineinreichen. Das gilt in eindrucksvoller
gerühmt wurde, war nun schon etliche Jahre tot. Gerade hatte Weise auch für das oben vorgestellte koreanische Märchen. Vor-
sein Enkel Yu Dae-su die erste Beamtenprüfung bestanden, als dergründig erzählt es von der magischen Kraft, die ein Toter
überraschend früh auch seine Eltern starben. Der ehrerbietige ausüben kann. Schaut man aber unter die Oberfläche, so erkennt
Sohn bereitete ihnen eine würdevolle Bestattung in der Nähe man darin zwei zentrale Motive der konfuzianisch bestimmten
von Yu Kangs Begräbnisstätte, errichtete beim Grab eine Hütte koreanischen Kultur. Da ist zum einen die weitreichende Macht
und verbrachte dort die Tage und Nächte der Trauerzeit. der Ahnen, und zum anderen geht es um die Ahnenverehrung,
Eines Nachts wurde Yu Dae-su von einem merkwürdigen wie sie sich etwa in dem Satz zeigt: »Der ehrerbietige Sohn be-
Traum aufgeschreckt. Sein Großvater Yu Kang erschien ihm und reitete ihnen [seinen Eltern] eine würdevolle Bestattung … und
forderte ihn auf: »Erhebe dich sofort und lege dich umgekehrt verbrachte dort die Tage und Nächte der Trauerzeit« (Hervor-
zur Ruhe!« Völlig verwirrt erwachte er. Es war nur ein Traum hebung vom Autor). Zusammengeführt werden diese Motive in
gewesen, aber der Angstschweiß strömte ihm aus allen Poren. der Errettung Yu Dae-sus durch seinen Großvater, und darin
Der Traum war so seltsam, und die Worte des Großvaters waren zeigt sich ein drittes Leitmotiv der konfuzianistischen Moral-
so eindringlich, dass Yu Dae-su gänzlich willenlos wie geheißen lehre: Gute Taten werden vielleicht nicht kurzfristig, aber doch
tat. Er nahm sein Bettzeug, drehte es in die entgegengesetzte auf lange Sicht vergolten werden.
Richtung und legte sich so nieder, dass seine Füße dort lagen, Märchen sind, sofern sie von Erwachsenen – Eltern, Groß-
wo er sonst seinen Kopf gebettet hatte. eltern, Erzieherinnen – in freier Nacherzählung oder durch
Er versuchte wieder einzuschlafen, doch der Traum ließ ihm Vorlesen Kindern vorgetragen werden, auch ein Mittel der Erzie-
noch immer keine Ruhe, und zwischen Schlafen und Wachen hung. Es mag sein, dass die Erwachsenen damit keine explizite
ließ er seine Gedanken treiben. Da wurde ganz leise und vor- erzieherische Absicht verbinden, und vielleicht erzählen oder
sichtig von außen das Fenster geöffnet, und im nächsten lesen sie die Märchen nur auf Drängen der Kinder. Aber wenn sie
Augenblick sauste ein langer Speer herein, durchschlug das dies tun, tragen sie damit zum einen zur Tradierung von Kultur
Bettzeug zwischen Yu Dae-sus Beinen und bohrte sich tief in bei, und zum anderen erziehen sie.
den Boden. Yu sprang erregt auf: »Wer ist da? Haltet ihn.« Wie Eltern erzieherisch Einfluss nehmen und welche Aus-
Von seinen Rufen erwachte die draußen lagernde Dienerschaft wirkungen verschiedene Erziehungsstile und Erziehungsmaß-
und folgte einer im Dunkel flüchtenden Gestalt. nahmen haben, sind zentrale Fragen der Erziehungspsychologie.
Diese Gestalt rannte schnurstracks auf Yu Kangs Grab zu und Die Erziehungspsychologie ist einer der beiden großen Teilbe-
hatte es gerade erreicht, als sie wie versteinert stehen blieb. reiche der Pädagogischen Psychologie. Der andere Teilbereich
In ehrerbietiger Verbeugung verharrte die Gestalt an der Grab- ist die Lehr-Lern-Psychologie, heute auch häufig als Bildungs-
stätte und war unfähig, sich zu rühren. Schon hatten die Ver- psychologie bezeichnet.
folger den Ort erreicht und mussten zu ihrer Überraschung fest- Gegenstand dieses Kapitels ist die Pädagogische Psychologie.
stellen, dass es sich bei dem Geflüchteten ebenfalls um einen Der Schwerpunkt liegt eindeutig auf der Erziehungspsychologie,
Diener der Familie Yu handelte. Sie ergriffen ihn, legten ihn die durch ausgewählte Themen vorgestellt wird. Daneben geben
in Fesseln und führten ihn vor Yu Dae-su. Der machte kurzen wir aber auch einen Überblick über die gesamte Pädagogische
Prozess mit dem Ungetreuen und ließ ihn auf der Stelle zu Tode Psychologie und liefern abschließend einen Ausblick auf Auf-
18 prügeln. gaben, die sich dem Fach in Zukunft stellen werden.
Die Nachricht von dieser wundersamen Begebenheit ging in
Windeseile von Mund zu Mund. Alle waren sich einig: »Dass der
Geist Yu Kangs seinem Enkel das Leben gerettet hat, versteht 18.1 Überblick über die Pädagogische
wohl jeder. Aber dass er darüber hinaus die Schritte des Misse- Psychologie
täters gelenkt und diesen zur Ergreifung festgehalten hat, das ist
wirklich eine ganz besondere Tat!« Pädagogische Psychologie nimmt eine Vermittlerrolle zwischen
Aus: Der Himmelsprinz und die Bärin: Koreanische Märchen. Pädagogik und Psychologie ein. Sie umfasst zwei Teilbereiche:
Ausgewählt und übersetzt von Woon-Jung Chei. München: Iudicium die Erziehungspsychologie und die Lehr-Lern-Psychologie
Verlag, 1998 (Bildungspsychologie). Pädagogische Psychologie hat sich im
Spannungsfeld von Theorie und Praxis entwickelt, wobei die
Aufgabenfelder von praktisch tätigen Pädagogischen Psycholo-
gen äußerst vielfältig sind.
18.1 · Überblick über die Pädagogische Psychologie
747 18
18.1.1 Gegenstand und Aufgabe

? 18.1 Wie unterscheiden sich die verschiedenen Auffas-


sungen von Erziehung? In welche beiden Bereiche lässt sich
die Pädagogische Psychologie einteilen?

Definitionen veralten weniger schnell als Theorien oder empiri-


sche Forschungsergebnisse. Die Definition von Pädagogischer
Psychologie, die wir diesem Kapitel zugrunde legen, stammt aus
dem Jahre 1917 und ist dennoch aktuell. Aloys Fischer hat sie
seinerzeit in einem Aufsatz Über Begriff und Aufgabe der Päda-
gogischen Psychologie formuliert, freilich in etwas antiquierter
Sprache (1917; zit. nach Brugger et al. 1993, S. 35): »Pädago-
gische Psychologie ist die wissenschaftliche Erforschung der
psychischen Seite der Erziehung, sie setzt Erziehungen und Er-
ziehung als gegebene Tatsache voraus und bemüht sich, diese
eigenartige Realität, Erziehung genannt, auf ihre psychologi-
schen Einschläge hin zu analysieren.«
Pädagogische Psychologie (»educational psychology«) – hat das Ziel,
Erziehung aus der Perspektive und mit den Mitteln der Psychologie zu
erforschen.

Der Gegenstand der Pädagogischen Psychologie ist Erziehung,


ihre Aufgabe die Erforschung von Erziehung aus der Perspektive
und mit den Mitteln der Psychologie. . Abb. 18.1 Der erste Schultag im Wandel. Wird die Einschulung mit 6 Jah-
Was aber ist unter der »eigenartigen Realität« Erziehung ren bald der Vergangenheit angehören? (© Siegfried Hoppe-Graff, Leipzig)

zu verstehen? Es lassen sich zwei Grundkonzeptionen unter-


scheiden.
4 In der Pädagogik ist es üblich, unter Erziehung die be- zu Erziehendem – gestaltet. Die pädagogische Situation
wusste und beabsichtigte Einflussnahme auf das Handeln kann aber auch von Einzelnen, Institutionen oder gesell-
eines einzelnen Menschen oder einer Gruppe von Men- schaftlichen Gruppen so strukturiert werden, dass Lern-
schen (meistens von Heranwachsenden) zu verstehen, und Entwicklungsprozesse durch den Umgang mit Medien
wobei diese Einflussnahme mit Blick auf ein bestimmtes oder in größeren sozialen Zusammenhängen ausgelöst
Ziel hin erfolgt. Dieses Ziel kann, reflektiert oder unre- werden. Beispiele sind die Entwicklung von Lehrbüchern
flektiert, auf verschiedenen Allgemeinheitsebenen ange- und Lehrprogrammen, die auf dem Computer laufen,
siedelt sein. Es kann beispielsweise darauf begrenzt sein, die Schaffung von Jugendzentren oder Angebote zu selbst
ein Kind dazu zu bringen, dass es die Norm, nicht zu lügen, organisiertem Lernen.
einhält; oder es kann darin bestehen, ihm die Buchstaben
des Alphabets beizubringen. Es kann aber auch sehr gene- Zu den einflussreichsten pädagogischen Erfahrungsräumen
rell formuliert sein und etwa darin bestehen, Heranwach- zählen die Familie und die Schule. Während die Erziehung in der
sende zur Übernahme (Internalisierung) der geltenden Familie eine grundlegende menschliche Erfahrung ist, die zwar
gesellschaftlichen Normen und Werte zu bewegen oder kulturell gestaltet wird, aber universell auftritt und eine lange
ihnen die Kulturtechniken des Lesens und Schreibens Vergangenheit in der Menschheitsgeschichte aufweist, ist die
beizubringen. Schule eine aufgrund gesellschaftlicher Vereinbarung konstitu-
4 Für die Psychologie ist es zweckmäßiger, den Handlungs- ierte und deshalb auch gesellschaftlich kontrollierte Erziehungs-
und Interaktionsaspekt in den Vordergrund zu stellen. institution (. Abb. 18.1). Erziehung in der Familie geschieht
Unter Erziehung versteht die Psychologie alle Erfahrungs- meistens beiläufig und vor dem Hintergrund intuitiver Eltern-
möglichkeiten, die innerhalb eines kulturellen Rahmens theorien über die Wirkung der einen oder anderen Erziehungs-
bereitgestellt werden, um die Lern- und Entwicklungspro- maßnahme. Erziehung in der Schule dagegen ist hochgradig
zesse eines Menschen zu unterstützen. Diese Erfahrungen bewusst, strukturiert und erfolgt vor dem Hintergrund der ge-
werden oftmals in der unmittelbaren personalen Beziehung sellschaftlichen Diskussion über die Vor- und Nachteile verschie-
– in der pädagogischen Interaktion zwischen Erzieher und dener Erziehungsmaßnahmen.
748 Kapitel 18 · Pädagogische Psychologie: Übersicht und ausgewählte Themen

Kritisch nachgefragt

Einschulung mit 4 Jahren – ein überzeugender Vorschlag?


Gerade am Beispiel der zweifellos gut gemein- 5 Ist es tatsächlich so, dass das Lernpotenzial 5 Ist es Zufall, dass auch in traditionellen Ge-
ten Ratschläge nach PISA lässt sich zeigen, von 4-Jährigen in der Schule oder Vorschu- sellschaften das Alter von etwa 6 Jahren
was mit der »Erforschung von Erziehung aus le besser gefördert wird als bisher, also im (und nicht von 4 Jahren) als eine markante
der Perspektive und mit den Mitteln der Psy- Kindergarten oder im Elternhaus? Diese Wegmarke in der Entwicklung des Kindes
chologie« gemeint ist. Nehmen wir den Vor- Zweifel sind angebracht, wenn man daran angesehen wurde? Wie ethnologische
schlag, Kinder schon mit 4 Jahren einzuschu- erinnert, dass der größte Teil des Lernens Studien gezeigt haben, beginnt in den
len (. Abb. 18.2). Er ist auf den ersten Blick im Kindesalter in ganz alltäglichen Situa- meisten Kulturen die formelle Erziehung
plausibel. Der Autor, Dieter Lenzen, spricht tionen stattfindet (Gardner 1993). mit etwa 6 Jahren (Sameroff u. Haith
vom Lernpotenzial der Kinder, das dadurch 5 Die Entwicklung von Kindern ist ein schwer 1996b). In einem Sammelband haben
besser genutzt wird. Das erscheint einleuch- überschaubarer Prozess, der durch vielfäl- Sameroff u. Haith (1996a) akribisch zusam-
tend: Wenn Kinder 2 Jahre länger zur Schule tige Zusammenhänge geprägt ist. Sehr mengetragen, welche Merkmale es sind,
gehen, steht ihnen eine längere Lernzeit zur nüchtern und technisch gesprochen: Ver- die eine 6-Jährige oder einen 7-Jährigen
Verfügung. Eine einfache Rechnung: In 14 Jah- gleichbar mit Veränderungen in komple- besser als ein jüngeres Kind in die Lage
ren Schule wird mehr gelernt als in 12 Jahren! xen Systemen hat das bewusste Einwirken versetzen, die Herausforderungen von
Aber geht dieser Gedanke über eine Milch- an einer Stelle nicht nur kurzfristige Aus- Schule zu bewältigen. Dazu gehören kog-
mädchenrechnung hinaus? Wird er auch der wirkungen in diesem Teilbereich, sondern nitive Entwicklungsprozesse wie die Er-
Wirklichkeit gerecht? Es ist die Aufgabe der auch langfristige Effekte in ganz anderen weiterung der Fähigkeit zur Perspektiven-
Pädagogischen Psychologie, zu fachlich be- Bereichen. Wie also wirkt sich bei den übernahme, der Zuwachs des Gedächtnis-
gründeten und ausgewogenen Antworten Kindern die vorgezogene Einschulung auf ses und das verbesserte Sprachverständnis,
auf diese für unsere Kinder so folgenreichen andere Merkmale als den Wissenserwerb aber auch Veränderungen der Persönlich-
Fragen beizutragen. aus? Wie steht es mit der Entwicklung der keit wie etwa ein differenzierteres Selbst-
Lenzens Vorschlag ist nur auf den ersten Blick Fantasie, der Empathie und des Selbstver- bild und eine zunehmende moralische
wirklich plausibel und bedarf der kritischen trauens? Kommt es evtl. zu stärkerer Kon- Sensibilität.
Prüfung. Das lässt sich leicht durch drei kriti- kurrenzorientierung, zu mehr Egoismus
sche Rückfragen aufzeigen: und zu erhöhter Furcht vor Misserfolg?

Ein eindrucksvolles Beispiel für eine intuitiv »richtige« Er- Vielzahl, Verschiedenheit und Widersprüchlichkeit der Vor-
ziehungsmaßnahme der Eltern ist die Anpassung der Sprache schläge? Sie reichten von der Verbesserung der Lehrerbildung
an den Entwicklungsstand des Kindes. Ohne sich jemals mit über die Einführung von Ganztagsschulen bis hin zur Forde-
Psychologie befasst zu haben oder ohne in irgendeiner Weise rung, Kinder schon mit 4 Jahren einzuschulen (so der Präsi-
durch Bücher, Kurse oder Dozenten darauf vorbereitet worden dent der FU Berlin, Dieter Lenzen, im Gespräch mit Die Zeit
zu sein, wählen Eltern im Umgang mit ihrem Kleinkind in aller am 13. November 2003; 7 Kritsch nachgefragt: Einschulung mit
Regel eine besondere Form der sprachlichen Kommunikation, 4 Jahren – ein überzeugender Vorschlag?).
die den Spracherwerb des Kindes unterstützt. Man bezeichnet Pädagogische Psychologie liefert aber nicht nur das Wissen,
diese Sprache auch als Ammensprache oder »baby talk«. Sie ist um zu Fragen der Erziehung kenntnisreich und kritisch Stellung
dadurch gekennzeichnet, dass in hoher Tonlage (vorzugsweise zu nehmen; sie hat auch das Know-how, um die Auswirkungen
im Bereich zwischen 400 und 600 Hz) gesprochen, die Satz- von Erziehungsmaßnahmen empirisch zu prüfen. Käme es also
melodie übertrieben und durch Akzentverschiebung die Auf- dazu, dass unsere Kinder mit 4 Jahren eingeschult würden, so
18 merksamkeit des Babys auf besonders wichtige Wörter gelenkt sollten Pädagogische Psychologen im Rahmen von Evaluations-
wird. Typisch sind weiterhin Diminutive und Wiederholungen studien herausfinden können, ob die Versprechen der frühen
sowie das Vermeiden komplizierter Satzbildungen (Weinert u. Einschulung tatsächlich eingelöst werden.
Grimm 2008).
Erziehungspsychologie und Bildungspsychologie
Ammensprache (»baby talk«) – besondere Form der Sprache, die Eltern
in der Kommunikation mit dem kleinen Kind wählen. Sie unterstützt den Nicht in allen Sprachen und nicht in allen Kulturen, wohl aber
Spracherwerb und ist z. B. durch die hohe Tonlage, die übertriebene Satz- im Deutschen wird zwischen Erziehung und Bildung unter-
melodie und Wiederholungen gekennzeichnet. schieden.
4 »Erziehungsprozesse beziehen sich auf motivationale
Ein Beispiel für oftmals kontroverse Diskussionen über öffent- und affektive Aspekte der Persönlichkeitsentwicklung, also
liche Erziehungsmaßnahmen in der Schule und Vorschule liefert auf den Erwerb von Werthaltungen, Einstellungen usw.
die Debatte nach der Veröffentlichung der PISA-Ergebnisse (»Pro- Erziehung erfolgt im Wesentlichen durch Sozialisation,
gramme for International Student Assessment«; PISA-2000; d. h. durch das Hineinwachsen in eine soziale Gemein-
vgl. Deutsches PISA-Konsortium 2001). Erinnern Sie sich an die schaft.« (Schnotz 2006, S. 9)
18.1 · Überblick über die Pädagogische Psychologie
749 18

. Abb. 18.2 Bringt frühere Einschulung wirklich Lernerfolge? Es ist fraglich, ob Kinder in diesem Alter den Anforderungen der Schule schon gewachsen
sind. Frühes Lernen und die Bewältigung wichtiger Entwicklungsaufgaben findet in alltäglichen Situationen statt – außerhalb der Schule. (© photos.com)

4 »Bildungsprozesse beziehen sich auf kognitive Aspekte Im Anschluss an diesen einführenden Abschnitt werden
der Persönlichkeitsentwicklung, also auf den Erwerb von wir zunächst die grundlegende Frage stellen, ob Erziehung durch
Kenntnissen, Fähigkeiten und Fertigkeiten. Bildung die Eltern überhaupt eine Wirkung auf die Heranwachsenden
erfolgt im Wesentlichen durch Lehren und Lernen.« hat. Bei dieser Gelegenheit werden wir das Konzept des elter-
(Schnotz, a.a.O.) lichen Erziehungsstils kennenlernen und verschiedene Er-
ziehungsstile voneinander unterscheiden (7 Abschn. 18.2). In
Die Unterscheidung zwischen Erziehungs- und Bildungsprozes- 7 Abschn. 18.3 werden wir uns sehr genau die elterlichen Er-
sen hat zu einer Differenzierung innerhalb der Pädagogischen ziehungspraktiken in einer ausgewählten Konfliktsituation
Psychologie geführt. Man teilt sie in die Erziehungspsychologie ansehen: Wie reagieren Eltern, wenn ihre Kinder etwas Ver-
und die Bildungspsychologie ein, wobei der Begriff Bildungs- botenes oder Unerwünschtes getan haben? Wir lernen eine
psychologie erst in den letzten Jahren gebräuchlicher geworden Theorie kennen, die behauptet, genau diese Erziehungssitua-
ist. Traditionell war von Lehr-Lern-Forschung die Rede, wenn es tion würde darüber entscheiden, ob und in welchem Ausmaß
um die Erforschung von Bildungsprozessen ging; um sich von Kinder Normen und Werte der Eltern übernehmen. Danach
der herkömmlichen Herangehensweise bei der Erforschung von wenden wir uns dem Problem der Kinder- und Jugendgewalt
Lehr-Lern-Prozessen abzuheben, spricht man heute auch von zu und werden sehen, dass auch hier die elterliche Erziehung
Instruktionspsychologie. maßgeblichen Einfluss hat (7 Abschn. 18.4). Das Kapitel endet
mit einem Ausblick auf zukünftige Themen und Herausforde-
Erziehungspsychologie (kein entsprechender Begriff im Englischen) –
Teil der Pädagogischen Psychologie, der sich nicht mit Bildungsprozessen rungen der Pädagogischen Psychologie (7 Abschn. 18.5).
(Lehren und Lernen), sondern mit Erziehung im engeren Sinne befasst,
etwa mit dem Einfluss elterlicher Erziehungsmaßnahmen auf die Entwick-
lung des Kindes.
18.1.2 Geschichte der deutschsprachigen
Bildungspsychologie (kein entsprechender Begriff im Englischen) –
Pädagogischen Psychologie
Teil der Pädagogischen Psychologie, der sich mit der Untersuchung des
Lehrens und Lernens befasst.

? 18.2 Wie hat sich die deutschsprachige Pädagogische Psy-


In diesem Kapitel wird es vorrangig, aber nicht ausschließlich,
chologie entwickelt? Wie unterscheidet sich die neue
um die Darstellung der Prozesse und Einflüsse der Erziehung
Instruktionspsychologie von der alten Lehr-Lern-Forschung?
durch die Eltern – also um Erziehungspsychologie – gehen. Da-
mit setzen wir den Akzent anders als die meisten Übersichts- Als eigenständige wissenschaftliche Disziplin ist die Pädago-
texte zur Pädagogischen Psychologie (z.B. Krapp u. Weidenmann gische Psychologie gegen Ende des 19. Jahrhunderts entstanden.
2006), in denen die Betonung eindeutig auf den Bildungspro- Ein herausgehobenes Datum war im deutschsprachigen Raum
zessen liegt. die Gründung der Zeitschrift für Pädagogische Psychologie und
750 Kapitel 18 · Pädagogische Psychologie: Übersicht und ausgewählte Themen

. Abb. 18.3a,b Pädagogische Psychologie, Reformschulbewegung und Wandervögel. Die Reformschulbewegung (oder: Reformpädagogik) hat zur
Entstehung der Pädagogischen Psychologie und der Verknüpfung von Praxis und Theorie beigetragen. Eine 1896 aus der Reformpädagogik entstandene
Jugendbewegung nannte sich »Wandervogel«. (a: Archiv der deutschen Jugendbewegung F 5 Nr. 5; b: Archiv der deutschen Jugendbewegung F 5 Nr. 4,
mit freundlicher Genehmigung des Archivs der deutschen Jugendbewegung)

Jugendkunde im Jahre 1899. Programmatisch beklagte Kemsies Es fehlte aber schon zu dieser Zeit nicht an Stimmen, die
(1899; zit. nach Brugger et al. 1993, S. 29) darin die bisherige darauf hinwiesen, dass die Verbindung von Forschung und päda-
spekulative Pädagogik als unwissenschaftlich: »Solange der ge- gogischer Praxis nicht bedeuten kann, allgemeines psychologi-
setzmäßige Zusammenhang zwischen der erzieherischen Wir- sches Wissen einfach nur auf die pädagogische Praxis zu über-
kung und den einfachen sowohl als komplizierten Phänomenen tragen. So warnte William James (1899; zit. nach Brugger et al.
der Kinderseele nicht klargelegt ist, kann von einer wissenschaft- 1993, S. 31) schon frühzeitig: »Darüber hinaus möchte ich sagen,
lichen Lösung des Problems nicht die Rede sein« (Hervorhebung dass Sie sich in einem sehr großen Irrtum befinden, wenn Sie
durch den Autor). Genauso wie die Psychologie insgesamt löste glauben, dass man von der Psychologie als Wissenschaft von den
sich die Pädagogische Psychologie um diese Zeit von der Philo- Gesetzen der Seele ganz bestimmte Programme, Schemata oder
sophie und Pädagogik ab, indem Forscher nun die empirische Unterrichtsmethoden für den unmittelbaren Gebrauch im Klas-
(erfahrungswissenschaftliche) Erforschung von Erziehungs- und senzimmer ableiten kann.«
Unterrichtsprozessen forderten und begannen. Im Laufe der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts entfernte
sich die Pädagogische Psychologie entgegen der anfänglichen
» Erziehung muss der Entwicklung wie ein Schatten folgen.
Programmatik immer weiter von der pädagogischen Praxis und
Aus dem Credo der Reformschulbewegung
wurde zu dem, wovor William James gewarnt hatte: zu einer
Neben dieser Orientierung an einem neuen wissenschaftlichen Psychologie für Pädagogen, die aus dem Bestand der verschie-
Erkenntnisideal trug noch eine zweite, aus der Praxis kom- denen Teildisziplinen der Psychologie – Entwicklungspsycho-
mende zeitgenössische Strömung zur Entstehung der Pädago- logie, Sozialpsychologie etc. – lediglich jene Wissensbestände für
gischen Psychologie bei. Um die Jahrhundertwende hatten die Ausbildung von Lehrern und Erziehern auswählte, die nach
18 Pädagogen in Europa und den USA der traditionellen Lern- Plausibilität mit dem Erziehungsalltag zu tun hatten. »Die Päda-
schule den Kampf angesagt, etwa im Rahmen der Reform- gogische Psychologie wandert aus den Praxisfeldern der Päda-
schulbewegung (. Abb. 18.3). Teil ihres Programms war die gogik aus und wendet sich mit Vorzug allgemeinen Theorien des
Forderung nach entwicklungsgemäßem und psychologisch be- Lehrens und Lernens zu, ohne allzu großes Interesse an speziellen
gründetem Unterricht (Ewert u. Thomas 1996, S. 90). Aus dieser Anwendungen für den Schulalltag zu zeigen« (Ewert u. Thomas
Perspektive ergab sich unmittelbar, dass die wissenschaftliche 1996, S. 91). Unterricht und Erziehung wurden also nur noch als
Erforschung der Voraussetzungen und Folgen von Pädagogik Anwendungsfelder für allgemeine Theorien betrachtet.
und die pädagogische Praxis eng miteinander verknüpft sein Erst in den letzten Jahrzehnten hat die Pädagogische Psycho-
sollten. Die ersten Intelligenztests sind übrigens ein frühes Re- logie wieder den Weg zurück zu ihren Anfängen gefunden – zu
sultat der engen Praxis-Theorie-Verknüpfung. Sie wurden seit einer Forschung, die Wissenschaft und pädagogische Praxis
1905 von Alfred Binet im Auftrag des französischen Unterrichts- verbindet. Für das Praxisfeld Schule zeigt sich das am Abrücken
ministeriums konstruiert, um herauszufinden, welche Kinder von dem Versuch, allgemeine Lerntheorien auf den Unterricht
aufgrund ihrer Lernschwierigkeiten in der Schule besondere zu übertragen, sowie an der Entstehung einer neuen, an den Be-
Hilfe brauchten (7 Kap. 10). sonderheiten des Lernens im Unterricht orientierten Instruk-
18.1 · Überblick über die Pädagogische Psychologie
751 18
tionspsychologie. Wenn von Instruktion anstelle von Lehren
oder Unterrichten die Rede ist, so sollen dadurch die sozialen
Prozesse der Anleitung und der Wissensvermittlung im jewei-
ligen Unterrichtskontext hervorgehoben werden.
Instruktion (»instruction«) – Anleitung und Wissensvermittlung im
Rahmen von Unterricht.

Die neue Instruktionspsychologie zeichnet sich durch 3 Merk-


male aus (nach Ewert u. Thomas 1996):
4 Sie ist eine Grundlagenwissenschaft, die sich mit den Pro-
zessen des Anleitens und der Vermittlung befasst und keine
auf den Unterricht angewandte Allgemeine Psychologie.
4 Sie konzentriert sich auf die Erforschung von Vermittlungs-
prozessen in den einzelnen Unterrichtsfächern – beispiels-
weise auf den Schriftspracherwerb, das Lernen mit Sach-
texten und das Verstehen von historischen Zusammenhän-
gen und physikalischen Gesetzmäßigkeiten.
4 Sie konzentriert sich vorwiegend auf Prozesse – wie wird
angeleitet, wie wird Wissen erworben – und weniger auf
Produkte des Lehrens und Lernens.

Neben diesem neuen Forschungsparadigma der Instruktions-


psychologie machen Krapp et al. (2001) seit den 80er Jahren fol-
gende Trends in der deutschsprachigen Pädagogischen Psycho- . Abb. 18.4 Kein Kinderspiel. Fundierte Diagnostik ist häufig Bestandteil
logie aus: einer schulpsychologischen Beratung. (© photos.com)
4 eine Erweiterung der traditionellen Forschungs- und
Anwendungsfelder, etwa durch das lebenslange Lernen
und das Lernen mit den neuen Medien; Aber auch wenn die Tätigkeiten und Aufgaben derart breit
4 neue Schwerpunkte beim Studium der Lernprozesse, gefächert sind, lassen sich doch drei Gebiete hervorheben, in
z. B. Lernstrategien und selbst gesteuertes Lernen; denen Pädagogische Psychologen vornehmlich arbeiten. Nach
4 Evaluation von Bildungsmaßnahmen, etwa durch internatio- einer Befragung von Schorr (1991), die in groben Zügen auch
nale Leistungsvergleiche wie die schon erwähnten PISA- heute noch Gültigkeit haben dürfte, konzentriert sich ihre Tätig-
Studien (Programme for International Student Assessment; keit auf Schulpsychologische Dienste (mehr als ein Drittel der
vgl. Deutsches PISA-Konsortium 2001, 2004, 2007). Nennungen), Beratungsstellen und Forschung/Lehre/Weiter-
bildung (jeweils mehr als ein Viertel der Nennungen). Da uns
hier die meisten Informationen vorliegen, soll nun ein näherer
18.1.3 Pädagogische Psychologie in der Praxis: Blick auf die Arbeit jener Psychologen gelegt werden, die sich
Das Arbeitsfeld der Schulpsychologie selbst als Schulpsychologen verstehen und dieses Selbstverständ-
nis durch die Mitgliedschaft in der Sektion Schulpsychologie des
Berufsverbandes Deutscher Psychologinnen und Psychologen
? 18.3 In welchen Tätigkeitsfeldern kommen Kenntnisse
(BDP) dokumentiert haben.
der Pädagogischen Psychologie zur Anwendung? Was sind
Die sog. Schulpsychologischen Dienste sind, neben den Erzie-
die Aufgaben von Schulpsychologen?
hungsberatungsstellen, traditionell die Domäne der Pädagogi-
Pädagogische Psychologie ist jedoch nicht nur ein Gebiet der schen Psychologen (Wild u. Wild 2006). Während sich aber frü-
wissenschaftlichen Forschung, sondern bietet auch die fachliche her die Tätigkeiten weitgehend auf die Diagnostik (. Abb. 18.4),
Grundlage für eine Vielzahl von Praxisfeldern. die Bildungs- und Schullaufbahnberatung und die Einzelfallbe-
Psychologen mit dem Schwerpunkt in Pädagogischer Psy- ratung bei Schul- und Leistungsproblemen konzentrierten, sind
chologie arbeiten in so unterschiedlichen Praxisbereichen wie heute im Selbstverständnis der Schulpsychologen etliche Auf-
Schule und Hochschule, in der Familien- und Erziehungsbera- gaben hinzugekommen. . Abb. 18.5 vermittelt davon einen an-
tung, in der Organisations- und Berufsberatung, in der betrieb- schaulichen Eindruck.
lichen Aus- und Weiterbildung und im Bereich der Entwicklung Um diesen Aufgaben nachkommen zu können, müssen
und Anwendung von Unterrichtsmedien. Schulpsychologen über ein breites Qualifikationsprofil verfügen
752 Kapitel 18 · Pädagogische Psychologie: Übersicht und ausgewählte Themen

. Abb. 18.5 Die vielfältigen Aufgaben der Schulpsychologie. (Nach http://www.sn.schule.de/~Schulpsychologie/, mit freundlicher Genehmigung von
Horst Drummer)

und sich in ihrer Arbeit an hohen Qualitätsstandards orientieren. halten. Gerade hier zeigt sich erneut die enge Verzahnung von
Sie besitzen laut BDP (Quelle: http://www.schulpsychologie.de/) Pädagogischer Psychologie als Wissenschaft und der pädago-
»spezifische Kenntnisse über gisch-psychologischen Praxis. Zu den sieben Qualitätsstandards,
4 das Lernen und Verhalten von Kindern und Jugendlichen die von der Sektion Schulpsychologie des BDP (a.a.O.) genannt
4 die Entwicklungs- und Erziehungsprozesse von Kindern werden, gehören
und Jugendlichen 4 professionelles Handeln nach dem aktuellen Stand der
4 die psychologische Krisenintervention im System Schule psychologischen Wissenschaft
4 psychotherapeutische, systemische und lerntherapeutische 4 regelmäßige Fortbildung in den Bereichen Diagnostik,
Verfahren Therapie, Beratung, System und Organisationsberatung
4 die Unterrichtsdidaktik 4 Maßnahmen zur regelmäßigen Evaluation und Qualitäts-
4 das Schulsystem im jeweiligen Bundesland sicherung schulpsychologischer Arbeit.
4 die konkreten Schulen vor Ort
4 die psychosoziale Infrastruktur vor Ort Fortbildung, professionelles Handeln nach dem aktuellen Stand
4 den Umgang mit Gruppen und die Gestaltung von Fort- der Wissenschaft, aber auch fundierte Evaluations- und Quali-
bildungsveranstaltungen«. tätssicherungsmaßnahmen sind ohne die Kooperation mit wis-
senschaftlichen Partnern undenkbar.
Die enge Beziehung zu den beiden Teilgebieten der Pädago-
18 gischen Psychologie als Wissenschaft, also zur Bildungspsycho- Prüfen Sie Ihr Wissen

logie und zur Erziehungspsychologie, ist unverkennbar; aber 5 Nennen Sie zwei Fragestellungen, mit denen sich die
ebenso deutlich ist zu erkennen, dass die praktische Arbeit eine Pädagogische Psychologie als Wissenschaft befasst hat.
Vielzahl weiterer Qualifikationen verlangt, die über die akademi- Nennen Sie außerdem zwei Problemfelder, auf denen
sche Disziplin hinausgehen. der Rat von Praktikern der Pädagogischen Psychologie
» Schulpsychologinnen und Schulpsychologen unterstützen hilfreich sein kann.
den Anspruch des Kindes auf Erziehung und Bildung, auf
die entsprechende Entfaltung seiner Persönlichkeit und auf
eine altersgerechte Teilhabe am gesellschaftlichen Leben.
18.2 Bedeutung der elterlichen Erziehung
Aus den berufsethischen Grundsätzen der Sektion Schul-
psychologie im BDP
Wie Sie im vorigen Abschnitt gesehen haben, gibt es eine Viel-
Wie in vielen anderen Berufen, so hat auch für Schulpsychologen falt von geplanten und gezielten, aber auch von beiläufigen und
die Qualitätssicherung einen immer größeren Stellenwert er- unreflektierten Erziehungsprozessen. Die pädagogische Bezie-
18.2 · Bedeutung der elterlichen Erziehung
753 18
hung, die Sie wahrscheinlich zuallererst mit dem Begriff Er-
ziehung verbinden, ist die Eltern-Kind-Beziehung; und der
Erziehungseinfluss, an den Sie zuerst denken, ist der Einfluss
der Eltern auf das Kind. Können Sie sich vorstellen, dass die Art
und Weise, wie Eltern ihre Kinder erziehen, gar keinen oder nur
einen vernachlässigbar geringen Einfluss auf die Entwicklung
junger Menschen hat? Wahrscheinlich nicht, aber sowohl in
populärwissenschaftlichen Büchern als auch in der wissen-
schaftlichen Psychologie wird diese Auffassung ernsthaft ver-
treten. Wenn wir nun die Erziehungsprozesse und -einflüsse
behandeln, werden wir damit beginnen, dass wir die Argumente
für diese provokative These, aber auch die Gegenargumente
kennenlernen. Es sei vorweggenommen, dass der Autor die Auf-
fassung, dass die elterliche Erziehung keinen Unterschied macht,
nicht teilt.

» Es gibt eine Rolle, in der man immer schlecht ist.


Das ist die Rolle der Eltern.
. Abb. 18.6 (© Claudia Styrsky)
Sigmund Freud zugeschriebenes Zitat im Film Marie
und Freud von Benoît Jacquot

Eltern loben oder tadeln ihre Kinder, sie zeigen oder erklären Eltern oder Gleichaltrige: Ist das die Frage?
ihnen die Welt, sie leiten sie an, oder sie gehen nicht auf ihre »Ausgelöst« worden war die Titelstory im Spiegel durch das
Fragen ein, sie äußern verbal und nonverbal Stolz oder damals gerade erst erschienene Buch The nurture assumption:
Missachtung, sie sind zärtlich zu ihnen, oder sie wenden sich Why children turn out the way they do der amerikanischen Auto-
von ihnen ab – die Liste elterlicher Verhaltensweisen gegen- rin Judith Rich Harris (1998). In diesem populärwissenschaft-
über Kindern ließe sich noch lange fortsetzen. Eltern sind lichen Bestseller vertritt Harris, verkürzt gesagt, die These, dass
tolerant und großzügig, autoritär und fordernd, abweisend die Entwicklung des jungen Menschen vor allem von zwei Fak-
und herzlich, emotional und sachlich usw. Auch die Aufzählung toren bestimmt wird: von der genetischen Ausstattung und, in
elterlicher Erziehungshaltungen oder Erziehungsstile ließe erster Linie, dem Einfluss der Gleichaltrigen oder Peers. Folglich
sich ohne Weiteres verlängern. Wir werden uns im zweiten Teil bildet den Kern ihrer Überlegungen eine Theorie der Erziehung
dieses Abschnitts mit der Frage befassen, welcher elterliche (Sozialisation) des Kindes und des Jugendlichen durch die
Erziehungsstil sich als besonders vorteilhaft erwiesen hat. Bei Gruppe der Peers, im Deutschen kurz Gruppensozialisations-
der Diskussion der Erziehungsstile knüpfen wir an 7 Abschn. theorie genannt (Rheinberg et al. 2001).
6.3.3 an, wo schon einmal nach dem Einfluss der elterlichen Er-
Gruppensozialisationstheorie (»group socialization theory«) –
ziehung gefragt wurde. Erinnern Sie sich noch an die Antwort? Auffassung, dass die Gruppe der Gleichaltrigen (und nicht die Eltern!)
Dort war der autoritative Erziehungsstil als der vorteilhafteste den entscheidenden Erziehungseinfluss ausübt.
ausgemacht worden. Diese Überlegungen werden wir nun weiter
ausbauen. Die Autorin empfiehlt ihre Theorie der Sozialisation durch die
Gruppe der Gleichaltrigen als Alternative zu der von ihr abge-
lehnten Erziehungsthese (»nurture assumption«), die den mas-
18.2.1 Spielt die elterliche Erziehung eine Rolle? siven Elterneinfluss behauptet. Harris lehnt die Erziehungsthese
vehement ab. Sie sieht darin das Produkt einer Kultur, die sich
das Motto »Wir werden es schaffen« gesetzt hat. Trotz aller guten
? 18.4 Welche Rolle spielt die Erziehung durch die Eltern für
Absichten, so Harris, ist aber nicht zu erkennen, dass unter dieser
die Entwicklung des Kindes?
Parole für die Kinder auch wirklich Gutes erreicht worden ist. Im
»Eltern sind austauschbar« lautete die provozierende Überschrift Gegenteil: Sie hat den Eltern die schwere Last von Schuld- und
der Titelgeschichte in Der Spiegel (Nr. 47/1998). Und unter dem Versagensgefühlen auferlegt, wenn die Kinder nicht so geworden
Titel stand die Zusammenfassung: »Neue Erkenntnisse der Psy- sind, wie sie sie gern gehabt hätten.
chologen lassen das Weltbild vieler Eltern wanken: Der erziehe- Die Gruppensozialisationstheorie geht davon aus, dass die
rische Einfluss auf ihre Kinder ist offenbar kleiner als gedacht. Gruppe die natürliche Umgebung des Kindes bildet. Und Kind-
Prägend wirken vielmehr Freundeskreise und soziales Milieu, heit ist in erster Linie der Altersabschnitt, in dem die jungen
den Rest geben die Gene vor« (. Abb. 18.6). Menschen sich selbst in akzeptierte und geschätzte Mitglieder
754 Kapitel 18 · Pädagogische Psychologie: Übersicht und ausgewählte Themen

. Abb. 18.7a,b Erzieherischer Einfluss oder prägende Beziehungen? Eltern und Gleichaltrige, beide sind für die Entwicklung eines Kindes unverzichtbar.
(© photos.com)

ihrer Gruppe (der Gleichaltrigen) verwandeln. Dazu müssen sie um die Bedeutungslosigkeit der Gleichaltrigen für Heranwach-
beispielsweise lernen, wie sich Menschen ihres Alters und ihres sende zu behaupten. Ohne Frage, Gleichaltrige sind für die Ent-
Geschlechts verhalten. Ein wichtiges Lernprinzip ist dabei gemäß wicklung bedeutsam, und in einer Kultur, in der Kinder in der
Harris (1998, S. 358; Übersetzung durch den Autor) die Identi- Krippe und im Kindergarten, in Schule und Hort immer mehr
fikation: Zeit mit Gleichaltrigen verbringen, wird ihre Bedeutung viel-
leicht sogar noch zunehmen. Wir polemisieren aber gegen die
» Kinder identifizieren sich mit einer Gruppe von anderen, die
einseitige – und deshalb tendenziöse – Betrachtung des komple-
so sind wie sie selbst, und sie übernehmen die Normen
xen Feldes Erziehung.
dieser Gruppe. Sie identifizieren sich nicht mit ihren Eltern,
In der Erziehung gibt es beides: Bereiche, in denen der Eltern-
denn Eltern sind nicht Leute wie sie selbst – Eltern sind Er-
einfluss eher gering ist und andere Gebiete, in denen er stärker
wachsene. Kinder sehen sich selbst als Kinder, oder, wenn
ist als alle anderen Faktoren (. Abb. 18.7).
genügend andere Kinder da sind, als Mädchen und Jungen,
Harris’ Gruppensozialisationstheorie, die der Gruppe der
und das sind die Gruppen, in denen sie erzogen (sozialisiert)
Gleichaltrigen den entscheidenden Einfluss auf die Entwicklung
werden. Erziehung geschieht heutzutage meistens in
von Heranwachsenden zuspricht, mag für ausgewählte Entwick-
Gruppen von gleichaltrigen Kindern gleichen Geschlechts.
lungsbereiche zutreffen, etwa für die Übernahme von jugend-
Als Beleg für ihre These führt Harris unter anderem die Bereiche typischen Rollen und Einstellungen. Aber in anderen Bereichen,
des Spracherwerbs und der Übernahme der Geschlechtsrolle an. etwa der Moralentwicklung, der Lernmotivation und der Ent-
Dabei geht sie äußerst selektiv vor. So verweist sie als Bestätigung stehung antisozialen Verhaltens, spielt – entgegen Harris’ Be-
für die Gruppensozialisationstheorie auf dem Gebiet der Sprache hauptung – die Erziehung durch die Eltern eine maßgebliche
auf die Gruppen von Kindern mit taubstummen Eltern und von Rolle (. Abb. 18.8).
Immigrantenkindern. In beiden Fällen lernen die Kinder die
18 Sprache von den Gleichaltrigen. Gene oder Eltern? Noch eine falsche Alternative
Hier zeigt sich exemplarisch, wie einseitig Harris auswählt, Vergessen wir aber über der Debatte um die Rolle der Gleich-
wenn sie für ihre Theorie und gegen die Erziehungsthese argu- altrigen nicht, dass Harris einen zweiten Grund nannte, weshalb
mentiert. Zweifellos: Dialekte, schichtspezifische Sprachen und die Erziehung durch die Eltern so wirkungslos bleiben müsse.
erst recht der Jugendjargon können maßgeblich von Gleich- Das ist die genetische Ausstattung. Die ererbten biologischen
altrigen gelernt werden. Aber wir haben im ersten Abschnitt Grundlagen für die Entwicklung eines Menschen – verkürzt ge-
dieses Kapitels bereits gesehen, dass Eltern im Spracherwerbs- sagt: die Gene – sind aber nicht erst seit Harris’ Buch, sondern
prozess unverzichtbar sind. Durch die Benutzung der Ammen- schon früher Gegenstand einer Kontroverse gewesen, die aller-
sprache lassen sie sich auf das Lernniveau des Kindes ein und dings nur in Fachkreisen große Beachtung gefunden hat. Scarr
geben ihm so die nötige Anweisung, um überhaupt erst einmal (1992, 1993) hat aus evolutionstheoretischer Perspektive ver-
die Strukturen der Sprache zu entwickeln. sucht, eine Erklärung für den geringen Einfluss der familiären
Weitere Beispiele für den Einfluss der Eltern auf die Entwick- Erziehung zu liefern, und Baumrind (1993) und Jackson (1993)
lung des Kindes werden in diesem Kapitel folgen. Wenn wir hier haben Denkfehler in Scarrs Argumentation und Beobachtungen
vehement gegen Harris’ Position Stellung nehmen, dann nicht, zum Familieneinfluss angeführt.
18.2 · Bedeutung der elterlichen Erziehung
755 18
heißt das auch, dass Lebensbedingungen außerhalb dieses
Spielraums – und insbesondere auch die Bedingungen
in der Familie – einen erheblichen Einfluss haben können.
Extreme Armut oder Eltern, die ihre Kinder misshandeln,
stehen für Umweltbedingungen außerhalb des Normal-
bereichs.
2. Innerhalb des normalen oder üblichen Rahmens spielt
die Umwelt keine Rolle. Insbesondere sind im normalen
Rahmen »die genauen Details und Spezifizierungen der
Sozialisationserfahrungen« für die gesunde oder erfolg-
reiche Entwicklung der Kinder unerheblich (Scarr 1992,
S. 5; Übersetzung durch den Autor).

Baumrinds Gegenposition bewegt sich auf zwei Ebenen, die


miteinander verbunden sind. Sie stellt zum einen infrage, ob
sich Konzepte wie »der übliche Rahmen von Erfahrungen« oder
»die normale Bandbreite artspezifischer Bedingungen« sinnvoll
definieren lassen. »Scarr sagt uns nicht, wie wir feststellen kön-
nen, was einen normalen (gesunden) Entwicklungsverlauf aus-
macht oder worin die normale Bandbreite normaler Umwelt-
bedingungen besteht. Sie liefert auch keine Beobachtungen
dafür, dass innerhalb des ›normalen‹ oder ›genügend guten‹ Er-
fahrungsbereiches ›funktional gleichwertige‹ Entwicklungsver-
. Abb. 18.8 Antiautoritäre Erziehung. Eltern in den 60er und 70er Jahren läufe und -ergebnisse zustande kommen« (1993, S. 1300).
des vergangenen Jahrhunderts gingen davon aus, dass die traditionelle Zum anderen nennt Baumrind eine Vielzahl von Ergeb-
»autoritäre« Erziehung massive negative Wirkungen hat. Deshalb versuchten nissen, die zeigen, dass innerhalb des heute üblichen »Normal-
sie, ihre Kinder »antiautoritär« zu erziehen. Dieser Auffassung vom massiven
bereichs« die elterliche Erziehung einen Einfluss hat. Die Art und
Einfluss elterlicher Erziehung steht Harris’ These entgegen, dass der Einfluss
der Eltern vernachlässigt werden kann. (© Arbeiterwohlfahrt, www.awo.org) Weise, wie Eltern ihre Kinder erziehen, kann ungünstige Ent-
wicklungsbedingungen – etwa ungünstige soziale Voraussetzun-
gen – kompensieren, und sie kann, in Verbindung mit anderen
Nach Scarr ist es Teil der artspezifischen genetischen Ausstat- vorteilhaften Einflüssen, Entwicklung optimieren. Als günstige
tung von Menschen, dass sich Kinder an einen großen Bereich Entwicklungsbedingung ist hier in erster Linie der autoritative
von Umweltbedingungen gut anpassen können. Anders gesagt, Erziehungsstil zu nennen, den wir anschließend kennenlernen.
Kinder brauchen, um sich gut entwickeln zu können, nicht eine Die Frage nach der Alternative Biologie oder Erziehung ist
ganz bestimmte Umwelt – nicht dieses oder jenes Spielzeug und falsch gestellt. Jeder Entwicklungsprozess ist immer das Ergebnis
nicht diesen oder jenen elterlichen Erziehungsstil –, sondern sie von beiden Einflussfaktoren, der Natur (biologische Bedingun-
sind genetisch darauf vorbereitet, mit einer ganzen Bandbreite gen) und der Kultur (Erziehungspraktiken und Erziehungsstile).
von Entwicklungserfahrungen zurechtzukommen, solange diese Viele Ergebnisse sprechen dafür, dass auch innerhalb der
innerhalb eines »normalen Bereiches« liegen. Das ist so, weil »normalen Bandbreite« die Art und Weise, wie Eltern ihre
Kinder (wie die Erwachsenen auch!) nicht passiv der Umwelt Kinder erziehen, eine langfristige Wirkung hat.
ausgeliefert sind, sondern sich ihre Erfahrungsräume auswählen, In jüngerer Zeit hat Baumrinds Plädoyer durch Grusec u.
ihre Erfahrungen aktiv konstruieren und auf diese Weise in die Davidov (2007) Unterstützung erhalten, die in einem Sammel-
eigene Entwicklung gestaltend eingreifen (. Abb. 18.9). referat ein ganzes Bündel von Argumenten dafür angeführt
In dieser Feststellung über einen breiten Bereich von Ent- haben, dass unter den Einflüssen auf das Kind der Erziehung
wicklungsbedingungen, die innerhalb dessen liegen, was Kinder durch die Eltern der Vorrang zukommt – die Autoren sprechen
aufgrund ihrer genetischen Anlage brauchen, um gut auf- vom Primat der Eltern-Kind-Beziehung. Vier der Gründe seien
wachsen zu können, stecken zwei auf den ersten Blick konträre hier genannt. Erstens sind Eltern und Kinder Teil eines bio-
Feststellungen über die Bedeutung der Umwelt für die Entwick- sozialen Systems, das dazu dient, die Nachkommen zu schützen
lung von Heranwachsenden. und sicherzustellen, dass diese mit den Anforderungen des
1. Die Umwelt ist bedeutsam für die menschliche Entwick- sozialen Lebens zurechtkommen. Zweitens spielt das starke
lung. Wenn bei Scarr von einer Bandbreite »funktional menschliche Bedürfnis nach Verbundensein im Prozess der
gleichwertiger« Entwicklungsbedingungen die Rede ist, so Sozialisation eine erhebliche Rolle, und Gelegenheiten für dieses
756 Kapitel 18 · Pädagogische Psychologie: Übersicht und ausgewählte Themen

. Abb. 18.9 Begeisterung für Bücher. Elterliche Gene oder elterliches Vorbild sind niemals nur alleinige Einflussfaktoren, sondern wirken immer zusammen.
(© photos.com)

Verbundensein sind in der Eltern-Kind-Beziehung im Überfluss In den 60er und 70er Jahren des vergangenen Jahrhunderts un-
vorhanden, da Eltern ihre Kinder beschützen und versorgen terschied die bereits oben erwähnte amerikanische Psychologin
sowie ihnen gegenüber Zuneigung und Wärme zeigen. Drittens Diana Baumrind zwischen drei Typen elterlicher Erziehung;
ist es, rein praktisch gesehen, gerade für Eltern einfach, Einfluss dies hat sich bis heute in der Fachliteratur durchgesetzt und ist
auf die Sozialisation des Kindes zu nehmen, da Eltern und Kin- inzwischen auch in der Elternliteratur verbreitet. Baumrind
der in der Regel räumlich zusammenleben. Und schließlich sind (1977) nahm an, dass unter US-amerikanischen Eltern im We-
es die Eltern, die eine Kontrolle über die Umwelt des Kindes sentlichen drei Erziehungsstile verbreitet sind: der autoritative,
haben und auf diese Weise schädliche Einflüsse vom Kind fern- der autoritäre und der permissive.
halten können. 4 Autoritative Eltern stellen Anforderungen an ihre Kinder
und verlangen von ihnen die Einhaltung von Regeln. Aber
sie akzeptieren die Kinder auch gleichzeitig als ernst zu
18.2.2 Welcher Erziehungsstil ist am günstigsten? nehmende Gesprächspartner – sie öffnen sich ihnen und
sind an ihnen interessiert. Beispielsweise begründen sie
Wie lässt sich die Erziehung von Eltern am besten beschreiben? Regeln und Forderungen und erklären ihre Erziehungs-
Vor allem: Wie lassen sich Unterschiede zwischen Eltern am tref- maßnahmen. Sie ermutigen die Kinder, nach einem eigenen
fendsten herausarbeiten? Im nächsten Abschnitt befassen wir Standpunkt zu suchen und selbstständig (autonom) zu
uns mit einer Theorie, die eine Klassifikation elterlicher Erzie- werden (. Abb. 18.10).
hungsmaßnahmen für eine ganz bestimmte Art von Situation 4 Autoritäre Eltern fordern zwar auch die Einhaltung von
18 vorschlägt. Zunächst aber lernen wir Erziehungsstile von Eltern Regeln, aber ihnen geht es weniger darum, den Handlungen
kennen. Als elterliche Erziehungsstile bezeichnet man Muster ihrer Kinder begründete (und zu begründende) Grenzen
von elterlichen Einstellungen, Handlungsweisen und Ausdrucks- zu setzen, als darum, strikten Gehorsam zu fordern. Anders
formen, die die Art der Interaktion von Eltern mit ihrem Kind gesagt, die Befolgung von Regeln und Normen sowie
über eine Vielzahl von Situationen kennzeichnen (Darling u. die Achtung der elterlichen Autorität werden von ihnen
Steinberg 1993). als ein eigenständiger Wert gesehen – es geht ihnen also
um eine psychologische Kontrolle (im Unterschied zur
Erziehungsstil (»parenting style«) – Muster von elterlichen Einstellungen,
Handlungsweisen und Ausdrucksformen, die die Art der Interaktion der Handlungskontrolle bei den autoritativen Eltern). Der
Eltern mit ihrem Kind über eine Vielzahl von Situationen kennzeichnen. Forderung nach Einhaltung von Vorschriften ohne Wenn
und Aber entspricht die Neigung, massiv und körperlich
zu strafen und ein geringes Interesse an den Handlungs-
Einteilung von Erziehungsstilen
motiven und Absichten des Kindes zu haben. Beobachter
? 18.5 Wie lassen sich Erziehungsstile sinnvoll einteilen? beschreiben das Klima autoritärer Erziehung als kalt und
Welche Dimensionen liegen dieser Einteilung zugrunde? feindselig.
18.2 · Bedeutung der elterlichen Erziehung
757 18
westliche Kultur insgesamt generalisiert: »Autoritative Erzie-
hung scheint eine besondere Form der sozialen Kompetenz von
Kindern zu unterstützen, die in der westlichen Gesellschaft mit
Erfolg zusammenhängt. Man bezeichnet diese soziale Fähigkeit
als instrumentelle Kompetenz« (1977, S. 245; Hervorhebung »in
der westlichen Gesellschaft« durch den Autor).
Maccoby u. Martin (1983) haben Baumrinds Typologie er-
gänzt, indem sie den permissiven Erziehungsstil weiter diffe-
renziert haben. Dazu griffen sie auf frühere Ergebnisse der Er-
ziehungsstilforschung aus den 1950er und 1960er Jahren zurück.
Verschiedene Autoren hatten damals übereinstimmend zwei
Grunddimensionen elterlicher Erziehung identifiziert: Liebe/
Zuwendung versus Feindseligkeit/Ablehnung und Autonomie/
Selbstständigkeit versus Lenkung/Kontrolle (z. B. Sears et al.
1957; Schaefer 1965). Durch Kombination dieser beiden Dimen-
sionen definierten Maccoby u. Martin vier Typen elterlicher Er-
ziehung: neben der autoritativen und der autoritären Erziehung
sind das der nachgiebige (»indulgent«) und der vernachlässigen-
de (»neglectful«) Erziehungsstil.
4 Eltern, die nachgiebig erziehen, sind tolerant, warmherzig
und dem Kind zugewandt, aber gleichzeitig üben sie auch
wenig Lenkung und Strukturierung aus und stellen wenig
Forderungen an das Kind. Sie erlauben, dass es sein Verhal-
. Abb. 18.10 Ernst zu nehmende Gesprächspartner. Autoritative Eltern
ten weitgehend selbst steuert.
erklären ihre Erziehungsmaßnahmen, erwarten die Einhaltung von Regeln
und nehmen das Kind als Gesprächspartner ernst. (© photos.com) 4 Bei der vernachlässigenden Erziehung sind die Eltern in
jeder Hinsicht unbeteiligt, vielleicht weil sie so sehr mit
den eigenen Problemen beschäftigt sind, dass sie sich aus
4 Permissive Eltern sind wenig lenkend und kontrollierend. ihrer Erziehungsaufgabe zurückgezogen haben. Sie sind
Sie stellen wenig Anforderungen an das Kind und er- weder emotional dem Kind zugewandt noch haben sie ein
lauben – den Impulsen des Kindes nachgebend –, dass es Interesse daran, das Verhalten des Kindes zu bewerten und
sein Verhalten selbst steuert. Sie versuchen, so wenig entsprechend zu lenken.
wie möglich zu reglementieren (z. B. vermeiden sie Bestra-
fungen). . Tab. 18.1 zeigt in schematischer Darstellung die von Maccoby
u. Martin unterschiedenen Erziehungsstile und die zugrunde
Autoritativer Erziehungsstil (»authoritative parenting«) – Eltern stellen
Anforderungen und verlangen die Einhaltung von Regeln, akzeptieren aber liegenden Dimensionen elterlicher Erziehung.
die Kinder als ernst zu nehmende Gesprächspartner. Baumrind hat in neueren Arbeiten (1991a; 1991b) das zwei-
Autoritärer Erziehungsstil (»authoritarian parenting«) – Eltern verlangen dimensionale Schema ebenfalls benutzt und dabei sogar eine
strikten Gehorsam, weil es ihnen um psychologische Kontrolle geht. Sie noch feinere Einteilung vorgenommen, indem sie auf beiden
bestrafen massiv und physisch und haben geringes Interesse an den Hand-
Dimensionen jeweils drei Abstufungen unterscheidet. Man
lungsabsichten und -motiven der Kinder.
kann also davon ausgehen, dass diese beiden Dimensionen in
Permissiver Erziehungsstil (»permissive parenting«) – Eltern sind wenig
lenkend und kontrollierend, stellen wenig Anforderungen und überlassen
der westlichen Kultur tatsächlich zentrale Merkmale beschrei-
es dem Kind, sich selbst zu steuern. ben, nach denen Eltern als Erzieher unterschieden werden
können.
Ein Blick in Baumrinds Originalarbeiten lohnt sich aus mehreren Allerdings haben sich verschiedene Autoren nicht mit Baum-
Gründen. So zeigt sich z. B., dass sie ursprünglich von Diszipli- rinds Beschreibung der Dimension Kontrolle zufrieden gegeben
nierungsmustern (»disciplinary patterns«) sprach, also vor allem und im Rahmen von methodisch aufwendigen Studien zwischen
jene Situationen im Auge hatte, in denen die Eltern gefordert den beiden Faktoren der Verhaltenskontrolle und der psycholo-
sind, die Kinder zur Einhaltung bestimmter sozialer Regeln zu gischen Kontrolle unterschieden. Dabei bezieht sich Verhaltens-
erziehen. Weiterhin wird deutlich, dass Baumrind einerseits die kontrolle auf die »Regulation des kindlichen Verhaltens durch
Entstehung und die Akzeptanz der drei Erziehungshaltungen mit konsistente Disziplinierung«, psychologische Kontrolle hingegen
gesellschaftlichen Entwicklungen in den USA in Verbindung auf die »Regulation des kindlichen Verhaltens durch psycho-
bringt, ihre unterschiedliche Wirkung aber andererseits auf die logische Mittel wie Liebesentzug oder Auslösung von Schuld-
758 Kapitel 18 · Pädagogische Psychologie: Übersicht und ausgewählte Themen

bisher nicht befriedigend gelöste Aufgabe ist. Bisher werden drei


. Tab. 18.1 Typologie von Erziehungsstilen. (Adaptiert nach
Maccoby u. Martin 1983)
unterschiedliche Verfahren verwendet, teilweise in Kombination
miteinander:
Unterstützung/ Kontrolle/Lenkung 4 Selbstbeurteilung: die Befragung der Eltern über den
Anteilnahme eigenen Erziehungsstil. Probleme sind hierbei, dass sich die
Eltern über die eigene Haltung möglicherweise nicht im
Hoch Gering
Klaren sind und unwissentlich falsche Auskünfte geben
Hoch Autoritativ Nachgiebig
können oder dass sie aus Gründen der sozialen Erwünscht-
Gering Autoritär Vernachlässigend heit wissentlich falsche Angaben machen können, um in
einem besseren Licht zu stehen.
4 Fremdbeurteilung: die Befragung der Kinder über den elter-
gefühlen« (Fuhrer 2005, S. 231). Verhaltenskontrolle entspricht lichen Erziehungsstil. Hier besteht die Schwierigkeit darin,
in etwa dem, was häufig mit dem Schlagwort »Grenzen setzen« dass die Kinder den elterlichen Erziehungsstil möglicher-
bezeichnet wird: den Kindern in konkreten Situationen An- weise verfälscht wahrnehmen, weil z. B. die Qualität der
leitung und Führung geben, was natürlich auch bedeutet, Eltern-Kind-Beziehung einen Einfluss darauf hat, wie die
als Eltern über das Tun der Kinder informiert zu sein. Die Eltern wahrgenommen werden.
Wirkung psychologischer Kontrolle hingegen wird von einigen 4 Beobachtung des Elternverhaltens in ausgewählten Situa-
Autoren für unseren Kulturkreis negativ gesehen; denn es geht tionen und Beurteilung dieser Beobachtungen hinsichtlich
dabei um elterliche Verhaltensweisen, die der Entwicklung von des darin erkennbaren Erziehungsstils. Subjektive Ver-
Selbstregulation und Autonomie entgegenstehen (vgl. Barber fälschungstendenzen können hier zwar weitgehend aus-
2002). Insgesamt aber sind die Befunde nicht einheitlich. Vieles geschlossen werden, es ist aber die Frage, inwieweit die
deutet darauf hin – und das entspricht auch der Alltagsplau- Beobachtungen repräsentativ und typisch für das alltägliche
sibilität –, dass sich Kontrolle als Merkmal der autoritativen Elternverhalten sind (zumal wenn die Eltern wissen, dass
Erziehung nur dann positiv auswirkt, wenn sie moderat aus- sie beobachtet werden).
geübt wird.
Alle Ansätze haben spezifische Nachteile. Deshalb verspricht die
Erhebungsverfahren Methodenkombination die besten Resultate.
Klare Definitionen von Konzepten sind unverzichtbar, aber für Einen konkreten Eindruck vom Vorgehen bei der Diagnose
eine empirische Wissenschaft wie die Psychologie ist es genauso des elterlichen Erziehungsstils erhalten Sie in 7 Unter der Lupe:
wichtig, die Definitionen in praktikable und aussagekräftige Ein Verfahren zur Erfassung des elterlichen Erziehungsstils, in dem
Beobachtungsverfahren zu überführen. Es zeigt sich, dass die wir ein Verfahren beschreiben, das auf der Befragung der Kinder
Erfassung des elterlichen Erziehungsstils eine messmethodisch beruht.

Unter der Lupe

Ein Verfahren zur Erfassung des elterlichen Erziehungsstils


Das Fragebogenverfahren von Lamborn et al. In . Tab. 18.2 sind die Fragen aufgeführt, also als zugewandt und lenkend be-
(1991) ist geeignet, um bei 14- bis 18-jährigen die zur Messung dieser beiden Dimensionen schrieben wird.
18 Schülern den elterlichen Erziehungsstil zu formuliert wurden. Dabei ist zu beachten, dass 5 Vernachlässigende Erziehung wird da-
erfragen. Ausgangspunkt für den Fragebogen wir zum Zwecke der übersichtlicheren Dar- durch »operational definiert«, dass die
war die Unterscheidung zwischen autorita- stellung die Formulierung der Fragen meistens Beschreibung auf beiden Dimensionen
tivem, autoritärem, nachgiebigem und ver- verändert haben; der Inhalt wurde aber un- im unteren Drittel liegt, d. h. als wenig
nachlässigendem Erziehungsstil. Unter der verändert gelassen. zugewandt und wenig lenkend charak-
Dimension der Zuwendung/Wärme (»accept- Auf jeder der beiden Dimensionen wurden terisiert wird.
ance/involvement«) verstehen Lamborn et al. die insgesamt über 4000 Teilnehmer an der 5 Bei der autoritären Erziehung verbindet
das Ausmaß, in dem die Jugendlichen die Befragung in 3 gleich große Gruppen ein- sich ein Rangplatz im oberen Drittel auf
Eltern als liebevoll, an ihrem Leben anteilneh- geteilt: jeweils ein Drittel mit den höchsten, der Skala Lenkung/Kontrolle mit einem
mend und sensibel für ihre Probleme erleben. mit den mittleren und den niedrigsten Rangplatz im unteren Drittel der Skala
Lenkung/Kontrolle (»strictness/supervision«) Werten. Man spricht auch von einer Einteilung Zuwendung/Wärme.
bezieht sich darauf, dass die Lebenswelt in 3 Terzile. 5 Bei der nachgiebigen Erziehung ist im
des Jugendlichen beaufsichtigt und struktu- 5 Ein autoritativer Erziehungsstil liegt Sinne der Terzilbildung ein hohes Maß
riert wird. Es fällt auf, dass im Vergleich zu dann vor, wenn die Beschreibung der an Zuwendung mit einem geringen Maß
Definitionen anderer Autoren hier die Formu- elterlichen Erziehung auf beiden Dimen- an Kontrolle kombiniert.
lierung von Anforderungen keine Rolle spielt. sionen im oberen Drittel (Terzil) liegt,
18.2 · Bedeutung der elterlichen Erziehung
759 18

. Tab. 18.2 Fragebogenverfahren zur Erfassung der Dimensionen der Zuwendung/Wärme und der Lenkung/Kontrolle in der elterlichen Erziehung.
Die Fragen werden 14- bis 18-jährigen Jugendlichen gestellt, und aus den Antworten wird der elterliche Erziehungsstil erschlossen. (Adaptiert nach
Lamborn et al. 1991)

Elterliche Zuwendung/Wärme Elterliche Lenkung/Kontrolle

Kannst du dich darauf verlassen, dass dir dein Vater/deine Mutter hilft, Wie lange darfst du normalerweise abends wegbleiben, wenn du am
wenn du Probleme hast? nächsten Tag Schule hast?
Unterstützt er/sie dich dabei, alles, was du machst, auch gut zu machen? Wie lange darfst du wegbleiben, wenn du am nächsten Tag keine Schule
hast (an Wochenenden)?

Hält er/sie dich dazu an, unabhängig zu denken? Wissen deine Eltern in der Regel genau, wo du dich an den meisten
Nachmittagen nach Schulschluss aufhältst?

Hilft er/sie dir, wenn du mit den Schulaufgaben nicht zurechtkommst? Wie sehr bemühen sich deine Eltern, herauszufinden, wo du abends
hingehst?
Wenn er/sie etwas von dir verlangt, erklärt er/sie dann auch, Wie sehr bemühen sich deine Eltern, herauszufinden, was du mit deiner
warum das so ist? Freizeit machst?
Angenommen, du bekommst in der Schule schlechte Noten – Wie sehr bemühen sich deine Eltern, herauszufinden, wo du nachmittags
wie oft ermutigen dich deine Eltern, dich mehr anzustrengen? nach der Schule bist?
Angenommen, du bekommst in der Schule gute Noten – Wie viel wissen deine Eltern tatsächlich darüber, wo du abends hingehst?
wie oft loben dich deine Eltern dafür?

Wie viel wissen deine Eltern wirklich darüber, wer deine Freunde sind? Wie viel wissen deine Eltern tatsächlich darüber, was du in deiner Freizeit
machst?
Wie oft kommt es vor, dass deine Familie gemeinsam etwas unter- Wie viel wissen deine Eltern tatsächlich darüber, wo du nachmittags nach
nimmt, was Spaß macht? der Schule bist?

Auswirkung von Erziehungsstilen psychisch gesunde Entwicklung von Kindern und Jugendlichen
und ist ein »Schutzfaktor« gegen Verhaltensprobleme unter-
? 18.6 Wie wirken sich die verschiedenen Erziehungsstile aus?
schiedlicher Art.
Gleichgültig, ob man den autoritativen Erziehungsstil mit dem Entgegen der weit verbreiteten Auffassung über die »Ohn-
autoritären und dem permissiven oder mit dem autoritären, dem macht« der Eltern gegenüber Jugendlichen sprechen die Unter-
nachgiebigen und dem vernachlässigenden Erziehungsstil ver- suchungsergebnisse auch dafür, dass der Elterneinfluss im Ju-
gleicht, in einer Vielzahl von Studien mit unterschiedlicher Beob- gendalter nicht nachlässt. In der in 7 Unter der Lupe: Ein Verfahren
achtungsmethodik hat sich für unsere Kultur übereinstimmend die zur Erfassung des elterlichen Erziehungsstils vorgestellten Studie
Überlegenheit des autoritativen Erziehungsstils gezeigt (7 Abschn. verglichen Lamborn et al. (1991) die Auswirkungen der vier Er-
6.3.3) – ein Resultat, das der in 7 Abschn. 18.2.1 beschriebenen ziehungsstile in vier Merkmalsbereichen:
These von Scarr über die »Vernachlässigbarkeit des elterlichen Er- 4 im Stand der psychosozialen Entwicklung, beispielsweise
ziehungsstils unter Normalbedingungen« eindeutig widerspricht. im ausgeprägten Selbstvertrauen und im positiven Selbst-
Baumrind (1993) sieht eine Reihe positiver Auswirkungen konzept;
autoritativer Erziehung im Vergleich zu den anderen Erziehungs- 4 im Schulerfolg, gemessen sowohl durch die Schul-
stilen. Dabei ist allerdings zu beachten, dass es sich um »mittlere noten als auch durch die Selbsteinschätzung der Schul-
Unterschiede« handelt, d. h. nicht in jedem Einzelfall hat auto- leistung;
ritative Erziehung diese Wirkung. Autoritative Erziehung führt 4 in »nach außen gerichteten Verhaltensproblemen«, erfasst
demnach zu durch Berichte der Jugendlichen über Alkohol und Drogen-
4 großen Fortschritten in der psychosozialen Reife, missbrauch, über Disziplinprobleme in der Schule und über
4 Bereitschaft zu prosozialem Verhalten, Straftaten (Delinquenz);
4 interner Kontrollüberzeugung, 4 in »nach innen gerichteten Verhaltensproblemen«, die sich
4 wenig nach außen gerichteten Verhaltensproblemen, zum einen in psychosomatischen Symptomen und zum
4 wenig nach innen gerichteten Verhaltensproblemen, anderen in psychologischen Symptomen wie Angstgefühlen,
4 wenig Drogenproblemen. Depressionen und Anspannungen zeigen.

In einer Vielzahl von Untersuchungen hat sich der autoritative Auch in dieser Untersuchung war der autoritative Erziehungsstil
Erziehungsstil als überlegen erwiesen. Er fördert am stärksten die den anderen Erziehungsstilen eindeutig überlegen. Jugendliche
760 Kapitel 18 · Pädagogische Psychologie: Übersicht und ausgewählte Themen

mit autoritativ erziehenden Eltern hatten die wenigsten Verhal-


tensprobleme und den höchsten Entwicklungsstand in den ver-
schiedenen Maßen für psychosoziale Kompetenz.
Betrachtet man die Ergebnisse im Detail, so zeigt sich, dass
es neben der globalen Überlegenheit der autoritativen Erziehung
eine Vielzahl von Fakten gibt, die nach einer differenzierteren
Erklärung verlangen.
Die Autoren beobachteten, dass die vernachlässigend erzo-
genen Jugendlichen den autoritär oder nachgiebig erzogenen
Altersgenossen unterlegen waren, denn sie schnitten in allen
Merkmalsbereichen am schlechtesten ab. Die autoritär und
nachgiebig erzogenen Jugendlichen zeigten eine Mischung aus
negativen und positiven Merkmalen. Autoritäre Erziehung geht
erwartungsgemäß mit Gehorsam und Konformität einher; aber
die so erzogenen Jugendlichen zeigen auch wenig nach außen
gerichtete Verhaltensprobleme (Drogen- und Alkoholmissbrauch
sowie Devianz) und sind, objektiv gesehen, gute Schüler. Der
Preis, den sie zahlen müssen, ist ein geringes Selbstvertrauen und
eine Unterschätzung ihrer eigenen schulischen und sozialen
Möglichkeiten. Nachgiebig erzogene Jugendliche sind relativ des-
interessiert an der Schule, was sich in schlechteren Schulleistun-
gen äußert. Sie haben auch Disziplinprobleme in der Schule und
neigen eher als die autoritativ und autoritär erzogenen Altersge-
nossen zu Drogen- und Alkoholmissbrauch, unterscheiden sich
von ihnen aber nicht, was die Resistenz gegen schwerere Formen
. Abb. 18.11 Erziehung nach dem konfuzianischen Ideal. Wie verschieden
von Delinquenz angeht. Sie haben ein hohes Maß an gerechtfer- der kulturelle Kontext von Erziehung sein kann, zeigt diese Abbildung, mit
tigtem Selbstvertrauen in ihre sozialen Fähigkeiten, denn tatsäch- der ein koreanisches Schulbuch für den Ethikunterricht in Klasse 1 beginnt.
lich haben sie relativ große soziale Kompetenzen. Es ist kaum vorstellbar, dass ein Ethiklehrbuch für Klasse 1 in unserem Kultur-
kreis den Kindern zeigt, wie man Erwachsene grüßen soll
Erziehungsstil: Ein »transkulturell valides«
Konzept? hat. Dies lässt sich am Beispiel einer Studie von Dornbusch et al.
(1987) veranschaulichen. Dornbusch et al. baten Schüler, die
? 18.7 Warum lassen sich Erziehungsstile nicht ohne Weiteres
die amerikanische Highschool besuchten, den Erziehungsstil
aus einem Kulturkreis auf einen anderen übertragen?
ihrer Eltern als autoritativ, autoritär oder permissiv einzustufen.
Eltern erwerben ihr Selbstverständnis als Eltern und damit auch Schüler asiatischer Herkunft stuften ihre Eltern als autoritärer
die Überzeugungen darüber, wie man Kinder erziehen sollte, als (etwa im Sinne des Einforderns unbedingten Gehorsams) und
Teil eines kulturellen Vermittlungsprozesses. Nur für den Umgang als weniger autoritativ ein, verglichen mit den Mitschülern euro-
mit sehr jungen Kindern folgen sie in manchen Bereichen offen- päischer Herkunft. Aber wiederum im Vergleich zu den euro-
18 sichtlich jenem »intuitiven« kulturunabhängigen Verhaltenspro- päisch-stämmigen Mitschülern schnitten die autoritär erzo-
gramm, das wir in 7 Abschn. 18.1.1 im Zusammenhang mit der genen chinesischen Schüler jedoch keinesfalls schlechter in der
Ammensprache kennengelernt haben. Angewandt auf das Thema Schule ab.
Erziehungsstile liegt also die Frage nahe, ob die autoritative Erzie- Die Auflösung dieses Widerspruchs besteht darin, den kul-
hung auch in anderen Kulturen als dem westlichen Kulturkreis turellen Hintergrund der Erziehung chinesischer Schüler zu be-
verbreitet ist und, wenn ja, ob sie dort gleichermaßen überlegen ist. rücksichtigen. Kontrolle und Gehorsam haben, im Rahmen des
Am Beispiel der chinesisch-stämmigen US-amerikanischen konfuzianischen Wertesystems, für Familien aus Ostasien eine
Eltern hat Chao (1994) mit überzeugenden Argumenten die völlig andere Bedeutung als im Westen. Genauer gesagt: Sie
Angemessenheit der auf Baumrind zurückgehenden Taxonomie haben für Eltern und Kinder eine andere Bedeutung (Hoppe-
der Erziehungsstile und insbesondere der autoritären Erziehung Graff u. Kim 2000). Diese Verhaltensprinzipien sind eingebettet
bestritten. Sie spricht ihnen transkulturelle Validität ab und hält in die konfuzianischen Werte des Anstands und der Dankbarkeit
sie für irreführend und ethnozentrisch. des Kindes gegenüber den Eltern, und sie werden von frühester
Chao verweist darauf, dass die Übertragung der kulturell Kindheit an in einer Vielzahl von kulturellen Routinen vermittelt
unangemessenen Erziehungsstile zu einem Widerspruch geführt (7 Kap. 5; . Abb. 18.11).
18.2 · Bedeutung der elterlichen Erziehung
761 18

Kritisch nachgefragt

Sind gute Lehrer wie gute Eltern?


Die Lehrer-Schüler-Beziehung ist von der gegeben haben. Erkennen Sie die Entspre- hingewiesen, dass sich der autoritative Erzie-
Eltern-Kind-Beziehung grundsätzlich verschie- chung zwischen Unterrichts- und Erziehungs- hungsstil in ausgewählten ethnischen Grup-
den, und deshalb können Lehrer Eltern auch stil? Wir wollen deshalb auch ausdrücklich von pen in den USA (wie etwa afroamerikanischen
niemals ersetzen. Daran kann kein Zweifel einem autoritativen Unterrichtsstil sprechen. und asiatisch-amerikanischen Familien) nicht
bestehen. Dennoch kann man fragen, ob sich Der Unterrichtsstil wurde in zwei Schulen als überlegen erwiesen hatte (Steinberg et al.
Merkmale des autoritativen Erziehungsstils durch die Befragung von insgesamt 452 Schü- 1992; Chao 1994, 2001). Diese Einschränkung
auch für erfolgreichen Unterricht eignen. lern ermittelt, also im Sinne der oben getrof- scheint für Unterrichtsstile nicht zu gelten:
Wentzel (2002) hat diese Frage in der 6. Klasse fenen Unterscheidung durch eine Fremdbe- Die Unterrichtsmerkmale waren jedenfalls für
(im US-amerikanischen Schulsystem) unter- urteilung. Es zeigte sich, dass die vier Unter- afroamerikanische Schüler gleichermaßen
sucht (. Abb. 18.12). richtsmerkmale untereinander hochsignifikant vorteilhaft wie für »europäisch-amerikanische«
Wentzel vermutete, dass sich vor allem die korrelieren. Das liefert eine weitere Berech- Schüler.
folgenden vier Eigenheiten der autoritativen tigung dafür, tatsächlich von einem autorita- Fazit: Die Antwort auf unsere kritische Nach-
Erziehung im Unterrichtsstil wiederfinden tiven Unterrichtsstil zu sprechen. frage lautet: »Ja«. Offenkundig haben gute
lassen und positive Effekte zeigen sollten: Alle vier Unterrichtsdimensionen weisen kon- (erfolgreiche) Eltern und gute Lehrer eine
5 Formulierung und Verdeutlichung von sistent eine relativ enge Beziehung zu wichti- autoritative Grundhaltung gemeinsam, wobei
Regeln für den Unterricht; gen Einstellungs- und Verhaltensmerkmalen vor allem die Verdeutlichung von Erwartun-
5 hohe Erwartungen an die Schüler; der Schüler auf. So beträgt etwa die mittlere gen, Akzeptanz und Unterstützung bedeutsam
5 Akzeptanz und Unterstützung (Vermei- Korrelation mit dem Interesse an der Klasse sind. Wentzels Schlussfolgerung geht sogar
dung negativen Feedbacks); 0,39 und mit der Lernmotivation 0,25. Beson- noch einen Schritt weiter: »Schulische Inter-
5 faire (demokratische) Kommunikation im ders die hohen Erwartungen seitens der Leh- ventionsprogramme mit dem Ziel, soziale
Umgang mit den Schülern. rer und die Vermeidung negativen Feedbacks, Kompetenzen und den Schulerfolg zu fördern,
also Akzeptanz und Unterstützung, eignen könnten also aus Erfahrungen profitieren,
Vergleichen Sie diese Merkmale mit der Be- sich zur Vorhersage der Schülereinstellung, die in Familien und mit Elterninterventions-
schreibung, die wir im 7 Abschn. 18.2.2 für des angepassten Schülerverhaltens und des programmen gewonnen worden sind.«
den autoritativen Erziehungsstil von Eltern Schulerfolgs. Oben hatten wir kurz darauf ( Wentzel 2002, S. 299; Übersetzung d. Verf.)

Die klare Unterscheidung von autoritativer und autoritärer bei. Sie geben den Kindern auch eine aktive Hilfestellung bei der
Erziehung lässt sich also offenkundig nicht auf den ostasiatischen Entwicklung von Fertigkeiten und einer günstigen Einstellung zu
Kulturkreis übertragen. Viel angemessener wäre es, für die Be- den Schulaufgaben. Und damit ließen sich auch die besseren
schreibung elterlicher Erziehung einen Erziehungsstil einzufüh- Schulleistungen autoritativ erzogener Kinder erklären (7 Kritisch
ren, der sich in westlichen Begriffen am ehesten als Schulung nachgefragt: Sind gute Lehrer wie gute Eltern?).
(»training«) bezeichnen ließe. Er entspricht konfuzianischen Autoritative Erziehung ist überlegen, weil hier ein ausgewo-
Idealen und ist durch harte Arbeit, Selbstdisziplin und Gehorsam genes Verhältnis zwischen der Forderung nach der Einhaltung
gekennzeichnet (Chao 2001). von Regeln und Normen auf der einen Seite und dem Freiraum
für Autonomie und Entfaltung eigenen Denkens auf der anderen
Warum ist die autoritative Erziehung überlegen? Seite besteht.
Ein anderer Erklärungsversuch geht von der Unterscheidung
? 18.8 Warum wirkt sich die autoritative Erziehung im west-
zwischen Erziehungsinhalt, also den tatsächlichen Erziehungs-
lichen Kulturkreis auf die Heranwachsenden günstiger aus
praktiken, und Erziehungskontext, also dem Erziehungsstil, aus.
als die anderen Erziehungsstile?
Erziehungspraktiken beziehen sich auf spezifische Inhalte und
Baumrind selbst hat die Überlegenheit des autoritativen Erzie- Sozialisationsziele. Sie sind konkret: etwa dem Kind einen Klaps
hungsstils folgendermaßen erklärt: Die bestimmte, aber nicht geben, Interesse an seiner Schulaufgabe zeigen und es auffor-
restriktive Kontrolle gibt den Kindern und Jugendlichen Gele- dern, eine bestimmte Pflicht zu erfüllen. Der Erziehungsstil da-
genheit, eine Balance zwischen der Notwendigkeit von Regel- gegen bezieht sich auf inhaltsunabhängige Verhaltensweisen. Er
und Normbeachtungen auf der einen Seite und dem Bedürfnis bestimmt das allgemeine emotionale Klima und äußert sich im
nach Autonomie und der Entfaltung des eigenen Denkens auf Ton der Stimme, in der Körpersprache, in Gefühlsausbrüchen.
der anderen Seite zu finden. Sie verweist auch darauf, dass auto- Der Stil vermittelt dem Kind, mit welchem Gefühl die Eltern
ritativ erziehende Eltern bereit sind, mehr in die Erziehung ihrer nicht seinen einzelnen Handlungen, sondern ihm als Person be-
Kinder zu investieren. Weil sie Situationen schaffen, in denen gegnen. Beispielsweise zeigt der autoritative Erziehungsstil dem
sich ihre Kinder selbst als erfolgreich erleben können, und indem Kind, dass sich die Eltern wohl fühlen, wenn sie das Kind lenken
sie ihnen positive Rückmeldungen geben, tragen sie aktiv zum können, dass sie die Individualität des Kindes akzeptieren und
Aufbau der erlebten Selbstwirksamkeit und des Selbstvertrauens dass sie offen für seine Wünsche und Bedürfnisse sind.
762 Kapitel 18 · Pädagogische Psychologie: Übersicht und ausgewählte Themen

. Abb. 18.12 Wer ist ein guter Lehrer? Eine Studie ( Wentzel 2002) zeigt, dass der Unterrichtsstil guter Lehrer dem autoritativen Erziehungsstil ähnlich ist.
(© Bernd Weißbrod / dpa)

Erziehungspraktiken (»parental techniques«) – beziehen sich auf spe- 18.3 Erziehungseinflüsse auf die
zifische Erziehungsmaßnahmen der Eltern, Erziehungsstile dagegen auf
Internalisierung von
inhaltsunabhängige (d. h. übergreifende) Grundhaltungen.
moralischen Regeln und Normen
Erziehungspraktiken sind die Mechanismen, durch die Eltern
ihren Kindern unmittelbar helfen, ganz bestimmte Sozialisa- Versetzen Sie sich einmal in die Rolle der Mutter oder des Vaters
tionsziele zu erreichen; dies geschieht beispielsweise dadurch, eines Kindes im Kindergarten- oder Schulalter. Vielleicht sind
dass sie zur Erreichung schulischer Leistungsziele Hausaufgaben Sie ohnehin in dieser Rolle – umso besser.
kontrollieren oder dem Kind weitere Lerngelegenheiten (Nach- 4 Stellen Sie sich nun folgendes Szenario vor: Gerade hat
hilfe) bieten. Erziehungsstile dagegen vermitteln (oder hemmen) Ihre 4-jährige Tochter der ein Jahr jüngeren Schwester die
grundlegende Haltungen und allgemeine psychosoziale Kom- Puppe entrissen und sie dabei zu Boden gestoßen, weil
petenzen. sie das Spielzeug nicht freiwillig herausrücken wollte. Wohl-
In 7 Abschn. 18.4 werden wir sehen, dass elterliche Erziehung gemerkt: Die Puppe gehört der jüngeren Schwester.
besonders in einem Problembereich von entscheidender Bedeu- 4 Betrachten Sie nun noch eine zweite Situation: Bevor Ihr
tung ist. Sie beeinflusst ganz wesentlich, ob Kinder lernen, gegen- 12-jähriger Sohn nachmittags spielen geht oder sich mit
über ihrer Umwelt eine aggressive Haltung einzunehmen und seinen Freunden trifft, fragen Sie ihn, ob er seine Schulauf-
18 aggressive Handlungen als eine bevorzugte Reaktionsweise bei gaben erledigt hat. Sie bekommen zu hören, dass er die
Problemen unterschiedlicher Art anzuwenden. wenigen Aufgaben schon auf der Heimfahrt von der Schule
erledigt hat oder dass die Lehrer keine Aufgaben gestellt
Prüfen Sie Ihr Wissen
haben. Das geht eine Weile so; dann erfahren Sie durch den
5 Bitte nennen Sie die üblichen Einteilungen von Erzie- besorgten Anruf der Klassenlehrerin, dass Ihr Sohn seit
hungsstilen. Welcher Erziehungsstil hat sich in der west- ein paar Wochen die Hausaufgaben nicht mehr erledigt
lichen Kultur als besonders günstig erwiesen, welcher (. Abb. 18.13).
als besonders ungünstig?
Wie würden Sie jeweils anstelle der Mutter oder des Vaters
reagieren?
Situationen dieser Art – ein Kind hat aus der Sicht der Eltern
ein »Fehlverhalten« (»misbehavior«) gezeigt, die Eltern haben
das mitbekommen und reagieren darauf – bezeichnet der ameri-
kanische Erziehungspsychologe Martin Hoffman (1983, S. 248)
18.3 · Erziehungseinflüsse auf die Internalisierung von moralischen Regeln und Normen
763 18
4 Liebesentzug bedeutet, dass die Eltern dem Kind eindeutig
den Entzug ihrer Zuneigung signalisieren. Sie demonstrie-
ren Enttäuschung und Gekränktsein, brechen den Kontakt
ab, sind für das Kind nicht ansprechbar, bis hin zur demons-
trativen körperlichen Abwendung (dem Kind den Rücken
zukehren).
4 Unter Machtausübung versteht man, dass die Eltern ihre
Ablehnung des kindlichen Fehlverhaltens und die Forde-
rung nach zukünftiger Unterlassung dieses Verhaltens auf-
grund ihrer Machtposition durchsetzen. Sie reagieren mit
Härte – sie drohen, befehlen und strafen unter Umständen
mit körperlicher Gewalt. Bei Kindern löst diese Form von
Zwang ein hohes Maß an emotionaler Beteiligung und
Angst aus; von Beobachtern wird sie als harsch und feind-
selig erlebt.
4 Bei der induktiven Erziehung ist das elterliche Handeln
darauf ausgerichtet, beim Kind eine bestimmte Sichtweise
des vorhergegangenen Fehlverhaltens herbeizuführen (zu
induzieren). Induktionen sind Erziehungspraktiken, die
Kinder auf die Auswirkungen ihrer Handlungen für andere
Menschen hinweisen. Je nach dem Alter des Kindes sieht
induktive Erziehung unterschiedlich aus.
. Abb. 18.13 Elternverhalten nach Regelverletzungen. Wie reagieren
Eltern, wenn ihr Kind etwas Verbotenes oder Unerwünschtes getan hat? Induktive Erziehung (»induction«; »inductive parenting«) – Erziehungs-
(© photos.com) maßnahmen, mit denen Eltern die Kinder auf die Auswirkungen von Fehl-
verhalten auf andere Menschen hinweisen.

als Überschreitungssituationen (»discipline encounter«), die Er- Hoffman (1983, S. 246) erläutert Induktionen wie folgt:
ziehungspraktiken der Eltern in diesen Situationen als Erziehungs- »Die frühesten Induktionen können einfache Feststel-
methoden (»discipline techniques/methods«). Vor nunmehr über lungen über die direkten Auswirkungen enthalten: ›Wenn du
30 Jahren hat er erstmals die These aufgestellt, dass für die Inter- sie weiterhin schubst, dann fällt sie hin und fängt an zu
nalisierung (Verinnerlichung) von moralischen Regeln oder weinen.‹ Sind die Kinder etwas älter, erklären die Eltern viel-
Normen die elterlichen Erziehungsmethoden in Überschrei- leicht, warum das Verhalten des Kindes nicht in Ordnung war,
tungssituationen entscheidend sind. In diesem Abschnitt werden indem sie z. B. die Absichten der vorangegangenen Handlung
wir nicht nur Hoffmans Theorie näher kennenlernen, sondern des ›Opfers‹ erläutern: ›Brüll ihn nicht an – er wollte dir doch
auch Kritik und Weiterentwicklungen vorstellen. nur helfen.‹ Wächst das Verständnis der Kinder weiter, so weisen
die Eltern vielleicht auf noch subtilere psychologische Effekte
Internalisierung (»internalization«) – Verinnerlichung (sich zu eigen
machen) von Normen, Regeln und Werten. hin. ›Denk mal dran, wie schlecht er sich fühlen muss. Er war
so stolz auf den Turm, den er gebaut hatte. Und dann bist du
18.3.1 Hoffmans Theorie zum Einfluss der elter- hergekommen und hast den Turm umgestoßen.‹ Häufig werden
lichen Erziehung auf die Internalisierung diese Hinweise auf die Folgen für das ›Opfer‹ des Fehlver-
haltens durch Vorschläge für die Wiedergutmachung ergänzt«
(. Abb. 18.14).
? 18.9 Wie unterscheiden sich induktive Erziehung, Macht-
Zwar enthält nach Hoffman jede Form von elterlicher Reak-
ausübung und Liebesentzug? Warum ist induktive Erziehung
tion, die dem Kind die Unerwünschtheit seiner Handlung auf-
für die Moralerziehung vorteilhaft?
zeigt, auch Elemente von Liebesentzug und von Machtausübung,
Prinzipiell haben Eltern sehr vielfältige Möglichkeiten, um auf aber diese Aspekte stehen bei der induktiven Erziehung nicht
wahrgenommenes Fehlverhalten von Kindern zu reagieren. im Vordergrund. Wenn bei der Reaktion auf Regel- oder Norm-
(Überlegen Sie, welche Wege Ihnen in den beiden Beispielszena- verletzungen (»Fehlverhalten«) die Induktion dominiert, so
rien offenstehen.) Nach Hoffman lässt sich aber ein großer Teil erleichtern die Eltern den Kindern die Internalisierung der je-
elterlicher Reaktionen zu drei Gruppen bündeln: Eltern können weiligen Norm.
mit Liebesentzug reagieren, Macht ausüben oder sich induktiv Reagieren die Eltern mit Machtausübung, so mag zwar eine
verhalten. äußere Anpassung aus Angst vor Strafe zu beobachten sein, aber
764 Kapitel 18 · Pädagogische Psychologie: Übersicht und ausgewählte Themen

. Abb. 18.14 (© Claudia Styrsky)

es kommt nicht zur Einhaltung der Regeln und Normen aus Die Internalisierung einer Norm hat eine affektiv-motivatio-
Überzeugung. Liegt die Betonung der Eltern auf dem Liebesent- nale, eine kognitive und eine »Erlebnisseite«.
zug, so mag das zwar nicht die Einhaltung der von den Eltern 4 Die affektiv-motivationale Seite zeigt sich in Situationen,
gewünschten Normen und Regeln behindern. Die Begleiter- in denen die fragliche Norm mit einem egoistischen Motiv
scheinung ist aber der Aufbau eines ängstlich-rigiden Normen- in Konkurrenz steht. Man kann sie als »moralische Be-
und Moralsystems, das zur Vermeidung von Verantwortung und währungssituationen« bezeichnen. Ein 12-jähriger Junge,
zu Angst vor jeglicher Kritik führen kann. der seinem kranken Freund versprochen hat, ihn heute
Die besondere Attraktivität von Hoffmans Theorie liegt Nachmittag im Krankenhaus zu besuchen, nun aber von
darin, dass sie nicht bei der Behauptung des Zusammenhangs einem anderen Freund die Einladung zu einem attraktiven
zwischen elterlichen Erziehungsmaßnahmen in Überschrei- Kinobesuch erhält, befindet sich in einer solchen mora-
tungssituationen und der Übernahme von Normen und Regeln lischen Bewährungssituation. Die Norm, dass man ein Ver-
stehen bleibt, sondern dass sie eine psychologische Erklärung für sprechen einhalten muss (und vielleicht auch die Norm,
diesen Zusammenhang anbietet. dass man sich um einen Kranken kümmern muss), ist
dann internalisiert, wenn sie mit dem egoistischen Motiv
Wie trägt Induktion zur Internalisierung des Kinobesuchs in Konkurrenz tritt. Die internalisierte
18 von Normen bei? Norm hat eine motivierende Funktion: Sie motiviert
den Jungen, nicht ins Kino zu gehen, sondern den Kran-
? 18.10 Wie trägt induktive Erziehung im Sinne von Hoffmans
kenbesuch abzustatten. Ob sich dieses Motiv durchsetzt,
Theorie zur Internalisierung moralischer Normen bei?
ist nicht entscheidend, denn auch wenn das egoistische
Wie lässt sich das Konzept der Internalisierung oder »Verin- Motiv triumphiert, kann die Internalisierung in den Gefüh-
nerlichung« von Normen genauer fassen? Eine allgemeine len des Jungen – hier in seinen Schuldgefühlen gegenüber
Definition besagt, dass eine Norm (genereller: eine Verhaltens- dem Freund – sichtbar werden.
regel) dann internalisiert ist, wenn die Person eine Verpflich- 4 Wie sich die kognitive Komponente äußert, ist vom Alter
tung empfindet, sich auch dann an die Norm zu halten, wenn der Person abhängig. Sie zeigt sich darin, dass die Konse-
ihr keine Strafe oder andere negative Konsequenzen drohen. quenzen der Nichteinhaltung vorweggenommen und die
Hoffmans Definition (1983, S. 243f.; Hoffman 2000) ist an- Handlungen als »richtig« oder »falsch« beurteilt und
spruchsvoller. Sie wirft auch ein Licht darauf, wie komplex der begründet werden. Im Beispiel nimmt der Junge etwa
Prozess der Moralentwicklung und Moralerziehung beschaffen vorweg, wie der Freund im Krankenhaus vergeblich auf
sein muss. ihn wartet.
18.3 · Erziehungseinflüsse auf die Internalisierung von moralischen Regeln und Normen
765 18
4 Internalisierte moralische Normen werden als »aus mir
selbst kommend« erlebt. Das gilt für die Kognitionen ge-
nauso wie für die moralischen Affekte (z. B. die Schuld-
gefühle). Die ursprüngliche Quelle der Norm (etwa die
Sozialisationserfahrungen in der Kindheit) ist in der Regel
vergessen worden.

Ob eine moralische Regel oder Norm internalisiert worden ist,


zeigt sich in moralischen Bewährungssituationen; sie ist also an
den Gefühlen, Motiven und Gedanken der Person ablesbar.
Betrachten wir nun genauer die affektiven und kognitiven
Prozesse in Überschreitungssituationen. Ob die Eltern mit
Machtausübung, mit Liebesentzug oder mit Induktion auf ein
unerwünschtes Verhalten des Kindes reagieren – sie haben in je- . Abb. 18.15 Die Botschaft ist angekommen. Die induktive Erziehung
dem Falle das Ziel, das zukünftige Auftreten des Fehlverhaltens ermöglicht dem Kind, Inhalte wahrzunehmen und z. B. empathische Schuld-
gefühle zu erleben. (© photos.com)
zu unterbinden. Sie wollen verhindern, dass die große Schwester
der kleinen nach Belieben etwas wegnimmt oder dass sie von
ihrem Sohn belogen werden. Voraussetzung dafür, dass die Reak-
tionen der Eltern überhaupt etwas ausrichten können, ist, dass 4 Das Kind stellt auf der kognitiven Ebene eine ursächliche
sie vom Kind wahrgenommen werden. Mit anderen Worten, die Beziehung zwischen seinen Handlungen und deren Folgen
Erziehungsmaßnahmen der Eltern müssen ein Mindestmaß an (für andere Personen) her.
Aufmerksamkeit (»arousal«) erwecken – sonst wird das Kind die 4 In Verbindung mit der Fähigkeit zum Mitfühlen (Empathie)
Maßnahme der Eltern einfach ignorieren. mit anderen Menschen, die schon bei kleinen Kindern
Es kann aber auch ein Übermaß an Aufmerksamkeit oder vorhanden ist, entsteht ein Gefühl der Besorgnis für andere
Erregung geben. Nehmen wir in unserem Beispiel an, dass die Personen.
Mutter die Tochter anschreit oder sogar schlägt. Zweifellos wird 4 Diese Verbindung von Einsicht in die Verursachung nega-
das nachdrücklich die Aufmerksamkeit des Kindes aktivieren; tiver Folgen für andere und dem empathischen Mitfühlen
nur wird sich diese auf die Art der mütterlichen Reaktion und der bei anderen verursachten Verletzungen oder Schädi-
nicht auf den Inhalt der Botschaft richten (auch wenn die Mutter gungen führt zu der Erfahrung von empathischen Schuld-
lautstark erläutert hat, warum man der kleineren Schwester die gefühlen (»empathic guilt«). Das sind jene Schuldgefühle,
Puppe nicht einfach wegnehmen darf). Für das Kind stehen die die ein Kind später erlebt, wenn es in einer moralischen
eindringliche, laute Stimme der Mutter und der drohende Ton Bewährungssituation eine internalisierte Norm verletzt
im Vordergrund. Seine Aufmerksamkeit richtet sich auf die Ge- oder auch nur die Normverletzung antizipiert.
fühle der Mutter, nicht aber auf die »Erziehungsbotschaft«, und 4 Weil die Eltern durch die in der Induktion enthaltene Er-
möglicherweise auch auf die eigenen Gefühle – auf die Angst, die klärung indirekt auch die Beweggründe für ihr Einschreiten
es erlebt, weil es weiß, dass diese drohende, schreiende Stimme erläutern, wird das Eingreifen weniger als Strafe und als
eine körperliche Strafe ankündigt. In ähnlicher Weise kann man willkürlich erlebt.
sich leicht ausmalen, wie die Betonung des Liebesentzugs die
Empathische Schuldgefühle (»feelings of empathic guilt«) – Schuld-
Aufmerksamkeit des Kindes übermäßig aktiviert und nur auf die gefühle, die auf der Fähigkeit zum empathischen Mitempfinden beruhen.
Befindlichkeit der Mutter ausrichtet (»Meine Mutti zeigt mir, Sie treten dann auf, wenn eine Person sich als Quelle für die Schädigung
dass sie mich gar nicht mag«). oder Verletzung einer anderen Person erlebt, und sind eine Form des Mit-
fühlens mit dem Anderen.
Steht die Induktion im Vordergrund und ist sie mit Klar-
heit und Bestimmtheit verbunden, so ist das Kind einerseits Die Erfahrungen in Überschreitungssituationen beeinflussen
genügend aufmerksam für die Botschaft der Eltern, anderer- das spätere Handeln deshalb so nachdrücklich, weil diese Situa-
seits aber wird es nicht zu sehr aktiviert, um von dem Inhalt tionen den moralischen Bewährungssituationen strukturell ähn-
der Botschaft abgelenkt zu werden (. Abb. 18.15). Der Inhalt lich sind: In beiden Situationen geht es um den Konflikt zwischen
besteht aber gerade im Hinweis auf die negativen Folgen egoistischen Motiven und Normen, durch die die egoistischen
des kindlichen Handelns, etwa für die kleinere Schwester (im Motive eingeschränkt werden sollen. In Überschreitungssitua-
ersten Beispiel) oder für die belogenen Eltern selbst (im zweiten tionen sind diese Normen zunächst noch nicht internalisiert,
Beispiel). sondern sie werden durch das Eingreifen der Eltern realisiert.
Die Wahrnehmung des Inhalts hat eine ganze Reihe von teil- Aber das Kind macht hier die Erfahrung, dass es seine egoisti-
weise weitreichenden Wirkungen: schen Motive einschränken soll.
766 Kapitel 18 · Pädagogische Psychologie: Übersicht und ausgewählte Themen

Wie deutlich geworden sein sollte, werden je nach elterlicher Handeln. Induktive Erziehung fördert verschiedene Formen em-
Erziehung dem Kind ganz unterschiedliche Beweggründe für die pathischen Empfindens, und Empathie beeinflusst die Bereit-
Einhaltung der Norm nahe gebracht – der Blick auf die kogni- schaft, prosozial zu handeln, auch dann, wenn es keine äußeren
tiven und affektiven Folgen seines Tuns für das »Opfer« im Falle Anreize dafür gibt, sich für andere Menschen einzusetzen.
der induktiven Erziehung und der Blick auf die strafenden oder Was jedoch bisher noch fehlte, war die direkte Überprüfung
zurückweisenden Reaktionen der Eltern im Falle der Machtaus- der vermittelnden Funktion von Empathie, von Krevans u. Gibbs
übung oder des Liebesentzugs. als Empathiemediationshypothese bezeichnet. Diese Hypothe-
se besagt also, dass der offenkundige Zusammenhang zwischen
elterlicher Erziehung und prosozialem Handeln durch das Aus-
18.3.2 Überprüfung, Kritik und Erweiterungen maß der Empathie des Kindes vermittelt wird. Würde man die
der Theorie Hoffmans Empathie unberücksichtigt lassen, so würde sich der Zusam-
menhang verringern.
Empirische Überprüfung
Empathiemediationshypothese (»empathy mediation hypothesis«) –
? 18.11 Warum kommt der Empathie bei der Internalisierung Annahme, dass die Enge des Zusammenhangs zwischen elterlicher Er-
ziehung und prosozialem Handeln durch die Stärke des empathischen
von Normen eine besondere Bedeutung zu?
Mitempfindens vermittelt wird.

» Unter Empathie verstehe ich jene Prozesse, die dazu führen,


Die Beobachtungen von Krevans und Gibbs bestätigen die Empa-
dass eine Person Gefühle entwickelt, die eher zu der Situa-
thiemediationshypothese, denn sie zeigen, dass induktive Erzie-
tion passen, in der sich eine andere Person befindet, als zu
hung im Gegensatz zur Erziehung durch Machtausübung die
der eigenen Situation.
Entwicklung prosozialen Verhaltens unterstützt, weil Induktion
Martin Hoffman, Empathy and moral development, 2000
den Aufbau von Empathie stärkt.
Es sollte deutlich geworden sein, dass der Erfolg von Moraler-
ziehung – d. h. die Internalisierung von moralischen Normen Ein erweitertes Rahmenmodell zur Rolle der Eltern
und Regeln – viele Väter (oder Mütter) hat. Das ist zum einen die bei der Internalisierung von Normen und Werten
Erziehung durch die Eltern: Mit induktiven Maßnahmen wird
? 18.12 Wie wurde Hoffmans Internalisierungstheorie durch
die gewünschte Übernahme moralischer Prinzipien unterstützt,
Kuczynski sowie durch Grusec u. Goodnow erweitert?
durch Machtausübung und Liebesentzug behindert. Daneben
sind es aber auch Voraussetzungen beim Kind, die schon früh Die Grenze aller bisher vorgestellten Modelle zur Wirkung elter-
vorhanden sind und sich mit dem Älterwerden zusehends er- licher Erziehung auf das Kind – gleichgültig, ob es sich um Vor-
weitern: die Fähigkeit, Zusammenhänge zwischen dem eigenen stellungen zur Wirkung von Erziehungsstilen oder von Erzie-
Handeln und den Wirkungen dieses Handelns bei anderen ein- hungsmaßnahmen in Überschreitungssituationen handelte –
zusehen, und vor allem die Fähigkeit zum empathischen Miter- liegt darin, dass sie ein unidirektionales Wirkungsmodell enthal-
leben der Gefühle einer anderen Person. Empathie entwickelt ten. Kinder treffen auf Eltern, die über einen kulturell vermittelten
sich jedoch nicht in einem Vakuum, sondern kann durch Erzie- Bestand an Normen, Werten, Überzeugungen und Einstellungen
hung gefördert oder behindert werden. Darauf kommen wir im verfügen und diese Einstellungen absichtlich oder beiläufig im
nächsten Abschnitt zurück. Prozess der Erziehung an die Kinder weitergeben. Erziehung ist
Eine Untersuchung von Krevans u. Gibbs (1996) bestätigt die also ein Vorgang in eine Richtung – vom Erwachsenen auf das
18 von Hoffmans Theorie behauptete zentrale Stellung der Empa- Kind. Auch wenn prinzipiell anerkannt wird, dass Kinder aktiv
thie. Krevans u. Gibbs stellen zunächst fest, dass es in der Litera- ihre Lebenswelt gestalten, dass sie Forderungen an Erwachsene
tur bereits genügend Belege dafür gibt, dass zwischen induktiver stellen, dass sie die Erwachsenen zwingen, ihre Vorstellungen und
Erziehung und prosozialem Handeln ein Zusammenhang be- Erziehungsmaßnahmen zu revidieren, so hat sich die Forschungs-
steht. Prosoziales Handeln kann dabei als Indiz für Internalisie- praxis doch weitestgehend darauf beschränkt, die Einflüsse vom
rung betrachtet werden. Insbesondere eine Variante des proso- Erwachsenen auf das Kind zu untersuchen.
zialen Handelns, das altruistische oder uneigennützige Handeln, Kuczynski et al. (1997) haben als theoretische Alternative ein
deckt sich mit dem, was Hoffman als charakteristisch für Inter- bidirektionales Sozialisationsmodell vorgeschlagen. Es ist zwar
nalisierung ansieht: ein Handeln, das nicht von äußeren Konse- im Rahmen von Überlegungen zur Sozialisation von Normen
quenzen, sondern von dem Gefühl der empathischen Besorgnis und Werten entstanden, ist aber so allgemein formuliert worden,
für den Anderen geleitet wird. dass es für alle Erziehungs- und Sozialisationsprozesse, insbe-
Gleichermaßen sehen Krevans u. Gibbs in früheren Unter- sondere aber für die Moralerziehung, gelten dürfte.
suchungen etliche Hinweise auf die Mittlerrolle der Empathie Das Modell wird in . Abb. 18.16 dargestellt. Es verbindet den
für den Zusammenhang zwischen Induktion und prosozialem Gedanken gegenseitiger Einflussnahme zwischen Eltern und
18.3 · Erziehungseinflüsse auf die Internalisierung von moralischen Regeln und Normen
767 18

. Abb. 18.16 Internalisierung von Normen und Werten als »bidirektionaler Prozess«. Schematische Darstellung der aktiven Rolle von Eltern und Kin-
dern beim Prozess der Internalisierung. (Nach Grusec u. Kuczynski 1997, Copyright © 1997, John Wiley & Sons, Inc.)

Kind mit der ausdrücklichen Berücksichtigung sowohl des Er- nehmen. Externalisierung ist der komplementäre Prozess zur
ziehungskontextes als auch der Überzeugungen, Werte, Normen Internalisierung – die Äußerung oder Manifestation der inneren
und Einstellungen der Eltern und Kinder. In . Abb. 18.16 werden Repräsentation. Da die Externalisierung in die Eltern-Kind-
die äußeren Bedingungen, in denen Eltern und Kinder handeln, Interaktion eingeht, beeinflusst sie wiederum die Internalisie-
als ökologischer Kontext und die inneren Handlungsvorausset- rungsprozesse beim jeweils anderen Partner.
zungen als innere Repräsentationsmodelle bezeichnet. Eine andere Erweiterung von Hoffmans Theorie wird in
Im bidirektionalen Sozialisations- und Erziehungsmodell ist 7 Kritisch nachgefragt: Was macht die Überlegenheit der induk-
Internalisierung ein fortwährender Prozess, durch den Eltern tiven Erziehung aus? vorgestellt. Darin haben Grusec u. Goodnow
und Kinder wechselseitig auf ihre inneren Repräsentationen von (1994) die Faktoren, welche die Überlegenheit der induktiven
Überzeugungen, Einstellungen, Werten und Normen Einfluss Erziehung ausmachen, detailliert aufgeschlüsselt.
768 Kapitel 18 · Pädagogische Psychologie: Übersicht und ausgewählte Themen

Kritisch nachgefragt

Was macht die Überlegenheit der induktiven Erziehung aus?


Grusec u. Goodnow (1994) sind bei der inzwi- elterlichen Erziehungsmaßnahme enthaltenen Warum sind manche elterlichen Erziehungs-
schen oftmals bestätigten Beobachtung, dass »Botschaft«. Was die Eltern mitteilen, kann vom maßnahmen nicht erfolgreich? Das ist nach
induktive Erziehung bei der Internalisierung Kind mehr oder weniger genau wahrgenom- Grusec u. Goodnow unabhängig davon, ob sie
moralischer Normen überlegen ist, nicht ste- men werden, z. B. in Abhängigkeit davon, ob pauschal als »Macht ausübend« oder »Liebes-
hen geblieben, sondern haben nachgefragt, die Mitteilung dem Verständnisniveau des entzug« charakterisiert werden können. Es
was ihre Überlegenheit ausmacht. Sie vertre- Kindes entspricht und ob die Aufmerksamkeit kommt auf die Vielzahl der im Rahmenmodell
ten die Auffassung, dass nicht Induktion per des Kindes geweckt wurde. Der 2. Schritt, dar- in . Abb. 18.17 aufgewiesenen Einflüsse an.
se die Wirkung ausmacht, sondern dass es da- gestellt im unteren Teil von . Abb. 18.17, be- Möglicherweise wäre das Kind durchaus be-
rauf ankommt, wie Eltern diese Erklärungen trifft das Akzeptieren der elterlichen Botschaft, reit, die elterliche »Botschaft« zu akzeptieren
abgeben. Um verschiedene Faktoren, die sich nachdem sie wahrgenommen worden ist. Das und zu befolgen, aber es hat sie nicht klar
als einflussreich erwiesen haben, zusammen- Akzeptieren hängt, grob gesagt, davon ab, ob verstanden. Oder aber die Botschaft der elter-
zufassen, wählen sie ein zweistufiges Modell, die elterliche Erziehungsmaßnahme als ange- lichen Erziehungsmaßnahme war für das Kind
das durch . Abb. 18.17 veranschaulicht wird. messen wahrgenommen wird, ob sie das Kind zwar sehr klar, aber nicht akzeptabel, weil es
Der obere Teil der Abbildung zeigt die Einflüsse motiviert und ob sie von ihm nur als mäßiger sie als unangemessen wahrgenommen hat
auf den 1. Schritt, die Wahrnehmung der in der äußerer Druck erlebt wird. oder weil sie nicht motivierend gewirkt hat.

18

. Abb. 18.17 Wirksamkeit induktiver Erziehungsmaßnahmen. Merkmale elterlicher Erziehungspraktiken, die die exakte Wahrnehmung und Akzep-
tanz (Internalisierung) der »Botschaft« der Eltern an das Kind unterstützen. (Nach Grusec u. Goodnow 1994, mit freundlicher Genehmigung der American
Psychological Association)
18.4 · Aggressionen und Gewalt unter Kindern und Jugendlichen
769 18
Die Überlegenheit der induktiven Erziehung kann auf eine (z. B. das Wegnehmen eines Objektes) unterbinden. Die ange-
Vielzahl von Einzelfaktoren zurückgeführt werden. Sie betreffen messene Form des Eingreifens sind induktive Erziehungsmaß-
zum einen die Wahrnehmung und zum anderen das Akzeptieren nahmen.
der elterlichen Botschaft an das Kind. Darüber hinaus gibt der Autor der Internalisierungstheorie,
Martin Hoffman, in seinem lesenswerten Buch Empathy and Moral
Development (2000) unter anderem die folgenden Ratschläge:
18.3.3 Pädagogische Schlussfolgerungen 1. Man sollte Kinder darin unterstützen, eine Vielfalt von
eigenen Gefühlen kennenzulernen, denn das erhöht die
Wahrscheinlichkeit, dass sie Gefühle anderer empathisch
? 18.13 Welche Ratschläge können Sie Eltern für die frühe
mitempfinden können.
Moralerziehung geben?
2. Gibt man Kindern Wärme und Zuwendung, trägt dies
Kinder entwickeln schon früh empathisches Unbehagen (»empa- dazu bei, dass sie sich gut fühlen; das wiederum hilft ihnen,
thic distress«), d. h. ein Unbehagen, wenn sie sehen, dass es einer offen für die Bedürfnisse anderer zu sein, statt sich selbst-
anderen Person schlecht geht. Echtes empathisches Mitfühlen bezogen nur mit den eigenen Gefühlen zu beschäftigen.
lässt sich schon in der 2. Hälfte des 2. Lebensjahres beobachten. In 3. Man sollte Kinder darin unterstützen, die Aufmerksamkeit
diesem Alter entsteht das Wissen darüber, dass andere Personen auf die inneren Zustände (Gedanken, Gefühle, Absichten)
innere Zustände (Gefühle, Wünsche) haben, die von den eigenen anderer Personen zu richten.
verschieden sein können. Dieses Wissen ermöglicht es selbst jun- 4. Eltern brauchen normalerweise nicht erst zu lernen,
gen Kindern, die Gefühle anderer genauer nachzuempfinden, dass induktive Erziehungsmaßnahmen nur greifen, wenn
wenn sie von den eigenen abweichen, und es erlaubt ihnen auch das Kind seine Regelüberschreitung unterlässt und seine
ein angemesseneres Eingehen auf die Person, die Hilfe oder Trost Aufmerksamkeit den Eltern zuwendet. Wenn sie es aber
benötigt. »Diese Stufe enthält bereits alle Grundelemente der rei- doch nicht wissen, können sie es ohne große Unterstützung
fen Empathie …« (Hoffman 2000, S. 72) lernen.
Doch trotz dieser frühen Kompetenz, die alle gesunden Kin- 5. Erzieherinnen sollten sich bewusst sein, dass ihre Erzie-
der erwerben können, benötigen sie die Unterstützung durch Er- hungsmaßnahmen nicht nur für das Kind, um das es gerade
ziehung, wenn aus dem empathischen Unbehagen angesichts des geht, bedeutsam sind. Auch als Zuschauer lernen die ande-
Unwohlseins einer anderen Person auch prosoziales, helfen- ren Kinder einer Kindergarten- oder Hortgruppe sehr viel,
des oder unterstützendes Verhalten werden soll. Zahn-Waxler u. denn auch in dieser Rolle empfinden sie Empathie und
Robinson (1995) beobachteten bei Kindern im 2.Lebensjahr eine ziehen Schlussfolgerungen.
deutliche Zunahme von mitfühlendem Unbehagen und Hilfe- 6. Eltern und Erzieherinnen sollten Kinder anregen und
leistung, wenn diese lediglich beobachteten, dass es einer anderen unterstützen, im Rollenspiel emotionale Erfahrungen zu
Person schlecht ging; aber sie stellten weniger Anteilnahme, mehr machen, die ihnen im Alltag möglicherweise fehlen.
Aggressionen und sogar mehr Freude am Unbehagen des Opfers
Prüfen Sie Ihr Wissen
fest, wenn die Kinder selbst die Ursache des Unbehagens waren.
Wenn man sich klarmacht, dass junge Kinder Gleichaltrige dann 5 Charakterisieren Sie die drei wichtigsten Formen elter-
attackieren, wenn sie einen Nutzen daraus ziehen wollen, etwa licher Erziehungsmaßnahmen in Überschreitungssitua-
einen Gegenstand in ihren Besitz bringen, wird die Diskrepanz tionen und beschreiben Sie deren Auswirkung auf die
verständlich, und auch die Freude über ihren »Erfolg« wird er- Internalisierung moralischer Regeln und Normen.
klärbar.
Dieser Befund von Zahn-Waxler u. Robinson zeigt unmiss-
verständlich: Verursachen kleine Kinder das Unbehagen eines
anderen Kindes, so erfordert das eher ein Eingreifen von Er- 18.4 Aggressionen und Gewalt unter Kindern
wachsenen, als wenn die Kinder nur Zuschauer eines Unbeha- und Jugendlichen
gens bei anderen sind. Das Eingreifen ist auch im Interesse der
frühen Moralerziehung des »angreifenden Kindes« notwendig,
? 18.14 Warum sollte man der populären These, die Kinder-
wenn das Kind die Schädigung des anderen nicht wahrnimmt
und Jugendgewalt hätte in den vergangenen Jahren dras-
oder wenn es über die unangenehmen Folgen für das Opfer
tisch zugenommen, mit Vorsicht begegnen?
lacht. Wie Eltern am besten eingreifen können, haben wir oben
in diesem Abschnitt beschrieben: mit altersangemessenen in- Kaum ein anderes psychologisches Thema interessiert die
duktiven Erziehungsmaßnahmen. breite Öffentlichkeit so, wie die Ursachen von Aggression und
Auch bei kleinen Kindern ist es nicht nur im Interesse des Gewalt, und dabei steht die angeblich dramatisch zunehmende
Opfers, sondern auch des Angreifers, wenn Eltern »Übergriffe« Kinder- und Jugendgewalt im Mittelpunkt. Die These, Gewalt
770 Kapitel 18 · Pädagogische Psychologie: Übersicht und ausgewählte Themen

. Abb. 18.18 (© Claudia Styrsky)

und Delinquenz von Kindern und Jugendlichen hätten in den Aggression (»aggression«) – Handlung mit der Absicht (Intention), eine
letzten Jahrzehnten dramatisch zugenommen (. Abb. 18.18), be- andere Person oder Sache zu verletzen oder zu schädigen.

darf allerdings einer genaueren Analyse. Dabei muss man auch Aggressivität (»aggressiveness«) – interindividuell unterschiedlich aus-
geprägte Neigung, in bestimmten Situationen aggressiv zu handeln. Aggres-
zwischen gespielter und ernsthafter Aggression unterscheiden.
sivität bezeichnet also eine Persönlichkeitseigenschaft (Disposition).
Sucht man nach den Ursachen für antisoziales Verhalten Heran-
wachsender, so steht eine Beobachtung im Vordergrund: Gewalt Die Begriffe Aggression und Gewalt werden häufig synonym ge-
(von Eltern) erzeugt Gewalt (bei Kindern). Mit diesen und wei- braucht (Uslucan 2003), dabei ist das Konzept der Aggression
teren Fragen befasst sich der vorliegende Abschnitt. eher in der Psychologie, das Konzept der Gewalt eher in der
Es ist für eine einzelne Disziplin wie die Pädagogische Psycho- Soziologie beheimatet. Traditionell hat man Gewalt nur auf
logie unmöglich, ein umfassendes Bild der Ursachen und Ent- physische Aggressionen bezogen; heute ist es aber auch manch-
stehungsprozesse von Aggression, Kriminalität und Gewalt zu mal üblich, von psychischer Gewalt zu sprechen. Manche
zeichnen. Auch die Psychologie als Gesamtdisziplin wäre dabei Autoren beschränken jedoch den Gewaltbegriff auf schwerere
überfordert (7 Abschn. 18.3.2). Dieses Gesamtbild müsste z. B. physische Aggressionen. Antisoziales Verhalten ist ein Sammel-
auch berücksichtigen, dass die Darstellung von Aggression und begriff für alle Verhaltensweisen, bei denen aus egoistischen
Gewalt dank der Medien im Leben aller Kinder von klein auf Motiven die Anliegen anderer Personen oder der Gemeinschaft
allgegenwärtig ist. Glücklicherweise gilt das nicht für reale Ge- in grober Form nicht beachtet werden (7 Kritisch nachgefragt:
walterfahrungen, die nur einen Bruchteil der Heranwachsenden Gibt es eine langfristige Zunahme delinquenten Verhaltens von
betreffen. Auch wenn Kinder schon frühzeitig zwischen realer Schülern?).
und gespielter Aggression unterscheiden können, wie wir im
nächsten Abschnitt zeigen werden, darf man keinesfalls davon
ausgehen, dass die »Mediengewalterfahrung« ohne Wirkung 18.4.1 Gespielte und ernsthafte Aggressionen
18 bleibt. Es spricht einiges für die Abstumpfungshypothese, die Fol-
gendes besagt: Die ständige Rezeption von Gewalt in den Medien
? 18.15 Wie lassen sich gespielte und ernsthafte Aggression
führt dazu, dass es zu einer emotionalen Abstumpfung gegenüber
voneinander abgrenzen?
Gewalt kommt. Zur Erklärung der Entstehung von Gewalt und
Aggression stellen wir in diesem Abschnitt das Early-Starter-Modell, Wie schon in der Einleitung zu diesem Abschnitt angedeutet
ein genuin psychologisches Modell, in den Mittelpunkt. wurde, ist in unserer Kultur die Stellungnahme der Erwachsenen
Wir verstehen unter einer Aggression gegen eine andere zu antisozialem Verhalten und Aggressionen widersprüchlich.
Person eine Handlung, die mit der Absicht ausgeführt wird, die Einerseits gibt es einen klaren, uneingeschränkten Konsens
Person psychisch oder physisch zu schädigen. Statt einer Person gegen bestimmte Formen der Gewaltausübung, etwa gegen den
kann auch eine Sache das Ziel einer aggressiven Handlung sein; sexuellen Missbrauch von Kindern oder gegen schwere Körper-
man spricht dann von Vandalismus. Im Unterschied zur Aggres- verletzungen. Andererseits aber ist die Darstellung von Gewalt in
sion bezeichnet Aggressivität keine Handlung, sondern ein Per- den Medien für die Mehrheit der Zuschauer so attraktiv, dass
sönlichkeitsmerkmal: die Eigenschaft oder Disposition, aggressiv selbst Initiativen zur Eindämmung der »Mediengewalt« immer
zu reagieren. nur kurzfristige Scheinerfolge feiern können.
18.4 · Aggressionen und Gewalt unter Kindern und Jugendlichen
771 18

Kritisch nachgefragt

Gibt es eine langfristige Zunahme delinquenten Verhaltens von Schülern?


Am 5. September 1998 berichtete das ZDF, pe wie schon 1973 an denselben beiden gegenüber den anderen Items durch-
dass im Vergleich zum Vorjahr die Kriminalitäts- Hauptschulen in Nürnberg Daten erhoben.
aus differenziert. ... Beim Vergleich
raten bei Kindern (etwa 10%) und Jugendli- Die Stichprobe umfasste 1973 161, im Jahre
chen (etwa 5%) abermals drastisch gestiegen 1995 66 männliche Jugendliche.
der Häufigkeiten zwischen den unter-
sind – bei gleichzeitig abnehmender Delikt- Als Messverfahren verwendeten die Autoren die schiedlich gewichtigen Taten zeigt
häufigkeit in der Gesamtbevölkerung. Spiegeln »Delinquenzbelastungsskala« (DBS). Sie umfasst sich 1973 und 1995 eine ähnliche
diese Kriminalitätsraten einen langfristigen 28 Items, die ein breites Spektrum von Strafta- Struktur: Bagatelldelikte wie Schwarz-
Trend wider, und weisen die Kriminalstatistiken ten betreffen, beispielsweise Betrügen, Schwarz-
fahren werden vom Großteil der
auf die Zunahme von Aggressivität und Ge- fahren, Zechprellerei, Diebstahl, Einbruch,
waltbereitschaft hin? Androhung von Gewalt und Körperverletzung. Jugendlichen zugegeben, Ladendieb-
Die prozentualen Zuwachsraten sind so eindeu- Die Schüler wurden gefragt, ob sie dieses Delikt stahl und Körperverletzungen immer-
tig, dass nichts gegen eine uneingeschränkte schon einmal begangen haben, und wenn ja, hin noch von mehr als der Hälfte,
Bejahung dieser Frage zu sprechen scheint. wie oft im letzten Jahr. Gegen Selbstauskünfte
Raubdelikte oder Bedrohungen
Doch ist aus drei Gründen Vorsicht geboten: lassen sich etliche methodische Bedenken an-
5 Kriminalitätsraten sind nur ein indirekter führen, doch hat sich die DBS als ein relativ relia- mit der Waffe nur von einer kleinen
Anhaltspunkt für Gewaltbereitschaft und bles und valides Verfahren erwiesen. Minderheit.
Aggressivität. Die Ergebnisse der Untersuchung zeigen einen
5 Es gibt Hinweise darauf, dass die Öffent- Gesamtzuwachs an Taten um ca. 58%. Dieser Ein zentrales Ergebnis dieses Langzeitver-
lichkeit aufgrund der Gewaltdiskussion generelle Zuwachs muss aber nach Lösel et al. gleichs ist also, dass sich die befragten männ-
sensibler gegenüber Delikten junger Men- (1999, S. 70; Hervorhebung durch den Autor) lichen Hauptschüler Mitte der 90er Jahre
schen geworden ist. differenziert betrachtet werden: nicht insgesamt antisozialer verhalten, son-
5 Ein Trend über 2 oder 3 Jahre kann unty- dern eine kleine Gruppe von Intensivtätern
pisch für langfristige Veränderungen sein. » Diese hohen Werte kommen aller-
angewachsen und/oder »aktiver« geworden
dings nicht zuletzt dadurch zustande, ist. »Da die allgemein häufig aggressiven und
Lösel et al. (1999) haben in einem Langzeit- dass einzelne Schüler bei manchen delinquenten Jugendlichen eindeutig auch
vergleich untersucht, ob die Häufigkeit delin- Delikten sehr große Häufigkeiten jene sind, die in der Schule am stärksten zur
quenten und aggressiven Verhaltens unter Gewalt neigen …, ist anzunehmen, dass vor
angeben (z. B. beim Schwarzfahren,
männlichen Hauptschülern der 8. Klasse über allem diese kleine Gruppe zu den aktuell dis-
den Zeitraum von 22 Jahren zugenommen hat. Waffentragen, Kaufhausdiebstahl). kutierten Problemen beiträgt …« (Lösel et al.
Im Jahre 1995 wurden für diese Personengrup- Die jeweiligen Antworten sind aber 1999, S. 75f.)

Ist die Widersprüchlichkeit im Umgang mit Aggression und 4 dass der Akteur »nur so tut, als ob«,
Gewalt, die Erwachsene bei sich selbst bewusst erleben oder auch 4 dass er selbst sich dieses Als-ob-Charakters bewusst ist und
nur erahnen, der Grund dafür, dass sie sich bei der Unterscheidung 4 dass er dem anderen keine Schädigung zufügen will.
von echten und vermeintlichen Aggressionen bei Kindern und
Jugendlichen schwertun? Die sonst auch für Erwachsene klare Bei ernsthaften Aggressionen hingegen fehlt der Als-ob-Cha-
Trennung zwischen Spiel und Aggression gerät ins Schwimmen, rakter – das macht ihre Ernsthaftigkeit aus –, und sie sind aus-
wenn der Inhalt des Spiels in aggressiven Handlungen besteht. drücklich mit der Intention der Schädigung oder Verletzung
Betrachten Sie die beiden Kinder in . Abb. 18.19a und die verbunden.
beiden Jugendlichen in . Abb. 18.19b. In dieser krassen Gegen- Obwohl auf der Phänomenebene eine eindeutige Unterschei-
überstellung ist es für Sie wahrscheinlich keine Frage, dass es sich dung zwischen ernsthafter und gespielter Aggression getroffen
bei dem linken Foto nur um Spiel handelt, bei dem rechten Foto werden kann, sind Pädagogen uneins darüber, ob gespielte Ag-
hingegen um eine ernsthafte Aggression. Aber ersetzen Sie auf gressionen wirklich nur Spiel sind (Frey u. Hoppe-Graff 1994;
dem Foto links Pfeil und Bogen durch Spielzeugpistolen, und Wegener-Spöhring 1994). Aber auch Psychologen zeigen manch-
erweitern Sie den Bildausschnitt, so dass sichtbar wird, dass die mal wenig Sensibilität für die Unterscheidung. Blättern Sie bitte
beiden Schützen auf andere Kinder zielen. Sind Sie immer noch zu 7 Abschn. 8.5 zurück. Dort wird kurz auf eine klassische Studie
der Meinung, dass es sich nur um Spiel handelt? von Bandura et al. (1961) zum Beobachtungslernen verwiesen.
Wir definieren eine Handlung mit aggressivem Inhalt, also Kinder sahen dabei zu, wie Erwachsene eine Plastikpuppe ver-
eine Handlung, die die psychische oder physische Verletzung prügelten. Später allein gelassen, ahmten sie die Erwachsenen
oder Schädigung eines anderen zum Thema hat, dann als gespiel- nach. Es ist unseres Erachtens nicht ohne Weiteres klar, dass
te Aggression, wenn sie vom Akteur mit dem Bewusstsein ausge- diese Studie ein überzeugender Beleg dafür ist, dass ernsthafte
führt wird, dass es sich um Spiel handelt. Dieses »Spielbewusst- (und nicht gespielte) Aggressionen durch Beobachtungslernen
sein« schließt ein, erworben werden.
772 Kapitel 18 · Pädagogische Psychologie: Übersicht und ausgewählte Themen

. Abb. 18.19a,b Gespielte und ernsthafte Gewalt. Erkennen Sie den Unterschied zwischen gespielter Aggression (a) und ernsthafter Aggression (b)?
Der Vergleich dieser beiden Fotos sollte Sie davon überzeugen, dass manche Handlungen von Kindern nur auf den ersten Blick Aggressionen darstellen –
tatsächlich handelt es sich dabei um Spiel mit aggressiven Themen. Andere Handlungen sind eindeutig ernsthaft aggressiv – verbunden mit der Absicht,
den anderen zu verletzen oder in einer anderen Weise zu schädigen. Erkennen Sie auch die Unterschiede in der Körperhaltung der »Täter«? (Mit freund-
licher Genehmigung von I. Engel)

18.4.2 Mobbing unter Kindern – Betrachten Sie nun . Abb. 18.20b. Hier steht nun nicht mehr
eine besondere Form der Gewalt ein besonders aggressiver Täter im Mittelpunkt, sondern ein
Opfer (Jan), auf das sich nahezu alle Aggressionen richten. Ein
Täter wie Reto attackiert hier nicht viele andere Kinder, sondern
? 18.16 Woran erkennen Sie, dass es sich um Mobbing han-
typischerweise immer ein und dasselbe, Jan. Wie die Abbildung
delt, wenn Sie Gewalt unter Kindern beobachten?
zeigt, hat sich Reto mit Roger verbündet. Hinzugefügt sei, dass
Betrachten Sie bitte . Abb. 18.20. Sie besteht aus zwei Teilen. die Initiative meistens von Reto ausgeht, Roger aber immer mit-
Beide zeigen in schematischer Darstellung aggressive Handlun- macht. »Die beiden Jungen treten selbstsicher und zielbewusst
gen in einer Gruppe von Kindern, die namentlich genannt oder auf und machen allen klar, dass sie in der Gruppe das Sagen
auch nur mit Buchstaben bezeichnet sind. In . Abb. 18.20a tritt haben. Gelegentlich holen sie sich direkt Unterstützung durch
ein Kind, Marc, gegenüber den meisten anderen Kindern recht die anderen Kinder, um Jan zu plagen; diese stehen dann Wache,
aggressiv auf. Wollen wir das aggressive Verhalten unterbinden sehen bedrohlich aus, halten Jan fest, helfen mit, ihn zu hänseln
und bessere Verständigung in der Gruppe schaffen, so müssen und auszulachen etc. Nach einiger Zeit sind sich alle einig, dass
wir uns auf Marc konzentrieren. Jan es verdient, auf diese Art und Weise behandelt zu werden.

18

. Abb. 18.20 Was ist Mobbing? Schematische Darstellung des Unterschieds zwischen a Aggression, die von einem Kind ausgeht, und b der Mobbing-
situation. (Nach Alsaker 2003; © Verlag Hans Huber, Bern, mit freundlicher Genehmigung)
18.4 · Aggressionen und Gewalt unter Kindern und Jugendlichen
773 18
Präventionsprogrammen, aus denen im deutschsprachigen
Raum zwei Ansätze herausragen: der Maßnahmenkatalog von
Olweus (1996; vgl. auch Hanewinkel u. Eichler 1999) und das
Berner Präventionsprogramm Be-Prox von Alsaker (2003). Bei
aller Verschiedenheit gibt es in den Zielsetzungen und den
Grundlagen etliche Gemeinsamkeiten; deshalb beschränken wir
uns darauf, die Grundlagen des Berner Präventionsprogramms
im Überblick vorzustellen. Dabei folgen wir weitgehend der Dar-
stellung in Alsaker (2003).

Grundsätze aus dem Berner Präventionsprogramm


1. Mobbing hat schwere Folgen für Opfer und Täter
. Abb. 18.21 Das Opfer im Blick. Mobbing oder Bullying äußert sich als (ungünstige Prognosen für die zukünftige Entwicklung).
subtile, andauernde Gewalt gegenüber einem Schwächeren durch einen Konsequenz: Mobbing ernst nehmen!
oder mehrere Täter. (© photos.com) 2. Mobbing folgt, wie oben gezeigt, einem bestimmten
Muster.
Konsequenz: Lernen, hinzuschauen, nach Mustern zu
Einige wagen sich nun auch, ohne ihre Anführer etwas Gemeines
suchen und Einzelfälle von systematischen Quälereien
mit Jan anzustellen.« (Alsaker 2003, S. 18) zu unterscheiden.
Was soeben sehr anschaulich beschrieben wurde, ist die typi- 3. Mobbing ereignet sich meistens an unbeaufsichtigten
sche Mobbing-Situation. Mobbing ist eine spezielle Form von oder unübersichtlichen Orten.
Aggression in Gruppen von Personen – in diesem Fall von Kin- Konsequenz: Aufsicht besonders an unübersichtlichen
dern. Von Mobbing (auch: Bullying, Schikanieren, Tyrannisieren) Orten und auch an wenig benutzten, abgelegenen Ecken
spricht man dann, wenn ein Kind wiederholt und systematisch der Schule leisten.
den Aggressionen eines oder mehrerer anderer Kinder ausgesetzt 4. Mobbing lohnt sich für die Täter.
ist (. Abb. 18.21). Konsequenz: Den Tätern die negative Schau stehlen,
ihnen positive Aufmerksamkeit für angemessenes oder
Mobbing (»mobbing«) – spezielle Form der Aggression, die dadurch cha-
rakterisiert ist, dass das Opfer wiederholt und systematisch aggressiven positives Verhalten schenken.
Akten eines oder mehrerer Täter ausgesetzt ist; bei Kindern häufig auch als 5. Opfer können sich schlecht wehren.
Bullying bezeichnet. Konsequenz: Die Opfer einerseits vor den Angriffen der
aggressiven Kinder schützen, ihnen andererseits ange-
» Das Muster von Mobbing rechtzeitig zu erkennen, ist der
messene Formen der Abwehr beibringen. Aber keines-
erste Grundstein der präventiven Arbeit. falls von den Opfern verlangen, dass sie sich selbst weh-
F.D. Alsaker, Quälgeister und ihre Opfer, 2003 ren, denn manchen Kindern fehlt diese Fertigkeit einfach.
Mobbing kann viele Gesichter haben. Es kann, wie Aggression 6. Opfer haben keine Unterstützung.
generell, neben physischen auch sehr subtile verbale oder indi- Konsequenz: Den Opfern Unterstützung und Schutz
gewähren. Ihre Ressourcen wahrnehmen. Auf Akzeptanz
rekte Formen annehmen. Dennoch lassen sich aber typische
von der Gruppe und Integration in sie hinzielen.
Merkmale von Mobbing-Episoden herausarbeiten:
7. Bereits ab dem Vorschulalter können Kinder Mobbing
4 Das Opfer wird erniedrigt, als wertlos behandelt, so lange,
wahrnehmen.
bis es sich schließlich selbst als wertlos erlebt. Es steht den
Konsequenz: Die Wahrnehmung der Kinder stärken und
Attacken meistens hilflos gegenüber, auch deshalb, weil es
ihren Sinn für Gerechtigkeit nutzen. Die Kommunikation
in der Regel in der Gruppe sozial isoliert ist.
über Gefühle und Einsamkeit fördern.
4 Jene Kinder in der Gruppe, die weder Opfer noch Täter
8. Die Täter leben davon, dass es Mitläufer, wohlwollende
sind, also die Zuschauer, reagieren meistens mit Weg- Zuschauer und »Wegschauer« gibt.
schauen, Schweigen und Passivität. Ein Grund dafür ist die Konsequenz: Über die eigene Verantwortung in Bezug
Furcht vor Repressalien durch die Täter. auf Mobbing reflektieren. Den Kindern ihre Mitverant-
4 Die Täter haben Spaß am Mobbing, und sie erleben die wortung klarmachen.
Hilflosigkeit des Opfers und die Passivität der Zuschauer 9. Nach allen Erfahrungen ist die Hälfte der Kinder in
als verstärkend. Mobbing-Situationen nicht einbezogen.
Konsequenz: Die nicht einbezogenen Kinder aktiv an der
Was kann man gegen Mobbing tun? Weil Mobbing ein Mode- Arbeit gegen das Mobbing beteiligen.
thema ist, gibt es mittlerweile eine Vielzahl von Ratgebern und
774 Kapitel 18 · Pädagogische Psychologie: Übersicht und ausgewählte Themen

Von diesen Prinzipien sollten sich alle Erwachsenen leiten lassen, Einfluss auf die spätere Entwicklung zu angepasstem oder
die mit Gruppen von Kindern zu tun haben. Im Berner Präven- abweichendem Verhalten aus als die Gleichaltrigengruppe
tionsprogramm, das vornehmlich für die Anleitung von Lehr- im Jugendalter.
kräften entwickelt worden ist, sind sie nur einer der Ausgangs-
Early-Starter-Modell (»early-starter model«) – Modellvorstellung, der
punkte für die Programmentwicklung gewesen. Eine relativ aus- die Annahme zugrunde liegt, dass die meisten delinquenten, antisozialen
führliche Beschreibung sowohl des Konzeptes als auch der prak- Jugendlichen ihre »Karriere« aufgrund negativer familiärer Erfahrungen
tischen Durchführung des Berner Präventionsprogramms ist bei bereits im Vorschulalter begonnen haben.
Alsaker (2003) zu finden. Patterson räumt allerdings ein, dass diese Beschreibung nur die
Hauptgruppe von »Risikopersonen« betrifft – er nennt sie Early
Starter. Daneben gibt es eine zweite Gruppe mit einem geringe-
18.4.3 Das Early-Starter-Modell ren Risiko, auf die »schiefe Bahn« zu geraten und mit besseren
Chancen, den Weg zurück zu finden. Diese Gruppe nennt er
die Late Starter. Wir beschränken uns zunächst auf die Beschrei-
? 18.17 Was sind die zentralen Aussagen des Early-Starter-
bung der Erziehungserfahrungen, die die Early Starter machen;
Modells? Wenn Sie Early Starter und Late Starter vergleichen:
in 7 Unter der Lupe: Zwei Wege zur Jugenddelinquenz stellen wir
Welche Gruppe weist die schlechteren Prognosen für die
aber die beiden Personenkreise einander gegenüber.
weitere Entwicklung auf?

Psychologen und Soziologen haben unterschiedliche Vorstellun-


» Wir haben einen Prozess der Zwangsausübung (in der
elterlichen Erziehung) aufgedeckt, der bereits in den ersten
gen darüber, wo die hauptsächlichen Quellen für die Jugend-
Lebensjahren der Kinder beginnt.
kriminalität (oder Jugenddelinquenz) liegen. Einflussreiche so-
G.R. Patterson, The early development of coercive family
ziologische Theorien sehen die Hauptursache in negativen Ein-
process, 2003
flüssen von Gleichaltrigen (Peers). Negative Vorbilder und nega-
tiver Gruppenethos in der Subkultur sind bedeutende Gefahren Early Starter, also Jungen, die später zu Jugendlichen und Er-
auch für jene Heranwachsenden, die zuvor in der Kindheit relativ wachsenen werden, die ein erhöhtes Risiko für antisoziales Ver-
problemlos aufgewachsen sind. Dagegen sind die meisten Psy- halten und Konflikte mit dem Gesetz aufweisen, erleben bereits
chologen, die sich mit der Vorhersage von Jugenddelinquenz und im Kleinkindalter in den familiären Beziehungen eine andere
den Vorläufern von Kriminalität und antisozialem Verhalten be- Qualität des Umgangs miteinander als ihre Altersgenossen. Sie
fassen, heute der Meinung, dass relativ frühe negative Bedingun- wird durch spezifische Eigenheiten der elterlichen Erziehung
gen in der Familie, insbesondere eine ungünstige Erziehung bestimmt und zu einem dominierenden Merkmal der Beziehun-
durch die Eltern, für einen Großteil der späteren »Problemfälle« gen zwischen allen Familienmitgliedern. Die Arbeitsgruppe um
mitverantwortlich sind. Wir werden uns zwei dieser psycholo- Patterson spricht von Nötigung oder Zwang (»coercion«).
gischen Beiträge näher ansehen: das Early-Starter-Modell von Als Zwang oder Nötigung (oder als »Zwang ausübend«
Patterson et al. (1991; Patterson u. Yoerger 2003) und die Längs- oder »nötigend«) bezeichnen Patterson et al. jene Prozesse in der
schnittbeobachtungen von Eron et al. (1991). Es handelt sich elterlichen Erziehung, durch die schon kleine Kinder von 2 oder
zwar um amerikanische Arbeiten, aber die US-amerikanische 3 Jahren dazu gebracht werden, selbst aversive (feindselige) Ver-
und die westeuropäische Kultur ähneln sich insbesondere in haltensweisen zu zeigen, um feindselige Ansinnen anderer Fa-
den für die Jugendlichen bedeutsamen Lebensbedingungen so milienmitglieder (Aufforderungen, Befehle, Attacken) abzuweh-
sehr (und werden einander immer ähnlicher), dass sich viele ren. Dominiert der Zwang die Familienbeziehungen, so sprechen
18 Parallelen ziehen lassen. diese Autoren auch von Zwang ausübenden Familien (»coercive
Das Early-Starter-Modell ist von Patterson et al. (1991; families«; . Abb. 18.22).
Patterson u. Yoerger 2003) speziell für Jungen bzw. Söhne for- Patterson vertritt die Position der Theorie des sozialen Ler-
muliert worden und enthält die folgenden zentralen Thesen zu nens, und deshalb nimmt er an, dass in Zwang ausübenden Fami-
der Frage, auf welchem Pfad sich der »Einstieg« in antisoziales lien die Kinder nach einfachen Lernprinzipien von ihren Eltern
Verhalten und Delinquenz vollzieht: die negativen Verhaltensweisen übernehmen. Ein Element der
4 Die Vorläufer von antisozialem und delinquentem Ver- von Zwang geprägten Erziehung sind physische und verbale
halten sind in der Familie zu finden, und sie liegen in der Aggressionen gegen das Kind. Pattersons eigene Daten demons-
Kindheit, lange bevor negative Einflüsse und Vorbilder trieren eindrucksvoll, wie – ganz im Sinne lerntheoretischer Prin-
in Gruppen von gleichaltrigen Jugendlichen einen ungüns- zipien – aus Kindern, die aggressiver Erziehung ausgesetzt sind,
tigen Einfluss ausüben können. zunehmend aggressiv handelnde Kinder werden.
4 Weil sie früher angesiedelt sind und weil sie den Erwerb In Zwang ausübenden Familien werden Kinder regelrecht in
elementarer zwischenmenschlicher Fähigkeiten betreffen, der Einübung einzelner aggressiver Verhaltensweisen trainiert.
üben sie – insgesamt betrachtet – einen viel nachhaltigeren Auswertungen von Hunderten sozialer Interaktionen zwischen
18.4 · Aggressionen und Gewalt unter Kindern und Jugendlichen
775 18

Unter der Lupe

Zwei Wege zur Jugenddelinquenz


Die frühe Weichenstellung durch ungünstige brauch oder Krankheit sein; die Überforderung Mängel beeinträchtigt, und ihre Defizite
elterliche Erziehung ist aber nur einer von zwei kann aber auch in den besonderen Spannun- werden nicht ausgeglichen, sondern
Wegen, die Patterson et al. (1991) beschreiben, gen liegen, die auftreten, wenn die Söhne in die immer größer.
um zu erklären, wie jemand zu einem delin- Pubertät kommen. 5 Bei der Gruppe der Late Starter beginnen
quenten Jugendlichen wird. Early Starter begin- Das Zusammenbrechen der Fähigkeit, dem die Mängel erst im frühen Jugendalter, in
nen ihre Karriere frühzeitig – Defizite in ihren Sohn die nötige Lenkung und Aufsicht zukom- den Klassenstufen 6, 7 oder 8 – deshalb
Fähigkeiten zum Umgang mit anderen und zur men zu lassen, führt dazu, dass dieser unter sollten diese Jugendlichen trotz ungüns-
Lösung sozialer Probleme sind schon in der massiven Einfluss der Gleichaltrigen (Peers) tigen Einflusses durch antisoziale Peers
Grundschulzeit erkennbar. gerät. Je nachdem um welche Kreise es sich bereits grundlegende soziale Haltungen
Der andere Pfad in die Jugenddelinquenz wird bei den Peers handelt, kann das bedeuten, und Fertigkeiten erworben haben.
von den Autoren als Late-Starter-Modell be- dass er abweichendes Verhalten lernt; das
zeichnet. Late Starter sind in der Grundschulzeit ist wiederum eine Vorstufe zu delinquentem Zusammengefasst bedeutet dies, dass das
unauffällig. Sie haben mindestens ausreichende Verhalten. Late Starter geraten erst mit Risiko dafür, auf eine Bahn zu geraten, die über
soziale Fähigkeiten und Fertigkeiten, um mit 15 Jahren oder später erstmals mit dem Gesetz Jugenddelinquenz zum kriminellen Erwach-
anderen auszukommen, und sie fallen auch in in Konflikt. senen führt, für Early Starter ungleich größer
den Schulleistungen nicht besonders ab. Die Der Zeitpunkt, zu dem die Delinquenz sicht- ist. Für Late Starter liegt die Chance, die anti-
»Delinquenzkarriere« beginnt erst im frühen bar wird, ist nicht nur für sich genommen ein soziale Karriere wieder zu verlassen, darin,
Jugendalter. Die Fähigkeiten der Eltern, den wichtiges Datum. Er gibt auch Aufschluss da- dass auch unter dem negativen Einfluss von
Kindern ein normales und unterstützendes rüber, wie massiv die Mängel in den Fähig- Peers die in der Kindheit erworbenen Fähig-
Familienleben zu bieten, werden nun durch be- keiten sind, soziale Beziehungen und Konflikte keiten und Fertigkeiten zu einem normalen
sondere Umstände überfordert. Das können normal zu regeln: sozialen Umgang nicht verloren gehen.
kritische Lebensereignisse wie Scheidung, 5 Early Starter sind bereits im Grundschul-
Arbeitslosigkeit, Alkohol- und Drogenmiss- alter aufgrund der oben beschriebenen

Mitgliedern dieser Familien zeigen, wie reichhaltig die Verstär- sich zurück oder reagieren neutral auf das feindselige Verhal-
kerpläne sind, nach denen die Kinder Zwang ausübendes Verhal- ten des Kindes. In verschiedenen Vergleichsstudien wurden die
ten lernen (7 Abschn. 8.3 zu Verstärkung und Verstärkerplänen). Interaktionen von Familien mit Kindern, die Verhaltenspro-
Obwohl auch nach dem Prinzip der positiven Verstärkung er- bleme zeigten, und Familien mit nicht gestörten Kindern ver-
zogen wird, steht die negative Verstärkung im Vordergrund. glichen. In den Familien der Kinder mit Verhaltensproblemen
Dabei nörgelt oder meckert die Mutter oder der Vater an dem kamen Zwang ausübende Interaktionen ungleich häufiger vor
Kind herum. Dies reagiert darauf feindselig, z.B. mit aggressivem (Patterson et al. 1991).
Verhalten. Oftmals lassen es die Eltern dabei bewenden – ziehen Wenn dieses »Training« anhält, eskaliert das Zwang ausübende
Verhalten des Kindes. Zum Beispiel treten an die Stelle von Nicht-
gehorchen, Rumjammern und Widerrede gewichtigere Verhal-
tensweisen wie Wutausbrüche und Schlagen. Es hat sich auch be-
stätigt, dass damit die Wahrscheinlichkeit wächst, dass – wenn
auch zunächst nur selten – schwerwiegendere antisoziale Verhal-
tensweisen dazukommen wie Stehlen und Zündeln. Die Gruppe
um Patterson beobachtete auch, dass sich das Verhalten über den
Familienkontext hinaus generalisierte, etwa auch auf die Schule.
Damit sind jene Prozesse genannt, die das Early-Starter-Mo-
dell in Gang setzen. Die deutlich sichtbaren Formen antisozialen
Verhaltens (Attacken gegen andere Kinder, Zornausbrüche, Un-
gehorsam, Stehlen usw.) führen zumal im Schulkontext dazu,
dass das Kind von den Gleichaltrigen abgelehnt wird; und das
antisoziale Verhalten hat auch Leistungsprobleme in der Schule
zur Folge. . Abb. 18.23 zeigt in schematischer Darstellung, wie
sich die Gruppe um Patterson den weiteren Weg bis zum anti-
sozialen und kriminellen Erwachsenen vorstellt.
In Teilausschnitten ist das in . Abb. 18.23 veranschaulichte
. Abb. 18.22 Erziehung in einer »Zwang ausübenden« Familie. Diese
Art von Erziehung erzeugt einen fatalen Kreislauf: Gewalt erzeugt Gewalt. Modell durch die Beobachtungen aus Pattersons eigener Längs-
(© Getty Images / iStockphoto) schnittstudie, der Oregon Youth Study, bestätigt worden. Anti-
776 Kapitel 18 · Pädagogische Psychologie: Übersicht und ausgewählte Themen

. Abb. 18.23 Pfad zur Jugend- und Erwachsenenkriminalität. Zusammenhang zwischen Defiziten in der elterlichen Erziehung im Schulalter und der
späteren Bereitschaft zu antisozialem und delinquentem Verhalten. (Nach Patterson et al. 1991; republished with permission of Taylor and Francis Group
LLC Books, Copyright © 1991; permission conveyed through Copyright Clearance Center, Inc.)

soziales Verhalten in der 4. Klassenstufe hängt mit polizeilich ungünstige Bedingungen schafft. Dies hat zur Folge, dass über
registrierten Vergehen in der 7. Klassenstufe (wenn die Jungen die elterliche Erziehung ein erhöhtes Maß an Aggressivität über
13 oder 14 Jahre alt sind) zusammen. mehrere Generationen hinweg weitergegeben werden kann.
Eron et al. begannen im Frühjahr 1960 im Staate New York
mit der Beobachtung einer großen Gruppe von Mädchen und
18.4.4 Längsschnittbeobachtungen Jungen, als diese etwa 8 Jahre alt waren (3. Schuljahr). In einer
zu elterlichen Einflüssen beeindruckenden »Langzeit«-Längsschnittstudie setzten sie die
auf die Genese von Problemverhalten Beobachtungen über einen Zeitraum von 22 Jahren fort. Im
18 Sommer 1981 nahmen von den ursprünglich 875 Versuchsteil-
nehmern immerhin noch 632 an umfangreichen Nachunter-
? 18.18 Wie lassen sich die Ergebnisse der Längsschnittstudie
suchungen teil.
von Eron et al. zum Zusammenhang zwischen elterlicher
Als die Kinder 8 Jahre alt waren, wurden folgende Variablen
Erziehung und der Entwicklung antisozialen Verhaltens zu-
beobachtet:
sammenfassen?

Das Early-Starter-Modell und die »Kurzzeit«-Längsschnittdaten jElternmerkmale


(von Klassenstufe 4 bis 7) der Oregon Youth Study sprechen 4 das Ausmaß der Zurückweisung des Kindes durch die
dafür, dass aggressive und antisoziale Verhaltensmuster unter Eltern, gemessen durch das Ausmaß der Ablehnung der
ungünstigen Erziehungsbedingungen frühzeitig gelernt werden. Verhaltensweisen und Eigenschaften des Kindes;
Wir werden nun Beobachtungen vorstellen, die demonstrieren, 4 die Neigung zu intensiver Bestrafung als Reaktion auf
dass in der Kindheit erworbene Aggressivität tatsächlich eine Aggressionen des Kindes, gemessen durch die Einschätzung
Last ist, an der man unter Umständen bis in das Erwachsenen- der eigenen Reaktion in verschiedenen vorgestellten Situa-
alter trägt, und die sogar für die Erziehung der eigenen Kinder tionen.
18.5 · Neue Aufgaben und Herausforderungen der Pädagogischen Psychologie
777 18
jKindmerkmale aber bei Frauen) die Kriminalitätsindizes statistisch be-
4 das Ausmaß der Identifikation mit den Eltern, erfasst deutsam mit der Härte der Bestrafung und geringer Identi-
über die Ähnlichkeit der Selbstbeurteilung in verschiede- fikation.
nen Verhaltensmerkmalen; 5. Die von den Eltern berichtete Neigung zu harter Be-
4 das Ausmaß der Aggressivität, gemessen durch die Ein- strafung nach aggressiven Verhaltensweisen wird von den
schätzung Gleichaltriger. Kindern aufgegriffen, wenn diese selbst in dem Alter
sind, dass sie eigene Kinder haben oder haben könnten. Bei
Nach 22 Jahren wurden verschiedene Aggressivitätsmaße und den 30-jährigen Männern besteht zwischen der Neigung
Kriminalitätsindizes erhoben. Darunter waren zu harter Bestrafung durch ihre Eltern, die 22 Jahre früher
4 die Selbsteinstufung der eigenen Aggressivität, gemessen wurde, und der mit demselben Verfahren ge-
4 die mit einem normierten Persönlichkeitsfragebogen messenen Neigung, Aggressionen der eigenen Kinder hart
gemessene Aggressivität, zu bestrafen, eine hochsignifikante Korrelation von
4 die Einschätzung der Aggressivität durch den Ehepartner, 0,34 (auf der Grundlage von Daten von 54 Männern). Bei
4 Daten über aktenkundige Straftaten, Frauen beträgt die Korrelation zwischen der vorgestell-
4 die Selbsteinstufung der Neigung zu harter Bestrafung bei ten Härte der Bestrafung eines Kindes und der diesbezüg-
den eigenen Kindern und lichen eigenen Erfahrung 0,25 (bei 171 Frauen; hoch-
4 die Selbsteinstufung der Neigung zu harter Bestrafung von signifikant).
Kindern in vorgestellten Erziehungssituationen.
Besonders die letzten beiden Ergebnismuster lassen darauf
Die Ergebnisse lassen sich in 5 Punkten zusammenfassen (Eron schließen, dass sich ungünstige elterliche Erziehung nachhaltig
et al. 1991). und langwierig auswirken kann.
1. Zwischen der Aggressivität der 8-jährigen Kinder und den In der Kindheit erworbene Aggressivität trägt zu einer Kar-
zum selben Zeitpunkt gemessenen Erziehungsmerkmalen riere als antisozialer oder sogar krimineller Erwachsener bei, und
(Zurückweisung, Härte der Bestrafung) sowie dem Bezie- sie ist eine Bürde, die Menschen leider auch an die nächste Ge-
hungsmerkmal der Identifikation gibt es Korrelationen neration weiterreichen, wenn sie als Eltern selbst einmal Kinder
beachtlicher Höhe. Bildet man einen Summenwert aus Zu- erziehen.
rückweisung, Härte der Bestrafung und geringer Identifi- Es wäre aber ein Trugschluss, zu glauben, dass in diesen
kation, so beträgt die hochsignifikante Korrelation mit der beobachteten fatalen Zusammenhängen eine Zwangsläufig-
Aggressivität für Mädchen 0,43 und für Jungen 0,36. keit steckt. Beide Forschergruppen, über die wir in diesem Ab-
2. Zusätzliche Daten aus einer internationalen Studie mit schnitt berichtet haben, weisen auf Folgendes hin: Die Tatsache,
Kindern in einem ähnlichen Altersbereich erlauben eine dass Aggressionen als Strategie und Haltung zur Problem-
Aussage über die Richtung des Zusammenhangs. Die ge- lösung von früher Kindheit an gelernt werden, enthält auch
nannten Besonderheiten in den Erziehungs- und Bezie- noch eine andere Botschaft. Prävention und Intervention sind
hungsmerkmalen sind die Folge und nicht die Vorausset- möglich – durch Aufklärung und Anleitung der Eltern und
zung von Aggressivität: Auf Aggressionen seitens der durch die veränderte Betreuung und Erziehung der Kinder (z. B.
8-jährigen Kinder reagieren Eltern mit Zurückweisung und Patterson 1997).
harter Bestrafung, und es stellt sich bei den Kindern eine
Prüfen Sie Ihr Wissen
geringe Identifikation ein.
3. Eron et al. sehen dieses Resultat als Ausschnitt aus einem 5 Welche in diesem Abschnitt vorgestellten Ergebnisse
sich aufschaukelnden Prozess, den wir aus dem Early- stützen die These, dass die elterliche Erziehung einen
Starter-Modell kennen. Falsche Erziehungsmaßnahmen Einfluss auf Heranwachsende hat?
liefern schon im Vorschulalter Vorbilder und Verstärkun-
gen für aggressive und antisoziale Verhaltensweisen, die,
wenn sie von den Kindern übernommen werden, das
feindselige und aggressive Erziehungsklima abermals ver- 18.5 Neue Aufgaben und Herausforderungen
stärken. der Pädagogischen Psychologie
4. Zwischen der Zurückweisung, der Neigung zu intensiver
Bestrafung und der geringen Identifikation im Grund- » Massive und schnelle Veränderungen der kulturellen, zivili-
schulalter und den verschiedenen Aggressivitäts- und Kri- satorischen, technologischen, ökonomischen und beruf-
minalitätsmerkmalen im Erwachsenenalter sind insgesamt lichen Lebensbedingungen in den westlichen Industrielän-
mäßig hohe, aber statistisch bedeutsame Beziehungen zu dern führen gegenwärtig zu einem drastischen Wandel in
beobachten. Beispielsweise korrelieren bei Männern (nicht 6
778 Kapitel 18 · Pädagogische Psychologie: Übersicht und ausgewählte Themen

den Bildungsanforderungen. Jahrtausende konnte man


davon ausgehen, dass in der Kindheit und im Jugendalter
jenes basale Wissen und Können aufgebaut werden kann,
das Erwachsene befähigt, unterschiedliche lebenspraktische
wie berufliche Aufgaben zu erfüllen und die dafür notwen-
dige spezielle Expertise zu erwerben. … [Es gibt keinen
Zweifel,] dass die … Zyklen der notwendigen Erneuerung
des individuellen Wissens immer kürzer und die durch-
schnittlichen Häufigkeiten beruflicher Umstellungen immer
größer werden. Lebenslanges oder lebensbegleitendes
Lernen wird deshalb künftig nicht eine bildungsbürgerliche
Maxime für wenige, sondern eine existentielle Notwendig-
keit für alle sein.
Weinert u. Schrader (1997, S. 295) . Abb. 18.24 Lernen im Alter. Lebenslanges Lernen bedeutet, dass heut-
zutage auch im fortgeschrittenen Alter unter Umständen noch neue Tech-
niken und neue Kompetenzen erworben werden müssen. (© Gina Sanders /
Wenn die Einschätzung von Weinert u. Schrader zutrifft, dass
Fotolia)
lebenslanges oder lebensbegleitendes Lernen in Zukunft für den
Einzelnen und für ganze Gesellschaften zur existenziellen Frage
wird, dann hat die Pädagogische Psychologie die Chance,
zu einer der Schlüsselwissenschaften dieses Jahrhunderts zu
werden. Ob sie diese Chance ergreift, hängt davon ab, ob und
wie sie sich den Herausforderungen stellt, die in neuen Gebieten
oder neuen Akzentuierungen liegen.
Das lebenslange Lernen ist aber nur eine der gesellschaft-
lichen Entwicklungen, aus denen neue Aufgaben und Heraus-
forderungen für die Pädagogische Psychologie erwachsen
(. Abb. 18.24; . Abb. 18.25). Ohne Anspruch auf Vollständig-
keit prognostizieren wir, dass die folgenden Themen, die zurzeit
eher noch randständig sind, in Zukunft an Bedeutung gewinnen
werden:
4 die Überprüfung der Effektivität von Bildungsmaßnah-
men und des Bildungssystems durch Evaluationsstudien,
beispielsweise internationale Schulleistungsvergleiche,
sowie die Erarbeitung von Verbesserungsvorschlägen;
. Abb. 18.25 Man lernt ein Leben lang – wenn’s Spaß macht.
4 die Entwicklung und Erprobung adressatenspezifischer (© Claudia Styrsky)
Lehr- und Lernmaterialien, beispielsweise für Behinderte
(z. B. Computer und Roboter mit Spracheingabe);
4 die Abschätzung der Wirkung von speziellen Medienin- 4 die Analyse von Problemen beim Zusammenleben in
18 halten, beispielsweise Mediengewalt, auf Kinder und einer kulturell heterogen zusammengesetzten Gesellschaft
Jugendliche sowie die Entwicklung und Erprobung von und die Entwicklung von Vorschlägen zur interkulturellen
medienpädagogischen Maßnahmen; Erziehung;
4 die psychologische Begleitung der Einführung und Ge- 4 die Beratung und Unterstützung der Betroffenen bei
staltung neuer Medien in Bildungsmaßnahmen und der Auflösung und Neugründung von Familienstrukturen
Instruktionsprozessen, beispielsweise beim E-Learning; (Scheidungsmediation).
4 die Entwicklung und Erprobung allgemeiner und spezi-
fischer Maßnahmen und Materialien zur Gesundheitser- Auf zwei dieser Themenstellungen werden wir nun etwas näher
ziehung; eingehen: zunächst auf die Aufgaben, die sich für die Päda-
4 die Untersuchung von Erziehungsprozessen in neuen gogische Psychologie aus der Tatsache ergeben, dass Kinder im
Familienstrukturen; Kleinkindalter einen Teil ihres Lebens zunehmend außerhalb der
4 die Prüfung der Auswirkungen von Fremdbetreuung in Familie betreut werden, und dann auf Herausforderungen, die
Krippen, Kindergärten und Horten auf die Entwicklung sich aus den internationalen Schulleistungsvergleichen ergeben,
von Kindern; die in den letzten Jahren die Öffentlichkeit bewegt haben.
18.5 · Neue Aufgaben und Herausforderungen der Pädagogischen Psychologie
779 18
18.5.1 Auswirkungen der außerfamiliären sen sich unseres Erachtens aber in den folgenden fünf Punkten
Kleinkindbetreuung zusammenfassen:
4 Die Befürchtung, Betreuung außerhalb der Familie habe
per se einen nachteiligen Einfluss auf die Beziehung des
? 18.19 Wie wirkt sich die Fremdbetreuung von Kleinkindern
Kindes zu den Eltern und auf seine weitere Entwicklung, ist
in Kindertageseinrichtungen auf die Kinder aus? (Nennen
nicht gerechtfertigt.
Sie eine wichtige Studie zu diesem Thema, und berichten
4 Allerdings ist die Qualität der Krippenbetreuung bedeutsam.
Sie ausgewählte Resultate.)
»Empirische Untersuchungen zeigen fast ohne Ausnahme,
Veränderte Lebensformen und Familienstrukturen haben dazu dass die Qualität einer Fremdbetreuungseinrichtung mit den
geführt, dass in Deutschland und vielen anderen hoch entwickel- gleichzeitig gemessenen kognitiven Fähigkeiten … und
ten Gesellschaften zunehmend mehr Kleinkinder einen Teil des der Sprachentwicklung zusammenhängt« (Schölmerich u.
Tages außerhalb der Familie verbringen. Diese Veränderung hat Leyendecker 2008, S. 715).
sich ziemlich schnell vollzogen und bedeutet, jedenfalls ober- 4 Vergleicht man jedoch den Effekt der Krippenqualität mit
flächlich betrachtet, einen markanten Wandel in den Lebensum- der Wirkung von Merkmalen der Familie des Kindes
ständen junger Familien. (Höhe des Einkommens, Ausbildung der Mutter, Feinfüh-
Bis zur Mitte des vergangenen Jahrhunderts war in Bezug ligkeit der Mutter), so erweisen sich im Wesentlichen die
auf die Kindererziehung die Rollenteilung zwischen Vater und familiären Merkmale als stärkerer Wirkfaktor.
Mutter klar und wurde in der Regel auch praktiziert. Der Vater 4 Ungünstige familiäre Bedingungen und eine schlechte Qua-
war zuständig für die ökonomische Absicherung der Familie lität der Krippenbetreuung scheinen sich negativ zu ver-
und ging, wenn möglich, einer Vollzeitbeschäftigung nach; die stärken. Beispielsweise wurde ein deutlich erhöhtes Maß
Mutter hatte die Verantwortung für den familiären Innenbereich, unsicherer Bindungen nur gefunden, wenn das Kind einer-
somit auch für die Pflege und Versorgung der Kinder. Dement- seits eine schlechte Fremdbetreuung erfuhr und anderer-
sprechend war in den 1950er Jahren in den alten Bundesländern seits die Mutter nicht sehr verständnisvoll oder einfühlsam
nur jede vierte Mutter mit Kindern unter 18 Jahren berufstätig, mit dem Kind umging (NICHD Early Child Care Research
und bei Müttern mit Kleinkindern – wir meinen damit Kinder Network 1997).
unter 3 Jahren – dürfte der Anteil noch deutlich niedriger gele- 4 Die Dauer der Fremdbetreuung in den ersten Lebensjahren
gen haben (nach Fuhrer 2005). scheint mit einer höheren Rate an Verhaltensauffälligkeiten
Sind aber beide Eltern voll berufstätig, so stellt sich zwangs- (sowohl nach innen und als auch nach außen gerichtet)
läufig die Frage nach der Betreuung der Kinder außerhalb der zu einem späteren Zeitpunkt einherzugehen (NICHD Early
Kernfamilie. Vor demselben Problem stehen natürlich auch allein- Child Care Research Network 2003).
erziehende berufstätige Mütter oder Väter. Sieht man von der
Versorgung durch Verwandte (vornehmlich Großeltern) ab, so Die ersten vier Resultate vermitteln das Bild, Fremdbetreuung
werden hauptsächlich zwei Unterbringungsformen praktiziert: in sei für Kleinkinder eher positiv – vorausgesetzt die Qualität des
der Kindertagespflege (sog. Tagesmütter) und in Kinderkrippen. häuslichen Milieus und der Krippe ist günstig. Weil das zuletzt
Wir vermuten, dass inzwischen berufliche Notwendigkeiten genannte Ergebnis gar nicht dazu passt, gehen wir in 7 Unter der
nicht mehr der einzige Grund dafür sind, Kleinkinder außerhalb Lupe: Geht die Aufenthaltsdauer in Kindertageseinrichtungen mit
der Familie betreuen zu lassen. Krippen werden in der Öffent- sozioemotionalen Anpassungsschwierigkeiten im Vorschulalter ein-
lichkeit zunehmend positiv wahrgenommen; Krippenerziehung her? näher auf diese Studie ein.
wird mit der Chance auf frühkindliche Bildung assoziiert, und
man erwartet, dass das eigene Kind hier in der Gruppe soziale
» Eine der bedeutsamsten Schlussfolgerungen aus unserer
Studie lautet: Obwohl die Dauer der Fremdbetreuung …
Erfahrungen machen kann, die es ihm später (etwa in der Schule)
mit einer Vielzahl von Indikatoren für die sozioemotionale
erleichtern werden, mit Gleichaltrigen gut auszukommen.
Anpassung zusammenhängt, so erweist sich die mütterliche
Während über die Auswirkungen der Unterbringung in der
Sensitivität als ein noch bedeutsamerer Einflussfaktor.
Kindertagespflege kaum solide Daten vorliegen, gibt es zu den
NICHD Early Child Care Research Network (2003)
kurzfristigen und langfristigen Folgen der Betreuung in Kinder-
krippen (also Tageseinrichtungen für die Kinder unter 3 Jahren) Kehren wir zu unserer Ausgangsüberlegung zurück, also zu dem
eine methodisch aufwendige US-amerikanische Längsschnitt- Ausblick auf die Fragen, denen sich die Pädagogische Psycho-
studie des National Institute of Child Health and Development logie in Zukunft stellen muss. Man kann die Differenziertheit
(NICHD) an über 1300 Kindern. Die bisher gewonnenen Re- und Eindeutigkeit der Befunde zur Auswirkung der Kleinkind-
sultate werden in einschlägigen deutschen Lehrbuchbeiträgen betreuung in Tageseinrichtungen so lesen, als sei damit alles ge-
(Fuhrer 2005; Schölmerich u. Leyendecker 2008; Siegler et al. sagt. Die Autoren ziehen den gegenteiligen Schluss: »Unsere
2005) nicht in allen Details übereinstimmend berichtet. Sie las- Beobachtungen zeigen die Notwendigkeit auf, sich in Zukunft
780 Kapitel 18 · Pädagogische Psychologie: Übersicht und ausgewählte Themen

Unter der Lupe

Geht die Aufenthaltsdauer in Kindertageseinrichtungen mit sozioemotionalen Anpassungsschwierigkeiten im Vorschulalter einher?


Aus verschiedenen Studien der letzten Jahr- untergräbt, weil sie weniger Zeit mit dem Kind 4. Es gibt keine erkennbare Schwelle, so
zehnte lagen bereits vor der Durchführung der verbringt? (d) Zeigt sich der negative Einfluss dass man sagen könnte: »Erst wenn ein
NICHD-Studie verschiedene Hinweise vor, der Aufenthaltsdauer erst dann, wenn eine be- bestimmter Umfang der Fremdbetreu-
die dafür sprachen, dass sich Fremdbetreuung stimmte Schwelle (»Mindestdauer«) erreicht ist? ung überschritten ist, so erhöht sich die
negativ auf die sozioemotionale Anpassung Die Antworten der NICHD-Studie auf diese Wahrscheinlichkeit von Anpassungs-
auswirken kann, z. B. die Wahrscheinlichkeit für Fragen sind eindeutig: problemen.« Vielmehr scheint das »Do-
Verhaltensauffälligkeiten und Aggressionen 1. Auch wenn man die familiäre Herkunft sis-Response-Modell« uneingeschränkt
erhöhen kann. Diese Studien wiesen jedoch kontrolliert, so bestätigen die Beobach- zu gelten: Je höher die »Dosis« an
allesamt methodische Mängel auf. Erst die tungen an den Kindern, als sie 4 1/2 Jahre Fremdbetreuung, desto höher die Nei-
Differenziertheit und Sorgfalt der Datenerhe- alt waren, dass Verhaltensprobleme und gung zu Aggression, Disziplinproblemen
bungen in der NICHD-Studie erlaubten es den die Häufigkeit von Konflikten mit Er- und Rücksichtslosigkeit.
Autoren, die Frage nach dem Zusammenhang wachsenen in signifikanter Weise mit der
zwischen der Dauer der Betreuung in Kinder- Dauer der Fremdbetreuung, in der die Es sollte ergänzt werden, dass die sozioemo-
tageseinrichtungen und der sozioemotionalen Kinder bis dahin untergebracht waren, tionalen Probleme aus verschiedenen Perspek-
Anpassung in eine Reihe von spezifischen zusammenhängen: Je länger die Betreu- tiven erfasst wurden, durch Befragung der
Fragestellungen aufzugliedern und eindeutig ungsdauer, desto mehr Verhaltensproble- Mütter, der Erzieherinnen in den Betreuungs-
zu beantworten. Dazu gehörten unter anderem me und Konflikte. einrichtungen und der Lehrerinnen, mit denen
die folgenden Fragen: (a) Gibt es den Zusam- 2. Diese Effekte blieben auch dann weit- die Kinder zu tun hatten, als sie mit 4 1/2 Jah-
menhang auch dann, wenn man berücksichtigt, gehend erhalten, wenn Merkmale der ren in die Vorschule (amerik.: kindergarten)
dass Kinder, die von den Eltern schon früh als Fremdbetreuung (wie die Betreuungs- kamen. Man kann also davon ausgehen, dass
problematisch empfunden werden, eher in qualität und die Stabilität der Beziehun- die abhängigen Variablen tatsächlich valide
Fremdbetreuung kommen? (b) Ist in Wirklich- gen) und Merkmale der familiären Her- und reliable Maße sind. Deshalb betonen
keit gar nicht die Dauer entscheidend, sondern kunft (wie etwa die mütterliche Sensibi- die Autoren auch die Stabilität des Effektes:
verbergen sich hinter dem Effekt der Aufent- lität) kontrolliert wurden. »… die Dauer der Fremdbetreuung sagt nicht
haltsdauer andere Merkmale (wie etwa die 3. Der Einfluss der Betreuungsdauer auf nur die Verhaltensprobleme voraus, wenn
Qualität der Betreuung oder die Stabilität der die sozioemotionalen Anpassungspro- diese auf einer kontinuierlichen Skala einge-
Beziehungen, die Kinder in der Betreuung auf- bleme ist größer als die Wirkung der schätzt werden, sondern auch das Niveau
bauen können)? (c) Lässt sich der Einfluss der zuvor genannten anderen Merkmale der (level) der Verhaltensprobleme sowie Häufig-
Aufenthaltsdauer letztlich auf die mütterliche Fremdbetreuung. Allerdings wirkt er keiten von Aggression, Disziplinproblemen
Sensibilität im Umgang mit dem Kind zurück- sich nicht so stark wie die mütterliche und Rücksichtslosigkeit.«
führen, etwa in dem Sinne, dass ausgiebige Feinfühligkeit und die sozioökonomi-
Fremdbetreuung die Feinfühligkeit der Mutter sche Herkunft des Kindes aus.

auf die Mechanismen und Prozesse zu konzentrieren …« sachen für das mäßige Abschneiden der deutschen Schüler in
(NICHD 2003, S. 1001). Wie könnte diese weiterführende For- den PISA-Studien leistet (Deutsches PISA-Konsortium 2001,
schung aussehen? Einen Ansatzpunkt haben wir oben in diesem 2004, 2007).
Kapitel (7 Abschn. 18.3.2) genannt: Es sollte die Tatsache berück-
sichtigt werden, dass Erziehungsprozesse, sei es in der Familie Das Beispiel PISA
oder in der Fremdbetreuung, immer ein bidirektionales Gesche- Schockierende Nachrichten kommen manchmal als nüchterne
hen sind (siehe auch Kuczynski 2003; Maccoby 2003). Zahlen daher. Betrachten Sie . Tab. 18.3. Sie ist ein Auszug aus
18 einem wichtigen Ergebnis der PISA-2000-Studie.
Aus der Tabelle kann man unmittelbar ablesen, dass beim
18.5.2 Modelle zur Erklärung Vergleich der Gesamtleseleistung 15-jähriger Schülerinnen und
von Schulleistungsunterschieden Schüler die deutschen Teilnehmer nur Rangplatz 21 unter ins-
gesamt 31 Staaten erreichen. Weiterhin zeigen die Standardab-
weichungen, dass die Streuung der Leistungen und damit die
? 18.20 Was besagt das Angebot-Nutzungs-Modell zur
Leistungsunterschiede nirgends größer sind als bei den deut-
Erklärung von Schulleistungen?
schen Schülerinnen und Schülern. Und noch ein weiteres Ergeb-
Bei manchen der zu Beginn dieses Abschnittes aufgelisteten nis, das allerdings nicht aus . Tab. 18.3 entnommen werden
neuen Aufgaben wird die Pädagogische Psychologie zur interdis- kann, verdient Beachtung: Betrachtet man nur die Gruppe der
ziplinären Zusammenarbeit bereit und fähig sein müssen. Und schwächsten Schüler, so schneidet Deutschland noch schlechter
sie wird bei dieser Kooperation zeigen müssen, worin ihre beson- ab. Von den teilnehmenden 31 Ländern haben nur Lettland,
deren Kompetenzen liegen. Fragen wir deshalb exemplarisch, Luxemburg, Mexiko und Schlusslicht Brasilien einen höheren
was die Pädagogische Psychologie z. B. bei der Analyse der Ur- Anteil von Schülern mit einer besonders schlechten Leseleistung.
18.5 · Neue Aufgaben und Herausforderungen der Pädagogischen Psychologie
781 18
dung weggelassen, aber auch diese fielen für Deutschland nicht
. Tab. 18.3 Das deutsche Abschneiden beim PISA-Lesetest: Mittel-
werte und Standardabweichungen der teilnehmenden Staaten für
besonders gut aus.
die Gesamtskala Lesen im Rahmen der internationalen PISA-Studie.
(Adaptiert nach PISA 2000)
» Neben dem politischen Handlungsdruck, der durch diese
[PISA-2000-]Ergebnisse unübersehbar erzeugt wird, tritt ein
Rang Land Mittelwert Standardab- verstärkter Erklärungsdruck, wie es zu diesen problema-
weichung tischen Leistungsergebnissen kommen konnte. Dabei tritt
die Pädagogische Psychologie in die vorderste Reihe …
1 Finnland 546 89
Sie hat somit eine einmalige historische Chance, ihren Erklä-
2 Kanada 534 95 rungsmodellen Anerkennung zu verschaffen und der öffent-
3 Neuseeland 529 108 lichen Diskussion hilfreich zur Seite zu stehen.

4 Australien 528 102 Helmut Fend (2002)

5 Irland 527 94 Nachdem sich nach der Veröffentlichung der ersten PISA-Studie
6 Korea 525 70 der Schock gelegt hatte, begann unter Politikern, Fachleuten und
Journalisten die Ursachensuche, und das, obwohl die Autoren
7 Großbritannien 523 100
der Studie ausdrücklich klarstellten, dass ihre Untersuchung aus
8 Japan 522 86
verschiedenen Gründen »belastbare« kausale Schlussfolgerun-
9 Schweden 516 92 gen nicht zulässt. Unter dem öffentlichen Druck zum Handeln
10 Österreich 507 93 neigten Politiker sehr schnell dazu, die Ursachen im Bildungssys-
11 Belgien 507 107 tem zu sehen: zu späte Einschulung (7 Abschn. 18.1), fehlende
Ganztagsschule, zu viele Fehlstunden.
12 Island 507 92
Wie aber könnte eine belastbare Ursachenanalyse aussehen?
13 Norwegen 505 104
Pädagogische Psychologen haben in der Vergangenheit grund-
14 Frankreich 505 92 sätzlich andere Faktoren in Erwägung gezogen, als sie in der Dis-
15 USA 504 105 kussion nach PISA eine Rolle gespielt haben. Psychologen legen
OECD-Durchschnitt 500 100 das Augenmerk auf individuelle Leistungsvoraussetzungen, etwa
16 Dänemark 497 98
die Intelligenz oder die Motivation, sowie auf den unmittelbaren
Lebenskontext der Schüler, wie etwa die soziale und ökonomi-
17 Schweiz 494 102
sche Situation im Elternhaus.
18 Spanien 493 85 Die Pädagogische Psychologie war mit diesem Ansatz recht
19 Tschechische Republik 492 96 erfolgreich. »Auf dieser Ebene ist seit Jahren klar, dass vor allem
20 Italien 487 91 zwei Faktoren die meiste Varianz erklären: die kognitiven Kom-
21 Deutschland 484 111
petenzen (früher meist als Intelligenz indiziert) und die Motiva-
tion, die vor allem in der Anstrengungsbereitschaft zum Aus-
22 Liechtenstein 483 96
druck kommt. Beide werden durch den Hintergrund des Eltern-
23 Ungarn 480 94 hauses gestützt« (Fend 2002, S. 142; Hervorhebung durch den
24 Polen 479 100 Autor). Differenzierte Untersuchungen von Fend über den Ein-
25 Griechenland 474 97 fluss dieser Merkmale in verschiedenen Schulsystemen (Gesamt-
26 Portugal 470 97
schulen versus gegliedertes Bildungswesen) zeigten aber, dass
die Bedeutung einzelner psychologischer Merkmale vom Schul-
27 Russische Föderation 462 92
system abhängt.
28 Lettland 458 102
Welche Bedeutung (psychologische) Mikrofaktoren im Ein-
29 Luxemburg 441 100 zelnen für die Leistungsentwicklung eines Kindes haben, wird
30 Mexiko 422 86 von (institutionellen) Makrofaktoren festgelegt.
31 Brasilien 396 86
Vor dem Hintergrund dieser Resultate hat Fend (2002) ein
beachtenswertes Angebot-Nutzungs-Modell für das Zustande-
kommen von Schulleistungen entworfen, das die Mikro- und
Makrofaktoren zusammenführt, ihrem unterschiedlichen Cha-
Was wir soeben vorgestellt haben, ist nur eine knappe Aus- rakter Rechnung trägt und – das ist an dieser Stelle wichtig – auf-
wahl von Ergebnissen aus der PISA-2000-Studie (Deutsches zeigt, welche Rolle der Pädagogischen Psychologie bei der inter-
PISA-Konsortium 2001). Beispielsweise haben wir die Ergebnis- disziplinären Ursachenforschung für Schulleistungsunterschiede
se zur mathematischen und naturwissenschaftlichen Grundbil- zukommt. . Abb. 18.26 zeigt dieses Modell.
782 Kapitel 18 · Pädagogische Psychologie: Übersicht und ausgewählte Themen

. Abb. 18.26 Angebot-Nutzungs-Modell von Schulleistungen. Angebotsbezogene und nutzungsbezogene Stützsysteme ergänzen sich beim Zustande-
kommen von Schulleistungen. (Nach Fend 2002, © Verlag Hans Huber, Bern, mit freundlicher Genehmigung)

Grundgedanke des Modells ist die Unterscheidung von prozessen, aber auch die Notwendigkeit zur interdisziplinären
Schulleistungsbedingungen, die man als Angebotsmerkmale Zusammenarbeit zu verdeutlichen.
(»angebotsbezogene Stützsysteme«) oder als Nutzungsmerkmale
Prüfen Sie Ihr Wissen
(»nutzungsbezogene Stützsysteme«) bezeichnen kann. Diese
Trennung ist notwendig, weil Schulleistungen das Ergebnis eines 5 Fassen Sie die Ergebnisse der deutschen Teilnehmer
Prozesses sind, in dem die eine Person (der Lehrer) einer anderen beim PISA-Lesetest kurz zusammen.
Person (dem Schüler) ein Angebot macht, auf das sie unter-
schiedlich reagieren kann. »Die eine Partei kann dabei die ande-
re nicht zwingen, wunschgemäß zu reagieren, denn vor Zwang
sind die Menschen in unserer Kultur normativ geschützt. Schu- 18.6 Kapitelrückblick
lisches Lernen bleibt also ein Angebot, das unterschiedlich ge-
nutzt werden kann«, schreibt Fend (2002, S. 145). 18.6.1 Verständnisfragen
Während Bildungssoziologen und -ökonomen Experten für
die Gestaltung der Angebotsseite sind, ist die Analyse der indi- jÜberblick über die Pädagogische Psychologie
viduellen Nutzungsbedingungen von Bildungsangeboten die 18.1 Wie unterscheiden sich die verschiedenen Auffassungen
18 Domäne der Pädagogischen Psychologie. Die Grenze zwischen von Erziehung? In welche beiden Bereiche lässt sich die Pädago-
diesen beiden Feldern, dem Bildungsangebot und der Nutzung gische Psychologie einteilen?
von Bildung, ist in . Abb. 18.26 durchlässig eingezeichnet; An- 18.2 Wie hat sich die deutschsprachige Pädagogische Psycho-
gebot und Nutzung stehen in enger Wechselwirkung zueinander. logie entwickelt? Wie unterscheidet sich die neue Instruktions-
Damit wird bildlich zum Ausdruck gebracht, dass die erfolg- psychologie von der alten Lehr-Lern-Forschung?
reiche Suche nach den Ursachen schlechter Schulleistungen und 18.3 In welchen Tätigkeitsfeldern kommen Kenntnisse der Päda-
die Vergrößerung der Chancen für bessere Schulleistungen nur gogischen Psychologie zur Anwendung? Was sind die Aufgaben
in interdisziplinärer Zusammenarbeit gelingen können. von Schulpsychologen?
Das Angebot-Nutzungs-Modell zur Erklärung der Entste-
hung von Schulleistungen führt Merkmale des Bildungssystems jBedeutung der elterlichen Erziehung
und des einzelnen Schülers zusammen, berücksichtigt dabei aber 18.4 Welche Rolle spielt die Erziehung durch die Eltern für die
die Verschiedenheit dieser Merkmalsbereiche. Entwicklung des Kindes?
Außerdem eignet es sich paradigmatisch, um den Beitrag der 18.5 Wie lassen sich Erziehungsstile sinnvoll einteilen? Welche
Pädagogischen Psychologie bei der Erforschung von Bildungs- Dimensionen liegen dieser Einteilung zugrunde?
18.6 · Kapitelrückblick
783 18
18.6 Wie wirken sich die verschiedenen Erziehungsstile aus? 18.6.2 Schlüsselbegriffe
18.7 Warum lassen sich Erziehungsstile nicht ohne Weiteres aus
einem Kulturkreis auf einen anderen übertragen? 4 Aggression
18.8 Warum wirkt sich die autoritative Erziehung im westlichen 4 Aggressivität
Kulturkreis auf die Heranwachsenden günstiger aus als die ande- 4 Ammensprache
ren Erziehungsstile? 4 Autoritärer Erziehungsstil
4 Autoritativer Erziehungsstil
jErziehungseinflüsse auf die Internalisierung 4 Bildungspsychologie
von moralischen Regeln und Normen 4 Early-Starter-Modell
18.9 Wie unterscheiden sich induktive Erziehung, Machtaus- 4 Empathiemediationshypothese
übung und Liebesentzug? Warum ist induktive Erziehung für die 4 Empathische Schuldgefühle
Moralerziehung vorteilhaft? 4 Erziehungspraktiken
18.10 Wie trägt induktive Erziehung im Sinne von Hoffmans 4 Erziehungspsychologie
Theorie zur Internalisierung moralischer Normen bei? 4 Erziehungsstil
18.11 Warum kommt der Empathie bei der Internalisierung 4 Gruppensozialisationstheorie
von Normen eine besondere Bedeutung zu? 4 Induktive Erziehung
18.12 Wie wurde Hoffmans Internalisierungstheorie durch 4 Instruktion
Kuczynski sowie durch Grusec u. Goodnow erweitert? 4 Internalisierung
18.13 Welche Ratschläge können Sie Eltern für die frühe Moral- 4 Mobbing
erziehung geben? 4 Pädagogische Psychologie
4 Permissiver Erziehungsstil
jAggressionen und Gewalt unter Kindern
und Jugendlichen
18.14 Warum sollte man der populären These, die Kinder- und 18.6.3 Weiterführende deutsche Literatur
Jugendgewalt hätte in den vergangenen Jahren drastisch zuge-
nommen, mit Vorsicht begegnen? Fuhrer, U. (2009). Lehrbuch Erziehungspsychologie. Bern: Huber.
Hasselhorn, M. & Gold, A. (2013). Pädagogische Psychologie: Erfolgreiches
18.15 Wie lassen sich gespielte und ernsthafte Aggression vonei- Lernen und Lehren (3. Aufl.). Stuttgart: Kohlhammer.
nander abgrenzen? Klauer, K.J. & Leutner, D. (2012). Lehren und Lernen. Einführung in die Instruk-
18.16 Woran erkennen Sie, dass es sich um Mobbing handelt, tionspsychologie (2. Aufl.). Weinheim: Beltz.
Krapp, A. & Weidenmann, B. (Hrsg.) (2006). Pädagogische Psychologie
wenn Sie Gewalt unter Kindern beobachten?
(5. Aufl.). Weinheim: Beltz.
18.17 Was sind die zentralen Aussagen des Early-Starter- Rost, D.H. (Hrsg.). (2010). Handwörterbuch Pädagogische Psychologie
Modells? Wenn Sie Early Starter und Late Starter vergleichen: (4. Aufl.). Weinheim: Beltz.
Welche Gruppe weist die schlechteren Prognosen für die weitere Schnotz, W. (2011). Pädagogische Psychologie kompakt (2. Aufl.). Weinheim:
Beltz.
Entwicklung auf? Seel, N.M. & Hanke, U. (2014). Erziehungswissenschaft: Lehrbuch für Bachelor-,
18.18 Wie lassen sich die Ergebnisse der Längsschnittstudie von Master- und Lehramtsstudierende. Heidelberg: Springer.
Eron et al. zum Zusammenhang zwischen elterlicher Erziehung Wild, E. & Möller, J. (2014). Pädagogische Psychologie (2. Aufl.). Heidelberg:
Springer.
und der Entwicklung antisozialen Verhaltens zusammenfassen?

jNeue Aufgaben und Herausforderungen


der Pädagogischen Psychologie
18.19 Wie wirkt sich die Fremdbetreuung von Kleinkindern in
Kindertageseinrichtungen auf die Kinder aus? (Nennen Sie eine
wichtige Studie zu diesem Thema, und berichten Sie ausge-
wählte Resultate.)
18.20 Was besagt das Angebot-Nutzungs-Modell zur Erklärung
von Schulleistungen?
785 19

Arbeits- und
Organisationspsychologie
Barbara Keller

19.1 Warum arbeiten wir, und was haben wir davon? – 786
19.1.1 Arbeitsmotivation – 787
19.1.2 Arbeitszufriedenheit – 792

19.2 Arbeit und Gesundheit – 795


19.2.1 Stress und Stressoren – 796
19.2.2 Mobbing – 798
19.2.3 Work-Life-Balance – 800

19.3 Veränderte Arbeitsbedingungen – 801


19.3.1 Neue Technologien: Wann sind Innovationen erfolgreich? – 801
19.3.2 Arbeitszeiten und Arbeitsplätze: Mehr Flexibilität – 803
19.3.3 Arbeitslosigkeit – 804

19.4 Psychologie in Organisationen – 811


19.4.1 Organisationsform und Organisationsstruktur – 811
19.4.2 Teams, Gruppen und Qualitätszirkel – 813
19.4.3 Führung – 816

19.5 Arbeit und Persönlichkeit: Auswahl und Auswirkungen – 819


19.5.1 Personalauswahl – 819
19.5.2 Wer kommt wann voran? – 823
19.5.3 Arbeit und Persönlichkeit – 827

19.6 Kapitelrückblick – 828


19.6.1 Verständnisfragen – 828
19.6.2 Schlüsselbegriffe – 829
19.6.3 Weiterführende deutsche Literatur – 829

D. G. Myers, Psychologie,
DOI 10.1007/978-3-642-40782-6_19, © Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2014
786 Kapitel 19 · Arbeits- und Organisationspsychologie

Münsterberg schreibt 1912 im Vorwort seines Werkes Psychologie terbildung verbringen. Meist hängt das, was wir tun, mit dem
und Wirtschaftsleben, seine Untersuchung wolle »das Interesse zusammen, was andere arbeiten, sei es, dass wir mit Kollegen
derer wecken, die in Verkehrswesen und Industrie, in Handel und und Kolleginnen in einer Organisation arbeiten, sei es, dass wir
Gewerbe, in Wirtschaftspolitik und Sozialreform ihre Lebens- andere, etwa projektbezogene Arten der Kooperation ausüben.
arbeit finden und gewöhnt sind, über das Werk ihrer Tage nach- Wie sollte ein Arbeitsplatz aussehen, damit Menschen dort gerne
zudenken«, und umreißt damit ein breites Feld für eine anwen- arbeiten und dabei gesund bleiben? Psychologen befassen sich
dungsbezogene Wissenschaft. forschend und beratend u. a. damit, wie ein Arbeitsplatz und
»Arbeits- und Organisationspsychologie« heißt das An- seine Umgebung gestaltet sein müssen, damit Ermüdung und
wendungsfach, das im Rahmen des Studiums der Psychologie Monotonie gering gehalten werden, wie Arbeitstätigkeiten sich
angeboten wird. Die Fachgruppe der Deutschen Gesellschaft auf Wohlbefinden und Persönlichkeit der Arbeitenden auswir-
für Psychologie (DGPs) trägt die Bezeichnung Arbeits- und ken, wie Stress bewältigt werden kann.
Organisationspsychologie. Die wichtigste deutschsprachige Die Bezeichnung Organisationspsychologie verweist darauf,
Fachzeitschrift, die Zeitschrift für Arbeits- und Organisations- dass Arbeit meist in Zusammenarbeit mit anderen verrichtet
psychologie wird von einem wissenschaftlichen Herausgeber in wird, in Organisationen von kleinen Familienbetrieben bis zu
Kooperation mit der entsprechenden Sektion im Berufsverband multinationalen Konzernen. Hier wird nach innerbetrieblichen
Deutscher Psychologinnen und Psychologen e. V. (BDP) heraus- Beziehungen gefragt, nach der Gestaltung der innerbetrieblichen
gegeben. Im BDP sind die früheren Sektionen Markt- und Kom- Kommunikation, deren Funktionieren sowohl für ein gutes
munikationspsychologie und Arbeits-, Betriebs- und Organi- Arbeitsklima als auch für die Arbeitsvorgänge selbst wesentlich
sationspsychologie zur Sektion Wirtschaftspsychologie zu- ist. Wichtig sind weiterhin sowohl Beziehungen zwischen Indi-
sammengefasst – sie gibt die Zeitschrift Wirtschaftspsychologie viduen und Gruppen als auch Beziehungen zwischen Organisa-
aktuell heraus. tionen und der Gesellschaft.
Psychologische Kompetenz wird auch gebraucht bei der
Arbeitspsychologie (»work psychology«) – bezieht sich auf die Anwendung
psychologischer Theorien, Forschungsansätze und Interventionsmethoden Auswahl, Ausbildung, Förderung und Entwicklung von Perso-
in der Arbeitswelt, auf die psychologischen Aspekte der Gestaltung der nal, bei der Beratung von Führungskräften. In diesen Themen-
Arbeitstätigkeit, des Arbeitsplatzes und der Umgebung des Arbeitsplatzes. bereich gehört auch die Frage nach der Karriereentwicklung bei
Organisationspsychologie (»organizational psychology«) – befasst sich Frauen, die immer noch vergleichsweise selten in leitenden
mit Bedingungen, Abläufen und Konsequenzen des Handelns von Menschen
Positionen zu finden sind.
in Organisationen, mit Problemen betrieblicher und institutioneller Zusam-
menarbeit.
Wirtschaftspsychologie (»economic psychology«) – untersucht das Ver-
halten und Erleben der Menschen in breiteren wirtschaftlichen Zusammen- 19.1 Warum arbeiten wir,
hängen. und was haben wir davon?

Psychologische Theorien und Methoden werden auch in der Welt Die meisten von uns müssen ihren Unterhalt verdienen. Wir be-
der Arbeit, in den Betrieben und im Wirtschaftswesen ange- kommen Geld für unsere Arbeit, weil die Ergebnisse, d. h. die
wendet: Warum arbeiten wir? Darauf antworten Theorien und Produkte oder Dienstleistungen, nützlich sind. Damit sind extrin-
Modelle der Arbeitsmotivation. Was haben wir davon? Arbeits- sische, also außerhalb der Arbeit liegende Belohnungen an-
zufriedenheit, aber auch Arbeitsbelastungen und Umgang mit gesprochen. Davon kann man Belohnungen unterscheiden, die
Stress sind weitere wichtige Themen. Wie wirken sich Verände- Arbeit in sich selbst trägt. Solche Arbeit ist intrinsisch motiviert.
rungen von Arbeitsbedingungen aus? Dazu zählen Einführungen Sie bietet Gelegenheit, eigene Interessen zu verfolgen, eigene Ta-
neuer Technologien in Betrieben, insbesondere Informations- lente zu entfalten und dient damit der Selbstverwirklichung. Mit
19 technologien, die Arbeitsprozesse grundlegend verändern, genau- der Arbeitsmotivation hängt die Arbeitszufriedenheit zusammen:
so wie Auswirkungen von Veränderungen wirtschaftlicher Rah- Man kann davon ausgehen, dass zufriedenere Mitarbeiter auch
menbedingungen, beispielsweise die Flexibilisierung der Arbeits- höher motiviert sind und bessere Leistungen erbringen.
zeitgestaltung oder die Arbeitslosigkeit. Aber auch umfassende
gesellschaftliche Veränderungen wie ein verändertes Rollen- » Die Arbeit ist die Quelle alles Reichtums, sagen die politi-
verständnis der Geschlechter, das die Frage nach der Balance von schen Ökonomen. Sie ist dies – neben der Natur, die ihr den
Leben und Arbeit oder der Verteilung von Familien- und Erwerbs- Stoff liefert, den sie in Reichtum verwandelt. Aber sie ist
arbeit auf die Tagesordnung bringt, sind hier zu berücksichtigen. noch unendlich mehr als dies. Sie ist die erste Grundbedin-
Bei der Arbeit bzw. am Arbeitsplatz verbringen wir einen gung alles menschlichen Lebens, und zwar in einem solchen
beträchtlichen Teil unserer Zeit. Dabei können wir sowohl an Grade, daß wir in gewissem Sinn sagen müssen: Sie hat den
unsere tägliche Arbeitszeit denken als auch an die Zeit, die wir Menschen selbst geschaffen.
auf das ganze Leben gerechnet mit Ausbildung, Arbeit und Wei- Friedrich Engels (1896)
19.1 · Warum arbeiten wir, und was haben wir davon?
787 19
19.1.1 Arbeitsmotivation 4 Es gibt Unterschiede in der Motiventwicklung und Motiv-
dominanz im Arbeitsbereich: Menschen orientieren sich
Theorien der Arbeitsmotivation können nach dem Vorschlag im Verlauf ihrer Entwicklung an unterschiedlichen Motiv-
von Campbell u. Pritchard (1976) danach unterteilt werden, ob konstellationen; deshalb bedürfen sie differenzieller Anreiz-
sie eher inhaltlich oder prozessual orientiert sind. systeme.
4 Inhaltstheorien machen konkrete Aussagen über wirksame 4 Auf unterschiedlichen Hierarchieebenen sind in Organi-
Motive. Sie beschreiben inhaltlich, wodurch eine Person zum sationen unterschiedliche Motivkonstellationen zu finden.
Arbeiten bewegt wird, wonach sie strebt. Dabei wird der Führungskräfte würden die Bedeutung des Sinnes der
Schwerpunkt entweder auf die Person (Bedürfnisse, Motive) Arbeit, der Selbstverwirklichung und Autonomie betonen,
oder auf die situativen Bedingungen (Anreize) gelegt. während es Fließbandarbeitern vor allem um Geld, Sicher-
4 Bei Prozesstheorien geht es darum, wie die Person das er- heit und mitmenschliche Kontakte gehe. Hier wäre aller-
reicht, was ihr als erstrebenswert erscheint (von Rosenstiel dings zu fragen, ob es um vorhandene Motive geht oder um
1993a). Prozesstheorien formulieren abstrakte Prinzipien des realistische Chancen für deren Verwirklichung.
Motivationsverlaufs, in deren Mittelpunkt formale Begriffe 4 Beim Konsumverhalten werden mit steigendem Wohlstand
wie Erwartungen und Generalisierungen stehen. Wiswede materielle Bedürfnisse tendenziell weniger wichtig, wäh-
(2012), der den Begriff »Instrumentalitätstheorien« ver- rend expressive Bedürfnisse wie »Erleben«, »Selbstverwirk-
wendet, hält sie am ehesten dort für empirisch einzulösen, lichung«, »Kennerschaft« usw. in den Vordergrund treten.
»wo das Individuum langfristige Strategien der Zielerrei-
chung mit besonderen Anstrengungen verfolgt« (S. 67). Ingleharts These vom Wertewandel (1977), durch den gesell-
schaftlich vorherrschende materialistische Motivkonstellationen
Arbeitsmotivation (»work motivation«) – Beweggründe dafür, warum Men-
schen arbeiten und warum sie das mit unterschiedlichem Engagement tun. von postmaterialistischen abgelöst werden, stützt sich ebenfalls
auf die Motivationstheorie von Maslow.
Die einzelnen Stufen der Hierarchie konnten allerdings
Inhaltstheorien: Bedürfnisse, Motive empirisch kaum bestätigt werden, allenfalls gab es Belege für
und Anreize Tendenzaussagen. Die These, dass die Erfüllung von Bedürfnis-
sen einer untergeordneten Stufe Bedürfnisse auf der nächsthöhe-
? 19.1 Welche Bedürfnisse, welche Anreize veranlassen
ren Ebene stimuliere, konnte für die Arbeitswelt ebenfalls bislang
Menschen zu arbeiten? Was sind Beispiele dafür?
nicht belegt werden (Lea et al. 1987; Wiswede 2012, S. 63, siehe
dort auch weitere kritische Anmerkungen). Jahoda (1983) kriti-
jMaslows Bedürfnishierarchie siert die Vorstellung, dass diese Hierarchie menschlicher Bedürf-
Bedürfnisse, deren Befriedigung Menschen motiviert, wurden nisse einer zeitlichen Abfolge dessen entspricht, was die Unter-
inhaltlich beschrieben. Zu den Inhaltstheorien in diesem Sinne privilegierten vom Leben erwarten, als psychologisch falsch und
zählt das Konzept der Bedürfnishierarchie nach Maslow (1970). politisch letzten Endes reaktionär, weil sie die volle menschliche
Es handelt sich um eine allgemeine Theorie zur menschlichen Selbstverwirklichung nur einer kleinen Elite vorbehält.
Motivation (7 Kap. 12). Sie ist aber auch speziell auf die Arbeits-
welt angewandt worden. Danach arbeiten Menschen zunächst, jLeistungsmotivation
um grundlegende biologische und sicherheitsbezogene Bedürf- Das Leistungsmotiv (Murray 1938, 7 Kap. 12) wurde von
nisse stillen zu können. Wenn die Befriedigung dieser Bedürf- McClelland und seiner Arbeitsgruppe empirisch untersucht
nisse gesichert ist, werden soziale Motive bedeutsam. Menschen (z. B. McClelland et al. 1976). Dabei fand man, dass man zwi-
arbeiten dann, weil ihre Arbeit sie mit anderen Menschen zusam- schen zwei Motivtendenzen unterscheiden muss: Hoffnung auf
menbringt oder weil ihre Arbeit ihnen einen Platz in der Gesell- Erfolg und Furcht vor Misserfolg.
schaft zuweist. Sind auch ihre sozialen Bedürfnisse befriedigt, so Die zentrale Aussage dieser Theorie der Leistungsmotivation
arbeiten Menschen, um Achtung und Wertschätzung zu erlan- lautet, dass Personen, deren Motiv der Erfolgssuche stärker ist als
gen. Die bisher genannten Bedürfnisse sind Defizitbedürfnisse. das der Misserfolgsvermeidung, in höherem Maße durch Aufga-
Sind diese erfüllt, so werden Wachstumsbedürfnisse wirksam, ben mittleren Schwierigkeitsgrades motiviert werden können.
und Menschen arbeiten nun, um ihre Potenziale zur Selbstver- Personen, bei denen das Motiv der Misserfolgsvermeidung über-
wirklichung im kognitiven, ästhetischen und spirituellen Bereich wiegt, werden von Aufgaben mit sehr niedrigem und mit sehr
auszuschöpfen. Maslows Ansatz bietet einen integrativen Über- hohem Schwierigkeitsgrad angezogen. Bei Aufgaben mit sehr
blick über vielfältige Gründe, warum Menschen arbeiten, und niedrigem Schwierigkeitsgrad schätzen sie die Wahrschein-
hat deswegen viel Beachtung gefunden. lichkeit eines Misserfolgs als gering ein. Bei Aufgaben mit sehr
Wiswede (2012, S. 64) sieht folgende Anwendungsbereiche hohem Schwierigkeitsgrad müssen sie einen Misserfolg nicht
dieser Motivationstheorie auf wirtschaftlichem Gebiet: der eigenen Unfähigkeit zuschreiben, sondern können ihn auf
788 Kapitel 19 · Arbeits- und Organisationspsychologie

. Abb. 19.1 Vorteilhafte Merkmale einer Tätigkeit. Das »Job-Characteristics-Modell« nach Hackman u. Oldham (1980) unterscheidet 5 Kernmerkmale,
die sich positiv auf die intrinsische Motivation auswirken. (Nach Hackman & Oldham, 1980, J. RICHARD HACKMAN & GREG R. OLDHAM, WORK REDESIGN,
1st Edition, © 1980. Reprinted by permission of Pearson Education, Inc., Upper Saddle River, NJ.)

die Schwierigkeit der Aufgabe zurückführen. Arbeitspsycholo- angesprochen werden. Die Zwei-Faktoren-Theorie nach Herz-
gische Bezüge dieser Theorie finden sich in folgenden Bereichen berg (Herzberg et al. 1959) unterscheidet zwischen Faktoren, die
(Wiswede 2012, S. 66): auf den Inhalt, und Faktoren, die auf den Kontext der Arbeit
4 Auslese misserfolgsvermeidender und erfolgssuchender bezogen sind. Zu den Inhaltsfaktoren zählen die Gelegenheit, bei
Personen und der entsprechenden Zuweisung von Auf- der Arbeit selbst eigene Fähigkeiten auszuüben, Verantwortung
gaben und Zielvorgaben, zu tragen und Anerkennung zu erwerben. Sie wirken als Motiva-
4 Förderung der Leistungsmotivation durch herausfordernde toren. Die auf den Kontext bezogenen Faktoren werden als
Aufgaben (von mittlerem Schwierigkeitsgrad, die für Erfolgs- Hygienefaktoren bezeichnet und sind beispielsweise die Be-
suchende am ehesten Erfolgserlebnisse erwarten lassen), zahlung, die äußeren Arbeitsbedingungen und die sozialen Be-
4 Entwicklung von Trainingsprogrammen zur leistungsbe- ziehungen. Die Hygienefaktoren sollten keine Zufriedenheit
zogenen Verhaltensmodifikation, erzeugen, wenn sie vorhanden sind, wohl aber Unzufrieden-
4 unternehmerisches und innovatives Verhalten: In diesen heit, wenn sie fehlen. Damit Arbeitszufriedenheit erlebt wird,
Bereichen dominieren sog. Erfolgssucher. müssen – dem Modell zufolge – sowohl Hygienefaktoren als auch
Motivatoren vorhanden sein. Allerdings stellte sich in empiri-
Im Rahmen wirtschaftlicher Entwicklung kann sowohl in hoch- schen Untersuchungen heraus, dass – und dies widerspricht der
entwickelten Ländern als auch in aufstrebenden Entwicklungs- Theorie – Hygienefaktoren zu Zufriedenheit und (fehlende)
ländern ein höherer Grad an Leistungsmotivation gefunden wer- Motivatoren zu Unzufriedenheit führen können (Semmer u.
19 den. Allerdings weiß man nicht, ob höhere Leistungsmotivation Udris 2007).
durch die wirtschaftliche Entwicklung begünstigt wird oder ob Sowohl Anreizbedingungen (nämlich Arbeitsinhalte) als
sie, umgekehrt, die wirtschaftliche Entwicklung fördert. auch das Erleben der Person (nämlich kritische psychische Zu-
stände) thematisiert das Job-Characteristics-Modell nach Hack-
» Die Arbeitskraft ist also eine Ware, die ihr Besitzer, der
man u. Oldham (1980). Der Arbeitsinhalt ist in diesem Modell
Lohnarbeiter, an das Kapital verkauft. Warum verkauft er sie?
nach 5 Kernmerkmalen gegliedert. Diese bestimmen drei kriti-
Um zu leben.
sche psychische Zustände, die sich positiv auf die intrinsische
Karl Marx (1849)
Motivation auswirken – u. a. auf Zufriedenheit und Fluktua-
tion (. Abb. 19.1). Der arbeitspsychologische Bezug ist offen-
jMotivation durch Anreize sichtlich.
Andere Inhaltstheorien der Arbeitsmotivation versuchen zu er- Wie hat sich das Modell bewährt? Zur Beurteilung der empi-
klären, unter welchen Anreizbedingungen bestimmte Motive rischen Überprüfung werden Ergebnisse verschiedener Studien
19.1 · Warum arbeiten wir, und was haben wir davon?
789 19
Inhaltstheorien beschreiben inhaltlich, wodurch eine Person
. Tab. 19.1 Manifeste und latente Funktionen der Arbeit
zum Arbeiten bewegt wird. Einwände gegen Inhaltstheorien
Manifeste Funktionen Latente Funktionen lauten:
4 Eine Einteilung in zwei Faktoren höherer Ordnung (Inhalt
Lebensunterhalt Zeitstruktur
und Kontext, Hygiene und Motivatoren, latente und mani-
Arbeitsbedingungen Soziale Beziehungen
Zugang zu Produktionsmitteln Verbindung zu Zielen und feste Funktionen, intrinsische und extrinsische Motivation)
Zwecken der Gesellschaft hat sich zwar in vielen Analysen ergeben; es scheint jedoch
Persönlicher Status nicht möglich, differenziertere Motive und Bedürfnisse
Aktivität
zu bestimmen, die für alle Menschen gleichermaßen hand-
lungsleitend sind.
4 Inhaltstheorien geben außerdem nicht an, welche
zusammengefasst betrachtet (Semmer u. Udris 2007). Das Moti- Mechanismen von bestimmten Bedürfnissen oder Werten
vationspotenzial (. Abb. 19.1) wies Zusammenhänge mit Moti- zu Handlungen oder zur Befriedigung führen.
vation und Zufriedenheit auf, aber auch mit Absentismus und
Fluktuation. Zusammenhänge mit Leistung konnten in geringe- Prozesstheorien: Mechanismen und Bedingungen
rem Maß nachgewiesen werden. Die belegten Zusammenhänge
? 19.2 Welche Prozesse und Mechanismen führen zur Arbeits-
sind – in Übereinstimmung mit den Annahmen des Modells –
motivation? Welche Beispiele gibt es dafür?
für Personen mit hoher Wachstumsmotivation (die Menschen
veranlasst, ihre bisherigen Errungenschaften zu überschreiten) Mit den Mechanismen, die zu bestimmten Handlungen führen,
größer. Kritisch wird eingewandt, dass die Variablen auch additiv befassen sich die Prozesstheorien. Prozesstheorien sind formale
verknüpft werden könnten. Theorien. Sie beschäftigen sich mit der Frage, wie Erwartungen,
Auch die auf Jahoda (1983) zurückgehende Differenzie- Ziele und kognitive Bewertungen die Arbeitsleistung beein-
rung von manifesten und latenten Funktionen der Arbeit, die in flussen.
. Tab. 19.1 beschrieben wird, ist an Inhalten ausgerichtet. Zu den Prozesstheorien zählen die Wert-Erwartungs-
Jahodas Modell bietet eine systematische Begründung der Theorien. Die bekannteste Ausarbeitung stammt von Vroom
Probleme von Menschen, die arbeitslos sind (7 Abschn. 19.3.3). (1964) und wird auch als VIE-Modell bezeichnet. Nach dieser
Allerdings erlaubt es keine Aussagen über die relative Bedeutung Theorie ist Motivation das Produkt von Erwartungen und
der Funktionen. Sollte es einer empirischen Überprüfung zu- Werten. Die subjektiven Erwartungen und Bewertungen, aus
gänglich gemacht werden, bedürfte es einer Ausarbeitung (Lea denen motiviertes Verhalten resultiert, sollen erfasst werden
et al. 1987). (. Abb. 19.2).

. Abb. 19.2 Motiviertes Handeln resultiert aus Erwartung und Bewertung. Das VIE-Modell nach Vroom (1964, Copyright © 1994, John Wiley and Sons)
veranschaulicht die Wert-Erwartungs-Theorie der Motivation
790 Kapitel 19 · Arbeits- und Organisationspsychologie

Wert-Erwartungs-Theorie (»valence-expectancy theory«) – Theorie, die Ansatz kritisierte, 1980 vorgeschlagen. Sein Prozessmodell der
Motivation als Produkt von Erwartungen und Werten versteht. Arbeitsmotivation betont die Bedeutung sozialer Normen sowie
4 Ergebniserwartung (»expectancy«; E) bezieht sich darauf, des Gruppendrucks auf das individuelle Arbeitsverhalten. Es
wie die Person die Wahrscheinlichkeit einschätzt, dass thematisiert interne und externe Erwartungen (Wiswede 2012,
infolge ihrer Arbeitsaktivität ein bestimmtes unmittelbares S. 210).
Ergebnis eintritt. Wir haben schon gesehen, dass das Modell, dessen Grund-
4 Instrumentalitätserwartung (»instrumentality«; I) ist auf form Vroom zugeschrieben wird, unterschiedlich beurteilt wird,
die Wahrscheinlichkeit mittelbarer Folgen gerichtet, die zu je nachdem, ob insbesondere die Vorhersagevalidität oder aber
der angestrebten Belohnung führen. der heuristische Gehalt als Kriterium herangezogen werden.
4 Wert (»valence«, Valenz, Bewertung; V) bezieht sich auf die Wichtig ist die Beachtung des beanspruchten Geltungsbereichs:
subjektive Bewertung und damit auf die Anziehungskraft Die unmittelbaren Vorhersagen des Wert-Erwartungs-Modells
der zu erlangenden Belohnung. beziehen sich auf motivierte Zustände (wie beispielsweise An-
strengung). Im Hinblick darauf kann das Modell als gut bestätigt
Von Bedeutung sind also zwei subjektive Wahrscheinlichkeiten: gelten. Als schwächer werden Zusammenhänge zur gemessenen
1. die auf das unmittelbare Ergebnis bezogene Wahrscheinlich- Leistung beurteilt, da hier mit intervenierenden Variablen ge-
keit (»expectancy« bei Vroom), beispielsweise die Erwartung, rechnet werden müsse. Dies hat dazu geführt, dass Wert-Er-
dass sorgfältige Arbeit zu guter Qualität führt; und 2. die Wahr- wartungs-Theorien als eher distal, d. h. fern von der Handlung
scheinlichkeit der Instrumentalität, d. h. dass dieses Ergebnis mit eingeordnet wurden (Büssing 1996).
weiteren Folgen verbunden ist (»instrumentality« bei Vroom), Um die vorliegenden psychologischen Theorien zur Arbeits-
beispielsweise, dass gute Qualität durch höhere Bezahlung be- motivation nach ihrer Orientierung an Inhalten oder an Prozes-
lohnt wird. sen zu unterscheiden, nimmt Büssing (1996) als weitere Dimen-
Die Wert-Erwartungs-Theorie wird von manchen Autoren sion die größere oder geringere Nähe zur Handlung hinzu. Die
als der einflussreichste Ansatz zur Arbeitsmotivation einge- vorgestellten Inhalts- und Prozesstheorien sind eher durch hand-
schätzt (Lea et al. 1987). lungsferne, d. h. distale Konstrukte bestimmt.
Wiswede (2012, S.67) betrachtet sie eher als heuristischen Moderne Theorien der Arbeitsmotivation sind sowohl hand-
Entwurf. Anwendungen sieht er folglich eher in wichtigen heu- lungsnah als auch prozessorientiert. Die dominierenden Kons-
ristischen Hinweisen, unter anderen in den folgenden: trukte sind »Ziel« und »Selbstregulierung«.
4 Geplantes und zielorientiertes Handeln (wie z. B. bei lang-
fristigen Arbeitsabläufen) kann einer funktionalen Analyse Handlungsnah und prozessorientiert:
unterzogen werden. Zielsetzung und Willensentscheidung
4 Ein kalkuliertes Durchspielen alternativer und konkur-
? 19.3 Wie tragen Inhalte und Prozesse zusammen zur Ar-
rierender Valenzen, die gedanklich vorweggenommen und
beitsmotivation bei? Welche zusätzliche Sicht ist hilfreich?
erprobt werden können, ist möglich.
4 Die Motivation kann durch Erwartungen gesteuert werden: Als handlungsnah und prozessorientiert gelten beispielsweise die
Durch planmäßige Beeinflussung bestimmter Erwartungen Theorie der Selbstwirksamkeit nach Bandura sowie die Hand-
und deren Verknüpfung mit Valenzen werden neue Dimen- lungstheorie von Hacker, in deren Mittelpunkt der etwas weiter
sionen des »Management by Motivation« erschlossen. gefasste Begriff der Tätigkeit steht: »Geleitet durch das Ziel
als Vorwegnahme und Vornahme des Ereignisses entsteht in der
Eine Weiterentwicklung ist das Erwartungsmodell der Motiva- Tätigkeit ein Resultat, das zum Vergleich rückgekoppelt wird zu
tion von Porter u. Lawler (1968). In diesem Erwartungsmodell der Gedächtnisrepräsentation des Ziels. Die Tätigkeit wird fort-
19 ist die Anstrengung abhängig vom Wert der Belohnung und der gesetzt bis zur hinreichenden Übereinstimmung des rückge-
wahrgenommenen Wahrscheinlichkeit, diese mit Anstrengung meldeten Resultats mit dem Ziele. Der Vergleich erfolgt nicht nur
zu erreichen. Auf die Leistung wirken außer Anstrengung auch abschließend, sondern er wird bereits auch vorweggenommen«
Fähigkeiten und Fertigkeiten sowie Rollenerwartungen ein (von (Hacker 1986, S. 141). Die Rückkoppelungsprozesse gewährleisten
Rosenstiel u. Nerdinger 2011, S. 402f.). die fortwährende Anpassung der Handlungen an den (zielorien-
Erwartungen können auch auf Gerechtigkeit (»equity«) ge- tierten) Maßstab.
richtet sein. Das Equity-Konzept geht davon aus, dass das eigene
Handlungstheorie (»action theory«) – Theorie, die das Bewusste und
Verhältnis von Aufwand und Ertrag mit dem anderer Personen Geplante menschlichen Verhaltens betont.
verglichen wird. Vorsichtige Folgerungen sind etwa, dass die
Fairness der Entlohnung von Leistung – und nicht die Höhe – Handlungsnah und prozessorientiert ist auch die Theorie der
bedeutsam ist (von Rosenstiel u. Nerdinger 2011, S. 405f.). Eine Zielsetzung, die Locke u. Latham (1991) vertreten. Dieser Theo-
weitere Ausarbeitung hat Wiswede, der den individualistischen rie zufolge führt das Setzen von Zielen zu besseren Leistungen,
19.1 · Warum arbeiten wir, und was haben wir davon?
791 19
und zwar umso mehr, je höher und spezifischer die Ziele sind. bedingungen. Das Anschlussmotiv (gerichtet auf die Herstellung
Ein Mitarbeiter wird beispielsweise eher dann bessere Leistungen und Bewahrung sozialer Beziehungen) wurde in dieser neueren
erbringen, wenn er mit dem Ziel arbeitet, 50 Produkte am Tag zu Studie ebenfalls untersucht. Es beeinflusst Fehlzeiten vermutlich
fertigen und dabei nicht mehr als 2% Ausschuss zu produzieren, nur dann, wenn die Mitarbeiter damit zusammenhängende
als wenn er sich lediglich an der Zielsetzung »Tun Sie Ihr Bestes!« Konsequenzen erwarten, wie beispielsweise Ärger mit Kollegen.
orientiert (Kleinbeck 1996). Zielsetzung wirkt durch vier Mecha- Es spielt eher bei längerer Betriebszugehörigkeit eine größere
nismen: Rolle – möglicherweise deswegen, weil soziale Beziehungen und
4 Steuerung der Aufmerksamkeit, damit verbundene Verantwortlichkeiten erst mit der Zeit ent-
4 Mobilisierung von Energie, stehen. Das belegt eine weitere Untersuchung, in der anschluss-
4 Erhöhung der Ausdauer und thematische Anreize der beste Prädiktor für die Anzahl der Fehl-
4 Förderung der Entwicklung von Strategien. tage waren – für Personen mit einer längeren, d. h. mehr als
6-jährigen Betriebszugehörigkeit.
Diese Theorie gilt für individuelles Handeln als gut bestätigt, der Motivation ist offensichtlich von Bedeutung – das zeigen die
Beleg ihrer Wirkung auf Gruppen oder ganze Organisationen ist Ergebnisse dieser Studien sehr deutlich. Allerdings können indi-
weniger sicher (Semmer u. Udris 2007). Wichtig ist angemesse- viduelle Unterschiede in der Motivation ihre Erklärungskraft
nes Feedback: Die Kombination von genau formulierten Zielen, unter dem Druck konflikthafter Arbeitsbedingungen einbüßen.
moderater Schwierigkeit und angemessenem Feedback zur er- Von einem Jahr zum nächsten glichen sich die bedeutsamen
brachten Leistung führt zu besseren Leistungen als genaue Ziel- Unterschiede der Fehlzeiten von fünf Schichtgruppen einander
formulierungen oder angemessenes Feedback allein (Büssing an – bei einem gleichzeitigen starken Anstieg. Was war ge-
1996). Was dadurch vermutlich optimiert wird, sind Bedingun- schehen? Die Forscher fragten in vertraulichen Gesprächen nach
gen der Selbststeuerung (»self-regulation«). und erfuhren, dass die Arbeitsbelastungen insgesamt gestiegen
waren, während sich das Betriebsklima allgemein verschlechtert
Selbststeuerung (»self-regulation«) – Fähigkeit, das eigene Verhalten zu
beobachten, zu bewerten, gezielt zu verstärken und dadurch an eigenen hatte: Die Mitarbeiter gaben an, dass ihre Abwesenheit vom
Zielen flexibel auszurichten. Arbeitsplatz ein gerechter Ausgleich für diese Mehrbelastungen
sei und dass zwischen den Gruppen auch Konsens im Hinblick
Wie diese Verbindung in einer empirischen Untersuchung ver- auf diesen Sachverhalt bestehe.
wirklicht worden ist, zeigt eine Studie von Kleinbeck u. Wegge Was kann zur Vermeidung oder zur Verbesserung solcher
(1996): Kleinbeck und seine Mitarbeiter haben in mehreren Entwicklungen getan werden? Zunächst sollten die Motivie-
Feldstudien Fehlzeiten untersucht. Sie erfassten das Motivations- rungspotenziale der Arbeit selbst verbessert werden, beispiels-
potenzial der Arbeit (. Abb. 19.1) mit der deutschen Fassung weise durch die Schaffung vollständiger Aufgaben, durch die
des »Job Diagnostic Survey« von Hackman u. Oldham, das Delegation von Verantwortung, durch die Bildung teilautonomer
Leistungsmotiv der untersuchten Mitarbeiter mit Fragebogen. Arbeitsgruppen und durch Möglichkeiten der Beteiligung an der
Darüber hinaus fragten sie die Mitarbeiter, welche Konsequen- Planung und Bewertung der eigenen Beiträge.
zen sie für Fehlzeiten erwarteten. Derartige Konsequenzen Eine gezielte Personalplanung und Personalentwicklung
entsprechen den Instrumentalitäten des Modells von Vroom sollte erwirken, dass die Motivierungspotenziale der Arbeit mit
(s. oben). Die Resultate ergaben eine dreifache Wechselwirkung: den Motiven der Mitarbeiter übereinstimmen.
Motivierungspotenzial der Arbeit und Ausprägung des Leis- Erst an dieser Stelle sollten Maßnahmen eingesetzt werden,
tungsmotivs standen nur dann in einem bedeutsamen Zu- die die Instrumentalität des Fehlzeitenverhaltens beeinflussen,
sammenhang zu Fehlzeiten, wenn für Fehlzeiten gleichzeitig wie beispielsweise Gespräche mit den Mitarbeitern, Informa-
wichtige Konsequenzen erwartet wurden, d. h. wenn eine hohe tionsangebote zur Prävention von Krankheiten, Disziplinie-
Instrumentalität vorlag: Erwarteten Untersuchungsteilnehmer, rungsmaßnahmen für häufiges Fehlen oder aber finanzielle
dass sich Fehlen am Arbeitsplatz ungünstig auf das Erreichen Belohnungen für Anwesenheit. Kleinbeck u. Wegge (1996) sehen
ihrer Motivationsziele (z. B. Herausforderungen im Beruf zu er- in der Förderung des Motivationspotenzials ein geeignetes –
leben) auswirkt, reagierten Personen mit einem hohen Leis- wenn auch keineswegs einfaches – Mittel zur Verringerung von
tungsmotiv gerade in leistungsthematisch hoch anregenden Fehlzeiten. Sie weisen aber auch darauf hin, dass Mitarbeiter
Arbeitsbedingungen mit weniger Fehlzeiten. Erwarteten sie je- nicht dazu verleitet werden sollten, sich über ihr Leistungsver-
doch keine (negativen) Konsequenzen von Fehlzeiten, ließen mögen hinaus zu belasten.
sich keine nennenswerten Effekte der Motive und Motivierungs-
potenziale mehr beobachten (Kleinbeck u. Wegge 1996). Inhalte, Prozesse, handlungsfern
In Folgestudien belegten Kleinbeck u. Wegge (1996) u. a. die und handlungsnah: Integrative Ansätze
Gültigkeit dieser dreifachen Wechselwirkung, zeigten aber auch Es gibt mittlerweile auch Theorien, die sowohl Inhalte als auch
einen Haupteffekt für leistungsthematisch anregende Arbeits- Prozesse und sowohl distale (handlungsferne) als auch proxi-
792 Kapitel 19 · Arbeits- und Organisationspsychologie

male (handlungsnahe) Konstrukte miteinander verbinden. Zu in


diesem Sinne integrativen Modellen zählt Büssing die Theorie
der Selbstregulierung nach Kuhl (1992) und das Rubikon-Modell
von Heckhausen u. Gollwitzer (Gollwitzer 1990). In beiden An-
sätzen wird zwischen Motivation und Volition unterschieden.
Motivation bezieht sich auf motiviertes Handeln, das seine Be-
friedigung in sich selbst tragen kann, etwa wenn ein »Flow«-
Erlebnis (Csikszentmihalyi 1990) auftritt. Mit der Volition ist die
Orientierung an einem attraktiven oder notwendigen Ziel ge-
meint, wobei der Weg dorthin auch als lästig erlebt werden kann
(von Rosenstiel 2007, S. 243).
Bei der Theorie der Selbstregulierung geht es um Prozesse,
mit denen Absichten beibehalten und in die Tat umgesetzt
werden, auch wenn konkurrierende motivationale Tendenzen
dagegen arbeiten. Das Rubikon-Modell verbindet Motivation
mit Willensentscheidung (Überschreiten des Rubikon = Umset-
zen in Handeln). Dabei gibt es 4 Phasen: Abwägen (erste motiva-
tionale Phase oder Phase der Wahl), Planen (willensbestimmte
Phase), Handeln (willensbestimmte Phase) und Evaluation
(zweite motivationale Phase).
Prozesstheorien berücksichtigen Verbindungen zwischen
Bewertungen und Ergebnissen. Sie lassen Raum für unterschied-
liche individuelle Zusammenstellungen von Bewertungen und
Ergebnissen. Einwände gegen Prozesstheorien lauten:
. Abb. 19.3 Arbeitszufriedenheit. Arbeitszufriedenheit und Arbeitsmo-
4 Arbeitende Menschen erscheinen als kalkulierende Hedo- tivation sind wichtige Faktoren im beruflichen Alltag, die nicht voneinander
nisten, die nach Abwägung aller Alternativen den Weg zu trennen sind. (© Getty Images / iStockphoto)
des maximalen Vorteils wählen. Die Frage, worin dieser
typischerweise besteht, führt dann doch wieder zurück zu
den Inhalten. 19.1.2 Arbeitszufriedenheit
4 Zur Vorhersage von Verhalten und Leistung bei der Arbeit
haben sie sich nicht so gut bewährt.
? 19.4 Was ist bei der Erfassung von Arbeitszufriedenheit
wichtig?
Handlungsnahe Prozesstheorien werden hinsichtlich ihrer Vor-
hersagen von Arbeitsverhalten und Arbeitsleistung als empirisch Arbeitszufriedenheit hängt mit Arbeitsmotivation zusammen
gut belegt eingeschätzt (Büssing 1996, S. 351). Kritisiert wird die (. Abb. 19.3). Das lässt sich an einigen der beschriebenen An-
mangelnde integrative Perspektive, d. h. die Verbindung hand- sätze ablesen. Die Motivatoren und Hygienefaktoren der Theorie
lungsferner Konstrukte (wie Motive und Bedürfnisse) und hand- Herzbergs (7 Abschn. 19.1.1) werden auch als »satisfiers« und
lungsnaher Konstrukte (wie Zielsetzung und Selbstregulierung). »dissatisfiers« bezeichnet. Der Ansatz von Vroom gilt auch
Integrative Ansätze bieten einen gemeinsamen Rahmen für als Theorie der Arbeitszufriedenheit, auch Gerechtigkeit bzw.
Motivation und zielgerichtetes Verhalten. Kritisch ist zu ver- Equity soll zur Arbeitszufriedenheit beitragen, ebenso das Er-
19 merken, dass kaum Kenntnisse für Vorhersagevaliditäten oder reichen von Zielen gemäß dem Ansatz von Locke.
andere Bewährungskriterien vorliegen. Alle bisher aufgeführten
Arbeitszufriedenheit (»work satisfaction«) – zusammenfassende Bewer-
Modelle sind so umfassend, dass sie für zufriedenstellende Post- tung der unterschiedlichen Dimensionen von Arbeit.
hoc-Erklärungen verwendet werden können. Immer wieder ist
der Einwand zu finden, dass sie nicht präzise genug formuliert Allerdings waren empirische Ergebnisse zur Arbeitszufrieden-
seien, um exakte Vorhersagen zu erlauben. heit uneinheitlich, und erwartete Zusammenhänge, beispielswei-
se mit Motivation und Leistung, traten nicht zuverlässig auf. Ein
Grund dafür ist, dass es sehr darauf ankommt, mit welcher Me-
thode Arbeitszufriedenheit erfasst wird. Mit anderen Worten:
Das Konstrukt hat sich als außerordentlich methodenlabil erwie-
sen. Schon unterschiedliche Frageformulierungen legen unter-
schiedliche Antworten nahe (Wiswede 2012, S. 217f.).
19.1 · Warum arbeiten wir, und was haben wir davon?
793 19

Unter der Lupe

Was ist eigentlich genau gemeint, wenn nach Arbeitszufriedenheit gefragt wird?
Sind die Befragten zufrieden mit vollziehen, wenn Sie überlegen, welche Ant- diese Arbeit wählen würde, ist hingegen spe-
5 der Bezahlung? worten Sie auf die folgenden Fragen geben zifischer formuliert und aktiviert (auch rückbli-
5 dem Führungsstil? würden: ckende biografische) Bewertungen, allerdings
5 den Aufstiegschancen? 5 Sind Sie mit Ihrer Arbeit zufrieden? (Ja) nicht nur der Arbeit, sondern auch der getrof-
5 den Kolleginnen und Kollegen? (Nein) fenen Entscheidung. Die Frage, ob man seinen
5 der Anerkennung durch Kolleginnen, 5 Sind Sie mit Ihrer Arbeit zufrieden? (Ja) Kindern die eigene Arbeit empfehlen würde,
Kollegen und Vorgesetzte? (Unentschieden) (Nein) lässt Arbeitszufriedenheit nur vor dem Hinter-
5 der Komplexität der Tätigkeit? 5 Wenn Sie sich nochmals zu entscheiden grund erschließen, dass jemand für seine Kin-
5 der Möglichkeit, das Arbeitstempo hätten, würden Sie dann dieselbe Arbeit der das Beste wünscht, und zwar möglichst
selbst zu bestimmen? wählen? (Ja) (Unentschieden) (Nein) eine zufriedenstellende Arbeit. Was aber heißt
5 der Möglichkeit, auf Entscheidungen, die 5 Würden Sie Ihren Kindern empfehlen, das inhaltlich? Hier können unterschiedliche
sie selbst betreffen, Einfluss zu nehmen? diese Arbeit zu wählen? (Ja) (Nein) Vorstellungen angesprochen werden. Inwie-
(Unentschieden) weit die Antwort durch zusätzliche Überlegun-
Dass die Befragten in den unterschiedlichen gen (z. B. zu Wünschen und Begabungen der
Untersuchungen an ganz unterschiedliche Offensichtlich spielt es eine Rolle, welche und eigenen Kinder) oder durch das gegenwärtige
Aspekte von Arbeitszufriedenheit dachten, wie viele Antwortalternativen überhaupt zu- Arbeitsplatzangebot usw. beeinflusst wird,
könnte die uneinheitlichen Ergebnisse erklä- gelassen sind. Von Bedeutung ist aber auch, bleibt ebenfalls offen.
ren: Ihre Antworten bezogen sich vermutlich welches Bezugssystem aktiviert wird. Die Frage
auf unterschiedliche Aspekte von Arbeitszu- »Sind Sie zufrieden mit Ihrer Arbeit?« kann
friedenheit. so ähnlich aufgefasst werden wie die Frage
Sind Sie mit Ihrer Arbeit zufrieden? »Wie geht’s?«, nämlich als eine alltägliche so-
Die Schwierigkeiten bei der Messung der Ar- ziale Geste. Man sagt dann halt so etwas wie
beitszufriedenheit können Sie vielleicht nach- »Danke, gut«. Die Frage, ob man noch einmal

Nicht nur uneinheitliche Befunde, auch Berichte über merk- Wenn einer davon als völlig unbefriedigend erlebt wird, ist ein
würdig hohe Zufriedenheitsraten bei monotoner Arbeit weck- Ausgleich auf einer anderen Dimension vielleicht nicht möglich
ten Misstrauen. Man suchte in den Untersuchungsbedingungen (Wiswede 2012). Ein engagierter Erzieher kann beispielsweise,
nach Erklärungen und machte beispielsweise mangelndes Ver- nachdem er eine Familie gegründet hat, feststellen, dass er diese
trauen in die Anonymität von Antworten verantwortlich. Man von seinem Gehalt nicht ernähren kann. Auch wenn er sonst mit
vermutete, dass Befragte beschönigende Antworten gaben, um seiner Arbeit hoch zufrieden ist, kann er dadurch motiviert wer-
kognitive Dissonanzen (7 Kap. 15) zu reduzieren: Damit man den, eine andere Tätigkeit aufzunehmen. Dieses Beispiel zeigt
nicht mit der Vorstellung leben muss, eine schlechte Arbeit zu noch etwas, was berücksichtigt werden muss, nämlich, dass Be-
haben, diese aber täglich zu verrichten, senkt man das An- zugssysteme sich ändern können. Das wird in dem Modell von
spruchsniveau und gibt sich zufrieden. Auch attributionstheo- Bruggemann (1974) berücksichtigt, das verschiedene Formen
retische Überlegungen wurden angestellt: Die eigene Arbeits- der Arbeitszufriedenheit als Ergebnis einer Motivationsdynamik
situation als andauernd unbefriedigend zu bewerten, würde postuliert (. Abb. 19.4).
schließlich zu einer Selbstabwertung führen. Die beschönigende Wird das Anspruchsniveau erhöht, entsteht progressive
Aufwertung der Arbeitssituation dient damit selbstwertstabi- Arbeitszufriedenheit. Eine allgemeine diffuse Unzufriedenheit
lisierenden Attributionen. Auch ein zu niedriges Anspruchs- kann unter Beibehaltung des Anspruchsniveaus zu neuen Pro-
niveau und schönfärberische Tendenzen wurden diskutiert blemlösungsversuchen und zu konstruktiver Unzufriedenheit
(Semmer u. Udris 2007). führen – oder aber zu Pseudozufriedenheit bei verzerrter Situa-
Es ist wichtig, unterschiedliche Teildimensionen von Ar- tionswahrnehmung oder zu fixierter Arbeitsunzufriedenheit, bei
beitszufriedenheit zu erfassen (7 Unter der Lupe: Was ist eigentlich der Problemlösungsversuche unterbleiben. Aufgrund einer Sen-
genau gemeint, wenn nach Arbeitszufriedenheit gefragt wird?). kung des Anspruchsniveaus kann eine resignative Arbeitszu-
friedenheit erreicht werden. Semmer u. Udris (2007) geben an,
Formen der Arbeitszufriedenheit dass zwar nicht alle Voraussagen des Modells empirisch bestätigt
Die Erfassung unterschiedlicher Teildimensionen der Arbeitszu- werden konnten, dass jedoch in Untersuchungen neben einem
friedenheit ist beispielsweise mit dem »Job-Description-Index« Faktor »allgemeine Zufriedenheit« immer wieder ein Faktor
nach Smith et al. (1969) möglich, an dem sich der »Arbeitsbe- »Resignation« zu finden sei. Die Autoren halten Aussagen zur
schreibungsbogen« (ABB) nach Neuberger (1977) orientiert. Es globalen Arbeitszufriedenheit für erstaunlich aussagekräftig,
ist allerdings problematisch, die unterschiedlichen Aspekte der auch sei die Korrelation zwischen allgemeiner Arbeitszufrieden-
Arbeitszufriedenheit einfach zu einem Gesamtwert zu addieren. heit und Leistung entgegen verbreiteten Behauptungen keines-
794 Kapitel 19 · Arbeits- und Organisationspsychologie

. Abb. 19.4 Die vielen Gesichter der Arbeitszufriedenheit. Das Modell von Bruggemann et al. (1975) stellt verschiedene Formen der Arbeitszufriedenheit
und -unzufriedenheit dar. (Aus Semmer u. Udris 2007, © Verlag Hans Huber, Bern, mit freundlicher Genehmigung)

falls gering, sondern liege bei 0,30. Für wahrscheinlich halten sie nachzudenken, wie man das Dienstleistungsklima verbessern
eine reziproke, eine sich gegenseitig bedingende Beziehung zwi- kann? Die Arbeitsorganisation, die sie in dem Unternehmen vor-
schen Arbeitszufriedenheit und Leistung. fanden, bezeichnen sie kritisch als »funktionsteilig bzw. tayloris-
tisch«, die Arbeitsaufgaben stufen sie »gemäß arbeitspsycholo-
Möglichkeiten zur Erhöhung der Zufriedenheit gischer Humankriterien als kritisch« ein: Das Reinigungsgebiet,
im Dienstleistungssektor für das die Arbeitenden von ihren Vorgesetzten eingeteilt wur-
Was führt zu mehr Zufriedenheit für Mitarbeiter und Kunden? den, konnte von Tag zu Tag wechseln, auch die Besetzung der
Erweiterte Handlungsspielräume sollen sich positiv auf die Ar- Fahrzeuge, mit denen die Arbeitenden zum Einsatzort gebracht
beitsmotivation und das allgemeine Wohlbefinden der Arbei- wurden, konnte wechseln, ohne dass es eine Vorinformation
tenden auswirken. Teilautonome Gruppen wurden bislang oder gar eine Mitsprache bei der Planung gegeben hätte. An
überwiegend in der Produktion eingeführt, und es wurden dort ihren jeweiligen Einsatzorten waren die Mitarbeiter des Unter-
positive Wirkungen auf die Produktivität belegt (z. B. Guzzo u. nehmens dann weitgehend isoliert mit der Reinigung bestimm-
Dickson 1996). Könnte sich mehr Autonomie bei der Arbeit auch ter Flächen beschäftigt. Sie übten damit eine Arbeit aus, die
19 im Dienstleistungsbereich bewähren und zur Erhöhung der Kun- geringe Anforderungen an Denken und Planung stellte, dabei
denzufriedenheit beitragen? Dies wurde im Rahmen eines Evalu- jedoch einseitig körperlich belastete. Nicht überraschend: In
ationsprojekts zur Einführung von Gruppenarbeit in der Straßen- einem Workshop äußerten die Arbeitenden Wünsche nach Ver-
und Gehwegreinigung einer deutschen Großstadt untersucht. änderung und mehr Beteiligung.
Was wurde unternommen? Feste Gruppen aus 6–8 Arbeiten-
Teilautonome Gruppen (»partly autonomous groups«) – Gruppen, die bei
der Bearbeitung ihrer Aufgaben den Arbeitsablauf, die Verteilung von Teil- den wurden gebildet, diesen wurden feste Reviere zugewiesen,
aufgaben und mitunter auch die Arbeitsplatzgestaltung selbst bestimmen. Gebiete, für deren Reinigung sie zuständig waren. Außerdem
wurden den Gruppenmitgliedern Zuständigkeiten zugeteilt, bei-
Das Unternehmen hatte zu Beginn eine Monopolstellung, die als spielsweise sollte ein Fahrer alle zum Einsatzort bringen, ein wei-
inzwischen eingeschränkt bezeichnet wird. Vielleicht, so über- terer Mitarbeiter war fortan für die Kleinkehrmaschine zuständig.
legen Krause u. Dunckel (2003), die Autoren der Studie, hat die Den Gruppen wurde u. a. die Touren-, Urlaubs-, Technikeinsatz-
wachsende Konkurrenz dazu angeregt, über Möglichkeiten und Arbeitsplanung übertragen. So sollte eine an den Erforder-
19.2 · Arbeit und Gesundheit
795 19
nissen im jeweiligen »Revier« orientierte Planung ermöglicht Ursachen für Veränderungen
werden, die auch einen flexiblen Umgang mit Schwankungen der Arbeitszufriedenheit
im Schmutzaufkommen ermöglichte und damit eine effizientere
? 19.5 Was ist der »Hawthorne-Effekt«? Wie wurde er entdeckt?
Reinigung – und das wiederum sollte von den Kunden wahrge-
nommen werden und zu höherer Zufriedenheit führen. Es stellt sich die Frage, ob eine solche Veränderung möglicherwei-
Nachdem ein Pilotprojekt gezeigt hatte, dass Gruppenarbeit se auch deswegen positive Wirkung zeigt, weil die Beschäftigten
zu einer Verbesserung der Arbeitssituation und der Produktivität darauf reagieren, dass sich überhaupt jemand um sie und ihre
führte, wurde ein quasiexperimentelles Längsschnittdesign mit Arbeitsbedingungen kümmert? Mit anderen Worten: Wann ist
Wartegruppen eingeführt. Dies heißt, dass Gruppenarbeit schritt- eine Verbesserung wirklich auf die vorgenommenen Veränderun-
weise eingeführt wurde, während jeweils ein Teil der Beschäftig- gen zurückzuführen – und nicht etwa auf den sog. Hawthorne-
ten noch unter den alten Bedingungen weiterarbeitete. So konnte Effekt? Diese Bezeichnung geht auf die 1927–1932 in den
man die neuen mit den alten Bedingungen vergleichen. Hawthorne-Werken durchgeführte Untersuchung zurück. Da-
Während dieser Veränderungen wurde die Mitarbeiter- mals sollte unter anderem untersucht werden, wie die Beleuch-
zufriedenheit erfasst und zwar mit einer Kurzfassung des Ar- tung von Arbeitsplätzen die Arbeitsleistung beeinflusst. Es zeigte
beitsbeschreibungsbogens (ABB) von Neuberger (s. oben). Die sich, dass Arbeiter verblüffenderweise trotz Senkung der Beleuch-
Reinigungsleistung wurde in detaillierten Wochenberichten der tungsstärken höhere Arbeitsleistungen erbrachten. Sie hatten das
Gruppen selbst dokumentiert. Dieser Bericht gilt – auch den Gefühl, dass die Firmenleitung sich um sie und ihre Arbeitsbe-
Kunden gegenüber – als Nachweis für die Reinigung, ungerecht- dingungen bemühte, und das steigerte vermutlich ihre Zufrieden-
fertigte Einträge würden als Dokumentenfälschung rechtliche heit und ihre Motivation – zumindest kurzfristig.
Konsequenzen nach sich ziehen. Für die Erfassung der Kunden-
Hawthorne-Effekt (»Hawthorne effect«) – verzerrender Einfluss bei expe-
zufriedenheit wurde ein Fragebogen entwickelt, der von den An- rimentellen Untersuchungen. Nicht die durchgeführte experimentelle
wohnern und Geschäftsleuten in den Revieren zu 3 Messzeit- Manipulation wirkt sich auf die abhängigen Variablen aus, sondern allein
punkten (vor der Gruppenarbeit, nach 1 Jahr, nach 2 Jahren) die Tatsache, dass eine Untersuchung durchgeführt wird.
beantwortet wurde. Dieser erfasste 4 Dimensionen:
4 Zufriedenheit mit der allgemeinen Sauberkeit im Revier, Wenn aber nach der Einführung einer Veränderung die Messung
4 Zufriedenheit mit dem Personal, der abhängigen Variablen, z. B. Zufriedenheit, stabil bleibt, spricht
4 Zufriedenheit mit dem Unternehmen und dies dafür, dass tatsächlich etwas bewirkt wurde – und nicht allein
4 Wahrnehmung der Reinigungshäufigkeit. die Arbeitenden dadurch aufgemuntert wurden, dass man sich
überhaupt damit befasste, wie es ihnen bei der Arbeit geht.
Auf allen vier Zufriedenheitsdimensionen zeigte sich nach Ein-
Prüfen Sie Ihr Wissen
führung der Gruppenarbeit eine Verbesserung der Werte. Bis
zum 2. Messzeitpunkt nach 1 Jahr ergab sich ein schwacher bis 5 Wo setzen unterschiedliche Theorien der Arbeits-
mittlerer, statistisch signifikanter Anstieg, beim 3. Messzeitpunkt motivation an?
2 Jahre nach Einführung der Gruppenarbeit wurden stabile
Werte ermittelt. Das heißt, es gab weder einen Rückgang noch
eine weitere Steigerung der erfassten Kundenzufriedenheit. Die
erhöhte Kundenzufriedenheit ging mit einer verbesserten Reini- 19.2 Arbeit und Gesundheit
gungsleistung sowie mit einer erhöhten Mitarbeiterzufriedenheit
einher (Krause u. Dunckel 2003). Die DAK Gesundheit fasst für ihren Gesundheitsreport über das
Es konnte gezeigt werden, dass mehr Autonomie von Ar- Jahr 2012 zusammen: »Auf Erkrankungen des Muskel-Skelett-
beitsgruppen im Dienstleistungsbereich sowohl bei Mitarbeitern Systems, Psychische Erkrankungen sowie Erkrankungen des
wie bei Kunden zur Zunahme der Zufriedenheit führt. Atmungssystems entfielen 2012 mehr als die Hälfte (52,1%) aller
Krause u. Dunckel (2003) plädieren dafür, im Dienstleis- Krankheitstage.« Die Zahlen für Krankschreibungen aufgrund
tungsbereich verstärkt zu erforschen, wie sich Arbeitsbedin- psychischer Erkrankungen steigen weiterhin und fordern dazu
gungen sowohl auf das Befinden der Mitarbeiter als auch auf die heraus, nach Ursachen zu forschen (DAK Gesundheit 2013). Die
Kundenzufriedenheit auswirken. Damit lassen sie eine Ausge- Arbeitsbedingungen selbst, die Organisation der Arbeit sowie
wogenheit von Zielen erkennen, die vielleicht nicht immer ge- die Balance von Arbeit und Leben können, je nachdem, wie sie
geben ist: Von Rosenstiel (2007) bilanziert, dass die Konzeption beschaffen sind, mit mehr oder weniger Belastungen verbunden
teilautonomer Gruppenarbeit mittlerweile Selbstverständlichkeit sein. Gelingt es, derartige Zusammenhänge zu erfassen, können
geworden sei, dass sich aber die Ideologie verändert habe. Sei es Strategien der Vorbeugung und der Bewältigung geplant werden.
in den 1970er und 1980er Jahren vorrangig um Humanisierung Dabei ist immer auch die subjektive Seite wichtig, d. h. nicht alle
gegangen, so stehe heute die Rationalisierung im Vordergrund. Bedingungen wirken auf alle Menschen in gleicher Weise.
796 Kapitel 19 · Arbeits- und Organisationspsychologie

4 problematisches Gesundheitsverhalten (ungesunde Ess-


gewohnheiten, Bewegungsmangel, Rauchen und Alkohol-
missbrauch, Drogen- und Medikamentenmissbrauch),
4 verringertes allgemeines Aktivitätsniveau (Fortbildung,
Freizeitaktivitäten),
4 fehlende Entwicklung neuer Bewältigungsstrategien,
4 Beeinträchtigung der sozialen Kompetenz und der sozialen
Beziehungen.

Als spezifisches Stresssymptom ist auch das »Burnout-Syndrom«


betrachtet worden. Vorgestellt wurde es als Folge der Belastun-
gen, die in psychosozialen Berufen auftreten und zu emotionaler
Erschöpfung, Depersonalisierung und verringerter Leistungs-
fähigkeit führen (Maslach 1982). Mittlerweile ist »Burnout« auch
in anderen Arbeitsbereichen erforscht worden, Burisch (2006)
legt ein integrierendes Prozessmodell vor. Zentral ist der Begriff
der Handlungsepisode, die als eine Reise vom Ist- zum Soll-
zustand beschrieben wird. Erfolgt dies jedoch nicht, weil die Er-
reichung des Zieles ganz vereitelt oder sehr erschwert ist, weil die
. Abb. 19.5 Wenn’s wieder eng wird. Was als Stress erlebt wird, hängt stark Belohnung ausbleibt oder weil sich negative Nebenwirkungen
vom subjektiven Empfinden des Einzelnen ab. (© Getty Images / iStockphoto) einstellen, ist die Handlungsepisode gestört. Burnout entsteht,
wenn Autonomieeinbußen und gestörte Handlungsepisoden,
Person- und Umweltfaktoren so aufeinander einwirken, dass die
19.2.1 Stress und Stressoren betroffene Person immer weniger subjektiven Handlungsspiel-
raum wahrnimmt.
Bei der Frage, was nun eigentlich Stress ist, ist immer das Erleben
und die Bewertung von Stressoren durch die einzelne Person Stressentstehung und Stressbewältigung
wichtig (7 Kap. 13; . Abb. 19.5). Was sind diese Stressoren? Das
? 19.7 Wie entsteht aus Sicht des transaktionalen Stressmodells
sind hypothetische Faktoren, die mit erhöhter Wahrschein-
Stress im Arbeitsbereich, und wie lässt er sich bewältigen?
lichkeit Stress oder Stressempfindungen auslösen (Greif 1991a).
Als Stressoren gelten beispielsweise Überforderung, Unterfor- Wie entsteht Stress bei der Arbeit, und wie wird er bewältigt? Um
derung, Lärm, Rollenunsicherheit, Konflikte oder alltägliche diese Fragen zu beantworten, hat man Verhaltensweisen von Per-
Ärgernisse. Als Stressor kann auch Arbeitsplatzunsicherheit ge- sonen und Eigenschaften von Situationen ermittelt, die mit dem
wertet werden (Mohr 1996; Mohr u. Otto 2007). Erleben von Stress zusammenhängen:
Ein Personmerkmal ist z. B. das Typ-A-Verhalten (7 Kap. 13).
Stressfolgen Das Typ-A-Verhalten (Friedman u. Rosenman 1974) beschreibt
ein Muster, das durch hohe Arbeitsorientierung und Durchset-
? 19.6 Welche arbeitsbedingten Stressfolgen gibt es?
zungsfähigkeit gekennzeichnet ist, sowie durch das Gefühl, unter
Folgende Auswirkungen können – bei allen methodischen Vor- Zeitdruck zu stehen, durch Versuche, die Umwelt unter Kontrol-
behalten gegenüber Korrelationsstudien und Befragungen, die le zu bringen, und durch ausgesprochenes Wettbewerbsverhal-
19 keine kausalen Nachweise ermöglichen – begründet prognosti- ten. Schwierigkeiten abzuschalten, Hektik und Ungeduld werden
ziert werden (Greif 1991): ebenfalls dem Typ-A-Verhalten zugerechnet (. Abb. 19.6).
Ein Beispiel für Situationseinflüsse sind Umweltbelastungen.
jKurzfristige Auswirkungen von Stressoren: Unter Belastungen (wie beispielsweise Lärm) wird weniger effi-
4 Nervosität und Gereiztheit, zient gearbeitet. Das wurde durch die Beobachtung unterschied-
4 erhöhte Adrenalin- und Noradrenalinausschüttung, licher Indikatoren festgestellt: Die Leistungsgeschwindigkeit
4 erhöhte kardiovaskuläre Aktivität, sinkt, die Fehlerquote steigt, die Informationsaufnahme bei Ent-
4 verringerte Effizienz der Handlungsregulation. scheidungen wird ineffizient, d. h. es werden mehr irrelevante
Informationen abgerufen. Das wiederum kann von den Arbei-
jLangfristige Auswirkungen von Stressoren: tenden als stressig erlebt werden.
4 Beeinträchtigung des Wohlbefindens, Nach dem transaktionalen Stressmodell (Lazarus 1966) schät-
4 psychosomatische Beschwerden und Krankheiten, zen Menschen Situationen unterschiedlich ein. Darüber hinaus
19.2 · Arbeit und Gesundheit
797 19
deutlich, die dieselbe Stresssituation subjektiv unterschiedlich
bewerten und jeweils völlig unterschiedlich reagieren:
4 Person A sieht Handlungsmöglichkeiten, fühlt sich heraus-
gefordert und setzt Bewältigungsstrategien ein, die geeignet
sind, das Problem zu lösen: Rat holen bei Experten, Über-
stunden machen etc.
4 Person B, die sich ebenfalls herausgefordert fühlt, wird
wütend, findet vielleicht, man habe ihr zu viel aufgehalst,
und geht zum Angriff über.
4 Person C fühlt sich bedroht und nimmt ein Beruhigungs-
mittel, um sich dem Stress gewachsen zu fühlen, d. h. sich
psychisch anzupassen.
4 Person D, die sich der Lage nicht gewachsen fühlt, reagiert
auch physisch so angegriffen, dass sie eine Krankmeldung
schickt und so vor einem drohenden Verlust aus der Situa-
tion flüchtet.

Zu unterschiedlichen Sichtweisen kommen hier unterschied-


liche Strategien und Kompetenzen, was wiederum auf Situation
und Person verändernd zurückwirkt. Transaktional heißt im
Unterschied zu interaktiv, dass die Ausgangsgrößen (Situation,
. Abb. 19.6 (© Claudia Styrsky)
Person) im Laufe des Prozesses der gegenseitigen Einwirkung
verändert werden (. Abb. 19.7).
verfügen sie über unterschiedliche Bewältigungsstrategien und Das transaktionale Stressmodell ist von zentraler Bedeutung
-kompetenzen. Folglich gehen sie mit gleichen Situationen un- für die Analyse von Stress und Arbeitsbelastungen, indem es
terschiedlich um, was wiederum unterschiedlich auf die situa- sowohl unterschiedliche Sichtweisen, Bewältigungsstrategien
tiven und die persönlichen Gegebenheiten zurückwirkt. Dies und Kompetenzen der Betroffenen berücksichtigt als auch deren
wird am Beispiel der im Folgenden beschriebenen Personen Veränderung im Zeitverlauf analysiert.

. Abb. 19.7 Stress am Arbeitsplatz. Modell der Stressauslösung und -verarbeitung. (Nach Lazarus 1966, aus v. Rosenstiel, Regnet u. Domsch 1993, courte-
sy of Schäffer-Poeschel Verlag für Wirtschaft - Steuern - Recht GmbH, Stuttgart)
798 Kapitel 19 · Arbeits- und Organisationspsychologie

19.2.2 Mobbing

Als besondere Art von Stress am Arbeitsplatz kann Mobbing


bezeichnet werden (7 Abschn. 18.4.2 zum Mobbing bzw. Bullying
bei Kindern und Jugendlichen).

Was ist Mobbing?

? 19.8 Was versteht man unter Mobbing? Welche Ursachen


werden diskutiert?

Mobbing bezieht sich auf alle Situationen, in denen Arbeiter,


Vorgesetzte oder Manager systematisch und wiederholt schlecht
behandelt und zum Opfer von Angriffen von gleichgestellten
Kollegen, untergeordneten Mitarbeitern oder Vorgesetzten
werden. Für den »Mobbing-Report«, eine Repräsentativstudie
für die Bundesrepublik Deutschland (Meschkutat et al. 2002), . Abb. 19.8 Mobbing am Arbeitsplatz. Systematische und wiederholte
Angriffe durch Kollegen und Vorgesetzte – von subtilen Schikanen und Intri-
wurde am Telefon beispielsweise gefragt: »Unter Mobbing ist zu
gen bis hin zu offen feindseligen Handlungen – können zu schweren ge-
verstehen, dass jemand am Arbeitsplatz häufig über einen län- sundheitlichen Beeinträchtigungen führen. (© Gernot Krautberger / Fotolia)
geren Zeitraum schikaniert, drangsaliert oder benachteiligt und
ausgegrenzt wird. Sind Sie derzeit oder waren Sie schon einmal
in diesem Sinne von Mobbing betroffen?« Wie verbreitet ist Mobbing, und welche Gegen-
maßnahmen sind möglich?
Wie entsteht Mobbing?
? 19.9 Welche Möglichkeiten gibt es, um gegen Mobbing
Heinz Leymann (1996), der das Konzept bekannt machte, hielt
vorzugehen?
Organisation, Gestaltung und Leitung der Arbeit für zentral.
1. Organisation der Arbeit: Mobbing entsteht häufig bei Meschkutat et al. (2002) berichten auf der Grundlage ihrer reprä-
Arbeitsaufgaben, die gekennzeichnet sind durch eine quan- sentativen Studie, dass in der BRD zum Berichtszeitpunkt 2,7%
titative Überbelastung bei qualitativer Unterbelastung, der Erwerbstätigen von Mobbing betroffen waren, auf den Zeit-
beispielsweise wenn eine Maschine für eine eigentlich mo- raum eines Jahres hochgerechnet sind dies 5,5%. Im Laufe des
notone Arbeit einen zu schnellen Takt vorgibt. Je geringer Berufslebens ist demnach mehr als jeder 9. Berufstätige bereits
die Selbstbestimmung ist und je höher der Arbeitsdruck, einmal davon betroffen gewesen. Die Konsequenzen für die Be-
desto eher zeigen sich Stressreaktionen, die wiederum troffenen sind schwerwiegend: Nervosität, Schlaf- und Konzen-
Konflikte erzeugen – und damit ein erhöhtes Mobbing- trationsstörungen, depressive Verstimmungen, Symptome, die
risiko. dem posttraumatischen Belastungssyndrom (7 Kap. 16) ver-
2. Aufgabengestaltung in der Arbeit: Insbesondere langweilige gleichbar sind, zwanghafte Verhaltensweisen, beispielsweise
Arbeitsaufgaben und Tätigkeiten ohne Lern- und Fort- immer wieder die eigene Leidensgeschichte erzählen. Angesichts
bildungsmöglichkeiten stehen im Zusammenhang mit psy- dieser gravierenden Folgen für die Betroffenen und der Kosten,
chosomatischen Erkrankungen. Mobbing an solchen Ar- die der Gesellschaft durch den Ausschluss der Gemobbten aus
beitsplätzen kann als »Mobbing aus Langeweile« bezeichnet dem Arbeitsleben entstehen, ist die Notwendigkeit von Gegen-
werden. Die Konkurrenz um bessere Arbeitsaufgaben und maßnahmen offensichtlich (. Abb. 19.8).
19 Gehälter oder um einen attraktiveren sozialen Status fördert Meschkutat et al. (2002) plädieren für Sensibilisierung und
möglicherweise Mobbing. Aufklärung in den Betrieben sowie für die Vorbildfunktion von
3. Leitung der Arbeit: Die Leitung versucht, Leistungsdefizite Vorgesetzten, die deutlich machen müssen, dass sie Mobbing
durch Antreiben statt durch Verbesserungen von Organisa- nicht dulden. Sie empfehlen weiterhin Instrumente wie Betriebs-
tion und Arbeitsgestaltung aufzuwiegen. Die Entwicklung vereinbarungen und die Einrichtung klarer Beschwerdewege für
sozialer Prozesse in Arbeitsgruppen wird dem Zufall über- Betroffene. Darüber hinaus empfehlen sie, auf der betrieblichen
lassen. Arbeitsgruppen unter Druck neigen zu Konflikten; Ebene vorzubeugen, etwa durch die Schaffung klarer arbeits-
das wiederum erhöht das Risiko für Mobbingfälle. organisatorischer Strukturen, durch offensive Information, durch
beteiligungsorientierte Gestaltung von Planungs- und Entschei-
dungsprozessen, durch Transparenz in Bezug auf Entscheidungs-
prozesse. Falls notwendig, solle Weiterbildung für Führungs-
kräfte ermöglicht werden, auch solle in Betrieben ein Gefühl
19.2 · Arbeit und Gesundheit
799 19

. Abb. 19.9 Das Zusammenspiel vieler Faktoren. Ein theoretischer Rahmen für die Untersuchung von Mobbing und Belästigung am Arbeitsplatz. (Nach
Einarsen 2000, with permission from Elsevier)

für kritische Situationen (z. B. Phasen dynamischer Organisa- rund 500 Mobbingopfer einen möglichen eigenen Anteil an der
tionsentwicklung) entwickelt werden. Außerdem müsse auch an Entstehung des Mobbings einräumten. Für den »Mobbing-Re-
öffentliche Sensibilisierung und Beratung gedacht werden: Die port« wurde auch danach gefragt, ob der eigene Mobbingfall der
Inanspruchnahme von Mobbingtelefonen zeige, dass der Bera- einzige im Betrieb war oder ob auch andere Personen betroffen
tungsbedarf nicht gedeckt sei. Möglicherweise nimmt Mobbing gewesen seien. Aus den Antwortmustern wird gefolgert, dass
in Zeiten hoher Arbeitslosigkeit zu – sei es, weil Menschen dann »Mobbing ein Phänomen bestimmter Betriebe ist, dort nicht nur
skrupelloser und egoistischer handeln, sei es, weil Menschen einmal vorkommt, sondern sich wiederholt und somit die Frage
dann eher gezwungen sind, unerträgliche Zustände auszuhalten, nach typischen Betrieben, die für Mobbing prädestiniert sind,
da sie mangels Alternativen nicht »aus dem Felde« gehen, d. h. höheren Stellenwert haben sollte als die Frage nach den typischen
einen neuen Arbeitsplatz suchen können (Zapf 1999). Opferpersönlichkeiten« (Meschkutat et al. 2002, S. 122).
Empirische Studien legen ebenfalls komplexere Prozess-
Gibt es das typische Mobbingopfer? modelle nahe. Diese beziehen neben Merkmalen der Organisa-
Die Frage nach der Bedeutung von Persönlichkeitsfaktoren lässt tion die Persönlichkeiten, die Handlungen und die Sichtweisen
sich nach Leymann nicht solide beantworten. Darüber hinaus von Opfern und Tätern ein (Einarsen 2000). Dabei ist derzeit
werde die Psychologie missbraucht, wenn ihre diagnostischen offen, wie die einzelnen Einflussfaktoren im Verhältnis zueinan-
Mittel dazu verwendet werden, im Nachhinein dem Opfer die der zu gewichten sind (. Abb. 19.9).
Verantwortung aufzuladen und die Mobber oder die, die nicht
rechtzeitig eingegriffen haben, zu entlasten (Leymann 1996). Was können Betroffene gegen Mobbing
Mobbingopfer berichten von schlechteren Einflussmöglich- unternehmen?
keiten, schlechterem Informationsfluss, allgemein schlechter Aus einer Untersuchung von Knorz u. Zapf (1996) wurden Emp-
Zusammenarbeit, fehlender sozialer Unterstützung. Diese Be- fehlungen für Betroffene abgeleitet: Betroffene sollten
funde erlauben allerdings keine eindeutige Aussage über die 4 Grenzen setzen und beispielsweise auf Eskalationsangebote
Richtung der Kausalität. Wie Zapf (1999) in seinem Überblick nicht eingehen,
bemerkt, könnte jemand auch deshalb von Kollegen gemobbt 4 sich persönlich stabilisieren, beispielsweise durch längere
werden, weil diese ihn als jemand wahrnehmen, der ständig Är- Krankschreibung Abstand gewinnen, psychotherapeutische
ger bereitet. Die Verfasser des »Mobbing-Reports« berichten, Unterstützung nutzen,
dass 17,8% der von ihnen im zweiten Teil ihrer Studie befragten 4 auf objektive Veränderungen am Arbeitsplatz hinwirken.
800 Kapitel 19 · Arbeits- und Organisationspsychologie

Dass die Situation sich nur dann grundlegend änderte, wenn Werte in Bezug auf Lebensqualität aufwiesen. Es zeigte sich auch
Mobber und Gemobbte getrennt wurden, verweist auf das not- ein Zusammenhang zwischen Lebensqualität und der Balance
wendige Eingreifen Vorgesetzter oder auf notwendige Verände- von Arbeits- und Familienleben, aber nur unter bestimmten Be-
rungen des innerbetrieblichen Gefüges. dingungen und etwas anders als erwartet: Investierten Menschen
Komplexe Entstehungsmodelle legen nahe, dass für Präven- insgesamt wenig Zeit oder engagierten sie sich emotional wenig
tion wie Intervention wahrscheinlich an unterschiedlichen bei der Arbeit und in der Familie, so gab es keinen Zusammen-
Stellen zugleich angesetzt werden muss. hang zwischen der Balance beider Bereiche und der Lebensquali-
tät. Die Zufriedenheit mit beiden Bereichen war dann auch ge-
ring. Gab es jedoch viel Zeit, Engagement und Zufriedenheit, die
19.2.3 Work-Life-Balance auf beide Bereiche verteilt wurden, dann war die Lebensqualität
bei denen am höchsten, die sich emotional mehr in die Familie
einbrachten als in die Arbeit und die auch mit ihrem Familien-
? 19.10 Was wird unter Work-Life-Balance verstanden?
leben zufriedener waren als mit ihrem Arbeitsleben. Am niedrigs-
Eine gelungene Balance von Arbeit und Leben fördert das Wohl- ten lag die Lebensqualität bei denen, die sich mehr bei der Arbeit
befinden und beugt damit möglichem Stress vor. Ein Ungleich- engagierten und mit diesem Bereich zufriedener waren. Entgegen
gewicht hingegen beeinträchtigt die Lebensqualität und kann allgemeinen Erwartungen und auch im Gegensatz zu den Hypo-
überdies auch die Leistungsfähigkeit bei der Arbeit senken. thesen der Forscher lag die Lebensqualität der Befragten mit
Workshops und Ratgeberliteratur bieten Tipps zur Optimierung einem ausgeglichenen Verhältnis, also denen, die sich sowohl in
der Work-Life-Balance. Beruf und Familie engagierten und mit beiden Bereichen gleich
zufrieden waren, zwischen diesen beiden Extremen.
Work-Life-Balance (»work-life balance«) – Ausgewogenheit von beruf-
lichem und außerberuflichem, z. B. familiärem Engagement. Die positive Wirkung einer Balance zwischen Arbeit und
Familie konnte in dieser Studie also nicht bestätigt werden. Die
Warum eigentlich sollte eine solche Balance die Lebensqualität Forscher bieten die Überlegung an, dass die höhere Lebensqua-
verbessern? Zum einen schützt es davor, durch die Einbußen in lität derjenigen, die das Gleichgewicht zugunsten der Familie
einer Rolle aus dem seelischen Gleichgewicht zu geraten, wenn verschoben haben, dadurch zustande kommt, dass sie ihr beruf-
man über mehrere Rollen verfügt. So haben Sie vielleicht bei der liches Engagement und damit ihr Potenzial für Rollenkonflikte
letzten Familienfeier keinen perfekten Braten serviert, aber Sie verringert haben. Die negative Wirkung eines Ungleichgewichts
können sich damit trösten, dass Sie an Ihrem Arbeitsplatz als zugunsten der Arbeit hingegen wurde belegt – was mit anderen
Computer-Ass geschätzt werden. Zum anderen kommen Sie wahr- Forschungsergebnissen übereinstimmt, die Folgendes zeigen: Es
scheinlich gut mit unterschiedlichen Rollenanforderungen zurecht führt zu Konflikten zwischen Arbeit und Familie, wenn Zeit und
und können angemessen damit umgehen, wenn Ihnen mehr als Emotionen überwiegend der Arbeit zukommen (7 Kap. 13). Wie
eine Rolle sowohl vertraut als auch wichtig ist. Möglicherweise oft in der Forschung empfehlen die Autoren, in weiteren Unter-
haben Sie dann Strategien entwickelt, die Ihnen helfen, längerfris- suchungen Fragen nachzugehen, die sie nicht gestellt haben,
tig Anforderungen aus unterschiedlichen Bereichen wie Familie die jedoch bei der Aufklärung der Zusammenhänge hilfreich
und Erwerbsarbeit nachzukommen, ohne dass Sie sich ständig sein könnten. So wäre z. B. auch nach der subjektiv empfundenen
durch »dringende Notfälle« behindern und einschränken lassen. Balance zu fragen. Wie groß kann der Unterschied zwischen Ar-
Kommt es allein auf die Balance zwischen den Bereichen an beitszeit und Familienzeit werden, damit Menschen das Gefühl
oder auch darauf, wie stark das Engagement in beiden Bereichen erleben, dass ihr Leben nicht im Gleichgewicht ist?
ist? Greenhaus et al. (2003) haben im Rahmen einer größeren Es handelt sich um einen Querschnitt, d. h. um Zusammen-
Studie über Lebensqualität 353 Wirtschaftsprüfer und Steuer- hänge, die zu einem Zeitpunkt erfasst wurden. Damit ist es nicht
19 berater befragt. Diese waren aus einer größeren Stichprobe aus- möglich, kausale Schlüsse zu ziehen. Dazu wären Beobachtun-
gewählt worden, weil sie verheiratet waren oder in einer festen gen über einen längeren Zeitraum notwendig, und diese könnten
Partnerschaft lebten und mindestens ein Kind hatten. Damit sollte auch Aufschluss darüber geben, wie sich die Gewichtungen, die
sichergestellt werden, dass sie familiäre Verpflichtungen hatten, Menschen ihren beruflichen und familiären Aktivitäten verlei-
die Zeit und Energie beanspruchten. Erfasst wurde, wie viel Zeit hen, im Laufe des Lebens verändern. Eine aktuelle Bestands-
die Befragten bei der Arbeit und in ihren Familien verbrachten, aufnahme betont, dass es bei der Work-Life-Balance um einen
wie sehr sie sich für ihre Arbeit bzw. in ihren Familien emotional Prozess gehe, der die permanente Aufmerksamkeit der Subjekte
engagierten und wie zufrieden sie mit ihrer Arbeit und mit ihrem erfordert, für den es keine eindeutigen Lösungsformeln gibt, der
Familienleben waren. den Umgang mit konkurrierenden Anforderungen aus unter-
Käme es allein auf die Balance an, so wäre zu erwarten ge- schiedlichen Bereichen und eigenen Ansprüchen und Priori-
wesen, dass diejenigen, die Zeit und emotionales Engagement täten umfasst. Die Autoren geben auch zu bedenken, dass dichte
gleichmäßig auf Familie und Beruf verteilten, auch die höchsten Terminvorgaben und überfordernde Einzelziele durch flexible
19.3 · Veränderte Arbeitsbedingungen
801 19

. Abb. 19.10 (© Isabella Bannerman)

Arbeitsgestaltung nicht aufzufangen sind (Kratzer, Menz u. Für den Erfolg von Organisationen, für ihr Überleben im Kon-
Pangert 2013, S. 196, 201; . Abb. 19.10) kurrenzkampf, sind Innovationen von kritischer Bedeutung.
Ob eingeführte Neuerungen die Erwartungen, die in sie gesetzt
Prüfen Sie Ihr Wissen
wurden, tatsächlich erfüllen, hat etwas mit dem Klima in der
5 Wie erklärt das transaktionale Stressmodell Stress bei der Organisation zu tun, mit den Wahrnehmungen der direkt be-
Arbeit? troffenen Mitarbeiter und damit, wie die Neuerungen zu ihren
Wertvorstellungen passen. Neue Technologien können ignoriert
und gemieden werden, sie können zögerlich verwendet, aber
nicht wirklich genutzt oder aber geschickt, begeistert und stetig
19.3 Veränderte Arbeitsbedingungen eingesetzt werden. Gibt es eine empfehlenswerte Strategie, die
die Aneignung und gewinnbringende Verwendung der Neue-
Technische Neuerungen, insbesondere neue Informationstechno- rungen sichert?
logien und Fertigungssysteme, versprechen Wettbewerbsvorteile Werden beispielsweise neue Computertechnologien einge-
auf einem Markt, auf dem man sich behaupten muss. Wie gehen führt, ist es wichtig, dass die unterschiedlichen Perspektiven der
Organisationen und ihre Mitarbeiter mit den dadurch hervorge- beteiligten Manager, Techniker und Anwender berücksichtigt
rufenen Veränderungen um? Arbeit im Büro von 8 Uhr morgens werden. Gewöhnlich beraten Techniker die Manager, ermutigen
bis 5 Uhr abends – das gilt in vielen Bereichen nicht mehr. Wann sie zum Erwerb vielversprechender Systeme. Manager wiederum
und wo gearbeitet wird, wird inzwischen flexibel gehandhabt. wenden sich an Techniker, die den Erwerb und die Einführung
Welche Modelle gibt es mittlerweile, und wie zufrieden sind die neuer Systeme begleiten und erleichtern sollen. Die Anwender
Beschäftigten damit? Eine gesellschaftliche Veränderung, mit der sollen dann mit den Neuanschaffungen gut umgehen können –
viele leben, ist die Arbeitslosigkeit. Welche Auswirkungen hat sonst haben sie sich nicht gelohnt (. Abb. 19.11).
Arbeitslosigkeit, und wie gehen Menschen damit um?
Innovationsoffenheit und Gruppenzugehörigkeit
Unterschiedliche Sichtweisen können durch unterschiedliche
19.3.1 Neue Technologien: Gruppenzugehörigkeiten zustande kommen. Wie entstehen
Wann sind Innovationen erfolgreich? unterschiedliche Gruppen? Nach Alderfer (1983) kann man zwi-
schen Identitätsgruppen und organisatorischen Gruppen unter-
? 19.11 Was ist bei der Einführung neuer Technologien zu scheiden. Bei identitätsbezogenen Gruppen stehen Gemeinsam-
beachten? Welche Rolle spielen unterschiedliche Gruppen- keiten in Bezug auf Geschlecht und Generationszugehörigkeit
zugehörigkeiten? und gesellschaftspolitische Erfahrungen im Vordergrund – und
802 Kapitel 19 · Arbeits- und Organisationspsychologie

. Abb. 19.11a,b Es geht voran! Die technische Innovation sorgt dafür, dass die Rechenleistung, die früher für Flüge zum Mond notwendig war, heute in
vielen größeren Büros zur Verfügung steht. (a: © photos.com; b: © Supar Perfundo / Fotolia)

erleichtern die Verständigung. Bei Organisationsgruppen stiften Die Menschen in der Mitte der Hierarchie haben etwas
gemeinsame Aufgaben im jeweiligen Betrieb ähnliche Auffas- Macht über die, deren Vorgesetzte sie sind. Sie sind gewöhnlich
sungen zu Problemen und Lösungen. Bei Managern, Technikern gut beraten, ihre eigenen Vorgesetzten zufriedenzustellen. Wäh-
und Anwendern handelt es sich um unterschiedliche Organi- rend der Einführung neuer Technologien finden sich oft die
sationsgruppen, sie unterscheiden sich nach Position, Arbeits- Techniker in dieser Position. Wenn sie nicht ohnehin von außer-
erfahrung und arbeitsbezogener Perspektive. Gruppierungen halb kommen, gehören sie oft zum Stab, z. B. zu einem speziellen
nach Status in der Organisation und nach Identität können zu- Kompetenzzentrum, nicht aber zur Linie, d. h. sie sind nicht in
sammenfallen: Manager wie Techniker sind mit größerer Wahr- die funktionale Hierarchie der Organisation integriert. Daher
scheinlichkeit als Anwender männlich und gehören der domi- fehlt es ihnen an Macht, Autorität und Autonomie, um sich ge-
nanten ethnischen Gruppe an. Sie können sich unterscheiden: genüber den Anwendern zu behaupten, die sie anleiten, deren
Manager sind gewöhnlich etwas älter als Techniker. Lernerfahrungen sie überwachen und deren Leistungen sie
Abhängig von ihren Aufgaben entwickeln Angehörige unter- kontrollieren sollen. Diejenigen, die sich unten in der Hierarchie
schiedlicher Organisationsgruppen unterschiedliche Sichtwei- befinden, verfügen über die wenigsten Ressourcen und die
sen auf ihre Gruppe, auf andere Gruppen, auf die Organisation geringste Macht. Folglich können sie ein Minimum an Kon-
als Ganzes; dies beeinflusst wiederum ihr Verhalten und ihre trolle über ihre Arbeits- und Lebensbedingungen sichern, wenn
Einstellungen. sie ihr Engagement für die Ziele der Organisation in Grenzen
Manager, Techniker und Anwender sehen neue Computer- halten.
technologien unterschiedlich und schätzen deren Nutzen unter- Man kann auch Trice u. Beyer (1993) folgend annehmen,
schiedlich ein. Zu unterschiedlichen Sichtweisen trägt auch die dass unterschiedliche Perspektiven mit der Angehörigkeit der
Position in der Hierarchie der Organisation bei. Organisationsmitglieder zu unterschiedlichen Teilkulturen zu-
Manager haben mehr Macht als Techniker oder Anwender. sammenhängen. Diese »Subkulturen« sind durch gemeinsame
Allerdings haben Manager in den Augen derer, die ihnen unter- Ideologien und Kulturen gekennzeichnet. Eine der mächtigsten
19 stellt sind, mehr Macht, als sie sich selbst zuschreiben würden. Teilgruppen stellt, Trice zufolge, die Spitze des Managements dar.
Diese Dynamik zeigt sich oft bei der Einführung neuer Tech- Diese »Subkultur« sieht ihre Aufgabe darin, festzulegen, wie die
nologien: Die Techniker und Anwender richten sich nach den Arbeit organisiert und wie Aufgaben unter den Beschäftigten
Vorgaben der Manager, die ihrerseits den Eindruck haben, nicht verteilt werden. Eine weitere Subkultur bildet sich unter den Mit-
über so viel Einfluss zu verfügen, wie Techniker und Anwender gliedern einer Gruppe von Beschäftigten mit ähnlichen Tätig-
glauben. Derartige Unterschiede in der Einschätzung hängen keiten. Diese haben bestimmte Aufgaben gemeistert und Spezial-
damit zusammen, dass es riskant ist, schlechte Nachrichten nach wissen eingesetzt. Daher glauben sie, bestimmte Mitarbeiter
oben weiterzugeben. Folglich gelangen oft stark zensierte Infor- sollten das Recht haben, bestimmte Tätigkeiten auszuüben, über
mationen in die höheren Ränge. Im Fall der Einführung neuer den Zugang zu Ausbildungsgängen zu entscheiden, die zu be-
Technologien bedeutet dies, dass Manager über die Probleme stimmten Tätigkeiten qualifizieren, sowie über die Ausführung
hinsichtlich der Akzeptanz der neuen Technologien durch die und Bewertung der Tätigkeit zu bestimmen. Das kann zu Kon-
künftigen Anwender nicht gut informiert sind. flikten mit der Spitze des Managements führen.
19.3 · Veränderte Arbeitsbedingungen
803 19

. Abb. 19.12 Die Einführung technischer Innovationen erfordert von Zeit zu Zeit Überzeugungsarbeit. (© Claudia Styrsky)

Im Falle der Einführung neuer Computertechnologien kann 4 Eine technische Betreuung wird zur Verfügung gestellt, da-
dies so aussehen: Die Techniker, die meist dem Stab angehören, mit Fragen zum Umgang mit der neuen Technologie rasch
teilen Wissen und Erfahrung, sie kennen die neuesten techni- geklärt und Probleme umgehend gelöst werden können.
schen Möglichkeiten und können der Managementspitze neue 4 Die Beschäftigten werden dafür gelobt, dass sie sich mit der
Technologien empfehlen. Das Management verhält sich ihren neuen Technologie vertraut machen.
Empfehlungen gegenüber reserviert – vielleicht, weil diese für 4 Der gesamten Organisation wird mitgeteilt, welche Vorteile
nicht praktikabel gehalten werden, weil hohe Kosten damit ver- es bringt, dass die Beschäftigten die neue Technologie nutzen.
bunden sind, vielleicht aus Angst vor Machtverlust. Weitere Kon- 4 Die Anwender werden gefragt, wie der Einsatz der neuen
flikte können daraus entstehen, dass das Management von den Technologie weiter optimiert und dem Bedarf der Orga-
Technikern erwartet, sie sollten die Nutzung einer neu einge- nisation angepasst werden könnte – und diese Vorschläge
führten Technologie sicherstellen: »Sie wollten das Zeug haben, werden umgesetzt.
jetzt sehen Sie zu, dass es funktioniert!« Es bleibt aber dann
den Technikern überlassen, dies den unmittelbaren Vorgesetzten Es kommt darauf an, Veränderungen so einzuführen, dass sie die
der Anwender, also den Betriebsangehörigen, die die Anwen- Lern- und Umstellungskompetenzen der Menschen nicht über-
dung beaufsichtigen, zu vermitteln. Die Anwender ihrerseits sind fordern (. Abb. 19.12).
i. Allg. darum bemüht, zu verstehen, was eine neue Technologie
für ihr Arbeitsleben bedeutet, ob ihre Aufgaben damit leichter zu
bewältigen sind und ob es sich lohnt, sich damit auseinander- 19.3.2 Arbeitszeiten und Arbeitsplätze:
zusetzen. Das hängt selbstverständlich von den Eigenschaften Mehr Flexibilität
der Technologie ab, aber auch von den Informationen über diese
Technologie, die Management und Techniker vermitteln.
? 19.12 Unter welchen Bedingungen ist flexiblere Arbeits-
zeitgestaltung für die Organisation und für die arbeitende
Strategien zur erfolgreichen Einführung
Person von Vorteil?
von Innovationen
Ein günstiges Klima für die Einführung neuer Technologien Nicht nur der Umgang mit Arbeitsaufgaben, auch der Umgang
kann nach Klein et al. (2001) so geschaffen werden: mit der Arbeitszeit und der Arbeitsplatz werden zunehmend
4 Den Anwendern wird ein gründliches und qualifiziertes flexibler gestaltet. Von flexibleren Arbeitszeiten versprechen sich
Training angeboten. Unternehmen eine bessere Nutzung ihrer Anlagen. In Zeiten von
4 Die Beschäftigten erhalten genügend Zeit, um sich mit Rationalisierung und Personalabbau wird darin ein Mittel ge-
der neuen Technologie vertraut zu machen, damit zu expe- sehen, Entlassungen zu vermeiden (Müller 1995). Auch den Be-
rimentieren, auch wenn die Erledigung ihrer regulären schäftigten könnte Flexibilisierung nützen, wenn sie dadurch
Aufgaben vorübergehend darunter leidet. ihre Zeit besser einteilen könnten.
804 Kapitel 19 · Arbeits- und Organisationspsychologie

Autonomie zur Arbeitszeitgestaltung 4 Wahl zwischen Arbeitszeitsystemen: Mittlerweile gibt es


und Zeitsouveränität Firmen, die ihre Mitarbeiter in regelmäßigen Abständen
Wichtig ist, dass auch die Beschäftigten ihre Interessen geltend zwischen verschiedenen Wochen-, Monats- oder Jahres-
machen können. Unter Autonomie zur Arbeitszeitgestaltung arbeitszeiten mit entsprechender Einkommensanpassung
verstehen Büssing u. Seifert (1995), dass der Arbeitnehmer Ein- wählen lassen. Stock u. Zülch (2013, S. 218) berichten,
flussmöglichkeiten auf die Dauer, Lage und Verteilung der per- dass in ihrer Studie bei Gleitzeit die höchste, bei Schicht-
sönlichen Arbeitszeit hat. Damit ist Autonomie zur Arbeitszeit- modellen die geringste Zufriedenheit mit der eigenen
gestaltung eine wichtige Voraussetzung für die Erfahrung von Arbeitszeit auftraten.
Zeitsouveränität, d. h. für selbstbestimmten Umgang mit Zeit.
Büssing berichtet aus eigenen Untersuchungen im Bereich der Flexibilisierung von Arbeitsplätzen
Krankenpflege vom Widerspruch zwischen hohen betrieblichen Noch weiter gehen Neuerungen, die auch den Arbeitsplatz ein-
Anforderungen an die Flexibilität der Beschäftigten (zahlreiche beziehen. So macht es die technische Entwicklung von Com-
kurzfristige Änderungen der Arbeitszeit) und (geringer) Auto- putern und Internet mittlerweile möglich, auch außerhalb des
nomie zur Arbeitszeitgestaltung (z. B. Einfluss auf Verteilung von traditionellen Büros zu arbeiten, entweder zu Hause oder in
Nachtdiensten, Einteilung von Arbeitsstunden und Arbeits- einem »virtuellen Büro«, also überall da, wo es sinnvoll erscheint.
tagen). Dies kann als eine Ressource beim Umgang mit Anforde- Vermutlich profitieren Mitarbeiter, die im häuslichen Büro ar-
rungen und Belastungen betrachtet werden. Die Untersuchungen beiten, von der Möglichkeit, ihre Arbeit selbst zeitlich einzuteilen
zeigen, dass für Pflegekräfte mit zunehmender Autonomie zur und zu strukturieren. Ein Büro in der Wohnung unterstützt dabei
Arbeitszeitgestaltung psychischer Stress und Burnout bedeutsam die räumliche Trennung von Arbeit und Freizeit.
abnehmen und die Arbeitszufriedenheit steigt. Hill et al. (2003) fanden in ihrer Studie einen Zusammenhang
Weitere Untersuchungen zeigen, dass die negativen Auswir- zwischen Arbeit im »virtuellen Büro« und einer optimistischen
kungen flexibler Nicht-Standard-Arbeitszeitpläne (Schichtplä- Einstellung zu den eigenen Karrierechancen, aber ebenso mit
ne) auf die Qualität des Familienlebens abgeschwächt werden, einer weniger gelungenen Work-Life-Balance – vielleicht, weil
wenn ein hohes Maß an selbstbestimmter Flexibilität vorliegt unter dieser Bedingung den Mitarbeitern die Abgrenzung von
(Staines u. Pleck 1984, 1986, zit. nach Büssing 1995). Arbeit und anderer Zeitverwendung schwerer fällt. Hill et al.
Neue Modelle der flexiblen Zeitgestaltung versuchen, den halten nicht zuletzt wegen der Kostenersparnis (etwa für Büro-
Beschäftigten mehr Autonomie zur Arbeitszeitgestaltung einzu- mieten) Telearbeit für eine vielversprechende Alternative, geben
räumen und mehr Rücksicht auf den Biorhythmus des Menschen aber zu bedenken, dass die unterschiedlichen Auswirkungen ge-
zu nehmen. geneinander abgewogen werden müssen.
Folgende Modelle werden mittlerweile erprobt:
4 Variable Arbeitszeit: Als relativ sozialverträglich wird ein Flexiblere Beschäftigungsverläufe
Modell der variablen Arbeitszeit eingestuft, das in einem Befristete Beschäftigungsverhältnisse nehmen zu: Die Zahl der
Maschinenbaubetrieb praktiziert wird. Der Mitarbeiter befristet Beschäftigten lag 2012 mit rund 2,7 Millionen gut doppelt
muss innerhalb der Öffnungszeit des Betriebs, d. h. zwi- so hoch wie im Jahr 1996 mit 1,3 Millionen (IAB Juni 2013). Was
schen 6.30 und 19.00 Uhr mindestens 4 Stunden anwesend bedeutet das für Berufstätige, und wie gehen sie mit immer wieder
sein. Die maximale Arbeitszeit beträgt 10 Stunden/Tag neuen Arbeitsverhältnissen und -bedingungen um? Eine ideal-
und 46 Stunden/Woche. Pro Monat darf jeder Mitarbeiter typische Darstellung traditioneller und moderner Laufbahnen
ein Plus oder ein Minus von höchstens 72 Stunden auf geben v. Rosenstiel und Nerdinger (2001, S. 429; . Abb. 19.13).
seinem Zeitkonto auflaufen lassen. Dies muss innerhalb
eines halben Jahres ausgeglichen werden. Die Mitarbei-
19 ter haben sich verpflichtet, für die Einhaltung vereinbarter 19.3.3 Arbeitslosigkeit
Lieferfristen zu sorgen (Knauth 1995).
4 Kurz rotierende Schichtpläne: Ein weiteres Beispiel ist ein
? 19.13 Was sind die Auswirkungen von Arbeitslosigkeit?
kurz rotierender Schichtplan, d. h. ein Plan mit Schicht-
wechsel nach 2 oder 3 Tagen, der in einem Betrieb der Die dramatischste Veränderung ist wohl der Verlust des Arbeits-
Stahlindustrie eingeführt wurde. Dabei gibt es – im Unter- platzes, ein Ereignis, mit dem mittlerweile viele Menschen leben
schied zu traditionellen Plänen, die wöchentlich zwischen oder mit dem sie rechnen müssen: In Deutschland lag die Arbeits-
Nacht-, Spät-, und Frühschicht wechseln – in 3 von losenquote auf der Basis aller zivilen Erwerbstätigen im August
4 Wochen freie Abende, einige sogar mit Ausschlafmög- 2013 laut Bundesagentur für Arbeit bei 6,8% (http://statistik.
lichkeit am nächsten Morgen. Es wird berichtet, dass arbeitsagentur.de/abgerufen am 13.09.2013).
diese kurz rotierenden Schichtpläne bevorzugt werden Die gesamtgesellschaftlichen Auswirkungen der Arbeits-
(Knauth 1995). losigkeit sind kontrovers diskutiert worden, und die Belege dafür
19.3 · Veränderte Arbeitsbedingungen
805 19

. Abb. 19.13 Traditionelle und moderne Laufbahnen. (Aus v. Rosenstiel u. Nerdinger 2011, S. 429; mit freundlicher Genehmigung vom Schäffer-Poeschel
Verlag für Wirtschaft - Steuern - Recht GmbH, Stuttgart)

– Makroindikatoren – müssen vorsichtig interpretiert werden Forschergruppe erarbeitet und erstmals 1933 veröffentlicht
(z. B. Jahoda 1983). Konsens besteht jedoch über eines: Arbeits- wurde, kann auch heute noch beeindrucken.
losigkeit führt bei den meisten Menschen zu einer Verschlech-
terung ihrer seelischen Gesundheit, von der sie sich nach dem jVorgehensweise
Wiedereintritt ins Arbeitsleben wahrscheinlich wieder erholen Im Herbst 1931 begann eine Wiener Forschergruppe mit vorbe-
(Mohr 1996). Damit ist gemeint, dass bei Arbeitslosen höhere reitenden Arbeiten und Besprechungen. Ihr Ziel bestand darin,
Ängstlichkeit auftritt, auch geringere Lebenszufriedenheit, Kon-
zentrationsschwächen, Niedergeschlagenheit und Depressionen
(. Abb. 19.14). Eine Metaanalyse auf der Basis von 237 Quer-
schnitt- und 87 Längsschnittstudien bestätigt dies und berich-
tet, dass die seelische Gesundheit von Männern, Arbeitern
und Langzeitarbeitslosen stärker beeinträchtigt war als die von
Frauen, Angestellten und kurzfristig Arbeitslosen. Die negativen
Auswirkungen der Arbeitslosigkeit auf die seelische Gesund-
heit erwiesen sich als stärker in Ländern mit schwacher Wirt-
schaft und wenig Absicherung gegen Arbeitslosigkeit (Paul u.
Moser 2009). Aus therapeutischer Sicht kann die aus Langzeit-
arbeitslosigkeit resultierende Erwerbslosigkeit als traumatische
Erfahrung erlebt werden. Erwerbslose sind aus dieser Sicht
»Mikro-Traumen« ausgesetzt, z. B. Zurückweisungen in Form
abgelehnter Bewerbungen, Abwertungen und Kränkungen auf-
grund immer wieder erlebten Scheiterns (Barwinski 2011).

Eine Pionierstudie zur Erforschung


der psychischen Folgen der Arbeitslosigkeit
Zu den Pionierleistungen der Erforschung der Arbeitslosigkeit
. Abb. 19.14 Arbeitslosigkeit. Sie führt bei den Betroffenen häufig zu
gehört die Studie »Die Arbeitslosen von Marienthal« (Jahoda et
Verschlechterungen der seelischen Gesundheit, die sich in Niedergeschla-
al. 1975/1933). Diese Studie, die sich mit den Auswirkungen der genheit, erhöhter Ängstlichkeit, Konzentrationsschwäche und verminder-
Arbeitslosigkeit auf ein Dorf beschäftigt, und von einer ganzen ter Lebensqualität äußern können. (© photos.com)
806 Kapitel 19 · Arbeits- und Organisationspsychologie

. Tab. 19.2 Zur Methodik der Marienthal-Studie: Informationsquellen und Informationsarten. (Adaptiert nach Jahoda et al. 1975/1933)

Quellen Art der Information

Katasterblätter Wurden angelegt für die 478 Familien, und zwar für jede Einzelperson ein Blatt. Vermerkt wurden Personaldaten,
Art der Unterstützung, Beobachtungen zu Wohnverhältnissen, Familienleben, Haushaltsführung

Lebensgeschichten Protokollierte Lebensläufe von 32 Männern und 30 Frauen

Zeitverwendungsbogen Fragebogen mit Stundenplan über die Art der Beschäftigungen wurden von 80 Personen ausgefüllt

Anzeigen und Beschwerden Vergleich der berechtigten und unberechtigten Anzeigen an die zuständige industrielle Bezirkskommission
vor und nach der Fabrikschließung

Schulaufsätze Volks- und Hauptschulklassen schrieben über Themen wie Lieblingswünsche, Weihnachtswünsche und Berufs-
wünsche

Preisausschreiben Für Jugendliche zum Thema »Wie stelle ich mir meine Zukunft vor?«

Inventare der Mahlzeiten In 4 Familien wurden während einer Woche Aufzeichnungen über die Mahlzeiten gemacht;
Verzeichnisse über das Gabelfrühstück der Schulkinder am Tag vor und nach der Auszahlung der Unterstützungen

Protokolle Weihnachtsgeschenke von 80 Kleinkindern


Gesprächsthemen und Beschäftigung in öffentlichen Lokalen
Erziehungssorgen der Eltern
Ärztliche Untersuchung
Auskünfte der Lehrer über Schulleistungen
Mitteilungen über Fürsorgetätigkeiten der Gemeinde, der Fabrik, des Pfarrers etc.
Auskünfte über Umsatz im örtlichen Einzelhandel und Handwerk

Statistische Daten Geschäftsbücher des Konsumvereins


Entleihungen aus der Bibliothek
Zeitungsabonnements
Mitgliederzahlen der Vereine
Wahlergebnisse

Historische Angaben Geschichte der Gemeinde, der Fabrik, der vertretenen Gewerkschaften und anderer Vereine und Organisationen

Bevölkerungsstatistik Altersaufbau, Geburten, Todesfälle, Eheschließungen, Wanderungsziffern

Haushaltungsstatistik Wegen technischer Schwierigkeiten nur in wenigen Fällen durchgeführt

mit den Mitteln moderner Erhebungsmethoden ein Bild von unserer Mitarbeiter in der Rolle des Beobachters und Reporters
der psychologischen Situation in einem Dorf zu geben, in dem in Marienthal sein durfte, sondern dass sich jeder durch irgend-
die Mehrzahl der Bewohner arbeitslos geworden war. Als Ort der eine auch für die Bevölkerung nützliche Funktion in das Ge-
Untersuchung wählten sie Marienthal, ein kleines Fabrikdorf samtleben einzufügen hatte« (Jahoda et al. 1933, S. 28). Dies
in Niederösterreich; es war im 19. Jahrhundert um eine Flachs- geschah über die Organisation einer Kleiderspendenaktion,
spinnerei entstanden, die im Lauf der Jahre zu einer Textilfabrik über politische Mitarbeit, einen Schnittzeichenkurs, ärztliche
erweitert worden war. Ihr letzter Teilbetrieb war im Februar 1930 Sprechstunden, einen Mädchenturnkurs und Erziehungsbe-
geschlossen worden. Sechs Wochen lang, von Dezember 1931 bis ratung.
19 Mitte Januar 1932, wurden intensiv Beobachtungen durchge-
führt und Daten gesammelt. Eine Mitarbeiterin lebte während » Eine andere Technik der Leidabwehr bedient sich der Libido-
dieser Zeit in Marienthal. Die Weiterführung von Aktionen, zu- verschiebungen, welche unser seelischer Apparat gestattet,
sätzliche Erhebungen und die Sammlung statistischer Angaben durch die seine Funktion so viel an Geschmeidigkeit ge-
erstreckte sich bis Mitte Mai 1933. . Tab. 19.2 gibt eine Übersicht winnt. Die zu lösende Aufgabe ist, die Triebziele solcherart
über die Quellen und die vielfältigen Methoden, welche die For- zu verlegen, daß sie von der Versagung der Außenwelt nicht
schergruppe um Jahoda, Lazarsfeld und Zeisel nutzte, um Daten getroffen werden können. Die Sublimierung der Triebe leiht
zu gewinnen. dazu ihre Hilfe. Am meisten erreicht man, wenn man den
Die besondere methodische Vorgehensweise der Arbeits- Lustgewinn aus den Quellen psychischer und intellektueller
gruppe nimmt in ihrer Zielsetzung Ideen vorweg, die später mit Arbeit genügend zu erhöhen versteht. Das Schicksal kann
dem Ansatz der Aktionsforschung verbunden wurden: »Es war einem dann wenig anhaben.
unser durchgängig eingehaltener Standpunkt, dass kein einziger Sigmund Freud (1930)
19.3 · Veränderte Arbeitsbedingungen
807 19
jErgebnisse Zeitverwendungsbogen einbezogen). Auf diese Weise entstan-
Die Studie erbrachte folgende Ergebnisse: den ausführliche Lebensbeschreibungen der Familien. Auf dieser
Gesundheitszustand. Vielfältig belegt wird durch die Daten Grundlage beschrieben die Forscher vier Haltungstypen: unge-
die Verschlechterung der Ernährung und, davon abhängig, die brochene, resignierte, verzweifelte und apathische Familien.
Verschlechterung des Gesundheitszustands der Bevölkerung. 4 Ungebrochene Familien sind charakterisiert durch den
Allerdings ging die Tuberkuloseanfälligkeit unter denen, die be- Eindruck einer größeren Aktivität. Haushalt und Kinder
reits gearbeitet hatten, zunächst zurück. Sie war bedingt durch werden versorgt wie bei den Resignierten. Im Unterschied
die gesundheitsschädliche Arbeit in Spinn- und Webereibetrie- zu diesen gibt es bei den Ungebrochenen Pläne und Hoff-
ben. Für Kinder und Jugendliche jedoch blieb der negative Ein- nungen für die Zukunft, aufrechterhaltene Lebenslust und
fluss der veränderten Nahrung und der schlechteren Möglich- immer wieder Versuche zur Arbeitsbeschaffung.
keiten zur Körperpflege. 4 Resignierte Familien leben in recht geordneten Haushalten,
Öffentliches Interesse. Die »müde Gemeinschaft« war unter die Kinder werden nicht vernachlässigt, und es gibt
anderem dadurch charakterisiert, dass der Park nicht mehr in- ein Gefühl relativen Wohlbefindens angesichts einer er-
stand gehalten wurde, dass das Engagement der Theatersektion wartungslosen Grundhaltung zum Leben: Pläne werden
nachließ und dass die Zahl der Entleihungen von Büchern in der nicht gemacht, eine Beziehung zur Zukunft ist nicht
Arbeiterbücherei zurückging. Auch das Interesse an Politik ließ erkennbar, auch keine Hoffnung. Alle Bedürfnisse, die
nach; dies war daran abzulesen, dass die Arbeiterzeitung, obwohl über die Haushaltsführung hinausgehen, sind maximal
sie verbilligte Arbeitslosenabonnements herausgab, 60% ihrer eingeschränkt.
Abonnenten verlor. Eine Zeitung gleicher politischer Richtung 4 Verzweifelte Familien unterscheiden sich von den resignier-
mit einem höheren Anteil an Unterhaltung verlor hingegen, ob- ten und den ungebrochenen nicht in der Lebensführung.
wohl sie mehr kostete, nur 27% ihrer Abonnenten. Auch die Akti- Auch ihre Haushalte sind geordnet, die Kinder versorgt.
vitäten in den Vereinen des Ortes, die als durchweg politisiert Sie sind vielmehr charakterisiert durch ein anderes Erleben:
beschrieben wurden, gingen zurück. Lediglich die Mitgliedschaf- Verzweiflung, Depression, Hoffnungslosigkeit, das Gefühl
ten in Vereinen, die mehr oder weniger unmittelbare materielle der Vergeblichkeit aller Bemühungen und daher keine
Vorteile boten, wiesen einen vergleichsweise mäßigen Rückgang Arbeitssuche mehr, keine Versuche zur Verbesserung sowie
oder sogar Zuwachszahlen auf. Aus einer Gesinnungssache, so häufig Vergleiche mit der besseren Vergangenheit.
die Autoren, werde eine Interessenangelegenheit. Die politische 4 Apathische Familien unterscheiden sich von allen anderen
Haltung ist inhaltlich konstant, woraus die Autoren schließen: durch das Aufgeben des geordneten Haushalts. Wohnung
»Die Gesinnung wird nicht geändert, sie verliert nur, gegenüber und Kinder sind unsauber und ungepflegt, die Stimmung
den Sorgen des Alltags, an gestaltender Kraft« (ebd., S.61). ist nicht verzweifelt, sondern durch Gleichgültigkeit ge-
Sozialverhalten. Die Sorgen des Alltags führten auch dazu, prägt. Das Unterstützungsgeld wird nicht sinnvoll eingeteilt,
dass individuelle Gehässigkeiten häufiger wurden: In diesem schon für die nächsten Tage und Stunden herrscht völlige
Sinne interpretieren die Autoren die zunehmende Häufigkeit Planlosigkeit. Trinken, Betteln und Stehlen werden als
anonymer Anzeigen, insbesondere auch der unberechtigten, die häufige Begleiterscheinungen erwähnt.
wegen unbefugter Gelegenheitsarbeit während des Bezugs der
Arbeitslosenunterstützung erstattet wurden. Aber auch Akte der Die vier Typen standen in engem Zusammenhang mit der Höhe
Solidarität werden berichtet, so dass Jahoda et al. zusammenfas- der Unterstützung, die in den Familien zur Verfügung stand,
send folgern: »Die asozialen Momente, die in der gefährdeten d. h. die Ungebrochenen verfügten über die meisten, die Apa-
Lebensführung liegen mögen, kommen infolge der abnehmen- thischen über die wenigsten Ressourcen. Die disziplinierten
den Aktivität nicht zur Geltung. Das durchschnittliche Solida- Einschränkungen der Haushaltsführung der drei anderen Hal-
ritätsniveau scheint durch einen Ausgleich von Erregung und tungstypen werden allerdings immer wieder durchbrochen: In
Ermüdung vorläufig nicht verändert« (ebd., S. 62f.). vielen Schrebergärten werden nicht nur Gemüse und Kartoffeln,
Die Mitarbeiter der Forschergruppe statteten 100 Familien sondern auch Blumen gepflanzt, denn »etwas muss man doch
Hausbesuche ab, um sie nach ihren besonderen Wünschen für auch fürs Gemüt haben«, auch andere Luxusgegenstände
eine Weihnachtsaktion zu fragen. Diese Besuche wurden dazu werden gelegentlich erworben. Insbesondere für Geschenke für
genutzt, durch Beobachtungen und Gespräche Material über die Kinder, beispielsweise für Bilderbücher wird in plötzlichem
Grundhaltung dieser Familien zu erfahren. Diese Beobachtun- Entschluss noch Geld ausgegeben. Jahoda meint rückblickend,
gen wurden ergänzt durch Erhebungen und Beobachtungen der dass solche Verhaltensweisen im Widerspruch zu Maslows
gleichen Menschen in anderen Situationen (Lebensgeschichten, Modell der Hierarchie menschlicher Bedürfnisse stehen und
die bei Abholung der Kleider aus der Weihnachtsaktion erfragt dass auch Menschen, die kaum die biologischen Bedürfnisse be-
wurden; und es wurden ebenfalls Beobachtungen in Kursen und friedigen können, unter unerfüllten höheren Bedürfnissen litten
Veranstaltungen sowie Informationen aus Essverzeichnissen und (Jahoda 1983).
808 Kapitel 19 · Arbeits- und Organisationspsychologie

Jahoda et al. (1933, S. 101f.) fassen ihre Eindrücke von der 4 Moderatorvariablen wie (unterschiedliches) Einkommen
Wirkung der Arbeitslosigkeit in Marienthal folgendermaßen müssen einbezogen werden, da sie zu Unterschieden im
zusammen: Erleben der Arbeitslosigkeit beitragen.
4 Auch die Bedingungen vor Eintritt der Erwerbslosigkeit
» Die Ansprüche an das Leben werden immer weiter zurück-
müssen berücksichtigt werden, da es beispielsweise sein
geschraubt; der Kreis der Dinge und Einrichtungen, an denen
kann, dass die Menschen durch (unterschiedliche) Vor-
noch Anteil genommen wird, schränkt sich immer mehr ein;
bedingungen bei eintretender Erwerbslosigkeit unter-
die Energie, die noch bleibt, wird auf die Aufrechterhaltung
schiedlich gut ausgerüstet sind. Als besonders verwundbar
des immer kleiner werdenden Lebensraumes konzentriert.
gelten Jugendliche, da bei ihnen Arbeitslosigkeit den Ein-
Als charakteristische Zeichen für diese Reduktion fanden
tritt in das Arbeitsleben gefährdet; und dies kann ihre ge-
wir einen deutlichen Verfall des Zeitbewusstseins, das seinen
sellschaftliche Integration unterminieren.
Sinn als Ordnungsschema im Tageslauf verliert; nur die
menschlichen Beziehungen scheinen im Wesentlichen noch
Neuere Studien zur Arbeitslosigkeit
intakt. Zwar haben wir verschiedene Haltungstypen unter-
Die YUSEDER-Studie zur Gefahr sozialer Ausgrenzung beschäf-
schieden: eine aktivere, zuversichtlichere als die charakteris-
tigte sich mit Langzeitarbeitslosigkeit bei Jugendlichen (Kiesel-
tische Gruppe der resignierten, zwei andere darüber hinaus
bach 2003). YUSEDER steht für »Youth Unemployment and
gebrochen und hoffnungslos. Aber jetzt zum Schluss haben
Social Exclusion: Objective Dimensions, Subjective Experiences,
wir erkannt, dass hier vermutlich nur verschiedene Stadien
and Innovative Responses in Six European Countries«. Jugend-
eines psychischen Abgleitens vorliegen, das der Reduktion
arbeitslosigkeit beunruhigt, weil dies bedeuten kann, dass die
der Zuschüsse und der Abnutzung des Inventars parallel
Betroffenen die Integration in die Gesellschaft nicht erreichen.
geht. Am Ende dieser Reihe stehen Verzweiflung und Verfall.
Die Europäische Kommission hat deswegen Forschung angeregt,
Die vier Haltungstypen der ungebrochenen, resignierten, ver- um zu untersuchen, welche Mechanismen zu sozialer Ausgren-
zweifelten und apathischen Familie können als eine Beschrei- zung führen. Befragungen arbeitsloser Jugendlicher, jeweils 50
bung der kumulativ negativen Wirkung von Langzeitarbeits- in drei nord- und in drei südeuropäischen Ländern, bilden die
losigkeit aufgefasst werden. Grundlage der Studie. Soziale Ausgrenzung basiert nach Auf-
Wie es in Marienthal nach dem Ende der Studie weiterging, fassung der Forscher auf Ausgrenzung aus sechs Bereichen. Ent-
schildert Jahoda (1983, S. 54) viele Jahre später: sprechend wurden sechs Aspekte von Ausgrenzung formuliert,
deren Bewertung die Grundlage für die Einschätzung des Risikos
» Als Hitler 1938 in Österreich einmarschierte, hießen ihn
der Einzelfälle bildete (. Tab. 19.3).
große Teile der Bevölkerung, darunter die Bevölkerung von
Zusammenfassend wird festgestellt: Die wichtigsten Fak-
Marienthal, willkommen. Hitler kam mit Volksküchen und
toren, die zum Risiko sozialer Ausgrenzung beitragen, sind
mit dem Versprechen auf Arbeit, ein Versprechen, das inner-
geringe Qualifikation, Passivität auf dem Arbeitsmarkt, d. h.
halb des ersten Jahres der Besetzung im Interesse des
wenig Eigeninitiative, eine schwierige finanzielle Situation, we-
Aufbaus seiner Kriegsmaschinerie, des Straßennetzes und
nig oder keine soziale Unterstützung und unzureichende oder
der Brücken, die seine Pläne erforderten, eingelöst wurde.
nicht existente institutionelle Unterstützung. Der wichtigste
Fast 50 Jahre später sprachen die Menschen von Marienthal
protektive Faktor, der ermittelt wurde, ist soziale Unterstüt-
ziemlich deutlich aus, dass sie jeden unterstützt hätten,
zung. Dabei ist für die Jugendlichen in Nordeuropa die Inte-
der ihnen zu Arbeit verhalf; ideologische Überzeugungen
gration in soziale Netzwerke wichtig, im Süden Europas spielt
hatten nur wenig Relevanz für ihre Lebenssituation.
die Familie eine größere Rolle. Dieser Rückhalt führt auch dazu,
dass das Risiko sozialer Ausgrenzung im Süden geringer zu sein
19 jBedeutung der Marienthal-Studie scheint.
Mohr (1999) weist in ihrem Überblick über die Entwicklung Nicht alle sind, wenn sie ihre Arbeit verlieren, in gleicher
des Forschungsfeldes darauf hin, dass schon in der Marienthal- Weise betroffen: Wer sich durch Arbeitslosigkeit in seinen
Studie 4 wesentliche Sachverhalte deutlich geworden seien: Handlungsmöglichkeiten nicht einschneidend beeinträchtigt
4 Erwerbslosigkeit ist keine kritische Lebenserfahrung im sieht, auf soziale Unterstützung durch Familie oder Freunde
Sinne eines punktuellen Ereignisses. Vielmehr handelt es rechnen kann und Arbeit und Beruf für sich nicht als zentrales
sich um einen Stressprozess. Das bedeutet, dass in Längs- Lebensinteresse definiert, wird mit den Realbelastungen der Ar-
schnittuntersuchungen erforscht werden muss, wie Arbeits- beitslosigkeit besser umgehen können.
losigkeit sich langfristig auswirkt. Größere Probleme haben Arbeitslose, die – bei ausgeprägter
4 Ein transaktionales Stresskonzept ist naheliegend, denn Berufsorientierung und ohne soziale Unterstützung – in die
auch (unterschiedliche) Bewältigungsstrategien gehören Konstellation »individueller Handlungsohnmacht bei gleich-
zu diesem Prozess. zeitiger Abhängigkeit« geraten (Wacker 1983).
19.3 · Veränderte Arbeitsbedingungen
809 19

. Tab. 19.3 Ausgrenzungsaspekte. (Adaptiert nach Kieselbach 2003)

Art der Ausgrenzung Bedeutung

Exklusion vom Arbeitsmarkt Fehlende Teilhabe an der Arbeitswelt führt zu Gefühlen der Randständigkeit, zum Eindruck, der Gesellschaft
wenig wert zu sein
Barrieren für Menschen mit wenig Qualifikation

Ökonomische Exklusion Erwerbslosigkeit führt zu finanzieller Abhängigkeit von staatlichen Unterstützungssystemen und zum Verlust
der Fähigkeit, sich oder die eigene Familie entsprechend den gesellschaftlichen Normen selbst zu erhalten
Armut wird durch mangelnde bezahlte Beschäftigung verursacht oder aufrechterhalten

Institutionelle Exklusion Arbeits- und Erwerbslose müssen sich an Einrichtungen wenden, die sich marginalisierten Personen widmen.
Dies kann Gefühle der Abhängigkeit hervorrufen sowie zu Scham und Passivität führen
Die Armen und Erwerbslosen haben keinen Zugang zu privaten Institutionen (Banken, Versicherungen), an die
andere sich wenden können, um in unsicheren Lebenslagen Unterstützung zu erhalten

Exklusion durch soziale Abnahme sozialer Kontakte


Isolierung Rückzug aus dem sozialen Netzwerk

Kulturelle Exklusion Die Umgebung reagiert darauf mit Stigmatisierung und Sanktionen
Es fehlen die Mittel, entsprechend den sozial akzeptierten Normen und Werten zu leben

Räumliche Exklusion Erwerbslose leben oft in Bezirken mit fehlender Infrastruktur (mangelnde Verkehrsverbindungen, kaum
Geschäfte, wenig kulturelle Ereignisse)
Geografische Konzentration und Segregation von Personen mit geringem finanziellem Spielraum

Zum Einfluss von Persönlichkeitseigenschaften meint Kirch- 4 das Vorhandensein von Zielen, die dem Leben eine Rich-
ler (1993), dass extravertierte oder emotional stabile Personen tung geben,
unter dem Arbeitsverlust weniger zu leiden scheinen und über- 4 der Wunsch, aktiv zu sein, sowie die Fähigkeit, die Zeit zu
dies eher wieder Arbeit finden als introvertierte und emotional strukturieren,
labile Personen. Er nimmt darüber hinaus an, dass sich Personen 4 die Ablehnung von mit Erwerbstätigkeit verbundenen Er-
mit internaler Kontrollüberzeugung und hoher Leistungsmo- fahrungen der Langeweile oder Unzufriedenheit mit einer
tivation eher um eine neue Arbeit bemühen und eher wieder erzwungenen Arbeitsstruktur,
beschäftigt werden. Konzessionsbereitschaft und Flexibilität 4 Informationen über mögliche negative Folgen der Arbeits-
können ebenfalls die Arbeitslosigkeit verkürzen. Die Ergebnisse losigkeit, die zum Gegensteuern genutzt werden,
einer eigenen Untersuchung, allerdings an einer kleinen Stich- 4 die Übernahme von ehrenamtlichen Arbeiten, auch um
probe, legen für Kirchler die Vermutung nahe, dass Belastbarkeit dadurch evtl. eine Stelle zu bekommen,
wichtig ist: Je widerstandsfähiger, pflichtbewusster, selbstkontrol- 4 die individuelle Neigung, eher strukturierend einzugreifen
lierter und innerlich ruhiger eine Person ist, desto eher findet sie als passiv zu reagieren,
wieder Arbeit. Darüber hinaus ist die Wechselwirkung zwischen 4 ein selbstgewähltes proaktives Verhalten und eine hohe
Belastbarkeit und Kontaktbereitschaft bei der Bewältigung von interne Motivierung.
Arbeitslosigkeit bedeutsam. Eine ausgeprägte Selbstwirksamkeit
und positive Erwartungen sind ebenfalls bei der Arbeitssuche Konzepte wie positive Bewältigung oder proaktive Arbeitslose
nützlich. Positives Denken in Form von angenehmen Zukunfts- können leider sozialpolitisch missbraucht werden: Den Arbeits-
fantasien ist hingegen keine Hilfe. Positiv fantasierende Stellen- losen, die nicht in der Lage sind, ihre Situation positiv zu bewälti-
sucher scheinen notwendige Schritte wie das Verschicken von gen, könnte dieses Problem zum Vorwurf gemacht werden. Diese
Bewerbungen weniger ernst zu nehmen (Oettingen 1997). Vorwürfe wiederum könnten zur Zurückweisung von Forderun-
gen nach sozialpolitischen Maßnahmen verwendet werden.
Selbstwirksamkeit (»self-efficacy«) – Überzeugung, in einer bestimmten
Situation die angemessene Leistung erbringen zu können.
Schützende Bedingungen?
Die Untersuchung »positiver Bewältiger« könnte helfen, Ansatz- Zu denjenigen, von denen man annimmt, dass sie durch Arbeits-
punkte zur Stabilisierung gesund erhaltender Anteile zu finden. losigkeit weniger belastet sind, gehören für manche Autoren die
Als Kriterien für einen positiven Umgang mit Arbeitslosigkeit Frauen, denen die Hausfrauenrolle als Alternative zur Verfügung
wurden u. a. ermittelt (Fryer u. Payne 1984): stehe (zusammenfassend Mohr 1999).
4 die Fähigkeit zur Unterscheidung zwischen Erwerbstätig- Werden Frauen durch Erwerbslosigkeit wirklich weniger be-
keit und dem Verrichten einer sinnvollen Arbeit, einträchtigt als Männer? Und wenn das so ist, kann dieser Unter-
810 Kapitel 19 · Arbeits- und Organisationspsychologie

. Tab. 19.4 Mit steigendem Alter zeigen Mitarbeiter nicht weniger, sondern andere Kompetenzen (nach Wichtigkeit absteigend sortiert).
(Adaptiert nach Görlich 2007)

Altersunabhängig Mit Alter nachlassend Optimum bei 30 bis 39 Optimum bei 40 bis 49 Optimum bei 50 bis 59

Toleranz Flexibilität Interesse an der Tätigkeit Qualitätsbewusstsein Zuverlässigkeit


Allgemeine Intelligenz Offenheit für Neues Teamfähigkeit Arbeitsmoral Verantwortungsbewusstsein
Hilfsbereitschaft Lernbereitschaft Initiative Kundenorientierung Selbstkontrolle
Sprachliche Fähigkeiten Lernfähigkeit Durchhaltevermögen Selbstständigkeit Loyalität/Integrität
Schnelligkeit Konzentration Planung und Organisation Erfahrungswissen
Körperliche Belastbarkeit Gedächtnis Psychische Belastbarkeit Führungsfähigkeit
Risikobereitschaft Kreativität/Innovativität Durchsetzungs-/Über- (Mitarbeiterorientierung)
Muskelkraft Anpassungsbereitschaft zeugungsfähigkeit Urteilsfähigkeit
Technisches Verständnis Auftreten/Umgangsformen Realismus/Pragmatismus
Geschicklichkeit Fachwissen Frustrationstoleranz
Vorausschauendes Denken Geduld
und Handeln Verträglichkeit
Führungsfähigkeit Sicherheitsbewusstsein
(Leistungsorientierung) (bzgl. Unfällen etc.)
Ökonomisches Denken Allgemeinbildung
und Handeln

schied dann darauf zurückgeführt werden, dass Frauen über die derungen zu betrachten, die mit dem Altern einhergehen und
Alternativrolle der Hausfrau und Mutter verfügen? Mohr stellt fest: stellen beispielsweise der verringerten Auffassungsgeschwindig-
Erwerbslose haben gegenüber Erwerbstätigen oder Wiederein- keit und dem verzögerten Reagieren überlegenes handwerkliches
gestellten einen schlechteren psychischen Gesundheitszustand. Können, größere Beständigkeit, Verantwortlichkeit und Loyali-
Das gilt für Männer und Frauen. Während gezeigt wurde, dass tät gegenüber dem Unternehmen gegenüber (S. 243, . Tab. 19.4).
Beeinträchtigungen nach der Wiedervermittlung zurückgehen, Außerdem empfehlen sie, durch Weiterbildung Prozesse der
geben Mohr u. Otto zu bedenken, dass dies nicht für so genannte Dequalifizierung durch veraltendes Wissen aufzuhalten. Eine
»bad jobs« gilt, d. h. für einfache Tätigkeiten in gering bezahlten entsprechende Gestaltung vorausgesetzt, kann eine fortgesetzte
ungesicherten Beschäftigungsverhältnissen, und betonen, dass Berufstätigkeit den älteren Arbeitnehmern als Gerontoprophy-
nicht jede Arbeit für die psychische Verfassung besser ist als die laxe nahegelegt werden. Lehr u. Kruse geben zu bedenken, dass
Erwerbslosigkeit (Mohr u. Otto 2007, S. 657). Ob Verbesserungen unsere Wirtschaft künftig nicht auf ältere Mitarbeiter verzichten
durch den Wechsel in den Status der Hausfrau oder des Rentners können wird. Sie äußern sich dabei vorsichtig hinsichtlich der
von Dauer sind, bleibt abzuwarten, denn es fehlen Studien, die die gesetzlichen Verlängerung der Lebensarbeitszeit: Zu berücksich-
Stabilität solcher Veränderungen belegen (Mohr 2001, S. 121). tigen seien die Art der Tätigkeit, der Arbeitnehmer, sein Gesund-
heitszustand, seine Lebenssituation, die betrieblichen Gegeben-
Demografischer Wandel und die Verlängerung heiten – und schließlich die wirtschaftliche Lage, die geeignete
der Lebensarbeitszeit Arbeitsplätze ermöglichen müsse (S. 246).
Den Wandel vom Defizit- zum Differenz- oder Kompensa-
? 19.14 Wie hat sich das Defizit- zum Kompensationsmodell
tionsmodell des Alterns diskutiert Görlich (2007, S. 575f.), die
des Alterns gewandelt? Welche Bedeutung hat das für ältere
untersucht hat, wie Führungskräfte aus Dienstleistungs- und
Arbeitnehmer?
Industrieunternehmen sowie dem öffentlichen Dienst Mitar-
19 Die Arbeitslosigkeit steigt mit zunehmendem Alter, berichten beitende unterschiedlichen Alters einschätzen. Die in . Tab. 19.4
Lehr u. Kruse (2006, S. 240, auf Daten des Statistischen Bundes- zusammengefassten Ergebnisse zeigen für unterschiedliche
amtes und der Europäischen Kommission verweisend): Sie be- Altersstufen unterschiedliche Kompetenzprofile.
trifft 15% der 50- bis 55-Jährigen und 19,6% der 60- bis 65-Jäh- Es gibt Arbeitgeber, die sich mittels »Demografiemanage-
rigen. Gleichzeitig hat, wer heute 60 Jahre alt ist, noch knapp ment« auf den demografischen Wandel einstellen, um wettbe-
25 Lebensjahre vor sich. Wer 45 ist, zählt bereits zu den »älteren werbsfähig zu bleiben: Dazu bedürfe es einer Kultur der glaubwür-
Arbeitnehmern«, ab 50, also noch im mittleren Lebensalter, ist digen Altersneutralität, d. h. Treffen von personalpolitischen Ent-
man nach einer längeren Unterbrechung der Berufstätigkeit zu scheidungen unabhängig vom Alter der/des Betroffenen. Auch als
alt für den Einstieg in einen Beruf. Die Autoren verweisen darauf, Reaktion auf zunehmende Individualisierung empfehle sich ein
dass das nicht überall so ist: Ältere aktive Arbeitskräfte gehören Personalmanagement, das auf Lebensereignisse reagiere, statt
in der Schweiz und in den USA zum alltäglichen Bild in Organi- Generalisierungen zu Dekaden vorzunehmen. Eine Konsequenz
sationen. Lehr u. Kruse plädieren dafür, die qualitativen Verän- daraus ist die Befristung von Führungsaufgaben, eine andere die
19.4 · Psychologie in Organisationen
811 19
besondere Aufmerksamkeit, die den über 50-jährigen Führungs- mitglieder bildet die formale Organisationsstruktur (Büssing
kräften gilt, denen erhöhte Mobilität zugetraut wird (Rühl 2010). 1992). Zur Organisationsstruktur gehört auch die Konfiguration,
die das äußere Stellengefüge beschreibt (. Abb. 19.15). Diese wird
Prüfen Sie Ihr Wissen
gemessen durch die Gliederungstiefe (Anzahl hierarchischer
5 Skizzieren Sie die Auswirkungen von Arbeitslosigkeit. Ebenen) oder die Leitungsspanne (Anzahl der Stellen, die den
Gibt es auch positive Auswirkungen? Führungspersonen direkt unterstellt sind).
Organisationsstruktur (»structure of organization«) – Gesamtheit aller
formalen Regelungen zur Arbeitsteilung und zur Koordination von Leistung
und Verhalten der Mitglieder einer Organisation.
19.4 Psychologie in Organisationen
Bei den Organisationsformen unterscheidet man Einlinien- und
Viele von uns arbeiten in Organisationen, in größeren oder kleine- Mehrliniensysteme. Beim Einliniensystem empfängt eine unter-
ren, mehr oder weniger hierarchisch strukturierten Betrieben. Als geordnete Stelle nur von einer übergeordneten Stelle Weisungen
Angehörige von Abteilungen, von Arbeitsgruppen, sind wir nicht und ist nur dieser verantwortlich. Dies gilt für Gliederungen nach
nur davon betroffen, wie unsere unmittelbare Arbeitsumgebung Funktion (funktionale Struktur) oder nach Sparte (divisionale
gestaltet ist, ob unsere Kolleginnen freundlich und verträglich sind, Struktur). Beim Mehrliniensystem gibt es ein doppeltes Unterstel-
sondern auch davon, welche Kommunikationswege vorhanden lungsverhältnis nach Funktion und Sparte (Matrixorganisation).
sind, wie Entscheidungen zustande kommen, wie Verwaltungsab- Im Mehrliniensystem sind die Informations- und Abstimmungs-
läufe organisiert sind. Welchen Einfluss können wir selbst auf die wege kürzer, Konflikte können häufiger auftreten, was als positiv
Gestaltung der Arbeitsabläufe nehmen? Wie wird unsere Abteilung im Sinne einer vertieften inhaltlichen Auseinandersetzung ge-
bzw. unsere Arbeitsgruppe geführt, und sind wir damit zufrieden? wertet wird. Als Nachteil gilt allerdings die fehlende Gesamtver-
antwortung. Eine weitere Variante ist das Projektmanagement.
Dies wird für die Abwicklung abgegrenzter Projekte eingerichtet,
19.4.1 Organisationsform und das Projektmanagement muss sich um die Bereitstellung der
und Organisationsstruktur benötigten Ressourcen in der Organisation bemühen, das Projekt
voranbringen und abschließen (Scholl 2007). In unterschied-
lichen Organisationsstrukturen können unterschiedliche Auf-
? 19.15 Was versteht man unter einer Organisation, unter
fassungen der Arbeitsaufgaben Ausdruck finden.
Organisationsstruktur und Organisationsform? Was sind die
Vor- und Nachteile des Ein- und des Mehrliniensystems? Organisationsform (»form of organization«) – bezieht sich auf die Unter-
scheidung von Ein- und Mehrliniensystemen, d. h. auf die Regelung von
Eine Organisation ist nach von Rosenstiel (2007) Weisungsbefugnissen und Verantwortlichkeiten.
4 ein gegenüber ihrer Umwelt offenes System,
4 das zeitlich überdauernd existiert, Nicht nur unterschiedlich gestaltete Arbeitstätigkeiten, sondern
4 spezifische Ziele verfolgt, auch unterschiedliche Auswirkungen hinsichtlich Gesundheits-
4 sich aus Individuen bzw. Gruppen zusammensetzt, also und Persönlichkeitsförderung der Mitarbeiterinnen und Mit-
auch ein soziales Gebilde ist, und arbeiter sind zu erwarten. Das zeigt eine vergleichende Unter-
4 eine bestimmte Struktur aufweist, die meist durch Arbeits- suchung im Bereich der Pflegetätigkeit an drei psychiatrischen
teilung und eine Hierarchie von Verantwortung gekenn- Landeskliniken.
zeichnet ist. Die Ergebnisse (Büssing 1992) zeigen, dass in der traditionellen
Krankenhauspsychiatrie mit hierarchischer Organisationsstruktur
Organisationspsychologische Aktivitäten finden überwiegend in (PKH II), teilweise auch in der sozialpsychiatrisch orientierten
Wirtschaftsunternehmen statt, häufig in großen Industriebetrie- Krankenhauspsychiatrie mit teamorientierter Organisationsstruk-
ben und Dienstleistungsunternehmen, seltener in kleineren Be- tur (PKH III), ein Grad an funktionaler Arbeitsteilung realisiert ist,
trieben. Zum Gegenstandsbereich der Organisationspsychologie der mit negativen Merkmalen partialisierter Handlungen und un-
gehören aber auch öffentliche Verwaltungen, Schulen, Universi- vollständiger Tätigkeit einhergeht. Die dort vorgefundene Funk-
täten, Verbände, Kirchen, Krankenhäuser, Armeen und Freizeit- tionspflege ist charakterisiert durch Zeitdruck, relativ kurzzeitige
organisationen – und zunehmend Beziehungen zwischen Orga- Zyklen der Aufgabenerledigung, eingeschränkte Kooperations-
nisation und Umwelt und Arbeit und Freizeit (vgl. Schuler 2007). und Kommunikationsmöglichkeiten und -erfordernisse, geringere
Spielräume zu Planung und Gestaltung, geringere Denk- und Pla-
Grundlegende Merkmale von Organisationen nungsanforderungen und eine höhere physische Belastung.
Die Gesamtheit aller formalen Regelungen zur Arbeitsteilung und Ganzheitliche Pflege, Arbeitserweiterung und Arbeitsan-
zur Koordination von Leistung und Verhalten der Organisations- reicherung sind nach Auffassung Büssings wesentlich mit team-
812 Kapitel 19 · Arbeits- und Organisationspsychologie

19

. Abb. 19.15a–d Grundstruktur der wichtigsten Organisationsformen. Die Darstellung von Scholl (2007, © Verlag Hans Huber, Bern, mit freundlicher
Genehmigung) vergleicht verschiedene Organisationsformen miteinander und unterscheidet sie nach Gliederungstiefe und Führungsstruktur
19.4 · Psychologie in Organisationen
813 19
gebundenen Strukturen (PKH I) in der Krankenpflege verknüpft.
Er weist abschließend darauf hin, dass Verbesserungen der Kran-
kenpflege die organisatorische Gestaltung einbeziehen müssen:
Verringerte Belastungen einerseits und Gesundheits- sowie Per-
sönlichkeitsförderung in der Pflegetätigkeit andererseits sind
nach diesen Ergebnissen an eine gemeinsame, optimale Gestal-
tung von Aufgabe, Technologie in der Pflege und Behandlung
sowie Strukturen der Aufbau- und Ablauforganisation gebunden.
In dieser gemeinsamen Gestaltung – und nicht in einer mehr
oder weniger isolierten Umsetzung von attraktiv erscheinen-
den Pflegeprinzipien – liegt nach Büssing (1992) die eigentliche
Herausforderung für die Gestaltung sowohl vollständiger Pflege-
tätigkeit als auch ganzheitlicher Pflege.

19.4.2 Teams, Gruppen und Qualitätszirkel

? 19.16 Wann ist Teamarbeit sinnvoll? Was macht sie effektiv?

Team- oder Gruppenarbeit soll aufgabengebundene Motivation


fördern. Wo Störungen vor Ort rasch beseitigt werden müssen,
wo technische Ungewissheit die Wahrnehmung von Kontroll- . Abb. 19.16 Gemeinsam zum Ziel. Teamarbeit ist nicht nur aus
menschlichen, sondern auch aus wirtschaftlichen Erwägungen sinnvoll.
funktionen von außen erschwert oder unmöglich macht, ist
(© photos.com)
Teamarbeit sinnvoll und notwendig – nicht nur aus humanisti-
scher, sondern auch aus ökonomischer Perspektive.
Teamarbeit gilt insbesondere dann als sinnvoll, wenn es um spielsweise bei der Rekrutierung qualifizierter Arbeitskräfte
eine komplexe Aufgabe geht, die in mehreren Schritten zu be- helfen, die Fluktuation gering halten und der Firma einen guten
arbeiten ist und die mit unstrukturierten Problemen behaftet ist Ruf als humane Arbeitgeberin verschaffen. Die leistungsorien-
oder mehrere Fachbereiche berührt (Born u. Eiselin 1996). tierten Ziele können danach unterschieden werden, ob sach-
Ein Team ist nach Born u. Eiselin (1996) durch folgende orientierte oder menschorientierte Strategien eingesetzt werden,
Merkmale charakterisiert: um sie zu erreichen (Born u. Eiselin 1996; . Abb. 19.16; 7 Unter
4 ein ausgeprägtes Maß an innerem Zusammenhalt und der Lupe: Was macht Gruppenarbeit effektiv?).
Engagement für die Leistungsziele des Teams, aufgrund Bei der sachorientierten Strategie werden drei Arten von
einer gemeinsamen Aufgabenorientierung und eines Teamarbeitspotenzialen genutzt:
spezifischen Existenzzwecks, den das Team im Rahmen der 4 Problemlösungspotenzial: Die breitere Erfahrungs-, Infor-
Vorgaben selbst definiert; mations- und Wissensbasis, weiter gefächerte Fähigkeiten
4 gemeinsamer Arbeitseinsatz und gemeinsame Kontrolle des und höheres Kreativitätspotenzial geben der Teamarbeit
Arbeitsablaufs; eine breitere Basis. Die sachliche Betrachtung verschiedener
4 Aufhebung der Trennung zwischen denjenigen, die denken Standpunkte hilft bei der Optimierung von Lösungen. Be-
und entscheiden, und denen, die arbeiten und ausführen, teiligung an Entscheidungsprozessen fördert die Akzeptanz
aufgrund ganzheitlicher Arbeitszuschnitte und Mechanis- von Entscheidungen und den Einsatz zu ihrer Umsetzung.
men der kollektiven Selbstregulation; 4 Arbeitsorganisatorisches Potenzial: Eigene Verantwortlich-
4 gleichberechtigtes Nebeneinander von individueller und keit und Autonomie verringern – über Mechanismen der
wechselseitiger Verantwortung; sozialen Kontrolle und internalisierte Normen – den Ver-
4 Erschließen von Synergien, d. h. das Team schafft etwas, waltungsaufwand. Ein gutes selbstverantwortliches Team
was über die Summe der Beiträge der einzelnen Mitglieder braucht weniger äußere Kontrolle.
hinausgeht. 4 Komplexitätsreduktionspotenzial: Eine breitere Urteils-
grundlage, kürzere Kommunikationswege und die Mecha-
Mit der Einführung von Teamarbeit können soziale Ziele und nismen der sozialen Kontrolle und internalisierter Normen
leistungsorientierte Ziele verfolgt werden, die letztlich der Ver- tragen zur Komplexitätsreduzierung bei. Sie sind hilfreich
besserung der Firmenposition im Wettbewerb dienen. Das gilt dabei, die Ziele, die erreicht werden sollen, zu konkretisie-
auch für die sozialen Ziele: Angebotene Teamarbeit kann bei- ren, und sorgen für eine einheitliche Ausrichtung auf sie.
814 Kapitel 19 · Arbeits- und Organisationspsychologie

Unter der Lupe

Was macht Gruppenarbeit effektiv?


Von Rosenstiel (1993b) gibt fünf praktische 5 Die interpersonalen Beziehungen sollten Lernbereitschaft. Im Einzelnen wird Teamar-
Ratschläge für die effektive Gruppenarbeit: frei von Belastungen sein. Widerspruch beit gefördert durch: Leistungsorientierung
5 Die Gruppe sollte klein sein und etwa in der Sache darf nicht als Ausdruck per- und positives Denken, durch kulturübergrei-
fünf Mitglieder umfassen. Bei größeren sönlicher Abneigung eingesetzt werden. fende Geschicklichkeit im Umgang mit unter-
Gruppen besteht die Gefahr, dass ein- 5 Das Team hält sich an Arbeitsregeln, schiedlichen Lebensweisen und Minoritäten,
schlägige Beiträge von Mitgliedern nicht z. B. an Vorbereitungs-, Moderations-, Dis- durch Disziplin, verstanden als Bereitschaft,
mehr eingebracht werden, dass der rela- kussions- und Dokumentationstech- gemeinsame Regeln zu tragen, durch Sinn für
tive Zugewinn von Informationen für die niken: So bereiten einzelne Mitglieder Humor, um mit Druck und Belastung besser
Aufgabenbearbeitung zurückgeht und Beiträge für eine Teamsitzung vor. Ein fertigzuwerden, durch die Fähigkeit, eigene
dass Reibungsverluste in der Gruppe zu- Teammitglied moderiert die Sitzung und Kritik angemessen zu artikulieren und Kritik
nehmen. leitet die Diskussion, ein weiteres führt anderer konstruktiv zu verarbeiten, durch
5 Die unterschiedlichen Aspekte der Aufga- das Protokoll, das Verlauf, Ergebnisse geistige Vitalität und Kreativität, durch ein ge-
be sollten durch jeweils dafür kompeten- und ggf. getroffene Entscheidungen do- sundes Selbstwertgefühl, verstanden als rea-
te Mitglieder vertreten sein, die zudem kumentiert. listische Einschätzung der eigenen Möglich-
alle am Gesamtproblem interessiert sind. keiten und Grenzen, Einfühlungsvermögen,
5 Die Gruppenmitglieder sollten durch Zu den persönlichen Voraussetzungen guter Aufgeschlossenheit und, wo es angemessen
strukturelle und personale Bedingungen Teamarbeit, d. h. zu dem, was die einzelnen ist, Bereitschaft zur Selbstöffnung und Selbst-
bereit und befähigt sein, sich miteinan- Mitglieder mitbringen sollten, zählen fachli- reflexion.
der in der gleichen Sprache zu verstän- che, methodische und soziale Kompetenzen.
digen. Von Bedeutung sind auch Lernpotenziale und

Menschorientierte Strategien sind auf die Motivation der Mit- 4 Anerkennung nach dem Motto: Jedes Teammitglied sollte
arbeiter gerichtet, und zwar auf extrinsische und intrinsische irgendwann für irgendetwas gelobt werden. Dadurch
Aspekte. werden die Einzelnen motiviert, ihre Möglichkeiten für den
4 Die intrinsische Motivation stammt aus dem Arbeitsvoll- Erfolg des Teams einzusetzen.
zug selbst und kann bei Teamarbeit darin bestehen, dass 4 Lern- und Entwicklungsmöglichkeiten, denn Teambe-
die Arbeitsatmosphäre, das Arbeitsklima und die kollegiale sprechungen bieten Gelegenheit, voneinander zu lernen.
Zusammenarbeit einen hohen Stellenwert haben. 4 Das Ende der Besprechung sollte für allgemeine Verlaut-
4 Die extrinsische Motivation kann sich bei Teamarbeit barungen genutzt werden.
auf ein aus ihr kommendes Prestige und auf Anerkennung
beziehen, auch auf finanzielle Belohnungen gelungener
Teamarbeit.

Wie . Abb. 19.17 zeigt, kann man in Teams verschiedene Kom-


munikationsstrukturen unterscheiden. Egalitär-dezentrale Kom-
munikationsstrukturen (alle sind gleichberechtigt und stehen
miteinander in Verbindung, z. B. bei der Totalstruktur) werden
v. a. für komplexe, teilbare Aufgaben empfohlen. Allerdings ist bei
dieser Struktur die Anzahl der Mitglieder gering zu halten, da
19 sonst der Kommunikationsfluss unübersichtlich wird. Für Zu-
sammenkünfte (Meetings) größerer Teams werden denn auch
direktivere Vorgehensweisen vorgeschlagen, wie beispielsweise die
Diskussionsleitung anhand einer beschlossenen Tagesordnung.
Zur erfolgreichen Gestaltung von Meetings werden in der Fach-
literatur die folgenden Ratschläge gegeben (Born u. Eiselin 1996):
4 Thematisierung bisheriger Leistungen und Fehlschläge.
4 Kontinuität, d. h. inhaltliche Anbindung an die letzte Be-
sprechung.
4 Problemlösung und Planung, konzentriert auf 3 Fragen:
. Abb. 19.17 Kommunikationsstrukturen in Teams. Bei egalitär-de-
Was muss getan werden? Wer ist bereit, es zu tun? Welche zentralen Strukturen empfiehlt sich, die Teamgröße relativ gering zu halten.
Mittel braucht er/sie dazu? (Aus Schneider 1975)
19.4 · Psychologie in Organisationen
815 19

. Abb. 19.18 Einigkeit macht entschlussfreudig. Gruppen treffen andere Entscheidungen als Einzelpersonen, sie hinterfragen weniger und neigen zu
höherer Risikobereitschaft. (© photos.com)

Zu den möglichen Gefahren von Teamarbeit zählt Leistungs- mationen befangen. Boos (1996) hat Entscheidungsprozesse in
abfall; er kann dadurch entstehen, dass die einzelnen Mitglieder Gruppen untersucht und weist auf die möglichen Auswirkungen
ihre spezifischen Beiträge nicht gewürdigt sehen. Dies lässt ihre der Positionsmacht einzelner Gruppenmitglieder hin. Diese Posi-
Motivation sinken, und es kommt zu einem höheren Zeitauf- tionsmacht (eines Vorgesetzten beispielsweise) könne die Mög-
wand bei der Entscheidungsfindung. Kulturelle und ethnische lichkeiten der Nutzung der Perspektivenvielfalt einschränken:
Abgeschlossenheit, Gruppendruck und Rollenstereotypisierun- Von daher erscheint es notwendig, Trainingskonzepte und Mode-
gen können Teamarbeit belasten oder die Eingliederung neuer rationstechniken weiterzuentwickeln, um gegen die – zumindest
Mitglieder erschweren. Sind die Motive der Gruppenmitglieder in hierarchisch strukturierten Organisationen – vorherrschende
sehr unterschiedlich, so kann es schwierig sein, die Gruppe als Tendenz zur bei komplexen Problemen dysfunktionalen Nutzung
Ganzes zu motivieren. Insbesondere zwei Phänomene können von Positionsmacht anzusteuern. Auch Vorgesetzte sollten sich
die Entscheidungsfindung beeinträchtigen: Gruppenpolarisie- bei der Gruppendiskussion mit ihren Mitarbeitern auf die Mode-
rung (»group polarization«) und Gruppendenken (»group ration des Gesprächs beschränken. Vor allem dann, wenn ihnen
think«; 7 Abschn. 15.2.3). an der Nutzung des Gruppenvorteils tatsächlich gelegen ist, sollten
Gruppenpolarisierung kann zu einem Risikoschub (»risky sie sich auf die Steuerung des Gruppenprozesses konzentrieren
shift«) führen. Innerhalb von Gruppen können über Konformi- und sich inhaltlich völlig zurückhalten.
tätsprozesse extremere einheitliche Meinungen entstehen. Mit- Besondere Aufgaben haben die Gruppen, die man als Quali-
glieder, die an Gruppendiskussionen über Entscheidungen teil- tätszirkel bezeichnet. Qualitätszirkel wurden ursprünglich, d. h.
genommen haben, verschieben ihre Entscheidungen in Richtung von ihren japanischen Anwendern, definiert als Gesprächs-
auf Extreme: »Vorsichtige« Gruppen werden noch vorsichtiger, gruppen mit weniger als 10 Teilnehmern, die arbeitsbezogene
Gruppen mit höherer Risikobereitschaft werden noch risikofreu- Themen untersuchen (Antoni 1990). Sie sollen der Steigerung
diger. Dieses Phänomen wurde in zahlreichen Untersuchungen der Produktqualität und Produktivität dienen sowie zur Verbes-
bestätigt. serung der Arbeitszufriedenheit, der Zusammenarbeit und der
Auch Gruppendenken kann dazu führen, dass die Risiko- Qualifikation beitragen. Befragungen zeigten weitgehend posi-
bereitschaft größer wird: Harmoniebedürfnis kann in Teams tive Einschätzungen von Beteiligten aller Hierarchieebenen
einen Gruppendruck erzeugen, der kritisches Denken verhindert (Koordinatoren, Abteilungsleiter, Meister und Mitarbeiter). Als
(. Abb. 19.18). Selbstüberschätzung kann ebenfalls den Blick ein- Konfliktfelder erwiesen sich in einigen Studien ungenügende
engen: Es werden zu wenige Optionen geprüft, Ziele und Voraus- Unterstützung durch das mittlere Management sowie zu hohe
setzungen von Entscheidungen zu wenig hinterfragt, die Risiken Erwartungen seitens der Mitarbeiter und der Vorgesetzten. Kri-
der bevorzugten Strategie nur unzureichend überprüft, Alterna- tisiert wird die zu lange Umsetzungsdauer von Vorschlägen so-
tiven zu rasch verworfen und nicht erneut beurteilt, die Infor- wie fehlende Zeit für die Durchführung der Qualitätszirkel
mationsbeschaffung ist unzureichend und der Umgang mit Infor- (Antoni 1990; Bungard u. Antoni 2007).
816 Kapitel 19 · Arbeits- und Organisationspsychologie

. Abb. 19.19 Führen will gelernt sein. (© Claudia Styrsky)

Qualitätszirkel (»quality circle«) – Gesprächsgruppen von maximal Gibt es Persönlichkeitsmerkmale, die auf Führungseigen-
10 Mitarbeitern eines Arbeitsbereichs, die arbeitsbezogene Themen unter- schaften verweisen? Hängen sie vielleicht mit (erfolgreichen)
suchen und Lösungsvorschläge erarbeiten.
Führungsstilen und Führungsverhalten zusammen? Bei einer
Gruppenarbeit jeglicher Art muss gut in die Organisation inte- Vielzahl von Persönlichkeitsmerkmalen wie Aktivität, Energie,
griert sein. Auch eine gut motivierte und leistungsfähige Gruppe Erziehung, sozialem Status, Intelligenz, Aufstiegswille, Domi-
könnte sich sonst irgendwann Ziele setzen, die mit denen der nanz, Selbstvertrauen, Leistungsmotivation, Drang, andere zu
Organisation nicht übereinstimmen. übertreffen, Kontaktfähigkeit und sozialen Fertigkeiten fand
Hier stellt sich die Frage nach der Art der Steuerung bzw. man tatsächlich einen korrelativen Bezug – wenngleich einen
Führung im Rahmen von Organisationen. Damit befasst sich der geringen – zum Führungserfolg (Stogdill 1974). Allerdings kann
folgende Abschnitt. man aus solchen Korrelationen nicht schließen, dass das jewei-
lige Merkmal den Erfolg verursachte. Es könnte sich um einen
Selbstselektionseffekt handeln: Menschen suchen Situationen,
19.4.3 Führung in denen sie erfolgreich sein können – in anderen Situationen
wären sie es vielleicht nicht. Es könnte sich auch um einen Effekt
der Sozialisation handeln: Die Menschen sind in die Situation
? 19.17 Warum kommt es bei der Erfassung von Bedingungen
hineingewachsen, indem sie die jeweiligen Eigenschaften ent-
erfolgreicher Führung nicht allein auf die Eigenschaften der
wickelten (. Abb. 19.19).
Führenden an?
Mit Führungserfolg verbundene Eigenschaften müssen län-
Führung ist aus organisationspsychologischer Sicht »ein Sam- gerfristig im Zusammenhang mit der Dynamik der Situation und
melbegriff für alle Interaktionsprozesse, in denen eine ab- mit weiteren Persönlichkeitsmerkmalen betrachtet werden.
sichtliche soziale Einflussnahme auf andere Personen zur Er- Was machen Menschen, die gut führen? Ein anderer Versuch
19 füllung gemeinsamer Aufgaben im Kontext einer strukturier- der Erklärung von Führungsverhalten richtete sich auf Führungs-
ten Arbeitssituation zu Grunde liegt« (Wegge u. von Rosenstiel stile. Die frühe experimentelle Führungsstilforschung Lewins
2007, S. 476). und seiner Mitarbeiter verglich drei Führungsstile (Lewin et al.
1939): den autoritären (oder autokratischen), den demokratischen
Führung (»leadership«) – Einflussnahme mittels Kommunikation zwecks
gemeinsamer Aufgabenbearbeitung. und den Laissez-faire-Stil. Sie fanden, dass die Mehrzahl der un-
tersuchten Schüler den demokratischen Stil bevorzugte und dass
Mittlerweile wird darauf hingewiesen, dass es sich bei Führung sich in autoritär (autokratisch) geführten Gruppen ein aggressives
um ein interaktives Geschehen sozialer Beeinflussung handelt Klima entwickelte. Weiterhin beobachteten Lewin und Mitar-
und nicht (nur) um die Eigenschaften und Handlungsweisen beiter, dass in autoritär geführten Gruppen bei Anwesenheit des
derer, die führen. Diese Sichtweise hat sich mittlerweile durchge- Führenden die Leistung höher war, in demokratisch geführten
setzt. Am Anfang der Führungsforschung stand jedoch die Frage: hingegen bei Abwesenheit des Führenden. Nachfolgende Untersu-
Haben Menschen, die gut führen, besondere Eigenschaften? chungen zeigten, dass diese Ergebnisse nicht allgemeingültig sind.
19.4 · Psychologie in Organisationen
817 19
Ein Problem der experimentellen Führungsforschung be- Führungssituationen (gute Beziehungen, klare Struktur, große
steht zudem darin, dass der Stil der Führung – ähnlich wie eine Macht) und in sehr ungünstigen Führungssituationen (negative
überdauernde Eigenschaft – vorgegeben und in seiner Wirkung Ausprägung der Parameter) ist nach Fiedler ein aufgabenorien-
auf die geführte Gruppe untersucht wird. Die oben erwähnten tierter, in mittleren Situationen ein mitarbeiterorientierter Vor-
Interaktionsprozesse, die bei realem Führungsverhalten so wich- gesetzter erfolgreich. Fiedler hat daraus gefolgert, dass Füh-
tig sind, können also gar nicht erfasst werden, weil der Versuchs- rungspersonen entsprechend ihren Orientierungen platziert
aufbau sie ausschließt: Je nach Versuchsbedingung muss auto- werden sollten. Sein Ansatz ist kritisiert worden: Unter anderem
ritäres oder demokratisches Verhalten durchgehalten werden. In wurde moniert, das LPC-Maß als Indikator einer überdauernden
der Realität würden sich Menschen in Führungspositionen viel- Orientierung sei weder hinreichend begründet noch empirisch
leicht je nach Situation oder Bedürfnissen der Gruppen unter- abgesichert, auch sei die Bestimmung der Situationsmerkmale
schiedlich verhalten. problematisch (von Rosenstiel 2007).
Ein anderer Ansatz (die sog. Ohio-Studien; Fleishman 1973) Weitere Ansätze beziehen die Motivationslage der Geführten
besteht darin, die Geführten, d. h. die Mitarbeiter, über das Ver- oder deren Reife ein, oder sie nehmen als dritte Dimension die
halten der Führenden, d. h. der Vorgesetzten, zu befragen. Auch Effektivität in das Modell auf. Dabei verweisen sie darauf, dass je
diese Erhebungen sind mit methodischen Problemen, wie etwa nach Kontext jedes Mischungsverhältnis von Mitarbeiterorien-
den unbefriedigenden Gütekriterien, behaftet. Zwei voneinander tiertheit und Aufgabenorientiertheit effektiv oder ineffektiv aus-
unabhängige Faktoren ließen sich jedoch zuverlässig ermitteln: fallen kann. Bewährt hat sich – für die sensible Wahrnehmung der
4 »Consideration« (praktische Besorgtheit, Mitarbeiter- eigenen Führungssituation – in der Praxis der Ansatz von Vroom
orientierung): Der Führende sichert und unterstützt den u. Yetton (1973; von Rosenstiel 2007), der deswegen hier in sche-
Gruppenzusammenhalt. matischer Form dargestellt wird (. Abb. 19.20). Vroom u. Yetton
4 »Initiating structure« (Aufgabeninitiierung und -strukturie- gehen davon aus, dass sich der Gruppenführer um Rationalität
rung, Aufgaben- und Leistungsorientierung): Der Führende bemüht, und sehen in der Art seines Entscheidungsverhaltens
sichert die Zielerreichung. einen wichtigen Aspekt von Führung. Führungsentscheidungen
sollten sich durch Qualität und Akzeptanz auszeichnen, außerdem
Auch bei diesem Ansatz wird nicht hinreichend berücksich- zeitökonomisch getroffen werden. Abhängig von gegebenen Be-
tigt, dass Führung ein Interaktionsphänomen ist. Beispielsweise dingungen führt die eine oder andere Form der Entscheidung zu
könnte sich ein Vorgesetzter, abhängig von ganz unterschied- besseren Führungsergebnissen. Die Aufgabe für den Führer einer
lichen situativen oder personalen Gegebenheiten, einzelnen Mit- Gruppe oder den Vorgesetzten liegt darin, zu erkennen, welche Art
arbeitern gegenüber tatsächlich sehr unterschiedlich verhalten. des Entscheidungsverhaltens in welcher Situation angemessen ist.
Das könnte erklären, warum standardisierte Fragebogen oft sehr Für Führungsverhalten in Gruppen konnte weder die optimale
unterschiedliche Befragungsergebnisse erbringen. Die psycholo- Persönlichkeit noch das optimale Verhalten ermittelt werden, son-
gisch orientierte Führungsforschung der 1960er und 1970er Jahre dern die konkrete Umgebung muss mit berücksichtigt werden.
fragte nach den Situationsparametern erfolgreichen Führens. Transaktionale Führung ist ein Austauschprozess und lern-
Das erste ausformulierte Kontingenzmodell hat Fiedler theoretisch begründet: Erwünschtes, im Sinne der vorgegebenen
(1967, 1987) vorgestellt: Die Motivation des Vorgesetzten ist zwi- Zielsetzung erfolgreiches Verhalten wird kontinuierlich belohnt,
schen den Polen Mitarbeiterorientiertheit und Aufgabenorien- Verfehlungen werden bestraft. Damit soll erreicht werden, dass
tiertheit lokalisiert. Dies wird durch das LPC-Maß ermittelt: Die der Mitarbeiter etwas leistet und dadurch Zufriedenheit gewinnt.
Führungsperson schätzt ihren am wenigsten geschätzten Mitar- Das setzt allerdings voraus, dass die Mitarbeiter das Belohnungs-
beiter (»least preferred coworker«) ein. Wird dieser noch relativ system als fair erleben (Kauffeld 2011, S. 74).
positiv gesehen, gilt die Führungsperson als mitarbeiterorien- Mit »transformationaler Führung« ist etwas gemeint, das da-
tiert, wird er sehr kritisch gesehen, gilt die Führungsperson als rüber hinausgeht: Transaktionale Führung soll den Mitarbeiter
aufgabenorientiert. durch idealisierten Einfluss, inspirierende Motivation, intellek-
tuelle Stimulation und individualisierte Behandlung motivieren
Kontingenzmodell (»contingency model«) – beschreibt Führung als das
Ergebnis situationsabhängiger Prozesse, die zwischen Führungsverhalten (7 Abschn. 12.5.2). Kritische Einwände beziehen sich auf das
und Führung vermitteln. positive Denken, das diesem Ansatz zugrunde liege (Nerdinger
LPC-Maß (»LPC measure«) – Beschreibung des am wenigsten geschätzten 2011, S. 89) und auf mögliche Auswirkungen auf das Stressemp-
Mitarbeiters als Maß für die Mitarbeiterorientierung eines Vorgesetzten. finden der Mitarbeiter (Kauffeld 2011, S. 76).
Eine mitarbeiterorientierte Führungskraft zeichnet sich dadurch aus, dass
sie diesen noch relativ positiv sieht.
360°-Feedback – eine Methode
Die Führungssituationen werden bestimmt durch die Beziehun- zur Führungsentwicklung
gen zwischen Führungsperson und Gruppe, durch die Aufga- Ansätze und Methoden der Führungsentwicklung betonen die
benstruktur und durch die Positionsmacht. In sehr günstigen situativen und interaktionalen Aspekte von Führung: So wird
818 Kapitel 19 · Arbeits- und Organisationspsychologie

. Abb. 19.20 Entscheidungsbaum. Vroom u. Yetton (1973) stellen das Entscheidungsverhalten exemplarisch in einer Baumstruktur dar, die zur Wahl
einer empfehlenswerten Entscheidungsform führt (MA Mitarbeiter). (Figure from Leadership and Decision-Making, by Victor H. Vroom and Philip W. Yetton,
© 1973. Reprinted by permission of the University of Pittsburgh Press)

»Leadership Development« definiert als »die Erweiterung der 360°-Feedback (»360° feedback«) – Menschen, die in unterschiedlicher
gemeinsamen Kapazität von Mitgliedern einer Organisation, Beziehung zu dem zu Beurteilenden stehen und/oder aus unterschied-
lichen Gründen an den Ergebnissen interessiert sind, geben Rückmeldung
19 sich effizient in Führungsrollen und Führungsprozessen zu zur Arbeitsleistung einer Person.
engagieren« (Day 2001, S. 582).
Zu den Methoden, die einen entwicklungsbezogenen und Dies bedeutet, dass Berichte und Beurteilungen von Kollegen,
interaktiven Ansatz unterstützen, kann das 360°-Feedback ge- von Vorgesetzten, auch von Kunden und Lieferanten einbezogen
zählt werden. Diese Methode, die entwickelt wurde, um Leis- werden. Ihre Professoren könnten beispielsweise Beurteilungen
tungssteigerungen anzuregen, erfreut sich beachtlicher Popula- von Studierenden, von Kollegen aus dem Fachbereich, vom De-
rität. Sie soll von allen »Fortune-500-Gesellschaften«, also den kan der Fakultät, vielleicht auch aus dem Sekretariat erhalten.
500 größten amerikanischen Industrieunternehmen, eingeführt Der Vorteil dieser Methode besteht darin, dass man so einen
oder wenigstens geplant worden sein (London u. Smither 1995). umfassenden und genauen Eindruck der Leistung eines Mit-
Was ist damit gemeint? Feedback soll aus allen 360° eines Kreises arbeiters erhält (. Abb. 19.21).
relevanter Wahrnehmungen, also aus allen Perspektiven bzw. Leistung kann in unterschiedlichen Kontexten unterschied-
unterschiedlichen Quellen, eingeholt werden. (7 Abschn. 12.5.1) lich sein und unterschiedlich bewertet werden. Menschen ver-
19.5 · Arbeit und Persönlichkeit: Auswahl und Auswirkungen
819 19
schen auch verletzt oder gekränkt, wenn das Feedback etwa für
sie enttäuschend ausfällt. Dies bedeutet, dass es wichtig ist, Feed-
back so zu vermitteln, dass die Menschen, die es erhalten, es auch
annehmen können, dass sie Veränderungen gegenüber offen
sein können. Darüber hinaus müssen alle Beteiligten auch wissen,
dass Veränderung meist nicht leicht zu haben ist, sondern erar-
beitet werden muss. Konsequenterweise wurde vorgeschlagen,
360°-Feedback mit Coaching zu verbinden, um Veränderungspro-
zesse zu erleichtern (Day 2001). Beim Coaching handelt es sich
um einen interaktiven und personzentrierten Beratungsprozess
für Personen mit Führungs- und Managementaufgaben, zu dem
die Förderung der Selbstreflexion gehört (Rauen 2005).

Prüfen Sie Ihr Wissen

. Abb. 19.21 360°-Feedback. Mit dem 360°-Feedback werden Ihr Wissen, 5 Was zeichnet gute Führung aus?
Ihre Fähigkeiten und Ihr Verhalten von Ihnen selbst und denjenigen be-
urteilt, die mit Ihnen zusammenarbeiten. Ein Professor z. B. könnte vom De-
kan, seinen Studenten und von anderen Professoren bewertet werden.
Nachdem die Ratings vorliegen, diskutiert der Professor das 360°-Feedback
mit dem Dekan 19.5 Arbeit und Persönlichkeit:
Auswahl und Auswirkungen

halten sich unterschiedlich in unterschiedlichen Kreisen und Idealerweise sollte eine passende Stelle nicht nur den Qualifika-
werden aus unterschiedlichen Blickwinkeln unterschiedlich tionen der betreffenden Person entsprechen, sondern auch ihren
wahrgenommen. Dies wird von dieser Methode anerkannt und Neigungen und Werthaltungen entgegenkommen. Um Auswahl-
lässt sich dadurch belegen, dass die Korrelationen von Bewertun- prozesse zu optimieren, stehen in der Psychologie verschiedene
gen aus unterschiedlichen Quellen gering sind. Instrumente zur Verfügung. Forschungsergebnisse bestätigen,
Was macht 360°-Feedback so nützlich? Es kann die bewusste dass Qualifikation nicht allein ausschlaggebend ist; auch weitere
Wahrnehmung der eigenen Potenziale und Schwächen fördern Merkmale wie etwa Kohortenzugehörigkeit und Geschlecht sind
und so dazu beitragen, dass Projekte nicht durch suboptimale von Bedeutung.
Leistung gefährdet werden. Es fördert Selbsterkenntnis und
schult das Bewusstsein der eigenen Wirkung auf andere, kann
somit Abwanderung und Fluktuation – etwa aufgrund nicht 19.5.1 Personalauswahl
wahrgenommener und nicht thematisierter Probleme – verhin-
dern und das intellektuelle Kapital einer Organisation erhalten
? 19.18 Was sind gebräuchliche Verfahren der Personalaus-
helfen.
wahl? Wie sind sie zu bewerten?
Doch wann ist diese Form von Feedback wirklich nützlich?
Eigentlich klingt es sehr vernünftig. Von allen Seiten wird eine Die psychologische Berufseignungsdiagnostik hat die Aufgabe,
Rückmeldung eingeholt, diese wird genau betrachtet und der be- Zusammenhänge zwischen menschlichen Merkmalen und be-
treffende Mitarbeiter erfährt, wie die anderen ihn sehen und was ruflichem Erfolg zu entdecken und Methoden zu entwickeln,
er an seinem Verhalten verbessern kann. Der Vergleich des Selbst- damit beides gemessen und zueinander in Beziehung gesetzt
bildes mit den eingeholten Fremdbildern kann die Selbstaufmerk- wird (Schuler 2000). Ihre Anwendung finden die Ergebnisse in
samkeit verbessern und Informationen über die Wirkung des der Berufsberatung, der Personalauswahl sowie der Personal-
eigenen Verhaltens auf andere vermitteln (vgl. Scherm 2007). Es platzierung, und, insbesondere in Zeiten schwacher Konjunktur,
ist jedoch keineswegs garantiert, dass Feedback stets zu positiven beim Outplacement, also bei der Vermittlung einer Arbeitsstelle
individuellen Veränderungen führt. Tatsächlich gibt es Studien, für ausscheidende Mitarbeiter (Achouri 2007). Schon Münster-
die zeigen, dass ein Drittel aller berichteten Feedbackinterventio- berg hatte im frühen 20. Jahrhundert die Auslese der geeigneten
nen dazu führte, dass die Leistung sank. Wie kann das passieren? Persönlichkeiten als wichtige Aufgabe der Psychologen in der
Manche Menschen haben gut entwickelte Abwehrmechanismen Arbeitswelt dargestellt. Zu den frühen Methoden gehörten
und lassen Feedback nicht an sich heran, wenn es zu bedrohlich Papier- und Bleistifttests, apparative Verfahren und Arbeits-
wirkt – dann wird es keine Veränderung in Gang bringen können. proben. Biografische Fragebogen wurden seit der Jahrhundert-
Manche nehmen das Feedback vielleicht richtig wahr, wollen aber wende in den USA bei Versicherungsvertretern, Persönlichkeits-
ihr Verhalten dennoch nicht ändern. Vielleicht reagieren Men- tests seit den 1920er Jahren zur Auswahl von Verkäufern ein-
820 Kapitel 19 · Arbeits- und Organisationspsychologie

. Tab. 19.5 Ausgewählte eignungsdiagnostische Verfahren im Überblick. (Adaptiert nach Marcus 2011)

Verfahrenstyp Konstruktorientiert Simulationsorientiert Biografieorientiert


Auswahlphase (»signs«) (»samples«) (»history«)

Vorauswahl Internettests Internetsimulationen Bewerbungsunterlagen (überwiegend)


(»screening«) (Grafologie) Personalfragebogen
Referenzen

Auswahl Kognitive Fähigkeitstests Arbeitsproben Biografische Fragebogen


(»selection«) Sonstige Leistungstests Computergestützte Szenarios Unstrukturierte Interviews
Allgemeine und spezifische Persönlichkeitstests Assessment-Center (überwiegend)
Kriterienbezogene Persönlichkeitstests (COPS) Situational Judgment Tests Patterned Behavior Description Interview
Interessentests Situatives Interview

gesetzt. Intelligenztests (7 Kap. 11) wurden ab 1917 zur Auswahl Die valideste Komponente stellen vermutlich die Schul- und
amerikanischer Rekruten verwendet. Auch das Einstellungs- Examensnoten dar. Diese ermöglichen gute Voraussagen der wei-
interview zählt zu den Verfahren, die schon lange verwendet teren Ausbildungsleistungen, beispielsweise 0,46 für Studien-
werden. Heute spielt das Assessment-Center eine große Rolle bei leistungen auf der Basis von Abiturnoten (Baron-Boldt et al.
der Auswahl von Führungskräften. Dabei handelt es sich um ein 1989). Arbeitszeugnisse und Referenzschreiben erlauben immer-
multiples Verfahren, das aus Testverfahren, Arbeitsproben und hin vorsichtige Schlüsse. Außerdem kann das Einholen zusätz-
einem Interview besteht. Zu den neueren Verfahren zählen com- licher Beurteilungsinformationen früherer Arbeitgeber (»refer-
putergestützte Testsysteme, Simulationen und Diagnosesysteme ence check«) die Validität steigern (Schuler u. Höft 2007).
(Schuler 2000).
jVorstellungsgespräche oder Einstellungsinterviews
Personalauswahl (»personnel selection«) – Ermittlung der Person, die für
eine Aufgabe möglichst gut geeignet ist. Nachgewiesenermaßen wird das Vorstellungsgespräch bei po-
tenziellen Bewerbern am meisten geschätzt (Fruhner et al. 1991).
Im Folgenden werden die wichtigsten Verfahren und ihre Be- Die prognostische Validität hat sich allerdings als gering er-
wertung vorgestellt. Dabei ist die Validität von besonderer Wich- wiesen und wird in einer Vielzahl von Sammelreferaten mit
tigkeit. Die Validität gibt an, in welchem Maße ein diagnostisches 0,05 bis 0,25 angegeben (Schuler u. Höft 2007). Seine Bedeutung
Verfahren tatsächlich das Merkmal erfasst, das es erfassen soll. verdankt das Einstellungsgespräch also weniger der Vorher-
Von Bedeutung ist daneben die organisationale Effizienz oder sage möglichen beruflichen Erfolgs als einer Vielzahl anderer
Praktikabilität des Verfahrens. Damit sind sein ökonomischer Funktionen:
Nutzen, der damit verbundene Aufwand, das angestrebte Ziel, 4 Information des Bewerbers über Unternehmen, Arbeits-
seine Schwierigkeit und seine Verfügbarkeit gemeint (Schuler tätigkeit, Arbeitsplatz und Anforderungen,
2000). Kalkulationsmodelle zur Nutzenberechnung beziehen 4 Kennenlernen der Erwartungen des Bewerbers,
neben der Validität der eingesetzten Verfahren auch die Selek- 4 Information über den Arbeitsmarkt,
tionsquote und die Grundquote ein. Die Selektionsquote ist der 4 persönliches Kennenlernen,
Anteil der Ausgewählten unter den Bewerbern; die Grundquote 4 Darstellung des Unternehmens und
ist der Anteil der Geeigneten unter den Bewerbern. Differenzier- 4 Vereinbaren von Bedingungen.
tere Modelle erlauben die Berechnung des Nutzens von Auswahl-
19 verfahren bei Personalentscheidungen in Geldbeträgen (Schuler Bessere Voraussagen ermöglichen strukturierte Interviews, die
2000). Anerkannt wird mittlerweile auch die Bedeutung der mehrere Fragenprinzipien kombinieren. Das multimodale Ein-
Akzeptanz der eingesetzten Verfahren (Schuler 2000). Marcus stellungsinterview von Schuler (2002) besteht aus freien und
(2011) unterscheidet biografieorientierte, konstruktorientierte standardisierten Komponenten: Den Gesprächsbeginn bildet
und simulationsorientierte Verfahren (. Tab. 19.5). eine informelle Unterhaltung. Anschließend stellt sich der Be-
werber vor. In einem freien Gespräch knüpft der Interviewer an
Eignungsdiagnostische Verfahren die Selbstvorstellung und die ihm vorliegenden Unterlagen an.
jAuswertung der Bewerbungsunterlagen Biografiebezogene Fragen erbringen möglichst konkrete Infor-
Untersuchungen der Validität von Bewerbungsunterlagen ge- mationen über anforderungsrelevante Verhaltensweisen, die der
messen am Kriterium der Vorgesetztenbeurteilung ergaben eine Bewerber in der Vergangenheit zeigte. Der Interviewer gibt In-
durchschnittliche prognostische Validität von nicht mehr als 0,18 formationen über den Arbeitsplatz sowie über das Unternehmen
(Reilly u. Chao 1982). und leitet damit zu den situativen Fragen über (. Abb. 19.22).
19.5 · Arbeit und Persönlichkeit: Auswahl und Auswirkungen
821 19

. Abb. 19.22 Was wäre wenn? Bei situativen Interviewfragen, hier ein Beispiel von Schuler u. Höft (2007, © Verlag Hans Huber, Bern, mit freundlicher
Genehmigung), soll der Bewerber beschreiben, wie er in einer geschilderten kritischen Situation handeln würde

Diese können als mentale Tätigkeitssimulation angesehen wer- Biografische Fragebogen werden in hohem Maße bezogen
den; denn der Bewerber wird gefragt, was er in einer geschilder- auf die jeweilige Stichprobe von Bewerbern und das jeweils ver-
ten kritischen Situation machen würde. Abschließend kann der wendete Außenkriterium erstellt. Dies bedeutet, dass die Gene-
Interviewer auf Fragen des Bewerbers eingehen, der Gesprächs- ralisierbarkeit eingeschränkt ist.
verlauf kann zusammengefasst und weitere Vereinbarungen Die Vorhersagevalidität für wissenschaftliche Leistungen liegt
können getroffen werden. nach den Ergebnissen einer Metaanalyse bei 0,47 (Funke et al.
1987). Blickle (2011) berichtet Schulnoten seien gute Prädiktoren
jPersonalfragebogen des Ausbildungserfolges (r = .41), die Dauer der Berufserfahrung
Personalfragebogen sind meist betriebsspezifisch und mög- korreliere positiv mit dem Berufserfolg (r = .27) und auch Refe-
licherweise tätigkeitsspezifisch gestaltet. Sie gelten nicht als Me- renzen stünden in positiver Beziehung zu der späteren Berufsleis-
thode der psychologischen Eignungsdiagnostik im engeren tung (r = .26; nach Schuler u. Marcus 2006). Die starke Bindung
Sinne. Sie enthalten Fragen, die für den potenziellen Arbeitgeber an Stichprobe und Kriterium erfordert auch, dass das Verfahren
einstellungsrelevant sind. Zudem können sie als Grundlage der bei längerer Verwendungsdauer hinsichtlich seiner psychome-
Personalplanung genutzt werden. Personalfragebogen bedürfen trischen Eigenschaften (Reliabilität, Validität, Objektivität) über-
der Zustimmung des Betriebsrates. Sie unterliegen der Vetomit- prüft wird (Schuler 2000).
bestimmung. Die Arbeitnehmer sollen so vor Fragen geschützt
werden, die ihre Persönlichkeitssphäre verletzen. Es gibt aller- Konstruktorientierte Verfahren
dings auch Fragen, die nach gängiger Rechtsprechung ohnehin jPsychologische Tests
unzulässig sind und die auch ein Betriebsrat nicht gestatten Ein psychologischer Test ist ein standardisiertes, routinemäßig
kann. Bewerber müssen auf unzulässige Fragen nicht wahrheits- anwendbares Verfahren zur Messung individueller Verhaltens-
gemäß antworten (Schuler 2000). merkmale, aus denen Schlüsse auf Eigenschaften der betreffen-
den Person oder auf ihr Verhalten in anderen Situationen gezo-
jBiografische Fragebogen gen werden können (Schuler 2000; Brandstätter 1979; 7 Abschn.
In biografischen Fragebogen wird nach berufserfolgsrelevanten 2.6 und 7 Abschn. 12.2). In der Berufseignungsdiagnostik werden
Abschnitten der Lebensgeschichte gefragt. Sie können auch als vor allem folgende Tests eingesetzt:
standardisierte Selbstbeschreibungen charakterisiert werden. 4 Tests, die die allgemeine Intelligenz oder spezifische Kom-
Die Fragen sind konkret und erfahrungsbezogen formuliert. Für ponenten oder Faktoren (Gedächtnis, räumliches Vorstel-
einen Mitarbeiter im Versicherungsaußendienst lautet ein Item lungsvermögen) der Intelligenz erfassen,
beispielsweise: Wie wichtig war Unabhängigkeit als Grundlage 4 Tests, die Aufmerksamkeit und Konzentration prüfen,
für Ihre Berufswahl (Schuler 2000, S. 97)? Solche Items werden 4 Tests für sensorische und motorische Funktionen sowie
einzeln an einem Außenkriterium (Erfolg im Außendienst), ggf. 4 Tests für spezielle Leistungen wie beispielsweise technisches
hinsichtlich möglicher Abstufungen, validiert. Verständnis.
822 Kapitel 19 · Arbeits- und Organisationspsychologie

. Tab. 19.6 Zusammenhang der Big-Five-Variablen mit anderen berufsrelevanten Konstrukten. (Adaptiert nach Schuler u. Höft 2007, S. 305)

N E O A C

Judge, Heller & Mount (2002) –0,29 0,25 0,02 0,17 0,26
Allgemeine Berufszufriedenheit

Judge, Bono, Illies & Gerhardt (2002)1 –0,22 0,24 0,24 0,21 0,16
Beurteilte Führungseffektivität

Wahrgenommene Führung –0,24 0,33 0,24 0,05 0,33

Allgemeine Führung –0,24 0,31 0,24 0,08 0,28

Judge & Illies (2002) –0,29 0,15 0,18 –0,29 0,28


Zielorientierung

Erfolgserwartung –0,29 0,10 –0,08 0,13 0,23

Selbstwirksamkeitserwartung –0,35 0,33 0,20 0,11 0,22

N Neurotizismus; E Extraversion; O Offenheit für Erfahrung; A Verträglichkeit oder Agreeableness; C Gewissenhaftigkeit oder Conscientiousness
Anmerkungen:
Die anhand der Stichprobengröße gewichteten Koeffizienten wurden hinsichtlich der Prädiktor- und Kriteriumsvalidität sowie Varianzein-
schränkungen korrigiert.
1 = Die »beurteilte Effektivität« basiert auf entsprechenden Mitarbeiter-, Kollegen- und Vorgesetztenurteilen. In den Studien zur »wahrgenommenen
Führung« wird ein eher heterogenes Kriterienbündel (beispielsweise Soziometrieergebnisse, Nominierungen in führerlosen Gruppendiskussionen,
Übernahme von Führungsrollen etc.) herangezogen. Die »allgemeine Führung« ist ein Aggregat beider Studiengruppen.

Darüber hinaus werden Persönlichkeitstests eingesetzt (7 Kap. 14). bern scheint die internetbasierte Testung bereits geeignet. Bis-
In zahlreichen eignungsdiagnostischen Studien dient der Fünf- lang werden den Vorteilen dieser Methode (wie Flexibilität,
Faktoren-Ansatz (7 Abschn. 14.3.3; Costa u. McCrae 1992) als Be- Ökonomie und Standardisierung) noch Risiken gegenüber-
zugsrahmen (. Tab. 19.6 für einen Überblick). Zu den Persönlich- gestellt (wie mangelhafte Durchführungskontrolle, mangelhafter
keitstests gehören im weiteren Sinne auch Einstellungs-, Motiva- Schutz der ins Netz gestellten Tests und Datenschutzprobleme;
tions- und Interessenstests. Schuler u. Höft 2007).
Insbesondere Verfahren zur Messung kognitiver Fähigkeiten
haben sich als valide erwiesen, wobei sich Ausbildungsleistungen Simulationsorientierte Verfahren
besser vorhersagen lassen als andere berufliche Leistungen jArbeitsproben
(Schuler 2000). Arbeitsproben sind standardisierte Aufgaben, die inhaltlich valide
und erkennbar äquivalente Stichproben des erfolgsrelevanten
jComputergestützte Testverfahren und internetbasierte beruflichen Verhaltens provozieren (Schuler 2000). Gelegentlich
Testung wird der Ausdruck Arbeitsprobe nur für motorische Aufgaben
In diese Kategorie fallen computergestützte Tests und computer- verwendet. Häufig werden Arbeitsproben als Tests bezeichnet,
gestützte Simulationen, die mittlerweile auch im Internet zur wenn sie standardisiert und normiert vorliegen. Dass die Abgren-
Verfügung gestellt werden. Meist handelt es sich um herkömm- zung zu Testverfahren fließend ist, zeigt der englische Ausdruck
liche Tests, die auf Computer übertragen wurden und nun mit »work sample test«. Die Validität gilt als vergleichsweise hoch. Für
19 der Maus am Bildschirm anstatt wie zuvor mit dem Bleistift auf Arbeitsproben, die wie Gruppendiskussion, Postkorbaufgabe (Zu-
Papier bearbeitet werden. Auch Arbeitsproben und komplexe sammenstellung unterschiedlicher Anforderungen, die unter zeit-
Simulationen können als Computerversion bearbeitet werden. licher Begrenzung zu strukturieren und zu bearbeiten sind) und
Ausschließlich am Computer können komplexe dynamische wirtschaftliche Planspiele (»business games«) als Teilaufgaben
Problemlöseaufgaben vorgegeben werden. Diese erlauben Dia- von Assessment-Centers verwendet werden, berichten die ein-
gnosen auf drei Ebenen, nämlich der Systemsteuerung, der ein- schlägigen Studien Validitätskoeffizienten zwischen 0,25 und 0,30
gesetzten Strategien im Umgang mit dem System und des Wis- (Cascio 1987, nach Schuler u. Höft 2007). Marcus (2011) berichtet,
senserwerbs während der Auseinandersetzung mit der Aufgabe. dass der häufig zitierte Wert von 0,54 (Hunter u. Hunter 1984)
Hinsichtlich der Äquivalenz beider Darbietungsformen wird nach neueren Analysen nach unten zu korrigieren sei und verweist
empfohlen, diese für jede gesonderte Übertragung nachzu- auf die Metaanalyse von Roth, Bobko u. McFarland (2005).
weisen, da gesicherte generelle Aussagen nicht möglich seien Der offensichtliche Bezug zum Arbeitsfeld sorgt für eine
(Schuler u. Höft 2005). Zumindest zur Vorauswahl von Bewer- hohe Augenscheinvalidität und dadurch für eine hohe Akzep-
19.5 · Arbeit und Persönlichkeit: Auswahl und Auswirkungen
823 19
tanz. Allerdings erfordern Arbeitsproben einen großen Konst- wünschenswert ist. Eine neue Entwicklung besteht darin, dass
ruktionsaufwand; die Zahl der Items ist oft geringer als bei Tests Filmszenen, die beurteilt werden sollen, vorgegeben werden. Die
im herkömmlichen Sinn, und die Ergebnisse sind möglicherwei- Ausdrucksdiagnostik findet nach langer Vernachlässigung wieder
se weniger gut generalisierbar als die von Fähigkeitstests. Auch Interesse. Als wenig valide werden grafologische Gutachten ein-
muss damit gerechnet werden, dass Validitätskoeffizienten im geschätzt.
Laufe der Zeit kleiner werden (Schuler 2000).
jLeistungsbeurteilung
jAssessment-Center In den meisten Unternehmen wird der berufliche Erfolg der
Ein eignungsdiagnostisches Verfahren, das in den letzten Jahren Mitarbeiter eingeschätzt. Man kann ergebnisorientierte, verhal-
immer mehr Anhänger gefunden hat, ist das Assessment-Center. tensbezogene und eigenschaftsbezogene Beurteilungen unter-
scheiden. Beispiele für Ergebniskriterien sind Verkaufszahlen,
Assessment-Center (»assessment center«) – multiple Verfahrenstechnik zur
Auswahl und Beurteilung von Mitarbeitern, bestehend aus verschiedenen Umsätze, Fehlzeiten, Reklamationen. Sie sind vor allem dort
eignungsdiagnostischen Instrumenten und leistungsrelevanten Aufgaben. von Bedeutung, wo viele unterschiedliche Verhaltensweisen zum
Erfolg führen können, wo Verhaltensbeobachtungen nicht
Das Assessment-Center ist eine multiple Verfahrenstechnik, zu durchführbar oder verhaltensbezogene Interventionen nicht
der mehrere eignungsdiagnostische Instrumente oder leistungs- möglich sind. Verhaltensbezogene Beurteilungen setzen voraus,
relevante Aufgaben zusammengestellt werden. Sie wird verwen- dass die Zusammenhänge zwischen Verhalten und Erfolg be-
det, um aktuelle Kompetenzen einzuschätzen oder künftige Ent- kannt sind (etwa als Ergebnisse von Arbeitsanalysen), dass das
wicklungen zu prognostizieren, und wird sowohl zur Auswahl erfolgsrelevante Verhalten tatsächlich beobachtbar ist und dass
neuer Mitarbeiter eingesetzt als auch zur Beurteilung und Förde- Beurteiler wirklich verhaltensbezogen urteilen und nicht etwa
rung von Mitarbeitern im Unternehmen. Nach Schuler (1996) globale Eigenschaftseinschätzungen abgeben.
sind dabei die wichtigsten im Assessment-Center gebräuchlichen Marcus verweist auf die von ihm und Schuler (2006) weiter-
Einzelverfahren folgende: entwickelten Konzepte der aufgabenbezogenen und der umfeld-
4 individuell auszuführende Arbeitsproben und Aufgaben- bezogenen Leistung (S. 90f.). Für den Erfolg einer Organisation
simulationen (v. a. Organisations-, Planungs-, Entscheidungs-, ist wichtig, wie gut jemand die eigene Arbeit macht, aber auch, wie
Controlling- und Analyseaufgaben), jemand sich gegenüber Kollegen verhält; ein Beispiel um-
4 Gruppendiskussionen mit und ohne Rollenvergabe, feldbezogener Leistung ist die Unterstützung ungeübter Kolle-
4 sonstige Gruppenaufgaben mit Wettbewerbs- und/oder gen. Ein weiterer Begriff aus diesem Bereich ist »Organizational
Kooperationscharakteristik, Citizenship Behavior« (OCB, Organ 1988), womit freiwillig, d. h.
4 Vorträge und Präsentationen, selbstbestimmt gezeigtes Verhalten gemeint ist, das »die Funk-
4 Rollenspiele (z. B. Einstellungsinterview, Verkaufsgespräch), tionsfähigkeit der Organisation befördert, durch deren Anreizsys-
4 Interviews, tem aber nicht unmittelbar belohnt wird« (Marcus 2011, S. 92).
4 Selbstvorstellung, Nun beurteilen nicht nur Betriebe ihre Bewerber und ihre
4 Wirtschaftsspiele, Simulation komplexer Entscheidungen, Mitarbeiter, auch Mitarbeiter beurteilen ihre Arbeitgeber, bevor
4 Fähigkeits- und Leistungstests, sie entscheiden, ob sie ein Angebot annehmen oder eine Arbeit
4 Persönlichkeits- und Interessentests, weiter ausüben. Zur Selektion kann die Selbstselektion hinzu-
4 biografische Fragebogen. kommen. Die Probezeit gibt üblicherweise beiden Parteien Zeit
und Gelegenheit, ihre Entscheidung zu überprüfen.
Etwa 6–12 Personen nehmen gleichzeitig als zu Beurteilende teil.
Sie werden von mehreren unabhängigen Beurteilern (typischer-
weise zwei Hierarchieebenen über der Zielebene) eingeschätzt. 19.5.2 Wer kommt wann voran?
Die Validität ist abhängig von der kompetenten Auswahl der Ver-
fahren und der Sorgfalt der Durchführung. Kauffeld berichtet,
? 19.19 Welche Bedingungen fördern die berufliche Ent-
dass sich der durchschnittliche korrigierte Validitätskoeffizient
wicklung?
in den vergangenen 20 Jahren verringert habe (2011, S. 104),
Blickle gibt zu bedenken, dass in der Praxis die dargebotenen Wissen Sie noch, welche Berufspläne Sie hatten, als Sie 16 Jahre
Aufgaben den Anforderungen der zu vergebenden Position oft alt waren? Haben Sie Ihre Ziele erreicht? Woran könnte das ge-
nicht so entsprächen, wie es der Grundgedanke der Simulation legen haben? Daten einer Längsschnittstudie, die Schoon u.
nahe lege. Außerdem empfiehlt er Beobachtertrainings, um Be- Parsons (2002) in Großbritannien durchführten, geben Hin-
urteilungsverzerrungen vorzubeugen (Blickle 2011, S. 232). weise darauf. Personen aus zwei Geburtskohorten, also gleichen
Außer den dargestellten Verfahren ist die Bewertung von Alters, aber aus unterschiedlichen Geburtsjahrgängen (1958 und
Fachkenntnissen von Bedeutung, deren standardisierte Erfassung 1970), wurden über Jahre hinweg wiederholt befragt. Für die
824 Kapitel 19 · Arbeits- und Organisationspsychologie

Frage nach den Auswirkungen der berufsbezogenen Wünsche derum wirken sich darauf aus, was sich die Kinder wünschen,
auf die spätere berufliche Tätigkeit wurden Daten, die an den sowie auf das, was sie später erreichen. Schoon u. Parsons (2002)
Jugendlichen im Alter von 16 Jahren erhoben worden waren, ver- betonen, dass es wichtig ist, den Kontext berufsbezogener Ent-
glichen mit Daten der jungen Erwachsenen im Alter von 26 wicklungsprozesse zu berücksichtigen und in Zukunft weitere
(Kohorte von 1970) bzw. 33 Jahren (Kohorte von 1958). Es Unterschiede einzubeziehen (wie unterschiedliche Schulen, Re-
wurden außerdem Daten zur sozialen Schicht der Eltern, zu den gionen und Geschlecht).
materiellen Bedingungen der Familie, zu den Wünschen der
Eltern hinsichtlich der Berufswahl ihrer Kinder sowie zu den Karriereentwicklung bei Frauen
schulischen Leistungen der Jugendlichen erhoben. Ein anhaltend aktuelles Thema der Arbeits- und Organisations-
psychologie ist die Karriereentwicklung bei Frauen. Die Lebens-
Kohorte (»cohort«) – Population, deren Mitglieder im selben Zeitraum
geboren wurden. welten von Frauen haben sich in den letzten 100 Jahren beachtlich
geändert: Frauen haben mehr Zeit für außerhäusliche Aufgaben,
Dass man die Wünsche, die die Jugendlichen genannt hatten, und sie sind sehr viel besser ausgebildet. Umfrageergebnisse bele-
sowie die weiteren genannten Bedingungen direkt erfasste und gen, dass Frauen den Beruf als ganz wesentliches Element ihrer
Jahre später mit den Situationen der erneut befragten Erwachse- Lebensplanung betrachten (Abele 1997). Es gibt jedoch immer
nen verglich, war mit viel Aufwand verbunden: Jahrelang müssen noch einen geteilten Arbeitsmarkt, der Frauen benachteiligt:
für eine solche Studie Adressen verwaltet und immer wieder ak- 4 Frauen arbeiten überwiegend auf Teilzeitarbeitsplätzen,
tualisiert werden; immer wieder müssen die Menschen aufge- die es in gehobenen Positionen kaum gibt.
sucht und von (wechselnden) Forschern zu den unterschied- 4 Frauen sind häufiger nicht ihrer Ausbildung entsprechend
lichen Zeitpunkten befragt werden. Vergleicht man, wie in dieser beschäftigt.
Studie, unterschiedliche Geburtskohorten, wird der Aufwand 4 Frauen sind überproportional von Arbeitslosigkeit be-
noch größer, weil man nun beide Kohorten in derselben Reihen- troffen.
folge und in vergleichbaren zeitlichen Abständen befragen muss. 4 Frauen verdienen weniger als Männer.
Warum das alles? Es geht darum, den Einfluss von Alter der Be- 4 Frauen sind in weniger und oft in »frauentypischen«
fragten und sozialen Bedingungen zum Befragungszeitpunkt Berufen wie Friseurin oder Verkäuferin vertreten.
getrennt zu erfassen. Nur so kann man entscheiden, was auf
das Alter der Befragten, was auf Veränderungen anderer gesell- Frauen sind immer noch vergleichsweise selten in Führungs-
schaftlich-historischer Bedingungen (hier: Veränderungen am positionen zu finden, sei es in Wirtschaft, Wissenschaft, Politik
Arbeitsmarkt) zurückzuführen ist. oder Verwaltung.
Es zeigte sich, dass für beide Kohorten die Wünsche der Im Forschungsprogramm von Andrea Abele-Brehm wird
Jugendlichen von Bedeutung waren. Wer ehrgeiziger war, hatte eine sozialpsychologische Perspektive mit einem entwicklungs-
später wirklich einen qualifizierteren Beruf. Allerdings gab es psychologischen Vorgehen verknüpft (Abele-Brehm 2002). Vor-
zwischen beiden Kohorten bemerkenswerte Unterschiede: Bei geschlagen wird ein sozial-kognitives Modell der Lebensplanung
den 1958 Geborenen waren die Schulleistungen für die Formu- in Beruf und Familie, in dem der doppelte Einfluss von »Ge-
lierung von Wünschen sowie für deren Realisierung weniger von schlecht« als sozialer Kategorie oder Außenperspektive und als
Bedeutung als bei den 1970 Geborenen. Auch war der Zusam- Teil des Selbstkonzepts von Personen oder Innenperspektive
menhang zwischen dem eigenen Wunsch und dem später Er- untersucht wird.
reichten bei den Älteren etwas stärker. Was war passiert? Der Generell müssen die folgenden drei Aspekte des Geschlechts
Arbeitsmarkt, der bezogen auf die ältere Kohorte auch weniger unterschieden werden (. Abb. 19.23): Geschlecht ist ein biologi-
Qualifizierten Chancen geboten hatte, hatte sich verändert. Für sches Merkmal (Beispiel: Frauen bekommen Kinder), Geschlecht
19 die später Geborenen waren die Schulleistung und Qualifikatio- ist ein soziales Merkmal, das u. a. von vorhandenen Stereotypen
nen wichtiger geworden. Die Zugehörigkeit zur sozialen Schicht beeinflusst wird (Beispiel: Frauen können als »sehr weiblich«
hatte bei den später Geborenen ebenfalls einen stärkeren Einfluss und gefühlsbetont bzw. expressiv oder »eher maskulin« und aktiv
auf die spätere Tätigkeit. Die Autorinnen vermuten, dass sich für und durchsetzungsfähig bzw. instrumentell wahrgenommen
die spätere Kohorte die materiellen Bedingungen zwar insgesamt werden). »Geschlecht« ist außerdem ein psychologisches Merk-
verbessert haben, dass aber diejenigen, die bei allgemein gestie- mal; dies bedeutet, dass jede Person in ihrem Selbstkonzept An-
genem Lebensstandard in ärmlichen Verhältnissen lebten, eine teile hat, die sich auf ihre Geschlechtszugehörigkeit beziehen
relativ höhere Benachteiligung erfuhren als die, die 12 Jahre zu- (Beispiel: Eine Person kann sich »eher weibliche« im Sinne von
vor unter ärmlichen Bedingungen lebten. Wenn die materiellen einfühlsamen, expressiven Eigenschaften zuschreiben – oder
Bedingungen karg sind und die Eltern selbst wenig Hoffnung in auch nicht). Bei der Analyse geschlechtsvergleichender Berufs-
die berufliche Zukunft ihrer Kinder setzen, wirkt sich das bereits laufbahnentwicklung müssen diese drei Aspekte von Geschlecht
ungünstig auf die Schulleistungen aus. Die Schulleistungen wie- betrachtet werden.
19.5 · Arbeit und Persönlichkeit: Auswahl und Auswirkungen
825 19

. Abb. 19.23 Der doppelte Einfluss von »Geschlecht«. Nach dem Modell von Abele (2002, mit freundlicher Genehmigung von Andrea E. Abele-Brehm)
kann sich das Geschlecht sowohl über die soziale Kategorie (Außenperspektive) als auch über das Selbstkonzept (Innenperspektive) auf die Lebensplanung
auswirken

Das Geschlecht wirkt sowohl über die Außenperspektive Zusatzqualifikationen. Es gab auch keine Unterschiede bei der
(wie jemand gesehen wird) als auch über die Innenperspektive allgemeinen beruflichen Motivation. Allerdings zeigten Männer
(wie jemand sich selbst sieht) auf berufsbezogene Prozesse ein. eher eine »harte« Karriereorientierung, bei der der Beruf im
Man unterscheidet hier zwischen Instrumentalitäts- und Expres- Zentrum der Lebensplanung steht, während für Frauen eher der
sivitätsanteilen. Instrumentalität ist eher durch maskuline Eigen- durchaus wichtige Beruf mit anderen Lebensbereichen koordi-
schaften wie Durchsetzungsfähigkeit und Unabhängigkeit niert werden soll (Abele 2002). Dabei geben Männer und Frauen
gekennzeichnet, Expressivität eher durch feminine Eigenschaf- ähnliche Lebensziele an: Über zwei Drittel der Befragten beider-
ten wie Fürsorglichkeit und Einfühlsamkeit. lei Geschlechts wünschen sich etwa Kinder, wobei die Konse-
Bezogen auf die Innenperspektive: Je nach Instrumentalitäts- quenzen unterschiedlich gesehen werden. Über 80% der be-
und Expressivitätsanteilen stellen Personen unterschiedliche Er- fragten Frauen, aber nur 37% der befragten Männer gaben an,
wartungen auch an ihre Berufslaufbahn und verhalten sich auch sie würden dafür ihr berufliches Engagement verringern. Was
entsprechend unterschiedlich. Beispielsweise korreliert Instru- die Geschlechtsrollenorientierung angeht, so hatten Frauen
mentalität mit Karriereorientierung. Hinsichtlich der Außen- höhere Werte bei Expressivität, bei Instrumentalität gab es keine
perspektive zeigte sich: Frauen in Führungspositionen werden Unterschiede.
umso weniger akzeptiert, je stärker ihr Arbeitsbereich vom Eineinhalb Jahre später wurde erneut gefragt und verglichen.
Stereotyp der weiblichen Geschlechtsrolle abweicht (Eagly u. Kinderlose Frauen waren so oft berufstätig wie Männer, Frauen
Karau 2002). In frauentypischen Berufsfeldern werden Männer mit Kind(ern) sehr viel seltener. Wenn Frauen berufstätig sind,
und Frauen als gleich effektiv wahrgenommen, in männerty- sind sie es oft mit weniger Erfolg (. Abb. 19.24). Häufiger als
pischen und neutralen werden die Aussichten von Frauen skep- Männer sind sie in inadäquaten Beschäftigungsverhältnissen
tischer beurteilt (Garcia-Retamero u. Lopez-Zafra 2006). zu finden – z. B. die Kunsthistorikerin, die als Sekretärin jobbt.
Dazu kommen Rückkoppelungsprozesse. Dies bedeutet, Auch Frauen ohne Kinder ziehen nicht mit den Männern
dass berufsbezogene Prozesse die Innenperspektive hinsichtlich gleich; hier fand sich ein kleiner, aber signifikanter Unterschied
Expressivität und Instrumentalität verändern können. Eine Me- (Abele 2002).
taanalyse erbrachte, dass über 30 Jahre hinweg die in entspre- Aufgrund besserer Noten, kürzerer Studiendauer, höheren
chenden Fragebogen erhobenen Expressivitätswerte von Frauen beruflichen Selbstvertrauens und höherer Instrumentalität kann
relativ stabil höher sind als die von Männern. Die Instrumen- man einen besseren Start voraussagen. Geschlechtsunterschiede
talitätswerte hingegen stiegen bei beiden Geschlechtern und gibt es in diesen Variablen nicht. Eine akademische Berufsein-
näherten sich zwischen Männern und Frauen an (Twenge 1997). steigerin kann zum falschen Zeitpunkt schwanger werden, dann
Abele (2002) und ihre Arbeitsgruppe haben untersucht, wie die Familienarbeit übernehmen und ihrem Partner einen Kar-
erfolgreich Personen nach einem abgeschlossenen Studium ihre rierevorsprung ermöglichen. Auch bei diesem Schritt wirken
beruflichen Karrieren aufnehmen. In einer ihrer Studien zeigten äußere Bedingungen (fehlende Betreuungseinrichtungen, in
sich gleich nach dem Studium keine Unterschiede in leistungs- denen sich Rollenzuweisungen ausdrücken) und innere Bedin-
bezogenen Variablen wie Abschlussnoten, Studiendauer oder gungen (Zielkonflikte der Frauen) zusammen. Dies gilt auch für
826 Kapitel 19 · Arbeits- und Organisationspsychologie

. Abb. 19.24 Berufseinstiegsgruppen nach Geschlecht. Wie eine Studie von Abele (2002, mit freundlicher Genehmigung von Andrea E. Abele-Brehm)
zeigt, sind berufstätige Frauen signifikant häufiger als Männer in inadäquaten Beschäftigungsverhältnissen zu finden

kinderlose Frauen. Hierzu diskutiert Abele diskriminierende Wie wird das weitergehen? Alice Eagly (2003) gibt eine vor-
Umweltreaktionen etwa bei der Personalauswahl, einen stärke- sichtig optimistische Prognose. Für die USA stellt sie fest, dass
ren und vielleicht problematischen Motivmix auch bei kinder- die Anzahl der Frauen in den höheren Etagen zunehme. Das
losen Frauen, um dann zusammenzufassen, dass vermutlich führt sie auf drei Faktoren zurück:
»viele für sich genommen sehr kleine Aspekte sich über die Zeit 1. In neue Definitionen der Eigenschaften, die für kompetente
summieren, um dann die Geschlechterdifferenz in Führungs- Führung wichtig sind, werden sowohl »männliche« als auch
positionen zu bewirken« (Abele 2002, S. 61). »weibliche« als auch »androgyne« Merkmale einbezogen.
Für die von Abele befragten Frauen zeigt sich nach der vier- 2. Frauen haben sich traditionell »männliche« Eigenschaften
ten Befragung: Kinderwunsch und Expressivität sagten voraus, angeeignet, etwa die u. a. von Abele in ihren Studien erfasste
ob die Befragten im Alter von 34 Jahren Eltern sein würden. Bei Instrumentalität.
den Frauen zeigte sich eine Orientierung auf Balance, die sie aber 3. Frauen, die Führungspositionen erreicht haben, bevorzugen
nicht optimal umsetzen konnten: Frauen, die den Kinderwunsch kompetente androgyne Führungsstile, womit sie der immer
nicht verschieben, bleiben eine Zeit lang zu Hause, obwohl sie noch mangelnden Passung von Führungsrolle und weibli-
das meist nicht vorhatten – hier sind vermutlich u. a. normative cher Geschlechtsrolle begegnen und damit weitere Chancen
Erwartungen und Rollenvorstellungen, aber auch fehlende Kin- zur Veränderung der Situation selbst wie ihrer Wahrneh-
derbetreuungsmöglichkeiten im Spiel. Frauen mit stark aus- mung schaffen (Eagly 2003).
geprägten Karrierewünschen verschieben ihren Kinderwunsch.
Die Diskrepanz zwischen den Zielen und der Realisierung Dass damit ein längerer Prozess angesprochen sein dürfte, legen
scheint sich mit zunehmendem Alter der Kinder zu verringern die Ergebnisse einer Metaanalyse nah. Danach wird »Führung«
(Abele 2005, S. 184). Nach der fünften Befragung fassen Abele u. weiterhin als männlich angesehen. Dies deuten die Autorinnen
Spurk (2011) zusammen: Expressivität (»communion«) im Alter so, dass Männer dem kulturellen Stereotyp besser entsprechen,
19 von 27 Jahren hat einen Einfluss darauf, ob jemand 10 Jahre eher Zugang zu Führungsrollen erhalten und weniger daran
später Kinder hat, und Instrumentalität (»agency«) im Alter von gehindert werden, darin erfolgreich zu sein. Trotz einiger Ver-
27 Jahren lässt die Arbeitszeiten und den Stand der Karriere vor- änderung in Richtung auf mehr androgyne Vorstellungen von
hersagen (. Abb. 19.25). Außerdem erlaubt Instrumentalität bei Führung trage das Stereotyp weiter zu den Herausforderungen
Männern die Vorhersage der Vaterschaft. Elternschaft erwies bei, denen Frauen begegnen, die Rollen erlangen, die echte Macht
sich bei Frauen als hoch signifikanter Prädiktor der Arbeitszeiten und Autorität einbringen (Koenig, Eagly, Mitchell u. Ristikari
und diese wiederum sagten den Berufserfolg voraus. Diese Zu- 2011, S. 637).
sammenhänge fanden sich bei den Männern nicht. Hinsichtlich Hoff et al. (2005, S. 206) haben mit quantitativen und quali-
der Arbeitszeiten gibt es bei ihnen nicht so viel Varianz (Unter- tativen Methoden Frauen und Männer aus hochqualifizierten
schiedlichkeit) wie bei den befragten Frauen. Diskontinuierliche Berufen (nämlich Medizin und Psychologie) befragt. Sie stellen
Karrieremuster seien ein Hauptgrund für den niedrigeren Be- fest, es gebe bei Frauen in beiden Bereichen Integration und Ba-
rufserfolg bei Frauen. lance von Berufs- und Privatleben, bei Männern hingegen eine
19.5 · Arbeit und Persönlichkeit: Auswahl und Auswirkungen
827 19

. Abb. 19.25 Expressiv von Natur? Die höhere Expressivität von Frauen ist belegt, aber die Gründe dafür sind noch ungeklärt. (© photos.com)

Segmentation und ein Ungleichgewicht, sowohl für die alltäg- nen und Kollegen hoffen. Daher wird der Fünf-Faktoren-Ansatz
liche Lebensgestaltung als auch für die biografische Lebensge- von Costa u. McCrae (1992) gerne eingesetzt, wenn es um Ein-
staltung (. Abb. 19.26). In der Psychologie beobachteten sie stellungsdiagnostik geht (7 Abschn. 19.5.1 und . Tab. 19.6). Eine
allerdings eine Angleichung der Lebensgestaltung der Männer aktuelle Validierungsstudie bei Beschäftigten in sozialen Berufen
an die der Frauen, die sie auf die geringere subjektive Antizipier- zeigt erwartungsgemäß positive Zusammenhänge der Persön-
barkeit und die Unsicherheit der Berufsbiografien in diesem Be- lichkeitsdimensionen Gewissenhaftigkeit und Verträglichkeit
reich zurückführen. Die Autoren halten eine Angleichung auch mit Fremdbeurteilungen der Leistung in Bezug auf die aufgaben-
in anderen Arbeitsbereichen für möglich. Im Zuge des Struk- bezogene Leistung, den Arbeitseinsatz und das Sozialverhalten
turwandels der Arbeitswelt und zunehmender Flexibilisierung auf (Blickle u. Kramer 2012).
könnten bei Männern ausgeglichenere Verhältnisse von Berufs- Aber umgekehrt kann auch die Art der Arbeit die Entwick-
und Privatleben zunehmen, während auch bei Frauen die Be- lung der Persönlichkeit beeinflussen, denn
rufstätigkeit bedeutsamer wird. Ob sich diskontinuierliche 4 die Annahme, dass die Entwicklung der Persönlichkeit mit
Berufswege dann, wenn sie auch bei Männern öfter vorkommen, dem Eintritt ins Erwachsenenalter und damit das Erwerbs-
weniger nachteilig auf den Berufserfolg auswirken, bleibt ab- leben weitgehend festgelegt ist, ist im Lichte einer Entwick-
zuwarten. Bislang sieht es noch so aus, als werde eine längere lungspsychologie der Lebensspanne (7 Kap. 5) nicht haltbar
familienbedingte Auszeit negativ bewertet, weil sich das schlecht 4 in der Persönlichkeitspsychologie wurde im Rahmen der
mit dem Bild einer beruflich ambitionierten Erwerbstätigen ver- Interaktionismusdebatte gezeigt, dass die Persönlichkeit
trage (Wiese 2007). durch zeitlich überdauernde Eigenschaften nicht hinläng-
lich erfasst werden kann, sondern dass situative Einflüsse
auf das Verhalten und Verhaltensdispositionen eine große
19.5.3 Arbeit und Persönlichkeit Rolle spielen (vgl. Grote u. Ulich 1993).

In einer amerikanischen Längsschnittstudie fand man heraus,


? 19.20 Wie unterstützen Arbeitsbedingungen die Persönlich-
dass von allen strukturellen Imperativen der Arbeit diejenigen
keitsentwicklung?
am wichtigsten für die Persönlichkeit sind, die darüber entschei-
Was jemand an grundlegenden Persönlichkeitseigenschaften den, wie viel Gelegenheit der Beschäftigte zu beruflicher Selbst-
mitbringt, wirkt sich auf die Gestaltung der Arbeit aus: Wer hohe bestimmung hat, ja inwieweit diese sogar notwendig ist (Kohn
Werte in »Gewissenhaftigkeit« aufweist, wird voraussichtlich 1985). Zu den Aspekten beruflicher Selbstbestimmung zählen
Einsatzbereitschaft und berufliches Engagement zeigen. Hohe die inhaltliche Komplexität der Arbeit, die Strenge der Über-
»Verträglichkeit« lässt auf gute Zusammenarbeit mit Kollegin- wachung und der Grad der Routinisierung.
828 Kapitel 19 · Arbeits- und Organisationspsychologie

. Abb. 19.26 (© Claudia Styrsky)

In einem 3-jährigen Arbeitsstrukturierungsprojekt – im und 1987 die biografischen Verläufe von 21 Facharbeitern. Zu
Rahmen des Forschungsprogramms Humanisierung des Arbeits- den Methoden gehörten Intensivinterviews, Beobachtung
lebens – in der Automobilindustrie wurde der Übergang von und Expertengespräche. Die Entwicklungsprozesse interpre-
der Fließbandarbeit zur Gruppenmontage untersucht. Die 28 an tieren die Autoren als Zunahme der Kompetenz zu autono-
diesem Vorhaben freiwillig beteiligten Arbeiter bewältigten die mem Handeln. Zu den wichtigen soziobiografischen Bedin-
Veränderung in 3 Monaten und leisteten anschließend höher- gungen solcher Entwicklungen zählen sie den Abbau objektiver
wertige Arbeit. Dabei erweiterten sie nicht nur ihre Kenntnisse Restriktionen und die Erweiterung der Chancen zur Selbst-
über die Arbeitsaufgabe, das Montieren eines Motors, die zuvor bestimmung im Beruf, aber auch die Konfrontation mit Chancen
durch das Fließband strukturiert gewesen war. Sie entwickelten und Schranken in verschiedenen Umweltbereichen (Hoff
selbst strategische und planende Vorgehensweisen. Die Verände- et al. 1991).
rung der Arbeitstätigkeit wirkte sich, so wird berichtet, auf die
Prüfen Sie Ihr Wissen
Entwicklung arbeitsbezogener Sachinteressen aus, aber auch auf
gesellschaftsbezogene und politische Interessen. Darüber hinaus 5 Welche Methoden der beruflichen Diagnostik kennen
gab es Hinweise auf eine Verbesserung des Gesundheitszustands; Sie? Wie sind diese einzuschätzen?
insbesondere gingen bei denjenigen, die sich am Projekt beteilig-
ten, die psychosomatischen Beschwerden zurück (Bruggemann
1979, 1980).
Diese Ergebnisse weisen darauf hin, wie Arbeitsbedingungen 19.6 Kapitelrückblick
allgemein gestaltet werden können, damit sie die Persönlich-
19 keitsentwicklung fördern. Darüber hinaus gibt es persönliche 19.6.1 Verständnisfragen
Unterschiede und Präferenzen.
Im Rahmen einer differenziellen und dynamischen Arbeits- jWarum arbeiten wir, und was haben wir davon?
gestaltung wird gefordert, individuelle Unterschiede – sowohl 19.1 Welche Bedürfnisse, welche Anreize veranlassen Menschen
zwischen Menschen als auch beim einzelnen Menschen über zu arbeiten? Was sind Beispiele dafür?
die Zeit – durch die Vorgabe von Wahlmöglichkeiten zwischen 19.2 Welche Prozesse und Mechanismen führen zur Arbeits-
verschiedenen Arbeitsstrukturen und durch die Veränder- motivation? Welche Beispiele gibt es dafür?
barkeit von Arbeitsstrukturen zu berücksichtigen (Grote u. 19.3 Wie tragen Inhalte und Prozesse zusammen zur Arbeits-
Ulich 1993). motivation bei? Welche zusätzliche Sicht ist hilfreich?
Auf die Bedeutung der Berufswelt für die Persönlichkeits- 19.4 Was ist bei der Erfassung von Arbeitszufriedenheit
entwicklung verweisen auch die Autoren einer weiteren Längs- wichtig?
schnittstudie (Hoff et al. 1991). Sie untersuchten zwischen 1980 19.5 Was ist der »Hawthorne-Effekt«? Wie wurde er entdeckt?
19.6 · Kapitelrückblick
829 19
jArbeit und Gesundheit 4 Organisationsform
19.6 Welche arbeitsbedingten Stressfolgen gibt es? 4 Organisationspsychologie
19.7 Wie entsteht aus Sicht des transaktionalen Stressmodells 4 Organisationsstruktur
Stress im Arbeitsbereich, und wie lässt er sich bewältigen? 4 Personalauswahl
19.8 Was versteht man unter Mobbing? Welche Ursachen wer- 4 Qualitätszirkel
den diskutiert? 4 Selbststeuerung
19.9 Welche Möglichkeiten gibt es, um gegen Mobbing vorzu- 4 Selbstwirksamkeit
gehen? 4 Teilautonome Gruppen
19.10 Was wird unter Work-Life-Balance verstanden? 4 Wert-Erwartungs-Theorie
4 Wirtschaftspsychologie
jVeränderte Arbeitsbedingungen 4 Work-Life-Balance
19.11 Was ist bei der Einführung neuer Technologien zu be-
achten? Welche Rolle spielen unterschiedliche Gruppenzuge-
hörigkeiten? 19.6.3 Weiterführende deutsche Literatur
19.12 Unter welchen Bedingungen ist flexiblere Arbeitszeit-
gestaltung für die Organisation und für die arbeitende Person Kals, E. & Gallenmüller-Roschmann, J.G. (2011). Arbeits- und Organisations-
psychologie kompakt (2. Aufl.). Weinheim: Beltz.
von Vorteil? Kauffeld, S. (2014). Arbeits-, Organisations- & Personalpsychologie für Bachelor
19.13 Was sind die Auswirkungen von Arbeitslosigkeit? (2. Aufl.). Heidelberg: Springer.
19.14 Wie hat sich das Defizit- zum Kompensationsmodell des Kirchler, E. (2011). Arbeits- und Organisationspsychologie (3. Aufl.). Stuttgart:
UTB.
Alterns gewandelt? Welche Bedeutung hat das für ältere Arbeit-
Moser, H. (2014). Wirtschaftspsychologie (2. Aufl.). Heidelberg: Springer.
nehmer? Nerdinger, F., Blickle, G., Schaper, N. (2014). Arbeits- und Organisations-
psychologie (3. Aufl.). Heidelberg: Springer.
jPsychologie in Organisationen Rosenstiel, L. v. & Nerdinger, F. (2011). Grundlagen der Organisationspsycho-
logie (7. Aufl.). Stuttgart: Schäffer-Poeschel.
19.15 Was versteht man unter einer Organisation, unter Orga- Schuler, H. (Hrsg.). (2013). Lehrbuch Organisationspsychologie (5. Aufl.).
nisationsstruktur und Organisationsform? Was sind die Vor- Bern: Huber.
und Nachteile des Ein- und des Mehrliniensystems? Wiswede, G. (2012). Einführung in die Wirtschaftspsychologie (5. Aufl.).
Stuttgart: UTB.
19.16 Wann ist Teamarbeit sinnvoll? Was macht sie effektiv?
19.17 Warum kommt es bei der Erfassung von Bedingungen er-
folgreicher Führung nicht allein auf die Eigenschaften der Füh-
renden an?

jArbeit und Persönlichkeit: Auswahl und Auswirkungen


19.18 Was sind gebräuchliche Verfahren der Personalauswahl?
Wie sind sie zu bewerten?
19.19 Welche Bedingungen fördern die berufliche Entwicklung?
19.20 Wie unterstützen Arbeitsbedingungen die Persönlich-
keitsentwicklung?

19.6.2 Schlüsselbegriffe

4 360°-Feedback
4 Arbeitsmotivation
4 Arbeitspsychologie
4 Arbeitszufriedenheit
4 Assessment-Center
4 Führung
4 Handlungstheorie
4 Hawthorne-Effekt
4 Kohorte
4 Kontingenzmodell
4 LPC-Maß
831

Anhang
A1 Arbeitsfelder der Psychologie – 832
Jennifer Zwolinski

A2 Zeitmanagement – 838
Richard O. Straub

A3 Verständnisfragen und Antworten – 845

Glossar – 887

Literatur – 909

Namensverzeichnis – 1008

Stichwortverzeichnis – 1026

D. G. Myers, Psychologie,
DOI 10.1007/978-3-642-40782-6, © Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2014
832 Anhang

A1 Arbeitsfelder der Psychologie


Jennifer Zwolinski

Weiterbildungen machen, um zu einem Fachmann auf einem


Was können Sie mit einem Abschluss in Psychologie machen? bestimmten Gebiet der Psychologie zu werden. Im vorliegenden
Eine ganze Menge! Beitrag erhalten Sie einen Überblick über die einzelnen Arbeits-
Als Psychologiestudent werden Sie Ihr Studium mit einer felder der Psychologie.1 Außerdem finden Sie Informationen zu
wissenschaftlichen Perspektive und einem Bewusstsein für die Berufsmöglichkeiten in der Psychologie im Job-Portal »Psych-
grundlegenden Prinzipien menschlichen Erlebens und Verhal-
tens (biologische Mechanismen, Entwicklung, Kognition, psy- 1 Der vorliegende Text basiert auf amerikanischen Daten; die Informationen
chologische Störungen, soziale Interaktion) abschließen. Dieses zu Ausbildungsmöglichkeiten, Vereinigungen sowie zum aktuellen Stand
Wissen liefert Ihnen eine solide Grundlage für den erfolgreichen auf dem Arbeitsmarkt beziehen sich aber auf Deutschland. Die Beschrei-
bungen der einzelnen Arbeitsfelder der Psychologie sind dabei weitge-
Berufsweg in einer ganzen Reihe von Fachgebieten, z. B. in der
hend auf Deutschland übertragbar mit der Ausnahme der Gesellschafts-
Wirtschaft, in helfenden Berufen, im Gesundheitswesen, in psychologie, die in Deutschland nicht durch eine ausgewiesene Fächer-
Marketing, Recht, Verkauf und Lehre. Sie können außerdem gruppe der DGPs vertreten ist.

. Tab. A.1 Fachgruppen der DGPs (Deutsche Gesellschaft für Psychologie 2013)

Fachgruppe Inhalte

Allgemeine Psychologie Wahrnehmung, Aufmerksamkeit, Denken, Sprache, Lernen, Gedächtnis, Motivation und Emotion
Arbeits-, Organisations- Wechselbeziehungen zwischen Arbeits- und Organisationsbedingungen und menschlichem Erleben
und Wirtschaftspsychologie und Verhalten
Biologische Psychologie Biopsychologie: anatomische und physiologische Grundlagen menschlichen Verhaltens und Erlebens
und Neuropsychologie sowie physiologische Effekte psychologischer Prozesse
Neuropsychologie: neuronale Bedingungen psychologischer Prozesse
Differenzielle Psychologie, Persönlichkeitspsychologie und Differenzielle Psychologie: individuelle Besonderheiten
Persönlichkeitspsychologie und und interindividuelle Unterschiede
psychologische Diagnostik Psychologische Diagnostik: Anwendung psychologischen Wissens auf den Einzelfall; Beschreibung,
Erklärung und Prognose von Verhalten
Entwicklungspsychologie Veränderungsprozesse über die Lebensspanne (inkl. Gerontopsychologie: Besonderheiten psychischer
Funktionen im höheren Alter)
Geschichte der Psychologie Historische Entwicklung der Psychologie als eigenständige Wissenschaft
Gesundheitspsychologie Personale, soziale und strukturelle Einflussfaktoren auf die körperliche und seelische Gesundheit
Klinische Psychologie Bedingungen von Krankheit und Gesundheit sowie Entwicklung von verhaltens- und erlebensver-
und Psychotherapie ändernden Interventionen (inkl. Rehabilitationspsychologie: Anwendung psychologischer Kenntnisse
in der Rehabilitation)
Medienpsychologie Menschliches Erleben und Verhalten im Zusammenhang mit der Nutzung von Medien
Methoden und Evaluation Methodenlehre: Verfahren der Datenerhebung und der Datenauswertung, Untersuchungsplanung
und Wissenschaftstheorie
Evaluation: Untersuchungspläne und Verfahren zur Überprüfung von Interventionen im Hinblick auf
zu definierende Standards und Kriterien
Pädagogische Psychologie Pädagogisch beeinflussbare Kompetenzen, Fertigkeiten, Überzeugungssysteme und Werthaltungen
Rechtspsychologie Anwendung psychologischer Theorien, Methoden und Erkenntnisse auf Fragestellungen, die sich aus der
Gestaltung und Anwendung des Rechts ergeben
Sozialpsychologie Beeinflussung von Gedanken, Gefühlen und Verhaltensweisen durch den tatsächlichen, vorgestellten
oder angenommenen sozialen Kontext sowie die daran beteiligten kognitiven Prozesse
Umweltpsychologie Einstellungen zur Umwelt und Umweltbewusstsein, umweltbezogenes Verhalten und Gestaltung eines
ökologisch gesunden Lebensumfeldes
Verkehrspsychologie Wechselbeziehungen zwischen menschlichem Erleben und Verhalten und technischen Verkehrssystemen
sowie dem Verkehrsumfeld
833
A1 · Arbeitsfelder der Psychologie

. Abb. A.1 Kognitionspsychologische Beratung. Allgemeine Psychologen können Unternehmen dabei beraten, wie man durch das Verstehen der
beteiligten Human Factors effektiver arbeitet. (© AdamGregor / iStockphoto)

Job« (http://www.hogrefe.de/psychjob), wo Sie mehr über die wickeln neue Methoden, um die Produktivität zu erhöhen, die
vielen interessanten Möglichkeiten erfahren können, die sich Personalauswahl zu verbessern oder die Arbeitszufriedenheit in
jenen mit Bachelor-, Master- und Doktorabschluss in Psycho- einem organisatorischen Rahmen zu fördern. Ihre Interessen
logie eröffnen. Umfangreiche Informationen zur Lage der Psy- schließen die Organisationsstruktur und den Organisationswan-
chologie als Arbeitsfeld in Deutschland liefert außerdem der alle del, Konsumentenverhalten, Personalauswahl und -entwicklung
paar Jahre von Manfred Bausch als Arbeitsmarkt-Information ein. Als Arbeits- und Organisationspsychologe führen Sie Trai-
für Psychologinnen und Psychologen herausgegebene Bericht nings am Arbeitsplatz durch oder übernehmen für Unterneh-
(Bausch 2005). men die Organisationsanalyse und -entwicklung. Als Arbeit-
Vielleicht geht es Ihnen wie den meisten Psychologiestudie- geber kommen Wirtschaft, Industrie, der öffentliche Dienst oder
renden, und Sie sind sich der breiten Vielfalt der Spezialisie- die Universität infrage. Sie können auch selbstständig als Berater
rungen und der Arbeitsfelder gar nicht bewusst, die Ihnen die arbeiten oder für eine Unternehmensberatung tätig sein.
Psychologie bietet (Terre u. Stoddart 2000). Bislang verfügt die
American Psychological Association (APA) über 56 Abteilungen. Beratungspsychologen Sie helfen Menschen, sich an einschnei-
Die Deutsche Gesellschaft für Psychologie (DGPs) umfasst dende Veränderungen in ihrem Leben anzupassen oder ihre
15 Fachgruppen (. Tab. A.1). In den folgenden Absätzen werden Lebensweise zu ändern. Das Berufsfeld ist dem der Klinischen
(alphabetisch sortiert) einige der wichtigsten Berufsfelder des Psychologen sehr ähnlich, allerdings helfen beratend tätige Psy-
Fachgebiets Psychologie skizziert, von denen die meisten einen chologen eher Menschen mit Anpassungsstörungen als Personen
Hochschulabschluss in Psychologie voraussetzen. mit schweren psychischen Störungen. Wie Klinische Psycholo-
gen führen Beratungspsychologen Therapien und Diagnostiken
Allgemeine oder Kognitive Psychologen Sie beschäftigen sich mit bei Individuen und Gruppen durch. Als Beratungspsychologe
mentalen Prozessen und konzentrieren sich auf Themen wie heben Sie die Stärken ihrer Klienten hervor, um ihnen zu helfen,
Wahrnehmung, Sprache, Aufmerksamkeit, Problemlösen, Ge- ihre eigenen Fähigkeiten, Interessen und Begabungen zur Be-
dächtnis, Urteilen und Entscheidungsfindung, Vergessen und wältigung während der Lebensveränderungen zu nutzen. Sie
Intelligenz. Aktuelle Forschungsthemen umfassen z. B., computer- können im akademischen Kontext als Fakultätsmitglied oder
basierte Modelle für Kognitionen zu entwerfen und biologische Verwaltungsleiter oder in einem universitären Beratungscenter,
Korrelate der Kognition auszumachen. Sie arbeiten als Dozent, einem Gemeindezentrum für psychische Gesundheit, einem
Industrieberater oder Human-Factors-Spezialist in einem pädago- Unternehmen oder als Selbstständiger arbeiten. Wie bei den Kli-
gischen Umfeld oder Wirtschaftsunternehmen (. Abb. A.1). nischen Psychologen wird häufig, falls Sie eine selbstständige
Praxis betreiben möchten, eine psychotherapeutische Aus-
Arbeits- und Organisationspsychologen Sie erforschen die Be- bildung vorausgesetzt, um öffentlich Beratungsdienste anbieten
ziehung zwischen Menschen und ihrer Arbeitsumwelt. Sie ent- zu können.
834 Anhang

Entwicklungspsychologen Sie erforschen altersbedingte Ver-


haltensänderungen und wenden ihre wissenschaftlichen Er-
kenntnisse in Erziehungsberatungsstellen, bei der Betreuung von
Kindern, in der Politik und in anderen verwandten Gebieten
an. Als Entwicklungspsychologe untersuchen Sie Veränderungen
in einem breiten Themenspektrum, einschließlich der biolo-
gischen, psychologischen, kognitiven und sozialen Aspekte der
Entwicklung. Entwicklungspsychologie liegt einer Reihe von An-
wendungsfeldern zugrunde, u. a. der Pädagogischen Psycho-
logie, Schulpsychologie, Entwicklungspsychopathologie und der
Gerontologie. Darüber hinaus beeinflusst dieser Fachbereich
politische Maßnahmen in Bereichen wie der Erziehungs- und
Kinderbetreuungsreform, der Gesundheit von Müttern und
ihren Kindern sowie Bindung und Adoption. Man kann sich auf
eine Phase der Lebensspanne spezialisieren, z. B. das Säuglings-
alter, Kindesalter, Jugendalter oder auf das mittlere oder späte
Erwachsenenalter. Der Arbeitgeber kann z. B. eine Erziehungs-
einrichtung, ein Pflegeheim, eine Einrichtung zur Betreuung
. Abb. A.2 Criminal Profiling. In der beliebten US-Fernsehserie Law and
Jugendlicher oder ein Altenheim sein.
Order: Special Victims Unit ist Dr. George Huang (gespielt von B. D. Wong)
ein FBI-Agent und Psychiater, der sein Wissen im Bereich der Forensischen
Experimentalpsychologen Sie sind eine heterogene Gruppe von Psychologie nutzt, um strafrechtliche Ermittlungen durchzuführen.
Wissenschaftlern, die eine Vielzahl grundlegender Verhaltens- (© picture alliance / Byron Purvis / AdMedia)
weisen und kognitiver Prozesse an Menschen und Tieren erfor-
schen. Wichtige Bereiche der experimentellen Forschung, wie
Motivation, Lernen, Denken, Aufmerksamkeit, Gedächtnis, zudem einen juristischen Abschluss. Als Forensischer Psycholo-
Wahrnehmung und Sprache, schließen komparatistische Metho- ge arbeiten Sie an der Universität im Institut für Psychologie, in
den der Wissenschaft ein. Die meisten Experimentalpsychologen einer juristischen Fakultät, in Forschungseinrichtungen, einem
identifizieren sich in Abhängigkeit von ihren Interessen und Gemeindezentrum für psychische Gesundheit, bei der Polizei,
ihrer Ausbildung mit einem speziellen Teilfeld, wie beispielswei- für das Gericht oder in Justizvollzugsanstalten (. Abb. A.2).
se der Kognitiven Psychologie. Es ist dabei wichtig zu beachten,
dass die Methoden der experimentellen Forschung nicht auf das Gesellschaftspsychologen Sie lösen sich von der Betrachtung
Feld der Experimentalpsychologie beschränkt sind; viele andere konkreter Individuen oder Familien und beschäftigen sich mit
Arbeitsfelder sind auf experimentelle Methoden angewiesen, um großen Problemen der psychischen Gesundheit im gesellschaft-
ihre Studien durchführen zu können. Als Experimentalpsycho- lichen Setting. Diese Psychologen nehmen an, dass menschliches
loge werden Sie wahrscheinlich in einem universitären Bereich Verhalten stark von der Interaktion zwischen Menschen und
arbeiten, Vorlesungen halten und die Arbeiten von Studierenden ihrer physikalischen, sozialen, politischen und ökonomischen
betreuen, daneben führen Sie Ihre eigene Forschung durch. Sie Umwelt beeinflusst wird. Sie bemühen sich, die psychische Ge-
können auch an einer Forschungsinstitution, einem Zoo, einem sundheit mithilfe der Verbesserung allgemeiner Rahmenbedin-
Unternehmen oder im öffentlichen Dienst angestellt sein. gungen zu fördern. Dabei konzentrieren sie sich auf präventive
Verfahren und Krisenintervention unter besonderer Berück-
Forensische Psychologen Sie wenden psychologische Prinzi- sichtigung der Probleme benachteiligter Gruppen und ethni-
pien auf rechtliche Fragen an. Sie führen Untersuchungen an der scher Minderheiten. Angesichts der Prävention als gemeinsa-
Schnittstelle zwischen Gesetz und Psychologie durch, helfen da- mem Schwerpunkt arbeiten manche Gesellschaftspsychologen
bei, öffentliche Richtlinien im Zusammenhang mit psychischer mit Experten anderer Gebiete zusammen, wie etwa dem Gesund-
Gesundheit zu entwerfen, wirken in Strafvollzugsanstalten bei heitswesen. Als Gesellschaftspsychologe können Sie in staatli-
strafrechtlichen Ermittlungen mit oder führen Befragungen zur chen, länderspezifischen oder lokalen Abteilungen für psychi-
Auswahl von Geschworenen und bei Beratungsprozessen durch. sche Gesundheit, in Gefängnisbehörden sowie Sozialabteilungen
Darüber hinaus bieten Sie Gutachten zur Unterstützung der arbeiten. Sie können Forschungsarbeiten durchführen oder da-
Rechtsgemeinde an. Obwohl die meisten Forensischen Psycho- bei helfen, Forschungen im Bereich des Gesundheitswesens zu
logen Klinische Psychologen sind, können sie Fachkenntnisse in evaluieren, als unabhängiger Berater für den privaten oder öf-
anderen Gebieten der Psychologie aufweisen, wie z. B. der So- fentlichen Dienst fungieren oder aber als universitäres Mitglied
zialpsychologie oder Kognitiven Psychologie. Einige besitzen unterrichten und beraten (. Abb. A.3).
835
A1 · Arbeitsfelder der Psychologie

. Abb. A.3 Umgang mit Katastrophen. Nach dem tödlichen Erdbeben in Peru im August 2007 half diese Gesellschaftspsychologin von Médecins Sans
Frontiéres (Ärzte ohne Grenzen) Überlebenden dabei, mit dem Verlust ihres Zuhauses und – für viele – dem Tod ihrer Familienmitglieder und Freunde zu-
rechtzukommen. (© Eitan Abramovich / AFP / Getty Images)

Gesundheitspsychologen Sie sind Forscher und Praktiker, die Einige halten Workshops und Vorlesungen ab, zu psycholo-
sich damit beschäftigen, welchen Beitrag die Psychologie leisten gischen Themen für Angehörige anderer Berufsgruppen oder für
kann, um die Gesundheit zu erhalten und Krankheiten vor- die breite Öffentlichkeit. Klinische Psychologen arbeiten in einer
zubeugen. Als angewandte Psychologen oder Kliniker verhelfen Vielzahl von Settings, u. a. als Selbstständige, in Gesundheitsor-
Sie Menschen zu einer gesünderen Lebensweise, indem Sie ganisationen, Schulen, Universitäten, in der Industrie, im Rechts-
Gesundheitsprogramme entwerfen, durchführen und evaluieren. wesen, im Gesundheitswesen, in Beratungsstellen, im öffent-
In diesen Programmen geht es darum, mit dem Rauchen aufzu- lichen Dienst und bei der Bundeswehr.
hören, Gewicht zu verlieren, den Schlaf zu verbessern, Schmerzen Um Klinischer Psychotherapeut oder Kinder- und Jugend-
zu behandeln, die Verbreitung sexuell übertragbarer Krankheiten lichentherapeut zu werden, ist eine Weiterbildung erforder-
zu verhindern oder psychosoziale Probleme zu therapieren, die lich, dies wird seit 1999 durch das Psychotherapeutengesetz
mit chronischen und unheilbaren Krankheiten verbunden sind. (PsychThG) geregelt. Das Gesetz bindet die Führung der Berufs-
Als Forscher und Klinker ermitteln Sie Bedingungen und Ver- bezeichnung »Psychologischer Psychotherapeut« bzw. »Kinder-
haltensweisen für Gesundheit und Krankheit, um wirksame und Jugendpsychotherapeut« an eine Approbation. Für diese
Interventionen zu entwickeln. Im öffentlichen Dienst studieren Weiterbildung veranschlagt man ca. 20.000 Euro, die vom Teil-
und arbeiten Gesundheitspsychologen daran, Regierungsmaß- nehmer selbst zu tragen sind (Bausch 2005). Die Ausbildungs-
nahmen sowie das Gesundheitswesen zu verbessern. Als Gesund- dauer umfasst entweder eine 3-jährige Vollzeit- oder eine 5-jäh-
heitspsychologe können Sie in einem Krankenhaus, einer Pflege- rige begleitende Ausbildung. Ausführliche Hinweise und Tipps
schule, einer Rehabilitationsklinik, einer Gesundheitsbehörde zu den Anforderungen und Stolperfallen in dieser Ausbildungs-
oder an der Universität tätig sein oder, falls Sie gleichzeitig Klini- zeit als »Psychotherapeut in Ausbildung« (PiA) geben z. B. Lindel
scher Psychologe sind, Sie machen sich selbstständig. und Sellin (2007).

Klinische Psychologen Sie fördern die psychische Gesundheit Neuropsychologen Sie untersuchen die Beziehung zwischen
von Individuen, Gruppen und Organisationen. Einige klinische neurologischen Prozessen (Struktur und Funktion des Gehirns)
Psychologen haben sich auf bestimmte psychische Störungen und Verhalten. Als Neuropsychologe können Sie Störungen des
spezialisiert. Andere behandeln eine ganze Bandbreite von Stö- Zentralen Nervensystems wie die Alzheimer-Krankheit oder
rungen, von Anpassungsschwierigkeiten bis zu ernsten psycho- Schlaganfälle beurteilen, diagnostizieren und behandeln. Sie
pathologischen Störungen. Klinische Psychologen können auch können darüber hinaus Einzelpersonen auf Anzeichen für
in der Forschung, Lehre, Diagnostik und Beratung arbeiten. Kopfverletzungen, Lern- und Entwicklungsbehinderungen, wie
836 Anhang

Autismus, und andere psychiatrische Störungen, wie die Auf-


merksamkeitsdefizit-Hyperaktivitätsstörung (ADHS), unter-
suchen. Wenn Sie Klinischer Neuropsychologe sind, können
Sie in der Neurologie, Neurochirurgie oder der psychiatrischen
Abteilung einer Klinik arbeiten. Neuropsychologen arbeiten
auch in akademischen Bereichen, wo sie Forschung und Lehre
betreiben.

Pädagogische Psychologen Sie sind an den psychologischen


Prozessen interessiert, die am Lernen beteiligt sind. Sie studieren
die Beziehung zwischen Lernprozessen und unserer physika -
lischen und sozialen Umwelt und entwickeln Strategien, um
den Lernprozess zu verbessern. Als Pädagogischer Psychologe,
der an der psychologischen oder der pädagogischen Fakultät der
. Abb. A.4 Beratungslehrer. Schulpsychologen, die einen Masterabschluss
Universität arbeitet, können Sie Grundlagenforschung zu lern- in Psychologie besitzen, können mit Schülern persönlich oder in Gruppen
verwandten Themen betreiben oder innovative Lehrmethoden arbeiten sowie in einer beratenden Funktion für die Schulleitung tätig sein.
zur Verstärkung des Lernprozesses entwickeln. Sie können effek- (© dalaprod / Fotolia)
tive Tests – darunter Messungen der Eignung und der Leistung
– entwerfen. Sie können an einer Schule oder in der Verwaltung
des öffentlichen Dienstes arbeiten oder in der Wirtschaft mit gnostizieren und behandeln kognitive, soziale und emotionale
der Entwicklung und Durchführung von wirksamen Fortbil- Probleme, die einen negativen Einfluss auf das Lernen und das
dungsprogrammen für die Mitarbeiter eines Unternehmens allgemeine Wohlbefinden des Kindes in der Schule haben. Als
betraut sein. Schulpsychologe arbeiten Sie eng mit Lehrern, Eltern und Ver-
waltungsangestellten zusammen und geben Empfehlungen, um
Psychologen der Psychometrie und der quantitativen Verfahren die Leistungen eines Schülers zu verbessern. Sie arbeiten im
Sie befassen sich mit Methoden und Techniken, die eingesetzt wissenschaftlichen Bereich, für den öffentlichen Dienst, eine
werden, um psychologisches Wissen zu erzeugen. Psychome- Erziehungseinrichtung oder ein Verhaltensforschungslabor
triker überarbeiten vorliegende neurokognitive oder Persönlich- (. Abb. A.4).
keitstests oder entwickeln neue Tests für die Anwendung in
Klinik, Schule oder Unternehmen und Wirtschaft. Diese Psycho- Sozialpsychologen Sie sind an unseren Interaktionen mit ande-
logen führen Tests durch, werten sie aus und interpretieren sie. ren interessiert. Sozialpsychologen untersuchen, wie unsere Ge-
Quantitative Psychologen arbeiten mit Forschern zusammen, danken, Gefühle und unser Verhalten von anderen Menschen
um Forschungsprogramme zu erstellen, zu analysieren und die beeinflusst werden und wiederum andere Menschen beein-
Ergebnisse zu interpretieren. Wenn Sie auf diesem Gebiet ar- flussen. Sie beschäftigen sich mit Themen wie Einstellungen,
beiten wollen, müssen Sie gut ausgebildet sein in Forschungs- Aggression, Vorurteilen, zwischenmenschlicher Anziehung,
methoden, der Statistik und dem Umgang mit Computertechno- Gruppenverhalten und Führung. Als Sozialpsychologe werden
logie. Wahrscheinlich arbeiten Sie an einer Universität, in einem Sie vermutlich ein Mitglied der Universitätsfakultät sein. Sie
Marktforschungsunternehmen, einem Forschungsinstitut oder können auch in der Unternehmensberatung, in der Marktfor-
für die Verwaltung des öffentlichen Dienstes. schung oder anderen Feldern der Angewandten Psychologie
arbeiten, einschließlich sozialer Neurowissenschaften. Einige
Rehabilitationspsychologen Sie sind Forscher und Praktiker, Sozialpsychologen arbeiten für Krankenhäuser, den öffentlichen
die mit Menschen arbeiten, die nach einem Unfall, einer Krank- Dienst oder Unternehmen, die angewandte Forschung betreiben.
heit oder einem anderen Ereignis ihre optimale Funktionsfähig-
keit verloren haben. Als Rehabilitationspsychologe arbeiten Sie Sportpsychologen Sie untersuchen psychologische Faktoren, die
wahrscheinlich in einer medizinischen Rehabilitationseinrich- die Teilnahme an Sport und anderen körperlichen Aktivitäten
tung oder einer Klinik. Sie können auch in der medizinischen beeinflussen und von ihnen beeinflusst werden. Ihre beruflichen
Ausbildung, der Universität, im öffentlichen Dienst oder in frei- Tätigkeiten schließen die Ausbildung von Trainern und die Vor-
er Praxis tätig sein, um Menschen mit physischen Einschränkun- bereitung von Sportlern, ebenso wie Forschung und Lehre ein.
gen zu helfen. Sportpsychologen, die darüber hinaus einen klinischen oder be-
ratenden Abschluss haben, können die erworbenen Kenntnisse
Schulpsychologen Sie wirken in der Diagnostik und Inter- anwenden, um mit Personen zu arbeiten, die psychische Pro-
vention bei Kindern in Erziehungseinrichtungen mit. Sie dia- bleme haben, wie etwa Angstzustände oder Drogenmissbrauch,
837
A1 · Arbeitsfelder der Psychologie

. Abb. A.5 Fußballer heilen. Sportpsychologen arbeiten oft direkt mit


den Sportlern zusammen, um ihnen dabei zu helfen, ihre Leistung zu
verbessern. Dr. Hans-Dieter Hermann wurde 2004 zur deutschen Fußball-
nationalmannschaft geholt und ist am Weltmeistertitel 2014 sicher nicht
ganz unbeteiligt. (© picture-alliance / Sven Simon)

welche mit einer optimalen Leistung interferieren können. Als


Sportpsychologe arbeiten Sie wahrscheinlich, falls Sie nicht in
einem akademischen oder forschenden Rahmen tätig sind, als
Teil eines Teams oder einer Organisation, man kann jedoch auch
selbstständig auf diesem Gebiet arbeiten (. Abb. A.5).
Bleibt festzuhalten: Wenn Sie also das nächste Mal jemand
fragt, was Sie denn mit Ihrem Abschluss anfangen wollen, er-
zählen Sie ihr bzw. ihm, wie viele Möglichkeiten Sie haben. Sie
können Ihre erworbenen Fähigkeiten und Ihr Verständnis
nutzen, um einen Arbeitsplatz zu erhalten und in beliebig vielen
Branchen erfolgreich zu werden, oder Sie schlagen eine wissen-
schaftliche Laufbahn ein und verfolgen berufliche Aufstiegs-
möglichkeiten in zugehörigen Berufsfeldern. In jedem Fall wird
das, was Sie über das Erleben und Verhalten des Menschen ge-
lernt haben, Ihr Leben bereichern (Hammer 2003).
838 Anhang

A2 Zeitmanagement
Oder wie man ein guter Student wird und trotzdem noch ein Privatleben hat

Richard O. Straub

Zeitpläne stellen für uns alle eine Herausforderung dar. Einige 3. Nutzen Sie Ihre Lernzeit bestmöglich, sodass Ihr neuer
von Ihnen besuchen vielleicht eine Abendschule, andere belegen Zeitplan auch funktioniert.
einen Onlinekurs zwischen verschiedenen beruflichen Tätig- 4. Wenn es notwendig ist, überarbeiten Sie Ihren neuen
keiten oder nachdem sie am Abend ihre Kinder zu Bett gebracht Zeitplan, auf der Grundlage dessen, was Sie daraus gelernt
haben (. Abb. A.6). haben.
Wie kann man allen Anforderungen des Lebens gerecht
werden und seine Ziele erreichen? – Durch Zeitmanagement!
Verwalten Sie die Zeit, die Sie haben, und Sie haben die Zeit, die 1 Wie nutzen Sie Ihre Zeit bisher?
Sie brauchen.
In diesem Abschnitt werde ich ein einfaches vierstufiges Ver- Obwohl für jeden der Tag 24 Stunden und die Woche 7 Tage hat,
fahren darstellen, mit dem man lernen kann, seine Zeit effektiver nutzt jeder diese Zeit anders, um seine Pflichten zu erfüllen und
zu nutzen. seine Interessen zu befriedigen. Wie die meisten Menschen nut-
1. Führen Sie ein »Zeittagebuch«, um zu erkennen, wie Sie zen wahrscheinlich auch Sie Ihre Zeit in mancher Hinsicht sinn-
Ihre Zeit nutzen. Sie werden unter Umständen überrascht voll und in anderer nicht. Die Fragen in der folgenden Übersicht
sein, wie viel Zeit Sie verschwenden. können Ihnen eine Hilfestellung bieten, Problembereiche ausfin-
2. Stellen Sie einen neuen Zeitplan auf, um ihre Zeit effektiver dig zu machen, und Sie hoffentlich auch dabei unterstützen,
zu nutzen. mehr Zeit für die Dinge zu finden, die Ihnen wichtig sind.

. Abb. A.6 Motivierte Studenten. Dieser Kurs im Bunker Hill Community College findet im zunehmend beliebten Zeitraum von Mitternacht bis 2 Uhr am
Morgen statt, wodurch es Schichtarbeitern, viel beschäftigten Eltern und anderen ermöglicht wird, daran teilzunehmen. (© Nick Parkas)
839
A2 · Zeitmanagement

spielen), zum Trainieren und für alles andere, was Ihre Zeit be-
Gewinnen Sie einen Überblick über Ihre Lerngewohn- ansprucht, inklusive jener ganz kleinen, alltäglichen Dinge, die
heiten zusammengenommen auch einen beträchtlichen Teil unseres
Beantworten Sie die folgenden Fragen, indem sie Ja oder Tages in Anspruch nehmen können. Wenn Sie Ihre Beschäfti-
Nein auf die entsprechenden Linien schreiben. gungen festhalten, notieren Sie auch, wie Sie sich zu verschiede-
1. Stellen Sie sich in der Regel einen Zeitplan auf, um nen Tageszeiten fühlen. Wann lässt Ihre Kraft etwas nach und
sich Ihre Zeit zum Lernen, Arbeiten, Entspannen und für wann fühlen Sie sich am tatkräftigsten?
andere Aktivitäten einzuteilen?
2. Schieben Sie das Lernen oft so lange auf, bis der Zeit-
druck Sie zwingt, den Lernstoff schnell einzupauken? 2 Entwerfen Sie einen besseren Zeitplan

3. Haben Sie den Eindruck, dass andere Studenten weniger Sehen Sie sich Ihre Aufzeichnungen zur Zeitnutzung genau an.
lernen als Sie, aber bessere Noten bekommen? An welchen Stellen verschwenden Sie Ihre Zeit? Verbringen Sie
beispielsweise viel Zeit mit Pendeln? Können Sie – sollte dies der
4. Verwenden Sie in der Regel eher viele Stunden am Fall sein – diese Zeit nicht produktiv nutzen? Wenn Sie mit
Stück darauf, für ein Fach zu lernen, anstatt die Lernzeit öffentlichen Verkehrsmitteln fahren, haben Sie dabei viel Zeit
auf verschiedene Fächer zu verteilen? zum Lesen oder sich einen Überblick über das zu verschaffen,
5. Haben Sie oft Probleme damit, sich an das zu erinnern, was Sie bereits gelernt haben. Sollten Sie selbst mit dem Auto
was Sie gerade in einem Text gelesen haben? fahren, überlegen Sie sich, ob Sie nicht unterwegs Hörbücher mit
Ihrem Lernstoff anhören wollen. (Zahlreiche Hörbeiträge zu
6. Überfliegen Sie ein Kapitel in einem Buch und lesen Sie Grund- und Anwendungsfächern der Psychologie finden Sie auf
die Abschnittsüberschriften, ehe Sie es richtig lesen? der Website www.lehrbuch-psychologie.de – in der »Hörbar«
oder direkt auf den Unterseiten zu einzelnen Bachelor-Lehr-
7. Versuchen Sie, sich auf der Basis Ihrer Vorlesungs- büchern des Springer-Verlags.)
mitschriften und Texte mögliche Prüfungsfragen aus- Haben Sie auch daran gedacht, Zeiten für Mahlzeiten, Kör-
zudenken? perpflege, Arbeitspläne, familiäre Verpflichtungen und andere
8. Versuchen Sie normalerweise etwas, das Sie gerade regelmäßige Aktivitäten zu notieren?
gelesen haben, in Ihren eigenen Worten zusammen- Wie lange schlafen Sie? Im täglichen Stress, all unseren Ver-
zufassen? pflichtungen und Interessen nachzukommen, neigen wir dazu,
9. Fällt es Ihnen schwer, sich beim Lernen für eine sehr unseren Schlaf zu vernachlässigen. Tun Sie Ihr Bestes, Ihre Zeit
lange Zeit zu konzentrieren? so zu organisieren, dass Sie genügend erholsamen Schlaf bekom-
10. Kommt es Ihnen oft so vor, als hätten Sie den falschen men. Sie werden sich dann besser und gesünder fühlen. Außer-
Stoff für eine Prüfung gelernt? dem werden sich Ihre Leistungen im Studium und ihr Umgang
mit Familie und Freunden verbessern (7 Kap. 4).
Tausende von Studenten haben ähnliche Fragebögen aus- Widmen Sie sich lange genug dem konzentrierten Lernen?
gefüllt. Studenten, die ihr Lernpotenzial voll ausschöpfen, Schauen Sie sich noch einmal Ihre Notizen an, um herauszufinden,
antworten normalerweise wie folgt: (1) ja, (2) nein, (3) nein, ob es irgendwelche anderen Auffälligkeiten gibt. Danach können
(4) nein, (5) nein, (6) ja, (7) ja, (8) ja, (9) nein, (10) nein. Sie beginnen, einen neuen und effektiveren Zeitplan zu erstellen.
Stimmen Ihre Antworten damit überein? Falls nicht, könnten
Sie davon profitieren, Ihr Zeitmanagement und Ihre Studien-
gewohnheiten zu verbessern. A2.2.1 Planen Sie das Semester

Denken Sie voraus, bevor Sie Ihren neuen Zeitplan aufstellen.


Zunächst müssen Sie wissen, wie Sie Ihre Zeit bisher verbringen. Besorgen Sie sich einen Taschenkalender für das ganze Semester,
Um dies herauszufinden, tragen Sie Ihre Tätigkeiten eine Woche der für jeden Tag ausreichend Platz für Notizen bietet. Nutzen Sie
lang in eine Liste mit dazugehörigen Zeitangaben ein. Seien Sie die Kursbeschreibungen, die Ihnen Ihre Dozenten zur Verfügung
realistisch. Notieren Sie, wie viel Zeit Sie jeweils verwenden zum stellen, und tragen Sie alle Klausurtermine, Abgabezeiten für
Besuch von Lehrveranstaltungen, zum Lernen, zum Arbeiten, Hausarbeiten und andere wichtige Aufgaben ein. Vermerken Sie
zum Pendeln, zum Befriedigen persönlicher und familiärer Be- auch Ihre langfristig geplanten persönlichen Vorhaben (arbeits-
dürfnisse, zum Zubereiten und Essen von Mahlzeiten, zur Kon- bezogene und familiäre Verpflichtungen etc.). Tragen Sie diesen
taktpflege (denken Sie auch an das Schreiben von SMS, die Zeit, Kalender jeden Tag bei sich. Halten Sie ihn stets auf dem neues-
die Sie auf Facebook verbringen, und das Spielen von Computer- ten Stand, schlagen Sie oft darin nach und verändern Sie die Ein-
840 Anhang

tragungen, wenn es notwendig sein sollte. Durch dieses Vorge- 3 Nutzen Sie jede Minute Ihrer Lernzeit
hen werden Sie einen geregelten Zeitplan entwickeln, der Ihnen voll aus
helfen wird, Ihre Ziele zu erreichen.
Wie lernen Sie mit einem Text? Viele Studenten lesen ihn einfach
und lesen ihn dann noch einmal. Als Ergebnis dieser passiven Aus-
A2.2.2 Planen Sie Ihre Woche einandersetzung mit dem Text erinnern Sie sich an die falschen
Inhalte – an die eingängigen Geschichten, nicht aber an die wich-
Um Ihre Klausuren zu bestehen, Ihre Abgabefristen einzuhalten tigen Informationen, die später in den Klausuren abgefragt wer-
und auch Ihr Privatleben außerhalb des Studiums nicht zu ver- den. Dies wird noch dadurch verschlimmert, dass viele Studenten
nachlässigen, müssen Sie Ihre langfristigen Ziele auf Zeitpläne sich nur wenige Notizen während des Unterrichts machen. Hier
für jeden einzelnen Tag überführen. Seien Sie dabei realistisch sind ein paar Hinweise, die Ihnen helfen werden, das Beste aus
– Sie werden mit Ihrem aufgestellten Programm über das ganze Ihrem Unterricht und Ihren Texten herauszuholen.
Semester zurechtkommen müssen. Hier noch einige weitere
Dinge, die Sie in Ihren Taschenkalender eintragen können:
1. Notieren Sie Ihre Unterrichts- und Arbeitszeiten und alle A2.3.1 Machen Sie sich hilfreiche Notizen
anderen feststehenden Verpflichtungen. Seien Sie dabei in Vorlesungen und Seminaren
sehr sorgfältig. Planen Sie ausreichend viel Zeit ein für
Dinge wie Pendeln, Essen und Wäschewaschen. Sich sinnvolle Vermerke zu machen, fördert das Verstehen und
2. Erstellen Sie einen Studienzeitplan für jedes Ihrer Fächer. Behalten von Information. Sind Ihre Notizen sorgfältig geführt?
Beziehen Sie mit ein, was Sie aus Ihren Aufzeichnungen Geben Sie einen sinnvollen Überblick über jede Lehrveranstal-
zur Zeitnutzung und aus dem Überblick über Ihre Lernge- tung? Falls dies nicht zutrifft, werden Sie einige Veränderungen
wohnheiten (in der Übersicht weiter oben) erfahren haben. vornehmen müssen.
Lesen Sie 7 Unter der Lupe: Weitere Hinweise zum effektiven
Gestalten eines Zeitplans, mit Handlungsempfehlungen aus Führen Sie die Notizen für verschiedene Fächer
der psychologischen Forschung. geordnet und getrennt voneinander
3. Nachdem Sie sich die Zeit für Ihr Studium eingeteilt Wenn Sie alle Ihre Notizen zu einem Fach gemeinsam aufbewah-
haben, ergänzen Sie Ihre anderen Tätigkeiten, wie Training ren, können Sie immer einfach vor- und zurückblättern, um die
und Zeit für Unterhaltung und Entspannung. Antwort auf eine Frage zu finden. Hierfür gibt es zwei gute Mög-

Unter der Lupe

Weitere Hinweise zum effektiven Gestalten eines Zeitplans


Es gibt einige andere Dinge, die Sie im Hinter- eine gute Leistung erbringen zu können. stoff kurz zu wiederholen. Teilen Sie
kopf behalten sollten, wenn Sie Ihren Zeitplan Die Zeit, die Sie benötigen, ist abhängig sich Ihre Lernzeit so ein, dass Sie für Ihr
erstellen. vom Schwierigkeitsgrad Ihrer Kurse schwierigstes Fach (oder zumindest für
5 Lernen mit Unterbrechungen ist effektiver und der Effektivität Ihrer Lernmethoden. das Fach, für das Ihre Motivation am
als langes Lernen am Stück. Wenn Sie Idealerweise sollten Sie für jede Unter- geringsten ist) dann lernen, wenn Sie
z. B. 3 Stunden benötigen, um für ein richtsstunde, die Sie besucht haben, am muntersten und störende Einflüsse
Fach zu lernen, ist es am besten, dies 1–2 Stunden zum Lernen aufbringen. am geringsten sind.
auf kleinere Lernphasen aufzuteilen, die Steigern Sie Ihre Lernzeit langsam, 5 Planen Sie ungebundene Arbeitszeit ein.
über mehrere Tage verteilt liegen. indem Sie sich für jede Woche Ziele Das Leben kann unvorhersehbar sein.
5 Wechseln Sie die Fächer ab, aber vermei- setzen, die Sie schrittweise zu Ihrem an- Notfälle und neue Verbindlichkeiten
den Sie Interferenzen. Verschiedene gestrebten Niveau bringen. können Ihren Zeitplan durcheinander-
Fächer abwechselnd an einem Tag zu 5 Schaffen Sie sich einen Zeitplan, der Sinn werfen. Oder Sie benötigen einfach
lernen, wird Sie munter halten und ergibt. Legen Sie sich Ihren Zeitplan so zusätzliche Zeit für eine Aufgabe oder
überraschenderweise Ihre Fähigkeit zurecht, dass Sie die Anforderungen eine Nachbearbeitung eines Ihrer
steigern, sich an das zu erinnern, was Sie aller Ihrer Kurse erfüllen können. Planen Fächer. Versuchen Sie, Ihren Zeitplan
für jeden der verschiedenen Bereiche Sie für die Fächer, in denen ein großer für jede Woche ein wenig flexibel zu ge-
gelernt haben. Wenn man hingegen Wert auf Mitschriften gelegt wird, täg- stalten.
ähnliche Inhalte – wie zwei verschie- liches Üben mit Ihren Notizen kurz nach
dene Fremdsprachen – unmittelbar auf- dem Unterricht ein. Wenn Sie für Ihre Wenn Sie dieser Orientierungslinie folgen,
einanderfolgend lernt, kann dies zu Beteiligung in den Veranstaltungen kann Ihnen das helfen, einen gut funktionie-
Interferenzen führen (7 Kap. 9). bewertet werden – z. B. in einem Sprach- renden und hilfreichen Zeitplan aufzustellen.
5 Bestimmen Sie den Umfang der Lernzeit, kurs – nehmen Sie sich vor Unterrichts-
die Sie benötigen, um in allen Fächern beginn noch einmal Zeit, um Ihren Lern-
841
A2 · Zeitmanagement

sern Sie schlecht lesbare Stellen aus, solange Ihnen der Lehrstoff
noch präsent ist. Schreiben Sie wichtige Fragen an den Rand ne-
ben die Notizen, durch die sie beantwortet werden (z. B.: »Welche
Schlafphasen gibt es?«) Das wird Ihnen später helfen, wenn Sie
mit Ihren Mitschriften für eine Prüfung lernen.

A2.3.2 Schaffen Sie sich eine Lernatmosphäre,


die Ihnen beim Lernen hilft

Es ist leichter, effektiv zu lernen, wenn Ihr Arbeitsplatz gut ge-


staltet ist.

Richten Sie sich einen guten Arbeitsplatz ein


Arbeiten Sie an einem Tisch oder Schreibtisch, nicht in Ihrem
Bett oder einem bequemen Sessel, wo Sie leicht einschlummern
könnten.

Halten Sie Ablenkungsmöglichkeiten minimal


Schalten Sie den Fernseher und Ihr Handy aus und schließen
sie Facebook und andere Programme auf Ihrem Computer, die
Sie ablenken könnten. Wenn Sie Musik hören müssen, um Ge-
räusche von draußen auszublenden, legen Sie sanfte Instrumen-
talmusik auf, keine Lieder mit Gesang, die Ihre Aufmerksamkeit
. Abb. A.7 Beispiel von Unterrichtsmitschriften nach einem Gliede- auf den Liedtext lenken.
rungssystem. Hier sehen Sie beispielhaft die Notizen einer Studentin,
die in gegliederter Form in einer Vorlesung über Schlaf entstanden.
Bitten Sie andere darum, die Zeiten, in denen Sie
(© Christian Mürner, Heidelberg)
Ruhe benötigen, zu respektieren
Erzählen Sie Mitbewohnern, Familie und Freunden von Ihrem
lichkeiten: 1. getrennte Notizhefte für verschiedene Fächer oder neuen Zeitplan. Versuchen Sie, einen Arbeitsplatz zu finden, an
2. klar voneinander abgetrennte Bereiche in einem gemeinsamen dem Sie so wenig wie möglich gestört werden.
Ordner. Sind die einzelnen Seiten herausnehmbar, können Sie sie
– falls nötig – neu sortieren, neue Informationen hinzufügen und
Notizen, die sich als falsch erweisen, entfernen. Auf jeden Fall A2.3.3 Setzen Sie sich genaue, realistische Ziele
sollten Sie sich für Schreibpapier mit genügend Platz entschei- für jeden Tag
den. So werden Sie ausreichend viel Raum für Notizen und einen
breiten Rand haben, auf dem Sie Erläuterungen festhalten kön- Der einfache Vermerk »7 bis 8 Uhr: für Psychologie lernen« ist
nen, wenn Sie Ihre Mitschriften nach dem Unterricht überprüfen zu vage, um nützlich zu sein. Zerteilen Sie Ihren Lernstoff statt-
und korrigieren. dessen in kleinere, überschaubare Aufgaben. So z. B. können Sie
lange Texte, die Sie lesen wollen, in kürzere Abschnitte unter-
Verwenden Sie ein Gliederungssystem teilen. Wenn Sie es nicht gewöhnt sind, längere Zeit am Stück zu
Versehen Sie die wichtigsten Inhalte mit römischen Ziffern, lernen, beginnen Sie mit verhältnismäßig kurzen Phasen kon-
ergänzende Argumente mit Buchstaben und so weiter (z. B. zentrierten Lernens, die durch Pausen voneinander getrennt
. Abb. A.7). In manchen Fächern wird es Ihnen leicht fallen, sich sind. In diesem Text könnten Sie beispielsweise einen großen
Stichworte zu notieren. Aber es wird auch weniger gut organisier- Abschnitt lesen, ehe Sie eine Pause machen. Beschränken Sie Ihre
te Dozenten geben, weswegen Sie sich in deren Unterricht mehr Unterbrechungen auf 5 oder 10 Minuten, in denen Sie sich deh-
Mühe geben müssen, um eine sinnvolle Gliederung aufzustellen. nen oder ein bisschen bewegen.
Ihre Aufmerksamkeitsspanne ist ein guter Indikator dafür, ob
Sortieren Sie Ihre Mitschriften Sie ein Erfolg versprechendes Vorgehen gewählt haben. Machen
nach dem Unterricht Sie sich in dieser Anfangsphase klar, dass Sie erst noch dabei sind,
Versuchen Sie, Ihre Mitschriften direkt nach dem Unterricht zu Lernen zu lernen. Wenn Ihre Aufmerksamkeit beginnt abzu-
ordnen. Erweitern und erläutern Sie Ihre Stichpunkte und bes- schweifen, stehen Sie sofort auf und nehmen Sie sich eine kurze
842 Anhang

Pause. Es ist besser, 15 Minuten effektiv zu lernen und dann eine Stellen Sie sicher, dass Sie alles lesen. Überspringen Sie keine
Pause zu machen, als 45 Minuten der Studienzeit zu vergeuden. Fotos oder Bildunterschriften, Schaubilder, Kästchen, Tabellen
In dem Maße, in dem sich Ihre Ausdauer weiterentwickelt, kön- oder Zitate. Ein Gedanke, den man beim Lesen in etwa versteht,
nen Sie die Länge Ihrer Lernphasen steigern. kann klarer werden, wenn man ihn in einem Schaubild oder
einer Tabelle verdeutlicht sieht. Halten Sie im Hinterkopf, dass
sich Dozenten in ihren Prüfungsfragen manchmal auf Abbildun-
A2.3.4 Benutzen Sie SQ3R als Hilfestellung, gen und Tabellen beziehen.
um diesen Text zu bewältigen
Abrufen (»retrieve«)
David Myers hat zur Strukturierung dieses Textes ein Systems Wenn Sie die Antwort auf eine Ihrer Fragen gefunden haben,
namens SQ3R (Survey, Question, Read, Retrieve, Review; also schließen Sie die Augen und sagen Sie sich die Frage und ihre
Überblick verschaffen, Fragen stellen, lesen, abrufen und noch- Antwort im Geiste noch einmal auf. Schreiben Sie dann die
mal durchdenken) verwendet. SQ3R zu benutzen, kann Ihnen Antwort in Ihren eigenen Worten neben die Frage. Der Versuch,
helfen, zu verstehen, was Sie lesen, und sich die Informationen etwas mit den eigenen Worten zu sagen, wird Ihnen dabei helfen
besser zu behalten (mehr über die SQ3R-Methode finden Sie in herauszufinden, wo Sie Verständnislücken haben. Durch das
7 Kap. 1). kontinuierliche Anwenden des Abrufs werden Sie die Kompe-
Es mag sich zunächst so anfühlen, als würde es mehr Zeit und tenzen entwickeln, die Sie für Ihre Prüfungen benötigen. Wenn
Mühe in Anspruch nehmen, ein Kapitel mit SQ3R zu »lesen«, Sie lernen, ohne jemals Ihr Buch und Ihre Notizen zur Seite zu
aber mit ein wenig Übung werden die einzelnen Schritte wie legen, könnten Sie eine falsche Sicherheit gegenüber Ihrem Wis-
automatisch ablaufen. sen gewinnen. Haben Sie Ihr Material immer zur Verfügung,
sind Sie womöglich schon in der Lage, sich an die richtigen Ant-
Überblick verschaffen (»survey«) worten zu Ihren Fragen zu erinnern. Aber werden Sie auch später
Bevor Sie ein Kapitel lesen, verschaffen Sie sich einen Überblick fähig sein, sich daran zu erinnern, wenn Sie sich in einer Prüfung
über seine Kernaussagen. Betrachten Sie sich die Gliederung des befinden und Ihre Hilfsmittel nicht zur Hand haben?
jeweiligen Kapitels. Beachten Sie, dass es zu den großen Text- Überprüfen Sie Ihr Verständnis so oft wie möglich. Das sich
abschnitten nummerierte Lernfragen gibt, die Ihnen helfen kön- selbst Abfragen ist ein Teil von erfolgreichem Lernen, denn es
nen, sich auf das Wesentliche zu fokussieren. Achten Sie auf bringt Ihr Gehirn dazu, aktiv an der Erinnerungsbildung zu
Überschriften, die wichtige Unterthemen kennzeichnen, und auf arbeiten, was wiederum zu besserer Gedächtniskonsolidierung
fett gedruckte Wörter. führt. (So kann man sich später in der Prüfung daran erinnern!)
Diese Art des Begutachtens gibt Ihnen eine Gesamtübersicht Wenden Sie die Selbst-Abfrage über ein gesamtes Kapitel hinweg
über Inhalt und Organisation eines Kapitels. Wenn Sie den logi- an und arbeiten Sie dabei ebenfalls mit den regelmäßig
schen Aufbau eines Kapitels verstehen, wird Ihnen das helfen, aufgeführten Fragen unter »Prüfen Sie Ihr Wissen«. Nehmen Sie
Ihre Arbeit in handhabbare Teile für Ihre Lernphasen einzuteilen. auch die Übungsangebote auf der kostenlosen Website zu diesem
Buch wahr (www.lehrbuch-psychologie.de – und dort auf den
Fragen (»question«) Unterseiten zum Myers). Sie finden dort die Antworten auf die
Wenn Sie sich einen Überblick verschaffen, beschränken Sie »Prüfen Sie Ihr Wissen«-Fragen, virtuelle Lernkarten u.v.m.
sich nicht nur auf die nummerierten Lernfragen, die es in allen
Kapiteln gibt. Das Aufschreiben zusätzlicher Fragen wird Sie Überdenken (»review«)
dazu bringen, Ihr Lernmaterial aus einem neuen Blickwinkel zu Nachdem Sie die Arbeit an einem Kapitel abgeschlossen haben,
sehen. (Beispielsweise könnten Sie die Überschrift dieses Ab- lesen Sie nochmals die Fragen und Antworten, die Sie auf-
schnittes lesen und sich fragen: »Was bedeutet SQ3R?«) Man geschrieben hatten. Nehmen Sie sich ein paar Minuten Zeit, um
kann Informationen besser behalten, wenn man Ihnen eine per- eine schriftliche Zusammenfassung aller Fragen und Antworten
sönliche Bedeutung verleiht. Wenn Sie versuchen, während des zu verfassen. Am Ende eines jeden Kapitels haben Sie immer die
Lesens Ihre Fragen zu beantworten, werden Sie dadurch in einem Möglichkeit, zwei wichtige Angebote zur Selbstabfrage und
Zustand des aktiven Lernens bleiben. Wiederholung wahrzunehmen: eine Liste mit den Verständnis-
fragen zum Kapitel, die Sie versuchen sollten zu beantworten, ehe
Lesen (»read«) Sie diese mittels des Anhangs A3 (Verständnisfragen und Ant-
Behalten Sie beim Lesen Ihre Fragen im Hinterkopf und suchen worten) überprüfen, und eine Liste der Schlüsselbegriffe des
Sie nach den Antworten. Wenn Sie zu einer Stelle kommen, an Kapitels, die sie versuchen sollten zu definieren, ehe Sie diese im
der anscheinend eine wichtige Frage beantwortet wird, die Sie Glossar nachschlagen.
sich nicht notiert haben, halten Sie inne und schreiben Sie die
neue Frage auf.
843
A2 · Zeitmanagement

A2.3.5 Vergessen Sie nicht, sich zu belohnen! Unterricht beziehen, und solche, die auf einem Text basieren.
Wie viele Fragen haben Sie in den einzelnen Kategorien nicht
Wenn es Ihnen schwerfällt, regelmäßig zu lernen, könnte Ihnen richtig beantworten können? Wenn Sie in einer Kategorie viel
die Aussicht auf eine Belohnung helfen. Welche Art von Beloh- mehr Fehler gemacht haben, als in der anderen, gibt Ihnen das
nung ist am besten für Sie geeignet? Das hängt von Ihren Vor- einige Hinweise, die Ihnen helfen können, Ihren Zeitplan zu
lieben ab. Sie könnten damit beginnen, eine Liste mit fünf oder überarbeiten. In Abhängigkeit davon, was Sie herausgefunden
zehn Dingen zu erstellen, die Ihnen Freude bereiten. Zeit mit haben, können Sie sich zusätzliche Zeit einräumen, um mit Ihren
einer geliebten Person verbringen, spazieren gehen oder eine Mitschriften zu lernen oder Texte durchzuarbeiten.
Radtour machen, in einer Zeitschrift oder einem Roman schmö-
kern oder eine Lieblingssendung ansehen, können Belohnungen
für erreichte Kurzzeitziele im Studium darstellen. A2.4.3 Ist dies Ihr erster Versuch,
Sollten Sie Probleme damit haben, sich an Ihren Zeitplan zu kontinuierlich zu lernen, und fühlen Sie
halten, ist es in Ordnung, sich zur Motivation sofort für eine er- sich damit überfordert?
füllte Pflicht zu belohnen. Wenn es Ihnen Spaß macht zu joggen,
ziehen Sie Ihre Laufschuhe an, treffen Sie einen Freund und Vielleicht haben Sie Ihre anfänglichen Ziele zu hoch gesteckt.
laufen Sie los! Sie haben sich eine Belohnung für eine erfolgreich Denken Sie daran, dass der Sinn von Zeitmanagement darin be-
erledigte Aufgabe verdient. steht, einen regelmäßigen Zeitplan aufzustellen, der Ihnen dabei
hilft, Erfolge zu verzeichnen. Wie jede Fertigkeit braucht auch
Zeitmanagement Übung. Akzeptieren Sie Ihre Grenzen und ver-
4 Ist es nötig, Ihren neuen Zeitplan ändern Sie Ihren Zeitplan so, dass Sie langsam darauf hinarbei-
zu überarbeiten? ten, wo Sie einmal stehen wollen – vielleicht indem Sie jeden Tag
15 Minuten Zeit zum Lernen hinzufügen.
Was aber hat es zu bedeuten, wenn Sie nun seit einigen Wochen Zu guter Letzt: Ich hoffe, dass diese Ratschläge Ihnen helfen,
nach Ihrem neuen Zeitplan leben und dennoch keine Fort- Ihren Erfolg im Studium zu steigern, und dass sie die Qualität
schritte hinsichtlich Ihrer akademischen und privaten Ziele Ihres Lebens im Allgemeinen verbessern. Hat man die nötigen
machen? Was heißt es, wenn sich Ihre Bemühungen nicht in bes- Fertigkeiten dazu, wird die Bearbeitung einer jeden Aufgabe
seren Noten niedergeschlagen haben? Verzweifeln Sie nicht und leichter und angenehmer. Lassen Sie mich die Warnung wieder-
verwerfen Sie nicht Ihren Plan, sondern nehmen Sie sich ein holen, dass Sie nicht zu drastisch versuchen sollten, Ihren Le-
bisschen Zeit, um herauszufinden, was schiefgegangen ist. bensstil abrupt zu ändern. Es braucht Zeit und Selbstdisziplin,
um gute Gewohnheiten auszubilden. Hat man Sie einmal er-
reicht, können sie ein Leben lang bestehen bleiben.
A2.4.1 Sind Sie in einigen Fächern gut,
in anderen aber nicht?
5 Zusammenfassung
Möglicherweise müssen Sie Ihr Augenmerk ein wenig ver-
schieben. Vielleicht müssen Sie sich beispielsweise mehr Zeit für 1. Wie nutzen Sie Ihre Zeit bisher?
Chemie nehmen und weniger Zeit für andere Fächer. 4 Finden Sie heraus, wo Ihre Schwachpunkte liegen.
4 Führen Sie eine Liste über Ihre Tätigkeiten mit
entsprechenden Zeitangaben.
A2.4.2 Haben Sie in einem Test eine schlechte 4 Protokollieren Sie die Zeit, die Sie tatsächlich mit Ihren
Note bekommen? Beschäftigungen verbringen.
4 Registrieren Sie den Tagesverlauf Ihrer Tatkraft, um heraus-
Spiegelt Ihre Note nicht die Bemühungen wider, die Sie aufge- zufinden, wann Sie am produktivsten sein können.
wendet haben, um sich auf einen Test vorzubereiten? Das kann 2. Entwerfen Sie einen besseren Zeitplan
selbst dem fleißigsten Studenten passieren – oft in der ersten 4 Legen Sie sowohl Ziele für das ganze Semester, als auch für
Prüfung bei einem neuen Dozenten. Diese gängige Erfahrung jede einzelne Woche fest.
kann sehr erschütternd sein. »Was muss ich tun, um eine Eins zu 4 Notieren Sie sich Unterrichtszeiten, Arbeitszeiten, Zeiten
bekommen?« »Der Test war unfair!« »Ich habe den falschen Stoff für Familie und Freunde und Zeiten, die Sie für andere
gelernt!« Verpflichtungen und regelmäßige Aktivitäten benötigen.
Versuchen Sie herauszufinden, was schiefgegangen ist. Ana- 4 Planen Sie Ihre Lernzeiten genau, um Störungen zu ver-
lysieren Sie die Fragen, mit denen Sie nicht zurechtkamen, indem meiden und um die Anforderungen der einzelnen Fächer
Sie diese in zwei Kategorien unterteilen: Fragen, die sich auf den erfüllen zu können.
844 Anhang

3. Nutzen Sie jede Minute Ihrer Lernzeit voll aus


4 Machen Sie sich sorgfältige Notizen (in Stichworten),
die Ihnen helfen, sich an den Unterrichtsstoff zu erinnern
und ihn zu lernen.
4 Versuchen Sie, Störungen in Ihren Lernzeiten zu minimie-
ren und bitten Sie Freunde und Familie darum, Sie dabei zu
unterstützen, sich auf Ihre Arbeit konzentrieren zu können.
4 Setzen Sie sich bestimmte, realistische Tagesziele, die
Ihnen helfen, sich auf die Aufgaben eines jeden Tages zu
konzentrieren.
4 Verwenden Sie die SQ3R-Methode (Survey, Question,
Read, Retrieve, Review; also Überblick verschaffen, Fragen
stellen, lesen, abrufen, überdenken), um sich die Inhalte
Ihres Textmaterials aneignen zu können.
4 Wenn Sie Ihre täglichen Ziele erreichen, belohnen Sie sich
mit etwas, das Sie mögen.
4. Ist es nötig, Ihren neuen Zeitplan zu überarbeiten?
4 Planen Sie für schwierigere Fächer zusätzliche Lernzeit ein
und etwas weniger Zeit für Fächer, die Ihnen leichter fallen.
4 Betrachten Sie Ihre Prüfungsergebnisse genau, denn das
kann Ihnen helfen, Ihren Zeitplan effektiver auszuloten.
4 Versichern Sie sich, dass Ihr Zeitplan nicht zu ehrgeizig ist.
Führen Sie stufenweise einen Zeitplan ein, der auf lange
Sicht seine Wirkung zeigt.
845
A3 · Verständnisfragen und Antworten

A3 Verständnisfragen und Antworten

1 Prolog: Die Geschichte der Psychologie Psychologie zu vergrößern (häufig in der biologischen, Persön-
lichkeits-, kognitiven und Sozialpsychologie) oder sich mit an-
jWas ist Psychologie? gewandter Forschung beschäftigen, um praktische Probleme zu
1.1 Was sind die wichtigen Meilensteine in der frühen Entwick- lösen (wie in der Arbeits- und Organisationspsychologie und in
lung der Psychologie? anderen Bereichen).
1897 eröffnete Wilhelm Wundt in Deutschland das erste psycho- Wer sich mit der Psychologie als helfendem Beruf beschäftigt
logische Labor. Zwei frühe Schulen waren der Strukturalismus kann Menschen als psychologischer Berater unterstützen (indem
und der Funktionalismus. er Menschen bei Problemen hilft, die sie im Leben oder beim
Erreichen eines besseren Allgemeinzustands haben) oder als
1.2 Wie entwickelte sich die Psychologie von 1920 bis heute klinischer Psychologe helfen, indem er Personen mit psychischen
weiter? Störungen untersucht und diagnostiziert sowie mit Psychothe-
Frühe Forscher definierten die Psychologie als »die Wissenschaft rapie behandelt. (Auch Psychiater untersuchen, diagnostizieren
vom Seelenleben«. In den 1920er Jahren veränderte sich der und behandeln Menschen mit psychischen Störungen, dürfen
Fokus des Feldes unter Einfluss von John B. Watson und den aber als Ärzte zusätzlich zu Psychotherapie Medikamente ver-
Behavioristen auf »die wissenschaftliche Untersuchung des beob- ordnen.) Positive Psychologie versucht, Eigenschaften zu ent-
achtbaren Verhaltens«. In den 1960er Jahren belebten die huma- decken und zu fördern, die Menschen helfen, gut und erfolgreich
nistischen Psychologen und die kognitiven Psychologen das Inte- zu leben. Gemeindepsychologen arbeiten an der Schaffung von
resse an der Untersuchung mentaler Prozessen wieder. Heute gesunden sozialen und physischen Lebensumwelten.
wird die Psychologie als »die Wissenschaft vom Verhalten und
von den mentalen Prozessen« definiert. jMit Psychologie lernen – Verbessern Sie Ihre
Merkfähigkeit und Ihre Noten!
jModerne Psychologie 1.6 Wie können Ihnen psychologische Prinzipien beim Lernen
1.3 Was ist das wichtigste Thema in der Geschichte der Psycho- und Erinnern helfen?
logie? Der Prüfeffekt zeigt, dass Lernen und Erinnern durch aktiven
Das wichtigste und am ausdauerndsten behandelte Thema der Abruf eher verbessert werden als durch einfaches erneutes Lesen
Psychologie ist das Anlage-Umwelt-Problem, das sich mit dem zuvor gelernten Materials. Die SQ3R-Lernmethode – Survey,
relativen Anteil von Genen und Erfahrung beschäftigt. In der Question, Read, Retrieve und Review (Überblick verschaffen,
heutigen Wissenschaft wird die Wechselwirkung von Genen und Fragen stellen, lesen, abrufen und nochmal durchdenken) – be-
Erfahrungen in spezifischen Umwelten betont. Charles Darwins rücksichtigt Grundlagen aus der Gedächtnisforschung. Vier zu-
Ansicht, dass natürliche Selektion sowohl das Verhalten als auch sätzliche Tipps sind: (1) Teilen Sie sich Ihre Lernzeit auf. (2) Ler-
die äußere Erscheinung formt, ist eine wichtige Grundlage für die nen Sie, kritisch zu denken. (3) Verarbeiten Sie Informationen in
moderne Psychologie. Lehrveranstaltungen aktiv. (4) Lernen Sie wiederholt.

1.4 Was sind die zentralen Analyseebenen der Psychologie und


welche Sichtweisen sind damit verbunden? 2 Kritisch denken mit wissenschaftlicher
Der biopsychosoziale Ansatz integriert Informationen aus drei Psychologie
verschiedenen, aber einander ergänzenden Analyseebenen: der
biologischen, der psychologischen und der soziokulturellen. jDie Notwendigkeit der Psychologie als Wissenschaft
Dieser Ansatz bietet ein vollständigeres Verständnis als es ge- 2.1 Wie illustrieren der Verzerrungseffekt durch nachträgliche
wöhnlich durch das Zugrundelegen nur eines der aktuellen Einsicht (Hindsightbias), die übertriebene Selbstsicherheit und
Ansätze der Psychologie (dem neurowissenschaftlichen, evolu- die Tendenz, in zufälligen Ereignissen eine Ordnung wahrzuneh-
tionstheoretischen, verhaltensgenetischen, psychodynamischen, men, weshalb wissenschaftlich fundierte Antworten der Intui-
verhaltenstheoretischen, kognitiven oder soziokulturellen An- tion und dem gesunden Menschenverstand überlegen sind?
satz) erreicht wird. Der Hindsightbias (auch bekannt als Rückschaufehler) ist die
Tendenz, nachdem wir ein Ergebnis zur Kenntnis genommen
1.5 Was sind die Hauptarbeitsfelder der Psychologie? haben, zu glauben, dass wir es vorhergesehen hätten. Über-
Innerhalb der psychologischen Wissenschaft können Forscher triebene Selbstsicherheit in Bezug auf unsere Urteile geht zum
Grundlagenforschung betreiben, um die Wissensgrundlage der Teil auf unseren Bias zurück, nach Informationen zu suchen, mit
846 Anhang

deren Hilfe sich diese Urteile als richtig erweisen. Diese Tenden- relation nimmt eine Variable in dem Maße zu, wie die andere
zen und außerdem unser Bedürfnis, bei zufälligen Ereignissen abnimmt. Streudiagramme (Scatterplots) können uns helfen,
Ordnung wahrzunehmen, bringen uns dazu, unsere Intuition zu Korrelationen zu erkennen. Ein Korrelationskoeffizient kann
überschätzen. Obwohl ein wissenschaftlicher Ansatz auf über- die Stärke und Richtung eines Zusammenhangs zwischen zwei
prüfbare Fragen beschränkt bleibt, die man mit seiner Hilfe be- Faktoren aufzeigen. Er reicht von +1.00 (eine perfekte positive
antworten kann, trägt er dazu bei, die Voreingenommenheit und Korrelation) über Null (überhaupt keine Korrelation) bis hin zu
die Defizite unserer Intuition zu überwinden. –1.00 (eine perfekte negative Korrelation). Eine Korrelation weist
auf die Möglichkeit eines Ursache-Wirkungs-Zusammenhangs
2.2 Wie hängen die drei Hauptkomponenten der wissenschaft- hin, doch sie ist kein Nachweis für die Richtung des Einflusses.
lichen Haltung mit dem kritischen Denken zusammen? Außerdem zeigt sie nicht, ob ein zugrunde liegender dritter Fak-
Die wissenschaftliche Haltung ermöglicht es uns, neugierig, skep- tor die Korrelation erklären könnte.
tisch und bescheiden zu sein bei der Prüfung konkurrierender
Ideen und unserer eigenen Beobachtungen. Diese Einstellung 2.6 Welches sind die Eigenschaften von Experimenten, die es
bringt kritisches Denken auch in unseren Alltag; es stellt Ideen auf möglich machen, Ursache und Wirkung auseinanderzuhalten?
den Prüfstand, indem es Annahmen überprüft, versteckte Werte Psychologen führen Experimente durch, um Zusammenhänge
erkennt, Befunde bewertet und Ergebnisse kritisch einordnet. zwischen Ursache und Wirkung aufzudecken. Dabei manipulie-
ren sie einen oder mehrere interessierende Faktoren und kon-
jWie stellen und beantworten Psychologen Fragen? trollieren andere Faktoren. Durch eine Zufallszuweisung können
2.3 Wie bringen Theorien die Psychologie als Wissenschaft sie Störvariablen – wie die vorher bestehenden Unterschiede
voran? zwischen der Experimentalgruppe (die die Behandlung be-
Psychologische Theorien sind Erklärungen, die sich auf ein zu- kommt) und der Kontrollgruppe (die ein Placebo oder eine ande-
sammenhängendes Set von Prinzipien stützen. Sie bringen Ord- re Variante der Behandlung bekommt) – möglichst gering halten.
nung und System in Beobachtungen und führen zu Hypothesen Die unabhängige Variable ist der Faktor, den der Versuchsleiter
– Vorhersagen, mithilfe derer man die Theorie überprüfen oder manipuliert, um seinen Effekt zu untersuchen; die abhängige
praktische Anwendungen daraus entwickeln kann. Durch das Variable ist der Faktor, den der Versuchsleiter misst, um etwaige
Testen ihrer Hypothesen können Forscher ihre Theorien prüfen, Veränderungen aufzudecken, die in Reaktion auf die Manipu-
verwerfen oder revidieren. Damit andere Forscher die Studien lationen auftreten. Studien können ein Doppelblindverfahren
replizieren können, geben Wissenschaftler in ihren Berichten die anwenden, um den Placeboeffekt und den Bias des Forschers zu
präzisen operationalen Definitionen ihrer Vorgehensweisen und verhindern.
Konzepte an. Wenn andere ähnliche Resultate erzielen, dann
wird das Vertrauen in das Ergebnis größer. jStatistische Argumentation im Alltagsleben
2.7 Wie können wir mit Hilfe der Maße der zentralen Tendenz
2.4 Wie nutzen Psychologen Einzelfallstudien, Feldbeobach- und der Variabilität Daten beschreiben?
tungen und Umfragen, um Verhalten zu beobachten und zu Ein Maß der zentralen Tendenz ist ein einziger Wert, der eine
beschreiben, und weshalb ist es wichtig, Zufallsstichproben zu Gesamtmenge von Werten repräsentiert. Drei solche Maße sind
ziehen? der Modalwert (der Wert, der am häufigsten auftritt), der Mittel-
Deskriptive (beschreibende) Methoden – dazu gehören Einzel- wert (das arithmetische Mittel) und der Median (der mittlere
fallstudien, Beobachtungen in natürlicher Umgebung und Um- Wert einer Menge von Daten).
fragen – zeigen uns, was passieren kann und geben uns mög- Maße der Variabilität sagen etwas darüber aus, wie unter-
licherweise Ideen für die weitere Forschung. Die beste Basis für schiedlich Daten untereinander sind. Zwei Maße der Variabilität
eine Generalisierung auf eine Population ist eine repräsentative sind die Variationsbreite (die den Unterschied zwischen dem
Stichprobe; bei einer Zufallsstichprobe hat jede Person in der zu größten und dem kleinsten Wert beschreibt) und die Standard-
untersuchenden Gesamtgruppe die gleiche Chance teilzu- abweichung (die angibt, wie stark die Werte um den Mittelwert
nehmen. Mit deskriptiven Methoden lässt sich nicht feststellen, oder um den durchschnittlichen Wert streuen). Testwerte bilden
was Ursache und was Wirkung ist, weil Forscher mit diesen Me- oft eine glockenförmige Normalverteilung.
thoden keine Variablen kontrollieren können.
2.8 Wie können wir herausfinden, ob sich ein beobachteter Un-
2.5 Was sind positive und negative Korrelationen und wieso terschied auf eine andere Population übertragen lässt?
ermöglichen sie Vorhersagen, nicht aber Ursache-Wirkungs- Um einen beobachteten Unterschied mit gutem Gewissen auf
Erklärungen? andere Populationen übertragen zu können, müssen wir wissen,
Bei einer positiven Korrelation wachsen zwei Faktoren zusam- dass die untersuchte Stichprobe für die größere Population, die
men an oder nehmen zusammen ab. Bei einer negativen Kor- erforscht wird, repräsentativ ist; dass die Beobachtungen, im
847
A3 · Verständnisfragen und Antworten

Durchschnitt, eine geringe Variation aufweisen; dass die Stich- 3 Neurowissenschaft und Verhalten
probe aus mehr als ein paar wenigen Fällen besteht; und dass die
beobachtete Differenz statistisch signifikant ist. jBiologie, Verhalten und Verstand
3.1 Wieso beschäftigen sich Psychologen mit der menschlichen
jHäufig gestellte Fragen zur Psychologie Biologie?
2.9 Können Laborversuche etwas über den Alltag aussagen? Psychologen, die von der biologischen Perspektive ausgehen,
Wissenschaftler schaffen im Labor absichtlich eine kontrollierte, untersuchen die Verbindungen zwischen Biologie und Verhalten.
künstliche Umwelt, um generelle theoretische Prinzipien zu tes- Wir sind biopsychosoziale Systeme, in denen biologische, psycho-
ten. Diese generellen Prinzipien helfen dabei, alltägliche Verhal- logische und soziokulturelle Faktoren interagieren und so das
tensweisen zu erklären. Verhalten beeinflussen.

2.10 Ist Verhalten kulturabhängig und geschlechtsspezifisch? jNeuronale Kommunikation


Einstellungen und Verhaltensweisen mögen je nach Geschlecht 3.2 Was sind Neurone und wie übermitteln sie Informationen?
oder über Kulturen hinweg ein wenig variieren. Aufgrund unseres Neurone sind die Grundbausteine des Nervensystems, das
gemeinsamen menschlichen Ursprungs sind die zugrunde lie- schnelle, elektrochemische Informationssystem unseres Körpers.
genden Prozesse und Prinzipien jedoch eher ähnlich als unter- Ein Neuron erhält Signale über seine verzweigten Dendriten;
schiedlich. über die Axone wiederum verschickt das Neuron Signale. Einige
Axone sind von einer Myelinschicht umschlossen, die eine
2.11 Warum machen Psychologen Experimente mit Tieren und schnellere Übertragung ermöglicht.
welche ethischen Richtlinien schützen menschliche und tierische Wenn die aufsummierten empfangenen Signale einen
Versuchsteilnehmer? Schwellenwert überschreiten, feuert das Neuron und übermittelt
Manche Psychologen interessieren sich primär für das Verhalten einen elektrischen Impuls (das Aktionspotenzial) entlang des
von Tieren; andere möchten die physiologischen und psycho- Axons. Dies geschieht über einen erst chemischen, dann elek-
logischen Prozesse besser verstehen, welche von Menschen und trischen Prozess. Die Reaktion des Neurons ist ein Alles-oder-
anderen Spezies geteilt werden. Staatliche Institutionen haben nichts-Prozess.
Richtlinien für die Pflege und Haltung von Tieren aufgestellt.
Berufsverbände und Institutionen der Forschungsförderung 3.3 Wie kommunizieren Nervenzellen miteinander?
geben ebenfalls Richtlinien zum Schutz des Wohls von Tieren Wenn die Aktionspotenziale das Ende des Axons erreichen (die
heraus. axonale Endigung), stimulieren sie die Ausschüttung von Neuro-
Die von der APA erarbeiteten ethischen Grundsätze legen transmittern. Diese chemischen Botenstoffe übermitteln eine
Standards fest, welche das Wohlergehen menschlicher Versuchs- Botschaft vom präsynaptischen Neuron über eine Synapse an die
teilnehmer gewährleisten sollen. Zu diesen Standards gehören Rezeptoren eines postsynaptischen Neurons. Das präsynaptische
das Einholen der informierten Einwilligung und das spätere Auf- Neuron absorbiert dann normalerweise bei einem Vorgang, der
klären der Versuchsteilnehmer in einer Nachbesprechung. Auch als Wiederaufnahme bezeichnet wird, den Überschuss an Neuro-
die Deutsche Gesellschaft für Psychologie (DGPs) und der Be- transmittermolekülen im synaptischen Spalt. Das postsynap-
rufsverband Deutscher Psychologinnen und Psychologen (BDP) tische Neuron erzeugt, wenn die Signale von diesem Neuron und
haben gemeinsame ethische Richtlinien zum Einsatz von Tieren von anderen stark genug sind, sein eigenes Aktionspotenzial und
in Forschung und Lehre formuliert. gibt die Botschaft an andere Zellen weiter.

2.12 Ist die Psychologie frei von Werturteilen? 3.4 Wie beeinflussen Neurotransmitter das Verhalten und welche
Die Wertvorstellungen der Psychologen beeinflussen ihre Wahl Auswirkungen haben Drogen und andere chemische Stoffe auf
von Forschungsthemen, ihre Theorien und Beobachtungen, ihre die neuronale Übertragung?
Verhaltensbezeichnungen und ihre professionellen Ratschläge. Neurotransmitter bewegen sich auf festgelegten Bahnen im Ge-
Psychologische Verfahren wurden bisher hauptsächlich im hirn und können bestimmte Verhaltensweisen und Emotionen
Dienste der Menschheit eingesetzt. beeinflussen. Acetylcholin hat einen Einfluss auf Muskelbewe-
gungen, Lernen und Gedächtnis. Endorphine sind natürliche
Opiate, die in Reaktion auf Schmerz und körperliche Betätigung
freigesetzt werden.
Drogen und andere chemische Stoffe haben einen Einfluss
auf die chemischen Vorgänge des Gehirns an Synapsen. Agonis-
ten wirken erregend, indem sie die Rolle von bestimmten Neu-
rotransmittern nachahmen oder ihre Wiederaufnahme verhin-
848 Anhang

dern. Antagonisten hemmen die Freisetzung eines bestimmten 3.8 Aus welchen Strukturen besteht der Hirnstamm und welche
Neurotransmitters oder blockieren seine Auswirkungen. Funktionen haben Hirnstamm, Thalamus und Kleinhirn?
Der Hirnstamm ist der älteste Teil des Gehirns und für auto-
jNervensystem matische Überlebensfunktionen zuständig. Er besteht aus der
3.5 Welche Funktionen haben die Hauptkomponenten des Medulla, die Herzschlag und Atmung steuert, der Brücke, die zur
Nervensystems und wie heißen die drei Hauptgruppen von Koordinierung der Bewegungen beiträgt, sowie der Formatio
Neuronen? reticularis, die die Erregung beeinflusst.
Das Zentralnervensystem (ZNS), das aus dem Gehirn und dem Über dem Hirnstamm liegt der Thalamus, die sensorische
Rückenmark besteht, ist der Entscheidungsträger des Nerven- Schaltstelle des Gehirns. Das Kleinhirn, hinten am Hirnstamm
systems. Das periphere Nervensystem (PNS), das das ZNS über lokalisiert, koordiniert die Muskelbewegungen sowie das Gleich-
Nerven mit dem übrigen Körper verbindet, sammelt Informa- gewicht und trägt außerdem dazu bei, die sensorischen Informa-
tionen und übermittelt die Entscheidungen des ZNS an den Rest tionen zu verarbeiten.
des Körpers. Die zwei Hauptkomponenten des PNS sind das
somatische Nervensystem (welches die willkürliche Kontrolle 3.9 Was sind die Strukturen und Funktionen des limbischen
unserer Skelettmuskulatur ermöglicht) und das autonome Ner- Systems?
vensystem (welches unwillkürliche Muskeln und Drüsen über Das limbische System wird mit dem Gedächtnis, den Gefühlen
seine Komponenten, den Sympathikus und den Parasympathi- und Trieben in Zusammenhang gebracht. Seine Nervenzentren
kus, kontrolliert). beinhalten den Hippocampus, der bewusste Erinnerungen ver-
Neurone gruppieren sich zusammen und bilden somit arbei- arbeitet; die Amygdala, die an aggressiven oder ängstlichen Im-
tende Netzwerke. Es gibt drei Arten von Neuronen: 1. Sensorische pulsen beteiligt ist, und den Hypothalamus, der verschiedene
Neuronen übertragen die über die Sinnesrezeptoren eingehenden lebenserhaltende Funktionen des Körpers, das Belohnungs- und
Informationen zum Gehirn und zum Rückenmark. 2. Moto- das Hormonsystem steuert. Die Hypophyse (die »Königsdrüse«)
neuronen übertragen die Informationen vom Gehirn und vom kontrolliert den Hypothalamus, indem sie ihn zur Ausschüttung
Rückenmark an die Muskeln und Drüsen. 3. Interneuronen kom- von Hormonen stimuliert.
munizieren innerhalb des Gehirns und des Rückenmarks sowie
zwischen sensorischen und Motoneuronen. Zusätzlich unterstüt- 3.10 Was sind die Funktionen der verschiedenen Regionen des
zen, ernähren und schützen Gliazellen die Neuronen und spielen zerebralen Kortex?
ebenso möglicherweise beim Lernen und Denken eine Rolle. Der zerebrale Kortex hat zwei Hemisphären und jede Hemis-
phäre besteht aus vier Lappen: dem Frontal-, dem Parietal-, dem
jEndokrines System Okzipital- und dem Temporallappen. Jeder Gehirnlappen erfüllt
3.6 Wie übermittelt das endokrine System Informationen und viele Funktionen und tritt mit anderen Arealen des Kortex in
welche Wechselwirkung besteht mit dem Nervensystem? Interaktion.
Das endokrine System besteht aus einer Gruppe von Drüsen, die Der motorische Kortex im hinteren Teil der Frontallappen
Hormone in die Blutbahn ausschütten. Dort wandern sie durch steuert die willkürlichen Bewegungen. Der sensorische Kortex
den Körper und beeinflussen andere Gewebe, einschließlich des im vorderen Teil der Parietallappen nimmt Berührungen und
Gehirns. Die Königsdrüse des endokrinen Systems ist die Hypo- Bewegungen wahr und verarbeitet diese. In diesen Regionen be-
physe; sie beeinflusst die Ausschüttung von Hormonen in ande- legen Körperteile, die besonders präzise gesteuert werden müs-
ren Drüsen. Durch ein ausgeklügeltes Rückkopplungssystem sen (im motorischen Kortex), und jene, die besonders sensibel
beeinflusst der Hypothalamus im Gehirn die Hypophyse, die sind (im sensorischen Kortex), am meisten Raum.
wiederum einen Einfluss auf andere Drüsen hat, die Hormone Den größten Bereich des Kortex – den größten Teil jedes
ausschütten, die wiederum das Gehirn beeinflussen. Einzelnen der vier Hirnlappen – nehmen die nicht spezialisier-
ten Assoziationsfelder ein; sie führen die Informationen zusam-
jGehirn men, die im Zusammenhang mit Lernen, Erinnern, Denken und
3.7 Wie untersuchen Neurowissenschaftler die Verbindungen anderen höheren Funktionen anfallen. Unsere mentalen Er-
vom Gehirn zum Verhalten und zum Verstand bzw. Bewusst- fahrungen entstehen aus koordinierter Hirnaktivität.
sein?
Klinische Beobachtungen und Läsionen offenbaren die generel- 3.11 In welchem Ausmaß kann sich ein geschädigtes Gehirn neu
len Effekte von Hirnschädigungen. Elektrische, chemische oder organisieren? Was ist Neurogenese?
magnetische Stimulation können ebenso Aspekte der Informa- Wenn eine Gehirnhälfte früh im Leben eines Menschen Schaden
tionsverarbeitung im Gehirn verdeutlichen. MRT-Scans zeigen nimmt, wird die andere Hälfte die meisten ihrer Funktionen mit
die Anatomie, Aufnahmen vom EEG, PET und fMRT (funktio- übernehmen, indem sie Nervenbahnen reorganisiert oder neu
nelle MRT) machen die Gehirnfunktionen deutlich. bildet. Diese Plastizität nimmt jedoch mit dem Alter ab. Das Ge-
849
A3 · Verständnisfragen und Antworten

hirn repariert sich manchmal selbst, indem es neue Neuronen blindheit gegenüber anderen Ereignissen und Veränderungen
produziert, ein Prozess, der als Neurogenese bekannt ist. um uns herum.

3.12 Wie trägt die Forschung zur Trennung der Hemisphären zu jSchlaf und Träume
einem besseren Verständnis der Funktionen unserer rechten und 4.4 Wie beeinflussen unsere biologischen Rhythmen unser all-
linken Hirnhälfte bei? tägliches Leben?
In der Forschung zum Thema Split Brain (Experimente mit Pa- Unsere Körper haben eine innere biologische Uhr, die in etwa
tienten, deren Corpus callosum durchtrennt wurde) zeigte sich, dem 24-Stunden-Rhythmus von Tag und Nacht angepasst ist.
dass bei den meisten Menschen die linke Hemisphäre eher ver- Diese zirkadiane Rhythmik zeigt sich im täglichen Verlauf unse-
bale Fähigkeiten hat, während die rechte bei der visuellen Wahr- rer Körpertemperatur, unserer Wachzustände, unseres Schlafs
nehmung und dem Erkennen von Emotionen brilliert. Unter- und unseres Aufwachens. Das Alter und Erfahrungen können
suchungen an Menschen mit intaktem Gehirn bestätigen, dass diese Verläufe verändern und somit unsere biologische Uhr um-
jede Gehirnhälfte einzigartig dazu beiträgt, dass das Gehirn in stellen.
integrierter Weise seine Funktion erfüllen kann.
4.5 Wie sieht der biologische Rhythmus unserer Schlaf- und
Traumstadien aus?
4 Bewusstsein und der zweigleisige Der Zyklus der vier unterschiedlichen Schlafstadien, die wir
Verstand durchlaufen, beträgt jeweils etwa 90 Minuten. Wenn wir die
Alphawellen des entspannten Wachzustands hinter uns gelassen
jGehirnzustände und Bewusstsein haben, steigen wir ins NREM-1 des Schlafs hinab; dies geht oft
4.1 Wo lässt sich das Bewusstsein in der Geschichte der Psycho- mit der Empfindung einher, zu fallen oder zu schweben. Darauf
logie verorten? folgt das 2. Schlafstadium (NREM-2; das Stadium, in dem wir
Seit 1960 hat das Bewusstsein (unser Bewusstsein von uns selbst die meiste Zeit verbringen) mit seinen charakteristischen Schlaf-
und von unserer Umwelt) unter dem Einfluss der Neurowissen- spindeln, das ca. 20 Minuten dauert. Danach kommt NREM-3,
schaft und der kognitiven Psychologie seinen Platz als wichtiges welches ca. 30 Minuten dauert, mit hohen, langsamen Delta-
Forschungsgebiet wieder eingenommen. Die Psychologie be- wellen.
gann im 19. Jahrhundert als Wissenschaft vom Bewusstsein. Etwa 1 Stunde, nachdem wir eingeschlafen sind, beginnen
Doch die Psychologen wandten sich von diesem Thema in der wir mit mehreren Phasen von REM-Schlaf (von »rapid eye move-
ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts ab und beschäftigten sich ments«, schnellen Augenbewegungen), in dem die meisten Träu-
stattdessen mit beobachtbarem Verhalten, weil sie das Bewusst- me auftreten (auch als paradoxer Schlaf bezeichnet). In diesem
sein für zu komplex hielten, um es wissenschaftlich zu unter- Stadium sind wir innerlich erregt, aber äußerlich wie gelähmt.
suchen. Während des Schlafs in einer normalen Nacht werden die Zeiten
für das NREM-3-Stadium immer kürzer und der REM-Schlaf
4.2 Was versteht man in der Kognitiven Neurowissenschaft sowie das NREM2-Stadium werden länger.
unter Parallelverarbeitung?
Kognitive Neurowissenschaftler und andere Forscher, die die 4.6 Wie wirken sich Biologie und Umfeld auf unsere Schlaf-
Mechanismen des Gehirns, die dem Bewusstsein und der Kogni- muster aus?
tion zugrunde liegen, erforschen, entdeckten, dass unser Ver- Biologie – unser zirkadianer Rhythmus sowie unser Alter und
stand Informationen auf zwei getrennten Bahnen verarbeitet. unsere körpereigene Melaninproduktion (beeinflusst vom Nuc-
Eine Art der Verarbeitung verläuft vordergründig und bewusst, leus suprachiasmaticus des Gehirns) - interagiert mit kulturellen
während die andere im Hintergrund und unbewusst abläuft. Erwartungen und den individuellen Verhaltensweisen, um somit
Diese Parallelverarbeitung beeinflusst unsere Wahrnehmung, unseren Schlaf- und Wachrhythmus zu bestimmen.
unser Gedächtnis, unsere Einstellungen und andere Kogni-
tionen. 4.7 Welche Funktionen hat der Schlaf?
Schlaf könnte bei der Evolution des Menschen eine Schutzfunk-
4.3 Wie viele Informationen können wir gleichzeitig bewusst tion gehabt haben, indem er die Menschen zu Zeiten, in denen
beachten? potenzielle Gefahren lauerten, in Sicherheit hielt. Schlaf hilft
Selektiv beachten und verarbeiten wir nur einen sehr geringen außerdem dabei, geschädigte Neuronen wiederherzustellen und
Anteil der Informationen, die wir erhalten. Vieles wird von uns zu reparieren. REM und NREM-2 Schlaf unterstützen die Bil-
ausgeblendet und wir lenken den Fokus unserer Aufmerksamkeit dung von neuronalen Verbindungen, die andauernde Erinne-
häufig von einer Sache zur anderen. Wenn wir uns intensiv auf rungen schaffen. Schlaf wirkt sich zudem fördernd auf kreatives
eine Aufgabe konzentrieren, zeigen wir oft Unaufmerksamkeits- Lösen von Problemen am nächsten Tag aus und schließlich för-
850 Anhang

dert kurzwelliger Schlaf das Muskelwachstum, da während- Menschen und anderen Spezies auf einen REM-Schlafentzug
dessen die Hypophyse ein menschliches Wachstumshormon folgt.
freisetzt.
jHypnose
4.8 Welche Auswirkungen hat Schlafmangel und was sind die 4.11 Was ist Hypnose, und welchen Einfluss hat ein Hypnotiseur
wesentlichen Schlafstörungen? auf eine hypnotisierte Person?
Schlafentzug verursacht Müdigkeit und Reizbarkeit, er beein- Hypnose ist eine soziale Interaktion, in der die eine Person einer
trächtigt die Konzentration, die Produktivität und das Festigen anderen suggeriert, dass bestimmte Wahrnehmungen, Gefühle,
von Erinnerungen. Schlafmangel kann außerdem zu Depres- Gedanken oder Verhaltensweisen spontan auftreten werden. Die
sionen, Fettleibigkeit, Gelenkschmerzen, einer schwächeren Hypnose verbessert den Abruf vergessener Ereignisse nicht und
Immunabwehr und einer schlechteren Leistungsfähigkeit (mit kann sogar falsche Erinnerungen auslösen. Sie kann Personen
größerer Anfälligkeit für Unfälle) führen. nicht dazu zwingen, Handlungen gegen ihren Willen auszu-
Zu den Schlafstörungen zählen die Insomnie (wiederholtes führen, obgleich hypnotisierte Menschen vielleicht, wie nicht
nächtliches Aufwachen), Narkolepsie (plötzliche, unkontrollier- hypnotisierte Menschen, unwahrscheinliche Handlungen aus-
bare Müdigkeit oder sogar das unmittelbare Abgleiten in REM- führen werden. Posthypnotische Suggestionen waren hilfreich,
Schlaf ), das Schlafapnoesyndrom (Aussetzen der Atmung wäh- wenn sich Menschen ihre eigenen Heilkräfte nutzbar machten,
rend des Schlafs; mit Fettleibigkeit assoziiert, vor allem bei aber bei der Behandlung von Suchtkrankheiten waren sie nicht
Männern), Pavor nocturnus (starke Erregung und das Gefühl, sehr wirksam. Die Hypnose kann dazu beitragen, Schmerzen zu
erschrocken zu sein; NREM-3-Störung, vor allem bei Kindern), verringern.
Schlafwandeln (NREM-3-Störung, ebenso am meisten bei
Kindern vorkommend) und Sprechen im Schlaf. 4.12 Ist Hypnose eine Erweiterung des normalen Bewusstseins
oder ein veränderter Zustand?
4.9 Wovon träumen wir? Viele Psychologen nehmen an, dass Hypnose eine Form von nor-
Wir träumen in der Regel von Alltagserfahrungen und gewöhn- malem sozialem Einfluss ist und dass hypnotisierte Personen in
lichen Erlebnissen; meistens gehören eine Art Angst oder Miss- der Rolle des »guten Versuchsteilnehmers« handeln, indem sie
geschick dazu. Weniger als 10% der Träume (bei Frauen noch den Anweisungen einer autoritativen Person folgen. Andere
weniger als bei Männern) haben irgendeine Art von sexuellem Psychologen sehen Hypnose als eine Dissoziation – eine Spaltung
Inhalt. Die meisten Träume treten während des REM-Schlafs auf; zwischen normalen Empfindungen und vollständiger Bewusst-
Träume, zu denen es außerhalb des REM-Schlafs kommt, ent- heit. Selektive Aufmerksamkeit könnte ebenso dazu beitragen,
halten gewöhnlich verschwommene, flüchtige Bilder. indem sie verhindert, dass die Aufmerksamkeit auf bestimmte
Reize gelenkt wird.
4.10 Was sind die Aufgaben von Träumen?
Es gibt 5 Haupttheorien zu der Funktion von Träumen. jDrogen und Bewusstsein
(1) Freuds Wunscherfüllung: Träume stellen ein psychisches 4.13 Was bedeuten Toleranz, Abhängigkeit und Sucht, und
»Sicherheitsventil« dar, weil ihr manifester Inhalt (die Handlung welches sind verbreitete falsche Vorstellungen von Sucht?
der Geschichte) eine zensierte Version des verborgenen latenten Psychoaktive Substanzen verändern Wahrnehmungen und
Inhalts darstellt (eine verborgene Bedeutung zur Befriedigung Stimmungen. Der fortgesetzte Konsum dieser Substanzen führt
unserer unbewussten Wünsche). (2) Der Ansatz der Informa- zur Toleranz (die Wirkung der Droge nimmt mit regelmäßiger
tionsverarbeitung: Träume tragen dazu bei, dass wir uns Klarheit Nutzung derselben Dosis ab; man braucht eine größere Dosis,
über die Erlebnisse des Tages verschaffen und sie im Gedächtnis um denselben Effekt zu erreichen) und kann zu physischer oder
abspeichern. (3) Physiologische Theorien: Die durch REM psychischer Abhängigkeit führen.
hervorgerufene Stimulierung des Gehirns ist hilfreich dabei, Sucht ist das zwanghafte Verlangen nach Drogen und ihrem
Nervenbahnen im Gehirn zu entwickeln und zu bewahren. (4) Konsum. Drei verbreitete Fehlauffassungen von Sucht besagen,
Die Aktivierungs-Synthese-Erklärung: Das Gehirn setzt aus dass Drogenkonsum schnell zu immer härteren Drogen führt
zufälliger Nervenaktivität eine Geschichte zusammen. (5) Der und ausartet, immer eine Therapie erforderlich ist, um eine Sucht
Ansatz zu Hirnreifung und kognitiver Entwicklung: Vorstellung, zu überwinden und dass der Begriff der Sucht sinnvoll über die
dass Träume Ausdruck des Entwicklungsniveaus des Träumers Abhängigkeit von einer chemischen Substanz hinaus auf eine
sind. breite Vielfalt anderer Verhaltensweisen ausgeweitet werden
Trotz aller Differenzen stimmen die meisten Schlaftheore- kann.
tiker darin überein, dass der REM-Schlaf und die dazugehörigen
Träume eine wichtige Funktion haben – eine Hypothese, die
durch das Phänomen des REM-Rebounds gestützt wird, der bei
851
A3 · Verständnisfragen und Antworten

4.14 Was sind dämpfende Substanzen und welche Auswirkungen 4.17 Warum werden manche Menschen zu regelmäßigen Kon-
haben sie? sumenten von bewusstseinsverändernden Drogen?
Dämpfende Substanzen wie etwa Alkohol, Barbiturate und Manche Menschen scheinen biologisch vulnerabler, d. h. anfäl-
Opiate verringern die neuronale Aktivität und verlangsamen die liger, für bestimmte Drogen zu sein, wie z. B. Alkohol. Das Zu-
Körperfunktionen. Alkohol enthemmt. Er erhöht die Wahr- sammentreffen psychischer Faktoren (wie Stress, Depression,
scheinlichkeit, dass wir aufgrund von Impulsen handeln – egal Hilflosigkeit) und sozialer Faktoren (wie Gruppendruck) ver-
ob sie schädlich oder hilfreich sind. Er beeinträchtigt des Weite- führt viele Menschen dazu, mit Drogen zu experimentieren und
ren die Urteilsfähigkeit, wirkt sich störend auf Gedächtnispro- manchmal abhängig zu werden. Kulturelle und ethnische Grup-
zesse aus, indem er den REM-Schlaf unterdrückt, verringert das pen weisen in Bezug auf den Drogenkonsum unterschiedliche
Selbstbewusstsein und die Selbstkontrolle. Die Erwartungen des Häufigkeiten auf. Jeder dieser Einflüsse – ob biologisch, psycho-
Konsumenten bezüglich der Wirkung beeinträchtigen den Ein- logisch oder soziokulturell – schafft Möglichkeiten für die Dro-
fluss von Alkohol auf das Verhalten erheblich. genprävention und für Behandlungsprogramme.

4.15 Was sind Stimulanzien und welche Auswirkungen haben


sie? 5 Anlage, Umwelt und die Vielfalt
Stimulanzien – Koffein, Nikotin, Amphetamine, Metamphetamine, der Menschen
Kokain und Ecstasy – regen die neuronale Aktivität an, beschleu-
nigen die Körperfunktionen, erzeugen Energie und Stimmungs- jVerhaltensgenetik: Die Vorhersage individueller
schwankungen. Alle haben ein hohes Suchtpotenzial. Die Effekte Unterschiede
von Nikotin machen es schwer, die Gewohnheit des Rauchens 5.1 Was sind Gene und wie erklären Verhaltensgenetiker unsere
aufzugeben, dennoch nahm die Prozentzahl der Amerikaner, individuellen Unterschiede?
die rauchen, dramatisch ab. Kokain verschafft Konsumenten ein Gene sind die biochemische Einheiten der Vererbung, aus welchen
schnelles Hochgefühl, das innerhalb von einer Stunde von einem die Chromosomen bestehen, die fadenähnlichen Spiralen der DNA.
Absturz gefolgt wird. Seine Risiken beinhalten einen Herz-Kreis- Wenn die Gene »eingeschaltet« sind (exprimiert), liefern sie den
lauf-Kollaps und Misstrauen. Der fortgesetzte Konsum von Code, um die Proteine, die die Bausteine des Körpers bilden, zu
Metamphetaminen kann die Dopaminproduktion verringern. erstellen. Die meisten menschlichen Persönlichkeitseigenschaften
Ecstasy (MDMA) ist eine Kombination aus einem Stimulans und werden durch viele Gene, die zusammenwirken, beeinflusst.
einem leichten Halluzinogen, das ein euphorisches Hoch und Verhaltensgenetiker versuchen, die genetischen und die Um-
Gefühle der Intimität hervorruft. Der wiederholte Konsum kann welteinflüsse auf unsere Persönlichkeitseigenschaften zu be-
zur Schwächung des Immunsystems führen, dauerhaft die Stim- stimmen. Dies geschieht teilweise mithilfe von Untersuchungen
mung durcheinander bringen und das Gedächtnis schädigen, mit eineiigen (monozygotischen) Zwillingen, zweieiigen (dizygo-
sowie zusammen mit körperlicher Aktivität zu einer Dehydrie- tischen) Zwillingen und Adoptivfamilien. Geteilte Familienum-
rung und zu einer potenziell tödlichen Überhitzung führen. welten haben einen kleinen Effekt auf die Persönlichkeit, und die
Stabilität des Temperaments lässt auf eine genetische Prädispo-
4.16 Was sind Halluzinogene und welche Auswirkungen haben sition schließen.
sie?
Halluzinogene wie LSD und Marihuana verzerren die Wahrneh- 5.2 Was sind die potenziellen Möglichkeiten der molekular-
mung und rufen Halluzinationen – sensorische Bilder ohne sen- genetischen Forschung?
sorischen Input – hervor. Die Stimmung und die Erwartungen Molekulargenetiker untersuchen die molekulare Struktur und
des Konsumenten beeinflussen die Wirkungen von LSD; häufig Funktion der Gene, einschließlich derjenigen, die das Verhalten
stellen sich Halluzinationen und Emotionen ein, die von Eupho- beeinflussen. Psychologen und Molekulargenetiker arbeiten
rie bis Panik reichen. Der wichtigste Bestandteil von Marihuana, zusammen, um spezifische Gene – oder, häufiger, Gruppen von
das THC, löst eine Vielfalt von Gefühlen aus; dazu gehören Ent- Genen – zu identifizieren, die einen Menschen der Gefahr von
hemmung, euphorisches Hoch, Entspannungsgefühle, Linde- Krankheiten aussetzen.
rung von Schmerzen sowie eine starke Sensibilität für Stimuli. Es
kann aber auch Gefühle von Angst oder Depression intensiver 5.3 Was ist Erblichkeit und in welchem Zusammenhang steht sie
werden lassen, die motorische Koordination und die Reaktions- zu Individuen und Gruppen?
zeit beeinträchtigen, die Gedächtnisbildung unterbrechen und Erblichkeit beschreibt das Ausmaß, in welchem Unterschiede
– wegen des inhalierten Rauchs – das Lungengewebe schädigen. der Mitglieder innerhalb einer Gruppe auf Gene zurückgeführt
werden können. Vererbbare Unterschiede zwischen Individuen
(bei Eigenschaften wie z. B. Körpergröße oder Intelligenz) müs-
sen keine vererbbaren Gruppenunterschiede mit sich bringen.
852 Anhang

Gene erklären meistens, weshalb gewisse Leute größer sind als Verhalten entheben. Evolutionspsychologen antworten, dass
andere, aber nicht weshalb die Menschen heute allgemein größer das Wissen über unsere Prädispositionen uns helfen kann, sie zu
sind, als sie es vor einem Jahrhundert waren. bezwingen. Außerdem erwähnen sie den Wert von überprüf-
baren Vorhersagen, die auf evolutionstheoretischen Prinzipien
5.4 Wie arbeiten Anlage und Umwelt zusammen? basieren, sowie die Kohärenz und die Erklärungskraft dieser
Unsere genetischen Prädispositionen und die uns umgebenden Prinzipien.
Umwelten interagieren. Umwelten können Genaktivität auslösen
und genetisch beeinflusste Persönlichkeitseigenschaften können jWie beeinflussen Erfahrungen die Entwicklung?
bei anderen Menschen Reaktionen auslösen. Das Gebiet der Epi- 5.8 Wie können frühe Erfahrungen das Gehirn verändern?
genetik untersucht die Einflüsse auf die Genexpression, die ohne Während sich das Gehirn eines Kindes entwickelt, vervielfachen
Veränderungen in der DNA auftreten. sich die Nervenverbindungen und werden komplexer. Erfahrun-
gen lösen dann einen Selektionsprozess (»pruning process«) aus,
jEvolutionspsychologie: Wie man die Natur des Menschen wodurch ungebrauchte Verbindungen schwächer und häufig
versteht gebrauchte Verbindungen gestärkt werden. Die frühe Kindheit
5.5 Wie erklären Evolutionspsychologen mithilfe der Prinzipien ist eine wichtige Zeit, um das Gehirn zu formen, aber im Laufe
der natürlichen Selektion Verhaltenstendenzen? unseres ganzen Lebens verändert sich unser Gehirn als Reaktion
Evolutionspsychologen versuchen zu verstehen, wie unsere Per- auf unser Lernen.
sönlichkeitseigenschaften und unsere Verhaltenstendenzen
durch natürliche Selektion geformt werden, indem genetische 5.9 Inwiefern formen Eltern und Gleichaltrige die Entwicklung
Variationen, die die Wahrscheinlichkeit für Nachwuchs und eines Kinds?
Überleben erhöhen, am ehesten an zukünftige Generationen Eltern beeinflussen ihre Kinder in Bereichen wie den Manieren
weitergegeben werden. Einige Variationen gehen auf Mutationen und den politischen und religiösen Vorstellungen, aber nicht in
(Zufallsfehler in der Genkopie) zurück, andere auf neue Gen- anderen Bereichen wie der Persönlichkeit. Wenn Kinder ver-
kombinationen bei der Empfängnis. Die Menschen teilen ein suchen, sich ihren Gleichaltrigen anzupassen, neigen sie dazu,
genetisches Vermächtnis und sind dazu prädisponiert, Verhal- deren Kultur anzunehmen – die Kleidungsstile, den Akzent, den
tensweisen zu zeigen, die unseren Vorfahren das Überleben und Slang, die Einstellungen. Durch die Wahl der Wohngegend und
Fortpflanzen gesichert haben. Charles Darwins Evolutionstheo- der Schule ihrer Kinder können Eltern einen gewissen Einfluss
rie ist ein organisierendes Prinzip der Biologie. Er sah die heutige auf die Peergroup-Kultur ausüben.
Anwendung der evolutionstheoretischen Prinzipien in der Psy-
chologie voraus. jKulturelle Einflüsse
5.10 Wie beeinflussen kulturelle Normen unser Verhalten?
5.6 Wie könnte ein Evolutionspsychologe Geschlechtsunter- Eine Kultur ist eine Reihe von Verhaltensweisen, Vorstellungen,
schiede in der Sexualität und in den Vorlieben bei der Partner- Einstellungen, Werte und Traditionen, die von einer Gruppe ge-
wahl erklären? teilt und von einer Generation an die nächste weitergegeben
Bei Männern steht beim Sex die sexuelle Entspannung im Vor- wird. Kulturelle Normen sind allgemeine Regeln, die die Mit-
dergrund, während Frauen beim Sex eher Beziehungsaspekte glieder einer Kultur über akzeptiertes und erwartetes Verhalten
wichtig finden. Nach Ansicht der Evolutionspsychologen haben informieren. Kulturen unterscheiden sich nach Zeit und Ort.
Männer, wenn sie sich zu mehreren gesunden Frauen hinge-
zogen fühlen, eine höhere Wahrscheinlichkeit, ihre Gene weiter- 5.11 Wie beeinflussen individualistische und kollektivistische
zugeben. Weil Frauen Kinder austragen und stillen, erhöhen sie Kulturen die Menschen?
die Wahrscheinlichkeit für ihr eigenes Überleben und das Über- Innerhalb jeder Kultur variiert der Grad an Individualismus
leben ihrer Kinder, indem sie Partner suchen, die Potenzial für oder Kollektivismus von Person zu Person. Kulturen, die wie die-
eine langfristige Investition in den gemeinsamen Nachwuchs jenigen in Nordamerika und Westeuropa auf selbstbewusstem
aufweisen. Individualismus basieren, tendieren dazu, persönliche Unab-
hängigkeit und individuelle Leistung zu schätzen. Die Identität
5.7 Welches sind die Hauptkritikpunkte an evolutionspsycho- definiert sich über die Selbstsicherheit, persönliche Ziele und
logischen Erklärungen menschlicher Verhaltensweisen und wie Merkmale und persönliche Rechte und Freiheiten. Kulturen, die
antworten Evolutionspsychologen darauf? auf sozial eingebundenem Kollektivismus basieren, wie dieje-
Kritiker argumentieren, dass Evolutionspsychologen (1) bei nigen in vielen Teilen Asiens und Afrikas, schätzen gegenseitige
einem Effekt starten und im Nachhinein auf eine Erklärung Abhängigkeiten, Tradition und Harmonie, und die Identität
schließen, (2) die sozialen und kulturellen Einflüsse nicht aner- definiert sich über Gruppenziele, Bindungen und die Zugehörig-
kennen, und (3) Menschen ihrer Verantwortung für ihr sexuelles keit zu einer Gruppe.
853
A3 · Verständnisfragen und Antworten

jEntwicklung des sozialen Geschlechts tionen, die durch unsere eigenen Eigenschaften hervorgerufen
5.12 Welche biologischen und psychologischen Ähnlichkeiten werden, wie das soziale Geschlecht und das Temperament, und
sowie Unterschiede gibt es zwischen Männern und Frauen? persönliche Überzeugungen, Gefühle und Erwartungen. Sozio-
Geschlecht (»sex« bzw. »gender«) bezieht sich auf die biologisch kulturelle Einflüsse beinhalten Einflüsse von Eltern und Gleich-
(»sex«) oder sozial (»gender«) beeinflussten Charakteristika, die altrigen, kulturelle Traditionen und Werte sowie kulturelle Ge-
Menschen als männlich oder weiblich definieren. Dank unseres schlechternormen.
ähnlichen genetischen Aufbaus sind wir uns weitaus ähnlicher
als unterschiedlich – wir sehen, hören und lernen auf ähnliche
Weise. Männer und Frauen unterscheiden sich jedoch im 6 Entwicklung über die Lebensspanne
Körperfettanteil, in der Muskelmasse, in der Größe, im Alter, in
welchem die Pubertät beginnt, und in der Lebenserwartung, jHauptfragen der Entwicklungspsychologie
ebenso in der Anfälligkeit für bestimmte Krankheiten, in der 6.1 Mit welchen drei Fragestellungen befassen sich Entwick-
Aggressivität, in der sozialen Macht und in der sozialen Ein- lungspsychologen?
bindung. In der Entwicklungspsychologie werden körperliche, geistige
und soziale Veränderungen über die Lebensspanne hinweg un-
5.13 Wie wird das biologische Geschlecht festgelegt und welche tersucht. Die drei Hauptforschungsfragen betreffen den relativen
Rolle spielen die Sexualhormone bei der Entwicklung des sozia- Einfluss der Anlagen und der Umwelt (die Interaktion zwischen
len Geschlechts? unserem genetischen Erbe und unseren Erfahrungen), ob Ent-
Das biologische Geschlecht wird durch den Beitrag des Vaters wicklung ein kontinuierlicher Prozess ist oder aus einer Reihe
zum 23. Chromosomenpaar bestimmt. Die Mutter steuert immer voneinander unterschiedener Stufen besteht, ob die Persönlich-
ein X-Chromosom bei. Der Vater kann auch ein X-Chromosom keit stabil ist oder ob sie sich verändert, wenn wir älter werden.
beisteuern, wodurch ein Mädchen entsteht, oder ein Y-Chromo-
som, was zur Entwicklung eines Jungen führt, indem eine zusätz- jPränatale Entwicklung und erste Lebenswochen
liche Freisetzung von Testosteron und die Entwicklung männ- 6.2 Wie verläuft die pränatale Entwicklung und wie wirken Tera-
licher Sexualorgane ausgelöst wird. Geschlechtsbezogene Gene togene auf diese Entwicklung?
und Physiologie beeinflussen kognitive und Verhaltensunter- Der Lebenszyklus beginnt mit der Empfängnis, wenn sich eine
schiede zwischen Männern und Frauen. Samenzelle und eine Eizelle zu einer Zygote vereinen. Die innere
Zellmasse der Zygote wird zum Embryo und während der fol-
5.14 Wie beeinflussen Geschlechtsrollen und Geschlechtstypi- genden 6 Wochen bilden sich langsam die körperlichen Organe
sierung die Entwicklung des sozialen Geschlechts? heraus und übernehmen ihre Funktionen. Im Alter von 9 Wo-
Geschlechtsrollen, die Verhaltensweisen, die eine Kultur von chen zeigt der Fötus bereits deutlich menschliche Züge.
ihren Frauen und Männern erwartet, unterscheiden sich nach Teratogene sind potenziell schädliche Wirkstoffe, die die Pla-
Ort und Zeit. In der Theorie des sozialen Lernens wird ange- zentaschranke passieren und dem sich entwickelnden Embryo
nommen, dass wir Geschlechtsidentität – das Gefühl, Mann oder oder Fötus schaden können. Dies ist etwa beim fötalen Alkohol-
Frau zu sein – lernen, wie wir andere Dinge lernen: Durch Beloh- syndrom (FAS) der Fall.
nung, Bestrafung und Beobachtung. Kritiker argumentieren,
dass Kognition ebenfalls eine Rolle spielt, denn Eltern als Rollen- 6.3 Über welche Fähigkeiten verfügen Neugeborene und wie un-
modelle und ihre Belohnungen sind nicht ausreichend, um Ge- tersuchen Forscher die mentalen Fähigkeiten von Säuglingen?
schlechtstypisierung zu erklären. Bei transidentischer Persönlich- Neugeborene kommen mit sensorischen Fertigkeiten und einer
keit unterscheidet sich die Geschlechtsidentität oder die äußere Anzahl automatischer Reaktionen (Reflexen) auf die Welt, die
Erscheinung des Geschlechts vom Geburtsgeschlecht. zum Überleben beitragen und soziale Interaktionen mit Er-
wachsenen erleichtern. Beispielsweise können sie sehr schnell
jÜberlegungen zu Anlage und Umwelt lernen, den Geruch und die Stimme ihrer Mutter zu erkennen.
5.15 Was beinhaltet der biopsychosoziale Ansatz der Entwick- Um die Fähigkeiten Neugeborener zu untersuchen, nutzen Wis-
lung? senschaftler Techniken, die auf Habituation testen, etwa Pro-
Individuelle Entwicklung resultiert aus der Interaktion von bio- zeduren, mit denen eine Präferenz für neuartige Reize nachge-
logischen, psychologischen und soziokulturellen Einflüssen. wiesen werden kann.
Biologische Einflüsse beinhalten unser geteiltes menschliches
Genom, individuelle Unterschiede, die pränatale Umwelt und
geschlechtsbezogene Gene, Hormone und Physiologie. Psycho-
logische Einflüsse umfassen Anlage-Umwelt-Interaktionen, den
Effekt von frühen Erfahrungen auf neuronale Netzwerke, Reak-
854 Anhang

jKleinkindzeit und Kindheit sche Bedürfnisse stillen, sondern vor allem, weil sie tröstlich und
6.4 Wie entwickeln sich unser Gehirn und unsere motorischen vertraut sind und auf das Kind eingehen. Der Bindungsprozess
Fähigkeiten im Kleinkind- und Kindesalter? gestaltet sich bei Enten und anderen Tieren sehr viel rigider, in-
Die Nervenzellen des Gehirns werden durch Vererbung und Er- dem eine Prägung innerhalb einer kritischen Phase stattfindet.
fahrung geformt. Die Verbindungen zwischen einzelnen Zellen
nehmen nach der Geburt rapide zu. Dieser Prozess setzt sich bis 6.7 Wie haben Forscher Unterschiede in der Bindung untersucht
in die Pubertät fort, wenn ungenutzte Verbindungen aufgege- und zu welchen Erkenntnissen kamen sie dadurch?
ben werden und absterben. Komplexe motorische Fähigkeiten, Im Versuchsaufbau der »fremden Situation«, mit deren Hilfe
wie Sitzen, Stehen und Laufen, entwickeln sich in einer festen Bindung erforscht werden soll, zeigt sich, dass einige Säuglinge
Abfolge, obwohl die genauen Zeitpunkte, zu denen die einzelnen sicher gebunden sind, während die Bindung bei anderen un-
Abschnitte innerhalb dieser Abfolge erreicht werden, von indi- sicher ist. Die unterschiedlichen Bindungsstile sind sowohl Er-
vidueller Reifung und kulturellen Erfahrungen abhängen. Wir gebnis individueller Temperamentsunterschiede als auch der
haben keine bewussten Erinnerungen an Dinge, die sich ereig- Zuwendung, die Eltern und andere Bezugspersonen zeigen. Die
nen, bevor wir 3½ Jahre alt sind, was teilweise darauf zurück- Beziehungen zwischen Erwachsenen sind gewöhnlich Ausdruck
zuführen ist, dass zentrale Hirnareale zu dieser Zeit noch nicht des sicheren oder unsicheren Bindungsstils in der frühen Kind-
ausgereift sind. heit; dies stützt Erik Eriksons Vorstellung, dass das Urvertrauen
durch unsere Erfahrungen mit einfühlsamen Betreuungsperso-
6.5 Wie entwickelt sich der kindliche Verstand aus der Sicht von nen gebildet wird.
Piaget, Vygotsky und heutiger Wissenschaftler?
In seiner Theorie der kognitiven Entwicklung formulierte Jean 6.8 Inwiefern beeinflusst es das kindliche Bindungsverhalten,
Piaget die Annahme, dass Kinder ihr Weltwissen durch die Pro- wenn Kinder vernachlässigt oder misshandelt werden oder ihre
zesse der Assimilation und Akkommodation aktiv konstruieren Familien auseinanderbrechen?
und anpassen. Dadurch bilden sie Schemata, die ihnen dabei Kinder sind sehr widerstandsfähig. Diejenigen Kinder jedoch, die
helfen, ihre Erfahrungen zu organisieren. Ausgehend vom sensu- wiederholt an unterschiedliche Stellen gegeben, von ihren Eltern
motorischen Stadium der ersten beiden Lebensjahre, in dem schwer vernachlässigt oder auf andere Weise davon abgehalten
Säuglinge Objektpermanenz entwickeln, wird das kindliche werden, bis zum Alter von 2 Jahren Bindungen aufzubauen, kön-
Denken zunehmend komplexer. Im präoperatorischen Stadium nen einem Risiko für Bindungsprobleme ausgesetzt sein.
(etwa von 2 bis 6 oder 7 Jahren) entwickeln Kinder eine Theory
of Mind, jedoch ist ihr Denken noch egozentrisch und sie sind 6.9 Wie wirkt Tagesbetreuung auf Kinder?
nicht in der Lage, einfache logische Operationen durchzuführen. Eine qualitativ hochwertige Tagesbetreuung, die sich dadurch
Mit etwa 7 Jahren treten sie in das konkret-operatorische Stadium auszeichnet, dass einfühlsame Erwachsene in einem sicheren
ein und sind in der Lage, das Prinzip der Mengenerhaltung zu und stimulierenden Umfeld auf Kinder eingehen, scheint keine
verstehen. Mit 12 Jahren beginnt schließlich das formal-operato- negativen Folgen für die Denk- und Sprachentwicklung bei Kin-
rische Stadium, in dem Kinder systematische Denkprozesse dern zu haben. Einige Studien haben Zusammenhänge zwischen
durchführen können. ausgedehnter Aufenthaltszeit in Tagesbetreuung und erhöhter
Generell unterstützen Forschungsergebnisse die von Piaget Aggressivität sowie Trotzverhalten aufgezeigt. Hierbei gilt aller-
vorgeschlagene Abfolge von Entwicklungsstufen. Allerdings dings, dass andere Faktoren, wie etwa das kindliche Tempera-
zeigt sich auch, dass die Fähigkeiten gerade jüngerer Kinder viel ment, die Einfühlsamkeit der Eltern, das kulturelle Umfeld sowie
größer und die Entwicklung insgesamt viel kontinuierlicher ver- der ökonomische Status und das Bildungsniveau in der Familie,
läuft, als Piaget annahm. ebenfalls bedeutsam sind.
Lev Vygotskys Arbeit zur kindlichen Entwicklung befasste
sich vorrangig mit der Frage, wie sich das kindliche Denken über 6.10 Wie entwickelt sich das kindliche Selbstkonzept?
die Interaktion mit seiner sozialen Umwelt entwickelt. Seiner Das Selbstkonzept, ein Sinn für die eigene Identität und den
Ansicht nach stellen Eltern und Erziehende vorläufige Entwick- eigenen Wert, entwickelt sich allmählich. Mit 15 bis 18 Monaten
lungsgerüste bereit, mit deren Hilfe Kinder zu höheren Stufen erkennen sich Kinder selbst im Spiegel. Ab dem Schulalter kön-
des Lernens voranschreiten können. nen sie viele ihrer eigenen Merkmale beschreiben, und ab dem
Alter von 8 bis 10 Jahren ist das Selbstbild stabil.
6.6 Wie entsteht die Eltern-Kind-Bindung?
Mit etwa 8 Monaten, also kurz nachdem Kinder Objektperma-
nenz erlangt haben, fremdeln Säuglinge, die von ihren primären
Bezugspersonen getrennt werden. Säuglinge entwickeln eine
Bindung zu ihren Eltern nicht allein deswegen, weil sie biologi-
855
A3 · Verständnisfragen und Antworten

6.11 Welche drei Erziehungsstile werden unterschieden und 6.15 Wie werden Jugendliche von ihren Eltern und Gleich-
wie hängen Persönlichkeitseigenschaften von Kindern mit ihnen altrigen beeinflusst?
zusammen? Während der Adoleszenz nimmt der Einfluss der Eltern ab,
Die unterschiedlichen Erziehungsstile – autoritär, permissiv und wohingegen der Einfluss Gleichaltriger stetig zunimmt. Jugend-
autoritativ – spiegeln unterschiedlich starke Kontrollausübung liche kleiden sich, handeln und kommunizieren wie ihre Alters-
durch die Eltern wider. Kinder mit autoritativen Eltern zeichnen genossen. Die Eltern haben weiterhin einen Einfluss auf Teen-
sich oft durch ein hohes Selbstwertgefühl aus, sind unabhängig ager in Bereichen wie Religiosität sowie Auswahl der Universität
und sozial kompetent. Was dabei allerdings Ursache und was und Berufswahl.
Wirkung ist, ist nicht vollkommen klar..
6.16 Was bedeutet der Übergang ins Erwachsenenalter?
jAdoleszenz Der Übergang zwischen Adoleszenz und Erwachsenenalter
6.12 Wie wird Adoleszenz definiert und durch welche physi- dauert heute länger. Der Übergang ins Erwachsenenalter ist die
schen Veränderungen zeichnet sich dieser Lebensabschnitt aus? Zeitspanne zwischen 18 Jahren und Mitte 20, in der viele junge
Die Adoleszenz ist die Übergangsperiode zwischen Kindheit und Leute noch keine vollständige Unabhängigkeit erreicht haben.
Erwachsenenalter. Sie beginnt mit der Pubertät und endet mit Kritiker verweisen jedoch darauf, dass dieses Stadium vor allem
dem Erreichen der Selbstständigkeit. Während der Pubertät ent- in modernen westlichen Kulturen aufzufinden ist.
wickeln sich die primären und die sekundären Geschlechtsmerk-
male erheblich. Jungen scheinen von einer »frühen« Reifung zu jErwachsenenalter
profitieren, Mädchen hingehen von einer »späten« Reifung. Die 6.17 Wie verändern wir uns im mittleren und hohen Erwachse-
Reifung des Frontallappens im Gehirn und die Myelinisierung nenalter körperlich?
von Nervenbahnen nehmen während der Adoleszenz bis in die Muskelkraft, Reaktionszeit, sensorische Fähigkeiten und Herz-
frühen Zwanziger zu, was zu einer Verbesserung von Urteilsver- leistung beginnen Ende 20 schlechter zu werden und nehmen
mögen, Impulskontrolle und langfristigem Planen führt. während des mittleren (etwa von 40 bis 65 Jahre) und hohen
Erwachsenenalters (etwa ab 65 Jahre) weiter ab. Um die 50 Jahre
6.13 Wie haben Piaget, Kohlberg und spätere Wissenschaftler beendet die Menopause bei den Frauen die Phase der Frucht-
die kognitive und moralische Entwicklung im Jugendalter be- barkeit. Männer sind nicht einer ähnlich schroffen Veränderung
schrieben? ihres Hormonspiegels oder ihrer Fruchtbarkeit ausgesetzt. Im
Nach Piagets Auffassung kommt in moralischen Urteilen das hohen Erwachsenenalter nimmt die Anfälligkeit für lebens-
sich bei einem Kind entwickelnde Schlussfolgerungsvermögen bedrohliche Krankheiten zu, da das Immunsystem schwächer
zum Ausdruck. Lawrence Kohlberg schlug drei Stufen des mora- wird. Chromosomenenden, Telomere genannt, nutzen sich all-
lischen Denkens vor: von einer präkonventionellen Moral, die mählich ab, was die Wahrscheinlichkeit einer normal ablaufen-
am Eigeninteresse orientiert ist, über eine konventionelle Moral, den Genreplikation verringert. Für einige Personen jedoch er-
die eine gesetzestreue Moral ist, hin zu einer postkonventionellen möglichen Gene, die Langlebigkeit unterstützen, geringer Stress
Moral (nicht jeder erreicht diese letzte Stufe), die selbst definiert, und ein gutes Gesundheitsverhalten bessere Gesundheit im
was ethisch, richtig und fair ist. Andere Forscher glauben, dass hohen Alter.
Moralität sowohl in moralischem Empfinden als auch in mora-
lischem Handeln und Denken begründet ist. Einige Kritiker ver- 6.18 Wie verändert sich das Gedächtnis mit dem Alter?
treten die Ansicht, dass Kohlbergs postkonventionelle Stufe Mit den Jahren verschlechtert sich die Fähigkeit, aktiv Informa-
Moralität aus der Sicht individualistisch denkender Männer der tionen aus dem Gedächtnis abzurufen, vor allem, wenn es sich
Mittelschicht beschreibt. um bedeutungslose Informationen handelt. Das Wiedererken-
nen bekannter Inhalte bleibt jedoch unverändert. Ältere Erwach-
6.14 Welche sind die sozialen Aufgaben und Herausforderungen sene verlassen sich verstärkt auf Zeitmanagement und Hinweis-
des Jugendalters? reize, um sich an terminlich gebundene und regelmäßige Auf-
Erikson formulierte die Theorie, dass jeder Lebensabschnitt sei- gaben zu erinnern. Demenz und Alzheimer-Erkrankung sind
ne eigene psychosoziale Aufgabe habe. Demnach sei die Haupt- Krankheiten des Gehirns und keineswegs normale Bestandteile
aufgabe der Adoleszenz die Festigung des Selbst, also die For- des Alterns. Entwicklungspsychologen erforschen altersbezo-
mung einer eigenen Identität. Oft bedeutet das, dass Jugendliche gene Veränderungen (etwa des Gedächtnisses) mit Hilfe von
verschiedene Rollen »ausprobieren«. Die soziale Identität ist der- Querschnittstudien (Vergleich von Personen unterschiedlichen
jenige Teil des Selbstkonzepts, der durch die Gruppenzugehörig- Alters) und Längsschnittstudien (dieselben Personen werden
keiten einer Person bestimmt wird. über die Zeit erhoben). Das Abnehmen kognitiver Fähigkeiten
am Lebensende wird als Terminal Decline bezeichnet.
856 Anhang

6.19 Welche Themen und Einflüsse sind entscheidend für unse- 7.2 Welche drei Schritte sind grundlegend für alle sensorischen
re soziale Entwicklung zwischen dem frühen Erwachsenenalter Systeme?
und dem Tod? Unsere Sinne werden (1) sensorisch stimuliert (oft durch die Be-
Erwachsene durchlaufen keine festgelegte Abfolge altersbeding- nutzung spezialisierter Rezeptorzellen); (2) sie wandeln diese
ter sozialer Veränderungen. Zufällige Ereignisse können Lebens- Stimulation in neuronale Impulse um; und (3) senden die
entscheidungen maßgeblich beeinflussen. Als soziale Uhr be- neuronalen Informationen ans Gehirn. Transduktion ist die Um-
zeichnet man die innerhalb einer Kultur als gewöhnlich betrach- wandlung einer Energieform in eine andere. Psychophysik ist die
teten Zeitpunkte für bestimmte soziale Ereignisse wie Hochzeit, Erforschung der Zusammenhänge zwischen den physikalischen
Elternschaft und Ruhestand. Die zentralen Themen des Erwach- Merkmalen der Reize und der Art und Weise, wie wir sie psy-
senenalters sind Liebe und Arbeit, von denen Erikson als Intimi- chisch erleben.
tät und Generativität sprach.
7.3 Was versteht man unter absoluter Schwelle und Unter-
6.20 Verändern sich Selbstbewusstsein und Zufriedenheit über schiedsschwelle, und haben Reize, die unterhalb der absoluten
die Lebensspanne? Schwelle liegen, überhaupt irgendeinen Einfluss auf uns?
Das Selbstbewusstsein nimmt über die Lebensspanne in der Unsere absolute Schwelle für jeden Reiz ist die minimale Stimu-
Regel zu. Verschiedene Umfragen zeigen, dass Lebenszufrieden- lation, die erforderlich ist, damit wir uns dieses Reizes in 50% der
heit und Alter nicht miteinander zusammenhängen. Positive Fälle bewusst sind. Die Theorie der Signaldetektion sagt vorher,
Gefühle nehmen in der zweiten Lebenshälfte zu, während nega- wie und wann wir das Vorhandensein eines schwachen Reizes
tive Gefühle abnehmen. unter Hintergrundstimulation wahrnehmen. Unsere persönli-
chen absoluten Schwellen sind unterschiedlich und abhängig
6.21 Welche Reaktionen kann der Tod einer nahestehenden Per- von der Stärke des Signals, aber auch von unseren Erfahrungen,
son auslösen? Erwartungen und der eigenen Motivation und Wachsamkeit.
Anders als früher angenommen wurde, durchlaufen trauernde Unsere Unterschiedsschwelle (auch als eben merklicher Unter-
Menschen keine vorhersagbaren Stadien. Starke emotionale Aus- schied bezeichnet) ist der Unterschied zwischen zwei Reizen, den
brüche heben Trauer nicht auf und Therapie im Trauerfall ist wir in 50% der Fälle erkennen. Das Weber’sche Gesetz besagt
nicht effektiver als ein Trauern ohne solch eine Hilfe. Erikson sah Folgendes: Damit zwei Reize von der Wahrnehmung her unter-
die Entwicklung eines Gefühls der Integrität (im Kontrast zu schiedlich sind, müssen sie sich durch ein konstantes Verhältnis
Verzweiflung) als zentrale Entwicklungsaufgabe des hohen Er- unterscheiden (und nicht durch eine konstante Differenz).
wachsenenalters. Versuche zum Priming-Effekt zeigen, dass wir manche Infor-
mationen aus Reizen verarbeiten können, die unterhalb unserer
absoluten Schwelle für Bewusstheit liegen. Aber die einge-
7 Wahrnehmung schränkten Bedingungen, unter denen dies geschieht, würden
niemanden in die Lage versetzen, uns mit subliminalen Botschaf-
jGrundprinzipien sensorischer Wahrnehmung ten zu verführen.
7.1 Was verstehen wir unter Sinnesempfindung und Wahr-
nehmung? Und was unter »Top-down«- und »Bottom-up«-Ver- 7.4 Welchen Nutzen ziehen wir aus sensorischer Adaptation?
arbeitung? Sensorische Adaptation (unsere verminderte Sensibilität als Folge
Empfindung ist der Prozess, bei dem unsere Sinnesrezeptoren konstanter oder gewohnter Gerüche, Klänge und Berührungen)
und unser Nervensystem Reizenergien aus unserer Umwelt emp- versetzt uns in die Lage, uns auf informative Veränderungen in
fangen und darstellen. Wahrnehmung ist der Prozess, bei dem unserer Umgebung zu konzentrieren.
diese Informationen organisiert und interpretiert werden; dies
ermöglicht uns, bedeutungsvolle Ereignisse zu erkennen. Emp- 7.5 Wie nehmen unsere Erwartungen, Emotionen, Kontexte und
findung und Wahrnehmung sind eigentlich Teile eines kontinu- unsere Motivation Einfluss auf unsere Wahrnehmung?
ierlichen Prozesses. Bottom-up-Verarbeitung ist die Analyse der Ein Wahrnehmungsset ist eine mentale Prädisposition, die wie
Sinneseindrücke, die auf der Eingangsebene beginnt und bei der eine Linse funktioniert, durch die wir die Welt wahrnehmen.
Informationen von den Sinnesrezeptoren zu unserem Gehirn Unsere erlernten Begriffe (Schemata) dienen als Vorreiz (Prime),
aufsteigen. Top-down-Verarbeitung ist Informationsverar- um nicht eindeutige Reize in bestimmter Weise zu organisieren
beitung, die durch höhere mentale Prozesse gesteuert wird, und zu interpretieren. Unsere körperlichen und emotionalen
beispielsweise wenn wir Wahrnehmungen konstruieren, indem Kontexte, so wie auch unsere Motivation, können Erwartungen
wir Informationen durch unsere Erfahrungen und Erwartungen entstehen lassen und unsere Interpretation von Ereignissen und
filtern. Verhaltensweisen färben.
857
A3 · Verständnisfragen und Antworten

jSehen satz, dass das Ganze mehr als die Summe seiner Teile ist. Da-
7.6 Welche Form von Energie sehen wir als sichtbares Licht und durch zeigten sie, dass wir ständig sensorische Informationen
wie wandelt das Auge Lichtenergie in neuronale Botschaften um? ausfiltern und daraus auf Wahrnehmungen schließen.
Nachdem die Lichtenergiepartikel (aus einem kleinen Bereich Um ein Objekt zu erkennen, müssen wir es zuerst wahrneh-
des breiten Spektrums elektromagnetischer Energie) in das Auge men, d. h. als Figur sehen, die sich von ihrer Umgebung (dem
eingetreten sind und durch eine Linse fokussiert wurden, treffen Grund) deutlich unterscheidet. Wir bringen Ordnung und Form
sie auf die innere Oberfläche des Auges, die Retina. Die hellig- in die Welt der Reize, indem wir die Reize in sinnvollen Gruppie-
keitsempfindlichen Stäbchen und die farbempfindlichen Zapfen rungen organisieren und dabei den Regeln der Nähe, der Konti-
in der Retina wandeln die Lichtenergie in neuronale Impulse um. nuität, und der Geschlossenheit folgen.
Der Farbton, den wir wahrnehmen, hängt von ihrer Wellenlänge
ab und seine Helligkeit von ihrer Intensität. 7.10 Wie benutzen wir binokulare und monokulare Hinweise,
um die Welt in drei Dimensionen wahrzunehmen und Bewe-
7.7 Wie verarbeiten das Auge und das Gehirn visuelle Informa- gung wahrzunehmen?
tionen? Tiefenwahrnehmung ist unsere Fähigkeit, Objekte in drei Dimen-
Nachdem sie von den Bipolarzellen und Ganglienzellen in der sionen zu sehen, und Entfernung zu beurteilen. Die Forschung
Retina des Auges verarbeitet wurden, wandern die neuronalen zur visuellen Klippe hat gezeigt, dass viele Arten von Lebewesen
Impulse durch den Sehnerv zum Thalamus und weiter zum visu- die Welt schon von Geburt an oder kurz danach als dreidimen-
ellen Kortex. In der Sehrinde (visueller Kortex) reagieren Merk- sional wahrnehmen. Binokulare Hinweisreize, wie retinale Dis-
malsdetektoren auf die besonderen Merkmale eines visuellen parität, sind Hinweisreize für Tiefe, die auf Informationen aus
Reizes. Gruppen von Superzellen in anderen kritischen Arealen beiden Augen beruhen. Monokulare Hinweisreize (wie relative
antworten auf komplexere Muster. Mit Hilfe der Parallelverar- Größe, Interposition, relative Höhe, relative Bewegung, Zentral-
beitung kann das Gehirn viele Aspekte des Sehens gleichzeitig perspektive, Licht und Schatten) gestatten es uns, Tiefe mit Hilfe
angehen (Farbe, Tiefe, Bewegung und Form). Andere neuronale von Informationen zu beurteilen, die nur von einem Auge über-
Teams arbeiten dabei zusammen, die Ergebnisse zusammenzu- mittelt werden.
führen, sie mit gespeicherten Informationen zu vergleichen und Wenn sich Objekte bewegen, machen wir die grundlegende
Wahrnehmungen zu ermöglichen. Annahme, dass schrumpfende Objekte sich von uns weg be-
wegen und größer werdende Objekte sich uns nähern. Wenn die
7.8 Welche Theorien helfen uns, das Farbensehen zu verstehen? Bilder auf der Retina in schneller Abfolge auftreffen, so kann dies
Die Dreifarbentheorie von Young und Helmholtz besagt, dass eine Bewegungstäuschung hervorrufen, wie bei der stroboskopi-
die Retina über drei verschiedene Farbrezeptortypen verfügt. schen Bewegung oder beim Phi-Phänomen.
Die Forschung hat bisher drei Typen von Zapfen gefunden, von
denen jeder spezifisch empfindlich auf die Wellenlängen einer 7.11 Wie helfen uns Wahrnehmungskonstanzen, unsere Empfin-
der drei Grundfarben reagiert (rot, grün oder blau). dungen als bedeutungsvolle Wahrnehmungen zu organisieren?
Herings Gegenfarbentheorie schlug noch drei zusätzliche Wahrnehmungskonstanz ist die Fähigkeit, Objekte trotz der sich
Farbprozesse vor (einen, der für die Rotwahrnehmung im Ge- verändernden Bilder, die sie auf die Retina projizieren als unver-
gensatz zur Grünwahrnehmung zuständig ist, einen für die Blau- ändert wahrzunehmen. Farbkonstanz ist die Fähigkeit, Gegen-
wahrnehmung im Gegensatz zur Gelbwahrnehmung, und einen stände auch unter stark wechselnden Lichtverhältnissen, die die
für die Schwarzwahrnehmung im Gegensatz zur Weißwahr- von den Gegenständen reflektierten Wellenlängen verändern,
nehmung). Die gegenwärtige Forschung hat bestätigt, dass auf mit gleichbleibender Farbe wahrzunehmen. Bei der Helligkeits-
dem Weg zum Gehirn Neuronen in der Retina und im Thalamus konstanz handelt es sich um unsere Fähigkeit, ein Objekt als
die farbbezogenen Informationen aus den Zapfen als Paare von etwas wahrzunehmen, was eine konstante Helligkeit hat, auch
Gegenfarben codieren. wenn sich die Beleuchtung – das Licht, das darauf geworfen wird
Anhand dieser beiden Theorien und der Forschung, die sie – ändert. Unser Gehirn konstruiert unsere Erfahrung der Farbe
belegt, wird gezeigt, dass die Farbverarbeitung in zwei Phasen oder Helligkeit eines Objekts durch Vergleiche mit anderen Ob-
abläuft. jekten in der Umgebung.
Bei der Formkonstanz handelt es sich um unsere Fähigkeit,
7.9 Wie haben die Gestaltpsychologen Wahrnehmungsorganisa- vertraute Objekte (wie etwa eine sich öffnende Tür) als in ihrer
tion verstanden und was tragen das Figur-Grund-Prinzip und Form unveränderlich wahrzunehmen. Größenkonstanz bedeutet,
Gruppierungsprinzipien zu unserer Wahrnehmung bei? Objekte trotz ihrer sich verändernden Bilder auf unserer Retina
Gestaltpsychologen suchen nach Regeln, mit deren Hilfe das Ge- als unveränderlich in ihrer Größe wahrzunehmen. Wenn man
hirn Bruchstücke sensorischer Daten in Gestalten oder sinnvol- die Größe eines Objekts kennt, so ist das ein Anhaltspunkt für
len Formen organisiert. Diese Forscher betonten den alten Lehr- seine Entfernung; Wenn man seine Entfernung kennt, ist das ein
858 Anhang

Hinweis auf seine Größe. Bisweilen interpretieren wir mono- Kochleaimplantate können das Hörvermögen bei einigen Men-
kulare Hinweisreize für Entfernung fehl und kommen zu fal- schen wiederherstellen, aber ihr Gebrauch wird kontrovers dis-
schen Schlüssen, wie bei der Mondtäuschung. kutiert.

7.12 Welchen Beitrag hat die Forschung zur Wiederherstellung 7.14 Welche Theorien helfen uns, die Wahrnehmung der Ton-
des Sehvermögens, zur sensorischen Deprivation und zur Wahr- höhe zu verstehen?
nehmungsadaptation für unser Verständnis davon geleistet, wie Mit Hilfe der Ortstheorie lasst sich erklären, wie wir hohe Töne
Erfahrungen unsere Wahrnehmung beeinflussen? wahrnehmen und die Frequenztheorie liefert eine Erklärung
Die Interpretation unserer Wahrnehmung wird von Erfahrung dafür, wie wir tiefe Töne wahrnehmen. (Eine Kombination aus
geleitet. Menschen, die blind auf die Welt kamen, aber nach einer beiden Theorien erklärt, wie wir Töne im mittleren Bereich
Operation wieder sehen konnten, fehlt aber die Erfahrung, Ge- hören.) In der Ortstheorie wird angenommen, dass unser Gehirn
stalten, Formen und ganze Gesichter zu erkennen. eine bestimmte Tonhöhe dadurch interpretiert, dass es die Lage
Befunde zur sensorischen Deprivation deuten darauf hin, des Punktes (deshalb »Ortstheorie«) dekodiert, an dem eine
dass es eine kritische Phase für einige Aspekte der Entwicklung Schallwelle die Basilarmembran der Kochlea stimuliert hat.
von Sensorik und Wahrnehmung gibt. Ohne die Stimulierung In der Frequenztheorie wird angenommen, dass das Gehirn
durch die frühen visuellen Erfahrungen entwickelt sich die neu- die Frequenz (deshalb »Frequenztheorie«) der Pulse dechiffriert,
ronale Organisation des Gehirns nicht normal. die im Hörnerv zum Gehirn wandern.
Bekommen Menschen Brillen aufgesetzt, die die Welt leicht
nach links oder nach rechts verschieben oder gar völlig auf den 7.15 Wie lokalisieren wir Geräusche?
Kopf stellen, erfahren sie perzeptuelle Adaptation. Sie sind an- Schallwellen treffen auf das eine Ohr früher und intensiver als auf
fangs desorientiert, aber es gelingt ihnen schon bald, sich an den das andere. Das Gehirn analysiert winzige Unterschiede in Bezug
neuen Kontext anzupassen. auf die Töne, die von beiden Ohren aufgenommen werden, und
berechnet die Schallquelle.
jHören
7.13 Welche Eigenschaften haben Luftdruckwellen, die wir als jAndere wichtige Sinne
Klang erleben, und wie wandelt das Ohr Schallenergie in neuro- 7.16 Wie spüren wir Berührung?
nale Botschaften um? Der Tastsinn besteht eigentlich aus mehreren Sinnen: dem
Schallwellen sind ringförmige Bänder sich komprimierender Drucksinn, dem Wärme- und Kältesinn und dem Schmerzsinn,
und sich ausdehnender Luft. Unsere Ohren nehmen diese Ver- die in Kombination andere Empfindungen erzeugen, wie etwa
änderungen im Luftdruck wahr und wandeln sie in neuronale »heiß«.
Impulse um, die das Gehirn als Töne dekodiert. Schallwellen un-
terscheiden sich in ihrer Frequenz und Amplitude, die wir als 7.17 Wie können wir Schmerz am besten verstehen und kon-
Unterschiede in der Tonhöhe und der Lautstärke wahrnehmen. trollieren?
Das äußere Ohr ist der sichtbare Teil des Ohrs. Das Mittelohr Schmerz beinhaltet datengesteuerte Empfindungen (wie z. B. In-
ist die Kammer zwischen dem Trommelfell und der Kochlea. Das put aus den Nozizeptoren, also den Sinnesrezeptoren, die auf
Innenohr besteht aus der Kochlea, den Bogengängen und den schmerzhafte Temperaturen, Druck oder Chemikalien reagie-
Sacculi des Vestibularapparats. Mit Hilfe einer mechanischen ren) und konzeptgesteuerte Prozesse (wie Erfahrung, Aufmerk-
Kettenreaktion werden die Schallwellen durch den Gehörgang samkeit und Kultur). Eine Schmerztheorie geht davon aus, dass
geleitet und rufen am Ende geringfügige Schwingungen des es im Rückenmark eine Art »Tor« gibt, das entweder offen ist, um
Trommelfells hervor. Die Knöchelchen des Mittelohrs verstärken Schmerzsignale über dünne Nervenfasern zum Gehirn aufstei-
die Schwingungen und übertragen sie auf die mit Flüssigkeit ge- gen zu lassen, oder aber geschlossen wird, um ihren Durchgang
füllte Kochlea. Dadurch dass die Basilarmembran in wellenartige zu verhindern.
Bewegungen versetzt wird, die durch Druckveränderungen in Von der biopsychosozialen Perspektive aus ist das Schmerzer-
der Kochlearflüssigkeit verursacht werden, werden die winzigen leben eines Menschen die Summe biologischer, psychologischer
Haarzellen bewegt, durch die wiederum Nervenimpulse aus- und soziokultureller Einflüsse. Bei der Behandlung zur Schmerz-
gelöst werden, die (über den Thalamus) an den auditorischen kontrolle werden oft psychologische und physiologische Ele-
Kortex im Gehirn gesandt werden. mente, wie Placebos oder Ablenkung, in Kombination miteinan-
Schallempfindungsschwerhörigkeit (oder Nervenschwerhö- der eingesetzt.
rigkeit) ist die Folge einer Schädigung von Haarzellen in der
Kochlea oder von damit verbundenen Nerven. Schallleitungs-
schwerhörigkeit ist eine Folge einer Schädigung des mechani-
schen Systems, das die Schallwellen an die Kochlea überträgt.
859
A3 · Verständnisfragen und Antworten

7.18 Wie erfahren wir Geschmack und Geruch und wie hängen 8 Lernen
diese beiden zusammen?
Geschmack und Geruch sind chemische Sinne. Der Geschmacks- jWie lernen wir?
sinn setzt sich aus fünf Grundempfindungen zusammen (süß, 8.1 Was versteht man unter Lernen und welches sind die grund-
sauer, salzig, bitter und umami) sowie aus den Aromen, die mit legenden Formen des Lernens?
den Informationen der Geschmacksknospen interagieren. Lernen ist eine relativ dauerhafte Veränderung im Verhalten
Es gibt keine Grundelemente für die Geruchsempfindung. eines Lebewesens, die auf Erfahrung zurückgeht. Beim assozia-
Wir besitzen über 5 Mio. Geruchsrezeptorzellen mit etwa 350 ver- tiven Lernen lernen wir, dass bestimmte Ereignisse zusammen
schiedenen Rezeptorproteinen. Geruchsmoleküle sprechen eine auftreten. Bei der klassischen Konditionierung lernen wir, zwei
Kombination von Rezeptoren an. Diese Muster interpretiert der oder mehr Reize (als Reiz bezeichnet man alle Ereignisse oder
olfaktorische Kortex. Die Rezeptorzellen senden Botschaften ans Situationen, durch die eine Reaktion ausgelöst wird) zu assoziie-
Riechhirn, dann weiter an den Temporallappen und an Teile des ren. Bei der operanten Konditionierung lernen wir eine Reaktion
limbischen Systems. mit den Folgen zu assoziieren. Durch kognitives Lernen erwerben
Der Einfluss des Geruchs auf unseren Geschmackssinn ist wir mentale Informationen, die unser Verhalten leiten. Beim Be-
ein Beispiel für sensorische Interaktion. Embodied cognition ist obachtungslernen lernen wir, indem wir uns die Erfahrungen und
der Einfluss von körperlichen Empfindungen, Gesten und ande- Beispiele anderer ansehen.
ren Zuständen auf kognitive Präferenzen und Urteile.
jKlassische Konditionierung
7.19 Wie spüren wir Lage und Bewegung unseres Körpers im 8.2 Was sind die grundlegenden Elemente der klassischen Kon-
Raum? ditionierung und wie lässt sich Lernen aus der Sicht des Behavi-
Durch Kinästhesie spüren wir die Lage und Bewegung einzelner orismus beschreiben?
Körperteile. Mithilfe unseres Gleichgewichtssinns überwachen Klassische Konditionierung ist eine Form des Lernens, bei der ein
wir die Lage und Bewegung unseres Körpers und halten unser Organismus allmählich Reize koppelt. Bei der klassischen Kon-
Gleichgewicht. ditionierung ist ein NS ein Reiz, der vor der Konditionierung
keine Reaktion auslöst. Eine UR ist ein Ereignis, das natürlicher-
jExkurs: Außersinnliche Wahrnehmung – weise in Reaktion auf irgendeinen Reiz (wie Speichelfluss) auf-
Wahrnehmung ohne Empfindung? tritt. Ein US ist etwas, was natürlicherweise und automatisch die
7.20 Was wird im Rahmen der außersinnlichen Wahrnehmung nicht erlernte Reaktion auslöst (wie Essen im Mund Speichelfluss
behauptet und welchen Schluss ziehen die meisten forschenden auslöst). Ein CS ist in der klassischen Konditionierung ein ur-
Psychologen, wenn sie diese Behauptungen auf den Prüfstand sprünglich neutraler Reiz (wie eine Glocke), der durch Assozia-
gestellt haben? tion mit einem US (wie Essen) allmählich mit irgendeiner nicht
Unter Parapsychologie versteht man die Untersuchung paranor- gelernten Reaktion (Speichelfluss) gekoppelt wird. Eine CR ist
maler Phänomene, wie außersinnlicher Wahrnehmung und Psy- eine gelernte Reaktion (Speichelfluss) auf einen ursprünglich
chokinese. Die drei am besten überprüfbaren Formen der außer- neutralen, aber nun konditionierten Reiz.
sinnlichen Wahrnehmung sind die Telepathie (Kommunikation Pawlows Arbeit über klassische Konditionierung schaffte die
von einer Seele zur anderen), Hellsehen (Wahrnehmung räum- Grundlage für den Behaviorismus, die Auffassung, die Psycho-
lich entfernter Ereignisse) und Präkognition (Wahrnehmung logie solle eine objektive Wissenschaft sein, die das Verhalten
künftiger Ereignisse). ohne Bezug auf mentale Prozesse untersucht. Die Behavioristen
Die Skepsis der meisten Psychologen an den Universitäten glaubten, dass die grundlegenden Lerngesetze für alle Lebewesen
konzentriert sich auf zwei Hauptpunkte: (1) Um an außersinn- dieselben seien, auch für den Menschen.
liche Wahrnehmung zu glauben, muss man der Meinung sein,
das Gehirn könne wahrnehmen, ohne sensorische Signale zu 8.3 Was versteht man in der klassischen Konditionierung unter
bekommen. (2) Parapsychologen konnten die Phänomene der folgenden Prozessen: Erwerb, Löschung, Spontanerholung, Reiz-
außersinnlichen Wahrnehmung bisher nicht unter kontrollierten generalisierung und Reizdiskrimination?
Bedingungen replizieren (reproduzieren). Erwerb beschreibt den Prozess in der klassischen Kondi-
tionierung, bei dem ein NS mit einem US gekoppelt wird, so
dass der NS eine CR auslöst. Zum Erwerb kommt es am ehes-
ten, wenn ein NS kurz vor einem US (idealerweise etwa ein
halbe Sekunde vorher) dargeboten wird, wodurch der Orga-
nismus auf das bevorstehende Ereignis vorbereitet wird. Dieser
Befund stützt die Auffassung, dass die klassische Konditio-
nierung eine biologische Anpassung ist. Durch Konditionie-
860 Anhang

rung höherer Ordnung kann ein neuer NS zu einem neuen CS wir damit kaufen können). Unmittelbare Verstärker (wie etwa
werden. eine gekaufte Süßigkeit) geben sofort etwas zurück; verzögerte
Die Löschung besteht in einer abgeschwächten Reaktion, Verstärker (wie etwa die monatliche Gehaltsüberweisung) setzen
wenn der CS nicht mehr als Signal für einen bevorstehenden US die Fähigkeit voraus, die Bedürfnisbefriedigung aufzuschieben.
dient. Die Spontanerholung ist das Auftreten einer zuvor gelösch-
ten Reaktion nach einer Ruhepause. Die Reizgeneralisierung ist 8.7 Wie beeinflussen die unterschiedlichen Verstärkungspläne
die Tendenz, auf Reize zu reagieren, die einem CS ähnlich sind. das Verhalten?
Die Reizdiskrimination ist die erlernte Fähigkeit, zwischen einem Ein Verstärkungsplan definiert, wie oft ein erwünschtes Verhal-
CS und irrelevanten Reizen zu unterscheiden. ten verstärkt wird. Bei der kontinuierlichen Verstärkung (man
verstärkt die erwünschten Reaktionen jedes Mal, wenn sie auf-
8.4 Warum ist Pawlows Beitrag zu unserem Verständnis des treten) lernt man rasch, aber auch die Löschung geschieht
Lernens immer noch so wichtig und welche Anwendungen der schnell, wenn die Belohnung des Verhaltens eingestellt wird. Bei
klassischen Konditionierung zur Verbesserung der Gesundheit der partiellen (intermittierenden) Verstärkung (man verstärkt die
und des Wohlbefindens der Menschen gibt es? Reaktionen nicht immer) ist der anfängliche Lernprozess lang-
Pawlow lehrte uns, dass bedeutende psychologische Phänomene samer, aber das Verhalten ist widerstandsfähiger gegen Löschung.
objektiv untersucht werden können und dass die klassische Kon- Verstärkungspläne können unterschiedlich sein, je nach der An-
ditionierung eine grundlegende Form des Lernens ist, die über zahl der belohnten Reaktionen und dem zeitlichen Abstand zwi-
die Spezies hinweg angewandt werden kann. schen den Reaktionen. Bei festen Quotenplänen bietet man Beloh-
Die Methoden der klassischen Konditionierung werden zur nungen nach einer festgesetzten Anzahl von Reaktionen an, bei
Verbesserung der Gesundheit und des Wohlbefindens der Men- variablen Quotenplänen nach einer unvorhersagbaren Anzahl von
schen in vielen Bereichen genutzt, z. B. in der Verhaltenstherapie Reaktionen. Bei festen Intervallplänen bietet man Belohnungen
bei einigen Arten psychischer Störungen. Sogar das Immun- nach festgesetzten Zeitintervallen an, bei variablen Intervall-
system des Körpers kann auf die klassische Konditionierung an- plänen nach unvorhersagbaren Zeitintervallen.
sprechen.
8.8 Wie unterscheiden sich Bestrafung und negative Verstärkung
jOperante Konditionierung und wie wirkt sich Bestrafung auf das Verhalten aus?
8.5 Wie wird operantes Verhalten verstärkt und geformt? Sowohl bei positiver Bestrafung (Verabreichung einer uner-
In der operanten Konditionierung nehmen Verhaltensweisen, auf wünschten Konsequenz, beispielsweise einem Klaps) als auch bei
die Verstärker folgen, in ihrer Häufigkeit zu; Verhaltensweisen, negativer Bestrafung (Entfernung von etwas Wünschenswertem,
für die man bestraft wird, nehmen in ihrer Häufigkeit ab. Von wie etwa einer Puppe) wird versucht, die Häufigkeit eines Ver-
Thorndikes Effektgesetz ausgehend, fanden B. F. Skinner und haltens (Ungehorsam eines Kindes) abnehmen zu lassen. Bei
andere Forscher heraus, dass das Verhalten von Ratten oder negativer Verstärkung (wie etwa Einnahme von Aspirin) wird
Tauben, die sich in einer Skinner-Box befinden, geformt werden etwas Unerwünschtes (wie etwa Kopfweh) entfernt. Die ge-
kann (Shaping). Mit der schrittweisen Annäherung werden wünschte Konsequenz (Schmerzfreiheit) erhöht dann die Wahr-
Reaktionen belohnt, die dem letztlich gewünschten Verhalten scheinlichkeit, dass das Verhalten (Einnahme von Aspirin, um
immer näher kommen. Kopfschmerzen zu beenden) wieder gezeigt wird.
Zu den nicht erwünschten Nebenwirkungen der Bestrafung
8.6 Wie unterscheiden sich positive und negative Verstärkung kann gehören, dass nicht gewollte Verhaltensweisen eher unter-
und was sind die grundlegenden Arten von Verstärkern? drückt als verändert werden: Man lehrt, aggressiv zu sein, man
Der Begriff der Verstärkung bezieht sich auf jedes Ereignis, durch erzeugt Furcht, man fördert die Diskrimination (so dass das un-
das ein vorausgehendes Verhalten verstärkt wird. Bei der posi- erwünschte Verhalten auftritt, wenn der Strafende nicht an-
tiven Verstärkung kommt etwas Wünschenswertes hinzu, um wesend ist) und man begünstigt das Entstehen von Depressionen
die Häufigkeit eines Verhaltens zu vergrößern. Bei der negativen und von Gefühlen der Hilflosigkeit.
Verstärkung wird etwas nicht Wünschenswertes entfernt, um die
Häufigkeit eines Verhaltens zu vergrößern. 8.9 Warum werden Skinners Auffassungen zum Verhalten des
Primäre Verstärker (etwa Essen bekommen, wenn man hung- Menschen kontrovers diskutiert und wie könnte man seine Prin-
rig ist, oder dafür sorgen, dass das unangenehme Gefühl im zipien der operanten Konditionierung in der Schule, im Sport,
Bauch vorübergeht, wenn einem übel ist) sind von Geburt an bei der Arbeit und zu Hause anwenden?
befriedigend – dafür ist kein Lernen erforderlich. Konditionierte Skinners Kritiker warfen ihm vor, dass er die Menschenwürde
(oder sekundäre) Verstärker (wie etwa Bargeld) sind zufrieden- verletze, weil er keine Achtung vor der persönlichen Freiheit des
stellend, weil wir gelernt haben, sie mit grundlegenderen Beloh- Einzelnen habe und er sein Handeln kontrollieren wolle. Skinner
nungen zu assoziieren (wie etwa das Essen oder die Medizin, die entgegnete, dass das Verhalten des Menschen bereits willkürlich
861
A3 · Verständnisfragen und Antworten

von äußeren Einflüssen kontrolliert werde und es menschlicher suchungen zeigten, dass exzessive Belohnungen (die die extrin-
sei, Verstärker einzusetzen, statt mit Strafen zu arbeiten, um Ver- sische Motivation verstärken) die intrinsische Motivation unter-
halten zu kontrollieren. graben können.
In der Schule können Lehrer Shaping-Verfahren dazu ver-
wenden, die Verhaltensweisen der Schüler zu lenken. Interaktive jBeobachtungslernen
Software und Webseiten können Schülern unmittelbares Feed- 8.13 Was versteht man unter Beobachtungslernen und warum
back geben. Im Sport können Trainer die Fertigkeit und das glauben manche Forscher, dass dieses durch Spiegelneurone er-
Selbstvertrauen der Spieler aufbauen, indem sie kleinere Ver- möglicht wird?
besserungen belohnen. Im Beruf können Vorgesetzte die Pro- Beim Beobachtungslernen beobachten wir und ahmen andere
duktivität und die Arbeitsmoral wesentlich erhöhen, indem sie nach. Wir lernen, die Folgen eines Verhaltens vorwegzunehmen,
klar definierte und erreichbare Verhaltensweisen belohnen. weil wir Verstärkung und Bestrafung nachempfinden.
Zu Hause können Eltern Verhaltensweisen belohnen, die ihrer Die Spiegelneurone, die sich in den Frontallappen unseres
Meinung nach erwünscht sind, und nicht erwünschte nicht be- Gehirns befinden, haben die Fähigkeit gezeigt, die Aktivität an-
lohnen. Individuell können wir unser eigenes erwünschtes Ver- derer Gehirne zu spiegeln. Sie sind aktiv, wenn wir bestimmte
halten verstärken und unerwünschtes löschen, indem wir uns Handlungen ausführen (wie etwa auf Schmerz reagieren oder
Ziele setzen, die Häufigkeit des erwünschten Verhaltens beob- den Mund bewegen, um Wörter zu bilden) oder wenn wir jeman-
achten und die Anreize dafür langsam zurücknehmen, wenn das den beobachten, der diese Handlungen ausführt.
Verhalten zur Gewohnheit wird.
8.14 Welchen Einfluss haben prosoziale Vorbilder und antisozi-
8.10 Wie unterscheiden sich klassische und operante Konditio- ale Vorbilder?
nierung? Kinder neigen dazu, nachzuahmen, was ein Vorbild macht und
Bei der operanten Konditionierung lernt ein Organismus Asso- sagt, ganz gleichgültig, ob das Verhalten prosozial (positiv, kons-
ziationen zwischen seine eigenen Verhaltensweisen mit ihren truktiv und hilfsbereit) oder antisozial ist. Wenn die Handlungen
Konsequenzen. Hierbei wird operantes Verhalten (Verhalten, das und die Worte eines Vorbilds nicht zueinander passen, ahmen
die Umwelt beeinflusst und Konsequenzen auslöst) gezeigt. Bei Kinder möglicherweise die Heuchelei nach, die sie beobachten.
der klassischen Konditionierung assoziiert ein Organismus un-
terschiedliche Reize, die er nicht kontrolliert und auf die er auto-
matisch reagiert (respondentes Verhalten). 9 Gedächtnis

jBiologische Veranlagungen, Kognition und Lernen jDie Erforschung des Gedächtnisses


8.11 Wie beeinflussen biologische Beschränkungen das Lernen 9.1 Was versteht man unter Gedächtnis?
durch klassische und operante Konditionierung? Das Gedächtnis ist das Ergebnis von Lernvorgängen, deren In-
Wie wir jetzt wissen, sind die Prinzipien der klassischen Kon- formationen die Zeit überdauern, da sie gespeichert sind und
ditionierung durch biologische Gegebenheiten eingeschränkt, wieder abgerufen werden können. Als Gedächtnisnachweise
sodass manche Assoziationen leichter gelernt werden als andere. lassen sich die freie Reproduktion oder das Wiedererkennen von
Jede Spezies ist biologisch bedingt darauf vorbereitet, Assozia- Informationen sowie das leichtere erneute Lernen bei einem spä-
tionen zu lernen, die ihre Überlebenschancen verbessern. Auch teren Versuch anführen.
die Fähigkeit zur operanten Konditionierung ist durch die natür-
lichen Veranlagungen eingeschränkt. Ein Trainingsprogramm, 9.2 Wie beschreiben Psychologen das menschliche Gedächtnis-
das versucht, diese Tendenzen außer Kraft zu setzen, wird wahr- system?
scheinlich keine dauerhafte Wirkung haben, weil die Lebewe- Psychologen nutzen Gedächtnismodelle, um über das Gedächt-
sen zu ihren biologisch prädisponierten Mustern zurückkehren nis nachzudenken und darüber zu kommunizieren. Modelle der
werden. Informationsverarbeitung beinhalten drei Prozesse: Enkodieren,
Speichern und Abrufen. Das konnektionistische Informations-
8.12 Welche Bedeutung haben kognitive Prozesse bei der klassi- verarbeitungsmodell betrachtet Erinnerungen als Produkte mit-
schen und operanten Konditionierung? einander verbundener neuronaler Netzwerke. Die drei Verar-
Bei der klassischen Konditionierung lernen Menschen und an- beitungsstufen im Modell von Atkinson und Shiffrin sind das
dere Lebewesen, wann sie einen US erwarten können und sind sensorische Gedächtnis, das Kurzzeitgedächtnis und das Langzeit-
sich möglicherweise der Verbindung zwischen Reizen und Reak- gedächtnis. Neuere Forschung hat dieses Modell erweitert, um
tionen bewusst. Bei der operanten Konditionierung zeigt die zwei wichtige Konzepte einzugliedern: (1) das Arbeitsgedächtnis,
Forschung zu kognitiven Landkarten und latentem Lernen die das die aktive Verarbeitung betont, die auf der zweiten Stufe des
Wichtigkeit kognitiver Prozesse beim Lernen auf. Weitere Unter- Gedächtnisses stattfindet, und (2) die automatische Verarbei-
862 Anhang

tung, die die Informationsverarbeitung außerhalb der bewussten jSpeichern: Erinnerungen ablegen
Wahrnehmung darstellt. 9.9 Wie groß ist die Kapazität des Langzeitgedächtnisses und wo
ist es lokalisiert?
9.3 Wie lassen sich explizite und implizite Erinnerungen unter- Die Kapazität unseres Langzeitgedächtnisses ist grundsätzlich
scheiden? unbegrenzt. Erinnerungen sind nicht in intakter Form an ein-
Durch eine parallele Funktionsweise verarbeitet das menschliche zelnen Stellen im Gehirn gespeichert; stattdessen interagieren
Gehirn vieles simultan auf zwei Pfaden. Explizite (deklarative) viele Hirnareale miteinander, während wir Erinnerungen bilden
Erinnerungen – unsere bewussten Erinnerungen an Fakten und und wieder abrufen.
Erlebnisse – bilden sich durch bewusste Verarbeitung, die gezielte
Aufmerksamkeit und Anstrengung erfordert. Implizite (nonde- 9.10 Welche Rolle spielen der Frontallappen und der Hippocam-
klarative) Erinnerungen – an Fertigkeiten und klassisch kondi- pus beim Speichern von Erinnerungen?
tionierte Assoziationen – entstehen ohne unsere bewusste Wahr- Die Frontallappen und der Hippocampus sind Areale des Gehirn-
nehmung durch automatische Verarbeitung. netzwerks, die für die Bildung expliziter Erinnerungen zuständig
sind. Viele Hirnregionen senden Informationen zur Verarbei-
jEnkodieren: Erinnerungen herstellen tung an die Frontallappen. Der Hippocampus registriert in Zu-
9.4 Welche Informationen verarbeiten wir automatisch? sammenarbeit mit umliegenden Kortexarealen Inhalte des expli-
Zusätzlich zu Fertigkeiten und klassisch konditionierten Asso- ziten Gedächtnisses und hält sie vorübergehend fest, bevor sie zu
ziationen verarbeiten wir zufällig von uns registrierte Informa- anderen Hirnregionen zur Langzeitspeicherung weitertranspor-
tionen über Raum, Zeit und Häufigkeit auf automatische Weise. tiert werden.

9.5 Wie funktioniert das sensorische Gedächtnis? 9.11 Welche Rolle spielen das Zerebellum und die Basalganglien
Das sensorische Gedächtnis versorgt das Arbeitsgedächtnis mit bei unseren Gedächtnisprozessen?
bestimmten Informationen, die dort aktiv verarbeitet werden: Das Zerebellum und die Basalganglien sind Areale des Gehirn-
Eine ikonische Erinnerung ist eine sehr kurze (wenige Zehntel- netzwerks, die für die Bildung impliziter Erinnerungen zuständig
sekunden dauernde) sensorische Erinnerung an visuelle Reize; sind. Das Zerebellum spielt eine wichtige Rolle beim Speichern
eine echoische Erinnerung ist eine drei oder vier Sekunden lang klassisch konditionierter Erinnerungen. Die Basalganglien sind
dauernde Erinnerung an auditive Reize. an motorischen Bewegungen beteiligt und unterstützen die Ent-
stehung prozeduraler Erinnerungen an Fertigkeiten. Viele Reak-
9.6 Wie groß sind die Kapazitäten des Kurzzeit- und Arbeits- tionen und Fertigkeiten, die wir in unseren ersten drei Lebens-
gedächtnisses? jahren lernen, bleiben im Erwachsenenalter bestehen, doch wir
Das Kurzzeitgedächtnis hat eine Kapazität von etwa 7 (± 2) Items, können uns an die entsprechenden Lernvorgänge nicht bewusst
aber ohne Wiederholung werden diese Informationen sehr schnell erinnern, ein Phänomen, das Psychologen »Kindheitsamnesie«
vergessen. Die Kapazität des Arbeitsgedächtnisses variiert abhän- nennen.
gig vom Alter, vom Intelligenzniveau und von anderen Faktoren.
9.12 Wie beeinflussen Emotionen unsere Verarbeitung von Er-
9.7 Welche bewussten Verarbeitungsstrategien können uns beim innerungen?
Erinnern an neue Informationen helfen? Emotionale Erregung verursacht eine gesteigerte Freisetzung
Effektive bewusste Verarbeitungsstrategien sind Chunking, von Stresshormonen, die ihrerseits zu stärkerer Aktivität in den
Mnemotechniken, das Bilden von Hierarchien und verteilte Strukturen des Gehirns, die Erinnerungen bilden, führen. Hoch-
Übung. Der Testeffekt beruht auf dem Befund, dass bewusstes gradig erregende Erlebnisse können äußerst klare Blitzlichterin-
Abrufen statt bloßes Wiederlesen von Informationen die Ge- nerungen auslösen.
dächtnisleistung verbessert.
9.13 Wie wirken sich Veränderungen auf der Ebene der Synap-
9.8 Welche Informationsverarbeitungsebenen gibt es und wie sen auf die Verarbeitung von Erinnerungen aus?
beeinflussen sie die Enkodierung? Langzeitpotenzierung (LTP) scheint die neuronale Basis von
Die Tiefe der Verarbeitung beeinflusst das langfristige Behalten. Lernvorgängen zu sein. Durch die LTP werden Neuronen effizi-
Bei der oberflächlichen Verarbeitung enkodieren wir Wörter nach enter bei der Ausschüttung von Neurotransmittern, vorhandene
ihrer Struktur oder Erscheinungsweise. Die Behaltensleistung ist Neurotransmitter werden leichter registriert und zwischen Ner-
am besten, wenn wir eine tiefe (semantische) Verarbeitung er- venzellen bilden sich mehr Verbindungen aus.
reichen und Wörter nach ihrer Bedeutung enkodieren. Wir er-
innern uns auch leichter an Material, das für uns persönlich be-
deutsam ist – der Selbstbezugseffekt.
863
A3 · Verständnisfragen und Antworten

jAbrufen: Informationen wieder hervorholen 9.18 Wie verlässlich sind Augenzeugenaussagen jüngerer Kinder
9.14 Auf welche drei verschiedenen Arten kann die Behaltens- und warum werden Berichte über verdrängte und wiederent-
leistung gemessen werden? deckte Erinnerungen so hitzig debattiert?
Drei Methoden für das Messen der Behaltensleistung sind Infor- Kinder sind empfänglich für den Fehlinformationseffekt, aber
mationen reproduzieren, sie wiedererkennen oder das schnellere wenn sie in neutralen Worten befragt werden, die sie verstehen,
erneute Lernen bei einem späteren Versuch. können sie sich präzise an Ereignisse und die Personen erinnern,
die daran beteiligt waren. Die Debatte (zwischen Gedächtnisfor-
9.15 Wie beeinflussen externe Hinweise, innere Empfindungen schern und einigen ambitionierten Therapeuten) dreht sich um
und die Reihenfolge der Präsentation den Abruf von Informa- die Frage, ob die meisten Erinnerungen an Missbrauch in der
tionen aus dem Gedächtnis? frühen Kindheit verdrängt werden und in einer Therapie wieder
Externe Hinweise aktivieren Assoziationen, die uns beim Abruf auffindbar sind, wenn bestimmte Techniken (zur »Gedächtnis-
von Erinnerungen helfen; dieser Vorgang kann ohne unsere Be- arbeit«) wie richtungweisende Fragen oder Hypnose eingesetzt
wusstheit ablaufen, wie z. B. beim Priming. Eine Rückkehr zum werden. Psychologen stimmen heute überein, dass (1) sexueller
gleichen äußeren Kontext oder emotionalen Zustand (Stim- Missbrauch eine Tatsache ist, (2) Ungerechtigkeit ebenso Tat-
mungskongruenz), in dem wir eine Erinnerung gebildet haben, sache ist, (3) Vergessen geschieht, (4) wieder aufgedeckte Erin-
kann uns dabei helfen, sie wieder abzurufen. Der serielle Posi- nerungen nichts Besonderes sind, (5) Erinnerungen an etwas,
tionseffekt beruht auf unserer Neigung, uns am besten an die das vor dem 3. Lebensjahr passiert ist, unzuverlässig sind, (6)
letzten Items (die sich noch im Arbeitsgedächtnis befinden Erinnerungen, die unter Hypnose oder dem Einfluss von Medi-
sollten) und die ersten Items (für die wir mehr Zeit zum Wieder- kamenten »wieder aufgedeckt« wurden, besonders unzuverlässig
holen hatten) aus einer Liste zu erinnern. sind und (7) dass Erinnerungen, ob real oder nicht, emotional
sehr aufwühlend sein können.
jVergessen
9.16 Warum vergessen wir? jGedächtnistraining
Anterograde Amnesie ist das Unvermögen, neue Erinnerungen zu 9.19 Wie können Sie die Erkenntnisse der Gedächtnisforschung
bilden. Retrograde Amnesie ist das Unvermögen, alte Erinne- nutzen, um im Studium bessere Leistungen zu zeigen?
rungen wieder abzurufen. Vergessen passiert normalerweise, Die Erkenntnisse der Gedächtnisforschung legen folgende Stra-
weil wir etwas nie enkodiert haben, die physische Gedächtnis- tegien nahe, um das Gedächtnis zu verbessern: wiederholtes Ler-
spur zerfallen ist oder wir nicht abrufen können, was wir en- nen, dem Lernstoff Bedeutung verleihen, Abrufhinweise aktivie-
kodiert und gespeichert haben. Probleme beim Abruf können ren, Mnemotechniken anwenden, Interferenz minimieren, mehr
aus proaktiver (vorwärts gerichteter) Interferenz (Hemmung), bei schlafen und sich selbst testen, um sicherzugehen, dass man die
der vorher Gelerntes den Abruf neuer Informationen stört, oder Inhalte frei reproduzieren und nicht nur wiedererkennen kann.
aus retroaktiver (rückwärts gerichteter) Interferenz (Hemmung)
entstehen, bei der neu Gelerntes den Abruf alter Informationen
stört. Manche Menschen glauben an absichtliches Vergessen, 10 Denken und Sprache
aber Forscher haben wenige Nachweise für Verdrängung ge-
funden. jDenken
10.1 Was ist Kognition und was sind die Funktionen von Be-
jFehler beim Gedächtnisaufbau griffen?
9.17 Wie beeinflussen Fehlinformationen, Imagination und Kognition bezeichnet alle mentalen Aktivitäten, die mit Denken,
Quellenamnesie das Gedächtnis und wie stellen wir fest, ob eine Wissen, Erinnerung und Kommunikation zu tun haben. Wir
Erinnerung wahr oder falsch ist? benutzen Begriffe, mentale Gruppierungen ähnlicher Gegen-
In Experimenten, die den Fehlinformationseffekt demonstrieren, stände, Ereignisse, Ideen oder Personen, um die Welt um uns
haben Teilnehmer falsche Erinnerungen gebildet und irre- herum zu vereinfachen und zu ordnen. Die meisten Begriffe ent-
führende Details darin einfließen lassen, nachdem man ihnen stehen in Zusammenhang mit Prototypen, d. h. typischen Bei-
falsche Informationen im Anschluss an ein Ereignis gab oder spielen für eine Kategorie.
nachdem sie mehrmals etwas imaginiert oder wiederholt hatten,
das nie passiert war. Wenn wir eine Erinnerung beim Abrufen 10.2 Welche kognitiven Strategien helfen uns beim Problem-
wieder zusammensetzen, können wir sie einer falschen Quelle lösen und welche Hindernisse stehen uns im Weg?
zuordnen (Quellenamnesie). Quellenamnesie kann auch Déjà- Ein Algorithmus ist eine systematische, logische Regel oder Ver-
vu-Erlebnisse erklären. Falsche Erinnerungen fühlen sich an wie fahrensweise (so wie eine Schritt-für-Schritt Beschreibung, was
reale Erinnerungen und können lange vorhalten, obwohl sie sich man tun muss, um ein Gebäude bei einem Feuer zu evakuieren),
meist auf das Wesentliche eines Ereignisses beschränken. die garantiert zur Lösung des vorliegenden Problems führt. Eine
864 Anhang

Heuristik ist eine einfachere Denkstrategie (z. B. zum Ausgang zu Darüber hinaus zeigen sie Einsicht, Erkennen der eigenen Per-
laufen, wenn man dicke Rauchschwaden riecht), die in der Regel son, Altruismus, Kooperation, Trauer und die Fähigkeit, Ab-
schneller, aber auch fehleranfälliger als ein Algorithmus ist. Eine sichten zu erkennen.
Einsicht ist wieder etwas anderes, weil es sich hier nicht um eine
Lösung handelt, die auf einer Strategie beruht, sondern um eine jSprache
Aha-Reaktion – ein Geistesblitz, mit dem man ein Problem löst. 10.6 Welches sind die strukturellen Grundbestandteile einer
Hindernisse bei der Problemlösung umfassen die Bestätigungs- Sprache?
tendenz, die uns dazu veranlasst vorgefasste Meinungen zu be- Phoneme sind die grundlegende Lauteinheit in einer Sprache.
stätigen statt zu hinterfragen, und Fixierungen, wie ein mentales Morpheme sind die elementaren Bedeutungseinheiten. Gram-
Set, die uns davon abhalten können, einen neuartigen Blickwin- matik – das System von Regeln, das uns dazu befähigt, zu kom-
kel einzunehmen, von dem aus wir das Problem lösen könnten. munizieren – beinhaltet die Semantik (Regeln zur Ableitung
einer Bedeutung) und die Syntax (Regeln zur Ordnung von Wör-
10.3 Was ist Intuition und wie können die Verfügbarkeitsheu- tern in Sätze).
ristik, systematische Selbstüberschätzung, Beharren auf Über-
zeugungen und Framing-Effekte unsere Entscheidungsfindung 10.7 Was sind die einzelnen Stufen des Spracherwerbs?
und Urteilsbildung beeinflussen? Der zeitliche Ablauf der Sprachentwicklung ist von Kind zu Kind
Intuition ist ein müheloser, plötzlicher und automatischer Ge- leicht unterschiedlich, aber alle durchlaufen die gleiche Reihen-
fühlzustand oder Gedanke, den wir oft anstatt von explizitem, folge. Die Fähigkeit zum Sprachverstehen (die Fähigkeit, zu ver-
bewusstem Überlegen benutzen. Heuristiken ermöglichen stehen, was zu einem und über einen gesagt wird) entwickelt sich
schnelle Einschätzungen. Aufgrund der Verfügbarkeitsheuristik vor der Fähigkeit zur Sprachproduktion (der Fähigkeit, Wörter
schätzt man die Wahrscheinlichkeit von Ereignissen je nach ihrer hervorzubringen). Mit etwa 4 Monaten lallen Säuglinge und
Verfügbarkeit in der Erinnerung, was häufig dazu führt, dass wir geben eine breite Vielfalt von Lauten von sich, die man in Spra-
die falschen Dinge fürchten. Systematische Selbstüberschätzung chen überall auf der Welt vorfindet. Mit etwa 10 Monaten ent-
kann uns dazu verleiten, die Treffsicherheit unserer Einschätzun- hält ihr Lallen nur noch die Laute, die in der Umgebung des
gen zu überschätzen. Wenn ursprüngliche Auffassungen, die wir Kindes gesprochen werden. Ungefähr mit 12 Monaten sprechen
bekundet haben, zweifelhaft geworden sind, kann Beharren auf Kleinkinder in einzelnen Wörtern. Dieses Einwortstadium
Überzeugungen dazu führen, dass wir an diesen ursprünglichen entwickelt sich vor dem 2. Geburtstag zum Zweiwortstadium
Auffassungen festhalten. Das beste Mittel gegen diese Form der (Telegrammstil). Kurz danach fangen die Kinder an, in ganzen
Verzerrung besteht darin, dass man sich bemüht, Belege für die Sätzen zu sprechen.
Gegenposition zu bedenken. Der Framing-Effekt (Rahmeneffekt)
bezeichnet die Auswirkungen der Art und Weise, wie ein Sach- 10.8 Wie erwerben wir Sprache?
verhalt dargestellt wird. Kleine Unterschiede in der Formulie- Nach dem Linguisten Noam Chomsky haben alle menschlichen
rung können uns in die vom Fragesteller gewünschte Richtung Sprachen eine Universalgrammatik – grundlegende Bausteine
lenken. einer Sprache – gemeinsam und Menschen kommen ausgestattet
mit einer »Veranlagung zum Spracherwerb« auf die Welt. Wir
10.4 Wie nutzen kluge Denker ihre Intuition? erlernen eine bestimmte Sprache durch einen Lernprozess, bei
Kluge Denker werden ihre Intuition nutzen (die in der Regel dem unsere biologische Veranlagung und unsere Erfahrungen
anpassungsfähig ist), aber wenn sie komplexe Entscheidungen Hand in Hand arbeiten. Die Kindheit ist eine kritische Phase für
treffen müssen, dann sammeln sie so viele Informationen wie den flüssigen Erwerb von gesprochener oder durch Gesten aus-
möglich und lassen ihrem zweigleisigen Verstand dann die Zeit, gedrückter Sprache. Das ist ein wichtiger Aspekt für die Eltern
alle verfügbaren Informationen zu verarbeiten. Sobald wir auf gehörloser Kinder, die vielleicht den Umgang mit gesprochener
einem Gebiet mehr Fachkompetenz haben, lernen wir immer Sprache meistern würden, wenn sie während dieser kritischen
besser, schnelle und sachkundige Urteile zu fällen. Phase ein Kochleaimplantat erhielten. Die Fürsprecher der Ge-
hörlosenkultur sind gegen solche Implantate, da Gehörlosigkeit
10.5 Was wissen wir darüber, wie Tiere denken? für sie einen Unterschied zur Welt der Hörenden darstellt, aber
Forscher ziehen Rückschlüsse über das Bewusstsein und die keine Behinderung.
Intelligenz von Tieren, indem sie ihr Verhalten beobachten. Im
Fokus der Forschung stehen größtenteils Menschenaffen, aber 10.9 Welche Gehirnregionen sind an Sprachverarbeitung und
auch andere Arten sind untersucht worden. Der heutige Stand Sprachproduktion beteiligt?
der Forschung zeigt, dass andere Arten Begriffe, Zahlen und Zwei wichtige Regionen für die Sprachverarbeitung sind das
Werkzeuge gebrauchen, und dass sie kulturelle Errungenschaf- Broca-Zentrum, ein Teil des Frontalkortex, der den sprachlichen
ten von einer Generation an die nächste weiterreichen können. Ausdruck steuert, und das Wernicke-Zentrum im linken Tempo-
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A3 · Verständnisfragen und Antworten

rallappen, das die Aufnahme von Sprache steuert. Die Sprachver- Cluster ähnlicher geistiger Fähigkeiten identifizieren kann.
arbeitung ist auch über andere Gehirnregionen verteilt, in denen L. L. Thurstone teilte diese Meinung nicht und ermittelte 7 ver-
unterschiedliche neuronale Netzwerke bestimmte linguistische schiedene Cluster geistiger Fähigkeiten. Trotzdem ist es oft so,
Arbeitsschritte übernehmen. dass Menschen, die innerhalb eines Clusters hohe Werte erzielen,
dies auch in anderen Clustern tun. Studien legen nahe, dass
10.10 Besitzen auch andere Tiere unsere sprachliche Ausdrucks- g-Werte in neuartigen Situationen die größte Vorhersagekraft
fähigkeit? besitzen, sie jedoch nicht mit den Fertigkeiten von Individuen
Eine Reihe von Schimpansen hat gelernt, durch Gebärden- in Situationen, die »uns von der Evolution her vertraut« sind,
sprache oder durch Drücken von Tasten an einem Computer mit korrelieren.
Menschen zu kommunizieren. Diese Affen haben einen Wort-
schatz mit nahezu 200 Wörtern entwickelt; sie kommunizieren, 11.3 Wie unterscheiden sich die Theorien multipler Intelligen-
indem sie diese Wörter miteinander verknüpfen, und bringen zen von Gardner und Sternberg?
diese Fähigkeiten ihren Jungen bei, außerdem verfügen sie über Das Savant-Syndrom scheint Howard Gardners Auffassung zu
ein gewisses Verständnis der Syntax. Aber nur Menschen kom- unterstützen, dass wir mehrere multiple Intelligenzen besitzen.
munizieren mithilfe von komplexen Sätzen. Nichtsdestotrotz Er schlug acht unabhängige Intelligenzen vor: die sprachliche,
erfordern die beeindruckenden Kommunikations- und Denk- die logisch-mathematische, die musikalische, die räumliche, die
fähigkeiten von Schimpansen und anderen Tieren, dass wir Men- körperlich-kinästhetische, die intrapersonale, die interpersonale
schen uns darüber Gedanken machen, was dies für die morali- und die auf die Natur bezogene Intelligenz. In Robert Sternbergs
schen Rechte anderer Arten bedeutet. triarchischer Intelligenztheorie wird vorgeschlagen, dass es nur
drei Intelligenzbereiche gibt, die alltägliche Fähigkeiten vorher-
jDenken und Sprache sagen: die analytische (Problemlösen in der Schule), die kreative
10.11 Welche Beziehung besteht zwischen Sprache und Denken, und die praktische Intelligenz.
und welchen Nutzen hat es, in Bildern zu denken?
Obwohl Benjamin Lee Whorfs Hypothese des linguistischen 11.4 Was ist Kreativität und was fördert sie?
Determinismus besagt, dass die Sprache das Denken bestimmt, Kreativität, die Fähigkeit, neuartige und nützliche Ideen hervor-
ist es wohl treffender zu sagen, dass die Sprache das Denken be- zubringen, korreliert etwas mit Intelligenz, aber oberhalb eines
einflusst. Unterschiedliche Sprachen sind Ausdruck unter- IQs von 120 tendiert die Korrelation gegen null. Sternberg hat
schiedlicher Denkweisen und die Teilnahme an zweisprachigem behauptet, dass die Kreativität fünf Komponenten umfasst:
Schulunterricht kann das Denken verbessern. Wir denken oft in Expertenwissen, Vorstellungsvermögen, eine risikobereite Per-
Bildern, wenn wir das prozedurale Gedächtnis nutzen – unser sönlichkeit, intrinsische Motivation und eine kreative Umwelt,
unbewusstes Gedächtnissystem für motorische und kognitive die kreative Ideen auslöst, unterstützt und verfeinert.
Fertigkeiten und konditionierte Assoziationen. Denken in Bil-
dern kann unsere Fähigkeiten tatsächlich verbessern, wenn wir 11.5 Was sind die 4 Komponenten der emotionalen Intelligenz?
uns mental auf bevorstehende Ereignisse vorbereiten. Die emotionale Intelligenz, die einen Aspekt der sozialen Intel-
ligenz darstellt, ist die Fähigkeit, Emotionen wahrzunehmen, zu
verstehen, mit ihnen umzugehen und sie zu nutzen. Emotional
11 Intelligenz intelligente Menschen erlangen größere Erfolge im persönlichen
und beruflichen Bereich. Kritiker der Vorstellung von der emo-
jWas ist Intelligenz? tionalen Intelligenz fragen, ob wir die Vorstellung von der Intel-
11.1 Wie wird Intelligenz definiert? ligenz nicht zu stark erweitern, wenn wir sie auf Emotionen an-
Intelligenz ist eine geistige Eigenschaft, die sich aus den Fähigkei- wenden.
ten, aus Erfahrung zu lernen, Probleme zu lösen und Wissen
anzuwenden, um sich an neue Situationen anzupassen, zu- 11.6 In welchem Ausmaß ist Intelligenz von der Gehirnanatomie
sammensetzt. Ein Intelligenztest versucht, diese Fähigkeiten zu abhängig?
bewerten und sie unter Verwendung numerischer Werte mit Neuere Studien haben eine positive Korrelation zwischen Intel-
denen anderer Personen zu vergleichen. ligenztestwerten und der Gehirngröße sowie der Gehirnaktivität,
vor allem in den Frontal- und Parietallappen, gefunden. Ein ho-
11.2 Was sind die Argumente für und gegen den Gedanken, dass hes Volumen an grauer und weißer Substanz ermöglicht eine
Intelligenz eine allgemeine geistige Fähigkeit ist? effiziente Kommunikation zwischen den neuronalen Schalt-
Charles Spearman stellte die Behauptung auf, dass wir eine allge- kreisen.
meine Intelligenz (g-Faktor) besitzen. Er war an der Entwicklung
der Faktorenanalyse beteiligt, einem statistischen Verfahren, das
866 Anhang

11.7 In welchem Ausmaß ist Intelligenz von der Geschwindigkeit tativ ist (wie etwa eine Fahrprüfung die Fähigkeit zum Auto-
der neuronalen Verarbeitung abhängig? fahren erfasst). Ein Test verfügt über Vorhersagevalidität, wenn
Menschen, die in Intelligenztests gut abschneiden, haben ten- er das Verhalten vorhersagt, das er vorhersagen soll (Eignungs-
denziell flinkere Gehirne, die Reize schneller wahrnehmen und tests haben eine Vorhersagekraft, wenn sich mit ihnen künftige
Informationen mit höherer Geschwindigkeit neuronal verarbei- Leistungen vorhersagen lassen).
ten. Die Richtung der Korrelation konnte bis heute noch nicht
festgelegt werden und ein dritter Faktor könnte sowohl die Intel- jDie Dynamik der Intelligenz
ligenz als auch die Verarbeitungsgeschwindigkeit beeinflussen. 11.12 Wie stabil sind Intelligenztestwerte über die Lebensspanne
hinweg?
jIntelligenzmessung Querschnittstudien (Vergleich von Menschen unterschiedlichen
11.8 Wann und warum wurden Intelligenztests entwickelt? Alters) und Längsschnittstudien (häufiger wiederholte Testung
Im späten 19. Jahrhundert versuchte Francis Galton, der daran derselben Kohorte über einen längeren Zeitraum hinweg) haben
glaubte, dass Genie erblich ist, einen einfachen Intelligenztest gezeigt, dass die fluide Intelligenz mit dem Alter nachlässt, zum
zu entwickeln, aber er scheiterte. Im Jahre 1904 initiierte Alfred Teil, da die neuronale Verarbeitung sich verlangsamt. Die kristal-
Binet, der sich für eine umweltbedingte Erklärung von Intelli- line Intelligenz wächst immer weiter. Die Stabilität der Intelli-
genzunterschieden aussprach, in Frankreich die Bewegung zum genztestwerte nimmt mit dem Alter zu. Im Alter von 4 Jahren
modernen Testen der Intelligenz. Dies geschah, indem er Fragen schwanken die Testwerte, doch man kann allmählich die Test-
entwickelte, die dazu beitrugen, den künftigen Fortschritt von werte im Jugend- und Erwachsenenalter vorhersagen. Im frühen
Kindern im Schulsystem von Paris vorherzusagen. Während Jugendalter sind die Testwerte dann sehr stabil und haben eine
des frühen 20. Jahrhunderts überarbeitete Lewis Terman von der hohe Vorhersagekraft.
Stanford University Binets Test, um ihn in den USA einzusetzen.
Terman glaubte, Intelligenz würde vererbt und er war der Auf- 11.13 Welche Eigenschaften haben Menschen, die sich im unte-
fassung, dass sein Stanford-Binet-Intelligenztest Menschen zu ren bzw. oberen Extrembereich der Intelligenz befinden?
angemessenen beruflichen Möglichkeiten verhelfen könne. Ein Intelligenztestwert von 70 oder weniger ist ein diagnostisches
Während dieser Epoche wurden Intelligenztests bedauerlicher- Kriterium für die Diagnose einer geistigen Behinderung (weitere
weise manchmal dazu eingesetzt, die angeborene Unterlegenheit Kriterien sind eingeschränkte konzeptuelle, soziale und prakti-
bestimmter ethnischer und Immigrantengruppen zu »belegen«. sche Fähigkeiten). Menschen mit dieser Diagnose unterscheiden
sich in ihren Fähigkeiten, von beinahe normal bis zu einem sehr
11.9 Worin unterscheiden sich Leistungs- von Eignungstests? geringen Niveau, bei der sie ständig Hilfe und Aufsicht benöti-
Leistungstests werden entwickelt, um zu erfassen, was eine Person gen. Das Down-Syndrom ist eine Entwicklungsstörung, die durch
gelernt hat. Eignungstests werden entwickelt, um vorherzusagen, eine zusätzliche Kopie des Chromosoms 21 verursacht wird.
was eine Person lernen kann. Der WAIS (Wechsler Adult Intelli- Menschen mit hohen Testwerten neigen dazu, gesund, gut
gence Scale), ein Eignungstest, ist der am stärksten verbreitete angepasst und im schulischen Bereich ungewöhnlich erfolgreich
Intelligenztest für Erwachsene. zu sein. Die Schulen fassen diese Kinder manchmal in speziellen
Lerngruppen zusammen und trennen sie von denen mit ge-
11.10 Was bedeuten die Begriffe Normierung und Normal- ringeren Testwerten. Derartige Programme können zu einer
verteilung? sich selbst erfüllenden Prophezeiung führen, weil Kinder beider
Normierung eines Tests bedeutet, dass der Test einer repräsenta- Gruppen der Wahrnehmung ihrer Fähigkeiten und den Erwar-
tiven Stichprobe aus der Population der späteren Probanden vor- tungen an sie gerne entsprechen.
gelegt wird, um eine Grundlage für sinnvolle Testwertvergleiche
zu schaffen. Die Verteilung der Testwerte bildet häufig eine jGenetische und umweltbedingte Einflüsse
Glockenkurve (Normalverteilung) – eine in etwa symmetrische auf die Intelligenz
Kurve, bei der sich die meisten Werte um den Durchschnitt 11.14 Welche Befunde sprechen für die genetische Bedingtheit
gruppieren, zu den Extremwerten hin werden es immer weniger. der individuellen Intelligenz und was versteht man unter Erb-
lichkeit?
11.11 Was bedeuten die Begriffe Reliabilität und Validität? Studien an Zwillingen, Familienmitgliedern und Adoptivkin-
Die Reliabilität ist das Ausmaß, in dem ein Test konsistente Er- dern stützen allesamt die Auffassung, dass genetische Faktoren
gebnisse liefert (für zwei Hälften des Tests oder wenn Probanden in bedeutsamer Weise zu den Intelligenzwerten beitragen. Die
erneut mit demselben Test getestet werden). Die Validität eines Intelligenz scheint polygenetisch zu sein und Forscher sind der-
Tests beschreibt das Ausmaß, in dem er misst oder vorhersagt, zeit auf der Suche nach Genen, die einen Einfluss auf die Intel-
was er messen oder vorhersagen soll. Ein Test verfügt über In- ligenz ausüben. Die Erblichkeit ist das Ausmaß, in dem sich
haltsvalidität, wenn er für das entsprechende Verhalten repräsen- die Variation der Intelligenztestwerte in einer Gruppe von Men-
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A3 · Verständnisfragen und Antworten

schen, die man untersucht, auf genetische Faktoren zurück- sener Verzerrung« meinen Psychologen, dass ein Test für eine
führen lässt. Gruppe weniger genaue Ergebnisse vorhersagt als für eine ande-
re. In diesem Sinne sind sich die meisten Experten einig, dass die
11.15 Welche Befunde gibt es zu Umwelteinflüssen auf die indi- wichtigsten Eignungstests nicht auf signifikante Weise verzerrt
viduelle Intelligenz? sind. Der Stereotype Threat ist eine sich selbst bestätigende Sorge,
Studien an Zwillingen, Familienmitgliedern und Adoptivkin- dass man aufgrund eines negativen Stereotyps bewertet wird,
dern liefern auch Befunde zu Umwelteinflüssen auf die Intelli- und er beeinflusst die Leistung in allen möglichen Testarten.
genz. Die Intelligenztestwerte von eineiigen Zwillingen, die ge-
trennt aufwuchsen, sind sich weniger ähnlich (wenn auch immer
noch sehr hoch miteinander korreliert) als die Testwerte ein- 12 Motivation und Arbeit
eiiger Zwillinge, die zusammen aufwuchsen. Andere Studien mit
Kindern, die in extrem kargen Umweltsituationen mit minimaler jMotivationskonzepte
sozialer Interaktion aufwuchsen, deuten darauf hin, dass Lebens- 12.1. Wie definieren Psychologen Motivation? Aus welchen Per-
erfahrungen das Intelligenztestergebnis signifikant beeinflussen spektiven betrachten sie motiviertes Verhalten?
können. Es gibt aber keine Belege für die Idee, dass normale, Motivation ist ein Bedürfnis oder ein Wunsch, der unser Verhal-
gesunde Kinder in Genies verwandelt werden können, wenn sie ten antreibt und lenkt. Die Instinkttheorie bzw. die evolutionäre
in einer außergewöhnlich stimulierenden Umwelt aufwachsen. Perspektive untersucht genetische Einflüsse auf komplexes Ver-
halten. Die Triebreduktionstheorie untersucht, wie physiolo-
11.16 Wie und warum unterscheiden sich die Geschlechter in gische Bedürfnisse erregte Spannungen erzeugen (Triebe), die
Bezug auf geistige Fähigkeiten? uns dazu motivieren, die Bedürfnisse zu befriedigen. Das Ziel der
Männer und Frauen haben oft dieselben durchschnittlichen Triebreduktion ist die Homöostase, die Aufrechterhaltung eines
Intelligenztestwerte. Sie unterscheiden sich jedoch in einigen ausgeglichenen und konstanten inneren Zustandes. Die Er-
spezifischen Fähigkeiten. Mädchen sind besser in der Recht- regungstheorie geht davon aus, dass manche Verhaltensweisen
schreibung, haben eine höhere Wortflüssigkeit, können besser (wie solche, die von der Neugier angetrieben sind) keine phy-
Gegenstände auffinden, können Emotionen besser erkennen siologischen Bedürfnisse reduzieren, sondern von einem Drang
und sind sensibler für Berührungen, Geschmäcker und Farben. nach einem optimalen Stimulierungsgrad ausgelöst werden.
Jungen zeigen bei räumlichen Fähigkeiten und damit verwand- Maslows Bedürfnishierarchie ist eine Bedürfnispyramide, die von
ten mathematischen Problemen bessere Leistungen als Mäd- Grundbedürfnissen, wie Hunger und Durst, zu Bedürfnissen auf
chen, während die Mädchen bei mathematischen Berechnungen einem höheren Niveau, wie Selbstverwirklichung und Selbst-
bessere Leistungen aufweisen als Jungen. Es finden sich außer- überschreitung, reicht.
dem mehr Jungen sowohl im unteren als auch im oberen Extrem-
bereich geistiger Fähigkeiten. Psychologen diskutieren evolu- jHunger
tionäre, gehirnbasierte und kulturelle Erklärungen solcher Ge- 12.2 Welche physiologischen Einflussfaktoren rufen Hunger
schlechterunterschiede. hervor?
Das Knurren eines leeren Magens kommt von den Kontrak-
11.17 Wie und warum unterscheiden sich ethnische Gruppen in tionen des Magens, aber Hunger hat noch andere Ursachen. Neu-
Bezug auf geistige Fähigkeiten? ronale Gebiete im Gehirn, einige davon liegen im Hypothalamus,
Als Gruppe haben die weißen Amerikaner einen höheren Durch- überwachen die Zusammensetzung des Blutes (den Blutzucker-
schnittswert im Intelligenztest als Amerikaner lateinamerikani- spiegel mit eingeschlossen) und die Verhältnisse im Inneren des
scher und afroamerikanischer Herkunft. Diese Lücke war jedoch Körpers. Appetithormone sind z. B. Insulin (kontrolliert den
vor einem halben Jahrhundert größer als sie jetzt ist. Befunde Blutzuckerspiegel); Ghrelin (wird bei leerem Magen ausgeschüt-
deuten darauf hin, dass Umweltunterschiede weitgehend bzw. tet); Orexin (vom Hypothalamus ausgeschüttet); Leptin (von
ausschließlich für diese Gruppenunterschiede verantwortlich Fettzellen ausgeschüttet) und PYY (vom Verdauungstrakt aus-
sind. geschüttet). Der Grundumsatz ist die Energiemenge, die für die
Erhaltung der grundlegenden Körperfunktionen im Ruhe-
11.18 Können Intelligenztests zu verzerrenden Ergebnissen zustand benötigt wird. Der Körper könnte einen Set Point haben
führen? (eine biologisch festgelegte Tendenz, ein optimales Gewicht zu
Mit Eignungstests soll vorhergesagt werden, wie gut die Leistung halten) oder einen etwas lockereren Settling Point (auch von der
des Probanden in Zukunft in einer bestimmten Situation sein Umwelt beeinflusst).
wird. Damit sind sie von vornherein »verzerrt« und zwar in der
Hinsicht, dass sie auf durch kulturelle Erfahrungen bedingte
Leistungsunterschiede empfindlich reagieren. Mit »unangemes-
868 Anhang

12.3 Welche psychologischen, kulturellen und situativen Fakto- Schwankungen im Testosteronspiegel normal, teilweise als Reak-
ren beeinflussen Hunger? tion auf Stimulation. Äußere Reize können sexuelle Erregung bei
Hunger spiegelt auch unsere Erinnerung wider, wann wir das Männern und Frauen auslösen, obwohl sich die aktivierten Ge-
letzte Mal gegessen haben, und unsere Erwartung, wann wir hirnareale ein wenig unterscheiden. Männer reagieren spezifi-
wieder essen sollten. Menschen präferieren generell bestimmte scher auf sexuelle Darstellungen, die ihr bevorzugtes Geschlecht
Geschmäcker (so wie Süßes und Salziges), aber unsere indivi- beinhalten. Sexuell eindeutiges Material könnte dazu führen,
duellen Vorlieben sind auch von Gewohnheit, Kultur und Situa- dass Menschen ihre Partner im Vergleich als weniger attraktiv
tion beeinflusst. Manche Geschmacksvorlieben, so wie die Ver- ansehen und ihre Beziehung entwerten. In der Fantasie vorge-
meidung von nicht vertrauter Nahrung oder von Nahrung, von stellte Reize (Träume und Fantasien) können auch die sexuelle
der wir krank geworden sind, haben eine Bedeutung für das Erregung beeinflussen.
Überleben.
12.7 Welche Faktoren beeinflussen Teenagerschwangerschaften
12.4 Welche Faktoren veranlagen Menschen dazu, adipös zu und das Risiko sexuell übertragbarer Infektionen?
werden und es zu bleiben? Der Anteil des Geschlechtsverkehrs bei Jugendlichen variiert von
Die Gene und die Umwelt interagieren bei der Entstehung von Kultur zu Kultur und von Epoche zu Epoche. Faktoren, die zu
Adipositas. Umwelteinflüsse beinhalten einen Mangel an sport- Teenagerschwangerschaften beitragen, beinhalten minimale
lichen Aktivitäten, einen Überfluss an kalorienreicher Nahrung Kommunikation über Verhütung mit Eltern, Partnern und
und soziale Einflüsse. Adipositas trägt zu Depression bei – be- Freunden; Schuldgefühle in Bezug auf die sexuelle Aktivität;
sonders bei Frauen – und Depression fördert Adipositas. Zwil- Alkoholgenuss und die Darstellung freizügigen sexuellen Ver-
lings- und Adoptionsstudien zeigen, dass das Körpergewicht haltens in den Medien. Sexuell übertragbare Infektionen (STI)
auch genetisch beeinflusst ist (durch den Grundumsatz, die Kör- haben sich schnell ausgebreitet. Versuche, Teenager durch um-
permasse und durch FTO-Gene). Denen, die gerne Gewicht fassende Programme zur Sexualerziehung zu schützen, beinhal-
verlieren würden, wird geraten, eine lebenslange Veränderung ten Unterricht über Verhütung und Enthaltsamkeit. Hohe Intel-
der Essgewohnheiten umzusetzen, sich verlockendem Essen so ligenz, religiöses Engagement, die Präsenz eines Vaters und die
wenig wie möglich auszusetzen, den Energieverbrauch durch Teilnahme an »Service-Learning«-Programmen waren Prädikto-
sportliche Aktivitäten anzutreiben, gesunde Nahrung in kleinen ren für die sexuelle Zurückhaltung Jugendlicher.
Portionen zu essen, die Mahlzeiten über den Tag zu verteilen,
Fressattacken zu vermeiden, genug zu schlafen und sich gele- 12.8 Was hat uns die Forschung über sexuelle Orientierungen
gentliche Ausrutscher zu verzeihen. gelehrt?
Umfragen zeigen uns, wie viele Menschen (etwa 3%) sich zum
jSexuelle Motivation gleichen Geschlecht hingezogen fühlen, Statistiken können je-
12.5 Was ist der sexuelle Reaktionszyklus beim Menschen und doch nicht über Themen der Menschenrechte entscheiden. Die
welche Störungen unterbrechen ihn? sexuelle Orientierung ist kein Indikator für mentale Gesundheit.
Masters u. Johnson beschrieben 4 Phasen des menschlichen se- Es gibt keinen Beleg dafür, dass Umwelteinflüsse die sexuelle
xuellen Reaktionszyklus: die Erregungsphase, die Plateauphase, Orientierung bestimmen. Belege für biologische Einflüsse bezie-
den Orgasmus (der mit ähnlichen Gefühlen und Gehirnaktivi- hen das Vorhandensein der Anziehung zum gleichen Geschlecht
täten bei Männern und Frauen einherzugehen scheint) und die bei vielen Tierarten mit ein; Unterschiede in Körper- und Ge-
Entspannungsphase. Während der Entspannungsphase erlebt ein hirnmerkmalen zwischen Homosexuellen und Heterosexuellen;
Mann eine Refraktärphase, in der eine neue Erregung nicht mög- höhere Anteile in bestimmten Familien und bei eineiigen Zwil-
lich ist und in der er keinen weiteren Orgasmus haben kann. lingen; die Erfahrung mit bestimmten Hormonen während
Sexuelle Störungen sind Probleme, welche die sexuelle Erregung kritischer Perioden der pränatalen Entwicklung und der brüder-
oder Funktionsfähigkeit anhaltend beeinträchtigen. Sie können liche Geburtsreihenfolgeneffekt.
oft erfolgreich durch Verhaltenstherapie oder Pharmakotherapie
behandelt werden. 12.9 Ist die wissenschaftliche Forschung über die sexuelle Moti-
vation frei von Wertvorstellungen?
12.6 Wie beeinflussen Hormone und äußere und innere Reize Wissenschaftliche Forschung über sexuelle Motivation versucht
die menschliche sexuelle Motivation? nicht, die persönliche Bedeutung von Sex in unserem Leben zu
Die weiblichen Östrogenhormone und die männlichen Testos- definieren. Trotzdem sind die Forschung und die Erziehung über
teronhormone beeinflussen das menschliche Sexualverhalten Sex nicht frei von Wertvorstellungen.
weniger direkt als sie das Sexualverhalten anderer Arten be-
einflussen. Die Sexualität der Frau reagiert stärker auf den Tes-
tosteronspiegel als auf den Östrogenspiegel. Bei Männern sind
869
A3 · Verständnisfragen und Antworten

jDas Bedürfnis nach Zugehörigkeit chologen untersuchen die Einflüsse der Arbeitszufriedenheit und
12.10 Welchen Beleg gibt es für das menschliche Bedürfnis nach Produktivität und erleichtern organisatorische Veränderungen.
Zugehörigkeit? Die Zufriedenheit und das Engagement der Angestellten schei-
Unser Bedürfnis nach Zugehörigkeit – sich mit anderen verbun- nen mit dem Erfolg von Organisationen zu korrelieren.
den fühlen und sich mit ihnen zu identifizieren – hatte einen
Nutzen für das Überleben unserer Vorfahren, was erklärt, warum 12.15 Was sind erfolgreiche Führungstechniken?
Menschen in jeder Gesellschaft in Gruppen leben. Aufgrund des Erfolgreiche Führungskräfte nutzen jobrelevante Stärken; setzen
Bedürfnisses nach Zugehörigkeit leiden Menschen, wenn sie spezifische, anspruchsvolle Ziele und wählen einen geeigneten
sozial ausgeschlossen werden, und sie zeigen kontraproduktives Führungsstil. Der Führungsstil kann zielorientiert (aufgaben-
(schneiden in Leistungstests schlechter ab) oder antisoziales Ver- orientierter Führungsstil) oder gruppenorientiert (sozialer Füh-
halten. Belohnungszentren werden aktiviert, wenn wir uns ge- rungsstil) sein oder eine Kombination der beiden Führungs-
liebt fühlen. stile sein.

12.11 Wie beeinflussen uns soziale Netzwerke? 12.16 Wie arbeiten Arbeitspsychologen, um benutzerfreund-
Wir verbinden uns durch soziale Netzwerke mit anderen und liche Maschinen und Arbeitsumfelder herzustellen?
stärken so unsere Beziehungen mit denen, die wir bereits kennen. Arbeitspsychologen tragen zur Sicherheit der Menschen und zu
In sozialen Netzwerken tendieren die Menschen zu verstärkter verbessertem Design bei, indem sie die Entwickler und Designer
Selbstoffenbarung. Das Ausarbeiten von Strategien zur Selbst- dazu ermutigen, die menschliche Wahrnehmung zu beachten,
kontrolle und deren disziplinierter Gebrauch können Menschen den Fluch des Wissens zu vermeiden und Benutzer zu testen, um
helfen, einen gesunden Ausgleich zwischen sozialen Verbindun- Probleme, die mit der Wahrnehmung zusammenhängen, aufzu-
gen und der Leistung in der Schule und auf der Arbeit zu erhalten. decken.

jArbeitsmotivation
12.12 Was ist der sog. »Flow«, und welche sind die drei Unterfel- 13 Emotionen, Stress und Gesundheit
der der Arbeits- und Organisationspsychologie?
Ein »Flow«-Erlebnis ist ein fokussierter Zustand völliger Hin- jKognitionen und Emotionen
gabe, mit verminderter Wahrnehmung des eigenen Selbst und 13.1 Welches Wechselspiel zwischen Erregung und Ausdrucks-
der Zeit. Es resultiert aus der vollständigen Beanspruchung der verhalten gibt es bei Emotionen?
eigenen Fähigkeiten. Die drei Unterfelder der A&O-Psychologie Emotionen sind psychologische Reaktionen des gesamten Orga-
sind die Personal-, Organisations- und Human-Factors-Psycho- nismus. Sie setzen sich aus dem Wechselspiel von physiologi-
logie. scher Erregung, Ausdrucksverhalten und bewussten Erfahrun-
gen zusammen. Emotionstheorien befassen sich in der Regel mit
12.13 Wie helfen Personalpsychologen Organisationen bei der zwei großen Fragen: (1) Tritt die physiologische Erregung vor
Personalauswahl, der Arbeiterplatzierung und der Leistungs- oder nach den Gefühlen auf, und (2) wie beeinflussen sich
beurteilung? Kognition und Gefühl gegenseitig? Die James-Lange-Theorie
Personalpsychologen arbeiten in Organisationen, um Auswahl- behauptet, dass das Gefühl der körperlichen Reaktion auf emo-
verfahren für neue Angestellte zu entwickeln; Bewerber anzu- tionsinduzierende Reize folgt. Die Cannon-Bard-Theorie besagt
werben und zu bewerten; Trainingsprogramme zu entwerfen hingegen, dass unser Körper im selben Moment auf eine Emo-
und zu bewerten; die Stärken von Menschen zu identifizieren; tion reagiert, in dem wir die Emotion auch wahrnehmen (das
den Jobinhalt zu analysieren und die Leistung der Individuen eine löst nicht das andere aus).
und der Organisation einzuschätzen. Subjektive Interviews för-
dern die »Interviewerillusion«; Strukturierte Interviews zeigen 13.2 Müssen wir Emotionen bewusst interpretieren und benen-
jobrelevante Stärken auf und sind bessere Prädiktoren für die nen, um sie erleben zu können?
Leistung. Checklisten, grafische Bewertungsskalen und ver- Die Zwei-Faktoren-Theorie von Schachter und Singer geht da-
haltensbezogene Bewertungsskalen sind nützliche Verfahren der von aus, dass unsere Emotionen zwei Bestandteile haben: körper-
Leistungseinschätzung. liche Erregung sowie ein kognitives Etikett. Und diese kognitiven
Etiketten, die wir auf unsere Erregungszustände kleben, sind ein
12.14 Was ist Leistungsmotivation? Welche Rolle spielen Orga- entscheidender Bestandteil der Emotion. Lazarus stimmte der
nisationspsychologen? Annahme zu, dass viele wichtige Emotionen auf unsere Inter-
Leistungsmotivation ist der Wunsch nach herausragenden Leis- pretationen oder Folgerungen zurückzuführen sind. Zajonc und
tungen; beinhaltet einen Wunsch nach Kontrolle und nach LeDoux glauben jedoch, dass manche einfachen emotionalen
schnellem Erreichen eines hohen Standards. Organisationspsy- Reaktionen spontan entstehen, nicht nur außerhalb unseres Be-
870 Anhang

wusstseins, sondern auch bevor jegliche kognitive Verarbeitung 13.8 Beeinflusst unser Gesichtsausdruck unsere Gefühle?
einsetzt. Diese Wechselwirkung zwischen Emotion und Kogni- Forschung zum Rückkopplungseffekt des Gesichtsausdrucks
tion veranschaulicht unseren zweigleisigen Verstand. zeigt, dass unser Gesichtsausdruck Gefühle auslösen und dem
Körper signalisieren kann, entsprechend zu reagieren. Außer-
jEmotion und Körper dem imitieren wir den Gesichtsausdruck anderer Menschen, weil
13.3 Was ist das Bindeglied zwischen emotionaler Erregung und es uns dabei hilft, empathisch zu sein.
dem autonomen Nervensystem? Wie beeinflusst diese Erregung
die Leistung? jEmotion und Erfahrung
Die Erregung als eine Komponente der Emotion wird von den 13.9 Welche Grundemotionen gibt es und welche beiden Dimen-
sympathischen (erregenden) und parasympathischen (be- sionen helfen uns, sie zu unterscheiden?
ruhigenden) Teilen des autonomen Nervensystems reguliert. Die zehn Basisemotionen von Izard sind Freude, Interesse/Auf-
Schwierige Aufgaben können mit einem niedrigen Erregungs- regung, Überraschung, Traurigkeit, Wut, Ekel, Verachtung,
niveau am besten gelöst werden, bei einfachen oder gut gelernten Furcht, Scham und Schuldgefühl. Die zwei Dimensionen der
Aufgaben zeigt sich hingegen bei einem hohen Erregungsniveau Emotion sind positive versus negative Valenz und niedrige versus
die beste Leistung. hohe Erregung.

13.4 Rufen verschiedene Emotionen auch verschiedene physio- 13.10 Was sind die Auslöser und Folgen von Wut?
logische Reaktionen und Hirnaktivitätsmuster hervor? Wut entsteht meistens durch ein Fehlverhalten, das wir als
Emotionen können in gleicher Weise erregend sein, allerdings willentlich, ungerechtfertigt und unvermeidbar interpretieren.
unterscheiden sie sich in einigen subtilen physiologischen Reak- Kleinere Frustrationen und unbeabsichtigte Beleidigungen
tionen, wie z. B in Bewegungen der Gesichtsmuskeln. Bedeu- können aber auch zu Wut führen. Emotionale Katharsis kann für
tendere Unterschiede haben sich in der Aktivität von Neuronen- kurze Zeit beruhigend wirken, langfristig reduziert sie die Wut
bahnen und kortikalen Bereichen des Gehirns sowie in der Hor- aber nicht. Wut einzustudieren kann uns noch wütender machen.
monausschüttung gezeigt, die mit verschiedenen Emotionen Kontrolliert Gefühle hervorzubringen kann dazu beitragen,
assoziiert ist. Konflikte zu lösen, und jemandem zu verzeihen, kann uns ganz
von unserer Wut befreien.
13.5 Wie effektiv können Polygrafen Lügen anhand körperlicher
Zustände detektieren? 13.11 Was sind die Auslöser und Folgen des Glücklichseins?
Polygrafen, die verschiedene physiologische Emotionsindika- Eine gute Stimmung hellt bei Menschen die Wahrnehmung der
toren messen, sind nicht genau genug, um den weitverbreiteten Welt auf und erhöht ihre Bereitschaft, anderen zu helfen (Phä-
Einsatz in der Strafverfolgung zu rechtfertigen. Der Gebrauch nomen »Fühl dich gut, und du tust etwas Gutes«). Die Stimmun-
von Fragen zu Täterwissen und neue Formen dieser Technologie gen, die durch gute oder schlechte Ereignisse ausgelöst werden,
könnten eine bessere Lügenerkennung ermöglichen. dauern selten länger als einen Tag an. Sogar ganz erheblich posi-
tive Ereignisse, wie z. B. plötzlicher Reichtum, steigern das
jEmotion und Ausdruck Glücklichsein selten langfristig. Das Glücklichsein steht in Rela-
13.6 Wie kommunizieren wir nonverbal? Wie unterscheiden tion zu unseren eigenen Erfahrungen (Phänomen des An-
sich die Geschlechter in dieser Fähigkeit? passungslevels) und zum Erfolg anderer (Prinzip der Relativen
Ein Großteil unserer Kommunikation besteht aus Körperbe- Deprivation). Manche Menschen scheinen eine genetische Prä-
wegungen, Gesichtsausdrücken und der Stimmfärbung. Auch disposition dafür zu haben, glücklicher zu sein als andere. Kul-
sekundenlange Filmsequenzen einer Bewegung können schon turen, die sich darin unterschieden, welche Charakterzüge sie
Gefühle erkennen lassen. Frauen können emotionale Hinweisreize schätzen und welche Verhaltensweisen sie erwarten und be-
oftmals einfacher entschlüsseln und sind häufig empathischer. lohnen, beeinflussen ebenfalls das persönliche Level des Glück-
lichseins.
13.7 Werden nonverbale Emotionsausdrücke universell ver-
standen? jStress und Gesundheit
Die Bedeutung von Gesten ist von Kultur zu Kultur verschieden. 13.12 Welche Ereignisse rufen Stressreaktionen hervor? Wie
Ein Gesichtsausdruck, wie der der Freude oder Angst, ist aller- reagieren wir auf Stress? Und wie können wir uns daran ge-
dings auf der ganzen Welt gleich. Kulturen unterscheiden sich wöhnen?
außerdem darin, wie viel Emotion sie zeigen. Als Stress wird der Prozess bezeichnet, mit dem wir Stressoren
(Katastrophen, erhebliche Lebensveränderungen und tägliche
Ärgernisse), die uns herausfordern oder bedrohen, bewerten und
auf sie reagieren. Walter Cannon betrachtete die Stressreaktion
871
A3 · Verständnisfragen und Antworten

als eine Art »Kampf-oder-Flucht«-System. Später konnten For- dass ihre Lebenserwartung verglichen mit pessimistischen Men-
scher ein weiteres Stressreaktionssystem identifizieren, bei dem schen länger ist. Soziale Unterstützung fördert die Gesundheit,
die Nebennieren Glukokortikoid-Stresshormone ausschütten. indem sie uns beruhigt, den Blutdruck und Stresshormonspiegel
Hans Selye ging von einem üblicherweise dreistufigen allgemei- senkt und die Funktionsweise des Immunsystems stärkt.
nen Adaptationssyndrom (Alarm, Widerstand, Erschöpfung)
aus. Langfristiger Stress kann Neuronen beschädigen, indem er 13.17 Wie effektiv ist aerobes Training als Möglichkeit, um mit
den Zelltod beschleunigt. Wenn sie Stress erleben, neigen Frauen Stress umzugehen und das Wohlbefinden zu steigern?
zu einer »Tend-and-befriend”-Reaktion; Männer hingegen zie- Aerobes Training ist ein sauerstoffverbrauchendes Ausdauer-
hen sich eher sozial zurück, wenden sich dem Alkohol zu oder training, das die Funktionsfähigkeit des Herzens und der Lunge
werden aggressiv. steigert. Es erhöht die Erregung, führt zu Muskelentspannung
und gesundem Schlaf, stimuliert die Produktion von Neuro-
13.13 Wodurch macht uns Stress anfälliger für Krankheiten? transmittern und steigert das Selbstbild. Es kann Depressionen
Psychoneuroimmunologen erforschen die Interaktionen von lindern und steht – später im Leben – in Verbindung mit besse-
Körper und Geist, welche stressbedingte körperliche Krank- ren kognitiven Fähigkeiten und einem längeren Leben.
heiten, wie Bluthochdruck und manche Formen des Kopf-
schmerzes, umfassen. Stress zweigt Energie vom Immunsystem 13.18 Wie können Entspannung und Meditation Stress und
ab und hemmt so die Aktivität der B- und T-Lymphozyten, Gesundheit beeinflussen?
Makrophagen und NK-Zellen. Stress verursacht zwar keine Es konnte gezeigt werden, dass Entspannung und Meditation
Krankheiten wie AIDS oder Krebs, aber dadurch, dass er die Stress reduzieren können, weil sich dadurch die Muskeln ent-
Funktionsweise unserer Immunabwehr verändert, kann er uns spannen, der Blutdruck sinkt, die Immunabwehr verbessert wird
anfälliger dafür machen und den Krankheitsverlauf beeinflussen. und Angst und Depressionen nachlassen.

13.14 Warum neigen manche Menschen mehr zu koronaren 13.19 Was versteht man unter Komplementär- und Alternativ-
Herzkrankheiten als andere? medizin und wie können sie innerhalb der wissenschaftlichen
Koronare Herzerkrankungen – die häufigste Todesursache in Forschung am besten erfasst werden?
Nordamerika wie auch in Deutschland – wurden mit der reak- Die Komplementär- und Alternativmedizin umfasst wissen-
tiven, leicht reizbaren Typ-A-Persönlichkeit in Verbindung ge- schaftlich nicht belegte Behandlungen im Rahmen der Gesund-
bracht. Im Vergleich zur entspannten und gelassenen Typ-B- heitsversorgung, die die Schulmedizin ergänzen oder als Alter-
Persönlichkeit schütten Menschen vom A-Typ mehr von den- native dazu dienen sollen; sie werden nicht in den medizinischen
jenigen Hormonen aus, die die Entstehung von Ablagerungen an Fakultäten gelehrt, nicht in den Krankenhäusern praktiziert und
den Arterienwänden des Herzens beschleunigen. Chronischer gewöhnlich auch nicht von den Krankenkassen erstattet. Um die
Stress trägt auch seinen Teil zu einer langanhaltenden Entzün- wahren Effekte der Alternativmedizin von Placeboeffekten und
dung bei, die das Risiko verstopfter Arterien und Depressionen spontanen Heilungseinflüssen unterscheiden zu können, experi-
erhöht. mentieren Forscher und weisen Menschen dafür zufällig einer
Experimental- oder Kontrollbedingung zu.
jGesundheitsförderung
13.15 Wie gehen Menschen mit Stress um? Und wie beeinflusst 13.20 Was ist der Glaubensfaktor und welche möglichen Erklä-
ein wahrgenommener Mangel an Kontrolle die Gesundheit? rungen gibt es für den dadurch beschriebenen Zusammenhang?
Problemorientiertes Coping versucht den Stressor selbst oder die Der Glaubensfaktor beschreibt das Ergebnis, dass religiös aktive
Art wie wir mit ihm umgehen zu ändern. Emotionsfokussiertes Menschen tendenziell länger leben als solche, die nicht religiös
Coping zielt darauf ab, Stressoren zu vermeiden oder zu igno- aktiv sind. Mögliche Erklärungen dafür könnten den Einfluss
rieren und stattdessen emotionalen Bedürfnissen nachzugehen, intervenierender Variablen beinhalten, wie z. B. gesunde Ver-
die mit der Stressreaktion zusammenhängen. Ein wahrgenom- haltensweisen, soziale Unterstützung oder positive Emotionen,
mener Kontrollverlust verursacht eine Hormonausschüttung, die die oft bei Menschen gefunden werden können, die regelmäßig
die Gesundheit eines Menschen gefährdet. an Gottesdiensten teilnehmen.

13.16 Was ist die Verbindung zwischen der Grundeinstellung


zum Leben, sozialer Unterstützung, Stress und der Gesundheit?
Studien, die an Menschen mit einer optimistischen Grundein-
stellung durchgeführt wurden, zeigen, dass deren Blutdruck in
Reaktion auf Stress nicht so steil ansteigt, ihre Genesung nach
einer Bypass-Untersuchung am Herzen schneller verläuft und
872 Anhang

14 Persönlichkeit 14.6 Was sind projektive Tests, wie werden sie eingesetzt und
welche Kritikpunkte gibt es an diesen?
jPsychodynamische Theorien Projektive Tests zielen darauf ab, Persönlichkeit dadurch zu erfas-
14.1 Wie führten Sigmund Freuds Behandlungen psychischer sen, indem man Leuten undeutliche Stimuli zeigt, die viel Inter-
Störungen zu seiner Sichtweise über das Unbewusste? pretationsspielraum zulassen. Einer jener Tests, der Rorschach-
Als Arzt, der auf neurologische Störungen spezialisiert war, traf Test (»Tintenkleks-Test«) weist eine niedrige Reliabilität und
Freud auf Patienten, deren Beschwerden nicht durch rein körper- Validität auf.
liche Ursachen erklärt werden konnten. Freud schloss daraus,
dass jene Probleme inakzeptable Gedanken und Gefühle reflek- 14.7 Wie beurteilt die heutige Psychologie Freuds Psycho-
tieren, die im Unbewussten verborgen sind. Um diesen versteck- analyse?
ten Teil der Seele eines Patienten aufzudecken, bediente sich Sie rechnen Freud hoch an, das weitgehende Unbewusste in den
Freud der freien Assoziation und der Traumdeutung. Vordergrund gestellt zu haben, den Kampf, unsere Sexualität zu
beherrschen, den Konflikt zwischen biologischen Triebregungen
14.2 Wie betrachtete Freud Persönlichkeit? und sozialen Zwängen sowie einige Abwehrmechanismen (Ef-
Freud glaubte, dass Persönlichkeit das Produkt unbewusster fekt der Konsensüberschätzung, Projektion, Reaktionsbildung)
Konflikte zwischen den drei Instanzen der Seele ist: dem Es, und unbewusste Strategien des Terror-Managements. Doch sein
das nach maximalem Lustgewinn strebt, dem Ich, der realitäts- Konzept der Verdrängung und seine Ansicht des Unbewussten
orientierten Instanz, und dem Über-Ich, dem internalisierten als Sammlung unterdrückter und inakzeptabler Gedanken,
Wertesystem bzw. Gewissen. Wünsche, Gefühle und Erinnerungen entziehen sich der wissen-
schaftlichen Überprüfbarkeit. Freud lieferte nachträgliche Er-
14.3 Von welchen Entwicklungsphasen ging Freud aus? klärungen, die wissenschaftlich schwer zu überprüfen sind. Die
Freud war der Auffassung, dass Kinder psychosexuelle Phasen Forschung stützt nicht viele von Freuds spezifischen Ideen, wie
durchleben (die orale, die anale, die phallische, die Latenz- die Ansicht, dass die Entwicklung in der Kindheit abgeschlossen
periode und die genitale Phase). Eine Person, die Konflikte im wird (wir wissen, dass Entwicklung ein lebenslanger Prozess ist).
Zusammenhang mit einer psychosexuellen Phase nicht lösen
kann, kann auf diese Phase fixiert bzw. in ihr gefangen bleiben. 14.8 Wie hat die moderne Forschung unser Verständnis des Un-
bewussten geprägt?
14.4 Wie wehren sich Menschen, laut Freud, gegen Angst? Zwar bestätigt die aktuelle Forschung, dass uns der vollständige
Freud war der Überzeugung, das Ich verwende die Abwehr- Zugang zu allem, was sich in unserer Seele abspielt, fehlt, trotz-
mechanismen dazu, sich selbst vor Angst zu schützen, die als dem ist die derzeitige Meinung über das Unbewusste nicht die,
Nebenprodukt des Konflikts zwischen den konkurrierenden For- dass es sich dabei um einen versteckten Speicher voller unter-
derungen des Es und des Über-Ichs entsteht. Das Ich bewältige drückter Gedanken und Gefühle handelt. Forscher sehen das
diese durch unbewusste Abwehrmechanismen, wie der Verdrän- Unbewusste eher als separaten und parallelen Weg der Informa-
gung, welche er als grundlegenden Mechanismus ansah, der tionsverarbeitung, der außerhalb des Bewusstseins entlangläuft.
den anderen Abwehrmechanismen zu Grunde liege und diese Zum Beispiel durch Schemata, die unsere Wahrnehmung kon-
ermögliche. trollieren, Priming, das implizite Erinnern erlernter Fähigkeiten,
automatisch aktivierte Gefühle sowie Selbstkonzepte und Stereo-
14.5 Welche seiner Ideen verwarfen bzw. akzeptierten Freuds type, die Informationen über uns selbst und andere filtern.
Anhänger?
Freuds frühe Anhänger, die Neo-Freudianer, akzeptierten viele jHumanistische Theorien
seiner Ideen. Sie grenzten sich dadurch ab, indem sie mehr Ge- 14.9 Was verstanden humanistische Psychologen unter Persön-
wicht auf das Bewusste sowie auf soziale Motive legten als auf lichkeit und welches Ziel verbarg sich hinter deren Erforschung
Sexualität und Aggression. Die heutigen psychodynamischen von Persönlichkeit?
Theoretiker und Therapeuten lehnen einige Aspekte von Freuds Die Ansicht humanistischer Psychologen bezüglich Persönlichkeit
Theorie ab, so etwa den Gedanken, dass sexuelle Spannungen konzentrierte sich auf das Potenzial gesunden, persönlichen
zentral für die Ausbildung der Persönlichkeit sind. Sie sind aber Wachstums und das menschliche Streben nach Selbstbestim-
gemeinsam mit Freud der Auffassung, dass ein Großteil unseres mung und Selbstverwirklichung. Abraham Maslow behauptete,
Seelenlebens unbewusst ist, dass die Kindheit unsere Persönlich- dass menschliche Motivation eine Bedürfnishierarchie bilde.
keit und die Bindungsstile formt und dass wir innere Konflikte Insofern grundlegende Bedürfnisse befriedigt sind, werden
zwischen unseren Wünschen, Ängsten und Wertvorstellungen Menschen Selbstverwirklichung und Selbsttranszendenz an-
erleben. streben. Carl Rogers glaubte, dass die Merkmale einer wachs-
tumsförderlichen Umwelt Einzigartigkeit, Akzeptanz – darunter
873
A3 · Verständnisfragen und Antworten

unbedingte Wertschätzung – sowie Mitgefühl sind. Das Selbstkon- 14.15 Wird das Konzept der zeitlichen und situativen Stabilität
zept war für beide, Maslow und Rogers, ein zentrales Merkmal der Persönlichkeitsmerkmale durch die Forschung gestützt?
der Persönlichkeit. Die durchschnittlichen Merkmale einer Person sind zeitlich
stabil und sind über mehrere Situationen hinweg vorhersagbar.
14.10 Wie erfassten humanistische Psychologen die Selbstwahr- Dennoch können Merkmale Verhalten in einer bestimmten
nehmung einer Person? Situation nicht voraussagen.
Einige humanistische Psychologen lehnten jegliche standardi-
sierte Bewertung ab und verließen sich auf Interviews und Ge- jSozial-kognitive Theorien
spräche. Rogers bediente sich manchmal Fragebögen, in denen 14.16 Wer schlug zuerst eine sozial-kognitive Perspektive vor
er die Patienten ihr ideales sowie ihr tatsächliches Selbst be- und wie sehen jene Theoretiker die Entwicklung der Persön-
schreiben lies, um hierdurch später Fortschritte in der Therapie lichkeit?
zu beurteilen. Albert Bandura schlug zuerst die sozial-kognitive Perspektive
vor, die Persönlichkeit als Produkt der Interaktion zwischen Per-
14.11 Inwiefern haben humanistische Theorien die Psychologie sönlichkeitsmerkmalen, einschließlich dem Denken, und der
beeinflusst und welches sind die Kritikpunkte an ihnen? Situation – dem sozialen Kontext – versteht. Sozial-kognitive
Dank der humanistischen Psychologie wurde das Interesse der Forscher wenden Prinzipien des Lernens, der Kognition und
Psychologie am Selbst wieder neu geweckt. Die Kritiker dieses des Sozialverhaltens auf die Persönlichkeit an. Beim reziprokem
Ansatzes klagen jedoch darüber, dass die Konzepte verschwom- Determinismus handelt es sich um einen Begriff, der die Inter-
men und subjektiv sind; die Wertvorstellungen der humanisti- aktion und den wechselseitigen Einfluss von Verhalten, inter-
schen Psychologen seien individualistisch und auf das eigene nalen Persönlichkeitsfaktoren und Umweltfaktoren beschreibt.
Selbst zentriert, und die Annahmen der humanistischen Psycho- Indem sie untersuchen, wie sich Menschen bezüglich ihres »locus
logie seien in naiver Weise optimistisch. of control« (internale oder externale Kontrollüberzeugung) unter-
scheiden, haben Forscher herausgefunden, dass das Gefühl
jTrait-Theorien persönlicher Kontrolle Menschen hilft, mit ihrem Leben zurecht-
14.12 Wie bedienen sich Psychologen sog. Traits, um Persönlich- zukommen. Forschung über gelernte Hilflosigkeit entwickelte
keit zu beschreiben? sich zur Forschung über die Effekte von Optimismus und Pessi-
Trait-Theoretiker verstehen Persönlichkeit als stabiles, dauer- mismus, die wiederum zur positiven Psychologie führte.
haftes Verhaltensmuster. Sie bedienen sich lieber der Beschrei-
bung unserer Unterschiede als deren Erklärung. Mit Hilfe der 14.17 Wie erkunden sozial-kognitive Forscher Verhalten und
Faktorenanalyse identifizieren sie Gruppen von Verhaltens- mit welchen Kritikpunkten sind sie konfrontiert?
tendenzen, die gemeinsam auftreten. Genetische Prädisposi- Sozial-kognitive Forscher beobachten Menschen in realistischen
tionen haben einen Einfluss auf viele Traits. Situationen, weil sie herausgefunden haben, dass die beste
Möglichkeit, das Verhalten eines Menschen in einer bestimmten
14.13 Was sind Persönlichkeitsinventare und was sind deren Situation vorherzusagen, darin besteht, die Verhaltensmuster
Stärken und Schwächen in ihrer Funktion als Werkzeuge zur dieses Menschen in vergleichbaren Situationen zu beobachten.
Erfassung von Traits? Ihnen wurde vorgeworfen, dieser Ansatz unterschätze die Be-
Bei den Persönlichkeitsinventaren, wie dem MMPI, handelt es sich deutung der unbewussten Dynamik, der Emotionen und der
um Fragebögen, in denen Personen Items beantworten. Diese biologisch beeinflussten Merkmale. Diese entgegnen wiederum,
sind dazu konstruiert worden, um einen breiten Bereich an Ge- dass die sozial-kognitive Perspektive auf den in der Psychologie
fühlen und Verhaltensweisen zu messen. Testitems sind empirisch gut begründeten Konzepten der Kognition und des Lernens auf-
abgeleitet und die Tests werden objektiv ausgewertet. Dennoch baue und uns an die Macht der Situation erinnere.
können Personen ihre Antworten verfälschen um einen guten
Eindruck zu machen und die Einfachheit computergestützter jDas Selbst
Testverfahren könnte zum Missbrauch der Tests führen. 14.18 Wieso hat die Psychologie so viel Forschung über das
Selbst hervorgebracht? Wie wichtig ist das Selbstwertgefühl für
14.14 Welche Traits scheinen die brauchbarste Information über die Psychologie und das menschliche Wohlbefinden?
Persönlichkeitsvarianten bereit zu stellen? Das Selbst ist das Zentrum unserer Persönlichkeit, das unsere
Die Big-Five-Persönlichkeitsfaktoren – Gewissenhaftigkeit, Ver- Gedanken, Gefühle und Handlungen organisiert. Sich »mögliche
träglichkeit, Neurotizismus, Offenheit für Erfahrung und Extra- Selbste« vorzustellen, dient uns als Motivator für eine positive
version – bilden derzeit am deutlichsten Persönlichkeit ab. Diese Entwicklung. Doch wenn wir uns zu sehr auf uns selbst konzen-
Faktoren erweisen sich als stabil und sind in allen Kulturen zu trieren, kann dies zum Spotlight-Effekt führen. Ein starkes Selbst-
finden. wertgefühl (das Gefühl für das, was man wert ist) ist zwar von
874 Anhang

Vorteil, dennoch ist ein unrealistisch starkes Selbstwertgefühl Einstellungen und unser Verhalten nicht übereinstimmen, wer-
gefährlich (es steht in Zusammenhang mit aggressivem Verhal- den wir laut der Theorie der kognitiven Dissonanz unsere Ein-
ten) und erweist sich als zerbrechlich. stellungen, um Spannungen zu reduzieren, so ändern, dass sie zu
unserem Verhalten passen.
14.19 Wie zeigt sich die selbstwertdienliche Verzerrung und wie
unterscheiden sich das defensive und das sichere Selbstwert- jSozialer Einfluss
gefühl? 15.3 Was ist automatische Mimikry? Wie können Experimente
Zur selbstwertdienlichen Verzerrung (unsere Bereitschaft, uns zur Konformität die Macht von sozialem Einfluss demonstrieren?
selbst in einem günstigen Licht zu sehen) gehören Tendenzen, Automatische Mimikry (der Chamäleon-Effekt) besteht in unse-
(1) bereitwilliger die Verantwortung für gute Taten und für Er- rer Neigung, die Ausdrucksweise, Haltung oder Stimmlage von
folge zu übernehmen als für böse Taten und für Misserfolge und Menschen aus unserer Umgebung unbewusst nachzuahmen,
(2) uns selbst für besser zu halten als den Durchschnitt. Das de- und stellt eine Form von Konformität dar.
fensive Selbstwertgefühl ist etwas Zerbrechliches, und es nimmt Solomon Asch und andere Forscher fanden heraus, dass wir
die Form des Egoismus an, der sich darauf konzentriert, sich unser Verhalten oder unsere Gedanken am ehesten dem Grup-
selbst aufrechtzuerhalten, koste es, was es wolle. Ein sicheres penstandard anpassen, wenn (a) wir uns inkompetent oder
Selbstwertgefühl ist weniger zerbrechlich und hängt weniger unsicher fühlen, (b) die Gruppe aus mindestens drei Personen
stark von äußeren Bewertungen ab. besteht, (c) alle anderen einer Meinung sind, (d) wir den Status
und die Attraktivität der Gruppe bewundern, (e) wir uns vorher
nicht auf eine Reaktion festgelegt haben, (f) wir wissen, dass
15 Sozialpsychologie wir beobachtet werden, und (g) wir aus einer Kultur stammen,
die die Einhaltung der Gruppennorm in starkem Maße fördert.
jSoziales Denken Wir stimmen möglicherweise entweder zu, um gesellschaftliche
15.1 Was erforschen Sozialpsychologen? Wie erklären wir das Anerkennung zu bekommen (normativer gesellschaftlicher Ein-
Verhalten anderer und unser eigenes? fluss) oder weil wir offen sind für die Informationen, die wir von
Sozialpsychologen konzentrieren sich darauf, wie Menschen über anderen erhalten (informationaler gesellschaftlicher Einfluss).
andere denken, wie sie einander beeinflussen und wie sie in Be-
ziehung zueinander stehen. Sie studieren soziale Einflüsse, die 15.4 Was lehrten uns die Experimente von Milgram zum Gehor-
erklären können, wieso dieselbe Person in verschiedenen Situa- sam über die Macht von sozialen Einflüssen?
tionen unterschiedlich handelt. Wenn wir das Verhalten anderer Stanley Milgrams Experimente – in denen Menschen sogar Be-
erklären, kann es sein, dass wir den fundamentalen Attributions- fehlen gehorchten, wenn sie dachten, sie würden einem anderen
fehler begehen: Wir unterschätzen den Einfluss der Situation und schaden – zeigten, dass starke soziale Einflüsse Menschen dazu
überschätzen die Effekte der Persönlichkeit des Betreffenden. bringen können, falschen Aussagen zuzustimmen oder vor der
Unser eigenes Verhalten erklären wir viel häufiger durch den Grausamkeit zu kapitulieren. Die Teilnehmer am Experiment
Einfluss der Situation. gehorchten mit der größten Wahrscheinlichkeit, (a) wenn sich
die Person, die die Befehle gab, direkt nebenan befand und als
15.2 Beeinflussen unsere Gedanken unser Handeln oder beein- eine legitime Autoritätsperson wahrgenommen wurde; (b) wenn
flussen unsere Handlungen, was wir denken? die Person, die die Befehle gab, durch eine prestigeträchtige Ins-
Einstellungen sind Gefühle aufgrund von Überzeugungen, die titution unterstützt wurde; (c) wenn das Opfer depersonalisiert
uns dafür prädisponieren, in bestimmter Weise zu reagieren. Die wurde und sich in einer bestimmten Entfernung befand; und (d)
periphere Route der Überzeugung bewirkt mit zufälligen Hin- wenn keine andere Person als Modell für Ungehorsam zur Ver-
weisen (so wie prominente Unterstützung), schnelle, aber auch fügung stand.
unbedachte Einstellungsänderungen. Die zentrale Route der
Überzeugung stellt Beweise und Argumente zur Verfügung, um 15.5 Wie wird unser Verhalten durch die Anwesenheit anderer
gut durchdachte Reaktionen hervorzurufen. Wenn andere Ein- beeinflusst?
flüsse gering sind, werden Einstellungen, die stabil und spezifisch Bei sozialer Erleichterung steigert die bloße Anwesenheit anderer
sind und uns leicht in den Sinn kommen, unser Verhalten beein- unsere Erregung und lässt gewöhnlich die Leistung bei leichten
flussen. oder gut erlernten Aufgaben ansteigen, aber bei schwierigen
Verhalten kann auch Einstellungen ändern, so wie bei der auch abnehmen.
Foot-in-the-Door-Technik (bei der man einer großen Forderung Bei der Teilnahme an einem Gruppenprojekt kann man sich
zustimmt, nachdem man einer kleineren zugestimmt hat) oder weniger verantwortlich für den Erfolg fühlen, was zu sozialem
bei Rollenverhalten (man spielt eine soziale Rolle, indem man Faulenzen führt: Man betätigt sich auf Kosten anderer als Tritt-
sich entsprechend bestimmer Richtlinien verhält). Wenn unsere brettfahrer.
875
A3 · Verständnisfragen und Antworten

Wenn die Anwesenheit anderer uns gleichzeitig erregt und 15.9 Inwiefern unterscheidet sich die psychologische Definition
uns ein Gefühl von Anonymität gibt, kommt es zu Deindividua- von Aggression von der Verwendung des Begriffs im Alltag?
tion: Man ist sich seiner selbst weniger bewusst und zeigt weniger Welche biologischen Faktoren bringen uns dazu, anderen weh-
Selbstbeherrschung. zutun?
In der Psychologie gilt als Aggression jedes physische oder ver-
15.6 Was ist Gruppenpolarisierung, was Gruppendenken? Wie bale Verhalten, mit dem die Absicht verfolgt wird zu verletzen
viel Macht haben wir als Individuen? oder zu zerstören. Die Biologie beeinflusst unsere Hemmschwel-
In Gruppen kommt es durch Diskussionen unter gleichgesinnten le für aggressives Verhalten auf drei Ebenen: genetisch (geerbte
Gruppenmitgliedern oft zu einer Gruppenpolarisierung, einer Eigenschaften), neuronal (Aktivität in Kernbereichen des Ge-
Bekräftigung der in der Gruppe vorherrschenden Meinungen. hirns) und biochemisch (beispielsweise Alkohol oder über-
Das Internet als Kommunikationsmedium verstärkt diesen Ef- schüssiges Testosteron im Blutkreislauf). Aggression ist ein
fekt – mit positiven und negativen Effekten. Gruppendenken tritt komplexes Verhalten, bedingt durch die Interaktion von Biologie
bei der Entscheidungsfindung innerhalb einer Gruppe auf, in der und Erfahrung.
ein großes Harmoniebedürfnis herrscht, sodass die realistische
Bewertung von Alternativen vernachlässigt wird. 15.10 Welche psychologischen und soziokulturellen Faktoren
Die Macht des Individuums und die der Situation interagie- können aggressives Verhalten auslösen?
ren. Eine kleine Minderheit, die konsistent ihre Meinung kund- Frustration (Frustrations-Aggressions-Prinzip), die vorherige
tut, kann die Mehrheit überzeugen. Verstärkung von aggressivem Verhalten und die Beobachtung
eines aggressiven Vorbildes können zur Entstehung von Aggres-
jSoziale Beziehungen sion beitragen. Durch die Darstellung von Gewalt in den Medien
15.7 Was sind Vorurteile? Welche sozialen und emotionalen lernen Kinder, sozialen Skripten zu folgen. Das Betrachten sexu-
Wurzeln haben sie? eller Gewalt führt zu stärkerer Aggression gegenüber Frauen.
Vorurteile sind ungerechtfertigte und in der Regel negative Der Gebrauch von Gewaltvideospielen zieht erhöhte aggressive
Einstellungen gegenüber einer Gruppe und ihren Mitgliedern. Gedanken, Gefühle und Verhaltensweisen nach sich.
Vorurteile bestehen aus drei Komponenten: Überzeugungen
(meistens Stereotype), Emotionen und Handlungsbereitschaften 15.11 Wieso freunden wir uns mit bestimmten Personen an oder
(Diskriminierung). Offenes Zeigen von Vorurteilen hat in den verlieben uns in sie, aber nicht in andere?
USA abgenommen, doch implizite Vorurteile, also automatische, Nähe (geografische Nähe) erhöht die Zuneigung – zum Teil auf-
unbedachte Einstellungen, herrschen weiterhin vor. Die sozialen grund des Mere-Exposure-Effekts: Die Darbietung neuer Reize
Wurzeln von Vorurteilen sind unter anderem Ungleichheit und trägt dazu bei, dass man sie mag. Physische Attraktivität erhöht
das Vorhandensein unterschiedlicher gesellschaftlicher Grup- die Chance, Kontakte zu knüpfen, und wir werden positiver wahr-
pierungen. Gruppen mit hohem Status rechtfertigen ihre privi- genommen. Vor allem bei der Entwicklung von Beziehungen wird
legierte Position oft mit dem Phänomen der gerechten Welt. Wir Zuneigung durch gemeinsame Einstellungen und Interessen ge-
trennen in »wir« (Eigengruppe) und »sie« (Fremdgruppe) und fördert. Außerdem mögen wir die Menschen, die uns mögen.
tendieren dazu, unsere eigene Gruppe zu bevorzugen (Eigen-
gruppen-Verzerrung). Vorurteile können auch dazu dienen, 15.12 Wie verändert sich romantische Liebe im Laufe der Zeit?
unser emotionales Gleichgewicht zu beschützen, wenn wir bei- Zu Beginn intimer Liebesbeziehungen steht leidenschaftliche
spielsweise unseren Ärger auf einen Sündenbock richten können, Liebe – ein Zustand intensiver Erregung. Mit der Zeit entwickelt
dem wir die Schuld an problematischen Ereignissen geben. sich die tiefe Zuneigung der kameradschaftlichen Liebe, vor allem
wenn dies durch eine gleichberechtigte Beziehung und tiefgehen-
15.8 Was sind die kognitiven Wurzeln von Vorurteilen? de Selbstoffenbarung gefördert wird.
Die kognitiven Wurzeln von Vorurteilen erwachsen aus der Art,
wie wir von Natur aus Informationen verarbeiten: Wir kategori- 15.13 Wann ist es am wahrscheinlichsten bzw. am unwahr-
sieren, erinnern uns vor allem an beeindruckende Fälle und glau- scheinlichsten, dass Menschen helfen?
ben an eine gerechte Welt und daran, dass wir selbst bzw. unsere Altruismus ist das selbstlose Interesse am Wohlergehen anderer.
Kultur Dinge auf die einzig richtige Art lösen. Es ist am wahrscheinlichsten, dass wir helfen, wenn (a) wir einen
Vorfall bemerken, (b) ihn als Notfall interpretieren und (c) Ver-
antwortung übernehmen zu helfen. Andere Faktoren, wie unsere
Stimmung und unsere Ähnlichkeit zum Opfer, beeinflussen
ebenfalls unsere Hilfsbereitschaft. Am unwahrscheinlichsten hel-
fen wir, wenn andere Zuschauer anwesend sind (der Zuschauer-
effekt).
876 Anhang

15.14 Wie erklären die Theorie des sozialen Austauschs und so- 16.3 Wie erklären das medizinische Modell und der biopsycho-
ziale Normen Hilfeverhalten? soziale Ansatz psychische Störungen?
Nach der Theorie des sozialen Austauschs helfen wir anderen aus Das medizinische Modell geht davon aus, dass es sich bei psychi-
Eigeninteresse; dieser Ansicht nach ist das Ziel von sozialem Ver- schen Störungen um seelische Erkrankungen mit physischen
halten, den persönlichen Nutzen zu maximieren und Kosten zu Ursachen handelt, die aufgrund ihrer Symptome diagnostiziert,
reduzieren. Andere sind der Meinung, dass wir sozialisiert sind behandelt und in den meisten Fällen mit Hilfe einer Therapie
zu helfen: Wir lernen Richtlinien dafür, welches Verhalten in geheilt werden können, dies passiert manchmal in einem Kran-
sozialen Situationen erwartet wird (z. B. Reziprozitätsnorm und kenhaus. Das biopsychosoziale Modell geht davon aus, dass bei
Norm der sozialen Verantwortung). der Entstehung von spezifischen psychischen Störungen drei
Systeme interagieren: das biologische System (Evolution, Gene-
15.15 Wie können soziale Fallen und spiegelbildliche Wahrneh- tik, Hirnstrukturen und Chemie), das psychologische System
mung soziale Konflikte anheizen? (Stress, Trauma, erlernte Hilflosigkeit, stimmungsabhängige
Ein Konflikt ist eine wahrgenommene Unvereinbarkeit von Wahrnehmungen und Erinnerungen) und das soziokulturelle
Handlungen, Zielen oder Ideen. Soziale Fallen sind Situationen, System (Rollen, Erwartungen, Definitionen von »Normalität«
in denen die am Konflikt beteiligten Personen ihre eigenen Inte- und »Störung«)
ressen verfolgen und so das kollektive Wohlbefinden mindern.
Individuen und Kulturen bilden in Konflikten oft spiegelbild- 16.4 Wie und warum klassifizieren Kliniker psychische Stö-
liche Wahrnehmungen: Jede Partei nimmt den Gegner als nicht rungen?
vertrauenswürdig wahr und unterstellt ihm böse Absichten, Das DSM-IV-TR (Diagnostisches und Statistisches Manual Psychi-
während sie sich selbst als moralisch einwandfreies, friedfertiges scher Störungen) der American Psychiatric Association beinhal-
Opfer sieht. tet diagnostische Bezeichnungen und Beschreibungen, die eine
gemeinsame Sprache und gemeinsame Konzepte für Kommuni-
15.16 Wie können wir Vorurteile, Aggression und Konflikte in kation und Forschung darstellen. (DSM-V wird DSM-IV-TR bald
friedensfördernde Einstellungen umwandeln? ersetzen und erneuern.) Einige Kritiker denken, dass das DSM
Frieden kann entstehen, wenn Individuen oder Gruppen zusam- zu detailliert und umfangreich geworden ist. Die meisten Kran-
menarbeiten, um übergeordnete (geteilte) Ziele zu erreichen. kenversicherungen Nordamerikas fordern DSM-/ICD-Diagno-
Forschungsergebnisse zeigen vier Prozesse, die Frieden fördern sen, bevor sie die Kosten einer Therapie erstatten.
können: Kontakt, Zusammenarbeit, Kommunikation und Ver-
söhnung. 16.5 Warum kritisieren einige Psychologen die Verwendung
diagnostischer Etikettierungen?
Manche Kritiker sehen die DSM-Diagnosen als willkürliche Eti-
16 Klinische Psychologie: kettierungen, die Vorurteile schaffen, welche die Wahrnehmung
Psychische Störungen des vergangenen und aktuellen Verhaltens der etikettierten Per-
son verfälschen. Die Etikettierung »psychische Krankheit« wirft
jAspekte psychischer Störungen moralische und ethische Fragen darüber auf, ob die Gesellschaft
16.1 Wo ist die Grenze zwischen Normalität und Störung? Menschen mit Störungen zur Verantwortung ziehen soll für ihre
Psychologen und Psychiater sehen ein Verhalten als gestört an, Gewalttaten. Die meisten Menschen mit Störungen sind nicht
wenn es abweichend, belastend und dysfunktional ist. Die De- gewalttätig und sind eher Opfer als Täter.
finition dessen, was abweichend ist, variiert je nach Kontext,
Kultur und Zeitalter. jAngststörungen
16.6 Welches sind die verschiedenen Angststörungen?
16.2 Warum gibt es eine Kontroverse über die Aufmerksamkeits- Ängstliche Gefühle und Verhaltensweisen werden nur dann als
defizit-Hyperaktivitätsstörung? Angststörung klassifiziert, wenn sie Leidensdruck verursachen
Ein 7-jähriges Kind, das extreme Unaufmerksamkeit, Hyper- oder persistieren oder wenn sie charakterisiert sind durch ein
aktivität und Impulsivität zeigt, könnte die Diagnose einer Auf- unangemessenes Verhalten, das auf den Abbau der Angst aus-
merksamkeitsdefizit-Hyperaktivitätsstörung (ADHS) bekommen gerichtet ist. Menschen mit einer generalisierten Angststörung
und mit Medikamenten oder anderen Therapien behandelt wer- fühlen sich ohne ersichtlichen Grund ständig und unkontrollier-
den. Die Diskussion fokussiert sich darauf, ob die wachsende bar angespannt und besorgt. Bei der extremeren Panikstörung
Anzahl an ADHS-Fällen eine Überdiagnostizierung oder eine eskaliert die Angst und wird zu periodischen Episoden von in-
gesteigerte Aufmerksamkeit bezüglich der Störung widerspiegelt. tensivem Schrecken. Die Betroffenen einer Phobie fürchten sich
Langzeitfolgen der Behandlung durch Stimulanzien bei ADHS auf irrationale Weise vor einem spezifischen Objekt oder einer
sind noch nicht bekannt. Situation. Anhaltende und wiederkehrende Gedanken und
877
A3 · Verständnisfragen und Antworten

Handlungen sind kennzeichnend für die Zwangsstörung. Symp- Risiko für Suizid als andere, aber gesellschaftliche Anforderun-
tome einer posttraumatischen Belastungsstörung umfassen 4 Wo- gen, Gesundheitsstatus und wirtschaftliche und soziale Frustra-
chen oder mehr voller lauernder Erinnerungen, Albträume, so- tion sind ebenfalls Faktoren, die eine Rolle spielen. Nichtsuizida-
zialem Rückzug, frei flottierender Angst und Schlafproblemen, les selbstverletzendes Verhalten führt normalerweise nicht zu
die auf eine traumatische Erfahrung folgen. Suizid, aber es kann eskalieren und zu suizidalen Gedanken und
Handlungen führen, wenn es nicht behandelt wird. Menschen,
16.7 Wie erklären lerntheoretische und biologische Perspektiven die zu selbstverletzendem Verhalten greifen, können Belastun-
Angststörungen? gen schlecht ertragen und tendieren zu Selbstkritik und schlech-
Der lerntheoretische Ansatz sieht die Angststörung als Produkt ter Kommunikation und Problemlösefähigkeiten. Umweltbar-
aus Angstkonditionierung, Reizgeneralisierung, Verstärkung rieren (z. B. Geländer) sind effektiv, um Suizid vorzubeugen.
furchtvoller Verhaltensweisen und Lernen durch Beobachtung Warnhinweise für Suizid umfassen verbale Hinweise, Weggeben
der Angst und der Kognitionen (Interpretationen, irrationale von persönlichen Dingen, Rückzug, Beschäftigung mit dem Tod
Überzeugungen und Hypervigilanz) anderer. Der biologische und Gespräche über den eigenen Suizid.
Ansatz beschäftigt sich mit der Rolle, die die Angst vor lebens-
bedrohlichen Tieren, Objekten oder Situationen bei der natür- jSchizophrenie
lichen Selektion und Evolution gespielt hat, mit der genetischen 16.11 Welche Muster des Denkens, Wahrnehmens, Fühlens und
Vererbung eines hohen Maßes an emotionaler Reaktionsbereit- Verhaltens charakterisieren die Schizophrenie?
schaft und der Produktion von Neurotransmittern und mit ab- Die Schizophrenie ist eine Gruppe von Störungen, die typischer-
normen Reaktionen in den Angstkreisläufen des Gehirns. weise in der späten Adoleszenz auftreten, Männer ein wenig
mehr betreffen als Frauen und die es in allen Kulturen zu geben
jAffektive Störungen scheint. Die Symptome der Schizophrenie sind desorganisiertes
16.8 Was sind affektive Störungen? Wie unterscheiden sich und wahnhaftes Denken, gestörte Wahrnehmungen und unan-
Major Depression und bipolare Störung? gemessene Emotionen und Handlungen. Wahnvorstellungen
Affektive Störungen sind durch emotionale Extreme charakte- sind falsche Überzeugungen; Halluzinationen sind sensorische
risiert. Ein Mensch mit einer Major Depression erlebt 2 Wochen Erlebnisse ohne eine sensorische Stimulation.
lang oder länger schwer depressive Stimmungen und Gefühle der
Wertlosigkeit, zeigt wenig Interesse und wenig Freude an den 16.12 Welches sind die Subtypen der Schizophrenie? Wie unter-
meisten Aktivitäten. Menschen mit einer seltener auftretenden scheiden sich chronische und akute Schizophrenie?
bipolaren Störung wechseln zwischen Depression und Manie, Die Symptome der Schizophrenie können positiv (Vorhanden-
einer hyperaktiven und unbezähmbar optimistischen, impul- sein unangemessenen Verhaltens) oder negativ (Abwesenheit
siven Phase. angemessener Verhaltensweisen) sein. Die Subtypen sind der
paranoide, desorganisierte, katatonische, undifferenzierte und
16.9 Wie erklären biologische und sozial-kognitive Ansätze residuale Typus. Eine chronische (oder Prozess-)Schizophrenie
affektive Störungen? entwickelt sich allmählich und hat eine geringe Chance auf
Der biologische Ansatz zur Erforschung der Depression konzen- Heilung. Eine akute (oder reaktive) Schizophrenie entwickelt
triert sich auf genetische Prädispositionen. Forscher, die diesen sich schnell (oft in Reaktion auf Stress) und hat eine bessere
Ansatz verfolgen, untersuchen auch Abnormitäten in der Struk- Chance auf Heilung.
tur und der Funktion des Gehirns; dazu gehören auch diejenigen,
die man im Neurotransmittersystem findet. Der sozial-kognitive 16.13 Wie helfen Gehirnanomalien und virale Infektionen,
Ansatz sieht die Depression als fortlaufenden Kreislauf belas- Schizophrenie zu erklären?
tender Erlebnisse (interpretiert durch negative Überzeugungen, Menschen mit Schizophrenie haben eine erhöhte Anzahl von
Ursachenzuschreibungen und Erinnerungen), der zu negativen Rezeptoren für den Neurotransmitter Dopamin, der eventuell
Stimmungen und Handlungen führt und neue belastende Erfah- Hirnsignale verstärkt, und so die Positivsymptome der Schizo-
rungen hervor ruft. phrenie, wie Halluzinationen und Paranoia, stärker werden lässt.
Hirnabnormitäten, die mit Schizophrenie einhergehen, umfas-
16.10 Welche Faktoren beeinflussen Suizid und selbstverletzen- sen vergrößerte, flüssigkeitsgefüllte zerebrale Hohlräume und
des Verhalten, und was sind einige der wichtigen Warnhinweise, eine entsprechende Abnahme der Größe des Kortex. Schichtauf-
auf die in der Prävention eines Suizides geachtet werden sollte? nahmen vom Gehirn zeigen eine abnorme Aktivität in den Fron-
Suizidraten unterscheiden sich je nach Nation, Rasse, Geschlecht, tallappen, im Thalamus und in der Amygdala. Interagierende
Altersgruppe, Einkommen, religiöser Überzeugung, Beziehungs- Fehlfunktionen in mehreren Hirnregionen und ihren Verbin-
status und (für homosexuelle Jugendliche) der Struktur sozialer dungen spielen offensichtlich bei der Entstehung der schizophre-
Unterstützung. Menschen mit Depressionen haben ein höheres nen Symptome zusammen. Mögliche Einflussfaktoren umfassen
878 Anhang

eine Viruserkrankung oder Nährstoffknappheit in der Schwan- ein geringes Selbstwertgefühl und negative Emotionen mit belas-
gerschaft, ein niedriges Geburtsgewicht oder Sauerstoffmangel tenden Lebenserfahrungen und genetischen Prädispositionen zu
während der Geburt und mütterliche Diabetes oder ein höheres interagieren; das alles führt zu diesen Störungen.
Alter des Vaters.
16.17 Was sind die drei Cluster der Persönlichkeitsstörungen?
16.14 Gibt es genetische Einflüsse auf die Schizophrenie? Welche Welches Verhalten und welche Gehirnaktivität charakterisieren
Faktoren könnten frühe Warnsignale für Schizophrenie bei Kin- die antisoziale Persönlichkeit?
dern sein? Persönlichkeitsstörungen sind störende, unflexible und über-
Zwillings- und Adoptionsstudien weisen darauf hin, dass die dauernde Verhaltensmuster, die die soziale Funktionsfähigkeit
Prädisposition für Schizophrenie vererbt ist, und Umweltfakto- beeinträchtigen. Die Störung bildet drei Cluster, die auf den
ren beeinflussen die Genexpression, um die Störung zu ermögli- Hauptkomponenten basieren: (1) Angst, (2) exzentrisches oder
chen. Dies ist weltweit belegt. Es gibt keine Umweltbedingungen seltsames Verhalten (3), dramatisches oder impulsives Verhalten.
die unweigerlich Schizophrenie erzeugen. Mögliche Frühwarn- Die antisoziale Persönlichkeitsstörung ist gekennzeichnet durch
signale einer späteren Schizophrenie können sowohl biologische ein schwach ausgebildetes Gewissen und manchmal durch ag-
Faktoren sein (eine Mutter mit schwerer und langanhaltender gressives und rücksichtsloses Verhalten. Eine genetische Prädis-
Schizophrenie; Sauerstoffmangel und niedriges Gewicht bei der position kann in Wechselwirkung mit Umwelteinflüssen treten
Geburt; kurze Aufmerksamkeitsspanne und schwache Muskel- und so vermutlich die veränderte Gehirnaktivität hervorrufen,
koordination) als auch psychologische Faktoren (störendes oder die assoziiert ist mit der antisozialen Persönlichkeitsstörung.
zurückgezogenes Verhalten; emotionale Unvorhersagbarkeit;
schwache Beziehungen zu Gleichaltrigen und alleine spielen). jPrävalenz psychischer Störungen
16.18 Wie viele Menschen leiden oder litten an einer psychi-
jAndere Störungen schen Störung? Ist Armut ein Risikofaktor?
16.15 Was sind dissoziative Störungen, und warum sind sie um- Die Prävalenz psychischer Störungen variiert in der Abhängig-
stritten? keit von der Zeit und des Ortes der Erhebung. In einer multi-
Dissoziative Störungen sind Zustände, bei denen das Bewusst- nationalen Befragung schwankten die Prävalenzen für alle psy-
sein anscheinend von früheren Erinnerungen, Gedanken und chischen Störungen zwischen unter 5% (Shanghai) und mehr als
Gefühlen abgetrennt wird. Die bekannteste dissoziative Störung 25% (USA). Armut ist ein Risikofaktor für eine psychische
ist die dissoziative Identitätsstörung, früher allgemein bekannt Erkrankung. Die Lebensumstände und die Erfahrungen im Zu-
als multiple Persönlichkeitsstörung. Kritiker merken an, dass die sammenhang mit Armut tragen etwas zur Entwicklung psychi-
Diagnose gegen Ende des 20. Jahrhunderts in dramatischer Form scher Störungen bei, aber auch das Umgekehrte trifft zu. Einige
zugenommen hat, dass sie in vielen Ländern nicht vorkommt, in psychische Störungen, wie etwa die Schizophrenie, treiben Men-
anderen sehr selten ist und dass in ihr ein Rollenspiel von Men- schen in die Armut.
schen zum Ausdruck kommt, die gegenüber den Suggestionen
von Therapeuten sehr offen sind. Manche betrachten diese Stö-
rung als eine Manifestation von Angstgefühlen oder als eine Re- 17 Klinische Psychologie: Therapie
aktion, die gelernt wurde, als dissoziative Verhaltensweisen
durch den Abbau von Angstgefühlen verstärkt wurden. jBehandlung psychischer Störungen
17.1 Wie unterscheiden sich Psychotherapie, die biomedikamen-
16.16 Inwiefern zeigen Anorexia nervosa, Bulimia nervosa und töse Therapie und ein eklektischer Ansatz?
die Binge-Eating-Störung den Einfluss psychologischer Kräfte? Psychotherapie ist eine Behandlung, die psychologische Tech-
Bei diesen Essstörungen bringen psychische Faktoren den ho- niken beinhaltet. Sie besteht aus Interaktionen zwischen einem
möostatischen Antrieb durcheinander, einen ausbalancierten ausgebildeten Therapeuten und jemandem, der psychologische
inneren Zustand aufrechtzuerhalten. Menschen mit Anorexia Schwierigkeiten überwinden oder persönliches Wachstum er-
nervosa (gewöhnlich Mädchen im Jugendalter) sind deutlich reichen will. Die bedeutendsten Psychotherapien stammen ab
untergewichtig, setzen aber ihre Diät fort, weil sie sich selbst zu von der psychodynamischen, der humanistischen, der verhal-
dick finden. Personen mit Bulimia nervosa (vorwiegend weiblich tensbezogenen und der kognitiven Perspektive der Psychologie.
im Alter zwischen 10 und 30) haben heimlich Fressattacken und Die biomedikamentöse Therapie behandelt psychische Störun-
kompensieren diese dann durch Erbrechen, den Gebrauch von gen mit Medikamenten oder Verfahren, die direkt auf das Ner-
Abführmitteln, Fasten oder exzessives Training. Personen mit vensystem des Patienten einwirken. Ein eklektischer Ansatz
einer Binge-Eating-Störung haben zwar Fressattacken, kompen- kombiniert Techniken verschiedener Therapieformen.
sieren diese dann aber nicht durch Erbrechen, Abführmittel, Fas-
ten oder Training. Zusätzlich zum kulturellen Druck scheinen
879
A3 · Verständnisfragen und Antworten

jPsychotherapien tionen auf alte Reize hervorzurufen, die ungewollte Verhaltens-


17.2 Welches sind die Ziele und Techniken der Psychoanalyse weisen auslösen.
und wie wurden sie in der psychodynamischen Therapie an-
gepasst? 17.5 Was ist die Grundannahme der Verhaltensmodifikation,
Durch die Psychoanalyse versuchte Sigmund Freud den Patienten und was sind die Auffassungen der Befürworter und der Kritiker
Selbsteinsicht und die Verbesserung ihrer Störungen zu bieten, dieses Ansatzes?
indem er mit Angst verbundene Gefühle und Gedanken in die Therapien, die auf den Prinzipien der operanten Konditionie-
bewusste Wahrnehmung brachte. Die Techniken schlossen die rung basieren, nutzen Verhaltensmodifikationstechniken, um
Nutzung der freien Assoziation ein, außerdem die Deutung von ungewünschte Verhaltensweisen zu verändern, indem erwünsch-
Widerständen und die Übertragung. Die heutige psychodynami- tes Verhalten positiv verstärkt und unerwünschtes Verhalten
sche Therapie wurde von der traditionellen Psychoanalyse beein- ignoriert oder bestraft wird. Kritiker behaupten (1) dass Techni-
flusst, aber sie ist kürzer, weniger teuer und sie konzentriert sich ken wie die, die in Tokensystemen genutzt werden, Verhaltens-
mehr darauf, dem Klienten zu helfen, aktuelle Symptome zu ver- änderungen hervorrufen können, die wieder verschwinden,
mindern. Therapeuten helfen den Klienten, ihre vergangenen wenn es keine Belohnung mehr dafür gibt und, dass es (2) auto-
und aktuellen Beziehungsthemen zu verstehen. Die interperso- ritär und unethisch ist, zu entscheiden, welche Verhaltensweisen
nale Therapie ist eine Kurzzeittherapie mit 12–16 Sitzungen und sich ändern sollten. Befürworter argumentieren, dass eine Be-
eine Variante der psychodynamischen Therapie, die sich bei der handlung mit positiven Belohnungen menschlicher ist, als Men-
Behandlung der Depression als wirkungsvoll erwies. schen zu bestrafen oder sie in einer Institution unterzubringen,
weil sie unerwünschtes Verhalten zeigen.
17.3 Was sind die grundlegenden Themen der humanistischen
Therapie? Welches sind die speziellen Ziele und Techniken der 17.6 Welches sind die Ziele und Techniken der kognitiven The-
klientenzentrierten Therapie nach Carl Rogers? rapie und der kognitiven Verhaltenstherapie?
Sowohl die psychoanalytische als auch die humanistische Thera- Die kognitiven Therapien, wie die kognitive Therapie bei Depres-
pie sind Einsichttherapien – sie versuchen das Funktionieren der sionen von Aaron Beck, nehmen an, dass unser Denken unsere
Patienten zu verbessern, indem sie das Bewusstsein der Patienten Gefühle beeinflusst und dass es die Rolle des Therapeuten ist,
für Motive und Abwehrverhalten verbessern. Die humanistische das selbstzerstörerische Denken des Patienten zu ändern, indem
Therapie hat das Ziel, den Patienten dabei zu helfen in ihrer er ihn darin schult, sich selbst positiver zu sehen. Die rational-
Selbstwahrnehmung und Selbstakzeptanz zu wachsen; es geht emotive Verhaltenstherapie ist eine konfrontative kognitive The-
also um das Unterstützen von persönlichem Wachstum anstatt rapie, die energisch unlogische Annahmen in Frage stellt. Die gut
darum, eine Krankheit zu heilen; darum, den Klienten zu helfen, durch Forschung belegte und angewandte kognitive Verhaltens-
Verantwortung für ihr eigenes Wachstum zu übernehmen; sich therapie verbindet die kognitive Therapie und die Verhaltensthe-
auf bewusste Gedanken zu konzentrieren anstatt auf unbewusste rapie, indem den Klienten dabei geholfen wird, in ihrem Alltag
Beweggründe; und die Gegenwart und die Zukunft als wichtiger regelmäßig auf ihre neuen Arten zu denken und zu sprechen.
zu sehen als die Vergangenheit.
Bei Carl Rogers klientenzentrierter Therapie sind die wich- 17.7 Welches sind die Ziele und die Vorteile der Gruppenthera-
tigsten Beiträge der Therapeuten, durch aktives Zuhören als psy- pie und der Familientherapie?
chologischer Spiegel zu wirken und eine wachstumsunter- Eine Gruppentherapiesitzung kann mehr Menschen helfen und
stützende Umgebung bedingungsloser positiver Wertschätzung zu pro Person weniger kosten als eine individuelle Therapie. Klien-
bieten, die sich durch Echtheit, Akzeptanz und Empathie aus- ten können davon profitieren, in einer Gruppensituation ihre
zeichnet. Gefühle zu erforschen und soziale Fähigkeiten zu entwickeln,
von anderen zu lernen, die ähnliche Probleme haben, und Feed-
17.4 Wie unterscheidet sich die Grundannahme der Verhaltens- back zu neuen Verhaltensweisen zu bekommen. Eine Familien-
therapie von denen der psychodynamischen und humanisti- therapie sieht eine Familie als interaktives System und hat das
schen Therapien? Welche Techniken werden bei den Exposi- Ziel, den Mitgliedern dabei zu helfen, die Rollen zu entdecken,
tionstherapien und der Aversionskonditionierung genutzt? die sie einnehmen, und zu lernen, offener und direkter zu kom-
Verhaltenstherapien sind keine Einsichttherapien. Ihr Ziel ist es, munizieren.
Lernprinzipien anzuwenden, um problematische Verhaltenswei-
sen zu ändern. Techniken, die die klassische Konditionierung jTherapieevaluation
nutzen, einschließlich Expositionstherapien (wie die systemati- 17.8 Funktioniert Psychotherapie? Wer entscheidet das?
sche Desensibilisierung oder die Expositionstherapie in virtuellen Die positiven Aussagen von Klienten und Therapeuten können
Realitäten) und die Aversionskonditionierung haben das Ziel, Ver- nicht beweisen, dass Therapie tatsächlich wirkungsvoll ist, und
halten durch Gegenkonditionierung zu verändern – neue Reak- der Placeboeffekt und die Regression zur Mitte (die Tendenz ex-
880 Anhang

tremer oder ungewöhnlicher Werte, auf ihren Durchschnittswert 17.13 Auf was sollte eine Person achten, die einen Therapeuten
zurückzufallen) machen es schwer zu entscheiden, ob eine Ver- auswählen will?
besserung aufgrund einer Behandlung eintrat. Indem sie Meta- Eine Person, die sich in Therapie begeben will, kann den Thera-
analysen nutzen, um statistisch hunderte von randomisierten peuten zu seinem Behandlungsansatz, seinen Wertvorstellungen,
Psychotherapie-Wirkungsstudien zu kombinieren, fanden For- Berechtigungsnachweisen und Gebühren fragen. Besonders be-
scher heraus, dass sich der Zustand derjenigen, die keine Be- rücksichtigt werden sollte, ob der Therapiesuchende sich wohl
handlung bekommen, oft verbessert, aber dass der Zustand de- fühlt und ob er sich in der Lage fühlt, eine Bindung zu dem The-
rer, die sich einer Psychotherapie unterziehen, sich mit größerer rapeuten aufzubauen.
Wahrscheinlichkeit schneller verbessert und dass sie mit einer
geringeren Wahrscheinlichkeit einen Rückfall erleiden. jBiomedizinische Therapien
17.14 Was sind medikamentöse Therapien? Wie helfen Doppel-
17.9 Sind manche Psychotherapien bei bestimmten Störungen blindstudien Forschern dabei, die Wirksamkeit eines Medika-
wirksamer als andere? ments zu beurteilen?
Keine Art von Psychotherapie ist allen anderen generell über- Die Psychopharmakologie, die Untersuchung der Effekte von
legen. Eine Therapie ist für diejenigen am wirkungsvollsten, die Medikamenten auf seelische Vorgänge und das Verhalten, hat
klar abgegrenzte, spezifische Probleme haben. Manche Thera- geholfen, die medikamentöse Therapie zur meist genutzten bio-
pien – wie die Verhaltenskonditionierung um Phobien und medizinischen Therapie zu machen. Neuroleptika werden bei der
Zwänge zu behandeln – sind besser für spezifische Störungen Behandlung von Schizophrenie eingesetzt und blockieren die
geeignet. Die psychodynamische Therapie ist wirkungsvoll bei Dopaminaktivität. Nebenwirkungen können das dystone Syn-
Depressionen und Ängsten und kognitive Therapien und kogni- drom (das mit unwillkürlichen Bewegungen der Gesichtsmus-
tive Verhaltenstherapien für den Umgang mit Ängsten, PTSD keln, der Zunge und der Gliedmaßen einhergeht) oder ein erhöh-
und Depressionen. Die evidenzbasierte Praxis vereint die besten tes Risiko für Adipositas und Diabetes einschließen. Anxiolytika
verfügbaren Forschungsbefunde mit der Expertise der Kliniker verringern die Aktivität des Zentralnervensystems und werden
und den Eigenschaften der Patienten, ihren Vorlieben und ihrer genutzt, um Angststörungen zu behandeln. Diese Medikamente
aktuellen Lebenslage. können physisch oder psychisch abhängig machen. Antidepressi-
va verbessern die Verfügbarkeit von Noradrenalin und Serotonin
17.10 Wie schneiden alternative Therapien unter dem prüfen- und werden bei Depressionen angewendet, mit moderaten Effek-
den Blick der Wissenschaft ab? ten gegenüber denen von Placebos. Die Antidepressiva, die man
Kontrollierte Studien konnten die Ansprüche der EMDR (»eye auch als selektive Serotoninwiederaufnahmehemmer kennt, wer-
movement desensitization and reprocessing«) nicht unter- den heute auch genutzt, um andere Störungen, einschließlich
stützen. Die Lichttherapie scheint die Symptome der affektiven Schlaganfällen und Angststörungen, zu behandeln. Lithium und
Störung mit saisonalem Muster (»seasonal affective disorder«; Depakote sind stimmungsstabilisierende Medikamente, die Per-
SAD) zu verbessern, indem eine Gehirnregion angeregt wird, die sonen mit einer bipolaren Störung verschrieben werden. Studien
Erregung und Hormone beeinflusst. können das Doppelblindverfahren nutzen, um Placeboeffekte
und Verzerrungen durch Forscher zu verhindern.
17.11 Welche drei Merkmale haben alle Formen der Psycho-
therapie gemein? 17.15 Wie werden die Stimulation des Gehirns und die Psycho-
Alle Psychotherapien bieten neue Hoffnung für entmutigte Men- chirurgie bei der Behandlung bestimmter Störungen genutzt?
schen, eine neue Perspektive und (wenn der Therapeut effektiv Die Elektrokrampftherapie (EKT), bei der ein kurzer Stromstoß
ist) eine empathische, vertrauensvolle und fürsorgliche Be- durch das Gehirn des narkotisierten Patienten geschickt wird, ist
ziehung. Das emotionale Band aus Vertrauen und Verständnis eine wirksame Behandlung, die als letzte Möglichkeit bei schwer
zwischen Therapeut und Klient – das therapeutische Bündnis – ist depressiven Menschen gesehen wird, die nicht auf eine andere
ein wichtiges Element einer wirksamen Therapie. Therapie angesprochen haben. Neue, alternative Therapien für
Depressionen sind die wiederholte transkranielle Magnetstimula-
17.12 Wie beeinflussen Kultur, Geschlecht und Wertvorstellun- tion und, in vorläufigen klinischen Studien, die tiefe Gehirn-
gen die Beziehung zwischen Therapeut und Klient? stimulation, die eine mit negativen Emotionen zusammenhän-
Therapeuten unterscheiden sich in ihren Wertvorstellungen, gende überaktive Gehirnregion beruhigt. Die Psychochirurgie
die ihre Ziele in der Therapie und ihre Ansichten von Fort- entfernt oder zerstört Gehirngewebe in der Hoffnung, dadurch
schritt beeinflussen. Diese Unterschiede können Probleme her- Verhaltensänderungen zu bewirken. Radikale Psychochirurgie-
vorrufen, wenn Therapeuten und Klienten sich in ihren kultu- methoden wie die Lobotomie waren einst weit verbreitet, aber
rellen, geschlechtsspezifischen oder religiösen Ansichten unter- Neurochirurgen führen kaum noch Operationen am Gehirn
scheiden. durch, um Verhalten oder die Stimmung zu verändern. Gehirn-
881
A3 · Verständnisfragen und Antworten

chirurgie ist nur eine letzte Zuflucht, weil ihre Effekte irreversibel 18.2 Wie hat sich die deutschsprachige Pädagogische Psycho-
sind. logie entwickelt? Wie unterscheidet sich die neue Instruktions-
psychologie von der alten Lehr-Lern-Forschung?
17.16 Wie können Menschen eine Erleichterung von ihren De- Als eigenständige wissenschaftliche Disziplin ist die Pädago-
pressionen erfahren, indem sie mit einem gesunden Lebensstil gische Psychologie gegen Ende des 19. Jahrhunderts entstanden.
auf sich selbst achten, und inwiefern spiegelt das unsere biopsy- Genauso wie die Psychologie insgesamt löste sie sich um diese
chosozialen Systeme wider? Zeit von der Philosophie und Pädagogik ab. Damals gehörte die
Depressive Menschen, die sich einem Programm unterziehen, enge Verknüpfung von Wissenschaft und pädagogischer Praxis
das Aerobictraining, genügend Schlaf, Lichtaufnahme, soziale zu ihrem Programm. Im Laufe der ersten Hälfte des 20. Jahrhun-
Bindungen, die Verminderung negativer Gedanken und eine derts entfernte sich die Pädagogische Psychologie jedoch immer
bessere Ernährung beinhaltet, erleben dadurch oft Erleichte- weiter von diesem Vorsatz. Erst in den letzten Jahrzehnten hat die
rung. In unserem integrierten biopsychosozialen System beein- Pädagogische Psychologie wieder den Weg zurück zu ihren An-
flusst Stress die Chemie unseres Körpers und unsere Gesundheit; fängen gefunden – zu einer Forschung, die Wissenschaft und
chemische Ungleichgewichte können Depressionen hervorrufen pädagogische Praxis verbindet. Entstanden ist die neue Instruk-
und soziale Unterstützung und andere Änderungen des Lebens- tionspsychologie, die sich durch drei Merkmale auszeichnet: (1)
stils können zur Verbesserung von Symptomen führen. Sie ist eine Grundlagenwissenschaft, die sich mit den Prozessen
des Anleitens und der Vermittlung befasst, und keine auf den
jPrävention psychischer Störungen Unterricht angewandte Allgemeine Psychologie; (2) sie konzen-
17.17 Was ist der Grundgedanke von Präventionsprogrammen triert sich auf die Erforschung von Vermittlungsprozessen in den
für psychische Gesundheit? einzelnen Unterrichtsfächern; und (3) sie beschäftigt sich mit
Präventive psychische Gesundheitsfürsorge basiert auf der Idee, Prozessen und weniger mit Produkten des Lehrens und Lernens.
dass viele psychische Störungen verhindert werden könnten,
wenn unterdrückende, selbstwertzerstörende Umgebungen zu 18.3 In welchen Tätigkeitsfeldern kommen Kenntnisse der Pä-
wohlwollenden, pflegenden Umwelten werden, die Wachstum, dagogischen Psychologie zur Anwendung? Was sind die Auf-
Selbstbewusstsein und Resilienz fördern. gaben von Schulpsychologen?
Psychologen mit dem Schwerpunkt in Pädagogischer Psycholo-
gie arbeiten in so unterschiedlichen Praxisbereichen wie Schule
18 Pädagogische Psychologie: und Hochschule, in der Familien- und Erziehungsberatung, in
Übersicht und ausgewählte Themen der Organisations- und Berufsberatung, in der betrieblichen
Aus- und Weiterbildung sowie im Bereich der Entwicklung und
jÜberblick über die Pädagogische Psychologie Anwendung von Unterrichtsmedien.
18.1 Wie unterscheiden sich die verschiedenen Auffassungen Zu den Aufgaben der Schulpsychologie gehören unter ande-
von Erziehung? In welche beiden Bereiche lässt sich die Pädago- rem die Beratung von Schülern, Lehrern und Eltern auf der
gische Psychologie einteilen? Grundlage von fundierter Diagnostik, die Fortbildung von Leh-
In der Pädagogik ist es üblich, unter Erziehung die bewusste und rern, die Schulentwicklung und – nicht zu vergessen – die Quali-
beabsichtigte Einflussnahme auf das Handeln eines einzelnen tätssicherung der eigenen Arbeit.
Menschen oder einer Gruppe von Menschen (meistens von
Heranwachsenden) zu verstehen, wobei diese Einflussnahme mit jBedeutung der elterlichen Erziehung
Blick auf ein bestimmtes Ziel hin erfolgt. Dagegen ist es für die 18.4 Welche Rolle spielt die Erziehung durch die Eltern für die
Psychologie zweckmäßiger, den Handlungs- und Interaktions- Entwicklung des Kindes?
aspekt in den Vordergrund zu stellen. Unter Erziehung versteht Eine Vielzahl von Überlegungen und Ergebnissen spricht dafür,
die Psychologie alle Erfahrungsmöglichkeiten, die innerhalb dass Eltern – entgegen der Gruppensozialisationstheorie von
eines kulturellen Rahmens bereitgestellt werden, um die Lern- Harris – für die Entwicklung des Kindes generell am bedeutsams-
und Entwicklungsprozesse eines Menschen zu unterstützen. ten sind. Betrachtet man einzelne Entwicklungsbereiche, so fin-
Im Fokus der Erziehungspsychologie steht die Erforschung von det man Gebiete, wo der Elterneinfluss eher gering ist und solche,
Erziehungsprozessen, die Bildungspsychologie (Instruktionspsy- wo er sehr stark ist. Außerdem muss betont werden, dass die
chologie) dagegen betrachtet Bildungsprozesse. Erziehungspro- Alternative entweder Biologie oder Erziehung falsch gestellt ist.
zesse beziehen sich auf den Erwerb von Werthaltungen, Einstel- Jeder Entwicklungsprozess ist immer das Ergebnis von beiden
lungen usw. Es geht also um Sozialisation, d. h. das Hineinwach- Einflussfaktoren, der Natur (biologische Bedingungen) und der
sen in eine soziale Gemeinschaft. Bildungsprozesse beziehen sich Kultur (Erziehungspraktiken und Erziehungsstile).
auf den Erwerb von Kenntnissen, Fähigkeiten und Fertigkeiten.
Bildung erfolgt im Wesentlichen durch Lehren und Lernen.
882 Anhang

18.5 Wie lassen sich Erziehungsstile sinnvoll einteilen? Welche jErziehungseinflüsse auf die Internalisierung
Dimensionen liegen dieser Einteilung zugrunde? von moralischen Regeln und Normen
Nach Baumrind wurden ursprünglich drei Erziehungsstile un- 18.9 Wie unterscheiden sich induktive Erziehung, Machtaus-
terschieden: der autoritative, der autoritäre und der permissive. übung und Liebesentzug? Warum ist induktive Erziehung für die
Heute ist es üblich, den permissiven Stil weiter aufzugliedern in Moralerziehung vorteilhaft?
den nachgiebigen und den vernachlässigenden Erziehungsstil. Bei der induktiven Erziehung ist das elterliche Handeln darauf
Diese Einteilung (Typologie) beruht auf der Kombination der ausgerichtet, bei dem Kind Verständnis für das vorausgegangene
beiden bipolaren Dimensionen (a) der Liebe/Zuwendung versus Fehlverhalten zu wecken (zu induzieren). Hingegen reagieren
Feindseligkeit/Abwendung und (b) der Autonomie/Selbststän- machtausübende Eltern auf Fehlverhalten mit Härte und ohne
digkeit versus Lenkung/Kontrolle. Neuere Studien haben aller- Verständnis – sie drohen, befehlen und strafen unter Umständen
dings gezeigt, dass das Merkmal der Kontrolle präzisiert werden mit körperlicher Gewalt. Liebesentzug bedeutet, dass die Eltern
sollte: Es geht um Verhaltenskontrolle und nicht um psychologi- dem Kind eindeutig den Entzug ihrer Zuneigung signalisieren.
sche Kontrolle. Durch induktive Erziehung erleichtern Eltern ihren Kindern die
Internalisierung von Regeln und Normen, weil nicht Macht-
18.6 Wie wirken sich die verschiedenen Erziehungsstile aus? ausübung oder Liebesentzug im Vordergrund steht, sondern
In dem von westlichen Normen und Werten geprägten Kulturkreis die Verdeutlichung der Folgen des kindlichen Fehlverhaltens für
(Nordamerika, Europa) erweist sich der autoritative Erziehungsstil andere Personen.
i. Allg. den anderen drei Stilen in einer Vielzahl von Merkmalen
als überlegen. Kinder und Jugendliche, die so erzogen worden 18.10 Wie trägt induktive Erziehung im Sinne von Hoffmans
sind, haben wenige Verhaltensprobleme und ein positives Selbst- Theorie zur Internalisierung moralischer Normen bei?
konzept, sind leistungsbereit und soziomoralisch gefestigt. Aus- Die Erfahrungen in einer Überschreitungssituation beeinflussen
gesprochen ungünstig ist der vernachlässigende Erziehungsstil; das spätere Handeln deshalb so nachdrücklich, weil diese Situa-
Kinder und Jugendliche, die vernachlässigend erzogen worden tion der moralischen Bewährungssituation strukturell ähnlich
sind, schneiden in nahezu allen untersuchten Merkmalen am ist: In beiden Situationen geht es um den Konflikt zwischen
schlechtesten ab. Autoritär erzogene Jugendliche haben ver- egoistischen Motiven und Normen, durch die die egoistischen
gleichsweise wenige nach außen gerichtete Verhaltensprobleme Motive eingeschränkt werden sollen. In Überschreitungssitua-
und gehören eher zu den guten Schülern. Aber sie leiden an gerin- tionen sind diese Normen zunächst noch nicht internalisiert,
gem Selbstbewusstsein und neigen deshalb zu nach innen gerich- sondern sie werden durch das Eingreifen der Eltern realisiert.
tetem Problemverhalten. Nachgiebig erzogene Jugendliche neigen Aber das Kind macht hier die Erfahrung, dass es seine egoisti-
zu Disziplinproblemen und schneiden in der Schule eher schlecht schen Motive einschränken soll. Je nach elterlicher Erziehung
ab. Sie sind jedoch sozial kompetent und haben ein gerechtfertigt werden ihm ganz unterschiedliche Beweggründe für die Ein-
hohes Maß an Vertrauen in die eigenen sozialen Fertigkeiten. haltung der Norm nahegebracht: der Blick auf die kognitiven und
affektiven Folgen seines Tuns für das »Opfer« im Falle der induk-
18.7 Warum lassen sich Erziehungsstile nicht ohne Weiteres aus tiven Erziehung und im Gegensatz dazu der Blick auf die strafen-
einem Kulturkreis auf einen anderen übertragen? den oder zurückweisenden Reaktionen der Eltern im Falle der
Die Bedeutung von Erziehungshaltungen und Erziehungsmaß- Machtausübung oder des Liebesentzugs.
nahmen sind immer in das jeweilige kulturelle Normen- und
Wertesystem eingebettet. So haben beispielsweise Kontrolle und 18.11 Warum kommt der Empathie bei der Internalisierung von
Gehorsam im traditionellen konfuzianischen Wertesystem Ost- Normen eine besondere Bedeutung zu?
asiens sowohl für die Eltern als auch für die Kinder eine andere Zum einen führt empathisches Mitfühlen in Verbindung mit der
Bedeutung als im westlichen Kulturkreis. Deshalb kann man Fähigkeit, eine ursächliche Beziehung zwischen den eigenen Re-
nicht erwarten, dass sich der autoritative Erziehungsstil in ande- gelüberschreitungen und deren schädigender Wirkung auf ande-
ren kulturellen Kontexten ebenfalls als überlegen erweisen wird. re Personen herzustellen, zur Erfahrung von empathischen
Schuldgefühlen. Diese Schuldgefühle beeinflussen das Handeln
18.8 Warum wirkt sich die autoritative Erziehung im westlichen in späteren Bewährungssituationen. Zum anderen vermittelt
Kulturkreis auf die Heranwachsenden günstiger aus als die ande- Empathie, wie Krevans u. Gibbs gezeigt haben, den Zusammen-
ren Erziehungsstile? hang zwischen der elterlichen Erziehung und der Bereitschaft des
Autoritative Erziehung ist überlegen, weil hierbei ein ausgewo- Kindes, prosozial zu handeln.
genes Verhältnis zwischen der Forderung nach der Einhaltung
von Regeln und Normen auf der einen Seite und dem Freiraum
für Autonomie und Entfaltung eigenen Denkens auf der anderen
Seite vorliegt.
883
A3 · Verständnisfragen und Antworten

18.12 Wie wurde Hoffmans Internalisierungstheorie durch Kinder ausgesetzt ist. In typischen Mobbing-Episoden wird das
Kuczynski sowie durch Grusec u. Goodnow erweitert? Opfer erniedrigt und als wertlos behandelt, so lange, bis es sich
Kuczynski hat Hoffmans unidirektionale Sichtweise von morali- schließlich selbst als wertlos erlebt. Es steht den Attacken meis-
scher Sozialisation zu einem bidirektionalen Sozialisationsmo- tens hilflos gegenüber, auch deshalb, weil es in der Regel in der
dell erweitert, das die wechselseitige Einflussnahme von Eltern Gruppe sozial isoliert ist. Jene Kinder in der Gruppe, die weder
und Kindern im Erziehungsprozess berücksichtigt. Grusec u. Opfer noch Täter sind, also die Zuschauer, reagieren meistens
Goodnow haben aufgezeigt, wovon es abhängt, ob die Kinder die mit Wegschauen, Schweigen und Passivität. Ein Grund dafür ist
elterlichen Erziehungsmaßnahmen wahrnehmen und ob sie sie die Furcht vor Repressalien durch die Täter. Die Täter selbst ha-
akzeptieren. ben Spaß am Mobbing; sie erleben die Hilflosigkeit des Opfers
und die Passivität der Zuschauer als verstärkend.
18.13 Welche Ratschläge können Sie Eltern für die frühe Moral-
erziehung geben? 18.17 Was sind die zentralen Aussagen des Early-Starter-
Schon bei kleinen Kindern ist es nicht nur im Interesse des Modells? Wenn Sie Early Starter und Late Starter vergleichen:
Opfers, sondern auch des Angreifers, wenn Eltern »Übergriffe« Welche Gruppe weist die schlechteren Prognosen für die weitere
(z. B. das Wegnehmen eines Objektes) unterbinden. Die ange- Entwicklung auf?
messene Form des Eingreifens sind induktive Erziehungsmaß- Im Early-Starter-Modell wird angenommen, dass die Vorläufer
nahmen. Darüber hinaus sollten Eltern die Entwicklung von antisozialen und delinquenten Verhaltens in frühen familiären
Empathie unterstützen. Dies ist auf vielfältige Weise möglich, Erfahrungen liegen, lange bevor negative Einflüsse und Vorbil-
etwa indem man Kinder im Rollenspiel emotionale Erfahrungen der in Gruppen von gleichaltrigen Jugendlichen einen ungüns-
machen lässt. tigen Einfluss ausüben können. Die Arbeitsgruppe um Patterson
spricht von Nötigung oder Zwang (»coercion«) und von Zwang
jAggressionen und Gewalt unter Kindern ausübenden Familien (»coercive families«). Ein Element der
und Jugendlichen zwanghaften Erziehung sind physische und verbale Aggres-
18.14 Warum sollte man der populären These, die Kinder- und sionen gegen das Kind, die im Sinne des sozialen Lernens von
Jugendgewalt hätte in den vergangenen Jahren drastisch zuge- den Kindern übernommen werden. Kurz gesagt: In Familien, die
nommen, mit Vorsicht begegnen? mit Zwang erziehen, werden aus kleinen Kindern, die Aggression
Drei Gründe mahnen zur Vorsicht. Erstens sind Kriminalitäts- erfahren, häufig aggressiv handelnde Heranwachsende.
raten nur ein indirekter Anhaltspunkt für Gewaltbereitschaft Im Vergleich zu den Early Starter sind die Prognosen für die
und Aggressivität. Zweitens gibt es Hinweise darauf, dass die Late Starter günstiger. Denn die Late Starter haben in der Kind-
Öffentlichkeit aufgrund der Gewaltdiskussion sensibler gegen- heit mindestens ausreichende soziale Fähigkeiten und Fertig-
über Delikten junger Menschen geworden ist. Und drittens kann keiten erworben, um mit anderen auszukommen, und sie fallen
ein Trend über 2 oder 3 Jahre untypisch für langfristige Verände- auch in den Schulleistungen nicht besonders ab.
rungen sein.
18.18 Wie lassen sich die Ergebnisse der Längsschnittstudie von
18.15 Wie lassen sich gespielte und ernsthafte Aggression vonei- Eron et al. zum Zusammenhang zwischen elterlicher Erziehung
nander abgrenzen? und der Entwicklung antisozialen Verhaltens zusammenfassen?
Von gespielter Aggression spricht man, wenn eine Handlung mit In dieser Studie, in der die Entwicklung vom Grundschul- bis ins
aggressivem Inhalt – also eine Handlung, die die psychische oder Erwachsenenalter beobachtet wurde, zeigte sich, dass Aggres-
physische Verletzung oder Schädigung einer anderen Person sivität, die in der Kindheit durch ungünstige Erziehung erwor-
zum Thema hat – vom Akteur mit dem Bewusstsein ausgeführt ben wurde, oftmals tatsächlich zu einer Last wird, an der man bis
wird, dass es sich um Spiel handelt. Dieses »Spielbewusstsein« in das Erwachsenenalter trägt. Sie kann sogar für die Erziehung
schließt ein, (a) dass der Akteur »nur so tut, als ob«, (b) dass er der eigenen Kinder ungünstige Bedingungen schaffen, sodass auf
selbst sich dieses Als-ob-Charakters bewusst ist und (c) dass er dem Wege über die elterliche Erziehung ein erhöhtes Maß an
dem anderen keine Schädigung zufügen will. Bei ernsthaften Aggressivität über mehrere Generationen weitergereicht werden
Aggressionen hingegen fehlt der Als-ob-Charakter; sie sind aus- kann.
drücklich mit der Absicht verbunden, jemanden zu schädigen
oder ihm eine Verletzung zuzufügen.

18.16 Woran erkennen Sie, dass es sich um Mobbing handelt,


wenn Sie Gewalt unter Kindern beobachten?
Von Mobbing spricht man dann, wenn ein Kind wiederholt und
systematisch den Aggressionen eines oder mehrerer anderer
884 Anhang

jNeue Aufgaben und Herausforderungen gemäß der Zwei-Faktoren-Theorie nach Herzberg (1959) wirk-
der Pädagogischen Psychologie sam. Um Anreizbedingungen (nämlich Arbeitsinhalte) und um
18.19 Wie wirkt sich die Fremdbetreuung von Kleinkindern in das Erleben der Person (nämlich kritische psychische Zustände)
Kindertageseinrichtungen auf die Kinder aus? (Nennen Sie eine geht es im Job-Characteristics-Modell nach Hackman u. Oldham
wichtige Studie zu diesem Thema, und berichten Sie ausgewählte (1980).
Resultate.)
Die wichtigste Studie ist die U.S.-amerikanische Längsschnittun- 19.2 Welche Prozesse und Mechanismen führen zur Arbeits-
tersuchung des NICHD, in der über 1300 Kinder und deren Eltern motivation? Welche Beispiele gibt es dafür?
während des gesamten Betreuungszeitraums wiederholt beobach- Prozesstheorien beschreiben, welche Mechanismen von be-
tet wurden und für die mittlerweile Daten bis in die Schulzeit vor- stimmten subjektiven Erwartungen und Bewertungen zu Hand-
liegen. In dieser Studie zeigte sich, dass die Befürchtung, Betreu- lungen führen. Handlungsnahe Prozesstheorien thematisieren
ung außerhalb der Familie habe generell einen nachteiligen Ein- als dominierende Konstrukte Ziele und Selbstregulierungs-
fluss auf die Beziehung des Kindes zu den Eltern und auf seine mechanismen.
weitere Entwicklung, ungerechtfertigt ist. Allerdings kommt es auf Zu den Prozesstheorien zählen die Wert-Erwartungs-Theo-
die Qualität und, was die Auswirkungen auf die sozioemotionale rien. Die bekannteste Ausarbeitung stammt von Vroom (1964)
Anpassung angeht, auf die Dauer der Krippenbetreuung an. und wird auch als VIE-Modell bezeichnet. Nach dieser Theorie
Vergleicht man jedoch den Einfluss der Betreuungsqualität ist Motivation das Produkt von Erwartungen und Werten. Die
mit dem Einfluss der Qualität des familiären Umfeldes, so erwei- subjektiven Erwartungen (expectancy: sorgfältige Arbeit führt
sen sich – grob gesagt – die familiären Bedingungen als bedeut- zu guter Qualität, instrumentality: gute Qualität wird durch
samer. Zu beachten ist, dass sich ungünstige familiäre Bedingun- höhere Bezahlung belohnt), und Bewertungen (die höhere Be-
gen und eine schlechte Qualität der Krippenbetreuung negativ zu zahlung ermöglicht den gewählten Lebensstil), aus denen moti-
verstärken scheinen. Was den Zusammenhang zwischen Dauer viertes Verhalten resultiert, sollen erfasst werden.
der Krippenbetreuung und dem Auftreten von Problemverhal-
ten mit 4½ Jahren angeht, so gibt es keine »Schwelle«, die diesen 19.3 Wie tragen Inhalte und Prozesse zusammen zur Arbeits-
Effekt einschränken würde; vielmehr gilt uneingeschränkt: motivation bei? Welche zusätzliche Sicht ist hilfreich?
Je mehr Zeit die beobachteten Kinder in Fremdbetreuung ver- Integrative Perspektiven verbinden Inhalte und Prozesse (z. B.
brachten, desto schlechter war die sozioemotionale Anpassung. Motivation und zielgerichtetes Verhalten). Handlungsfern sind
z. B. die in der Zukunft liegenden Ziele, handlungsnah die stän-
18.20 Was besagt das Angebot-Nutzungs-Modell zur Erklärung dig ausgeübten Strategien der Selbstregulierung, die dazu dienen,
von Schulleistungen? die Ziele zu erreichen. Handlungsnah und prozessorientiert ist
Das Angebot-Nutzungs-Modell führt die Merkmale des Bil- die Theorie der Zielsetzung von Locke u. Latham (1991). Hand-
dungssystems und des einzelnen Schülers zusammen, berück- lungsferne und handlungsnahe Konstrukte verbinden die Theo-
sichtigt dabei aber die Verschiedenheit dieser Merkmalsbereiche. rie der Selbstregulierung nach Kuhl (1992) und das Rubikon-Mo-
Ein weiterer Grundgedanke des Modells ist die Unterscheidung dell von Heckhausen u. Gollwitzer (Gollwitzer 1990).
von Schulleistungsbedingungen, die man als Angebotsmerkmale
(»angebotsbezogene Stützsysteme«) oder als Nutzungsmerkmale 19.4 Was ist bei der Erfassung von Arbeitszufriedenheit wichtig?
(»nutzungsbezogene Stützsysteme«) bezeichnen kann. Diese Arbeitszufriedenheit ist auf unterschiedliche Weise erfasst wor-
Trennung ist notwendig, weil Schulleistungen das Ergebnis eines den. Empirische Ergebnisse zur Arbeitszufriedenheit sind un-
Prozesses sind, in dem die eine Person (der Lehrer) einer anderen einheitlich, das Konstrukt hat sich zudem als methodenlabil (als
Person (dem Schüler) ein Angebot macht, auf das die andere abhängig von der Art der Messung) erwiesen. Aussagen zur Ar-
Person unterschiedlich reagieren kann, aber nicht muss. beitszufriedenheit werden dann als aussagekräftig angesehen,
wenn die jeweils verwendeten Bezugssysteme berücksichtigt
werden.
19 Arbeits- und Organisationspsychologie
19.5 Was ist der »Hawthorne-Effekt«? Wie wurde er entdeckt?
jWarum arbeiten wir, und was haben wir davon? In den amerikanischen Hawthorne-Werken sollte zu Anfang des
19.1 Welche Bedürfnisse, welche Anreize veranlassen Menschen 20. Jahrhunderts untersucht werden, wie die Beleuchtung von
zu arbeiten? Was sind Beispiele dafür? Arbeitsplätzen die Arbeitsleistung beeinflusst. Unerwartet zeig-
Inhaltstheorien beschreiben, welchen psychologischen Gewinn ten Arbeiter trotz Senkung der Beleuchtungsstärken höhere Ar-
Menschen von ihrer Arbeit haben. Sie weisen auf die Bedeutung beitsleistungen. Das Gefühl, dass sich die Firmenleitung um ihre
intrinsischer Motivierung durch ganzheitliche und anregende Arbeitsbedingungen kümmerte, steigerte kurzfristig ihre Zufrie-
Arbeitsinhalte hin. Hygienefaktoren und Motivatoren werden denheit und ihre Motivation.
885
A3 · Verständnisfragen und Antworten

jArbeit und Gesundheit 19.10 Was wird unter Work-Life-Balance verstanden?


19.6 Welche arbeitsbedingten Stressfolgen gibt es? Ganz allgemein ist damit gemeint, dass eine gelungene Balance
Man kann unterscheiden zwischen kurzfristigen und langfristi- von Arbeit und Leben das Wohlbefinden fördert und auf diese
gen Auswirkungen von Stressoren: Kurzfristige Auswirkung sind Weise möglichem Stress vorbeugt. In vorliegenden Studien wird
Nervosität und Gereiztheit, erhöhte Adrenalin- und Noradrena- diese Balance auf unterschiedliche Weise untersucht. Belegt ist,
linausschüttung, erhöhte kardiovaskuläre Aktivität sowie ver- dass sich ein Ungleichgewicht zugunsten der Arbeit negativ aus-
ringerte Effizienz bei der Handlungsregulation. wirkt.
Längerfristig kann es zur Beeinträchtigung des Wohlbefin-
dens kommen, zu psychosomatischen Beschwerden und Krank- jVeränderte Arbeitsbedingungen
heiten, zu problematischem Gesundheitsverhalten (ungesunden 19.11 Was ist bei der Einführung neuer Technologien zu beach-
Essgewohnheiten, Bewegungsmangel, Rauchen und Alkohol- ten? Welche Rolle spielen unterschiedliche Gruppenzugehörig-
missbrauch, Drogen- und Medikamentenmissbrauch). keiten?
Bei der Einführung technischer und organisatorischer Neuerun-
19.7 Wie entsteht aus Sicht des transaktionalen Stressmodells gen sollten die Lern- und Umstellungskompetenzen der Be-
Stress im Arbeitsbereich, und wie lässt er sich bewältigen? troffenen nicht überfordert werden. Es wird daher empfohlen,
Der Frage, wie Stress entsteht und wie er bewältigt wird, geht Änderungen vorzubereiten und Zeit für Umstellungsprozesse
man nach, indem man untersucht, wie Verhaltensweisen von einzuplanen. Dabei ist zu beachten, dass unterschiedliche Grup-
Personen und Eigenschaften von Situationen miteinander und pen innerhalb einer betroffenen Organisation die Neuerungen
mit dem Erleben von Stress zusammenhängen. unterschiedlich beurteilen.
Das Erleben und die Bewertung von Stressoren durch die ein-
zelne Person sind wichtig. Was mit erhöhter Wahrscheinlichkeit 19.12 Unter welchen Bedingungen ist flexiblere Arbeitszeit-
Stress oder Stressempfindungen auslösen kann, wie beispiels- gestaltung für die Organisation und für die arbeitende Person
weise Überforderung, Unterforderung, Lärm, Konflikte, hängt von Vorteil?
immer auch von der Bewertung durch die Betroffenen ab. Die Einführung flexibler Arbeitszeiten kann in zweifacher Hin-
Im transaktionalen Stressmodell wird thematisiert, dass Per- sicht förderlich sein. Es kann den Unternehmen zur besseren
sonen in der gleichen Situation unterschiedliche Sichtweisen, Nutzung ihrer Anlagen verhelfen, und die Beschäftigten können
Bewältigungsstrategien und -kompetenzen zeigen, die auf die ihre Zeit besser einteilen. Aus Untersuchungen (z. B. im Hinblick
situativen und persönlichen Gegebenheiten zurückwirken und auf Pflegekräfte) weiß man, dass mit zunehmender Autonomie
durch die gegenseitige Einwirkung auch verändert werden. Es zur Arbeitszeitgestaltung psychischer Stress abnimmt und die
geht sowohl um die objektive Arbeitssituation als auch um deren Arbeitszufriedenheit steigt.
Erleben sowie um die Einschätzung der eigenen Handlungsmög-
lichkeiten. 19.13 Was sind die Auswirkungen von Arbeitslosigkeit?
Arbeitslosigkeit hat psychische und soziale Folgen für die Be-
19.8 Was versteht man unter Mobbing? Welche Ursachen werden troffenen und auch für deren Angehörige. Obgleich die gesamt-
diskutiert? gesellschaftlichen Auswirkungen von Arbeitslosigkeit kontro-
Auch im Fall von Mobbing, einer besonderen Art von sozialem vers diskutiert werden, besteht Konsens darüber, dass sie bei den
Stress am Arbeitsplatz, ist eine transaktionale Sichtweise an- meisten Menschen zu einer Verschlechterung ihrer seelischen
gemessen. Zunächst standen Organisation der Arbeit, Aufgaben- Gesundheit führen. In der klassischen Studie von Jahoda aus
gestaltung und Leitung im Zentrum, mittlerweile wird ein- dem Jahr 1931 »Die Arbeitslosen von Marienthal« zeigte sich ein
geräumt, dass auch Persönlichkeitseigenschaften der Mobber Zusammenhang zwischen den 4 Haltungstypen des Umgangs
und der Gemobbten eine Rolle spielen können. mit Arbeitslosigkeit (ungebrochene, resignierte, verzweifelte
und apathische Familien) und der Höhe der Unterstützung, die
19.9 Welche Möglichkeiten gibt es, um gegen Mobbing vorzu- in den Familien zur Verfügung stand. Auch aktuelle Studien be-
gehen? legen die negative Wirkung von Arbeitslosigkeit auf die seelische
Zur Vorbeugung kann man faire und transparente Verhaltens- Gesundheit.
regeln einführen, die z. B. in Betriebsvereinbarungen festge-
halten werden und die auch angeben, was im Fall von Konflikten 19.14 Wie hat sich das Defizit- zum Kompensationsmodell des
zu tun ist. Den einzelnen Betroffenen wird u. a. geraten, sich Alterns gewandelt? Welche Bedeutung hat das für ältere Arbeit-
gegen Angriffe abzugrenzen, Abstand zu finden, nötigenfalls nehmer?
durch eine Krankschreibung, und auf eine Veränderung am Ar- Ältere Arbeitnehmer sind nicht weniger leistungsfähig, sondern
beitsplatz hinzuwirken. sie zeigen ein anderes Leistungsprofil. Während die Auffassungs-
geschwindigkeit und die Reaktionszeit mit dem Alter sinken,
886 Anhang

steigen beispielsweise handwerkliches Können und Erfahrungs- Umgebung in die Überlegungen einbezogen werden. Eine
wissen. Methode der Rückmeldung, die dies berücksichtigt, ist das
360°-Feedback, bei dem Beurteilungen aus unterschiedlichen
jPsychologie in Organisationen Perspektiven zusammengeführt werden. Mit Führungserfolg
19.15 Was versteht man unter einer Organisation, unter Organi- verbundene Eigenschaften müssen außerdem längerfristig im
sationsstruktur und Organisationsform? Was sind die Vor- und Zusammenhang mit der Dynamik der Situation und mit weite-
Nachteile des Ein- und des Mehrliniensystems? ren Persönlichkeitsmerkmalen gesehen werden.
Eine Organisation ist ein gegenüber ihrer Umwelt offenes Sys-
tem, das zeitlich überdauernd existiert, spezifische Ziele verfolgt jArbeit und Persönlichkeit: Auswahl und Auswirkungen
und sich aus Individuen bzw. Gruppen zusammensetzt. Die Ge- 19.18 Was sind gebräuchliche Verfahren der Personalauswahl?
samtheit aller formalen Regelungen zur Arbeitsteilung sowie zur Wie sind sie zu bewerten?
Koordination von Leistung und Verhalten der Organisations- Psychologische Berufseignungsdiagnostik ist wichtig für Berufs-
mitglieder bildet die formale Organisationsstruktur. Bei den beratung und Personalauswahl. Auswahlverfahren sind Vor-
Organisationsformen unterscheidet man Einlinien- und Mehr- stellungsgespräche oder Einstellungsinterviews, Personalfrage-
liniensysteme. Beim Einliniensystem empfängt eine untergeord- bogen, biografische Fragebogen, psychologische Tests, compu-
nete Stelle nur von einer übergeordneten Stelle Weisungen und tergestützte Tests und computergestützte Simulationen, Arbeits-
ist nur dieser verantwortlich. Beim Mehrliniensystem gibt es ein proben mit Bezug zum Arbeitsfeld sowie das Assessment-Center.
doppeltes Unterstellungsverhältnis nach Funktion und Sparte. Bei der Auswahl eines Verfahrens sind neben Validitätskoeffizi-
Im Mehrliniensystem sind die Informations- und Abstimmungs- enten Akzeptanz und Aufwand zu berücksichtigen.
wege kürzer, Konflikte können häufiger auftreten, was als positiv
im Sinne einer vertieften inhaltlichen Auseinandersetzung ge- 19.19 Welche Bedingungen fördern die berufliche Entwicklung?
wertet wird. Als Nachteil gilt die fehlende Gesamtverantwortung. Während neben der dokumentierten Leistung eigene Ambitio-
nen und Berufswünsche durchaus Einfluss auf die spätere beruf-
19.16 Wann ist Teamarbeit sinnvoll? Was macht sie effektiv? liche Laufbahn haben, verstärkt, wie Kohortenvergleiche zeigen,
Teamarbeit gilt insbesondere dann als sinnvoll, wenn es um eine ein engerer Arbeitsmarkt die Bedeutung schulischer Qualifika-
komplexe Aufgabe geht, die in mehreren Schritten zu bearbeiten tionen und der sozialen Herkunft. Auch das Geschlecht spielt
ist und die mit unstrukturierten Problemen behaftet ist oder eine Rolle: Frauen sind immer noch vergleichsweise selten in
mehrere Fachbereiche berührt. Bei Teamarbeit können verschie- Führungspositionen zu finden, sei es in Wirtschaft, Wissen-
dene Arten von Teamarbeitspotenzialen genutzt werden: schaft, Politik oder Verwaltung. Veränderte Eigenschaftszu-
4 das Problemlösungspotenzial, das vor allem auf einer schreibungen von Frauen, veränderte Konzeptionen von Füh-
breiteren Erfahrungs-, Informations- und Wissensbasis rung erlauben vorsichtig optimistische Prognosen.
beruht;
4 das arbeitsorganisatorische Potenzial, das über eine 19.20 Wie unterstützen Arbeitsbedingungen die Persönlich-
Stärkung eigener Verantwortlichkeit den Verwaltungsauf- keitsentwicklung?
wand reduziert; Vorliegende Studien zeigen, dass geistige Beanspruchung und
4 das Komplexitätsreduktionspotenzial, das vor allem selbstständiges Planen und Mitgestalten von Bedeutung sind.
durch eine breitere Urteilsgrundlage und kürzere Kommu- Höherwertige Arbeit verschaffte Menschen nicht nur mehr
nikationswege das Erreichen angestrebter Ziele fördert. Kenntnisse über ihre Arbeitsaufgabe, sondern regte zu strategi-
schen und planenden Vorgehensweisen an. Die Veränderung der
Damit Teamarbeit gelingt, sind auch die Gefahren von Teamar- Arbeitstätigkeit wirkte sich sowohl auf die Entwicklung arbeits-
beit wie Risikoschub und Gruppendenken zu beachten. Quali- bezogener Sachinteressen aus, als auch auf gesellschaftsbezogene
tätszirkel sind kleine Gesprächsgruppen, die der Steigerung der und politische Interessen.
Produktqualität und Produktivität dienen sollen.

19.17 Warum kommt es bei der Erfassung von Bedingungen


erfolgreicher Führung nicht allein auf die Eigenschaften der Füh-
renden an?
Korrelationen zwischen Eigenschaften von Führenden und Füh-
rungserfolg erwiesen sich als gering, sagen außerdem nichts über
die Richtung der Kausalität. Für Führungsverhalten in Gruppen
konnte weder die optimale Persönlichkeit noch das optimale
Verhalten ermittelt werden; vielmehr muss auch die konkrete
887
Glossar

Glossar

A&O-Psychologie 7 Arbeits- und Organisationspsychologie 7 12 Algorithmus (algorithm) eine systematische, logische Regel oder Vor-
gehensweise, die garantiert zur Lösung des vorliegenden Problems
Abhängige Variable (dependent variable) Ergebnisfaktor; diese führt. Im Gegensatz dazu die schnellere, aber auch fehleranfälligere
Variable kann sich als Reaktion auf die Manipulationen der unabhängigen Heuristik. 7 10
Variablen verändern. 7 2
Alkoholabhängigkeit (alcohol dependance) gewohnheitsgemäßer
Abruf oder aktive, freie Reproduktion (recall) Maß für die Erinnerungs- Konsum von Alkohol, der zu körperlichen und psychischen Schädigungen
fähigkeit, bei dem die Versuchsperson vorher gelernte Informationen führt; starker, übermächtiger Wunsch oder Zwang, Alkohol zu konsu-
aktiv abrufen muss, etwa beim Ausfüllen eines Lückentexts. 7 9 mieren, der meist dann bewusst wird, wenn versucht wird, den Alkohol-
konsum zu kontrollieren oder zu beenden. 7 4
Abrufen (retrieval) Wiederauffinden gespeicherter Informationen im
Gedächtnisspeicher. 7 9 Allgemeine Intelligenz oder g-Faktor (general intelligence) allgemeiner
Intelligenzfaktor, der nach Ansicht von Spearman und anderen Psychologen
Absolute Schwelle (absolute threshold) Mindeststimulation, die den spezifischen geistigen Fähigkeiten eines Menschen zugrunde liegt und
erforderlich ist, um einen bestimmten Reiz in mindestens 50% der Fälle daher durch jede Aufgabe in einem Intelligenztest gemessen wird. 7 11
wahrzunehmen. 7 7
Allgemeines Adaptationssyndrom (general adaptation syndrome, GAS)
absteigende, konzeptgesteuerte Informationsverarbeitung Selyes Konzept einer adaptiven physiologischen Reaktion auf Stress in drei
7 Top-down-Verarbeitung 7 7 Phasen: Alarmreaktion, Widerstand, Erschöpfung. 7 13

Abwehrmechanismen (defense mechanisms) in der psychoanalytischen Alphawellen (α-Wellen; alpha waves) relativ langsame Hirnwellen,
Theorie die Schutzmechanismen des Ichs, durch die Ängste verringert die kennzeichnend für einen entspannten Wachzustand sind. 7 4
werden, indem unbewusst die Realität verzerrt wird. 7 14
Altruismus (altruism) selbstloses Interesse am Wohlergehen anderer. 7 15
ADHD 7 Aufmerksamkeitsdefizit-Hyperaktivitätsstörung 7 16
Ammensprache (baby talk) besondere Form der Sprache, die Eltern
ADHS 7 Aufmerksamkeitsdefizit-Hyperaktivitätsstörung 7 16 in der Kommunikation mit dem kleinen Kind wählen. Sie unterstützt
den Spracherwerb und ist z. B. durch die hohe Tonlage, die übertriebene
Adoleszenz oder Jugendalter (adolescence) Übergangsperiode zwischen Satzmelodie und Wiederholungen gekennzeichnet. 7 18
Kindheit und Erwachsenenalter. Sie beginnt mit der Pubertät und
endet mit dem Erreichen der Selbstständigkeit im Erwachsenenalter. 7 6 Amphetamine (amphetamines) Substanzen, die die neuronale Aktivität
stimulieren und zu einer Beschleunigung der Körperfunktionen führen.
Aerobes Training (aerobic training) Ausdauertraining, bei dem die Der Energiepegel steigt an und die Stimmung verbessert sich. 7 4
Funktionsfähigkeit des Herzens und der Lunge zunimmt, kann auch
Depressionen und Angststörungen lindern. 7 13 Amygdala (auch Mandelkern; amygdala) zwei bohnengroße Neuronen-
verbände, die Teil des limbischen Systems und an der Entstehung von
Affektive Störungen (mood disorders) psychische Störungen, die durch Emotionen beteiligt sind. 7 3
emotionale Extreme charakterisiert sind (s. Major Depression, Manie,
bipolare Störung). 7 16 Analyseebenen (levels of analysis) die unterschiedlichen sich gegenseitig
ergänzenden Auffassungen zur Analyse irgendeines vorgegebenen
Aggression (aggression) jedes körperliche oder verbale Verhalten, das Phänomens, die von der biologischen über die psychologische bis zur
mit der Absicht ausgeführt wird, jemanden zu verletzen. 7 5, 15, 18 soziokulturellen Auffassung reichen. 7 1

Aggressivität (aggressiveness) interindividuell unterschiedlich Angewandte Forschung (applied research) wissenschaftliche Unter-
ausgeprägte Neigung, in bestimmten Situationen aggressiv zu handeln. suchungen zur Lösung konkreter Probleme. 7 1
Aggressivität bezeichnet also eine Persönlichkeitseigenschaft
(Disposition). 7 18 Angststörungen (anxiety disorders) psychische Störungen, die gekenn-
zeichnet sind durch eine quälende, überdauernde Angst oder unangemes-
Akkommodation (accommodation) (1) Modifizierung des bisherigen sene Verhaltensweisen, um die Angst zu reduzieren. 7 16
Schemas, um neue Informationen integrieren zu können.
(2) Anpassungsvorgang, bei dem die Augenlinse ihre Form verändert, um Anlage-Umwelt-Debatte (auch Erbe-Umwelt-Debatte, nature-nurture
nahe oder entfernte Gegenstände auf der Retina scharf abzubilden. 7 6, 7 issue) die alte Kontroverse darüber, wie groß im Vergleich zu Erfahrung
und Lernen der Einfluss der Gene auf die Ausbildung psychischer Merk-
Aktionspotenzial (action potential) Nervenimpuls, also eine kurzfristige male und die Entwicklung von Verhaltensweisen ist. Heutzutage wird
elektrische Ladung, die am Axon entlangwandert. 7 3 angenommen, dass Eigenschaften und Verhaltensweisen durch die
Wechselwirkung von Anlage und Umwelt entstehen. 7 1
Aktives Zuhören (active listening) empathisches Zuhören, bei dem der
Zuhörer das Gehörte wiederholt, in eigenen Worten wiedergibt und Anorexia nervosa (anorexia nervosa) Essstörung, bei der eine Person
verdeutlicht, was er gehört hat; Merkmal der klientenzentrierten Therapie (meistens ein Mädchen in der Adoleszenz) Diät hält und deutlich unter-
von Carl Rogers. 7 17 gewichtig wird (15% oder mehr), aber trotzdem weiter hungert. 7 16
888 Anhang

Anpassungsniveau (adaptation level) unsere Tendenz, uns ein Urteil Assoziationsfelder (association areas) Bereiche des zerebralen Kortex,
(über Töne, Lichter oder Einkommen) aufgrund eines neutralen Niveaus die nicht an den primären motorischen und sensorischen Funktionen
zu bilden, das durch unsere Vorerfahrung bestimmt wird. 7 13 beteiligt sind, sondern an höheren geistigen Fähigkeiten wie Lernen,
Erinnern, Denken und Sprechen. 7 3
Anreiz (incentive) positiver oder negativer Reiz in der Umwelt, der ein
Verhalten motiviert. 7 12 Assoziatives Lernen (associative learning) Lernen, dass bestimmte
Ereignisse zusammen auftreten. Bei den Ereignissen kann es sich (in der
ANS 7 Autonomes (vegetatives) Nervensystem 7 3 klassischen Konditionierung) um zwei Reize oder (in der operanten
Konditionierung) um eine Reaktion und ihre Konsequenzen handeln. 7 8
Anterograde Amnesie (anterograde amnesia) das Unvermögen,
neue Erinnerungen zu bilden. 7 9 Attributionstheorie (attribution theory) beschreibt, dass wir das Ver-
halten eines Menschen erklären, indem wir die Verantwortung dafür
Antidepressiva (antidepressant drugs) Medikamente, die genutzt entweder der Situation oder der Veranlagung des betreffenden Menschen
werden, um Depressionen und manche Angststörungen zu behandeln. zuschreiben. 7 15
Unterschiedliche Varianten wirken, indem sie die Verfügbarkeit ver-
schiedener Neurotransmitter verändern. 7 17 Aufgabenbezogener Führungsstil (task leadership) zielorientierter
Führungsstil, bei dem Standards gesetzt werden, Arbeit organisiert und
Antipsychotika (Neuroleptika; antipsychotic drugs) Medikamente, die Aufmerksamkeit auf Ziele gelenkt wird. 7 12
die genutzt werden, um Schizophrenie und andere schwere Formen
von Störungen der Gedanken zu behandeln. 7 17 Aufmerksamkeitsdefizit-Hyperaktivitätsstörung (ADHS; attention-
deficit hyperactivity disorder, ADHD) psychische Störung, gekennzeichnet
Antisoziale Persönlichkeitsstörung (antisocial personality disorder) Per- durch Auftreten von einem oder mehr der drei Schlüsselsymptome
sönlichkeitsstörung, bei der der Betreffende (in der Regel ein Mann) ein vor dem 7. Lebensjahr: extreme Unaufmerksamkeit, Hyperaktivität und
schwach ausgebildetes Gewissen hinsichtlich des eigenen Fehlverhaltens, Impulsivität. 7 16
auch gegenüber Freunden und Familienmitgliedern, aufweist; er kann
aggressiv und rücksichtslos oder ein cleverer Trickbetrüger sein. 7 16 aufsteigende, datengesteuerte Informationsverarbeitung 7 Bottom-
Up-Verarbeitung 7 7
Anxiolytika (antianxiety drugs) Medikamente, die genutzt werden, um
Ängstlichkeit und Erregung zu kontrollieren. 7 17 ausgewogenes Verhältnis von Geben und Nehmen 7 Equity 7 15

Aphasie (aphasia) Sprachstörung, die normalerweise durch eine Schädi- Außersinnliche Wahrnehmung (extrasensory perception, ESP) um-
gung der linken Hemisphäre, entweder im Broca-Zentrum (gestörte strittene These, dass Wahrnehmung auch stattfinden kann, wenn keine
Sprechfähigkeit) oder im Wernicke-Zentrum (gestörtes Sprachverständnis) sensorischen Signale eintreffen. Zusammenfassender Begriff für
entsteht. 7 10 Phänomene wie Telepathie, Hellsehen und Präkognition. 7 7

Arbeits- und Organisationspsychologie (A&O-Psychologie; industrial- Autismus (autism) Störung, die im Kindesalter auftritt und durch das
organizational psychology) Anwendung psychologischer Konzepte Fehlen von Kommunikation, sozialer Interaktion und dem Verständnis für
und Methoden, um das menschliche Verhalten in der Arbeitswelt zu die seelischen Zustände anderer Menschen gekennzeichnet ist. 7 6
optimieren. 7 12
Automatische Verarbeitung (automatic processing) unbewusste
Arbeitsgedächtnis (working memory) ein neueres Verständnis des Enkodierung zufällig anfallender Informationen, wie Raum, Zeit und
Kurzzeitgedächtnisses, zu dem die bewusste, aktive Verarbeitung von Häufigkeit, sowie erlernter, aber inzwischen wohlbekannter Informa-
eingehenden auditiven und visuell-räumlichen Informationen sowie tionen (z. B. Wortbedeutungen). 7 9
von Informationen aus dem Langzeitgedächtnis gehört. 7 9
Autonomes (vegetatives) Nervensystem (ANS bzw. VNS; autonomic
Arbeitsmotivation (work motivation) Beweggründe dafür, warum nervous system) Teil des peripheren Nervensystems, der die Drüsen und
Menschen arbeiten und warum sie das mit unterschiedlichem Engagement Muskeln der Körperorgane (z. B. des Herzens) kontrolliert. Der sympa-
tun. 7 19 thische Teil sorgt für Erregung, der parasympathische für Beruhigung. 7 3

Arbeitspsychologie (work psychology) bezieht sich auf die Anwendung Autoritärer Erziehungsstil (authoritarian parenting) Eltern verlangen
psychologischer Theorien, Forschungsansätze und Interventionsme- strikten Gehorsam, weil es ihnen um psychologische Kontrolle geht.
thoden in der Arbeitswelt, auf die psychologischen Aspekte der Gestaltung Sie bestrafen massiv und physisch und haben geringes Interesse an den
der Arbeitstätigkeit, des Arbeitsplatzes und der Umgebung des Arbeits- Handlungsabsichten und -motiven der Kinder. 7 18
platzes. 7 19
Autoritativer Erziehungsstil (authoritative parenting) Eltern stellen
Anforderungen und verlangen die Einhaltung von Regeln, akzeptieren
Arbeitszufriedenheit (work satisfaction) zusammenfassende Bewertung
aber die Kinder als ernst zu nehmende Gesprächspartner. 7 18
der unterschiedlichen Dimensionen von Arbeit. 7 19
Aversionskonditionierung (aversive conditioning) Form der Gegen-
Assessment-Center (assessment center) multiple Verfahrenstechnik konditionierung, die einen unangenehmen Zustand (Übelkeit) mit uner-
zur Auswahl und Beurteilung von Mitarbeitern, bestehend aus ver- wünschtem Verhalten (Alkohol trinken) koppelt. 7 17
schiedenen eignungsdiagnostischen Instrumenten und leistungsrele-
vanten Aufgaben. 7 19 Axon (axon) Erweiterung eines Neurons, mit der Botschaften an andere
Neurone bzw. an Muskeln oder Drüsen weitergeleitet werden; die
Assimilation (assimilation) Interpretation neuer Erfahrungen mit Hilfe Verzweigungen des Axons werden axonale Endigungen oder Kollaterale
von Begriffen der bereits existierenden Schemata. 7 6 genannt. 7 3
889
Glossar

Balken 7 Corpus callosum 7 3 Bindung (attachment) emotionales Band zwischen dem sehr kleinen
Kind und seiner Bezugsperson. Das Kind sucht die Nähe zur Bezugsperson
Barbiturate (barbiturates) Substanzen, die zur Verringerung der Aktivität und reagiert auf Trennung mit Kummer und Schmerz. 7 6
des zentralen Nervensystems führen. Sie wirken angstreduzierend,
schränken jedoch das Gedächtnis und die Urteilsfähigkeit ein. 7 4 Binge-Eating-Störung (binge-eating disorder) deutliche Fressepisoden,
gefolgt von Leiden, Ekel oder Schuld, aber ohne die Kompensation durch
Bedingte Reaktion 7 Konditionierte Reaktion 7 8 Erbrechen oder Fasten, wie bei der Bulimia nervosa. 7 16

Bedingter Stimulus 7 Konditionierter Stimulus bzw. Reiz 7 8


Binokulare Hinweisreize (binocular cues) Tiefenmerkmale, wie retinale
Bedingungslose positive Wertschätzung (unconditional positive regard) Disparität, die voraussetzen, dass man beide Augen zu Hilfe nimmt. 7 7
mitfühlende, akzeptierende, nicht wertende Haltung, von der Carl Rogers
glaubte, dass sie Klienten dabei helfen würde, Selbstwahrnehmung und Biologische Psychologie oder Perspektive (biological psychology oder
Selbstakzeptanz zu entwickeln. 7 17 biological perspective) Teilbereich der Psychologie, der sich mit dem Zu-
sammenspiel von Biologie und Verhalten beschäftigt. Bezieht Psychologen
Bedrohung durch ein Stereotyp 7 Stereotype Threat 7 11 ein, die in den Neurowissenschaften, Verhaltensgenetik und der evolutio-
nären Psychologie arbeiten. Diese können sich als Verhaltensneurowissen-
Bedürfnishierarchie (hierarchy of needs) Maslows Pyramide der mensch- schaftler, Neuropsychologen, Verhaltensgenetiker, physiologische Psycho-
lichen Bedürfnisse; beginnend mit den physiologischen Bedürfnissen, die logen oder Biopsychologen bezeichnen. 7 3
erst erfüllt sein müssen, bevor auf einer höheren Stufe das Bedürfnis nach
Sicherheit und danach die psychischen Bedürfnisse aktuell werden. 7 12 Biomedikamentöse Therapie (biomedical therapy) verschriebene
Medikamente oder medizinische Verfahren, die direkt auf das Nerven-
Befragung (survey) Technik, bei der die von ihnen selbst berichteten system des Patienten einwirken. 7 17
Einstellungen oder Verhaltensweisen der Menschen einer bestimmten
Gruppe ermittelt werden; i. Allg. wird eine repräsentative Zufallsstichprobe Biopsychosozialer Ansatz (biopsychosocial approach) eine integrierende
befragt. 7 2 Sichtweise, die biologische, psychologische und soziokulturelle Analyse-
ebenen berücksichtigt. 7 1
Begriff (concept) mentale Gruppierung ähnlicher Gegenstände,
Ereignisse, Ideen oder Personen. 7 10 Bipolare Störung (bipolar disorder) affektive Störung, bei der ein Mensch
zwischen der Hoffnungslosigkeit und Lethargie der Depression und dem
Beharren auf Überzeugungen (belief perseverance) Festhalten an
übererregten Zustand der Manie hin und her wechselt (früher manisch-
den ursprünglichen Auffassungen, nachdem die Grundlage, auf der sie
depressive Störung genannt). 7 16
gebildet wurden, zweifelhaft geworden ist. 7 10

Behaviorismus (behaviorism) Sichtweise von der Psychologie als 1. Blinder Fleck (blind spot) Punkt der Netzhaut, an dem der Sehnerv das
einer objektiven Wissenschaft, die 2. das Verhalten ohne Bezugnahme auf Auge verlässt und ein »blinder« Fleck entsteht, weil hier keine Rezeptor-
mentale Prozesse untersucht. Heute stimmen die meisten Psychologen, zellen vorhanden sind. 7 7
die in der Forschung tätig sind, lediglich der 1. Aussage zu. 7 1, 8
Blindes Sehen (blindsight) Zustand, in dem eine Person auf einen visu-
Beobachtung in natürlicher Umgebung (auch Feldbeobachtung; ellen Stimulus reagieren kann, ohne diesen bewusst zu erleben. 7 4
naturalistic observation) Beobachten und Erfassen von Verhalten in
natürlichen Situationen unter Verzicht auf Manipulation oder Kontrolle Blindheit durch Unaufmerksamkeit (auch Unaufmerksamkeitsblindheit;
der Situation. 7 2 inattentional blindness) die Unfähigkeit, sichtbare Objekte zu sehen, wenn
die Aufmerksamkeit woanders ist. 7 4
Beobachtungslernen (observational learning) durch die Beobachtung
anderer Menschen lernen. 7 8 Blitzlichterinnerungen (flashbulb memories) sehr klare Erinnerungen
an emotional bedeutsame Momente oder Ereignisse. 7 9
Bestätigungstendenz (confirmation bias) Tendenz, nach Informationen
zu suchen, die eine vorgefasste Meinung bestätigen, und Hinweise Bottom-up-Verarbeitung (aufsteigende, datengesteuerte Informations-
zu ignorieren oder zu verzerren, die dieser Meinung widersprechen. 7 10 verarbeitung; bottom-up processing) Analyse, die mit den Sinnesrezepto-
ren beginnt und aufsteigend bis zur Integration der sensorischen Informa-
Bestrafung (punishment) Ereignis, das das vorausgehende Verhalten tion durch das Gehirn erfolgt. 7 7
reduziert. 7 8
Broca-Zentrum (Broca’s area) steuert den sprachlichen Ausdruck;
Bewältigung 7 Coping 7 13
Teil des Frontalkortex, meist in der linken Hemisphäre; steuert die Muskel-
Bewusste Verarbeitung (effortful processing) Form der Enkodierung, bewegungen, die an der Lautbildung beteiligt sind. 7 10
die Aufmerksamkeit und bewusste Anstrengung erfordert. 7 9
Bulimia nervosa (bulimia nervosa) Essstörung, die durch Fressepisoden
Bewusstsein (consciousness) Gesamtheit der unmittelbaren Erfahrung, gekennzeichnet ist, bei denen meistens riesige Kalorienmengen auf-
die sich aus der Wahrnehmung von uns selbst und unserer Umgebung, genommen werden, gefolgt von Erbrechen, der Verwendung von Abführ-
unseren Kognitionen, Vorstellungen und Gefühlen zusammensetzt. 7 4 mitteln oder Fasten. 7 16

Bildungspsychologie (kein entsprechender Begriff im Englischen) Teil der Cannon-Bard-Theorie (Cannon-Bard theory) sagt aus, dass ein emotions-
Pädagogischen Psychologie, der sich mit der Untersuchung des Lehrens erregender Reiz gleichzeitig 1. physiologische Reaktionen und 2. die
und Lernens befasst. 7 18 subjektive Erfahrung der Emotion auslöst. 7 13
890 Anhang

Chromosomen (chromosomes) fadenähnliche Strukturen aus Doppelblindversuch (double-blind procedure) experimentelles Vor-
DNA-Molekülen, die Gene enthalten. 7 5 gehen, bei dem sowohl die Versuchsteilnehmer als auch die Mitarbeiter
des Versuchsleiters nicht wissen (»blind« sind), ob die Teilnehmer eine
Chunking (chunking) Organisieren einzelner Items in handhabbare Behandlung oder ein Placebo erhalten. Diese Methode wird i. Allg. bei der
und/oder vertraute Einheiten; geschieht häufig automatisch. 7 9 Evaluation von Studien zur Wirkung von Medikamenten angewandt. 7 2

Coping (Bewältigung; coping) Verringerung von Stress auf emotionalem Down-Syndrom (auch Trisomie 21; Down syndrome) Zustand einer
oder kognitivem Wege bzw. durch Verhalten. 7 13 leichten bis schweren geistigen Behinderung und einer Reihe damit
zusammenhängender körperlicher Merkmale, die durch ein zusätzliches
Corpus callosum (auch Balken; corpus callosum) breites Band aus Nerven- Chromosom 21 verursacht werden. 7 11
fasern, das die beiden Gehirnhälften miteinander verbindet und über das
Informationen weitergeleitet werden. 7 3 Dreifarbentheorie von Young und Helmholtz (Young-Helmholtz
trichromatic theory) Theorie, die besagt, dass die Retina drei verschiedene
CR 7 Konditionierte Reaktion 7 8 Farbrezeptortypen enthält, von denen einer besonders empfindlich auf
Rot reagiert, ein anderer auf Grün und ein dritter auf Blau. Werden sie
Cross-Race-Effekt 7 Other-Race-Effekt 7 15 in Kombination stimuliert, können sie die Wahrnehmung jedes beliebigen
Farbtons erzeugen. 7 7
CS 7 Konditionierter Stimulus bzw. Reiz 7 8
DSM-IV-TR (Diagnostic and Statistical Manual of Mental Disorders,
Dämpfende Substanzen (depressant) Substanzen (wie Alkohol, 4th Edition, Text Revision) Diagnostisches und Statistisches Manual
Barbiturate und Opiate), die die neuronale Aktivität reduzieren und die Psychischer Störungen (4. Ausgabe) der American Psychiatric Association
Körperfunktionen verlangsamen. 7 4 mit aktualisierter Textrevision, ein weithin genutztes System zur Klassifi-
kation psychischer Störungen. 7 16
Deindividuation (deindividuation) Verlust der Selbstwahrnehmung
und Zurückhaltung in Gruppensituationen, die Erregung und Anonymität Early-Starter-Modell (early-starter model) Modellvorstellung, der die
fördern. 7 15 Annahme zugrunde liegt, dass die meisten delinquenten, antisozialen
Jugendlichen ihre »Karriere« aufgrund negativer familiärer Erfahrungen
Déjà-vu-Erfahrung (déjà vu) der unheimliche Eindruck, etwas schon bereits im Vorschulalter begonnen haben. 7 18
einmal erlebt zu haben. Hinweisreize aus der aktuellen Situation könnten
unbewusst die Erinnerung an eine frühere Situation auslösen. 7 9 Echogedächtnis (echoic memory) kurzzeitiges sensorisches Gedächtnis
für auditive Reize; wenn die Aufmerksamkeit abgelenkt ist, können Wörter
Deltawellen (δ-Wellen; delta waves) langsame Hirnwellen mit großer oder Geräusche noch in einem Zeitfenster von 3 oder 4 Sekunden erinnert
Amplitude. δ-Wellen gehen mit Tiefschlaf einher. 7 4 werden. 7 9

Ecstasy (auch MDMA, ecstasy) synthetisches Stimulans und schwaches


Dendriten (dendrites) vielfach verzweigte Erweiterungen einer Nerven-
Halluzinogen. Führt zu Euphorie und dem Gefühl sozialer Nähe, birgt
zelle, mit denen Botschaften empfangen und Impulse an den Zellkörper
jedoch kurzfristige Gesundheitsrisiken und beschädigt längerfristig sero-
weitergegeben werden. 7 3
tonerge Neuronen; wirkt auf Stimmung und Kognition. 7 4
Desoxyribonukleinsäure 7 DNA/DNS 7 5
EEG 7 Elektroenzephalogramm 7 3

Deutung (interpretation) heißt in der Psychoanalyse, dass der Analytiker


Effektgesetz (law of effect) Thorndikes Prinzip, dass Verhaltensweisen,
die Bedeutung der Träume, des Widerstands und anderer aufschlussreicher
die angenehme Konsequenzen zur Folge haben, häufiger auftreten,
Verhaltensweisen interpretiert, um den Patienten auf dem Weg zur Ein-
während Verhaltensweisen, denen unangenehme Konsequenzen folgen,
sicht weiterzubringen. 7 17
seltener gezeigt werden. 7 8

Diskriminierung (discrimination) nicht zu rechtfertigendes, negatives


Egozentrismus (egocentrism) in Piagets Entwicklungstheorie die
Verhalten gegenüber einer Gruppe oder ihren Mitgliedern. 7 15
mangelnde Fähigkeit des Kindes im präoperatorischen Stadium, den
Standpunkt eines anderen Menschen einzunehmen. 7 6
Dissoziation (dissociation) Spaltung des Bewusstseins, die ermöglicht,
dass bestimmte Gefühle und Gedanken gleichzeitig mit anderen Eigengruppe (in-group) »Wir« – die Menschen, mit denen man eine
auftreten. 7 4 gemeinsame Identität teilt. 7 15

Dissoziative Identitätsstörung (dissociative identity disorder) seltene Eigengruppenverzerrung (in-group bias) Tendenz, die eigene Gruppe
Form einer dissoziativen Störung, bei der eine Person zwei oder mehrere anderen vorzuziehen. 7 15
voneinander unterscheidbare und einander abwechselnde Persönlich-
keiten zeigt; früher bezeichnet als multiple Persönlichkeitsstörung. 7 16 Eignungstest (aptitude test) Test, der die künftig zu erwartende Leistung
eines Menschen vorhersagen soll; Eignung ist die Fähigkeit zu lernen. 7 11
Dissoziative Störungen (dissociative disorders) Störungen, bei denen
sich das Bewusstsein von früheren Erinnerungen, Gedanken und Gefühlen Eineiige Zwillinge (identical twins) Zwillinge, die sich aus einer einzigen
abspaltet (dissoziiert). 7 16 (monozygotisch) befruchteten Eizelle entwickeln, die sich dann in zwei
Eizellen teilt und somit zwei genetisch identische Organismen bildet. 7 5
DNA/DNS (Desoxyribonukleinsäure; deoxyribonucleic acid) komplexes
Molekül, das die genetische Information enthält, die die Chromosomen Einsicht (insight) plötzliche und oft überraschend auftauchende Lösung
bildet. 7 5 eines Problems; im Unterschied zu strategisch angelegten Lösungen. 7 10
891
Glossar

Einsichttherapien (insight therapies) Vielzahl von Therapien, deren Ziel Empirisch ermittelter Test (empirically derived test) ein Test, wie der
es ist, die seelische Gesundheit zu verbessern, indem sie das Bewusstsein MMPI, in dem ein Itempool untersucht wird und hinterher diejenigen Items
einer Person für ihre grundlegenden Beweggründe und Abwehrreaktionen zu Gruppen zusammengefasst werden, die am besten zwischen den
stärkt. 7 17 Dimensionen diskriminieren. 7 14

Einstellung (attitude) Gefühle, oft von unseren Überzeugungen beein- Endokrines System (endocrine system) »langsames« chemisches
flusst, die Menschen prädisponieren, in einer bestimmten Art und Weise Kommunikationssystem des Körpers; es besteht aus einer Reihe von
auf Dinge, Menschen und Ereignisse zu reagieren. 7 15 Drüsen, die Hormone ins Blut ausschütten. 7 3

Einwortstadium (one-word stage) Phase der Sprachentwicklung, die Endorphine (endorphins) »innere Morphine«; natürliche, den Opiaten
ungefähr das 2. Lebensjahr umfasst, während der das Kind hauptsächlich ähnelnde Neurotransmitter, die mit Schmerzlinderung und Lust in Zusam-
in einzelnen Wörtern spricht. 7 10 menhang gebracht werden. 7 3

Einzelfallstudie (case study) Beobachtungstechnik, bei der ein Individuum Enkodieren (encoding) Verarbeitung von Informationen zur Eingabe
gründlich und intensiv beobachtet wird in der Hoffnung, auf diese Weise in das Gedächtnissystem, z. B. durch Herstellen eines Bedeutungszusam-
universelle Prinzipien entdecken zu können. 7 2 menhangs. 7 9

Eklektischer Ansatz (eclectic approach) Form der Psychotherapie, Entwicklungspsychologie (developmental psychology) Teildisziplin der
bei der je nach dem Problem des Klienten Techniken aus unterschiedlichen Psychologie, die die im Verlauf des Lebens auftretenden Veränderungen
Therapieformen eingesetzt werden. 7 17 auf der physischen, kognitiven und sozialen Ebene untersucht. 7 6

EKT 7 Elektrokrampftherapie 7 17 Entzug (withdrawal) unangenehme und quälende Folgen des Absetzens
der suchterzeugenden Substanz. 7 4
Elektroenzephalogramm (EEG; electroencephalogram) Verstärkung
von Hirnstromwellen, also Wellen elektrischer Aktivität, die über die Ober-
Epigenetik (epigenetics) die Untersuchung der Einflüsse auf die Gen-
fläche des Gehirns laufen. Diese Wellen werden von Elektroden gemessen,
expression, die auftreten ohne die DNA zu verändern. 7 5
die am Schädel befestigt werden. 7 3
Equity (ausgewogenes Verhältnis von Geben und Nehmen; equity) ein
Elektrokrampftherapie (EKT; electroconvulsive therapy) biomedizinische
Zustand, in dem Menschen aus einer Beziehung genauso viel bekommen,
Therapie für schwer depressive Patienten, bei der ein kurzer Stromstoß
wie sie geben. 7 15
durch das Gehirn des anästhesierten Patienten geschickt wird. 7 17

Erbe-Umwelt-Debatte 7 Anlage-Umwelt-Debatte 7 1
Embodied Cognition (auch Embodiment; embodied cognition) in der psy-
chologischen Wissenschaft der Einfluss von körperlichen Empfindungen,
Erblichkeit (heritability) Ausmaß, in dem interindividuelle Unterschiede
Gesten und anderen Zuständen auf kognitive Vorlieben und Urteile. 7 7
auf Gene zurückgeführt werden können. Die Erblichkeit eines Persönlich-
keitsmerkmals kann in Abhängigkeit von der ausgewählten Population
Embodiment 7 Embodied Cognition 7 7
und den untersuchten Umweltbedingungen variieren. 7 5, 11
Embryo (embryo) sich entwickelnder menschlicher Organismus.
Die Embryonalphase dauert etwa von der 2. Woche nach der Befruchtung Erlernte Hilflosigkeit (learned helplessness) Hoffnungslosigkeit und
bis zum Ende des 2. Monats 7 6 passive Resignation, die Tiere und Menschen lernen, wenn sie wiederholt
auftretenden aversiven Ereignissen nicht ausweichen können. 7 14
Emotion (emotion) Reaktion des gesamten Organismus, die 1. physio-
logische Erregung, 2. Ausdrucksverhalten und 3. bewusste Erfahrung Erneutes Lernen (relearning) Maß für die Erinnerungsfähigkeit, mit dem
beinhaltet. 7 13 erfasst wird, wie viel schneller bereits erlerntes Material zum wiederholten
Mal gelernt wird. 7 9
Emotionale Intelligenz (emotional intelligence) Fähigkeit, Emotionen
wahrzunehmen, zu verstehen, mit ihnen umzugehen und sie zu Erwerb (acquisition) erste Phase der klassischen Konditionierung;
nutzen. 7 11 die Phase, in der ein neutraler Reiz mit einem unkonditionierten Reiz ge-
koppelt wird, sodass der neutrale Reiz eine konditionierte Reaktion aus-
Emotionsfokussierte Bewältigung (emotion-focused coping) Versuch, löst. Bei der operanten Konditionierung: die Bekräftigung einer verstärkten
den Stress indirekt zu verringern, indem man einen Stressor meidet Reaktion. 7 8
oder ihn ignoriert und seine Aufmerksamkeit auf emotionale Bedürfnisse
richtet, die mit der eigenen Stressreaktion zusammenhängen. 7 13 Erziehungspraktiken (parental techniques) beziehen sich auf spezifische
Erziehungsmaßnahmen der Eltern, Erziehungsstile dagegen auf inhalts-
Empathiemediationshypothese (empathy mediation hypothesis) unabhängige (d. h. übergreifende) Grundhaltungen. 7 18
Annahme, dass die Enge des Zusammenhangs zwischen elterlicher Er-
ziehung und prosozialem Handeln durch die Stärke des empathischen Erziehungspsychologie (kein entsprechender Begriff im Englischen) Teil
Mitempfindens vermittelt wird. 7 18 der Pädagogischen Psychologie, der sich nicht mit Bildungsprozessen
(Lehren und Lernen), sondern mit Erziehung im engeren Sinne befasst,
Empathische Schuldgefühle (feelings of empathic guilt) Schuldgefühle, etwa mit dem Einfluss elterlicher Erziehungsmaßnahmen auf die Entwick-
die auf der Fähigkeit zum empathischen Mitempfinden beruhen. Sie lung des Kindes. 7 18
treten dann auf, wenn eine Person sich als Quelle für die Schädigung oder
Verletzung einer anderen Person erlebt, und sind eine Form des Mitfühlens Erziehungsstil (parenting style) Muster von elterlichen Einstellungen,
mit dem Anderen. 7 18 Handlungsweisen und Ausdrucksformen, die die Art der Interaktion
892 Anhang

der Eltern mit ihrem Kind über eine Vielzahl von Situationen kennzeich- Farbton (hue) Farbdimension, die durch die Wellenlänge des Lichts
nen. 7 18 bestimmt wird und die wir als die uns bekannten Farben Blau, Grün etc.
wahrnehmen. 7 7
Es (id) enthält ein Reservoir unbewusster Energie, deren Streben laut
Freud auf die Erfüllung grundlegender sexueller und aggressiver Triebe FAS 7 Fötales Alkoholsyndrom 7 6
gerichtet ist. Das Es handelt nach dem Lustprinzip und verlangt sofortige
Befriedigung. 7 14 360°-Feedback (360° feedback) Menschen, die in unterschiedlicher Be-
ziehung zu dem zu Beurteilenden stehen und/oder aus unterschied-
ESP 7 Außersinnliche Wahrnehmung 7 7 lichen Gründen an den Ergebnissen interessiert sind, geben Rückmeldung
zur Arbeitsleistung einer Person. 7 19
Evidenzbasierte Praxis (evidence-based practice) Treffen klinischer
Entscheidungen, bei dem die besten verfügbaren Forschungsbefunde, Fehlinformationseffekt (misinformation effect) der Einbau von irre-
klinische Erfahrung und die Vorlieben und Eigenschaften der Patienten führenden Informationen in die Erinnerung an ein Ereignis. 7 9
vereint werden. 7 17
Feldbeobachtung 7 Beobachtung in natürlicher Umgebung 7 2
Evolutionspsychologie (evolutionary psychology) die Untersuchung
der Evolution des Verhaltens und des Denkens mithilfe der Prinzipien der Fester Intervallplan (fixed-interval schedule) ein Verstärkungsplan
natürlichen Selektion. 7 5 in der operanten Konditionierung, bei dem die erste Reaktion nach einer
vorab festgelegten Zeitspanne verstärkt wird. 7 8
Experiment (experiment) Forschungsmethode, bei der der Forscher
einen oder mehrere Faktoren (unabhängige Variablen) manipuliert, um die Fester Quotenplan (fixed-ratio schedule) ein Verstärkungsplan in
Auswirkung auf eine Verhaltensweise oder einen mentalen Prozess (ab- der operanten Konditionierung, bei dem eine Reaktion erst nach einer
hängige Variable) zu beobachten. Durch Zufallszuweisung der Teilnehmer bestimmten Anzahl von Reaktionen verstärkt wird. 7 8
können andere wichtige Faktoren kontrolliert werden. 7 2
Figur-Grund-Beziehung (figure-ground) Organisation des Gesichtsfelds
Explizites Gedächtnis (explicit memory) Gedächtnis für Fakten und
in Objekte (Figuren), die sich von ihrer Umgebung abheben (Grund). 7 7
Erfahrungen, die man bewusst wissen und »deklarieren« kann (auch als
deklaratives Gedächtnis bezeichnet). 7 9
Fixierung (fixation) nach Freud eine Bindung der Lust suchenden Energien
an eine vorhergehende psychosexuelle Phase, in der Konflikte nicht gelöst
Expositionstherapie (exposure therapy) Technik der Verhaltensmodifika-
wurden. 7 14
tion – wie die systematische Desensibilisierung und die Expositionsthera-
pie mit Hilfe virtueller Realität –, die Ängste bekämpft, indem Menschen
Flow (flow) ein fokussierter Bewusstseinszustand völliger Hingabe, mit
(in der Vorstellung oder in der Realität) mit den Dingen konfrontiert
verminderter Wahrnehmung des eigenen Selbst und der Zeit, aufgrund
werden, vor denen sie Angst haben und die sie vermeiden. 7 17
einer optimalen Beanspruchung der eigenen Fähigkeiten. 7 12

Expositionstherapie mit Hilfe virtueller Realität (virtual reality exposure


Fluide Intelligenz (fluid intelligence) Fähigkeit eines Menschen, schnell
therapy) eine Angstbehandlung, bei der Menschen zunehmend mit
und abstrakt zu denken. Diese Fähigkeit nimmt tendenziell im späten
simulierten Beispielen für ihre größten Ängste konfrontiert werden (z. B.
Erwachsenenalter ab. 7 11
Fliegen in einem Flugzeug, Spinnen, Sprechen vor Publikum). 7 17

fMRT (funktionelle MRT; functional MRI) ein Verfahren zur Darstellung von
Externale Kontrollüberzeugung (external locus of control) die Wahr-
Blutfluss und damit Hirnaktivität, indem man zeitlich aufeinander folgende
nehmung, dass das eigene Schicksal vom Zufall oder von äußeren Kräften
bestimmt wird, die sich der eigenen Kontrolle entziehen. 7 14 MRT-Scans miteinander vergleicht. Mit Hilfe von fMRT-Scans kann man die
Hirnfunktionen erkennen. 7 3
Extinktion 7 Löschung 7 8
Foot-in-the-Door-Technik (foot-in-the-door phenomenon) Neigung
Extrinsische Motivation (extrinsic motivation) Wunsch, ein Verhalten von Menschen, die zunächst einer bescheidenen Forderung zugestimmt
wegen versprochener Belohnungen oder drohender Bestrafung zu haben, später auch einer weiter gehenden Forderung zuzustimmen. 7 15
zeigen. 7 8
Formal-operatorisches Stadium (formal operational stage) nach Piaget
Faktorenanalyse (factor analysis) statistische Methode zur Identifizierung das Stadium der kognitiven Entwicklung, das normalerweise mit dem
von Gruppen verwandter Items (die man auch Faktoren nennt) in einem 12. Lebensjahr beginnt. In dieser Phase erwirbt das Kind die Fähigkeit,
Test; wird zum Nachweis verschiedener Leistungsdimensionen eingesetzt, logisch über abstrakte Konzepte nachzudenken. 7 6
aus denen sich der Gesamttestwert eines Menschen ergibt. 7 11
Formatio reticularis (reticular formation) neuronales Netz im Hirnstamm,
Familientherapie (family therapy) Therapie, die die Familie als Gesamt- das eine wichtige Rolle bei der Steuerung der Erregung spielt. 7 3
system behandelt. Sie geht davon aus, dass das unerwünschte Verhalten
des Einzelnen von anderen Familienmitgliedern beeinflusst oder auf sie Fötales Alkoholsyndrom (FAS, fetal alcohol syndrome) körperliche und
gerichtet ist. 7 17 kognitive Anomalien, verursacht durch mütterlichen Alkoholmissbrauch
während der Schwangerschaft. In schweren Fällen kann es zu auffallenden
Farbkonstanz (color constancy) Fähigkeit, bekannte Gegenstände auch Veränderungen der Gesichtsproportionen kommen. 7 6
unter stark wechselnden Lichtverhältnissen, die die von den Gegen-
ständen reflektierten Wellenlängen verändern, mit gleichbleibender Farbe Fötus (fetus) Bezeichnung für den sich entwickelnden menschlichen
wahrzunehmen. 7 7 Organismus ab der 9. Woche nach der Empfängnis bis zur Geburt. 7 6
893
Glossar

Fovea (auch Sehgrube; fovea) Punkt des schärfsten Sehens auf der Retina, Gegenkonditionierung (counterconditioning) Verfahren der Verhaltens-
um den herum die Zapfen des Auges gehäuft vorkommen. 7 7 therapie, das die klassische Konditionierung nutzt, um neue Reaktionen
auf jene Reize zu erzeugen, die unerwünschte Verhaltensweisen auslösen.
Framing-Effekt (auch Rahmeneffekt; framing effect) Auswirkung der Dar- Schließt Expositionstherapien und die Aversionskonditionierung ein. 7 17
stellungsweise eines Gegenstands oder Themas; Framing-Effekte können
einen großen Einfluss auf Entscheidungen und Urteile ausüben. 7 10 Gehör (audition) Sinneskanal des Hörens. 7 7

Freie Assoziation (free association) psychoanalytische Methode zur Er- Geistige Behinderung (intellectual disability) ein Zustand eingeschränk-
forschung des Unbewussten, bei der der Patient sich entspannt und ter geistiger Fähigkeiten, gekennzeichnet durch einen IQ von unter 70
alles ausspricht, was ihm durch den Kopf geht, auch wenn es nichtssagend und Schwierigkeiten, den Anforderungen des normalen Alltagslebens
oder peinlich ist. 7 14 gerecht zu werden; variiert von leicht bis schwer (früher als mentale Retar-
dierung bezeichnet). 7 11
Fremdeln (stranger anxiety) Furcht vor Menschen, die dem Kind unbe-
kannt sind. Das Fremdeln tritt allgemein bei Kindern im 8. Lebensmonat Gemeindepsychologie (community psychology) ein Zweig der Psycholo-
erstmals auf. 7 6 gie, der untersucht, wie Menschen mit ihrem sozialen Umfeld interagieren
und wie soziale Institutionen Individuen und Gruppen beeinflussen. 7 1
Fremdgruppe (out-group) »Sie« – diejenigen, die als verschieden oder
getrennt von der eigenen Gruppe wahrgenommen werden. 7 15 Gene (genes) biochemische Bausteine für die Vererbung, aus denen
die Chromosomen bestehen. Gene sind Segmente der DNA, die fähig sind,
Frequenz (frequency) Anzahl von vollständigen Schwingungen, Proteine zu synthetisieren (aufzubauen). 7 5
die einen bestimmten Punkt in einem vorgegebenen Zeitraum passieren
(z. B. pro Sekunde). 7 7 Generalisierte Angststörung (generalized anxiety disorder) Angst-
störung, bei der die Betroffenen kontinuierlich angespannt und besorgt
Frequenztheorie (frequency theory) besagt, dass beim Gehör die Anzahl sind und eine anhaltende Erregung des autonomen Nervensystems
der über den Hörnerv übertragenen Nervenimpulse der Frequenz eines aufweisen. 7 16
Tons entspricht und uns damit ermöglicht, die Höhe dieses Tons wahr-
zunehmen. 7 7 Genom (genome) enthält die vollständigen Informationen, um einen
Organismus herzustellen; besteht aus dem gesamten genetischen Material
Frontallappen (frontal lobes) Teil des zerebralen Kortex, der direkt in den Chromosomen des Organismus. 7 5
hinter der Stirn liegt. Beteiligt an der Sprache und Willkürmotorik und an
der Planung und Urteilsfindung. 7 3 Gerechte-Welt-Glaube (just-world phenomenon) Tendenz von Menschen,
zu glauben, dass die Welt gerecht ist und dass Menschen deshalb bekom-
Frustrations-Aggressions-Prinzip (frustration aggression principle) men, was sie verdienen, und verdienen, was sie bekommen. 7 15
besagt, dass durch Frustration, d. h. wenn man daran gehindert wird, ein
Ziel zu erreichen, Wut entsteht, die zu Aggressionen führen kann. 7 15 Geschlecht (sex bzw. gender) in der Psychologie Bezeichnung für die
biologisch (»sex«) oder sozial (»gender«) beeinflussten Charakteristika, die
Führung (leadership) Einflussnahme mittels Kommunikation zwecks Menschen als männlich oder weiblich definieren. 7 5
gemeinsamer Aufgabenbearbeitung. 7 19
Geschlechtsidentität (gender identity) das Gefühl einer Person,
Fundamentaler Attributionsfehler (fundamental attribution error) Mann oder Frau zu sein. 7 5
Tendenz, dass ein Beobachter bei der Analyse des Verhaltens eines Men-
schen den Einfluss der Situation unter- und den Einfluss der persönlichen Geschlechtsrolle (gender role) Reihe von Erwartungen an das Verhalten
Veranlagung überschätzt. 7 15 von Männern und Frauen. 7 5

funktionelle MRT 7 fMRT 7 3 Geschlechtstypisierung (gender-typing) bezeichnet den Erwerb einer


traditionell männlichen oder weiblichen Rolle. 7 5
GAS 7 Allgemeines Adaptationssyndrom 7 13
Gestalt (gestalt) organisiertes Ganzes. Die Gestaltpsychologen heben
Gate-Control-Theorie (gate-control theory) besagt, dass das Rückenmark unsere Tendenz hervor, einzelne Informationselemente zu einem sinn-
über ein neurologisches »Tor« (»gate«) verfügt, das Schmerzsignale aufhält vollen Ganzen zusammenzufügen. 7 7
oder zum Gehirn durchlässt. Das »Tor« wird geöffnet durch die Aktivität
von Schmerzsignalen, die über feine Nervenfasern nach oben steigen, und Gesundheitspsychologie (health psychology) Teilbereich der Psycho-
geschlossen durch die Aktivität in dickeren Fasern oder durch vom Gehirn logie, der den Beitrag der Psychologie zur Verhaltensmedizin liefert. 7 13
kommende Informationen. 7 7
Gleichgewichtssinn (auch vestibulärer Sinn; vestibular sense) Sinnes-
Gedächtnis (memory) dauerhaftes Fortbestehen von aufgenommenen system zur Wahrnehmung der Bewegung und Lage des Körpers. 7 7
Informationen über die Zeit; es ermöglicht die Speicherung und das
Abrufen von Informationen. 7 9 Gliazellen (glial cells) Zellen innerhalb des Nervensystems, die die
Neuronen stützen, ernähren und schützen und möglicherweise beim
Gegenfarbentheorie (opponent-process theory) Theorie, derzufolge das Lernen und Denken eine Rolle spielen. 7 3
Farbensehen auf den retinalen Erregungsverhältnissen der Gegenfarben-
paare beruht (Rot/Grün, Gelb/Blau und Schwarz/Weiß). So werden bei- Glukose (glucose) Form des Zuckers, die im Blut zirkuliert und die
spielsweise manche Zellen durch Grün stimuliert und durch Rot gehemmt, Hauptenergiequelle für das Körpergewebe darstellt. Sinkt der Glukose-
andere werden durch Rot stimuliert und durch Grün gehemmt. 7 7 spiegel, fühlen wir uns hungrig. 7 12
894 Anhang

Grammatik (grammar) System von Regeln in einer Sprache, mit deren Hippocampus (hippocampus) neuronales Zentrum im limbischen System,
Hilfe wir uns anderen Menschen mitteilen und sie verstehen können. das an der Verarbeitung expliziter Erinnerungen für die endgültige
Die Semantik (»semantics«) ist die Gesamtheit aller Regeln, mit deren Hilfe Speicherung beteiligt ist. 7 9
wir in einer gegebenen Sprache aus Morphemen, Wörtern und Sätzen
Bedeutung ableiten; und die Syntax (»syntax«) beschreibt die Regeln, nach Hirnstamm (brain stem) ältester Teil und Kern des Gehirns, der dort
denen Wörter zu sinnvollen Sätzen kombiniert werden. 7 10 beginnt, wo das Rückenmark in den Schädel eintritt und etwas dicker wird.
Der Hirnstamm ist für die automatische Aufrechterhaltung der Lebens-
GRIT (Graduated and Reciprocated Initiatives in Tension-Reduction) funktionen zuständig. 7 3
schrittweise und wechselseitige Initiativen zur Spannungsreduktion –
eine Strategie zur Verringerung internationaler Spannungen. 7 15 Homöostase (homeostasis) Tendenz, einen ausgeglichenen und konstan-
ten inneren Zustand aufrechtzuerhalten; Regulation aller Bereiche der Kör-
Grundlagenforschung (basic research) reine Wissenschaft mit dem Ziel perchemie, wie z. B. die Regulierung des Blutzuckers auf einer bestimmten
der Vergrößerung des wissenschaftlich fundierten Basiswissens. 7 1 Höhe. 7 12

Grundumsatz (basal metabolic rate) Energiemenge, die ein Körper im Hormone (hormones) von den endokrinen Drüsen hergestellte chemi-
Ruhezustand verbraucht. 7 12 sche Botenstoffe, die sich durch den Blutkreislauf fortbewegen und andere
Gewebe beeinflussen. 7 3
Gruppendenken (groupthink) Denkweise, die dann auftritt, wenn in
einer Gruppe das Harmoniebedürfnis bei Entscheidungen stärker ist als Human-Factors-Psychologie (human factors psychology) ein Unterfeld
die realistische Bewertung von Alternativen. 7 15 der A&O-Psychologie, das untersucht, wie Mensch und Maschinen mit-
einander interagieren und wie Maschinen und physische Umwelten sicher
Gruppenpolarisierung (group polarization) Extremisierung der in und einfach nutzbar gemacht werden können. 7 12
einer Gruppe vorherrschenden Einstellungen durch Diskussionen in
der Gruppe. 7 15 Humanistische Psychologie (humanistic psychology) historisch bedeut-
same Auffassung, bei der das Wachstumspotenzial gesunder Menschen und
Gruppensozialisationstheorie (group socialization theory) Auffassung, das individuelle Potenzial für persönliches Wachstum betont werden. 7 1
dass die Gruppe der Gleichaltrigen (und nicht die Eltern!) den entschei-
Humanistische Theorien (humanistic theories) betrachten Persönlichkeit
denden Erziehungseinfluss ausübt. 7 18
in Bezug auf das menschliche Potenzial zu gesundem persönlichem
Wachstum. 7 14
Gruppentherapie (group therapy) wird mit Gruppen statt Einzelperso-
nen durchgeführt, ermöglicht therapeutische Vorteile durch die Gruppen-
Hypnose (hypnosis) soziale Interaktion, in der eine Person (der Hypno-
interaktion. 7 17
tiseur) einer anderen (dem Hypnotisierten) suggeriert, dass bestimmte
Wahrnehmungen, Gefühle, Gedanken oder Verhaltensweisen spontan auf-
Gruppierung (grouping) Tendenz unserer Wahrnehmung, Reize zu
treten. 7 4
kohärenten Gruppen zusammenzufassen. 7 7
Hypophyse (pituitary gland) wichtigste Drüse des endokrinen Systems.
Habituation (habituation) Abnahme der Reaktionsbereitschaft bei
Unter dem Einfluss des Hypothalamus reguliert sie das Wachstum und
wiederholter Stimulusdarbietung. In dem Maß, wie ein Säugling durch
kontrolliert die Aktivität anderer endokriner Drüsen. 7 3
wiederholte Darbietung mit einem visuellen Stimulus vertraut wird,
schwindet sein Interesse; er fixiert den Stimulus immer kürzer und wendet Hypothalamus (hypothalamus) neuronale Struktur, die unterhalb
früher den Blick ab. 7 6 (»hypo«) des Thalamus liegt; steuert die lebenserhaltenden Aktivitäten
(wie Essen, Trinken und die Körpertemperatur), beeinflusst über die
Halluzinationen (hallucinations) irrtümliche sensorische Wahrnehmungen,
Hypophyse das endokrine System und wird mit Emotionen in Zusammen-
wie etwa das Sehen von Objekten ohne äußere visuelle Reize. 7 4
hang gebracht. 7 3

Halluzinogene (hallucinogens) psychedelische (»bewusstseins- Hypothese (hypothesis) meist aus einer Theorie abgeleitete überprüfbare
erweiternde«) Substanzen, wie LSD, die Wahrnehmungen verzerren und Vorhersage. 7 2
sensorische Bilder ohne sensorischen Input generieren. 7 4
Ich (ego) das weitgehend bewusst arbeitende »ausführende Organ« der
Handlungstheorie (action theory) Theorie, die das Bewusste und Persönlichkeit, das nach Freuds Meinung einen Kompromiss zwischen den
Geplante menschlichen Verhaltens betont. 7 19 Forderungen des Es, des Über-Ichs und der Realität sucht. Das Ich arbeitet
nach dem Realitätsprinzip und befriedigt die Wünsche des Es auf eine
Hawthorne-Effekt (Hawthorne effect) verzerrender Einfluss bei experi- Weise, dass eher Lust als Schmerz zu erwarten ist. 7 14
mentellen Untersuchungen. Nicht die durchgeführte experimentelle
Manipulation wirkt sich auf die abhängigen Variablen aus, sondern allein Identifizierung (identification) Prozess, durch den nach Freuds Auf-
die Tatsache, dass eine Untersuchung durchgeführt wird. 7 19 fassung Kinder die Wertvorstellungen ihrer Eltern in ihr eigenes Über-Ich
integrieren. 7 14
Heuristik (heuristic) einfache Denkstrategie für effizientere Urteile
und Problemlösungen; schneller, aber auch fehleranfälliger als der Algo- Identität (identity) Gefühl für das eigene Selbst. Nach Erikson besteht
rithmus. 7 10 die Aufgabe der Adoleszenz darin, das Selbstgefühl zu festigen; dabei
werden verschiedene Rollen erprobt und ggf. integriert. 7 6
Hindsightbias (Verzerrung durch nachträgliche Einsicht, hindsight bias)
Tendenz, nach dem Eintreten eines Ereignisses zu glauben, man hätte es Ikonisches Gedächtnis (iconic memory) kurzzeitiges sensorisches
vorhersehen können (auch bekannt als Rückschaufehler). 7 2 Gedächtnis für visuelle Eindrücke, ähnlich wie eine Momentaufnahme
895
Glossar

oder ein Bild, das nur wenige Zehntelsekunden lang erinnert werden Internale Kontrollüberzeugung (internal locus of control) die Wahr-
kann. 7 9 nehmung, dass man seine eigenen Geschicke steuern kann. 7 14

Implizites Gedächtnis (implicit memory) Behalten, das unabhängig Internalisierung (internalization) Verinnerlichung (sich zu eigen machen)
von bewusster Erinnerung ist (auch als nondeklaratives Gedächtnis von Normen, Regeln und Werten. 7 18
bezeichnet). 7 9
Interneurone (interneurons) Neuronen des zentralen Nervensystems,
Individualismus (individualism) die Priorität für die eigenen Ziele ist deren Aufgabe es ist, die interne Kommunikation zu gewährleisten sowie
höher als die für Gruppenziele; die eigene Identität definiert sich eher zwischen sensorischem Input und motorischem Output zu vermitteln. 7 3
über persönliche Eigenschaften als über Gruppenmerkmale. 7 5
Intimität (intimacy) nach Eriksons Theorie die Fähigkeit, enge Liebes-
Induktive Erziehung (induction; inductive parenting) Erziehungs- beziehungen einzugehen. Intimität zulassen zu können, ist die primäre
maßnahmen, mit denen Eltern die Kinder auf die Auswirkungen von Fehl- Entwicklungsaufgabe der späten Adoleszenz und der ersten Jahre als
verhalten auf andere Menschen hinweisen. 7 18 junger Erwachsener. 7 6

Informationaler sozialer Einfluss (informational social influence) Einfluss, Intrinsische Motivation (intrinsic motivation) Wunsch, ein Verhalten
der sich aus der Bereitschaft eines Menschen ergibt, die Meinungen ande- um seiner selbst willen zu zeigen. 7 8
rer über die Wirklichkeit anzunehmen. 7 15
Intuition (intuition) ein müheloser, plötzlicher und automatischer
Informierte Einwilligung (informed consent) ein ethischer Grundsatz, der Gefühlszustand oder Gedanke – im Gegensatz zu explizitem, bewusstem
darin besteht, dass Versuchsteilnehmer genügend informiert werden, um Überlegen. 7 10
entscheiden zu können, ob sie an einem Versuch teilnehmen möchten. 7 2
Iris (auch Regenbogenhaut; iris) Ring aus Muskelgewebe, der den farbi-
Inhaltsvalidität (content validity) Ausmaß, in dem ein Test das zu testende
gen Teil des Auges um die Pupille bildet und als Blende zur Regulierung
Verhalten tatsächlich stichprobenartig erfasst. 7 11
der Pupillenöffnung fungiert. 7 7

Innenohr (inner ear) innerster Teil des Ohrs, der u. a. aus Kochlea, Bogen-
James-Lange-Theorie (James-Lange theory) sagt aus, dass unsere
gängen und Sacculi des Vestibularapparats besteht. 7 7
Emotionserfahrung dadurch entsteht, dass wir uns unserer physiolo-
gischen Reaktionen auf emotionserregende Reize bewusst werden. 7 13
Insomnie (insomnia) wiederholt auftretende Einschlaf- oder Durch-
schlafschwierigkeiten. 7 4
Jugendalter 7 Adoleszenz 7 6
Instinkt (instinct) komplexes Verhalten, das bei jedem Mitglied einer
Kameradschaftliche Liebe (companionate love) tiefe, liebevolle Bindung,
Gattung als Muster festgelegt ist und nicht gelernt werden muss. 7 12
die wir gegenüber Menschen empfinden, mit denen unser Leben in kom-
Instruktion (instruction) Anleitung und Wissensvermittlung im Rahmen plexer Weise verbunden ist. 7 15
von Unterricht. 7 18
Katharsis (catharsis) emotionale Befreiung. Die Katharsishypothese der
Intelligenz (intelligence) mentale Eigenschaft, die in der Fähigkeit be- Psychologie sagt aus, dass man sich durch das »Herauslassen« aggressiver
steht, aus Erfahrung zu lernen, Probleme zu lösen und Wissen einzusetzen, Energie (durch Handlungen oder in der Fantasie) von aggressiven Impulsen
um sich an neue Situationen anzupassen. 7 11 befreien kann. 7 13

Intelligenzalter (mental age) von Binet eingeführtes Maß zur Feststellung Kernspintomografie 7 Magnetresonsanztomografie 7 3
der Intelligenztestleistung; das Lebensalter, das am typischsten einer
bestimmten Leistungsebene entspricht. So sagt man, wenn ein Kind die Kinästhesie (kinesthesis) Fähigkeit zur Wahrnehmung der Position und
Leistungen eines durchschnittlichen 8-Jährigen vollbringt, es habe ein Bewegung einzelner Gliedmaßen. 7 7
Intelligenzalter von 8. 7 11
Klassische Konditionierung (classical conditioning) Form des Lernens,
Intelligenzquotient oder IQ (intelligence quotient) ursprünglich definiert bei der ein Organismus zwei oder mehr Reize miteinander assoziiert und
als das Verhältnis von Intelligenzalter (IA) zum Lebensalter (LA) multi- Ereignisse vorwegnimmt. 7 8
IA
pliziert mit 100, nach der Formel IQ = × 100. In neueren Intelligenztests
LA
wird die durchschnittliche Leistungsfähigkeit einer bestimmten Alters- Kleinhirn (Zerebellum; cerebellum) »kleines Gehirn« am hinteren Teil
gruppe mit einem Wert von 100 gleichgesetzt. 7 11 des Hirnstamms, das für die Verarbeitung der sensorischen Signale
sowie für die Koordination zwischen motorischen Reaktionen und dem
Intelligenztest (intelligence test) ein Verfahren, um die geistigen Fähig- Gleichgewichtssinn zuständig ist. 7 3
keiten eines Menschen zu erfassen und sie anhand numerischer Testwerte
mit denen anderer zu vergleichen. 7 11 Klientenzentrierte Therapie (client-centered therapy) von Carl Rogers
entwickelte humanistische Therapie, bei der der Therapeut in einem
Intensität (intensity) Energiemenge von Licht oder Klangwellen, die echten, akzeptierenden und empathischen Setting Techniken wie aktives
wir als Helligkeit oder Lautstärke wahrnehmen und die von der Amplitude Zuhören anwendet, um das Wachstum des Klienten zu fördern (auch als
der Wellen abhängt. 7 7 personzentrierte Therapie bezeichnet). 7 17

Interaktion (interaction) das Zusammenspiel, das auftritt, wenn die Klinische Psychologie (clinical psychology) Teildisziplin der Psychologie,
Auswirkung eines Faktors (z. B. der Umwelt) von einem anderen Faktor die Menschen mit psychischen Störungen untersucht, testet und
abhängt (z. B. den Anlagen). 7 5 behandelt. 7 1
896 Anhang

Kochlea (Schnecke; cochlea) spiralförmig aufgerollte, flüssigkeitsgefüllte Konditionierung höherer Ordnung (higher-order conditioning) Prozess,
knöcherne Röhre im Innenohr, über die die Schallwellen Nervenimpulse bei dem der konditionierte Reiz aus einer konditionierten Erfahrung mit
auslösen. 7 7 einem neuen neutralen Reiz verbunden wird und dadurch ein zweiter
(oftmals schwächerer) konditionierter Reiz geschaffen wird. Wenn ein Tier
Kochleaimplantat (cochlear implant) Gerät zur Umwandlung elektrischer z. B. gelernt hat, dass ein Ton Futter vorhersagt, könnte es lernen, dass
Signale und zur Stimulation des Hörnervs über Elektroden, die in die ein Lichtsignal den Ton vorhersagt und dann schon auf das Lichtsignal
Kochlea eingefädelt werden. 7 7 reagieren. (Auch Konditionierung zweiter Ordnung genannt.) 7 8

Kognition (cognition) Gesamtheit der geistigen Aktivitäten im Zusam- Konflikt (conflict) wahrgenommene Unvereinbarkeit von Handlungen,
menhang mit Denken, Wissen, Erinnern und Kommunizieren. 7 6, 10 Zielen oder Ideen. 7 15

Kognitive Landkarte (cognitive map) mentale Darstellung der eigenen Konformität (conformity) Anpassung des Verhaltens oder Denkens,
Umgebung. Beispielsweise verhalten sich Ratten, nachdem sie ein um mit dem Gruppenstandard übereinzustimmen. 7 15
Labyrinth erkundet haben, als hätten sie eine kognitive Landkarte dieses
Labyrinths entwickelt. 7 8 Konkret-operatorisches Stadium (concrete operational stage) in Piagets
Theorie das Stadium der kognitiven Entwicklung (vom 6./7. bis zum
Kognitive Neurowissenschaft (cognitive neuroscience) die interdiszi- 11. Lebensjahr), in dem Kinder die geistigen Operationen entwickeln, die
plinäre Untersuchung der Gehirnaktivität in Verbindung mit Kognition sie dazu befähigen, logisch über konkrete Ereignisse nachzudenken. 7 6
(einschließlich Wahrnehmung, Denken, Gedächtnis und Sprache). 7 1, 4
Kontingenzmodell (contingency model) beschreibt Führung als das
Kognitive Therapie (cognitive therapy) lehrt die Patienten neue, besser Ergebnis situationsabhängiger Prozesse, die zwischen Führungsverhalten
an die Realität angepasste Denkweisen. Beruht auf der Annahme, dass und Führung vermitteln. 7 19
zwischen Ereignissen und emotionalen Reaktionen Gedanken vermittelnd
Einfluss nehmen. 7 17 Kontinuierliche Verstärkung (continuous reinforcement) Verstärkung
der erwarteten Reaktion bei jedem Auftreten. 7 8
Kognitive Verhaltenstherapie (cognitive behavior therapy) verbreitete
integrative Therapie, bei der die Techniken der kognitiven Therapie (Ver- Kontrollgruppe (control group) Gruppe in einem Experiment, die keine
änderung der selbstabwertenden Gedankenmuster) mit den Techniken Behandlung erhält; die Kontrollgruppe steht der Versuchsgruppe gegen-
der Verhaltenstherapie (Verhaltensänderung) kombiniert werden. 7 17 über und wird als Vergleich herangezogen, um die Wirkung der Behand-
lung zu evaluieren. 7 2
Kognitives Lernen (cognitive learning) der Erwerb mentaler Information
durch das Beobachten von Ereignissen, anderer Menschen oder durch Koronare Herzerkrankungen (coronary heart disease) zusammenfassen-
Sprache. 7 8 de Bezeichnung für alle Erkrankungen, bei denen die Sauerstoffversor-
gung des Herzmuskels durch verstopfte Gefäße beeinträchtigt ist; eine der
Kohorte (cohort) Population, deren Mitglieder im selben Zeitraum Haupttodesursachen in vielen Industrienationen. 7 13
geboren wurden. 7 11, 19
Korrelation (correlation) Maßeinheit, welche das Ausmaß des Zusammen-
Kollektives Unbewusstes (collective unconscious) Carl Jungs Konzept hangs zwischen zwei Merkmalsvariablen angibt und damit ausdrückt,
einer gemeinsamen Erbmasse an Erinnerungsspuren aus der Geschichte wie gut eine Variable die andere Variable vorhersagt. 7 2
unserer Art. 7 14
Korrelationskoeffizient (correlation coefficient) statistische Maßzahl
Kollektivismus (collectivism) die Ziele der Gruppe (oft die Großfamilie des Zusammenhangs zwischen zwei Variablen (von –1 bis +1). 7 2
oder die Arbeitsgruppe) haben Priorität, die Definition der eigenen Identi-
tät richtet sich an ihnen aus. 7 5 Kreativität (creativity) Fähigkeit, neuartige und wertvolle bzw. nützliche
Ideen hervorzubringen. 7 11
Komplementär- und Alternativmedizin (complementary and alternative
medicine) bisher wissenschaftlich nicht belegte Behandlungen im Rahmen Kristalline Intelligenz (crystallized intelligence) gesammeltes Wissen
der Gesundheitsversorgung, die die Schulmedizin ergänzen oder als Alter- und Ausdrucksfähigkeit eines Menschen. Diese Form der Intelligenz steigt
native dazu dienen sollen. Im Allgemeinen werden sie nicht in den medi- im Alter tendenziell an. 7 11
zinischen Fakultäten gelehrt, nicht in den Krankenhäusern praktiziert und
gewöhnlich auch nicht von den Krankenkassen erstattet. Sobald die For- Kriteriumsvalidität 7 Vorhersagevalidität 7 11
schung eine Therapie als sicher und effektiv anerkennt, wird sie gewöhnlich
auch zu einem akzeptierten Bestandteil der medizinischen Praxis. 7 13 Kritische Phase (critical period) wird ein Organismus zu diesem opti-
malen, frühen Zeitpunkt bestimmten Reizen oder Erfahrungen ausgesetzt,
Konditionierte Reaktion (CR; auch bedingte Reaktion; conditioned so wird der angemessene Entwicklungsprozess in Gang gesetzt. 7 6
response) in der klassischen Konditionierung die gelernte Antwort auf
einen zunächst neutralen, nun jedoch konditionierten Reiz (CS). 7 8 Kritisches Denken (critical thinking) eine Art zu denken, die Argumente
und Schlussfolgerungen nicht einfach blindlings akzeptiert. Stattdessen
Konditionierter Stimulus bzw. Reiz (CS; auch bedingter Stimulus; werden Vorannahmen einer Prüfung unterzogen, Abweichungen werden
conditioned stimulus) in der klassischen Konditionierung ein zunächst aufgedeckt, Beweise auf ihre Richtigkeit hin überprüft und daraus resul-
irrelevanter Reiz, der nach der Assoziation mit einem unkonditionierten tierende Schlussfolgerungen werden erfasst. 7 2
Reiz (US) eine konditionierte Reaktion (CR) auslöst. 7 8
Kultur (culture) überdauernde Verhaltensweisen, Vorstellungen, Ein-
Konditionierter Verstärker (conditioned reinforcer) Reiz, der dadurch stellungen, Werte und Traditionen, die von einer großen Gruppe von
verstärkend wirkt, dass er mit einem primären Verstärker gekoppelt wird; Menschen geteilt und von einer Generation an die nächste weitergegeben
auch bekannt als sekundärer Verstärker. 7 8 werden. 7 2, 5
897
Glossar

Kurzzeitgedächtnis (short-term memory) aktiviertes Gedächtnis, das Löschung (auch Extinktion; extinction) kontinuierliches Schwächerwer-
einige Items für kurze Zeit festhält (wie z. B. die 7 Ziffern einer Handy- den der konditionierten Reaktion. In der klassischen Konditionierung tritt
nummer ohne Vorwahl, während die Nummer gewählt wird), um sie dann Löschung ein, wenn dem konditionierten Reiz (CS) kein unkonditionierter
entweder abzuspeichern oder zu vergessen. 7 9 Reiz (US) folgt; in der operanten Konditionierung geschieht dies, wenn
eine Reaktion nicht mehr verstärkt wird. 7 8
Lallstadium (babbling stage) beginnt mit etwa 4 Monaten. Die Phase
der Sprachentwicklung, in der ein Säugling spontan verschiedene Laute LPC-Maß (LPC measure) Beschreibung des am wenigsten geschätzten
hervorbringt, zunächst auch solche, die nicht in der Sprache seiner Um- Mitarbeiters als Maß für die Mitarbeiterorientierung eines Vorgesetzten.
gebung vorkommen. 7 10 Eine mitarbeiterorientierte Führungskraft zeichnet sich dadurch aus, dass
sie diesen noch relativ positiv sieht. 7 19
Längsschnittstudie (longitudinal study) eine wissenschaftliche Methode,
bei der die gleichen Menschen über einen längeren Zeitraum hinweg LSD (Lysergsäurediethylamid; lysergic acid diethylamide) starke hallu-
immer wieder untersucht und getestet werden. 7 6 zinogene Droge, auch als »Acid« bekannt. 7 4

Langzeitgedächtnis (long-term memory) relativ zeitüberdauernder LTP 7 Langzeitpotenzierung 7 9


und unbegrenzt aufnahmefähiger Speicher des Gedächtnissystems; dazu
gehören Wissen, Fertigkeiten und Erfahrungen. 7 9 Lymphozyten (lymphocytes) zwei Arten von weißen Blutkörperchen, die
zum körpereigenen Immunsystem gehören. B-Lymphozyten werden im
Langzeitpotenzierung (LTP; long-term potentiation) Zunahme des Poten- Knochenmark gebildet und setzen Antikörper frei, die bakterielle Infek-
zials einer Synapse, nach einer kurzen, schnellen Stimulierung feuern tionen bekämpfen. T-Lymphozyten werden in der Thymusdrüse gebildet
zu können. Man nimmt an, dass dies eine neuronale Grundlage für Lernen und haben u. a. die Aufgabe, Krebszellen, Viren und körperfremde
und Gedächtnis ist. 7 9 Substanzen anzugreifen. 7 13

Läsion (lesion) Zerstörung von Gewebe. Eine Hirnläsion ist eine auf Lysergsäurediethylamid 7 LSD 7 4
natürliche Weise, durch ein Experiment oder eine andere Operation ent-
standene Zerstörung von Hirngewebe. 7 3 Magnetresonanztomografie (MRT, auch Kernspintomografie; magnetic
resonance imaging) oder MRI ein Verfahren, das mit Hilfe von Magnet-
Latenter Trauminhalt (latent content) nach Freud die verborgene Bedeu-
feldern und elektromagnetischen Wellen computergestützt Bilder von
tung eines Traumes (im Gegensatz zum manifesten Inhalt). Freud war
weichem Gewebe erstellt. MRT-Scans stellen die Strukturen innerhalb des
davon überzeugt, dass der latente Inhalt von Träumen die Funktion eines
Gehirns dar. 7 3
Sicherheitsventils hat. 7 4
Major Depression (major depressive disorder) affektive Störung, bei der
Latentes Lernen (latent learning) Form des Lernens, die erst sichtbar wird,
ein Mensch für 2 Wochen oder länger eine depressive Stimmung oder ein
wenn ein Anreiz besteht, das Gelernte zu zeigen. 7 8
vermindertes Interesse oder nur wenig Freude an den meisten Aktivitäten
zusammen mit 4 weiteren Symptomen verspürt, ohne dass Drogenkon-
Leidenschaftliche Liebe (passionate love) erregter Zustand intensiven,
sum oder andere medizinische Gründe vorliegen. 7 16
vollkommenen Ineinander-Aufgehens, der in der Regel zu Beginn einer
Liebesbeziehung auftritt. 7 15
Mandelkern 7 Amygdala 7 3
Leistungsmotivation (achievement motivation) Ausmaß des Strebens
Manie (mania) affektive Störung, die durch einen hyperaktiven, überaus
nach herausragenden Leistungen; beinhaltet einen Wunsch nach Kontrolle
optimistischen Zustand charakterisiert ist. 7 16
und nach schnellem Erreichen eines hohen Standards. 7 12

Leistungstest (achievement test) Test, mit dem erfasst werden soll, Manifester Trauminhalt (manifest content) nach Freud die erinnerte
was eine Person in einem bestimmten Bereich gelernt hat. 7 11 Handlung eines Traums (im Unterschied zu seinem latenten Inhalt). 7 4

Lernen (learning) relativ dauerhafte Veränderung im Verhalten eines Markscheide 7 Myelinschicht 7 3


Organismus aufgrund von Erfahrung. 7 8
MDMA 7 Ecstasy 7 4
Limbisches System (limbic system) neuronales System (beinhaltet den
Hippocampus, die Amygdala und den Hypothalamus), das unter den Median (median) der mittlere Wert in einer Verteilung; eine Hälfte der
zerebralen Hemisphären liegt. Die Aktivität des Systems wird in Zusam- Werte liegt unterhalb, die andere Hälfte oberhalb des Medianwertes. 7 2
menhang gebracht mit Gefühlen und Trieben. 7 3
Medizinischer Ansatz (medical model) Konzept, dass Krankheiten, in
Linguistischer Determinismus (linguistic determinism) Whorfs Hypo- diesem Fall psychische Störungen, auf physischen Ursachen beruhen, die
these, dass die Sprache unsere Denkweise bestimmt. 7 10 diagnostiziert, behandelt und in den meisten Fällen auch geheilt werden
können, oft durch Behandlung in einem Krankenhaus. 7 16
Linse (lens) durchsichtiger Körper hinter der Pupille, der zur Scharf-
stellung der Bilder auf der Retina seine Form verändern kann. 7 7 Medulla oblongata (medulla) unterer Teil des Hirnstamms, der Herzschlag
und Atmung kontrolliert. 7 3
Lobotomie (lobotomy) psychochirurgischer Eingriff, der früher angewen-
det wurde, um unkontrollierbar emotionale oder gewalttätige Patienten Menarche (menarche) die erste Regelblutung bei Mädchen. 7 6
ruhigzustellen. Bei dem Eingriff wurden die Nervenverbindungen
zwischen den Frontallappen und den emotionssteuernden Zentren im Mengenerhaltung (conservation) Wissen, dass Masse, Volumen und
Inneren des Gehirns durchtrennt. 7 17 Anzahl von Gegenständen gleich bleiben, wenn diese die Form verändern.
898 Anhang

Piaget hielt das Erfassen dieses Prinzips für einen Bestandteil des konkret- Monokulare Hinweisreize (monocular cues) Entfernungsmerkmale, wie
operatorischen Denkens. 7 6 Zentralperspektive (auch Linearperspektive) und Überlappung, die jedes
Auge für sich alleine erkennen kann. 7 7
Menopause (menopause) das natürliche Ende der Menstruation. Bezieht
sich auch auf die biologischen Veränderungen, die mit der Abnahme der Morphem (morpheme) kleinster bedeutungstragender Baustein einer
Reproduktionsfähigkeit der Frau einhergehen. 7 6 Sprache; kann ein Wort oder ein Wortbestandteil sein. 7 10

Mentales Set (mental set) Tendenz, ein Problem auf eine bestimmte Motivation (motivation) ein Bedürfnis oder ein Wunsch, der unser Ver-
Weise anzupacken, insbesondere auf eine Weise, die schon einmal erfolg- halten antreibt und lenkt. 7 12
reich war. 7 10
Motoneurone (motor neurons) Neuronen, die den Muskeln und Drüsen
Mere-Exposure-Effekt (mere exposure effect) Phänomen, dass die die Informationen vom zentralen Nervensystem übermitteln. 7 3
wiederholte bloße Darbietung neuer Reize dazu beiträgt, daran Gefallen
zu finden. 7 15 Motorischer Kortex (motor cortex) Areal im hinteren Teil des Frontal-
lappens, das die Willkürbewegung steuert. 7 3
Merkmal 7 Trait 7 14
MRI 7 Magnetresonsanztomografie 7 3
Merkmalsdetektoren (feature detectors) Nervenzellen im Gehirn, die
auf bestimmte Merkmale von Reizen (z. B. Form, Winkel oder Bewegung) MRT 7 Magnetresonsanztomografie 7 3
reagieren. 7 7
Mutation (mutation) Zufallsfehler bei der Genreplikation, der zu einer
Metaanalyse (meta-analysis) Verfahren zur statistischen Zusammen- Veränderung führt. 7 5
fassung der Resultate vieler unterschiedlicher Studien. 7 17
Myelinschicht (auch Markscheide; myelin sheath) Schicht von fettreichem
Methamphetamin (methamphetamine) stark süchtig machende Droge, Gewebe, das die Axone vieler Neuronen abschnittsweise umspannt. Durch
die das zentrale Nervensystem stimuliert; führt zu beschleunigten Körper- die Myelinisierung wird die Geschwindigkeit der Informationsvermittlung
funktionen und Veränderungen in Bezug auf Energie und Stimmung; erhöht, weil die Impulse von einem Knoten (Ranvier-Schnürring) zum
mit der Zeit scheint sie das Ausgangsniveau des Dopaminspiegels zu ver- nächsten springen. 7 3
ringern. 7 4
N. opticus 7 Sehnerv 7 7
Minnesota Multiphasic Personality Inventory (MMPI) der am besten
erforschte und in den USA am häufigsten klinisch angewandte Persön- Nachbesprechung (debriefing) Aufklären der Versuchsteilnehmer nach
lichkeitstest. Ursprünglich entwickelt zur Diagnose emotionaler Stö- Abschluss des Experiments über die Studie, inklusive ihres Ziels und der
rungen (was auch heute noch als sein bestes Einsatzgebiet gilt). Er wird verwendeten Täuschungen. 7 2
heute für vielfältige andere Zwecke, wie etwa zum Screening, einge-
Nahtoderfahrung (near-death experience) veränderter Bewusstseins-
setzt. 7 14
zustand, der häufig von Menschen erlebt wird, die dem Tod nahe sind
(z. B. bei einem Herzstillstand) ; ähnelt oft drogeninduzierten Halluzina-
Mittelohr (middle ear) Kammer zwischen Trommelfell und Kochlea;
tionen. 7 4
sie enthält drei Knöchelchen (Hammer, Amboss und Steigbügel), die dafür
sorgen, dass sich die Schwingungen des Trommelfells auf das ovale
Narkolepsie (narcolepsy) Schlafstörung, die durch unkontrollierbare
Fenster der Kochlea konzentrieren. 7 7
Schlafattacken gekennzeichnet ist. Betroffene Personen fallen unter
Umständen direkt in REM-Schlafstadien, oft zu den unpassendsten Gele-
Mittelwert (mean) das arithmetische Mittel wird berechnet durch die
genheiten. 7 4
Addition sämtlicher Werte; diese Summe wird durch die Gesamtzahl der
Werte dividiert. 7 2
Narzissmus (narcisissm) exzessive Selbstliebe und Selbstversunkenheit.
7 14
Mnemotechniken (mnemonics) Gedächtnishilfen, insbesondere jene
Techniken, die eindringliche Bilder und Ordnungsstrukturen nutzen. 7 9 Natürliche Selektion (natural selection) Prinzip, dass von den unter-
schiedlichen vererbten Merkmalen eher diejenigen an nachfolgende
Mobbing (mobbing) spezielle Form der Aggression, die dadurch charak- Generationen weitergegeben werden, die zu vermehrter Reproduktion
terisiert ist, dass das Opfer wiederholt und systematisch aggressiven und zum Überleben führen. 7 1, 5
Akten eines oder mehrerer Täter ausgesetzt ist; bei Kindern häufig auch
als Bullying bezeichnet. 7 18 Nebennieren (adrenal glands) Paar endokriner Drüsen direkt oberhalb
der Niere. Sie schütten die Hormone Adrenalin (oder Epinephrin) und
Modalwert (mode) der Wert oder die Werte, die in einer Verteilung am Noradrenalin (oder Norepinephrin) aus, die den Körper bei Stresssitua-
häufigsten auftreten. 7 2 tionen in Erregung versetzen. 7 3

Modelllernen (modeling) Prozess des Beobachtens und Nachahmens Negative Verstärkung (negative reinforcement) Zunahme der Häufigkeit
eines bestimmten Verhaltens. 7 8 eines Verhaltens, wenn negative Reize wie ein Elektroschock nicht mehr
oder schwächer dargeboten werden. Ein negativer Verstärker ist jeder Reiz,
Molekulargenetik (molecular genetics) Teilgebiet der Biologie, das sich der, wenn er nach einer Reaktion entfernt wird, die Reaktion bekräftigt.
mit der Untersuchung der molekularen Struktur und Funktion von Genen (Beachten Sie bitte, dass negative Verstärkung nicht dasselbe wie Bestrafung
befasst. 7 5 ist.) 7 8
899
Glossar

Nerven (nerves) neuronale »Kabel«, die aus vielen gebündelten Axonen Okzipitallappen (occipital lobes) Teil des zerebralen Kortex, der am
bestehen. Diese sind Teil des peripheren Nervensystems und verbinden Hinterkopf liegt. Umfasst Areale, die Informationen aus dem Blickfeld
das zentrale Nervensystem mit Muskeln, Drüsen und Sinnesorganen. 7 3 erhalten. 7 3

Nervensystem (nervous system) elektrochemisches Hochgeschwindig- Operante Konditionierung (operant conditioning) Form des Lernens,
keitskommunikationsnetz in unserem Körper, das aus allen Nervenzellen bei der ein Verhalten dadurch bekräftigt wird, dass ihm ein Verstärker folgt,
des peripheren und zentralen Nervensystems besteht. 7 3 oder abgeschwächt wird, weil eine Bestrafung folgt. 7 8

Netzhaut 7 Retina 7 7 Operantes Verhalten (operant behavior) Verhalten, das die Umwelt
beeinflusst und Konsequenzen auslöst. 7 8
Neurogenese (neurogenesis) Bildung neuer Neuronen. 7 3
Operationale Definition (operational definition) Festlegung der Vor-
Neuroleptika 7 Antipsychotika 7 17
gehensweise (Operation) bei der Definition der Untersuchungsvariablen.
So kann Intelligenz beispielsweise operational definiert werden als »das,
Neuron (neuron) Nervenzelle, der Grundbaustein des Nervensystems. 7 3
was ein Intelligenztest misst«. 7 2
Neurotransmitter (neurotransmitter) chemische Botenstoffe, die den
Opiate (opiates) Opium und seine Derivate wie Morphium und Heroin
synaptischen Spalt zwischen den Neuronen überqueren. Die Stoffe
vermindern die neuronale Aktivität und lindern daher zeitweise Schmer-
werden vom präsynaptischen Neuron ausgeschüttet und wandern über
zen und Angstgefühle. 7 4
den Spalt zum postsynaptischen Neuron, wo sie an Rezeptormoleküle ge-
bunden werden. Damit haben die Neurotransmitter einen Einfluss darauf,
Organisationsform (form of organization) bezieht sich auf die Unter-
ob in der postsynaptischen Zelle ein neuronaler Impuls entsteht. 7 3
scheidung von Ein- und Mehrliniensystemen, d. h. auf die Regelung von
Weisungsbefugnissen und Verantwortlichkeiten. 7 19
Neutraler Stimulus bzw. Reiz (NS; neutral stimulus) in der klassischen
Konditionierung ein Reiz, der vor der Konditionierung keine Reaktion aus-
Organisationspsychologie (organizational psychology) ein Unterfeld
löst. 7 8
der A&O-Psychologie, das die Einflüsse der Organisation auf die Arbeiter-
Nikotin (nicotine) eine stimulierende und höchst süchtig machende zufriedenheit und Produktivität untersucht und organisatorische Ver-
psychoaktive Substanz in Tabak. 7 4 änderungen erleichtert. Es befasst sich mit Bedingungen, Abläufen und
Konsequenzen des Handelns von Menschen in Organisationen, mit Pro-
Norm (norm) allgemein verstandene Regel für akzeptiertes und erwar- blemen betrieblicher und institutioneller Zusammenarbeit. 7 12, 19
tetes Verhalten. Normen schreiben ein »angemessenes« Verhalten vor. 7 5
Organisationsstruktur (structure of organization) Gesamtheit aller for-
Norm der sozialen Verantwortung (social responsibility norm) Erwar- malen Regelungen zur Arbeitsteilung und zur Koordination von Leistung
tung, dass wir denen, die von uns abhängig sind, helfen. 7 15 und Verhalten der Mitglieder einer Organisation. 7 19

Normalverteilung (normal curve, normal distribution) symmetrische, Ortstheorie (place theory) besagt, dass beim Gehör jede Tonhöhe
glockenförmige Kurve, mit der die Verteilung vieler Datentypen beschrie- der Erregung eines bestimmten Orts der Basilarmembran der Kochlea
ben wird. Die meisten Werte finden sich in der Nähe des Durchschnitts entspricht. 7 7
(ungefähr 68% liegen im Bereich einer Standardabweichung links oder
rechts des Durchschnitts). Je weiter man sich zu den Extremen hin bewegt, Östrogen (estrogen) Geschlechtshormon, das bei Frauen in größerem
desto weniger Werte findet man. 7 2, 11 Umfang vorkommt als bei Männern, und das zur Entstehung weiblicher
Geschlechtsmerkmale beiträgt. Bei nichtmenschlichen weiblichen
Normativer sozialer Einfluss (normative social influence) Einfluss, der Säugetieren erreicht der Östrogenspiegel beim Eisprung seinen Höhe-
sich aus dem Wunsch einer Person ergibt, Zustimmung zu bekommen und punkt und regt die sexuelle Empfänglichkeit an. 7 12
Ablehnung zu vermeiden. 7 15
Other-Race-Effekt (auch Cross-Race-Effekt, Own-Race-Bias; other-race
Normierung (standardization) Festlegung sinnvoller Werte durch den effect) Tendenz, sich an Gesichter der eigenen Ethnie besser zu erinnern,
Vergleich mit den Werten einer zuvor getesteten Normierungsstichprobe; als an die von Mitgliedern anderer Herkunft. 7 15
auch Eichung genannt. 7 11
Own-Race-Bias 7 Other-Race-Effekt 7 15
NS 7 Neutraler Stimulus bzw. Reiz 7 8

Pädagogische Psychologie (educational psychology) hat das Ziel,


Oberflächliche Verarbeitung (shallow processing) Enkodierung auf
Erziehung aus der Perspektive und mit den Mitteln der Psychologie zu
einer sehr einfachen Stufe, die auf der Struktur oder dem Erscheinungsbild
erforschen. 7 18
von Wörtern basiert. 7 9

Objektpermanenz (object permanence) Wissen, dass ein Gegenstand Panikstörung (panic disorder) Angststörung, die sich durch unvorherseh-
weiterhin existiert, auch wenn er gerade nicht wahrgenommen werden bare Episoden intensiver Angst auszeichnet, die einige Minuten andauern
kann. 7 6 und in denen die Betroffenen Todesangst erleben, verbunden mit Schmer-
zen im Brustkorb, dem Gefühl zu ersticken oder anderen furchterregenden
OCD 7 Zwangsstörung 7 16 Empfindungen. 7 16

Ödipuskomplex (Oedipus complex) nach Freud die sexuellen Wünsche Parallelverarbeitung (dual processing; parallel processing) Prinzip,
von Söhnen gegenüber der Mutter und die damit verbundenen Gefühle von dass Informationen oftmals gleichzeitig auf getrennten bewussten und
Hass und Eifersucht gegenüber dem Vater, der als Rivale erlebt wird. 7 14 unbewussten Spuren verarbeitet werden; gleichzeitiges Verarbeiten
900 Anhang

mehrerer Aspekte eines Problems. Die natürliche Arbeitsweise des Gehirns Persönlichkeitszug 7 Trait 7 14
bei der Informationsverarbeitung für eine Vielzahl von Funktionen
(u. a. beim Sehen). Es handelt sich dabei um das Gegenteil der schritt- PET 7 Positronenemissionstomografie 7 3
weisen (seriellen) Verarbeitung der meisten Computer und der bewussten
Problemlösung. 7 4, 7 Phänomen »Fühl dich gut, und du tust etwas Gutes« (feel-good,
do-good phenomenon) Tendenz von Menschen, hilfreich zu sein, wenn sie
Parapsychologie (parapsychology) beschäftigt sich mit paranormalen bereits in einer guten Stimmung sind. 7 13
Phänomenen wie außersinnlicher Wahrnehmung und Psychokinese. 7 7
Phi-Phänomen (phi phenomenon) Scheinbewegung, die durch zwei oder
Parasympathikus (parasympathetic nervous system) Teil des vegetativen mehr nebeneinander angeordnete Lichter erzeugt wird, die in rascher
Nervensystems, der für Beruhigung sorgt und es damit dem Körper Folge an- und ausgehen. 7 7
ermöglicht, neue Energie zu speichern bzw. Energie zu sparen. 7 3
Phobie (phobia) Angststörung, gekennzeichnet durch anhaltende irratio-
Parietallappen (parietal lobes) Teil des zerebralen Kortex, der oben und
nale Angst und Vermeidung eines spezifischen Objekts, einer bestimmten
weiter hinten am Kopf liegt. Erhält sensorische Signale für Berührungen
Aktivität oder Situation. 7 16
und Körperposition. 7 3

Phonem (phoneme) kleinste unterscheidbare Lauteinheit in einer ge-


Partielle (intermittierende) Verstärkung (partial or intermittent
sprochenen Sprache. 7 10
reinforcement) nur gelegentliche Verstärkung einer Reaktion. Intermittie-
rende Verstärkung führt zu langsamerem Erlernen einer Reaktion, ist aber
Physische (körperliche) Abhängigkeit (physical dependence) physisches
deutlich löschungsresistenter als eine Reaktion, die durch kontinuierliche
Bedürfnis nach der Droge, gekennzeichnet durch unangenehme Entzugs-
Verstärkung gelernt wird. 7 8
symptome beim Absetzen der Droge. 7 4
Pavor nocturnus (night terrors) hohes Erregungsniveau und ein Gefühl
starker Angst sind typisch für diese Schlafstörung. Im Gegensatz zu Placeboeffekt (Aussprache Betonung: Placebo; lateinisch für »Ich werde
Albträumen treten diese Phasen nächtlicher Panik im NREM-3-Schlaf inner- gefallen«; placebo effect) experimentelle Ergebnisse, die nur durch
halb der ersten 2–3 Stunden nach dem Einschlafen auf; in der Regel Erwartungen zustande kommen; jede Auswirkung auf das Verhalten, die
können sich die Betroffenen am nächsten Tag nicht daran erinnern. 7 4 durch die Verabreichung einer unwirksamen Substanz hervorgerufen wird,
von der der Versuchsteilnehmer jedoch annimmt, dass sie wirkt. 7 2
Periphere Route der Überzeugung (peripheral route persuasion) tritt auf,
wenn man durch nebensächliche Hinweise beeinflusst wird, wie beispiels- Plastizität (plasticity) Fähigkeit des Gehirns, sich anzupassen, vor allem
weise die Attraktivität eines Redners. 7 15 während der Kindheit. Geschieht durch Reorganisation nach einer
Verletzung oder durch Bilden neuer Verbindungen basierend auf Erfah-
Peripheres Nervensystem (PNS; peripheral nervous system) sensorische rungen. 7 3
Neuronen und Motoneuronen, die das zentrale Nervensystem (ZNS) mit
dem Rest des Körpers verbinden, sowie die Neuronen des autonomen PNS 7 Peripheres Nervensystem 7 3
Nervensystems. 7 3
Polygraf (polygraph) ein Gerät, das meist mit dem Ziel verwendet wird,
Permissiver Erziehungsstil (permissive parenting) Eltern sind wenig Lügen aufzudecken. Es misst die physiologischen Reaktionen, die mit
lenkend und kontrollierend, stellen wenig Anforderungen und überlassen Emotionen einhergehen (wie Änderungen in der Schweißproduktion, im
es dem Kind, sich selbst zu steuern. 7 18 Herzschlag und in der Atmung). 7 13

Personalauswahl (personnel selection) Ermittlung der Person, die für eine Population (population) sämtliche Fälle in einer Gruppe, aus der eine
Aufgabe möglichst gut geeignet ist. 7 19 Stichprobe für eine Studie gezogen wird. (Achtung: Mit Ausnahme von
nationalen Studien ist damit nicht die gesamte Population eines Landes
Personalpsychologie (personnel psychology) ein Unterfeld der A&O-Psy-
gemeint.) 7 2
chologie, das seinen Schwerpunkt auf Einstellung, Auswahl, Platzierung,
Training, Einschätzung und Entwicklung von Arbeitern legt. 7 12
Positive Psychologie (positive psychology) die wissenschaftliche Unter-
suchung der Funktionsfähigkeit des Menschen mit dem Ziel, die Stärken
Persönliche Kontrolle (personal control) unser Gefühl, die Umwelt unter
und guten Eigenschaften zu entdecken und zu fördern, die das Gedeihen
Kontrolle zu haben, statt uns hilflos zu fühlen. 7 14
des Einzelnen und der Gemeinschaft ermöglichen. 7 1, 14
Persönlichkeit (personality) das für ein Individuum charakteristische
Muster des Denkens, Fühlens und Handelns. 7 14 Positive Verstärkung (positive reinforcement) Zunahme der Häufigkeit
eines Verhaltens, wenn positive Reize wie Essen dargeboten werden.
Persönlichkeitsinventar (personality inventory) Fragebogen, bei dem die Ein positiver Verstärker ist jeder Reiz, der, wenn er dargeboten wird, die
Probanden auf Items (oft Richtig-falsch-Items oder Aussagen, die mit Reaktion bekräftigt. 7 8
»stimme zu – stimme nicht zu« zu beantworten sind) antworten, die so
konzipiert sind, dass sie einen weiten Bereich von Gefühlen und Verhaltens- Positronenemissionstomografie (PET; positron-emission tomography)
weisen abdecken; wird zur Erfassung ausgewählter Persönlichkeitsmerk- Form der Visualisierung von Gehirnaktivität, bei der die Verteilung radio-
male eingesetzt. 7 14 aktiv markierter Glukose im Gehirn beobachtet werden kann, während
eine vorgegebene Aufgabe ausgeführt wird. 7 3
Persönlichkeitsstörung (personality disorder) psychische Störung,
die gekennzeichnet ist durch unflexible, andauernde Verhaltensmuster, Posthypnotische Suggestionen (posthypnotic suggestion) Suggestion,
die die soziale Funktionsfähigkeit beeinträchtigen. 7 16 die während einer Hypnosesitzung gegeben wird, aber erst nach Auf-
901
Glossar

lösung der Hypnose ausgeführt werden soll; wird von einigen Hypnothe- Psychische Störung (psychological disorder) abweichendes, beein-
rapeuten verwendet, um unerwünschte Symptome und Verhaltensweisen trächtigendes und dysfunktionales Muster von Gedanken, Gefühlen oder
besser zu kontrollieren. 7 4 Verhalten. 7 16

Posttraumatische Belastungsstörung (PTBS; posttraumatic stress dis- Psychoaktive Droge (psychoactive drug) ein chemischer Stoff, der Wahr-
order, PTSD) Angststörung, die charakterisiert ist durch quälende Er- nehmungen und Stimmungen verändert. 7 4
innerungen, Albträume, sozialen Rückzug, nervöse Angst und/oder Schlaf-
losigkeit, die 4 Wochen oder länger nach einer traumatischen Erfahrung Psychoanalyse (psychoanalysis) Freuds Persönlichkeitstheorie, die alle
anhalten. 7 16 unsere Gedanken und Handlungen unbewussten Motiven und Konflikten
zuschreibt; der Begriff umschreibt auch die bei der Behandlung psy-
Posttraumatisches Wachstum (post-traumatic growth) positive psycho- chischer Störungen verwendeten Techniken, mit deren Hilfe unbewusste
logische Veränderungen als Ergebnis einer Auseinandersetzung mit Spannungen aufgedeckt und interpretiert werden. Freud nahm an, dass
extrem herausfordernden Lebensumständen und -krisen. 7 16 die freien Assoziationen des Patienten, sein Widerstand, seine Träume
und Übertragungen – und deren Deutung durch den Therapeuten – zuvor
Prägung (imprinting) Vorgang, der bei manchen Tieren zur Ausbildung verdrängte Gefühle freisetzen; dies gestattet es dem Patienten, Selbstein-
eines Bindungsverhaltens führt. Die Prägung erfolgt in der kritischen sicht zu erlangen. 7 14, 17
Phase. 7 6
Psychochirurgie (psychosurgery) chirurgischer Eingriff zur Entfernung
Präoperatorisches Stadium (preoperational stage) in Piagets Theorie die oder Zerstörung von Hirngewebe mit dem Ziel, dadurch eine Verhaltens-
Phase (etwa vom 2. bis zum 6. oder 7. Lebensjahr), in der ein Kind lernt, änderung zu bewirken. 7 17
Sprache zu verwenden, jedoch die Denkoperationen der konkreten Logik
Psychodynamische Theorien (psychodynamic theories) betrachten
noch nicht begreift. 7 6
Persönlichkeit mit dem Fokus auf das Unbewusste und die Bedeutung
von Kindheitserlebnissen. 7 14
Primäre Geschlechtsmerkmale (primary sex characteristics) zur Fort-
pflanzung nötige Organe und Strukturen (Eierstöcke, Hoden und äußere
Psychodynamische Therapie (psychodynamic therapy) von der psycho-
Genitalien). 7 6
analytischen Tradition abgeleitete Therapie, die annimmt, dass das
Handeln von Individuen durch unbewusste Kräfte und Kindheitserinne-
Primärer Verstärker (primary reinforcer) von Geburt an verstärkender
rungen beeinflusst wird, und die die Verbesserung der Selbsteinsicht
Reiz, der beispielsweise ein natürliches Bedürfnis befriedigt. 7 8
anstrebt. 7 17

Priming (Voraktivierung; priming) oft unbewusste Aktivierung bestimmter


Psychologie (psychology) die Wissenschaft vom Verhalten und von den
Assoziationen; damit wird die Wahrnehmung, das Gedächtnis oder die
mentalen Prozessen. 7 1
Reaktion in bestimmter Weise empfänglich gemacht. 7 7, 9

Psychologische Beratung (counseling psychology) ein Zweig der Psycho-


Proaktive Hemmung 7 Proaktive Interferenz 7 9
logie, der Menschen bei Problemen hilft, die sie im Leben (oft in Bezug auf
Studium, Arbeit oder Ehe) und beim Erreichen eines besseren Allgemein-
Proaktive Interferenz (auch proaktive Hemmung; proactive interference)
zustands haben. 7 1
Störeffekt von früher Gelerntem auf die Reproduktion neuer Informationen.
79
Psychoneuroimmunologie (psychoneuroimmunology) die Wissenschaft
darüber, wie psychologische, neuronale und endokrine Prozesse zu-
Problemfokussierte Bewältigung (problem-focused coping) Versuch,
sammen das Immunsystem und die daraus resultierende Gesundheit be-
den Stress direkt zu verringern, indem wir den Stressor selbst oder die Art einflussen. 7 13
und Weise ändern, wie wir damit umgehen. 7 13
Psychopharmakologie (psychopharmacology) die Untersuchung der
Projektiver Test (projective text) Persönlichkeitstest, z. B. Rorschach-Test, Effekte von Medikamenten auf seelische Vorgänge und das Verhalten. 7 17
der vieldeutige Reize vorgibt, um eine Projektion der inneren Dynamik des
Probanden hervorzurufen. 7 14 Psychophysik (psychophysics) Untersuchung der Beziehungen zwischen
den physikalischen Merkmalen von Reizen, z. B. Reizintensität, und
Prosoziales Verhalten (prosocial behavior) positives, konstruktives, unserem psychischen Erleben dieser Reize. 7 7
hilfsbereites Verhalten. Das Gegenteil von antisozialem Verhalten. 7 8
Psychophysiologische Krankheit (psychophysical illness) wörtlich, eine
Prototyp (prototype) Vorstellungsbild oder typisches Beispiel für eine »Körper-und-Geist«-Krankheit; körperliche Krankheit, die mit Stress in
Kategorie. Wenn man neue Wahrnehmungen mit dem Prototyp abgleicht, Zusammenhang steht, z. B. Bluthochdruck und bestimmte Formen von
hat man ein schnelles und einfaches Verfahren, Wahrnehmungen in Kopfschmerzen. 7 13
Kategorien zu sortieren (z. B. wenn man gefiederte Lebewesen mit proto-
typischen Vögeln wie dem Spatz vergleicht). 7 10 Psychose (psychosis) psychische Störung, bei der eine Person den Kontakt
mit der Realität verliert, indem sie irrationale Ideen und eine gestörte
Psychiatrie (psychiatry) Teildisziplin der Medizin, die sich mit psychischen Wahrnehmung hat. 7 16
Störungen beschäftigt; wird von Ärzten ausgeübt, die sowohl medizinische
Behandlung (z. B. Medikamente) als auch Psychotherapie anbieten. 7 1 Psychosexuelle Phasen (psychosexual stages) Entwicklungsphasen
in der Kindheit (oral, anal, phallisch, latent und genital), in denen sich laut
Psychische Abhängigkeit (psychological dependence) psychisches Ver- Freud die Lust suchenden Energien des Es auf bestimmte erogene Zonen
langen nach einer Droge, um negative Gefühle zu dämpfen. 7 4 richten. 7 14
902 Anhang

Psychotherapie (psychotherapy) Behandlung, die psychologische Tech- Reizdiskrimination (discrimination) bei der klassischen Konditionierung
niken beinhaltet. Besteht aus Interaktion zwischen einem ausgebildeten die gelernte Fähigkeit, den konditionierten Reiz von anderen Reizen zu
Therapeuten und jemandem, der psychologische Schwierigkeiten über- unterscheiden, die keinen unkonditionierten Reiz ankündigen. 7 8
winden oder persönliches Wachstum erreichen will. 7 17
Reizgeneralisierung (generalization) Tendenz, dass nach Konditionierung
PTBS 7 Posttraumatische Belastungsstörung 7 16 einer Reaktion bestimmte Reize, die dem konditionierten Reiz ähneln,
ähnliche Reaktionen hervorrufen. 7 8
PTSD 7 Posttraumatische Belastungsstörung 7 16
Relative Deprivation (relative deprivation) Wahrnehmung, dass es einem
Pubertät (puberty) Zeit, in der der menschliche Körper die Geschlechts- selbst schlechter geht als denen, mit denen man sich vergleicht. 7 13
reife und damit die biologische Fortpflanzungsfähigkeit erlangt. 7 6
Reliabilität (auch Zuverlässigkeit; reliability) Ausmaß, in dem ein Test
Punktdiagramm 7 Streudiagramm 7 2 konsistente Ergebnisse liefert; wird anhand der Übereinstimmung
der Werte aus zwei getrennt durchgeführten Hälften des Tests oder bei
Pupille (pupil) regulierbare Öffnung in der Mitte des Auges, durch die wiederholter Durchführung des Tests ermittelt. 7 11
das Licht einfällt. 7 7
REM-Rebound (REM rebound) Tendenz zur Verlängerung der REM-Schlaf-
Qualitätszirkel (quality circle) Gesprächsgruppen von maximal 10 Mit- Phasen nach einem REM-Schlaf-Entzug (beispielsweise durch wiederholtes
arbeitern eines Arbeitsbereichs, die arbeitsbezogene Themen untersuchen Erwachen während der REM-Phasen). 7 4
und Lösungsvorschläge erarbeiten. 7 19
REM-Schlaf (REM sleep) Schlafphase, in der sich die Augen schnell
Quellenamnesie (source amnesia) man ordnet ein erlebtes Ereignis oder bewegen (»rapid eye movements«). In diesem sich wiederholenden Schlaf-
etwas, das man gehört, gelesen oder sich vorgestellt hat, einer falschen stadium kommt es in der Regel zu lebhaften Träumen. Der REM-Schlaf
wird auch als paradoxer Schlaf bezeichnet, weil die Muskeln entspannt
Quelle zu (auch Quellen-Fehlattribution genannt). Zusammen mit dem
sind (kleinere Zuckungen ausgenommen), andere Körperfunktionen aber
Fehlinformationseffekt ist die Quellenamnesie der Ursprung vieler falscher
aktiv. 7 4
Erinnerungen. 7 9

Replikation (replication) Wiederholung der wesentlichen Parameter eines


Querschnittstudie (cross-sectional study) eine Vorgehensweise, bei der
Experiments, in der Regel mit anderen Versuchsteilnehmern in anderen
zu einem Untersuchungszeitpunkt Menschen verschiedener Altersstufen
Situationen. Mit Hilfe der Replikation kann festgestellt werden, ob sich die
miteinander verglichen werden. 7 6
Grundannahmen eines Experiments auf andere Versuchsteilnehmer und
andere Situationen übertragen lassen. 7 2
Rahmeneffekt 7 Framing-Effekt 7 10

Resilienz (resilience) die persönliche Stärke, die den meisten Menschen


Randomisierung (auch Zufallszuweisung; random assignment) die Teil-
dabei hilft, mit Stress umzugehen und sich von Widrigkeiten und sogar
nehmer an der Versuchs- und an der Kontrollbedingung werden zufällig
von Traumen zu erholen. 7 17
ausgewählt. Dadurch wird es höchst unwahrscheinlich, dass die beiden
Gruppen sich vorher bereits unterscheiden. 7 2
Respondentes Verhalten (respondent behavior) Verhalten, das automa-
tisch als Reaktion auf einen Reiz auftritt. 7 8
Rational-emotive Verhaltenstherapie (REVT; rational-emotive behavior
therapy, REBT) von Albert Ellis entwickelte konfrontative kognitive Thera-
Retina (auch Netzhaut; retina) lichtempfindliche innere Oberfläche des
pie, die energisch die unlogischen, selbstzerstörerischen Ansichten und Auges, in der die Stäbchen und Zapfen der Fotorezeptoren sowie Neuro-
Annahmen von Personen infrage stellt. 7 17 nenschichten enthalten sind, in denen die Verarbeitung der visuellen
Information beginnt. 7 7
REBT 7 Rational-emotive Verhaltenstherapie 7 17
Retinale Disparität (retinal disparity) binokulares Merkmal zur Tiefen-
Reflex (reflex) automatische Reaktion auf einen sensorischen Reiz, wahrnehmung: Anhand des Vergleichs der beiden von den Augäpfeln
wie z. B. der Kniesehnenreflex. 7 3 übermittelten Bilder berechnet das Gehirn die Entfernung – je größer die
Disparität (der Unterschied) zwischen den beiden Bildern, desto näher
Refraktärphase (refractory period) Ruheperiode nach dem Orgasmus, das Objekt. 7 7
während der ein Mann keinen weiteren Orgasmus haben kann. 7 12
Retroaktive Hemmung 7 Retroaktive Interferenz 7 9
Regenbogenhaut 7 Iris 7 7
Retroaktive Interferenz (auch retroaktive Hemmung; retroactive inter-
Regression zur Mitte (regression toward the mean) Tendenz extremer ference) Störeffekt neu gelernter Informationen auf die Reproduktion alter
oder ungewöhnlicher Werte, auf ihren Durchschnittswert zurückzufallen Informationen. 7 9
(Regression). 7 17
Retrograde Amnesie (retrograde amnesia) das Unvermögen, Erinnerun-
Reifung (maturation) biologische Wachstumsprozesse, die die Grundlage gen aus der Vergangenheit wieder abzurufen. 7 9
für systematisch und von äußeren Verhältnissen und Erfahrungen relativ
unbeeinflusst ablaufende Verhaltensänderungen sind. 7 6 REVT 7 Rational-emotive Verhaltenstherapie 7 17

Reiz (Stimulus; stimulus) alle Ereignisse oder Situationen, die eine Reaktion Reziproker Determinismus (reciprocal determinism) bezeichnet die inter-
auslösen. 7 8 agierenden Einflüsse von Persönlichkeit und Umweltfaktoren. 7 14
903
Glossar

Reziprozitätsnorm (reciprocity norm) Erwartung, dass wir denen, die uns Das Selbst (self ) die moderne Psychologie vermutet hierin das
geholfen haben, helfen und ihnen keinen Schaden zufügen sollten. 7 15 Zentrum der Persönlichkeit. Es ordnet unsere Gedanken, Gefühle und
Handlungen. 7 14
Rolle (role) Reihe von Erwartungen (Normen) an eine soziale Position.
Sie definiert, wie sich jemand in dieser Position verhalten sollte. 7 5 Selbstkontrolle (self-control) die Fähigkeit, die eigenen Impulse zu
kontrollieren und Belohnung aufzuschieben. Diese werden zugunsten
Rorschach-Test (Rorschach inkblot test) am weitesten verbreiteter pro- langfristiger, aber wertvollerer Belohnungen kontrolliert. 7 14
jektiver Test. Er besteht aus einem Satz von 10 Tintenklecksbildern, die
von Hermann Rorschach entworfen wurden. Die Auswertung der Art und Selbstkonzept (self-concept) Gefühl für die eigene Identität und den
Weise, wie der Proband die Kleckse deutet, soll seine inneren Gefühle eigenen Wert; alle Gedanken und Gefühle, die bei der Beantwortung der
deutlich machen. 7 14 Frage »Wer bin ich?« aufkommen. 7 6, 14

rTMS 7 Wiederholte transkranielle Magnetstimulation 7 17 Selbstoffenbarung (self-disclosure) anderen Menschen intime Aspekte
von sich selbst mitteilen. 7 15
Rückkopplungseffekt des Gesichtsausdrucks (facial feedback effect)
die Tendenz unserer Gesichtsmuskeln, Gefühle (wie Angst, Wut oder Glück) Selbststeuerung (self-regulation) Fähigkeit, das eigene Verhalten zu
auszulösen, die ihrem Anspannungsmuster entsprechen. 7 13 beobachten, zu bewerten, gezielt zu verstärken und dadurch an eigenen
Zielen flexibel auszurichten. 7 19
Rückschaufehler (hindsight bias) 7 Hindsightbias 7 2
Selbstverwirklichung (self-actualization) nach Maslow das höchste psy-
Savant-Syndrom (savant syndrome) Zustand, der sich dadurch auszeich- chologische Bedürfnis, das auftritt, wenn alle physischen und psychischen
net, dass ein Mensch mit einer an sich eingeschränkten geistigen Fähigkeit Grundbedürfnisse erfüllt sind und Selbstwertgefühl erlangt wurde;
Selbstverwirklichung ist die Motivation, das eigene Potenzial zu verwirk-
über eine ganz außergewöhnliche Begabung (Inselbegabung) verfügt,
lichen. 7 14
beispielsweise im Rechnen oder Zeichnen. 7 11

Selbstwertdienliche Verzerrung (self-serving bias) Bereitschaft, uns


Schallempfindungsschwerhörigkeit (sensorineural hearing loss) Schwer-
selbst in einem günstigen Licht zu sehen. 7 14
hörigkeit infolge von Verletzungen der Rezeptorzellen der Kochlea
oder der Hörnerven; auch als Nervenschwerhörigkeit bezeichnet. 7 7
Selbstwertgefühl (self-esteem) Gefühl für den hohen oder geringen Wert
der eigenen Person. 7 14
Schallleitungsschwerhörigkeit (conduction hearing loss) Schwerhörig-
keit infolge einer Schädigung des mechanischen Systems, das Schallwellen
Selbstwirksamkeit (self-efficacy) Überzeugung, in einer bestimmten
zur Kochlea weiterleitet. 7 7
Situation die angemessene Leistung erbringen zu können. 7 19

Schema (schema) kognitive Struktur, mit der Informationen geordnet


Selektive Aufmerksamkeit (selective attention) Konzentration des
und erklärt werden. 7 6
Bewusstseins auf einen bestimmten Stimulus, wie etwa beim Cocktail-
partyeffekt. 7 4
Schizophrenie (schizophrenia) Gruppe schwerer Störungen, die durch
desorganisiertes und wahnhaftes Denken, gestörte Wahrnehmungen und
Sensorische Adaptation (sensory adaptation) verminderte Sensibilität
unangemessene Emotionen und Handlungen gekennzeichnet sind. 7 16
als Folge konstanter Stimulation. 7 7

Schlaf (sleep) periodischer, natürlicher, reversibler Bewusstseinsverlust – Sensorische Interaktion (sensory interaction) Prinzip der gegenseitigen
im Gegensatz zu Bewusstseinsverlusten, die durch Koma, Narkose oder Beeinflussung verschiedener Sinne, wie beispielsweise der Geruch von
Winterschlaf hervorgerufen werden (nach Dement 1978). 7 4 Essen seinen Geschmack beeinflusst. 7 7

Schlafapnoesyndrom (sleep apnea) Schlafstörung, die durch ein Sensorische Neuronen (sensory neurons) Nervenzellen, die von den
gelegentliches Aussetzen der Atmung während des Schlafes und das Sinnesrezeptoren eingehende Informationen zum zentralen Nervensystem
anschließende kurze Erwachen gekennzeichnet ist. 7 4 (Gehirn und Rückenmark) übermitteln. 7 3

Schnecke 7 Kochlea 7 7 Sensorischer Kortex (sensory cortex) vorderer Teil des Parietallappens,
in dem die Empfindungen für Körperberührungen und Bewegungen
Schwellenwert (threshold) Grad an Stimulation, der benötigt wird, um registriert und verarbeitet werden. 7 3
einen neuronalen Impuls auszulösen. 7 3
Sensorisches Gedächtnis (sensory memory) unmittelbare, sehr
SDT 7 Signaldetektionstheorie 7 7 kurze Zwischenspeicherung sensorischer Informationen im Gedächtnis-
system. 7 9
Sehgrube 7 Fovea 7 7
Sensumotorisches Stadium (sensorimotor stage) nach Piagets Theorie
Sehnerv (N. opticus; optic nerve) Nerv, über den die Nervenimpulse wird auf dieser Stufe (von der Geburt bis etwa zum 2. Lebensjahr)
vom Auge ins Gehirn gelangen. 7 7 die Welt primär als Sinneseindruck wahrgenommen und mit motorischen
Aktivitäten erforscht. 7 6
Sekundäre Geschlechtsmerkmale (secondary sex characteristics)
nicht zur Fortpflanzung erforderliche Merkmale wie weibliche Brüste und Serieller Positionseffekt (serial position effect) unsere Tendenz, uns am
Hüften sowie männliche Stimme und Körperbehaarung. 7 6 besten an die ersten und letzten Items einer Liste zu erinnern. 7 9
904 Anhang

Set Point (Sollwert; set point) Punkt, auf den der individuelle »Körper- Soziales Faulenzen (social loafing) Tendenz, dass sich Menschen in
thermostat« ausgerichtet ist. Fällt das Körpergewicht unter diesen Punkt, Gruppen weniger anstrengen, um ein gemeinsames Ziel zu erreichen, als
führt normalerweise eine Steigerung des Hungers und eine Senkung des wenn sie allein verantwortlich sind. 7 15
Stoffwechsels dazu, dass man wieder zunimmt. 7 12
Soziales Skript (social script) kulturell geformter Leitfaden, der bestimmt,
Sexuelle Orientierung (sexual orientation) konsistente Ausrichtung wie man sich in bestimmten Situationen verhalten soll. 7 15
des sexuellen Interesses auf Menschen desselben Geschlechts (Homo-
sexualität) oder des anderen Geschlechts (Heterosexualität). 7 12 Sozial-kognitive Perspektive (social-cognitive approach) sieht Verhalten
als beeinflusst von der Interaktion zwischen dem Individuum (und seinem
Sexuelle Störung (sexual disorder) anhaltende Störung der sexuellen Denken) und seinem sozialen Umfeld. 7 14
Erregung oder Funktionsfähigkeit. 7 12
Sozialpsychologie (social psychology) die wissenschaftliche Untersuchung
Sexueller Reaktionszyklus (sexual response cycle) die 4 Phasen der davon, wie wir übereinander denken, uns gegenseitig beeinflussen und in
sexuellen Reaktion, die von Masters und Johnson beschrieben wurden: welcher Beziehung wir zueinander stehen. 7 15
Erregung, Plateau, Orgasmus und Entspannung. 7 12
Spacing-Effekt (spacing effect) Tendenz, dass durch zeitlich verteiltes
Shaping (Verhaltensformung; shaping) Vorgang innerhalb der operanten Lernen oder Üben bessere langfristige Behaltenserfolge erzielt werden als
Konditionierung; die Verstärkung führt das Verhalten immer näher an das bei massiertem Lernen oder Üben. 7 9
gewünschte Ziel heran. 7 8
Speichern (storage) dauerhaftes Behalten der enkodierten
Signaldetektionstheorie (SDT; Signalentdeckungstheorie; signal detec- Informationen. 7 9
tion theory) Theorie, die vorhersagt, wie und wann wir das Vorhandensein
Spiegelbildliche Wahrnehmungen (mirror-image perceptions) gegen-
eines schwachen Reizes (Signal) unter Hintergrundstimulation (Lärm)
seitige Wahrnehmung, die konfligierende Parteien häufig haben, wenn
wahrnehmen; geht davon aus, dass es keine feste absolute Schwelle gibt,
sie beispielsweise sich selbst jeweils als ethisch korrekt und friedlich, die
sondern dass die Signalwahrnehmung teilweise von der Erfahrung, den
andere Seite hingegen als böse und aggressiv sehen. 7 15
Erwartungen, der Motivation und dem Grad an Müdigkeit der jeweiligen
Person abhängt. 7 7
Spiegelneurone (mirror neurons) Stirnlappenneuronen, die – wie manche
Forscher glauben – reagieren, wenn bestimmte Tätigkeiten ausgeführt
Signalentdeckungstheorie 7 Signaldetektionstheorie 7 7
werden oder wenn jemand anderes bei der Ausführung beobachtet wird.
Der im Gehirn ablaufende Vorgang des Spiegelns der Tätigkeit eines ande-
Sinnesempfindung (sensation) Prozess, bei dem unsere Sinnesrezeptoren
ren Menschen könnte zur Nachahmung und zur Empathie beitragen. 7 8
und unser Nervensystem Reizenergien aus unserer Umwelt empfangen
und darstellen. 7 7
Split-Brain (split-brain) Zustand nach einer Operation, bei der die beiden
Gehirnhälften voneinander getrennt wurden, nachdem die sie ver-
Skinner-Box (operant chamber oder Skinner box) Kammer, in der sich
bindenden Fasern, vor allem die des Corpus callosum, durchgeschnitten
ein Hebel oder eine Taste befindet, die ein Tier betätigen kann, um Futter
wurden. 7 3
oder Wasser als Belohnung zu erhalten; dazu gehören Messgeräte, die die
Häufigkeit des Hebel- oder Tastendrückens durch das Tier aufzeichnen.
Spontanerholung (spontaneous recovery) erneutes Auftreten einer
Wird in der Forschung zur operanten Konditionierung verwendet. 7 8
gelöschten konditionierten Antwort nach einer Pause. 7 8

Sollwert 7 Set Point 7 12 Spotlight-Effekt (spotlight effect) Überschätzen der Wahrnehmung


und Bewertung unserer äußeren Erscheinung, Leistungen und Fehlleistun-
Somatisches Nervensystem (somatic nervous system) Teil des peripheren gen durch andere Menschen (als ob wir im Licht eines Scheinwerfers
Nervensystems, der die Skelettmuskulatur kontrolliert. 7 3 stünden). 7 14

Soziale Erleichterung (social facilitation) Leistungssteigerung durch Sprache (language) unsere gesprochenen, geschriebenen oder durch
die Anwesenheit anderer; tritt bei einfachen oder gut gelernten Aufgaben Gebärden ausgedrückten Wörter und die Art und Weise, wie wir diese
auf. 7 15 miteinander verbinden, um Bedeutungen auszudrücken. 7 10

Soziale Falle (social trap) Situation, in der sich die am Konflikt beteiligten SQ3R eine Lernmethode, die fünf Schritte umfasst: Survey, Question,
Parteien in wechselseitig destruktivem Verhalten verfangen, weil jede Read, Retrieve und Review, also Überblick verschaffen, Fragen stellen,
Partei rational die eigenen Interessen verfolgt. 7 15 lesen, abrufen und nochmal durchdenken. 7 1

Soziale Identität (social identity) das Wir-Gefühl als Teil unseres Selbst- Stäbchen (rods) Fotorezeptoren auf der Retina, die Schwarz, Weiß und
konzepts; derjenige Teil unserer Antwort auf die Frage »Wer bin ich?«, Grau erkennen können und für das periphere Sehen und das Sehen in
der durch unsere Gruppenzugehörigkeit bestimmt wird. 7 6 der Dämmerung erforderlich sind, wenn die Zapfen nicht reagieren. 7 7

Soziale Uhr (social clock) die in einer Kultur vorgegebenen Zeiträume für Standardabweichung (standard deviation) berechnete Maßzahl, die die
bestimmte soziale Ereignisse wie Heirat, Elternschaft oder Ruhestand. 7 6 Streuung der Daten um den Mittelwert angibt. 7 2

Sozialer Führungsstil (social leadership) gruppenorientierter Führungs- Stanford-Binet-Intelligenztest (Stanford-Binet) häufig angewandte
stil, bei dem Teamarbeit gefördert, bei Konflikten vermittelt und Unter- amerikanische Variante des ursprünglichen Binet-Intelligenztests
stützung angeboten wird. 7 12 (abgewandelt durch Lewis Terman von der Stanford-Universität). 7 11
905
Glossar

Statistische Signifikanz (statistical significance) statistische Aussage empfängt. Der winzige Zwischenraum zwischen den beiden Zellen wird als
über die Wahrscheinlichkeit, mit der das Ergebnis einer Untersuchung synaptischer Spalt bezeichnet. 7 3
dem Zufall zuzuschreiben ist. 7 2
Systematische Desensibilisierung (systematic desensitization) eine Art
Stereotyp (stereotype) verallgemeinernde (manchmal richtige, oft Expositionstherapie, die einen angenehm entspannten Zustand mit all-
aber übergeneralisierende) Einstellung gegenüber einer Gruppe von mählich immer stärker angstauslösenden Reizen koppelt. Wird häufig zur
Menschen. 7 15 Behandlung von Phobien eingesetzt. 7 17

Stereotype Threat (Bedrohung durch ein Stereotyp; stereotype threat) Systematische Selbstüberschätzung (overconfidence bias) Tendenz,
eine sich selbst bestätigende Besorgnis, die Bewertung des eigenen Ver- mit großem Selbstvertrauen auf falschen Aussagen zu beharren – die
haltens erfolge auf der Basis eines negativen Stereotyps. 7 11 Verlässlichkeit der eigenen Überzeugungen und Einschätzungen zu über-
schätzen. 7 10
Stimmungskongruente Erinnerung (mood-congruent memory) Tendenz,
sich an Erfahrungen zu erinnern, die mit der aktuellen guten oder schlech- Teilautonome Gruppen (partly autonomous groups) Gruppen, die bei der
ten Stimmung übereinstimmen. 7 9 Bearbeitung ihrer Aufgaben den Arbeitsablauf, die Verteilung von Teilaufga-
ben und mitunter auch die Arbeitsplatzgestaltung selbst bestimmen. 7 19
Stimulanzien (stimulants) Substanzen (wie Koffein, Nikotin und stärkere,
wie Amphetamine und Kokain), die die neuronale Aktivität verstärken und Telegrammstil (telegraphic speech) frühe Sprechphase, in der das Kind
die Körperfunktionen beschleunigen. 7 4 ähnlich den Formulierungen in einem Telegramm spricht – »Auto gehen« –
d. h. es verwendet vorzugsweise Substantive und Verben. 7 10
Stimulus 7 Reiz 7 8
Temperament (temperament) charakteristische emotionale Reaktions-
Störvariable (confounding variable) ein anderer Faktor als die unabhängi- bereitschaft und Reaktionsstärke eines Menschen. 7 5
ge Variable, der in einem Experiment eine Wirkung entfalten könnte. 7 2
Temporallappen (temporal lobes) Teile des zerebralen Kortex, die etwas
Stress (stress) Prozess, durch den wir bestimmte Ereignisse (Stressoren) oberhalb der Ohren liegen; sie enthalten die auditorischen Areale, die
wahrnehmen und darauf reagieren. Stressoren können als Bedrohung hauptsächlich Informationen vom jeweils gegenüberliegenden Ohr emp-
oder als Herausforderung bewertet werden. 7 13 fangen. 7 3

Streudiagramm (auch Punktdiagramm; scatterplot) grafisch dargestellte »Tend-and-befriend«-Reaktion (tend and befriend) unter Stress
Punktewolke. Jeder Punkt in einem Streudiagramm gibt die Werte von bieten Menschen (vor allem Frauen) anderen ihre Unterstützung
zwei Merkmalsvariablen an. Der Verlauf der Verbindungslinie zwischen an (»tend«) und schließen sich mit ihnen zusammen (»befriend«),
den Punkten zeigt die Richtung des Zusammenhangs zwischen den um selbst Halt zu finden. 7 13
beiden Variablen an. Die Konzentration der Punkte verweist auf die Stärke
des Zusammenhangs (eng beieinanderliegende Punkte bedeuten hohe Teratogene (wörtlich: »Monstermacher«; teratogens) Wirkstoffe (wie
Korrelation). 7 2 chemische Stoffe und Viren), die zum Embryo bzw. Fötus durchdringen
und ihn während der pränatalen Entwicklung schädigen können. 7 6
Strukturierte Interviews (structured interviews) Interviewverlauf, bei
dem jedem Bewerber die gleichen jobrelevanten Fragen gestellt werden, Terrormanagementtheorie (terror-management theory) besagt, dass
von denen jede auf bewährten Skalen bewertet wird. 7 12 der Glaube an die eigene Weltanschauung und das Streben nach einem
hohen Selbstwertgefühl Schutz bieten gegen eine tief verwurzelte Todes-
Subjektives Wohlbefinden (subjective well-being) selbst wahrgenom- angst. 7 14
menes Gefühl des Glücks im Leben oder der Zufriedenheit mit dem Leben.
Wird zusammen mit Maßen des objektiven Wohlbefindens verwendet Testeffekt (testing effect) verbesserte Gedächtnisleistung, nachdem In-
(beispielsweise körperliche und ökonomische Faktoren), um die Lebens- formationen reproduziert und nicht bloß nochmal gelesen wurden;
qualität eines Menschen zu erfassen. 7 13 manchmal auch als »retrieval practice effect« oder »test-enhanced learning«
bezeichnet. 7 1, 9
Subliminal (subliminal) unter der absoluten Schwelle der bewussten
Wahrnehmung. 7 7 Testosteron (testosterone) wichtigstes der männlichen Sexualhormone.
Es ist bei Frauen und Männern vorhanden, allerdings stimuliert die zusätz-
Sucht (addiction) zwanghaftes Verlangen nach einer Droge und ihrem liche Menge an Testosteron bei Männern die Entwicklung männlicher
Konsum. 7 4 Sexualorgane im Fötus sowie das Wachstum der männlichen Geschlechts-
merkmale während der Pubertät. 7 5, 12
Sündenbocktheorie (scapegoat theory) besagt, dass Vorurteile ein
Ventil für Aggressionen darstellen, indem sie jemanden als Schuldigen Tetrahydrocannabinol 7 THC 7 4
definieren. 7 15
Thalamus (thalamus) Umschaltzentrale für sensorische Signale im Gehirn,
Sympathikus (sympathetic nervous system) Teil des vegetativen Nerven- die am oberen Ende des Hirnstamms lokalisiert ist. Der Thalamus über-
systems, der für körperliche Erregung und damit für das Bereitstellen von mittelt Informationen zu sensorischen Arealen im Kortex und leitet die
Energie in Stresssituationen sorgt. 7 3 Reaktionen zum Kleinhirn sowie zur Medulla oblongata weiter. 7 3

Synapse (synapse) Verbindungsstelle zwischen der axonalen Endigung THC (Tetrahydrocannabinol; tetrahydrocannabinol) Hauptwirkstoff
des präsynaptischen Neurons, das Impulse weitergibt, und einem Dendriten von Marihuana. Hat verschiedene Wirkungen, unter anderem führt es zu
oder dem Zellkörper des postsynaptischen Neurons, das die Impulse leichten Halluzinationen. 7 4
906 Anhang

Theorie (theory) auf Prinzipien gestütztes Erklärungsmodell, das Beob- Transduktion (transduction) Umwandlung einer Energieform in eine
achtungen in einen Zusammenhang stellt und Verhalten oder Ereignisse andere. Im sensorischen Bereich die Umwandlung von Reizenergien (wie
vorhersagt. 7 2 Sehreize, Töne und Gerüche) in Nervenimpulse, die unser Gehirn interpre-
tieren kann. 7 7
Theorie der kognitiven Dissonanz (cognitive dissonance theory) besagt,
dass wir handeln, um den unangenehmen Zustand (kognitive Dissonanz) Transidentische Persönlichkeit (transgender) Überbegriff für Personen,
zu verringern, den wir empfinden, wenn zwei unserer Gedanken (Kogni- deren Geschlechtsidentität oder Ausdruck ihres Geschlechts sich von dem,
tionen) miteinander inkonsistent sind. Wenn beispielsweise unsere be- was man mit ihrem Geburtsgeschlecht assoziiert, unterscheidet. 7 5
wusste Einstellung unseren Handlungen widerspricht, können wir die Dis-
sonanz, die sich daraus ergibt, verringern, indem wir unsere Einstellung Traum (dream) Abfolge von Bildern, Emotionen und Gedanken, die sich
ändern. 7 15 im Geist eines Schläfers abspielt. Bemerkenswert an Träumen sind die
halluzinationsartigen Bilder, die Wandelbarkeit und Inkongruenz des
Theorie des sozialen Austauschs (social exchange theory) besagt, dass Traumgeschehens sowie die beinahe wahrhafte Bereitschaft des Träumen-
es sich bei unserem Sozialverhalten um einen Austauschprozess den, das Traumgeschehen und den inhaltlich oft nicht nachvollziehbaren
handelt, dessen Ziel es ist, den Nutzen zu maximieren und die Kosten zu Zusammenhang des Erlebten zu akzeptieren. 7 4
minimieren. 7 15
Triebreduktionstheorie (drive-reduction theory) Annahme, dass ein
Theorie des sozialen Lernens (social learning theory) besagt, dass wir physiologisches Bedürfnis eine erregte Spannung erzeugt (einen Trieb),
Sozialverhalten lernen, indem wir etwas beobachten und nachahmen und der den Organismus motiviert, das Bedürfnis zu befriedigen. 7 12
indem wir dafür belohnt oder bestraft werden. 7 5
Trisomie 21 7 Down-Syndrom 7 11
Theorie über mentale Zustände 7 Theory of Mind 7 6
Typ A (type A) Friedmans und Rosenmans Bezeichnung für ehrgeizige,
Theory of Mind (Theorie über mentale Zustände; theory of mind) naive gehetzte, ungeduldige, aggressive und reizbare Menschen. 7 13
Psychologie, mit deren Hilfe sich Menschen die mentalen Zustände und
inneren Prozesse anderer Menschen erklären. Dadurch sind sie in der Lage, Typ B (type B) Friedmans und Rosenmans Bezeichnung für gelassene und
die Gefühle, Wahrnehmungen und Gedanken anderer einzuordnen und entspannte Menschen. 7 13
Verhaltensweisen vorab einzuschätzen. 7 6
Übergang ins Erwachsenenalter (emerging adulthood) in modernen Kul-
Therapeutisches Bündnis (therapeutic alliance) ein Band des Vertrauens turen der Zeitraum zwischen dem späten Jugendalter und etwa 25 Jahren,
und gegenseitigen Verständnisses zwischen Therapeut und Klient, der als Zwischenstadium zwischen jugendlicher Abhängigkeit und voll-
die zusammen versuchen, zielführend das Problem des Klienten zu be- kommener Unabhängigkeit und Verantwortung des Erwachsenenalters
wältigen. 7 17 angesehen wird. 7 6

Tiefe Verarbeitung (deep processing) semantische Enkodierung, die Übergeordnete Ziele (superordinate goals) gemeinsame Ziele, durch
auf der Bedeutung von Worten beruht; erzielt im Durchschnitt die beste die Differenzen unter Menschen überwunden werden, weil sie deren Ko-
Behaltensleistung. 7 9 operation erfordern. 7 15

Tiefenwahrnehmung (depth perception) Fähigkeit, Gegenstände in drei Über-Ich (superego) Teil der Persönlichkeit, der laut Freud die inter-
Dimensionen zu sehen, obwohl die Bilder, die auf die Retina projiziert nalisierten Ideale und Normen repräsentiert, die Richtschnur für die Ur-
werden, zweidimensional sind. Die Tiefenwahrnehmung befähigt uns zur teilsfähigkeit (Gewissen) liefert und Ziele für die Zukunft setzt. 7 14
Einschätzung der Entfernung. 7 7
Übertragung (transference) bedeutet in der Psychoanalyse, dass der
Tokensystem (token economy) Verfahren der operanten Konditionierung, Patient Emotionen aus anderen Beziehungen (wie etwa Liebe oder Hass
bei dem Personen Symbolgeld erhalten, wenn sie das gewünschte Ver-
für einen Elternteil) auf den Analytiker überträgt. 7 17
halten zeigen. Anschließend können sie die Chips gegen verschiedene Ver-
günstigungen oder Leckereien eintauschen. 7 17 Umwelt (environment) jeder nichtgenetische Einfluss, von der pränatalen
Ernährung bis zu den Menschen und Dingen in unserer Umgebung. 7 5
Toleranz (tolerance) die abnehmende Wirkung, wenn man dieselbe Dosis
einer Droge regelmäßig nimmt; der Konsument muss dann immer größere Unabhängige Variable (independent variable) Faktor im Experiment,
Dosen nehmen, bis er die Wirkung der Droge erlebt. 7 4 der manipuliert wird und dessen Wirkung untersucht wird. 7 2

Tonhöhe (pitch) Höhe oder Tiefe eines Tons; sie hängt von der Frequenz Unaufmerksamkeitsblindheit 7 Blindheit durch Unaufmerksamkeit 7 4
ab. 7 7
Unbedingte Reaktion 7 Unkonditionierte Reaktion 7 8
Top-down-Verarbeitung (absteigende, konzeptgesteuerte Informations-
verarbeitung; top-down processing) Informationsverarbeitung, gesteuert Unbedingte Wertschätzung (unconditional positive regard) nach Rogers
durch höhere mentale Prozesse, beispielsweise wenn wir Wahrnehmungen eine Einstellung, die durch das vollkommene Akzeptieren eines anderen
aufgrund unserer Erfahrungen und Erwartungen interpretieren. 7 7 Menschen gekennzeichnet ist. 7 14

Trait (Merkmal, Persönlichkeitszug; trait) für einen bestimmten Menschen Unbedingter Stimulus 7 Unkonditionierter Stimulus bzw. Reiz 7 8
typisches Verhaltens- oder Veranlagungsmuster, das sich in seiner Art zu
fühlen und zu handeln ausdrückt; kann erfasst werden durch Fragebögen Das Unbewusste (unconscious) ist laut Freud ein Auffangbecken für
zur Erhebung der Selbst- und der Fremdeinschätzung. 7 14 meist inakzeptable Gedanken, Wünsche, Gefühle und Erinnerungen.
907
Glossar

In der heutigen Psychologie steht der Begriff »unbewusst« für eine Form Verstärkung (reinforcement) in der operanten Konditionierung jedes
der Informationsverarbeitung, derer wir uns nicht bewusst sind. 7 14 Ereignis, durch das ein vorausgehendes Verhalten verstärkt wird. 7 8

Unkonditionierte Reaktion (UR; auch unbedingte Reaktion; uncondi- Verstärkungsplan (reinforcement schedule) ein Muster, das definiert,
tioned response) in der klassischen Konditionierung die nicht gelernte, wie oft ein erwünschtes Verhalten verstärkt wird. 7 8
natürlich auftretende Reaktion auf einen unkonditionierten Stimulus (US),
wie etwa Speichelfluss, wenn sich Futter im Maul befindet. 7 8 Versuchsgruppe (experimental group) Gruppe in einem Experiment,
deren Teilnehmer einer Behandlung unterzogen werden, die in diesem Fall
Unkonditionierter Stimulus bzw. Reiz (US; auch unbedingter Stimulus; eine Ausprägung der unabhängigen Variable darstellt. 7 2
unconditioned stimulus) in der klassischen Konditionierung ein Reiz, der
unkonditioniert (ungelernt) – natürlich und automatisch – eine Reaktion Verzerrung durch nachträgliche Einsicht 7 Hindsightbias 7 2
(UR) auslöst. 7 8
vestibulärer Sinn 7 Gleichgewichtssinn 7 7
Unterschiedsschwelle (difference threshold) minimaler Unterschied
zwischen zwei Reizen, der erforderlich ist, damit er in 50% der Fälle er- Visuelle Klippe (visual cliff ) Laboreinrichtung zum Testen der Tiefen-
kannt wird. Wir erleben die Unterschiedsschwelle als den eben noch merk- wahrnehmung bei Kleinkindern und Jungtieren. 7 7
lichen Unterschied (»just noticeable difference«). 7 7
VNS 7 Autonomes (vegetatives) Nervensystem 7 3
UR 7 Unkonditionierte Reaktion 7 8
Voraktivierung 7 Priming 7 9
Urvertrauen (basic trust) laut Erik Erikson ist Urvertrauen das Gefühl, dass
die Welt ein sicherer und vertrauenerweckender Ort ist. Dieses Vertrauen Vorhersagevalidität (auch Kriteriumsvalidität; predictive validity)
entsteht in der frühen Kindheit durch die entsprechenden Erfahrungen Ausmaß, in dem ein Test das Verhalten vorhersagt, das er vorhersagen soll.
mit aufgeschlossenen und einfühlsamen Bezugspersonen. 7 6 Der Erfolg wird durch Berechnung der Korrelation zwischen den Test-
werten und dem kriteriumsrelevanten Verhalten erfasst. 7 11
US 7 Unkonditionierter Stimulus bzw. Reiz 7 8
Vorurteil (prejudice) ungerechtfertigte (und in der Regel negative) Ein-
Validität oder Gültigkeit (validity) Ausmaß, in dem ein Test das misst oder stellung gegenüber einer Gruppe und ihren Mitgliedern. Vorurteile
vorhersagt, was er messen oder vorhersagen soll (7 auch Inhaltsvalidität beinhalten i. Allg. stereotype Überzeugungen, negative Gefühle und die
und Vorhersagevalidität). 7 11 Bereitschaft zu diskriminierendem Verhalten. 7 15

Variabler Intervallplan (variable-interval schedule) ein Verstärkungsplan Wahnvorstellungen (delusions) falsche Überzeugungen (häufig zu
in der operanten Konditionierung, bei dem eine Reaktion in unvorherseh- Verfolgung oder eigener Großartigkeit), die mit psychotischen Störungen
baren Zeitabständen verstärkt wird. 7 8 einhergehen können. 7 16

Variabler Quotenplan (variable-ratio schedule) ein Verstärkungsplan Wahrnehmung (perception) Prozess, bei dem die sensorischen Infor-
in der operanten Konditionierung, bei dem die Anzahl der Reaktionen, mationen organisiert und interpretiert werden; dies ermöglicht uns, die
die gezeigt werden, bevor eine Verstärkung gegeben wird, von einer Bedeutung von Gegenständen und Ereignissen zu erkennen. 7 7
Verstärkungsphase zur anderen variiert. 7 8
Wahrnehmungsadaptation (perceptual adaptation) Fähigkeit zur
Variationsbreite (range) Differenz zwischen dem höchsten und dem Anpassung an ein künstlich verzerrtes oder gar auf den Kopf gestelltes
niedrigsten Wert einer Verteilung. 7 2 Blickfeld. 7 7

Veränderungsblindheit (change blindness) Unfähigkeit, Veränderungen Wahrnehmungskonstanz (perceptual constancy) Fähigkeit, Objekte als
in der Umgebung wahrzunehmen. 7 4 unverändert (mit gleichbleibender Helligkeit, Farbe, Form und Größe)
wahrzunehmen, auch wenn sich die Beleuchtung und die Bilder auf der
Verdrängung (repression) in der psychoanalytischen Theorie der wich- Retina verändern. 7 7
tigste Abwehrmechanismus, auf dem alle anderen Formen der Abwehr
beruhen und mit dessen Hilfe Angst auslösende Gedanken, Gefühle und Wahrnehmungsset (perceptual set) mentale Prädisposition, etwas
Erinnerungen aus dem Bewusstsein verbannt werden. 7 9, 14 Bestimmtes wahrzunehmen und nicht etwas anderes. 7 7

Verfügbarkeitsheuristik (availability heuristic) Einschätzung der Wahr- Weber’sches Gesetz (Weber’s law) Prinzip, das besagt, dass sich zwei
scheinlichkeit von Ereignissen je nach ihrer Verfügbarkeit in der Erinne- Reize um einen konstanten minimalen Prozentsatz (und nicht um einen
rung; wenn uns Beispiele schnell einfallen (vielleicht weil sie spektakulär konstanten Absolutbetrag) unterscheiden müssen, damit sie als unter-
sind), halten wir ein solches Ereignis für normal. 7 10 schiedlich wahrgenommen werden. 7 7

Verhaltensformung 7 Shaping 7 8 Wechsler Adult Intelligence Scale (WAIS) in Deutschland der am


häufigsten verwendete Intelligenztest, zu dem Untertests gehören, die zu
Verhaltensgenetik (behavior genetics) die Untersuchung der relativen einem Verbalteil und einem Handlungsteil (nonverbal) zusammengefasst
Gewichte und Grenzen von genetischen und Umwelteinflüssen auf das sind. 7 11
Verhalten. 7 5
α-Wellen 7 Alphawellen 7 4
Verhaltenstherapie (behavior therapy) Therapie, die Lernprinzipien
anwendet, um unerwünschte Verhaltensweisen zu löschen. 7 17 δ-Wellen 7 Deltawellen 7 4
908 Anhang

Wellenlänge (wavelength) Abstand zwischen den Scheitelpunkten Zirkadiane Rhythmik (circadian rhythm) biologische Uhr; reguläre
von zwei aufeinander folgenden Wellen. Das Spektrum der elektroma- Rhythmik der Körperfunktionen (z. B. der Körpertemperatur und des Wach-
gnetischen Wellenlägen reicht von den kurzen Impulsen der kosmischen zustands) in einem 24-stündigen Zyklus. 7 4
Strahlen bis zu den Langwellen, die für die Radioübertragung verwendet
werden. 7 7 ZNS 7 Zentrales Nervensystem 7 3

Wernicke-Zentrum (Wernicke’s area) steuert die Aufnahme von Sprache; Zufallsstichprobe (random sample) Stichprobe, die eine Population weit-
Bereich des Gehirns, der am Sprachverstehen und am sprachlichen Aus- gehend repräsentiert, weil jedes Mitglied der Population mit der gleichen
druck beteiligt ist und sich meist im linken Temporallappen befindet. 7 10 Wahrscheinlichkeit in die Stichprobe aufgenommen werden kann. 7 2

Wert-Erwartungs-Theorie (valence-expectancy theory) Theorie, die Zufallszuweisung 7 Randomisierung 7 2


Motivation als Produkt von Erwartungen und Werten versteht. 7 19
Zuschauereffekt (bystander effect) Tendenz eines einzelnen Zuschauers,
Widerstand (resistance) bedeutet in der Psychoanalyse, dass mit Angst seltener zu helfen, wenn weitere Zuschauer anwesend sind. 7 15
verbundenes Material vom Bewusstsein ferngehalten wird. 7 17
Zuverlässigkeit 7 Reliabilität 7 11
Wiederaufnahme (reuptake) Prozess, bei dem die ausgeschütteten
Neurotransmitter aus dem synaptischen Spalt wieder vom präsynapti- Zwangsstörung (obsessive-compulsive disorder, OCD) Angststörung, die
schen Neuron aufgenommen werden. 7 3 charakterisiert ist durch sich aufdrängende, wiederholte Zwangsgedanken
und/oder Zwangshandlungen. 7 16
Wiedererkennen (recognition) Maß für die Erinnerungsfähigkeit. Wie
bei einem Multiple-Choice-Test muss die Versuchsperson lediglich Items Zweieiige Zwillinge (fraternal twins) Zwillinge, die sich aus separaten
identifizieren, die sie vorher erlernt hat. 7 9 (dizygotisch) Eizellen entwickeln. Sie sind sich genetisch nicht näher als
Geschwister, aber sie teilen als Föten eine gemeinsame Umwelt. 7 5
Wiederholte transkranielle Magnetstimulation (repetitive transcranial
magnetic stimulation, rTMS) sich wiederholende Einwirkung von Puls- Zwei-Faktoren-Theorie (two-factor theory) Schachters und Singers
wellen magnetischer Energie auf das Gehirn; kommt zum Einsatz, um Ge- Theorie sagt aus, dass man, um Emotionen zu erfahren, 1. physiologisch
hirnaktivität zu stimulieren oder zu unterdrücken. 7 17 erregt sein und 2. diese Erregung kognitiv interpretieren muss. 7 13

Wirtschaftspsychologie (economic psychology) untersucht das Verhal- Zweiwortstadium (two-word stage) beginnt mit etwa 2 Jahren; Phase
ten und Erleben der Menschen in breiteren wirtschaftlichen Zusammen- der Sprachentwicklung, während der das Kind hauptsächlich in Sätzen aus
hängen. 7 19 2 Wörtern spricht. 7 10

Work-Life-Balance (work-life balance) Ausgewogenheit von beruflichem Zygote (zygote) befruchtete Eizelle; tritt in eine 2-wöchige Phase rascher
und außerberuflichem, z. B. familiärem Engagement. 7 19 Zellteilung ein und entwickelt sich zu einem Embryo. 7 6

X-Chromosom (X chromosome) Geschlechtschromosom, das sowohl


bei Frauen als auch bei Männern vorhanden ist. Aus jeweils einem
X-Chromosom von beiden Elternteilen entsteht ein Kind mit weiblichem
Geschlecht. Frauen haben also zwei X-Chromosomen, Männer dagegen
nur eines. 7 5

Y-Chromosom (Y chromosome) Geschlechtschromosom, das nur bei


Personen männlichen Geschlechts vorhanden ist. Wenn es mit einem
X-Chromosom der Mutter zusammentrifft, entsteht daraus ein Kind mit
männlichem Geschlecht. 7 5

Zapfen (cones) Fotorezeptorzellen, die insbesondere um die Mitte der


Retina angesiedelt sind und die am besten bei hellem Tageslicht und
bei guter Beleuchtung funktionieren. Mit Hilfe der Zapfen können feine
Details unterschieden und Farben empfunden werden. 7 7

Zentrale Route der Überzeugung (central route to persuasion) tritt auf,


wenn am Thema interessierte Menschen sich auf die Argumente konzen-
trieren und positiv darauf reagieren. 7 15

Zentrales Nervensystem (ZNS; central nervous system) Gehirn und


Rückenmark. 7 3

Zerebellum 7 Kleinhirn 7 3

Zerebraler Kortex (cerebral cortex) komplizierte Struktur miteinander


verbundener Nervenzellen, die die Hirnhälften abdeckt; das oberste
Steuerungs- und Informationsverarbeitungszentrum des Körpers. 7 3
909
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