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Springer-Lehrbuch

Niels Birbaumer
Robert F. Schmidt

Biologische
Psychologie
7., überarbeitete und ergänzte Auflage

Mit 590 farbigen Abbildungen in 1048 Einzeldarstellungen und 44 Tabellen

123
Professor Dr. Dr. h.c. Niels Birbaumer
Institut für Medizinische Psychologie
und Verhaltensneurobiologie
Universität Tübingen
Gartenstr. 29
72074 Tübingen
E-mail: niels.birbaumer@uni-tuebingen.de

Professor em. Dr. med. D.Sc. h.c. Robert Franz Schmidt, Ph.D.
Physiologisches Institut der Universität
Röntgenring 9
97070 Würzburg
E-mail: rfs@uni-wuerzburg.de

ISBN-13 978-3-540-95937-3 7. Auflage, Springer Medizin Verlag Heidelberg

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Planung: Joachim Coch


Projektmanagement: Michael Barton
Lektorat: Dr. Christiane Grosser, Viernheim
Umschlaggestaltung: deblik Berlin
Zeichnungen: BITmap, Mannheim
Satz: Fotosatz-Service Köhler GmbH – Reinhold Schöberl, Würzburg
Fotonachweis des Überzugs: © imagesource.com

SPIN: 12093489
Gedruckt auf säurefreiem Papier 2126 – 5 4 3 2 1 0
V

Dem Andenken meines Vaters


Niels Birbaumer

Meinen Enkelkindern Frederike,


Michael und Niels
Robert F. Schmidt
VII

Vorwort zur 7. Auflage

In der 6. Auflage dieses Lehrbuchs wurde eine völlig neue didaktische Konzeption verfolgt und
die Gliederung und Reihenfolge der Kapitel geändert (s. das nochmals abgedruckte Vorwort zur
6. Auflage). Hinzu kam eine Vielzahl von neuen Ergebnissen und Theorien der psychobiologi-
schen Forschung und Klinik. Diese Änderungen haben sich bewährt und wurden von unseren
Lesern begrüßt, was man unter anderem an der weiter wachsenden Leserschaft ablesen kann.
In dieser Auflage wurden alle Inhalte, welche sich in den bisherigen Kapiteln mit »Entwicklung
und Alter« beschäftigten, in einem neuen Kapitel 24 zusammengefasst. Es wurde vor dem Kapitel
25 »Lernen und Gedächtnis« eingefügt, in dem die Veränderungen des Gehirns und Verhaltens im
Laufe eines Lebens beschrieben werden.
Die sich entwickelnde »soziale Neurowissenschaft« ist in den Kapiteln des Abschnitt IV ver-
treten, je nach dem Anteil einer sozialen Verhaltensweise an einem psychologischen Elementar-
prozess: z. B. wurde Aggressionsverhalten in Kapitel 27 »Emotionen« abgehandelt, Empathie (Ein-
fühlungsgabe) und Mangel an Empathie als Teil der sozialen Intelligenz in Kapitel 28 »Kognitive
Funktionen«.
Die begleitende Lern-Website enthält Prüfungsfragen, Lernkarten zur Wissensüberprüfung
und Links zu interessanten Quellen im Internet. Für Dozenten stehen alle Abbildungen des Buches
zum Download bereit.
Wie bei einem mehr als 800 Seiten umfassenden Lehrbuch unvermeidlich, wurden einige
wenige Fehler, die meist durch Umstellungen im Druck entstanden waren, korrigiert: Es waren fast
immer aufmerksame Leser, meist Studierende, die uns darauf hinwiesen. Ihnen sei herzlich gedankt,
sie haben ihren Kommilitonen einen großen Dienst erwiesen. Wir hoffen auch für diese Auflage
möglichst viele und produktive Anregungen zu bekommen.
Wie in der 6. Auflage sind Frau Margrit Derrick (Würzburg) und Frau Angela Straub (Tübingen)
wesentlich am Gelingen der Änderungen in dieser Auflage beteiligt gewesen. Im Springer-Verlag
haben Herr Dipl.-Psych. Joachim Coch und Herr Michael Barton wie stets hervorragende Arbeit
geleistet. Ihnen allen sei herzlich gedankt.

Tübingen und Würzburg im Frühjahr 2010


Niels Birbaumer
Robert F. Schmidt
IX

Vorwort zur 6. Auflage

Nachdem die 5. Auflage in kurzer Zeit eine schneller als erwartet wachsende Leserschaft gefunden
hat, haben wir uns entschlossen, das Buch zu einem früheren Zeitpunkt als nach einer Neuauflage
üblich völlig neu zu konzipieren. Die Leitlinie dabei war, die Lektüre einfacher zu machen und die
Einprägung des Materials Leserin und Leser zu erleichtern sowie den biopsychologischen Ansatz
gegenüber dem physiologischen zu verstärken. Dafür wurde die Gliederung der Kapitel so geän-
dert, dass nach jedem thematisch einheitlichen Abschnitt ein Merksatz steht, der als zusammen-
fassende Sachaussage dient. Die Gliederung der einzelnen Kapitel ist durch das ganze Buch iden-
tisch, sodass die Leserin, der Leser sofort die thematische Zugehörigkeit und den Stellenwert des
Abschnittes erfassen kann und sich nicht in jedem Kapitel neu orientieren muss.
Die Abfolge der Kapitel wurde etwas verändert: Das Kapitel über Vererbung wurde aus dem
ersten Teil des Buches nun vor das Lern- und Gedächtniskapitel platziert, sodass man die
Gemeinsamkeiten und Unterschiede der in der Evolution und im Individuum wirkenden plastischen
Vorgänge im Nervensystem und im Verhalten besser vergleichen kann. Die funktionelle Anatomie
des Zentralnervensystems (ZNS) wird als 5. Kapitel nun im vorderen Teil des Buches dargestellt,
um die Einordnung und das Verständnis der anatomischen Begriffe in den folgenden Kapiteln über
Motorik und Wahrnehmung (Sensorische Systeme) sicherzustellen. Die einzelnen Kapitel wurden
noch mehr durch Boxen aufgelockert, die besonders charakteristische klinische Fälle und
Einzelergebnisse oder historisch wichtige Ereignisse oder Persönlichkeiten der Biologischen
Psychologie illustrieren. Das Buch erhielt ein Glossar der wichtigsten Begriffe, vor allem der
physiologischen Begriffe, welche für die Leser aus der Psychologie erfahrungsgemäß schwieriger
einzuordnen sind. Die Abbildungen sind nun alle in Farbe und wurden so gestaltet, dass sie
möglichst selbsterklärend wirken. Wie bei jeder Neuauflage wurden in alle Kapitel neue, wichtige
wissenschaftliche Entwicklungen einbezogen.
Zu unserem Lehrbuch werden ab der 6. Auflage zusätzliche Lernmaterialien im Internet zur
Verfügung gestellt. Unter der URL www.lehrbuch-psychologie.de sind Prüfungsfragen (als Mul-
tiple-Choice-Quiz) und über 450 Lernkarten eingestellt, um das Erlernte zu überprüfen. Mit den
kommentierten Links kann selbständig weiterrecherchiert werden und mit Hilfe eines ständig
erweiterten Glossars können die Fachbegriffe des Lehrbuches auch im Internet eingesehen werden.
Bei der Formulierung eines Teils der Prüfungsfragen war uns Herr Prof. Dr. Dr. h.c. H. O.
Handwerker, Erlangen, behilflich, bei dem wir uns an dieser Stelle herzlich bedanken.
An der Grundidee des Buches hat sich seit seiner ersten Auflage nichts geändert und damit
unterscheidet es sich von den übrigen Lehrbüchern der Biologischen/Physiologischen Psychologie:
Menschliches Verhalten, Denken und Fühlen wird nur dann verständlich, wenn wir die biologischen
Grundlagen nicht allein im Zentralnervensystem (ZNS) betrachten, sondern alle Körpervorgänge
einbeziehen. Gehirn und Körperperipherie arbeiten nicht isoliert voneinander, sondern als
unauflösliche Einheit nach denselben Lebensprinzipien. Deshalb findet man in diesem Buch zwar
auch bevorzugt jene biologischen Vorgänge dargestellt, welche vom ZNS ausgehen, aber eben auch
jene peripher-physiologischen Prozesse, die für das Funktionieren des ZNS unmittelbar notwendig
sind und die vom ZNS gesteuert und beeinflusst werden. Dadurch wird unser Buch auch eine
Einführung in die Verhaltensmedizin, in die Psychosomatik und in die Psychophysiologie. Viele
Studierende und Lehrende haben uns bestätigt, dass dies ein wichtiges Motiv für die Lektüre des
Buches war.
Die auf alle biologischen Systeme des Menschen konzentrierte Sichtweise hat ihren Ursprung
in der zentraleuropäischen Geistesgeschichte, welche der Gesamtschau der Dinge vor dem präzisen
und notwendigen Blick auf die Details den Vorrang einräumt. Unsere Leser haben dies stets
verstanden und uns in dieser Einstellung bestärkt.
X Vorwort zur 6. Auflage

Das Zustandekommen dieser 6. Auflage war angesichts der umfassenden Neugestaltung be-
sonders schwierig. Zum Gelingen dieses Unterfangens haben besonders Frau Margrit Derrick
(Würzburg), Frau Angela Straub (Tübingen) und im Springer Verlag Frau Dr. Svenja Wahl, Frau
Ursula Illig und Herr Michael Barton beigetragen. Ihnen allen sei in unserem Namen und im
Namen unserer Leser gedankt.
Die Leserinnen und Leser bitten wir wie immer, uns auf Stärken und Schwächen hinzuweisen.
Die vielen wertvollen Anregungen, die wir zur 5. Auflage erhalten haben, wurden in dieser Auflage
berücksichtigt. Dafür danken wir unseren kritischen Lesern auch an dieser Stelle.

Niels Birbaumer Robert F. Schmidt


XI

Sektionsinhaltsverzeichnis

I Körpersysteme und ihre physiologische Regelung


1 Was ist Biologische Psychologie? – 1
2 Zellen und Zellverbände, besonders des Nervensystems – 11
3 Erregungsbildung und Erregungsleitung – 33
4 Synaptische Erregung und Hemmung – 49
5 Funktionelle Anatomie des Nervensystems – 71
6 Autonomes Nervensystem – 101
7 Endokrine Systeme (Hormone) – 117
8 Psychoneuroendokrinologie – 141
9 Psychoneuroimmunologie – 157

II Periphere Systeme und ihre Bedeutung für Verhalten


10 Blut, Herz und Kreislauf – 183
11 Atmung, Energie- und Wärmehaushalt – 211
12 Stoffaufnahme und -ausscheidung – 231
13 Bewegung und Handlung – 255

III Wahrnehmung
14 Allgemeine Sinnesphysiologie und Grundlagen der Wahrnehmungs-
psychologie – 297
15 Somatosensorik – 321
16 Nozizeption und Schmerz – 341
17 Das visuelle System – 375
18 Hören und Gleichgewicht – 415
19 Geschmack und Geruch – 439

IV Funktionen des Nervensystems und Verhalten


20 Methoden der Biologischen Psychologie – 459
21 Bewusstsein und Aufmerksamkeit – 495
22 Zirkadiane Periodik, Schlaf und Traum – 535
23 Vererbung – 571
24 Entwicklung und Altern – 593
25 Lernen und Gedächtnis – 619
26 Motivation – 661
27 Emotionen – 711
28 Kognitive Prozesse – 749
XIII

Inhaltsverzeichnis
7.4 Sexualhormone und die Regulation
I Körpersysteme und ihre der Gonadenfunktion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 133
physiologische Regelung
8 Psychoneuroendokrinologie . . . . . . . . . . . . . 141
8.1 Umwelt, Körperrhythmen und Hormone . . . . . . . 142
1 Was ist Biologische Psychologie? . . . . . . . . . . 1 8.2 Emotionen und Hormone . . . . . . . . . . . . . . . . 146
1.1 Begriffsbestimmungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2 8.3 Stress und Hilflosigkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . 149
1.2 Historische Entwicklung der Biologischen
Psychologie und ihrer Methoden . . . . . . . . . . . . 4 9 Psychoneuroimmunologie . . . . . . . . . . . . . . 157
1.3 Verhalten und Gehirn . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7 9.1 Aufbau und Arbeitsweise des Immunsystems . . . . 158
9.2 Physiologische Verbindungen zwischen Zentral-
2 Zellen und Zellverbände, besonders nervensystem und Immunsystem . . . . . . . . . . . 167
des Nervensystems . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11 9.3 Verhalten und Immunsystem . . . . . . . . . . . . . . 173
2.1 Grundlagen der Zellphysiologie . . . . . . . . . . . . 12 9.4 Krankheit und Immunsystem . . . . . . . . . . . . . . 176
2.2 Stoffaustausch zwischen und in Zellen
und in Geweben . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 17
2.3 Bausteine des Nervensystems . . . . . . . . . . . . . . 23
II Periphere Systeme und
3 Erregungsbildung und Erregungsleitung . . . . 33 ihre Bedeutung für Verhalten
3.1 Das Ruhepotenzial . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 34
3.2 Das Aktionspotenzial . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 37
3.3 Fortleitung des Aktionspotenzials . . . . . . . . . . . 43 10 Blut, Herz und Kreislauf . . . . . . . . . . . . . . . . 183
10.1 Blut als Transportmedium . . . . . . . . . . . . . . . . 184
4 Synaptische Erregung und Hemmung . . . . . . 49 10.2 Herzmechanik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 186
4.1 Chemische Synapsen im Zentralnerven- 10.3 Erregungsbildung, Erregungsleitung und elektro-
system . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 50 mechanische Kopplung im Herzen . . . . . . . . . . . 189
4.2 Synaptische Transmitter und Modulatoren . . . . . . 56 10.4 Das Elektrokardiogramm, EKG . . . . . . . . . . . . . . 191
4.3 Postsynaptische Rezeptoren . . . . . . . . . . . . . . . 60 10.5 Die Anpassung der Herzleistung an den Bedarf . . . 195
4.4 Synaptische Interaktion und Plastizität . . . . . . . . 65 10.6 Akute Anpassung des Kreislaufs an den Bedarf . . . 200
4.5 Elektrische Synapsen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 67 10.7 Mittel- und langfristige Regulation des Kreislaufs 205

5 Funktionelle Anatomie des Nervensystems . . 71 11 Atmung, Energie- und Wärmehaushalt . . . . . . 211


5.1 Aufbau und Hauptabschnitte des Zentralnerven- 11.1 Lungen- und Gewebeatmung . . . . . . . . . . . . . . 212
systems (ZNS) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 72 11.2 Energieumsatz des Menschen . . . . . . . . . . . . . . 219
5.2 Strukturen und Funktionen des Zwischenhirns, 11.3 Wärmebildung und Wärmeabgabe . . . . . . . . . . 222
des limbischen Systems und der Basalganglien . . . 75 11.4 Regelung der Körpertemperatur . . . . . . . . . . . . 225
5.3 Der Neokortex . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 87
5.4 Neurotransmitter und -modulatoren im ZNS . . . . 92 12 Stoffaufnahme und -ausscheidung . . . . . . . . 231
12.1 Die Bestandteile menschlicher Nahrungsmittel
6 Autonomes Nervensystem . . . . . . . . . . . . . . 101 und der Bedarf an Nährstoffen . . . . . . . . . . . . . 232
6.1 Bau und Aufgaben des peripheren autonomen 12.2 Aufgaben und Arbeitsweise des Magen-
Nervensystems . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 102 Darm-Trakts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 236
6.2 Neurotransmission im peripheren ANS . . . . . . . . 108 12.3 Aufgaben und Arbeitsweisen der Nieren,
6.3 Arbeitsweise und supraspinale Kontrolle der Harnblase und der harnableitenden Wege . . . 245
des peripheren ANS . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 110
13 Bewegung und Handlung . . . . . . . . . . . . . . . 255
7 Endokrine Systeme (Hormone) . . . . . . . . . . . 117 13.1 Molekulare Mechanismen der Muskel-
7.1 Allgemeine Endokrinologie . . . . . . . . . . . . . . . 118 kontraktion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 256
7.2 Pankreashormone . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 123 13.2 Muskelmechanik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 260
7.3 Das hypothalamisch-hypophysäre Hormonsystem 13.3 Zentralnervöse Kontrolle der Muskelkraft;
und seine Zielorgane . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 126 Registrierung mit dem EMG . . . . . . . . . . . . . . . 263
XIV Inhaltsverzeichnis

13.4 Nervöse Kontrolle von Haltung und Bewegung 19 Geschmack und Geruch . . . . . . . . . . . . . . . . 439
im Überblick . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 265 19.1 Wahrnehmungspsychologie des Geschmacks . . . 440
13.5 Spinale motorische Reflexe . . . . . . . . . . . . . . . 270 19.2 Bau, Funktion und Verschaltung des Schmeck-
13.6 Stütz- und Zielmotorik . . . . . . . . . . . . . . . . . . 278 organs . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 443
13.7 Pathophysiologie und Rehabilitation 19.3 Wahrnehmungspsychologie des Geruchssinns . . . 447
des motorischen Systems . . . . . . . . . . . . . . . . 289 19.4 Bau, Funktion und Verschaltung des Riechsystems 450

III Wahrnehmung IV Funktionen des Nervensystems


und Verhalten

14 Allgemeine Sinnesphysiologie und Grund-


lagen der Wahrnehmungspsychologie . . . . . . 297 20 Methoden der Biologischen Psychologie . . . . 459
14.1 Grundbegriffe in der Sinnesphysiologie . . . . . . . 298 20.1 Forschungsstrategien in den Neurowissenschaften 460
14.2 Transduktion und Transformation in Sensoren . . . 302 20.2 Neuroanatomische und neurochemische
14.3 Neuronale Verschaltungen in sensorischen Methoden . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 461
Systemen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 305 20.3 Läsion und Reizung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 464
14.4 Zentrale Weiterleitung und Verarbeitung 20.4 Elektro- und Magnetenzephalogramm . . . . . . . . 468
somatoviszeraler Information . . . . . . . . . . . . . . 308 20.5 Ereigniskorrelierte Hirnpotenziale und Magnet-
14.5 Allgemeine Wahrnehmungspsychologie . . . . . . . 314 felder . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 478
20.6 Bildgebende Verfahren . . . . . . . . . . . . . . . . . . 483
15 Somatosensorik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 321
15.1 Mechanorezeption . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 322 21 Bewusstsein und Aufmerksamkeit . . . . . . . . . 495
15.2 Tiefensensibilität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 328 21.1 Psychologie von Bewusstsein und Aufmerksamkeit 496
15.3 Thermorezeption . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 332 21.2 Die Großhirnhemisphären und Bewusstseins-
15.4 Viszerale Sensibilität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 336 formen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 505
21.3 Neuroanatomische und neurochemische
16 Nozizeption und Schmerz . . . . . . . . . . . . . . . 341 Grundlagen von Aktivierungsniveau und
16.1 Wahrnehmungspsychologie des Schmerzes . . . . 342 Aufmerksamkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 512
16.2 Das periphere nozizeptive System . . . . . . . . . . . 347 21.4 Psychophysiologie von Bewusstsein und Auf-
16.3 Zentrale nozizeptive Systeme . . . . . . . . . . . . . . 351 merksamkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 526
16.4 Pathophysiologie von Nozizeption
und Schmerz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 355 22 Zirkadiane Periodik, Schlaf und Traum . . . . . . 535
16.5 Psychophysiologie chronischer Schmerzen . . . . . 361 22.1 Prinzipien zirkadianer Periodik . . . . . . . . . . . . . 536
16.6 Schmerztherapien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 367 22.2 Der Nucleus suprachiasmaticus und molekulare
Genetik zirkadianer Periodik . . . . . . . . . . . . . . . 539
17 Das visuelle System . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 375 22.3 Zirkadiane Rhythmen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 543
17.1 Wahrnehmungspsychologie des photopischen 22.4 Schlaf und Traum . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 547
und skotopischen Sehens . . . . . . . . . . . . . . . . 376 22.5 Neurobiologie der Schlafstadien . . . . . . . . . . . . 554
17.2 Signalaufnahme und -verarbeitung im Auge . . . . 387 22.6 Psychophysiologie der Schlafstadien . . . . . . . . . 559
17.3 Signalverarbeitung in den subkortikalen 22.7 Schlafstörungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 563
und kortikalen visuellen Zentren . . . . . . . . . . . . 395
17.4 Augenbewegungen beim Sehen 23 Vererbung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 571
(Okulomotorik) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 402 23.1 Klassische Genetik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 572
17.5 Hirnphysiologische Grundlagen kognitiver 23.2 Molekulare Genetik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 575
visueller Leistungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 406 23.3 Ablauf normaler und gestörter Vererbung . . . . . . 582
23.4 Polygene Vererbung und Verhaltensgenetik . . . . . 587
18 Hören und Gleichgewicht . . . . . . . . . . . . . . . 415
18.1 Wahrnehmungspsychologie des Hörens . . . . . . . 416 24 Entwicklung und Alter . . . . . . . . . . . . . . . . . 593
18.2 Bau und Funktion des Hörsystems . . . . . . . . . . . 422 24.1 Entwicklung des Nervensystems . . . . . . . . . . . . 594
18.3 Auditorische Signalverarbeitung . . . . . . . . . . . . 427 24.2 Altern des Menschen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 603
18.4 Wahrnehmungspsychologie des Gleichgewichts- 24.3 Neurodegenerative Erkrankungen . . . . . . . . . . . 611
sinns . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 431
18.5 Bau und Funktion des vestibulären Systems . . . . . 432
XV
Inhaltsverzeichnis

25 Plastizität, Lernen und Gedächtnis . . . . . . . . 619 28 Kognitive Prozesse (Denken) . . . . . . . . . . . . . 749


25.1 Psychologie von Lernen und Gedächtnis . . . . . . . 620 28.1 Sprache, Vorstellungen und Denkprozesse . . . . . 750
25.2 Erwerb von Wissen: Kurzzeit- und Langzeit- 28.2 Zerebrale Asymmetrie . . . . . . . . . . . . . . . . . . 756
gedächtnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 627 28.3 Evolution und Neurophysiologie der Sprache
25.3 Assoziative neuronale Plastizität . . . . . . . . . . . . 629 und deren Störungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 766
25.4 Zelluläre Korrelate von Lernen . . . . . . . . . . . . . 642 28.4 Sprachstörungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 773
25.5 Neuropsychologie des explizit-deklarativen 28.5 Funktionen und Störungen des Parietalkortex . . . 779
Gedächtnisses . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 650 28.6 Funktionen und Störungen des Temporallappens 782
25.6 Verhaltensmedizin und Biofeedback: 28.7 Funktionen und Störungen des Präfrontalkortex:
Die Anwendung operanten Konditionierens exekutive und soziale Funktionen . . . . . . . . . . . 788
auf pathologische Prozesse . . . . . . . . . . . . . . . 655 28.8 Störungen des Denkens: Die Schizophrenien . . . . 797

26 Motivation und Sucht . . . . . . . . . . . . . . . . . . 661


26.1 Grundbegriffe der Motivation . . . . . . . . . . . . . . 662
26.2 Durst und Hunger . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 667 Anhang
26.3 Sexualverhalten, Reproduktion und Partner-
bindung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 675
26.4 Sexuelle Entwicklung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 680 Glossar . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 807
26.5 Neuronale und kognitive Geschlechtsdifferenzen 685 Abkürzungsverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 821
26.6 Gelernte Motivation und Suchtverhalten . . . . . . . 692 Quellenverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 825
26.7 Neurobiologie süchtigen Verhaltens . . . . . . . . . . 698 Sachverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 839
Über die Autoren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 882
27 Emotionen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 711
27.1 Psychophysiologie von Gefühlen . . . . . . . . . . . . 712 Maßeinheiten und Normalwerte der Physiologie
27.2 Vermeidung (Furcht und Angst) . . . . . . . . . . . . 722
27.3 Trauer und Depression . . . . . . . . . . . . . . . . . . 733
27.4 Aggression . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 739
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Ihr Lektorat Lehrbuch Psychologie
I Körpersysteme und
ihre physiologische
Regelung
1 Was ist Biologische Psychologie? – 1

2 Zellen und Zellverbände, besonders


des Nervensystems – 11

3 Erregungsbildung und Erregungs-


leitung – 33

4 Synaptische Erregung
und Hemmung – 49

5 Funktionelle Anatomie
des Nervensystems – 71

6 Autonomes Nervensystem – 101

7 Endokrine Systeme (Hormone) – 117

8 Psychoneuroendokrinologie – 141

9 Psychoneuroimmunologie – 157

»… waren sie davon überzeugt, daß die konstitutiven


Prinzipien des Mathematischen auch die konstitutiven
Bedingungen der lebendigen Dinge seien.«

Aristoteles über Pythagoras


1

1 Was ist Biologische Psychologie?

1.1 Begriffsbestimmungen –2
1.1.1 Biologische Psychologie – 2
1.1.2 Physiologische Psychologie – 2
1.1.3 Neuropsychologie, Psychophysiologie
und die Kognitiven Neurowissenschaften –3

1.2 Historische Entwicklung der Biologischen Psychologie


und ihrer Methoden – 4
1.2.1 Ursprung und Entwicklung der deutschsprachigen Biologischen
Psychologie – 4
1.2.2 Entwicklung der Forschungsmethoden der Biologischen Psychologie – 5

1.3 Verhalten und Gehirn –7


1.3.1 Das Leib-Seele-Problem – 7
1.3.2 Neuronale Zellensembles und dynamische Knotenpunkte
der Hirnerregung – 9

Zusammenfassung – 10
Literatur – 10

N. Birbaumer, Biologische Psychologie, DOI 10.1007/978-3-540-95938-0_1,


© Springer Medizin Verlag Heidelberg 2010
2 Kapitel 1 · Was ist Biologische Psychologie?

)) die hormonellen Steuer- und Regelprozesse. Der ständige


1 Informationsaustausch zwischen Hirn, endokrinen Drü-
Im Griechischen heißt »bios« das Leben und »logos« das sen, Muskulatur und inneren Organen über periphere Ner-
Wort oder die Kunde. Biologie ist also die Kunde vom ven und Blutkreislauf bestimmt Verhalten ebenso wie die
Leben oder die Lehre von der belebten Natur und den Ge- Einwirkungen aus der Umwelt und aus der phylogeneti-
setzmäßigkeiten im Lebensablauf der Pflanzen, Tiere und schen Vergangenheit (Erbsubstanz). Wir haben deshalb in
Menschen. Bei der Untersuchung von Aufbau und Funktion diesem Buch einen Gesamtüberblick von Physiologie und
der Lebewesen benutzt die Biologie die gleichen Denkan- Physiologischer Psychologie in einer Biologischen Psycho-
sätze, mit denen Physik und Chemie die unbelebte Natur logie versucht, um die engen Beziehungen zwischen »Kopf
studieren. Die Biologie des Menschen konzentriert sich und Körper« deutlich zu machen.
auf ein einziges Lebewesen, nämlich uns selbst. Die ver-
schiedenen Teildisziplinen der modernen Humanbiologie Methodik
sind alle früher oder später aus dem ältesten großen human- Die Biologische Psychologie vereint die Methodiken der
biologischen Fach hervorgegangen, nämlich der Anatomie. Physiologischen Psychologie und der Psychophysiologie
Eine ihrer ersten Töchter war die in diesem Buch beson- (7 unten), Verhalten wird sowohl als abhängige wie unab-
ders wichtige Physiologie. Diese ist die Kunde vom Körper hängige Variable untersucht. Tier- und Humanversuch
(physis = Körper, logos = Wort, Kunde, 7 oben), genauer existieren gleichberechtigt nebeneinander, ergänzt durch
die Lehre von den normalen Lebensfunktionen. endokrinologische und immunologische Methoden und
Der Begriff »Psyche« bedeutet ursprünglich »Hauch« Verfahren, welche die Reaktionsweisen des vegetativen
»Atem«, erst später wird daraus die »Seele«. Darunter ver- Nervensystems und der Muskulatur abbilden.
stand man im Allgemeinen eine physikalische Kraft, die
G Die Biologische Psychologie untersucht diejenigen
im Organismus subjektives Erleben und Verhalten hervor-
physiologischen Vorgänge, die für das Verständnis
bringt. Man hat dabei in vorsokratischer Zeit dem Seeli-
von Verhaltensleistungen von Bedeutung sind.
schen keineswegs Eigengesetzlichkeiten zugeschrieben,
sondern hat es eng mit den materiellen Voraussetzungen
des Körpers verwoben oder damit identisch angesehen. 1.1.2 Physiologische Psychologie
Die Psychologie ist also die Kunde von den physika-
lischen Kräften und Gesetzmäßigkeiten, die unser Verhal- Definition
ten, einschließlich Denken und Fühlen, bestimmen. Da Ver- Unter Physiologischer Psychologie verstehen wir die in-
halten aber nicht nur von den materiell-körperlichen Voraus- terdisziplinäre Forschung über die Beziehungen zwischen
setzungen, sondern auch von sozialen Einflüssen abhängt, Gehirn und Verhalten. Es existieren eine Reihe von ande-
muss die Psychologie auch die Wirkung dieser sozialen Ein- ren Bezeichnungen zur Beschreibung der Aufgabe der Phy-
flüsse auf das Individuum quantitativ beschreiben. In der siologischen Psychologie, z. B. Psychobiologie und Verhal-
Biologischen Psychologie werden beide Zugangsweisen, tensneurowissenschaft (»behavioral neuroscience«). Die
die physiologische und die sozial-interaktive, vereint. Physiologische Psychologie ist also ein Teilgebiet der Biolo-
gischen Psychologie, welche die gesamten Körperfunktio-
nen, einschließlich der Peripherie untersucht.
1.1 Begriffsbestimmungen
Aufgaben
1.1.1 Biologische Psychologie Was die Physiologische Psychologie angeht, so sind, wie in
obiger Definition festgehalten, interdisziplinär und Gehirn
Definition und Verhalten die wesentlichen Bestimmungsstücke ihrer
Die Biologische Psychologie erforscht die Zusammenhän- Definition. Interdisziplinär, weil die elektrischen, magne-
ge zwischen biologischen Prozessen und Verhalten. Dabei tischen, chemischen und molekularen Vorgänge im Gehirn
werden die Lebensprozesse aller Organe des Körpers, nicht von keiner Disziplin allein verstanden und erforscht wer-
nur des Gehirns, betrachtet. den können. Um die Arbeitsweise auch nur einer Nerven-
zelle beschreiben zu können, sind anatomisch-histologi-
Aufgaben sche, neurochemisch-molekulare und elektrophysikalische
Das Gehirn ist sowohl oberstes Steuerorgan aller Körper- Kenntnisse notwendig, deren Zusammenwirken nur von
funktionen, die an Verhalten beteiligt sind, als auch von den mehreren Wissenschaften mit ihren Methoden geklärt wer-
peripheren physiologischen Systemen abhängig. So kommt den kann. Die physikalisch-biologischen Erkenntnisse über
es z. B. ohne ausreichende Zufuhr von Sauerstoff aus der Aufbau und Struktur des Gehirns sind mit den Verhaltens-
Lunge innerhalb weniger Sekunden zu »Verhaltensstill- wissenschaften (Psychologie, Ethologie, Sozialwissen-
stand«, und Vergleichbares gilt, wenn auch mit einem lang- schaften) zu vereinen, will man deren gegenseitige Abhän-
sameren Zeitverlauf, für den gesamten Stoffwechsel und für gigkeit verstehen.
1.1 · Begriffsbestimmungen
3 1

Die Gesetzmäßigkeiten menschlichen und tierischen chologischen Rehabilitation bei verschiedenen Hirner-
Verhaltens über die Wechselwirkungen des Individuums krankungen dar. Neuropsychologie und Physiologische
mit vergangener, gegenwärtiger und zukünftiger (erwarte- Psychologie ergänzen und befruchten sich gegenseitig: Er-
ter) Umwelt bestimmen die Vorgänge im Gehirn. Die Phy- gebnisse aus dem Tierversuch können ihre Übertragbarkeit
siologische Psychologie studiert deshalb die Körpervorgän- auf den Menschen durch neuropsychologische Untersu-
ge in umschriebenen situativen (z. B. sozialen) Zusam- chungen unter Beweis stellen.
menhängen, die von den Verhaltenswissenschaften als
besonders wichtig für die Vorhersage des Verhaltens von Psychophysiologie
Mensch und Tier beschrieben wurden. Zum Verständnis Die Psychophysiologie untersucht die Beziehungen zwi-
der neuronalen Vorgänge von Lernen werden z. B. Lern- schen biologischen Vorgängen vorwiegend am mensch-
und Gedächtnisexperimente aus der Psychologie mit neu- lichen Organismus mit nichtinvasiven Registrier- und
robiologischen Methoden (z. B. Änderungen von Überträ- Messmethoden. Zum Beispiel erlaubt die Registrierung
gerstoffen an den Zellmembranen in spezifischen Lernsitu- der hirnelektrischen Aktivität während des Schlafes die
ationen) kombiniert. Beobachtung und Beeinflussung (pharmakologisch oder
psychologisch) der verschiedenen Schlafstadien (Kap. 22).
Methodik Neuropsychologische und psychophysiologische Befunde
Die Physiologische Psychologie interessiert sich in der werden v. a. in den Kap. 20–28 besprochen, soweit sie für
Regel für die biologischen Vorgänge und für die neuronalen das Verständnis der dort diskutierten Verhaltensweisen
Strukturen und untersucht sie mit direkter Reizung (phar- und Hirnmechanismen notwendig sind. Physiologische
makologisch, mechanisch, elektrisch), Registrierung oder Psychologie, Neuropsychologie und Psychophysiologie
Zerstörung der Hirnaktivität (Kap. 20). Verhalten wird da- ergänzen einander und sind selbst wieder Teil der Biolo-
bei als abhängige (z. B. Lernen nach Entfernen eines Hirn- gischen Psychologie.
abschnittes) oder als unabhängige Variable (Lernen mit
gleichzeitiger Registrierung der elektrischen Aktivität eines Kognitive Neurowissenschaften
Hirnareals) gemessen. Die Biologische und Physiologische Die Bezeichnung kognitive Neurowissenschaft(en) ist erst
Psychologie sind auf den Tierversuch angewiesen. Das Ziel in den letzten Jahrzehnten eingeführt worden. Sie soll die
aller Verhaltenswissenschaften, menschliches Verhalten interdisziplinäre Erforschung kognitiver Leistungen, also
besser zu verstehen und damit auch dessen Störungen und von Wahrnehmung, Erkennen, Vorstellen, Wissen, Den-
Erkrankungen zu heilen oder zu verhindern, ist ohne Tier- ken, Kommunikation und Handlungsplanung mit neuro-
versuche nicht erreichbar. wissenschaftlichen Methoden charakterisieren. Faktisch
findet man aber auch Themen wie neuronale Grundlagen
G Die Physiologische Psychologie untersucht die
von Lernen, Gefühlen und Antrieb unter diesem Begriff
Beziehungen zwischen Gehirn und Verhalten, vor-
abgehandelt. Im Allgemeinen verwendet man diese Be-
wiegend im Tierversuch.
zeichnung in Abgrenzung zu den Verhaltensneurowissen-
schaften (»behavioral neurosciences«), die sich eher am
1.1.3 Neuropsychologie, Psychophysiologie Tierversuch und daher weniger an komplexeren kognitiven
und die Kognitiven Leistungen orientieren. Biologische Psychologie vereint
Neurowissenschaften beide Sichtweisen, die am sichtbaren Verhalten und an
kognitiven Vorgängen interessierte.
Neuropsychologie
G Physiologische Psychologie, Neuropsychologie
Die Neuropsychologie bedient sich derselben Methoden
und Psychophysiologie sind Teilgebiete der Bio-
(Läsion, Reizung) wie die Physiologische Psychologie, kon-
logischen Psychologie. Die Verhaltensneurowis-
zentriert sich aber auf den Menschen. Da sich Eingriffe in
senschaften überschneiden sich weitgehend mit
das Gehirn des Menschen zu experimentellen Zwecken ver-
der Physiologischen Psychologie. Die kognitiven
bieten, untersucht die Neuropsychologie v. a. Patienten mit
Neurowissenschaften konzentrieren sich auf die
Störungen und Ausfällen der Hirntätigkeit. Aus den Verhal-
Untersuchung kognitiver Prozesse mit neuro-
tensänderungen bei solchen Störungen der Hirntätigkeit
wissenschaftlichen Methoden, überschneiden
kann häufig auf die Bedeutung dieser Strukturen und ihrer
sich daher stark mit Neuropsychologie und Psy-
Verbindungen für bestimmte Verhaltensweisen geschlos-
chophysiologie.
sen werden. Ein zentrales Anliegen der Neuropsychologie
ist die Entwicklung von psychologischen Tests und Ver-
haltensproben, die als (indirektes) Maß der Funktionstüch-
tigkeit eines bestimmten Hirnprozesses sowohl beim Ge-
sunden wie Kranken dienen. Die neuropsychologische
Diagnostik stellt die Grundlage für die Planung der psy-
4 Kapitel 1 · Was ist Biologische Psychologie?

1.2 Historische Entwicklung Neurowissenschaften stammen in den USA von biologi-


1 der Biologischen Psychologie schen Psychologen. Tausende Psychologen sind in USA mit
und ihrer Methoden Forschung in Physiologischer und Biologischer Psycholo-
gie befasst, die Biologen, Mediziner und Naturwissen-
1.2.1 Ursprung und Entwicklung schaftler nicht mitgezählt. In der Bundesrepublik Deutsch-
der deutschsprachigen Biologischen land sind es etwa 200–300 aktive Forscher.
Psychologie
Biologische Psychologie
Deutschland und die anglo-amerikanische in deutschsprachigen Ländern
Forschung Während sich in den deutschsprachigen Ländern die
Die Physiologische und Biologische Psychologie spielten Psychophysiologie relativ gut von der fast vollständigen
seit der Gründung der Psychologie als Wissenschaft eine Zerstörung des Faches Psychologie und seiner Vertreter
zentrale Rolle: Mit Wilhelm Wundts Lehrbuch »Grund- durch das Naziregime (1933–1945) erholte, blieb interna-
züge der Physiologischen Psychologie« begann 1874 die tional konkurrenzfähige Forschung in Physiologischer und
gesamte wissenschaftliche Psychologie. Im Gegensatz zur Biologischer Psychologie – trotz Aufnahme des Faches in
Bedeutung im psychologischen Denken spielt die Biolo- alle Prüfungsordnungen für Psychologen – auf wenige Ins-
gische und Physiologische Psychologie als Forschungsdis- titute beschränkt.
ziplin der Psychologie heute in den deutschsprachigen Län- Ursachen der ungenügenden Erholung der Biologischen
dern trotz einiger hervorragender Forschungsgruppen eine Psychologie in deutschsprachigen Ländern sind:
untergeordnete Rolle. 4 Eine eher mentalistisch-geisteswissenschaftliche Grund-
Ganz im Gegensatz zur anglo-amerikanischen Psycho- haltung der deutschen Psychologie, die dem Tierversuch
logie: Etwa 20% aller wissenschaftlichen Beiträge zu den ablehnend gegenübersteht.

Box 1.1. Das erste experimentalpsychologische Laboratorium in Leipzig

Universitätsarchiv Leipzig

Für Wilhelm Wundt (3. von links), den Gründer der experi- die ein Verständnis von Denk- und Planungsprozessen
mentellen Psychologie, war die Physiologische Psycholo- unmöglich bleibt.
gie das Zentrum aller psychologischen Forschung, ohne
1.2 · Historische Entwicklung der Biologischen Psychologie und ihrer Methoden
5 1

4 Die Vertreibung und Vernichtung der bedeutendsten Die 50er-Jahre des vorigen Jahrhunderts waren von der
Vertreter des Faches Physiologische und Vergleichende Entdeckung Magoun u. Moruzzis (1949, Kap. 21) domi-
Psychologie wie der gesamten Psychologie von 1933– niert: die retikuläre Formation des Hirnstamms als ein
1945. Nach dem Krieg erfolgte keine ausreichende Er- energetisierendes, Bewusstsein erzeugendes System. Bei
neuerung des Faches, da kaum qualifizierte Forscher elektrischer Reizung der retikulären Formatio registrierten
vorhanden waren, die Stelleninhaber aus der Zeit von sie mit dem Elektroenzephalogramm (EEG, Kap. 20) eine
1933–1945 nicht ausgewechselt wurden und keiner der Frequenzerhöhung der elektrischen Hirnaktivität, die mit
biologisch orientierten Emigranten zurückkehrte. Als wachem und aufmerksamen Verhalten der Tiere einher-
zwischen 1960 und 1980 1800% mehr Personal an Psy- ging. Zusätzlich zu den sensomotorischen Verbindungen
chologischen Instituten eingestellt wurde, hat man war hiermit ein »Dynamo« psychischer Energien und von
häufig zu wenig auf die Forschungsleistung als Quali- Aufmerksamkeit gefunden, wie ihn die Psychologie schon
fikationskriterium geachtet. Eine verstärkte Einstellung vorher als Grundlage von Aktivierung und Emotion postu-
physiologischer Psychologen und Einrichtung entspre- liert hatte.
chender Laboratorien unterblieben, da wenig qualifi- Kurz danach veröffentlichten Olds u. Milner (1952,
ziertes Personal dafür vorhanden war. Einmal derart Kap. 26) einen für die gesamte Psychologie bahnbrechenden
begonnene Entwicklungen tendieren dazu, sich über Befund. Sie reizten elektrisch »versehentlich« statt der For-
Generationen fortzupflanzen. matio reticularis ein darüber liegendes Nervenfaserbündel:
4 Die generell mangelnde Konkurrenzfähigkeit und Das Versuchstier »empfand« diese Reizung offensichtlich als
wissenschaftliche Qualität deutscher Universitäten (mit positiv, denn es setzte die elektrische Reizung selbst fort,
vergleichbaren anglo-amerikanischen) durch ein auf wenn man ihm dazu Gelegenheit bot. Damit war die Exis-
Lehre und Verwaltung konzentriertes Aufgabenspekt- tenz von Hirnstrukturen, die die Richtung unseres Verhal-
rum und Mangelfinanzierung mit geringen Wettbe- tens bestimmen, bewiesen. »Lustzentren« wurden sie an-
werbsmöglichkeiten trifft natürlich ein experimentelles fänglich von Olds genannt: Die anatomisch-physiologische
Fach wie die Biologische und Physiologische Psycho- Grundlage für die schon seit Jahrzehnten von den Lernpsy-
logie besonders. chologen, speziell B. F. Skinner, betonte überragende Bedeu-
4 Die gegenwärtige unflexible und rigide Ausbildungs- tung der unmittelbaren positiven und negativen Konse-
ordnung für Psychologiestudenten zwingt diese im quenzen unseres Verhaltens war gefunden.
Hauptstudium v. a. diejenigen psychologischen Fächer
G Mit elektrischer Hirnreizung und Registrierung
zu studieren (Pädagogische, Klinische und Organisa-
der Hirnströme und des Verhaltens gelang es, die
tionspsychologie), die traditionell wenig forschungs-
physiologischen Grundlagen von Energetisierung
produktiv sind.
(Aktivierung) und Richtung (Lust-Unlust) von Ver-
halten zu beschreiben.
Dieses Buch soll dazu beitragen, die Biologische und Phy-
siologische Psychologie nicht nur im Bereich der Psycholo-
gie, sondern auch in Biologie und Medizin zu stärken und Neurochemie
Studierende und junge Forscher für dieses international Die Neurochemie des Verhaltens bildet den Abschluss
rasch expandierende Fach zu begeistern. dieser Entwicklung. Nachdem 1921 die chemische synap-
tische Übertragung von Otto Loewi beschrieben worden
G Die Biologische Psychologie begann als For-
war (Box 4.1 in Abschn. 4.1.2), gelang nach dem 2. Welt-
schungsdisziplin im deutschen Sprachraum,
krieg, v. a. durch Sir John Eccles und seine Mitarbeiter, die
wurde aber in den Jahren 1933–1945 dort fast
Aufklärung der synaptischen Überträgerstoffe und -me-
völlig zerstört und konnte sich nur ungenügend
chanismen. Mit der Entwicklung zunehmend präziser che-
erholen.
mischer Analysemethoden kam es zu einer »Forschungsla-
wine«, die den Fortschritt der letzten Jahrzehnte trägt. Die
1.2.2 Entwicklung der Forschungsmethoden gezielte chemische Beeinflussung des Gehirns eröffnete
der Biologischen Psychologie auch der Psychopharmakologie neue Möglichkeiten: bis in
die 60er-Jahre konnte man sich die Effekte der oft zufällig
Elektrophysiologische Experimente entdeckten Pharmaka auf psychische Störungen kaum er-
Die Physiologische und Biologische Psychologie haben klären. Die Entschlüsselung von Transmitter- und Neuro-
sich im »Gleichschritt« mit den übrigen Neurowissen- modulatorsystemen im Gehirn erlaubt zunehmend eine
schaften – als deren Teil sie heute angesehen werden gezieltere chemische Beeinflussung einzelner Hirngebiete
können – entwickelt. Besonders in den letzten 40 Jahren und spezifischer Verhaltensweisen (Kap. 3 bis 5).
kam es mit der Entwicklung neuer Technologien (Kap. 20) Nicht nur der Chemismus des Gehirns rückte ins Zen-
zu einem sprunghaften Anstieg von bedeutsamen Erkennt- trum des Interesses, sondern auch das Zusammenwirken
nissen. des Gehirns mit dem Hormonsystem und dem Immunsys-
6 Kapitel 1 · Was ist Biologische Psychologie?

Mit freundlicher Genehmigung von Steven E. Peterson, Ph.D., NeuroImaging Laboratory, Washington University, St. Louis
. Abb. 1.1. Sprache und Hirndurchblutung. Verteilung des regio- derholt sie die Wörter laut und rechts unten erfindet die Person zu
nalen kortikalen Blutflusses in der linken Hemisphäre einer Versuchs- einem Hauptwort ein passendes Zeitwort. Beim passiven Hören Akti-
person bei verschiedenen Sprachaufgaben. Der regionale Blutfluss vierung im oberen Temporal- und unteren Parietallappen, beim Be-
wird nach Injektion einer schwach radioaktiven Substanz in den Blut- trachten im primären Sehfeld okzipital und in der posterioren unteren
kreislauf mit einer Positronenemissionstomographie-Kamera (PET) Temporalwindung, beim lauten Wiederholen im motorischen Areal
gemessen. Verstärkter Blutfluss ist durch zunehmende Gelbweiß-Fär- präzentral und beim aktiven Produzieren von Verben im frontalen
bung (Farbskala rechts) angezeigt. Links oben hört die Person passiv Broca-Areal und prämotorisch
Wörter, rechts davon betrachtet sie dieselben Wörter, links unten wie-

tem (Kap. 7 bis 9). Diese physiologischen Strukturen beein- nanztomographie (fMRT, Kap. 20) erlauben nichtinvasive
flussen und steuern Verhalten ebenso wie sie von Verhalten, Einblicke in kortikale und subkortikale Hirnbereiche und
Denken und Fühlen mitreguliert werden. deren Arbeitsweise mit bisher nicht gekannter örtlicher und
zeitlicher Präzision und ergänzen damit die klassischen
G Die Neurochemie der synaptischen Übertragung
Methoden der Biologischen Psychologie.
bildet die Grundlage der Psychopharmakologie.
G Die Entwicklung der Biologischen Psychologie ist
Bildgebende Verfahren eng an die Entwicklung neuer Forschungsmetho-
den und -technologien gebunden, v. a. der Elek-
Schließlich wurden die Methoden der nichtinvasiven Mes-
tro- und Magnetoenzephalographie und der funk-
sung menschlicher Gehirntätigkeit mit den sog. bildgeben-
tionellen Magnetresonanztomographie.
den Verfahren auf bisher ungeahnte Weise erweitert
(Kap. 20 und 28). Mit den bildgebenden Methoden können
wir ohne chirurgischen Eingriff die Arbeitsweise des
menschlichen Gehirns während Denken und Fühlen am
Computerbildschirm beobachten (. Abb. 1.1). Vor allem
die Magnetoenzephalographie (MEG), die Elektroenze-
phalographie (EEG) und die funktionelle Magnetreso-
1.3 · Verhalten und Gehirn
7 1
1.3 Verhalten und Gehirn ständig an Hirnprozesse gebunden sind. Es besteht kein
qualitativer Unterschied in den Hirnprozessen zwischen
1.3.1 Das Leib-Seele-Problem bewussten und nichtbewussten psychischen Vorgängen.
Bewusstsein benötigt im Vergleich zu unbewussten Zustän-
Materialismus und Mentalismus den eine stärkere neuronale Aktivierung in größeren
Seit dem Altertum haben sich die philosophischen Positio- Neuronenverbänden. Selbstbewusstsein und Introspektion
nen zu der Frage, wie Gehirn und psychisches Erleben zu- (»bewusste Qualia«) erfordern zusätzlich Erregungsrück-
sammenhängen, kaum verändert. Durch die Entdeckungen kopplungen (»back-propagation«) zwischen den primären
der Neurowissenschaften in den letzten Jahrzehnten ist die und sekundären Projektionsarealen, dem Präfrontalkortex
Diskussion darüber wieder neu entbrannt. Vor allem die und den Sprachregionen.
psychologischen Konsequenzen der Split-Brain-Operati- Das Zentralnervensystem (ZNS) darf aber nicht nur als
onen (Kap. 21, 27, 28) haben den alten Gegensatz zwischen isolierte biologische Größe betrachtet werden, das psychi-
materialistisch-physikalistischen und mentalistischen sches Erleben und Verhalten »hervorbringt«, sondern als
Konzepten der Beziehungen zwischen Hirn und Verhalten ein in ständigem Austausch mit den Umweltgegebenhei-
wiederbelebt. Während die einen die vollständige Abhän- ten, den übrigen Körpersystemen und den vererbten Eigen-
gigkeit psychischen Erlebens und Verhaltens von neuro- schaften befindliches dynamisches System.
nalen Prozessen betonen, oder aber die Existenz mentaler
Prozesse leugnen, behaupten die andern, die eigenständige Verhalten und Bewusstsein
Existenz psychischen Erlebens: psychisches Erleben könne als Reaktionselemente
auf die neuronalen Prozesse wirken (»downward causation« . Abb. 1.2 illustriert an einem einfachen Experiment, dass
des Interaktionismus). bewusstes Erleben nur ein Reaktionselement – neben ande-
Gegen diese Auffassung wurden bereits früh von Expe- ren Reaktionselementen – im Verhaltensstrom darstellt.
rimentalpsychologen mit philosophischen Kenntnissen Die Personen in diesem Experiment waren auf einer Hirn-
grundsätzliche Bedenken präzisiert, wie das nachfolgende hemisphäre kortikal blind, weil das rechte oder linke pri-
Zitat zeigt: märe Sehsystem der Großhirnrinde zerstört war (Kap. 17).
»Zwischen dem Erregungsgeschehen im Gehirn und
dem bewussten Erleben besteht eine so enge und feste kau-
sale Beziehung, dass das letztere in seiner Existenz und in
allen seinen Eigenschaften vom ersteren abhänge, die Hy-
pothese behauptet aber außerdem, dass dieser Zusammen-

Aus Anders S, Birbaumer N, Sadowski B et al (2004). Reprinted by permission from Macmillan Publishers Ltd:
hang nur in einer Richtung gegeben sei, nämlich in der-
jenigen vom Physischen zum Psychischen: das bewusste
Erleben könne nicht auf die Erregungsprozesse wirken oder
neue Erregungen erzeugen, weil es selbst von Erregungs-
vorgängen abhängig sei und ohne diese überhaupt nicht
existiere« (H. Rohracher, 1967).
Die Vertreter des mentalistischen Interaktionismus und
Dualismus dagegen gehen davon aus, dass psychische und
neuronale Phänomene einander gar nicht entsprechen
könnten, da ja psychisches Erleben nicht aus Atomen,
Molekülen und deren Kräfteverhältnissen bestehe. Die
Wirkung psychischen Erlebens – v. a. auf die Hirnrinde –
würde die plötzliche Entstehung von neuen Gedanken und
produktiv-erfinderisches Handeln erklären.
G Zum Leib-Seele-Problem ist festzuhalten, dass psy-
chische Prozesse und Verhalten vollständig und
Nature Neuroscience.

ausschließlich von der Hirntätigkeit abhängig sind.


Eine Wirkung psychischer Prozesse auf die physio-
logischen Vorgänge des Gehirns besteht nicht.

Bewusste und nichtbewusste . Abb. 1.2. Affektives »Blindsehen« (Blindsight). Aktivierung


des parietalen Kortex (rote Anfärbung), gemessen mit funktioneller
Informationsverarbeitung
Magnetresonanztomographie (fMRT) beim Erlernen von Angst vor
Wie in Kap. 21 dargestellt wird, gehen wir heute von ver- einem nichtbewusst wahrgenommenen Gesicht bei kortikal blinden
schiedenen, heterogenen Bewusstseinsformen aus, die voll- Personen
8 Kapitel 1 · Was ist Biologische Psychologie?

Box 1.2. Lokalisationismus und Äquipotenzialität


1
Aus Marshall LH, Magounlt W (1998). Mit freundlicher Genehmigung der Humana PressTotowa.

Vom klassischen Altertum, angeregt durch die Schriften sischen Physiologen Marie-Jean-Pierre Flourens (1794–
von Galen (ca. 130–200 a. D.) bis ins 17. Jahrhundert 1867, unten links) die Phrenologie widerlegt. Allerdings
wurden die Hirnventrikel als Sitz der seelischen Funktio- verfiel Flourens in dieselbe Radikalität wie Gall (unten
nen angesehen (. Abb. oben links aus dem Jahre 1497 rechts) und behauptete Äquipotenzialität im Gehirn,
von Hieronymus Brunschwig). Selbst der sonst so auf- d. h. alle Hirnteile können alle Funktionen übernehmen
geklärte Leonardo da Vinci sah die Ventrikel als Hauptort (Kap. 24). Diese Auseinandersetzung im 19. Jahrhundert ist
der Hirnaktivität. Anfang des 19. Jahrhunderts entwickel- heute erneut aktuell. Durch die Entwicklung von örtlich
te der österreichische Arzt und Anatom Franz Josef Gall hoch auflösenden bildgebenden Verfahren (. Abb. 1.1
die Phrenologie. Dabei werden psychische Funktionen und Kap. 20) wird fälschlich eine präzise Lokalisation von
bestimmten Hirnabschnitten zugeschrieben, die sich psychischen Funktionen vorgetäuscht, die bei direkter
bei häufiger Benutzung wie Abdrücke in den Schädel- dynamischer Registrierung der elektrochemischen Abläufe
knochen wiederfinden (rechts oben). Erst gegen Mitte im Gehirn so nicht nachvollziehbar ist.
des Jahrhunderts wurde durch Experimente des franzö-
1.3 · Verhalten und Gehirn
9 1

Sie erhielten in ihrem blinden Sehfeld mehrmals für einige Konsequenzen modifizierbar (Plastizität des Gehirns,
Sekunden ein neutrales Gesicht dargeboten, das manchmal Kap. 24). Wir sprechen deshalb nicht mehr von einem
von einem unangenehmen Schrei gefolgt wurde. Bei Dar- »Hirnzentrum«, sondern von dynamischen Knotenpunk-
bietung dieser Sequenz (klassische Konditionierung; Kap. ten für ein bestimmtes Verhalten oder von neuronalen
25) bei Gesunden entwickelt der Gesichtsreiz zunehmend Ensembles (»neuronal assemblies«).
unangenehme Qualitäten, was sich niederschlägt in
4 subjektivem Unbehagen (»Angst«), Neuronale Zellensembles
4 erhöhtem Schreckreflex, Unter einem neuronalen Zellensemble versteht man eine
4 subjektiv-negativer Einstufung des Gesichts, Ansammlung von Nervenzellen, die miteinander erregend
4 erhöhter Hirnreaktion in Regionen, die Emotionen ver- (exzitatorisch) stärker verknüpft sind als die sie umgeben-
arbeiten sowie den Zellstrukturen und die für ein bestimmtes Verhalten
4 erniedrigtem Hautwiderstand. verantwortlich sind: der Grad der Verknüpfung dieser
elementaren Einheiten wird durch Lernen mitbestimmt
Obwohl die kortikal Blinden keinerlei bewusste Einstufung (Kap. 25). . Abb. 1.3 gibt die Original-Handzeichnung
des Gesichts vornehmen konnten und auch jede Wahrneh- eines Zellensembles von Donald Hebb in seinem berühm-
mung eines Gesichts leugneten, waren bei wiederholter Dar- ten Buch »The Organization of Behavior« (1949) wieder.
bietung des Gesichts nach seiner Paarung mit dem unange- Die schraffierte Region mit den Zellen A und B in Area
nehmen Schrei alle anderen Körper- und Hirnreaktionen, 17, dem primären visuellen Areal, wird von einem über-
einschließlich des subjektiven Unbehagens vorhanden. schwelligen Reiz erregt. Die Zelle A konvergiert auf Zelle C
Die Aktivierung derjenigen parietalen Hirnregion, in im sekundären visuellen Assoziationsareal 18, die zurück in
der körperinterne Angstreaktionen verarbeitet werden, war Area 17 auf Zelle B projiziert. Diese Zelle B wird nun sowohl
ebenfalls erhöht. Dies zeigt, dass Lernen von Angst (klassi- von der massiven Erregung aus A (schraffierte Region) wie
sche Konditionierung) auf allen Reaktionsebenen stattge- auch aus der Region um B gereizt und feuert in ein weiteres
funden hat, nur die subjektiv-bewusste Einschätzung und Areal in Area 18. Mit Wiederholung derselben überschwel-
Wahrnehmung fehlt. Bewusstes Erleben ist somit nur eine ligen Reizung in Area 17 wird die Verbindung von A nach C
von vielen Reaktionselementen des Verhaltens (hier Angst- und von C nach B zunehmend verstärkt, A und B werden
reaktion). danach nicht mehr unabhängig entladen. Die Verbindung A
nach D – wobei D in einen unerregten Teil von Area 17 zu-
G Bewusstsein und bewusstes Erleben ist nur ein
rück projiziert – wird dagegen nicht verstärkt, da die simul-
Reaktionselement von vielen anderen neuronalen
tane Erregung des Areals 17, in das D projiziert, ausgeblieben
und körperlichen Reaktionselementen. Es ist
ist. A und B bilden damit eine funktionelle Beziehung – ein
an die Interaktion von neuronalen Erregungskon-
stärker miteinander verbundenes Zellensemble –, während
stellationen einiger spezifischer Hirnregionen ge-
A und E funktionell unwirksam bleiben.
bunden.

1.3.2 Neuronale Zellensembles


und dynamische Knotenpunkte
der Hirnerregung

Lokalisation von Verhalten im Gehirn


Je mehr wir über das ZNS wissen, um so genauer können
wir jene Hirnstrukturen und peripheren Systeme beschrei-
ben, die für ein bestimmtes Verhalten verantwortlich sind.
Die Kontroverse zwischen Lokalisationismus (jedem Ver-
halten ein »Hirnzentrum«) und Antilokalisationismus
(komplexes Verhalten ist nicht in einigen wenigen Hirn-
zentren lokalisierbar) scheint heute durch die Fakten be-
endet zu sein (Box 1.2): Verhalten ist von der Funktions-
tüchtigkeit anatomisch oft weit auseinander liegender Ner-
vennetze abhängig, deren Verbindungen, Überträgerstoffe
und morphologischer Aufbau äußerst heterogen sein
können. Solche verhaltensspezifische Nervennetze sind
in ihrer eigenen Aktivität von der Gegenwart spezifischer . Abb. 1.3. Zellensembles. Handzeichnung D.O. Hebbs eines Zell-
Umweltsituationen abhängig und von diesen und ihren ensembles aus »The Organization of Behavior« (1949)
10 Kapitel 1 · Was ist Biologische Psychologie?

Die neuronale Grundlage der Assoziationsbildung G Neuronale Ensembles oder dynamische Knoten-
1 und damit von Lernen besteht also in verstärkten Verbin- punkte von Nervenerregungen liegen Verhalten,
dungen zwischen den beteiligten Neuronenverbänden. Denken und Fühlen zugrunde. Sie stellen die
Ohne die assoziative Verbindung solcher Zellensembles neuronale Grundlage der Assoziationsbildung
können wir auch die Gegenstände unserer Wahrnehmung und damit von Lernen dar.
nicht als Einheit und Bedeutung tragende Reize erkennen.

Zusammenfassung
5 Die Biologische Psychologie untersucht die Zusammen- 5 In den letzten 40 Jahren rückte eine neurochemische
hänge zwischen Verhalten und den physiologischen und molekulare Sichtweise der Nervenvorgänge und
Vorgängen des Körpers. des psychischen Erlebens in den Vordergrund.
5 Die Physiologische Psychologie als Subdisziplin der 5 Durch die Entwicklung neuer nichtinvasiver Mess-
Biologischen Psychologie befasst sich wie die methoden der Hirntätigkeit (»Neuro-Imaging«) wird
Neuropsychologie mit der Beziehung zwischen Gehirn aber wieder zunehmend klar, dass eine rein »atomis-
und Verhalten. tisch-molekulare« Betrachtungsweise der Hirntätigkeit
5 Die Geschichte der Biologischen Psychologie in den zur Erklärung von Verhaltensweisen nicht ausreicht.
deutschsprachigen Ländern ist durch 5 Die Neurowissenschaften haben das Leib-Hirn-Seele-
Pionierleistungen in der Forschung bis 1933 Problem zwar nicht gelöst oder nicht lösen wollen,
gekennzeichnet. Von 1933 bis 1945 mussten die aber klar aufweisen können, dass psychische Vorgänge
prominenten Vertreter der Biologischen Psychologie und Verhalten vollständig von den elektrochemischen
emigrieren; das Fach erholt sich im internationalen Prozessen des Gehirns abhängig sind.
Vergleich nur langsam von diesem Schlag. 5 Neuronale Zellensembles aus vielen erregend mitei-
5 Nach dem Zweiten Weltkrieg (1939–1945) war die nander verschalteten Nervenzellen, die an bestimmten
Entwicklung der Biologischen Psychologie vorerst dynamischen Knotenpunkten des Gehirns lokalisiert
durch die Konzeption von »unspezifischen« Hirnsys- sind, liegen Denken und Verhalten zugrunde.
temen, verantwortlich für Bewusstsein und
Verstärkungslernen, gekennzeichnet.

Literatur
Gazzaniga M, Ivry R, Mangun G (1998) Cognitive neuroscience. Norton,
New York
Hebb DO (1949) The organization of behavior. Wiley, New York
Luria A (1970) Die höheren kortikalen Funktionen und ihre Störungen
bei örtlichen Hirnschädigungen. VEB Deutscher Verlag der Wissen-
schaften, Berlin
Popper K, Eccles JC (1977) The self and its brain. Springer, Berlin Heidel-
berg New York
Rohracher H (1967) Die Arbeitsweise des Gehirns und die psychischen
Vorgänge. Barth, München
Schlick M (1979) Allgemeine Erkenntnislehre. Suhrkamp Taschenbuch,
Frankfurt (Neudruck)
Wundt W (1874) Grundzüge der physiologischen Psychologie. Engel-
mann, Leipzig
2

2 Zellen und Zellverbände,


besonders des Nervensystems

2.1 Grundlagen der Zellphysiologie – 12


2.1.1 Elemente (Atome), Moleküle, Ionen – 12
2.1.2 Bauplan der Zellen – 13
2.1.3 Stoffwechsel der Zellen – 14
2.1.4 Lebenszyklus der Zellen – 16

2.2 Stoffaustausch zwischen und in Zellen und in Geweben – 17


2.2.1 Stoffaustausch der Zellen mit ihrer Umgebung – 17
2.2.2 Stoff- und Informationsaustausch innerhalb der Zelle – 21
2.2.3 Stoffaustausch in Geweben und Organen – 22

2.3 Bausteine des Nervensystems – 23


2.3.1 Neurone (Nervenzellen) – 23
2.3.2 Gliazellen, Interstitium und Blutgefäße – 24
2.3.3 Bau und Funktion der Nervenfasern des peripheren Nervensystems – 26
2.3.4 Bau und funktionelle Klassifikation der Nerven – 28

Zusammenfassung – 30
Literatur – 31

N. Birbaumer, Biologische Psychologie, DOI 10.1007/978-3-540-95938-0_2,


© Springer Medizin Verlag Heidelberg 2010
12 Kapitel 2 · Zellen und Zellverbände, besonders des Nervensystems

)) kreisen, neutralisiert. Diese haben ein so geringes Gewicht,


dass sie für das Atomgewicht unberücksichtig bleiben
Der Grundbaustein des menschlichen Körpers ist die ein- können.
zelne Zelle, von denen er etwa 75–100×1012 (75–100 Billio- Alle Atome eines Elements haben dieselbe Anzahl Pro-
2 nen) besitzt. Davon sind 25×1012 rote Blutkörperchen (Ery- tonen, können sich aber in der Zahl der Neutronen und
throzyten). Sie sind der am häufigsten vorkommende Zell- damit in ihrer Masse unterscheiden. Diese verschiedenen
typ des Körpers. atomaren Formen werden als Isotope (Nuklide) eines Ele-
Allen Zellen ist eine Reihe von Grundeigenschaften ge- ments bezeichnet. Manche Isotope sind instabil oder ra-
meinsam: Zum Beispiel benötigt jede Zelle Nährstoffe, und dioaktiv. Sie zerfallen spontan unter Abgabe von Teilchen
diese Nährstoffe sind von Zelltyp zu Zelltyp ähnlich. Prak- und Energie. Durch den Verlust von Protonen wird das Ele-
tisch jede Zelle nimmt Sauerstoff auf, der sich zur Energiege- ment in ein anderes überführt, radioaktiver Kohlenstoff
winnung mit Fetten, Eiweißen oder Kohlenhydraten verbin- zerfällt z. B. zu Stickstoff.
det. Die chemischen Prozesse, die sich bei dieser Umwand-
G Nur rund ein Viertel aller Elemente ist für das Leben
lung von Nährstoffen zur Energiegewinnung abspielen, sind
essenziell. Jedes Element (kleinste Einheit: Atom) ist
ebenfalls in allen Zellen grundsätzlich gleich, und alle Zellen
durch die Anzahl seiner Protonen im Atomkern defi-
geben schließlich die Endprodukte der Energiegewinnung
niert. Die Anzahl der Neutronen kann unterschied-
in die die Zellen umgebende Flüssigkeit ab.
lich sein (Isotope). Instabile (radioaktive) Isotope
Zellen spezialisieren sich auf ihre Aufgaben. So bilden
zerfallen spontan.
im Nervensystem die Nervenzellen (oder Neurone) und die
Gliazellen die strukturell und funktionell selbständigen
Grundeinheiten. Das menschliche Gehirn besitzt z. B. etwa Moleküle
25 Milliarden (25×109) Neurone. Gehen unterschiedliche Atome chemische Verbindungen
Wie im Gehirn schließen sich die spezialisierten Zellen miteinander ein, so entstehen Moleküle. Ein einfaches, aber
überall im Körper zu kooperierenden Geweben zusammen. für das Leben besonders wichtiges Beispiel ist die Verbin-
Diese Gewebe werden mit wenigen Ausnahmen (Blut, dung eines Sauerstoffatoms (O) mit 2 Wasserstoffatomen
Lymphe) durch besonderes Stützgewebe zu Organen (H), nämlich das Wasser, H2O, welches das Lösungsmittel
geformt. Das Nervensystem ist ein solches Organ, dessen allen Lebens ist.
Aufbau und Arbeitsweise das Thema dieses und der Das Molekulargewicht eines Moleküls ist die Summe all
nächsten Kapitel ist. seiner Atomgewichte. Wasserstoff hat das Atomgewicht 1
und Sauerstoff das Atomgewicht 16. Ein Molekül Wasser
hat also das Molekulargewicht 16+1+1=18. Dies kann auch
2.1 Grundlagen der Zellphysiologie in der Einheit Dalton ausgedrückt werden (sie ist etwas an-
ders definiert als das Molekulargewicht, unterscheidet sich
2.1.1 Elemente (Atome), Moleküle, Ionen in ihrem Betrag aber nicht).
Das Wassermolekül ist sehr klein, wie viele andere
Lebensnotwendige Elemente in der unbelebten Natur vorkommenden »anorganischen«
Von den 92 in der Natur vorkommenden Elementen sind Moleküle auch. Dagegen sind die »organischen« Moleküle
nur etwa 25 für das Leben notwendig. Aus nur 4 von ihnen, der belebten Natur, die alle Kohlenstoff enthalten, meist
nämlich Kohlenstoff (C), Sauerstoff (O), Wasserstoff (H) groß, oft extrem groß. Der Zucker Saccharose mit der
und Stickstoff (N), bestehen 96% der lebenden Materie. Summenformel C12H22O11 hat z. B. das Molekulargewicht
Die Elemente Phosphor (P), Schwefel (S), Kalzium (Ca), 342 (Atomgewicht des C = 12), und das Molekulargewicht
Kalium (K) und einige weitere Elemente machen die rest- großer Eiweißmoleküle kann viele Hunderttausend Dalton
lichen 4% aus. betragen
Die Einheiten der Materie werden Atome genannt.
G Moleküle werden durch die Verbindung von Atomen
Jedes Element besteht aus einer bestimmten Atomart, die
gebildet. Ihr Molekulargewicht ist die Summe der
sich von den Atomen aller anderen Elemente unterscheidet.
Atomgewichte. Anorganische Moleküle haben klei-
Das Symbol für ein Atom ist dasselbe wie für ein Element,
nere Atomgewichte als organische.
d. h. C steht z. B. sowohl für das Element Kohlenstoff als
auch für ein einzelnes Kohlenstoffatom.
Alle Atome eines Elements besitzen in ihrem Kern die- Anionen und Kationen
selbe Anzahl von (positiv geladenen) Protonen. Daneben Eine der Molekülverbindungen ist die Ionenbindung, bei
besitzen die Atome in ihrem Kern auch elektrisch neutrale der die Atome ein Elektron austauschen. Wenn z. B. ein
Neutronen. Die Summe der Protonen und Neutronen eines Chloratom (Cl) und ein Natriumatom (Na) aufeinander
Elements ergibt sein Atomgewicht. Die positiven Ladungen treffen, zieht das Chloratom ein Elektron vom Natrium-
der Atomkerne werden von Elektronen, die um die Kerne atom ab. Damit bleibt eine positive Ladung beim Natrium-
2.1 · Grundlagen der Zellphysiologie
13 2

atom zurück und beim Chloratom ist eine negative Ladung 2.1.2 Bauplan der Zellen
»zuviel“. Atome oder Moleküle mit einer positiven Ladung
(wie hier das Natriumatom) werden Kationen, die mit einer Bausteine der Zelle
negativen Ladung Anionen genannt. Alle Zellen sind nach einem einheitlichen Bauplan aus Zell-
Ionische Verbindungen werden als Salze bezeichnet. membran (Plasmamembran), Zellflüssigkeit (Zytoplasma)
Die eben erwähnte Natriumchlorid-Verbindung (NaCl) ist und Zellkern (Nukleus) aufgebaut. Zytoplasma und Nukleus
das Kochsalz. Es kann, wie alle Salze, entweder in kristalliner werden als Zellinhalt (Protoplasma) zusammengefasst.
Form vorliegen oder in Wasser gelöst sein, wie das in leben- Das Zytoplasma enthält eine Reihe von hochorgani-
dem Gewebe der Fall ist. Die . Tabelle 3.1 in Abschn. 3.1.2 sierten Körperchen, die als Organellen bezeichnet werden.
gibt die Ionenverteilung innerhalb der Zellen und in der Als wichtige Beispiele solcher Organellen sind in . Abb. 2.1
umgebenden extrazellulären Flüssigkeit an. u. a. die Mitochondrien, das endoplasmatische Retikulum
und die Lysosomen gezeigt. Auch die Zellmembran (Plasma-
G Aus Ionenbindungen bestehende Salze bilden membran) und die Membran des Zellkerns werden zu den
bei Lösung in Wasser elektrisch positiv geladene Organellen gerechnet. Ihnen allen kommen wichtige Zell-
Kationen, z. B. Na+, und negativ geladene Anionen, funktionen zu, auf die z. T. weiter unten näher eingegangen
z. B. Cl–, sobald Kochsalz, NaCl, in Wasser gelöst wird. wird.

Die Zeichnung verdanken wir Prof. em. Dr. K. H. Andres, Lehrstuhl für Anatomie II der Ruhr-Universität Bochum.

. Abb. 2.1. Struktur der Zelle und ihrer wichtigsten Bestand- dieser Proteine enthalten Kanäle oder Poren, über die das Zellinnere
teile, dargestellt an einer »idealisierten Modellzelle« bei etwa mit dem Extrazellulärraum Ionen und Moleküle austauschen kann. Die
24.000-facher Vergrößerung. Einzelne organisierte Zellbestandteile Zelle ist vom endoplasmatischen Retikulum durchzogen, das teils
(Organellen), wie der Golgi-Apparat, einige Mitochondrien und Antei- glatte Wände hat, teils mit Ribosomen besetzt ist (raues endoplasma-
le des rauen endoplasmatischen Retikulums, sind eingezeichnet. Der tisches Retikulum). Auch der Golgi-Apparat ist ein internes Hohlraum-
Aufbau der Plasma- oder Zellmembran kann auch mit dem Elektro- system, das an der Aufnahme und der Ausscheidung von Stoffen über
nenmikroskop nicht aufgelöst werden. Diese Plasmamembran ist in Sekretgranula beteiligt ist. Als Kraftwerke der Zellen dienen die Mito-
der . Abb. 3.3 dargestellt. Es handelt sich um eine Phospholipiddop- chondrien, zur Abfallbeseitigung die Lysosomen
pelschicht, in die Proteine (Eiweißmoleküle) eingelagert sind. Einige
14 Kapitel 2 · Zellen und Zellverbände, besonders des Nervensystems

G Menschliche Zellen sind aus Zellmembran (Plasma- Box 2.1. Lähmungs- und Wiederbelebungszeit des
membran), Zellflüssigkeit (Zytoplasma) und Zellkern Gehirns bei Sauerstoffmangel
(Nukleus) aufgebaut. Zytoplasma und Nukleus
Die Nervenzellen des Gehirns sind mehr als alle ande-
bilden zusammen den Zellinhalt (Protoplasma). Die
2 Zellflüssigkeit enthält zahlreiche Organellen.
ren Körperzellen auf einen kontinuierlichen oxidativen
Stoffwechsel und damit auf eine konstante Sauerstoff-
Hauptbestandteile des Protoplasmas versorgung angewiesen. Bei einer vollständigen Unter-
brechung der Gehirndurchblutung (z. B. bei Herzstill-
Das Protoplasma (der Zellinhalt) besteht zu etwa 70% aus
stand oder Strangulation) kommt es bereits nach 8–12 s
Wasser, H2O. In ihm sind zahlreiche Salze gelöst (. Tabel-
zum Bewusstseinsverlust (Lähmungszeit), nach 20–30 s
le 3.1 in Abschn. 3.1.2) und 4 Substanzklassen kleiner or-
erlischt die Aktivität der Hirnzellen völlig (erkennbar
ganischer Moleküle, nämlich Zucker, Fettsäuren, Amino-
am Null-Linien-EEG, Abschn. 20.4.1). Eine erfolgreiche
säuren und Nukleotide. Diese Moleküle liegen in zahl-
Wiederbelebung ist bei normaler Körpertemperatur
reichen Variationen vor, die aber jeweils einer der eben
bis zur 8. bis 10. Minute nach Unterbrechung der Hirn-
genannten 4 Substanzklassen zugeordnet werden können.
durchblutung möglich (Wiederbelebungszeit). Je nach
Die kleinen organischen Moleküle stehen auch als
Dauer der Unterbrechung kann es bis zur völligen Er-
Bausteine für große Moleküle (Biopolymere) zur Verfü-
holung der Hirnfunktionen Stunden bis Tage dauern.
gung. Die drei wichtigsten Makromoleküle der Zellen
Als Reanimation werden die Bemühungen zusam-
sind die Polysaccharide, die Eiweiße (Proteine) und die
mengefasst, einen akuten Atem- und Herzstillstand bei
Nukleinsäuren (Abschn. 23.2.1). Diese Makromoleküle bil-
Bewusstlosen zu beheben. Diese müssen innerhalb der
den die Grundlage aller Lebensfunktionen. Dazu gehören
Wiederbelebungszeit begonnen werden. Als Basismaß-
der Aufbau der Zellbestandteile ebenso wie die Bewegun-
nahmen gelten (a) Freimachen der Atemwege durch
gen der Zellen und des gesamten Organismus und v. a. die
Überstrecken des Kopfes und Anheben des Kinns,
Vererbungsvorgänge, d. h. die generationenübergreifende
(b) Beatmung durch Atemspende (Mund-zu-Mund-
Weitergabe biologischer Information (Kap. 23).
oder Mund-zu-Nase-Beatmung) und (c) Herzdruckmas-
G Die Zelle enthält v. a. Wasser; in diesem sind Salze sage. Nach den neuesten Richtlinien des »European
und 4 Substanzklassen kleiner organischer Molekü- Resuscitation Council« (2005) werden bei Erwachsenen
le gelöst, nämlich Zucker, Fettsäuren, Aminosäuren abwechselnd 30 Herzdruckmassagen (mit einer Fre-
und Nukleotide. Diese Moleküle dienen auch als quenz von etwa 100/min = etwas weniger als 2/s) ge-
Bausteine für große Moleküle (Biopolymere). folgt von 2 Atemspenden und wiederum 30 Herzdruck-
massagen usw. durchgeführt. Falls mehr als ein Helfer
2.1.3 Stoffwechsel der Zellen anwesend ist, sollte man sich alle 1–2 min in der Reani-
mation abwechseln, um Ermüdungen vorzubeugen.
Zucker als Energielieferant und Energiespeicher Bei Kindern gelten für Laienhelfer dieselben Richtlinien,
professionellen Helfern wird gelehrt, je nach Alter des
Der wichtigste Energielieferant im Blut ist die Glukose (der
Kindes ein Verhältnis zwischen Herzdruckmassage und
»Traubenzucker« oder »Blutzucker«). Die Glukose wird
Atemspenden (Kompressions-Ventilations-Verhältnis)
nach der Aufnahme in eine Zelle über eine Reihe von
von 15:2 anzuwenden.
Zwischenschritten mit Hilfe von Sauerstoff zu Kohlendioxid
und Wasser »verbrannt« (oxidiert). Dabei wird Energie frei,
die im Zellstoffwechsel weiterverwendet wird. Im Endeffekt
handelt es sich hier um den gleichen Vorgang wie beim Ver- Zur Energiespeicherung lagern die Zellen Glukosemo-
brennen von Kohle, Öl oder Holz zur Energiegewinnung. leküle zu Polysacchariden zusammen, meist zu Glykogen.
Diese Form des Stoffwechsels, bei der Sauerstoff verbraucht Ähnlich ist in den Pflanzen die Stärke das weitverbreiteste
wird, wird als oxidativer oder aerober Stoffwechsel be- Reservekohlenhydrat (ebenfalls aus Glukose aufgebaut).
zeichnet. Die freigesetzte Energie wird v. a. dazu verwendet, Die Polysaccharide sind aber nicht nur für die Bevorra-
den universellen Treibstoff der Zelle, nämlich das Adenosin- tung und Bereitstellung von Energie wichtig. Sie bilden
triphosphat, kurz ATP, zu synthetisieren (7 unten). auch Stützsubstanzen außerhalb der Zellen. So ist die
In kleinem Umfang, zu etwa 5% des Gesamtbedarfs, kann ebenfalls nur aus Glukose aufgebaute Zellulose der Pflanzen
ATP auch ohne Sauerstoff synthetisiert werden. Dieser Stoff- die auf der Erde am weitesten verbreitete organische
wechsel wird als anaerob bezeichnet. Es leuchtet ein, dass er Substanz.
allein den Gesamtbedarf der Zelle nur kurze Zeit decken kann.
Ohne ständige Sauerstoffzufuhr ist also kein menschliches G Die einfachen Zucker sind die wichtigsten
Leben möglich: Bei Sauerstoffmangel ersticken wir, da unseren Energielieferanten der Zelle; die Polysaccharide
Zellen das lebensnotwendige ATP nicht mehr in ausreichender dienen als Energiespeicher (Glykogen, Stärke) und
Menge zur Verfügung gestellt werden kann (Box 2.1). als Stützsubstanz (Zellulose).
2.1 · Grundlagen der Zellphysiologie
15 2
Fettsäuren bilden Körperfett und Phospholipide
Box 2.2. Marasmus und Kwashiorkor sind die Folgen von
Die Fettsäuremoleküle haben ein wasserunlösliches (hydro- Eiweißmangelernährung
phobes) und wasserlösliches (hydrophiles) Ende. Letzteres
Fällt bei einer energie- und eiweißarmen Ernährung,
verbindet sich leicht mit anderen Molekülen. So ergibt
z. B. bei der Anorexia nervosa oder bei AIDS, das Kör-
die Verbindung von drei Molekülen Fettsäure mit einem
pergewicht unter 60% des Mediangewichts, gilt der
Molekül Glyzerin das normale Körperfett (Triglyzerid).
Patient als marastisch (griechisch »Schwachwerden«).
Dieses Fett stellt neben den Kohlenhydraten (Zucker,
Bei einer energiereichen (ausreichend Kohlenhydrate,
Glykogen) den wichtigsten Energievorrat der Zellen und
z. B. Reis), aber eiweißarmen Ernährung kommt es, v. a.
damit des Menschen dar.
bei Kindern in tropischen Entwicklungsländern, wegen
Werden an das Glyzerin nur zwei Fettsäuren gebunden
der fehlenden essenziellen Aminosäuren zu einer Ei-
und wird die dritte Bindungsstelle von einem Molekül
weißmangelstörung, die als Kwashiorkor (ghanaisch:
Phosphorsäure besetzt (an dem wiederum eines von
tropischer Mehlnährschaden) bezeichnet wird. Die Kin-
mehreren verschiedenen Alkoholmolekülen gebunden ist),
der sind nicht unbedingt untergewichtig, aber schwer
so haben wir ein Phospholipid vor uns. Auch die Phos-
krank (Symptome u. a. Apathie, Muskelschwäche,
pholipide haben einen hydrophoben Teil, nämlich die
Fettleber) und essen nicht. Bei beiden Erkrankungen
beiden Fettsäuren, und einen hydrophilen Teil, nämlich
sistiert oder verzögert sich die körperliche (z. B.
die Phosphorsäure mit ihrem Alkohol. Diese Eigenschaft
Längenwachstum) und geistige Entwicklung.
macht sie zur Bildung von Zellmembranen aller Art beson-
ders geeignet, denn sie bilden im Wasser spontan Doppel-
schichten, in denen sich die hydrophilen Kopfgruppen
außen, dem Wasser zugewandt anordnen, während sich G Zwanzig Aminosäuren sind die Bausteine der Ei-
die hydrophoben Fettsäuren aneinanderlagern und in der weiße (Proteine); diese dienen u. a. als Gerüst-
Mitte der Membran eine nichtwässrige »Ölphase« bilden. substanzen, als Hormone und als Rezeptoren in
Dies ist z. B. in . Abb. 2.3 sowie in späteren Abbildungen zu Membranen.
sehen.
Nukleotide als Übermittler der Erbinformation,
G Die Fettsäuren sind Teilbausteine des als ATP als universeller Energielieferant
Energiespeicher dienenden Körperfetts und der
Die letzten der vier wesentlichen Grundbausteine der Zel-
Phospholipide der Zellmembranen.
len sind die Nukleotide. Eine der beiden wesentlichen Rol-
len der Nukleotide ist die Übermittlung biologischer
Aminosäuren als Bausteine der Eiweiße Information (Kap. 23), die andere die Bereitstellung chemi-
Die Eiweiße (Proteine) werden aus mehr oder weniger scher Energie. Dazu dient v. a. das oben bereits erwähnte
langen Ketten von Aminosäuren gebildet. Zum Aufbau der Adenosintriphosphat, ATP, ein Molekül mit drei hinter-
Eiweiße verwendet die Natur nur 20 verschiedene Amino- einander angeordneten Phosphorsäuren (. Abb. 2.2a). Die
säuren, und zwar nicht nur beim Menschen, sondern auch letzte davon ist mit der vorletzten durch eine besonders
bei Tieren, Bakterien und Pflanzen. energiereiche Verbindung verknüpft und außerdem leicht
Einige dieser 20 Aminosäuren können wir im Körper lösbar. Sie gleicht einer gespannten Sprungfeder, die, wie
synthetisieren, die anderen müssen wir mit der Nahrung zu bei einer Mausefalle, leicht ausgeklinkt werden kann und
uns nehmen (essenzielle Aminosäuren). Beim Menschen dann schlagartig die in ihr gespeicherte Energie freisetzt.
sind 8 Aminosäuren essenziell. Sie kommen reichlich in Bei Energiebedarf, z. B. zu einer Muskelzuckung, wird
tierischen Nahrungsmitteln, aber nur sehr begrenzt in diese energiereiche Phosphatverbindung gelöst. Durch
pflanzlichen vor (Box 2.2). diese Abspaltung wird aus dem Adenosin»tri«phosphat
Die wichtige Rolle der Eiweiße als Biokatalysatoren das Adenosin-»di«-phosphat oder ADP. Adenosindiphos-
oder Enzyme zur Beschleunigung chemischer Reaktionen phat und Phosphat müssen dann wieder unter Energie-
wird anschließend erläutert. Daneben dienen die Proteine aufwand, genau wie beim Spannen der Mausefalle, verknüpft
v. a. als Gerüstsubstanzen (in Binde- und Stützgewebe), als werden.
Strukturbestandteile zur Aufteilung des Zellraumes, also Die wichtigsten ATP-verbrauchenden Prozesse sind:
in Membranen (Abschn. 2.2.1), als Signale zur Regulation 4 der Transport von Stoffen durch die Zellmembranen,
des Stoffwechsels und der Zelltätigkeit (Hormone, Abschn. 4 die Synthese von Eiweiß und anderen Zellbausteinen
7.1.4) und als Einrichtungen zum Empfang von Signalen und
am Erfolgsorgan (Rezeptoren, Abschn. 4.3.1 und 7.1.3). 4 körperliche und geistige Arbeiten.
Die Information für den Aufbau all dieser Proteine ist in
den anschließend erwähnten Nukleinsäuren niedergelegt. Die Nukleinsäuren sind Biopolymere, die aus Ketten von
Kopien dieser Baupläne werden von Generation zu Nukleotiden bestehen. Ihr Bau und ihre biologische
Generation weitergegeben (Abschn. 23.2.3). Funktion sind in Abschn. 23.2 beschrieben.
16 Kapitel 2 · Zellen und Zellverbände, besonders des Nervensystems

Regel sind es meist sehr viel mehr. Die durch sie bewirkten
Reaktionsbeschleunigungen können erstaunliche Werte an-
nehmen. Zum Beispiel beschleunigt das Enzym α-Amylase
die Spaltung (Verdauung, Abschn. 12.2.1 und 12.2.4) von
2 Stärke um das 3×1011-fache gegenüber einer Verdauung in
Abwesenheit dieses Enzyms.
Die Enzyme sitzen größtenteils auf den Auffaltungen
der inneren Membran der Mitochondrien. Den Mito-
chondrien (. Abb. 2.1, 2.2b) kommt also eine Schlüssel-
rolle bei der Energieversorgung der Zelle zu. Diese
länglichen, brotlaibartigen Organellen sind maximal 7 μm
lang und 1 μm breit, meist aber wesentlich kleiner. Ihre
Wände bestehen aus einer äußeren und einer inneren
Membran, wobei die innere regelmäßig aufgefaltet ist
und dadurch eine große Oberfläche besitzt. Die Anzahl
der Mitochondrien schwankt in den verschiedenen Zell-
typen von einigen hundert bis zu vielen tausend, je nach
Energiebedarf.
G Enzyme sind Proteine, die als Biokatalysatoren
nahezu alle chemischen Reaktionen in den Körper-
zellen beschleunigen. Jede Zelle enthält in der Regel
viele hundert Enzyme, von denen die meisten in den
Wänden der Mitochondrien liegen.

2.1.4 Lebenszyklus der Zellen

Zellwachstum
Zellen vermehren sich durch Zellteilung, ein Prozess der
ausführlich im Kap. 23 besprochen wird. Der Lebenszyklus
. Abb. 2.2a, b. Der universelle biologische Treibstoff Adenosin- einer Zelle reicht also – so sie nicht stirbt – von einer
triphosphat, ATP. a Strukturformel des ATP, die drei Bausteine des Zellteilung bis zur nächsten. Es gibt Zelltypen, die ständig
ATP-Moleküls, nämlich Adenin, Ribose und Phosphorsäure, sind ver-
wachsen und sich teilen, wie z. B. die blutbildenden Zel-
schieden farbig unterlegt. b In den Mitochondrien wird ATP unter
Energieaufwand aus der Vorstufe Adenosindiphosphat, ADP, durch
len des Knochenmarks (Abschn. 9.1.1). Viele andere Zellen,
Hinzufügen eines dritten Phosphatmoleküls aufgebaut wie z. B. die glatten Muskelzellen in den Wänden des
Magen-Darm-Trakts (Abschn. 12.2.4), teilen sich viele
Jahre nicht. Die meisten erwachsenen Nervenzellen (Neu-
G Die Nukleotide dienen der Übermittlung biologi- rone) teilen sich praktisch nie (Ausnahme 24.3.4), was
scher (Erb)Information und stellen chemische leider zur Folge hat, dass schwere Verletzungen des Nerven-
Energie bereit; die Nukleinsäuren bestehen aus systems, wie z. B. eine Durchtrennung des Rückenmarks
Ketten von Nukleotiden. (Querschnittslähmung, Box 6.5 in Abschn. 6.3.1 und 13.5.3)
weitgehend irreversibel sind.
Enzyme als Biokatalysatoren Andere Organe können auch erhebliche Gewebszer-
Die Synthese von ADP und Phosphat zu ATP ist eine der störungen oder -verluste durch vorübergehend erhöhte
unzählbaren chemischen Reaktionen des Körpers. Diese laufen Zellteilung wieder wettmachen. Dies gilt beispielsweise
in der lebenden Zelle wesentlich schneller als im Reagenzglas für Hautdefekte, für Drüsenzellen, für die Zellen des
ab, weil die Zelle Enzyme verwendet. Darunter versteht man Knochenmarks und viele andere. So ist bekannt, dass bei
Eiweißmoleküle, die sehr spezifisch eine oder einige wenige einer Virusinfektion der Leber (Virushepatitis) bis zu 90%
chemische Reaktionen erleichtern und damit beschleunigen, der Leberzellen absterben können. In der anschließenden
ohne selbst dadurch verändert zu werden. In der unbelebten Erholungsphase vermehren sich die übrig gebliebenen
Natur nennt man einen solchen Stoff einen Katalysator. Leberzellen so lange bis die Leber wieder voll funktionsfähig
Entsprechend kann man die Enzyme als Biokatalysatoren auf- ist. Das Ausmaß der Zellteilung ist dabei hier wie auch
fassen. sonst im Körper streng reguliert, so dass alle Organe
Eine menschliche Zelle muss, um lebensfähig zu sein, lebenslänglich ihre Größe und Form behalten (siehe jedoch
schätzungsweise mindestens 100 Enzyme enthalten. In der Box 2.3 für pathologische Ausnahmen).
2.2 · Stoffaustausch zwischen und in Zellen und in Geweben
17 2

Box 2.3. Krebs durch unkontrolliertes Epithelzell- G Zellen können unbeabsichtigt oder durch ein zellin-
wachstum ternes Apoptose-Programm zu Tode kommen. Die
Apoptose sorgt dafür, dass auch bei Zellen mit hohen
Die verschiedenen Epithelzellen, die alle Hohlräume
Umsatzraten (z. B. Epithel- und Blutzellen) die Ge-
des Körpers auskleiden (z. B. die der Schleimhäute des
samtzahl der Zellen lebenslänglich konstant bleibt.
Magen-Darm-Trakts, Abschn. 12.2) haben hohe Erneu-
erungsraten. Bei einer Schädigung ihrer Gene kann es
dazu kommen, dass sie sich unkontrolliert vermehren, 2.2 Stoffaustausch zwischen
sich nicht mehr in den üblichen Gewebeverband ein- und in Zellen und in Geweben
ordnen, sondern in der Nachbarschaft oder bei Ein-
bruch in die Blutbahn auch anderswo als Metastasen 2.2.1 Stoffaustausch der Zellen
ansiedeln. Die Genschädigung kann angeboren sein mit ihrer Umgebung
(erbliche Belastung zunächst ohne klinische Sympto-
matik) oder durch äußere Faktoren, wie ionisierende Bau und Aufgaben der Plasmamembran
Strahlen (Radioaktivität), chemische Substanzen, Viren, (Zellmembran)
Bakterien oder Parasiten ausgelöst werden. Ionisieren-
Die Austauschvorgänge zwischen den Zellen und ihrer
de Strahlen bewirken beispielsweise die Bildung von
Umgebung spielen sich an der äußeren Zellhülle, der
Sauerstoffradikalen und diese chemisch hochaktiven
Plasmamembran, ab. Gleichzeitig sind an dieser Membran
»freien Radikale« schädigen Gene besonders in der
viele Stoffwechselprozesse lokalisiert. Die Plasmamembran
empfindlichen Teilungsphase.
ist daher nicht nur eine passive Trennwand, welche die Zelle
als Ganzes gegenüber ihrer Umgebung abgrenzt, sondern
sie ist auch der Träger wichtiger Lebensprozesse und damit
G Alle Körperzellen haben die Fähigkeit zu Wachstum für ein normales Leben der Zelle unabdingbar. Vergleichbares
und Vermehrung. Manche Zellen, wie die gilt übrigens auch für die in Abschn. 2.2.2 näher betrachteten
blutbildenden Zellen des Knochenmarks erneuern intrazellulären Membranen. Die folgenden Ausführungen
sich in kurzen Zeitabschnitten, andere, wie können daher auch auf die intrazellulären Membranen
insbesondere die Nervenzellen teilen sich im übertragen werden.
erwachsenen Stadium kaum noch. Die wesentlichsten Bausteine der Zellmembran sind
die bereits vorgestellten Phospholipide, die aufgrund ihrer
Zelluntergang durch Verletzung und Apoptose hydrophil/hydrophoben Konfiguration im Wasser spontan
Bei einer Läsion eines Organs oder Gewebes können Zellen Doppelschichten mit der in . Abb. 2.3 gezeigten Anordnung
eines akuten (unbeabsichtigten) Todes sterben (7 oben bilden. Diese Lipiddoppelschicht ist nur rund 4–5 nm dick.
das Beispiel einer Virushepatitis). Der sich in die Nach- In die Lipidgrundsubstanz der Membran sind besonders
barschaft ergießende Zellinhalt kann dabei auch andere große Proteine als Hauptfunktionsträger eingebettet
Zellen schädigen und in den Tod reißen. Es kommt dadurch (. Abb. 2.3), und zwar findet sich im Durchschnitt je ein
zu einer lokalen Entzündung, denn die Gewebstrümmer Proteinmolekül pro 50 Lipidmoleküle in der Membran.
einer solchen Zellnekrose müssen beseitigt werden Manche Proteine erstrecken sich von der Außen- zur Innen-
(Abschn. 9.1.2). seite durch die ganze Membran, andere sind nur in der
Wird dagegen eine Zelle in ihrem Gewebsverband äußeren oder der inneren Schicht verankert.
nicht mehr benötigt, weil z. B. neue Zellen zum Ersatz Den membranständigen Eiweißmolekülen werden im
heranwachsen, dann begeht diese Zelle Selbstmord, indem Wesentlichen folgende vier Funktionen zugeschrieben:
sie ein intrazelluläres »Todesprogramm« aufruft. Dies 1. Sie durchbrechen die wasserunlösliche Lipidschicht
wird Apoptose (griechisch »Abfallen«) genannt. der Membran und schaffen dadurch Poren oder Kanäle
So haben z. B. die roten Blutkörperchen eine Lebens- (. Abb. 2.5); diese Poren dienen v. a. dem Durchtritt
dauer von 100–120 Tagen, was bei ihrer großen Zahl von Wasser und Salzen in die und aus der Zelle.
(7 Einleitung und Abschn. 11.1.2) bedeutet, dass etwa 2. Sie wirken als Träger- oder Transportmoleküle, die
160 Millionen Erythrozyten pro Minute durch Apoptose andere Moleküle an sich anlagern und dann durch die
sterben. Membran befördern (. Abb. 2.6).
Im Gegensatz zur Zellnekrose läuft die Apoptose ab, 3. Sie beteiligen sich am Stoffwechsel der Zelle.
ohne dass ihre Umgebung davon negativ beeinflusst wird. 4. Sie tragen zur Festigkeit der Membran bei.
Die Zelle schrumpft, sie löst sich in ihre Bestandteile auf
und wird von Makrophagen (Abschn. 9.1.2) »aufgefres- G Phospholipide und große Proteine sind die
sen«. Wenn das Apoptose-Programm einmal aufgerufen Hauptbausteine der Zellmembran; sie ist zugleich
ist, läuft es unaufhaltsam zu Ende und führt die Zelle irre- Trennwand und Träger vieler Transport- und
versibel in den Tod. Stoffwechselprozesse.
18 Kapitel 2 · Zellen und Zellverbände, besonders des Nervensystems

stoffe. Durch den Blutkreislauf (Kap. 10) wird es andauernd


in Bewegung gehalten und durchmischt, so dass die Ver-
teilung der Salze und Nährstoffe zu jeder Zeit nahezu überall
gleich ist. Alle Zellen leben also praktisch in der gleichen
2 Umgebung, nämlich der Extrazellulärflüssigkeit, die deswe-
gen als das innere Milieu des Körpers bezeichnet wird.
Der Zustand weitgehender Konstanz des extrazellulären
Milieus wird als Homöostase bezeichnet. Diese Homöostase
ist unabdingbare Voraussetzung für das optimale Funk-
tionieren der Zellen. Über die zugrunde liegenden Rege-
lungsvorgänge wird bei der Besprechung des autonomen
Nervensystems (Kap. 6) und der Hormone (Kap. 7 und 8)
mehr berichtet.
G Der Extrazellulärraum (das Interstitium) bildet
den Lebensraum jeder menschlichen Zelle. Dieses
innere Milieu enthält in geregelter Konzentration
alle für die Versorgung der Zellen notwendigen
Salze und Nährstoffe.

Passiver Stoffaustausch durch Diffusion


Alle in Wasser gelösten Teilchen (Ionen und Moleküle) sind
in dauernder Bewegung in alle 3 Raumrichtungen. Je höher
. Abb. 2.3a, b. Bestandteile der Plasmamembran. a In einer Phos- die Temperatur, desto schneller ist diese Brown-
pholipiddoppelschicht sind Proteine eingelagert, die teils die Lipid- Molekularbewegung. Jedes Teilchen geht seinen eigenen
doppelschicht ganz durchqueren, teils nur in der Außen- oder Innen- Weg. Auf diesem stößt es häufig mit anderen Teilchen
schicht verankert sind. Viele Membranproteine bilden Kanäle oder
zusammen, wobei der Zusammenprall jeweils zu einer
Poren aus (. Abb. 3.4), die der Kommunikation zwischen dem Zell-
inneren und dem Extrazellulärraum dienen. b Aufsicht auf eine Zell- Änderung der Bewegungsrichtung führt. Diese Bewegung
membran, aufgenommen mit einem Atomic-Force-Mikroskop der Ionen und Moleküle bezeichnet man als Diffusion.
In einer gleichförmigen (homogenen) Lösung, also z. B.
in einer gut durchgerührten Tasse Kaffee mit Milch und
Interstitium (Extrazellulärraum) als Zucker, bewegen sich alle Teilchen gleich wahrscheinlich in
homöostatische Zellumgebung alle Raumrichtungen, d. h. ihre Verteilung bleibt insgesamt
Alle Zellen sind durch feinste Spalträume voneinander konstant. Bestehen aber Konzentrationsdifferenzen, also
getrennt. Diese extrazellulären Spalträume werden als z. B. eine hohe Zuckerkonzentration am Boden der Kaffee-
Interstitium bezeichnet. Durch sie ist gewährleistet, dass tasse, dann werden Zuckermoleküle so lange von Orten
praktisch alle Zellen des Körpers von der gleichen Flüssig- höherer Konzentration zu Orten geringerer Konzentra-
keit umspült werden. Das Wasser im Interstitium enthält alle tion diffundieren, bis ein Konzentrationsausgleich erreicht
für die Versorgung der Zellen notwendigen Salze und Nähr- ist (. Abb. 2.4a). Dies kommt daher, dass im Durchschnitt

. Abb. 2.4a, b. Biophysikalische Grundlagen des Wasser- und konzentration« niedriger als im reinen Wasser ist. c Aufbau eines
Stoffaustausches zwischen den einzelnen Flüssigkeitsräumen osmotischen Drucks an einer semipermeablen Membran. Die Diffe-
des Organismus. a Diffusion bei Konzentrationsdifferenzen in einer renz der beiden Flüssigkeitsspiegel (der osmotische Druck) bleibt
Lösung als Folge der Brownschen Molekularbewegungen. (Erläute- konstant, wenn der Wasserstrom durch Osmose (von links nach
rungen im Text). b Osmotische Bewegungen von Wassermolekülen rechts) genauso groß ist wie der Wasserstrom durch die hydrosta-
durch eine nur für Wasser durchlässige (semipermeable) Membran. tische Druckdifferenz der rechts erhöhten Wassersäule
Es fließt ein Nettowasserstrom in die Salzlösung, da dort die »Wasser-
2.2 · Stoffaustausch zwischen und in Zellen und in Geweben
19 2

die Teilchen bei ihrer Molekularbewegung in den »leeren« macht werden und sodann durch die Lipidschicht diffun-
Raum hinein größere Strecken zurücklegen können, bevor dieren können. Mit dieser erleichterten Diffusion wird v. a.
sie mit einem anderen Teilchen zusammenprallen, als in die die Glukose in die Zellen transportiert.
Richtung hoher Teilchenkonzentration. Die Diffusion ist Andere, nur wasserlösliche Stoffe, wie viele Ionen,
für die meisten Moleküle in wässriger Lösung der wichtigste Zucker, Aminosäuren und Nukleotide, kreuzen die Mem-
Austauschprozess über kleine Entfernungen. Diffusion bran durch Poren, die von in die Membran eingelagerten
benötigt keine Energie (außer der der Brown-Molekularbe- Transportproteinen gebildet werden (. Abb. 2.5a). Ein sol-
wegung). Sie wird daher, ebenso wie die nachfolgend be- ches Membranprotein wird von einem engen wasser-
schriebene Osmose, als passiver Transport bezeichnet. gefüllten Kanal durchzogen, durch den kleine Moleküle
diffundieren können. Dazu gehört v. a. das Wasser, das
G Die Diffusion, verursacht durch die Brown-Molekular-
durch die zahllosen Kanäle so schnell hin und her diffun-
bewegungen, ist in wässrigen Lösungen der wichtigs-
diert, dass es pro Sekunde in jeder Zelle etwa hundertmal
te Austauschprozess gelöster Teilchen über kleine
ausgewechselt wird.
Entfernungen. Sie erfolgt passiv, d. h. ohne Energie-
Die Membrankanäle sind relativ selektiv hinsichtlich
verbrauch, entlang den Konzentrationsgradienten.
der durchfließenden Molekülspezies. Es gibt z. B. Kalium-,
Natrium- und Kalziumkanäle, die weitgehend jeweils nur
Passiver Stoffaustausch durch Osmose diese spezifischen Ionen durchtreten lassen (Kanalselekti-
In . Abb. 2.4b ist ein wassergefüllter Raum durch eine fein-
porige Membran von einem Raum mit Kochsalzlösung ge-
trennt. Die Membranporen sind so beschaffen, dass nur
Wasser, aber keine Ionen durch sie hindurchtreten können
(man spricht von einer teildurchlässigen oder semiperme-
ablen Membran). In diesem Fall kann das Salz nicht in das
salzfreie Wasser diffundieren. Vielmehr wird Wasser in die
Salzlösung diffundieren, da die »Wasserkonzentration«
dort niedriger ist. Dieser Vorgang heißt Osmose.
Soll die Wanderung von Wasser in die Salzlösung ver-
hindert werden, so muss auf die Salzlösung ein mechani-
scher Druck ausgeübt werden, der genau so viele Wasser-
moleküle durch die Poren in Richtung des Wassers presst,
wie von dort durch Osmose in die Salzlösung gelangen.
Diesen Druck nennt man osmotischen Druck. Er lässt sich
in einem Experiment nach Art der . Abb. 2.4c als die Hö-
hendifferenz der beiden Flüssigkeitsspiegel direkt messen.
Es zeigt sich dabei, dass die Größe des osmotischen Druckes
ausschließlich von der Anzahl der gelösten Teilchen in
einem gegebenen Volumen abhängt. Die Größe der
Teilchen oder ihre elektrische Ladung spielen keine Rolle.
G An semipermeablen Membranen werden Konzen-
trationsdifferenzen gelöster Salze über Osmose,
d. h. die Diffusion von Wasser, ausgeglichen. Mecha-
nischer Druck auf die Salzlösung kann den osmo-
tischen Druck kompensieren.

. Abb. 2.5a, b. Konzept des Ionenkanals. a Schema eines K-Kanal-


Passiver Stofftransport durch die Proteins, das in die Lipiddoppelschicht der Plasmamembran einge-
Plasmamembran lagert ist. In der »Wand« des Kanals sind 4 negative Ladungen fixiert.
b Schematisches Energieprofil eines Kanals wie in a. Die Ordinate gibt
Die Diffusion erfolgt auf zwei Wegen: entweder direkt durch die für eine Passage notwendige kinetische Energie eines Ions an, die
die Plasmamembran oder durch Poren in ihr. Durch die Abszisse den Weg von der Innenseite zur Außenseite der Membran.
Plasmamembran können wegen ihrer hydrophoben Lipid- Energieminima entsprechen Bindungsstellen des positiven Ions an
schicht (. Abb. 2.3) nur solche Stoffe diffundieren, die nicht die negativen »Festladungen« der Kanalwand. Die Energiemaxima
entsprechen Diffusionshindernissen des Kanals. Es wird angenom-
nur wasser-, sondern auch fettlöslich sind. Dazu gehören
men, dass die Konfirmation des Kanalproteins spontan oszilliert und
z. B. Fettsäuren, Sauerstoff und (Trink-)Alkohol. Dazu das Energieprofil abwechselnd die ausgezogenen und die gestrichel-
kommen Stoffe, die an der Membranaußenseite durch Bin- ten Profile einnehmen kann, was die Überwindung der Energiebar-
dung an ein Träger- oder Carriermolekül fettlöslich ge- riere für vor der Barriere gebundene Ionen sehr erleichtert
20 Kapitel 2 · Zellen und Zellverbände, besonders des Nervensystems

vität, . Abb. 2.5a). Die Kanalproteine sind hochdynami-


sche, pulsierende Gebilde, die sich spontan und hochfre-
quent öffnen und schließen (. Abb. 2.5b). Die mittlere
Öffnungsdauer beträgt dabei in der Regel nur einige Milli-
2 sekunden, genug Zeit, um den Austausch von einigen
10 000 Ionen zu ermöglichen.
Schließlich ist die Zellmembran für manche Stoffe im-
permeabel, sodass bei ungleicher Konzentration dieser
Stoffe über die Plasmamembran es zu osmotischen Wasser-
bewegungen kommt. Je nach der Richtung der Wasser-
osmose kann die Zelle dabei schrumpfen oder anschwellen
(letzteres führt zu einen zellulären Ödem).
G Passiver Stofftransport in die Zelle erfolgt entweder
durch Diffusion durch die Phospholipidschicht der
Zellmembran oder mit Hilfe von Carriermolekülen
und Transportproteinen mit Poren (Kanälen). Kon-
zentrationsdifferenzen impermeabler Moleküle füh-
ren zu osmotischen Wasserbewegungen.

Aktiver Stofftransport durch die


Plasmamembran
Manche Stoffe, wie die Aminosäuren oder die K+-Ionen, . Abb. 2.6a, b. Transportprozesse durch Zellmembranen.
a Schema der Na+-K+-Pumpe. Es handelt sich um eine ATPase in der
kommen in der extrazellulären Flüssigkeit in nur geringen,
Lipiddoppelschicht der Plasmamembran, die in einem Pumpzyklus
in der Zelle aber in sehr hohen Konzentrationen vor (Ab- 3 Na+ gegen den Konzentrationsgradienten und gegen den Potenzial-
schn. 3.1.2 mit . Tabelle 3.2). Diese Stoffe können nicht gradienten aus der Zelle entfernt und 2 K+ aufnimmt. Dabei wird 1 ATP
durch Diffusion in der Zelle angehäuft werden, denn Dif- in ADP und Phosphat P gespalten. b Membranproteine, eingelagert in
fusion erfolgt nur, wie wir gesehen haben, »bergab«, also die Lipiddoppelschicht der Membran, die, angetrieben durch den ex-
tra-/intrazellulären Na+-Gradienten, einen Glukose-Na-Symport in die
von der höheren in Richtung der geringeren Konzentration.
Zelle sowie einen Ca-Na-Antiport vermitteln
Ihr Transport durch die Zellmembran erfordert also Ener-
gieaufwand, ähnlich wie beim Aufpumpen eines Auto-
reifens zur Verdichtung der Luftmoleküle Energieaufwand die Aminosäuren in die Zelle verbracht. Zum anderen wird
nötig ist. die osmotische und elektrische Kraft mit der Na+-Ionen in
Die derzeitigen Modellvorstellungen zu diesem akti- die Zelle strömen, dazu genutzt, ein Ca2+-Ion aus der Zelle
ven Transport durch Membranen sind am Beispiel der zu schaffen, was Antiport genannt wird.
. Abb. 2.6a zusammengefasst. Es zeigt die Natrium-Kalium-
G Gegen den Konzentrationsgradienten müssen Stoffe
ATPase-Pumpe, kurz Na+-K+-Pumpe genannt, die prak-
unter Energieaufwand in die und aus der Zelle beför-
tisch an allen Plasmamembranen der Zellen pro Pump-
dert werden. Die wichtigste »Pumpe« dafür ist die
vorgang netto 3 Na+-Ionen aus der Zelle und 2 K+-Ionen in
Na+-K+-Pumpe, die ATP als Energiequelle nutzt. Sym-
die Zelle schafft. Sie bewirkt dadurch, dass die intrazellu-
porte und Antiporte sind weitere, häufig genutzte
läre Na+-Ionenkonzentration gering, die Konzentration der
»Pumpen«.
K+-Ionen aber sehr hoch bleibt. Die so erzielten Konzen-
trationsgradienten werden funktionell für die elektrische
Informationsfortleitung (Kap. 3 und 4), aber auch zum An- Exo- und Endozytose
trieb anderer aktiver Transportmechanismen für die Ein- Für manche Stoffe, die die Zellmembran passieren müssen,
stellung des Zellvolumens eingesetzt. Die Na+-K+-Pumpe gibt es keine Transportkanäle, z. B. für Proteine oder für
ist der wichtigste aktive Transportprozess an der Plasma- Cholesterin. Solche Stoffe können die Plasmamembran als
membran. Mehr als ein Drittel des Energieverbrauchs einer Inhalt von Vesikeln, durch Endo- oder Exozytose kreuzen.
Zelle, manchmal bis zu 70%, wird für sie aufgewendet. Bei der Exozytose werden Vesikel (kleine Bläschen) mit
Die durch die Na+-K+-Pumpe im Membrangradienten dem auszuscheidenden Stoff, z. B. einem Hormon, beladen.
für Na+ gespeicherte Energie wird vielfach auch zu Mem- Wenn solche Vesikel die Plasmamembran erreichen, ver-
brantransporten von anderen Stoffen verwendet. Zwei Bei- schmilzt ihre Lipidmembran mit der Plasmamembran, und
spiele zeigt die . Abb. 2.6b. Einmal wird ein Molekül Glu- der Inhalt des Vesikels entleert sich in das Außenmedium
kose mit Hilfe der Na+-Diffusion in das Zellinnere gebracht, (Abschn. 7.1.1). An den Synapsen der Nervenzellen werden
dies wird Symport genannt. Auf diese Weise werden auch die Überträgerstoffe (Transmitter) bei Erregung der prä-
2.2 · Stoffaustausch zwischen und in Zellen und in Geweben
21 2

synaptischen Endigung durch Exozytose in den synap- Wasser. Zusätzlich werden Vesikel durch das Zytoplasma
tischen Spalt freigesetzt (z. B. Abschn. 4.1.2). bewegt.
Beim umgekehrten Vorgang, der Endozytose, stülpt
G Der Stoffaustausch durch die intrazellulären Mem-
sich die Plasmamembran ein und bildet eine Grube. Diese
branen der Organellen erfolgt teils durch Diffusion,
vertieft sich, schnürt sich ab, und es entsteht ein intrazellu-
teils durch aktiven Transport mit Hilfe von energie-
läres Vesikel, das extrazelluläre Flüssigkeit enthält. Aller-
verbrauchenden Pumpen. Im Zytoplasma verteilen
dings wird nicht immer einfach Außenmedium aufgenom-
sich die gelösten Teilchen durch Diffusion.
men. In der Membran liegen, oft in spezialisierten Gruppen
angeordnet, spezifische Rezeptoren, z. B. für Makromole-
küle wie Insulin oder Antigene. Nach Bindungen solcher Intrazelluläre Signalketten
Moleküle an ihre Rezeptoren wird im betreffenden Mem- Zellen, Zellverbände und Organe eines Körpers verstän-
branbezirk eine Endozytose ausgelöst; somit werden die digen sich untereinander durch chemische Botenstoffe, wie
betreffenden Makromoleküle selektiv in das Zellinnere sie z. B. die Hormone darstellen. Diese »ersten« Botenstoffe
transportiert. dringen entweder in die Zelle ein, um im Zellinneren ihre
Wirkung auszuüben, oder sie binden sich an der Außen-
G Exo- und Endozytose sind Sonderformen aktiven
seite der Plasmamembran an einen Rezeptor (in der Regel
Transports, bei denen der zu transportierende Stoff
ein Proteinmolekül, Abschn. 7.1.3).
in Vesikeln »verpackt« durch die Zellmembran aus-
Die Verbindung zwischen Botenstoff und Membran-
bzw. eingeschleust wird.
rezeptor löst eine Reaktionskette aus, in deren Verlauf in
der Zelle ein oder mehrere »zweite« Botenstoffe (second
2.2.2 Stoff- und Informationsaustausch messengers) freigesetzt werden, die dann die von außen an
innerhalb der Zelle die Zelle gelangte Information (z. B. die »Aufforderung« an
Aktin-Myosin-Bündel sich zu kontrahieren) in das Zell-
Stoffaustausch an intrazellulären Membranen innere weitertragen. Typische second messengers, die im
und im Zytoplasma folgenden betrachtet werden, sind Ca++ und cAMP.
Etwa die Hälfte des Zellvolumens wird von Organellen Die Rolle der Kalzium-Ionen als intrazelluläre Boten-
eingenommen, von denen einige in Abschn. 2.1.1 und der stoffe bei der Auslösung der Muskelkontraktion wird in
. Abb. 2.1 bereits vorgestellt wurden. Alle diese Organellen Abschn. 13.1.3 gezeigt. Auch bei der Freisetzung von Über-
sind von Membranen umschlossen, deren Aufbau ins- trägersubstanz aus präsynaptischen Axonterminalen (Ab-
gesamt völlig identisch mit der Plasmamembran der Zelle schn. 4.1.2) spielt Kalzium eine Schlüsselrolle. In beiden
selbst ist. Die Fläche der Membranen der intrazellulären Fällen muss das freie intrazelluläre Kalzium auf etwa das
Organellen ist allerdings wenigstens zehnmal größer als Tausendfache seines Ruhewertes ansteigen (von 10–8 auf
die Fläche der Plasmamembran. 10–5 mol/l), um seine Wirkung zu entfalten.
Die Lipidmembranen der Organellen sind zweidimen- Das zyklische Adenosinmonophosphat, cAMP, ein Ab-
sionale »Flüssigkeiten«, in denen und durch die die gleichen kömmling des ATP, ist der bisher am besten studierte se-
Diffusionsvorgänge stattfinden wie wir sie weiter oben an cond messenger. Die Reaktionskette ist vereinfacht in
der Plasmamembran beschrieben haben. Die für die Plas- . Abb. 2.7 gezeigt. Wesentlich dabei ist, dass die Membran-
mamembran so wichtigen aktiven Transporte (»Pumpen«) rezeptoren Rs und Ri ihre Aktivierung (durch externe Sig-
finden ebenfalls in den Membranen der Zellorganellen nale) an stimulierende (Gs) beziehungsweise hemmende
statt. Ein wichtiges Beispiel ist die bereits erwähnte Syn- (Gi) G-Proteinmoleküle weitergeben, die dann die intra-
these von ATP an den inneren Membranen der Mitochon- zelluläre Adenylatzyklase, AC, stimulieren oder hemmen
drien (. Abb. 2.4b), die ein Aufladen der ATP-getriebenen (G steht für GTP-bindend, d. h. Guanidintriphosphat-bin-
Na+-K+-Pumpe darstellt (. Abb. 2.6). Als zweites Beispiel dend; zur Arbeitsweise dieser »metabotropen« Rezeptoren
sei der Transport von Ca++-Ionen aus der Zellflüssigkeit in Abschn. 4.3.3 mit . Abb. 4.13). Das Verstärkersystem AC
das sarkoplasmatische Retikulum von Muskelzellen durch konvertiert ATP zu cAMP. Dieses wiederum aktiviert die
eine Ca++-Ionen-Pumpe erwähnt. Dieser Vorgang nimmt Proteinkinase A, PKA, die die Phosphorylierung (7 unten)
eine Schlüsselstellung bei der Auslösung und Beendigung von intrazellulären Proteinen katalysiert und damit die
von Muskelkontraktionen am Skelett- und Herzmuskel ein Wirkung der extrazellulären Reize auslöst. Anschließend
(»elektromechanische Kopplung«, Abschn. 13.1.3). wird das cAMP durch Phosphodiesterase zu Adenosinmo-
Innerhalb des Zytoplasmas werden unterschiedliche nophosphat abgebaut (unten links in der Abbildung).
Konzentrationen von gelösten Teilchen durch Diffusion Die Endstufe der meisten dieser Übertragungsprozesse
ausgeglichen. Das gleiche gilt für die in Organellen ein- ist die Phosphorylierung eines Proteins, d. h. die Verbin-
geschlossenen Flüssigkeiten. Wegen der hohen Konzen- dung eines Phosphatmoleküls mit einem Proteinmolekül.
tration an gelöstem Eiweiß in diesen Flüssigkeitsräumen Diese Phosphorylierung macht das Protein funktionsfähig,
(ca. 20%) verläuft freilich die Diffusion langsamer als im indem es seine Enzymeigenschaft aktiviert. Das aktivierte
22 Kapitel 2 · Zellen und Zellverbände, besonders des Nervensystems

ganismus als Ganzes von dieser Spezialisierung profitiert.


Der evolutionäre Fortschritt, den multizelluläre Organis-
men gegenüber Einzellern darstellen, ist also durch Spezia-
lisierung und Kooperation gekennzeichnet.
2 Die unterschiedlich spezialisierten Zellen des Men-
schen sind meist auf mikroskopischer Ebene zu kooperie-
renden Zellverbänden zusammengeschlossen, die wir als
Gewebe (z. B. Bindegewebe, Muskelgewebe, Nervenge-
webe) bezeichnen. Aus solchen Geweben werden dann die
einzelnen Organe (z. B. Gehirn, Herz, Nieren) aufgebaut.
Die meisten, wenn nicht alle Organe, sind aber nicht aus
einem einzigen, sondern aus unterschiedlichen Geweben
zusammengesetzt. So sind praktisch alle Organe zu ihrer
Ernährung von Blutgefäßen durchzogen, die ihrerseits wie-
der aus verschiedenen Geweben bestehen.
Die Histologie, also die Zell- und Gewebekunde, ver-
zeichnet beim Menschen etwa 200 verschiedene Zelltypen,
die sich allerdings auf wenige Zellklassen zurückfüh-
ren lassen. Als Beispiele solcher Klassen seien hier
. Abb. 2.7. Reaktionskette des intrazellulären Botenstoffes
cAMP (zyklisches Adenosinmonophosphat). Erregende oder hem- die Epithelzellen und die Muskel- und Nervenzellen ge-
mende externe Signale aktivieren Membranrezeptoren Rs bzw. Ri. nannt.
Diese steuern G-Proteine, die mit intrazellulärem GTP (Guanosintri-
phosphat) reagieren können und intrazelluläre Adenylatzyklase (AC) G Spezialisierte Körperzellen schließen sich zu Gewe-
stimulieren oder hemmen. Das Verstärkerenzym AC konvertiert Ade- ben zusammen. Organe bilden sich aus unterschied-
nosintriphosphat (ATP) in cAMP. cAMP wird durch Phosphodiesterase lichen Geweben. Das Nervensystem besteht bei-
zu AMP abgebaut. Freies cAMP diffundiert in der Zelle und aktiviert spielsweise nur knapp zur Hälfte aus Nervenzellen
Adenylatkinase (A-Kinase) und setzt daraus die katalytische Unter-
(Abschn. 2.3).
einheit C frei, die die Phosphorylierung von intrazellulären Proteinen
katalysiert und damit die »Wirkungen« der extrazellulären Reize aus-
löst. An den verschiedenen Reaktionen sind Pharmaka bzw. Toxine Extrazelluläre Matrix und Zell-Zell-Verbindungen
vermerkt, die diese fördern (+) oder hemmen (–)
Zellen in einem Gewebsverband müssen zusammenge-
halten werden. Dies geschieht auf zweierlei Weise: einmal
Enzym führt dann die von ihm katalytisch beschleunigte durch große extrazelluläre Moleküle, die ein mehr oder
Reaktion im Zellstoffwechsel durch. Ganz ähnliche Vor- weniger festes Netzwerk um die Zellen bilden. Dieses Netz-
gänge laufen vermutlich bei der Gedächtnisbildung in werk wird extrazelluläre Matrix genannt.
kortikalen Nervenzellen ab (Abschn. 25.5). Zweitens bilden sich zwischen den Plasmamembranen
verschiedene Formen von Zell-Zell-Verbindungen aus, die
G Zellfunktionen werden durch Botenstoffe (»messen-
z. T. nicht nur dem Zellzusammenhalt, sondern auch der
gers«) gesteuert. Äußere Signale (z. B. Hormone)
Kommunikation zwischen Zellen und dem Austausch von
aktivieren über die G-Proteine metabotroper Mem-
Nährstoffen dienen. Von den drei häufigsten Typen von
branrezeptoren intrazelluläre sekundäre Botenstoffe
Zell-Zell-Verbindungen, dienen 2 davon, nämlich die Des-
(»second messengers«). Kalzium-Ionen und cAMP
mosomen und die »Tight junctions« (Kontaktverbindun-
sind zwei der wichtigsten von zahllosen second
gen), dem festen Verbund der Zellen untereinander.
messengers.
Der dritte Typ, die »gap junctions« (Nexus, Spaltver-
bindungen) sind am häufigsten zwischen den Zellen anzu-
treffen. Sie sind für wasserlösliche Moleküle durchlässig
2.2.3 Stoffaustausch in Geweben und koppeln daher benachbarte Zellen sowohl metabolisch
und Organen wie elektrisch miteinander. Im Zentralnervensystem gibt es
Nexus, die als Übertragungsstellen für elektrische Impulse
Aufbau von Organen aus Geweben dienen. Sie werden daher als elektrische Synapsen bezeich-
Im Laufe der Entwicklungsgeschichte haben sich die Zellen net. Ihr Aufbau aus Konnexonen ist in . Abb. 4.16 (Abschn.
zu immer größeren Zellverbänden und damit zu komple- 4.5.1) gezeigt.
xen Organismen zusammengeschlossen. Diese Organisa- Auch in elektrisch erregbaren Geweben, wie dem Her-
tionsform gibt den einzelnen Zellen die Freiheit, sich auf zen und der glatten Muskulatur, dienen die Nexus als elek-
bestimmte Aufgaben viel stärker zu spezialisieren als ihnen trisch leitende Verbindungen zur schnellen Ausbreitung
dies als Einzelzelle möglich wäre, wobei gleichzeitig der Or- des Aktionspotenzials. Sie vernetzen also das Gewebe zu
2.3 · Bausteine des Nervensystems
23 2

funktionellen Synzytien, also Gewebsverbänden, die sich


elektrophysiologisch wie eine einzige Zelle verhalten (Ab-
schn. 4.5.2).
G Zellen sind teils über die extrazelluläre Matrix, teils
über spezielle Zell-Zell-Verbindungen miteinander
verknüpft. Die »gap junctions« bilden elektrische Sy-
napsen zwischen Neuronen und verbinden die glatte
und die Herzmuskulatur zu Synzytien.

2.3 Bausteine des Nervensystems

2.3.1 Neurone (Nervenzellen)

Zellkörper und ihre Fortsätze


Im zentralen und peripheren Nervensystem bilden die
Nervenzellen oder Neurone die funktionell wichtigsten
selbständigen Grundeinheiten, von denen das menschliche
Gehirn etwa 25 Milliarden (25×109) besitzt. Die Größe und
Form dieser Neurone schwanken in weiten Grenzen, aber
der Grundplan ist immer gleich (. Abb. 2.8): Sie haben
einen Zellkörper oder Soma und Fortsätze aus diesem Zell-
körper, nämlich ein Axon oder Neurit, und meist mehrere
Dendriten.
Diese Einteilung der Neuronenfortsätze erfolgt nach
funktionellen Gesichtspunkten (. Abb. 2.8): Das Axon
verbindet die Nervenzellen mit anderen Zellen. An den
Dendriten, wie auch am Soma, enden die Axone anderer
Neurone. Axon und Dendriten zweigen sich gewöhnlich
nach ihrem Abgang aus dem Soma in mehr oder weniger
zahlreiche Äste auf. Die Verzweigungen der Axone werden
Kollateralen genannt. Die Axone und ihre Kollateralen sind
von sehr unterschiedlicher Länge, oft nur wenige Mikron
kurz, manchmal auch, z. B. bei manchen Neuronen des
Menschen und anderer großer Säugetiere, weit über einen
Meter lang. . Abb. 2.8. Schematischer Aufbau eines Neurons mit seinen Be-
Die Formenvielfalt der Neurone ist im Wesentlichen standteilen, Abschnitten und Verbindungen. Die Zellbestandteile
durch die unterschiedliche Ausprägung der Dendriten be- eines Neurons (Membran, Zytoplasma, Zellkern) sind mit denen ande-
rer Körperzellen identisch (. Abb. 2.1). Die für ein Neuron typischen
stimmt (. Abb. 2.9). Manche Neurone, z. B. Neuron C in
Abschnitte (Soma, Axon, Dendriten) sind angegeben. In der unteren,
. Abb. 2.9, verfügen über regelrechte Dendritenbäume, bei vergrößerten Bildhälfte sind Zellverbindungen (Synapsen) eingezeich-
anderen, wie z. B. bei den Neuronen A und B, ist das Ver- net. Die Kontaktstelle des Axons mit einer anderen Nervenzelle (Soma,
hältnis Somaoberfläche zu Dendritenoberfläche ausge- Dendrit, Axon) drückt sich in der Bezeichnung der Synapse (z. B. axo-
wogener (7 auch die Beispielangaben in der Abbildung). somatisch) aus. Ein Neuron empfängt in der Regel sehr viele Synapsen
. Abb. 4.2 in Abschn. 4.1.1)
Schließlich gibt es auch Neurone, die keine Dendriten ha-
ben (Neurone D und E). Die Durchmesser der Somata lie-
gen in der Größenordnung von 5 μm bis 100 μm (1 mm =
1000 μm), die Dendriten können einige hundert Mikro- Synapse (. Abb. 2.8). Entsprechend heißt eine Synapse
meter lang sein. zwischen Axon und Dendrit eine axodendritische Synapse
und eine zwischen zwei Axonen eine axoaxonische
Verbindungen von Neuronen Synapse. Endet ein Axon auf einer Skelettmuskelfaser, so
Die Verbindungsstelle einer axonalen Endigung mit einer wird diese Synapse neuromuskuläre Endplatte genannt.
anderen Nerven-, Muskel- oder Drüsenzelle wird Synapse Synapsen auf Muskelfasern der Eingeweide (glatte Mus-
genannt. Endet ein Axon auf dem Soma eines ande- kulatur) und auf Drüsenzellen tragen keine besonderen
ren Neurons, so sprechen wir von einer axosomatischen Bezeichnungen.
24 Kapitel 2 · Zellen und Zellverbände, besonders des Nervensystems

. Abb. 2.9. Beispiele der Formen-


vielfalt von Neuronen. Während jedes
Neuron ein Soma und ein Axon (meist
mit Verzweigungen, Kollateralen ge-
2 nannt) besitzt, schwankt die Ausbildung
der Dendriten in weiten Grenzen. Ent-
sprechend schwankt die Zahl der axo-
dendritischen Synapsen. Das Neuron D
wird als pseudounipolar, das in E als
unipolar bezeichnet

G Die funktionell wichtigste Zelle des Nervensystems

Mit freundlicher Genehmigung von Professor C. Steinhäuser, Bonn.


a
ist das Neuron. Aus seinem Soma sprosst meist ein
Axon (das sich oft in Kollaterale verzweigt) und
mehrere Dendriten. Synapsen sind die Verbindungs-
stellen von Neuronen mit anderen Nerven-, Muskel-
oder Drüsenzellen.

2.3.2 Gliazellen, Interstitium


und Blutgefäße

Neuroglia
Die Neurone sind zwar die funktionell wichtigsten Bau-
steine des Nervensystems, sie sind aber nicht die einzigen
Zellen, aus denen Gehirn und Rückenmark aufgebaut sind.
Vielmehr sind die Nervenzellen von einem speziellen Stütz-
gewebe, den Neurogliazellen oder Gliazellen umgeben.
Diese Gliazellen sind zahlreicher als die Nervenzellen. Sie
sind aber im Durchschnitt kleiner, so dass Neurone und
Glia je knapp 50% des Volumens von Gehirn und Rücken-
mark ausmachen. Die restlichen 10–20% des Hirnvolumens
werden von den extrazellulären Spalträumen und den Blut-
gefäßen ausgefüllt (7 unten).
Die Gliazellen erfüllen im Nervensystem die Aufgaben
des Bindegewebes in den anderen Organen des Körpers.
Neben dieser generellen Stützfunktion sind die Gliazellen
bei der Ernährung der Neurone beteiligt. Ein Typ von
ihnen, die Oligodendroglia, bildet die Myelinscheiden der . Abb. 2.10a, b. Gliazellen im Zentralnervensystem. a Astrozyten
zentralen und der peripheren Nervenfasern (7 unten) aus, im Hippokampus der Maus, angefärbt mit fluoreszierenden Antikör-
ein anderer, die Astroglia (. Abb. 2.10a), bildet ein Auf- pern. b Schematische Darstellung der aus Astrozyten gebildeten Blut-
fangbecken oder Reservoir für Kaliumionen, die aus den Hirn-Schranke. Besprechung im Text. a von C. Steinhäuser mit freund-
licher Erlaubnis
Neuronen bei den Erregungsprozessen in das Interstitium
(7 unten) freigesetzt werden.
2.3 · Bausteine des Nervensystems
25 2

Die eben genannten Astrozyten lagern die Endfüßchen = 2×10−5 mm). Alle diese Zwischenräume sind untereinan-
ihrer Fortsätze eng an die Blutkapillaren des Gehirns an der verbunden, sie bilden die flüssigkeitsgefüllten extra-
(. Abb. 2.10b). Sie bilden dadurch ein Diffusionshindernis zellulären Spalträume (Synonym: Interstitium) der Neuro-
für große Moleküle. Diese Diffusionsbarriere wird Blut- ne und Gliazellen (Abschn. 2.2.1). An manchen Stellen im
Hirn-Schranke genannt. Sie hat im Alltag protektive Funk- Gehirn erweitert sich das Interstitium zu größeren Hohl-
tion, hindert aber auch viele Pharmaka daran, die zentralen räumen, den sog. Ventrikeln, die die Zerebrospinalflüssig-
Neurone zu erreichen (Abschn. 5.1.2). keit oder Liquor cerebrospinalis enthalten (Cerebrum =
Möglicherweise nehmen die Astrozyten auch aktiv an Gehirn, Spina = Wirbelsäule). Der Liquor stimmt in seiner
der Informationsverarbeitung im Gehirn teil, denn sie ent- Zusammensetzung mit der interstitiellen (extrazellulären)
halten in Vesikeln den erregenden Transmitter Glutamat Flüssigkeit praktisch überein.
(Abschn. 4.2.1), dessen Freisetzung die Erregbarkeit be- Da es funktionell sehr wichtig ist, muss betont werden,
nachbarter Neurone steigern sollte (Box 2.4). dass jeglicher Stoffaustausch der Neurone in und aus dem
Da Gliazellen anders als die meisten Neurone zeitlebens Interstitium erfolgt, nicht direkt von einem Neuron zum
die Fähigkeit zur Zellteilung beibehalten, dienen sie auch anderen, oder direkt von einem Neuron in eine Gliazelle.
zum Ausfüllen neuronaler Zelldefekte. Solche Gliazellver- Die Breite der extrazellulären Spalten reicht völlig aus, Ionen
mehrungen (Glianarben) sind oft der Ausgangspunkt für und Molekülen eine praktisch ungehinderte Diffusion im
Krampfentladungen des Gehirns, die sich eventuell als epi- Extrazellulärraum zu ermöglichen (Abschn. 2.2.1).
leptische Anfälle äußern.
Blutgefäße des Nervensystems
G Die Gliazellen sind der zweite wichtige Zelltyp des
Das gesamte Nervensystem ist von einem dichten Netz von
Nervensystems. Sie nehmen etwa soviel Raum ein
Blutgefäßen durchzogen. Dabei ist das Kapillarnetz des
wie die Neurone. Sie haben Stütz- und Ernährungs-
Gehirns so eng geknüpft, dass die meisten Neurone nicht
funktionen, bilden die Myelinscheiden und die Blut-
mehr als 50 μm von einer Kapillare entfernt sind. Die Dif-
Hirn-Schranke aus und nehmen an den Erregungs-
fusionswege für alle Nähr- und Abfallstoffe und für Medi-
prozessen modulierend teil.
kamente sind also kurz. Allerdings gilt auch hier, dass es
keinen direkten Kontakt zwischen Kapillarwand und Neu-
Interstitium (Extrazellulärraum) ron gibt, denn es muss nach der Kapillarwand zunächst
Zwischen den Nerven- und Gliazellen bleibt jeweils ein noch die Blut-Hirn-Schranke (. Abb. 2.10b) überwunden
schmaler Spalt frei (durchschnittliche Breite 200 Å = 20 nm und anschließend das Interstitium durchquert werden.

Box 2.4. Gliazellen und Verhalten

Wie wir noch in den Kap. 13, 21 und 22 besprechen wer- dert fließen können. Die Depolarisation der Gliamembran
den, ist das Aktivierungsniveau von Nervenzellverbänden führt zu steigendem Stoffwechsel und zur Verfügbarkeit
weitgehend von langsamen Hirnpotenzialen mit einer von Glukose und Transmittersubstanzen an den benach-
Dauer von 0,5 s bis Minuten bestimmt. Elektrisch negative barten Neuronen, wodurch deren anhaltendes Aktivitäts-
Potenziale zeigen an, dass viele Neurone der Hirnrinde niveau und damit Aufmerksamkeit, Wachheit und Verhal-
gleichzeitig depolarisiert sind und somit die Entladungs- tensmobilisierung mitbestimmt werden.
wahrscheinlichkeit dieses Hirnteils steigt. Positivierung Der im Nervensystem weit verbreitete Transmitter
dagegen bedeutet meist, dass die Erregbarkeit der korti- Glutamat, der für Lernen und Gedächtnis (Abschn. 25.4)
kalen Neurone herabgesetzt ist. In Kap. 21 beschreiben notwendig ist, wird nach seiner Ausschüttung an den
wir, wie im Elektroenzephalogramm (EEG) diese lang- Synapsen zu einem erheblichen Teil von den Astrozyten
samen Hirnpotenziale beim Menschen registriert werden. aufgenommen. Da Glutamat in hohen Dosen neurotoxisch
Gliazellen tragen wesentlich zu diesen langsamen Hirn- (Box 4.3 in Abschn. 4.2.1) wirkt, müssen die Astrogliazellen
potenzialen bei: Wenn nämlich die benachbarten Nerven- dafür sorgen, dass die Wirkung von Glutamat stets in
zellen bei ihrer Erregung depolarisieren (Abschn. 3.2.2), einem engen Gleichgewicht bleibt und trotzdem die De-
treten K+-Ionen in den Extrazellulärraum aus und depolari- polarisation an den Nervenzellen lange genug anhält, um
sieren die Gliazellen, indem sie deren Membranen durch- eine Engrammbildung (d. h. Gedächtnisspeicherung über
dringen und so das Innere der Gliazelle positiver machen. eine Änderung der synaptischen Wirksamkeit, Abschn.
Von den Gliazellen breitet sich dieser Strom über relativ 25.4) zu ermöglichen. Die Astrozyten inaktivieren über-
weite Strecken aus, allerdings langsam (elektrotonisch), schüssiges Glutamat und ermöglichen über eine Reihe
da Gliazellen zwar ein Ruhepotenzial, aber keine Fähigkeit von metabolischen Zwischenstufen einen harmonischen
zur Entladung im Aktionspotenzial haben. Die Gliazellen Übergang von der Kurz- zur Langzeitspeicherung.
sind aber so eng miteinander »verwachsen« (über »gap Literatur: Laming P (ed) (1998) Glial cells. Their role in be-
junctions«, Abschn. 2.2.3), dass die Ionenströme ungehin- havior. Cambridge Univ. Press, Cambridge
26 Kapitel 2 · Zellen und Zellverbände, besonders des Nervensystems

Erhöhte Aktivität eines Neuronenverbandes, z. B. beim Kap. 5 dargestellt. Alles übrige nervöse Gewebe wird
Denken, steigert die Stoffwechselaktivität der beteilig- als peripheres Nervensystem bezeichnet. Dieses hat
ten Neurone, die dann vermehrt Zwischen- und End- seinen Ursprung in Rückenmark und Hirnstamm. Aus dem
produkte (Metabolite, z. B. Milchsäure oder CO2, Ab- Rückenmark entspringen über die Vorderwurzeln motori-
2 schn. 11.2.1, 11.2.3) freisetzen. Diese Metabolite wirken sche und vegetative Nervenfasern, über die Hinterwurzeln
erweiternd auf die Hirngefäße und die resultierende ver- treten die somato- und viszerosensorischen Afferenzen in
mehrte Durchblutung kann in bildgebenden Verfahren als das Rückenmark ein (. Abb. 2.12, Abschn. 13.5.1 bis 13.5.3,
indirektes Maß der Hirnaktivität sichtbar gemacht werden zum Hirnstamm 7 unten).
(7 die in Abschn. 20.6.1 und 20.6.2 beschriebenen Verfahren Im peripheren Nervensystem (wie meist auch im zen-
PET und MRT). tralen) wird jedes Nervenaxon schlauchartig von speziellen
Gliazellen, den Schwann-Zellen umhüllt (. Abb. 2.11). Ner-
G Ein dichtes Kapillarnetz versorgt Neurone und Glia-
venaxon und umgebende Schwann-Zelle bezeichnet man
zellen mit Blut. Alle Zellen und die Kapillaren sind
als Nervenfaser. In einem peripheren Nerven (Abschn.
voneinander durch interstitielle Spalträume ge-
2.3.4) laufen viele Dutzende bis viele Zehntausende Ner-
trennt. Metabolite erweitern die Blutgefäße. Die
venfasern.
dadurch vermehrte Durchblutung wird in bildge-
Etwa bei einem Drittel aller Nervenfasern wickelt sich
benden Verfahren gemessen.
die Schwann-Zelle während des Wachstums mehrfach um
das Axon herum und bildet dadurch zwischen Axon und
2.3.3 Bau und Funktion der Nervenfasern Schwann-Zelle eine weitere Hülle aus einem Fett-Eiweiß-
des peripheren Nervensystems Gemisch aus, das Myelin (. Abb. 2.11). Im Querschnitt äh-
nelt eine solche Nervenfaser einem Draht, der von einer
Bau markhaltiger und markloser Nervenfasern Isolierung umgeben ist. Derart isolierte Nervenfasern
Gehirn und Rückenmark werden üblicherweise als Zentral- werden als myelinisierte oder markhaltige Nervenfasern
nervensystem (ZNS) zusammengefasst. Sein Aufbau ist im bezeichnet.

. Abb. 2.11a–e. Marklose und markhaltige Nervenfasern. a Ent- fasern, die von einer Schwann-Zelle umschlossen sind. d Elektronen-
wicklung markhaltiger (oben) und markloser (unten) Nervenfasern mikroskopische Aufnahme eines Querschnittes durch eine dünne
während des Wachstums. Rechts ist zu sehen, dass ein Nerv mark- markhaltige Nervenfaser (Aδ-Faser). e Wie d, jedoch Schnitt durch
haltige und marklose Fasern enthält. b Quer- und Längsschnitt durch marklose Nervenfasern (C-Fasern). Beachte den stark unterschied-
einen Ranvier-Schnürring. c Aufsicht auf ein Bündel markloser Nerven- lichen Durchmesser dieser Nervenfasern (. Tabelle 2.1)
2.3 · Bausteine des Nervensystems
27 2

Anders als bei einem isolierten Draht umgibt bei mye- fasern werden je nach Durchmesser als A- oder B-Fasern,
linisierten Nervenfasern das Myelin oder die Markscheide marklose Fasern als C-Fasern bezeichnet (. Tabelle 2.1).
die Nervenfaser nicht kontinuierlich, sondern ist, wie in Außer der Leitungsgeschwindigkeit und dem Durch-
. Abb. 2.11 zu sehen, in regelmäßigen Abständen unter- messer werden eine Reihe anderer Funktionsmerkmale der
brochen. Diese myelinfreien Stellen werden nach ihrem Nervenfasern dazu benutzt, diese eindeutig zu kennzeich-
Entdecker als Ranvier-Schnürringe bezeichnet. Myelini- nen. Die wichtigsten Begriffe sind in . Abb. 2.12 zusam-
sierte Nervenfasern haben etwa alle 1–2 mm einen Ranvier- mengefasst. Sie werden jetzt erläutert.
Schnürring. Die Nervenfasern der Sinnesrezeptoren (Sensoren)
Nervenfasern ohne Markscheide nennt man marklose, nennt man afferente Nervenfasern oder abgekürzt Afferen-
oder, da sie nicht von Myelin umgeben sind, unmyelinisier- zen (links in . Abb. 2.12). Sie übermitteln dem Nerven-
te Nervenfasern. Wie die markhaltigen Nervenfasern sind system die Meldungen der Sinnesrezeptoren über Verände-
sie aber auch von Schwann-Zellen umhüllt. rungen in der Umwelt und im Organismus. . Abb. 2.12
zeigt weiter, dass die afferenten Nervenfasern aus den Ein-
G Nervenfasern (Axon plus umgebende Schwann-Zelle)
geweiden als viszerale Afferenzen bezeichnet werden, alle
sind entweder marklos (unmyelinisiert) oder mark-
anderen Afferenzen des Organismus von den Muskeln,
haltig (myelinisiert), d. h. von einer Markscheide mit
Gelenken und der Haut als somatische Afferenzen. Die Af-
Ranvier-Knoten umgeben. Es gibt doppelt so viele
ferenzen aus den speziellen Sinnesorganen (z. B. Auge,
marklose wie markhaltige Nervenfasern.
Ohr) nennt man in ihrer Gesamtheit sensorische Afferen-
zen (nicht illustriert, jedoch . Abb. 2.13). Somatische, vis-
Funktionelle Unterschiede zwischen zerale und sensorische Afferenzen werden als sensible
markhaltigen und marklosen Nervenfasern Afferenzen zusammengefasst.
Funktionell gesehen unterscheiden sich die markhaltigen Die Informationsübertragung aus dem ZNS in die Peri-
von den marklosen Nervenfasern v. a. durch unterschied- pherie erfolgt über efferente Nervenfasern, abgekürzt Effe-
lichen Leitungsgeschwindigkeiten ihrer nervösen Er- renzen. Efferenzen zu den Skelettmuskeln heißen moto-
regungen (Aktionspotenziale). Aus Gründen, die in Ab- rische Efferenzen. Alle übrigen gehören zum vegetativen
schn. 3.3.1 und 3.3.2 geschildert werden, ist die Erregungs- oder autonomen Nervensystem und werden deswegen
leitungsgeschwindigkeit bei myelinisierten Nervenfasern vegetative Efferenzen genannt. Letztere versorgen die glat-
hoch, bei unmyelinisierten gering. Innerhalb jeder Gruppe ten Muskeln in den Eingeweiden und den Gefäßwänden,
hängt die Leitungsgeschwindigkeit außerdem vom Durch- die Herzmuskulatur und alle Drüsen des Körpers.
messer der Nervenfaser ab: je größer der Durchmesser, des- Die Begriffe afferent und efferent werden auch allge-
to höher die Leitungsgeschwindigkeit. Markhaltige Nerven- mein im Sinne von hinführend zu, bzw. wegführend von

. Tabelle 2.1. Klassifikation der Nervenfasern

Fasertyp Funktion, z. B. Mittlerer Faser- Mittlere Leitungs-


durchmesser geschwindigkeit

Aα Primäre Muskelspindelafferenzen, Motoaxone 15 μm 100 m/s (70–120 m/s)


zu Skelettmuskeln
Aβ Hautafferenzen für Berührung und Druck 8 μm 50 m/s (30–70 m/s)
Aγ Motoaxone zu Muskelspindeln 5 μm 20 m/s (15–30 m/s)
Aδ Hautafferenzen für Temperatur und Nozizeption ≤3 μm 15 m/s (12–30 m/s)
B Sympathisch präganglionär 3 μm 7 m/s (3–15 m/s)
C Hautafferenzen für Nozizeption, sympathische 1 μm marklos! 1 m/s (0,5–2 m/s)
postganglionäre Efferenzen

Gruppen Funktion, z. B. Mittlerer Faser- Mittlere Leitungs-


durchmesser geschwindigkeit

I Primäre Muskelspindelafferenzen und Sehnen- 13 μm 75 m/s (70–120 m/s)


organafferenzen
II Mechanorezeptoren der Haut 9 μm 55 m/s (25–70 m/s)
III Tiefe Drucksensibilität des Muskels 3 μm 11 m/s (10–25 m/s)
IV Marklose nozizeptive Fasern 1 μm 1 m/s
28 Kapitel 2 · Zellen und Zellverbände, besonders des Nervensystems

tubuli im Axon verschoben, wobei als »Träger« offenbar


hauptsächlich Vesikel und Organellen eingesetzt werden,
die die zu transportierenden Stoffe enthalten. Diese
Transportprozesse werden unter dem Stichwort axonaler
2 Transport zusammengefasst.
Der axonale Transport ist teilweise sehr schnell. So wer-
den Proteine und synaptische Überträgerstoffe, aber auch
Lipide und Zucker, mit einer Geschwindigkeit von rund
40 cm pro Tag vom Zellkörper in die Peripherie transpor-
tiert (antero- oder orthograde Bewegungsrichtung). Mit
demselben Transportsystem laufen auch größere Organel-
len, wie z. B. Mitochondrien. Der retrograde Transport, der
»verbrauchte« Stoffe aus dem Axon in den Zellkörper zu-
rücktransportiert, läuft mit etwas geringerer Geschwindig-
keit. Zusätzlich gibt es in beiden Richtungen langsamere
Transportformen, die nur Geschwindigkeiten von wenigen
Millimetern pro Tag erreichen (Box 2.5 für einen »Miss-
brauch« des retrograden axonalen Transports).
. Abb. 2.12. Schema der Klassifizierung der Nervenfasern nach
Herkunft und Funktion. Die afferenten Nervenfasern oder Afferen- G Die Mikrotubuli des Zytoskeletts sind die Förder-
zen sind durch die linken Pfeile, die efferenten Nervenfasern oder Effe- bänder des orthograden und retrograden axona-
renzen durch die rechten Pfeile symbolisiert. Ein Nerv enthält immer
len Transports in den Axonen der Nervenfasern.
afferente und efferente Nervenfasern (7 Text). Die Begriffe afferent
und efferent werden auch im Zentralnervensystem (Gehirn, Rücken-
Die Transportgeschwindigkeit reicht bis 40 cm
mark) im Sinne von hinführend bzw. wegführend benutzt pro Tag.

einer Nervenzelle oder einem zentralvervösen Kerngebiet Box 2.5. Tetanustoxin wird aus Wunden retrograd über
axonalen Transport ins ZNS befördert
benutzt, man spricht also z. B. von Afferenzen zum Hippo-
kampus oder von Efferenzen des Thalamus etc. Verschmutzte Wunden können Tetanusbakterien
enthalten, die Tetanustoxin freisetzen. Dieses wird in
G Myelinisierte Nervenfasern leiten Aktionspotenziale
Nervenfasern über den retrograden axonalen
schnell, unmyelinisierte erheblich langsamer. Dicke
Transport in das ZNS befördert, blockiert dort die
Nervenfasern leiten schneller als dünne. Je nach
Freisetzung hemmender Transmitter (Glyzin, GABA,
Funktion werden die Nervenfasern als afferent oder
Abschn. 4.2.2) und führt damit zu Krämpfen
efferent, als viszeral oder somatisch und als vegeta-
(Wundstarrkrampf ). Schutzimpfung ist vorbeugend
tiv oder motorisch klassifiziert.
möglich und notwendig, denn ein einmal aus-
gebrochener Wundstarrkrampf ist schwer zu
Stofftransport in den Axonen entlang der behandeln und führt häufig zum Tode.
Mikrotubuli des Zytoskeletts
Wie alle Zellen werden auch die Neurone von einem gerüst-
artigen Maschenwerk durchzogen, dem man den Namen
Zytoskelett gegeben hat. Hauptanteil des Zytoskeletts sind 2.3.4 Bau und funktionelle Klassifikation
die Mikrotubuli, das sind Röhrchen mit etwa 25 nm Außen- der Nerven
durchmesser, die aus Molekülen des Eiweißes Tubulin ge-
baut sind. Diese Mikrotubuli bilden eine Art Förderband, Periphere Nerven
an dem entlang zu transportierende Stoffe innerhalb der Es wurde oben schon gesagt, dass in einem Nerven zahl-
Zelle »verschoben« werden. Beispielsweise stellen die Axo- reiche, oft viele Zehntausende von Nervenfasern enthalten
ne der peripheren Nerven besonders lange Zellausläufer sind. In praktisch allen Nerven, also z. B. im Nervus
dar, die beim Menschen oft mehr als einen Meter messen ischiadicus, der den größten Teil des Beines nervös versorgt,
können, wobei sie einen Durchmesser von nur wenigen Mi- sind sowohl afferente als auch efferente Nervenfasern
krometern haben (. Tabelle 2.1). gebündelt. Es hängt dabei vom Versorgungsgebiet (Haut,
Eine Diffusion von Stoffen aus dem Zellkörper in die Muskeln, Eingeweide) des Nerven ab, welche Arten von
Peripherie der Axone oder umgekehrt würde daher viel zu Nervenfasern in ihm enthalten sind.
lange Zeit in Anspruch nehmen. Lebenswichtige Subs- Die Nerven zur Haut, zu den Skelettmuskeln und zu
tanzen, wie z. B. in der Zelle synthetisierte Eiweiße, werden den Gelenken werden als somatische Nerven zusammen-
daher aktiv, also unter Energieaufwand, entlang den Mikro- gefasst. Zu ihnen gehören:
2.3 · Bausteine des Nervensystems
29 2

4 Hautnerven, sie enthalten somatische Afferenzen (affe- werden zwar als Hirnnerven I und II geführt, sind aber
rente Nervenfasern) von den Sensoren der Haut, keine peripheren Nerven, sondern Teile des End- bzw.
aber auch vegetative Efferenzen zu den Blutgefäßen, Zwischenhirns, gehören also zum Zentralnervensystem.
Schweißdrüsen und Hauthaaren. Die . Tabelle 2.2 listet die Namen, Modalitäten und die
4 Muskelnerven zur Skelettmuskulatur enthalten moto- von den 12 Hirnnerven innervierten Strukturen auf. Die
rische Efferenzen, ferner somatische Afferenzen von . Abb. 2.13 illustriert in stark vereinfachter Form deren
den Sensoren der Muskeln und vegetative Efferenzen zu Ursprünge im Hirnstamm (Ausnahmen, wie gesagt, Nervi I
den Blutgefäßen. et II) und die Zielstrukturen.
4 Gelenknerven mit somatischen Afferenzen von den Erwähnt sei, dass der N. vagus, der X. Hirnnerv, der
Sensoren der Gelenke und vegetativen Efferenzen zu größte und komplexeste aller Hirnnerven ist. Im Hals-
den Blutgefäßen der Gelenke und der Gelenkkapsel. bereich verläuft er entlang der das Gehirn versorgenden
4 Die dickeren Nerven sind meist gemischte Nerven, die Arteria carotis interna und der Arteria carotis communis
sich in der Peripherie der Extremitäten in Muskel-, zum Aortenbogen in der Brusthöhle. Auf diesem Weg zwei-
Haut- oder Gelenknerven verzweigen. gen sich die Herznerven ab, die das Herz sensorisch und
parasympathisch versorgen (Abschn. 10.5.4). Der N. vagus
Die Nerven zu den Eingeweiden heißen Eingeweidenerven zieht durch das Zwerchfell weiter in den Bauchraum, wo
(Synonyme: autonome Nerven, viszerale Nerven, vegeta- seine Fasern teils der Chemorezeption in den Eingeweiden,
tive Nerven). Sie enthalten viszerale Afferenzen und vege- teils der parasympathisch-motorischen Innervation der
tative Efferenzen. Eingeweide (bis zur linken Kolonflexur) obliegen (Abschn.
6.1.1 und 12.2.4).
G Die Klassifikation der peripheren Nerven erfolgt
nach ihrer Herkunft bzw. ihrem Zielgebiet und nach G Hirnnerven sind periphere Nerven, die aus dem
der Funktion. Muskel-, Haut- und Gelenknerven sind Hirnstamm entspringen. Ihre Zusammensetzung ist
somatische Nerven, viszerale Nerven versorgen die uneinheitlicher als die der aus dem Rückenmark
Eingeweide. entspringenden Spinalnerven. Sie sind für die
sensorische und motorische Innervation des Kopfes
Hirnnerven und großer Teile des Atmungs- und
Verdauungstraktes verantwortlich.
Dem Hirnstamm entspringen 10 Hirnnervenpaare (Nervi
III–XII), die außer den Strukturen des Kopfes große Teile
des Atmungs- und Verdauungstraktes innervieren. Der Ner-
vus opticus (Kap. 17) und der Nervus olfactorius (Kap. 19)

. Tabelle 2.2. Hirnnerven

Nr. Name Modalität Innervierte Struktur

I N. olfactorius Sensorisch Riechepithel


II N. opticus Sensorisch Retina
III N. oculomotorius Motorisch Äußere Augenmuskeln
IV N. trochlearis Motorisch Äußere Augenmuskeln
V N. trigeminus Sensorisch und motorisch Sensible Innervation der Gesichtsregion, Kaumuskulatur
VI N. abducens Motorisch Äußere Augenmuskeln
VII N. facialis Motorisch und vegetativ Mimische Muskulatur, Tränen- und Speicheldrüsen, Geschmacks-
knospen
VIII N. vestibulocochlearis Sensorisch Ohr und Gleichgewichtsorgan
IX N. glossopharyngeus Sensorisch und motorisch Mundschleimhaut, Geschmacksknospen, Speicheldrüse, Schlund-
muskulatur
X N. vagus Sensorisch und motorisch Schleimhaut von Rachen, Kehlkopf, Speise- und Luftröhre, Chemo-
rezeption und parasymphatische Innervation der Eingeweide,
Schlundmuskulatur
XI N. accessorius Motorisch Musculus trapezius und Musculus sternocleidomastoideus
XII N. hypoglossus Motorisch Zungenmuskulatur
30 Kapitel 2 · Zellen und Zellverbände, besonders des Nervensystems

. Abb. 2.13. Schematische Darstellung von Ursprung und Innervationsgebiet der 12 Hirnnervenpaare. Von jedem Paar ist nur ein Nerv
dargestellt. Besprechung im Text anhand der . Tabelle 2.2

Zusammenfassung
Hauptbestandteile jeder menschlichen Zelle sind: 5 Diese bilden Poren (Kanäle) zum Durchtritt von Wasser
5 Zellmembran (Plasmamembran) und Salzen, meist in Ionenform. Dieser Stofftransport
5 Zellflüssigkeit (Zytoplasma) erfolgt passiv, d. h. entlang von
5 Zellkern (Nukleus) Konzentrationsgradienten (Diffusion, Osmose).
5 Außerdem befördern diese Eiweißmoleküle als Träger-
Das Protoplasma (Zellinhalt = Zytoplasma + Nukleus) und Transportmoleküle andere Moleküle durch die
enthält im Wesentlichen Wasser, in dem zahlreiche Salze Membran. Dies geschieht unter Energieaufwand, wie
gelöst sind. Ferner 4 Substanzklassen kleiner organischer z. B. durch die Na+-K+-Pumpe oder durch Symporte
Moleküle, nämlich und Antiporte.
5 Zucker (dienen als Energielieferant und -speicher) 5 Als intrazelluläre Signalketten dienen sekundäre Bo-
5 Fettsäuren (bilden Körperfett und Phospholipide) tenstoffe, von denen die wichtigsten Ca++-Ionen und
5 Aminosäuren (sind die Bausteine der Eiweiße) cAMP sind.
5 Nukleotide (übermitteln Erbinformation und dienen
als Energielieferanten Die Neurone (Nervenzellen) unterscheiden sich von den
übrigen Zellen des menschlichen Körpers v. a. durch ihre Aus-
Die Plasmamembran und die inneren Zellmembranen sprossungen aus dem Soma, die je nach ihrer Funktion als
der Organellen bestehen aus Phopholipiddoppelschich- 5 Axon (mit Kollateralen) und als
ten, in die große Eiweißmoleküle eingelagert sind. 5 Dendriten bezeichnet werden;
6
Literatur
31 2

6
5 Synapsen sind die Verbindungsstellen von Axonen 5 werden markhaltig (myelinisiert) genannt, wenn ihre
mit Nerven-, Muskel- oder Drüsenzellen. Schwann-Zelle eine Myelinscheide ausbildet,
5 gelten als afferent, wenn sie Signale in das Zentralner-
Die Gliazellen bilden das Stütz- und Ernährungsgewebe vensystem übermitteln,
des Nervensystems. Insbesondere 5 gelten als efferent, wenn sie Signale aus dem ZNS in
5 bilden die Oligodendryzyten die Markscheiden der die Peripherie übermitteln, und
zentralen und in Form der Schwann-Zellen der peri- 5 besitzen einen anterograden und retrograden axona-
pheren Nervenfasern, len Transport zur schnellen Beförderung von Nähr-,
5 bilden die Astrozyten die Blut-Hirn-Schranke und die- Bau- und Abfallstoffen.
nen als Reservoir für neuronal freigesetzte Kaliumio-
nen, Nerven sind Bündel von afferenten und efferenten
5 bilden die Gliazellen bei Hirnverletzungen Narbenge- Nervenfasern, die je nach Ursprung und Zielort
webe und 5 als somatische Nerven der Innervation von Haut,
5 beteiligen sich die Gliazellen auch an der Informati- Muskeln und Gelenken dienen sowie
onsverarbeitung im Gehirn 5 als vegetative Nerven der Innervation der
Eingeweide dienen.
Nervenfasern 5 12 paarige Hirnnerven besorgen die Kopfinnervation
5 werden marklos (unmyelinisiert) genannt, wenn ihr und nehmen an der Innervation von Brust- und
Axon lediglich von einer Schwann-Zelle umhüllt ist, Bauchraum teil.

Literatur
Alberts B, Bray D, Lewis J, Raff M, Roberts K, Watson JD (1990)
Molekularbiologie der Zelle, 2. Aufl. VCH, Weinheim
Hille B (2001) Ionic channels of excitable membranes, 3rd edn. Sinauer,
Sunderland
Löffler G, Petrides PE (2002) Biochemie und Pathobiochemie. Springer,
Berlin Heidelberg New York Tokyo
Schiebler TH (2004) Anatomie, 9. Aufl. Springer, Berlin Heidelberg New
York Tokyo
Kandel ER, Schwartz JH, Jessel TM (eds) (2000) Principles of neural
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Laming P (ed) (1998) Glial cells. Their role in behavior. Cambridge Univ.
Press, Cambridge
Schmidt RF (2001) Physiologie kompakt, 4. Aufl. Springer, Berlin
Heidelberg New York Tokyo
Schmidt RF, Lang F (Hrsg) (2007) Physiologie des Menschen, 30. Aufl.
Springer, Berlin Heidelberg New York Tokyo
Schmidt RF, Schaible H-G (Hrsg) (2006) Neuro- und Sinnesphysiologie,
5. Aufl. Springer, Berlin Heidelberg New York Tokyo
3

3 Erregungsbildung
und Erregungsleitung

3.1 Das Ruhepotenzial – 34


3.1.1 Definition und Registrierung – 34
3.1.2 Bedeutung der K+-Ionen für das Ruhepotenzial – 35
3.1.3 Stabilisierung des Ruhepotenzials durch aktiven Ionentransport – 36

3.2 Das Aktionspotenzial – 37


3.2.1 Ablauf des Aktionspotenzials – 37
3.2.2 Ionenmechanismus des Aktionspotenzials – 38
3.2.3 Molekularbiologie der Na-, K- und Ca-Kanäle in erregbaren Membranen – 40

3.3 Fortleitung des Aktionspotenzials – 43


3.3.1 Erregungsfortleitung in marklosen Nervenfasern – 43
3.3.2 Erregungsfortleitung in markhaltigen Nervenfasern – 43
3.3.3 Elektroneurographie (ENG) beim Menschen – 45

Zusammenfassung – 46
Literatur – 47

N. Birbaumer, Biologische Psychologie, DOI 10.1007/978-3-540-95938-0_3,


© Springer Medizin Verlag Heidelberg 2010
34 Kapitel 3 · Erregungsbildung und Erregungsleitung

))

Das zentrale Nervensystem, also Gehirn und Rückenmark,


und seine peripheren Ausläufer, die Nerven und die Gang-
lien, bilden das schnelle Informations- und Reaktionssys-
tem des Körpers, dessen verschiedene Aspekte den zentra-
len Teil dieses Buches ausmachen.
3 Der Informationsaustausch im Nervensystem ge-
schieht vornehmlich durch kleine Potenzialänderungen
(Erregungen), die entlang den Nervenfortsätzen (Axone,
Nervenfasern, Abschn. 2.3.3) in der Form von Aktionspo-
tenzialen rasch über große Entfernungen geleitet werden.
Die Aktionspotenziale starten von einer negativen Dauer-
polarisierung des Zellinneren gegenüber dem Extrazellu-
lärraum, dem Ruhepotenzial. Seine Entstehung, Aufrecht-
erhaltung und Wiederherstellung nach Ablauf eines Ak-
tionspotenzials ist in diesem Kapitel der Darstellung der
Erregungsbildung und -leitung vorangestellt.

3.1 Das Ruhepotenzial


. Abb. 3.1a, b. Messungen des Membranpotenzials einzelner
3.1.1 Definition und Registrierung Nerven- oder Muskelzellen mit Mikroelektroden. a Schema der
Messanordnung zur Messung des Membranpotenzials einer Zelle
eines Gewebsverbandes, der aus dem Körper entnommen und in eine
Haupttypen von Membranpotenzialen kleine Kammer mit Blutersatzlösung gelegt wurde (in-vitro-Präparat).
Die Plasmamembran der Neurone ist dank ihres Aufbaus Als Messelektrode dient eine mit Salzlösung gefüllte Glas-Mikro-
als Lipiddoppelschicht ein guter elektrischer Isolator elektrode, die über einen Silberdraht mit dem Voltmeter verbunden
ist. Als Bezugselektrode dient ein weiterer Silberdraht in der Bade-
(. Abb. 2.3 in Abschn. 2.2.1). Über dieser Membran, d. h.
lösung. Links liegen Bezugselektrode und Messelektrode extrazellulär,
zwischen dem Inneren der Zelle und der extrazellulären der Spannungsmesser zeigt die Spannung Null. Rechts ist die Mess-
Flüssigkeit, besteht in der Regel eine elektrische Potenzial- elektrode in die Zelle eingestochen, intrazellulär. Der Spannungs-
differenz. Da diese Potenzialdifferenz an der Membran auf- messer zeigt das Membranpotenzial. Die Blutersatzlösung (z. B. Ringer-
tritt, wird sie Membranpotenzial genannt. Lösung oder Tyrode-Lösung) stellt unter in-vitro-Bedingungen das
Interstitium (den Extrazellulärraum) der untersuchten Zellen dar.
Das Membranpotenzial hat bei den meisten Neuronen
b Das vor und nach dem Einstich der Messelektrode registrierte Mem-
über längere Zeit einen konstanten Wert. Es wird dann als branpotenzial (Ruhepotenzial)
Ruhepotenzial bezeichnet. Es ist bei Nerven- und Muskel-
zellen innen immer negativ gegenüber der extrazellu-
lären Flüssigkeit und liegt beim Menschen und anderen empfindliches Spannungsmessgerät (Voltmeter) ange-
Säugetieren, je nach Zelltyp, zwischen –55 und –100 mV. schlossen.
Wenn die Neurone aktiv werden, treten kurze, impuls- Zu Beginn der Messung (. Abb. 3.1a, links) liegen beide
artige, positive Änderungen des Membranpotenzials auf Elektroden im Extrazellulärraum, und zwischen den beiden
(d. h. das Zellinnere wird elektrisch weniger negativ und Elektroden wird keine Potenzialdifferenz gemessen. Wird
sogar positiv gegenüber der extrazellulären Flüssigkeit), die nun die Spitze der Glaskapillare durch die Membran der
Aktionspotenziale. Diese Aktionspotenziale sind praktisch Zelle geschoben (rechts in . Abb. 3.1b), so springt das Po-
im gesamten Tierreich das universelle Kommunika- tenzial in negative Richtung auf etwa –75 mV. Dieses nega-
tionsmittel des Nervensystems. tive Membranpotenzial einer ruhenden Nervenzelle ist also
das Ruhepotenzial.
Ableitung von Membranpotenzialen
Die heute übliche Messanordnung zur Registrierung G Die Zellmembran ist die dünne Lipiddoppelschicht,
des Membranpotenzials zeigt schematisch . Abb. 3.1. Als an der Membranpotenziale, d. h. Potenzialdifferen-
Messfühler (Elektrode) für das Zellpotenzial dient eine zen zwischen dem Zellinneren und dem Extrazellu-
Glaskapillare, die mit einer elektrisch leitenden Salzlö- lärraum auftreten. Membranpotenziale aller Art
sung gefüllt ist. Um die Zellen nicht zu schädigen, haben werden am genauesten mit einer intrazellulären
diese Glaskapillaren sehr feine Spitzen (dünner als 1 μm). Mikroelektrode gemessen.
Die Bezugselektrode im Extrazellulärraum ist ein chlo-
riertes Silberplättchen. Beide Elektroden sind an ein
3.1 · Das Ruhepotenzial
35 3
Konzentrationsverteilung der Ionen innerhalb
und außerhalb der Nervenzelle
In . Abb. 3.2 fällt neben dem Ungleichgewicht der Ladun-
gen an der Membran auch die ungleiche Verteilung der
Ionenarten innerhalb und außerhalb der Zelle auf. Das
größte Ungleichgewicht besteht bei den K+-Ionen: 100 000
K+ intrazellulär stehen extrazellulär nur 2 000 K+ gegen-
über. Dagegen entsprechen extrazellulär 108 000 Na+ nur
10 000 Na+ in der Zelle. Die Chloridionen (Cl−) sind um-
gekehrt verteilt wie die K+-Ionen, d. h. viele außen, wenige
innen. Der größte Teil der intrazellulären Anionen wird
von großen Eiweißionen gestellt (als A− bezeichnet).
In . Tabelle 3.1 sind die Ionenkonzentrationen in einer
Muskelzelle und im Extrazellulärraum angegeben. Allge-
. Abb. 3.2. Ladungsverteilung an der Membran beim Ruhe-
potenzial. Die Membran wird dabei als elektrotechnischer Konden- mein ist bei Nerven- und Muskelzellen die intrazelluläre
sator betrachtet. Die Aufladung eines kleinen Membranstückes von K+-Konzentration 20- bis 100-mal höher als die extrazellu-
1 μm×1/1000 μm Fläche mit je 6 K+-Ionen und Anionen (A−) wird der läre, die intrazelluläre Na+-Konzentration 5- bis 15-mal
Zahl der Ionen in den auf beiden Seiten der Membran benachbarten niedriger als die extrazelluläre und die intrazelluläre Cl−-
Räumen von je 1 μm×1 μm×1/1000 μm Inhalt gegenübergestellt. Die
Konzentration 20- bis 100-mal niedriger als die extrazellu-
Pfeile durch die Membran zeigen an, dass die K+ durch die Membran
aus der Zelle diffundiert sind, aber durch die Ladung der in der Zelle läre. Die Konzentrationsverteilung für Chlorid ist also etwa
zurückgebliebenen A− auf der Außenseite der Membran fixiert reziprok der für die Kaliumionen. Großmolekulare Anionen
bleiben. Angenommen ist eine Membrankapazität von 1 μF/cm2 sind in der Zelle in hoher Konzentration vertreten
(155 mmol/l in der . Tabelle 3.1), kommen dagegen im Ex-
trazellulärraum nicht in messbarer Menge vor.

3.1.2 Bedeutung der K+-Ionen G Für die Entstehung eines Membranpotenzials sind
für das Ruhepotenzial nur geringfügige Ladungsverschiebungen an der
Plasmamembran nötig. K+-, Na+- und Cl–-Ionen ver-
Ladungsverteilung an der Nervenzellmembran teilen sich sehr unterschiedlich im Intra- versus
dem Extrazellulärraum. Dies ist Voraussetzung
Wenn das Zellinnere negativer ist als die Umgebung der
für die Entstehung der verschiedenen Membran-
Zelle, so muss in der Nervenzelle gegenüber dem Extrazel-
potenziale.
lulärraum ein Überschuss an negativen elektrischen Ladun-
gen herrschen. Da es sich bei den elektrischen Ladungen im
Zellinneren wie im Extrazellulärraum um Ionen, nämlich Ruhepotenzial als K+-Diffusionspotenzial
Kationen (positiv geladen) und Anionen (negativ geladen) Die in . Abb. 3.2 und Tabelle 3.1 dokumentierten Unter-
handelt (Abschn. 2.1.1), bedeutet der Überschuss an ne- schiede der Ionenkonzentrationen zwischen Zellinnerem
gativen Ladungen im Zellinneren einen Überschuss an An- und Extrazellulärraum würden sich durch Diffusion der
ionen in der Zelle. beweglichen Teilchen bald ausgleichen, wenn dies nicht
Bei einer quantitativen Betrachtungsweise ergibt sich,
wie . Abb. 3.2 zeigt, dass ein sehr kleiner Membranbezirk
von 1 μm×1/1000 μm Fläche bei einem angenommenen
. Tabelle 3.1. Intra- und extrazelluläre Ionenkonzentra-
Ruhepotenzial von –90 mV nur von je 6 Anionen (innen)
tionen bei einer Muskelzelle eines Warmblüters. A– steht für
und Kationen (außen) besetzt ist. In den angrenzenden, mit »große intrazelluläre Anionen«
Salzlösung gefüllten Räumen befinden sich allein im ersten
Mikrometer Abstand von der Membran bereits je 220.000 Intrazellulär Extrazellulär
Ionen, d. h. außen und innen gibt es praktisch gleich viel Na+ 12 mmol/l Na+ 145 mmol/l
Anionen und Kationen. Das Ungleichgewicht der elektri- K +
155 mmol/l K+ 4 mmol/l
schen Ladungsverteilung an der Zellmembran ist also äu- 2+ –8 –7 2+
Ca 10 –10 mmol/l Ca 2 mmol/l
ßerst geringfügig (nur 6 von 110 000 Kaliumionen haben
das Zellkompartiment verlassen). Umso erstaunlicher ist es, Cl- 4 mmol/l Cl– 120 mmol/l

dass alle Funktionen des Nervensystems auf den durch die HCO–3 8 mmol/l HCO–3 27 mmol/l
Auswärtsdiffusion der Kaliumionen verursachten Ladungs- A– 155 mmol/l Andere Kationen 5 mmol/l
unterschied zwischen dem Zellinneren und der Extrazellu- Ruhe- –90 mV
lärflüssigkeit, den wir als Ruhepotenzial messen, angewie- potenzial
sen sind.
36 Kapitel 3 · Erregungsbildung und Erregungsleitung

G Das Ruhepotenzial ist in erster Linie ein K+ -Diffusions-


potenzial, dessen Größe sich aus dem Gleichgewicht
zwischen dem von innen nach außen gerichteten Dif-
fusionsgefälle der K+-Ionen und dem von außen nach
innen gerichteten Ladungsgefälle ergibt.

3 3.1.3 Stabilisierung des Ruhepotenzials


durch aktiven Ionentransport

Instabilität durch Na+-Ionenpermeabilität


In Ruhe ist die Zellmembran der Nerven- und Muskelzellen
. Abb. 3.3. Vergleich der Verteilung der Ionen in einer Nerven- nur wenig für Na+-Ionen durchlässig. Das Verhältnis der
oder Muskelzelle (intrazellulär, innen) mit der im Interstitium
Membrandurchlässigkeit zwischen den beiden Ionensor-
(extrazellulär, außen). Auf beiden Seiten der Membran sind die ver-
schiedenen Ionen durch Kreise verschiedenen Durchmessers symbo-
ten, die Membranleitfähigkeit, liegt bei 25:1 zugunsten
lisiert. Der Durchmesser ist jeweils dem hydratisierten Ionendurch- der K+-Ionen. Aber für die Na+-Ionen besteht ein kräftiges
messer (Ion mit seiner Wasserhülle) proportional. A− bezeichnet die Konzentrationsgefälle von außen nach innen von etwa 10:1
großen intrazellulären Eiweißionen. Die offenen Verbindungen durch (Tabelle 3.1), und ein Einstrom von Na+ in die Zelle wird
die Membran, die Poren oder Kanäle, sind gerade groß genug, um den
weiter begünstigt durch das innen negative Ruhepotenzial,
K+-Ionen den Durchtritt zu gestatten
das positive Ionen anzieht. So kommt es, dass trotz der sehr
geringen Durchlässigkeit der ruhenden Membran für Na+
durch die Membran verhindert würde. Wäre die Membran diese in die Zelle strömen und damit die Negativität des
völlig undurchlässig für Ionen, so könnten die unterschied- Ruhepotenzials etwas verringern. Der in Ruhe eintretende
lichen Ionenkonzentrationen auf beiden Seiten der Memb- Na+-Einstrom wird passiv genannt, weil er längs der exis-
ran unbeschränkt bestehen bleiben. Die Membran lässt tierenden Konzentrations- und Potenzialgradienten erfolgt.
aber K+-Ionen relativ gut hindurchtreten, sie ist für K+-Io- Das Ruhepotenzial stimmt also meist nicht ganz mit dem
nen permeabel. Man kann sich, wie in Abschn. 2.2.1 be- Gleichgewichtspotenzial EK überein, weil die Membran
reits geschildert, die Membran als mit Poren oder Kanälen nicht nur für Kaliumionen, sondern auch etwas für Natrium-
durchsetzt vorstellen, wie dies . Abb. 3.3 illustriert ionen permeabel ist.
(. Abb. 2.5 A in Abschn. 2.2.1). Der dauernde Eintritt von Natriumionen in die Zelle
Die Poren sind so eng, dass durch sie nur die relativ erniedrigt etwas das Ruhepotenzial und führt damit, also
kleinen K+-Ionen hindurchpassen. Aufgrund der an der wegen der etwas höheren Kraft des Konzentrations- versus
Innenseite weit höheren K+-Ionenkonzentration werden dem Potenzialgradienten fortwährend zu einem entspre-
innen K+-Ionen viel öfter auf eine Pore treffen und durch chenden Ausstrom von Kaliumionen.
sie durchtreten als an der Außenseite. Es ergibt sich also Unter rein passiven Bedingungen kann also das Ruhe-
ein Netto-Ausstrom von K+-Ionen aus der Zelle. Damit potenzial nicht konstant bleiben, denn das System ist nicht
wird positive Ladung aus der Zelle herausgetragen und die im Gleichgewicht: Die Zelle verliert dauernd einige K+-Ionen
negativ geladenen Anionen bleiben zurück (. Abb. 3.2). So und gewinnt einige Na+-Ionen. Der K+-Verlust führt zu einer
gesehen ist das Ruhepotenzial ein K+-Diffusionspotenzial. Abnahme des Ruhepotenzials, denn dieses ist ja in erster
Linie ein K+-Potenzial, das sich bei abnehmender intra-
Ruhepotenzial als K+-Gleichgewichtspotenzial versus extrazellulärer Konzentrationsdifferenz immer mehr
Der Netto-Ausstrom von K+-Ionen würde die Konzen- verkleinert. Auch die Eindiffusion der Na+-Ionen trägt, wie
trationsunterschiede rasch beenden, wenn nicht durch eben gesagt, zur Abnahme des Ruhepotenzials bei.
die Mitnahme der positiven Ladungen, also durch die
G Für Na+-Ionen ist die Zellmembran in Ruhe ein wenig
Entstehung des Ruhepotenzials eine Gegenkraft auf-
permeabel. Es resultiert ein passiver Einstrom von
gebaut würde, die dem weiteren Ausströmen der K+-Ionen
(wenigen) Na+-Ionen, wodurch das Ruhepotenzial
zunehmend entgegenwirkt. Mit anderen Worten, das
weniger negativ wird. Diese Schwächung des Poten-
innen negative elektrische Potenzial wächst so lange an, bis
zialgradienten bedingt einen ständigen Verlust von
seine dem K+-Ausstrom entgegenwirkende (»Halte«-)Kraft
K+-Ionen.
gleich groß ist wie der nach außen wirkende osmotische
Druck der K+-Ionen. Bei diesem Potenzial sind Ein- und
Ausstrom von K+-Ionen im Gleichgewicht, man nennt es Dynamisches Gleichgewicht
deshalb das K+-Gleichgewichtspotenzial EK. Die Ruhe- durch Na+-K+-Pumpen
potenziale von Nerven- und Muskelzellen sind also in erster In normalem Gewebe ist das Ruhepotenzial aber, trotz des
Annäherung Kaliumgleichgewichtspotenziale. ständigen passiven Eintritts der Na+-Ionen und dem stän-
3.2 · Das Aktionspotenzial
37 3

digen passiven Austritt von K+-Ionen konstant, d. h. die


Ionenverteilung zwischen Innen und Außen ändert sich
nicht. Diese Konstanthaltung der normalen intrazellu-
lären Ionenkonzentrationen bedarf offensichtlich der Zu-
fuhr von Stoffwechselenergie, denn die eindiffundierten
Na+-Ionen und die ausdiffundierten K+-Ionen müssen mit
Hilfe eines energieverbrauchenden Prozesses, also aktiv
gegen die elektrischen und Konzentrationsgradienten aus
der Zelle entfernt bzw. dorthin wieder aufgenommen
werden.
Diese Aufgabe wird v. a. von den im vorigen Kapitel
bereits vorgestellten Na+-K+-Pumpen übernommen, bei de-
nen netto mehr Na+-Ionen aus als K+-Ionen in die Zelle
gepumpt werden (. Abb. 2.6 und zugehöriger Text in Ab-
schn. 2.2.1). Durch die Tätigkeit dieser Pumpen kommt es
. Abb. 3.4. Phasen des Aktionspotenzials am Beispiel eines Ak-
zu einer erhöhten Negativität des Zellinneren, also einer tionspotenzials eines Neurons (Nervenzelle). Die initiale Phase
Hyperpolarisation, die aber gering ist, so dass sie hier außer des Aufstrichs wird auch Depolarisationsphase genannt. Für den
Betracht bleiben kann. Überschuss ist in unserem Sprachraum auch der Ausdruck Overshoot
gebräuchlich. Nach Erreichen der Schwelle läuft das Aktionspotenzial
G Das Ruhepotenzial kann nur durch den aktiven monoton ab (Alles-oder-Nichts-Gesetz)
Transport von Na+-Ionen aus den und K+-Ionen in die
Zellen aufrecht erhalten werden. In Ruhe sind die
Die Rückkehr des Aktionspotenzials zum Ruhepoten-
passiven und aktiven Ionenströme durch die Mem-
zial heißt Repolarisation, weil damit die normale Polarisa-
bran in einem dynamischen Gleichgewicht.
tion der Zellmembran wieder hergestellt wird. Anschlie-
ßende kleine Nachschwankungen des Membranpotenzials
3.2 Das Aktionspotenzial werden, je nach ihrer Richtung, als hyperpolarisierende
(über den Wert des Ruhepotenzials hinausgehende) oder
3.2.1 Ablauf des Aktionspotenzials als depolarisierende Nachpotenziale bezeichnet.

Anteile des Aktionspotenzials G Größe, Form und Zeitverlauf von Aktionspotenzialen


sind bei allen Säugetieren, einschließlich dem
Amplitude und Form der Aktionspotenziale von verschie-
Menschen sehr ähnlich: einem schnellem Aufstrich
denen erregbaren Zelltypen von Wirbel-, v. a. von Säuge-
mit Overshoot folgt eine je nach Gewebe unter-
tieren einschließlich des Menschen, sind sich ähnlich: Aus-
schiedlich langsame Repolarisation.
gehend vom Ruhepotenzial springt das Potenzial bei Erre-
gung sehr schnell auf einen positiven Wert und kehrt dann
etwas langsamer zum Ruhepotenzial zurück. Die Spitze der Alles-oder-Nichts-Verhalten
Impulse liegt bei etwa +30 mV (Zellinneres positiv gegen- von Aktionspotenzialen, Frequenzkodierung
über der extrazellulären Flüssigkeit). Damit beträgt die Aktionspotenziale entstehen immer dann, wenn die Mem-
Gesamtamplitude der Aktionspotenziale um die 110 mV, bran, vom Ruhepotenzial ausgehend, auf etwa –60 mV de-
also rund ein Zehntel Volt. polarisiert wird (wie diese anfängliche Depolarisation von
Die Dauer des Aktionspotenzials ist allerdings bei den –80 auf –60 mV zustande kommt, wird in Abschn. 4.1.2
verschiedenen Zelltypen sehr verschieden: Am Nerven und und 4.2.1 des folgenden Kapitels berichtet). An dieser
am Skelettmuskel dauert das Aktionspotenzial nur etwa Schwelle wird die Membranladung instabil. Sie kippt aus
1 ms, während es am Herzmuskel nach 200 ms noch nicht Gründen, die anschließend geschildert werden, unaufhalt-
ganz beendet ist. sam in das Aktionspotenzial um. Diese Erregung hält für
. Abb. 3.4 illustriert die Bezeichnungen der verschiede- eine kurze, für jedes Gewebe charakteristische Zeit an,
nen Anteile oder Phasen des Aktionspotenzials. Es beginnt dann beginnt ebenso zwangsläufig die Repolarisation. Die
immer mit einer sehr schnellen positiven Potenzial- Gleichförmigkeit, mit der jedesmal bei Erreichen der
änderung, dem Aufstrich. Er dauert an Nerven- und Mus- Schwelle ein Aktionspotenzial entsteht, wird als Alles-oder-
kelzellen von Säugetieren nur 0,2–0,5 ms. Da die Zelle ihre Nichts-Gesetz der Erregung bezeichnet. Diese Regel gilt
negative Ruheladung oder Polarisation während des Auf- auch für die Erregung von Herz- oder Skelettmuskelzellen.
strichs verliert, wird diese Zeit auch Depolarisationsphase Das Alles-oder-Nichts-Gesetz beinhaltet, dass alle Ner-
genannt. Der positive Anteil der Depolarisationsphase, also venzellen völlig einheitliche Aktionspotenziale oder, kürzer
von 0 mV bis +30 mV, wird als Überschuss oder Overshoot gesagt, Impulse zu den mit ihnen verbundenen Zellen aus-
bezeichnet. senden. Die weitergegebene Information kann daher nicht
38 Kapitel 3 · Erregungsbildung und Erregungsleitung

Box 3.1. Analyse von Ruhe- und Aktionspotenzial mit »voltage clamp« und »patch clamp«
Mitte des 20. Jahrhunderts war die Entwicklung der Elek- branstückchen von etwa 1 μm2 in die Spitze einer Glas-
tronik so weit fortgeschritten, dass die schnellen Vorgänge kapillare eingesaugt und die Ströme durch diese Mem-
an Neuronen mit intrazellulären Elektroden genau fest- branflecken gemessen. Auf diese Weise können die Ströme
gehalten werden konnten. Alan Hodgkin und Andrew durch einzelne oder wenige Ionenkanäle oder Poren un-
Huxley (Nobelpreis mit John C. Eccles 1963) gelang es, mittelbar erfasst werden. Mit dieser Methode können die
3 nicht nur die Spannungsänderungen an Nervenzellen, molekularen Reaktionen der Einzelkanäle registriert
sondern durch elektronisches »Festklemmen« (»voltage und damit die eben beschriebene Potenzial- und Zeitab-
clamp«), also Konstanthaltung der Membranspannung, hängigkeiten der Ionenströme an der einzelnen Membran-
auch die zugrunde liegenden Ionenströme (Beispiele iNA pore studiert werden. Die unten in b und c angeordneten
und iK in b und c der Abbildung) während Ruhe- und Ak- Ableitungen zeigen, dass die Einzelkanäle sich ruckartig
tionspotenzial zu messen. Einer ihrer wesentlichen Befun- und wahrscheinlichkeitsabhängig öffnen und schließen. In
de war, dass das Alles-oder-Nichts-Verhalten des Aktions- ihrer Gesamtheit ergeben sich dann die darüber angeord-
potenzials auf der schon oben angesprochenen Poten- neten Ionenströme.
zial- und Zeitabhängigkeit der Ionenleitfähigkeiten für Das Studium einzelner Ionenkanäle hat nicht nur die
die Na- und K-Ionen beruht. eben beschriebenen Vorteile, sondern es kann damit auch
Eine elegante Weiterentwicklung der Spannungs- sehr genau untersucht werden, welchen Veränderungen
klemme gelang Erwin Neher und Bert Sakmann (Nobel- seiner Eigenschaften ein solcher Ionenkanal z. B. bei Lern-
preis 1991) mit der in der Abbildung gezeigten Span- prozessen oder bei pharmakologischer Einwirkung (z. B.
nungsfleckklemme (»patch clamp«). Bei dieser Methode von Antidepressiva etc.) unterworfen ist.
werden, wie in a der Abbildung zu sehen, kleinste Mem-

in der Form der Impulse enthalten (kodiert, verschlüsselt) 3.2.2 Ionenmechanismus des
sein. Vielmehr überbringt ihre Anzahl pro Zeiteinheit und Aktionspotenzials
manchmal auch ihr Rhythmus (Frequenzgruppierungen)
die jeweils wichtige Mitteilung. Die Impulsfrequenz ist also Ionenmechanismen des Aufstrichs und der
die Sprache oder der entscheidende Code der Neurone und Repolarisation
damit des Nervensystems. Das (innen negative) Ruhepotenzial ist, wie im Abschn. 3.1.2
besprochen, weitgehend das Gleichgewichtspotenzial der
G Aktionspotenziale haben immer ein Alles-oder- K+-Ionen. Wenn während des Aktionspotenzials das Zell-
Nichts-Verhalten. Die durch Aktionspotenziale zu innere positiver wird als der Extrazellulärraum, so kann dies
übermittelnde Information ist daher in ihrer Impuls- nur auf einem Einstrom von Na+-Ionen aufgrund einer er-
frequenz und ihrer Rhythmizität verschlüsselt. höhten Leitfähigkeit der Membran für Na+ beruhen, denn
3.2 · Das Aktionspotenzial
39 3

Zusätzlich kommt es mit einer Verzögerung von weniger


als einer Millisekunde nach Beginn des Aktionspotenzials
zu einer Erhöhung der K+-Leitfähigkeit, gK (gelbe Kurve in
. Abb. 3.5a). Wenn also weniger als eine Millisekunde nach
Beginn der Erregung die Spitze des Aktionspotenzials
erreicht wird, beginnen die K+-Ionen vermehrt aus der Zelle
zu strömen und kompensieren schnell den Einstrom posi-
tiver Ladungen in Form von Na+-Ionen. Schließlich wird gK
größer als gNa, der Ausstrom positiver Ladung überwiegt
den Einstrom, und das Membranpotenzial wird wieder nega-
tiver. Dieser überwiegende K+-Ausstrom verursacht also die
Repolarisationsphase des Aktionspotenzials.
In der Abbildung ist auch zu sehen, dass nach dem Ende
des Aktionspotenzials gK gegenüber seinem Ruhewert noch
erhöht ist. Dadurch nähert sich das Membranpotenzial
etwas näher als normal an das Kaliumgleichgewichtspoten
zial EK an: es entsteht ein hyperpolarisierendes Nachpoten-
zial. Die elektrophysiologischen Methoden mit denen die
Ionenmechanismen von Ruhe- und Aktionspotenzial
aufgeklärt wurden, sind in Box 3.1 beschrieben.
G Der Aufstrich des Aktionspotenzial wird durch eine
plötzliche und kurzzeitige Erhöhung von gNa und
den daraus resultierenden Einstrom von Na+-Ionen
in die Zelle verursacht. Die Repolarisation ist Folge
des Rückgangs der Na-Leitfähigkeit und des
Anstiegs von gK, die zu einem Ausstrom von K+-
Ionen führt.

Ionenumsätze während des Aktionspotenzials


Trotz der großen Änderungen der Leitfähigkeit der Mem-
. Abb. 3.5a–c. Ionenmechanismen der Entstehung und Fortlei-
tung des Aktionspotenzials. Schematisierte Darstellung der Verhält- bran für Na+-Ionen während des Aktionspotenzials (gNa
nisse an menschlichen Neuronen. a Zeitverläufe des Membranpoten- erreicht mehr als das hundertfache ihres Ruhewertes) sind
zials Em (blau), der Offenwahrscheinlichkeit der Na-Kanäle (grün) die Ionenverschiebungen durch die Membran relativ zu
und der K-Kanäle (gelb). Die Lage der Gleichgewichtspotenziale der den die Membran umgebenden Ionenmengen klein. Im
K+- (EK) und der Na+-Ionen (ENa) sind ebenfalls eingetragen. b Zeitver-
Schema der . Abb. 3.2 müssen während der Erregung nur
lauf des Membranstrom im, der initiale Einwärtsstrom ist nach oben
aufgetragen. c Die lokalen Stromschleifen an einer Seite eines Axons, 8 Na+ in die Zelle einströmen, und entsprechend würde
die Dichte dieser Stromschleifen an der Membran entspricht im. Das die Repolarisation durch den Ausstrom von 8 Kationen
Aktionspotenzial wird von rechts nach links fortgeleitet. Die Strom- erreicht. Durch die Ionenumsätze würde sich die Na+-
schleifen links von der maximal erregten Stelle depolarisieren die Konzentration in den sehr kleinen Räumen, die in . Abb.
Membran zur Schwelle und lösen neue, fortgepflanzte Erregung aus
3.2 gezeigt sind, um weniger als 1/1000 während eines
Aktionspotenzials ändern.
Die mit dem Aktionspotenzial in die Zelle geströmten
nur für Na+ ergibt sich ein (innen) positives Gleich- Na+-Ionen werden im Laufe der Zeit genauso wie die
gewichtspotenzial ENa, das, wie . Abb. 3.5a zeigt, mit ca während des Ruhepotenzials eindiffundierten Na+-Ionen
+50 mV positiver ist als die Spitze des Aktionspotenzials. (7 oben) und die der Zelle »verloren gegangenen« K+-Ionen
Basis der Erregung ist also eine kurzfristige Erhöhung durch die Na+-K+-Pumpen aus der Zelle geschafft bzw.
der Membranleitfähigkeit für Na+, gNa (grüne Kurve in wieder hereingeholt. Werden die Ionenpumpen blockiert,
. Abb. 3.5a), die durch Depolarisation zur Schwelle ausgelöst z. B. durch Vergiftung mit Dinitrophenol, so können trotz
wird. Die Na-Leitfähigkeit ist also potenzialabhängig der Ausschaltung des aktiven Transports noch Tausende
(mehr dazu in Abschn. 3.2.3). von Aktionspotenzialen ablaufen, ehe die intrazelluläre
Die Erhöhung der gNa hält an Nervenzellen von Na+-Konzentration so hoch wird, dass die Zelle nicht mehr
Säugetieren weniger als 1 ms an. Die Na-Leitfähigkeit ist erregbar ist.
also auch zeitabhängig. Die rasche Abnahme des initialen
Na+-Stroms wird Inaktivation genannt.
40 Kapitel 3 · Erregungsbildung und Erregungsleitung

G Pro Aktionspotenzial fließen nur sehr wenige Ionen in


die und aus der Zelle. Mittel- bis langfristig muss
jedoch die normale Ionenverteilung durch aktiven
Transport (Na+-K+-Pumpen) aufrecht erhalten werden.

3.2.3 Molekularbiologie der Na-, K- und


3 Ca-Kanäle in erregbaren Membranen

Allgemeiner Aufbau von Ionenkanälen


Dank der Methoden der Molekularbiologie (Klonierung,
Röntgenstrukturanalyse) ist die Struktur vieler Ionenkanä-
le bekannt. Es sind komplexe Proteine, die aus mehreren
Untereinheiten (Domänen) bestehen, die sich zusammen-
lagern und in die Zellmembran einbetten. Als einfachstes
Beispiel zeigt die . Abb. 3.6a und b das Strukturbild eines
Kaliumkanals, der sich aus 4 Domänen zusammensetzt.
Jede Domäne wird aus Segmenten großer Proteine ge-
bildet. Ein solches Segment des K-Kanals ist in . Abb. 3.6c
schematisch gezeigt. Es hat 2 der α-Helices genannten Teile
in die Membran eingelagert, die miteinander durch Amino-
säureketten extra- wie intrazellulär verbunden sind. Der
K-Kanal besteht also aus 4 Domänen zu je 2 Segmenten, die
so in der Membran zusammengelagert sind, dass sich in
ihrer Mitte der Ionenkanal ausbildet.
Der Poreneingang des Ionenkanals wird von der
P-Schleife gebildet, die im Extrazellulärraum liegt. Dort
findet sich auch die engste Porenstelle, die so angelegt ist,
dass sie als Selektivitätsfilter dient, d.h. dafür sorgt, dass
nur bestimmte Ionen (z. B. Kationen) oder nur eine be-
stimmte Ionensorte (hier Kalium-Ionen) durch die Pore
diffundieren können.
Die einfachste evolutionäre Weiterentwicklung des in
a–c gezeigten Ionenkanals mit 2 Segmenten pro Domäne
sind Ionenkanäle, die in jeder Domäne 6 Segmente haben
(. Abb. 3.6d). Ein wichtiges Beispiel ist der in e und f
gezeigte Na-Kanal mit 4 Domänen zu je 6 Segmenten. Er
ist ein Glykoprotein mit einem Molekulargewicht von etwa
300 000 (zum Begriff Molekulargewicht Abschn. 2.1.1).

9 . Abb. 3.6a–f. Molekularer Aufbau von Ionenkanälen. a, b Aus


seiner Kristallstruktur abgeleiteter Bau eines Kaliumkanals, der aus
4 Domänen (Untereinheiten) besteht, die symmetrisch um den zentral
gelegenen Ionenkanal (Pore) angeordnet sind und zwar in a in Seiten-
ansicht und Aufsicht und in b in Seitenansicht zweier gegenüberlie-
gender Domänen. Die Transmembransegmente S1 und S2 sind
als α-Helices ausgebildet, die in c und d jeweils als gelbe Zylinder
eingezeichnet sind. c Segment mit 2 α-Helices (gelbe Zylinder), die
mit einer kurzen Aminosäurenkette miteinander verbunden sind
(P-Schleife, P für Pore). Jede Domäne des obigen Kaliumkanals ist aus
je 2 dieser Segmente aufgebaut. d Segment des schnellen Natrium-
kanals, das 6 α-Helices besitzt. e, f Modell des aus 4 Domänen zu je
6 Segmenten (in I und IV als Kreise eingezeichnet) bestehenden
schnellen Natriumkanals (aufgeklappt). Die rot eingezeichneten Seg-
mente bilden den in . Abb. 3.7a eingezeichneten Feldsensor. Die
Membrankette IFM an der Membraninnenseite verschließt den Kanal
bei der Inaktivation (vgl. e mit f)
3.2 · Das Aktionspotenzial
41 3

. Abb. 3.7a, b. Arbeitsweise des schnellen Natriumkanals. ist eingezeichnet. b Schema der 3 Hauptzustände der Na+-Ionenkanä-
a Modellschema. Die Größenverhältnisse der Membrankomponenten le. Der Zustand »geschlossen-aktivierbar« geht bei Depolarisation in
und der Ionen sind etwa maßstabgerecht. Neben den die Pore per- die Zustände »offen-aktiviert« und anschließend in »geschlossen-inak-
meierenden Na+-Ionen sind mit Pfeilen die Hemmstoffe Tetrodotoxin tiviert« über. Nach Repolarisation kehrt der Kanal in den »geschlossen-
(TTX, blockiert Poreneingang) und Pronase bzw. Jodat (verhindert aktivierbaren« Zustand zurück
Inaktivierung) eingezeichnet. Auch der Wirkort von Lokalanästhetika

Von all diesen Kanälen gibt es zahlreiche Varianten, die muss aber den Durchtritt anderer Ionen, v. a. den des fast
nach Aufbau und Funktion in Kanalklassen, -familien und gleich großen K+-Ions, verhindern. Die Na+-Kanäle müssen
-unterfamilien eingeordnet werden können. Erbliche also selektiv sein. Der Durchtritt von Anionen wird durch
Mutationen der Ionenkanäle können zu schweren Erkran- negative Ladungen am Kanaleingang ausgeschlossen, wie
kungen führen (Box 3.2). dies das Schema in . Abb. 3.7a andeutet. Die Selektivität
gegenüber K+-Ionen kann aber nur durch spezifische Bin-
G Ionenkanäle in Membranen sind große Eiweißmole-
dungen des Na+-Ions während des Durchtritts durch den
küle. Jeder Kanal besteht aus mehreren Domänen,
Kanal erklärt werden, wie dies am Beispiel des Kalium-
die wiederum aus Segmenten aufgebaut sind. Seg-
kanals in Abschn. 2.1.1 anhand der . Abb. 2.5 bereits er-
mente haben α-Helices genannte Eiweißteile, die die
läutert wurde.
Membran durchspannen und über Peptidketten mit-
Depolarisation öffnet den Na+-Kanal für kurze Zeit, wo-
einander verbunden sind.
bei die Dauer der Öffnung beträchtlich um einen Mittel-
wert von 0,7 ms schwankt. In dieser Zeit fließen etwa 10 000
Box 3.2. Kanalopathien Na+-Ionen durch den Kanal. Auch der Zeitpunkt der Kanal-
Erbliche Erkrankungen als Folge von Mutationen in öffnung schwankt, so dass zu jedem Zeitpunkt der Depola-
den für Na- und K-Kanäle codierenden Genen werden risation nur ein gewisser Prozentsatz der Kanäle offen ist.
Kanalopathien genannt. So können genetisch beding- Bei Depolarisation nimmt also die Wahrscheinlichkeit der
te Fehlbildungen des Na-Kanals zu erblichen Epilepsi- Öffnung aller Na+-Kanäle der Zellmembran zunächst
en führen oder der Grund für Muskelerkrankungen rasch zu, erreicht nach 1,5 ms ihr Maximum und wird dann
(Myotonien) und Störungen der Herzerregung sein, innerhalb von 10 ms minimal. Diese Abnahme der Wahr-
wobei sich letztere in Tachykardien (»Herzjagen«) äu- scheinlichkeit der Kanalöffnung entspricht der Inaktivation
ßern. Zugrunde liegt meist eine Übererregbarkeit der des Natriumstromes (. Abb. 3.5a, grüne Kurve).
defekten Kanäle bedingt durch eine defekte Inaktivie- Die schnelle Öffnung des Na+-Kanals bei Depolarisa-
rung (. Abb. 3.8), was zu repetitiven Entladungen füh- tion lässt sich am besten mit der Annahme erklären,
ren kann. dass das Kanalmolekül positive Festladungen enthält (in
Auch Mutationen der Gene spannungsgesteuerter . Abb. 3.7a als »Feldsensor« eingezeichnet), die durch Än-
K-Kanäle werden mit genetisch bedingter Epilepsie in derungen der Feldstärke über der Membran verschoben
Zusammenhang gebracht. Vermutlich bildet sich in werden können. Die Verschiebung dieser Ladungen kann
den betroffenen Neuronen kein ausreichend stabiles man tatsächlich als Torstrom (gating current) messen.
Ruhepotenzial und damit eine Übererregbarkeit aus. Der Na+-Kanal wird also durch die Depolarisation nicht
streng determiniert geöffnet. Es wächst nur die Wahr-
scheinlichkeit des offenen Zustandes, und wenn ein Kanal
Funktion des schnellen Na+-Kanals einmal offen ist, schließt er mit einer gewissen Wahrschein-
Das Na+-Kanalmolekül, von dem in Membranen erregbarer lichkeit, wobei er dann für eine gewisse Zeit inaktiviert
Zellen zwischen 1 und 50 pro μm2 eingebaut sind, muss bleibt. Es lassen sich also drei Kanalzustände voneinander
schnell einen hohen Na-Ionenfluss einschalten können, unterscheiden, wie dies schematisch in . Abb. 3.7b zu sehen
42 Kapitel 3 · Erregungsbildung und Erregungsleitung

ist. Der Übergang von geschlossen-aktivierbar zu offen- eintreten. Das Krankheitsbild wird als Tetanie bezeichnet
aktiviert wird durch Depolarisation gefördert. Depolarisa- (Box 3.3).
tion beschleunigt jedoch auch den Übergang in den ge-
G Abnahme der Ca++-Ionenkonzentration im Blut und
schlossen-inaktivierten Zustand (der Verschluss erfolgt
in der übrigen extrazellulären Flüssigkeit erhöht die
wahrscheinlich durch eine Peptidkette, . Abb. 3.6f), des-
Erregbarkeit von Neuronen und Muskelzellen. Dies
halb wird nach Öffnung des Kanals dieser schnell inakti-
kann zu Tetanie führen. Erhöhung der Ca++-Konzen-
viert und er bleibt dies, wenn er nicht durch Repolarisation
3 der Membran in den geschlossen-aktivierbaren Zustand
tration setzt die neuronale und muskuläre Erregbar-
keit herab.
zurückkehren kann.
Dieser Zustand der völligen Unerregbarkeit, der bei
Nervenzellen etwa 2 ms andauert, wird absolute Refraktär- Box 3.3. Hyperventilationstetanie
phase genannt. Danach können in einer relativen Refrak- Eine Abnahme der Ca++-Ionenkonzentration kann auch
tärphase nur durch große Depolarisationen Aktionspo- durch gesteigerte und vertiefte Atmung (Hyperven-
tenziale ausgelöst werden. Diese Aktionspotenziale haben tilation) eintreten (Hyperventilation ist meist durch
allerdings gegenüber dem normalen Aktionspotenzial eine psychologische Belastung bedingt; Abschn. 11.1.1).
verkleinerte Amplitude. Durch das vermehrte Abatmen der Kohlensäure (als
Die absolute Refraktärphase begrenzt die maximale Kohlendioxid) wird das Blut etwas weniger sauer und
Frequenz, mit der Aktionspotenziale ausgelöst werden dies reduziert die Ionisierung der Kalziumsalze (beruht
können. Ist die absolute Refraktärphase 2 ms nach dem auf vermehrter Bindung an anionische Proteine).
Beginn des Aktionspotenzials beendet, so kann die Zelle Dadurch kann es, v. a. bei ohnehin niedrigem Kalzium-
maximal mit einer Frequenz von 500/s erregt werden. Es spiegel, zur Tetanie (Hyperventilationstetanie) kom-
gibt Zellen mit noch kürzeren Refraktärzeiten, so dass im men. Die Hyperventilationstetanie ist leicht durch
Extremfall Impulsfrequenzen bis 1000/s vorkommen. Bei vorübergehende Unterbrechung der Atmung (z. B.
den meisten Zellen werden jedoch maximale Impulsfre- Nase- und Mund-zu-halten) oder durch Rückatmen des
quenzen unter 500/s gemessen. Kohlendioxids (Aus- und Einatmen in eine Plastiktüte)
. Abb. 3.7a illustriert auch, dass der schnelle Natrium- zu beenden.
kanal durch verschiedene Pharmaka dauerhaft (TTX) oder
vorübergehend blockiert (Lokalanästhetika, Box 3.4) wer-
den oder dauerhaft offen gehalten werden kann (Pronase, Bau und Funktion der K+-Kanäle
Jodat). Klinisch wichtig sind nur die Lokalanästhetika. In Abschn. 3.1.2 wurde gezeigt, dass das Ruhepotenzial im
Wesentlichen ein Kalium-Gleichgewichtspotenzial ist. Die
G Die Öffnungswahrscheinlichkeit des schnellen Na-
zugrunde liegende hohe K+-Permeabilität der Zellmem-
triumkanals wird durch Depolarisation für sehr kurze
bran beruht darauf, dass die K+-Kanäle (anders als die eben
Zeit erhöht. Die anschließende kurze und vorüber-
beschriebenen Na+-Kanäle) beim Ruhepotenzial eine sehr
gehende Inaktivierung (Refrakterität) begrenzt
hohe Öffnungswahrscheinlichkeit haben, so dass die Mehr-
die als Informationscode der Neurone benutzte
zahl der K+-Kanäle dauernd offen ist. Die Kanalöffnungs-
maximale Impulsfrequenz auf 500–1000 Hz.
dauer schwankt dabei um einen Mittelwert von 5 ms, ge-
folgt von kurzen Zwischenschließungen (c in der . Abbil-
Einfluss der Ca-Ionenkonzentration auf die dung in Box 3.1).
Aktivierungsschwelle der Na-Kanäle Während eines Aktionspotenzials nimmt die Öffnungs-
Die im Blut und im Interstitium gelösten Ca++-Ionen wahrscheinlichkeit der K+-Kanäle mit kurzer Verzögerung
beeinflussen die Schwelle für eine fortgeleitete Erregung. sogar noch zu. Dies spiegelt sich in der . Abb. 3.5 als Zu-
Erhöhung der extrazellulären Ca++-Ionenkonzentration nahme der K+-Leitfähigkeit gK wider (. Abb. 3.5a, gelbe
verschiebt die Schwelle in positivere Potenzialbereiche (die Kurve) und ist, wie oben beschrieben, im Wesentlichen für
Schwelle liegt dann z. B. bei –55 mV statt bei –60 mV; die Repolarisation des Aktionspotenzials verantwortlich.
. Abb. 3.4), macht die Zellen also weniger leicht erregbar, Neben dem eben charakterisierten K+-Kanal gibt es
während eine Erniedrigung der Ca++-Ionenkonzentra- viele andere Typen von K+-Kanälen, deren Öffnungswahr-
tion die Schwelle näher an das Ruhepotenzial bringt (also scheinlichkeit eine andere Potenzialabhängigkeit hat oder
z. B. zu –65 mV) und damit die Zelle leichter erregbar die durch die intrazelluläre Ca2+-Konzentration gesteuert
macht. werden (7 auch die diversen Bauformen, Abb. 3.6). Die Mem-
Letzteres ist von klinischer Bedeutung, da es Krank- branen der verschiedenen Neurone und Muskelfasern ent-
heiten gibt, bei denen es zum Absinken der Ca++-Ionenkon- halten diese verschiedenen Kanaltypen in unterschiedlichs-
zentration kommt. Dies führt zu Muskelkrämpfen. Infolge ter Zusammensetzung und dies bedingt weitgehend die
krampfhafter Zusammenziehungen (Dauerkontraktionen) verschiedenen Formen der Dauer und Repolarisation der
der Atem- und Kehlkopfmuskulatur kann rasch der Tod Aktionspotenziale. Die Einheitlichkeit des Aufstriches des
3.3 · Fortleitung des Aktionspotenzials
43 3

Aktionspotenzials ist dagegen durch den einheitlichen Typ an einer Zündschnur fort. Dabei ist es gleichgültig, ob der
des oben beschriebenen schnellen Na+-Kanals bedingt. Impuls vom Soma in das Axon oder vom Axon in das Soma
läuft. Normalerweise leitet ein Neuron Impulse immer nur
G K+-Kanäle sind für das Ruhepotenzial (Abschn. 3.1.2)
in eine Richtung, weil die Synapsen immer nur in einer
und für die Repolarisation des Aktionspotenzials
Richtung Information weitergeben und damit einen
verantwortlich. Ihre Typenvielfalt bedingt die unter-
Einbahnstraßenverkehr erzwingen, 7 Einleitung zu Kap. 4.
schiedliche Ausprägung von Form und Dauer der
Diese normale Ausbreitungsrichtung wird orthodrom ge-
Repolarisation der Aktionspotenziale der diversen
nannt. Erregungsausbreitung in die Gegenrichtung nennt
Nerven- und Muskelzellen.
man antidrom.

Bau und Funktion der Kalziumkanäle Geschwindigkeit der Erregungsfortleitung


Bei Depolarisation öffnen sich neben Na-Kanälen auch Bei den marklosen (unmyelinisierten) Nervenfasern (C-Fa-
solche für Ca2+-Ionen. Der nach Öffnen dieser spannungs- sern) hängt die Geschwindigkeit der Fortleitung eines
gesteuerten Ca2+-Kanäle resultierende Ca2+-Einwärts- Aktionspotenzials ausschließlich vom Durchmesser der
strom depolarisiert ebenso wie Na+-Strom die Zellmem- Nervenfaser ab: je dicker das Axon einer Nervenfaser ist,
bran. desto schneller leitet sie. Dem liegt zugrunde, dass bei
In der Membran von Nervenfasern ist die Zahl der einem größerem Axonquerschnitt der Längswiderstand
spannungsgesteuerten Ca2+-Kanäle vernachlässigbar klein. (Innenwiderstand) des Axons geringer ist als bei einem ge-
Dagegen kann in Dendriten von Neuronen oder in den prä- ringen Axonquerschnitt und dass deswegen der elektro-
synaptischen Endigungen von Axonen ihre Zahl die der tonische Stromfluss von erregtem zu unerregtem Faserareal
spannungsgesteuerten Natrium-Kanäle übertreffen. Dies schneller erfolgt.
gilt auch für den Herzmuskel und bei der glatten Musku- Bei den C-Fasern des Menschen, die allesamt recht
latur. Ihre Bedeutung liegt darin, dass das einströmende dünn sind und von denen viele Schmerzinformation leiten,
Ca2+ auch intrazelluläre Steuerfunktionen ausüben kann liegt die durchschnittliche Leitungsgeschwindigkeit um
(Ca2+ als sekundären Botenstoff in Abschn. 2.2.2 und beim 1 m/s (. Tabelle 2.1 in Abschn. 2.3.3). Dies bedeutet zum
Lernen in Kap. 24). Beispiel, dass ein Impuls, der von der großen Zehe über eine
dünne, marklose Faser in das Rückenmark geleitet wird,
G Spannungsgesteuerte Kalziumkanäle übernehmen
dort etwa eine Sekunde nach seinem Start ankommt.
in manchen Geweben teilweise die Rolle der span-
nungsgesteuerten schnellen Natriumkanäle. Die G Bei marklosen Nervenfasern breitet sich das Aktions-
einfließenden Ca2+-Ionen können in der Zelle Boten- potenzial durch lokale Ströme in die unerregte Nach-
funktionen übernehmen. barschaft aus. Die Geschwindigkeit dieser Erregungs-
leitung ist umso höher, je größer der Durchmesser des
3.3 Fortleitung des Aktionspotenzials Axons ist. Sie liegt aber nur um 1 m/s (0,5–2,5 m/s).

3.3.1 Erregungsfortleitung in marklosen 3.3.2 Erregungsfortleitung in markhaltigen


Nervenfasern Nervenfasern

Mechanismus der Erregungsfortleitung Geschwindigkeit der Erregungsfortleitung


Wenn das Membranpotenzial eines Neurons bis zur Markhaltige Fasern leiten wesentlich schneller als mark-
Schwelle depolarisiert wird, dann entsteht, wie in Ab- lose (bei gleichem Axondurchmesser). Das Geschwindig-
schn. 3.2.1 geschildert, ein Aktionspotenzial. Der übliche keitsspektrum reicht von etwa 3 m/s für dünne markhaltige
Ort dafür ist der Übergang des Somas in das Axon. Diese Fasern bis zu >100 m/s für die dicksten (Übersicht in . Ta-
Region wird ihrer Form entsprechend Axonhügel genannt belle 2.1 in Abschn. 2.3.3). Dies bedeutet z. B., dass ein Im-
(. Abb. 3.8a, b). Während des Aktionspotenzials tritt auf puls, der in einer dicken Faser mit einer Leitungsgeschwin-
Grund des in . Abb. 3.5b gezeigten Membranstroms zwi- digkeit von 50 m/s läuft, nur 20 ms von der großen Zehe
schen erregter und unerregter Membranstelle ein elektri- bis zum Rückenmark braucht.
scher Spannungsunterschied auf, an dem entlang Strom
aus dem depolarisierten in den noch nicht depolarisierten Mechanismus der Erregungsfortleitung
Nachbarbezirk fließt (. Abb. 3.8c, Abb. 3.5c). Dieser Nach- Der Grund für die besonders hohe Leitungsgeschwindig-
barbezirk wird dadurch selbst zur Schwelle depolarisiert keit markhaltiger Nerven ist in . Abb. 3.8b und c zu sehen.
und bildet dann seinerseits einen Alles-oder-Nichts-Impuls Diese Nervenfasern zeigen nur für sehr kurze Abschnitte,
aus und so weiter. die Ranvier-Schnürringe, eine normale Zellmembran
Auf diese Weise pflanzt sich der Impuls entlang der (. Abb. 2.11 und zugehöriger Text in Abschn. 2.3.3). In den
Nervenfaser und all ihren Verzweigungen wie der Funke dazwischen liegenden Internodien ist durch die fetthaltige
3
44
Kapitel 3 · Erregungsbildung und Erregungsleitung

Nach Huxley AF, Stämpfli R (1949). Mit freundlicher Genehmigung von Wiley-Blackwell.
3.3 · Fortleitung des Aktionspotenzials
45 3

Markscheide der Membranwiderstand kräftig erhöht. Da- Messkurve) und nach einer deutlich längeren Verzögerung
her fließt in den Internodien praktisch kein Strom durch eine ähnliche Potenzialschwankung von den Elektroden am
die Membran, und ein Aktionspotenzial an einem Ranvier- Ellenbogen (untere rote Messkurve) registriert werden.
Schnürring breitet sich fast verlustlos elektrotonisch über Offensichtlich ist in der Zeit zwischen dem Beginn der
das Internodium auf benachbarte Schnürringe aus. So wird ersten und dem Beginn der zweiten Potenzialschwankung
die Leitungszeit über die Internodien eingespart, die Er- die Erregung vom ersten zum zweiten Elektrodenpaar ge-
regung »springt« von Schnürring zu Schnürring. Wir spre- laufen. Dieses Zeitintervall betrug 5 ms, der Abstand der
chen daher von einer saltatorischen Erregungsleitung. Elektrodenpaare 25 cm. Die Geschwindigkeit der Erre-
gungswelle lag daher bei 50 m/s.
G Myelinisierte Nervenfasern haben eine hohe Lei-
tungsgeschwindigkeit, da die Erregung sich sprung- G Elektroneurographie (ENG) ist die extrazelluläre
haft von Schnürring zu Schnürring fortpflanzt. Diese Messung der Impulsausbreitung in menschlichen
saltatorische Erregungsleitung besitzt, je nach Durch- Nerven nach deren elektrischer Reizung.
messer des Axons und der Markscheide, Geschwin-
digkeiten bis zu 120 m/s. Besonderheiten der ENG
Nach dem eben geschilderten Ergebnis einer Elektroneuro-
graphie, ENG, ist es also auch mit extrazellulären Elektro-
3.3.3 Elektroneurographie (ENG) den möglich, Aktionspotenziale zu registrieren. Die dabei
beim Menschen abgeleiteten Potenziale sind wesentlich, nämlich hundert-
bis tausendmal kleiner als die mit einer intrazellulären
Prinzip der Methode Mikroelektrode abgeleiteten (vergleiche in . Abb. 3.4 die
Auch am Menschen kann die Fortleitung der Aktions- mV-Skala mit der Mikrovoltskala in . Abb. 3.8d). Sie haben
potenziale gemessen werden. Ein Beispiel zeigt die auch eine andere, deutlich zweiphasige Form. Deren Zu-
. Abb. 3.8d. Über einem Hautnerv, hier dem Nervus standekommen ist in . Abb. 3.8a verdeutlicht: Liegen zwei
ulnaris am Unterarm, werden im Abstand von 25 cm je ein Elektroden an einem Axon außen an und ist das Axon un-
Paar Metallelektroden angebracht (oder besser in der Form erregt (Zeitpunkt 1), so gibt es keine Spannungsdifferenz
von Nadelelektroden in den Nerv eingestochen) und mit zwischen den beiden Elektroden. Wandert nun von links
geeigneten Spannungsmessern (Voltmetern) verbunden. eine Erregungswelle über das Axon, so wird durch die Aus-
Nach elektrischer Reizung der Nervenendigungen des gleichsströme zwischen erregten und unerregten Mem-
Ulnaris in der Haut des kleinen Fingers über ein drittes branabschnitten zuerst die linke Elektrode negativ gegen-
Paar, diesmal ringförmiger Elektroden, kann dann mit über der rechten (Zeitpunkt 2), dann werden beide Elektro-
kurzer Verzögerung auf einem Oszillographenschirm oder den gleich negativ (Zeitpunkt 3), danach wird die rechte
einem schnellen Papierschreiber erst eine kleine Potenzial- Elektrode negativ gegenüber der linken (Zeitpunkt 4, Re-
schwankung von den Handgelenkelektroden (obere rote polarisation links) und schließlich beide wieder gleich
positiv (Zeitpunkt 5, die Membran ist wieder völlig repola-
9 . Abb. 3.8a–d. Fortleitung des Aktionspotenzials in Nerven- risiert).
fasern des Menschen und deren Registrierung mit der Elektro-
Am ganzen Nerven leitet man bei der Elektroneuro-
neurographie. a Prinzip der extrazellulären Ableitung von Aktions-
potenzialen. Eine Erregungswelle wird links im Soma ausgelöst und graphie allerdings nicht von einem einzelnen Axon, son-
breitet sich nach rechts über das Axon aus. Zwischen den beiden dern das Massenpotenzial einer großen Anzahl durch den
auf dem Axon liegenden Messelektroden tritt immer dann eine Span- elektrischen Reiz gleichzeitig erregter Nervenfasern ab.
nungsdifferenz (rote Messkurve auf dem Oszillografenschirm) auf, Nur dann sind die elektrischen Felder groß genug, um mit
wenn die von links nach rechts wandernde Erregungswelle nur eine
dieser Methode messbar zu sein. Da die dicken Fasern
der beiden Elektroden erfasst hat. b Saltatorische Erregungsleitung.
Rechts Potenzialverläufe des Membranpotenzials an den links davon durch ihre größere Oberfläche auch stärkere elektrische
liegenden Ranvier-Schnürringen. Beim Verschieben der Ableitelek- Felder bei ihrer Erregung ausbilden als die dünnen, werden
trode vom Soma des Neurons entlang der Nervenfaser erfährt die bei der Elektroneurographie nach Art der . Abb. 3.8d vor-
Fortleitung des Aktionspotenzials nur jeweils an den Schnürringen wiegend die Massenpotenziale der dicken Nervenfasern
eine Verzögerung. Dazwischen bleibt die Latenz des Aktionspotenzials
erfasst, obwohl die dünnen Nervenfasern eher zahlreicher
unverändert (verdeutlicht durch die senkrechten roten Hilfslinien).
c Stromfluss bei fortgeleiteter Erregung in einem marklosen Axon als die dicken sind. Die mit der Elektroneurographie er-
(oben) im Vergleich zum Verlauf der Stromschleifen bei einem mark- mittelte Nervenleitungsgeschwindigkeit ist damit die der
haltigen Axon (unten). Die Erregung breitet sich in beiden Fällen von schnellstleitenden, also der dicksten Fasern des jeweiligen
links nach rechts aus. d Technik der Auslösung und Ableitung von Nerven.
Massenaktionspotenzialen eines Hautnerven am Menschen (Elektro-
neurographie, ENG). Bei dieser Form der extrazellulären Ableitung
werden die Elektroden außen auf der Haut über dem Nerven ange-
bracht oder in den Nerven eingestochen. Die Injektionsspritze enthält
ein Lokalanästhetikum; dessen Wirkweise wird in Box 3.4 besprochen
46 Kapitel 3 · Erregungsbildung und Erregungsleitung

Box 3.4. Wirkmechanismus der Lokalanästhetika


Einige Stoffe, wie z. B. das Kokain oder eine synthetische Da die dünnen C-Nervenfasern wegen des Fehlens
Variante, das Novocain, blockieren die Erregungsleitung, der schützenden Markscheide auf Lokalanästhetika
sobald sie mit einer Nervenfaser in Berührung kommen, empfindlicher als die dicken reagieren, fallen nicht alle
indem sie das Öffnen der Natrium-Poren (. Abb. 3.7) er- Empfindungen beim Einsetzen des Blockes gleichzeitig
schweren oder völlig verhindern. Sie werden daher als aus, und sie kehren auch nicht alle gleichzeitig zurück. Da-
3 Lokalanästhetika, also direkt am Nerven wirkende raus resultieren die gut bekannten Missempfindungen
schmerzhemmende Mittel, unmittelbar an und in den (Kribbeln, pelziges Gefühl etc.), die v. a. beim Abklingen
Nerven eingespritzt. Wird dies in . Abb. 3.8d an der durch des Nervenblocks auftreten können. Die Dauer der durch
eine Injektionsspritze markierten Stelle getan, so kann Lokalanästhetika verursachten Nervenblockade hängt von
zwar das Massenpotenzial der Ableitung 1 unverändert der Art des verwendeten Mittels ab. Es gibt allerdings Gifte,
registriert werden, das Massenpotenzial der Ableitung 2 wie das bereits erwähnte Fischgift Tetrodotoxin, TTX,
verschwindet aber vollkommen. Ebenso verschwinden die praktisch irreversibel die Öffnung der Natriumkanäle
alle Empfindungen, also nicht nur die Schmerz-, sondern hemmen. Die Einnahme dieses Giftes, z. B. bei einer nicht
auch die Druck-, Berührungs- und Temperaturempfindun- sachgerecht zubereiteten Pufferfischmahlzeit, macht das
gen aus dem vom blockierten Nerven versorgten Gebiet. Nervensystem unerregbar und ist daher tödlich.

Klinische Anwendung der ENG erfasst und der Verlauf der Krankheit bzw. des Heilungs-
Viele Krankheitsprozesse im peripheren Nervensystem, prozesses kann auf diese Weise quantitativ dokumentiert
z. B. die Nervenschäden bei Zuckerkrankheit (diabetische werden.
Neuropathie), bei der multiplen Sklerose (MS) oder bei
Nervenentzündungen (Neuritiden) schädigen die Mark- G Die extrazelluläre ENG erfasst das synchrone Massen-
scheiden und führen zu deren teilweisem oder vollständi- aktionspotenzial der schnellstleitenden Nerven-
gem Abbau. Solche Entmarkungen verlangsamen oder fasern eines Nerven. Verlangsamung der Erregungs-
blockieren die Erregungsleitung. Dies kann mit der ENG leitung deutet auf eine Entmarkungskrankheit hin.

Zusammenfassung
Im Ruhezustand ist das Zellinnere der Neurone etwa Die spannungsgesteuerten Kationenkanäle erregbarer
–80 mV negativer als die umgebende extrazelluläre Membranen
Flüssigkeit. Dieses Ruhepotenzial 5 sind komplexe Proteine, deren 4 oder mehr Domänen
5 kann wie alle anderen Membranpotenziale am besten aus 2 oder mehr Segmente bestehen, die wiederum
mit einer intrazellulären Mikroelektrode gemessen sich aus 2 oder mehr membranspannenden α-Helices
werden, zusammensetzen, die durch Aminosäureketten ver-
5 ist im Wesentlichen ein K+-Gleichgewichtspotenzial, bunden sind,
5 wird durch gekoppelte Na+-K+-Pumpen in einem dyna- 5 bilden in ihrer Mitte einen mit einem Selektivitätsfil-
mischen Gleichgewicht gehalten. ter bestückten Ionenkanal, dessen Öffnungswahr-
scheinlichkeit vom Membranpotenzial gesteuert
Wird das Ruhepotenzial auf etwa –60 mV depolarisiert wird,
(innen weniger negativ!) so entsteht ab dieser Schwelle 5 lassen sich zahlreichen Klassen, Familien und Unterfa-
ein Aktionspotenzial. Dieses Aktionspotenzial milien zuordnen,
5 hat ein »Alles-oder-Nichts«-Verhalten mit einer Ampli- 5 zeigen manchmal genetische Mutationen, die zu Er-
tude von etwa 110 mV und einer Dauer von 1–2 ms, krankungen (Kanalopathien) führen können.
5 beruht beim Aufstrich auf einer plötzlichen Zunahme
der Na+-Leitfähigkeit, die rasch wieder abnimmt, Der schnelle Natrium-Ionenkanal
5 wird v. a. durch eine vorübergehende Zunahme der 5 erreicht bei Depolarisation (Zellinneres weniger nega-
K+-Leitfähigkeit beendet, tiv) eine zunehmende Öffnungswahrscheinlichkeit (ist
5 ist von einer Refraktärzeit von 1–2 ms gefolgt, wäh- also spannungsgesteuert),
rend der das Neuron vorübergehend unerregbar ist. 5 führt beim Erreichen der Schwelle zum Aufstrich des
Aktionspotenzials,
6
Literatur
47 3

6
5 geht anschließend in ein kurzzeitiges Stadium der In- Die spannungsgesteuerten Kalzium-Ionenkanäle erreg-
aktivierbarkeit über, wodurch das Neuron refraktär barer Membranen
wird, 5 ähneln in ihren Eigenschaften den schnellen Natrium-
5 wird durch Zunahme der extrazellulären Ca2+-Ionen- Ionenkanälen,
konzentration in seiner Aktivierbarkeit herabgesetzt. 5 sind in manchen Gewebsstrukturen (z. B. Dendriten,
Herzmuskel) eher häufiger als der schnelle Na+-Kanal
Die spannungsgesteuerten Kalium-Ionenkanäle erreg- anzutreffen,
barer Membranen 5 haben den Zusatznutzen, bei Öffnung die intrazellu-
5 sind für das Ruhepotenzial verantwortlich, da sie läre Ca++-Konzentration zu erhöhen (Möglichkeit der
bereits dort eine hohe Öffnungswahrscheinlichkeit Ca++-Ionenwirkung als Second messenger).
haben,
5 erhöhen diese mit kurzer Verzögerung weiter, sobald Die Fortleitung des Aktionspotenzials
das Membranpotenzial während des Aufstrichs zu- 5 erfolgt in marklosen Nervenfasern (C-Fasern) jeweils in
nehmend positiver wird und bewirken dadurch die die unmittelbare Nachbarschaft der erregten Memb-
Repolarisation, ranstelle und ist deswegen sehr langsam (< 1–2,5 m/s),
5 kommen in großer Vielfalt vor, was sich in den unter- 5 erfolgt in markhaltigen (myelinisierten) Nervenfasern
schiedlichen Formen der Repolarisation wider- (A- und B-Fasern) von Schnürring zu Schnürring (salta-
spiegelt. torische Erregungsleitung) und erreicht dadurch bei
den dicksten Nervenfasern Geschwindigkeiten bis
über 100 m/s,
5 kann beim Menschen als extrazelluläres Massenaktions-
potenzial gemessen werden (Elektroneurographie, ENG).

Literatur
Alberts B, Johnson A, Lewis et al (2002) Molecular biology of the cell,
4th ed. Garland Science, New York
Ashcroft FM (2000) Ion channels and disease. Academic Press, London
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Dudel J, Menzel R, Schmidt RF (Hrsg) (2001) Neurowissenschaft. Vom
Molekül zur Kognition, 2. Aufl. Springer, Berlin Heidelberg New York
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Hille B (2001) Ionic channels of excitable membranes, 3rd ed. Sinauer,
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Kandel ER, Schwartz JH, Jessel TM (2000) Principles of neural science,
4th ed. McGraw-Hill, New York
Nicholls JG, Martin AR, Fuchs PA, Wallace BG (2001) From neuron to
brain, 4th ed. Sinauer, Sunderland
Schmidt RF, Lang F (Hrsg.) (2007) Physiologie des Menschen, 30. Aufl.
Springer, Berlin Heidelberg New York Tokyo
4

4 Synaptische Erregung und Hemmung

4.1 Chemische Synapsen im Zentralnervensystem – 50


4.1.1 Bauelemente chemischer Synapsen – 50
4.1.2 Erregende chemische Synapsen – 51
4.1.3 Postsynaptisch hemmende (inhibitorische) chemische Synapsen – 53
4.1.4 Präsynaptisch hemmende chemische Synapsen – 55

4.2 Synaptische Transmitter und Modulatoren – 56


4.2.1 Neurotransmitter – 56
4.2.2 Neuromodulatoren – 58

4.3 Postsynaptische Rezeptoren – 60


4.3.1 Arbeitsweise postsynaptischer Rezeptoren – 60
4.3.2 Ionotrope Rezeptoren – 61
4.3.3 Metabotrope Rezeptoren – 63

4.4 Synaptische Interaktion und Plastizität – 65


4.4.1 Synaptische Bahnung – 65
4.4.2 Synaptische Plastizität – 65

4.5 Elektrische Synapsen – 67


4.5.1 Erregende und hemmende elektrische Synapsen – 67
4.5.2 Funktionelle Synzytien – 68
4.5.3 Ephaptische Übertragung – 68

Zusammenfassung – 68
Literatur – 70

N. Birbaumer, Biologische Psychologie, DOI 10.1007/978-3-540-95938-0_4,


© Springer Medizin Verlag Heidelberg 2010
50 Kapitel 4 · Synaptische Erregung und Hemmung

)) 4.1 Chemische Synapsen


im Zentralnervensystem
An den Verbindungsstellen axonaler Endigungen einer Ner-
venfaser mit Nerven-, Muskel- oder Drüsenzellen, an den Sy- 4.1.1 Bauelemente chemischer Synapsen
napsen also, wird das Aktionspotenzial bzw. die in ihm enthal-
tene Information auf die nachgeschaltete Zelle übertragen. Grundstruktur einer chemischen Synapse
Die Überleitung erfolgt gelegentlich direkt (elektrische Sy- In . Abb. 4.1 endet das Axon eines Neurons in einer Auf-
napse), meist aber über die Freisetzung von chemischen Sub- treibung des axonalen Endstückes, der präsynaptischen
stanzen, die Transmitter oder Überträgerstoffe genannt wer- Endigung. Sie enthält zahlreiche synaptische Bläschen (sy-
4 den (chemische Synapse). Aktivierung einer Synapse führt naptische Vesikel), die die Überträgersubstanz (den Trans-
entweder zur Erregung oder zur Hemmung der nachgeschal- mitter) enthalten, also denjenigen Stoff, der bei der Erre-
teten Zelle. Es gibt also erregende und hemmende Synapsen. gung in den synaptischen Spalt freigesetzt wird.
Synapsen haben Ventilfunktion, d. h. sie übertragen nur von Die präsynaptische Endigung ist durch den synap-
der prä- auf die postsynaptische Seite. Sie sind, besonders im tischen Spalt von der postsynaptischen Seite getrennt. Der-
Zentralnervensystem, oft lernfähig (plastisch), d. h. sie über- jenige Anteil der postsynaptischen Zellmembran, der der
tragen z. B. bei häufiger Benutzung besser als bei seltener, präsynaptischen Endigung genau gegenüberliegt, also auf
und sie sind die Wirkstellen zahlreicher Pharmaka, wie z. B. der der postsynaptischen Seite den synaptischen Spalt begrenzt,
Narkotika, der psychotropen Pharmaka und der Suchtmittel. wird subsynaptische Membran genannt. Diese enthält u. a.
Synapsen gibt es in atemberaubender Vielfalt. Dies gilt für die Rezeptoren für die Überträgersubstanz. Bei dieser han-
ihre Struktur, ihre präsynaptischen Transmitter und ihre post- delt es sich im nachfolgenden Beispiel um Glutamat.
synaptischen Rezeptoren ebenso wie für ihre unterschied-
liche Zahl und Anordnung auf den jeweiligen Zielstrukturen
und für ihr Verhalten bei häufiger Aktivierung. Das kleine »Ein-
mal-Eins« der Synaptologie wird daher zunächst an einer gut
bekannten chemischen Synapse des ZNS vorgestellt und an-
schließend auf die übrigen Synapsen des ZNS ausgeweitet.
Nach den elektronenmikroskopischen Befunden zahlreicher Autoren, insbesondere von K. Akert, Zürich,

. Abb. 4.2. Synapsen auf einem Motoneuron. Stark vereinfachte,


und Mitarbeitern.

schematisierte Darstellung. Die Dendriten des Motoneurons sind


kurz nach ihrem Ursprung aus dem Soma abgeschnitten, sie würden
sich bei diesem Vergrößerungsmaßstab weit über die Fläche des
Buches hinaus erstrecken. Soma und Dendriten sind nahezu voll-
. Abb. 4.1. Aufbau einer chemischen Synapse im Überblick. Alle ständig von Synapsen unterschiedlicher Größe bedeckt. Die großen
bei der synaptischen Übertragung wichtigen Bauelemente sind ein- sind gelb, die kleinen grün eingefärbt. Die meisten (teils mark-
gezeichnet. Der Durchmesser der synaptischen Bläschen, die Breite haltigen, teils marklosen) Axone sind unmittelbar am synaptischen
des synaptischen Spaltes und die postsynaptischen Rezeptoren sind Endknopf abgeschnitten. Das Motoaxon ist markhaltig. Es endet in
relativ zu den übrigen Anteilen der Synapse mehrfach überhöht ge- der Körperperipherie als motorische Endplatte auf Skelettmuskelfasern
zeichnet (Maßangaben im Text) (. Abb. 13.2)
4.1 · Chemische Synapsen im Zentralnervensystem
51 4
Synapsen auf zentralen Neuronen, G Die beiden Grundelemente chemischer Synapsen
Beispiel Motoneuron sind die präsynaptische Endigung, die den Transmit-
Die motorischen Vorderhornzellen (Motoneurone), deren ter in Vesikeln enthält und die post(sub)synaptische
Nervenfasern (Motoaxone) die Skelettmuskelfasern inner- Membran mit ihren Rezeptoren für den Transmitter.
vieren, besitzen auf ihrem Zellkörper (Soma) etwa 6000 Der synaptischen Spalt trennt die prä- von der post-
Synapsen. Sie sind, wie . Abb. 4.2 zeigt, gleichmäßig über synaptischen Seite.
die Zelloberfläche verteilt. Ihr Aufbau entspricht dem Sy-
napsenschema der . Abb. 4.1; es handelt sich also um che-
mische Synapsen. 4.1.2 Erregende chemische Synapsen
Ein kleiner Teil dieser Synapsen stammt von den Ner-
venfasern der Muskelspindelrezeptoren (Abschn. 13.4.3), Experimentelle Registrierung
die direkte erregende Synapsen mit Motoneuronen ihres des motoneuronalen EPSP
eigenen (homonymen) Muskels bilden. Diese Verschal- In . Abb. 4.3a ist der von Eccles und Mitarbeitern zur Ana-
tung macht es möglich, erregende Synapsen eines Mo- lyse des EPSP benutzte Versuchsaufbau gezeigt. Werden die
toneurons durch periphere elektrische Reizung des afferenten Nervenfasern im peripheren Nerven elektrisch
zugehörigen Muskelnerven zu aktivieren und die post- gereizt (Pfeile in . Abb. 4.3b–d), so tritt nach kurzer Latenz
synaptischen Prozesse durch eine intrazelluläre Mikro- eine vorübergehende Depolarisation des Membranpo-
elektrode zu beobachten. Mit dieser Methode haben John tenzials auf, d. h. das Ruhepotenzial wird innen weniger
C. Eccles (Nobelpreis 1963) und Mitarbeiter Mitte des negativ. Die Amplitude dieser Positivierung hängt von der
vorigen Jahrhunderts die Vorgänge der synaptischen Zahl der erregten Afferenzen ab, bei elektrischer Reizung
Übertragung erstmals an zentralnervösen Synapsen ana- also von der Reizstärke (b<c<d). Durch die Depolarisation
lysiert. wird das Membranpotenzial in die Nähe der Schwelle

. Abb. 4.3a–g. Erregende postsynapti-


sche Potenziale (EPSP). a Schema der Ver-
suchsanordnung. Die EPSP werden intrazel-
lulär von einem Motoneuron nach Reizung
der homonymen (zugehörigen) Muskel-
spindelafferenzen (Ia-Fasern) abgeleitet.
b–d Schematische Darstellung der Wirkung
zunehmender Reizstärke. Das EPSP löst bei
Erreichen der Schwelle (–60 mV) ein fort-
geleitetes Aktionspotenzial aus. e–g EPSP
eines Motoneurons des Musculus quadri-
ceps der Katze. Die unipolare extrazelluläre
Ableitung der afferenten Salve von der Hin-
terwurzeleintrittszone (schwarze Elektrode
in a) dient als Maß für die Zahl der erregten
afferenten Nervenfasern und zur Bestim-
mung der spinalen Latenz. Sie ist als tripha-
sische Potenzialschwankung auf den unte-
ren Registrierungen zu sehen (schwarze
Registrierungen)
52 Kapitel 4 · Synaptische Erregung und Hemmung

verschoben (. Abb. 3.4 in Abschn. 3.2.1) und sobald diese 3. Präsynaptische Glutamat-Freisetzung: Die eingeström-
erreicht wird, tritt ein fortgeleitetes Aktionspotenzial auf ten Ca++-Ionen bewirken die synchrone, exozytotische
(. Abb. 4.3d). Wegen dieser Wirkung wird diese Depola- Freisetzung von Glutamat aus zahlreichen synaptischen
risation erregendes postsynaptisches Potenzial, EPSP, Vesikeln in den synaptischen Spalt.
genannt. 4. Glutamat diffundiert zu und reagiert mit den subsy-
Da jede afferente Nervenfaser ihre eigenen Synapsen naptischen Glutamatrezeptoren: Die in den synap-
auf dem Motoneuron bildet, bedeutet die Abhängigkeit der tischen Spalt freigesetzten Glutamatmoleküle verbin-
EPSP-Amplitude von der peripheren Reizstärke, dass die den sich mit den post-(sub-)synaptischen Glutamat-
einzelne afferente Nervenfaser über ihre Synapse nur ein rezeptoren und aktivieren sie dadurch, d. h. sie öffnen
4 sehr kleines EPSP auslösen kann. Die in . Abb. 4.3 gezeig- ihre Membrankanäle, die für Na+-, K+- und Ca++-Ionen
ten EPSP sind also durch die gleichzeitige Aktivierung durchgängig sind.
mehrerer bis vieler Synapsen verursacht. 5. Öffnen der Ionenkanäle lässt synaptischen Strom
fließen. Dieser Strom entsteht durch den Fluss von Na+-
G Aktivierung einer erregenden Synapse löst im nach-
und Ca++-Ionen in das Motoneuron und zwar passiv
geschalteten Neuron eine Depolarisation aus, die
entlang den Diffusionsgradienten. Er fließt nur sehr
das Ruhepotenzial näher an oder über die Schwelle
kurz (1–2 ms).
für ein Aktionspotenzial positiviert. Um die Schwelle
6. Der synaptische Strom bewirkt das EPSP, dessen Zeit-
zu erreichen, müssen zahlreiche Synapsen gleichzei-
verlauf . Abb. 4.3 zeigt. Der Anstieg ist Folge des
tig aktiviert werden.
eben genannten Ionenstroms, nach dessen Ende kehrt
das Membranpotenzial passiv auf seinen Ruhewert zu-
Zeitverlauf des EPSP rück.
Wie in . Abb. 4.3b–g zu sehen, dauert die Anstiegsphase 7. Beendigung der Transmitterwirkung durch Wegdiffu-
eines motoneuronalen EPSP etwa 2 ms, der Abfall etwa sion und Wiederaufnahme des Glutamat: In die prä-
10–15 ms (EPSP mit wesentlich langsameren Zeitverläufen synaptische Membran eingebaute Transportproteine
werden weiter unten geschildert). Der Zeitverlauf ist, wie »pumpen« das Glutamat wieder zurück, soweit es nicht
ebenfalls der Abbildung zu entnehmen, unabhängig von aus dem synaptischen Spalt abdiffundiert ist. Auch die
der Amplitude. Dies bedeutet, dass sich die an den ver- postsynaptische Seite und die umgebenden Gliazellen
schiedenen Synapsen gleichzeitig ausgelösten EPSP in ihrer nehmen mit Hilfe solcher Pumpen Glutamat auf.
Amplitude addieren.
G Die synaptische Übertragung läuft an allen chemi-
Die EPSP sind in Entstehung und Zeitverlauf den (in Ab-
schen Synapsen in den eben für das motoneuronale
schn. 13.1.3 beschriebenen) Endplattenpotenzialen an der
EPSP beschriebenen 7 Schritten ab, die mit dem Ein-
neuromuskulären Endigung analog. Während das Endplatten-
laufen des Aktionspotenzials in die präsynaptische
potenzial aber durch die Aktivierung einer einzelnen Synap-
Endigung beginnen und mit der Beendigung der
se, nämlich der Endplatte, entsteht, sind die EPSP meist durch
Transmitterwirkung schließen.
die gleichzeitige Aktivierung mehrerer Synapsen verur-
sacht, d. h. das einzelne EPSP ist von sehr kleiner Amplitude.
EPSP in anderen Neuronen
G Der Zeitverlauf der erregenden postsynaptischen
EPSP des eben beschriebenen Typs treten auch an anderen
Potenziale (EPSP) des Motoneurons (Anstieg 2 ms,
Neuronen des ZNS auf. Zum Teil sind etwas kürzere und
Abfall 10–15 ms) ist unabhängig von seiner Am-
längere Zeitverläufe beobachtet worden, wobei insgesamt
plitude, d. h. von der Zahl der synchron erregten
der Eindruck vorherrscht, dass die EPSP der Motoneurone
Synapsen.
in ihrem Zeitverlauf eher kürzer als die meisten anderen
EPSP sind.
Entstehung des EPSP Einen Extremfall stellen EPSP an peripheren sympathi-
Bis ein EPSP entsteht und bis es wieder abklingt, laufen an schen Ganglienzellen dar, die viele Sekunden bis Minuten
den motoneuronalen Synapsen 7 Hauptereignisse ab, die in dauern. Solchen Potenzialen kommt bei Neuronen im ZNS
vergleichbarer Form bei allen chemischen Synapsen vor- möglicherweise eine große Bedeutung bei der Langzeit-
kommen und deswegen nur hier ausführlich beschrieben informationsübertragung von Neuron zu Neuron zu, da
werden. Es handelt sich um: durch sie die Erregbarkeit auf einfachste Weise über lange
1. Einlaufen des Aktionspotenzials in die präsynaptische Zeit verstellt werden kann (Abschn. 4.2.2 und 4.4.2 sowie
Endigung. Kap. 24).
2. Ca++-Ionen-Einstrom in die präsynaptische Endigung: Ein solches synaptisches Potenzial in einem Sympathi-
Die Depolarisation der präsynaptischen Endigung durch kusganglion zeigt . Abb. 4.4a. Diese sympathischen Neuro-
das einlaufende Aktionspotenzial bewirkt das Öffnen von ne haben schnelle, erregende Synapsen, die Azetylcholin als
Ca++-Kanälen und damit den Einstrom von Ca++-Ionen. Überträgerstoff haben. Dazu, also in denselben Neuronen,
4.1 · Chemische Synapsen im Zentralnervensystem
53 4

mengefasst. Viel wichtiger sind aktive Prozesse, die den


Erregungszustand der Neurone herabsetzen. Diese akti-
Nach Nicholls J, Martin AR, Wallace BG (2001). Reproduced/adapted with

ven Prozesse werden als Hemmung oder Inhibition be-


zeichnet.
Im Zentralnervensystem von Säugetieren, einschließ-
lich des Menschen, sind 2 Typen aktiver Hemmung be-
kannt. Bei der postsynaptischen Hemmung wird an axo-
somatischen und axodendritischen Synapsen die Erregbar-
permission from The Company of Biologists.

keit der subsynaptischen Soma- und Dendritenmembran


der Neurone herabgesetzt (7 unten), während bei der prä-
synaptischen Hemmung an axoaxonischen Synapsen die
Transmitterfreisetzung an präsynaptischen Endigungen
reduziert oder völlig verhindert wird (Abschn. 4.1.4). Die
postsynaptische Hemmung scheint die größere Rolle zu
spielen; die präsynaptische Hemmung findet sich vorwie-
gend an den präsynaptischen Endigungen somatischer und
. Abb. 4.4a, b. Langsame synaptische Potenziale einer peptider- viszeraler Afferenzen.
gen Synapse. a Intrazelluläre Registrierung eines langsamen (slow)
erregenden postsynaptischen Potenzials, sEPSP, an einer sympathi- G Verminderte Erregbarkeit von Neuronen kann Folge
schen Ganglienzelle des Frosches. Zur Auslösung des sEPSP wurde
vorausgegangener Erregung (z. B. die Refraktärität
der präsynaptische Nerv für 5 s mit 20 Reizen pro Sekunde (20 Hz)
elektrisch gereizt. b Eine ähnliche Depolarisation wird durch 15 s
nach einem Aktionspotenzial) sein. Prä- und post-
lange Applikation des Peptids LHRH ausgelöst (7 Text). Beachte die synaptische Hemmung (Inhibition) sind dagegen
rund 8 min lange Dauer beider Depolarisationen aktive Prozesse an chemischen Synapsen.

Ablauf und Ionenmechanismus inhibitorischer


erzeugen wiederholte Reizungen der präsynaptischen postsynapischer Potenziale, IPSP
Axone minutenlange erregende postsynaptische Potenziale. Reizung von Muskelspindelafferenzen erregt nicht nur die
Das Peptid LHRH (luteinisierendes Hormon-Releasing- eigenen (homonymen) Motoneurone (. Abb. 4.2), sondern
Hormon, Abschn. 7.4.1), verursacht ein praktisch iden- hemmt gleichzeitig die Motoneurone des Gegenspielers
tisches postsynaptisches Potenzial (. Abb. 4.4b). Dieses (Antagonisten, Abschn. 13.5.1) am Gelenk. Die dabei in
Peptid oder ein naher Verwandter und nicht Azetylcholin einem solchen antagonistischen Motoneuron auftretenden
ist hier der Überträgerstoff. Potenziale zeigt . Abb. 4.5. Jeder Reiz löst eine hyperpola-
Langsame EPSP (abgekürzt sEPSP von slow EPSP) wer- risierende Potenzialverschiebung (Zellinnere negativer als
den auch im ZNS, v. a. im Neokortex und im Hippokampus
registriert. Langsame kortikale Hirnpotenziale beim Men-
schen werden in Kap. 20 erläutert.

G EPSP an anderen Neuronen des ZNS gleichen denen


an Motoneuronen, sie sind allerdings oftmals länger.
Schnelle und langsame EPSP werden z. T. an den-
selben Neuronen beobachtet. Die langsamen EPSP
können an Lernprozessen beteiligt sein.

4.1.3 Postsynaptisch hemmende


(inhibitorische) chemische Synapsen

Abgrenzung aktiver synaptischer Hemmung


von passiver Depression . Abb. 4.5a–d. Hemmende postsynaptische Potenziale (rot) in
Neben den erregenden Prozessen laufen an den Neuronen einem Motoneuron des Musculus semitendinosus der Katze bei
auch Vorgänge ab, die ihre Aktivität reduzieren. Dabei Reizung des Nervus quadriceps. Die von der Hinterwurzeleintritts-
zone abgeleiteten afferenten Salven (extrazelluläre, unipolare Ablei-
handelt es sich zum kleineren Teil um Folgen einer vor-
tung, . Abb. 4.3a) sind in blau als triphasische Potenzialschwankun-
hergehenden Erregung, wie z. B. die Refraktärphase im gen auf den oberen Registrierungen zu sehen. Beachte die gegenüber
Anschluss an ein Aktionspotenzial (Abschn. 3.2.3). Diese . Abb. 4.3 deutlich längere spinale Latenz, die auf die Zwischenschal-
Abnahmen von Erregung werden als Depression zusam- tung eines Interneurons im spinalen Reflexweg hinweist
54 Kapitel 4 · Synaptische Erregung und Hemmung

Box 4.1. Die Entdeckung der chemischen synaptischen Übertragung


In der Nacht zum Ostersonntag 1920 wachte der Grazer langsamer und schwächer, gerade so als ob sein Vagusnerv
Pharmakologe Otto Loewi (1873–1961, Nobelpreis 1936) gereizt worden wäre. Entsprechend verhielt es sich, wenn
nachts auf, schrieb seinen Traum auf und schlief wieder ein. der Sympathikusnerv gereizt wurde und die Ringer-Lösung
Am nächsten Morgen erinnerte er sich, etwas Wichtiges übertragen wurde: die Herzfrequenz des zweiten Herzens
notiert zu haben, aber er konnte sein Gekritzel nicht lesen. In erhöhte sich und es schlug kräftiger. Diese Ergebnisse zeig-
der nächsten Nacht wachte er mit dem gleichen Gedanken ten zweifelsfrei, dass die Nerven das Herz nicht direkt be-
wieder auf. Da stand er dann sofort auf, ging in sein Labora- einflussen, sondern von ihren Endigungen spezifische che-
torium und führte ein Experiment aus, das erstmals ohne mische Substanzen freisetzen, die dann ihrerseits die gut
4 Zweifel zeigte, dass es eine chemische synaptische Übertra- bekannten Veränderungen am Herzen auslösen, die für die
gung gibt. In seiner Autobiographie schreibt er: »Die Herzen Reizung der Herznerven charakteristisch sind«.
zweier Frösche wurden isoliert, das eine mit, das andere Literatur: Loewi O (1960) An autobiographic sketch: In: Perspec-
ohne seine Nerven. Beide Herzen wurden an Straub-Ka- tives in Biology and Medicine, vol. IV:3–25. Ein Sonderdruck
nülen gehängt, die mit etwas Ringer-Lösung gefüllt waren. dieser Autobiografie wurde einem der Autoren von O. Loewi
wenige Wochen vor seinem Tod aus New York nach Austra-
Der Vagusnerv des ersten Herzens wurde für einige Minuten
lien zugesandt (7 Adressaufkleber). Wegen des langen Post-
gereizt. Dann wurde die Ringer-Lösung des ersten Herzens wegs erreichte der Sonderdruck den Adressaten erst nach
auf das zweite Herz übertragen. Dieses schlug daraufhin Loewis Tod.

das Ruhepotenzial), deren Zeitverlauf spiegelbildlich dem die gleiche Wirkung hat (das Kalium-Gleichgewichtspoten-
Zeitverlauf des EPSP entspricht (beim Motoneuron findet zial ist etwas negativer als das Ruhepotenzial, . Abb. 3.5a).
sich ein Anstieg von 1–2 ms und ein Abfall von 10–12 ms). An sympathischen Ganglien sind, analog den langsamen
Durch die Hyperpolarisation wird das Membranpo- EPSP, auch langsame synaptisch ausgelöste Hyperpolarisa-
tenzial von der Schwelle für eine fortgeleitete Erregung tionen gefunden worden, mit einer Dauer von mehreren
entfernt und damit das Motoneuron gehemmt. Die Hyper- Hundert Millisekunden.
polarisationen in . Abb. 4.5 werden daher als hemmende
G IPSP sind zum EPSP spiegelbildliche hyperpolari-
oder inhibitorische postsynaptische Potenziale, IPSP, be-
sierende Potenzialschwankungen, die durch die ver-
zeichnet.
mehrte Öffnung von Cl--Kanälen entstehen. IPSP
Während der Einwirkung des inhibitorischen Trans-
mit längeren Zeitverläufen kommen in zentralen
mitters an der subsynaptischen Membran, also für 1–2 ms,
Neuronen ebenfalls vor. Teilweise ist dabei auch die
kommt es zu einer Zunahme der Öffnung von Cl–-Kanälen
K+-Permeabilität erhöht.
und damit zu einem Einstrom von Cl–-Ionen, was das Ruhe-
potenzial erhöht (Hyperpolarisation, das Zellinnere wird
negativer). Der gesamte Ablauf des IPSP ist im Übrigen Wirkweise der IPSP
analog den Schritten 1–7 in Abschn. 4.1.2. Die hemmende Wirkung des IPSP beruht einmal auf der
Die IPSP an anderen zentralen, einschließlich den kor- Hyperpolarisation des Membranpotenzials, die das Mem-
tikalen Neuronen entsprechen in ihrem Ionenmechanis- branpotenzial von der Schwelle entfernt. Zum anderen auf
mus denen an Motoneuronen. Allerdings finden sich be- der während der Anstiegsphase des IPSP (Schritt 6 in 4.1.2)
trächtliche Unterschiede der Zeitverläufe und an einigen erhöhten Membranleitfähigkeit wegen der vermehrt ge-
hemmenden Synapsen kommt es nicht nur zu einer Öff- öffneten Cl–-Ionenkanäle, die den erregenden Strom des
nung von Chlorid-, sondern auch von Kaliumkanälen, was EPSP, wie anschließend erläutert, »kurzschließen«.
4.1 · Chemische Synapsen im Zentralnervensystem
55 4

. Abb. 4.6a, b. Wirkung von IPSP auf EPSP. Versuchsaufbau wie


in . Abb. 4.3 und 4.5. a Reizung des antagonistischen Nerven ergibt
. Abb. 4.7a, b. Arbeitsweise der präsynaptischen Hemmung.
das IPSP links, Reizung des homonymen Nerven das rechts gezeigte
Die Skizze oben zeigt die Versuchsanordnung zum Nachweis der
EPSP. b Das EPSP wurde etwa 1, 3 und 5 ms nach Beginn des IPSP aus-
präsynaptischen Hemmung eines monosynaptischen EPSP eines
gelöst. c Subsynaptische Permeabilitätsänderungen bei gleichzeitiger
Motoneurons (Axon 3), darunter motoneuronale EPSP nach Reizung
Aktivierung erregender und hemmender Synapsen (links) und bei
der homonymen Ia-Fasern (Axon 1) ohne (a) und mit (b) vorhergehen-
alleiniger Aktivierung der erregenden Synapsen (rechts)
der Aktivierung präsynaptisch hemmender Interneurone (Axon 2)

Die unterschiedliche Wirkung dieser beiden Hemm- 4.1.4 Präsynaptisch hemmende chemische
Mechanismen ist in . Abb. 4.6b zu sehen. Ein im späteren Synapsen
Verlauf des IPSP ausgelöstes EPSP ist lediglich um den Be-
trag der jeweiligen Hyperpolarisation verschoben (mittlere Wirkort und Ablauf der präsynaptischen
und rechte Registrierung in b), das während der Anstiegs- Hemmung
phase des IPSP ausgelöste EPSP ist jedoch kleiner als das Die aus der Körperperipherie in Rückenmark und Hirn-
Kontroll-EPSP in a. stamm einlaufenden Nervenfasern aus den Sinnesrezep-
Die Skizzen in c zeigen die Ursache für den unter- toren, z. B. die bei der Besprechung der motoneuronalen
schiedlichen Effekt des IPSP während und nach der An- EPSP erwähnten Muskelspindelafferenzen (Abschn. 4.1.2)
stiegsphase: Links sind erregende und hemmende Synapse werden an ihren präsynaptischen Endigungen von anderen,
etwa gleichzeitig aktiviert, und der Einstrom der Na+-Ionen von Rückenmarksneuronen (Interneuronen) stammenden,
an der subsynaptischen Membran der erregenden Synapse präsynaptischen Endigungen kontaktiert, die mit ihnen
wird durch die an der hemmenden Synapse einströmen- eine axoaxonische Synapse bilden. . Abb. 4.7 zeigt den Auf-
den Cl–-Ionen teilweise kompensiert. Die resultierende bau einer solchen axoaxonischen Synapse. Endigung 1 ist
Potenzialänderung in depolarisierender Richtung ist daher postsynaptisch zu Endigung 2 (und präsynaptisch zum mit
kleiner als zu dem rechts gezeigten Zeitpunkt, bei dem die 3 bezeichneten Motoneuron).
inhibitorische Synapse nicht aktiviert ist. Die Arbeitsweise der axoaxonischen Synapse lässt
sich wie folgt illustrieren: Aktivierung der synaptischen
G Die hemmende Wirkung des IPSP beruht einmal auf
Endigung 1 (Pfeil in . Abb. 4.7a) ruft in Neuron 3 ein EPSP
der Hyperpolarisation des Membranpotenzials und
von etwa 10 mV hervor. Wird aber Axon 2 vor Axon 1 ak-
zum anderen auf der während der Anstiegsphase
tiviert (Pfeile in . Abb. 4.7b), so beträgt die Amplitude des
des IPSP erhöhten Membranleitfähigkeit durch
EPSP nur noch 5 mV, ohne dass ein IPSP an der postsynap-
die vermehrte Öffnung von Cl–- (und z. T. K+-) Ionen-
tischen Membran der Zelle 3 auftritt. Diese Form der EPSP-
kanälen.
Hemmung ohne Änderung der postsynaptischen Membran-
eigenschaften bezeichnet man als präsynaptische Hem-
mung.
56 Kapitel 4 · Synaptische Erregung und Hemmung

G Präsynaptische Hemmung wird durch die Aktivie- sprechend cholinerg etc. (erg von griechisch ergon, Arbeit,
rung axoaxonischer Synapsen ausgelöst. Sie führt Energie).
zur Abnahme der EPSP ohne IPSP auf der postsynap- Für all diese Transmitter gilt, dass sie
tischen Seite. 4 im Neuron selbst synthetisiert;
4 anschließend in den Vesikeln der präsynaptischen En-
Wirkweise und funktionelle Bedeutung digungen gespeichert;
der präsynaptischen Hemmung 4 bei Einlaufen eines Aktionspotenzials in den synapti-
Die Aktivierung der in . Abb. 4.7 illustrierten axoaxoni- schen Spalt freigesetzt;
schen Synapse bewirkt (über einen hier nicht näher ausge- 4 sofort anschließend durch Spaltung und/oder Wieder-
4 führten Ionenmechanismus) eine Reduzierung der Trans- aufnahme in die präsynaptische Endigung (z. T. auch
mitterfreisetzung aus der präsynaptischen Endigung der Aufnahme in das postsynaptische Neuron oder die um-
afferenten Nervenfaser, was dann, wie in der Abbildung ge- gebende Glia) spezifisch inaktiviert oder durch Weg-
zeigt, in einem verkleinerten EPSP resultiert. Diese prä- diffusion wirkungslos werden.
synaptische Hemmung kann sehr effektiv sein und einige
100 ms andauern. Es sind handelt sich bei allen Substanzen, die diese Kriterien
Die funktionelle Bedeutung der präsynaptischen Hem- erfüllen, um relativ kleine Moleküle, daher auch der Begriff
mung primär afferenter Nervenfasern liegt v. a. darin, dass niedermolekulare (Neuro-)Transmitter.
einzelne afferente Zuflüsse zu einer Nervenzelle gezielt
G Die Überträgersubstanzen (Transmitter) werden in
gehemmt werden können. Es wird also nicht die Erregbar-
ihren Neuronen synthetisiert und anschließend in
keit des postsynaptischen Neurons verändert, sondern die
den präsynaptischen Vesikeln gespeichert. Nach
von der Peripherie eintreffenden sensiblen Signale können
der Freisetzung in den synaptischen Spalt erfolgt die
abgeschwächt oder völlig unterdrückt werden bevor sie ihre
Inaktivierung durch Spaltung oder Aufnahme in die
erregende Wirkung auf das postsynaptische Neuron entfal-
umgebenden Zellen.
ten. Diese Möglichkeit der Hemmung der von den Senso-
ren in das Nervensystem einströmenden Impulse wird z. B.
zur Empfindlichkeitsverstellung der afferenten Kanäle, Azetylcholin (ACh) als Transmitter
also zur Unterdrückung »unerwünschter« Information und Wie in Box 4.1 beschrieben, konnte Otto Loewi zeigen, dass
zur Auswahl »erwünschter« Information (Kap. 22) und zur die hemmende Wirkung des Vagusnerven auf das Herz
Kontrastverschärfung eingesetzt. (Abschn. 10.5.4) durch die Freisetzung einer chemischen
Substanz verursacht wird, die sein Zeitgenosse, der eng-
G Durch die Aktivierung der axoaxonischen Synapsen
lische Pharmakologe Sir Henry Dale, als Azetylcholin
wird an den axosomatischen Synapsen weniger
(ACh) identifizierte.
Transmitter freigesetzt. Präsynaptische Hemmung
Praktisch alle anderen cholinergen Synapsen sind aller-
dient zur Empfindlichkeitsverstellung somatosen-
dings nicht hemmender, sondern erregender Natur. Im
sorischer Eingänge und zur gezielten Hemmung ein-
autonomen Nervensystem (ANS) ist ACh im parasympa-
zelner Eingänge eines Neurons.
thischen Teil des ANS Überträgersubstanz in allen Ganglien
und an allen postganglionären effektorischen Synapsen,
4.2 Synaptische Transmitter also nicht nur den präsynaptischen Endigungen der Vagus-
und Modulatoren fasern zum Herzen. Im sympathischen Teil des ANS ist
ACh ebenfalls der Transmitter an allen ganglionären Syn-
4.2.1 Neurotransmitter apsen, ferner an den Synapsen des Nebennierenmarks und
postganglionär an den Synapsen der Schweißdrüsen (Wei-
Eigenschaften niedermolekularer teres in Abschn. 6.2.2).
Neurotransmitter Im Zentralnervensystem ist das ACh der Transmitter
Azetylcholin wurde in den zwanziger Jahren des vorigen von ca. 10% aller Synapsen. Es sind allein 8 vom Rücken-
Jahrhunderts als erster chemischer Transmitter (synonym: mark zum Kortex aufsteigende ACh-Systeme bekannt, dazu
Überträgerstoff) einwandfrei identifiziert (Box 4.1). Da- kommen Systeme, die innerhalb des Gehirns entspringen
nach wurden Zug um Zug weitere Substanzen entdeckt, und enden (Abschn. 5.2.3, 5.2.4, 5.4.2, 5.4.3). Schließlich ist
die aus präsynaptischen Endigungen bei deren Aktivie- ACh der Transmitter an den neuromuskulären Synapsen
rung freigesetzt werden, also als Transmitter dienen. Es (Endplatten), also an der Verbindungsstelle der moto-
hat sich eingebürgert, die Synapsen nach der Substanz rischen Nervenfasern (aus den Motoneuronen in Rücken-
zu benennen, die präsynaptisch freigesetzt wird. So ist in mark und Hirnstamm) mit den Skelettmuskelfasern (Ab-
4.1.1 das Glutamat bereits als erregender Transmitter er- schn. 13.1.3).
wähnt worden, die Synapse wird daher als glutamaterg Die Inaktivierung des ACh erfolgt an allen cholinergen
bezeichnet. Azetylcholin freisetzende Synapsen heißen ent- Synapsen durch die Cholinesterase, die das Azetylcholin in
4.2 · Synaptische Transmitter und Modulatoren
57 4

Cholin und Essigsäure spaltet. Die Spaltprodukte werden nannt (. Abb. 4.8). Von diesen ist Noradrenalin der Trans-
anschließend in die präsynaptische Endigung aufgenom- mitter an allen postganglionären sympathischen Endigun-
men und dort wieder zu ACh synthetisiert. gen mit Ausnahme der Schweißdrüsen (dort ist es ACh).
Adrenalin wird neben Noradrenalin im Nebennierenmark
G Azetylcholin ist der Transmitter verschiedener
sezerniert. Noradrenalin und Dopamin wirken auch im
Synapsen im autonomen Nervensystem (z. B. aller
ZNS, z. B. im Hypothalamus, im limbischen System und
sympathischen und parasympathischen Ganglien),
in den Kerngebieten der motorischen Basalganglien, als
ferner von etwa 10% der Synapsen im ZNS und an
Transmitter. Serotonin (5-HT) dient den vom Hirnstamm
den Endplatten des Skelettmuskels.
aufsteigenden Bahnen als Transmitter. Histamin ist u. a.
Transmitter hypothalamischer Neurone, deren Axone zur
Biogene Amine als Transmitter Großhirnrinde, zum Thalamus und zum Kleinhirn proji-
Die Transmitter Adrenalin, Noradrenalin und Dopamin zieren.
sind chemisch (durch den gemeinsamen »Katecholring«) Die postsynaptische Wirkung freigesetzter biogener
eng miteinander verwandt. Daher werden sie zusammen Amine wird v. a. durch Wiederaufnahme in die präsynap-
als Katecholamine bezeichnet. Zusammen mit dem eben- tische Endigung beendet. Daneben werden sie durch spezi-
falls nahe stehenden Serotonin (5-Hydroxytryptamin, fische Monoaminoxidasen (MAO) abgebaut. MAO-Hem-
5-HT) bilden sie die Gruppe der Monoamine (Amine ent- mer werden klinisch z. B. zur Behandlung von Depressio-
stehen durch Decarboxylierung von Aminosäuren, siehe in nen eingesetzt (Box 4.2).
. Abb. 4.8 die Umwandlung von L-Dopa zu Dopamin: aus
– G Zu den biogenen Aminen zählen die Katecholamine
COOH wird –NH3). Die Monoamine aus körpereigenen
Adrenalin, Noradrenalin und Dopamin. Sie sind
Aminosäuren (Abschn. 2.1.3) wiederum ordnet man den
Monoamine, wie auch das Serotonin (5-HT) und
biogenen Aminen zu, zu denen auch das Histamin gehört.
das Histamin. Die Wirkung dieser Transmitter wird
Die Katecholamine Adrenalin, Noradrenalin und Do-
v. a. durch Wiederaufnahme in die präsynaptischen
pamin werden auch adrenerge Überträgersubstanzen ge-
Endigungen beendet.

Aminosäuren als Transmitter


Die in Abschn. 4.1.1 bereits eingeführte Glutaminsäure
(. Abb. 4.9), meist Glutamat genannt, ist der verbreitetste
erregende Überträgerstoff im ZNS. Auch andere Amino-
säuren, insbesondere Aspartat (Asparaginsäure), stehen im
Verdacht, erregende Transmitter im ZNS zu sein.
Die Gamma-amino-Buttersäure, GABA (γ-amino-bu-
tyric acid, . Abb. 4.9) ist der verbreitetste hemmende
Überträgerstoff im Zentralnervensystem.
Die einfache Aminosäure Glyzin (. Abb. 4.9) ist der do-
minierende hemmende Transmitter der postsynaptischen
Hemmung in Rückenmark und Hirnstamm, während glyzi-
nerge Synapsen im Gehirn seltener zu finden sind.
Die Beendigung der synaptischen Übertragung er-
folgt auch bei den Aminosäuren v. a. durch (Wieder-)Auf-
nahme des Transmitters in die präsynaptische Endigung,
aber auch in das postsynaptische Neuron und die umgeben-
de Glia. Die Entfernung aus dem synaptischen Spalt erfolgt
hier – wie in den oben geschilderten Fällen – durch spezi-
fische Transportproteine (»Pumpen«).

G Die Aminosäure Glutamat ist der häufigste erregen-


de Transmitter im ZNS. Der häufigste hemmende
ist die Aminosäure GABA. In Rückenmark und Hirn-
. Abb. 4.8. Biosynthese der Katecholamine (Dopamin, Noradre- stamm ist auch Glyzin ein verbreiteter hemmender
nalin, Adrenalin) mit Angabe beteiligter Enzyme. PNMT Phenyl- Transmitter.
äthanolamin-N-Methyl-Transferase. Die in jedem Syntheseschritt
erfolgte Änderung der molekularen Konfiguration ist rot hervorge-
hoben. Nur die linksdrehenden Formen (L-) der angegebenen Subs-
tanzen kommen biologisch vor
58 Kapitel 4 · Synaptische Erregung und Hemmung

Box 4.2. Zentrale chemische Synapsen sind wichtige Angriffspunkte von Psychopharmaka, Beispiel Fluoxetin
Fluoxetin ist eine der wirkungsvollsten und weltweit meist auch als Autorezeptoren auf der präsynaptischen Seite,
verschriebenen Antidepressiva und Stimmungsaufheller einschließlich Soma und Dendriten. d Gabe von Fluoxetin
(»mood stabilizer«, »Glückspille«). Es blockiert selektiv den blockt die Wiederaufnahme von Serotonin (»Stop«-Schild
Wiederaufnahmemechanismus von Serotonin (5-HT) an in der Graphik). Dies führt zu einem Anstieg der extrazellu-
serotonergen Synapsen (aktive »Pumpe«) und dies gilt als lären Serotoninkonzentration, aber nachweislich zunächst
sein therapeutischer Wirkmechanismus, auch wenn dazu nur in der somatodendritischen Umgebung. e Als Folge
noch einige Fragen offen sind (zur Symptomatik, Neuro- desensitisieren die Autorezeptoren oder werden abgebaut
biologie und Therapie von Depressionen Abschn. 26.3). und dies führt f zu einer gesteigerten Aktivität des Neu-
4 Insbesondere gilt für Fluoxetin wie für fast alle Antide- rons mit vermehrter Freisetzung von Serotonin in den
pressiva, dass ihre synaptische Wirkung praktisch sofort, synaptischen Spalt. g Dies wiederum bewirkt einen Rück-
ihr antidepressiver Effekt jedoch erst nach 3–8 Wochen gang der postsynaptischen Zahl der Serotoninrezeptoren
einsetzt. Die Abbildung skizziert die derzeitigen Vor- und damit eine Normalisierung der serotonergen Synapse.
stellungen dazu: c Bei einem depressiven Patienten Die für die genannten Umbauten der prä- und postsynap-
haben serotonerge Neurone ein Defizit an Serotonin und tischen Rezeptoren benötigte Zeit erklärt die Latenz
als Folge davon werden vermehrt Serotoninrezeptoren zwischen der ersten Gabe des Antidepressivums und der
gebildet, sowohl auf der postsynaptischen Seite, wie Stimmungsaufhellung.

4.2.2 Neuromodulatoren einem niedermolekularen Transmitter in einer präsynap-


tischen Endigung auftreten, werden Kotransmitter, die
Vorkommen peptiderger Kotransmitter gemeinsame Freisetzung dieser Substanzen Kotransmis-
Die chemische synaptische Übertragung wurde bisher so sion genannt.
vorgestellt, als ob eine Nervenzelle an allen ihren prä- Bei den Kotransmittern handelt es sich bei vielen, aber
synaptischen Endigungen nur jeweils einen Überträgerstoff nicht allen Synapsen um Peptide, also um Ketten von Amino-
ausschüttet. Häufig wird aber an synaptischen Nerven- säuren, die aber deutlich kürzer als die Ketten von Eiweißen
endigungen neben einem niedermolekularen Überträger- sind. Diese neuroaktiven Peptide, von denen einige, häufig
stoff (Abschn. 4.2.1) eine weitere Substanz ausgeschüttet, vorkommende in . Abb. 4.9 zu sehen sind, werden auf
die an der Übertragung mitwirkt (ein Beispiel zeigte be- Grund von Strukturmerkmalen in Familien eingeteilt (z. B.
reits die . Abb. 4.4). Überträgerstoffe, die zusammen mit Enkephaline, Tachykinine). Mittlerweile sind mehr als 50
4.2 · Synaptische Transmitter und Modulatoren
59 4

lungen der Erregbarkeit (entweder Zu- oder Abnahmen)


verantwortlich ist. Letztere Funktion bezeichnen wir als
synaptische Modulation.
Ein synaptischer Modulator bewirkt also unmittelbar
keine EPSP oder IPSP in den subsynaptischen Membranen,
sondern er modifiziert Intensität und Dauer der Wirkung
der niedermolekularen Überträgerstoffe.
Die präsynaptische Speicherung erfolgt in Vesikeln,
die deutlich größer als die Vesikel der kleinmolekularen
Transmitter sind. Ihre Freisetzung ist ebenfalls kalzium-
gesteuert, erfordert aber eine mehrfache, also stärkere
Aktivierung der präsynaptischen Endigung (. Abb. 4.4a).
Mit anderen Worten, die Freisetzung von peptidergen
Kotransmittern tritt erst auf, wenn mehrere Aktionspoten-
ziale in kurzem Abstand in die präsynaptische Endigung
eingelaufen sind.
G Präsynaptische Endigungen enthalten häufig in
Vesikeln gespeicherte Neuropeptide als Kotrans-
mitter. Diese sind modulierend an der synaptischen
Übertragung beteiligt, d. h. sie erhöhen oder ver-
mindern die Wirksamkeit des niedermolekularen
Überträgerstoffs.

Nicht-peptiderge Neumodulation
Nicht-peptiderge Modulatoren sind nicht so zahlreich wie
die peptidergen, aber z. T. weit verbreitet. Das gilt v. a. für das
ATP, den universellen Treibstoff aller Zellen (Abschn. 2.1.3).
Das ATP findet sich als Kotransmitter in cholinergen (z. B.
an der Endplatte) und adrenergen präsynaptischen Endi-
gungen, aber auch im Gehirn, wo es die präsynaptische Frei-
setzung von Glutamat fördern oder dessen postsynaptische
Wirkung steigern kann.
Ein Abbauprodukt des ATP, das Adenosin wirkt über-
wiegend hemmend auf die präsynaptische Freisetzung
erregender kleinmolekularer Transmitter. Diese Wirkung
. Abb. 4.9. Neurotransmitter und -modulatoren. Die wichtigeren wird durch Coffein und Theophyllin gehemmt, was ver-
synaptischen Stoffe, die im peripheren und zentralen Nervensystem als mutlich für die anregende Wirkung von Kaffee und Tee
Transmitter, Neurohormone und Modulatoren dienen. Oben: »Klassi- verantwortlich ist (Kap. 22).
sche« Überträgerstoffe, unten: Peptide. Bei den Peptiden stellt jede Aus der Arachidonsäure werden im Körper zahlreiche
dreibuchstabige Abkürzung eine Aminosäure dar, also z. B. Arg Arginin,
Substanzen synthetisiert (z. B. Prostaglandine, Thrombo-
Gly Glyzin, Lys Lysin, Tyr Tyrosin etc. Der Syntheseweg der zu den Mono-
aminen gehörenden Katecholamine ist in . Abb. 4.8 zu sehen xane, Cannaboide), die z. T. als Neuromodulatoren frei-
gesetzt werden. So führt die Freisetzung von Prostaglan-
dinen zu Entzündungsreaktionen, Fieber und Schmerz
solcher Neuropeptide bekannt. Viele von ihnen wirken auch (Abschn. 16.2.1).
als Hormone, z. B. das in der Abbildung gezeigte LHRH, das Schließlich kann auch eine gasförmige Substanz, das
für das sEPSP in . Abb. 4.4b verantwortlich ist. Stickstoffmonoxid, NO, als Neuromodulator wirken. Es
wird durch das Enzym Stickoxidsynthase gebildet, entfaltet
Neuromodulation durch peptiderge für wenige Sekunden seine Wirkung (z. B. eine Entspan-
Kotransmitter nung der Gefäßmuskulatur) und zerfällt.
Die Aufgaben von peptidergen Kotransmittern sind noch
nicht überall deutlich. In vielen Fällen sieht es nach einer G Zu den nicht-peptidergen Neuromodulatoren zäh-
Arbeitsteilung aus, bei der der niedermolekulare Transmit- len Purinderivate (ATP, Adenosin), ferner Abkömm-
ter die schnelle synaptische Übertragung übernimmt, wäh- linge der Arachidonsäure (z. B. Prostaglandine,
rend der peptiderge Kotransmitter für Langzeitverstel- Cannaboide) und NO.
60 Kapitel 4 · Synaptische Erregung und Hemmung

4.3 Postsynaptische Rezeptoren präsynaptische (Re-)Synthese des Transmitters wirken,


also eine übermäßige Ausschüttung verhindern. Ein Bei-
4.3.1 Arbeitsweise postsynaptischer spiel ist in der Box 4.2 beschrieben.
Rezeptoren
G Autorezeptoren hemmen die präsynaptische Trans-
Ionotrope und metabotrope Rezeptoren mitterfreisetzung und die (Re-)Synthese des Trans-
mitters. Sie verhindern damit eine übermäßige Aus-
Der aus der präsynaptischen Endigung freigesetzte Trans-
schüttung.
mitter löst auf der postsynaptischen Seite die in Abschn. 4.1.2
bis 4.1.4 beschriebenen erregenden oder hemmenden Än-
derungen des Membranpotenzials aus. Er verbindet sich Desensitisierung ligandengesteuerter
4 Rezeptorkanäle
dazu mit einem in der postsynaptischen Membran einge-
lagerten Proteinmolekül, seinem Rezeptor. Diese Anlage- Schließlich ist, festzuhalten, dass die Rezeptoren bei rasch
rung des Transmitters an den Rezeptor bewirkt die Öffnung wiederholtem oder lang anhaltenden Kontakt mit ihrem
von Ionenkanälen und damit Ionenströme mit den oben be- Transmitter oder einem Agonisten desensitisieren, d. h.
schriebenen Folgen. unempfindlicher werden (manche glutamaterge Synapsen
Wird der Ionenkanal dadurch geöffnet, dass sich der im ZNS desensitisieren bereits nach 1 ms). Es kommt dann
Transmitter an ihn selbst bindet, ist er also gleichzeitig Re- nicht mehr zur Öffnung der Ionenkanäle (ionotrope Re-
zeptor und Ionenkanal, so wird er, da eine an einen Rezep- zeptoren) oder zur G-Protein-Aktivierung (metabotrope
tor bindende Substanz Ligand genannt wird, als liganden- Rezeptoren).
gesteuerter Ionenkanal oder ionotroper Rezeptor be- Desensitisierung scheint ein Sicherheitsmechanismus
zeichnet, je nachdem, welche seiner Eigenschaften betont der Synapsen zu sein, der zu große und lang dauernde Ak-
werden soll. Sie werden anschließend in Abschn. 4.3.2 tivierungen verhindert. Der Begriff Desensitisierung wird
näher beschrieben. übrigens oft synonym mit dem Begriff Desensibilisierung
Es kommt aber auch vor, dass der Transmitter sich mit gebraucht, was gelegentlich zu Verwechslungen mit der
einem subsynaptischen Rezeptor verbindet, der erst über gleich bezeichneten psychologischen Desensibilisierungs-
eine intrazelluläre Signalkette Ionenkanäle öffnet. Diese Therapie von Angst führt (Kap. 26). Der Ausdruck De-
Rezeptoren werden als metabotrope Rezeptoren bezeich- sensitisierung ist deswegen hier vorzuziehen.
net. Den Anfang der Signalkette macht ein G-Protein (Ab-
G Neben den Autorezeptoren verhindert auch die
schn. 2.2.2), daher auch ihr Name G-Protein-gekoppelter
Rezeptordesensitisierung zu große und zu lang
Rezeptor. Sie werden in Abschn. 4.3.3 näher beschrieben.
anhaltende Aktivierungen der postsynaptischen
Für alle Synapsen gilt, dass die Eigenschaften der sub-
Rezeptoren.
synaptischen Rezeptoren, nicht die Transmitter, für die er-
regenden oder hemmenden Wirkungen verantwortlich
sind. Ein und derselbe Transmitter kann also sowohl die eine Agonisten und Antagonisten postsynaptischer
oder andere Wirkung entfalten. Als Beispiel sei genannt, Rezeptoren
dass Azetylcholin am Herzen hemmend (Box 4.1), an der Substanzen, die an einen postsynaptischen Rezeptor binden
neuromuskulären Endplatte aber erregend wirkt (7 unten). und die gleiche Wirkung wie der körpereigene Transmitter
hervorrufen, werden Agonisten genannt, während Substan-
G Die subsynaptischen Rezeptoren der Transmitter
zen, die nach ihrer Bindung die Rezeptorfunktion hemmen,
sind entweder ligandengesteuerte Ionenkanäle oder
als Antagonisten bezeichnet werden. Viele Pharmaka, be-
metabotrope Rezeptoren, die über eine intrazellu-
sonders viele Psychopharmaka (Box 4.2) üben ihre Wirkung
läre Signalkette Ionenkanäle öffnen. Die Rezeptoren
als Agonisten oder Antagonisten an Synapsen aus.
bestimmen die Eigenschaften der Synapsen.
Ein Pharmakon kann also eine synaptische Übertra-
gung entweder hemmen (antagonistische Wirkung) oder
Präsynaptische Autorezeptoren fördern. Bei erregenden Synapsen führt Hemmung zu einer
vom postsynaptischen Typ reduzierten oder sogar blockierten Übertragung, während
An vielen Synapsen, besonders an katecholaminergen, ein förderndes Pharmakon die Übertragung begünstigt.
finden sich die postsynaptischen Rezeptoren auch an den Gleiches gilt natürlich auch für hemmende Synapsen, es ist
präsynaptischen Strukturen. Da sie von der präsynaptisch nur daran zu denken, dass der Wegfall von Hemmung zu
freigesetzten Überträgersubstanz ebenso wie die post- einem Übergewicht von Erregung führen kann (Box 4.4).
synaptischen Rezeptoren aktiviert werden, werden sie als
Autorezeptoren bezeichnet. G Agonisten wirken wie der Transmitter selbst, Anta-
Die Hauptaufgabe der Autorezeptoren scheint zu sein, gonisten hemmen seine postsynaptische Wirkung.
die präsynaptische Transmitterausschüttung dadurch zu Viele Psychopharmaka sind Agonisten oder Anta-
begrenzen, dass sie hemmend auf die Freisetzung und die gonisten an Synapsen des Zentralnervensystems.
4.3 · Postsynaptische Rezeptoren
61 4

psychophysischen Wirkungen verantwortlich (Näheres in


Abschn. 25.6.3).
G Bei Kontakt mit ACh öffnen die nikotinergen iono-
Aus Schmidt RF et al (2003). Mit freundlicher Genehmigung des Deutschen Ärzte-Verlags.

tropen ACh-Rezeptoren ihren Na+-Kanal. Dadurch


wird die postsynaptische Zelle erregt. Die psycho-
physischen Wirkungen des Rauchens beruhen auf
der Interaktion des agonistischen Liganden Nikotin
mit diesen Rezeptoren.

Ionotrope Rezeptoren für Serotonin und ATP


Für Serotonin (5-Hydroxytryptamin, 5-HT) existiert ein
ligandengesteuerter Rezeptor mit einem nichtselektiven
Kationenkanal, genannt 5-HT3-Rezeptor, der bei Akti-
vierung für K+-, Na+- und Ca++-Ionen durchlässig wird. Er
findet sich in hoher Dichte im Mittelhirn, und zwar in
einem Areal, das bei Reizung Erbrechen auslöst. 5-HT3-Re-
zeptor-Antagonisten (z. B. Odansetron, Cannabis) wirken
antiemetisch. Die meisten Serotonin-Rezeptoren sind aller-
dings metabotrop (Abschn. 4.3.4).
Für das ATP (Hauptrolle im Stoffwechsel Abschn. 2.1.3)
. Abb. 4.10a–c. Molekulare Struktur von Rezeptorproteinen
am Beispiel des Azetylcholinrezeptors. a Der Rezeptor besteht ist nur ein ligandengesteuerter Rezeptor bekannt, der
aus 5 Untereinheiten (griechisch beschriftet), die jeweils aus 4 trans- P2X-Rezeptor. Er ist ebenfalls ein nichtselektiver Kationen-
membranären Regionen (M1–M4) zusammengesetzt sind. b Räum- kanal, der also bei Aktivierung für K+-, Na+- und Ca++-Ionen
liches Modell des Rezeptors und c Aufsicht auf den Ionenkanal durchlässig wird. P2X-Rezeptoren finden sich überall in
Rückenmark und Gehirn. Die meisten ATP-Rezeptoren
sind allerdings metabotrop (Abschn. 4.3.4).
4.3.2 Ionotrope Rezeptoren
G Aktivierung des ionotropen 5-HT3-Rezeptors des Se-
Ionotroper nikotinerger ACh-Rezeptor rotonins und des ionotropen P2X-Rezeptors des ATP
öffnet jeweils einen nichtselektiven Kationenkanal.
An vielen cholinergen Synapsen des ZNS und an der
neuromuskulären Endplatte (Abschn. 13.1.3) ist der sub-
synaptische Rezeptor ein ligandengesteuerter Ionenkanal, Ionotrope Glutamatrezeptoren
der auch durch Nikotin aktiviert werden kann. Daher sein Die glutamatergen ionotropen Rezeptorkanäle werden nach
Name nikotinerger ACh-Rezeptor. ihren spezifischen Antagonisten als N-Methyl-D-Aspartat-
Wie in . Abb. 4.10 illustriert, besteht der nikotinerge Rezeptoren (NMDA-Typ) und als AMPA-Kainat-Typ (A/K-
ACh-Rezeptor aus 5 mit griechischen Buchstaben ge- bzw. Non-NMDA-Typ) bezeichnet (AMPA ist: α-Amino-3-
kennzeichneten Proteinunterheiten (Domänen), die die Hydroxy-5-Methyl-4-Isoazol-Propionat).
postsynaptische Membran mit jeweils 4 Transmembran- Die A/K-Rezeptoren, die bis auf ihre unterschiedlichen
regionen (M1–M4 in der Abb., Abschn. 3.2.3.) durch- spezifischen Agonisten sich in ihren Eigenschaften sehr ähn-
spannen. Alle Untereinheiten tragen zur rosettenförmigen lich sind, vermitteln die schnellen glutamatinduzierten Ant-
Bildung des Ionenkanals bei (. Abb. 4.10b und c). Bei worten. Wie die ionotropen Azetylcholinrezeptoren sind sie
diesem handelt es sich um einen für kleine Kationen unspezifische Kationenkanäle (. Abb. 4.11a). Ihre Öffnung
(Na+, K+, Ca++) durchlässigen Kanal, d. h. seine Öffnung führt – ausgehend vom Ruhepotenzial – zu einem schnellen
durch den Liganden ACh oder Nikotin führt v. a. zum Strom von Natrium-Ionen in die Zelle, was die Zelle depola-
Einströmen von Na+ und damit zur Depolarisation (Ab- risiert, also zu einem EPSP führt (Abschn. 4.1.2).
schn. 4.2.1). Der glutamaterge NMDA-Rezeptor (. Abb. 4.11b) hat
Nikotinerge ACh-Rezeptoren dieses Grundschemas die Besonderheit, dass bei normalem Ruhepotenzial (etwa
existieren in mehrfachen Varianten im ZNS, (nikotinerge –70 mV) in seinem Ionenkanal ein Mg++-Ion steckt, das
Rezeptorfamilie), was sich im einzelnen in unterschied- auch beim Andocken des Glutamats an den Rezeptor die
lichen Empfindlichkeiten für Agonisten und Antagonisten Öffnung des Kanals und den Durchtrit von Na+-, K+- und
ausdrückt. Beispielsweise ist die Aktivierung (und bei Ca++-Ionen verhindert.
Überdosierung Inaktivierung durch Desensitisierung, Diese Mg++-bedingte Blockade des NMDA-Rezeptors
Abschn. 4.3.1) nikotinerger ACh-Rezeptoren des ZNS wird dann aufgehoben, wenn das Membranpotenzial des
durch das beim Rauchen eingeatmete Nikotin für seine Neurons durch die erregende Wirkung anderer Synapsen
62 Kapitel 4 · Synaptische Erregung und Hemmung

Box 4.3. Exzitotoxizität


Aus Schmidt RF et al (2003). Mit freundlicher Genehmigung

Normalerweise wird bei erregender synaptischer


Übertragung die Glutamatkonzentration im synapti-
schen Spalt nur für einige Millisekunden erhöht, da
das Glutamat sehr schnell wieder aufgenommen wird.
Wird aber zuviel Glutamat freigesetzt, z. B. bei einem
epileptischen Anfall, oder versagt die Rückresorption,
des Deutschen Ärzte-Verlags.

z. B. bei Ischämie (mangelnder Blutversorgung, z. B.


bei Schlaganfall) oder Anoxie (Sauerstoffmangel, z. B.
4 bei akuten Läsionen des Gehirns) kommt es zu einer
übermäßigen Daueraktivierung der NMDA-Rezepto-
ren, was einen starken Einstrom von Ca++-Ionen in die
Neurone bewirkt und deren Tod auslöst. Die für Exzito-
. Abb. 4.11a, b. Struktur der ionotropen Glutamatrezeptoren. toxizität empfindlichste Gehirnregion ist der Hippo-
a AMPA-Rezeptorprotein, dessen Ionenkanal für kleine Kationen, be-
kampus, dessen Schädigung auch bei anderen neuro-
sonder Na+- und K+-Ionen permeabel ist. b NMDA-Rezeptorprotein,
dessen Ionenkanal normalerweise durch ein Mg2+-Ion verschlossen ist logischen Erkrankungen, z. B. bei der Alzheimer-Er-
(7 Text). Dieses Rezeptorprotein hat auch Bindungsstellen für andere, krankung, mit Gedächtnisverlust einhergeht. Auch mit
z. T. pharmakologisch wichtige Substanzen (7 Text) der Nahrung als Gewürzmittel aufgenommenes Gluta-
mat kann exzitotoxische Wirkungen ausüben, bekannt
als »Chinese restaurant syndrome«.
auf Werte von mehr als –30 mV depolarisiert wird, da sich
dann das Mg++ vom Rezeptor löst und sich damit die Kanäle
öffnen können. Damit erhält der NMDA-Rezeptor eine
zentrale Rolle im assoziativen Lernen, bei dem auch an GABAA-Rezeptoren besitzen, wie gesagt, eine Bin-
einer Zelle gleichzeitig mehrere synaptische Aktivierungen dungsstelle für ihren Transmitter GABA, aber auch – und
erfolgen müssen (Kap. 25 und Abschn. 4.4.2). darin liegt ihre neuropharmakologische und psycho-
Den NMDA-Rezeptor zeichnet noch die weitere Beson- pharmakologische Bedeutung – weitere Bindungsstellen
derheit aus, dass bei ihm das Glyzin ein obligatorischer für Benzodiazepine und Barbiturate, die in . Abb. 4.12a
Kotransmitter ist. Nur bei gleichzeitiger Besetzung der Bin- eingetragen sind.
dungsstellen für Glyzin und Glutamat kann sich der Ionen- Die Bindungsstellen der Barbiturate (die klinisch als
kanal öffnen (. Abb. 4.11b). Dieser Mechanismus ist un- Schlafmittel, Beruhigungsmittel und Antiepileptika einge-
abhängig von der hemmenden Wirkung des Glyzins (Ab- setzt werden) liegen außerhalb des Chloridkanals in Höhe
schn. 4.1.4). Insbesondere in der Großhirnrinde agiert der transmembranösen Anteile des GABA-Rezeptors, die
Glyzin als Koaktivator der NMDA-Rezeptoren. der Benzodiazepine (z. B. Valium) ebenfalls außerhalb der
Pore, aber am extrazellulären Anteil. Bindung von Liganden
G Die glutamatergen Non-NMDA-Rezeptoren sind
an diese Bindungsstellen verstärken die GABAerge Über-
unspezifische Kationenkanäle. Der NMDA-Rezeptor
tragung, und darauf beruht zumindest teilweise ihre phar-
öffnet sich erst nach Wegdiffusion des blockierenden
makologische Wirksamkeit, wie wahrscheinlich auch die
Mg++-Ions aus dem Kanal bei genügender Depolarisa-
des Trinkalkohols.
tion des Membranpotenzials. Die Öffnung erfordert
Zwei am GABAA-Rezeptor antagonistisch wirkende
außerdem die Bindung von Glyzin an den Rezeptor.
Substanzen sind bekannt, spielen klinisch aber keine Rolle.
Einmal das Bicucullin, das GABA von seinem Rezeptor
Ionotrope GABAA-Rezeptoren »kompetitiv« verdrängt und zum anderen das Picrotoxin,
Der ligandengesteuerte ionotrope GABAA-Rezeptor, der das eine Bindungsstelle im Chloridkanal hat und den Kanal
schematisch in . Abb. 4.12a illustriert ist, besteht aus blockiert (. Abb. 4.12). Beide Gifte lösen im Tierexperi-
5 Untereinheiten, die den Chloridkanal umschließen. Da ment wegen der Blockierung der GABAergen hemmenden
diese Unterheinheiten z. T. strukturelle Unterschiede auf- Synapse Krämpfe aus.
weisen (es gibt z. B. einen eng verwandten GABAC-Rezep-
tor) gibt es für ionotrope GABA-Rezeptoren eine große G GABAA-Rezeptoren besitzen neben ihrer Bindungs-
Vielfalt an unterschiedlichen postsynaptischen Antworten, stelle für GABA weitere Bindungsstellen für Barbitu-
so dass es besser ist, von einer Klasse von ionotropen rate und Benzodiazepine. Sie sind daher Wirkort zahl-
GABA-Rezeptoren zu sprechen. Aktivierung dieser Rezep- reicher neuro- und psychopharmakologisch wirksa-
toren führt zum Einstrom von Chlor-Ionen in die Zelle mer Medikamente, die durchweg die hemmende
und damit zur Hyperpolarisation, also zu einem IPSP GABAerge Übertragung verstärken. Wahrscheinlich
(Abschn. 4.1.3, 4.2.1). gilt dies auch für den Trinkalkohol.
4.3 · Postsynaptische Rezeptoren
63 4
b
Box 4.4. Strychninvergiftung
Aus Schmidt RF et al (2003). Mit freundlicher Genehmigung des Deutschen

Werden einem Versuchstier einige Milligramm Strych-


nin injiziert, so setzen innerhalb weniger Minuten
schwere Krämpfe ein, an denen der Organismus
schließlich zugrunde geht (hauptsächlich durch Er-
sticken wegen Krämpfen der Atemmuskulatur). Das
häufig als Rattengift eingesetzte Strychnin ist ein
Pharmakon, das v. a. im Rückenmark viele hemmende
Synapsen inaktiviert, indem es die hemmende Über-
trägersubstanz Glyzin antagonistisch von ihren Rezep-
toren in der subsynaptischen Membran verdrängt.
Die Krämpfe entstehen also durch den Wegfall der
Ärzte-Verlags.

Hemmung, nicht durch die Aktivierung erregender


Prozesse (Box 2.3 in Abschn. 2.3.3).
Beim Menschen kann eine Strychnin-Vergiftung
. Abb. 4.12a, b. Struktur von Cl–-Ionen selektiven Rezeptor- mit Diazepam (Valium) behandelt werden, das die
proteinen, deren Aktivierung hemmend wirkt. a Modell des iono- Hemmung der Motoneurone über die GABAA-Rezep-
tropen GABAA-Rezeptors. Dieser Rezeptor verfügt über besonders toren verstärkt (. Abb. 4.12). Die Krämpfe können
viele Bindungsstellen für Pharmaka. b Modell des ionotropen Glyzin-
auch durch die Blockade der neuromuskulären Über-
rezeptors. Strychnin ist ein potenter Antagonist des Glyzins
tragung (mit Curare) verhindert werden, was aber eine
künstliche Beatmung erfordert.
Ionotroper Glyzinrezeptor
Nach der Aminosäure GABA ist die Aminosäure Glyzin der
zweitwichtigste hemmende Überträgerstoff, besonders im G-Protein genannt) zerfällt und zwar einerseits in seinen
Rückenmark (Abschn. 4.1.3, 4.2.1). Ihr postsynaptischer α-Anteil (an den in Ruhe das GDP gebunden ist) und ande-
Rezeptor ist ein ligandenaktivierter Chloridkanal, der in rerseits in seinen β/γ-Anteil. Der eine oder andere dieser
seinem Aufbau aus 5 Untereinheiten mit den nikotinergen beiden Anteile gibt dann das Signal weiter (welcher der
ACh-Kanälen verwandt ist. Wie . Abb. 4.12b illustriert, beiden wichtiger ist, hängt von dem jeweiligen Rezeptor
öffnet er sich bei Bindung von Glyzin für Cl–-Ionen, die ab), d. h. er öffnet z. B. einen Ionenkanal, aktiviert eine
daraufhin in die Zelle strömen und das Ruhepotenzial Ionenpumpe oder ein Enzym im Zellinneren oder regt über
hyperpolarisieren, d. h. ein IPSP bilden (Abschn. 4.1.3). eine der sekundären Signalketten die Expression weiterer
Das neurotoxische Alkaloid Strychnin ist ein starker Ionenkänale im Zellkern an, die dann nach Einbau in die
Antagonist des Glyzin, das sich an die Bindungsstelle des Zellmembran die Erregbarkeit des Neurons erhöhen oder
Glyzins anlagert (. Abb. 4.12b) und damit die Kanalöff-
nung verhindert. Eine solche Strychninvergiftung geht, wie Aus Schmidt RF et al (2003). Mit freundlicher Genehmigung des Deutschen Ärzte-Verlags.
in Box 4.4 beschrieben, mit einem weitgehenden Verlust
der glyzinergen Hemmung und massiven Muskelkrämpfen
einher.
G Der ligandengesteuerte Glyzinrezeptor öffnet bei
seiner Aktivierung einen Chlor-Ionenkanal. Die
daraufhin einströmenden Chlorionen hyperpola-
risieren das Membranpotenzial, d. h. es bildet sich
ein IPSP. Das Neuron wird dadurch gehemmt.

4.3.3 Metabotrope Rezeptoren

Arbeitsweise metabotroper Rezeptoren


Eingangs 4.3.1 wurde bereits der Unterschied zwischen
ionotropen und metabotropen oder G-Protein-gekoppel-
ten Rezeptoren kurz skizziert. Bei letzteren führt, wie in
. Abb. 4.13 illustriert, das extrazelluläre Andocken des
Liganden auf der intrazellulären Seite dazu, dass das . Abb. 4.13. Modell eines metabotropen Rezeptors (G-Protein-
Guanidindiphosphat-(GDP)-bindende Protein (daher Rezeptors)
64 Kapitel 4 · Synaptische Erregung und Hemmung

vermindern. Solche Vorgänge spielen beim Lernen und der tion des Striatums beim Morbus Parkinson, dessen Symp-
Gedächtnisbildung eine große Rolle (Abschn. 25.5). tome durch die Gabe von L-Dopa, der Vorstufe des Dopa-
Es wird geschätzt, dass es beim Menschen bis zu 1000 min gebessert werden können (Abschn. 5.2.4, 13.7.1).
verschiedene metabotrope Rezeptoren gibt. Die meisten
G An zahlreichen cholinergen Synapsen des autono-
von ihnen werden nicht durch Transmitter aktiviert, son-
men Nervensystems finden sich metabotrope,
dern, wie in der Abbildung eingezeichnet, durch Hormone
muskarinerge Rezeptoren. Für die Katecholamine
und andere körpereigene Stoffe. Darüber hinaus verfügt
Dopamin, Noradrenalin und Adrenalin gibt es nur
das Geruchssystem für die Erkennung von Geruchsstoffen
metabotrope Rezeptoren, von denen für jeden
über rund 1000 weitere metabotrope Rezeptoren. Von den
Transmitter mehrere bekannt sind.
4 bekannten Transmittern und Hormonen entfalten etwa
80% ihre Wirkungen über metabotrope Rezeptoren.
Metabotrope Rezeptoren für Serotonin und ATP
G Aktivierung metabotroper Rezeptoren durch ihre
Metabotrope Serotoninrezeptoren (5-HT1–2 und 5-HT4–7)
Liganden führt zur Aktivierung eines G-Proteins,
sind im ZNS weitverbreitet. Sie beeinflussen das zirkadiane
das das Signal direkt über seine α- oder β/γ-Anteile
Schlaf-Wachverhalten, insbesondere den REM-Schlaf, und
oder von dort über weitere sekundäre Boten an den
das Essverhalten. Die Wirkung des Halluzinationen erzeu-
Zielort, z. B. einen Ionenkanal oder andere Zielstruk-
genden Rauschgifts LSD soll auf die Blockade von 5-HT2-
turen im Zellinneren, weiterleitet.
Rezeptoren zurückzuführen sein.
Das Migränemittel Sumatriptan und verwandte Trip-
Muskarinerge, metabotrope ACh-Rezeptoren tane sind Agonisten am 5-HT1-Rezeptor. Von ihnen wird
Für ACh gibt es neben der Familie der nikotinergen, iono- vermutet, dass sie die Freisetzung von Neuropeptiden (wie
tropen Rezeptoren eine weitere Familie von Rezeptoren, die Substanz P, CGRP und Neurokinin A) hemmen und da-
agonistisch durch das Fliegenpilzgift Muskarin aktiviert durch die migränebegünstigende lokale neurogene Ent-
und antagonistisch durch das Tollkirschengift Atropin zündung (Vasodilatation mit Plasmaextravasation) verhin-
blockiert werden können. Diese Rezeptoren sind metabo- dern oder reduzieren. Alternativ wird auch angenommen,
trop, d. h. sie aktivieren, wie oben skizziert, G-Proteine, die dass die vasokonstriktorische Wirkung der Triptane der
ihrerseits über weitere Botenstoffe Ionenkanäle öffnen. entscheidende therapeutische Effekt ist.
Viele cholinerge Synapsen sind metabotrop. Zwei Bei- Für ATP existieren die metabotropen P1Y- bzw. die
spiele seien erwähnt: zum ersten die ACh-Rezeptoren des P2Y-Rezeptoren. Sie scheinen überwiegend neuromodu-
Vagusnerven am Herzen, deren Aktivierung zu einem lierende Funktionen zu haben, da ATP sich besonders in
vermehrten Ausstrom von K+-Ionen führt, was die Herz- cholinergen und noradrenergen Neuronen als Kotrans-
frequenz herabsetzt (Box 4.1 und Abschn. 10.5.4). Ebenfalls mitter findet.
metabotrop ist die cholinerge Innervation des Ziliarmuskels
im Auge. Hier kann das Atropin oder ein kürzer wirkendes Metabotrope Glutamat- und GABAB-Rezeptoren
synthetisches Analog zur Blockierung dieser Rezeptoren Auch für Glutamat und GABA existieren metabotrope Re-
und damit zur Pupillenweitung eingesetzt werden. zeptoren, die bei ihrer Aktivierung über intrazelluläre se-
kundäre Botenstoffe ihre Signale an das Zellinnere weiter-
Metabotrope Katecholaminrezeptoren geben, also nicht unmittelbar Ionenkanäle öffnen.
Adrenalin und Noradrenalin binden ausschließlich an eine Von den GABAB-Rezeptoren ist bekannt, dass sie über
Familie von metabotropen Rezeptoren, die etwas unter- ein entsprechend konfiguriertes G-Protein ein langsam
schiedliche Eigenschaften haben, deswegen unterschiedliche ablaufendes IPSP und damit eine Hemmung auslösen
Agonisten und Antagonisten besitzen und auf Grund dessen können. Baclofen ist eine mit GABA verwandte Substanz, die
als α1-, α2-, β1-, β2- und β3-Rezeptoren benannt sind. zur Behandlung von Spastizität eingesetzt wird, da sie eine
Die unterschiedliche Pharmakologie macht man sich starke agonistische Wirkung auf GABAB-Rezeptoren hat.
therapeutisch zu Nutze, was in den entsprechenden Ka- Für alle metabotropen Rezeptoren gilt, dass durch
piteln dargestellt werden wird. Beispielsweise werden die die Zwischenschaltung der G-Proteine und eventueller
fördernden Wirkungen des Sympathikus auf das Herz (Ab- weiterer Signalketten der Wirkungseintritt gegenüber den
schn. 10.5.4) über β2-Rezeptoren übertragen, die bei ihrer ionotropen Rezeptoren deutlich langsamer ist, aber auch
Aktivierung Kalzium-Ionenkanäle öffnen. Deswegen kann länger anhält.
durch β2-Rezeptorblocker diese Wirkung reduziert, die
Kraft der Kontraktion des Herzens abgeschwächt und da- G Die Agonisten und Antagonisten der metabotropen
mit ein zu hoher Blutdruck gesenkt werden. Rezeptoren der kleinmolekularen Transmitter können
Auch die Rezeptoren des Dopamins, von denen derzeit bei vielen Erkrankungen als Therapeutika (z. B. L-Dopa
5 bekannt sind, sind alle metabotrop. Neurologisch am beim Morbus Parkinson, Triptane bei der Migräne,
besten bekannt ist der Verlust der dopaminergen Innerva- Baclofen bei Muskelspastizität) eingesetzt werden.
4.4 · Synaptische Interaktion und Plastizität
65 4

. Abb. 4.14a, b. Bahnung im


Nervensystem. a Zeitliche Bahnung:
Einzelreiz (ein Pfeil) und Doppelreiz
(2 Pfeile, Reizabstand etwa 4 ms) er-
zeugen jeweils ein unterschwelliges
EPSP, der dritte Reiz (3 Pfeile) löst ein
Aktionspotenzial aus. b Räumliche
Bahnung: Reiz 1 und Reiz 2 lösen je
ein unterschwelliges EPSP aus. Gleich-
zeitige Reizung beider Axone (1+2)
führt zu einem Aktionspotenzial.
Nur Anfang und Ende der bei diesem
Maßstab rund 14 cm hohen Aktions-
potenziale (1,4 mm etwa = 1 mV) sind
eingezeichnet

4.4 Synaptische Interaktion Sinnesrezeptoren, repetitiv und asynchron ablaufen und


und Plastizität sich dadurch an Synapsen zu überschwelligen Erregungen
summieren können.
4.4.1 Synaptische Bahnung
Heterosynaptische Bahnung
Zeitliche und räumliche Bahnung Als heterosynaptische Bahnung versteht man die Tatsache,
Bei der bisherigen Betrachtung standen die gleichzeitig dass der an einer Synapse eines Neurons freigesetzte Trans-
(synchron) an Synapsen ausgelösten EPSP und IPSP im mitter die Wirksamkeit einer anderen Synapse verstärkt.
Vordergrund der Betrachtung. Diese Betrachtungsweise So ist von sympathischen Neuronen bekannt, dass die von
muss in 2 Richtungen ergänzt werden. Zum einen ist zu ACh ausgelösten langsamen EPSP durch die Aktivierung
erörtern, in welcher Weise kurz hintereinander ausgelöste benachbarter dopaminerger Synapsen für mehrere Stunden
EPSP miteinander interagieren, zum zweiten, welche plas- vergrößert werden, indem das Dopamin die postsynap-
tischen Veränderungen durch die Aktivierung von Synap- tische Reaktion auf ACh verstärkt. Das Dopamin wirkt also
sen an diesen selbst ausgelöst werden können. hier als Neuromodulator.
In . Abb. 4.14a ist gezeigt, dass kurz hintereinander aus-
G Ist der Erfolg mehrerer gleichzeitig oder kurz hinter-
gelöste EPSP sich aufeinander lagern (summieren) und
einander gegebener Reize größer als der der Summe
schließlich überschwellig werden. Diese Art der Erregbarkeits-
der Einzelreize, so bezeichnen wir dies als Bahnung.
steigerung eines Neurons durch aufeinander folgende EPSP
Wird die Effektivität einer Synapse durch Koaktivie-
wird als zeitliche Bahnung bezeichnet. Zeitliche Bahnung
rung einer anderen verstärkt, so bezeichnen wir dies
über ein Axon ist möglich, weil die Dauer der EPSP (mit ca.
als heterosynaptische Bahnung.
15 ms) länger ist als die Refraktärzeit der Axone von 1–2 ms.
Die Versuchsanordnung in . Abb. 4.14b demonstriert
das Zustandekommen räumlicher Bahnung: Reizung der 4.4.2 Synaptische Plastizität
Axone 1 und 2 alleine führt zu unterschwelligen EPSP, wäh-
rend es nach gleichzeitiger Reizung beider Axone zu einem Tetanische und kurzzeitige posttetanische
fortgeleiteten Aktionspotenzial kommt, also zu einem Pro- Potenzierung
zess, der durch die einzelnen EPSP nicht ausgelöst werden Wiederholte Benutzung einer Synapse führt oft zu
konnte. Die Amplitudenzunahmen der EPSP und IPSP in einer beträchtlichen Vergrößerung der synaptischen Po-
. Abb. 4.3 bzw. 4.5 sind durch räumliche Bahnung, nämlich tenziale. Eine solche durch den Gebrauch verbesserte
die synchrone elektrische Reizung weniger bis zahlreicher Effizienz ist oft schon für einige Zeit nach einem oder
afferenter Nervenfasern bedingt. einigen wenigen Reizen zu sehen (. Abb. 4.15c). Tritt sie
Zeitliche und räumliche Bahnung sind von großer Be- bereits während der tetanischen Reizung auf, wird sie
deutung, da viele nervöse Prozesse, z. B. Entladungen von tetanische Potenzierung genannt (. Abb. 4.15b). Über-
66 Kapitel 4 · Synaptische Erregung und Hemmung

9 . Abb. 4.15a–f. Tetanische (b) und posttetanische Potenzierung


(c–f) an peripheren (b, c) und zentralen (d-f) Synapsen. a Schema
der Versuchsanordnungen. Die Potenzierung wird entweder 1. als
intrazelluläres synaptisches Potenzial (b-d) oder 2. als extrazellulärer
Massenreflex von der Vorderwurzel (e) oder 3. mit einer extrazellulä-
ren Mikroelektrode im Neuronenverband (f) abgeleitet. b Tetanische
Potenzierung eines Endplattenpotenzials durch repetitive Reizung
mit den angegebenen Frequenzen. Das Ausmaß der Potenzierung ist
der Reizfrequenz proportional. Frosch; neuromuskuläre Übertragung
blockiert durch Ca++-Entzug und Mg++-Zusatz. c Kurze posttetanische
Potenzierung nach ein, zwei und fünf konditionierenden Reizen am
4 gleichen Präparat. d, e Posttetanische Potenzierung des monosynap-
tischen Dehnungsreflexes an der Katze. Ausmaß und Dauer der Poten-
zierung hängen wesentlich von der Dauer des Tetanus ab. f Postteta-
nische Potenzierung der Entladungen von Körnerzellen des Hippokam-
pus in Verlauf sich wiederholender kurzer Tetani (Pfeile, 20 Hz für 15 s)

damit den Einstrom von Ca2+-Ionen. Der Einstrom erhöht


deren Innenkonzentration, was die Transmitterfreisetzung
in Gang setzt. Die erhöhte Ca2+-Ionen-Innenkonzentration
bildet sich anschließend durch Transport- und Austausch-
prozesse langsam zum Ruhewert zurück. Solange sie jedoch
noch über dem Ruhewert liegt, startet bei einer rasch
folgenden erneuten Depolarisation die Zunahme der Kal-
zium-Innenkonzentration von einem erhöhten Ausgangs-
wert und wird damit größer als nach der ersten Depola-
risation. Wegen der beträchtlichen Abhängigkeit der
Transmitterfreisetzung von der Kalzium-Innenkonzentra-
tion können schon kleine Zunahmen zu beträchtlichen
Bahnungen führen.

Langzeitpotenzierung, LTP
Hält die posttetanische Potenzierung über Stunden und
Tage an, spricht man von Langzeitpotenzierung, LTP (von
»long term potenziation«). Diese LTP ist ein geeignetes
Modell zur Erklärung von Lernen und Gedächtnis auf
zellulärer Ebene. Besonders lange posttetanische Poten-
zierungen werden im Hippokampus gefunden (. Abb. 4.15f),
einer Struktur, der besondere Aufgaben im Gedächtnis-
und Lernprozess zugeschrieben werden (Kap. 25).
LTP wird besonders im Hippokampus beobachtet. Sie
hat folgenden Mechanismus: Der erregende Transmitter
ist Glutamat. Bei normaler Aktivierung der Synapsen
öffnen sich nur AMPA-Kanäle (. Abb. 4.11a, 25.22 und
24.23). Bei repetitiver synaptischer Aktivierung und damit
starker postsynaptischer Depolarisation werden auch
NMDA-Kanäle geöffnet, da dann die blockierenden
dauert die tetanische Potenzierung die Reizserie oder setzt Mg++-Ionen aus den NMDA-Kanälen entfernt werden
die Potenzierung erst nach dem Ende des Tetanus ein, (. Abb. 4.11b). Damit strömt vermehrt Ca++ in die Zellen
so spricht man von posttetanischer Potenzierung ein und löst die für die LTP verantwortlichen Vorgänge aus,
(. Abb. 4.15c–f). nämlich die Bildung neuer Glutamatrezeptoren und deren
Tetanische und die kurzzeitige posttetanische zusätzlicher Einbau in die Membran zwecks Erhöhung der
Bahnung werden in erster Linie durch »Rest-Kalzium« er- Glutamatempfindlichkeit. Als weitere Folge wird post-
zeugt: Wie berichtet (Abschn. 4.1.2), bewirkt die Depolari- synaptisch vermehrt NO gebildet, das zur präsynapti-
sation der präsynaptischen Endigung durch das einlaufen- schen Seite diffundiert und dort die Glutamatfreisetzung
de Aktionspotenzial das Öffnen von Kalziumkanälen und erhöht.
4.5 · Elektrische Synapsen
67 4

G Synaptische Plastizität ist die Veränderung der sy- zu einer präsynaptischen Bahnung, 7 oben), was sich als
naptischen Effizienz durch vorhergehende Aktivität. LDP äußert.
Für die tetanische und die kurzzeitige posttetani-
G Durch synaptische Aktivität verringerte synaptische
sche Bahnung ist präsynaptisches Restkalzium
Effizienz wird synaptische Depression genannt.
verantwortlich. Bei der LTP wird postsynaptisch die
Analog zu den Potenzierungsprozessen sind sowohl
Empfindlichkeit für Glutamat erhöht und präsynap-
kurz- als auch langzeitige Depressionen bekannt.
tisch mehr Glutamat freigesetzt.

Tetanische und kurzzeitige posttetanische 4.5 Elektrische Synapsen


Depression
Sind die postsynaptischen Potenziale während oder nach 4.5.1 Erregende und hemmende elektrische
einer tetanischen Reizung kleiner als die Kontrollwerte, so Synapsen
wird dies als synaptische Depression bezeichnet, wobei
analog zur synaptischen Bahnung von tetanischer bzw. Erregende elektrische Synapsen
posttetanischer Depression gesprochen werden kann. Im Zentralnervensystem werden neben chemischen Synap-
Synaptische Depression kommt möglicherweise an vielen sen auch Regionen engsten Kontakts zwischen Nerven-
Stellen des Nervensystems als neuronales Korrelat von zellen gesehen, bei denen der synaptische Spalt statt der
Gewöhnungen vor (Habituation; Kap. 21, 25). Synaptische üblichen 20 nm nur noch 2 nm breit ist. Unter diesen Um-
Depression ist also der synaptischen Bahnung als elemen- ständen ist, wie . Abb. 4.16 zeigt, eine elektrische Erregungs-
tarer Lernprozess durchaus vergleichbar. übertragung zwischen 2 Neuronen möglich. Wird Zelle 1
erregt, so fließt Natriumstrom INa durch die geöffneten
Langzeitdepression, LDP Natriumkanäle in Zelle 1 ein. Dieser Strom fließt durch
Eine über Stunden andauernde Depression ist an den Pur- noch unerregte Membranbereiche aus, ein Teil jedoch
kinje-Zellen des Kleinhirns zu beobachten. Diese haben kreuzt die Membrankontakte und fließt in Zelle 2 ein. Letz-
einen Kletterfasereingang und einen Parallelfasereingang tere wird damit depolarisiert. Eine solche elektrisch über-
(Abschn. 16.6.3). Beide sind glutamaterg, mit AMPA-Rezep- tragene Depolarisation kann überschwellig werden und
toren bei den Kletterfasern und einem metabotropen auch in Zelle 2 ein Aktionspotenzial auslösen, v. a. wenn sie
Glutamatrezeptor bei den Parallelfasern. Werden beide gleichzeitig mit anderen elektrischen oder chemischen
Eingänge gleichzeitig repetitiv aktiviert, so strömen nicht EPSP auftritt, also bei zeitlicher Bahnung.
nur viele Kalziumionen in das Neuron ein, sondern die Das morphologische Korrelat der elektrischen Synapse
Aktivierung des metabotropen Rezeptors löst zusätzlich wird als Nexus oder englisch gap junction bezeichnet (Ab-
die Freisetzung von Kalziumionen aus intrazellulären schn. 2.2.3). Es handelt sich um Kanalproteine, Konnexone
Speichern aus. Diese gemeinsame Erhöhung der Kalzium- genannt, durch deren Kanäle der Strom fließen kann. Wie
Ionenkonzentration führt ebenso wie bei der LTP zur in der Abbildung gezeigt, überbrücken je 2 sich gegen-
NO-Bildung, was hier aber über eine intrazelluläre Kette überliegende Konnexone den synaptischen Spalt, so dass
sekundärer Botenstoffe zu einer langfristigen Desensitisie- die inneren Kanäle oder Poren die Zellflüssigkeiten der be-
rung der postsynaptischen AMPA-Rezeptoren führt (nicht nachbarten Zellen miteinander verbinden.

. Abb. 4.16a, b. Erregungsübertragung


an elektrischen Synapsen. a Zwischen
Neuron 1 und Neuron 2 liegt ein Nexus
(gap junction). Wird Zelle 1 erregt, so fließt
dort ein Strom I Na in die Zelle ein. Dieser
fließt z. T über den Nexus in die Zelle 2 und
depolarisiert diese. b Ein Strompuls (rot) in
die (präsynaptische) Zelle erzeugt in dieser
ein elektrotonisches Potenzial, das ein
Aktionspotenzial auslöst. In der (postsynap-
tischen) Zelle 2 erscheint als postsynap-
tisches Potenzial, über den Nexus fort-
geleitet, ein verkleinertes Abbild des prä-
synaptischen Potenzials
68 Kapitel 4 · Synaptische Erregung und Hemmung

Hemmende elektrische Synapsen 4.5.3 Ephaptische Übertragung


Elektrische Synapsen auf der Grundlage von Nexus sind
vom erregenden Typ. Es gibt jedoch auch Beispiele für Jede erregbare Zelle ist vom Extrazellulärraum umgeben
elektrische hemmende Synapsen, die morphologisch (Abschn. 2.2.1). Die extrazellulären Ströme der Aktions-
anders aufgebaut sind. So ist an einer Synapse von Gold- potenziale werden von den Ionen dieses Mediums getragen.
fischen beschrieben worden, dass speziell angeordnete Zellen in der Nachbarschaft der erregten Zelle werden aber
präsynaptische Fasern das Potenzial im Extrazellulär- ebenfalls von diesen extrazellulären Strömen durchflossen.
raum um ein postsynaptisches Axon so weit positiv Diese transmembranösen Ströme sind sehr klein. Sie wer-
machen können, dass das Aktionspotenzial im Axon die den aber, wenn auch noch so geringfügig, das Membran-
4 Schwelle nicht mehr erreicht und seine Fortleitung potenzial der von ihnen durchflossenen Zelle verändern
blockiert wird. und damit ihre Erregbarkeit beeinflussen. Diese Form
der interzellulären Kommunikation bezeichnet man als
ephaptische Interaktion.
4.5.2 Funktionelle Synzytien Im peripheren Nerven und in zentralen Bahen ist die
ephaptische Interaktion normalerweise so gering, dass sie
In einigen Geweben außerhalb des ZNS sind die einzelnen zu vernachlässigen ist. Bei Verletzungen und Erkrankun-
Zellen durchweg mit ihren Nachbarzellen über Nexus gen kommt es dagegen in Ausnahmefällen zu überschwel-
verbunden, so bei den meisten glatten Muskeln und ligen ephaptischen Übertragungen. Die pathologische
beim Herzmuskel. Diese Verbindungen, also beispiels- Kontaktstelle bezeichnet man als Ephapse. Zugrunde liegt
weise die Glanzstreifen genannten Verbindungen der eine Degeneration der Markscheiden bei einer gleichzei-
Herzmuskelzellen, sind so eng, dass sie elektrisch vom üb- tigen Übererregbarkeit der Nervenfasern. Die ephaptische
rigen Zytoplasma nicht oder kaum zu unterscheiden sind. Aktivität in geschädigten sensorischen Nerven kann sich
Aktionspotenziale werden in beiden Richtungen über bei den Patienten als anomale Empfindung bemerkbar
diese Zellgrenzen hinweggeleitet. Diese Gewebe verhalten machen. Solche Parästhesien können sehr quälend sein.
sich also funktionell wie ein großes, zusammengewach- Diese und ihnen verwandte Schmerzen beruhen allerdings
senes Netzwerk von Zellen, daher der Name funktionelle nicht ausschließlich auf dem ephaptischen »Übersprechen«
Synzytien. zwischen benachbarten Axonen (Absch. 16.4).
Die Zellverbindungen der funktionellen Synzytien
werden nicht als elektrische Synapsen bezeichnet. Die G Elektrische Synapsen sind Zellverbindungen, die aus
Konnexone sind in diesen Geweben unter physiologischen gap junctions bestehen und Signale elektrotronisch
Bedingungen dauernd offen. Bei Gewebsverletzungen weiterleiten. Gap junctions verbinden auch außer-
schließen sie sich aber an der Verletzungsstelle, wodurch halb der Nervensystems funktionelle Synzytien,
sich das funktionelle Synzytium vom geschädigten Bezirk wie die Herzmuskelzellen. Bei geschädigten Myelin-
elektrisch isoliert. Auf diese Weise wird z. B. bei einem scheiden können Erregungen ephaptisch von Axon
Herzinfarkt die Ausbreitung des Schadens begrenzt. zu Axon überspringen.

Zusammenfassung
Synapsen sind die Verbindungsstellen zwischen axona- 5 Läuft ein Aktionspotenzial in eine präsynaptische
len Nervenfaserendigungen und nachgeschalteten Ner- Endigung ein, wird die Wahrscheinlichkeit der Trans-
ven-, Muskel- oder Drüsenzellen. Die Informationsüber- mitterfreisetzung kurzfristig erheblich vergrößert,
tragung in diesen Synapsen erfolgt entweder so dass einige Hundert Quanten in den synaptischen
5 chemisch oder Spalt freigesetzt werden.
5 elektrisch. 5 An dieser Freisetzung sind Kalziumionen beteiligt, die
während des Aktionspotenzials in die präsynaptische
Die Übertragung an chemischen Synapsen ist ein viel- Endigung einströmen und dort über einen Aktivator
stufiger Prozess, der auf der präsynaptischen Seite bein- die Transmitterexozytose steuern.
haltet:
5 In der präsynaptischen Endigung ist der Transmitter Nach der Freisetzung des Transmitters
(die Überträgersubstanz) in Vesikeln gespeichert. 5 diffundiert dieser durch den synaptischen Spalt,
5 In Ruhe wird nur gelegentlich der Inhalt einzelner 5 verbindet sich auf der postsynaptischen Seite mit
Vesikel, als ein Quant Transmitter bezeichnet, exo- Rezeptoren und
zytotisch in den synaptischen Spalt freigesetzt.
6
Zusammenfassung
69 4

6 kurz vorübergehend einen Ionenkanal öffnen und


5 führt dadurch zur Öffnung von Ionenkanälen und deswegen auch als ligandengesteuerte Ionenkanäle
damit zu Ionenflüssen, die je nach Beschaffenheit bezeichnet werden.
5 zu erregenden oder hemmenden synaptischen Po- 5 Metabotrope Rezeptoren, die bei Aktivierung durch
tenzialen (EPSP bzw. IPSP) führen. ihre Liganden über G-Proteine entweder Ionenkanäle
öffnen oder intrazelluläre Botenketten (second mes-
Die Beendigung der Transmitterwirkung erfolgt sengers) aktivieren. Ein und derselbe Transmitter kann
5 entweder durch Wiederaufnahme des Transmitters in Ligand für ionotrope wie metabotrope Rezeptoren sein.
die präsynaptische Endigung (eventuell zuzüglich
Aufnahme in das postsynaptische Neuron oder um- Moleküle, die sich mit ionotropen oder metabotropen
gebende Gliazellen) Rezeptoren so wie die eigentlichen Liganden verbinden,
5 oder durch enzymatische Spaltung des Transmitters nennt man
in unwirksame Bestandteile. 5 Agonisten, wenn sie die gleiche Wirkung wie der
normale Ligand ausüben und
Bei den vom Ruhemembranpotenzial ausgehenden post- 5 Antagonisten, wenn sie sich wie der Ligand verbin-
synaptischen Potenzialen handelt es sich um den, aber nicht seine Wirkung haben, also den Rezep-
5 EPSP (erregende postsynaptische Potenziale), die tor blockieren. Viele Pharmaka, besonders viele
durch den Einstrom von Na+- und Ca2+-Ionen verur- Psychopharmaka wirken als Agonisten bzw. Antago-
sacht werden und um nisten an Synapsen.
5 IPSP (inhibitorische/hemmende postsynaptische
Potenziale), die durch den Einstrom von Cl–-Ionen Synaptische Potenziale interagieren miteinander auf
verursacht werden. vielfältige Weise. Wichtig ist v. a.:
5 IPSP schwächen die Wirkung von zeitgleichen EPSP so
Bei der präsynaptischen Hemmung wird über eine axo- ab, dass das Neuron gehemmt wird. Diese Hemmung
axonische Synapse die Transmitterfreisetzung in der ist teils durch die Hyperpolarisation während des IPSP,
gehemmten päsynaptischen Endigung reduziert. teils durch den verminderten Membranwiderstand
Als Transmitter bezeichnet man diejenigen klein- während der Öffnung der hemmenden Cl-Ionenkanä-
molekularen Moleküle, die an der schnellen synaptischen le bedingt.
Übertragung beteiligt sind. Dazu zählen insbesondere 5 EPSP summieren sich, wenn sie gleichzeitig oder kurz
5 Azetylcholin (ACh); hintereinander am Neuron entstehen. Man spricht
5 die biogenen Amine, d. h. die Katecholamine Dopamin, von räumlicher bzw. zeitlicher Bahnung.
Adrenalin und Noradrenalin, ferner das Serotonin
(5-HT) und Histamin; Repetitive synaptische Aktivität kann die Effizienz einer
5 mehrere Aminosäuren, v. a. Glutamat, Glyzin und GABA. Synapse kurz- und langfristig steigern oder vermindern.
Diese Prozesse werden als synaptische Plastizität zu-
Als Neuromodulatoren bezeichnet man Substanzen, die sammengefasst. Man unterscheidet
transmitter-ähnliche Vorkommen und Wirkungen haben, 5 Tetanische und kurzzeitige posttetanische Potenzie-
also v. a. als Kotransmitter freigesetzt werden, aber nicht rung, beide überwiegend durch präsynaptisches
alle Kriterien für Transmitter erfüllen. Ihre Hauptwirkung Restkalzium verursacht;
liegt in der Langzeitverstellung der Erregbarkeit der 5 Langzeitpotenzierung, LTP, die Stunden bis Tage anhält
postsynaptischen Neurone. Es handelt sich und für Lernen und Gedächtnis bedeutungsvoll ist;
5 einmal um Neuropeptide, z. B. Enkephaline, Tachy- 5 Tetanische und kurzzeitige posttetanische Depres-
kinine, von denen derzeit mehr als 50 bekannt sind, sion, die als das neuronale Korrelat von Gewöhnun-
5 zum anderen um nicht-peptiderge Moleküle, von denen gen (Habituation) angesehen wird, sowie
das ATP, Abkömmlinge der Arachidonsäure (z. B. Prosta- 5 Langzeitdepression, LDP, deren Ursache wahrschein-
glandine) und das gasförmige NO die bekanntesten lich ein Rezeptordesensitisierung ist.
sind.
Die Übertragung an elektrischen Synapsen erfolgt
Bei den postsynaptischen Rezeptoren für die Transmit- über Ionenflüsse durch die Doppelkonnexone von Nexus
ter und Neuromodulatoren finden sich 2 unterschiedliche (gap junctions).
Typen, nämlich: Ephapsen sind pathophysiologische Kontaktstellen
5 Ionotrope Rezeptoren, die bei der Aktivierung durch im peripheren Nervensystem, an denen es zum elektri-
ihren Liganden (also den betreffenden Transmitter) schen Übersprechen zwischen Nervenfasern kommt.
70 Kapitel 4 · Synaptische Erregung und Hemmung

Literatur
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Schmidt RF, Lang F (Hrsg) (2007) Physiologie des Menschen, 30. Aufl.
Springer, Berlin Heidelberg New York Tokyo
5

5 Funktionelle Anatomie
des Nervensystems

5.1 Aufbau und Hauptabschnitte des Zentralnervensystems (ZNS) – 72


5.1.1 Grobaufbau – 72
5.1.2 Hirnhäute, Blutversorgung und Ventrikel – 72
5.1.3 Die drei Hauptabschnitte des Gehirns – 73

5.2 Strukturen und Funktionen des Zwischenhirns, des limbischen


Systems und der Basalganglien – 75
5.2.1 Der Hypothalamus – 75
5.2.2 Der Thalamus – 78
5.2.3 Das limbische System – 79
5.2.4 Die Basalganglien – 85

5.3 Der Neokortex – 87


5.3.1 Aufbau und Struktur – 87
5.3.2 Die Assoziationskortizes – 90
5.3.3 Das Zerebellum (Kleinhirn) – 91

5.4 Neurotransmitter und -modulatoren im ZNS – 92


5.4.1 Neurochemie des Verhaltens – 92
5.4.2 Cholinerge Systeme – 94
5.4.3 Katecholaminsysteme – 95
5.4.4 Das serotonerge System – 96
5.4.5 Das Kannaboidsystem – 97
5.4.6 Aminosäuren – 97

Zusammenfassung – 98
Literatur – 99

N. Birbaumer, Biologische Psychologie, DOI 10.1007/978-3-540-95938-0_5,


© Springer Medizin Verlag Heidelberg 2010
72 Kapitel 5 · Funktionelle Anatomie des Nervensystems

)) Ansichten des ZNS


. Abb. 5.1 zeigt die anatomischen Richtungsbezeichnungen
Während die stammesgeschichtlich alten, tiefer (inferior) und Sichtebenen bei Tier und Mensch. Da beim Tier die
liegenden subkortikalen Anteile des Gehirns auf einzelne Neurachse (von neuronale Achse) als eine imaginäre ge-
Sinnesfunktionen sowie vegetative und motorische Leis- rade Linie durch Rückenmark und Gehirn verläuft, sind die
tungen spezialisiert sind, entwickelten sich bei höheren Ortsbezeichnungen relativ zur Neurachse klarer als beim
Säugern und Menschen die stammesgeschichtlich jünge- Menschen. Das frontale Ende ist anterior, der Schwanz
ren Teile, v. a. Zwischenhirn, limbisches System und Neo- posterior, auch die Bezeichnungen rostral (schnauzen-
kortex, als interaktive, weniger spezialisierte sensomoto- oder schnabelwärts) und kaudal (schwanzwärts) sind klar.
rische Systeme. Beim Menschen und bei Primaten, bei denen die Neur-
Von den Gehirnen jener Tierarten, die in der Evolu- achse auf Höhe des Gehirns nach frontal knickt, deckt sich
tion unmittelbare Vorläufer des Menschen sind, bis zum dorsal (rückenwärts) mit dem obersten Kopfende, das des-
5 menschlichen Gehirn, besteht keine sprunghafte Ent- halb auch als superior bezeichnet wird. Dorsal, rücken-
wicklung, sondern ein Kontinuum. Im Vergleich zum wärts, wird aber auch mit posterior bezeichnet. Vergleich-
Aufbau eines Computers zeichnet sich das menschliche bares gilt für ventral (bauchwärts) und anterior bzw.
Gehirn durch eine in phylogenetischer (stammesge- inferior. Die Richtungen lateral und medial sind dagegen
schichtlich) und ontogenetischer (individualgeschichtlich) bei Tier und Mensch unmissverständlich.
Entwicklung ständig wachsende Zahl von funktions- . Abb. 5.2 zeigt die verschiedenen Ansichten und
tüchtigen Verbindungen zwischen den Zellen und Arealen Schnittebenen des Gehirns. Der koronare Schnitt (von lat.
aus, die flexible Anpassungsleistungen des Verhaltens Krone) wird auch als Querschnitt, Frontalschnitt oder
an eine dynamische, wenig vorhersagbare Umwelt er- Transversalschnitt bezeichnet. Der Sagittalschnitt (von lat.
lauben. Pfeil) steht im rechten Winkel zum Koronarschnitt.
G Anatomisch werden im Gehirn die Richtungsbezeich-
5.1 Aufbau und Hauptabschnitte nungen anterior (nach vorne, zum Kopf), posterior
des Zentralnervensystems (ZNS) (nach hinten), kaudal (zum Schwanz) und rostral
(zum Schnabel, zur Nase) sowie dorsal (zum Rücken)
5.1.1 Grobaufbau und ventral (zum Bauch) unterschieden.

Anteile des Nervensystems 5.1.2 Hirnhäute, Blutversorgung


Das Nervensystem besteht aus Gehirn und Rücken- und Ventrikel
mark, dem Zentralnervensystem und den kranialen und
spinalen Nervenfasern (Kopfnerven und Rückenmarks- Hirnhäute
nerven) sowie den peripheren Ganglien, die das periphere . Abb. 5.3 illustriert die Lageverhältnisse von Gehirn und
Nervensystem (PNS) bilden. Die verschiedenen Anteile Rückenmark und den umgebenden Schichten. Die Hirn-
und Funktionen des PNS werden in den jeweiligen Kapiteln häute (Meninges) bestehen aus 3 Schichten: der äußeren,
der einzelnen Organsysteme besprochen. Die inneren dicken und undehnbaren Dura mater (harte Mutter),
Organe und Blutgefäße werden vom autonomen Nerven- der mittleren arachnoiden Membran (Spinnenmembran),
system (ANS) innerviert (Kap. 6), dessen Fasern, Ganglien die der Dura anliegt, darunter der subarachnoidale Spalt
und Kerne teils innerhalb, teils außerhalb des ZNS und PNS mit Zerebrospinalflüssigkeit (CSF) und den großen Ge-
verlaufen. fäßen.

. Abb. 5.1. Anatomische Richtungsbezeichnungen


5.1 · Aufbau und Hauptabschnitte des Zentralnervensystems (ZNS)
73 5

lation erfolgt ansonsten wie in anderen Körperregionen


(Kap. 10). Die arterielle Versorgung erfolgt über 2 Haupt-
arteriensysteme, die vertebralen Arterien für die kaudalen
Abschnitte des Gehirns und die inneren Karotiden, die den
rostralen Hirnbereich versorgen.

Zerebrospinalflüssigkeit
Gehirn und Rückenmark schwimmen in der Zerebro-
spinalflüssigkeit (CSF), die sowohl Verletzungen der Hirn-
masse durch plötzliche mechanische Einwirkungen (Schlag,
Stoß, Bewegung) verhindert, als auch dem Stoffwechsel
dient. Die CSF (500 ml/Tag) wird in den Plexi chorioidei
der 4 Ventrikel aus Blutplasma gebildet (. Abb. 5.4). Der
Abfluss (Reabsorption im Blutkreislauf) erfolgt über die
Arachnoidea. Die extraventrikuläre CSF (Interstitialflüssig-
keit) wird von den Kapillaren gebildet und kommuniziert
frei mit der ventrikulären CSF. Die 4 Ventrikel sind durch
schmale Kanäle (Aquädukt, Foramen) verbunden. Die Ge-
fäßwände des Gehirns sind für große Moleküle undurch-
lässig und bilden zusammen mit den Astrozyten die Blut-
Hirn-Schranke (. Abb. 2.10b in 2.3.2).

G Das Gehirn ist von 3 Hirnhäuten umgeben und


Nach Carlson NR (1998). Mit freundlicher Genehmigung von Pearson.

»schwimmt« in der Zerebrospinalflüssigkeit, welche


das Gehirn mit Nährstoffen versorgt. Die Hirngefäß-
wände bilden eine besondere Schutzschicht gegen-
über schädigenden Substanzen, die Blut-Hirn-
Schranke.

5.1.3 Die drei Hauptabschnitte des Gehirns

Hinterhirn, Mittelhirn und Vorderhirn


. Abb. 5.5a zeigt deren fetale Entwicklung und die Grenzen
der einzelnen Hirnabschnitte, welche in . Abb. 5.5b und c
im erwachsenen Gehirn wieder gefunden werden (7 Farb-
gebung). . Abb. 5.5c gibt schematisch die wichtigsten
. Abb. 5.2. Schnitt- und Sichtebenen im ZNS Abschnitte des Gehirns wieder. Rückenmark, verlängertes
Mark (Medulla oblongata), sowie Brücken- und Mittelhirn
werden in den entsprechenden Abschnitten dieses Buches
Den Gyri (Windungen) und Sulci (Tälern) des Gehirns besprochen. Brückenhirn (Pons) und Kleinhirn (Zere-
liegt die elastische Pia mater (weiche Mutter) eng an. Die bellum) bilden zusammen das Hinterhirn (Metenzephalon).
eigenartigen Bezeichnungen stammen aus z. T. fehlerhaften Die Struktur und Bedeutung des Kleinhirns für die ge-
Übersetzungen von christlichen Anatomen des 11. und ordnete zeitliche Koordination von Bewegungen wird in
12. Jahrhunderts aus dem Arabischen. Abschn. 13.6.3 beschrieben, seine Rolle in Lernprozessen
in Kap. 25.
Blutversorgung Auf den folgenden Seiten werden die einzelnen Struk-
Die Blutversorgung des Gehirns ist – verglichen mit Mus- turen der 3 Hauptabschnitte unter dem Aspekt ihrer funk-
keln und inneren Organen – erstaunlich gleichmäßig. Sie tionellen Bedeutung für die Steuerung von Verhalten
beträgt mit nur geringen Schwankungen etwa 1 l/min, beschrieben. Dabei sollen nur generelle Strukturprin-
d. h. rund 20% des Herzminutenvolumens in Ruhe von zipien erläutert werden. Die speziellen Aufgaben der ein-
5 l/min (Abschn. 10.2.3), entsprechend dem Glukosever- zelnen Hirnabschnitte im Rahmen von Sensorik, Motorik
brauch (. Abb. 10.17b in Abschn. 10.6.1). Bereits nach Un- und vegetativen Funktionen sind Themen der Kap. 6
terbrechung der Blutzufuhr für 1 s ist der gesamte zur Ver- bis 19. Ihre Bedeutung für Verhalten und Informations-
fügung stehende Sauerstoff verbraucht. Nach 6 s tritt verarbeitung (Kognition) sind Gegenstand der Kap. 21
Bewusstlosigkeit ein (Box 2.1 in Abschn. 2.1.3). Die Zirku- bis 28.
74 Kapitel 5 · Funktionelle Anatomie des Nervensystems

. Abb. 5.3. Lage von Gehirn und Rückenmark in Kopf und Nacken

Arbeitsprinzipien der Hirnabschnitte Funktionsschwerpunkte


Vital notwendige Mechanismen zur Erhaltung der Lebens- Funktionsschwerpunkte in den einzelnen Hirnabschnitten
funktionen werden auch ohne Mitwirkung des Vorderhirns lassen sich allerdings unterscheiden, die aber nicht notwen-
aufrechterhalten, umgekehrt aber stimmt nicht, dass komple- digerweise mit den Attributen »höher« oder »primitiver«
xes Verhalten, einschließlich Sprache, primär eine Funktion zu versehen sind. Von inferior nach superior ist eine Hier-
der höheren Hirnabschnitte, speziell des Neokortex, ist. Es ist archie an Flexibilität und Geschwindigkeit der Informa-
ein weit verbreitetes Vorurteil, dass unser Gehirn hierarchisch, tionsverarbeitung und Verhaltenssteuerung auszumachen.
von niederen, entwicklungsgeschichtlich alten Funktionen Je telenzephaler eine bestimmte Reaktionsweise lokalisiert
(Triebe) des Hinter- und Mittelhirns bis zu höheren Funk- ist, um so schneller kann einmal gelerntes Verhalten wieder
tionen (Verstand, Vernunft) des Vorderhirns aufgebaut ist. aufgegeben werden; je weiter ventral (inferior) eine Er-
Vielmehr gilt, dass mit zunehmender Komplexität und Neu- regungssequenz abläuft, um so inflexibler gegenüber Ver-
heit des Verhaltens auch die Zahl der beteiligten Hirnstruk- änderungen wird das produzierte Verhalten.
turen und die Ausbreitung der Erregungskonstellationen über
alle Hirnabschnitte, kortikal und subkortikal, steigen. G Die 3 Hauptabschnitte des Gehirns, Vorderhirn,
Mittelhirn und Hinterhirn (Rautenhirn) arbeiten
G Das Säugetiergehirn besteht aus Hinter-, Mittel- und gleichberechtigt in der Organisation von Verhalten
Vorderhirn. Obwohl die phylogenetisch älteren Hirn- zusammen. Flexible und rasche Verhaltensänderun-
abschnitte des Mittel- und Hinterhirns v. a. vitale gen benötigen das Vorderhirn.
(»primitive«) Funktionen unterhalten, sind sie an den
»höheren« psychologischen Funktionen des Vorder-
hirns essenziell beteiligt.
5.2 · Strukturen und Funktionen des Zwischenhirns, des limbischen Systems und der Basalganglien
75 5

. Abb. 5.4. Das Ventrikelsystem des Gehirns

Box 5.1. Zahlenspiele mit dem menschlichen Gehirn

Das menschliche Gehirn enthält mehrere Hundert Milliarden (das Corpus callosum) etwa 4×109 Impulse/s aus. Die Lei-
(1011) Nervenzellen (Neurone) und noch zahlreichere, näm- tungsgeschwindigkeit der Impulse beträgt in den Nervenfa-
lich mehrere Billionen (1015) Gliazellen (die Gliazellen sind sern bis zu 100–120 m/s (360–400 km/h). An den erregenden
durchweg kleiner als die Neurone, so dass beide Zellsysteme und hemmenden Synapsen sind bisher mehr als 40 Überträ-
je etwa 50% des Hirnvolumens ausmachen, Abschn. 2.3.2). gersubstanzen (Transmitter) identifiziert worden. In einem
Die Nervenzellen (Neurone) bilden untereinander mehrere erregten Neuron werden pro Sekunde etwa 15.000 Protein-
100 Billionen (1017) synaptische Kontakte aus. Die Ge- moleküle aktiviert. An der Entstehung einer Erinnerung oder
samtlänge aller Nervenfasern im Gehirn beträgt etwa eines Gedankens sind vermutlich etwa 107–108 Neurone
2×384.000 km (Entfernung zum Mond). Die beiden Groß- beteiligt, allerdings benötigen gut geübte oder überlernte
hirnhemisphären tauschen lebenslänglich über den Balken Gedanken und Handlungen oft nur wenige Neurone.

5.2 Strukturen und Funktionen lich für Antrieb und Gefühl (Motivation und Emotion) –
des Zwischenhirns, des limbischen beeinflusst aber auch die höheren sensorischen, moto-
Systems und der Basalganglien rischen und kognitiven Funktionen von Thalamus und
Kortex. Die neokortikalen Einflüsse auf den Hypothala-
5.2.1 Der Hypothalamus mus gehen den indirekten Weg über die limbischen Struk-
turen.
Kerngruppen Die Kerngruppen des Hypothalamus, zu dem auch die
Der Hypothalamus ist – als Kopf-Ganglion des autono- Mamillarkörper gehören, sind zwar anatomisch und histo-
men Nervensystems (ANS) direkt und hauptverantwort- logisch oft schwer abzugrenzen (. Abb. 5.6), weisen aber
76 Kapitel 5 · Funktionelle Anatomie des Nervensystems

Nach Rosenzweig MR, Leiman LA, Breedlove SM (2005). Mit freundlicher Genehmigung von Sinauer.
5

. Abb. 5.5a–c. Entwicklung und Lage der 5 Hirnabschnitte. b Erwachsenes Gehirn. Ansicht von medial auf die rechte Hemisphäre
a Wenige Wochen nach der Befruchtung zeigen sich am Kopfende c Ober- und Unterbegriffe der verschiedenen Hirnabschnitte und ihre
des Neuralrohrs bereits 3 Hauptabschnitte. 6 Wochen nach der Be- wichtigsten Kerngebiete
fruchtung sind die 5 Hauptabschnitte des Gehirns bereits sichtbar.

bei elektrischer oder chemischer Reizung differenzierbare Wie aus . Abb. 5.7 und 5.9 ersichtlich, kommt ein Groß-
Funktionen auf. teil der Vorderhirneingänge in den Hypothalamus aus dem
limbischen System, während der Hirnstamm aus den Mit-
Verbindungen telhirnregionen und dem medialen periventrikulären Sys-
Obwohl Hypothalamus und Thalamus entwicklungs- tem in den Hypothalamus projiziert. Zum und vom Neo-
geschichtlich (. Abb. 5.5) eine Einheit bilden, sind sie kortex (mit Ausnahme des präfrontalen Kortex) und zum
anatomisch und auch in ihrer Bedeutung für Verhalten spezifischen Thalamus sowie zu den Basalganglien beste-
2 heterogene Strukturen, deren Verbindungen unter- hen kaum direkte Verbindungen. Dies erklärt auch, warum
einander eher bescheiden sind. Direkte afferente Verbin- Antriebsfunktionen so schwer willentlich oder über Lernen
dungen vom Thalamus zum Hypothalamus scheinen beeinflussbar sind.
nicht zu existieren, während der unspezifische (dorso-
mediale) Thalamus aus dem Hypothalamus reich versorgt Das mediale Vorderhirnbündel
wird. Das mediale Vorderhirnbündel (»medial forebrain bundle«,
. Abb. 5.7 zeigt die wichtigsten Fasersysteme des Hypo- MFB, . Abb. 26.30) ist zwar das meistzitierte, aber am we-
thalamus: Der Fornix verbindet Hippokampus, Septalre- nigsten anatomisch fassbare Fasersystem. Viele der Axone
gion und Nucl. anterior des Thalamus über die C. mamillares kommen aus der und gehen in die Formatio reticularis
mit dem Hypothalamus. Die Stria terminalis verbindet des Mittelhirns. Das MFB verläuft v. a. im lateralen Hypo-
primär die Amygdala und den medialen Hypothalamus. thalamus, seine diffusen Verbindungen lassen die Bezeich-
Dabei geht sie den Umweg dorsal über den Thalamus hin- nung Bündel als fragwürdig erscheinen. . Abb. 26.30 gibt
weg. Der Einfluss der Amygdala auf den Hypothalamus den allgemeinen Bauplan des MFB im stilisierten Säugetier-
läuft v. a. über diese Bahn. Die Stria medullaris ist ein hete- hirn wieder und illustriert seine Rolle als zentrales Kom-
rogenes Faserbündel mit weitgestreuten Verbindungen, die munikationssystem des medialen Vorderhirns (Septum,
meisten verbinden die Habenula mit dem präoptischen Hy- Hippokampus, Amygdala, Hypothalamus) mit dem Mittel-
pothalamus. hirn.
5.2 · Strukturen und Funktionen des Zwischenhirns, des limbischen Systems und der Basalganglien
77 5

. Abb. 5.6. Regionen und Kerne im Hypothalamus

G Der Hypothalamus ist eng mit dem limbischen


System, aber nur indirekt mit Kortex und Thalamus
verbunden. Das mediale Vorderhirnbündel (MFB)
stellt ein Kommunikationssystem des Hypothalamus
mit vielen anderen kortikalen und subkortikalen
Hirnabschnitten dar.

Homöostatische Funktionen
Innerhalb eng gesteckter Grenzen analysieren die verschie-
denen Kerngruppen die Ist-Werte und die Soll-Werte für
verschiedene homöostatische Triebe (Durst, Hunger,
Körpertemperatur, zirkadiane Periodik und Schlaf, soziale
Bindungen). Über die sog. zirkumventrikulären Organe
(Kap. 7) kann er Stoffwechselprodukte und Hormone auf-
nehmen. Bei den zirkumventrikulären Organen handelt es
sich v. a. um an der Ventrikeloberfläche liegende spezia-
lisierte Zellanhäufungen, durch die Stoffe, v. a. Hormone
direkt unter Umgehung der Blut-Hirn-Schranke eindrin-
. Abb. 5.7. Faserverbindungen des Hypothalamus
gen können. Über die efferenten Verbindungen zu somato-
motorischen Kernen des Stammhirns kann der Hypotha-
lamus direkt Einfluss auf einfache motorische Halte-,
Stell- und Bewegungsverhaltensweisen nehmen, über das
ventrale Striatum (7 unten) und bisher kaum bekannte,
aber zweifellos vorhandene hypothalamokortikale Verbin-
dungen kann er komplexes Such- und Konsumationsver-
halten wie auch emotionale Reaktionen beeinflussen.
78 Kapitel 5 · Funktionelle Anatomie des Nervensystems

Der Hypothalamus als Integrationszentrum für auto- Motorische und emotionale Planung
nome, somatomotorische und zirkadiane Funktionen wird Über die ventralen Kerne (. Abb. 5.8, Nuclei ventrolaterales)
detailliert in Kap. 7 und 22 besprochen. erhält der Thalamus Information aus den Basalganglien
(7 unten) und dem Zerebellum (Kleinhirn); über diese
G Über die Hypophyse steuert der Hypothalamus den
Verbindungen steuert er die motorische Aufmerksamkeit
Hormonhaushalt und von seinen Kerngruppen aus
und Planung (Kap. 13). Der Nucleus anterior unterhält
das vegetative Nervensystem. Damit verbindet er
beidseitige Verbindungen zu den G. cinguli und erhält
autonome und endokrine Funktionen und er steuert
Fasern aus dem Hippokampus über die Mamillarkörper via
Antriebsfunktionen und endogene Rhythmen.
Fornix. Zusammen mit dem dorsomedialen Kern, der von
Hypothalamus und Amygdala versorgt wird und in den
5.2.2 Der Thalamus präfrontalen Kortex projiziert, bilden diese Abschnitte des
Thalamus einen Teil des limbischen Systems. Die enge Ver-
5 Sensorische Relaisstation bindung von Aufmerksamkeitsfunktionen und emotional-
Thalamus (griech. thalamos = innere Kammer) und Kortex motivationalen Prozessen findet hier anatomisch ihre Ent-
bilden eine funktionelle Einheit: Fast alle sensorischen sprechung.
Afferenzen werden in den sensorischen Relaissystemen vor
G Der Thalamus wird als »Tor zum Kortex« betrachtet,
ihrer Weiterleitung zur Hirnrinde umgeschaltet (Kap. 16 bis
da in seinen Relais-Kernen alle sensorischen und
19). Die thalamischen Kerne (. Abb. 5.8) sind das Tor zum
motorischen Ein- und Ausgänge zum und vom
Kortex und spielen daher eine zentrale Rolle in der Steue-
Kortex umgeschaltet werden. Seine vorderen Ab-
rung von Aufmerksamkeitsverhalten (Kap. 21) und der
schnitte stehen aber in enger Verbindung zum
rhythmischen elektrischen Aktivität des Großhirns
limbischen System.
(Kap. 20). Jedes Areal des Neokortex erhält thalamische
Eingänge und gibt 10-mal soviel wieder an die thalami-
schen Ursprungskerne ab: die thalamokortikalen Projek- Selektive Aufmerksamkeit
tionen. Der Thalamus erhält die rückläufigen Bahnen aus Der präfrontale Kortex verfügt über die Schlüssel zum
der untersten Schicht des Neokortex. Zusätzlich geben alle medialen (intralaminären) und retikulären Thalamus. Er
efferenten Bahnen vom Neokortex Seitenäste (Kollateralen) wird daher auch als rostraler Türöffner des Kortex be-
an den Thalamus ab. Damit hat der Thalamus stets eine zeichnet. Der retikuläre Kern umgibt den Thalamus wie
Efferenzkopie, v. a. über die motorischen Kommandos, zur ein Schild (. Abb. 21.24). Er erhält rückläufige Fasern aus
Verfügung (Kap. 13). allen übrigen Kernen des Thalamus und aus der Formatio
reticularis des Mittelhirns und indirekt aus den Basal-
ganglien.
Der präfrontale Kortex projiziert vermutlich exzitato-
risch in den retikulären Thalamus. Dieser wiederum hemmt
die spezifischen Thalamuskerne: Damit ist der retikuläre
Thalamus zu einer Integrationsstation kortikothalami-
scher und thalamokortikaler Aktivität zusammen mit dem
Aktivierungssystem des Mittelhirns geworden. Über die
extensiven Verbindungen der intralaminären Kerne (in
. Abb. 5.8 als Nucleus medialis bezeichnet) zum Striatum
hält der frontale Türöffner nicht nur den Schlüssel zu an-
kommender (sensorischer), sondern auch den für efferente
(motorische) Information in der Hand (diese Zusammen-
hänge werden ausführlich in Kap. 21 und . Abb. 21.24 abge-
handelt).

G Retikulärer Kern und die intralaminären Kerne des


Thalamus erfüllen wichtige Filterfunktionen im
. Abb. 5.8. Anatomie und Funktion des Thalamus. Der Thalamus Rahmen der sensorischen und motorischen Auf-
der rechten Gehirnhälfte ist mit seinen wichtigsten Kernen und Kor- merksamkeit.
texverbindungen dargestellt. Die funktionelle Einteilung der Tha-
lamuskerne unterscheidet: spezifische sensorische Kerne (rot, ocker);
motorische Kerne (gelb); Assoziationskerne (verschiedene Grün-
Blauschattierungen); unspezifische Kerne (grau). PU Nucl. pulvinaris;
LP Nucl. lateralis posterior; MD Nucl. medialis dorsalis; VL Nucl. ventralis
lateralis; A Nucl. anterior. Der retikuläre Kern ist nicht eingezeichnet
5.2 · Strukturen und Funktionen des Zwischenhirns, des limbischen Systems und der Basalganglien
79 5
Nucleus subthalamicus von Verhaltensweisen zugunsten neuer Reaktionsalterna-
Der Nucleus subthalamicus (STN) liegt, wie der Name sagt, tiven. Während die Stammhirn-Anteile die Intensität do-
medial-lateral unter dem Thalamus und wird üblicherweise minierender Reaktionssequenzen wie Annäherung und
zu den Basalganglien (7 unten) gezählt (. Abb. 5.15). Er gibt Vermeidung modulieren, bewirkt die Aktivität des limbi-
und erhält Projektionen (Endigungen von Nervenfasern) schen Systems die Unterdrückung traditioneller Reaktions-
aus dem Globus Pallidum und der Substantia nigra und dem weisen (z. B. stereotypes Annäherungs- und Vermeidungs-
motorischen Kortex. Diese Bahn wird indirekte Bahn ge- verhalten), um Verhaltensmodifikation auf der Grundlage
nannt und ist bei Parkinson-Krankheit (7 unten und Kap. 13) körperinterner Informationen (Freude, Lust und Aversio-
hyperaktiv. Die Hyperaktivität erregt das Pallidum und dies nen) und auf der Grundlage von Zukunftserwartungen
wiederum führt zu Übererregung im Thalamus. Da aber die über das Auftreten veränderter Reizbedingungen (neokor-
thalamischen Verbindungen meist hemmend sind, »friert« tikal) zu ermöglichen.
die Bewegung ein.
Läsionen des STN verbessern die Symptome von Par- Historische Entwicklung des Begriffs
kinson ebenso wie hochfrequente elektrische Stimulation Pierre Paul Broca prägte 1878 den Begriff »la grande lobe
über eine eingepflanzte Elektrode. Die elektrische Reizung limbique« und verstand darunter den Saum (Limbus) aus
des STN bewirkt offensichtlich seine Blockade, vermutlich phylogenetisch älteren neokortikalen Anteilen (Übergangs-
über die Reizung hemmender Zwischenneurone. kortex, Transitionalkortex), der den Hirnstamm umgibt.
Später bezeichnete man die limbischen Strukturen als
G Der Nucleus subthalamicus ist Teil des extrapyrami-
Riechhirn, was aber bald wieder aufgegeben wurde, da nur
dalen Systems. Seine Hyperaktivität ist an der Pro-
Septum und Amygdala, sowie entorhinaler Kortex und
duktion von motorischen Symptomen der Parkin-
Hippokampus mit dem Bulbus olfactorius verbunden sind
son-Erkrankung beteiligt. Elektrische Reizung des
(. Abb. 5.9).
STN kann diese bessern.
Die Ausweitung zu einem limbischen System nahm 1939
Papez vor, der die kreisartige Verbindung (Papez-Kreis)
5.2.3 Das limbische System aus Hippokampus → Mamillarkörper → Vicq d’Azursches
Bündel → Nucl. anterior → G. cinguli → Hippokampus als
Aufbau des limbischen Systems neuroanatomische Grundlage von Emotionen ansah (Kap. 26
Wir verstehen unter dem limbischen System die in und 27). . Abb. 5.9c und d zeigen auch, dass der Hypotha-
. Abb. 5.9a in Farbe wiedergegebenen Abschnitte. Teile des lamus als wichtigste gemeinsame Endstrecke der limbischen
Hypothalamus und des vorderen Thalamus sind so eng Informationsverarbeitung für Verhalten, vegetative und endo-
mit dem limbischen System verbunden (7 oben), dass sie krine Reaktionen dient.
dem System zugeordnet werden müssen. Mit dem Neo-
G Obwohl sich das limbische System in der Evolution
kortex bestehen extensive Verbindungen, v. a. zum orbitalen
primär als Geruchs- und Geschmacksanalysator ent-
präfrontalen Kortex und Temporalpol und zur vorderen
wickelt hat, ist es bei höheren Säugern an der Steue-
Inselregion, so dass man diese auch oft als Teile des limbi-
rung aller emotionalen und kognitiven Funktionen
schen Systems betrachtet. Über den Temporallappen laufen
beteiligt.
die meisten indirekten Verbindungen zum Neokortex, was
z. T. die Auswirkungen temporaler Läsionen auf Gedächt-
nisfunktionen verständlich macht (Kap. 24 und 27). Lim- Aufbau der Amygdala (Corpus amygdaloideum,
bische Strukturen sind an der Steuerung aller Verhaltens- Mandelkern)
und Denkprozesse integral beteiligt, emotionale Vorgänge Der Mandelkern ist eine Ansammlung mehrerer Kern-
sind dabei nur ein Teil der vielfältigen Aufgaben dieser gruppen im vorderen Abschnitt des Temporallappens. Die
Kerne und ihrer Verbindungen. funktionelle Heterogenität spiegelt sich auch in ihrer bioche-
mischen Heterogenität wieder (Kap. 5.4); cholinerge, endor-
G Das engere limbische System besteht aus Amygdala,
phinerge, dopaminerge, glutamaterge und adrenerge Trans-
Hippokampus und G. cinguli und deren Verbindun-
mitter und verschiedene Neuropeptide werden gefunden.
gen. Das erweiterte limbische System bezieht Teile
. Abb. 5.10 gibt die Lage der Amygdala nach Entfernen
des Thalamus, Hypothalamus und Teile des Kortex
des darüber liegenden kortikal-temporalen Gewebes wieder.
mit ein.
. Abb. 5.11, 27.10 und 27.11 zeigen die Lage der 3 Hauptab-
schnitte des basolateralen, olfaktorischen und zentro-
Funktionsschwerpunkt medialen Kernes. Der basolaterale Kern ist sowohl histolo-
Das limbische System steuert und speichert die stereotypen gisch als auch histochemisch wie der Neokortex aufgebaut,
Reaktionen der darunter liegenden Strukturen (z. B. mit dem er auch primär verbunden ist (. Abb. 5.11).
Atmung, Blutdruckregulation, stereotype Annäherung an Der olfaktorische Kern ist beim Menschen klein und
positiven Geruch) und erlaubt ein schnelleres Aufgeben verbindet den Bulbus olfactorius mit dem temporalen
80 Kapitel 5 · Funktionelle Anatomie des Nervensystems

. Abb. 5.9a–d. Das limbische System. a Kerngruppen (farbig); b wichtige Verbindungen; c schematische Darstellung der Beziehung zu Kortex
und Hypothalamus; d zentrale Position des Hypothalamus (7 Text).

Geruchskortex (Kap. 19). Der zentromediale Kern ist Teil tionen werden vom zentralen Kern gesteuert (Kap. 27.2 und
eines ausgedehnten subkortikalen Systems, das auch oft Box 5.2).
als erweiterte Amygdala bezeichnet wird und über die
Stria terminalis in den sog. »bed nucleus« der Stria termi- G Beim Aufbau der Amygdala muss man einen neo-
nalis mündet und wie ein Ring um die Basalganglien und kortikalen Anteil, den basolateralen Kern, und einen
die innere Kapsel führt (. Abb. 5.11). Die endokrinen, subkortikalen Anteil, den zentromedialen Kern,
autonomen und motorischen Anteile emotionaler Reak- unterscheiden.
5.2 · Strukturen und Funktionen des Zwischenhirns, des limbischen Systems und der Basalganglien
81 5

. Abb. 5.10. Lage von Amygdala (Pfeil) und Hippokampus (H)


von der ventralen Seite nach Entfernung des vorderen unteren
Temporallappens (links). Anterior oben, posterior unten

Verbindungen der Amygdala


Der basolaterale Kern erhält von den primären und sekun-
dären Projektionsarealen des Kortex die kognitive Bewer-
tung und Analyse der sensorischen Reize und gibt die In-
formation mit einer emotionalen »Markierung« dorthin . Abb. 5.11a, b. Kerne und Verbindungen der Amygdala. Rechts
oben die Lage dieser Kerne und der Stria terminalis im Gehirn.
zurück. Diese kortikoamygdaloiden Fasern benutzen Glut-
a Verbindungen zu anderen limbischen Strukturen. b Koronarschnitt
amat als Transmitter, ebenso wie die von der Amygdala auf Höhe der vorderen Kommissur (ac »anterior commissure«). BL ba-
dorthin zurückführenden reziproken Verbindungen. Die solateraler Kern, BST »bed nucleus« der Stria terminalis, Ce-M zentro-
emotionale Bewertung der sensorischen Information wird medialer Kern, GP Globus pallidus, ic Capsula interna, Pu Putamen
auf diesem Wege erreicht (Kap. 27). Wie der übrige Kortex
projiziert der basolaterale Kern auch ins ventrale Striatum
und zum mediodorsalen Thalamus, der in den präfronta- von wo aus die muskulären, autonomen und endokrinen
len Kortex führt. Wie der Neokortex erhält der basolaterale Anteile emotionaler Reaktionen gesteuert werden.
Kern direkte cholinerge Fasern vom basalen Kern des Vor-
G Der basolaterale Kern projiziert efferent und afferent
derhirns (. Abb. 5.16).
zu fast allen Assoziationsarealen des Neokortex. Die
Die zentromedialen Kerne erhalten Projektionen
zentromedialen Kerne versorgen primär die limbi-
vom Hippokampus, der Insel und vom orbitofrontalen
schen Anteile des Neokortex (Orbitofrontalkortex,
Kortex. Vermutlich erhält die Amygdala hierüber Informa-
Insel) und den Hypothalamus.
tionen über die Bewertung der emotionalen Reize (Kap. 27).
Zum basolateralen Kern besteht ein massives intraamyg-
daloides Assoziationssystem, welches einen raschen Infor- Aufbau des Hippokampus (Ammonshorn)
mationstransfer innerhalb der Amygdala ermöglicht. Der Der Hippokampus spielt eine zentrale Rolle beim Vergleich
zentromediale Kern projiziert nicht ins Striatum, sondern ankommender und gespeicherter Information und beim
in die Kerne des Hypothalamus und Hirnstamms (Kap. 27), kontextuellen Lernen. Er ist damit ein wesentlicher Teil
82 Kapitel 5 · Funktionelle Anatomie des Nervensystems

Box 5.2. Einseitige Furcht

Der Patient L.M. wurde wegen epileptischen Anfällen Reize zwar beschreiben, spürte aber keinerlei Gefühls-
nach einer fiebrigen Entzündungserkrankung behandelt. reaktion. Dies zeigt, dass die emotionale Bewertung
Dabei stellte man, wie auf untenstehendem Bild ersicht- (»bias«) kortikal wahrgenommener Reize von der ipsilatera-
lich, eine isolierte Läsion (Zerstörung) des rechten Amyg- len (gleichseitigen) Amygdala erfolgt. Gelangt der Reiz in
dalakerns fest. Eine ausführliche Testung des Patienten die rechte Hemisphäre, so führt Aktivierung der rechten
mit emotionalen Bildern und Schreckreizen und Messung Amygdala zur emotionalen Färbung dieses Reizes (Kap. 27).
der psychophysiologischen Reaktionen (Schreckreflex,
Hautwiderstand) ergab, dass der Patient nur Furcht emp- Literatur: Angrilli A, Mauri A, Palomba D, Flor H, Birbaumer
fand, wenn die emotionalen Reize auf einer Seite (linkes N, Sartori G, DiPaola F (1996) Startle reflex and emotion
Auge, linkes Ohr, die Bahnen verlaufen gekreuzt!) dar- modulation impairment after right amygdala lesion. Brain
geboten wurden, ansonsten konnte er die emotionalen 119:1991–2000
5

Amygdalaläsion

jener Strukturen, die an Konsolidierung und Habituation horn, Cornu ammonis, CA) bereits einen Aufbau ähnlich
beteiligt sind (Kap. 25 und 28). . Abb. 5.12a und b illustrie- dem Kortex cerebri identifiziert. Lorente de No beschrieb
ren die Lage und den Aufbau der Hippokampusformation. im eigentlichen Hippokampus 4 Unterregionen, die als
Während man unter dem Hippokampus in der Regel nur CA1, CA2, CA3, und CA4 bezeichnet werden.
die typisch geschichteten Regionen des Hippokampus selbst
(»proper«) mit der engen Pyramidenzellschicht und den Fasersystem
G. dentatus mit der Granularzellschicht versteht, fasst man Die in . Abb. 5.12b dargestellten Schichten (Stratum oriens,
als Hippokampusformation außer den Hippokampus und Stratum pyramidale, Stratum radiatum, Stratum molecu-
Nucleus dentatus auch den Übergangskortex zusammen, lare) zeigen bereits, dass trotz aller Ähnlichkeit mit dem
v. a. Subikulum (. Abb. 5.12b, 25.30 und 25.31) und den Neokortex (Abschn. 5.3.1) erhebliche Differenzen im Zell-
entorhinalen Kortex. aufbau bestehen, die mit den typischen elektrophysiologi-
schen und psychologischen Eigenheiten des Hippokampus
Schichtenstruktur zusammenhängen dürften: Die Dendriten der Pyramiden-
Obwohl die ventral-dorsale Erstreckung den Namen Hippo- zellen in CA1 laufen in beiden Richtungen (Doppelpyrami-
kampus (Seepferdchen) kaum rechtfertigt, ergibt die koro- den). Die Axone senden Kollateralen in alle Schichten
nare Ansicht durchaus jene Form, die ihm von Renaissance- des Hippokampus und von dort ziehen sie zumeist in der
Anatomen gegeben wurde. Die endgültige Beschreibung Fornix zur Septalregion; besonders auffällig sind die sog.
stammt von dem genialen spanischen Anatomen Ramon y Schaffer-Kollateralen, die weit in den entorhinalen Kortex
Cajal (1852–1934). Dieser hat im Hippokampus (Ammons- führen. Die Axone selbst formen die ventrikuläre Ober-
5.2 · Strukturen und Funktionen des Zwischenhirns, des limbischen Systems und der Basalganglien
83 5

fläche des Alveus (weiße Substanz). Der G. dentatus mit


seinen Granulazellen gibt die Information, v. a. aus neokor-
tikalen Regionen, über das Moosfasersystem an die Pyra-
midenzellen ab (Kap. 25).
G Der Hippokampus besteht aus mehreren hinterei-
nander geschalteten Schichten (CA1–CA4). Als Hippo-
kampusformation wird dann noch zusätzlich der
Übergangskortex (bestehend aus entorhinalem,
perirhinalem und parahippokampalem Kortex) und
das Subikulum gerechnet.

Verbindungen des Hippokampus


Ein Großteil der Information in den Hippokampus kommt
aus dem entorhinalen Kortex über den Tractus perforans,
die Efferenzen haben ihren Ursprung v. a. im Subikulum
(. Abb. 5.12b). Die Fasern vom Hippokampus zum Subi-
kulum stammen aus CA1 und sind Schaffer-Kollateralen.
Vom Subikulum führen Bahnen in die Assoziationskortizes
aller 4 Lappen der Hirnrinde. Das Subikulum kann gleich-
zeitig als gemeinsame Endstrecke der kortikalen Informa-
tion angesehen werden (meist aus dem entorhinalen
Kortex).
Der entorhinale Kortex (Kap. 25 bis 28) erhält einen
Großteil seiner Informationen aus dem ventralen Tem-
porallappen und dem orbitalen Frontalkortex. (Die ge-
nannten Verbindungen sind auch gegenläufig, wie dies
im gesamten ZNS üblich, aber hier Regel ist, . Abb. 5.12b).

. Abb. 5.12a, b. Die Hippokampusformation. a Ansicht von medial runter die Ein- und Ausgänge des Hippokampus. b Schichtenstruktur
(links oben) und ventral (rechts oben und vergrößert darunter). Da- und CA-Felder des Hippokampus. Erläuterungen 7 Text
84 Kapitel 5 · Funktionelle Anatomie des Nervensystems

Afferenzen kommen zusätzlich aus einer Reihe thalami- Information über das Subikulum in den Neokortex
scher und hypothalamischer Regionen und den Mamillar- zurück. Die Verbindungen zu den subkortikalen
körpern. Arealen laufen über der Fornixregion zum Septum
Die Beziehungen des Hippokampus zum Septum und von dort wieder zurück.
(. Abb. 5.9) laufen über den Fornix und stellen die Ver-
bindungen zu den tieferliegenden subkortikalen Struktu- Autoassoziation
ren her (Hypothalamus, Formatio reticularis, Tegmentum). Die Hippokampi beider Seiten sind über Kommissuren
Die Efferenzen zum Septum gelangen von CA3 in den late- eng verbunden. . Abb. 5.13a gibt schematisch die affe-
ralen Septumkern. Die Afferenzen kommen aus dem me- renten und efferenten Verbindungen des Hippokam-
dialen Septumkern und führen nach CA3. Über diese Bahn pus wieder, wobei die subkortikalen Verbindungen über
wird der hippokampale Theta-Rhythmus (4–7 Hz) erzeugt, das Septum nur links angedeutet sind. Man erkennt
der bei Orientierung, Exploration und Aufgeben (Extink- sowohl aus dem langen wie kurzen Kreislauf die auto-
5 tion) alter Verhaltensweisen auftritt (Kap. 25). Die Ver- assoziative Struktur dieser Verbindungen. Diese auto-
bindungen zum Hypothalamus sind auch für die Wir- assoziative Struktur ergibt sich aus den zu sich selbst zu-
kung emotionaler Reize auf das Gedächtnis, z. B. bei der rückkehrenden (rekurrenten) Axonen, welche die Pyra-
Amnesie der posttraumatischen Belastungsstörung ver- midenzellen v. a. im G. dentatus und der CA3-Schicht
antwortlich. verlassen und an ihre eigenen weit verzweigten Dendri-
tenbäume zurückkehren. Von dort werden sie an die
G Über den Tractus perforans erhält der Hippokampus CA1-Schicht weitergegeben, welche dann mit den neo-
Information aus dem Neokortex und der Amygdala. kortikalen und subkortikalen »Speicherarealen« kommu-
Nach ihrer Verarbeitung im Hippokampus kehrt die niziert (Kap. 25 für eine genaue funktionelle Beschrei-
6 bung).

. Abb. 5.13a, b. Schema der Verbindungen und Funktion des


Hippokampus. a Schematische Darstellung der Faser-Verbindungen
des Hippokampus. Vom entorhinalen Kortex wird die Information
über eine lange oder kurze Route in die CA-Felder geleitet, wo sie
assoziativ verbunden werden (»binding«) und vom Subikulum wieder
an den »tiefen« entorhinalen Kortex abgegeben werden. b Im Hippo-
kampus werden jeweils örtlich benachbarte Inhalte assoziativ ver-
bunden, z. B. obwohl die Objekte A und B örtlich weit auseinander
sind, werden sie als zusammengehörig assoziiert, da sie in derselben
Raumebene liegen
5.2 · Strukturen und Funktionen des Zwischenhirns, des limbischen Systems und der Basalganglien
85 5

Die Aufgabe dieser rekurrenten Erregungskreise ist 5.2.4 Die Basalganglien


das Zusammenfassen multisensorischer und »bedeut-
samer« Informationsströme aus den verschiedenen Bestandteile der Basalganglien
kortikalen Arealen zu einem relationalen Kontext. Die Die enge Verbindung der Basalganglien mit den motori-
assoziativen Beziehungen zwischen Objekten können schen Kernen des Thalamus (. Abb. 13.19) ließ sie als aus-
dabei räumlich oder zeitlich sein, weshalb auch die schließlich motorische Kernsysteme erscheinen. Eine neu-
Konsolidierung der räumlichen Gedächtnisinhalte an roanatomische und psychologische Analyse der Verhaltens-
den Hippokampus gebunden ist (. Abb. 5.13b und ausfälle nach Läsionen zeigt aber, dass die Basalganglien
Box 5.3). auch kognitive und emotionale Funktionen und die Auf-
merksamkeit steuern.
G Die Pyramidenzellen des Hippokampus bilden mit . Abb. 5.14 illustriert die Lage der Basalganglien im Ge-
ihren Axonen und deren Rückkehr zu ihren Dendri- hirn. Sie bestehen aus dem Nucl. caudatus und dem Nucl.
ten ein autoassoziatives System, welches multi- lentiformis. Der Nucl. lentiformis besteht aus 2 Teilen, dem
sensorische Information zu einer ganzheitlichen Be- Putamen und dem Globus pallidus. Der Putamen und
ziehungsstruktur zusammenfasst. der Nucl. caudatus werden zusammen als Striatum be-
zeichnet. Wir werden diese Strukturen in Kap. 13 im Zu-
sammenhang mit der Bewegungsplanung und -ausführung
Box 5.3. Ortszellen im Hippokampus kennen lernen.
Im Hippokampus der Ratte feuern spezifische Zell-
gruppen, wenn das Tier an einen bevorzugten Ort Striatum
zurückkehrt. Diese Ortszellen feuern bereits, wenn das Das Striatum ist die zentrale Eingangsstation der Basal-
Tier beginnt, in die Richtung der bevorzugten Stelle zu ganglien, die von allen kortikalen Regionen mit exzitatorisch
laufen, feuern immer stärker in der Hälfte des Weges, glutamatergen Fasern versorgt wird (. Abb. 13.18). Die Ein-
um dann mit zunehmender Zielnähe wieder »ruhiger« gänge sind topographisch in sog. Striosomen organisiert,
zu werden. Offensichtlich lesen diese Zellen die Erin- die sich gegenseitig lateral hemmen und damit eine laterale
nerung an den Weg rhythmisch aus, da jedes Mal eine Kontrastbildung der kortikalen Eingänge erreichen, die ver-
Aktionspotenzialserie entsteht, wenn der Hippokam- mutlich für die selektive Aufmerksamkeit und harmonische
pus-Theta-Rhythmus (≈7 Hz) in elektrisch negativer Bewegungen (Kap. 21 und 26) von Bedeutung sind.
Phase ist (Kap. 20). Die rostralen Teile der Basalganglien sind vom orbito-
frontalen Kortex bedeckt: Nucl. caudatus und Putamen

Aus Benninghoff A (1994). Mit freundlicher Genehmigung von Elsevier.

. Abb. 5.14a, b. Frontalschnitt durch die Basalganglien. a Schnitt auf Höhe des ventralen Striatums mit Nucl. accumbens, b etwas weiter
posterior
86 Kapitel 5 · Funktionelle Anatomie des Nervensystems

sind an dieser Stelle so eng verbunden, dass man oft vom


Fundus Striatum spricht, der auch den Nucl. accumbens
umfasst, eine Struktur, die für positive Motivation und
Antrieb essenziell ist (Kap. 25). . Abb. 5.14 zeigt seine Lo-
kalisation im Frontalschnitt.
Während die somatosensorischen und motorischen
Kortizes ins Putamen projizieren und über die Substantia
nigra pars reticulata zum motorischen Thalamus (ventral-
anterior oder ventral-lateral) gelangen, projizieren die As-
soziationsareale in den Nucl. caudatus, wo auch Hippokam-
pus (Subiculum), Insel und orbitofrontaler Kortex und die
basolaterale Amygdala projizieren (letztere ins ventrale
5 Striatum). . Abb. 5.15 gibt diese kortikostriatalen Projek-
tionen schematisch wider.
G Die Basalganglien bestehen aus dem Nucleus
caudatus und Nucleus lentiformis (Putamen und
Pallidum). Putamen und Nucl. caudatus bilden das
Striatum, dessen topographisch geordneten Kortex-
eingänge sich lateral in Striosomen hemmen. Das
anteriore Striatum und der Nucl. accumbens sind
essenzielle Teile des Antriebssystems.

Der direkte und indirekte Weg in den


Basalganglien
. Abb. 5.15 zeigt die direkte Verbindung vom Putamen
zum internen Segment des Pallidums (GPi) und zum
Thalamus und die indirekte Verbindung vom Putamen
ins externe Segment des Pallidums (GPe) und von dort
zum Nucl. subthalamicus (7 oben), der das GPi mit glu-
tamatergen Synpasen erregt. Die direkte Verbindung
enthemmt den Thalamus (über die GABAergen Synapsen
des GPi zum Thalamus) und erleichtert Bewegung, die
indirekte Verbindung hemmt die thalamokortikalen
Bahnen und erschwert Bewegung. Die Stimulation des
Nucl. subthalamicus (STN) mit eingepflanzten Elek- . Abb. 5.15. Indirekte und direkte Verbindungen des Kortex-
troden hemmt (über Zwischenneurone) die Hyper-Er- Basalganglien-Thalamus-Kreislaufes (blau sind hemmende Verbin-
dungen, rot erregend/glutamaterg). Der direkte Weg entspringt von
regung vom STN zum GPi und enthemmt damit die vom
D1-Neuronen, der indirekte von D2-Neuronen. SNc Substantia nigra
Thalamus zum Bewegungskortex führenden Bahnen, was pars compacta, GPi internes Pallidumsegment, GPe externes Pallidum-
die Bewegungshemmung (Akinesie) bei Parkinson auf- segment, STN Nucleus subthalamicus (7 Text)
hebt.
. Abb. 5.15 zeigt auch die dopaminergen Eingänge
aus der Substantia nigra pars compacta, die bei Parkinson Substantia innominata (ventrales Striatum, Nucl.
durch Absterben aller dopaminergen Neurone verringert basalis Meynert und zentromediale Amygdala)
sind. Die indirekte Verbindung wird bei Parkinson hyper- S. innominata bedeutet unbenannte oder unbennenbare
aktiv und die direkte hypoaktiv. Das GPi und der STN sind Substanz. Sie bildet ein diffuses, meist cholinerges Projek-
also hyperaktiv und dies bewirkt verstärkte Hemmung tionssystem, das für die Schwellenregulation von Aktivie-
der thalamokortikalen Bahnen und Bewegungsstillstand rung und Schlaf verantwortlich ist. . Abb. 5.16 gibt die wich-
(Abschn. 5.2.2 und 13.7.1). tigsten cholinergen Verbindungen und die Bestandteile
dieses Systems wieder. Wir werden in den Kapiteln über Ler-
G Die Verbindungen innerhalb der Basalganglien nen (Kap. 25), Aktivierung (Kap. 21) und Denken (Kap. 28)
teilen sich in einen direkten und indirekten Weg. die Funktionen dieses Systems kennen lernen. Pathophysio-
Die direkte dopaminerge Verbindung vom Putamen logisch sind diese Strukturen mit großer Wahrscheinlichkeit
zum Pallidum erleichtert, die indirekte hemmt entscheidend für die Alzheimer-Erkrankung (Kap. 23 und
Bewegung. 28) und Schizophrenie (Kap. 28) mitverantwortlich.
5.3 · Der Neokortex
87 5

der Informationsverarbeitung erhöhen und durch die


Steuerung von Sprache beim Menschen schnelle Änderun-
gen in Zukunftserwartungen und Aktivitäten ermöglichen
(Box 5.1). Die Zwänge der internen und externen Welt
können damit rasch aufgegeben werden, wenn sich die Er-
wartungen verändern (Kap. 21 und 25).

Bauprinzip des Kortex


Der Kortex ist ein vielfach gefaltetes neuronales Gewebe
mit Windungen (Gyri) und Furchen (Sulci) (. Abb. 5.17a–f).
Die Gesamtoberfläche beider Hemisphären beträgt etwa
2200 cm2, die Kortexdicke schwankt in den verschie-
denen Hirnabschnitten zwischen 1,3 und 4,5 mm, und
sein Volumen liegt bei 600 cm3. Er enthält 109 bis 1010 Neu-
rone und eine etwa doppelt so große Zahl von Gliazellen
(Box 5.1).
Der Kortex (. Abb. 5.18a) enthält eine große Anzahl
unterschiedlicher Neurone, die sich aber 2 Haupttypen zu-
ordnen lassen, nämlich den Pyramiden- und den Stern-
zellen. Es überwiegen die Pyramidenzellen, die 80% aller
Neurone ausmachen. Sie sind lokal durch Axonkollaterale
(in . Abb. 5.18 durch kurze Querstriche vom Axon weg-
gehend angedeutet) miteinander verbunden. Ihre Axone
laufen zum größten Teil (bis zu 90%) zu anderen kortika-
len Regionen, und zwar teils als Assoziationsfasern ipsi-
lateral und teils als Kommissurenfasern über den Balken
zur gegenüberliegenden Hemisphäre. Der kleinere Teil
. Abb. 5.16a, b. Basalganglien und Amygdala. a Frontalschnitt auf
Ebene der vorderen Kommissur (ac) und des Chiasma opticum. Dabei
läuft als Projektionsfasern zu anderen Teilen des Ner-
ist der »bed nucleus« der Stria terminalis (BST), der basolaterale Kern vensystems (z. B. zu den motorischen Zentren des Hirn-
der Amygdala (BL) und der cholinerge Nucl. basalis Meynert sichtbar. stamms und zum Vorderhorn des Rückenmarks). Die in
Die roten Punkte repräsentieren cholinerge Zellen, die zum Kortex den Kortex eintretenden Afferenzen machen ebenfalls nur
projizieren. b Das cholinerge System. DB diagonales Band von Broca, einen kleinen Prozentsatz der kortikalen Verbindungen
S Septum, Th Thalamus
aus.
G Der Neokortex besteht aus 4 Lappen, die selbst aus
Pyramiden- und Gliazellen bestehen. Der Großteil
G Die Substantia innominata mit dem Nucl. basalis ist
aller Verbindungen im Neokortex sind intrakortikale
ein relativ unspezifisches Projektionssystem, das an
Assoziations- und Kommissurenfasern.
der Wach-Schlaf-Steuerung beteiligt ist. Da diese
Strukturen direkt mit dem medialen Temporallappen-
system und Hippokampus verbunden sind, spielen Schichtenstruktur des Kortex
sie eine große Rolle für Gedächtnisbildung und Auf- In der Rinde wechseln sich Schichten, die vorwiegend Zell-
merksamkeit. körper enthalten, mit solchen ab, in denen vorwiegend
Axone verlaufen, so dass die frisch angeschnittene Rinde
eine streifige Anordnung zeigt (7 unten). Den Aufbau des
5.3 Der Neokortex Kortex in 6 Schichten, deren Anordnung und Verknüpfung
von größter Bedeutung für das Verständnis ihrer Funktion
5.3.1 Aufbau und Struktur ist, zeigt . Abb. 5.18b. Die Nummerierung der Schichten
von I bis VI erfolgt von der Kortexoberfläche zur darunter
Funktionsschwerpunkt liegenden weißen Substanz. Die spezifischen thalamischen
Der Neokortex des Menschen ist im Vergleich zu allen be- Fasern aus den Sinnessystemen gelangen in Schichten III,
kannten Arten gegenüber der Medulla oblongata über- IV und V, wo die Zellkörper der Pyramidenzellen liegen.
proportional groß. Der Neokortex selbst ist für keine der Die Assoziationsfasern (aus anderen ipsilateralen korti-
höheren Funktionen allein verantwortlich: Wissenserwerb, kalen Regionen 7 oben), die Kommissurenfasern (aus der
Lernen, Gedächtnis benötigen nicht nur neokortikale gegenüberliegenden Hemisphäre) und die unspezifischen
Strukturen. Wohl kann der Neokortex die Geschwindigkeit thalamischen Fasern (das sind jene, deren Ursprungskerne
5
88

Aus Sobotta J (1999). Mit freundlicher Genehmigung von Elsevier. Aus Sobotta J (1999). Mit freundlicher Genehmigung von Elsevier.
Kapitel 5 · Funktionelle Anatomie des Nervensystems

Aus Sobotta J (1999). Mit freundlicher Aus Sobotta J (1999). Mit freundlicher
Genehmigung von Elsevier. Genehmigung von Elsevier.
5.3 · Der Neokortex
89 5

9 . Abb. 5.17a–f. Der Neokortex. a, b Seitenansicht auf linke Hemis- nicht mit spezifischen sensorischen und motorischen Auf-
phäre, c Blick von oben, d Sagittalschnitt, Blick auf rechte Hemisphäre, gaben betraut sind) führen an die Dendriten von Schichten
e Blick von unten, f Brodmann-Nummerierung aufgrund der Zyto-
architektonik (unterschiedliche geometrische Symbole) und 4 funk-
I und II.
tionelle Hauptzonen (7 Text). AA auditorischer Assoziationskortex; G Von den 6 Kortexschichten ist die Dendritenschicht I
ag Gyrus angularis; A1 primärer auditorischer Kortex; B Broca-Areal;
cg Gyrus cinguli; f Gyrus fusiformis; FEF frontales Augenfeld; ins Insel-
für psychologische Funktionen besonders wichtig,
kortex; ipl inferiorer parietaler Lappen; it inferiorer Temporallappen; da in ihr alle intrakortikalen Eingänge der Pyrami-
MA motorischer Assoziationskortex; mpo mediales parietookzipitales denzellen einlaufen. Die Ausgänge aus den kortika-
Areal; mt medial-temporaler Gyrus; M1 primärer motorischer Kortex; len Zellen liegen in Schicht V und VI.
of orbitofrontale Region; pc präfrontaler Kortex; ph parahippokampale
Region; po para-olfaktorisches Areal; ps peristriataler Kortex; rs retro-
spliniales Areal; SA somatosensorischer Assoziationskortex; sp Gyrus Hirnkarten
supramarginalis; spl superiorer Parietallappen; st superiorer tempora-
ler Gyrus; S1 primäres somatosensorisches Areal; tp temperopolares
Trotz seines einheitlichen Grundmusters ist die Struktur
Areal; VA visueller Assoziationskortex; V1 primärer visueller Kortex; des Kortex örtlichen Variationen unterworfen. Schon auf-
W Wernicke-Areal grund der Dichte, der Anordnung und der Form der Neu-

. Abb. 5.18a, b. Bauprinzip der Großhirnrinde. a Schematischer ihre Schaltkreise und ihre afferenten und efferenten Verbindungen.
Aufbau. In allen Schichten überwiegen die hier dargestellten Pyrami- Stark vereinfachte und schematisierte Darstellung auf dem Hinter-
denzellen. Sie sind miteinander überall durch Axonkollateralen (hier grund der Schichtenstruktur der Hirnrinde. A Lage und Aussehen der
nur durch kurze Striche angedeutet) oder – die größere Entfernungen 2 Haupttypen kortikaler Neurone. B Eingangs-Ausgangs-Beziehungen
– über Assoziationsfasern durch die weiße Substanz verbunden. Effe- kortikokortikaler Verbindungen (Assoziations- und Kommissurenfa-
renzen zu anderen Teilen des Zentralnervensystems und spezifische sern). C Charakteristika thalamokortikaler (unspezifischer und spezi-
Afferenzen machen nur einen geringen Prozentsatz der Verbindungen fischer) und kortikothalamischer Verbindungen. D Synaptische Ein-
aus. Die letzteren strahlen in die mittlere (IV. Schicht) des Kortex ein, gangszonen einer Pyramidenzelle, deren Axon zu subthalamischen
mit Ausnahme der olfaktorischen Afferenzen (linker oberer Bildrand), Hirnregionen projiziert (Hirnstamm, Rückenmark). E Zusammenschau
die in die äußerste Schicht (Schicht I) eintreten. b Kortikale Neurone, der Verknüpfung kortikaler Neurone
90 Kapitel 5 · Funktionelle Anatomie des Nervensystems

rone, der Zytoarchitektonik also, hat Brodmann den Kor- zellen mit ähnlichen physiologischen Charakteristika be-
tex, wie in . Abb. 5.17f zu sehen, in etwa 50 Felder (Area) stehen, Kolumnen genannt.
eingeteilt. Andere Karten sind noch detaillierter. Die Sechs-
G Kortikale Module oder Kolumnen sind (meist verti-
schichtigkeit ist in den Assoziationsarealen besonders deut-
kal) angeordnete Gruppen von Pyramidenzellen,
lich. In den primären sensorischen Projektionsarealen sind
welche einer klar umgrenzten Funktion (z. B. hori-
die Pyramidenschichten III und IV schwächer ausgeprägt.
zontale Kontraste »erkennen«) dienen.
Wichtig ist, dass die Schichten I–IV primär Afferenzen
empfangen und V und VI als Ausgangsschichten anzusehen
sind. 5.3.2 Die Assoziationskortizes

Funktionelle Zonen des Neokortex Informationsfluss der polymodalen


Man kann die verschiedenen Felder des Neokortex funk- Assoziationskortizes
5 tionell in 2 Typen einteilen: jene Areale, die mehr mit Der Zuwachs an Hirnrinde beim Menschen ist primär auf
der Bearbeitung des extrapersonalen Raumes und der Um- die enorme Ausdehnung der polymodalen Assoziations-
welt, und jene, die mehr mit dem körperinternen Milieu felder zurückzuführen, die im phylo- und ontogenetischen
befasst sind (. Abb. 5.17f). Die primären Sinnesareale Reifungsprozess von den primären sensorischen und
und die motorischen Areale werden ausführlich in den motorischen Regionen ausgebildet werden und auch
einzelnen Kapiteln zur Sensorik und Motorik abge- keine wesentlich andere Feinstruktur als diese aufweisen
handelt. Während die Nervenzellen des primären idio- (. Abb. 5.17f). . Abb. 5.19a illustriert die Anordnung von
typischen (idio = für eine Sache zuständig) Kortex nur primären sensorischen und motorischen Arealen und
auf eine Modalität reagieren, werden die neuronalen Ant- . Abb. 5.19b die Zeitverhältnisse von ankommenden ein-
worten in den multimodalen und poly- oder hetero- fachen Signalen bis zum motorischen Output. Abgesehen
modalen Assoziationskortizes zunehmend multi- oder von den sensorischen und motorischen Funktionen des
heteromodal. Neokortex fassen wir die Großhirnrinde heute als großen
Schädigungen der idiotypischen Areale betreffen nur assoziativen Speicher auf, in dem all unser sprachliches
eine sensorische oder motorische Modalität, Schädigungen und nichtsprachliches Wissen und viele unserer Fertigkei-
der Assoziationskortizes, auch homotypischer Isokortex ten niedergelegt sind. Denken besteht aus der interaktiven
genannt (Isokortex [iso = neu] im Gegensatz zu Allokortex Aktivität von Erregungsmustern zwischen den Pyramiden-
[alt]), sind immer multimodal, d. h. die Ausfälle sind nicht zellen und ihren Dendriten.
mehr auf ein Sinnessystem beschränkt. Schließlich erschei- Während der Informationsfluss in den sensorischen
nen mit zunehmender Nähe zum Hypothalamus und zum Arealen von den primären zu den heteromodalen Assozia-
limbischen System die paralimbischen Zonen. tionskortizes fließt (. Abb. 5.17f und Pfeile auf Abb. 5.19a)
und dabei immer abstraktere Information extrahiert (Box
G Der Kortex wird in Hirnkarten untergliedert, wobei
5.4), fließt die Information im frontalen Areal von den po-
sich das zytoarchitektonisch aufgebaute System von
lymodalen präfrontalen Arealen der Handlungsplanung
Brodmann international durchgesetzt hat. Darüber
und -kontrolle zu den spezifischen primären motorischen
hinaus unterscheiden wir die unimodalen primären
Regionen zu ihrer Ausführung.
idiotypischen Kortizes und die multimodalen Asso-
ziationskortizes. Apikale Dendriten
Der Ort des Lernens und Denkens sind die Dornfortsätze
Module oder Kolumnen (»spines«) der apikalen Dendriten der Pyramidenzellen, die
Histologisch lassen sich kaum Anzeichen für eine Auftei- zum Großteil plastisch, d. h. modifizierbar sind (Kap. 4,
lung der Areae in funktionelle Untereinheiten erkennen. 23–25). Der größte Teil dieser plastischen Dendriten liegt
Physiologisch ist aber deren Existenz in verschiedenen, in den Assoziationskortizes. Jede Pyramidenzelle ist mit
v. a. primären sensorischen Arealen wahrscheinlich ge- Tausenden, oft weit entfernt liegenden anderen Pyramiden-
macht worden. So erreichen die Eingänge vom rechten und zellen verbunden, deren Axone meist an den apikalen Den-
vom linken Auge abwechselnd die primäre Sehrinde in driten der Schicht I und II enden, während die Eingänge aus
Streifen von einem halben Millimeter Breite (. Abb. 17.18b dem Thalamus (sensorische Informationen) in Schicht IV
in Abschn. 17.3.2). Auch gruppieren sich Neurone, die auf münden (. Abb. 5.18 unten).
Kanten verschiedener Orientierung im Sehfeld antworten,
so dass innerhalb von einem halben Quadratmillimeter G Der Informationsfluss im Neokortex geht im poste-
Kortexfläche sämtliche Orientierungen repräsentiert sind. rioren sensorischen Abschnitt des Kortex von spe-
Derartige Bereiche bezeichnet man als Module oder Ko- zifischen nach multimodalen (heteromodalen) und
lumnen. Manchmal werden auch noch kleinere Gebiete, im anterioren motorischen Abschnitt in umgekehrte
die aus einer Säule von übereinander liegenden Nerven- Richtung von heteromodal nach spezifisch.
5.3 · Der Neokortex
91 5

Box 5.4. Der Gyrus fusiformis


Wenn der Gyrus fusiformis (. Abb.) zerstört oder inak-
tiviert ist – v. a. in der rechten Hemisphäre –, kann die
Person Gesichter nicht mehr erkennen, eine Störung,
die als Prosopagnosie bezeichnet wird (Kap. 28). Bei
größeren Läsionen erkennt man sich selbst im Spiegel
nicht mehr. Aber auch Kategorienbildung anderer
visueller Objekte ist beeinträchtigt: Ein Ornithologe
konnte Vogelarten nicht mehr unterscheiden, ein
Autoverkäufer verwechselte Automarken. Der G. fusi-
formis ist also für die Identifikation größerer, abstrakter
Objektkategorien verantwortlich.

. Abb. 5.20 gibt den Grobaufbau und Ausgänge des


Zerebellums wieder, . Abb. 5.5 und 5.21 zeigt die Lage des
Kleinhirns gleichsam im Nebenschluss zu den auf- und ab-
steigenden Bahnen des Stammhirns am Dach des 4. Vent-
. Abb. 5.19a, b. Primäre sensorische und motorische Areale
rikels. Die Kerne des Kleinhirns sind gleichzeitig auch als
des Neokortex. a Kommunikation mit den Assoziationsarealen.
b Weg von Reiz zu Reaktion. LGN Nucl. geniculatum laterale des Tha-
Ausgänge konstruiert.
lamus; V1–V4 Primäre und sekundäre visuelle Areale Das phylogenetisch alte Vestibulozerebellum liegt vom
eigentlichen Zerebellum getrennt und wird nur von vesti-
bulären Bahnen versorgt und projiziert ausschließlich zu
den vestibulären Kernen im Stammhirn zurück (Kap. 18).
5.3.3 Das Zerebellum (Kleinhirn) Gleichgewicht und die Koordination von Augen- und Kör-
perbewegungen werden hier geregelt.
Aufbau Der Hauptteil des Zerebellums besteht aus 3 Zonen: dem
Das Zerebellum wird hier unter dem Abschn. 5.3 des Neo- Wurm (vermis oder auch Pars media), der Pars intermedia
kortex abgehandelt, obwohl es als eigenständiges Hirngebil- und Parts lateralis. Pars media wird auch als Archizerebel-
de aus phylogenetisch älteren Anteilen besteht. Da die psy- lum, der Pars intermedia als Paläo- oder Spinozerebellum
chologisch bedeutsamen Funktionen aber den Kleinhirn- und die Hemisphären des pars lateralis als Neozerebellum
kortex benötigen und dieser den Großteil der Zellen des bezeichnet. Die Kleinhirnkerne, in . Abb. 5.20 angedeutet,
Kleinhirns enthält, fügen wir es dem Neokortex hinzu. bilden die Ausgangsstationen aus dem Kleinhirn.
92 Kapitel 5 · Funktionelle Anatomie des Nervensystems

. Abb. 5.20. Aufbau des Kleinhirns

Das Spinozerebellum erhält die Informationen aus dem


gesamten Rückenmark und den Sinnessystemen und dient
der polysensorischen Integration, um präzise und flexible
Bewegungen zu ermöglichen. Das Neozerebellum mit dem
Nucl. dentatus erhält die Informationen aus den sensori-
schen und motorischen Arealen des Großhirns und auch
aus den Basalganglien und projiziert zum kontralateralen
Thalamus und von dort in die motorischen und präfronta-
len Areale. Es dient u. a. der Planung und harmonischen . Abb. 5.21. Traditionelle und biologisch-psychologische Sicht-
Ausführung gelernter Bewegungen. weise der Funktionen des Kleinhirns

Das Zerebellum als Zeitgeber


Während in der traditionellen Neurowissenschaft das Zere- 5.4 Neurotransmitter und
bellum als Teil des motorischen Systems betrachtet wird, -modulatoren im ZNS
sieht die Biologische Psychologie das Kleinhirn als »kogni-
tive Maschine« zur exakten Zeitplanung und Zeitgebung, 5.4.1 Neurochemie des Verhaltens
das v. a. beim assoziativen Lernen von Bewegungen und
Verhalten notwendig ist. . Abb. 5.21 stellt diese beiden Auf- Transmittersysteme
fassungen einander gegenüber. Dementsprechend sind die Die Einteilung des Gehirns in anatomisch abgrenzbare Ein-
Verhaltensstörungen nach Ausfall des Neozerebellums v. a. heiten auf der Grundlage phylogenetischer und ontogene-
beim prozeduralen Lernen und bei der Zeitabschätzung tischer Entwicklung ergibt eine relativ eindeutige Abgren-
wichtig (Kap. 13 und 25). zung der Kerne und Fasersysteme. Allgemeine Struktur-
prinzipien des Zentralnervensystems lassen sich aber auch
G Das Kleinhirn besteht aus Neozerebellum, Spino- aufzeigen, wenn man diese anatomische Einteilung verlässt
zerebellum und Vestibulozerebellum. Das Kleinhirn und dafür eine chemische Abgrenzung einzelner Hirnge-
ist nicht nur ein Teil des motorischen Systems zur biete nach den dort vorkommenden Transmittern versucht.
Feinabstimmung von Bewegungen, sondern auch Dabei ergibt sich ein übergreifendes Strukturprinzip des
mit kognitiven Funktionen, v. a. der Zeitgebung von Zentralnervensystems, das sich nicht an die entwicklungs-
Bewegungen und Wahrnehmungen befasst. Die geschichtlich vorgegebenen Grenzen hält. Dieses Struktur-
Ausgänge des Zerebellums führen zu den auf- und prinzip besteht darin, dass die Transmittersysteme häufig
absteigenden motorischen Systemen und den Vesti- von phylogenetisch älteren Anteilen in die höheren Hirn-
bulariskernen. abschnitte ziehen und weit verstreute, anatomisch schlecht
abgrenzbare Systeme bilden.
Die Lage eines Transmittersystems ist stark von der vor-
gegebenen Methodologie zu seiner Identifikation abhängig
(7 unten und Kap. 2 und 4). Unter einem Transmittersystem
verstehen wir alle Neurone (Soma, Axone, Dendriten, Syn-
5.4 · Neurotransmitter und -modulatoren im ZNS
93 5

apsen) und deren präsynaptische Verbindungen, die einen Depression, die Endorphinsysteme mit der Sucht u. v. a. m.
bestimmten Transmitter oder eine bestimmte Kombination (Kap. 26 bis 28).
von Transmittern (z. B. Dopamin und Noradrenalin) zur Theorien dieser Art, in denen ein bestimmter Wirk-
Kommunikation mit anderen Zellen und Dendriten be- stoff für die Entstehung einer komplexen, meist äußerst
nutzen. heterogenen Verhaltensstörung (bestehend aus meh-
reren abgrenzbaren Erkrankungen) verantwortlich ge-
G Transmittersysteme im Gehirn halten sich nicht an
macht wurde, erwiesen sich in allen Fällen als un-
die anatomischen Abgrenzungen, sondern können
richtig. Dies umso mehr, als bei allen psychiatrischen
sich durch alle Hirnregionen ziehen.
und psychologischen Störungen nichtneuronale Fak-
toren, z. B. soziale Einflüsse, eine wesentliche Rolle
Psychopharmaka spielen.
Die Entdeckung von Transmittersystemen im ZNS schien Die Tatsache, dass manche der etablierten Psychophar-
die Erklärung für die Wirksamkeit mancher seit langem maka eine gewisse Affinität oder blockierende Wirkung auf
eingesetzter Psychopharmaka zu bieten, deren Wirkungs- den vermuteten Transmitter im Tierversuch ausüben (Box
mechanismen bis dahin nur vermutet werden konnten. 4.2 in Abschn. 4.2.1), ist zwar ein Beleg für ihre therapeu-
Daraus wiederum schloss man – v. a. für psychiatrische tische Wirkung, aber kein Beleg für die Genese der Erkran-
und psychologische Störungen – auf einheitliche kau- kung aus einer Störung des beteiligten neuronalen Systems
sale Beziehungen zum Verhalten: Das Dopaminsystem beim Menschen. Die meisten Psychopharmaka beeinflus-
(. Abb. 25.17 und 25.29) wurde z. B. mit der Schizo- sen eine Vielzahl von Übertragungsprozessen, neuronalen
phrenie in Verbindung gebracht, das NA-System mit der Strukturen und Verhaltensweisen und interagieren in

. Abb. 5.22a–d. Biogene Amine. Ursprungsort und Verteilung der wichtigsten biogenen Amine im ZNS. a Dopaminerge Systeme,
b Noradrenalin, c Histamin, d Serotonin
94 Kapitel 5 · Funktionelle Anatomie des Nervensystems

schwer vorhersagbarer Weise mit den Umweltdetermi- 5.4.2 Cholinerge Systeme


nanten der jeweiligen Störung. Therapeutische Effekte sind
eine Kombination aus all diesen Einflussfaktoren und Retikulärformation
können sekundäre, tertiäre etc. Folgen des vermuteten Cholinerge Projektionen sind auf allen Ebenen des ZNS zu
Transmittereffektes sein. finden, mit einigen Aktivitätsschwerpunkten. Eine große
Zahl von Neuronen entspringt in der medialen Retikulär-
Wichtige Neurotransmitter formation des mesopontinen Tegmentums (. Abb. 5.16)
Von der Vielzahl der im ZNS vorkommenden Transmitter und zieht zum Thalamus und Kortex und anderen Regio-
werden nur die für Verhalten besonders bedeutsamen he- nen des Mittel- und Zwischenhirns. Teile dieses Systems
rausgehoben (. Tabelle 5.1). In Kap. 4.2 wurde bereits sind in die aufsteigende Aktivierung des Endhirns invol-
die Wirkungsweise von Neurotransmittern beschrieben. viert (Kap. 21).
Zur Erinnerung: Wir unterscheiden grob 2 Kategorien von
5 Neurotransmittern, die aus kleinen und großen Molekülen Basale Vorderhirnkerne
bestehen. Die großen Moleküle sind durchwegs Neuropep- Die meisten neokortikalen cholinergen Projektionen
tide, welche in der Regel aus 3–30 Aminosäuren bestehen: entspringen im Nucl. basalis Meynert, einer Kernregion
Sie haben überwiegend neuromodulatorische Wirkungen der basalen Vorderhirnkerne (. Abb. 5.16) über dem
(Abschn. 4.2.2). Hypothalamus in enger Nachbarschaft des Pallidums. Von
Die wichtigsten klein-molekularen Neurotransmitter dort werden alle Lappen des Großhirns versorgt, hinzu
sind in Abschn. 4.2.1 beschrieben (Azetylcholin, Glutamat, kommen Verbindungen zu Hippokampus und Amygdala.
GABA, Katecholamine, Serotonin). Der Nucl. basalis Meynert scheint ein Vorderhirnäqui-
Biogene Monoamine (Dopamin, Noradrenalin, Adre- valent des aufsteigenden retikulären Aktivierungssystems
nalin, Serotonin, Histamin) sind zwar mengenmäßig im (ARAS, Kap. 21) zu sein. Der Kern erhält nur wenige, streng
ZNS nur schwach vertreten (ca. 20% aller Transmitter), ihre lokalisierte Bahnsysteme aus umschriebenen Kortexre-
Wirkungen auf Denken und Verhalten sind aber groß, da gionen und dem limbischen System. Deshalb wird dieses
sie diffus aus subkortikalen Regionen kommend in das System auch als entscheidendes Verbindungsglied zwischen
ganze Vorderhirn projizieren. . Abb. 5.22 zeigt die 4 wich- emotionalen und kognitiven Verhaltenskategorien an-
tigsten Transmittersysteme. gesehen. Seine bedeutende Rolle in Gedächtnisprozessen
wird in Kap. 25 und Kap. 28 beschrieben. Degenerationen
G Die Wirkung eines Neurotransmitters im Gehirn der Neurone des Nucl. basalis und Kortex hängen mit der
hängt von einer Vielzahl von Einflussfaktoren ab, so Alzheimer-Erkrankung zusammen. Die cholinergen An-
dass für ein bestimmtes Verhalten meist mehrere teile der Basalganglien sind eng mit der Bewegungssteue-
Transmitter- und Rezeptorsysteme verantwortlich rung verknüpft. Überaktivität führt z. B. zu Tremor (Par-
sind. kinson Tremor).

. Tabelle 5.1. Funktionelle Eigenschaften der wichtigsten Neurotransmitter

Neurotransmitter Postsynaptischer Vorläufer Enzyme, die die Synthese kontrollieren


Effekt
ACh Erregend Cholin + Azetyl-CoA CAT (Cholin-Azetyltransferase)
Glutamat Erregend Glutamin Glutaminase
GABA Hemmend Glutamat GAD (Glutaminsäuredecarboxylase)
Glycin Hemmend Serin Phosphoserin
Katecholamine Erregend Tyrosin Tyrosinhydroxylase
(Epinephrin, Norepinephrin,
Dopamin)
Serotonin (5-HT) Erregend Tryptophan Tryptophanhydroxylase
Histamin Erregend Histidin Histidindecarboxylase
ATP Erregend ADP Mitochondrien-Enzyme für oxidative Phosphory-
lierung und Glykolyse
5.4 · Neurotransmitter und -modulatoren im ZNS
95 5

G Die Versorgung des Gehirns mit Azetylcholin aus Noradrenalin und Adrenalin
dem Stammhirn und dem basalen Vorderhirn ist Wir unterscheiden 2 große noradrenerge und ein adrener-
eine wichtige, unspezifische Voraussetzung für Auf- ges (von lat. adrenal – auf der Niere) zentrales Transmitter-
merksamkeit, Lernen und Gedächtnis. system. Für psychische Funktionen besonders bedeutsam ist
das Locus-coeruleus-System (. Abb. 5.22b), das auch als
einziges der 3 genannten Teilsysteme extensive kortikale
5.4.3 Katecholaminsysteme Projektionen aufweist. Die Hälfte aller Neuronen im Gehirn,
die Noradrenalin (NA) synthetisieren, entspringt hier. Der
Dopamin Nucl. coeruleus (= blauer Kern) liegt innerhalb des peri-
Während die Synapsen der Katecholamine im peripheren NS ventrikulären Graus am rostralen Ende des 4. Ventrikels
erregend sind, lösen noradrenge und dopaminerge Synapsen und ist wie alle mesenzephalen Kerne der Retikulärforma-
im ZNS hemmende oder erregende postsynaptische Poten- tion (Kap. 21) diffus und unspezifisch organisiert.
ziale (IPSP bzw. EPSP, Abschn. 4.1.2 und 4. 1.3) aus. Zwei Fasersysteme gehen hauptsächlich vom Nucl.
Zu den Katecholaminen ist zu bemerken, dass Dopamin coeruleus aus: der dorsale (tegmentale) noradrenerge
und Noradrenalin (das gleiche gilt auch für Serotonin) meh- und der dorsale periventrikuläre Weg. Das dorsale
rere Wirkungen haben. Noradrenalin und alle anderen Ka- NA-Bündel begleitet weitgehend das mediale Vorderhirn-
techolamine vermitteln ihre Wirkung über die Mobilisie- bündel (Kap. 26) durch den kaudalen und lateralen Hypo-
rung von »second messengers« (Kap. 3, 4 und 6), denn alle thalamus und erreicht danach das basale Vorderhirn und
Katecholaminrezeptoren sind metabotrop (Abschn. 4.3.3). den Neokortex. Der periventrikuläre Weg projiziert in den
. Abb. 5.22a zeigt die Lage und Verbindungen der beiden dorsalen Thalamus und einige hypothalamische Zentren.
wichtigsten Dopaminsysteme, dem mesolimbischen und Das laterale tegmentale System entspringt in einer
dem nigrostriatalen System. Der Großteil der Fasern des medullären und pontinen Kerngruppe und führt als vent-
mesolimbischen Systems entspringt im lateralen Tegmentum rales NA-Bündel ins Zerebellum, Mesenzephalon und mit
des Mittelhirns. Neben diesen beiden Hauptverbindungen dem medialen Vorderhirnbündel (. Abb. 27.9) in Hypo-
existieren aber eine Reihe anderer Zellsysteme und Fasern, thalamus und limbisches System.
die Dopamin als Transmitter benutzen, speziell limbische, Das zentrale Adrenalinsystem entspringt in 3 Zellgrup-
hypothalamisch-hypophysäre und spinale Strukturen. pen (C1, C2 und C3) der Medulla und zieht von dort in alle
Das nigrostriatale extrapyramidale Dopaminsystem Regionen des Stamm- und Zwischenhirns und den dorsa-
scheint eng mit dem Wechsel (switching) motorischer Pro- len Thalamus. Kortikale Projektionen sind nicht bekannt.
gramme zu tun zu haben. Dopaminmangel in diesem System Alle 3 genannten Systeme führen auch abwärts ins
geht mit Symptomen der Parkinson-Erkrankung (Kap. 13 Rückenmark und nehmen dort Verbindungen mit dem
und . Abb. 5.15) einher (Box 5.5). Das mesolimbische hat autonomen NS auf (Kap. 6).
u. a. positive Anreizfunktionen (Kap. 26). Ein Überangebot
G Die meisten Noradrenalinsysteme entspringen im
an Dopamin in einigen Hirnregionen (mesolimbisch) kom-
Nucl. coeruleus und ziehen mit dem medialen Vor-
biniert mit einem Unterangebot in anderen (frontal) verur-
derhirnbündel in das limbische System und den
sacht Denkstörungen bei Schizophrenen (Kap. 28).
Neokortex. Ihre Aktivierung erhöht die Leistung in
Dopamin-Autorezeptorenfunktion Aufmerksamkeitsfunktionen und erleichtert Lernen
in emotionalen Situationen.
Dopamin-Autorezeptoren an dopaminergen Synapsen
hemmen die Wiederaufnahme von Dopamin in die Synap-
sen und bewirken somit eine Erhöhung der Verfügbarkeit Histamin
im synaptischen Spalt. Amphetamin, Kokain und Methyl- Histamin ist ein biogenes Amin, aber kein Katecholamin,
phenidat (Ritalin) sind die bekanntesten Drogen, die auf wir erwähnen es aber hier (Abschn. 4.2.1), da Histamin er-
diesen Mechanismen der Autorezeptoren beruhen und regend (Antihistamine gegen Allergien daher schlafan-
deren Wirkung in verschiedenen Kapiteln besprochen wird. stoßend) wirkt, ähnlich wie das cholinerge System. Das
Alle wirken aufmerksamkeitssteigernd und stark emotional Histaminsystem hat aber eine Vielzahl von anderen Wir-
erregend und entfalten über das mesolimbische Dopamin- kungen, v. a. auf den Hypothalamus und die Hypophyse, wo
system (Kap. 26) Suchtwirkung. Bei Überdosis treten Denk- es in die Hormonausschüttung eingreift. Alle Histamin-
störungen mit extremer Fixierung der Aufmerksamkeit neurone liegen im Hypothalamus, v. a. dem tuberomamil-
(z. B. »Verfolgungswahn«) auf. lären Kern (. Abb. 5.22) und ziehen von dort in alle Teile
des Nervensystems, einschließlich Rückenmark.
G Dopamin ist der wichtigste Botenstoff im Gehirn, der
motorisch und psychologisch als neurochemische G Histamin ist an hypothalamischen Funktionen
Grundlage von Anreiz und positiver Psychomotorik der Schlaf-Wach-Steuerung und vielen hormonellen
fungiert. Funktionen beteiligt.
96 Kapitel 5 · Funktionelle Anatomie des Nervensystems

Box 5.5. Der »eingefrorene« Süchtige


In den 80er-Jahren des letzten Jahrhunderts wurden bewirkt. Zwei dieser Patienten erhielten in Schweden
mehrere Heroinsüchtige in Kalifornien mit ungewöhn- embryonale Dopaminzellen implantiert (. Abb.) und
lichen Symptomen in die Krankenhäuser eingeliefert. zeigten mit der Funktionstüchtigkeit der Zellen in der
Nach Injektion von schlecht synthetisiertem Heroin Substantia nigra eine deutliche Verbesserung der Symp-
wurden sie steif, ihre Bewegungen langsam, sie zeigten tome. Spätere Versuche der Transplantation embryonaler
alle Symptome der Parkinson-Krankheit. Nachdem Stammzellen bei Parkinson und längere Nachuntersu-
man mit dem verunreinigten Heroin Tierexperimente chungen zeigten aber, dass die Zellen bei einigen Patien-
begann, konnte man zeigen, dass ein Schadstoff (MPTP = ten »wild« und ungeordnet wuchsen und schwere Be-
1-Methyl-4-phenyl-1,2,3,6-tetrahyropyridin) im Nerven- wegungsstörungen erzeugten. Deshalb wurde die Trans-
system zu MPP+ (1-methyl-4-phenylpyridinin) metabo- plantation der Stammzellen in das menschliche Gehirn
lisiert wird und – ähnlich wie Pestizide – einen selektiven wieder eingestellt.
5 Verlust der dopaminergen Zellen in der Substantia nigra

Positronenemissionstomographie eines MPTP-Pa-


tienten vor (links) und nach (rechts) der Implanta-
tion embryonaler, dopaminerger Stammzellen; die
Substantia nigra zeigt deutlich mehr dopaminerge
Aktivität 12 Monate nach dem Eingriff

5.4.4 Das serotonerge System – zusammen mit anderen Transmittern – die Schmerz-
wahrnehmung (Abschn. 16.3.3).
Serotonin (5-Hydroxytryptamin, 5-HT)
Der Transmitter Serotonin ist zwar nur in kleinen Mengen Antidepressiva
im ZNS vorhanden, hat aber aufgrund seiner extensiven Durch die Hemmung der Wiederaufnahme von Serotonin
Verbindungen ähnlich umfassende Bedeutung wie NA. Es aus dem synaptischen Spalt in die präsynaptische Endigung
existieren mehr als 10 Rezeptoren für Serotonin, die teils wird die Verfügbarkeit von Serotonin erhöht. Dies hat mit
ionotroper, teils metabotroper Natur sind (Abschn. 4.3.2 einer Latenz von 1–3 Wochen einen schwachen antidepres-
und 4.3.3). Neben seinen neuronalen Effekten ist Serotonin siven Effekt. Hinzu kommt, dass diese trizyklischen Anti-
für die Regelung des zerebralen Blutflusses und der Ge- depressiva (Box 4.2 in Abschn. 4.2.1 und Kap. 27) auch
fäßweite wichtig. einen antiaggressiven Effekt haben. Abfall der Serotonin-
Die Ursprungskerne im Rautenhirn wie auch die Faser- konzentration oder Verlust einzelner Serotoninrezeptoren
systeme liegen in enger Nachbarschaft zu den NA-Sys- (v. a. 5-HT1B) geht mit exzessiv aggressivem Verhalten ein-
temen. . Abb. 5.22d illustriert die wichtigsten Ursprungs- her. Da aber Antidepressiva auch einen Zellverlust bzw.
zonen im Nucl. raphe (franz. Naht). Die absteigenden Abnahme der Rezeptordichte von Serotoninrezeptoren ver-
Fasern aus dem kaudalen Nucl. raphe ins Spinalmark regeln ursachen können, kann die antiaggressive Wirkung von
5.4 · Neurotransmitter und -modulatoren im ZNS
97 5

Antidepressiva in exzessive Aggression umschlagen. An- einem der wichtigsten Agonisten für dieses System, sowohl
drogene (Kap. 27) reduzieren ebenfalls die Aktivität sero- im positiven Sinn als potenter »Helfer« des endogenen
tonerger Synapsen und sind für die erhöhte Aggressivität Schmerzsystems wie auch negativ als Einstiegsdroge für die
des männlichen Geschlechts verantwortlich. sog. »harten« Opioide.

G Serotonin bestimmt mit seinen stimmungsbeeinflus- G Endogene Kannabis- und Opioidsysteme ergänzen
senden Effekten die Persönlichkeitsstruktur eines einander als schmerzdämpfende Transmitter. Kanna-
Menschen. bis dämpft aber nur höhere Hirnregionen, während
Opiate auch tiefe Stamm- und Zwischenhirnareale
hemmen.
5.4.5 Das Kannaboidsystem

Kannabis 5.4.6 Aminosäuren


Wie für viele in der Natur vorkommende, seit Jahrtau-
senden gebrauchte, psychologisch wirksame Substanzen, Glutamat
wie etwa Opium, gibt es auch für Cannabis sativa, eine Glutamat, der weit verbreitete erregende Transmitter (Ab-
Hanfpflanze, endogene Produktions- und Wirksysteme im schn. 4.2.1), ist v. a. in limbischen Kernen und Hippo-
ZNS. Kannaboide werden aus Lipiden gebildet, über ihre kampus sowie im Neokortex und Striatum vorhanden. Vor
Synthese ist noch wenig bekannt. Kannaboidrezeptoren allem Fasersysteme, die vom Neokortex in subkortikale
und endogene Kannaboide sind vermutlich die häufigsten Regionen projizieren, sowie Basalganglien und Thalamus
im ZNS vorhandenen Rezeptoren. Der psychoaktive Wirk- benützen Glutamat als erregenden Transmitter. Diese kor-
stoff in der Kannabispflanze, auch Marihuana genannt, ist tikofugalen Bahnen und die hohe Konzentration im Hippo-
Delta-9-Tetrahydro-cannabinol (THC). Man spricht beim kampus weisen darauf hin, dass Glutamat an der Regelung
Kannaboidsystem auch häufig von einem Anandamidsys- der Informationsverarbeitung, sowie der ersten kortikalen
tem (von Ananda, in Sanskrit: glückselig), da das Arachi- Reizanalyse und an der Steuerung des Kurzzeitgedächt-
donsäurederivat Anandamid als wichtigster körpereigener nisses beteiligt ist (Kap. 25).
Ligand für die Kannaboidrezeptoren fungiert.
Gamma-Aminobuttersäure (GABA)
Metabotrope Kannabisrezeptoren und Hemmung
THC wird an den Synapsen Kannaboide produzierender Vor allem die kleineren, meist inhibitorischen Interneu-
Zellen ausgeschüttet und wirkt ähnlich wie Opioide meist rone (Golgi-, Stern- und Korbzellen) benutzen γ-Amino-
hemmend. Da die Rezeptoren fast ausschließlich präsynap- buttersäure, GABA, als inhibitorischen Überträgerstoff
tisch (axo-axonische Synapse) lokalisiert sind und den (Transmitter) (Abschn. 4.2.1). Die Aussage inhibitorisch
Ca++-Einstrom dort hemmen, reduzieren sie meist die Aus- ist auch mit Vorbehalt aufzunehmen: GABA kommt oft
schüttung anderer Transmitter, was bei Hemmung an einer gemeinsam mit Peptiden vor, und je nach synergistischer
hemmenden Synapse postsynaptisch auch erregend wirken oder antagonistischer Wirkung der beiden kann auch
könnte. Die Kannaboidrezeptoren sind ausschließlich in Erregung resultieren. Oft geht nach anfänglicher Hem-
den entwicklungsgeschichtlich jüngeren Regionen des mung, bei Weiterbestehen des neuralen Zustroms, die
ZNS zu finden: Basalganglien, Kortex, Zerebellum-Kortex, Hemmung in Erregung über. Bei manchen Epilepsien
Hippokampus und limbisches System. Die vital wichtigen zeigen solche Zellen plötzlich große und anhaltende Depo-
Zentren des Stammhirns enthalten keine THC-Rezeptoren, larisationen.
weshalb Kannabis kaum derart negative Seiteneffekte wie Auf allen Ebenen des ZNS vom Spinalmark zum Kortex
Morphin hat. existieren GABAerge Synapsen. Besonders hohe Konzent-
rationen finden sich in den Kernen der Basalganglien, im
Wirkungen von Kannabis Zerebellum, Hippokampus, Thalamus, Hypothalamus und
Bezüglich seines Wirkspektrums sei auf Kap. 25 verwiesen; Schicht IV des Neokortex.
neben der entspannenden und euphorisierenden Wirkung,
ist v. a. der schmerzhemmende und appetit-steigernde Bedeutung von GABA
Effekt therapeutisch wichtig. Da Kannaboide aber im Hip- Degeneration der GABAergen Neurone in den Basalgang-
pokampus und Kortex die erregende synaptische Übertra- lien (v. a. im Nucl. caudatus) führt zu Chorea Huntington,
gung und Langzeitpotenzierung hemmen, entfaltet es auch einer genetisch bedingten Erkrankung mit unwillkür-
Gedächtnisstörungen und über die Basalganglien Bewe- lichen Zuckungen, Depressionen und progressivem intel-
gungs- und Aufmerksamkeitsbeeinträchtigung (Fahrtüch- lektuellen Verfall. Auch einige Formen von Epilepsien
tigkeit!). Die strukturelle und physiologische Ähnlichkeit werden mit Verlust GABAerger Neurone in Verbindung
mit den Opioidsystemen (Kap. 17 und 26) macht es zu gebracht.
98 Kapitel 5 · Funktionelle Anatomie des Nervensystems

GABAA-Rezeptoren entfalten mit den Beruhigungsmit- G γ-Aminobuttersäure wirkt meist hemmend und
teln der Benzodiazepine (Diazepam – Valium, Clonaze- beruhigend, kann aber bei Vorhandensein von Ko-
pam, Nitrazepam) synergistische Wirkung. Diazepam transmittern erregend werden. Je nach dem Ort des
fördert die Übertragung an GABAergen Synapsen prä- und Ausfalls von GABA treten schwere Störungen der
postsynaptisch. Benzodiazepinrezeptoren und GABAA- Erregbarkeit, wie z. B. Epilepsie bei Störungen intra-
Rezeptoren treten stets an benachbarten Stellen auf. Benzo- kortikaler GABA-Neuronen auf.
diazepine entfalten konsequenterweise auch antiepilep-
tische Wirkung, zusätzlich zu ihren allgemein dämpfenden
Effekten (Kap. 4 und . Abb. 27.11).

Zusammenfassung
5
Die 3 Hauptabschnitte des Gehirns, Hinterhirn, Der Neokortex kann als plastischer, assoziativer Speicher
Mittelhirn und Vorderhirn, aufgefasst werden. Er ist charakterisiert durch
5 lassen sich von entwicklungsgeschichtlich alt bis neu 5 reiche intrakortikale Verbindungen,
gliedern, 5 plastische Synapsen an den Dendriteneingängen,
5 arbeiten aber bei der Produktion von Verhalten 5 modulartigem Aufbau von spezialisierten (visuell, au-
unauflöslich zusammen. ditorisch, taktil usw.) Einheiten in den primären Pro-
jektionsarealen bis zu
Das Vorderhirn besteht aus 5 polymodalen Assoziationskortizes, in denen Infor-
5 Zwischenhirn, mation aus den sensomotorischen Regionen zu über-
5 limbischem System, geordneten Einheiten flexibel zusammengefasst
5 Basalganglien, werden.
5 Neokortex.
Das Kleinhirn (Zerebellum) im »Nebenschluss« aller auf-
Das Zwischenhirn besteht aus dem und absteigenden Bahnen fungiert als Takt- und Zeitge-
5 Hypothalamus, dem obersten Steuerzentrum des ber für sensorische, motorische und kognitive Leistungen.
vegetativen Nervensystems und der Hormone,
5 Thalamus, der letzten sensorischen Umschaltstation Neurochemische Systeme beachten anatomische Gren-
der Verbindungen zum Neokortex und der ersten aus zen nicht. Wir unterscheiden
dem Neokortex. 5 lange, von subkortikal nach kortikal reichende amin-
erge und cholinerge Systeme sowie
Das limbische System besteht aus den Hauptabschnitten 5 kurze, lokal wirksame Aminosäuren- und Neuropep-
5 Amygdala (vegetativ-emotionaler Anteil) sowie tidsysteme (z. B. GABA).
5 Hippokampus (kognitiv-kontextuelles Gedächtnis).

Die Basalganglien sind ein Zwischenglied von Kortex und


limbischem System, sie dienen
5 der Feinsteuerung der Motorik,
5 der Feinabstimmung der Kortexaktivierung bei
selektiven Aufmerksamkeitsprozessen (mit basalem
Vorderhirn) sowie
5 der Auswahl von Gedächtnisinhalten.
Literatur
99 5
Literatur
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6

6 Autonomes Nervensystem

6.1 Bau und Aufgaben des peripheren autonomen Nervensystems – 102


6.1.1 Anteile des peripheren autonomen Nervensystems – 102
6.1.2 Antagonistische und synergistische Wirkungen von Sympathikus
und Parasympathikus – 105
6.1.3 Das Nebennierenmark als Teil des ANS – 107

6.2 Neurotransmission im peripheren ANS – 108


6.2.1 Transmitter und Kotransmitter im peripheren ANS – 108
6.2.2 Synaptische Rezeptoren im peripheren ANS – 109

6.3 Arbeitsweise und supraspinale Kontrolle des peripheren ANS – 110


6.3.1 Periphere und spinale Wirkweise – 110
6.3.2 Kontrolle des peripheren ANS durch Hirnstamm und Hypothalamus – 112

Zusammenfassung – 114
Literatur – 115

N. Birbaumer, Biologische Psychologie, DOI 10.1007/978-3-540-95938-0_6,


© Springer Medizin Verlag Heidelberg 2010
102 Kapitel 6 · Autonomes Nervensystem

))

Das autonome Nervensystem, ANS, ist eines der beiden


Kommunikationssysteme für den Informationsaustausch
zwischen den einzelnen Organen des Körpers. Das zweite
ist das im nächsten Kapitel geschilderte endokrine System
mit den Hormonen als Datenträger.
Das ANS innerviert die glatte Muskulatur aller Organe
und Organsysteme sowie das Herz und die Drüsen. Es
regelt die lebenswichtigen Funktionen der Atmung, des
Kreislaufs, der Verdauung, des Stoffwechsels, der Drüsen-
sekretion, der Körpertemperatur und der Fortpflanzung. Es
unterliegt nicht im gleichen Ausmaß der direkten, willkür-
lichen Kontrolle wie das somatische (sensomotorische)
Nervensystem. Daher auch sein Name autonomes Nerven-
6 system (synonym wird auch der Begriff vegetatives Nerven-
system, VNS, gebraucht).
Das ANS passt die Prozesse im Körperinneren an die
äußeren Belastungen des Organismus an. Die vegetativen
Veränderungen werden dabei aktiv vom Gehirn erzeugt,
d. h. sie sind integrale Bestandteile jeglichen Verhaltens und
keine passiven Begleiterscheinungen oder reflektorische
Reaktionen auf sensorische, motorische, emotionale oder
kognitive Prozesse. Solche Anpassungsreaktionen sind z. B.
der Anstieg des Herzzeitvolumens und der Muskeldurch-
blutung unmittelbar vor Beginn einer willkürlichen körper-
. Abb. 6.1. Ursprung und Aufbau des peripheren vegetativen
lichen Anstrengung oder das Auslösen der Speichel- und
Nervensystems. Links die Ursprungsgebiete der Zellkörper prägang-
Magensaftsekretion beim Anblick oder der Vorstellung von lionärer Neurone des Sympathikus (rot) und des Parasympathikus
Speisen. Dieser enge Zusammenhang ermöglicht es umge- (grün) im Hirnstamm und den verschiedenen Abschnitten des Rücken-
kehrt, aus der Messung vegetativer Vorgänge in der Psycho- marks. Rechts davon eine schematische Darstellung des Verlaufs prä-
physiologie Rückschlüsse auf die auslösenden zentralner- und postganglionärer sympathischer und parasympathischer Neurone.
Die synaptischen Überträgerstoffe der zweistufigen Neuronenketten
vösen Prozesse zu ziehen (z. B. Messen des elektrischen
des peripheren autonomen Nervensystems in den Ganglien und auf
Hautwiderstandes, also der Hautdurchfeuchtung, als Indi- den Effektoren sind angegeben. Das Nebennierenmark (unten Mitte)
kator emotionaler Belastung: »Lügendetektor«). besteht aus umgewandelten postganglionären sympathischen
Zellen. Sympathische Aktivierung dieser Zellen (über präganglionäre
cholinerge Axone) setzt aus ihnen Adrenalin (80%) und Noradrenalin
6.1 Bau und Aufgaben des peripheren (20%) frei
autonomen Nervensystems

6.1.1 Anteile des peripheren autonomen Prä- und postganglionäre Neurone,


Nervensystems Nervenfasern und Effektoren des Sympathikus
. Abb. 6.2 zeigt die Lagebeziehungen der sympathischen
Teilsysteme des peripheren ANS (rot) und parasympathischen (grün) Neurone samt dem
Das periphere autonome Nervensystem ist aus 3 Teilsyste- präganglionären und postganglionären Verlauf ihrer Ner-
men aufgebaut, Sympathikus, Parasympathikus und Darm- venfasern. Die Zellkörper aller präganglionären sympathi-
nervensystem. Die Endstrecken der Teilsysteme Sympa- schen Neurone liegen im Brustmark und oberen Lenden-
thikus und Parasympathikus sind, wie . Abb. 6.1 zeigt, mark (. Abb. 6.1). Die Axone dieser Neurone verlassen das
jeweils aus einer zweizelligen Neuronenkette aufgebaut: Rückenmark über die Vorderwurzeln und ziehen zu den
einem Neuron, das noch im Hirnstamm oder im Rücken- außerhalb des Rückenmarks liegenden sympathischen
mark liegt, und einem zweiten, dessen Zellkörper mit ande- Ganglien, in denen sie auf die postganglionären Neurone
ren eine periphere Zellanhäufung oder ein Ganglion bildet. umgeschaltet werden.
Entsprechend werden erstere präganglionäre, letztere Ein Großteil der sympathischen Ganglien ist paarweise
postganglionäre Neurone genannt. Die Neurone des rechts und links der Wirbelsäule angeordnet und durch
Darmnervensystems liegen in den Wänden des Magen- Nervenstränge miteinander verbunden. Man nennt diese
Darm-Traktes. Ganglienketten Grenzstränge (. Abb. 6.3a, Abb. 6.2 und
6.1 · Bau und Aufgaben des peripheren autonomen Nervensystems
103 6

. Abb. 6.3a, b. Überblick über die Grenzstränge und Schema der


synaptischen Verschaltung in den sympathischen Grenzstrang-
ganglien. a Lage der Grenzstränge im Verhältnis zu Rückenmark und
Hirnstamm. HM Halsmark, BM Brustmark, LM Lendenmark, KM Kreuz-
mark (Sakralmark). b Divergenz (präganglionäres Axon 1 auf Neurone
A, B, C) und Konvergenz (präganglionäre Axone 2, 3, 4 auf Neuron D)
der synaptischen Verschaltung in den Ganglien

. Abb. 6.2. Lage der Ursprungszellen und Versorgungsgebiete


von Sympathikus (rote Neurone) und Parasympathikus (grün).
Drüsen (Schweiß-, Speichel-, Verdauungsdrüsen). Außer-
Sicht von vorne (ventral), auch auf das Rückenmark. Der Grenzstrang
ist beim Menschen paarig angelegt (Abb. 6.3), nur der rechte ist ge- dem werden die Fettzellen, die Leberzellen, die Nierentubuli,
zeichnet. Relativ zum Rückenmark ist der Grenzstrang zu groß ge- lymphatische Gewebe (z B. Thymus, Milz, Lymphknoten)
zeichnet, gleiches gilt für das Rückenmark relativ zum Körperumriss und Teile des Immunsystems sympathisch innerviert.
G Die Nervenfasern der präganglionären sympathi-
schen Neurone im Brust- und oberen Lendenmark
6.4). Außerdem gibt es im Bauch- und Beckenraum unpaare
laufen aus dem Rückenmark zu den sympathischen
Ganglien, in denen die Axone präganglionärer Neurone aus
Ganglien. Sie bilden dort Synapsen auf den post-
beiden Rückenmarkshälften enden (. Abb. 6.2, 6.4).
ganglionären Neuronen, deren lange Nervenfasern
Die präganglionären sympathischen Nervenfasern sind
zu den Effektoren ziehen.
dünn, aber noch myelinisiert (Durchmesser <4 μm). Sie
leiten die Erregung mit 20 m/s und weniger fort (B-Fasern,
. Tabelle 2.1 in Abschn. 2.3.3). Prä- und postganglionäre Neurone, Nervenfasern
Die postganglionären Nervenfasern sind sehr dünn und Effektoren des Parasympathikus
und unmyelinisiert. Sie leiten die Erregung mit etwa 1 m/s Das zweite Teilsystem des autonomen Nervensystems kon-
fort (C-Fasern, . Tabelle 2.1 in Abschn. 2.3.3). Da die Gang- zentriert seine präganglionären Neurone im Kreuzmark
lien des Sympathikus relativ weit entfernt von den Erfolgs- und im Hirnstamm (grün eingezeichnet in . Abb. 6.1, 6.2,
organen liegen, sind die postganglionären sympathischen 6.4, rechte Bildhälfte). Ihre langen Axone sind teils dünn
Axone meist sehr lang (Box 6.1). myelinisiert, teils unmyelinisiert. Sie ziehen in speziellen
Die Effektoren (die von ihm kontrollierten Organe) Nerven zu ihren organnahe gelegenen parasympathischen
des Sympathikus sind die glatten Muskelfasern aller Or- postganglionären Neuronen. Für den gesamten Brust- und
gane (Gefäße, Eingeweide, Ausscheidungs- und Sexualor- den oberen Bauchraum ist dies z. B. der X. Hirnnerv, der
gane, Haare, Pupillen), die Herzmuskelfasern und manche Nervus vagus (Abschn. 2.3.4).
104 Kapitel 6 · Autonomes Nervensystem

Box 6.1. Horner-Syndrom murale Ganglien), des Herzens und der Lunge verstreut.
Die postganglionären parasympathischen Fasern (grün
Die langen Wege der postganglionären sympathischen
in . Abb. 6.2) sind deshalb im Gegensatz zu den post-
Fasern machen sie auch für Schädigungen in ihrem Ver-
ganglionären sympathischen Fasern (rot in . Abb. 6.2) sehr
lauf anfällig. Werden beispielsweise die vom oberen
kurz.
Grenzstrang in den Gesichtsbereich ziehenden post-
Die Effektoren des Parasympathikus sind die glatte
ganglionären Fasern unterbrochen (z. B. durch einen
Muskulatur und die Drüsen des Magen-Darm-Traktes, der
Lungentumor), so resultiert auf der betroffenen Seite
Ausscheidungsorgane, der Sexualorgane und der Lunge. Er
eine Rötung der Gesichtshaut (fehlende Vasokonstrik-
innerviert weiterhin die Vorhöfe des Herzens, die Tränen-
tion), mangelndes Schwitzen (Anhidrose), ein herab-
und Speicheldrüsen im Kopfbereich und die inneren Augen-
hängendes Augenlid (Ptosis), ein Zurücksinken des
muskeln. Dagegen innerviert er nicht die Schweißdrüsen
Augapfels (Enophthalmus) und eine Engstellung der
und das gesamte Gefäßsystem (mit wenigen Ausnahmen,
Pupille (Miosis), alles als Folge der fehlenden Sympa-
wie z. B. bei den Genitalorganen). Hier liegt der entschei-
thikus-Innervation. Vergleichbare Symptome können
dende Unterschied zum Sympathikus, der alle Gefäße in-
auch durch die Schädigung der präganglionären sym-
nerviert.
pathischen Neurone im Rückenmark auftreten.
6
G Die präganglionären Nervenfasern parasympathi-
scher Neurone aus Hirnstamm und Sakralmark
Die parasympathischen Ganglien finden sich nur ver- laufen in Nerven gebündelt zu den parasympathi-
einzelt im Kopfbereich und im Becken in der Nähe der Er- schen Ganglien, die nahe an oder in ihren Effektor-
folgsorgane. Ansonsten sind die postganglionären Zellen organen liegen. Die postganglionären parasympa-
in oder auf den Wänden des Magen-Darm-Traktes (intra- thischen Nervenfasern sind daher kurz.

. Abb. 6.4. Zielorgane von Sympathikus (rot) und Parasympa- innervieren. Die sympathische Innervation der Gefäße, der Schweiß-
thikus (grün). Die präganglionären Axone bilden Synapsen mit den drüsen und der Musculi arrectores pilorum (glatte Muskulatur der
postganglionären Neuronen, deren Axone die eingezeichneten Organe Haarbälge) ist nicht aufgeführt
6.1 · Bau und Aufgaben des peripheren autonomen Nervensystems
105 6
Darmnervensystem G Die viszeralen Sensoren (Sinnesrezeptoren) infor-
Das dritte Teilsystem des autonomen Nervensystems dient mieren das Zentralnervensystem über die Tätigkeit
der Kontrolle und Koordination des Magen-Darm-Traktes. der inneren Organe. Mit Ausnahme der Nozizepto-
Es kann auch ohne zentralnervöse Beeinflussung über ren (»Schmerzsensoren«) wird ihre Tätigkeit in der
Sympathikus und Parasympathikus funktionieren und Regel nicht bewusst
z. B. die vielfältigen Bewegungen des Darmschlauches zur
Durchmischung und zum Weitertransport des Darmin- Box 6.2. Komplexes regionales Schmerzsyndrom
haltes regeln (Abschn. 12.2.4). Aus bisher nicht geklärten Gründen können nach
Man könnte das Darmnervensystem, das etwa eben- peripheren Nervenverletzungen in den Extremitäten
soviel Neurone wie das Rückenmark besitzt, auch als schwere Schmerzen von brennendem Charakter auf-
das Gehirn des Darmes bezeichnen. Es enthält nämlich treten, an denen das sympathische Nervensystem be-
eigenständige Programme zur Regulation und Koordi- teiligt ist. Dieses Syndrom wurde ursprünglich Kausal-
nation aller von ihm betreuten Effektorsysteme (Glatte gie genannt. Bei ihm treten neben den Schmerzen
Muskulatur der Darmwände, Darmdrüsen etc). Sympa- auch periphere Durchblutungsstörungen auf, so dass
thikus und Parasympathikus greifen in dieses lokale die betroffene Extremität entweder heiß oder kalt ist
neuronale Geschehen weitgehend nur modulatorisch ein, und mit der Zeit auch dystroph (mangelernährt) wird.
vor allem am Anfang und Ende des Magen-Darm-Traktes Daher auch der Name sympathische Reflexdystro-
bei der Nahrungsaufnahme und bei den Entleerungsfunk- phie. Heute bevorzugt man den Sammelnamen kom-
tionen. plexes regionales Schmerzsyndrom, CRPS (»com-
plex regional pain syndrome«). Therapeutisch versucht
G Das dritte Teilsystem des autonomen Nervensys-
man, die vegetativen Symptome und die Schmerzen
tems ist das Darmnervensystem, das ebenso viele
u. a. durch eine Blockierung des Sympathikus zu be-
Neurone wie das Rückenmark besitzt. Es kann völlig
einflussen, z. B. durch Infiltration von Lokalanästhetika
autonom operieren, ist aber normalerweise unter
in den Grenzstrang. Wenn der Schmerz und die vege-
modulierenden Einflüssen von Sympathikus und
tativen Symptome aber bereits chronisch sind. d. h.
Parasympathikus.
länger als 6 Monate andauern, müssen zusätzliche,
zentral-psychologisch wirkende Therapien eingesetzt
Viszerale Afferenzen werden (Kap. 16).
Die bisherige Darstellung des peripheren autonomen
Nervensystems muss durch die Erwähnung der sensori-
schen Innervation der inneren Organe ergänzt werden.
Die Sinnesrezeptoren oder Sensoren dieser Organe und 6.1.2 Antagonistische und synergistische
deren afferente (d. h. zum Zentralnervensystem leitenden) Wirkungen von Sympathikus
Nervenfasern werden als viszerale oder Eingeweide- und Parasympathikus
Afferenzen bezeichnet. Ihre Tätigkeit wird als Viszero-
zeption zusammengefasst (Einzelheiten in Abschn. 15.4.1 Wirkung gemeinsamer und getrennter
bis 15.4.5). autonomer Organinnervation
Die Viszerozeption wird hauptsächlich für die reflek- Alle inneren Organe, die parasympathisch innerviert wer-
torische Steuerung der inneren Organe genutzt. Dabei wird den, haben auch eine sympathische Innervation. Umge-
die von ihnen übermittelte Information in der Regel nicht kehrt gibt es aber einige Organe, die lediglich eine sympa-
bewusst wahrgenommen. Die Viszerozeption spielt aber in thische Innervation besitzen (Blutgefäße, Arbeitsmyokard
der Entstehung und Ausprägung von Emotionen eine zen- der Herzkammern, Schweißdrüsen).
trale Rolle (Kap. 27). Soweit die Organe sowohl sympathisch wie parasympa-
Anders ist es bei den Nozizeptoren (»Schmerzsen- thisch innerviert werden, sind die Effekte der beiden auto-
soren«), deren Aktivierung viszerale Schmerzen auslöst. Sie nomen Teilsysteme weitgehend antagonistisch. So führt
werden z. B. durch übermäßige Dehnung und Kontraktion z. B. die Aktivierung entsprechender sympathischer Ner-
des Magen-Darm-Traktes und der Harnblase, durch Zug am ven zur Zunahme der Schlagfrequenz des Herzens und
Mesenterium und durch Ischämie (Unterbrechung der Blut- zur Abnahme der Darmmotilität, während Aktivierung der
versorgung mit extremem Sauerstoffmangel, z. B. bei Angina parasympathischen Innervation entgegengesetzten Effekte
pectoris oder beim Herzinfarkt) erregt. Pathologische Wech- hat, nämlich Abnahme der Herzfrequenz und Zunahme
selwirkungen zwischen dem Schmerzsystem und dem ANS der Darmmotilität.
sind an einem Beispiel in Box 6.2 beschrieben. Bei Strukturen, die lediglich eine sympathische Inner-
vation besitzen, wird deren Wirkung vom Ausmaß der Ak-
tivität des Sympathikus bestimmt (Box 6.1, Horner-Syn-
drom als pathophysiologisches Beispiel, und . Tabelle 6.1).
106 Kapitel 6 · Autonomes Nervensystem

. Tabelle 6.1. Effekte der Aktivierung von Sympathikus und Parasympathikus auf die einzelnen Organe

Organ oder Organsystem Aktivierung des Aktivierung des Adreno-


Parasympathikus Sympathikus rezeptoren

Herzmuskel Abnahme der Herzfrequenz Zunahme der Herzfrequenz β1


Abnahme der Kontraktions- Zunahme der Kontraktionskraft β1
kraft (nur Vorhöfe) (Vorhöfe, Ventrikel)
Blutgefäße
Arterien in Haut und Mukosa 0 Vasokonstriktion α1
Arterien im Abdominalbereich 0 Vasokonstriktion α1
Arterien im Skelettmuskel 0 Vasokonstriktion α1
Vasodilatation (nur durch Adrenalin) β2
Vasodilatation (cholinerg)
Arterien im Herzen (Koronarien) Vasokonstriktion α1
Vasodilatation (nur durch Adrenalin) β
6 Arterien im Penis/Klitoris Vasodilatation Vasokonstriktion α1
Venen 0 Vasokonstriktion α1
Gehirngefäße Vasodilatation (?) Vasokonstriktion α1
Gastrointestinaltrakt
Longitudinale und zirkuläre Muskulatur Zunahme der Motilität Abnahme der Motilität α2 und β1
Sphinkteren Erschlaffung Kontraktion α1
Milzkapsel 0 Kontraktion
Niere
Juxtaglomeruläre Zellen 0 Reninfreisetzung erhöht β1
Tubuli 0 Natriumrückresorption erhöht α1
Harnblase
Detrusor vesicae Kontraktion Erschlaffung (gering) β2
Trigonum vesicae (Sphincter internus) 0 Kontraktion α1
Genitalorgane
Vesica seminalis, Prostata 0 Kontraktion α1
Ductus deferens 0 Kontraktion α1
Uterus 0 Kontraktion β2
Erschlaffung (abhängig von Spezies
und hormonalem Status)
Auge
M. dilatator pupillae 0 Kontraktion (Mydriasis) α1
M. sphincter pupillae Kontraktion (Miosis) 0
M.ciliaris Kontraktion
Nahakkommodation
M. tarsalis 0 Kontraktion (Lidstraffung)
M. orbitalis 0 Kontraktion (Bulbusprotrusion)
Tracheal-/Bronchialmuskulatur Kontraktion Erschlaffung (vorwiegend durch β2
Adrenalin)
Mm. arrectores pilorum 0 Kontraktion α1
Exokrine Drüsen
Speicheldrüsen Starke seröse Sekretion Schwache muköse Sekretion α1
(Glandula submandibularis)
Tränendrüsen Sekretion 0
Drüsen im Nasen-Rachen-Raum Sekretion 0
Bronchialdrüsen Sekretion ?
Schweißdrüsen 0 Sekretion (cholinerg)
Verdauungsdrüsen (Magen, Pankreas) Sekretion Abnahme der Sekretion oder 0
6.1 · Bau und Aufgaben des peripheren autonomen Nervensystems
107 6

. Tabelle 6.1 (Fortsetzung)

Organ oder Organsystem Aktivierung des Aktivierung des Adreno-


Parasympathikus Sympathikus rezeptoren

Mukosa (Dünn-, Dickdarm) Sekretion Flüssigkeitstransport aus Lumen


Glandula pinealis (Zirbeldrüse) 0 Anstieg der Synthese von Melatonin β2
Braunes Fettgewebe 0 Wärmeproduktion β2
Stoffwechsel
Leber 0 Glykogenolyse, Glukoneogenese β2
Fettzellen 0 Lipolyse (freie Fettsäuren im Blut er- β1
höht)
Insulinsekretion (aus β-Zellen der Sekretion Abnahme der Sekretion α2
Langerhans-Inseln)
Glukagonsekretion (aus α-Zellen) Sekretion β

Funktioneller Synergismus im ANS werden entsprechend auch synaptisch durch präganglio-


Die Wirkungen von Sympathikus und Parasympathikus näre Axone aktiviert (. Abb. 6.1).
sind im Alltag häufig mehr ein »Hand in Hand« als ein Ge- Erregung der präganglionären Axone zum NNM führt
geneinander arbeiten. Dieser funktionelle Synergismus zur Ausschüttung eines Hormongemischs von 80% Adrena-
zeigt sich z. B. bei einer akuten Erhöhung des arteriellen lin und 20% Noradrenalin in die Blutbahn. Die aus dem
Blutdrucks: Dies führt reflektorisch zur Abnahme der NNM ausgeschütteten adrenergen Substanzen wirken auf
Schlagfrequenz (Zunahme der parasympathischen Aktivi- dieselben Erfolgsorgane wie die der postganglionären sym-
tät) und der Kontraktionskraft des Herzens (Abnahme der pathischen Neurone (. Abb. 6.5, Box 6.3). Diese Wirkungen
sympathischen Aktivität). sind vor allem für solche Organe und Organbereiche wichtig,
Oft sind auch nur Teile desselben Systems aktiv, die wenig oder überhaupt nicht sympathisch innerviert sind
während andere gehemmt werden. Bei einem Saunabe- (Verdauungsdrüsen des Magens und des Pankreas). Insbe-
such nimmt z. B. die hautgefäßverengende sympathi- sondere sorgen Adrenalin und Noradrenalin bei körperlichen
sche Aktivität ab, während gleichzeitig das Herz über an- Belastungen als Stoffwechselhormone für eine schnelle Be-
dere Anteile des Sympathikus zu verstärkter Leistung (er- reitstellung von Brennstoffen (Einzelheiten in . Abb. 6.5).
höhte Schlagfrequenz und Kontraktionskraft) angehalten
wird. Aktivierung des NNM bei physischen
In vielen Organen, die durch beide autonome Teil- und psychischen Belastungen
systeme innerviert werden, steht unter physiologischen In Notfallsituationen (z. B. extreme körperliche Belastung,
Bedingungen die parasympathische Innervation im Vor- Blutverlust, Verbrennung) und bei psychischen Belastungen
dergrund. Hierzu zählen das Herz, die Harnblase und kommt es zu hohen Ausschüttungen von Adrenalin und
einige exokrine Drüsen. Noradrenalin aus dem NNM. Unter emotionalem Stress
kann sie kurzzeitig mehr als das 10fache über der Ruheaus-
G Die inneren Organe sind teils von Sympathikus und
schüttung liegen. Die Ausschüttungen werden durch Hypo-
Parasympathikus, teils nur vom Sympathikus innver-
thalamus und limbisches System gesteuert (Kap. 8). Vermut-
viert. Die beiden Teilsysteme wirken meist so auf
lich begünstigen sich dauernd wiederholende Stresssitua-
die Effektororgane und -systeme ein, das daraus ein
tionen, wie sie z. B. am Arbeitsplatz an der Tagesordnung
funktioneller Synergismus resultiert.
sind, über einen langfristig erhöhten Adrenalinspiegel im
Blut das Entstehen verschiedener Erkrankungen (s. Kap. 8).
6.1.3 Das Nebennierenmark als Teil des ANS Andererseits stellt eine Stressreaktion eine normale
und wünschenswerte Anpassung des Organismus an eine
Das Nebennierenmark, eine sympathisch von außen herangetragene Belastung dar. Sie sollte regel-
gesteuerte endokrine Drüse mäßig »trainiert« werden, d. h. ein gewisses Ausmaß »mit-
Das Nebennierenmark, NNM, der innere Anteil der Neben- telstarker« Belastung ist vermutlich eine Voraussetzung für
niere, ist eine entwicklungsgeschichtliche Kuriosität: Seine die Reaktionsbereitschaft dieses Systems. So gesehen wäre
jetzt endokrinen Zellen sind umgewandelte sympathische ein Leben ohne Stress für den Organismus mindestens
Ganglienzellen, also eigentlich postganglionäre Zellen. Sie ebenso ungesund wie ein Zuviel davon.
108 Kapitel 6 · Autonomes Nervensystem

. Abb. 6.5. Organwirkungen der Katecholamine. Wirkung der aus Herz, Venen und Arterien treten vermutlich nur unter Extrembedin-
dem Nebennierenmark freigesetzten Katecholamine, besonders von gungen (Notfallsituationen) auf
Adrenalin, auf verschiedene Organe. Die Wirkungen auf Bronchien,

G Vom NNM wird bei physischen und psychischen Be- 6.2 Neurotransmission
lastungen ein Gemisch aus 80% Adrenalin und 20% im peripheren ANS
Noradrenalin freigesetzt, das überwiegend für die
schnelle Bereitstellung von Stoffwechselenergie 6.2.1 Transmitter und Kotransmitter
sorgt. Emotionaler Stress führt zu besonders hohen im peripheren ANS
Ausschüttungen.
Bauelemente autonomer Synapsen
Box 6.3. Phäochromozytom Die chemische Erregungsübertragung im ANS folgt den
Die endokrinen Zellen des NNM werden auch als gleichen Gesetzmäßigkeiten, wie im Kapitel 4 geschildert
chromaffineZellen bezeichnet, da sie sich besonders wurden. Der einzige erwähnenswerte Unterschied liegt in
gut mit Chromsalzen färben lassen. Wenn sie tumorös der Struktur der präsynaptischen Axone, besonders der
entarten, also ein Phäochromozytom bilden, setzen sie postganglionären Neurone (. Abb. 6.6). Diese bilden näm-
große Mengen besonders von Noradrenalin frei. Dies lich in den Effektororganen zahlreiche Verzweigungen, so
führt zu hohem Blutdruck (Hypertonie), Kopfschmer- dass im lichtmikroskopischen Bild der Eindruck eines neu-
zen, Herzklopfen, übermäßigem Schwitzen bei Blässe ronalen Netzwerks oder Plexus entsteht.
im Gesicht und vielen anderen vegetativen Sympto- Im Abstand von wenigen Mikrometern verdicken
men. Unbehandelt kommt es zu den gleichen Kompli- sich die langen und sehr dünnen präsynaptischen
kationen (z. B. Hirn- oder Herzinfarkt, Lungenödem) Axone zu Varikositäten, die etwa doppelt so dick wie
wie bei einem Bluthochdruck aus anderen Ursachen. das Axon sind. Das präsynaptische Axon der postgang-
lionären Neurone sieht also wie eine Halskette aus, auf
der alle paar Mikrometer eine Perle aufgereiht ist. Auf
einen Millimeter Axon kommen also mehrere hundert
Varikositäten. In diesen Varikositäten wird die Über-
trägersubstanz gespeichert. Ein solches autonomes post-
ganglionäres Neuron hat also viele Tausend präsynap-
tische Endigungen, von denen Überträgerstoff freigesetzt
werden kann.
6.2 · Neurotransmission im peripheren ANS
109 6

. Abb. 6.6. Kolokalisation von Transmitter und Neuromodulator Speicheldrüsen. Freigesetztes ACh aktiviert in erster Linie die Speichel-
im ANS. In einem Neuron des autonomen Nervensystems ist ein sekretion und führt in geringerem Masse zur Vasodilatation, während
kleinmolekularer Transmitter (Azetylcholin, ACh, blaue Vesikel) mit bei VIP die Vasodilatation im Vordergrund steht. Vergleichbare Kolo-
einem Neuropeptid (VIP, »vasoactive intestinal peptide«, rote Vesikel) kalisationen kommen auch in den noradrenergen Synapsen vor
kolokalisiert. Neurone dieses Typs innervieren die menschlichen

G Die postganglionären Fasern bilden zahlreiche Vari- Diese Vasodilatation ist, wie . Abb. 6.6 zeigt, nicht über-
kositäten aus, in deren Vesikeln die Transmitter des wiegend durch das Azetylcholin bedingt, sondern vor allem
peripheren ANS gespeichert sind. durch die gleichzeitige Freisetzung des Neuropeptids VIP
(»vasoactive intestinal polypeptide«).
Azetylcholin als Transmitter im peripheren ANS Auch die anderen im Abschn. 4.2.2 beschriebenen Ko-
Die Überträgersubstanz aller präganglionären Axone ist transmitter, nämlich ATP und Adenosin sowie das Gas
das Azetylcholin (. Abb. 6.1, Abschn. 4.2.1). Azetylcholin, Stickoxid, NO, kommen als Neuromodulatoren im peri-
wird auch von den parasympathischen postganglionären pheren ANS vor. Als Beispiel sei erwähnt, dass die parasym-
Axonen freigesetzt, z. B. am Herzen oder an den glatten pathischen Neurone zum erektilen Gewebe des Penis und
Muskelfasern, welche die Pupille des Auges verengen und zur Klitoris neben ACh auch VIP und NO freisetzen. Alle 3
für die Naheinstellung sorgen (Abschn. 17.2.1). Außerdem Transmitter erschlaffen die glatte Muskulatur der Gefäße,
setzen sympathische postganglionäre Neurone an den wirken also vasodilatatorisch, wobei die Wirkung von NO
Schweißdrüsen Azetylcholin frei. am schnellsten eintritt und VIP am stärksten und längsten
wirkt (Box 6.4).
Noradrenalin als Transmitter im peripheren ANS
G Die klassischen Überträgerstoffe im peripheren
Die Überträgersubstanz der sympathischen postganglio-
autonomen Nervensystem sind Azetylcholin und
nären Axone ist bis auf die eben genannte Ausnahme Nor-
Noradrenalin. Neuropeptide (wie VIP), ATP und NO
adrenalin (. Abb. 6.1, Abschn. 4.2.1). Das Noradrenalin
sind häufig als Neuromodulatoren kolokalisiert.
wird in den Varikositäten synthetisiert und dort in Vesikeln
gespeichert. Nach Freisetzung und postsynaptischer Wir-
kung wird das Noradrenalin, wie in Abschn. 4.2.1 berichtet, 6.2.2 Synaptische Rezeptoren
zum kleineren Teil in unwirksame Metaboliten umgewan- im peripheren ANS
delt, zum größeren in die präsynaptischen Varikositäten
wieder aufgenommen. Cholinerge Rezeptoren
Die neuroneuronalen Synapsen der autonomen Ganglien
Kotransmitter im peripheren ANS von Sympathikus wie Parasympathikus (vgl. . Abb. 6.1) ha-
In den präsynaptischen Varikositäten finden sich eine Reihe ben postsynaptische Membranrezeptoren vom nikotinergen
von Kotransmittern. Diese sind in erster Linie Neuropep- Typ, also ligandengesteuerte Ionenkanäle (Abschn. 4.3.2). An
tide (Abschn. 4.2.2) Beispielsweise wird die neurale Akti- diesen Rezeptoren wirken bestimmte Ammoniumverbindun-
vierung der Schweiß- und Speicheldrüsen von einer Weit- gen (quartäre Ammoniumbasen) als Antagonisten, die des-
stellung der Gefäße (Vasodilatation) und damit einer Er- wegen als Ganglienblocker bezeichnet werden. Diese werden
höhung des Blutflusses im Bereich der Drüsen begleitet. klinisch, z. B. bei der Therapie des Bluthochdrucks, genutzt.
110 Kapitel 6 · Autonomes Nervensystem

Box 6.4. Erektionssteigerung: Sildenafil (Viagra) Der Herzmuskel hat überwiegend β1-Adrenozeptoren.
Die Gabe eines α-Blockers, z. B. des Ergotamins, wird also
Substanzen wie das NO wirken auf glatte Muskeln er-
eine durch vermehrte Sympathikustätigkeit erhöhte Herz-
schlaffend, weil sie in den glatten Muskelzellen die ver-
frequenz unbeeinflusst lassen. Um so effektiver wird ein
mehrte Bildung von cGMP (zyklisches Guanosinmono-
β1-Blocker sein, z. B. das Propanolol. Dies wird therapeu-
phosphat) anregen, das die Kontraktion der glatten
tisch ausgenutzt, um über eine Senkung der Herzfrequenz
Muskelzellen hemmt. Den Abbau von cGMP besorgt
und eine Reduzierung der Kraft der Kontraktion den mitt-
das Enzym Phosphodiesterase (PDE), von dem es 11
leren Blutdruck eines Bluthochdruckpatienten zu senken.
verschiedene »Familien« gibt. Auf der Suche nach
Damit haben die β1-Blocker auch indirekt einen Einfluss
Hemmstoffen von PDE, um Blutgefässe zu erweitern
auf Angstreaktionen, da u. a. der Herzratenanstieg und
und damit z. B. bei Herzschmerzen (Angina pectoris)
seine Wahrnehmung ausbleiben.
für eine bessere Durchblutung des Herzmuskels zu
sorgen, fand sich unerwartet ein Stoff, nämlich das G Die adrenergen Rezeptorfamilien sind alle meta-
Sildenafil, das spezifisch die im Penis vorhandene PDE botrop. Sie haben zum großen Teil sehr unterschied-
des Typs 5 hemmt. So lässt sich der Abbau des cGMP liche Agonisten und Antagonisten, was vielfältig
verzögern und damit seine intrazelluläre Konzentra- therapeutisch genutzt wird.
6 tion anreichern, was wiederum zu einer verstärkten
Vasodilatation und einer damit verbesserten Erektion 6.3 Arbeitsweise und supraspinale
führt. Sildenafil und verwandte Pharmaka wirken nur, Kontrolle des peripheren ANS
wenn die Bildung von cGMP durch sexuelle Erregung
und damit Aktivierung der parasympathischen Inner- 6.3.1 Periphere und spinale Wirkweise
vation des Penis in Gang gekommen ist.
Spezifische Organisation
Das autonome Nervensystem ist spezifisch organisiert. So
Die neuroeffektorischen Synapsen der postganglionä- sind z. B. die prä- und postganglionären Neurone, die die
ren parasympathischen Fasern (z. B. der Vagusfasern auf Schweißsekretion regulieren, verschieden von denen, die
das Herz; . Abb. 6.1) haben postsynaptische Membran- die Durchblutung durch die Haut regulieren etc. Dieser
rezeptoren vom muskarinergen Typ, es sind also metabo- hohen funktionellen Spezifität entspricht auch eine ent-
trope Rezeptoren, die mit Atropin blockiert werden können sprechende anatomische Differenzierung.
(Abschn. 4.3.3). Das Verhalten vieler Effektororgane hängt aber nicht
nur von der Aktivität der sie innervierenden postgan-
G Die cholinergen ganglionären Rezeptoren sind niko-
glionären Neuronen ab, sondern auch von hormonalen
tinerg, d. h. ligandengesteuerte Ionenkanäle, die
und metabolischen Änderungen in der Nähe der Effek-
cholinergen neuroeffektorischen Rezeptoren da-
torzellen und von Einflüssen aus der Umwelt (z. B. ther-
gegen muskarinerg, d. h. metabotrop.
mischen). Der Blutflusswiderstand im Muskel hängt
z. B. ab
Adrenerge Rezeptoren (Adrenozeptoren) 4 von der Aktivität in den postganglionären sympathi-
Die neuroeffektorischen Synapsen der postganglionären schen Muskelvasokonstriktorneuronen,
sympathischen Fasern haben alle metabotrope Rezeptoren, 4 von der Eigenaktivität (myogenen Aktivität) der glatten
nämlich die Familien der α1-, α2-, β1-, β2- und β3-Rezepto- Gefäßmuskulatur,
ren, die allerdings etwas unterschiedliche Eigenschaften 4 vom metabolischen Zustand des Skelettmuskels und
und damit unterschiedliche Agonisten und Antagonisten 4 von der Konzentration der aus dem Nebennierenmark
haben (Abschn. 4.3.3). in das Blut freigesetzten Katecholamine.
Anders als bei den cholinergen Rezeptoren lassen sich
G Das periphere autonome Nervensystem ist funk-
für die adrenergen Rezeptoren keine einfachen Regeln für
tionell spezifisch organisiert, d. h. die autonomen
das Vorkommen der α- und β-Adrenozeptoren auf den ver-
Neurone innervieren jeweils nur einen speziellen
schiedenen Effektoren angeben. Eine Auswahl wichtiger
Typ von Effektororgan. Dieser ist immer auch ande-
Wirkstellen zeigt . Tabelle 6.1. Die meisten Organe und
ren Einflüssen ausgesetzt.
Gewebe, die durch Katecholamine beeinflusst werden, ent-
halten sowohl α-als auch β-Rezeptoren in ihren Zellmem-
branen. Diese beiden Rezeptortypen vermitteln meist ant- Aufgabe der Spontanaktivität
agonistische Effekte. Unter physiologischen Bedingungen Viele prä- und postganglionäre autonome Neurone sind
hängt die Antwort eines Organs auf die im Blut zirkulieren- spontan aktiv. Es handelt sich um unregelmäßige Entladun-
den oder präsynaptisch freigesetzten Katecholamine davon gen, wobei die Frequenz dieser Ruheaktivität bei etwa 0,1 Hz
ab, ob die α- oder β-adrenergen Wirkungen überwiegen. bis etwa 4 Hz, im Durchschnitt bei etwa 1–2 Hz liegt.
6.3 · Arbeitsweise und supraspinale Kontrolle des peripheren ANS
111 6

. Abb. 6.7. Beziehung zwischen der Aktivität in Vasokonstriktor- . Abb. 6.8. Anteile und Verlauf vegetativer spinaler Reflex-
neuronen und Blutflusswiderstand. Anstieg von Blutflusswider- bögen. Aus dem lateralen Horn des Rückenmarks verlassen 3 prä-
stand in einem Skelettmuskel der Katze (Ordinate) mit der Frequenz ganglionäre Axone durch die Vorderwurzel das Rückenmark. Je nach
der elektrischen Reizung der zugehörigen präganglionären Nerven- ihrem Innervationsgebiet liegt ihre Umschaltstelle (Synapse vom prä-
fasern im lumbalen Grenzstrang. Orange Fläche: Schwankungsbreite ganglionären auf das postganglionäre Neuron) entweder im zuge-
der Messwerte. Wenn in den Vasokonstriktorneuronen keine Aktivität hörigen Grenzstrangganglion, in einem benachbarten (Axon nach
vorhanden ist, wird der periphere Widerstand nur durch die Spontan- unten) oder in einem prävertebralen Ganglion. Die afferenten Schen-
aktivität der glatten Gefäßmuskulatur (basale myogene Aktivität) und kel der vegetativen Reflexbögen werden von somatischen und visze-
durch nichtneuronale Faktoren (z. B. Metaboliten) bestimmt ralen Afferenzen derjenigen somatischen und viszeralen Organe ge-
bildet, die von den efferenten Schenkeln vegetativ innerviert werden.
Jeder Reflexbogen hat mindestens ein spinales Interneuron (grün),
meist sind es mehrere
Aufgabe dieser Ruheaktivität ist es, in dem innervierten
Effektororgan einen gleichmäßigen Ruhe- oder Aktivitätszu-
stand zu erzeugen, einen Ruhetonus also, so dass durch Ver- Abschwächung zulässt. Vasokonstriktorneurone
änderung der neurogenen Ruheaktivität sowohl eine Steige- können so den Blutgefäßdurchmesser verkleinern
rung wie eine Abnahme des Tonus erzielt werden kann. oder vergrößern.
Besitzt z. B. ein Organ lediglich eine sympathische In-
nervation, wie z. B. viele Blutgefäße, so bestimmt, wie oben Autonome (vegetative) Reflexbögen
gerade gesagt, der Tonus der glatten Muskelfasern der Ge- im Rückenmark
fäßwände den Durchmesser des Gefäßes und damit seinen Die peripheren autonomen Neurone integrieren als die ge-
Durchflusswiderstand. Je höher dieser Tonus, desto enger meinsame Endstrecke der vegetativen Motorik afferente,
der Gefäßquerschnitt. Da sympathische Aktivität die Ge- spinale und von supraspinal absteigende erregende und
fäße verengt, werden diese sympathischen Neurone Vaso- hemmende Einflüsse, um sie an die inneren Organe weiter-
konstriktorneurone genannt. Sie stellen durch ihre Ruhe- zuleiten. Die synaptische Verschaltung zwischen Afferenzen
aktivität einen Zustand relativer Kontraktion der Gefäß- und vegetativen Efferenzen auf spinaler segmentaler Ebene
muskulatur ein, von dem aus der Gefäßquerschnitt durch wird vegetativer Reflexbogen genannt. Selbst die einfachs-
Veränderung der sympathischen Ruheaktivität vergrößert ten vegetativen spinalen Reflexbögen verfügen über min-
oder verkleinert werden kann. Diese Zusammenhänge sind destens 3 Synapsen zwischen afferentem und postganglio-
modellhaft (Änderung der Vasokonstriktoraktivität durch närem Neuron, zwei im Rückenmarksgrau und eine Synap-
elektrische Reizung) in . Abb. 6.7 illustriert. se im vegetativen Ganglion. Dieser »Grundaufbau« des
vegetativen Reflexbogens ist in . Abb. 6.8 illustriert.
G Die Spontanaktivität der autonomen Neurone ergibt Die Wirkung der autonomen Neurone auf ihr Effektor-
einen mittleren Aktivitätszustand (Tonus) der Effek- organ wird durch die im selben Organ liegenden Sensoren
tororgane, der sowohl eine Steigerung wie eine rückkoppelnd überwacht und mitgeregelt. Als Beispiele
6 seien kardiokardiale Reflexbögen oder intestointestinale
112 Kapitel 6 · Autonomes Nervensystem

. Abb. 6.9. Segmentalspinale Reflexe


zur Skelettmuskulatur und zur glatten
Muskulatur (Gefäßwände, Darmwände).
Die in der Abb. 6.8 gezeigten spinalen Inter-
neurone zwischen den afferenten und effe-
renten Neuronen sind zur besseren Über-
sicht nicht eingezeichnet. Die supraspinale
Beeinflussung dieser Reflexbögen ist in
. Abb. 6.10 gezeigt

Reflexbögen (Bogen 4 in . Abb. 6.9) genannt. Zu letzteren G Die spinalen Reflexbögen zwischen somatoviszera-
zählen z. B. Reflexbögen, die an den Genitalreflexen (Ab- len Afferenzen und vegetativen Efferenzen haben
schn. 26.3.2 und 26.3.3 beteiligt sind. mindestens 3 Synapsen. Sie sind an zahlreichen
Die viszeralen Afferenzen, insbesondere die nozizep- vegetativen Regulationen beteiligt.
tiven, haben auch Verknüpfungen mit den Motoneuronen
der Skelettmuskulatur. So ist z. B. bei Gallenblasen- oder
Blinddarmentzündungen die Muskulatur über dem Krank- 6.3.2 Kontrolle des peripheren ANS
heitsherd gespannt, und das Hautareal, welches durch das- durch Hirnstamm und Hypothalamus
selbe Rückenmarkssegment wie das erkrankte innere Organ
afferent und efferent innerviert wird (Dermatom), ist ge- Aufgaben von Hirnstamm und Hypothalamus
rötet. Dies rührt daher, dass die viszeralen Afferenzen aus Große Teile des Hirnstamms (Medulla oblongata, Pons,
dem erkrankten Eingeweidebereich die Motoneurone der Mesenzephalon) und zahlreiche Kerngebiete des Hypotha-
Bauchmuskulatur reflektorisch erregen (Abwehrspan- lamus nehmen an der vegetativen Regelung und Steuerung
nung: Reflexweg 2 in . Abb. 6.9) und die sympathischen autonomer Effektororgane teil, wobei es anscheinend die
vasokonstriktorischen Efferenzen zu den Hautgefäßen Aufgabe dieser »autonomen Zentren« ist, die verschiede-
hemmen (Hautrötung: Reflexweg 1 in . Abb. 6.9). nen spinalen Systeme in ihrer Tätigkeit zu synchronisieren

Box 6.5. Vegetative Reflexe nach Querschnittslähmung

Beim Menschen sind nach einer kompletten Durchtren- Das vom Gehirn isolierte Rückenmark ist nach seiner
nung des Rückenmarks alle spinalen vegetativen Reflexe, Erholung vom spinalen Schock zu einer Reihe von regula-
die unterhalb der Unterbrechung organisiert sind, zu- tiven Leistungen fähig. So führen z. B. das Aufrichten des
nächst erloschen. Während der anschließenden ersten Körpers aus der Horizontallage oder Blutverlust reflekto-
1–2 Monate ist die Haut trocken und rosig, weil die Spon- risch zu einer allgemeinen Vasokonstriktion von Arterien
tanaktivität in den sympathischen Fasern zu Schweiß- und Venen. Dies verhindert einen gefährlichen Abfall des
drüsen und Gefäßen sehr niedrig ist. Die spinalen soma- arteriellen Blutdruckes. Querschnittsgelähmte können
tosympathischen Reflexe einschließlich der Blasenentlee- auch erlernen, ihre Blasenentleerung zu kontrollieren. Sie
rungs-, Darmentleerungs- sowie Genitalreflexe erholen können durch Beklopfen des Unterbauches die Harnbla-
sich im Laufe des folgenden halben Jahres, wobei aber senwand reflektorisch zur Kontraktion anregen und durch
eine sehr große Schwankungsbreite der Symptome zu gezieltes Bauchpressen unterstützen. Vergleichbares gilt
beobachten ist. für die Darmentleerung. Ist jedoch das Sakralmark zer-
Das initiale Verschwinden der spinalen vegetativen stört, so sind die Entleerungs- ebenso wie die Genitalre-
Reflexe beim Auftritt einer Querschnittslähmung ist ein Teil flexe für immer erloschen.
des spinalen Schocks. Er ist auf die Unterbrechung der
deszendierenden Bahnen vom Hirnstamm zurückzuführen.
6.3 · Arbeitsweise und supraspinale Kontrolle des peripheren ANS
113 6

sympathischen und parasympathischen Systemen zu den


Eingeweiden bei den Entleerungsfunktionen oder den
Sexualfunktionen (7 auch Box 6.5).

Deszendierende autonome Bahnsysteme


Der Vielfältigkeit der eben genannten Funktionskomplexe
entspricht eine ebenso große Vielfältigkeit deszendierender
spinaler Systeme von Hirnstamm und Hypothalamus, die
zu den präganglionären Neuronen in der grauen Substanz
des Rückenmarks projizieren (. Abb. 6.10). Diese werden
nach ihrer Herkunft und nach ihren Überträgersubstanzen
charakterisiert. So erhalten die spinalen präganglionären
Neurone z. B. Zuflüsse von serotonergen Neuronen aus
den Raphekernen, von adrenergen Neuronen aus der ros-
tralen ventrolateralen Medulla oblongata, von noradrener-
gen Neuronen aus der Pons und von peptidergen Neuro-
nen (vasopressinerg, oxytozinerg) aus dem Nucleus para-
ventricularis hypothalami. Der Einfluss psychologischer
Reaktionen, z. B. von Gefühlen auf innere Organe, wird
über diese deszendierenden Bahnsysteme ausgeübt (Kap. 5,
9, 26 und 27).

Box 6.6. Verhaltensmedizin der Raynaud-Erkrankung

In den kälteren Zonen der Erde kommt es bei dispo-


nierten Personen (vor allem Frauen) in den kalten Jah-
reszeiten bei Kältereizen zu extremen Konstriktionen
der peripheren Gefäße der Hände und Füße. Abgese-
. Abb. 6.10. Kontrolle des spinalen autonomen Nervensystems
hen von den starken Schmerzen, die dabei entstehen,
durch deszendierende Bahnsysteme aus dem Hirnstamm und
dem Hypothalamus. Links sind die afferenten Eingänge (über die kann es im Extremfall zu Nekrosen (Absterben) der
Hirnnerven IX und X), die zentralen Kerngebiete und die efferenten Füße und Zehen kommen. Diese Symptomatik wurde
Ausgänge des Kontrollsystems zur Regelung des arteriellen Blutdrucks erstmals von dem französischen Neurologen Maurice
angegeben. Rechts deszendierende Systeme von Hirnstamm und Raynaud (1834–1881) beschrieben und ist daher nach
Hypothalamus, die auf Neurone in der intermediären Zone der prä-
ihm benannt. Obwohl häufig ein erhöhter Sympathi-
ganglionären Neurone im thorakolumbalen Rückenmark konver-
gieren. Ihre Transmittersysteme sind angegeben. IX Nervus glosso- kotonus für die extreme Vasokonstriktion verantwort-
pharyngeus, X Nervus vagus (rote B sind Afferenzen von Barosensoren), lich gemacht wird, führt Sympathektomie, also die
PVH Nucleus paraventricularis hypothalami, RVL rostrale ventrolaterale Durchtrennung der peripheren sympathischen Ner-
Medulla oblongata ven, meist nicht zum gewünschten Erfolg.
Als ungefährliche und nebenwirkungsfreie Alter-
native hat sich die Selbstkontrollbehandlung der
und aufeinander abzustimmen, so dass die spinalen Systeme Raynaud-Erkrankung mit Temperaturbiofeedback
je nach den Erfordernissen als funktionelle Koalitionen auf erwiesen. Dabei lernen die Patienten in einem kalten
Zeit zusammenarbeiten können. Raum (16–17°C), also in Gegenwart des auslösenden
So ist es z. B. erforderlich, dass bei der Thermoregula- Kältereizes, die Hand- oder Fußtemperatur über instru-
tion die Weite der Hautgefäße (über das kutane Vasokon- mentelles Lerntraining (Kap. 25) zu erhöhen. Über
striktorsystem) und die Tätigkeit der Schweißdrüsen (über einen winzigen Messfühler an der Hand wird die Tem-
das Sudomotorsystem), in Abhängigkeit von den Außen- peratur gemessen und dem/der Patienten(in) auf
bedingungen und der durch körperliche Arbeit erzeugten einem Bildschirm gezeigt. Diese(r) hat nun die Auf-
Wärme, so aufeinander abgestimmt werden, dass eine opti- gabe, über psychische Veränderungen (Vorstellungen,
male Wärmeabfuhr sichergestellt ist (Box 6.6). Gedanken, Gefühle) die Temperatur zu erhöhen. Ge-
Andere Beispiele sind die Koordination der Vasokons- lingt dies, so kann die Person dies sofort als Rückmel-
triktorsysteme der Arteriolen mit der sympathischen In- dung am Bildschirm erkennen. Die Rückmeldung
nervation des Herzens und des Nebennierenmarks bei der wirkt als Belohnung für die vorausgegangene Tem-
anschließend beispielhaft geschilderten Regelung des arte- peraturerhöhung und stabilisiert die richtige Selbst-
riellen Blutdruckes, oder die Zusammenarbeit zwischen kontrollstrategie der Patienten/innen.
den (spinal unterschiedlich lokalisierten, . Abb. 6.1, 6.2)
114 Kapitel 6 · Autonomes Nervensystem

G Zahlreiche Kerngebiete in Hirnstamm und Hypo- . Abb. 6.10 gezeigten absteigenden Bahnen verschwindet
thalamus stimmen die Tätigkeiten des peripheren (Box 6.5). Nur die Herzfunktion kann noch neuronal von
ANS untereinander ab. Diese integrativen Aufgaben der oberhalb der Schnittstelle gelegenen und damit weiter-
von Hirnstamm und Hypothalamus werden über hin intakten Medulla oblongata über die Vagusnerven ge-
absteigende Bahnsysteme zum Rückenmark abge- regelt werden (. Abb. 6.10, links).
wickelt. Dezerebrierte Tiere mit intakten aus der Medulla ob-
longata absteigenden Bahnen haben dagegen einen norma-
Blutdruckregulation len Blutdruck. Bei diesen reagieren die Vasokonstriktoren
Die Steuerungs- und Regelungsfunktionen (Koordinie- der Blutgefäße koordiniert auf Lageänderungen des Körpers
rungsaufgaben) der supraspinalen autonomen Zentren im Raum und stellen den Gefäßquerschnitt (und damit den
lassen sich besonders klar am Beispiel der Kreislaufregula- Gefäßwiderstand) so ein, dass der Perfusionsdruck in den
tion illustrieren. Die beteiligten Neuronen- und Bahnsys- Versorgungsgebieten gleich bleibt. Diese Befunde zeigen,
teme sind in der . Abb. 6.10 gezeigt. Ihre Aufgaben zeigen dass die Medulla oblongata die neuronalen Systeme für die
sich deutlich, wenn man die Blutdruckregulation bei einem Regulation des arteriellen Systemblutdrucks enthält. Diese
hoch spinalisierten Tier (Rückenmark in Höhe des oberen neuronalen Systeme werden daher Kreislaufzentren ge-
6 Halsmarks durchtrennt) mit der bei einem Tier vergleicht, nannt (Abschn. 10.6.3).
bei dem das Gehirn oberhalb der Medulla oblongata abge-
trennt wurde (dezerebriertes Tier). G Die Kreislaufzentren der Medulla oblongata regeln
Bei akut spinalisierten Tieren sinkt der Blutdruck auf den Blutdruck auf seinen physiologischen Wert.
niedrige Werte, weil die Ruheaktivität in den sympathi- Werden ihre absteigenden Bahnen im Rückenmark
schen Neuronen zu den Blutgefäßen, zum Herzen und zum durchtrennt, fällt die Blutdruckregulation aus und
Nebennierenmark durch die Unterbrechung aller rechts in der Blutdruck sinkt sofort auf niedrige Werte.

Zusammenfassung
Das periphere autonome Nervensystem (ANS) ist aus 3 An- 5 liegen die postganglionären Neurone organnah,
teilen aufgebaut, nämlich d. h. ihre Axone sind kurz,
1. dem Sympathikus, dessen präganglionäre Neurone 5 sind seine Effektoren u. a. die glatten Muskeln und
im Brustmark und oberen Lendenmark liegen, Drüsen der Eingeweide, einschließlich der Lunge, der
2. dem Parasympathikus, dessen präganglionären Neu- Sexualorgane und der Ausscheidungsorgane.
rone im Kreuzmark und im Hirnstamm liegen und
3. dem Darmnervensystem, dessen motorische Die synaptische Übertragung im peripheren ANS
und sensorische Neurone in den Wänden der Einge- 5 ist cholinerg an allen (sympathischen wie parasym-
weide liegen. pathischen) präganglionären Synapsen und an den
parasympathischen postganglionären Synapsen (z. B.
Beim Sympathikus Vagus am Herzen), sowie postganglionär sympathisch
5 ziehen die Axone der präganglionären Neurone über an den Schweißdrüsen,
die Vorderwurzeln teils zu paarigen (Grenzstrang), teils 5 ist adrenerg (überwiegend Noradrenalin) an allen
zu unpaarigen Ganglien (im Bauch- und Beckenraum), anderen postganglionär sympathischen Synapsen
5 ziehen die Axone der postganglionären Neurone (z. B. auf der glatten Muskulatur der Gefäße),
aus den Ganglien mit den somatischen Nerven zu 5 weist peptiderge (z. B. VIP) und nicht-peptiderge
ihren Erfolgsorganen, Kotransmitter (z. B. ATP) auf.
5 sind als Effektoren alle glatten Muskelfasern, das Herz,
viele Drüsen, Teile des Immunsystems sowie Leber- Die postsynaptischen Rezeptoren der Transmitter im
und Nierenzellen postganglionär innerviert, peripheren ANS
5 ist das Nebennierenmark eine sympathisch 5 sind in allen sympathischen und parasympathischen
gesteuerte endokrine Drüse. Ganglien vom cholinergen nikotinergen Typ (ligan-
dengesteuerte Ionenkanäle),
Beim Parasympathikus 5 sind bei den parasympathischen postganglionären
5 ziehen die Axone der präganglionären Neurone Synapsen vom cholinergen muskarinergen Typ (me-
über spezielle Nerven (z. B. Nervus vagus) zu ihren tabotrope Rezeptoren, z. B. Vagus am Herzen),
postganglionären Neuronen,
6
Literatur
115 6

6
5 sind bei den sympathischen postganglionären 5 dass ihre Spontanaktivität für einen mittleren Grund-
Synapsen alle adrenerg metabotrop aus den Famili- tonus der Effektoren sorgt, der durch Reduzierung
en der α1-, α 2-, β1-, β2- und β3-Rezeptoren. oder Erhöhung der Entladungsrate modifiziert werden
kann,
Bezüglich seiner peripheren und spinalen Wirkweise 5 dass über die in den Effektororganen liegenden Sin-
und der supraspinalen Kontrolle des ANS bleibt festzu- nesfühler Rückmeldungen über die Wirksamkeit der
halten, efferenten autonomen Innervation ins Rückenmark
5 dass alle autonomen prä- wie postganglionären Neu- fließen, die dort über autonome Reflexbögen zur
rone jeweils nur einen Typ von Effektor innervieren Organsteuerung und -regelung verwertet werden,
(z. B. die Vasokonstriktorneurone nur glatte Muskelfa- 5 dass diese spinalen Reflexbögen unter deszen-
sern in den Blutgefäßwänden), d. h. sie sind hochspezi- dierender Kontrolle aus Hirnstamm und Hypothala-
fisch organisiert, mus stehen, deren autonome Zentren (Kerne, z. B. Ra-
phekerne) für eine optimale Anpassung an die jeweili-
gen Anforderungen sorgen.

Literatur
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functions. In: Vinken PJ, Bruyn GW (eds) Handbook of clinical neu-
rology, vol. 74. Elsevier, Amsterdam
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Zigmond MJ, Bloom FE, Landis SC et al (1999) Fundamental neuro-
science. Academic Press, San Diego
7

7 Endokrine Systeme (Hormone)

7.1 Allgemeine Endokrinologie – 118


7.1.1 Produktions- und Speicherorte von Hormonen – 118
7.1.2 Zielorte von Hormonen – 118
7.1.3 Zelluläre Angriffspunkte von Hormonen – 120
7.1.4 Chemische Struktur, Synthese und Abbau von Hormonen – 120
7.1.5 Hormone als Teile von Regelkreisen – 122

7.2 Pankreashormone – 123


7.2.1 Produktion, Struktur und Wirkung der Pankreashormone – 123
7.2.2 Zuckerkrankheit (Diabetes mellitus) bei versagendem Regelkreis – 125

7.3 Das hypothalamisch-hypophysäre Hormonsystem


und seine Zielorgane – 126
7.3.1 Überblick über die Hormone des hypothalamisch-hypophysären
Systems – 126
7.3.2 Die HHL-Hormone ADH und Oxytozin – 128
7.3.3 Die HVL-Effektorhormone Prolaktin und Somatotropin – 128
7.3.4 Hypothalamisches TRH, hypophysäres TSH und die
Schilddrüsenhormone – 129
7.3.5 Hypothalamisches CRH, hypophysäres ACTH und die
Nebennierenrindenhormone – 131

7.4 Sexualhormone und die Regulation der Gonadenfunktion – 133


7.4.1 Hypothalamisches GnRH, hypophysäres LH + FSH und die
Sexualhormone – 133
7.4.2 Produktion und Wirkungen der Androgene und die Spermatogenese – 135
7.4.3 Östrogen- und Gestagenproduktion und der Menstruationszyklus – 135
7.4.4 Befruchtung, Schwangerschaft, Geburt, sexuelle Differenzierung – 137
7.4.5 Pubertät und Menopause – 138

Zusammenfassung – 139
Literatur – 140

N. Birbaumer, Biologische Psychologie, DOI 10.1007/978-3-540-95938-0_7,


© Springer Medizin Verlag Heidelberg 2010
118 Kapitel 7 · Endokrine Systeme (Hormone)

)) Drüsenzellen können aber auch vereinzelt oder in


Gruppen in nicht hormonproduzierenden Organen liegen.
Zwei Kommunikationssysteme dienen dem Informations- Beispiele für vereinzelt liegende Drüsenzellen sind die
austausch zwischen den einzelnen Organen des Körpers: enteroendokrinen Zellen des Magen-Darm-Kanals (Kap. 12)
das Nervensystem, insbesondere das im Kap. 6 vorge- und für endokrine Zellgruppen die hormonproduzieren-
stellte vegetative Nervensystem, und das endokrine Sys- den Zellen im Hoden und im Eierstock und die Langer-
tem. Beide Systeme sind funktionell eng miteinander ver- hans-Inseln in der Bauchspeicheldrüse (7 unten).
knüpft. Zusammen regeln und koordinieren sie die Funk-
tion von zum Teil weit voneinander entfernten Organen. Granuläre und nichtgranuläre Speicherung
Während aber das Nervensystem seine Botschaften in in Drüsenzellen
elektrischen Impulsen verschlüsselt über die Nervenfasern In den Drüsenzellen werden die meisten Hormone in gra-
zu den einzelnen Organen schickt, bedient sich das endo- nulärer Form, also wie die synaptischen Transmitter in
krine System chemischer Stoffe, der Hormone, um sich mit Vesikeln gespeichert (Abschn. 4.1.1). In einem solchen
den Erfolgsorganen zu verständigen. Letztere verfügen Vesikel oder Granulum, das durch eine Membran vom
über Rezeptoren (7 unten) für die entsprechenden Hor- Zytoplasma abgetrennt ist, sind viele tausend Hormon-
mone, mit denen sie die chemisch kodierte Nachricht des moleküle eingelagert. Ihre Freisetzung erfolgt durch den
Hormons »lesen« können. Der Unterschied zwischen den Prozess der Exozytose (Abschn. 2.2.1), d. h. die Membran
beiden Systemen liegt also hauptsächlich in der Technik des Granulums verschmilzt mit der äußeren Zellmembran
7 und in der Geschwindigkeit der Informationsübertragung, und entleert ihren Inhalt in den Extrazellulärraum.
die bei der nervösen Übertragung im Millisekundenbe- Ausnahmen bilden die Steroidhormone, z. B. die Kor-
reich, bei der hormonellen aber im Minuten- bis Stunden- tikosteroide, die im Zytoplasma und nicht in Vesikeln ge-
bereich liegt. speichert werden und die Schilddrüsenhormone, die außer-
Endokrines System und autonomes Nervensystem ver- halb der Drüsenzellen in einer gelatinösen Substanz, dem
bindet noch eine weitere Gemeinsamkeit: Beide haben bei Kolloid, gespeichert werden.
aller Vielfalt ihrer unterschiedlichen Einzelaufgaben das
G Hormone werden in endokrinen Drüsenzellen ge-
übergeordnete Ziel, den Körper kontinuierlich an wech-
bildet und dort in Vesikel (Synonym: Granula) ge-
selnde Belastungen anzupassen, also die »Homöostase des
speichert. Aus diesen werden sie exozytotisch frei-
inneren Systems« zu wahren. Dazu gehört, die Zusammen-
gesetzt. Ausnahmen sind die Steroid- und die Schild-
setzung der Extrazellulärflüssigkeit immer dann wieder
drüsenhormone, die im Zytoplasma bzw. im Kolloid
herzustellen, wenn sie von außen gestört worden ist. Dazu
gespeichert werden.
gehört aber auch, sich rechtzeitig auf vorhersehbare Ände-
rungen oder Störungen der Homöostase einzustellen, also
beispielsweise das Herzminutenvolumen schon vor Beginn 7.1.2 Zielorte von Hormonen
einer willkürlichen körperlichen Anstrengung zu erhöhen
(Abschn. 10.6.3), oder schon vor dem morgendlichen Auf- Übliche Zielorte von Hormonen
wachen die Körperorgane in erhöhte Arbeitsbereitschaft Sobald Hormone aus ihren Speicherorten freigesetzt wer-
zu bringen (zirkadiane Periodik, Abschn. 22.3.1). den, diffundieren sie durch die Epithelwand der nächst-
gelegenen Blutkapillaren in das Blut (. Abb. 7.1). Über den
Blutstrom werden sie im gesamten Körper verteilt und
7.1 Allgemeine Endokrinologie können damit alle Körperzellen erreichen, denn sie können
überall die Blutkapillaren auf dem Diffusionsweg wieder
7.1.1 Produktions- und Speicherorte verlassen. Aber nur an ihren Zielorten lösen sie spezifische
von Hormonen Wirkungen aus. Bildungsort und Wirkort der Hormone
sind also in der Regel weit voneinander entfernt.
Drüsenzellen und Drüsen als Produktionsorte Die Hormone tragen also Botschaften von den endo-
Hormone werden in spezialisierten Körperzellen gebildet, krinen Drüsen über den Blutstrom zu den Zellen ihrer Er-
die Drüsenzellen genannt werden. Diese liegen meist als folgsorgane, die nur von diesen Zellen verstanden und
Organe zusammen, nämlich den endokrinen Drüsen (z. B. befolgt werden können. So führt, um ein Beispiel zu nen-
Schilddrüse, Hypophyse), die deswegen endokrin heißen, nen, die Erhöhung der Kalium-Ionenkonzentration im Blut
weil sie keinen speziellen Ausführungsgang besitzen, son- (wir nehmen in der täglichen Nahrung Kalium im Über-
dern die Hormone unmittelbar in das sie durchströ- fluss auf) zu einer Freisetzung des Hormons Aldosteron aus
mende Blut abgeben. Drüsen mit Ausführungsgang, die ein der Nebennierenrinde. Aldosteron veranlasst die Tubulus-
Sekret bilden und absondern, also z. B. die Speichel-, Trä- zellen der Nieren über den in Abschn. 12.3.3 geschilderten
nen- oder Pankreasdrüsen, werden als exokrine Drüsen Mechanismus zu einer erhöhten Kaliumausscheidung im
bezeichnet. Urin.
7.1 · Allgemeine Endokrinologie
119 7

. Abb. 7.3. Ähnlichkeiten und Unterschiede der Wirkwege von


. Abb. 7.1. Wege und Ziele (Rezeptoren) der Hormone. Drei Transmittern, Neuromodulatoren und Hormonen. Eine von einem
Drüsenzellen schütten ihre Hormone A, B bzw. C in das Interstitium Neuron freigesetzte Substanz kann je nach Zielort als Transmitter, als
aus. Die Hormone diffundieren in eine benachbarte Kapillare und Hormon oder als autokrine Substanz dienen (auch eine parakrine Wir-
werden vom Blutstrom zu ihren Zielzellen getragen. Hormon A bindet kung auf präsynaptischen Autorezeptoren ist möglich)
an einen Membranrezeptor, Hormon B an einen Rezeptor im Zyto-
plasma (Zytosol) und Hormon C an einen Rezeptor im Zellkern.
Weitere Erläuterung im Text

dann, wie rechts in . Abb. 7.2 zu sehen, direkt im Extra-


zellulärraum zu den Zielzellen. Diese Wirkung von Hormo-
nen an benachbarten Zellen heißt parakrine Wirkung.
Wirkt das Hormon auf seine Erzeugerzelle zurück, so be-
zeichnet man diese Wirkung, wie ebenfalls in . Abb. 7.2 zu
sehen, als autokrin.

Neurohormonwirkung
Nervenzellen übertragen an den Synapsen ihre erregenden
und hemmenden Wirkungen über die Freisetzung chemi-
scher Substanzen (Neurotransmitter, Neuromodulatoren)
auf die nächste Nerven-, Muskel- oder Drüsenzelle (Einzel-
heiten in Kap. 4). Diese Wirkform gleicht der parakrinen
Hormonwirkung, sie ist aber in der Regel direkter und
wesentlich schneller (. Abb. 4.1 in Abschn. 4.1.1; . Abb. 7.1
und 7.2). Von Nervenzellen produzierte Peptide und Pro-
teine werden z. T. aber auch in die Blutbahn aufgenommen
. Abb. 7.2. Hormonelle, parakrine und autokrine Angriffspunkte
von Hormonen. Die Drüsenzelle A produziert ein Hormon, das auf wie dies . Abb. 7.3 zeigt. Diese Substanzen können daher
dem Blutweg an die Zielzelle gelangt (klassische Hormonwirkung, »klassische« Hormonwirkungen haben. Möglicherweise
7 Abb. 7.1). Die Drüsenzelle B produziert ein Hormon, das benachbarte ist es so, dass große Teile des Zentralnervensystems im
Zielzellen parakrin beeinflusst und gleichzeitig seine eigene Drüsen- klassischen Sinne als hormonproduzierend angesehen
zelle autokrin modifiziert. Das in Zelle B produzierte Hormon wird
werden müssen.
gleichzeitig auch auf dem Blutweg zu weiteren Zielzellen transportiert
G Die Hormone werden nach Freisetzung über den
Parakrine und autokrine Ziele Blutkreislauf zu ihren Zielzellen transportiert. Sie
können aber auch parakrin in ihre unmittelbare
Ein Hormon wird also normalerweise über den Blutstrom
Umgebung und autokrin auf ihre eigenen Drüsen-
zu seinen Zielzellen transportiert wie dies in . Abb. 7.1 und
zellen wirken. Auch viele Neurone des ZNS produ-
links in . Abb. 7.2 illustriert ist. Es kommt aber auch vor,
zieren Hormone.
dass die Hormonbotschaft von Zellen »gelesen« werden
kann, die in unmittelbarer Nachbarschaft zu den hormon-
produzierenden Zellen liegen. Das Hormon diffundiert
120 Kapitel 7 · Endokrine Systeme (Hormone)

7.1.3 Zelluläre Angriffspunkte


von Hormonen

Hormonrezeptoren in der Zellmembran


Fast alle Körperzellen können über einige oder mehrere
Hormone angesprochen werden, d. h. sie besitzen für diese
Hormone entsprechende Rezeptoren (die entsprechenden
Ausführungen zum Rezeptorkonzept in Abschn. 4.3.1).
Diese Rezeptoren können an drei verschiedenen Stellen der
Zelle lokalisiert sein.
Zum einen sitzen die Hormonrezeptoren in der Zell-
membran. Dort können die Hormone die Zellen am besten
erreichen (Hormon A in . Abb. 7.1). Hormone, die nicht
fettlöslich sind, haben ohnehin keine andere Wirkmöglich-
keit, da sie die Plasmazellmembran nicht durchdringen und
in das Zellinnere gelangen können.
Sobald sich ein Hormon mit seinem Rezeptor in der
Plasmamembran verbunden hat, kann seine Nachricht . Abb. 7.4. Wirkung eines Hormons mit intrazellulärem Rezeptor
7 »gelesen« werden. In der Regel wird die Nachricht über bio- (im Zytoplasma oder im Zellkern). Das Hormon diffundiert durch
die Plasmazellmembran und bindet sich an den Rezeptor. Der Hor-
chemische Mechanismen in das Zellinnere weitergeleitet, mon-Rezeptor-Komplex wird dann in den Kern transloziert (bzw. be-
und zwar über die Aktivierung eines zweiten Botenstoffes findet sich dort) und beeinflusst die DNA-Synthese des Zellkerns.
oder second messengers. Dieser Weg wurde bereits an Damit wird die Transkriptionsrate der genetischen Information zu
einem häufigen second messenger, nämlich dem zykli- messenger-RNA (mRNA) verändert. Dies bewirkt eine veränderte
schen Adenosinmonophosphat, cAMP, in . Abb. 2.7 (Ab- Eiweißsynthese über den Prozess der Translation. Die Folge ist eine
veränderte Zellfunktion
schn. 2.2.2) illustriert und ausführlich besprochen (dort
wird statt des Begriffs Hormon der noch allgemeinere
Begriff externes Signal verwendet). Auf diesem Wege Hormonrezeptoren im Zellkern
können, je nach Hormon und Zielzelle, die vielfältigsten Schließlich finden sich Hormonrezeptoren in den Zell-
Zellreaktionen ausgelöst werden. kernen (Hormon C in . Abb. 7.1) Diese Zellkernrezepto-
Ein Teil der Membranrezeptoren, v. a. die katecholami- ren sind praktisch ausschließlich Rezeptoren der nieder-
nergen, metabotropen Rezeptoren (Abschn. 4.3.3) für molekularen Schilddrüsenhormone, die die Plasmazell-
Noradrenalin (überwiegend als Transmitter freigesetzt) membran leicht durchdringen können (Abschn. 7.3.4).
und Adrenalin (überwiegend als Hormon aus dem Neben- Die Wirkweise eines Hormons mit einem intra-
nierenmark freigesetzt), führen bei ihrer Aktivierung zum zellulärem, also einem zytoplasmischen oder nukleären
Öffnen von Ionenkanälen und dadurch bedingten Ionen- Rezeptor, besteht darin, dass in beiden Fällen im Zellkern
flüssen über die Membran. eine Wirkung auf die Eiweißsynthese der Zelle ausgeübt
wird. Mit anderen Worten, der intrazelluläre Hormon-
G Hormone müssen sich wie synaptische Transmitter
rezeptorkomplex beeinflusst direkt die Expression gene-
mit Rezeptoren verbinden, um ihre Wirkungen zu
tischer Information, d. h. er übt selbst eine direkte Wirkung
entfalten. Bindung an membranständige Rezepto-
auf die DNA-Synthese aus. Der in Abschn. 2.1.3 ange-
ren hat vielfältige Folgen, die über Ketten sekundä-
sprochene Vorgang der Eiweißsynthese kann also im Zell-
rer Botenstoffe vermittelt werden.
kern über Hormonrezeptorkomplexe an- und abgeschaltet
werden.
Hormonrezeptoren im Zytoplasma
G Bindung von Hormonen an Rezeptoren im Zyto-
Hormonrezeptoren finden sich auch im Zytoplasma
plasma (z. B. Kortikoide, Androgene) und im Zellkern
(Synonym: Zytosol, Abschn. 2.1.2) der Zellen (Hormon B
(z. B. Schilddrüsenhormone) verändert die Expres-
in . Abb. 7.1 und Abb. 7.4). Diese im Zellinneren wirkenden
sion (Synthese) der Zellproteine.
Hormone müssen fettlöslich sein, um die Plasmazellmem-
bran durchdringen zu können (7 unten). An die Zytoplas-
marezeptoren binden sich hauptsächlich Hormone aus der 7.1.4 Chemische Struktur, Synthese
chemischen Gruppe der Lipide (z. B. die Kortikoidhormone und Abbau von Hormonen
der Nebennierenrinde oder die Androgene der Sexual-
drüsen). Fettunlösliche Hormone aus Aminosäuren
Obwohl alle Hormone der Informationsübertragung im
Organismus dienen, also die gleiche Aufgabe erfüllen, ge-
7.1 · Allgemeine Endokrinologie
121 7

hören sie chemisch unterschiedlichen Substanzklassen an, Lipophile (fettlösliche) Hormone


die sich wie folgt gruppieren lassen: Die zweite große Substanzklasse wird von den lipophilen
Die aus mehreren bis zahlreichen Aminosäuren aufge- Hormonen gebildet, die aufgrund ihrer Fettlöslichkeit
bauten Peptid- und Proteinhormone bilden die Mehrzahl durch die Plasmazellmembran diffundieren können. Hier-
aller Hormone. Sie sind wenig fettlöslich und können daher zu gehören die aus Cholesterin synthetisierten Steroid-
die Plasmazellmembran nicht passieren. Ihre Rezeptoren sit- hormone sowie Abkömmlinge der Arachidonsäure, einer
zen auf der Oberfläche der Plasmazellmembran (. Abb. 7.1, ungesättigten Fettsäure.
Hormon A). Zu den Steroiden zählen unter anderem das Kortisol
Wie bei anderen Eiweißkörpern auch, erfolgt die Bil- aus der Nebennierenrinde und das männliche Geschlechts-
dung dieser Hormone im Golgi-Apparat (eine Zellorganelle, hormon Testosteron. Prostaglandine und Leukotriene, die
Abschn. 2.1.2) der endokrinen Drüsenzellen. Das Hormon als Entzündungsmediatoren wirken, sind hingegen Ab-
wird jedoch bei den meisten nicht in der biologisch wirksa- kömmlinge der Arachidonsäure.
men Form gebildet, sondern als höhermolekulares Vorläu-
fermolekül. Aus dieser sog. Präproform des Hormons wird Hormone aus der Aminosäure Tyrosin
das eigentliche Hormon in einem nächsten Schritt enzyma- Aus der Aminosäure Tyrosin werden in mehreren Synthese-
tisch abgetrennt. Anschließend wird es, wie oben gesagt, bis schritten, die in . Abb. 4.8 illustriert wurden, die Katecho-
zu seiner Ausschüttung in Granula gespeichert. lamine gebildet, die als Transmitter und Hormone dienen
(Abschn. 4.3.1 und 6.1.3).
G Die meisten Hormone sind aus Ketten von Amino- Die Schilddrüsenhormone haben ebenfalls als Aus-
säuren aufgebaut, sie sind also Peptide (kurze Ketten gangspunkt ihrer Synthese das Tyrosin. Aus je 2 Molekülen
von Aminosäuren) oder Proteine (lange Ketten). Sie Tyrosin und unter der Anlagerung von Jod entstehen sie auf
sind nicht fettlöslich. Ihre Rezeptoren sind in die einem komplexen Syntheseweg (wird in Abschn. 7.3.4 be-
Zellmembran eingebettet. schrieben). Sie sind fettlöslich und dringen gut durch die

Box 7.1. Methoden zum Nachweis von Hormonen

Am Beginn der modernen Hormonforschung standen


1848–1849 Experimente des Göttinger Physiologen
Arnold Adolph Berthold an kastrierten Hähnen. Es war
damals bekannt, dass Hähne nach der Kastration den ge-
schwollenen Hahnenkamm verlieren, keine Kopulationen
mehr durchführen, nicht mehr krähen und weniger ag-
gressives Verhalten zeigen. Dies wurde auf nervöse Ver-
bindungen zwischen Hoden und Gehirn zurückgeführt.
Berthold reimplantierte einen der entfernten Hoden in
die Bauchhöhle, worauf der Hahnenkamm geschwollen
blieb und die Tiere weiterhin das typische Verhalten von
Hähnen zeigten. Die dafür verantwortlichen Signale aus
dem Hoden mussten also auf dem Blutwege (humoral)
in das Gehirn bzw. zum Hahnenkamm gelangen. Diese
Experimente waren der Ausgangspunkt der experimen-
tellen Endokrinologie und Psychoendokrinologie (drei
der vier von Berthold genannten Parameter – Krähen,
Kopulation und Aggression – beschreiben Verhalten).
Auch heute werden vergleichbare biologische Nach-
weismethoden oder Bioassays weiter eingesetzt. Arnold Adolph Berthold (1803–1861)
Wesentlich feiner als das Messen von biologischen
Wirkungen an Tiermodellen sind immunologische Nach- (RIA). Hier bindet sich der Probe beigegebenes radioaktiv
weismethoden, die darauf beruhen, dass gegen prak- markiertes Hormon in Konkurrenz mit dem zu bestimmen-
tisch jedes Hormon spezifische Antikörper (Abschn. 9.1.3) den Hormon an die Antikörper. Aus der Menge der an die
hergestellt werden können. Bei diesen Tests, z. B. einigen Antikörper gebundenen Radioaktivität lässt sich dann sehr
Schwangerschaftstests, wird der Hormon-Antikörper- genau auf die zu messende Hormonmenge schließen (je
Komplex ausgefällt (d. h. zum Gerinnen gebracht) und mehr der ausgefällte Hormon-Antikörper-Komplex radio-
dann seine Menge bestimmt. Eine besonders genaue aktiv strahlt, desto weniger zu messendes Hormon war in
immunologische Methode ist der Radioimmunoassay der Probe).
122 Kapitel 7 · Endokrine Systeme (Hormone)

Zellmembran in alle Körperzellen ein, um sich mit den im


Zellkern lokalisierten Rezeptoren zu verbinden.

Abbau der Hormone


Der Abbau der Hormone erfolgt auf zwei Wegen. Erstens
gibt es in den verschiedensten Körperorganen, besonders in
der Leber und in den Nieren, eine Reihe von Enzymsyste-
men, die die »vorbeischwimmenden« Hormone in unwirk-
same Teile aufspalten. Dies gilt nicht nur für solche Mole-
küle, die nie mit einem Rezeptor verbunden waren, sondern
auch für solche, die sich aus dieser (immer reversiblen)
Bindung wieder gelöst hatten. Zweitens wird ein Teil der
Hormone nach seiner Rezeptorbindung in der Zelle ab-
gebaut.
. Abb. 7.5. Vereinfachte und schematisierte Darstellung eines
G Die lipophilen Hormone werden entweder aus hormonellen Regelkreises. Der Sollwert wird dem Regler vorgege-
ben, der die endokrine Drüse zur Hormonsekretion veranlasst. Wenn
Cholesterin oder aus der Arachidonsäure gebildet.
Störgrößen das vom sezernierten Hormon geregelte System aus dem
Tyrosin ist der Ausgangspunkt für die Katecholamine Gleichgewicht (der Homöostase) bringen, also die Regelgröße ver-
7 und die Schilddrüsenhormone. Alle Hormone ändern, wird dies über Rezeptoren, den Fühlern des Regelkreises,
werden durch enzymatische Spaltung abgebaut (in dem Regler mitgeteilt, der daraufhin eine Änderung (Zu- oder Abnah-
Leber, Niere oder am Wirkort). me) induziert

7.1.5 Hormone als Teile von Regelkreisen G Geschlossene Regelkreise dienen im menschlichen
Organismus zur Aufrechterhaltung der Homöostase.
Grundbegriffe der Regelungslehre Dazu wird die Führungsgröße (Sollwert) mit der tat-
Viele, wenn nicht die meisten Aktivitäten der endokrinen sächlichen Messgröße (Istwert) verglichen und jede
Systeme und des mit ihnen Hand in Hand arbeitenden Abweichung über ein Stellglied korrigiert.
autonomen Nervensystems sind eingebunden in Regula-
tions- oder Regelungsvorgänge, die als biologische Balance- Unterschied zwischen Regelung und Steuerung
akte dazu dienen, die »Ordnung im Hause«, sprich die Das wesentliche Merkmal der Regelung ist nach dem eben
Homöostase, aufrecht zu erhalten. Solche biologischen gesagten der geschlossene Regelkreis, der so aufgebaut
Regelungsvorgänge lassen sich durch die Regelungslehre (gepolt) ist, dass jede Störung der Regelgröße automatisch
beschreiben. und möglichst vollständig korrigiert wird. Ein solcher,
Die regelungstechnischen Grundbegriffe lassen sich den Einfluss der Störgröße kompensierender Vorgang wird
am Beispiel einer Raumtemperaturregelung erläutern, bei negative Rückkopplung genannt.
der die Raumtemperatur konstant gehalten werden soll. Lässt man die negative Rückkopplung wegfallen, z. B.
Sie ist also die Regelgröße (vergleiche die entsprechenden indem man auf die Rückmeldung der Ist-Temperatur an
Begriffe mit der vereinfachten Darstellung eines hormo- die Heizungsanlage verzichtet, spricht man von Steue-
nellen Regelkreis in . Abb. 7.5). Die gerätetechnische Ein- rung. Durch Steuerung kann zwar eine im voraus be-
richtung, an der dies geschieht, ist das Zimmer mit seiner kannte Störung kompensiert werden, beispielsweise ein
Heizung, die Regelstrecke. Ein Thermometer misst als erhöhter Heizungsbedarf bei Ankündigung eines Kälte-
Fühler die tatsächliche Raumtemperatur, den Istwert. Diese einbruchs, jedoch nicht wechselnde und unvorhersehbare
wird im Thermostat, dem Regler, mit der vorgewählten Störungen. Die Regelung ist also der Steuerung in ihrer
Temperatur, der Führungsgröße, verglichen, die den ge- Anpassungsfähigkeit an wechselnde Störgrößen weit über-
wünschten Sollwert der Regelgröße Raumtemperatur dar- legen.
stellt.
Haben Istwert und Sollwert unterschiedliche Werte, Dimensionierung des Regelkreises, Verstellung
liegt eine Regelabweichung vor. Daraus wird vom Regler durch Lernen
die Stellgröße berechnet, die über das Stellglied, nämlich Den Eigenschaften der einzelnen Anteile des Regelkreises
den Ofen mit seiner veränderlichen Brennstoffzufuhr, so kommen für das Verhalten des Regelkreises als Ganzes
lange korrigierend auf die Regelgröße Raumtemperatur große Bedeutung zu. Hier sei nur die Verstärkung des
einwirkt, bis Istwert und Sollwert übereinstimmen. Alle Reglers betrachtet, gewissermaßen die »Heftigkeit«, mit
Einflüsse auf die Regelgröße, die Abweichungen vom Soll- der der Regler auf eine Änderung der Regelgröße reagiert.
wert verursachen, hier v. a. die verschiedenen Formen der Ist die Verstärkung klein, so wird der Regelkreis nur
Wärmeverluste, werden Störgrößen genannt. langsam und bedächtig auf eine Störung antworten. Dies
7.2 · Pankreashormone
123 7

mag für manche Regelkreise, wie beispielsweise die Lang-


zeitkontrolle des Blutdrucks, ausreichen.
Ist die Verstärkung groß, wird zwar die Regelung besser,
aber sobald sie zu kräftig einsetzt, läuft sie leicht über den
angepeilten Sollwert hinaus. Daraufhin setzt prompt der
umgekehrte Regelvorgang ein, der wiederum über sein Ziel
hinausschießt. Solche ungedämpften Regelschwingungen
werden in der Motorik bei Ausfall hemmender Schaltkreise
als Zittern (Tremor) sichtbar, beispielsweise als Ruhezittern
bei der Parkinson-Erkrankung oder als Bewegungszittern
bei Kleinhirnstörungen (Abschn. 13.7.1).
Darüber hinaus können beträchtliche Änderungen des
Sollwerts durch Lernen erzielt werden: Beispielsweise kann
ein Mensch im Experiment lernen, in einer physischen
Belastungssituation (z. B. Ergometrie) seine Herztätigkeit
zu verlangsamen, obwohl der Regelkreis eine Anhebung
der Herzrate herstellen müsste. Regelkreise können also
durch Lernprozesse (Kap. 25) erheblich aus dem homöosta-
tischen Gleichgewicht oder wieder ins Gleichgewicht ge-
bracht werden.
G Regelung kompensiert die Störgröße automatisch
(über negative Rückkopplung). Dieser Automa-
tismus fehlt bei der Steuerung. Eine kleine Regler-
verstärkung macht den Regelkreis träge, eine große
neigt zum Schwingen um den Sollwert. Sollwerte
können durch Lernen verstellt werden.

7.2 Pankreashormone

7.2.1 Produktion, Struktur und Wirkung


der Pankreashormone

Endokrine Drüsenzellen des Pankreas . Abb. 7.6a–c. Regelung des Blutglukosespiegels durch die Hor-
In der Bauchspeicheldrüse (dem Pankreas) liegen Gruppen mone Insulin und Glukagon. a Verlauf des Blutglukosespiegels bei
einer gesunden Versuchsperson nach einem Glukosetrunk (100 g Glu-
von einigen tausend endokrinen Drüsenzellen als Langer-
kose, Glukosebelastungstest). Der Glukosespiegel steigt rasch auf das
hans-Inseln eingestreut in das Verdauungssaft produzieren- Doppelte des Ruhewertes an. b Reaktion des Insulinspiegels auf die
de exokrine Drüsengewebe (Abschn. 12.2.3). Etwa 60% Glukosebelastung: Er steigt mit kurzer Verzögerung auf das Mehr-
dieser endokrinen Drüsenzellen (die B-Zellen) produzieren fache des Kontrollspiegels an. c Abhängigkeit des Glukagonspiegels
das Hormon Insulin, etwa 25% (die A-Zellen) produzieren im Blut von Blutzuckerspiegel. Unter Normalbedingungen und bei
Hyperglykämie ist die Glukagonkonzentration im Blut niedrig; sie
das Hormon Glukagon, und die restlichen 15% (die D-Zel-
steigt bei hypoglykämischen Zuständen deutlich an
len) produzieren das Hormon Somatostatin. Alle 3 Hormo-
ne sind Polypeptide, also Ketten von Aminosäuren.
In der Bauchspeicheldrüse führt nämlich Ansteigen
Freisetzung und Wirkungen des Insulins des Glukosespiegels zur Freisetzung des Hormons Insulin
Nehmen wir an, wir trinken ein großes Glas Limonade, das aus den B-Zellen (zum zellulären Mechanismus 7 unten).
mit einigen Löffeln Traubenzucker (Glukose, Dextrose) Entsprechend steigt seine Konzentration im Blut an
gesüßt ist. Da Traubenzucker diejenige Zuckerform ist, die (. Abb. 7.6b). Das Insulin sorgt dafür, dass jedes Zuviel an
ohne weitere Verdauung durch die Darmwandzellen in das Glukose aus dem Blut verschwindet, es erhöht nämlich in
Blut diffundiert, wird kurz darauf die Glukosekonzentration nahezu allen Körperzellen den Glukoseverbrauch und regt
des Blutes (der »Glukosespiegel«) ansteigen (. Abb. 7.6a). v. a. die Leberzellen dazu an, Glukose in einer chemisch
Dieser Anstieg würde sich fortsetzen, wäre nicht durch einen anderen Form, nämlich als Glykogen, zu speichern. Außer-
Regelprozess dafür gesorgt, dass der normale Glukosespie- dem löst Insulin eine vermehrte Fettspeicherung in den
gel von 80–100 mg pro 100 ml Blut (also 0,8–1 g/l) alsbald Fettzellen aus, womit weitere Energie »aus dem Markt ge-
wieder erreicht wird. nommen« wird.
124 Kapitel 7 · Endokrine Systeme (Hormone)

G Bei Anstieg des Blutglukosespiegels über seinen


Sollwert (80–100 mg/dl) wird aus den B-Zellen der
Langerhans-Inseln solange Insulin freigesetzt, bis
der Sollwert durch Insulin-induzierte Speicherung
der Glukose als Glykogen (v. a. in der Leber) wieder
erreicht ist.

Freisetzung und Wirkungen des Glukagons


Mit dem eben geschilderten Regelkreis allein lässt sich aber
ein konstanter Blutzuckerspiegel nicht aufrechterhalten.
Denn ohne eine weitere Regelung würde die Blutglukose
zwischen den Mahlzeiten sehr rasch abnehmen. Dies würde
die Energieversorgung aller Zellen, besonders der Gehirn-
zellen gefährden, für die die Glukose die alleinige Energie-
quelle bildet. So nimmt es nicht Wunder, dass bei Absinken
des Blutzuckers unter 50 mg pro 100 ml Blut, Hypoglykä-
mie genannt, deutliche Zeichen nervöser Störung auftreten,
v. a. Schweißausbrüche, Herzjagen, Zittern, Heißhunger
7 und eine allgemeine innere Unruhe und Erregung.
Um eine Hypoglykämie zu verhindern, führt normaler-
weise jedes Absinken des Blutglukosespiegels nicht nur zu
einer Hemmung der Insulinfreisetzung, sondern gleichzei-
tig zur vermehrten Freisetzung von Glukagon (. Abb. 7.6c).
Dieses Hormon der A-Zellen der Langerhans-Inseln stellt
den direkten Gegenspieler des Insulins dar. Hauptziel-
organ des Glukagons ist die Leber. Dort sorgt es dafür, dass
das Glykogen wieder in Glukose umgewandelt und in das . Abb. 7.7a, b. Regulation der Hormonfreisetzung aus den Insel-
Blut abgegeben wird. Zusätzlich, v. a. wenn die Glykogen- zellen des Pankreas. a Mechanismus der Freisetzung von Insulin aus
speicher erschöpft sein sollten, regt es in der Leber die den B-Zellen. Erläuterung im Text. b Substanzen, die auf die verschie-
denen Inselzellen erregend oder hemmend wirken, sind links ange-
Glukoneogenese an, also die Umwandlung von Aminosäu-
ordnet. Rechts ist illustriert, dass sich die Inselzellen in ihrer Aktivität
ren in Glukose. gegenseitig negativ rückkoppelnd beeinflussen. Die Fragezeichen
deuten an, dass die Rolle des Somatostatins noch kontrovers disku-
Wirkungen des Somatostatins tiert wird
Dieses Peptid wird von den D-Zellen der Langerhans-Inseln
produziert. Es wirkt unmittelbar auf die benachbarten Zelluläre Mechanismen der Hormonfreisetzung
A- und B-Zellen hemmend ein (. Abb. 7.7b). Es hat also aus den Inselzellen
eine hemmende parakrine Wirkung. Welche physiolo- . Abb. 7.7a illustriert den Mechanismus der Freisetzung
gische Relevanz diese hemmende Wirkung hat, ist noch von Insulin (einem Polypeptid aus 51 Aminosäuren) aus
offen. Extrapankreatisch hemmt Somatostatin die Kontrak- den B-Zellen des Pankreas. Vermehrte Aufnahme von
tionen des Magen-Darm-Traktes und der Gallenblase und Glukose (aktiv über den Glukosetransporter GLUT2) be-
die Freisetzung der Verdauungssäfte. Damit wird die Ver- wirkt eine verstärkte Synthese von ATP. Dies führt zum
dauung und Resorption der Nahrungsmittel verlangsamt. Verschluss eines ATP-sensitiven Kaliumkanals und damit
Diese Effekte führen insgesamt dazu, dass die gesamte Ver- zur Abnahme des Membranpotenzials. Daraufhin öffnen
dauungsaktivität verlangsamt und dadurch ein zu starkes sich spannungsabhängige Kalziumkanäle und die ein-
Ansteigen des Blutglukosespiegels verhindert wird. strömenden Kalziumionen stimulieren die exozytotische
Insulinausschüttung.
G Bei Abfall des Blutglukosespiegels unter seinen Soll-
Die Freisetzung von Insulin durch erhöhte Blutglukose-
wert (80–100 mg/dl) wird aus den A-Zellen der
konzentration ist der wichtigste, aber nicht der einzige Frei-
Langerhans-Inseln solange Glukagon freigesetzt,
setzungsmechanismus. Dies ist in . Abb. 7.7b illustriert, die
bis der Sollwert durch Glukagon-induzierte Um-
außerdem zeigt, welche Substanzen an den A-, B- und D-
wandlung von Glykogen (v. a. aus der Leber) in
Zellen zur Freisetzung führen und welche die Freisetzung
Glukose wieder erreicht ist.
hemmen. Zusätzlich ist angegeben, dass die hormonprodu-
zierenden Zellen sich auch wechselseitig negativ rückkop-
pelnd beeinflussen, also offensichtlich in großmaschige
Regelkreise eingebunden sind.
7.2 · Pankreashormone
125 7

G Vermehrte Glukoseaufnahme in die B-Zellen er- 4 Auch Körpereiweiß wird vermehrt abgebaut, teils als
höht die zelluläre ATP-Konzentration. Dies ver- Energieersatz für die reichlich vorhandene, aber nicht
schließt einen ATP-sensitiven K+-Kanal und die re- nutzbare Glukose, teils weil das Fehlen des Insulins
sultierende Depolarisation öffnet einen Ca++-Kanal, den Wiederaufbau des in den täglichen Zellumbaupro-
was zur exozytotischen Freisetzung von Insulin zessen verbrauchten Eiweißes verhindert.
führt.
G Insulinmangel führt zur Zuckerkrankheit (Diabetes
mellitus) mit schweren Störungen nicht nur im
7.2.2 Zuckerkrankheit (Diabetes mellitus) Kohlenhydrat-, sondern auch im Fett- und Eiweiß-
bei versagendem Regelkreis stoffwechsel.

Primärstörung bei Diabetes mellitus Akute Symptome und Langzeitfolgen


Diabetes mellitus (zur Namensgebung 7 unten) ist ein Sam- des Diabetes mellitus
melbegriff für eine Gruppe von chronischen Krankheiten Praktisch alle Symptome der Zuckerkrankheit sind Folgen
des Kohlenhydratstoffwechsels, deren gemeinsames Cha- dieser drei Grundstörungen. Zu diesen Symptomen zählen
rakteristikum eine Hyperglykämie, also ein zu hoher Blut- insbesondere Polyurie und Polydipsie, d. h. vermehrte Urin-
zuckerspiegel ist. Die 2 Hauptformen sind: ausscheidung und vermehrtes Trinken. Dies kommt daher,
4 Typ-1-Diabetes mellitus, dem ein völliger Ausfall der dass oberhalb eines Blutglukosespiegels von 200 mg/100 ml
B-Zellen zu Grunde liegt, der zum absoluten Insulin- ein Teil der Glukose in den Harn ausgeschieden wird
mangel führt. Er tritt meist schon im jugendlichen Alter (Glukosurie, Abschn. 12.3.2). Die Glukose im Urin erhöht
auf und kann nur durch Gaben von Insulin therapiert wegen ihrer starken osmotischen Wirkung die Gesamt-
werden (»juveniler Diabetes«). harnmenge (osmotische Diurese, Abschn. 12.3.4). Es
4 Typ-2-Diabetes mellitus, der teils durch eine vermin- kommt zu einer unfreiwilligen Entwässerung mit entspre-
derte Insulinsekretion, teils durch eine verminderte chend vermehrtem Durst. Auch der Name Diabetes melli-
Insulinwirkung an den Zielgeweben (Insulinresistenz) tus bedeutet nichts anderes als »süße Harnruhr«, also eine
bedingt sein kann. Er tritt meist im mittleren bis höhe- vermehrte Harnmenge, die süß schmeckt.
ren Alter auf (»Altersdiabetes«). Beim unbehandelten Insulinmangel kommt es zum
Auftreten von sauren Stoffwechselprodukten, die als Keton-
Während der Typ-1-Diabetes vielfältige immunologische körper bezeichnet werden, Sie erschöpfen sehr bald die-
Ursachen hat, ist der Typ 2 eine Krankheit, die sich (teil- jenigen Regelkreise, die den Säurespiegel des Blutes kon-
weise familiär gehäuft, d. h. genetisch mitbedingt) bei stant halten. Es resultiert eine Übersäuerung (Azidose), die
immer mehr Menschen, Schätzungen gehen bis deutlich unbehandelt zu einem akut lebensbedrohenden Schock-
über 10% der mittleren und höheren Altersgruppen, be- zustand führt, dem diabetischen Koma (Box 7.2).
merkbar macht. Dies ist v. a. auf das reiche Nahrungsan- Mittel- bis langfristig führen die Störungen des Fett-
gebot, die dadurch veränderten Essgewohnheiten (Über- stoffwechsels als Folge der Arteriosklerose zu Durchblu-
gewicht, Adipositas) und die vielfach sitzende Lebensweise tungsstörungen aller Art, die zu Nierenversagen (Diabetes
verursacht. ist für die meisten Dialysen verantwortlich), Blindheit
(häufigste Ursache der Blindheit in Deutschland) und Am-
Stoffwechselstörungen bei Insulinmangel putationen (Füße, Beine) führen können. Auch das Risiko,
Es ist außerordentlich eindrucksvoll, welche mannigfal- einen Herz- oder Hirnschlag zu erleiden, ist stark erhöht.
tigen, tief greifenden und schließlich lebensbedrohenden An den peripheren Nerven kommt es zu Störungen der
Störungen beim Ausfall eines einzigen hormonellen Regel- Erregungsleitung und zur Spontanaktiviät, was zu Miss-
kreises auftreten können. Fehlt genügend Insulin oder be- empfindungen (z. B. Kribbeln), Sensibilitätsausfällen
steht eine Insulinresistenz, so hat dies für den Organismus (taube Füße) und eventuell zu Spontanschmerzen von
drei Hauptnachteile: brennendem Charakter, besonders der Füße führt. Dies
4 Es verringert sich die Aufnahme von Glukose und wird als diabetische Poylneuropathie bezeichnet. Auch
deren Verwendung als Energiequelle durch die Zellen. autonome Nerven können betroffen sein (z. B. Störungen
Der Blutzuckerspiegel steigt dabei auf Werte bis zu des Magen-Darm-Trakts, erektile Impotenz).
300–1200 mg pro 100 ml Blut.
4 Fett wird in großem Umfang aus den Fettdepots des G Akute Symptome eines Diabetes mellitus sind Poly-
Körpers mobilisiert, um an Stelle von Glukose als Ener- dipsie durch Polyurie und das Auftreten von Keton-
gielieferant zu dienen. Es kommt zu Störungen des körpern. Mittel- bis langfristig kommt es zu früh-
Fettstoffwechsels, v. a. auch zur vermehrten Ablage- zeitiger Arteriosklerose mit vielfältigen Folgen
rung von Fett in den Gefäßwänden, also einer schnell (z. B. Nierenversagen, Blindheit) und zur diabeti-
fortschreitenden Arteriosklerose. schen Polyneuropathie.
126 Kapitel 7 · Endokrine Systeme (Hormone)

Behandlung der Zuckerkrankheit 7.3 Das hypothalamisch-


Beim völligen Versagen der Insulinproduktion, also beim hypophysäre Hormonsystem
Typ-1-Diabetes mellitus, muss der ausgefallene Regelvor- und seine Zielorgane
gang durch einen Steuervorgang, nämlich die Injektion
von Insulin, ersetzt werden. Dem Patienten wird dabei ge- 7.3.1 Überblick über die Hormone des hypo-
rade so viel Insulin zugeführt, dass sich sein Glukose- und thalamisch-hypophysären Systems
damit auch sein Fettstoffwechsel normalisieren. Dies setzt
voraus, dass über eine entsprechende Diät auch die Kohlen- Hormone des Hypothalamus
hydratzufuhr genau eingestellt und absolut konstant gehal- Der Hypothalamus, dessen Kerngruppen und Fasersys-
ten wird. Denn wie jede Steuerung, so kann auch diese nur teme in Abschn. 5.2.1 und dessen Beziehung zum limbi-
vorhersehbare Störgrößen kompensieren. schen System im Abschn. 5.2.3 bereits skizziert wurden, ist
Ist, wie meist beim Typ-2-Diabetes mellitus, eine In- das wichtigste zentralnervöse Zentrum für die Steuerung
sulinteilproduktion erhalten, wird man solange als möglich aller vegetativen Funktionen und für deren Koordination
versuchen, die eingeschränkte Leistungsfähigkeit des Re- mit den übrigen Aktivitäten des Organismus. Diese Aufga-
gelkreises durch eine Verringerung des Störgrößenein- ben nimmt der Hypothalamus u. a. mit Hilfe von 7 Neuro-
flusses, sprich durch eine diätetische Beschränkung der hormonen wahr, also von Hormonen, die in dafür speziali-
Zufuhr von Glukose und anderen Kohlenhydraten (die im sierten Nervenzellen gebildet werden. Diese hypothalami-
Darm alle zu Glukose aufgespalten werden, Abschn. 12.2.4), schen (Neuro)Hormone sind in der . Tabelle 7.1 aufgelistet.
7 zu korrigieren. Durch vermehrte Bewegung und Sport Fünf davon regen die Ausschüttung von Hormonen aus
lässt sich auch der Glukosespiegel oft wieder normalisieren, dem Hypophysenvorderlappen (Releasing-Hormone oder
weil der vermehrte Energiebedarf den überflüssigen Zucker Liberine) an, die anderen hemmen dort (Inhibiting-Hor-
abbaut (Abschn. 26.2.5). mone oder Statine). In Abschn. 7.3.2 bis 7.3.5 werden ihre
Genügen diese Maßnahmen nicht, kann durch die Wirkungen im Einzelnen geschildert.
oralen Antidiabetika (Sulfonylharnstoff-Tabletten) eine zu- Um die hypothalamischen Hormone zu ihren Zielzel-
sätzliche Insulinausschüttung aus der Bauchspeicheldrüse len im Hypophysenvorderlappen (HVL) zu transportieren,
angeregt werden. Bei weiter sinkender Insulinproduktion hat der Organismus ein spezielles, in . Abb. 7.8 gezeigtes
ist aber auch auf diese Weise eine ausreichende Regelung Gefäßsystem entwickelt: Ein erstes Kapillarnetz nimmt die
des Blutglukosespiegels nicht mehr möglich und damit die Neurohormone aus den axonalen Terminalen der Drüsen-
Injektion von Insulin erforderlich. Nervenzellen auf und ein dahinter geschaltetes, zweites
Kapillarnetz im HVL bringt die Neurohomone auf dem
G Die Therapie des Diabetes zielt auf eine Normalisie-
schnellsten Wege an ihre hypophysären Zielzellen.
rung des Blutzuckerspiegels. Neben pharmakolo-
gischen spielen psychologische Maßnahmen und
Faktoren (Änderungen des Ess- und Bewegungsver- . Tabelle 7.1. Hypothalamische Releasing- und Inhibiting-
haltens) eine entscheidende Rolle. Hormone

Kurzbe- Name Wirkung


zeichnung* auf
Box 7.2. Bewusstlose Diabetes-Patienten: Releasing-Hormone
Coma diabeticum oder hypoglykämischer Schock?
THR Thyreotropin-Releasing-Hormon TSH
Ein Diabetes-Patient kann aus 2 entgegengesetzten LHRH Luteinisierendes-Hormon-Releasing- FSH und
Gründen sein Bewusstsein verlieren, nämlich zum Hormon (Synonym: GnRH) LH
einen bei schwerem Insulinmangel durch das Auftre- CRH Kortikotropin-Releasing-Hormon ACTH
ten von zuviel Ketonkörpern und daraus resultierender
GHRH Growth-Hormone-Releasing-Hormon GH
Azidose (Übersäuerung des Blutes, 7 oben) und zum (Somatoliberin)
anderen durch zu hohe Insulingaben und das dadurch PRH Prolaktin-Releasing-Hormon PRL
bedingte Absinken des Blutzuckerspiegels unter
Inhibiting-Hormone
50 mg/100 ml Blut (Hypoglykämie). Sowohl Azidose
GHIH Growth-Hormone-Inhibiting-Hormon GH
wie Hypoglykämie führen über Störungen der norma-
(Somatostatin)
len Erregbarkeit der kortikalen Neurone zu Bewusst-
PIH Prolaktin-Inhibiting-Hormon PRL
seinstrübungen und zu anderen zentralnervösen
Funktionseinschränkungen. Die Therapie beider * Es gibt noch keine allgemeinverbindliche Nomenklatur.
Die ursprüngliche und unverbindliche Bezeichnung der
Schockzustände muss natürlich genau entgegen-
Hormone mit »Faktor« kommt noch in den alternativ
gesetzt erfolgen, hohe Gaben von Insulin im ersteren, gebrauchten Kurzformen wie CRF (statt CRH), PIF (statt PIH)
Traubenzuckerinfusion im zweiten Fall. zum Ausdruck
7.3 · Das hypothalamisch-hypophysäre Hormonsystem und seine Zielorgane
127 7

ADH und Oxytozin werden nicht im Hypothalamus frei-


gesetzt, sondern über axonalen Transport (Abschn. 2.3.3) von
ihren Bildungszellen im Soma der Neurone in deren präsy-
naptische Endigungen befördert und dort gespeichert. Der
HHL wird daher auch Neurohypophyse genannt. Trotz ihrer
Bildung im Soma der hypothalamischen Neurone werden
ADH und Oxytozin wegen ihrer Speicherung im und Freiset-
zung aus dem HHL als hypophysäre Hormone bezeichnet.
Im HHL bilden die präsynaptischen Endigungen Sy-
napsen auf Blutkapillaren, so dass bei Einlaufen eines Ak-
tionspotenzials aus dem Hypothalamus ADH oder Oxyto-
zin unmittelbar in das Blut abgegeben werden.
G ADH und Oxytozin werden im Soma hypothalami-
scher Neurone produziert und in deren präsynap-
tischen Endigungen im HHL (Neurohypophyse)
gespeichert. Ihre synaptische Freisetzung erfolgt un-
mittelbar ins Blut.

Hormone des Hypophysenvorderlappens


Der vordere Anteil der Hirnanhangsdrüse, der Hypophy-
senvorderlappen (HVL), wird auch Adenohypophyse ge-
nannt. Er produziert und speichert sechs lebenswichtige
Hormone. Vier der Hormone des HVL haben als Zielorgan
jeweils eine Drüse. Sie heißen daher glandotrope Hormone
oder Steuerhormone.
. Abb. 7.8a–c. Überblick über Lage und Aufbau des hypothala-
misch-hypophysären Systems. a Lage von Hypothalamus und Hypo-
Die beiden anderen wirken nicht auf Drüsen, sondern
physe an der Schädelbasis des Menschen. Als Maßstab sei angemerkt, auf andere Organsysteme bzw. den gesamten Organismus.
dass der Hypothalamus ein Gewicht von etwa 5 g, die Hypophyse von Diese beiden nichtglandotropen Hormone werden daher
etwa 0,5 g hat. b Die Kerngebiete der hormonproduzierenden auch Effektorhormone genannt (. Tabelle 7.2). . Abb. 7.9
(neurosekretorischen) Zellen des Hypothalamus und ihre Verbindungen
und 8.8 (Abschn. 8.3.1) geben einen Überblick über das hy-
zum portalen Kapillarnetz der Adenohypophyse und zur Neurohypo-
physe. c Anteile der Hypophyse, ihre Lagebeziehungen zueinander, ihre
pothalamisch-adenohypophysäre System.
Gefäßversorgung und die Endigungsgebiete der hypothalamischen
Axone. Die Adenohypophyse wird auch als Hypophysenvorderlappen,
HVL, die Neurohypophyse als Hypophysenhinterlappen, HHL, be-
zeichnet. Die Adenohypophyse produziert und speichert 6 Hormone . Tabelle 7.2. Hypophysenvorderlappenhormone
(. Tabelle 7.2). Ihre Freisetzung wird von Neurohormonen aus dem Nu-
cleus infundibularis gesteuert, die über das hintereinandergeschaltete
Kurzbe- Name Wirkung auf
Doppelkapillarnetz als Releasing- und Inhibiting-Hormone (. Tabelle
zeichnung
7.1) den HVL erreichen. In der Neurohypophyse werden 2 Hormone ge- Glandotrope Hormone
speichert, und zwar in den präsynaptischen axonalen Verdickungen der
ACTH Adrenokortikotropes Hormon Nebennieren-
die Hormone produzierenden hypothalamischen Neurone (Text)
(Synonym: Kortikotropin rinde
TSH Thyreoidea-stimulierendes Schilddrüse
G Im Hypothalamus werden 7 Neurohormone gebil- Hormon
det, von denen 5 als Releasing-Hormone (Liberine) FSH Follikel-stimulierendes Gonaden
und 2 als Inhibiting-Hormone (Statine) auf den Hormon
Hypophysenvorderlappen wirken. LH Luteinisierendes Hormon Gonaden

Neurohormone des Hypophysenhinterlappens, Nicht-glandotrope Hormone (Effektorhormone)

HHL GH Wachstumshormon Alle Körper-


(»growth hormone«) zellen
In Neuronen des Hypothalamus werden 2 weitere Hormo- (Synonym: Somatotropes
ne gebildet, das antidiuretische Hormon (ADH) und das Hormon, STH)
Oxytozin. Die ADH- und Oxytozin-produzierenden Neu-
Prolaktin Viele Körper-
rone haben lange Axone, deren präsynaptischen axonalen zellen (Mamma,
Verdickungen einen Teil der Hypophyse bilden, nämlich Gonaden)
den Hypophysenhinterlappen (HHL) (. Abb. 7.8)
128 Kapitel 7 · Endokrine Systeme (Hormone)

zellulären Flüssigkeit gelösten Salze) konstant halten. Die


Fühler dazu sind einmal Volumensensoren in den großen
Venen und den Herzvorhöfen (Abschn. 10.5.4) und zum
anderen besonders Osmosensoren (Osmorezeptoren), v. a.
im Hypothalamus. Ein Ansteigen des osmotischen Drucks
bewirkt eine Erregung der Osmosensoren. Dies führt dann
zur vermehrten Freisetzung von ADH und vermehrter
Wasserretention in der Niere (diese antidiuretischen Wir-
kungen werden in 10.3.3 und 26.2.1 beschrieben).

Oxytozin
Eine wichtige Rolle spielt das Oxytozin bei der Auslö-
sung des Milchejektionsreflexes nach einer Geburt. Wie in
. Abb. 7.10 illustriert, werden durch das Saugen des Säug-
lings die Mechanorezeptoren der Brustwarzen (Mamillen)
gereizt und diese Reizung wird auf nervalem Wege den
Oxytozin-produzierenden Neuronen des Hypothalamus
mitgeteilt, die daraufhin alle gleichzeitig Oxytozin aus-
7 schütten. Durch diese bolusartige Form der Freisetzung
kommt es zu abrupten Kontraktionen der die Drüsen-
alveolen umspannenden glatten Muskulatur und damit zur
. Abb. 7.9. Das hypothalamisch-adenohypophysäre System als Milchejektion.
Nahtstelle (Interface) zwischen dem Zentralnervensystem und Gegen Ende der Schwangerschaft ist das Oxytozin an
der Körperperipherie. Zur Nomenklatur der Hormone . Tabelle 7.1 der Einleitung der Wehentätigkeit beteiligt. Zum einen
und 7.2. Die 4 glandotropen Hormone LH, FSH, TSH und ACTH haben
wird nämlich der Uterus durch die Wirkungen der Östro-
jeweils nur ein Zielorgan im Körper, nämlich jeweils eine Drüse (da-
runter im Umriss angeordnet). Die beiden anderen Hormone, Pro- gene für Oxytozin empfindlich. Zum anderen werden die
laktin und Wachstumshormon (GH = STH) wirken an Zellen vieler Mechanosensoren des Uterus und der Vagina durch die
Organe. Anders als die glandotropen Hormone werden Prolaktin und wachsende Frucht zunehmend gereizt. Dies führt auf ner-
Wachstumshormon nicht nur von Releasing- (Liberine), sondern auch valem Wege reflektorisch zur Ausschüttung von Oxytozin,
von Inhibiting-Hormonen (Statine) des Hypothalamus kontrolliert.
das den Uterus zu Kontraktionen anregt, die wiederum
Auf die Bedeutung der zentralnervösen Strukturen aus dem Mesenze-
phalon, dem limbischen System und dem Großhirn wird im Text näher zum Austreiben von Frucht und Mutterkuchen führen.
eingegangen Dieser Vorgang wird Ferguson-Reflex genannt.
Der Ferguson-Reflex hat bei der nichtschwangeren
Frau keine große Bedeutung. Bei Mann und Frau ist aber
G Der HVL (Adenohypophyse) produziert und speichert Oxytozin eng mit der Steuerung sexueller Annäherung
6 Hormone, 4 Steuerhormone (glandotrope Hor- und Bindung verwoben. Darauf wird ausführlich in 8.2.1
mone) und 2 Effektorhormone. Sie stehen unter dem (. Abb. 8.6) eingegangen.
regelnden Einfluss der hypothalamischen Neuro-
G ADH wirkt in physiologischen Konzentrationen anti-
hormone.
diuretisch, in pathophysiologisch hohen auch blut-
drucksteigernd. Oxytozin wirkt wehensteigernd
7.3.2 Die HHL-Hormone ADH und Oxytozin und löst nach der Geburt den Milchejektionsreflex
aus.
Antidiuretisches Hormon, ADH (Vasopressin)
Das antidiuretische Hormon, ADH, auch Adiuretin ge- 7.3.3 Die HVL-Effektorhormone Prolaktin
nannt, ist ein Peptid aus 9 Aminosäuren. Es hemmt die und Somatotropin
Wasserausscheidung in der Niere. Das Hormon hat auch
eine blutdrucksteigernde Wirkung, daher sein zweiter Prolaktin
Name Vasopressin. Die vasopressorischen Wirkungen tre- Dieses HVL-Hormon steuert die Ingangsetzung und Auf-
ten beim Menschen aber nur bei pathophysiologisch hohen rechterhaltung der Milchsynthese in der Brustdrüse der
Hormonkonzentrationen auf. Es sollte daher nur der Name Frau (die Milchejektion wird über das Oxytozin ge-
ADH Verwendung finden. steuert, 7 oben). Unter physiologischen Bedingungen pro-
Das ADH ist in Regelkreise eingebunden, die das extra- duzieren die Brustdrüsen nach der Geburt innerhalb von
zelluläre Flüssigkeitsvolumen und dessen osmotischen 24 h Milch (die Milch »schießt ein«), das Baby kann gestillt
Druck (also die Konzentration der im Blut und der extra- werden.
7.3 · Das hypothalamisch-hypophysäre Hormonsystem und seine Zielorgane
129 7

G Prolaktin fördert die Produktion der Muttermilch.


Seine Ausschüttung aus dem HVL wird nur von
einem hemmenden hypothalamischen Hormon,
dem PIH, kontrolliert. Bei diesem handelt es sich
chemisch um Dopamin.

Somatotropin (Wachstumshormon, GH, STH)


Wie viele andere Hormone auch, wird das Wachstumshor-
mon in pulsartiger Form, und zwar in 3–4 Pulsen pro Tag,
ausgeschüttet. Außerdem wird es im Tiefschlaf der ersten
3 Nachtstunden freigesetzt. Es hat vielfältige Wirkungen im
Organismus, die vereinfacht so zusammengefasst werden
können, dass es zur normalen körperlichen Entwicklung
des Kindes notwendig ist. Seine darüber hinausgehenden
Wirkungen auf Nervensystem, Immunsystem und Verhal-
ten werden in Abschn. 8.1.2 erläutert.
Die Freisetzung von Somatotropin wird von je einem
fördernden und einem hemmenden hypothalamischen
Hormon geregelt, nämlich dem Somatoliberin (GHRH)
und dem Somatostatin (GHIH) (. Tabelle 7.1).
G Das Wachstumshormon (Somatotropin) wird für die
normale körperliche Entwicklung benötigt. Seine
pulsartige Ausschüttung wird von 2 hypothala-
mischen Hormonen geregelt, dem Somatoliberin
und dem Somatostatin.

Box 7.3. Zwergwuchs und Riesenwuchs bei Somato-


tropinmangel und -überschuss

Bei Schädigungen der Hypophyse oder mangelndem


Tiefschlaf im Kindesalter kann es zur verminderten
. Abb. 7.10. Schematisierte Darstellung des Milchejektionsrefle- Ausschüttung von Somatotropin kommen, was zu
xes. Durch mechanische Reizung der Zervix uteri oder der Mamillen
Wachstumsverzögerung und Minderwuchs führt
(Brustwarzen), mitunter auch durch unspezifische sensorische Reize,
können die oxytozinproduzierenden Neurone im Hypothalamus
(hypophysärer Zwergwuchs). Umgekehrt kann es bei
(Nuclei supraopticus und paraventricularis) konzertiert aktiviert einem Hypophysentumor zu einer überschießenden
werden (Salven von Aktionspotenzialen in der Einsatzfigur oben). Ausschüttung von Somatotropin kommen. Vor Ab-
Dadurch wird bolusartig Oxytozin in das Blut ausgeschüttet und in der schluss des Wachstums führt dies zu Riesenwuchs.
Brustdrüse angeschwemmt. Dort erhöht es den Milchejektionsdruck
Nach dessen Abschluss bleibt die Körpergröße gleich.
(mittlere Registrierung in der Einsatzfigur). Auch die uterine Musku-
latur wird durch den Oxytozinbolus aktiviert (untere Registrierung in
Stattdessen kommt es zu auffälligen Vergrößerungen
der Einsatzfigur) von Kinn und Nase sowie einer Verbreiterung von
Kiefer- und Backenknochen, Händen und Füßen. Dies
wird Akromegalie genannt.

Die Freisetzung von Prolaktin wird von dem hypotha-


lamischen Prolactin-Inhibiting-Hormon (PIH, Prolacto-
statin, . Tabelle 7.1) kontrolliert, das normalerweise die 7.3.4 Hypothalamisches TRH, hypophysäres
Freisetzung hemmt. Mit anderen Worten, die Freisetzung TSH und die Schilddrüsenhormone
des Prolaktins beruht also auf einer Wegnahme der toni-
schen PIH-Hemmung. Synthese, Speicherung und Freisetzung
Beim diesem Inhibiting-Hormon handelt es sich che- der Schilddrüsenhormone
misch um Dopamin. Diese Kenntnis ist klinisch wichtig, da Die Schilddrüse umschließt im unteren vorderen Drittel
es zahlreiche Medikamente mit dopaminagonistischer aber des Halses dicht unterhalb des Schildknorpels hufeisen-
auch mit antagonistischer Wirkung gibt (Kap. 5, 26 und 27), förmig die Luftröhre. Sie ist von einer Kapsel umgeben und
die also die Prolaktinsekretion hemmen aber auch fördern auf der Luftröhre verschieblich. Ihr Gewicht beträgt beim
können. Erwachsenen 25–30 g. Histologisch besteht sie aus in Läpp-
130 Kapitel 7 · Endokrine Systeme (Hormone)

chenbezirke gegliederten Bläschen, den Follikeln, in denen


die Schilddrüsenhormone enthalten sind.
Ausgangspunkt der (im Einzelnen komplexen) Hor-
monsynthese in den Schilddrüsenzellen ist die Bildung
eines Eiweißes, nämlich des Thyreoglobulins. Durch An-
lagerung von Jodmolekülen und Umwandlungen entstehen
daraus v. a. Thyroxin (mit 4 Jodatomen, also Tetrajodthy-
ronin oder T4) und in kleineren Mengen die biologisch we-
sentlich stärker wirksame Form, nämlich das Trijodthy-
ronin, T3 (mit 3 Jodatomen), die beide in den eingangs er-
wähnten Schilddrüsenfollikeln zwischengelagert werden.
Der dort gespeicherte Vorrat an Schilddrüsenhormon ist in
der Regel so groß, dass der Körper einige Monate ohne Jod-
zufuhr auskommen kann.
Bei Bedarf werden die Schilddrüsenhormone wieder
aus den Follikeln in die Drüsenzellen aufgenommen und
von dort diffundieren die T3- und T4-Moleküle in das Blut.
Von etwa einem Drittel der T4-Moleküle wird außerhalb
7 der Drüsenzellen ein Jodmolekül abgespalten, sie werden
also in T3-Moleküle umgewandelt. Dies bedeutet, dass etwa
80–90% der biologisch wirksamsten Form des Schilddrü-
senhormons, nämlich das T3, außerhalb der Schilddrüse
(extrathyreoidal) entsteht.
G Die Schilddrüsenfollikel sind Hormonspeicher. Die . Abb. 7.11. Produktion, Speicherung, Freisetzung und Rege-
biologisch wirksame Form der Schilddrüsenhor- lung der Schilddrüsenhormone. Oben ist der hypothalamo-hypo-
mone sind die T3-Moleküle, die größtenteils extra- physio-thyreoidale Regelkreis gezeigt. Die Schilddrüsenhormone T3
thyreoidal aus T4-Molekülen gebildet werden. und T4 wirken negativ rückkoppelnd sowohl auf den Hypothalamus
wie auf die Hypophyse zurück (TRH, Thyreotropin-Releasing-Hormon;
TSH, Thyreoidea-stimulierendes Hormon). Im unteren Bildteil sind die
Regulation der Schilddrüsenhormonproduktion Produktion der Schilddrüsenhormone, ihre Zwischenspeicherung im
Kolloid in den Schilddrüsenfollikeln und ihre endgültige Freisetzung
Der Regelkreis der Schilddrüsenhormonproduktion ist in
in das Blut gezeigt. Einzelheiten sind im Text erläutert. Neben dem T3
. Abb. 7.11 skizziert. Die gesamten, eben geschilderten Vor- wird im Blut ein biologisch unwirksames reversed T3 (rT3) gefunden
gänge der Synthese, Vorratshaltung und Freisetzung von T3
und T4 unterliegen dem glandotropen Hypophysenvorder-
lappenhormon Thyreoidea-stimulierendes Hormon (TSH), Wirkungen von T3 und T4
auch Thyreotropin genannt (. Tabelle 7.2). Die TSH-produ- Die Hauptwirkung von T3 und T4 ist die Beeinflussung des
zierenden Drüsenzellen des HVL unterliegen wiederum Energieumsatzes, die auch kalorische Wirkung genannt
der Kontrolle des hypothalamischen Releasing-Hormons wird. Bei Ausfall der Schilddrüsenhormone sinkt der Ener-
TRH (Thyreotropin-Releasing-Hormon) (. Tabelle 7.1 und gieumsatz im Extremfall auf die Hälfte des Grundumsatzes
. Abb. 7.11). ab (Definition Grundumsatz Abschn. 11.2.1). Durch Zu-
Die Schilddrüsenhormone T3 und T4 wirken negativ fuhr von T3 können Steigerungen des Grundumsatzes auf
rückkoppelnd sowohl auf den Hypothalamus wie auf die fast das Doppelte erreicht werden.
Hypophyse zurück (. Abb. 7.11). Bei hohen Blutkonzentra- Um seine Effekte zu erzielen, bindet T3/T4 an Rezeptor-
tionen von T3 und T4 ist daher die TSH-Sekretion minimal. moleküle im Zellkern, welche die Genexpression in den
Umgekehrt ist bei niedrigen Schilddrüsenhormonspiegeln Zielzellen modulieren. Dadurch wird in allen Zellen die
im Blut die TSH-Sekretion sehr hoch. Eiweißsynthese gesteigert. Andererseits aktiviert T3/T4
TRH findet sich übrigens fast überall im Zentralner- mitochondriale Enzyme, was den oxidativen Abbau von
vensystem. Es greift in eine Vielzahl von Verhaltensfunk- Kohlenhydraten und Fetten erhöht. Alle 3 Grundnähr-
tionen ein. stoffe sind somit an der thyreogenen Umsatzsteigerung be-
teiligt.
G Hypothalamisches TRH setzt aus dem HVL das TSH Die Schilddrüsenhormone sind weiterhin unerlässlich
frei, das aus den Follikeln T3 und T4 freisetzt. Deren für ein normales Knochenwachstum. Beim Ausfall der
Konzentrationsanstieg im Blut wirkt wiederum Schilddrüsenfunktion im jugendlichen Alter bleibt daher
hemmend sowohl auf die TRH- wie auf die TSH-Frei- das Wachstum zurück. Die embryonale und postnatale
setzung. Hirnreifung und damit die geistige Entwicklung eines Kin-
7.3 · Das hypothalamisch-hypophysäre Hormonsystem und seine Zielorgane
131 7

des sind ebenfalls in kritischer Weise von der normalen Box 7.4. Verhaltens- und Befindlichkeitsstörungen
Funktion des Schilddrüsensystems abhängig (7 unten). bei Fehlfunktionen des Schilddrüsensystems

G Das T3/T4 steigert den Energieumsatz in allen Zellen Hyper- wie hypothyreotische Störungen können die
des Körpers (kalorische Wirkung). Geistige Entwick- Stimmungslage und die intellektuelle Leistungsfähig-
lung und körperliche Reifung sind embryonal und keit beeinflussen, wobei in schweren Fällen tief
postnatal auf ein normal funktionierendes Schild- greifende Verhaltensstörungen auftreten können,
drüsensystem angewiesen. die einer melancholischen Depression und/oder einer
Demenz ähneln. Mit einer Normalisierung der Schild-
Störungen der Schilddrüsenfunktion drüsenfunktion bilden sich auch diese psychischen
Störungen in der Regel zurück. Umgekehrt sind de-
Unter einer Hypothyreose versteht man eine Unterfunk-
pressive und manisch-depressive Erkrankungen oft
tion der Schilddrüse, v. a. bei chronischem Jodmangel. Es
von Störungen des Schilddrüsenhormonhaushaltes
bildet sich in der Regel eine starke Vergrößerung der Schild-
begleitet.
drüse (hypothyreotischer Kropf) aus. Die Kropfbildung
Diese Beobachtungen haben dazu geführt, Gaben
lässt sich aus . Abb. 7.11 leicht verständlich machen: Infol-
von Schilddrüsenhormon als eine Zusatztherapie bei
ge der fehlenden oder ungenügenden Synthese von T3- und
depressiven Erkrankungen einzusetzen. Dabei fand
T4-Hormon entfällt die negative Rückkopplung auf Hypo-
man in der Tat, dass T3-Verabreichung den Beginn der
physe und Hypothalamus, worauf im HVL ungehemmt
Wirkung von trizyklischen Antidepressiva beschleu-
TSH gebildet wird. Dies steigert zwar das Wachstum der
nigt und die Wirksamkeit dieser Medikamente ver-
Schilddrüse, führt aber nicht zu vermehrter Schilddrüsen-
stärkt. Die hochdosierte Gabe von T4 kann ebenfalls
hormonproduktion.
die Symptome und den Verlauf einer Depression ver-
Das Fehlen von Schilddrüsenhormonen im frühen Kin-
bessern und zwar besonders bei Frauen, die auf üb-
desalter führt zu schwerer körperlicher und geistiger Re-
liche Medikation nicht ansprechen (Kap. 27).
tardierung, genannt Kretinismus. In utero wird ein Fetus,
der nicht genügend Schilddrüsenhormone produziert,
noch ausreichend von der Mutter versorgt. Das neugebo-
rene Kind benötigt aber eine rasche Substitutionstherapie, 7.3.5 Hypothalamisches CRH,
um irreversiblen Hirnschäden, bis hin zur völligen geistigen hypophysäres ACTH und die
Retardierung (Imbezillität) vorzubeugen. Nebennierenrindenhormone
Beim Erwachsenen ist die Hypothyreose durch Ver-
langsamung aller Stoffwechselvorgänge und damit einer Synthese, Speicherung und Freisetzung
Verminderung der körperlichen und geistigen Aktivität der Nebennierenrindenhormone
gekennzeichnet. Auffällig ist die Myxödem genannte teigige Die Nebennieren sind zwei kleine Drüsen, die den oberen
Verdickung der Haut. Alle Symptome sind durch Gabe von Nierenpolen aufliegen. Jede wiegt beim Menschen etwa 4 g.
Schilddrüsenhormon reversibel. Jede Nebenniere besteht aus zwei morphologisch und funk-
Ein hyperthyreotisches Krankheitsbild stellt die Base- tionell völlig unterschiedlichen Anteilen, nämlich der Ne-
dow-Krankheit dar. Neben ausgeprägten Stoffwechselstei- bennierenrinde und dem bereits im vorigen Kapitel behan-
gerungen (die den Patienten übererregt erscheinen lassen), delten Nebennierenmark (Abschn. 6.1.3).
wird bei vielen Patienten ein starkes Hervortreten der Aug- Die Nebennierenrinde (NNR) hat einen dreischichtigen
äpfel (Exophthalmus) beobachtet. Auch kann es zu einer Aufbau. Jede Schicht bildet bevorzugt eine chemisch und
kropfigen Vergrößerung der Schilddrüse (Struma) kom- funktionell zusammengehörige Gruppe von Hormonen
men. Therapeutisch kann die gesteigerte Hormonproduk- aus, nämlich die äußere Schicht (Zona glomerulosa) v. a.
tion durch Gabe von Thyreostatika normalisiert werden. Mineralokortikoide, die mittlere und zugleich breiteste
Schicht (Zona fasciculata) hauptsächlich Glukokortikoide
G Unter- und Überfunktionen der Schilddrüse gehören
und die innerste Schicht (Zona reticularis) überwiegend
zu den häufigsten endokrinen Krankheitsbildern.
männliche Geschlechtshormone oder Androgene (zu letz-
Beim Erwachsenen sind die Folgen von Fehlfunktio-
teren Abschn. 7.4.1).
nen durch Therapie voll reversibel, beim Säugling
Die Hormone der NNR sind Steroide (Abschn. 7.1.4).
kann es bei Unterfunktion zu irreversiblen Hirnschä-
Ihre Synthese geht immer vom Cholesterin aus, das mit der
den kommen.
Nahrung aufgenommen oder in der Leber synthetisiert
wird. Die Speicherung der stereoidalen NNR-Hormone er-
folgt im Zytoplasma der Drüsenzellen (Abschn. 7.1.1), aus
dem sie auch freigesetzt werden.
Der beim Menschen wichtigste Vertreter der Mineralo-
kortikoide ist das Aldosteron. Es ist an der Harnbildung der
132 Kapitel 7 · Endokrine Systeme (Hormone)

Nieren beteiligt, daher werden seine Wirkungen nicht hier,


sondern in Abschn. 12.3.3 erörtert.
Der wichtigste Vertreter der Glukokortikoide ist
das Kortisol. Glukokortikoide haben vielerlei Aufgaben im
Stoffwechsel, im Immunsystem und beim Verhalten. Auf
sie konzentrieren sich die nachfolgenden Erörterungen.
G Die NNR-Hormone sind aus dem Cholesterin in den
Zellen der verschieden Schichten der NNR syntheti-
sierte Steroide, die im Zytoplasma (nicht in Vesikeln!)
gespeichert und aus diesem freigesetzt werden. Dies
gilt für Mineralokortikoide, Glukokortikoide und An-
drogene.

Regulation der Glukokortikoidproduktion


Der Regelkreis der Glukokortikoidproduktion und -freiset-
zung ist am Beispiel des Kortisols in . Abb. 7.12a skizziert.
Die Kortisolfreisetzung wird von einem der vier glandotro-
7 pen Hormone des HVL, nämlich dem adrenokortikotro-
pen Hormon, ACTH, reguliert (. Tabelle 7.2), das seinerseits
der Kontrolle des hypophysären Releasing-Hormons Korti-
koliberin, CRH, unterliegt (. Tabelle 7.1, . Abb. 7.9). In der
Abbildung ist zu sehen, dass das freigesetzte Kortisol in
Form einer negativen Rückkopplung hemmend auf die
weitere Freisetzung von hypothalamischen CRH und hypo-
physären ACTH wirkt und damit den Regelkreis an diesen
beiden Stellen schließt.
Die der zirkadianen Periodik (Kap. 22) folgenden tages-
rhythmischen Schwankungen des Kortisolspiegels im
Blut sind ebenfalls durch entsprechende Schwankungen der
ACTH-Freisetzung verursacht (. Abb. 7.12b). Diese wie-
derum sind wahrscheinlich durch die zirkadiane Periodik
der CRH-produzierenden Neurohormonzellen des Hypo-
thalamus bedingt. Die dabei beteiligten zentralen Neuro-
transmitter sind wahrscheinlich Noradrenalin (hemmende . Abb. 7.12a, b. Regelung der Glukokortikoidfreisetzung am Bei-
Wirkung auf CRH-Neurone) und Serotonin (5-HT, erre- spiel des Kortisols und deren Abhängigkeit von der zirkadianen
Periodik. a Hypothalamo-hypophysio-adrenaler Regelkreis. Die Korti-
gende Wirkung auf CRH-Neurone; . Abb. 8.8).
koide der Nebennierenrinde werden wie alle Steroidhormone aus Cho-
G Hypothalamisches CRH setzt aus dem HVL das lesterin gebildet, wobei das Pregnenolon die Ausgangssubstanz aller
dort gebildeten Hormone ist. Das Kortisol wird in der Zona fasciculata
ACTH frei, das aus der NNR Glukokortikoide, beson-
synthetisiert. Die Regelung seiner Freisetzung über ACTH, das wieder-
ders Kortisol, freisetzt. Dies wirkt wiederum rück- um von CHR kontrolliert wird, ebenso wie die übergeordneten Einflüs-
koppelnd hemmend sowohl auf die CRH- wie auf se sind im Text erläutert. b Blutplasmakonzentrationen von ACTH und
die ACTH-Freisetzung. Zusätzlich unterliegt die Se- Kortisol beim Menschen im Tagesverlauf. Am Morgen ist die Konzen-
kretion von Kortisol auch tageszeitlichen Schwan- tration beider Hormone am höchsten, um Mitternacht am tiefsten. Die
Veränderungen des ACTH-Spiegels gehen denen des Kortisol voraus
kungen.

Metabolische Wirkungen der Glukokortikoide,


v. a. des Kortisols Die für die Glukoneogenese notwendigen Aminosäuren
Die Stoffwechselwirkungen der Glukokortikoide zielen auf werden durch Abbau von Körpereiweiß gewonnen (eiweiß-
die Bereitstellung von Glukose bei erhöhtem Energiebe- katabole Wirkung). Kortisol aktiviert dabei auch die Frei-
darf. Zu diesem Zweck regen sie die Glukoneogenese in setzung von Glyzerin und Fettsäuren aus den Fettvorräten
der Leber an (Umwandlung von Aminosäuren in Glukose), des Körpers (Lipolyse), um weiteren Zellbrennstoff bereit-
um beispielsweise beim Hungern nach Erschöpfen der zustellen. Das Kortisol wirkt also in die gleiche Richtung
Glykogenvorräte einen möglichst konstanten Blutzucker- wie das Glukagon (Abschn. 7.2.1) und ist insoweit auch ein
spiegel aufrecht zu erhalten. Gegenspieler des Insulins.
7.4 · Sexualhormone und die Regulation der Gonadenfunktion
133 7

G Die Glukokortikoide dienen in erster Linie der Mobi- bei Salzlösung, ist bei Nebennierenrindeninsuffizienz ver-
lisierung von Glukose bei erhöhtem Energiebedarf. schlechtert, d. h. es werden höhere Konzentrationen der
Sie fördern dazu die Glukoneogenese und haben Stoffe benötigt, wenn zwischen »süß« und »salzig« unter-
eine eiweißkatabole und lipolytische Wirkung. schieden werden soll. Vergleichbare Schwellenänderungen
der Sinnesleistungen finden sich auch in anderen Modali-
Immunologische Wirkungen der Glukokortikoide, täten, so beim Geruch und beim Gehör (Kap. 18 und 19).
v. a. des Kortisols
G Die Glukokortikoide haben vielfache Wirkungen auf
Kortisol in pharmakologischen, d. h. hohen Dosen, verur-
das ZNS und die Sinnesorgane. Hohe therapeutische
sacht eine drastische Unterdrückung des Aufbaus und der
Dosen begünstigen die Krampfbereitschaft bei
Aktivität des lymphatischen Gewebes. Insgesamt werden
Epileptikern und führen oft zu Schlafstörungen und
dadurch die Abwehr körperfremder Eiweiße und damit die
Depressionen.
Infektabwehr geschwächt. Diese, im allgemeinen uner-
wünschte Wirkung, wird heute als eine Form der immun-
suppressiven Therapie ausgenutzt, um bei Organtrans- CRH, ACTH, Kortisol und Stress
plantationen eine Abstoßung des verpflanzten Gewebes zu Als Stress lässt sich jede Situation auffassen, die den Orga-
verhindern. nismus aus seinem homöostatischen Gleichgewicht bringt.
In diesem Zusammenhang sind auch die entzündungs- Zu diesen Situationen können unphysiologische Umstände
hemmenden (antiphlogistischen) Wirkungen des Korti- zählen, wie extreme Hitze oder Kälte, aber auch eine Vielfalt
sols zu sehen. Die Gefäßerweiterung im Entzündungsgebiet unangenehmer und bedrohlicher Situationen. Daher ist es
(sichtbar an der Rötung) wird ebenso reduziert wie die angesichts der oben geschilderten Stoffwechselwirkungen
lokale Schwellung (Ödembildung durch erhöhte Durchläs- der Glukokortikoide nicht überraschend, dass Stresssitua-
sigkeit der Blutkapillarwände). Schließlich gehört zu den tionen aller Art neben ihren vielen anderen Wirkungen zu
immunologischen Wirkungen des Kortisols auch seine einer Aktivierung des Hypothalamus führen, der daraufhin
starke antiallergische Wirkung, die im Wesentlichen darauf vermehrt CRH freisetzt (. Abb. 7.12a, links oben).
zurückzuführen ist, dass die Entzündungsreaktion, die Die erhöhte CRH-Freisetzung bewirkt in Folge eine
durch die Antigen-Antikörper-Reaktion normalerweise vermehrte Freisetzung von ACTH und diese wiederum von
ausgelöst wird (Abschn. 9.1.3), vom Kortisol unterdrückt Kortisol und anderen Glukokortikoiden. Der Regelkreis für
wird. diese NNR-Hormone wird also durch die stressbedingte
vermehrte Freisetzung von CRH deutlich verstellt. Die da-
G Die Glukokortikoide schwächen in hohen Dosen die
durch induzierte ACTH-Freisetzung kann in starken Stress-
Infektabwehr, was zur immunsuppressiven Therapie
situationen so intensiv sein, dass mehr ACTH im Blut auf-
genutzt wird. Sie wirken außerdem antiphlogistisch
taucht, als für eine maximale Kortisolsekretion notwendig
(entzündungshemmend) und antiallergisch.
ist. Die Zusammenhänge zwischen Stress und Stresshormo-
nen wird ausführlich in Kap. 8 besprochen (für die Betei-
Wirkungen der Glukokortikoide auf ligung des Nebennierenmarks Abschn. 6.1.3, für die Folgen
Nervensystem und Sinnesorgane von Über- und Unterproduktion der Gluko- und Minera-
Die Glukokortikoide haben starke, aber im einzelnen lokortikoide Box 7.5).
schwer voraussagbare Effekte auf das Nervensystem. In-
G Stress verstellt den Glukokortikoid-Regelkreis auf
suffizienz der Nebennieren ist oft von einer Verlangsamung
höhere CRH-, ACTH- und Glukokortikoidproduktion
der EEG-Aktivität begleitet. Erhöhte Kortisolspiegel er-
und -freisetzung.
niedrigen die Erregbarkeitsschwelle. Die erhöhte Krampf-
bereitschaft von Epilepsiepatienten nach Kortisolzufuhr ist
möglicherweise auf diesen Mechanismus zurückzuführen.
Hohe Dosen von Kortisol führen auch zu Schlaflosigkeit. 7.4 Sexualhormone und die Regulation
Bei vielen Patienten kommt es zu Beginn einer Kortisol- der Gonadenfunktion
therapie zu Euphorie, während im Laufe einer Langzeit-
therapie psychische Störungen manifest werden können. 7.4.1 Hypothalamisches GnRH,
Depressionen sind ein häufiges Problem (Kap. 8). hypophysäres LH + FSH
Membranrezeptoren für Kortisol kommen an vielen und die Sexualhormone
Stellen des Gehirns vor, ihre Funktionen sind sehr unter-
schiedlich und werden in den jeweiligen Kapiteln (z. B. Männliche und weibliche Sexualhormone:
Kap. 26) besprochen. Struktur, Vorkommen, Begriffsbestimmung
Einen erheblichen Einfluss haben die Glukokortikoide Die Gonaden- oder Sexualhormone, also die Hormone der
auch auf die Funktion der Sinnesorgane. Die Qualitätsun- männlichen und weiblichen Keimdrüsen (Hoden und Eier-
terscheidung, z. B. »süß« bei Zuckerlösung und »salzig« stöcke), sind Steroide. Sie werden alle aus dem Cholesterin
134 Kapitel 7 · Endokrine Systeme (Hormone)

Box 7.5. Über- und Unterfunktionen der Nebennierenrinde


Erhöhte Kortisolspiegel, Cushing-Syndrom: Die brechen diesen Circulus vitiosus. Da aber vor und nach
wichtigsten klinischen Zeichen einer chronischen der Geburt eine Maskulinisierung des Gehirns erfolgte,
Steigerung des Kortisolspiegels sind: Fettsucht mit haben periphere Kortisolgaben oft keinen Einfluss mehr
charakteristischer Fettverteilung (Stammfettsucht, Mond- auf die sexuelle Orientierung, die bei Frauen häufiger auf
gesicht), erhöhter Blutzuckerspiegel (prädiabetogene das weibliche Geschlecht gerichtet ist, unabhängig vom
Stoffwechsellage), vermehrter Eiweißabbau, Wasser- und genetischen oder äußerlich sichtbaren Geschlecht.
Kochsalzretention (Ödembildung), Entkalkung der Verminderte Aldosteronspiegel, Addison-Krank-
Knochen (Osteoporose), hoher Blutdruck (Hypertonie) heit: Eine Verminderung aller Hormone der Nebennieren-
und Depressionen sowie kognitive Störungen. Die er- rinde kennzeichnet die Addison-Krankheit, bei der jedoch
höhte Kortisolfreisetzung kann Folge einer Geschwulst der Ausfall der Mineralokortikoide das Krankheitsbild be-
der Nebenierenrinde oder des HVL sein (»peripheres« herrscht. Es kommt zu schweren Störungen im Salz-Wasser-
bzw. »zentrales« Cushing-Syndrom). Haushalt (Aufgaben des Aldosterons in Abschn. 12.3.3).
Verminderte Kortisolspiegel, adrenogenitales Zusätzlich tritt eine vermehrte Hautpigmentierung (»Bräu-
Syndrom (Abschn. 26.4.4): Hier bewirkt ein genetischer ne«) der Haut auf. Diese ist dadurch bedingt, dass bei der
Defekt, dass statt Kortisol ein Androgen in der Neben- ACTH-Synthese ein Polypeptid »nebenher« entsteht, näm-
nierenrinde gebildet wird. Das Androgen wirkt bei lich das Melanozyten-stimulierende Hormon, MSH. Da die
7 Mädchen virilisierend und ruft bei Knaben eine vorzeitige ACTH-Freisetzung mangels hemmender Rückkopplung
Pubertät hervor. Durch die fehlende Rückkopplung wird stark erhöht ist, wird auch vermehrt MSH freigesetzt. Dies
vom HVL vermehrt ACTH freigesetzt, das die falsche bewirkt die verstärkte Pigmentierung der Haut, die durch
Hormonsynthese der Nebennierenrinde nur noch weiter Therapie wieder verschwindet.
antreibt. Therapeutische Gaben von Kortisol unter-

synthetisiert, sind also in Herkunft und Struktur eng mit


den Hormonen der Nebennierenrinde verwandt (Abschn.
7.3.5). Dies gilt auch für ihre intrazellulären Rezeptoren
(Abschn. 7.1.3).
Die männlichen Sexualhormone werden Androgene
genannt, die weiblichen Östrogene und Gestagene. Von
beiden Geschlechtern werden sowohl männliche als auch
weibliche Gonadenhormone gebildet, allerdings im jeweils
anderen Geschlecht in vernachlässigbaren Mengen.
Von den Androgenen ist der wichtigste und hier
ausschließlich erwähnte Vertreter das im Hoden produzierte
Testosteron. Von den in den Eierstöcken produzierten Hor-
monen ist das wichtigste Östrogen das Östradiol und das
wichtigste Gestagen das Progesteron. Die enge chemische
Verwandtschaft dieser Hormone illustriert . Abb. 7.13.
Sexualhormone werden nicht nur in den Gonaden
synthetisiert. So werden Androgene in der Nebennieren-
rinde produziert (beim Mann stammt 1/3 des Testosterons . Abb. 7.13. Synthesewege der gonadalen Steroidhormone. Alle
stammen vom Cholesterin ab und sind chemisch nahe verwandt.
von dort, Abschn. 7.3.5) und während der Schwangerschaft
Gelb unterlegt sind die beiden wichtigsten Enzyme angegeben
bildet die Plazenta große Mengen von Progesteron (Ab-
schn. 7.4.4).

G Die Sexualhormone sind aus Cholesterin gebildete Beteiligung von Hypothalamus und Hypophyse
Steroide. Wichtigster Vertreter der Androgene ist das an der Regulation der Sexualhormone
Testosteron, wichtigstes Östrogen das Östradiol und Auch die Sexualhormone stehen bei Mann und Frau unter
wichtigstes Gestagen das Progesteron. der Kontrolle des hypothalamisch-hypophysären Systems,
das bereits im Abschn. 7.3 vorgestellt wurde. Im Hypotha-
lamus wird das Gonadotropin-Releasing Hormon, GnRH
(Synonym: Luteotropin-Releasing-Hormon, LHRH, und
Gonadoliberin, . Tabelle 7.1), gebildet, das in der Hypo-
7.4 · Sexualhormone und die Regulation der Gonadenfunktion
135 7

physe zwei Hormone freisetzt, nämlich das Luteinisierende Hauptwirkung des FSH beim Mann
Hormon, LH, und das Follikel-stimulierende Hormon, FSH Unter dem Einfluss des FSH und unter Beteiligung des
(. Tabelle 7.1). im Hoden gebildeten Testosterons (7 oben) erfolgt die
Die unterschiedlichen Aufgaben von LH und FSH bei Spermatogenese, also die Bildung der männlichen Samen-
Mann und Frau werden in den nachfolgenden Abschnitten zellen (Spermien) in den Samenkanälchen des Hodens. Es
deutlich. Die von ihnen jeweils freigesetzten Sexualhormone ist ein mehrstufiger, langsamer Prozess, der insgesamt etwa
koppeln in jedem Fall negativ auf Hypothalamus und Hypo- 70 Tage dauert.
physe zurück. Es gibt also sowohl hypothalamo-hypophy- Einmal ausgereift werden die Spermien in den Hoden
säre-testikuläre wie hypothalamo-hypophysäre-ovarielle gespeichert. Sie bleiben dort über Monate befruchtungs-
geschlossene Regelkreise, wie sie auch bei den anderen im fähig. Bei der Ejakulation wird ihnen Flüssigkeit aus Samen-
Abschn. 7.3 betrachteten Hormonen vorkommen. blase, Prostata und mukösen Drüsen entlang der samen-
Das hypothalamische GnRH wird bei Mann und Frau ausführenden Gänge beigemischt.
mehrfach pro Tag in Pulsen ausgeschüttet. Nur wenn die
hypophysären Drüsenzellen in regelmäßigen, zeitlich gut G LH ist hauptverantwortlich für die Androgenproduk-
koordinierten Abständen durch GnRH stimuliert werden, tion in den Hoden, FSH und Androgene zusammen
schütten sie normale Mengen von LH und FSH aus. Diese für die Spermatogenese. Die anabolen Wirkungen
Tatsache lässt sich klinisch-therapeutisch zur unblutigen der Androgene, besonders des Testosterons, bedin-
und reversiblen Kastration durch die Dauergabe von gen das maskuline Erscheinungsbild.
GnRH-Agonisten mit langer Wirkungsdauer nutzen, denn
unter deren Anwendung kommt die hypophysäre LH- und
FSH-Freisetzung zum Erliegen. 7.4.3 Östrogen- und Gestagenproduktion
und der Menstruationszyklus
G Die Sexualhormone sind in hypothalamisch-hypo-
physäre Regelkreise eingebunden. Das pulsativ aus- Erste Zyklusphase (Follikelphase, 1. bis 12. Tag)
geschüttete hypothalamische GnRH bewirkt im HVL Die beiden Eierstöcke (Ovarien) der Frau enthalten beim
die Freisetzung von LH und FSH, die ihrerseits die Eintritt der Pubertät je etwa 300 000 unreife Eier, die jedes
Sexualhormone freisetzen. Diese wiederum koppeln von einer Hülle, dem Follikel, umgeben sind. Zu Beginn
negativ auf Hypothalamus und Hypophyse zurück. eines Zyklus beginnen einige Hundert von ihnen einen
Reifeprozess, der sich aber nur bei einem zur Freisetzung
des reifen Eies (Ovulation) vollendet. Während dieser 10-
7.4.2 Produktion und Wirkungen der bis 14-tägigen Reifephase produzieren die Follikel Östra-
Androgene und die Spermatogenese diol, wobei der Östradiolspiegel stetig ansteigt (. Abb. 7.14,
dritte Kurve von oben).
Hauptwirkungen des LH und des Testosterons In dieser Zeit wirkt das Östradiol zweifach negativ
beim Mann rückkoppelnd auf die LH- und FSH-Zellen der Hypophyse,
Beim Mann hat das hypophysäre LH die Aufgabe, die Leydig- einmal indem sie deren Freisetzung direkt hemmen und
Zwischenzellen der Hoden zur Synthese von Testosteron zum anderen indem sie die LH- und FSH-produzierenden
(und anderen Androgenen) anzuregen. Dieses wird an- Zellen unempfindlich für das hypothalamische GnRH
schließend in das Blut abgegeben, über das es seine zahl- machen. Als Folge werden in dieser Zeit diese Hormone
reichen Zielzellen erreicht. kaum freigesetzt (. Abb. 7.14 oben).
Diese Zielzellen des Testosteron schließen die bereits
erwähnten GnRH- wie LH- und FSH-produzierenden Zweite Zyklusphase (Ovulationsphase,
Zellen in Hypothalamus bzw. Hypophyse ebenso ein wie 12. bis 15. Tag)
Prostata, Nebenhoden und die Anhangsdrüsen zu den Um den 12. Zyklustag steigen die Östradiolspiegel schließ-
Samenausführungsgängen, die an der Reifung, Aufbe- lich stark. Dies lässt, aus bisher unklaren Gründen, die ne-
wahrung und Ejakulation der Spermien beteiligt sind gativ hemmende Wirkung auf die LH- und FSH-Zellen
(7 unten). in eine positiv rückkoppelnde umschlagen. Der LH-Gipfel
Darüber hinaus wirken die Androgene eiweißanabol, (oberste Kurve in . Abb. 7.14) wird für die Auslösung des
d. h. sie stimulieren die Eiweißsynthese. Deshalb ist der Follikelsprungs verantwortlich gemacht, der eine befruch-
männliche Habitus in aller Regel größer (verstärkte Kno- tungsfähige Eizelle freisetzt (Ovulation).
chenbildung) und muskulöser ausgeprägt als der weib- Das LH bewirkt weiterhin, dass der Follikel schon kurz
liche. Auch für den maskulinen Behaarungstyp sind die vor dem Eisprung beginnt, sich zum Gelbkörper (Corpus
Androgene verantwortlich (für deren psychischen Wir- luteum) umzuwandeln (Luteinisierung). Im Gelbkörper
kungen Kap. 8, für ihre Rolle beim Sexualverhalten wird – neben der Weiterproduktion von Östradiol – beson-
Kap. 26). ders nach dem Eisprung (dritte Zyklusphase) eine zuneh-
136 Kapitel 7 · Endokrine Systeme (Hormone)

Box 7.6. Zyklusstörungen: Amenorrhö (Ausbleiben


der Monatsblutung) und prämenstruelles Syndrom

Ein Ausbleiben der Monatsblutung ist häufig durch


psychologische Einflüsse auf den steilen Anstieg der
LH-Produktion im Zyklus bedingt. Psychische Belas-
tung kann durch Unterdrückung oder Abschwächung
des LH-Anstiegs sowohl Eisprung als auch Monats-
blutung verhindern. Auch bei Anorexie fehlt der
LH-Anstieg, häufig bedingt durch den Nahrungsman-
gel. Neben der psychologisch oder ernährungsbeding-
ten Amenorrhö kann diese auch durch Krankheiten
(z. B. Tumor) mit einem Ausfall der pulsatilen GnRH-
Ausschüttung verursacht sein. Wenn die Ausschüt-
tungsfrequenz unregelmäßig und nicht im vorgege-
benen Rhythmus erfolgt, bleiben Follikelreifung und
Ovulation aus.
Die Ursachen des prämenstruellen Syndroms,
7 bei dem einige Tage vor der Menstruation Depressi-
vität, Reizbarkeit und erhöhte Aggressivität bei einem
gewissen Prozentsatz der Frauen auftreten, sind unklar.
Psychologische Faktoren (Antizipation der Menstrua-
tion) sind hier untrennbar mit den hormonellen ver-
bunden.

. Abb. 7.14. Ablauf eines Menstruationszyklus. Ausführliche Er-


läuterung im Text. BKT Körperkerntemperatur

mende Synthese des Gestagens Progesteron aufgenom- Mit der Ovulation erhöht sich abrupt der Progesteron-
men (. Abb. 7.14, vierte Kurve von oben). Beide Hormone spiegel im Blut. Dies führt zu einem Anstieg der basalen
wirken jetzt wieder negativ rückkoppelnd auf die FSH- Körpertemperatur um ca. 0,5°C (thermogenetischer Effekt
und LH-Zellen, sodass, wie zu sehen, deren Hormonaus- des Progesteron, unterste Kurve in . Abb. 7.14). Dieser
schüttungen absinken. Temperaturanstieg kann zur Konzeptionskontrolle (Ver-
meiden bzw. Optimieren der Befruchtungschancen) ge-
G In der ersten Zyklusphase (1. bis 12. Tag) reift ein
nutzt werden (Box 7.7).
Follikel heran, der zunehmend Östradiol produziert.
In der 2. Zyklusphase (13. bis 15. Tag) wird das be-
fruchtbare Ei aus dem Follikel freigesetzt, dieser Box 7.7. Orale Kontrazeption
wandelt sich zum Corpus luteum und beginnt mit
Durch die Verabreichung von synthetischen Östrogen-
der Progesteronproduktion.
und Gestagenagonisten wird ein schwangerschafts-
ähnlicher Zustand erzeugt, indem durch diese beiden
Dritte Zyklusphase (Lutealphase, 16. bis 28. Tag) Agonisten wie bei der Schwangerschaft im
Während der beiden ersten Zyklusphasen wird die Uterus- Hypothalamus der GnRH-Pulsgenerator gehemmt und
schleimhaut (Endometrium) unter dem Einfluss der in der Hypophyse die Antwortbereitschaft auf GnRH
Östrogene und des Progesterons für die Einnistung eines reduziert wird. Dadurch bleibt der Reifungsvorgang
befruchteten Eies vorbereitet. Die Schleimhaut wird der Follikel aus. Grundsätzlich unterscheiden sich die
zunächst wesentlich dicker (Proliferationsstadium) und diversen oralen Kontrazeptiva nicht voneinander, die
es bilden sich in ihr anschließend Drüsen aus (Sekretions- Minipille besteht allerdings nur aus einem Gestagen,
phase). d. h. es wird der Zustand nach dem Eisprung nach-
Erfolgt keine Befruchtung (Abschn. 7.4.4) so beendet gebildet. Mit Mehrphasenpräparaten werden lediglich
das Corpus luteum nach etwa 14 Tagen seine Hormonpro- zyklusähnlichere Zustände angestrebt.
duktion (Luteolyse). Das Endometrium geht zugrunde, Da die Östrogene die Blutgerinnung fördern und
wird abgestoßen und schließlich in die Vagina ausge- damit Thrombosen begünstigen, ist bei entsprechend
schwemmt: Es kommt zur Menstruationsblutung. Mit deren vorbelasteten Patientinnen auf dieses Risiko zu achten.
Beginn startet auch wieder die erste Zyklusphase neu.
7.4 · Sexualhormone und die Regulation der Gonadenfunktion
137 7

G Östradiol und danach Progesteron bereiten die HHL-Hormon Oxytozin beteiligt (Abschn. 7.3.2), aber auch
Uterusschleimhaut auf die Eieinnistung vor (Prolife- andere wehenauslösende Hormone wie die Prostaglandine.
rations- gefolgt von Sekretionsphase). Bleibt diese Nach dem Kind wird anschließend noch die Plazenta aus-
in der 3. Zyklusphase aus, wird die Schleimhaut etwa getrieben und damit ist der Geburtsvorgang beendet.
14 Tage nach der Ovulation abgestoßen. Mit der Geburt bricht die Versorgung des Kindes mit
Sauerstoff und Nährstoffen über die Plazenta ab. In relativ
raschen Umstellungsreaktionen muss sich das Neugebo-
7.4.4 Befruchtung, Schwangerschaft, rene an die Lungenatmung und an die orale Nährstoffzu-
Geburt, sexuelle Differenzierung fuhr anpassen (Abschn. 7.3.2 und 7.3.3 über die Rolle von
Oxytozin und Prolaktin für die Ernährung mit Mutter-
Befruchtung im Eileiter, Einnistung im Uterus milch).
Die Befruchtung des reifen Eies erfolgt normalerweise im
G Wird ein Ei befruchtet, bleibt dank des Choriongona-
Eileiter (Tube), der den Eierstock mit dem Uterus verbindet.
dotropins die Menstruationsblutung aus. Im Laufe
Das befruchtete Ei, jetzt Trophoblast genannt, wandert in
der 40-wöchigen Schwangerschaft wird aus dem
den nächsten 6–8 Tagen in den Uterus und bettet sich dort
Trophoblasten ein lebensfähiges Neugeborenes,
ein. Dieser Prozess heißt Nidation. Schon vor der Nidation
das bis zur Geburt über die Plazenta ernährt wird.
hat sich die befruchtete Eizelle bereits mehrfach geteilt.
Nach der Nidation beginnt der Trophoblast mit der
Produktion eines Hormons, des Choriongonadotropins, Sexuelle Differenzierung bei und nach der
HCG, das wie das LH wirkt, und daher den Gelbkörper, Befruchtung
anders als ohne Befruchtung (3. Zyklusphase), zur weiteren Bei der Befruchtung vereinigt sich eine weibliche Eizelle
Produktion und Sekretion von Progesteron stimuliert. (Ovum) mit einer Samenzelle (Spermie). Alle Eizellen
Damit wird die Abstoßung des Endometriums verhindert weisen ein X-Chromosom auf, die Samenzellen entweder
und die Menstruationsblutung bleibt aus – was häufig das ein X- oder Y-Chromosom. Nur wenn sich eine Samenzelle
erste Zeichen einer Schwangerschaft ist. mit einem Y-Chromosom mit einer Eizelle vereint, kann ein
männlicher Organismus (XY) entstehen, in allen anderen
Schwangerschaftsverlauf Fällen entsteht ein weiblicher.
Zur Versorgung des rasch wachsenden Embryos bildet sich Bis zur 8. Schwangerschaftswoche ist das Schwanger-
die Plazenta (der Mutterkuchen) aus, der von mütterlichem schaftsprodukt bisexuell. Erst danach bilden sich die Vor-
wie kindlichem Blut durchflossen wird. Durch die Plazen- läufer der inneren und äußeren Sexualorgane getrennt für
taschranke, eine dünne Gewebeschicht zwischen beiden, beide Geschlechter unter dem Einfluss der Sexualhormone.
werden Sauerstoff und Nährstoffe zum Embryo und Koh- Bei Vorhandensein des XY-Komplements bilden sich in der
lendioxid und Stoffwechselendprodukte in das mütterliche 7. und 8. Schwangerschaftswoche Vorstufen der Hoden
Blut teils durch Diffusion, teils durch aktiven Transport be- (Testes).
fördert. Die von den Testes produzierten Androgene sind an-
Normalerweise dauert eine Schwangerschaft 10 Mens- schließend für die Differenzierung zum männlichen Orga-
truationszyklen, also 280 Tage oder 40 Wochen. Bereits in nismus entscheidend. Ohne ausreichende Androgenpro-
den ersten 8 Wochen bildet sich der Embryo mit Kopf, duktion entwickeln sich äußerlich weibliche Geschlechtsor-
Augen und Extremitäten mit Händen und Füßen aus. Nach gane (»Eva-Prinzip« über »Adam-Prinzip«). . Abb. 7.15
12 Wochen ist der ab dem 61. Schwangerschaftstag Fetus zeigt die Entwicklung der äußeren Genitalien (primäre Ge-
genannte Embryo etwa 10 cm lang, nach 20 Wochen 25 cm schlechtsmerkmale, Abschn. 26.4.2 und 26.4.3).
und zum Geburtstermin etwa 53 cm (s. Kap. 24).
Das Herz beginnt in der 4. Woche zu schlagen und Einfluss der Sexualhormone auf das Gehirn
alsbald funktioniert der fetale Kreislauf vollständig. Über Geschlechtsspezifisches Verhalten wird zu einem erheb-
die Nabelschnur ist dieser mit der Plazenta verbunden. lichen Teil vom Aufbau unterschiedlicher ZNS-Strukturen
Nach dem 4. Monat entsprechen die Organe des Fetus dem unter Hormoneinfluss determiniert. Besonders in der prä-
des späteren Neugeborenen, die übrige Zeit bis zur Geburt natalen Entwicklungsperiode wirken die Androgene auch
dient der Ausreifung und Differenzierung. auf das ZNS und formen die geschlechtsspezifischen Unter-
schiede v. a. im Hypothalamus und limbischen System.
Geburt und neonatale Umstellungen Damit legen sie auch die Grundlage für späteres geschlechts-
Bei der normalen Geburt wird der Fetus mit dem Kopf typisches Verhalten und den sexuellen Status (hetero-,
voraus aus dem Uterus durch die Scheide ausgepresst. Aus homo- oder bisexuell, Kap. 26).
immer noch nicht völlig bekannten Gründen beginnt die Ein entscheidender Unterschied in der Struktur des
Wehentätigkeit, also Uteruskontraktionen, etwa mit dem Hypothalamus (speziell des Nucleus präopticus) ist die
280. Schwangerschaftstag. Unter anderem ist daran das Ausbildung von Zellsystemen, die ab der Pubertät beim
138 Kapitel 7 · Endokrine Systeme (Hormone)

7.4.5 Pubertät und Menopause

Endokrinologie der männlichen Pubertät


Die Pubertät, also die Reifung zur Fortpflanzungsfähig-
keit, setzt beim Jungen zwischen 9–11 Jahren damit ein,
dass die hypothalamischen GnRH-Drüsenzellen beginnen,
aktiv zu werden. Zunächst erfolgt die pulsative Freisetzung
von GnRH (Abschn. 7.3.3) nur in den ersten 3 Nacht-
stunden während des Tiefschlafs (Kap. 8 und 23), später
auch tagsüber. Dies bewirkt die Freisetzung von LH und
FSH, ersteres, wie oben beschrieben (Abschn. 7.4.1), fördert
die Androgenproduktion, letzteres die Spermatogenese.
Die Androgene maskulinisieren den Jungen psychisch
und somatisch. Ihre eiweißanabole Wirkung (Abschn. 7.4.2)
bewirkt das Längenwachstum und den Aufbau der Mus-
kulatur. Androgenbedingt ist auch das Tieferwerden der
Stimme durch das Wachstum des Kehlkopfes, bei dem die
Stimmbänder länger werden und der männliche Behaa-
7 rungstyp.
Manche sekundären Geschlechtsorgane können z. T.
auch im späteren Leben unter dem Einfluss der Sexualhor-
mone verändert werden: Männer unter (z. B. therapeuti-
schem) Östrogeneinfluss entwickeln Brüste, die Stimmlage
bleibt aber tief, weil sich die Larynx nicht mehr verkleinert.
Als Hermaphroditen bezeichnen wir Personen, bei
denen es durch einen Defekt in der Entwicklung zu exter-
nen und/oder internen Geschlechtsorganen kommt, deren
Geschlecht unklar ist.

Endokrinologie der weiblichen Pubertät


Die zwischen dem 8. und 10. Lebensjahr beginnende weib-
. Abb. 7.15. Entwicklung der äußeren Genitalien bei Mann und
liche Pubertät wird ebenfalls durch die beginnende pulsa-
Frau. Bis zur siebenten, achten Schwangerschaftswoche ist der sich
entwickelnde Organismus nicht nach dem Geschlecht differenzierbar. tile Tätigkeit der GnRH-Neurone angestoßen. Tritt diese
Danach bilden sich Vorstufen der Sexualorgane, die unter Androgen- schließlich nicht nur im Schlaf, sondern auch tagsüber auf,
einfluss männliche Sexualorgane bilden. Im weiblichen Fetus schließt beginnen die Menstruationszyklen (Abschn. 7.4.3), die zu-
sich die Urogenitalfalte nicht und es bilden sich die Labia minora und nächst noch ohne völlige Eireife, also anovulatorisch ablau-
die Labia majora. Der Genitalhügel (Glans) formt die Klitoris. Beim
fen können und erst spätpubertär vollständig werden.
Mann schließt sich die Urogenitalfalte, aus der labioskrotalen Schwel-
lung entwickelt sich das Skrotum und aus dem Genitalhügel der Penis Die Östrogene sind schwächer eiweißanabol als die
Androgene, entsprechend milder fällt der Wachstumsschub
der jungen Frau gegenüber dem Mann aus. Die Ausbildung
der sekundären Geschlechtsmerkmale (Brüste, breitere
weiblichen Geschlecht zu der oben beschriebenen ty- Hüften) geschieht zu dieser Zeit ebenfalls unter dem Ein-
pischen zyklischen (beim Menschen meist 28-tägigen) Ak- fluss der Östrogene.
tivität der gonadotropen Hormone des Hypophysenvor-
G Pubertät setzt bei beiden Geschlechtern mit der Auf-
derlappens (luteinisierendes Hormon, LH, und Follikel-sti-
nahme der pulsatilen Aktivität der GnRH-, LH- und
mulierendes Hormon, FSH) führen. Das männliche Gehirn
FSH-(Neuro-)Drüsenzellen ein. Die resultierenden
dagegen weist ein stabiles Niveau der LH-Ausschüttung
Androgene maskulinisieren und die Östrogene femi-
auf.
nisieren die Knaben bzw. Mädchen.

G Vereinigt sich eine Y-Chromosom-Samenzelle mit


einer Eizelle entsteht ein männlicher Organismus Menopause und Postmenopause
(XY), sonst ein weiblicher (XX). Die hormonal ge- Die Menstruationszyklusaktivität hört auf, sobald in den
steuerte sexuelle Differenzierung männlicher und Eierstöcken der Vorrat an Follikeln erschöpft ist. Dieser
weiblicher Feten, auch ihrer Gehirne, setzt etwa ab Zeitpunkt wird Menopause genannt. Danach ist die Frau
der 8. Schwangerschaftswoche ein. im postmenopausalen Zustand. Damit fällt die rückkop-
Zusammenfassung
139 7

pelnde Wirkung der von den reifenden Follikeln gebildeten Box 7.8. Hormonsubstitutionstherapie in der
Östrogenen zu den hypothalamischen (GnRH-) und hypo- Postmenopause
physären (LH- und FSH-Drüsenzellen) aus, die weiterhin
Östrogene lindern sehr effektiv klimakterische
und eher verstärkt pulsativ aktiv bleiben.
Beschwerden wie die Hitzewallungen und sie beugen
Diese pulsative Aktivität ist für die klimakterischen Be-
der Osteoporose vor. Diesem deutlichen Gewinn an
schwerden verantwortlich. So kann es mit jeder LH-Episode
Lebensqualität steht, v. a. bei jahrelanger Einnahme,
zu Hitzewallungen mit Herzklopfen kommen, weil die
eine leichte Erhöhung des Brustkrebs-, Thrombose-
großen Mengen an LH im Hypothalamus zur Miterregung
und Herzinfarkt- bzw. Hirnschlagrisikos gegenüber, so
der dort liegenden kreislaufregulierenden Neurone und
dass nach Abwägen der Vor- und Nachteile diese
damit zur Vasodilation der Hautblutgefäße und Herzfre-
Therapie nicht länger als 2–3 Jahre durchgeführt
quenzsteigerung (Tachykardie) führen.
werden soll.

Der Ausfall der leicht eiweißanabolen Östrogene ist auch


für den Abbau von Knochenmatrix, also die häufig bei
älteren Frauen beobachtete Osteoporose verantwortlich.
Der Östrogenmangel bedingt auch die leichte Virilisierung G Mit Erschöpfung des Follikelvorrats in den Ovarien
der postmenopausalen Frau, da sich dadurch die in der setzt bei der Frau die Menopause ein, die von Östro-
Nebennierenrinde gebildeten Androgene etwas stärker genmangelerscheinungen begleitet ist.
bemerkbar machen können.

Zusammenfassung
Hormone sind von Drüsenzellen produzierte (primäre) Insulin und Glukagon sind in einen Regelkreis eingebun-
Botenstoffe, die ihre Signale teils den, der den Blutzuckerspiegel konstant hält, wobei
5 an weit entfernte Stellen im Körper, teils Insulin den Zuckerspiegel senkt und Glukagon ihn erhöht.
5 in unmittelbare Umgebung (parakrin), teils Mangel oder mangelnde Wirksamkeit von Insulin führt
5 auf sich selbst zurück (autokrin) senden. zu überhöhten Zuckerspiegeln mit vielfältigen Sympto-
men und Folgen. Die beiden Haupt-Diabetes-Formen
Um von einem Hormon angesprochen zu werden, muss sind:
die Körperzelle einen entsprechenden Rezeptor besitzen, 5 Typ-1-Diabetes mellitus mit völligem Ausfall der
mit dem sich das Hormon verbindet, um seine Nachricht B-Zellen und absolutem, nur durch Insulingaben
zu überbringen. Diese Hormonrezeptoren liegen ent- therapierbarem Insulinmangel und
weder 5 Typ-2-Diabetes mellitus (»Altersdiabetes«),
5 in der Zellmembran oder bei dem je nach Schweregrad die Insulinwirkung
5 im Zytoplasma der Zelle oder mehr oder weniger versagt und die Therapie sich
5 im Zellkern. daher auf Diät und orale Antidiabetika beschränken
kann.
Nach ihrer chemischen Struktur gehören die Hormone
2 großen Substanzklassen an, nämlich Das hypothalamisch-hypophysäre Hormonsystem
5 fettunlösliche Hormone aus Aminosäuren (die Mehr- umfasst
zahl aller Hormone) und 5 8 (Neuro)hormone des Hypothalamus,
5 fettlösliche (lipophile) Hormone (Steroide), die vom 5 2 Hormone des Hypophysenhinterlappens, HHL
Cholesterin oder der Arachidonsäure abstammen. (der Neurohypophyse) und
5 6 Hormone des Hypophysenvorderlappens, HVL
Hormone sind meist Teile von Regelkreisen, die über (der Adenohypophyse),
negative Rückkopplungen Störgrößen kompensieren.
Die Langerhans-Inselzellen des Pankreas sind die in mehr oder weniger komplexen Regelkreisen eine
Drüsenzellen, von denen Vielzahl von Körperfunktionen regeln. . Tabelle 7.1
5 die A-Zellen das Hormon Glukagon, und 7.2 geben einen Überblick über die glandotropen
5 die B-Zellen das Hormon Insulin und und nichtglandotropen Hormone dieses Systems und
5 die D-Zellen das Hormon Somatostatin produzieren ihre Zielorgane.
und freisetzen. 6
140 Kapitel 7 · Endokrine Systeme (Hormone)

6
Als Hauptwirkungen der direkt auf Erfolgsorgane 5 Regelkreise für die Nebennierenrinde, NNR:
wirkenden HHL- und HVL-Hormone sind festzuhalten: Hypothalamisches CRH und hypophysäres ACTH
5 HHL-Hormon ADH (Antidiuretisches Hormon, regeln die Freisetzung der NNR-Hormone, nämlich der
Adiuretin): Hemmt die Wasserausscheidung in der Gluko- und Mineralokortikoide mit ihren manigfalti-
Niere gen Wirkungen;
5 HHL-Hormon Oxytozin: Löst den Milchejektions- 5 Regelkreise für die Sexualdrüsen: Hypothalamisches
reflex aus GnRH und hypophysäres LH und FSH regeln die Tätig-
5 HVL-Hormon Prolaktin: Regelt die Milchsynthese keit der Sexualdrüsen mit deren Hormonen, den
5 HVL-Hormon Somatotropin (Wachstumshormon): Androgenen (besonders Testosteron), Östrogenen (be-
unabdingbar für normale kindliche Entwicklung sonders Östradiol) und den Gestagenen (besonders
Progesteron), in der für Männer und Frauen jeweils
Die anderen HVL-Hormone sind in Regelkreise einge- charakteristischen Weise.
bunden, die weitere Drüsen einschließen. Es handelt
sich um: Die Tätigkeit der Sexualdrüsen bestimmt bei der Frau
5 Regelkreis für die Schilddrüse: An der Regelung der alle Lebensabschnitte von der Geburt über die Pubertät,
Freisetzung der Schilddrüsenhormone T3 und T4 sind die Zeit der Geschlechtsreife mit ihren Ovulationszyklen
7 das hypothalamische TRH und das hypophysäre TSH und die Menopause mit der postmenopausalen Zeit da-
beteiligt; nach.
Für den Mann gilt vergleichbares, doch ist der Ablauf
nach Abschluss der Pubertät wesentlich gleichförmiger.

Literatur
Allolio B, Schulte HM (1996) Praktische Endokrinologie. Urban &
Schwarzenberg, München Wien Baltimore
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Springer, Berlin Heidelberg New York
Nieschlag E, Behre HM (Hrsg) (2000) Andrologie. Grundlagen und Klinik
der reproduktiven Gesundheit des Mannes. Springer, Berlin Heidel-
berg, New York
8

8 Psychoneuroendokrinologie

8.1 Umwelt, Körperrhythmen und Hormone – 142


8.1.1 Wahrnehmung und Hormonsekretion – 142
8.1.2 Biologische Rhythmen und Hormone – 145

8.2 Emotionen und Hormone – 146


8.2.1 Soziale Bindung, Bindungsverhalten – 146
8.2.2 Aggressives Verhalten – 147

8.3 Stress und Hilflosigkeit – 149


8.3.1 Stressbewältigung – 149
8.3.2 Stress und Gehirn – 151
8.3.3 Stress und Krankheit – 154

Zusammenfassung – 155
Literatur – 156

N. Birbaumer, Biologische Psychologie, DOI 10.1007/978-3-540-95938-0_8,


© Springer Medizin Verlag Heidelberg 2010
142 Kapitel 8 · Psychoneuroendokrinologie

)) Neuroendokrinium beteiligt sind. Dabei wird der spezifi-


sche organisierende Einfluss der Hormone in der Entwick-
Bei Kindern, die aus einem verwahrlosten oder extrem be- lung des Organismus vom aktivierend-mobilisierenden
lastenden Elternhaus stammten, fiel dem großen Entwick- unterschieden, der zu allen Zeitpunkten des Lebens wirkt.
lungspsychologen Réne Spitz auf, dass die Kinder häufig Über die zentralnervöse Verarbeitung im Zentrum der
kleinwüchsig waren. Im Verhalten waren diese Kinder . Abb. 8.1 kann ein Reiz ein Verhalten und/oder eine neu-
durch völlige Apathie gekennzeichnet, ein Syndrom, das roendokrine Reaktion auslösen und die ausgeschütteten
heute als gelernte Hilflosigkeit bezeichnet wird. Spitz Hormone wirken als Rückmeldung (Feedback, unterer Pfeil
führte diese Symptome auf die psychologische Ausnahme- auf . Abb. 8.1) wiederum auf Verhalten und das Hormon-
situation dieser Kinder zurück. Später erkannte man, dass niveau zurück. Zusätzlich beeinflussen Hormonreaktion
der Kleinwuchs insbesondere mit der belastungsbeding- und Verhalten sowohl die Reizverarbeitung als auch die so-
ten Schlaflosigkeit der Kinder zusammenhängt. Der Ausfall zialen Interaktionen (rechts auf . Abb. 8.1).
der ersten Tiefschlafphasen führt zur Unterdrückung der . Abb. 8.2 fasst das Zusammenwirken von Gehirn und
Produktion und Ausschüttung von Wachstumshormon. endokrinen Regelkreisen zusammen. Daraus erkennt man,
Nachdem die Kinder von einer Bezugsperson konsistent dass neben Neurotransmittern und -peptiden auch andere
und liebevoll betreut und in eine anregende, aber vorher- Stoffe das ZNS beeinflussen, aber Neuropeptide (beson-
sagbare soziale Umgebung aufgenommen wurden, nor- ders die Hormone aus Aminosäuren, Abschn. 7.1.4) neben
malisierte sich der Schlaf und sie holten innerhalb relativ den Neurotransmittern eine herausragende Stellung ha-
kurzer Zeit ihr Körperwachstum nach. Dieses Beispiel zeigt ben, da sie direkt im Gehirn (und auch in der Peripherie des
deutlich den unauflösbaren Regelkreis zwischen psycholo- Körpers) hergestellt werden und wirken. Etwa 100 Neuro-
gisch-sozialen Bedingungen, endokrinem System, Schlaf peptide sind im ZNS vorhanden, die an den verschiedensten
8 und Verhalten, der in diesem Kapitel näher behandelt Funktionen beteiligt, aber nur für einige wenige aufgeklärt
wird. sind. . Tabelle 8.1 gibt die Wirkungen einiger wichtiger
Neuropeptide auf verschiedene psychologische Funktionen
wieder, ein Teil dieser Wirkungen wird in den einzelnen
8.1 Umwelt, Körperrhythmen Abschnitten dieses Kapitels oder in anderen Kapiteln be-
und Hormone sprochen.

8.1.1 Wahrnehmung und Hormonsekretion G Entwicklung und psychologische Prozesse (das ZNS)
regeln die Hormonsekretion und die Hormone wie-
Organisierende und aktivierende Wirkung derum steuern oder modulieren Wahrnehmung und
von Hormonen Verhalten. Neuropeptide spielen in der Steuerung
. Abb. 8.1 zeigt die wichtigsten Mechanismen und Organ- hormoneller Abläufe durch das Nervensystem eine
systeme, die an der Interaktion zwischen Verhalten und wichtige Rolle.
Aus Richard Brown (1994). Mit freundlicher Genehmigung der Cambridge
University Press.

. Abb. 8.1. Organisierende und aktivierende Wirkungen von hormonelle Reaktion (links Ausgangsniveau, rechts hormonelle Reak-
Hormonen auf Verhalten und Wahrnehmung. Eingezeichnet sind tion, eng punktierte Pfeile zeigen die Einflüsse früher (vor- und
auch die rückwirkenden (Feedback) Effekte von Verhalten auf Hormo- nachgeburtlicher) Hormonniveaus und durchgezogene Pfeile die
ne (Pfeil unten), sowohl auf das Ausgangsniveau wie auch auf die Beziehungen innerhalb des erwachsenen Individuums)
8.1 · Umwelt, Körperrhythmen und Hormone
143 8

Nach Voigt KH, Fehm H (1993). Mit freundlicher Genehmigung von Lippincott Williams & Wilkins.
. Abb. 8.2. Neuroendokrine Regelkreise. Der Terminus »Zeit- Nicht berücksichtigt ist die efferente neuronale Steuerung einiger
geber« soll die verschiedenen rhythmischen Zentren (zirkadian, episo- peripherer endokriner Organe, z. B. der Nebennierenrinde (7 Text)
disch, zyklisch) und deren Rhythmusgeber in der Umwelt andeuten.

Wahrnehmungsschwellen und Hormone verursachten zentral → peripheren Wirkungen und den


Hormone, die Verhalten direkt oder indirekt beeinflussen, von peripher nach zentral gerichteten Effekten von Gluko-
entfalten ihre Wirkung in der Regel dadurch, dass sie in den kortikoiden. Im Gehirn finden sich an vielen Stellen Gluko-
neuronalen Zielgeweben die synaptische Stärke der neuro- kortikoidrezeptoren, v. a. im limbischen System und dort
nalen Verbindungen (Kap. 4) und/oder die Entladungsei- speziell im Hippokampus, die vermutlich ganz unterschied-
genschaften von Nervenzellen modulieren. Da die Aus- liche Funktionen für Verhalten aufweisen.
schüttung der meisten Hormone endogenen oder kom- Im Geschmacks- und Geruchssinn, den phylogenetisch
biniert endogen-exogenen Zeitgebern (Kap. 22) unterliegt, ältesten Sinnesmodalitäten, zeigen sich deutliche Wirkungen
ändern sich in den betroffenen sensorischen und motori- von Kortisol auf die Wahrnehmungsschwellen, die ebenso
schen Zielorganen die Sensitivität und Erregungsschwellen. wie die Unterschiedsschwellen bei Kortisolanstieg zuneh-
Wenn bestimmte Schwellen unter- oder überschritten wer- men, d. h. die äußeren Reize benötigen eine deutlich höhere
den, so kann dies erhebliche Änderungen in Wahrnehmung Intensität, um noch wahrgenommen zu werden. Dexame-
und Motorik bewirken. Bei Invertebraten mit ihren ein- thason, das den Kortisolspiegel reduziert, hat gegenteilige
fachen Nervensystemen führt dies bis zur völligen Abhän- Effekte. Addison-Patienten (Box 7.5), bei denen die negative
gigkeit von Lokomotion und Reproduktion von der Gegen- Rückmeldung des peripheren Kortisols auf das Gehirn aus-
wart einzelner Hormone. Beispielsweise können Magen fällt, zeigen unbehandelt extrem erniedrigte Wahrneh-
und Herz bei Hummern keine aufeinander abgestimmte, mungsschwellen in allen sensorischen Modalitäten.
synchrone Tätigkeit entfalten, wenn nicht ein Pigment- Das akustische System scheint bereits auf periphe-
hormon die Steuerneurone beider Organe verbinden würde rer Ebene des ZNS durch Kortisol beeinflusst zu sein: der
(»binding«, Abschn. 25.2). Stapediusreflex, bei dem u. a. eine Versteifung der Steig-
bügel im Innenohr die Druckübertragung bei lauten Tönen
Glukokortikoide und Wahrnehmung dämpft (Kap. 18), wird durch Kortisol gehemmt, was für
Wie wir im vorausgehenden Kapitel gesehen haben, sind intensive Töne die Wahrnehmungsschwelle anhebt.
Glukokortikoide der Nebennierenrinde, hier v. a. Kortisol Diese Ergebnisse stützen die allgemeine Feststellung,
(das in der zweiten Nachthälfte ausgeschüttet wird), Be- dass eine psychologische Funktion von Glukokortikoiden
standteil eines komplizierten Regelkreises zwischen Gehirn bei Kurzzeitstress darin bestehen könnte, Überschießen
und Körperperipherie, dessen Einzelfunktionen weit über von peripheren und zentralnervösen Reaktionssystemen zu
eine einfache Stressantwort hinausgehen (Abschn. 7.3.5). verhindern. Die Erhöhung der Wahrnehmungsschwelle
Unterschieden werden muss dabei stets zwischen den »schützt« das ZNS vor weiterem Aufschaukeln der Erre-
durch CRH → ACTH → Kortisol (Abkürzungen Kap. 7) gung nach Belastung.
144 Kapitel 8 · Psychoneuroendokrinologie

. Tabelle 8.1. Einige der viszeralen, kognitiven und Verhaltenseffekte der Neuropeptide

Neuropeptid Wirkort Funktion

Endogene Opioide Rückenmark und Hirnstamm Verursachen Analgesie; reduzieren die Schmerzwahrnehmung;
senken den Blutdruck; beeinflussen das kardiovaskuläre System
Hypothalamus und limbisches System Senken die Körpertemperatur; erhöhen die Nahrungs- und
Flüssigkeitsaufnahme; hemmen sexuelles Verhalten; reduzieren
Stress (hervorgerufen durch Isolation)
Ventrales Tegmentum, Striatum Verursachen Euphorie; regulieren lokomotorisches Verhalten
Neurohypohysenhormone
Oxytozin Thalamus und Hirnstamm Stimuliert mütterliches Verhalten; moduliert Sexualverhalten;
reduziert Gedächtnisspanne
Vasopressin Thalamus und limbisches System, Reguliert Blutdruck; fördert Lernen und Gedächtnis
insbesondere im Hypothalamus
Hypothalamische hypophysiotrope Hormone
Somatostatin Cortex cerebri und Hippokampus Reguliert lokomotorische Aktivität; reguliert Körpertemperatur;
fördert Lernen und Gedächtnis
GHRH (»growth Gehirn Stimuliert die Nahrungsaufnahme, wirkt neuroprotektiv und
hormone releasing antidepressiv
hormone«)
8 CRH (»corticotropin Cortex cerebri, Hippokampus, Koordiniert viszerale Stressreaktion; erhöht Erregung und
releasing hormone«) Hypothalamus und andere Gehirnteile Emotionalität; hemmt Sexualverhalten; beeinflusst Lernen
TRH (»thyreotropin Thalamus, Lobus olfactorius, Hirnstamm Antidepressiv; erhöht Aktivierung, Körpertemperatur und Blutdruck
releasing hormone«)
LHRH (Luteinisie- Olfaktorisches und limbisches System Erhöht Sexualverhalten und neuroendokrine Reaktionen auf
rendes-Hormon- primäre Pheromone
Releasing-Hormon)
Adenohypophysenhormone
Prolaktin MPOA-vordere hypothalamische Hemmt männliches Sexualverhalten; fördert weibliches Aufzucht-
Dopaminfasern verhalten
ACTH und α-MSH Limbisches System, Hippokampus Fördert Aufmerksamkeit, Lernen und Gedächtnis
Gastrointestinale Peptide
Substanz P Gehirn, Rückenmark, Hypothalamus Vermittelt Schmerzsignale; erhöht Erregung und Aktivität; fördert
Sexualverhalten
VIP (vasoaktives Cortex cerebri und limbisches System Fördert Vermeidungslernen; hemmt angstmotiviertes Verhalten
intestinales Peptid)
CCK-8 (Cholezystokinin) Cortex cerebri, olfaktorisches und Analgesie: reduziert Schmerz; reduziert Hunger; schlafanstoßend
limbisches System
Neurotensin Limbisches System und Rückenmark Reduziert Körpertemperatur, lokomotorische Aktivität und
Nahrungsaufnahme; hemmt Schmerz
Insulin Olfaktorisches und limbisches System, Hemmt Hunger und Nahrungsaufnahmeverhalten; im ZNS
Hypothalamus aufmerksamkeitsfördernd
Andere Neuropeptide
Angiotensin Hypothalamus Verursacht Durst und Trinkverhalten; erhöht Blutdruck; reguliert
Flüssigkeitsgleichgewicht
Bombesin Hypothalamus und Mittelhirn Temperaturregelung; hemmt Nahrungsaufnahme; erhöht Blutdruck
Bradykinin Limbisches System und Rückenmark Leitet Schmerz
Neuropeptid Y Hypothalamus und Thalamus Fördert Ess- und Trinkverhalten; reduziert Blutdruck und Körper-
temperatur; fördert Gedächtnis
Delta-Schlaf-induzie- Gehirn, Hypothalamus Schlafanstoßend
rendes Peptid
Atrialer natriuretischer Limbisches System und Gehirn Reduziert Blutvolumen; reguliert Flüssigkeitsgleichgewicht,
Faktor Durst und Trinkverhalten
8.1 · Umwelt, Körperrhythmen und Hormone
145 8

G Die Organisation und Bedeutung von Umweltreizen


einschließlich der Wahrnehmungsschwellen und die
Bildung spezifischer assoziativer Verbindungen
(»Binding«) hängt von der Gegenwart von Hormo-
nen ab.

8.1.2 Biologische Rhythmen


und Hormone

Schlaf und Homöostase


Der regelmäßige Wechsel von Tiefschlaf (SWS, »slow wave
sleep«) und REM-Schlaf (»Rapid-eye-movement«-Schlaf,
»Traumschlaf«, Kap. 22) ist sowohl für die endokrinen Sys-
teme wie für das Immunsystem ein unverzichtbarer Reiz.
Viele endokrine Systeme, z. B. das Wachstumshormon (Ab- . Abb. 8.3. Schlaf und Hormone. Schematische Darstellung der
schn. 7.3) sind während des Schlafs aktiver als im Wachzu- Beziehung zwischen der zyklischen Infrastruktur des Schlafes und
stand. Schlaf hat also auch die Funktion, endokrine Prozesse der ultradianen Rhythmik von GH (Wachstumshormon) und Kortisol.
anzuregen, die tagsüber nicht auslösbar sind. Jede Verände- SWS »slow wave sleep« (langsamer Wellen- oder Tiefschlaf, rot).
rung des Schlafrhythmus, sei es im Laufe der ontogenetischen REM »rapid eye movement« (REM-Schlaf, blau)

Entwicklung des Individuums, sei es durch externe Einflüsse


wie Schlafdeprivation und Schlafstörungen, beeinflussen fähigkeit, da GH im ZNS am Wachstum der Verbindungen
die physiologischen und psychologischen Regulationspro- zwischen den Nervenzellen wesentlich beteiligt ist. Extreme
zesse wichtiger Hormone und des Immunsystems. körperliche Aktivität, Stress und Depression (7 unten) gehen
In der Chronobiologie sprechen wir daher auch von häufig mit Störungen des Schlafes, v. a. des Kernschlafes
»prädiktiver Homöostase« des Schlafes, also seiner Eigen- (Kap. 22), GH-Unterdrückung und Kortisolanstieg einher.
heit, im Voraus zu erwartende Regulationsvorgänge wäh- Die pulsatile ACTH- und Kortisolausschüttung beginnt
rend des Tages in der Nacht zu »antizipieren«. Es ist also mit dem Nadir (Tiefpunkt) des GH-Spiegels mit dem
denkbar, dass eine der wichtigsten oder sogar die wich- 3. Schlafzyklus, allerdings nicht mit einer REM-Phase.
tigste Funktion des Schlafes die Regelung von endokrinen Während der REM-Phasen in der zweiten Nachthälfte
und immunologischen Prozessen darstellt, was verständ- wird der Kortisolanstieg gebremst, er erfolgt nur in den
lich macht, warum Schlafverlust bei allen Vertebraten zu Zwischenstadien 2 und 1 zunehmend intensiv bis zum Auf-
lebensbedrohlichen oder im Extremfall tödlichen Folge- wachen (. Abb. 8.3).
zuständen führt (Kap. 22).
G Wachstumshormon wird in den ersten beiden Nacht-
G Schlaf, v. a. Tiefschlaf am Beginn der Nacht, ist für stunden im Tiefschlaf, Kortisol mit zunehmender
die prädiktive Homöostase vieler Organfunktionen Präsenz der Schlafstadien 1 und 2 (»oberflächlicher
notwendig. Schlaf«) gegen Morgen ausgeschüttet.

Wachstumshormon und Kortisol Kortisol und Immunsuppression


Wachstumshormon (GH, »growth hormone«) und Kortisol Während Glukokortikoide in physiologischer Konzentration
haben nicht nur viele einander entgegengesetzte physio- die Freisetzung vieler Zytokine hemmen (Kap. 9) und somit
logische und psychologische Eigenschaften, sie zeigen auch etwas verallgemeinert immunsuppressiv (Abschn. 7.3.5)
eine genau entgegengesetzte ultradiane Periodik. . Abb. 8.3 wirken, hat GH einen immunstimulierenden Effekt. Dieser
zeigt den Verlauf von GH und Kortisol (Kap. 7) im Verlauf gegenläufige Zusammenhang könnte die erhöhte Krank-
eines etwa 7- bis 8-stündigen Schlafes. GH wird dabei nur heitsanfälligkeit im Alter (»Kernschlaf« und GH reduziert)
während der ersten beiden Schlafzyklen ausgeschüttet. und nach lang anhaltender Hilflosigkeit und Depression er-
Nicht der Tiefschlaf selbst (also Stadium 3 und 4, SWS, klären (Abschn. 26.3). Der Kortisolanstieg in der 2. Nacht-
Kap. 22) wirkt als Auslöser der Ausschüttung, sondern der hälfte begünstigt auch das Auftreten der mit verstärkter
Beginn des 1. und 2. Schlafzyklus. REM-Tätigkeit einhergehenden Labilisierung des kardialen
Das Maximum der GH-Produktion im ersten Teil der Systems, Herz-Kreislauf-Störungen kommen daher in der
Nacht erklärt viele der negativen Effekte der Schlafdepriva- 2. Nachthälfte häufiger vor.
tion (Kap. 22) gerade dieser auch als »Kernschlaf« bezeichne-
ten Abschnitte der zirkadianen Periodik: Hemmung des Kör- G Mit Verlust des Kern- oder Tiefschlafes geht eine
perwachstums und der kognitiven Entwicklung und Lern- Schwächung des Immunsystems einher.
146 Kapitel 8 · Psychoneuroendokrinologie

8.2 Emotionen und Hormone

8.2.1 Soziale Bindung, Bindungsverhalten

Bindung und Lernen


Obwohl Entstehung und Aufrechterhaltung sozialer Bin-
dungen primär gelernt werden, wird die Wahrscheinlich-
keit (aktivierend) und Art (organisierend) von Bindungs-
reaktionen von unterschiedlichen Hormonen determiniert
und umgekehrt führen Bindungsverhaltensweisen zu einem
charakteristischen Muster hormoneller Reaktionen. Der
Aufbau von Bindungsverhalten, der beim Menschen sofort
nach der Geburt beginnt, hat durchaus den Charakter eines
angeborenen nicht-homöostatischen Triebes (Kap. 25),
. Abb. 8.4. Körperrhythmen und Hormone. Schematische Darstel- wird aber sofort nach der Geburt durch Lernvorgänge weit-
lung des endokrinen Systems und seiner Beziehung zu rhythmus- gehend bestimmt. Da Bindungsmotivation Voraussetzung
gebenden Strukturen. Hormone im Blutkreislauf sind rot gedruckt. für das Zusammenleben in Gruppen ist und das soziale Zu-
SCN Nucleus suprachiasmaticus, TSH Thyroid-stimulierendes Hormon,
sammenleben auch unabhängig von Reproduktions- und
FSH Follikel-stimulierendes Neuron, LH luteinisierendes Hormon,
ACTH adrenokortikotropes Hormon
Sexualtrieb sichert, muss seine physiologische und neuro-
chemische Grundlage universell in allen höheren Tieren
vorhanden sein, die dauerhaft oder vorübergehend in
8 Gruppen überleben müssen.
Melatonin Die Auflösung von Bindung durch Trennung erzeugt
Das Peptidhormon der Zirbeldrüse wird beim Menschen Hilf- und Hoffnungslosigkeit, wie sie beim Menschen in
nur in Dunkelheit ausgeschüttet und steht bei Säugern schweren Depressionen zum Ausdruck kommt. Hilf- und
unter Kontrolle des N. suprachiasmaticus (Kap. 22), des Hoffnungslosigkeit sollten daher exakt die gegenteiligen
stärksten zirkadianen Oszillators, der primär die zirka- physiologischen Prozesse aufweisen wie Bindungsreaktio-
dianen Schlaf-Wach-Zyklen, weniger die infradianen Zyklen nen und sich gegenseitig hemmen.
der Körpertemperatur und des Kortisols regelt. Licht unter- Beim Menschen und höher entwickelten Säugern sind
drückt die Melatoninausschüttung, was in . Abb. 8.4 durch die angeborenen physiologischen Prozesse für Bindungs-
die Verbindungen Retina → N. suprachiasmaticus, Zirbel- verhalten Voraussetzung für Lernprozesse, die v. a. im
drüse und die Hypophyse symbolisiert wird. . Abb. 8.4 Jugend- und Erwachsenenalter Bindungs»trieb« und Bin-
zeigt, dass der N. suprachiasmaticus nicht nur das Melato- dungsfertigkeiten dominierend bestimmen. Untersuchun-
nin, sondern auch die zeitliche Rhythmisierung der Aus- gen an depressiven Menschen und Menschenaffen haben
schüttung der Schilddrüsenhormone, Sexualhormone und gezeigt, dass in der Entwicklung der gesamte Kontext (ört-
Stresshormone bestimmt. liche und zeitliche Zusammenhänge) früher Bindungser-
Die Wirkungen von Melatonin auf das Immunsystem fahrung im Gedächtnis niedergelegt wird und kontinuier-
besprechen wir in Kap. 9. Auf noch unbekannte Art scheint lich mit den aktuellen sozialen Situationen verglichen wird.
Melatonin die verschiedenen Körperrhythmen, einschließ- Verlust oder Trennung verletzen die im Gedächtnis gespei-
lich der Hormonrhythmen zu synchronisieren: seine Gabe cherten Bindungserwartungen und führen zu Hilflosigkeit
unmittelbar vor oder nach langen Flügen mit verkürzten und Depression (7 unten und Kap. 27).
Nächten (Jetlag, Kap. 22) resynchronisiert bei manchen
G Mit Verlust oder Trennung von sozialen Bindungen
Personen die verschiedenen Körperrhythmen, allerdings
gehen Schädigungen von Lern- und Gedächtnis-
bisher in nur geringem Ausmaß (bezüglich seines Einflusses
prozessen einher.
auf affektive Störungen Kap. 22 und 27). Insgesamt hat also
Melatonin einen synchronisierenden Einfluss auf endogene
Rhythmen. Unterfunktion könnte daher zu Desynchroni- Oxytozin und Bindungsverhalten
sation von Rhythmen mit Schlafstörungen und affektiven Oxytozin (OT) ist ein Neuropeptid (Abschn. 7.3.2), das in
Störungen, Überproduktion zu hypersynchronen, inflexib- der Evolution erst mit der Entwicklung von Säugetieren
len Rhythmen führen, wie z. B. Jetlag. auftritt. Wie in Kap. 7 dargestellt, erfüllt es die Funktion der
Auslösung der Milchejektion in der weiblichen Brust und
G Melatonin synchronisiert unter dem Einfluss des der Uteruskontraktionen bei Geburt und im Sexualverkehr.
zirkadianen Oszillators endogene Rhythmen und Es wird primär im N. paraventricularis (PVN) und dem
trägt zur Erholung der Immunkompetenz in der N. supraopticus (SON) des Hypothalamus synthetisiert
ersten Nachthälfte bei. (Kap. 5). Deren Neurone projizieren in den Hypophy-
8.2 · Emotionen und Hormone
147 8

. Abb. 8.5. Funktionen des Hormons Oxytozin (Erläuterung 7 Text)

senhinterlappen. Neben diesem »Hauptproduktionsweg« ihren Partner lebenslang beibehalten und auch physisch-
findet sich aber OT auch im limbischen System und den geographisch mit ihm verbunden bleiben, zeigen in limbi-
autonomen Kernen des Hirnstamms. Diese extrahypotha- schen und hypothalamischen Hirnregionen eine deutliche
lamischen Fasern und Kerne sind von dem hormonellen vermehrte Anzahl von OT-Rezeptor-Bindungsorten, wobei
Weg zur Hypophyse und in den Blutstrom teilweise unab- zwischen beiden Geschlechtern in der Regel kein Unter-
hängig. schied besteht. Auch die innerartliche Aggression ist bei
. Abb. 7.9 zeigt den engen Zusammenhang zwischen diesen Tierarten geringer.
neuronaler, hormonaler und motorisch-psychologischer Insgesamt scheint die Gegenwart des Neuropeptids OT
Aktivität beim Saugverhalten, das als prototypische Situa- im ZNS sozialen Kontakt jeder Art, nicht nur sexuellen,
tion zur Entwicklung von Bindung beiträgt. Zumindest im belohnend zu machen und dies in Kooperation mit opioi-
Tierversuch ist es aber der auf den hypophysären Anstieg den Peptiden und Opioidstrukturen: die positiv verstärken-
der Ausschüttung folgende Anstieg des zentralen OT, der de Wirkung der intrakraniellen Reizung von opioiden
das Interesse des Muttertiers auf das Junge lenkt. Für die Hirnstrukturen wird im sozialen Kontext bei der Ausbil-
Entwicklung des Bindungsgefühls, das beim Erwachsenen dung von Bindungen wahrscheinlich durch die gemein-
häufig mit sexueller Aktivität einhergeht, ist ebenfalls das same Wirkung von OT und β-Endorphinen erzeugt. Jeden-
zentrale OT verantwortlich. Während sexueller Aktivität falls steigen in den Belohnungsstrukturen (Kap. 26 und 27)
erhöht sich die Verfügbarkeit von OT an den Synapsen in beide Neuromodulatoren in solchen sozialen Situationen
beiden Geschlechtern, ausgelöst durch Reizung der Sexual- an. Auch Kurzzeitstress (7 unten) mit Anstieg von Kortisol,
organe. Sexuelles Interesse wird durch Mikroinjektionen Vasopressin und Oxytozin fördert mütterliches und väter-
von OT in den PVN in beiden Geschlechtern (bei der Ratte) liches Sorgeverhalten und Bindung, sowohl vor wie auch
erhöht. Andererseits steigt OT in der Refraktärphase des nach der Geburt eines Kindes.
Orgasmus an (Abschn. 26.3). . Abb. 8.5 gibt eine Zusam-
G Ohne das Oxytozin-Gen kommt es zu sozialer Am-
menfassung der wichtigsten physiologischen Mechanismen
nesie, während Oxytozin zusammen mit endogenen
von OT und deren Effekte auf Verhalten.
Opioiden sozialen Kontakt belohnend erleben lässt.
G Die Entwicklung und Aufrechterhaltung sozialer
Bindungen hängt vom Vorhandensein von Oxytozin 8.2.2 Aggressives Verhalten
(OT) im ZNS ab.
Medialer Hypothalamus und Aggression
Soziale Bindung und Partnerschaft Die neuronalen und psychophysiologischen Grundlagen
Obwohl Oxytozin und Vasopressin (das antidiuretische von Aggression besprechen wir ausführlich in Kap. 27. An
Hormon, ADH) völlig unterschiedliche periphere Funk- dieser Stelle soll nur der Zusammenhang mit männlichen
tionen haben, fördern beide Sexualverhalten und soziale und weiblichen Sexualhormonen diskutiert werden. Wie
Bindung. Oxytozin- und Vasopressin-Knock-Out-Mäuse wir in Kap. 26 sehen werden, sind die verschiedenen Formen
(Kap. 23), denen die Gene zur Synthese dieser beiden Neuro- aggressiven Verhaltens, die ganz unterschiedliche Funk-
peptide fehlen, zeigen soziale Amnesie: Sie können oder tionen im sozialen Kontext haben, zum Großteil gelernt,
»wollen« ihre Partner nicht mehr erkennen. Besonders auf- benötigen aber neben spezifischen Schlüsselreizen aus der
schlussreich sind vergleichende Studien über die Rolle des Umwelt (z. B. männlicher Konkurrent um ein weibliches
OT für die Bindung von Partnern. Monogame Tiere, die Tier) eine Senkung innerorganismischer Schwellen für
148 Kapitel 8 · Psychoneuroendokrinologie

diese Reize. Diese Schwellensenkung wird bei innerart- Tierarten, bei denen die weiblichen Tiere ein hohes Testos-
licher physischer Aggression v. a. von Kernen des medialen teronniveau aufweisen, wie Hyänen, zeigen auch deutlich
Hypothalamus bewirkt, der als oberste Koordinations- erhöhtes Aggressionsverhalten. Sie dominieren die männ-
struktur für aggressives Verhalten dient. lichen Mitglieder der Horde, die gegenüber den weiblichen
Zur Vereinfachung wollen wir hier nur zwischen defen- submissives Verhalten zeigen. Die Interpretation dieser Tat-
sivem und beutebezogenem (»predatory«) Angriff unter- sache wird aber durch 2 Faktoren schwierig:
scheiden und uns auf beutebezogene Aggression konzent- 4 Weibliche und männliche Organismen mit erhöhtem
rieren; wie in Kap. 27 ausgeführt, sind die verschiedenen Testosteron sind auch körperlich in der Regel über-
Aggressionsformen auch mit verschiedenen neurophysio- legen.
logischen Prozessen korreliert. Angesichts der Tatsache, 4 Erfolgreiche Aggression erhöht bei Säugetieren wie
dass in industrialisierten Gesellschaften physische Aggres- dem Menschen selbst wieder das Androgenniveau.
sion weitgehend ihre Funktion verloren hat, ist die beutebe-
zogene Aggression, wie sie beim Menschen (primär beim Eine dauerhaft submissive Rolle eines Tieres reduziert
jungen Mann) in kriegerischen und kriminellen Akten zum permanent dessen Androgenspiegel unabhängig vom Ge-
Ausdruck kommt, besonders wichtig. schlecht, soziale Überlegenheit, bzw. beim Menschen die
Attribution (kognitive Zuschreibung) sozialer Dominanz
G Die Schwellensenkung für beutebezogene Aggres-
erhöht die Androgenproduktion.
sion findet im medialen Hypothalamus statt.
Die Gabe weiblicher Sexualhormone, v. a. von Östradiol
hemmt bei den meisten untersuchten Tierarten die Aggres-
Geschlecht, Testosteron und Aggressivität sivität, unabhängig davon, ob das Östradiol systemisch in
Die Sexualhormone Testosteron und die Östrogene kom- den Blutkreislauf oder direkt in den Hypothalamus gegeben
8 men im ZNS selbst als Neuromodulatoren vor, können aber wird. Beim Menschen ist dies aber bisher nicht ausreichend
auch leicht die Blut-Hirn-Schranke überschreiten und bin- untersucht.
den sich in den verschiedensten Hirnregionen an die pas-
G Weibliche Tiere mit hohem Testosterongehalt wie
senden Rezeptoren. . Abb. 26.17 zeigt, dass Testosteron-
einige Hyänenarten weisen neben maskulinen
und Östrogenrezeptoren weit verbreitet sind und v. a. im
Körpermerkmalen auch erhöhte Aggressivität auf.
limbischen System und Hypothalamus ihre höchste Kon-
zentration erreichen. Sie sind aber auch im Großhirn und
Hippokampus vorhanden. Der Großteil von Gewalttätig- Androgene und fetale Entwicklung
keiten, die die Menschheit seit ihrem Bestehen, besonders Die Zirkulation von Androgenen während der Schwanger-
aber in ihrer »technisierten Version« belastet, geht von schaft hat zweifellos einen organisierenden Einfluss auf die
jungen Männern aus, die eine hohe Produktion von Testo- anatomisch-physiologische Zusammensetzung limbischer
steron aufweisen (Abschn. 26.3.4). Andererseits korreliert und hypothalamischer Kerne und Verbindungen und wirkt
beim erwachsenen Mann das Testosteronniveau schwach damit spezifisch auf Verhalten. Diese Aussage gilt für sexu-
positiv mit beobachtbarem physisch-gewalttätigem Ver- elle Orientierung, ist aber für aggressive Reaktionen nicht
halten. Für die Bedeutung des Testosterons auch bei anti- gesichert (Kap. 26). Erhalten z. B. schwangere Rhesusaffen
sozialem Verhalten von Erwachsenen spricht, dass Kastra- während der ersten 100–130 Tage der Schwangerschaft An-
tion oder reversible Blockade von Testosteronausschüttung drogene, so zeigen die pseudohermaphroditischen weibli-
oder Testosteronrezeptoren mit Zyproteronazetat oder chen Affen typisch männliche »raue« Spielarten, Drohun-
Medroxiprogesteronsäure (MPA) bei Gewaltverbrechern gen und Besteigungsversuche. Werden die Androgene da-
mit hohem Testosteronniveau eine Reduktion von physisch gegen früher (40–60 Tage) gegeben, so sind erwartungsgemäß
aggressivem Verhalten bewirkt, wenngleich unklar bleibt, die männlichen Genitalien deutlicher ausgebildet und
inwieweit dieser Effekt nicht auch auf die allgemeine Le- auch das sexuelle Verhalten und die Orientierung deutlich
thargie und gedämpfte Stimmung nach Kastration zurück- »männlicher«, wenngleich das Ausmaß aggressiven Verhal-
geht. Unbestritten bleibt, dass ein minimaler Testosteron- tens von sozialen Gruppeneinflüssen (z. B. dominantes
spiegel vor und nach der Geburt vorhanden sein muss, Tier) mehr bestimmt wird.
damit aggressives Verhalten überhaupt auftreten kann.
G Je nach Zeitpunkt der Wirkung von Androgenen
G Der Zusammenhang zwischen Testosteronproduk- während der Schwangerschaft, sind die organi-
tion und Aggression ist beim Erwachsenen nur sierenden Einflüsse auf Gehirn und Verhalten ver-
schwach positiv. schieden.

Weibliche Aggression Sieg und Niederlage


»Du Hyäne!« Dieser oft als Fluch gegenüber Frauen ge- Im erwachsenen männlichen und weiblichen Affen (und
brauchte Ausdruck hat eine »wahre« ethologische Wurzel. Menschen?) wird zwar der soziale Rangplatz nur teilweise
8.3 · Stress und Hilflosigkeit
149 8

von Aggression bestimmt (Kap. 26), wohl aber steigt der 4 Vorerfahrung mit Stress (Immunisierung versus Ȇber-
Testosteronspiegel nach Erreichen eines »Führungsranges« wältigtsein«), die Lerngeschichte einer Person (z. B.
und Alpha-Tiere behalten einen erhöhten Spiegel bei, bis frühe Vernachlässigung, Missbrauch),
sie ihren Rangplatz wieder verlieren. Dies gilt allerdings nur 4 Dauer und Häufigkeit von Stressreizen,
für jene Tiere, deren Rangposition durch Konkurrenz ge- 4 konstitutionelle psychologische und physiologische
fährdet ist. Faktoren (»Stressempfindlichkeit«, Persönlichkeit),
Untersuchungen in der natürlichen Umgebung von 4 tonischer Ausgangs-(Aktivierungs-)zustand des Lebe-
Rhesusaffen zeigen, dass die subjektive Bewertung und wesens vor und während Stressreizen (einschließlich
Bewältigung von Sieg oder Niederlage den entscheiden- zirkadianer und ultradianer und anderer Periodizitäten
den Einfluss auf das Androgenniveau erwachsener Tiere und Schlafstadien),
hat: bringt man ein männliches Tier von seiner ange- 4 soziale Stützung und Bindung (»social support«),
stammten, vertrauten in eine neue Gruppe, in der es sich 4 motorische »Abfuhrmöglichkeiten« (z. B. regelmäßiger,
durch Kampf zu behaupten hat und lässt die Unterlegenen nicht-kompetitiver Sport).
danach allein, so bleibt deren Androgenspiegel niedrig,
der Kortisolrhythmus ist wie in der Depression gestört, Diese Aufzählung zeigt deutlich, dass bis auf den ersten
Kortisol erhöht und es treten somatische Symptome auf. Einflussfaktor die subjektive Bewertung durch das Zentral-
Erlaubt man diesen Tieren aber nach der Niederlage mit nervensystem der entscheidende Parameter für das Aus-
einem weiblichen Tier oder der vertrauten Horde zu inter- maß der Stressreaktion ist. Eine »objektive« Messung ist
agieren, so steigt das Testosteronniveau rasch wieder auf daher ohne Beachtung und Erfassung dieser subjektiven,
Normalwerte an. Die überlegenen Tiere (»Sieger«) da- zentralnervösen Ursachefaktoren nicht möglich.
gegen behalten ein erhöhtes Androgenniveau bei. Ande-
G Die Wirkung von Stressreizen auf das Nervensystem
rerseits zeigte sich, dass stark aggressive Reaktionen, auch
und Hormone hängt mehr von subjektiv-psycholo-
über Stunden des Kampfes, keinen Effekt auf Testosteron
gischen als objektiv-physikalischen Bedingungen
zeigten, wenn das aggressive Verhalten zu keinem klaren
ab, besonders von der Verfügbarkeit von Bewälti-
Ergebnis, Sieg oder Niederlage, führte. Diese Ergebnisse
gungsverhalten.
stimmen auch mit Humanuntersuchungen an Sportlern
überein, die zeigen, dass eher die subjektive Stimmung und
Gewinnerwartung vor, während und nach dem Wettkampf Gelernte Hilflosigkeit
das Androgenniveau bestimmte als das Ergebnis der Aus- Ein Modellbeispiel für die Konsequenzen anhaltender er-
einandersetzung. folgloser Bewältigung von Stress ist gelernte Hilflosigkeit
oder gelernte Unkontrollierbarkeit.
G Das Androgenniveau wird auch durch Antizipation
Die experimentelle Anordnung zur Untersuchung
und Bewertung von Sieg und Niederlage bestimmt.
der Effekte gelernter Hilflosigkeit ist dabei prinzipiell für
verschiedene Spezies und Menschen ähnlich: Die Tiere der
8.3 Stress und Hilflosigkeit Experimentalgruppe (EG) erhalten vor dem eigentlichen
Test für Hilflosigkeit (meist 24 h vorher) mehrere unkont-
8.3.1 Stressbewältigung rollierbare, intensive schmerzhafte Reize, denen sie weder
entfliehen, noch die sie vermeiden können. Die Kontroll-
Wirkung von Stressreizen gruppe (KG1) erhält keine aversiven Reize und die KG2
Wir werden uns in Kap. 26 noch ausführlich mit Stress, exakt dieselben aversiven Reize (Jochkontrolle, »yoked
Angst und Hilflosigkeit auseinandersetzen, in Abschn. 7.3.5 control«) mit Fluchtmöglichkeit, das Tier kann eine Taste
haben wir die wichtigsten hormonellen Reaktionen auf bewegen. (Die Fluchtmöglichkeit stellt in diesem Fall nur
belastende Ereignisse bereits definiert. In Kap. 9 befassen eine »Illusion« dar, da dieselben unangenehmen Reize wie
wir uns ausführlich mit der Wirkung von Stress auf das Im- in der EG gegeben werden).
munsystem. In diesem Abschnitt wollen wir uns mit den In der Testbedingung 1–24 Stunden später, werden die
adaptiven Wirkungen von durch Stress ausgelösten Hor- Tiere aller Gruppen in dieselben Käfige gebracht und erhal-
monen auf Physiologie und Verhalten befassen. ten Vermeidungsmöglichkeiten (z. B. zwei-Weg-aktives
Die Wirkung von Stressreizen (in der Regel aversive Vermeiden: auf ein Lichtsignal über die Barriere in das
Reize) beim Menschen hängt von verschiedenen Faktoren »sichere« Abteil springen). Dabei treten im Wesentlichen
ab, die miteinander interagieren: 2 Effekte in der Experimentalgruppe (EG) auf:
4 objektive, physikalische Intensität der aversiven Reize, 4 motorische Defizite (Bewegungslosigkeit oder Bewe-
4 subjektiv-psychologische Intensität der aversiven Reize gungsstereotypien) und
(Bewertung und Ursachenzuschreibung), 4 assoziative Defizite (kein Vermeidungslernen für be-
4 Vermeidungs- und Bewältigungsmöglichkeit (»coping«) stimmte Zeitspanne; Leistungsabfall in Lern- und Kon-
der Reizsituation, zentrationsaufgaben beim Menschen).
150 Kapitel 8 · Psychoneuroendokrinologie

Die negativen Folgen von gelernter Hilflosigkeit sind am und Langzeitfolgen von Belastung. Pathophysiologische
stärksten, wenn ein bisher erfolgreiches Vermeidungsverhal- Konsequenzen treten nur auf, wenn die Stressreaktion zu
ten plötzlich bestraft wird, also negative Konsequenzen hat. lange (chronische Stressoren), zu häufig oder ohne physio-
logische Notwendigkeit (z. B. ohne Fluchtmöglichkeit) wie
G Gelernte Hilflosigkeit führt zu motorischen und kog-
bei psychologisch-sozialen Stressoren auftritt.
nitiv-assoziativen Störungen.
G Stress führt erst nach längerer Zeit zu Störungen von
Das generelle Adaptationssyndrom spezifischen homöostatischen Körpervorgängen.
Das ursprünglich als generell angesehene Stress-
Bereits die Vorsokratiker und später Hippokrates sahen die
adaptationssyndrom ist aber sehr spezifisch vom
Entstehung von Krankheit als Konsequenz des Verlustes
Kontext und den Stressreizen und Bewältigungsver-
des harmonischen Gleichgewichts zwischen Organismus
haltensweisen abhängig.
und Umwelt. Die Vorstellung einer Harmonie zwischen
den Umweltanforderungen und Möglichkeiten des Indi-
viduums darauf zu reagieren, beherrscht bis heute die ver- Kurzzeit- und Langzeitstress
schiedenen Versuche, Stress zu definieren. Diese Vorstel- Zur Kurzzeit-Bewältigung sind rasch Energie mobilisieren-
lung eines allgemeinen Gleichgewichts wurde im 20. Jahr- de Stressreaktionen und die Hemmung von Langzeit-
hundert durch den Begriff der Homöostase von Walter Energiespeicherung notwendig: die Aktivierung der Hypo-
Cannon ersetzt (Kap. 6 und 7). Cannon (1871–1945) und thalamus-Hypophysen-Nebennierenrindenachse (Abschn.
Hans Selye (1907–1982), der den Stressbegriff entwickelte, 7.3.5) erfolgt innerhalb von Minuten, die des sympathischen
sahen Stress als unspezifische Antwort des Organismus auf Nervensystems und der Katecholamine in Sekunden. Die
die Störung des homöostatischen Gleichgewichts und als Insulinsekretion (Speicherung von Glukose) wird gehemmt
8 den Versuch, dieses Gleichgewicht wiederherzustellen. und Glukose im Blutstrom der Muskulatur vermehrt zur
Selye sprach daher von einem generellen Adaptationssyn- Verfügung gestellt (erhöhter Zucker unter Stress). Zusam-
drom (. Abb. 8.6), da die Stressreaktionen auf unterschied- men mit den kardialen sympathischen Erregungen wird so
liche Reize scheinbar ähnlich ausfielen. Dabei betonte er, die Effizienz von Muskelarbeit (Kampf – Flucht) erhöht.
dass weniger physikalisch definierbarer Stress (z. B. Lärm) Sexuelle Reproduktionseffizienz, ein »optimistischer«
als die subjektiv erlebte Belastung darüber entscheidet, ob Langzeitmechanismus, wird durch Unterdrückung der
eine dauerhafte Störung der Körperhomöostasen und Sexualhormone reduziert. Schmerzwahrnehmung (Stress-
Krankheit oder ob Adaptation eintritt. analgesie, 7 unten und Kap. 16) und Langzeit-Entzündungs-
Angesichts der Schwierigkeit, eine allgemeine Homöo- prozesse werden ebenfalls gehemmt, sie würden die Kurz-
stase für den gesamten Organismus anzugeben, werden zeitadaptation nur behindern (Kap. 9).
heute spezifische physiologische und pathophysiologische
G Kurzzeitstress mobilisiert Energiereserven, Langzeit-
Reaktionen in Abhängigkeit von ebenso spezifischen psy-
stress unterdrückt sie.
chologisch definierten aversiven Umgebungsbedingungen
beschrieben.
. Abb. 8.6 zeigt die von Selye postulierten 3 Phasen der Verlauf der Stressbewältigung
Stressreaktion Alarm, Widerstand und Erschöpfung. Da Bei wiederholten Stresssituationen hängt der Verlauf kör-
Erschöpfung, die mit Entleerung der Hormone aus ihren perlicher und ZNS-Änderungen vom Resultat der Bewäl-
Speichern und Veränderungen an den Rezeptoren einher- tigungsversuche ab. Untersucht wurde dies z. B. bei Fall-
geht, selten auftritt, unterscheidet man heute eher Kurzzeit- schirmspringern, Lärm am Arbeitsplatz oder Ängsten und
Depressionen.
Während der ersten Konfrontationen mit dem nega-
tiven Ereignis kommt es zu deutlichem Anstieg der Hypo-
physen-Nebennierenrinden- und Nebennierenmarkakti-
vität (. Abb. 8.7), sowie entsprechender peripher-autono-
mer physiologischer Prozesse. Herzrate, Hautwiderstand,
Blutdruck, Muskelaktivität, periphere Glukokortikoide,
peripheres Adrenalin, Noradrenalin, Wachstumshormon,
Endorphine und ACTH steigen, Hautwiderstand sinkt,
Testosteron und Insulin werden gehemmt.
Mit zunehmend erfolgreicher Bewältigung (z. B. erfah-
rene Fallschirmspringer) verschiebt sich der Zeitpunkt er-
höhter Aktivierung vom erwarteten Stressereignis zeitlich
nach vorne und die Intensität der Aktivierung lässt nach
. Abb. 8.6. Die Phasen der Stressreaktionen und geht subjektiv in positive Bereiche (»Freude an der
8.3 · Stress und Hilflosigkeit
151 8

nennen wir dies aktive Bewältigung (»active coping«), und


es treten nach erfolglosen oder bestraften Bewältigungsver-
suchen bevorzugt Schäden des kardiovaskulären Systems,
Erkrankungen im Muskel und Halteapparat (chronische
Muskelschmerzen z. B.) auf; erfolgt die Bewältigung mehr
durch Rückzug und Passivität, so nennen wir dies passive
Bewältigung (»passive coping«) und die Organschäden
sind mehr im Einflussbereich der Kortikosteroide auf die
intestinalen Systeme, einschließlich des Immunsystems
konzentriert (z. B. Zwölffingerdarmgeschwüre, Asthma).
G Die Konsequenzen der Bewältigung von Stress
bestimmen den Verlauf der physiologischen Anpas-
sung an Stress. Vor allem aktive Bewältigung und
Konfrontation mit der Belastung reduziert die Stress-
antwort. Wiederholt erfolglose oder bestrafte
Bewältigung führt zu Krankheit.

8.3.2 Stress und Gehirn

Allostase
Wie wir gesehen haben, wird die Aktivität des Hypotha-
lamus-Hypophysen-Nebennierensystems durch die Stärke,
Dauer und Häufigkeit der Stressreize, ihrer subjektiven Be-
wertung (Attribution) und Bewältigung, die genetische Vul-
nerabilität des Individuums, Vorerfahrung (Gedächtnis) mit
Stress und die zirkadiane Periodik bestimmt. In all diesen
Vorgängen nimmt das Gehirn die entscheidende Stelle in
dem komplexen Wirkungsgefüge ein, wie auf . Abb. 8.8 dar-
gestellt. Im Gehirn wirkt v. a. das hypothalamische CRF-Sys-
tem angstauslösend, erregend und immunosupressiv. Die
Glukokortikoide als negativer Feedbackreiz bewirken die
. Abb. 8.7. Das Hypothalamus-Hypophysen-Nebennierenrinden-
system. Noradrenerge (NA), cholinerge (ACh) und serotonerge Ein-
Begrenzung und Gegenregulation der Hyperaktivität dieses
flüsse in den Hypothalamus beeinflussen die Ausschüttung des Kor- Systems. Bei wiederholtem oder anhaltendem Stress versagt
tikotropin-Releasing-Factors (CRF), der die Ausschüttung von ACTH allerdings die Gegenregulation, wobei dieses Versagen von
aus dem Hypophysen-Vorderlappen (HVL) veranlasst. ACTH wiederum plastischen Veränderungen der daran beteiligten Hirnregio-
regt die Glukokortikoidausschüttung der Nebennierenrinde an.
nen als Folge von Lernprozessen verursacht wird.
Gleichzeitig erregt es die hemmenden NA-Neurone des Hypothala-
mus. Die Glukokortikoide selbst hemmen die Ausschüttung sowohl
Dabei wird die Störung der Homöostase (Kap. 7) auch
von CRF als auch ACTH und die Nebennierenrindenaktivität. Stress häufig als Allostase (von griech. Ungleichgewicht) und die
und Hilflosigkeit stimulieren die CRF-Ausschüttung, zirkadiane Rhyth- Langzeitfolgen von Stress und der Übergang zu Krankheit
men bestimmen die Schwankungen der Grundkurve der Hormone als allostatische Belastung bezeichnet. Schlaf, Gedächtnis
(. Abb. 7.11). Die schnelle sympathische Aktivierung des Neben-
und Stressbewertung und -bewältigung sind im Gehirn
nierenmarks ist rechts eingezeichnet
miteinander verbunden, was ihre hormonellen Gemein-
samkeiten deutlich machen. Die hinter diesen Verhaltens-
Gefahr«) über, was mit Anstieg des Sexualhormons Testos- kategorien wirkenden Prozesse bestimmen, ob Krankheit
teron einhergeht. Bei Bestehenbleiben der Belastung und entsteht.
neuen Vermeidungsversuchen bleiben einige der hormo-
G Bei Langzeitstress ohne Bewältigung brechen die
nellen und autonomen Reaktionen erhöht, auch in Zwi-
homöostatischen Gegenregulationen der Hormon-
schen- und Ruhezeiten, Immunsuppression (reduzierte
systeme zusammen und es kommt zu Allostase und
T-Lymphozyten-Zellaktivität) und eine Reihe anderer –
Krankheit.
oft durch anhaltende Kortikosteroidaktivität verursachte –
Organschäden treten auf (somatische Krankheiten, früher
oft als psychosomatisch bezeichnet, 7 unten). Stress, Noradrenalin und Zellverlust
Ist der (vergebliche) Bewältigungsversuch mehr soma- Unkontrollierbarer Stress verlängert die periphere und
tisch-muskulär orientiert (Kampf-Flucht-Reaktion) so zentrale Katecholaminproduktion. Tyrosin, die Vorstufe
152 Kapitel 8 · Psychoneuroendokrinologie

. Abb. 8.8. Krankheitsentstehung durch psychosoziale Einflüsse (7 Text)

. Abb. 8.9a–c. Stress und Zellverlust im Hippokampus. Projektion Atrophie der apikalen Dendriten der CA3-Zellen. c Adrenalektomie
vom G. dentatus (DG) auf CA3-Pyramidenneurone des Hippokampus. bewirkt Absterben der Neurone im DG, die durch neue ersetzt werden,
a Normale Verbindungen. b Chronische Gabe von Kortikosteron aber CA3-Neurone bleiben ausgespart
oder wiederholter Stress durch Bewegungseinschränkung bewirkt

der Katecholamine, wird im Locus coeruleus und den melancholischer Depression auch in der Amygdala und
Kernen des Sympathikus (Kap. 5) bei wiederholtem, im präfrontalen Kortex gefunden wurde, könnte beim
andauernden Stress vermehrt synthetisiert. Neben der Menschen mit den als »Muselmanen« in Auschwitz be-
Erhöhung der selektiven Aufmerksamkeit für die Stress- schriebenen apathischen Syndromen mit Verlust der ex-
reize wird dadurch auch die Erregbarkeit im Hippokampus pliziten Gedächtnisspeicherung (Amnesien) einhergehen
gesteigert und damit die implizite Einprägung der emotio- (Box 8.1).
nalen Reize verstärkt. Dasselbe passiert in der Amygdala, Desensibilisierung (oder auch Immunisierung genannt)
wo durch die erhöhte Vermeidungstendenz (mit ver- des Organismus durch langsame und vermehrt intensive
besserter Einprägung der traumatischen Situationen) und wiederholte Konfrontation mit den Stressreizen und
Symptome von Depression, Angst und posttraumatischer der Möglichkeit der Bewältigung begrenzt die allostatische
Stressstörung (PTSD) erzeugt werden. Bei extrem inten- Auslenkung der Nebennieren-Hypophysen-Achse.
sivem und anhaltendem Stress im Tierversuch wurde
allerdings auch als Endzustand eine Entleerung der NA- G Bei extremen Stressreizen kann es bei genetischer
Speicher im Gehirn berichtet, was allerdings stets auf die Verletzlichkeit des Individuums zu Noradrenalin-
Erhöhung der NA-Produktion folgte. Dieser Endzustand, bedingter verstärkter emotionaler Einprägung und
bei dem auch reversible oder permanente Atrophie mit zu Zellverlust im Hippokampus kommen (Posttrau-
Zellverlust im Hippokampus (. Abb. 8.9, Box 8.1) und bei matische Belastungsstörung).
8.3 · Stress und Hilflosigkeit
153 8
Stress und Serotonin betrachten, sondern primär die Syntheseraten der Re-
Innerhalb des Serotoninsystems (Kap. 4 und 5) muss man zeptoren.
mit gegensätzlichen Effekten bei Aktivierung rechnen: Unteraktivität des Serotoninsystems im ZNS dagegen
während bei starken und anhaltenden Stressoren Serotonin hängt mit Anstieg an Feindseligkeit, Suizidalität und er-
des dorsalen Raphe-Kerns (Abschn. 5.4.4) die 5-HT2-Re- höhtem Herzinfarktrisiko sowie Gewalttätigkeit zusammen
zeptoren in Amygdala, Hippokampus und Neokortex akti- (Kap. 27).
viert und angstauslösend wirkt, stimuliert das Serotonin
des medialen Raphe-Kerns 5-HT1A-Rezeptoren im Hippo- Neurochemisches Ungleichgewicht
kampus, welche früher gelernte emotionale assoziative Es wird angenommen, dass die relative Balance von kate-
Verbindungen auflösen und damit eher »therapeutisch« cholaminerger und serotonerger Stimulation, welche die
auf Stressstörungen wirken, indem sie Vergessen ermög- CRH-Produktion bestimmt, darüber entscheidet, ob die
lichen. Hypophysen-Nebennierenachsen-Aktivität bei wiederhol-
Zirkulierende Glukokortikoide bei chronischem Stress tem Stress habituiert (sich gewöhnt) oder sensibilisiert (sich
erhöhen die 5-HT-Syntheserate speziell für das 5-HT2- aufschaukelt). Erliegen oder Abfall der CRH-Stimulation
System und hemmen die 5-HT1-Rezeptoren und verstär- und der Stressantwort, wie es bei Tieren nach extremen
ken den Circulus vitiosus aus Angst/Stress und verbes- sozialem Stress und Statusverlust beobachtet wurde, führt
serter Einprägung der Stresssituationen. Deshalb kann zu Apathie und/oder – wenn das Serotoninsystem ebenfalls
man nicht die absolute Serotoninproduktion oder –menge entleert wird – zu exzessiver Gewalt oder Suizid.

Box 8.1. Posttraumatische Belastungsstörung bei eineiigen Zwillingen

Im Tierversuch führt schwerer und anhaltender Stress ein genetischer Risikofaktor für den Erwerb einer PTSD
zu Atrophie und Zelltod im Hippokampus und die Neu- ist und/oder dass ein vererbtes größeres Hippokampus-
bildung (Neurogenese) von Nervenzellen im Hippo- volumen einen Schutzfaktor für den Einfluss extremer
kampus unterbleibt. Erhöhte Kortikosteroidausschüttung, Belastung darstellt. Dafür spricht, dass auch Tiere mit
welche auf den Hippokampus neurotoxisch wirkt, wird verringertem Hippokampusvolumen vor der Stresserfah-
dafür verantwortlich gemacht. Beim Menschen scheint rung stärkere Kortisolausschüttung und verstärkte Hypo-
die Situation nicht so einfach zu sein. Die Abbildung physen-Nebennierenaktivität und mehr Angst bei Stress
zeigt, dass Vietnam-Veteranen mit posttraumatischer Be- zeigen, was unter bestimmten Umständen zu weiterer
lastungsstörung (»posttraumatic stress disorder«, PTSD) Zerstörung der Hippokampusneurone führen könnte.
ein deutlich geringeres Hippokampusvolumen (ca. 10%) Die Abbildung zeigt das Volumen des Hippokampus
aufweisen (Punktsäule ganz links; jeder Punkt reprä- bei Vietnam-Veteranen mit und ohne PTSD und ihren ein-
sentiert eine Person) als Vietnam-Veteranen ohne PTSD eiigen Zwillingen (jeder Punkt eine Person). Man erkennt,
(dritte Punktsäule von rechts). Die Abbildung zeigt aber dass auch ohne Kriegstrauma die Zwillinge der PTSD-Vete-
auch, dass die eineiigen Zwillingsbrüder der Vietnam- ranen ein verringertes Hippokampusvolumen aufweisen.
Veteranen, die nie im Krieg waren und keine PTSD auf- Daraus kann man schließen, dass verringertes Hippokam-
wiesen, ein erniedrigtes Hippokampusvolumen haben. pusvolumen auch ein Risiko für die Entwicklung von PTSD
Dies bedeutet, dass erniedrigtes Hippokampusvolumen darstellt
154 Kapitel 8 · Psychoneuroendokrinologie

G Die Balance von serotonergem und katecholaminer- physiologischen Konsequenzen führen. So genannte psy-
gem Einfluss auf die CRH-Produktion bestimmt die chosomatische Störungen wie die essenzielle Hypertonie
Adaptation und begrenzt das Aufschaukeln der (Kap. 10), chronische Schmerzzustände (Kap. 16), Magen-
Nebennierenrindenachse bei wiederholtem Stress. und Zwölffingerdarmgeschwüre (Kap. 12) und andere ent-
wickeln sich aus einem komplizierten Gefüge aus Be-
Stress und Opioide lastungsereignissen, endogenen Rhythmusstörungen und
. Abb. 8.7 zeigt einige der Einflüsse zentraler Neurotrans- molekulargenetischen Veränderungen, in dem die Gren-
mitter auf die Aktivität des ACTH-Nebennierenrindensys- zen zwischen Umgebungseinfluss und Körperphysiologie
tems. Aktivität β-noradrenerger Afferenzen zum Hypotha- oft nicht mehr erkennbar sind. Dagegen weisen »rein«
lamus hemmt die ACTH-Produktion durch Beeinflussung organische Störungen (wie z. B. manche Herzkrankheiten,
des entsprechenden Vorläufer-Releasing-Faktors (Kap. 7), Epilepsieformen, Immunschwächeerkrankungen, Diabetes
während α-adrenerge Stimulation die CRH-Produktion II u. a.) psychologische Auslöser auf, die auch keine strenge
erhöht. Das ausgeschüttete ACTH-Stresshormon wird aus Trennung zwischen psychisch versus organisch erlauben.
dem Vorläufermolekül Proopiomelanokortin (POMC) ab- Zum Beispiel werden epileptische Anfälle meist von plötz-
gespalten, das auch als Vorläufer der endogenen Opiate lichen Änderungen des Aktivierungsniveaus (nach oben
β-Endorphin, γ-Endorphin, α-Endorphin und Met-Enke- oder unten) ausgelöst. Solche raschen Erregungsänderun-
phalin fungiert (Kap. 4, 16 und 26). ACTH und β-Endor- gen sind oft von sozialen Umgebungsreizen oder raschen
phinausschüttung bei Stress ist für die Stressanalgesie nach Gefühlsänderungen abhängig.
Hilflosigkeit und die Immunsuppression verantwortlich. Für die meisten Erkrankungen lässt sich heute der psy-
Beim Menschen spricht man oft von Stressanalgesie, z. B. chologische Verursachungsfaktor genauso präzise angeben
nach Unfällen treten häufig keine Schmerzen auf. wie der organmedizinische und die spezifische Krankheit
8 wird nur aus der psychophysiologischen Interaktion beider
G Mit ACTH werden auch Opiate bei Stress ausgeschüt-
verständlich. . Tabelle 8.2 fasst einige der bisher bekannten
tet, welche zu Stressanalgesie (Schmerzunempfind-
pathophysiologischen Konsequenzen chronischer Belas-
lichkeit) führen können.
tung und Hilflosigkeit zusammen.

8.3.3 Stress und Krankheit G Psychologische und physiologische Ursachefaktoren


von Stress-bedingten Erkrankungen sind so eng
Psyche – Soma, ein Scheingegensatz miteinander verwoben, dass sie meist weder kon-
zeptuell noch experimentell trennbar sind.
Eine Unterscheidung zwischen psychosomatischen und rein
somatischen Krankheiten, wie sie bis heute in der Medizin
und Psychologie üblich ist und wie sie in der sog. »psycho- Stress, Altern und Hippokampus
somatischen Medizin« zum Ausdruck kommt, kann weder Glukokortikoide führen, in hoher Dosis über längere Zeit
theoretisch noch empirisch eingehalten werden (Box 8.2). gegeben, im Tierversuch zur Zerstörung hippokampaler
Neurone. Zerstörung des Hippokampus beeinträchtigt
Psychische Störungen, wie z. B. die Depression (Kap. 27), das explizite Kurzzeitgedächtnis (Kap. 25) und verhindert
weisen massive hormonell-physiologische Änderungen die Einspeicherung neuer Kontext-bezogener (expliziter)
auf, die bei häufiger Wiederholung zu dauerhaften patho- Information. Früher gespeicherte Stressreize können da-

Box 8.2. Magengeschwüre und Stress

1940 wurde von dem Neurologen Harold Wolff ein Junge, Prostaglandinsynthese den Anstieg der Säureempfind-
Tom, beschrieben, der nach einer Zerstörung der Speise- lichkeit und erleichtern die Einnistung der Bakterien.
röhre über eine große Magensonde ernährt werden Diese Situation ist typisch für viele sog. psychosoma-
musste. Über diese Sonde konnten Veränderungen der tische Krankheiten: ein psychologisch-emotionaler Reiz
Durchblutung und Säurebildung direkt beobachtet und erhöht das Risiko für den Ausbruch einer körperlich be-
registriert werden. Während emotional belastender dingten pathologischen Veränderung. Durch den psycho-
Gespräche zeigte Tom einen dramatischen Anstieg der logisch-emotionalen Reiz wird eine Hirnregion aktiviert
Magensäure und einen Abfall der Schleimhautdurch- oder gehemmt, die über das autonome Nervensystem das
blutung. innere Milieu eines Organsystems ändert: z. B. verschlim-
Obwohl wir heute wissen, dass Magen- und Zwölf- mern Läsionen des medialen Kerns des Amygdala (Kap. 5
fingerdarmgeschwüre häufig von den Bakterien Helico- und 26) stressbedingte Magengeschwüre, während Gaben
bacter pylori mitverursacht sind, bewirken die durch von hohen Dosen eines Dopaminagonisten ins Gehirn sie
Belastung ausgelösten Einschränkungen des Immun- reduzieren.
systems der Magenschleimhaut und die Hemmung der
Zusammenfassung
155 8

. Tabelle 8.2. Pathophysiologische Wirkungen von anhaltender Belastung

Belastungsreaktion (Stress) Pathophysiologische Konsequenzen

Unterdrückung von Immunreaktivität und Entzündung Reduzierte Resistenz gegenüber einer Vielzahl von Krankheiten
Erhöhung der Muskelanspannung in spezifischen Muskelgruppen Rücken-, Gesichts-, Kopfschmerzen, »Weichteilrheumatismus«
Erhöhter kardialer Output Essenzielle Hypertonie
Mobilisierung von Energie bei Unterdrückung der Energie- Diabetes, Myopathien, Asthma
speicherung
Unterdrückung der Verdauung Geschwüre
Hemmung des Wachstums Psychogener Zwergwuchs, Knochenentkalkung
Hemmung der Reproduktionsfunktionen Infertilität, Anovulation, Impotenz, Libidoverlust
Neuronale Reaktionen und Änderungen der Wahrnehmungs- Beschleunigtes Altern kognitiver Funktionen und des Gedächtnisses,
schwellen einige Epilepsieformen
Periphere Vasokonstriktion oder Dilatation Essenzielle Hypertonie, Raynaud-Erkrankung, Migräne

gegen nicht vergessen werden. Im Alter findet man generell schüttung von Kortikotropin-Releasing-Hormon (CRH)
einen Anstieg der Serumglukokortikoide, was auch mit hat, das ja die ACTH-Ausschüttung bewirkt. Wenn also die
der Reduktion der ersten Tiefschlafphasen (»Kernschlaf«, CA3-Region des Hippokampus teilweise zerstört ist, kommt
Kap. 22) einhergeht. Auch dieser Anstieg geht mit den Ge- es zu einem Anstieg von CRH, mehr ACTH und weiterem
dächtnisdefekten im Alter parallel. Im Alter wird sowohl Glukokortikoidanstieg, ein Circulus vitiosus aus Altern →
beim Tier wie beim Menschen die Feedback-Regelung der Stressanstieg → und Gedächtnisverlust. Offensichtlich
Hypophysen-Nebennierenrindenachse schwächer; das be- scheint dieser Circulus vitiosus zumindest im Tierversuch
deutet, die hormonelle Reaktion bleibt nach Stressreizen verhinderbar: Tiere, die in ihrer »Kindheits- und Jugend-
länger bestehen. Im Tierversuch lässt sich diese Alterung entwicklung« gut behandelt und schrittweise mit Stress
des Gedächtnisses durch Entfernung der Nebennieren ver- konfrontiert (immunisiert) wurden, zeigen im Alter keine
hindern. Hippokampuszellenverluste und keine Gedächtnisstö-
Erhöhte Glukokortikoidspiegel durch Stress beschleu- rungen (Box 8.1 und Kap. 27). Man wird dabei zweifellos an
nigen auch das Altern des Gedächtnisses durch raschere die Beispiele alter Menschen erinnert, die ihre geistige Pro-
Zerstörung der Hippokampusneuronen (v. a. in der Region duktivität bis ins hohe Alter erhalten können und an jene,
CA3 (Kap. 5, . Abb. 8.9, Box 8.1). die nach schweren bedeutenden Lebensereignissen (Krieg,
Diese Situation wird noch dadurch dramatisiert, dass Konzentrationslager, Folter) dauerhafte Gedächtnisstörun-
der Hippokampus einen hemmenden Einfluss auf die Aus- gen und akzeleriertes Altern aufweisen.

Zusammenfassung
Psychoneuroendokrinologie, Umwelt, Körperrhyth- 5 Kortisol wird gegen Morgen im Schlafstadium 1 und 2
men und Hormone: produziert.
5 Hormone aktivieren und organisieren Verhalten.
5 Sie verändern Wahrnehmungs- und Erregungsschwel- Emotionen und Hormone:
len von der Nervenzelle bis zu komplexen Verhaltens- 5 Soziale Bindung hängt von der Gegenwart von
weisen. Oxytozin ab.
5 Glukokortikoide und Kortisol heben die Schwellen 5 Aggressives Verhalten und männliche Sexualhormone
aller Sinnessysteme. (Androgene) sind schwach positiv korreliert.

Die Ausschüttung von Hormonen erfolgt meist in Stress und Hilflosigkeit:


zirkadianen oder ultradianen Rhythmen: 5 Gelernte Hilflosigkeit führt zu Depression, Immun-
5 Wachstumshormon wird v. a. in den ersten 3 Schlaf- schwäche und somatischen Störungen.
stunden produziert. 5 Extremer Stress und psychologische Traumen führen
5 Die Erholung des Immunsystems geht mit Melatonin- zu Verlust explizit bewusster Erinnerung und Hippo-
ausschüttung in den Tiefschlafstadien einher. kampusdegeneration.
156 Kapitel 8 · Psychoneuroendokrinologie

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Amsterdam
Schulkin J (1999) The neuroendocrine regulation of behavior. Cambridge
University Press, Cambridge

8
9

9 Psychoneuroimmunologie

9.1 Aufbau und Arbeitsweise des Immunsystems – 158


9.1.1 Produktions- und Reaktionsorte des Immunsystems – 158
9.1.2 Angeborene Immunität – 159
9.1.3 Humorale erworbene (adaptive) Immunität – 160
9.1.4 Zelluläre erworbene (adaptive) Immunität – 162
9.1.5 Kommunikation im Immunsystem – 163
9.1.6 Impfung, Allergie, Immunschwäche – 164
9.1.7 Immunologische Besonderheiten der Blut- und Organtransplantation – 165

9.2 Physiologische Verbindungen zwischen Zentralnervensystem


und Immunsystem – 167
9.2.1 Psychoneuroimmunologie – 167
9.2.2 Hormone, Neurotransmitter und Immunsystem – 168
9.2.3 Zentralnervensystem und Immunsystem – 170
9.2.4 Autonomes Nervensystem und Immunreaktion – 171

9.3 Verhalten und Immunsystem – 173


9.3.1 Lernen und Immunsystem – 173
9.3.2 Negative Emotionen und Immunsystem – 175

9.4 Krankheit und Immunsystem – 176


9.4.1 Infektion, Wundheilung und Tumorbildung – 176
9.4.2 Autoimmunerkrankungen – 178
9.4.3 Bewegungs- und Krankheitsverhalten – 180

Zusammenfassung – 181
Literatur – 182

N. Birbaumer, Biologische Psychologie, DOI 10.1007/978-3-540-95938-0_9,


© Springer Medizin Verlag Heidelberg 2010
158 Kapitel 9 · Psychoneuroimmunologie

))

Frau L. erhielt zur Behandlung ihres Brustkrebses einmal


pro Woche in der Klinik eine hohe Dosis zytostatischer Me-
dikamente injiziert. 5 Stunden danach wurde ihr übel, sie
erbrach sich und ekelte sich vorm Essen. Nach dem dritten
Zyklus trat Übelkeit und Erbrechen bereits Stunden vor
ihrer Behandlung in der Klinik auf, sie entschuldigte sich
immer häufiger und nahm die Termine nur mehr selten
wahr, so dass die Therapie abgebrochen wurde. Frau L.
starb ein Jahr nach dieser Episode an den Folgen metasta-
sierenden Brustkrebses.
Die Psychoneuroimmunologie untersucht die Zu-
sammenhänge zwischen Verhalten und Immunsystem.
Immunvorgänge werden entweder direkt vom Zentral-
nervensystem (ZNS) oder indirekt über die endokrinen
Systeme gesteuert. Umgekehrt beeinflussen immuno-
logische Prozesse das ZNS und verändern damit Ver-
halten. Wie andere vom ZNS innervierten Systeme
sind auch Immunvorgänge durch Lernen modifizierbar.
. Abb. 9.1. Die Organe des menschlichen Immunsystems. Lage
Dies bedeutet, dass durch psychologische Reize – wie
und Bezeichnung der primären und sekundären lymphatischen Organe
schwere und anhaltende Belastung (»Stress«) – ent- im Körper des Menschen
weder direkt oder indirekt (z. B. vor dem Hintergrund
eines erblichen Risikos) Erkrankungen auftreten können.
9 Dies werden v. a. Erkrankungen sein, die durch ein in-
taktes Immunsystem verhindert werden: Infektionen, 4 Harnwege: Urin ist ebenfalls meist sauer und damit
Tumorwachstum, Entzündungen und schlechte Wund- erregerfeindlich.
heilung, Allergien.
Gelingt es Krankheitserregern, die zusammengefasst als
Antigene bezeichnet werden, diese Barrieren zu überwin-
9.1 Aufbau und Arbeitsweise den, werden sie zunächst von der angeborenen Immunität
des Immunsystems attackiert. Wie . Tabelle 9.1 zeigt, besteht diese – genau wie
die erworbene Immunität (Abschn. 9.1.2) – aus 2 Anteilen,
9.1.1 Produktions- und Reaktionsorte nämlich aus Zellen des Immunsystems und aus im Blut
des Immunsystems schwimmende Molekülen, die von Zellen des Immunsys-
tems gebildet und dann in das Blutplasma abgegeben wur-
Eintrittspforten des Körpers und ihre Barrieren den (humorale Immunität).
Das Immunsystem hat die Aufgabe, den Körper vor patho-
G Das Immunsystem schützt vor Antigenen, seien es
genen Eindringlingen von Außen (Viren, Bakterien, Pilzen,
eingedrungene Krankheitserreger oder Tumorzellen.
Parasiten) und vor Tumorzellen, also Zellen des Körpers,
Es ist teils angeboren, teils wird es im Laufe des
die unkontrolliert wachsen, zu schützen. Diese Schutzfunk-
Lebens erworben. Beide Teilsysteme haben sowohl
tion wird als Immunität bezeichnet. Ein Teil dieser Immu-
im Blut gelöste (molekulare) wie zelluläre Anteile.
nität ist angeboren, ein anderer Teil wird im Laufe des Le-
Chemische und mechanische Barrieren an den Ein-
bens erworben (. Abb. 9.1).
trittspforten erschweren den Krankheitserregern
Der Immunabwehr sind an den möglichen Eintritts-
das Eindringen in den Körper.
pforten (Haut, Magen, Atemwege, Vagina, Harnwege) für
Krankheitserreger Barrieren vorgelagert, die deren Ein-
dringen erschweren, nämlich: Primäre lymphatische Organe: Produktionsorte
4 Haut: Normalerweise undurchlässig, Schutz wird Knochenmark und Thymus
durch Verletzungen, Hautkrankheiten, Insektenstiche Alle Zellen des Immunsystems (und damit auch die von
etc. durchbrochen. ihnen produzierten löslichen Anteile) stammen von sich
4 Magen: Salzsäure tötet die meisten Erreger ab. selbst erneuernden hämopoetischen Stammzellen aus
4 Atemwege: Schleimauskleidung bietet wirksamen dem Knochenmark ab, das der Bildungsort aller weißen
Schutz. (Leukozyten und Lymphozyten) und roten Blutkörperchen
4 Vagina: Milchsäure tötet die meisten Erreger ab. (Erythrozyten) ist (Abschn. 10.1.1 und 11.1.2).
9.1 · Aufbau und Arbeitsweise des Immunsystems
159 9

haben jeweils ihre eigenen regionalen Lymphknoten, näm-


. Tabelle 9.1. Anteile und Eigenschaften des angeborenen lich z. B. die Tonsillen (Rachenmandeln) an den Eintritts-
und des erworbenen (adaptiven) Immunsystems pforten für Luft und Nahrung, die Peyer-Plaques entlang
Angeborenes Erworbenes dem Dünndarm, oder die Hals-, Achsel- und Leistenlymph-
Immunsystem Immunsystem knoten, die als »Wächterstationen« für Kopf-, Hals- und
Spezifität Breit Hoch Beinbereich dienen.
Zu den »Wächterstationen« des Immunsystems gehört
Reaktions- Rasch Verzögert
kinetik auch die im linken Oberbauch liegende Milz, in der die Im-
munreaktionen gegen Antigene eingeleitet werden, die in
Gedächtnis- Nein Ja
bildung
die Blutbahn eingedrungen sind. Lymphknoten und Milz
sind also die Reaktionsorte des Immunsystems. Sie werden
Humorale Enzyme, Komplement, Antikörper (von
Anteile Akute-Phase-Proteine B-Lymphozyten
zur Abgrenzung von den Produktionsorten der Immunität
gebildet) als sekundäre lymphatische Organe zusammengefasst.
Zelluläre Monozyten, Makrophagen, T-Lymphozyten G Regionale Lymphknoten und die Milz sind als sekun-
Anteile Granulozyten, NK-Zellen (T-Helfer- und
däre lymphatische Organe die Orte, an denen Anti-
T-Killerzellen)
gene dem Immunsystem »präsentiert« und damit
die Immunreaktionen eingeleitet werden.

Aus den Stammzellen entwickeln sich zwei Hauptlinien 9.1.2 Angeborene Immunität
von Immunzellen, nämlich einmal die Leukozyten, die im
Knochenmark ausreifen, und zum zweiten die Lymphozy- Zelluläre angeborene Immunität: Phagozytose
ten, die teils im Knochenmark ausreifen, teils in einer Vor- und Apoptose
stufe das Knochenmark verlassen und endgültig im Thymus Die zelluläre angeborene Immunabwehr wird von 3 Typen
ausreifen. Erstere werden B-Lymphozyten (von engl. »bone von Leukozyten wahrgenommen, nämlich den Monozyten,
marrow« = Knochenmark), letztere T-Lymphozyten ge- den Makrophagen und den Granulozyten (. Tabelle 9.1).
nannt. Dazu gibt es eine dritte Sorte von Lymphozyten, die Diese Leukozyten können Krankheitserreger in sich auf-
als NK-Zellen (NK = natürliche Killer) bezeichnet werden nehmen und anschließend verdauen, ein Vorgang der als
(Abschn. 9.1.2). Phagozytose bezeichnet wird (. Abb. 9.2). Dabei gehen sie
Das Knochenmark und der Thymus sind also die Pro- oft selbst zugrunde. Die verbleibenden Gewebstrümmer be-
duktions- und Reifungsorte aller Immunzellen. Sie werden zeichnet man als Eiter.
daher als primäre lymphatische Organe bezeichnet. Die natürlichen Killerzellen (NK-Zellen) gehören zur
angeborenen zellulären Immunabwehr (. Tabelle 9.1). Sie
G Die primären lymphatischen Organe, also Knochen-
sind darauf spezialisiert, bereits infizierte oder tumorös
mark und Thymus, sind die Produktionsorte aller
veränderte Körperzellen zu erkennen und in ihnen ein
Anteile des Immunsystems, also der Leukozyten und
»Selbstmordprogramm« auszulösen, das die Zellen ab-
der NK-, B- und T-Lymphozyten.
sterben lässt. Diese Form des Zellsterbens wird Apoptose
genannt. Apoptosen kommen im Körper sehr häufig vor,
Sekundäre lymphatische Organe: Reaktionsorte z. B. bei der Entwicklung und Reifung des Gehirns (Ab-
Lymphknoten und Milz schn. 24.3.1).
Neben dem Blutgefäßsystem besitzt der Mensch ein weiteres
Gefäßsystem, nämlich das Lymphgefäßsystem (. Abb. 9.1). Humorale angeborene Immunität
Dieses beginnt mit feinsten Gefäßen in den verschiedenen Wie . Tabelle 9.1 auflistet, sind es 3 Typen von Eiweißen,
Körpergeweben, sammelt dort aus den Blutkapillaren aus- die sich bei der angeborenen Immunität an der Abwehr
getretene Flüssigkeit (Abschn. 10.1.2) und führt diese Flüs- von Antigenen beteiligen, nämlich
sigkeit, die als Lymphe bezeichnet wird, den jeweiligen 4 Enzyme
regionalen Lymphknoten zu. Nach der Passage durch die 4 Komplement
Lymphknoten wird die Lymphe schließlich über größere 4 Akute-Phase-Proteine
Lymphgefäße zurück in die venösen Blutgefäße geleitet (Ab-
schn. 10.6.1). Die Zellen des angeborenen Immunsystems, besonders die
Die Lymphknoten sind die Filterstationen des Immun- Granulozyten setzen bei Kontakt mit Bakterien verschiede-
systems, in denen die Antigene, also körperfremde Ein- ne Enzyme frei, die sich an die eingedrungenen Bakterien
dringlinge bzw. körpereigene Tumorzellen mit den zellulä- anheften und deren Zellmembran durch Verdauungspro-
ren und humoralen Anteilen des Immunsystems konfron- zesse so schädigen, dass die Bakterien absterben. Als Bei-
tiert werden. Die oben genannten Erregereintrittspforten spiel sei das Zucker-spaltende Lysozym genannt, das die in
160 Kapitel 9 · Psychoneuroimmunologie

Die angeborene humorale Immunität verfügt über


Enzyme, das Komplementsystem und Akute-Phase-
Proteine, um als fremd erkannte Strukturen zu elimi-
nieren.

Unterscheidung zwischen »Selbst« und »Fremd«


im angeborenen Immunsystem
Die Zellen und Moleküle des angeborenen Immunsystems
»erkennen« von außen eingedrungene Erreger oder körper-
eigene Tumorzellen daran, dass in deren Zellmembran-
oberfläche Moleküle eingebaut sind, die bei normalen Kör-
perzellen nicht vorkommen. Diese »fremden« Moleküle
werden an Moleküle des angeborenen Immunsystems ge-
bunden, und durch diese Verbindung werden die eben
beschriebenen zellulären und humoralen angeborenen
Abwehrmechanismen in Gang gesetzt. Die Erkennung der
Fremdmoleküle erfolgt v. a. durch Rezeptoren auf der Zell-
oberfläche der Leukozyten.
Die NK-Zellen (»natural killer cells«, 7 oben), sind
andererseits darauf spezialisiert, zu überprüfen, ob Zellen
bestimmte, von Mensch zu Mensch etwas verschiedene
Moleküle an der Zelloberfläche tragen (diese werden HLA-
Moleküle genannt, von »humane Leukozytenantigene«).
Zellen mit HLA-Molekülen auf ihrer Oberfläche werden als
9 körpereigen akzeptiert, während Zellen, die keinen »HLA-
. Abb. 9.2a, b. Arbeitsweise der Leukozyten bei der Beseitigung
von Schadstoffen. a Angelockt durch chemische Reize verlassen Ausweis« vorzeigen können, von den NK-Zellen angegrif-
Leukozyten die Kapillaren (Diapedese) und wandern entlang dem fen und abgetötet werden.
chemischen Gradienten auf die Schadstoffe zu (Chemotaxis). b Bei Ein eingedrungener Erreger oder eine tumorös verän-
der Diapedese stülpt sich in einer fließenden Bewegung die Zell-
derte Zelle kann also vom angeborenen Immunsystem ent-
flüssigkeit in die Bewegungsrichtung aus, so dass eine kettenraupen-
förmige Bewegung zustande kommt, ähnlich wie bei einzelligen
weder durch normalerweise nicht vorhandene oder durch
Amöben. Die Fremdkörper werden umflossen, in die Zelle aufge- fehlende Oberflächenstrukturen als fremd erkannt wer-
nommen (Phagozytose, eine Form der Endozytose, . Abb. 2.2.1) und den. Die Erkennung der Fremdstrukturen ist dabei breit
dort mit Hilfe der Lysosomen verdaut angelegt, d. h. das angeborene Immunsystem kommt mit
einer relativ geringen Zahl von Rezeptoren aus, die einer-
seits auf der Oberfläche spezialisierter Zellen oder anderer-
die Zellmembran von Bakterien eingebauten Polysaccha- seits als zirkulierende lösliche Moleküle stets für sofortige
ride aufspaltet. Abwehrreaktionen bereitstehen.
Das Komplementsystem besteht aus mehreren Pro-
G Fremde oder tumorös veränderte Zellen werden als
teinen, die kaskadenähnlich aktiviert werden und letztlich
Antigene daran erkannt, dass sie entweder norma-
in der Erregermembran eine Pore bilden. Mit diesem
lerweise nicht vorhandene Oberflächenmoleküle
»Loch« in der Membran (7 auch oben die Wirkung der
besitzen oder dass ihnen individual-spezifische HLA-
NK-Zellen) ist der Krankheitserreger nicht mehr lebensfähig
Moleküle auf der Zelloberfläche fehlen.
und stirbt ab.
Die Akute-Phase-Proteine gehören zur Gruppe der
Globuline. Sie werden zu Beginn einer bakteriellen Infek- 9.1.3 Humorale erworbene (adaptive)
tion v. a. von Leberzellen gebildet. Sie haben die Aufgabe, Immunität
sich an die Oberfläche der Bakterien anzuheften. Diese
»Markierung« regt die Phagozytoserate von Makrophagen Genmechanismus zur Bildung
und Granulozyten an, ein Prozess, der als Opsonierung be- des milliardenfachen Antikörperreservoirs
zeichnet wird. Die im Knochenmark (»bone marrow«) reifenden B-Lym-
phozyten produzieren und präsentieren auf ihrer Ober-
G Die angeborene zelluläre Immunität erwehrt sich fläche Eiweißmoleküle, die Antikörper genannt werden.
teils durch Phagozytose, teils durch Apoptose einge- Da es eine fast unbegrenzte Vielfalt möglicher Antigene
drungener Erreger oder tumorös veränderter Zellen. gibt, muss das Immunsystem eine ebenfalls sehr hohe
6 Zahl (1011–1014) verschiedener Antikörper exprimieren,
9.1 · Aufbau und Arbeitsweise des Immunsystems
161 9

die in ihrer Gesamtheit als Antikörperrepertoire bezeichnet


werden.

Aus Schmidt RF et al (2003). Mit freundlicher Genehmigung des Deutschen


Da das menschliche Erbgut aber nur etwa 40 000 Gene
für die Eiweißproduktion besitzt, wird die große Zahl der
unterschiedlichen Antikörper dadurch erreicht, dass in
jedem reifenden B-Lymphozyten die für die Antikörperbil-
dung zuständigen Gensegmente neu gemischt werden, so
dass im Endeffekt jede B-Zelle ein genetisches Unikat wird,
das nur eine, für eine Art von Antigen spezifische Form von
Antikörper exprimiert.

Vom Antigen-Antikörper-Kontakt zur massiven


Antikörperproduktion
Schon vor dem ersten Antigenkontakt, also in »Lauer-

Ärzte-Verlags.
stellung« in den regionalen Lymphknoten und der Milz
(Abschn. 9.1.1), tragen also die B-Lymphozyten auf ihrer
Zelloberfläche ihre antigenspezifschen Antikörper. Sobald
. Abb. 9.3. Grundstruktur der Antikörper. Das Beispiel zeigt ein
diese in Kontakt mit »ihrem« Antigen kommen und sich Immunglobulin vom IgG-Typ. Wie alle Antikörper ist es aus 2 schweren
mit ihm verbinden, wird der Antikörper-Antigen-Komplex (H-Kette, für »heavy«) und 2 leichten Ketten (L-Ketten, für »light«) in
in das Zellinnere eingeschleust. Dort wird das Antigen ver- Y-förmiger Form aufgebaut. Sie werden durch Schwefelatome
daut. (S, chemisch gesehen Disulfidbrücken) zusammengehalten und sta-
bilisiert. Die üblichen Bezeichnungen der einzelnen Kettenabschnitte
Gleichzeitig wandelt sich der B-Lymphozyt in eine Plas-
(Domänen, farbig voneinander abgesetzt) sind eingetragen. Jede
mazelle um. Diese wandert in das Knochenmark und dort Domäne umfasst etwa 120 Aminosäuren. Die VL-Domänen der L-Ketten
wird die Produktion der zu sezernierenden Antikörper an- sind die Antigenbindungsstellen
geworfen (jede Plasmazelle gibt pro Sekunde bis zu 2000
Antikörper ab). Auf dem Blutweg können diese Antikörper
dann ihr spezifisches Antigen überall im Körper erreichen Die konstanten Anteile der Immunglobuline dienen
und unschädlich machen. der Kommunikation mit denjenigen Komponenten des
Immunsystems, die für die Beseitigung des Antigen-Anti-
G B-Lymphozyten bilden ein großes Repertoire von
körper-Komplexes zuständig sind. Nach der Bindung eines
Immunglobulinen oder Antikörpern, die an den
Antikörpers an ein Antigen werden die folgenden Effektor-
Lymphozytenoberflächen für den Kontakt mit
mechanismen (je nach den Umständen in wechselndem
körperfremden Eiweißen, den Antigenen, be-
Ausmaß) zur endgültigen Beseitigung der körperfremden
reitstehen, um nach Bildung eines Antigen-Anti-
Mikroorganismen ausgelöst:
körper-Komplexes die Produktion und Freisetzung
4 Komplementsystem-Aktivierung. Wie bei der angebo-
von großen Mengen dieses Antikörpers zu veran-
renen Immunität (7 oben) aktiviert der Antigen-Anti-
lassen.
körper-Komplex diese kaskadenförmig interagieren-
den Serumfaktoren, die Apoptose und Opsonierung
Molekülstruktur und Wirkweise der Antikörper (7 nächster Punkt) anregen.
Die Antikörper sind Immunglobuline, von denen es 4 Opsonierung. Dieser Begriff sagt aus, dass die mit den
5 Klassen (IgM, IgG, IgA, IgD und IgE) mit etwas Antikörpern beladenen Mikroorganismen ein Signal
unterschiedlichen Aufgaben gibt. Alle sind ähnlich auf- sind, die Phagozytose durch Makrophagen und Granu-
gebaut, nämlich aus je 2 kleineren (leichten) und 2 größe- lozyten zu beschleunigen (Abschn. 9.1.2, Wirkweise der
ren (schwereren) Polypeptidketten in Y-förmiger Anord- Akute-Phase-Proteine).
nung (. Abb. 9.3). Alle Antikörper haben konstante und 4 Degranulation. Damit wird gekennzeichnet, dass wäh-
variable Anteile. rend der Opsonierung von den phagozytierenden Zellen
Die variablen Anteile der Immunglobuline dienen vermehrt verdauende (lysierende) Enzyme und entzün-
der Erkennung von und Verbindung mit den Antigenen, dungsfördernde Faktoren ausgeschüttet werden.
also z. B. einem körperfremden Eiweißmolekül auf der 4 NK-Zell-Aktivierung. Auch die NK-Zellen des angebo-
Oberfläche eines Bakteriums. Die auf der Zelloberfläche renen Immunsystems (7 oben) beteiligen sich an der
der B-Lymphozyten »lauernden« Antikörper stoßen dann, Zerstörung von Antikörper-beladenen Strukturen.
wie schon gesagt, die Produktion und Sezernierung der 4 T-Killerzellen-Aktivierung. Die für Zellen toxische Ver-
Antikörper für dieses Antigen an, wobei es einige Tage sion der nachstehend zu beschreibenden T-Lympho-
dauert, bis eine optimale Antikörperproduktion erreicht zyten ist ebenfalls an der Beseitigung der Antigen-Anti-
ist. körper-Komplexe beteiligt.
162 Kapitel 9 · Psychoneuroimmunologie

G Jeder Antikörper ist aus 2 leichten und 2 schweren Die übrigen T-Lymphozyten werden zu T-Helferzellen
Polypeptidketten aufgebaut und besitzt (für jede geprägt, die, wie noch zu beschreiben, im Immungeschehen
Immunglobulinklasse charakteristische) feste und die Aufgabe haben, »Unterstützungsarbeit« bei der Erkennung
variable Teile. Die variablen Teile dienen der Erken- und Beseitigung von Antigenen zu leisten (. Abb. 9.4).
nung von und Bindung an die Antigene, die festen Alle Zellen des Immunsystems besitzen Oberflächenmo-
Anteile lösen die zur endgültigen Beseitigung leküle oder »Marker«, mit deren Hilfe sie samt ihrem jeweili-
führenden Effektormechanismen aus. gen Reifungszustand unterschieden (differenziert) werden
können. Diese Marker werden nach der CD-Nomenklatur
(von »cluster of differentiation«) benannt. Derzeit sind mehr
9.1.4 Zelluläre erworbene (adaptive) als 200 CD-Marker bekannt. T-Killerzellen tragen z. B. den
Immunität Marker CD-8, T-Helferzellen den Marker CD-4, und auf bei-
den Formen kommt der CD-3-Marker vor (er dient daher in
Reifung der T-Helfer- und T-Killerzellen der klinischen Diagnostik als Marker für alle Lymphozyten).
Wie oben dargelegt, macht ein Teil der Lymphozyten bei
G Die Vorstufen der T-Lymphozyten reifen im Thymus
seiner Reifung im ungeborenen Kind und jungen Säugling
zu CD-8-T-Killerzellen oder CD-4-T-Helferzellen aus.
im Thymus (ein anderer Teil, wie oben gesagt, im Knochen-
CD-8- und CD-4-T-Lymphozyten sind die zellulären
mark) einen Prozess durch, Lymphozytenprägung ge-
Anteile der erworbenen (adaptiven) Immunität. Der
nannt, der diese Lymphozyten auf ihre Rolle bei der zellu-
CD-3-Marker ist allen Lymphozyten gemeinsam.
lären Immunabwehr vorbereitet (Entfernen der Thymus-
drüse beim Erwachsenen beeinflusst das Immungeschehen
nicht mehr). Wie gesagt, diese Lymphozyten werden T-Lym- Bildung und Wirkweise von T-Zellrezeptoren
phozyten genannt. Die T-Lymphozyten tragen – genau wie die B-Lymphozyten
Bei dieser Reifung wird ein Teil der T-Lymphozyten zu – an ihrer Oberfläche Immunglobuline, T-Zellrezeptoren
T-Killerzellen geprägt, die ähnlich wie die NK-Zellen sich an (TCR, »T-cell-receptor«), genannt, die Antigene erkennen
9 der Zerstörung antigenbeladener Zellen beteiligen (7 die und an sich binden können. Ihre genau wie bei den Anti-
oben gelisteten Effektormechanismen). körpern nahezu unbegrenzte Vielfalt entsteht auf Grund
derselben Umlagerungen ihrer verschiedenen Gensegmen-
te, die für die Antikörper beschrieben wurden. Die TCR
bleiben lebenslänglich – auch nach Antigenkontakt auf
ihren Zelloberflächen.
Die TCR können Antigene an sich binden, aber nur
dann, wenn diese bereits durch Leukozyten aufgenommen,
in den Leukozyten »vorverdaut« und anschließend an
der Zelloberfläche der Leukozyten den TCR »präsentiert«
werden (angeborene und erworbene Immunität arbeiten
hier also zusammen).

Klassen und Bindungsverhalten


von HLA-Molekülen
Um das »vorverdaute« Antigen an die Leukozytenober-
fläche zu transportieren wird es mit einem körpereigenen
Eiweißmolekül verbunden, das als MHC-, beim Menschen
synonym als HLA-Molekül (von »major histocompatibility
complex« bzw. »human leucocyte antigen«) bezeichnet
wird. Die TCR »erkennen« also nur solche Antigene, die
sich zusammen mit einem HLA-Molekül auf der Ober-
. Abb. 9.4. Aktivierung von T-Killer- und T-Helferzellen durch anti-
fläche eines Leukozyten »präsentieren«. Wie bei den Anti-
genpräsentierende Leukozyten. Der T-Zell-Rezeptor (TCR) besteht
aus mehreren Aminosäureketten, von denen die α- und die β-Ketten
körpern ist es dabei so, dass es für jedes Antigen nur einen
variabel sind und der Antigenbindung dienen (die vier übrigen, rechts passenden TCR gibt.
davon liegenden Ketten sind bei allen TCR relativ konstant). Wird das Bei den HLA-Präsentationsmolekülen lassen sich 2 Ty-
Antigen mit einem HLA-Klasse-II-Molekül präsentiert, wird es von einer pen unterscheiden, die als HLA-Klasse-I- und HLA-Klasse-
CD-4-T-Helferzelle erkannt, die daraufhin über Interleukinproduktion
II-Proteine bezeichnet werden. Die TCR von CD-8-T-Killer-
die Zerstörung des antigeninfizierten Leukozyten einleitet. Wird das
Antigen mit einem HLA-Klasse-I-Molekül präsentiert, wird es von
zellen erkennen nur Antigene, die an HLA-Klasse-I-Proteine
einer CD-8-T-Killerzelle erkannt, die daraufhin die Apoptose einleitet gebunden sind, während die TCR von CD-4-T-Helferzellen
(7 Text) nur Antigene binden, die sich mit HLA-Klasse-II-Proteinen
9.1 · Aufbau und Arbeitsweise des Immunsystems
163 9

präsentieren. Neben den Leukozyten können auch die gungsphase eliminiert werden müssen, damit sie später
B-Lymphozyten, wie anschließend beschrieben, HLA-Klas- kein körpereigenes Eiweiß angreifen können. Dies geschieht
se-II-Proteine exprimieren und präsentieren. in einer Weise, die mit der bei den B-Lymphozyten (7 oben)
eng verwandt, allerdings noch etwas komplexer ist (hier
G Die T-Lymphozyten tragen auf ihrer Oberfläche Anti-
nicht detailliert).
generkennende Rezeptoren (TCR = T-cell-receptors),
Die Fähigkeit zwischen »Selbst« und »Fremd« zu unter-
die aber nur an Antigene binden, die vorher in Leu-
scheiden muss in jedem Organismus im Laufe der Entwick-
kozyten mit HLA-Molekülen verbunden und an der
lung erlernt werden. Diese Vorgänge bezeichnet man als
Zelloberfläche »präsentiert« werden. HLA-Klasse-I-
Induktion von Toleranz. Da die oben beschriebene Zerstö-
gebundenes Antigen wird von T-Killerzellen erkannt,
rung der gegen körpereigenes Eiweiß gerichteten Lympho-
HLA-Klasse-II-gebundenes von T-Helferzellen.
zyten während der Reifung nicht hundertprozentig gelingt,
verfügt das Immunsystem über zusätzliche Mechanismen
Immunantworten der T-Lymphozyten zur Unterdrückung von Immunreaktionen gegen »Selbst«.
Aktivierung von T-Helferzellen (CD-4-Lymphozyten) indu- Diese, als Anergie und Suppression bezeichneten Prozesse,
ziert die Vermehrung dieser Lymphozyten, die dabei Zyto- an denen »regulatorische« T-Helferzellen beteiligt sind,
kine (Abschn. 9.1.5) freisetzen, insbesondere Interleukin 2 werden hier nicht detailliert.
(IL-2), das autokrin deren weitere Vermehrung und zusätz-
G Gegen körpereigene Eiweiße (Autoantigene) ge-
lich die von T-Killerzellen bewirkt, die dann die Zerstörung
richtete Antikörper und TCR werden bereits während
der antigenbehafteten Zellen aufnehmen (. Abb. 9.4).
des Reifungsprozesses in Knochenmark bzw. Thymus,
Die T-Helferzellen reagieren auch auf Antigene, die
aber auch anschließend unschädlich gemacht.
von B-Lymphozyten aufgenommen und anschließend, wie
oben beschrieben, mit Klasse-II-HLA-Molekülen auf der
Zelloberfläche präsentiert werden. Die aktivierte T-Helfer- 9.1.5 Kommunikation im Immunsystem
zelle setzt daraufhin Interleukine frei, die die B-Zelle akti-
vieren und zur Vermehrung und Antikörperbildung anre- Zytokine: lösliche Botenstoffe im Immunsystem
gen. Es handelt sich hier um eine T-Helferzellen-abhängige Zytokine sind lösliche Botenstoffe, die die Kommunikation
Aktivierung von B-Zellen (T-B-Kooperation). zwischen Körperzellen steuern. Sie werden von Immun- und
Die T-Killerzellen (CD-8-Lymphozyten) erkennen, wie anderen Körperzellen freigesetzt und beeinflussen im Im-
gesagt, Antigene im Komplex mit HLA-Klasse I. Dadurch munsystem Vermehrung, Differenzierung und Migration.
wird ihr »Killerprogramm« direkt aktiviert. Auch die Akti- Ihre Eigenschaften sind in nahezu jeder Hinsicht mit der von
vierung der T-Helferzellen bewirkt, wie oben beschrieben, Hormonen vergleichbar, wenn sie auch oft mehr parakrin
die Aktivierung entsprechender T-Lymphozyten, die sich und autokrin (Abschn. 7.1.2) als Hormone tätig sind.
dann an der Antigeneliminierung, also z. B. der Apoptose Folgende Zytokine und Zytokinfamilien sind im Im-
virusinfizierter Zellen beteiligen. munsystem steuernd tätig:
4 Interleukine (IL): So nennt man Zytokine, die von Lym-
G Antigenaktivierte T-Helferzellen setzen Interleukine
phozyten produziert werden. Es gibt über 2 Dutzend
frei, die ihre eigene Vermehrung und die von T-Killer-
Interleukine. Am prominentesten sind IL-1, -2, -4
zellen induzieren. Wird auf einem B-Lymphozyt ein
und -6, die bei den verschiedenen Immunreaktionen als
Antigen-HLA-Komplex erkannt, dann aktiviert die
Botenstoffe dienen.
T-Helferzelle den B-Lymphozyt zur Vermehrung
4 Interferon-γ (IFN-γ): INF-γ ist ein von NK- und CD-8-
und Antikörperproduktion. Aktivierte T-Killerzellen
T-Lymphozyten freigesetzter Botenstoff, der verschie-
beteiligen sich an der Antigeneliminierung.
dene Immunprozesse aktiviert. Dieses Zytokin erhielt
seinen Namen von seiner antiviralen (das Virenwachs-
Unterscheidung zwischen »Selbst« und »Fremd« tum hemmenden) Wirkung.
im erworbenen (adaptiven) Immunsystem 4 Tumornekrosefaktor-α (TNF-α): Dieses Zytokin wird von
Da die Generierung der milliardenfachen Antikörper- Makrophagen (. Tabelle 9.1) freigesetzt. Es stimuliert die
spezifitäten nach dem Zufallsprinzip erfolgt, entstehen im Produktion von Akute-Phase-Proteinen (Abschn. 9.1.2)
Knochenmark auch B-Zellen mit Oberflächenantikörpern und induziert die Apoptose von Tumorzellen.
für körpereigene Proteine. Die Ausreifung dieser gegen 4 Transformierender Wachstumsfaktor-β (TGF-β): Dieses
körpereigenes Eiweiß gerichteten B-Lymphozyten wird da- Zytokin wird von Tumorzellen produziert. Es fördert
durch verhindert, dass sie schon im Knochenmark zerstört die Vermehrung von Tumorzellen indem es die Immun-
werden, sobald sie dort ein körpereigenes Eiweißmolekül antworten gegen die Tumorzellen hemmt. Es sind
an sich binden. mehrere Zytokine bekannt, die von Tumorzellen pro-
Auch die T-Lymphozyten bilden im Thymus gegen duziert werden, um sich gegen die Zerstörung durch
körpereigenes Eiweiß gerichtete TCR aus, die in der Prä- das Immunsystem zu wehren.
164 Kapitel 9 · Psychoneuroimmunologie

4 Kolonie-stimulierende Faktoren (CSF): Fördern das 4 »abgeschwächte« Virenstämme, die nach einer ent-
Wachstum von Zellkulturen (in vitro). Für diese wie alle sprechenden Vorbehandlung nicht mehr zur Erkran-
Zytokine gilt aber, dass sie neben ihrer namensgebenden kung führen, aber eine volle Antikörperbildung anre-
Funktion auch andere, z. T. noch unbekannte Funktio- gen. Auf diese Weise wird gegen Poliomyelitis (spinale
nen im Immunsystem ausüben. Kinderlähmung), Masern, Pocken (durch Impfung
4 Chemokine: Dies sind Zytokine mit chemotaktischer ausgerottet) und viele andere Viruskrankheiten ge-
Wirkung, d. h. sie stimulieren die Migration (Wande- impft. Eine wiederholte Impfung ist oft notwendig, um
rung) von Leukozyten an zu phagozytierende Zellen. einen optimalen Schutz zu erzielen oder eine vorhande-
Sie spielen eine zentrale Rolle bei lokalen Entzündungs- ne Immunität wieder aufzufrischen.
vorgängen (Abschn. 9.1.2).
Passive Immunisierung nach Infektion
Zellinteraktionsmoleküle: membranständige Bei der aktiven Immunisierung wird durch das Impfen mit
Botenstoffe im Immunsystem Antigenen die Antikörperbildung im Körper selbst ange-
Zellinteraktionsmoleküle dienen der unmittelbaren Kom- regt. Einen sofortigen, allerdings nur Tage bis Wochen an-
munikation zwischen den Zellen des Immunsystems, bilden haltenden Schutz kann man aber auch erzielen, indem man
also Liganden-Rezeptor-Paare, die 3 verschiedene Funk- die Antikörperbildung in anderen Menschen oder Tieren
tionen ausüben können: anregt, die so gewonnenen Antikörper aus dem Blut isoliert
4 Migration: Zellen des Immunsystem werden durch und bei drohender oder schon erfolgter Infektion diese
Zellinteraktionsmoleküle von Ort zu Ort »weiterge- Antikörper dem Patienten einspritzt.
reicht«. Dieses Vorgehen bezeichnet man als passive Immu-
4 Adhäsion: Zusammenlagerung von Immunzellen, z. B. nisierung. Ist z. B. ein Patient mit einer verschmutzten
von T-Helferzellen mit B-Lymphozyten bei der T-B-Ko- Wunde nicht gegen Wundstarrkrampf geimpft, so muss
operation (7 oben). zum sofortigen (vorbeugenden) Schutz eine passive
4 Aktivierung oder Deaktivation: An- und Abschalten Immunisierung gleichzeitig mit der aktiven Impfung
9 von Immunprozessen, z. B. bei der Induktion von erfolgen. Passive Immunisierung wird auch häufig als
Apoptose. Erkrankungsschutz bei plötzlich ausbrechenden, selte-
nen (evtl. eingeschleppten) Infektionskrankheiten ein-
G Zytokine sind die löslichen Botenstoffe des Immun-
gesetzt.
systems, die mannigfaltige Aufgaben ähnlich wie
die Hormone haben. Es gibt zusätzlich viele Zell- G Antikörperbildung durch Impfung kann zeitweise
interaktionsmoleküle, die als Liganden-Rezeptor- oder dauernd Infektionen verhindern (aktive Immu-
Paare der Vermittlung von Migration, Adhäsion, nisierung); fremdgezüchtete Antikörper können
Aktivierung und Deaktivierung im Immunsystem akut schützen (passive Immunisierung).
dienen.
Allergien: Hypersensitivitätsreaktionen
9.1.6 Impfung, Allergie, Immunschwäche Bei manchen Menschen führt die Antigen-Antikörper-
Reaktion unter besonderen Umständen zu lokalen oder
Aktive Immunisierung vor Erkrankung allgemeinen Reaktionen des Organismus, die als Aller-
Die Antikörperbildung benötigt einige Tage. In dieser gien zusammengefasst werden. Zugrunde liegt meist
Zeit können in den Körper eingedrungene Bakterien, eine an die Antigen-Antikörper-Reaktion gekoppelte Zer-
Viren oder Toxine bereits erheblichen Schaden stiften. störung bestimmter Leukozyten, wodurch große Mengen
Durch vorausgehende Impfung ist es aber möglich, die chemischer Substanzen, besonders Histamin, freigesetzt
Antikörperbildung anzuregen und dadurch den Körper werden.
gegen die betreffenden Krankheitserreger zu immuni- Die aus den Leukozyten freigesetzten Substanzen füh-
sieren. ren entweder zu einer allgemeinen Gefäßerweiterung und
Als Impfstoffe kommen in Frage: damit zu einem lebensbedrohenden Absinken des Blut-
4 abgetötete Erreger, die keine Krankheit mehr auslösen drucks (anaphylaktischer Schock) oder zu quaddeligen
können, deren Antigene aber noch erhalten sind. Diese Hautrötungen und -schwellungen (Nesselsucht, Urtikaria)
Art von Impfung wird z. B. bei Keuchhusten, Diph- oder zu starken Absonderungen der Nasenschleimhaut
therie, Typhus und anderen bakteriellen Krankheiten (beim Heuschnupfen) oder zu Atembeschwerden (beim
angewandt. Asthma). Den Histamineffekten kann durch entsprechende
4 chemisch vorbehandelte Toxine, die nicht mehr giftig Medikamente (Antihistaminika) entgegengewirkt werden.
sind, aber noch Antigenwirkung besitzen. Das bekann- Langfristig ist oft eine Beseitigung der allergischen Reak-
teste Beispiel dafür ist die Impfung gegen Tetanus tionen durch eine gezielte immunologische Umstimmung
(Wundstarrkrampf). (Desensibilisierung) möglich.
9.1 · Aufbau und Arbeitsweise des Immunsystems
165 9
Immunparalyse, Immunsuppression anderen Methode kann ein Verlust an roten Blutzellen und
Verliert der Körper die Fähigkeit zur Antikörperbildung damit eine verminderte Sauerstofftransportkapazität des
(z. B. bei starker radioaktiver Bestrahlung des lympha- Blutes behoben werden. Bei ihrer Anwendung ist zu be-
tischen Gewebes oder bei dessen leukämischer Entartung), rücksichtigen, dass besonders die Membran der Erythro-
so ist er möglichen Schädigungen durch körperfremde zyten Antigene enthält, die zu einem Verklumpen (Agglu-
Stoffe schutzlos ausgesetzt. Diese gefährliche Form der tinieren) der Erythrozyten und ihrer anschließenden Zer-
oben in Bezug auf das eigene Körpergewebe geschilderten störung (Hämolyse) führen, sobald Blut auf einen Menschen
Immuntoleranz wird Immunparalyse genannt (s. Box 9.1). übertragen wird, der im Blutplasma Antikörper gegen diese
Eine solche Immunparalyse wird gelegentlich in thera- Antigene besitzt.
peutischer Absicht künstlich herbeigeführt, z. B. zur Verhin- Rund 30 solcher angeborener, also vererbter Antigene
derung oder Verzögerung der Abstoßung körperfremden sind auf menschlichen Erythrozytenmembranen gefunden
Eiweißes von Transplantaten. Diese gezielte Ausschaltung worden. Klinisch wichtig sind davon v. a. das AB0-System
des Abwehrsystems bezeichnet man als Immunsuppres- und das Rhesus-System.
sion.
AB0-System
G Manchmal kommt es zu Hypersensitivitätsreaktio-
Für das AB0-System gilt: Die Blutgruppenbezeichnungen
nen des Immunsystems (Allergien), die sich z. B. als
richten sich nach dem Erythrozytenantigen. Bei
Heuschnupfen oder Asthma äußern können. Beim
4 Blutgruppe A besitzen die Erythrozyten das Antigen A,
Versagen des Immunsystems (Immunparalyse) ist
4 Blutgruppe B besitzen die Erythrozyten das Antigen B,
der Organismus schutzlos Infektionen ausgesetzt.
4 Blutgruppe 0 (Null) fehlen diese beiden Antigene,
4 Blutgruppe AB besitzen die Erythrozyten die Antigene
9.1.7 Immunologische Besonderheiten A und B.
der Blut- und Organtransplantation
Bei Menschen mit Blutgruppe A schwimmen im Blut-
Antigene auf Erythrozyten plasma Antikörper gegen B, bei Blutgruppe B gegen A, bei
Die Blutübertragung (Bluttransfusion) ist im chirurgischen Blutgruppe 0 gegen A und B, und bei Blutgruppe AB sind
Alltag eine unentbehrliche Routine, denn mit keiner keine Antikörper im Plasma vorhanden.

Box 9.1. HIV-(HTLV-III-)Infektion und AIDS-Erkrankung

Seit einigen Jahrzehnten breitet sich weltweit eine Infek- zu vermehren, wenn der Lymphozyt durch eine weitere
tionskrankheit aus, die zu einem Zusammenbruch der Infektion zu einer Immunantwort angeregt wird. Die
Immunabwehr des Organismus führt. Die Infektion er- riesige Anzahl von Viren reißt Löcher in die Zellmembran
folgt mit Viren, die zur Familie der Retroviren gehören. des Lymphozyten und dieser stirbt ab (unter Freisetzung
Das Virus wird in erster Linie durch unmittelbare Aufnah- der in ihm enthaltenen Viren, die jetzt andere Zellen be-
me in das Blut von infiziertem Sperma (v. a. über Schleim- fallen). Nach einiger Zeit bricht die gesamte Immunab-
hautverletzungen beim analen Geschlechtsverkehr) oder wehr des befallenen Organismus zusammen. Der Patient
infiziertem Blut (z. B. bei Bluttransfusionen oder gemein- stirbt schließlich an Infektionen, die für eine gesunde Per-
samer Nutzung von Injektionsbestecken) übertragen. son nicht bedrohlich wären. Das Virus heißt wegen dieser
Infektionen sind aber auch mit infiziertem Körpersekret Wirkweise auch humanes Immun-Defekt-Virus, HIV.
(Speichel, Vaginalsekret, Tränenflüssigkeit, Muttermilch) Das resultierende Krankheitsbild wird akquiriertes
denkbar, wenn auch nur unter besondern Bedingungen, Immun-Defekt-Syndrom, AIDS (»acquired immuno-
da die Viruskonzentration in diesen Flüssigkeiten sehr deficiency-syndrome«) genannt. Zwischen der HIV-In-
gering ist. Bisher konnte ein solcher Infektionsweg nicht fektion und seinem Auftreten vergehen durchschnittlich
zweifelsfrei nachgewiesen werden. Es gibt keine Tröpf- 6 Jahre, mit einer sehr großen Schwankungsbreite bis zu
cheninfektion, auch Infektionen durch Wasser, Lebens- 15 Jahren. Das Krankheitsbild ist außerordentlich vielfältig.
mittel und Insektenstiche können ausgeschlossen Eine kausale Therapie gibt es derzeit nicht. Auch eine
werden. Auch soziale Kontakte stellen keine Infektions- Impfung steht noch nicht zur Verfügung. Daher kommt
quelle dar. der Vorbeugung eine entscheidende Bedeutung zu.
Die Gefährlichkeit der HIV-Viren resultiert aus der Art Bei vielen, wenn nicht allen AIDS-Patienten kommt
und Weise mit der diese das Immunabwehrsystem des es auch zu einer Erkrankung des Nervensystems. Die
befallenen Organismus ausschalten. Dazu dringen sie in Symptome umfassen ein großes Spektrum von neurolo-
bestimmte T-Lymphozyten ein (daher der Name humanes gischen und psychischen Störungen, von Symptomen
T-lymphotropes Virus, Typ III, HTLV-III), verändern deren wie bei einer multiplen Sklerose bis hin zur AIDS-Demenz
Erbsubstanz und beginnen sich erst dann explosionsartig mit dem Verlust aller intellektuellen Fähigkeiten.
166 Kapitel 9 · Psychoneuroimmunologie

Die durch diese Verhältnisse bestehenden Immunitäts- Organtransplantation und Immunität


barrieren werden auf die einfachstmögliche Weise umgangen, Die Bluttransfusion ist nur ein Spezialfall der heute immer
indem nur blutgruppengleiches Blut übertragen wird. häufigeren Organübertragungen (Organtransplantatio-
Die Antikörper des AB0-Systems werden wegen ihrer nen), mit denen ein defektes Organ durch ein gesundes
zusammenklumpenden (agglutinierenden) Wirkung auch eines anderen Menschen oder eines Tieres ersetzt werden
Agglutinine genannt, die Antigene A und B entsprechend soll. Von der chirurgischen Technik her gibt es dabei heute
auch Agglutinogene. Während die Agglutinogene A bzw. B kaum noch Probleme. Fremdes Körpergewebe ist aber mit
beim Neugeborenen vorhanden sind, entwickeln sich die zahlreichen Antigenen besetzt, die praktisch regelmäßig
Agglutinine Anti-B (bei Blutgruppe A) bzw. Anti-A (bei eine Antikörperbildung auslösen. Dadurch wird innerhalb
Blutgruppe B) bzw. Anti-A plus Anti-B (bei Blutgruppe 0) von drei bis zehn Wochen unweigerlich der Tod der über-
im Laufe der ersten Lebensmonate. Anders als bei der sons- tragenen Zellen herbeigeführt, es sei denn, die Antikörper-
tigen Antikörperbildung ist also zur Bildung der Agglutinine bildung wird verhindert oder wenigstens abgeschwächt.
kein Kontakt mit dem fremden Antigen notwendig. Als Je genetisch ähnlicher sich die Zellen von Empfänger
Folge davon ist schon bei der ersten »falschen« Bluttransfu- und Spender sind, desto besser sind die Chancen für ein
sion mit einem Verklumpen der übertragenen Erythrozyten Einheilen des übertragenen Organs. Am besten liegen die
zu rechnen. Verhältnisse bei eineiigen Zwillingen, die den gleichen
Chromosomenbesatz haben. Schon bei Übertragungen
G Erythrozyten tragen auf ihrer Oberfläche zahlreiche
zwischen Vater bzw. Mutter und Kind trifft das nicht mehr
vererbte Antigene. Klinisch wichtig ist das AB0-Sys-
zu. Hier, wie bei allen anderen Transplantationen, versucht
tem, da die entgegengerichteten Agglutinine (Anti-
man, mit einer Reihe von Maßnahmen die Bildung der
körper) ebenfalls vorhanden sind. Eine erste
unerwünschten Antikörper zu unterdrücken.
»falsche« Bluttransfusion führt also schon zur Agglu-
Alle derzeitigen Maßnahmen der Immunsuppression
tination und Hämolyse.
(Abschn. 9.1.6), wie der Gebrauch von Anti-Lymphozyten-
Serum oder die Gabe von Hormonen und Pharmaka, die
9 Rhesus-System (Rh-System) die Antikörperbildung verzögern, oder die Schwächung
Rund 85% aller Europäer besitzen in den Membranen der des lymphatischen Gewebes durch radioaktive oder Rönt-
Erythrozyten ein weiteres Antigen, das als Rhesus-Faktor genstrahlung, haben aber den ernsten Nachteil, dass sie
bezeichnet wird; sie sind Rhesus-positiv (abgekürzt Rh+ gleichzeitig die Infektionsabwehr des Organempfängers
oder Rh). Die anderen 15% besitzen dieses Antigen nicht; schwächen (Abschn. 9.6.1, Immunparalyse). Während einer
sie sind Rhesus-negativ (Rh– oder rh). immunsuppressiven Therapie müssen daher alle Infektions-
Das Plasma Rh-negativer Menschen enthält normaler- möglichkeiten sorgfältig gemieden werden (Box 9.2).
weise (anders als im AB0-System) keine Antikörper gegen
das Rhesus-Antigen. Deren Bildung wird aber durch die In- Box 9.2. Marihuana und Immunsuppression
fusion von Rh-positivem Blut angeregt (die erste »falsche« Marihuana und Marihuanarezeptoren finden sich über-
Transfusion würde also nicht zu Verklumpungen führen). all im Körper, besonders aber im Nerven- (Kap. 26) und
Unfreiwillig kann die Bildung von Rh-Antikörpern bei im Immunsystem. Marihuana ist an der Regelung eines
der Schwangerschaft vorkommen: Infolge von Durchlässig- ausgeglichenen Gleichgewichts zwischen Immunsup-
keiten der Austauschflächen (Austauschmembranen) im pression und Immunabwehr beteiligt. Wird allerdings
Mutterkuchen (Plazenta) treten nämlich kleine Mengen von mehr Marihuana dem Körper (z. B. durch Rauchen) zu-
Erythrozyten vom kindlichen in den mütterlichen Kreislauf geführt, überwiegen die immunsuppressiven Effekte.
und umgekehrt über. Bei einem (vom Vater her) Rh-posi- Dies macht Konsumenten von Marihuana aber nicht
tiven Kind können diese Erythrozyten im Blut der Rh-nega- anfälliger für Krankheiten, mit Ausnahme für die durch
tiven Mutter die Bildung von Rh-Antikörpern auslösen. Inhalation von Schadstoffen ausgelösten pulmonalen
Diese so gebildeten mütterlichen Rh-Antikörper werden Krankheiten wie Asthma und Lungenkrebs. Die Gründe
bei einer erneuten Schwangerschaft mit einem Rh-positiven für diese Resistenz sind unklar. Im Tierversuch zeigt
Kind nach plazentarem Übertritt vom mütterlichen in den Marihuanagabe therapeutische Wirkung auf Auto-
kindlichen Kreislauf auf die kindlichen Rh-positiven Ery- immunkrankheiten wie die multiple Sklerose und auf
throzyten wirken und diese schädigen. (Eine vorbeugende verschiedene Virusinfektionen und Entzündungen.
Blockierung dieser Antikörperbildung ist heute möglich, es
droht sonst der intrauterine oder postnatale Kindstod.)
G Organtransplantationen erfordern in der Regel Maß-
G Werden im Verlauf einer Schwangerschaft im müt- nahmen der Immunsuppression, um die Abstoßung
terlichen Blut Rh-Antikörper gebildet, so können des übertragenen Gewebes durch das Immunsystem
diese bei nachfolgenden Schwangerschaften kind- zu verhindern. Maximaler Schutz vor Infektionen ist
liche Rh-positive Erythrozyten agglutinieren. dabei notwendig.
9.2 · Physiologische Verbindungen zwischen Zentralnervensystem und Immunsystem
167 9
9.2 Physiologische Verbindungen Geschichte der Psychoneuroimmunologie
zwischen Zentralnervensystem Der Begriff Psychoimmunologie wurde 1964 von G.F. Solo-
und Immunsystem mon und Mitarbeitern in einem Artikel geprägt, der sich mit
dem Zusammenhang zwischen Emotionen, Immunsystem
9.2.1 Psychoneuroimmunologie und Krankheit befasste. Für die rheumatoide Arthritis, eine
Autoimmunerkrankung, konnte man zeigen, dass für den
Nervensystem, endokrines System und Ausbruch der Erkrankung psychologische Dispositionen
Immunsystem (»Bewältigungsstile«) und psychische Belastung bei sonst
Voraussetzung für einen Zusammenhang zwischen psychi- gleicher Funktionslage des Immunsystems mitverantwort-
schen Prozessen, Verhalten und immunologischen Vorgän- lich waren. Familienmitglieder, die positive Rheumafakto-
gen sind anatomische und physiologische Verbindungen ren im Blut aufwiesen, aber nicht erkrankt waren, wurden
zwischen Nervensystem und Immunsystem. Viele der Wech- mit erkrankten Familienmitgliedern verglichen. Die erkrank-
selwirkungen zwischen Nervensystem (Psyche) und Immun- ten Familienmitglieder zeigten deutlich mehr psychische
system laufen über die endokrinen Systeme, deren Einflüsse Belastungen, denen sie hilflos gegenüberstanden.
müssen daher in der Psychoneuroimmunologie besonders Bereits in den 20er-Jahren des 20. Jahrhunderts hatten
berücksichtigt werden (. Abb. 9.5; Kap. 7 und 8). russische Wissenschaftler aus der Schule Iwan Pawlows ent-
Die Pfeile in . Abb. 9.5 symbolisieren die Tatsache, dass deckt, dass Immunreaktionen klassisch konditionierbar
immunologische Vorgänge nicht, wie oft dargestellt, »auto- waren (Kap. 25 und Abschn. 9.3.1), eine Entdeckung, die in
nom«, d. h. unabhängig vom Zentralnervensystem (ZNS) Vergessenheit geriet, da zu dieser Zeit noch kein Wissen
ablaufen, sondern dass das Nervensystem in die Tätigkeit über mögliche Mechanismen eines solchen Lernprozesses
des Immunsystems eingreift und umgekehrt Vorgänge im bestand. Erst in den 70er-Jahren haben R. Ader und
ZNS durch Einflüsse aus dem Immunsystem verändert N. Cohen durch besser kontrollierte Untersuchungen an
werden. Dasselbe gilt für die endokrinen Systeme, die wie Mäusen diese Entdeckung wiederbelebt und die Bezeich-
das Immunsystem über eine vom ZNS unabhängige Auto- nung »Psychoneuroimmunologie« eingeführt.
regulation verfügen, im intakten Organismus aber stets
G Die Psychoneuroimmunologie begann mit Forschun-
vom ZNS und peripheren Nervensystem mitgesteuert
gen zur Entstehung von Krankheiten nach Belastun-
werden. Während die Immunologie primär diese auto-
gen und der Konditionierung von Immunfaktoren.
regulativen Prozesse zwischen und innerhalb der Zellen des
Immunsystems untersucht, befasst sich die Psychoneu-
roimmunologie mit den Wechselwirkungen zwischen den Krankheit und Immunsystem
in . Abb. 9.5 abgebildeten Systemen. Die seit den Anfängen der Zivilisation immer wieder ver-
mutete Auslösung, Aufrechterhaltung und Beeinflussung
G Unter Psychoneuroimmunologie verstehen wir die
mancher Krankheiten durch psychische (sprich: neuronale)
Wissenschaft von den Wechselwirkungen zwischen
Faktoren erhält durch die Psychoneuroimmunologie eine
Verhalten (»Psycho«), Nervensystem (»Neuro«) und
naturwissenschaftliche Grundlage. Obwohl heute am
Immunsystem (»Immunologie«).
Menschen nur ein kleiner Teil der vielfältigen Ursache-
Wirkungs-Verkettungen von Verhalten über Zentralner-
vensystem, Immunsystem bis hin zu Krankheit bekannt ist,
besteht kein Zweifel mehr an der Existenz einer solchen
Verbindung.
Grundsätzlich können Immunreaktionen auf 4 Wegen
zu Krankheit führen. Diese sind in . Tabelle 9.2 dargestellt.
Das Zentralnervensystem und das Hormonsystem können
auf alle vier Möglichkeiten der pathologischen Entwicklung
Einfluss nehmen. Da jedem psychologischen Vorgang ein
Hirnprozess zugrunde liegt, werden solche Hirnvorgänge,
die mit dem Immunsystem in Verbindung stehen, psycho-
logisch ausgelöste Immunreaktionen bewirken.
Die Beziehungen zwischen den psychologischen (neu-
rophysiologischen) Vorgängen und den immunologischen
Prozessen sind in der Regel nicht linear: in den meisten
. Abb. 9.5. Beziehungen zwischen Nervensystem, Immunsystem
Fällen bestehen Grenz- und Schwellenwerte, deren Über-
und endokrinem System. Die reziproken Beziehungen zum Nerven-
system steuern indirekt Verhalten, wie auch die Umweltkontingenzen schreiten sprungartig zu pathologischen Entwicklungen
(Reiz-Reaktion-Konsequenz-Beziehungen) einen Einfluss auf das führt (z. B. bestimmte bösartige Tumoren). Solche Ent-
Immunsystem ausüben wicklungen werden als deterministisch-chaotisch bezeich-
168 Kapitel 9 · Psychoneuroimmunologie

Milz, Lymphknoten, Schilddrüse und Immunzellen ein.


. Tabelle 9.2. Immunreaktion und Krankheit Substanz P, vasoaktives intestinales Peptid, Kortikotropin-
Immunreaktion Releasing-Hormon und einige Hypophysenpeptide, wie
ACTH und β-Endorphine reduzieren die Immunkom-
Zu schwach Zu stark petenz. Alle genannten Substanzen treten als Reaktion des
Von Außen Infektions- Allergien, Asthma, Organismus auf psychisch oder physisch belastende Reize
krankheiten, Abstoßung von (»Stress«) auf.
Aids, Wund- Geweben Substanz P und vasoaktives intestinales Peptid (VIP)
Patho- heilung
logischer spielen eine große Rolle in der Entstehung sog. psycho-
Magen-
Einfluss geschwüre somatischer Krankheiten, bei denen Entzündungen der
Gelenke oder innerer Organe vorliegen. Sie werden deshalb
Von Innen Krebs Autoimmunkrank-
heiten, z. B. chro- auch als Tachykinine (griech: tachos = schnell, kinin = be-
nische Polyarthritis, wegen) bezeichnet: Arthritis, Colitis ulcerosa (Darment-
multiple Sklerose, zündung), Ekzeme, Asthma und bösartige Tumoren des
Lupus Dickdarms werden von ihnen begünstigt (. Abb. 9.6).
Die Tachykinine kommen im Gehirn, Rückenmark,
peripherem Gewebe und Gefäßen sowie den Schleimdrü-
net und können mit modernen mathematischen Verfahren sen vor; sie werden sowohl an den peripheren Nervenendi-
beschrieben werden. gungen als auch teilweise von Immunzellen selbst sezer-
niert.
G Die Beziehungen zwischen Nervensystem und
Immunsystem sind oft nicht-linear, was es schwierig G Tachykinine begünstigen Organerkrankungen durch
macht, Ursache-Wirkungs-Verkettungen zu beweisen. stressbedingte Reduktion der Immunkompetenz.

9 Direkte und indirekte psychologische Dosisabhängigkeit der Immunreaktion


Einflussfaktoren Dabei spielt allerdings die Konzentration der ausgeschütte-
Die auf . Tabelle 9.2 dargestellten Einflussfaktoren bezie- ten Neuropeptide eine oft gegensätzliche Rolle. Beispiels-
hen sich auf direkte Effekte, die das ZNS, das autonome NS weise besitzen Lymphozyten beim Menschen Rezeptoren
und die Hormone auf das Immunsystem haben: z. B. kann für körpereigene Opiate, β-Endorphine und Enkephaline,
ein Belastungsreiz direkt ein Areal im Hypothalamus ak- die sich aber von den im ZNS vorkommenden stereo-
tivieren, dieser stimuliert einen bestimmten Rezeptortyp an chemisch unterscheiden. Wie wir in Kap. 6 und 7 gesehen
Immunzellen, die ihre Arbeitsweise daraufhin verändern. haben, werden körpereigene Opiate als Reaktion auf Stress-
Sehr viel häufiger und für das Gesundheitssystem wich- und Schmerzreize ausgeschüttet. Kleine Mengen dieser en-
tiger sind allerdings die indirekten psychologischen Fakto- dogenen Opiate verstärken, während hohe Dosen die zel-
ren: z. B. Bluthochdruck, Diabetes durch falsche Nahrungs- luläre und humorale Immunreaktion schwächen. Dies
gewohnheiten, Rauchen und Substanzmissbrauch, Mangel könnte erklären, warum bestimmte Belastungs- und Stress-
an Bewegung. Jeder dieser Faktoren hat unterschiedliche, bedingungen oft zu gegensätzlichen immunologischen Ef-
aber gravierende Einflüsse auf den Immunstatus und kann fekten führen.
eine Vielzahl ganz unterschiedlicher Krankheitssymptome . Abb. 9.6 gibt eine Zusammenfassung einiger peri-
nach sich ziehen. Alle genannten indirekten Faktoren sind pherer Faktoren, die die Überempfindlichkeit der Gewebe
aber in letzter Konsequenz auf Lernprozesse (vor dem Hin- für nozizeptive Reize und Allergene und Immunität be-
tergrund konstitutioneller Risiken, die in Kap. 23, 24 und 25 einflussen. Dabei zeigt der rechte Teil der Abbildung, dass
besprochen werden) rückführbar. der Effekt der Schmerz- und Stressreize von der Balance
zwischen hemmenden (rot strichliert) und erregenden
G Die meisten psychoimmunologisch bedingten
(schwarz) Einflüssen der verschiedenen Neuropeptide und
Erkrankungen sind indirekt und nicht direkt von
Immunzellen abhängen wird; diese Balance hängt auch von
psychologischen Einflüssen ausgelöst, z. B. erhöht
der Dauer des Stressreizes und der Zeit nach Beendigung
Fettleibigkeit das Krebsrisiko.
des Stressreizes ab.

9.2.2 Hormone, Neurotransmitter und G Ein- und dieselben durch Stress ausgeschütteten,
Immunsystem immunologisch wirksamen Hormone können in
niedriger Dosierung zu gegensätzlichen Effekten als
Wirkung der Tachykinine auf das Immunsystem in hoher Menge führen.

Einige Neuropeptide und die Katecholamine greifen direkt


in die Arbeitsweise von immunkompetenten Organen, wie
9.2 · Physiologische Verbindungen zwischen Zentralnervensystem und Immunsystem
169 9

Nach Goetzl E, Turck C & Streedhasan, S (2001). Mit freundlicher Genehmigung von Elsevier.
. Abb. 9.6. Einflüsse des peripheren Nervensystems auf Hyper- ge der einzelnen Abläufe dargestellt. Diese kann von Sekunden (links)
sensibilität (Schmerz) und Immunität. Ein Hinterhornganglion des bis Stunden (rechts) variieren. APZ antikörperproduzierende Zelle, Eos
Rückenmarks mit den verschiedenen neuralen (durchgehende) und eosinophiler Granulozyt (Leukozyt), VIP vasoaktives intestinales Peptid-
endokrinen (gestrichelte) Verbindungen ist dargestellt. Hemmende hormon, VIP1–28 und VIP10−28 zeigt VIP-Moleküle mit jeweils unterschied-
Beziehungen rot strichliert. Von links nach rechts ist die zeitliche Abfol- licher Zahl von Aminosäuren; SP Substanz P. Erläuterungen 7 Text

Wirkung der Katecholamine auf das sorzellen verschoben, so kommt es zu verspäteten, über-
Immunsystem schießenden oder überlangen Immunreaktionen, je nach-
Es ist außerordentlich schwierig abzuschätzen, ob eine in dem, welcher Zelltyp überwiegt.
vitro oder in vivo festgestellte Änderung der Immunreakti-
G Katecholamine, die als Kurzzeitreaktion bei Stress
vität für die Entstehung einer Krankheit relevant ist. Dies
ausgeschüttet werden, können die Balance zwischen
wird besonders bei den Katecholaminen deutlich, die so-
T-Helfer- und T-Suppressorzellen verschieben.
wohl in den sympathischen Nervenendigungen wie im
Nebennierenmark produziert (Kap. 6) und bei Angst und
Defensivverhalten aktiviert werden. Sie spielen eine zentrale Rolle der Zytokine
Rolle in der Regulation der cAMP-Spiegel von Lympho- Zytokine oder Zellinteraktionsmoleküle fungieren im Im-
zyten und modifizieren damit dosisabhängig eine Vielzahl munsystem als die Transmitter, also Botenstoffe zu Orga-
von Immunfunktionen, wie Lymphozytenproliferation nen und Zellen (Abschn. 9.1.5). Sie steuern die Migration
(Zellteilung), Antikörperausschüttung und Zellauflösung der Immunzellen ins Gewebe, sie ermöglichen die Bindung
(Apoptose). Hohe cAMP-Spiegel bei gleichzeitiger Stimu- (Adhäsion) von kooperierenden Zellen und sie können
lation von β-adrenergen und T-Zellen-Rezeptoren durch Zielzellen aktivieren oder hemmen. Sie bestehen wie bereits
Katecholamine an T-Zellen reduzieren die Proliferation der geschildert aus Interleukinen (IL), Interferonen (IFN), Tu-
Immunzellen. mornekrosefaktoren (TNF) und transformierenden Wachs-
Besonders wichtig ist dabei die Tatsache, dass die Ba- tumsfaktoren (TGF) und wirken pro- oder antiinflamma-
lance zwischen T-Helferzell- und T-Suppressorzell-Aktivi- torisch. Sie werden von den Immunzellen gebildet und
tät von Noradrenalin und Adrenalin verschoben werden können lokal sehr spezifisch über Zytokinrezeptoren oder
kann. Die Stärke der immunologischen Antwort sollte systemisch auf viele Zielzellen wirken.
proportional der Menge der eingedrungenen Antigene sein Zytokine existieren sowohl im ZNS wie auch in der
und nach deren Neutralisierung »rechtzeitig« aufhören. Ist Körperperipherie und können somit komplexe Regelkreise
das übliche Gleichgewicht zwischen Helfer- und Suppres- innerhalb und zwischen ZNS, endokrinem System und Im-
170 Kapitel 9 · Psychoneuroimmunologie

nomen und damit emotionalen Mechanismen eingreift


(bezüglich der Anatomie dieser Hirnregionen Abschn. 5.3
und Kap. 6).

Rolle von Hypothalamus und limbischem System


Läsionen oder Erkrankungen im vorderen Hypothalamus
lösen eine Vielzahl von immunologischen Veränderungen
aus, die klar machen, dass der vordere Hypothalamus so-
wohl in die zelluläre wie humorale Immunreaktivität ein-
greifen kann. Die meisten Änderungen sind kurzfristig und
über die endokrinen Verbindungen zur Hypophyse ver-
mittelt (7 unten). Die Zahl der T-Lymphozyten und natür-
lichen Killerzellen (NK, . Abb. 9.4) sinkt nach Zerstörung
oder Inaktivierung des vorderen Hypothalamus ebenso wie
die Antikörperproduktion ab.
Läsionen im limbischen System führen dagegen meist
zu einer Anregung immunologischer Aktivität. Aber auch
. Abb. 9.7. Zytokine und Nervensystem. Zusammenhänge zwi- hier bleibt unklar, welche Effekte von den endokrinen Sys-
schen ZNS, Zytokine produzierenden Zellen im ZNS und periphe- temen des Hypothalamus und der Hypophyse und welche
rem Immunsystem. Ein Relaissystem integriert periphere Immunreize durch direkte Verbindungen zum autonomen NS entstehen.
mit neuronal/sensorischen Reizen und beeinflusst die neuroendokri- Sowohl im limbischen System wie im Hirnstamm sind v. a.
nen Funktionen. Das System besteht aus Neuronen und Zytokin-pro-
duzierenden Zellen des Gehirns, die miteinander interagieren (7 Text)
jene Regionen an der Immunmodulation beteiligt, die mit
dem zentralen noradrenergen System (Kap. 5 und 6) in Ver-
bindung stehen. Zerstörung noradrenerger Zellsysteme
9 munsystem bilden (. Abb. 9.7). Zum Beispiel aktiviert IL-1 erhöht z. B. die T-Suppressor-Zell-Aktivität und hemmt
die Hypothalamus-Nebennierenrinden-Achse und ihre damit die Antikörperreaktion auf verschiedene von extern
Hormone auf allen Ebenen und ist daher an der Entstehung eingeführte Antigene.
stressbedingter Krankheiten beteiligt. IL-1 und IL-6 bewir-
G Der vordere Hypothalamus und Teile des limbischen
ken Krankheitsverhalten mit Rückzug, Appetitmangel,
Systems steuern direkt oder indirekt einzelne Sub-
Gliederschmerzen, Müdigkeit und Desinteresse durch ihre
komponenten des Immunsystems. Läsionen des
Wirkung auf das ZNS. Sie erleichtern damit das Freiwerden
Hypothalamus senken die Immunkompetenz, Lä-
von Energie zur Bekämpfung des Pathogens, z. B. des Virus.
sionen limbischer Anteile steigern oft die Antikörper-
. Abb. 9.7 gibt eine Zusammenfassung dieser Interaktion.
antwort.
G Zytokine funktionieren wie Neurotransmitter und
regeln die Tätigkeit des Immunsystems durch Ein- Beteiligung der Großhirnrinde
flüsse auf Hormonausschüttung oder direkte Be-
Generell führen Hirnläsionen, v. a. im Großhirn in der aku-
einflussung von Zielzellen im ZNS und Vegetativum.
ten Phase z. B. nach Schlaganfall, zu einer Immunsuppres-
Krankheitsverhalten z. B. wird durch Zytokineinfluss
sion. Infektionen sind daher die häufigste Todesursache
auf das ZNS mitbestimmt.
nach Hirnläsionen. Zytokine steigen (proinflammatorische
Zytokine wie IL-1, IL-6. TNF-α und IL-8 7 unten) und die
9.2.3 Zentralnervensystem T-Zell-Aktivität sinkt. Nach Chronifizierung allerdings,
und Immunsystem v. a. bei Schlaganfällen nach ca. 90 Tagen und wenn fron-
tale und basale Regionen (Putamen, Kap. 13) betroffen
Die Verbindungen zwischen ZNS und Immunsystem lau- sind, ist die Immunantwort sogar häufig verbessert, vermut-
fen v. a. über das autonome Nervensystem, das physiolo- lich weil diese Läsionen die Aktivität des sympathischen NS
gisch für körperinterne Homöostasen (Kap. 6) und psycho- schwächen.
logisch für emotionale und motivationale Prozesse (Gefühl Die beiden Hemisphären des Neokortex haben unter-
und Antrieb) verantwortlich ist. Dementsprechend sind schiedliche Wirkungen auf das Immunsystem, ein Anstieg
jene Anteile des ZNS, die mit dem Immunsystem interagie- der Aktivität der rechten Hirnhemisphäre führt zu Immun-
ren, meist auch Strukturen, die an der Regulation des auto- suppression. Das könnte damit zusammenhängen, dass aus
nomen Nervensystems beteiligt sind, nämlich der Hypo- noch unbekannten Gründen die rechte Hemisphäre die
thalamus, das limbische System und autonome Kerne des Aufnahme und Verarbeitung emotional negativer Reize
Stammhirns. Der Neokortex scheint insofern eine Rolle und Reaktionen erleichtert. Linkshänder weisen z. B. mehr
zu spielen, als er in die subkortikale Regelung von auto- Immundefizite wie Allergien und reduzierte Resistenz ge-
9.2 · Physiologische Verbindungen zwischen Zentralnervensystem und Immunsystem
171 9

genüber Infektionen als Rechtshänder auf. Interessanter- Interleukin-1 (IL-1), eines der bestuntersuchten Zyto-
weise haben Läsionen der beiden Hemisphären keinen kine, stimuliert im Hypothalamus die CRH-(Kortikotropin-
Einfluss auf die humorale B-Lymphozyten-, sondern nur Releasing-Hormon)-Freisetzung. Darüber hinaus führt
auf die T-Lymphozytenaktivität. IL-1 zu vermehrtem Delta-Schlaf (s. Kap. 22).
Wenngleich die Situation sicher keine einfache Dicho-
G Die Aufnahme von immunreaktiven Zellen im Kortex
tomie: rechte Hemisphäre = Immunsuppression und linke
und Hypothalamus beeinflussen die Tätigkeit der
Hemisphäre = Immunkompetenz zulässt, führen Läsionen
Hypothalamus-Nebennierenrinden-Achse: Tage
der rechten Hemisphäre zu Anstieg der T-Lymphozyten-
nach Einwirkung eines Antikörpers werden ACTH
und NK-Aktivität, während Läsionen der linken diese eher
und Glukokortikoide vermehrt ausgeschüttet, um
unterdrücken. Im Tierversuch sind die Veränderungen
ein Überschießen der Immunantwort in der Peri-
nicht nur statistisch, sondern auch pharmakologisch be-
pherie zu verhindern.
deutsam: Das Medikament Imuthiol, ein wichtiger Immun-
stimulator, der krebsartige Zellteilung und Virusausbrei-
tung verhindern kann, verliert nach Läsion einer Hemis- Schlaf-Wach-Rhythmus und Immunkompetenz
phäre seine Wirkung im ganzen Körper. Obwohl man Der Schlaf-Wach-Rhythmus wird von immunaktiven Subs-
solche Befunde schwer interpretieren kann, weil man die tanzen ebenso beeinflusst wie umgekehrt Schlaf zum restau-
Zwischenschritte vom Großhirn zum Immunsystem nicht rativen Aufbau von immunkompetenten Zellen notwendig
kennt, belegen sie doch die Bedeutung der Hemisphären- ist. Chronische Schlafdeprivation führt daher zu raschem
dominanz für die Immunkompetenz. Absinken der Immunkompetenz mit Anstieg von Neo-
plasien (krebsartiger Entartung), Infektionen und Tod. Zir-
G Je nach Ort der Hirnläsion oder -dysfunktion kann
kadiane Rhythmusstörungen wie Nachtarbeit und das
es zu Abfall oder Anstieg der Immunkompetenz
Überfliegen von Zeitzonen (»Jetlag«) erhöhen ebenfalls die
kommen. Das Großhirn übt einen starken Einfluss
Infektionsanfälligkeit (Kap. 22). Interleukine, z. B. IL-1, die
auf das Immunsystem aus. Akute Läsionen stören
von T-Helferzellen abgegeben werden und das Lympho-
die Immunkompetenz und die rechte Hemisphäre
zytenwachstum beschleunigen, haben schlafanstoßende
wirkt immunsuppressiv.
Wirkung im Gehirn.
Die immunologischen Effekte des Schlafens scheinen
Immuneffekte auf das ZNS u. a. von der zirkadianen Rhythmik des Zirbeldrüsenhor-
Die Beeinflussung des ZNS durch Substanzen des Immun- mons Melatonin bedingt zu sein. Melatonin ist während
systems ist unbestritten. Jeder, der einmal Fieber hatte, litt des Tiefschlafes erhöht, seine Konzentration im Kindesalter
unter den Folgen der ins Gehirn eingedrungenen Entzün- ist hoch und sinkt mit der Dauer des Tiefschlafs im Alter
dungsstoffe. Im gesunden Zustand genießt das ZNS eine ab (Kap. 2 und Abschn. 8.1.2). Vor dem Einschlafen verab-
gewisse immunologische Ausnahmestellung, es ist weit- reicht, reduziert es Belastungseffekte (»Stress«) und kann
gehend von Einflüssen des Immunsystems getrennt. Wenn bei Jetlag den Rhythmus resynchronisieren. Melatonin be-
aber die im ZNS zirkulierenden T-Lymphozyten auf ein wirkt in antigenaktivierten T-Helferzellen die Ausschüttung
Antigen im ZNS stoßen, entwickelt sich innerhalb von kleiner Mengen endogener Opioide (Kap. 7 und 8). Im
Tagen eine volle Entzündungsreaktion. Tierversuch wurde damit das Wachstum von Tumoren ge-
Von besonderer Bedeutung für die Psychoneuroimmu- bremst und die vielfältigen hormonellen Effekte von Be-
nologie war der Nachweis, dass spezifische Zellsysteme des lastung (»Stress«) neutralisiert.
Hypothalamus während verschiedener Phasen einer Im-
G Ein regulärer Schlaf-Wach-Rhythmus ist Vorausset-
munreaktion eine deutliche Änderung des Entladungsver-
zung für ausreichende Kompetenz des Immunsys-
haltens zeigen. Die immunaktivierten Zellen wiederum
tems. Das Melatonin scheint der Vermittler der zirka-
bewirken einen Abfall der Übertragungswirkung von Nor-
dianen Effekte auf das Immunsystem zu sein.
adrenalin (NA) im Hypothalamus, was selbst wieder zu
vielfältigen endokrinen Konsequenzen in der Tätigkeit der
Hypophyse führt (Kap. 7 und 8): Am 4. und 5. Tag nach der 9.2.4 Autonomes Nervensystem
Aktivierung einer Antigenwirkung ist auch das Maximum und Immunreaktion
der Sekretion von Glukokortikoiden, die direkt die Sensibi-
lität der Lymphozyten steuern, erreicht. Somit gehört ein Immunreaktion und Emotionen
Anstieg von ACTH/Kortisol zu jeder Immunreaktion. Die Wie wir noch in Kap. 26 und Kap. 27 darstellen werden, ist
Funktion des Kortisol besteht dabei darin, die Immunreak- die Entstehung und Aufrechterhaltung von Gefühlen und
tion zu terminieren und ein Überschießen zu verhindern. Antriebszuständen an die Existenz des autonomen Nerven-
Die Gabe von Kortikosteroiden ist daher die wirksamste systems gebunden (Kap. 6). Emotionen sind an der Auf-
Therapie autoimmuner oder extern verursachter Überakti- rechterhaltung der körperinternen Homöostasen durch
vität des Immunsystems. das autonome Nervensystem genauso beteiligt wie andere
172 Kapitel 9 · Psychoneuroimmunologie

. Abb. 9.8a, b. Autonomes Nervensystem und Immunsystem.

Aus Felten S, Felten DL (2001). Mit freundlicher Genehmigung von Elsevier.


a Lange, mittellange und kurze Verbindungen zwischen autonomem
Nervensystem und Immunsystem. b Nervenendigung (Pfeile) in direk-
tem Kontakt mit 2 Lymphozyten (oben). Die kleinen Pfeile oben rechts
zeigen Nervenendigungen an den glatten Muskeln eines Gefäßes. Die
untere Abbildung zeigt einen Lymphozyten, der von Nervenendigun-
gen (dunkel) umgeben ist (alle Tyrosinhydroxylase-immunoreaktiv)

nichtphysiologische Faktoren, wie z. B. Außentemperatur


oder Energiezufuhr. Wenn das Immunsystem oder wich-
tige Anteile desselben vom autonomen Nervensystem ge-
steuert werden können, so müssen emotionale Verhaltens-
weisen ebenfalls direkt in die Tätigkeit des Immunsystems
und damit in die Abwehr von Fremdstoffen und andere
Funktionen des Immunsystems eingreifen können.

Kommunikation zwischen Immunsystem


und autonomem Nervensystem
Die Verbindungen zwischen autonomem und Immun-
system sind vielfältig. Dabei muss man kurze, mittellange
und lange Kommunikationswege zwischen beiden Sys-
temen unterscheiden. Kurze betreffen die unmittelbare
anatomische Nachbarschaft von Zellen, mittellange jene
zwischen entfernter liegenden Teilen des autonomen Sys-
9 tems, z. B. den Grenzstrangganglien und den Lymphknoten,
lange Verbindungen z. B. jene zwischen autonomen Teilen
des Zentralnervensystems oder endokrinen Drüsen und
den verschiedenen lymphatischen Geweben (. Abb. 9.8).
Das autonome NS beeinflusst direkt das Knochenmark,
den Thymus, die Milz, die Lymphknoten und die Lymph-
gewebe des Magen-Darm-Traktes. . Abb. 9.8b zeigt eine
Nervenendigung in direktem Kontakt mit zwei Lympho-
zyten (die Nervenendigungen mit Pfeilen gekennzeichnet).
Im oberen Teil der Abbildung liegen synaptische Endigun-
gen (kleine Pfeile) im glatten Muskel eines Gefäßes: die
Kommunikation zwischen der autonomen Innervation und
den hoch mobilen Zellen des Immunsystems findet daher
oft im Gefäßsystem statt. Die dabei beteiligten Neurotrans-
mitter sind die Katecholamine, Azetylcholin, Substanz P,
vasoaktives intestinales Peptid (VIP), Neuropeptid Y und
verschiedene andere Neuromodulatoren (. Abb. 9.7. Alle
haben auch vasoaktive Funktionen und können damit
Blutfluss, Perfusionsdruck und Lymphozytenbewegung be-
einflussen.
G Die Drüsen und Rezeptoren des Immunsystems
werden direkt von autonomen Synapsen und deren
Transmitter versorgt.

Synaptisches Wechselspiel
Sowohl auf Lymphozyten wie auf Makrophagen befinden b
sich Rezeptoren für die Neurotransmitter des autonomen
Nervensystems, allen voran Rezeptoren für die verschie-
denen Katecholamine (Kap. 6). Die Lymphzelle antwortet
auf die Bindung mit dem Rezeptor wie jede andere Zelle mit
9.3 · Verhalten und Immunsystem
173 9

Aktivierung der »second messengers« und ihrer intrazellu- Wortes »Rose« konnte einen Anfall provozieren (seman-
lären Folgeprozesse (Kap. 2). Und umgekehrt, Lymphokine tische Konditionierung höherer Ordnung, Kap. 25). Der
und Interleukine können rückwirkend die Nervenendigun- Anblick der Rose war durch zeitliche Paarung (Kontiguität)
gen kontrollieren. Das Immunsystem, speziell Lympho- mit den asthmaauslösenden Pollen als unkonditionierter
zyten stellen sogar selbst Neurotransmitter wie adreno- Reiz (US) zu einem konditionierten Reiz (CS) für die kon-
kortikotropes Hormon (ACTH) und β-Endorphin her, die ditionierte, gelernte Reaktion (CR) einer Asthmaattacke
dann in Zusammenarbeit mit Zytokinen wie Interleukin-1 geworden. Durch erneutes Auftreten des Wortes »Rose«
und -2 synergistisch die Tätigkeit des ZNS modifizieren kurz vor oder gleichzeitig mit dem Geruch und den Pollen
können. Umgekehrt können Nerven- und Gliazellen, wie wurde schließlich auch dieser ursprünglich völlig neutrale
wir gesehen haben (Abschn. 9.2.3), Immunprodukte wie Reiz zu einem konditionierten Reiz (CS). (Bezüglich der
die Zytokine herstellen. Lerngesetze Kap. 25.)
G Immunkompetente Zellen besitzen Rezeptoren für Konditionierte Unterdrückung
die Katecholamine des autonomen NS und Immun- der Immunreaktion
zellen stellen Neurotransmitter und Hormone her.
Ader und Cohen (Abschn. 9.2.4) paarten einen neutralen
CS, saccharinhaltiges Wasser, mit Zyklophosphamid (CY),
Immunreaktivität und Alter einer immunsuppressiven Substanz, als US, das den Ratten
Im Alter nehmen sowohl die Infektionsanfälligkeit wie auch nach 10–15 min Trinken injiziert wurde. Diese Prozedur
die Wahrscheinlichkeit für krebsartige Entartung und Auto- wurde an mehreren aneinanderfolgenden Tagen wieder-
immunkrankheiten zu (. Abb. 9.12). Die Reduktion der holt. Die Tiere der Kontrollgruppen erhielten CS (Trinken
Immunreaktivität mit dem Lebensalter ist eng an die abneh- von saccharinhaltigem Wasser) und US in zeitlich unge-
mende noradrenerge Innervation von Lymphgewebe gekop- paarten, d. h. ungeordneter Abfolge, z. B. den US vor dem
pelt. T-Helfer-Zellen, zytotoxische T-Zellen- und natürliche CS oder den US alleine (. Abb. 9.9).
Killerzellen-(NK-)Aktivität nehmen ebenso ab wie die Zahl Die Darbietung des CS allein führte nur in der Experi-
der T-Lymphozyten insgesamt. Diese Alterungsprozesse des mentalgruppe, in welcher der CS vor dem US zeitlich ge-
Immunsystems und des autonomen Nervensystems sind in paart dargeboten worden war, zu einer deutlichen Reduk-
zelluläre und metabolische Altersvorgänge wie reduzierten tion der Antikörperzahl bei der Autoimmunkrankheit
cAMP- und cGMP-Spiegel, verringerte DNA-Reparatur Lupus erythematosus im Blut der Tiere. Dadurch überleb-
und Zellmembraninstabilität eingebettet, und es ist schwer, ten die Tiere die Autoimmunkrankheit sehr viel länger.
klare Ursache-Wirkungs-Beziehungen herzustellen. Dies, obwohl alle Tiere dieselbe Menge von CY erhalten
Die Veränderung des Schlafprofils im Alter (Kap. 22) hatten und bei der Immunisierung die Bedingungen für alle
hängt eng mit dem immunologischen Altern zusammen. Tiere gleich sind. Entscheidend war also die Lerngeschichte
Hinzukommt, dass externe Faktoren außerhalb des Im- (CS wird kurz vor US dargeboten) und nicht die objektiv
mun- und Nervensystems, wie Thymus-, Hypophysen- und physiologisch zu erwartende Immunreaktion! Dasselbe
Sexualhormone sowie Nahrungsgewohnheiten und Körper- wurde für zelluläre Immunantworten gezeigt, die sich der
temperatur die Alterungsprozesse des Immunsystems mit T-Lymphozyten bedienen.
beeinflussen.
G Konditionierte Unterdrückung der Immunant-
G Mit dem Alter und Verlust des Tiefschlafs und ab- wort verlängert das Leben bei einer Autoimmun-
nehmender noradrenerger Innervation sinkt die erkrankung.
Kompetenz des Immunsystems und steigt die Krank- Konditionierung der Abstoßungsreaktion
heitsanfälligkeit.
Natürliche Killerzellen-Aktivität, Lymphozytenprolifera-
tion, verschiedene Immunglobuline, T-Helfer- und Suppres-
9.3 Verhalten und Immunsystem sorzellen, arthritische Entzündung u. a. immunologische
Reaktionen konnten klassisch konditioniert werden. Die
9.3.1 Lernen und Immunsystem erzielten Effekte sind nicht auf Stressfaktoren und die
Hypophysen-Nebennierenrinde-Achse zurückzuführen,
Klassische Konditionierung: Geschichte die für sich allein genommen Immunsuppression oder
In vielen klinischen Anekdoten vor Entdeckung der klassi- -verbesserung bewirken können.
schen Konditionierung durch Iwan Pawlow am Beginn des Seit diesem Experiment sind mehr als 100 Untersu-
20. Jahrhunderts waren gelernte allergische Reaktionen auf chungen erschienen, welche die Konditionierbarkeit einer
neutrale Reize beschrieben worden. Zum Beispiel bekam Vielzahl ganz unterschiedlicher Immunreaktionen auch am
ein Patient, der auf Rosenpollen und -geruch allergisch mit Menschen zeigen konnten. Sowohl Anstieg wie Abfall der
einer Asthmaattacke reagierte, auch Attacken auf den An- Immunkompetenz verschiedener immunologischer Zell-
blick einer künstlichen Rose. Ja selbst das Aussprechen des gruppen als auch die Lernbarkeit der Abstoßungsreaktion
174 Kapitel 9 · Psychoneuroimmunologie

auf körperfremdes Gewebe wurde an verschiedenen Tier-


arten und am Menschen demonstriert. Zum Beispiel wur-
den Tieren, die in der oben beschriebenen Art und Weise
auf saccharinhaltiges Wasser konditioniert wurden, kör-
perfremde Leukozyten am Testtag bei gleichzeitiger Dar-
bietung des CS alleine injiziert (mit den in . Abb. 9.9 abge-
bildeten Kontrollbedingungen). Dies führte schon nach
wenigen Konditionierungsdurchgängen zu fast völliger Un-
terdrückung der Abstoßungsreaktion, auch ohne Gabe des
immunsuppressiven US.
G Sowohl konditionierter Anstieg wie Abfall von vielen
Immunantworten konnte in all jenen Geweben er-
zielt werden, die eine autonome oder somatische
Nervenverbindung zum Immunorgan aufwiesen.

Lupus erythematodes und Lernen


Beim Lupus erythematodes werden u. a. Autoantikörper
gegen im Blut zirkulierende Antigene gebildet. Daraus ent-
stehen Antigen-Antikörper-Verbindungen, die sich v. a. im
Gefäßsystem, der Haut, der Niere und den Gelenken ab-
lagern und diese zerstören.
Normaltiere lernen sehr rasch eine Vermeidungsreak-
tion (z. B. in eine bestimmte Käfigecke laufen), wenn sie
9 damit der Einnahme oder Injektion von Zyklophosphamid
entgehen können. Tiere mit Lupus aber lernen sehr viel
langsamer, wenn sie eine instrumentelle Vermeidungsreak-
tion (Kap. 25) auf Zyklophosphamid entwickeln sollen;
sie nehmen also mehr Zyklophosphamid »in Kauf«, so als
würden sie »erkennen«, dass der immunsuppressive Effekt
dieser Substanz günstig den Verlauf der Krankheit beein-
flusst oder als würden sie erkennen, dass die Vermeidung
von Zyklophosphamid, das zu Übelkeit führt, die Krank-
heitsprogression beschleunigt. Dies zeigt, dass Lernen an
der Aufrechterhaltung der körperinternen Homöostasen
beteiligt ist.
Die Tiere bevorzugen auch in der klassischen Kondi-
tionierung Gerüche als CS (unabhängig, ob »gut« oder
»schlecht« riechend), die das Auftreten von Zyklophos-
phamid signalisieren und vermeiden Gerüche, die das Fort-
schreiten der Krankheit, z. B. Entzug von Zyklophospha-
mid, anzeigen. Das Verhalten des Organismus spiegelt
den Zustand seines Immunsystems wider, womit z. B. in
diesem Fall durch das Verhalten das Auftreten der Krank-
. Abb. 9.9a, b. Klassische Konditionierung des Immunsystems heitssymptome (z. B. Lymphadenopathie) deutlich ver-
(nach Ader und Cohen). a In der Trainingsphase erhielten durstige zögert oder überhaupt beseitigt wird.
Tiere nach einer kurzen Phase des Trinkens von Saccharin-haltigem
Wasser (CS) ein Plazebo (US; Kontrollgruppe, KG) oder die Experimen- G Tiere lernen ihr Verhalten so zu ändern, dass ein
talgruppe (EG) Zyklophosphamid als unkonditionierter Reiz (US) in- dem Organismus vorteilhafter Zustand des Immun-
jiziert. Zyklophosphamid bewirkt Übelkeit und Immunsuppression. systems erreicht wird.
b In der Testphase erhalten die Tiere wieder Saccharin-haltiges Wasser
(CS). Die KG trinkt ohne jede negativen Effekte, die EG dagegen ver-
meidet Saccharin nach anfänglichen Versuchen (konditionierte Ge- Kompensatorische Konditionierung und
schmacksaversion) und entwickelt konditionierte Immunsuppression Immunantwort
(7 Text)
Wie wir noch in Kap. 26 sehen werden, reagieren viele
physiologische Systeme nach mehrmaliger Paarung von CS
9.3 · Verhalten und Immunsystem
175 9

(konditionierter Reiz, auch z. B. Saccharin) und UCS (un-


konditionierter Reiz, auch US abgekürzt, z. B. Zyklophos-
phamid) nicht mit der unkonditionierten Reaktion (UCR,
z. B. Unterdrückung von Immunfaktoren), sondern mit der
gegenteiligen Reaktion (z. B. Stimulierung von Immunfak-
toren). Diese kompensatorische konditionierte Reaktion
erfolgt nach Konditionierung, also Paarung von CS und US
auf Darbietung des CS allein (ohne US) und sie kompen-
siert antizipatorisch den antihomöostatischen Effekt des
US (Unterdrückung der Immunantwort). Die antizipato-
rische kompensatorische Immunantwort hilft, die Homö-
ostase wiederherzustellen.
In »Erwartung« eines die Homöostase störenden Ef-
fekts kann es zu sehr starken Gegenreaktionen kommen:
Der »evolutionäre Zweck« von klassischer Konditionierung
besteht ja gerade darin, plastisch und voraussehend auf
Anpassungsstörungen zu reagieren. Deshalb kann ein- und
derselbe Reiz, je nach seiner Lerngeschichte und je nach der
physiologischen Funktion der konditionierten Reaktion . Abb. 9.10a–e. Einfluss von chronischem Stress auf Immun-
2 gegensätzliche physiologische Antworten erzeugen. Wie funktion und Krankheit. Einige Zeit nach Stress tritt Erholung ein (a).
Bleibt der Stress länger bestehen, kommt es zu Krankheit (b). Ein
wir in Kap. 26 zeigen werden, ist kompensatorische Kondi- zusätzliches Pathogen führt im bereits geschwächten Immunsystem
tionierung besonders für die Entwicklung von Sucht wich- zur Krankheit (c), wiederholter Stress zur Krankheit in kürzeren Ab-
tig; aber auch die Immunantworten muss man stets darauf ständen (d). e Die Stressbelastung führt vorerst zu Unterdrückung
prüfen, ob sie gleichsinnige oder gegensinnige Reaktionen der Immunreaktion und danach zu einem kompensatorischen Über-
auf Umgebungsreize ausbilden. schiessen, z. B. bei Entzündungen

G Neben der gleichsinnigen konditionierten Immun-


antwort (US erhöht Immunantwort, CS ebenfalls)
Situation (CS) des Prüfungsortes, oder einem völlig neuen
findet man auch kompensatorische konditionierte
Ort untersuchte: beim Wiederaufsuchen des Prüfungsortes
Immunreaktionen (US erhöht, CS erniedrigt Immun-
(oder Vorstellung desselben) ohne Prüfung (CS alleine) trat
antwort), wenn damit ein homöostatischer Gleich-
CD4+-Anstieg (kompensatorisch) auf, während der Prü-
gewichtszustand hergestellt werden kann.
fung selbst kam es zu CD4-Abfall.
Subjektiv erlebter Prüfungsstress führt zu Modifikation
9.3.2 Negative Emotionen des molekular gesteuerten Zellsuizids (»Apoptose«). Apop-
und Immunsystem tose ist ein Prozess innerhalb von Zellen, bei dem Brüche
oder Beschädigungen der DNA (nach Strahlung oder ande-
Stress und Immunsystem ren Einflüssen) zu einer Selbstzerstörung der Zelle führen.
. Abb. 9.10 symbolisiert die verschiedenen Wege, auf denen Damit werden defekte DNA-Reparaturen eliminiert. Es
Stress die Immunität beeinflusst: Kurzfristiger Stress führt wird angenommen, dass chronischer Stress Apoptose redu-
vorerst zu einem Anstieg der Immunkompetenz, die vom ziert und damit zur Anhäufung von Gendefekten mit nach-
autonomen NS verursacht wird; nach 30–60 Minuten folgenden Krebsgeschwüren oder anderen Zelldefekten
kommt es zur Ausschüttung der Glukokortikoide (Kap. 7 führt.
und 8). Die Glukokortikoide bewirken, dass die Immun-
G Kurzer Stress führt zu Anstieg, anhaltender zu Abfall
reaktionen wieder auf ihre Ausgangswerte zurückkehren.
der Immunkompetenz und zu Beeinträchtigung der
Ohne die Stresshormone würde es zu einer sich aufschau-
Apoptose mit Anhäufung von Gendefekten.
kelnden Spirale pathologischer Überaktivierung vieler Im-
munantworten und damit zu Autoimmunkrankheiten
kommen (»Bremswirkung« der Glukokortikoide). Depression und Angst
Bei der Vorhersage der Wirkungen von Stress auf das Depressionen und Angst erhöhen die Produktion proin-
Immunsystem muss man stets auch an kompensatorische flammatorischer Zytokine, v. a. IL-6. Die NK-Aktivität und
Lerneffekte denken, die das Verhalten des Immunsystems Lymphozytenzahl ist reduziert. Lange anhaltendes hohes
ins Gegenteil verkehren können: z. B. fand man bei Prü- Niveau von proinflammatorischen Zytokinen begünstigt
fungsstress manchmal Absinken und manchmal Anstieg Altern, kardiovaskuläre Erkrankungen, Osteoporose, Arth-
protektiver Immunantworten wie z. B. von CD4+-Lym- ritis, Typ-2-Diabetes, einige lymphoproliferative Krebs-
phozyten, je nachdem, ob man die Probanden in derselben arten wie Myelome, Lymphome, chronische lymphozytäre
176 Kapitel 9 · Psychoneuroimmunologie

Leukämie, Alzheimersche Erkrankung und Zahnfleischer- Sozioökonomisch niedrige soziale Schichten weisen ein
krankungen. erhöhtes Risiko für immunbedingte Störungen auf, aber auch
Personen mit erhöhtem IL-6, das die Produktion des Personen, die ihren sozialen Rangplatz (z. B. durch Arbeits-
sog. C-reaktiven Proteins anregt, haben ein bis zu 3-fach losigkeit, Vertreibung, Emigration, Katastrophen) verlieren.
erhöhtes Herzinfarkt- und Embolierisiko. Bei Angst wird Persönlichkeitsfaktoren und Bewältigungsstile haben
IL-6 durch die Stimulation von β-adrenergen Rezeptoren bedeutsame Einflüsse auf das Immunsystem und Krank-
im autonomen Nervensystem produziert. IL-6 ist selbst heit. Als wichtiger Faktor wurde Typ D identifiziert: Nei-
wieder ein potenter Stimulator der Kortikotropin-Releas- gung zu Depression, negative Gedanken, soziale Hemmung
ing-Hormone und verstärkt noch die ohnehin schon be- und Feindseligkeit (früher auch als kardiovaskulärer Risiko-
stehende Überproduktion von Kortisol bei chronischen faktor Typ A genannt, Kap. 10). Im Gegensatz dazu sind
Depressionen. Das Steigen des Kortisolniveaus kann selbst positive Gefühle, Optimismus, positive Umdeutung von
wieder depressive Symptome erzeugen und somit einen Belastung und Stress (positive Illusionen) risikosenkend.
Circulus vitiosus aus Zytokininproduktion/Hyperkortiso- Soziale Isolation, Trennung und Partnerverlust (letz-
lismus und Depressionen verursachen. terer besonders bei Männern) beeinträchtigen eine Vielzahl
von Immunfunktionen und beschleunigen den Ausbruch
G IL-6 und andere proinflammatorische Zytokine sind
und Verlauf von AIDS, beeinflussen negativ Knochenmark-
bei anhaltender Angst und Depression erhöht.
transplantation und Immunreaktionen auf Impfung.

Depression und IL-6 G Die Standardrisikofaktoren Stress, Bewegungs-


mangel, Übergewicht, Schlafstörungen und er-
Das genetische Risiko für Depression und für Dysregula-
höhtes Cholesterin gehen mit Dysfunktionen des
tion des endokrinen und immunologischen Systems hängt
Immunsystems einher und werden durch Persönlich-
offensichtlich mit Genen zusammen, die die zirkadiane
keitsfaktoren und soziale Risiken verstärkt.
Periodik regeln: Personen, die in den ersten drei Tief-
Schlafphasen zu wenig Wachstumshormon ausschütten,
9 haben ein erhöhtes Risiko in Zukunft an Depression zu er- 9.4 Krankheit und Immunsystem
kranken. Es ist daher nicht verwunderlich, dass IL-6 einer
der besten Prädiktoren für Erkrankung und Tod im Alter 9.4.1 Infektion, Wundheilung
darstellt. 6 Jahre nach der Diagnose einer Depression bei und Tumorbildung
älteren weiblichen Patienten waren bereits 73% im Ver-
gleich zur Kontrollgruppe schwer behindert (in der Kon- Psychologische Krankheitsentstehung
trollgruppe nur wenige). Die verschiedenen Möglichkeiten der Krankheitsentste-
Die immunologischen Risikofaktoren haben in der hung aus psychologischen Ursachen sind auf . Abb. 9.11
Regel denselben Vorhersagewert für Überleben wie die be- dargestellt: Der direkte Weg ist beim Menschen schwer zu
kannten Standardrisikofaktoren hohes Cholesterinniveau, beweisen, wenngleich wir dafür viele Möglichkeiten bereits
Rauchen, Bewegungsarmut und Übergewicht und existie- besprochen haben; ein emotionaler Reiz (z. B. Katastrophe)
ren unabhängig von diesen. Da aber die Standardrisikofak- kann direkt über das autonome Nervensystem eine Immun-
toren meist mit Depression korreliert sind, steigt die Mor- funktion dauerhaft schädigen. Die indirekten Wege sind
talität und Morbidität bei Personen mit beiden Risikofak- leichter zu objektivieren. Der kumulative Weg wird gerade
torgruppen noch um das Vielfache. in den Entwicklungs- und Wachstumsperioden im Kindes-
alter und im hohen Alter häufig sein. Wir haben ein ähn-
G Depression, Zytokinniveau und Störungen der zirka-
liches Modell schon unter dem Begriff Allostase in Kap. 8
dianen Periodik könnte auf dieselben genetischen
und . Abb. 8.8 vorgestellt. Ein Beispiel sind respiratorische
Polymorphismen zurückzuführen sein.
Infekte bei Kindern nach Eintritt in den Kindergarten,
die erst nach einem zusätzlichen Stressor (z. B. Erdbeben,
Sozialpsychologische Faktoren der Vulnerabilität Tsunami) bei einer Subgruppe auftraten. In kritischen Le-
des Immunsystems bensperioden können die Effekte von Stress plötzlich wirk-
Die Verletzlichkeit (Vulnerabilität) des Immunsystems sam werden. Fast alle Autoimmunerkrankungen und man-
durch psychologische Einflüsse ist früh und spät im Leben che Krebsformen werden nach dem Kofaktormodell erfol-
erhöht. Früher Missbrauch, Armut und Entwurzelung führt gen: Kinder mit einem genetisch erhöhten Asthma-Risiko
zu höherem Risiko späterer Depression, Krankheit und erleiden Asthma-Anfälle erst dann, wenn ein familiäres Be-
Lebensverkürzung durch Immunsuppression oder Entzün- lastungsereignis als katalytischer Kofaktor aufgetreten ist.
dung. Im Alter wird die Vulnerabilität durch Verlust sozia-
ler Stützung und das geschwächte Immunsystem und Beispiel AIDS
den teilweisen Verlust von Tiefschlaf und GH-Anstieg und Die enorme Variabilität des Krankheitsverlaufes nach HIV-
Kortisolunterdrückung verstärkt. Infektion hat schon früh den »Verdacht« auf psychologische
9.4 · Krankheit und Immunsystem
177 9

. Abb. 9.11. Direkte und indirekte Beziehungen zwischen Stress, Immunität und Krankheit (7 Text)

und soziale Faktoren gelenkt. Dabei zeigte sich der lebens- und Unterdrückung von malignen Tumoren widersprüch-
erhaltende Einfluss der positiven und negativen psycholo- lich waren, sind sie heute sowohl im Tier- als auch im
gischen Einflüsse (Abschn. 9.3) auf die Immunresistenz Humanexperiment positiv, lassen sich aber epidemiolo-
und Krankheitseintritt. Negative und negativistische Ein- gisch in Reihenuntersuchungen großer Stichproben bisher
stellungen führen zu Zytokinüberproduktion, CD4+-Abfall nicht nachweisen. Dies gilt v. a. für Ausbreitung und Unter-
und CD8+-Anstieg, reduzierter Lymphozytenproliferation, drückung der Erkrankung; der Beweis für die Entstehung
Abfall der NK-Zellen und schlechtem Ansprechen auf an- bleibt ohnehin dem Tierversuch vorbehalten.
tivirale Therapie (Box 9.1).
Zusätzlich wird der direkte Einfluss der psychologi- Aktivität natürlicher Killerzellen
schen Bewältigung durch mangelnde Compliance (nicht Die NKCA (»natural killer cell activity«, Abschn. 9.1.2)
Einhalten der ärztlichen und psychologischen Therapien) scheint entscheidend für die Ausbreitung und Metastasie-
und riskanten Sexualpraktiken verstärkt oder abgeschwächt. rung einiger Krebsformen. Katecholamine und Gluko-
Verhaltenstherapeutische Behandlung der negativ-depres- kortikoide, die wesentlichen endokrinen Antworten auf
siven Verhaltensstile von HIV-Infizierten führt zu einer psychologischen Stress, beeinflussen die Verbreitung von
parallel feststellbaren Verbesserung der Immunkompetenz NK-Zellen (zytotoxische T-Lymphozyten, »natural killer
und positivem Bewältigungsverhalten. cells«) in den Körpergeweben. Dabei ist NKCA wichtiger
als die absolute Anzahl der NK-Zellen selbst, deren Zyto-
G Die AIDS-Überlebensdauer hängt stark von positiven
toxizität nicht unbedingt mit ihrer Zahl korreliert.
Einstellungen und der Compliance ab.
. Abb. 9.13 zeigt den Einfluss von 2 Stressarten (30 min
Schwimmen und eine gastrointestinale Operation unter An-
Krebsausbreitung im Alter
Auf . Abb. 9.12 ist der exponentielle Anstieg von Krebs ab
dem 50. Lebensjahr dargestellt. Maligne Entartung des Epi-
thelgewebes (Krebs im Alter betrifft fast nur Epithelgewebe
wie Brust, Prostata, Kolon und Lunge, während Kinder
Lymphome, Leukämie, ZNS-Tumoren, Knochenkrebs u. a.
entwickeln) ist der Endpunkt sukzessiver genetischer Lä-
sionen. Epithelgewebe muss sich das ganze Leben erneuern
und Brüche an den Telomeren der Chromosomen (Kap. 23)
führen explosiv zu chromosomaler Instabilität und rapi-
dem Anwachsen von Mutationen. Ein wichtiger Auslöser
für diese Entwicklung ist das Nachlassen der Immunüber-
wachung. Diese wiederum kann häufig durch psychologi-
sche Faktoren verstärkt oder abgeschwächt werden.
Während noch vor 15 Jahren die Hinweise auf eine Rolle . Abb. 9.12. Inzidenz von Krebs in verschiedenen Altersstufen.
psychologischer Faktoren bei der Entstehung, Ausbreitung Von 40–80 exponentieller Anstieg, danach Plateau
178 Kapitel 9 · Psychoneuroimmunologie

G Tumorausbreitung und -wachstum, v. a. Operations-


stress begünstigt Metastasierung.

Tumorwachstum und endogene Opiate


Wie schon mehrmals betont, führt chronische gelernte
Hilflosigkeit (z. B. lang anhaltende, immer wiederkehrende
schmerzhafte Reize im Tierexperiment, die nicht vermeid-
bar sind, Kap. 6) zu Analgesie und Anstieg des Tumor-
wachstums, beides kann durch Naloxongabe verhindert
. Abb. 9.13. Stress und Tumorbildung. Die Wirkung von Schwimm- werden. Naloxon blockiert die Ausschüttung endogener
stress und Operationsstress auf die Ausbreitung von Lungenkrebs bei Opiate (Kap. 16 und 26). Wir sprechen daher auch von
normalen Ratten und Ratten ohne natürliche Killerzellen (rechts).
Opiodstress im Gegensatz zu nichtopioiden Stressformen,
Nicht gezeigt ist, dass die NK-entleerten Ratten (rechts) eine bereits
60-fache Ausbreitung des Tumors aufwiesen. Schwimmstress erhöht
wie z. B. kürzer anhaltende schmerzhafte Reizung, die Tu-
Tumorausbreitung am stärksten bei gesunden Ratten, aber nicht bei morwachstum verzögert.
Ratten ohne NK. Dies bedeutet, dass die Wirkung von Schwimmstress Chronische Opiatgabe oder Reizung jener zentralen
auf NK zurückzuführen ist, während Operationsstress zusätzlich durch Systeme, die den Spiegel einzelner Endorphine erhöhen
andere Mechanismen wirken muss
(. Abb. 26.31), beschleunigen Metastasenbildung und
unterdrücken die Aktivität natürlicher Killerzellen (NKCA)
und zytotoxischer T-Lymphozyten, die für die Hemmung
ästhesie) auf die Metastasierung von Lungenkrebs bei Ratten. von Tumorwachstum verantwortlich sind.
Die Tiere ohne NK-Zellen hatten eine 60-mal höhere Aus- Ob nun Tumorwachstum durch Hilflosigkeit beschleu-
breitung von Metastasen (hier nicht dargestellt), aber chirur- nigt oder gehemmt wird, hängt auch von individualtypi-
gischer Stress beeinflusst die NKCA-Wirkung auf Metastasen schen »Persönlichkeitsfaktoren« ab: So erhöhen Opioide die
9 nicht, während die Metastasierung bei Schwimmstress hoch NK-Aktivität in Tieren, die eine niedrige Immunkompetenz
mit der Unterdrückung der NKCA korreliert. haben und erniedrigen sie in Tieren, die kompetent sind.
G Die Aktivität natürlicher Killerzellen kann durch Hilf- G Tumorwachstum kann auch durch anhaltenden
losigkeit und Stress beeinflusst werden. Stress, der mit endogener Opioidproduktion und
Analgesie einhergeht, gefördert werden.
Stress und Tumorwachstum
Die obigen Befunde bedeuten, dass unterschiedliche psy- 9.4.2 Autoimmunerkrankungen
chologische Belastungen unterschiedliche Krebsarten über
verschiedene immunologische und nicht-immunologische Unbewältigbare Lebensereignisse
Wege beeinflussen können (Abschn. 9.3.2). Ein wichtiger Die Bedeutung von Lernen im Immunsystem haben wir
Faktor für die Verteilung der NK-Zellen nach Stress ist die bereits im Abschn. 9.3.1 am Beispiel der Autoimmun-
Ausschüttung von Noradrenalin, die die NKCA in einzel- erkrankung Lupus erythematodes besprochen. Manche
nen Körpergeweben unterdrücken kann. Dabei zeigte sich, der heute bekannten Autoimmunerkrankungen, bei denen
dass der Operationsstress bei metastasierenden Tumoren das Immunsystem auf seine eigenen Antigene reagiert,
auch beim Menschen zu erneuter und verstärkter Metas- wurden früher als psychosomatische Krankheiten bezeich-
tasierung führen kann. Je belastender die Operation ist, je net. Man behauptete – meist in der Tradition psychoanaly-
mehr Schmerzen und je weniger soziale Unterstützung tischer Glaubensbekenntnisse – dass psychische Konflikte
durch Arzt und Familie der Patient hat, umso höher ist die zu einer Autoaggression gegen den eigenen Körper führen
Wahrscheinlichkeit für Metastasierung und umso kürzer würden. Heute wissen wir, dass Autoimmunerkrankungen
die Lebenserwartung. auftreten, wenn das Immunsystem gegenüber körper-
Bei Frauen spielt auch noch der Zeitpunkt der Zyklus- eigenen Antigenen, die ja stets vorhanden sind, intolerant
phase eine Rolle: Am Anfang des Zyklus mit hohem Östro- wird und Antigen-Antikörper-Komplexe in bestimmten
genspiegel ist die negative Wirkung von intensivem Opera- Geweben ablagert; diese, zusammen mit sog. Komplement-
tionsstress besonders deutlich. Die psychologische Betreu- bildung (Abschn. 9.1.3), führen zu Entzündungen der Blut-
ung ist dann entscheidend für den Erfolg. Präemptive gefäße, Gelenke, Niere, Lunge, Haut, des endokrinen und
Analgesie (schmerzhemmende Maßnahmen vor dem gastrointestinalen Systems und des ZNS.
eigentlichen Eingriff), wie sie bei der Verhinderung von Obwohl der Ort und Mechanismus, an dem die phy-
Phantomschmerz eingesetzt wird, könnte vermutlich eine siologischen Begleitreaktionen emotionaler Prozesse die
wirksame Strategie zur Vermeidung von psychisch mitbe- Toleranz des Immunsystems gegenüber spezifischen kör-
dingter Metastasierung sein. pereigenen Antigenen zerstören, unbekannt ist, fällt auf,
9.4 · Krankheit und Immunsystem
179 9

dass die ersten Manifestationen und Verschlechterungen gische Therapien an als diejenigen mit einer allergisch be-
sehr häufig von bedeutsamen und unbewältigten negati- dingten. Bei vielen Patienten überlagern sich aber die zwei
ven Lebensereignissen (»life-events«) ausgelöst werden; in Ursachefaktoren wie auf . Abb. 9.14 sichtbar. Im oberen
der rheumatoiden Arthritis in 85% der Fälle. Sowohl in der Teil sind die immunologischen Einflussfaktoren, im un-
rheumatoiden Arthritis wie beim Lupus erythematodes teren die autonom-emotionalen wiedergegeben.
und Überfunktion der Schilddrüse (Morbus Basedow) ver- Beim kindlichen Asthma spielen in 30% der Fälle lern-
schlechtern depressive Verstimmungen das Krankheitsbild. psychologische Faktoren die entscheidende Rolle. Kurzfri-
Ähnliche Zusammenhänge zwischen unbewältigten Belas- stige Trennung von den Eltern führt bei dieser Subgruppe
tungen und Depression wurden bei der Colitis ulcerosa und zu wesentlichen Besserungen, da instrumentelle Lernpro-
beim Morbus Crohn gefunden, schubartig verlaufenden zesse (Zuwendung, Vermeidung ungewollter Tätigkeiten)
Entzündungen und Blutungen des Darmes. Unklar bleibt, von Seiten der Eltern die Bronchokonstriktion aufrecht er-
ob die psychischen Veränderungen immer den Krankheits- halten. 30% der Fälle weisen allergische Reaktionen, meist
schüben vorausgehen oder nur (verständliche) Begleiter- jahreszeitlich bedingt auf, und Trennung von den Eltern hat
scheinungen darstellen. konsequenterweise keinen Effekt. Bei den übrigen Kindern
sind infektiöse Ursachen verantwortlich.
G Als psychosomatisch bezeichnete Erkrankungen sind
oft Autoimmunerkrankungen, die aber von unbe- G Asthma besteht aus exzessiven Bronchialkonstrik-
wältigbaren Lebensereignissen begünstigt werden. tionen, die direkt vom autonomen Nervensystem
ausgelöst werden können oder aber indirekt durch
Asthma bronchiale Infektionen, die das Immunsystem stimulieren.

Asthma besteht aus verschiedenen heterogenen Erkran-


kungen, die eine gemeinsame Symptomatik, nämlich an- Alzheimer-Erkrankung, Altern und Autoimmunität
fallsartige, exzessive Konstriktion der Bronchien und Bron- Die Tatsache, dass Antikörper spezifische Veränderungen im
chiolen aufweisen. . Abb. 9.14 gibt einen zusammenfassen- ZNS und im Verhalten auslösen können, hat den Verdacht
den Überblick der beteiligten physiologischen Vorgänge. verstärkt, dass auch die Alzheimer-Erkrankung und andere
Asthmatiker mit einer starken psychologischen Kompo- chronische neurologische Krankheitsbilder entweder mit der
nente weisen erhöhte parasympathische Reaktionen der Schwächung der Immunkompetenz im Alter oder einem
glatten Muskel der Bronchien bei emotionalen Reizen auf, spezifischen entzündlichen Autoimmunprozess, ähnlich
und ihre Bronchokonstriktion ist leichter klassisch kondi- dem Lupus erythematodes, der multiplen Sklerose oder der
tionierbar; sie sprechen therapeutisch besser auf psycholo- Myasthenia gravis zusammenhängen könnten.
Nach Mrazek, Klinert (2001). Mit freundlicher Genehmigung von Elsevier.

. Abb. 9.14. Entstehung von Asthma. Zusammenhang zwischen auflösen und sog. Mediatorsubstanzen in den Blutstrom ausschütten,
immunologischen (oben) und psychologischen (neuronalen) Pro- die an der glatten Muskulatur der Bronchiolen zusammen mit den
zessen (unten), die an der Entstehung eines Asthmaanfalls beteiligt parasymphatischen Effekten eine massive Bronchokonstriktion aus-
sind. Ein Antigen aus der Umgebung löst antigenspezifische IgE-Pro- lösen. Diese Effekte können durch vorhandene virale Infekte und starke
duktion und Antikörper-Verbindungen mit Mastzellen aus, die sich Emotionen verstärkt werden
180 Kapitel 9 · Psychoneuroimmunologie

Dabei existiert eine Vielzahl von Möglichkeiten, wie


und wo das Immunsystem das ZNS schädigen kann. Als
wahrscheinlicher Mechanismus werden Hirnantikörper im
Serum, in der Zerebrospinalflüssigkeit (CSF) oder im Ge-
hirngewebe selbst angenommen, die mit Hirnantigenen
reagieren, Antigen-Antikörper-Komplexe bilden und Hirn-
gewebe zerstören. Mit zunehmendem Alter steigt die Zahl
der Hirnantikörper, die an Hirngewebe binden, von 12% im
Alter von 30 Jahren auf 74% im Alter von 65–70 Jahren,
wobei dieser Anstieg bei der Alzheimer-Erkrankung noch
ausgeprägter ist. Besonders Immunglobuline, die die choli-
nerge synaptische Übertragung angreifen und wesentlich
. Abb. 9.15. Bewegung und Immunantwort. Beziehung zwischen
für den Gedächtnisverlust verantwortlich sind, wurden ge- Bewegungsintensität und Risiko für Infektionen des oberen Atmungs-
funden (Abschn. 25.4.3). Auch die Tatsache, dass entzün- traktes
dungshemmende Medikamente wie Aspirin in einigen Un-
tersuchungen den Verlauf der Erkrankung verlangsamten,
könnte ein Indiz für einen immunologischen Prozess sein. tischer Behandlungsmethoden vergleichbar: die Verfügbar-
keit von Monoaminen und Serotonin an zentralen Synapsen
G An der Alzheimer-Erkrankung sind entzündliche Vor-
des limbischen Systems steigt, β-Endorphin und Gluko-
gänge beteiligt, die durch den Verlust von Immun-
kortikoide sind leicht erhöht, die Lymphozytenzahl und se-
kompetenz und dem Anstieg von Hirnantikörpern
kretorisches IgA steigt in den Schleimhäuten, letzteres hebt
im Alter begünstigt werden.
die Immunkompetenz auch der oberen Atemwege. Makro-
phagenzahl, IL-1 und CD4+ und NKCA sind ebenfalls an-
9.4.3 Bewegungs- und Krankheitsverhalten gehoben. Für Prostata-, Darm- und Brustkrebsrisiko wurde
9 auch häufig ein positiver Effekt gefunden, den man auf die
Bewegungsverhalten verbesserte Abwehr von Metastasierungen zurückführt.
Es besteht eine J-förmige Beziehung (. Abb. 9.15) zwischen Diese positiven Effekte von Sport sind in Zeiten »offener
Ausmaß an Bewegungsaktivitäten (Sport) und Infektionen Fenster« (z. B. einer Infektion) besonders ausgeprägt:
der oberen Atmungswege. Moderate Bewegung fördert die NK-Zellen und andere Lymphozyten werden ins Blut
Immunkompetenz, extremer Hochleistungssport schädigt aus ihren Speichern Knochenmark, Lymphknoten, Milz,
sie (Box 9.3). Inwieweit das auch auf andere Immunerkran- Lungen transportiert. Sport verbessert diese Verteilung be-
kungen generalisierbar ist, bleibt unklar, da jede Sportart sonders in Zeiten der Immunabwehr (Infektion).
unterschiedliche Immunparameter beeinflusst und darüber
G Mäßige, aber regelmäßige Bewegung und Sport
hinaus große interindividuelle Differenzen in der optimal
stärken das Immunsystem direkt oder indirekt über
geeigneten Sportart existieren. Wenn aber eine Bewegungs-
seine antidepressive Wirkung.
form regelmäßig und moderat geübt und darüber hinaus
subjektiv positiv bewertet wird, so sind positive Einflüsse
auf das Immunsystem nachweisbar; allerdings nur, solange Hyperaktivität
die Übungen fortgesetzt werden. Hyperaktivität und Aufmerksamkeitsstörungen (ADDH,
»attention deficit disorder and hyperactivity«) stellen eine
Box 9.3. Athleten und Infektionen der oberen Atemwege häufige Verhaltensstörung von Knaben dar; die Symptome
Nach einer exzessiven Anstrengung (z. B. kompetitiver treten meist unmittelbar nach der Geburt auf und gehen
Marathonlauf ) oder extremen Training kommt es zu mit extremer Unruhe, Schlafstörungen, im Kindesalter mit
einer Immunsuppression, die einige Stunden bis zu Ablenkbarkeit und Selbstwertproblemen einher. Man hat
einer Woche anhält. Danach kommt es leichter zu vira- dafür meist den elterlichen Erziehungsstil verantwortlich
len und bakteriellen Erkrankungen der oberen Atem- gemacht. Neurophysiologische und neuropsychologische
wege (Lunge, Bronchien). Allerdings konnte man bis- Untersuchungen zeigen aber, dass die Tätigkeit von Hirn-
her keine langfristigen Schäden des Immunsystems strukturen, die Aufmerksamkeit und Zielmotorik steuern,
nach solchen »Sportexzessen« nachweisen, sie sind bereits früh beeinträchtigt ist. Die kindliche Aufmerksam-
aber nicht ausgeschlossen. keitsstörung stellt ein bedeutsames Risiko für die Entwick-
lung von Kriminalität und Drogen- und Alkoholabhängig-
keit dar.
Die physiologischen und psychologischen Wirkungen mä- Eine Untergruppe von 50–60% dieser Kinder weist im-
ßigen, aber regelmäßigen Sports sind den Wirkungen anti- munologische Beeinträchtigungen auf: Allergien auf Nah-
depressiver pharmakologischer und verhaltenstherapeu- rungsmittel, auf Pollen, Asthma, Heuschnupfen und Ek-
Zusammenfassung
181 9

zeme der Haut (atopische Dermatitis) und andere derma- störung. Umgekehrt beeinflussen diese stimulierenden Sub-
tologische Störungen sind häufig. Diese Veränderungen stanzen ganz unabhängig vom Verhaltenseffekt Hautkrank-
werden mit einer Entleerung des Noradrenalinspeichers heiten wie die atopische Dermatitis positiv, was zumindest
und Störungen des zentralnervösen und peripheren Kate- indirekt für einen Zusammenhang zwischen dem Verhalten,
cholaminstoffwechsels in Verbindung gebracht. Hyperaktivität, der zentralnervösen Katecholaminverfüg-
Die pharmakologische oder verhaltenstherapeutische barkeit und Teilen des Immunsystems spricht.
Behandlung erhöht nicht nur das allgemeine kortikale Akti-
vierungsniveau, sondern beruhigt die motorische Überer- G Das Aufmerksamkeits-Hyperaktivitätssyndrom geht
regung. Die Reduktion der peripheren vegetativen und mo- häufig mit Allergien, reduzierter Noradrenalinwir-
torischen Erregung durch Gabe von Amphetamin (Ritalin), kung (NA) im ZNS einher. Mit Anstieg der NA-Ver-
das den zentralnervösen Katecholaminspiegel hebt, führt so- fügbarkeit verbessern sich sowohl das Verhalten wie
wohl zu Besserung der Hyperaktivität wie auch der Immun- auch die Immunstörung.

Zusammenfassung
Das Immunsystem schützt vor Die Kommunikation zwischen Immunsystem und ZNS
5 eindringenden Fremdstoffen, erfolgt im
5 Bakterien und Viren, 5 Hypothalamus,
5 Entgleisungen des genetischen Apparates. 5 limbischen System,
5 Kortex,
Leukozyten entstehen im 5 Regionen, die die zirkadiane Periodik steuern,
5 Knochenmark und 5 Steuerregionen des autonomen NS und der Emotio-
5 lymphatischen Gewebe. nen.

Unspezifische zelluläre Immunität Verhalten und Immunsystem beeinflussen sich in


5 ist angeboren; beide Richtungen wechselseitig über
5 vernichtet unterschiedliche Fremdkörper. 5 klassische Konditionierung mit Lernen von Unter-
drückung oder Verstärkung einzelner Elemente
Spezifische Immunität des Immunsystems (z. B. Konditionierung der Ab-
5 wird erworben; stoßungsreaktion),
5 benötigt Konfrontation mit körperfremden Antigenen. 5 instrumentelles Lernen von Verhaltensweisen, die
die Immunbalance fördern,
Antikörper 5 kompensatorische klassische Konditionierung von
5 sind Eiweißmoleküle (Immunglobulin); Gegensatzreaktionen,
5 werden im Blut oder an Leukozyten als Reaktion auf 5 Stress,
Antigene gebildet; 5 Depression und Angst,
5 machen durch Antigen-Antikörper-Bindung das Anti- 5 soziale Einflüsse.
gen unschädlich;
5 benötigen in der Regel Tage zur Bildung und Wirkung; Pathologische Prozesse, die psychoimmunologisch
5 können durch Impfung zur Bildung angeregt werden. (mit)verursacht oder beeinflusst werden, sind
5 Verlauf von AIDS,
Kommunikation von Nervensystem 5 Krebsausbreitung,
und Immunsystem erfolgt 5 Tumorwachstum.
5 direkt über das autonome NS,
5 direkt über das Hormonsystem, Autoimmunerkrankungen, die oft als psycho-
5 indirekt über Verhaltensvariablen (z. B. Sport, Über- somatisch bezeichnet werden, sind
essen). 5 Lupus erythematodes,
5 Asthma bronchiale
Als synaptische Überträger und Modulatoren 5 Alzheimer-Erkrankung (Ausbruch).
fungieren
5 Tachykinine,
5 Katecholamine,
5 Zytokine.
182 Kapitel 9 · Psychoneuroimmunologie

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9
II Periphere Systeme
und ihre Bedeutung
für Verhalten
10 Blut, Herz und Kreislauf – 183

11 Atmung, Energie- und Wärme-


haushalt – 211

12 Stoffaufnahme und -ausscheidung – 231

13 Bewegung und Handlung – 255

»Könnte man die Sprünge der Aufmerksamkeit messen,


die Leistungen der Augenmuskeln,
die Pendelbewegungen der Seele und alle Anstrengungen,
die der Mensch vollbringen muß,
um sich im Fluß einer Straße aufrecht zu halten,
es käme vermutlich – so hatte er gedacht
und spielend das Unmögliche zu berechnen versucht –
eine Größe heraus,
mit der verglichen die Kraft,
die Atlas braucht, um die Welt zu stemmen, gering ist,
und man könnte ermessen,
welche ungeheure Leistung
heute schon ein Mensch vollbringt,
der gar nichts tut.«

R. Musil: Der Mann ohne Eigenschaften


10

10 Blut, Herz und Kreislauf

10.1 Blut als Transportmedium – 184


10.1.1 Zusammensetzung und Volumen des Blutes – 184
10.1.2 Bluteiweiße und ihre Aufgaben – 185

10.2 Herzmechanik – 186


10.2.1 Bau des Herzens, Funktion der Pumpen – 186
10.2.2 Arbeitszyklus des Herzens, Herztöne, Herzspitzenstoß – 187
10.2.3 Suffiziente und insuffiziente Herztätigkeit – 188

10.3 Erregungsbildung, Erregungsleitung und elektromechanische


Kopplung im Herzen – 189
10.3.1 Erregungsbildung in Schrittmacherzellen – 189
10.3.2 Erregungsausbreitung, Aktionspotenziale des Arbeitsmyokards – 190
10.3.3 Elektromechanische Kopplung – 191

10.4 Das Elektrokardiogramm, EKG – 191


10.4.1 Grundlagen der EKG-Registrierung – 191
10.4.2 Vektorielle Interpretation des EKG – 192
10.4.3 Das EKG als Diagnosehilfe – 194

10.5 Die Anpassung der Herzleistung an den Bedarf – 195


10.5.1 Der Blutdruck und seine Messung – 195
10.5.2 Herzarbeit und Herzleistung – 196
10.5.3 Anpassung der Herzarbeit über den Frank-Starling-Mechanismus – 197
10.5.4 Anpassung der Herzarbeit über die Herznerven – 198
10.5.5 Optimierung der Herzarbeit durch Ausdauertraining – 199

10.6 Akute Anpassung des Kreislaufs an den Bedarf – 200


10.6.1 Arterielle und venöse Kreisläufe im Überblick – 200
10.6.2 Lokale Modulation der Organdurchblutung – 202
10.6.3 Reflektorische Anpassung des Kreislaufs an den Bedarf – 204
10.6.4 Wirkung der Barorezeptoraktivität auf die Hirnaktivität – 205

10.7 Mittel- und langfristige Regulation des Kreislaufs – 205


10.7.1 Mittelfristige Regulationen – 205
10.7.2 Langfristige Regulationen – 206
10.7.3 Risikofaktoren für Fehlregulationen im Herz-Kreislauf-System – 208

Zusammenfassung – 209
Literatur – 210

N. Birbaumer, Biologische Psychologie, DOI 10.1007/978-3-540-95938-0_10,


© Springer Medizin Verlag Heidelberg 2010
184 Kapitel 10 · Blut, Herz und Kreislauf

))

Herz und Blutkreislauf gleichen in ihrer Arbeitsweise dem


Wasserversorgungssystem einer Stadt: Die Pumpen des
Wasserwerks halten den Druck in den Wasserleitungen so
hoch, dass die Abnehmer jederzeit beliebig viel Wasser
zapfen können. Die Abwasserrohre sind außerdem so aus-
gelegt, dass kein Rückstau in den Abflussrohren auftritt.
Gleiches gilt für den Blutkreislauf: Die Pumpe Herz hält den
Druck in den Versorgungsleitungen, den Arterien, so hoch,
dass die Organe jederzeit mit dem notwendigen Blut
durchströmt werden können. Die Venen sind als Abfluss-
rohre in der Lage, auch große Blutmengen ohne Rückstau
zurück zum Herzen fließen zu lassen.
Solange das Wasser in der Leitung unter Druck steht,
solange fließt es aus dem Hahn. Versagt aber die Pumpe
oder ist der Wasservorrat erschöpft, so fällt der Druck, und
die Wasserversorgung bricht zusammen. Wiederum gilt
das gleiche für das Herz-Kreislauf-System: Bleibt das Herz
stehen oder fehlt ihm Blut zum Nachpumpen, sinkt der
Blutdruck, und die Durchblutung der Organe nimmt ab
und hört schließlich auf. Ein solcher Stillstand des Kreislaufs
ist fast sofort tödlich: Schon nach 8–12 s kommt es zur
Bewusstlosigkeit. Bleibt die Durchblutung für mehr als
8–10 Minuten unterbrochen, so ist das Gehirn unrettbar . Abb. 10.1. Zusammensetzung des Blutes, Form der Erythro-
geschädigt, auch wenn Kreislauf und (künstliche) Atmung zyten und des Hämoglobins. Blut besteht aus 56 Volumen-Prozent
(Vol.%) Plasma und 44 Vol.% im Plasma aufgeschwemmter Blutkör-
10 wieder in Gang kommen. Das Gehirn ist tot, der Körper (der
perchen (Hämatokrit). Der Mensch hat etwa 5 l Blut, das sind 6–8%
es etwas länger ohne Durchblutung aushalten kann) lebt seines Körpergewichts. Die roten Blutkörperchen oder Erythrozyten
weiter (Box 2.1 in Abschn. 2.1.3). sind beidseitig in der Mitte eingedellte Scheiben, deren wichtigster
Bestandteil der Blutfarbstoff Hämoglobin ist. Letzteres besteht aus
einem Eiweißteil, dem Globin, und dem Häm, dessen Strukturformel
10.1 Blut als Transportmedium angegeben ist. Das zentrale Eisenatom (Fe) des Häm bindet den
Sauerstoff (O2) auf dem Weg von der Lunge in die Gewebe. Die Erythro-
zyten sind weich und leicht verformbar. Sie können daher auch feinste
10.1.1 Zusammensetzung und Volumen Blutgefäße (Kapillaren) passieren, deren Innendurchmesser kleiner als
des Blutes 8 μm ist

Aufgaben des Blutes


Das Blut transportiert Sauerstoff (O2) von den Lungen zu den der Abwehr eingedrungener Fremdkörper und Krank-
atmenden Geweben und Kohlendioxid (CO2) von dort zu heitserreger beteiligt (Kap. 9).
den Lungen zurück (Kap. 11). Es schafft die Nährstoffe von
den Orten ihrer Resorption (Darm) oder Speicherung (Leber, Blutanteile, Blutvolumen, Hämatokrit
Fettdepots) zu denen des Verbrauches (Kap. 12). Es bringt Das Blut ist eine undurchsichtige, rote Flüssigkeit, die aus
von dort die Stoffwechselzwischenprodukte oder -schlacken dem schwach gelblichen Plasma und den darin schwim-
zu den Ausscheidungsorganen (Nieren, Kap. 12) oder den menden roten Blutzellen (den Erythrozyten, dienen dem
Stätten ihrer weiteren Verwendung (wie z. B. in die Leber). Sauerstofftransport), den weißen Blutzellen (den Leuko-
Blut dient auch als Transport- und damit als Kommuni- zyten, dienen der Infektabwehr) und den Blutplättchen
kationssystem für körpereigene Wirkstoffe, wie die Hor- (den Thrombozyten, dienen der Blutgerinnung) besteht.
mone, wobei das Blut die Wirkstoffe an den Orten ihrer Der Anteil des Organs Blut am Körpergewicht beträgt etwa
Bildung oder Speicherung aufnimmt und an die spezi- 6–8%. Für den Erwachsenen entspricht das einem Blut-
fischen Wirkorte anschwemmt (Kap. 7 und 8). Blut verteilt volumen von 4–6 l. Davon sind gut 40% zelluläre Bestand-
die im Stoffwechsel gebildete Wärme und sorgt für ihre teile (Hämatokrit, . Abb. 10.1).
Abführung über die Atmung und über die äußere Körper- Blutplasma und interstitielle Flüssigkeit (Interstitium)
oberfläche (Kap. 11). Daneben hat das Blut die Fähigkeit, bilden praktisch einen einheitlichen Flüssigkeitsraum,
Blutungen aus verletzten Gefäßen durch Gerinnung zum nämlich den Extrazellulärraum (Abschn. 2.2.1). Dieser
Stillstand zu bringen (7 unten). Das Blut ist schließlich an macht etwa 34% der gesamten Körperflüssigkeit aus, das
10.1 · Blut als Transportmedium
185 10

übrige Wasser findet sich in den Zellen (Intrazellulärraum).


Die Extrazellulärflüssigkeiten innerhalb und außerhalb
der Kapillaren enthalten praktisch die gleiche Menge und
Zusammensetzung an gelösten Salzen (Elektrolyten, . Ta-
belle 3.1 in Abschn. 3.1.2).

G Das im Kreislauf zirkulierende Blut ist in erster Linie


ein Transportmedium; Erwachsene haben 4–6 l Blut;
gut 40 Vol.% davon sind zelluläre Bestandteile, der
Rest Plasma. Das Plasmawasser ist das ideale Trans-
portmedium für alle wasserlöslichen Substanzen,
insbesondere für Elektrolyte.

10.1.2 Bluteiweiße und ihre Aufgaben

Albumine und Globuline im Plasma und ihre


Funktionen
Jeder Liter menschlichen Plasmas enthält 65–80 g Eiweiß.
Dadurch ist das Plasma etwa doppelt so zähflüssig (viskös)
wie Wasser. Das Plasmaeiweiß selbst ist ein Gemisch von ver-
schiedenen mittelgroßen bis großen Eiweißmolekülen, deren
Molekulardurchmesser zwischen 1 und 100 nm liegt. Mole-
küle dieser Größe werden auch als Kolloide bezeichnet.
Das Eiweiß Albumin kommt am häufigsten vor (rund
60% der Plasmaeiweißmenge), Seine relativ kleinen Mole-
küle dienen als Aminosäurevorrat und als Transportmole-
küle für Substanzen, die an die Albuminmoleküle binden.
Die übrigen Bluteiweiße gehören zur Gruppe der Globuline.
Auch sie haben teils Transportfunktion, z. B. für Hormone,
teils sind sie an der Immunabwehr beteiligt (Abschn. 9.1.2
und 9.1.3)
Anders als die Elektrolyte und andere kleinmolekulare
gelöste Teilchen können die Plasmaeiweiße nicht aus den
Kapillaren in das Interstitium diffundieren. In Bezug auf sie
besteht daher ein osmotisches Druckgefälle aus dem Inter-
stitium in Richtung Kapillarinnenraum von etwa 25 mmHg.
Diesen Druck nennt man wegen der Größe der Eiweiß- . Abb. 10.2a, b. Flüssigkeitsbewegungen aus den und in die
moleküle den kolloidosmotischen Druck. Blutkapillaren. a Die bildliche Darstellung des Gefäßsystems zeigt
den Flüssigkeitsaustritt am arteriellen Beginn der Kapillare und die
Kapilläre Flüssigkeitsbewegungen; spätere Reabsorption am venösen Ende und in die Lymphkapillaren
Lymphentstehung (rote Pfeile). b Druckkomponenten und deren Änderung im Kapillar-
verlauf. Pc kapillärer Druck; PIS Druck im interstitiellen Raum; πPI kapil-
Der kolloidosmotische Druck würde zur Aufnahme von lärer kolloidosmotischer Druck; πIS kolloidosmotischer Druck im inter-
Wasser in die Kapillaren führen, wenn ihm nicht der durch stitiellen Raum. Etwa in der Mitte der Kapillare sinkt der effektive
das Herz erzeugte Blutdruck entgegenwirkte. Dieser ist zu Filtrationsdruck unter den effektiven kolloidosmotischen Druck und
Beginn der Kapillare (am arteriellen Ende in . Abb. 10.2a die Filtration geht in die Reabsorption über
und links in 10.2b) sogar größer als der kolloidosmotische
Druck, sodass dort sogar eine Filtration von Flüssigkeit in
den interstitiellen Raum erfolgt.
Am venösen Ende der Kapillare (rechts in . Abb. 10.2b len Kapillarabschnitt rund 0,5% des durchfließenden Plas-
und rechts oben in . Abb. 10.2a) ist der Kapillarblutdruck mavolumens filtriert werden. Von diesem Filtrat werden,
auf rund 17 mmHg abgefallen. Dadurch überwiegt der wie . Abb. 10.2a zeigt, 90% am venösen Ende reabsorbiert,
nach innen gerichtete kolloidosmotische Druck, und es der Rest fließt als Lymphe über ein eigenes Gefäßsystem,
wird Flüssigkeit in die Kapillare wieder aufgenommen (re- die Lymphgefäße, in den Kreislauf zurück (Abschn. 10.6.1
absorbiert). Diese Verhältnisse bewirken, dass am arteriel- und Box 10.1).
186 Kapitel 10 · Blut, Herz und Kreislauf

Box 10.1. Eiweißmangel- und Stauungsödeme

Die durch Filtration und Reabsorption verschobenen


Flüssigkeitsvolumina sind gering (ca. 14 ml/min).
Dennoch kann doch eine Störung ihres »Fließgleich-
gewichts« sich sehr rasch bemerkbar machen. Wenn
sich z. B. der Eiweißgehalt des Blutplasmas vermindert,
dann reduziert sich auch der kolloidosmotische Druck.
Damit nimmt die Filtrationsrate zu und die Reabsorp-
tionsrate ab, wodurch sich zusätzliche Flüssigkeit im
Interstitium ansammelt, d. h. es bilden sich Ödeme.
Solche Eiweißmangelödeme finden sich bei schweren
Verbrennungen (Eiweißverlust durch die geschädigten
Gefäße), bei der Nephrose (einer Nierenerkrankung,
bei der täglich bis zu 20–30 g Eiweiß im Urin ausge-
schieden werden) und bei chronischer Unterernäh-
rung (Hungerödem).
Kann ein Herz nicht schnell genug das in den
Venen zu ihm strömende Blut wegpumpen, staut sich
das Blut in den Venen, und der venöse Druck steigt an.
Damit vermindert sich die Reabsorptionsrate am
venösen Kapillarende, und es resultieren daraus wieder
Ödeme. Diese entwickeln sich besonders in den ab-
hängenden Körperpartien (Füße, Unterschenkel), da
von dort der venöse Rückstrom zusätzlich gegen die
Schwerkraft erfolgen muss. Während der nächtlichen
Ruhezeit gelingt es dem Herzen oft, den venösen Stau
10 »abzubauen« und damit die Ödeme rückzubilden.
Das überschüssige Wasser wird über die Nieren ausge-
schieden und führt bei diesen Kranken zu nächtlichem
Harndrang. . Abb. 10.3. Skizze des aufgeschnittenen Herzens. Das Blut fließt
aus den großen Körpervenen (Vena cava sup. und Vena cava inf.) über
den rechten Vorhof in die rechte Kammer und von dort in die Arteriae
pulmonales. Entsprechend fließt das aus den Lungen zurückströmende
Blut über den linken Vorhof in die linke Kammer und wird vorn dort in
G Das Plasmaeiweiß besteht aus Albumin und ver-
die Aorta (Körperhauptschlagader) gepumpt
schiedenen Globulinen. Die Albuminmoleküle
sind für 80% des kolloidosmotischen Drucks ver-
antwortlich; dieser ist eine wichtige Kraft beim Das Muskelgewebe des Herzens wird als Myokard be-
transkapillären Flüssigkeitsaustausch. Die Globuline zeichnet. Beim untrainierten Erwachsenen ist das Herz
dienen teils als Transportmittel, teils nehmen sie etwa faustgroß und 300 g schwer (. Abb. 10.12a). Es ist im
Schutz- und Abwehrfunktionen wahr (humorale linken Brustraum verschieblich in einen serösen Sack, den
Immunität). Herzbeutel, eingebettet.

Richtung des Blutflusses im Herzen


10.2 Herzmechanik Das linke Herz dient dazu, das Blut in das arterielle Versor-
gungssystem des Körpers zu pumpen (linkes Herz und
10.2.1 Bau des Herzens, Funktion Körperarterien entsprechen also dem Wasserversorgungs-
der Pumpen system in unserem obigen Vergleich), während das rechte
Herz über die Körpervenen das Blut aus dem Körperinne-
Rechtes und linkes Herz als Doppelpumpe ren aufnimmt und über die Lungenarterien in die Lungen
Das Herz (. Abb. 10.3, 10.5a, 10.15a) stellt eine doppelte schickt. Von dort fließt es über die Lungenvenen zum lin-
Pumpe mit jeweils 2 muskulären Hohlkammern dar. Die ken Herzen zurück und steht für einen neuen kompletten
rechte wie die linke Seite hat jeweils einen Vorhof (Atrium) Kreislauf bereit.
und eine Herzkammer (Ventrikel). In jeder Herzhälfte sind Die beiden Klappen zwischen den Vorhöfen und
die beiden Pumpräume durch Ventilklappen voneinander Kammern und die beiden weiteren (bisher noch nicht
getrennt. genannten) zwischen den Kammern und Arterien
10.2 · Herzmechanik
187 10

. Abb. 10.4. Die 4 Phasen jedes Herzschlages, dargestellt am Die entsprechenden Vorgänge im linken Herzen sind in . Abb. 10.10
Beispiel des rechten Herzens. Die erste und die vierte Phase werden zusammengestellt
als Diastole, die zweite und die dritte als Systole zusammengefasst.

(. Abb. 10.4) arbeiten wie Pendeltüren, die nur in der 10.2.2 Arbeitszyklus des Herzens,
Flussrichtung des Blutes aufgehen. Sie stellen also wie Herztöne, Herzspitzenstoß
technische Rückschlagventile sicher, dass das Blut nicht
»rückwärts« fließt. Die vier Phasen des Herzzyklus
Die Bildserie in . Abb. 10.4 zeigt:
Aufbau und Speicherung der Energie 1. Jeder Herzschlag wird durch eine Füllung der Kammern
für den Blutdruck eingeleitet. Dabei fließt das in den Vorhöfen ange-
Die Kammern der beiden Herzhälften drücken bei sammelte Blut durch die Vorhof-Kammer-Klappen in
jedem Herzschlag Blut in die Körper- bzw. Lungenarte- die Kammern. Zum Schluss dieser Füllphase kontra-
rien und »pumpen diese auf«, genau wie eine Fahrrad- hieren sich die Muskelfasern der Vorhofwand und
pumpe bei jeder Kolbenbewegung einen Fahrradschlauch drücken durch diese Vorhofkontraktion soviel Blut
aufpumpt. Hat ein solcher Schlauch einige feine Löcher, wie möglich in die Kammern. Die Klappen zwischen
so lässt sich dennoch ein Druck in dem Schlauch auf- den Kammern und den Arterien sind zu dieser Zeit ver-
bauen und aufrechterhalten, wenn man nur genug Luft schlossen.
in den Schlauch pumpt. Die elastischen Schlauchwände 2. Die Kammern beginnen sich zu kontrahieren. Das
speichern nämlich die Druckenergie und sorgen dafür, heißt, die Muskelfasern spannen sich an und versuchen
dass trotz der stoßartigen Luftzufuhr aus der Pumpe der sich zu verkürzen. Durch den Druckanstieg in den
Luftausstrom aus den Löchern nahezu gleichmäßig er- Kammern schlagen sofort die Vorhof-Kammer-Klap-
folgt. pen zu. Für eine kurze Zeit, die der Anspannung der
Genau dies geschieht auch im großen (linken) und im Herzmuskelfasern, sind dann alle 4 Klappen des Her-
kleinen (rechten) Kreislauf: Die elastischen Wände der zens geschlossen.
Arterien werden durch das aus dem Herzen gepumpte Blut 3. Die Anspannungszeit endet wenn durch die Kammer-
gedehnt und speichern damit Druckenergie, die zwischen kontraktion der Druck in den Kammern den Druck in
den einzelnen Herzschlägen dafür sorgt, dass der Blutfluss den Arterien übersteigt. In diesem Augenblick öffnen
durch die Organe des Körpers praktisch gleichmäßig er- sich die Arterienklappen, und Blut wird aus den Kam-
folgt. mern in die Arterien ausgeworfen. Dabei steigt gleich-
zeitig der Druck weiter an, um den Druckabfall in den
G Das Herz ist eine doppelkammerige Druck-Volumen- Arterien seit der letzten Auswurfphase wieder auszu-
Pumpe. Sie verfügt zwischen den Vorhöfen und den gleichen.
Kammern und zwischen den Kammern und den 4. Nach der Kontraktion erschlafft die Kammermuskula-
Arterien über Klappen, die den Blutstrom nur in eine tur. Sobald dadurch der Druck in den Kammern unter
Richtung möglich machen. Das aus dem Herzen ge- den in den Arterien sinkt, schlagen die Klappen zwi-
pumpte Blut dehnt die Arterienwände auf. Auf diese schen ihnen zu. In den Vorhöfen hat sich unterdessen
Weise wird Druckenergie gespeichert und ein gleich- venöses Blut angestaut. Es beginnt, in die Kammern zu
mäßiger Blutfluss sichergestellt. fließen. Der nächste Arbeitszyklus wird eingeleitet.

Systole und Diastole


Die zweite und dritte Phase des Arbeitszyklus, also Anspan-
nungsphase und Austreibung des Blutes durch die Herz-
188 Kapitel 10 · Blut, Herz und Kreislauf

kontraktion, wird Systole genannt, die Pause dazwischen Das in einer bestimmten Zeit vom Herzen umgepumpte
Diastole. Entsprechend heißt der maximale Blutdruck (auf Blutvolumen wird Herzzeitvolumen genannt. Im Allge-
dem Höhepunkt der Austreibungsphase) systolischer Blut- meinen wird, wie in obigem Beispiel, das Herzminutenvo-
druck, der minimale, der beim Öffnen der Aortenklappe lumen angegeben. Dieses ist in Ruhe am niedrigsten und
liegt, diastolischer Blutdruck. Auf diese Werte wird in Ab- erhöht sich bei Arbeit. Wie in Abschn. 10.5.2 geschildert,
schn. 10.5.1 ausführlicher eingegangen. Der genaue zeit- kann das Herz eines Erwachsenen, je nach Alter und Trai-
liche Ablauf der 4 Phasen des Herzzyklus, samt den dabei ningszustand, bis zu 25–35 l Blut pro Minute »umwälzen«.
auftretenden Druck- und Volumenänderungen, ist für das Das Herzzeitvolumen kann sich also etwa im Verhältnis 1:5
linke Herz in . Abb. 10.10 (Abschn. 10.5.2) dargestellt. bis 1:7 an wechselnde Bedürfnisse anpassen. Ein Herz-
muskel, der diese Anforderungen erfüllt, wird als suffizient
G Jeder Arbeitszyklus der Ventrikel besteht aus
bezeichnet.
4 Phasen, nämlich Kammerfüllung, Anspannung,
Austreibung und Erschlaffung. Anspannung und Definition der Herzmuskelinsuffizienz
Austreibung werden als Systole zusammengefasst,
Dauernde Überlastungen des Herzmuskels, sei es durch die
die übrige Zeit als Diastole.
anschließend geschilderten Klappenfehler, sei es aus ande-
ren Ursachen (wie einem chronisch zu hohen Blutdruck,
Ursache der Herztöne und des Herzspitzenstoßes z. B. Abschn. 10.6.4 und 10.7.3), führen früher oder später
Die Herztöne lassen sich mit einem auf den Brustkorb auf- zu einem Nachlassen der Herzleistung. Zunächst fällt diese
gesetzten Stethoskop abhören. Der erste Herzton zu Be- Herzmuskelschwäche oder Herzmuskelinsuffizienz nur
ginn der Systole wird durch die Schwingungen des ganzen bei Anstrengungen auf. Schließlich ist das Herz schon bei
Herzens bei der Anspannungskontraktion verursacht. Der leichter Arbeit nicht mehr in der Lage, genügend Blut in die
zweite Herzton entsteht bei der Erschlaffung der Ventrikel Arterien zu pumpen: Aus einer kompensierten Herzmus-
durch das ruckartige Schließen der Klappen zwischen Ar- kelinsuffizienz wird eine dekompensierte mit deutlicher
terien und Kammern. Physikalisch sind die Herztöne keine Einschränkung der körperlichen Leistungsfähigkeit (z. B.
Töne, sondern Geräusche. Der Begriff Herzgeräusche ist schon beim Treppensteigen Atemnot und »Herzbeschwer-
aber für denjenigen Herzschall reserviert, der durch krank- den« oder auch Stauungsödeme, Box 10.1, zur Therapie
10 hafte Veränderungen des Herzens bedingt ist (7 unten). Box 10.2).
Die Schwingungen des ersten Herztons können auch,
besonders bei mageren Menschen, auf dem Brustkorb mit Box 10.2. Therapie der Herzmuskelinsuffizienz
den Fingerspitzen gefühlt und links zwischen der fünften Sie erfolgt v. a. durch Digitalispräparate (Extrakte
und sechsten Rippe als Herzspitzenstoß gesehen werden. des Fingerhuts), die die Kraft der Kontraktion eines
Nach größeren Anstrengungen, wenn das Herz besonders geschädigten Herzmuskels deutlich steigern können.
kräftig schlägt, können wir sogar spüren, wie unser Herz im (Am gesunden Herzmuskel wirkt Digitalis nicht.) Ein
Brustkorb »pocht«. Auch die eigenen Herztöne kann man durch jahrzehntelange Überlastung völlig erschöpfter
in einem ruhigen Zimmer mit dem Kopf auf dem Kissen Herzmuskel kann aber auch durch Digitalis nicht mehr
hören. Näheres zur Wahrnehmung der Herztätigkeit bei zu ausreichenden Kontraktionen angeregt werden.
der Besprechung der Interozeption (Abschn. 15.4.2). Ohne eine Herztransplantation sind diese Patienten
verloren.
G Der erste Herzton und der Herzspitzenstoß signali-
sieren die Anspannungskontraktion, der zweite
den Klappenschluss bei der Erschlaffung. Herzschall Herzklappeninsuffizienz und -stenose
aus pathologischer Ursache wird Herzgeräusch
Wenn die Klappe zwischen linkem Vorhof und linker
genannt.
Kammer nicht völlig schließt, strömt das Blut während der
Systole nicht nur in die Aorta, sondern auch in den linken
10.2.3 Suffiziente und insuffiziente Vorhof und in die Lungenvenen zurück. Die Folgen unvoll-
Herztätigkeit kommen schließender Klappen, Herzklappeninsuffizienz
genannt, kann man sich für alle 4 Ventile leicht vorstellen.
Definition des suffizienten Herzzeitvolumens Für die linke Vorhof-Kammer-Klappe haben wir sie eben
In Ruhe schlägt das Herz eines Erwachsenen etwa 70-mal schon genannt. Als zweites Beispiel sei die Insuffizienz der
in der Minute. Bei jedem Herzschlag werden rund 70 ml Aortenklappe erwähnt. Sie führt dazu, dass während der
Blut aus der rechten und aus der linken Kammer ausgewor- Diastole das vorher in die Aorta ausgeworfene Blut teil-
fen und damit von dem einen in den anderen Teilkreislauf weise wieder in die Kammer zurückfließt. Um dennoch
verschoben. Also werden in Ruhe pro Minute 70×70=4900 ausreichend Blut in den großen Kreislauf zu pumpen, muss
ml oder rund 5 l Blut »umgewälzt«. Das ist etwa die gesamte das linke Herz schon in Ruhe deutlich mehr Blut fördern,
im Körper vorhandene Blutmenge (Abschn. 10.1.1). nämlich die normale plus die rückfließende Menge.
10.3 · Erregungsbildung, Erregungsleitung und elektromechanische Kopplung im Herzen
189 10

. Abb. 10.5a–d. Elektrische Vorgänge bei der Herztätigkeit und


die Entstehung des normalen Herzschlags. a Die Erregungen des
Herzens entstehen in spezialisierten Herzmuskelzellen, die im Vorhof
(Sinusknoten) und am Übergang zwischen Vorhof und Kammer
(AV-Knoten) liegen. Die Kammern besitzen Herzmuskelzellverbände,
die auf die Erregungsleitung im Herzen spezialisiert sind. Zu diesen
gehören die Purkinje-Fäden, die auch Schrittmacherpotenziale aus-
bilden können. b–d Verlauf des Membranpotenzials einzelner Herz-
muskelzellen (intrazelluläre Ableitung mit Mikroelektroden) aus den
angegebenen Herzarealen, nämlich dem aktuellen Schrittmacher (b),
einem potenziellen Schrittmacher (c) und dem Arbeitsmyokard (d)

Sind die Klappen verengt (stenotisch) und öffnen sich


nur unvollkommen, dann bilden sie ein Hindernis für den
freien Blutdurchfluss. Stenosen zwischen Vorhöfen und
Kammern führen zu Blutstau vor der Verengung und zu
mangelhafter Füllung des Herzens in der Diastole. Ver-
engungen zwischen den Kammern und den Arterien, z. B.
die Aortenstenose, erfordern eine erheblich höhere Druck-
entwicklung des Herzens bei der Kontraktion, um die not-
wendige Blutmenge auszuwerfen.

G Ein Herz, das den normalen Anforderungen des All-


tags gewachsen ist, wird als suffizient bezeichnet.
Herzmuskelinsuffizienz nennt man mehr oder
weniger ausgeprägte Herzmuskelschwächen.
Häufige Ursachen sind lange bestehende Klappen-
insuffizienzen oder -stenosen und chronischer Blut-
hochdruck.

10.3 Erregungsbildung, Erregungs-


leitung und elektromechanische
Kopplung im Herzen

10.3.1 Erregungsbildung
in Schrittmacherzellen

Herz als Synzytium mit Spontanerregung


Zwei Besonderheiten der Herzmuskelfasern bilden die Vo-
raussetzungen für die automatische Herztätigkeit: Erstens
sind die Herzmuskelzellen alle netzförmig, elektrisch lei-
tend miteinander verknüpft, sie bilden also miteinander ein
funktionelles Synzytium (s. 4.5.2). Eine einmal an irgend-
einer Stelle des Herzens ausgelöste überschwellige Erregung
breitet sich daher immer rasch über das gesamte Herz aus
und bringt es damit nahezu gleichzeitig zur Kontraktion.
Die zweite Besonderheit des Herzmuskels liegt in der
Fähigkeit eines Teils seiner Zellen zur Spontanerregung
und zur besonders raschen Ausbreitung der Signale, die bei
der spontanen Erregungsbildung ausgelöst werden. Das
Signal der Erregung ist dabei ein kurzer elektrischer Impuls,
das Aktionspotenzial der Herzmuskelfaser (7 unten).
190 Kapitel 10 · Blut, Herz und Kreislauf

Ablauf des Schrittmacherpotenzials 10.3.2 Erregungsausbreitung, Aktions-


Die zur Erregungsbildung fähigen Herzmuskelzellen sind potenziale des Arbeitsmyokards
in . Abb. 10.5a grün eingetragen (die Mehrzahl aller Herz-
muskelfasern bilden also keine Schrittmacherpotenziale Rolle des AV-Knotens und des
aus!). Normalerweise geht die spontane Erregungsbildung Erregungsleitungsgewebes
von einem Stückchen der rechten Vorhofmuskulatur, Das im Sinusknoten generierte Aktionspotenzial breitet sich
dem Sinusknoten, aus, dieser ist also der Schrittmacher des zunächst über die beiden Vorhöfe aus und bringt diese damit
Herzens. zur Kontraktion. Anschließend pflanzt sich die Erregung
Der Zeitverlauf der Erregungsbildung in einer spontan über eine schmale Muskelbrücke in der Herzmitte, den Atrio-
aktiven Herzmuskelzelle ist in . Abb. 10.5b zu sehen: Im ventrikularknoten (AV-Knoten, »Vorhof-Kammer-Kno-
Anschluss an jedes Aktionspotenzial kommt es, ausgehend ten«, . Abb. 10.5a), auf die Kammerseite fort. Einen anderen
vom maximalen diastolischen Potenzial, zu einer lang- Weg gibt es nämlich nicht, da ansonsten Vorhöfe und Kam-
samen Depolarisation, die das Schwellenpotenzial erreicht mern durch eine bindegewebige Platte voneinander getrennt
und damit eine neue Erregung auslöst. Diese langsame sind; in dieser Platte sind die Herzklappen aufgehängt.
diastolische Depolarisation ist ein lokaler Erregungsvor- Nach dem Atrioventrikularknoten, in dem die Erregungs-
gang, der nicht wie das anschließende Aktionspotenzial welle nur langsam vorankommt, greift diese schnell entlang
über das gesamte Herz fortgeleitet wird. dem in . Abb. 10.5a grün gezeichneten Erregungsleitungs-
gewebe auf beide Kammern über (. Abb. 10.7). Die Ver-
Aktuelle und potenzielle Schrittmacher zögerung im AV-Knoten stellt dabei sicher, dass sich die
Die langsamen diastolischen Potenziale werden als Schritt- Kammern deutlich nach den Vorhöfen kontrahieren (für die
macherpotenziale bezeichnet. Normalerweise haben die genauen Zeitverhältnisse . Abb. 10.10), damit die Schluss-
Zellen im Sinusknoten des Herzens das steilste Schritt- füllung der Kammern durch die Vorhofkontraktion bei Be-
macherpotenzial, das deswegen am schnellsten die Schwelle ginn der Kammerkontraktion abgeschlossen ist.
für die Auslösung fortgeleiteter Aktionspotenziale erreicht.
Sie sind daher die aktuellen Schrittmacher. Alle anderen Aktionspotenzialablauf im Arbeitsmyokard
Herzmuskelzellen mit langsamen diastolischen Depolarisa- Ausgehend vom Ruhepotenzial (ca. –82 mV in . Abb. 10.5d)
10 tionen werden genauso wie alle übrigen Herzzellen auf dem beginnt das Aktionspotenzial mit einem raschen »Aufstrich«
Weg der Fortleitung erregt, d. h. sie werden aus der Nach- zur initialen Spitze (bei ca. +20 mV). An diese schnelle Depo-
barschaft schon überschwellig erregt, bevor ihre langsamen larisationsphase, die nur 1–2 ms dauert, schließt sich als be-
diastolischen Depolarisationen das Schwellenpotenzial er- sonderes Charakteristikum der Herzmuskulatur ein Plateau
reichen. Sie sind also potenzielle Schrittmacher. an, bevor die Repolarisation zum Ruhepotenzial erfolgt.
Bei Ausfall des aktuellen Schrittmachers (meist des In Abhängigkeit von der Herzfrequenz beträgt die Dau-
Sinusknoten) kann ein potenzieller Schrittmacher, z. B. der er des Herzaktionspotenzials ca. 200–400 ms. Bei hoher
Atrioventrikularknoten (AV-Knoten, . Abb. 10.5a) die Er- Herzfrequenz ist das Aktionspotenzial kurz, bei geringer ist
regungsbildung übernehmen. Wegen der bei ihm lang- es lang. Während der Dauer des Aktionspotenzials ist der
sameren diastolischen Depolarisation (. Abb. 10.5c) dauert Herzmuskel nicht weiter erregbar, er ist refraktär. Damit ist
es hier jedoch länger bis die Schwelle erreicht wird: Das eine Überlagerung von Kontraktionen, wie sie beim quer-
Herz schlägt dann entsprechend langsamer. Oft ist der gestreiften und beim glatten Muskel regelmäßig vorkom-
Rhythmus dieser sekundären Schrittmacher auch unregel- men, nicht möglich. Der Herzmuskel kann also ausschließ-
mäßiger (bezüglich der Zuordnung der in . Abb. 10.5 ge- lich Einzelkontraktionen ausführen.
zeigten Potenziale zum EKG: . Abb. 10.10 und zugehö-
riger Text). G Die vom Sinusknoten sich ausbreitende Erregungs-
welle erreicht über den AV-Knoten die Herzkammer-
G Das Herz ist ein funktionelles Synzytium, das rhyth- muskulatur. Das Aktionspotenzial des Arbeitsmyo-
mische Erregung spontan ausbildet. Normalerweise kards weist ein Plateau von 200–400 ms auf. Es ist
geht die Herzerregung von den Schrittmacherzellen umso kürzer, je schneller das Herz schlägt. Während
des Sinusknotens im rechten Vorhof aus. Fallen diese des Plateaus ist das Herz refraktär.
aus, können auch andere Herzmuskelzellen die
Schrittmacherrolle übernehmen. Ionenmechanismen der Ruhe- und
Aktionspotenziale des Herzens
Das Ruhepotenzial der Herzmuskelzellen des Arbeitsmyo-
kards ist im wesentlichen ein K+-Potenzial, das nahe beim
K+-Gleichgewichtspotenzial liegt. Es beträgt –80 bis
–90 mV (Abschn. 3.1.2). Der Aufstrich des Aktionspoten-
zials ist durch eine starke Zunahme der Membranleitfähig-
10.4 · Das Elektrokardiogramm, EKG
191 10

keit für Na+-Ionen erzeugt, die einen kräftigen Na+-Ein- Bereitstellung von Ca2+-Ionen in den intrazellulären Spei-
strom zur Folge hat. Der initiale Na+-Einstrom wird jedoch chern für die nachfolgenden Kontraktionen.
sehr schnell inaktiviert (Abschn. 3.2.2), so dass sofort eine
Teilrepolarisation eintritt. Elektromechanische Entkopplung
Die charakteristische Plateauphase des Herzaktions- und Verstärkung
potenzials ist darauf zurückzuführen, dass die Membran- Bei dieser Sachlage ist es nicht erstaunlich, dass Wirkstoffe,
leitfähigkeit für Ca2+-Ionen für längere Zeit erhöht und die die den Ca2+-Einwärtsstrom während des Plateaus hem-
Leitfähigkeit für K+-Ionen in dieser Zeitspanne erniedrigt men (und die deswegen Kalzium-Antagonisten genannt
ist, so dass sich die Effekte eines langsamen Ca2+-Einstroms werden, z. B. Verapamil, Nifedipin, Diltiazem) die Kontrak-
und eines entsprechenden K+-Ausstroms etwa die Waage tionskraft des Herzens abschwächen. Dieser Vorgang wird
halten. elektromechanische Entkopplung genannt. Er wird bei der
Die Repolarisation beginnt, sobald die erhöhte Ca2+- Behandlung des Bluthochdrucks eingesetzt, um die systo-
Leitfähigkeit ab- und die K+-Leitfähigkeit wieder zunimmt. lische Druckentwicklung abzuschwächen.
Am Ende der Repolarisation stellt das Membranpotenzial Umgekehrt ist eine Steigerung der Kontraktionskraft
seinen konstanten Ruhewert solange ein, bis eine erneute durch Wirkstoffe möglich, die zu einer Anreicherung von
Erregung beginnt. Ca2+ im Zellinneren führen. Bei der Therapie der Herz-
insuffizienz (7 oben) dienen dazu v. a. die Herzglykoside
G Am Aktionspotenzial der Herzmuskelfaser sind auf-
(Digitalis, Strophantin), die indirekt, auf eine hier nicht er-
einander folgende Änderungen der Na+- (Aufstrich),
läuterte Weise, eine Zunahme der Ca2+-Ionen in den intra-
der Ca++- (Plateau) und der K+-Leitfähigkeit (Repola-
zellulären Speichern bewirken.
risation) beteiligt. Das Ruhepotenzial ist im Wesentli-
chen ein K+-Gleichgewichtspotenzial.
G Die elektromechanische Kopplung wird durch
Ca2+-Ionen bewerkstelligt, die während des Aktions-
10.3.3 Elektromechanische Kopplung potenzial aus dem sarkoplasmatischen Retikulum
freigesetzt werden. Pharmakologische Reduzierung
Ablauf der elektromechanischen Kopplung der intrazellulären Ca-Konzentration schwächt die
Aufgabe der Herzaktionspotenziale ist es, Vorhöfe und Kraft der Kontraktion, Steigerung stärkt sie.
Kammern zur Kontraktion zu bringen. Die Übertragung
der von den Aktionspotenzialen übermittelten »Kontrak-
tionsbotschaften« auf den zur Zuckung fähigen (kontrak- 10.4 Das Elektrokardiogramm, EKG
tilen) Apparat der Herzmuskelzellen wird elektromechani-
sche Kopplung genannt. 10.4.1 Grundlagen der EKG-Registrierung
Der Prozess der elektromechanischen Kopplung ist
am Herzmuskel analog dem an der Skelettmuskulatur, der Ableitung des EKG von der Körperoberfläche
anhand der . Abb. 13.2 in Abschn. 13.3.1 geschildert wird. Wie die Darstellungen der Aktionspotenziale in . Abb. 10.5
Auf diese Beschreibung wird hier verwiesen. gezeigt haben, besteht zwischen einer erregten und einer
Hier wie dort werden durch das Aktionspotenzial unerregten Stelle des Herzmuskels ein elektrischer Span-
aus intrazellulären Speichern Ca2+-Ionen freigesetzt, so nungsunterschied von rund 120 mV. Dieser Spannungsun-
dass sich ihre intrazelluläre Konzentration schlagartig um terschied erzeugt in der Umgebung des Herzens ein elektri-
etwa das 100-fache erhöht. Dadurch werden am kontrak- sches Feld, das sich bis zur Körperoberfläche ausbreitet.
tilen Apparat diejenigen Prozesse aktiviert, die zur Kon- Dabei treten zwischen einzelnen Punkten der Körperober-
traktion führen. Der Kontraktionsvorgang wird dadurch fläche, also beispielsweise dem rechten Arm und dem lin-
beendet, dass die Ca2+-Ionen aus dem Sarkoplasma aktiv ken Bein, Spannungsunterschiede der elektrischen Felder
(also unter Energieaufwand) in ihre Speicher zurück- bis zu 1 mV auf. Diese, im Vergleich zu den verursachenden
gepumpt werden. Aktionspotenzialen recht geringen Spannungsunterschiede
können mit Elektroden aufgenommen und über einen Ver-
Trigger- und Auffülleffekt der Kalziumionen stärker als Elektrokardiogramm, EKG, auf einem Schreiber
Beim Freisetzen und Zurückpumpen der Ca2+-Ionen aus oder Bildschirm (Oszillograph) sichtbar gemacht werden.
ihren intrazellulären Speichern gehen jedes Mal Ca2+-Ionen Das EKG ist also ein Ausdruck der am Herzen ablaufenden
»verloren«. Diese werden durch die während des Plateaus Erregung.
einströmenden Ca2+-Ionen ersetzt. Das Aktionspotenzial
erfüllt daher 2 wichtige Aufgaben im Dienst der Kontrak- G Elektrokardiographie ist das Aufzeichnen von elek-
tion, nämlich, erstens, einen Triggereffekt, d. h. die Aus- trischen Potenzialdifferenzen von der Hautober-
lösung der Kontraktion (7 oben) und zweitens einen Auf- fläche, die durch die Depolarisation und Repolarisa-
fülleffekt, d. h. eine mit der Erschlaffung einhergehende tion des Herzmuskels entstehen.
192 Kapitel 10 · Blut, Herz und Kreislauf

Terminologie des EKG, Zuordnung


zum Erregungsablauf des Herzens
Auch die Bezeichnungen des EKG sind international
standardisiert. Die vereinbarten Bezeichnungen der wich-
tigsten Wellen, Zacken und Strecken samt deren Dauer
sind in . Abb. 10.6b angegeben. Als Strecken (oder Seg-
mente) bezeichnet man die zwischen 2 Zacken oder Wellen
gelegenen Abschnitte, ein Intervall umfasst Zacken (bzw.
Wellen) und Strecken. Das RR-Intervall entspricht der
Dauer einer Herzperiode (dient zur Bestimmung der Herz-
frequenz). Positive Ausschläge werden nach oben abgebil-
det, im QRS-Komplex wird der positive Ausschlag R-Zacke
genannt.
Eine Deutung des EKG-Verlaufs bei der Erregungsaus-
breitung und -rückbildung gibt . Abb. 10.7. Sie zeigt, dass
beispielsweise die P-Welle während der Erregungsausbrei-
tung in den Vorhöfen und die QRS-Zacken zu Beginn der
Kammererregung auftreten. Die T-Welle signalisiert das
Ende der Kammerregung. Die Zeit von Anfang P bis An-
fang Q, das PQ-Intervall, gibt in etwa an, wie lange die Über-
leitung der Erregung vom Vorhof auf die Kammer braucht,
und von Anfang Q bis Ende T dauert die Kammererregung
(QT-Intervall, stark frequenzabhängig, 7 oben).

G Die P-Welle signalisiert die Vorhoferregung, die


QRS-Zacken die Erregungsausbreitung in den
10 Ventrikeln und die T-Welle die dortige Erregungs-
rückbildung.

10.4.2 Vektorielle Interpretation des EKG

Dipolnatur der Einzelerregung und Bildung


eines Integralvektors
Wie schon mehrfach gesagt, besteht bei der Erregung einer
. Abb. 10.6a, b. Ableitung des Elektrokardiogramms (EKG). a Ab- Herzmuskelfaser zwischen der erregten und der unerregten
leiteorte der EKG-Standardableitungen I, II, und III (Extremitätenab- Stelle eine rund 120 mV große Potenzialdifferenz in Rich-
leitungen nach Einthoven) samt Registrierbeispielen. b Idealisierte tung des anatomischen Verlaufs der Faser. Eine solche loka-
Normalform des EKG bei Standardableitung II (rechter Arm gegen
le Potenzialdifferenz kann als ein Dipol aufgefasst werden,
linkes Bein). Die vereinbarten Bezeichnungen der wichtigsten Wellen,
Zacken und Strecken samt deren Dauer sind angegeben. Die Dauer
dessen jeweilige Größe und Richtung sich durch einen
des QT-Intervalls wird mit steigender Herzfrequenz kürzer gerichteten Pfeil, also einen Vektor, symbolisieren lässt. Da
sich die Erregung im Herzen über viele Tausende von Herz-
muskelfasern ausbreitet, müssen sich alle diese Einzel-
Standardisierung der Extremitätenableitungen vektoren in jedem Augenblick zu einem Summations- oder
Die Form des EKG hängt also wesentlich von den Ableite- Integralvektor summieren.
orten ab. Um dennoch eine gewisse Einheitlichkeit und Man kann sich die Entstehung des Integralvektors
Vergleichbarkeit zu erzielen, haben sich einige Standard- wie die Bildung einer Resultante im Parallelogramm der
ableitungen international durchgesetzt. So zeigt die Kräfte vorstellen. Ein großer Teil der Vektoren werden
. Abb. 10.6a die Extremitätenableitungen I–III. Beispiele sich dabei in ihrer Wirkung nach außen gegenseitig
der zugehörigen EKG-Formen sind links daneben angeord- aufheben, da sie in entgegengesetzte Richtungen weisen.
net. Auch sie sind keinesfalls bei allen Menschen gleich, da Man hat geschätzt, dass bei der Erregung des Herzens
Körperbau (schlank, gedrungen, mager, beleibt) und Lage zeitweise 90% der Einzelvektoren einander gegenseitig
des Herzens im Brustkorb (steil oder flach, mehr nach links auslöschen. Dies ist ein wesentlicher Grund für die rela-
oder mehr nach rechts verschoben) die Form des EKG be- tiv kleinen Amplituden der verschiedenen EKG-Aus-
einflussen. schläge.
10.4 · Das Elektrokardiogramm, EKG
193 10

. Abb. 10.7. Vereinfachte Deutung des EKG-Verlaufs. Erregte Vorhoferregung, Überleitung im AV-Knoten auf die Kammern;
Myokardanteile sind gelb gekennzeichnet. Die Potenzialdifferenzen Q Erregungsausbreitung in der Kammerscheidewand; R Erregung
an der Erregungsfront werden nach Größe und Richtung durch einen erfasst große Teile der Ventrikel bis zur Herzspitze; S Erregungsaus-
Integralvektor (schwarze Pfeile) dargestellt, dessen Projektion auf breitung in den Ventrikelwänden in Richtung auf die Herzbasis;
die Ableitungsrichtung (rechter Arm – linkes Bein) die EKG-Amplitude ST vollständige Ventrikelerregung; T Erregungsrückbildung in den
bestimmt. P Erregungsausbreitung in den Vorhöfen; PQ vollständige Ventrikeln

Verlauf des Integralvektors bei der orientierung zur Herzspitze entsprechen soll. Es ist deut-
Erregungsausbreitung lich zu sehen, dass während der Erregungsausbreitung über
In . Abb. 10.7 sind die momentanen Integralvektoren und die Vorhöfe (P-Zacke) die Erregungswellen überwiegend
die daraus resultierenden Ausschläge im Extremitäten- von oben nach unten laufen. Gleiches gilt noch ausgeprägter
EKG dargestellt. Die zu verschiedenen Zeitphasen von dem zum Zeitpunkt der R-Zacke, wenn sich nämlich die Erre-
Erregungsprozess erfassten Herzmuskelanteile sind rot gung im Reizleitungssystem und der Kammerscheidewand
markiert. Die Pfeile stellen den jeweiligen Integralvektor überwiegend herzspitzenwärts ausbreitet.
dar, der sich durch Addition der einzelnen Lokalvektoren
an der Ausbreitungsfront ergibt.
Für die EKG-Registrierung hat man vereinbart, dass ein
positiver Ausschlag (Ausschlag nach oben) einer Vektor-
194 Kapitel 10 · Blut, Herz und Kreislauf

Verlauf des Integralvektors


bei der Erregungsrückbildung
Sobald die gesamte Kammer erregt ist (ST-Strecke), ver-
schwinden für kurze Zeit (ebenso wie bei der Vorhoferre-
gung, PQ-Strecke) die gesamten Potenzialunterschiede, da
sich alle Fasern in der Plateauphase des Aktionspotenzials
befinden. Während der folgenden Erregungsrückbildung
der Ventrikel (T-Welle) ändert sich die Richtung des Integral-
vektors kaum. Er zeigt während der gesamten Dauer der
Erregungsrückbildung nach unten. Damit nimmt die
T-Welle einen positiven Verlauf (wie die R-Zacke).
Dies überrascht, da die Erregungsrückbildung sich
zur Erregungsausbreitung spiegelbildlich verhalten, also
eine negative T-Welle zeigen sollte. Die positive T-Welle
kommt aber dadurch zustande, dass die Dauer des Aktions-
potenzials in den verschiedenen Herzabschnitten unter-
schiedlich lang ist. So repolarisieren, wie das vorletzte Bild
in . Abb. 10.7 zeigt, die Herzmuskelzellen an der Herz-
spitze, die als letzte erregt wurden, deutlich schneller als
die an der Basis (»apiko-basaler Erregungsrückgang«), und . Abb. 10.8. Typische EKG-Veränderungen bei Störungen der
Erregungsbildung und Erregungsleitung. Die supraventrikuläre
die Herzmuskelzellen an der Oberfläche des Herzens, die
Extrasystole nimmt vom Vorhof ihren Ausgang. Die negative Polarität
ebenfalls erst nach den inneren Schichten erregt wurden, der Vorhofwelle P zeigt aber, dass nicht der Sinusknoten Ausgangs-
repolarisieren schneller als die im Herzinneren. Beide punkt der extrasystolischen Erregung ist. Die ventrikuläre Extrasystole
Faktoren resultieren, wie die Abbildung zeigt, zum Zeit- ist von einer kompensatorischen Pause gefolgt, da die normale Vor-
punkt T in einem Vektor, der die gleiche Richtung wie die hoferregung auf refraktäres Herzleitungsgewebe traf. Beim totalen
AV-Block schlagen Vorhof und Kammern unabhängig voneinander.
R-Zacke hat.
Die Kammerfrequenz ist dabei wesentlich niedriger als die Vorhof-
10 G Die Zacken und Wellen des EKG lassen sich als Pro- frequenz

jektionen des resultierenden elektrischen Dipols


(Integralvektor genannt) auf die Verbindungslinie
Beispiele für typische EKG-Veränderungen bei Störungen
zwischen den Ableitestellen auffassen. Der Integral-
der Erregungsbildung und -ausbreitung zeigt . Abb. 10.8.
vektor spiegelt den Ablauf der Herzerregung in Vor-
Extrasystolen sind z. B. Herzerregungen, die zwischen
hof und Kammer wider.
2 normalen Herzschlägen auftreten.

10.4.3 Das EKG als Diagnosehilfe EKG-Diagnose lebensgefährlicher Störungen


der Herztätigkeit
EKG-Veränderungen und ihre möglichen Lebensgefährliche Erregungszustände, wie eine zu hohe
Bedeutungen Herzfrequenz (Kammerflattern), bei der das Herz nicht
Das EKG ist v. a. dazu brauchbar, Störungen der Herzerre- mehr ausreichend gefüllt wird und daher mehr oder
gung, insbesondere der Bildung, der Ausbreitung und des weniger »leer« pumpt, oder das Auftreten von Kammer-
Rückgangs der Erregung am Herzen aufzudecken. Aus den flimmern (Herzflimmern), bei dem das Herz überhaupt
EGK-Ableitungen können u. a. folgende Informationen ge- kein Blut mehr fördert, weil es sich nicht mehr gleich-
wonnen werden: zeitig kontrahiert, sondern viele kleine Herzabschnitte
4 Frequenz: Ist eindeutig ablesbar, gemessen wird in der unabhängig und zeitlich versetzt voneinander schlagen,
Regel der Abstand zwischen 2 R-Zacken. sind im EKG eindeutig festzustellen. Herzflimmern oder
4 Rhythmusstörungen: Ebenfalls eindeutig erkennbar, -fibrillieren erfordert wegen des damit verbundenen
oft auch die Ursache (Entstehung im Sinus- oder AV- Kreislaufstillstandes sofortige Herzmassage und – so vor-
Knoten oder anderswo). handen – den Einsatz eines »Defibrillators«. Dieses Gerät
4 Leitungsstörungen: Auch die Störungen der Erre- liefert intensive Stromstöße, mit denen alle Herzmuskel-
gungsausbreitung sind meist gut sichtbar, z. B. ein gele- zellen sozusagen »mit Gewalt« auf eine einheitliche elek-
gentlicher oder völliger Block der Erregungsausbrei- trische Membranspannung gebracht werden, um danach
tung im AV-Knoten oder im Erregungsleitungssystem. wieder einen gleichzeitigen Erregungsablauf zu ermög-
4 Ursprung der Erregung: Entscheidung, ob eine Sinus- lichen.
erregung vorliegt oder der Schrittmacher im AV-Knoten
oder in den Kammern liegt.
10.5 · Die Anpassung der Herzleistung an den Bedarf
195 10
EKG-Diagnose von Hypoxie und Anoxie Fortleitung des systolischen Druckanstiegs
des Herzmuskels als Pulswelle
Ein Missverhältnis zwischen Sauerstoffangebot (Hypoxie = Der durch die Austreibung des Schlagvolumens in der
mangelndes O2-Angebot, Anoxie = fehlendes O2-Angebot) Aorta erzeugte Druckanstieg wird als Druckpulswelle in
und Sauerstoffbedarf des Herzmuskels – v. a. infolge einer den Aorta- und Arterienwänden von Gewebsteilchen zu
lokalen Durchblutungseinschränkung beim Herzinfarkt – Gewebsteilchen viel schneller als der Blutfluss weiterge-
verursacht im EKG, je nach Ausmaß des Infarkts und leitet. Die Pulswelle nach einem Herzschlag ist schon
der Zeit nach seinem Eintritt, Senkungen und Hebungen nach 0,2 s in den Fußarterien anlangt, während ein gleich-
der ST-Strecke unter oder über die 0-Linie sowie eine zeitig aus dem Herzen ausgeworfenes Blutkörperchen in
Abflachung oder Negativierung der T-Welle. Aus diesen dieser Zeit erst 30 cm in der Aorta weitergeschwemmt
EKG-Veränderungen können therapierelevante diagnos- worden ist.
tische Schlüsse gezogen werden. Mit zunehmender Entfernung vom Herzen steigt die
Pulswellengeschwindigkeit an, was durch die geringere
G Das EKG ist ein wichtiges diagnostisches Hilfsmittel
Dehnbarkeit der dünneren Arterien und die größere Wand-
bei der Beurteilung von Bildung, Ausbreitung und
dicke relativ zum Gefäßdurchmesser bedingt ist. Auch
Rückgang der Erregung am Herzen. Ausmaß und
im Alter nimmt die Pulswellengeschwindigkeit zu (in der
Verlauf von Herzinfarkten lassen sich z. B. über
Aorta von 4–6 m/s auf bis zu 9 m/s), was v. a. auf dem Alters-
die dabei auftretenden EKG-Veränderungen ab-
umbau der Arterienwand mit Abnahme des elastischen und
schätzen.
Zunahme des kollagenen Gewebes beruht.
Die Druckpulswelle, meist der Puls genannt, kann an
10.5 Die Anpassung der Herzleistung den oberflächlich liegenden Körperarterien (wie am Hals
an den Bedarf oder am Handgelenk) mit den Fingerspitzen leicht getastet
werden. Aus seinen Qualitäten lassen sich wichtige Infor-
10.5.1 Der Blutdruck und seine Messung mationen über den Zustand des Herz-Kreislauf-Systems
herleiten: So kann v. a. die Herzfrequenz gemessen und ein
Blutdrucknormwerte in Ruhe und bei Arbeit regelmäßiger oder unregelmäßiger Rhythmus des Herz-
Der Druck, den die linke Kammer beim Auswerfen des schlags gefühlt werden.
Blutes in die Aorta aufbaut, nennt man den Blutdruck
G Der Blutdruckanstieg in der Aorta während der
(7 auch Einleitung und Abschn. 10.2.2). Dieser wird durch
Systole pflanzt sich als Druckpulswelle in 0,2 s über
jeden Herzschlag auf seinen systolischen Wert getrieben
alle Arterien fort. Dünne Arterien mit dicken Wänden
und sinkt zwischen den Herzschlägen auf den diastolischen
leiten die Pulswelle schneller fort als die Aorta mit
Wert ab. Der systolische Blutdruck liegt bei jungen Er-
ihrer dünnen und elastischen Wand.
wachsenen normalerweise bei 120 mmHg, der diastoli-
sche bei 80 mmHg (der mittlere Blutdruck liegt also bei
100 mmHg). Die Differenz von 40 mmHg ist die Blutdruck- Messung des Blutdrucks nach Riva-Rocci
amplitude. im medizinischen Alltag
Im Alter steigt der systolische Blutdruck um 20– Der Blutdruck wird in der Regel in Millimeter Quecksilber
30 mmHg an, während der diastolische Blutdruck an- (mmHg) angegeben, weil das in . Abb. 10.9a gezeigte
nähernd konstant bei 80 mmHg bleibt. Diese Zunahme der Quecksilber-Manometer seit jeher zur (ursprünglich aus-
Blutdruckamplitude beruht im Wesentlichen auf einem schließlich blutigen, d. h. invasiven) Blutdruckmessung im
Elastizitätsverlust der arteriellen Blutgefäße. Tierversuch verwendet wurde. Wenn man sagt, der Blut-
Bei Arbeit bleibt der diastolische Druck etwa gleich druck sei 100 mmHg, dann heißt das nichts anderes, als
oder nimmt wenig zu, während der systolische Blutdruck dass die auf die Gefäßwände ausgeübte bzw. dort in den
und damit die Blutdruckamplitude und der mittlere elastischen Strukturen »gespeicherte« Kraft ausreicht, eine
Blutdruck ansteigen. Es werden systolische Werte bis zu Quecksilbersäule um 100 mm in die Höhe zu drücken.
200 mmHg gemessen. Beim Menschen wird im medizinischen Alltag das in
. Abb. 10.9b illustrierte Verfahren zur nichtinvasiven (un-
G Bei jungen Erwachsenen liegt der systolische Blut-
blutigen) Messung des Blutdrucks nach Riva-Rocci ange-
druck bei 120 mmHg, der diastolische bei 80 mmHg.
wandt. Details des Messverfahrens sind in der Legende
Ihre Differenz ist die Blutdruckamplitude. Im Alter
beschrieben. Der Nachteil dieser auskultatorischen Metho-
und bei körperlicher Arbeit steigt v. a. der systolische
de des Blutdruckmessens besteht in der Tatsache, dass der
Blutdruck an.
kontinuierliche (Schlag-zu-Schlag-) Blutdruck nicht ge-
messen werden kann. Gleiches gilt für die automatisierten
Messverfahren mit einer aufblasbaren Oberarm- oder einer
Handgelenkmanschette, bei denen die Druckschwankun-
196 Kapitel 10 · Blut, Herz und Kreislauf

gen in der Manschette registriert werden: Der Manschet-


tendruck wird zunächst über den systolischen Blutdruck
erhöht und anschließend langsam abgelassen. Das Auftre-
ten von pulsativen Schwankungen signalisiert den systoli-
schen, deren Verschwinden den diastolischen Druck.

Kontinuierliche nichtinvasive Blutddruck-


messung, z. B. in der Psychophysiologie
Die nichtinvasive, kontinuierliche Blutdruckmessung ist
eine der wichtigsten psychophysiologischen Methoden zur
Erfassung der kardiovaskulären Reagibilität. Es gibt dazu
verschiedene, jeweils in der einen oder anderen Hinsicht
unbefriedigende Verfahren. Als zuverlässig und wenig be-
lastend wird die Messung über FINAPRES (»finger arterial
pressure«) angesehen, bei der der Fingerarteriendruck
nichtinvasiv und kontinuierlich gemessen wird. Dabei wird
der Druck in einer aufblasbaren Fingermanschette so lange
erhöht, bis er dem systolischen Blutdruck in den Finger-
arterien entspricht. Dies erkennt das Gerät daran, dass
keine Pulswelle mehr registrierbar ist. Steigt der Blutdruck
fährt die Manschette den Druck höher, bis die Pulswelle
wieder verschwindet – und umgekehrt. Unterschiedliche
Arbeiten berichten Korrelationen zwischen FINAPRES
und dem arteriell gemessenen Blutdruck bis zur Höhe von
r=0,95. Da für das Messergebnis die relative Lage des ge-
messenen Fingers zum Herzen relevant ist, sind die absolut
10 erhaltenen Werte wenig informativ. FINAPRES dient dem-
zufolge primär der reliablen Erfassung von Veränderungen
des Blutdrucks innerhalb einer Person.
G Der Blutdruck wird meist nach der Methode von
Riva-Rocci gemessen. FINAPRES erlaubt eine kon-
tinuierliche, nichtinvasive Blutdruckmessung, z. B.
zur Erfassung der kardiovaskulären Reagibilität.

10.5.2 Herzarbeit und Herzleistung


. Abb. 10.9a, b. Messen des Blutdrucks in den großen Körper- Arbeitswerte des Herzzeitvolumens,
arterien. a Direkte (blutige) Messung mit einem Quecksilbermano-
Herzleistung
meter. Eine Kanüle ist in die Halsschlagader eines betäubten Versuchs-
tieres eingebunden. b Indirekte (unblutige) Blutdruckmessung am In Ruhe werden vom Herzen, wie in Abschn. 10.2.3 be-
Menschen nach der 1896 erstmals beschriebenen Methode von Riva- schrieben, rund 5 l Blut pro Minute gefördert. Bei leichter
Rocci (Blutdruckwerte werden daher oft mit RR bezeichnet). Eine Arbeit verdoppelt sich das Herzzeitvolumen auf rund 10 l/
Manschette um den Oberarm wird so lange aufgepumpt, bis sie die
min, bei mittlerer verdreifacht und bei schwerer verfünf-
Oberarmarterie zudrückt. Beim langsamen Absenken des Manschet-
tendrucks lässt sich mit dem Stethoskop in der Ellenbeuge hören,
facht bis versiebenfacht es sich. Das Herz pumpt dann
wann der systolische Druck gerade den Manschettendruck über- 25–35 l/min durch den Kreislauf. Das größere Herzzeitvo-
windet und etwas Blut in den Unterarm spritzt. Dieses nach seinem lumen wird über eine Vergrößerung des Schlagvolumens
Entdecker benannte Korotkov-Geräusch tritt so lange bei jedem Herz- (von 70 bis auf etwa 140 ml) und durch eine Erhöhung der
schlag auf, bis der Manschettendruck gerade unter den diastolischen
Herzfrequenz bis auf etwa 180 Schläge pro Minute erreicht,
Druck fällt; denn dann kann das Blut wieder ungehindert fließen.
Bei der Aufzeichnung in b würde ein Korotkov-Geräusch also ab dem
also z. B. bei einem Schlagvolumen von 140 ml und einer
3. Herzschlag von links einsetzen (der eingetragene Manschetten- Herzfrequenz von 180 Schlägen pro min werden vom
druck fällt dort gerade unter den systolischen Blutdruck) und 3–4 Herzen 140 ml × 180 min−1 = 25.200 ml/min = 25,2 l/min
Herzschläge später wieder verschwinden Blut gefördert.
Herzarbeit ist also nach dem bisher Gesagten in erster
Linie Druck-Volumen-Arbeit. Dazu kommt ein relativ un-
bedeutender Anteil (ca. 1%) an Beschleunigungsarbeit,
10.5 · Die Anpassung der Herzleistung an den Bedarf
197 10

da das in den Kammern während der Anspannungsphase


»ruhende« Blut bei der Austreibung auf eine Geschwindig-
keit von ca. 1 m/s beschleunigt werden muss. Die Arbeits-
leistung des Herzens errechnet sich, wie bei anderen Ma-
schinen auch, als das Produkt aus Arbeit x Zeit. Sie liegt in
der Größenordnung von 1 W (0,1 kpm/s).

Synopsis der Herzaktion im linken und rechten


Herzen
Einen Gesamtüberblick über die wesentlichen Vorgänge in
den verschiedenen Aktionsphasen des Herzens in korrekter
zeitlicher Beziehung zueinander gibt die . Abb. 10.10.
Nicht alle der dort eingezeichneten Messgrößen bzw. Vor-
gänge wurden bisher im Einzelnen diskutiert. Ihre Be-
deutung ergibt sich aber in den meisten Fällen von selbst.
Erwähnt werden sollte aber, dass sowohl die linke wie
die rechte Herzkammer sich bei Kontraktion nicht völlig
entleeren, sondern dass ein Restvolumen zurückbleibt,
das in der gleichen Größenordnung wie das Schlagvo-
lumen, also jeweils bei ca. 70 ml liegt. Das Herz ist also am
Ende der Austreibungsphase immer noch etwa »zur Hälfte«
gefüllt.
Die in . Abb. 10.10 für das linke Herz dargestellten Ak-
tionsphasen laufen in ähnlicher Weise auch am rechten
Herzen (kleiner Kreislauf oder Lungenkreislauf) ab. Wegen
des geringeren Gefäßwiderstandes im Lungenkreislauf
kommt das rechte Herz jedoch mit wesentlich kleineren
Drücken aus. In der Arteria pulmonalis beträgt der systo-
lische Druck ca. 20 mmHg, der diastolische Druck ca.
8 mmHg und der mittlere Druck ca. 13 mmHg. Da also
vom rechten Herzen sehr viel weniger Druckarbeit als vom
linken gefordert wird, ist seine Muskelwand entsprechend
dünner (. Abb. 10.3 und 10.5).

G Das Herzminutenvolumen beträgt in Ruhe 5 l/min,


bei Arbeit das bis zu 7-fache. Herzarbeit ist nahezu
ausschließlich Druck-Volumen-Arbeit. Die Volumen-
arbeit der beiden Herzkammern ist gleich, die . Abb. 10.10. Zeitliche Zuordnung einiger Messgrößen bzw. Vor-
gänge zu den Aktionsphasen des linken Herzens. 1. Anspannungs-
Druckarbeit des rechten Herzens ist jedoch viel
phase. 2. Austreibungsphase. 3. Entspannungsphase. 4. Füllungs-
geringer als die des linken. phase. Die grauen Querbalken im mittleren Teil des Diagramms
markieren die Dauer des Verschlusses der betreffenden Klappen.
Gelb unterlegte römische Zahlen kennzeichnen den 1. bis 4. Herzton.
10.5.3 Anpassung der Herzarbeit über den Der 1. Herzton besteht aus den Segmenten V, H, N (Abschn. 10.2.2)
Frank-Starling-Mechanismus

Autoregulation von Schlagvolumen


und Blutdruck Das mit konstanter Frequenz schlagende Herz kann
Die Anpassung der Herzleistung an erhöhte Anforderun- also aus sich heraus, autoregulatorisch, eine vermehrte
gen wird teils vom Herzen selbst geleistet, teils von den diastolische Füllung durch den Auswurf eines größeren
Herznerven (Abschn. 10.5.4) gesteuert. Die Selbstanpas- Schlagvolumens bewältigen. Dieser Anpassungsmecha-
sung läuft über einen ebenso einfachen wie wirkungsvollen nismus wird nach seinen Entdeckern als Frank-Starling-
Mechanismus: Wird das Herz durch einen erhöhten venö- Mechanismus bezeichnet.
sen Zustrom stärker gefüllt, so werden die Muskelfasern der Derselbe Mechanismus wird auch aktiviert, wenn das
Herzwände stärker gedehnt. Diese Dehnung führt zu einer Herz eine erhöhte Druckarbeit zu leisten hat, weil der
kräftigeren Kontraktion und damit zu einem größeren Widerstand der Kreislaufgefäße ansteigt (z. B. bei einer
Schlagvolumen. durch Nikotin verursachten Gefäßverengung). In diesem
198 Kapitel 10 · Blut, Herz und Kreislauf

Fall kann das Herz bei einer gegebenen Füllung gegen den
erhöhten Widerstand zunächst nur ein kleineres Schlag-
volumen auswerfen. Damit bleibt Schlag für Schlag mehr
Restblut im Herzen zurück, wodurch das Herz stärker
gedehnt und damit zu einer höheren Arbeitsleistung, in
diesem Fall zu höherer Druckarbeit (bei normalisiertem
Schlagvolumen) gebracht wird.

Physiologische Rolle des Frank-Starling-


Mechanismus
Da beide Herzkammern mit derselben Frequenz schlagen
und da sie mittel- bis langfristig das absolut gleiche Herz-
zeitvolumen fördern müssen (damit es nicht zu Blut-
verschiebungen zwischen dem großen und dem kleinen
Kreislauf kommt), müssen ihre Förderleistungen aufein-
ander abgestimmt werden. Diese gegenseitige Abstim-
mung der Förderleistung beider Kammern ist eine der
Hauptaufgaben des Frank-Starling-Mechanismus. Bei-
spiele für kurzfristig auftretende und anschließend aus-
zugleichende Volumenänderungen im großen oder kleinen
Kreislauf sind:
4 Änderungen der Körperstellung, z. B. Hinlegen nach
Stehen und umgekehrt, die den venösen Rückstrom be-
einflussen (im ersten Fall vorübergehend erhöhen),
4 akute Vergrößerung des zirkulierenden Blutvolumens
bei einer Blutübertragung (Transfusion),
10 4 Erhöhung des peripheren Widerstandes (wie oben be-
schrieben).

Auch bei transplantierten Herzen bleiben die autoregula-


. Abb. 10.11. Efferente Innervation des Herzens in schema-
torischen Frank-Starling-Mechanismen erhalten. Sie fallen
tischer Darstellung. Infolge der unterschiedlichen Verteilung sym-
dann wegen des Ausfalls der Herzinnervation sogar stärker pathischer und parasympathischer Efferenzen auf Vorhöfe und Ven-
ins Gewicht. trikel differieren die nervalen Wirkungen in den verschiedenen
Herzabschnitten. Die autonome Innervation ist doppelseitig angelegt,
G Dehnung der Herzkammern (durch vermehrten aber in der Abbildung ist jeweils nur eine Seite von Parasympathikus
venösen Zustrom oder erhöhtes Restblut) regt die und Sympathikus gezeigt
Arbeitsmuskulatur zu erhöhter Leistung an. Das
Herz kann sich über diesen Frank-Starling-Mecha- Sympathische Innervation
nismus autonom an wechselnde Anforderungen
Die für eine Zunahme des Herzzeitvolumens notwendige
anpassen.
Erhöhung der Herzfrequenz (positiv-chronotrope Wir-
kung) wird durch die sympathischen Herznerven bewirkt
10.5.4 Anpassung der Herzarbeit (. Abb. 10.11, Kap. 6). Diese setzen bei ihrer Erregung den
über die Herznerven Überträgerstoff Noradrenalin frei, der das Schrittmacher-
potenzial versteilert und damit schneller an die Schwelle
Afferente Innervation für ein Aktionspotenzial heranführt.
Die sensible (afferente) Innervation des Herzens dient zum Das Noradrenalin hat noch eine zweite wichtige Wir-
ersten dazu, mit Hilfe von Mechanosensoren (Abschn. kung auf das Herz: Es erhöht die Kraft der Kontraktion
15.1.3), deren afferente Nervenfasern im Vagusnerven (7 (positiv inotrope Wirkung). Diese erhöhte Kontraktions-
unten) laufen, die Dehnung der Herzvorhofwände, also die kraft kann sowohl zur Erhöhung des Schlagvolumens als
Füllung der Vorhöfe zu messen (diese Information wird bei auch des Blutdrucks genutzt werden.
der Kreislaufregelung verwendet). Zum zweiten ist das ge- Als Mechanismus der positiv inotropen Wirkung des
samte Herz mit Nozisensoren versorgt (Abschn. 16.2.1), Sympathikus und seiner Überträgerstoffe Noradrenalin
deren Afferenzen in den sympathischen Herznerven ver- und (in geringer Menge) Adrenalin wird eine Verstärkung
laufen. Sie sind für die Übermittlung von Herzschmerzen des langsamen Ca2+-Einwärtsstroms während der Plateau-
(Angina pectoris) verantwortlich. phase der Herzaktionspotenzials (Erhöhung der Ca2+-Leit-
10.5 · Die Anpassung der Herzleistung an den Bedarf
199 10

fähigkeit) angesehen. Sie erklärt die Steigerung der Kon-


traktionskraft durch Intensivierung der elektromechani-
schen Kopplung (Abschn. 10.3.3).

Parasympathische Innervation
Die Gegenspieler der sympathischen, frequenzsteigernden
Herznerven sind die parasympathischen Herznervenfasern
des Vagusnerven (in . Abb. 10.11 grün eingezeichnet). Ihre
Überträgersubstanz, das Azetylcholin, senkt die Herz-
frequenz durch Abflachung des Schrittmacherpotenzials
(negativ-chronotrope Wirkung).
Tatsächlich ist es normalerweise in Ruhe (also wenn
der Organismus keine Arbeit leistet) so, dass der Einfluss
der parasympathischen Herznerven überwiegt. Schneidet
man nämlich im Tierexperiment alle Herznerven durch
(oder verhindert man die Wirkung ihrer Überträgersubs-
tanzen durch entsprechende »blockierende« Pharmaka),
steigt die Ruheherzfrequenz an. Das Herz ist also in Ruhe
unter dem dauernden dämpfenden Einfluss der vagalen, . Abb. 10.12a, b. Arbeitsweise des trainierten und des untrai-
parasympathischen Herznerven. nierten Herzens. a Schema zur Veranschaulichung des Sportherzens
(nach Linzbach). Das Herz wird größer, weil die einzelnen Herzmuskel-
G Die sensible Innervation des Herzens dient teils der zellen an Dicke und Länge zunehmen. b Abnahme der Herzfrequenz
Messung der Vorhoffüllung (über Mechanosenso- (rote Kurve und rotes Koordinatensystem mit den rechten Ordinaten-
ren, Afferenzen im Vagus), teils der Übermittlung werten) und des systolischen Blutdrucks (blau, linke Ordinatenskala)
von Herzschmerzen (über Nozizeptoren, Afferenzen bei einem Leistungssportler im Verlauf einer viermonatigen
zusätzlichen Trainingsperiode
im Sympathikus). Die efferente sympathische
Innervation wirkt positiv-chronotrop und inotrop,
die parasympathische hauptsächlich negativ-
chronotrop.
Schlagvolumen entsprechend zunimmt. Auch bei einem
schon vortrainierten Dauerleistungssportler sinkt im
10.5.5 Optimierung der Herzarbeit Verlauf einer Trainingsperiode die Herzfrequenz noch
durch Ausdauertraining über Monate langsam ab (rote Kurve in . Abb. 10.12b).
Zusätzlich sinken bei Ausdauertraining der systolische
Günstigster Arbeitsbereich des Herzens und damit auch der mittlere Blutdruck (blaue Kurve in
Auf den ersten Blick erscheint es gleichgültig, ob eine be- . Abb. 10.12b). Die Druckarbeit des Herzens wird durch
stimmte Auswurfleistung des Herzens von einem langsam Ausdauertraining daher ebenfalls geringer.
schlagenden Herzen mit einem hohen Schlagvolumen oder, Eine Abnahme der Herzfrequenz bedeutet auch, dass
umgekehrt, von einem schnell schlagenden Herzen mit ent- die Diastole (Erschlaffungs- und Füllungszeit) relativ zur
sprechend kleinem Schlagvolumen gefördert wird. Der Systole (Anspannungs- und Kontraktionszeit) immer
Energieverbrauch des Herzens ist aber im ersten Fall we- länger wird. Die Durchblutung des Herzmuskels wird da-
sentlich geringer als im zweiten. Mit anderen Worten, im durch entscheidend verbessert, denn nur während der
Herzen ist der Wirkungsgrad für ein gegebenes Herzzeitvo- Diastole kann Blut durch die Kapillaren zwischen den
lumen umso besser, je geringer die Frequenz und je höher Herzmuskelfasern fließen. Während der Systole werden die
das Schlagvolumen ist. Es ist also energetisch am günstigs- Kapillaren dagegen durch die Kraft der Kontraktion prak-
ten, immer mit einer möglichst geringen Herzfrequenz zu tisch völlig zusammengepresst. Zum höheren Wirkungs-
arbeiten. grad kommt bei niedriger Herzfrequenz also noch der Vor-
teil eines durch die erhöhte Durchblutung verbesserten
Wirkung von Ausdauertraining Angebots.
Ausdauertraining (Langlauf, Skilanglauf, Fahrradwan- Alle diese Vorteile des trainierten gegenüber dem un-
dern etc.) vergrößert das Herz. Ein ausgeprägtes Sportherz trainierten Herzen werden bei der Rehabilitation von Herz-
wiegt etwa 500 g, das Herz eines untrainierten Erwachse- Kreislauf-geschädigten Patienten systematisch und oft mit
nen, wie in Abschn. 10.2.1 schon erwähnt, etwa 300 g großem Erfolg auszunutzen versucht. Das Ausdauertrai-
(. Abb. 10.12a). Je größer das Herz durch Training wird, ning kann dabei pharmakologisch unterstützt (z. B. durch
desto geringer wird seine Frequenz bei Ruhe (. Abb. 10.13a) herzfrequenz- und blutdrucksenkende Mittel), aber nicht
und bei körperlicher Arbeit (. Abb. 10.13b), während sein ersetzt werden.
200 Kapitel 10 · Blut, Herz und Kreislauf

10.6 Akute Anpassung des Kreislaufs


an den Bedarf
10.6.1 Arterielle und venöse Kreisläufe
im Überblick

Blutvolumina in Körper- und Lungenkreislauf


Diese beiden Teilkreisläufe sind in . Abb. 10.14a schematisch
dargestellt. Das Gesamtblutvolumen von rund 5 l (Ab-
schn. 10.1.1) ist auf die beiden Kreisläufe verteilt, wobei über
die Hälfte des Blutes sich in deren Venen findet, nur knapp
ein Fünftel in den großen Körper- und Lungenarterien und
der Rest in den Kapillaren und in den Herzhöhlen.
Von der Hauptschlagader des Körpers, der Aorta, zwei-
gen sich zahlreiche Arterien ab, um die verschiedenen Teil-
kreisläufe des Organismus zu versorgen. Wie diese Vertei-
lung des Blutstromes auf die einzelnen Organe bei einem
. Abb. 10.13a, b. Schlagfrequenzen des Herzens in Ruhe und ruhenden Organismus aussieht, zeigt die linke Kolumne
bei Belastung in Abhängigkeit vom Geschlecht und vom Trainings- der . Abb. 10.14b. Es fällt auf, dass unter diesen Bedingun-
zustand. a Das Verhalten der Ruheherzfrequenz mit zunehmender
gen die Skelettmuskulatur, die 40–50% des Körpergewichts
Sportherzbildung bei Männern ( ) und bei Frauen ( ). Die Herz-
größen beziehen sich auf das mit Blut gefüllte Herz. b Das Verhalten
ausmacht (Abschn. 13.1.1), nur rund ein Fünftel des Blut-
der Herzfrequenz bei leichter körperlicher Arbeit (100 Watt pro stromes in Anspruch nimmt, nicht mehr als die Nieren, die
Minute) mit zunehmender Sportherzbildung bei Männern und bei beide zusammen nur 300 g wiegen und doch von 20% des
Frauen Ruhe-Herzminutenvolumens, also von rund 1 l Blut pro
Minute, durchflossen werden (Abschn. 12.3.1).

10 G Bei großem Schlagvolumen und geringer Herz- G Das Blut verteilt sich auf 2 Teilkreisläufe, den Körper-
frequenz hat das Herz seinen besten Wirkungsgrad. und den Lungenkreislauf, wobei die Venen das meis-
Ein regelmäßiges, lebenslängliches Ausdauertrai- te Blut enthalten. Die Verteilung des Herzzeitvolu-
ning hält das Herz in Ruhe und Arbeit im optimalen, mens auf die einzelnen Organkreisläufe ist sehr
niederfrequenten Arbeitsbereich. unterschiedlich.

Box 10.3. Signifikante Senkung von Herz-Kreislauf-Komplikationen ohne Verlust von Lebensqualität

Eine 3,8 Jahre dauernde internationale Studie (Hyperten- einer kardiovaskulären Komplikation (Schlaganfall, Herzin-
sion Optimal Treatment Study, HOT Study) an etwa 19.000 farkt etc.) zu erkranken oder daran zu sterben, um 30% zu
Patienten (aus 26 Ländern) mit chronisch erhöhtem Blut- reduzieren. Der dafür optimale diastolische Blutdruck lag
druck (medizinische Diagnose: essenzielle Hypertonie, bei ungefähr 83 mmHg (der systolische Druck lag nach
Abschn. 10.7.3) hatte zum Ziel, den diastolischen Blut- der Behandlung im Schnitt bei 139 mmHg). Eine weitere
druck dieser Patienten vom durchschnittlichen Aus- Senkung des Blutdrucks brachte keine weitere Risikoab-
gangswert von 105±4,7 mmHg auf Werte unterhalb von nahme, aber auch keine -zunahme. Diese und andere Stu-
90 mmHg zurückzuführen (der systolische Wert lag vor dien haben die Deutsche Hochdruckliga zu der Empfeh-
der Behandlung im Durchschnitt bei 160 mmHg). Die lung geführt, in jedem Lebensalter, auch im höheren, den
Behandlung war rein pharmakologisch (zur Verhaltens- Blutdruck auf Werte von 140/90 mmHg, bei Selbstmes-
therapie Box 10.4), beginnend mit einem Kalzium-Anta- sung besser noch auf 135/85 mmHg zu senken. Die HOT-
gonisten (schwächt die Kraft der Kontraktion des Herz- Studie hat gezeigt, dass dies fast immer möglich ist1. Ein
muskels, Abschn. 10.3.3) und eventueller Gabe eines weiteres wichtiges Ergebnis war, dass die Lebensqualität
oder zweier weiterer blutdrucksenkender Mittel, wie der Patienten durch die Therapie eher zu- als abnahm2.
β-Blocker (reduzieren die Sympathikuswirkung), ACE- Literatur: 1Hannsson L, Zanchetti A, Carruthers SG et al, for the HOT
Hemmer (blocken die Umwandlung von Renin in Angio- Study Group (1998) Benefits of intensive blood pressure lower-
tensin, . Abb. 10.19; Angiotensin-Rezeptorantagonisten ing and acetylsalicylic acid in hypertensive patients. Lancet
351:1755–1762
wurden noch nicht eingesetzt) oder Diuretika (zur Sen- 2
Wiklund I, Halling K, Ryden-Bergsten T et al (1997) Does lowering
kung des intravasalen Volumens, . Abb. 10.20). In der the blood pressure improve the mood? Quality-of-life result
Studie gelang es, bei 89% der Patienten den diastolischen from the Hypertension Optimal Treatment (HOT) Study. Blood
Blutdruck ≤90 mmHg zu senken und damit das Risiko, an Pressure 6:357–364
10.6 · Akute Anpassung des Kreislaufs an den Bedarf
201 10

. Abb. 10.14a, b. Die wichtigsten Organkreisläufe (Teilkreis- arterien venöses, die Lungenvenen arterielles Blut enthalten. b Pro-
läufe) des Menschen und die Verteilung des Herzzeitvolumens zentualer Anteil der verschiedenen Organkreisläufe am Herzzeit-
in Ruhe und bei Arbeit. a Lungenkreislauf (kleiner Kreislauf ) und volumen in Ruhe (links) und bei Arbeit (rechts). Beachte bei der
Organkreisläufe des Körperkreislaufs (großer Kreislauf ) in schema- Bewertung, dass das Herzzeitvolumen bei Arbeit erheblich ansteigt,
tisierter Darstellung. Die Gefäßabschnitte mit sauerstoffgesättigtem, so dass eine prozentuale Verminderung also durchaus mit einer kon-
arteriellem Blut sind rot, die Gefäßabschnitte mit teilweise entsättig- stanten oder wenig verminderten Durchblutung einhergehen kann
tem, venösem Blut sind blau gezeichnet. Beachte, dass die Lungen-

Flusswiderstände und Druckverteilung und Kapillaren sinkt der Blutdruck rasch ab. Das rechte
in Körper- und Lungenkreislauf Herz baut anschließend in den Lungenarterien einen systo-
Durch die großen Gefäße fließt das Blut leicht hindurch. lischen Druck von etwa 20 mmHg auf, der während der
Die dünnen Arterien, besonders die präkapillären Arterio- Diastole auf etwa 10 mmHg abfällt. Dieser Druck wird bei
len, setzen aber wegen ihres kleinen Durchmessers dem der Überwindung des Strömungswiderstandes in den Lun-
Blutstrom einen großen Widerstand entgegen, der nur genarteriolen und -kapillaren fast völlig verbraucht. In den
durch einen entsprechend hohen Blutdruck auf der arte- großen Lungen- wie Körpervenen liegt der Druck also je-
riellen Seite überwunden werden kann. Dieser Druck liegt weils nur noch wenige mmHg über Null.
im Körperkreislauf, wie in Abschn. 10.5.1 beschrieben, im
G Der Blutdruck dient zur Überwindung der Fluss-
Mittel bei 100 mmHg. Im Lungenkreislauf wird dagegen
widerstände im Kreislauf. Der größte Widerstand
aus den in Abschn. 10.5.2 genannten Gründen nur ein mitt-
liegt in den dünnen Arteriolen. Der Gesamtwider-
lerer Blutdruck von 13 mmHg benötigt, um das Blut durch
stand des Lungenkreislaufs ist wesentlich kleiner
die Lungengefäße zu drücken.
als der des Körperkreislaufs. Entsprechend weniger
Die aus den stark unterschiedlichen Gefäßwiderstän-
Druck wird benötigt.
den sich ergebende Druckverteilung im Gesamtkreislauf
ist in . Abb. 10.15 zu sehen: Der Druck in der linken Herz-
kammer schwankt zwischen nahezu 0 mmHg (Füllung des Strömungsgeschwindigkeiten in Körper- und
Herzens in der Diastole) und 120 mmHg (Systole), der in Lungenkreislauf
der Aorta und den Arterien zwischen dem systolischen und Die Strömungsgeschwindigkeiten der einzelnen Kreis-
dem diastolischen Wert (120/80 mmHg). In den Arteriolen laufabschnitte sind ebenfalls in . Abb. 10.15 dargestellt. Es
202 Kapitel 10 · Blut, Herz und Kreislauf

(Abschn. 10.5.3), wird der kürzere Weg durch die längere


Flusszeit ausgeglichen.
G Die Strömungsgeschwindigkeit des Blutes ist umso
langsamer, je größer der Gesamtquerschnitt des jewei-
ligen Kreislaufabschnitts ist. Es strömt am schnellsten
in der Aorta und am langsamsten in den Kapillaren.

10.6.2 Lokale Modulation


der Organdurchblutung

Einfluss des Gefäßdurchmessers auf die


Durchflussmenge
Benötigt ein Organ, z. B. ein Muskel bei Arbeitsaufnahme,
mehr Sauerstoff und mehr Nährstoffe, muss seine Organ-
durchblutung zunehmen. Dazu kann entweder der arterielle
Blutdruck ansteigen oder der Gefäßwiderstand abneh-
men. Die Erhöhung des Blutdrucks ist nur beschränkt hilf-
reich: Erstens würde damit die Durchblutung aller Organe
zunehmen, und zweitens müsste der Blutdruck schon auf
das Doppelte gesteigert werden (also auf 240/160 mmHg),
um eine Verdopplung der Durchblutung zu erreichen.
Eine Abnahme des Durchflusswiderstandes über eine
Erweiterung der lokalen Gefäße, insbesondere der Arte-
riolen, wird dagegen, wie . Abb. 10.16a zeigt, zu großen
Änderungen der Durchblutung führen. Wird nämlich der
. Abb. 10.15. Schematische Darstellung der Beziehungen Radius (Halbmesser) eines Gefäßes verdoppelt, so strömt
10 zwischen Gesamtquerschnitt (grüne ausgezogene und ge- bei konstant gehaltenem Druck 16-mal soviel Blut in einer
strichelte Kurven, rechte Ordinate), Blutdruck (blau, linke, obere
Zeiteinheit hindurch; wird der Radius vervierfacht, sogar
Ordinate) und mittlerer linearer Strömungsgeschwindigkeit (rot,
linke untere Ordinate) im Herz-Kreislauf-System. Oben sind die 256-mal soviel. Dieser Zusammenhang, dass nämlich die
aufeinander folgenden Kreislaufabschnitte, beginnend mit dem linken Durchflussmenge von der vierten Potenz des Radius (r4)
Vorhof, hintereinander angeordnet. Abschnitte mit sauerstoffreichem, abhängt, ist als das Gesetz von Hagen-Poiseuille bekannt.
arteriellem Blut sind rot aufgerastert, die mit sauerstoffarmen, venösen Festzuhalten bleibt, dass die Änderung des Durch-
Blut erscheinen hellblau. In den Kapillaren sinkt die Strömungsge-
messers der Arteriolen (und auch der anderen, etwas
schwindigkeit bis auf 0,05–0,03 cm/s ab (unterer Bildrand). Der Durch-
messer der Aorta liegt bei 4 cm2, der der Pulmonalarterien bei 6 cm2 dickeren Arterien) die entscheidende Maßnahme ist, mit
der die Durchblutung der einzelnen Organe an den jewei-
ligen Bedarf angepasst werden kann.
gibt nur eine Hauptschlagader, die Aorta. Sie hat einen
G Nach Hagen-Poiseuille hängt der Flusswiderstand
Querschnitt von etwa 4 cm2. Dagegen teilen sich die Arte-
eines Gefäßes von der 4. Potenz seines Radius ab.
riolen und Kapillaren schließlich in so zahlreiche Äste
Änderungen der Gefäßweite, v. a. der Arteriolen,
auf, dass sie sich zu einem Gesamtquerschnitt von über
sind daher am besten zur Anpassung des regionalen
3000 cm2 addieren. Entsprechend nimmt die Strömungs-
Blutangebots an den aktuellen Bedarf geeignet.
geschwindigkeit bis auf 0,05 cm/s ab. Auch in den kleinen
Venen, den Venolen, in die die Kapillaren münden, ist die
Strömungsgeschwindigkeit wegen ihres großen Gesamt- Autoregulation der Durchflussmenge
querschnittes noch sehr gering. Erst in den großen Venen, bei Arteriolen (Bayliss-Effekt)
die zum rechten Vorhof ziehen, steigt die Strömungsge- Die eben beschriebene, starke Abhängigkeit der Durch-
schwindigkeit wieder auf Werte bis zu 10 cm/s an. flussmenge vom Gefäßdurchmesser könnte bei abrupten
Im Lungenkreislauf sind die entsprechenden Strömungs- Blutdruckänderungen zur Aufdehnung der Gefäßwand
geschwindigkeiten wegen des großen Gesamtquerschnittes und einer beträchtlichen Zunahme des Blutflusses führen.
der jeweiligen Gefäße alle etwas geringer (. Abb. 10.15, Dies wird dadurch verhindert, dass die Aufdehnung der
rechte Hälfte). Andererseits ist der Gesamtweg des Lungen- Gefäßwand für die dort liegenden glatten Muskelfasern als
kreislaufs kürzer als der des Körperkreislaufs. Da die Um- Kontraktionsreiz wirkt, die daraufhin ihren Spannungs-
wälzzeiten in Körper- und Lungenkreislauf wegen der Ge- zustand oder Tonus erhöhen und damit der Gefäßerweite-
schlossenheit des Gesamtkreislaufs identisch sein müssen rung entgegen wirken. Diese myogene Antwort, die Bayliss-
10.6 · Akute Anpassung des Kreislaufs an den Bedarf
203 10

. Abb. 10.16a, b. Anpassung des Kreislaufs an den Bedarf. Organe des Körpers in Ruhe (hellrote Säulen) und bei maximaler Er-
a Kleine Veränderungen des Halbmessers r der Arteriolen führen zu weiterung der versorgenden Gefäße (dunkelrote Säulen). Die Durch-
dramatischen Änderungen des Gefäßwiderstandes und damit (bei blutung ist in ml Blut/100 g Gewebe/Minute (ml/100 g min) ange-
konstantem Blutdruck) der Durchblutung. b Durchblutung wichtiger geben

Effekt genannt wird, ist der Grundmechanismus für die Abstimmung der lokalen Durchblutung
Autoregulation der Organdurchblutung, mit der in vielen auf den Bedarf
Organen, v. a. in den Nieren (Abschn. 12.3.1) und im Ge- Auf die eben geschilderte Weise steuert sich die lokale
hirn, die Durchblutung unabhängig von Blutdruckschwan- Durchblutung bedarfsabhängig selbst. Daneben bietet die
kungen weitgehend konstant gehalten wird. nervöse Kontrolle die Möglichkeit einer übergreifenden,
auch das Ganze berücksichtigenden Steuerung: So wird bei
Lokale Modulation der Gefäßweite durch hoher Muskelarbeit die Darmdurchblutung weitgehend ge-
Sympathikus, Metabolite, Hormone und NO hemmt, um das Herz nicht zu überlasten, oder es wird bei
Wenn notwendig kann der Tonus der Gefäßwand der Arte- Fieber die Hautdurchblutung zur Wärmeabfuhr gesteigert.
riolen und damit der Gefäßdurchmesser durch lokale ner- Zwischen welchen Extremwerten sich die Organdurch-
vöse und andere Einflüsse verändert werden. Wichtig sind: blutung verändern kann, ist in . Abb. 10.16b illustriert (vgl.
4 Einmal die sympathischen Gefäßnerven, die die glat- dazu auch . Abb. 10.14b, rechte Säule). Die Länge der hell-
ten Muskelfasern innervieren. Ihre Entladungsraten roten Säulen gibt an, wie viele Milliliter Blut durch je 100 g
bestimmen die jeweilige Tonuslage der Gefäßwand des betreffenden Gewebes pro Minute in Ruhe fließen; die
(hohe Entladungen führen zu maximaler Vasokonstrik- dunkelroten Säulen zeigen, auf welche Werte die Durchblu-
tion, Reduktion der Entladungen zur Vasodilatation, tung bei maximaler Dilatation zunehmen kann.
. Abb. 6.7 in Abschn. 6.3.1). Bemerkenswert ist, dass in den Gefäßgebieten mit stark
4 Zum zweiten wirken eine Reihe von Stoffwechsel- wechselnden funktionellen Anforderungen (Muskulatur,
produkten (Metabolite), die im Gewebe bereits unter Magen-Darm-Trakt, Leber, Haut) die relativ größten
Ruhebedingungen und verstärkt während vermehrter Durchblutungsänderungen (vgl. Verhältnis der hell- zu den
Tätigkeit der Organe anfallen, z. B. Milchsäure und dunkelroten Säulenanteilen) auftreten können, d. h. diese
CO2, vasodilatierend. Organe können ihre Durchblutung auf das Mehrfache des
4 Der Tonus der peripheren Gefäße wird auch von zirku- Ruhewertes steigern.
lierenden Hormonen (z. B. den Katecholaminen und Demgegenüber wird die Durchblutung von Organen mit
von dem unten dargestellten Renin-Angiotensin-Sys- ständig hohen, aber relativ weniger stark wechselnden Anfor-
tem) beeinflusst. derungen durch spezielle Regulationsmechanismen weitge-
4 Schließlich wird aus den Wandzellen der Arteriolen, hend konstant gehalten und innerhalb bestimmter Grenzen
den Endothelzellen, kontinuierlich Stickstoffmonoxid sogar von stärkeren Änderungen des arteriellen Drucks und
(NO) freigesetzt, das stark vasodilatierend wirkt. des Herzzeitvolumens nur wenig beeinflusst. Dies gilt v. a. für
die Nieren (maximale Durchblutung kaum über der Ruhe-
G Die Weite der Arteriolen wird durch den myogenen durchblutung), im geringeren Ausmaß auch für das Gehirn.
Gefäßtonus vorgegeben. Dieser wird v. a. in Nieren
und Gehirn autoregulatorisch konstant gehalten. G Die Durchblutung der Organe richtet sich einmal
Wenn und wo notwendig, lässt sich die Gefäßweite nach deren mehr oder weniger wechselnden lokalen
durch die sympathischen Gefäßnerven sowie durch Bedürfnissen, zum anderen nach der Gesamtsitua-
Metabolite, Hormone und NO verändern. tion des Organismus, da die Förderkapazität des
Herzens beschränkt ist.
204 Kapitel 10 · Blut, Herz und Kreislauf

10.6.3 Reflektorische Anpassung Halsarterien wird fortlaufend über spezielle Druckaufneh-


des Kreislaufs an den Bedarf mer in den Arterienwänden, genannt Barosensoren (syno-
nym: Barorezeptoren, Pressorezeptoren, Pressosensoren)
Blutdruck als Sollwert der akuten gemessen und nach zentral gemeldet. In den Kreislaufzen-
Kreislaufregulation tren des Hirnstammes (Abschn. 6.4.1) werden anhand
Eine Erhöhung der Durchblutung eines einzelnen Muskels dieser Information die Arbeitsleistung des Herzens (Fre-
wird den zentralen Blutdruck nicht messbar verändern. quenz, Schlagvolumen und Kraft der Kontraktion) und die
Werden aber bei körperlicher Arbeit große Muskelgruppen Weite der Gefäße so gesteuert, dass der normale mittlere
über eine Weitstellung der Arteriolen stärker durchblutet, Blutdruck aufrechterhalten bleibt.
fließt zwischen 2 Herzschlägen deutlich mehr Blut aus der Sinkt also beispielsweise der Blutdruck durch einen ver-
Aorta und den anderen großen Arterien ab. Folglich sinkt mehrten Blutabfluss aus der Aorta ab, so wird
der diastolische Blutdruck auf einen niedrigen Wert. Wirft 4 das Herz über die sympathischen Herznerven zu ver-
das Herz nicht alsbald mehr Blut aus, werden auch der sys- mehrter Leistung angeregt (Abschn. 10.5.4).
tolische Druck und damit der arterielle Mitteldruck ab- 4 Gleichzeitig wird die Durchblutung der ruhenden
sinken. Auf diese Weise würde die Blutversorgung der Ge- Organe durch Vasokonstriktion eingeschränkt (Ab-
webe sehr schnell abnehmen und schließlich zusammen- schn. 10.6.2).
brechen. Jede deutliche Zunahme des Blutbedarfs in der 4 Ferner wird über eine Vasokonstriktion aller Venen ein
Peripherie muss also von einer Steigerung des Herzzeitvo- Teil des dort vorrätigen Blutes (Abschn. 10.6.1) dem
lumens begleitet sein, damit der Blutdruck aufrechterhal- Herzen zur sofortigen Erhöhung des Herzzeitvolumens
ten bleibt. Für diese Aufgabe steht eine Reihe von Reflex- (Frank-Starling, Abschn. 10.5.3) zugeschoben.
systemen zur Verfügung.
Diese 3 Maßnahmen werden bei Übergang in körperliche
Arbeitsweise der Barorezeptorreflexe Aktivität normalerweise schon vor einem Abfall des Blut-
Die wichtigsten reflektorischen Anpassungsvorgänge des druckes vorbeugend in Gang gesetzt. Dies geschieht da-
Kreislaufs an wechselnde Belastungen sind in . Abb. 10.17 durch, dass die motorischen Zentren des Gehirns den
zusammengefasst: Der Blutdruck in der Aorta und in den Kreislaufzentren Kopien ihrer Befehle (Efferenzkopien) an
10

. Abb. 10.17. Arbeitsweise des Karotissinusreflexes zur Konstant- ab (linke Säule), wird von dort die Aktivität der Vagusnerven gedros-
haltung des mittleren Blutdruckes bei wechselnden Belastungen. selt, die der sympathischen Nerven gesteigert. Herzfrequenz, Kraft
Die Drucksensoren (Barosensoren) in den Wänden der Aorta und der der Kontraktion und peripherer Gefäßwiderstand steigen an, damit
Halsschlagadern (besonders in einem Gabelungsbereich, dem Karotis- auch der Blutdruck. Bei erhöhtem Blutdruck (rechte Säule) ist es um-
sinus, daher der Name des Reflexes) melden fortlaufend über elektri- gekehrt. Die mittlere Säule zeigt die Verhältnisse bei ruhendem, un-
sche Impulse (Aktionspotenziale) im Karotissinusnerven den mittleren belastetem Kreislauf
Blutdruck an die Kreislaufzentren im Hirnstamm. Sinkt der Blutdruck
10.7 · Mittel- und langfristige Regulation des Kreislaufs
205 10

die Muskulatur übersenden und sie damit über die bevor- stamm zu einer vorübergehenden Hemmung auch der da-
stehende Arbeitsaufnahme unterrichten. rüber liegenden Hirnstrukturen führt.
G Die überregionale, akute Anpassung des Kreislaufs »Erlernen« eines Bluthochdrucks über
an den Bedarf geschieht reflektorisch. Die von den Barorezeptoraktivierung
Barorezeptoren gelieferte Blutdruckinformation
Personen, die ein erhöhtes genetisches Risiko für die Ent-
wird in den Kreislaufzentren des Hirnstamms aus-
wicklung von Bluthochdruck aufweisen und starkem chro-
gewertet und in Steuerbefehle an Herz und Gefäß-
nischen Stress ausgesetzt sind, zeigen diesen Mechanismus in
system umgesetzt. Ziel ist, den Blutdruck im Norm-
verstärktem Maße. Offensichtlich »setzen« sie ihn unbe-
bereich zu halten.
wusst, reflexhaft, zur Abwehr von unangenehmen Ereignis-
sen ein. Je besser ihnen dies »gelingt«, umso eher entwickeln
10.6.4 Wirkung der Barorezeptoraktivität solche Personen einen Bluthochdruck. Die Erhöhung des
auf die Hirnaktivität Drucks wird durch ihren Effekt, die Beseitigung von Belas-
tung, verstärkt (Gesetz des Effekts in der Lernpsychologie,
Induktion von motorischer Inaktivität, Schlaf Kap. 24). Dies ist ein gutes Beispiel für die verhaltensge-
und kortikaler Hemmung steuerte Veränderung eines physiologischen Reflexes.
Wenn man bei wachen Tieren durch Dehnung eines (über
einen Katheter chronisch implantierten) Gummiballs im G Stimulation der Barosensoren führt auch zu zentral-
Karotissinus die Entladungsrate der Barosensoren stark nervöser Hemmung und damit zur Abnahme des
erhöht, so führt dies zu motorischer Inaktivität und Schlaf. Muskeltonus, zum Anstieg von Wahrnehmungs-
Dieser Befund erinnert daran, dass Anthropologen bei schwellen und evtl. zu Schlaf; die Entstehung einer
Naturvölkern Techniken der Halsmassagen beschrieben Bluthochdruckerkrankung kann über diesen Mecha-
haben, mit denen Beruhigung und Schlaf erreicht wurden. nismus begünstigt werden.
Experimentell lässt sich beim Menschen durch Anle-
gen einer elastischen Halsmanschette, in der über Ventile
ein Unterdruck (»Saugen«) am Karotissinus erzeugt wird, 10.7 Mittel- und langfristige
ebenfalls eine verstärkte Aktivität der Barorezeptoren er- Regulation des Kreislaufs
zeugen (. Abb. 10.18). Dabei zeigen sich im EEG und den
evozierten Potenzialen der Hirnrinde deutliche Zunahmen 10.7.1 Mittelfristige Regulationen
von Hemmung, d. h. das EEG wird verlangsamt und die
Potenzialamplituden, v. a. bei schmerzhaften oder unange- Aufgaben der mittel- und langfristigen
nehmen Reizen nehmen ab. Gleichzeitig werden die dar- Blutdruckregulation
gebotenen Reize als weniger intensiv erlebt. Dies bedeutet, Neben dem in Abschn. 10.6.3 geschilderten nervösen Blut-
dass die Aktivierung der retikulären Vaguskerne im Hirn- druck-Kontrollsystem benötigt der Körper aber auch eine

. Abb. 10.18. Auswirkungen der Mani-


pulation der Barorezeptoren auf die kon-
tingente negative Variation (CNV, nega-
tive kortikale Gleichspannungsverschie-
bung) und die Herzfrequenz (HF). Auf der
linken Seite der Abbildung wird die Baro-
rezeptorenaktivität durch Infusion eines
den sympathischen Tonus erhöhenden
Medikaments angeregt. Man erkennt, dass
die negativen kortikalen Gleichspannungs-
verschiebungen, die ein Indikator kortikaler
Mobilisierung sind, nach Infusion reduziert
sind. Noch deutlicher ist der Effekt der Baro-
rezeptorenaktivität bei mechanischer
Reizung des Karotissinus. Innerhalb von
500 ms kommt es an der Hirnrinde zu einer
starken Hemmung, sichtbar an der nach
positiv verlaufenden CNV der langsamen
Gleichspannungsverschiebungen des EEG
(Kap. 21)
206 Kapitel 10 · Blut, Herz und Kreislauf

mittel- bis langfristig arbeitende Blutdruckkontrolle, die


seinen mittleren Blutdruck über das ganze Leben möglichst
konstant hält. Dazu ist es zusätzlich unbedingt notwendig,
das Blutvolumen jederzeit in einem angemessenen Ver-
hältnis zur Volumenkapazität, also zum »Fassungsver-
mögen« der Blutgefäße zu halten.
Die 3 mittelfristigen Regulationsmechanismen wirken
im Minuten- bis Stundenbereich. Es handelt sich um
4 das Renin-Angiotensin-System, das v. a. bei einem
plötzlichen Abfall des Blutdruckes wirksam wird,
4 die Stressrelaxation der Gefäße, die Zunahmen der Ge-
fäßvolumina abpuffert, und
4 transkapilläre Volumenverschiebungen durch verän-
derte Fließgleichgewichte bei der transkapillären Filtra-
tion und Reabsorption.

Die langfristigen Regulationsmechanismen regeln das


extrazelluläre Volumen und damit die Füllung des Gefäß-
systems, d. h. v. a. den zentralen Venendruck. . Abb. 10.19. Aktivierung des Renin-Angiotensin-Systems (RAS)
zur mittelfristigen Blutdruckregelung bei einer Blutdrucksenkung
Renin-Angiotensin-System (RAS) (z. B. durch Blutverlust). Die Blutdrucksenkung führt zu einer Minder-
durchblutung der Nieren. Dies bewirkt dort die Freisetzung des Renins.
Jede Minderdurchblutung der Niere löst dort die Freiset-
Die Abfolge der anschließenden Reaktionen ist im Text beschrieben.
zung des Enzyms Renin aus. Dieses wandelt ein im Blut Nicht gezeigt ist, dass durch Angiotensin II auch das sympathische
zirkulierendes Globulin, das Angiotensinogen, in das Nervensystem aktiviert und erheblicher Durst ausgelöst wird
Peptid Angiotensin I um (. Abb. 10.19). Dieses wird durch
ein weiteres Enzym (v. a. im Lungenkreislauf) in das Peptid
10 Angiotensin II überführt. Letzteres löst sehr starke, direkte Eigenschaften helfen mit, dass selbst bei größeren Volumen-
vasokonstriktorische Reaktionen an Arterien und in ab- zu- oder -abnahmen die Drücke im Verlauf von 10–60 min
geschwächter Form auch an Venen aus. Gleichzeitig wird wieder in den Normbereich zurückkehren.
durch Angiotensin das gesamte sympathische Nervensys-
tem aktiviert, was ebenfalls vasokonstriktorisch wirkt. Da- Transkapilläre Volumenverschiebungen
mit steigt der totale periphere Widerstand an, wodurch in Bei Erhöhung des Blutdruckes und damit des effektiven
Folge der Blutdruck ansteigt. Filtrationsdruckes in den Kapillaren (Abschn. 10.1.2) wird
Der Renin-Angiotensin-Mechanismus trägt bei patho- eine vermehrte Filtration in den interstitiellen Raum be-
logisch erniedrigtem Blutdruck und bzw. oder bei reduzier- wirken, dass das intravasale Volumen abnimmt. Diese Ver-
tem Blutvolumen wesentlich zur Normalisierung der Kreis- schiebung von Flüssigkeit aus dem Gefäßsystem in das Ge-
lauffunktionen bei. Er erreicht seine volle Wirksamkeit websinterstitium reduziert den venösen Rückfluss (das
nach etwa 20 min. Die Freisetzung von Renin und das Auf- »venöse Angebot«) zum Herzen und senkt damit über ein
treten von Angiotensin II löst auch Durst aus (starkes vermindertes Herzzeitvolumen, also eine reduzierte Fül-
Durstgefühl nach größeren Blut- und Flüssigkeitsverlusten, lung des arteriellen Systems, den erhöhten Blutdruck zur
Abschn. 25.2.1). Norm zurück.

Stressrelaxation der Gefäße G Mittelfristig, d. h. im Minuten- bis Stundenbereich, sor-


In den elastischen Wänden der Arterien wird die Energie gen das Renin-Angiontensin-System, die Stressrelaxa-
gespeichert, die in der Diastole zur Aufrechterhaltung des tion der Gefäße und transkapilläre Volumenverschie-
Blutdruckes dient (Abschn. 10.2.1). Sollen die Arterien bungen für die Konstanthaltung des Blutdrucks.
übernormal gefüllt werden, so ist zu ihrer »Aufdehnung«
eine entsprechende Zunahme des Blutdruckes notwendig.
Diese Steigerungen des arteriellen Druckes werden durch 10.7.2 Langfristige Regulationen
die Eigenschaft der Gefäße abgeschwächt, im Anschluss an
die druckbedingte Dehnung ihre Dehnbarkeit zu erhöhen, Blutdruckerhöhung durch extrazelluläre
also etwas »nachzugeben«. Bei Abnahmen des intravas- Flüssigkeitszunahme
kulären Volumens nimmt die Dehnbarkeit wieder ab (und Die langfristigen Regulationsmechanismen des Kreislaufs
damit steigt der Blutdruck wieder an). Diese als Stressre- passen, wie oben erwähnt, das intravasale Flüssigkeits-
laxation bzw. »reverse stress-relaxation« bezeichneten volumen an die Gefäßkapazität an. Eine Zunahme des
10.7 · Mittel- und langfristige Regulation des Kreislaufs
207 10

Herzzeitvolumens über das notwendige Maß hinaus würde


nämlich den Blutdruck und damit die Durchblutung der
Organe erhöhen, und diese unnütz hohe Organdurchblu-
tung würde von den Organen über ihre Autoregulations-
mechanismen durch eine Verengung ihrer Gefäße beant-
wortet. Dies erhöht aber den peripheren Gesamtwiderstand
des Organismus. Und das hat zur Folge, dass der Blutdruck
weiter steigt. Damit ist ein Teufelskreis in Gang gesetzt,
über den kleine Zunahmen des Blutvolumens zu großen
Zunahmen des Blutdruckes führen.

Renales Volumenregulationssystem
Da die intravasale Kapazität nur in geringem Umfang und
kaum auf Dauer verändert werden kann, kann nur über
eine Regulation des extrazellulären Volumens eine lang-
fristig befriedigende Blutdruckeinstellung erzielt werden.
Gleichzeitig sorgt diese Volumenregulation auch für einen
ausgeglichenen Wasser- und Elektrolythaushalt. An ihr . Abb. 10.20. Langfristige Regulation des arteriellen Blutdrucks
sind 3 Mechanismen beteiligt: über das renale Volumenregulationssystem nach einem Vorschlag
4 das renale Volumenregulationssystem, von Guyton. Eine Zunahme des Blutdrucks durch eine vermehrte
4 das Adiuretinsystem (Abschn. 7.3.2 und 25.2.1) und Füllung der Blutgefäße (über eine Nettoaufnahme von Wasser und
Salzen [Elektrolyten] und damit einem erhöhten venösen Angebot)
4 das Aldosteronsystem (Abschn.12.3.3). führt zu einer entsprechenden Ausscheidung von Wasser und Elektro-
lyten durch die Nieren
Da die beiden letzteren in den obigen Abschnitten disku-
tiert werden, wird hier nur auf das renale Volumenregula-
tionssystem eingegangen. das Blutvolumen. Damit nehmen der venöse Rückstrom
Die Nieren können am wirkungsvollsten das Ent- zum Herzen und das Herzminutenvolumen ab. Die Ab-
stehen des oben geschilderten Teufelskreises verhin- nahme des Herzminutenvolumens lässt schließlich den
dern. Die dabei ablaufenden Vorgänge sind schematisch in Blutdruck wieder auf seinen normalen Wert absinken. Um-
. Abb. 10.20 gezeigt: Jede Zunahme des Blutvolumens gekehrt führt Fallen des Blutdrucks zur Abnahme der
wird von den Nieren, wenn auch mit einer Verzögerung von Harnproduktion; damit nimmt das Blutvolumen wieder
einigen Stunden, durch eine erhöhte Harnausscheidung zu und damit das venöse Angebot, Herzzeitvolumen und
beantwortet. Diese erhöhte Harnausscheidung reduziert Blutdruck.

Box 10.4. Verhaltensmedizin von Herz-Kreislauf-Erkrankungen

In der Verhaltensmedizin von Herz-Kreislauf-Erkrankun- konfrontiert und übt unter Anleitung des Psychologen
gen wird versucht, die Hauptrisikofaktoren präventiv und alternative sprachliche und nicht-verbale Verhaltenswei-
ursächlich zu behandeln. Die präventive Behandlung von sen ein, die unvereinbar mit negativen Emotionen (wie
Bluthochdruck, Stress und Fettleibigkeit kann nur über z. B. längerer Ärger, Anspannung, Hilflosigkeit) sind. Dazu
Eingriffe in das soziale Netz der Betroffenen zu dauer- gehören muskuläre Entspannung, positive selbstbehaup-
haften Verbesserungen führen. Da aber die ersten Symp- tende Reaktionen, Gesichts- und Körperausdrucksübun-
tome von Herz-Kreislauf-Erkrankungen meist lange (oft gen, Biofeedback von Blutdruck und Muskelaktivität,
Jahre) nach den auslösenden Bedingungen auftreten Partnertraining u. a.
und viele der Symptome, wie z. B. der erhöhte Blutdruck, Zur Vorbeugung negativ-depressiver Reaktionen auf
sogar als angenehm erlebt werden (Abschn. 10.6.4), Situationen der Hilflosigkeit wird kognitive Verhaltens-
haben Aufklärung und Einsicht in die verursachenden therapie mit Sozialtraining (wie oben beschrieben) kom-
Faktoren kaum eine Wirkung. biniert: Durch Neuformulierung wiederholt negativer Ge-
Aber auch spät einsetzende verhaltensmedizinische danken (»ich schaffe es nie«, »ich versage«) und intensives
Maßnahmen verbessern die Überlebensrate zusammen Üben der Alternativen in den auslösenden Situationen
mit den kardiologischen und rehabilitativen Therapien wird eine Neubewertung solcher Situationen erreicht, die
(Abschn. 10.5.5) erheblich. Zur Reduktion der Stressbe- die exzessive autonome Aktivierung unterbindet.
lastung wird ein Stressbewältigungs- und Selbstbehaup-
tungstraining eingesetzt. Dabei wird der Betroffene mit Literatur: Bellack A, Hersen DM (eds) (1998) Comprehensive clinical
den realen belastenden Ereignissen (soweit möglich) psychology. Elsevier, Amsterdam
208 Kapitel 10 · Blut, Herz und Kreislauf

G Die langfristigen Regulationsmechanismen wie das farkt) erkrankt, der über längere Zeiträume starken psychi-
renale Volumenregulationssystem regeln das extra- schen Belastungen (»Stress«) ohne Bewältigungsmöglich-
zelluläre Volumen und damit die Füllung des Gefäß- keit ausgesetzt ist (z. B. Arbeitslosigkeit, Partnerverlust,
systems, d. h. vor allem den zentralen Venendruck. Arbeitsplatzprobleme, täglicher »Ärger«). Diese Faktoren
übertreffen an Bedeutung alle anderen Risikofaktoren.

10.7.3 Risikofaktoren für Fehlregulationen Bluthochdruck als Risikofaktor


im Herz-Kreislauf-System Die Entwicklung einer essenziellen Hypertonie (Bluthoch-
druck) wird neben einer gewissen erblichen Belastung und
Potenzierende Wirkung der Risikofaktoren dem Barosensorenmechanismus (Abschn. 10.6.4) durch
Die Entwicklung von koronaren Herzerkrankungen, v. a. erhöhte psychische Belastung (»Stress«) und eine feind-
die Verengung der Koronargefäße (Koronarsklerose) mit selige Haltung (»Hostility«, Typ A) gegenüber der sozialen
der Gefahr des Herzinfarkts durch einen akuten Totalver- Umwelt begünstigt. Alle diese Faktoren erhöhen den Sym-
schluss hängt von einer Reihe von Faktoren ab, die jeder pathikotonus und die kardiovaskuläre Reagibilität.
für sich wenig bedeutsam sind, in ihrer Kombination aber Die Dauerbelastung des Herz-Kreislauf-Systems durch
die Erkrankungswahrscheinlichkeit beträchtlich erhöhen. einen chronisch über die Norm erhöhten Blutdruck ist
Zu diesen Risikofaktoren zählen: selbst wiederum ein starker Risikofaktor für die Entwick-
4 starke chronische psychische oder soziale Belastung lung von Herz-Kreislauf-Erkrankungen, insbesondere –
ohne Möglichkeit ihrer Bewältigung (»Hilflosigkeit«), wegen des Elastizitätsverlusts der Arterien (»Verkalkung«)
4 Bluthochdruck (»essenzielle Hypertonie«), – von Herz- und Hirninfarkten und anderen Durchblu-
4 abdominale Fettleibigkeit (. Abb. 10.21). tungsstörungen. Die Überlastung des Herzmuskels kann
diesen in die Insuffizienz treiben (Abschn. 10.2.3).
Die Bedeutung erhöhter Blutkonzentrationen von Low-
density-Lipoproteinen (»Cholesterol«) ist umstritten; sie Fettleibigkeit als Risikofaktor
erhöhen zwar das Risiko für koronare Verschlusserkran- Die Neigung zu Fettleibigkeit ist zu einem erheblichen Teil
kungen, umgekehrt hängt aber ihre Senkung mit einem genetisch bedingt, das aktuelle Gewicht ist aber von den Ess-
10 erhöhten Krebsrisiko und einem Risiko für Hirnblutungen gewohnheiten abhängig (Abschn. 26.2.5). Für die Entwick-
zusammen. lung koronarer Herzkrankheiten ist die Ansammlung von
Körperfett im Bauchbereich von Bedeutung (. Abb. 10.21).
Psychophysische Belastung als Risikofaktor Fett im Hüft- und Gesäßbereich, wie es bei Frauen vor der
Epidemiologische Untersuchungen an eineiigen Zwillingen Menopause häufig ist, hat wenig oder keine Bedeutung.
mit identischem genetischen Risiko zeigen, dass nur jener Das erhöhte koronare Risiko für Männer hängt z. T.
Zwilling an einer koronaren Herzkrankheit (Stenose, In- mit dieser Verteilung der Fettreserven zusammen. Die An-
sammlung der Fette im Abdominalbereich wird durch
Stress verstärkt, da die ausgeschütteten Glukokortikoide
Fett in dieser Region binden. Extremes Zigarettenrauchen
und häufige Diäten (»cycling«) erhöhen die Fettablagerung
im Abdominalbereich.
Übergewicht stellt den zentralen Risikofaktor von nicht-
insulinabhängigem Typ-II-Diabetes (Abschn. 7.2.2) dar. Es
trägt sowohl darüber als auch direkt über die Erhöhung des
Gefäßwiderstandes wesentlich zur Entwicklung koronarer
Herzkrankheiten, Infarktrisiko und Bluthochdruck bei.
Für alle genannten Risikofaktoren wurden verhaltens-
medizinische Präventions- und Therapieverfahren ent-
wickelt, die als Methode der Wahl zur Reduktion des koro-
naren Risikos betrachtet werden können. Für Beispiele
s. Box 10.4. Trotz ihrer hohen Effizienz werden sie in der
Praxis leider noch zu wenig angewandt, da sie eine interdis-
ziplinäre Zusammenarbeit von experimentellen Psycholo-
gen und Medizinern erfordern, die nur selten in größerem
. Abb. 10.21. Illustration der verschiedenen Arten von Fett-
Rahmen realisiert wird.
leibigkeit. Männer entwickeln v. a. abdominale oder androide Fett-
leibigkeit. Bei Frauen gibt es 2 Typen, eine, die den Männern ähnelt
(zentral) und eine periphere oder gynoide Fettleibigkeit um Hüften
und Oberschenkel
Zusammenfassung
209 10

G Psychophysiologische Faktoren stellen, neben dem


Bluthochdruck und dem Übergewicht, das bedeut-
samste Risiko zur Entwicklung von Herz-Kreislauf-
Erkrankungen dar. Effektive verhaltensmedizinische
Präventions- und Therapieverfahren sind verfügbar,
werden aber wenig angewandt.

Zusammenfassung
Blut ist in erster Linie Transportmedium für die Atemgase, 5 Ruhe- und Aktionspotenzial des Herzens beruhen
für die Nähr- und Abfallstoffe und für körpereigene auf Ionenmechanismen, die denen der Nerven-
Wirkstoffe wie die Hormone. Die 4–6 l Blut des zellen vergleichbar sind mit der Ausnahme, dass
Erwachsenen bestehen aus die Dauer des Herzaktionspotenzial wesentlich
5 Blutzellen, nämlich den roten Blutkörperchen länger als die des Aktionspotenzials von Nerven-
(Erythrozyten), den weißen Blutkörperchen (Leuko- zellen ist.
zyten) und den Thrombozyten, und 5 Das Plateau des Herzaktionspotenzial ist durch
5 Blutplasma mit den Bluteiweißen, die viele eine vorübergehenden Zunahme der Ca2+-Ionen-Per-
Transportaufgaben haben und Schutz- und meabilität bedingt. Es sorgt dafür, dass das Herz in
Abwehrfunktionen wahrnehmen. dieser Zeit refraktär ist, so dass es erst nach der nächs-
ten Füllung wieder zur Kontraktion gebracht werden
Mit Hilfe des als Doppelpumpe gebauten Herzens kreist kann.
das Blut durch den großen (Körper-) und kleinen (Lungen-) 5 Die elektromechanische Kopplung, d. h. die Auslö-
Kreislauf. sung der Herzkontraktion durch das Aktionspotenzial,
5 Die linke Kammer pumpt das Blut in den großen erfolgt ebenfalls über Ca2+-Ionen, die durch das Akti-
Kreislauf, von dem es über die Venen in den rechten onspotenzial aus intrazellulären Speichern vorüber-
Vorhof fließt. gehend freigesetzt werden.
5 Die rechte Kammer erhält ihr Blut vom rechten Vor-
hof und pumpt es in den Lungenkreislauf, von dem es Als Elektrokardiogramm, EKG, werden die elektri-
in den linken Vorhof und von dort (erneut) in die linke schen Spannungen bezeichnet, die von der Körperober-
Kammer fließt. fläche als Folge der Herzerregung abgegriffen werden
5 Klappen zwischen den Vorhöfen und den Kammern können.
und Klappen zwischen den Kammern und der Aorta 5 Die Form des EKG hängt wesentlich von den Ableite-
bzw. den Lungenarterien bedingen, dass das Blut nur orten ab. Standardisiert sind die Extremitäten-EKG
in der eben beschriebenen Weise zirkuliert und die Brustwandableitungen, die eine international
5 Das Herz arbeitet rhythmisch und synchron, d. h. die verbindliche Nomenklatur besitzen.
Vorhöfe werfen ihr Blut gleichzeitig in die Kammern 5 Die Ausschläge des EGK lassen sich als Projektionen
aus (Vorhofkontraktionen), worauf sich diese kontra- des resultierenden elektrischen Dipols (Integralvektor
hieren und das Blut in die Arterien auswerfen (Sys- genannt) auf die Verbindungslinie zwischen den Ab-
tole). Danach erschlafft das Herz wieder (Diastole). leitestellen auffassen.
5 Der Blutdruck auf dem Höhepunkt der Kammer- 5 Das EKG ist ein wichtiges diagnostisches Hilfsmittel
kontraktion wird systolischer Druck genannt, der bei der Beurteilung von Bildung, Ausbreitung und
vor dem Einsetzen der Kammerkontraktionen dias- Rückgang der Erregung am Herzen.
tolischer.
Das Herz leistet Druck-Volumen-Arbeit. Für die Druck-
Die rhythmischen Kontraktionen verdankt das Herz seiner arbeit gilt:
Spontanerregbarkeit und seinem Aufbau als funktio- 5 Da die Wege länger und damit die Widerstände höher
nelles Synzytium, das eine schnelle Erregungsausbrei- sind, muss das linke Herz eine wesentlich größere
tung über das gesamte Herz ermöglicht. Druckarbeit leisten als das rechte.
5 Die Erregungsbildung startet im rechten Vorhof 5 Der normale systolische Druck liegt beim Erwach-
(Schrittmacher des Herzens) und breitet sich von senen in Ruhe bei 120 mmHg, der diastolische bei
dort zunächst über die beiden Vorhöfe, anschließend 80 mmHg.
durch den Atrioventrikularknoten auf die Herz- 5 Bei Arbeit kann der systolische Druck deutlich anstei-
kammern aus. gen, der diastolisch nimmt nur wenig zu.
6
210 Kapitel 10 · Blut, Herz und Kreislauf

6
5 Dauernde Erhöhungen v. a. des diastolischen Drucks Bei der Anpassung der Herzarbeit an den Bedarf
sind pathologisch und müssen wegen der damit ver- 5 führen kleine Änderungen des Durchmessers der
bundenen Risiken (»Arterienverkalkung« mit der Ge- Arteriolen zu beträchtlichen Änderungen der lokalen
fahr von Herz- oder Hirninfarkt) unbedingt behandelt Durchflussmengen, da der Flusswiderstand der Ge-
werden. fäße von der 4. Potenz ihrer Radien abhängt (Gesetz
von Hagen-Poiseuille);
Die Volumenarbeit des Herzens ist für das linke und das 5 überwachen Barorezeptoren (Pressorezeptoren) den
rechte Herz absolut identisch. Blutdruck und bewirken über Barorezeptorreflexe
5 In Ruhe schlägt das Herz etwa 70-mal und fördert akute reflektorische Anpassungen, wenn dieser den
dabei jeweils etwa 70 ml Blut, so dass pro Minute Normbereich verlässt;
etwa 5 l Blut vom Herzen umgepumpt werden. 5 sind als mittelfristige Anpassungsmechanismen
5 Bei Arbeit steigt dieses Herzzeitvolumen um das das Renin-Angiotensin-System, die Stressrelaxation
5- bis 7-fache an, d. h. auf etwa 25–35 l. Dabei ver- der Gefäße und transkapilläre Volumenverschiebun-
doppelt sich das Schlagvolumen (auf 140 ml) und gen tätig;
die Herzfrequenz nimmt bis auf 180 Schläge pro min 5 wird langfristig das extrazelluläre Volumen über
und mehr zu. das renale Volumenregulationssystem, das Adiuretin-
5 Die Anpassung der Herzleistung an den Bedarf wird system und das Aldosteronsystem dazu eingesetzt.
z. T. vom Herzen selbst über den Frank-Starling-
Mechanismus geleistet, der Druck- und Volumen- Zu den Risikofaktoren für Fehlregulation im Herz-
arbeit an die Erfordernisse anpasst. Kreislauf-System zählen insbesondere:
5 Die Herznerven beteiligen sich an diesen Vorgängen, 5 starke chronische psychische oder soziale Belastun-
in dem sie die Herzfrequenz erniedrigen (N. vagus, gen bei »Hilflosigkeit«, d. h. ohne Bewältigungs-
negativ-chronotrope Wirkung) oder erhöhen (Sym- möglichkeit,
pathikus, positiv-chronotrope Wirkung) und indem 5 Bluthochdruck (»essenzielle Hypertonie«), der Herz-
10 der Sympathikus die Kraft der Kontraktion der Kam- und Gefäßsystem überlastet, sowie
mermuskulatur erhöht (positiv inotrope Wirkung). 5 abdominale Fettleibigkeit, die nicht nur das Auftre-
5 Ausdauertraining optimiert die Leistungsfähigkeit ten von Herz-Kreislauf-Erkrankungen, sondern auch
des Herzens durch Vergrößerung des Schlagvolu- von Typ-II-Diabetes begünstigt.
mens und Absenken der Herzfrequenz, was beides
den Wirkungsgrad der Herzarbeit verbessert.

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11

11 Atmung, Energie-
und Wärmehaushalt

11.1 Lungen- und Gewebeatmung – 212


11.1.1 Lungenatmung in Ruhe und bei Arbeit – 212
11.1.2 Gasaustausch und Gastransport – 214
11.1.3 Atemregulation und Atemantriebe – 217

11.2 Energieumsatz des Menschen – 219


11.2.1 Energieumsatz in Ruhe – 219
11.2.2 Energieumsatz bei Arbeit – 220
11.2.3 Energiegehalt der Nahrungsmittel – 221

11.3 Wärmebildung und Wärmeabgabe – 222


11.3.1 Wärmebildung – 222
11.3.2 Wege der Wärmeabgabe – 223
11.3.3 Thermographie und Hautwiderstandsmessungen
als psychophysische Methoden – 223

11.4 Regelung der Körpertemperatur – 225


11.4.1 Regelkreis Thermoregulation – 225
11.4.2 Zentralnervöse Regulation der Körpertemperatur – 225
11.4.3 Langfristige und pathophysiologische Aspekte der Thermoregulation – 227

Zusammenfassung – 228
Literatur – 229

N. Birbaumer, Biologische Psychologie, DOI 10.1007/978-3-540-95938-0_11,


© Springer Medizin Verlag Heidelberg 2010
212 Kapitel 11 · Atmung, Energie- und Wärmehaushalt

)) (. Abb. 11.1b). So sind nach normalem, ruhigen Ausatmen


noch immer 2–4 l Luft in der Lunge, nämlich die eben schon
Frau S., 26jährig, erlitt im Supermarkt einen »Anfall«, der erwähnte Residualluft und zusätzlich die bei forcierter Aus-
dazu führte, dass der Notarzt gerufen wurde. Sie wurde auf atmung noch abgebbare Luft, die exspiratorisches Reser-
einem Stuhl sitzend gefunden, die Hand ans Herz gepresst, vevolumen genannt wird (. Abb. 11.1c).
tief und hechelnd atmend, den Mund gespitzt und beide
Hände in »Pfötchenstellung«. Der Notarzt befürchtete einen Vorteil der funktionellen Residualkapazität
Infarkt und wies sie in die Kardiologiestation ein. Dort fand Exspiratorisches Reservevolumen und Residualvolumen
man keinerlei Herz- oder Blutdruckanomalien und diag- werden als funktionelle Residualkapazität zusammen-
nostizierte eine »stressbedingte Hyperventilationstetanie«, gefasst (zusammen ca. 3 l Luft). Da wir in Ruhe nur rund
ausgelöst durch anhaltend gesteigerte und vertiefte At- 500 ml Luft einatmen und davon etwa 150 ml in den Atem-
mung (Box 3.3 in Abschn. 3.2.3 zum Auslösemechanismus wegen (Mundhöhle, Nasenrachenraum, Luftröhre, Bron-
und zur Therapie). chien, Bronchiolen) für den Gasaustausch ungenutzt blei-
Der Körper gewinnt die benötigte Energie durch den ben (»anatomischer Totraum«), mischen sich 350 ml
oxidativen Abbau der Nahrungsstoffe, also durch ihre Ver- Frischluft mit knapp der 10-fachen Menge der in der Lunge
brennung. Er ist daher auf die ständige Zufuhr von Sauer- vorhandenen Luft, nämlich mit der Luft in den für den
stoff (O2) angewiesen. So verbraucht der Mensch in Ruhe Gasaustausch zuständigen Lungenbläschen (Alveolen,
etwa 300 ml Sauerstoff pro Minute und erzeugt dabei rund . Abb. 11.2). Dadurch treten trotz des kontinuierlichen
250 ml Kohlendioxid (CO2), die an die Außenluft abge- Gasaustausches zwischen Alveolen und Lungenkapillaren
geben werden müssen. nur noch geringe Schwankungen in der Zusammenset-
Da die meisten Körperzellen weit von der Außenluft zung der Alveolarluft auf (Details in Abschn. 11.1.2).
entfernt liegen, muss ihnen der Sauerstoff gebracht und
G Die normale Atmung erfolgt in Atemmittellage.
das Kohlendioxid abgeholt werden. Diese Serviceleistung
Auch nach dem Ausatmen verbleibt noch reichlich
nennen wir Atmung. Sie hat Anfang und Ende in der Lunge,
Luft in der Lunge. Die eingeatmete Frischluft ver-
bedient sich des Blutes als Transportmittel und versorgt
mischt sich mit der in der Lunge verbliebenen Luft,
jede einzelne Zelle von der nächstgelegenen Gewebska-
genannt funktionelle Residualkapazität. Dadurch
pillare aus.
bleibt die Zusammensetzung der Alveolarluft im
Die beim oxidativen Abbau der Nahrungsmittel frei-
Laufe eines Atemzyklus nahezu konstant.
werdende Energie steht den Zellen für ihre Aufgaben (Bau-
11 stoffwechsel, Betriebsstoffwechsel, spezifische Zellleis-
Box 11.1. Die Entdeckung der Bedeutung des Sauer-
tungen) zur Verfügung. Die dabei als Abfallprodukt entste-
stoffs für das Leben.
hende Wärme wird dazu genutzt, die Körpertemperatur
dauernd auf einem Wert zu halten, der meist erheblich Antoine Laurent Lavoisier verdanken wir u. a. die Er-
über der Umgebungstemperatur, nämlich bei rund 37°C kenntnis, dass Sauerstoff mit der Atmung aus der Luft
liegt. in den Körper aufgenommen wird und die Lebens-
vorgänge von Menschen und Tieren unterhält.
Lavoisier, der zu den genialsten Naturwissen-
11.1 Lungen- und Gewebeatmung schaftlern des 18. Jahrhunderts zählt, wurde am
8. Mai 1794 mit der Guillotine hingerichtet. Das Revo-
11.1.1 Lungenatmung in Ruhe lutionstribunal hatte befunden: »Wir brauchen keine
und bei Arbeit Gelehrten mehr«.

Atmung in Atemmittellage
Wird nach maximaler Einatmung in einen Luftballon Normales und maximales Atemzeitvolumen
maximal ausgeatmet, so füllt man diesen je nach Alter, Ge- Das in einer bestimmten Zeit ein- und ausgeatmete Gasvo-
schlecht und Körperbau mit 3–5 l Luft (trainierte Sportler lumen, also das Atemzeitvolumen, ergibt sich als Produkt
bis zu 8 l). Normalerweise wird diese Luftmenge, genannt aus Atemzugvolumen und Atemfrequenz. Die Atem-
Vitalkapazität, mit dem in . Abb. 11.1a gezeigten Spiro- frequenz des Erwachsenen liegt unter Ruhebedingungen
meter oder auch mit einer Gasuhr gemessen. im Mittel bei 14 Atemzügen pro Minute. Wenn man das
Auch nach maximalem Ausatmen verbleiben noch oben genannte durchschnittliche Atemzugvolumen von
1–2 l Luft in der Lunge. Sie wird Residualvolumen (Resi- 500 ml zugrunde legt, ergibt sich also für den Erwachsenen
dualluft) genannt. Frischluft vermischt sich also immer in Ruhe ein Atemzeitvolumen von 7 l/min. Die Atemfre-
mit in der Lunge verbliebener Luft. Dies gilt besonders quenz in Ruhe ist allerdings stark altersabhängig. Neuge-
für die normale Atmung, die sich immer in einer Mittel- borene atmen 40- bis 50-mal in der Minute, Kleinkinder
lage zwischen maximaler Ein- und Ausatmung bewegt 30- bis 40-mal und Kinder 20- bis 30-mal.
11.1 · Lungen- und Gewebeatmung
213 11

. Abb. 11.1a–c. Lungenvolumina und -kapazitäten und deren des Spirometers ermittelt werden. Zusammengesetzte Volumina wer-
Messung. a Spirometer (geschlossenes spirometrisches System) zur den als Kapazitäten gekennzeichnet. Wie die Zahlenangaben im rech-
Lungenfunktionsprüfung. b Messprinzip des Pneumotachographen ten Bildteil verdeutlichen, nimmt die Vitalkapazität mit dem Alter, ins-
(offenes spirometrisches System), wie er heutzutage in lungendiag- besondere nach dem vierzigsten Lebensjahr, ab. Dies ist auf den Elas-
nostischen Laboratorien eingesetzt wird. Die Druckdifferenz an einer tizitätsverlust der Lunge und die zunehmende Einschränkung der
Widerstandsstrecke des Atemmundstückes ist der Atemstromstärke V̇ Beweglichkeit des Brustkorbes zurückzuführen. Wie ebenfalls gezeigt,
proportional (Pneumotachogramm). Die zeitliche Integration von V̇ haben Frauen durchschnittlich eine etwa 25% kleinere Vitalkapazität
liefert die ventilierten Volumina V (Spirogramm). c Volumeneinteilung als Männer
der Lunge. Alle Werte bis auf das Residualvolumen können mit Hilfe

Bei körperlicher Arbeit steigt das Atemzeitvolumen lappen allen Bewegungen von Brustkorb und Zwerchfell
an, wobei bei schwerer Arbeit die Atemfrequenz auf folgen.
etwa 40 Atemzüge/min und das Atemzugvolumen auf 2 l Sticht man aber eine Kanüle in den als Pleuralspalt be-
ansteigen kann, was ein Atemzeitvolumen von 80 l/min zeichneten Flüssigkeitsraum, dann wird über diese Kanüle
ergibt. Luft in den Pleuralspalt gesaugt und die Lunge »schnurrt«
in Richtung auf die Lungenwurzel »zusammen« (Pneumo-
G Das Atemzeitvolumen liegt in Ruhe bei ca. 7 l/min,
thorax). Im Pleuralspalt herrscht also gegenüber der Außen-
bei schwerer Arbeit kann es um mehr als das 10-fache
welt ein negativer Druck (»Unterdruck«). Er zeigt, dass die
zunehmen. Neugeborene und Kinder haben in Ruhe
Lunge elastisch ist und dass sie auf die Brustkorbwand und
höhere Atemfrequenzen als Erwachsene.
das Zwerchfell eine konstante Zugkraft in Richtung auf die
Lungenwurzeln ausübt.
Elastizität der Lunge Als Lungenwurzel bezeichnet man dabei die in der
Die beiden Lungenflügel des Menschen liegen norma- Mitte des Brustkorbs liegende Region, an der sich die
lerweise der Wand des Brustkorbs und dem Zwerchfell Luftröhre (Trachea) in die beiden, Bronchien genannten
an. Sie sind aber dort nicht angewachsen, sondern durch Zweige, zur rechten und linken Lunge aufteilt. Diese Bron-
eine sehr dünne Flüssigkeitsschicht von der Innen- chien teilen sich anschließend in immer kleiner werdende
auskleidung des Brustkorbs getrennt. Da diese Flüssig- Bronchiolen auf, die schließlich in den Alveolen münden
keitsschicht nicht dehnbar ist, müssen die Lungen- (. Abb. 11.2).
214 Kapitel 11 · Atmung, Energie- und Wärmehaushalt

Atemwiderstände sung ständig seine Grundspannung ändert. Heute messen


Wird beim Einatmen (Inspiration) der Brustkorb erweitert Gasanalysatoren vollautomatisch alle Kennzeichen der
und das Zwerchfell gesenkt, dann werden die Lungen Atemtätigkeit (Luftentnahme über kleine Plastikröhrchen
weiter gedehnt. Um dabei die eben beschriebenen elas- in einem oder beiden Nasenlöchern).
tischen Kräfte der Lunge zu überwinden, müssen wir ent- Als Beispiel sei angeführt: Die Atemfrequenz steigert
sprechende muskuläre Kräfte aufwenden. Die Inspiration sich unter psychischer Erregung bis zu einer über die Stoff-
ist also ein Vorgang, für den wir Muskeln des Brustkorbs wechselbedürfnisse gesteigerten Atmung (Hyperventila-
und den Zwerchfellmuskel einsetzen. Diese Muskeln tion). Bei einer solchen Hyperventilation wird zuviel Koh-
werden als Inspirationsmuskeln (Einatmungsmuskeln) zu- lensäure (CO2) abgeatmet, wodurch das Blut alkalischer
sammengefasst. wird, was wiederum die Ionisation der Calcium-Ionen re-
Nach Abschluss der Inspiration erschlaffen die Ein- duziert. Dadurch wird die neuronale Erregbarkeit eventuell
atmungsmuskeln. Damit können die elastischen Zugkräfte soweit steigert, dass Krämpfe auftreten (Hyperventila-
der Lunge den Thorax (Brustkorb) wieder in die Ausgangs- tionstetanie, 7 Einleitung und Box 3.3 in Abschn. 3.2.3).
stellung zurückführen. Bei gesteigerter Atmung (z. B. bei
G In der Psychophysiologie und der Verhaltensmedizin
starker körperlicher Aktivität) wird die Ausatmung zu-
zählt die Messung der Atemtätigkeit zu den wichtigen
sätzlich durch die Kontraktion der Ausatmungsmuskeln
Methoden. Psychische Erregung kann eine Hyperven-
unterstützt.
tilationstetanie auslösen.
Beim Ein- und Ausatmen wird die Atemluft durch die
Atemwege befördert. Das Röhrensystem der Atemwege,
also Trachea, Bronchien und Bronchiolen (7 oben), setzt 11.1.2 Gasaustausch und Gastransport
dieser Luftströmung einen Widerstand entgegen. Dieser
Atemwegswiderstand muss beim Atmen zusätzlich zu Gasaustausch in der Lunge
dem obigen elastischen Widerstand des Lungengewebes Die Bauelemente der Lunge sind die ca. 300 Millionen
überwunden werden. Alveolen beider Lungenflügel (. Abb. 11.2). Jeweils meh-
rere von ihnen sind, wie oben beschrieben, über immer
G Die Elastizität des Lungengewebes zieht die Lungen-
dicker werdende Luftröhren (Bronchiolen und Bronchien)
flügel in Richtung Lungenwurzeln. Zur Überwindung
mit der Hauptluftröhre (Trachea) und schließlich mit der
dieses und des Atemwegswiderstandes muss v. a.
Außenwelt verbunden. In ihre dünnen Wände ist ein dichtes
bei der Einatmung Kontraktionsarbeit der Atemmus-
Netzwerk von Kapillaren eingebettet, durch die das Lungen-
keln geleistet werden.
11 blut fließt (. Abb. 11.2). Die Oberfläche aller Alveolenwände
beträgt 70–80 m2. Über diese große Oberfläche tritt unser
Box 11.2. Lähmung der Inspirationsmuskeln führt zum Blut mit der Alveolenluft in Kontakt.
Tod durch Ersticken
Durch die Mischung der eingeatmeten mit der in der
Wird die neuromuskuläre Übertragung z. B. durch Lunge verbliebenen Luft (Abschn. 11.1.1) liegt die O2-Kon-
Kurare blockiert, so können die Einatmungsmuskeln zentration der Alveolarluft bei 14 Vol% (normale Luft
nicht mehr erregt werden (Box 4.4 in Abschn. 4.3.2 21 Vol%), und durch den Übertritt der Kohlensäure (CO2 )
und Abschn. 13.1.3 mit Box 13.1). Ohne künstliche aus dem Blut in die Alveolen liegt deren Konzentration bei
Beatmung erstickt der Mensch. Vergleichbares gilt 5,6 Vol% (normale Luft 0,03 Vol%). Da jedes Gas in einem
bei einer chronisch degenerativen Erkrankung des Gasgemisch einen Partialdruck (Teildruck des Gesamtluft-
ZNS wie der amyotrophen Lateralsklerose, ALS, bei druckes, normal 760 mmHg) ausübt, der seinem Anteil am
der schleichend, aber unaufhaltsam die motorischen Gesamtvolumen, d. h. seiner Konzentration, entspricht
Nerven zur Skelettmuskulatur ausfallen (Kap. 13 (Dalton-Gesetz), liegt in den Alveolen der durchschnitt-
[Einleitung]). liche O2-Partialdruck bei 100 mmHg, der durchschnittliche
CO2-Partialdruck bei 40 mmHg.
Das venöse Blut hat beim Eintritt in die Lungen-
Psychophysiologie der Atmung kapillaren einen O2-Partialdruck von 40 mmHg und einen
Messungen der Atemtiefe, der Atemfrequenz und des Gas- CO2-Partialdruck von 46 mmHg, denen die obigen Partial-
austauschs sind wichtige Methoden der Psychophysiologie drücke dieser Gase in den Lungenalveolen gegenüber-
und der Verhaltensmedizin. Bis vor wenigen Jahren maß stehen. Die Partialdruckdifferenzen von 60 mmHg beim
man die Atemfrequenz mit einem Atemgürtel, welcher O2 und 6 mmHg beim CO2 stellen die (gut ausreichenden)
der Versuchsperson um den Brustkorb gelegt wurde. Deh- treibenden Kräfte für die O2- und CO2-Diffusion und da-
nungsmessstreifen im Inneren des Gürtels formten die Län- mit für den pulmonalen Gasaustausch dar.
genänderungen des Brustkorbes in ein elektrisches Signal Durch den Gasaustausch in der Lunge wird aus dem
um. Mit dieser Methode ließ sich aber kaum eine Aussage sauerstoffarmen, kohlensäurereichen, venösen Blut das
über Atemtiefe machen, da der Gürtel während einer Mes- arterielle Blut mit seinem hohen O2- und seinem geringen
11.1 · Lungen- und Gewebeatmung
215 11

. Abb. 11.2. Gasaustausch in den Lungenbläschen (Alveolen). Sauerstoff (O2) aus der Alveole lediglich durch die Alveolarwand,
Aus der Hauptluftröhre (Trachea) gelangt die Luft über immer feinere die anschließende Flüssigkeitsschicht und durch die Kapillarwand
Verzweigungen des Luftröhrensystems (Bronchialbaum) in die Alveo- (Gesamtdicke <1 μm) diffundieren muss, um in das Blut und die dort
len, deren Wand nur noch aus einer Lage sehr dünner Zellen besteht. schwimmenden Erythrozyten zu gelangen. Gleiches gilt umgekehrt
Die Wände der Alveolen sind außen von einem dichten Kapillarnetz für das Kohlendioxid (CO2, roter Pfeil). Jeder Erythrozyt schwimmt für
überzogen, dessen ebenfalls einzellige Wand nur durch eine sehr etwa 0,3 s an einer Alveolenwand vorbei (Kontaktzeit). Dies reicht zur
dünne Flüssigkeitsschicht von der Alveolarwand getrennt ist. Rechts Sauerstoffsättigung des Blutes völlig aus
unten in der Abbildung ist durch den blauen Pfeil gezeigt, dass der

CO2-Gehalt. Nach dem bisher Gesagten hängt der Grad Die roten Blutkörperchen oder Erythrozyten
dieser Arterialisierung von mindestens 3 Faktoren ab, die (. Abb. 10.1) machen den größten Anteil der rund 44 Vol%
in . Abb. 11.3 als Distribution, Diffusion und Perfusion zellulärer Bestandteile des Blutes aus (Abschn. 10.1.1). Im
bezeichnet sind, also von Mikroliter Blut finden sich beim Mann rund 5,1 Millionen,
4 der Güte der Belüftung der Alveolen (Distribution) bei der Frau rund 4,6 Millionen Erythrozyten. Ihre Gesamt-
4 der Geschwindigkeit des Gasaustauschs durch die oberfläche beträgt beim erwachsenen Mann etwa 3800 m2.
Alveolen- und Blutkapillarwände (Diffusion) und Normale Erythrozyten enthalten etwa 34 g Hämo-
4 dem Ausmaß der Durchblutung der Kapillaren (Per- globin pro 100 g, das entspricht etwa 15 g Hämoglobin pro
fusion). 100 ml Blut. Das Hämoglobin besteht aus einer Eiweiß-
komponente, dem Globin, und dem eigentlichen Farbstoff,
G Die Lungenalveolen haben eine Gesamtoberfläche
dem Häm. Das Häm ist, wie in . Abb. 10.1 skizziert, eine
von 70–80 m2, die dem Austausch der Atemgase
ringförmig aufgebaute Verbindung, in deren Zentrum ein
dient. Die Partialdruckdifferenzen zwischen O2 und
Eisenatom (Fe) angeordnet ist. An dieses Eisen wird in der
CO2 in der Alveolarluft und im venösen Blut sind
Lunge ein Molekül Sauerstoff (O2) so lose angebunden, dass
die treibenden Kräfte für den pulmonalen Gasaus-
es im Gewebe leicht wieder abgegeben werden kann.
tausch.
Bei dem Kontakt von Hämoglobin mit dem O2 in den
Lungenkapillaren wird das Hämoglobin in Oxyhämoglobin
Transport von Sauerstoff (O2 ) von der Lunge überführt, wobei es vom O2-Partialdruck abhängt, welcher
zum Gewebe Anteil des Hämoglobins in Oxyhämoglobin überführt wird
Bei normaler Körpertemperatur sind pro ml Blut etwa (. Abb. 11.4). Jedes Gramm Hämoglobin kann etwa 1,33 ml
0,003 ml O2 physikalisch gelöst. Dies ist ein sehr kleines Vo- Sauerstoff an sich binden, so dass bei der normalerweise
lumen, gemessen an der insgesamt zu transportierenden vollkommenen Sättigung in der Lunge je 100 ml Blut etwa
Sauerstoffmenge von mindestens 300 ml/min (7 Einleitung). 20 ml Sauerstoff transportieren.
Die Natur hat daher ein besonderes Sauerstofftransport- Die Sauerstoff-Bindungskurve mit ihrem S-förmigen
molekül, das Hämoglobin, »erfunden«, das in den Erythro- Verlauf stellt nämlich sicher, dass in den Alveolen das Blut
zyten (roten Blutkörperchen) liegt und diesen und damit nahezu 100%ig mit Sauerstoff gesättigt wird, und bei der
dem Blut die rote Farbe gibt. Sauerstoffabgabe im Gewebe hat der steile Verlauf im Mittel-
216 Kapitel 11 · Atmung, Energie- und Wärmehaushalt

. Abb. 11.3. Faktoren, die das Ausmaß der Sauerstoffsättigung . Abb. 11.4. Sauerstoffsättigung des Hämoglobins, Hb (Ordi-
des Blutes (seine Arterialisierung) bestimmen. Diese Arterialisie- nate), in Abhängigkeit von dem jeweils gegebenen O2-Partial-
rungsfaktoren sind im Wesentlichen: 1) die Güte der Ventilation oder druck (Abszisse). Die Kurve ist bei den in der Lunge herrschenden
Belüftung der Alveolen (Distribution), 2) die Geschwindigkeit des Gas- Bedingungen aufgenommen. Zum Vergleich ist auch die Sauerstoff-
austauschs durch die Alveolen- und Blutkapillarwände (Diffusion), bindungskurve des roten Muskelfarbstoffs Myoglobin, Mb, dargestellt.
und 3) das Ausmaß der Durchblutung der Kapillaren (Perfusion). Die Der Muskelfarbstoff kann den Sauerstoff bei wesentlich geringeren
unterschiedlich großen Pfeile am Eingang der beiden Alveolen ver- Partialdrücken, wie sie im peripheren Muskelgewebe vorkommen,
deutlichen, dass normalerweise nicht alle Alveolen gleich gut belüftet noch speichern. Dies erleichtert die »Übernahme« des Sauerstoffs aus
sind. Dies mindert den maximal möglichen Arterialisierungsgrad dem Kapillarblut in das Muskelgewebe

11
teil den Vorteil, dass kleine Abnahmen des Partialdruckes Box 11.3. Blockade des Hämoglobins durch Kohlen-
große Mengen von O2 freisetzen. monoxid (CO)
Ob Blut sauerstoffreich oder -arm ist, lässt sich an
Das Hämoglobin verbindet sich leicht mit dem Sauer-
seiner Farbe leicht erkennen. Das sauerstoffbeladene
stoff, noch leichter aber mit dem CO, einem farb- und
Hämoglobin hat nämlich eine hellrote, das unbeladene eine
geruchlosen Gas, das bei einer unvollständigen Ver-
dunkelblaurote Farbe. Fließt sauerstoffarmes Blut durch die
brennung entsteht und z. B. in den Auspuffgasen von
Haut und die Lippen, so nehmen auch diese den bläulichen
Automotoren und im Tabakrauch vorkommt. Da seine
Farbton an. Wir nennen dies eine Zyanose.
Bindung an das Hämoglobin rund 200-mal fester als
G Die physikalische Löslichkeit des Sauerstoffs im Blut die des O2 ist, können bereits 0,5 Vol% CO-Gas in der
reicht nicht aus, die notwendigen Volumina an O2 Einatmungsluft 90% des Hämoglobins blockieren.
zu transportieren. Dazu dient der rote Blutfarbstoff Schon normalerweise liegt daher 1% des Hämoglobins
Hämoglobin in den roten Blutkörperchen. Jedes im Blut als CO-Hämoglobin vor; bei Rauchern findet
Gramm Hämoglobin kann etwa 1,33 ml Sauerstoff man 3%, nach einem tiefen Lungenzug sogar bis zu
an sich binden; 100 ml Blut können daher etwa 20 ml 10% CO-Hämoglobin. Bei Taxifahrern in Großstädten
Sauerstoff transportieren. hat man bis zu 20% CO-Hämoglobin, das eine kirsch-
rote Farbe hat, gemessen.
Transport von Kohlendioxid (Kohlensäure, CO2)
vom Gewebe zur Lunge
Ähnlich wie der Sauerstoff wird das bei der oxidativen Ver- komplexer angelegt als für das O2. Er wird hier nur kurz
brennung im Stoffwechsel der Gewebe entstehende Koh- skizziert.
lendioxid in physikalisch gelöster (bei normaler Körper- Im Blut bleiben nur 12% des aus dem Gewebe eindiffun-
temperatur pro ml Blut etwa 0,026 ml CO2) und in chemisch dierenden CO2 physikalisch gelöst. Der überwiegende Anteil
gebundener Form im Blut transportiert. Allerdings ist der (77%) wird zu Kohlensäure (H2CO3) umgesetzt. Diese Reak-
Vorgang der chemischen Bindung für das CO2 etwas tion läuft im Plasma sehr langsam, im Erythrozyten dank des
11.1 · Lungen- und Gewebeatmung
217 11

Enzyms Karboanhydrase dagegen mit einer etwa 10.000-mal O2-Menge. Höchstwerte, die im Extremfall ca. 90% er-
größeren Geschwindigkeit ab. Aus diesem Grunde müssen reichen, beobachtet man in der Skelettmuskulatur und im
praktisch alle an der chemischen Umsetzung beteiligten Herzmuskel (Myokard) bei schweren körperlichen Belas-
CO2-Moleküle den Weg über den Erythrozyten nehmen. tungen. Umgekehrt ist z. B. in den Nieren die O2-Utilisation
Dies gilt auch für die zusätzliche Möglichkeit der sehr gering (8%), da diese sehr stark durchblutet sind (Ab-
CO2-Bindung, nämlich die der direkten Anlagerung an die schn. 12.3.1) und das reichliche O2-Angebot nur zum ge-
Eiweißkomponente des Hämoglobins (11% des CO2). Das ringen Teil benötigen. Ähnliches gilt für die Milz, deren
Reaktionsprodukt wird Karbaminohämoglobin oder kurz O2-Utilisation nur 5% beträgt.
Karbhämoglobin genannt. In der Lunge laufen alle für
G Der Austausch der Atemgase zwischen dem Kapil-
das Gewebe genannten Prozesse in der umgekehrten Rich-
larblut und den Zellen eines Gewebes erfolgt in
tung ab.
gleicher Weise wie in der Lunge, nämlich durch Dif-
G Der Kohlendioxidtransport erfolgt im Blut v. a. nach fusion. Je nach Gewebe und Bedarf schwankt die
Umwandlung in Kohlensäure, die die Karboanhy- O2-Utilisation zwischen 5 und 90%.
drase der Erythrozyten vermittelt. Ein kleiner Teil
wird teils physikalisch gelöst, teils als Karbhämo- 11.1.3 Atemregulation und Atemantriebe
globin zur Lunge transportiert.
Zentrale Rhythmogenese der Atmung
Gasaustausch im Gewebe Der Grundrhythmus der Atmung wird durch Neuronen-
Die mit dem Blutstrom herantransportierten O2-Moleküle populationen im Hirnstamm unterhalten, die zusammen
wandern dem O2-Partialdruckgefälle folgend aus den Ery- die Atemzentren bilden (. Abb. 11.5a). Von diesen Neuro-
throzyten und dem Plasma in das umgebende Gewebe. nen, deren spontane, salvenartige Entladungen sich wech-
Gleichzeitig diffundiert das Kohlendioxid aus den Zellen in selseitig erregend und hemmend beeinflussen, ist ein Teil,
das Blut (7 oben). wie . Abb. 11.5b zeigt, vorwiegend während der Einatmung
In Abhängigkeit vom Sauerstoffbedarf des Gewebes tätig (inspiratorische Neurone), andere feuern während der
wird das O2-Angebot in den einzelnen Organen unter- Ausatmung (exspiratorische Neurone).
schiedlich genutzt, d. h. der im Blut antransportierte Sauer- Die Neurone der Atemzentren sind also für den
stoff mehr oder weniger verbraucht. Man bezeichnet diesen primären Atemrhythmus verantwortlich. Neben den in
Grad der Ausschöpfung des Sauerstoffes aus dem Blut als . Abb. 11.5b gezeigten Aktivitätsmustern gibt es viele an-
die O2-Utilisation. Beispielsweise beträgt der Sauerstoff- dere. Inspiratorische Neurone sind wesentlich zahlreicher
verbrauch der Großhirnrinde, des Herzmuskels und der und vielfältiger als exspiratorische Neurone (die Inspiration
ruhenden Skelettmuskulatur ca. 40–60% der angebotenen ist der deutlich aktivere Vorgang, Abschn. 11.1.1).

. Abb. 11.5a, b. Lokalisation und Entla-


dungsmuster respiratorischer Neurone.
a Lokalisation der respiratorischen Neurone
(Atemzentren) im Hirnstamm der Katze. Die
Bildmitte zeigt eine Aufsicht auf den Hirn-
stamm von dorsal mit den Schnittebenen
der rechts und links gezeigten Querschnitte.
Von den inspiratorischen Neuronen (I) liegt
eine dorsale Gruppe am Kerngebiet des
Tractus solitarius und eine ventrale Gruppe
in der Nähe des Nucleus ambiguus sowie
zervikal (C1−2). Von den exspiratorischen
Neuronen (E) liegt eine dorsale Gruppe
neben den Nucleus ambiguus und eine
ventrale Gruppe am Nucleus retrofacialis.
b Entladungsmuster inspiratorischer und
exspiratorischer Neurone im Verlauf von
2 Atemzyklen
218 Kapitel 11 · Atmung, Energie- und Wärmehaushalt

Die Atmungsneurone erregen und hemmen in rhyth- Neben den Dehnungsrezeptoren der Lunge nehmen
mischem Wechsel die Motoneurone der Brustmuskulatur auch die Dehnungsrezeptoren der Atemmuskeln (Muskel-
und des Zwerchfells, wobei zusätzlich Modifikationen des spindeln, Sehnenorgane, Abschn. 13.4.3) an der Steuerung
Grundrhythmus der Atmung eingebracht werden müssen, der Atembewegungen teil. Diese Sensoren messen teils die
da die Atmung sich zahlreichen anderen motorischen Vor- Muskellänge, teils die Muskelspannung und können daher
gängen ein- und unterordnen muss. Diese reichen von Re- die Kraft der Kontraktion der Atemmuskeln an die jewei-
flexen (z. B. Schlucken, Husten, Niesen) bis zu komplexen ligen Atemwiderstände anpassen.
Ausdruckshandlungen (Sprechen, Singen, Mimik). Der
G Mechanosensoren des Lungenparenchyms und der
Grundrhythmus kann außerdem durch die Aktivität von
Atemwege werden bei der Inspiration aktiviert und
Mechano- und Chemosensoren an die jeweiligen Bedürf-
hemmen reflektorisch die weitere Einatmung. Auch
nisse angepasst werden (7 unten).
Mechanosensoren der Atemmuskulatur nehmen an
G Der Atemrhythmus wird durch Schrittmacherneurone der Steuerung der Atemexkursionen teil.
der Atmung im Hirnstamm erzeugt. Erregende und
hemmende Atemneurone aktivieren in rhythmischem Chemische und weitere Atemantriebe
Wechsel die Atemmuskulatur und stimmen die Atem-
Bei körperlichen Anstrengungen kann das Atemzeitvolumen
bewegungen mit der übrigen Tätigkeit der Kopf-,
auf 80 l/min und mehr zunehmen (Abschn. 11.1.1). Der
Hals-, Brust- und Zwerchfellmuskulatur ab.
Antrieb dafür ist dabei weniger die Abnahme der Sauerstoff-
konzentration im Blut und im Gewebe, sondern der ver-
Rolle der Mechanosensoren im Lungengewebe mehrte Anfall von Kohlendioxid. Der arterielle CO2-Par-
und der Atemmuskulatur tialdruck ist also die führende Regelgröße bei der Einstel-
Bei einer tiefen Inspiration oder einer experimentellen pas- lung des Atemzeitvolumens. Als Beispiel sei erwähnt, dass
siven Aufblähung der Lungen werden die inspiratorischen bei Anstieg des normalen CO2-Partialdruckes im Blut von
Neurone des Atmungszentrums reflektorisch gehemmt 40 mmHg auf 60 mmHg das Atemzeitvolumen von 7 l/min
und damit eine Exspiration eingeleitet. Dieser Vorgang auf etwa 65 l/min ansteigt.
wird nach seinen Entdeckern Hering-Breuer-Reflex ge- Eine Abnahme des arteriellen O2-Partialdruckes, also
nannt. Bewirkt wird er von Dehnungssensoren der Lunge, eine Hypoxie, stellt zwar auch einen Atemantrieb dar, er
die bei zunehmender Inspiration immer stärker entladen, macht sich aber nur unter pathologischen Bedingungen,
die inspiratorischen Neurone hemmen und damit die Am- und zwar wenn die CO2-Regulation ausgeschaltet oder ab-
11 plitude der Atemexkursionen begrenzen. Dies hilft mit, die geschwächt ist, deutlich bemerkbar.
Atemtiefe den jeweiligen Bedingungen anzupassen und im Der Gehalt des Blutes und der Extrazellulärflüssigkeit
Extremfall eine Überdehnung der Lungen zu verhindern. an Kohlendioxid und Sauerstoff wird von peripheren und
Die afferenten Bahnen des Hering-Breuer-Reflexes zentralen Chemosensoren gemessen (. Abb. 11.6). Die
(Lungendehnungsreflex) verlaufen im Nervus vagus. Eine peripheren Chemosensoren liegen beiderseits im Glomus
beidseitige Durchschneidung des Vagusnerven unterbricht caroticum, das an der Teilungsstelle der A. carotis communis
daher diesen Reflex. Nach einer solchen Vagotomie tritt in die Aa. carotis interna und externa liegt. Das Glomus
eine verlangsamte und inspiratorisch vertiefte Atmung auf. caroticum wird vom Sinusnerven, einem Ast des N. glosso-

. Abb. 11.6. Periphere und zentrale Atmungsantriebe in sche- unspezifischen rechts angeordnet. Die ausführliche Würdigung der
matischer Übersicht. Die spezifischen Atemantriebe sind links, die einzelnen Komponenten erfolgt im Text
11.2 · Energieumsatz des Menschen
219 11

pharyngeus innerviert. Weitere, vom N. vagus versorgte her meist das Kilojoule (kJ), also die tausendfach größere
Chemosensoren sind in der Nähe des Aortenbogens loka- Einheit benützt.
lisiert. Diese peripheren Chemosensoren antworten mit Ursprünglich hatte man eine besondere Wärmemengen-
Aktivitätszunahme bei einer Zunahme des CO2-Partial- einheit eingeführt, und zwar die Kalorie. Sie ist diejenige
druckes (durch vermehrte Produktion von CO2 bei Arbeit) Energie- oder Wärmemenge, die 1 ml Wasser von 14,5°C auf
und bei einer Abnahme des O2-Partialdruckes (durch ver- 15,5°C erwärmt. (Der Temperaturbereich muss angegeben
mehrte Ausschöpfung des O2 im Blut). sein, da das Wasser seine Eigenschaften mit der Temperatur
Die für die Atmungsregulation wichtigen zentralen Che- ändert.) Einer solchen Kalorie (cal) entsprechen 4,187 J. Tau-
mosensoren finden sich im Hirnstamm in und bei den Atem- send Kalorien, also 1 kcal (früher häufig auch »große Ka-
zentren. Diese zentralen Chemosensoren sprechen kaum oder lorie« genannt), entsprechen also 4 187 kJ. Umgekehrt ergibt
überhaupt nicht auf Sauerstoffmangelzustände an. Dagegen der Kehrwert den Äquivalenzfaktor 1 kJ = 0,239 kcal.
werden sie durch Zunahme des CO2-Partialdruckes stark Das Gesetz von der Erhaltung der Energie gilt unein-
aktiviert. Mit anderen Worten, der überwiegende Teil des geschränkt auch für Pflanzen, Tiere und Menschen. Man
Einflusses des Kohlendioxids auf die Atmung wird über die- kann also Energie nur »verbrauchen«, wenn dafür Energie
se Chemosensoren im Hirnstamm ausgeübt. Der erregende von einer anderen Stelle oder einer anderen Energieform
Reiz ist teilweise der CO2-Partialdruck selbst, teils die Ansäu- zur Verfügung gestellt wird. Ein Perpetuum mobile, das
erung durch die Kohlensäure (Zunahme der H+-Ionen und Energie liefert, ohne dafür Energie zu »verbrauchen«, d. h.
damit Abnahme des pH (links oben in der . Abb. 11.6). in Anspruch zu nehmen, ist unmöglich.
. Abb. 11.6 zeigt noch eine Reihe weiterer Atemantriebe,
G Die Energiegesetze der unbelebten Natur gelten
die z. T. nur unter besonderen Umständen Einfluss auf das
ohne Einschränkung auch für den Menschen. Alle
Atemzeitvolumen nehmen. Wichtig ist vor allem der Atem-
Energieformen können in der Einheit der mechani-
antrieb bei Muskelarbeit, der schon mit dem Beginn der
schen Energie, dem Joule, J (Dimension: m2 · kg · s−2
Arbeit einsetzt und in seinem Ausmaß deutlich größer ist als
= Newtonmeter, Nm), ausgedrückt werden. In der
durch den verzögert einsetzenden Anstieg des Kohlen-
Medizin spielt die Kalorie, 1 cal = 4,187 J, eine histo-
dioxids im Blut zu erklären ist. Hier muss man annehmen,
risch bedingte Rolle als Energiemaß.
dass die Atemzentren rechtzeitig über eine zentrale Mit-
innervation (Efferenzkopie) von den motorischen Zentren
über Beginn und geplantes Ausmaß der Muskelarbeit infor- Zelluläre Energieumsätze
miert werden. Den Energieumsatz einer aktiven Körperzelle, z. B. einer Ge-
hirnnervenzelle, lässt sich 3 Ebenen zuordnen (. Abb. 11.7a),
G Die chemisch-reflektorische Kontrolle der Atmung
nämlich:
erfolgt in erster Linie über den CO2-Partialdruck im
4 Tätigkeitsumsatz, wenn die Zelle normal aktiv ist
Blut, der von peripheren und zentralen Chemosen-
4 Bereitschaftsumsatz, wenn die Zelle ruht, aber arbeits-
soren registriert wird. Der Einfluss des O2-Partial-
bereit bleibt. Dafür sind etwa 50% der für eine unein-
druckes ist wesentlich geringer. Andere Ateman-
geschränkte Tätigkeit notwendigen Energie notwendig
triebe kommen in spezifischen Situationen, z. B. bei
4 Erhaltungsumsatz, wenn Energiemangel eine zuneh-
Fieber, zum Zuge.
mende Funktionsminderung erzwingt, die Zelle aber
überlebt. Erst wenn das Nährstoffangebot nicht einmal
11.2 Energieumsatz des Menschen mehr für etwa 15% des Tätigkeitsumsatzes ausreicht,
geht die Zelle zugrunde.
11.2.1 Energieumsatz in Ruhe
Diese Betrachtung gilt aber nicht für alle Zellen des Orga-
Gesetz von der Erhaltung der Energie nismus. Denn viele, wie z. B. die Herzmuskelzellen und die
Jede Energieform kann in eine andere umgewandelt wer- Zellen der Atemmuskulatur, müssen zeitlebens tätig sein.
den, z. B. chemische (Benzin, Kohle etc.) in mechanische, Deswegen ist der Energieumsatz eines ruhenden Organis-
elektrische oder thermische und umgekehrt. Bei diesen mus auch nicht identisch mit der Summe der Bereit-
Umsetzungen entsprechen sich die umgesetzten Energie- schaftsumsätze aller Zellen, zumal neben den eben genann-
mengen quantitativ, d. h. es geht dabei keine Energie ver- ten weitere Organe, wie Gehirn, Leber und Nieren, auch bei
loren (Gesetz von der Erhaltung der Energie = I. Hauptsatz Körperruhe tätig sind.
der Thermodynamik, Erhaltungssatz). Daraus folgt, dass
die verschiedenen Energieformen einander äquivalent G Lebende Zellen verbrauchen auch in Ruhe Energie,
sind und daher alle in der Einheit der mechanischen Ener- um ihre Leistungsbereitschaft, zumindest ihre Struk-
gie, dem Joule, J (Dimension: m2⋅kg⋅s−2 = Newtonmeter, tur, aufrechtzuerhalten. Einige lebenswichtige
Nm), ausgedrückt werden können. Ein Joule (J) ist eine sehr menschliche Organe (z. B. Gehirn, Herz, Nieren) sind
kleine Energiemenge. Im physiologischen Alltag wird da- immer aktiv. Ihre Zellen kennen keine völlige Ruhe.
220 Kapitel 11 · Atmung, Energie- und Wärmehaushalt

4 morgens,
4 liegend in Ruhe,
4 nüchtern,
4 bei normaler Körpertemperatur ohne zu frieren oder
zu schwitzen.

Diese Bedingungen spiegeln die Variablen wider, die Ein-


fluss auf den Energieumsatz nehmen.
4 Erstens unterliegt dieser tageszyklischen Schwankun-
gen mit einem Anstieg am Vormittag und einem Abfall
während der Nacht.
4 Zweitens steigt der Energieumsatz bei körperlicher und
geistiger Arbeit an (7 unten).
4 Drittens steigt der Energieumsatz nach Nahrungsauf-
nahme an. Diese Zunahme hängt nicht nur von der
Verdauungstätigkeit ab, sondern auch von den sich an-
schließenden Stoffwechselprozessen.
4 Viertens steigt der Energieumsatz bei Fieber und in
zu kalter und zu warmer Umgebung, also außerhalb
der thermischen Neutralzone (Indifferenzzone). Kalte
Umgebung führt zu Muskelzittern (Abschn. 11.3.1), in
zu warmer Umgebung benötigt die Wärmeabfuhr
(Schwitzen mit erhöhter Kreislaufleistung durch ver-
mehrte Hautdurchblutung) zusätzliche Energie.

Die Verteilung des Grundumsatzes auf die einzelnen Orga-


ne zeigt . Tabelle 11.1. Leber und Skelettmuskulatur sind
jeweils mit einem Viertel am Grundumsatz beteiligt. Des-
halb kann der Energieumsatz des Menschen im Schlaf oder
11 in Narkose durch Abnahme des Muskeltonus unter den
Grundumsatz sinken. Ähnliches gilt für die Abnahme des
. Abb. 11.7a, b. Energieumsatz des Menschen. a Darstellung der Leberumsatzes beim Hungern.
Funktionseinschränkungen von Körperzellen bei Sauerstoff- oder
Nahrungsmangel. Besprechung im Text. b Abhängigkeit des Grund- G Der Ruheumsatz des Menschen hängt v. a. von
umsatzes vom Alter bei Männern und bei Frauen. Es ist der relative seinem Geschlecht und seinem Alter ab. Wird der
Umsatz in Kilojoule pro Quadratmeter Körperoberfläche und Stunde
(kJ/m2.h) angegeben, um die Unterschiede in Körpergröße und -ge-
Ruheumsatz unter definierten Bedingungen ge-
wicht vernachlässigen zu können. Man beachte den besonders starken messen, wird er Grundumsatz genannt. Leber und
Rückgang des Energiebedarfs nach Abschluss des Wachstums Skelettmuskulatur verbrauchen dabei je ein Viertel
der benötigten Energie.
Ruhe- und Grundumsatz des Menschen
Der geistig und körperlich ruhende Erwachsene benötigt 11.2.2 Energieumsatz bei Arbeit
etwa 4 kJ Energie pro Kilogramm Körpergewicht und pro
Stunde. Wie sehr dieser Ruheumsatz von Alter und Ge- Umsätze bei körperlicher Arbeit
schlecht abhängt, zeigen die Kurven in . Abb. 11.7b. Be- Bei leichter körperlicher Arbeit steigt der Umsatz zusätz-
sonders die starke Altersabhängigkeit ist zu beachten. lich zum Ruheumsatz um 1×2.000 kJ pro Tag, bei mäßiger
Der eben angegebene Wert für den Ruheumsatz ergibt Arbeit um 2×2.000, bei mittelschwerer um 3×2.000 und bei
bei einem 70 kg schweren Menschen rund 7000 kJ pro Tag Schwerstarbeit um 5 × 2.000 kJ pro Tag an. Bei körperlicher
(1700 kcal/Tag). Der Tagesumsatz eines nicht körperlich
arbeitenden Menschen (»Freizeitumsatz«) liegt mit rund
10.000 kJ (etwa 2300 kcal) nur mäßig darüber. Weite Teile
. Tabelle 11.1. Anteil verschiedener Organsysteme am
der Bevölkerung, die keinen wesentlichen körperlichen Be- Grundumsatz des Menschen
lastungen unterliegen, haben keinen höheren täglichen Ge-
samtumsatz. Organ Leber Muskel Gehirn Herz Nieren Rest
Grundumsatz wird ein Ruheumsatz genannt, der unter Anteil 26% 26% 18% 9% 7% 14%
vereinbarten Bedingungen gemessen wird, nämlich:
11.2 · Energieumsatz des Menschen
221 11
11.2.3 Energiegehalt der Nahrungsmittel

Energieäquivalent der Nährstoffe


Die von den einzelnen Nährstoffen (Eiweiße, Fette, Kohlen-
hydrate, Abschn. 2.1.2) bei der Verbrennung im Körper
freigesetzte Energie lässt sich
4 aus der Art und Menge der aufgenommenen Nähr-
stoffe,
4 aus dem Sauerstoffverbrauch und
4 aus den abgegebenen Stoffwechselendprodukten exakt
angeben.

Die pro Liter verbrauchten Sauerstoffs bei der Verbrennung


der einzelnen Nährstoffe freigesetzte Energie wird als das
Energieäquivalent oder kalorisches Äquivalent der je-
weiligen Nährstoffe bezeichnet (. Tabelle 11.2). Da die ver-
schiedenen Energieäquivalente eng beieinander liegen
(zwischen 18,8 und 21,1 kJ), ist es eine für praktische
Zwecke völlig ausreichende Annahme, dass bei normalen
. Abb. 11.8. Reflektorische Erhöhung des Muskeltonus bei geis-
Ernährungsgewohnheiten und normalem Stoffwechsel im
tiger Arbeit. Anhand der vom Unterarm abgeleiteten Muskelaktions-
potenziale (EMG) erkennt man deutlich die erhöhte Muskelaktivität Körper pro Liter verbrauchten Sauerstoffs rund 20 kJ
während geistiger Arbeit Energie freigesetzt werden. Damit ist über die Messung des
Sauerstoffverbrauchs in der Atemluft der Energieverbrauch
eines Menschen berechenbar. Auch lässt sich darüber be-
Schwerstarbeit finden wir demnach Energieumsatzwerte rechnen, wieviel Sauerstoff für die Besatzung einer Welt-
bis zu 20.000 kJ pro Tag. Das ist rund das Dreifache des raumkapsel mitgeführt werden muss.
Ruheumsatzes (also etwa das Doppelte des Freizeitum-
satzes). Biologischer Brennwert der Nährstoffe
Bei Frauen liegt dieser Maximalwert wegen des gerin- Die bei der Verbrennung von je 1 g eines Nährstoffs frei-
geren Körpergewichts in der Nähe von 15.000 kJ pro Tag. werdende Energie wird als ihr Brennwert bezeichnet. Die
Bei sportlichen Aktivitäten werden erheblich höhere Ener- Brennwerte der in einer gemischten mitteleuropäischen
gieumsätze als bei beruflichen Tätigkeiten erreicht, aller- Kost enthaltenen Fette, Eiweiße und Kohlenhydrate
dings für kürzere Zeiträume. (Stärke, hochmolekulare Zucker) sowie des einfachsten
Kohlenhydrats, der Glukose (Traubenzucker, Blutzucker)
Umsätze bei geistiger Arbeit sind ebenfalls in . Tabelle 11.2 angegeben. Der gegenüber
Bei geistiger Arbeit beobachtet man ebenfalls eine Zunah- den Kohlenhydraten und dem Eiweiß gut doppelt so hohe
me des Energieumsatzes. Diese ist nur zum geringeren Teil Brennwert der Fette rührt daher, dass in ihre Moleküle
durch die höhere Aktivität des Gehirns bedingt. Der größte kaum Sauerstoff eingebunden ist.
Teil der Zunahme rührt von einer reflektorisch erhöhten Der biologische Brennwert der Eiweiße ist kleiner
Grundanspannung der Muskulatur her, also von einem er- als der, der bei vollständiger Verbrennung »im Rea-
höhten Muskeltonus (. Abb. 11.8). genzglas« beobachtet wird. Dies kommt daher, dass die
Zur Messung der Hirndurchblutung bei der funktio- Eiweißverbrennung im Organismus unvollständig bleibt.
nellen Magnetresonanztomographie (fMRT) und der Nah- Die im Eiweiß enthaltenen Stickstoffmoleküle werden
Infrarot-Spektroskopie (NIRS, Abschn. 20.6.3) macht man nämlich nicht oxidiert, sondern teils als Harnstoff, teils
sich aber die oft nur wenige Prozent betragenden Anstiege
des Energieverbrauchs bei geistiger Arbeit zunutze.
G Der Arbeitsumsatz bei körperlicher Arbeit kann . Tabelle 11.2. Energieäquivalent (kJ/l O2) und biologischer
das Doppelte des Freizeitumsatzes von 10.000 kJ Brennwert (kJ/g) der Nährstoffe. Die biologischen Brennwerte
betragen. Bei geistiger Arbeit steigen der Muskel- der Fette, Eiweiße und Kohlenhydrate gelten für eine ge-
mischte mitteleuropäische Kost
tonus und damit der Energieverbrauch ebenfalls
an. Der bei geistiger Arbeit geringfügig ansteigende Fette Eiweiße Kohlenhydrate Glukose
Energieverbrauch des Gehirns läßt sich mit Nah- kJ/l O2 19,6 18,8 21,1 21,1
Infrarot-Spektroskopie, NIRS, nachweisen.
kJ/g 38,9 17,2 17,2 15,7
222 Kapitel 11 · Atmung, Energie- und Wärmehaushalt

als Harnsäure und teils als Kreatinin mit dem Harn ausge- G Die bei der Arbeitsleistung des Körpers entstehende
schieden. Wärme wird zur Aufrechterhaltung der Körpertem-
Wie können wir feststellen, ob unsere tägliche Energie- peratur genützt; reicht sie dazu nicht aus, bildet der
zufuhr unserem Bedarf entspricht? Beim gesunden Er- Körper zusätzlich Wärme, z. B. durch Kältezittern.
wachsenen ist dies ganz einfach: durch Messen des Körper-
gewichts. Bleibt dieses im Mittel über lange Zeit konstant, Körperkern- und Körperschalentemperatur
so entspricht die Energiezufuhr in der Nahrung unserem Die in den Körperzellen gebildete Wärme strömt über
Verbrauch. Nehmen wir aber an Gewicht zu, ist unsere die Körperoberfläche zur Umgebung hin ab. Schon aus
Energiezufuhr zu groß, und der Körper speichert diese diesem Grunde haben die oberflächlichen Teile des Kör-
Energie in Form von Fett. Nehmen wir dagegen an Gewicht pers eine niedrigere Temperatur als die zentralen. Infolge
ab, so ist unsere Energiezufuhr zu gering, und unser Körper der unregelmäßigen Gestalt des Körpers und unter dem
greift zur Deckung seines Energiebedarfs auf seine Fettvor- Einfluss der normalerweise getragenen Bekleidung ergibt
räte zurück. sich insgesamt ein kompliziertes Temperaturfeld, von dem
man vereinfachend sagen kann, dass es aus einem »gleich-
G Um 20 kJ Energie zu gewinnen, wird etwa 1 l Sauer-
warmen«, also homöothermen Körperkern und einer
stoff verbraucht. Anders als bei den Kohlenhydraten
»wechselwarmen«, also poikilothermen Körperschale be-
und Fetten liegt der biologische Brennwert der
steht.
Eiweiße unterhalb dem chemisch möglichen, da ihre
Solche Temperaturfelder illustriert . Abb. 11.9 bei
Stickstoffmoleküle nicht vollständig oxidiert wer-
kalter (a) und warmer Umgebungstemperatur (b). Als
den. Bleibt das Körpergewicht konstant, entspricht
normale Körperkerntemperatur sind 37°C angegeben. In
die Energiezufuhr dem Verbrauch.
kalter Umgebung ist diese Temperatur nur in der Tiefe des
Körpers anzutreffen (Verlauf der 37°C-Isotherme in
11.3 Wärmebildung und . Abb. 11.9a und b). An den Händen und Füßen wird durch
Wärmeabgabe eine verringerte Durchblutung Wärme »eingespart« und

11.3.1 Wärmebildung
a b
Stoffwechselbedingte und fakultative
Wärmebildung
11 Nach den Gesetzen der Thermodynamik entsteht bei
der Arbeitsleistung des Körpers zwangsläufig Wärme.
Diese Wärme wird beim Menschen dazu genutzt, die
Körpertemperatur dauernd auf einem Wert zu halten,
der in den meisten Klimazonen erheblich über der Um-
gebungstemperatur liegt. Der Mensch gehört also zur
Gruppe der homoiothermen Lebewesen (Warmblüter).
Diese (Vögel, Säugetiere) können unabhängig von der
Außentemperatur eine gleichförmige Körpertempera-
tur und damit eine gleichförmige Aktivität aufrecht er-
halten.
Reicht die bei der Arbeitsleistung des Körpers entste-
hende Wärme zur Konstanthaltung der Körpertemperatur
in kalter Umgebung nicht aus, werden Wärmeverluste
durch entsprechende Bekleidung und Absenken der Kör-
perschalentemperatur (über eine verringerte Hautdurch-
blutung, 7 unten) reduziert und der Körper bildet zusätz-
liche Wärme. Letzteres geschieht
4 durch aktive Betätigung seines Bewegungsapparates, . Abb. 11.9a, b. Kern- und Schalentemperatur des menschlichen
also z. B. Joggen Körpers. Dargestellt sind die Verbindungslinien von Messpunkten
4 durch unwillkürliche tonische und rhythmische Muskel- gleicher Temperatur auf der Körperoberfläche in kalter (a) und in
aktivität ohne äußere Arbeitsleistung, also durch Kälte- warmer Umgebung (b). Sie geben ein Abbild des Temperaturfeldes
des menschlichen Körpers unter diesen Umgebungsbedingungen.
zittern und
Der homöotherme Körperkern (rot in a) wird im Wesentlichen vom
4 durch Steigerung anderer Stoffwechselvorgänge, z. B. Brust- und Bauchraum sowie dem Schädelinneren gebildet. In warmer
zusätzliche Fettverbrennung in der Leber. Letzteres Umgebung steigt auch in großen Bereichen der poikilothermen
wird als zitterfreie Wärmebildung bezeichnet. Körperschale die Temperatur auf die des Kerns an
11.3 · Wärmebildung und Wärmeabgabe
223 11

die Temperaturen liegen dadurch auch in der Tiefe des Ge- sympathische Nervenfasern steuerbar. Bei Umgebungs-
webes um bis zu 10°C unter dem Körperkern. temperaturen oberhalb der Körpertemperatur (Hochsom-
Schon in normaler Umgebung findet man Unterschiede mer, Tropen) kann Wärme nur noch auf evaporativem
in der Körperkerntemperatur von 0,2–1,2°C. Selbst das Ge- Wege abgegeben werden.
hirn weist eine radiales Temperaturgefälle zur Hirnrinde
G Die Verteilung der Wärme im Körper erfolgt weitge-
auf, das mehr als 1°C beträgt. Die höchsten Temperaturen
hend über das Blut; die Abgabe der Körperwärme an
werden im Rektum gefunden. Es ist daher nicht möglich,
die Umgebung erfolgt in Ruhe überwiegend durch
die Körperkerntemperatur durch eine einzige Zahl auszu-
Strahlung, bei körperlicher Arbeit und in heißer Um-
drücken. Für praktische Zwecke reicht es aus, eine an einem
gebung v. a. durch Schweißverdunstung.
bestimmten Ort (Rektum, Mundhöhle) gemessene Tempe-
ratur als repräsentativ für die Körperkerntemperatur zu
erklären. 11.3.3 Thermographie und
Hautwiderstandsmessungen
G Das Temperaturfeld des menschlichen Körpers hat als psychophysische Methoden
einen temperaturkonstanten (homöothermen) Kern
und eine temperaturvariable (poikilotherme) Schale; Messungen der Hauttemperatur
aber auch die Kerntemperatur ist weder räumlich
Mit Hilfe von Videokameras, die für das Erfassen infraroter
noch zeitlich völlig homogen.
Strahlen eingerichtet sind, kann die Wärmestrahlung der
menschlichen Haut aufgezeichnet werden. Als Beispiel für
11.3.2 Wege der Wärmeabgabe diese Art von Untersuchungen zeigt . Abb. 11.10a–d solche
Thermogramme von einem menschlichen Unterarm vor
Innerer Wärmestrom durch Konduktion und nach intradermaler Injektion von Histamin. Das His-
und Konvektion tamin bewirkt eine lokale Vasodilatation, die zu einer Er-
Zwei Wege des Wärmeaustauschs stehen im Körper- höhung der Lokaldurchblutung (zusätzlich in . Abb. 11.10e
inneren zur Verfügung, um Wärme zur Körperoberfläche mit Hilfe eines Laser-Doppler-Flussmessers aufgezeichnet)
zu transportieren: zum einen die unmittelbare »Weiterga- führt. Daneben tritt mit kurzer Verzögerung im Injektions-
be« der Wärme von einem Gewebeteilchen zum nächsten gebiet ein deutlicher Juckreiz auf, dessen Intensität und
und zum anderen der »Transport« von Wärme durch das Zeitverlauf (rote Messkurve in . Abb. 11.10e) weitgehend,
zirkulierende Blut. Ersteres wird Wärmekonduktion, letz- aber nicht vollständig parallel der Vasodilatation bzw. der
teres Wärmekonvektion genannt. Es liegt auf der Hand, Hauterwärmung sind.
dass von diesen beiden die Konvektion der bei weitem Die Messung der Hauttemperatur mit Thermistoren,
wichtigere Wärmetransportweg ist. die an die Hautoberfläche geklebt werden, spielt in der Psy-
chophysiologie des Schlafes (Abschn. 22.4) und der Ver-
Wärmeabgabe durch Strahlung und Evaporation haltensmedizin eine große Rolle. In der Verhaltensmedizin
Unser Körper strahlt in Abhängigkeit von seiner Tempera- wird über biologische Rückmeldung (Biofeedback) der
tur infrarote Strahlen ab. Dies kann man sich verdeutlichen, Handtemperatur der psychische Spannungs- und Ent-
indem man die Handfläche in kleinem Abstand gegen das spannungszustand vom Patienten selbst beeinflusst. Dies
Gesicht hält: Man verspürt sofort eine Wärmeempfindung, hat sich in der Behandlung der Raynaud-Erkrankung, von
die auf der verminderten (Netto-)Wärmeabstrahlung be- Bluthochdruck und Migräne als wirksam erwiesen (z. B.
ruht. Das Nettoausmaß der Wärmeabgabe durch Strah- Box 6.6 in Abschn. 6.3.2).
lung ist also durch die Differenz zwischen der Hauttempe-
G Die thermographische Messung der Wärmestrah-
ratur und der Temperatur der umgebenden Flächen (z. B.
lung der Haut und die direkte Messung der Haut-
Zimmerwände) bestimmt.
temperatur sind Methoden der Psychophysiologie,
Unsere Haut ist von innen her nicht absolut wasser-
die z. B. bei der Schlafanalyse und in der Verhaltens-
dicht. Es gelangt daher immer etwas Wasser durch Dif-
medizin zum Einsatz kommen.
fusion auf die Hautoberfläche und verdunstet dort. Da-
bei wird der Haut Wärme entzogen, denn die Ver-
dunstungswärme des Wassers beträgt 2400 kJ/l. Unter Messen des emotionalen Schwitzens
Normalbedingungen in Ruhe beträgt diese Perspiratio in- Die Sekretion der Schweißdrüsen wird durch cholinerge
sensibilis oder extraglanduläre Wärmeabgabe (d. h. ohne sympathische Nervenfasern gesteuert. Sie ist daher durch
Beteiligung der Schweißdrüsen) etwa 20% der Gesamt- Atropin hemm- und durch Parasympathikomimetika aus-
wärmeabgabe. lösbar. Bei starker psychischer Anspannung kann eine
Bei Arbeit kommt die erhebliche glanduläre Wärme- Vasokonstriktion im Bereich der Hände und Füße mit
abgabe durch die Schweißsekretion hinzu. Nur diese glan- Schweißsekretion an den Palmar- und Plantarflächen von
duläre Wasserabgabe ist neuronal über sudomotorische Händen und Füßen verbunden sein. Thermoregulatorisch
224 Kapitel 11 · Atmung, Energie- und Wärmehaushalt

Aus Schandry R (1998). Mit freundlicher


Genehmigung von Beltz.
. Abb. 11.11a, b. Spontanfluktuationen des elektrischen Haut-
widerstandes. Die Messung erfolgte an der Handinnenseite und ist
dargestellt als Leitfähigkeit (Kehrwert des Widerstands). Die beiden
Kurvenstücke (30 s Dauer) stammen von derselben Versuchsperson
und wurden während einer Sitzung aufgenommen. Spur a wurde
während einer Ruhephase, Spur b während einer Vorbereitungs-
phase (auf eine Übung in freier Rede) aufgezeichnet. Die Zunahme
der Spontanfluktuationen in b ist deutlich erkennbar

ist dieses emotionale Schwitzen (»kalter Schweiß«) eine


paradoxe Reaktion, da es anders als das thermische Schwit-
zen nicht mit einer Vasodilatation einhergeht.
Durch das emotionale Schwitzen sinkt der Hautwider-
stand innerhalb von 1–4 s deutlich ab. Dies lässt sich durch
Anlegen eines schwachen, nicht spürbarer elektrischen
Stromes an der Haut, z. B. der Handinnenfläche, als Zu-
nahme der Membranleitfähigkeit dokumentieren. Gleich-
zeitig nehmen die Spontanfluktuationen des Hautwider-
standes zu (vgl. . Abb. 11.11a mit Abb. 11.11b).

Ausmaß und Funktion emotionalen Schwitzens


11 Vor allem das Ausmaß negativ getönter emotionaler Erre-
gung spiegelt sich in der Hautleitfähigkeit (. Abb. 11.11b),
da als oberste Steuerstrukturen vor allem Amygdala und
sympathische Kerne fungieren. Peripher-physiologisch
wird die Leitfähigkeitsänderung durch cholinerge Reizung
vom sekretorischen Ende der Schweißdrüsengänge aus-
gelöst. Die aktuelle Füllung der Schweißdrüsengänge, nicht
. Abb. 11.10a–e. Thermographische Messung der Wärmestrah-
lung der menschlichen Haut zum Studium psychophysischer das Schwitzen an der Hautoberfläche, spielt für das Zustan-
Zusammenhänge. In diesem Experiment wurde ein Juckreiz durch dekommen dieser Reaktion eine große Rolle. Durch die
intrakutane Applikation von Histamin am Unterarm einer freiwilligen Erhöhung der Salzkonzentration (hauptsächlich Kochsalz,
Versuchsperson ausgelöst. Kurz nach dem Reiz, der zum Zeitpunkt NaCl) in den Schweißdrüsenkanälen der Haut sinkt der
120 s in e gegeben wurde (grüner Pfeil), nimmt die Durchblutung des
elektrische Widerstand.
betroffenen Hautbereiches stark zu, was mit Hilfe eines Laser-Doppler-
Flussmesser registriert wird (blaue Messkurve in e). Dieser erhöhte Die physiologische Funktion der Hautleitfähigkeit
Blutfluss bewirkt, wie in der Thermographiebildfolge a–d zu erken- (SCR, »skin conductance response« und SCL, »skin con-
nen, eine deutliche Erwärmung des injizierten Areals und seiner Um- ductance level«) ist bis heute rätselhaft geblieben. Ob sie mit
gebung. Die weißen Linien A–D in e markieren die Zeitpunkte, an der Verbesserung der Griffsicherheit durch innere Elastizi-
denen die zugehörigen Thermogramme registriert wurden. Der Ort
tätserhöhung oder der Temperaturregulation zu tun hat,
der Histamininjektion ist in b markiert. Die subjektive Juckempfin-
dung der Versuchsperson (rote Messkurve in e) setzt verzögert ein bleibt unklar.
und erreicht ihr Maximum etwa 4 min nach Injektion des Histamin In der Psychophysiologie wird die Hautleitfähigkeit vor
allem verwendet bei
4 Frühdiagnose der Schizophrenie,
4 der Messung der Angstreaktion bei verschiedenen Ver-
haltensstörungen,
4 beim Lügendetektor und
4 der Diagnose der Psychopathie (Soziopathie,
Abschn. 27.4.4)
11.4 · Regelung der Körpertemperatur
225 11

G Die Messung des Hautwiderstandes ist eine wichtige G Die Thermoregulation ist ein geschlossenes Regel-
Methode zur Erfassung psychophysischer Zusam- system mit negativer Rückkopplung. Ihre Stell-
menhänge. Die Hautleitfähigkeit ändert sich z. B. größen stehen unter dem Einfluss des autonomen
nach emotionalen Reizen; ihre Messung spielt daher und des somatomotorischen Nervensystems.
eine große Rolle in der Erforschung der Psychophy-
siologie der Emotionen. Innere und äußere Thermosensoren
Die Körperkerntemperatur wird an verschiedenen Stellen
durch temperaturempfindliche Nerven- bzw. Sinneszellen
11.4 Regelung der Körpertemperatur gemessen. Solche innere Thermosensoren (innere Thermo-
rezeptoren), v. a. solche, die auf Temperaturanstieg mit
11.4.1 Regelkreis Thermoregulation einer Zunahme ihrer Entladungen reagieren (daher auch
Wärmeneurone genannt), liegen vor allem im vorderen
Anteile des Regelkreises Hypothalamus, im unteren Hirnstamm (Mittelhirn und
Der Regelkreis der Thermoregulation ist im Blockschalt- Medulla oblongata) und im Rückenmark.
bild der . Abb. 11.12 skizziert. Links sind die Stellgrößen Die Körperschalentemperatur wird durch Thermosen-
angeordnet, deren »Verstellung« zu einer Veränderung der soren in und unter der Haut gemessen. Es handelt sich
Regelgröße Körpertemperatur führt. Die Körpertempera- hier um spezifische Kalt- und Warmsensoren, deren Eigen-
tur wiederum wird von Messfühlern, nämlich den Thermo- schaften in Abschn. 15.3.4 beschrieben werden. Ihre Ent-
sensoren (Thermorezeptoren) überwacht, die ihre Meldun- ladungen werden nicht nur zur (unbewussten) Messung
gen (Messgrößen in . Abb. 11.12) dem zentralen Regler der Körperschalentemperatur herangezogen, sondern sie
zuführen. Dieser stellt fest, ob die Körpertemperatur (der dienen auch dem (bewussten) Temperatursinn zur Wahr-
Istwert) unter dem Einfluss von Störgrößen (z. B. vermehr- nehmung der Kalt- bzw. Warmempfindungen.
te Wärmebildung bei Arbeit) von ihrem Sollwert abge-
G Die Messfühler für die Thermoregulation sind Ther-
wichen ist und verstellt entsprechend über die Aussendung
mosensoren im ZNS (innere Thermosensoren zum
von Steuersignalen die Stellgrößen so lange, bis die Mess-
Messen der Körperkerntemperatur) und in der Haut
größen den Ausgleich der Abweichung (im Beispiel also
(äußere Thermosensoren zum Messen der Körper-
den Rückgang der erhöhten Körpertemperatur) signali-
schalentemperatur). Letztere liefern auch Signale für
sieren.
bewusste Kalt- und Warmempfindungen.
Das wesentliche Merkmal dieser (wie jeder anderen
Regelung, Abschn. 7.1.5) ist der geschlossene Regelkreis mit
einer Polung derart, dass jede Störung der Regelgröße 11.4.2 Zentralnervöse Regulation
selbsttätig über negative Rückkopplung korrigiert wird. der Körpertemperatur

Das hypothalamische Integrationszentrum


der Temperaturregulation
Durchtrennung des Hirnstammes unmittelbar rostral des
Hypothalamus lässt bei Katzen die Thermoregulation voll-
kommen intakt. Nach Durchschneidungen kaudal des
Hypothalamus verhalten sich die Tiere jedoch auch nach
Wochen und Monaten noch poikilotherm (wechselwarm,
Abschn. 11.3.1). Aufgrund dieser und zahlreicher anderer
experimenteller Indizien wird der Hypothalamus, insbe-
sondere die Area hypothalamica posterior, die selbst keine
nennenswerte Thermosensitivität besitzt, als Integrations-
zentrum für die Thermoregulation angesehen. Diese hypo-
thalamischen »Zentren« sind auch für andere Regelvor-
gänge (z. B. zirkadiane Periodik, Abschn. 22.1.1) und für
die Steuerung von Antrieb und Motivation (Abschn. 25)
. Abb. 11.12. Blockschaltbild des Regelkreises der Thermore- verantwortlich.
gulation. Das Messsystem besitzt 2 Gruppen von Messfühlern zur Im Vergleich zu technischen Regelsystemen, z. B. einer
Messung der Körperkern- (innere Thermorezeptoren) und der Schalen- Zentralheizung (Abschn. 7.1.5), handelt es sich hier um ein
temperatur (kutane Thermorezeptoren). Über die von ihnen über-
sehr aufwendiges Regelsystem, das durch seine zahlrei-
mittelten Messgrößen kann der zentralnervöse Regler Abweichungen
des Sollwertes vom Istwert (z. B. durch die Einwirkung von Störgrößen) chen Messfühler auf der Eingangsseite den thermischen
feststellen und anschließend über Steuersignale entsprechende Gesamtzustand des komplizierten Temperaturfeldes des
Änderungen der Stellgrößen zur Temperaturkorrektur einleiten menschlichen Körpers (. Abb. 11.9) berücksichtigen kann,
226 Kapitel 11 · Atmung, Energie- und Wärmehaushalt

. Abb. 11.13. Stellglieder der Thermoregulation und ihre Blockern) führt zur maximalen Vasodilatation und zur Eröffnung von
nervale Kontrolle über das autonome und das somatomotorische arteriovenösen Anastomosen (Steigerung des konvektiven Wärme-
Nervensystem. Die zitterfreie Wärmebildung im braunen Fettgewebe transports). Die cholinerge sympathische Innervation der Schweiß-
kann durch β-Rezeptoren-Blocker aufgehoben werden. Ausschaltung drüsen kann durch Atropin gehemmt werden. Die cholinerge neuro-
der Sympathikuswirkung an den Hautgefäßen (mit α-Rezeptoren- muskuläre Übertragung wird durch Kurare blockiert. ACh Azeytlcholin

wobei außerdem zwei Arten von Sensoren, nämlich Kalt- Das autonome Nervensystem steuert (von links nach
und Warmsensoren, antagonistisch zusammenwirken. Und rechts in . Abb. 11.13)
mit den zahlreichen Stellgliedern auf der Effektorseite 4 die zitterfreie Wärmebildung im braunen Fettgewebe,
(. Abb. 11.13) ist das System in der Lage, Abwehrvorgänge 4 das Ausmaß der Isolation der Körperschale über die
gegen Kälte oder Wärme (»Stellvorgänge«, . Abb. 11.12 und Regelung der Hautdurchblutung und
11.13) sehr gezielt und mit kurzer Latenz einzuleiten. 4 die Sekretion der Schweißdrüsen.
Im REM-Schlaf (Abschn. 22.4.1) ist das Regelsystem
aber teilweise außer Kraft, so dass wir gelernt haben, uns Das somatomotorische Nervensystem ist zuständig für
antizipatorisch vor Kälte zu schützen, indem wir uns zu- 4 die Wärmebildung durch Muskelzittern und
decken. 4 die Steuerung der Wärmeabgabe über Verhalten (z. B.
An- oder Ablegen von Kleidung und Decken).
11 Ansteuerung der Stellglieder durch das
periphere Nervensystem G Das Temperaturregelsystem liegt in der Area hypo-
. Abb. 11.13 illustriert die nervale Ansteuerung der thalamica posterior. Seine Signale werden teils über
verschiedenen Stellglieder, die die Stellgrößen der Tem- das autonome, teils über das somatomotorische
peraturregulation liefern (vergleiche . Abb. 11.12 mit periphere Nervensystem an die Stellglieder der
. Abb. 11.13). Thermoregulation übertragen.

Box 11.4. Maligne Hyperthermie

Bei chirurgischen Eingriffen mit gasförmigen Narkotika Die Anlage zur malignen Hyperthermie wird autoso-
(»Inhalationsnarkotika«, wie z. B. Halothan) und der An- mal-dominant vererbt. Dantrolen, eine Hemmsubstanz
wendung von Muskelrelaxanzien (Box 13.1 in Abschn. für die Kalziumfreisetzung, kann bei diesen »MHS-Per-
13.1.3) kommt es sehr selten zu einer starken Körpertem- sonen« (»malignant hyperthermia susceptible«) eine ein-
peraturzunahme, die nicht auf fiebersenkende Medika- setzende Hyperthermie kupieren, präventiv gegeben
mente anspricht und ohne Behandlung lebensbedrohend verhindert es die Hyperthermie. Koffein setzt wie bei der
ist. Dieses Krankheitsbild wird maligne Hyperthermie malignen Hyperthermie, also unter Umgehung der elek-
genannt. trischen Erregung, Kalziumionen aus dem sarkoplasma-
Es kommt bei diesen Personen zu einer spontanen tischen Retikulum frei. Die Schwellenkonzentration für
Freisetzung von Kalziumionen aus dem sarkoplasmati- eine solche »Koffeinkontraktur« ist bei MHS-Personen
schen Retikulum in das Zytosol der Skelettmuskelfasern, reduziert. Darauf beruht der Standardtest der »European
einem Vorgang, der normalerweise nur bei der elektro- Hyperpyrexia Group« mit biopsiertem Muskelgewebe,
mechanischen Kopplung (Abschn. 13.1.3) auftritt. Es re- der vor einer anstehenden Vollnarkose bei Verdacht auf
sultiert eine lang andauernde, alle Skelettmuskeln erfas- Anlage zur malignen Hyperthermie angewandt wird.
sende Muskelaktivierung, die sich in Muskelverspannung Literatur: The European Malignant Hyperpyrexia Group (1984)
und v. a. in hohem Energieumsatz mit der zugehörigen A protocol for the investigation of malignant hyperpyrexia sus-
Wärmeentwicklung äußert. ceptibility. J Anaesth 56:1267
11.4 · Regelung der Körpertemperatur
227 11
11.4.3 Langfristige und lust (wahrscheinlich wegen der verminderten Salzkonzen-
pathophysiologische Aspekte tration seines Schweißes, was zu osmotisch ausgelöstem
der Thermoregulation Durst führt, Abschn. 25.2.1). Der vermehrte Durst begüns-
tigt den Ausgleich der Wasserbilanz, wodurch ein »Aus-
Temperaturregelung beim Neugeborenen trocknen« des Körpers mit der Gefahr einer Hyperthermie
Beim menschlichen Neugeborenen sind alle thermoregu- (7 unten) vermieden wird.
latorischen Reaktionen unmittelbar nach der Geburt aus-
G Die langfristige Anpassung an thermische Belas-
lösbar, selbst bei Frühgeburten mit Geburtsgewichten um
tungen erfolgt teils über Änderungen im Regel-
1000 g. Die vielfach vertretene Auffassung, das Neu- oder
mechanismus, teils über Verhaltensanpassungen.
Frühgeborene sei poikilotherm (wegen fehlender Reife
seines zentralen Temperaturregelsystems), kam auf, weil
das Neugeborene bei der Kälteregulation kein Zittern, son- Hyper- und Hypothermie
dern zitterfreie Wärmebildung (Abschn. 11.3.1) einsetzt, Die häufigste Form einer erhöhten Körpertemperatur ist
die nicht zu sehen ist. Die Wärmebildung kann auf zitter- das Fieber. Bei ihm führen von außen in den Körper ein-
freiem Wege verdoppelt bis verdreifacht werden. Erst bei dringende fiebererzeugende Stoffe (exogene Pyrogene,
sehr extremer Kältebelastung tritt auch Zittern hinzu. z. B. Bakterientoxine) im Körper zur Produktion eines
Relativ zum Körpergewicht hat das Neugeborene eine endogenen Pyrogens (Interleukin I, Mediator unspezifi-
sehr große Körperoberfläche, von der es sehr viel Wärme scher Immunreaktionen, Abschn. 9.1.5), was über eine Soll-
verlieren kann. Ein Ausgleich der Wärmebilanz auf dem wertverstellung des Temperaturregelsystems zu einer
Niveau des Minimalumsatzes (Behaglichkeitstemperatur) höheren Körpertemperatur führt. Dieser neue Sollwert
erfordert daher eine höhere Umgebungstemperatur als wird im Fieberanstieg durch eine Steigerung der Wärme-
beim Erwachsenen oder zusätzliche Bekleidung. Bei sehr bildung über Kältezittern (Schüttelfrost) und eine maximale
kleinen Frühgeborenen ist der Regelbereich noch weiter Vasokonstriktion der Hautgefäße erreicht.
eingeschränkt. Sicherheitshalber werden sie daher in ther- Umgekehrt treten beim Fieberabfall Schweißsekretion
mostatisierter Umgebung (Inkubatoren) aufgezogen. und Vasodilatation auf, genauso, als wenn beim Gesunden
eine Überhöhung der Körpertemperatur aufgetreten wäre.
G Beim Neugeborenen wird die zitterfreie Wärmebil-
Während des anhaltenden Fiebers werden äußere thermi-
dung zur Aufrechterhaltung der Körpertemperatur
sche Störungen durch entsprechende Stellvorgänge kom-
eingesetzt. Wegen seiner relativ großen Körperober-
pensiert. Die Stellvorgänge der Thermoregulation bleiben
fläche ist das Neugeborene wesentlich weniger
also intakt. Die Temperatur wird lediglich auf ein erhöhtes
kältebelastbar als der Erwachsene.
Niveau eingeregelt.
Sobald bei extremer Wärmebelastung (z. B. Marathon-
Hitzeadaptation lauf, Sauna) die Mechanismen der Wärmeabgabe überfor-
Bei regelmäßiger starker körperlicher Leistung in mäßig dert sind, führt dies zu einem Anstieg der Körpertempera-
warmer Umgebung (z. B. Marathonläufer) kommt es zu tur, also zur Hyperthermie. Kurzfristig können hier (wie
einer um einen Faktor zwei zunehmenden Schweißsekre- auch beim Fieber) Körperkerntemperaturen um 42°C er-
tionsrate, die bei Hochtrainierten 1–2 l/h erreichen kann. tragen werden. Bei andauernder Hyperthermie treten bei
Die Schweißsekretion beginnt überdies bei einer niedrige- Temperaturen ab 39,5–40°C schwerste, meist rasch zum
ren Schalen- und Kerntemperatur, d. h. die Schwelle für die Tode führende Schädigungen des Gehirns mit Gehirn-
Auslösung des Regelmechanismus wird zu tieferen Werten ödem auf, die von Desorientiertheit, Delirium und Krämp-
verschoben. fen begleitet sind. Man spricht von einem Hitzschlag.
Durch diese Adaptationsvorgänge stellt sich die mitt- Zum wesentlich harmloseren Hitzekollaps kommt es
lere Körpertemperatur für eine gegebene Wärmebelastung durch längeres Stehen (bzw. Stehenbleiben nach körper-
auf einen niedrigeren Wert ein, wodurch der Organismus licher Aktivität) unter Hitzebelastung. Die extreme Vaso-
vor kritischen Anstiegen der Herzfrequenz und der peri- dilatation der Hautgefäße führt zum »Versacken« größerer
pheren Durchblutung bewahrt wird, die in den Hitzekollaps Blutmengen in den Hautvenen. Dies führt zu einem un-
(7 unten) münden würden. Ferner nimmt im Verlauf der genügenden Herzminutenvolumen und damit zum raschen
Adaptation der Salzgehalt des Schweißes erheblich ab, was Blutdruckabfall mit daraus resultierender Bewusstlosigkeit.
schädlichen Salzverlusten vorbeugt. Die Körpertemperatur ist dabei nur wenig über normal
Bei anhaltender Hitzebelastung in feucht-heißem erhöht.
Tropenklima nimmt nach einiger Zeit profusen Schwitzens Wenn bei extremer Kältebelastung die Kälteabwehr-
die Schweißsekretionsrate wieder ab. Das unnütze Abtrop- mechanismen überfordert sind, kommt es zwangsläufig zu
fen von Schweiß, das dem Körper keinerlei Wärme entzieht, einem Absinken der Körpertemperatur, genannt Hypo-
wird dadurch vermieden. Der Hitzeadaptierte wird auch thermie. Bei Körpertemperaturen um 26–28°C kann dann
durstiger als ein Nichtadaptierter bei gleichem Schweißver- der Tod durch Herzflimmern eintreten. Vor Einleitung
228 Kapitel 11 · Atmung, Energie- und Wärmehaushalt

einer zu therapeutischen Zwecken induzierten Hypother- G Fieber ist die Folge der Verstellung des Sollwerts
mie (z. B. bei Herzoperationen) muss das Temperaturregel- der Kerntemperatur auf einen abnorm hohen Wert
system vorher pharmakologisch (durch Narkose) ausge- durch Pyrogene. Hyperthermie und Hypothermie
schaltet werden. sind Folgen der Überforderung des Temperatur-
regelsystems.

Zusammenfassung
Für die Lungenatmung in Ruhe und bei Arbeit gilt: konzentration (pH-Wert) in Blut und Extrazellulär-
5 Das maximale Atemzugvolumen, genannt Vital- flüssigkeit und regeln die Atemtiefe und -frequenz so
kapazität, wird auch bei extremer körperlicher ein, dass diese Werte im Normbereich bleiben.
Beanspruchung nicht ausgeschöpft. 5 Der Sauerstoffpartialdruck wird zwar auch ge-
5 Atmung geschieht immer in Atemmittellage, in messen, spielt aber nur unter pathophysiologischen
Ruhe sind beim gesunden Erwachsenen ca. 14 Atem- Umständen eine Rolle
züge zu je 500 ml normal (7 l/min), bei Arbeit kann 5 Als unspezifische Atemantriebe gelten physische
dies auf 40 Atemzüge zu je 2 l ansteigen (80 l/min). und psychische Einflüsse auf die Atmung
5 Die Einatmung geschieht gegen den Widerstand
des elastischen Lungengewebes und den Atemwegs- Der Energieumsatz des Menschen
widerstand über Hebung des Brustkorbs und Sen- 5 folgt den physikalischen Gesetzen der Erhaltung der
kung des Zwerchfells. Die dazu nötige Arbeit wird Energie der unbelebten Natur,
von den Inspirationsmuskeln geleistet. Die Ausat- 5 lässt sich unter standardisierten Bedingungen (z. B.
mung ist in der Regel passiv. Grundumsatzbedingungen) messen,
5 Psychische Prozesse verändern markant das Atem- 5 steigt bei körperlicher und geistiger Arbeit deutlich
verhalten. an, ebenso bei Nahrungsaufnahme, in zu kalter und
zu warmer Umgebung und bei Fieber,
Der Gasaustausch in der Lunge und der Transport der 5 muss durch Nahrungsaufnahme gedeckt werden,
Atemgase im Blut wobei zu berücksichtigen ist, dass Fette einen etwa
5 ist in der Lunge passiv entlang den Partialdrucken doppelt so hohen Brennwert wie Kohlenhydrate und
11 des Sauerstoffs und des Kohlendioxids. Das funktio- Eiweiße haben,
nelle Residualvolumen der Lunge stellt dabei sicher, 5 ist dann optimal, wenn dabei das Körpergewicht kon-
dass die Partialdruckdifferenzen ausreichend kon- stant bleibt.
stant sind;
5 erfolgt im Blut für den Sauerstoff mit Hilfe des Blut- Der Mensch ist homoiotherm, d. h. er muss eine in etwa
farbstoffs Hämoglobin, der dafür in der Lunge voll- konstante Körpertemperatur sicherstellen. Dies geschieht
ständig in Oxyhämoglobin umgewandelt wird, über die Prozesse der Wärmebildung und Wärme-
wodurch 100 ml Blut rund 20 ml Sauerstoff transpor- abgabe.
tieren können; 5 Reicht die Wärmebildung durch die Stoffwechselpro-
5 erfolgt im Blut für das Kohlendioxid hauptsächlich zesse der Organe nicht aus, wird Wärme durch Beklei-
nach Umwandlung in Kohlensäure durch die Karbo- dung und Absenken der Körperschalentemperatur
anhydrase, kleinere Anteile werden ans Hämoglobin (verringerte Hautdurchblutung) zurückgehalten und
gebunden und sind physikalisch im Plasma gelöst. zusätzliche Wärme durch Zittern und zitterfreie
Wärmebildung gebildet.
Der nervöse Antrieb der Atmung wird durch Neuronen- 5 Ist die Wärmebildung größer als für die Homoiother-
populationen im Hirnstamm (»Atemzentren«) unterhal- mie erforderlich, wird die Wärme v. a. durch Schwit-
ten. Sie produzieren den primären Atemrhythmus, der zen verbunden mit verstärkter Hautdurchblutung
an die jeweiligen Erfordernisse angepasst wird. und erhöhter Wärmestrahlung abgeführt.
5 Dehnungsrezeptoren im Lungengewebe und den 5 Schwitzen verändert durch die Durchfeuchtung der
Inspirationsmuskeln hemmen bei Einatmung die Haut auch deren elektrischen Widerstand. Emotio-
»Inspirationsneurone« in den Atemzentren und leiten nales Schwitzen kann daher über dessen Messung
dadurch die Ausatmung ein erfasst werden. Hautleitfähigkeitsmessungen
5 Zentrale und periphere Chemosensoren messen die sind daher eine wichtige Methode der Psychophy-
Partialdrücke des Kohlendioxids und die Protonen- siologie.
6
Literatur
229 11

6
Die Regelung der Körpertemperatur erfolgt über ver- 5 Vegetative und somatosensorische Anteile des
maschte Regelkreise Nervensystems beteiligen sich gemeinsam an der
5 Als Messfühler dienen äußere (in der Haut gelegene) Ansteuerung der verschiedenen Stellglieder der Ther-
und innere Thermosensoren (an verschiedenen Stel- moregulation (wie Regelung der Hautdurchblutung,
len im ZNS), die teils auf steigende (Warmsensoren), Muskelzittern etc.).
teils auf sinkende Temperaturen (Kaltsensoren) an- 5 Fehlregulationen und Überforderungen der Ther-
sprechen. moregulation, z. B. bei extremem Fieber, können zu
5 Die neuronalen Zentren für die Thermoregulation Hitzekollaps und Hitzschlag führen, extreme Kälte-
liegen im hinteren Hypothalamus in der Nähe und in belastungen (z. B. eiskaltes Seewasser) zum Absinken
Zusammenarbeit mit anderen lebenswichtigen Kon- der Körpertemperatur in lebensgefährliche Bereiche
trollzentren (z. B. für zirkadiane Periodik, Hunger und (Herzflimmern bei Körpertemperaturen um 26–28°C).
Durst).

Literatur
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Ulmer WT, Nolte D, Lecheler J (2003) Die Lungenfunktion, 7. Aufl.
Thieme, Stuttgart
12

12 Stoffaufnahme und -ausscheidung

12.1 Die Bestandteile menschlicher Nahrungsmittel und der Bedarf


an Nährstoffen – 232
12.1.1 Nährstoffe und ihr Mindestbedarf – 232
12.1.2 Vitamine, Spurenelemente, Wasser und Salze – 233
12.1.3 Normal-, Ideal-, Über- und Untergewicht – 235

12.2 Aufgaben und Arbeitsweise des Magen-Darm-Trakts – 236


12.2.1 Funktionen von Mundhöhle, Rachen und Speiseröhre – 236
12.2.2 Aufgaben des Magens – 238
12.2.3 Aufgaben des exokrinen Pankreas und der Lebergalle – 240
12.2.4 Aufgaben des Dünndarms – 241
12.2.5 Aufgaben des Dickdarms (des Kolons) – 243
12.2.6 Aufgaben des Enddarms (des Rektums) – 244

12.3 Aufgaben und Arbeitsweisen der Nieren, der Harnblase


und der harnableitenden Wege – 245
12.3.1 Grob- und Feinbau der Nieren – 245
12.3.2 Glomeruläre Filtration und tubuläre Resorption und Sekretion – 246
12.3.3 Hormonelle Kontrolle von Harnkonzentrierung und -verdünnung – 248
12.3.4 Niereninsuffizienz – 249
12.3.5 Neuronale Kontrolle der Harnblasenentleerung – 251

Zusammenfassung – 253
Literatur – 254

N. Birbaumer, Biologische Psychologie, DOI 10.1007/978-3-540-95938-0_12,


© Springer Medizin Verlag Heidelberg 2010
232 Kapitel 12 · Stoffaufnahme und -ausscheidung

)) der . Tabelle 11.2 in Abschn. 11.2.3, diskutiert. Für den


Brennstoffwechsel (also für die Energie verbrauchenden
Beschwerden im und Erkrankungen des Magen-Darm- Prozesse, z. B. ATP-Synthese) sind die verschiedenen Nähr-
Trakts sowie der Nieren und der ableitenden Harnwege stoffe gegenseitig austauschbar, für den Baustoffwechsel
sind, noch weit vor den Erkrankungen des Herz-Kreislauf- (also für den Aufbau körpereigener Substanzen) gilt dies
Systems, die häufigsten Anlässe, warum ärztliche Hilfe in aber nicht, so dass Mindestmengen aller 3 Nährstoffe zuge-
Anspruch genommen wird. Die mannigfaltigen Ursachen führt werden müssen (7 unten).
dieser Beschwerden bilden den Hauptinhalt der Lehrbücher
der Inneren Medizin, wobei sich die Betrachtung weitge- Nährstoff Kohlenhydrate
hend auf die somatischen Aspekte konzentriert. Aber, wie Über die chemische Struktur der Kohlenhydrate und ihre
schon der Volksmund weiß (»es ist mir auf den Magen ge- Rolle im Zellstoffwechsel wurde bereits in Abschn. 2.1.2
schlagen«, »er hat vor Angst in die Hose gemacht« etc.), das Wesentliche gesagt. Die Kohlenhydrate werden vom
sind viele akute und noch mehr chronische Krankheits- Menschen zum größten Teil in Form von pflanzlicher
symptome dieser Organe Ausdruck psychischer Störun- Stärke aufgenommen. Obst, Gemüse, Kartoffeln, Getreide
gen. Dies zu erkennen und zu behandeln setzt voraus, die und Hülsenfrüchte enthalten jedoch neben verdaulichen
normalen Abläufe menschlicher Nahrungsaufnahme und auch unverdauliche Kohlenhydrate wie Zellulose.
-ausscheidung in ihren Grundzügen zu beherrschen. Dazu Einen Überblick über die von der Deutschen Gesell-
liefert das vorliegende Kapitel einen Beitrag. schaft für Ernährung empfohlenen Richtwerte für eine aus-
reichende Nährstoffzufuhr gibt . Tabelle 12.1. Der dort
angegebene Mindestbedarf an Kohlenhydraten ist im We-
12.1 Die Bestandteile menschlicher sentlichen durch den Gehirnstoffwechsel bedingt, der fast
Nahrungsmittel und der Bedarf ausschließlich auf Glukose (ca. 100 g/Tag) angewiesen ist.
an Nährstoffen
Nährstoff Fette
12.1.1 Nährstoffe und ihr Mindestbedarf Fette bestehen hauptsächlich aus einem Gemisch verschiede-
ner Triglyzeride, deren chemische Struktur in Abschn. 2.1.2
Brenn- und Baustoffwechsel angesprochen wurde. Fette kommen als Begleitsubstanz in
Der physiologische Brennwert der Nährstoffe, also von fast allen Nahrungsmitteln tierischer Herkunft vor, in ge-
Kohlenhydraten, Fett und Eiweiß, wurde bereits an Hand ringerem Umfang in Pflanzensamen, z. B. in Nüssen.

. Tabelle 12.1. Nährstoffe. Empfohlene Zufuhr für Erwachsene sowie Mangel- und Überdosierungserscheinungen. KG Körpergewicht
12 Empfohlene Erhöhter Bedarf Depots Mangel- Überdosierungs-
Zufuhr/Tag erscheinungen erscheinungen
Eiweiße 0,8 g/kg KG (bei ge- Bei Alten und Kindern Kurzfristig verfüg- Hungerödeme, Infekt- Überwiegen der
nügendem Gehalt an 1,2–1,5 g/kg KG; bei barer Pool: 45 g anfälligkeit, Apathie, Fäulnis im Darm,
essenziellen Amino- Schwerarbeit, Muskel- (Muskel 40 g, Blut Muskelatrophie; bei Disposition:
säuren, d. h. mög- aufbautraining, und Leber 5 g) bei Kindern Entwick- Gicht durch Verzehr
lichst die Hälfte als Schwangeren und lungsstörungen von Fleisch und
tierisches Eiweiß) Schwerkranken bis Innereien
zu 2 g/kg KG
Kohlenhydrate Mindestens 100 g Bei körperlicher 300–400 g Untergewicht, ver- Überwiegen der
(für das Gehirn); Arbeit Glykogen minderte Leistungs- Gärung im Darm,
alternativ 200 g fähigkeit, Stoffwech- Kohlenhydratmast,
Eiweiß (Glukoneo- selstörungen, Hypo- Fettsucht
genese) glykämie, Ketose
Fette für a) und b): Bei körperlicher Sehr variabel Untergewicht, ver- Hypertriglyzerid-
a) gesättigte und 25–30% des Energie- Arbeit minderte Leistungs- ämie und Hyper-
einfach ungesättigte bedarfs fähigkeit, Mangeler- cholesterinämie
Fettsäuren scheinungen durch mit nachfolgender
Fehlen fettlöslicher Atherosklerose,
Vitamine Fettsucht
b) essenzielle Etwa 1/3 des aufge- Bei körperlicher Sehr variabel Hämaturie, Verände- ErhöhterTokopherol-
Fettsäuren nommenen Fettes Arbeit rungen an Haut und bedarf (Vitamin E)
Mitochondrien, Stoff-
wechselstörungen
12.1 · Die Bestandteile menschlicher Nahrungsmittel und der Bedarf an Nährstoffen
233 12

Etwa die Hälfte des Nahrungsfettes wird als sichtbares empfohlen, wovon etwa die Hälfte tierischen Ursprungs
Fett (Butter, Speck etc.), der Rest als verborgenes Fett (z. B. sein sollte.
in Wurst, Käse) verzehrt. Die mitteleuropäische Durch-
G Kohlenhydrate, Fette und Eiweiße bilden die Nähr-
schnittskost enthält einen aus ernährungsphysiologischer
stoffe der menschlichen Nahrung. Abgesehen
Sicht zu hohen Fettanteil. Nicht im Betriebsstoffwechsel
von den essenziellen Aminosäuren und den essen-
verbranntes Fett wird im Gewebe in Form von Depotfett
ziellen Fetten sind sie gegeneinander austauschbar.
gespeichert.
Allerdings benötigt der Mensch für den Baustoff-
Der in . Tabelle 12.1 genannte Mindestbedarf an
wechsel pro Tag mindestens 0,8 g Eiweiß pro kg
Fetten beruht auf dem Bedarf an fettlöslichen Vitaminen,
Körpergewicht, um seine volle Leistungsfähigkeit
sowie auf dem Bedarf an essenziellen Fettsäuren, also von
zu erhalten.
Fettsäuren, die für den Baustoffwechsel der Körperzellen
notwendig sind, aber nicht im Körper synthetisiert werden
können. 12.1.2 Vitamine, Spurenelemente, Wasser
und Salze
Nährstoff Eiweiße
Die Eiweiße oder Proteine sind aus Aminosäuren auf- Definition und Klassifizierung der Vitamine
gebaut, von denen 8 als essenzielle Aminosäuren mit der Als Vitamine bezeichnet man in der Nahrung vorkommen-
Nahrung aufgenommen werden müssen (Abschn. 2.1.2). Je de, lebenswichtige organische Substanzen, die der Organis-
nach Herkunft unterscheidet man tierisches und pflanz- mus nicht oder nicht in genügender Menge synthetisieren
liches Eiweiß. Tierisches Eiweiß findet sich hauptsächlich in kann und deren Energiegehalt ohne Bedeutung ist.
Fleisch, Fisch, Milch und Milchprodukten sowie Eiern. Die chemische Struktur der Vitamine ist sehr unein-
Pflanzliches Eiweiß wird in nennenswerten Mengen mit heitlich. Man unterscheidet fettlösliche (A, D, E, K) und
Brot, Hülsenfrüchten und Kartoffeln aufgenommen, in ge- wasserlösliche Vitamine (B-Gruppe, C). Eine weitere Un-
ringen Mengen mit fast allen Obst- und Gemüsesorten. Das terscheidung erfolgt historisch bedingt nach Buchstaben
aufgenommene Eiweiß dient größtenteils dem Baustoff- und bei den in neuerer Zeit entdeckten Vitaminen nach der
wechsel, wie dem Aufbau und Umbau von Muskulatur, chemischen Bezeichnung (z. B. Folsäure, Niacin).
Enzymen und Plasmaeiweißen.
Der Mindestbedarf an Eiweißen beträgt täglich etwa Vorkommen der Vitamine
30–40 g. Bei diesem Bilanzminimum (d. h. der Verlust an Vitamine kommen in pflanzlichen und tierischen Nah-
Eiweiß im Baustoffwechsel entspricht exakt der Zufuhr) ist rungsmitteln vor. Nicht jedes Vitamin muss unmittelbar
zwar ein Überleben, aber keine normale körperliche Leis- mit der Nahrung zugeführt werden. Vitamin K wird z. B.
tungsfähigkeit gegeben. Für eine optimale Versorgung des von den Darmbakterien hergestellt; andere Vitamine wer-
Organismus wird als funktionelles Eiweißminimum eine den im Körper aus mit der Nahrung aufgenommenen Vor-
tägliche Zufuhr von 0,8 g Eiweiß pro kg Körpergewicht stufen, den Provitaminen, synthetisiert. So kann Vitamin A

. Tabelle 12.2. Fettlösliche Vitamine. Systematik, wichtige Quellen, biologische Funktionen, Bedarf, Mangelerscheinungen, Depots und
empfohlene Zufuhr bei Erwachsenen

Bezeichnung Wichtige Quellen Typische biologische Mangelerscheinungen Depots Empfohlene


und Synonyma Funktionen Zufuhr/Tag
Vitamin A Leber und Epithelzellen- und Nachtblindheit, atypi- Große Mengen 0,8–1,1 mg Vitamin
Retinol Milchfett Skelettwachstum sche Epithelverhornung, in der Leber A ≈ 1,6–2,2 mg
Provitamin: Karotten Rhodopsinsynthese Wachstumsstörungen β-Karotin
β-Karotin
Vitamin-D-Gruppe Leber, Lebertran, Ca++-Resorption und Rachitis, Störungen Geringe Mengen 5,0 μg; Kinder und
(antirachitische Fische, Milchfett, -Stoffwechsel, Wechsel- des Knochenwachstums in Leber, Nieren, Schwangere 10 μg
Vitamine) Eigelb wirkungen mit dem Darm, Knochen,
Parathormon Nebennieren
Vitamine E In fast allen Lebens- Antioxidans, speziell Muskelstoffwechsel- Mehrere Gramm 12 mg Tokopherol
Tokopherol mitteln, besonders beim Stoffwechsel und Gefäßpermeabili- in Leber, Fett, Hypo-
in Pflanzenöl der ungesättigten tätsstörungen physe, Nebennieren
Fettsäuren
Vitamin K Grüngemüse, Beteiligt an der Syn- Verzögerte Blut- Sehr geringe Bei intakter
(antihämorrha- Darmflora these von Blutge- gerinnung, Spontan- Mengen in Leber Darmflora Ø,
gisches Vitamin) rinnungsfaktoren blutungen und Milz sonst ca. 1 mg
234 Kapitel 12 · Stoffaufnahme und -ausscheidung

im Körper aus Karotinoiden gebildet werden. Die Vitamine Spurenelemente


D2 und D3 entstehen in der Haut aus ihren Provitaminen Unter Spurenelementen versteht man chemische Elemen-
unter dem Einfluss des in der Sonne enthaltenen ultravio- te, die nur in äußerst geringen Mengen in der Nahrung und
letten Lichts. im Organismus vorkommen. Für einige besteht ein regel-
mäßiger Bedarf, wie z. B. für Eisen (Baustein des Blutfarb-
Bedarf an Vitaminen stoffs, Abschn. 11.1.2), Jod (Baustein der Schilddrüsenhor-
Richtwerte für die Zufuhr sind in den . Tabellen 12.2 mone, Abschn. 7.3.4), Kupfer (notwendig für die Eisenre-
und 12.3 festgehalten. Sie geben auch eine Übersicht über sorption) und Fluor (zur Kariesprophylaxe). Andere sind
Vitaminmangelsymptome. Bei normaler gemischter Kost toxisch (z. B. Arsen, Blei, Quecksilber, Thallium) oder ohne
ist in Europa eine ausreichende Vitaminzufuhr gewähr- erkennbare biologische Bedeutung (z. B. Gold).
leistet. Bei normaler gemischter Kost werden die biologisch
Ein erhöhter Vitaminbedarf kann bei körperlicher benötigten Spurenelemente ausreichend zugeführt. Ist dies
Arbeit und bei Erkrankungen auftreten. Ersterer wird meist nicht der Fall, so resultieren typische und klinisch relevante
durch die mit der Arbeit verbundene erhöhte Nahrungs- Mangelerkrankungen, von denen Box 12.1 ein Beispiel
aufnahme abgedeckt. Gehen aber Krankheiten mit Appe- gibt.
titlosigkeit und verringerter Nahrungsaufnahme einher,
können vorbeugende Vitamingaben sinnvoll sein. Auch bei Wasser und Salze
sehr einseitiger Kost, wie z. B. bei strengen Vegetariern, sind Über den Salz-Wasser-Haushalt wird in Abschnitt 12.3 be-
Vitaminmangelzustände nicht selten. richtet. Hier sei nur festgehalten, dass die meisten Lebens-
mittel mehr als 50% Wasser enthalten. Der Gehalt der Nah-
G Als Vitamine bezeichnet man in der Nahrung vor- rungsmittel an Kochsalz (NaCl) und anderen Salzen reicht
kommende, lebenswichtige organische Substanzen, in unseren Breiten meist völlig aus, den Bedarf des Orga-
die der Organismus nicht oder nicht ausreichend nismus an Kationen, v. a. Natrium (Na+), Kalium (K+), Kal-
synthetisieren kann und deren Energiegehalt ohne zium (Ca2+) und Magnesium (Mg2+) sowie an Anionen wie
Bedeutung ist. Jedes Vitamin hat wichtige biolo- Chlorid (Cl−) und Phosphat (PO43−) zu decken.
gische Funktionen und zieht bei seinem Fehlen Der Kalziumbedarf ist bei gesteigertem Knochenwachs-
Mangelerscheinungen nach sich. tum erhöht, so für Schwangere und Säuglinge. Der Mindest-

. Tabelle 12.3. Wasserlösliche Vitamine. Systematik, wichtige Quellen, biologische Funktionen, Bedarf, Mangelerscheinungen, Depot-
mengen und Depots sowie empfohlene Zufuhr bei Erwachsenen

Bezeichnung und Wichtige Quellen Typische biologische Mangel- Depotmengen Empfohlene


12 Synonyma Funktionen erscheinungen und Depots Zufuhr/Tag
Vitamin B1 Schweinefleisch, Bestandteil der Pyruvat- Beriberipolyneuritis, Ca. 10 mg; Leber, 1,1–1,5 mg, bei
Aneurin Vollkornprodukte Kokarboxylase ZNS-Störungen Herz, Gehirn Alkoholikern
Thiamin erhöht
Vitamin B2 Milch, Fleisch, Eier, Bestandteil der Flavin- Wachstumsstillstand, Ca. 10 mg; Leber, 1,5–1,8 mg
Laktoflavin Fisch, Vollkorn enzyme (gelbe At- Hauterkrankungen Skelettmuskel
Riboflavin mungsfermente)
Vitamin-B6-Gruppe Fleisch, Korn, Fisch, Koenzym verschiedener Dermatitis, Polyneuritis, Ca. 100 mg; Muskel, 2,0–2,6 mg oder
Pyridoxingruppe Milch, Hülsenfrüchte Enzymsysteme Krämpfe Leber, Gehirn 0,02 mg/g
Nahrungsweiweiß
Vitamin B12 Leber, andere tieri- Bestandteil von Perniziöse Anämie, 1,5–3 mg; beson- 5 μg
Cyanocobalamin sche Nahrungsmittel Enzymen funikuläre Myelose ders in der Leber
Biotin Leber, Niere, Eigelb, Bestandteil von Dermatitis Ca. 0,4 mg; Leber, Bei intakter
(Vitamin H) Soja Enzymen Nieren Darmflora Ø
Folsäuregruppe Gemüse, Fleisch, Purin- und Methionin- Perniziöse Anämie 12–15 mg; Leber 0,4 mg
Milch, Soja synthese
Niazin Fleisch, Fisch, Milch Koenzym vieler Pellagra, Photo- Ca. 150 mg; Leber 15–20 mg
Nikotinsäure Dehydrogenasen dermatitis
Pantothensäure In fast jeder Nah- Bestandteil des ZNS-Störungen Ca. 50 mg; Nieren, 8 mg
rung Koenzym A Leber
Vitamin C Frisches Obst und Mitwirkung bei Skorbut, Psychosen 1,5 g; Gehirn, Leber 75 mg
Askorbinsäure Gemüse Hydroxylierungen
12.1 · Die Bestandteile menschlicher Nahrungsmittel und der Bedarf an Nährstoffen
235 12

Box 12.1. Zinkmangelsyndrom

Fallbericht: Eine allein stehende 52-jährige Alkoholikerin Schlüsselrolle in Stoffwechsel, Wachstum und Entwick-
ernährte sich seit Monaten von Wein, gekochten Eiern lung. Sein Tagesbedarf liegt bei etwa 15 mg, der bei nor-
und Essiggurken. Sie fühlte sich müde, depressiv und an- maler, gemischter Kost jederzeit gedeckt wird.
triebslos, litt an Durchfällen und Appetitlosigkeit. Zusätz- Zinkmangelerscheinungen können auf angeborenen
lich stellten sich nässende, eitrig-krustige Ekzemherde (reduzierte Resorption) oder erworbenen Störungen (z. B.
ein, weswegen sie die Klinik aufsuchte. Die Durchunter- einseitige Diät, 7 oben) beruhen. Neben Hautentzündun-
suchung ergab u. a. eine deutliche Reduktion des Plasma- gen (Ekzemen), Haarausfall und Durchfall, kommt es bei
zinkspiegels. Nach Zinkgaben gingen alle Symptome im Kleinkindern zu Wachstumsstörungen, Anorexie, Immun-
Laufe einiger Wochen zurück. defizienz, Photophobie (Lichtscheu) und gestörter emo-
Zink (Zn) ist ein wenig bekanntes essenzielles Spuren- tioneller und geistiger Entwicklung. Orale oder intravenöse
element. Es ist Bestandteil von DNA- und RNA-Poly- Zufuhr von 3-mal täglich 30–50 mg Zink ist die Therapie
merasen und Transkriptionsfaktoren sowie von mehr als der Wahl. (Für die Mangelerscheinungen des besser be-
300 Enzymen, z. B. von der den Trinkalkohol in der Leber kannten Spurenelements Jod Abschn. 7.3.4, für die Rolle
abbauenden Alkoholdehydrogenase. Es spielt daher eine des Eisens Abschn. 11.1.2.)

bedarf an Kochsalz liegt bei 1,4 g/Tag; 5 g/Tag sind auf jeden Bei einem 1,70 m großen und 72 kg schweren Mann errech-
Fall ausreichend. Der Mitteleuropäer nimmt im Durch- net sich der BMI also zu
schnitt mehr als 10 g auf. Bei Gesunden ist dies unbe-
denklich. BMI = 72/(1,7 x 1,7) = 24,91
G Wichtige Spurenelemente sind Eisen, Jod, Kupfer
Nach der WHO-Klassifikation liegt der normale BMI-Wert
und Fluor, die in normaler Kost ausreichend ent-
zwischen 18,5 und 24,9, das obige Beispiel liegt also am
halten sind. Gleiches gilt für den Bedarf an Salzen,
oberen Rand des Normalbereichs. Als Idealgewicht gilt ein
also Kationen und Anionen. Kochsalz wird in der
BMI von 23.
Regel im Überfluss aufgenommen.
Übergewichtig ist man danach zwischen einem BMI
von 25 und 29,9, von Fettsucht wird bei einem BMI >30
12.1.3 Normal-, Ideal-, Über- ausgegangen. Überschreitet der BMI gar 40, wird von einer
und Untergewicht krankhaften Fettsucht gesprochen.
Offensichtlich hat der BMI für unterschiedliche Alters-
Normalgewicht, Idealgewicht stufen unterschiedliche Bedeutung: So ist ein hoher BMI im
Für das wünschenswerte Gewicht eines Menschen werden Kindesalter ein extremer Risikofaktor für die Entstehung
in der Literatur vielfältige Empfehlungen gegeben. Als Nor- eines Typ-II-Diabetes und für eine verkürzte Lebenserwar-
malgewichte werden dabei die Durchschnittswerte in einer tung. Dies gilt für ältere Menschen nur mehr sehr einge-
Bevölkerung angesehen, als Idealgewicht meist das Ge- schränkt, und bei verschiedenen Gruppen ist leichtes Über-
wicht mit der statistisch höchsten Lebenserwartung. gewicht sogar lebensverlängernd.
Für lange Zeit galt der BROCA-Index (Körperhöhe in
G Das Idealgewicht, also das Gewicht mit der höchsten
cm minus 100 = normales Körpergewicht in kg, also z. B.
Lebenserwartung, liegt bei einem BMI von 23, der
bei einer Körpergröße von 170 cm ergibt sich 170–100 = 70
Normalbereich zwischen 18,5 und 24,9. Fettsucht
kg Körpergewicht) als bester Referenzwert. Dabei liegt das
beginnt bei einem BMI von >30. Die Risiken eines
Idealgewicht für Männer etwa 10% und für Frauen etwa
hohen BMI sind bei jüngeren Menschen größer als
15–20% unter dem nach dem BROCA-Index berechneten
bei älteren.
Gewicht. Die Broca-Formel trifft für den Bereich mittlerer
Körpergrößen am besten zu.
Normal- und Idealgewichte korrelieren nicht gut mit Adipositas und Gesundheitsrisiko
der Fettmasse eines Körpers und damit mit dem gesund- In Mitteleuropa wird derzeit deutlich mehr Nahrung als
heitlichen Risiko von Über- und Untergewicht. Sie werden notwendig verzehrt. So sind ein Viertel aller Erstklässler
daher heute nicht mehr verwendet. Stattdessen wird v. a. und 3/4 aller 55- bis 64-Jährigen in Deutschland überge-
der Body Mass Index (BMI) angewandt. Er ist ein um die wichtig. Übergewicht mit einem BMI >30 (7 oben) stellt
Körpergröße korrigiertes Maß der Körperwichts und defi- bei Männern ein bedeutsames Risiko für koronare Herz-
niert als erkrankungen dar: Das Risiko an einer solchen zu sterben
ist bis zu 4-mal höher als bei Normalgewichtigen. Bei bei-
BMI = Körpergewicht (kg)/Körpergröße (m)² den Geschlechtern erhöht sich das Risiko, an einem nicht-
236 Kapitel 12 · Stoffaufnahme und -ausscheidung

insulinabhängigen Diabetes und/oder an einer Hypercho- G Adipositas ist einer der gravierendsten Risikofak-
lesterinämie zu erkranken (Abschn. 26.2.5). toren für eine Vielzahl von Erkrankungen. Verhal-
Die Verteilung der Fettzellen am Körper scheint tenstherapie kombiniert mit kalorienarmer, aber
übrigens für das Gesundheitsrisiko eine größere Rolle zu eiweißreicher Diät und einem Bewegungspro-
spielen als das absolute Gewicht: Bauchfett (Fettsucht vom gramm kann Übergewicht (BMI >25) und Adipositas
»Schürzentyp«) prädisponiert zu erhöhtem Risiko für (BMI >30) dauerhafter beseitigen als Diäten und
Diabetes, Bluthochdruck und koronarer Herzerkrankung Medikamente.
verglichen mit der Ablagerung von Fett an Oberschenkel
und Hüfte (Fettsucht vom »Hosentyp«, . Abb. 10.24 in
Abschn. 10.7.3). Das geringere Risiko adipöser Frauen, an 12.2 Aufgaben und Arbeitsweise
koronarer Herzerkrankung zu leiden, könnte u. a. damit des Magen-Darm-Trakts
zusammenhängen, dass Frauen Fett häufig an Hüften und
Oberschenkeln speichern. Starke Gewichtsschwankun- 12.2.1 Funktionen von Mundhöhle,
gen, v. a. durch erfolglose Diäten, erhöhen ebenfalls das Rachen und Speiseröhre
Krankheitsrisiko von Adipösen. Leichtes Übergewicht ist
den Diät-induzierten Schwankungen vorzuziehen. Anteile des Gastrointestinaltrakts
Die beim Essen aufgenommenen Nahrungsmittel müssen
G Bei Übergewicht und Adipositas wird das gesund-
in Bestandteile umgewandelt werden, die in das Blut aufge-
heitliche Risiko nicht allein durch den BMI, sondern
nommen (resorbiert) werden können. Dies ist die Aufgabe
auch durch die Fettverteilung bestimmt: bauch-
des Magen-Darm-Traktes, der auch Gastrointestinaltrakt
betonte Fettverteilung ist risikoreicher als hüft- und
genannt wird. Er besteht, wie . Abb. 12.1 in einer Übersicht
oberschenkelbetonte.
zeigt, aus einem durchlaufenden Rohr vom Mund bis zum
Anus, in welches die Organe mit sekretorischer Funktion
Verhaltenstherapeutische Behandlung einmünden: Mundspeicheldrüsen, Pankreas und Leber
von Adipositas (über die Gallenwege). Einige Teile des Magen-Darm-Trak-
Obwohl die Risiken, Übergewicht zu entwickeln zu großen tes dienen hauptsächlich dem Weitertransport (Mundhöh-
Teilen genetisch bestimmt sind, kann eine stabile Gewichts- le, Speiseröhre), andere haben vorwiegend Speicherfunk-
reduktion über verhaltenstherapeutische Methoden er- tion, wie Magen und Dickdarm. Der Dünndarm ist der
zielt werden. Diäten alleine haben in der Regel keine anhal- Hauptort für die Verdauung und Resorption.
tenden Effekte bei Personen mit starkem Übergewicht
(>30% des Idealgewichts bzw. BMI >25). Chirurgische Kauakt
oder pharmakologische Eingriffe haben negative Neben- Das Kauen ist ein rhythmischer Reflexablauf, der durch die
12 effekte, die schwerer wiegen als der Vorteil der Gewichts- Einnahme fester Speisen ausgelöst, aber auch willkürlich
reduktion. Medikamente, z. B. Amphetaminabkömmlinge, initialisiert und modifiziert werden kann. Die motorischen
haben trotz ihrer weiten Verbreitung keine anhaltende Wir- Zentren dieses Automatismus liegen im Hirnstamm
kung. Auch in Kombination mit verhaltenstherapeutischen (Kauen kann daher auch beim großhirnlosen Tier und
Methoden erweist sich pharmakologische Behandlung als Mensch beobachtet werden). Beim Menschen scheinen die
nachteilig für die Wirkungen der psychologischen Be- Hirnstammzentren für Kaubewegungen besonders unter
handlung. der Kontrolle der frontalen und temporalen Hirnrinde zu
Die deutlichsten Effekte (mehr als 20 kg Abnahme sein. Bei Patienten mit ausgedehnten Läsionen dieser Hirn-
über 2 Jahre stabil) erzielen intensive verhaltenstherapeu- abschnitte können Kauautomatismen unkontrolliert, d. h.
tische Programme, kombiniert mit extrem kalorienarmer, spontan und auch im falschen Kontext auftreten.
proteinreicher Diät (2500 kJ pro Tag) über die ersten Wo- Beim Kauen wird die feste Nahrung zerschnitten, zer-
chen und einem Bewegungsprogramm (Abschn. 25.2.5). rissen und zermahlen. Dies erleichtert die Reizung der Ge-
Aber auch hier sind die Rückfallquoten nach 2 Jahren hoch schmacks- und Geruchsorgane und die anschließende Ver-
und ohne lernpsychologische Hilfen der Rückfallpräven- dauung. Zunge und Wangen halten die Bissen zwischen
tion bleiben die Effekte selten stabil. Dies gilt übrigens für und innerhalb der Kauflächen. Feste Nahrung wird bis zu
alle suchtartigen Verhaltensstörungen. Die Ursachen für wenigen mm3 messenden Partikeln zerkleinert.
die hohe Rückfallgefahr liegen sowohl in physiologischen
(Konstanthalten der Fettzellen) als auch in psychologischen G Der Gastrointestinaltrakt erstreckt sich vom Mund
Mechanismen, die in Kap. 26 näher beschrieben werden. bis zum Anus. Seine Arbeit wird durch sezernierende
(Bezüglich der Folgen von Mangel- und Fehlernährung Organe unterstützt, deren Ausführungsgänge in
Box 2.2 in Abschn. 2.1.3.) ihn münden. Die Zerkleinerung der Nahrung
durch Kauen ist der erste Schritt des Verdauungs-
prozesses.
12.2 · Aufgaben und Arbeitsweise des Magen-Darm-Trakts
237 12
Speichelsekretion
Der Speichel wird von 3 großen paarigen Drüsen gebildet
und sezerniert, nämlich der Ohrspeicheldrüse (Glandula
parotis), der Unterkieferdrüse (Glandula submandibularis)
und der Unterzungendrüse (Glandula sublingualis). Zu-
sammen produzieren diese Drüsen etwa 1 Liter Speichel
pro Tag. Dieser hält auch zwischen den Mahlzeiten den
Mund feucht und erleichtert das Sprechen. Er hat eine rei-
nigende und desinfizierende Wirkung und schützt durch
seine alkalische Zusammensetzung die Zähne vor Karies.
Dem Speichel kommen beim Essen im Wesentlichen
3 Aufgaben zu:
4 Er macht die Nahrungsbissen gleit- und schluckfähig.
4 Er fördert durch die Lösung und Aufschwemmung fes-
ter Bestandteile die Geschmackswahrnehmung.
4 Er leitet durch das v. a. im Parotissekret enthaltene
Enzym α-Amylase die Verdauung der Stärke ein, die
durch die Amylase in Zucker (Glukose, Maltose) aufge-
spalten wird.

Die nervöse Kontrolle der Speichelsekretion erfolgt über


das autonome Nervensystem. Die für die Steuerung
der Sekretion verantwortlichen Zentren liegen v. a. in der
Medulla oblongata. Die Speichelsekretion kann besonders
leicht klassisch konditioniert werden (Kap. 25). Die Grund-
lagen der Lernpsychologie und -physiologie wurden von
I. Pavlov mit diesem Reaktionssystem entwickelt.
G Durch Kauen und Einspeicheln wird die feste Nah-
rung in einen gleit- und damit schluckfähigen Zu-
stand überführt, der auch die Geschmackswahr-
nehmung fördert. Der Speichel übt Schutzfunktio-
nen im gesamten Mund- und Rachenbereich aus.
Die α-Amylase des Speichels leitet die Stärkever-
dauung ein.
. Abb. 12.1. Übersicht über die Organe des Magen-Darm-Trakts.
Angegeben sind die Verweildauer des Speisebreis (Chymus) in seinen Schlucken
verschiedenen Abschnitten, die Sekretionsraten der Verdauungs-
Die . Abb. 12.2 und ihre Legende fassen die einzelnen
drüsen und die gastrointestinale Flüssigkeitsbilanz
Phasen des Schluckens zusammen. Sobald der Bissen
(Bolus) unter willkürlicher Kontrolle der Kaumuskulatur
Box 12.2. Kommunikation mit Speichel die Wand des Rachens (Pharynx) erreicht hat und dort die
Bei Patienten, die völlig gelähmt sind und keine Mög- Mechanosensoren reizt, setzt ein unwillkürlicher Schluck-
lichkeit der Kommunikation mehr besitzen (Locked-in- akt ein, der nicht mehr abgebrochen werden kann.
Syndrom), kann durch Messung des Speichel-pH-Wer- Die Schlundmuskulatur schiebt dabei zusammen mit
tes (also seines Gehalts an H+-Ionen) zumindest eine der Zunge den Bissen in die Speiseröhre (Ösophagus). Von
digitale Ja-nein-Kommunikation erreicht werden. Der dort wird der Bolus durch eine Kontraktionswelle der glat-
Patient stellt sich auf entsprechende Fragen z. B. ent- ten Muskulatur der Speiseröhrenwand innerhalb weniger
weder Zitronengeschmack (mehr Speichel, weniger Sekunden in den Magen weiterbefördert (auch auf dem
sauer) oder Milchgeschmack (weniger, aber sauerer Kopf stehend kann man essen und trinken). Der untere
Speichel) vor. Zitrone bedeutet »nein«, Milch bedeutet Schließmuskel der Speiseröhre öffnet sich jeweils kurz vor
»ja«. In der Regel erfolgt in Sekunden bis innerhalb Ankunft eines Bissens. Nach dessen Passage in den Magen
einer Minute eine klare Antwort in Form einer Erhö- schließt er sich sofort wieder. Damit ist der Schluckvorgang
hung oder Erniedrigung des pH-Wertes, der mit einem beendet.
pH-Meter gemessen wird. Die zentralnervöse Steuerung des Schluckaktes ist im
Hirnstamm in den motorischen Kernen derjenigen Hirn-
238 Kapitel 12 · Stoffaufnahme und -ausscheidung

Kortex sind dafür v. a. die postzentrale Rinde (Kap. 5) und


die obere Parietalstruktur zuständig
G Das Schlucken wird durch eine willkürliche orale
Phase eingeleitet. In Rachen und Speiseröhre löst
der Bissen durch Reizung von Mechanorezeptoren
einen reflektorischen Schluckakt aus, der ihn in
Sekunden in den Magen befördert.

Box 12.3. Psychophysiologische Behandlung


von Erbrechen und Würgen

Das Erbrechen ist ein motorischer Automatismus, der


als Schutzreflex der Entleerung des Magens dient,
bevor eine dem Körper schädliche Substanz in Magen
und Blutstrom eine gefährliche Konzentration erreicht.
Dazu werden die Bauchmuskeln kontrahiert und
gleichzeitig der untere Schließmuskel der Speiseröhre
entspannt (relaxiert). Neurophysiologisch ist das Erbre-
chen ein dem Atmen verwandter motorischer Auto-
matismus, der unter peripherer und zentraler chemo-
sensorischer Kontrolle steht. Die Auslösung und Kon-
trolle des Brechakts erfolgt von einer als Brechzentrum
bezeichneten Kernregion in der lateralen Medulla ob-
longata nahe dem Nucleus Tractus solitarius.
Bei Kleinkindern und geistig Retardierten kommt
es häufig zu unkontrollierbarem oder selbst ausgelös-
tem Erbrechen und Würgen (Rumination, willentliches
Aufstoßen der Nahrung vom Magen in den Mund).
Dies kann zu lebensbedrohlichen Mangelzuständen
führen. Durch operante Therapien können diese
Zustände beseitigt werden: Mit mehreren elektromyo-
graphischen Ableitungen vom Bauch bis zum Schlund-
12 areal wird die vom Würgeakt entstehende Spannungs-
welle registriert und beobachtet. Beim ersten Anzei-
chen des Würgeakts in Bauch- oder Brustraum erfolgt
ein stark aversiver elektrischer oder Geschmacksreiz
(Zitronensaft oder Tabasco-Sauce-Ersatz). Dies verhin-
. Abb. 12.2a–d. Oropharyngeale und ösophageale Phasen des
Schluckaktes. Der Sagittalschnitt des Kopfbereichs in a zeigt die beim
dert, dass der selbstverstärkende Erbrechensakt aus-
Schluckakt ablaufenden Vorgänge, nämlich: A Pressen der Zunge nach geführt werden kann.
oben gegen den harten Gaumen, B Verschluss des Nasopharynx
durch den weichen Gaumen, C Anheben des Larynx und Umbiegen
der Epiglottis über den Eingang der Luftröhre, D Peristaltik der Pha-
rynxmuskulatur. E Reflektorisches Öffnen des oberen Ösophagus-
12.2.2 Aufgaben des Magens
sphinkters. Die Druckänderungen beim Schlucken sind für den Pha-
rynx (a), den oberen Ösophagussphinkter (b), das Corpus oesophagi (c)
und den unteren Ösophagussphinkter (d) als rote Kurven dargestellt Speicherung im proximalen Magen
Der in den Magen eintretende Speisebrei wird zunächst in
den oberen (proximalen) Anteilen des Magens, Fundus ge-
nerven konzentriert, die die Muskulatur von Mund, Rachen nannt (. Abb. 12.1 und 12.3), eingelagert. Die festen Nahrungs-
und Schlund innervieren, also v. a. in den Kernen der Nervi bestandteile stapeln sich schichtweise übereinander, während
trigemini, facialis, hypoglossus und vagus sowie in den die aufgenommene Flüssigkeit und der Magensaft an der In-
oberen Zervikalsegmenten des Rückenmarks. nenwand des Magens in den distalen Magen abfließen.
Der Kau- und Schluckapparat besitzt wie der gesamte Der Binnendruck des Magens erhöht sich bei zuneh-
Magen-Darm-Trakt Sinnesfühler (Mechano-, Chemo- und mender Füllung. Die Drucksteigerung bleibt aber wesent-
Thermorezeptoren sowie Nozizeptoren), die ihre Signale lich geringer, als von der Volumenzunahme her zu erwarten
an subkortikale und kortikale Analysatoren melden. Im wäre, da sich der Kontraktionszustand (Tonus) der glatten
12.2 · Aufgaben und Arbeitsweise des Magen-Darm-Trakts
239 12

Box 12.4. Das Elektrogastrogramm (EGG)


Nach Sleisenger MH, Fordtran JS (1983). Mit freundlicher Genehmigung von Elsevier.

in der Psychophysiologie

Die Messung der Magenbewegungen an der Haut-


oberfläche über dem Magen stellt eine wichtige
Untersuchungsmethode der Psychophysiologie dar.
Die Kontraktionen des Magens werden von Muskelak-
tionspotenzialen der glatten Muskulatur ausgelöst
(. Abb. 12.3), die sich an der Körperoberfläche mit
Elektroden ableiten lassen. Dem Grundrhythmus von
etwa 3 Kontraktionen pro Minute sind langsamere und
schnellere Kontraktionen überlagert. Diese summier-
ten Muskelaktionspotenziale des Magens reagieren
sehr sensitiv auf emotionale Reize, auf Vorstellungen
und auf vestibulär-visuelle Wahrnehmungsdiskrepan-
zen (z. B. Karussell oder Schwerelosigkeit im All).

. Abb. 12.3. Potenzialwellen (»slow waves«) in Magen und


Duodenum. Der proximale Magen ist ohne Potenzialwellen tonisch Bestandteile und Aufgaben des Magensafts
kontrahiert. Von der Schrittmacherregion aus wandern »slow waves« Der gesamte Magen ist durch eine 0,6–0,9 mm dicke, in
mit einer Frequenz von 3–4 min nach unten und sind daher nach Falten gelegte Schleimhaut ausgekleidet, die den Magensaft
distal phasenverschoben. Im Duodenum haben die »slow waves« eine
Frequenz von ca. 12/min, auch sie zeigen eine Phasenverschiebung
produziert und deswegen als ein weit ausgedehntes Drüsen-
nach distal. Muskelkontraktionen erfolgen, wenn durch die Potenzial- feld angesehen werden kann. Die Magenschleimhaut pro-
wellen Aktionspotenziale ausgelöst werden duziert täglich 2–3 l Magensaft, der neben dem Magen-
schleim v. a. Salzsäure, HCl, ferner ein Gemisch aus Pro-
teasenvorstufen, die Pepsinogene und auch Hormone, v. a.
Muskulatur der Magenwand fortlaufend reflektorisch an Gastrin, enthält.
die Volumenzunahme anpasst. Der verbleibende Binnen- Aufgabe der Salzsäure im Magen ist:
druck und langsame, sich überlagernde Kontraktionswellen 4 Bakterien abzutöten,
schieben den Speisebrei langsam in Richtung Dünndarm. 4 die Eiweißmoleküle der Nahrung zu denaturieren (also
wie beim Eierkochen auszufällen) und damit für die
Durchmischung und Entleerung im distalen spätere Verdauung vorzubereiten,
Magen 4 die Pepsinogene zu eiweißspaltenden Pepsinen umzu-
Im distalen Teil des Magens, dem Corpus, wird der Speisebrei wandeln und
durch rhythmische Kontraktionswellen (peristaltische Wel- 4 den Säuregrad des Speisebreies so einzustellen, dass das
len) der Magenwandmuskulatur durchmischt und durch die Pepsin optimal wirken kann.
Reibungskräfte weiter zerdrückt und zermahlen (die Speise-
breipartikel sind beim Verlassen des Magens zu 90% kleiner Der Magenschleim
als 0,25 mm). Anschließend wird er portionsweise in den 4 schützt die Magenwände vor Selbstverdauung durch die
Zwölffingerdarm (Duodenum) entleert, wobei die Verweil- eiweißspaltenden Pepsine (7 oben),
dauer der Speisen im Magen zwischen 1 und 5 Stunden liegt. 4 trägt zur Gleitfähigkeit des Chymus (Speisebreis) bei,
Flüssigkeit wird schnell in das Duodenum weitergepresst. 4 dient als Lösungsmittel für Nahrung und Drüsenpro-
Die Muskulatur des Fundus bildet spontan rhythmische dukte.
Schrittmacherpotenziale aus, die zu den in . Abb. 12.3 ge-
zeigten »slow waves« führen. Diese Membranpotenziale Sekretionsphasen des Magensafts
wandern mit einer Häufigkeit von 3–4/min bis zum Pylorus Nahrungsaufnahme steigert die geringe Ruhemagensaft-
hinab. Sie lösen die peristaltischen Wellen aus, v. a. wenn sekretion bis auf das Zehnfache. Zeitlich und vom Wirk-
erregende Faktoren nervöser und humoraler Art hinzu- mechanismus her lassen sich dabei 3 Phasen abgrenzen,
kommen. die kephalische, die gastrale und die intestinale. Die
. Abb. 12.4 zeigt links, auf welcher Höhe sich diese Phasen
G Im Magen wird der Speisebrei zunächst gespeichert, abspielen und welche Parameter dabei die wichtigsten sind.
danach weiter durchmischt und zerkleinert. An- Rechts davon ist erläutert, auf welchen neuronalen und
schließend wird er innerhalb von 1–5 Stunden por- humoralen Wegen (rote Pfeile erregend, blaue hemmend)
tionsweise in den duodenalen Teil des Dünndarms die Magensaftsekretion angestoßen bzw. wieder abgestellt
entleert. wird. Im Einzelnen:
240 Kapitel 12 · Stoffaufnahme und -ausscheidung

Box 12.5. Magen- und Zwölffingerdarmgeschwür


10% der Bevölkerung erkranken im Laufe ihres Lebens
an einem Magen- oder einem Zwölffingerdarmge-
schwür (Ulcus ventriculi bzw. Ulcus duodeni). Zwölffin-
gerdarmgeschwüre sind 7-mal häufiger als Magen-
geschwüre. Meist heilen die Geschwüre ohne Konse-
quenzen ab. Sie treten stets an Grenzflächen zwischen
verschiedenen Schleimhäuten auf (über oder unter
dem Pylorus). Beim Zwölffingerdarmgeschwür scheint
eine erhöhte Azidität zu einer Erosion und Perforation
der Schleimhäute beizutragen, beim Magengeschwür
findet man in der Regel keinen erhöhten Säurespiegel.
An Ratten und Affen konnte gezeigt werden, dass
die Ulzeration von psychologischen Faktoren ganz
entscheidend mitbestimmt wird. Das Ausmaß der
Ulzeration hängt dabei von zwei Bedingungen ab:
5 Anzahl der notwendigen Vermeidungsreaktionen
in einer aversiven Versuchs- oder Umgebungs-
bedingung (z. B. Anzahl von Hebelbewegungen,
. Abb. 12.4. Phasen und regulative Vorgänge bei der HCl-Sekre- um einen schmerzhaften elektrischen Reiz abzu-
tion (Salzsäure-Sekretion) der Magenschleimhaut in schemati- stellen);
scher Darstellung. ACh Azetylcholin; ECL-Zellen »enterochromaffin-like 5 der unmittelbaren Rückmeldung über den Erfolg
cells«; GIP »gastric inhibitory peptide; GRP »gastrin releasing peptide«.
oder Misserfolg der Vermeidungs- oder Flucht-
Hemmende Einflüsse sind blau, fördernde sind rot eingetragen
reaktion. Die Ulzeration ist ausgedehnter, wenn
keine oder negativ-bestrafende Rückmeldung er-
folgt und geringer bei positiver Rückmeldung.
4 Die initiale kephalische Phase wird durch die Vorstel-
lung, den Anblick und den Geruch und Geschmack der
Beim Menschen sind bisher allerdings keine schlüssi-
Nahrung ausgelöst (. Abb. 12.4). Diese Phase wurde
gen Beweise für die Abhängigkeit der Ulzeration von
von Pavlov ausführlich untersucht, der bei Hunden
psychologischen Einflüssen erbracht worden, wenn-
mit einer Ösophagus- und einer Magenfistel den be-
gleich dies zumindest bei Zwölffingerdarmgeschwü-
dingten Reflexcharakter dieser Sekretion nachwies
ren durchaus wahrscheinlich ist. Ein Teil der Magen-
12 und dieses Modell zu seinen Lernversuchen nutzte
und Zwölffingerdarmgeschwüre wird von Bakterien
(Abschn. 25.1.2).
(Heliobacter pylori) (mit)verursacht, die durch Antibio-
4 Die anschließende gastrale Phase der Magensaftsekre-
tika bekämpft werden können. Ob und wie die Bakte-
tion (. Abb. 12.4). wird bei der Füllung und Dehnung
rien wirken, hängt aber auch wieder z. T. von den ge-
des Magens über Mechanosensoren der Magenwand
nannten psychophysischen Faktoren ab.
reflektorisch ausgelöst.
4 Die intestinale Phase nimmt ihren reflektorischen Aus-
gang von den Mechano- und Chemosensoren des obe-
ren Dünndarms, die aktiviert werden, sobald Speisebrei 12.2.3 Aufgaben des exokrinen Pankreas
in den oberen Teil des Dünndarms gelangt. Dies führt und der Lebergalle
zunächst zu einer Förderung des Magensaftsekretion,
später dann zur Hemmung (. Abb. 12.4). Aufgaben des exokrinen Pankreas
(Bauchspeicheldrüse)
G Die Magenschleimhaut produziert täglich 2–3 l Ma-
Der Verdauungssaft produzierende exokrine Pankreas mit
gensaft, der u. a. Salzsäure, Enzymvorstufen (Pepsi-
seinem Ausführungsgang in den Dünndarm (. Abb. 12.1,
nogene), Hormone (Gastrin) und Schleim enthält.
der endokrine Anteil wird in Abschn. 7.2 besprochen)
Die kephalische Phase der dreiphasigen Magensaft-
sezerniert eine basische (alkalische) Flüssigkeit, ge-
sekretion wird reflektorisch bereits durch Vorstel-
kennzeichnet durch ihren hohen Gehalt an Bikarbonat.
lung, Anblick, Geruch und Geschmack von Speisen
Dieses neutralisiert zusammen mit dem Bikarbonat des
ausgelöst (Pavlovs Modell für seine Lernversuche).
Dünndarmsekrets und der Galle die aus dem Magen
übertretende Salzsäure, so dass der Chymus im Dünndarm
einen neutralen bis leicht alkalischen Charakter annimmt.
Hierdurch wird ein günstiges Milieu für die Pankreas-
12.2 · Aufgaben und Arbeitsweise des Magen-Darm-Trakts
241 12

Enzyme geschaffen, deren Wirkoptimum in diesem Be-


reich liegt.
Das Pankreassekret enthält zahlreiche Enzyme zur Ver-
dauung von Eiweißen (z. B. Trypsin), Fetten (z. B. Lipase)
und Kohlenhydraten (z. B. Amylase). Manche von ihnen
werden nur als Vorstufe sezerniert. Sie müssen im Darm
erst aktiviert werden. Der Vorteil der Vorstufen ist es, dass
nicht schon im Pankreas eine Selbstverdauung des Organs
einsetzt (der Dünndarm ist durch seine Schleimschicht vor
Selbstverdauung geschützt).
Ähnlich wie beim Magensaft wird die Sekretion des
Pankreassaftes teils neural, teils humoral beeinflusst. Auch
hier lässt sich eine kephale, gastrale und intestinale Phase
der Sekretion voneinander abgrenzen.

G Die Bauchspeicheldrüse (Pankreas) liefert dem obe-


ren Dünndarm täglich bis zu 2 l alkalisches Sekret,
das zahlreiche Verdauungsenzyme bzw. ihre Vor-
stufen enthält. Die Sekretion wird wie beim Magen
nerval und humoral in 3 Aktivitätsphasen gesteuert.

. Abb. 12.5. Aufbau der Wand des Dünndarms. Gezeigt sind


Aufgaben der Lebergalle Schleimhaut (Mucosa), Bindegewebsschichten (Submucosa), Längs-
Die Galle wird von den Leberzellen gebildet und in die und Ringmuskulatur und die Anteile des Darmnervensystems (Plexus
myentericus, Auerbach, und Plexus submucosus, Meissner). Der ge-
Gallenkapillaren sezerniert. Von dort fließt die Galle über samte Darm wird über das Mesenterium mit Gefäßen und Nerven
immer größer werdende Gänge schließlich in den ausfüh- versorgt. Zur Verdeutlichung ist die Darmwand relativ zum Darm-
renden Gallengang, den Ductus hepaticus. Dieser teilt sich lumen hier wesentlich dicker als in Wirklichkeit gezeichnet
auf, so dass die Galle entweder direkt in den Dünndarm
fließen kann (während der Verdauungsphase) oder zwi-
schen den Mahlzeiten zur Speicherung in die Gallenblase Duodenum (Zwölffingerdarm) genannt (20–30 cm lang).
geleitet wird (. Abb. 12.1). Die Sekretion der Lebergalle In ihn münden der Pankreasgang und der Gallengang
(0,5–0,6 l/Tag) läuft kontinuierlich ab. Die Galle ist von (. Abb. 12.1). Es schließt sich das Jejunum an, das nach
goldgelber Farbe und leicht alkalisch (basisch). Die zur 1,5–2,5 m in das Ileum (2–3 m Länge) übergeht. Letzteres
Gallenblase geleitete Galle wird dort eingedickt. Dadurch mündet in den Dickdarm (7 unten).
ist die Gallenblase in der Lage, bei einem Fassungsvermö- Der in allen Anteilen des Dünndarms prinzipiell glei-
gen von nur 50–80 ml nahezu die gesamte Lebergalle auf- che Aufbau der Wandschichten und der Schleimhaut ist
zunehmen. Zur Verdauung strömt die konzentrierte, grün- in . Abb. 12.5 skizziert. Letztere bildet durch eine enorme
braune Blasengalle in den Dünndarm. Gewebsauffältelung und die Zellausstülpungen der Darm-
Die für die Verdauung wichtigsten Bestandteile der zellen eine 600 m2 große Resorptionsfläche.
Galle sind die Gallensäuren, die als Emulgatoren (das sind Der Dünndarm ist in dauernder, durch die Längs- und
Stoffe, die die Löslichkeit eines anderen Stoffes erhöhen) bei Ringmuskelschichten seiner Wand verursachter Bewegung.
der Fettverdauung dienen. Sie erleichtern über die Bildung Diese Darmmotilität dient teils der gründlichen Durchmi-
von Molekülaggregaten mit den Fettsäuren, genannt Mizel- schung des Chymus, teils der Beförderung des Speisebreis
len, die Resorption der Fettsäuren in die Darmzellen. in Richtung Dickdarm. Zeitlich gesehen beginnt die Entlee-
rung einer Mahlzeit aus dem Dünndarm in den Dickdarm
G Die Galle wird kontinuierlich produziert und z. T. in
frühestens 4 h nach der Nahrungsaufnahme. Nach weiteren
der Gallenblase gespeichert und eingedickt, um
4–6 h (also 8–10 h nach dem Essen) ist sie abgeschlossen.
bei der Verdauung in den Dünndarm entleert zu
Der Dünndarm verfügt über ein eigenes nervöses Netz-
werden. Die in der Galle enthaltenen Gallensäuren
werk. Es wird Darmnervensystem oder auch enterisches
dienen als Emulgatoren bei der Fettverdauung.
oder intrinsisches Nervensystem genannt (Abschn. 6.1.1).
Seine Bedeutung lässt sich schon daran erkennen, dass es
12.2.4 Aufgaben des Dünndarms beim Menschen aus insgesamt etwa 108 Neuronen besteht.
Diese Zahl ist etwa genauso groß wie die Gesamtzahl der
Anteile, Bau, Motilität und Innervation Neurone im Rückenmark.
Der Dünndarm ist mit etwa 4 m Länge der längste Ab- Die meisten Neurone des Darmnervensystems liegen,
schnitt des Verdauungskanals. Der kurze Anfangsteil wird wie in . Abb. 12.5 zu sehen, zum einen zwischen Längs-
242 Kapitel 12 · Stoffaufnahme und -ausscheidung

und Ringmuskulatur im Plexus myentericus (Auerbach- den Monosacchariden Glukose, Galaktose und Fruktose
Plexus) und zum anderen zwischen Ringmuskulatur und gespalten (. Abb. 12.6a).
den glatten Muskelfasern unter der Schleimhaut (Submu-
kosa) im Plexus submucosus (Meissner-Plexus). Verdauung und Resorption der Fette
Die Fette werden hauptsächlich durch die lipidspalten-
G Die Kontraktionen der Längs- und Ringmuskulatur
den Enzyme (Lipasen) des Pankreassaftes abgebaut
des Dünndarms dienen der Durchmischung des
(. Abb. 12.6b). Da die Fettbestandteile schlecht wasserlös-
Speisebreis mit den Verdauungssäften sowie seinem
lich sind, erfolgt ihre Lösung in der wässrigen Phase des
Weitertransport zum Dickdarm. Das Darmnervensys-
Darminhalts durch die Aufnahme in die oben bereits be-
tem kann die Dünndarmmotilität weitgehend unab-
schriebenen Mizellen. Nach Aufnahme in die Mikrozotten
hängig steuern.
lösen sich die Fettbestandteile von den Mizellen und dif-
fundieren in das Zytoplasma der Enterozyten genannten
Verdauung und Resorption der Kohlenhydrate Zellen der Darmschleimhaut. Die Mizelle ist dann wieder
Stärke, Polysaccharide und Disaccharide (chemischer Auf- frei und kann neue Fettbestandteile aufnehmen.
bau dieser Substanzen Abschn. 2.1.2) werden nicht resor- In den Enterozyten werden die Fettbestandteile wieder
biert. Sie müssen daher bei der Verdauung zu Monosaccha- zu verschiedenen Fetten, insbesondere zu den am häufigs-
riden, insbesondere zu Glukose, aufgespalten werden. Koh- ten vorkommenden Triglyzeriden (Abschn. 2.1.2) resyn-
lenhydrate nehmen wir hauptsächlich in Form von Stärke thetisiert. Die neugebildeten Fette und Lipide können aller-
(60% der Aufnahme) und von Saccharose (normaler dings wegen ihrer Wasserunlöslichkeit erst dann die Entero-
Rüben- oder Rohr-»Zucker«, 30% der Aufnahme) zu uns. zyten verlassen, wenn sie in eine Glykoproteinhülle ein-
Die Stärke wird durch das Enzym (Synonym: Ferment) gehüllt wurden und auf diese Weise die Chylomikronen
α-Amylase, das, wie in Abschn. 12.2.1 erwähnt, v. a. im bilden. Diese werden dann in die Lymphe (Abschn. 10.6.1)
Speichel und im Pankreassaft enthalten ist, zu Poly- und von dort in das Blut abgegeben. Nach einer fettreichen
sacchariden zerlegt. Diese und die Disaccharide werden Mahlzeit sind die Chylomikronen in solchen Mengen im
durch Oligosaccharidasen bzw. Disaccharidasen bis zu Blutplasma enthalten, dass dieses milchig-trüb erscheint.

. Abb. 12.6a–c. Verdauung und Re-


sorption der Nahrungsstoffe im Dünn-
darm. Schematisierte und stark verein-
fachte Darstellung der wesentlichen enzy-
matischen Verdauungsschritte und der
Resorptionswege durch die Zellen der
Darmschleimhaut. Die beteiligten Enzyme
12 sind jeweils farbig von den zu verdauenden
(aufzuspaltenden) Molekülen unterschie-
den. a Verdauung und Resorption der
Kohlenhydrate. Die Verdauung setzt bereits
im Mund ein. Endprodukte sind die 3 Mo-
nosaccharide Glukose, Galaktose und
Fruktose. b Verdauung und Resorption von
Fetten. Die Gallensalze emulgieren die
Zwischenprodukte der Fettverdauung, in-
dem sie mit ihnen Mizellen zur leichteren
Resorption durch die Darmschleimhaut
bilden. c Verdauung und Resorption der
Eiweiße. Resorbiert werden die Amino-
säuren. Weitere Details im Text
12.2 · Aufgaben und Arbeitsweise des Magen-Darm-Trakts
243 12
Verdauung und Resorption der Eiweiße (Salze) und Vitamine resorbiert. Die insgesamt im Dick-
Der Vorgang der Eiweißverdauung und Resorption ist in darm resorbierten Mengen an Wasser, Elektrolyten und
schematischer Darstellung in . Abb. 12.6c gezeigt. Die Pro- Vitaminen sind im Vergleich zum Dünndarm sehr gering
teine und Peptide werden durch Pepsine, Trypsin und (. Abb. 12.1). Die bei ausgewogener Kost täglich ausgeschie-
Chymotrypsin in verschieden große Bruchstücke (Poly- denen 100–200 g Faeces (Kot) bestehen zu 75–80% aus Was-
und Oligopeptide, Abschn. 2.1.2) zerlegt. Die Eiweißver- ser und zu 20–25% aus festen Bestandteilen. Die festen Be-
dauung beginnt im Magen (Pepsin), wird durch den Pank- standteile enthalten variable Mengen an Zellulose und wei-
reassaft (Trypsin, Chymotrypsin) fortgesetzt und durch teren unverdaulichen Bestandteilen, ca. 10–30% Bakterien,
Peptidasen des Dünndarms zu Ende geführt. Im Anschluss ca. 10–15% anorganisches Material (unlösliche Kalzium-
daran erfolgt die Aufnahme der Spaltstücke (Aminosäuren, und Eisensalze) sowie ca. 5% Fett aus Enterozyten und ge-
Abschn. 2.1.2) in die Enterozyten. Der weitere Abtransport ringe Mengen abgeschilferter Epithelien und Schleim.
erfolgt auf dem Blutweg.
G Der Darminhalt (Chymus) wird im Dickdarm weiter
G Zur Resorption werden im Dünndarm die Kohlenhy- durchmischt, eingedickt und vorübergehend ge-
drate zu Monosacchariden, die Fette zu Glyzeriden speichert; 3- bis 4-mal täglich werden die eingedick-
und Fettsäuren und die Eiweiße zu Oligopeptiden ten Faeces durch Massenbewegungen zum Enddarm
und Aminosäuren aufgespalten. Neben den Nähr- weiter verschoben.
stoffen wird übrigens im Dünndarm v. a. Wasser
resorbiert. Box 12.6. Colon irritabile: Reizkolon und Belastung
B.S. war bis zu seinem 45. Lebensjahr gesund. Kurz
12.2.5 Aufgaben des Dickdarms nach seinem 45. Geburtstag wurden in seiner Firma
(des Kolons) ein Teil der Arbeitsplätze »abgebaut«. Er durfte seinen
Arbeitsplatz behalten, aber die Auftragslage blieb
Aufbau des Dickdarms schlecht, so dass er ständig in der Angst lebte, eben-
Der Dickdarm (das Kolon) ist etwa 120–150 cm lang. Sein falls entlassen zu werden. In derselben Zeitspanne ver-
Durchmesser beträgt am Anfang 6–9 cm und nimmt nach liebte er sich in eine 15 Jahre jüngere Arbeitskollegin
distal ab. Die Längsmuskulatur des Kolons ist in Form von und blieb zunehmend von seiner Familie fern, konnte
3 Längsbändern von etwa 0,8 cm Breite, den Taenien, aus- sich aber nicht entschließen, diese zu verlassen. Weni-
gebildet. Der Tonus der Tänien und lokale Kontraktionen ge Stunden nach einer Auseinandersetzung mit seiner
der Ringmuskulatur lassen Einschnürungen entstehen, Freundin nach einem ausgiebigen Abendessen wach-
zwischen denen jeweils Ausbuchtungen, die Haustren, her- te er nachts mit extremen Bauchschmerzen auf, glaub-
vortreten. Dies gibt dem Kolon sein charakteristisches Aus- te an einen Blinddarmdurchbruch und wurde in die
sehen (. Abb. 12.1 und 12.7). Klinik eingeliefert. Obwohl sich dort die Schmerzen
sofort besserten, keine organischen Störungen gefun-
Dickdarmbewegungen den wurden und er den Aufenthalt als entlastend
Die Kontraktionen der Dickdarmmuskulatur erfolgen weit- erlebte, ließ er sich intensiv weiter untersuchen. Er
gehend ungeregelt und an verschiedenen Stellen gleichzei- glaubte weiter an eine lebensbedrohliche Erkrankung
tig, d. h. sie durchmischen den Inhalt, befördern ihn aber (Krebs). Nach seiner Entlassung traten die Schmerzen
nicht weiter (nichtpropulsive Motilität). Daneben treten krampfartig nach dem Essen zunehmend häufiger auf,
selten peristaltische Wellen mit Kontraktionen und voraus- Durchfälle kamen hinzu, verordnete Medikamente
laufender Relaxation auf, die den Inhalt über etwa 20 cm zeigten keine Wirkung. Auch eine Magen- und Darm-
weiterbefördern. Nur 3- bis 4-mal täglich kommt es zu Mas- spiegelung erbrachte kein Resultat. Eine psychophy-
senbewegungen, die den Inhalt über lange Strecken beför- siologische Untersuchung ergab eine deutliche Erhö-
dern. Alle beschriebenen Motilitätsabläufe werden durch hung der Darmbewegungen nach Vorstellung belas-
Nahrungsaufnahme gesteigert (gastrokolischer Reflex). Die tender Situationen. Die wiederholte Vorstellung aller
Transitzeit des Chymus durch das Kolon beträgt bei unserer ihn bedrückenden Erlebnisse während tiefer Entspan-
faserstoffarmen Diät 2–3 Tage (. Abb. 12.1). Bei sehr faser- nung (systematische Desensibilisierung) brachte
reicher Kost kann sich diese Zeit halbieren. Beim schmerz- schließlich eine Beseitigung der Schmerzen.
haften Colon irritabile (Reizdarm) sind die Darmbewegun-
gen in ihrer Amplitude erhöht (Box 12.6).

Bildung der Faeces (des Kots)


Der vom Dünndarm in den Dickdarm weitergegebene Chy-
mus (ca. 200–500 ml pro Tag) wird dort durch die Resorp-
tion von Wasser eingedickt. Gleichzeitig werden Elektrolyte
244 Kapitel 12 · Stoffaufnahme und -ausscheidung

. Abb. 12.7. Neuronale Kontrolle von Darmkontinenz und De- men kontrolliert. Welche Rolle der sympathischen Innervation des
fäkation. Diese beiden Funktionen werden durch das intrinsische Enddarmes zukommt, ist nicht bekannt. Zerstörung des Sakralmarks
Darmnervensystem, durch parasympathische sakrale (Rückenmarks- führt zum vollständigen Ausfall der Defäkationsreflexe. Weitere Be-
segmente S2 bis S4) und durch somatomotorische nervöse Mechanis- sprechung im Text

12.2.6 Aufgaben des Enddarms kels wieder ab, und das Rektum paßt sich an den vermehr-
(des Rektums) ten Inhalt an. Damit verschwindet auch der Stuhldrang.
Durch diesen Mechanismus kann beim Gesunden die Kon-
12 Kontinenz tinenz bis zu einer Rektumfüllung von etwa 2 l gewahrt
Die . Abb. 12.7 (auch . Abb. 12.1) gibt einen Überblick werden (jedoch Box 12.7).
über die bei den Aufgaben des Enddarms und des Anus be-
teiligten Strukturen und neuronalen Schaltkreise. Das Rek-
tum wird durch 2 Ringmuskeln (Mm. sphincter ani inter- Box 12.7. Fäkale Inkontinenz
nus et externus) verschlossen. Der innere besteht aus glatter Eine Vielzahl von Erkrankungen im Kindes- und Er-
Muskulatur und unterliegt nicht willkürlicher Kontrolle. wachsenenalter führen zu zeitweiser oder anhaltender
Der äußere ist quergestreift und kann willkürlich kontrol- fäkaler Inkontinenz. Im Kindesalter sind davon v. a. Ge-
liert werden. Sein normaler tonischer Schließzustand wird burtsdefekte wie Spina bifida betroffen: Durch Spalt-
im Zusammenspiel von tonischen deszendierenden Ein- bildung der unteren Wirbelsäule wird das Rückenmark
flüssen aus dem ZNS mit spinal vermittelten afferenten Im- geschädigt, und der externe Sphinkter kann nicht
pulsen aus dem Muskel und vom umgebenden Gewebe, mehr auf Druckveränderungen des Rektums und des
insbesondere von der Analhaut, aufrechterhalten. internen Sphinkters mit Kontraktion (Stuhl halten) rea-
Füllung des Rektums mit Darminhalt (Abschn. 12.2.5) gieren. Bei diabetischer Neuropathie, einer Kompli-
führt reflektorisch zur Erschlaffung des inneren Schließ- kation bei der Zuckerkrankheit (Abschn. 7.2.2), und im
muskels bei gleichzeitig verstärkter Kontraktion des äuße- Alter kommt es ebenfalls zu teilweiser Degeneration
ren. Gleichzeitig kommt es zum Stuhldrang, also zu be- der nervösen Versorgung des Sphinkters und damit
wussten Empfindungen, ausgelöst durch die afferenten zur Inkontinenz. Neben operativen Eingriffen hat sich
Impulse von Sensoren in Kolon- und Rektumwand. Die zur Wiedererlangung von Kontinenz Biofeedback der
bewussten Empfindungen entstehen durch die afferenten Kontraktion des externen Sphinkters gut bewährt.
Signale, die im Gyrus postcentralis und der oberen Parie- Die dabei verwendete Methode ist in Abschn. 13.7.2
talregion enden. Kommt es nicht zur sofortigen Darment- und . Abb. 13.25 beschrieben.
leerung, nimmt die Erschlaffung des inneren Schließmus-
12.3 · Aufgaben und Arbeitsweisen der Nieren, der Harnblase und der harnableitenden Wege
245 12
Defäkation dem Nierenhilus, treten die Gefäße und der Nierennerv in
Die Entleerung des Enddarmes setzt normalerweise unter die Niere ein. Dort wird auch der Harn im Nierenbecken
willkürlicher Unterstützung ein. Supraspinale Förderung gesammelt und in den Ureter (Harnleiter) weitergeleitet
der spinalen parasympathischen Reflexwege zum Enddarm (. Abb. 12.8).
(. Abb. 12.7) führt zur reflektorischen Kontraktion der End-
abschnitte des Kolons bei gleichzeitiger Erschlaffung beider Feinbau der Nieren
Schließmuskeln. Dies muss durch die Erhöhung des Druckes Die beiden Nieren sind aus je 1,2 Millionen Nephronen
im Bauchraum (Bauchpresse) unterstützt werden. Beide aufgebaut (3-mal so viele wie unbedingt benötigt werden),
Mechanismen zusammen führen unter Senkung des Becken- die jedes für sich Harn bilden. Ihre Lage in der Niere veran-
bodens zum Ausstoßen der Kotsäule. schaulicht die Explosionszeichnung in . Abb. 12.8 und die
Form, Bezeichnung und Hauptaufgaben jedes Nephrons
G Innerer und äußerer Ringmuskel des Anus sorgen für
sind in . Abb. 12.8 und in . Abb. 12.9 illustriert. Jedes
die Kontinenz des Rektums. Ein- bis mehrmals täg-
Nephron beginnt mit seinem Glomerulus (1. in . Abb. 12.9a),
lich wird die Kontinenz durch die Defäkation unter-
der 2. in den proximalen Tubulus, 3. in die Henle-Schleife,
brochen, d. h. der im Rektum gespeicherte Kot wird
4. in den distalen Tubulus und schließlich 5. in das Sammel-
durch Kontraktionen des Enddarms und willkürliche
rohr mündet, also in eine gemeinsame Sammelrohrstrecke,
Bauchpresse entleert.
die den Harn zum Nierenbecken leitet.
In jeden Glomerulus tritt eine Arteriole ein und ver-
12.3 Aufgaben und Arbeitsweisen zweigt sich zu einem Kapillarknäuel (. Abb. 12.8, 12.9a),
der Nieren, der Harnblase aus dem der Primärharn, genannt Ultrafiltrat, abgefiltert
und der harnableitenden Wege wird. Anders als in allen übrigen Geweben münden die
Glomeruluskapillaren aber nicht in Venolen, sondern in
12.3.1 Grob- und Feinbau der Nieren eine zweite, abführende Arteriole, die sich anschließend in
ein zweites Kapillarnetz aufsplittert, das, wie in . Abb. 12.8
Hauptaufgaben der Nieren und 12.9a zu sehen, den Tubulus versorgt.
Neben der Ausscheidung von Stoffwechselendprodukten,
G Die harnbereitenden Bauelemente der beiden
wie z. B. Harnstoff und Harnsäure, und von Fremdstoffen,
Nieren, sind die 2,4 Millionen Nephrone. Jedes
wie Medikamenten, Giften und Drogen, scheiden die
Nephron besteht aus einem Glomerulus mit an-
Nieren v. a. Wasser aus.
schließenden Tubulusabschnitten. Jedes Nephron
Umgekehrt, wie unten geschildert, verhindern sie den
hat seine eigene Blutversorgung mit einem Kapillar-
Verlust von lebenswichtigen Molekülen, wie Proteinen,
knäuel im Glomerulus und einem Kapillarnetz um
Glukose, Aminosäuren, Fettsäuren und von zuviel Wasser
den Tubulus.
entweder durch Verhindern der Filtration in den Glomeruli
oder durch Rückresorption der gefilterten Moleküle in den
Tubuli. Ähnliches gilt für die verschiedensten Salze ein- Nierendurchblutung und deren Autoregulation
schließlich derer, die für den Säure-Basen-Haushalt verant- Die Nieren machen mit ihren 300 g Gewicht nur 0,4% des
wortlich sind. Körpergewichts eines 70 kg schweren Menschen aus. Ihre
Schließlich haben die Nieren auch endokrine Funktio- Durchblutung beträgt aber rund 1,2 l/min, also etwa 25%
nen, denn sie sind nicht nur Zielorgane für verschiedene des Herzzeitvolumens in Ruhe. Dieser hohe Blutstrom
Hormone (7 unten), sondern sie metabolisieren Hormone, fließt vornehmlich durch die Nierenrinde. Dort liegen, wie
z. B. Kortikosteroide, und sie synthetisieren einige Hormone, in . Abb. 12.8 und 12.9 zu sehen, die Glomeruli und die
v. a. das Erythropoetin für die Bildung der roten Blutkör- proximalen Tubulusknäuel, in denen der Umsatz an extra-
perchen. zellulärer Flüssigkeit hauptsächlich stattfindet.
Ähnlich wie das Gehirn zeichnet sich die Niere durch
G Hauptaufgaben der Nieren sind das Ausscheiden
die Besonderheit aus, dass ihre afferenten Arteriolen auf
der meisten im Körperstoffwechsel anfallenden Ab-
eine Erhöhung des Blutdruckes mit einer Widerstands-
fallstoffe und das Konstanthalten der Menge und
zunahme (Gefäßverengung) und auf eine Blutdruckab-
der Elektrolytzusammensetzung der Extrazellulär-
nahme mit einer Widerstandsabnahme so reagieren, dass
flüssigkeit.
die Durchblutung der Niere praktisch konstant bleibt.
Diese Autoregulation koppelt die Niere (und, wie gesagt,
Lage und Form der Nieren auch das Gehirn) von der allgemeinen Kreislaufregula-
Die beiden Nieren liegen in der Lendengegend beiderseits tion weitgehend ab. Damit ist gewährleistet, dass die Bil-
der Wirbelsäule hinter der Bauchhöhle. Eine Niere wiegt dung des Primärharns (Ultrafiltrats) in den Glomeruli
etwa 150 g, ist etwa 12 cm lang, 6 cm breit und 3 cm dick. unter praktisch allzeit konstanten Druckbedingungen ver-
Sie hat die Form einer Bohne. An der eingedellten Seite, läuft.
246 Kapitel 12 · Stoffaufnahme und -ausscheidung

Nach Levey A S, Perrone R D, Madias N E (1998). Mit freundlicher Genehmigung des Annual Review of Medicine.
. Abb. 12.8. Überblick über den Aufbau der Niere und ihrer Ne- schaltet sind. Die Glomeruli liegen überwiegend in der Nierenrinde und
phrone sowie der Blutgefäßversorgung. Bei dieser ist zu beachten, im Grenzbereich zwischen Rinde und Mark (juxtamedullär). Die Tubuli
dass 2 Arteriolenstrecken (afferente und efferente Arteriole) und 2 Ka- durchziehen das Mark. Rechts sind zwei kortikale und ein juxtamedullä-
pillarnetze (in den Glomeruli und um die Tubuli) hintereinander ge- res Nephron zu sehen, die alle drei in dasselbe Sammelrohr münden

G Die weniger als 1% des Körpergewichts wiegenden ständig abfiltriert. Pro Minute beträgt die GFR 120 ml, pro
12 Nieren benötigen 1,2 l Blut pro Minute, d. h. 25% Tag summiert sie sich auf 170 l.
des Herzzeitvolumens in Ruhe. Dieser Blutfluss wird
G In den Glomeruli wird täglich durch Ultrafiltration
autoregulatorisch konstant gehalten.
170 l Primärharn gebildet, das sind etwa 20% des
Blutplasmaflusses durch die Nieren. Die treibende
12.3.2 Glomeruläre Filtration und tubuläre Kraft ist der Blutdruck minus dem kolloidosmoti-
Resorption und Sekretion schen Druck.

Glomeruläre Ultrafiltration des Primärharns Aktive und passive tubuläre Resorption


In den Glomeruli wird aus dem Blut Extrazellulärflüssig- Jeden Tag werden nur rund 1% der GFR, nämlich etwa
keit (ohne die Bluteiweiße und ohne zelluläre Bestandteile) 1,5 l, als Urin ausgeschieden. Die anderen 99% werden im
in den Kapselraum als Primärharn abgepresst, der von dort Tubulussystem wieder resorbiert. An dieser Resorption
in die Tubuli fließt (. Abb. 12.8 und 12.9). Das Abfiltern des sind die einzelnen Tubulusabschnitte ganz unterschiedlich
Primärharns im Glomerulus ist dem Abfiltern von Blut- beteiligt (2. bis 4. Abschnitt in . Abb. 12.9a). Die Hauptlast
plasma in den übrigen Kapillaren des Körpers völlig analog: liegt beim Anfangsteil des Nephrons, wo bereits im proxi-
Der Filtrationsdruck ist als treibende Kraft die Differenz malen Tubulus 65% des Filtratvolumens wieder zurückge-
aus dem Blutdruck minus dem kolloidosmotischen Druck nommen werden. Das übrige Volumen wird im absteigen-
(. Abb. 10.3 in Abschn. 10.1.2). Der Vorgang wird Ultra- den Teil der Henle-Schleife, im distalen Konvolut und in
filtration genannt. den Sammelrohren rückresorbiert.
Die hohe Durchblutung der Nierenrinde (7 oben) ist Die Resorption von Stoffen und Wasser aus dem Tubu-
die Voraussetzung für die Bildung großer Mengen von lusinneren in das Blut erfolgt entweder aktiv, also unter
Primärharn, also für eine hohe glomeruläre Filtrationsrate Energieaufwand (»Pumpen«, Abschn. 2.2.1), oder passiv,
(GFR). Etwa 20% des renalen Plasmaflusses werden dabei d. h. die Moleküle diffundieren entlang einem elektrischen
12.3 · Aufgaben und Arbeitsweisen der Nieren, der Harnblase und der harnableitenden Wege
247 12

. Abb. 12.9a, b. Hauptaufgaben der einzelnen Nephronenab- tion der Transportvorgänge im Neuron. Substanzen, die aus dem im
schnitte und Überblick über die Lokalisation der Transportvor- Glomerulus ultrafiltrierten Primärharn anschließend wieder resorbiert
gänge im Nephron. a Zusammenfassung der Aufgaben der einzelnen werden, sind rot eingetragen, die in den Harn sezernierten Substan-
Nephronenabschnitte (1. bis 4.) und des Sammelrohrs (5.). b Lokalisa- zen schwarz

(Abschn. 3.2.1) oder osmotischen Gefälle (Abschn. 2.2.1) Tubuläre Sekretion


durch die Tubuluszellen in das Blut. Insgesamt ist es so, dass Die Tubuluszellen verfügen in ihren Membranen über eine
nur wenige Substanzen aktiv aus den Tubuli in das Blut Vielzahl von Transportprozessen (»Pumpen«, Abschn. 2.2.1),
resorbiert werden, allen voran die Natriumionen des Koch- mit deren Hilfe Ionen sowie organische Säuren und Basen
salzes. Diesen folgen dann passiv die anderen Substanzen, aus dem Blut in das Tubuluslumen unter Energieaufwand
in unserem Beispiel aus Gründen der Elektroneutralität die sezerniert werden können. Solche sezernierenden Trans-
Chlorionen und aus osmotischen Gründen das Wasser portprozesse dienen auch der Entfernung von Fremdstof-
(wobei die Wasserdiffusion wiederum weiteres Kochsalz fen (Xenobiotika), wie z. B. Giftstoffen und Pharmaka.
mitreißt und natürlich auch die Diffusion anderer Stoffe Eine Übersicht über die Resorptions- und Sekretionsvor-
nach sich zieht). gänge an den verschiedenen Stellen des Nephrons zeigt
Stoffe, die wegen ihres Nährwertes überhaupt nicht . Abb. 12.9b. Der proximale Tubulus dominiert nicht nur bei
ausgeschieden werden sollen, werden durch aktive Trans- der (teils passiven, teils aktiven) Resorption (rote Pfeile) von
portsysteme (»Pumpen«) praktisch vollständig resor- Wasser und Salzen, sondern auch bei der (immer aktiven)
biert. Zu diesen Stoffen zählen z. B. Glukose, Aminosäu- Sekretion (schwarze Pfeile) von Ionen, Medikamenten etc.
ren und kleine Eiweißmoleküle. Sie können allerdings, wie
G Überflüssige Ionen sowie organische Säuren und
für die Glukose in Abschn. 7.2.2 bereits angesprochen,
Basen, ferner Pharmaka, Gifte und weitere Fremd-
dann im Urin auftauchen, wenn die Blutspiegel der Stoffe
stoffe (sog. Xenobiotika) werden durch Sekretion
so hoch werden, dass die Pumpkapazität nicht mehr aus-
in die Tubuli eliminiert.
reicht.

G In den Tubuli wird der Primärharn um rund 99% auf


die Endharnmenge reduziert. Der transtubuläre
Transport von Wasser und Salzen erfolgt in allen
Tubulusabschnitten, allerdings dominieren die pro-
ximalen Tubulusabschnitte; die distalen Tubulus-
abschnitte dienen v. a. der Feineinstellung.
248 Kapitel 12 · Stoffaufnahme und -ausscheidung

12.3.3 Hormonelle Kontrolle schriebenen aktiven Resorptionsprozesse (»Pumpen«)


von Harnkonzentrierung eingesetzt. Zur Energieeinsparung und um eine hormonale
und -verdünnung Steuerung zu ermöglichen, bedient sich die Niere dabei
eines Konzentrierungsmechanismus (Gegenstrommultipli-
Rolle des Aldosterons und des Atriopeptins kation genannt, hier nicht erläutert), der im Ergebnis dazu
bei der Resorption der Na+-Ionen führt, dass in der Umgebung der Sammelrohre im Nieren-
Im täglichen Primärharn sind rund 1,2 kg Kochsalz ent- mark (. Abb. 12.8) ein sehr hoher osmotischer Druck
halten. Damit der Salzgehalt des Körpers konstant bleibt, herrscht, so dass jetzt dem Harn Wasser in großen Mengen
dürfen davon nicht mehr als die täglich mit der Nahrung auf osmotische Weise entzogen werden kann (diesen Vor-
aufgenommenen 8–15 g (Abschn. 12.1.2), also rund 1%, im gang einer Verminderung der Harnmenge wird als Anti-
Urin ausgeschieden werden. Bei kochsalzarmer Nahrung diurese bezeichnet, Diurese ist das Gegenteil, also die nor-
müssen es sogar weniger sein. Die aktive Resorption von male oder vermehrte Harnmengenbildung).
Natrium ist daher, wie in Abschn. 12.3.2 schon angespro- Dies setzt voraus, dass die Wände der Sammelrohre
chen, die größte Aufgabe der Niere. Um die dabei notwen- durch die Wirkung eines Hormons wasserdurchlässig
dige Genauigkeit zu erzielen, arbeitet die Niere in einem gemacht werden können. Das dafür zuständige Hormon ist
Zwei-Stufen-Verfahren: Im proximalen Tubulus und in der das Adiuretin oder ADH (antidiuretisches Hormon). Es
Henle-Schleife werden gut 90% des Kochsalzes ohne hor- wird im Hypothalamus gebildet, durch neuroaxonalen
monelle Kontrolle resorbiert. Im distalen Tubulus erfolgt Transport in die Hypophyse gebracht und dort im Hinter-
dann die Feineinstellung mit Hilfe des Mineralokortikoids lappen gespeichert (Abschn. 7.3.2).
Aldosteron (aus der Nebennierenrinde, Abschn. 7.3.5). Die Freisetzung von ADH aus der Hypophyse erfolgt in
Flüssigkeitsmangel im Extrazellulärraum und Koch- Abhängigkeit von der Konzentration der Natrium-Ionen
salzmangel bewirken die Freisetzung von Aldosteron. Dieses im Extrazellulärraum (gemessen von Osmosensoren, v. a.
steigert den aktiven Transport von Natrium-Ionen aus der im Hypothalamus). Eine Erhöhung der Na+-Konzentration
Tubulusflüssigkeit zurück ins Blut. Die Natrium-Ionen führt zur Freisetzung von ADH und damit zu einer Anti-
werden zum großen Teil gegen Kalium-Ionen ausgetauscht, diurese, die so lange durchgehalten wird, bis die Na+-Kon-
die wir normalerweise im Übermaß mit der Nahrung auf- zentration durch die Rückdiffusion von Wasser in das Blut
nehmen (v. a. bei sehr fleischreicher Nahrung) und wieder und damit auch den Extrazellulärraum ihren Normalwert
»loswerden« müssen. wieder erreicht hat. Das Umgekehrte geschieht bei Na+-
Umgekehrt wird durch Drosselung der Aldosteronfrei- Mangel. Dieses Regelsystem hält also die Kochsalzkonzen-
setzung eine Natriurese (vermehrte Ausscheidung von Na- tration und damit den osmotischen Druck im Extrazellu-
trium im Urin) bewirkt (z. B. bei sehr salzhaltiger, flüssig- lärraum konstant.
keitsreicher Kost). Diese Natriurese kann auch aktiv hor- Wasser können wir soviel trinken, wie wir wollen. Jeder
12 monal verstärkt werden, und zwar durch den atrialen Flüssigkeitsüberschuss wird mit einer Verzögerung von we-
natriuretischen Faktor (ANF). ANF ist ein Polypeptid, das nigen Stunden wieder ausgeschieden. Verantwortlich dafür
auch Atriopeptin genannt wird, da es in den Muskelzellen ist der aus dem Absinken des osmotischen Drucks der
des Herzvorhofs vorkommt. ANF hemmt die aktive Natri- Extrazellulärflüssigkeit resultierende starke Rückgang
umresorption am Ende des Nephrons und erhöht damit die der ADH-Freisetzung, der zusammen mit einer erhöhten
Kochsalzausscheidung (und führt damit aus osmotischen Primärharnbildung (durch den volumenbedingten Blut-
Gründen zu mehr Urin). ANF wird nerval und durch Deh- druckanstieg, Abschn. 10.7.2) für einen außerordentlich
nung der Vorhöfe freigesetzt. verdünnten Harn sorgt.
G Bei zu wenig Flüssigkeit im Extrazellulärraum und/ G Die Urinbildung von rund 1,5 l/Tag wird als Anti-
oder bei Kochsalzmangel wird Aldosteron freige- diurese bezeichnet. Das Hormon ADH (antidiure-
setzt, das die Rückresorption von Kochsalz aus den tisches Hormon, Adiuretin) regelt das Ausmaß
Tubuli in das Blut steigert. Umgekehrt bewirkt eine der Urinkonzentrierung, indem es die Wände
verminderte Aldosteronausschüttung eine Natriure- der Sammelrohre für Wasser durchlässig macht.
se, die durch Atriopeptin (ANF) noch verstärkt Trinken von reichlich Flüssigkeit führt zur Hem-
werden kann. mung der ADH-Freisetzung und damit zur Diurese,
d. h. der Bildung großer Mengen verdünnten
Rolle des Adiuretin bei der Harnkonzentrierung Urins.
In der normalen täglichen Urinmenge von rund 1,5 l sind
die von den Nieren auszuscheidenden »harnpflichtigen«
Substanzen so konzentriert, dass der Urin etwa dreimal hy-
pertoner als das Blutplasma ist. Für diese Konzentrations-
leistung werden im Wesentlichen die in Abschn. 12.3.2 be-
12.3 · Aufgaben und Arbeitsweisen der Nieren, der Harnblase und der harnableitenden Wege
249 12

Box 12.8. Diabetes insipidus bleibt. Sinkt aber die Zahl der Nephrone auf weniger als
800 000 ab, beginnen sich die Abfallprodukte im Körper
Bei eingeschränkter oder fehlender ADH-Produktion
anzuhäufen. Weniger als eine halbe Million Nephrone ist
(z. B. angeboren oder bei Tumoren im Hypophysen-
mit dem Leben nicht mehr vereinbar.
Hypothalamus-Bereich) kommt es zur vermehrten
Fallen im Verlauf einer fortschreitenden Erkrankung,
Urinausscheidung und damit zu andauerndem Durst.
z. B. bei einer chronischen Glomerulonephritis, immer
Dies führt zu exzessiven Trinken, dessen zwanghafter
mehr Nephrone aus, nehmen aus unbekannten Gründen
Charakter die gesamte Lebensweise des Patienten be-
der Blutstrom und die Primärharnbildung in dem übrig
stimmt. So wird berichtet, dass der Tiroler Zwerg
gebliebenen Nierengewebe oft bis auf das Doppelte zu.
Klemens Perkeo (Hofnarr am kurfürstlichen Schloss in
Da außerdem die Konzentration der harnpflichtigen
Heidelberg um 1720–1730 bei Karl Philipp von der
Substanzen im Blutplasma und damit im Primärharn unter
Pfalz), der wahrscheinlich unter einem angeborenen
diesen Bedingungen erhöht ist, steigt damit die Menge
ADH-Mangel litt, täglich 20–30 l Flüssigkeit, v. a. Wein
der nicht rückresorbierten Stoffe stark an. Ihre osmo-
trank.
tische Kraft hindert dabei auch die Resorption von Wasser
aus den Tubuli: Es kommt zu einer osmotischen Diurese
und das einzelne Nephron bildet bis zu zwanzigmal mehr
Urin als normal. Dennoch bleibt die Entgiftungsfunk-
12.3.4 Niereninsuffizienz tion der Niere ungenügend, so dass sich schließlich die
anschließend geschilderten Vergiftungssymptome ein-
Akutes Nierenversagen durch ungenügende stellen.
Durchblutung Diese lassen sich am besten anhand eines vollkomme-
Entscheidend für die Gesamtfunktion der Nieren ist eine nen Nierenversagens erläutern. Geht man davon aus, dass
ausreichende Filtration von Primärharn in den Glomeruli. der Kranke mäßig isst und trinkt,
Wenn nicht mehr ausreichend filtriert wird, ist es bedeu- 4 so nehmen, erstens, Wasser- und Kochsalzgehalt des
tungslos, ob die tubulären Mechanismen der Resorption Körpers so stark zu, dass es zu einem immer ausgepräg-
und Sekretion (Abschn. 12.3.2) intakt sind oder nicht, denn teren, generalisierten Ödem kommt.
nur bei einer genügend großen Primärharnmenge können 4 Zweitens bewirkt die fehlende Ausscheidung der im
die zahlreichen oben geschilderten Austauschprozesse in Stoffwechsel im Überschuss produzierten Säuren eine
den Tubuli funktionsgerecht ablaufen. Übersäuerung (Azidose).
Die ungenügende Nierendurchblutung ist meist Folge 4 Drittens kommt es innerhalb von wenigen Tagen zu
eines Kreislaufzusammenbruchs (z. B. bei einer akuten einem Anstieg der Konzentrationen von Harnstoff und
Herzinsuffizienz oder einem starken Blutverlust). Die von anderen harnpflichtigen Substanzen auf toxische
Reduktion der GFR (glomeruläre Filtrationsrate, Ab- Werte.
schn. 12.3.2) führt zu einem stark reduzierten Harnfluss
(Oligurie) oder dieser versiegt völlig (Anurie). Sekundär Das Krankheitsbild wird als Urämie bezeichnet. Beim voll-
kommt es durch die mangelnde Sauerstoffzufuhr zur Schä- ständigen Nierenversagen führt die Urämie nach wenig
digung der Nierenzellen, so dass häufig auch nach Wieder- mehr als einer Woche zu Bewusstseinstrübungen, tiefer Be-
herstellen der Nierendurchblutung die Oligurie und Anurie wusstlosigkeit (urämisches Koma) und zum Tod. Bei par-
bestehen bleiben. Oder die Niere verliert die Fähigkeit, den tiellem Versagen stellen sich die urämischen Symptome
Harn zu konzentrieren oder zu verdünnen. Sie scheidet schleichend ein.
dann den größten Teil des Filtrates aus (Polyurie) und ist
damit nicht mehr in der Lage, den Salz-Wasser-Haushalt zu G Chronisches Nierenversagen tritt auf, sobald die
regulieren (7 unten). Zahl der Nephrone auf weniger als ein Drittel redu-
ziert ist. Wichtiges Anfangssymptom ist der Verlust
G Dem akuten Nierenversagen liegt meist eine un-
der Fähigkeit, den Urin angemessen zu konzentrie-
genügende Nierendurchblutung zugrunde, die zu
ren. Ein völliges Nierenversagen führt in wenigen
einer drastischen Reduzierung der GFR führt.
Tagen zum Tode.

Chronisches Nierenversagen durch Ausfall Dialyse mit künstlichen Nieren


von Nephronen Bei einem vorübergehenden oder dauernden Ausfall beider
Unter normalen Umständen reicht ein Drittel der 2,4 Mil- Nieren muss der Patient regelmäßig (im Schnitt dreimal pro
lionen Nephrone unserer beiden Nieren aus, um den Kör- Woche für 4–5 Stunden) von den harnpflichtigen Substan-
per von allen »harnpflichtigen« Substanzen zu befreien zen befreit werden. Dies geschieht mit Hilfe von »künst-
(Abschn. 12.3.1). Der Verlust einer Niere ist ohne weiteres lichen Nieren«. Die Arbeitsweise dieser Geräte ist im
zu verschmerzen, solange die verbleibende Niere gesund Prinzip einfach (. Abb. 12.10): Blut wird durch dünne Zello-
250 Kapitel 12 · Stoffaufnahme und -ausscheidung

. Abb. 12.10. Arbeitsweise künstlicher Nieren bei der Blut- harnpflichtigen Abfallprodukte (Harnstoff, Kreatinin, Harnsäure usw.)
wäsche (Dialyse) von Patienten mit akutem oder chronischem und überflüssige Salze sowie Wasser in das Dialysat, nicht jedoch die
Nierenversagen. Im Dialysator (Austauscher) ist Blut durch eine größeren zellulären Bestandteile des Blutes und die Eiweißmoleküle.
feinporige Membran (Zellophanmembran) von einer Blutersatzlösung Weitere Besprechung im Text
(Dialysat) getrennt. Durch die Poren der Membran diffundieren die

phanschläuche geleitet, die auf ihrer Außenseite von einer diffundieren. Ist andererseits die Kochsalzkonzentration
Austausch- oder Dialysierflüssigkeit umspült werden, in in beiden Flüssigkeiten gleich, wird trotz Hin- und Her-
die die harnpflichtigen Substanzen abdiffundieren diffundierens von Na+- und Cl−-Ionen keine Nettoverschie-
können. Die Zellophan-Membranen der Austauschflächen bung auftreten. Und ist schließlich ein Stoff im Dialysat
haben Poren, die gerade so groß sind, dass die harnpflich- in höherer Konzentration als im Blutplasma gelöst, so wird
tigen Substanzen frei hindurch diffundieren können, die er in das Blut übertreten. Auf diese Weise können dem Pa-
großmolekularen Eiweißkörper und die Blutkörperchen tienten z. B. Calcium, Bikarbonat oder Glukose zugeführt
aber zurückgehalten werden. werden.
Art und Ausmaß der Diffusion werden dabei von den Die Transplantation einer Fremdniere ist die optimale
12 Konzentrationsunterschieden zwischen Blutplasma und Lösung eines dauernden Nierenversagens. Der Bedarf an
Dialysat bestimmt. Ist also im Dialysat kein Harnstoff Spendernieren ist aber viel höher als ihre Verfügbarkeit. Ein
gelöst, wird dieser in großen Mengen aus dem Blut ab- möglicher Ausweg ist die Xenotransplantation (Box 12.9).

Box 12.9. Xenotransplantation: Ausweg aus dem Mangel an Spenderorganen?


Sowohl die Nieren- wie auch die Herz-, Leber- und Lun- die immunologischen Hürden der Xenotransplantation
gentransplantationen sind aufgrund ihrer positiven Er- zu überwinden. Dies wird derzeit in präklinischen Tier-
gebnisse zu etablierten klinischen Therapieverfahren ge- modellen, d. h. der Transplantation von Schweineorganen
worden. Der Mangel an Spenderorganen (für ein Nieren- auf Primaten, getestet. Dabei ist insbesondere zu beach-
transplantat besteht eine Wartezeit von mehreren Jahren) ten, dass die Xenotransplantation mit dem Risiko einer
ist aber das zentrale Problem der Transplantationsmedizin. Infektionsübertragung vom Spender auf den Empfänger
Eine mögliche Lösung könnte die Xenotransplantation verbunden ist. Dies gilt v. a. für Virusinfektionen. Da es
darstellen, d. h. die Verwendung von tierischen Organen, andererseits keine oder kaum rechtliche und ethische Ein-
Geweben oder Zellen für die Transplantation beim Men- wände gegen die Xenotransplantation gibt, würde die
schen. Nachdem die immunologischen Hürden, v. a. das breite Verfügbarkeit von Xenotransplantaten vielen
Risiko der Abstoßung, lange Zeit als unüberwindbar gal- Menschen helfen können und die schwierige Problematik
ten, haben Forschungsergebnisse der letzten Jahre diesen der gerechten Allokation (Zuteilung) menschlicher
Ansatz realistischer erscheinen lassen. Die genetische Spenderorgane lösen (viele Herz-, Leber- und Lungen-
Veränderung von Spendertieren, das heißt v. a. von kranke versterben auf der Warteliste).
Schweinen, ist eine entscheidende Voraussetzung, um
12.3 · Aufgaben und Arbeitsweisen der Nieren, der Harnblase und der harnableitenden Wege
251 12

G Die Dialyse mit der künstlichen Niere beruht auf der Kontrolle. In der Blasenwand liegen Dehnungssensoren,
passiven Diffusion der harnpflichtigen Substanzen die den Füllungsgrad der Blase messen und an den postzen-
aus dem Blut durch semipermeable Membranen in tralen und parietalen Kortex melden (zu dessen Beteiligung
die Dialysierflüssigkeit. an der Miktion 7 unten).

G Der Urin fließt aus den Nierenbecken über die bei-


12.3.5 Neuronale Kontrolle den Harnleiter in die Harnblase. Diese fasst norma-
der Harnblasenentleerung lerweise 150–500 ml. Zwei Schließmuskeln hemmen
den Abfluss des Urins über die Harnröhre ins Freie.
Bau und Funktion der ableitenden Harnwege Die Blasenwandmuskulatur und der innere Schließ-
Wie in Abschn. 12.3.1. berichtet, wird der in den Nieren muskel sind vegetativ, der äußere Schließmuskel ist
gebildete Urin in den Nierenbecken gesammelt. Anschlie- somatisch innerviert.
ßend wird er über die etwa 25 cm langen Harnleiter (Ure-
teren) in die Harnblase geleitet (. Abb. 12.8). Die Harnlei- Blasenentleerung (Miktion)
terwände bestehen aus glatter Muskulatur, deren peristalti- Bei der Harnblase wechseln sich lange Sammelphasen und
sche Kontraktionen (2–3 pro Minute) den Urin bis in die kurze Entleerungsphasen ab. Man nennt die Fähigkeit der
Blase vorwärts treiben. Blase, den Urin zu speichern, Kontinenz und die Fähigkeit,
Die Harnblase liegt als muskulomembranöser Behälter sich aktiv zu entleeren, Miktion.
für den Urin im kleinen Becken. Beim Mann befindet sich Während der Sammelphasen wird die Entleerung re-
die Blase vor dem Rektum und liegt der Vorsteherdrüse auf flektorisch verhindert. In dieser Zeit kommt es nur zu ge-
(. Abb. 25.12). Bei der Frau ist sie der Gebärmutter und der ringen Zunahmen des Blaseninnendrucks. Hat die Füllung
Scheide vorgelagert (. Abb. 25.13). Ihre normale Fassungs- der Harnblase etwa 250–500 ml erreicht, setzt norma-
kraft beträgt zwischen 150 und 500 ml. Bei stärkster Füllung lerweise die Entleerungsphase ein. Es kommt zu einem
kann die Harnblase 1 l oder mehr enthalten. Der Abfluss des raschen Anstieg des Blaseninnendrucks, verbunden mit
Harns wird durch 2 Schließmuskeln gehemmt. Der innere starkem Harndrang. Die zugehörigen neuronalen Schalt-
Ringmuskel (M. sphincter internus) besteht aus glatter Mus- kreise der Miktion sind in . Abb. 12.11b links skizziert. Der
kulatur und kann nicht willkürlich beeinflusst werden. Der ungestörte Ablauf der Miktion ist an die Unversehrtheit des
äußere Ringmuskel (M. sphincter externus) wird von quer- pontinen Miktionszentrums im Hirnstamm gebunden.
gestreifter, willkürlich innervierter Muskulatur gebildet. Die Blasenentleerung erfolgt bei Säuglingen und Klein-
Die Harnröhre (Urethra) ist beim Mann 20 bis 25 cm kinder zunächst reflektorisch (bis zum 3. Lebensjahr, meist
lang. Der erste Teil der Harnröhre läuft durch die Prostata, kürzer). Danach unterliegt sie einer willkürlichen Kon-
der zweite Teil läuft durch den bindegewebigen Beckenbo- trolle, die auf Grund der afferenten Signale aus der Blasen-
den und der dritte Abschnitt liegt im Inneren des Harnröh- wand (7 oben) vom Großhirn ausgeht und an der die in
renschwellkörpers des männlichen Gliedes (. Abb. 25.12). . Abb. 12.11b gezeigten pontinen Miktionszentren mitwir-
Im Grunde handelt es sich bei der Harnröhre des Mannes ken. Die willkürliche Kontrolle des äußeren Schließmuskels
um eine Harn-Samen-Röhre. Es ist der gemeinsame End- (Musculus sphinkter externus) ermöglicht umgekehrt auch
abschnitt sowohl des Harn- wie des Geschlechtssystems. eine willkürliche Blasenkontinenz trotz starker Füllung der
Bei der Frau ist die Harnröhre kurz (2,5–4 cm) und ge- Blase (um eine ungelegene Miktion zu vermeiden).
streckt. Sie mündet auf einer kleinen Vorwölbung im Schei-
G Die Kontinenz der Harnblase wird durch 2 Schließ-
denvorhof (. Abb. 25.13).
muskeln gewährleistet. Die Blasenfüllung wird über
Innervation der Harnblase Dehnungssensoren in der Blasenwand zum Kortex
gemeldet. Von dort wird die Miktion willkürlich ein-
Die Innervation der Harnblase samt ihres inneren Schließ-
geleitet oder gegebenenfalls auch temporär unter-
muskels (M. sphincter internus) erfolgt durch das auto-
drückt.
nome Nervensystem (. Abb. 12.11a). Die Blasenwandmus-
kulatur wird erregt durch parasympathische Fasern, die
im Nervus splanchnicus pelvinus laufen und den 2. bis Miktionsstörungen
4. Sakralsegmenten entspringen. Diese Innervation ist Harnverhaltung tritt auf entweder bei Lähmung oder Schä-
Voraussetzung für die normale Blasenentleerung. digung der Blasenwandmuskulatur, durch Entzündung
Die sympathische Innervation wirkt hemmend auf die oder traumatische Nervenschädigung, bei Verlegung der
Blasenwandmuskulatur und erregend auf den inneren Harnröhre, z. B. durch einen Prostatatumor, oder durch
Schließmuskel. Ihre Aufgabe ist die Verbesserung der Kon- einen Krampf der Schließmuskeln.
tinenz der Harnblase, die hauptsächlich vom äußeren Bei Kindern und Jugendlichen kommt es zu Harnreflux
Schließmuskel gewährleistet wird. Dieser ist somatisch in die Nierenbecken und zu Restharn in der Blase, wenn die
(Nervus pudendus) innerviert, also unter willkürlicher Kindern den Harn zu lange anhalten oder nicht vollständig
252 Kapitel 12 · Stoffaufnahme und -ausscheidung

. Abb. 12.11a, b. Innervation der Harnblase und nervöse Regula-


tion von Blasenkontinenz und Miktion. a Innervation der Harnblase.
Der Farbschlüssel links unten zeigt, dass sowohl Sympathikus wie
Parasympathikus beteiligt sind. PHS Plexus hypogastricus, NH Nervus
hypogastricus. b Neuronale Verschaltungen für die nervöse Regula-
tion von Kontinenz (rechts im Bild) und Miktion (links). Erregung ist
mit (+), Hemmung mit (–) gekennzeichnet. Die pontinen Miktions-
zentren stehen unter kortikaler Kontrolle (nicht eingezeichnet). Die
Einsatzfigur zeigt die Lokalisation der auf- und absteigenden Bahnen
im Rückenmark. Bei Querschnittslähmungen erfolgt die Blasenentlee-
rung über den spinalen Reflexbogen 2

entleeren. Dies kann Entzündungen mit lebensgefährlichen


Folgen nach sich ziehen. Nach der antibiotischen Behand-
lung sollte daher ein verhaltenstherapeutisches Training
der Miktion erfolgen.
Harninkontinenz, also das Unvermögen, den Harn
willkürlich zurückzuhalten, tritt besonders bei Frauen nach
der Geburt (durch Beckenbodenschwäche), bei hirnorgani-
schen Erkrankungen (z. B. multiple Sklerose, Arterioskle-
rose der Hirngefäße), im hohen Alter und auch psycho-
logisch bedingt auf.
Bei einer Querschnittslähmung kann auf Blasenfüllung
zunächst keine Miktion mehr beobachtet werden, d. h. die
Harnblase muss regelmäßig über einen Katheter entleert
werden. Korrekte Pflege vorausgesetzt, bildet sich aber nach
1–5 Wochen wieder eine reflektorische Entleerung heraus.
Der Reflexbogen dieser Reflexblase verläuft spinal (Reflex-
weg 2 in . Abb. 12.11b). Dieser Reflexweg wird auch vom
normalen Säugling benutzt. Er wird später durch den supra-
spinalen Weg überlagert. Querschnittsgelähmte können es
lernen, den spinalen Reflexweg durch äußere Reize (z. B. Be-
12 klopfen des Unterbauches) zu aktivieren und damit eine ge-
wisse Kontrolle der Miktion zurückzugewinnen (Box 6.5 in
Abschn. 6.3.1 und 13.5.3). Bei einer Zerstörung des Spinal-
marks fällt allerdings die willkürliche wie reflektorische Ent-
leerung (. Abb. 12.11a, rechte Bildhälfte) für immer aus.

G Miktionsstörungen treten teils als Harnverhaltun-


gen, teils als Harninkontinenz auf. Nach Quer-
schnittslähmung kann sich eine kontinente Reflex-
blase bilden, bei der durch Bauchdeckenreizung
Miktionen ausgelöst werden können.
Zusammenfassung
253 12

Box 12.10. Psychophysiologische Behandlung der Harninkontinenz und von Enuresis nocturna

Sofern nervale Afferenzen und Efferenzen zu den Schließ- die Patienten für Kontraktionen des externen Sphinkters
muskeln ganz oder teilweise erhalten sind, so z. B. bei positiv verstärkt und können dieses auch am Bildschirm
Inkontinenz nach Geburten und nach Operationen oder beobachten.
bei alten Menschen, kann durch Biofeedback des exter- Enuresis nocturna (nächtliches Einnässen) tritt häu-
nen Sphinkters, wie auf . Abb. 13.30 dargestellt, die fig im Kindes- und Jugendalter in Schlafphasen 3 und 4
Harnkontinenz wieder gelernt werden. Dabei wird die in auf (Kap. 22). Die Behandlung erfolgt durch eine Klingel-
. Abb. 13.30 gezeigte elektromyographische oder me- matratze, bei der kleine Mengen ausgeschiedenen Urins
chanische Sonde in den Anus eingeführt. Kontraktionen einen elektrischen Kontakt schließen, der das Kind sofort
der Schließmuskeln der Harnröhre können dort regis- weckt.
triert werden. Wie in Abschn. 13.7.2 beschrieben, werden

Zusammenfassung
Für seinen Brenn- und Baustoffwechsel nimmt der 5 Neben dem BMI ist bei Adipositas auch die Fettver-
Mensch folgende 3 Nährstoffe zu sich (. Tabelle 12.1): teilung wichtig, Bauchfett ist mehr risikobehaftet als
5 Kohlenhydrate (größtenteils in Form von pflanzlicher Fett an Hüfte und Oberschenkeln.
Stärke) v. a. für den Brennstoffwechsel;
5 Fette (hauptsächlich tierische Triglyzeride) v. a. für Der Magen-Darm-Trakt (Gastrointestinaltrakt) beginnt
den Brennstoffwechsel; mit dem Mund und bildet ein durchlaufendes Rohr bis
5 Eiweiße (sowohl in tierischer wie pflanzlicher Form) zum Anus. Seine Anteile und deren Hauptaufgaben sind:
v. a. für den Baustoffwechsel, wobei acht der Amino- 5 Mundhöhle, Rachen und Speiseröhre dienen der
säuren, aus denen die Eiweiße aufgebaut sind, un- Nahrungsaufnahme (samt Geschmacksbildung),
bedingt mit der Nahrung aufgenommen werden deren Zerkleinerung, Einspeichelung und Transport in
müssen (essenzielle Aminosäuren). den Magen.
5 Im Magen wird die Speise zwischengelagert, weiter
Zusätzlich zu den obigen Nährstoffen sind noch folgende durchmischt, zerkleinert, zur Vorbereitung der Ver-
Stoffe für die menschliche Ernährung unentbehrlich: dauung mit Magensaft durchmischt und portions-
5 Fettlösliche Vitamine (v. a. A, D, E, K), weswegen weise an den Dünndarm abgegeben.
auch eine gewisse Menge Fett gegessen werden 5 Im Dünndarm werden dem Speisebrei aus exokrinem
muss (. Tabelle 12.2). Pankreas, Leber und seinen eigenen Drüsenzellen
5 Wasserlösliche Vitamine (v. a. B-Gruppe, C), deren zahlreiche Enzyme zum Verdauen (Zerlegen in resor-
chronischer Mangel zahlreiche Störungen im ZNS bierbare Moleküle) der Nahrung beigemischt, die an-
auslösen kann (. Tabelle 12.3). schließend über die Darmwand in das Blut aufgenom-
5 Spurenelemente, von denen insbesondere Eisen, men und abtransportiert werden.
Jod, Kupfer und Fluor in kleinen Mengen unentbehr- 5 Im Dickdarm wird aus den Überresten des Speise-
lich sind. breis unter Resorption von Wasser der Kot zubereitet.
5 Wasser und Salze, die bei normaler Ernährung in 5 Im Enddarm wird dieser bis zur Defäkation aufbewahrt.
ausreichender Menge aufgenommen werden.
Die Nieren scheiden Stoffwechselendprodukte (z. B.
Zur Bestimmung des Idealgewichts, also des Körper- Harnstoff ), Fremdstoffe (z. B. Medikamente) und v. a.
gewichts mit der höchsten Lebenserwartung wird der Wasser (etwa 1,5 l/Tag) aus. Ihr Grundbaustein ist das
Body-Mass-Index herangezogen. Nephron,von dem jede Niere 1,2 Millionen besitzt. Seine
5 Er ist definiert als Körpergewicht (kg)/Körper- verschiedenen Abschnitte sind wie folgt an der Harn-
größe (m)2. bereitung beteiligt:
5 Als optimaler Wert wird ein BMI von 23 angesehen, 5 In den Glomeruli wird per Ultrafiltration pro Tag etwa
mit einem Normalbereich von 18,5–24,9. 170 l Primärharn gebildet.
5 Übergewichtig ist man bei einem BMI von 25–29,9 5 In den proximalen Tubuli wird das Meiste davon
5 Bei einem BMI >30 spricht man von Fettsucht (Adi- wieder rückresorbiert, wobei die passive Rückresorp-
positas), >40 von krankhafter Fettsucht, beide sind tion (entlang osmotischen und elektrischen Gradien-
mit vielen Krankheitsrisiken behaftet. ten) überwiegt. Aktive Rückresorption (»Pumpen«)
6
254 Kapitel 12 · Stoffaufnahme und -ausscheidung

6
sorgt dafür, dass lebenswichtige Moleküle (z. B. Glu- Völliges Nierenversagen ist mit dem Leben nicht verein-
kose) vollständig resorbiert werden. bar. Bei akuten wie chronischen Formen muss das Blut mit
5 Die distalen Tubuli dienen der Feineinstellung der Urin- Hilfe der Dialyse von den toxisch wirkenden harnpflichti-
zusammensetzung. gen Substanzen befreit werden, sonst tritt der Tod durch
5 In allen Tubulusabschnitten können durch aktive Urämie ein. Die beste Langzeittherapie ist eine Nieren-
Sekretion Salze, Säuren und Fremdstoffe aus dem Blut transplantation.
in den Urin eliminiert werden.
5 Das Hormon Aldosteron ist an der Feineinstellung im Der Harn
distalen Tubulus beteiligt, in dem es, sobald dem Kör- 5 fließt über die Ureteren in die Harnblase, die bis zu ei-
per Salzmangel droht, den aktiven Transport von Na- nen Liter und mehr speichern kann;
trium-Ionen aus den Tubuli in das Blut steigert. Sein 5 wird von dort periodisch über den Vorgang der Mik-
Gegenspieler ist das Atriopeptin (atrialer natriureti- tion entleert, der teils willkürlich, teils unwillkürlich
scher Faktor, ANF). Beiden zusammen obliegt es, die abläuft.
Kochsalzmenge des Körpers konstant zu halten. 5 Harninkontinenz kann organisch (z. B. Beckenboden-
5 Im Sammelrohr wird schließlich mit Hilfe des Hor- schwäche nach Geburten), hirnorganisch (z. B. multip-
mons Adiuretin die Rückdiffusion von Wasser so ge- le Skerose) oder psychologisch (z. B. Enuresis noctur-
steuert, dass der osmotische Druck der Extrazellulär- na) bedingt sein. Therapeutisch sind verhaltensmedi-
flüssigkeit konstant bleibt. zinische Verfahren oft erfolgreich.

Literatur
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stoffzufuhr, 1. Aufl. Umschau/Braus, Frankfurt
Jequier E, Tappy L (1999) Regulation of body weight in humans. Physiol
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Mann J, Stewart Truswell A (eds) (2000) Essentials of human nutrition.
Oxford University Press, Oxford
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nervous control of food intake. Nature 404:661–671
Seldin DW, Giebisch G (eds) (2000) The kidney, physiology and patho-
physiology, 3rd ed. Raven Press, New York
13

13 Bewegung und Handlung

13.1 Molekulare Mechanismen der Muskelkontraktion – 256


13.1.1 Aufbau und Feinbau des Skelettmuskels – 256
13.1.2 Die Kontraktion des Sarkomers – 257
13.1.3 Elektromechanische Kopplung im Skelettmuskel – 258

13.2 Muskelmechanik – 260


13.2.1 Formen der Muskelkontraktion – 260
13.2.2 Einzelne und tetanische Kontraktionen – 261

13.3 Zentralnervöse Kontrolle der Muskelkraft; Registrierung


mit dem EMG – 263
13.3.1 Abstufung der Muskelkraft – 263
13.3.2 Das Elektromyogramm, EMG – 264

13.4 Nervöse Kontrolle von Haltung und Bewegung im Überblick – 265


13.4.1 Funktionelle Organisation der Motorik – 265
13.4.2 Neuronale Kontrolle von Haltung und Bewegung – 266
13.4.3 Sensoren der Motorik: Muskelspindeln und Sehnenorgane – 268

13.5 Spinale motorische Reflexe – 270


13.5.1 Mono- und disynaptische Dehnungsreflexe – 270
13.5.2 Polysynaptische Reflexe – 274
13.5.3 Leistungen des isolierten Rückenmarks – 277

13.6 Stütz- und Zielmotorik – 278


13.6.1 Stehen, Gehen und andere Aufgaben der Stützmotorik – 278
13.6.2 Rolle der Basalganglien bei der Zielmotorik – 278
13.6.3 Rolle des Kleinhirns bei der Zielmotorik – 280
13.6.4 Rolle der motorischen Kortexareale bei der Zielmotorik – 283
13.6.5 Ziel- und Greifbewegungen von Arm und Hand – 287

13.7 Pathophysiologie und Rehabilitation


des motorischen Systems – 289
13.7.1 Pathophysiologie des motorischen Systems – 289
13.7.2 Rehabilitation im motorischen System – 292

Zusammenfassung – 294
Literatur – 295

N. Birbaumer, Biologische Psychologie, DOI 10.1007/978-3-540-95938-0_13,


© Springer Medizin Verlag Heidelberg 2010
256 Kapitel 13 · Bewegung und Handlung

)) des motorischen Systems. Sie hat 40–50% Anteil am Körper-


gewicht, d. h. sie ist das größte Organ des Körpers. Sie ist
Frau R., 41 Jahre, war eine sportliche und beruflich enga- nicht nur verantwortlich für lebenserhaltende Bewegungen
gierte Sekretärin, hatte Familie und 2 Söhne (14 und 16). wie Atmen oder Schlucken, sondern auch für die gesamte
Beim Ballspiel merkte sie eines Tages, dass sie häufig nicht Kommunikation mit der Umwelt. Zusätzlich ist sie der wich-
mehr den Ball fing, sondern daneben griff. Auch das Laufen tigste Wärmelieferant des Körpers (Abschn. 11.3.1).
fiel ihr schwerer. Als sich nach 2 Monaten Schluckbeschwer- Die Skelett- oder Körpermuskulatur besteht aus ein-
den einstellten, ging sie zum Arzt. Nach Überweisung zum zelnen Muskeln, von denen der Musculus biceps des Ober-
Neurologen diagnostizierte dieser »Motoneuronenerkran- arms ein bekanntes Beispiel ist. Ein solcher Muskel ist ein
kung, wahrscheinlich ALS (amyotrophe Lateralsklerose)«. langgestrecktes Fleischpaket in einer bindegewebigen Hülle
Mehr wollte er ihr nicht mitteilen. Frau R. informierte sich (Epimysium in . Abb. 13.1), das an beiden Enden in binde-
aber im Internet und versuchte durch Gymnastik die fort- gewebige Sehnen ausläuft. Über diese festen Sehnen wird
schreitenden Lähmungen an allen Gliedern aufzuhalten. der Muskel an die Knochen des Skeletts geknüpft und kann
Zwei Jahre später war Frau R. fast vollständig gelähmt, auf dieses Kraft ausüben. Je nach Größe, Lokalisation und
wurde künstlich beatmet und ernährt und konnte nur noch Funktion sind die Muskeln des Menschen von unterschied-
»ja« und »nein« durch eine Augenbewegung signalisieren. lichster Gestalt, ihr Aufbau ist aber im Prinzip immer
gleich.
Wie . Abb. 13.1 zeigt, setzt sich jeder Muskel aus Faser-
13.1 Molekulare Mechanismen bündeln (Faszikel) zusammen, die wiederum von einer
der Muskelkontraktion bindegewebigen Hülle, dem Perimysium eingescheidet
sind. Die Faszikel sind mit freiem Auge noch gut sichtbar
13.1.1 Aufbau und Feinbau (z. B. die Faserbündel gekochten Rindfleisches). Die ein-
des Skelettmuskels zelnen Muskelfasern der Faszikel sind fadenartige, oft
viele Zentimeter lange Zellen mit einem Durchmesser von
Aufbau des Skelettmuskels 10–100 μm (0,01–0,1 mm). Diese Muskelfasern oder -zellen
Die Skelettmuskulatur ist, wie die einleitende Fallgeschichte durchlaufen meist die Gesamtlänge des Muskels und gehen
eindrucksvoll zeigt, das (über)lebenswichtige Effektororgan an beiden Enden in die Sehnen über.

13

. Abb. 13.1. Grob- und Feinbau des Skelettmuskels. Jeder Skelett- ist unten zu sehen. Zwischen den Aktinfilamenten liegen dicke Myo-
muskel ist aus vielen Faserbündeln (Faszikeln) zusammengesetzt, die sinfilamente, die über Titinfilamente an die Z-Scheiben angeheftet
jeweils in bindegewebige Hüllen eingescheidet sind (Epi-, Peri- und sind. Die roten Pfeile unten zeigen an, dass in den Sarkomeren nur die
Endomysium). Jedes Faserbündel besteht wiederum aus zahlreichen als I-Bande und H-Zonen bezeichneten Abschnitte, nicht aber die
Muskelfasern. In den Muskelfasern sind die kontraktilen Elemente, A-Bande (die Bezeichnungen stammen aus der Lichtmikroskopie, sie
Sarkomere genannt, in den Myofibrillen hintereinander angeordnet werden im Text nicht verwendet) ihre Länge bei Kontraktion bzw.
und jeweils durch die Z-Scheiben begrenzt. Der Aufbau der Sarkomere Dehnung des Muskels verändern. Ausführliche Diskussion im Text
13.1 · Molekulare Mechanismen der Muskelkontraktion
257 13

In ihrem allgemeinen Aufbau gleichen die Muskelfasern traktion gleiten die dünnen Filamente aus Aktin zwischen
den übrigen Zellen des Körpers, in ihren elektrophysiologi- die dicken Filamente aus Myosin (. Abb. 13.2d). Dadurch
schen Eigenschaften (Ruhe- und Aktionspotenzial, Erreg- verkürzt sich das Sarkomer, ohne dass sich die Aktin- und
barkeit) den Nervenzellen. Als entscheidende Besonderheit Myosinfilamente selbst verkürzen. Umgekehrt wird bei
liegen aber in den Muskelzellen in hoher Anzahl die als Dehnung des Muskels das Bündel der dünnen Aktinfila-
Myofibrillen bezeichneten Strukturen, die sich bei Erre- mente aus der Anordnung der dicken Myosinfilamente
gung der Muskelfasern zusammenziehen oder kontrahie- mehr oder weniger herausgezogen, wodurch die Filament-
ren. Die kontraktilen Myofibrillen sind also die Minimoto- überlappung abnimmt.
ren der Skelettmuskulatur, von denen Abertausende gleich- Die Verschiebung zwischen den Filamenten des Sarko-
zeitig tätig sind, wenn sich ein Muskel verkürzt oder mers erfolgt über die in . Abb. 13.1 eingezeichneten Querfort-
Spannung entwickelt. sätze, die entlang der Myosinfilamente als kleine Verdickun-
gen herausragen. Jeder dieser »Myosinköpfe« verbindet sich
G Skelettmuskeln sind aus Faserbündeln (Faszikeln)
als Querbrücke mit einem benachbarten Aktinfilament. Bei
aufgebaut, die jeweils viele Muskelfasern (= Muskel-
der Kontraktion rudern die Köpfe durch eine Kippbewegung
zellen) enthalten. Jede Muskelfaser enthält Hunder-
mit vereinten Kräften die Aktinfilamente in Richtung zur
te von Myofibrillen. Letztere stellen den kontraktilen
Sarkomermitte. Der molekulare Mechanismus dieser Ruder-
Apparat der Muskelzellen dar.
bewegung ist bekannt, seine Aktivierung durch das Aktions-
potenzial wird in 13.1.3 geschildert.
Feinbau der Sarkomere Durch eine einmalige Kippbewegung verkürzt sich ein
Die eben als Minimotoren bezeichneten Myofibrillen sind Sarkomer allerdings nur um etwa 1% seiner Länge. Um eine
sehr lange, etwa 1 μm dünne Schläuche, die durch Trenn- stärkere Verkürzung zu erzielen, müssen also die Querbrü-
wände, die Z-Scheiben, in zahlreiche, etwa 2,5 μm lange cken die eben beschriebene Ruderbewegung nicht einmal,
Fächer, die Sarkomere, unterteilt sind. Ihr Bau ist unten sondern vielmals, für eine maximale Verkürzung etwa
in . Abb. 13.1 schematisch gezeigt: In der Mitte jedes Sar- 50-mal, schnell hintereinander ausführen. Erst durch dieses
komers liegen an die 1000 dicke Filamente aus dem Eiweiß wiederholte Loslassen und Anfassen der Myosinköpfe wer-
Myosin (gelb), die über ein zweites Eiweiß, das Titin (rot) an den die Aktinfilamente schließlich zur Sarkomermitte hin-
den Z-Scheiben befestigt sind. In sie hinein ragen, ebenfalls gezogen, etwa so wie ein langes Stück Seil durch das wieder-
an den Z-Scheiben befestigt, je etwa 2000 dünne Filamente holte Nachgreifen von einer Seilmannschaft zu sich heran-
aus dem Eiweiß Aktin (blau). gezogen wird. Bei der Muskelerschlaffung lösen sich die
Die regelmäßige Anordnung der Aktin- und Myosin- Myosinköpfchen vom Aktinfaden, und die Aktinfilamente
filamente und die ebenfalls in den einzelnen Muskelfasern gleiten leicht und passiv aus den Myosinfilamenten heraus.
völlig einheitliche Anordnung aller Myofibrillen zeigen
G Die Gleitfilamenttheorie beschreibt den Elementar-
sich im Lichtmikroskop als gleichmäßige Hell-Dunkel-
prozess der Kontraktion im Sarkomer als ein teles-
Bänderung der Muskelfasern, die dem Skelettmuskel
kopartiges Ineinanderschieben von Bündeln dünner
auch den Namen quergestreifter Muskel eingetragen hat
(Aktin) und dicker (Myosin) Filamente. Bei Erschlaf-
(. Abb. 13.1). Auch der Herzmuskel zeigt diese Querstrei-
fung und Dehnung gleiten die Faserbündel passiv
fung (daran wird rechts oben in . Abb. 13.1 erinnert), nicht
auseinander.
aber der glatte Muskel der Gefäßwände und der Eingeweide.
Er ist zwar auch aus Myofibrillen aufgebaut, diese sind aber
unregelmäßig gegeneinander angeordnet. ATP als Energielieferant der Sarkomerkontraktion
Das »Rudern« der Querbrücken ist ein aktiver Prozess, der
G Myofibrillen sind aus Sarkomeren aufgebaut. Sarko-
Energie benötigt. Diese kann nur aus dem Stoffwechsel der
mere werden von Z-Scheiben begrenzt. Sie enthal-
Zelle stammen. Adenosintriphosphat, ATP, ist der alleinige
ten in ihrer Mitte dicke Myosinmoleküle, in die dün-
Energielieferant für die Ruderschläge der Myosinquer-
ne Aktinmoleküle hineinragen. Das Myosin ist über
brücken. Diesen universellen biologischen Treibstoff haben
Titin, das Aktin direkt an den Z-Scheiben befestigt.
wir bereits in Abschn. 2.1.3 kennen gelernt. Dort ist auch
beschrieben, dass bei Energiebedarf, hier also für einen
13.1.2 Die Kontraktion des Sarkomers Ruderschlag, immer nur die letzte energiereiche Phosphat-
verbindung ausgeklinkt wird und anschließend die Spalt-
Gleitfilamenttheorie der Sarkomerkontraktion produkte wieder unter Energieaufwand in der Zelle ver-
Unsere Vorstellung über das Zusammenwirken von Aktin knüpft werden müssen (. Abb. 2.2). Diesem Resyntheti-
und Myosin bei der Kontraktion wird durch die Gleit- sieren von ATP dienen alle anderen energieliefernden
filamenttheorie beschrieben: Im ruhenden Muskel über- Reaktionen im Muskel (Abschn. 13.2.2 mit . Tabelle 13.1).
lappen sich die Enden der dicken Myosin- und dünnen Ohne ATP im Muskel bleibt der Querbrückenkopf am
Aktinfilamente nur wenig (b in . Abb. 13.2). Bei der Kon- Aktin angeheftet, und der Muskel wird starr. Eine völlige
258 Kapitel 13 · Bewegung und Handlung

. Abb. 13.2a–e. Elektromechanische Kopplung und Sarkomerver- tischen Retikulum (Ionenkonzentration intrazellulär daher lediglich
kürzung. a Feinbau einer Skelettmuskelfaser. Oben die Zellmembran, <10−7 molar). c Bei der Erregung der Muskelfaser wird die Membran
13 auf ihr eine motorische Endplatte. Jeweils auf Höhe der Z-Scheiben des sarkoplasmatischen Retikulums auf Grund der Depolarisation
stülpt sich die Zellmembran als transversaler Tubulus in die Muskel- der transversalen Tubuli durchlässig für Ca++ und diese beginnen aus-
faser ein. Zwischen den Z-Scheiben breiten sich parallel zu den Myo- zuströmen. d Die intrazelluläre Ca++-Konzentration hat am Ende des
fibrillen die longitudinalen Tubuli aus. Letztere grenzen mit sackför- Aktionspotenzials etwa 10−5 molar erreicht. Die Sarkomere kontrahie-
migen Erweiterungen, den Terminalzisternen, an die transversalen ren sich. e Zeitliche Abfolge der Vorgänge bei der elektromechani-
Tubuli an. b–d Vorgänge bei der elektromechanischen Kopplung. schen Kopplung während der Latenzzeit und zu Beginn der Kontrak-
b Zustand bei erschlaffter Muskelfaser. Die als rote Punkte darge- tion (M. sartorius des Frosches bei 0oC)
stellten Ca++-Ionen liegen in hoher Konzentration im sarkoplasma-

Erschöpfung der ATP-Vorräte im Muskel wird nach dem 13.1.3 Elektromechanische Kopplung
Tode beobachtet: Je nach den Umständen tritt früher im Skelettmuskel
oder später Totenstarre (Rigor mortis) als Folge des ATP-
Mangels in den Muskelzellen ein. Die Totenstarre löst sich Bauelemente der Endplatte
wieder, sobald die Gewebsstruktur insgesamt zu zerfallen Die Erregungsübertragung von den Motoneuronen auf die
beginnt. Muskelfasern erfolgt über Synapsen, die von den Axonen
der motorischen Vorderhornzellen des Rückenmarks (α-
G Das Adenosintriphosphat, ATP, ist der Energieliefe- Motoaxone) auf den Skelettmuskelfasern gebildet werden.
rant für die Kippbewegungen der Myosinköpfchen Aufgrund ihrer Form werden diese Synapsen, die etwa in
bei der Kontraktion. Ohne ATP wird der Muskel starr der Mitte zwischen den beiden Endigungen der Muskel-
(z. B. Totenstarre, Rigor mortis). faser ansetzen, als neuromuskuläre Endplatten bezeichnet.
13.1 · Molekulare Mechanismen der Muskelkontraktion
259 13

Sie besitzen alle typischen morphologischen Merkmale Box 13.1. Klinische Nutzanwendung des Blocks
chemischer Synapsen (. Abb. 13.2a, links oben). Die präsy- der synaptischen Übertragung an der Endplatte
naptische Endigung enthält die synaptischen Vesikel und ist
Das indianische Pfeilgift Kurare blockt die neuromus-
durch den synaptischen Spalt von der subsynaptischen
kuläre Synapse indem es sich als Antagonist mit dem
Membran der postsynaptischen Seite getrennt. Die postsy-
subsynaptischen muskarinergen ACh-Rezeptor ver-
naptische Seite, die durch Einfaltungen vergrößert ist, ent-
bindet. Das ACh wird von seinem Wirkort verdrängt
hält die Rezeptoren für die freigesetzte Überträgersubstanz.
und die Lähmung der Atemmuskulatur führt zum
Bei dieser handelt es sich um Azetylcholin (ACh). Der sub-
Tod durch Ersticken. In der Klinik wird diese Form der
synaptische Rezeptor ist ein ligandengesteuerter Ionen-
Blockierung der neuromuskulären Übertragung wäh-
kanal, der durch das indianische Pfeilgift Kurare blockiert
rend Narkosen in weitem Umfang eingesetzt. Der Pa-
und durch Nikotin aktiviert werden kann, also ein ionotro-
tient, der in dieser Zeit künstlich beatmet wird, be-
per nikotinerger ACh-Rezeptor (Abschn. 4.3.2).
nötigt dann nur eine relativ flache Narkose, die Be-
Ablauf des Endplattenpotenzials wusstsein und Schmerzempfindung ausschaltet, bei
der sich aber ohne neuromuskuläre Blockade (meist
Jedes in die präsynaptische Endigung (Endplatte) eines
neuromuskuläre Relaxation genannt) motorische Re-
Motoaxons einlaufende Aktionspotenzial setzt aus dieser
flexe und eine hohe Muskelspannung (Muskeltonus)
– entsprechend dem in Abschn. 4.1.2 geschilderten Ablauf
störend bemerkbar machen würden. Die Vorteile der
der präsynaptischen Transmitterfreisetzung – soviel ACh
flachen Narkose liegen in ihrer geringen Toxizität, ihrer
frei, dass das anschließende postsynaptische Potenzial, das
leichten Steuerbarkeit und ihrer schnellen Reversibili-
Endplattenpotenzial genannt wird, ein überschwelliges
tät. Die zur Blockierung eingesetzten, synthetischen
Aktionspotenzial in der Muskelfaser auslöst, das sich über
Pharmaka werden Relaxanzien genannt.
die Muskelfaser ausbreitet.
Wird das Endplattenpotenzial experimentell, z. B.
durch Zugabe des Antagonisten Curare, auf unterschwellige
Werte verkleinert, so zeigt sich, dass sein Anstieg 1–2 ms, Kalziumpumpen angereichert, die in die Membranwände
der Abfall 5 bis maximal 20 ms dauert. Es entspricht also in des sarkoplasmatischen Retikulums eingebaut sind. Diese
jeder Hinsicht den EPSP wie sie an Motoneuronen und an- Pumpen sorgen dafür, dass die Kalziumionenkonzentra-
deren Nervenzellen beobachtet werden (Abschn. 4.1.2). tion im Inneren der Muskelfaser in Ruhe sehr niedrig liegt,
nämlich bei etwa 10−8 mol/l (. Abb. 13.2b).
G Die neuromuskuläre Synapse wird entsprechend
ihrer Form Endplatte genannt. Einlaufen eines Ak- G Transversale und longitudinale Tubuli bilden ein
tionspotenzials in ihre präsynaptische Endigung intrazelluläres Röhrensystem in den Skelettmuskel-
führt in der Skelettmuskelfaser zu einer lokalen fasern, das zusammen mit den Ca++-haltigen Termi-
Depolarisation, dem Endplattenpotenzial. Es ist nalzisternen die Strukturen bildet, welche die Erre-
normalerweise überschwellig, entsteht in 1–2 ms gungsübertragung zu den Sarkomeren ermöglichen.
und klingt in 5–20 ms wieder ab.
Ablauf der elektromechanischen Kopplung
Übertragungsweg für das Aktionspotenzials Das von der Endplatte ausgehende Aktionspotenzial breitet
zu den Sarkomeren sich entlang dem intrazellulären transversalen und longitu-
Für die schnelle Übertragung des Kontraktionssignals Ak- dinalen Röhrensystem in die Tiefe der Muskelfaser aus und
tionspotenzial auf das kontraktile System hat sich bei den bewirkt dort eine abrupte Freisetzung der in den Terminal-
verhältnismäßig dicken Skelettmuskelfasern ein spezieller zisternen gespeicherten Ca2+-Ionen in die Zellflüssigkeit
Komplex von Strukturen herausgebildet. Er besteht zum um die Myofibrillen (. Abb. 13.2c, d). Damit erhöht sich die
einen aus zahlreichen röhrenförmigen Einstülpungen der intrazelluläre Ca2+-Konzentration etwa um das Tausend-
Muskelfasermembran senkrecht zur Längsachse in das fache, also von 10−8 auf 10−5 mol/l. Dies ist das Signal für die
Faserinnere, den transversalen Tubuli (. Abb. 13.2a). Diese Kontraktion der Sarkomere (Abschn. 13.4.2).
verlaufen jeweils in Höhe der Z-Scheiben in die Tiefe der Mit dem Ende des Aktionspotenzials hört die Freiset-
Fasern und können sie ganz durchqueren. zung der Kalziumionen aus den Zisternen auf. Gleichzeitig
Senkrecht zu diesem Transversalsystem, also parallel zu werden die ausgeströmten Ca2+-Ionen durch die Kalzium-
den Myofibrillen, schließt sich, zum zweiten, ein longi- pumpen in die Terminalzisternen zurückgepumpt. Damit
tudinales System von Schläuchen an, die longitudinalen sinkt die Ca2+-Konzentration im Faserinneren fast so
Tubuli. In Höhe der Z-Scheiben weiten sich diese zu den schlagartig ab, wie sie mit dem Aktionspotenzial anstieg:
Terminalzisternen auf. Der »Kalziumschalter« wird ausgeschaltet, d. h die Kon-
Die Terminalzisternen dienen v. a. als Speicher für traktion des Sarkomers kann sich nicht mehr fortsetzen,
Ca2+-Ionen. Die Ca2+-Ionen werden dort durch spezielle und die Erschlaffung (Relaxation) setzt ein (zur wichtigen
260 Kapitel 13 · Bewegung und Handlung

Rolle der Kalziumionen im Erregungsgeschehen z. B. Box 3.3 trieren. Wir nennen eine solche Muskelanspannung eine
in Abschn. 3.2.1). isometrische Kontraktion, eben weil die Länge (Meter)
konstant bleibt (. Abb. 13.3d).
G Sobald sich ein Aktionspotenzial über die intrazel-
Auch bei einer isometrischen Kontraktion verkürzen
lulären Tubuli zu den Terminalzisternen ausbreitet,
sich die Sarkomere etwas, und zwar nicht nur, weil das Seh-
werden von dort Ca2+-Ionen freigesetzt, die als
nengewebe elastisch ist. Vielmehr können die kontraktilen
Signal (second messengers) für die Sarkomerkon-
Strukturen (Myosinköpfchen) die von ihnen entwickelte
traktion dienen. Mit dem Ende des Aktionspoten-
Kraft nur über intramuskuläre elastische Strukturen weiter-
zials werden die Ca2+-Ionen zurückgepumpt und
geben. Diese werden von den Titinmolekülen gebildet, mit
damit die Kontraktion beendet.
denen die Myosinfilamente an die Z-Scheiben angeheftet
sind (. Abb. 13.1 unten). Das Titin ist die wichtigste elasti-
13.2 Muskelmechanik sche Struktur der Sarkomere, aber auch die Aktinfilamente,
die Z-Scheiben und die Sehnen sind etwas elastisch.
13.2.1 Formen der Muskelkontraktion
G Verkürzung bei konstanter Last (isotonische Kon-
Grundformen: isotonische und isometrische traktion) und Spannungsentwicklung bei konstan-
Kontraktion ter Länge (isometrische Kontraktion) sind die beiden
Grundformen der Skelettmuskelkontraktion.
Wird ein isolierter, ruhender Muskel durch einen direkten
elektrischen Reiz oder über seinen Nerven erregt, so kon-
trahiert er sich, d. h. er versucht sich zu verkürzen, wobei Kraftübertragung auf das Skelett
er an seinen Befestigungen zieht. Ob bei dieser Kontrak- Das Zusammenwirken von elastischen und kontraktilen
tion eine Verkürzung des Muskels eintritt, hängt davon Kräften lässt sich an einem Analogmodell verdeutlichen
ab, ob die Befestigung nachgeben kann. Ist der Muskel z. B. (. Abb. 13.3), das aus in Serie geschalteten elastischen (SE,
an einem Ende fest eingespannt, während an dem anderen v. a. das Titin, aber auch die Sehnen) und kontraktilen
Ende eine konstante Last und ein Hebel zur Registrierung Elementen (CE) besteht. Indem bei der Aktivierung die
der Muskellänge befestigt sind (. Abb. 13.3a), so kann sich kontraktilen Elemente sich verkürzen, spannen sie die
der Muskel mit konstanter Muskelspannung gegen diese serienelastischen Elemente an, und dadurch erst entsteht
Last verkürzen. Die unter diesen Bedingungen gemessene die messbare Muskelkraft. Zusätzlich ist dabei zu berück-
Verkürzung des Muskels bei konstanter Belastung wird sichtigen, dass den kontraktilen Elementen auch elastische
isotonische Kontraktion genannt (. Abb. 13.3b). Der Strukturen parallel geschaltet sind (Parallelelastizität PE
Muskel leistet dabei mechanische Arbeit (Hubhöhe mal in . Abb. 13.3a bis d). Zu diesen gehören v.a. die Bindege-
Last). webe um die Muskelfasern (Epi-, Peri- und Endomysium,
Wird der Muskel an beiden Enden fest eingespannt, so . Abb. 13.1). Diese Parallelelastizität ist für die Ruhe-
dass er sich bei seiner Kontraktion nicht verkürzen kann spannung des passiv gedehnten Muskels verantwortlich
(. Abb. 13.3c), so entwickelt er nur Spannung ohne Längen- (die Sarkomere selbst sind im erschlafften Zustand fast
13 änderung. Dies lässt sich mit einem Kraftmesser regis- widerstandslos dehnbar).

. Abb. 13.3a–d. Grundformen der Mus-


kelkontraktion. a Passive Dehnung eines
ruhenden Muskels durch eine konstante
Last. b Isotonische Kontraktion nach Er-
regung des Muskels durch tetanische Rei-
zung seines motorischen Nerven (Pfeile).
Der Muskel hebt eine konstante Last, regis-
triert wird die Änderung der Muskellänge.
c, d Isometrische Kontraktion. Der Muskel
ist nach Vordehnung beidseitig befestigt
(c). Er kann sich nach tetanischer Reizung
(Pfeile in d) zwar nicht verkürzen, aber Span-
nung (Kraft) entwickeln. Ein Analogmodell
des Muskels aus elastischen und kontrak-
tilen Elementen ist in die Muskulatur einge-
zeichnet. Besprechung im Text. CE kontrak-
tiles Element, SE serienelastisches Element,
PE parallelelastisches Element
13.2 · Muskelmechanik
261 13

G Die bei der Kontraktion entwickelten Kräfte werden


über in Serie geschaltete elastische Elemente (Titin,
Sehnen) auf das Skelett übertragen. Parallel liegen-
des elastisches Bindewebe ist für die Ruheelastizität
verantwortlich.

13.2.2 Einzelne und tetanische


Kontraktionen

Schnelle und langsame Einzelzuckungen


Wird eine Muskelfaser erregt, so kontrahiert sie sich
kurz, sie zuckt. Die Dauer einer solchen Einzelzuckung ist,
wie in . Abb. 13.4a der Vergleich zwischen der oberen und
der unteren Registrierung zeigt, rund 100-mal länger als
die des auslösenden Aktionspotenzials, das in 1–2 ms
beendet ist. Dieser langsamere Verlauf der Muskelzuckung
spiegelt den trägeren Ablauf all der Vorgänge wider, die
bei der Kontraktion im Inneren der Muskelfaser ablau-
fen. Dennoch ist eine einzelne Muskelzuckung ein sehr
schneller Vorgang, der in Bruchteilen einer Sekunde be-
endet ist.
Nicht alle Muskeln zucken gleich schnell. Die in
. Abb. 13.4a gezeigte Kontraktionskurve eines Daumen-
muskels ist ein Beispiel für einen schnellen Warmblüter-
muskel. Es gibt auch langsame Warmblütermuskeln, deren
Kontraktion wesentlich träger abläuft, z. B. die Rücken-
. Abb. 13.4a, b. Kontraktionsverhalten der Muskulatur von
muskeln.
Säugern bei Einzelreiz und bei tetanischer Reizung. a Zeitlicher
Genau genommen, sind es nicht die Muskeln an sich, Zusammenhang zwischen Aktionspotenzial und Einzelzuckung am
die schnell oder langsam sind, vielmehr gibt es 2 Grund- Beispiel eines menschlichen Daumenmuskels. Die Kontraktion be-
typen von Muskelfasern: schnelle und langsame. Kein ginnt 2 ms nach dem Aufstrich des Aktionspotenzials und erreicht
Muskel enthält nur den einen oder anderen Typ, sondern erst nach 80 ms ihr Maximum. b Summation von Einzelkontraktionen
bis zum vollständigen Tetanus. Die Abbildungen zeigen Kontraktionen
jeweils einen mehr oder weniger großen Anteil der einen
eines schnellen Katzenmuskels. Registrierungen 2 bis 5 zeigen Kon-
oder anderen Sorte. traktionsserien, erzeugt durch Reize von der jeweils über der Kurve
Muskelfasern können umso schneller kontrahieren, je angegebenen Reizfrequenz. In 2 und 3 wurden ein unvollständiger,
schneller sich ihre Querbrücken bewegen, d. h. je öfter pro in 4 und 5 ein vollständiger Tetanus erreicht
Zeiteinheit sie rudern. Da jede Ruderbewegung ATP ver-
braucht (7 oben), benötigen schnelle Muskeln mehr Ener-
gie als langsame. Schnelle Muskeln sind daher bei Halte- Unvollständiger und vollständiger Tetanus
leistungen weniger energiesparend als langsame. Soll sich ein Muskel länger als für die Dauer einer Einzel-
Langsame Muskelfasern enthalten große Mengen des zuckung kontrahieren, müssen seine Muskelfasern mehr-
roten Muskelfarbstoffes Myoglobin, der in schnellen Mus- fach kurz hintereinander repetitiv oder tetanisch erregt
kelfasern seltener ist. Wir können daher schon an ihrer werden. Sobald dabei, wie in . Abb. 13.4b zu sehen, die
Farbe die langsamen roten Muskeln von den schnellen nächste Erregung schon kommt, bevor die vorhergehende
weißen Muskeln unterscheiden. Erstere werden vorwie- abgeklungen ist, setzt sich erstere auf den Kontraktions-
gend für Haltearbeiten (z. B. Rückenmuskulatur), letztere rückstand ihres Vorgängers auf und bewirkt durch diese
für schnelle Bewegungen (z. B. Augenmuskulatur) einge- Summation nicht nur eine längere, sondern auch eine stär-
setzt. kere Kontraktion.
Bei genügend hoher Folgefrequenz der Aktionspoten-
G Eine Einzelzuckung dauert deutlich länger als das ziale, beim Menschen bei etwa 50–100 Hz, geht der zu-
Aktionspotenzial. Muskeln mit Haltefunktion zucken nächst unvollkommene Tetanus (2 und 3 in . Abb. 13.4b)
langsamer als solche, die rasche Bewegungen aus- in einen vollkommenen über (4 und 5 in . Abb. 13.4b), bei
führen müssen. Langsame Muskelfasern haben dem die Einzelzuckungen nicht mehr unterscheidbar sind
mehr Myoglobin als schnelle. Sie erscheinen daher und die maximale Kraft der Muskelfaser erzeugt wird. Hier
rot, die schnellen heller (weiß). ist der oben geschilderte Kalziumschalter dauernd in Ak-
262 Kapitel 13 · Bewegung und Handlung

tivierungsstellung, da in den kurzen Pausen zwischen den dass pro Zeiteinheit immer eine relativ große Anzahl von
einzelnen Aktionspotenzialen die Kalziumionen nicht diesen gerade losgelassen hat; es kann daher nur eine ge-
mehr vollständig in die Bläschen die Terminalzisternen zu- ringe Kraft entfaltet werden. Bei isometrischer Kontraktion
rückgepumpt werden können. Die Kraft im vollkommenen können dagegen praktisch alle Querbrücken nahezu gleich-
Tetanus ist etwa gleich der 10-fachen Kraft der Einzel- zeitig ziehen, denn ein Nachgreifen ist nicht erforderlich.
zuckung. Im Alltag kontrahieren die Muskeln meist mit Aus diesem Grund ist bei schnellen Bewegungen (Kla-
unvollkommenen Tetani. vierspiel, Sport) eine entspannte Muskulatur vor Bewegungs-
antritt so wichtig. Psychische Belastung (Stress) führt ge-
G Für eine anhaltende und verstärkte Muskelkontrak-
rade bei diesen Leistungen oft zu starker Muskelverspan-
tion ist eine repetitive (tetanische) Aktivierung des
nung. Entspannungstraining stellt eine wichtige Methode
Gleitfilamentmechanismus erforderlich. Beim voll-
zur Behebung solcher Verspannungsstörungen dar.
kommenen Tetanus erreicht der Muskel seine maxi-
male Kraft. G Die Verkürzungsgeschwindigkeit eines Muskels ist
umso größer, je geringer die zu hebende Last ist.
Box 13.2. Muskelkrampf und Muskelkater Umgekehrt entwickelt der Muskel bei tetanischer
isometrischer Kontraktion seine maximale Kraft.
Bei Überanstrengung des Muskels, bei zu niedrigem
Ca2+-Spiegel im Blut (Abschn. 3.2.3), aber auch ohne
offensichtlichen Grund, kann es zu hochfrequenten, Stoffwechsel und Energieumsatz des
repetitiven Entladungen der Motoneurone eines Mus- Skelettmuskels
kels und damit zu einem anhaltenden vollkommenen Wie bereits geschildert, ist ATP der unmittelbare Energie-
Tetanus des Muskels, häufig des Wadenmuskels, kom- lieferant der Muskelkontraktion (Abschn. 13.4.3). Seine
men. Dieser »Muskelkrampf« erregt die Nozizeptoren Spaltung zu Adenosindiphosphat (ADP) und Phosphor-
(»Schmerzrezeptoren«, Abschn. 16.2.1) des Muskels, säure liefert die mechanische Energie und die bei der Mus-
wahrscheinlich teils mechanisch, teils chemisch keltätigkeit freigesetzte Wärme. Diesem Prozess nachge-
(Mangel an Sauerstoff und Ansäuerung des Muskels, schaltet sind weitere energieliefernde Reaktionen, die dazu
da die Durchblutung durch den Krampf unterbrochen dienen, aus ADP und Phosphorsäure wieder ATP aufzu-
ist), und es kommt zu starken Schmerzen. Hört der bauen und für die weitere Muskelarbeit bereitzustellen.
Krampf auf, enden auch die Schmerzen. Diese Reaktionen sind in . Tabelle 13.1 zusammengestellt.
Wird ein Muskel überanstrengt, schmerzt er we- Bei andauernder stetiger Muskeltätigkeit erfolgt die Re-
nige Stunden nach der Überanstrengung bei Bewe- generation des ATP aerob (unter Sauerstoffverbrauch).
gungen, aber auch bei lokalem Druck oder bei Deh- Das System ist im Gleichgewicht, wenn die Geschwindig-
nung. Dieser »Muskelkater« hält, je nach Ausmaß der keit der ATP-Spaltung genauso groß ist wie die ATP-Bil-
Überanstrengung, für ein bis zwei Tage an. Zu Grunde dung. Die maximale ATP-Bildungsrate stellt also die Dauer-
liegen wahrscheinlich kleine Einrisse bei Muskelfasern leistungsgrenze bei muskulärer Arbeit dar. Bei einem gut
und den umgebenden Hüllen (. Abb. 13.1), die zu trainierten Dauerläufer wird diese Grenze etwa bei einer
13 einer lokalen, sterilen Entzündung mit der Freisetzung Laufgeschwindigkeit von 6 m/s (21,6 km/h) ausge-
von Entzündungsmediatoren führen (. Abb. 16.8 in
Abschn. 16.2.1). Diese sensibilisieren und erregen die
Muskelnozizeptoren. . Tabelle 13.1. Die unmittelbare und die mittelbaren
Energiequellen im Skelettmuskel (Mensch)

Energiequelle Gehalt Energieliefernde


Beziehung zwischen Verkürzungsgeschwindigkeit (μMol/g Reaktion
und Kraftentwicklung Muskel)
Unsere Muskeln können nur dann ihre maximale Kraft Adenosintri- 5 ATP → ADP + Pi
ausüben, wenn sie sich dabei nicht oder nur sehr wenig phosphat (ATP)
verkürzen, z. B. wenn wir stemmen oder drücken. Sehr Kreatinphosphat 11 PC + ADP ⇋ ATP + C
schnelle Bewegungen können wir dagegen nur bei sehr ge- (PC)
ringer Belastung des Muskels, bei entspannter Muskulatur, Glukose-Einheiten 84 anaerob: Abbau über Pyruvat
ausführen, z. B. beim Klavierspielen. im Glykogen zu Laktat (Glykolyse)
Auch diese Abhängigkeit der Muskelkraft von der Ge- aerob: Abbau über Pyruvat
zu CO2 und H2O
schwindigkeit der Kontraktion (die wiederum von der Last
abhängt) ist durch die Arbeitsweise der kontraktilen Pro- Triglyzeride 10 Oxydation zu CO2 und H2O
teine in den Sarkomeren bestimmt: Bei schneller Ver- ADP Adenosindiphosphat, C Kreatin, Pi anorganisches
kürzung gleiten die Filamente rasch aneinander vorbei, Phosphat
und das dauernde Nachgreifen der Querbrücken bedingt,
13.3 · Zentralnervöse Kontrolle der Muskelkraft; Registrierung mit dem EMG
263 13

schöpft. Der Sauerstoffverbrauch des Muskels ist dabei 1700 Muskelfasern. Beim menschlichen Bizepsmuskel mit
50- bis 100-mal so hoch wie in Ruhe. Entsprechend nimmt rund 770 motorischen Einheiten hat jede motorische Ein-
die Muskeldurchblutung bis auf das 20-fache zu, und Herz- heit etwa 750 Fasern.
minutenvolumen (Pulsfrequenz mal Schlagvolumen) und
G Jedes Motoneuron und die von ihm innervierten
Atemminutenvolumen (Atemfrequenz mal Atemtiefe) stei-
Muskelfasern bilden eine motorische Einheit; je
gen stark an.
kleiner die motorische Einheit, desto feiner abstuf-
Bei kurzfristigen Höchstleistungen – über die Dauer-
bar ist die Kontraktion. Beispielsweise haben äußere
leistungsgrenze hinaus – wird die dazu notwendige Energie
Augenmuskeln sehr kleine, die Haltemuskeln des
anaerob auf dem Weg der sog. Glykolyse gewonnen. Hier-
Rückens sehr große motorische Einheiten.
bei erfolgt die ATP-Bildung 2- bis 3-mal so schnell wie bei
der oxidativen Phosphorylierung. Damit ist auch eine 2- bis
3-mal so hohe Leistung der Muskeln möglich. Im Sprint Tetanisierung und Rekrutierung
lassen sich daher Laufgeschwindigkeiten um die 10 m/s er- Aus dem bisher Gesagten lässt sich folgern, dass es zwei
zielen. Möglichkeiten gibt, die Kraft der Kontraktion eines Mus-
Eine solche hohe Leistung kann aus 2 Gründen nur sehr kels abzustufen: einmal über die Erregungsfrequenz (von
kurzfristig (etwa 30 s) erbracht werden. Erstens sind die der Einzelzuckung bis zum vollkommenen Tetanus) und
anaerob verfügbaren Energiereserven begrenzt, und zwei- zum anderen über die Anzahl der jeweils aktivierten moto-
tens bildet sich bei der anaeroben Glykolyse Milchsäure, die rischen Einheiten.
sich in der Zellflüssigkeit und im Blut anreichert. Dies führt Beide Wege werden im Alltag dauernd benutzt. Über die
zur metabolischen Azidose (Ansäuerung) und damit zur Anzahl der gleichzeitig aktivierten motorischen Einheiten
raschen Ermüdung. kann auch die Geschwindigkeit der Kontraktion verändert
werden, denn bei einer konstanten Last ist der von einer
G Bei dauernder Arbeit erfolgt die Resynthese von
motorischen Einheit zu leistende Teilbetrag umso kleiner, je
ATP aerob (unter Sauerstoffverbrauch). Die maximal
mehr Einheiten sich kontrahieren. Entsprechend nimmt, wie
mögliche aerobe ATP-Synthese begrenzt die Dauer-
oben gerade ausgeführt, die Kontraktionsgeschwindigkeit zu.
leistung. Kurzfristige Höchstleistungen sind anaerob
(ohne Sauerstoffverbrauch) über Glykolyse möglich. Haltefunktion der Muskeln; Muskeltonus
Beim aufrechten Stehen und bei vielen anderen alltäglichen
13.3 Zentralnervöse Kontrolle Situationen, ist eine dauernde leichte Muskelanspannung
der Muskelkraft; Registrierung notwendig, die ohne Längenänderung der beteiligten Mus-
mit dem EMG keln gerade ausreicht, um eine bestimmte Gelenk- und
damit Körperstellung aufrechtzuerhalten. Dies wird durch
13.3.1 Abstufung der Muskelkraft eine asynchrone, also zeitlich immer etwas versetzte Sum-
mation von Einzelzuckungen vieler motorischer Einheiten
Rolle kleiner und großer motorischer Einheiten erreicht. Daraus resultiert eine kaum schwankende Grund-
In einem Muskel liegen je nach seiner Größe einige hundert anspannung des Muskels, die Tonus genannt wird.
bis viele tausend Muskelfasern. Sie werden immer dann er- Alle Muskeln im lebenden Organismus haben einen
regt, wenn aus dem sie versorgenden Motoneuron über die Tonus, der in seiner Höhe ständig wechselt. Er erreicht nor-
motorische Nervenfaser (Motoaxon) ein Aktionspotenzial in malerweise im REM-Schlaf (Traum-Schlaf, Kap. 22) sein
die Endplatte einläuft und ein Endplattenpotenzial mit darauf Minimum. Am wachen Menschen ist der jeweils vorhan-
folgendem Aktionspotenzial auslöst (Abschn. 13.1.3). Jedes dene Tonus als passiver Widerstand bei der Bewegung eines
Motoaxon versorgt aber nicht eine, sondern über Axonkol- Armes oder eines Beines deutlich spürbar (Routineprüfung
lateralen mehrere bis viele Muskelfasern. Ein Aktionspoten- bei der neurologischen Untersuchung). Bei geistiger An-
zial in einem Motoneuron wird also eine Zuckung aller von spannung oder bei Aufregung (Stress) steigt der Tonus
diesem Motoneuron versorgten Muskelfasern auslösen: Das unwillkürlich an, d. h. die Grundspannung aller Muskeln
Motoneuron und das von ihm innervierte Kollektiv von erhöht sich (7 unten und . Abb. 11.9 in Abschn. 11.2.2).
Muskelfasern bilden eine motorische Einheit. Durch Entspannungstraining, durch EMG-Biofeedback
Je kleiner eine motorische Einheit ist, desto kleiner ist (7 unten) oder pharmakologisch durch Muskelrelaxantien
die von ihr entwickelte Kraft und desto feiner abstufbar sind lässt sich eine Verminderung des Tonus erreichen.
die Kontraktionen eines Muskels und umgekehrt. Muskeln,
die sehr fein arbeiten müssen, wie die äußeren Augenmus- G Die Abstufung der Kontraktion im Alltag und die
keln, die die Augäpfel bewegen, haben motorische Einhei- Ausbildung des Muskeltonus erfolgen durch Tetani-
ten mit nur etwa einem halben Dutzend Muskelfasern. In sierung und Rekrutierung. Über diese beiden
anderen Muskeln, wie denen des Rückens, zählt die von Mechanismen hält die Muskulatur eine aufgabenge-
einer Nervenfaser versorgte Fasergruppe oft über 500 bis zu rechte Grundspannung, den Muskeltonus, aufrecht.
264 Kapitel 13 · Bewegung und Handlung

Box 13.3. Willentliche Aktivierung motorischer Einheiten


Sowohl im Tierversuch wie beim Menschen lässt sich
durch instrumentelles (operantes) Lernen (Kap. 24) die
Aktivität einer einzelnen motorischen Einheit willent-
lich steuern. Dazu wird z. B. beim Menschen eine Mikro-
elektrode in ein Axon eines Motoneurons eingestochen
(transkutane Mikroneurographie, Abschn. 15.1.5) und
die Person kann die Aktionspotenziale des Moto-
neurons auf einem Bildschirm beobachten. Sie wird
dann für Anstieg oder Abfall der Aktionspotenzial-
salven belohnt. Nach kurzer Zeit lernt die Person, die
efferenten Signale, je nach Instruktion, willentlich zu
beeinflussen und erreicht damit eine höchst fein ab-
gestufte Kontrolle einzelner motorischer Einheiten.
Dies kann die Grundlage für die lernpsychologische
Rehabilitation von Lähmungen oder Übererregung
(Spastik) der Muskulatur bilden (EMG-Biofeedback,
Abschn. 13.7.2 und 16.6.3).

13.3.2 Das Elektromyogramm, EMG

Registriertechnik
Die Tätigkeit eines Muskels kann an der mechanischen
Arbeit gemessen werden, die er leistet. Für klinische und
experimentelle Zwecke ist es oft besser, die Aktivierung des
Muskels und seiner einzelnen motorischen Einheiten mit
dem Elektromyogramm, abgekürzt EMG, zu registrieren.
Dies ist eine extrazelluläre Potenzialableitung vom Muskel, . Abb. 13.5a, b. Elektromyographie (EMG). a Extrazelluläre Ablei-
die der extrazellulären Elektroneurographie, ENG, am Ner- tung mit einer konzentrischen Nadelelektrode, die in den Muskel
ven entspricht (Abschn. 3.3.3). eingestochen wird. Sie registriert extrazellulär die Aktionspotenziale
Die Elektroden liegen entweder als kleine Scheiben auf der motorischen Einheit in unmittelbarer Nähe der Elektrodenspitze.
b Gleichzeitige Ableitung über 2 Nadelelektroden von 2 verschiede-
der Haut über dem Muskel, oder sie werden in Injektions-
nen motorischen Einheiten (I und II) in demselben Muskel. A Erschlaff-
kanülen eingebaut und in den Muskel eingestochen, d. h. ter Muskel, B Schwache willkürliche Kontraktion (beachte die asyn-
13 extrazellulär zwischen die Muskelfasern geschoben, wie chrone Aktivität der beiden motorischen Einheiten, C Maximale will-
das in . Abb. 13.5a zu sehen ist. Die in . Abb. 13.5b gezeig- kürliche Kontraktion
ten EMG-Registrierungen zeigen die gleichzeitigen Ab-
leitungen von 2 motorischen Einheiten bei völliger Er-
schlaffung (A), leichter (B) und maximaler willkürlicher neurone im Rückenmark zugrunde. Fallen wenige moto-
Kontraktion (C). rische Einheiten eines Muskels aus, resultiert daraus eine
leichte Kontraktionsschwäche. Fallen alle oder nahezu alle
Anwendung des EMG bei Muskelerkrankungen aus, ist der Muskel für immer gelähmt (durch Schluckimp-
Störungen der muskulären Tätigkeit, bei denen das EMG fung zu vermeiden).
als wichtiges diagnostisches Hilfsmittel dient, sind einer-
seits Lähmungen oder abgeschwächte Kraftentwicklungen, Anwendung des EMG in der Psychophysiologie
die unter dem Oberbegriff Myasthenie zusammengefasst Die Registrierung des EMG mit Oberflächenelektroden ist
werden, und andererseits unkontrolliert starke Kontraktio- ein wichtiges Maß auch für psychologisch bedingte An-
nen, Myotonien genannt. Bei vielen dieser Krankheitsbil- spannung (. Abb. 11.9 in 11.2.2). Bevorzugt benutzt wer-
der spiegeln die Reaktionen der Muskulatur Schädigungen den die Stirnmuskulatur (Frontalis-EMG), die Nackenmus-
oder Erkrankungen des motorischen Nervensystems wider, kulatur und die Muskeln des Unterarms. Dabei ist zu beach-
in anderen Fällen ist die neuromuskuläre Übertragung be- ten, dass eine Erhöhung der Anspannung (Zunahme der
troffen. Aktionspotenzialfrequenz) in einem bestimmten Muskel
Als Beispiel diene die spinale Kinderlähmung (Polio- keine gesicherte Aussage über die Anspannung der übrigen
myelitis). Bei ihr gehen in wechselnder Anzahl die Moto- Muskeln erlaubt, da auch in psychischen Belastungssitua-
13.4 · Nervöse Kontrolle von Haltung und Bewegung im Überblick
265 13

tionen (Stress) einzelne Muskelgruppen mehr als andere mische Bewegungen, wie Kratzen mit der Hinterpfote auf
angespannt werden (Reaktionsstereotypie). dem Rücken oder Laufbewegungen ausführen können –
In der Verhaltensmedizin wird die Rückmeldung des was sich mit einer reinen Reflexorganisation von Bewegun-
EMG von einzelnen Muskelgruppen (EMG-Biofeedback) gen nicht vereinbaren lässt. Auch die Atmung ist ein rhyth-
zur psychologischen Behandlung spannungsbedingter mischer Vorgang, der ohne äußere Einflüsse nervös gesteu-
Schmerzen (Spannungskopfschmerz, Rückenschmerzen) ert läuft. Wir bezeichnen solche Bewegungsfolgen, die vom
und in der Rehabilitation schlaffer und spastischer Läh- Zentralnervensystem ohne das Zutun äußerer Reize unter-
mungen eingesetzt. halten werden, als programmgesteuert.

Mechanische Registrierung des Muskeltonus G Ein Reflex ist eine unwillkürliche, stereotyp (immer
gleich oder fast gleich) ablaufende Reaktion auf
Statt mit dem EMG kann der Tonus eines Muskels auch als
einen spezifischen Reiz. Bewegungsfolgen, die ohne
Mikrovibration mit empfindlichen Schwingungsaufneh-
das Zutun äußerer Reize unterhalten werden, sind
mern registriert werden. In Ruhe lässt sich so eine Schwin-
programmgesteuert.
gung von 8–12 Hz registrieren, deren Frequenz unter psy-
chischer Belastung ansteigt und daher für psychophysio-
logische Untersuchungen geeignet ist. Instinktive und geplante, unwillkürliche und
willkürliche Bewegung
G Das Elektromyogramm, EMG, misst extrazellulär
Eine weitere Betrachtungsweise des motorischen Systems
die Aktivierung der motorischen Einheiten eines
geht davon aus, dass jedes Tier sein charakteristische Ver-
Muskels. Damit können Tonusänderungen unter
haltensrepertoire hat, das z. T. angeboren ist und auch
psychophysiologisch bedingter Anspannung ge-
als instinktives Verhalten bezeichnet wird. Diese Verhal-
messen werden. Die Methode findet auch im Bio-
tensmuster werden oft durch Schlüsselreize ausgelöst (Ab-
feedback ihren Einsatz.
schn. 26.1.3).
Auch beim Menschen kann instinktives motorisches
13.4 Nervöse Kontrolle von Haltung Verhalten, z. B. in seiner Mimik, beobachtet werden. Da-
und Bewegung im Überblick neben hat der Mensch auch die Fähigkeit, seine Handlun-
gen zu planen. Seine Motorik ist also zukunftsorientiert
13.4.1 Funktionelle Organisation und die Bewegungsplanung geht der Bewegungsausfüh-
der Motorik rung voraus. Die zugehörigen Prozesse im Gehirn können
heute durch das Elektroenzephalogramm (Abschn. 20.4)
Reflexgesteuerte und programmgesteuerte und bildgebende Verfahren (Abschn. 20.6.2) sichtbar ge-
Bewegung macht werden.
Entfernt man bei einem narkotisierten Frosch das Groß- In der Klinik wird häufig von »unwillkürlichen« und
hirn, lässt aber das Rückenmark intakt (der Frosch kann »willkürlichen« Bewegungen gesprochen. Gemeint ist da-
danach viele Wochen weiterleben), so führt Kneifen einer bei, dass diese nach Auffassung des Beobachters und der
Hinterpfote zum Wegziehen des Beines. Legt man ein säure- Aussage des Patienten »ungewollt« bzw. »gewollt« ausge-
getränktes Stückchen Filterpapier auf die Rückenhaut, so führt werden. Der Beobachter stützt sich dabei auf Verhal-
wird es nach kurzer Zeit mit dem nächstgelegenen Hinter- tensmerkmale, der Patient auf sein subjektives Erleben.
bein zielsicher weggewischt. Für solche automatischen, Der englische Neurologe Hughlings Jackson hat schon
wiederholbaren und zweckgerichteten Antworten des Or- vor rund 100 Jahren vorgeschlagen, alle Bewegungen auf
ganismus auf Störreize wurde 1771 von Unzer der Begriff einer hierarchischen Skala zwischen den Endpunkten »am
Reflex in die Physiologie eingeführt. Zerstören des Rücken- meisten automatisch« und »am wenigsten automatisch«
marks lässt alle Reflexe verschwinden. Sie sind also auf die anzuordnen. Diese auch heute noch brauchbare Einteilung
Tätigkeit zentralnervöser Strukturen zurückzuführen. gibt die . Abb. 13.6 wieder. Aus ihr wird deutlich, dass die
Auch am intakten Tier und beim Menschen lösen Reize mehr automatischen Bewegungen weitgehend auf ange-
aus der Umwelt häufig stereotype Reaktionen aus. Eine borenen zentralen Verhaltensmustern (Programmen) be-
Vielzahl von Beispielen von solchen angeborenen oder er- ruhen, die weniger oder am wenigsten automatischen da-
lernten Reflexen sind uns geläufig. So lässt Anfassen eines gegen im Laufe des Lebens erlernt werden. Als typisches
heißen Gegenstandes uns die Hand zurückziehen, noch Beispiel ist unten angegeben, bei welchen »am meisten«
bevor uns der Hitzeschmerz bewusst wurde und Berühren und »am wenigsten automatischen« Bewegungen die Brust-
der Hornhaut des Auges führt immer zu einem Lidschlag. muskulatur des Menschen beteiligt ist.
Schon Anfang des 20. Jahrhunderts fiel auf, dass groß-
hirnlose (dezerebrierte) Hunde auch nach Ausschalten
aller Reizzuflüsse zum Rückenmark (durch Durchschnei-
den der betreffenden Nerven bzw. Hinterwurzeln) rhyth-
266 Kapitel 13 · Bewegung und Handlung

G Die Motorik dient einerseits der Haltung und Stel-


lung des Körpers im Raum (Stützmotorik), anderer-
seits gerichteten Bewegungen (Zielmotorik). Ziel-
motorische Bewegungen erfordern aber immer eine
Mitarbeit der Stützmotorik.
Aus Schmidt RF et al (2003). Mit freundlicher Genehmigung

13.4.2 Neuronale Kontrolle von Haltung


und Bewegung
des Deutschen Ärzte-Verlags.

Hierarchische und partnerschaftliche Anordnung


Die Strukturen, die für die nervöse Kontrolle von Haltung
und Bewegung verantwortlich sind, genannt motorische
Zentren, erstrecken sich über die verschiedensten Ab-
schnitte des Zentralnervensystems von der Hirnrinde bis
zum Rückenmark. Dabei zeigt sich eine auf den ersten Blick
. Abb. 13.6. Hierarchische Bewertung von Bewegungen durch ausgeprägte hierarchische Ordnung, die aus der fortschrei-
Hughlings Jackson (um 1900). Die Bewegungen werden auf einer tenden entwicklungsgeschichtlichen Anpassung der Moto-
Skala zwischen »am wenigsten automatisch« und »am meisten auto- rik an komplexere Aufgaben zu verstehen ist.
matisch angeordnet. Sie reichen von Reflexen zu zielgerichteten Will-
Es erfolgte phylogenetisch anscheinend weniger ein
kürbewegungen. Am Beispiel der Brustmuskulatur ist gezeigt, dass
Skelettmuskeln an den unterschiedlichsten Bewegungen teilnehmen Umbau der vorhandenen motorischen Systeme als vielmehr
können. Weitere Diskussion im Text ein Überbau mit zusätzlichen immer flexibleren Steuer-
systemen. Parallel dazu entwickelte sich aber eine aus-
geprägte Spezialisierung einzelner motorischer Zentren, so
G Motorisches Verhalten reicht von instinktiven Reak- dass bei der Bewältigung der motorischen Aufgaben neben
tionen auf Schlüsselreize bis zu zielgerichteten, der hierarchischen zunehmend eine partnerschaftliche
meist erlernten Willkürbewegungen, oder, anders (parallele) Zusammenarbeit zwischen den einzelnen Zen-
ausgedrückt, von am meisten bis am wenigsten tren zu beobachten ist.
automatisierten Bewegungen. Die linke Säule der . Abb. 13.7 gibt einen ersten Über-
blick über den Aufbau der motorischen Zentren. Um der
Aufgaben der Stütz- und Zielmotorik Übersichtlichkeit willen und zur ersten Orientierung ist hier
Unabhängig von der Betrachtung der Motorik als reflex- eine überwiegend hierarchische Darstellung gewählt. Mit
oder programmgesteuert, oder als mehr oder weniger instink- gewissen Einschränkungen lassen sich diesen Zentren be-
tiv oder geplant (willkürlich), ist ein wichtiger dritter Aspekt, stimmte motorische Leistungen zuweisen, die in der mitt-
dass ein Großteil unserer Muskeltätigkeit sich nicht in erster leren Säule der . Abb. 13.7 aufgeführt sind. Die rechte Säule
13 Linie als Bewegung nach außen, in die Umwelt hinein richtet, gibt außerdem stichwortartig die bei einer geplanten Bewe-
sondern dazu dient, Haltung und Stellung des Körpers im gung ablaufenden zentralnervösen Vorgänge wieder.
Raum zu bewerkstelligen und aufrechtzuerhalten. Diesen
G Motorische Zentren liegen auf praktisch allen
Anteil der Motorik bezeichnen wir als Stützmotorik. Ohne
Ebenen des ZNS; sie arbeiten teils hierarchisch, teils
diese wären wir nichts anderes als ein hilflos am Boden liegen-
partnerschaftlich (parallel) zusammen. Die einzelnen
der Klumpen, wie der Anblick k. o.-geschlagener Boxer
Zentren übernehmen schwerpunktmäßig bestimmte
immer wieder deutlich vor Augen führt (Abschn. 13.6.1).
motorische Aufgaben.
Der Stützmotorik kann man als Zielmotorik all die
motorischen Funktionen gegenüberstellen, die sich als
gerichtete Bewegung äußern. Die Zielmotorik wird dabei Spinalmotorik
immer auch von Aktionen und Reaktionen der Stütz- Im Rückenmark existiert zwischen den sensorischen Affe-
motorik begleitet sein, sei es zur Vorbereitung der Bewe- renzen und den Motoneuronen eine Vielzahl von neuro-
gung, sei es zur Korrektur der Haltung während und nach nalen Verschaltungen, bei deren Aktivierung es entweder
der Bewegung. Trotz dieser engen Verknüpfung von Stütz- zur Förderung und Auslösung von Bewegungen oder zu
und Zielmotorik ist deren getrennte Betrachtung von Vor- ihrer Hemmung kommt. Diese Schaltwege (Reflexbögen),
teil: Es wird sich bei der Besprechung der Aufgaben und der welche die Grundlage für die spinalen Reflexe bilden, sind
zentralen Organisation der verschiedenen motorischen zwar jeweils anatomisch festgelegt, ihre Funktion lässt sich
Zentren nämlich zeigen, dass ihnen teils vorwiegend stütz- aber von anderen spinalen oder auch höheren Zentren weit-
motorische, teils vorwiegend zielmotorische Funktionen gehend steuern, indem die Erregbarkeit der verschiedenen
übertragen sind (Abschn. 13.6.2 bis 13.6.4). Reflexwege unterschiedlich verändert werden kann.
13.4 · Nervöse Kontrolle von Haltung und Bewegung im Überblick
267 13

. Abb. 13.7. Motorisches System im Überblick. Die wichtigsten daneben angeordneten Abschnitte des motorischen Systems, die
Strukturen und ihre Hauptverbindungen sind in der linken Säule an- rechte Säule gibt die Rolle bei der Initiierung und Durchführung einer
geordnet. Der Einfachheit halber wurden alle sensorischen Zuflüsse Bewegung wieder. Auf die parallele Position der Basalganglien und
ganz links zusammengefasst. Die mittlere Säule betont die bei isolier- des Kleinhirns und die Einordnung des Motorkortex am Übergang
ter Betrachtungsweise herausragenden Leistungen der einzelnen links zwischen Programm und Ausführung sei hingewiesen

Die ursprünglich für den Reflex namengebende Defi- Während die Stützmotorik und ihre Koordination mit der
nition, die davon ausging, dass jede Reflexbewegung eine Zielmotorik vorwiegend über Strukturen des Hirnstamms
stereotype, vom Rückenmark wie von einem Spiegel reflek- kontrolliert werden, ist für die Durchführung zielgerich-
tierte Äußerung auf einen bestimmten sensorischen Zu- teter Bewegungen eine Beteiligung höherer Zentren erfor-
strom sei (7 oben), lässt sich also nicht mehr halten. Eine derlich. Wie . Abb. 13.7 zeigt, werden die in den subkorti-
auch die hemmenden Reflexe einbeziehende Definition kalen Motivationsarealen und im assoziativen Kortex ent-
muss sehr viel weiter gefasst werden. Danach wäre ein spi- stehenden Handlungsantriebe und Bewegungsentwürfe
naler motorischer Reflex eine von sensorischen Afferenzen anschließend in Bewegungsprogramme umgesetzt. An
auf der Rückenmarksebene ausgelöste Aktivitätsänderung deren Ausarbeitung sind die Basalganglien und das Klein-
von Neuronen, die zu einer Förderung oder Hemmung von hirn beteiligt, die beide über thalamische Kerne auf den
Bewegungen führt. Die spinalen Reflexe stellen so gesehen motorischen Kortex einwirken. Dieser übernimmt zusam-
einen Vorrat elementarer Haltungs- und Bewegungsab- men mit den tiefergelegenen motorischen Strukturen in
läufe dar, die in weitem Maß an die Bewegungsintention Hirnstamm und Rückenmark die Bewegungsausführung.
angepasst werden können.
Verknüpfung von Sensorik und Motorik
G Das Rückenmark verfügt über einen als motorische
Sensorische Information und motorische Aktion sind mit-
Reflexe verschalteten Vorrat an elementaren Hal-
einander verwoben. Für die funktionsgerechte Ausführung
tungs- und Bewegungsprogrammen, deren Ablauf
von Bewegungen benötigen und erhalten alle an der Moto-
von der beabsichtigten Bewegung mitbestimmt wird.
rik beteiligten Strukturen Informationen aus der Peri-
pherie, die ihnen über die jeweilige Körperstellung und
Höhere Motorik über die Ausführung der angestrebten Bewegungen Aus-
Der Spinalmotorik wird die motorische Kontrolle durch kunft gibt (. Abb. 13.7 links). Zum anderen sind bestimmte
supraspinale Zentren als höhere Motorik gegenübergestellt. Sinnesinformationen, z. B. vom Gesichtssinn oder vom
268 Kapitel 13 · Bewegung und Handlung

Tastsinn, nur unter Einschaltung differenzierter motori- lospirale Endigung mehrmals um das Zentrum der intra-
scher Akte funktionsgerecht zu erzielen. fusalen Muskelfasern herumschlingt (. Abb. 13.8a). Die
afferente Faser ist eine dicke markhaltige Nervenfaser, die als
G Der spinale Vorrat an elementaren Haltungs- und
Ia-Faser bezeichnet wird (. Tabelle 2.1 in Abschn. 2.3.3).
Bewegungsprogrammen wird von den motorischen
Viele Muskelspindeln besitzen eine zweite dehnungs-
Zentren in Hirnstamm, Basalganglien, Kleinhirn und
sensible Innervation. Ihre afferenten Fasern sind dünn.
Motorkortex unter sensorischer Kontrolle für die
Man bezeichnet diese Sensorstrukturen als sekundäre Mus-
Bewegungsausführung eingesetzt.
kelspindelendigungen (II-Fasern in der Abb.). Ihre Form
und ihre rezeptiven Eigenschaften ähneln denen der pri-
13.4.3 Sensoren der Motorik: mären Endigungen.
Muskelspindeln und Sehnenorgane Außer der sensiblen besitzen die intrafusalen Muskel-
fasern genau wie die extrafusalen eine motorische Innerva-
Bau und Innervation der Muskelspindeln tion. Die Motoaxone der intrafusalen Muskelfasern sind
Jeder Muskel enthält Dehnungssensoren, die auf Grund dünner als normale Motoaxone. Letztere werden meist als
ihrer Form als Muskelspindeln bezeichnet werden. Ihr Auf- Aα-Fasern, abgekürzt α-Fasern (= alpha), bezeichnet, wäh-
bau ist schematisch in . Abb. 13.8a dargestellt. Eine binde- rend man die Motoaxone der intrafusalen Muskulatur
gewebige Kapsel umhüllt eine Anzahl Muskelfasern, die Aγ-Fasern, abgekürzt γ-Fasern (γ = gamma), nennt. Die
dünner und kürzer als die gewöhnlichen Muskelfasern γ-Motoaxone bilden endplattenähnliche synaptische Ver-
sind. Die in der Kapsel liegenden Muskelfasern werden als bindungen auf den intrafusalen Muskelfasern, die, wie
intrafusale Muskelfasern bezeichnet, während die gewöhn- . Abb. 13.8a zeigt, meist in den lateralen Dritteln der Mus-
lichen Muskelfasern, die als die eigentliche Arbeitsmus- kelfasern liegen (die spinale Verschaltung der Spindelinner-
kulatur den Großteil des Muskels ausmachen, extrafusale vation wird unten anhand der . Abb. 13.11 bis 13.14 und
Muskelfasern genannt werden. Die Muskelspindeln setzen 13.17 besprochen).
an beiden Enden über Bindegewebszüge an den binde-
gewebigen Hüllen (Perimysium, . Abb. 13.1) extrafusaler G Muskelspindeln sind Dehnungssensoren, die parallel
Faserbündel an (die intrafusalen Muskelfasern liegen also mit den Arbeitsmuskelfasern in allen Skelettmuskeln
parallel zur extrafusalen Arbeitsmuskulatur). liegen. Sie sind sowohl afferent (sensorisch, v. a.
Die sensible Innervation der Muskelspindeln wird Ia-Fasern) wie efferent (motorisch mit γ-Fasern)
durch eine afferente Nervenfaser gebildet, die sich als annu- innerviert.

13

. Abb. 13.8a–c. Aufbau von Muskelspindeln und Sehnenorga- schen und physiologischen Daten zahlreicher Autoren. b Lichtmikros-
nen. a Schema des Aufbaus einer Muskelspindel. Die afferente Inner- kopische Zeichnung eines Golgi-Sehnenorgans durch Ramon y Cajal
vation ist rot, die efferente blau gezeichnet. Die unterschiedlichen (1906). Die Ib-Faser und ihre Endverzweigungen sind rot gezeichnet.
Maßstäbe in Längs- und Querrichtung geben einen ungefähren An- c Rekonstruktion der Endverzweigung (rot) einer Ib-Faser im Inneren
halt über die Größenverhältnisse. Zusammengestellt nach histologi- eines Golgi-Sehnenorgans
13.4 · Nervöse Kontrolle von Haltung und Bewegung im Überblick
269 13
Funktion der Muskelspindeln
Schon bei Dehnung eines Muskel etwa auf seine Ruhelänge
(. Abb. 13.9a), entladen die meisten seiner primären Mus-
kelspindelendigungen. Bei weiterer Dehnung (. Abb. 13.9b)
nimmt die Entladungsfrequenz der Ia-Fasern zu. Kontrak-
tion der extrafusalen Muskulatur (. Abb. 13.9c) entlastet
die Muskelspindel, und ihre Entladungen hören daher auf.
Aus diesen Befunden ist zu folgern, dass die Muskelspin-
deln vorwiegend die Länge des Muskels messen.
Neben des Dehnung der intrafusalen Muskelfasern
(. Abb. 13.9a und b) gibt es eine zweite Möglichkeit, die
primären Muskelspindelendigungen zu erregen, nämlich
eine Kontraktion der intrafusalen Muskelfasern, die über
die γ-Motoneurone ausgelöst wird (. Abb. 13.9d). Eine
solche intrafusale Kontraktion reicht aus, den zentralen
Anteil der intrafusalen Fasern zu dehnen (. Abb. 13.9d)
und damit Erregungen in den primär sensiblen Endigun-
gen zu induzieren. Dies führt dann, ebenso wie die Deh-
nung des gesamten Muskels, zu afferenten Aktionspoten-
zialen in Ia-Fasern.
Die beiden Wege der Spindelaktivierung können sich
auch in ihrer Wirkung addieren. Andererseits kann durch
intrafusale Kontraktion die Wirkung extrafusaler Kontrak-
tion kompensiert werden, so dass die Muskelspindeln auch
bei extrafusaler Kontraktion ihre Messfunktion erhalten
können. Über die intrafusale Vorspannung des Dehnungs-
sensors Muskelspindel können also seine Schwelle und sein
Empfindlichkeitsbereich verstellt werden. Deshalb nimmt
man lange anhaltende Spannungen oft nicht mehr wahr,
was dann zu Muskelschmerzen, z. B. Rückenschmerzen,
führen kann (Kap. 16).
G Muskelspindeln messen die Länge des Muskels.
Über ihre efferente Aγ-Faser-Innervation können
ihre Schwelle und ihr Empfindlichkeitsbereich an . Abb. 13.9a–d. Schematische Zeichnung der Lage und der Ent-
die Muskellänge angepasst werden. ladungsmuster der Muskelspindeln und der Golgi-Sehnenorgane.
Lage im Muskel in Ruhe (a) und ihre Formveränderungen bei passiver
Dehnung (b), bei isotonischer Kontraktion der extrafusalen Muskel-
Bau und Funktion der Sehnenorgane fasern (c) und bei alleiniger Kontraktion der intrafusalen Muskelfasern
In den Sehnen aller Warmblütermuskeln kommen nahe (d, γ-Aktivierung). Kombination von b mit d führt zu besonders starker
dem muskulären Ursprung der Sehnen Sensoren vor, die aus Aktivierung der Muskelspindelafferenzen. Ia Entladungsmuster der
primären Muskelspindelafferenzen über ihre Ia-Fasern, Ib Entladungs-
den Sehnenfaszikeln von etwa 10 extrafusalen Muskelfasern
muster der Sehnenorgane über Ib-Fasern. M.L. Muskellänge
bestehen, von einer bindegewebigen Kapsel umhüllt sind
und von ein bis zwei dicken myelinisierten Nervenfasern
versorgt werden, die Sehnenorgane (Synonym: Golgi- die Spannung registrieren, die im Muskel herrscht. Es ist
Sehnenorgane, . Abb. 13.8b, c). Die afferenten Nervenfasern also zu erwarten, dass bei isometrischer Kontraktion die
werden als Ib-Fasern bezeichnet. Diese teilen sich nach Ein- Entladungsfrequenz der Sehnenorgane stark zunimmt,
tritt in die Kapsel in dünnere Äste auf, werden schließlich während die der Muskelspindeln gleich bleibt (zur spina-
marklos und enden reich verzweigt zwischen den Sehnen- len Verschaltung Abschn. 13.5.1 mit . Abb. 13.15 und Ab-
faszikeln (. Abb. 13.8b, c). schn. 13.5.2 mit . Abb. 13.17).
Bei Dehnung (. Abb. 13.9b) beginnen die bei Ruhe-
länge (. Abb. 13.9a) meist schweigenden Sehnenorgane zu G Sehnenorgane messen am Übergang zwischen
entladen. Auch bei isotonischer Kontraktion bleiben die extrafusaler Muskulatur und Sehnen die im Muskel
Sehnenorgane, da sie »in Serie« mit den extrafusalen Muskel- herrschende Spannung. Sie werden von dicken mye-
fasern liegen, gedehnt und entladen weiter (. Abb. 13.9c). linisierten Fasern innerviert, die Ib-Fasern genannt
Daraus ist zu folgern, dass die Sehnenorgane vorwiegend werden.
270 Kapitel 13 · Bewegung und Handlung

Folgen von Deafferenzierung renzierte Hand zu bewegen (. Abb. 13.10), so lernt er


Werden nur die ins Rückenmark über Hinterwurzeln ein- dies wieder und benützt dabei z. B. die visuelle Beobach-
tretenden afferenten (sensiblen) Nervenbündel durchtrennt tung der Bewegung als Rückmeldung. Diese »Therapie« ist
(z. B. beim Menschen durch Hinterwurzelausriss im Hals- auch bei Menschen nach Deafferenzierung sehr erfolgreich.
bereich bei Unfall, beim Affen durch Durchschneiden Sie wird »physical restraint therapy« genannt (Box 13.8 in
der Hinterwurzeln), so kommt es zu einer Art Lähmung Abschn. 13.7.2).
des betroffenen Gliedes trotz völlig intakter Motorik.
G Deafferenzierung einer Extremität führt zu gelernter
Dieses Phänomen ist allerdings gelernt und wird als gelern-
Vernachlässigung, da mangels sensorischer Rück-
te Vernachlässigung (»learned disuse«) des Gliedes be-
meldung die Bewegungserfolge wesentlich un-
zeichnet.
befriedigender als die der gesunden Extremität
Die Entwicklung einer gelernten Vernachlässigung
sind. Mit »physical restraint therapy« lässt sich
wird folgendermaßen erklärt: Die Patienten bzw. die Affen
die Benutzung des deafferenzierten Gliedes wieder
versuchen, das deafferenzierte Glied zu bewegen, die man-
erlernen.
gelnde sensorische Rückmeldung führt aber zu Miss-
erfolgen, während umgekehrt die Benutzung der gesun-
den Extremität unverändert erfolgreich ist. Der mangelnde 13.5 Spinale motorische Reflexe
Bewegungserfolg des deafferenzierten und die gelun-
gene Bewegung des gesunden Gliedes verstärken den 13.5.1 Mono- und disynaptische
Organismus, das deafferenzierte Glied nicht mehr zu be- Dehnungsreflexe
nutzen.
Diese Tatsache ist in der Rehabilitation einseitiger Läh- Anteile eines Reflexbogens
mungen von Bedeutung. Wenn man nämlich das gesunde Auf die allgemeine Definition von Reflexen wurde bereits
Glied fixiert und so den Organismus zwingt, die deaffe- eingegangen (Abschn. 13.4.1). Die sensorischen, neurona-
len und effektorischen Stationen, die beim Ablauf eines
Reflexes nacheinander aktiviert werden, bezeichnet man als
seinen Reflexbogen. Ein Reflexbogen hat, wie . Abb. 13.11a
zeigt, neben dem peripheren Sinnesrezeptor (Sensor) einen
afferenten Schenkel, ein oder mehrere zentrale Neurone,
einen efferenten Schenkel und einen Effektor.
Alle Sensoren sind an Reflexen der einen oder anderen
Art beteiligt, und dementsprechend dienen ihre afferenten
Fasern als afferente Schenkel in diesen jeweiligen Reflex-
bögen. Die Zahl der zentralen Neurone eines Reflexbogens
ist, mit Ausnahme des monosynaptischen Dehnungsreflexes
(7 unten), immer größer als eins. Als efferente Schenkel
13 dienen entweder die Motoaxone oder die postganglionären
Fasern des autonomen Nervensystems, als Effektoren die
Skelettmuskulatur, respektive die glatte Muskulatur, das
Herz oder die Drüsen.

. Abb. 13.10. Rehabilitation nach Deafferenzierung. Schlaganfall-


patient in der Rekonovaleszenz mit unilateraler Armparese rechts.
Der Schlaganfall führte links zur Läsion des postzentralen sensomoto-
rischen Hirnareals, so dass der Patient keine Empfindungen aus der
rechten Hand und dem rechten Arm besitzt. Dem Patienten wurde der . Abb. 13.11a, b. Anteile eines Reflexbogens. a Allgemeine Be-
gesunde linke Arm fixiert und er wird trainiert, mit der kranken rechten zeichnungen der Anteile eines Reflexbogens. b Die Reflexbogen-
Hand die Kaffeebohnen umzufüllen. (Abb. von W. Miltner, Univ. Jena) anteile des monosynaptischen Dehnungsreflexes
13.5 · Spinale motorische Reflexe
271 13

G Jeder Reflexbogen besteht aus den gleichen fünf Er ist, wie . Abb. 13.11b zeigt, das einfachste Beispiel eines
Anteilen, nämlich Sensor, Afferenz, zentralen Neuro- kompletten Reflexbogens.
nen, Efferenz und Effektor. Effektoren der Motorik Da beim monosynaptischen Dehnungsreflex die Sen-
sind die Skelettmuskeln. Im autonomen Nerven- soren (Muskelspindeln) und die Effektoren (extrafusale
system sind es glatte Muskulatur, Herz oder Drüsen. Muskelfasern) im gleichen Organ (Muskel) liegen, wird er
oft auch als monosynaptischer Eigenreflex bezeichnet. Der
Der monosynaptische (erregende) Ausdruck Dehnungsreflex ist ihm aber angemessener. Da-
Dehnungsreflex neben wird v. a. im englischen Sprachraum auch häufig der
Es ist bei der Besprechung der zentralen erregenden Synap- Ausdruck myotatischer Reflex benutzt.
sen in Abschn. 4.1.2 (. Abb. 4.3a) bereits gesagt und gezeigt Der monosynaptische Dehnungsreflex kann in erster
worden, dass die Ia-Fasern erregende Synapsen auf homo- Linie als Teil eines Regelmechanismus zur Kontrolle der
nymen Motoneuronen bilden. Aktivierung der primären Muskellänge aufgefasst werden: Dehnung des Muskels führt
Muskelspindelendigungen durch Dehnung des Muskels zu einer Kontraktion, also einer der Dehnung entgegenwir-
muss also zu einer Erregung der homonymen Motoneu- kenden Verkürzung des Muskels. Diese reflektorische Kon-
rone führen. Ein entsprechender Versuch ist in . Abb. 13.12 stanthaltung der Muskellänge ist von besonderer Bedeutung
aufgezeichnet. Kurzfristige Dehnung des Muskels durch für die Aufrechterhaltung des Haltetonus in der Stützmoto-
einen leichten Hammerschlag auf den mit dem Muskel rik. So wird z. B. jedes leichte, noch nicht sicht- und merk-
über die Sehne verbundenen Registrierhebel führt, wie die bare Einknicken der Kniegelenke zu einer Dehnung des auf
Registrierkurve links unten im Bild zeigt, nach einer kurzen der Vorderseite des Oberschenkels liegenden M. quadriceps
Latenz zu einer Kontraktion des Muskels. Diesen Reflex, (. Abb. 13.13) und damit zu einer verstärkten Aktivie-
der nur eine zentrale Synapse besitzt, nämlich die der rung seiner primären Muskelspindelendigungen führen
Ia-Fasern auf die homonymen Motoneurone, nennt man (. Abb. 13.12). Dadurch kommt es zu einer zusätzlichen Erre-
den monosynaptischen Dehnungsreflex der Muskulatur. gung der α-Motoneurone des M. quadriceps (. Abb. 13.13)

. Abb. 13.12. Der Reflexbogen und die Arbeitsweise des mono- . Abb. 13.13. Reflexwege des Dehnungsreflexes und der rezi-
synaptischen Dehnungsreflexes. Ein leichter Hammerschlag auf proken antagonistischen Hemmung. F Flexormotoneuron, E Exten-
den Zeiger des Messinstrumentes, der mit dem Muskel verbunden ist sormotoneuron des Kniegelenks. Die Beugemuskeln (Flexoren, Beu-
(Ausschlag nach unten auf dem berußten Registrierpapier des Kymo- ger) und die Streckmuskeln (Extensoren, Strecker) dieses Gelenks
graphen), führt nach kurzer Latenz zu einer Kontraktion des Muskels. und die erregenden bzw. hemmenden Wirkungen der Synapsen sind
Der Reflexbogen dieses Reflexes von den Muskelspindeln über die in der Abbildung angegeben. Die hemmenden Reflexwege enthalten
Ia-Fasern zu den Motoneuronen und zurück zum Muskel ist angege- je ein spinales Interneuron
ben (Abb. 13.11b). Die hier gezeigten Verhältnisse sind denen beim
Schlag mit dem Reflexhammer auf die Kniesehne (Patellarsehnen-
reflex) analog
272 Kapitel 13 · Bewegung und Handlung

und damit zu einem erhöhten Muskeltonus, der das beginnen-


de Einknicken sofort wieder ausgleicht. Über diesen Regel-
kreis wird also die Länge des Muskels konstant gehalten.
G Der monosynaptische Reflexbogen (Eigenreflex,
myotatischer Reflex) ist das einfachste Beispiel eines
kompletten motorischen Reflexbogens. Der mono-
synaptische Dehnungsreflex dient v. a. zur Konstant-
haltung der Muskellänge

Klinische Bedeutung der Eigenreflexe


Die Auslösung monosynaptischer Dehnungsreflexe (Eigen-
reflexe) mit dem Reflexhammer dient der Exploration der
Erregbarkeit des Reflexbogens. Da die Muskeln jeweils
durch einen Schlag auf eine ihrer Sehnen gedehnt werden,
nennt man die monosynaptischen Dehnungsreflexe in der
Klinik auch (etwas irreführend) Sehnenreflexe.
Das bekannteste Beispiel ist der Patellarsehnenreflex:
Der M. quadriceps femoris wird durch einen leichten Schlag
auf seine Sehne unterhalb der Patella (Kniescheibe) kurz-
fristig gedehnt. Nach kurzer Latenz kommt es zu einer
leichten Zuckung des Muskels. Monosynaptische Deh- . Abb. 13.14a, b. Die γ-Spindel-Schleife. Reflexweg der γ-Spindel-
nungsreflexe, die durch Beklopfen einer Sehne ausgelöst Schleife (in a) und der Einfluss der fusimotorischen Aktivität auf
werden, werden in der Klinik auch als T-Reflexe (engl. Ten- die Entladungsrate einer primären Muskelspindelendigung (Ordinate
in b). Bei supraspinaler Aktivierung der γ-Spindel-Schleife kommt es
don-Reflex = Sehnenreflex) bezeichnet. Andere typische meist zu einer gleichzeitigen deszendierenden Aktivierung der
Sehnenreflexe sind am Bein der Achillessehnenreflex und zugehörigen (homonymen) α-Motoneurone (α-γ-Koaktivierung,
am Arm der Bizeps- und der Trizepssehnenreflex. durch die rote und die schwarze absteigende Bahn angedeutet).
Diagnostisch wichtig sind eventuelle Seitenunter- Die Muskelspindel von b stammte aus dem M. soleus der Katze. Es
schiede in der Intensität der Reflexantwort. So wird man wurde, wie in der Abszisse angegeben, die Ruhelänge variiert und
die Frequenz der Reizung der γ-Motoaxone wie rechts angegeben
bei einer Halbseitenlähmung nach einem Schlaganfall auf geändert
der kranken, spastischen Seite einen viel lebhafteren Reflex
als auf der gesunden auslösen können. Umgekehrt kann das
einseitige Fehlen eines solchen Reflexes auf eine Unterbre- latur auszulösen: erstens durch direkte Erregung der α-Mo-
chung im afferenten oder efferenten Schenkel hinweisen. toneurone und zweitens über eine Erregung der γ-Moto-
neurone, die ihrerseits über eine intrafusale Kontraktion
13 G Die Auslösung von »Sehnenreflexen« mit dem Reflex-
eine Aktivierung des Dehnungsreflexbogens bewirken und
hammer dient der Aufdeckung von Störungen und
dadurch die extrafusale Muskulatur zur Kontraktion brin-
Unterbrechungen der monosynaptischen Reflex-
gen. Letztere Möglichkeit wird als Gamma-(γ-)Spindel-
bögen des untersuchten Muskels. Seitenunterschie-
Schleife bezeichnet (. Abb. 13.14a).
de (Übererregung oder Ausfall) zeigen neuronale
Die direkte Aktivation der α-Motoneurone von supra-
Störungen an.
spinalen Zentren hat den Vorteil der kurzen Latenz, aber
den Nachteil, dass das sorgfältige Gleichgewicht des über
Aktivierung des monosynaptischen den Dehnungsreflex arbeitenden Längenkontrollsystems
Dehnungsreflexes durch intrafusale Kontraktion empfindlich gestört wird. Dagegen bewirkt Aktivierung
Eine Aktivierung der primären Muskelspindelendigungen der γ-Schleife eine Verkürzung des Muskels ohne oder mit
durch intrafusale Kontraktion (. Abb. 13.9d) wird genau geringer Veränderung der Entladungsfrequenz der Muskel-
wie eine Dehnung des Muskels zu einem monosynap- spindelafferenzen, die damit trotz der Verkürzung des Mus-
tischen Dehnungsreflex führen. Eine Kontraktion der extra- kels in ihrem optimalen Arbeitsbereich belassen werden
fusalen Muskulatur kann also von den Muskelspindeln (. Abb. 13.9a, c und d).
ausgelöst werden,
4 wenn der Muskel gedehnt wird oder G Der Dehnungsreflex kann auch durch intrafusale
4 wenn die intrafusalen Muskelfasern sich kontrahieren. Kontraktion aktiviert werden; dieser Weg wird
γ-Spindel-Schleife genannt. Sein Vorteil ist, dass
Die supraspinalen motorischen Zentren haben also zwei die Dehnungsrezeptoren der Muskelspindel in ihrem
Möglichkeiten, eine Kontraktion der extrafusalen Musku- optimalen Messbereich belassen werden.
13.5 · Spinale motorische Reflexe
273 13
Der disynaptische hemmende Dehnungsreflex
Die Ia-Fasern bilden nicht nur monosynaptische erregende
Verbindungen mit homonymen Motoneuronen (Reflex-
bogen des Dehnungsreflexes), sondern auch disynaptische
hemmende Verbindungen zu den antagonistischen Moto-
neuronen (. Abb. 13.13). Dieser Reflexbogen enthält
also ein zentrales Interneuron. Es ist der kürzeste hem-
mende Reflexbogen, den wir kennen. Man nennt diese
Hemmung daher auch direkte Hemmung. Besser ist ihre
Bezeichnung reziproke antagonistische Hemmung, die
beinhaltet, dass die Motoneurone antagonistischer Mus-
keln (z. B. Beuge- und Streckmuskeln am selben Gelenk)
wechselseitig über diesen Reflexbogen gehemmt werden
können.
Funktionell gesehen unterstützt die reziproke antago-
nistische Hemmung die durch Ia-Faser-Aktivität hervorge-
rufene oder geförderte Kontraktion homonymer und ago-
nistischer Muskeln durch gleichzeitige Hemmung der am
selben Gelenk angreifenden Antagonisten. Da die Ia-Fasern
des antagonistischen Muskels entsprechende Verknüpfun-
gen besitzen (. Abb. 13.13), werden durch passive, d. h. von
außen erzwungene Änderungen der Gelenkstellung vier
Reflexbögen in ihrer Aktivität modifiziert (2 werden akti- . Abb. 13.15. Spinale segmentale Verschaltung der Ib-Fasern
viert und 2 gehemmt, . Abb. 13.13), was insgesamt bewirkt, von den Golgi-Sehnenorganen im Muskel. Darstellung analog
. Abb. 13.13. Die erregende Verbindung der Flexor-Ib-Faser zum
die Änderungen der Gelenkstellung weitgehend rückgän-
Streckermotoneuron E ist weggelassen, da eine entsprechende Re-
gig zu machen, also die vorgegebene Muskellänge kon- flexwirkung nicht regelmäßig beobachtet wird
stant zu halten. Diese 4 Reflexbögen bilden also zusammen
ein Längenkontrollsystem des Muskels.
spinaler Ebene so verschaltet, dass er dazu dienen kann, die
G Die disynaptische reziproke antagonistische Hem-
Spannung des Muskels konstant zu halten.
mung durch die Ia-Afferenzen ergänzt deren erre-
Jeder Muskel besitzt also 2 Rückkopplungs-(feedback-)
gende Wirkung auf die Agonisten. Damit sind alle
Systeme (Regelkreise): ein Längenkontrollsystem mit den
von den Muskelspindeln der Muskeln eines Gelenks
Muskelspindeln als Fühlern und ein Spannungskontroll-
ausgehenden Reflexbögen so verschaltet, dass sie
system mit den Sehnenorganen als Fühlern.
zusammen die Länge der Muskeln konstant halten.
G Die motorischen Reflexbögen mit Sehnenorgan-
Reflexverbindungen der Sehnenorgane afferenzen sind disynaptisch. Sie sind so verschaltet,
dass sie die Spannung des Muskels konstant halten
In erster Annäherung ist die spinale Verschaltung der
können.
Ib-Fasern spiegelbildlich zur Verschaltung der Ia-Fasern
(vgl. . Abb. 13.13 mit 13.15). Die Sehnenorgane haben
disynaptische hemmende Verbindungen zu ihren eigenen Box 13.4. Sherringtons Reflexlehre
(agonistischen) Motoneuronen (diese Hemmung wird Der englische Neurophysiologe Sir Charles S. Sherring-
autogene Hemmung = Selbsthemmung genannt) und ton (Nobelpreis 1932) führte Ende des 19. Jahrhun-
disynaptische erregende Verbindungen zu antagonistischen derts Verhalten auf hierarchisch aufgebaute, zuneh-
Motoneuronen. mend komplexere Reflexbögen zurück, siehe sein
Da die Sehnenorgane die Spannung des Muskels messen Hauptwerk: The Integrative Action of the Nervous
(Abschn. 13.4.3), wird eine Zunahme der Muskelspannung System (1906), Yale Univ. Press, New Haven–London.
durch Kontraktion des Muskels (was die Muskelspindeln Seine Experimente und Theorien hatten einen großen
entlastet, 7 oben) über die Aktivierung von Ib-Afferenzen Einfluss auf Pawlows gelernte, konditionierte Reflexe
zu einer Hemmung der eigenen (agonistischen) Motoneu- (Kap. 24).
rone führen.
Umgekehrt wird eine Abnahme des Muskeltonus eine
Disinhibition (Abnahme von Hemmung) und damit eine
Aktivierung der eigenen Motoneurone bewirken. Mit an-
deren Worten: Der Reflexbogen der Sehnenorgane ist auf
274 Kapitel 13 · Bewegung und Handlung

13.5.2 Polysynaptische Reflexe

Eigenschaften polysynaptischer Fremdreflexe


Außer bei den obigen Reflexen sind bei allen anderen Re-
flexen mehrere zentrale Neurone im Reflexbogen hinter-
einandergeschaltet. Diese Reflexe sind also polysynaptisch.
Ferner sind bei den polysynaptischen Reflexen häufig Sen-
sor und Effektor im Organismus räumlich getrennt, so dass
sie auch als Fremdreflexe bezeichnet werden. Man unter-
scheidet bei den Fremdreflexen vegetative Reflexe mit
Reflexbögen, die in den Effektoren des autonomen Nerven-
systems enden (Abschn. 6.3.3) von polysynaptischen mo-
torischen Reflexen, deren Effektoren die Skelettmuskeln
sind. Letztere spielen in der gesamten Motorik eine große
Rolle, so z. B. bei der Fortbewegung (Lokomotionsreflexe),
bei der Nahrungsaufnahme (Nutritionsreflexe) und bei der
Abwehr schädigender Einflüsse (Schutzreflexe).
Als Beispiel der Eigenschaften polysynaptischer Reflexe
sei der Hustenreflex gewählt, ein typischer Schutzreflex.
Von diesem wissen wir, dass ein leichtes Kitzeln oder Krat-
zen im Hals nicht sofort, wohl aber nach einer Weile zum
Husten führt. Bei polysynaptischen Reflexen können sich
also unterschwellige Reize zu einem überschwelligen Reiz
summieren. Diese Summation ist ein zentrales Phänomen,
d. h. sie findet an den Interneuronen und Motoneuronen
des Reflexbogens statt. Die subjektiven Missempfindungen
(Kitzeln, Kratzen) vor der Reflexauslösung sind nämlich
ein klares Zeichen dafür, dass die für den Reflex verant-
wortlichen Rezeptoren schon erregt sind.
Bei zunehmender Reizintensität wird die Zeit zwischen
Reizbeginn (Kitzeln) und Reflexauslösung (Husten), also
die Reflexzeit, kürzer. Dies zeigt, dass beim polysynapti-
schen Reflex die Reflexzeit von der Reizintensität abhän-

Nach Delwaide PJ, Young RR (1985). Mit freundlicher Genehmigung von Elsevier.
gig ist: Je stärker der Reiz, desto früher beginnt der Reflex.
Die Verkürzung der Reflexzeit ist eine Folge der schnel-
13 leren, überschwelligen Erregung der zentralen Neurone des
Reflexbogens durch die zahlreicher und intensiver aktivier-
ten Sensoren: Sie ist also hauptsächlich durch zeitliche und
räumliche Bahnung verursacht.

. Abb. 13.16a–c. Elektromyographische Analyse und spinale


Verschaltung des Flexorreflexes. a Auslösung des Flexorreflexes
durch elektrische Reizung von plantaren Hautnerven (links). Die in
den Fußhebern (M. tibialis ant.) ausgelöste Aktivität besteht aus einer
deutlichen ersten und einer kleinen späten Antwort (Mitte, ohne
Vorinnervation). Bei Vorinnervation erfolgt eine starke Bahnung
beider Komponenten. Spur A zeigt das Original-EMG, Spur B sein
Aussehen nach Gleichrichtung und Spur C die über 32 Reizfolgen
gemittelte Antwort. b Links: Beugesynergie des linken Beines bei
einem schmerzhaften Reiz der Fußsohle mit Dorsalflexion der Groß-
zehe; das rechte Bein wird kompensatorisch versteift. Rechts: Aus-
lösung des Babinski-Reflexes durch Bestreichen der Plantarfläche
bei einem Patienten mit Läsion der Pyramidenbahn; Dorsalflexion der
Großzehe und Fächerung der anderen Zehen. c Spinale intrasegmen-
tale Verschaltung einer afferenten Faser von einem Nozizeptor der
Haut des menschlichen Fußes. Die Aδ-Afferenz und die Reflexwege
des ipsilateralen Beuge-(Flexor-)reflexes und des kontralateralen
Streck-(Extensor-)reflexes sind rot eingetragen
13.5 · Spinale motorische Reflexe
275 13

Husten kann in seiner Intensität vom leichten Räuspern Klinische Bedeutung der Fremdreflexe
bis zum langanhaltenden Würgehusten reichen, wiederum am Beispiel des Babinski-Reflexes
in Abhängigkeit von der Reizintensität. Auch diese Zunah- Bei der klinischen Untersuchung kann ein Flexorreflex
me des Reflexerfolges bei steigender Reizintensität ist auch durch elektrische Reize ausgelöst und elektromyo-
eine typische Eigenschaft des polysynaptischen motori- graphisch analysiert werden (. Abb. 13.16a mit Details in
schen Reflexes. Dabei greift der Reflex auch auf bisher der Legende). Auch gehört zur klinischen Reflexprüfung
unbeteiligte Muskelgruppen über, ein Phänomen, das als immer der Fußsohlenreflex, der durch mittelstarkes Be-
Ausbreitung oder Irradiation bezeichnet wird. streichen der Fußsohle mit einem spitzen Gegenstand aus-
gelöst wird. Die Reaktion besteht aus einer Plantarflexion
G Die meisten motorischen Reflexe sind polysynap-
(Beugung zur Fußsohle hin) aller Zehen, einer Dorsalflexion
tisch, d. h. ihr Reflexbogen besitzt 3 und mehr
(Beugung zum Unterschenkel hin) des Fußes und, bei star-
zentrale Neurone. Dank zentraler Bahnung sind
ker Reizung, einer Flexion im Knie- und Hüftgelenk.
die Reflexzeit und die Reflexamplitude stark von der
Bei einer Schädigung der Pyramidenbahn ändert sich
Reizintensität abhängig.
das Antwortverhalten des Fußsohlenreflexes: Die Zehen
werden fächerartig gespreizt und die Großzehe geht in
Flexorreflex und gekreuzter Extensorreflex Dorsalflexion (. Abb. 13.16b). Diese diagnostisch bedeu-
Hand oder Fuß werden bei einem Schmerzreiz reflektorisch tungsvolle Reflexumkehr beruht wahrscheinlich auf einer
angezogen. Ein typisches Beispiele ist das in . Abb. 13.16b Erregbarkeitsveränderung der Interneurone des Flexor-
gezeigte Wegziehen des Beines, also eine Beugung (Flexion) reflexbogens. Diese pathophysiologische Variante des Fle-
im Sprung-, Knie- und Hüftgelenk bei schmerzhafter xorreflexes wird nach ihrem Entdecker Babinski-Reflex
Reizung der Fußsohle. Dieses Phänomen bezeichnet man genannt.
als den Flexorreflex. Der Flexorreflex ist ein typischer
Schutzreflex. Er besitzt einen spinalen, polysynaptischen G Flexorreflexe sind typische Fremdreflexe, deren
Reflexbogen (. Abb. 13.16c). Latenz und Intensität von der Reizstärke abhängen.
Der Flexorreflex eines Beines ist immer von einer Stre- Am Bein ist ein Flexorreflex immer von einem ge-
ckung (Extension) des anderen (kontralateralen) Beines kreuzten Extensorreflex begleitet, der die höhere
begleitet. Dieser gekreuzte Streckreflex ist Teil einer sinn- Last des Standbeins auffängt. Abweichungen vom
vollen Automatik zur Erhaltung des Gleichgewichts, wenn normalen Reflexmuster, wie beim Babinski-Reflex,
ein Flexorreflex beim Gehen oder Stehen ausgelöst wird. deuten auf zentrale neurologische Schädigungen.

. Abb. 13.17a, b. Das Motoneuron als gemeinsame Endstrecke der ten absteigenden Bahnen sind angegeben. Erregende Synapsen sind
Motorik. a Lage im Muskel und spinale Verschaltung der afferenten mit (+), hemmende mit (-) gekennzeichnet. Mit Ausnahme der Ia-Fasern
und efferenten Verbindungen der Muskelspindeln. b Erregende und der Muskelspindeln (Abb. 13.18a) und eines Teils der Pyramidenbahn
hemmende Zuflüsse auf ein Motoneuron des Rückenmarks. Die wesent- (CM = kortikomotoneuronal) erreichen die Zuflüsse nur über lokale
lichen spinalen, über die Hinterwurzel eintretenden, und die wichtigs- Interneurone (spinale Interneuronenpopulation) das Motoneuron
276 Kapitel 13 · Bewegung und Handlung

Die Motoneurone als gemeinsame Endstrecke pontine Nucleus reticularis, wird von darüber liegenden
der Motorik zentralen Kernen beeinflusst (. Abb. 27.14). Vor allem die
Auf alle Motoneurone wirken nicht nur die in den . Abb. Amygdalae, die an der Steuerung von Furcht und Angst
13.13 bis 13.16 gezeigten afferenten Zuflüsse ein, sondern, beteiligt sind, potenzieren den Reflex. Positive Gefühle
wie . Abb. 13.17a und b illustriert, noch zahlreiche wei- hemmen die Reflexstärke.
tere lokale sowie absteigende erregende und hemmende In verschiedenen psychopathologischen Zuständen ist
Zuflüsse. der Schreckreflex verändert: Bei Furcht ist er erhöht, bei
In . Abb. 13.17a sind die Ia-Zuflüsse aus den Muskel- »angstlosen« Psychopathen wirken negative Gefühle nicht
spindeln ergänzt durch die der Gruppe-II-Spindelafferenzen als Verstärkung des Reflexes, sondern als Herabsetzung
(. Abb. 13.8a), die über ein Interneuron erregende Ver- (. Abb. 27.15). Bei Schizophrenen wird der Reflex nicht
bindungen zu ihren Motoneuronen haben. Dort ist auch gehemmt, wenn man kurz vorher (120 ms) einen akusti-
gezeigt, dass die von den höheren motorischen Zentren schen Reiz darbietet (fehlende Prä-Puls-Inhibition). Dies
absteigenden Bahnen sowohl direkt an den α-Motoneu- zeigt, dass bei dieser Erkrankung schon auf subkortikalem
ronen, wie an den γ-Motoneuronen angreifen können, wie Niveau die Hemmung durch zusätzliche Reize ausfällt und
dies im Zusammenhang mit der . Abb. 13.14 bereits disku- somit die Reize ungehemmt ins ZNS kommen. Daraus re-
tiert wurde. sultieren die extreme Ablenkbarkeit und die losen Assozia-
Der Bildteil b ergänzt weiter, dass auf jedes Motoneu- tionen dieser Patienten.
ron weitere Zuflüsse sowohl auf spinaler Ebene wie über
absteigende Bahnen konvergieren. Es ist zu sehen, dass die G Ein Beispiel für einen in der Psychologie wichtigen
Zuflüsse teils erregender (+), teils hemmender Natur (-) polysynaptischen Ganzkörperreflex ist der Schreck-
sind, weiter, dass nur 2 Zuflüsse (die Ia-Fasern und der reflex, der nach plötzlichen lauten Geräuschen auf-
kortikospinale Trakt, CM) unmittelbar auf das Motoneu- tritt. Er lässt sich mit Hilfe des EMG gut quantifizie-
ron zugreifen, während alle anderen, also die allermeisten, ren. Er wird durch negative Gefühle potenziert und
nur über lokale Interneurone Zugang zum Motoneuron durch positive gehemmt.
haben.
Schließlich ist zu sehen, dass von den Motoaxonen
(schon im Rückenmark) Kollaterale abgehen, die erregend
auf ein spinales Interneuron (RIN in der . Abb. 13.17b)
wirken, das wiederum eine hemmende Synapse auf dem

Birbaumer N, Öhmann A (1993) ©1993 Hogrefe & Huber Publishers. • Seattle • Toronto • Bern •
Motoneuron hat. Diese negativ rückkoppelnde Hemmung
wird nach ihrem Entdecker Renshaw-Hemmung genannt.
Sie verhindert ein zu hochfrequentes Entladen des Moto-
neurons.
Der in Box 13.4 vorgestellte Physiologe Sir Charles
Sherrington war sich der zentralen Stellung des Motoneu-
13 rons bereits bewusst und nannte es deshalb »die gemein-
same Endstrecke der Motorik«.
G Alle für die Motorik relevanten Zuflüsse konvergie-
ren letztendlich auf den Motoneuronen, die so die
gemeinsame Endstrecke der Motorik bilden, also
kontinuierlich alle erregenden und hemmenden
Zuflüsse »integrieren«.

Ganzkörperreflexe und ihr Einsatz in der


Göttingen

Psychophysiologie
Bei einem plötzlichen, lauten Geräuch, wie z. B. einem
Pistolenschuss, kommt es zu einer Lidschlussreaktion und . Abb. 13.18a–c. Blinkreflex. a zeigt um das linke Auge die am Blink-
reflex beteiligte oberflächliche Gesichtsmuskulatur und am rechten
einer vom Kopf zu den Beinen gehenden Flexorreaktion.
Auge die Lage der Ableitelektroden. b Extrazellulär abgeleitetes
Die Latenz dieses Schreckreflexes (startle reflex) beträgt Massenaktionspotenzial des M. orbicularis oculi während eines Blink-
beim Menschen etwa 30–40 ms. reflexes. c Integration des in b registrierten Signals nach mehreren
Die Registrierung der Blinkreaktion mit dem EMG (Ab- Durchläufen. EMG, Elektromyogramm
schn. 13.3.2) eignet sich hervorragend zur Quantifizierung
dieses Schreckreflexes (. Abb. 13.18 und . Abb. 26.12). Die
subkortikale Umschaltstation des Schreckreflexes, der
13.5 · Spinale motorische Reflexe
277 13
13.5.3 Leistungen des isolierten G Eine Querschnittslähmung führt zum permanenten
Rückenmarks Verlust der Willkürmotorik und der bewussten
Sensorik der betroffenen Körperregionen. Nach
Spinale Lokomotion einer Zeit kompletter Areflexie erholen sich die
Stellt man ein querschnittsgelähmtes Tier (Tier mit rostral motorischen und vegetativen Reflexe im isolierten
des Halsmarks durchtrennten und damit vom übrigen ZNS Rückenmark.
isolierten Rückenmark) unterstützt auf ein Laufband,
so kann es unter bestimmten Bedingungen koordinierte Box 13.5. Handlungen aus Gedanken
Laufbewegungen ausführen, die den Bewegungen eines
Gehirn-Computer-Interfaces (»brain-computer-inter-
freilaufenden Tieres ähneln. Das Rückenmark verfügt also
faces«, BCI) übersetzen die elektrische Aktivität von
über lokomotorische Zentren.
einzelnen Neuronen oder Neuronenensembles oder
Beim Menschen werden ebenfalls spinale lokomoto-
die Aktivität des EEG in Signale, welche für die Steue-
rische Zentren angenommen. So wird der Schreitreflex des
rung externer Geräte, Prothesen oder Computer ge-
Neugeborenen als ein Ausdruck der durch Hautreize ak-
eignet sind. Sehr gut geübte, automatisierte Bewegun-
tivierten lokomotorischen spinalen Zentren gesehen. Im
gen sind in den Populationsvektoren (. Abb. 13.28)
Laufe der Ausreifung des Nervensystems kommen diese
nur weniger Zellen verschlüsselt und können von ler-
Zentren jedoch unter eine so starke supraspinale Kontrolle,
nenden neuronalen Netzen (auf der Abb. rechts in der
dass sie, wie nachfolgend erläutert, keine eigenständige Ak-
Mitte schematisch eingezeichnet) nach einfachen
tivität mehr entwickeln können.
Klassifikationsalgorithmen entschlüsselt und in Impul-
G Das Rückenmark verfügt über lokomotorische Zen- se für Bewegungsrichtungen umgewandelt werden.
tren, die aber beim Erwachsenen nicht selbständig Damit könnte man das durchtrennte Rückenmark (auf
tätig sein können. der Abb. im Halsmark) umgehen und die Bewegungs-
signale aus den motorischen Arealen direkt an die
Querschnittslähmung Muskeln oder Muskelersatz (Prothese) leiten. Dieser
Ansatz, querschnittsgelähmten Menschen selbstkon-
Beim Menschen führt nämlich eine komplette Durch-
trollierbare Beweglichkeit zurückzugeben, wird derzeit
trennung des Rückenmarks zu einer sofortigen und per-
intensiv verfolgt. Erste Versuche, auch nicht-invasiv,
manenten Lähmung aller Willkürbewegungen derjenigen
aus dem menschlichen EEG zumindest einfache Be-
Muskeln, die von den kaudal gelegenen Rückenmarksseg-
fehle (»auf – zu«) zu klassifizieren, verliefen erfolgreich
menten versorgt werden (Querschnittslähmung). Bewuss-
(Kap. 28 und Box 28.3).
te Empfindungen aus den betroffenen Körpergebieten
sind ebenfalls für immer unmöglich geworden.
Auch alle motorischen und vegetativen (autonomen)
Reflexe sind zunächst erloschen (komplette Areflexie). Die
motorischen Reflexe erholen sich in den nächsten Wochen
und Monaten. Korrekte Pflege vorausgesetzt, lassen sich im
Laufe eines halben bis eines Jahres bestimmte Grundmuster
des Erholungsverlaufes erkennen, aus denen auch prognos-
tische Schlüsse gezogen werden können. Auch die vege-
tativen Reflexe kehren nach Wochen und Monaten in
wechselndem Umfang wieder (Box 6.5 in Abschn. 6.3.1 und
Abschn. 12.3.5).
Die reversible motorische und autonome Areflexie nach
Rückenmarksdurchtrennung wird als spinaler Schock be-
zeichnet. Im Tierexperiment ruft auch eine funktionelle
Durchtrennung durch lokale Abkühlung oder Lokalanäs-
thesie einen spinalen Schock hervor. Entscheidend für sein
Auftreten ist also der Verlust der Verbindung zum übrigen
ZNS.
Über die Ursachen des spinalen Schocks und über die
Mechanismen, die zur Rückkehr der Reflexe führen, besit-
zen wir kaum Kenntnisse. Darauf lässt es sich wahrschein-
lich zurückführen, dass die Auslösung einer koordinierten
Lokomotion nach einer Querschnittslähmung beim Men-
schen bisher nicht gelungen ist.
278 Kapitel 13 · Bewegung und Handlung

13.6 Stütz- und Zielmotorik muskeln zur Folge hat, die als posturale Synergien bezeich-
net werden.
13.6.1 Stehen, Gehen und andere Die größten und funktionell wichtigsten Komponenten
Aufgaben der Stützmotorik der posturalen Synergien treten nach einer Latenzzeit von
100–150 ms auf. Die langen Reflexzeiten (zum Vergleich:
Stützmotorische Funktionen des Hirnstamms Schreckreflex hat eine Latenz von 30–40 ms, Abschn.
Beim Menschen gewährleistet die Stützmotorik die im 13.5.2) deuten auf eine komplexe Verrechnung im ZNS hin,
Schwerefeld der Erde für das aufrechte Stehen und das an der supraspinale Strukturen beteiligt sind. Mit anderen
zweibeinige Gehen kritische Körperstabilität und bildet Worten: Den lokalen Reflexmechanismen sind lange
damit die Voraussetzung für die natürliche, zielgerichtete Funktionsschleifen übergeordnet, die supraspinale Zentren
Lokomotion des Menschen, die sowohl geplantes wie in- einschließen. Die supraspinalen Reflexe (»long loop re-
stinktives Verhalten umfasst (Abschn. 13.4.1). Diese Stütz- flexes« im englischen Sprachraum) laufen ebenfalls ohne
motorik ist weitgehend eine Leistung des Hirnstamms, die Mitwirkung des Bewusstseins ab.
dieser normalerweise automatisch, also ohne Einschaltung Posturale Synergien bei Zielbewegungen erfolgen
des Bewusstseins, mit Hilfe von Informationen aus den ent- nicht wie bei äußeren Störungen mit einer reflektorischen
sprechenden Sensorsystemen, insbesondere des Gleichge- Verzögerung, sondern gleichzeitig oder sogar antizipa-
wichtsorgans und der Halsregion erbringt. torisch zur Zielbewegung. Durch eine entsprechende Zu-
Die eben beschriebenen Leistungen des Hirnstammes oder Abnahme des erregenden Zustroms zur Haltemusku-
bei der Stützmotorik erfassen aber nur einen Teil seiner Be- latur, etwa gleichzeitig mit der Aktivierung der Bewegungs-
deutung für die Gesamtmotorik. Dies lässt sich schon daran muskulatur, wird dafür gesorgt, dass die erwartete Störung
erkennen, dass bei einem großhirnlosen Tier durch um- des Gleichgewichts minimiert wird. Dieser Befund führt
schriebene, schwache elektrische Reizung mesenzephaler zur Schlussfolgerung, dass posturale Synergien sowohl re-
Areale (»locomotor strip«) koordinierte Laufbewegungen flex- als auch programmgesteuert sein können.
ausgelöst werden können. Der Rhythmus der so induzier-
G Der aufrechte Gang des Menschen erfordert eine
ten Laufbewegungen ist von der Reizintensität und -fre-
besonders feine Abstimmung von Stand, Haltung
quenz abhängig. In ähnlicher Weise werden Gehbewegun-
und Bewegung. Sie geschieht mit Hilfe von post-
gen auch dann ausgelöst, wenn das großhirnlose Tier mit
uralen und antizipatorischen posturalen Synergien.
den Pfoten ein Laufband berührt und dieses in Bewegung
Den spinalen Synergien sind supraspinale Funk-
gesetzt wird. Steigt die Geschwindigkeit des Laufbands an,
tionsschleifen (»long loop reflexes«) übergeordnet.
erhöht sich auch der Rhythmus der Lokomotion. Bei höhe-
rer Laufbandgeschwindigkeit wechselt der Schreitrhythmus
in einen Trott und schließlich in einen Galopp. 13.6.2 Rolle der Basalganglien
bei der Zielmotorik
G Die unwillkürliche Kontrolle der Körperstellung im
Raum wird von den motorischen Zentren des Hirn- Einbindung der Basalganglien in das motorische
13 stamms geleistet. Diese Zentren können auch Lauf- System
bewegungen generieren, was anzeigt, dass sie
Die Stellung der Basalganglien als ein wichtiges subkorti-
zur Abstimmung der Stütz- mit der Zielmotorik bei-
kales Bindeglied zwischen der (nicht-motorischen) assozi-
tragen.
ativen Großhirnrinde und dem motorischen Kortex (via
motorische Kerne des Thalamus) ist in . Abb. 13.7 bereits
Posturale und antizipatorische posturale schematisch gezeigt. Im Abschn. 5.2.4 ist in . Abb. 5.14 die
Synergien zum Erhalt des Gleichgewichts Lage der Basalganglien einem Frontalschnitt des Gehirns,
Der aufrechte Gang mit der relativ kleinen Standfläche zu entnehmen, und der Text des Abschnitts erläutert an
der Füße des Menschen ist schon an sich ein Wunder der Hand der . Abb. 5.15 die Bestandteile der Basalganglien,
Regulation, da sowohl die Atmung sowie alle Manipu- deren Verknüpfungen miteinander und die Zuflüsse in die
lationen und Rumpfbewegungen ständige Verlagerungen und Ausgänge aus den Basalganglien.
des Schwerpunkts bewirken, die aktiv kompensiert An die . Abb. 5.15 knüpfen hier die . Abb. 13.19 und
werden müssen. Elektromyographische Analysen (Posturo- 13.20 an, welche die in . Abb. 5.15 gezeigten Verbindungen
graphie beim Stehen auf einer Plattform, die gekippt um weitere Einzelheiten und um die Transmitter der Syn-
werden kann) und mechanische Registrierungen der Stabi- apsen ergänzen. Die . Abb. 13.19 betont die schleifen-
lität des aufrechten Stehens bzw. der dabei auftretenden förmige Verbindungen der Basalganglien mit den übri-
Verlagerungen des Körperschwerpunktes als Stabilogramm gen Anteilen des motorischen Systems, während in der
zeigen, dass tatsächlich jede Störgröße (wie z. B. das An- . Abb. 13.20 die erregende oder hemmende Wirkung der
heben des Brustkorbes bei der Atmung) eine Kette von re- einzelnen Synapsen samt ihrer Transmitter deutlich wird.
flektorischen muskulären Reaktionen in Rumpf- und Bein- In den hemmenden Neuronen des Putamens sind mit GABA
13.6 · Stütz- und Zielmotorik
279 13

. Abb. 13.19. Einbindung der Basalganglien in das motorische Abbildung sind. Die Ausgänge der Basalganglien projizieren teils über
System. Schematisierte Darstellung des Informationsflusses zwischen den Thalamus zum Motorkortex, teils unmittelbar zum Hirnstamm
den motorischen Zentren, der Körperperipherie (Muskeln) und der (. Abb. 13.7). Der vom motorischen Kortex bis ins Rückenmark durch-
Gesamtheit der Sinnesorgane (Sensorik). Parallel zu den Basalganglien ziehende Pfeil symbolisiert den Tractus corticospinalis, die 4 vom Hirn-
ist das Kleinhirn in das motorische System eingebunden (. Abb. 13.7). stamm ausgehenden Pfeile diejenigen motorischen Bahnen, die von
Diese Einbindung ist in der nachfolgenden . Abb. 13.21 gezeigt, Hirnstammzentren ihren Ursprung nehmen und ins Rückenmark des-
deren rechte und untere Bildanteile identisch mit denen in dieser zendieren (z. B. Tractus rubrospinalis, Tractus reticulospinalis)

. Abb. 13.20. Überträgersubstanzen und Verbindungswege im


motorischen System, insbesondere zwischen den verschiedenen
Anteilen der Basalganglien. Die Abbildung ergänzt und erweitert
die vorhergehende. Vom Putamen führt nämlich 1. eine direkte Ver-
bindung zu Pallidum (Pars interna, GPi) 2. eine indirekte über den
Nucleus subthalamicus. Hemmende Bahnen sind mit blauen Pfeilen,
Nach Alexander GE, Crutcher MD (1990). Mit freundlicher Genehmigung von Elsevier.

erregende mit roten Pfeilen gekennzeichnet. Zu beachten ist ferner,


dass von der Substantia nigra (SNc) jeweils durch Dopamin (DA) der
indirekte Weg über D2-Rezeptoren gehemmt, der direkte Weg über
D1-Rezeptoren erregt werden kann

die angegebenen peptidergen Transmitter Enkephalin und


Substanz P kolokalisiert. Die hemmende Wirkung der
Substantia nigra, Pars compacta (SNc) auf die GABAergen
Neurone des Putamen ist dopaminerg. Schließlich ist das
Striatum auch reich an cholinergen Interneuronen, die über
muskarinerge ACh-Rezeptoren erregend wirken.

G Die Basalganglien empfangen ihre Zuflüsse aus den


assoziativen Kortexarealen. Ihre Ausgänge ziehen
hauptsächlich zum motorischen Thalamus und von
6
280 Kapitel 13 · Bewegung und Handlung

dort zum Motorkortex. Ihre erregenden und hem- glien mitgeteilt, die dann ihrerseits wieder die Erregungs-
menden Synapsen und deren Transmitter sind für zustände des Kortex lokal über selektive Hemmung der
das Verständnis motorischer Erkrankungen wie des thalamischen sensorischen und motorischen Kerne steuern
Morbus Parkinson von Bedeutung. können. Die Basalganglien sind somit ein System zur Re-
gulation lokaler kortikaler Erregungsschwellen. Wird die
Funktionsschleifen der Basalganglien Erregung einzelner kortikaler Zellensembles (Kap. 21) zu
Die Basalganglien sind in funktionelle Kompartimente mit hoch, so hemmen die Basalkerne den weiteren Erregungs-
eigenständigen motorischen Aufgaben unterteilt. Diese anstieg über die thalamischen Verbindungen. Damit spie-
Kompartimente sind wiederum in parallele funktionelle len die Basalkerne eine wichtige Rolle in der Steuerung von
Schleifen eingebunden, deren Informationsfluss getrennt Bewusstsein und Aufmerksamkeit und der flexiblen Ände-
abläuft. Bekannt sind 5 Schleifen, nämlich: rung einmal in Gang gekommener Bewegungen und von
4 Skelettomotorische Schleife: Ausgehend von prämo- Bewegungsprogrammen (»switching«, Kap. 21).
torischen, motorischen und somatosensorischen Kor-
G Die Basalganglien setzen die Bewegungspläne aus
texarealen sind die Anteile dieser Schleifen somato-
dem assoziativen Kortex in Bewegungsprogramme,
topisch geordnet (»Armsäule« nur mit Armbewegun-
also in zeitlich und räumlich organisierte Impuls-
gen korreliert etc.).
muster um. Sie regulieren dabei die kortikalen Erre-
4 Okulomotorische Schleife: Nimmt ihren Ausgang in
gungsschwellen und greifen damit in die Steuerung
den frontalen und parietalen Augenfeldern des Kortex.
von Bewusstsein und Aufmerksamkeit ein.
Ist an der Steuerung der Blickmotorik beteiligt.
4 Komplexe (assoziative) Schleifen: Es werden 3 Schlei-
fen unterschieden, die ihren Ursprung im dorsolatera- 13.6.3 Rolle des Kleinhirns bei der
len Präfrontalkortex, im orbito-frontalen und im lim- Zielmotorik
bischen Kortex haben, also in verschiedenen Arealen
des assoziativen Kortex ihren Ausgang nehmen. Sie Einbindung des Kleinhirns in das motorische
spielen eine Rolle für langfristige Aktionsplanung und System
motivierte Willkürbewegungen und zeigen, dass die Wie die linke Säule in . Abb. 13.7 (in Abschn. 13.4.2) zeigt,
Basalganglien auch an diesen »höheren« Aufgaben be- ist auch das Kleinhirn (Zerebellum) ein wichtiges Bindeglied
teiligt sind (7 unten). zwischen der assoziativen Großhirnrinde und dem motori-
schen Kortex. Die Lage des Kleinhirns ist den . Abb. 5.3 bis
G Die parallel und unabhängig voneinander arbeiten-
5.5 und anderen Abbildungen des Kap. 5 zu entnehmen, eine
den Funktionsschleifen der Basalganglien sind teils
Aufsicht auf die verschiedenen Anteile des Kleinhirns gibt
für Extremitäten- und Rumpfbewegungen, teils für
. Abb. 5.20, Abschn. 5.3.3.
Augenbewegungen und teils für Aktionsplanung
Das Kleinhirn ist aus zwei sehr unterschiedlichen Teilen
und motivierte Willkürbewegungen zuständig.
aufgebaut, nämlich der Kleinhirnrinde und den Kleinhirn-
kernen. Das Diagramm der Kleinhirneingänge und -aus-
13 Aufgaben der Basalganglien gänge in . Abb. 13.21 zeigt, dass die Kleinhirnrinde ihre
Die Aufgaben der Basalganglien liegen in der Mitwirkung afferenten Zuflüsse außer aus dem assoziativen Kortex im
bei der Umsetzung der im assoziativen Kortex entstehen- Wesentlichen aus der Sensorik (vom Gleichgewichtsorgan
den Bewegungsplanung in Bewegungsprogramme, also und v. a. der Haut- und Tiefensensibilität) bezieht. Diese
in der Ausarbeitung zeitlich-räumlicher nervöser Impuls- Zuflüsse treten auf zwei parallelen Wegen in die Kleinhirn-
muster, welche die ausführenden motorischen Zentren rinde ein, nämlich einmal als weit verzweigte Moosfasern
steuern. Die Basalganglien sind insbesondere bei der Fest- und zum anderen als eng umschriebene Kletterfasern.
legung der Bewegungsparameter, wie der Amplitude, der Von den verschiedenen, hier nicht erwähnten Neuro-
Richtung, der Geschwindigkeit und der Kraft einer Bewe- nen der Kleinhirnrinde senden nur die Purkinje-Zellen ihre
gung entscheidend beteiligt. Axone aus der Rinde heraus, und zwar zu den Kleinhirn-
Daneben erlaubt die den Basalkernen zur Verfügung kernen. Diese wiederum projizieren, wie in . Abb. 13.21
gestellte sensorische Information auch eine Beteiligung an eingezeichnet, sowohl über den Thalamus zum primären
der Kontrolle der gerade ablaufenden Bewegungen. Die motorischen Kortex als auch direkt zu den motorischen
Bevorzugung einer bestimmten Bewegung bei gleichzei- Zentren des Hirnstamms. Auch in dieser Hinsicht ähnelt
tiger Hemmung anderer, unwichtiger Bewegungsabläufe ist der Informationsfluss durch das Kleinhirn dem durch die
eine der wichtigen Leistungen der Basalganglien. Sie spielen Basalkerne (. Abb. 13.19 und 13.20).
somit eine entscheidende Rolle in der motorischen Auf-
merksamkeit (Kap. 21).
Wie aus . Abb. 13.19 und 13.20 ersichtlich, wird der
Erregungszustand fast des gesamten Kortex den Basalgan-
13.6 · Stütz- und Zielmotorik
281 13

. Abb. 13.21. Einbindung des Kleinhirns in das motorische Sys- gang des Kleinhirns. Sie projizieren teils über den Thalamus zum moto-
tem. Die Darstellung entspricht der in . Abb. 13.19. Die Zuflüsse in das rischen Kortex, teils unmittelbar zum Hirnstamm (. Abb. 13.7 und
Kleinhirn erfolgen durch die Moosfasern und die Kletterfasern, hier die analogen Ausgänge der Basalganglien in . Abb. 13.19). Für die
symbolisiert durch Doppelpfeile. Die Kleinhirnkerne bilden den Aus- übrigen Bildanteile wird auf die Legende der . Abb. 13.19 verwiesen

G Wie die Basalganglien ist auch das Kleinhirn Binde- über die vestibulospinale Bahn die Stützmotorik und den
glied zwischen assoziativem und primär motori- Gang.
schem Kortex. Die Zuflüsse aus assoziativem Kortex Rechts und links vom Vermis, also paarig angelegt, liegt
ebenso wie die aus der Sensorik treten über Moos- das ebenfalls phylogenetisch recht alte Palaeozerebellum,
und Kletterfasern in die Kleinhirnrinde ein. Deren das seine sensorischen Eingänge hauptsächlich aus den
Ausgang zu den Kleinhirnkernen sind die Axone der aufsteigenden Bahnen des Rückenmarks empfängt (orange
Purkinje-Zellen. Eingangsbox in . Abb. 13.22a) und daher den funktionellen
Namen Spinozerebellum trägt. Seine Ausgänge (Mitte in
Funktionelle Kompartimente des Kleinhirns . Abb. 13.22b) ziehen ebenfalls zu den Vestibulariskernen
und ihre Aufgaben und von dort zu den motorischen Kerngebieten von Hirn-
An Hand ihrer unterschiedlichen Zuflüsse und Ausgänge stamm und Rückenmark. Ihm obliegt die Koordination von
lassen sich die in . Abb. 5.20 und in . Abb. 13.22 durch Haltung und Bewegung.
unterschiedliche Farbgebung gekennzeichneten Anteile Lateral an das Spinozerebellum schließt sich beidseits
des Kleinhirns voneinander abgrenzen und funktionell das beim Menschen bei weitem am größten ausgebildete
ordnen. Neozerebellum an, das seine Zuflüsse überwiegend aus
Der phylogentisch älteste Teil ist das sehr kleine Archi- dem assoziativen Kortex erhält (grüne Eingangsbox in
zerebellum, das sich aus Flocculus und Nodulus zusam- . Abb. 13.22a, . Abb. 13.21), die über die im Hirnstamm
mensetzt (Lob. flocc. nod. in . Abb. 13.22a) und das zu- gelegenen Pons (Brückenkerne) in das Kleinhirn einlaufen.
sammen mit dem mittig liegenden Vermis zum Vestibulo- Daher sein Name Pontozerebellum. Seine Ausgänge (rechts
zerebellum zusammengefasst wird. Dieses empfängt seine in . Abb. 13.22b) projizieren über die Kleinhirnkerne zum
sensorischen Eingänge hauptsächlich von den Gleich- motorischen Thalamus und damit zum Motorkortex. Diese
gewichtsorganen und den Muskelspindeln der äußeren Anteile des Kleinhirns sind zuständig für die Koordination
Augenmuskeln (rote Eingangsbox in . Abb. 13.22a. Diese langsamer zielmotorischer Bewegungen mit der Stütz-
Teile des Zerebellums beeinflussen über ihre Ausgänge motorik und v. a. für die reibungslose Durchführung der
(links in . Abb. 13.22b) v. a. die Okulomotorik, aber auch schnellen (ballistischen) Zielmotorik.
282 Kapitel 13 · Bewegung und Handlung

einer Bewegungssequenz (Zerebellum als eine Uhr im Milli-


sekundenbereich) oder seine Rolle beim Erlernen motori-
scher Programme (»Lernhypothese«). Dafür 2 Beispiele
(Box 13.6):
4 Schnell aufeinander folgende, hochkoordinierte Be-
wegungen, wie z. B. Klavierspielen, sind ohne Mit-
wirkung des Kleinhirns nicht erlernbar und bei Läsio-
nen des Kleinhirn nicht mehr durchführbar sind (Ab-
schn. 13.7.1).
4 Wird der Sehvorgang durch Vorsetzen von Prismen-
gläsern gestört, können visuell geführte Bewegungen
zunächst nicht mehr korrekt ausgeführt werden. Inner-
halb weniger Tage kann die Versuchsperson aber erler-
nen, die korrekten Bewegungen wieder durchzuführen.
An dieser motorischen Adaptation ist der vestibulo-
okuläre Reflexweg wesentlich beteiligt, denn die Adap-
tation gelingt nur bei intaktem Zerebellum.
G Langfristiges motorisches Lernen und die Anpas-
sung (Adaptation) der Motorik an geänderte Bedin-
gungen bedarf der Mitwirkung des Kleinhirns. Dies
gilt v. a. für schnelle, hochkoordinierte Bewegungen
(Sport, Musikausübung). Die neuronalen und mole-
kularen Mechanismen dieser Lernprozesse sind noch
nicht völlig verstanden.

Box 13.6. Motorisches Lernen und Zeittakt


Das Kleinhirn ist, wie in Abschn. 13.6.3 ausgeführt,
. Abb. 13.22a, b. Funktionelle Kompartimente des Kleinhirns. für den Erwerb einzelner motorischer Fertigkeiten
Funktionell lässt sich das Kleinhirn aufgrund seiner afferenten Zuflüsse und deren zeitlichen Ablauf verantwortlich. Menschen
(a) und seiner efferenten Ausgänge (b) in Vestibulozerebellum, Spino- und Säugetiere erlernen z. B. nicht mehr die klassisch-
zerebellum und Pontozerebellum (Hemisphären) unterteilen. Diese
konditionierte Lidschlagreaktion nach Läsionen des
Einteilung entspricht auch der phylogenetischen Entwicklung, die
im Text angesprochen wird. Die funktionellen Hauptaufgaben dieser
Kleinhirns: Dabei wird ein Ton 0,8 s vor einem Luftstoß
3 Kompartimente werden ebenfalls im Text erläutert. Alle Ausgänge auf das Auge mehrmals dargeboten und danach nur
aus der Kleinhirnhirnde werden von Purkinje-Zellen gebildet, die inhi- noch der Ton (Kap. 25 zur Konditionierung). Das Augen-
13 bitorisch auf die Kleinhirnkerne wirken (mit GABA als Transmitter) lid schließt sich nach mehreren Paarungen bereits vor
dem Luftstoß und schließlich auch beim Ton allein.
G Hauptaufgabe des Vestibulozerebellums ist die Dies ist nach Läsionen des Kleinhirns nicht der Fall,
Okulomotorik, das Spinozerebellum ist zuständig obwohl die Patienten ganz bewusst und korrekt die
für Halte- und Stützmotorik beim Stehen und Gehen Reizsequenz wahrnehmen. Die Assoziation Reiz →
und die Hemisphären sind für schnelle (gelernte, motorische Reaktion gelingt nicht mehr, wenn der
ballistische) Bewegungen verantwortlich. Zeittakt durch die ursprünglichen äußeren Reize fehlt.
Ein Patient beschreibt sein Problem folgendermaßen:
Motorisches Lernen im Kleinhirn »Die Bewegungen meines gesunden Armes kann ich
Der zerebelläre Schaltplan mit den doppelten, oben er- unbewusst machen, aber bei meinem rechten, kran-
wähnten Zuflüssen aus dem Moosfaser- und Kletterfaser- ken Arm, muss ich jedes Mal nachdenken. Wenn ich
system hat zu zahlreichen Hypothesen über seine Beteili- ihn bewege, bleibe ich stecken und muss die Bewe-
gung am motorischen Lernen geführt. Allen Hypothesen gung nochmals denken und es wieder versuchen«.
ist die Vorstellung gemeinsam, dass die beiden Eingänge
sich wechselseitig beeinflussen, insbesondere, dass das
Kletterfasersystem die synaptischen Verbindungen des
Moosfasersystem bei gleichzeitiger Aktivierung verstärkt
und stabilisiert.
Die unterschiedlichen Hypothesen betonen entweder
die Bedeutung des Kleinhirns für die zeitliche Abfolge
13.6 · Stütz- und Zielmotorik
283 13
13.6.4 Rolle der motorischen Kortexareale 4 von aufsteigenden, extrathalamischen Fasersystemen,
bei der Zielmotorik besonders von noradrenergen Fasern aus dem Locus
coeruleus und dopaminergen Fasern aus der Substantia
Einbindung der motorischen Kortexareale in das nigra und anderen dopaminergen Kernen des Hirn-
motorische System stamms.
Seit mehr als einem Jahrhundert ist bekannt, dass elektri-
sche Reizung umschriebener Areale der Großhirnrinde, Die Ausgänge der Motorkortexareale bilden die Pyra-
insbesondere des Gyrus praecentralis, Bewegungen der midenbahn und eine Reihe extrapyramidaler Bahnen, die
kontralateralen Extremitäten auslöst. Diese Areale wurden nachfolgend angesprochen werden.
und werden als primäre motorische Kortexareale be-
G Die Zuflüsse der motorischen Kortexareale kommen
zeichnet.
teils von den motorischen Thalamuskernen, teils von
Was die Stellung der motorischen Kortexareale im mo-
anderen kortikalen Arealen sowie vom sensorischen
torischen System angeht, so erhalten sie ihre Zuflüsse
Thalamus. Hinzu kommen noradrenerge und dopa-
4 von den motorischen Kernen des Thalamus (. Abb.
minerge Zuflüsse aus dem Hirnstamm.
13.7), die ihrerseits ihre Hauptzuflüsse aus Basalgangli-
en (Abschn. 13.6.2) und Kleinhirn (Abschn. 13.6.3) er-
halten, Pyramidale Ausgänge der Motorkortexareale
4 von präfrontalen und parietalen kortikalen Arealen Der Tractus corticospinalis zieht vom Motorkortex un-
(kortikokortikale Eingänge), unterbrochen bis ins Rückenmark (. Abb. 13.23a). Er durch-
4 in geringerem Umfang von sensorischen Thalamus- läuft dabei im Hirnstamm eine Struktur, die als Pyramide
kernen (»Sensorik« in . Abb. 13.7), bezeichnet wird. Daher heißt die kortikospinale Bahn auch

Aus Rosenzweig MR, Breedlove SM, Watson NV (2005). Mit freundlicher Genehmigung von Sinauer.
Aus Rosenzweig MR, Breedlove SM, Watson NV (2005). Mit freundlicher Genehmigung von Sinauer.

. Abb. 13.23a, b. Kortikospinalmotorische Bahnen. a Verlauf der ren Teil auf Rückenmarksebene. b Verlauf der extrapyramidalen
Pyramidenbahn. Sie kreuzt überwiegend im Hirnstamm, zum geringe- Bahnen. Weitere Erläuterung von Verlauf und Funktion im Text.
284 Kapitel 13 · Bewegung und Handlung

Pyramidenbahn. Ein Großteil der Axone der Pyramiden-


bahn kreuzt im Hirnstamm auf die andere Seite und zieht
nach der Kreuzung im Rückenmark abwärts. Der Rest ver-
läuft ungekreuzt nach kaudal. Von den etwa eine Million
Fasern jedes Trakts kreuzen im unteren Teil des Hirn-
stamms 75–90%. Unterbrechung einer Pyramidenbahn
und der anderen motorischen efferenten Bahnen wird also
vorwiegend zu klinischen Symptomen auf der kontralate-
ralen Seite der Schädigung führen.
Im Rückenmark endet der Tractus corticospinalis. Die
bisher ungekreuzten Axone kreuzen dabei ebenfalls zum
Großteil auf die kontralaterale Seite. Die Pyramidenbahn-
axone enden nur zum geringen Teil direkt an Motoneu-
ronen, zum größeren Teil wirken sie über lokale Inter-
neurone (spinale Neurone in . Abb. 13.7) auf die Moto-
neuronenkerngebiete ein.
Auf ihrem Weg ins Rückenmark geben die Pyramiden-
bahnaxone zahlreiche Kollateralen zum Thalamus, zu den
Basalganglien und zu den motorischen Kernen der Brücken-
region (Pons) des Hirnstamms ab. Auf diese Weise erhalten
diese motorischen Strukturen jeweils eine Kopie des moto-
rischen Befehls, also eine Efferenzkopie. Ihre Bedeutung
liegt wahrscheinlich in der Optimierung der motorischen
Ausführung.
G Die Pyramidenbahn ist der Ausgang der primären
Motorkortexareale. Sie kreuzt größtenteils im Hirn-
stamm und läuft ohne synaptische Umschaltung
bis ins Rückenmark. Die ungekreuzten Bahnanteile
kreuzen dort. Alle motorischen Befehle werden über
Efferenzkopien im motorischen System verbreitet.

Extrapyramidale Ausgänge der


Motorkortexareale
Dieselben motorischen Areale, aus denen der Tractus
13 corticospinalis entspringt, sind auch der Ursprungsort . Abb. 13.24a, b. Verschiedene Darstellungsarten der motorischen
derjenigen kortikalen motorischen Efferenzen, die, groß- Karten des Kortex. a Motorischer Homunculus mit verzerrter Darstel-
teils über die Basalganglien, zu den motorischen Zentren lung der Körperteile entsprechend der ungleichen kortikalen moto-
des Hirnstamms ziehen. Diese Bahnen kreuzen nicht in der rischen Repräsentation. In b sind die Körperumrisse eines Äffchens ent-
Pyramide. Man fasst sie daher als extrapyramidale Bahnen sprechend der motorischen Repräsentation eingezeichnet. MC moto-
zusammen (. Abb. 13.23b). Läsionen dieser Bahnen beein- rischer Kortex. SMA Supplementär-motorische Area. SM I und SM II
bezeichnen postzentrale somatosensorische Areale, von denen bei
trächtigen nicht die Bewegungen in einzelnen Gelenken
hoher Reizstärke auch motorische Effekte ausgelöst werden können
und Extremitäten, aber sie verändern die spinalen Reflexe,
die meist gesteigert werden.
Die extrapyramidalen Bahnen kommunizieren mit Nucleus ruber (ruber = lateinisch rot) des Mittelhirns seinen
dem Rückenmark über 2 Hauptbahnen, die retikulospinale Ausgang nimmt. Die Beiträge aus dem Kleinhirn und dem
und die rubrospinale Bahn. Die motorischen Neurone der Gleichgewichtsorgan kommen über den Tractus vestibulo-
Formatio reticularis modulieren verschiedene Aspekte der spinalis.
Motorik. Einige Areale bahnen Bewegungen, andere hem-
men sie. Die Signalübertragung erfolgt über den Tractus G Die extrapyramidalen Bahnen stammen aus den
reticulospinalis, der von der Formatio reticularis zu den motorischen Kortexarealen und den Basalganglien.
spinalen Interneuronen zieht und dort Einfluss auf das Sie erreichen das Rückenmark über die Tractus
motorische Geschehen nimmt. So nehmen Teile der For- reticulo-, rubro- und vestibulospinalis und neh-
matio reticularis Einfluss auf die Atemmuskulatur. Die men dort Einfluss auf die spinalmotorischen Aktivi-
zweite wichtige Bahn ist der Tractus rubrospinalis, der vom täten.
13.6 · Stütz- und Zielmotorik
285 13
Somatopie und multiple Repräsentation
Zwei Aspekte der motorischen Kortexareale sind funktio-
nell besonders wichtig: erstens ihre somatotopische Orga-
nisation, d. h. eine geordnete räumliche Zuordnung zwi-
schen Körperperipherie und motorischem Kortex, und
zweitens eine multiple Repräsentation der Körperperiphe-
rie in mehreren motorischen Arealen (. Abb. 13.24).
Das bekannteste kortikale motorische Areal des Men-
schen ist der Gyrus praecentralis (Feld 4 nach Brodmann,
. Abb. 5.17f in Abschn. 5.3.1). Seine somatotopische Or-
ganisation ist in . Abb. 13.24a dargestellt. Diejenigen
Körperstellen, die besonders häufig willentlich benutzt
werden, wie z. B. Finger, Hand, Lippen, Zunge, nehmen
weit überproportionale Anteile des Gyrus praecentralis
ein, während Rumpf und proximale Extremitäten nur
relativ klein repräsentiert sind (»motorischer Homun -
culus«).
Neben dem eben beschriebenen primär motorischen
Kortex (abgekürzt MI) findet sich ein ebenfalls somatoto-
pisch gegliederter sekundär motorischer Kortex (MII) in
der Tiefe der Fissura interhemisphaerica im Anschluss an
den primär motorischen Kortex und etwas rostral davon
(Teil der Area 6, . Abb.13.24b). Dieses Areal wird meist als
supplementär-motorisches Areal, SMA, bezeichnet Dazu
kommt der prämotorische Kortex, PMK (weiterer Teil der
Area 6), der anterior zum primären motorischen Kortex
liegt.
Bei Patienten mit Läsionen des prämotorischen Kortex
bleibt die Feinmotorik der Finger erhalten, aber Stehen und
Gehen sind gestört, ebenso die Koordination bei zweihän-
digen Bewegungen. Patienten mit beidseitigen Läsionen . Abb. 13.25a, b. Bereitschaftspotenziale des menschlichen Kor-
des SMA können sich nicht mehr willkürlich bewegen, tex (a) und Einzellzellableitungen aus motorischen Kortexzellen
vom wachen Affen in derselben Situation (b). Nach einem Warnsig-
während automatische und reflektorische Bewegungen teil-
nal ertönt 1 s später ein Reaktionssignal, auf das eine Fingerbewegung
weise noch erhalten sind. Dies spricht dafür, dass SMA an ausgeführt wird. Schnelle Reaktionszeiten werden von höherer Nega-
der initialen Ausarbeitung der willkürlichen Bewegungs- tivierung des Bereitschaftspotenzials kontralateral zur Bewegung
programme beteiligt ist. und verstärkter Entladung der Zellen vor der Entladung bewirkt. Das
Bereitschaftspotenzial ist als Differenz zwischen rechter und linker
Hemisphäre wiedergegeben. Weitere Erläuterung 7 Text
G Der Gyrus praecentralis ist der primär motorische
Kortex. Dazu kommen das supplementär motorische
Areal, SMA, und der prämotorische Kortex, PMK. Die kontrolle von Bewegungen, insbesondere von Einzelbewe-
motorischen Areale sind somatotopisch organisiert gungen der distalen Körpermuskulatur dient (Abschn. 13.6.5),
und die Körperperipherie ist multipel, d. h. in meh- während SMA und PMK in die zentrale Generierung der Ab-
reren Kortexarealen, repräsentiert. folge von komplex zusammengesetzten willkürlichen Bewe-
gungsprogrammen eingebunden sind (7 oben).
Aufgaben der motorischen Kortexareale
G Die Motorkortexareale besorgen die Umsetzung der
Der Motorkortexareale sind, wie . Abb. 13.7 schon zeigt,
Bewegungsentwürfe in Bewegungsprogramme und
zuständig für die Umsetzung der in den assoziativen Kortex-
steuern die Bewegungsausführung. Der MI ist v. a.
arealen entstandenen Bewegungsentwürfe in Bewegungs-
für die Ausführung feinmotorischer Bewegungen
programme. Gleichzeitig, wie ebenfalls in . Abb. 13.7 zu
verantwortlich, SMA und PMK beteiligen sich an der
sehen, beginnt mit ihnen die Kette derjenigen Strukturen,
Generierung willkürlicher Bewegungen.
die v. a. die Bewegungsausführung übernehmen. Dabei sei
allerdings daran erinnert, dass viele komplexe Bewegungs-
abläufe subkortikal verlaufen (Abschn. 13.4 und 13.5). Kortikale Bereitschaft zum Handeln
Die spezielle Rolle der einzelnen kortikalen motorischen Mehrere hundert Millisekunden vor einer willkürlichen
Felder wird derzeit so gesehen, dass MI vorwiegend der Fein- Bewegung, d. h. vor der Aktivierung der motorischen Kor-
286 Kapitel 13 · Bewegung und Handlung

. Abb. 13.26a–f. Motorisches Lernen


und regionale Hirndurchblutung, ge-
messen mit Positronenemissionstomo-
graphie (PET, Kap. 20). Die 9 Versuchsper-
sonen, deren PET hier gemittelt wurden,
erlernten eine komplizierte Fingerbewe-
gung mit der rechten Hand. Rechts auf
der Abbildung bedeutet links in Realität.
a Lernbeginn: Schnitt durch prämotorische
Handregion. Man sieht erhöhte Durchblu-
tung (mehr rot und gelb) in dieser Region
kontralateral der benutzten Hand. b Lern-
beginn: Schnitt durch somatosensorische
a d
Handareale, ebenfalls kontralateral erhöht,
auch in den sensorischen Assoziationsarea-
len. c Schnitt durch den Nucleus ventro-
lateralis des Thalamus. d Wie a, aber nach

Aus Seitz RJ, Roland P, Bohm C, Greitz T, Stone-Elander S (1991). Mit freundlicher Genehmigung von Wiley-Blackwell.
Erlernen der Bewegung; die Aktivitätser-
höhung ist beträchtlich fokussiert und auf
MI eingeschränkt. e Wie b, die somatosen-
sorischen Areale sind still geworden. f Wie
c, zeigt aber nur erhöhte Aktivität im Puta-
men und Pallidum nach erfolgter Automa-
tisierung

b e

13 c f

texareale, setzt bereits die Vorbereitung der kommenden zeigen die Reaktionen der Einzellzelle: Je höher die Ent-
Bewegung ein. So zeigt . Abb. 13.25a den Verlauf lang- ladungsrate vor der Bewegung, desto schneller wird diese
samer Hirnpotenziale des Menschen von einem Warnsignal ausgeführt (bezüglich langsamer Hirnpotenziale und ihrer
bis zu einem Reaktionssignal (für eine Handbewegung) Bedeutung Kap. 20 und 21).
rund 600 ms danach, gemittelt über viele gleichartige Reak- Der Begriff Bereitschaftspotenzial wird häufig synonym
tionen. Darunter sind in . Abb. 13.25b die Aktionspoten- mit Erwartungspotenzial verwendet, obwohl man streng
zialfrequenzen eines Neurons im motorischen Kortex des genommen unter Bereitschaftspotenzial nur die Negativierung
wachen Affen während der gleichen Warnsignal-Reak- vor einer spontanen, nicht signalisierten Bewegung versteht,
tions-Sequenz zu sehen. während Erwartungspotenzial die Negativierung vor signa-
Das Bereitschaftspotenzial ist in . Abb. 13.25a als Dif- lisierten Handlungen oder Gedanken bezeichnet.
ferenz zwischen den Potenzialen der linken und rechten Die Plastizität des motorischen Systems beim Erlernen
Hemisphäre aufgezeichnet, da einmal die rechte und das komplexer Bewegungsabläufe wird in . Abb. 13.26 deut-
andere Mal die linke Hand benutzt wurde. Es wird daher lich. Sie zeigt den Verlauf der Durchblutungserhöhung in
als lateralisiertes Bereitschaftspotenzial bezeichnet. Man verschiedenen Hirnregionen beim Erlernen einer kompli-
sieht, dass mit stärkerer Negativierung kontralateral der be- zierten Bewegungssequenz mit den Fingern der rechten
nützten Hand die Reaktionszeit schneller wird. Gleiches Hand. (Die Erhöhung der regionalen Hirndurchblutung
13.6 · Stütz- und Zielmotorik
287 13

zeigt eine vermehrte Aktivität der beteiligten Hirnstruk- G Die Handfertigkeit ist eine visuomotorische und
turen an, Abschn. 20.6.1.) Aus . Abb. 13.26 wird auch deut- kognitive Leistung. Dem Greifakt geht die visuelle
lich, dass nicht nur motorische, sondern v. a. parietale und Erfassung des Objektes voraus. Grundformen des
somatosensorische Regionen an Erwerb und Durchfüh- Greifakts sind der Kraftgriff und der Präzisionsgriff.
rung sowie an der Automatisierung von Bewegungsfolgen Ungeübte Zielbewegungen sind umso genauer,
beteiligt sind (Kap. 21 und 28). je langsamer sie sind.

G Erwartungs- und Bereitschaftspotenziale signalisie- Einstellen der Greifkraft


ren die Vorbereitung einer willkürlichen Bewegung.
Das antizipatorische Einstellen der Greifkraft beruht auf
Automatisierung von Bewegungen durch Üben
unserer Erfahrung, d. h. es ist proaktiv auf Grund des sen-
führt zu plastischen Veränderungen der beteiligten
somotorischen Gedächtnisses. An den nachfolgenden Kor-
Hirnstrukturen.
rekturen sind die Mechano- und Temperatursensoren der
Haut so entscheidend beteiligt, dass die Hand, wie oben
13.6.5 Ziel- und Greifbewegungen gesagt, als ein eigenständiges Sinnesorgan angesehen
von Arm und Hand werden muss. So wird, wie in . Abb. 13.27d illustriert, die
Griffkraft für das Halten eines Glases fortlaufend dem
Grundformen des Greifakts, Durchführen Füllungsgrad des Glases angepasst. Dies geschieht dadurch,
einer gezielten Handbewegung dass die durch das Füllen ausgelösten winzigen Rutsch-
Die Entwicklung des aufrechten Ganges hat die Hände bewegungen des Glases von den Pacini-Körperchen regis-
praktisch zu einem eigenständigen Sinnesorgan werden triert und die Griffstärke anschließend reflektorisch ver-
lassen, mit dem wir die Beschaffenheit der Dinge, die wir stärkt wird. Diese reflektorische Anpassung der Griffstärke
in die Hand nehmen, ertasten und begreifen und dazu mit erfolgt mit einer typischen Latenz von ca. 60 ms, d. h. es
Gesten kommunizieren können. Dazu kommt, dass dem handelt sich nicht um monosynaptische, sondern um poly-
Greifakt meist die visuelle Erfassung des Objekts voraus- synaptische Reflexe, möglicherweise unter Einschluss su-
geht, wobei dieses fixiert, d. h. auf den fovealen Anteil der praspinaler Strukturen.
Netzhaut projiziert wird. Dies löst seinerseit vom parietalen In vergleichbarer Form sind auch die anderen Sensoren
Kortex her bereits gezielte Hand- und Armbewegungen der Hand, kutane wie muskuläre, in die Einstellung der
zum Objekt aus. Die Handfertigkeit ist also eine senso- Greifkraft und ihre fortlaufende Anpassung an die sich
motorische, insbesondere eine visuomotorische und eine ändernden Verhältnisse eingebunden. Ein Patient mit völ-
kognitive Leistung. ligem Verlust der taktilen und propriozeptiven Sensibilität
Die zahlreichen Griffarten, zu denen die menschliche kann z. B. nicht aus einem Plastikbecher trinken, da er die
Hand fähig ist, lassen sich auf 2 Grundformen zurück- Greifkraft nicht an die Weichheit des Bechers anpassen kann.
führen, nämlich den Kraftgriff für schwere und größere Die in Abschn. 13.4.3 beschriebene gelernte Nichtbenut-
Objekte und den Präzisionsgriff für delikate, kleine Gegen- zung deafferenzierter Glieder hängt natürlich auch damit
stände und Instrumente (. Abb.13.27a, b). Bei ersterem zusammen: Die Misserfolge von Bewegungsversuchen be-
wird durch globalen Fingerschluss ein festes Zupacken er- strafen diese und führen zur Vernachlässigung des Gliedes.
möglicht, während beim Präzisionsgriff durch Gegenüber-
G Das Einstellen der Greifkraft erfolgt zunächst proak-
stellen (Opposition) von Daumen und Zeigefinger eine fein
tiv auf Grund des sensomotorischen Gedächtnisses.
abgestimmte Anpassung der Greifkraft möglich ist.
Die fortlaufende Anpassung der Griffstärke an die
Die Entstehung des Bewegungsprogramms beim
jeweiligen Notwendigkeiten geschieht über poly-
Greifen, die, wie eben schon erwähnt, im visuellen Bezugs-
synaptische Reflexe.
system des Zentralnervensystems beginnt, erfordert zu-
nächst eine Umsetzung aus dem visuellen in das körperbe-
zogene oder egozentrische Koordinatensystem und die Die Pyramidenbahn als Voraussetzung für die
Entwicklung eines motorischen Programms zur Vororien- Handgeschicklichkeit
tierung der Hand- und Fingerstellung in Richtung auf das Die Arme, insbesondere die Hände, sind, ähnlich wie der
Ziel. Die Zielbewegung startet schnell und in ihrer Präzi- Mund, in den motorischen Kortexarealen überpropor-
sion relativ ungenau, um gegen das Ziel hin abgebremst tional repräsentiert (vgl. den motorischen Homunculus in
und dabei genauer zu werden. In dieser langsamen Phase . Abb. 13.24a). In diesen Handarealen werden die Bewe-
nahe beim Ziel erfolgen auch die Öffnung der Hand und gungsprogramme generiert, deren anschließende Übertra-
deren endgültige Anpassung an das folgende Zugreifen gung zu den Motoneuronen der mehr als 30 Handmuskeln
(. Abb. 13.27c). Die Treffgenauigkeit einer Zielbewegung weitgehend über die Pyramidenbahn erfolgt.
ist also umgekehrt proportional ihrer Geschwindigkeit; mit Die Aktivität der Pyramidenbahn ist sehr viel stärker
anderen Worten, es muss zwischen Geschwindigkeit und mit dem Präzisionsgriff als mit dem Kraftgriff korreliert.
Präzision gewählt werden. Daraus und aus der Tatsache, dass das menschliche Neu-
288 Kapitel 13 · Bewegung und Handlung

. Abb. 13.27a–d. Zielgerichtetes Greifen der Hand. a Kraftgriff mit


globalem Fingerschluss. b Präzisionsgriff mit Opposition von Daumen
und Zeigefinger. c Transportphase und Formierung des Präzisions-
griffs bei einer gezielten Greifbewegung der Hand mit einer dem Ob-
jekt angepassten proaktiven Feineinstellung bei der Annäherung.
d Fortlaufendes Anpassen der Griffkraft für das Halten eines Glases
bei dessen Füllung. Die quantitative Untersuchung dieser Aufgabe
bestätigt die präzise Koordination der Griffkraft, die genau parallel
mit der Belastung ansteigt (und damit entsprechend der Hebekraft
der Armbeuger). Wie die unteren Kurven zeigen, bleibt das Verhältnis
Greifkraft zu Hebekraft beim Einschenken stabil, wobei die Greifkraft
umso größer ist, je glatter die Oberfläche des Glases beschaffen ist
(Schmirgelpapier < Wildleder < Seide), während die Hebekraft kon-
stant bleibt. Der Unterschied zwischen Belastung und Greifkraft
(schraffierte Flächen im untersten Diagramm) entspricht der Sicher-
heitsmarge, die für eine bestimmte Reibung zwischen Hand und Glas
notwendig ist, damit das Glas nicht abrutscht

geborene, dessen Pyramidenbahn noch nicht ausgereift


ist, über keinen Präzisionsgriff verfügt, lässt sich folgern,
dass die Pyramidenbahn eine Voraussetzung für den Präzi-
sionsgriff und für die Handgeschicklichkeit überhaupt ist.
Damit stimmt auch überein, dass nach Läsionen der Pyra-
midenbahn insbesondere die Handgeschicklichkeit einge-
schränkt ist: Unabhängige Fingerbewegungen (wie für den
Präzisionsgriff notwendig) lassen sich nicht mehr durch-
führen, die Bewegungen sind allgemein verlangsamt, und
die Mobilisierung der Kraft beim Greifen ist verzögert.
Den zeitlichen Ablauf und den Schwerpunkt der
Programmbildung in den kortikalen Handarealen zeigen
Mikroelektrodenableitungen aus diesen Arealen bei trai-
nierten, wachen Affen: Schon 100–200 ms vor Beginn einer
Armbewegung beginnt sich die Aktivität in einer großen
Humphrey D.R., Freund H.-J. (1991). Permission is hereby granted by Wiley-Interscience.

Population kortikaler Neurone zu ändern, um im Laufe


der Bewegung wieder abzuklingen. Dabei scheint insbeson-
dere die Bewegungsrichtung programmiert zu werden.
. Abb. 13.28 ist gewonnen aus dem Entladungsverhalten
13 von über 200 kortikalen Neuronen während den in der
Mitte der Abbildung durch Pfeile angegebenen 8 Handbe-
wegungen. Wie in der Legende beschrieben, wurde für je-
des Neuron die Bewegungsrichtung mit der höchsten Ent-
ladungsrate und die Entladungsrate bei jeder der 8 Bewe-
gungen registriert und aus diesen beiden Parameter die rot
eingetragenen Vektoren für jedes Neuron bestimmt. Aus
diesen Vektoren wurde dann für jede Bewegungsrichtung
der Gesamtvektor bestimmt, der als dunkler gestrichelter
Pfeil eingetragen ist. Diese 8 Populationsvektoren stimmen
mit der tatsächlichen Bewegungsrichtung sehr gut überein,
und damit wird klar, dass nicht die Einzelzelle, sondern die
Neuronenpopulation die Bewegungsrichtung bestimmt.

G Das Programm einer Bewegung wird im primär


motorischen Kortex entworfen. In diesen Arealen
setzt 100–200 ms vor Beginn einer Bewegung eine
vermehrte neuronale Aktivität ein, in deren Verlauf
der über die Pyramidenbahn auszusendende Be-
wegungsbefehl entsteht.
13.7 · Pathophysiologie und Rehabilitation des motorischen Systems
289 13

G Spiegelneurone kodieren Handlungen und Be-


wegungen auf Grund von visuellen oder aku-
stischen Signalen. Sie feuern ebenso bei Absichten
von eigenen (gedachten) oder bei anderen ver-
muteten Bewegungen, d. h. sie kodieren ab-
strakte Inhalte, nämlich die Bedeutung von Be-
wegungen.

13.7 Pathophysiologie und Rehabili-


tation des motorischen Systems

13.7.1 Pathophysiologie des motorischen


Systems

Folgen von peripheren versus zentralen


Störungen
Die in . Abb. 13.7 vorgestellte Struktur des motorischen
Systems lässt zwei Grundtypen pathophysiologischer Ver-
änderungen erwarten. Einmal Störungen in der Ausar-
. Abb. 13.28. Bewegungsrichtungsspezifische Entladungen
beitung eines Bewegungsprogramms, wie z. B. beim Par-
kortikaler Neurone. Darstellung des Populationsvektors an Hand
der Entladungsraten von über 200 Neuronen des Armareals im pri- kinson-Syndrom (7 unten), und zum anderen Störungen
mären motorischen Kortex MI eines Affen. Dieser führte sukzessive die in der Bewegungsausführung, die dann auftreten, wenn
8 im Zentrum als schwarze Pfeile gezeigten Handbewegungen aus, ein normal entworfenes Programm durch Defekte des peri-
wobei 2 Parameter für jedes Neuron bestimmt wurden: 1. Vorzugsrich- pheren motorischen Apparates, also z. B. eine Nerven-
tung (höchste Entladungsrate) und 2. Entladungsrate bei jeder der ge-
durchtrennung, nicht richtig ausgeführt werden kann.
testeten Bewegungsrichtungen. Mit diesen Größen wurden Vektoren
für jedes Neuron und für jede Bewegungsrichtung eingetragen (Län- Eine extreme Form einer solchen Verhinderung der
ge proportional zur Entladungsfrequenz, Winkel = Vorzugsrichtung). Ausführung haben wir bereits kennen gelernt, nämlich die
Die lineare Vektorsumme ergibt den Populationsvektor (gestrichelte spinale Querschnittslähmung (Abschn. 13.5.3). Dieses
blaue Pfeile). Diese Populationsvektoren stimmen ziemlich gut mit Beispiel ebenso wie die Beschreibung der Arbeitsweise der
den durchgeführten Bewegungsrichtungen (vgl. die schwarzen Pfeile
motorischen Zentren des Hirnstamms (Abschn. 13.6.1)
mit den blauen) überein
haben deutlich gemacht, zu welchen erheblichen eigenstän-
digen Leistungen diejenigen motorischen Zentren fähig
Spiegelneurone und die Imitation sind, denen beim Menschen die Bewegungsausführung
von Bewegungen zukommt. Auf diese Ausführungen wird verwiesen. Zusätz-
Wenn Affen die Handbewegungen von anderen Affen oder lich werden im Folgenden einige in der Neurologie häufige
von Menschen beobachten, oder wenn sie nur Töne hören, Symptome oder Krankheitsbilder erläutert, für die eine pa-
die mit diesen Bewegungen verbunden sind, feuern spezia- thophysiologische Grundlage angegeben werden kann und
lisierte Neurone im Areal F5, dem prämotorischen Hand- die auf neuropsychologische oder neuropharmakologische
areal. Beim Menschen überlappt sich dieses Areal auf der Behandlung angewiesen sind.
linken Hemisphäre mit dem motorischen Sprachzentrum Auch die Unterbrechungen von Motoaxonen (z. B.
von Broca (Area 44, . Abb. 5.17). Diese Neurone feuern Nervendurchtrennungen bei einem Unfall) oder Ausfälle
auch, wenn der Affe seine eigenen Handbewegungen im von Motoneuronen (z. B. bei Poliomyelitis) verhindern die
Spiegel beobachtet, und diese Spiegelneurone werden selbst Bewegungsausführung. Es kommt zu schlaffen Lähmun-
aktiv, wenn der Affe (oder Mensch) vollkommen ruhig die gen, die von folgenden Symptomen begleitet werden:
Bewegungen anderer beobachtet oder begleitende Töne 4 Hypotonus, d. h. ein verminderter Muskeltonus,
von Bewegungen wie kratzen, reiben etc. hört. 4 Atrophie, d. h. Degeneration der nicht mehr inner-
Auch schon bei gedachter Absicht für Bewegungen vierten Muskelfasern,
oder vermuteten Bewegungen von anderen wird dieses 4 Parese (Verminderung) oder Paralyse (Ausfall) der
Areal aktiv. In der Evolution vom Affen zum Menschen groben Kraft und entsprechende Beeinträchtigung der
haben sich diese Neurone von ihrer rein motorischen bzw. Feinmotorik.
ideomotorischen Funktion bei visuellen und auditorischen
Gesten bis zur abstrakten Kommunikation in der Sprache Die monosynaptischen Dehnungsreflexe sind abgeschwächt
und Empathie (sich in die Absichten anderer hinein zu ver- oder erloschen. Alle Symptome sind aus der Art der Schä-
setzen) entwickelt. digung ohne weiteres einsichtig.
290 Kapitel 13 · Bewegung und Handlung

G Pathophysiologische Störungen des motorischen


Systems lassen sich entweder zentralen oder peri-
pheren Schädigungen zuordnen. Periphere Nerven-
durchtrennungen oder der Untergang von Moto-
neuronen führen zu schlaffen Lähmungen mit Hypo-

Aus Schmidt RF et al (2003). Mit freundlicher Genehmigung


tonus, Atrophie und Parese bis Paralyse.

Parkinson-Syndrom als Beispiel einer


Erkrankung der Basalganglien
Parkinson-Patienten fallen durch ihre mimische Starre,
ihre geringen oder fehlenden Ausdrucksbewegungen, ihren

des Deutschen Ärzte-Verlags.


zögernden, kleinschrittigen Gang und durch Zittern ihrer
Hände auf (. Abb. 13.29). Die Untersuchung zeigt in wech-
selnder Ausprägung die Symptome
4 Bradykinesie bis hin zur Akinese, d. h. eine motorische
Verlangsamung und Gebundenheit, in der die Kranken
große und oft unüberwindliche Schwierigkeiten haben,
eine Bewegung in Gang zu bringen und zu Ende zu . Abb. 13.29. Symptome des Morbus Parkinson im Spätstadium:
rigide, vorgebeugte Haltung, schlurfender Gang, Tremor, Ausdrucks-
führen,
starre, »Pillendrehen« (in der Einsatzfigur) der Finger
4 Rigor, d. h. einen erhöhten Muskeltonus, der unab-
hängig von Gelenkstellung und Bewegung stets vorhan-
den ist und als plastischer oder wächserner Widerstand behandelt werden (Dopamin selbst ist unwirksam, da es
beschrieben werden kann. Bei passiven Gelenkbewe- die Blut-Hirn-Schranke nicht passieren kann). Dagegen
gungen geben die Muskeln nicht gleichmäßig, sondern können durch stereotaktische Ausschaltungen im Palli-
ruckartig nach: Zahnradphänomen, dum und im Thalamus (Nucleus ventrolateralis, VL), also
4 Ruhetremor mit einer Frequenz von 4–7 Hz, v. a. an den durch teilweises Unterbrechen der Projektion zum Motor-
Händen. Er lässt bei zielmotorischen Bewegungen nach kortex (. Abb. 13.19, 13.20), zwar die Überschuss-Sympto-
und setzt anschließend wieder ein. me, nicht aber die Akinese gebessert werden. Die Akinese
4 Kognitive Störungen und Depressivität, die im Kap. wiederum kann, wie in Abschn. 5.2.4 berichtet, durch hoch-
24.3.1 angesprochen werden. frequente elektrische Reizung des Nucleus subthalami-
cus (STN) über eingepflanzte Elektroden reduziert werden
Die Brady- bzw. Akinese kann als Ausfall von Bewegung (. Abb. 5.15). Neuropsychologische Behandlung und
aufgefasst werden, also als Minus-Symptom. Umgekehrt EMG-Biofeedback (Abschn. 13.6.2) verzögern das Fort-
sind Rigor und Tremor als Enthemmung der Basalkernmo- schreiten der Symptome und die begleitenden Depres-
torik anzusehen, also als Überschuss-Symptome. Letzteres sionen und kognitiven Störungen (weitere Einzelheiten zur
13 gilt in stärkerem Maße für andere Erkrankungen der Basal- Ätiologie und Therapie Abschn. 24.3.1).
ganglien, bei denen überschießende Bewegungsstörungen
G Läsionen in den Basalganglien führen zu verschiede-
der einen oder anderen Form im Vordergrund stehen (z. B.
nen Formen von Bewegungsstörungen, von denen
Chorea, Athetose, Hemiballismus, Box 13.7).
das Parkinson-Syndrom am bekanntesten ist. Es wird
Wahrscheinliche Ursache des Parkinson-Syndroms ist
durch den Untergang der dopaminergen nigrostria-
der Untergang der von der Substantia nigra zum Striatum
talen Bahnen verursacht. Gabe von L-Dopa, stereo-
ziehenden, hemmenden Bahnen (. Abb. 13.19 und 13.20),
taktische Eingriffe, neuropsychologische Behand-
deren Transmitter Dopamin ist. Die dopaminergen Neu-
lung und Biofeedback können die Symptome
rone der Substantia nigra bilden weitverzweigte terminale
bessern.
Netze im Putamen, aus deren Varikosiäten (. Abb. 6.6 in
Abschn. 6.2.1) kontinuierlich etwas Dopamin freigesetzt
wird (tonische »Berieselung« der Basalganglien durch Erkrankung des Kleinhirns
Dopamin). Die Abnahme dieser Berieselung führt, wie in Entsprechend den in Abschn. 13.6.3 geschilderten Funkti-
Abschn. 5.2.4 diskutiert, zu Zu- bzw. Abnahmen der Akti- onen des Kleinhirns stehen bei zerebellären Ausfällen die
vitäten in den indirekten bzw. direkten Verbindungen zwi- folgenden Symptome im Vordergrund:
schen Putamen und Globus pallidum (. Abb. 5.15 und 4 Asynergie, definiert als die Unfähigkeit, die bei einer
. Abb. 13.20 in 13.6.2), was teils die Minus-, teils die Über- Bewegung beteiligten Muskeln korrekt dosiert zu in-
schusssymptome verursacht. nervieren. Die einzelnen Anteile eines Bewegungs-
Das Parkinson-Syndrom, v. a. die Akinese, kann durch programms werden nicht gleichzeitig, sondern hinter-
Gaben von L-Dopa, der Vorstufe des Dopamins, erfolgreich einander ausgeführt (Bewegungsdekomposition), die
13.7 · Pathophysiologie und Rehabilitation des motorischen Systems
291 13

Box 13.7. Erbkrankheit Chorea Huntington


Während beim Morbus Parkinson die Akinese im Vorder- vor dem Ausbruch der Krankheit Kinder und geben
grund steht, kommt es bei anderen Erkrankungen der damit das kranke Gen weiter. Diese Gen, genannt HD (für
Basalganglien zu Hyperkinesien, d. h. zu unwillkürlichen, Huntington’s disease) liegt auf Chromosom 4 und kodiert
abrupt einschießenden, nicht-repetitiven, distal betont ein Protein, das Huntingtin genannt wird. Das patholo-
am ganzen Körper auftretenden Bewegungen von kurzer gische Gen enthält eine variable Anzahl der Trinukleotid-
Dauer. Diese sind auf Läsionen, besonders Degeneration sequenz CAG (Cytosin-Adenin-Guanidin). Während in der
im Striatum zurückzuführen. Die Bewegungsstörung wird Normalbevölkerung 11–34 solcher CAG-Wiederholungen
durch emotionale Belastung, Zuwendung oder innere An- auftreten, ist auf dem HD-Gen die Anzahl dieser Wieder-
spannung gesteigert, sistiert dagegen im Schlaf vollkom- holungen pathologisch erhöht (37–121). Je mehr der
men. Der wichtigste Vertreter ist die Huntington-Chorea. Wiederholungen auftreten, desto früher beginnt die Er-
Die ersten Symptome zeigen sich meist im Alter von krankung.
30–40 Jahren mit einer großen Variabilität der Erstmani- Noch ist nicht abschließend klar, warum defektes
festation zwischen dem 3. und 75. Lebensjahr. Die Patien- Huntingtin zu Degeneration im Striatum führt. Eine Hypo-
ten sterben im Mittel 14–17 Jahre nach Erkrankungs- these war, dass Huntingtin nur in Neuronen der Basal-
beginn. ganglien exprimiert wird und diese dann zerstört. Aber
Die Huntington-Chorea ist eine autosomal-dominant mittlerweile hat sich herausgestellt, dass Huntingtin
vererbte Krankheit, d. h. sie wird von einem dominanten überall im Gehirn sowohl in Neuronen wie Gliazellen
Gen vererbt, so dass jedes Kind mit 50%-iger Wahrschein- produziert wird, ebenso im Muskel, in der Leber und im
lichkeit erkrankt (Abschn. 23.1.2). Da die Krankheit relativ Hoden. Damit bleibt offen, warum nur die Basalneurone
spät im Leben ausbricht, zeugen viele spätere Patienten degenerieren.

Bewegungen geraten zu kurz oder zu weit und werden G Erkrankungen des Kleinhirns führen je nach Aus-
anschließend überkompensiert (Dysmetrie), der Gang maß und Lokalisation der Läsion(en) zu Akinesie
wird dadurch breitbeinig, unsicher, überschießend (mit Bewegungsdekomposition, Ataxie, Dysmetrie
(zerebelläre Ataxie), und rasch aufeinanderfolgende und Adiadochokinese), Intentionstremor, mus-
Bewegungen sind nicht mehr möglich oder sehr kulärem Hypotonus, Nystagmus und Sprachstö-
erschwert (A- bzw. Dysdiadochokinese). rungen.
4 Tremor, der nicht bei Ruhe, aber bei Bewegungen auf-
tritt (Intentionstremor). Er kann sich bei zielgerichteten
Bewegungen vor Erreichen des Zieles zu einem so Unterbrechung der Pyramidenbahn beim
starken Wackeln steigern, dass das Ziel verfehlt wird Schlaganfall
(Störung der Kurskorrektur besonders bei Schädigun- Läsionen im Bereich der Motorkortexareale, die zu Reiz-
gen der Kleinhirnkerne). (z. B. epileptischen Anfällen) oder Ausfallsymptomen füh-
4 Hypotonus der Muskulatur, also ein zu niedriger ren, sowie Unterbrechungen der kortikalen motorischen
Muskeltonus, oft verbunden mit Muskelschwäche und Efferenzen sind selten. Eine Ausnahme bildet die völlige
rascher Ermüdbarkeit der Muskulatur. Dies ist v. a. ein oder teilweise Unterbrechung der kortikalen Efferenzen
Symptom von Hemisphärenläsionen, während isolierte etwa auf Höhe des Thalamus in der Capsula interna durch
Läsionen des Vermis (Lobus anterior) eher zu Hyper- eine Blutung oder Thrombose an einer Schwachstelle der
tonus führen. Hirngefäße (Abgang der A. lenticulostriata von der A. cere-
4 Nystagmus (Abschn. 17.4.2) und Sprachstörungen bri media). Das klinische Bild wird Schlaganfall, synonym
sind weitere, bei zerebellären Läsionen beobachtete auch Hirnschlag oder Apoplex genannt.
Symptome. Der französische Neurologe Charcot hatte Ein Schlaganfall führt nach einem anfänglichen
im 19. Jahrhundert als zerebelläre Symptomentrias Schockstadium mit schlaffer Lähmung der kontralateralen
Nystagmus, Intentionstremor und skandierende Sprache Körperhälfte (schlaffe Hemiplegie) zu einer Lähmung mit
angegeben. Auch Schwindel kann bei Kleinhirnerkran- deutlichem Hypertonus der Muskulatur, der sich insbeson-
kungen auftreten. dere als zunehmender Widerstand gegen passive Bewegun-
4 Defizite im Zeittakt von Bewegungsplanungen und gen äußert (spastische Hemiplegie). Es überwiegt die Spas-
Lernen. Die Patienten lernen z. B. nicht, auf ein Warn- tizität derjenigen Muskeln, die gegen die Schwerkraft ar-
signal hin das Augenlid vor einem Luftstoß zu schlie- beiten, also der Extensoren der Beine und der Flexoren
ßen, wissen aber, dass der Luftstoß kommt (Box 13.6). der Arme (beim Vierbeiner wären es die Extensoren aller
Extremitäten). Eine gewisse Rückkehr der Zielmotorik ist
nach einiger Zeit zu beobachten, es bleibt aber meist bei
292 Kapitel 13 · Bewegung und Handlung

groben Massenbewegungen der Flexoren und Extensoren Agonisten und Antagonisten (Strecker und Beuger) rückge-
(Flexor- bzw. Extensorsynergie, zur Therapie Box 13.8). meldet, und der Patient lernt selektiv beide Gruppen gegen-
Pathophysiologisch ist die spastische Hemiplegie als sätzlich zu innervieren. Durch Biofeedback kommt es offen-
Folge der Unterbrechung kortikaler motorischer Efferen- sichtlich zu einer teilweisen Neuinnervation der verbliebe-
zen aufzufassen, und zwar immer sowohl der Pyramiden- nen Nervenbahnen. Operante Therapiemethoden und EMG-
bahn (Tractus corticospinalis), als auch der zum Hirn- Biofeedback werden auch zur Rehabilitation von Parkinson
stamm ziehenden extrapyramidalen Bahnen. (7 oben), Torticollis und motorischen Tics eingesetzt.
Die kontralaterale Lähmung ist ursprünglich weitgehend Wie in Abschn. 13.4.3 beschrieben, kann nach einseitigen
dem Ausfall der Pyramidenbahn zugeschrieben worden. Iso- Läsionen der Hinterwurzeln des Rückenmarks eine Parese
lierte Unterbrechungen dieser Bahn bei Primaten haben aber auftreten, obwohl die Motorik zumindest teilweise intakt ist.
gezeigt, dass dabei nach der Erholungsphase nur eine Ein- Diese »gelernte Vernachlässigung« eines Gliedes, meistens
schränkung der Fingerfertigkeit übrig bleibt, keinesfalls das von Hand und Arm, kann durch Verhinderung der Bewe-
Bild einer Hemiplegie (Halbseitenlähmung). Um dieses in gung des gesunden Arms (z. B. durch Armschlinge) wieder
etwa zu erzeugen, ist ein weitgehendes Abtragen der motori- aufgehoben werden. Die Person muss den vernachlässigten
schen Kortexareale erforderlich. Die Hemiplegie nach Schlag- Arm benutzen und wird für Bewegungserfolg – auch ohne
anfall ist also auf den gemeinsamen Ausfall der pyramidalen Propriozeption der Bewegung – verstärkt (Box 13.8, s. auch
und extrapyramidalen Efferenzen der Motorkortexareale . Abb. 13.10).
oder aber auf Deafferenzierung zurückzuführen (7 auch Fall-
G Bei peripheren Lähmungen und spastischen Störun-
geschichte des Schlaganfallpatienten in . Abb. 13.10).
gen können operante Trainingsverfahren, insbeson-
G Manche Schlaganfälle unterbrechen den efferenten dere Biofeedback-Anwendungen, erhebliche Thera-
Ausstrom aus dem Motorkortex. Es kommt dadurch pieerfolge erzielen.
zu einer kontralateralen Lähmung, die erst schlaff ist
und dann spastisch wird. Biofeedback bei Enkopresis
Die . Abb. 13.30 zeigt eine Biofeedback-Anordnung zur
13.7.2 Rehabilitation im motorischen Wiederherstellung der motorischen Kontrolle über die
System

Biofeedback bei peripherer Lähmung


und spastischen Störungen
Obwohl nach Schädigungen des ZNS die gestörten senso-
rischen, motorischen und kognitiven Funktionen häufig
spontan im Laufe der ersten Wochen und Monate zurück-
kehren (Plastizität, Abschn. 25.4.3), kann die Remission
durch physische und neuropsychologische Rehabilitation
13 beschleunigt oder aber, im Falle des permanenten Aus-
bleibens einer Funktion, teilweise oder vollständig über-
haupt erst ermöglicht werden.
Neben der konventionellen Physiotherapie von Läh-
mungen, z. B. nach Durchtrennung des Rückenmarks oder
nach zentralen Schädigungen des motorischen Systems
(Apoplexien, spastische Lähmungen, Hemiparesen), sind
operante Trainingsverfahren, insbesondere EMG-Biofeed-
back, zur teilweisen oder vollständigen Wiederherstellung
der Funktion nützlich:
Bei spastischen Lähmungen kann beispielsweise durch
allgemeines muskuläres Entspannungstraining die extre-
me Aktivierung der spastischen Muskelgruppen durch . Abb. 13.30. Psychologische Rehabilitation von Enkopresis (Ein-
Rückmeldung der EMG-Aktivität reduziert werden. Der koten) nach Ausfall spinaler, supraspinaler oder peripherer Moto-
Patient kann dabei die EMG-Entladungsrate der betroffe- rik. Es wird die Aktivität des inneren (M. sphincter ani int.) und des
nen Muskeln hören oder auf einem Bildschirm sehen und äußeren (M. sphincter ani externus) Schließmuskels durch Registrier-
ballons, die als Druckaufnehmer dienen, gemessen (rote Kurven, rechts
wird für Reduktion der Muskelspannung (d. h. Abnahme der
im Bild). Ein dritter, rektaler Ballon dient zur Simulation von Stuhldruck
EMG-Impulsfrequenz) belohnt (. Abb. 16.25 in Abschn. (Eintritt von Kot in den Enddarm). In einer Biofeedback-Anordnung
16.6.3). Soll die Beweglichkeit eines ganzen Gliedes rehabi- kann der Patient lernen, Druck auf den M. sphincter ani int. mit einem
litiert werden, so wird gleichzeitig die Muskelaktivität von erhöhten Tonus des äußeren Sphinkters zu beantworten
13.7 · Pathophysiologie und Rehabilitation des motorischen Systems
293 13

Box 13.8. Plastizität im motorischen System: kortikale Reorganisation und verhaltenspsychologisches Training nach
Schlaganfall

Die Abbildung zeigt links einen Horizontalschnitt und schn. 20.4). Die elektroenzephalographisch bestimmten
rechts einen Frontalschnitt durch das Gehirn eines Patien- Quellen der Aktivität bei Handbewegungen bzw. versuch-
ten, der im linken motorischen Kortex einen Schlaganfall ten Handbewegungen werden auf das individuelle Ge-
erlitten hatte, so dass er die rechte Hand nicht mehr hirn der Person, das mit einem strukturellen Kernspinto-
benutzen konnte (auf dem linken Teil der Abbildung ist mogramm aufgenommen wird, überlagert. Man sieht,
oben die Frontalregion und unten die Okzipitalregion). dass die Lokalisation der Hand vor der Behandlung (gel-
Der Patient erhielt eine verhaltenstherapeutische Be- bes Quadrat) gegenüber der Kontrollgruppe (grünes
handlung, bei der die linke gesunde Hand über mehrere Quadrat) in die frontalen Hirnareale verdrängt ist. Nach
Wochen fixiert wurde und der Patient extensiv die Benut- der Behandlung (Post-Therapie) werden weitere frontale
zung der rechten gelähmten Hand üben musste (»phy- Areale rekrutiert (rosa Quadrat), in der Nachuntersuchung
sical restraint therapy« in Abschn. 13.4.3). Nach der ver- nach 3 Monaten (Katamnese) werden auch ipsilaterale
haltenstherapeutischen Behandlung konnte der Patient motorische Areale im gesunden rechten motorischen
wieder beide Hände zielgerichtet benutzen. Die farbigen Kortex (rotes Quadrat) aktiviert und damit der ipsilaterale
Punkte und Kreise zeigen die anatomischen Repräsenta- primäre motorische Kortex in die Ausführung der Bewe-
tionen der rechten bzw. linken Hand im Gehirn des Pa- gung eingeschlossen. Man erkennt auch, dass die Lokali-
tienten und einer gesunden Kontrollgruppe (grüne sation der gesunden Hand (gelber und roter Kreis) durch
Quadrate und Kreise) vor und nach der Behandlung an. die Behandlung nicht verändert wird und sich mit der
Diese Lokalisationen der beiden Hände werden dadurch Lokalisation der linken Hand der Kontrollgruppe (grüner
gewonnen, dass die Personen viele Male ihre Hände Kreis) deckt. Dies entspricht der normalen Lokalisation
bewegen müssen, wobei die hirnelektrischen Potenziale der linken Hand in der rechten Hirnhemisphäre. Durch
vor und während der Bewegungen über zahlreiche EEG- erfolgreiches Training kommt es also zu einer Umorgani-
Elektroden aufgezeichnet werden und das jeweilige Maxi- sation der Repräsentationsareale des Gehirns, die dem
mum der hirnelektrischen Aktivität errechnet wird (Ab- neu erworbenen Verhalten entspricht.

Aus Kopp B, Flor H, Mühlnickel W (1999). Mit freundlicher Genehmigung


von Wolters Kluwer Health.

Ausscheidungsmuskulatur bei Enkopresis (Einkoten) nach schn. 12.3.5 und Box 12.10). Der Patient beobachtet dabei
partiellen Querschnittslähmungen oder anderen Schädi- die motorische Aktivität des internen Sphinkters (glatter
gungen des Rückenmarks (z. B. bei Spina bifida, einem an- Muskel) und des externen Sphinkters (quergestreifter Mus-
geborenen Austritt des Rückenmarks), bei alten Personen kel). Der Rektalballon dient zur Simulation von Stuhldruck:
sowie nach operativen Eingriffen. Dieselbe operante Me- Die Aufgabe der Patienten besteht darin, bei Druck auf den
thode wird bei Enuresis von Frauen angewendet (Ab- internen Sphinkter und Dehnung des Rektums sofort mit
294 Kapitel 13 · Bewegung und Handlung

einer Kontraktion des externen Sphinkters zu antworten. G Bei Inkontinenzen von Harnblase und Mastdarm
Dafür wird er kontingent verstärkt (Abschn. 24.1.3). Bereits kann die Kontinenz mit Hilfe von Biofeedback-Ver-
nach wenigen Übungsdurchgängen kann bei 60–80% der fahren wieder erlernt werden.
Betroffenen, sofern noch eine nervöse Restinnervation vor-
handen ist, die Kontrolle über die Ausscheidung wiederher-
gestellt werden.

Zusammenfassung
Die kontraktile Einheit der Skelettmuskulatur ist das Die elektrische Aktivität der motorischen Einheiten eines
Sarkomerin den Myofibrillen der Muskelfasern. Nach Muskels kann mit dem Elektromyogramm, EMG, erfasst
der Gleitfilamenttheorie der Sarkomerkontraktion werden.
5 gleiten die dünnen Aktinfilamente bei der Kontrak- 5 Es handelt sich um eine extrazelluläre Ableitung mit
tion unter Energieverbrauch zwischen die dicken Elektroden, die in den Muskel eingestochen oder
Myosinfilament, wobei das ATP der alleinige Energie- außen auf die Haut über dem Muskel aufgelegt werden.
lieferant ist; 5 Das EMG ist ein wichtiges diagnostisches Hilfsmittel
5 gleiten die dicken und dünnen Filamente passiv bei Muskelerkrankungen, es wird aber auch in der
wieder auseinander; Psychophysiologie (Messung psychologisch beding-
5 verändert sich bei Dehnung des Muskels oder bei iso- ter Muskelanspannungen) und in der Verhaltens-
metrischer Kontraktion weder die Länge des Aktins medizin (EMG-Biofeedback) eingesetzt.
noch des Myosins, vielmehr dehnt sich das Titin, mit
dem das Myosin an die Z-Scheiben angeheftet ist. Als Reflexe werden stereotype, d. h. automatische, wieder-
holbare und zweckgerichtete Antworten des Organismus
Die Skelettmuskeln werden von Motoneuronen inner- auf Störreize, bezeichnet. Sie können auch als ein Vorrat
viert. Deren Aktionspotenziale werden an der Endplatte an elementaren Haltungs- und Bewegungsprogram-
auf den Muskel übertragen und die elektromechanische men bezeichnet werden, derer sich der Organismus be-
Kopplung sorgt für die Kontraktion. dienen kann.
5 Die Terminalen der Motoaxone, d. h. die Endplatten, 5 Der einfachste Reflex ist der monosynaptische Deh-
setzen bei Erregung präsynaptisch Azetylcholin, ACh, nungsreflex, der durch Dehnung der Muskelspindeln
frei, das in der Regel postsynaptisch ein überschwelli- ausgelöst wird, was durch äußere Dehnung wie durch
ges Endplattenpotenzial auslöst, worauf sich ein Ak- Kontraktion der intrafusalen Muskelfasern möglich ist.
tionspotenzial auf der Muskelfaser ausbreitet. 5 Alle anderen Reflexe haben 2 oder mehr zentrale Syn-
5 Über die transversalen und longitudinalen Tubuli apsen auf dem Weg vom Sinnesrezeptor zum Moto-
breitet sich dieses Aktionspotenzial in die Muskelfaser neuron, sie sind also di- oder polysynaptisch.
13 aus und setzt dabei aus den Terminalzisternen Kalzi- 5 Je mehr Synapsen auf einem Reflexbogen liegen,
umionen frei. Diese dienen als sekundäre Botenstoffe umso größer ist die Möglichkeit, seinen Ablauf über
für die Umwandlung des elektrischen Signals in die andere Zuflüsse zu verstärken oder abzuschwächen.
Sarkomerkontraktion. 5 Ganzkörperreflexe, wie z. B. der mit dem EMG erfass-
bare Schreckreflex, sind wichtige methodische Hilfs-
Muskeln können sich entweder verkürzen (isotonische mittel in der Psychophysiologie.
Kontraktion) oder ihre Spannung erhöhen (isometrische
Kontraktion. Sie haben dabei 2 Möglichkeiten der Abstu- Die Stützmotorik zur Aufrechterhaltung des Gleich-
fung der Muskelkraft: gewichts und der normalen Körperstellung ist weit-
5 Einzelzuckung bringt nur wenig Verkürzung oder gehend eine Leistung der motorischen Zentren des
Spannungsgewinn. Die Muskeln müssen daher mehr- Hirnstamms.
fach kurz hintereinander (tetanisch) aktiviert werden, 5 Diese können auch Laufbewegungen generieren und
um sich verstärkt zu kontrahieren. sie tragen zur Abstimmung der Stütz- mit der Ziel-
5 Jedes Motoneuron innerviert nur eine begrenzte Zahl motorik bei.
von Muskelfasern in einem Muskel. Jeder Muskel hat 5 Das bipedale Stehen und Gehen des Menschen er-
also zahlreiche bis sehr viele motorische Einheiten. Die fordert eine besonders feine Abstimmung von Stand,
Muskelkraft kann daher auch durch Ändern der Anzahl Haltung und Bewegung mit Hilfe von posturalen und
der aktivierten motorischen Einheiten variiert werden. antizipatorischen posturalen Synergien.
6
Literatur
295 13

6
5 Die Bewegungsprogramme für das rhythmische Die motorischen Kortexareale (primär-motorischer,
Schreiten, Laufen und Rennen sind bereits auf spina- supplementär-motorischer und prämotorischer Kortex)
ler Ebene angelegt und durch absteigende Einflüsse liegen, funktionell gesehen, an der Schnittstelle zwischen
anzustoßen und modifizierbar. Bewegungsplanung und -ausführung.
5 Die Beteiligung des supplementär-motorischen
Die Basalganglien teilen sich die zielmotorischen Auf- Kortex an der Bewegungsplanung lässt sich an den
gaben mit dem Kleinhirn und dem Motorkortex. Bereitschafts- und Erwartungspotenzialen ablesen,
5 Sie setzen dabei den Bewegungsplan aus dem asso- ebenso daran, dass bei beidseitigen Läsionen keine
ziativen Kortex in ein Bewegungsprogramm, also in ein Willkürbewegungen mehr möglich sind.
zeitlich und räumlich organisiertes Impulsmuster um. 5 Der primär-motorische Kortex, der v. a. für die Fein-
5 Sie beteiligen sich an der Kontrolle der gerade ab- kontrolle von Bewegungen zuständig ist, nimmt
laufenden Bewegungen, dabei regeln sie über Rück- seinen Hauptausgang über die Pyramidenbahn, die
kopplungsschleifen durch den Thalamus die Erre- ohne Unterbrechung, aber unter Abgabe zahlreicher
gungsschwellen lokaler kortikaler Zellensembles. Kollateralen, bis zu den Motoneuronen in Hirnstamm
5 Läsionen in den Basalganglien führen zu Bewegungs- und Rückenmark führt.
störungen, von denen das hypokinetische Parkinson- 5 Unterbrechung der Pyramidenbahn, z. B. bei einem
Syndrom mit den Hauptsymptomen Akinese, Rigor Schlaganfall (Apoplex, Hirnschlag), führt kontralateral
und Ruhetremor am häufigsten ist. Die hyperkine- zu einer zunächst schlaffen und später spastischen
tische Chorea Huntington wird autosomal-dominant Lähmung (Hemiplegie).
vererbt, beginnt aber meist erst im mittleren Lebens-
alter. Die menschliche Hand dient mit ihrer dichten sensori-
schen und motorischen Innervation als Greif- und Tast-
Das Kleinhirn ist sowohl an der Stütz- wie der Zielmoto- organ zugleich.
rik beteiligt. 5 Grundformen des Greifakts sind der Kraftgriff und der
5 Das Vestibulozerebellum beteiligt sich v. a. an der Präzisionsgriff, wobei in beiden Fällen die Einstellung
Okulomotorik, aber auch an der Stützmotorik und der Greifkraft teils proaktiv, teils reflektorisch erfolgt.
dem aufrechten Gang, dem Spinozerebellum obliegt 5 Die Handgeschicklichkeit ist eng an das kortikomoto-
die Koordination von Haltung und Bewegung und neuronale System gebunden, in dessen Neuronen
das Pontozerebellum ist v. a. für die Durchführung das Bewegungsprogramm entworfen und über die
der ballistischen Zielmotorik verantwortlich. Pyramidenbahn z. T. monosynaptisch an die Arm-
5 Erkrankungen des Kleinhirns führen zu motorischen und Handneurone übermittelt wird.
Störungen, bei denen je nach Ort und Ausmaß der
Läsionen als Hauptsymptome Asynergie (mit Dys- Nach Läsionen im motorischen System können neben
metrie, Ataxie und Adiadochokinese), Intentions- konventionell physiotherapeutischen Verfahren auch
tremor und Hypotonus beobachtet werden. neuropsychologische Verfahren (z. B. Biofeedback) zur
5 Motorisches Langzeitlernen und die Adaptation der muskulären Entspannung oder zum Wiedererlernen von
Motorik an wechselnde Bedingungen erfordern die Harnblasen- und Mastdarminkontinenz mit Erfolg einge-
Mitwirkung des Kleinhirns. setzt werden.

Literatur Porter R, Lemon R (1993) Corticospinal function and voluntary move-


ment. Monogr. of the Phys Soc No. 45. Clarendon Press, Oxford
Rosenbaum DA (1991) Human motor control. Academic Press, San
Humphrey DR, Freund JH (eds) (1991) Motor control: concepts and Diego
issues. In: Dahlem Workshop Reports Berlin (1989).Wiley-Inter- Rüegg JC (1992) Calcium in muscle contraction, Springer, Berlin Heidel-
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striated muscle. Physiol Rev 80:853–924 Press, San Diego
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Oxford
Jeannerod M (1994) Reichen und Greifen – die parallele Spezifikation
visuomotorischer Kanäle. In: Psychomotorik (Kognition) Enzyklo-
pädie der Psychologie, Bd. 3. Hogrefe, Göttingen
III Wahrnehmung
14 Allgemeine Sinnesphysiologie
und Grundlagen der Wahrnehmungs-
psychologie – 297

15 Somatosensorik – 321

16 Nozizeption und Schmerz – 341

17 Das visuelle System – 375

18 Hören und Gleichgewicht – 415

19 Geschmack und Geruch – 439

»Ein Mensch unterscheidet sich vom Tier dadurch,


daß ihn bestimmte Empfindungen verwunden und im
Innersten treffen.«

Georges Bataille
14

14 Allgemeine Sinnesphysiologie
und Grundlagen
der Wahrnehmungspsychologie

14.1 Grundbegriffe in der Sinnesphysiologie – 298


14.1.1 Objektive Sinnesphysiologie und Wahrnehmungspsychologie – 298
14.1.2 Abbildungsprozesse der Wahrnehmung – 298
14.1.3 Grunddimensionen der Empfindungen – 300

14.2 Transduktion und Transformation in Sensoren – 302


14.2.1 Spezifische und unspezifische Reizung eines Sinnesorgans – 302
14.2.2 Der Transduktionsprozess – 302
14.2.3 Der Transformationsprozess – 303

14.3 Neuronale Verschaltungen in sensorischen Systemen – 305


14.3.1 Erregungsausbreitung in sensorischen neuronalen Netzwerken – 305
14.3.2 Rezeptive Felder in sensorischen neuronalen Netzwerken – 305
14.3.3 Übertragungsfunktionen und Schwellen sensorischer Neurone – 308

14.4 Zentrale Weiterleitung und Verarbeitung


somatoviszeraler Information – 308
14.4.1 Aufnahme und Weiterleitung sensorischer Information
aus Körper- und Kopfnerven – 308
14.4.2 Subkortikale Schaltstellen und kortikale Areale
der sensorischen Systeme – 311
14.4.3 Zentrifugale Hemmsysteme in der Somatosensorik – 312

14.5 Allgemeine Wahrnehmungspsychologie – 314


14.5.1 Sensorische Schwellenmessungen – 314
14.5.2 Überschwellige psychophysische Beziehungen – 316
14.5.3 Korrelationen zwischen physiologischen
und Wahrnehmungsprozessen – 317

Zusammenfassung – 319
Literatur – 320

N. Birbaumer, Biologische Psychologie, DOI 10.1007/978-3-540-95938-0_14,


© Springer Medizin Verlag Heidelberg 2010
298 Kapitel 14 · Allgemeine Sinnesphysiologie und Grundlagen der Wahrnehmungspsychologie

)) Erforschung anderer Körperorgane angewendet werden. In


solchen Untersuchungen wird festgestellt, welche der Um-
Unsere Sinnesorgane übermitteln uns nur einen winzigen welteinflüsse ein Sinnesorgan als Reiz beeinflussen können,
Ausschnitt aller in unserer Umwelt ablaufenden Vorgänge. welche Veränderungen ein Reiz in den speziellen Rezep-
So haben wir, um das Beispiel der elektromagnetischen torzellen (Sensoren) der Sinnesorgane auslöst, wie diese
Wellen zu benützen, nicht nur keine Sinneserfahrung über Veränderungen in ein neuronales Impulsmuster umgesetzt
das ganze Spektrum der Radiowellen, sondern auch keine werden und wie schließlich die Verarbeitung dieser Impuls-
über radioaktive Strahlen, Röntgenstrahlen und ultra- muster in den sensorischen Anteilen des Gehirns vor sich
violettes Licht. Nur Licht mit den Wellenlängen zwischen geht. Wir fassen diese Betrachtungsweise der Sinnesorgane
350 und 800 nm sehen wir. Dagegen sehen wir infrarotes und ihrer Leistungen als objektive Sinnesphysiologie zu-
Licht nicht, empfinden jedoch diese langwelligen Wärme- sammen.
strahlen über den Wärmesinn der Haut.
Wie kommt es zu dieser zunächst willkürlich erschei- Eingrenzung der Wahrnehmunspsychologie
nenden Auswahl? Der Vergleich mit Tieren zeigt, dass es Die Aktivität der Sinnesorgane löst Empfindungen und
sich auch hier, wie bei den meisten Lebensphänomenen, Wahrnehmungen aus. Diese erfahren wir selbst oder sie
um eine entwicklungsgeschichtliche Anpassung an unse- werden uns von anderen Menschen mitgeteilt. Bei Tieren
ren Lebensraum handelt. Wir haben nur für solche Umwelt- können wir aus dem Verhalten auf das Vorhandensein von
einflüsse Sinnesorgane entwickelt, die für unser Überleben Wahrnehmungen schließen. Die wissenschaftliche Analyse
besonders nützlich sind. Einige Tierarten haben sich an menschlicher oder tierischer Wahrnehmung bezeichnen
sehr verschiedene Lebensräume durch eine andere Be- wir als Wahrnehmungspsychologie, früher häufig auch
grenzung der Leistungsfähigkeit ihrer Sinnesorgane an- subjektive Sinnesphysiologie genannt.
gepasst. So besitzen beispielsweise Fische, die in trübem Die Wahrnehmungspsychologie befasst sich auch mit
Wasser leben, ein sehr empfindliches Sinnesorgan für affektiven Prozessen der Sinneswahrnehmung, wie sie
elektrische Feldstärkeänderungen. Sie registrieren damit sich beispielsweise in den Begriffspaaren angenehm/un-
Änderungen eines von ihnen selbst durch Stromstöße angenehm, behaglich/unbehaglich, schön/hässlich aus-
aufgebauten elektrischen Feldes und benutzen dies als drücken. Besonders ausgeprägt ist das für Gerüche, die wir
Ortungsmittel, ähnlich einer Radarortung oder dem von oft nur ungenau als »anregend« oder »ekelhaft« bezeichnen
Fledermäusen entwickelten Echolot, mit dem diese in völ- können. Auch die affektive Tönung von Empfindungen,
liger Dunkelheit absolut sicher in engsten Höhlen fliegen also z. B. der Grad des Unbehagens bei zu kalter oder zu
und auf Beutefang gehen können. warmer Hauttemperatur, lässt sich ebenso messen wie Reiz-
stärkeempfindungen (indem beispielsweise der Grad des
Unbehagens mit der Lautstärke eines Tones ausgedrückt
14.1 Grundbegriffe in der wird). Die Ergebnisse sind auch hier von Mensch zu Mensch
Sinnesphysiologie außerordentlich konstant. Mit anderen Worten: Wahrneh-
mungen sind sich bei aller Subjektivität unserer persön-
14.1.1 Objektive Sinnesphysiologie lichen Erfahrung von Mensch zu Mensch viel ähnlicher, als
und Wahrnehmungspsychologie wir es im Allgemeinen einzuräumen geneigt sind, eben weil
der für die Aufnahme und Verarbeitung von Sinnesreizen
14 Eingrenzung der objektiven Sinnesphysiologie notwendige neuronale Apparat bei allen Individuen nach
Nach dem eben Gesagten erfahren wir unsere Umwelt und denselben Spielregeln arbeitet.
die Vorgänge in unserem Organismus über Sinnesorgane,
G Die Analyse der durch Sinnesreize ausgelösten physi-
die darauf spezialisiert sind, auf einen gewissen Bereich von
ologischen Prozesse wird objektive Sinnesphysiologie
Umwelteinflüssen zu reagieren und entsprechende Infor-
genannt. Die Wahrnehmungspsychologie beschäftigt
mationen an das Zentralnervensystem weiterzugeben. Die
sich mit den Gesetzmäßigkeiten, die zwischen Sinnes-
wichtigsten Sinnesorgane sind das Auge, das Ohr, das Ge-
reizen und den durch sie ausgelösten Empfindungen
schmacksorgan der Zunge, das Riechorgan der Nase, das
und Verhaltensweisen bestehen.
Tast- und das Temperaturorgan der Haut und das nozizep-
tive System (das »Schmerzorgan«). Organisation und Funk-
tion dieser Sinnesorgane, ihre Verknüpfung mit den Ge- 14.1.2 Abbildungsprozesse
hirnzentren und die über die Sinnesorgane ausgelösten der Wahrnehmung
Reaktionen sind einander sehr ähnlich. Diesen allgemei-
nen, für alle Sinneswahrnehmungen gültigen Gesetzmäßig- Photographische und sinnesphysiologische
keiten wenden wir jetzt unsere Aufmerksamkeit zu. Abbildung
Die Leistungen der Sinnesorgane werden mit den glei- Wenn wir einen Gegenstand analog oder digital photo-
chen Methoden beobachtet und analysiert, die auch bei der graphieren, dann liegen zahlreiche Schritte zwischen dem
14.1 · Grundbegriffe in der Sinnesphysiologie
299 14

. Abb. 14.1. Abbildungsverhältnisse in der Sinnesphysiologie. reiche der objektiven Sinnesphysiologie und der Wahrnehmungs-
In den Kästchen Grundphänomene der Sinnesphysiologie, die roten psychologie bzw. subjektiven Sinnesphysiologie sind durch gelbe
Pfeile dazwischen deuten die jeweilige »Abbildung« (Repräsentation) bzw. blaue Unterlegung zusammengefasst. Ein gestrichelter Pfeil mar-
an. Darunter sind die Abbildungsbedingungen angegeben. Die Be- kiert den Übergang von physiologischen zu psychischen Prozessen

Beginn der Aufnahme und dem fertigen Bild. Jeder dieser 4 Als Sinneseindruck werden die einfachsten Einheiten,
Schritte, wie z. B. die Projektion des Bildes in die Filmebene also die Elemente der Sinneserfahrung bezeichnet. Ein
der analogen Kamera oder die fotochemischen Verände- solcher Eindruck wäre beispielsweise der Geschmack
rungen in der lichtsensiblen Filmschicht, lassen sich exakt süß.
beschreiben. Keine der Zwischenstufen und auch nicht das 4 Wir nehmen aber solche Sinneseindrücke kaum je iso-
fertige Bild sind der Gegenstand selbst; alle sind nur Ab- liert auf und nennen eine Summe von ihnen eine
bildungen (Repräsentationen) des vorhergehenden Pro- Sinnesempfindung. Die Aussage »Ich schmecke etwas
zesses, mit dem sie aber durch die Gesetzmäßigkeiten Bittersüßes und verspüre ein Prickeln auf der Zunge«
des Abbildungsvorganges in einem so eindeutigen Zusam- beschreibt eine solche Sinnesempfindung.
menhang stehen, dass wir schließlich aus der fertigen Farb- 4 Zur reinen Sinnesempfindung kommt aber in der Regel
vergrößerung genaue Informationen über den photogra- eine Deutung, ein Bezug auf Erfahrenes und Gelerntes.
phierten Gegenstand gewinnen können. Dies wird Wahrnehmung genannt. Der eben geschil-
Entsprechend diesem Beispiel werden auch in unseren derten Empfindung entspricht so die Wahrnehmung:
Sinnesorganen und den nachfolgenden Stationen des »Ich trinke einen Gin-Tonic«.
Nervensystems die als Reiz wirkenden Umweltphänomene
G Ähnlich wie in der digitalen Photographie, werden
»abgebildet«. Dies ist in . Abb. 14.1 illustriert. In den recht-
die Sinnesreize in den Sinnesorganen und im Ner-
eckigen Kästchen stehen die Grundphänomene der Sinnes-
vensystem in aufeinander folgenden Prozessen
physiologie. Sie sind durch die geschwungenen Pfeile ver-
mehrfach abgebildet. Das Resultat wird uns über
knüpft. Diese Pfeile bedeuten Entsprechung (oder Abbil-
Sinneseindrücke und Empfindungen als erfahrungs-
dung), nicht Kausalität. So ist die Nervenerregung
geprägte Wahrnehmung bewusst.
Abbildung eines Sinnesreizes und die Wahrnehmung Ab-
bildung von neuronalen Impulsmustern im Kortex.
Unter den Pfeilen sind die Bedingungen vermerkt, Hirn-Bewusstseins-Problem in der Sinnes-
unter denen der jeweilige Abbildungsvorgang stattfindet. physiologie, Rolle der Psychophysik
So sind Phänomene der Umwelt nur dann Sinnesreize, Der »nahtlose« Übergang zwischen objektiver Sinnesphy-
wenn sie in Wechselwirkung mit einem geeigneten Sinnes- siologie und Wahrnehmungspsychologie in . Abb. 14.1 darf
organ treten. Ebenso werden aus den im Zentralnervensys- nicht darüber hinwegtäuschen, dass es keineswegs als allge-
tem verarbeiteten Erregungsmustern der Sinnesorgane nur mein akzeptiert anzusehen ist, dass die psychischen Phäno-
dann bewusste Sinneseindrücke, wenn das Zentralnerven- mene der Empfindungen und Wahrnehmungen überhaupt
system Bewusstsein herzustellen vermag (Kap. 21). etwas gemeinsam haben mit den materiellen Phänomenen
der objektiven Sinnesphysiologie, wie den Erregungsmus-
Eindruck, Empfindung, Wahrnehmung tern der Sensoren und Neurone. Diese Frage ist natürlich nur
. Abb. 14.1 gibt auch an, welche der Abbildungsprozesse ein Teilaspekt der generellen Frage nach Wesensgleichheit
der objektiven Sinnesphysiologie und welche der Wahr- oder -verschiedenheit von Materie und Geist oder »Hirn
nehmungspsychologie zugeordnet werden müssen. Bei der und Seele« (Abschn. 1.3.1). Sie tritt hier aber in einer be-
letzteren ist zu ergänzen, dass noch folgende Unterschei- sonders anziehenden Variante auf, denn sie gibt den Anreiz,
dungen getroffen werden: Experimente durchzuführen, die uns vielleicht der Lösung
300 Kapitel 14 · Allgemeine Sinnesphysiologie und Grundlagen der Wahrnehmungspsychologie

Box 14.1. Gibt es außersinnliche Wahrnehmungen?

Die Parapsychologie beschäftigt sich mit dem empirischen Bedingungen auf und sie sind nicht unabhängig und
Nachweis von Phänomenen wie Gedankenlesen (Tele- systematisch reproduzierbar. »EPS-Begabte« entziehen
pathie) und Hellsehen (Präkognition). Diese Phänomene sich gern experimentellen Kontrollen mit dem Hinweis,
werden unter dem Begriff EPS (»extra sensory perception«, dass dies ihre »übersinnlichen« Kräfte mindere. Häufig
außersinnliche Wahrnehmung) zusammengefasst. Ihr werden auch Fehler in der Statistik gemacht. Wenn z. B.
zweifelsfreier Nachweis wäre ein starkes Argument für die 3-mal hintereinander die »6« gewürfelt wird, hat es wenig
Existenz einer Psyche, die außersinnliche, also nicht von Sinn, nachträglich auszurechnen, dass dieses Ereignis
körperlichen Vorgängen abhängige Informationen auf- nur eine Wahrscheinlichkeit von 1/6×1/6×1/6, also we-
nehmen kann (Abschn. 1.3.1). Die bisher dazu vorgelegten niger als 0,3% hat. Ein Beweis für außerordentliche Fähig-
Untersuchungen haben allerdings noch nicht zu einem keiten des Würfelspielers wäre dieses Ergebnis nur, wenn
überzeugenden Beleg der Existenz von EPS-Phänomenen der Würfler reproduzierbar voraussagen könnte, dass er
geführt. Anhänger der Parapsychologie bringen dazu gerne die »6er«-Serie erzielen wird. Sollte er dazu in der Lage
vor, dass sie als Außenseiter von der »Schulwissenschaft« sein, müsste man zunächst nach einem Trick suchen.
nicht genügend ernst genommen würden. Es ist aber wahr- Denn die Parapsychologie ist bisher im Wesentlichen
scheinlicher, dass die bisher vorgelegten »Nachweise« für eine faszinierende Geschichte raffinierter Täuschungen
EPS wissenschaftlichen Kriterien nicht standhalten. (z. B. von professionellen Zaubertrick-Künstlern), denen
Sollte es nämlich EPS-Phänomen geben, so treten auch kritisch eingestellte Wissenschaftler schon häufig
diese offenbar nur selten, unter schlecht kontrollierten zum Opfer gefallen sind.

dieses faszinierenden Rätsels näher führen können. Zwar Das Studium der quantitativen Beziehungen zwischen
lassen sich keine Experimente angeben, die Kausalzu- Reizgröße und subjektiver Empfindungsgröße wird tradi-
sammenhänge zwischen den Inhalten der physischen und tionell als Psychophysik bezeichnet (Abgrenzung der Psy-
der psychischen Vorgänge nachzuweisen gestatten, aber es chophysiologie Abschn. 1.1.3). Dieses Gebiet gehört also
können doch feste, d. h. voraussagbare und mathematisch gleichermaßen der Sinnesphysiologie wie der Wahrneh-
beschreib bare Korrelationen (Beziehungen, Abbildungen) mungspsychologie an.
zwischen den Phänomenen der beiden Bereiche postuliert
G Die Beziehungen zwischen Sinnesreizen, den
und anschließend experimentell überprüft werden.
dadurch ausgelösten Aktivitäten im Nervensystem
Betrachten wir dazu ein Beispiel: Mit einer durch die
einerseits und den bewussten Vorgängen und Ver-
intakte Haut in einen Nerven eingestochenen Mikroelek-
haltensweisen andererseits lassen sich mit den Me-
trode kann die Impulsaktivität einer einzelnen Nervenfaser,
thoden der Psychophysik studieren.
z. B. eines Drucksensors der Haut, abgeleitet werden (trans-
kutane Mikroneurographie, Abschn. 15.1.5). Diese Me-
thode erlaubt es also, die von dem Sensor nach zentral ge- 14.1.3 Grunddimensionen
sandten Impulse (Aktionspotenziale) aufzuzeichnen und der Empfindungen
»mitzuhören«.
14 Wird nun die Hypothese aufgestellt, dass die Frequenz Modalität und Qualität
dieser Impulse in einem festen, mathematisch beschreibba- Wie bereits angesprochen, erfahren wir unseren Körper
ren Zusammenhang steht mit der Stärke eines Druckreizes und unsere Umwelt nicht vollständig, sondern ausschnitt-
einerseits und mit der Stärke der subjektiven Druckempfin- haft über spezialisierte Sinnesorgane oder Sinne. Jedes
dung andererseits, so lässt sich dies am wachen Menschen dieser Sinnesorgane, also beispielsweise die Augen oder die
unmittelbar überprüfen: Auf der einen Seite erhält man Re- Ohren, vermitteln jeweils gleichartige Sinneseindrücke, im
gistrierungen von Impulsentladungen, die eine feste Abhän- Beispiel also Licht bzw. Schall. Diese werden als Modalität
gigkeit vom Reiz aufweisen, auf der anderen Seite ein Proto- oder Sinnesmodalität zusammengefasst.
koll der Empfindungen der Versuchspersonen, die ebenfalls Innerhalb einer Sinnesmodalität lassen sich oft weitere
in einem eindeutigen Zusammenhang mit dem Reiz stehen. Unterscheidungen des Sinneseindrucks voneinander ab-
Damit lassen sich aus der Kenntnis der Impulsentladungen grenzen, die als Qualitäten bezeichnet werden. So unterteilt
eindeutige Voraussagen sowohl über den auslösenden Reiz man den Gesichtssinn in die Qualitäten Helligkeit (oder
als auch über die dabei auftretenden Empfindungen machen, Grauwert) und Farben und die Qualitäten des Gehörsinns
ganz unabhängig davon, ob die Impulse in einem ursäch- sind z. B. die Töne verschiedener Höhe.
lichen Zusammenhang mit der Empfindung stehen oder ob Im Allgemeinen entsprechen den Modalitäten die ver-
die psychologischen Vorgänge nur Begleitphänomene der schiedenen Sinnesorgane, während die Qualitäten über
physiologischen sind (Epiphänomenalismus). die verschiedenen Sensortypen (Rezeptortypen) innerhalb
14.1 · Grundbegriffe in der Sinnesphysiologie
301 14

. Abb. 14.2. Substrate von Modalität, Qualität und Quantität. Rezeptoren zur Verfügung. Amplitude und Zeitverlauf des Sensorpo-
Als Beispiel für Modalität ist der Gesichtssinn eingezeichnet. Zur Über- tenzials und die resultierende Frequenz der Aktionspotenziale hängen
tragung seiner Qualitäten (Helligkeit, Farben) stehen verschiedene von der Quantität (Intensität) des jeweiligen Reizes ab

eines Sinnesorgans vermittelt werden. In . Abb. 14.2 sind spezifischen Modalitäten kommen solche hinzu, deren
diese Verhältnisse für den Gesichtssinn deutlich gemacht. Sinnesorgane im Körper liegen und dessen Zustand fest-
stellen. Bei diesen Modalitäten wird uns die Information
Räumlichkeit und Zeitlichkeit meist nicht direkt, sondern mehr in Form eines Allgemein-
Diese beiden Dimensionen ordnen die Empfindung in die gefühls bewusst (z. B. Atemnot bei zu langem Atemanhal-
Raum- und Zeitstruktur unseres Körpers und unserer Um- ten). Es ist jedenfalls klar, dass die Anzahl der Modalitäten
welt ein. Wir können einen Hitzereiz auf der Haut genau über die fünf Sinne hinausgeht.
lokalisieren und seinen Beginn und seine Dauer zeitlich Bei einem Versuch, die Sinnesorgane unseres Körpers
genau angeben. Gleiches gilt für einen Lichtstrahl oder zu klassifizieren, lassen sich anhand der jeweils verwende-
einen Ton aus der Umwelt. Die Räumlichkeit und Zeitlich- ten Sensoren (synonym: Sinnesfühler, Sinnesrezeptoren)
keit dieser Reize sind im Übrigen Dimensionen eines jeden drei große Gruppen abgrenzen:
materiellen Phänomens und gelten so auch für die objektive 4 Sensoren, die Reize aus der Umwelt aufnehmen, also
Sinnesphysiologie. z. B. die Sensoren von Auge und Ohr, werden als Exte-
rozeptoren bezeichnet.
Intensität (Quantität) 4 Sensoren, die Lage und Bewegung unseres Körpers
Die letzte Grunddimension einer Sinnesempfindung ist registrieren, wie die Muskelspindeln und Sehnenorgane
ihre Intensität oder Quantität. Eine Quantität ist für den (Abschn. 13.4.3), nennen wir Propriozeptoren. Zu
Gesichtssinn z. B. die Stärke der Helligkeitsempfindung dieser Gruppe gehören auch die Sensoren des Gleich-
oder für das Gehör die Lautheit eines Tones. Das organische gewichtsorgans.
Korrelat der Quantität eines Sinneseindruckes ist die Amp- 4 Informationen über mechanische und chemische Er-
litude des Sensorpotenzials (Rezeptorpotenzials) bzw. die eignisse aus den Eingeweiden werden über Enterozep-
Frequenz der Aktionspotenziale im sensorischen Nerven toren vermittelt. Dazu gehören z. B. die Barorezeptoren
(Abschn. 14.2.2 bzw. 14.2.3). Ein Beispiel einer solchen und Chemorezeptoren aus dem Karotissinus, die den
Korrelation zeigt . Abb. 14.2 für den Gesichtssinn. Blutdruck bzw. die Kohlensäure- und Sauerstoffspan-
nung registrieren und an der Regelung von Kreislauf
G Sinnesorgane vermitteln Sinnesmodalitäten. Jede
und Atmung teilnehmen (Abschn. 10.6.3 bzw. 11.1.3).
Empfindung hat 4 Grunddimensionen, nämlich die
Qualitätsdimension, ferner die Dimensionen der G Der Mensch verfügt über zahlreiche Sinnesmodali-
Räumlichkeit und der Zeitlichkeit und schließlich die täten (Sinne), die teils spezifische Empfindungen,
Intensitätsdimension. teils Allgemeingefühle vermitteln. Die Sensoren
der Sinnesorgane sind teils Exterozeptoren, teils
Sinnesmodalitäten und ihre Sensoren Propriozeptoren und teils Enterozeptoren.

Neben den klassischen »fünf Sinnen« (Sehen, Hören, Tast-


sinn, Geschmack und Riechen) kennen wir eine ganze Rei-
he weiterer Sinnesmodalitäten, z. B. den Schmerzsinn, den
Temperatursinn und den Gleichgewichtssinn. Zu diesen
302 Kapitel 14 · Allgemeine Sinnesphysiologie und Grundlagen der Wahrnehmungspsychologie

14.2 Transduktion und


Transformation in Sensoren

14.2.1 Spezifische und unspezifische


Reizung eines Sinnesorgans

Adäquate Reize
Die Sensoren (Sinnesrezeptoren) in den Sinnesorganen
sind darauf spezialisiert, auf bestimmte, für sie spezifische
Reize optimal zu reagieren. Meist ist das der Reiz, der eine
minimale Energie benötigt, um das betreffende Sinnes-
organ zu erregen. Diejenigen Reizformen, auf die ein
Sinnesorgan optimal reagiert, werden adäquate Reize ge-
nannt. Für das Auge sind dies z. B. elektromagnetische
Schwingungen mit Wellenlängen zwischen 400 und 700 nm
(Abschn. 17.1.5), für das Ohr Schall(druck)wellen mit einer
Frequenz zwischen 20 und 16.000 Hz (Abschn. 18.1.1).

Nichtadäquate Reize
. Abb. 14.3. Transduktion und Transformation am Beispiel eines
Ein Sinnesorgan reagiert jedoch nicht nur auf adäquate Mechanosensors. Elektrophysiologische Messungen (rechte Bild-
Reize. So können z. B. alle Sinnesorgane durch elektrischen hälfte) an einem Strecksensor des Krebses, dessen Dendriten als Deh-
Strom erregt werden. Ähnlich wirken auf die meisten nungsmessfühler zwischen den Muskelfasern liegen (linke Bildhälfte).
Bei Reizung (Längenänderung des Muskels um ΔL) kann von der Sen-
Sensoren starke Druckänderungen (Schlag auf das Auge:
sorzelle mit einer Mikroelektrode das Sensorpotenzial (erste rote
»Sterne sehen«) oder Änderungen des chemischen Milieus Registrierung von oben) aufgezeichnet werden. Die Umwandlung
(z. B. Sauerstoffmangel). Bei diesen Einschränkungen der des mechanischen Reizes in das Sensorpotenzial wird Transduktion
Spezifität handelt es sich um unphysiologische nicht- genannt. Am Übergang zwischen Soma und Axon entstehen aus
adäquate Reize, jedoch werden auch Reaktionen auf phy- dem Sensorpotenzial Aktionspotenziale (Prozess der Transformation,
zweite rote Registrierung von oben). Am Axon selbst werden nur
siologische nichtadäquate Reize beobachtet. So spricht ein
diese Aktionspotenziale nach zentral geleitet (unterste Registrierung)
Grün-Sensor der Augennetzhaut auch auf starkes rotes
oder blaues Licht an, seine Empfindlichkeit ist aber für grü-
nes Licht am höchsten. rigen afferenten Nervenfasern Aktionspotenziale generie-
ren, ist auch der Begriff Generatorpotenzial gebräuchlich).
G Für jedes Sinnesorgan gibt es adäquate Reize, d. h.
Diese primäre Umwandlung des Reizes in ein Sensorpoten-
Reize, auf die es optimal reagiert. Aber auch nicht-
zial wird Transduktion genannt.
adäquate, z. B. elektrische Reize, können ein Sinnes-
Das Sensorpotenzial in . Abb. 14.3 dauert so lange wie
organ erregen.
der Reiz, und seine Amplitude wächst, wie in . Abb. 14.4
illustriert, mit der Reizstärke. Es ist somit reizabbildend,
14.2.2 Der Transduktionsprozess d. h. es kodiert die Reizdauer und innerhalb des Empfind-
14 lichkeitsbereiches des Sensors auch die Reizstärke (Einzel-
Ausbildung eines Sensorpotenzials, Kodierung heiten und Abweichungen in 14.2.3).
von Reizdauer und Reizstärke Ein wichtiger Teilaspekt der Transduktion des Reizes in
. Abb. 14.3 zeigt eine schematische Darstellung eines Deh- das Sensorpotenzial ist der energetische. Der Reiz ist nicht
nungssensors an einem Krebsmuskel, der zu den bestunter- die Energiequelle des Sensorpotenzials. Er steuert nur, wie
suchten Sensorpräparaten gehört. Er besteht aus einer Ner- nachfolgend beschrieben, Ionenströme durch die Membran.
venzelle mit großem Soma, dessen Dendriten sich zwischen So kann schon ein einzelnes Lichtquant so große Membran-
Muskelfasern schlängeln. Aus dem Soma leitet ein Axon die ströme auslösen, dass das entstehende Sensorpotenzial die
Aktionspotenziale zum Zentrum. Aktivität der Sehzellen messbar beeinflusst. Mit der Trans-
Werden die Muskelfasern gedehnt, so wird im Soma duktion ist also ein Verstärkungsprozess verbunden.
(das ein normales Ruhepotenzial besitzt) über eine Mikro-
elektrode (nicht eingezeichnet) ab einer bestimmten Deh- G Die Umwandlung eines Reizes in ein lokales Sensor-
nung (der Schwelle für den Sensor) eine Depolarisation potenzial wird Transduktion genannt. Die Sensor-
gemessen, die bei Ende des Reizes wieder verschwindet. potenziale sind in der Regel reizabbildend, d. h. sie
Diese Depolarisation (rechts im Bild wird als Sensorpoten- kodieren die Dauer und die Intensität eines Reizes.
zial bezeichnet (früher nannte man Sensorpotenziale auch Auch sehr schwache, aber überschwellige Reize
Rezeptorpotenziale; da Sensorpotenziale in den zugehö- können deutliche Sensorpotenziale auslösen.
14.2 · Transduktion und Transformation in Sensoren
303 14

nimmt der Ruheeinstrom von Na+-Ionen ab, wodurch die


Membran hyperpolarisiert (Abschn. 17.2.2).
G Depolarisierende Sensorpotenziale bilden sich meist
durch die Öffnung nichtselektiver Kationenkanäle
aus, bei Kaltrezeptoren auch durch das Schließen von
Kaliumkanälen. Bei den Photorezeptoren des Auges
bilden sich durch Schließen von Na+-Kanälen hyper-
polarisierende Sensorpotenziale aus.

14.2.3 Der Transformationsprozess

Umkodierung der Sensorpotenziale


in Aktionspotenziale in primären
und sekundären Sensoren
Im Axon des Dehnungssensors entsteht bei seiner Reizung,
wie . Abb. 14.3 zeigt, eine Salve von Aktionspotenzialen.
. Abb. 14.4a–c. Kodierung der Reizstärke durch Sensoren und
die Adaptation der Sensorpotenziale auf einen anhaltenden Reiz.
Diese Aktionspotenziale werden durch das lokale Sensorpo-
a 3 Reize zunehmender Intensität (z. B. Druckreize), b die dadurch tenzial ausgelöst, das elektrotonisch in den Anfangsabschnitt
ausgelösten Sensorpotenziale, die mittelschnelle Adaptation zeigen. des Axons geleitet wird und dort das Ruhepotenzial über die
Die Sensorpotenziale überschreiten in verschiedenem Ausmaß Schwelle für fortgeleitete Aktionspotenziale depolarisiert.
die Schwelle (blau gestrichelt) für die Auslösung von Aktionspoten-
Die anhaltende Depolarisation des Sensorpotenzials wird
zialen, deren Frequenz in c ersichtlich ist
also in eine rhythmische Serie von Aktionspotenzialen um-
gewandelt. Dieser Prozess wird Transformation genannt.
Die Transformation des Rezeptorpotenzials in eine
Molekulare Mechanismen der Transduktion Serie von Aktionspotenzialen findet bei vielen Sensoren so
bei unterschiedlichen Reizen wie in . Abb. 14.3 im Anfangsabschnitt des Axons der Sen-
In der Zellmembran mechanosensibler Sensoren liegen sorzelle statt. Neben solchen primären Sensoren gibt es
mechanosensitive, nichtselektive Kationenkanäle, die nor- auch sekundäre Sensoren. Bei diesen wird das Sensor-
malerweise geschlossen sind. Bei mechanischer Reizung potenzial nicht schon in der Sinneszelle in Aktionspoten-
(Dehnung, Druck) ändern sie ihre Konfirmation so, dass ziale transformiert, sondern in der Endigung einer afferen-
sich diese Kanäle öffnen, wobei die Anzahl der geöffneten ten Nervenzelle, die mit der Sensorzelle synaptischen Kon-
Kanäle von der Stärke der Dehnung abhängt. Der dadurch takt hat. Wichtige Typen von sekundären Sensoren sind
auf Grund der Ionenverteilung zwischen Intra- und Extra- z. B. die Hörzellen im Innenohr (. Abb. 18.12 in Abschn.
zellulärraum verursachte Einstrom von Na+-Ionen erzeugt 18.2.2), die Schmeckzellen auf der Zunge und die Sehzellen
das depolarisierende Sensorpotenzial, das sich elektro- in der Netzhaut.
tonisch auf das Soma ausbreitet.
Bei den Chemosensoren ist es meist so, dass die Sensor- Adaptation in Sensoren
membran G-Protein-gekoppelte Rezeptoren enthält (Ab- Die oben beschriebene Abbildung des Reizes in der afferen-
schn. 4.3.4), die bei Andocken ihres Liganden über eine ten Impulssalve ist aber nicht absolut reizgetreu, denn das
Second-messenger-Kette wiederum nichtselektive Katio- Sensorpotenzial wird auch bei konstantem Reiz im Laufe
nenkanäle öffnen, worauf sich das Sensorpotenzial aus- der Zeit kleiner (. Abb. 14.3, 14.4). Diese Adaptation an
bildet. den Reiz kennen wir aus der subjektiven Erfahrung.
Bei den Thermosensoren sind einerseits Membran- Der Zeitverlauf der Adaptation ist von den Eigenschaf-
kanalproteine bekannt, die auf Wärme- oder Hitzereize ihre ten des Sensors abhängig: Es gibt einerseits solche, die sehr
normalerweise geschlossenen unspezifischen Kationen- rasch adaptieren, wie die Berührungssensoren der Haut,
kanäle öffnen, andererseits wurden auch Kaltsensoren ge- und andererseits solche, wie die Nozizeptoren, die dies nur
funden, bei denen Abkühlung zum Schließen von Kalium- sehr langsam oder überhaupt nicht tun (Abschn. 16.1.4).
kanälen führt. In beiden Fällen kommt es zu depolarisie- Der Zeitverlauf der subjektiven Adaptation ist daher schon
renden Sensorpotenzialen. durch die Abbildungsvorgänge im Sensor vorbestimmt.
Die Sensorpotenziale sind also durchweg depola-
risierende Potenziale (das Zellinnere wird positiver, Ab- G Die Umkodierung des Sensorpotenzials in fortgelei-
schn. 4.1.2 und 4.2.1). Eine Ausnahme bilden z. B. die tete Aktionspotenziale wird Transformation genannt.
Stäbchen und Zapfen der Netzhaut des Auges, bei deren Die Abnahme der Erregung des Sensors bei gleich-
Reizung durch Licht sich Na+-Kanäle schließen. Dadurch bleibendem Reiz bezeichnet man als Adaptation.
304 Kapitel 14 · Allgemeine Sinnesphysiologie und Grundlagen der Wahrnehmungspsychologie

Lineare und nichtlineare Übertragungs-


funktionen in Sensoren
Die bei der Transformation entstehenden Aktionspotenziale
werden zum Zentralnervensystem weitergeleitet. Sie enthal-
ten in Form einer Frequenzkodierung Information über die
Stärke und Dauer des Sensorpotenzials (. Abb. 14.3). Da
letzteres wiederum in seinem Verlauf durch den Reiz be-
stimmt wird, bildet sich der Reiz also in der Impulssalve der
afferenten Nervenfaser ab. Dies ist (neben dem Prozess der
Adaptation) ebenfalls in . Abb. 14.4 zu sehen.
Die Übertragungsfunktionen sind nicht bei allen
Sensoren gleich. Langsame Dehnungsrezeptoren, wie der
der . Abb. 14.3, können in weiten Bereichen eine lineare
Übertragungsfunktion haben, d. h. Reizamplitude und
Aktionspotenzialfrequenz des Sensors sind proportional
(. Abb. 14.5a).
Häufig sind aber auch Übertragungsfunktionen von der
in . Abb. 14.5b gezeigten Form: Das Sensorpotenzial und,
wenn dies überschwellig wird, auch die Aktionspotenzial-
frequenz steigen bei schwachen Reizen steil mit der Reiz-
amplitude, bei stärkeren Reizen nimmt jedoch die Empfind-
lichkeit des Sensors zunehmend ab, die Aktionspotenzial-
frequenz steigt bei großen Reizen nur noch wenig. Diese
nichtlineare Übertragungsfunktion wird bei Sinnesorga-
nen gefunden, bei denen die Reize einen großen Intensitäts-
umfang haben, z. B. bei den Lichtsensoren in der Netzhaut
des Auges, die auf Beleuchtungsstärken antworten müssen,
bei denen das gerade noch wahrnehmbare Licht sich vom
intensivsten Licht im Verhältnis 1:106 unterscheidet.
Selten, z. B. bei Nozizeptoren, kommt es vor, dass die
Aktionspotenzialfrequenz mit steigender Reizamplitude
steiler wird. Kleine Zunahmen der Reizintensität führen in
diesem Fall also zu großen Zunahmen der Entladungs-
frequenz und damit, so wird in Abschn. 14.5.3 gezeigt, zu
großen Empfindungszunahmen – was der Warnfunktion
des Schmerzes dienlich ist.
G Die Kodierung der Reizamplitude als Impulsfre-
14 quenz erfolgt bei manchen Sensoren linear (propor-
tional), bei den meisten jedoch nichtlinear. In der
Regel nimmt dabei die Empfindlichkeit des Sensors
mit steigender Reizstärke ab. Nur in Ausnahmefäl-
. Abb. 14.5a–c. Übertragungsfunktionen bei der Transformation
len, z. B. bei den Nozizeptoren, nimmt sie zu.
in Sensoren. a Lineare Übertragungsfunktion eines Dehnungssensors
des Krebsmuskels. Abhängigkeit der Amplitude des Sensorpotenzials
(blau, rechte Ordinate) und der Impulsfrequenz der ausgelösten Potenzfunktionen zur Beschreibung
Aktionspotenziale (rot, linke Ordinate) von der Länge des gedehnten
der Übertragungsfunktionen
Krebsmuskels. b Nichtlineare Übertragungsfunktion eines Sensors,
ansonsten wie in a. S0 bezeichnet die Schwelle des Sensorpotenzials Die genannten 3 Formen der Übertragungsfunktionen zwi-
für die Auslösung von Aktionspotenzialen. Beide Kurvenverläufe sind schen überschwelligem Reiz S und Impulsfrequenz F lassen
bei diesem Sensor Potenzfunktionen. c Formen von Potenzfunktionen sich am besten in Form einer Potenzfunktion fassen:
mit Exponenten größer (>) und kleiner (<) 1 bei Darstellung in einem
Koordinatensystem mit logarithmischen Skalen. Ordinate: Entladungs-
frequenz eines Sensors. Abszisse: Reizstärke S vermindert um die
F = k × Sn
Schwellenreizstärke S0
Dabei ist k eine Konstante und der Exponent n ein für jeden
Sensortyp charakteristischer positiver Wert. Ist n=1, so
wird die Potenzfunktion zu einer Geraden mit der Stei-
14.3 · Neuronale Verschaltungen in sensorischen Systemen
305 14

gung k. Ist n kleiner als 1 (n<1), so ergibt sich in einem dererseits gewährleistet die Divergenz, dass auch die Effekte
linearen Koordinatensystem die Kurvenform der . Abb. schwacher Reize auf wenige Sensoren anschließend ver-
14.5b, und ist n größer als 1 (n>1), so steigt die Impuls- stärkt weitergegeben werden.
frequenz überproportional mit dem Reiz an.
Bei Auftragung der Messwerte in einem doppelt-loga- Konvergente Erregungsausbreitung
rithmischen Koordinatensystem lassen sich die Werte von Im Neuronennetz der . Abb. 14.6a kommt auch Konver-
Potenzfunktionen durch Geraden bestimmen, deren Steil- genz vor: Jedes Neuron bekommt mehrfache Afferenzen.
heiten durch die Exponenten bestimmt werden. Ist n=1, so Die Konvergenz der von vielen benachbarten Sensoren
beträgt die Steilheit der Geraden, wie . Abb. 14.5c zeigt, 45o, ausgehenden Erregungen führt zur räumlichen Summa-
bei n<1 und n>1 liegt ihre Steilheit unter bzw. über diesem tion oder Bahnung der synaptischen Potenziale in diesem
Wert. So bedeutet ein Exponent von n=0,3, dass sich die Neuron (Abschn. 4.1.1). Auch dadurch wird erreicht, dass
Empfindung bei einer Verzehnfachung der Reizstärke etwa die Effekte schwacher Reize verstärkt werden.
verdoppelt (100,3=1,995262). Andererseits wird bei sehr starken und großflächigen
Potenzfunktionen charakterisieren auch die Übertra- Reizen über die Konvergenz sehr schnell der maximale
gungsfunktionen sensorischer Neurone (Abschn. 14.3.3) Erregungszustand der Neurone erreicht. Ein solcher »Sätti-
und die Beziehung zwischen Reiz- und Empfindungsstär- gungszustand« in einem Neuronenverband führt beispiels-
ken (Abschn. 14.5.3). Die subjektiv empfundenen Ände- weise dazu, dass zwei eng nebeneinander liegende starke
rungen der Reizintensität lassen sich mit Hilfe dieser Bezie- Druckreize nicht mehr voneinander unterschieden, son-
hungen exakt berechnen, indem man z. B. die Aktionspo- dern nur als einheitlicher Reiz wahrgenommen werden.
tenzialfrequenz zu den Angaben der Versuchsperson (z. B.
G Die Erregungsausbreitung in sensorischen neuro-
in Intensitätsstufen von 1 bis 100) in Beziehung setzt.
nalen Netzwerken erfolgt sowohl divergent wie kon-
G Die Kodierung der Reizamplitude als Impulsfre- vergent. Divergenz wie Konvergenz gewährleisten
quenz lässt sich am besten in Form einer Potenz- auf ihre Weise die Weitergabe schwacher Signale.
funktion beschreiben. Bei linearer Übertragungs-
funktion ist der Exponent n=1. Bei den meisten Hemmung im sensorischen System
Sinnesorganen ist die Übertragungsfunktion nicht-
Würden sich die Erregungen, wie in . Abb. 14.6a ange-
linear mit n<1 oder (sehr selten) n>1.
nommen, ungehindert ausbreiten, so wäre bald das ganze
Gehirn erregt. Dies wird durch das Hinzutreten von Hem-
14.3 Neuronale Verschaltungen mung verhindert. In . Abb. 14.6b ist das Nervennetz von
in sensorischen Systemen . Abb. 14.6a um hemmende Interneurone ergänzt.
Es ist nur ein Typ der Hemmung berücksichtigt, näm-
14.3.1 Erregungsausbreitung in senso- lich die laterale Hemmung durch negative Rückkopplung,
rischen neuronalen Netzwerken die im sensorischen System besonders wichtig ist. Im Bei-
spiel der . Abb. 14.6b führt die laterale Hemmung dazu,
Divergente Erregungsausbreitung dass sich um die durch den Reiz maximal erregten Neurone
Ein Reiz erregt normalerweise viele tausend Sensoren der Mittelachse eine Hemmzone ausbildet, die das erregte
gleichzeitig. Die resultierende afferente Impulsflut enthält Gebiet auch auf den höheren synaptischen Ebenen stark
die Information über die Intensität, die räumliche Aus- eingrenzt. Dies führt z. B. im visuellen System zu erheb-
dehnung und die zeitliche Struktur des Reizes. Diese In- lichen Kontrastverschärfungen (z. B. Abschn. 17.1.3).
formation muss vom ZNS ausgewertet werden, damit der
G Die divergente Erregungsausbreitung wird durch
Organismus angemessen auf den Reiz reagieren kann. Die
hemmende Prozesse fokussiert. In den sensorischen
Auswertung erfolgt bei allen Sinnesorganen an mehreren
Netzwerken dient insbesondere die negativ rück-
Stellen zwischen dem Sensor am einen und den zugehö-
gekoppelte laterale Hemmung der Kontrastver-
rigen Großhirnrindenarealen am anderen Ende der senso-
schärfung.
rischen Bahnen.
Die ersten Schritte der Erregungsausbreitung in einem
sensorischen System zeigt . Abb. 14.6a. Dargestellt ist ein 14.3.2 Rezeptive Felder in sensorischen
Nervennetz aus 3 Sensoren und zwei darauf folgenden sy- neuronalen Netzwerken
naptischen Ebenen. Der mittlere Sensor wird durch einen
Reiz erregt und beeinflusst erregend die mit ihm synaptisch Definition rezeptiver Felder
verbundenen 3 Neurone. Diese Divergenz hat zur Folge, In . Abb. 14.6 haben wir, vom Sensor ausgehend, den Fluss
dass das auf der Ebene der Sensoren noch eng begrenzte der sensorischen Information über verschiedene synapti-
»erregte Gebiet« (. Abb. 14.6a, rechts) sich ausweitet und sche Stationen betrachtet. Man geht in der Sinnesphysiolo-
damit die Lokalisation des Reizes verschlechtert wird. An- gie häufig auch umgekehrt vor und bestimmt diejenigen
306 Kapitel 14 · Allgemeine Sinnesphysiologie und Grundlagen der Wahrnehmungspsychologie

. Abb. 14.6a, b. Laterale Hemmung in einem einfachen Modell auf. Rechts: Verteilung der Entladungsfrequenzen F im erregten Gebiet
eines Sinnessystems. a Links: Schema der erregenden synaptischen um den Reizort auf der Ebene der Sensoren und den beiden nachfol-
Verbindungen von 3 Sensoren und 2 darauf folgenden synaptischen genden synaptischen Ebenen. b Wirkung zusätzlicher hemmender
Ebenen. Die blau unterlegten Einschaltungen über den Axonen deuten Interneurone (blau). In den Entladungsverteilungen rechts wird lateral
die entsprechenden Erregungsfrequenzen während des Reizes an. vom Reizort die Ruhefrequenz unterschritten. Diese laterale Hem-
Dieses Netzwerk weist ausgesprochene Divergenz und Konvergenz mung ist blau eingetragen

14 Sensoren oder diejenigen Punkte des Raumes, von denen Vibrations- und Kältereize reagiert. Ein solches großes
aus ein sensorisches Neuron erregt oder gehemmt werden rezeptives Feld umfasst also auch verschiedene Modali-
kann. Ihre Gesamtheit bildet das rezeptives Feld des Neu- täten. Es leuchtet ein, dass das räumliche Auflösungsver-
rons. Ein Beispiel zeigt . Abb. 14.7 für ein zentrales senso- mögen eines Sinnesorgans um so besser ist, je kleiner die
risches Neuron im Rückenmark (oder auf höherer Ebene, rezeptiven Felder der beteiligten Neurone sind.
z. B. im Thalamus). Leichte Berührung der Haut löst nur
G Die Körperperipherie und/oder der extrakorporale
von Punkten in dem rot umrandeten Bezirk des Unterarmes
Raum, von dem aus ein sensorisches Neuron be-
eine Zunahme der Impulsfrequenz aus. Dieser Bezirk ist
einflusst werden kann, wird sein rezeptives Feld
das rezeptive Feld des Neurons.
genannt. Rezeptive Felder sind von sehr unter-
Die Größe der rezeptiven Felder ist bei verschiedenen
schiedlicher Größe.
sensorischen Neuronen sehr unterschiedlich. Einige haben
sehr kleine rezeptive Felder, so z. B. Neurone des visuellen
Kortex, die nur von einer 0,02 mm2 großen Fläche der Netz- Erregende und hemmende rezeptive Felder;
haut durch Lichtreize beeinflusst werden können. Andere Rolle der Umfeldhemmung
Neurone können z. B. durch Reizung sehr großer Haut- Wie . Abb. 14.7 zeigt, können sensorische Neurone sowohl
areale, etwa einem ganzen Bein, erregt oder gehemmt erregende wie hemmende rezeptive Felder aufweisen. In
werden, wobei das Neuron sowohl auf Berührungs-, wie auf der Regel reagieren Zentrum und Peripherie des rezeptiven
14.3 · Neuronale Verschaltungen in sensorischen Systemen
307 14

. Abb. 14.7. Erregende und hemmende


rezeptive Felder zentraler sensorischer
Neurone. Gezeigt sind rezeptive Felder auf
der Haut des Unterarms, von denen aus
Neurone im Rückenmark (oder auf höheren
Ebenen, z. B. im Thalamus) erregt oder
gehemmt werden können. Neuron 1 wird
aus dem erregenden rezeptiven Feld (+)
aktiviert, aus dem hemmenden Umfeld (–)
gehemmt, wie die Registrierung der Ak-
tionspotenziale angibt. Neuron 2 wird aus
dem für Neuron 1 hemmenden Feld (–)
erregt. Die hier gezeigte hemmende Ver-
schaltung ist ein Fall der lateralen Inhibition

Nach M. Zimmermann, Heidelberg.


(. Abb. 14.6)

Feldes gegensätzlich. Beispiele zeigt . Abb. 14.8. Dort er- Wie in . Abb. 14.6 gezeigt, erzeugt diese Hemmung um ein
folgt z. B. in einem Fall im Zentrum auf den Reiz hin durch den Reiz »erregtes Gebiet« eine Hemmzone. Diese
eine »An-Reaktion«, d. h. die Impulsfrequenz nimmt wäh- Konfiguration ist äquivalent zu einem An-Zentrum und
rend des Reizes zu (und wird nach dem Reiz für einige Zeit einer Aus-Peripherie. Wenn die durch den Reiz ausgelösten
kleiner als die Ruhefrequenz). Wenn aber der Reiz im Erregungen über eine hemmende Synapse laufen, ergibt
Zentrum eine »An-Reaktion« auslöst, so führen Reize sich analog ein Aus-Zentrum-rezeptives Feld. Die Organi-
in der Peripherie zu der umgekehrten »Aus-Reaktion« sation des rezeptiven Feldes in Zentrum und umgekehrt
(. Abb. 14.8, links). Man nennt ein solches rezeptives Feld reagierende Peripherie verschärft das räumliche Unter-
ein »An-Zentrum«-Feld (On-Zentrum-Feld). scheidungsvermögen im ZNS und fördert den Kontrast
Genauso häufig wie die »An-Zentrum«-Felder kommen (Abschn. 14.5.3).
jedoch auch die umgekehrt organisierten »Aus-Zentrum«-
Felder (Off-Zentrum-Feld) vor (. Abb. 14.8, rechts). Diese Plastizität rezeptiver Felder
Anordnung der rezeptiven Felder ist z. B. im Sehsystem ver- Die Größe des rezeptiven Feldes kann durch zentral ge-
antwortlich für die Entstehung des Simultankontrastes steuerte Hemmvorgänge verkleinert und durch Enthem-
(. Abb. 17.3 in Abschn. 17.1.3). mungsvorgänge vergrößert werden. Auch die relative Größe
Grundlage dieser Organisation des rezeptiven Feldes von Zentrum und Peripherie kann verschieden eingestellt
ist die eben schon erwähnte laterale oder Umfeldhemmung. werden. So ist z. B. ein wichtiger Teilaspekt der Dunkeladap-
tation des Auges (Abschn. 17.1.2) die relative Vergrößerung
der An-Zentren der rezeptiven Felder der Retina-Ganglien-
zellen bei herabgesetzter Beleuchtung. Größe und Organisa-
tion des rezeptiven Feldes sind also keine unveränderlichen
Eigenschaften eines sensorischen Neurons.

G Zentrale sensorische Neurone haben oft komplexe


rezeptive Felder mit erregenden und hemmenden
Anteilen, die teils nebeneinander, teils konzentrisch
umeinander liegen. Ihre Größe und Organisation
. Abb. 14.8. Organisation rezeptiver Felder in sensorischen werden durch Umfeldhemmung und zentral gesteu-
Systemen mit gegensätzlicher Polung von Zentrum und Umfeld. erte Hemm- und Erregungsvorgänge beeinflusst.
Diese Form der Organisation kommt häufig vor. In den konzentrischen
rezeptiven Feldern rechts und links im Bild sind mit (+) alle Areale
markiert (und rot hervorgehoben), deren Reizung zu einer An-Reak-
tion eines zentralen Neurons führt. Umgekehrt sind mit (–) und blau
alle Areale markiert, deren Reizung zu einer Aus-Reaktion führt. Das
Entladungsverhalten der Neurone, die eine Ruheentladung aufweisen,
ist schematisiert in der Bildmitte gezeigt
308 Kapitel 14 · Allgemeine Sinnesphysiologie und Grundlagen der Wahrnehmungspsychologie

14.3.3 Übertragungsfunktionen und


Schwellen sensorischer Neurone

Potenzfunktionen zur Beschreibung


der Übertragungsfunktionen
So wie dies in Abschn. 14.2.3 für die peripheren Sensoren
beschrieben wurde, lässt sich die Beziehung zwischen der
Impulsfrequenz F eines zentralen sensorischen Neurons
und der überschwelligen Reizstärke S in seinem rezeptiven
Feld am besten durch die Potenzfunktion

F = k × Sn

beschreiben. Es kommen, ebenfalls wie bei Sensoren, ver-


schiedene Werte von n vor: Es gibt auch bei zentralen Neu-
ronen Proportionalität von Reiz und Reizantwort (n=1).
Bei den meisten Neuronen wird aber mit steigendem Reiz
der Zuwachs an Impulsfrequenz kleiner, der Exponent n ist
also kleiner als 1 (. Abb. 14.5c).

Absolute Schwellen und Unterschiedsschwellen . Abb. 14.9a, b. Messung von Unterschiedsschwellen an zentra-
len sensorischen Neuronen. a Bestimmung einer Intensitätsunter-
sensorischer Neurone
schiedsschwelle. Oben: Zeitverlauf der überschwelligen Reize,
Auch an zentralen sensorischen Neuronen kann die abso- darunter die durch die Reizung ausgelösten Aktionspotenziale. Die
lute Schwelle für den adäquaten Reiz bestimmt werden. Frequenzzunahme bei der zweiten Reizerhöhung zeigt die Unter-
Dies ist die kleinste Reizstärke, für die sich eine Änderung schiedsschwelle. b Bestimmung einer Ortsunterschiedsschwelle.
Oben: Lage des Reizpunktes (rot) relativ zu einem Achsenkreuz. Da-
der Impulsfrequenz des Neurons feststellen lässt. Wichtiger
runter die durch den Reiz ausgelöste Salve von Aktionspotenzialen.
sind die Unterschiedsschwellen, d. h. die kleinste Ände- Beim dritten Reizort ist eine eben unterschiedliche Frequenz der
rung eines Reizparameters, die eine messbare Änderung Aktionspotenziale bemerkbar
der Impulsfrequenz des sensorischen Neurons hervorruft.
Die Bestimmung einer Intensitätsunterschiedsschwel-
le ist in . Abb. 14.9a erläutert. Ein überschwelliger Dauer- des Reizes (»Kontext«, Umfeld) und von der absoluten
reiz führt zu einer konstanten Impulsfrequenz in einem Reizstärke ab.
sensorischen Neuron. Wird die Reizstärke in kleinen Schrit-
G Die Übertragungsfunktionen sensorischer Neurone
ten erhöht, so verursacht der erste Reizzuwachs keine
lassen sich am besten durch Potenzfunktionen be-
merkliche Änderung der Impulsfrequenz. Die nächste,
schreiben. Der Exponent n ist dabei meist <1. Auch
etwas größere Reizstärkenerhöhung bringt eine erhöhte
für zentrale Neurone lassen sich absolute Schwellen
Impulsfrequenz, diese Steigerung entspricht also der Inten-
und Unterschiedsschwellen für Änderungen der
sitätsunterschiedsschwelle.
14 . Abb. 14.9b zeigt die Bestimmung einer Ortsunter-
Reizparameter bestimmen.

schiedsschwelle. Links ist die Ausgangssituation gezeich-


net, ein Reiz im Zentrum eines Achsenkreuzes (z. B. auf 14.4 Zentrale Weiterleitung
der Haut) verursacht eine kräftige Erhöhung der Impuls- und Verarbeitung
frequenz des Neurons. Wird für den nächsten Reizversuch somatoviszeraler Information
der Reizpunkt leicht nach rechts verschoben, so ist der
Reizerfolg derselbe wie in der Ausgangssituation. Der dritte 14.4.1 Aufnahme und Weiterleitung
Reizort liegt noch weiter rechts, und der Reizerfolg ist sensorischer Information
merklich geringer als zuvor. Der Abstand dieses Reizortes aus Körper- und Kopfnerven
vom Zentrum des Achsenkreuzes ist also die Ortsunter-
schiedsschwelle. Synaptische Verschaltung im Rückenmark
Ebenso wie für die Reizintensität oder die Verschiebung Die Afferenzen aus Rumpf und Extremitäten bilden im
des Reizortes lassen sich Unterschiedsschwellen für andere Rückenmark erregende synaptische Verbindungen mit
Reizparameter bestimmen, so für Zeitunterschiede, Ton- spinalen Neuronen im dorsalen Teil der grauen Substanz,
höhenunterschiede, Farbunterschiede usw. Bei allen diesen dem Hinterhorn (. Abb. 14.10). Ein Teil der dicken mye-
Unterschiedsschwellen hängt der gefundene Wert nicht nur linisierten Afferenzen hat außerdem eine Abzweigung
vom Sinnesorgan, sondern auch von Nebenbedingungen (Kollaterale) in den aufsteigenden Hinterstrang (7 unten).
14.4 · Zentrale Weiterleitung und Verarbeitung somatoviszeraler Information
309 14

nen liegen sie in der weißen Substanz des Rückenmarks.


Relativ zu den mit ihnen verbundenen Hinterwurzelaffe-
renzen verläuft im Rückenmark der Hinterstrang ipsila-
teral (gleichseitig), der Vorderseitenstrang kontralateral
(gegenseitig).
Die im Hinterstrang verlaufenden dicken myelinisier-
ten Afferenzen kommen ausnahmslos von niederschwel-
ligen Mechanosensoren des Rumpfes und der Extremitäten,
und zwar von Haut, Muskeln, Sehnen und Gelenken. Sie
bilden ihre erste zentrale Synapse auf Neuronen der Hinter-
strangkerne (Nucleus gracilis, Kern der oberen Extremität
und Nucleus cuneatus, Kern der unteren Extremität), die
im verlängerten Mark liegen. Die Axone dieser Neurone
kreuzen dort zur Gegenseite und ziehen als mediale Schlei-
fenbahn (Tractus lemniscus medialis) zum Thalamus.
Hinterstrang und Lemniskus bilden die markanten
Bahnen des spezifischen (lemniskalen) Systems der Soma-
tosensorik. Hinterstrangläsionen, die sich im Rückenmark
vor der Kreuzung in den Hinterstrangkernen ereignen, be-
einträchtigen ipsilateral Leistungen, die mit der räumlichen
Lokalisation taktiler Reize zusammenhängen, wie z. B. die
Zweipunktdiskrimination.
G Die afferenten Nervenfasern der niederschwelligen
Mechanorezeptoren von Rumpf und Gliedmassen
. Abb. 14.10. Spinale Weiterleitung und Verarbeitung somato-
viszeraler afferenter Information. Schematisierte und vereinfachte bilden teils Synapsen im Hinterhorn des Rücken-
Darstellung der Verschaltung der somatoviszeralen Afferenzen im marks, teils laufen sie im Hinterstrang zu den Hin-
Rückenmark. Alle Afferenzen treten über die Hinterwurzel ein und terstrangkernen des verlängerten Marks. Deren
werden auf Höhe des Eintrittssegments auf Interneurone umgeschal- Axone kreuzen in der medialen Schleifenbahn nach
tet. Zusätzlich zweigen sich von den dicken, myelinisierten Afferen-
kontralateral.
zen, die von niederschwelligen Mechanosensoren kommen, Kollatera-
len ab, die im Hinterstrang ohne Umschaltung bis zu den Hinterstrang-
kernen ziehen (. Abb. 14.11). Absteigende und lokale hemmende Weiterleitung im Vorderseitenstrang
Einflüsse sind rot eingezeichnet. Die topographische Schichtung der
aufsteigenden Hinterstrang- und Vorderseitenstrangbahnen auf der Der Vorderseitenstrang enthält Axone, die, wie eben schon
Höhe des oberen Halsmarks ist eingezeichnet gesagt, überwiegend von Neuronen des Hinterhorns der
Gegenseite stammen (. Abb. 14.10). Seine Zielgebiete lie-
gen in der Formatio reticularis des Hirnstamms sowie im
Das in . Abb. 14.10 abgebildete Hinterhornneuron steht Thalamus; entsprechend unterteilt man den Vorderseiten-
stellvertretend für viele zehntausend Neurone mit den un- strang in den Tractus spinothalamicus und den Tractus
terschiedlichsten Verbindungen und Aufgaben. spinoreticularis.
Außerdem ist zu beachten, dass es im Hinterhorn nicht Die peripheren afferenten Zuflüße der spinalen Hinter-
nur erregende, sondern auch eine Vielzahl von hemmen- hornneurone des Vorderseitenstrangs kommen vor allem
den Synapsen gibt. Zwei solche Synapsen und ein zuge- aus Thermo- und Nozizeptoren von Haut, Muskeln, Sehnen,
höriges Interneuron sind in . Abb. 14.10a rot eingezeich- Gelenken und Eingeweiden, in geringerem Maße auch
net. Sie symbolisieren im sensorischen System zwei be- von niederschwelligen Mechanosensoren der Haut. Nach
sonders wichtigen Hemmungstypen: afferente Hemmung Durchtrennung des Vorderseitenstrangs können Tempe-
und deszendierende (absteigende) Hemmung. Sie dienen ratur- und Schmerzreize aus Körperregionen, die unterhalb
im Wesentlichen der Kontrolle und Modulation des affe- und kontralateral zur Durchtrennungsstelle liegen, nicht
renten Zustroms. mehr wahrgenommen werden.
Da die Vorderseitenstrangbahnen nicht im Tractus
Weiterleitung im spinalen Hinterstrang lemniscus (7 oben) verlaufen, werden sie als extralemnis-
In . Abb. 14.10 sind 2 aufsteigende Bahnen eingezeichnet, kale Bahnen bezeichnet. Funktionell gesehen, sind sie deut-
über die die Information der somatosensorischen Afferen- lich unspezifischer organisiert als die lemniskalen Bahnen,
zen zum Gehirn weitergeleitet werden: der Hinterstrang weswegen sie auch als unspezifisches sensorisches System
und der Vorderseitenstrang. Ihr weiterer Verlauf ist in den spezifischen lemniskalen Bahnen gegenübergestellt
. Abb. 14.11a gezeigt. Wie alle auf- und absteigenden Bah- werden.
310 Kapitel 14 · Allgemeine Sinnesphysiologie und Grundlagen der Wahrnehmungspsychologie

. Abb. 14.11a–d. Supraspinale Weiterleitung und Verarbeitung soll die Größenverhältnisse der Projektion der einzelnen Körpergebiete

14 somatoviszeraler afferenter Information. a Schematisierte und ver-


einfachte Darstellung des Verlaufs der somatosensorischen Bahnen samt
auf die Hirnrinde verdeutlichen. b Dreidimensionale Darstellung des in
a gezeigten sensorischen Homunculus. c Seitenansicht des Gehirns zur
den wichtigsten Schaltstationen. Spezifische Bahnen sind rot, unspezi- Illustration der Lage des Gyrus postcentralis mit den somatosensorischen
fische sind blau eingezeichnet. Die oben in a gezeigte Darstellung von Projektionsfeldern SI (Areae 1 – 3) und SII (rot). d Funktionelle Organisa-
Penfield und Rasmussen der topographisch geordneten Projektion der tion des somatosensorischen Kortex SI mit seinen Areae 1, 2, 3a und 3b
Körperperipherie auf den Gyrus postcentralis (sensorischer Homunculus) in der Fingerregion. Weitere Besprechung im Text

G Das Vorderseitenstrangsystem vermittelt vor allem (. Abb. 14.11a). In 2 Kernen der dortigen grauen Substanz
Signale von den kontralateralen Thermo- und Nozi- werden die Afferenzen synaptisch umgeschaltet, im spina-
zeptoren des Rumpfes und der Gliedmaßen. Die len Kern und im sensorischen Hauptkern. Der spinale
Vorderseitenstränge sind Teil des extralemniskalen Trigeminuskern (Nucleus spinalis) entspricht funktionell
sensorischen Systems. dem Hinterhorn des Rückenmarks, der sensorische tha-
lamische Hauptkern (Nucleus principalis) entspricht den
Aufnahme und Weiterleitung sensorischer Hinterstrangkernen der spinalen Afferenzen. Diese Ana-
Information aus dem Gesichtsbereich logie erstreckt sich auch auf die weiterführenden Bahnen,
Der V. Hirnnerv, der N. trigeminus, ist der wichtigste die unmittelbar auf die andere Seite kreuzen, wie dies ent-
somatoviszerale Nerv der Gesichtsregion (. Tabelle 2.2 sprechend in . Abb. 14.11a eingezeichnet ist.
in Abschn. 2.3.4). Er tritt in das Brückenhirn (Pons) ein
14.4 · Zentrale Weiterleitung und Verarbeitung somatoviszeraler Information
311 14

G Somatosensorische Information aus dem Gesichts- gekehrt. Wie in Abschn. 5.2.2 dargestellt, ist der Thalamus
bereich wird über den N. trigeminus in den Hirn- eine Anhäufung zahlreicher, funktionell verschiedener
stamm geleitet und dort synaptisch teils auf den spi- Kerngebiete, die teils für sensorische, teils für motorische,
nalen Trigeminuskern, teils auf den Hauptkern auf- teils für integrative Aufgaben zuständig sind (. Abb. 5.8).
geschaltet. Die weiterführenden Bahnen kreuzen auf Allen Teilkernen ist gemeinsam, dass sie unmittelbar in
die andere Seite. die ihnen zugehörige Hirnrinde projizieren, so z. B., wie in
Abschn. 13.6.4 schon erwähnt, die motorischen Anteile in
den motorischen Kortex (Gyrus praecentralis) oder, wie in
14.4.2 Subkortikale Schaltstellen . Abb. 14.11a zu sehen, die somatosensorischen Anteile
und kortikale Areale (Ventrobasalkerne, Ventrolateralkerne) in den somatosen-
der sensorischen Systeme sorischen Kortex (Gyrus postcentralis).
Die somatosensorischen thalamischen Kerne liegen auf
Sensorische Funktionen der Formatio reticularis dem Weg der oben geschilderten Hinterstrangbahnen
Die den Hirnstamm durchziehende Formatio reticularis ist (spezifisches lemniskales System, Abschn. 14.4.1). Dieser
eine wichtige Station des eben erwähnten aufsteigenden schnelle aufsteigende Weg enthält nur drei synaptische
extralemniskalen Systems (. Abb. 14.11a). Sie verfügt über Umschaltungen, nämlich
eine Vielfalt von afferenten Verbindungen aus praktisch 4 die erste Synapse liegt in den Hinterstrangkernen
allen Sinnesorganen. Afferente Zuströme kommen auch (Nucl. gracilis und cuneatus), von dort kreuzt der Lem-
aus zahlreichen anderen Gehirngebieten, z. B. motorische niscus medialis und bildet
und sensorische Großhirnrinde, Thalamus, Hypothalamus. 4 die zweite Synapse im Thalamus;
Auch die efferenten Verbindungen sind vielfältig: abstei- 4 die dritte Synapse bilden die thalamokortikalen Bahnen
gend zum Rückenmark, aufsteigend über die unspezifischen dann im somatosensorischen Kortex (7 unten).
Thalamuskerne zum Kortex, zum Hypothalamus, sowie zu
den Kernen des limbischen Systems (zur Funktion des Das Hinterstrangsystem ist beim Menschen besonders
extralemniskalen sensorischen Systems Abschn. 21.3.2). hoch entwickelt. Es ist die zentralnervöse Basis des Tast-
Der Formatio reticularis wird eine Mitwirkung an einer sinns (Abschn. 15.1.1 bis 15.1.5) und der Tiefensensibilität
Reihe von Funktionen zugesprochen, die wie folgt zusam- (Abschn. 15.2.1, 15.1.2). Beide Modalitäten haben ein be-
mengefasst werden können: sonders hohes zeitliches und räumliches Auflösungsver-
4 Steuerung der Bewusstseinslage durch Beeinflussung mögen, das wiederum bei der Hand des Menschen am
der Erregbarkeit kortikaler Neurone und damit Teil- besten ausgebildet ist.
nahme am Schlaf-Wach-Rhythmus (Schlagwort: auf-
G Die somatosensorischen Thalamuskerne sind die
steigendes retikuläres aktivierendes System, ARAS,
zweite Relaisstation des Hinterstrangsystems, das
Abschn. 21.3.2 und 22.5.1);
die zentralnervöse Basis für Tastsinn und Tiefen-
4 Vermittlung der affektiv-emotionalen Wirkungen sen-
sensibilität bildet.
sorischer Reize durch Weiterleitung afferenter Infor-
mation zum limbischen System (Abschn. 5.2.3);
4 vegetativ-motorische Regulationsaufgaben, beson- Organisation und Funktion
ders bei lebenswichtigen Reflexen (z. B. bei Kreislauf-, des somatosensorischen Kortex
Atem-, Schluck-, Husten-, Niesreflexen), bei denen Ein besonders eindrucksvolles Abbild der sensorischen
viele afferente und efferente Systeme miteinander ko- Peripherie findet sich in der Endstation der aufsteigenden
ordiniert werden müssen; und Bahnen, der sensorischen Hirnrinde. Diese Abbildung
4 Mitwirkung an der Stütz- und Zielmotorik über die der Körperperipherie auf der postzentralen Hirnwindung
motorischen Zentren des Hirnstammes und des Klein- (Gyrus postcentralis, . Abb. 14.11c) ist nicht nur im Tier-
hirns (Abschn. 13.6.1). versuch, sondern auch am Menschen nachgewiesen worden.
Reizt man nämlich, wie dies vor allem W. Penfield und seine
G Die Formatio reticularis ist Umschalt- und Verarbei-
Mitarbeiter getan haben, bei einem wachen Patienten, des-
tungsstation für das unspezifische somatosensori-
sen Gehirn aus therapeutischen Gründen in lokaler Betäu-
sche System. Sie ist afferent wie efferent mit zahl-
bung teilweise freigelegt wurde, mit einer feinen Elektrode
reichen subkortikalen und kortikalen Zentren ver-
die sensorischen Kortexareale, dann berichtet der Patient
bunden.
über Empfindungen aus umschriebenen Bereichen der
Körperperipherie. Den Reiz am Gehirn bemerkt er nicht;
Funktionen des somatosensorischen Thalamus dieser ruft jedoch eine Empfindung hervor, so als ob die auf
Im Thalamus sind alle Bahnkreuzungen abgeschlossen, so das gereizte Hirnareal projizierenden Sensoren erregt wor-
dass die rechten Thalamusneurone im Wesentlichen die den wären. Dasselbe passiert, wenn man magnetisch über
Impulse aus der linken Körperhälfte verarbeiten und um- dem Kopf reizt (Kap. 20).
312 Kapitel 14 · Allgemeine Sinnesphysiologie und Grundlagen der Wahrnehmungspsychologie

Aus den Ergebnissen solcher Versuche wurde der in gaben der einzelnen Schichten sind in . Abb. 14.11d ein-
. Abb. 14.11a und b gezeigte sensorische Homunkulus getragen, eine detaillierte Beschreibung wurde in Ab-
zusammengesetzt. Aus ihm lässt sich, ganz ähnlich wie bei schn. 5.3.1 gegeben.
dem ihm benachbart liegenden motorischen Homunkulus
G In der sensorischen Hirnrinde ist die Körperperi-
(. Abb. 13.20 in Abschn. 13.6.5), die Botschaft ablesen, dass
pherie somatotopisch abgebildet. Mundregion und
diejenigen Körperareale, die für die Tastempfindungen
Fingerspitzen sind weit überproportional repräsen-
besonders viel benutzt werden, wie die Mundregion und
tiert. Die kortikalen Kolumnen sind nicht nur in
die Fingerspitzen, weit überproportionale Areale auf der
Bezug auf die Topologie, sondern auch modalitäts-
somatosensorischen Hirnrinde einnehmen: Den dichten
spezifisch organisiert.
Sensorsystemen der Periphere ist zur optimalen Auswer-
tung der von dort kommenden Information ein besonders
großer Anteil des zentralen Apparats zur Verfügung gestellt 14.4.3 Zentrifugale Hemmsysteme
(Box 14.3). Der Homunculus ist nicht statisch und nicht in der Somatosensorik
immer gleich: Es kann rasch zu Reorganisationen der Are-
ale kommen, die stabil oder reversibel sind (Abschn. 15.2.3, Aufgaben und Wirkweisen absteigender
16.5.3, 24.4.4). Hemmung
Die somatosensorischen Kortexareale weisen innerhalb Ein letzter genereller und wichtiger Aspekt der Abbildung
ihrer topografischen Regionen – wie der übrige Kortex von Reizen in den zentralen sensorischen Systemen ist der,
auch, Abschn. 5.3.1 – eine Organisation in Schichten dass die sensorischen Bahnen nach der bisherigen Schilde-
und Kolumnen auf. Der in . Abb. 14.11d abgebildete Aus- rung zwar als aufsteigende Einbahnstraßen erscheinen, dies
schnitt aus der Fingerregion zeigt, dass die Kolumnen, d. h. aber keineswegs sind. Vielmehr durchzieht das gesamte
die in ihnen enthaltenen Neuronenpopulationen, nicht Nervensystem, von der Hirnrinde bis in das Rückenmark
nur topografisch organisiert (z. B. eigene Kolumnen für den (bei manchen Sinnesorganen sogar bis in die Sensoren
2. bis 4. Finger), sondern auch für die verschiedenen selbst), eine Fülle absteigender Bahnen, deren wesentliche
Modalitäten und Submodalitäten der Somatosensorik Aufgabe die Kontrolle des afferenten Zustroms in den ver-
spezialisiert sind (z. B. eigene Kolumnen für schnell und schiedenen sensorischen Kerngebieten ist. Diese absteigen-
langsam adaptierende Mechanorezeptoren). Die Hauptauf- de Kontrolle schützt vor einer Überflutung mit unwich-

Box 14.2. Neuronale und subjektive Zeitstruktur von Empfindungen

Eine intakte sensorische Hirnrinde ist nach allen experi- Nach diesen Befunden Libets kann ein zartes, aber
mentellen und klinischen Befunden eine notwendige Vor- gerade überschwelliges Berühren der Haut erst geraume
aussetzung für eine räumlich geordnete bewusste Sinnes- Zeit nach dem Reiz bewusst empfunden werden. Trifft
wahrnehmung. Welche Vorgänge laufen aber in der sen- dies tatsächlich zu? Erleben wir die Ereignisse in unserer
sorischen Hirnrinde im Einzelnen bei einer bewussten Umwelt genau um die Zeit verzögert, die für eine ange-
Empfindung ab? B. Libet und seine Mitarbeiter in San messene Aktivierung der kortikalen Neurone notwendig
Francisco sind in der Aufklärung dieser Frage einige wich- ist? Libet ist dieser Frage experimentell nachgegangen,
tige Schritte weitergekommen, in dem sie die von Penfield indem er die durch zeitverschobene periphere und korti-
zuerst beschriebene Möglichkeit, durch direkte elektrische kale Reize ausgelösten Empfindungen in ihrer zeitlichen
14 Reizung der sensorischen Hirnrinde bewusste Empfindun- Beziehung zueinander verglich. Seine Antwort ist ver-
gen auszulösen, systematisch ausnutzten, um diejenigen blüffend: Nein, wir datieren die Ereignisse nicht erst
Minimalbedingungen kortikaler Neuronenaktivität wenn die minimal notwendigen Aktivierungsvorgänge
herauszufinden, die für das Auftreten einer bewussten in der Hirnrinde abgelaufen sind, sondern in die Zeit, in
Empfindung notwendig sind. Dabei stellte sich heraus, der die ersten Impulse aus der Peripherie im Kortex ein-
dass ein einzelner elektrischer Reiz der Hirnrinde (Recht- treffen, nämlich etwa 15–25 ms nach dem Reiz. Offen-
eckimpuls von 1 ms Dauer) nie eine bewusste Empfindung sichtlich, das ist jedenfalls Libets Erklärung dieses über-
auslöst. Dazu ist immer eine Serie von Reizen (Reizfre- raschenden Befundes, wird die subjektive Empfindung,
quenz 20–120 Hz) notwendig, wobei die minimal notwen- wenn sie auftritt, über einen unbekannten Mechanismus
dige Dauer der Reizserie von der Reizstärke abhängt. Im auf die Ankunftzeit der ersten Impulse rückdatiert
Schwellenbereich muss sie bei etwa 500 ms liegen, bei (Box 21.1 und 21.3).
hoher Reizstärke können 100 ms ausreichen. Daraus ist zu
folgern, dass einer bewussten Empfindung die Erregung Literatur: Libet B (2004) Mind time. Harvard University Press, Cam-
bridge
einer ausreichend großen Zahl kortikaler Neurone für eine
beträchtliche Zeit, nämlich bis zu 0,5 s, vorausgehen muss.
14.4 · Zentrale Weiterleitung und Verarbeitung somatoviszeraler Information
313 14

. Abb. 14.12a–c. Absteigende Hemmung im somatoviszeralen einer Hemmung der noxischen Informationsübertragung an Hinter-
afferenten System. a Schematisierter, stark vereinfachter Überblick hornneuronen. c Angriffspunkte und Wirkweise deszendierender
über die deszendierenden hemmenden Bahnsysteme. Hemmende Hemmung. Die afferenten Eingänge A, B und C können entweder
Bahnen und Synapsen sind rot gezeichnet. b Tierexperimenteller schon präsynaptisch gehemmt (axoaxonische Synapsen auf A und B
Nachweis eines aus dem Hirnstamm absteigenden hemmenden oder in ihrer postsynaptischen Wirksamkeit (axosomatische Synapse)
Bahnsystems: elektrische Reizung umschriebener Kerngebiete des moduliert werden
zentralen Höhlengraus (PAG) über implantierte Elektroden führt zu

tigen Informationen, indem sie deren Übertragung und Wenn die in den aufsteigenden Bahnen übermittelte
Weiterleitung hemmt. sensorische Information selbst das absteigende Hemmsys-
Die Übersicht in . Abb. 14.12a zeigt absteigende tem aktiviert, liegt eine negative Feedback-Hemmung vor.
Hemmsysteme des somatosensorischen Systems (rot ge- Sie bewirkt eine automatische Einstellung des Empfind-
kennzeichnet), die von Kortex und Hirnstamm ausgehen. lichkeitsbereichs der Sinneskanäle auf die Intensität der
In . Abb. 14.12b ist exemplarisch gezeigt, wie die afferente afferenten Signale.
Information aus Hautsensoren bei der Umschaltung im
Rückenmark durch Aktivierung entsprechender Struktu- Beteiligung der Motorik an der Wahrnehmung
ren im Mittelhirn gehemmt werden kann. Die Hemmung Auch über die Motorik wird eine zentrifugale Wirkung auf
wird über eine absteigende Bahn vermittelt, sie kann prä- die Meldungen aus den Sensoren ausgeübt. Man denke
oder postsynaptisch auf die Informationsübertragung aus etwa die Steuerung der Muskelspindeln über die Gamma-
der Haut zugreifen. motorik (Abschn. 13.5.1), die Bewegung der Finger beim
. Abbildung 14.12c zeigt schließlich, über welche An- Tasten (Abschn. 13.6.5) oder der Augen beim Fixieren (Ab-
griffspunkte die absteigende Hemmung ihre Wirkung schn. 17.1.4). Sie sind ebenfalls zu den Mechanismen zen-
entfalten kann. Die hier gezeigte Verschaltung könnte bei- trifugaler Modifikationen im Sinneskanal zu rechnen. Die
spielsweise dazu dienen, die Größe des rezeptiven Feldes genannten Beispiele sollten verdeutlichen, dass das ZNS bei
eines zentralen Neurons durch zunehmende deszendie- der Wahrnehmung die periphere Information nicht nur
rende Hemmung zu verkleinern oder die Modalität eines aufnimmt, sondern in einer aktiven Leistung diese Infor-
Neurons, auf das verschiedene Arten von Afferenzen mation auf vielfältige Weise beeinflusst und steuert.
konvergieren (A und B in . Abb. 14.12c), zu verändern. Mit
anderen Worten, über diese deszendierenden Mechanis- G Über absteigende, teils prä-, teils postsynaptische
men ist auch eine Empfindlichkeitskontrolle oder Bereichs- Hemmung kann die Empfindlichkeit sensorischer
einstellung der afferenten Informationsübertragung mög- Systeme moduliert werden. Feedback-Hemmung
lich, womit gewährleistet wird, dass schwache Signale gut sorgt für automatische Bereichseinstellung der
übertragen werden und sehr starke Signale die Sinneskanäle Sinneskanäle. Auch das motorische System beteiligt
nicht übersteuern. sich an der Kontrolle der afferenten Eingänge.
314 Kapitel 14 · Allgemeine Sinnesphysiologie und Grundlagen der Wahrnehmungspsychologie

14.5 Allgemeine Wahrnehmungs- men wird, der stärkste so groß, dass er fast immer wahrge-
psychologie nommen wird. Als Schwelle wird diejenige Reizstärke be-
zeichnet, bei der 50% der Reize erkannt werden.
14.5.1 Sensorische Schwellenmessungen
G Unter Reiz- oder Absolutschwelle versteht man die-
Grenzwertmethode und Konstantreizmethode jenige minimale Reizintensität, die eine Empfindung
hervorruft. Sie wird oft auch als Reizlimen, RL,
Der kleinste Reiz, der gerade eine bestimmte Empfindung
bezeichnet. Grenzwertmethode oder Konstantreiz-
hervorruft, ist ein Maß für die Absolutschwelle oder Reiz-
methode können zur Bestimmung des RL herange-
schwelle dieser Empfindung. Häufig wird dafür auch die
zogen werden.
Bezeichnung Reizlimen, abgekürzt RL, verwendet. Da jedes
Sinnesorgan, wie alle biologischen Systeme, eine gewisse
Variabilität aufweist, kann das RL nur durch mehrfache Absolutschwellenmessungen im
Messungen ermittelt werden. Verhaltensversuch mit Tieren
Die Reizintensität kann bei diesen Messungen in kleinen Die oben geschilderte Grenzmethode lässt sich auch einset-
Schritten von deutlich unterschwelligen zu deutlich über- zen, um die sensorischen Schwellen von Tieren zu bestim-
schwelligen Werten (oder umgekehrt) verändert werden men. Es soll hier ein Versuch geschildert werden, in dem
(diese Methode wird Grenzwertmethode genannt), oder mit Hilfe einer operanten Konditionierung (Abschn. 25.1.3)
verschiedene schwellennahe Reize werden mehrfach in die Sehschwelle und die Dunkeladaptation bei einer Taube
randomisierter Reihenfolge angeboten. Der Proband gibt quantitativ bestimmt wird (die langsame Zunahme der
bei dieser Konstantreizmethode jeweils an, ob er den Reiz Empfindlichkeit des Gesichtssinnes bei Abnahme der Be-
wahrnimmt oder nicht. Dabei soll der schwächste der aus- leuchtungsstärke heißt Dunkeladaptation, Abschn. 17.1.2).
gewählten Reize so klein sein, dass er fast nie wahrgenom- Zur Vorbereitung des Versuches werden bei der Taube 2

Box 14.3 Die primären Sinnesmodalitäten (Sehen, Hören, Tastsinn kooperieren mehr als bisher angenommen

Die getrennte und oft weit voneinander entfernte anato- tierung von körpernahen Tastreizen nicht ohne Hilfe der
mische Lokalisation der primären Sinnessysteme im Ge- richtungssensitiven Neurone des Sehsystems lösen.
hirn (Kap. 16 bis 18) legt nahe, dass sie streng unabhängig Die Abbildung zeigt die Verteilung von Hirnaktivie-
voneinander arbeiten. Dies ist bei vielen Reizen durchaus rung (rot, frontal oben, okzipital unten), gemessen mit
der Fall, aber bei bestimmten Aufgaben und nach peri- langsamen Hirnpotenzialen (Kap. 21), von Blindgebore-
pheren und zentralen Läsionen (Zerstörung von Nerven- nen (rechts) und sehenden Personen beim mentalen Ro-
gewebe) treten erstaunliche Überlappungen in Funktion tieren von vorher ertasteten geometrischen Körpern. Man
und anatomischer Lokalisation der Verarbeitung auf. erkennt, dass Blindgeborene die Tastaufgabe auch mit ih-
Z. B. erfolgt die Unterscheidung der Orientierung von 2 rem Okzipitalkortex lösen, wo Sehende die visuelle Welt
erhöht auf einer Plastikunterlage aufgebrachten Streifen- analysieren, während Sehende die Aufgabe im Tastsystem
mustern (nicht abgebildet), deren Richtung mit geschlos- ihres zentralen Kortex (wiederum rot) lösen können.
senen Augen zu ertasten ist, nicht im somatosensorischen
Literatur: Röder B, Rösler F, Henninghausen E, Näcker F (1996)
System des Gyrus postcentralis und oberen Parietallap- Event-related potentials during auditory and somatosensory
pen, sondern im Sehsystem des Okzipitallappens. Offen- discrimination in sighted and blind subjects. Cogn Brain Res
14 sichtlich kann das Tastsystem alleine die Richtungsorien- 4:77–93
Röder B, Rösler F, Henninghausen E, Näcker F (1996). Mit freundlicher
Genehmigung von Elsevier.
14.5 · Allgemeine Wahrnehmungspsychologie
315 14

instrumentelle Reaktionen eingeübt: Die Taube pickt auf


Taste A der Anordnung in . Abb. 14.13a, wenn sie den
Lichtreiz sieht, und sie pickt auf Taste B, wenn sie keinen
Lichtreiz sieht. Nur dafür wird sie belohnt (7 Legende).
Zu Versuchsbeginn sieht die Taube das relativ hell
leuchtende Reizlicht. Entsprechend dem eingeübten Ver-
halten wird sie mehrfach die Taste A picken, und die Reiz-
kontrolle (. Abb. 14.13a) wird daraufhin jeweils die Hellig-
keit des Reizlichtes herabsetzen. Schließlich unterschreitet
die Helligkeit des Reizlichtes die Reizschwelle, worauf die
Taube beginnt, Taste B zu picken. Dies erhöht wiederum
über die Reizkontrolle die Lichtstärke, und Taste B wird
nur so lange gepickt werden, bis die Stärke des Reizlichtes
wieder überschwellig wird. Mit Hilfe der Betätigung der
beiden Tasten wird also die Taube eine Lichtstärke einstel-
len, die um ihre absolute Sehschwelle schwankt.
Mit der eben geschilderten Versuchsanordnung lassen
sich nun auch zeitliche Änderungen der Sehschwelle be-
stimmen, z. B. der Zeitverlauf der Dunkeladaptation. Nach
dem Übergang von einer hellen Raumbeleuchtung zur Ab-
dunkelung stellt die Taube für etwa 25 min eine relativ hohe
Schwellenreizstärke von 1 μl ein (. Abb. 14.13b). Danach
fällt die Schwellenreizstärke schnell ab und erreicht etwa 1 h
nach Abdunkelung einen Minimalwert nahe 0,01 μlm. Wäh-
rend dieser Zeit hat also die am Verhalten der Taube ables-
bare Empfindlichkeit des Sehorgans etwa um den Faktor
100 zugenommen. Die so gewonnene Dunkeladaptations-
kurve der Taube ist der entsprechenden subjektiv bestimm-
ten Dunkeladaptationskurve des Menschen (. Abb. 17.2 in
Abschn. 17.1.2) in Zeitverlauf und Amplitude sehr ähnlich.

Messung von Unterschiedsschwellen


im Verhaltensversuch
Auch andere Schwellenwerte können bei Tieren durch die
eben geschilderten Verhaltensuntersuchungen bestimmt
werden. Eingehend untersucht wurde z. B. die Abhängig-
keit der absoluten Sehschwelle von der Wellenlänge des . Abb. 14.13a, b. Sehschwellenbestimmung im Verhaltensver-
Reizlichts. Auf diese Weise wurden die Absorptionskurven such bei einer Taube. a Bei diesem Experiment kontrolliert der Reiz
der von verschiedenen Säugetieren, Fröschen, Fischen, das Verhalten der Taube und die Antworten der Taube die nachfol-
genden Reize, und zwar wie folgt: Ist der Lichtreiz an, so schaltet ihn
Vögeln, aber auch Tintenfischen benutzten Sehfarbstoffe
Picken der Taste A aus; gleichzeitig öffnet sich zur Belohnung eine
(Pigmente) bestimmt. Es können aber auch Ton-Unter- Futterklappe. Ist der Lichtreiz aus, so führt Picken der Taste B zum
schiedsschwellen oder Orts-Unterschiedsschwellen ge- Öffnen einer Futterklappe. Auf diese Weise lernt die Taube schnell,
messen werden (Abschn. 14.5.2). bei Lichtreiz Taste A und anschließend Taste B zu picken. Das Verhalten
der Taube beeinflusst die Reizsituation dadurch, dass über einen auto-
G Mit Hilfe der operanten Konditionierung können matisierten Schaltkreis nach jedem Picken von Taste A die Helligkeit
sinnesphysiologische Messungen an Tieren, z. B. die des Lichtreizes reduziert wird, während Picken der Taste B die Hellig-
Sehschwelle und deren Änderung im Verlauf der keit des nachfolgenden Lichtreizes erhöht. Auf diese Weise oszilliert
die Helligkeit des Lichtreizes um die jeweilige Sehschwelle der Taube.
Dunkeladaptation, durchgeführt werden. Gleiches
b Verlauf der von der Taube eingestellten Schwellenreizstärke nach
gilt für die Messung anderer Schwellenwerte, z. B. Abschalten einer hellen Hintergrundsbeleuchtung
von Ton-Unterschiedsschwellen.
316 Kapitel 14 · Allgemeine Sinnesphysiologie und Grundlagen der Wahrnehmungspsychologie

14.5.2 Überschwellige psychophysische nur an die enormen Helligkeitsunterschiede im Verlaufe


Beziehungen eines Tages, 1:100.000 und mehr), ist ein sich automatisch
anpassendes Messgerät einem mit starrem Messbereich
Messen einer subjektiven Unterschiedsschwelle überlegen.
Untersucht man deutlich überschwellige Reize, dann lässt
G Als Unterschiedsschwelle bezeichnet man denjeni-
sich eine weitere Schwelle definieren, die Unterschieds-
gen Reizzuwachs, der nötig ist, um eine eben merk-
schwelle, auch Differenzlimen (DL) genannt (» just notice-
liche stärkere Empfindung auszulösen. Nach der
able difference«, jnd). Wie der englische Begriff sagt, ver-
Weber-Regel ist dieser Reizzuwachs ein konstanter
steht man darunter denjenigen Betrag, um den ein Reiz
Bruchteil des Ausgangsreizes.
größer oder kleiner sein muss als ein Vergleichsreiz, damit
er gerade eben merklich als stärker bzw. schwächer emp-
funden wird. Weber-Fechner-»Gesetz«
Betrachten wir ein Beispiel: Es wird bei einer Versuchs- Auf mathematischem Wege hat G.T. Fechner im 19. Jahr-
person gemessen, um wie viel sich 2 Druckreize auf die hundert aus der Weber-Regel die Beziehung zwischen der
Handfläche in ihrer Stärke unterscheiden müssen, damit Intensität der Empfindung E und der Reizstärke S herge-
die Versuchsperson erkennt, dass sie verschieden sind. leitet. Er erhielt dabei (indem er die Weber-Regel über ΔS
Prüft man dies, indem man völlig gleich aussehende, aber integrierte) das Weber-Fechner-»Gesetz«, nämlich die
unterschiedlich schwere Gewichte auf die Haut aufsetzt, so Regel, dass die Empfindungsstärke E dem Logarithmus der
findet man beispielsweise, dass nach einem Gewicht von Reizstärke S proportional sei. Also
100 g ein solches von 101 g oder 102 g nicht als verschieden
schwer, wohl aber eines von 103 g als schwerer empfunden E≈log S.
wird. Beginnt man mit 200 g, so verspürt die Versuchsper-
son keinen Gewichtsunterschied, wenn anschließend 203 g, Diese Proportionalitätsbeziehung, die auch als psychophy-
sondern erst wenn 206 g aufgesetzt werden. Mit anderen sisches Grundgesetz bezeichnet wird, besagt im Grunde
Worten, der Druckreiz muss nicht um einen absoluten Be- nichts anderes, als dass eine Verdoppelung der Reiz-
trag (also z. B. 3 g), sondern um einen bestimmten Anteil stärke nicht zu einer Verdoppelung der Empfindung, son-
(Prozentsatz) des Ausgangsreizes verändert werden (in dern zu deutlich weniger, sagen wir zu dem 1,3 fachen
unserem Beispiel um 3/100 oder 3%), um in seiner Reiz- der Ausgangsempfindung führt. Für eine Verdoppelung
stärke als unterschiedlich empfunden zu werden. der Empfindung müsste dann etwa die zehnfache Reiz-
stärke eingesetzt werden. Auch dies ist ein Ausdruck des
Weber-Regel bei Unterschiedsschwellen oben schon angesprochenen Anpassungsmechanismus
von Empfindungen der Sinne an den weiten, von ihnen abzudeckenden Mess-
Solche Untersuchungen wurden ab 1834 von E.H. Weber bereich: Bei schwachen Reizen ist die Messempfind-
für Druckempfindungen, später für viele Arten von lichkeit hoch, bei starken ist sie geringer. Aber in beiden
Sinnesempfindungen durchgeführt. Er prüfte beispiels- Fällen bleibt die relative Unterschiedsempfindlichkeit er-
weise, um wie viel sich die Helligkeit zweier Lichtreize, halten.
die Frequenz zweier Töne oder die Konzentration zweier
G Fechners psychophysische Beziehung beruht auf
Zuckerlösungen unterscheiden mussten, um von Auge,
14 Ohr und Geschmack gerade als merklich verschieden er-
der Weber-Regel und besagt, dass einem linearen
Zuwachs der Empfindungsstärke ein logarithmi-
kannt zu werden. Immer fand er die gleiche Spielregel: Die
scher Zuwachs der Reizstärke entspricht.
Unterschiedsschwelle ΔE (delta E) ist proportional (≈)
dem relativen Reizzuwachs ΔS/S, wobei S die Ausgangs-
reizstärke ist Stevens psychophysische Beziehung
Die experimentelle Nachprüfung der Weber-Fechner-Regel
ΔE ≈ ΔS/S = konstant ergab, dass sie in mittleren Reizstärkebereichen in etwa
»stimmte«, d. h. die experimentell gefundenen Werte zeig-
Diesen Befund nennt man die Weber-Regel. ten die geforderte logarithmische Beziehung zwischen
Die Weber-Regel zeigt uns, dass bei der Entwicklung Reizstärke und Empfindungsintensität. Bei sehr großen
der Sinnesorgane diese so angelegt wurden, dass ihre An- und sehr kleinen Reizstärken wichen die Ergebnisse aber
sprechempfindlichkeit sich mit dem Messbereich, in dem deutlich von den errechneten Werten ab. Diese unbefrie-
sie gerade arbeiten, automatisch verändert. Die Sinne sind digende Diskrepanz zwischen Vorhersage und Befund gab
also Messapparaturen mit automatischer, von der Mess- zu zahlreichen Experimenten Anlass, die zu dem Schluss
größe abhängiger Empfindlichkeitseinstellung. Gerade führten, dass die Beziehungen zwischen Reiz und Emp-
wenn die zu messende Größe in weiten Bereichen schwankt, findungsstärke meist besser durch Potenzfunktionen be-
wie das praktisch bei allen Sinnen der Fall ist (denken wir schrieben werden, bei denen die Empfindungsstärke E
14.5 · Allgemeine Wahrnehmungspsychologie
317 14

proportional ist der n-ten Potenz der Reizstärke S, abzüg-


lich der Schwellenreizstärke So. Also

E≈(S–So)n oder auch E≈k × Sn,

wobei k jeweils die absolute Schwelle der Reizkategorie be-


stimmt (Abschn. 14.2.3 und 14.3.3 für die Übertragungs-
funktionen von Sensoren und sensorischen Neuronen).
Potenzbeziehungen der obigen Art können in weiten
Bereichen die Relation von Reiz- und Empfindungsin-
tensität beschreiben. Sie heißen nach ihrem Entdecker
. Abb. 14.14. Vergleich der psychophysischen mit der neurona-
Stevens-Potenzfunktionen. Ihre Übertragungseigenschaf-
len Intensitätsfunktion. Abhängigkeit der subjektiven Empfindungs-
ten für unterschiedliche Werte von n wurden bereits in Ab- intensität (rot, Kreuze) des Geschmacks und der Frequenz der Aktions-
schn. 14.2.3 an Hand der . Abb. 14.5 ausführlich beschrie- potenziale in Nervenfasern des Geschmacksnerven (blaue, Kreise)
ben und sind dort nachzulesen. von der Konzentration von Zitronensäure und Zuckerlösung. Die Ab-
leitung der Aktionspotenziale erfolgte während Operationen im
G Die psychophysische Beziehung von Stevens besagt, Mittelohr, an dessen Wand die Chorda tympani mit den Geschmacks-
dass Reizstärke und Empfindungsstärke über eine nervenfasern entlang zieht. Die Testlösungen wurden auf die Zunge
Potenzfunktion miteinander verbunden sind. Dies gespült. Abszissen- und Ordinatenskalen sind logarithmisch darge-
stellt. Die Steilheiten der Geraden (n) sind angegeben
ist die gleiche Beziehung, wie sie für die Kodierung
der Reizamplitude durch Sensoren und zentrale
sensorische Neurone gefunden wurde.
Linien approximieren, und diese haben die gleiche Steigung
wie die entsprechenden, durch die subjektive Messung be-
14.5.3 Korrelationen zwischen stimmten. Bei diesen Geschmacksqualitäten lassen sich
physiologischen und also die objektiv gemessene Reizantwort und die subjektive
Wahrnehmungsprozessen Empfindungsintensität durch Stevens-Potenzfunktionen
mit den gleichen Exponenten n beschreiben (. Abb. 14.5 in
Vergleich der psychophysischen mit der Abschn. 14.2.3).
neuronalen Intensitätsfunktion
G Bei Erhöhung der Reizstoffkonzentration nehmen
Zwei Beispiele für die Schätzung des Vielfachen einer Emp-
die Süß- und Sauerempfindungen mit der gleichen
findungsintensität zeigt die . Abb. 14.14. Hier wurde be-
exponentiellen Steigung zu wie die Aktionspoten-
stimmt, in welcher Beziehung die Konzentration einer
zialfrequenzen der entsprechenden Geschmacks-
Zitronensäure- und einer Zuckerlösung (Abszisse) zu der
nervenfasern in der Chorda tympani.
Stärke der Empfindung (rote Ordinate) sauer bzw. süß
stehen. In beiden Fällen ließen sich die Messwerte durch
(rote) Geraden verbinden, deren Steilheiten die Exponen- Intermodaler Intensitätsvergleich
ten n=0,85 bzw. n=1,1 ergaben. Die Süßempfindung nimmt Viele Versuchspersonen haben Schwierigkeiten, in Ver-
also bei Erhöhung der Reizstoffkonzentration rascher zu als suchen nach Art der . Abb. 14.14 die Empfindungsintensi-
die Sauerempfindung. Sie setzt außerdem erst bei einer tät als Vielfaches eines Standardreizes (also in Zahlenwer-
höheren Anfangskonzentration ein. Für den Koch bedeutet ten) auszudrücken. Dies lässt sich nach Stevens umgehen,
dies, dass er zwischen »nicht süß genug« und »zu süß« indem man die Empfindungsstärke von der Versuchsper-
offensichtlich nur einen schmalen Spielraum hat. son auf andere Weise ausdrücken lässt. Beispielsweise wird
Als eine seltene Besonderheit war in dem Experiment die Versuchsperson gebeten, die empfundene Lautstärke
der . Abb. 14.14 ein unmittelbarer Vergleich der subjekti- eines Tones durch entsprechenden Druck mit der Hand auf
ven und objektiven Reizantworten möglich. Die Versuchs- den Hebel eines Kraftmessers (Handdynamometer) anzu-
personen waren nämlich Patienten, die sich wegen einer geben. Hier wird also die Empfindungsstärke eines Sinnes
Schwerhörigkeit einer Mittelohr-Operation (Stapes-Mobi- oder einer Modalität durch die eines anderen Sinnes (in
lisation) unterziehen mussten. Bei dieser Operation wird unserem Beispiel des Kraftsinnes) ausgedrückt.
im Mittelohr ein Chorda tympani genannter Nerv freige- Beispiele für die Ergebnisse solcher intermodalen In-
legt, in dem die Geschmacksfasern zum Gehirn ziehen. tensitätsvergleiche zeigt . Abb. 14.15. In dieser Abbildung
Von diesen Nervenfasern konnten während der Operation ist für eine Reihe von Modalitäten die gemessene Empfin-
Aktionspotenziale abgeleitet werden und so die neurale dungsintensität dargestellt als »Handkraft« (Ordinate) in
Antwort auf Geschmacksreize verschiedener Intensität re- Abhängigkeit von der Reizstärke (Abszisse). Die Mess-
gistriert werden. Diese Messwerte sind in . Abb. 14.14 punkte für jede Modalität liegen in dem doppeltlogarith-
blau eingetragen, sie lassen sich ebenfalls durch gerade mischen Koordinatensystem jeweils auf einer Geraden,
318 Kapitel 14 · Allgemeine Sinnesphysiologie und Grundlagen der Wahrnehmungspsychologie

Zeitliches Auflösungsvermögen
Will man das zeitliche Auflösungsvermögen einer Sinnes-
modalität bestimmen, so misst man dazu die Zeitunter-
schiedsschwellen von Reizen, also z. B. um wie viele Milli-
sekunden ein Ton oder ein Lichtreiz verlängert werden
muss, bis er als länger als der Ausgangsreiz erkannt werden
kann.
Bei periodischen Reizen, also z. B. bei einem Flimmer-
oder Flackerlicht, kann die Frequenz, bei der die Reize ge-
rade nicht mehr getrennt wahrgenommen werden können,
also die Verschmelzungsfrequenz, gemessen werden. Beim
Auge liegt die dort Flimmerfusionsfrequenz genannte Ver-
schmelzungsfrequenz in Abhängigkeit von der Leuchtdich-
te und der Reizfläche zwischen 22 bis maximal 80 Licht-
. Abb. 14.15. Messung der Beziehung zwischen Reizstärke und reizen pro Sekunde (Abschn. 17.1.3). Insgesamt ist festzu-
Empfindungsstärke mit der Methode des intermodalen Intensi- stellen, dass die Sinnesorgane ein schlechtes zeitliches
tätsvergleichs. Die Versuchsperson zeigt durch Druck auf einen Kraft-
Auflösungsvermögen haben. Sie sind daher für genaue
messer (Handdynamometer) die Stärke ihrer Empfindung bei Reizen
der angegebenen Modalitäten an. Deren Reizstärken sind in der Zeitmessungen nicht sehr geeignet.
Abszisse in willkürlichen Einheiten angegeben. Kleine Zunahmen der
G Das zeitliche Auflösungsvermögen einer Sinnes-
Reizstärke führen beim Schmerz zu starken Zunahmen der Schmerz-
empfindungen, während eine große Zunahme der Lichtintensität zu modalität lässt sich an Hand von Zeitunterschieds-
nur geringen Änderungen der Helligkeitsempfindung führt. Die ande- schwellen quantifizieren. Insgesamt ist das zeitliche
ren Sinnesmodalitäten liegen zwischen diesen Extremen Auflösungsvermögen der meisten Sinne schlecht.

d. h. sie können durch Potenzfunktionen beschrieben wer- Adaptation und Deadaptation


den. Die Exponenten sind an einigen Beispielen angegeben. Bei länger dauernden Reizen nimmt die Empfindungs-
Sie reichen von n=2,13 für den Hautschmerz bis zu n=0,21 intensität ab. Dieses Phänomen bezeichnen wir als Adapta-
für die Lichtempfindung (hier sei einschränkend ange- tion. . Abbildung 14.16 zeigt als Beispiel die Adaptation der
merkt, dass nicht alle Schmerzreize so hohe Exponenten Geruchsempfindung auf Schwefelwasserstoff. Unmittel-
haben; sie sind z. T. auch <1). bar nach Einschalten einer konstanten Konzentration des
Riechstoffes wird von den Versuchspersonen eine Empfin-
G Beim intermodalen Intensitätsvergleich wird die
dungsintensität von 56 geschätzt. Die Empfindungsinten-
Intensität der Wahrnehmung in einem Sinnessystem
sität fällt innerhalb der ersten Minuten jedoch steil ab und
als Größe einer Wahrnehmung in einem anderen
stellt sich nach etwa 5 min auf eine konstante Intensität von
Sinnessystem ausgedrückt (Box 14.4).
etwa 20 ein.

Box 14.4. Schmerztagebücher basieren auf


intermodalem Intensitätsvergleich
14 Chronische Schmerzpatienten werden häufig gebeten,
ein Schmerztagebuch zu führen, d. h. mehrmals am
Tag u. a. die Intensität ihrer Schmerzen zu dokumen-
tieren. Ihnen wird dazu eine z. B. 10 cm lange Linie vor-
gelegt, deren linker Anfang »keine Schmerzen« und
deren rechtes Ende »unerträgliche Schmerzen« be-
deuten. Sie werden dann gebeten, auf dieser »visuel-
len Analogskala«, ihre Schmerzintensität anzugeben,
d. h. zwischen diesen Eckpunkten anzumerken. Die
Schmerzintensität wird also in die Länge eines Strichs,
nämlich den Abstand vom linken Anfang, umgesetzt.
Diese Art des intermodalen Intensitätsvergleichs hat
sich bei Schmerztagebüchern als stabiler und aussage-
. Abb. 14.16. Adaptation einer Geruchsempfindung. Oben (blau)
kräftiger erwiesen als rein verbale Schmerzangaben.
Reizamplitude (Schwefelwasserstoffkonzentration von 6,5×10−6
Schmerztagebücher sind wertvolle Hilfen für Diagnose Volumenanteilen), unten (rot) Empfindungsintensität, geschätzt von
und Therapie chronischer Schmerzpatienten. 4 Versuchspersonen in je 10 Versuchen als Vielfaches einer Standard-
intensität
Zusammenfassung
319 14

Nach Beendigung des Reizes kommt es, wie ebenfalls organe werden dadurch viel empfindlicher für dynamische
in . Abb. 14.16 zu sehen, zur Deadaptation, d. h. zum Vorgänge als für statische Situationen. So spüren wir den
Wiederanstieg der Empfindlichkeit. Diese wurde so ge- Ring am Finger nicht, sofort aber die Fliege, die sich neben
messen, dass nach Abschalten des Dauerreizes der Ge- ihn setzt (s. auch 14.2.3 zur Adaptation in Sensoren).
ruchsreiz für kurze Perioden gegeben und die Empfin-
dungsintensität bestimmt wurde. Die subjektive Emp- G Die Abnahme der Empfindungsintensität bei länger
findlichkeit für den Reizstoff kehrt mit einem ähnlichen dauernden Reizen wird als Adaptation bezeich-
Zeitgang zurück, wie er für die Adaptation beobachtet net. Die Adaptation begünstigt die Wahrnehmung
wurde. von Änderungen der Reize. Nach dem Ende von
Adaptation auf Sinnesreize bedeutet eine Herabsetzung Dauerreizen erhöht sich die Empfindlichkeit des
der Empfindlichkeit für lange Reize. Sie begünstigt damit Sinnesorgans wieder. Dies wird Deadaptation
die Wahrnehmung von Änderungen von Reizen, die Sinnes- genannt.

Zusammenfassung

Unsere Sinnesorgane erfassen einen kleinen Ausschnitt Die periphere Aufnahme von Sinnesreizen durch die
aller Umweltreize. Die wissenschaftliche Betrachtung verschiedenen Modalitäten ist durch 2 Prozesse gekenn-
ihrer Leistungen umfasst: zeichnet, nämlich
5 Die objektive Sinnesphysiologie, die mit den 5 die Transduktion, das ist die Umwandlung des Reizes
gleichen Methoden beobachtet und analysiert wie in ein elektrisches Potenzial, das Generatorpotenzial,
bei der Erforschung anderer Körperorgane. Sie ver- dessen molekularer Mechanismus (meist das Öffnen
folgt insbesondere, in welcher Weise die Sinnesreize von Ionenkanälen) vielfach bekannt ist,
im peripheren und zentralen Nervensystem kodiert, 5 die Transformation, das ist die Umwandlung des Ge-
d. h. in elektrische Signale umgesetzt werden neratorpotenzials in Aktionspotenziale, die durch ihre
5 Die Wahrnehmungspsychologie (subjektive Sinnes- Frequenz und Dauer ihrer Impulssalven die Reizstärke
physiologie), welche die Empfindungen und Wahr- kodieren, wobei neben linearen besonders nicht-
nehmungen analysiert, die durch Reizung der Sinnes- lineare, nämlich Potenzfunktionen vorherrschen.
organe ausgelöst werden. Die Beziehungen zwischen
beiden Gebieten werden durch die Psychophysik Die anschließende zentrale Verarbeitung von Sinnes-
untersucht. reizen ist gekennzeichnet durch
5 divergente und konvergente Erregungsausbrei-
Beim Studium der Leistungen der einzelnen Sinne oder tung (beide gewährleisten die Weitergabe schwacher
Sinnesmodalitäten, kurz Modalitäten (von denen es Signale),
neben den 5 »klassischen« zahlreiche gibt) sind zu unter- 5 ausgeprägte Hemmvorgänge, z. B. laterale Hem-
scheiden: mung durch negative Rückkopplung (Umfeld-
5 deren Qualitäten (z. B. beim Auge Grauwert und hemmung), die der Kontrastverschärfung dienen
Farbe) und an der funktionellen Organisation der rezeptiven
5 Räumlichkeit (Lokalisation eines Lichtpunkts) Felder teilnehmen,
5 Zeitlichkeit (Dauer eines Lichtsignals) 5 Übertragungsfunktionen, die, wie in der Peripherie,
5 Quantität oder Intensität (z. B. Helligkeit) durch Potenzfunktionen am besten beschrieben
werden können,
Die Aufnahme von Reizen erfolgt durch spezielle Nerven- 5 modalitätsspezifische Weiterleitung, z. B. der so-
zellen, die Sinnesrezeptoren, Sinnesfühler oder Sensoren matosensorischen Modalität im Hinter- oder Vorder-
genannt werden. Der für sie optimale Reiz wird adäqua- seitenstrang des Rückenmarks und, für den Kopf-
ter Reiz genannt. Wir unterscheiden: bereich, im N. trigeminus,
5 Exterozeptoren, die Reize aus der Umwelt auf- 5 absteigende Kontrolle des afferenten Zuflusses zur
nehmen, Empfindlichkeitskontrolle und Bereichseinstellung,
5 Propriozeptoren, die Lage und Bewegung des auch unter Beteiligung des motorischen Systems.
Körpers registrieren, und
5 Enterozeptoren, die Vorgänge in den Eingeweiden
vermitteln. 6
320 Kapitel 14 · Allgemeine Sinnesphysiologie und Grundlagen der Wahrnehmungspsychologie

6
Bei der supraspinalen subkortikalen und kortikalen 5 der sensorischen Schwellen, auch Reizlimen, RL, ge-
Verarbeitung sensorischer Signale sind zu beachten nannt, die mit verschiedenen Methoden gemessen
5 der Thalamus, in dem alle sensorischen Signale auf werden können (Grenzmethode, Konstantreizme-
dem Weg zur Großhirnrinde umgeschaltet werden thode, Sensorische Entscheidungstheorie),
müssen, bildet nach den Hinterstrangkernen die 5 der Unterschiedsschwellen, auch Differenzlimen,
2. und vorletzte Synapse des spezifischen lemnis- DL, genannt, die weitgehend der Weber-Regel folgen
kalen Systems (Basis v.a. für Tastsinn und Tiefen- und deren Untersuchung unter Einbeziehung der Be-
sensibilität) ziehungen zwischen Reiz- und Empfindungsinten-
5 die kortikalen Areale der Somatosensorik (senso- sität zum Weber-Fechner-»Gesetz« und zur Stevens-
rische Hirnrinde, v. a. Gyrus postcentralis), die somato- Potenzfunktion geführt haben,
topisch organisiert sind (sensorischer Homunculus). 5 des intermodalen Intensitätsvergleichs, als der Be-
Zusammen mit dem unspezifischen System der For- ziehungen zwischen verschiedenen Sinnesorganen,
matio reticularis sind sie für bewusste Wahrnehmun- was ergab, dass sich die Intensität einer Empfindung
gen verantwortlich. auch als Intensität einer anderen ausdrücken lässt,
5 des zeitlichen Auflösungsvermögens, was bei allen
Die Wahrnehmungspsychologie samt der Psycho- Sinnesorganen recht schlecht ist und
physik misst an Mensch und an Tieren (dort mit Verhal- 5 von Adaptation und Deadaptation, die die Sinnes-
tensversuchen) die Leistungsfähigkeit der Sinnesorgane organe für dynamische Vorgänge empfindlicher
durch die Bestimmung machen als für langanhaltende Reize.

Literatur
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mind-brain. MIT Press, Cambridge
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5. Aufl. Springer, Berlin, Heidelberg New York Tokyo
Stevens SS (1975) Psychophysics. Wiley, New York
15

15 Somatosensorik

15.1 Mechanorezeption – 322


15.1.1 Qualitäten und absolute Schwellen des Tastsinns – 322
15.1.2 Räumliches Auflösungsvermögen und Intensitätsfunktionen
des Tastsinns – 323
15.1.3 Histologische Grundlagen des Tastsinns – 324
15.1.4 Funktionelle Eigenschaften der Mechanosensoren der Haut – 325
15.1.5 Vergleiche zwischen objektiver Sinnesphysiologie
und Wahrnehmungspsychologie beim Tastsinn – 328

15.2 Tiefensensibilität – 328


15.2.1 Qualitäten der Tiefensensibilität – 328
15.2.2 Sensoren und die zentrale Informationsverarbeitung
der Tiefensensibilität – 330
15.2.3 Tastwelt und Körperschema – 331

15.3 Thermorezeption – 332


15.3.1 Psychophysiologie der Thermorezeption – 332
15.3.2 Statische Temperaturempfindungen – 333
15.3.3 Dynamische Temperaturempfindungen – 333
15.3.4 Kalt- und Warmsensoren – 334
15.3.5 Weiterleitung und zentrale Verarbeitung von Temperatursignalen – 335

15.4 Viszerale Sensibilität – 336


15.4.1 Lokalisation und Funktion der Viszerosensoren – 336
15.4.2 Viszerozeption im kardiovaskulären System – 337
15.4.3 Viszerozeption im pulmonalen System – 337
15.4.4 Viszerozeption im gastrointestinalen System – 338
15.4.5 Viszerozeption im renalen System – 338

Zusammenfassung – 339
Literatur – 340

N. Birbaumer, Biologische Psychologie, DOI 10.1007/978-3-540-95938-0_15,


© Springer Medizin Verlag Heidelberg 2010
322 Kapitel 15 · Somatosensorik

)) dies mit Hilfe von Haaren oder Borsten unterschiedlicher


Dicke, die er auf einer Waage eichen konnte (. Abb.15.1a)
In der Haut, den Skelettmuskeln, den Sehnen, Gelenken und mit denen er die Haut systematisch abtastete.
und den Eingeweiden liegen Sensoren (Sinnesrezeptoren), Diejenigen Punkte, von denen eine taktile Empfindung
die mechanische, thermische und chemische Signale ausging, nannte er Tastpunkte. Hautregionen mit zahl-
(Reize) aus der Umwelt oder aus dem Körper aufnehmen reichen Tastpunkten sind insbesondere die Fingerkuppen
und dem Zentralnervensystem mitteilen. Die Gesamtheit und die Lippen, während Oberarme, Oberschenkel und der
der Sinnessysteme, welche die von diesen Sensoren auf- Rücken besonders wenige Tastpunkte aufweisen.
genommene Information verarbeiten, bezeichnen wir als Das Ergebnis einer Prüfung der taktilen Empfindungs-
somatoviszerale Sensibilität. Es ist üblich, die Sinnessys- schwellen der menschlichen Innenhand mit Hilfe eines
teme der Haut, der Gelenke und der Skelettmuskeln mit elektronisch geführten Stößels zeigt . Abb. 15.1b und c. Die
ihren Sehnen als somatische Sensibilität oder Somatosen- minimal notwendige Eindrucktiefe der Haut, die zu einer
sorik abzugrenzen von der Sensibilität der Eingeweide, die gerade wahrnehmbaren Berührungsempfindung führt,
als viszerale Sensibilität zusammengefasst wird. liegt in der Größenordnung von 0,01 mm (10 μm). An den
Die Sensoren (Sinnesrezeptoren) der somatoviszeralen Fingerspitzen sind die Schwellen dabei deutlich geringer als
Sensibilität können 4 Grundtypen zugeordnet werden, in der übrigen Handinnenfläche, der Zeigefinger hat aber
nämlich einerseits solchen, die entweder auf mechanische keine geringere Schwelle als seine Nachbarn.
(Mechanorezeptor) oder auf thermische (Thermorezeptor)
G Druck-, Berührungs-, Vibrations- und Kitzelempfin-
oder auf chemische Reize (Chemorezeptor) ansprechen
dungen sind die 4 Qualitäten des Tastsinns (der
und andererseits den Nozizeptoren, die nur auf intensive,
Mechanoperzeption). Berührungsempfindungen
gewebeschädigende oder bedrohende (noxische) Reize
lassen sich schon durch winzige Hauteindellungen
reagieren. Eine Sonderstellung nehmen die Juckrezepto-
(Größenordnung 0,01 mm) auslösen.
ren ein, die nur in der Haut vorkommmen. Mechanorezep-
toren spielen v. a. beim Tastsinn der Haut und bei der Tiefen-
sensibilität eine wichtige Rolle, die Thermorezeptoren
dienen v. a. dem Temperatursinn, und die Chemorezepto-
ren sind in der viszeralen Sensibilität am häufigsten anzu-
treffen. Der Schmerzsinn ist allen Geweben gemeinsam.

15.1 Mechanorezeption

15.1.1 Qualitäten und absolute Schwellen


des Tastsinns

Qualitäten des Tastsinns


Die menschliche Haut ist sehr empfindlich für mechanische
Reize. Schon das Bewegen eines einzelnen Haares auf der
Oberfläche des Handrückens kann eine deutliche Empfin-
dung auslösen. Insbesondere die Innenfläche der Hände,
die Lippen und die Zunge sind so berührungsempfindlich,
15 dass wir sie tagtäglich zur Exploration unserer Umwelt, v. a.
auch unserer Nahrung einsetzen. Eine systematische Unter-
suchung der Mechanorezeption fördert 4 Qualitäten zu-
tage, die sich in der alltäglichen Erfahrung, im Experiment
und in ihren rezeptiven Grundlagen deutlich voneinander
abgrenzen lassen, nämlich die Druck-, Berührungs-, Vibra-
. Abb.15.1a–c. Schwelle und Verteilung der Mechanosensibilität
tions- und Kitzelempfindungen.
auf der Haut. a Eichung eines Von-Frey-Haares durch Bestimmung
desjenigen Drucks (in Milligramm oder Gramm), bei dem sich das Haar
Empfindungsschwellen für mechanische oder die (Nylon-)Borste gerade verbiegt. Mit Hilfe eines abgestuften
Hautreize Satzes solcher Reizhaare lassen sich Schwelle und Verteilung der Tast-
Die moderne Erforschung des Tastsinnes begann an der punkte und die Schwellen und rezeptiven Felder von Mechano-
rezeptoren bestimmen. b Beispiel für mechanische Hautreizung mit
Schwelle des 20. Jahrhunderts mit der Beobachtung Max Hilfe eines elektronisch geführten Stempels oder Stößels. c Verteilung
von Freys, dass die Haut nicht auf ihrer ganzen Fläche, son- der Empfindungsschwellen für Reize der in b gezeigten Form, ange-
dern nur punktförmig mechanosensibel ist. Er überprüfte geben in μm Eindrucktiefe
15.1 · Mechanorezeption
323 15
Schwellen der Vibrations- und der
Kitzelempfindung
Vibrationsempfindungen können auf einfache Weise durch
Aufsetzen einer angeschlagenen Stimmgabel auf Knochen-
punkte (z. B. Ellenbogen, Schienbein) ausgelöst werden.
Bei genauerer Untersuchung verwendet man von Sinus-
generatoren angesteuerte Schwingspulen. Die absolute
Schwelle für eine bewusste Vibrationsempfindung hat
ihren besten Wert bei einer Schwingfrequenz von etwa
150–300 Hz. Die in diesem Bereich notwendige Vibra-
tionsamplitude liegt in der Größenordnung von 1 μm,
also, wie weiter unten gezeigt wird, im Schwellenbereich
der Pacini-Körperchen. Die Unterschiedsschwelle für Än-
derungen der Vibrationsfrequenz ist am besten im Bereich
niedriger Reizfrequenzen und steigt bei Frequenzen über
. Abb. 15.2a, b. Simultane Raumschwellen (Zweipunktschwel-
100 Hz steil an.
len) des Erwachsenen. a Messmethode: Die abgestumpften Spitzen
Was die Kitzelempfindung angeht, muss eingeräumt eines Stechzirkels werden mehrmals mit unterschiedlichem Abstand
werden, dass sich ihr weder klare Schwellen noch andere auf die Haut gesetzt. Gesucht wird der minimale Abstand zwischen
klare psychophysische Parameter zuordnen lassen (weitere den Spitzen, bei dem die beiden Reizpunkte gerade noch als getrennt
Einzelheiten Abschn. 15.1.4). wahrgenommen werden können. b Verteilung der Zweipunktschwelle
der Haut an verschiedenen Körperstellen des Menschen
G Vibrationen auf der Haut von 150–300 Hz können
schon bei einer Amplitude von nur 1 μm bewusst
werden. Für die Kitzelempfindung lässt sich keine Sukzessive Raumschwellen
klare Schwelle angeben.
Wird das räumliche Auflösungsvermögen eines Hautareals
geprüft, indem die Zirkelspitzen nacheinander aufgesetzt
15.1.2 Räumliches Auflösungsvermögen werden, so wird die sukzessive Raumschwelle getestet. Die-
und Intensitätsfunktionen se ist deutlich besser als die simultane, oft viermal so gut,
des Tastsinns also z. B. 1 mm statt 4 mm. Die Gründe für diesen Unter-
schied liegen teils in den mechanischen Eigenschaften der
Simultane Raumschwellen (Zweipunktschwellen) Haut, zum größten Teil in der Art und Weise ihrer Inner-
Als Maß für das räumliche Auflösungsvermögen der Haut vation und in der zentralen Verschaltung der afferenten
für taktile Reize wird seit langem die Bestimmung der Nervenfasern (Abschn. 14.3).
räumlichen Unterschiedsschwelle herangezogen, d. h. das Das räumliche Auflösungsvermögen der Haut für
Messen des Abstandes zwischen 2 taktilen Reizen, bei dem mechanische Reize kann aber auch auf andere Weise als
diese gerade noch als getrennt wahrgenommen werden. durch das Messen der simultanen und sukzessiven Raum-
Diese räumlichen Unterschiedsschwellen lassen sich mit schwellen geprüft werden. So kann beispielsweise gemes-
einem Stechzirkel (mit abgestumpften Spitzen, um Schmerz- sen werden, bei welchem Längenunterschied 2 auf die Haut
reize zu vermeiden) leicht untersuchen. Werden beide Spit- aufgesetzte Kanten als unterschiedlich lang empfunden
zen gleichzeitig aufgesetzt, also die simultane Raumschwel- werden oder welche Länge ein solcher Kantenreiz haben
le oder Zweipunktschwelle geprüft, so ergeben sich beim muss, damit unterschieden werden kann, ob er längs oder
Erwachsenen die in . Abb. 15.2 gezeigten Werte. Sie sind quer aufgesetzt wurde. Als Beispiele seien erwähnt, dass
ein Maß für das räumliche Auflösungsvermögen der Haut am Unterarm, bei dem die simultane Raumschwelle bei
für taktile Reize in der jeweiligen Körperregion. 30–40 mm liegt, die Länge zweier Kantenreize sich um
Entsprechend unserer Alltagserfahrung und in Über- 5–10 mm unterscheiden muss, um wahrgenommen zu
einstimmung mit der oben erwähnten Verteilung der Tast- werden und dass durchschnittlich eine minimale Kanten-
punkte sind die simultanen Raumschwellen der Zungen- länge von 17 mm erforderlich ist, um zu unterscheiden, ob
spitze, der Fingerkuppen und der Lippen besonders niedrig die Kante in mediolateraler oder proximodistaler Richtung
(Abstände in der Größenordnung von 1–3 mm), während aufgesetzt wurde.
auf dem Rücken und an den Oberarmen und Oberschen-
keln die Abstände in der Größenordnung von 50–100 mm G Das räumliche Auflösungsvermögen des Tastsinns
liegen. Das hängt aber nicht nur von der Zahl der Mecha- ist an der Zungenspitze, den Lippen und den Finger-
norezeptoren in der Peripherie, sondern auch von der kuppen besonders gut; es lässt sich als simultane
durch häufige Benutzung bedingten Vergrößerung der zu- oder sukzessive Raumschwelle, aber auch anders
gehörigen Analysatoren in Kortex und Thalamus ab. quantifizieren.
324 Kapitel 15 · Somatosensorik

Plastizität der Raumschwellen und behaarten (. Abb. 15.3c) Haut des Menschen und bei
Das Auflösungsvermögen der Mechanorezeption ist keine Säugetieren (z. B. Affen, Katzen) vorkommenden Mechano-
unveränderbar feste Größe. So können durch Übung, selbst sensoren. Neben einigen Sensortypen, die in beiden Haut-
innerhalb einiger Stunden, die Raumschwellen etwa hal- geweben vorkommen, gibt es andere, wie die Meissner-
biert werden. Blinde sind besonders bekannt für ihre Fähig- Körperchen und die Haarfollikel-Sensoren, die nur in der
keit, kleine Gegenstände, z. B. die Punkte der Blindenschrift, unbehaarten bzw. behaarten Haut zu finden sind. Allen
rasch und sicher durch Betasten erkennen zu können. Dabei Sensortypen ist gemeinsam, dass sie von schnell leitenden,
bleiben die peripheren Empfindungsschwellen unverändert, markhaltigen Nervenfasern des Typs Aβ versorgt werden
während es zentralnervös zu einer Vergrößerung des zuge- (. Tabelle 2.1 in Abschn. 2.3.3), was sicherstellt, dass jeder von
hörigen Hirnareals in SI und den benachbarten parietalen ihnen ausgehende Impuls (Aktionspotenzial) in wenigen
somatosensorischen Hirnarealen kommt. Zusätzlich wird Millisekunden im Rückenmark und anschließend im Groß-
die Tastempfindung bei Blinden auch okzipital (d. h. in der hirn eintrifft (zur zentralen Weiterleitung Abschn. 14.4.1).
ursprünglichen Sehrinde) analysiert (s. Box 14.3).
Wird die Raumschwelle eines Hautareals durch Übung Innervationsdichte der Mechanosensoren
verkleinert, so reduziert sie sich nicht nur in und um dieses in der menschlichen Haut
Areal, sondern auch im entsprechenden Hautareal der Eine auf histologischen und funktionellen Untersuchungen
anderen Körperseite, wenn auch nicht so ausgeprägt. Bei basierende Abschätzung gibt es bisher nur für die unbe-
fehlender Übung gehen die erworbenen Verbesserungen haarte Innenhandfläche (. Abb. 15.4). Diese wird von etwa
des taktilen Auflösungsvermögens wieder verloren. Wie in 17.000 mechanorezeptiven Aβ-Nervenfasern versorgt. Der
Kap. 24 zu besprechen, beruhen diese plastischen Verände- Anteil der einzelnen Typen von Mechanorezeptoren und
rungen auf plastischen Änderungen der synaptischen Ver- die Dichte ihrer Anordnung in Fingerspitzen, proximalen
bindungen im Zentralnervensystem. Akute Verschlech- Fingerflächen und Handinnenflächen können der rechten
terungen können z. B. durch verringerte Durchblutung, zu Seite der . Abb. 15.4 entnommen werden. Bemerkenswert
häufiges Testen, allgemeine Ermüdung oder Abkühlen der ist der insgesamt hohe Anteil der Meissner-Körperchen
Haut auftreten. (43%) und deren beträchtliche Dichte (etwa 140 pro cm2)
in den Fingerspitzen. Schon daraus lässt sich vermuten,
G Durch Üben lässt sich das räumliche Auflösungsver-
dass sie an den niederen Schwellen (. Abb. 15.1) und dem
mögen des Tastsinns verbessern. Seine psychophy-
guten Auflösungsvermögen dieser Hautregion (. Abb. 15.2)
sische Intensitätsfunktion ist intraindividuell sehr
besonders beteiligt sind.
konstant, interindividuell aber unterschiedlich.
G Mechanosensoren liegen in der behaarten wie
15.1.3 Histologische Grundlagen der unbehaarten Haut; sie lassen sich nach histolo-
des Tastsinns gischen und, wie anschließend in 15.1.4 beschrie-
ben, nach funktionellen Kriterien charakterisieren.
Struktur und Lage von Mechanosensoren Die höchste Innervationsdichte weisen Fingerspitzen
in der Haut und Innenhand auf.

. Abb. 15.3b und c gibt einen schematisierten Überblick über


die Struktur und Lage der in der unbehaarten (. Abb. 15.3b)

Box 15.1. Neurologische Prüfung der Mechanorezeption

Klinische Bedeutung hat die Analyse der Hautsensibilität stumpfen Griffel (Nadelkopf, Fingerspitze) auf die Haut
15 zur Charakterisierung neurologischer Störungen. Die geschrieben. Die Prüfung der Vibrationsempfindung er-
Schwellen sind bei Erkrankungen der peripheren Nerven folgt mit einer Stimmgabel (7 oben). Bei allen Messungen
(z. B. diabetische Polyneuropathie) erhöht. Bei der klini- sollte möglichst ein Seitenvergleich, d. h. das Prüfen des
schen Routineuntersuchung wird gewöhnlich zur Prü- gleichen Parameters auf der entsprechenden anderen
fung der Berührungsempfindung die Haut mit einem Körperseite durchgeführt werden, um auch geringe Ab-
Wattebausch o. ä. gereizt und der Patient nach seiner Emp- weichungen einer Seite zu erfassen.
findung befragt; ferner darüber, an welchem Ort er den Eine genauere Analyse der Somatosensibilität, die
Reiz lokalisiert. Das Unterscheiden von spitz und stumpf allerdings klinisch nicht genutzt wird, ist mit der Ableitung
wird durch unregelmäßig abwechselndes Aufsetzen von evozierter Potenziale (ereigniskorrelierte Hirnpotenziale,
Spitze und Kopf einer Glasstecknadel geprüft. Regelmäßig EKP, Abschn. 20.5.1) möglich, wie sie z. B. bei der objek-
wird bei solchen Untersuchungen auch das Erkennen auf tiven Algesimetrie (Abschn. 16.1.4), und bei Untersuchun-
die Haut geschriebener Zahlen erfragt. Dabei werden zu- gen des Seh- (Abschn. 17.3.4) und des Hörsystems (Ab-
nächst größere, dann kleiner werdende Zahlen mit einem schn. 18.1.3) eingesetzt wird.
15.1 · Mechanorezeption
325 15

. Abb. 15.3a–c. Reiz-Antwort-Verhalten und Histologie von untersten Registrierung gezeigt. Die in der Physiologie gebräuch-
Mechanosensoren der Haut von Primaten. a Die charakteristischen lichen funktionellen Namenssymbole (SA-I, »slowly adapting type I«;
Entladungsmuster (d. h. Folgen von Aktionspotenzialen in den affe- SA-II, »slowly adapting type II«; RA, »rapidly adapting«; PC, »Pacinian
renten Fasern) der 4 Typen empfindlicher Mechanosensoren in der corpuscle«) und die Namen der histologischen Strukturen sind jeweils
unbehaarten Haut (z. B. der Hand) bei einer rampenförmigen Haut- angegeben. b, c Histologie der Mechanosensoren der Haut. Lage
deformation sind untereinander dargestellt. Der Zeitverlauf der mit und Struktur der verschiedenen Typen von Mechanosensoren der
einem elektromechanischen Hautreizgerät (. Abb. 15.1b) erzeugten unbehaarten (b) und der behaarten (c) Haut sind schematisiert dar-
rampenförmigen Hautdeformation mit der Eindrucktiefe S ist in der gestellt

15.1.4 Funktionelle Eigenschaften können und die andererseits in Bezug auf ihren adäquaten
der Mechanosensoren der Haut Reiz jeweils einen der 3 Parameter eines mechanischen
Reizes, nämlich Intensität, Geschwindigkeit und Beschleuni-
Messen des Reiz-Antwort-Verhaltens gung, bevorzugt übertragen (Einzelheiten 7 unten).
von Mechanosensoren der Haut
G Die Haut ist von unterschiedlichen Typen von
Die Aufzeichnung der Aktivität der verschiedenen Typen
Mechanosensoren innerviert. Einige messen insbe-
von Mechanorezeptoren der Haut bei Reizung mit den in
sondere die Intensität eines Reizes (sie sind langsam
. Abb. 15.1a und b gezeigten Methoden zeigt . Abb. 15.3a.
adaptierend), andere dessen Geschwindigkeit (mit-
Solche Messungen mit Ableitung der Impulsaktivität von
telschnell adaptierend) oder seine Beschleunigung
einzelnen Nervenfasern sind nicht nur im Tierversuch,
(schnell adaptierend).
sondern mit der Methode der transkutanen Mikroneuro-
graphie am Menschen möglich. Bei ihr wird eine Mikro-
elektrode durch die Haut in einen peripheren Hautnerven Drucksensoren (Intensitätsdetektoren)
eingestochen (. Abb. 15.5a) und von einzelnen Nerven- Die langsam adaptierenden Sensoren messen die Stärke
fasern extrazellulär abgeleitet (. Abb. 15.5b). oder Eindrucktiefe eines mechanischen Hautreizes. Da sie
Auf diese Weise können die wesentlichen Charakteris- auch nach langer Zeit nicht vollkommen adaptieren, geben
tika eines Sensors, also sein adäquater Reiz, die Schwelle, die sie auch die Dauer eines Druckreizes an. Die Drucksenso-
Beziehung zwischen Reizintensität und Entladungsfrequenz, ren der unbehaarten Haut sind die Merkel-Zellen (. Abb.
die Größe des rezeptiven Feldes und seine Adaptation auf 15.3 und . Tabelle 15.1). Sie liegen in kleinen Gruppen in
konstante Reize studiert werden (z. B. . Abb. 15.4a). . Tabel- den untersten Schichten der Epidermis. Auch in der be-
le 15.1 fasst die Ergebnisse derartiger Untersuchungen zu- haarten Haut gibt es Merkel-Zellen. Sie liegen aber in be-
sammen. Es zeigt sich, dass in der behaarten wie in der un- sonderen, punktförmig über die Hautoberfläche heraus-
behaarten Haut jeweils Rezeptoren liegen, die einerseits nach ragenden Tastscheiben (. Abb. 15.3c).
ihrem Verhalten auf konstante Druckreize als langsam, mit- In der unbehaarten wie der behaarten Haut liegen wei-
telschnell und sehr schnell adaptierend bezeichnet werden tere langsam adaptierende Mechanosensoren, nämlich die
326 Kapitel 15 · Somatosensorik

. Tabelle 15.1. Klassifikation kutaner Mechanosensoren


nach ihrem Adaptationsverhalten (Säulenüberschriften) und
ihrem adäquaten Reiz (Säulenunterschriften)

Adaptation bei konstantem Druckreiz

Langsam Mittelschnell Sehr schnell


Unbehaarte Merkel-Zelle, Meissner- Pacini-
Haut Ruffini- Körperchen Körperchen
Körperchen
Behaarte Tastscheibe, Haarfollikel- Pacini-
Haut Ruffini- Sensor Körperchen
Körperchen
Intensitäts- Geschwindig- Beschleuni-
detektor keitsdetektor gungsdetektor
Klassifikation nach adäquatem Reiz

Berührungssensoren (Geschwindigkeits-
detektoren)
Bewegt man einige Haare auf dem Handrücken, ohne die
Haut selbst zu berühren, und hält man die Haare anschlie-
ßend in ihrer neuen Stellung fest, so entsteht nur während
der Bewegung der Haare eine Empfindung. Die Haar-
follikel-Sensoren registrieren also v. a. die Bewegung des
Haares selbst, genauer die Geschwindigkeit dieser Bewe-
gung. Auch in der unbehaarten Haut gibt es solche Senso-
ren, nämlich die Meissner-Körperchen. Der Sensor sendet
nur während der rampenförmigen Stößelbewegungen Im-
pulse aus, nicht jedoch nach Aufhören der Bewegung
(. Abb. 15.3a). Die Impulsfrequenz hängt dabei insbeson-
dere von der Eindrucksgeschwindigkeit des Stößels ab. Ein
solcher Sensor kann also als Geschwindigkeitsdetektor be-
zeichnet werden. Bei rechteckigen Dauerreizen adaptieren
diese Sensoren innerhalb von 50–500 ms. Sie sind also mit-
. Abb. 15.4a–d. Mechanoinnervation der menschlichen Innen-
telschnell adaptierend (. Tabelle 15.1).
hand. Rezeptive Felder und Innervationsdichten von Mechanosen-
soren mit korpuskulären Endstrukturen wie angegeben und mit Aδ-af-
Sensoren wie die oben genannten Druckrezeptoren,
ferenten Fasern. Die neurophysiologischen Daten wurden mit der in die in erster Linie die Intensität eines Reizes übermitteln,
. Abb. 15.5 gezeigten Methodik gewonnen werden in Anlehnung an technische Messfühler auch als
Proportionalrezeptoren oder P-Rezeptoren bezeichnet.
Ruffini-Körperchen (. Abb. 15.3). Diese antworten v. a. auf Entsprechend werden Sensoren mit dem Antwortverhalten
15 Dehnung der Haut, und zwar z. T. richtungsempfindlich, der Berührungsrezeptoren Differenzialrezeptoren oder
d. h. Dehnen der Haut in nur einer Richtung führt zu ver- D-Rezeptoren und Mischformen PD-Rezeptoren oder
mehrten Entladungen (Pfeile in . Abb. 15.4b). Die Ruffini- PD-Sensoren genannt.
Körperchen können also Information über die Richtung
G Haarfollikelsensoren und Meissner-Körperchen
und Stärke von Scherkräften vermitteln, die in der Haut
messen in erster Linie die Geschwindigkeit eines
und zwischen Haut und Unterhaut beispielsweise bei Ge-
mechanischen Hautreizes. Sie sind Differenzial-
lenkbewegungen oder beim Hantieren mit Werkzeugen
rezeptoren (D-Rezeptoren). Auf konstante Druck-
auftreten.
reize adaptieren sie mittelschnell.

G Die Merkel-Zellen in der unbehaarten Haut und


die Tastscheiben und Ruffini-Körperchen der be- Vibrationssensoren (Beschleunigungsdetektoren)
haarten Haut messen die Intensität eines Druck- Die verbleibenden korpuskulären Mechanorezeptoren der
reizes und, da sie sehr langsam adaptieren, auch Haut sind die Pacini-Körperchen, die sich in der Unter-
seine Dauer. haut (Subkutis) behaarter und unbehaarter Haut finden
15.1 · Mechanorezeption
327 15

(. Abb. 15.3b und c). Sie antworten auf mechanische Reize Mechanosensoren mit freien Nervenendigungen
lediglich mit je einem Impuls zu Beginn und am Ende des und C-afferenten Fasern
Reizes, sie adaptieren also sehr schnell (. Abb. 15.3a, Außer myelinisierten Afferenzen enthält jeder Hautnerv
. Abb. 15.6a). Andererseits lassen sie sich durch sinus- auch noch 50% und mehr unmyelinisierte C-Fasern. Dies
förmige Reize, wie die Vibrationen einer Stimmgabel, be- sind teils efferente postganglionäre sympathische Nerven-
sonders gut erregen, wobei die Schwelle für solche Reize fasern, die beispielsweise die glatte Muskulatur der Haut-
im Bereich zwischen 100 und 300 Hz sehr niedrig ist und gefäße und der Haarbälge sowie die Schweißdrüsen ver-
zu höheren und niedrigeren Frequenzen steil ansteigt sorgen. Zum Teil sind es aber auch afferente Nervenfasern,
(. Abb. 15.6b und c). Bei sinusförmiger Reizung folgt die die in freien Nervenendigungen enden. Ein Beispiel in der
Beziehung zwischen der Reizschwelle und Reizfrequenz menschlichen Haut zeigt . Abb. 15.5b in der untersten
der zweiten Ableitung der Eindrucktiefe nach der Zeit, also Ableitung. Manche dieser freien Nervenendigungen sind
der Beschleunigung. Die Pacini-Körperchen sind also Temperaturrezeptoren, viele wahrscheinlich Nozizeptoren
Beschleunigungsdetektoren, die v. a. Vibrationsreize auf- (Abschn. 16.2.1). Einige sind auch auf mechanische Berüh-
nehmen. Außer in der Unterhaut finden sie sich noch in rungsreize geringer Reizstärke empfindlich. Solche Mecha-
wechselnder Anzahl an den Sehnen und Faszien der Mus- norezeptoren mit unmyelinisierten afferenten Fasern fin-
keln, an der Knochenhaut und in den Gelenkkapseln. den sich in der behaarten und, wenn auch nur selten, in der
unbehaarten Haut.
G Pacini-Körperchen haben sehr niedrige Schwellen
Aus dem Antwortverhalten dieser Sensoren auf me-
und adaptieren rasch. Sie messen die Beschleuni-
chanische Hautreize ließen sich bisher keine sicheren
gung eines Druckreizes, sind also auf die Aufnahme
Schlüsse auf ihre mögliche Funktion ableiten. Möglicher-
von Vibrationsreizen spezialisiert.
weise sind sie besonders an der Übermittlung schwacher,
sich auf der Haut bewegender Mechanoreize (wie z. B. das
Rezeptive Felder von Mechanosensoren Krabbeln eines kleinen Insekts) beteiligt. Auch wird disku-
Für das Verhalten eines Sensors ist auch die Größe seines tiert, dass sie, alleine oder mit anderen, bei der Kitzelemp-
rezeptiven Feldes von Bedeutung. Als solches bezeichnet findung eine Rolle spielen.
man, wie in Abschn. 14.3.2 dargelegt, dasjenige Areal, von
G Mechanosensible freie Nervenendigungen der Haut
dem der Sensor durch einen Reiz definierter Stärke erregt
mit dünnen afferenten Fasern sind wahrscheinlich
werden kann. Als Reizstärke benutzt man in der Regel
an der Übermittlung der Kitzelempfindung beteiligt.
einige wenige Vielfache, beispielsweise das 4- bis 5-fache
Hochschwellig mechanosensitive C-Fasern übermit-
der Schwellenreizstärke.
teln schmerzhafte Reize.
Die Ausdehnung auf diese Weise bestimmter rezeptiver
Felder der menschlichen Innenhand ist für die 4 Typen von
Mechanosensoren der unbehaarten Haut in . Abb. 15.4
zu sehen. In . Abb. 15.4a sind die rezeptiven Felder von
15 Merkel-Zell-Einheiten dargestellt. Sie sind klein, ihre
Fläche beträgt gewöhnlich 3–50 mm2, was etwa Durch-
messern von 2–8 mm entspricht. Im Gegensatz dazu
sind die rezeptiven Felder der Ruffini-Körperchen groß
(. Abb. 15.4b). Diese Sensoren weisen außerdem, wie
bereits erwähnt, eine deutliche Richtungsempfindlichkeit
auf. Noch deutlicher sind die Unterschiede in der Größe
der rezeptiven Felder bei den schnell adaptierenden Sen-
soren. Die rezeptiven Felder der Meissner-Körperchen
(. Abb. 15.4c) sind ebenso klein wie die der Merkel-Zellen,
während sich die der Pacini-Körperchen (. Abb. 15.4d)
über eine weite Fläche, beispielsweise einen ganzen Finger
oder die halbe Handinnenfläche ausdehnen.
G Die Hautareale, von denen die verschiedenen . Abb. 15.5a, b. Mikroneurographische Ableitung aus dem
N. radialis superficialis des Menschen. Im Schema der Versuchs-
Mechanorezeptoren erregt werden können, also ihre
anordnung ist die Ableitelektrode wiedergeben (a), deren Verstärker
rezeptiven Felder, sind klein bei Merkel-Zellen und am Handgelenk befestigt ist. Gezeigt wird außerdem eine Reizelek-
Meissner-Körperchen, groß bei Ruffini-Körperchen trode zur perkutanen Stimulation einer Nervenendigung in ihrem
und sehr groß bei Pacini-Körperchen. rezeptiven Feld. Die Ableitungen in b zeigen Aktionspotenziale einer
schnell leitenden myelinisierten (Aβ-), einer langsam leitenden mye-
linisierten (Aδ-) und einer unmyelinisierten (C-) Nervenfaser auf elek-
trische Reizung (beachte die unterschiedlichen Zeitmarken)
328 Kapitel 15 · Somatosensorik

15.1.5 Vergleiche zwischen objektiver


Sinnesphysiologie und
Wahrnehmungspsychologie
beim Tastsinn

Methodischer Zugang über die


Mikroneurographie
Die Technik der bereits vorgestellten transkutanen Mikroneu-
rographie von einzelnen Hautsensoren (. Abb.15.5) bietet
die Möglichkeit, gleichzeitige neurophysiologische und psy-
chophysische Messungen durchzuführen, also z. B. zu prüfen,
ob die Schwelle für eine bewusste Empfindung eines taktilen
Reizes auf der Haut mit der Schwelle eines oder mehrerer der
verschiedenen Mechanorezeptortypen übereinstimmt, oder
ob die Empfindungsschwelle deutlich über der Sensor-
schwelle liegt, eine Empfindung also erst dann auftritt, wenn . Abb. 15.6a–c. Antwortverhalten von Pacini-Körperchen
Mechanosensoren deutlich überschwellig erregt werden. (PC-Sensoren) der Subkutis bei mechanischen Hautreizen. a Einzel-
impuls (d. h. einzelnes Aktionspotenzial) als Antwort auf einen mecha-
Sensor- versus Empfindungsschwellen nischen Stufenreiz. b Repetitive Aktionspotenziale bei jeder Periode
eines sinusförmigen mechanischen Hautreizes. c Schwellenreizstärken
Für die Fingerinnenflächen der menschlichen Hand stellte
(Ordinate) von 3 PC-Sensoren in Abhängigkeit von der Frequenz des
sich heraus, dass die Erregung eines einzelnen Meissner- sinusförmigen mechanischen Hautreizes (Abszisse)
Körperchens bereits zu einer Berührungsempfindung
führt, selbst wenn nur ein einzelner Impuls in einem solchen
Sensor ausgelöst wird (Eindrucktiefe dabei 5–10 μm, dass die Exponenten für die Entladungsfunktionen einzel-
. Abb. 15.1c). Bei Vibrationsreizen über 60 Hz (. Abb. 15.6c) ner Sensoren und für die Intensitätsfunktion der dabei auf-
genügt ebenfalls die Erregung eines oder weniger Pacini- tretenden Empfindungen in der Regel so weit auseinander
Körperchen, um eine Vibrationsempfindung auszulösen. fallen, dass auf eine wesentliche Mitwirkung des Zentral-
Die Merkel-Zellen und Ruffini-Körperchen spielen für nervensystems bei der Formung der psychophysischen
die Wahrnehmung solch kleiner Reize keine Rolle, da ihre Intensitätsfunktionen geschlossen werden muss. Diese
Schwellen um ein Mehrfaches über denen der beiden ande- Divergenzen zwischen Peripherie und Zentrum hängen mit
ren Sensortypen liegen. den durch Übung oder Vernachlässigung bedingten neuro-
Wie aus . Abb. 15.1c zu sehen, liegt dagegen in der Hand- plastischen Änderungen der kortikalen Analysatoren
innenfläche die Empfindungsschwelle deutlich über der (»Hirnkarten«) zusammen (Abschn. 25.4).
Schwelle der schnell adaptierenden Mechanosensoren. In
G Einzelne Impulse in Meissner- oder Pacini-Körper-
der Fingerinnenfläche wird die Empfindungsschwelle also
chen können bereits zu bewussten Empfindungen
durch die Schwelle der Mechanosensoren bedingt, während
führen. Die psychophysische Intensitätsfunktion für
in anderen Hautarealen die Empfindungsschwelle durch
mechanische Reize folgt einer Potenzfunktion. Ihr
zentrale Mechanismen auf einem höheren Wert liegt.
Verlauf wird durch zentralnervöse Verarbeitungs-
Psychophysische Intensitätsfunktion prozesse mitbestimmt.
der Mechanosensibilität
15 Mit Hilfe der in Abschn. 15.1.1 beschriebenen Methoden 15.2 Tiefensensibilität
(. Abb. 15.1) lässt sich bestimmen, in welcher Weise die sub-
jektive Stärke eines taktilen Reizes von seiner Intensität 15.2.1 Qualitäten der Tiefensensibilität
abhängt. Das Ergebnis solcher Messungen an der Hand-
innenfläche von 3 Versuchspersonen zeigt . Abb. 15.7. Für Stellungssinn
jede Person wurde diese psychophysische Intensitätsfunk- Im Wachzustand sind wir
tion dreimal aufgenommen, wobei sich klar zeigte, dass diese 4 jederzeit über die Stellung unserer Glieder zueinander
Funktion intraindividuell bemerkenswert konstant ist, aber orientiert.
interindividuell große Unterschiede zeigt. Dies drückt sich 4 Ferner nehmen wir passive Bewegungen unserer Ge-
deutlich in den für jede Messserie angegebenen Exponenten lenke durch von außen einwirkende Kräfte ebenso wahr
der an die Messpunkte angepassten Potenzfunktionen aus. wie aktive Bewegungen mit Hilfe unserer Muskeln.
Gleichzeitige Messungen der Entladungen von Druck- 4 Auch sind wir in der Lage, den Widerstand ziemlich
sensoren und der subjektiven Empfindungsstärken bei genau anzugeben, gegen den wir eine Bewegung aus-
Druckreizen auf die menschliche Haut haben aber ergeben, führen.
15.2 · Tiefensensibilität
329 15

. Abb. 15.7. Psychophysische Intensitätsfunktion für die Abhän- ordneten den Reizen Zahlenwerte in Abhängigkeit von der Empfin-
gigkeit der Druckempfindung von der Reizstärke. Druckpulse von dungsintensität (Ordinate) zu. Jeder Versuch wurde 3-mal wiederholt
einer Sekunde Dauer wurden mit der in . Abb. 15.1 gezeigten Reiz- (untereinander angeordnete Kurven). Die ausgezogenen Kurven sind
apparatur auf die Handinnenfläche gegeben und die Hauteindruck- an die Messwerte angepasste Potenzfunktionen mit den jeweils rechts
tiefe (Abszisse) gemessen. Die 3 Versuchspersonen (A), (B) und (C) im Diagramm angegebenen Exponenten

Wir fassen diese Fähigkeiten als Tiefensensibilität zu- Bewegungssinn


sammen, da die dafür verantwortlichen Sensoren weniger Wenn wir ohne visuelle Kontrolle eine Gelenkstellung
in der Haut, als in den Muskeln, Sehnen und Gelenken ändern, beispielsweise den Unterarm im Ellenbogen-
liegen. gelenk beugen oder strecken, nehmen wir sowohl die
Die für die Tiefensensibilität verantwortlichen Sen- Richtung wie auch die Geschwindigkeit der Bewegung
soren werden, da sie ihre Reize aus dem Körper und nicht wahr. Diese Qualität der Tiefensensibilität bezeichnen
aus der Umwelt empfangen, als Propriozeptoren (syno- wir als Bewegungssinn. Aktive Gelenkbewegung mit Hilfe
nym: Propriosensoren) zusammengefasst. Von der Tiefen- der Muskeln wird von uns ebenso wahrgenommen wie
sensibilität wird daher auch als Propriozeption ge- passive Gelenkbewegung durch eine andere Person. Die
sprochen. Wahrnehmungsschwelle des Bewegungssinnes ist an den
Eine der Qualitäten der Tiefensensibilität ist es also, proximalen Gelenken (z. B. Schultergelenken) deutlich
dass wir (auch im Dunkeln oder nach Schließen der Augen) besser als an den distalen Gelenken (z. B. Fingerge-
in der Lage sind, uns die Stellung der einzelnen Glieder und lenken).
der verschiedenen Extremitätenabschnitte zueinander zu
vergegenwärtigen. Diese Qualität der Tiefensensibilität Kraftsinn
bezeichnen wir als Stellungssinn. Wenn wir längere Zeit Bindet man Fäden an eine Reihe von Gegenständen, die
unsere Glieder nicht bewegt haben, oder wenn wir nach sich in ihrem Gewicht um 10% oder mehr voneinander
längerem Schlaf aufwachen, ist unser Stellungssinn meis- unterscheiden, so kann man diese Gegenstände in bezug
tens gut erhalten. Der Stellungssinn adaptiert also wenig auf ihr Gewicht durch Anheben der Fäden leicht voneinan-
oder nicht. der trennen. Wir schätzen dabei das Ausmaß an Muskel-
kraft ab, das wir aufwenden müssen, um die Gegenstände
G Der Stellungssinn ist eine der Qualitäten der Tiefen- anzuheben und freischwebend zu halten. Diese Qualität der
sensibilität, die über die Propriozeptoren vermittelt Tiefensensibilität, nämlich das Abschätzungsvermögen für
wird. Er informiert uns kontinuierlich über die Stel- die Muskelkraft, die notwendig ist, eine Bewegung durch-
lung unser Glieder und der verschiedenen Extremi- zuführen oder eine Gelenkstellung einzuhalten, bezeichnen
tätenabschnitte zueinander. wir als Kraftsinn.
330 Kapitel 15 · Somatosensorik

Das Unterscheidungsvermögen des Kraftsinnes ist G Die korpuskulären Sensoren mit schnell leitenden
deutlich besser als das des Drucksinns der Haut: Das Ab- Afferenzen in den Kapseln und Bändern der Gelenke
schätzen von Gewichten durch Aufsetzen auf die Haut ist vermitteln hauptsächlich Information über Gelenk-
wesentlich schwieriger als das durch Aufheben der Ge- bewegungen. Die freien Nervenendigungen der
wichte, eine Tatsache, die jeder im Alltag häufig ausnutzt. C-Fasern sind überwiegend nozizeptiv.
Insgesamt zeichnet sich der Kraftsinn durch große Genau-
igkeit und präzise Reproduzierbarkeit aus. Er wird des- Muskel- und Hautsensoren
wegen gerne beim intermodalen Intensitätsvergleich als Die Muskelspindeln und Sehnenorgane der Skelettmus-
Standard eingesetzt (. Abb. 14.15 in Abschn. 14.5.3). kulatur, deren Eigenschaften in Abschn. 14.4.3 beschrieben
werden, messen die Länge und die Spannung ihrer Mus-
G Neben dem Stellungssinn sind der Bewegungssinn
keln und übernehmen dabei neben ihrer Rolle bei der
(Wahrnehmung aktiver und passiver Gelenkbewe-
Motorik auch eine wichtige Rolle bei der Übermittlung des
gungen) und der Kraftsinn (Abschätzvermögen für
Kraftsinns. Fällt ihre Information aus, wird die betroffene
Muskelkraftaufwendung) die beiden weiteren Quali-
Extremität nicht benutzt, auch wenn die motorische Inner-
täten der Tiefensensibilität.
vation völlig intakt ist (zum Mechanismus dieser »gelernten
Vernachlässigung«Abschn. 13.1.3 mit . Abb. 13.10 und
15.2.2 Sensoren und die zentrale Box 13.8 in Abschn. 13.7.2).
Informationsverarbeitung Die Haut um die Gelenke wird bei Gelenkbewegungen
der Tiefensensibilität gestaucht und gedehnt. Auf diese Weise werden die Haut-
sensoren erregt (z. B. . Abb. 15.4b). Damit erscheinen Bei-
Gelenksensoren träge der Hautsensoren zur Tiefensensibilität möglich.
Die Gelenknerven sind ähnlich zusammengesetzt wie die Ihre Rolle darf aber nicht überschätzt werden, denn die Tie-
Hautnerven, d. h. sie enthalten jeweils eine Anzahl dicker fensensibilität wird durch Lokalanästhesie der Hautpartien
markhaltiger (Aβ-Fasern) und dünner markhaltiger (Aδ-Fa- über den Gelenken nur wenig beeinträchtigt.
sern) afferenter Nervenfasern sowie eine meist deutlich
G Als Sensoren der Tiefensensibilität dienen neben
größere Zahl markloser Afferenzen (C-Fasern). Die Aβ-Ner-
den Gelenksensoren v. a. die Muskelspindeln und
venfasern und einige wenige der Aδ-Fasern enden in
die Sehnenorgane der Skelettmuskulatur. Der
mechano sensitivenSensorkörperchen ähnlich den Ruffini-
Beitrag der Hautmechanosensoren ist gering.
und Pacini-Körperchen der Haut (. Abb. 15.3). Die übrigen
Aδ-Fasern und alle C-Fasern bilden freie Nervenendigungen
im Gelenkgewebe aus. Als Beispiel sei angeführt, dass die Polysensorische Integration
afferente Innervation des menschlichen Kniegelenks etwa aus Für die Wahrnehmung der Tiefensensibilität ist die gleich-
400 markhaltigen und 800 marklosen Afferenzen besteht. zeitige regelhafte Aktivierung verschiedener Sensorsys-
Was die rezeptiven Eigenschaften der Gelenksensoren teme und die zentrale Integration dieser afferenten Zu-
angeht, so scheint die Mehrzahl der korpuskulären Senso- flüsse erforderlich. Diese integrative Aufarbeitung setzt,
ren in ihrem Entladungsverhalten den mittelschnell adap- ähnlich wie bei anderen Sinnesorganen, bereits in den sub-
tierenden Sensoren der Haut (Meissner-Körperchen, Haar- kortikalen sensorischen Schaltkernen ein. So sind bei-
follikel-Sensoren) zu gleichen, d. h. insbesondere Gelenk- spielsweise im Thalamus Neurone gefunden worden, deren
bewegungen zu signalisieren. Der einzelne Sensor wird Impulsfrequenz über mehr als 90o die Gelenkstellung treu
dabei durch unterschiedlichste Bewegungen (Beugung, widerspiegelte. Auf ein solches Neuron muss also eine be-
Streckung, Rotation) aktiviert, so dass zumindest aus dem trächtliche, präzise organisierte Konvergenz von zahlreichen
15 Entladungsverhalten eines einzelnen Sensors keine Schlüs- propriozeptiven Meldungen erfolgt sein (. Abb. 15.8).
se auf die Bewegungsrichtung gezogen werden können.
Über das Entladungsverhalten der freien Nervenendi- Beseitigen von Mehrdeutigkeit
gungen ist wenig bekannt. Viele dieser Afferenzen haben Ein wichtiger Aspekt der zentralnervösen Integration ist,
wahrscheinlich nozizeptive Aufgaben, d. h. sie sprechen dass die zentralen motorischen Systeme anscheinend über
erst an, wenn die Gelenkbewegungen den physiologischen die von ihnen ausgehende Aktivität einen »Durchschlag«
Arbeitsbereich des Gelenks zu verlassen drohen, oder wenn oder eine Efferenzkopie an die für die Wahrnehmung der
Verletzungen oder Entzündungen auftreten. Erregung Tiefensensibilität verantwortlichen zentralen sensorischen
dieser Gelenknozizeptoren führt zu Gelenkschmerzen. Zentren senden (. Abb. 15.8, rechts). Diese Efferenzkopien
Alles in allem lassen die bisher bekannt gewordenen unterrichten im Voraus über die vorgesehene Muskelaktivi-
Eigenschaften der mechanosensitiven Gelenksensoren es tät und die daraus resultierenden Bewegungen. Sie können
wahrscheinlich erscheinen, dass diese v. a. für die Vermitt- daher dazu verwendet werden, die Mehrdeutigkeit afferen-
lung des Bewegungssinnes mitverantwortlich sind, aber ter Information zu beseitigen, die beispielsweise bei den
für den Stellungssinn kaum eine Rolle spielen. Muskelspindeln durch die Aktivität der γ-Motoneurone
15.2 · Tiefensensibilität
331 15

über die Tastfunktion zugänglich. Man denke beispiels-


weise an Eigenschaften wie flüssig, klebrig, fest, elastisch,
weich, hart, glatt, rau, samtartig und viele andere. Wichtig
ist, dass diese Eigenschaften durch passives Betasten (Auf-
legen des Gegenstandes auf die unbewegte Hand oder der
Hand auf den Gegenstand) schlecht oder überhaupt nicht
erfasst werden können, während bei bewegter Hand es
wenig Mühe macht, Struktur und Form zu erkennen.
Die Überlegenheit der tastenden gegenüber der ru-
henden Hand beruht einmal darauf, dass durch die Bewe-
gung wesentlich mehr Hautsensoren aktiviert werden und
deren Adaptation verhindert oder vermindert wird, wo-
durch detailliertere Informationen über das Kontaktge-
schehen an der Haut nach zentral vermittelt werden, zum
anderen darauf, dass bei bewegter Hand die Tiefensen-
sibilität ihren Teil zur Form- und Oberflächenerkennung
beiträgt.
Bei Bewegungen im Schultergelenk mit gestrecktem
Arm können wir in Armlänge einen etwa hemisphärischen
. Abb. 15.8. Wahrnehmung der Tiefensensibilität. Diese erfolgt extrapersonalen Raum vor uns erfassen. Dieser Raum wur-
über Propriosensoren, deren afferente Zuflüsse mit den motorischen de schon Ende des 19. Jahrhunderts von Loeb als Fühlraum
Efferenzkopien im sensorischen Nervensystem zum Stellungs-, Be-
wegungs- und Kraftsinn verarbeitet (integriert) werden. Die von den
von dem weiter außen liegenden Sehraum abgegrenzt.
Sensoren des Gleichgewichtsorgans (Labyrinthrezeptoren) kommende Seine Eigenständigkeit wird z. B. bei einer visuellen Objekt-
Information dient zusammen mit der Tiefensensibilität zur Wahrneh- agnosie (Box 17.7 in Abschn. 17.5.2) deutlich, bei der ein
mung der Stellung des Körpers im Raum Gegenstand zwar noch in seiner Lage im Raum erkannt
werden kann, nicht jedoch in seiner Gegenständlichkeit als
Stuhl, Tisch, Krug, Hammer oder komplizierte Maschine.
entsteht und die bei anderen Sensoren dadurch bedingt sein Diese Patienten können die Objekte zwar visuell nicht er-
kann, dass diese sowohl durch von außen kommende Reize, kennen, eine taktile Objekterkennung ist dagegen meist
als auch durch Bewegungen aktiviert werden können (z. B. leicht möglich.
die Mechanosensoren der Haut in Gelenknähe, 7 oben).
G Tiefensensibilität und Mechanorezeption, in gewis-
Ein zweiter Weg zur Ausschaltung der Mehrdeutigkeit
sem Umfang auch die kutane Thermorezeption,
afferenter Information ist eine gezielte, von den moto-
wirken zusammen beim Aufbau der räumlichen Tast-
rischen Schaltkernen ausgehende efferente Hemmung in
welt, die uns v. a. durch die tastende, d. h. die sich
den sensorischen Schaltkernen, ein dritter Weg die wech-
aktiv bewegende Hand vermittelt wird.
selseitige Beeinflussung der rezeptiven Zuflüsse unterein-
ander, also eine afferente Hemmung. Beides, efferente wie
afferente Hemmung, kommt in praktisch allen sensiblen Körperstellung und Körperschema
Zentren (Kernen), vom Rückenmark bis zum Thalamus, Der subjektive Gesamteindruck der Stellung des Körpers im
vor. Beispiele für die Verschaltung von afferenter und effe- Raum wird im wesentlichen gewonnen aus einer integrati-
renter Hemmung sind im vorhergehenden Kap. 14 in den ven Auswertung der über den Stellungssinn erhaltenen In-
. Abb. 14.6 und 14.12 gezeigt. formation mit von den Labyrinthen der Gleichgewichtsor-
gane kommenden Informationen über die Stellung des Kop-
G Für die Wahrnehmung der Tiefensensibilität ist die
fes im Schwerefeld der Erde (. Abb. 15.8). Dabei ist das
polysensorische Integration der afferenten Zuflüsse
Bewusstsein der räumlichen Ausdehnung unseres Körpers
erforderlich bei gleichzeitiger Beseitigung von
in der Umwelt, oft Körperschema genannt, ein wichtiger
Mehrdeutigkeit über Efferenzkopien sowie efferente
Teilaspekt unserer nichtvisuellen Raumvorstellung. Das
und afferente Hemmung.
Körperschema ist im primären und sekundären somatosen-
sorischen Kortex der parietalen Hirnrinde repräsentiert.
15.2.3 Tastwelt und Körperschema
Phantomempfindungen
Die Umwelt als Tastwelt und Fühlraum Das Körperschema ist erstaunlich fest in uns verankert und
Zwar sind unsere Raumvorstellungen weitgehend geprägt anscheinend teilweise unabhängig vom afferenten Zustrom
durch visuelle Wahrnehmungen, aber viele Eigenschaften aus den Propriozeptoren. Davon zeugt, dass nach der Ampu-
unserer Umwelt sind uns vorwiegend oder ausschließlich tation eines Armes, Beines oder einer Brust die weit überwie-
332 Kapitel 15 · Somatosensorik

gende Mehrzahl der Patienten für lange Zeit, oft für den Rest G Tiefensensibilität und Gleichgewichtssinn vermitteln
ihres Lebens, das fehlende Glied noch empfindet. Häufig ist die Stellung unseres Körpers im Raum und das Kör-
die Täuschung so eindringlich, dass die Patienten ihr Phan- perschema; Phantomempfindungen, Linksneglekt
tomglied deutlicher als ihr gesundes Glied erleben. und räumliche Agnosien können als Störungen des
In vielen Fällen ist der Patient in der Lage, sein Phan- Körperschemas gedeutet werden.
tomglied »willkürlich zu bewegen«, will heißen, er erlebt
eine von ihm gewollte Bewegung des Phantomgliedes so, als
ob sie wirklich stattgefunden hätte. In anderen Fällen erlebt 15.3 Thermorezeption
er eine unveränderte Dauerhaltung des Phantomgliedes,
die er auch mit großer Willensanstrengung nicht beeinflus- 15.3.1 Psychophysiologie
sen kann (so wie wir ein »eingeschlafenes«Bein auch nicht der Thermorezeption
bewegen können).
Häufig gehen vom Phantomglied auch somatosenso- Qualitäten der Thermorezeption
rische Empfindungen aus, wie das Gefühl, beim Durch- Der Thermorezeption (Synonyme: Temperatursinn, Ther-
schreiten des Zimmers an eine Tischkante angestoßen zu moperzeption) können 2 Qualitäten zugeordnet werden,
sein. Leider sind diese Empfindungen z. T. unangenehm nämlich Kaltsinn und Warmsinn. Dies wird durch zahlreiche
und gelegentlich sehr schmerzhaft (Phantomgliedschmerz subjektive und objektive Befunde gestützt. Am wichtigsten
oder Phantomschmerz, Abschn. 16.4.3). Seltener kommt es davon ist die Beobachtung, dass es in der Haut des Men-
auch zu übertragenen Empfindungen (»remapping«) und schen und wahrscheinlich bei allen anderen Säugetieren
sog. Teleskopempfindungen. Bei ersteren spürt man nach spezielle Kalt- und Warmsensoren gibt (Abschn. 15.3.3).
Reizung im Stumpf- oder Lippenbereich das Phantomglied, Diese dienen nicht nur als Fühler für bewusste Temperatur-
bei letzteren wächst das distale Ende des Phantomglieds empfindungen, sondern sind auch an der Thermoregulation
(z. B. ein Finger) in den Stumpf hinein. Diesen Phänome- des Organismus beteiligt. In letzterer Aufgabe werden sie
nen, wie auch teilweise dem Phantomschmerz, liegen plas- ergänzt und unterstützt durch Thermosensoren im Zentral-
tische Veränderungen im Gehirn zugrunde (. Abb. 16.16 nervensystem (z. B. im Hypothalamus, Abschn. 14.4.1).
in Abschn. 16.4.3).
Kalt- und Warmpunkte; Raumschwellen
Box 15.2. Linksneglekt und räumliche Agnosie Die Kalt- und Warmempfindlichkeit der menschlichen
Die Phantomempfindungen sind eine Art »Überschuss- Haut ist nicht überall gleich ausgeprägt. Reizung der Haut
empfindung« des Körperschemas. Ihr Gegenteil, der mit der abgerundeten Spitze von Metallröhrchen, die mit
teilweise Wegfall des Bewusstseins der Körperlichkeit, Eiswasser oder heißem Wasser gefüllt sind, lässt analog
ist ein ebenfalls klinisch bekanntes, zwar seltenes, aber zu den Tastpunkten Kalt- und Warmpunkte erkennen, die
dann doch sehr eindrucksvolles Bild. Es tritt meist als an unterschiedlichen Stellen in der Haut lokalisiert sind. Sie
Teilfolge eines Schlaganfalles in der rechten Großhirn- sind weniger zahlreich als Tastpunkte, und es gibt deutlich
hälfte auf, wenn es zu Ausfällen derjenigen Anteile mehr Kalt- als Warmpunkte. Zum Beispiel weisen die
der rechten Scheitel- und Schläfenlappen kommt, die Handflächen 1–5 Kaltpunkte pro cm2, aber nur 0,4 Warm-
denen der Wernicke-Sprachregion auf der linken Seite punkte pro cm2 auf. Am dichtesten sind die Kaltpunkte im
entsprechen. In seiner klarsten Form ignorieren die temperaturempfindlichsten Gebiet der Haut, nämlich im
Patienten die Existenz ihrer linken Körperhälfte völlig Gesicht verteilt. Es finden sich hier 15–19 Kaltpunkte pro
(Linksneglekt) und vernachlässigen sie entsprechend cm2. Einzelne Warmpunkte lassen sich im Gesicht nicht
(Einzelheiten in Abschn. 28.5.2, insbesondere abgrenzen, wahrscheinlich weil sie zu nahe beieinander ste-
15 . Abb. 28.21). hen. Die Warmempfindlichkeit der Gesichtshaut erscheint
Auch andere Störungen der räumlichen Abstrak- als eine einheitliche Sinnesfläche.
tions-, Synthese- und Orientierungsleistungen können Im Vergleich zur Mechanorezeption sind die simulta-
bei Ausfällen und Erkrankungen der parietalen und nen Raumschwellen für Temperaturreize groß. Kältereize
temporalen nichtsprachdominanten Kortexareale und werden besser aufgelöst als Wärmereize, Reize quer zur
der ihnen zugeordneten thalamischen Kerne auftre- Körperachse besser als solche in Längsrichtung. Zum
ten. So kann es zu räumlichen Orientierungsstörungen Beispiel ist am Oberschenkel die simultane Raumschwelle
kommen, die als räumliche Agnosie bezeichnet für Kältereize in Querrichtung 2,9 cm, in Längsrichtung
werden. Die Symptome sind vielfältig. So verlaufen 15,5 cm; für Wärmereize sind es 9 bzw. 26 cm.
sich diese Patienten auch in einer ihnen völlig vertrau-
ten Umgebung, oder es misslingt ihnen, dreidimen- G Kaltsinn und Warmsinn sind die beiden Qualitäten
sionale Zeichnungen einfacher Objekte, wie z. B. eines der Thermorezeption, für die sich auch einzelne Kalt-
Hauses anzufertigen (Einzelheiten Abschn. 28.5.1). und Warmpunkte auf der Haut nachweisen lassen.
6
15.3 · Thermorezeption
333 15

Das Gesicht ist der temperaturemfindlichste Haut- findung auch schon bei Hauttemperaturen unterhalb 25°C
bereich. Die Raumschwellen für Temperaturreize eine unangenehme Komponente.
sind groß.
G Bei konstanten Hauttemperaturen ober- bzw. unter-
halb der Indifferenzzone kommt es zu dauernden
15.3.2 Statische Temperaturempfindungen Warm-, bzw. Kaltempfindungen, die bei weiterer
Erwärmung bzw. Abkühlung in Hitze- bzw. Kälte-
Zone der Indifferenztemperatur schmerz übergehen.

Beim Einstieg in ein warmes Bad (ca. 33°C) kommt es zu-


nächst zu einer deutlichen Warmempfindung. Diese Warm- 15.3.3 Dynamische Temperatur-
empfindung lässt auch bei konstant gehaltener Wassertem- empfindungen
peratur nach einiger Zeit nach. Auch das umgekehrte Phä-
nomen ist bekannt: Wer an einem heißen Sommertag in ein Einfluss der Ausgangstemperatur der Haut
Becken mit Wasser von etwa 28°C springt, empfindet das Bei niedrigen Hauttemperaturen ist die Schwelle für eine
Wasser zunächst als kühl. Nach kurzer Zeit weicht aber die Warmempfindung groß, die für eine Kaltempfindung gering
Kaltempfindung einer Neutralempfindung. (. Abb. 15.9). Wird die Ausgangstemperatur zu höheren
In einem mittleren Temperaturbereich führen also Er- Werten gelegt, so nehmen die Warmschwellen ab und die Kalt-
wärmung oder Abkühlung nur vorübergehend zu einer schwellen zu. Mit anderen Worten, eine kühle Haut von bei-
Warm- respektive Kaltempfindung. In diesem Temperatur- spielsweise 28°C muss nur um <0,2°C weiter abgekühlt wer-
bereich findet sich nämlich eine vollständige Adaptation den, bis die Dauerkaltempfindung in die Empfindung »kälter
der Temperaturempfindung auf die neue Hauttemperatur. geworden« übergeht. Die gleiche Haut muss aber nahezu 1°C
Dieser Bereich wird Zone der Indifferenztemperatur ge- erwärmt werden, bis eine Warmempfindung auftritt. Das
nannt. In der Klimakammer liegt die Indifferenzzone am Spiegelbildliche gilt bei warmen Ausgangstemperaturen.
unbekleideten Menschen bei etwa 33–35°C.
Messungen des Zeitverlaufs der Adaptation auf eine Weber-Drei-Schalen-Versuch
sprunghafte Änderung der Hauttemperatur innerhalb Aus . Abb. 15.9 lässt sich weiterhin entnehmen, dass es bei
der Indifferenzzone ergaben, dass es viele Minuten dauert, gleicher Hauttemperatur, in Abhängigkeit von den Reizbe-
bis die durch den Temperatursprung hervorgerufene
Temperaturempfindung wieder einer Neutralempfindung
weicht.
G Die Temperaturempfindungen der Haut bei konstan-
ter Hauttemperatur (statische Temperaturempfin-
dungen) adaptieren nach Temperaturänderungen in
der Zone der Indifferenztemperatur vollständig.

Dauernde Warm- und Kaltempfindungen


Oberhalb bzw. unterhalb der Indifferenzzone kommt es zu
dauernden Warm- bzw. Kaltempfindungen, auch wenn die
Hauttemperatur für lange Zeit konstant gehalten wird (z. B.
stundenlang kalte Füße). Die oberen und unteren Tempe-
raturgrenzen liegen bei 36°C und 30°C für eine Hautfläche
von 15 cm2. Bei kleineren Hautarealen wird die Zone weiter,
bei größeren Flächen wird sie schmaler (Hinweis auf eine
zentrale Summation der von den Thermosensoren kom-
menden Impulse).
Die dauernden Warmempfindungen bei konstanten
Hauttemperaturen oberhalb 36°C sind umso intensiver, je
höher die Hauttemperatur ist. Bei Temperaturen von mehr
als 43–44°C macht die Warmempfindung einer schmerz- . Abb. 15.9. Die Abhängigkeit der Warm- und Kaltschwellen von
haften Hitzeempfindung (Hitzeschmerz) Platz. In ähnlicher der Ausgangstemperatur der Haut. Ausgehend von den in der
Abszisse angegebenen Temperaturen, auf die die Haut längere Zeit
Weise nimmt bei Temperaturen unterhalb 30°C die dauern-
adaptiert wurde, muss sich die Hauttemperatur um den von 0 in der
de Kaltempfindung umso mehr zu, je kälter die Haut ist. Ordinate ausgehenden Betrag ändern, bis eine Kalt- bzw. Warmemp-
Ausgesprochener Kälteschmerz setzt bei Hauttempera- findung auftritt. Das Diagramm gilt für alle Temperaturänderungen,
turen von 17°C und weniger ein, doch besitzt die Kälteemp- deren Geschwindigkeit größer als 6°C/min ist
334 Kapitel 15 · Somatosensorik

dingungen, entweder zu einer Warm- oder zu einer Kalt- 15.3.4 Kalt- und Warmsensoren
empfindung kommen kann. Zum Beispiel ausgehend von
32°C tritt bei Erwärmung auf 32,5°C eine Warmempfin- Histologische Struktur der Thermosensoren
dung auf, während von 33°C aus Abkühlen auf 32,5°C eine Bei den Thermosensoren handelt sich wahrscheinlich um
deutliche Kaltempfindung hervorruft. Mit dem Weber- freie Nervenendigungen, wobei in der menschlichen Haut
Drei-Schalen-Versuch kann man sich von dem eben ge- die Kaltsensoren mehr oberflächlich, nämlich in und dicht
schilderten Phänomen leicht überzeugen, indem man je unter der Epidermis, die Warmsensoren etwas tiefer, näm-
eine Schale mit kaltem, lauwarmem und warmem Wasser lich mehr in den oberen und mittleren Schichten des Kori-
füllt und zunächst je eine Hand in das kalte und warme ums liegen (. Abb. 15.3 für die Schichtenstruktur der Haut).
Wasser taucht. Werden dann beide Händen gleichzeitig in Die Kaltsensoren werden hauptsächlich von dünnen
die Schale mit lauwarmem Wasser getaucht, so kommt es markhaltigen Aδ-Nervenfasern, die Warmsensoren von
an der einen Hand zu einer Warm- und an der anderen zu marklosen C-Nervenfasern versorgt. Die Reaktionszeiten
einer Kaltempfindung. auf Kaltreize sind anscheinend aus diesem Grunde schneller
als die auf Warmreize. Die Leitungsgeschwindigkeiten von
G Die Schwellen für Temperaturempfindungen hängen
kutanen Thermosensoren liegen also unter 20 m/s.
von der Ausgangstemperatur ab: Je kälter die Haut,
umso niedriger ist die Schwelle für eine (weitere) Entladungsverhalten bei konstanter
Kaltempfindung und umso höher für eine Warm- Hauttemperatur
empfindung und umgekehrt. Je nach den Umstän-
Mittelwerte des Antwortverhaltens von Kalt- und Warm-
den kann dieselbe Hauttemperatur zu einer Kalt-
sensoren bei konstanter Hauttemperatur zeigt . Abb.15.10a.
oder einer Warmempfindung führen.
Die mittleren statischen Entladungsfrequenzen der beiden
Populationen bilden »glockenförmige Kurven«, wobei
Einfluss der Geschwindigkeit einer die maximale Aktivität der Kaltsensoren bei etwa 30°C, die
Temperaturänderung der Warmsensoren bei etwa 43°C liegt. (Das individuelle
Dieser Einfluss auf die Lage der Warm- und Kaltschwellen Aktivitätsmaximum einzelner Kaltsensoren liegt zwischen
ist gering, solange die Temperaturänderungsgeschwindig- 17°C und 36°C, das einzelner Warmsensoren zwischen 41°C
keit größer als 0,1°C/s (6°C/min) ist. Bei langsameren Tem- und 47°C.)
peraturänderungen nehmen beide Schwellen kontinuier- In den eben genannten Temperaturbereichen zeigen
lich zu. Bei sehr langsamer Abkühlung der Haut können also die kutanen Thermosensoren Dauerentladungen bei
also unbemerkt große Hautgebiete beträchtlich abkühlen konstanter Hauttemperatur, wobei die Entladungsrate
(und damit dem Körper Wärme verloren gehen), insbeson- proportional der Hauttemperatur ist (proportionale oder
dere wenn die Aufmerksamkeit durch andere Dinge ab- statische Antwort). Gegen andere als thermische Reize sind
gelenkt ist. Es ist denkbar, dass dieser Faktor auch bei der die Thermosensoren weitgehend unempfindlich.
Erkältung eine Rolle spielt.
Entladungsverhalten während
Einfluss der Größe des Hautareals, auf das eine Temperaturänderungen
Temperaturänderung einwirkt Wie die . Abb. 15.10b am Beispiel eines Kaltsensors zeigt,
Hier ist es so, dass bei kleinen Hautflächen die Schwellen reagieren Thermosensoren mit einer überschießenden an-
für eine Kalt- oder Warmempfindung höher sind als bei steigenden (oder fallenden) Entladungsrate während einer
großen und dass für eine gegebene, überschwellige Ände- Temperaturänderung, also mit einer dynamischen Antwort.
rung der Hauttemperatur die Intensität der Empfindung die spezifischen Thermosensoren sind also Proportional-
15 mit der Fläche des gereizten Hautareals zunimmt. Es kommt Differenzial-Sensoren (PD-Rezeptoren, Abschn. 15.1.4).
also sowohl im Schwellen- wie im überschwelligen Bereich Die Schwellenempfindlichkeit der Thermosensoren ist
zu einer zentralnervösen räumlichen Bahnung der von den vergleichbar mit den menschlichen Empfindungsschwellen
Thermorezeptoren kommenden Impulse. Dies ist beson- für thermische Hautreize. Sie haben kleine rezeptive Felder
ders deutlich bei Versuchen mit bilateraler Reizapplikation: (1 mm2 oder weniger), wobei jede afferente Faser nur ein
So zeigen z. B. Warmreize, die gleichzeitig auf beide Hand- oder wenige Warm- bzw. Kaltpunkte versorgt.
rücken gegeben werden, eine geringere Schwelle, als wenn
jeder Reiz für sich allein angewendet wird. G In der menschlichen Haut liegen nicht-korpuskuläre
spezifische Kalt- und Warmsensoren mit dünnen
G Die Schwellen für das Auftreten von dynamischen afferenten Fasern, die auf thermische Reize mit
Temperaturempfindungen hängen außer von der einem proportional-differenzialen Entladungs-
Ausgangstemperatur auch von der Geschwindigkeit verhalten antworten. Ihre Schwellen stimmen
der Temperaturänderung und der Größe des Haut- weitgehend mit den Empfindungsschwellen über-
areals, auf das der Reiz einwirkt, ab. ein.
15.3 · Thermorezeption
335 15

Box 15.3. Neurologische Ausfälle nach halbseitiger


Durchtrennung des Rückenmarks (Syndrom nach
Brown-Séquard)

Bei einer halbseitigen Durchtrennung des Rücken-


marks (z. B. bei einem Unfall) kommt es durch die
Durchtrennung der ab- und aufsteigenden Bahnen in
der weißen Substanz des Rückenmarks durch deren
unterschiedlichen Kreuzungswege (Abschn. 14.1.1
und 16.6.4) zu motorischen und sensorischen Ausfäl-
len, die in der Abbildung beispielhaft für eine Durch-
trennung in Höhe des unteren Brustmarks gezeigt sind
(8. Thorakalwirbel = T8, die betroffenen Bahnen sind
farbig hervorgehoben). Die Willkürmotorik ist auf der
Seite der Läsion (ipsilateral) gelähmt. Die Sensibilitäts-
störungen sind auf beiden Körperhälften ungleich:
Ipsilateral treten Störungen des Tastsinns auf (z. B. star-
ker Anstieg der Zweipunktschwelle), kontralateral sind
Thermorezeption und Nozizeption gestört oder völlig
. Abb. 15.10a, b. Antwortverhalten von Thermosensoren. ausgefallen. Dies wird als dissoziierte Empfindungsstö-
a Mittelwerte des Antwortverhaltens je einer Population von Kalt- rung bezeichnet. Das Syndrom ist nach seinem Erstbe-
(blaue Kurve) und Warmsensoren (rote Kurve) der Affenhaut
schreiber benannt.
bei konstanter Hauttemperatur (statische Kennlinien). Extrazelluläre
Ableitung der Aktionspotenziale von dünnen Filamenten der zugehö-
rigen Nerven. b Verhalten eines Kaltsensors bei kurzen, abkühlenden
Temperatursprüngen. Die Ausgangs- und Rückkehrtemperatur betrug
immer 34°C. Die Größe des Abkühlungssprunges ist jeweils rechts in
°C angegeben. Ableitung von einem Filament des N. medianus der
Affenhaut

15.3.5 Weiterleitung und zentrale


Verarbeitung von
Temperatursignalen

Spinale und supraspinale Weiterleitung


Die aus den Thermosensoren stammende Information wird
über das Vorderseitenstrangsystem zum Thalamus und
zum somatosensorischen Kortex übertragen. Dieses Sys-
tem, dessen Verlauf bereits im vorigen Kapitel vorgestellt
wurde (Abschn. 14.1.1), überträgt auch die Information aus
den Nozizeptoren (. Abb. 16.10 in Abschn. 16.3.1).
Im Unterschied zum Hinterstrang kreuzt der Vorder- Zentralnervöse Integration, Beseitigung von
seitenstrang, wie in Abschn. 14.1.1 bereits berichtet, auf Mehrdeutigkeit
der Eintrittsebene der afferenten Nervenfasern nach der Bei konstanter Hauttemperatur entladen innerhalb der sub-
ersten Synapse im Hinterhorn des Rückenmarks (bzw. jektiven Indifferenzzone (31–36°C) sowohl Warm- als auch
den korrespondierenden Trigeminusfasern im Hirnstamm, Kaltsensoren (. Abb. 15.10). Aktivität in Thermosensoren
. Abb. 14.10 und 14.11) auf die kontralaterale Seite, um führt also, zumindest bei geringen Entladungsraten, nicht
dann teils im Hirnstamm (Tractus spinoreticularis), teils im notwendigerweise zu subjektiven Empfindungen. Diese
Thalamus (Tractus spinothalamicus) weitergeschaltet zu treten nur auf, wenn genügend viele Impulse über eine
werden (Box 15.3). Von dort aus erreichen die afferenten ausgedehnte kortikale Fläche das Zentralnervensystem er-
Informationen viele Hirngebiete. reichen. Die dauernden (tonischen) Warmempfindungen
oberhalb 36°C lassen sich entsprechend als Folge der mit
G Die Temperatursignale aus den Thermosensoren zunehmender Temperatur sich stetig erhöhenden Entla-
werden über den Vorderseitenstrang und den Thala- dungsraten der Warmsensoren auffassen, wobei oberhalb
mus zum somatosensorische Kortex geleitet. 43°C durch die zusätzliche Erregung von Hitzesensoren die
336 Kapitel 15 · Somatosensorik

Warmempfindung in eine schmerzhafte Hitzeempfindung 50% und in den parasympathischen Nervi pelvici des Be-
übergeht. Schon diese Befunde zeigen, dass sich die Sensor- ckens mindestens 30%. Bei den afferenten Nervenfasern
aktivität erst nach einer anhaltenden zentralnervösen dieser Sensoren handelt es sich praktisch durchweg um un-
Integration des von peripher kommenden Zuflusses im Be- myelinisierte, langsam leitende C-Fasern. Die Sensoren der
wusstsein abbildet. Eingeweide mit ihren afferenten Nervenfasern bilden also
Die dauernden Kaltempfindungen unterhalb 31°C einen beträchtlichen Teil der somatoviszeralen Sensi-
lassen sich nicht ähnlich einfach mit der Zunahme der bilität.
statischen Entladungen der Kaltsensoren in Verbindung
bringen, da das untere Ende der Indifferenzzone und die Homöostatische Rolle der Viszerozeptoren
Lage der maximalen mittleren Entladungsrate der Kalt- Anders als bei den somatischen Nerven wird uns die zen-
sensoren praktisch übereinstimmen. Außerdem sind tripetale Impulsaktivität in den afferenten Nervenfasern
beispielsweise die mittleren Entladungsraten bei 25°C der viszeralen Nerven nur zu einem sehr geringen Teil und
und 33°C etwa gleich, jedoch kommt es bei der niedrigen häufig nur unter speziellen Umständen bewusst. Dies mag
Temperatur zu einer dauernden Kaltempfindung, bei der darauf hindeuten, dass der viszerale Anteil der somato-
höheren zu einer Neutralempfindung. Es ist also hier viszeralen Sensibilität vorwiegend andere Aufgaben hat als
zusätzliche Information nötig, um zu entscheiden, auf die Vermittlung von Sinnesempfindungen aus unseren Ein-
welcher Seite der glockenförmigen Kurve die Hauttem- geweiden. Diese Aufgaben können am besten als die ho-
peratur liegt. Dazu könnten beispielsweise die gleich- möostatische Rolle der Eingeweidesensoren bezeichnet
zeitigen Entladungen der Warmsensoren ausgewertet werden.
werden, oder das Zentralnervensystem könnte davon Ge- Damit ist gemeint, dass die von den Viszerozeptoren
brauch machen, dass viele Kaltrezeptoren in ihrem mitt- kommenden Meldungen von den autonomen Anteilen des
leren Entladungsbereich gruppierte Entladungen zeigen Zentralnervensystems dazu genutzt werden, Abweichun-
(. Abb. 15.10b). gen von den Sollwerten des »inneren Milieus« des Kör-
Als letztes Beispiel für die zentralnervöse Modifikation, pers, also beispielsweise einen abgesunkenen Blutdruck
die die peripheren Prozesse erfahren, ehe sie im Bewusst- oder einen zu hohen Kohlensäuregehalt des Blutes zu er-
sein abgebildet werden, sei erwähnt, dass der Zeitverlauf kennen, um entsprechende Gegenmaßnahmen zum Er-
der subjektiven Adaptation auf eine neue Hauttemperatur halt der Homöostase einleiten zu können (zur Begriffs-
(z. B. beim Einstieg in ein warmes Bad) viele Minuten definition und Aufgabenbeschreibung der Homöostase
dauert, während die Thermosensoren schon innerhalb von Kap. 7). Durch Wahrnehmungstraining, z. B. über Biofeed-
einigen Sekunden auf einen neuen Temperaturwert adap- back (z. B. Box 10.4 in Abschn. 10.7.2, Abschn. 11.3.3, Box
tieren. Offensichtlich klingt die durch den dynamischen 12.7 in Abschn. 12.2.6 sowie Abschn. 13.7.2), kann aber die
afferenten Zufluss induzierte zentralnervöse Aktivität nur normalerweise unbewusst bleibende viszerale Afferenz be-
langsam ab. wusst wahrgenommen werden.
G Die aus den kutanen Thermosensoren stammende Homöostatische Rolle von Somatosensoren
Information wird erst nach längerer zentralnervöser
Selbstverständlich werden auch zahlreiche Meldungen aus
Verarbeitung bewusst. Diese dient u. a. dazu, aus
somatischen Sensoren zur Kontrolle der Homöostase ein-
den peripheren Signalen die Mehrdeutigkeit heraus-
gesetzt, unabhängig davon, ob diese Meldungen gleich-
zurechnen, um zu einer eindeutigen Temperatur-
zeitig als Sinnesempfindungen bewusst werden oder nicht.
wahrnehmung zu kommen.
So liegen in den Skelettmuskeln Sensoren, die auf die
Anhäufung von Stoffwechselprodukten (Metaboliten) bei
15 15.4 Viszerale Sensibilität Muskelarbeit ansprechen (»Metabosensoren«) und eine
erhöhte Durchblutung zum Abtransport der Metabolite
15.4.1 Lokalisation und Funktion einleiten. Die Tätigkeit dieser Sensoren wird uns nicht be-
der Viszerosensoren wusst. Andererseits wird durch die Aktivierung von Wär-
mesensoren der Haut eine ebenfalls reflektorische Durch-
Anzahl der Viszerosensoren blutungssteigerung der Haut ausgelöst, wobei aber gleich-
(Eingeweidesensoren) zeitig eine Warmempfindung auftritt.
Genau wie die somatischen Nerven zu Haut, Skelettmus-
keln und Gelenken enthalten auch die viszeralen Nerven G In den Eingeweidenerven sind 30–90% der meist
zu den Eingeweiden in Brustkorb und Bauchraum einen unmyelinisierten Nervenfasern afferent. Die von
großen Prozentsatz afferenter Nervenfasern. Im para- ihren Sensoren stammende Information wird meist
sympathischen Nervus vagus zu den Brust- und Bauch- nicht bewusst, sondern v. a. zur homöostatischen
eingeweiden sollen 80–90% der Fasern afferent sein, im Kontrolle des inneren Milieus genutzt. Daran sind
sympathischen Nervus splanchnicus des Bauchraumes auch somatische Sensoren beteiligt.
15.4 · Viszerale Sensibilität
337 15
15.4.2 Viszerozeption im kardiovaskulären merksamkeit darauf richten. Die evozierten Hirnpotenziale
System nach dem Herzspitzenstoß sind aber auch am Kortex kon-
tinuierlich vorhanden. Damit werden auch die höchsten
Kardiovaskuläre Mechanosensoren informationsverarbeitenden Zentren von metabolisch oder
Die Anpassung des vom Herzen geförderten Blutvolumens emotional bedingten Veränderungen der Herztätigkeit in-
an den wechselnden Bedarf des Körpers und die damit formiert (Kap. 27).
verknüpfte Konstanthaltung des Blutdruckes geschieht im
kardiovaskulären oder Herz-Kreislauf-System, unter der Herzschlaginduzierte Erregung somatischer
Mitarbeit spezieller Mechanosensoren, die den Blutdruck Mechanosensoren
in den großen Gefäßen und die Füllung der Vorhöfe des Die mit der Herztätigkeit verbundenen mechanischen Er-
Herzens dauernd messen (Drucksensoren im Aortenbogen schütterungen des Brustkorbes erregen wahrscheinlich
und in den Karotissinuskörperchen, Dehnungssensoren in zahlreiche Mechanosensoren der Muskeln, Sehnen, Ge-
den Vorhofwänden). Die lebenslange Tätigkeit dieser Sen- lenke und des subkutanen Gewebes der Brustwand und der
soren, deren Aufgaben in Abschn. 10.5.4 berichtet werden, Wirbelsäule, besonders wenn bei Zunahme der Herzarbeit
wird uns allem Anschein nach nicht bewusst. Dennoch die oben genannten Druckwerte erheblich ansteigen und
können wir die Herztätigkeit, besonders in Extremsitua- das Herzzeitvolumen durch Zunahme von Schlagvolumen
tionen, also z. B. bei großer körperlicher Anstrengung oder und Herzfrequenz auf ein Mehrfaches des Ruhewertes (von
bei starker psychischer Anspannung (»Herz klopft bis zum 5 l/min, Abschn. 10.2.3) zunimmt. Auch die Pulswellen
Halse«), wahrnehmen. Wie unten geschildert, werden diese erregen in der Körperperipherie zahlreiche Mechanosenso-
Wahrnehmungen des Herzschlags durch somatische Sen- ren, besonders Pacini-Körperchen. Die Erregung all dieser
soren vermittelt. somatischen Sensoren wird uns im Alltag nicht bewusst.
Mangel an viszeraler Wahrnehmung kann bedrohliche Erst bei intensiver Herztätigkeit und dem damit verbunde-
Konsequenzen, z. B. den stillen Herzinfarkt haben: Diese nen vermehrten afferenten Zustrom oder bei Aufmerksam-
Personen merken weder die Aktivierung ihrer kardialen keitszuwendung nach Training der viszeralen Wahrneh-
Nozizeptoren noch starke Schlagvolumen- und Druckän- mung nehmen wir den Herzschlag wahr.
derungen. Durch Biofeedback-gestütztes Wahrnehmungs-
G Die Wahrnehmung des Herzschlags erfolgt über
training kann diese Störung behoben werden.
somatische Mechanosensoren, die bei der Systole
G Im kardiovaskulären System werden Schwankungen durch die Erschütterungen des Brustkorbs und
des arteriellen Blutdruckes und des Vorhofvolumens durch die Pulswellen aktiviert werden.
über viszerale Druck- und Dehnungssensoren er-
fasst. Ihre Tätigkeit wird in der Regel nicht bewusst. 15.4.3 Viszerozeption im pulmonalen
System
Herzschlaginduzierte mechanische Ereignisse
Im Laufe eines Herzzyklus kommt es zu erheblichen Form-, Mechanosensoren
Volumen- und Lageänderungen des Herzens. Wie in Ab- Die rhythmische Tätigkeit des pulmonalen Systems wird
schn. 10.5.2 ausführlicher dargestellt, werden während uns im Alltag nicht bewusst, obwohl bei jedem Atemzug
eines Herzschlages von der linken und rechten Herzkam- zahlreiche somatische Mechanosensoren des Brustkorbs
mer je 70 ml Blut ausgeworfen. Das Herz wird also um und Zwerchfells sowie viele viszerale Mechanosensoren des
dieses Volumen verkleinert und in seiner Form verändert. Brust- und Bauchraumes aktiviert werden. Wir können
Dabei steigt in der linken Kammer der Druck von nahe aber jederzeit unsere Aufmerksamkeit auf die Atmung
0 mmHg auf 120 mmHg (systolischer Blutdruck) und in lenken, dabei die Atembewegungen wahrnehmen und will-
der rechten Kammer auf 25 mmHg an. Die Druckwel- kürlich in den Atemablauf eingreifen.
len werden als Pulswellen in die Körperperipherie (vom
linken Herz) und in die Lungen (rechtes Herz) geleitet (Ab- Chemosensoren
schn. 10.5.1). Die zentralnervöse reflektorische Steuerung der unwill-
Die ruckartig systolische Kontraktion des Herzens ist kürlichen Atembewegungen erfolgt zum einen unter der
als »Herzspitzenstoß« an der linken Brustwand (im 5. Inter- Mithilfe der eben angesprochenen Mechanosensoren, die
kostalraum) zu fühlen und häufig auch zu sehen. Sie er- Angaben über Dauer und Tiefe von Ein- und Ausatmung
zeugt auch den ersten Herzton, während der zweite am liefern, zum anderen über Chemosensoren, die Kohlen-
Ende der Systole durch das Zuschlagen der Aorten- und säure- und Sauerstoffspannung des Blutes melden und
Pulmonalklappen entsteht (Abschn. 10.2.2). Im Gehirn damit anzeigen, ob das Atemzeitvolumen dem jeweiligen
wird dieser mechanische Reiz des Herzens kontinuierlich Stoffwechsel angemessen ist (Abschn. 11.1.1). Die Tätigkeit
bis in die obersten Regionen des Frontalkortex registriert, dieser Chemosensoren wird normalerweise nicht wahrge-
wenngleich dies uns nur bewusst wird, wenn wir die Auf- nommen. Beim stärkeren Ansteigen der Kohlensäurespan-
338 Kapitel 15 · Somatosensorik

nung (CO2-Partialdruck, Abschn. 11.1.2) kommt es zum Überdehnung und Spasmen (Krampfkontraktionen der
Gefühl der Atemnot (Lufthunger, Erstickungsgefühl), das glatten Muskulatur) scheinen im gesamten Magen-Darm-
wahrscheinlich nicht direkt durch die Chemosensoren, Kanal Schmerz hervorzurufen. Wie bei anderen viszeralen
sondern indirekt durch die zunehmende Anstrengung bei Systemen kann die Sensibilität der Wahrnehmung der Ma-
der reflektorisch gesteuerten motorischen Atmungstätig- gen-Darm-Afferenzen durch Lernen verbessert werden
keit wahrgenommen wird (Abschn. 11.1.3). (z. B. . Abb. 13.29 und zugehöriger Text). Einzelne Krank-
heitsbilder, wie z. B. das irritable Kolon (Box 12.6 in Abschn.
Nozizeptoren 12.2.5), bestehen aus einer solchen gelernten Überempfind-
In den Schleimhäuten der Atemwege, also Nase, Rachen, lichkeit.
Luftröhre, Bronchien und Bronchiolen finden sich zahl-
G Am Eingang (Mund, Rachen) und am Ausgang (Mast-
reiche Sensoren, die auf schädliche mechanische (Fremd-
darm, Analkanal) des Magen-Darm-Trakts, aber nicht
körper, Schleim) und chemische Reize reagieren und
dazwischen, werden Berührungsreize wahrgenom-
Hustenreflexe auslösen. Für die Eigenschaften dieser Nozi-
men. Dehnung wird überall bemerkt, Überdehnung
zeptoren wird auf die entsprechenden Ausführungen in
schmerzt.
Abschn. 16.2.1 verwiesen.
G Das Atmen wird nur bewusst, wenn die Aufmerksam- Thermoperzeption
keit darauf gelenkt wird oder wenn durch zu starkes
Warm- und Kaltreize werden in der gesamten Speiseröhre
Ansteigen des CO2-Partialdrucks Atemnot auftritt.
und im Analkanal wahrgenommen, nicht aber in Magen
Noxische Reize in den Atemwegen lösen Hustenreize
oder Darm. Alkohol kann dagegen auch im Magen ein wär-
mit entsprechenden Empfindungen aus.
mendes oder brennendes Gefühl auslösen.

15.4.4 Viszerozeption im gastro- Nozizeption


intestinalen System Nach alter chirurgischer Erfahrung treten am nicht-narko-
tisierten Menschen beim Berühren von Magen, Dünndarm,
Mechanoperzeption Dickdarm und Blinddarm mit warmen und kalten Instru-
Der Magen-Darm-Kanal stellt einen Teil der Körperober- menten, Kauterisieren (Schneiden mit einem glühenden
fläche dar, auch wenn er an Anfang und Ende durch Mund Draht), beim Quetschen mit einer Pinzette oder Klemme
und After verschlossen ist (Abschn. 12.2.1). Seine mit oder beim Schneiden mit einem Skalpell keinerlei Emp-
Schleimhaut ausgekleidete »innere Oberfläche« ist daher findungen auf. Bei den heute üblichen anästhesiologi-
von außen kommenden Reizen, nämlich den durch Essen schen und chirurgischen Techniken lassen sich diese An-
und Trinken aufgenommenen Stoffen und ihren Abbau- gaben nicht nachprüfen (Weiteres zum viszeralen Schmerz
produkten, deutlich mehr als die übrigen Eingeweide aus- 7 unten).
gesetzt. Aus dieser Sicht ist es nicht verwunderlich, dass
G Ähnlich wie mechanische werden auch thermische
wir mechanische, thermische und chemische Vorgänge im
Reize fast nur am Anfang und am Ende des Magen-
Magen-Darm-Bereich mehr als in anderen Eingeweiden
Darm-Kanals wahrgenommen. Chirurgische Ein-
wahrnehmen. Soweit diese Vorgänge zu Durst-, Hunger-
griffe am Magen-Darm-Kanal scheinen nicht zu
und Sättigungsgefühlen führen, sind sie im Kap. 26 be-
schmerzen.
sprochen. Im Folgenden wird auf einige andere Aspekte der
Magen-Darm-Sensibilität aufmerksam gemacht (Darm-
nervensystem Abschn. 6.1.1). 15.4.5 Viszerozeption im renalen System
15 Von der Speiseröhre (Ösophagus) bis zum Mastdarm
(Rektum) lösen Berührungen des Magen-Darm-Kanals Mechanoperzeption
keine Empfindungen aus. Erst im Ausgang des Mastdarms, Die Zubereitung des Urins in den Nieren und sein Trans-
dem Analkanal, werden Berührungsreize wahrgenommen. port durch die Harnleiter in die Harnblase lösen keinerlei
Dehnung der Hohlwände (experimentell z. B. durch Auf- Empfindungen aus, obwohl Nieren und Harnleiter über
blasen eines Ballons, . Abb. 13.29 in Abschn. 13.7.2) scheint eine ausgeprägte afferente Innervation verfügen. Wird da-
dagegen im gesamten Magen-Darm-Kanal empfunden zu gegen die Harnblase durch den sich dort ansammelnden
werden, allerdings mit unterschiedlichen Wahrnehmungen. Urin gedehnt, so wird diese Füllung wahrgenommen und
So wird Dehnung der Magenwände als Sättigungs- oder es kommt zu Harndrang (Abschn. 12.3.5). Es ist allerdings
Völlegefühl wahrgenommen, während die Dehnung des eine alltägliche Erfahrung, dass die Wahrnehmungsschwelle
Mastdarms Stuhldrang auslöst (Abschn. 12.2.6). in Abhängigkeit von unserer Aufmerksamkeit und Tätig-
Dehnung von Dünn- oder Dickdarm wird ebenfalls keit über einen sehr weiten Bereich schwanken, Harndrang
bemerkt und häufig Darmgasen zugeschrieben, wobei also schon bei sehr kleinen Füllungen oder erst bei nahezu
der Ort der Dehnung nicht genau lokalisiert werden kann. maximal gefüllter Blase auftreten kann.
Zusammenfassung
339 15
Nozizeption G Im renalen System wird die Aktivität der Nieren-
Behinderung des Harnabflusses aus den Nierenbecken in und Harnleitersensoren nicht bewusst. Aktivität von
die Blase ruft schwere Schmerzen (Nierenkoliken) hervor. Harnblasensensoren führt zu Harndrang. Aktivie-
Sie werden v. a. durch »Nierensteine« verursacht, die sich rung von Nozisensoren tritt nur bei Überdehnung
aus ihrem Lager im Nierenbecken gelöst haben und auf und entzündlichen Erkrankungen auf.
dem Weg durch den Harnleiter »steckenbleiben«. Entzün-
dungen der Harnblase und der ableitenden Harnwege
führen ebenfalls zu Schmerzen, die meist von dem Gefühl
des dauernden Harndrangs begleitet sind.

Zusammenfassung
Als somatoviszerale Sensibilität werden alle Sinnes- 5 bezieht ihre Signale v. a. aus Gelenk- und Muskel-
modalitäten zusammengefasst, deren Sensoren entweder sensoren, deren afferente Zuflüsse im ZNS verar-
als somatische Sensoren in der Haut oder in den Skelett- beitet werden, wobei über Efferenzkopien aus dem
muskeln, ihren Sehnen und den Gelenken liegen, wäh- motorischen System und über afferente Hemmung
rend die Sensoren der Eingeweide als viszerale Sensoren potenzielle Mehrdeutigkeiten ausgeschaltet
zusammengefasst werden. werden;
Der Tastsinn der Haut (die Mechanorezeption) um- 5 ist zusammen mit dem Tastsinn an dem Erleben un-
fasst 4 Qualitäten, nämlich Druck-, Berührungs-, Vibra- serer Umwelt als Tastwelt und Fühlraum und in
tions- und Kitzelempfindung. Er Zusammenarbeit mit diesen und den Gleichgewichts-
5 hat Empfindungsschwellen, die an den Finger- organen für das bewusste Erleben des Körpers im
spitzen mit rund 0,01 mm Eindrucktiefe sehr gering Raum, das Körperschema, verantwortlich.
sind;
5 ist noch empfindlicher auf Vibrationsreize, deren Der Temperatursinn (die Thermorezeption) umfasst
minimale Amplitude bei Frequenzen von 150–300 Hz 2 Qualitäten, den Kaltsinn und den Warmsinn. Er
bei etwa 1 μm liegen; 5 adaptiert in einem mittleren Temperaturbereich, der
5 basiert auf verschiedenen Typen von Mechano- Zone der Indifferenztemperatur, vollständig auf
rezeptoren, die darauf spezialisiert sind, die Inten- konstante Temperaturreize;
sität (Drucksensoren), die Geschwindigkeit (Be- 5 führt bei konstanten Hauttemperaturen unterhalb
rührungssensoren) oder die Beschleunigung bzw. oberhalb der Zone der Indifferenztemperatur zu
(Vibrationssensoren) mechanischer Reize zu signa- dauernden Kalt- bzw. Warmempfindungen;
lisieren; 5 führt bei dynamischen Änderungen der Hauttem-
5 besitzt psychophysische Intensitätsfunktionen, peratur zu Temperaturempfindungen, deren Inten-
die Potenzfunktionen folgen, deren Formung teils sität und Richtung (Weber-Drei-Schalen Versuch!) von
von den Mechanorezeptoren, teils von Prozessen der Ausgangstemperatur, der Geschwindigkeit der
der zentralen Informationsverarbeitung bestimmt Temperaturänderung und der Größe des gereizten
wird. Hautareals abhängen;
5 verfügt über spezielle äußere und innere Kalt- und
Die Tiefensensibilität (die Propriozeption) umfasst Warmrezeptoren, die freie Nervenendigungen im
3 Qualitäten, nämlich Stellungs-, Bewegungs- und Gewebe ausbilden und von dünnen Nervenfasern
Kraftsinn. Sie versorgt werden;
5 signalisiert über den Stellungssinn die Stellung der 5 bezieht seine Information über konstante (statische)
Gliedmassen untereinander und zusammen mit bzw. sich ändernde (dynamische) Hauttemperatur-
dem Gleichgewichtssinn die Stellung des Körpers im änderungen über das entsprechende Entladungs-
Raum; verhalten der Thermosensoren, wobei die zentrale
5 signalisiert über den Bewegungssinn Richtung und Verarbeitung der afferenten Signale dafür sorgt, dass
Geschwindigkeit der Gelenkbewegungen; Mehrdeutigkeiten beseitigt werden.
5 signalisiert über den Kraftsinn die Muskelkraft, die
aufgewendet wird, um eine Bewegung durchzufüh- Die Nerven zu den Eingeweiden, die viszeralen Nerven
ren oder eine Gelenkstellung einzuhalten (z. B. gegen des parasympathischen und des sympathischen Ner-
die Schwerkraft); vensystems enthalten vorwiegend afferente Nervenfa-
6
340 Kapitel 15 · Somatosensorik

6
sern. Sie werden mit ihren Sensoren als viszerale Sensi- 5 Die Viszerorezeptoren weisen eine erhebliche Spe-
bilität zusammengefasst. Für sie gilt: zifität in Bezug auf die von ihnen innervierten Or-
5 Ihre Aufgaben liegen nicht so sehr in der Vermittlung gane, wie z. B. Herz, Lunge, Magen-Darm-Trakt und
bewusster Sinnesempfindungen als in ihrer Beteili- Niere auf, so dass sich in diesen Organen die unter-
gung an der Homöostase (Aufrechterhaltung) des schiedlichsten Mechano-, Thermo- und v. a. Chemo-
»inneren Milieus«, indem sie Abweichungen von des- rezeptoren und Nozizeptoren finden
sen Sollwerten melden und damit Korrekturvorgänge
einleiten

Literatur
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dam (Progress in Brain Research, Vol. 67)
Hölzl R, Whitehead WE (eds) (1983) Psychophysiology of the gastro-
intestinal tract. Plenum Press, New York
Schmidt RF, Lang F (Hrsg) (2007) Physiologie des Menschen, 30. Aufl.
Springer, Berlin Heidelberg New York Tokyo
Urban L (ed) (1994) Cellular mechanisms of sensory processing. The
somatosensory system. Springer, Berlin Heidelberg New York
Tokyo

15
16

16 Nozizeption und Schmerz

16.1 Wahrnehmungspsychologie des Schmerzes – 342


16.1.1 Schmerzcharakterisierung – 342
16.1.2 Schmerzkomponenten – 344
16.1.3 Schmerzbewertung – 345
16.1.4 Schmerzmessung – 346

16.2 Das periphere nozizeptive System – 347


16.2.1 Bau und Funktion der Nozizeptoren – 347
16.2.2 Molekularbiologie der Nozizeptorfunktion – 349
16.2.3 Stumme Nozizeptoren als Juckrezeptoren – 351

16.3 Zentrale nozizeptive Systeme – 351


16.3.1 Verarbeitung noxischer Signale in Rückenmark
und Medulla oblongata – 351
16.3.2 Verabeitung noxischer Signale in Thalamus und Hirnrinde – 352
16.3.3 Endogene Schmerzkontrollsysteme – 354

16.4 Pathophysiologie von Nozizeption und Schmerz – 355


16.4.1 Schmerzen durch Erregung von nozizeptiven Nervenfasern – 355
16.4.2 Schmerzen spinalen und supraspinalen Ursprungs – 356
16.4.3 Sensibilisierung und Plastizität des zentralen nozizeptiven Systems – 358

16.5 Psychophysiologie chronischer Schmerzen – 361


16.5.1 Peripher-physiologische Ursachen von Schmerz – 361
16.5.2 Lernen von Schmerz – 362
16.5.3 Neuronale Grundlagen von Schmerzgedächtnis – 365

16.6 Schmerztherapien – 367


16.6.1 Pharmakologische Schmerztherapie – 367
16.6.2 Physikalische Maßnahmen der Schmerzbehandlung – 369
16.6.3 Psychologische und psychophysiologische Schmerztherapien – 370

Zusammenfassung – 372
Literatur – 373

N. Birbaumer, Biologische Psychologie, DOI 10.1007/978-3-540-95938-0_16,


© Springer Medizin Verlag Heidelberg 2010
342 Kapitel 16 · Nozizeption und Schmerz

)) digung empfunden wird, selbst wenn eine solche nicht


(oder nicht mehr) vorliegt (Abschn. 16.5.1).
Fall 1: Als Säugling erschien Christiane D. ihrer Umgebung Während Schmerz also ein bewusstes Sinnes- und Ge-
völlig normal. Sie entwickelte sich aber zu einem äußerst fühlserlebnis ist, umfasst der Ausdruck Nozizeption die
reizbaren Mädchen, das bei seinen Wutausbrüchen rück- objektiven Vorgänge, mit denen das Nervensystem noxi-
sichtslos seinen Kopf auf den Fußboden hämmerte, sodass sche Reize aufnimmt und verarbeitet. Noxische Reize sind
sich häufig große Blutergüsse bildeten. Beim Kauen biss sie mechanische, thermische oder chemische Reize, die das
sich oft die Zunge blutig. Die Zungenspitze fehlte schließ- Gewebe potenziell oder aktuell schädigen. An der Nozi-
lich völlig. Schon mit 3 Jahren erlitt sie schwere Verbren- zeption beteiligte Nervenzellen sind nozizeptive Neurone.
nungen, als sie sich längere Zeit auf einen eingeschalteten Sie bilden zusammen das nozizeptive System, das in Ab-
Heizstrahler kniete. Von ihrer frühesten Kindheit an traten schn. 16.2 und 16.3 vorgestellt wird.
immer wieder schwere Gelenk- und Knochenentzündun-
gen auf. C. D. starb mit nur 29 Jahren an den schweren, von Schmerz als Antrieb zur Vermeidung
den Gelenken und Knochen auf den gesamten Körper Der Schmerz wird zwar in der Regel im Rahmen von Sinnes-
übergreifenden Infektionen. Sie litt an einer völligen ange- physiologie und Wahrnehmungspsychologie besprochen,
borenen Schmerzunempfindlichkeit. unterscheidet sich aber fundamental von allen anderen
Sinnessystemen: Schmerz hat, wie es auch in der obigen
Fall 2: Bei dem jetzt 55-jährigen Patienten K. L. traten vor Schmerzdefinition anklingt, fast immer eine motivational-
etwa 5 Jahren erstmals in der linken Wange und dem linken emotionale Komponente, d. h. er wirkt als ein Antrieb zur
Mundwinkel kurze Schmerzepisoden auf, die im weiteren Vermeidung (Kap. 26). Dies bedeutet, dass die Entstehung
Verlauf immer häufiger und quälender wurden. K. L. hat bei von Schmerz nicht allein physiologisch, sondern nur unter
jedem Schmerzanfall den Eindruck, sein Gesicht werde von Einbezug der Psychophysiologie von Antrieb und Gefühl
einem glühenden Eisen durchbohrt. Jede Schmerzattacke (Kap. 26 und 27) verstanden werden kann. Dies gilt v. a. für
dauert zwar nur wenige Sekunden, aber manchmal treten chronische Schmerzen, gilt aber auch für akute Schmerz-
ganze Salven davon auf. Da die Anfälle durch Berühren zustände, wie z. B. ausgedehnte Verletzungen.
oder Bewegen des linken Mundwinkels, z. B. beim Waschen,
G Der Schmerz ist eine eigenständige Sinnesmodalität,
Rasieren, Essen oder Sprechen ausgelöst werden können,
die über einen eigenständigen peripheren und
isst, trinkt und spricht der Patient so wenig wie möglich.
zentralen nervösen Apparat, das nozizeptive System,
Er empfindet sein Leben als Folter und denkt daran, ihm
vermittelt wird. Schmerzen, insbesondere chro-
ein Ende zu setzen. Herr K. L. leidet an einer idiopathi-
nische Schmerzen, wirken immer als Antrieb zur Ver-
schen Trigeminusneuralgie, einer seltenen, aber beson-
meidung.
ders schweren und therapieresistenten Form chronischer
Schmerzen.
Der Schmerz ist also einerseits für ein normales Leben Somatischer und viszeraler Schmerz
als Warner unentbehrlich. Andererseits können chronische Der Schmerz (Synonym: Schmerzsinn) lässt sich im Hin-
Schmerzen das Leben so zur Hölle machen, dass es den blick auf seinen Entstehungsort in eine Reihe von Quali-
Betroffenen als nicht mehr lebenswert erscheint. täten einteilen. In . Abb. 16.1 sind diese Qualitäten in den
roten Kästchen wiedergegeben. Die Modalität Schmerz
umfasst zunächst die beiden Qualitäten somatischer und
16.1 Wahrnehmungspsychologie viszeraler Schmerz.
des Schmerzes Kommt der somatische Schmerz von der Haut, so wird
er als Oberflächenschmerz bezeichnet; kommt er aus
16.1.1 Schmerzcharakterisierung den Muskeln, Knochen, Gelenken und Bindegeweben, so
16 bezeichnet man ihn als Tiefenschmerz. Oberflächen- und
Schmerzempfindung und Nozizeption Tiefenschmerz sind also Subqualitäten des somatischen
Nach einer Definition der internationalen Schmerzgesell- Schmerzes.
schaft IASP ist »Schmerz ein unangenehmes Sinnes- und Sticht man zur Auslösung eines Oberflächenschmerzes
Gefühlserlebnis, das mit aktueller oder potenzieller Ge- die Haut mit einer Nadel, so empfindet man einen Schmerz
websschädigung verknüpft ist oder mit Begriffen einer von »hellem« Charakter, der gut lokalisierbar ist und der
solchen Schädigung beschrieben wird«. Danach ist Schmerz nach Aufhören des Reizes schnell abklingt. Diesem ersten
eine elementare Sinnesempfindung, die spezifisch beim Schmerz des Nadelstiches folgt oft mit einer Latenz von
Einwirken gewebeschädigender (noxischer) Reize ausgelöst 0,5–1,0 s ein zweiter Schmerz von dumpfem (brennenden)
wird. Dieses ist verbunden mit einem unlustbetonten Ge- Charakter, der schwerer zu lokalisieren ist und nur langsam
fühlserlebnis (Abschn. 16.1.2). Die Definition besagt fer- abklingt. Diesen Schmerz kann man besonders gut durch
ner, dass Schmerz immer als Ausdruck einer Gewebeschä- Quetschen einer Interdigitalfalte auslösen.
16.1 · Wahrnehmungspsychologie des Schmerzes
343 16

Box 16.1. Spezifitätstheorie des Schmerzes

Heute wird davon ausgegangen, dass der Schmerz eine


selbständige Empfindung ist. Dies wurde im 19. Jahrhun-
dert und weit ins 20. Jahrhundert hinein angezweifelt.
Einer der Vorkämpfer der Spezifitätstheorie des Schmer-
zes war der Würzburger Physiologe Max von Frey (1852–
1932), der mit den vom ihm eingesetzten, heute noch zur
Prüfung der Hautsensibilität üblichen Reizhaaren und Sta-
chelborsten herausfand, dass die Haut in Analogie zu den
Befunden bei der Mechano- und Thermoperzeption auch
für den Schmerz nicht gleichmäßig empfindlich ist, son-
dern Schmerzpunkte besitzt. Diese sind deutlich häufiger
als Druckpunkte. Da die Kalt- und Warmpunkte der Haut
noch weniger zahlreich als die Druckpunkte sind, ist das
Verhältnis der Schmerzpunkte zu diesen noch größer.
Schon aufgrund dieser Befunde erschien es wahrschein-
lich, dass der Schmerz über eigene Sensoren, also spezielle
Nozizeptoren verfügt, die Nozizeption also nicht über
Mechano- oder Thermorezeptoren vermittelt wird (wie
es damals von den diversen Intensitäts- und Mustertheo-
rien gefordert wurde).

G Die Modalität Schmerz umfasst die beiden Qualitä-


ten somatischer und viszeraler Schmerz. Somatische
Schmerzen sind der Oberflächen- und der Tiefen-
schmerz, die aus der Haut bzw. den tieferen Gewe-
ben stammen. Viszeraler Schmerz stammt aus
den Eingeweiden. Der Schmerzcharakter hängt
bei allen Schmerzen in typischer Weise vom Ent-
stehungsort ab.

Akute und chronische Schmerzen


Neben dem Entstehungsort ist auch die Dauer eines
Schmerzes ein für seine Beurteilung wesentlicher Aspekt.
. Abb. 16.1. Qualitäten des Schmerzes nach ihrem Entstehungs-
Bei akuten Schmerzen, beispielsweise bei einem Unfall,
ort. Die Qualitäten sind mit roten und orangen Farbtönen unterlegt,
die Entstehungsorte grün. Schmerzbeispiele sind unten auf hellblauem einer Blinddarmentzündung oder einer Zahnkaries, ist der
Grund angegeben (Einzelheiten 7 Text) Schmerz in der Regel auf den Ort der Schädigung begrenzt,
dieser Ort ist für uns eindeutig lokalisierbar, und das Aus-
maß des Schmerzes hängt direkt von der Intensität des
Der Tiefenschmerz ist von dumpfem Schmerzcha- Reizes ab. Diese Schmerzen weisen auf eine drohende oder
rakter, er ist in der Regel schlecht lokalisierbar und er neigt bereits eingetretene Gewebsschädigung hin. Sie haben also
dazu, in die Umgebung auszustrahlen. Wir kennen solche eindeutig eine Signal- und Warnfunktion (Fall 1 in der Ein-
Schmerzen beispielsweise als Gelenkschmerzen, die beim leitung). Nach Beseitigung der Schädigung klingen sie rasch
Menschen zu den häufigsten Schmerzformen gehören. wieder ab.
Neben dem somatischen Schmerz und seinen Subqua- Außer den akuten Schmerzen gibt es zahlreiche Schmer-
litäten zeigt . Abb.16.1 als weitere wichtige Schmerzqualität zen, die für lange Zeit anhalten (z. B. Rückenschmerzen,
den viszeralen oder Eingeweideschmerz. Solche Schmer- Tumorschmerzen) oder in mehr oder weniger regelmäßi-
zen treten beispielsweise bei rascher und starker Dehnung gen Abständen immer wiederkehren (z. B. Migränekopf-
der Hohlorgane (z. B. der Gallenblase oder des Nieren- schmerzen, Herzschmerzen bei Angina pectoris, Trigemi-
beckens, 7 oben) auf. Ferner sind Spasmen oder starke nusneuralgie). Diese Schmerzformen, den Dauerschmerz
Kontraktionen schmerzhaft, besonders wenn sie mit feh- und den immer wiederkehrenden Schmerz, fasst man als
lender Durchblutung (Ischämie) verbunden sind. chronische Schmerzen zusammen. Im Allgemeinen wird
344 Kapitel 16 · Nozizeption und Schmerz

ein Schmerz erst dann als chronisch angesehen, wenn die tion des Hitzereizes, über seinen Beginn, seine Intensität
Beschwerden länger als ein halbes Jahr bestehen. (die von der Wassertemperatur abhängt) und über sein
Sinnesphysiologisch gesehen besteht beim chronischen Ende, sobald die Hand aus dem Wasser gezogen wird. Diese
Schmerz häufig keine eindeutige Beziehung zwischen Information wird uns als Sinnesempfindung genauso be-
dem Ausmaß der Organschädigung und der Schmerzin- wusst wie andere Sinneseindrücke auch, beispielsweise
tensität, v. a. wenn der Schmerz für lange Zeit fortbesteht wenn wir die Hand in lauwarmes oder kühles Wasser ge-
(Fall 2 in der Einleitung). Mit anderen Worten, es kommt taucht und damit eine Warm- oder Kaltempfindung aus-
beim chronischen Schmerz im Verlauf der Zeit häufig zu gelöst hätten. Wir nennen diesen Aspekt des Schmerzes die
einer deutlichen Lösung des Schmerzerlebnisses von der sensorische oder sensorisch-diskriminative Komponente
ursprünglich zugrunde liegenden Störung. Diese »Verselb- des Schmerzes (. Abb. 16.2).
ständigung« lässt den chronischen Schmerz als ein eigen-
ständiges Krankheitssyndrom erscheinen, das sich deut- Affektive Komponente
lich vom akuten Schmerz abhebt. Wenn wir, um im Beispiel zu bleiben, an einem sehr heißen
Eine physiologische Aufgabe kann dem chronischen Sommertag in ein Bad von 25°C eintauchen, empfinden wir
Schmerz meist nicht zugeschrieben werden. So gesehen nicht nur einen Kältereiz auf der Haut, sondern die Ab-
sind viele chronische Schmerzen sinnlos und sollten daher kühlung löst in uns gleichzeitig ein angenehmes Gefühl der
gelindert werden. Man darf aber nicht übersehen, dass Erfrischung aus. An einem kalten Wintertag würde das
chronische Schmerzen eine soziale Funktion haben kön- gleiche Bad jedoch als unangenehm kühl empfunden
nen, die mindestens in einigen Fällen einer Schmerzbe- werden. Ein Sinneseindruck kann also, je nach Ausgangs-
seitigung entgegensteht, z. B. wenn dadurch das soziale lage und Umständen, lust- oder unlustbetonte Gefühle in
Gefüge, in dem der Schmerzkranke lebt, bedroht würde uns hervorrufen. Dies gilt praktisch für alle Sinnesempfin-
(Abschn. 16.5.2). dungen, z. B. vom Auge, vom Ohr, vom Geruch oder vom
Geschmack. Eine Ausnahme macht der Schmerz. Er löst
G Nach der Dauer des Schmerzes unterscheidet man
fast immer nur unlustbetonte Affekte oder Emotionen in
akute und chronische Schmerzen. Akute Schmerzen
uns aus, unser Wohlbefinden wird durch ihn gestört, kurz,
sind als Warnsignale für ein normales Leben unent-
der Schmerz tut weh, wir leiden an ihm und trachten, ihn
behrlich, chronische Schmerzen dagegen oft sinnlos.
zu vermeiden (Abschn. 16.1.1). Wir bezeichnen diesen As-
pekt des Schmerzes als die emotionale oder affektive Kom-
16.1.2 Schmerzkomponenten ponente (Kap. 27).

Sensorische Komponente Vegetative Komponente


Beim Eintauchen einer Hand in Wasser über 45°C werden Eintauchen der Hand in heißes Wasser löst aber nicht nur
Nozizeptoren (Abschn. 16.2.1) der Haut erregt. Ihre affe- Schmerzen und Unlust aus, sondern führt auch zur Erwei-
renten Impulse vermitteln Information über die Lokalisa- terung der Hautgefäße und damit erhöhter Durchblutung,

16

. Abb. 16.2. Schematische Darstellung der durch noxische Sig- Umgekehrt beeinflussen Schmerzbewertung und -verhalten ihrerseits
nale aktivierten Komponenten des Schmerzes. In die resultierende die Ausprägung der affektiven und vegetativen Schmerzkomponen-
Schmerzbewertung (kognitive Komponente) und das Schmerzver- ten. Das Schema gilt auch für Schmerzen, die nicht durch Nozizeptoren
halten gehen die sensorischen, affektiven und vegetativen Kompo- oder neuralgische Erregungen bedingt sind
nenten, je nach Art des Schmerzes, in unterschiedlichem Ausmaß ein.
16.1 · Wahrnehmungspsychologie des Schmerzes
345 16

sichtbar an der Rötung der Haut. Umgekehrt verengt Ein- Beitrag des Schmerzgedächtnisses
tauchen in Eiswasser die Hautgefäße, und die Durchblu- zur Schmerzbewertung
tung nimmt entsprechend ab. In beiden Fällen steigt in der Entscheidend für die Schmerzbewertung ist v. a., dass
Regel auch der Blutdruck an, die Herzfrequenz nimmt zu, der aktuelle Schmerz an den im Kurz- und Langzeitge-
die Pupillen erweitern und die Atmung verändert sich. dächtnis gespeicherten Schmerzerfahrungen gemessen
Diese Reaktionen auf die schmerzhafte Reizung werden und entsprechend diesen Erfahrungen bewertet wird (Ab-
reflektorisch über das autonome oder vegetative Nerven- schn. 16.5.2). Die Schmerzbewertung kann daher als die
system abgewickelt, wir sprechen daher von der autonomen erkennende oder kognitive Komponente des Schmerzes
oder vegetativen Komponente des Schmerzgeschehens. bezeichnet werden. Sie geschieht zeitlich parallel mit der
Die vegetative Komponente kann besonders bei viszeralen Verarbeitung der oben beschriebenen 4 Schmerzkompo-
Schmerzen sehr ausgeprägt sein und sich, z. B. bei einer nenten und kann daher sehr schnell vorbewusst wie auch
Gallenkolik, als Übelkeit mit Erbrechen, Schweißausbruch langsam bewusst erfolgen.
und Blutdruckfall äußern. Das Ergebnis dieses kognitiven Prozesses beeinflusst
alle 4 Schmerzkomponenten und führt zu entsprechenden
Motorische Komponente Schmerzäußerungen (psychomotorische Komponente,
Schließlich ist uns gut vertraut, dass beim unabsichtlichen z. B. Mimik, Wehklagen, Verlangen nach schmerzstillenden
Eintauchen einer Hand in heißes Wasser oder beim Berüh- Medikamenten). Es fließt also in die Ausprägung der affek-
ren einer heißen Herdplatte die Hand schon zurückzuckt, tiven, vegetativen und motorischen Komponenten ein, d. h.
lange bevor uns ein Hitzeschmerz bewusst wurde und wir diese Komponenten sind nicht nur für die Bewertung des
willkürlich darauf hätten reagieren können. Diese moto- Schmerzes bedeutsam, sondern ihr Ausmaß hängt auch
rische Komponente des Schmerzes ist uns als Flucht- von der Gesamteinschätzung des aktuellen Schmerzes ab:
oder Schutzreflex in einer Vielzahl von Beispielen bekannt Wir leiden mehr an einem Schmerz, den wir im Hinblick
(Kap. 13). Sie spielt v. a. bei von außen kommenden noxi- auf unser Wohlergehen als »wichtig« einschätzen, als an
schen Reizen eine wichtige Rolle. einem, der uns (bei gleicher Intensität) banal erscheint.
Aber auch bei Tiefenschmerzen und viszeralen Schmer-
G Die diversen Schmerzkomponenten tragen je nach
zen können motorische Komponenten, z. B. in der Form
den Umständen in unterschiedlichem Ausmaß zur
von Muskelverspannungen, beobachtet werden. Im weite-
Schmerzbewertung bei. An dieser ist auch das
ren Sinne sind auch andere Verhaltensäußerungen auf den
Schmerzgedächtnis wesentlich beteiligt.
Schmerz, beispielsweise Mimik, Wehklagen oder willkür-
liche Bewegungen, die aus der Schmerzbewertung (7 unten)
resultieren, als motorische oder besser psychomotorische Sozialer Kontext der Schmerzbewertung
Komponenten des Schmerzes anzusehen (. Abb. 16.2, In die Schmerzbewertung und die daraus resultierenden
untere rechte Bildhälfte). Schmerzäußerungen geht noch eine Reihe anderer Fak-
toren ein, auf die hier nur kurz hingewiesen wird. So hängt
G Das Sinneserlebnis Schmerz ist von affektiven, vegeta-
das Ausmaß einzelner Schmerzkomponenten z. B. sehr von
tiven und motorische Reaktionen des Körpers beglei-
der aktuellen sozialen Situation, vom familiären Herkom-
tet. Die beiden letzteren laufen reflektorisch über das
men, von der Erziehung und auch von der ethnischen Her-
autonome und das motorische Nervensystem ab, sie
kunft ab. Ein nordamerikanischer Indianer am Marterpfahl
können meist nicht willkürlich beeinflusst werden.
verhält sich in Bezug auf seine Schmerzäußerungen völlig
anders als eine süditalienische Hausfrau mit einer Gallen-
16.1.3 Schmerzbewertung kolik, auch dann, wenn beide an Schmerzen gleicher Inten-
sität leiden.
Beiträge der diversen Schmerzkomponenten
zur Schmerzbewertung G Schmerzbewertung und resultierende Schmerz-
äußerung hängen auch vom sozialen Umfeld ab,
Ob wir einen Schmerz z. B. als mild, unangenehm, beunru-
in dem sich der Schmerz ereignet.
higend, heftig oder unerträglich empfinden, wird von den
sensorischen, affektiven und vegetativen Komponenten des
Schmerzes in je nach Schmerzursache und Begleitumstän- Psychologischer Kontext der Schmerzbewertung
den variierendem Ausmaß mitbestimmt (. Abb. 16.2). Bei- Außerdem ist für eine Schmerzbewertung oft entschei-
spielsweise wird bei akuten Oberflächenschmerzen häufig dend, unter welchen Umständen ein Schmerzereignis auf-
die sensorische Komponente im Vordergrund stehen, bei tritt. So ist gut bekannt, dass bei Kriegsverwundungen
akuten viszeralen Schmerzen wird die vegetative Kom- der Bedarf an schmerzstillenden Mitteln geringer ist als bei
ponente eine große Rolle spielen, und bei chronischen vergleichbaren Verletzungen im Zivilleben. Anscheinend
Schmerzen wird die affektive Komponente für die Schmerz- vermindert die Aussicht auf die alsbaldige Heimreise und
bewertung oft ausschlaggebend sein. das Glücksgefühl, die Schlacht überlebt zu haben, Schmerz-
346 Kapitel 16 · Nozizeption und Schmerz

wahrnehmung und -bewertung in einem erheblichen Aus-


maß.
Entgegen den Erwartungen fanden sich aber nur
schwache Zusammenhänge zwischen Schmerzverhalten
und überdauernden Persönlichkeitseigenschaften (wie
z. B. bei einem Vergleich zwischen extravertierten versus
introvertierten Personen). Aus einer Analyse der Persön-
lichkeitsvariablen lässt sich also für das Schmerzverhalten
kaum eine brauchbare Voraussage machen.

Frühkindliches Schmerzlernen
Zweckmäßiges Verhalten und gefühlsmäßig normale Reak-
tionen auf schmerzhafte Reize sind anscheinend zum
großen Teil nicht angeboren, sondern müssen vom jugend- . Abb. 16.3. Schmerzmessung beim Menschen bei Applikation
eines Hitzereizes auf die Haut. Die untere Kurve zeigt den Anstieg
lichen Organismus in einer frühen Phase seiner Entwick-
und den Abfall der Reiztemperatur (um 1°C pro Sekunde), die obere
lung erlernt werden. Bleiben diese frühkindlichen Erfah- Kurve zeigt, welche Schmerzintensität der Proband auf einer visuellen
rungen aus, so lassen sie sich später nur schwer erlernen: Analogskala (VAS) angibt. Die Schmerzempfindung beginnt bei 42°C,
Junge Hunde, die in den ersten 8 Lebensmonaten vor allen nimmt mit steigender Temperatur weiter zu und geht bei Abnahme
schädigenden Reizen bewahrt wurden, waren unfähig, auf der Reiztemperatur wieder zurück
Schmerzen angemessen zu reagieren, und lernten dies nur
langsam und unvollkommen. Sie schnupperten immer zunehmender Intensität auf die Haut. Die Schmerzintensi-
wieder an offenen Flammen und ließen sich Nadeln tief tät wird dabei auf einer visuellen Analogskala (VAS) ange-
in die Haut stechen, ohne mehr als lokale reflektorische Zu- geben, wobei die beiden Endpunkte der VAS definiert sind
ckungen zu zeigen. Vergleichbare Beobachtungen wurden als »kein Schmerz« bzw. »unerträglicher Schmerz«.
auch an jungen Rhesusaffen erhoben.
Messen der Schmerzadaptation
G Die Schmerzbewertung hängt auch vom psycholo-
Neben der Schmerzintensität ist klinisch v. a. noch wichtig,
gischen Kontext ab, unter dem der Schmerzreiz
ob die Schmerzempfindung adaptiert. Die subjektive Er-
einwirkt: Kriegsverwundungen tun z. B. weniger
fahrung weist eher auf fehlende Adaptation hin (z. B. stun-
»weh« als vergleichbare zivile Verletzungen.
denlange Kopf- oder Zahnschmerzen). Auch bei der expe-
Schmerzverhalten muss frühkindlich erlernt wer-
rimentellen Messung der Schmerzadaptation beim Hitze-
den.
schmerz (. Abb. 16.4) finden sich keine Anhaltspunkte
für eine Schmerzadaptation. Die Abnahme der Schmerz-
16.1.4 Schmerzmessung schwellentemperatur im Verlauf der Messung weist sogar
eher auf eine Sensibilisierung der Nozizeptoren im be-
Subjektive Algesimetrie strahlten Hautareal durch den andauernden Hitzereiz hin.
Die klassischen Methoden der Psychophysik lassen sich (Bei wiederholten, alltäglichen nozizeptiven Reizen und
beim Menschen auch auf das experimentelle Studium der elektrischen Schmerzreizen ist allerdings in der Regel eine
Zusammenhänge zwischen noxischem Reiz und Schmerz Habituation zu beobachten.)
anwenden, wobei bei dieser experimentellen Algesimetrie
sowohl subjektive wie objektive Methoden angewandt Objektive Algesimetrie
werden. Zur Schmerzauslösung kommen thermische, elek- Die objektive Algesimetrie bedient sich beim Menschen
trische, mechanische und chemische Reize in Frage. Ge- v. a. der Messung motorischer und vegetativer Reaktionen
16 messen wird in der subjektiven Algesimetrie auf den Schmerz und der Registrierung evozierter Hirn-
4 die Schmerzschwelle, also diejenige Reizstärke, bei der rindenpotenziale (der Ausdruck »objektiv« bedeutet ledig-
eben eine Schmerzempfindung auftritt, weiterhin lich, dass nicht die »subjektiven «Aussagen des Probanden,
4 die Schmerzintensität (die verbal oder über eine andere sondern vom Beobachter registrierte Variablen gemessen
Anzeigemethode ausgedrückt wird, Abschn. 14.5.3, in- werden). . Abb. 16.5 zeigt den engen Zusammenhang
termodaler Intensitätsvergleich) und schließlich zwischen subjektiv erlebter Schmerzintensität und der Am-
4 die Schmerztoleranzschwelle, also diejenige Reizinten- plitude des evozierten kortikalen Potenzials 150–210 ms
sität, bei der die Versuchsperson den Abbruch des Rei- nach Applikation eines elektrischen Schmerzreizes auf den
zes verlangt. Daumen. Häufig werden verschiedene Methoden einge-
setzt (z. B. Messung evozierter Potenziale bei gleichzeitiger
. Abbildung 16.3 zeigt als Beispiel die Messung der subjek- Messung des Pupillendurchmessers als Maß für den Sym-
tiven Schmerzintensität bei Applikation eines Hitzereizes pathikustonus), oft werden auch subjektive und objektive
16.2 · Das periphere nozizeptive System
347 16

. Abb. 16.4. Experimentelle Messung der thermischen Schmerz-


schwelle. Infrarote Strahlen erwärmen ein geschwärztes Hautfeld
auf der Stirn der Versuchsperson. Die Hauttemperatur wird über einen
Temperaturfühler (Photozelle) aufgenommen und auf einem Schreiber
registriert. Die rote Kurve zeigt die Abhängigkeit der Schmerzschwelle
(Mittelwerte zahlreicher Personen) von der Dauer des Hitzereizes. Die
Versuchspersonen wurden angehalten, die Strahlungsintensität selbst
so zu regulieren, dass die Hauttemperatur für die Dauer des Versuchs
gerade als schmerzhaft empfunden wurde. Das anfängliche Über-
schießen der Hauttemperatur über die Schmerzschwelle hinaus ist
durch die Trägheit der Versuchsanordnung bedingt

Methoden miteinander kombiniert (mehrdimensionale


Algesimetrie). Die experimentelle Algesimetrie ist ein der-
zeit rasch wachsendes Arbeitsgebiet, von dem noch wesent-
liche Aufschlüsse über die Natur des Schmerzes erwartet
werden können.

Klinische Algesimetrie
. Abb. 16.5. Schmerzevozierte ereigniskorrelierte Hirnpoten-
Die klinische Algesimetrie benutzt auf der subjektiven Ebene ziale. Die roten Kurven zeigen die Antworten auf zunehmend inten-
einerseits Verhältnisschätzmethoden, wie beispielsweise sive Schmerzreize. Rechts daneben ist jeweils die subjektive Beurtei-
die oben beschriebene VAS, bei der der Patient das Ausmaß lung durch die Versuchspersonen angegeben. Das ereigniskorrelierte
seines Schmerzes zwischen 2 Endpunkten (kein Schmerz/ Potenzial ist proportional zur subjektiv erlebten Schmerzintensität
unerträglicher Schmerz) zu verschiedenen Zeiten einträgt.
Andererseits werden Fragebögen eingesetzt, wie der vielfach
benutzte McGill-Pain-Questionnaire von Ronald Melzack. 16.2 Das periphere nozizeptive
Schließlich kann die klinische Schmerzstärke auch zu einem System
experimentellen Schmerz in Bezug gesetzt werden, wie bei-
spielsweise bei der Bestimmung des Tourniquet-Schmerz- 16.2.1 Bau und Funktion der Nozizeptoren
quotienten, bei dem der Patient die Intensität eines experi-
mentellen ischämischen Muskelschmerzes im Vergleich zu Struktur der Nozizeptoren
seinem klinischen Schmerz abschätzt (Abschn. 14.5.3). Praktisch alle Gewebe des Menschen sind von speziellen
Sensoren innerviert, die eine so hohe Schwelle haben, dass
G Mit Hilfe der objektiven und subjektiven Algesimet- sie nur durch gewebsschädigende oder bedrohende Reize
rie lassen sich Schmerzschwelle, Schmerzintensität, (»Noxen«, lat. noxa = Schaden) erregt werden. Diese Rezep-
Schmerztoleranzschwelle und der Verlauf der toren werden als Nozizeptoren (synonym: Nozisensoren)
Schmerzadaptation beim Menschen messen. bezeichnet. Ihre Erregung löst in der Regel Schmerzen aus,
348 Kapitel 16 · Nozizeption und Schmerz

. Abb. 16.6a–c. Bau und Funktion eines Nozizeptors. a Schema- tiven Feldern. Bei Reizung der rezeptiven Felder werden Aktionspoten-
tischer Längs- und Querschnitt der sensorischen Endigung einer nozi- ziale ausgelöst, die am Axon abgegriffen werden können. Die elektri-
zeptiven C-Faser (grün). Das Axon ist von Schwannzellen (blau) be- sche Reizung des Axons dient der Bestimmung der Leitungsgeschwin-
deckt, aber in den Auftreibungen hat das Axon direkten Kontakt zur digkeit. c Antworten eines polymodalen Nozizeptors auf noxischen
Umgebung. b Schematische Darstellung eines Nozizeptors mit 2 rezep- Druck, noxische Hitze und chemische Reizung mit Bradykinin

die wiederum signalisieren, dass entweder von außen (z. B.


Hitze) oder von innen kommende Reize (z. B. bei Entzün-
dungen) dem Körper Schaden zuzufügen drohen.

Aus Torebjörk HE (1974). Mit freundlicher Genehmigung


Histologisch handelt es sich bei den Nozizeptoren um
nicht-korpuskuläre (freie) Nervenendigungen, die sich
ausgehend von einer einzelnen afferenten Nervenfaser weit
im Gewebe verzweigen. Ein schematischer Längs- und
Querschnitt durch die Endstruktur eines Nozizeptors ist in
. Abb. 16.6a gezeigt. Die meisten Nozizeptoren besitzen
unmyelinisierte Axone (C-Fasern, Leitungsgeschwindig-

von Wiley-Blackwell.
keit um 1 m/s, . Tabelle 2.1 in Abschn. 2.3.3), ein Teil der
Nozizeptoren hat dünn myelinisierte Axone (Aδ-Fasern,
Leitungsgeschwindigkeit 2,5–30 m/s).

Antwortverhalten der Nozizeptoren . Abb. 16.7a–i. Antwortverhalten eines einzelnen polymodalen


Nozizeptors; Ableitung am wachen Menschen. Die Impulsaktivität
In der Haut des Menschen wurden bisher überwiegend wurde mit einer transkutanen Metallmikroelektrode am N. peronaeus
Nozizeptoren gefunden, die sowohl auf mechanische (z. B. in Höhe des Kniegelenks während Hautreizung des rezeptiven Feldes
Nadelstich, Quetschen), wie auf thermische (Hitze, Kälte) auf der großen Zehe abgeleitet. a Antwort auf einen einzelnen elek-
und chemische Reize (z. B. Bradykinin, Prostaglandin) trischen Reiz. b Reizung mit einem Von-Frey-Haar von 2 g. Dieser Reiz
16 wurde 2 s nach Beginn als Kribbeln empfunden. c Wiederholtes festes
antworten. Diese Nozizeptoren sind also polymodal. Auch
Überstreichen des rezeptiven Feldes mit einem dünnen Stift führt
in der Skelettmuskulatur, ihren Sehnen und im Gelenk- zu leichtem Schmerz. d Reizung mit einem Stab (15 g Gewicht) wird
gewebe kommen anscheinend vorwiegend polymodale als Druck empfunden. e Druck mit einem spitzen Stab von 5 g ruft
Nozizeptoren vor. . Abbildung 16.6b zeigt die Technik der leichten Schmerz hervor. f Ein Nadelstich evoziert ersten und zweiten
Ableitung von Aktionspotenzialen eines Nozizeptors im Schmerz. g Anwendung von Juckpulver auf das rezeptive Feld führt zu
brennendem Jucken. h Brennnesselkontakt führt zu Schmerz, gefolgt
Tierexperiment und . Abb. 16.6c sein Antwortverhalten auf
von Jucken. i Eine heiße Thermode führt zu anfänglichem scharfen
mechanische, thermische und noxische Reize. Die . Abb. 16.7 Schmerz, der später brennend wird
illustriert das Antwortverhalten eines menschlichen polymo-
dalen Nozizeptors auf eine Vielzahl von Reizen (7 Legende).
Es gibt auch, wenn auch in geringerer Anzahl, Nozizep-
toren, die lediglich auf eine Form, manchmal auch 2 For-
16.2 · Das periphere nozizeptive System
349 16

men noxischer Reize, also z. B. spezifische Mechanonozizep-


toren oder Hitzenozizeptoren oder Mechano-Hitzenozi-
zeptoren antworten.
Eine weitere Untergruppe der Nozizeptoren besteht aus
sensorischen Nervenfasern, die unter normalen Bedingun-
gen weder durch mechanische noch durch thermische Rei-
ze zu erregen sind. Sie werden stumme oder »schlafende«
Nozizeptoren genannt (für ihr »Aufwachen« 7 unten). Ihr
Anteil liegt in der menschlichen Haut bei 20–30% der
Nozizeptoren (für andere Gewebe gibt es noch keine quan-
titativen Abschätzungen).
G Die meisten Nozizeptoren besitzen nicht-korpusku-
läre (freie) Endigungen. Nozizeptoren sind meist
polymodal, kleine Subpopulationen sind mehr spe-
zifisch. Alle Gewebe sind auch von stummen »schla-
fenden« Nozizeptoren innerviert.

Plastizität des Antwortverhaltens von


. Abb. 16.8a, b. Sensibilisierung eines Nozizeptors bei Entzün-
Nozizeptoren
dung. a Bildung und Freisetzung von Entzündungsmediatoren aus
Wie in . Abb. 16.8a illustriert, werden in entzündetem Ge- Entzündungszellen, Thrombozyten und dem Plasma. Diese bilden im
webe in verschiedenen Entzündungszellen, in Thrombozyten Bereich der sensorischen Nervenendigung ein entzündliches chemi-
und im Plasma zahlreiche Moleküle gebildet und anschlie- sches Milieu. b Senkung der Antwortschwelle eines Nozizeptors im
Laufe des Sensibilisierungsprozesses: die Nervenendigung wird so
ßend freigesetzt, die insgesamt als Entzündungsmediatoren
empfindlich für mechanische und thermische Reize, dass auch norma-
bezeichnet werden. Die meisten dieser Mediatoren, wie z. B. lerweise nicht noxische Reize die Faser erregen
die Prostaglandine, wirken so auf polymodale Nozizeptoren,
dass deren Schwellen abgesenkt, ihre Empfindlichkeit also
erhöht wird. Diese Sensibilisierung bewirkt, dass die Nozi-
zeptoren bereits durch normalerweise nicht-noxische Reiz- ihren peripheren Endigungen Neuropeptide freigesetzt
intensitäten (Berührung, Wärme) erregt werden, und ihre (z. B. Substanz P, SP, oder »calcitonin gene-related pepti-
Antworten auf noxische Reize nehmen zu (. Abb. 16.8b). de«, CGRP). Diese Neuropeptide bewirken eine lokale
Subjektiv kommt es zu einer erhöhten Schmerzemp- Weiterstellung der kleinen Blutgefäße (Vasodilatation, auf
findlichkeit im entzündeten Gebiet (einfachstes Beispiel der Haut als Rötung sicht- und als Temperaturanstieg
ist ein Sonnenbrand). Zusätzlich entwickeln viele Nozizep- fühlbar) und den Austritt von Blutplasma in das Gewebe
toren im entzündeten Gebiet Spontanaktivität. Diese ist die (Plasmaextravasation, imponiert als Ödem). Gleichzeitig
Basis für Ruheschmerzen. tragen diese Neuropeptide zur Sensibilisierung der Nozi-
Neben den polymodalen werden auch stumme Nozi- zeptoren bei. Diese 3 Vorgänge erhöhen als neurogene
zeptoren sensibilisiert. Sie werden dadurch für mecha- Komponente die Wirkung der lokalen Entzündungs-
nische und thermische Reize erregbar und verstärken den mediatoren und beeinflussen damit den Entzündungsver-
nozizeptiven Zustrom in das Rückenmark. Die Sensibilisie- lauf.
rung stummer Nozizeptoren ist auch ein wichtiger neuro-
G Die Freisetzung von Neuropeptiden wie SP und
naler Mechanismus viszeraler Schmerzen, z. B. Angina
CGRP aus aktivierten Nozizeptoren führt zu Vaso-
pectoris (Herzschmerz durch Kontraktion unter ischämi-
dilatation, Plasmaextravasation und Nozizeptor-
schen Bedingungen).
sensibilisierung (neurogene Entzündung).
G Entzündungsmediatoren, wie z. B. Prostaglandine,
sensibilisieren Nozizeptoren und induzieren Spontan- 16.2.2 Molekularbiologie der
aktivität. »Schlafende« Nozizeptoren »wachen« durch Nozizeptorfunktion
die Sensibilisierung »auf« und verstärken dadurch
den nozizeptiven afferenten Zustrom in das ZNS. Ionenkanäle und Rezeptoren in nozizeptiven
Endigungen
Efferente Wirkungen der Nozizeptoren; . Abb. 16.9 zeigt in einem schematischen Überblick alle
neurogene Entzündung bisher bekannten oder aus guten experimentellen Gründen
Nozizeptoren sind einerseits afferente Nachrichtenkanäle wahrscheinlichen Ionenkanäle und Rezeptoren der Termi-
(7 oben). Andererseits werden bei ihrer Erregung aus nalregion von Nozizeptoren. Dabei ist für die weitere Be-
350 Kapitel 16 · Nozizeption und Schmerz

. Abb. 16.9. Ionenkanäle und Rezeptoren für Mediatoren in Nozi- rezeptor, EP Prostaglandin-E-Rezeptor, B Bradykininrezeptor, P2X puri-
zeptoren. Oben: Darstellung der Rezeptoren für Mediatoren. Unten: nerger Rezeptor für ATP, H Histaminrezeptor, Adren adrenerger Rezep-
Darstellung der vermuteten Ausstattung an Ionenkanälen. Die Kreise tor, NK1 Neurokinin-1-Rezeptor für Substanz P, CGRP »Calcitonin gene-
in der Endigung stellen mit Botenstoffen gefüllte Vesikel dar. Auf die related peptide«-Rezeptor, SST Somatostatinrezeptor, TTX Tetrodotoxin,
Rezeptoren in der Endigung wirken Mediatoren, die aus verschiedenen VR1 Vanilloid-1-Rezeptor, VDCC (»voltage-gated calcium channels«),
Zellen freigesetzt werden. Gp130 Glykoprotein 130 (Bestandteil von spannungsgesteuerte Kalziumkanäle. Zu beachten: die meisten Endi-
Rezeptoren für Zytokine), Trk Tyrosinkinaserezeptor, 5-HT Serotonin- gungen besitzen nur einen Teil der dargestellten Rezeptoren

sprechung festzuhalten, dass nicht alle Rezeptoren und 4 Gewebsansäuerung aktiviert spezifische natriumper-
Ionenkanäle auf allen Nozizeptorterminalen vorkommen, meable Ionenkanäle (ASIC, »acid sensing ion channel«)
sondern je nach Art der Polymodalität oder Spezifität sowie den nachfolgend genannten Vanilloidrezeptor
nur eine gewisse Auswahl, wie das vom Antwortverhalten und führt damit zur Sensibilisierung oder auch Erre-
der verschieden Nozizeptortypen zu erwarten ist (Ab- gung.
schn. 16.2.1). 4 Hitzereize aktivieren den Vanilloidrezeptor, VR-1, der
Oben in der Abbildung sind die Membranrezeptoren zusätzlich auf Säurereize (7 oben) und für die aktive
für Mediatoren angeordnet, unten die Ionenkanäle. Über Substanz des Paprikas, das Capsaicin, empfindlich ist.
die Membranrezeptoren aktivieren und/oder sensibilisieren Dem VR-1 ähnliche Membranproteine werden als
die ebenfalls eingetragenen Gewebsmediatoren die nozi- TRP-Familie (von »transient receptor potential«) zu-
zeptiven Terminalen. Wobei viele der Rezeptoren, wie z. B. sammengefasst.
die für Prostaglandine, ihre Wirkung über G-Proteine wei- 4 Kältereize führen zum Schließen von Kalium-Kanälen,
tergeben (Abschn. 2.2.2 für den Wirkmechanismus). Ande- was netto ebenfalls zur Depolarisation der Terminalen
re wiederum, wie z. B. für Serotonin) sind direkt mit Ionen- führt.
kanälen besetzt.
G Noxische Reize wirken über rezeptive Membranpro-
G In die Membran der Nozizeptorterminalen sind zahl- teine so ein, dass die Nozizeptormembran depolari-
reiche Rezeptoren und Ionenkanäle eingebaut, siert und damit sensibilisiert oder erregt wird. Einige
wobei die jeweilige Ausstattung eines Nozizeptors Reize wirken direkt auf Ionenkanäle, andere aktivie-
seine mehr oder weniger spezifische Modalität be- ren diese über G-Protein-Vermittlung.
stimmt.
Transformation in Nozizeptoren
16 Transduktion in Nozizeptoren Wie überall in erregbaren Membranen sind auch in die Ter-
Für die Transduktion noxischer Reize ergibt sich derzeit minalmembranen der Nozizeptoren spannungsgesteuerte
folgendes molekularbiologisches Bild: Natrium-, Calcium- und Kalium-Ionenkanäle eingelagert
4 Mechanische Noxen, d. h. mechanische Reize hoher (. Abb. 16.9, links unten). Wird also durch die Transduktion
Intensität, öffnen mechanosensible, unspezifische noxischer Reize ein hinreichend großes Sensorpotenzial
Kationenkanäle, wodurch über den Einstrom v. a. von ausgelöst (Abschn. 14.2.2), so öffnen sich diese Ionenkanäle
Na+-Ionen die Terminalmembran depolarisiert wird. und es kommt, v. a. durch das Einströmen von Natrium-
4 Chemische Noxen, wie z. B. das Bradykinin und die Ionen, zur Ausbildung von Aktionspotenzialen, was bekannt-
schon genannten Prostaglandine, vermitteln ihre sensi- lich als Transformation bezeichnet wird (Abschn. 14.2.3).
bilisierende und/oder erregende Wirkung über G-Pro- Die meisten spannungsgesteuerten Natriumkanäle (zur
tein-gekoppelte Rezeptoren (7 oben). Struktur und Arbeitsweise Abschn. 3.2.2) können durch
16.3 · Zentrale nozizeptive Systeme
351 16

das Gift der Pufferfisches, das Tetrodotoxin, TTX, geblockt 16.3 Zentrale nozizeptive Systeme
werden. Es gibt aber auch TTX-resistente spannungsge-
steuerte Ionenkanäle. Diese kommen besonders häufig bei 16.3.1 Verarbeitung noxischer Signale in
Nozizeptoren vor und sind deshalb auch in der . Abb. 16.9 Rückenmark und Medulla oblongata
eingezeichnet. (Blockierung der TTX-resistenten Kanäle
könnte evtl. die Erregbarkeit der Nozizeptoren herabsetzen, Spinale Weiterleitung und Verarbeitung
also als Schmerzmittel dienen). Im Rückenmark enden die nozizeptiven Afferenzen an
Neuronen des Hinterhornes. Diese Nervenzellen sind
G Überschwellige Sensorpotenziale führen über die
Ausgangspunkt der in Kapitel 14 ausführlich dargestellten
Aktivierung spannungsgesteuerter Ionenkanäle
Vorderseitenstrangbahnen (Abschn. 14.4.1), die in Rich-
zur Transformation der Sensorpotenziale zu Aktions-
tung Hirnstamm aufsteigen, um sich dort mit den nozi-
potenzialen, wobei TTX-resistente Na-Kanäle über-
zeptiven, weitgehend aus dem Nervus trigeminus stam-
durchschnittlich zahlreich beteiligt sind.
menden Afferenzen aus dem Kopfbereich auf dem Weg zum
Thalamus zu vereinigen (. Abb. 16.10a, . Abb. 14.10b und
16.2.3 Stumme Nozizeptoren den zugehörigen Text in Abschn. 14.4.1). Andere Neurone
als Juckrezeptoren sind in motorische und vegetative Reflexbögen einge-
bunden (motorische und vegetative Komponente des
Beziehungen zwischen Jucken und Schmerz Schmerzes, Abschn. 16.1.2). Ein Teil dieser Reflexe ist spinal
Die Juckempfindung ist nur von den äußersten Schichten organisiert, andere sind über supraspinale Reflexbögen ver-
der Epidermis der Haut und der Übergangsschleimhäute mittelt (Kap. 9 und 13). (Die an spinalen und supraspinalen
auslösbar. Mit entsprechender Technik ist es möglich, alle nozizeptiven Vorgängen beteiligten Transmitter und Modu-
Grade von Juckreiz ohne Schmerz und umgekehrt zu erzeu- latoren werden im Zusammenhang mit der zentralen Sen-
gen. Das Jucken ist nach diesen Befunden möglicherweise sibilisierung in Abschn. 16.4.3 vorgestellt.)
eine vom Schmerz unabhängige Empfindung. Anderer-
G Die nozizeptiven Afferenzen werden in Rückenmark
seits gab und gibt es auch Hinweise, dass die Juckempfin-
und Hirnstamm auf Neurone geschaltet, die in moto-
dung lediglich eine besondere Form der Schmerzempfin-
rische und vegetative Reflexe eingebunden sind
dung ist, die bei bestimmten Reizzuständen auftritt. Dafür
und/oder zum Thalamus und Kortex projizieren.
sprechen, dass anscheinend eine Reihe von Juckreizen bei
stärkerer Reizintensität zu Schmerzempfindungen führen
und dass eine Unterbrechung der nozizeptiven Vordersei- Transmitter und Rezeptoren der nozizeptiven
tenstrangbahnen des Rückenmarks von einem Ausfall der synaptischen Übertragung in Rückenmark
Juckempfindung begleitet ist. und Medulla oblongata
. Abb. 16.11a zeigt ein spinales Neuron, an dem ein Nozizep-
Juckrezeptoren in der menschlichen Haut tor (C-Faser) und ein inhibitorisches Interneuron enden.
Mit der Technik der transkutanen Mikroneurographie (Ab- Die nozizeptive präsynaptische Endigung schüttet bei Akti-
schn. 14.1.2 und 15.1.5) hat eine deutsch-schwedische Ar- vierung Glutamat aus. Zusätzlich werden eventuell vorhan-
beitsgruppe in den letzten Jahren gezeigt, dass es innerhalb dene Kotransmitter, z. B. die erregenden Neuropeptide
des Spektrums der stummen nozizeptiven Afferenzen in Substanz P und CGRP freigesetzt (Abschn. 4.3.2).
menschlichen Hautnerven wahrscheinlich eine kleine Popu- Das Glutamat aktiviert auf der postsynaptischen Seite
lation (ca. 5% aller C-Fasern) von Afferenzen gibt, die beson- ionotrope NMDA- und non-NMDA-Rezeptoren (AMPA-
ders leicht durch lokale Applikation von Histamin erregt und Kainatrezeptoren; Abschn. 4.3.2) sowie metabotrope
werden können, wobei gleichzeitig starkes Jucken auftritt. Glutamatrezeptoren (Abschn. 4.2.1 und 4.3.3). Die erre-
Gegenüber praktisch allen anderen Reizen bleiben genden Neuropeptide (Substanz P, CGRP) verstärken die
diese Rezeptoren stumm, mit Ausnahme von Substanzen, synaptische Übertragung durch Glutamat.
die auch Jucken auslösen, v. a. Prostaglandin E2, Azetyl- Inhibitorische Interneurone schütten an ihren Synap-
cholin und Serotonin. Dieser Befund spricht für die Exis- sen GABA und/oder Glyzin oder hemmende Neuropeptide,
tenz eigenständiger Juckrezeptoren, zumal mittlerweile insbesondere Opioidpeptide wie Enkephalin (Enk) aus. Die
auch spinale Neurone gefunden wurden, die spezifisch von postsynaptische Membran der Rückenmarkzelle besitzt Re-
diesen Afferenzen innerviert werden. zeptoren für diese Mediatoren (. Abb. 15.8c, Abschn. 4.2.2).
Ihre Aktivierung wirkt den erregenden Vorgängen ent-
G Bei einer kleinen Subpopulation stummer Nozizep- gegen.
toren der menschlichen Haut scheint es sich um
spezifische Juckrezeptoren zu handeln, deren
spinale Endigungen auf ebenso spezifische Neurone
aufgeschaltet werden.
352 Kapitel 16 · Nozizeption und Schmerz

Box 16.2. Gate-control-Theorie (Kontrollschrankentheo-


rie) der spinalen Verarbeitung nozizeptiver Information

Wie bei jedem anderen Sinnessystem lässt sich auch


die nozizeptive Information bereits an den ersten
Synapsen in Rückenmark und Hirnstamm beeinflus-
sen. Wie dies im Einzelnen geschieht, ist größtenteils
noch unbekannt (Abschn. 16.3.3, Ausführungen über
die endogenen Schmerzkontrollsysteme). Einen Erklä-
rungsvorschlag für die Arbeitsweise eines spinalen
schmerzhemmenden Systems bildete die 1965 von
Melzack und Wall vorgeschlagen Gate-control-Theorie.
Sie postulierte als eine ihrer wesentlichen Aussagen,
dass die nach zentripetal projizierenden Hinterhorn-
neurone des nozizeptiven Systems durch Erregung
dicker nicht-nozizeptiver Afferenzen gehemmt (»gate
closed«: Schranke geschlossen) und durch Erregung
dünner nozizeptiver Afferenzen aktiviert würden
(Schranke offen). Diese Hemmung sollte in der Sub-
stantia gelatinosa des Hinterhorns des Rückenmarks
generiert und – dies war der kritische Punkt der Theo-
rie – nur über einen präsynaptischen Hemmmecha-
nismus auf die dünnen nozizeptiven Afferenzen über-
tragen werden. Experimentell konnte diese Hypothese
nicht bestätigt werden, ihre wesentlichen Postulate
wurden sogar widerlegt. Auch die (postsynaptische)
Hemmwirkung dicker nicht-nozizeptiver Afferenzen
auf dünne nozizeptive Afferenzen ist bisher nicht ein-
deutig belegt.
Eine zweite Aussage der Gate-control-Theorie war,
. Abb. 16.10a, b. Bahnen und Schaltstellen des zentralen nozizep- dass die spinalen Hemmmechanismen der Nozizeption
tiven Systems. Schematische Übersicht über den Verlauf der aufstei- in der Substantia gelatinosa auch durch absteigende
genden nozizeptiven Bahnen a und der deszendierenden Bahnsysteme,
Hemmsysteme aktiviert werden können und dass auf
die den nozizeptiven Zustrom modulieren b. Von den aufsteigenden
Bahnsystemen sind nur der Tractus spinothalamicus und die sich ihm diese Weise die nozizeptive Information bereits auf
anschließenden trigeminothalamischen Zuflüsse gezeigt. Andere, an spinaler Ebene einer zentrifugalen Kontrolle unter-
der aszendierenden Konduktion nozizeptiver Information beteiligte liegt. Die Existenz solcher deszendierender Hemm-
Bahnen (z. B. Tractus spinoreticularis, Tractus spinocervicalis) sind der systeme gilt unterdessen als gesichert, und zwar nicht
Einfachheit halber weggelassen. Vom lateralen Thalamus nehmen die
nur im nozizeptiven, sondern auch in allen anderen
spezifischen thalamokortikalen Bahnen ihren Ursprung; sie enden über-
wiegend im somatosensorischen Kortex. Die Efferenzen der medialen somatosensorischen Systemen (. Abb. 16.10b,
Thalamuskerne sind diffuser. Sie enden nicht nur in weiten Arealen des . Abb. 14.12 in Abschn. 14.4.4). Die Gate-control-Theo-
frontalen Kortex, sondern ziehen auch zu subkortikalen Strukturen, ins- rie im engeren Sinne hat nur noch historisches Interes-
besondere des limbischen Systems (nicht eingezeichnet, ebenso nicht se. Es bleibt aber ihr wesentliches Verdienst, sehr früh
die starken retikulären Zuflüsse dieser Kerne). Die deszendierenden Sys-
darauf hingewiesen zu haben, dass der nozizeptive
teme üben ihren Einfluss überwiegend auf spinaler Ebene (bzw. auf die
entsprechenden trigeminalen Strukturen, nicht eingezeichnet) aus. Die Zustrom in das Rückenmark schon auf der Ebene der
16 Einsatzfigur gibt in einer Seitenansicht des Hirnstamms die Lage der ersten zentralen Neurone durch lokale und deszendie-
Hirnstammschnitte an: 1 kranialer Rand der unteren Olive, 2 Mitte des rende Einflüsse erheblich moduliert werden kann.
Pons, 3 unteres Mesenzephalon. PAG periaquäduktales Grau (zentrales
Höhlengrau); NRM Nucleus raphe magnus

16.3.2 Verabeitung noxischer Signale


G Der erregende Transmitter der nozizeptiven Afferen- in Thalamus und Hirnrinde
zen ist Glutamat, der sowohl NMDA- wie non-NMDA-
(AMPA-)Rezeptoren aktiviert. Die postsynaptische Das laterale thalamokortikale System
Hemmung wird von GABA und Glyzin übertragen. Nozizeptive Neurone im und unterhalb des Ventrolateral-
Erregende und hemmende Neuropeptide sind komplexes des Thalamus werden über den Tractus spino-
häufig kolokalisiert. thalamicus erregt, und sie projizieren in die somatosenso-
16.3 · Zentrale nozizeptive Systeme
353 16

. Abb. 16.11a–c. Synaptische Erregung und Hemmung an einem


nozizeptiven Neuron des Rückenmarks. Das Neuron erhält einen
erregenden Eingang von einem Nozizeptor (C-Faser) und einen hem-
menden Eingang von einem spinalen Interneuron. Unten dargestellt
sind Rezeptoren für diese Mediatoren in der postsynaptischen Mem-
bran. Glu Glutamat, NP Neuropeptid, Gs stimulierendes G-Protein, Gi
G-Protein mit hemmender Wirkung, Enk Enkephalin

rische Hirnrinde. Diese thalamischen und kortikalen Zellen


bilden das laterale System. Die Aktivierung des lateralen
Systems ist für die sensorisch-diskriminative Schmerz-
komponente zuständig.
Parallel dazu werden in der sensorischen Hirnrinde tak-
tile, nozizeptive und andere sensorische Informationen zu
einem Gesamtbild integriert, d. h. noxische Information
wird in die Gesamtheit unseres Bildes von Körper und Um-
welt eingeordnet.
Etwa 10-mal mehr Fasern, als vom Thalamus zum
Kortex führen, laufen vom Kortex zu subkortikalen und
limbischen Verbindungen: Von S1 führen viele zu S2 und
von dort in die Insel und den Gyrus cinguli, wo die emotio-
nalen Komponenten des Schmerzes entstehen (Box 16.3).

Box 16.3. Bildgebung von Schmerz

Mit bildgebenden Verfahren (fMRT, PET, Kap. 20) lassen (links oben), dessen subjektiv-psychologisches
sich die verschiedenen Schmerzkomponenten im Korrelat wenig erforscht ist (vermutlich Verletzung
Gehirn des Menschen objektivieren. Auf der Abbildung des normalen Körperschemas durch Schmerzreize),
wurde der Person ein längerer schmerzhafter Druckreiz die vordere Insel (Mitte), die die negativ affektive
auf einen Finger verabreicht und mit fMRT die Hirnaktivie- Komponente widerspiegelt und schließlich der
rung gemessen. Dabei wird das primäre somatosenso- posteriore Teil des anterioren Gyrus cinguli (ACC,
rische Areal S1 kontralateral aktiviert, das die sensorisch- rechts oben), der die Aufmerksamkeitszuwendung
diskriminative Komponente des Schmerzes repräsentiert; und affektive Vermeidung reflektiert.
weiterhin der sekundäre somatosensorische Kortex S2
Die Aufnahmen wurden von Dr. Karen Davis, Universität Toronto zur Verfügung gestellt.
354 Kapitel 16 · Nozizeption und Schmerz

Das mediale thalamokortikale und limbisch- . Abbildung 16.10b zeigt absteigende Bahnen, die von
frontale System der Hirnrinde und von Kerngebieten im Hirnstamm ausge-
Nozizeptive Neurone im posterioren Komplex und im in- hen. Eine Schlüsselrolle hat das periaquäduktale Grau
tralaminären Komplex des Thalamus projizieren zu asso- (PAG, zentrales Höhlengrau). Seine Stimulation kann eine
ziativen Kortexarealen. Sie bilden zusammen mit den ent- totale Analgesie erzeugen (7 oben und »Elektro narkose«un-
sprechenden Kortexarealen das mediale System. Dieses ist ten), die durch opioderge Fasern vermittelt wird, die groß-
z. B. für die affektive Schmerzkomponente zuständig. teils zum Nucleus raphe magnus, NRM, und möglicherwei-
Die Insula des Kortex wird für eine Interaktion zwi- se auch direkt ins Rückenmark projizieren.
schen sensorischen und limbischen Aktivitäten verant- Vom NRM steigen Fasern im dorsolateralen Funiculus
wortlich gemacht. Besonders der Gyrus cinguli anterior zum Rückenmark ab. Auch der Locus coeruleus hat neben
dient der Aufmerksamkeit und Antwortselektion bei noxi- seinen Projektionen in das Gehirn Projektionen zum Rücken-
scher Reizung. Der präfrontale Kortex ist in viele Aspekte mark. Die absteigenden Fasern enden v. a. an spinalen Inter-
von Affekt, Emotion und Gedächtnis eingebunden. Auf der neuronen, auf denen sie hemmende Synapsen bilden.
kortikalen Ebene wird die Aktivität des nozizeptiven Sys- Eine wichtige Funktion dieser absteigenden Fasern ist
tems in Beziehung zu zahlreichen anderen neuronalen die tonische Hemmung der Rückenmarkzellen. Durch die
Funktionen gesetzt. deszendierende Hemmung wird die Schwelle der Rücken-
markneurone angehoben und ihre Antworten auf noxische
G Die sensorisch-diskriminative Schmerzkomponente
Reize werden abgeschwächt. Die tonische deszendierende
entsteht durch Aktivierung des lateralen thalamo-
Hemmung stellt zusammen mit segmentalen inhibitori-
kortikalen Systems. Im medialen thalamokortikalen
schen Interneuronen ein endogenes antinozizeptives Sys-
System mit den präfrontalen und insulären Regio-
tem dar, das Schmerzen in Schach hält.
nen werden die affektive Schmerzkomponente,
Gedächtnisbildung und Aufmerksamkeitsreaktionen
G Deszendierende Bahnen modulieren als endogene
bei Schmerzreizen erzeugt.
Schmerzkontrollsysteme die spinale und supraspi-
nale nozizeptive Verarbeitung. Wichtigster Knoten-
16.3.3 Endogene Schmerzkontrollsysteme punkt ist das zentrale Höhlengrau, dessen elektri-
sche Reizung eine totale Analgesie bewirken kann.
Absteigende, schmerzhemmende Bahnen
Der Körper verfügt über eine Reihe von Möglichkeiten, die
Aktivität seiner zentralnervösen nozifensiven Systeme auf Schmerzhemmung über endogene Opiate
einen mittleren Erregungszustand einzupendeln und da- Es ist altbekannt, dass Opiate die Schmerzempfindung
mit diese Systeme in einem optimalen Arbeitsbereich zu hemmen, ohne dass sie die anderen Sinnesmodalitäten
halten. Die Existenz dieser endogenen Schmerzkontrollsys- wesentlich beeinflussen. Diese gezielte Wirkung der Opiate
teme (genauer, aber umständlicher: endogene Kontroll- beruht auf der Existenz spezifischer Opiatrezeptoren an
systeme der zentralen Nozizeption) lässt sich z. B. daran den Neuronen des nozizeptiven Systems, die es deswegen
erkennen, dass elektrische Reizung bestimmter supraspi- gibt, weil der Körper selbst als Teil seines internen Schmerz-
naler Areale (wie des zentralen Höhlengraus) bei Tier und kontrollsystems opiatähnliche Substanzen bildet, die als
Mensch zur Analgesie führt (7 unten »Elektronarkose«). Liganden dieser Rezeptoren dienen.

Box 16.4. Nozizeption und Schmerz im Schlaf und unter Narkose

Nur wenn sich das thalamokortikale System im Wach- Systeme. Der Bewusstseinsverlust wird durch den hem-
zustand befindet, empfinden wir Schmerzen. Im Tief- menden Einfluss auf den Kortex bewirkt, die Schmerz-
16 schlaf (Kap. 22) können zwar Nozizeptoren und nozizep- hemmung, je nach Anästhetikum durch Hemmung
tive Rückenmarkzellen aktiviert werden und über aszen- des Thalamus oder anderer Abschnitte der Schmerz-
dierende Bahnen nozizeptive Information zum Thalamus bahnen.
weiterleiten, doch wird die weitere Verarbeitung im In Narkose ist die bewusste Wahrnehmung von
Thalamus blockiert, so dass keine bewussten Schmerzen Schmerzreizen aufgehoben. Die nozizeptiven Vorgänge in
erzeugt werden. Jedoch können starke Schmerzreize das Primärafferenzen und im Rückenmark werden dagegen
aufsteigende retikuläre System aktivieren, so dass wir auf- oft nicht ausgeschaltet. Um auch die nozizeptiven Vor-
geweckt werden. gänge auf diesen Ebenen zu unterdrücken, besteht eine
Die meisten heute üblichen Anästhetika (z. B. Pro- moderne Narkose immer aus einer Kombination von
pofol) blockieren das thalamokortikale System und Schmerztherapie (z. B. Rückenmarksanästhesie) und Aus-
erzeugen Theta-Delta-Schlaf über Anregung GABAerger schaltung des Bewusstseins.
16.4 · Pathophysiologie von Nozizeption und Schmerz
355 16

Diese endogenen Liganden, z. B. die Pentapeptide 16.4 Pathophysiologie von


Methionin- und Leuzin-Enkephalin, werden im Nerven- Nozizeption und Schmerz
system freigesetzt, binden an die Opiatrezeptoren und er-
zeugen dadurch eine Hypo- oder Analgesie. Die Gabe des 16.4.1 Schmerzen durch Erregung
Opiatantagonisten Naloxon hebt ihre Wirkung auf, Pepti- von nozizeptiven Nervenfasern
dasen bauen sie in vivo ab. Methionin-Enkephalin ist ein
Bestandteil des Polypeptids Beta-Endorphin, Leuzin-Enke- Akute projizierte Schmerzen
phalin ist im Polypeptid Dynorphin enthalten. Beide Poly- Nicht alle nozizeptiven Impulse entstehen in den Endi-
peptide wirken ebenfalls analgetisch; v. a. Dynorphin wirkt gungen der Nozizeptoren. So kommt es z. B. bei heftiger
deutlich stärker als die Enkephaline. mechanischer Reizung des N. ulnaris am Ellenbogen zu
Von den Opiatrezeptoren sind mindestens 3 Unterty- Missempfindungen im Versorgungsgebiet dieses Nerven
pen, nämlich die μ-, δ- und κ-Rezeptoren bekannt, die sich (. Abb. 16.12). Offensichtlich wird die am Ellenbogen in
in ihrem Empfindlichkeitsprofil für Opiate und für die ver- den afferenten Fasern ausgelöste Aktivität von unserem
schiedenen endogenen Liganden unterscheiden. Thera- Bewusstsein in das Versorgungsgebiet dieser afferenten
peutisch eingesetzte Opioide wirken v. a. an μ-Rezeptoren, Fasern projiziert, da normalerweise solche sensorischen
an die auch die Endorphine und Endomorphine binden. Impulse aus den Sensoren dieses Versorgungsgebietes
stammen. Die Interpretation der dabei auftretenden Emp-
G Die körpereigenen Opiate sind Liganden der körper-
findungen (Kribbeln o. ä.) fällt uns schwer, da das durch
eigenen Opiatrezeptoren auf den Neuronen des
direkte mechanische Reizung der Nervenfasern auftretende
endogenen antinozizeptiven Systems. Freisetzung
Impulsmuster normalerweise nicht vorkommt.
der körpereigenen Opiate führt daher zur Schmerz-
Projizierte Empfindungen können im Prinzip inner-
hemmung.
halb aller Sinnesempfindungen auftreten, aber nur der pro-
jizierte Schmerz ist klinisch bedeutungsvoll. Häufig treten
Elektronarkose beispielsweise solche Schmerzen bei Kompressionen des
Eine elektrische Reizung des gesamten Gehirns kann zu Spinalnerven im Rahmen eines akuten Bandscheibensyn-
Anästhesie und Analgesie führen (»Elektronarkose«). Diese droms auf. Die dabei durch die zentripetalen Impulse in
scheint von umschriebenen Stellen des zentralen Höhlen- nozizeptiven Fasern auftretenden Schmerzempfindungen
graues ihren Ausgang zu nehmen, denn lokale elektrische werden in das Versorgungsgebiet des gereizten Spinal-
Reizung dieser Areale führt im Tierversuch zu tiefer Anal- nerven projiziert. (Daneben können natürlich auch lokale
gesie, die als stimulationsproduzierte Analgesie, SPA, Schmerzen auftreten.) Beim projizierten Schmerz ist also
bezeichnet wird. Besonders wichtige Stellen scheinen der der Ort der Einwirkung der Noxe nicht identisch mit dem
Nucleus raphe magnus und der Nucleus paragiganto- der Schmerzempfindung.
cellularis (oder magnocellularis) der Formatio reticularis
zu sein, denn von diesen Kernregionen führen direkte ab- Neuralgische Schmerzen
steigende Bahnen in das Rückenmark, deren Aktivierung Weit wichtiger als akute projizierte Schmerzen vom eben
möglicherweise die Weiterleitung nozizeptiver Information beschriebenen Typ sind projizierte Schmerzen, die durch
im Hinterhorn hemmt (s. Box 16.4). fortgesetzte Reizung eines Nerven oder einer Hinterwurzel
Mikroinjektionen von Morphin in das zentrale Höhlen- entstehen. Eine solche chronische Nervenschädigung
grau führen genau wie elektrische Reizung zu deutlicher führt zu »spontanen« Schmerzen, die häufig wellenförmig
Analgesie. Dies weist auf die enge Verbindung zwischen
SPA und Opiatanalgesie hin. Auch andere mit der SPA eng
korrelierte Strukturen, beispielsweise in der Formatio reti-
cularis (7 oben), weisen eine deutliche Opiatempfindlich-
keit auf. Es ist daher wahrscheinlich, dass die analgetischen
Effekte der SPA und der exogenen und endogenen Opiate
über dieselben neuronalen Systeme vermittelt werden.
Die interessanteste Konsequenz dieser Schlussfolge-
rung liegt darin, dass der Angriffspunkt auf die nozizep-
tiven Signale nicht nur für die SPA, sondern auch für die
Opiatanalgesie im Hinterhorn des Rückenmarks liegen
muss. Anscheinend werden die analgetischen Wirkungen
aus dem Hirnstamm über mehrere absteigende Bahn-
systeme vermittelt (. Abb. 16.10b), wobei monoaminerge
Transmitter, insbesondere Serotonin, Noradrenalin und . Abb. 16.12. Entstehung des projizierten Schmerzes (schema-
Dopamin beteiligt sind (7 oben). tisch, Einzelheiten 7 Text)
356 Kapitel 16 · Nozizeption und Schmerz

oder attackenweise auftreten. Sie bleiben meist, wie vom 16.4.2 Schmerzen spinalen
projizierten Schmerz zu erwarten, auf das Versorgungs- und supraspinalen Ursprungs
gebiet des erkrankten Nerven oder der geschädigten Wurzel
begrenzt. Diese durch pathophysiologische Impulsbildung Übertragene Schmerzen
an nozizeptiven Fasern (nicht an den Nozizeptoren) entste- Noxische Reizung der Eingeweide wird oft nicht oder nicht
henden Schmerzen werden durch die Begriffe Neuralgie nur am inneren Organ als Schmerz empfunden, sondern
oder neuralgischer Schmerz gekennzeichnet. auch auf der Hautoberfläche, wobei für jedes innere Organ
Eine Sonderform der neuralgischen Schmerzen ist das sich typische Hautareale angeben lassen, in die die Ein-
komplexe regionale Schmerzsyndrom (»complex regional geweideschmerzen übertragen werden (z. B. Innenseite
pain syndrom«, CRPS) an dem das sympathische Nerven- des linken Armes bei Angina pectoris). Diese Hautareale
system mitwirkt. Es ist in Box 6.2 in Abschn. 6.1.1 beschrie- werden als Head-Zonen bezeichnet (. Abb. 16.13a, b).
ben. Zusätzlich zu den vegetativen Störungen (Schwel- Übertragene Schmerzen sind aufgrund dieses Zusammen-
lungen, Durchblutungsveränderungen, extreme Schweiß- hanges oft ein wichtiges diagnostisches Hilfsmittel.
absonderung) tritt eine kortikale und subkortikale Die Zuordnung der Head-Zonen zu den Eingeweide-
Reorganisation ein, vergleichbar nach Deafferenzierung bei organen ist dadurch bedingt, dass die Hautafferenzen jeder
Amputation (Abschn. 16.4.3). Hinterwurzel des Rückenmarks jeweils ein umschriebenes
Hautareal innervieren. Dieses Hautareal wird Dermatom
G Aktivierung (durch Druck, Verletzung u. ä.) nozi-
genannt (. Abb. 16.13c). Wie in der Abbildung zu sehen,
zeptiver Afferenzen führt zu Schmerzen, die in das
überlappen sich allerdings benachbarte Dermatome be-
Innervationsgebiet der Nervenfasern projiziert
trächtlich, weil sich die Hinterwurzelfasern beim Wachs-
werden. Chronische Formen von Schmerzen nach
tum in die Peripherie umbündeln. Die Dermatome bleiben
Nervenverletzungen können besonders quälend
aber trotz aller Umbündelungen der primär afferenten Fa-
sein.
sern gut erhalten. Gleiches ist auch für die spinale afferente
Innervation der Baucheingeweide gültig. So kommt es, dass
die Head-Zone eines inneren Organs, z. B. des Herzens
oder des Magens, genau von denjenigen Dermatomen ge-
bildet wird, deren zugehörige Rückenmarkssegmente dieses
Organ afferent versorgen.

16

. Abb. 16.13a–c. Head-Zonen und Dermatome des Menschen Zonen werden in der Literatur unterschiedlich groß dargestellt (vgl.
für den Brust- und Bauchbereich. a, b Head-Zonen (oberflächliche a mit b, je nach Art der Beobachtung. c Dermatome des Menschen.
hyperalgetische Zonen) für die angegebenen Eingeweideorgane. Die Die Innervationsgebiete der Hinterwurzeln aufeinander folgender
Spinalnerven, durch welche die viszeralen Afferenzen von den Orga- Rückenmarkssegmente sind alternierend in jeweils einer Körperhälfte
nen ins Rückenmark eintreten, sind ebenfalls angegeben. Die Head- angegeben)
16.4 · Pathophysiologie von Nozizeption und Schmerz
357 16

. Abb. 16.14. Entstehungswege übertragener Schmerzen. Links renzen aus der Haut. Rechts ist zu sehen, dass dieselbe nozizeptive
ist gezeigt, dass nozizeptive Afferenzen aus den Eingeweiden zum Teil Afferenz gelegentlich sowohl oberflächliches wie tiefes Gewebe ver-
an denselben Neuronen des Hinterhornes enden wie nozizeptive Affe- sorgen kann

Das Zustandekommen des übertragenen Schmerzes keitssteigerungen und zu Spontanaktivität in den aufstei-
beruht wahrscheinlich, wie . Abb. 16.14 zeigt, darauf, dass genden nozizeptiven thalamokortikalen Systemen führen,
einerseits nozizeptive Afferenzen aus der Haut und den tie- die erhebliche Schmerzen bereiten können. Diese Schmer-
fen Geweben auf dieselben Ursprungszellen der aufsteigen- zen werden als zentrale Schmerzen bezeichnet. Bekannte
den nozizeptiven Bahnen konvergieren (linke Bildhälfte) Beispiele sind die Schmerzen der Anaesthesia dolorosa
und dass andererseits Axonkollateralen solcher primärer nach Ausrissen von Hinterwurzeln oder der Thalamus-
nozizeptiver Afferenzen sich bereits im Bereich des Spinal- schmerz nach Schädigungen sensorischer Thalamuskerne.
nerven in 2 oder mehrere Kollateralen aufzweigen, die an- In vielen Fällen sind Schädigungen zentralnervöser
schließend oberflächliche und tiefe Strukturen innervieren Strukturen nicht schmerzhaft (z. B. nach Schlaganfällen
(rechte Bildhälfte). Erregung der zentralen nozizeptiven oder bei Gehirntumoren), wenn diese Läsionen außerhalb
Neurone wird als Schmerz in der Peripherie interpretiert, der Schmerzanalysatoren liegen (s. Box 16.5).
da wie bei den übrigen wichtigen Sinnessystemen das Ge-
hirn gelernt hat, dass die Reize von außerhalb des Körpers G Bei Schädigungen des Zentralnervensystems kann
kommen und nicht vom inneren Organ. es über die Beeinträchtigung der endogenen
Als weitere Konsequenz der in . Abb. 16.14 gezeigten Schmerzkontrollsysteme zu schweren Schmerz-
zentralen Konvergenz und Divergenz nozizeptiver Afferen- zuständen kommen (zentrale Schmerzen), da es
zen kann es zu einer Hyperpathie (7 unten) oder zu einer durch diese Enthemmung des zentralen novizepti-
Hyperästhesie (7 unten) der Haut im betroffenen Derma- ven Systems zu dessen Erregbarkeitssteigerung
tom kommen. Diese beruhen darauf, dass die Erregbarkeit und zur Spontanaktivität kommt.
der spinalen Interneurone durch die nozizeptiven Impulse
aus den tiefen Geweben erhöht ist, so dass ein Hautreiz im Box 16.5. Frontale Lobotomie
Vergleich zum Normalzustand zu einer stärkeren Aktivie- Nach Schädigungen der präfrontalen Hirnrinde ist die
rung führt. Schließlich sei daran erinnert, dass selbstver- Schmerzempfindlichkeit, v. a. der emotional-affektiven
ständlich auch neuralgische Schmerzen als übertragene Komponente und der kognitiven Komponente (Ein-
Schmerzen imponieren oder zusammen mit einer übertra- schätzung der Bedrohlichkeit des Schmerzreizes), re-
genen Komponente auftreten können. duziert. Dies wurde in der Vergangenheit häufig thera-
peutisch ausgenutzt, indem bei chronischen Schmer-
G Noxische Reizung der Eingeweide schmerzt oft nicht
zen die thalamofrontalen Bahnen chirurgisch
oder nicht nur am inneren Organ, sondern auch in
durchtrennt wurden (frontale Lobotomie). Dieses dras-
den Head-Zonen der Haut. Dies ist Folge der spina-
tische Verfahren wird heute dank besserer Schmerz-
len segmentalen Konvergenz von nozizeptiven
therapien praktisch nicht mehr angewandt. Die senso-
Afferenzen aus den Eingeweiden und den zugehö-
rische Diskrimination der nozizeptiven Reize (z. B. die
rigen Dermatomen.
Unterscheidung zwischen spitzen und stumpfen Rei-
zen) bleibt nach Frontalläsion erhalten. Der Schmerz-
Zentrale Schmerzen reiz verliert nur seine vital-persönliche Bedeutung.
Funktionelle Störungen oder Läsionen der spinalen und
supraspinalen nozizeptiven Systeme können, z. B. durch
die Beeinträchtigung oder den Ausfall der endogenen
Schmerzkontrollsysteme (Abschn. 16.3.3) zu Erregbar-
358 Kapitel 16 · Nozizeption und Schmerz

16.4.3 Sensibilisierung und Plastizität des


zentralen nozizeptiven Systems

Zentrale Sensibilisierung durch Nozizeptor-


sensibilisierung
Zentrale nozizeptive Neurone zeigen bei Entzündungen und
anderen Gewebsläsionen eine erheblich gesteigerte Aktivi-
tät. Diese zentrale Sensibilisierung ist Folge der in Ab-
schn. 16.2.1 geschilderten Sensibilisierung der Nozizeptoren
unter diesen Bedingungen. Ein Beispiel zeigt . Abb. 16.15.
Das abgebildete Neuron hatte unter Kontrollbedingun-
gen ein hochschwelliges rezeptives Feld (grünes Areal in
. Abb. 16.15b), und Druck auf das Kniegelenk führte eben-
falls zu Entladungen (blaue Kurve in . Abb. 16.15a). Druck
auf Sprunggelenk und Pfote blieben dagegen »erfolglos«.
Nach Auslösen einer Kniegelenksentzündung nahmen
die Antworten des spinalen Neurons nicht nur auf noxi-
sche Reizung des Kniegelenks zu, sondern es traten auch
solche auf Reizung von Sprunggelenk und Pfote auf (rote
bzw. gelbe Kurven in . Abb. 16.15a). Auch das periphere
rezeptive Feld des Neurons vergrößerte sich und seine
Schwelle sank in den nicht-noxischen Bereich (oranges Feld
in . Abb. 16.15c).
Die zentrale Sensibilisierung wird durch die vermehrte
Aktivität der sensibilisierten Nozizeptoren und die damit
verbundene erhöhte Freisetzung von Glutamat und kolo- . Abb. 16.15a–c. Plastische Veränderungen im nozizeptiven
kalisierten Neuropeptiden (Abschn. 16.3.1) angestoßen. System bei Entzündung. a Entstehung von Übererregbarkeit (zen-
Sie verstärkt sich dann weiter selbst, wobei die entscheiden- trale Sensibilisierung) in einem nozizeptiven Neuron aus dem Rücken-
den Mechanismen dieses Vorgangs noch nicht völlig auf- mark einer narkotisierten Katze im Verlauf einer experimentellen
Kniegelenksarthritis. Die Kurven zeigen die Antworten (Zahl der Ak-
geklärt sind. Am wichtigsten scheint die starke Glutamat-
tionspotenziale) auf noxische Reize des Kniegelenks, des Sprungge-
freisetzung aus den nozizeptiven präsynaptischen Endi- lenks und der Pfote bevor (negative Zeiten) und nach der Einleitung
gungen zu sein, die zu einer Öffnung der NMDA-Rezeptoren der Arthritis (Entzündung des Gelenks durch Injektion von Kaolin und
führt (Abschn. 4.3.3), was eine besonders intensive neuro- Carragenan). Das ursprüngliche rezeptive Feld des Neurons in Knie-
nale Erregung bewirkt (s. Abschn. 25.5.2). gelenk und umgebendem tiefen Gewebe ist in b zu sehen: das Neuron
war von dort lediglich durch noxischen Druck zu erregen. c Das rezep-
Ketamin, ein selektiver NMDA-Rezeptorantagonist,
tive Feld vergrößerte sich im Verlauf der Arthritis, gleichzeitig war das
hemmt daher sowohl Schmerzen auf Rückenmarks- und Neuron jetzt durch nicht-noxischen Druck erregbar
Gehirnniveau, führt aber durch seine kortikale Wirkung
auch zu Bewusstseinsstörungen.
4 Im Gegensatz dazu bezeichnet man mit Hyperalgesie
G Das zentrale nozizeptive System ist plastisch: Bei
eine erhöhte Empfindlichkeit auf noxische Reize. Kli-
Gewebsentzündungen werden seine Neurone über-
nisch wird die primäre Hyperalgesie im Bereich einer
erregbar. Die zentrale Sensibilisierung hat periphere
Schädigung von der sekundären Hyperalgesie im um-
und zentrale Ursachen. Glutamat und seine Rezep-
liegenden gesunden Gewebe unterschieden.
toren spielen dabei eine Schlüsselrolle, aber auch
16 4 Die Hyperpathie ist ein Schmerzsyndrom, das sich
andere Transmitter sind beteiligt.
durch verzögertes Einsetzen, verstärkte Antwort und
eine reizüberdauernde Nachantwort auszeichnet. Es tritt
Schmerzphänomene als Folge zentraler besonders deutlich bei repetitiver Reizung auf.
Sensibilisierung
Je nach Art und Ausmaß der peripheren und zentralen Sen- Abnahmen der Schmerzempfindlichkeit, also Hypo- oder
sibilisierung kommt es zu klinischen Schmerzen, deren Analgesien kommen meist nur in Verbindung mit Störun-
Erscheinungsformen wie folgt bezeichnet werden: gen oder Ausfällen anderer Sinnesmodalitäten vor. Bei-
4 Unter Allodynie versteht man eine Schmerzempfind- spielsweise wird im einfachsten Fall die Durchtrennung
lichkeit auf normalerweise nicht-noxische Reize (harm- oder Blockade (z. B. mit Novocain) eines Hautnerven zur
loses Beispiel: Überempfindlichkeit auf Berührung Analgesie seines Versorgungsgebietes, aber auch zum Aus-
beim Sonnenbrand). fall der anderen Hautsinnesmodalitäten, also zu einer An-
16.4 · Pathophysiologie von Nozizeption und Schmerz
359 16

ästhesie, führen (bzgl. angeborener Schmerzunempfind-

Aus Kaas JH (1991). Mit freundlicher Genehmigung des Annual Reviews.


lichkeit 7 Fall 1 der Einleitung).
G Allodynien, primäre und sekundäre Hyperalge-
sien sowie Hyperpathien signalisieren Sensibilisie-
rung im peripheren und zentralen nozizeptiven
System. Isolierte Hypo- und Analgesien sind sehr
selten.

Phantomschmerz
Als Modellsystem für die Bildung eines Schmerzgedächt-
nisses kann man den Phantomschmerz ansehen. Phantom-
schmerzen treten bei Arm- oder Handamputierten, die vor
oder während der Amputation Schmerzen hatten, in 40–
70% der Fälle im amputierten Glied auf (je nach Ursache
der Amputation), bei Beinamputierten und brustamputier- . Abb. 16.16. Kortikale Reorganisation bei einem Armamputier-
ten Frauen etwas seltener, da diese Körperregionen weniger ten mit starken Phantomschmerzen. Das mit Hilfe der Magnetreso-
nanztomographie aufgenommene Gehirn eines Patienten mit chroni-
groß am Kortex repräsentiert sind (sensorischer Homun- schen Phantomschmerzen (links = vorne, rechts = hinten). Die Kreise
kulus, . Abb. 14.11). Auch bei hoch Querschnittsgelähm- kennzeichnen jeweils die mit dem Magnetoenzephalogramm gemes-
ten, bei denen keinerlei nozizeptiver Einstrom ins Gehirn senen Repräsentationen des jeweiligen Körperteils. Oben: die Hemis-
erfolgt, kommen Phantomschmerzen vor. Phantomschmer- phäre kontralateral zum amputierten Arm, unten die Hemisphäre
zen treten häufig unmittelbar nach der Amputation auf und kontralateral zum intakten Arm. Bei Reizung der Lippe auf Seite des
amputierten (deafferenzierten) Armes zeigt sich eine zusätzliche Ak-
können über ein ganzes Leben quälend stabil bleiben. tivierung im Areal der amputierten Region (Hand, D1–D5), d. h. die
Chordotomie (Abschn. 16.6.2) beseitigt sie nicht, was zeigt, Lippen-Gesichtsrepräsentation ist in die deafferenzierte, »leere«
dass sie nicht auf periphere Veränderung der Nozizeption Region »eingewandert«. Das Ausmaß dieser Einwanderung (»Inva-
rückführbar sein können. Peripher-nozizeptive Reizung sion«) ist exakt proportional den Phantomschmerzen. Unten: ist die
(Kälte, Hitze, Verspannung durch Stress) kann aber Phan- Hemisphäre kontralateral zum intakten Arm mit der üblichen Anord-
nung des sensomotorischen Homunculus abgebildet: Lippe und
tomschmerzen auslösen und verstärken, was auch er- Gesicht inferior und darüber die Hand mit dem Daumen und dann
klärt, warum Lokalanästhesie des Stumpfes bei vielen Pa- die übrigen Finger. Oben die »amputierte« Hemisphäre mit der von
tienten kurzfristig den Schmerz lindern oder unterbrechen der intakten Hemisphäre gespiegelten Handregion und der in diese
kann. hineingewachsenen Lippenregion (durch roten Pfeil symbolisiert)

G Phantomschmerzen und Schmerzen nach Quer-


schnittsläsionen müssen im Gehirn entstehen,
da sie auch ohne Afferenzen zum Gehirn bestehen
G Nach Amputation oder Deafferenzierung findet
bleiben.
man im Tierversuch in und außerhalb des rezeptiven
Feldes massive Veränderungen des Entladungsver-
Rezeptive Felder nach Amputation haltens der Nervenzellen.
Im Tierversuch zeigt sich bereits Stunden nach Amputation
eines Fingers, dass die Neurone der Fingerregion und die Kortikale Reorganisation nach Amputation
der Handregion im somatosensorischen Kortex verstärkt . Abb. 16.16 zeigt die kortikale Reorganisation bei einem
auf somatosensorische und nozizeptive Reizung in den der Armamputierten mit starken Phantomschmerzen. Dabei
Amputation nahe gelegenen Körperregionen reagieren wurde die kortikale Quelle magnetischer Felder (MEG,
(. Abb. 25.19). Ihr rezeptives Feld breitet sich in die deaffe- Kap. 20) nach taktiler Reizung des ipsilateralen und kon-
renzierten Regionen aus. Bei einzelnen Tieren (Affen) tralateralen Lippenbereiches und des Daumens der intak-
konnte auch noch 12 Jahre nach der Amputation weit ent- ten Hand verglichen. Die Dipole (Quellen) der Aktivität
fernt vom rezeptiven Feld des deafferenzierten Gliedes in nach Lippenreizung (am sensorischen kortikalen Homun-
parietalen Regionen eine verstärkte Entladung nach Rei- kulus dem Daumen benachbart, Kap. 14) kontralateral der
zung in ipsilateralen, nicht deafferenzierten Körperregio- Amputation finden sich dort, wo der Daumen repräsentiert
nen nachgewiesen werden. ist (durch roten Pfeil symbolisiert). Das Lippenareal ist
Näht man 2 Finger zusammen, so wachsen nach kurzer – symbolisch gesprochen – in das Daumenareal hinein-
Zeit (Tagen) die rezeptiven kortikalen Felder der beiden gewachsen. Häufig berichten die Patienten auch Empfin-
Finger zusammen und Reizung eines (ehemaligen) Fingers dungen und Schmerzen im Phantomglied bei Reizung im
löst in beiden rezeptiven Feldern dieselbe Antwort der Neu- Stumpf-, Schulter- und Gesichtsbereich (»remapping« oder
ronen aus (Syndaktilie). Neukartierung).
360 Kapitel 16 · Nozizeption und Schmerz

G Die kortikale Reorganisation bei Amputation oder


Aus Flor H, Birbaumer N (2000). Mit freundlicher Genehmigung von

Deafferenzierung der Hand besteht in einer Ver-


schiebung des Gesichtsareals in das Handareal.
Dies führt zu Sensitivierung und Schmerz.

Motorische Reorganisation
Der Ausfall eines Gliedes oder einer Körperseite (nach
Schlaganfällen) bedeutet natürlich auch, dass propriozep-
Lippincott Williams & Wilkins.

tiver afferenter Einstrom aus Muskeln und Sehnen ausbleibt


(Kap. 13), was auch zur schmerzsteigernden Reorganisa-
tion beitragen könnte, da schmerzhemmender Einstrom
aus myelinisierten Aβ-Fasern fehlt. Die Beseitigung von
Motorik führt parallel zur sensorischen Reorganisation zu
motorischer Reorganisation der sensomotorischen Hirn-
. Abb. 16.17. Zusammenhang zwischen Phantomschmerz und areale: Mit nichtinvasiver transkranieller Magnetstimula-
dem Ausmaß der kortikalen Reorganisation. Der Phantomschmerz tion (Kap. 20) der motorischen Rinde kann man die Er-
wurde mit einem speziellen Fragebogen gemessen. Jedes Dreieck
regbarkeit der einzelnen Rindenareale und der zugehöri-
repräsentiert einen Patienten, auf der Ordinate das Ausmaß des Phan-
tomschmerzes (hintere Dreiecke). Vordere Dreiecke: Ausmaß der Re- gen α-Motoneurone im Rückenmark prüfen. Dabei findet
organisation, gemessen in cm sich nach Amputation durchgängig in und um das de-
afferenzierte Hirnareal für die Hand oder das Bein eine
deutlich erhöhte Erregbarkeit. Dasselbe findet man nach
. Abb. 16.17 zeigt bei 13 Armamputierten das Ausmaß Querschnittslähmungen, wobei in diesen Rindenarealen
des Phantomschmerzes und die Größe dieser kortikalen auch Tast- und Berührungsempfindungen auslösbar sind,
Reorganisation (gemessen in Zentimetern) zwischen dem was zeigt, dass es sich um eine zentrale Reorganisation
Ort am somatosensorischen Kortex, wo die Lippe liegen handelt.
sollte und wo sie sich aktuell befindet. Man erkennt klar die
Enge des Zusammenhanges. Daraus kann man schließen, G Mit Reorganisation der sensorischen Areale reorga-
dass kortikale Reorganisation durch Aktivierung deafferen- nisieren meist auch die motorischen. Funktionelle
zierter Hirnregionen im Kortex eine Grundlage des Benutzung motorischer Einheiten kann daher senso-
Schmerzgedächtnisses sein könnte (Box 16.6). rische Reorganisation aufheben.

Box 16.6. Asynchrone taktile Reizung zur Behandlung von Phantomschmerzen

Chronische Phantomschmerzen nach Amputationen Gegensatz zu einer kosmetischen Prothese ohne


sind auf eine Reorganisation des Kortex, bedingt Funktion. Die sinnvolle Benutzung des Gliedes ist der
durch exzessiven nozizeptiven Einstrom vor, während entscheidende Reiz in diesem Fall.
oder unmittelbar nach der Amputation, zurückzufüh-
ren, wie dies in Abschn. 16.4.3, . Abb. 16.16 und Literatur: Huse E, Preissl M, Larbig W, Birbaumer N (2001)
Phantom limb pain. The Lancet 358:1015–1016
16.17, beschrieben wurde. Dabei verbindet sich die
kortikale Repräsentation des deafferenzierten Gliedes
(z. B. Hand, Arm) mit den am somatosensorischen Ho-
munculus benachbarten Repräsentationen von Schul-
ter und Gesicht. Um diese pathologische assoziative
Verbindung wieder zu lösen, werden Stumpfregion
Aus Huse E, Preissl M, Birbaumer N (2001). Mit freundlicher

16 und Lippe zeitlich versetzt asynchron taktil jeden Tag


3 Stunden über Wochen viele 1000-mal gereizt (Abb.).
Damit erhält das Gehirn die Information: »Arm-Hand
und Gesicht gehören nicht zusammen.« Nach Wochen
bilden sich im somatosensorischen Kortex die in
. Abb. 16.17 gezeigte Reorganisation und die
Genehmigung von Elsevier.

Schmerzen zurück. Dies ist eine der vielen Anwendun-


gen der Hebb-Regel assoziativen Lernens, die wir in
Kap. 25 beschreiben. Aber auch die Benutzung einer
neuromuskulären Prothese, mit der man funktionell
greifen kann, verbessert die Phantomschmerzen, im
16.5 · Psychophysiologie chronischer Schmerzen
361 16
16.5 Psychophysiologie chronischer z. B. in Form von Klagen auftritt und die pathophysiolo-
Schmerzen gische Ursache (z. B. eine Verwundung) ist schon längst
abgeklungen. Solchen Schmerzempfindungen und -äuße-
16.5.1 Peripher-physiologische Ursachen rungen liegen in der Regel Lern- und Gedächtnisvorgänge
von Schmerz (Kap. 25) zugrunde, die zwar neurophysiologisch im Ge-
hirn messbar sind, aber keine peripher-physiologischen
Chronischer Schmerz Korrelate mehr aufweisen.
Unter chronischen Schmerzen versteht man Schmerz- Eine Schmerzsimulation (z. B. zum Erreichen einer Be-
zustände mit und ohne medizinisch fassbarem Substrat, rentung) gibt es in dieser Vorstellung nicht, als auch diese
die länger als 6 Monate bestehen. Obwohl nur 5% aller Schmerzäußerung über operantes Lernen (Abschn. 16.5.2)
Schmerzpatienten chronische Schmerzen entwickeln, ver- erworben und verstärkt wird. Gerade solche auf soziale Ver-
ursachen diese die höchsten Diagnose- und Behandlungs- stärkung und Zuwendung ausgerichtete Schmerzäußerun-
kosten unseres Gesundheitssystems. Allein in der Bundes- gen führen häufig zu – von der ursprünglichen pathophy-
republik Deutschland werden pro Jahr ca. 10 Milliarden siologischen Schmerzursache unabhängigen – Schonhal-
Euro für diese Gruppe aufgebracht, ohne messbare Re- tungen mit verstärkter Reizung auch der Nozizeptoren in
duktion des Problems. Dies liegt v. a. daran, dass chronische Muskeln und Sehnen (7 unten).
Schmerzen in der Regel eine Kombination aus psycholo- Genauso wenig gibt es einen rein physiologisch beding-
gischen (sprich zentralnervösen) und peripher-physiolo- ten Schmerzzustand, da jede Reizung von Nozizeptoren
gischen Ursachen darstellen und nur eine interdisziplinäre entweder auch zu einer subjektiven Reaktion führt, oder
(psychologisch-medizinische) Diagnose und Therapie – wenn sie nicht ins Gehirn gelangt – periphere Abwehr-
wirksame Behandlung verspricht. reflexe oder Fluchtverhalten auf motorischer Ebene auslöst.
Die größte Gruppe von Patienten mit chronischen Nur durch eine präzise Beschreibung und Messung aller
Schmerzen klagt über Kopfschmerzen, gefolgt von Rücken- 3 Verhaltensebenen und ihres (mangelnden) Zusammen-
schmerzen, Gesichtsschmerzen und Tumorschmerzen. Bis hanges in der spezifischen und individuellen Umgebung
auf Tumorschmerzen sind an allen Schmerzformen psy- der Patienten, lassen sich chronische Schmerzzustände er-
chophysiologische Faktoren beteiligt. Bei Tumorschmerzen klären und einer wirksamen Behandlung zuführen.
spielen psychophysiologische Faktoren auch eine Rolle in
G Die Unterscheidung von psychogenem und physio-
der Aufrechterhaltung, die Ursache liegt aber im Gewebe-
logisch-medizinischem Schmerz ist nicht sinnvoll,
schaden.
da an jedem chronischen Schmerzzustand beide
G Chronische Schmerzen verursachen enorme Kosten Ursachenmechanismen unauflöslich miteinander
für das Gesundheitssystem, da sie selten rein medi- verbunden sind.
zinische Ursachen haben.
Reaktionsstereotypie
Das Drei-Ebenen-Konzept von Schmerz Unter einer individualtypischen physiologischen Reaktions-
Wenn man keine fassbare medizinische Ursache für einen stereotypie versteht man die Tatsache, dass eine bestimmte
chronischen Schmerzzustand mehr findet, spricht man oft Person auf psychische oder physische Belastung (Stress)
von psychogenem Schmerz. Diese Verlegenheitslösung mit demselben Organsystem besonders intensiv reagiert
ist deshalb falsch, als es keine Schmerzäußerung gibt – sei und solche Überreaktionen auch verlängert anhalten. Bei
sie pathophysiologisch messbar oder nicht –, die nicht auch Schmerzpatienten ist dies primär das Muskelsystem.
ein neurophysiologisches Substrat aufweist. Betrachtet man . Abb. 16.18 zeigt die elektromyographisch gemessene
jede Schmerzreaktion als beim Menschen auf 3 Ebenen ab- Muskelspannung von Rücken- und Gesichtsschmerzpa-
laufend, so löst sich das Problem des psychogenen Schmer- tienten und einer vergleichbaren gesunden Gruppe auf per-
zes von selbst. Eine Schmerzreaktion kann auf sönliche Belastungsreize. Dabei zeigt sich, dass Rücken-
4 subjektiv-psychologischer Ebene (z. B. verbale schmerzpatienten auf persönliche Belastung mit erhöhter
Schmerzäußerung), Anspannung nur in der Rückenmuskulatur (M. erector
4 motorischer Verhaltensebene (z. B. Schonverhalten, spinae, meist links) reagieren, während Gesichtsschmerz-
Schmerzausdruck) und patienten mit Erhöhung der Muskelspannung nur im Ge-
4 physiologisch-biologischer Ebene (z. B. periphere sicht (M. masseter) reagieren. Bei allgemeinen Stressreizen
Muskelspannung nach Entzündung) zeigen sich keine Unterschiede in den Spannungsniveaus.
Die erhöhte Spannung in den betroffenen Muskelgrup-
gemessen werden. Wie in Kap. 27 noch ausführlich erläu- pen klingt bei Patienten und Risikopersonen langsamer ab.
tert wird, müssen die Reaktionen auf diesen Ebenen nicht Dadurch kommt es zu längerem Bestehenbleiben der Ver-
miteinander korrelieren. Das heißt, es kann ein Schmerz- krampfung mit lokalen Entzündungsprozessen und der
zustand auftreten, der primär auf psychologischer Ebene, zusätzlichen Aktivierung vorher stummer Nozizeptoren
362 Kapitel 16 · Nozizeption und Schmerz

. Abb. 16.18. Reaktivität des Elektromyogramms (EMG) bei . Abb. 16.19. Klassische Konditionierung der Muskelspannung;
Gesunden und Kranken auf die Vorstellung einer persönlich be- Patienten mit chronischen Rückenschmerzen und gesunde Kon-
lastenden Situation. Es wurde von mehreren Muskelgruppen bei trollpersonen. Gestrichelt sind die Ausgangswerte der Muskelspan-
Gesunden (K), Rückenschmerzpatienten (R) und Patienten mit Ge- nung der beiden Gruppen aufgetragen. Die obere Kurve kennzeichnet
sichtsschmerz (G) abgeleitet. Nach links ist Abfall der Reagibilität und den Anstieg der Muskelspannung während der Lerndurchgänge der
nach rechts Anstieg aufgetragen. Von oben nach unten sind die ver- Patientengruppe, darunter die Normalpersonen. Auf einen neutralen
schiedenen Muskeln aufgetragen, die beiden unteren Maße beziehen Reiz (Gesichtsphoto CS) folgte ein unangenehmer elektrischer Reiz
sich auf Hautwiderstand (HWS) und Herzrate. Man erkennt, dass Ge- (US). Hier ist die Muskelspannung zwischen CS und US aufgetragen.
sichtsschmerzpatienten primär im Musculus masseter und Rücken- Der rechte Kurvenabschnitt kennzeichnet die Extinktion, in der der
schmerzpatienten primär im Musculus erector spinae reagieren. Bei konditionale Reiz (CS) allein wiederholt dargeboten wurde. Man er-
Normalpersonen zeigt sich die Reagibilität primär im kardiovaskulären kennt, dass Schmerzpatienten beschleunigt einen Anstieg der Mus-
System. M. Muskel, l. links, r. rechts, er. sp. erector spinae, tr. trapezius kelspannung in höhere Intensitätsbereiche lernen und sehr viel lang-
samer diese Reaktion wieder verlernen

(Abschn. 16.2.1). Der lokale Schmerz führt zu weiterer verlangsamtem Abklingen der Erregung auf. Chroni-
reflektorischer Anspannung, was wieder die Nozizeption sche Schmerzpatienten nehmen Muskelverspannun-
erhöht usw. Es kommt zu einem Circulus vitiosus zwischen gen schlecht wahr.
Muskelspannung und Schmerz.
Patienten mit akuten Schmerzen und Personen mit
dem Risiko, chronische Schmerzen zu entwickeln, sind ob- 16.5.2 Lernen von Schmerz
jektiv mehr Belastungen in ihrem täglichen Leben aus-
gesetzt. Daher ist bei diesen Personengruppen die Wahr- Klassische Konditionierung von
scheinlichkeit zur Entwicklung chronischer Schmerzen Reaktionsstereotypie
erhöht. . Abb. 16.19 zeigt den Verlauf der mit dem EMG (Elektro-
myogramm) gemessenen Muskelanspannung auf einen
Wahrnehmen der Muskelspannung völlig neutralen Reiz (Gesichtsphoto, konditionaler Reiz,
Der beschriebene Circulus vitiosus zwischen Schmerz und CS), wenn dieser wenige Sekunden später von einem
Spannung wird dadurch schwer auflösbar, dass Schmerz- schmerzhaften elektrischen Reiz (unkonditionierter Reiz,
patienten Muskelspannungen schlechter wahrnehmen als US) gefolgt wird (Kap. 25 bezüglich der Lerngesetze). Dabei
16 gesunde Vergleichsgruppen und dadurch keine kompen- erkennt man, dass Schmerzpatienten eine Muskelver-
satorischen Korrekturreaktionen (Bewältigung) in solchen krampfung auf den CS schneller lernen (. Abb. 16.19, links)
persönlichen Belastungssituationen und danach ausführen und langsamer verlernen (. Abb. 16.19, rechts): In den Ex-
können. Sie merken die lokalen pathologischen Erregungs- tinktionsbedingungen, wo der CS ohne den US dargeboten
niveaus ihres physiologischen Systems nicht und können wird, behalten die Schmerzpatienten eine erhöhte Span-
daher ein einmal erworbenes Fehlverhalten nicht wieder nung bei!
verlernen.
Operantes Lernen von Reaktionsstereotypien
G Chronische Schmerzpatienten weisen bei persön- Aber nicht nur auf physiologischer Ebene lernen Schmerz-
lichen Belastungsreizen in einem bevorzugten peri- patienten rascher Schmerz, auch auf psychologischer Ebene
pheren Organsystem eine erhöhte Erregbarkeit mit lernen sie durch instrumentelles Lernen (Belohnungslernen,
6 Kap. 25) rascher und länger anhaltend Schmerz zu empfin-
16.5 · Psychophysiologie chronischer Schmerzen
363 16

Aber nicht nur das, in ihrem Gehirn bildet sich der


objektiv völlig gleiche Schmerzreiz unterschiedlich ab:
. Abb. 16.20 zeigt die evozierten Schmerzpotenziale, wenn
die Patienten für erhöhtes Schmerzempfinden belohnt wur-
den: Ihre hirnphysiologische Reaktion ist deutlicher ausge-
prägt. Dies zeigt eindrücklich, wie subjektive und neuro-
physiologische Ebene interagieren: Ein physikalisch völlig
gleicher Schmerzreiz wird durch Lernen subjektiv verstärkt,
und in der Folge ändert sich auch das neurophysiologische
Substrat in die Richtung des psychologischen Geschehens.
Dies als psychogenen Schmerz zu bezeichnen, wäre irre-
führend.
G Menschen mit chronischen Schmerzen oder einem
Risiko hierfür lernen rascher schmerzhafte Reak-
tionen und auch die physiologischen Korrelate der
Schmerzreaktion vergrößern sich nach positiver
Verstärkung von Schmerzverhalten.

Schmerzgedächtnis
Menschen, die chronische Rücken-, Gesichts- oder Kopf-
schmerzen entwickeln und Patienten mit neuropathischen
Schmerzen (CRPS, Abschn. 16.3), besitzen ein ausgepräg-
teres Gedächtnis sowohl für Schmerzreize selbst als auch
für kognitiv-emotional schmerzhafte Gedächtnisinhalte.
Obwohl Schmerzempfindungen selbst meist implizit, d. h.
nicht bewusst behalten werden (Kap. 25), prägen sich die
Situationen und Umstände und damit zusammenhängende
semantische Bedingungen (z. B. Worte) besser ein und
können v. a. bei Vorhandensein einer negativen Stimmung
leichter erinnert werden (Gefühls-Gedächtnis-Effekt oder
»state-dependent learning«, Kap. 25 und 28). Dies spricht
dafür, dass die kortikalen Strukturen, die für Behalten von
negativen Gedächtnisinhalten generell verantwortlich sind,
. Abb. 16.20a, b. Hirnpotenziale bei Schmerzpatienten.
wie auch die spezifischen für das Behalten von Schmerz
a Schmerzevoziertes Hirnpotenzial bei Gesunden und Patienten mit zuständigen somatosensorischen Strukturen sensibilisiert
chronischen Schmerzen (gemittelt über je 40 Personen). Man erkennt und plastischer sind als bei Gesunden.
bereits um 150 ms einen Anstieg der Negativierung, generell ist das
Potenzial bis zu 500 ms stärker negativ, was auf eine erhöhte kortikale G Schmerzpatienten behalten negative Gefühlszu-
Erregung hinweist. b Höhe des in a abgebildeten evozierten Poten- stände und Schmerzen länger im Gedächtnis.
zials auf Schmerzreize gleichbleibender Intensität, nachdem die Per- Lernen von Schmerz erfolgt meist implizit, ist also
sonen gelernt hatten, den Schmerzreiz als stärker oder schwächer
der bewussten Kontrolle nicht zugänglich.
einzustufen. Man erkennt, dass bei Schmerzpatienten, im Gegensatz
zu gesunden Personen, nach Verstärkung erhöhter Schmerzeinstufun-
gen auch die kortikale Reaktion erhöht ist Gelernte Stress-Analgesie
Wie wir in Kap. 8 und 9 gesehen haben, werden sowohl
den. Dies gilt besonders für Risikogruppen, die erst auf dem hormonelle wie immunologische Reaktionen durch Lernen
Weg zur Chronifizierung sind. Wenn man z. B. einen beeinflusst. Dasselbe gilt für jene endokrinen Systeme, die
Schmerzreiz identischer Stärke wiederholt darbietet und die wesentlich für die Schmerzhemmung verantwortlich sind:
Patienten bittet, diesen subjektiv einzuschätzen und eine Endogene Opiate (Abschn. 16.3.3), die auf allen Ebenen
Gruppe für Überschätzen und die andere für Unterschätzen des schmerzverarbeitenden Systems von den Nozizeptoren
belohnt, so entwickelt die Überschätzungsgruppe zuneh- bis zum Thalamus zu finden sind, können durch Lern-
mend subjektiv erlebten Schmerz, während die Unterschät- prozesse sowohl verstärkt wie auch abgeschwächt werden,
zungsgruppe diesen abbaut (trotz gleicher Reizstärke). Die was dann natürlich kurz- oder langfristige Konsequenzen
Patienten behalten die Überschätzung und den Schmerz für die Schmerzwahrnehmung hat. Eindrucksvolles Bei-
auch dann bei, wenn sie nicht mehr belohnt werden. spiel für dauerhafte Störung des schmerzhemmenden Sys-
364 Kapitel 16 · Nozizeption und Schmerz

tems ist die gelernte Hilflosigkeit und Depression, die wir G Neben klassischer Konditionierung sind positives
in Kap. 8 und 27 besprechen. und negatives Verstärkungslernen und Schonhal-
Die kurzfristige Schmerzhemmung nach starken Belas- tungen für das Bestehenbleiben von chronischen
tungen und psychischem Schock nennen wir Stress-Anal- Schmerzen verantwortlich.
gesie. Sie ist auf einen raschen Anstieg der Ausschüttung
von endogenen Opiaten aus der Hypophyse (Kap. 6 und 7) Positive Verstärkung von Schmerz
zurückzuführen. Naloxon, das die Rezeptoren für Endor- . Abb. 16.21a zeigt ein Beispiel für die Wirkung von kon-
phine blockiert, hebt die Stress-Analgesie auf. tingenter (d. h. zeitlich unmittelbarer) Zuwendung inner-
Dieser Effekt kann auch klassisch konditioniert (Kap. 25) halb der Familie auf die Schmerzschwellen von Rücken-
werden. Experimentell wurde dies dadurch bewiesen, dass schmerzpatienten. Patienten mit Partnern, die sich bei
man Personen unter psychische Belastung in einer be- Schmerzäußerungen systematisch dem Schmerzpatienten
stimmten räumlichen Umgebung setzte und danach eine positiv zuwenden, weisen in Gegenwart des Partners eine
reduzierte Schmerzempfindlichkeit fand (z. B. sind die deutliche Senkung der Schmerzschwelle auf (d. h. sie wer-
Schmerzschwellen für elektrische Reize erhöht). Dies wird den schmerzempfindlicher); Patienten, die eher muskel-
unkonditionierte Stress-Analgesie genannt. Bringt man verspannungsbedingte Schmerzen – von Stressreizen aus-
dieselben Personen später wieder in die Umgebung (z. B. gelöst – haben, zeigen diesen Effekt nicht.
Raum, in dem eine Prüfung stattfand), so zeigen sie auch . Abb. 16.21b zeigt die Wirkung der Partnerinteraktion
ohne Belastung die Unempfindlichkeit in dieser Situation auf das Gehirn: In Gegenwart des positiv-verstärkenden
(konditionierte Stress-Analgesie). Erhalten die Personen Partners tritt eine zusätzliche Dipolquelle präfrontal und
Naloxon, so tritt der Effekt nicht auf, was zeigt, dass sowohl im Gyrus cinguli auf (rot), die bei chronischen Schmerz-
konditionierte wie unkonditionierte Stress-Analgesie von patienten ohne eine Biographie positiver Partnerinterak-
den endogenen Opiatsystemen abhängt. tion nicht vorhanden ist. Bei dieser Gruppe erkennt man
nur die verstärkte Reaktion (blau) am primären somatosen-
G Konditionierte, opioiderg vermittelte Stress-Analge-
sorischen Kortex.
sie ist ein besonders dramatisches Beispiel für ge-
Dieser Zusammenhang von Zuwendung und Schmerz
lernte Schmerzhemmung: Bei starkem Stress tritt
muss sorgfältig vom positiven Effekt von sozialer Zuwen-
Schmerzunempfindlichkeit auf, die an die auslösen-
dung und sozialer Stützung unterschieden werden: Erfolgt
de Situation assoziativ gebunden wird.
die Zuwendung nicht-kontingent auf Schmerz, sondern
auf alternatives Verhalten, wird der chronische Schmerz
Operantes Lernen von chronischem Schmerz und sein neuronales Korrelat gehemmt.
Neben den eben besprochenen Mechanismen klassischer Eine der wichtigsten Ursachen von Chronifizierung stellt
Konditionierung, die v. a. für Lernen im Muskelsystem vermutlich unser medizinisches Versorgungssystem selbst
(Schmerz-Spannungs-Zyklus, 7 oben) verantwortlich dar: Zuwendung von Seiten des medizinischen Personals, der
sind, wird die Chronifizierung von Schmerz, v. a. auf sub- Ärzte, diagnostische Maßnahmen, vergebliche Therapiever-
jektiv-kognitiver wie zentralnervöser Ebene primär durch suche und v. a. Analgetika (7 unten) stellen eine kontinuier-
instrumentell-operantes Lernen beeinflusst. Dabei sind liche Quelle positiver Verstärkung des Schmerzverhaltens
sowohl positive Verstärkung von Schmerzverhalten (z. B. dar und fördern bei bereits chronifizierten Schmerzen ohne
durch Zuwendung) wie auch negative Verstärkung in klare pathophysiologische Grundlage deren Bestehenbleiben
Form von Schonhaltungen, Vermeiden von belastenden (iatrogene Schmerzen). Der beste Indikator für den voraus-
Situationen und Gedanken und Reaktionen wie reflek- sichtlich weiterhin negativen Verlauf einer Schmerzkrank-
torische Verspannungen für Bestehenbleiben eines ur- heit stellt die Anzahl der bisherigen Arztbesuche und die
sprünglich vielleicht biologisch sinnvollen, später aber Anzahl bisheriger Behandlungsbemühungen dar.
pathophysiologisch vollkommen nutzlosen Schmerzzu-
G Positive Partnerinteraktion zeitlich kontingent auf
16 standes verantwortlich.
Schmerzzustände kann zu Anstieg chronischer
Aus Unkenntnis der beteiligten Lernmechanismen wird
Schmerzen und deren zentralnervöser Korrelate
dabei besonders gerne von psychogenem Schmerz gespro-
führen.
chen. Dies ist begrifflich und wissenschaftlich insofern pro-
blematisch, als klassische und instrumentelle Konditionie-
rung in der Regel implizit (7 oben und Kap. 25) ohne Mit- Negative Verstärkung von Schmerz
wirkung des Bewusstseins ablaufen, also streng genommen Die unmittelbar auf Schmerzempfinden folgende Einnah-
gar keine psychogenen, d. h. hier bewusst-kontrollierbare me von Analgetika führt zwar bei akuten und pathophysi-
Prozesse ablaufen, man solche aber dem Patienten und sei- ologisch klar begründeten Schmerzen zu deren Hemmung,
ner Umgebung unterschiebt (z. B. in Form von Diagnosen bei vielen chronischen Schmerzzuständen aber zu deren
wie: Der Patient drückt einen Konflikt aus oder der Patient Verstärkung: Die zeitlich kontingente Reduktion des
möchte die ungeliebte Arbeit vermeiden etc.). Schmerzes durch die Medikamenteneinnahme verstärkt
16.5 · Psychophysiologie chronischer Schmerzen
365 16

Nach Chronifizierung ist bei muskelbedingten Schmer-


zen als Schmerzantwort natürlich Entspannung der Mus-
Mit freundlicher Genehmigung des Hogrefe Verlags.

kulatur wichtig.
Nach Breitenstein C, Flor H, Birbaumer N (1994).

G Schmerzkontingente Einnahme von Schmerzmitteln


bei chronischen Schmerzen führt zu Anstieg der
Schmerzen. Kurzzeitige Anspannung der Muskulatur
kann den Schmerz reduzieren.

16.5.3 Neuronale Grundlagen


von Schmerzgedächtnis

Zelluläre Prozesse
Alle in Kap. 25 beschriebenen neurophysiologischen und
neurochemischen Prozesse, die Lernen und Gedächtnis
zugrunde liegen, können auch auf das Schmerzsystem an-
gewandt werden; wir besprechen sie daher hier nicht ge-
sondert.
Intensive Schmerzreize können bereits nach Minuten
zu anhaltenden strukturell-anatomischen und neuro-
physiologischen Veränderungen führen, die Weiterlei-
tung und Verarbeitung von Schmerzreizen intensivieren.
. Abb. 16.22 zeigt die Zellkörper und Dendriten der
Lamina-I-Neurone des Rückenmarks der Ratte nach we-
nigen Minuten von Capsaicin-Applikation auf die Haut
der Ratte, was eine schmerzhafte Entzündungsreaktion
auslöst. Jene Neuronen, die Substanz P als Transmitter auf-
. Abb. 16.21a, b. Partnerinteraktion, Schmerz und Gehirn. weisen und die noxischen Signale zum Gehirn weiterlei-
a Schmerzschwellen im Kaltwassertest, gemittelt über 16 Schmerz- ten, ändern Form und Reaktivität sowie die dendritischen
patienten, bei denen der Partner schmerzverstärkend wirkt (rot), und Verbindungen: Die intrazelluläre Aktivität von Substanz P
Patienten, bei denen sich der Partner neutral verhält (rosa). Die Mes- wird erhöht und die Dendriten bilden geschwollene Vari-
sungen wurden einmal in Gegenwart der Partner (linkes Säulenpaar)
kositäten (Verdickungen, die besonders reich mit Mem-
und einmal in deren Abwesenheit durchgeführt (rechts). Auf der Ordi-
nate abgetragen die Zeit in Sekunden, in der die Patienten ihre Hand in branrezeptoren für synaptische Überträgerstoffe besetzt
Eiswasser halten können, bevor eine deutliche Schmerzempfindung sind).
auftritt. Man erkennt das dramatische Absinken der Schmerzschwelle Neben den deutlichen morphologischen Veränderun-
in Gegenwart eines verstärkenden Partners. b Magnetoenzephalogra- gen der Dendriten (. Abb. 16.22a, d, vergleiche die Den-
phische Reaktionen auf taktile Reize auf den schmerzenden Rücken.
driten), kommt es nach der Freisetzung der Substanz P und
Blau: somatosensorische MEG-Antworten; rot: präfrontal-zinguläre
Antworten (nur bei Gegenwart positiv verstärkender Partner). Einzel- ihrer Interaktion mit den Membranrezeptoren (diese wer-
heiten 7 Text den NK-1-Rezeptoren genannt) zu einer Verlagerung der
NK-1-Rezeptoren aus der Plasmamembran in das Zell-
innere. Dieser Vorgang wird als Rezeptorendozytose be-
die Wiedereinnahme und den vorausgegangenen Schmerz. zeichnet. Auch dies ist im Vergleich von a, b mit c, d in der
(In der psychologisch-operanten Therapie solcher Schmer- Abbildung deutlich zu sehen. Innerhalb etwa 1 h kehren die
zen wird deshalb ein Schmerz-Cocktail mit nach Zeitplänen NK-1-Rezeptoren aus dem Zytosol in die Plasmamembran
erfolgender Einnahme und Plazebomedikamenten verab- zurück. Beide Vorgänge, die Formveränderung und die Re-
reicht, Abschn. 16.6.3.) zeptorendozytose, sind wahrscheinlich an den Prozessen
Wie wir gesehen haben, kann die klassische Konditio- der neuronalen Plastizität beteiligt.
nierung von anhaltender Muskelspannung zur Chronifizie-
rung von Schmerzen beitragen. Eine kurzzeitige reflekto- G Bei längerer schmerzhafter Reizung kann eine Sen-
rische Anspannung der Muskeln ist aber eine gesunde und sibilisierung der nozizeptiven Neurone im Rücken-
natürliche Abwehrreaktion auf einen akuten Schmerzreiz. mark auftreten. Dafür ist Substanz-P-Ausschüttung
Solche kurzen Verspannungen senken die subjektive Inten- und Rezeptorendozytose verantwortlich.
sität des Schmerzes über die Aktivierung hemmender,
schnell leitender propriozeptiver Nervenfasern bereits auf
Rückenmarksniveau.
366 Kapitel 16 · Nozizeption und Schmerz

a abgeschlossen, dann ist eine Behandlung mit Memantin


nicht wirksam. Beispielsweise zeigt sich bei vielen Phan-
tomschmerzpatienten, dass Axone aus der Gesichtsregion
(. Abb. 16.16 und 16.17) in die Handregion einwachsen
(»Invasion«) oder stille Neuronen demaskiert werden und
feuern, weil der hemmende Einfluss der Nachbarzellen ver-
loren geht (durch mangelnden Impulseinstrom aus dem
amputierten Glied).
Modifiziert nach Mantyh P et al (1995). Mit freundlicher Genehmigung von Science.

G Eine Vielzahl von strukturellen und funktionellen


b neuroplastischen Veränderungen ist für die Einprä-
gung und Chronifizierung von Schmerz verantwort-
lich. Besonders häufig sind Sensibilisierung oder
c Demaskierung von NMDA-Rezeptoren.

Vorbewusste Schmerzverarbeitung
. Abb. 16.23a zeigt eine magnetoenzephalographisch regis-
trierte Schmerzantwort (Kap. 20) eines gesunden Men-
schen, . Abb. 16.23b die eines Schmerzpatienten. In c sind
die beiden Gruppen einander gegenüber gestellt, wenn sie
einmal am Schmerzort (dem Rücken), das andere Mal am
Finger gereizt werden. Die magnetischen Felder sind am
d
somatosensorischen Kortex bereits 70–80 ms nach Reiz-
darbietung, also lange vor deren Bewusstwerdung (erst ab
. Abb. 16.22a–d. Neuroplastizität bei Schmerzzuständen. Mor- 180–250 ms), erhöht, wenn sie am Schmerzort dargeboten
phologische Änderungen im Soma und in den Dendriten von Nerven- werden (spezifische Antwort). Später, also nach 150 ms,
zellen des Rückenmarks mit nozizeptivem afferenten Zustrom nach sind sowohl elektrische Potenziale wie auch magnetische
Applikation von Capsaicin (Wirksubstanz des Paprika) auf die Haut des Felder über weiten Teilen des Kortex bei Schmerzpatienten
zugehörigen Dermatoms (zur Auslösung eines Entzündungsschmer-
zes). a Nervenzelle in Lamina I des Hinterhorns vor Capsaicinapplika-
erhöht (unspezifische Antwort).
tion. b ein zugehöriger Dendrit. c Veränderung des Zellsomas nach Dies zeigt, dass im somatosensorischen kortikalen
Capsaicinapplikation. Die Substanz P-haltigen Zellbestandteile sind Empfangssystem die Zellensembles, die für die Schmerz-
hier und in den anderen Teilabbildungen goldgelb gefärbt. d ein zu- verarbeitung und -speicherung zuständig sind, verstärkt
gehöriger Dendrit auf Berührungsreize reagieren. Der durch C-Fasern in den
Kortex geleitete Schmerz kann zu einem so frühen Zeit-
punkt noch gar nicht im Großhirn angekommen sein.
Posttetanische Potenzierung Da Empfangsneuronen am Kortex sowohl aus C-Fasern
und Schmerzchronifizierung wie auch Aβ- und Aδ-Fasern Information erhalten, ver-
Im Kortex fand man zusätzlich, dass vormals stille synap- wundert diese generelle Erhöhung der Erregbarkeit nicht.
tische Verbindungen durch intensive Schmerzreize aktiv Sie erklärt uns auch, warum Schmerzpatienten kaum einen
werden und ihre Aktivität in oft weit entfernte Zellanhäu- bewussten Einfluss und Kontrolle auf ihr verstärktes
fungen senden, die dann selbst wieder, ähnlich einem Schmerzempfinden haben, da so frühe Verarbeitungspro-
Schneeballeffekt ihre Aktivität dauerhaft erhöhen. Der Me- zesse (um 100 ms) der kontrollierten Aufmerksamkeit und
chanismus der assoziativen posttetanischen Potenzierung Steuerung nicht zugänglich sind. Vermutlich ist eine gelern-
16 (PTP), wie er in Kap. 25 beschrieben ist, wird dafür ebenso te kortikale (oder auch subkortikale) Reorganisation des
verantwortlich gemacht wie kollaterales, aktivitätsabhän- Gehirns als das neurophysiologische Substrat des Schmerz-
giges Aussprossen von Synapsen (Kap. 24) in benachbarte gedächtnisses anzusehen.
Hirnregionen.
G Die neuroplastischen Veränderungen bei chroni-
Deshalb ist Blockade oder Unterbrechung des NMDA-
schen Schmerzen führen zu sehr frühen Sensibili-
Rezeptoren gesteuerten Konsolidierungsprozesses mit
sierungen der Schmerzwahrnehmung, die bewusst
einem NMDA-Rezeptor-Blocker (z. B. Ketamin oder Me-
nicht kontrollierbar sind.
mantin) eine wirksame Behandlung von Deafferenzie-
rungsschmerz (z. B. Phantomschmerz) und neuropathi-
schen Schmerzen.
Sind aber die chronischen Schmerzen durch struktu-
relle Wachstumsprozesse nach Lernen bedingt oder schon
16.6 · Schmerztherapien
367 16

. Abb. 16.23a–c. Magnetische Hirnantworten auf Schmerzreize.


Magnetisch evozierte Felder auf Schmerzreize bei einer Normalperson
(a) und einem Patienten mit chronischen Schmerzen (b). Man erkennt
sehr viel stärkere und ausgedehntere Felder bei dem Schmerzpatien-
ten. Jede Linie stellt eine Antwort auf einen Reiz dar. c Stärke der ge-
mittelten magnetischen Felder (in femto-Tesla, fT) nach Reizung des
Rückens (Schmerzort) und eines Fingers bei 12 Schmerzpatienten,
12 Patienten mit beginnenden Schmerzen (Risikopatienten) und
12 gesunden Kontrollen. Man erkennt eine stärkere Antwort des Kor-
tex nach Reizung am Schmerzort

16.6 Schmerztherapien

16.6.1 Pharmakologische
Schmerztherapie

Überblick über Schmerztherapien


Schmerzen zu lindern ist eine der wesentlichen Aufgaben
der Heilberufe. Kann die schmerzauslösende Ursache be-
seitigt werden, verschwindet damit auch der Schmerz. Ist
dies nicht möglich, ist eine symptomatische Schmerzbe-
handlung notwendig. Einen Überblick über die wesent-
lichen Schmerzbehandlungsverfahren gibt . Abb. 16.24.
Sie zeigt einmal die pharmakologischen Verfahren (1–4),
die entweder dazu dienen, Aufnahme (1) und Weiterleitung
(4) noxischer Signale zu verhindern, oder die zentrale Ver-
arbeitung zu hemmen (2) und die affektive Anteilnahme
am Schmerzgeschehen abzuschwächen (2, 3). Zweitens zeigt
. Abb. 16.24 die physikalischen Behandlungsverfahren
(5–8), die auf den verschiedensten Wegen und an unter-
schiedlichsten Stellen in den Schmerz eingreifen. Drittens
wird auf die psychologischen Verfahren hingewiesen (9–12),
die oft vereinfacht als Schmerzbewältigungsstrategien zu-
sammengefasst werden, aber auch häufig einen direkten
physiologischen Effekt auf die periphere und zentrale
Schmerzverarbeitung haben. Im Folgenden wird auf die
Wirkweise dieser verschiedenen Behandlungsansätze in der
Modifiziert nach Birbaumer N (1995). Mit freundlicher Genehmigung von Wolters Kluwer Health.

in . Abb. 16.24 gegebenen Reihenfolge kurz eingegangen.


G Wir unterscheiden pharmakologische, psychologi-
sche und physikalische, einschließlich chirurgische
Schmerztherapien.

Nicht-narkotische Schmerzmittel
Dies sind Stoffe, die analgetisch (schmerzhemmend) wir-
ken, ohne zu einer deutlichen Einschränkung oder Aus-
schaltung (Narkose) des Bewusstseins zu führen. In diese
Gruppe fallen die nichtsteroidalen Analgetika (»nonstereo-
idal antiinflammatory drugs«, NSAID), wie z. B. die Azetyl-
salizylsäure oder COX-2-Hemmer. Ein Teil dieser Analgetika
hemmt den Entzündungsprozess und reduziert dadurch die
Aktivierung und Sensibilisierung von Nozizeptoren durch
Entzündungsmediatoren (z. B. Prostaglandine). Sie haben
aber auch davon unabhängige aktivitätsmindernde Wir-
kungen an den Nozizeptoren und wahrscheinlich auch an
nozizeptiven Neuronen des zentralen Nervensystems (von
368 Kapitel 16 · Nozizeption und Schmerz

. Abb. 16.24. Spektrum der wesentlichen pharmakologischen, physikalischen und psychologischen Methoden zur Behandlung von
Schmerzen (Erläuterung im Text)

daher kann man nicht mehr von rein peripher wirkenden zudem zur Gewöhnung (Toleranzentwicklung), aber selten
Analgetika sprechen). zu physischer und psychischer Abhängigkeit (Kap. 26). Um
diese systemischen Wirkungen der Opioide bei chronischer
G Nicht-narkotische Schmerzmittel beseitigen entwe-
Zufuhr zu vermeiden, wird in dafür geeigneten Fällen
der einen Entzündungsprozess an den Nozizeptoren
Morphin peridural über einen Dauerkatheter appliziert.
oder aber wirken direkt auf nozizeptive Neuronen.
Dabei diffundiert anscheinend genügend Morphin in
den spinalen Liquorraum, um die Morphinrezeptoren des
Narkotische Schmerzmittel: Morphin Rückenmarks zu erreichen und die nozizeptive Informa-
Diese sind in der Lage, auch starke Schmerzen zu lindern, tionsverarbeitung zu dämpfen oder zu blockieren. Die für
haben aber eine so stark beruhigende, schläfrig machende Tage anhaltende lokale Analgesie unterstützt diese An-
Wirkung, dass v. a. bei höherer Dosierung narkoseähn- nahme. Die systemischen Nebenwirkungen des Morphins
liche Zustände auftreten können. Ältester Vertreter ist das sind bei dieser Applikationsweise gering.
Morphin, ein Bestandteil des Opiums. Daher die Bezeich- Einen Platz in der Schmerztherapie haben auch Psycho-
16 nungen Opiate oder Opioide für alle dem Morphin ver- pharmaka, im Speziellen Antidepressiva. Diese Medika-
gleichbaren Stoffe. Ihre analgetische Wirkung beruht auf mente greifen in den Stoffwechsel der Transmitter ein, die
deren Bindung an Opioidrezeptoren des μ-Typs im Rücken- die deszendierende Hemmung vermitteln. Darüber hinaus
mark und in supraspinalen Strukturen (7 unten) und einer kann auch die Bekämpfung von Angst, Depression und
daraus folgenden Unterdrückung neuronaler Aktivität im Spannung zur Schmerzlinderung beitragen (Kap. 27).
Zentralnervensystem. Inzwischen wurden auch Opioid-
G Psychopharmaka und Morphin beseitigen affektive
rezeptoren im peripheren Nervensystem gefunden, sodass
Begleiterscheinungen von Schmerzen.
man die Opiate nicht mehr uneingeschränkt als rein zen-
tralnervös wirkende Analgetika bezeichnen kann.
Neben der analgetischen haben die Morphine auch Örtliche Betäubung
atemdepressive, antitussive (hustenhemmende) und obsti- Eine örtliche Betäubung mit einem Lokalanästhetikum
pierende Wirkungen. Bei längerer Anwendung kommt es kann man mit einem Nervenblock oder durch eine Infiltra-
16.6 · Schmerztherapien
369 16

tionsanästhesie erzielen. Auf Schleimhäute kann ein Lo- sind oder durch diese begünstigt werden. Umgekehrt gibt
kalanästhetikum zur Oberflächenanästhesie auch aufge- es Schmerzen, z. B. bei akut entzündlichen Prozessen, die
sprüht oder aufgepinselt werden. Um eine kleine Hautstelle mit einer Weitstellung der Gefäße einhergehen (z. B. Mig-
für kurze Zeit zu betäuben, kann man sie durch Aufsprühen räneanfall). Dieser muss dann durch die Anwendung von
von rasch verdampfendem Chloräthyl vereisen, d.h. so tief Kälte entgegengewirkt werden. Durch Kälte wird auch die
abkühlen, dass die Sensoren ihre Arbeit einstellen. Entwicklung einer Entzündung (über eine reduzierte
In der Behandlung umschriebener Schmerzzustände Durchblutung und einen abgesenkten Stoffwechsel) ge-
kann ein Nervenblock vorübergehend (einige Stunden) bremst.
eine erhebliche Erleichterung bringen. In seltenen Fällen
G Ruhe und Bewegung sind nur dann schmerzlin-
hält die schmerzlindernde Wirkung länger an als von der
dernd, wenn sie auf die neuronalen Ursachen des
Wirkdauer des Lokalanästhetikums zu erwarten ist. Eine
Schmerzes abgestimmt sind und funktionell, d. h.
örtliche Betäubung mit dem Ziel, das Krankheitsgeschehen
positiv verstärkend auf Schmerzreduktion wirken.
selbst positiv zu beeinflussen, wird therapeutische Lokal-
Wärme und Kälte haben schmerzhemmende
anästhesie, in Deutschland teilweise auch Neuraltherapie
Wirkung, wenn am Schmerz vaskuläre Prozesse be-
genannt.
teiligt sind.
G Lokalanästhesie und Nervenblockaden unterbre-
chen kurzfristig die Fortleitung der Schmerzsignale. Elektrische Schmerztherapie und Akupunktur
Die elektrische Reizung zur Schmerztherapie macht sich
16.6.2 Physikalische Maßnahmen die Beobachtung zunutze, dass Schmerzen oft durch ande-
der Schmerzbehandlung re, gleichzeitige Sinnesreize, wie Reiben, Kratzen, Wärme
und Kälte (7 oben), vermindert werden (Verdeckung,
Ruhe und Bewegung Gegenirritation). In diesen Situationen ist es keineswegs so,
Als physikalische Schmerzbehandlung werden Einwirkun- dass der Strom von nervösen Impulsen aus den Nozizep-
gen zusammengefasst, die von Massage und Gymnastik bis toren aufhört. Vielmehr wird seine Weiterleitung an seinen
zur Anwendung elektrischer Reize und zur Neurochirurgie zentralnervösen Schaltstationen gehemmt. Diese afferente
reichen. Die einfachsten physikalischen Maßnahmen, näm- Hemmung kann bereits im Rückenmark geschehen
lich Ruhe und Entspannung, sind in der Schmerztherapie oft (7 oben), sie kann aber auch weiter zentral, etwa im Hirn-
eine große Hilfe; sie können aber auch, wie in Abschn. 16.5 stamm oder Thalamus, einsetzen.
dargelegt, chronische Schmerzen verstärken. Die Ruhigstel- Am meisten wird die elektrische Reizung von Nerven
lung verhindert in vielen Fällen die Aktivierung von sensibi- durch die Haut eingesetzt, die als transkutane elektrische
lisierten Nozizeptoren durch mechanische Reize. Nervenstimulation (TENS) bezeichnet wird. Eine Variante
Krankengymnastik und Bewegungstherapie werden dieser Methode ist die Hinterstrangreizung, bei der die
v. a. eingesetzt, um Heilungsprozesse an Gelenken, Mus- Elektroden operativ in den Wirbelkanal eingepflanzt wer-
keln, Sehnen, Bändern und Knochen zu fördern. Der Bei- den. Man verspricht sich davon eine besonders intensive
trag dieser Therapien zur Schmerzbekämpfung ist in der Reizung der afferenten Faserbündel im Hinterstrang des
Regel indirekt, und kontrollierte Studien zur Indikation Rückenmarks und damit eine besonders starke afferente
und zur Wirksamkeit fehlen. Ähnliches gilt für die ver- Hemmung.
schiedenen Formen der Massage. Drittens versucht man, die afferenten Hemmzentren im
Wie wir beim Phantomschmerz schon gesehen haben, Hirnstamm über eingepflanzte Elektroden direkt zu akti-
ist nur funktionelle, d. h. zu positiven Konsequenzen füh- vieren. Diese elektrische Gehirnreizung ist die gezielte
rende Bewegung schmerzlindernd. Auch Sport hat nur Anwendung der zu Beginn dieses Abschnittes vorgestellten
Sinn, wenn er positiv motiviert ist und in das tägliche Leben stimulationsproduzierten Analgesie (SPA). Für die Besei-
des Schmerzpatienten als Routine verankert wird. tigung chronischer Schmerzen eignet sich die von Patienten
selbst durchgeführte elektrische Reizung des Nucl. ventralis
Wärme und Kälte posterolateralis über dorthin implantierte Elektroden. Die
Wärme ist wahrscheinlich die am häufigsten angewandte Reizung dieser Umschaltstation für somatosensorische In-
physikalische Schmerzbehandlung. Bei der lokalen Wärme- formation hemmt sowohl aufsteigende wie absteigende
anwendung werden nur die oberflächlichen Schichten der Schmerzsysteme (Abschn. 16.3).
Haut erwärmt. Dennoch kann reflektorisch auch die Blut- Auch die Akupunktur wird von manchen Seiten als eine
zirkulation tiefer liegender Organe erhöht werden. Eine Methode angesehen, die über afferente Hemmung ihre
direkte Wärmezufuhr in tiefere Gewebe ist durch Diather- analgetische Wirkung entfaltet. Dies trifft möglicherweise
mie (Kurzwellenbestrahlung) möglich. für die intensive Elektroakupunktur neuroanatomisch
Wärmeanwendungen wirken v. a. bei solchen Schmer- definierter Reizareale zu, die anscheinend eine über Plazebo-
zen, die durch mangelnde Gewebedurchblutung bedingt effekte hinausgehende kurzfristige analgetische Wirkung
370 Kapitel 16 · Nozizeption und Schmerz

hat. Für die klassische Akupunktur und ihre Spielarten, hergeht, ist ein wünschenswerter Nebeneffekt psycholo-
z. B. die Ohrakupunktur, gibt es aber nach wie vor keine gischer Behandlungen.
Anhaltspunkte ihrer Wirksamkeit.
G Die Verhaltensanalyse bestimmt Auslöser, Entwick-
Neurochirurgische Läsionen lung und physiologische, motorische und subjektive
Schmerzreaktionen und deren aufrechterhaltende
Neurochirurgische Läsionen zur Schmerzbekämpfung sind
Bedingungen.
Notbehelfe, die nur noch in Ausnahmefällen angewandt
werden. Von gewisser praktischer Bedeutung ist v. a. die
Durchschneidung des Vorderseitenstrangs des Rücken- EMG-Biofeedback
marks (Chordotomie). Sie unterbricht die Weiterleitung Bei den in Abschn. 16.5 beschriebenen Schmerzzuständen
nozizeptiver Signale aus der kontralateralen Körperhälfte. wird der Circulus vitiosus aus Schmerz und Anspannung
Mit ihr können bei schweren chronischen Schmerzen, z. B. klassisch und instrumentell erlernt. Die Wahrnehmung
aus dem Bereich des kleinen Beckens, kurz- bis mittelfristig der schmerzverursachenden pathophysiologischen Prozes-
(Wochen bis Monate) gute Erfolge erzielt werden. Ange- se ist in einem spezifischen Körpersystem gestört. Dies
sichts der zentralen Plastizität und der Bedeutung von Ler- gilt v. a. bei Rückenschmerzen für die Rückenmuskulatur,
nen und Gedächtnis muss man bei solchen Maßnahmen bei Spannungskopfschmerzen für die Hals-, Nacken- und
mit Rückfällen rechnen (7 unten). Schultermuskulatur, bei Gesichtsschmerzen für die Ge-
sichtsmuskulatur, bei Migräne für die Kopf- und Hirn-
G Elektrische Reizung von schmerzhemmenden Ner-
durchblutung.
venfasern, Elektroakupunktur und elektrische Ge-
. Abb. 16.25 gibt eine typische Therapiesituation zur
hirnreizung sind wirksame neurochirurgische Maß-
Beseitigung erhöhter Rückenverspannung in persönlichen
nahmen bei chronischen Schmerzen. Sie müssen
Belastungssituationen wieder. Der Patient sitzt vor einem
aber die neuroplastischen Veränderungen berück-
Bildschirm, auf dem er in leicht fasslicher Form die elektro-
sichtigen, die die therapeutischen Veränderungen
myographisch am befallenen Rückenmuskel gemessene
rückgängig machen und die Schmerzen sogar ver-
elektrische Aktivierung (EMG) beobachten kann. Gleich-
stärken können.
zeitig erhält er die in der Verhaltensanalyse bestimmten
persönlichen Belastungssituationen entweder in der Vor-
16.6.3 Psychologische und psycho- stellung, in Videofilm oder im Rollenspiel oder in Realität
physiologische Schmerztherapien dargeboten. Er beobachtet die ersten Anzeichen von er-
höhter Muskelaktivität am Bildschirm und hat die Auf-
Verhaltensanalyse gabe, diese sofort auf das Ruhe-Ausgangsniveau zurückzu-
Da die Ursachen für chronische Schmerzen unabhängig führen. Dies wird viele Male wiederholt, bis der Patient sehr
von den pathophysiologischen Veränderungen zu mehr als
60% von kognitiven und lernpsychologischen Mechanis-
men verursacht sind, müsste bei den meisten Schmerz-
krankheiten eine psychophysiologische Diagnostik und
Therapie erfolgen. Dabei werden die physiologischen und
psychologischen Ursachen des Schmerzes als Einheit be-
handelt und ihre Abhängigkeit von Lernprozessen, meist
sozialer Natur, analysiert. Diesen diagnostischen Prozess, in
dem alle 3 in Abschn. 16.5.1 beschriebenen Verhaltens-
ebenen quantitativ erfasst werden, nennt man Verhaltens-
analyse.
16 Aus der Verhaltensanalyse folgen direkt individuelle
Behandlungsstrategien, je nach den psychologischen und
physiologischen Ursachen der Schmerzzustände. Die wich-
tigsten Behandlungsverfahren, in denen Prinzipien der Bio-
logischen Psychologie zur Anwendung kommen, wollen
wir kurz anführen.
Psychophysiologische Behandlungsmethoden besei-
tigen in der Regel die Ursachen der Schmerzkrankheit und
stellen nicht nur eine Strategie zur besseren psychischen
Bewältigung der Schmerzen dar, wie häufig geglaubt wird.
Dass mit einer Beseitigung oder Reduktion des Schmerz- . Abb. 16.25. Versuchsanordnung zum Training des EMG-Bio-
leidens auch eine bessere psychosoziale Bewältigung ein- feedbacks (7 Text)
16.6 · Schmerztherapien
371 16

schnell, fast reflektorisch, das Anwachsen der Erregung der 4 Relevante Bezugspersonen lernen, sich bei Schmerz-
spezifischen Muskulatur in Gegenwart der auslösenden äußerungen nicht mehr zuzuwenden, sondern nur
Situation wahrnimmt und verhindert. Danach werden schmerzfreie Phasen oder schmerzinkompatible Ver-
dieselben Bedingungen ohne Rückmeldung und Computer haltensweisen zu verstärken.
so lange erneut wiederholt, bis diese gelernte Extinktion 4 Schonhaltungen werden durch ein Aktivitätstraining
(Kap. 25) auch in der sozialen Wirklichkeit des Patienten ersetzt, das nicht benutzte Muskelgruppen aktiviert und
gelingt. Durch diese Behandlung werden 60% der ge- überanspruchte ausschaltet (learned non-use Kap. 13).
nannten Schmerzpatienten schmerzfrei, suchen weniger 4 Schmerzkontingente Medikamenteneinnahme wird
häufig den Arzt auf und reduzieren oder eliminieren die durch den Schmerzcocktail ersetzt. Die Patienten er-
Analgetika. halten zunehmend weniger aktiven Wirkstoff in ihren
Medikamenten und dürfen die Medikamente nur nach
G EMG-Biofeedback ist bei Schmerzen mit Muskel-
Tageszeit und nicht nach Bedarf nehmen.
verspannungen das wirksamste therapeutische
4 Arztbesuche werden auf Notmaßnahmen begrenzt.
Verfahren. Die schmerzauslösenden Reize
4 Durch ein Training sozialer Fertigkeiten werden Ver-
müssen aber während der Behandlung dargeboten
haltensweisen und Gefühlsausdruck geübt, die im
werden.
sozialen Umfeld zu einer Zunahme positiver sozialer
Verstärkungen führen.
Temperatur- und Durchblutungsbiofeedback 4 Kontrakt-Management schreibt durch Verträge an-
Vor allem bei vaskulär bedingten Kopfschmerzen steigende motorische und soziale Aktivitäten des Pa-
(Migräne) hat sich die Rückmeldung der Durchblutung tienten und seiner Bezugspersonen vor.
einer Kopfarterie (z. B. A. temporalis) als sehr nützlich er-
wiesen. Bei der Migräne kommt es vor dem Anfall in der Operantes Training ist das erfolgreichste Verfahren zur Be-
Regel zu einer Unterdurchblutung großer Arterien und seitigung chronischer Schmerzen, bei denen instrumentel-
während des Schmerzanfalles zu einer verstärkten Durch- les Lernen die zentrale Rolle spielt (Box 16.7). Da es aber zu
blutung. schwierigen Umstellungen des gesamten sozialen Lebens
Durch psychophysiologische Registrierung der Durch- eines Patienten führt und einen hohen Arbeitsaufwand von
flussgeschwindigkeit mit der sog. Doppler-Sonographie Seiten des Therapeuten verlangt, wird es selten ange-
oder der Durchblutung mit einem Infrarotlicht-Aufnehmer wandt.
(Infrarot-Plethysmographie) kann man dem Patienten die
Gefäßweite und Durchblutung rückmelden. Extreme Er-
weiterungen oder Kontraktionen der Gefäße muss der Pa-
tient lernen, rechtzeitig mit einer Gegenreaktion zu beant- Box 16.7. Operante Therapie der Fibromyalgie
worten. Die Fibromyalgie ist ein chronisches Schmerzleiden
Auch die Rückmeldung der Hauttemperatur über unbekannter Ursache, bei der v. a. sog. Tender-Punkte
einen einfachen, auf die Haut geklebten Temperatursensor (meist an Gelenken) extrem schmerzempfindlich sind.
hat sich bei der Migräne als nützlich erwiesen. Dabei lernt Viele der Patienten sind auch depressiv. Die Abbildung
man allerdings in den migränefreien Intervallen die Haut- zeigt die Wirksamkeit einer operanten Therapie dieses
temperatur zu erhöhen, um ein Anwachsen der sympathi- Schmerzsyndroms. Man sieht, dass v. a. die kostenstei-
schen Konstriktion zu verhindern. gernden Arztbesuche stark zurückgehen.

G Temperatur- und Durchblutungsbiofeedback ist be-


sonders bei der Migräne indiziert, da es die Vaso-
konstriktion zwischen den Anfällen reduziert und
damit das Ansteigen der sympathischen Überakti-
vierung vor dem Anfall verhindert.

Operante Schmerztherapie
Wenn in der Verhaltensanalyse festgestellt wurde, dass der
Schmerzzustand primär durch seine unmittelbaren Kon-
sequenzen erzeugt und aufrecht erhalten wird, so müssen
diese Konsequenzen entfernt und positive Konsequenzen
für mit Schmerz unvereinbarem Verhalten eingeführt wer-
den. Für dieses Ziel kommen, je nach individueller Ent-
stehungsgeschichte und Biographie, unterschiedliche Stra-
tegien in Frage:
372 Kapitel 16 · Nozizeption und Schmerz

G Die operante Schmerztherapie beseitigt durch 4 Stressbewältigung durch wiederholte Vorstellung der
aktive Verhaltensänderung die positiven und nega- Belastungssituationen.
tiven Verstärker für Schmerzreaktionen.
Diese kognitiven Therapien haben sich als weniger wirk-
Kognitive Bewältigung sam als Biofeedback und operantes Training erwiesen und
Die sog. kognitiven Therapien, zu denen man auch die Hyp- sind – wie auch die übrigen verbalen Psychotherapiefor-
nose zählen kann, gehen davon aus, dass manche Schmerz- men (z. B. Psychoanalyse, Gesprächspsychotherapie, Kör-
zustände durch fehlende oder fehlangepasste kognitive pertherapien, Gestalttherapien etc.) – kaum von Plazebo-
Bewältigungsversuche entstehen und versuchen daher die effekten zu unterscheiden. Trotzdem werden sie auch bei
gedankliche und sprachliche Bewältigung durch folgende Schmerzleiden am häufigsten angewandt, da sie sowohl von
Übungen zu verbessern: Seiten des Patienten wie auch von Seiten des Therapeuten
4 muskuläre und mentale Entspannung bei Schmerzen, einen minimalen Arbeits- und Energieaufwand erfordern
4 katastrophisierende Gedanken durch positive zu er- und genauso oder besser bezahlt werden als die wirk-
setzen, samen, aber mühsamen operanten und physiologischen
4 Ablenkung durch positive körperbezogene Vorstellun- Verfahren.
gen in einer anderen Sinnesmodalität,
4 wiederholte Paarung der schmerzauslösenden Situa- G Kognitive Therapien versuchen durch verbale Beein-
tionen oder Gedanken mit Entspannung, flussung der kognitiven Bewertung des Schmerzer-
4 Autosuggestion von schmerzunvereinbaren Vorstel- lebens dieses positiv zu beeinflussen. Ihre Wirksam-
lungen, keit ist trotz ihrer häufigen Anwendung begrenzt.

Zusammenfassung
Schmerz ist eine eigenständige Sinnesmodalität, die über 5 erfolgt als objektive Algesimetrie mit der Messung
das nozizeptive System vermittelt wird. motorischer und vegetativer Reaktionen und von evo-
5 Akute Schmerzen werden durch gewebeschädigende zierten Hirnrindenpotenzialen;
oder potenziell gewebeschädigende Reize (Noxen) 5 bedient sich in der klinischen Algesimetrie Verhält-
ausgelöst. nisschätzmethoden (z. B. visuelle Analogskala, VAS)
5 Akute Schmerzen sind in der Regel mit einem unlust- und Fragebögen.
betonten Gefühlserlebnis verknüpft.
5 Akute Schmerzen wirken deshalb als ein Antrieb zur Nozizeptoren
Vermeidung. 5 sind nicht-korpuskuläre freie Nervenendigungen;
5 Eine einfache Klassifizierung des Schmerzes ist nach 5 antworten zum Großteil polymodal auf diverse noxi-
dem Ort seiner Entstehung (somatischer und viszera- sche Reize;
ler Schmerz etc.) möglich. 5 sind z. T. auf eine Modalität spezialisiert (z. B. Hitze-
5 Schmerzen, die mehr als 6 Monate anhalten oder im- nozizeptoren, Mechanonozizeptoren);
mer wiederkehren, werden als chronische Schmerzen 5 haben keine konstante Schwelle, sondern können
bezeichnet. sensibilisiert (z. B. bei Entzündungen) und desensi-
bilisiert (z. B. durch Analgetika) werden;
Bei der Bewertung von Schmerzen 5 haben durch die Freisetzung von Peptiden auch effe-
5 sind in wechselndem Ausmaß die sensorische, die rente Wirkungen (neurogene Entzündung);
affektive, die vegetative und die motorische Kom- 5 haben für die verschiedenen noxischen Reize speziel-
16 ponente beteiligt; le Membranrezeptoren wie z. B. den Vanilloidrezep-
5 kommt es entscheidend auf den Vergleich der aktu- tor aus der TRP-Familie;
ellen Schmerzen mit den im Schmerzgedächtnis 5 haben z. T. so hohe Schwellen, dass sie in normalem
gespeicherten Vorerfahrungen an; Gewebe unerregbar sind (schlafende Nozizeptoren);
5 sind auch soziale Faktoren (Partnerschaft, Belastun- 5 haben eine Untergruppe, die als Juckrezeptoren
gen etc) beteiligt. dienen.

Das Messen von Schmerzen Die zentrale Verarbeitung noxischer Signale


5 erfolgt einmal mit den klassischen Methoden der 5 beginnt im Hinterhorn des Rückenmarks, wo die
Psychophysik als subjektive Algesimetrie; nozizeptiven Afferenzen auf Neurone aufgeschaltet
6
Literatur
373 16

6
werden, die in motorische und vegetative Reflexe ein- Eine große Rolle bei chronischen Schmerzzuständen
gebunden sind und/oder zum Thalamus und Kortex spielen
ziehen; 5 Reaktionsstereotypien mit Hypererregbarkeit einzel-
5 erfolgt im Rückenmark unter Beteiligung von Gluta- ner Körpergebiete auf persönliche Stressreize,
mat als erregendem und GABA und Glyzin als hem- 5 mangelnde Wahrnehmung der Hypererregungen,
menden Transmitter, die praktisch alle mit Peptiden 5 klassische Konditionierung der Reaktionsstereotypien.
kolokalisiert sind;
5 setzt sich mit der Weiterleitung der noxischen Signale Lernprozesse beeinflussen zusätzlich chronischen
in den Thalamus über die lateralen und medialen Schmerz über
thalamokortikalen Bahnen fort; 5 gelernte Stress-Analgesie,
5 ist durch absteigende schmerzhemmende Bahnen 5 operantes Lernen,
kontrolliert, an denen auch die endogenen Opiate 5 negative Verstärkung und Schonhaltungen.
beteiligt sind.
Die neuronalen Grundlagen des Schmerzgedächtnis-
Sensibilisierung und Plastizität im zentralen nozizepti- ses sind nicht anders als die aller übrigen Lernprozesse.
ven System NMDA-Rezeptorbindungen und Langzeitpotenzie-
5 sind oft eine Folge der peripheren Sensibilisierung rung sind besonders wichtig.
von Nozizeptoren; Pharmakologische Schmerztherapien benutzen
5 können zu Allodynie führen, d. h. zu einer Über- 5 nicht-narkotische Schmerzmittel, v. a. nichtstereoida-
empfindlichkeit auf Berührung durch nicht-noxische le Analgetika,
Reize; 5 Morphin,
5 kann zu Hyperalgesie führen, d. h. zu einer erhöhten 5 Psychopharmaka,
Empfindlichkeit auf noxische Reize; 5 Lokalanästhesien.
5 kann auch eine Hyperpathie auslösen, v. a. bei repe-
titiver Reizung. Physikalische Schmerztherapien benutzen
5 Ruhe und Entspannung,
Phantomschmerzen 5 funktionelle Bewegung und Sport,
5 müssen im Gehirn entstehen, da sie auch ohne Affe- 5 elektrische Nervenreizung,
renzen zum Gehirn bestehen bleiben; 5 Akupunktur,
5 führen in und außerhalb des rezeptiven Feldes zu 5 Nervenläsionen.
massiven Änderungen des Entladungsverhaltens
der Neurone; Psychologische Schmerztherapien bestehen aus
5 bewirken eine kortikale Reorganisation bei der sich 5 Verhaltensanalyse,
bei Handamputierten das Gesichtsareal in das Hand- 5 EMG- und Temperaturbiofeedback,
areal verschiebt. 5 operanter Therapie,
5 kognitiver Therapie.

Literatur
Basbaum AI, Jessell TM (2000) The perception of pain. In: Kandel ER,
Schwartz JH, Jessell TM (eds) Principles of neural science, 4th ed,
pp 472–491. McGraw-Hill, New York
Handwerker HO (1999) Einführung in die Pathophysiologie des
Schmerzes. Springer, Heidelberg Berlin New York Tokyo
Millan MJ (1999) The induction of pain: an integrative review. Progr
Neurobiol 57:1–164
Schaible H-G, Schmidt, RF (2000) Pathophysiologie von Nozizeption
und Schmerz. In: Fölsch UR, Kochsiek K, Schmidt RF (Hrsg) Patho-
physiologie, S 55–68. Springer, Heidelberg Berlin New York Tokyo
Schmidt RF, Lang F (Hrsg) (2007) Physiologie des Menschen, 30. Aufl.
Springer, Berlin Heidelberg New York Tokyo
Schmidt RF, Willis WD (eds) (2007) Encyclopedia of pain. Springer, Berlin
Heidelberg New York Tokyo
17

17 Das visuelle System

17.1 Wahrnehmungspsychologie des photopischen


und skotopischen Sehens – 376
17.1.1 Photopisches Gesichts- und Blickfeld und seine Sehschärfe – 376
17.1.2 Skotopisches Sehen in der Dämmerung – 378
17.1.3 Anpassung an wechselnde Sehreize – 378
17.1.4 Sehen und Wahrnehmen mit zwei Augen – 380
17.1.5 Visuelle Gestaltwahrnehmung – 382
17.1.6 Wahrnehmungspsychologie des Farbensehens – 384

17.2 Signalaufnahme und -verarbeitung im Auge – 387


17.2.1 Das Auge als bildgebendes Organ – 387
17.2.2 Signalaufnahme in der Netzhaut – 390
17.2.3 Signalverarbeitung in der Netzhaut – 393

17.3 Signalverarbeitung in den subkortikalen


und kortikalen visuellen Zentren – 395
17.3.1 Subkortikale Signalverarbeitung – 395
17.3.2 Signalverarbeitung im visuellen Kortex – 396
17.3.3 Ontogenetische Entwicklung und Plastizität der Sehrinde – 399
17.3.4 Diagnostik und Therapie zentraler Sehstörungen – 400

17.4 Augenbewegungen beim Sehen (Okulomotorik) – 402


17.4.1 Bewegungsrichtungen der Augen – 402
17.4.2 Nystagmusbewegungen – 403
17.4.3 Zentralnervöse Kontrolle und Verrechnung der Augenbewegungen – 405

17.5 Hirnphysiologische Grundlagen kognitiver


visueller Leistungen – 406
17.5.1 Lokalisation und Aufbau der visuellen Assoziationsfelder – 406
17.5.2 Aufgabenverteilung der visuellen Assoziationsfelder – 407
17.5.3 Emotionale Komponenten des Sehens – 411

Zusammenfassung – 412
Literatur – 414

N. Birbaumer, Biologische Psychologie, DOI 10.1007/978-3-540-95938-0_17,


© Springer Medizin Verlag Heidelberg 2010
376 Kapitel 17 · Das visuelle System

)) Raum fest an, so erscheint dieser fixierte Punkt scharf und


etwa im Mittelpunkt eines gleichzeitig wahrgenommenen
Der Jenaer Philosoph und Physiker J.F. Fries (1773–1843) Ausschnittes aus unserer Umwelt, den wir das einäugige
schrieb 1818 in seinem »Handbuch der psychischen oder monokulare Gesichtsfeld nennen.
Anthropologie« über das Sehen: »Für die Kenntnis der Na- Fixieren wir den selben Punkt anschließend mit beiden
tur ist der Mensch ein Zögling des Auges. Nur das Sehen Augen, so erweitert sich unser Gesichtsfeld auf der Seite des
führt uns über die Oberfläche der Erde hinaus zu den Ge- zusätzlich geöffneten Auges. Das zweiäugige oder binoku-
stirnen, und auch auf der Erde führt dieser Sinn uns die lare Gesichtsfeld ist also deutlich größer als das monokula-
meisten Anschauungen aus den größten Entfernungen mit re. Es ist aber nicht doppelt so groß, weil sich die beiden
der größten Leichtigkeit der Auffassung zu… Der Sehende monokularen Gesichtsfelder in der Mitte zu einem erheb-
fasst das ganze Leben der Natur um sich her durch Licht lichen Teil überlappen (binokulares Deckfeld).
und Farbe, das Auge ist unser Weltsinn.« Durch Bewegen der Augen können wir das Gesichts-
Allein in Deutschland erblinden jedes Jahr 17.000 Pa- feld nach beiden Seiten um maximal etwa 60°, sowie nach
tienten, für die es keine wirksame Behandlung und keine oben und unten um etwa je 40o verschieben. Bei unbeweg-
Heilung gibt (häufige, aber nicht alleinige Ursache: Durch- tem Kopf ist also unser Blickfeld horizontal um 120°, verti-
blutungsstörungen der Netzhaut durch Diabetes-bedingte kal um 80° größer als das Gesichtsfeld. Jede darüber hi-
Gefäßschäden bei lange Zeit schlecht eingestellter Zucker- nausgehende Verschiebung des Gesichtsfelds muss durch
krankheit, Abschn. 7.2.2). Ihnen das Augenlicht wieder zu Kopf- oder Körperbewegungen erfolgen.
geben, ist das Ziel von Forschergruppen, die Mini-Implan-
G Der von einem Auge gesehene Raum wird Gesichts-
tate aus Chip-Systemen als Sehhilfen einsetzen wollen.
feld genannt. Die Gesichtsfelder beider Augen über-
Verschiedene Systeme sind in der tierexperimentellen bzw.
lappen sich in der Mitte. Durch Bewegen der Augen
klinischen Erprobung, sodass zu hoffen ist, dass schon in
erweitert sich das binokulare Gesichtsfeld zum Blick-
den nächsten Jahren einem Teil der erblindeten Patienten
feld.
ein gewisses Sehvermögen zurückgegeben werden kann.

Perimetrie
17.1 Wahrnehmungspsychologie Die exakte augenärztliche Ausmessung des photopischen
des photopischen Gesichtsfelds wird Perimetrie genannt. Dazu werden in
und skotopischen Sehens einer Perimeterapparatur (. Abb. 17.1a) weiße oder farbige
Leuchtpunkte von außerhalb des Gesichtsfelds zum fixier-
17.1.1 Photopisches Gesichts- und ten Punkt hin bewegt, und der Patient oder Proband gibt
Blickfeld und seine Sehschärfe ein Zeichen, sobald er den Punkt sieht. Dabei zeigt sich,
dass das Gesichtsfeld für weiße Leuchtpunkte größer ist als
Tageslicht- und Dämmerungssehen für farbige. Wir sind also an den Rändern des Gesichtsfelds
Bei Tageslicht sehen wir die Umwelt hell und farbig. Sobald farbenblind (. Abb. 17.1b).
die Dämmerung einsetzt, lassen sich Farben immer weni-
ger erkennen und es fällt z. B. beim Lesen einer Zeitung in Skotom
zunehmender Dämmerung auf, dass zunächst das Klein- Der Verlust der visuellen Empfindung in einem Teil des Ge-
gedruckte nicht mehr gelesen werden kann. Offensichtlich sichtsfeldes wird Gesichtsfeldausfall oder Skotom genannt.
ist die Sehschärfe von den Beleuchtungsbedingungen ab- Im Gesichtsfeld jedes Auges gibt es ein physiologisches
hängig und nimmt mit abnehmender Helligkeit rasch ab. Skotom, den blinden Fleck. Er liegt dort, wo der Sehnerv
Schließlich ist überhaupt keine Lektüre mehr möglich, auch die Netzhaut verlässt bzw. in sie eintritt (. Abb. 17.12). Der
wenn der Mond am Himmel steht. Farben lassen sich jetzt Leser kann seinen blinden Fleck an Hand der . Abb. 17.1c
auch nicht mehr erkennen: Das Farbensehen des Tages selbst feststellen (7 Legende). Dieser blinde Fleck wird im
(photopisches Sehen) hat dem Schwarz-Weiß-Sehen der Alltag nicht bemerkt, da das zentrale Sehsystem aus dem
Dämmerung (skotopisches Sehen), also einer funktio- Gesamtmuster der jeweiligen optischen Eindrücke eine
17 nellen Farbenblindheit, Platz gemacht (»nachts sind alle Wahrnehmungsergänzung für die blinden Flecke beider
Katzen grau«). Augen durchführt.
G Farbensehen bei Tageslicht wird photopisches G Die monokularen Gesichtsfelder können mit Hilfe
Sehen genannt. Das Schwarz-Weiß-Sehen in der der Perimetrie ausgemessen werden. Das Gesichts-
Dämmerung nennt man skotopisches Sehen. feld ist für weißes Licht größer als für farbiges. Der
Gesichtsfeld und Blickfeld blinde Fleck bleibt normalerweise durch Wahrneh-
mungsergänzung unbemerkt.
Bedeckt man bei hellem Tageslicht mit der Hand ein Auge
und sieht man mit dem anderen Auge einen Punkt im
17.1 · Wahrnehmungspsychologie des photopischen und skotopischen Sehens
377 17

. Abb. 17.1a–d. Gesichtsfeldmessung mit dem Perimeter und Be- schärfe bei Tageslicht (photopisches Sehen) wieder, die schwarze zeigt
stimmung der Sehschärfe im Gesichtsfeld bei photopischem und die Sehschärfe beim Dämmerungssehen (skotopisches Sehen). Als Ein-
skotopischem Sehen. a Perimeterapparatur, schematisiert. Die Mes- satzfigur ist ein Landolt-Ring zu sehen, wie er zur Bestimmung der Seh-
sung des Gesichtsfelds wird monokular durchgeführt. b Resultat einer schärfe eingesetzt wird. An dieser Figur kann der Beobachter den blin-
Bestimmung der normalen Gesichtsfeldgrenzen mit weißen, blauen den Fleck feststellen, wenn er aus etwa 25 cm Entfernung das Kreuz F
und roten Lichtpunkten. BF blinder Fleck. Der Fixationspunkt der Peri- am linken Bildrand mit dem rechten Auge monokular fixiert. Der Lan-
meterapparatur entspricht dem Mittelpunkt der Kreise, die den Ab- dolt-Ring fällt dann auf den blinden Fleck und wird nicht mehr gese-
stand der Prüfmarken vom Fixationspunkt in Winkelgraden angeben. hen. d Verteilung der Zapfen und Stäbchen an verschiedenen Stellen
Moderne Perimeterapparaturen sind teilautomatisiert und an Digital- der Netzhaut (schematisch). Offensichtlich ist die Verteilung der Seh-
rechner angeschlossen. c Die rote Kurve gibt die Verteilung der Seh- schärfe weitgehend eine Folge der Anordnung der Photosensoren

Sehschärfenmessung (Visusbestimmung) Stelle des schärfsten Sehens im Gesichtsfeld stimmen also


Wenn man monokular oder binokular einen Gegenstand bei Helligkeit überein.
fixiert und darauf achtet, wie deutlich man andere Gegen- Die Sehschärfe für die Stelle des schärfsten Sehens
stände im Gesichtsfeld erkennt, bemerkt man, dass die wird mit Leseprobetafeln geprüft und als Visus bezeichnet.
Deutlichkeit mit der seitlichen Entfernung der Gegenstände Die physiologische Definition des Visus V erfolgt meist
vom Fixationspunkt immer weiter abnimmt und wir die mit Hilfe der Landolt-Ringe (Einsatzfigur in . Abb.17.1c)
Gegenstände am Rande nur schemenhaft erkennen. Wollen als
wir diese deutlich erkennen, so müssen wir dorthin blicken,
also unseren Fixationspunkt ändern. Fixationspunkt und V=1/α (Winkelminuten–1),
378 Kapitel 17 · Das visuelle System

wobei α die Lücke in Winkelminuten ist, die von der Ver- G Die Lichtempfindlichkeit des Auges nimmt beim
suchsperson in einem Landolt-Ring gerade noch erkannt Übertritt von sehr heller in dunkle Umgebung inner-
wird. Der Visus ist also 1, wenn α=1 Winkelminute ist. halb von etwa 30 min auf etwa das 1000-fache zu.
Diese Tageslichtsehschärfe hat die Mehrheit der normal- Dies wird Dunkeladaptation genannt.
sichtigen Bevölkerung. Von der Stelle des schärfsten Sehens
fällt der Visus zum Rande des Gesichtsfeldes steil ab (rote Skotopische Sehschärfe und das
Kurve in . Abb. 17.1c), genau wie wir dies von unserer sub- Purkinje-Phänomen
jektiven Erfahrung zu erwarten hatten. Die Verteilung der skotopischen Sehschärfe im Gesichts-
feld zeigt die schwarze Linie in . Abb. 17.1c. Dort wo das
G Bei Tageslicht stimmen Fixationspunkt und Stelle
Maximum des photopischen Sehens ist, hat das skotopische
des schärfsten Sehens überein. Die Messung
Sehen einen (weiteren) blinden Fleck (Zentralskotom).
der Sehschärfe erfolgt mit Sehprobentafeln
Dies kann man sich in einer sternklaren Nacht sehr leicht
und wird als Visus ausgedrückt. Normal ist ein
verdeutlichen, in dem man versucht, einzelne, sehr licht-
Visus von 1.
schwache Sterne zu fixieren: Der Stern verschwindet mit
jeder Fixation, taucht jedoch sofort wieder auf, wenn man
17.1.2 Skotopisches Sehen einen Fixationsort etwas neben dem Stern wählt.
in der Dämmerung Beim Übergang vom photopischen zum skotopischen
Sehen verschiebt sich auch die Lichtempfindlichkeit des
Zeitverlauf der Dunkeladaptation Auges vom roten zum blauen Licht. Dies wird nach seinem
Wenn wir aus einem sehr hellen in einen nur schwach er- Entdecker als Purkinje-Phänomen bezeichnet, denn diesem
leuchteten Raum treten, nehmen wir zunächst kaum etwas fiel auf, dass in der Dämmerung, also nach Verlust des
wahr. Erst allmählich passt sich unser Auge an die verrin- Farbensehens, der rote Mohn eines Kornfeldes sehr dunkel
gerte Helligkeit an, die Sehschärfe nimmt wieder zu, und erscheint, die blaue Kornblume dagegen sehr hell.
wir können einzelne Gegenstände mindestens in Umrissen
G Beim skotopischen Sehen gibt es 2 physiologische
erkennen.
Skotome: den Austrittsort des Sehnerven und die
Der Zeitverlauf dieser Dunkeladaptation kann experi-
Fovea centralis. In der Dämmerung ist das Auge für
mentell leicht bestimmt werden (. Abb. 17.2, . Abb. 14.13
blaues Licht empfindlicher als für rotes (Purkinje-
in Abschn. 14.5.1). Die Dunkeladaptationskurve zeigt, dass
Phänomen).
die größte Empfindlichkeit des Auges erst nach einem
Dunkelaufenthalt von über 30 min erreicht wird. Wie der
Ordinate in . Abb. 17.2 zu entnehmen ist, ist das dunkel- 17.1.3 Anpassung an wechselnde Sehreize
adaptierte Auge mehr als 1000-mal so empfindlich auf Licht
wie das helladaptierte. Helladaptation, Blendung
Hat das Auge nach einem längeren Aufenthalt im Dunkeln
seine maximale Empfindlichkeit erreicht, so kommt es
beim abrupten Übergang in eine sehr helle Umgebung zu-
nächst zu einer sehr starken Aktivierung der Netzhaut-
rezeptoren, die sich subjektiv als Blendung bemerkbar
macht. Danach passt sich das Sehsystem in weniger als
einer Minute an die neue Umgebungshelligkeit an. Die Hell-
adaptation verläuft also wesentlich schneller als die Dunkel-
adaptation.

Eigengrau und Graustufen


Die ständige Anpassung des Sehsystems an wechselnde
Reizbedingungen geht auch aus folgender Beobachtung
17 hervor: Wenn wir uns längere Zeit im Dunkeln aufhalten,
so ist unsere visuelle Wahrnehmung nicht »schwarz«, son-
dern eher ein mittleres Grau, das Eigengrau genannt wird.
. Abb. 17.2. Dunkeladaptationskurve des Menschen. A Kurve der Auch dieses Eigengrau ist in seiner Helligkeit nicht kon-
Mittelwerte von 9 normalen Versuchspersonen. B Dunkeladaptations- stant, sondern fließend, und es gehen häufig die verschie-
kurve eines total Farbenblinden, gemessen für den retinalen Ort 8°
densten Sinnestäuschungen (Sehen von Gesichtern, Ge-
oberhalb der Fovea centralis. C Dunkeladaptationskurve für das Zap-
fensystem des normal farbentüchtigen Menschen (Fovea centralis, stalten, Geistern) von ihm aus.
rote Lichtreize). Für die Kurve B ist die Zeitachse (Abszisse) um 2 min Wird in einer solchen Situation plötzlich ein vor uns
nach rechts zu verschieben liegendes Schachbrett schwach angeleuchtet, so sehen wir so-
17.1 · Wahrnehmungspsychologie des photopischen und skotopischen Sehens
379 17

fort die hellen Felder heller als das vorhergehende Eigengrau


und die dunklen Felder dunkler, obwohl auch von diesen
dunkleren Felder jetzt mehr Licht in die Augen fällt als in der
vorhergehenden Dunkelheit. Mit anderen Worten, dank der
Mechanismen der Kontrastüberhöhung (7 unten) hat sich
das Sehsystem sofort auf die neue Reizsituation so angepasst,
dass eine gegenüber der objektiven Reizsituation verbesserte
Deutung des visuellen Sinneseindruckes möglich ist.
G Beim Übertritt von sehr dunkler in sehr helle Um-
gebung passt sich die Lichtempfindlichkeit des
Auges nach kurzer Blendung in weniger als einer
Minute an die Helligkeit an. Auch in kompletter
Dunkelheit gibt es Lichtempfindungen, wie z. B. das
Eigengrau.

Negative und positive Nachbilder


Die Lichtempfindlichkeit des Auges als Ganzes kann also
über einen sehr weiten Bereich schwanken (. Abb. 17.2).
Mit Hilfe der . Abb. 17.3a lässt sich schnell klarmachen,
dass auch umschriebene Abschnitte der Netzhaut unter-
schiedlich stark an Licht adaptiert werden können. Diese
Lokaladaptation führt zu Nachbildern, da beispielsweise
beim Wechseln der Fixation von der rechten auf die linke
Zeichnung in . Abb.17.3a der gleichmäßige Lichtreiz des
weißen Papiers auf unterschiedlich adaptierte Netzhautstel-
len trifft und damit bei den dunkeladaptierten eine stärkere
Erregung auslöst. Das subjektive Resultat ist ein negatives
Nachbild. Eine Lokaladaptation durch farbige Reizmuster
löst Nachbilder in der Gegenfarbe (rot/grün, blau/gelb,
Abschn. 17.1.5) aus.
Intensive Belichtung der Netzhaut (z. B. Blick in die
Sonne) löst langanhaltende Nachbilder aus. Nach kurzen
Lichtblitzen nimmt man dagegen eine rasche Folge von
hellen, also positiven periodischen Nachbildern wahr (2–4
Nachbilder innerhalb von 2 s). Diese sind wahrscheinlich
durch oszillatorische Erregungsprozesse in der Netzhaut
bedingt.
G Positive und negative, je nach Umständen schwarz-
weiße oder farbige Nachbilder treten als Folge
unterschiedlich lichtadaptierter Abschnitte der
Netzhaut auf.

Simultankontrast, Mach-Bänder
Das Sehsystem besitzt Eigenschaften, die es befähigen, aus
der Fülle der optischen Reize besonders auf diejenigen zu
. Abb. 17.3a–f. Nachweis von Nachbildern und Simultankon-
achten, die für eine Interpretation der visuellen Empfin- trast. a Vorlage zur Beobachtung eines Nachbildes. Fixiert man für
dungen von besonderer Bedeutung sind. Ein Beispiel ist die etwa 30 s das Zentrum der geometrischen Figur rechts und blickt
starke Beachtung und Unterstreichung von Konturen und anschließend auf das Zentrum des Kreises links, so sieht man ein
Kontrasten, die sowohl im Schwarz-Weiß- wie im Farben- negatives Nachbild der rechten Figur. b Vorlage zur Beobachtung des
Simultankontrastes. Das identisch graue Feld erscheint auf dunklem
sehen dafür sorgen, dass Reizänderungen bevorzugt wahr-
Hintergrund deutlich heller als auf hellem. c–e Erklärung des Grenz-
genommen werden. kontrastes, der bei Neuronen des afferenten visuellen Systems unter-
Das graue Feld in . Abb. 17.3b erscheint auf dunklem schiedlich stark ist (f)
Hintergrund deutlich heller als auf hellem. Der physikalisch
380 Kapitel 17 · Das visuelle System

identische Reiz wird also in Abhängigkeit von seiner Um- Anfall ausgelöst werden, wenn nämlich das Licht in der Fre-
gebung unterschiedlich wahrgenommen, und zwar in dem quenz der epileptischen Entladungen flackert.
Sinne, dass der Unterschied zur Umgebung ausdrücklich Eine völlig andere, in ihren Ursachen noch nicht aufge-
betont wird. Wir bezeichnen dieses Phänomen als Simul- klärte Scheinbewegung ist das als autokinetisches Phäno-
tankontrast. men bezeichnete »wandernde Licht«, das sich z. B. mit
Eine genaue Betrachtung der beiden Vorlagen zeigt, einer glühenden, auf einem Aschenbecher liegenden Ziga-
dass bei dunklem Hintergrund der äußerste Rand des rette leicht beobachten lässt. Beobachtet man das glühende
Graukreises besonders aufgehellt erscheint, während bei Ende länger als einige Sekunden, dann beginnt es in der
hellem Hintergrund ein dunkles Band den Graukreis um- Regel, in einer seltsamen, regellosen Art herumzuwandern
gibt. Diese simultanen Grenzkontraste werden nach ihrem oder zu schwingen. Von den vielen Theorien, die bisher zur
Erstbeschreiber als Mach-Bänder oder Mach-Streifen be- Erklärung dieses Phänomens herangezogen wurden, fand
zeichnet. Solche Kontrastüberhöhungen lassen sich in ana- keine bisher allgemeine Anerkennung (Abschn. 17.4.3).
loger Form auch in anderen Sinnessystemen nachweisen.
G Bei schnellem Wiederholen von Flimmerlicht er-
Der Simultankontrast ist ein wichtiger Mechanismus, der
scheint dieses als Dauerlicht; dies wird beim Film,
die beträchtlichen physiologischen Fehler des dioptrischen
beim Fernsehen und an Computerbildschirmen aus-
Apparats (Abschn. 17.2.1) zum Teil funktionell kompen-
genutzt. Als Phi-Phänomen bezeichnet man Schein-
siert und so die Sehschärfe und das Formensehen verbessert
bewegungen, die z. B. bei Lichterketten durch
(die in . Abb. 17.3c–f dargestellten neurophysiologischen
sequenzielles Ein- und Ausschalten erzeugt werden.
Grundlagen des Grenzkontrastes werden in Abschn. 17.2.3
im Zusammenhang mit der Besprechung der konzentri-
schen Organisation der rezeptiven Felder retinaler Ganglien- 17.1.4 Sehen und Wahrnehmen
zellen erläutert). mit zwei Augen
G Kontraste, wie z. B. Simultankontraste und simultane Konvergenz als Entfernungsmesser
Grenzkontraste (Mach-Bänder), werden im visuellen
Das beidäugige Sehen ist dem einäugigen in mehrfacher
System besonders gut wahrgenommen. Daraus
Hinsicht überlegen. Zum einen erweitert es, wie wir schon
resultiert eine Verbesserung der Sehschärfe.
gesehen haben, Gesichts- und Blickfeld. Zum anderen er-
möglicht es uns, den Abstand zu den Gegenständen im
Wahrnehmen von Flimmerlicht Raum besser zu messen und aus den etwas unterschied-
und Scheinbewegungen lichen Bildern, die die beiden Augen wegen ihres seitlichen
Wird ein Licht zuerst langsam und dann schneller ein- und Abstandes von etwa 7 cm sehen, ein dreidimensionales
ausgeschaltet, so kann man den Hell-Dunkel-Wechsel beim plastisches Abbild der Umwelt aufzubauen.
skotopischen Dämmerungssehen bis zu einer Frequenz von Die optischen Achsen jedes Auges treffen sich immer
22–25 Lichtreizen pro Sekunde, beim photopischen Tages- im fixierten Punkt. Liegt dieser im Unendlichen, so stehen
sehen bis zu einer Lichtwechselfrequenz von etwa 30 pro die optischen Achsen parallel. Je näher der fixierte Punkt
Sekunde noch auflösen. Danach erscheint das Licht als rückt, desto stumpfer wird der Winkel, den die beiden Seh-
Dauerlicht, wobei im photopischen Bereich die Flimmer- achsen miteinander bilden (die Augen »wenden sich nach
fusionsfrequenz deutlich von der Intensität des Lichtreizes innen«). Dieser Konvergenzwinkel kann vom Gehirn fest-
abhängt (Talbot-Gesetz): Je heller das Licht, desto höher die gestellt und als Maß für die Entfernung des fixierten Punk-
kritische Flimmerfrequenz (bei sehr hellem Licht erreicht tes ausgewertet werden. Dieses Meßprinzip wird auch in
sie Werte bis maximal 90 Lichtreize pro Sekunde). zahlreichen technischen Entfernungsmessern, z. B. in
Die Trägheit des Sehvorganges macht sich die Film- Photoapparaten, ausgenutzt.
und Fernsehtechnik heute in weitem Umfang zunutze. Da-
bei nutzt sie noch einen zweiten Effekt aus, nämlich die Querdisparation und Tiefenwahrnehmung
als Phi-Phänomen bezeichnete Scheinbewegung, die sich Die Entfernungsmessung über den Konvergenzwinkel hält
am einfachsten bei Lichterketten beobachten lässt, die so immer nur die Entfernung zum fixierten Punkt fest. Zusätz-
17 geschaltet sind, dass kurz nach Erlöschen des einen Lichtes lich hat das Gehirn aber auch ein Verfahren entwickelt, die
das benachbarte angeht (z. B. hin- und herspringende Entfernung von Gegenständen zu messen, die näher und
Blinker bei Straßenbahnen). Dabei erhält man den Ein- ferner als der fixierte Punkt liegen. Dabei werden die gerin-
druck, dass das Licht hin- und herspringt und nicht, dass gen Unterschiede ausgewertet, die die beiden Netzhaut-
2 Lichter abwechselnd aufleuchten. bilder dadurch aufweisen, dass die beiden Augen die Um-
Niederfrequentes Flimmern kann dagegen eigenartige welt von verschiedener Position aus, nämlich seitlich etwas
Effekte hervorrufen, wie z. B. verschiedene Farbschattie- verschoben, betrachten.
rungen sowie bewegte und ruhende Gestalten. Bei photo- Diese seitliche Verschiebung, genannt Querdispara-
sensitiv veranlagten Menschen kann auch ein epileptischer tion, kann man sich selbst vor Augen führen, indem man in
17.1 · Wahrnehmungspsychologie des photopischen und skotopischen Sehens
381 17

Box 17.1. Helligkeitswahrnehmung und Bildsegmentierung


Die 4 Scheiben auf den beiden Abbildungen oben sind an den Scheibengrenzen stets von Dunkel nach Hell und
ebenso identisch wie die Scheiben auf den beiden unte- rechts stets von Hell nach Dunkel reicht.
ren Abbildungen. In den beiden oberen Abbildungen er- Diese Täuschung belegt, dass die Helligkeitsunter-
scheinen aber die linken 4 Scheiben dunkler als die rech- schiede, die man in den Abbildungen oben wahrnimmt,
ten 4 Scheiben. Die kritische Variable ist nur die Richtung auf einem Segmentierungsprozess der Transparenzbil-
und Stärke des Kontrastes zwischen der (wolkenartigen) dung beruhen müssen. Wenn die Wahrnehmung der
Umgebung und den Scheiben. In dem Bild links oben mit Transparenz durch die Hervorhebung der Scheiben auf-
heller Umgebung erscheinen die Scheiben schwarz, sicht- gehoben wird, verschwindet der Helligkeitsunterschied.
bar durch transparente helle Wolken, in dem Bild rechts Viele Figur-Hintergrund-Eindrücke und -Täuschungen be-
oben mit dunkler Umgebung erscheinen sie weiß. In den ruhen auf Manipulationen der Transparenz von Figur oder
beiden Abbildungen darunter wurde nichts anderes Hintergrund. Solche Täuschungen können nicht auf einem
geändert, als dass der Hintergrund um 90° gedreht peripheren Mechanismus der Kontrastbildung (z. B. durch
wurden, also die Scheiben nun vor den Wolken und laterale Hemmung oder rezeptive Feldorganisation, Ab-
dem Hintergrund liegen: Die Täuschung verschwindet, schn. 17.3.1) beruhen, wie im unteren Teil der Abbildung
beide Scheibengruppen entsprechen nun der Realität sichtbar: Die Kontrastverhältnisse heller Hintergrund links
und unterscheiden sich nicht mehr, obwohl der helle und dunkler rechts sind gleich wie auf den oberen Bildern,
und dunkle Hintergrund beibehalten wurde. Was fehlt, ist die nur die Bildebenen durch die Wolkenkontraste ver-
nur die Transparenz der Bildebenen durch die Manipula- tauscht haben.
tion des Kontrastes, der bei den oberen linken Scheiben

Nach Anderson BL, Winawer J (2005). Reprinted by permission from Macmillan Publishers Ltd: Nature.
382 Kapitel 17 · Das visuelle System

der Gesichtsfeldmitte seine beiden Daumen hintereinan- Informationen aus, die uns vom Sehsystem zur Verfügung
der anordnet, nämlich einen in etwa 25 cm Abstand, den gestellt werden. Dazu zählen die Größenunterschiede be-
anderen am ausgestreckten Arm. Fixiert man nun den kannter Gegenstände, Überdeckungen, Schatten, perspek-
nahen Daumen und schließt wechselseitig das eine und das tivische Verkürzungen, die Konturunschärfe der Sehdinge
andere Auge, dann wird der fernere Daumen vom linken bei Dunst und Nebel und v. a. die parallaktische Verschie-
Auge links vom fixierten Daumen und vom rechten Auge bung der Gegenstände relativ zueinander bei Kopfbewe-
rechts gesehen. Wiederholt man diesen Versuch mit Fixa- gungen (7 unten).
tion des fernen Daumens, dann sieht das linke Auge den
G Das stereoskopische Tiefensehen beruht auf der
nahen Daumen rechts vom fixierten Daumen und umge-
Auswertung des Konvergenzwinkels der Sehachsen
kehrt.
und der unterschiedlichen Abbildung der Gegen-
Die Querdisparation bedingt also, dass alle Gegen-
stände auf den Netzhäuten beider Augen (Quer-
stände, die näher als der fixierte Punkt liegen, als gekreuzte
disparation). Bei Entfernungen >6 m werden mon-
Doppelbilder erscheinen müssten, alle Gegenstände, die
okulare Signale zum Tiefensehen herangezogen.
ferner als der fixierte Punkt liegen, als ungekreuzte. Das
Gehirn verrechnet aber diese Information zu einem ein-
heitlichen Bild, wobei bei dieser binokularen Fusion aus 17.1.5 Visuelle Gestaltwahrnehmung
den Doppelbildern ein räumlicher Tiefeneindruck aufge-
baut wird. Gestaltwahrnehmung durch Erfahrung
Verliert ein Mensch in früher Kindheit sein Augenlicht und
Box 17.2. Pathologische Doppelbilder, Schielen kann ihm dieses später operativ zurückgegeben werden, so
Stört man durch einen leichten Druck auf einen Aug- hat er in der Regel für lange Zeit – und oft für immer –
apfel das komplexe Zusammenspiel von Konvergenz Schwierigkeiten, das was er sieht, richtig zu deuten. Auch
und Querdisparation, so zerfällt die binokulare Fusion, vertraute Gegenstände des Alltags kann er zunächst nicht
und es werden Doppelbilder wahrgenommen. Solche erkennen, während deren Identifikation beim Betasten
Doppelbilder treten auch bei Lähmungen der äußeren sofort gelingt. Umgekehrt ist es auch im späteren Leben im
Augenmuskeln auf (Abschn. 17.4.1, insbesondere die gewissen Umfang noch möglich, sich an lang dauernde Ver-
Legende der . Abb. 17.25), wobei aus der Art ihres änderungen des Gesehenen, z. B. beim Tragen von Um-
Auftretens diagnostische Schlüsse auf die Schädigung kehrbrillen (Prismenbrillen, die die Welt »auf den Kopf
gezogen werden können. Wenn infolge von Koordina- stellen«) so zu gewöhnen, dass die visuell wahrgenommene
tionsstörungen der Augenbewegungen schon in früher Umwelt wieder »normal« erscheint und mit der Tastwelt
Kindheit die beiden Augachsen nicht auf dem fixierten übereinstimmt.
Punkt zur Deckung gebracht werden können, das Kind Die Augen liefern also kein eindeutiges Abbild der Um-
also schielt, wird zur Vermeidung von Doppelbildern welt an das Gehirn, sondern letzteres muss auf dem Hinter-
die Information des einen Auges weitgehend unter- grund seiner durch Lernen gewonnenen Erfahrungen eine
drückt. Besteht eine solche Schielamblyopie einige Interpretation (Deutung) der über die Sehnerven ein-
Zeit fort, nimmt die Sehleistung des »unterdrückten strömenden Impulse vornehmen, damit wir nicht sinnlose
Auges« rasch und alsbald irreversibel ab. Dies kann visuelle Reizmuster »sehen«, sondern Objekte mit Bedeu-
und muss durch eine rechtzeitig einsetzende Schiel- tung in der Umwelt wahrnehmen.
therapie verhindert werden (Abschn. 17.2.1, Schielen
bei Weitsichtigkeit). Durch eine zeitweise Klappe über Ausnutzen der Größenkonstanz
dem gesunden Auge wird das »unterdrückte Auge« Wie bei einem Photoapparat nimmt auch auf der Netzhaut
zum Sehen angehalten, was alsbald seine Sehleistun- des Auges das Abbild eines Gegenstandes bei jeder Verdop-
gen verbessert und auch dazu führt, dass die degene- pelung der Entfernung auf die Hälfte der ursprünglichen
rativen Veränderungen des ungenutzten Sehkortex Größe ab. Dennoch wird der Gegenstand immer in etwa
rückgängig gemacht werden. der gleichen Größe gesehen. Das Sehsystem verfügt also
über einen Mechanismus, mit dem von der Sehdistanz ab-
17 hängige Veränderungen der Netzhautbilder wieder aus-
Monokulares Tiefensehen geglichen werden. Von seiner Wirksamkeit kann man sich
Stereoskopisches Sehen lässt sich zur Gewinnung eines z. B. in einem Konzertsaal leicht überzeugen: Alle Gesichter
räumlichen Tiefeneindruckes nur bei nahen Gegenständen scheinen die gleiche Größe zu haben, während tatsächlich
ausnutzen. Bei entfernteren Gegenständen verringert sich die Netzhautbilder der entfernt sitzenden Zuhörer wesent-
die Querdisparation zu vernachlässigbar kleinen Werten, lich kleiner als die der näher sitzenden sind. Wie . Abb. 17.4
so dass wir etwa ab 6 m Entfernung praktisch einäugig zeigt, gilt auch das Umgekehrte: Gleich große Figuren er-
sind. Zur Wahrnehmung der Tiefe in größerer Entfernung scheinen unterschiedlich groß, wenn ihre perspektivische
oder mit nur einem Auge nutzen wir daher zusätzliche Umgebung dies als wahrscheinlich erscheinen lässt.
17.1 · Wahrnehmungspsychologie des photopischen und skotopischen Sehens
383 17

men. Größen- und Formkonstanzmechanismen


spielen dabei zusammen mit Ergänzungs- und Kon-
trastprozessen eine große Rolle.

Sinnestäuschungen durch Mehrdeutigkeit


Im Allgemeinen wird beim Suchen nach der Interpretation
des Sinneseindrucks die beste Wahl getroffen, und wir se-
hen die Dinge mehr oder weniger korrekt. Manchmal ist
aber keine befriedigende Deutung möglich, wie beispiels-
weise beim Necker-Würfel oder den beiden anderen
»unmöglichen« Figuren in . Abb.17.5. Das wahrnehmende
System kann dann auch nicht zu einem eindeutigen Schluss
kommen und springt daher zwischen alternativen Lösun-
gen hin und her.
Auch die zahlreichen optischen Täuschungen, von de-
nen einige bekannte Beispiele in . Abb. 17.6 zu sehen sind,
sind wahrscheinlich nichts anderes als Fehlinterpretatio-
nen des Wahrnehmungssystems. Sie unterlaufen, weil nor-
malerweise zuverlässige Hinweise auf die den Reizen zu-
. Abb. 17.4. Einfluss der Umgebung auf die Größenwahrneh- grunde liegenden Gestalten in diesen besonderen Fällen
mung. Die gleich großen Figuren wirken unterschiedlich groß, da
nicht stimmen. Das visuelle System fällt also hier nicht sei-
dies als die wahrscheinlichste Auflösung zwischen perspektivischer
Umgebung und Gestaltgröße erscheint ner mangelnden Analyse- und Deutungsfähigkeit zum
Opfer, sondern im Gegenteil, die Fehlinterpretationen der
optischen Illusionen weisen eindringlich auf seine über-
Ausnutzen der Formkonstanz ragende Fähigkeit hin, normalerweise aus wenigen Hin-
Uns bekannte Gegenstände oder Personen werden von uns weisen eine zuverlässige Interpretation der Umwelt zu
immer wieder als die Gleichen erkannt, unabhängig davon, geben.
unter welchen Bedingungen wir sie sehen. Diese Formkon-
G Sinnestäuschungen bei der Gestaltwahrnehmung
stanz ist also beispielsweise unabhängig von der Intensität
beruhen auf der Mehrdeutigkeit oder auf Fehlinter-
und der Farbe der Beleuchtung, von der Entfernung und
pretationen des Gesehenen.
der perspektivischen Verzerrung, von der Stelle des Ge-
sichtsfeldes, an der wir die Person oder den Gegenstand Augenbewegungen beim Gestaltwahrnehmen
wahrnehmen und von den Stellungen, die sie relativ zu uns Wie sehr die oben besprochene Deutung des Gesehenen die
einnehmen. Vorgänge bei der visuellen Wahrnehmung beeinflusst, zeigt
Offensichtlich treten bei der visuellen Wahrnehmung sich eindrucksvoll bei der Messung der Augenbewegungen
zahlreiche Ergänzungs- und Kontrastprozesse auf, die beim normalen Umherblicken. Unter diesen Bedingungen
zusammen mit den oben besprochenen Mechanismen der wechseln sich Fixationsperioden mit raschen Augen-
Entfernungsmessung und der Tiefenwahrnehmung sowie bewegungen (Sakkaden, Abschn. 17.4.1) ab, wobei die
unter Ausnutzung der Perspektive und der Verwertung von Augen v. a. durch Konturen, Konturunterbrechungen und
Konturen, Konturüberschneidungen und -unterbrechun- Konturüberschneidungen festgehalten werden. Dabei wer-
gen dazu beitragen, dass die Wahrnehmung einer geschlos- den v. a. solche Stellen »angeblickt«, die für die Bedeutung
senen Gestalt zustande kommt. des Gesehenen besonders wichtig sind. Beim mensch-
Systematische Untersuchungen der Gestaltpsycho- lichen Gesicht sind dies anscheinend v. a. Augen und Mund,
logie, besonders im ersten Viertel des 20. Jahrhunderts, denn diese werden immer als erstes und – wie . Abb. 17.7
haben die Regelhaftigkeit der visuellen Wahrnehmung eindrucksvoll zeigt – wesentlich häufiger als andere Stellen
komplexer Gestalten nachgewiesen. Mit anderen Worten, des Gesichts angesehen. Außerdem ist zu sehen, dass die
das Gehirn setzt bei jedem visuellen Sinneseindruck seine rechte Hälfte der Portraitaufnahme deutlich mehr Auf-
durch Lernen erworbene Erfahrung ein, um zu einer be- merksamkeit findet als die linke, eine Tatsache, die anschei-
friedigenden Interpretation des Gesehenen zu kommen nend generell für das Betrachten von Bildern gilt und von
(Abschn. 17.5.2 und Kap. 24 zu den physiologischen Grund- Malern beim Aufbau ihrer Gemälde beachtet wird.
lagen der Gestaltwahrnehmung).
G Beim aufmerksamen Betrachten eines Objektes wer-
G Zur Gestaltwahrnehmung wird eine Deutung des den die schnellen Augenbewegungen (Sakkaden)
Gesehenen unter Einsatz der Erfahrung vorgenom- von den Strukturmerkmalen und von den besonders
6 wichtigen Teilen des Objektes gesteuert.
384 Kapitel 17 · Das visuelle System

. Abb. 17.6a–d. Beispiele für Sinnestäuschungen bei der Ge-


staltwahrnehmung. a Die Strecke AB ist für den Doppelpfeil und
die Doppelgabel objektiv gleich, erscheint jedoch verschieden groß.
b Die beiden vertikalen dicken Striche sind parallel und gerade.
c Das weiße Quadrat in der Mitte existiert nicht, sondern entsteht
durch Gestaltergänzung. d Die beiden Kreise in der Mitte sind jeweils
gleich groß

a b

. Abb. 17.5a–c. Mehrdeutige und unmögliche Figuren. a Necker-


Würfel. In diesem Bild kehrt sich die Tiefenanordnung fortwährend
um. Die mit A markierte Würfelfläche erscheint manchmal als Vorder-,
manchmal als Rückseite des Würfels. b, c Unmögliche Figuren. Man . Abb. 17.7a, b. Blickbewegungen in Abhängigkeit von der
kann sie zwar zeichnen, aber existieren können sie nicht und sie Bedeutung des Gesehenen. a Photographische Aufnahme eines
können auch nicht als eindeutige Gegenstände gesehen werden. Die Mädchengesichtes und b die zweidimensionale Aufzeichnung der
Störung kommt von der Doppeldeutigkeit der Tiefenwahrnehmung Augenbewegungen beim kurzzeitigen, aufmerksamen Betrachten
(b) und von der Tatsache, dass das Wahrnehmungssystem eine drei- der Photographie
dimensionale Welt aus einer nicht eindeutigen zweidimensionalen
Information aufzubauen hat (unten). In allen 3 Fällen gibt es keine
eindeutige Lösung und das Gehirn kann sich daher nicht zu einer end- Spektralfarben mit Hilfe eines Prismas deswegen gelingt,
gültigen Entscheidung aufraffen weil das Ausmaß der Brechung von der Frequenz der elek-
tromagnetischen Wellen abhängt: Kurzwelliges Licht wird
stärker gebrochen als langwelliges (chromatische Aberra-
17.1.6 Wahrnehmungspsychologie tion).
17 des Farbensehens Der langwellige Teil des Lichtes erscheint uns als »rot«,
der kurzwellige als »violett«, die dazwischenliegenden
Spektralfarben Anteile in einem kontinuierlichen Übergang als »orange«,
Die Untersuchung des Farbensehens begann mit Newtons »gelb«, »grün« und »blau« (. Abb. 17.8b). Wir bezeichnen
Entdeckung, dass weißes Sonnenlicht aus allen Spektralfar- Licht, das nur aus einer einzigen Wellenlänge oder aus
ben zusammengesetzt ist. Heute wissen wir, dass sichtbares einem sehr engen Spektrum besteht, als monochroma-
Licht eine elektromagnetische Strahlung ist, deren Wellen- tisches Licht. Monochromatisches Licht ist im Alltag selten,
länge zwischen 400 und 700 Nanometer (nm) liegt, und die meisten Farben, die wir sehen, sind aus Licht verschie-
dass die Newtonsche Zerlegung des Sonnenlichts in seine denster Wellenlängen gemischt.
17.1 · Wahrnehmungspsychologie des photopischen und skotopischen Sehens
385 17

Box 17.3. Visuelle Neuroästhetik


Betrachtet man Bilder mit unterschiedlichen ästhetisch- Diese Untersuchungen von Zeki u. Mitarbeitern zei-
perzeptuellen Inhalten, so zeigt sich (z. B. mit fMRT gemes- gen, dass visuelle Wahrnehmung parallel und modular
sen, Kap. 20), dass unterschiedliche Regionen des visuellen organisiert ist; parallel und modular, weil an jedem ein-
Systems aktiviert sind: Das statische, farbenfrohe Bild eines zelnen Verarbeitungsschritt verschiedene Aspekte eines
Mondrian aktiviert Area V4, während bewegte Bilder, z. B. Wahrnehmungsinhaltes, z. B. Farben in zunehmender
Duchamps »Nackte, eine Stiege herabsteigend« V3 und V5 Mischung, völlig getrennt vom anderen, z. B. zunehmend
aktiviert. Die einzelnen unterscheidbaren Elemente im Vor- schnelle Bewegungen, bearbeitet und auch – wenn die
dergrund der Bildkomposition verbinden sich nur dann Aktivität im jeweiligen Areal hoch genug ist – getrennt
zu einem größeren Areal der Aktivierung, wenn sie ge- bewusst werden.
meinsam gesehen werden. Aber auch dabei geht oft ein
Element (z. B. Farbe) dem anderen (z. B. Bewegung) voraus Literatur Zeki S, Bartels A (1998) The asychrony of consciousness.
oder oszilliert zwischen der Wahrnehmung beider hin und Proc R Soc London 265:1583–1585
her, je nachdem, welche anatomische Bahn benutzt und
welche schneller durchlaufen wird.

Mischfarben a

Farben können durch physiologische Mischung erzeugt


werden. Dies legt den Gedanken nahe, dass die ganze Farb-
skala aus einigen wenigen »Grund«-Farben aufgebaut sein
könnte. In der Tat zeigt die Anordnung der uns geläufigen
Farbtöne in einem Farbenkreis in . Abb. 17.8a, dass es
neben den Spektralfarben eine Reihe von Mischfarben,
nämlich die Purpurtöne gibt, die im Spektrum nicht vor-
kommen, sondern durch Mischung von Rot und Blau
B
entstehen. Aber auch die Spektralfarben können durch
Mischung hergestellt werden.
Bevor wir uns etwas näher mit den Mischfarben beschäf-
tigen, sei darauf hingewiesen, dass sich das Auge in dieser
Hinsicht sehr verschieden vom Ohr verhält. Aus 2 Farben
kann eine dritte gemischt werden, aus der die Mischkom-
ponenten nicht mehr identifiziert werden können. Zwei reine
Töne verschmelzen aber nie zu einem anderen, dritten Ton.
Stattdessen werden zusammengesetzte Töne als Akkord ge-
hört, dessen Zusammensetzung zumindest durch geübte
Musiker erkannt werden kann. A

G Sonnenlicht kann mit einem Prisma in seine Spek- b


tralfarben zerlegt werden, die vom langwelligen
»rot« bis zum kurzwelligen »violett« reichen. Die
Purpurtöne sind Mischfarben, die im Sonnenlicht
nicht vorkommen.

Wahrnehmung bunter und unbunter Farben


Normal farbtüchtige Menschen können etwa 7 Mio. verschie-
dene Farbnuancen oder Farbwerte wahrnehmen und unter-
scheiden. Diese Mannigfaltigkeit der Farbenwelt entsteht . Abb. 17.8a, b. Spektralfarben und Mischfarben. a Anordnung
der Farbtöne in einem Farbenkreis. Die Farbtöne zwischen A und B
durch Mischung der bunten mit den unbunten Farben.
(Doppelpfeil) sind keine Spektralfarben, sondern als Mischfarben von
Die Klasse der unbunten Farbvalenzen besteht aus der Rot und Blau entstanden. b Spektrum des monochromatischen Lichts,
Reihe der Graustufen, die vom strahlendsten Weiß bis zum wie es z. B. bei der Zerlegung von Sonnenlicht mit Hilfe eines Prismas
tiefsten Schwarz reicht. Die Klasse der bunten Farbva- entsteht
lenzen wird von dem Kontinuum der im Farbenkreis der
. Abb. 17.8a gezeigten Farbtöne gebildet.
386 Kapitel 17 · Das visuelle System

Die Sättigung eines Farbwertes wird durch den unbun- mentfarben durch den Maler. Auch hier werden
ten Anteil, also den Weiß- bzw. Schwarzgehalt bestimmt. subtraktive Mischfarben hergestellt, da die einzelnen Körn-
Diese Mischungen ergeben zusätzliche Farbwerte, die im chen der Pigmentfarben wie Farbfilter wirken. Die subtrak-
Spektrum nicht vorkommen und auch aus den Spektral- tive Farbmischung entsteht also durch die physikalischen
farben nicht gemischt werden können. So führt beispiels- Vorgänge der Lichtabsorption und -reflexion.
weise die Mischung von spektralem Rot einerseits mit Weiß
G Bei der Farbwahrnehmung ist zwischen bunten Far-
zu Rosa und andererseits mit Schwarz zu Braun.
ben (Rot, Orange, Gelb etc.) und unbunten Farben
Additive und subtraktive Farbmischung (vom tiefsten Schwarz bis zum hellsten Weiß) zu unter-
scheiden. Die additive Farbmischung ist ein physiolo-
Eine additive Farbmischung entsteht, wenn von einem Ge-
gisches, die subtraktive ein physikalisches Phänomen.
sichtsfeldareal Licht unterschiedlicher Farbe (d. h. Wellen-
länge) ins Auge fällt. So erhält man z. B. bei Mischung
von rotem mit grünem Licht den Sinneseindruck »Gelb« Farbsinnstörungen und ihre Untersuchung
(. Abb. 17.9a). Zu einer solchen additiven Farbmischung Die häufigste Farbsinnstörung ist die Verwechslung
benötigen wir demnach selbstleuchtende Lichtquellen, so von Rot und Grün. Etwa 8% aller Männer und 0,4% aller
wie sie in . Abb. 17.9a angedeutet sind. Wenn wir selbst- Frauen sind von dieser X-chromosomal-rezessiv ver-
leuchtende Lichtquellen aus dem Farbenkreis (. Abb. erbten Störung betroffen. Im Alltag macht sie sich oft
17.8a) benutzen, so zeigt sich, dass sich für jede Farbe eine wenig bemerkbar, weil viele Objekte nicht nur auf Grund
zweite Farbe findet, die bei additiver Mischung Weiß ergibt. ihrer Farbe identifiziert werden können (Gras wird
Die beiden Farbtöne sind zueinander Komplementärfar- von allen Menschen als grün, ein Autorücklicht als rot
ben. Die additive Farbmischung ist also ein physiologi- bezeichnet). Dennoch sind solche Rot-Grün-Verwechs-
sches Phänomen, das erst in den Photorezeptoren der Re- ler für Berufe ungeeignet, in denen eine Information
tina entsteht. überwiegend über die Farbe alleine beurteilt werden
Wenn andererseits weißes Licht zunächst durch einen muss.
Blaufilter und anschließend durch einen Gelbfilter gesendet Die Verwechslung von Rot und Grün beruht entweder
wird (. Abb. 17.9b), so resultiert Grün. Dies beruht darauf, auf einer verringerten oder fehlenden Rot-Empfindlichkeit
dass der Blaufilter neben dem blauen Licht noch einen Teil des Auges oder auf einer entsprechenden Störung im Grün-
des benachbarten grünen Spektrums, aber kein gelbes oder bereich. Dies kann sehr leicht mit Hilfe eines Anoma-
gar rotes Licht durchlässt, während der Gelbfilter das Blau- loskops herausgefunden werden. In diesem Apparat wird
licht zurückhält, aber wiederum das benachbarte Grün pas- dicht neben einem monochromatischen Gelbfeld ein rot-
sieren lässt. Auf diese Weise bleibt die subtraktive Mischfar- grünes Mischfeld angeboten, und der Beobachter wird auf-
be Grün »übrig«. Gleiches gilt für das Mischen von Pig- gefordert, die relativen Intensitäten von Rot und Grün so zu
mischen, dass der Farbeindruck des Mischfeldes dem des
Gelbfeldes entspricht.
Bei einer Rotschwäche wird mehr Rot als normal zu-
gemischt. Solche Rot-Grün-Verwechsler werden je nach
der Art und Ausmaß der Störung als (trichromatische) Prot-
anomale oder (dichromatische) Protanope bezeichnet.
Muss bei einer Grünschwäche mehr Grün als normal zu-
gemischt werden, so spricht man von Deuteranomalen
bzw. Deuteranopen. Beim Protanopen ist das Spektrum am
langwelligen Ende stark verkürzt, er ist »rotblind«. Er ver-
wechselt daher Rot mit Schwarz, Dunkelgrau, Braun und
eben auch mit Grün. Der Deuteranope ist dagegen »grün-
blind«.
Verwechslung von Gelb und Blau, Tritanomalie oder
17 Tritanopie, ist eine äußerst seltene Farbsinnstörung. Bei
diesen Menschen ist das blau-violette Ende des Farbenspek-
trums verkürzt, d. h. diese Farben erscheinen ihnen ledig-
lich in Grau- und Schwarztönen.
. Abb. 17.9a, b. Schema einer additiven und einer subtraktiven Bei völligem Ausfall der Zapfenfunktion (totale Far-
Farbmischung. a Eine additive Farbmischung entsteht, wenn auf die
benblindheit, Achromasie oder Monochromasie) kann die
gleiche Netzhautstelle Licht verschiedener Wellenlänge fällt. b Die
subtraktive Farbmischung ist dagegen ein rein physikalischer Vor- Welt nur wie in einem Schwarz-Weiß-Film wahrgenom-
gang, bei dem mit Hilfe von Filtern nur bestimmte Spektralfarben das men werden (skotopisches Sehen, Abschn. 17.1.2). Sehen in
Auge erreichen der Dämmerung ist normal, am Tage müssen starke Sonnen-
17.2 · Signalaufnahme und -verarbeitung im Auge
387 17

. Abb. 17.10. Prüfen des Farbsehens mit Ishihara-Farbtafeln.


In diesem Beispiel sind die Punkt so angeordnet, dass der Rot- . Abb. 17.11. Der Aufbau des Auges und die optische Abbildung.
blinde (Protanope) 6 liest, der Grünblinde (Deuteranope) 2, der Farb- Horizontalschnitt durch ein menschliches Auge (Aufsicht, Blick von
tüchtige 26 oben). Etwa auf der Höhe der Fovea centralis verlässt der Sehnerv
(N.O. Nervus opticus) durch die bindegewebige Lamina cribrosa den
Augapfel. An dieser Stelle fehlt die Netzhaut (Retina). Das Auge ist also
hier blind. Die bindegewebige Sklera (Lederhaut) bildet die äußere
brillen getragen werden, um Blendungseffekte zu vermei- Hülle des Augapfels. In der Chorioidea (Aderhaut) laufen die Blutge-
den. Die Sehschärfe in der optischen Achse des Auges ist auf fäße der Netzhaut. Die Abbildung des Gegenstandes G auf der Retina
1/10 des Normalwertes reduziert. Die Störung ist extrem ist im vereinfachten Strahlengang gezeigt: Gegenstandsweite g, Seh-
selten (<0,01% der Bevölkerung). winkel α, Linse L, Knotenpunkt K, Bildweite b und umgekehrtes Bild B.
1°Sehwinkel entspricht etwa 0,3 mm Bildgröße auf der Retina
Eine einfache, aber zuverlässige Überprüfung des Far-
bensinns kann mit den pseudo-isochromatischen Tafeln
nach Stilling-Velhagen oder nach Ishihara durchgeführt
werden (. Abb. 17.10). Sie zeigen Zahlen, die aus zahlrei- Wie bei einer Kamera auch, ist das »Objektiv« des Auges
chen Farbtupfen so gedruckt sind, dass der Farbtüchtige die ein zusammengesetztes optisches System, das aus Kornea
richtige Zahl erkennt, der Farbuntüchtige aber keine oder (Hornhaut), vorderer Augenkammer und Linse besteht.
eine falsche Zahl liest. Die weitere Diagnostik erfolgt dann Dieses »Objektiv« entwirft auf der Netzhaut ein umgekehr-
am Anomaloskop. tes und stark verkleinertes Bild der Umwelt. In der norma-
len Ruhestellung des Auges ist dieses Objektiv so eingestellt,
G Die angeborenen Farbsinnstörungen lassen sich in
dass Gegenstände, die unendlich weit entfernt liegen (z. B.
die (trichromatischen) Farbanomalien und die
der Sternenhimmel, aber in der Praxis alle Gegenstände, die
(dichromatischen) Farbenblindheiten einteilen. Die
mehr als 10 m entfernt sind), scharf auf der Netzhaut ab-
meisten dieser Störungen werden X-chromosomal
gebildet werden. Die Achse des optischen Systems trifft auf
vererbt. Männer sind daher häufiger als Frauen be-
der Netzhaut auf eine Stelle mit einer kleinen Eindellung,
troffen. Pseudo-isochromatische Tafeln und das Ano-
die als Zentralgrube (Fovea centralis) oder, wegen ihres
maloskop dienen der Diagnose solcher Störungen.
Aussehens beim Augenspiegeln, auch als gelber Fleck be-
zeichnet wird. Dieser gelbe Fleck ist die Stelle des schärfs-
17.2 Signalaufnahme und ten Sehens (. Abb. 17.1 in Abschn. 17.1.1).
-verarbeitung im Auge
G Das Auge ist ein zusammengesetztes optisches Sys-
17.2.1 Das Auge als bildgebendes Organ tem, das auf der Netzhaut (Retina) ein umgekehrtes
und stark verkleinertes Bild der Umwelt erzeugt;
Bau des Auges die physikalisch-optische Qualität des Auges ist
schlecht. Die Fovea centralis (gelber Fleck) ist die
Das Auge, von dem . Abb. 17.11 einen horizontalen Quer-
Stelle des schärfsten Sehens.
schnitt zeigt, kann in vieler Hinsicht mit einem digitalen
Photoapparat verglichen werden. Bei einem solchen Ver-
gleich ist aber festzuhalten, dass die physikalisch-optischen Arbeitsweise der Iris
Qualitäten des Auges so schlecht sind, dass dagegen auch Mitten im Strahlengang des »Augenobjektivs« sitzt, wieder
die einfachsten Schnappschusskameras ein Wunder an genau wie bei der Kamera, eine automatische Blende mit
optischer Präzision darstellen. verstellbarem Durchmesser, nämlich die Iris. Diese Blende
388 Kapitel 17 · Das visuelle System

bestimmt mit Hilfe der Änderung der Pupillenweite das Muskels, des Ziliarmuskels, entspannt, dann kann die Linse,
Ausmaß des Lichteinfalls in das Auge. Bei großer Helligkeit besonders ihre Vorderfläche, sich entsprechend ihrer Eigen-
wird die Pupille also enger. Bei geringer Lichtstärke öffnet elastizität krümmen. Damit nimmt die Brechkraft zu. Er-
sich die Pupille. Diese Lichtreaktionen können Sie in einem schlafft der Ziliarmuskel (oder wird er durch das Aufträu-
schwach erleuchteten Raum durch Belichtung mit einer feln von Atropin gelähmt), dann ziehen die Zonulafasern
Taschenlampe auslösen. Sie werden dabei feststellen, dass die Linse wieder flach.
die beiden Pupillen in ihren Reaktionen fest miteinander
G Verschieden weit entfernte Gegenstände werden auf
gekoppelt sind: Bei Belichtung eines Auges verengt sich
der Retina durch Änderung des Krümmungsradius
nicht nur dessen Pupille, sondern auch die des nichtbelich-
der vorderen Linsenfläche scharf abgebildet. Dieser
teten Auges.
Vorgang wird Akkommodation genannt. Zur Nah-
Die Pupillenweite wird durch 2 glatte Muskeln gere-
akkommodation werden die Zonulafasern durch die
gelt, die in die Iris eingebaut sind. Der radial angeordnete
Kontraktion des Ziliarmuskels entspannt.
Musculus dilatator pupillae wird sympathisch innerviert
und bei seiner Kontraktion erweitert sich die Pupille, was
Mydriasis genannt wird. Kurzsichtigkeit
Der Musculus sphincter pupillae ist zirkulär ange- Bei einem normalen Auge wird, wie oben erwähnt, in Ruhe
ordnet und parasympathisch innerviert. Seine Kontraktion ein unendlich weit entfernter Gegenstand scharf auf die
verengt die Pupille, was Myosis genannt wird. Atropin führt Netzhaut abgebildet (. Abb. 17.12a). Bei vielen Menschen ist
zu Mydriasis, da es die cholinerge Erregungsübertragung aber der Augapfel (Bulbus) relativ zur Brechkraft zu lang.
auf den Musculus sphincter pupillae blockiert (7 unten). Die aus dem Unendlichen kommenden (und deswegen
Die Augenfarbe ist übrigens nicht durch die Einlage- parallelen) Lichtstrahlen eines Gegenstandes vereinigen sich
rung unterschiedlicher Farbstoffe (Pigmente) in die Iris dann schon vorher und gehen anschließend wieder aus-
bedingt, sondern sie hängt lediglich von der Menge des einander (Ferneinstellung in . Abb. 17.12b), was zur Folge
eingelagerten Farbstoffs ab. Bei geringer Pigmentierung hat, dass die einzelnen Punkte eines Gegenstandes nicht als
erscheint die Iris blau, bei mittlerer grau und bei starker Punkte, sondern als kleine Scheibchen abgebildet werden.
braun. Kein Wunder also, dass Menschen mit sehr heller Erst wenn der Gegenstand näher liegt, kann er scharf auf
Hautfarbe, also insgesamt geringer Pigmentierung, häufig der Netzhaut abgebildet werden (Naheinstellung in . Abb.
blaue Augen haben. 17.12b). Diese Menschen sind kurzsichtig (myop). Um in die
Ferne scharf zu sehen, muss ihrem Auge eine Zerstreuungs-
G Die Pupillenweite passt sich über die Irismuskulatur
linse vorgesetzt werden (. Abb. 17.12b, –dpt-Brille und Fern-
reflektorisch an die Umweltleuchtdichte an. Belich-
einstellung; zur Berechnung von Brillen Box 17.4).
tung eines Auges führt zur Pupillenverengung
beider Augen. Atropin führt über Lähmung des
G Bei einem normalen, fernakkommodierten Auge
Musculus sphincter pupillae zur Mydriasis.
werden unendlich weit entfernte Gegenstände
scharf auf der Netzhaut abgebildet. Bei der Kurzsich-
Arbeitsweise der Linse tigkeit (Myopie) ist der Bulbus relativ zur Brechkraft
Da beim Auge in normaler Ruhestellung nur ferne Gegen- des Auges zu lang; dies muss durch eine Zerstreu-
stände scharf auf der Netzhaut abgebildet werden, muss für ungslinse ausgeglichen werden.
das scharfe Sehen in der Nähe das »Objektiv« des Auges
anders eingestellt werden. Dies wird Akkommodation ge- Box 17.4. Brillenberechnung
nannt. Beim Photoapparat geschieht dies, indem das Ob- Das Maß für die Stärke der Brillengläser ist die Dioptrie.
jektiv weiter von der Filmebene entfernt wird. Im mensch- Je größer dieser Wert, desto stärker die Brechkraft des
lichen Auge wird dagegen die Brechkraft des »Objektivs« Brillenglases. Definiert ist die Dioptrie als der Kehrwert
durch Erhöhung der Brechkraft der Linse verstärkt. Dies der Brennweite einer Linse in Metern. Hat eine Sam-
geschieht über eine Zunahme der Krümmung der Linsen- mellinse, wie sie z. B. von Kindern zum Feueranzünden
oberfläche. Bei der Nahakkommodation wird die Linse also benützt wird, eine Brennweite von 0,25 m (das heißt, die
17 »kugelförmiger«, bei der Fernakkommodation flacht sie Sonnenstrahlen vereinigen sich 25 cm hinter der Linse
wieder ab. im »Brennpunkt«), dann hat diese Linse eine Brechkraft
Die Linse des menschlichen Auges ist ein elastischer von 1/0,25 gleich 4 Dioptrien (dpt). Bei einer Brennweite
Körper, der über Aufhängebänder, die Zonulafasern, an der von 12,5 cm wären es 8 dpt, bei 5 cm 20 dpt usw. Zer-
Sklera des Augapfels befestigt ist (. Abb. 17.11). Durch den streuungslinsen haben nur einen theoretischen Brenn-
Augeninnendruck wird die Linse über diese Aufhängung punkt, der sich beispielsweise zeichnerisch bestimmen
flachgezogen. Werden die Zonulafasern an ihrem Über- lässt. Die daraus resultierende (fiktive) Brennweite wird
gang in die Augenwand durch die Kontraktion eines dort in negativen Dioptrien (–dpt) angegeben.
ringförmig angeordneten, parasympathisch innervierten
17.2 · Signalaufnahme und -verarbeitung im Auge
389 17

. Abb. 17.12a–c. Strahlengang bei normalen und fehlsichtigen wieder auseinander (rot in b). Die Korrektur erfolgt durch Zerstreu-
Augen. a Beim normalen Auge werden aus dem Unendlichen kom- ungslinsen. c Hyperopie (Weitsichtigkeit). Der Bulbus ist relativ zu
mende Strahlen scharf auf der Netzhaut abgebildet. b Myopie (Kurz- kurz. Erst bei Naheinstellung der Linse werden aus dem Unendlichen
sichtigkeit). Der Augapfel (Bulbus) ist relativ zur Brechkraft des opti- kommende Strahlen scharf auf der Netzhaut abgebildet. Nahe Gegen-
schen Systems zu lang. Aus dem Unendlichen kommende Strahlen stände bleiben unscharf (roter Strahlengang im 2. Bild von oben).
vereinigen sich schon vor der Netzhaut und gehen anschließend Die Korrektur erfolgt durch Sammellinsen

Weitsichtigkeit und Schielen notwendigen Akkomodation automatisch auch den Winkel


Ist der Augapfel zu kurz, dann sind die aus dem Unend- seiner Sehachsen so nach innen wendet, als ob er auf die
lichen kommenden Strahlen beim Auftreffen auf die Nähe fixieren würde (Abschn. 17.1.3). Dadurch fällt dann
Netzhaut noch nicht zu einem scharfen Bild vereinigt der fixierte Gegenstand in einem Auge auf die zentrale
(. Abb. 17.12c, Ferneinstellung). Hier kann sich der Mensch Sehgrube, in dem anderen auf eine »falsche« Netzhautstelle.
zunächst selber helfen, indem er seine Augen auf Nahsehen Ein Auge sieht also gewissermaßen am fixierten Gegen-
einstellt, also die Brechkraft der Linse durch Anspannung stand vorbei: Der Mensch schielt.
des Ziliarmuskels erhöht. Trotz seines zu kurzen Augapfels Beim Schielen müsste eigentlich der fixierte Gegen-
kann er dann in der Ferne scharf sehen. Für die Nähe hat er stand doppelt gesehen werden, so wie wir Doppelbilder
aber, wie in . Abb. 17.12c (Naheinstellung, roter Strahlen- sehen, wenn wir einen Augapfel mit dem Finger in der
gang) skizziert, nicht mehr genug Brechkraft zur Verfügung. Augenhöhle etwas verschieben (Abschn. 17.4.3). Um dies
Er ist also weitsichtig (hyperop). Um auch in der Nähe zu verhindern, unterdrückt der Schielende das störende
scharf zu sehen, muss er die fehlende Brechkraft mit Bild in seinem Gehirn. Bei kleinen Kindern führt dies,
Sammellinsen ergänzen (+Brille und Fern- bzw. Nahein- wie in Box 17.2 geschildert, zu einer raschen und starken
stellung in . Abb. 17.12c). Dies ist auch beim Sehen in die Abnahme der Sehleistung des unterdrückten Auges, nicht
Ferne wichtig, damit die Augen nicht zu sehr durch die weil das Auge schlecht wird, sondern weil die von ihm
dauernde Kontraktion des Ziliarmuskels ermüden, was zu kommenden Impulse in den Sehzentren des Gehirns nicht
Kopfschmerzen führen kann. mehr bearbeitet werden. Um diese Form der »zentralen«
Es gibt noch einen weiteren wichtigen Grund für das Schwachsichtigkeit, Schielamblyopie genannt, zu verhin-
dauernde Tragen einer Brille bei Hyperopie: Da wir bei der dern, ist es dringend notwendig, alle schielenden Kinder
Fixation eines Gegenstandes diesen immer auf den Seh- (auch wenn das Schielen andere Ursachen als eine Weit-
gruben beider Augen abbilden, sind die nervösen Steuer- sichtigkeit hat) auf jeden Fall schon im Vorschulalter wie in
zentren der äußeren Augenmuskeln so programmiert, dass Box 17.2 angegeben zu behandeln. Eine einmal entstandene
der Weitsichtige beim Blick in die Ferne zusammen mit der Schielamblyopie ist kaum mehr zu bessern. Der oder die
390 Kapitel 17 · Das visuelle System

Betroffene bleibt für den Rest seines Lebens praktisch ein- G Im Alter wird die Linse unelastisch. Dies führt zur
äugig. Alterssichtigkeit (Presbyopie), d. h. es kann nicht
mehr nahakkommodiert werden. Scharfes Sehen
G Bei der Weitsichtigkeit (Hyperopie) ist der Bulbus
in der Nähe erfordert daher eine Brille mit Sammel-
relativ zur Brechkraft des Auges zu kurz; dies muss
linsen (»Lesebrille«).
durch eine Sammellinse ausgeglichen werden.
Ohne Brille schielen Weitsichtige bei der Nahak-
kommodation, was bei Kindern zur Schielamblyopie 17.2.2 Signalaufnahme in der Netzhaut
führt.
Aufbau der Netzhaut
Alterssichtigkeit Die lichtempfindliche Schicht des Augenhintergrundes, auf
Im Alter wird die Linse unelastisch. Auch wenn der Ziliar- die der optische Apparat das Bild der Umwelt projiziert, ist
muskel sich noch so anstrengt, die Linse bleibt in der nur die Netzhaut oder Retina. Die Netzhaut entspricht also
für das Sehen in die Ferne geeigneten flachen Form: Der der lichtempfindlichen Sensorschicht digitaler Kameras.
Mensch wird alterssichtig (presbyop). Das heißt, der Nor- Die Retina enthält 2 Typen von Photosensoren, nämlich die
malsichtige kann weiterhin gut in die Ferne sehen (Strah- Zapfen (verantwortlich für das photopische Sehen bei Ta-
lengang A in . Abb. 17.12). Aber für die Nähe braucht geslicht) und die Stäbchen (verantwortlich für das skoto-
er eine Brille mit Sammellinsen, um die fehlende Zusatz- pische Sehen in der Dämmerung) sowie ein Netzwerk
brechkraft der Linse zu kompensieren. Meist wird das nachgeschalteter Nervenzellen, deren letzte Schicht die
Tragen einer solchen »Lesebrille« um das 40. Lebensjahr Ganglienzellen bilden. Die Axone dieser Ganglienzellen
notwendig. sammeln sich zum Sehnerven, der etwa in Höhe der Fovea
Der Weitsichtige braucht im Alter nach wie vor seine centralis das Auge verlässt, um zum Gehirn zu ziehen.
Fernbrille und dazu eine stärkere für die Nähe. Auch der Dieser Aufbau der Retina ist in . Abb. 17.13 dargestellt.
Kurzsichtige kann auf seine Zerstreuungsbrille für die Paradoxerweise ist die Netzhaut so aufgebaut, dass die
Ferne nicht verzichten; in der Nähe muss sie aber etwas Lichtstrahlen, die von der Linse und durch den klaren,
schwächer werden, also weniger zerstreuen. Getrennte gallertartigen Glaskörper auf sie treffen, zunächst durch die
Brillen für nah und fern können genausogut benutzt werden gesamte Neuronenschicht laufen, bevor sie auf die Photo-
wie Fernbrillen mit eingeschliffenen Nahteilen oder konti- sensoren treffen. Dieser bei der entwicklungsgeschichtli-
nuierlich zunehmender Änderung der Brechkraft (»Gleit- chen Vorstülpung der Augen aus dem Gehirn entstandene
fokus«) in den unteren Brillenglashälften. »Konstruktionsfehler« ist neben der schlechten Abbildungs-

17

. Abb. 17.13. Informationsverarbeitung in der Netzhaut des N.O. Nervus opticus (Sehnervenaxone). Die Müller-Zellen und das
Auges. Links: Schema des Aufbaues der Netzhaut beim Menschen Pigmentepithel nehmen an der Informationsverarbeitung nicht teil.
und bei Primaten nach elektronenmikroskopischen Befunden. Rechts: Schema der Reaktion einzelner Neurone der Netzhaut auf
M.l.e. Membrana limitans externa, M.l.i, Membrana limitans interna, einen Lichtreiz
17.2 · Signalaufnahme und -verarbeitung im Auge
391 17

qualität des optischen Apparates ein weiterer Grund für die Stäbchen und Zapfen sind ähnlich aufgebaut
nur sehr bescheidenen Leistungen der »Kamera« Auge. (. Abb. 17.14a): Die Außenglieder der Sensorzelle beste-
hen aus etwa tausend Membranscheibchen (bei den Stäb-
G Die Netzhaut (Retina) ist ein neuronales Netzwerk,
chen) bzw. -einfaltungen (bei den Zapfen), in die die Seh-
das neben Zapfen (für das photopische Sehen) und
farbstoffe eingelagert sind. Über eine dünne Gewebsbrücke
Stäbchen (für das skotopische Sehen) verschiedene
(Zilium) sind die Außenglieder mit dem übrigen Zellkörper
nachgeschaltete Neurone enthält. Die Axone der
verbunden. Dieser wiederum steht in synaptischem Kon-
Ganglienzellen bilden den Sehnerven.
takt mit den, vom Lichteinfall her gesehen vor ihm liegen-
den Neuronen (. Abb. 17.13 links).
Verteilung der Zapfen und Stäbchen und der
Sehschärfe auf der Retina Sehfarbstoffe der Stäbchen und Zapfen
Die Zapfen und die Stäbchen sind in unterschiedlicher Der Sehfarbstoff der Stäbchen heißt Rhodopsin (»Sehpur-
Dichte auf der Netzhaut verteilt (. Abb. 17.1d in Ab- pur«, . Abb. 17.14b, c), denn eine im Dunkeln hergestellte
schn. 17.1.1). Dort ist zu sehen, dass sich in der Fovea Lösung dieses Stoffes sieht rot aus. Rhodopsin besteht aus
centralis nur Zapfen finden, von dort zum Rande der Netz- einem Eiweiß (Opsin) und Retinal 1, dem Aldehyd des
haut mischen sich Zapfen mit Stäbchen, am Rande der Vitamins A (. Abb. 17.14c).
Netzhaut selbst gibt es fast nur noch Stäbchen. Dazu Bei den farbtüchtigen Zapfen gibt es 3 verschiedene
kommt, dass in der Fovea centralis (dem gelben Fleck) Typen mit unterschiedlichen Sehfarbstoffen (Jodopsine oder
die gesamte Neuronenschicht der Retina zur Seite ge- Zapfenopsine). Die Empfindlichkeit dieser 3 Zapfenopsine
schoben ist und die Zapfen unmittelbar von den Licht- auf Licht unterschiedlicher Wellenlänge ist in . Abb. 17.14d
strahlen getroffen werden (daher ist die Netzhaut dort illustriert, in die auch die Lichtempfindlichkeitsverteilung
wesentlich dünner, was beim Augenspiegeln wie eine des Rhodopsins eingetragen ist. Je eines der 3 Zapfenopsine
kleine Grube aussieht). ist besonders für »rot«, »grün« oder »blau« maximal emp-
Die Zapfen stehen obendrein in der Fovea centralis findlich. Das Rhodopsin der Stäbchen liegt mit seiner maxi-
besonders dicht (. Abb. 17.1d, rote Kurve). Schließlich ver- malen Empfindlichkeit im blau-grünen Bereich, was der
fügen die Zapfen der Fovea centralis über besonders zahl- optimalen Empfindlichkeit beim skotopischen Sehen ent-
reiche Verbindungen zum zentralen Sehsystem. Jeder Zap- spricht (Abschn. 17.1.2, Purkinje-Verschiebung).
fen hat sozusagen seine eigene Telefonleitung ins Gehirn,
G Alle Stäbchen enthalten den Sehfarbstoff Rhodop-
während überall sonst in der Netzhaut zahlreiche Photo-
sin. Die Zapfen enthalten jeweils einen von 3 Seh-
sensoren sich eine Sammelleitung teilen müssen.
farbstoffen (Zapfenopsinen), der entweder beson-
Aus dieser Verteilung und Verschaltung der Sensoren
ders rot-, besonders grün- oder besonders blau-
ergibt sich auch die bereits in Abschn. 17.1.1 und 17.1.2
empfindlich ist.
besprochene unterschiedliche Verteilung der Sehschärfe
beim photopischen und skotopischen Sehen. Dank all der
Privilegien der Zapfen, zu denen noch die bereits erwähnte Transduktion bei Lichteinfall
Lage in der optischen Achse des Auges kommt, ist daher die Bei Belichtung zerfällt in den Stäbchen das Rhodopsin (der
Fovea centralis bei Tageslicht die Stelle des schärfsten Sehpurpur) über mehrere Zwischenstufen in das farblose
Sehens (. Abb. 17.1c, rote Kurve). Immer wenn wir ein Ob- Opsin und Vitamin A, aus denen es anschließend unter
jekt genau ansehen (fixieren), richten wir es »automatisch« Energieaufwand wieder aufgebaut werden muss. Für eine
so ein, dass sein Abbild auf die Fovea centralis beider Augen gegebene Belichtungsstärke stellt sich ein Gleichgewicht
fällt. Umgekehrt hat das skotopische Sehen in der Fovea zwischen diesen beiden Prozessen, Zerfall und Wiederauf-
centralis einen, wie bereits erwähnt, (weiteren) blinden bau ein: In großer Helligkeit ist der Sehpurpur nahezu
Fleck (. Abb. 17.1c, schwarze Kurve, Abschn. 17.1.2). »ausgebleicht« (die Stäbchen also kaum noch lichtempfind-
lich), in Dunkelheit regeneriert der Sehpurpur zu seiner
G In der Fovea centralis gibt es nur Zapfen, auf die
Maximalkonzentration.
das Licht unmittelbar fällt. Sie ist, auch dank weiterer
Je mehr Sehfarbstoff vorhanden ist, um so größer ist die
»Privilegien« der dortigen Zapfen, die Stelle des
Chance, dass ein Lichtquant (Photon) absorbiert wird, d. h.
schärfsten Tageslichtsehens. Beim Dämmerungs-
um so größer ist die Lichtempfindlichkeit. Das Reaktions-
sehen ist die Fovea centralis blind.
gleichgewicht zwischen dem Rhodopsin und seinen Zer-
fallsprodukten ist also die physikochemische Grundlage
Anzahl und Bau der Stäbchen und Zapfen der Hell-Dunkel-Adaptation.
Die Sensorschicht des menschlichen Auges besteht aus Der lichtinduzierte Zerfallsprozess des Rhodopsins lei-
etwa 120 Mio. Stäbchen und 6 Mio. Zapfen, deren unter- tet als erste Stufe der Transduktion (Abschn. 14.2.2) Ände-
schiedliche Verteilung auf der Netzhaut eben anhand der rungen der Membranpermeabilität der Photosensoren und
. Abb. 17.1d angesprochen wurde. damit Änderungen des Membranpotenzials ein, nämlich
392 Kapitel 17 · Das visuelle System

. Abb. 17.14a–e. Transduktion in der Retina. a Schematischer Auf- Proteinteil (Opsin) des Rhodopsins gebunden. Nach Photonenabsorp-
bau eines Stäbchens und einer Zelle des Pigmentepithels der mensch- tion tritt eine Photoisomerisation am C-Atom 11 ein (rot). d Normierte
lichen Netzhaut. Am äußeren Ende werden die Außenglieder der Pho- spektrale Absorptionskurve der Sehfarbstoffe der 3 verschiedenen
torezeptoren abgebaut und die Abbauprodukte von der Pigmentzelle Zapfentypen (B, G, R) und der Stäbchen (S) in der menschlichen Netz-
aufgenommen. b Schema des Rhodopsinmoleküls, das mit 7 hydro- haut. e hyperpolarisierende Sensorpotenziale eines Zapfens der
phoben Aminosäuresequenzen die Lipiddoppelschicht der Scheib- Schildkrötenretina. Diese entstanden als Reaktion auf 3 kurze Licht-
chenmembran durchdringt. c 11-cis-Retinal ist über Lysin an den blitze verschiedener Reizstärke
17
Box 17.5. Nachtblindheit (Hemeralopie)
Da Vitamin A ein Bestandteil des Sehfarbstoffs der Stäb- merung zu einer stark eingeschränkten Dunkeladapta-
chen ist, behindert ein Mangel an Vitamin A die Synthese tion. Auch angeborene Formen solcher Nachtblindheit
des Rhodopsins. Wird also Vitamin A nicht in ausreichen- oder Hemeralopie sind bekannt. Berufe, die ein normales
der Menge mit der Nahrung aufgenommen, enthalten die Dämmerungssehen erfordern, können von diesen Perso-
Stäbchen zu wenig Rhodopsin und es kommt in der Däm- nen nicht ausgeübt werden (Abschn. 12.1.2).
17.2 · Signalaufnahme und -verarbeitung im Auge
393 17

das Sensorpotenzial. Diesem liegt eine Schließung von Ganglienzellen (und damit auch eine Million Nervenfasern
Na-Kanälen zugrunde, wodurch sich das Membranpoten- in jedem Sehnerven), aber rund 125 Mio. Photosensoren (Ab-
zial in Richtung auf das K+-Gleichgewichtspotenzial ver- schn. 17.2.2). Diese Konvergenz ist funktionell strukturiert,
schiebt. Das Sensorpotenzial der Photosensoren verläuft denn im Ergebnis erlaubt die komplexe Verknüpfung der re-
also in hyperpolarisierender Richtung (. Abb. 17.14e) und tinalen Neurone bereits im Auge selbst eine erhebliche Aufar-
stellt damit eine Ausnahme unter den Sensorpotenzialen beitung der von den Photosensoren ausgehenden Signale.
dar. Wie üblich und in e illustriert, hängt aber die Ampli-
G Den Photosensoren nachgeschaltet sind 3 intrareti-
tude des Sensorpotenzials von der Reizintensität, seine
nale Zelltypen und die Ganglienzellen. Die Signal-
Dauer von der Dauer des Lichtreizes ab. Für mittlere Inten-
verarbeitung in den ersten Neuronenschichten der
sitätsbereiche konnte gezeigt werden, dass die Amplitude
Netzhaut erfolgt bei starker Konvergenz der Signale
des Sensorpotenzials der im Weber-Fechner-Gesetz for-
über lokale synaptische Potenziale.
mulierten logarithmischen Beziehung zwischen Reizstärke
und Amplitude folgt (Abschn. 14.5.2).
In den 3 Zapfentypen ist der Ablauf der Phototrans- Rezeptive Felder retinaler Ganglienzellen
duktion analog dem in den Stäbchen. Der Hauptunter- beim skotopischen Sehen
schied liegt in der wesentlich geringeren Lichtempfind- Zwei Besonderheiten zeichnen die retinalen Ganglienzellen
lichkeit der Zapfen gegenüber den Stäbchen. So kann ein gegenüber den anderen Nervenzellen der Netzhaut aus
einzelnes Lichtquant (Photon) ausreichen, um in einem (. Abb. 17.13): Ihre Axone verlassen im Sehnerven (Ner-
Stäbchen eine elektrische Antwort auszulösen, während bei vus opticus, . Abb. 17.11) das Auge, und sie bilden Aktions-
den Zapfen dafür Dutzende bis Hunderte von Quanten not- potenziale aus (rechts unten in der Abbildung), die über
wendig sind. den Sehnerven die visuelle Information in das Gehirn tra-
gen. Alles, was wir mit dem Auge wahrnehmen, ist also in
G Lichteinfall in die Außenglieder der Stäbchen und
den Impulsmustern verschlüsselt, die von den retinalen
Zapfen leitet über einen Zerfall der Sehfarbstoffe
Ganglienzellen zu den Sehzentren fließen.
den Transduktionsprozess ein; dieser führt zu einem
Angesichts dieser Tatsache ist die funktionelle Organi-
Schließen von Na+-Kanälen und damit zur Hyper-
sation retinaler Ganglienzellen bemerkenswert simpel. Sie
polarisation der Photosensoren. Die Stäbchen sind
zeichnet sich nämlich im Grunde immer dadurch aus, dass
wesentlich lichtempfindlicher als die Zapfen.
die Hintergrund- oder Spontanaktivität durch Lichtreize
auf einem kleinen, kreisrunden Fleck der Retina verändert
17.2.3 Signalverarbeitung in der Netzhaut wird (dieses Netzhautareal wird rezeptives Feldzentrum
oder RF-Zentrum genannt), während Belichtung in einem
Neurone des retinalen Netzwerks darum herum liegenden Feld, also der RF-Peripherie, die
Die Photosensoren bilden den »Eingang« in das lokale gegenteilige Wirkung hat.
Netzwerk der retinalen Nervenzellen, die Ganglienzellen Zwei Beispiele für diese antagonistische Organisation der
bilden mit ihren im Sehnerven verlaufenden Axonen rezeptiven Felder retinaler Ganglienzellen zeigt . Abb. 17.15
den »Ausgang«. Dazwischen liegen, wie in . Abb.17.13 zu (. Abb. 14.8 in Abschn. 14.3.2). In a sind die Entladungen
sehen, 3 weitere neuronale Zelltypen, nämlich die Horizon- einer Zelle zu sehen, die bei einem Lichtreiz im RF-Zen-
talzellen, die Bipolarzellen und die Amakrinen. In diesem trum ihre Entladungsfrequenz erhöht, während Belichtung
Neuronennetzwerk lassen sich, wie ebenfalls in . Abb. 17.13 der RF-Peripherie diese vermindert. Solche Neurone nennt
auszumachen, 2 Hauptflussrichtungen der neuronalen Sig- man On-Zentrum-Neurone. Ihr Spiegelbild sind die Off-
nalübertragung erkennen, nämlich einmal die nach zentri- Zentrum-Neurone, deren Verhalten auf die gleiche Belich-
petal gerichtete Signalübertragung von den Photosen- tung in . Abb. 17.15b zu sehen ist. Ebenso wie Zunahme
soren über die Bipolarzellen auf die Ganglienzellen und der Belichtung zu einer Erregung bzw. Hemmung der bei-
zum zweiten ein quer dazu verlaufender Signalfluss in den den Neuronentypen führt, beeinflusst auch Abnahme der
Schichten der Horizontalzellen und der Amakrinen. Belichtung die Entladungsfrequenz, nur eben mit umge-
kehrten Vorzeichen: Das Ende eines Lichtreizes im Zen-
Signalweiterleitung über synaptische Potenziale trum eines Off-Zentrum-Neurons erhöht dessen Ent-
Es gehört zu den bemerkenswerten Eigentümlichkeiten der ladungsfrequenz etc.
neuronalen Signalverarbeitung in der Netzhaut, dass sie
nicht nur in den Photosensoren, sondern auch in den Hori- G Die retinalen Ganglienzellen haben konzentrisch
zontalzellen, Amakrinen und Bipolarzellen ausschließlich organisierte rezeptive Felder mit On- und Off-Zen-
über langsame lokale Membranpotenziale und nicht über trum-Neuronen. Ihre Axone bilden den Sehnerv.
Aktionspotenziale verläuft (. Abb. 17.13, rechter Bildteil, obe- Über den Sehnerv wird die in Aktionspotenzialen
re Hälfte). Insgesamt ist dabei eine starke Signalkonvergenz kodierte, vorverarbeitete visuelle Information an die
zu beobachten, denn jedes Auge hat ungefähr eine Million zentralen Sehzentren weitergeleitet.
394 Kapitel 17 · Das visuelle System

. Abb. 17.16a, b. Funktionelle Organisation rezeptiver Felder


(RF) visueller Neurone des Farbensehens. Solche Felder finden sich
in der Retina bzw. dem Corpus geniculatum laterale des Säugetiers
(. Abb. 17.15 für das Schwarz-Weiß-Sehen). a Neuron des Rot-Grün-
Systems. b Neuron des Gelb-Blau-Systems. Wie bei den Schwarz-Weiß-
Neuronen sind Zentrum und Peripherie der RF (farb-)antagonistisch
organisiert
. Abb. 17.15a, b. Funktionelle Organisation rezeptiver Felder
(RF) der Ganglienzellen des Schwarz-Weiß-Sehens in der Säuge-
tierretina (. Abb. 17.16 für das Farbensehen). Zur Analyse der rezep- Blau-Antagonismus organisiert. Dazu kommt ein
tiven Felder werden weiße Lichtpunkte entweder in das RF-Zentrum, System für das Unbunt-Sehen bei Tage.
Z, oder in die RF-Peripherie, P, oder in beide Anteile gleichzeitig pro-
jiziert. a Reaktionen eines On-Zentrum-Neurons. b Reaktionen eines
Rezeptive Feldorganisation bedingt
Off-Zentrum-Neurons. Bei beiden Neuronen überwiegt bei gleichzei-
tiger Reizung von Zentrum und Peripherie des RF die aus dem RF-Zen-
Simultankontrast
trum ausgelöste Antwort (Erregung in a, Hemmung in b) Im Zusammenhang mit . Abb.17.3b wurde bereits das
Phänomen des Simultankontrastes erläutert und darauf
hingewiesen, dass dieser die Sehschärfe und das Gestalt-
Verarbeitung farbiger Lichtreize in retinalen sehen verbessert. Der dabei auftretende subjektive Sinnes-
Ganglienzellen eindruck, dass nämlich entlang der Hell.Dunkel-Grenze
Die bisherige Diskussion der funktionellen Organisation der hellere Teil jeweils etwas heller und der dunklere jeweils
retinaler Ganglienzellen bezog sich überwiegend auf das etwas dunkler als die weitere Umgebung erscheint (Grenz-
Schwarz-Weiß-Sehen. Die dabei erörterten allgemeinen kontrast), lässt sich aus der funktionellen Organisation der
Gesetzmäßigkeiten treffen aber auch weitgehend auf die rezeptiven Felder der retinalen Ganglienzellen (und der
Verarbeitung farbiger Lichtreize zu. Wie in . Abb.17.16 il- Neurone im nachgeschalteten Corpus geniculatum late-
lustriert, sind auch die rezeptiven Felder farbempfindlicher rale, CGL, 7 unten) ableiten. Dies ist im unteren Teil der
Ganglienzellen in kreisförmig antagonistischer Form orga- . Abb. 17.3 in Abschn. 17.1.3 zu sehen: Die konzentrische
nisiert, nur dass an Stelle des Hell-Dunkel-Antagonismus Organisation der rezeptiven Felder bewirkt bei partieller
sich zum einen ein Rot-Grün-Antagonismus und zum an- Belichtung bzw. Verdunklung der erregenden bzw. hem-
deren ein Gelb-Blau-Antagonismus in der Anlage der re- menden rezeptiven Feldanteile (. Abb. 17.3c–e) über late-
zeptiven Felder zeigt. In der menschlichen Retina sind also rale Hemmprozesse an der Kontrastgrenze übersteigerte
die oben beschriebenen 3 Zapfentypen (. Abb.17.14d) mit neuronale Erregungen bzw. Hemmungen (. Abb. 17.3f),
den nachfolgenden retinalen Nervenzellen so verschaltet, die offensichtlich die neurophysiologische Grundlage für
dass beim Tagessehen neben einem System für das »Un- den Grenzkontrast darstellen.
bunt-Sehen« (Abschn. 17.1.5) 2 farbspezifische, antagonis-
G Die konzentrische Organisation der retinalen rezep-
17 tische Ganglienzellsysteme aktiviert werden, die ein Vierfar-
tiven Felder ist wesentlich für den Simultankontrast
bensystem mit den Gegenfarben Gelb-Blau und Rot-Grün
verantwortlich.
bilden (für die aus dieser Organisation pathophysiologisch
resultierenden Farbsinnstörungen Abschn. 17.1.5).
Rolle melanopsinhaltiger Riesenganglienzellen
G Auch die den Zapfen nachgeschalteten Ganglienzel- Einige besonders große Ganglienzellen (»Riesenganglien-
len besitzen konzentrische rezeptive Felder. Diese zellen«) enthalten wie die Zapfen und Stäbchen ein licht-
sind teils in einem Rot-Grün-, teils in einem Gelb- empfindliches Photopigment, das Melanopsin. Dieses zer-
6 fällt bei Belichtung und erregt dabei die Ganglienzellen.
17.3 · Signalverarbeitung in den subkortikalen und kortikalen visuellen Zentren
395 17

Ihre Axone übertragen die dadurch evozierten Aktionspo-


tenziale in das Corpus geniculatum laterale des Thalamus
und von dort in die höheren Stationen des Sehsystems. Sie
sind allem Anschein nach besonders beteiligt an der lichtab-
hängigen Regulation und Synchronisation des zirkadianen
Rhythmus und an der Steuerung des Pupillendurchmes-
sers (Kap. 22).
Wie alle anderen Ganglienzellen auch, werden die Rie-
senganglienzellen zusätzlich von den mit ihnen verknüpf-
ten Zapfen und Stäbchen erregt, sodass die Riesen-Ganglien-
zellen die ganze Breite des Farben- und Dämmerungs-
sehens übertragen und daher möglicherweise nicht nur an
den unbewussten (z. B. zirkadianer Rhythmus), sondern
auch an bewussten Sehprozessen beteiligt sind.

17.3 Signalverarbeitung in den


subkortikalen und kortikalen
visuellen Zentren

17.3.1 Subkortikale Signalverarbeitung

Verlauf der Sehbahn


Einen schematischen Überblick über den Verlauf der ge-
samten Sehbahn und die wichtigsten zentralen Sehzentren
gibt . Abb. 17.17. Die Sehnerven (Nervi optici) beider
Augen laufen an der Schädelbasis aufeinander zu und
tauschen in der Sehkreuzung (Chiasma opticum) etwa die . Abb. 17.17. Schema der Sehbahn im Gehirn des Menschen
(Aufsicht). Die beiden aus den Augen kommenden Sehnerven (Nervi
Hälfte ihrer Nervenfasern (= Axone der retinalen Ganglien-
optici) tauschen in der Sehkreuzung (Chiasma opticum) einen Teil
zellen, . Abb. 17.13) miteinander aus. Dieser Austausch ihrer Fasern so aus, dass die linken Gesichtsfeldhälften beider Augen
erfolgt nach einer strengen Regel: Gekreuzt wird so, dass die in der rechten Sehrinde (visueller Kortex) abgebildet werden und um-
linken Gesichtshälften beider Augen (blau in . Abb.17.17) gekehrt. Nach der Sehnervenkreuzung geben die Sehnervenfasern
zur rechten Hirnhälfte projizieren und umgekehrt. (Durch Verzweigungen (Kollateralen) zu den augenmotorischen Zentren
(prätektale Region, Colliculi superiores) ab. Anschließend enden sie im
die seitenverkehrte Projektion im optischen Apparat wird
seitlichen Kniehöcker (Corpus geniculatum laterale), einem Kern des
die linke Gesichtshälfte im linken Auge auf die nasale, im Thalamus, von dem der letzte Teil der Sehbahn, nämlich die Sehstrah-
rechten Auge auf die seitlich äußere Netzhaut abgebildet.) lung (Radiatio optica), ihren Ausgang nimmt. Neben der primären
In völliger Analogie mit dem somatosensorischen System Sehrinde (Area 17) sind schematisch auch die zweiten und dritten
wird damit auch für das Sehsystem sichergestellt, dass alle kortikalen Sehzentren eingezeichnet (Areae 18, 19). Die Verbindungen
der Sehzentren beider Hemisphären über den Balken sind ebenfalls
sensorischen Eindrücke einer Seite zunächst durch die je-
angegeben. Zusätzlich ist rechts mit einem Pfeil auf die efferenten
weils auf der anderen Seite liegende Hirnhälfte verarbeitet Verbindungen zwischen dem visuellen Kortex und subkortikalen
werden (Kap. 25). Strukturen aufmerksam gemacht
Nach der Sehkreuzung verlaufen die Ganglienaxone zu
einem Kerngebiet des Thalamus, dem Corpus geniculatum
laterale (CGL, seitlicher Kniehöcker), an dessen Neuronen Gesichtshälfte zur linken Hirnhälfte. Das Corpus ge-
sie synaptisch enden. Dies ist die erste und einzige Schalt- niculatum laterale ist die einzige synaptische Station
stelle auf dem direkten Weg zwischen Netzhaut und Hirn- der Sehbahn auf dem Weg zur Großhirnrinde.
rinde. Der »Ausgang« des CGL führt als Sehstrahlung (Ra-
diatio optica) zur primären Sehrinde (visueller Kortex) im Signalverarbeitung im Corpus geniculatum
Hinterhauptslappen der Großhirnrinde (. Abb. 17.17, Area laterale
17 der Hirnrindenkarte nach Brodmann, . Abb. 5.17f). Die Signalverarbeitung im Corpus geniculatum laterale
(CGL) erfolgt in 6 Neuronenschichten, die abwechselnd
G Im Chiasma opticum kreuzen die Sehnervenfasern dem ipsilateralen und dem kontralateralen Auge zugeord-
beider Augen so, dass die der linken Gesichtshälfte net sind. Dies bedeutet, dass die Signalverarbeitung jeweils
zur rechten Hirnhälfte laufen und die der rechten dreier Schichten im Wesentlichen von einem Auge be-
6 stimmt wird (. Abb. 17.18a). Die Interaktion zwischen den
396 Kapitel 17 · Das visuelle System

. Abb. 17.18a–e. Signalverarbeitung auf den höheren Stationen oberhalb und unterhalb der Schicht IVc (deren Neurone konzentrisch
der Sehbahn. a Schichtenstruktur des Corpus geniculatum laterale. organisierte rezeptive Felder haben) – zusätzlich nach ihrem Antwort-
Die Schichten 2, 3 und 5 erhalten praktisch nur Zuflüsse aus dem ipsi- verhalten – auf die Richtung einer Kontur im rezeptiven Feld in regel-
lateralen Auge, die Schichten 1, 4 und 6 nur Zuflüsse aus dem kontra- mäßiger Sequenz angeordnet. Diese Schichtenstruktur wird als Orien-
lateralen Auge. Diese funktionelle Trennung ipsi- und kontralateraler tierungssäulen bezeichnet. Dazwischen finden sich Säulen mit Neu-
Zuflüsse setzt sich bei der Projektion in den primär visuellen Kortex ronen, die keine Orientierungspräferenz für Reizkonturen, aber für
fort (b), wodurch sich die (senkrecht zur Kortexoberfläche stehende) Farben haben (dunkles Grau). Ihre rezeptiven Felder sind konzentrisch
Schichtenstruktur der okulären Dominanzsäulen ausbildet. Zwischen organisiert. Nervenzellen in den orientierungsabhängigen Säulen sind
den okulären Dominanzbereichen gibt es binokulare Bereiche (rot), besonders empfindlich auf bewegte Kontrastgrenzen bestimmter
in denen die Nervenzellen gleich stark vom linken und rechten Auge Orientierung (Registrierungen c). In d sind Reaktionen auf diverse
aktiviert werden (BF binokulare Fusion). Wiederum senkrecht zu dieser Lichtreize, in e Reaktionen auf einen roten, gelben und grünen Licht-
Schichtung und zur Kortexoberfläche sind die kortikalen Neurone punkt, die jeweils in das RF-Zentrum projiziert wurden, abgebildet

sich entsprechenden, aber jeweils kontralateralen Schichten G Die 6 Neuronenschichten des CGL sind abwechselnd
ist jedenfalls auffallend gering. Hier findet also noch keine dem linken und dem rechten Auge zugeordnet.
binokulare Verarbeitung der visuellen Signale zum Zwecke Die rezeptiven Felder der CGL-Neurone sind konzen-
des beidäugigen stereoskopischen Sehens statt. Dies erfolgt trisch organisiert. Sie dienen teils der Übertragung
also erst im visuellen Kortex. von unbunter und teils von Farbinformation.
Die Neurone des CGL haben wie die Ganglienzellen der
Retina meist einfache, konzentrisch organisierte rezeptive
Felder. Mit unbunten Reizen findet man 2 verschiedene 17.3.2 Signalverarbeitung im visuellen
Neuronenklassen, nämlich Kontrastneurone und Hell- Kortex
Dunkel-Neurone. Bei letzteren hängt das Erregungsniveau
17 von der mittleren Leuchtdichte der Lichtreize ab. Die Kon- Lage und Nomenklatur der visuellen Zentren
trastneurone reagieren dagegen nur schwach oder über- Die primäre Sehrinde wird auch als V1 (für visuell 1) be-
haupt nicht auf diffuse Lichtreize, während sie auf Reize mit zeichnet und die sekundären und höheren Sehzentren als
einer scharfen Hell-Dunkel-Grenze hochfrequent entladen. V2, V3 und V4. Für jede dieser Regionen lassen sich spezi-
Die Farbinformation ist in den oben schon erwähnten fische Aufgaben bei der visuellen Informationsverarbeitung
gegenfarbig organisierten Neuronenklassen repräsentiert nachweisen.
(. Abb. 17.16). Von der primären Sehrinde gehen zahlreiche weitere
Verbindungen aus. In unmittelbarer Nachbarschaft liegen
beispielsweise die zweiten und dritten Sehzentren (Areale
17.3 · Signalverarbeitung in den subkortikalen und kortikalen visuellen Zentren
397 17

18 und 19 in . Abb. 17.17). Und die 3 Sehzentren einer in den retinalen Ganglienzellen und den Neuronen des
Seite sind wiederum über den Balken (Corpus callosum, CGL und auch noch in der gelb markierten Eingangsschicht
Kap. 25) mit denen der anderen Seite verbunden. IVc in . Abb. 17.18b), sondern länglich, also vorzugsweise
in eine Richtung orientiert. Daher der Name Orientie-
Retinotope Organisation von V1 rungssäulen für die Untersäulen der Dominanzsäulen.
Das Endigungsgebiet der Sehstrahlung, die bereits erwähnte Nervenzellen in den orientierungsabhängigen Säulen
primäre Sehrinde (Area oder Areal 17 oder V1), entspricht sind besonders empfindlich auf bewegte Kontrastgrenzen
in der Organisation der primären somatosensorischen bestimmter Orientierung (Ableitungen in . Abb. 17.18c),
Rinde der hinteren Zentralwindung (Gyrus postcentralis, aber sie antworten z. T. auch auf diffuses und auf Flicker-
Abschn. 14.4.3). So weist die Sehrinde eine topologische licht (Ableitungen in . Abb. 17.18d). Wie . Abb. 17.18b
oder retinotope Organisation auf, ähnlich der somatotopi- auch zeigt, ändert sich der Winkel der Hauptorientierung
schen Organisation, die sich im sensorischen Homunculus stetig von Orientierungs- zu Orientierungssäule, sodass
der . Abb. 14.11 in Abschn. 14.4.3 ausdrückt. Dort wie hier insgesamt eine sehr regelhafte funktionelle Struktur des
ist im Unterschied zu einer Landkarte die retinotope Pro- visuellen Kortex resultiert.
jektion jedoch nicht linear. Das kleine Gebiet der Sehgrube Zwischen den Orientierungssäulen gibt es größere Re-
nimmt auf der Sehrinde ein mindestens ebenso großes gionen, in denen die rezeptiven Felder der Neurone keine
Areal ein wie die gesamte übrige Retina zusammen. Auch Orientierungsspezifität erkennen lassen (dunkelgrau mar-
dies hat in den überproportional großen Arealen von kiert in b). Diese Neurone sind dann besonders auf farbige
Lippen, Zunge und Fingerspitzen des sensorischen Ho- Reize empfindlich (Ableitungen in . Abb. 17.18e), reagie-
munculus seine Entsprechung. (Auch die gesamte, vor dem ren z. T. aber auch auf unbunte Hell-Dunkel-Reize.
primären visuellen Kortex liegende Sehbahn mit den oben
G Die Neurone der Area striata (V1) sind in senkrecht
erwähnten Schaltstationen ist retinotop organisiert.)
zur Oberfläche angeordnete okuläre Dominanz-
G Die primären, sekundären und höheren Sehrinden- säulen organisiert, die jeweils in Orientierungs-
areale werden fortlaufend als V1, V2 etc bezeichnet. säulen unterteilt sind. Dazwischen gibt es Säulen,
Die primäre Sehrinde (V1) ist retinotop organisiert, deren Neurone farbspezifisch reagieren.
Die Fovea centralis ist dabei weit stärker repräsen-
tiert als die übrige Retina. Einfache, komplexe und hyperkomplexe
rezeptive Felder in V1 und V2
Okuläre Dominanzsäulen in V1 Zwar finden sich auch in V1 noch Neurone mit konzen-
Die primäre Sehrinde ist aus 6 deutlich unterscheidbaren trischen rezeptiven Feldern (v. a. in der Schicht IVc,
Zellschichten aufgebaut (. Abb. 17.18b, . Abb. 5.18). . Abb. 17.18b), aber dazu kommen Neurone mit parallel an-
Diese Schichtenstruktur hat ihr auch den Namen Area geordneten rezeptiven Feldern (einfache rezeptive Felder,
striata (»gestreift«) eingetragen (alle anderen kortikalen . Abb. 17.19a) und solche, bei denen nur differenzierte
visuellen Zentren werden daher als extrastriär zusammen- Reizmuster, wie z. B. Hell-Dunkel-Konturen oder Konturun-
gefasst, 7 unten). Die Nervenfasern der Sehstrahlung terbrechungen (komplexe rezeptive Felder, . Abb. 17.19b)
enden v. a. in der Schicht IV, von wo aus die Informations- oder aneinander stoßende Konturen (hyperkomplexe re-
verarbeitung im Kortex ihren Ausgang nimmt. Diese er- zeptive Felder, . Abb. 17.19c) zu einer Aktivitätsänderung
folgt vorwiegend senkrecht zur Schichtung, also in korti- führen.
kalen Säulen von Neuronen, die retinotop benachbart sind. Neurone mit komplexen und hyperkomplexen RF
Dabei wechseln sich Säulen, die vorwiegend Information reagieren auf bewegte Reizmuster stärker als auf unbeweg-
aus dem linken Auge verarbeiten, regelmäßig mit solchen te. Insgesamt kommen die einfacheren rezeptiven Felder
ab, bei denen die Verarbeitung aus dem rechten Auge do- mehr in der Eintrittszone der Sehstrahlung (Schicht IV)
miniert. vor, die komplexeren in den darüber- und darunterliegen-
Die Säulen werden okuläre Dominanzsäulen genannt den Schichten (. Abb. 17.18b). Exzitatorische rezeptive
(. Abb. 17.18b, Klammern links und rechts). Dazwischen Felder (ERF, . Abb. 17.19b, c) sind meist von einem Areal
liegen binokulare Bereiche (BF und Roteinfärbung), in umgeben, von dem durch Hell-Dunkel-Muster nur eine
denen die Nervenzellen gleich stark vom linken und rech- Hemmung der neuronalen Aktivität ausgelöst werden kann
ten Auge aktiviert werden (binokulare Fusion). (inhibitorische rezeptive Felder, IRF, . Abb. 17.19c). Die
Farbverarbeitung erfolgt in getrennten Rot-Grün- und
Orientierungssäulen in den Dominanzsäulen Gelb-Blau-Systemen.
Innerhalb der okulären Dominanzsäulen lässt sich eine
weitere Differenzierung nachweisen, nämlich »Unter- Hyperkolumnen des binokularen Sehens
säulen«, in denen die Neurone einander ähnliche rezeptive Die oben skizzierte funktionelle Architektonik der visuellen
Felder aufweisen. Diese Felder sind nicht mehr rund (wie kortikalen Areale zeigt, dass offensichtlich eine örtliche
398 Kapitel 17 · Das visuelle System

. Abb. 17.20a, b. Zwei Beispiele für Scheinkonturen. Neurone der


Area V2 reagieren auf Reizmuster dieser Art, d. h. sie generieren diese
Scheinkonturen. Die Buchstaben samt Tiefenwirkung in a sind objek-
tiv nicht vorhanden, sondern werden durch die schwarzen Druckfor-
men erzielt. In b entsteht der Eindruck einer Kurvenkontur in der Bild-
mitte, obwohl keinerlei Kurvenlinie vorhanden ist

nachbarte Hyperkolumnen repräsentieren benachbarte


Orte der Retina und damit des Gesichtsfeldes.
G Die V1- und V2-Neurone haben neben konzentri-
schen auch einfache, komplexe und hyperkomplexe
rezeptive Felder, die es ihnen ermöglichen, die
Struktur-, Bewegungs- und Farbeigentümlichkeiten
der visuellen Reizmuster zu analysieren. Hyper-
kolumnen sind komplette Analysemodule für um-
schriebene Orte im Gesichtsfeld beider Augen.

Aufgaben der höheren visuellen Areale


Die sekundären extrastriären visuellen Kortexareale V2, V3
und V4 des Hinterhauptlappens sind noch retinotop orga-
nisiert. Sie übernehmen die afferenten visuellen Signale
. Abb. 17.19a–c. Rezeptive Feldorganisation und Entladungs- aus den verschiedenen Neuronenklassen der Area V1.
muster einzelner Neurone der Areae V1 und V2. a Neuron aus Area
Hierbei erfolgt eine Aufteilung nach funktionellen Ge-
V1 mit einfachem RF aus parallel angeordneten On- und Off-Zonen.
b Neuron aus Area V2 mit komplexem RF. Die maximale Aktivierung sichtspunkten:
wird durch 2 Kontrastgrenzen ausgelöst, die rechtwinklig aufeinander- 4 Die Neurone der Area V2 dienen überwiegend der visu-
stoßen. c Neuron aus Area V2. Die stärkste Aktivierung wird durch ellen Gestalterkennung stationärer Reizmuster. Ein
einen schräg orientierten Lichtbalken begrenzter Ausdehnung her- Teil dieser Nervenzellen reagiert auch auf Scheinkon-
vorgerufen (Endhemmung). Die Reizmuster sind jeweils weiß darge-
turen, die in Wirklichkeit nicht vorhanden sind, aber
stellt. In b und c zeigen die Pfeile die Bewegungsrichtung des Reiz-
musters an wahrgenommen werden (. Abb. 17.20). Bereits in Area
V2 werden also funktionelle Gestaltergänzungen vorge-
17 nommen, die für die Objektwahrnehmung des Alltags
Aufteilung zur parallelen Signalverarbeitung nach ver- wichtig sind.
schiedenen Qualitäten des Sehens (Farbe, Strukturen etc.) 4 Die Neurone der Area V3 reagieren besonders gut auf
vorliegt. Dies ist kein Widerspruch zur am Anfang dieses bewegte Konturen, Area V3 hat also die Aufgabe der
Abschnitts beschriebenen retinotopen Organisation von Gestalterkennung kohärent bewegter Objekte.
V1, denn für jeden Ort des Gesichtsfelds beider Augen exis- 4 Die Neurone der Area V4 sind farbspezifisch organi-
tieren Hyperkolumnen, die bei einer Kortexoberfläche von siert. Diesem Areal kommt die Objekterkennung auf-
etwa 1×1 mm sich über sämtliche Kortexschichten in die grund charakteristischer Oberflächenfarben und Farb-
Tiefe erstrecken und alle Analysesysteme enthalten. Be- kontraste zu.
17.3 · Signalverarbeitung in den subkortikalen und kortikalen visuellen Zentren
399 17

Box 17.6. Theorien des Farbensehens


Die Tatsache, dass für den normal Farbtüchtigen alle Farb- Der Erfinder der Polaroidkamera, Edwin Land, hat ex-
töne selbstleuchtender Farben durch 3 Primärfarben hin- perimentell gezeigt, dass die bisherigen Farbtheorien
reichend und eindeutig beschreibbar sind und dass die wahrscheinlich bestenfalls erste Annäherungen an die
Mehrheit der Bevölkerung zur Mischung eines vorgege- tatsächlichen Verhältnisse sind. Er wiederholte beispiels-
benen Farbtones praktisch identische Anteile der Primär- weise die klassischen Farbmischexperimente, wobei er
farben mischt, hat zur trichromatische Theorie des aber nicht dreifarbige einfache Lichtfelder, sondern zwei-
Farbensehens geführt, die eine starke Stütze in dem in farbige Diapositive von komplexen Gegenständen ver-
. Abb. 17.14d gezeigten Befund hat, dass sich in der wendete. Dabei fand er, dass ein überraschender Farb-
Netzhaut des Menschen 3 Zapfentypen mit unterschied- reichtum auch bei nur 2 wirklich vorhandenen Farben
licher spektraler Empfindlichkeit nachweisen lassen. wahrgenommen werden kann. Die Technik besteht darin,
Beobachtungen von Kontrastphänomenen führten dieselbe Szene durch 2 verschiedene Farbfilter aufzuneh-
andererseits in der Gegenfarbentheorie zu dem Schluss, men und die resultierenden Diapositive mit 2 Projektoren
dass unsere Farbwelt aus den 4 Urfarben Rot, Gelb, Grün durch dieselben Farbfilter übereinander zu projizieren.
und Blau aufgebaut ist, wobei sich die Wirkungen der Ge- Dabei nehmen wir Farben wahr, die physikalisch über-
genfarben Rot/Grün und Blau/Gelb sowie von Schwarz/ haupt nicht angeboten werden, und es kommt bei be-
Weiß antagonistisch verhalten. Solche antagonistischen kannten Gegenständen, z. B. einer grünen Wiese, zu einer
Erregungs- und Hemmprozesse lassen sich heute in der erstaunlichen Farbkonstanz unter den unterschiedlichs-
Tat nicht an den Sensoren, also den Zapfen, aber bereits ten Lichtbedingungen. Erwartung und vorhergehende
an den unmittelbar nachgeschalteten Neuronen der Kenntnis der normalen Farbe der Gegenstände sind also
Netzhaut und auf späteren Stationen der Sehbahn beob- von Bedeutung. Aber auch dies ist sicher nicht die ganze
achten (. Abb. 17.16). Die trichromatische Theorie des Erklärung, die z. B. auch einbeziehen müsste, warum sich
Farbensehens und die Gegenfarbentheorie sind also auf keine Metallfarben wie Gold und Silber aus den Spektral-
verschiedenen Ebenen des visuellen Systems »richtig«. farben und Weiß mischen lassen.

Die Neurone der Area V5 (MT in . Abb. 17.29) im media-


len Temporallappen reagieren auf Bewegungen von Objek-
ten (Abschn. 17.5.2).
Die Signale aus den retinotop organisierten extrastriä-
ren visuellen Elementarregionen V2–V4 werden anschlie-
ßend in die übrigen in der . Abb. 17.21 eingezeichneten
visuellen Assoziations- und Integrationsregionen über-
tragen, um dort weiterverarbeitet zu werden (vermutlich
gibt es mehr als 30 solcher visueller Areale). Dabei geht die
retinotope Organisation bei jedem Verarbeitungsschritt zu-
gunsten anderer Aspekte der Informationsverarbeitung
mehr und mehr verloren (Abschn. 17.5.1 und 17.5.2).
G Von V1 wird die visuelle Information in die ver-
schiedenen extrastriären visuellen kortikalen Areale . Abb. 17.21. Kortikale visuelle Areale eines Rhesusaffen. Die an
übertragen. Jedes der Areale analysiert spezielle der äußeren Hirnoberfläche eingezeichneten visuellen Areale im Okzi-
Aspekte (z. B. Kontrast-, Form- und Farbmerkmale) pital-, Parietal- und Temporallappen werden ergänzt durch hier nicht
der visuellen Reizmuster. sichtbare visuelle Felder in der Tiefe der Sulci. Erklärung der Abkürzun-
gen: Area V1, V2, V3 und V4 entsprechen den okzipitalen Hirnrinden-
feldern. Areae PO, PIP und DP sind parietale visuelle Felder, Area VP der
17.3.3 Ontogenetische Entwicklung ventroposteriore Bereich der okzipitotemporalen Übergangsregion.
und Plastizität der Sehrinde PIT sind posteriore, CIT zentrale und AIT anteriore Teile des inferioren
Temporallappens (v = ventral, d = dorsal). Die vestibuläre Area PIVC
und eine optokinetische Area T3 liegen im Fundus der Fissura lateralis
Postnataler einäugiger Lidverschluss Sylvii, die Areae MT (»medial temporal«), MST (»medial superior tem-
und beidäugiges Sehen poral«) und FST (»Fissura superior temporalis«) in der Tiefe des Sulcus
Wird bei einem Kätzchen oder einem jungen Affen ein Au- temporalis superior (STS)

genlid kurz nach der Geburt für einige Tage verschlossen,


so können von diesem Auge später kaum noch Neurone
des visuellen Kortex erregt werden, selbst nach mehreren
400 Kapitel 17 · Das visuelle System

normalen Jahren nicht. Beidäugiges Sehen ist damit nicht Organisation der Orientierungssäulen durch
mehr möglich, das zeitweilig verschlossene Auge bleibt Umgebungsreize
lebenslänglich funktionslos. Im Gegensatz dazu hat eine Auch das Konturensehen ist für seine normale Entwick-
vorübergehende Ausschaltung eines Auges im späteren lung auf entsprechende visuelle Reize angewiesen. Werden
Leben keine Nachwirkungen. Die Zeit, in der das visuelle beispielsweise neugeborene Katzen in einer Umgebung auf-
System in seiner Entwicklung auf visuelle Reize unbedingt gezogen, die nur senkrechte Streifenmuster aufweist, dann
angewiesen ist, wird kritische Periode genannt. Bei jungen kommt es zu einem Überwiegen der senkrechten Orientie-
Katzen hat Lidverschluss während der 4. und 5. Woche den rung der Neurone der Orientierungssäulen im visuellen
stärksten Effekt. Kortex (. Abb. 17.18 und zugehöriger Text) und einem
Die bei Katzen und Affen beobachtete Unterentwick- Mangel an Neuronen mit anderen Richtungspräferenzen.
lung des visuellen Kortex bei Lidverschluss in einer frühen Verhaltensuntersuchungen an diesen Tieren zeigten, dass
Entwicklungsperiode existiert wahrscheinlich auch beim diese neuronale Fehlentwicklungen sich bei diesen Tieren
Menschen: Wie in Abschn. 17.1.4 erwähnt, haben Menschen, auch in einem defizitären visuellen Orientieren in der Um-
die z. B. durch eine Hornhauttrübung (Katarakt) in früher welt widerspiegeln. Die Tiere sind nach der Deprivation
Jugend erblindeten, später große Schwierigkeiten, das was nicht in der Lage, komplexe Richtungsunterscheidungen zu
sie sehen, richtig zu deuten. Auch die viel häufigere funk- lernen.
tionelle Blindheit eines Auges beim Schielen (Schielam- Allerdings zeigt sich, dass junge und auch erwachsene
blyopie, Abschn. 17.2.1) gehört hierher. In beiden Fällen ist Tiere durch intensives Training rehabilitiert werden können:
eine Unterentwicklung der okulären Dominanzsäulen des Nach erfolgreichem Training kommen die fehlenden Ori-
betroffenen Auges für die Funktionseinschränkung verant- entierungssäulen sowohl im Kortex wie auch im Thalamus
wortlich. wieder. Dies zeigt, dass im primären visuellen System auch
nach Abschluss der Entwicklung ein hohes Maß an neuro-
G Kurzzeitiger Verschluss eines Auges in der kritischen
naler Plastizität existiert.
postnatalen Periode verhindert dauerhaft die Ent-
wicklung der okulären Dominanzsäulen und damit Einfluss der Motorik auf die Sehentwicklung
des zweiäugigen Sehens. Die Schielamblyopie be-
Für eine normale Entwicklung des Sehsystems ist schließ-
ruht auf demselben Mechanismus.
lich noch wichtig, dass diese »aktiv«, also mit Hilfe des mo-
torischen Systems »erarbeitet« wird. Werden neugeborene
Kompensatorische neuronale Plastizität Katzen so aufgezogen, dass in einem entsprechend konstru-
In Box 14.3 haben wir ein Beispiel für kompensatorische ierten Apparat sich das eine Kätzchen 3 Stunden am Tag frei
Plastizität bei blind Geborenen demonstriert: Nicht nur ist bewegen kann, während das andere dieselbe Umgebung aus
die Repräsentation des somatosensorischen Areals aktivi- einer kleinen Gondel passiv miterlebt (die übrige Tageszeit
tätsabhängig gewachsen, auch im nicht benützten okzi- bleiben die Kätzchen mit ihrer Mutter im Dunkeln), dann
pitalen visuellen System werden Tastreize analysiert. Die sind die »aktiven« Kätzchen schneller und wesentlich besser
Kompensation ist sehr spezifisch: Blinde, die mit ihrem in der Lage, sich in einer neuen Umgebung zurechtzufin-
rechten Zeigefinger die Braille-Blindenschrift lesen, weisen den, als die »passiven«. Anders als bei den oben geschilder-
eine Vergrößerung der Repräsentation dieses Fingers und ten Experimenten sind die Defizite aber nicht permanent.
eine deutliche Verstärkung der motorischen Erregbarkeit
G Eine in der postnatalen Entwicklungszeit einförmig
(gemessen mit transkranieller Magnetstimulation, TMS,
strukturierte Umgebung führt zu dauerhaft ein-
Kap. 20) des davor liegenden motorischen Areals auf.
förmigen Orientierungssäulen. Postnatales aktiv-
Blinde, die mehrere Finger benützen, verlieren die ho-
motorisches Erleben der Umwelt trainiert das Sehen
munkuläre Topographie, d. h. dass die Finger im moto-
besser als passives Zusehen.
rischen und somatosensorischen Kortex nicht mehr in der
Reihenfolge Daumen inferior und kleiner Finger superior
angeordnet sind. Die neuronalen Reorganisationen dieser 17.3.4 Diagnostik und Therapie zentraler
Areale gehen mit Verbesserungen der motorischen und Sehstörungen
17 sensorischen Leistung einher (Abschn. 25.2, kortikale
Karten). Visuell evozierte Potenziale
Nach Lichtreizen sind über dem okzipitalen Kortex visuell
G Früher Verlust der Sehkraft führt zu Reorganisation evozierte Potenziale abzuleiten (zum Begriff der evozierten
der multisensorischen Zusammenarbeit im Gehirn: Potenziale Kap. 20). Sie gestatten, allerdings in sehr be-
Der Sehkortex bekommt taktile Funktionen. Durch grenztem Umfang, eine nicht-invasive Untersuchung des
Benutzung der Blindenschrift kommt es zu weitge- visuellen Systems. Bei den visuellen Reizen werden
henden Um- und Reorganisationen der primären blitzevozierte (z. B. unstrukturierte Lichtblitze) und muster-
Kortizes. umkehrevozierte Potenziale (z. B. Schachbrettmuster bei
17.3 · Signalverarbeitung in den subkortikalen und kortikalen visuellen Zentren
401 17

Verlust der VEP einher. Wenn eine klinische Besserung


eintritt, erholen sich auch die Amplituden der VEP.
G Mit visuell evozierten kortikalen Potenzialen (VEP)
können Läsionen in der Netzhaut, in der zentralen
Sehbahn und im Sehkortex diagnostiziert werden.

Box 17.7. Sehen ohne kortikale Sehrinde


(»blindsight effect«)

Ein umschriebener Ausfall des visuellen Kortex V1,


z. B. durch eine Schussverletzung, hat ein permanen-
tes Skotom (Definition Abschn. 17.1.1) im zugehörigen
(retinotopen) Gesichtsfeld zur Folge. Ist der gesamte
visuelle Kortex ausgefallen, resultiert eine permanente
»zentrale« Blindheit. Lichtblitze innerhalb des Skotoms
werden von den Patienten nicht bewusst wahrgenom-
men, und auf Befragen verneinen sie, diese gesehen
zu haben. Bittet man sie aber, mittels Fingerzeig ab-
zuschätzen, wo im Gesichtsfeld der Lichtblitz auftrat,
so können sie dies mit bemerkenswerter Genauigkeit
anzeigen. Bei Lichtbalken können sie sogar angeben,
ob dieser z. B. horizontal oder vertikal lag, obwohl sie
ihn angeblich überhaupt nicht gesehen haben und
die ganze Fragerei etwas lächerlich finden (. Abb. 1.2
in Abschn. 1.3.1).
Als Ergebnis dieser Versuche ist festzuhalten, dass
. Abb. 17.22a–d. Visuell evozierte Potenziale (VEP). a Aus 40 Ant- anscheinend auch die subkortikalen und tertiären kor-
worten gemitteltes VEP von einer Versuchsperson (okzipitale Elektro- tikalen visuelle Zentren in der Lage sind, Information
de). Zum Zeitpunkt des Pfeils wechselte ein vertikales Streifenmuster
über visuelle Signale an die motorischen Zentren
von 2 Perioden jeweils so, dass alle schwarzen Streifen weiß und alle
weißen Streifen schwarz wurden. b–d Ereigniskorrelierte VEP, die weiterzugeben. Allerdings erreicht diese Information
durch einen Gestaltwechsel (bei Pfeil) hervorgerufen wurden (Ablei- nicht das Bewusstsein. Der Effekt wird »blindsight
tung zwischen der zentralen Elektrode Cz und gekoppelten Mastoid- effect« genannt. Er unterstreicht, dass der Kortex für
elektroden). Mittelwerte von 5 erwachsenen weiblichen Versuchsper- bewusste Wahrnehmungen, aber nicht für unbewuss-
sonen und jeweils 40 Reaktionen auf jede der 3 Stimuluskategorien
tes Sehen, unentbehrlich ist. Der »blindsight effect«
(Stuhl, Gesicht, Baum). Die VEP sind mit der statistischen Fehlerbreite
(gelb) aufgezeichnet. Sie zeigen deutliche Unterschiede bei den ver- bestätigt außerdem, dass zum Bewusstwerden eines
schiedenen Reizklassen. Das durch das Gesicht hervorgerufene VEP Sinnesreizes die lokale Erregungserhöhung im primä-
enthält gesichterspezifische Komponenten im Zeitbereich zwischen ren und sekundären Projektionsfeld ebenso wichtig ist
100 und 300 ms nach Reizwechsel wie die diffuse Aktivierung großer Hirnareale durch
die Formatio reticularis (Kap. 21).

dem die hellen und dunklen Anteile rhythmisch vertauscht


werden) häufig registriert. Letztere haben gegenüber ersteren Visuelle Rehabilitation
den großen Vorteil, dass die mittlere Leuchtdichte konstant Blindheit befällt hauptsächlich ältere Menschen. Ungefähr
bleibt und sich nur die Bildstruktur ändert. . Abb. 17.22 1500 von 100.000 Menschen über 65 Jahren sind blind.
zeigt typische ereigniskorrelierte Potenziale auf verschie- Einigen von ihnen kann heute in geradezu dramatischer
dene optische Reize. Weise das Augenlicht zurückgegeben werden, z. B. durch
Zahlreiche organische Störungen und Erkrankungen eine Linsen- oder Hornhauttransplantation. Andere Reha-
des visuellen Systems können mit Hilfe der VEP besser bilitationsmöglichkeiten sind noch im Erprobungsstadium,
als mit anderen Methoden diagnostiziert werden. Erwähnt insbesondere der Versuch, durch direkte elektrische Rei-
seien Sehschärfebestimmung, Amblyopie, Trübungen, Stö- zung des visuellen Kortex zu optischen Eindrücken zu
rungen des Farbsinnes, Gesichtsfelddefekte und Entzün- kommen. Dazu wird von einer auf dem Kopf befestigten
dungen des optischen Nerven (z. B. bei multipler Sklerose). Miniaturfernsehkamera eine Serie von Elektroden akti-
Auch bei funktionellen Sehstörungen, z. B. bei Simulation, viert, die permanent auf dem visuellen Kortex eingepflanzt
sind sie zur Objektivierung des Befundes nützlich. Kortikale sind. Vielleicht wird es auf diese Weise mindestens in Ein-
Blindheit geht beim Erwachsenen in der Regel mit einem zelfällen möglich, Hinweise zur optischen Orientierung
402 Kapitel 17 · Das visuelle System

im Raum zu erhalten, oder vielleicht sogar wieder lesen zu 17.4 Augenbewegungen beim Sehen
können. (Okulomotorik)
Bei inkompletten Einschränkungen des Sehvermögens
lassen sich durch entsprechende Rehabilitationsmaßnah- 17.4.1 Bewegungsrichtungen der Augen
men oft erstaunliche Verbesserungen erzielen. Bei einem
Gesichtsfeldausfall nach Hirnverletzung ist es z. B. keines- Äußere Augenmuskeln und Mikrotremor
falls ausgemacht, dass alle Zellen des zugehörigen zentralen In der Augenhöhle (Orbita) wird jedes Auge von 6 äußeren
Sehsystems ausgefallen sind. Training kann hier auch noch Augenmuskeln bewegt, deren Lage und Bezeichnung
nach Monaten und Jahren zu beachtlicher Erholung führen. in . Abb. 17.24 zu sehen ist. Diese 6 Muskeln werden von
Wird am Rande eines Gesichtsfeldausfalls (oder Skotoms, 3 verschiedenen Hirnnerven innerviert, wie dort in der
Abschn. 17.1.1) die Unterscheidung von Helligkeitsunter- Legende beschrieben.
schieden trainiert, so kann dies zusätzlich auch zu einer Mittels der äußeren Augenmuskeln kann der kugelför-
Verkleinerung des Skotoms führen, v. a. bei einem gradu- mige Augapfel horizontale, vertikale und zyklorotatorische
ellen Übergang zwischen dem Skotom und dem normalen (torsionale) Bewegungen ausführen, wobei durch die Kom-
Gesichtsfeld. Gleichzeitig lassen sich eventuell Verbesse- bination von horizontalen und vertikalen Bewegungen
rungen des Visus und der Farbtüchtigkeit erzielen. auch schräge Augenbewegungen möglich sind (Details
7 unten). Aber auch wenn ein Punkt im Raum fixiert wird,
G Visuelle Rehabilitation kann insbesondere bei teil-
bleiben die Augen nicht völlig ruhig. Einmal kommt es
weise erhaltenem Sehvermögen dieses deutlich
während längerer Fixationsperioden (0,5–2 s Dauer) zu
verbessern.
langsamen Verschiebungen des Fixationspunktes gerin-
ger Amplitude. Außerdem ist jede Fixation von einem
Perzeptuelles Lernen leichten Zittern oder Mikrotremor beider Augen überlagert
Unter perzeptuellem Lernen versteht man jede länger an- (Amplitude 1–3 Winkelminuten, Frequenz zwischen
haltende Änderung der Wahrnehmung eines Reizes nach 20–150 Hz).
Training (Übung) oder wiederholter Erfahrung mit dem Der unwillkürliche Mikrotremor ist anscheinend für
Reiz. Perzeptuelles Lernen ist implizit (Kap. 25), d. h. es er- das Sehen unbedingt erforderlich. Man kann nämlich ex-
folgt ohne bewussten Zugriff und führt zu keinem »gewusst,
dass….«, sondern nur zu einem »gewusst, wie…«. Auch
assoziative Verbindungen zwischen 2 Reizen und Reak-
tionen sind für perzeptuelles Lernen nicht notwendig:
. Abbildung 17.23 zeigt die sog. Vernier-Unterscheidung,
die das Erkennen von leicht versetzten senkrechten Strichen
ermöglicht, die weit unter dem Durchmesser zweier be-
nachbarter Photorezeptoren in der Fovea liegen und als
»hyperacuity«(Hyperempfindlichkeit) bezeichnet werden.
Diese »hyperacuity« kann durch Lernen weiter verbessert
werden und beruht auf Erhöhung der Richtungsselektivität
der Neurone im primären visuellen Kortex, die um 100 ms
nach Reizdarbietung bereits abgeschlossen ist.

. Abb. 17.24. Lage der äußeren Außenmuskeln in der Augen-


17 höhle (Orbita). Die 6 Muskeln werden durch 3 Hirnnerven bewegt:
der Nervus trochlearis (IV) innerviert den M. obliquus superior, der
N. abducens (VI) den M. rectus lateralis und der N. oculomotorious (III)
die 4 übrigen (Mm. rectus med., inf., sup., M. obliq. inf.) sowie den will-
kürlich kontrollierbaren Heber des Augenlides, M. levator palpebrae
. Abb. 17.23a, b. Entdecken von Vernier-Linien. Man erkennt so- superioris (abgeschnitten in der Abb.). Schädigung eines der genann-
fort (<100 ms) die nach links versetzte Vernier-Linie in a, während man ten Hirnnerven hat eine Augenmuskellähmung zur Folge. Wichtigstes
in b zeitraubende, bewusste und serielle Suche »einschalten« muss, Zeichen dafür sind Doppelbilder, die der Patient sieht, wenn er in jene
weil zu viele nach rechts versetzte Vernier-Linien von der einzigen Linie, Richtung blickt, in die der gelähmte Muskel das Auge normalerweise
die nach links versetzt ist, ablenken bewegen würde
17.4 · Augenbewegungen beim Sehen (Okulomotorik)
403 17

perimentell ein Bild auf der Retina so fixieren, dass es sich Registrieren der Augenbewegungen
bei jeder Augenbewegung mitbewegt und damit auf der- Relativ zur Retina ist die Hornhaut des Auges elektrisch
selben Retinastelle projiziert bleibt. Ein derartig optisch sta- positiv geladen. Dieses korneoretinale Bestandspotenzial
bilisiertes Bild verschwindet nach wenigen Sekunden, ist durch (langsame) Ionenflüsse zwischen Retinazellen be-
wahrscheinlich weil die Photosensoren auf den Dauerreiz dingt (. Abb. 17.25, Legende). Das Auge bildet also einen
adaptieren. Das durch den Mikrotremor bewirkte dauernde elektrischen Dipol, dessen elektrisches Feld mit Makro-
Verschieben von Rändern und Umrissen scheint dabei der elektroden, die am äußeren Rand der Augenhöhle ange-
für die Wahrnehmung ausschlaggebende Prozess zu sein. klebt werden, aufgezeichnet werden kann. Dieses Elektro-
okulogramm (EOG) stellt eine einfache und zuverlässige
G Sechs äußere Augenmuskeln, die von 3 Hirnnerven
Methode zur Registrierung der Augenbewegungen dar
innerviert werden, bewegen den Augapfel. Der
(. Abb. 17.25h). Wird das EOG bei den anschließend be-
Mikrotremor während der Fixation ist anscheinend
sprochenen Nystagmusprüfungen eingesetzt, so nennt man
für ein stabiles Sehen unbedingt erforderlich, da
es auch Nystagmogramm (Abschn. 17.4.2).
er die vollständige Adaptation der Photosensoren
Das EOG darf nicht verwechselt werden mit denjenigen
verhindert.
elektrischen Spannungsschwankungen, die auf ähnliche
Weise registriert werden, aber nicht durch Bewegungen des
Vergenzbewegungen Auges, sondern durch Belichtung oder Verdunkelung der
Wenn ein Punkt in großer Ferne fixiert wird, sind die Seh- Netzhaut bedingte elektrische Spannungsschwankungen
achsen parallel (Abschn. 17.1.3). Zur Fixation in der Nähe sind. Diese Elektroretinogramme (ERG) stellen summierte
müssen die optischen Achsen beider Augen konvergieren. Potenziale der Retinazellen dar. Man kann sie vielleicht am
Bei anschließendem Blick in die Ferne ist wieder eine Diver- ehesten mit den EEG-Registrierungen der Hirnrinde ver-
genzbewegung erforderlich. Die Konvergenzbewegungen gleichen.
sind mit der Kontraktion des Ziliarmuskels zur Nahfokus-
G Durch das korneoretinale Bestandspotenzial können
sierung fest gekoppelt (Abschn. 17.1.3). Außerdem tritt bei
die Augenbewegungen als Elektrookulogramm, EOG,
Nahfokussierung »automatisch« eine Pupillenverengung
registriert werden. Das Elektroretinogramm, ERG,
auf, die das Tiefensehen verbessert und Fehler der optischen
spiegelt dagegen elektrische Spannungsschwankun-
Abbildung reduziert (vgl. »Abblenden« beim Photoapparat).
gen in der Retina wider.
Diese 3 Vorgänge werden als Konvergenztrias bezeichnet.

Konjugierte Augenbewegungen 17.4.2 Nystagmusbewegungen


Wenn wir frei im Raum umherblicken, bewegen sich beide
Augen gleichzeitig miteinander in dieselbe Richtung. Bei Optokinetischer Nystagmus
diesen konjugierten Augenbewegungen bewegen sich (Eisenbahnystagmus)
die Augen nie langsam und gleichmäßig von einem Fixa- Beim Blick aus einem Seitenfenster eines fahrenden Eisen-
tionspunkt zum anderen, sondern sie springen in raschen bahnzuges halten die Augen einen Fixationspunkt so lange
Rucken, genannt Sakkaden, von einem Fixationspunkt wie möglich fest. Die Augen führen also eine langsame
zum nächsten (. Abb.17.25a–c). Augenfolgebewegung entgegen der Fahrtrichtung aus.
Zwischen den Sakkaden treten Fixationsperioden von Sobald der fixierte Punkt zu entschwinden droht, sucht sich
0,15 bis etwa 2 s Dauer auf. Die Dauer der Sakkaden selbst das Auge mit einer Sakkade in Fahrtrichtung einen neuen
schwankt zwischen 15 ms und etwa 100 ms und ist nähe- Fixationspunkt. Ein solcher periodischer Wechsel zwischen
rungsweise proportional zur Sakkadenamplitude, die zwi- Sakkaden und langsamen Augefolgenbewegungen wird
schen 3 Winkelminuten (Mikrosakkaden) und bis zu 90o Nystagmus genannt.
liegen kann. Große Sakkaden werden in der Regel von Da der Nystagmus in unserem Beispiel durch die Bewe-
Kopfbewegungen begleitet (. Abb. 17.25d). gung der optischen Reize ausgelöst wird, sprechen wir vom
Wird ein bewegtes Objekt mit den Augen verfolgt, so tre- optokinetischen Nystagmus (manchmal auch vom Eisen-
ten gleitende Augefolgebewegungen auf (. Abb. 17.25e). bahnnystagmus). Die Sakkade wird auch als Rückstellsak-
Vorausgesetzt die Winkelgeschwindigkeit des verfolgten kade bezeichnet. Die Richtung des Nystagmus wird verein-
Objekts ist nicht zu groß, bleibt sein Abbild auf diese Weise barungsgemäß nach der Bewegungsrichtung der Sakkade
auf der Stelle des schärfsten Sehens, der Fovea centralis. angegeben.

G Sehen in der Nähe erfordert Vergenzbewegungen Vestibulärer Nystagmus


(Konvergenz der Sehachsen beider Augen). Es gibt Sobald wir uns auf einem Drehstuhl zu drehen beginnen,
2 Arten von konjugierten Augenbewegungen, näm- versuchen wir, den gerade fixierten Punkt mit den Augen
lich Sakkaden mit Fixationsperioden und gleitende festzuhalten, ganz ähnlich wie wir es eben bei der Eisen-
Augenfolgebewegungen. bahnfahrt erlebt haben. Es kommt zu einer langsamen
404 Kapitel 17 · Das visuelle System

. Abb. 17.25a–h. Elektrookulographische Registrierung (Elek- langsamere vertikale Sakkade. d Augen- und Kopfbewegung eines
trookulogramm, EOG) der Augenbewegungen des Menschen. Rhesusaffen bei einem Lichtreiz im rechten Gesichtsfeld. e Horizontale
Aufgrund des korneoretinalen Bestandspotenzials (verursacht durch Augenbewegung auf einen im Dunkel bewegten Lichtpunkt und
Ionenströme zwischen den retinalen Pigmentzellen und den Photo- auditorische Augenfolgebewegungen auf einem im Dunkeln beweg-
sensoren, . Abb. 17.13) bildet das Auge einen Dipol (Kornea positiv ten kleinen Lautsprecher, der weißes Rauschen abgab. f Horizontale
gegen Retina), dessen Bewegungen mit der in h gezeigten Methode Augenbewegungen beim Lesen eines sprachlich und inhaltlich ein-
17 als EOG registriert werden können. a Horizontale Sakkaden beim fachen Textes (Albert Schweitzer »Aus meiner Kindheit und Jugend-
freien Umherblicken (Inspektionssakkaden). b Große horizontale zeit«). g Lesen eines schwierigen Textes von G.F. Hegel
Zielsakkade (Z) mit kleiner Korrektursakkade (K). c Horizontale und
17.4 · Augenbewegungen beim Sehen (Okulomotorik)
405 17

Gegenbewegung der Augen, die natürlich nur bis zu einem


gewissen Punkt möglich ist. Anschließend springt das Auge
mit einer Sakkade in Drehrichtung auf einen neuen Fixa-
tionspunkt. Es entsteht also wiederum ein Nystagmus, dies-
mal ein Drehnystagmus. Er ist einerseits durch die Relativ-
bewegungen des optischen Reizes bedingt, insoweit also
ein optokinetischer Nystagmus, aber er hat auch eine sehr
starke vestibuläre Komponente, denn die Drehbewegung
aktiviert die Sensoren der horizontalen Bogengänge des
Gleichgewichtsorgans, die ihrerseits zu einem horizontalen
vestibulären Nystagmus führen (Abschn. 18.5.2).
Wird nach längerer gleichförmiger Drehung plötzlich
gestoppt, so kommt es noch für eine Weile zu einem postro-
tatorischen Nystagmus in die Gegenrichtung des anfäng-
lichen Drehnystagmus, da die Gleichgewichtssensoren jetzt
in der umgekehrten Richtung wie bei Andrehen aktiviert
werden. Alle Formen von Nystagmus, besonders patholo-
gische Spontannystagmen, gehen häufig mit Schwindel
und Gleichgewichtsstörungen einher.
G Der Nystagmus stellt einen periodischen Wechsel
von langsamen Augenfolgebewegungen und Sakka-
den dar. Optokinetische Nystagmen kommen bei
Eisenbahnfahrten, rotatorische und postrotatorische . Abb. 17.26. Zentralnervöse Grundlagen des Bewegungssehens
bei Drehbewegungen vor. Spontannystagmen sind und der Umweltstabilität trotz Augenbewegungen. Dargestellt
sind in einem Blockdiagramm die Verknüpfungen zwischen den ein-
pathologisch, sie induzieren Schwindel.
zelnen zentralnervösen Stationen, die an der Verrechnung der von
der Retina kommenden Afferenz mit den Efferenzkopien der Bewe-
17.4.3 Zentralnervöse Kontrolle gungskommandos aus den blickmotorischen Zentren beteiligt sind.
Die Arbeitsweise dieser Schaltkreise ist im Text erläutert
und Verrechnung
der Augenbewegungen

Okulo- und blickmotorische Zentren apfels mit einem Finger eine Verschiebung der Sehwelt
Vom Tractus opticus zweigen schon kurz nach der Sehkreu- in entgegengesetzter Richtung (und ein Doppelbild, sofern
zung (Chiasma opticum) Seitenäste (Kollateralen) ab, die man das andere Auge nicht bedeckt oder geschlossen hält).
zu denjenigen Kerngebieten des Hirnstammes ziehen, von Dieser einfache Versuch weist schon darauf hin, dass die
denen die Bewegungen unserer Augen gesteuert werden zur Stabilisierung der Sehwelt ausgewerteten Signale nicht
(siehe entsprechende Pfeile in . Abb. 17.17). Es handelt sich durch die Bewegung des Augapfels selbst ausgelöst werden
v. a. um die prätektale Region und die vorderen 4 Hügel (also z. B. aus den Dehnungssensoren der Augenmuskeln
(Colliculi superiores). stammen). Es werden vielmehr die von den blickmotori-
Von diesen Hirnstammzentren werden die Augenbe- schen Zentren zur Bewegungssteuerung der Augen ausge-
wegungen zusammen mit den Kopfbewegungen gesteuert sandten Kommandosignale schon im Gehirn unmittelbar
und koordiniert. Die dazu nötige Information erhalten mit den retinalen Bewegungsmeldungen so verrechnet,
diese Zentren nicht nur aus dem peripheren und zentralen dass keine Bewegung der Sehwelt wahrgenommen wird
visuellen System, sondern aus zahlreichen anderen Quel- (für die zuständigen visuellen Areale Abschn. 17.5.2).
len, wie z. B. dem Kleinhirn, dem Gleichgewichtsorgan, der Eine Verrechnung der efferenten motorischen Kom-
Tiefensensibilität oder dem Hörsystem (z. B. . Abb. 17.25e, mandos für die Augen- und Kopfbewegungen mit den affe-
rote Kurve). Insgesamt zählen die Steuerung der Okulomo- renten visuellen Signalen aus der Netzhaut wurde bereits
torik (Steuerung eines Auges) und der Blickmotorik (Steu- von Helmholtz im vorigen Jahrhundert postuliert. Diese
erung beider Augen) zu den kompliziertesten und faszinie- Verrechnung wurde im Modell des Reafferenzprinzips von
rendsten Beispielen der sensomotorischen Integration. v. Holst und Mittelstaedt präzise formuliert und ist in
. Abb. 17.26 schematisch dargestellt. Ähnliches geschieht
Umweltstabilität beim Umherblicken mit Hilfe der Tiefensensibilität, dem Gleichgewichtssinn
Bei Augen- und Kopfbewegungen bewegt sich die Umwelt und entsprechenden Efferenzkopien aus den motorischen
nicht, obwohl sich die Bilder der Umwelt auf der Netzhaut Zentren, um bei Kopf- und Körperbewegungen die Umwelt
verschieben. Dagegen bewirkt leichtes Bewegen des Aug- zu stabilisieren (. Abb. 18.10 in Abschn. 18.4.1).
406 Kapitel 17 · Das visuelle System

G Bei Augen- und Kopfbewegungen werden die blick- kann, indem man ungefähr eine halbe Minute das Zentrum
motorischen Kommandosignale so mit den afferen- eines rotierenden Schallplatten- oder CD-Spielers fixiert.
ten Signalen verrechnet, dass die Sehwelt subjektiv Wird dieser dann plötzlich gestoppt, scheint er für einige
unbewegt bleibt. Sekunden in umgekehrter Richtung zu rotieren.
Der in dieser Hinsicht eindrucksvollste Effekt wird
Bewegungswahrnehmung durch eine rotierende Spirale hervorgerufen. Sie scheint
Bewegliche Augen, wie die unseren, können auf zweierlei sich während der Rotation auszudehnen und nach Anhal-
Weise über Bewegungen unterrichten: zum einen, indem wir ten der Rotation zu kontrahieren. Wenn die Rotationsrich-
mit den Augen den Bewegungen eines Objektes auf dem tung umgekehrt wird, kehrt sich der Effekt um. Diese vor-
Hintergrund einer stabilen Umwelt folgen (das fixierte Ob- getäuschten Kontraktionen und Ausdehnungen können
jekt selbst bleibt bei diesen gleitenden Augefolgebewegungen nicht durch Augenbewegungen ausgelöst sein, da sie gleich-
auf der Fovea centralis abgebildet) und zum anderen, indem zeitig in alle Richtungen auftreten. Sie zeigen außerdem das
wir bei ruhigem Blicken diejenige Information auswerten, Paradox, dass die Scheibe sich ausdehnt oder zusammen-
die das Abbild eines sich bewegenden Gegenstandes bei sei- zieht und dabei von gleicher Größe bleibt. Wir haben es hier
ner Bewegung über die Netzhaut hervorruft. möglicherweise mit ähnlichen Phänomenen zu tun wie bei
Für diese beiden Formen der Bewegungswahrnehmung der Betrachtung der statischen Figuren der . Abb. 17.5. Das
stehen unterschiedliche zentralnervöse Strukturen und Gehirn erhält bei diesen Täuschungen aktuelle Hinweis-
Analyseprogramme zur Verfügung. Zum einen ein System, reize, die mit gespeicherten Wahrnehmungsinhalten der-
das Bewegung signalisiert, wenn die Augen bewegt werden. selben Hinweisreize nicht vereinbar sind. Deshalb »springt«
Zum anderen ein System, das die Bewegungswahrnehmung der aktuelle Wahrnehmungsinhalt zwichen den aktuellen
bei Bewegung der Bilder über die Netzhäute (bei unbeweg- und den gespeicherten Inhalten hin und her. Diese Inter-
ten Augen) vermittelt. Beide Systeme müssen außerdem pretation wird dadurch gestützt, dass Voraussetzung für das
miteinander und mit dem System zur Umweltstabilisierung Zustandekommen solcher Illusionen der Informationsaus-
(. Abb. 17.26) eng zusammenarbeiten. tausch zwischen primären und sekundären Rindenfeldern
Bewegung eines Abbildes über die Photosensoren der notwendig ist.
Netzhaut wird besonders am Rand des Gesichtsfeldes
G Bewegungstäuschungen beruhen auf Interpreta-
deutlich wahrgenommen, ohne dass man das Objekt sofort
tionsschwierigkeiten des visuellen Systems bei nicht
identifizieren kann. Ein solcher Reiz löst dann reflektorisch
eindeutiger visueller Information, d. h. von aktuellen
eine Blickbewegung aus, die den bewegten Gegenstand
Wahrnehmungen, die mit überlernten, gespeicher-
in den Bereich des zentralen Sehens bringt. Es handelt
ten Hinweisreizen desselben oder ähnlichen Inhalts
sich hier anscheinend um entwicklungsgeschichtlich sehr
nicht vereinbar sind.
alte Wahrnehmungsmechanismen, mit denen nach Art
eines Vorwarnsystems sichergestellt wird, dass eventuell
interessante oder gefährliche Objekte schnellstens durch 17.5 Hirnphysiologische Grundlagen
das in der Fovea hochentwickelte Mustererkennungssystem kognitiver visueller Leistungen
weitergegeben werden.
17.5.1 Lokalisation und Aufbau
G Bewegung in der Umwelt wird wahrgenommen, der visuellen Assoziationsfelder
wenn wir ein bewegtes Objekts mit gleitenden Auge-
folgebewegungen auf der Fovea centralis fixiert Höhere visuelle Areale des Parietal-
halten oder wenn sich das Abbild eines Gegenstan- und Temporallappens
des über die Netzhaut bewegt.
In Abschn. 17.3.2 sind die Lage und die Aufgaben der pri-
mären Sehrinde (V1, wegen ihres sechsschichtigen Auf-
Bewegungstäuschungen baus auch Area striata genannt) und die der nachfolgenden
Bei der Komplexität der Wahrnehmungsprozesse des Be- extrastriären visuellen Elementarregionen V2–V4 erläu-
wegungssehens verwundert es nicht, dass es gelegentlich tert, die alle noch retinotop organisiert sind. In der zuge-
17 auch zu Bewegungstäuschungen kommt, die (wie andere hörigen . Abb. 17.21 ist bereits zu sehen, dass sich die
optischen Täuschungen auch, . Abb. 17.6) die Leistungs- höheren visuellen Assoziations- und Integrationsregio-
fähigkeit des visuellen Systems eher unterstreichen als in nen über weite Areale des Parietal- und Temporallappens
Frage stellen. Das Phi-Phänomen und seine Rolle bei Film ausdehnen. Wie ebenfalls dort schon erwähnt, wird die
und Fernsehen wurde bereits erwähnt (Abschn. 17.1.4), visuelle Information aus den Elementarregionen dort wei-
ebenso das dort beschriebene autokinetische Phänomen terverarbeitet. Dabei geht mit jedem neuronalen Verarbei-
des »wandernden Lichtes«. tungsschritt die retinotope Organisation zugunsten anderer
Eine andere bekannte Bewegungstäuschung ist die Was- Aspekte der Informationsverarbeitung mehr und mehr ver-
serfalltäuschung, die man zu Hause sehr leicht auslösen loren.
17.5 · Hirnphysiologische Grundlagen kognitiver visueller Leistungen
407 17
Abgrenzungskriterien der höheren visuellen 17.5.2 Aufgabenverteilung der visuellen
Kortizes Assoziationsfelder
Die visuellen Assoziationsfelder sind durch die zytoarchi-
tektonische Anordnung der kortikalen Zellschichten von- Objekterkennung und -lokalisation
einander unterschieden, sowie durch metabolische Charak- Wie bei der großen Anzahl der höheren visuellen Kortex-
teristika wie die Verteilung der Zytochromoxidase-Reak- areale schon zu vermuten, funktionieren diese »arbeits-
tion. Auch die Verbindungen untereinander und mit teilig«, d. h. die einströmende visuelle Information wird
subkortikalen Hirnregionen und die Spezialisierung ihrer gleichzeitig in den verschiedenen Arealen verarbeitet. Diese
Nervenzellen, die nur auf bestimmte Merkmale des visu- parallele visuelle Signalverarbeitung ist in . Abb. 17.27
ellen Reizmusters reagieren, sind Abgrenzungskriterien illustriert (Box 17.8 für Läsionen in diesen Arealen):
der verschiedenen visuellen Hirnrindenfelder. Wichtig zum 4 Die visuelle Objektidentifikation (»Was ist das für ein
Verständnis der Funktion der visuellen Assoziationsfelder Gegenstand?«) ist v. a. eine Funktion der Assoziations-
ist, dass ein nicht unerheblicher Teil ihrer Axone zu den felder des okzipitotemporalen Übergangsgebiets und
primären und sekundären visuellen Hirnrindenfeldern im des unteren Temporallappens (»ventraler Pfad«). Die
Okzipitallappen zurückprojiziert, wodurch eine efferente Objekterkennung vollzieht sich dort im Kontext frühe-
Selektion des von dort kommende Erregungszuflusses rer visueller Erfahrungen. Dies gilt insbesondere für die
möglich wird (Kap. 21). Erkennung von Gesichtern, sowie von mimischen Aus-
drucksbewegungen und Gesten als wichtigen Kompo-
G Die höheren visuellen Kortexareale nehmen große
nenten averbaler visueller Kommunikation (Box 5.2).
Teile des Parietal- und des Temporallappens ein. Sie
4 Die räumliche Lokalisation der Gegenstände und die
unterscheiden sich in ihrer Feinstruktur und ihren
visuelle räumliche Orientierung (»Wo sind oder in
Verbindungen. Ihre Zuflüsse erhalten sie von den
welche Richtung bewegen sich die Objekte?«) ist da-
elementaren extrastriären Arealen (V2–V4), in die sie
gegen eine Leistung der parietalen und der präfrontalen
auch zurückprojizieren.
Assoziationsregionen (»dorsaler Pfad«).
4 Die visuell gesteuerten Bewegungen (»Wohin richtet
Phylogenetische Entwicklung visueller sich der Blick oder eine Greifbewegung?«) werden von
Hirnregionen den präfrontalen Assoziationsregionen kontrolliert
Bei nichtmenschlichen Primaten und beim Menschen sind (frontales Augenfeld, . Abb. 17.27a, rotes Areal).
60% aller Afferenzen visuell. Primaten sind »Augentiere«. 4 Schließlich ist die emotionale Bewertung eines visu-
In der Phylogenese der letzten 2,5 Mio. Jahre, d. h. in der ell wahrgenommenen Gegenstandes (»Wozu ist der
Entwicklung von Homo habilis bis Homo sapiens haben Gegenstand gut?«) überwiegend eine Funktion der
sich zusätzlich einige menschspezifische, visuelle Integra- oben genannten Strukturen des limbischen Systems
tionsregionen neu entwickelt oder besonders entfaltet, (Abschn. 17.5.3).
Strukturen, die für die visuell-konstruktiven Leistungen
G Für die Objekterkennung sind ausgedehnte visuelle
(Malen, Zeichnen, Entwerfen von dreidimensionalen Ob-
Assoziationsfelder im unteren Temporallappen, für
jekten), für räumliche Planung, komplexe visuelle Zeichen-
die Objektlokalisation Assoziationsfelder im Parie-
erfassung und für die Wahrnehmung zahlreicher, averba-
tallappen und der präfrontalen Hirnrinde zuständig.
ler sozialer Zeichen (z. B. Gesten, Abschn. 13.3.5, Spiegel-
neurone) zuständig sind. Neue Verbindungen zwischen
diesen neokortikalen Regionen und dem limbischen System Repräsentation des extrapersonalen Raums
(Gyrus parahippocampalis, Hippocampus, Area entorhin- Zu jedem Augenblick, d. h. während jeder neuen Fixations-
alis und Amygdala), dienen dem visuellen Gedächtnis und periode, werden die Objekte des extrapersonalen Raumes
der emotionalen Bewertung komplexer visueller Zeichen an anderen Stellen des Gesichtsfeldes abgebildet, wobei die
und der visuellen Ästhetik. retinale Bildverschiebung von den Sakkadenamplituden
und -richtungen abhängig ist (Abschn. 17.4.1). Trotz dieser
G Die visuellen Assoziations- und Integrationsregio-
zwischen den Fixationsperioden auftretenden Verschie-
nen der Großhirnrinde haben sich in der Phylo-
bungen des Retinabildes nehmen wir den extrapersonalen
genese der Primaten und des Menschen besonders
Raum und seine Richtungen unbewegt wahr (Abschn. 17.4.3).
stark entwickelt und differenziert.
Diese Konstanzleistung ist überwiegend eine Funktion des
inferioren und posterioren Parietallappens. Dort werden
visuelle Signale mit der Efferenzkopie blickmotorischer
Kommandos verrechnet.
Viele Nervenzellen der parietalen Area 7 des Rhesus-
affen werden nur dann erregt, wenn sich visuelle Muster an
bestimmten Stellen des extrapersonalen Raumes in eine
408 Kapitel 17 · Das visuelle System

Box 17.8. Visuelle Agnosien


Bilaterale Schädigungen der Regionen für die visuelle
Objekterkennung im inferioren okzipitotemporalen
Übergangsgebiet und im inferioren Temporallappen
bewirken eine visuelle Objektagnosie: Ein Gegen-
stand kann zwar noch in seiner Lage im Raum erkannt
werden, nicht jedoch in seiner Gegenständlichkeit als
Stuhl, Tisch, Krug, Hammer oder komplizierte Maschine.
Die Patienten können die Objekte nur visuell nicht
erkennen, eine taktile oder auditorische Objekterken-
nung ist dagegen meist noch möglich.
Im Bereich des Temporallappens finden sich zahl-
reiche Bereiche, in denen die meisten Nervenzellen
selektiv auf Gesichter und/oder mimische Ausdrucks-
bewegungen reagieren. Ein Teil dieser »gesichterspezi-
fischen« Nervenzellen reagiert z. B. selektiv auf den
Augenbereich eines Gesichts oder die Blickrichtung
des betrachteten Gesichts. Bei Rhesusaffen wurden
u. a. Nervenzellen registriert, die besser auf mensch-
liche Gesichter als auf Affengesichter reagierten und
zum Teil auch stärker auf Gesichter von Personen, die
dem Tier bekannt waren als auf unbekannte Gesichter.
Im menschlichen Gehirn werden die zur averbalen
sozialen Kommunikation wichtigen Signale aus dem
inferioren Temporallappen in den an der medialen
Gehirnoberfläche im temporookzipitalen Übergangs-
bereich liegenden Gyrus fusiformis und den zum lim-
bischen System gehörenden Gyrus parahippocampalis
weiter geleitet (Box 5.2). Erleidet ein Patient eine bila-
terale Läsion dieser Hirnregionen im mesialen tempo-
rookzipitalen Übergangsbereich, so entsteht eine
Prosopagnosie: Der Patient kann Gesichter zwar noch
als eine Kombination von Augen, Nase, Mund und
Ohren erkennen, nicht jedoch verschiedene Personen
unterscheiden. Alle Gesichter erscheinen ihm ähnlich,
ihre Individualität ist für ihn aufgehoben. Der Patient
. Abb. 17.27a, b. Schema der Verteilung unterschiedlicher visuel- erkennt dagegen ihm von früher bekannte Personen
ler integrativer und kognitiver Funktionen über die Großhirnrinde an der Stimme. Je nach Ausdehnung der Läsion kann
des Menschen. a Äußere, b innere Hirnoberfläche. Die visuellen Ele- zur Prosopagnosie noch eine Beeinträchtigung des
mentarfunktionen sind im Okzipitallappen (orange) lokalisiert, von dem
Verständnisses der mimischen und gestischen Aus-
Verbindungen in den inferioren Temporallappen (grün) gehen, in dem
sich Prozesse der visuellen Objektwahrnehmung abspielen. Verbindun- drucksbewegungen der Anderen kommen. Patienten,
gen aus dem Okzipitalbereich in den inferioren Parietallappen (blau) die an einer Prosopagnosie leiden, erleben gelegent-
dienen der Raumwahrnehmung, Verbindungen aus diesem Bereich in lich eine merkwürdige Veränderung der Wahrneh-
die präfrontale Hirnrinde (rot in a) den visuell-gesteuerten Blick-, Greif- mung der Gesichter anderer Menschen, die einheitlich
und Körperbewegungen. Verbindungen aus dem parietalen und tem-
verzerrt oder verändert gesehen werden.
poralen Bereich über den Gyrus fusiformis und Gyrus lingualis (blau) in

17 Strukturen des limbischen Systems (rot in b) dienen der Verarbeitung


der emotionalen Komponenten der visuellen Wahrnehmung

bestimmte Richtung bewegen. Diese Nervenzellen reagie- Hirnläsion dieses Bereiches, so vernachlässigt er die Signale
ren oft auch auf Augenbewegungen und visuell gesteuerte in der zur Läsion kontralateralen Hälfte des extrapersona-
Greifbewegungen (. Abb. 17.28). Beim Menschen sind len Raumes. Dieser visuelle Hemineglekt ist bei Läsionen
neben der Area 7 v. a. die Areae 39 und 40 (Brodmann- im Bereich des rechten Parietallappens und Temporal-
Schema, . Abb. 5.17 in Abschn. 5.3.1) für die Raumwahr- lappens stärker ausgeprägt als im Bereich des linken (wei-
nehmung zuständig. Erleidet ein Patient eine einseitige tere Einzelheiten Abschn. 21.3.4 mit . Abb. 21.21, s. auch
17.5 · Hirnphysiologische Grundlagen kognitiver visueller Leistungen
409 17

Erinnerungsbildern verknüpfen. Sie haben dadurch ihre


räumliche Orientierung verloren und verirren sich deshalb
in früher wohlbekannten Räumen, wie z. B. im eigenen
Haus (Topographagnosie).
G Der extrapersonale Raum ist im unteren, posterioren
Parietallappen repräsentiert; beim Menschen ist
der rechte Parietallappen dafür wichtiger als der
linke. Bei Zugriffsverlust zum räumlichen Gedächtnis
kommt es zur Topographagnosie.

Signalverarbeitung bewegter visueller Muster


Die linke Seite der . Abb. 17.29 zeigt in schematischer
Form die an der Signalverarbeitung bewegter visueller
Reize beteiligten höheren visuellen Zentren (dies sind v. a.
. Abb. 17.28a–c. Schema der Reaktion eines Neurons in Area 7 die Areae MT = V5, MST und FST) und ihre Verknüpfungen
des wachen Rhesusaffen. a In der Nähe der Hand, also im Greifraum, untereinander und mit den anderen visuellen Zentren.
wird ein Objekt (rot in der Abb., z. B. eine Nuss) bewegt. Die Objektbe-
Der rechte Teil der Abbildung zeigt die kortikale Lage
wegung löst eine Aktivierung (Zunahme der Impulsrate) des Neurons
aus. b Das Tier blickt auf das Objekt, die Impulsrate steigt an. c Das Tier
dieser Zentren beim Rhesusaffen im Bereich um den Sulcus
greift nach dem Objekt während einer sehr starken Aktivierung des temporalis superior. In der menschlichen Großhirnrinde
Neurons liegen die Areae MT (V5) und MST in der okzipito-parie-
talen Übergangsregion. Während visueller Bewegungssti-
Abschn. 28.5.2). Beim Menschen ist die rechte Großhirn- mulation kann man in diesen Regionen aus der Erhöhung
hälfte für die räumliche Orientierung wichtiger als die lin- der regionalen Hirndurchblutung (Messung mit fMRT, Ab-
ke, in deren Integrationsregionen sprachbezogene Leistun- schn. 20.6.2) auf eine Zunahme der neuronalen Aktivität
gen dominieren (Abschn. 21.2.2, 28.1.1). schließen. Eine transkranielle magnetische Stimulation der
Patienten, bei denen die Verbindungen des inferioren Hirnrinde jener Region unterbricht die Bewegungswahr-
Parietallappens mit den für das räumliche Gedächtnis zu- nehmung.
ständigen Strukturen des Hippokampus unterbrochen Die Area MT steuert auch Augenfolgebewegungen.
sind (z. B. durch eine Schädigung des Gyrus parahippo- Dafür sprechen auch die Projektionen aus Area MT und
campalis) können zwar den äußeren Raum noch richtig Area MST in die pontinen Blickzentren und in den Kern
wahrnehmen, das Wahrgenommene jedoch nicht mit den des optischen Traktes im Hirnstamm. Zwischen der Area

. Abb. 17.29. Schema der wichtigsten Hirnrindenstrukturen zur im Bereich des superioren temporalen Sulcus (STS, . Abb. 17.21).
visuellen Bewegungswahrnehmung. Axone der bewegungsemp- Die Area MT (MT für medial temporal) erhält weitere visuomotorische
findlichen Neurone der retinotop organisierten kortikalen Areale V1, Eingänge über den Colliculus superioris und das Pulvinar. Für die
V2 und V3 projizieren zu bewegungsspezifischen Hirnrindenfeldern übrigen Abkürzungen . Abb. 17.21
410 Kapitel 17 · Das visuelle System

MST und den vestibulären Arealen der Großhirnrinde, die Signalverarbeitung beim Lesen und Schreiben
zur Wahrnehmung der Kopfbewegungen im Raum un- Durch Messung der regionalen Hirndurchblutung konnte
erlässlich sind, bestehen wechselseitige neuronale Verbin- nachgewiesen werden, dass beim Lesen eine besonders
dungen (PIVC in . Abb. 17.29). starke Aktivierung im Bereich des Gyrus angularis und
Patienten, die an umschriebenen bilateralen Läsionen Gyrus circumflexus der linken Großhirnhemisphäre auf-
der Areae MT und MST leiden, können Bewegungen im ex- tritt. Die Bedeutung dieser Großhirnrindenregionen für
trapersonalen Raum nur noch eingeschränkt wahrnehmen das Lesen erkennt man auch an Patienten, die nach einer
(Akinetopsie = Bewegungsagnosie). Die Patienten berich- Läsion im inneren Bereich des Gyrus angularis der linken
ten auch über eine Beeinträchtigung der Stabilität der visu- Hirnhälfte entweder Wörter nicht mehr lesen können (ver-
ellen Welt bei Eigenbewegungen, was auf eine Störung der bale Alexie) oder sogar Buchstaben nicht mehr erkennen
»Verrechnung« zwischen Efferenzkopiesignalen der Blick- (litterale Alexie).
und Körpermotorik mit den afferenten visuellen Bewegungs- Bei einer reinen Alexie kann der Patient noch schrei-
signalen hinweist. ben, das von ihm selbst Geschriebene jedoch nicht mehr
lesen (Alexie ohne Agraphie). Dehnt sich die Hirnläsion
G Teile der visuellen Assoziationsregionen der okzipito-
vom Gyrus angularis zum Gyrus circumflexus aus, so ist die
parietalen Großhirnrinde, v. a. die Areale MT, MST und
Alexie in der Regel von einer Unfähigkeit zum Schreiben
FST, sind auf die Signalverarbeitung bewegter visuel-
(Agraphie) begleitet. Eine Läsion im Bereich der prämo-
ler Muster spezialisiert. Bei deren beidseitigem Ausfall
torischen Hirnrinde des Frontallappens der linken Seite
kommt es zu Akinetopsie (Bewegungsagnosie).
kann selektiv eine Agraphie ohne Alexie zur Folge haben.
Die Fähigkeit ideographische Schrift zu lesen (z. B.
Signalverarbeitung beim Farbensehen chinesische Schriftzeichen oder Kanji im Japanischen) ist
Ein Teil der Nervenzellen in Area V4 des Rhesusaffen rea- bei einer umschriebenen Läsion des linken Gyrus angularis
giert sehr spezifisch auf einen jeweils kleinen Ausschnitt nur wenig beeinträchtigt. Eine Alexie für diese Schrift-
der Farben des Farbenraumes (Abschn. 17.3.2, Box 17.3) zeichen tritt bei einer Läsion des rechten Gyrus angularis
oder auf bestimmte Farbkonturen. Die Area V4 hat eine auf. Diese Beobachtung verweist auf den Umstand, dass
wichtige Funktion bei der Objektwahrnehmung mit Hilfe diese menschspezifischen neokortikalen Hirnrindenfunk-
der für bestimmte Objekte charakteristischen Farben. Die tionen wesentlich vom Lernen in der Kindheit und Jugend
zu Area V4 des Rhesusaffen homologe Region in der abhängig sind.
menschlichen Großhirnrinde liegt an der mesialen okzi- Die Fähigkeit zum Lesen und Schreiben ist auch bei den
pitalen Oberfläche im Bereich des Gyrus fusiformis, einer verschiedenen Aphasien beeinträchtigt (Abschn. 27.4.1).
Hirnregion, die durch Äste der A. cerebri posterior versorgt Dann ist die Alexie jedoch nicht durch den Ausfall visuell-
wird (Box 5.2). kognitiver Mechanismen bedingt, sondern durch eine Stö-
Eine isolierte Störung dieser Hirnregion durch einen rung des Sprachverständnisses im engeren Sinne (Kap. 28).
Verschluss dieser Äste der A. cerebri posterior bewirkt eine
G Lesen ist eine menschspezifische höhere visuelle
kortikale Hemiachromatopsie: Die kontralateral zur Lä-
Hirnleistung, die durch umschriebene Hirnläsionen
sion gelegene Gesichtsfeldhälfte wird nur noch in Hell-
im Bereich des Gyrus angularis und circumflexus der
Dunkel-Tönen wahrgenommen, während in der ipsilate-
linken Hemisphäre gestört werden kann (Alexie).
ralen Gesichtsfeldhälfte das Farbensehen erhalten ist. Eine
bilaterale Läsion bewirkt eine kortikale Achromatopsie.
Die Patienten sehen die ganze Welt nur noch in Grautönen. Signalverarbeitung (Bindung durch Synchronie)
Entsprechend dem in Box 17.8 Gesagten leiden sie meist bei der Gestaltwahrnehmung
auch an einer Prosopagnosie. Gestalten und deren Bedeutung sind im Kortex in Form
Der Bereich des Gyrus fusiformis, der für die Wahrneh- von unterschiedlich ausgedehnten Zellensembles reprä-
mung von Oberflächenfarben und Gesichtern wichtig ist, sentiert. In Kap. 25 beschreiben wir ausführlich, wie solche
hat über den Gyrus parahippocampalis Verbindungen in Ensembles gebildet werden: Der zentrale Mechanismus
das limbische System. Durch diese neuronalen Verbindun- wird unter dem Stichwort Bindung durch Synchronie zu-
17 gen wird die emotionale Bedeutung der Farben vermittelt. sammengefasst. Häufig simultan (zeitlich und örtlich) auf-
tretende Muster (»features«) werden durch ihre primär er-
G Bei Läsionen der okzipitalen Großhirnrinde im Be-
regenden Synapsen verstärkt miteinander verbunden, wo-
reich des Gyrus fusiformis (V4) entstehen Störungen
durch sich die Wahrscheinlichkeit für korrelierende
des Farbensehens. Einseitige Läsionen bewirken
Entladung der beteiligten Neurone erhöht. Diese hoch kor-
eine Hemiachromatopsie, beidseitige eine Achro-
relierenden Entladungen laufen wellenartig durch ein
matopsie.
Ensemble, so dass sich je nach Größe des Ensembles ein
oszillierender Rhythmus der Entladungen ausbildet, den
man z. B. im EEG (Elektroenzephalogramm, Kap. 20) als
17.5 · Hirnphysiologische Grundlagen kognitiver visueller Leistungen
411 17

Nach Singer W (1994). Mit freundlicher Genehmigung von MIT Press.


. Abb. 17.30a–g. Bindung im kortikalen visuellen System. Syn- verschoben für die Reizsituationen b–d. Je höher die roten Ordinaten-
chronisation der Entladungen zweier Neurone verschiedener visueller werte, umso höher die Korrelation: wenn regelmäßige Oszillationen
Kortizes bei entsprechender Reizung ihrer rezeptiven Felder. Ablei- auftauchen (e, f), ergeben sich die wellenförmigen Anstiege der Kor-
tung der Zellaktivität von 2 Arealen des visuellen Kortex (a), nämlich relation. Man erkennt, dass die stärkste Kreuzkorrelation zwischen den
von der Area 17 (lateraler Gyrus, LAT) und von dem posterioren medio- in Area 17 und im PMLS abgeleiteten Neuronen in der Reizsituation
lateralen suprasylvischen Kortex (PMLS) der Katze (SUPS, suprasyl- b auftritt. Bei der Reizsituation c ist das Kreuzkorrelogramm weniger
vischer Sulcus). Die Tiere erhalten bewegte Lichtbalken dargeboten, gleichmäßig und von geringerer Amplitude. Bewegen sich die Licht-
die sich gleichzeitig (b) oder nacheinander (c) in dieselbe Richtung balken in entgegengesetzte Richtung (d), tritt keine signifikante Kor-
über die rezeptiven Felder von PMLS und Area 17 bewegen, oder relation mehr auf (g)
gleichzeitig in die Gegenrichtung (d). e–f Kreuzkorrelationen zwischen
den Zellantworten zum selben Zeitpunkt oder um bis zu ±80 ms zeit-

Gamma-Rhythmus (Frequenz über 30 Hz) registrieren 17.5.3 Emotionale Komponenten


kann. Auch wenn nur ein Teil des Musters nach Bildung des Sehens
eines Zellensembles durch diesen Prozess der assoziativen
Verstärkung dargeboten wird, entlädt das gesamte En- Visuelle Auslöser emotionaler Reaktionen
semble, was sich subjektiv z. B. als Gestaltergänzung nieder- Wie fast alle Empfindungen und Wahrnehmungen be-
schlägt (z. B. der Rüssel über der Zoomauer erzeugt das Bild einflusst die visuelle Umwelt auch unsere augenblickliche
des Elefanten). Gestimmtheit (Kap. 27). Das Sozialverhalten des Menschen
. Abb. 17.30 zeigt ein typisches Experiment, das diesen wird von averbalen visuellen Signalen gesteuert (Erken-
Sachverhalt illustriert: 2 Registrierelektroden erfassen die nung von mimischen Ausdrucksbewegungen und Gesten,
Aktionspotenzialfrequenz in 2 Arealen des visuellen Kortex 7 oben). Einige visuelle Gestalten (z. B. erotische Signale,
(links oben), wenn ein oder 2 Lichtbalken über das visuelle »Kindchen-Schema«) lösen oft direkt emotionale Reak-
Feld bewegt werden. Einmal werden Balken allein oder tionen aus. Gleiches gilt für die visuelle Wahrnehmung von
getrennt in dieselbe (b, c), das andere Mal gegeneinander Speisen und Getränken. Es läuft dem Hungrigen dann das
bewegt (d). Unten sind die Korrelationen zwischen den Wasser im Munde zusammen. Auch die den Appetit anre-
Zellen in den beiden Seharealen aufgetragen. Man erkennt gende Wirkung eines schön gedeckten und geschmückten
bei Bewegung in dieselbe Richtung hohe, oszillierende Tisches verweist auf emotionale Begleitreaktionen der visu-
Korrelationen, bei Bewegung gegeneinander keine Korrela- ellen Wahrnehmung; »das Auge isst mit«.
tion. Die Gestalt, das Ganze der bewegten Kontur, geht ver- Erlernte ästhetische Reaktionen, die durch eine gut
loren. strukturierte Landschaft, eine gelungene Zeichnung, eine
Skulptur oder einen Kirschblütenzweig wie auch durch
G Im Gamma-Rhythmus oszillierende Ensembles von
wohlproportionierte Architektur ausgelöst werden, sind
Neuronen (erkennbar an EEG-Wellen >30 Hz) bilden
weitere Beispiele für Emotionen, die unsere visuelle Um-
das neuronale Korrelat von Gestaltwahrnehmungen
welt hervorruft.
und -ergänzungen.
Emotionale Bedeutung des Raumes
Die Wirkung von Räumen und Farben auf die subjektive
Befindlichkeit beruht auch auf emotionalen Komponenten
der zerebralen Signalverarbeitung: Das Gefühl der Bedro-
412 Kapitel 17 · Das visuelle System

hung, das man beim Durchwandern einer engen Schlucht Verarbeitung visueller Signale im limbischen
erleben kann, gehört zu diesen visuell ausgelösten emotio- System
nalen Reaktionen. Es tritt vermindert noch in den »Schluch- Die emotionalen Komponenten der visuellen Wahrneh-
ten« der von Hochhäusern gesäumten Straßen moderner mung kommen durch die neuronalen Verknüpfungen zwi-
Großstädte auf. Der Höhenschwindel, der bei vielen Men- schen den visuellen Assoziations- und Integrationsregionen
schen mit Angstgefühlen verbunden beim Blick von einem und den Strukturen des limbischen Systems zustande.
hohen Turm oder einem hohen Berg auftritt, ist als Beein- Die Corpora amygdala, der Gyrus parahippocampalis, der
trächtigung der visuell-vestibulären Integration zu deuten, Hippocampus und die Area entorhinalis (Abschn. 5.2.3)
wirkt sich jedoch auch emotional aus. sind limbische Strukturen, in denen komplexe visuelle
Der Raum hat für den Menschen auch eine soziale Signale verarbeitet werden, die der sozialen Koordination,
Bedeutung. Große, geschmückte Räume symbolisieren so- der Nahrungsaufnahme, der Nahrungserkennung, dem
ziale Macht. Räume, deren Dimensionen weit über die des räumlichen Gedächtnis, aber auch der allgemeinen visu-
menschlichen Körpers hinausgehen (z. B. große Kathe- ellen Erinnerung dienen (. Abb. 17.27).
dralen, Schlösser usw.) verändern die Befindlichkeit des
Besuchers; dieser kommt sich klein vor. Sehr kleine Räume G Viele visuelle Signale lösen unmittelbare emotionale
bewirken dagegen bei manchen Menschen das Symptom Reaktionen aus. Diese emotionalen Komponenten
der Klaustrophobie. Solche soziale Zuschreibungen visu- der visuellen Wahrnehmung sind überwiegend der
eller Inhalte beruhen auf den engen Verbindungen des ven- Funktion von Teilen des limbischen Systems zuzu-
tralen visuellen Systems (»Was-System«) mit limbischen schreiben.
Strukturen (z. B. Amygdala, Kap. 27).

Zusammenfassung
Das Farbensehen bei Tageslicht (photopisches Sehen) 5 wird die Konvergenz der Sehachsen und die Querdis-
zeichnet sich aus durch: paration zur Tiefenwahrnehmung im Nahbereich ein-
5 Gesichtsfelder, die sich teilweise überlappen und gesetzt;
sich durch die Bewegung der Augen zu Blickfeldern 5 werden zur Tiefenwahrnehmung in der Ferne zahl-
weiten, reiche monokulare Signale herangezogen (z. B. Über-
5 ein physiologisches Skotom, den blinden Fleck deckungen, Schatten, Größenunterschiede etc.);
(Sehnervaustritt), das wir durch Wahrnehmungser- 5 wird die Größen- und Formkonstanz zur Gestaltwahr-
gänzung in der Regel nicht bemerken, nehmung eingesetzt, wobei es bei mehrdeutigen Ab-
5 einen Visus von 1 an der Stelle des schärfsten Sehens, bildungen zu Sinnestäuschungen kommen kann.
dem Fixationspunkt,
5 Blendung beim abrupten Übergang von Dunkelheit Beim Farbensehen erscheint der langwellige Teil des
in helles Licht, danach rasche Adaptation sowie sichtbaren Lichts rot, der kurzwellig violett, die übrigen
5 Nachbilder und Kontrastphänomene, Phi- und auto- Spektralfarben sind dazwischen angeordnet. Dazu
kinetische Phänomene. kommt,
5 dass es zahlreiche Mischfarben gibt, z. B. die Purpur-
Das Schwarz-Weiß-Sehen in der Dämmerung (skoto- töne,
pisches Sehen) zeichnet sich aus durch: 5 dass normale Menschen etwa 7 Mio. Farbwerte unter-
5 Gesichtsfelder, die etwas größer sind als die farbigen, scheiden können,
5 ein zusätzliches Skotom (Zentralskotom) an der Stelle 5 dass additive und subtraktive Farbmischung möglich
des schärfsten Farbensehens, ist,
5 eine höhere Empfindlichkeit für blaues als für rotes 5 dass die häufigste Farbsinnstörung die Rot-Grün-Ver-
17 Licht (Purkinje-Phänomen) sowie wechslung ist,
5 einen langsamen Verlauf der Dunkeladaptation. 5 dass es dazu zahlreiche andere Farbsinnstörungen
gibt, von denen wegen des Vererbungswegs Männer
Beim Sehen und Wahrnehmen des dreidimensionalen häufiger als Frauen betroffen sind.
Raums wird das Sehen mit 2 Augen und das Sehgedächt-
nis zur Gestaltwahrnehmung und -deutung eingesetzt.
Insbesondere
6
Zusammenfassung
413 17

6
Das Auge ist das bildgebende Organ des Sehsystems. sehr spezifische Aufgaben bei der Verarbeitung der
Für Bau und Funktion sind zu beachten: visuellen Signale haben. Das V2-Areal dient der visu-
5 Hornhaut (Kornea) und Linse entwerfen auf der Netz- ellen Gestalterkennung ruhender, das V3-Areal der
haut ein stark verkleinertes Abbild der Umwelt, wobei Erkennung bewegter Objekte, das V4-Areal ist farb-
in Ruhe unendlich weit entfernte Gegenstände in der spezifisch organisiert.
Fovea zentralis scharf abgebildet werden. 5 Eine optimale Arbeitsweise der Sehrinden setzt ihre
5 Die Iris ändert in Abhängigkeit vom Lichteinfall den normale ontogenetische Entwicklung und frühkind-
Pupillendurchmesser und trägt dabei zur Anpassung liche Nutzung voraus.
der Augenempfindlichkeit an die Leuchtstärke bei.
5 Die Linse kann zum Nahsehen über eine Verstärkung Sehen ist immer mit Augenbewegungen verknüpft. Für
ihrer Krümmung ihre Brechkraft erhöhen. Dies ist im diese Okulomotorik ist festzuhalten:
Alter durch Elastizitätsverlust nicht mehr möglich 5 Mit Hilfe von je 6 Augenmuskeln können die Augen
(Presbyopie). horizontal, vertikal und zyklorotatorisch bewegt wer-
5 Kurz- und Weitsichtigkeit sind durch Missverhältnisse den. Auch bei Fixation wird durch einen Mikrotremor
zwischen Bulbuslänge relativ zur Brechkraft des op- die vollständige Adaptation der Photorezeptoren ver-
tischen Apparats (Hornhaut, Linse) bedingt. hindert.
5 Weitsichtigkeit geht bei Nahakkommodation mit 5 Beim Sehen in die Nähe konvergieren die Sehachsen
Schielen einher, was zur zentralen Blindheit eines und die Pupillen verengen sich. Beim Sehen wechseln
Auges führen kann (Schielamblyopie). sich meist Fixationsperioden mit Sakkaden ab, es gibt
aber auch langsame Augenfolgebewegungen.
Für die Signalaufnahme und -verarbeitung in der Netz-
5 Periodische Wechsel zwischen Augenfolgebewegun-
haut ist festzuhalten:
gen und Sakkaden werden Nystagmus genannt (z. B.
5 Die Retina enthält die farbempfindlichen Zapfen für
Eisenbahnnystagmus, rotatorischer oder kalorischer
das photopische und die Stäbchen für das skotopi-
Nystagmus).
sche Sehen. In der Fovea centralis gibt es nur Zapfen,
5 Die blickmotorischen Zentren liegen überwiegend im
am Rande der Netzhaut fast nur Stäbchen. Den 120
Hirnstamm (prätektale Region, vorderen 4 Hügel). Sie
Mio. Stäbchen stehen 6 Mio. Zapfen gegenüber.
sorgen für die Umweltstabilität beim Umherblicken
5 Zapfen wie Stäbchen sind ähnlich aufgebaut, enthal-
und für die Bewegungswahrnehmung.
ten aber unterschiedlich lichtempfindliche Sehfarb-
stoffe. Diese zerfallen bei Lichteinfall, was den hyper-
Die kognitiven visuellen Leistungen werden haupt-
polarisierenden Transduktionsprozess einleitet.
sächlich in den visuellen Assoziationsfeldern des Kortex
5 Von den Photosensoren werden die Signale über
erbracht. Festzuhalten ist:
langsame lokale synaptische Potenziale auf die üb-
5 Diese Felder erstrecken sich über weite Areale des
rigen Neuronenschichten der Netzhaut übertragen
Parietal- und Temporallappens, unterscheiden sich
und schon beträchtlich verarbeitet (z. B. konzentrische
aber zytoarchitektonisch und in ihren Verbindungen
Organisation der rezeptiven Felder).
untereinander und mit subkortikalen Strukturen.
5 Die Ganglienzellen bilden den Ausgang des retinalen
5 Die visuelle Objektidentifikation wird im okzipitotem-
Neuronennetzwerks. Hier entstehen Aktionspoten-
poralen Übergangsbereich geleistet.
ziale, die über die Axone der Ganglienzellen (den Seh-
5 Räumliche Lokalisation und Orientierung ist eine Leis-
nerv) das Auge zentralwärts verlassen.
tung der parietalen und präfrontalen Regionen.
Für die Signalverarbeitung in den subkortikalen und 5 Die Repräsentation des extrapersonalen Raums ist
kortikalen visuellen Zentren ist festzuhalten: überwiegend eine Funktion des inferioren und poste-
5 Nach der Aufteilung der Sehbahn im Chiasma opti- rioren Parietallappens.
cum enden die Ganglienzellaxone beidseitig im 5 Auch für die Signalverarbeitung bewegter visueller
Corpus geniculatum laterale, dessen Ausgang als Felder gibt es spezielle Kortexareale, z. B. V5 (Area MT)
Sehstrahlung zum primären Sehkortex, V1, führt. und die Areale MST und FST.
5 V1 ist retinotop organisiert und weist eine Säulen- 5 Linker Gyrus angularis mit linkem Gyrus circumflexus
struktur (okuläre Dominanzsäulen mit Orientierungs- sind besonders beim Lesen und Schreiben aktiv.
säulen) und einfache, komplexe und hyperkomplexe 5 Die Gestaltwahrnehmung erfordert das Zusammenbin-
rezeptive Felder auf. den von Zellensembles (Bindung durch Synchronie).
5 Von V1 gehen zahlreiche Ausgänge zu den sekundä- 5 Emotionale Aspekte des Sehens werden im limbi-
ren (V2–V4) und den höheren Sehzentren aus, die alle schen System verarbeitet.
414 Kapitel 17 · Das visuelle System

Literatur
Grehn F (2006) Augenheilkunde, 29. Aufl. Springer, Berlin Heidelberg
New York Tokyo
Hartje W, Poeck K (Hrsg) (2002) Klinische Neuropsychologie, 5. Aufl.
Thieme, Stuttgart New York
Hierholzer K, Schmidt RF (Hrsg) (1991) Pathophysiologie des Menschen.
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Huber A, Kömpf D (Hrsg) (1998) Klinische Neuroophthalmologie,
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Jameson D, Hurvich LM (eds) (1972) Visual psychophysics. Handbook
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Zeki S, Bartels A (1998) The asychrony of consciousness. Proc R Soc
London 265:1583–1585

17
18

18 Hören und Gleichgewicht

18.1 Wahrnehmungspsychologie des Hörens – 416


18.1.1 Physikalische Voraussetzungen des Hörens – 416
18.1.2 Psychophysik des Hörens (Psychoakustik) – 417
18.1.3 Prüfung des Hörvermögens – 421

18.2 Bau und Funktion des Hörsystems – 422


18.2.1 Das Ohr als Schallaufnehmer – 422
18.2.2 Schalltransduktion im Innenohr – 424
18.2.3 Elektrophysiologische und akustische Korrelate der Schalltransduktion
und -transformation – 426

18.3 Auditorische Signalverarbeitung – 427


18.3.1 Schallkodierung im Nervus acusticus – 427
18.3.2 Zentrale Weiterleitung und Verarbeitung – 428

18.4 Wahrnehmungspsychologie des Gleichgewichtssinns – 431


18.4.1 Wahrnehmen von Beschleunigungen – 431
18.4.2 Wahrnehmen und Erhalten der Stellung des Körpers im Raum – 431

18.5 Bau und Funktion des vestibulären Systems – 432


18.5.1 Das periphere vestibuläre System – 432
18.5.2 Das zentrale vestibuläre System – 435

Zusammenfassung – 437
Literatur – 438

N. Birbaumer, Biologische Psychologie, DOI 10.1007/978-3-540-95938-0_18,


© Springer Medizin Verlag Heidelberg 2010
416 Kapitel 18 · Hören und Gleichgewicht

)) G Schallwellen sind longitudinale Druckschwankun-


gen der Luft im Bereich von 16 bis 20.000 Hz
Es mutet auf den ersten Blick seltsam an, so unterschied- (16 Hz–20 kHz), die sich mit einer Geschwindigkeit
liche Modalitäten wie den Hör- und den Gleichgewichts- von 340 m/s ausbreiten und vom Hörorgan und sei-
sinn in ein und demselben Kapitel besprochen zu finden. nen Rezeptoren aufgenommen werden.
Aber diese beiden Sinne sind entwicklungsgeschichtlich
eng verwandt. Ihre Sensoren sitzen in einem gemeinsamen Schalldruckmessung und der Schalldruckbereich
Organ, dem inneren Ohr, das wiederum fest in einen Schä- Mit einem Mikrophon kann man Schalldruckwellen auf-
delknochen, nämlich das Felsenbein »eingemauert« ist. Die nehmen und in ein elektrisches Signal umwandeln. Das
Sensoren der beiden Sinne sind sich auch in ihrem Aufbau elektrische Signal lässt sich aufzeichnen oder an einem
außerordentlich ähnlich, selbst ihre adäquaten Reize stim- Messinstrument sichtbar machen. Seine Amplitude ist ein
men auf zellulärer Ebene noch überein, aber die lokalen direktes Maß für die Intensität des Schalldrucks.
Erregungsprozesse werden durch völlig unterschiedliche Bei solchen Messungen stellen wir zunächst fest, dass
äußere Reize angestoßen, durch die Schallwellen auf der die Amplitude der Druckschwankungen sehr klein ist,
einen Seite und durch die Schwerkraft und andere Be- gemessen an dem uns umgebenden atmosphärischen Luft-
schleunigungskräfte auf der anderen. druck. Selbst bei den Lautstärken einer Diskothek oder
eines startenden Düsenjets liegt sie bei deutlich weniger als
1% Atmosphärendruck.
18.1 Wahrnehmungspsychologie Zweitens bemerken wir bei solchen Messungen, dass
des Hörens zwischen dem minimalen Schalldruck, der gerade für eine
Hörempfindung ausreicht, und dem, der so stark ist, dass
18.1.1 Physikalische Voraussetzungen die Hörempfindung schmerzhaft wird, ein Unterschied von
des Hörens mindestens 1:10.000 und manchmal mehr als 1:10.000.000
registriert werden kann, d. h. wir hören über einen sehr
Longitudinale Schalldruckwellen großen Schalldruckbereich (7 unten).
Den großen Basslautsprechern moderner HiFi-Boxen
G Die Amplitude der maximalen Schalldruckwellen ist
können wir es ansehen: Sie schwingen bei der Schallabgabe
<1% des atmosphärischen Luftdrucks. Die minimal
hin und her und regen dadurch die sie umgebende Luft
hörbaren Schalldruckwellen sind noch 5–7 Zehner-
zu Schwingungen, also zu rhythmisch abwechselnden
potenzen kleiner.
Verdichtungen und Verdünnungen der Luftmoleküle an.
In diesen Zonen ist der Luftdruck entsprechend erhöht und
erniedrigt. Diese Luft(druck)schwingungen oder -wellen Schalldruckpegel und seine Dezibel-Skala
breiten sich von der Quelle mit einer Geschwindigkeit von Die Stärke einer Schalldruckwelle kann in der für Drücke
etwa 340 m/s wellenförmig aus. Dies entspricht 20.400 m/ normalerweise verwendeten Größe von Newton pro Qua-
min oder 1224 km/h (1 Mach). dratmeter (N/m2), abgekürzt Pascal (Pa), angeben werden.
Wenn Luft(druck)wellen mit einer Frequenz zwischen Beispielsweise liegen nahe der Hörschwelle die Drücke von
20 und 16.000 Hz (Hertz = Schwingungen pro Sekunde, Tönen zwischen 1000 und 2000 Hz bei etwa 2×10–5 N/m2.
1 kHz=1000 Hz) in einer gewissen Mindestdruckstärke auf Wie gesagt, sehr laute Töne haben bis zu zehnmillionenfach
unsere Ohren treffen, erregen sie Sensoren im Innenohr höhere Druckamplituden.
und lösen damit im Gehirn eine Schallempfindung aus. Um mit diesem weiten Druckbereich besser umgehen
Luftdruckwellen dieses Frequenzbereichs werden daher zu können, hat man sich international verständigt, ein an-
Schall(druck)wellen genannt. Je höher die Schallwellenfre- deres, handlicheres Maß für den Schalldruck einzuführen,
quenz, desto höher der Ton. nämlich den in Dezibel (dB) angegebenen Schalldruck-
Schall unter 20 Hz (Infraschall) und über 16.000 Hz pegel. Bei diesem Maßsystem wird der Schalldruck von
(Ultraschall) lösen keine Erregung in unseren Innen- 2×10–5 N/m2 (20 Mikropascal) als 0 dB gesetzt und jede
ohrrezeptoren aus. Aber es gibt viele Tiere, die im Ultra- 10-fache Zunahme des Schalldrucks in 20 dB-Einheiten
schallbereich hören können. Ebenso wie die Lautspre- aufgeteilt. Der zehnmillionenfache Schalldruck der Hör-
chermembran bewegen sich die Luftmoleküle bei der schwelle von 2×10–5 N/m2, also 2×102 N/m2 entspricht also
Schallausbreitung nicht fort, sondern schwingen um ihre einem Schalldruckpegel von 7×20 dB=140 dB SPL (der Zu-
18 mittlere Ruhelage hin und her. Da diese Schwingungs- satz SPL, »sound pressure level«, grenzt die hier benutzten
richtung mit der Ausbreitungsrichtung des Schalls iden- dB von anderen technisch gebräuchlichen dB-Maßsys-
tisch ist, sprechen wir von Longitudinalwellen. Schall- temen ab).
wellen können sich nicht nur in der Luft, sondern auch
als Körperschall in festen und flüssigen Körpern aus-
breiten.
18.1 · Wahrnehmungspsychologie des Hörens
417 18

G Die Angabe des Schalldrucks als Schalldruckpegel in jedoch praktisch nicht vor. Hier dominieren Klänge und
Dezibel (dB) ergibt einfach anzuwendende Zahlen- Geräusche.
werte zwischen 0 und ungefähr 130 dB. Wichtig ist, Man spricht von einem Klang, wenn das Schallereignis
dass sich hinter wenigen dB eine Vervielfachung des mehrere Frequenzen enthält. Es handelt sich dabei im All-
physikalischen Schalldrucks verbirgt. gemeinen um einen Grundton mit mehreren harmonischen
Obertönen (. Abb. 18.1b). Der Grundton ist in der Perio-
Box 18.1. Vorteile der Schalldruckpegelskala dik des Schalldruckverlaufes zu erkennen. Die Frequenzen
Die Schalldruckpegelskala hat 2 wesentliche Vorteile: der Obertöne sind ganzzahlige Vielfache der Grundfre-
Erstens kann der sehr weite Intensitätsbereich des hör- quenz. Dies gilt insbesondere für Musikinstrumente, die
baren Schalldrucks mit einer kurzen Skala handlicher im physikalischen Sinne »Klänge« abgeben. Doch erzeugen
Zahlen dargestellt werden und zweitens entsprechen, verschiedene Instrumente auch bei gleichem Grundton
wie noch gezeigt wird, gleichgroße Zunahmen des Obertöne in unterschiedlicher Zahl und Intensität. So ent-
Schalldruckpegels in etwa auch gleichgroßen Zunah- stehen die unterschiedlichen Klangbilder der Instrumente
men der subjektiv erlebten Lautstärke. Es lohnt daher, und des gesamten Orchesters.
sich mit dieser Skala noch etwas vertrauter zu machen. Enthält ein Schallereignis praktisch alle Frequenzen des
Es handelt sich dabei um eine Skala von Verhältnis- Hörbereiches, so nennt man das Ereignis ein Geräusch. Im
zahlen, die so gewonnen werden, dass ein gemessener zeitlichen Verlauf des Schalldrucks ist daher keine Periodi-
Schalldruck px mit dem schon genannten Bezugs- zität mehr zu erkennen (. Abb. 18.1c).
schalldruck p0=2×10–5 N/m2 verglichen wird. Man
G Töne bestehen aus einer Schallwelle mit einer ein-
bildet dazu den Quotienten px/p0. Dieser Quotient
heitlichen Frequenz. Klänge enthalten endlich viele
wird logarithmiert (dekadischer Logarithmus) und mit
ganzzahlige Vielfache der Frequenz des Grundtons.
20 multipliziert, so dass der Schalldruckpegel L folgen-
Geräusche enthalten unendlich viele Töne.
dermaßen definiert ist:

L=20×log10 (px / p0) [dB] 18.1.2 Psychophysik des Hörens


(Psychoakustik)
Wie »handlich« diese auf den ersten Blick recht umständ-
lich erscheinende Definition des Schalldruckpegels in Hörschwelle, Hörbereich und Hauptsprach-
der praktischen Anwendung ist, wird sich in den folgen- bereich
den Abschnitten dieses Kapitels noch zeigen. Misst man bei einer größeren Gruppe gesunder Erwach-
sener, bei welchem Schalldruckpegel die Hörschwelle liegt,
so ergibt sich der in . Abb. 18.2 durch die unterste, rote
Töne, Klänge und Geräusche Kurve gezeichnete Befund: Die Hörschwelle hängt stark
Enthält ein Schallereignis nur eine einzige Sinusschwin- von der Frequenz des Prüftons ab. Das Ohr ist im Bereich
gung bestimmter Frequenz, so sprechen wir von einem Ton von 2000–5000 Hz (2–5 kHz) am empfindlichsten (in diesem
(. Abb. 18.1a). Im täglichen Leben kommen reine Töne Frequenzbereich liegen auch die Sprachlaute, Kap. 28). Dort

. Abb. 18.1a–c. Der Schalldruckverlauf eines Tons (a), eines Geräusch erkennen. Im Gegensatz zum Ton erkennt man beim Klang,
Klangs (b) und eines Geräuschs (c) in Abhängigkeit von der Zeit. dass innerhalb einer Periode zusätzlich Schalldruckspitzen (Obertöne)
Die Periode lässt sich bei Ton und Klang, jedoch nicht mehr bei einem auftreten
418 Kapitel 18 · Hören und Gleichgewicht

. Abb. 18.2. Der Arbeitsbereich des menschlichen Hörsystems. stärkepegel über 130 Phon sind schmerzhaft (oberste rote Kurve).
Kurven gleicher Lautstärkepegel (Isophone) nach DIN 45630. Nur Der Hauptsprachbereich ist hellblau hervorgehoben. Beachte, dass
Schallereignisse, deren Frequenzen höher als rund 20 Hz und geringer per definitionem Phon und Schalldruckpegel nur bei 1 kHz überein-
als rund 16.000 Hz sind, können gehört werden. Die Hörschwelle stimmen
(unterste rote Kurve) hängt stark von der Schallfrequenz ab. Laut-

genügt bereits ein sehr niedriger Schalldruckpegel, um die Lautstärke und Lautstärkepegel
Hörschwelle zu überschreiten. Bei höheren und tieferen Die (subjektive) Hörschwelle eines Tons und seine bei stei-
Frequenzen sind zum Überschreiten der Hörschwelle hö- gendem Schalldruck zunehmende (subjektive) Lautstärke
here Schalldruckpegel notwendig. Besonders im Bereich hängen also nicht nur vom (physikalischen) Schalldruck-
der tiefen Töne (Basstöne), also der sehr niedrigen Schall- pegel, sondern auch von der Frequenz des Tons ab. Den-
frequenzen, liegen die Hörschwellen um 20–60 dB über noch kann der Zusammenhang zwischen Lautstärke und
denen bei 2000 Hz (2 kHz). Schalldruckpegel mit psychophysischen Methoden (Ab-
Ausgehend von der Hörschwelle kann das menschliche schn. 14.5.3) erfasst werden. Eine Versuchsperson kann
Ohr, wie bereits gesagt, Schalldrücke bis 130 dB SPL ohne nämlich nicht nur darüber Angaben machen, wann ein Ton
Schmerzen hören. Dieser Hörbereich liegt zwischen den hörbar wird, sondern auch darüber, wann sie Töne gleicher
beiden roten Kurven der . Abb. 18.2. Allerdings liegt unter- oder verschiedener Frequenz als gleichlaut empfindet.
halb der Schmerzschwelle ein Hörbereich, ab dem der Bei einer solchen Messung bietet man der Versuchsper-
Schall bereits als unbehaglich empfunden wird (gestrichelte son 2 Töne dar: einen Testton (»Anker«) beliebiger Fre-
rote Linie in . Abb. 18.2). quenz und Intensität und einen Vergleichston von 1000 Hz,
Die für uns hörbaren Schallereignisse haben also dessen Schalldruckpegel bekannt ist (er sei z. B. 60 dB).
Frequenzen zwischen 16 Hz und 16–20 kHz (das ent- Über einen Lautstärkeregler kann dann die Versuchsperson
spricht ca. 10 Oktaven) und Schalldrücke zwischen 0 und den Testton so lange lauter oder leiser drehen, bis er ihr
130 dB SPL (das entspricht mehr als 6 Zehnerpotenzen, Ab- genauso laut wie der Vergleichston erscheint. Beide Töne
schn. 18.1.1). sind dann subjektiv gleich laut. Sie haben, so sagt man, den
Die beim normalen Sprechen hauptsächlich vorkom- gleichen Lautstärkepegel.
menden Frequenzen und Schalldrücke liegen mitten im
G Schalldruck wird frequenzabhängig als Lautstärke
Hörbereich, nämlich in dem in der . Abb. 18.2 hellblau
empfunden. Lautstärke und Lautstärkepegel sind
hervorgehobenen Areal, das deswegen als Hauptsprach-
physiologische Maßeinheiten. Töne, die als gleich-
bereich bezeichnet wird.
laut wahrgenommen werden haben definitions-
gemäß den gleichen Lautstärkepegel.
18 G Die Hörschwelle ist stark frequenzabhängig. Ihr
Optimum liegt bei 2000–5000 Hz. Höhere und tiefere
Töne benötigen höhere Schalldrücke, um sie gerade Phonskala und Isophone
zu hören. Der gesamte Hörbereich reicht von der Der Lautstärkepegel wird in Phon angegeben (rechts in
Hörschwelle bis zu Schalldrücken von ca. 130 dB SPL. . Abb. 18.2). Und zwar wurde vereinbart, dass bei 1000 Hz
Mitten im Hörbereich liegt der Hauptsprachbereich. (1 kHz) die Phon- und die dB-Werte übereinstimmen. Im
18.1 · Wahrnehmungspsychologie des Hörens
419 18

obigen Beispiel haben also nach dem Lautstärkeabgleich empfunden, wenn sein Lautstärkepegel um 10 Phon an-
beide Töne einen Lautstärkepegel von 60 Phon. Der Schall- steigt.
druckpegel des Vergleichstons von 1000 Hz ist dabei defi- Bei 1000 Hz bedeutet dies umgekehrt, dass eine Ver-
nitionsgemäß 60 dB SPL, der des Testtons kann je nach zehnfachung des Schalldrucks (und damit eine Zunahme
seiner Frequenz geringer oder (wie meistens) größer sein. des Lautstärkepegels um 20 Phon, 7 oben) nur eine Ver-
Dies zeigen eindrucksvoll die Kurven gleicher Lautstärke- vierfachung der Lautheit bewirkt. Für andere Frequenzen
pegel oder Isophone in . Abb. 18.2. Sie wurden mit der gilt ähnliches. Wir haben es hier, wie bei den anderen Sin-
eben beschriebenen Methode aus zahlreichen Einzelmes- nesorganen auch, mit einer Beziehung zwischen physika-
sungen gewonnen. Auch die Hörschwelle ist eine solche lischem Reiz (Schalldruck) und subjektiver Empfindung
Isophone; alle Töne, die auf der Hörschwelle liegen, sind (Lautheit) in Form einer Stevens-Potenzfunktion zu tun,
nämlich gleich laut, und zwar eben überschwellig. deren Exponent etwa 0,6 ist (Abschn. 14.5.2). Dies gilt aller-
Die oben angesprochene Hörschwelle einer Gruppe ge- dings nur für Lautstärkepegel oberhalb 40 Phon. Unterhalb
sunder Erwachsener liegt bei 4 Phon. Als die Hörschwelle von 40 Phon wird eine Lautheitsverdopplung schon bei ge-
zum ersten Mal bestimmt wurde, geschah dies aber an einer ringerer Zunahme des Lautstärkepegels erreicht.
Gruppe von jungen Probanden. Bei dieser Gruppe wurde
G Ein Ton wird etwa doppelt so laut empfunden, wenn
bei 1000 Hz (1 kHz) die Hörschwelle bei einem Schalldruck
sein Lautstärkepegel um 10 Phon ansteigt. Verzehn-
von 2×10–5 N/m2 gemessen und diese dann, wie oben be-
fachung des Schalldrucks (= Zunahme des Lautstärke-
richtet, als 0 dB SPL und als 0 Phon gesetzt. Spätere Mes-
pegels um 20 Phon) bewirkt eine vierfache Lautheit.
sungen an größeren Gruppen ergaben dann, dass der
Der Exponent der Stevens-Potenzfunktion liegt da-
Normwert für die Schwelle bei einem Ton mit 1 kHz bei
mit bei 0,6.
4 dB SPL und damit bei 4 Phon liegt.
G Der Lautstärkepegel wird in Phon angegeben. Intensitäts- und Frequenzunterschiedsschwellen
Isophone sind Kurven gleicher Lautstärkepegel, d. h.
Die Phonskala baut darauf auf, dass Versuchspersonen
alle Töne auf diesen Kurven werden als gleichlaut
2 Töne als gleich laut angeben. Es ist daher die Frage erlaubt
empfunden. Die Hörschwelle liegt bei 4 Phon, der
und wichtig, wie genau der Mensch unterschiedliche Schall-
Hauptsprachbereich um die 60 Phon.
druckpegel voneinander unterscheiden kann. Die Antwort
lautet: erstaunlich genau! Denn 2 Töne gleicher Frequenz
Lautheit werden im unteren Intensitätsbereich bereits dann als
Gibt man einer Versuchsperson einen Ton von 1000 Hz mit unterschiedlich laut empfunden, wenn sich der Schall-
einem Lautstärkepegel von 40 Phon vor und bittet sie, druck um nur 1 dB SPL voneinander unterscheidet. Im
einen zweiten Ton von 1000 Hz so laut einzustellen, dass er oberen Intensitätsbereich wird dieser Wert sogar noch
ihr genau doppelt so laut erscheint, dann stellt sie einen wesentlich geringer.
Lautstärkepegel von etwa 50 Phon ein. Soll der Ton viermal Unser Gehör ist aber nicht nur in der Lage, einen Ton
so laut wie der Kontrollton von 40 Phon empfunden werden, nach seiner Lautstärke zu beurteilen, sondern auch nach
wird ein Lautstärkepegel von etwa 60 Phon eingestellt. Mit der Tonhöhe, die durch die Tonfrequenz gegeben ist. Die
anderen Worten, ein Ton wird ungefähr doppelt so laut Fähigkeit, Tonhöhen zu unterscheiden, ist erstaunlich gut.

Box 18.2. Lärmmessung und Lärmschäden


Da die subjektive Lautheit von Geräuschen und damit das Sie stimmen also näherungsweise mit den Phonwerten
Ausmaß der von ihnen ausgehenden Lärmbelästigung überein.
sehr stark von den in ihnen enthaltenen Frequenzen ab- Sehr hohe Lautstärkepegel lösen Ohrenschmerzen
hängt (. Abb. 18.2), gibt eine Messung des Schalldruck- aus. Dies ist bei 120–130 Phon der Fall. Dieser Wert wird
pegels keinen ausreichenden Anhaltspunkt für ihre Be- deswegen als Schmerzschwelle bezeichnet (obere rote
urteilung. Man kann jedoch Schallpegelmesser durch den Kurve in . Abb. 18.2). Solch hohe Lautstärkepegel führen
Einbau von Frequenzfiltern in ihrer Empfindlichkeit so auch zu Hörschäden, die bei längerer Einwirkungsdauer
verändern, dass sie eine Bewertung vornehmen, die etwa auch schon bei viel geringeren Schallbelastungen auf-
dem menschlichen Gehör entspricht, also praktisch als treten können. So verursacht eine Dauerbeschallung
»Phon-Messgeräte« dienen. Die höchste Empfindlichkeit (8-stündiger Arbeitstag) mit mehr als 90 Phon mit Sicher-
des Messinstruments liegt dann, entsprechend dem heit im Laufe von Jahren eine Schwerhörigkeit. Diese
Verlauf der Hörschwelle, im mittleren Frequenzbereich, Lautstärkepegel werden nicht nur in einigen Betrieben
für höhere und tiefere Frequenzen ist das Gerät weniger (wo das Tragen von Schallschutz ab 85 dB(A) vorgeschrie-
empfindlich. Beim Einsatz des gebräuchlichsten Filters A ben ist), sondern z. B. auch in Diskotheken regelmäßig
werden die zu messenden Werte mit dB(A) bezeichnet. überschritten.
420 Kapitel 18 · Hören und Gleichgewicht

Im günstigsten Bereich um 1000 Hz sind wir in der Lage, die der Schall durch Resonanzen und Reflektionen an Kopf
noch Frequenzen zu unterscheiden, die nur um 0,3%, also und Ohrmuscheln erfährt.
3 Hz, differieren. Entsprechend kann ein geübter Sänger Werden beide Ohren mit Kopfhörern unabhängig von-
dargebotene Töne mit einem Fehler kleiner als 1% nach- einander gereizt, so führt eine Abschwächung des Signals
singen. zu einem Ohr von nur 1 dB schon zur Lokalisation des
Schalls auf die andere Seite. Ebenso können Laufzeitunter-
G Die Intensitätsunterschiedsschwelle liegt bei 1 dB
schiede bis hinunter zu 3×10−5 s sicher beurteilt werden,
SPL oder weniger, die Frequenzunterschiedsschwelle
was einer Abweichung der Schallquelle um ca. 3° von der
bei 0,3%.
Mittellinie entspricht. Unter optimalen Bedingungen kann
dieser Wert noch um die Hälfte verkleinert werden. Man
Maskierung (Verdeckung) und Adaptation kann aber auch eine Schallverspätung durch eine gleich-
Wenn wir in einem fahrenden Auto Nachrichten über das zeitige Erhöhung der Intensität am gleichen Ohr wieder
Radio hören, so ist bei langsamer, ruhiger Fahrt dazu nicht »wettmachen« und so wieder einen Mitteneindruck erzeu-
allzu große Lautstärke notwendig. Bei plötzlicher Zunahme gen, was besonders deutlich zeigt, dass beide Parameter an
der Fahrgeräusche wird der Radiosprecher aber unhörbar. der Richtungslokalisation beteiligt sind.
Erst wenn die Radiolautstärke gesteigert wird, kann der
G Winzige Laufzeit- und Intensitätsunterschiede des
Sprecher wieder verstanden werden. Dieses Phänomen
auf die beiden Ohren auftreffenden Schalls werden
nennt man Maskierung oder Verdeckung.
zum Richtungshören ausgenutzt. Die Richtcharakte-
Um die im Alltag wichtigen Effekte der Verdeckung
ristik der Ohrmuschel und die Klangfärbung tragen
quantitativ genau angeben zu können, wird die sog. Mithör-
ebenfalls zur Ortung einer Schallquelle bei.
schwelle gemessen. Die Mithörschwelle gibt denjenigen
Schalldruckpegel eines Testschalls (beispielsweise eines
sinusförmigen Testtons) an, den dieser haben muss, damit Box 18.3. Schalleitungs- und Schallempfindungs-
störungen
er neben dem Störschall gerade noch wahrgenommen, also
mitgehört wird. Aus unserem Beispiel geht schon hervor, Die Schallübertragung im Mittelohr kann aus ver-
dass die Mithörschwelle immer oberhalb der Ruhehör- schiedensten Gründen erschwert oder unterbrochen
schwelle liegt. sein, z. B. wenn auf Grund einer Entzündung sich dort
Wie andere Sinnessysteme zeigt das Hörsystem das eitrige Flüssigkeit ansammelt oder wenn die Gelenke
Phänomen der Adaptation. An diesem Vorgang sind so- der Gehörknöchelchenkette versteifen oder wenn die
wohl das periphere Ohr als auch zentrale Neurone beteiligt. Elastizität des runden oder des ovalen Fensters nach-
Ausdruck der Adaptation ist ein Anstieg der Hörschwelle lässt. Es kommt zu einer Schwellenerhöhung für akus-
(»temporary threshold shift«, TTS). Auch die Isophone tische Reize. Diese kann durch eine Hörhilfe, die den
oberhalb der Hörschwelle verschieben sich »nach oben«, Schall verstärkt, ausgeglichen oder gebessert werden.
diejenigen geringer Lautstärkepegel allerdings mehr als die Unter Umständen ist auch eine chirurgische Behand-
hoher Pegel, so dass insgesamt die Isophone näher zusam- lung möglich, beispielsweise der Ersatz eines ver-
menrücken. Dies bedeutet praktisch, dass die Unterschieds- knöcherten Steigbügels im ovalen Fenster.
schwellen abnehmen, denn um den gleichen Unterschied Kommt es in der Cochlea zu einem Untergang von
im Lautstärkepegel zu erhalten, ist jetzt, also im adaptierten Haarzellen, so resultiert daraus zwangsläufig Schwer-
Zustand, ein geringerer Zuwachs im Schalldruckpegel nö- hörigkeit. Das bekannteste Beispiel einer solchen
tig. Die Adaptation trägt also zur Differenzierung unserer Innenohrschwerhörigkeit ist die des mittleren und
Hörerlebnisse bei. höheren Alters. Sie wird Presbyakusis oder Alters-
schwerhörigkeit genannt. Aber auch übermäßiger
G Die Mithörschwelle liegt immer oberhalb der Ruhe-
Lärm, Infektionen, einige Medikamente oder ein ange-
hörschwelle. Bei Dauerbeschallung steigt die Hör-
borener, genetisch bedingter Defekt können für eine
schwelle vorübergehend an, und die Unterschieds-
Schädigung des Corti-Organs verantwortlich sein. Sind
schwellen werden geringer.
die Haarzellen erst einmal zerstört, können sie nicht
ersetzt werden. Die Behandlung mit Hörhilfen bringt
Schallortung und Richtungshören daher nur so lange Erfolge, wie mindestens ein kleiner
Eine Schallquelle im Raum wird beide Ohren reizen. Expe- Teil der Haarzellen noch funktionsfähig ist.
18 rimente mit Kopfhörern haben gezeigt, dass über die Rich-
tung aus der der Schall kommt, aufgrund von Zeit- und
Intensitätsunterschieden des Hörens der beiden Ohren
entschieden wird. Die Frage, wieweit sich die Schallquelle
vom Hörer entfernt befindet und ob sie vor oder hinter ihm
liegt, wird dagegen durch die Klangfärbung entschieden,
18.1 · Wahrnehmungspsychologie des Hörens
421 18
18.1.3 Prüfung des Hörvermögens aber nicht für Knochenleitung ein Hörverlust bestehen, da
das Innenohr dabei nicht geschädigt ist.
Schwellenaudiometrie
G Der wichtigste klinische Hörtest ist die Schwellen-
Eine Anwendung dieses Verfahrens bei Gesunden haben
audiometrie; im resultierenden Audiogramm sind
wir bei der Bestimmung der Hörschwelle und der Isophone
Hörverluste in dB nach unten aufgetragen.
(. Abb. 18.2) bereits kennen gelernt. Es werden über Kopf-
hörer einseitig verschiedene Töne angeboten. Der Test be-
ginnt im sicher unterschwelligen Bereich, und der Schall- Messung akustisch evozierter Potenziale
druck wird so lange langsam erhöht, bis der Patient eine Eine objektive Hörprüfung ohne Mitarbeit der Patienten
Hörempfindung angibt. Der dazu benötigte Schalldruck (z. B. bei kleinen Kindern, bei Sprachlosen oder bei Simu-
wird in ein Audiogramm eingetragen. Solche Formularvor- lanten) kann mit Hilfe elektroenzephalographisch aufge-
drucke sind in . Abb. 18.3a–d zu sehen. Ihre Darstellung zeichneter evozierter Potenziale oder evozierter magne-
unterscheidet sich von der in . Abb. 18.2 erstens dadurch, tischer Felder (Magnetenzephalogramm, Kap. 20) durchge-
dass die normale Hörschwelle als gerade Linie eingedruckt führt werden. Dabei werden die durch mehrere akustische
und mit 0 dB bezeichnet ist. Zweitens sind höhere Schwel- Einzelreize hervorgerufenen evozierten Potenziale (AEP)
lenwerte nach unten und nicht nach oben abgetragen. Da- mit Hilfe eines Mittelwertbildners aus der Hintergrundak-
mit wird auf einen Blick offensichtlich, um wie viel dB die tivität des EEG herausgemittelt (Kap. 20). Diese Methodik
Hörschwelle eines Patienten über der normalen Hörschwel- wird v. a. zur Überprüfung derjenigen evozierten Poten-
le liegt. Liegt die Hörschwelle beispielsweise um 20 dB über ziale angewandt, die bei der synaptischen Umschaltung in
der normalen Hörschwelle, so spricht man von einem Hör- den Kernen der Hörbahn im Hirnstamm generiert werden,
verlust von 20 dB. Dies entspricht etwa dem Hörverlust, der daher der Name »brainstem evoked response audiometry«,
beim Verschließen beider Gehörgänge mit den Fingern auf- BERA. Besonders bei Läsionen der Hörbahn (retrokochleä-
tritt. ren Schäden) kann die BERA Aufschluss über den Ort der
Bei der Schwellenaudiometrie mit Hilfe von Kopfhörern Schädigung geben. Die frühen Potenziale haben Latenzen
wird die Luftleitung überprüft (zum Unterschied zwischen unter 15 ms, späte haben Latenzen von 150 ms und
Luftleitung und Knochenleitung Abschn. 18.2.1). Dasselbe mehr. Beispiele sind in den . Abb. 20.16 und 20.18 des Ab-
Verfahren kann aber auch zur Prüfung der Knochenleitung schnitts 20.5 zu sehen.
herangezogen werden, wenn man statt des Kopfhörers
einen Schwingkörper verwendet, der auf den Warzenfort- G Die Messung akustisch evozierter Potenziale
satz der zu prüfenden Seite aufgesetzt wird und der die (AEP oder BERA) erlaubt die Prüfung der Funktions-
Schädelknochen direkt zu Schwingungen anregt. Liegt eine fähigkeit der Hörbahn ohne die Mitwirkung des
Innenohrschwerhörigkeit vor, so wird das Hörvermögen Patienten.
sowohl bei Luft- wie bei Knochenleitung verschlechtert
sein. Bei einer Mittelohrschwerhörigkeit wird für Luft-,

. Abb. 18.3a–d. Tonschwellenaudiogramme bei Gesunden und und liegen auf der Geraden für die Hörschwellen. a Audiogramm eines
bei Hörstörungen. Die Schwelle bei Luftleitung (Bestimmung über Hörgesunden. b Schallleitungsstörung von ca. 20 dB bei verschlosse-
aufgesetzte Kopfhörer, die Töne werden dem Untersuchten für jedes nem Gehörgang. c Schallleitungsschwerhörigkeit von 40–50 dB bei
Ohr getrennt angeboten) ist rot, die Schwelle bei der Knochenleitung Verlust der Gehörknöchelchen und Trommelfell. Da das Innenohr
ist grün gezeichnet (dazu Ersatz des Kopfhörers durch einen elektri- nicht betroffen ist, ist die Knochenleitungsschwelle normal (»air-bone
schen Vibrator, der auf den Knochen des Processus mastoideus, also gap«). d Hörverlust von 40–50 dB nach einer Schädigung des Innen-
den Warzenfortsatz, getrennt für jede Seite aufgesetzt wird). Beim ohrs. Weder durch die Luftleitung noch durch die Knochenleitung
Gesunden stimmen die Werte für Luft- und Knochenleitung überein kann das Innenohr den Schall mit normaler Schwelle wahrnehmen
422 Kapitel 18 · Hören und Gleichgewicht

Box 18.4. Hörsturz und Tinnitus


Aufgaben der Gehörknöchelchenkette
Die in den äußeren Gehörgang eintretenden Schallwellen
Eine plötzliche, innerhalb von Sekunden auftretende
treffen zunächst auf das Trommelfell (. Abb. 18.4a). Von
Innenohrschwerhörigkeit eines oder beider Ohren
dort wird der Schall auf die Gehörknöchelchenkette über-
wird als Hörsturz bezeichnet. Die Ursache kann in der
tragen. Das erste Knöchelchen, der Hammer (Malleus), ist
Regel nicht angegeben werden. Spontanheilungen
am Trommelfell angewachsen und schwingt mit diesem
bei geringgradigem Hörsturz sind möglich, oft kommt
mit. Über das zweite, den Amboss (Incus), werden diese
es aber zu einem chronischen Hörverlust.
Schwingungen an das dritte, den Steigbügel (Stapes), wei-
Innenohrschäden sind häufig von ein- oder beid-
tergegeben. Dieser bildet mit seiner Fußplatte die Grenze
seitigen kurzzeitigen oder andauernden Ohrgeräu-
zum flüssigkeitsgefüllten Innenohr, das die eigentlichen
schen begleitet, die zu den quälendsten Störungen
Sinneszellen enthält (7 unten).
des menschlichen Wohlbefindens gehören. Ein solcher
Die Gehörknöchelchenkette wurde von der Natur
Tinnitus kann derzeit kaum medikamentös oder chi-
»erfunden«, um eine effektive Schallübertragung von der
rurgisch behandelt werden. Eine psychologische Be-
äußeren Luft auf das Innenohr zu ermöglichen. Bei einem
handlung in der ein Diskriminationstraining der dem
direkten Auftreten des Schalls von der Luft auf die Flüssig-
Tinnitus benachbarten Töne sowie ein Biofeedback-
keit des Innenohrs, also von einem Medium mit niedrigem
und Bewältigungstraining eingesetzt werden, ist meist
Schallwellenwiderstand (Impedanz) auf ein Medium mit
nach der akuten Phase sehr hilfreich, ohne eine voll-
hoher Impedanz, würden die Schallwellen zum weitaus
ständige Beseitigung der Ohrgeräusche zu erreichen.
größten Teil (98%) reflektiert werden. Durch die Gehör-
Diese sind vermutlich durch eine kortikale Reorganisa-
knöchelchenkette wird eine Impedanzanpassung erreicht.
tion, wie wir sie ausführlich in Kap. 16 und 25 beschrei-
so dass die Reduktion der Schallenergie auf ca. 35% re-
ben, mitbedingt. Die kortikale Repräsentation des
duziert wird und somit ca. 65% der Energie dem Innen-
Tinnitustons ist vergrößert und verschiebt sich aus der
ohr zugeführt werden. Der wichtigste Faktor dabei ist
tonotopen Karte (Abschn. 18.3.2) heraus.
die »Bündelung« der Schallwellen von der großen Fläche
des Trommelfells auf die Steigbügelplatte, da sich diese bei-
den Flächen etwa wie 35:1 verhalten und Druck = Kraft/
18.2 Bau und Funktion Fläche ist.
des Hörsystems
G Ohne die Gehörknöchelchenkette würde reflexions-
18.2.1 Das Ohr als Schallaufnehmer bedingt kaum Schall in das Innenohr gelangen. Die
Impedanzanpassung geschieht dabei v. a. durch
Bau des äußeren Ohrs und des Mittelohrs Druckerhöhung wegen der großen Flächenunter-
schiede zwischen Trommelfell und Steigbügelplatte.
Die Ohrmuschel und der äußere Gehörgang werden durch
das Trommelfell als äußeres Ohr gegenüber dem Mittel-
ohr abgegrenzt, das aus der luftgefüllten Paukenhöhle mit Luftleitung und Knochenleitung
der darin enthaltenen Gehörknöchelchenkette (Hammer, Die Übertragung des Schalls vom äußeren Gehörgang über
Amboss, Steigbügel) aufgebaut ist Diese Knochenkette stellt das Trommelfell und die Gehörknöchelchenkette auf das
eine »Brücke« zwischen dem Trommelfell und dem ovalen Innenohr bezeichnen wir als Luftleitung. Sie ist der nor-
Fenster des Innenohrs dar (. Abb. 18.4a, b). male Weg der Schallaufnahme in das Innenohr.
Die Paukenhöhle steht durch eine enge, Tuba Eustachii Eine Schallempfindung entsteht aber auch dann, wenn
genannte Röhre mit dem Rachen hinter der Mundhöhle in man einen schwingenden Körper, etwa eine Stimmgabel,
Verbindung. Sie wird von dort beim Schlucken, das die Eus- direkt auf den Schädel aufsetzt und damit die Schädel-
tachi-Röhre jeweils kurz öffnet, belüftet. knochen zu Schwingungen anregt. Diese Form der Schall-
Rasche Luftdruckschwankungen, z. B. beim Steig- oder übertragung wird Knochenleitung genannt. Sie spielt im
Sinkflug, führen zum »Druck auf den Ohren«. Es handelt täglichen Leben keine nennenswerte Rolle. Messungen der
sich dabei um subjektiv unangenehm empfundene Span- Knochenleitung werden aber zur Diagnostik von Hörstö-
nungen des Trommelfells, die durch den Luftdruckunter- rungen eingesetzt (Abschn. 18.1.3).
schied zwischen Außenwelt und Paukenhöhle entstehen.
G Luftleitung ist der normale Weg der Schallaufnahme
Schlucken, also Öffnen der Eustachi-Röhre, stellt den
in das Innenohr. Knochenleitung kommt vor, ist aber
18 Druckausgleich her.
von untergeordneter Bedeutung.

G Das Trommelfell grenzt das äußere Ohr vom Mittel-


ohr ab. In seiner Paukenhöhle verbindet die Gehör-
knöchelchenkette das Trommelfell mit dem ovalen
Fenster zum Innenohr.
18.2 · Bau und Funktion des Hörsystems
423 18

. Abb. 18.4a–d. Schallaufnahme im Ohr. a Das von einer Schall- Cochlea. Sie besteht aus 3 Etagen (Scalen, 7 Text). Die oberste, Scala
quelle (z. B. einer Stimmgabel) ausgehende Schallfeld erreicht über vestibuli (sie liegt dem Gleichgewichts- oder Vestibularorgan am
den äußeren Gehörgang das Trommelfell. Die Schallübertragung von nächsten), und die unterste, Scala tympani, gehen an der Spitze der
dort über Hammer (Malleus), Amboss (Incus) und Steigbügel (Stapes) Schnecke (Helicotrema) offen ineinander über (d). In der mittleren
auf das Innenohr wird im Text beschrieben. Jede Schallwelle ist, (Scala media) liegen die Hörsensorzellen (Haarzellen) auf der Basilar-
wie links oben gezeigt, durch die Frequenz λ (lambda) und ihre Druck- membran. Über ihnen liegt eine Abdeckung, die Tektorialmembran.
amplitude charakterisiert. b Einblick in das Mittelohr und in die d Weg des Schalldrucks durch die Cochlea. Schematisierte Darstellung
menschliche Hörschnecke (Cochlea), wobei die schneckenförmigen mit »ausgerollter« Schnecke
Windungen mehrfach angeschnitten sind. c Blick in eine Windung der
424 Kapitel 18 · Hören und Gleichgewicht

18.2.2 Schalltransduktion im Innenohr materge synaptische Kontakte mit Nervenfasern, die über
den Nervus acusticus ins Gehirn laufen (Abschn. 2.3.4 mit
Bau der Schnecke (Cochlea) . Tabelle 2.2).
Im knöchernen Labyrinth des Felsenbeins liegen Gleich- Jede innere Haarzelle wird von vielen afferenten Ner-
gewichtsorgan und Hörorgan eingebettet in einer bindege- venfasern versorgt, von denen jede wahrscheinlich nur an
webigen Hülle, dem häutigen Labyrinth. Das Hörorgan einer einzigen inneren Haarzelle endet, d. h. jede innere
wird wegen seiner Form auch Schnecke oder Cochlea ge- Haarzelle wird mehrfach innerviert. Dagegen verzweigen
nannt (. Abb. 18.4). Beim Menschen hat die Schnecke etwa sich die für die äußeren Haarzellen bestimmten afferenten
zweieinhalb Windungen (. Abb. 18.4b), einen Basisdurch- Nervenfasern vielfach, und jede einzelne Afferenz ver-
messer von etwa 10 mm, eine Höhe von 5 mm von der Basis sorgt viele äußere Haarzellen. Auf diese Weise laufen etwa
zur Spitze und eine (auseinandergerollte) Gesamtlänge von 90% der etwa 30.000–40.000 afferenten Nervenfasern im
etwa 35 mm. N. acusticus zu den (relativ wenigen, 7 oben) inneren
Jede Cochlea-Windung besteht aus 3 »Etagen« oder Haarzellen und nur die restlichen 10% an die zahlenmäßig
Skalen, die alle mit Flüssigkeit gefüllt sind. Sie werden, wie weit überlegenen äußeren Haarzellen. Die afferente Inner-
in . Abb. 18.4b und c zu sehen, mit Scala vestibuli, Scala vation der beiden Haarzelltypen ist also außerordentlich
media und Scala tympani bezeichnet. Scala vestibuli und unterschiedlich.
Scala tympani enthalten Perilymphe, wogegen die Scala Schließlich sei vermerkt, dass noch etwa 1800 efferente
media Endolymphe enthält. Erstere entspricht in ihrer Zu- Nervenfasern in das Corti-Organ eintreten und dort zu
sammensetzung mehr einer Extrazellulär-, letztere einer 90% die äußeren Haarzellen innervieren (Transmitter:
Intrazellulärflüssigkeit. Scala vestibuli und Scala tympani Azetylcholin). Diese sehr unterschiedliche Verteilung der
stehen an der Spitze der Schnecke, dem Helicotrema, mit- sensorischen und der efferenten Innervation der inneren
einander in Verbindung (. Abb. 18.4d). und äußeren Haarzellen lässt schon vermuten, dass ihnen
unterschiedliche Aufgaben bei der Transduktion zukom-
G Drei schneckenförmig gewundene, mit Flüssigkeit
men (7 unten).
gefüllte Kompartimente (Skalen) bilden den audito-
rischen Teil des Innenohrs. G Die inneren Haarzellen sind sehr dicht sensorisch in-
nerviert, die äußeren nur spärlich. Bei der efferenten
Bau des Corti-Organs Innervation ist es genau umgekehrt. Dies lässt auf
unterschiedliche Aufgaben bei der Transduktion
Das Dach der Scala media bildet die Reissner Membran,
schließen (7 unten).
den Boden die Basilarmembran (. Abb. 18.4c). Auf der Ba-
silarmembran sitzt der eigentliche sensorische Apparat, das
Corti-Organ. Es enthält, eingebettet in Stützzellen, die Hör- Schallübertragung auf das Corti-Organ
sensorzellen. Sie werden als Haarzellen bezeichnet, weil sie Die Fußplatte des Steigbügels sitzt im ovalen Fenster der
haarförmige Fortsätze tragen, die man Stereozilien nennt. Scala vestibuli. Sie überträgt die vom Trommelfell kom-
Diese Zilien sind untereinander durch dünne Fäden ver- menden Schallwellen auf die Scala vestibuli und über das
bunden, die »tip links« gennant werden (. Abb. 18.6c). Helicotrema in die Scala tympani (7 oben; . Abb. 18.4d) an
Drei Reihen von äußeren Haarzellen steht eine einzelne deren Ende über das runde Fenster, der Druckausgleich
Reihe innerer Haarzellen gegenüber. Beim Menschen gibt erfolgt.
es etwa 12.000 äußere und 3500 innere Haarzellen. Die vom ovalen Fenster ausgehenden Druckwellen
Über dem Corti-Organ liegt eine gallertartige Masse, bringen gleichzeitig die zwischen diesen beiden Skalen
die Tektorialmembran (. Abb. 18.4c). Sie ist an der inneren liegende Scala media zum Mitschwingen. In Abhängigkeit
Seite der Schnecke befestigt. Außerdem berührt sie die von der Schallfrequenz bilden sich entlang der Scala media
längsten Stereozilien der äußeren, nicht jedoch die der Wanderwellen aus, ähnlich wie Wellen an einem horizontal
inneren Haarzellen. gehaltenen Seil. Bedingt durch die mechanischen Eigen-
schaften der Basilarmembran und der gesamten Cochlea
G Das Corti-Organ sitzt auf der Basilarmembran der
bilden sich für jede Schallfrequenz charakteristische
Scala media. Die äußeren und inneren Haarzellen
Schwingungsmaxima und -minima entlang dem Endo-
des Corti-Organs sind von der Tektorialmembran
lymphschlauch aus, wie sie an einem Beispiel in . Abb. 18.5
bedeckt, mit der die längsten Stereozilien der äuße-
dargestellt sind. Bei Beschallung mit hohen Frequenzen
ren Haarzellen Kontakt haben.
18 liegen die Schwingungsmaxima in der Steigbügelregion, bei
Beschallung mit tiefen Frequenzen mehr in der Nähe des
Innervation der Haarzellen Helicotremas. Dies nennt man das Ortsprinzip (Ortstheo-
Die Haarzellen im Corti-Organ sind sekundäre Sinnes- rie, Tonotopie) der Wanderwelle. Ein aus mehreren Tönen
zellen, d. h. sie bilden selbst keine Nervenfortsätze aus (Ab- bestehendes Schallereignis wird dadurch längs der kochle-
schn. 14.2.3 und . Abb. 18.11). Stattdessen haben sie gluta- ären Trennwand aufgespreizt (Frequenzdispersion).
18.2 · Bau und Funktion des Hörsystems
425 18

G Der Schall tritt über den Steigbügel in die Scala


vestibuli des Corti-Organs ein und über das runde
Fenster der Scala tympani wieder aus; dabei kommt
es zu tonotopisch angeordneten Wanderwellen ent-
lang der Scala media.

Erregungsmechanismen der Haarzellen


Nach dem Ortsprinzip (7 oben) entsteht für jede Schall-
frequenz nur am Schwingungsmaximum eine Bewegung
des Endolymphschlauches von nennenswerter Amplitude.
Dabei kommt es zu Relativbewegungen zwischen Tektorial-
und Basilarmembran mit entsprechender Endolymphbe-
wegung. Diese reicht aus, um die Stereozilien der inneren
und äußeren Haarzellen aus dem Ruhezustand zu verbie-
gen oder abzuscheren (. Abb. 18.6a und b).
Die Abscherung der Zilien stellt den adäquaten Reiz
für die Haarzellen dar. Sie führt zu Änderungen der Mem-
branpermeabilitäten der Haarzellen für kleine Ionen, zu
. Abb. 18.5. Die Wanderwelle in den kochleären Membranen. entsprechenden Ionenflüssen und damit zur Ausbildung
Die Wanderwelle startet nahe den Fenstermembranen und läuft die von Sensorpotenzialen. Die zugehörigen Transduktions-
Basilarmembran entlang in Richtung Schneckenspitze. In Abhängig-
schritte sind in . Abb. 18.6c zu sehen. Werden die Stereo-
keit von der jeweiligen Frequenz des Schallsignals bilden die kochle-
ären Membranen ein Amplitudenmaximum an einem jeweils eng
zilien in Erregungsrichtung deflektiert, so werden die sie
umschriebenen Ort aus verbindenden »tip links« gespannt. Man stellt sich vor, dass
durch den Zug K+-durchlässige Kanäle geöffnet werden
und dass durch diese Kanäle K+-Ionen aus der Endolymphe

. Abb. 18.6a–c. Erregungsmechanismus der Haarzellen. a und b lymphströmung (Pfeil) ab. c Transduktionsschritte bei Reizung der
zeigen schematische Ausschnitte aus der Schneckentrennwand. Ab- Haarzellen. Das Schallsignal führt zu einer Deflexion des Haarbündels,
gebildet ist die Anordnung der Haarzellen zwischen Tektorial- und wodurch sich apikale Ionenkanäle öffnen. Kaliumionen strömen in die
Basilarmembran (vergleiche dazu . Abb. 18.4c und . Abb. 18.9): Zelle. Die Folge ist eine Depolarisation der Zelle. Die Depolarisation
a zeigt den Zustand in Ruhe; die äußeren Haarzellen berühren die Tek- führt (in inneren Haarzellen) zur Freisetzung des afferenten Trans-
torialmembran, die inneren berühren sie nicht; b zeigt die Verhältnisse mitters (vermutlich Glutamat), wodurch die afferenten Nervenfasern
bei Auslenkung der Schneckentrennwand. Die wanderwelleninduzier- stimuliert werden. Bei äußeren Haarzellen führt sie zur Kontraktion
te Auslenkung der Schneckentrennwand – einschließlich Haarzelle – der Zellen. Gleichzeitig steigert die Depolarisation die Öffnungswahr-
nach oben führt zu einer Deflexion der Stereozilien. Die Stereozilien scheinlichkeit von kaliumspezifischen Kanälen in der laterobasalen
der äußeren Haarzellen werden durch die Tektorialmembran deflek- Zellwand (in äußeren Haarzellen sind es z. B. Typ-C-Kanäle). Sie erlau-
tiert. Die Stereozilien der inneren Haarzellen schert der Sog der Endo- ben die Repolarisation der Zelle
426 Kapitel 18 · Hören und Gleichgewicht

in die Haarzelle einströmen und zu deren Depolarisation,


d. h. zu Sensorpotenzialen führen.
Die äußeren Haarzellen enthalten in ihrer Wandung
ein kontraktiles Protein, das Prestin (von »presto« = schnell),
das durch die Sensorpotenziale zur Kontraktion in der
Frequenz der Wanderwellenschwingungen angeregt wird,
wodurch die äußeren Haarzellen rhythmisch verkürzt und

Nach Moore EJ (1983). Mit freundlicher Genehmigung von Thieme & Stratton.
verlängert werden. Diese Kontraktionen verstärken und
versteilern damit die Wanderwellen am Ort ihrer Fre-
quenzmaxima. Die umschriebene, bis zu 100-fache coch-
leäre Verstärkung mit Formung einer scharfen Wander-
wellenspitze führt dann erst sekundär zur Erregung der
inneren Haarzellen, denn diese haben eine 50–60 dB gerin-
gere Empfindlichkeit als die äußeren Haarzellen.
G Die Wanderwellen-induzierte Abscherung der Stereo-
zilien ist der adäquate Reiz für die Haarzellen. Die
inneren Haarzellen sind die eigentlichen Sinnes-
zellen des Hörorgans, die äußeren Haarzellen dienen
mit ihren Kontraktionen der kochleären Verstärkung.

18.2.3 Elektrophysiologische
und akustische Korrelate . Abb. 18.7. Mikrophonpotenzial der Cochlea und Summenak-
der Schalltransduktion tionspotenzial des Hörnervs nach einem extrem kurzen Schallreiz
und -transformation (»Klick«) bei Ableitung am runden Fenster

Mikrophonpotenzial Otoakustische Emission


Bei jeder durch Schallreize hervorgerufenen Verbiegung der Wie oben gesagt, ist die Hauptaufgabe der schnellen Kon-
Stereozilien der Haarzellen kommt es, wie oben erläutert, zu traktionen der äußeren Haarzellen, rhythmische Schwin-
Ionenströmen in und aus den Haarzellen. Die dadurch im gungen zu produzieren, um dadurch die Wanderwellen am
Innenohr entstehenden Potenzialschwankungen können im Ort ihrer Frequenzmaxima zu verstärken. Dabei wird
Corti-Organ, aber auch am runden Fenster registriert werden. offenbar soviel Energie erzeugt, dass als Nebeneffekt ein Teil
Sie werden Mikrophonpotenziale (CM = »cochlear micro- der Schwingungsenergie als Schall das Innenohr verlässt
phonics«) genannt, da sie sich ähnlich wie die Ausgangsspan- und über das Mittelohr an die Außenwelt abgegeben wird.
nung eines technischen Mikrophons verhalten, also den Im äußeren Gehörgang können diese transitorisch evo-
Schalldruckverlauf genau wiedergeben (. Abb. 18.7). Im Ge- zierbaren otoakustischen Emissionen (TEOAE) mit hoch-
gensatz zu anderen biologischen Potenzialen (z. B. Aktions- empfindlichen Mikrophonen gemessen werden. Sie kom-
potenzialen, synaptischen Potenzialen) folgt das Mikrophon- men bei praktisch allen Menschen vor, ihr Schalldruckpegel
potenzial dem Reiz praktisch ohne Latenz, besitzt keine Re- ist aber so niedrig, dass man seine eigenen TEOAE nicht
fraktärzeit, keine messbare Schwelle und ist nicht ermüdbar. wahrnimmt. Gleiches gilt für spontane akustische Emis-
sionen (SOAE), die bei vielen Menschen vorkommen. Die
Summenaktionspotenzial Messung von TEOAE ist eine Screeningmethode, um z. B.
Von den gleichen Stellen, von denen sich Mikrophonpoten- bei Neugeborenen nach Risikogeburten das Hörvermögen
ziale ableiten lassen, also z. B. vom runden Fenster, lassen zu untersuchen.
sich bei Beschallung mit Klicks auch Massen- oder Summen-
G Die Kontraktionen der äußeren Haarzellen erzeugen
aktionspotenziale der Aktionspotenziale im Hörnerven
Geräusche, die als otoakustische Emissionen im
ableiten (. Abb. 18.7). Solche Summenaktionspotenziale
äußeren Gehörgang gemessen werden können.
sind nicht bei Dauerbeschallungen registrierbar, da dann
Auch spontane akustische Emissionen kommen vor.
die Aktionspotenziale in den zahlreichen Nervenfasern des
18 Nervus acusticus völlig asynchron verlaufen.

G Der Transduktionsprozess in den Haarzellen kann


über Mikrophonpotenziale registriert werden. Das
Summenaktionspotenzial spiegelt die Erregung des
Hörnerven bei diskreten Reizen (»Klicks«) wider.
18.3 · Auditorische Signalverarbeitung
427 18
18.3 Auditorische Signalverarbeitung schallt, so treten zusätzliche evozierte Aktionspotenziale
auf, deren Frequenz vom Schalldruck des Schallreizes ab-
18.3.1 Schallkodierung im hängt (. Abb. 18.8a und c). Die Intensität eines Schallreizes
Nervus acusticus wird also durch den Grad der Aktivierung der afferenten
Fasern kodiert.
Kodierung der Frequenz der Schallreize Mit einer gewissen Adaptation (7 unten) halten diese
Die Nervenfasern des Nervus acusticus enden alle in einem evozierten Impulse für die gesamte Dauer des Schallreizes
jeweils sehr kleinen Bereich des Corti-Organs, die meisten an, d. h. die Länge eines Schallreizes wird über die Dauer
sogar, wie schon erwähnt, an nur einer einzigen inneren der Aktivierung der afferenten Nervenfaser verschlüsselt.
Haarzelle (Abschn. 18.2.2). Da andererseits, entsprechend Schallfrequenzen in der Nachbarschaft der charakteris-
der ebenfalls dort schon erläuterten Ortstheorie, jedem Ort tischen Frequenz können zwar dieselbe Hörnervenfaser
des Corti-Organs eine bestimmte Schallfrequenz zugeord- ebenfalls erregen, sie benötigen aber für gleiche Reizeffekte
net ist, wird jede Hörnervenfaser durch eine entsprechend höhere Schalldrücke, bzw. wie in . Abb. 18.8b und d zu
ihrem Innervationsort festliegende Schallfrequenz op- sehen, gleiche Schalldrücke führen zu geringerer evozierter
timal, d. h. mit der niedrigstmöglichen Schwelle erregt. Impulsaktivität.
Diese Schallfrequenz nennt man die charakteristische
G Die optimale Schallfrequenz zur Erregung einer Hör-
Frequenz (CF) der Faser. Hörnervenfasern, die in der Nähe
nervenfaser ergibt sich aus ihrem Innervationsort
des Steigbügels enden, haben also hohe charakteristische
auf dem Corti-Organ. Die Intensität ihrer Aktivierung
Frequenzen, während die charakteristischen Frequenzen
ist in der Frequenz der Aktionspotenziale, die Dauer
der Hörnervenfasern um so tiefer werden, je näher ihr
in der Länge der Impulssalve abgebildet.
Innervationsort an das Helicotrema rückt.

Kodierung von Intensität und Dauer Abstimmkurven (Tuning-Kurven)


der Schallreize Man kann den minimalen Schalldruckpegel einer Hör-
Hörnervenfasern weisen oft eine Spontanaktivität auf. nervenfaser bei ihrer charakteristischen Frequenz und zu
Werden sie mit ihrer charakteristischen Frequenz be- beiden Seiten dieser Frequenz messen und diese Werte

. Abb. 18.8a–e. Kodierung von Schallfrequenz und Schallinten- nervenfasern bei normaler (A, B) bzw. geschädigter (C) Cochlea. Wenn
sität in den Nervenfasern des Hörnerven. a–d Verhalten einer das Innenohr geschädigt ist (z. B. durch Lärmschaden), werden die
Hörnervenfaser bei Beschallung mit ihrer charakteristischen Frequenz Fasern unempfindlicher (es resultiert Schwerhörigkeit), und die Fre-
(a, c) sowie mit einer Nachbarfrequenz (b, d) bei 2 verschiedenen quenzselektivität geht verloren
Schallintensitäten. e Tuning-Kurven (Abstimmkurven) von 2 Hör-
428 Kapitel 18 · Hören und Gleichgewicht

in ein Diagramm eintragen. Die resultierenden Kurven akustische Signale, die auf beide Ohren einwirken, mit-
(. Abb. 18.8e) nennt man Abstimmkurven oder meist einander zu vergleichen.
Tuning-Kurven. Die von ihnen eingeschlossenen Flächen Die Neurone des Olivenkomplexes senden ihre Axone
zeigen diejenigen Frequenz- und Intensitätsbereiche an, z. T. auf der gleichen, z. T. auf der Gegenseite zu den late-
von denen die Hörnervenfaser aktiviert werden kann. Die ralen Schleifenkernen. Von dort geht es über die Colliculi
Steilheit der »Kurvenflanken« ist dabei ein Maß für die Fre- inferiores mit oder ohne Umschaltung zu den medialen
quenzselektivität der Faser. Kniehöckern (Corp. genic. med.) und anschließend zur pri-
mären Hirnrinde im oberen, hinteren Temporallappen.
Spektralanalyse von Tönen und Geräuschen Von den Haarzellen bis zur Großhirnrinde besteht die Hör-
Enthält ein überschwelliger Schallreiz mehrere Frequenzen, bahn also aus mindestens 5–6 Neuronen. Es gibt aber auch
so werden entsprechend zahlreiche Hörnervenfasern an noch längere Wege, die nicht in der . Abb. 18.9 eingezeich-
den jeweiligen Orten der Schwingungsmaxima und in net sind.
deren unmittelbaren Nachbarschaft erregt. Mit anderen
G Das in den Aktionspotenzialen der Hörnerven
Worten, der Schall wird in seine Frequenzkomponenten
kodierte Schallereignis wird über mindestens 5–6
zerlegt, wobei sich die Intensität der einzelnen Kompo-
Synapsen zum kontralateralen auditorischen Kortex
nenten in der Entladungsrate der Hörnervenfasern wider-
weitergeleitet. Zum Teil gelangt diese Information
spiegelt. Bei höheren Schalldruckpegeln erreichen die fre-
auch zur ipsilateralen Hörrinde.
quenzspezifischen Fasern rasch ihren Sättigungsbereich.
Gleichzeitig werden aber, wie in . Abb. 18.8e zu sehen,
benachbarte Fasern immer stärker erregt. Damit ist auch Primärer und sekundärer auditorischer Kortex
bei höheren Schalldruckpegeln eine frequenz- und inten- Der primäre auditorische Kortex (AI) ist wie der visuelle
sitätsgemäße Kodierung der Schallereignisse gewähr- aus hemmenden und erregenden Kolumnen von Neu-
leistet. ronen aufgebaut. Die Frequenzselektivität ist wie in der
Cochlea durch Ortsselektivität in der Hörrinde tono-
G Hörnervenfasern werden auch durch Schallfrequen-
top organisiert. Dabei scheinen zumindest für reine Töne
zen in der Nachbarschaft ihrer charakteristischen
die einzelnen Tonhöhen in der Heschl-Querwindung
Frequenz, allerdings schwächer, erregt. Töne und
(Gyrus temporalis transversus) in geordneter Reihenfolge
Geräusche erregen je nach den in ihnen enthaltenen
angelegt zu sein (je tiefer, umso weiter außen in der Win-
Frequenzen zahlreiche Hörnervenfasern.
dung).
Die Analyse der Tonhöhe erfolgt relativ spät nach Reiz-
18.3.2 Zentrale Weiterleitung darbietung, zwischen 70 und 100 ms, im auditorischen
und Verarbeitung Kortex. Im akustisch evozierten elektrischen Hirnpotenzial
oder magnetischen Feld lassen sich daher um 100 ms die
Subkortikale Stationen der Hörbahn stärksten Antworten ableiten (N100-Komponente oder
Einen vereinfachten, schematisierten Überblick über die M100 Feld, Abschn. 20.5). Je größer die Reizintensität,
Bahnen und Kerne der Hörbahn zeigt . Abb. 18.9. Der umso höher sind die Potenzialamplituden, die genau der
Übersichtlichkeit halber sind nur die Bahnen von einem subjektiven Intensitätswahrnehmung, also einer nach oben
Ohr eingezeichnet. Die des anderen Ohres verlaufen spie- abgeflachten Kurve (Potenzfunktion) folgen: Ab einer be-
gelbildlich, woraus sofort hervorgeht, dass auf den meisten stimmten Reizintensität steigen sie nicht mehr, oder nur
Stationen der Hörbahn Information aus beiden Ohren ein- langsam an.
trifft, weshalb z. B. auch die lokale Läsion eines Hörkortex Der posteriore sekundäre auditorische Kortex (AII,
kaum die Wahrnehmung beeinträchtigt. Areale 42 und 22 der Einteilung von Brodmann, Kap. 20)
Die primären Hörnervenfasern vereinigen sich schon ist bei Affen und Menschen auf die Wahrnehmung von
im Innenohr mit den primären Nervenfasern des Gleich- kommunikativen auditorischen Signalen spezialisiert
gewichtsorgans zum Nervus statoacusticus, der auch als (. Abb. 1.1 und 28.15). Nach Läsionen in AII werden
der VIII. Hirnnerv bezeichnet wird (. Tabelle 2.2). Nach Sprachlaute (Phoneme) nicht mehr verstanden, ohne dass
dem Eintritt in den Hirnstamm enden die Hörnervenfasern die akustische Unterscheidungsfähigkeit gestört ist. Bei
im Nucleus cochlearis. Vom hinteren (dorsalen) Teil des Affen kommt es zu Störungen im Erkennen von Lautäuße-
Nucl. cochlearis entspringt eine Bahn, deren Fasern auf die rungen der Artgenossen.
18 andere Seite kreuzen und dort im lateralen Schleifenkern Im sekundären auditorischen System lässt sich wie im
(Nucl. lemnisci lateralis in . Abb. 18.9) enden. Vom vorde- visuellen ein ventrales »Was«-System und ein dorsales
ren (ventralen) Teil dieses Kernes geht eine Bahn aus, die »Wo«-System unterscheiden. Das »Wo«-System ist rechts
zum Olivenkomplex der gleichen und der gegenüberlie- parietal, das »Was«-System links in der superioren Tem-
genden Seite zieht. Hier, besonders im Nucl. accessorius des poralwindung lokalisiert. Allerdings werden prosodische
Olivenkomplexes, besteht also schon die erste Möglichkeit, Merkmale der Sprache, welche auch am Erkennen von
18.3 · Auditorische Signalverarbeitung
429 18

. Abb. 18.9a, b. Anteile der Hörbahn und deren Verlauf. a Stark langt die aus einem Ohr stammende Information zu der primären Hör-
vereinfachter und schematischer Überblick. Nur die Bahnen von einem rinde beider Hemisphären (nicht eingezeichnet); die Projektion nach
Ohr sind eingezeichnet, die des anderen Ohres verlaufen spiegelbild- kontralateral ist allerdings deutlich stärker als die ipsilaterale. b Lage
lich. Die zentrifugalen (deszendierenden) Bahnen des Hörsystems sind der primären Hörrinde in der Tiefe der Fissura Sylvii und deren tono-
nicht eingetragen. Da in den Kernen der Hörbahn eine erhebliche tope (frequenzselektive) Organisation
Konvergenz ipsilateraler und kontralateraler Afferenzen erfolgt, ge-

Sprachbedeutung beteiligt sind, rechts im homologen, ven- oder frequenzmodulierte Töne. Das sind solche, bei de-
tralen »Was«-System analysiert (. Abb. 17.27). nen sich der Schalldruck oder die Frequenz ständig
Wie die übrigen sensorischen sekundären Kortexareale ändert.
sind auch die auditorischen äußerst plastisch, während Andere Neurone sprechen nur auf den Beginn, wieder
beim bilateralen Verlust der Heschl-Querwindung (AI) andere nur auf das Ende von Schallreizen an. Vielfach
permanente Taubheit auftritt. findet man, dass Neurone des Hörsystems durch manche
Frequenzen aktiviert, durch andere gehemmt werden. Je
Auditorische Mustererkennung in den Kernen weiter man sich in der Hörbahn von der Cochlea entfernt,
der Hörbahn desto komplexere Schallmuster muss man verwenden, um
Untersucht man das Antwortverhalten der Neurone auf die Neurone aktivieren zu können.
den verschiedenen Stationen der Hörbahn auf akusti- Die funktionelle Bedeutung dieses Antwortverhal-
sche Reize, so zeigt sich sehr schnell, dass einfache Reize, tens der Neurone der Hörbahn liegt offensichtlich darin,
wie beispielsweise reine Töne, diese Neurone im Allge- dass auf jeder Ebene des Hörsystems bestimmte Eigen-
meinen weder erregen noch hemmen. Dagegen sprechen schaften der Schallreize analysiert werden. Diese Arbeits-
sie auf komplexe Schallmuster an, z. B. amplituden- weise zur auditorischen Mustererkennung erinnert an
430 Kapitel 18 · Hören und Gleichgewicht

Box 18.5. Musikwahrnehmung


Die Positronenemissionstomogramme verdeutlichen die oberen Parietallappens (Schnitt 6). Von den Schnitten 1–6
kortikale Aktivierung während Notenlesen, Hören und ist auch die Aktivierung einer Zone über der Broca-Region
rechtshändigem Klavierspiel (Kap. 21). Die Bilder sind (Area 44) sichtbar, die bis Area 6 in den supplementär
über 10 professionelle Pianisten gemittelt und von der motorischen Bereich (Kap. 13) reicht. Diese entspricht der
Bedingung des Tonleiterspielens als Vergleichsbedingung Abfolge und zeitlichen Struktur der Bewegungen der
subtrahiert. Die PET-Aktivierungen sind auf Horizontal- rechten Hand beim Klavierspielen.
schnitte der Gehirne der Personen (mit NMR gemessen) Die Verarbeitung von Musik ist zwar nicht nur eine
überlagert. Die Schnitte beginnen oben links (1) 29 mm Angelegenheit der akustischen Areale, trotzdem sind diese
über der Verbindungslinie der vorderen und hinteren bevorzugt aktiviert. Während bei Musiklaien v. a. rechts-
Kommissuren und liegen dann jeweils 6 mm weiter oben hemisphärische Aktivierung beim Hören von Musik auf-
(superior). In den Schnitten 4 und 5 ist die Aktivierung des tritt, sind bei Musikern beide Hemisphären gleich betei-
Gyrus supramarginalis (Area 40) sichtbar, was die simul- ligt. Musiker mit absolutem Gehör weisen ein deutlich
tane Aktivierung von visuellen und akustischen Reprä- größeres linkes Planum temporale auf als normal hörende
sentationen bei musikalischer Information widerspiegelt. (. Abb. 28.31).
Aktivierung des oberen Parietallappens auf den Schnitten Komplexität der und Geübtheit mit Musik spiegelt sich
3–7 reflektiert die räumliche Verarbeitung der Noten und auch in hirnelektrischen Änderungen wider. Je komplexer
die Transformation der räumlichen Information in visuell- die Musik, umso irregulärer (schwerer vorher berechenbar)
motorische Leistung. Die Pianisten benutzten nur ihre wird die hirnelektrische Aktivität, einfache rhythmische
rechten Hände, so dass starke linksseitige Aktivierung auf- Wiederholungen führen auch zu Vereinfachungen und
trat. Trotzdem ergibt sich auch Aktivierung des rechten Rhythmisierung der EEG-Wellen (. Abb. 28.33).

die des visuellen Systems, wo beispielsweise in der Seh- Hörbahn, besonders in der Hörrinde, sind oft nur
rinde Neurone mit komplexen oder hyperkomplexen re- sehr komplexe Schallmuster, z. B. arteigene Kommu-
zeptiven Feldern nur durch bewegte Reize bestimmter nikationslaute, wirksam.
Konfiguration erregt werden können (Abschn. 17.3.2). So
überrascht es nicht, dass im sekundären auditorischen Ersatz des Corti-Organs
Kortex von Affen Neurone gefunden wurden, die vor- Bei beidseitiger völliger Taubheit durch Ausfall der Corti-
wiegend auf arteigene Kommunikationslaute reagierten, Organe werden Reizelektroden in einen der Hörnerven
während andere unter den begrenzten Bedingungen des implantiert (eingepflanzt bzw. einoperiert), die mit einem
Experimentes überhaupt nicht aktivierbar waren, d. h. außen hinter dem Ohr angebrachten Mikrofon verbunden
wahrscheinlich nur auf sehr komplexe Schallmuster rea- werden (»cochlear implant«). Das Mikrofon nimmt die
18 gieren. Schallwellen auf und setzt sie in elektrische Impulsmuster
um, mit denen der Hörnerv gereizt wird. Der Patient muss
G Die Neurone der Hörbahn sprechen häufig nicht auf lernen, diese Reizmuster zu interpretieren. Vor allem früh
reine Töne, sondern erregend und hemmend auf ertaubte Kinder können auf diese Weise rasch wieder hören
Schallmuster an. Auf den höheren Stationen der lernen.
6
18.4 · Wahrnehmungspsychologie des Gleichgewichtssinns
431 18
18.4 Wahrnehmungspsychologie fensensibilität notwendig. Diese Zusammenarbeit wird
des Gleichgewichtssinns natürlich im Alltag durch visuelle Information aus dem
Sehsystem ergänzt und vertieft. Es bleibt aber festzuhalten,
18.4.1 Wahrnehmen von dass wir auch nach sehr langem Aufenthalt im Dunkeln
Beschleunigungen über unsere Körperstellung und die räumliche Ausdehnung
unseres Körpers in der Umwelt (Körperschema, Abschn.
Wahrnehmen von Linearbeschleunigungen 15.2.3) jederzeit informiert sind.
Auch wenn wir im Inneren eines modernen Verkehrsflug-
G Für die Ermittlung der Stellung des Körpers im Raum
zeuges sitzen und ohne jeden Blickkontakt nach außen
ist wegen der beweglichen Verbindung zwischen
sind, haben wir nie den geringsten Zweifel, wo »unten« und
Kopf und Rumpf die Zusammenarbeit zwischen
wo »oben« ist. Auch können wir jederzeit angeben, ob das
Gleichgewichtsorgan und Tiefensensibilität notwen-
Flugzeug steigt oder fällt oder ob seine Geschwindigkeit
dig (multisensorische Konvergenz).
zu- oder abnimmt. Mit anderen Worten, wir verfügen an-
scheinend über die Möglichkeit, sowohl den Einfluss der
Schwerkraft (Gravitationsbeschleunigung) als auch den Bewusste und reflektorische Kontrolle
beliebiger anderer linearer Beschleunigungen auf unseren der Körperstellung
Körper zu registrieren und wahrzunehmen. Die Meldungen aus dem Gleichgewichtsorgan dienen nicht
nur der bewussten Wahrnehmung der auf den Körper ein-
Wahrnehmen von Drehbeschleunigungen wirkenden Beschleunigungskräfte, sondern sie werden in
Wir können aber ohne jede visuelle Kontrolle nicht nur die vielfacher Weise für die Aufrechterhaltung des Körper-
eben erwähnten Linearbeschleunigungen, sondern auch gleichgewichts eingesetzt. Dies gilt nicht nur für das be-
Rotationsbeschleunigungen wahrnehmen, was jeder auf wusste Aufrechterhalten und Ändern der Stellung unseres
einem modernen Bürodrehstuhl oder beim Kurvenfahren Körpers im Raum, sondern fast mehr noch für deren Ein-
in einem Auto schon erlebt hat. satz in Reflexbögen, die ohne jedes Zutun des Bewusstseins
Für die Aufnahme aller Formen von Beschleunigungs- für die Aufrechterhaltung des Körpergleichgewichts und
reizen ist das Gleichgewichts- oder Vestibularorgan zu- für das Festhalten des »Fixationspunktes« bei Augenbe-
ständig, das zum Innenohr gehört und zusammen mit der wegungen sowie die Bewegungslosigkeit der Umwelt bei
Cochlea das häutige Labyrinth bildet (. Abb. 18.4 und Augen-, Kopf- und Körperbewegungen sorgen (zu letzte-
18.10). Auf seinen Aufbau und seine Arbeitsweise wird in rem Abschn. 17.4.3).
Abschn. 18.5.1 eingegangen. Hier sei nur festgehalten, dass Als statische Labyrinthreflexe wird eine Gruppe von
für die Aufnahme der Linear- bzw. der Drehbeschleunigun- Reflexen zusammengefasst, die das Gleichgewicht beim
gen unterschiedliche Anteile des Vestibularorgans zuständig ruhigen Stehen, Sitzen und Liegen erhalten. Für sie sind
sind, nämlich, wie in . Abb. 18.10 angegeben, die Makula- die Makulaorgane verantwortlich. Die Sensoren der Ma-
organe (die auch Statolithenorgane genannt werden) einer- kulaorgane bewirken also über die motorischen Zentren
seits und die Bogengangsorgane andererseits. des Nervensystems eine Abstufung des Tonus derje-
nigen Muskelgruppen, deren Aktivität zur Erhaltung des
G Beschleunigungen sind die adäquaten Reize des
Gleichgewichts in den verschiedensten Körperstellungen
Gleichgewichtsorgans. Die Makula- oder Statolithen-
notwendig ist. Normalerweise sind am Ablauf dieses Re-
organe sprechen auf Linearbeschleunigungen, v. a.
flexes auch die Tiefensensibilität (Sensoren der Muskeln,
die Schwerkraft, die Bogengangsorgane auf Dreh-
Sehnen und Gelenke des Halses) und das visuelle System
beschleunigungen an.
beteiligt.
Katzen landen immer auf den Pfoten, unabhängig da-
18.4.2 Wahrnehmen und Erhalten von, in welcher Stellung sie fallengelassen wurden. Dieses
der Stellung des Körpers im Raum reflektorische Umdrehen im freien Fall ist ein Beispiel für
die statokinetischen Reflexe, die von den Makulaorganen
Stellungswahrnehmung durch sensorische und den Bogengangsorganen ausgehen. Sie werden durch
Integration Bewegungen initiiert und stellen selbst Bewegungen dar.
Das Gleichgewichtsorgan liefert lebenslänglich Informa- Zu ihnen gehört auch die Liftreaktion. Durch sie wird der
tionen über die Stellung des Kopfes im Schwerefeld der Tonus der Muskeln der Extremitäten und des Rumpfes so
Erde. Da der Kopf aber über den Hals beweglich mit dem verändert, dass es bei Beschleunigungen in der Senkrech-
Rumpf verbunden ist, ist aus der Stellung des Kopfes allei- ten nicht zu Änderungen der Körperstellung kommt. Das
ne keine eindeutige Information über die Stellung des Kör- bekannteste Beispiel eines statokinetischen Reflexes ist der
pers im Raum zu gewinnen. Dafür ist, wie bereits in Ab- Nystagmus. Auf seine verschiedenen Formen wurde bereits
schn. 15.2.2 besprochen und in . Abb. 15.8 illustriert, die eingegangen (Abschn. 17.4.2). Seine klinisch-diagnostische
Zusammenarbeit zwischen Gleichgewichtssinn und Tie- Bedeutung wird Abschn. 18.5.2 angesprochen.
432 Kapitel 18 · Hören und Gleichgewicht

G Die Information aus dem Vestibularorgan wird für


die Aufrechterhaltung von Körperstabilität und Um-
weltstabilität genutzt. Die statischen Labyrinth-
reflexe sorgen für das Gleichgewicht beim ruhigen
Stehen, Sitzen und Liegen. Die statokinetischen
Reflexe treten während Bewegungen auf und stellen
selbst Bewegungen dar.

18.5 Bau und Funktion


des vestibulären Systems

18.5.1 Das periphere vestibuläre System

Bau des Gleichgewichtsorgans


Am Schema des Aufbaus des Gleichgewichts- oder Vestibu-
larorgans (. Abb. 18.10) ist die Lage der bereits erwähnten
2 morphologischen Untereinheiten zu erkennen, nämlich
erstens der Makulaorgane (Macula utriculi und Macula
sacculi) und zweitens der Bogengangsorgane (horizonta-
ler, vorderer vertikaler und hinterer vertikaler Bogengang).
Der von diesen Anteilen des häutigen Labyrinths umschlos-
sene Raum ist ebenso wie die Scala media der Cochlea mit
Endolymphe gefüllt und von Perilymphe umgeben. Im
Bereich der Maculae und in den Bogengängen im Bereich
der Ampullen (. Abb. 18.10) findet sich ein Sinnesepithel,
in das die Sensoren eingebettet sind.
Dem Sinnesepithel liegt eine gallertige Masse auf. Im
Falle der Makulaorgane bedeckt sie kissenförmig die Sinnes-
zellen und enthält Einlagerungen von Kalziumkarbonat
(Kalzit-Kristalle), die als Otolithen oder Statokonien be-
zeichnet werden (. Abb. 18.10 unten rechts). Die Gallerte
mit ihren Otolithen wird daher auch Otolithenmembran . Abb. 18.10. Das Labyrinth des Innenohrs im Schema. Endo-
genannt. Bei den Bogengängen ähnelt die Gallerte mehr lymphe (hell) und Perilymphe (dunkel) des Labyrinths und der Cochlea
stehen miteinander in Verbindung
einem fahnenförmigen Gebilde, das als Cupula bezeichnet
wird (. Abb. 18.10 unten links). Die Cupula enthält keine
Kristalle.
tralnervensystem übertragen (Abschn. 14.2.3). Neben den
G Jedes der beiden Gleichgewichtsorgane besteht aus
afferenten endigen auch efferente Nervenfasern an den
2 Maculae und 3 Bogengängen. Ihr Sinnesepithel ist
Haarzellen, über deren Aktivität sich möglicherweise die
bei den Maculae mit einer Otolithen-haltigen Mem-
Empfindlichkeit der Haarzellen verstellen lässt.
bran bedeckt, während die Cupulae der Bogengänge
Die afferenten Nervenfasern stammen von den Ner-
keine Otholithen enthalten.
venzellen des Ganglion vestibuli (Scarpae). Zentralwärts
bilden die Nervenfasern den Nervus vestibularis, der sich
Vestibuläre Haarzellen und ihre Innervation noch im Bereich des Innenohres mit dem aus dem Gang-
Die Sinneszellen (Sensoren) des Vestibularorgans tragen an lion spirale der Cochlea stammenden Nervus acusticus
ihrer der Gallerte zugewandten Oberfläche feine Härchen zum Nervus vestibulocochlearis, dem VIII. Hirnnerven,
oder Zilien und werden deswegen (ebenso wie die Sinnes- vereinigt (. Tabelle 2.2 in Abschn. 2.3.4). Dieser tritt im
zellen der Cochlea, Abschn. 18.2.2) als Haarzellen bezeich- Bereich des sog. Kleinhirnbrückenwinkels in den Hirn-
18 net (. Abb. 18.11). Jede Haarzelle hat ein großes Kinozilium stamm ein.
und 60–100 kleinere Stereozilien.
Die Haarzellen sind sekundäre Sinneszellen, d. h. sie G Die Haarzellen des Gleichgewichtsorgans haben ein
besitzen keine eigenen Nervenfortsätze, sondern werden Kinozilium und viele Stereozilien. Sie sind sekundäre
von afferenten Nervenfasern innerviert, die die Informa- Sinneszellen, die afferent und efferent vom Nervus
tion über den Erregungszustand der Haarzellen zum Zen- vestibularis innerviert werden.
18.5 · Bau und Funktion des vestibulären Systems
433 18

Haarzellen einwirken. Wird aber die Gallerte über dem


Sinnesepithel verschoben, so kann die vorhandene Aktivität
je nach Richtung der Verschiebung erhöht oder reduziert
werden. Offensichtlich bewirkt die Abscherung der in die
Gallerte ragenden Kinozilien diesen Effekt. Dabei lässt
sich folgende Gesetzmäßigkeit beobachten (. Abb. 18.11,
18.12):
4 Abscherung des Zilienbündels in Richtung auf das
Kinozilium erhöht die Entladungsrate in der zugehö-
rigen Nervenfaser,
4 Abscherung in die Gegenrichtung vermindert sie,
und
4 Abscherungen senkrecht zu dieser Achse bleiben wir-
kungslos.

Jede Haarzelle verfügt also über eine ausgesprochene Rich-


tungssensitivität, wobei die Ruheaktivität die Vorausset-
zung dafür schafft, dass nicht nur die Aktivierung, sondern
auch die Hemmung in abgestufter Weise nach zentral sig-
nalisiert werden können.
G Die Ruheaktivität der Haarzellen wird durch Verbie-
. Abb. 18.11. Transduktion in den Sensoren des Vestibularor- gen des Zilienbündels in Richtung auf das Kinozili-
gans. Schematische Darstellung einer Sensorzelle aus dem Sinnes- um erhöht, in Gegenrichtung vermindert. Bei Ver-
epithel des Gleichgewichtsorgans mit ihrer afferenten und efferenten
biegungen senkrecht zu dieser Achse ändert sich die
Innervation. Diese Sensoren bzw. ihre afferenten Nervenfasern zeigen
deutliche Spontanentladungen. Abbiegung des Zilienbündels in Rich- Ruheaktivität nicht.
tung auf das Kinozilium erhöht die Entladungsrate, Abbiegung vom
Kinozilium weg vermindert sie
Wirkung von Linearbeschleunigungen auf die
Haarzellen der Maculae
Richtungssensitivität der Kinozilien Die spezifische Dichte der Otolithenmembran ist wegen
Die afferenten Nervenfasern des Nervus vestibularis besitzen der Einlagerung der Kalzit-Kristalle (Statokonien) etwa
eine hohe regelmäßige Ruheaktivität. Diese neuronalen Ent- doppelt so hoch wie die der umgebenden Endolymphe.
ladungen treten also auf, ohne dass äußere Reize auf die Wirken auf sie Beschleunigungskräfte ein, wie beispielswei-

. Abb. 18.12. Adäquate Reizung der


Makulaorgane bei Beschleunigungen.
Die Haarzellen weisen alle eine Spontanakti-
vität auf. Diese wird je nach Lage des
Makulaorgans (Maculae utriculi praktisch
waagrecht, Maculae sacculi praktisch senk-
recht) und nach Richtung der Beschleu-
nigung verstärkt oder abgeschwächt. Auch
bei ruhendem Kopf unterliegen die Maculae
sacculi der Linearbeschleunigung der
Schwerkraft (Gravitationsbeschleunigung)
434 Kapitel 18 · Hören und Gleichgewicht

se beim Anfahren und Bremsen in einem Auto, so wirkt auf Wirkung von Linearbeschleunigungen
die dichtere Otolithenmembran eine größere Kraft ein als auf die Haarzellen der Ampullen
auf die umgebenden Endolymphe (Kraft = Masse × Be- Anders als die Otolithenmembran besitzt die Cupula, also
schleunigung). Die Otolithenmembran rutscht daher um die gallertige Masse über dem Sinnesepithel in den Am-
einen winzigen Betrag über die Haarzellen hinweg, und die pullen, die gleiche spezifische Dichte wie die umgebende
Zilien werden entsprechend abgeschert. Endolymphe. Lineare Beschleunigungen führen daher nicht
Die Maculae utriculi liegen bei aufrechter Körperstel- zu einer Abscherung der in die Cupula ragenden Zilien. An-
lung etwa waagrecht im Schädel. Ihre Haarzellen können ders ist es bei Drehbeschleunigungen (. Abb. 18.13): Wird
also in der eben beschriebenen Weise durch lineare Be- der ruhende Schädel nämlich gedreht, so bleibt wegen ihrer
schleunigungen aktiviert werden. Da im Sinnesepithelver- Trägheit die Endolymphe zunächst in Ruhe (wie der Kaffee,
band einer Makula verschiedene Orientierungsrichtungen wenn man die Tasse zu drehen beginnt). Dadurch wird
der Zilien vorkommen, wird es für jede Form der Beschleu- die Cupula, die mit der Kanalwand verwachsen ist, in die
nigung zu einer bestimmten Erregungskonstellation der Gegenrichtung ausgelenkt und damit die Zilien abgeschert.
zugehörigen Nervenfasern kommen, die in den zentralen Abbiegung der Cupula in eine Richtung führt zu einer Er-
Teilen des vestibulären Systems dann ausgewertet wird. Die höhung, Abbiegung in die Gegenrichtung zu einer Vermin-
Haarzellen der Maculae utriculi können aber auch durch derung der Entladungsrate (. Abb. 18.14).
Kippung aktiviert bzw. gehemmt werden (. Abb. 18.12),
wobei zusätzlich zu den Beschleunigungskräften in der
waagrechten Ebene, auch die der Schwerkraft (Gravita-
tionsbeschleunigung) auf die Otolithenmembran und da-
mit auf die Haarzellen einwirken.
Die Maculae sacculi sind senkrecht im Schädel ange-
ordnet. Die Zilien ihrer Haarzellen werden daher bei auf-
rechter Körperstellung durch die Gravitationsbeschleuni-
gung dauernd etwas abgeschert. Änderung der Kopfstel-
lung wird zu einer Veränderung des afferenten Ausstroms
führen. Der Organismus gewinnt so die Information über
die Stellung des Kopfes im Raum. Dies ist die wichtigste
Aufgabe der Makulaorgane.

G Die Maculae zeigen Linearbeschleunigungen des


Kopfes und seine Stellung im Schwerefeld der Erde
an, da die Zilien ihrer Haarzellen durch die dabei
auftretenden Kräfte abgebogen werden.

. Abb. 18.14a, b. Entladungsverhalten einer afferenten Nerven-


faser aus dem Cupulaorgan eines horizontalen Bogenganges bei
18 Drehbewegungen. Zusätzlich sind neben der Winkelbeschleunigung
und der Winkelgeschwindigkeit auch die Cupulaauslenkungen ange-
geben. a Wirkung einer kurzdauernden Drehbewegung (z. B. Kopf-
. Abb. 18.13. Ein Bogengang mit Cupula und Haarzellen im wendung). b Wirkung zu Beginn, während (Zeitabschnitte unmittelbar
Schema. Bei Kopfdrehung (Pfeil) wird auch der Bogengang gedreht. vor und nach Unterbrechung der Registrierung in der Bildmitte) und
Die Endolymphe mit der Cupula bleibt jedoch zurück. Dadurch werden am Ende einer lang andauernden Drehbewegung (z. B. auf einem
die Stereozilien ausgelenkt Drehstuhl). Beachte die unterschiedlichen Zeitachsen in a und b
18.5 · Bau und Funktion des vestibulären Systems
435 18

Da wir auf jeder Seite 3 Bogengänge besitzen, die un- Diese Kerngebiete erhalten außerdem zahlreiche Zuflüsse
gefähr senkrecht aufeinander stehen, lassen sich alle in von somatosensorischen Afferenzen, insbesondere von
den 3 Achsen des Raumes denkbaren Rotationsbeschleu- Sensoren aus den Muskeln und Gelenken des Halses, ohne
nigungen mit den Bogengangsorganen erfassen. Wie solche die, wie oben schon besprochen, eine eindeutige Informa-
Winkelbeschleunigungen auf die Cupulaauslenkung und tion über die Stellung des Körpers im Raum nicht zu ge-
die Aktivität in einer zugehörigen Nervenfaser wirken, winnen ist.
ist in . Abb. 18.14 für den üblicherweise im täglichen Die Vestibulariskerne sind efferent und reziprok mit
Leben vorkommenden Fall einer kurzen Drehbewe- zahlreichen anderen Hirnarealen verbunden, die für die
gung (. Abb. 18.14a) und für eine lang andauernde Dreh- bewusste Raumorientierung, die Aufrechterhaltung des
bewegung (. Abb. 18.14b, Drehstuhlsituation) gezeigt Gleichgewichts (Stützmotorik) und die Abstimmung von
(. Abb. 18.12). Wie nicht anders zu erwarten, wird bei lan- Kopf- und Augenbewegungen (Blickmotorik) zuständig
gen Drehungen die Endolymphe schließlich von der Wand sind. Beispielhaft und wegen seiner großen Bedeutung so-
des häutigen Labyrinths »mitgenommen« und auf die kon- wohl für die Stütz- wie für die Blickmotorik sei das Klein-
stante Winkelgeschwindigkeit beschleunigt. Damit hören hirn (Zerebellum, Abschn. 5.3.3) erwähnt, dessen entwick-
die Cupulaauslenkung und die Abscherung auf. Beim Still- lungsgeschichtlich älteste Teile (Archizerebellum) z. T. so-
stand wird die Cupula wiederum durch die Trägheit der gar von primären Vestibularisafferenzen direkt, also ohne
Endolymphe in die Gegenrichtung ausgelenkt. Es dauert Umschaltung in den Vestibulariskernen erreicht werden.
10–30 s bis die Cupula wieder ihre Ruhelage erreicht hat.
G Die Vestibulariskerne im Hirnstamm dienen mit ihren
G Die Haarzellen in den Ampullen zeigen Rotations- Afferenzen und Efferenzen der Erhaltung des Gleich-
beschleunigungen in den Ebenen ihrer Bogengänge gewichts, der Steuerung von Augenbewegungen und
an; da diese senkrecht aufeinander stehen, erfassen der Stellung und Bewegung des Körpers im Raum.
die Bogengangsorgane alle Rotationsbeschleuni-
gungen des Kopfes in den 3 Raumachsen. Rolle der vestibulären kortikalen Areale
Neben den zahlreichen anderen Projektionen (7 oben) pro-
18.5.2 Das zentrale vestibuläre System jizieren die Vestibulariskerne über den Thalamus zur Groß-
hirnrinde, speziell in die vestibulären kortikalen Areale.
Aufgaben der Vestibulariskerne im Hirnstamm Dazu zählen Anteile des Parietallappens, besonders des insu-
Die über den Nervus vestibulocochlearis (7 oben) in den lären Kortex sowie die somatosensorischen Areale 2 und 3a.
Hirnstamm eintretenden afferenten Nervenfasern ziehen Diese kortikalen Areale erhalten zahlreiche weitere sen-
zu den Vestibulariskernen, an deren Neuronen sie enden. sorische Zuflüsse, v. a. auch aus dem visuellen System und

Box 18.6. Sinnestäuschungen beim Fahren und Fliegen durch visuell-vestibuläre Interaktionen
Die meisten Leser sind aus eigener Erfahrung mit der der visuell-vestibulären Interaktion kann es zu erhebli-
Linearvektion vertraut und kennen von einer Eisenbahn- chen Sinnestäuschungen über die tatsächliche Bewegung
fahrt die Sinnestäuschung, dass der eigene, in einem und die Richtung der Koordinaten des extrapersonellen
Bahnhof stehende Zug abfahre, wenn ein Gegenzug an- Raumes kommen, da wir, anders als Vögel, nicht ge-
fährt und es keine weiteren Hinweise gibt, dass der eige- nügend Erfahrung mit dreidimensionalen schnellen Be-
ne Waggon steht. Dreht sich das visuelle Umfeld um eine wegungsabläufen haben. Deswegen müssen die Piloten
ruhig sitzende oder stehende Versuchsperson, so induzie- schneller Flugzeuge darauf trainiert werden, sich beim
ren diese visuellen Bewegungssignale nach kurzer Latenz Kurvenfliegen bzw. beim Sturzflug nicht auf ihre visuellen,
ebenfalls eine Sinnestäuschung, nämlich eine Drehemp- vestibulären und somatosensorischen Empfindungen
findung des Körpers entgegengesetzt zur visuellen Bewe- zu verlassen, sondern die Flugzeugsteuerung nach den
gung, die Zirkularvektion genannt wird. Diese ist beson- Messinstrumenten vorzunehmen. Die vestibulär-visuelle
ders deutlich, wenn das bewegte visuelle Muster einen und sensomotorische Koordination spielt auch bei
Tiefeneindruck bewirkt und parallaktische Verschiebun- einigen modernen Sportarten eine wichtige Rolle (z. B.
gen der Objekte im wahrgenommenen Raum simuliert, Skiabfahrtslauf, Skispringen, Wellenreiten mit dem Surf-
wie dies z. B. bei den visuellen Reizmustern der modernen board, Drachensegeln). Abstürze von Drachenseglern
Flugsimulatoren der Fall ist. Eine gut abgestimmte Kom- sind nicht nur durch flugtechnische Probleme dieser Flug-
bination von Linear- und Zirkularvektion vermittelt den geräte bedingt, sondern auch durch den Umstand, dass
sehr natürlich wirkenden subjektiven Bewegungsein- sich ein ohne Instrumente fliegender »Drachenflieger«
druck in den Flugsimulatoren. völlig auf die nur begrenzt »richtige« visuell-vestibuläre
Bei »wirklichen« starken Dreh- und Linearbeschleuni- Koordination in seinem Zentralnervensystem verlassen
gungen außerhalb des physiologischen Arbeitsbereichs muss.
436 Kapitel 18 · Hören und Gleichgewicht

der Somatosensorik. Zusammen dienen sie hauptsächliche vestibulären System zahlreiche pathologische Nystagmen
der bewussten Wahrnehmung der Stellung des Körpers und spontan oder bei entsprechender Provokation auf.
seiner Bewegungen im Raum, sowie der bewussten Unter- Die elektrophysiologische Registrierung (Elektro-
scheidung von Eigen- und Fremdbewegungen im Raum. nystagmographie, Nystagmogramme) erfolgt mit Hilfe der
Elektrookulographie, EOG (zur Ableittechnik . Abb. 17.21
Kinetosen (Bewegungskrankheiten) sowie . Abb. 22.12 und 22.13). Die Gleichgewichtsorgane
Die bekannteste Kinetose ist die Seekrankheit, unter der werden dabei entweder gleichzeitig erregt, nämlich bei
viele, aber nicht alle Menschen an Bord eines Schiffes bei den Drehprüfungen, oder einzeln, z. B. bei der Spülung des
mittlerem bis starkem Seegang leiden. Die Seekrankheit äußeren Gehörgangs mit kaltem (30 °C) oder warmem
und andere Formen der Bewegungskrankheit (»motion Wasser (42°C, . Abb. 18.15). Diese Spülung löst nämlich
sickness«) werden durch eine ungewohnt starke Erregung durch Erwärmen bzw. Abkühlen der Endolymphe und die
des Gleichgewichtsorgans ausgelöst, wobei Unwohlsein, damit verbundenen Druckänderungen im horizontalen
Schwindel (Vertigo), Erbrechen, Schweißausbruch und Bogengang einen kalorischen Nystagmus aus. Warmspülung
Pulsanstieg die häufigsten Symptome sind. Auch Tiere kön- ruft einen Nystagmus zur gespülten Seite hervor, Kaltspü-
nen »seekrank« werden, nicht aber Säuglinge. Bei Menschen lung einen entgegengesetzten (zur Bezeichnung der Nystag-
und Tieren ohne Labyrinthe oder ohne Archizerebellum musrichtung Abschn. 17.4.2). Beim Test wird gemessen, ob
sind ebenfalls keine Kinetosen mehr auslösbar. der Nystagmus symmetrisch von beiden Ohren ausgelöst
Der akute Ausfall eines Labyrinths führt zu einem werden kann. Seitenunterschiede sind pathologisch.
Drehschwindel zur gesunden Seite, verbunden mit einer Ein kalorischer Nystagmus lässt sich auch in der
Fallneigung zur kranken Seite. Gleichzeitig treten Übelkeit, Schwerelosigkeit des Weltraums auslösen. Die durch die
Erbrechen, Schweißausbrüche und ähnliche Symptome auf. Schwerkraft bedingte Endolymphströmung beim Abküh-
Auch lässt sich ein Nystagmus zur gesunden Seite beobach- len oder Erwärmen scheint somit nicht der einzige Faktor
ten. Ein doppelseitiger akuter Ausfall kommt beim Men- für die Nystagmusauslösung zu sein. Weitere mögliche Fak-
schen praktisch kaum vor. toren sind die lokale Expansion oder Kontraktion der Flüs-
Der chronische Ausfall eines Labyrinths kann in der sigkeiten und ein direkter Temperatureffekt auf die Haar-
Regel gut kompensiert werden, v. a. wenn andere Sinne zellen oder die Transmitterausschüttung.
(visuelles System, Tiefensensibilität) ihren Beitrag zur
G Die Elektronystagmographie bei Drehprüfungen
Raumorientierung liefern können. Fehlt einer dieser Ein-
und beim Prüfen des kalorischen Nystagmus ist das
gänge, z. B. im Dunkeln, treten wieder deutliche Ausfalls-
wichtigste Hilfsmittel bei der Diagnose von Gleich-
erscheinungen auf.
gewichtsorganstörungen.
G Kinetosen, wie die Seekrankheit werden durch zu
starke Reizung des Gleichgewichtsorgans verur-
sacht; akuter Ausfall eines Labyrinths löst ähnliche
Symptome aus.

Untersuchung des vestibulären Systems


Da die unterschiedlichsten Sinnesorgane beim Entstehen
unserer bewussten Raumempfindungen und bei der Auf-
rechterhaltung des Gleichgewichts zusammenwirken, lässt
sich im Falle einer Störung aus dem Symptom alleine (z. B.
Schwindel) nur selten auf die zugrundeliegende Ursache
schließen. Eine Gleichgewichtsdiagnostik kann aber in der
Regel Art und Ausmaß der Störung sehr genau eingrenzen.
Beispiele einfacher Untersuchungsmethoden sind Prüfen
des Stehens und Gehens bei offenen und geschlossenen
. Abb. 18.15. Kalorische Labyrinthreizung in der Praxis. 42°C
Augen und die Beobachtung der Fixations- und Augen-
warmes Wasser wird in den äußeren Gehörgang gespült und führt zur
folgebewegungen mit Hilfe eines Pendels, das der Proband Erwärmung des Labyrinths. Die Erwärmung führt zur Aufwärtsbewe-
fixieren und dessen Schwingen er verfolgen soll. gung der Endolymphe im ungefähr senkrecht stehenden horizontalen
18 Wir haben den optokinetischen und vestibulären Nystag- Bogengang durch Thermokonvektion. Der Bogengang steht senkrecht,
mus bereits als physiologischen Regelmechanismus zur An- weil der Kopf um 30° von der Horizontalen angehoben ist. Die Thermo-
konvektionsströme führen zur Auslenkung von Cupula und Stereozi-
passung der Augenbewegungen an Bewegungen des Körpers
lien und löst einen Nystagmus zum selben Ohr aus. Bei Spülung mit
und der Umwelt kennen gelernt (Abschn. 17.4.2). Neben den 30°C kaltem Wasser ist der Effekt gegenläufig. Neben der Thermokon-
dort erwähnten physiologischen Nystagmusformen treten vektion muss es allerdings mindestens noch einen weiteren Mecha-
bei Erkrankungen im okulomotorischen, optischen und nismus der Auslösung eines kalorischen Nystagmus geben (7 Text)
Zusammenfassung
437 18

Box 18.7. Schwerelosigkeit


Im schwerelosen Zustand der Raumfahrt entfällt der Ein- pro min Schwankungen des Elektrogastrogramms (EGG,
fluss der Gravitationsbeschleunigung auf die Maculae. Die Ableitungen E1–E3) registriert mit 3 Elektroden auf der
Wirkung von Linearbeschleunigungen bleibt aber ebenso Bauchdecke. Darunter die Atmungskurve. In b die ver-
erhalten wie die der Drehbeschleunigungen auf die gleichbare Kurve während Rotation in einer großen
Bogengangsorgane, die sowieso nicht von der Schwer- Trommel, die kurz der Schwerelosigkeit vergleichbare
kraft beeinflusst werden (7 oben). Damit entsteht eine Bedingungen schafft. Beachte den Anstieg der EGG-Fre-
Erregungskonstellation, die auf der Erde nicht vorkommt. quenz auf 6 Zyklen pro Minute. Das höherfrequente EGG
Sie löst nach den vorliegenden Berichten zumindest ge- (mit sehr variablen Amplituden) begann 4 min nach Be-
legentlich Kinetosen aus. ginn der Rotation, nach 6 min stellten sich Schwindel und
Die Abbildung zeigt in a die elektrischen Potenzial- Übelkeit ein (Zeitpunkt der Abb. in b) und die Versuchs-
schwankungen einer Person in Ruhe mit den typischen 3 person ließ die Trommel nach 11 min abstellen.

Zusammenfassung
Das Ohr nimmt periodische, longitudinale Druckschwan- Lautstärke, da nicht nur die Hörschwelle, sondern
kungen der Luft im Frequenzbereich von 16–20.000 Hz auch die Lautstärke frequenzabhängig ist.
als Schall war. 5 Sollen alle Tonhöhen gleichlaut gehört werden, so
5 Schalldruckwellen breiten sich mit einer Geschwin- muss der Schalldruck in Abhängigkeit von der Fre-
digkeit von 340 m/s wellenförmig aus. quenz angepasst werden. Dadurch entstehen Kurven
5 Nur Schalldruckwellen zwischen 20 Hz und 16.000 gleicher Lautstärkepegel (Isophone). Bei 1000 Hz
Hz werden gehört. Je höher die Schallwellenfrequenz, stimmen Phonwerte und dB-SPL-Werte vereinbarungs-
desto höher der Ton. Infraschall (<20 Hz) und Ultra- gemäß überein.
schall (>16.000 Hz) sind unhörbar. 5 Beim Hören liegt die Intensitätsunterschieds-
5 Die Intensität des Schalldrucks wird als Schalldruck- schwelle bei 1 dB oder weniger, die Frequenzunter-
pegel in Dezibel (dB SPL) angegeben. schiedsschwelle bei 0,3%, die Mithörschwelle ober-
halb der Ruhehörschwelle.
Für die Psychophysik (Psychoakustik) des Hörens gilt: 5 Das Hören mit 2 Ohren dient der akustischen Raum-
5 als Hörschwelle bezeichnet man den für eine Schall- orientierung und der Verbesserung der Hörbarkeit
wahrnehmung notwendigen Minimalschalldruck. akustischer Signale in gestörter Umgebung.
Die Hörschwelle ist stark frequenzabhängig, sie ist am
niedrigsten zwischen 2000–5000 Hz. Bei Bau und Arbeitsweise des Ohres ist zu beachten:
5 Zunahmen des Schalldrucks über die Hörschwelle 5 Die Gehörknöchelchenkette des Mittelohrs dient
werden als zunehmende Lautstärke empfunden. als Impedanzwandler des Schalls beim Übergang von
5 Wird bei unverändertem Schalldruck die Tonhöhe der Luft auf die Flüssigkeit des Innenohrs.
geändert, ändert sich auch die subjektiv empfundene 6
438 Kapitel 18 · Hören und Gleichgewicht

6
5 Im Corti-Organ kommt es dabei zu tonotopisch ange- 5 Im Gleichgewichtsorgan werden lineare Beschleu-
ordneten Wanderwellen. Hohe Frequenzen bilden sich nigungen (Translationsbeschleunigungen) durch die
steigbügelnah, tiefe Frequenzen helicotremanah ab. 4 Makulaorgane (je 2 Maculae sacculi et utriculi auf
5 Die Wanderwellen erregen frequenzselektiv die äu- jeder Seite) erfasst.
ßeren Haarzellen und bringen sie zur Kontraktion. 5 Drehbeschleunigungen (Rotationsbeschleunigun-
5 Die Kontraktionen der äußeren Haarzellen versteilern gen) werden durch die je 3 senkrecht aufeinander
lokal die Wanderwellen und führen zur Erregung der stehenden Bogengänge beider häutiger Labyrinthe
korrespondierenden inneren Haarzellen. erfasst.
5 Die inneren Haarzellen geben ihre Erregung synap- 5 Die Stellung des Körpers im Raum wird in Zusam-
tisch an die afferenten Nervenfasern des N. acusti- menarbeit zwischen dem Gleichgewichtsorgan und
cus weiter. In diesen ist dann das Schallereignis durch der Tiefensensibilität ermittelt.
die Entladungsrate und die Zeitdauer der Aktivierung 5 Die statischen Labyrinthreflexe erhalten das Gleich-
verschlüsselt. gewicht beim ruhigen Stehen, Sitzen und Liegen.
5 Die statokinetischen Reflexe treten während Bewe-
Die Hörbahnen führen von jedem Ohr über mindestens gungen auf und stellen selbst Bewegungen dar (z. B.
5–6 synaptische Umschaltungen zu den auditorischen Liftreaktion und vestibulärer Nystagmus).
Kortexgebieten beider Hirnhälften.
5 Wichtige Stationen sind Nucl. cochlearis, Olivenkerne, la- Für die Arbeitsweise der peripheren und zentralen An-
teraler Schleifenkern und Corpus geniculatum mediale. teile des Gleichgewichtsorgans gilt:
5 Das zentrale auditorische System führt eine Muster- 5 Die Haarzellen der Maculae und der Bogengangs-
analyse des Schallsignals durch. Dabei werden ver- organe haben eine Ruheaktivität, die durch Be-
schiedene Charakteristika des Schallsignals analysiert. schleunigungsreize bei Verbiegen der Zilien in Rich-
So werden in zunehmendem Maße bedeutsame tung auf das Kinozilium erhöht und in der Gegen-
Komponenten von Schallreizen (z. B. arteigene Kom- richtung reduziert wird.
munikationslaute, Sprache) herausgearbeitet. 5 Infolge der Kalziteinlagerungen der Otolithenmem-
5 Der primäre auditorische Kortex und die mit ihm bran wirkt die Erdbeschleunigung (Schwerkraft)
verbundenen assoziativen Kortexareale sind für die lebenslänglich auf die Haarzellen der Maculae ein.
Analyse der semantischen Bedeutung der Sprache 5 Die Vestibulariskerne sind die erste synaptische
zuständig. Station der Afferenzen aus dem Vestibularorgan. In
diese Kerne projizieren außerdem Afferenzen der
Schalleitungs- ebenso wie Schallempfindungsstörungen Somatosensorik, insbesondere aus dem Halsbereich.
führen zur Schwerhörigkeit. Sie können diagnostisch 5 Die Information aus den Vestibulariskernen dient der
relativ leicht voneinander abgegrenzt werden. Gleichgewichtserhaltung beim Stehen und Gehen,
5 Im Alter kommt es in der Regel durch Untergang von der Steuerung von Augenbewegungen, der Fein-
Haarzellen zu einer gewissen Schwerhörigkeit, Pres- abstimmung der Motorik im Kleinhirn und über korti-
byakusis genannt. kale Projektionen der bewussten Empfindung von
5 Der wichtigste klinische Hörtest ist die Schwellen- Körperstellungen.
audiometrie. 5 Die Prüfung auf Spontannystagmus, des postrota-
torischen Nystagmus und des kalorischen Nystag-
Die Wahrnehmung der Stellung und Bewegung des mus sind wichtige Methoden in der Funktionsdiag-
Kopfes im Raum erfolgt über das Gleichgewichtsorgan. nostik des Gleichgewichtsorgans.

Literatur Schmidt RF, Schaible H-G (Hrsg) (2006) Neuro- und Sinnesphysiologie,
5. Aufl. Springer, Berlin Heidelberg New York Tokyo
Gummer AW, Zenner HP (1996) Central processing of auditory informa- Zenner HP (1996) Hearing. In: Greger R, Windhorst U (eds) Comprehen-
tion. In: Greger R. Windhorst U (eds) Comprehensive human physio- sive human physiology, vol. 1, pp 711–727. Springer, Berlin Heidel-
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Moore BCJ (1997) An introduction to the psychology of hearing, 4th ed. Zenner HP, Gummer AW (1996) The vestibular system. In: Greger R.,
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Schmidt RF, Lang F (Hrsg) (2007) Physiologie des Menschen, 30. Aufl.
Springer, Berlin Heidelberg New York Tokyo
19

19 Geschmack und Geruch

19.1 Wahrnehmungspsychologie des Geschmacks – 440


19.1.1 Geschmacksqualitäten – 440
19.1.2 Biologische und psychologische Bedeutung des Geschmacksinns – 441

19.2 Bau, Funktion und Verschaltung des Schmeckorgans – 443


19.2.1 Lage, Bau und Innervation der Schmeckzellen
in den Geschmacksknospen – 443
19.2.2 Signalverarbeitung in den Schmeckzellen – 444
19.2.3 Zentrale Signalverarbeitung – 446

19.3 Wahrnehmungspsychologie des Geruchssinns – 447


19.3.1 Geruchsqualitäten und die Eigenschaften des Geruchssinns – 447
19.3.2 Biologische und psychologische Bedeutung des Riechens – 449

19.4 Bau, Funktion und Verschaltung des Riechsystems – 450


19.4.1 Lage, Bau und nervöse Versorgung des peripheren Riechorgans – 450
19.4.2 Arbeitsweise der Riechzellen und des Bulbus olfactorius – 452
19.4.3 Zentrale Signalverarbeitung – 454

Zusammenfassung – 456
Literatur – 457

N. Birbaumer, Biologische Psychologie, DOI 10.1007/978-3-540-95938-0_19,


© Springer Medizin Verlag Heidelberg 2010
440 Kapitel 19 · Geschmack und Geruch

)) 19.1 Wahrnehmungspsychologie
des Geschmacks
Geschmack und Geruch sind chemische Sinnessysteme,
die entwicklungsgeschichtlich zu unseren ältesten Sinnen 19.1.1 Geschmacksqualitäten
gehören. Selbst sehr einfache Lebewesen verfügen bereits
über Chemosensoren (Chemorezeptoren), mit denen sie Abgrenzung des Geschmacks vom Geruch
ihre unmittelbare Umwelt analysieren und über die sie ihr Die Abgrenzung des Geschmacks vom Geruch lässt sich
Verhalten entsprechend modifizieren. Beim Menschen fällt nach morphologischen und physiologischen Kriterien
auf, dass die zentralen Leitungsbahnen des Geruchssinns, durchführen. Die wichtigsten Unterscheidungsmerkmale
abweichend von allen anderen Sinnen, zunächst direkt sind in . Tabelle 19.1 zusammengefasst. Morphologisch
zu phylogenetisch alten Teilen der Hirnrinde ziehen, bevor gesehen ist das wichtigste Unterscheidungsmerkmal, dass
sie zum Thalamus und zum Neokortex projizieren. Dies die Geschmackssensoren ausschließlich auf der Zunge zu
weist ebenso auf die besondere Stellung des Geruchs- finden sind, während das Geruchsepithel im Nasen- und
sinns hin wie die engen Verbindungen zum limbischen Rachenraum angesiedelt ist. Physiologisch ist entscheidend,
System. Insgesamt dient der Geschmack als Nahsinn, wäh- dass es nur 4 bzw. 5 Geschmacksqualitäten gibt (7 unten),
rend der Geruch zusätzlich auch als Fernsinn Information während beim Geruch Tausende verschiedener Duftstoffe
aus der weiteren Umgebung vermitteln kann. Der »Ge- unterschieden werden können (Abschn.19.3.1).
schmack« eines Gerichts hängt von der Zusammenarbeit
beider Sinnessysteme ab: Selbst das herrlichste Gericht Hauptqualitäten des Schmeckens
verliert ohne seine Gerüche (z. B. bei einem starken Schnup- Jede der Grundqualitäten des Geschmacks wird bevor-
fen, dessen Sekrete den Riechstoffen den Zugang zum zugt durch bestimmte chemische Moleküle ausgelöst. Süß
Riechepithel versperren) einen Großteil seines »Ge- schmecken hauptsächlich natürlich vorkommende Zucker,
schmacks«. salzig schmeckt Kochsalz (NaCl); andere Salze, wie z. B.
KCl, schmecken salzig, zugleich aber auch bitter. Eine
rein bittere Empfindung wird durch Chinin und andere
pflanzliche Alkaloide ausgelöst, saure Empfindungen durch
Säuren, wie Zitronensäure oder Salzsäure (. Tabelle 19.2).
Viele natürliche Geschmacksreize lösen Mischempfindun-

. Tabelle 19.1. Einteilung und Charakterisierung der chemischen Sinne


Geschmack Geruch
Sensoren Sekundäre Sinneszellen Primäre Sinneszellen
Enden des V. (IX. und X.) Hirnnerven
Lage der Sensoren Auf der Zunge Im Nasen- und Rachenraum
Afferente Hirnnerven N. VII, N. IX N. I, N. V (N. IX, N. X.)
Stationen im Zentralner- 5 Medulla oblongata (N. tractus solitarius) 5 Bulbus olfactorius
vensystem 5 Ventraler Thalamus 5 Endhirn (Area praepiriformis)
5 Kortex (Gyrus postcentralis) Verbindungen zum limbischen System, Hypothalamus,
Verbindungen zum Hypothalamus orbitofrontalen Kortex und entorhinalen Kortex
Adäquater Reiz Moleküle organischer und anorganischer, Moleküle fast ausschließlich organischer, flüchtiger Verbin-
meist nicht flüchtiger Stoffe. Reizquelle in dungen in Gasform, erst direkt an Rezeptoren in flüssiger
Nähe oder direktem Kontakt zum Sinnesorgan Phase gelöst. Reizquelle meist in größerer Entfernung
Zahl qualitativ unter- 5 Grundqualitäten Sehr hoch (einige Tausend), zahlreiche, schwer abgrenzbare
scheidbarer Reize Qualitätsklassen
Absolute Empfindlichkeit Gering, mindestens 1016 und mehr Für manche Substanzen sehr hoch (107 Moeküle pro ml Luft,
Moleküle/ml Lösung bei Tieren bis zu 102 bis 103)
Biologische Charakte- Nahsinn Fernsinn und Nahsinn
risierung Nahrungskontrolle, Steuerung der Nahrungs- Umweltkontrolle (Hygiene), Nahrungskontrolle
aufnahme und -verarbeitung (Speichelreflexe) Bei Tieren auch Nahrungs- und Futtersuche, Kommunikation,
Emotionale Steuerung Fortpflanzung
19 Starke emotionale Bewertung
Soziale und reproduktive Funktion
19.1 · Wahrnehmungspsychologie des Geschmacks
441 19

meisten Stoffe eine erhebliche individuelle Variabilität in


. Tabelle 19.2. Einteilung charakteristischer Geschmacks- den Schwellen besteht. Es entspräche den Gegebenheiten
stoffe und ihre Wirksamkeit beim Menschen mehr, von Schwellenbereichen zu sprechen.
Qualität Substanz Schwelle (mol/l) Die Zuordnung der chemischen Struktur eines Stoffes
Bitter Chininsulfat 0,000008 zu seiner Schmeckwirkung ist nicht möglich. So schmecken
Nikotin 0,000016 neben Zuckern auch Bleisalze süß, die wirksamsten Süß-
Sauer Salzsäure 00009 reize sind Süßstoffe wie Saccharin oder die Aminosäure
Zitronensäure 0,0023 Aspartam.
Süß Saccharose 0,01
G Die Wahrnehmungsschwellen liegen besonders für
Glukose 0,08
Saccharin 0,000023 bittere und saure Stoffe sehr niedrig. Die eindeutige
Zuordnung chemischer Eigenschaften eines Stoffes
Salzig NaCl 0,01
CaCl2 0,01 zu seiner Schmeckwirkung ist nicht möglich.

Reizintensität und Empfindungsstärke


Die Stärke einer Schmeckempfindung hängt in erster Linie
gen aus, so schmeckt z. B. Orange süß und sauer, Pampel- von der Konzentration des Reizstoffes ab. Im Schwellen-
muse sauer, süß und bitter. bereich ist allerdings zu beachten, dass der Effekt einer Ver-
Ursprünglich in Fernost wurde zusätzlich eine Ge- dünnung einer Reizstofflösung durch Reizung eines größe-
schmacksempfindung für Glutamat (Natriumsalz der ren Areals auf der Zungenoberfläche kompensiert werden
Aminosäure Glutamin) postuliert, der Umami-Geschmack. kann. Ebenso lässt sich die Verdünnung einer Reizstoff-
Der Begriff »umani« stammt aus dem Japanischen und lösung durch Verlängerung der Reizdauer in gewissem
bedeutet »Wohlgeschmack«. Mittlerweile ist der Umami- Umfang ausgleichen.
Geschmack als eigenständige Geschmacksqualität aner- Zu berücksichtigen bleibt ferner, dass auch die Tempe-
kannt. ratur einer Reizstofflösung die Stärke der Schmeckempfin-
dung beeinflusst.
Nebenqualitäten des Schmeckens Schließlich sei festgehalten, dass sich die Empfindungs-
Außer den eben genannten Grundqualitäten können noch qualität eines Stoffes mit zunehmender Konzentration
2 Nebenqualitäten, nämlich alkalisch (oder auch seifig) ändern kann, was als Qualitätsumschlag bezeichnet wird.
und metallisch, unterschieden werden. Die Empfindung So schmeckt Kochsalz in geringer Konzentration (0,02–
alkalisch wird bei Reizung mit Pottasche (Kaliumkarbonat) 0,03 molar) süß und erst in höherer (0,04 molar und stärker)
hervorgerufen. Einen spezifisch metallischen Geschmack rein salzig.
haben einige Metalle und Metallsalze.
Adaptation des Geschmacksinns
G Die 5 Grundgeschmacksqualitäten sind süß, sauer,
Bei langdauernden Reizen nimmt die Empfindungsstärke
bitter, salzig und umami. Nebenqualitäten sind
deutlich ab, d. h. der Geschmackssinn zeigt eine deut-
alkalisch und metallisch.
liche Adaptation. Diese ist sicher z. T. neuronal, also nicht
Wahrnehmungsschwellen des Geschmacks nur durch Sensoradaptation bedingt. Es darf aber dabei
Bitter schmeckende Stoffe werden schon bei sehr niedri- nicht übersehen werden, dass durch die Sekretion der in
gen Konzentrationen wahrgenommen (. Tabelle 19.2). Der . Abb. 19.1a sichtbaren Spüldrüsen die Konzentration
Schwellenwert für Chininsulfat liegt bei 0,000008 molar = eines Reizstoffes an den Geschmacksknospen herabgesetzt
6 mg/l. und auf diese Weise eine Änderung der Empfindungsstärke
In einer ähnlichen Größenordnung liegt der Schwellen- verursacht werden kann.
wert für süß des synthetischen Süßstoffes Saccharin, näm-
G Die Stärke einer Schmeckempfindung hängt in
lich bei 0,000023 mol/l (5,5 mg/l). Die Schwellen der natür-
erster Linie von der Konzentration des Reizstoffes
lichen Zucker liegen viel höher, nämlich für Rohrzucker bei
ab. Bei langdauernden Reizen kommt es zu deut-
0,01 mol/l (3,42 g/l) und für Traubenzucker bei 0,08 mol/l
licher Adaptation.
(14,41 g/l).
Wie aus den Schwellen für Essigsäure (0,0018n =
0,108 g/l) und Kochsalz (0,01 mol/l = 0,585 g/l) hervorgeht, 19.1.2 Biologische und psychologische
liegen die Schwellen für sauer und salzig schmeckende Bedeutung des Geschmacksinns
Stoffe etwa in der gleichen Größenordnung wie für die ge-
nannten Zucker (. Tabelle 19.2). Geschmack im Alltag
Hinzuzufügen bleibt, dass die Aussagekraft von genau Im Alltag wird bei der Beurteilung des »Geschmacks« einer
angegebenen Schwellenwerten beschränkt ist, da für die Speise in aller Regel ein viel weiteres Spektrum an Emp-
442 Kapitel 19 · Geschmack und Geruch

findungen herangezogen als die oben charakterisierten nicht nur als Reaktion auf Geschmacksreize, sondern
5 Haupt- und 2 Nebenqualitäten des Geschmacks. So wird auch antizipatorisch, als klassisch konditionierte Reak-
der »scharfe« Eindruck des Pfeffers und Paprikas über tion (»das Wasser läuft im Munde zusammen«).
(nicht nur, aber v. a. nozizeptive) orale, trigeminale Afferen- 4 Drittens hat der Geschmack eine besondere psycho-
zen vermittelt, während beißende und stechende Empfin- physiologische Funktion als primärer positiver Ver-
dungen teils von nasaltrigeminalen, teils von olfaktorischen stärker oder als primärer Bestrafungsreiz. Der Aufbau
Afferenzen stammen. Auch die Mechano- und Thermo- von Hierarchien sekundärer und tertiärer Verstärker,
rezeptoren der Mundhöhle tragen ihren Teil zum Ge- und instrumentelles Lernen, nimmt somit auch vom
schmack bei (7 oben die Abhängigkeit der Empfindung Geschmackssinn seinen Ausgang. Geschmacks-
einer Reizstofflösung von ihrer Temperatur). aversionen und -vorlieben sind häufig durch Lernen
erworben. Wie in Kap. 25 ausführlich beschrieben,
Funktionen des Geschmackssinns sind diese besonders stabil und können auch bei
Drei Funktionen des Geschmackssinns sind hervorzu- langen Zeitabständen zwischen Warnreizen und Ge-
heben schmacks- oder Geruchsreizen assoziativ verbunden
4 Erstens die Prüfung der Nahrung auf eventuell un- werden.
verdauliche oder giftige Stoffe. Auffällig ist in diesem
Zusammenhang die hohe Empfindlichkeit des Ge- Die gleichen mimischen Lust- bzw. Unlustreaktionen auf
schmackssinns für Bitterstoffe. Da diese oft giftig sind Geschmacksstoffe, wie sie der Erwachsene zeigt, wenn er
(z. B. Strychnin, nikotinhaltige Pflanzen, Bitterröhr- sauer schaut, eine bittere Miene macht oder süß lächelt,
lingpilz) erscheint eine Warnung vor bereits geringen zeigen sich schon bei Neugeborenen. Solche angeborenen
Konzentrationen bei der Wasser- oder Nahrungsauf- mimischen Reaktionsmuster werden als gustofazialer
nahme sinnvoll. Stärkere Bitterreize lösen leicht Brech- Reflex bezeichnet. Beim Menschen konnte auch ein Zusam-
und Würgereflexe aus. Lust auf Süßes ist übrigens an- menhang zwischen der hedonischen Bewertung und dem
geboren, ebenso Ablehnung von Bitterem. ernährungsphysiologischen Bedarf hergestellt werden, bei-
4 Zweitens eine Beteiligung an der reflektorischen Steue- spielsweise die Aversion gegen Süßes und die Lust auf Saures
rung der Sekretion der Verdauungsdrüsen. Dabei wird nach anhaltendem Genuss von Süßspeisen. Bei Mensch und
nicht nur die Sekretmenge durch Schmeckreize beein- Tier löst Kochsalzmangel einen starken Salzhunger aus.
flusst, sondern auch die Zusammensetzung des Sekrets,
z. B. in Abhängigkeit von der überwiegend süß oder G Über den Geschmack wird die Nahrung auf Verträg-
salzig schmeckenden Nahrung. Auch Bitterstoffe kön- lichkeit geprüft und die Verdauungsdrüsen antizipa-
nen in starken Verdünnungen zu wohlschmeckenden torisch und reflektorisch aktiviert. Lust auf Süßes ist
und verdauungsfördernden Getränken (»Magenbitter«) angeboren, ebenso Ablehnung von Bitterem und
werden, da sie reflektorisch die Sekretion der Speichel-, gustofaziale Reflexe. Aversionen und Vorlieben
Magensaft- und Pankreasddrüsen anregen. Dies erfolgt können aber auch durch Lernen erworben werden.

Box 19.1. Störungen des Geschmackssinns


Diese sind insgesamt selten. Wird z. B. der den Zungen- ren. Da sich Dysgeusien auf die Nahrungswahl und die
grund innervierende Nervus glossopharyngeus (IX. Hirn- Menge der aufgenommenen Nahrung auswirken (»Ge-
nerv, . Tabelle 2.2 in Abschn. 2.3.4) durchtrennt, ist im schmacksaversion«, Kap. 25) und leicht an neutrale Um-
Wesentlichen die Empfindlichkeit für Bitterreize herab- gebungsreize konditioniert werden, kann der Allgemein-
gesetzt. Umgekehrt führt Durchtrennung der die übrige zustand eines Patienten beeinflusst werden. Allerdings
Zunge innervierenden Chorda tympani (Ast des VII. Hirn- leiden die meisten Patienten, die über Störungen der
nerven, N. facialis) zu einem Verschwinden der 3 anderen Geschmacksempfindung klagen, in Wirklichkeit an einer
Geschmacksqualitäten, d. h. es bleibt nur die Empfindlich- Störung des Geruchssinns.
keit für bitter übrig. Derselbe Virus, der Windpocken verursacht, kann in
Läsionen der zentralen Geschmacksbahnen und seltenen Fällen einseitig die Hirnnerven befallen und be-
-areale können zu Einschränkungen des Geschmackssinns wirkt dann auf der betroffenen Seite einen völligen Aus-
führen. Liegen die Wahrnehmungsschwellen über dem fall des Geschmacks, genannt Ramsey-Hunt-Syndrom.
Normalbereich, spricht man von Hypogeusie. Bei Ageu- Die Patienten bemerken dies aber nur unter experimen-
sien kommt es zu keinen Geschmacksempfindungen. tellen Bedingungen, denn die Gegenseite wird viel sensi-
Als Dysgeusien werden dem Reiz nicht entsprechen- tiver für Geschmacksreize. Dies wird dadurch verursacht,
de oder ohne Reiz auftretende, meist unangenehme Ge- dass die üblicherweise auch vorhandene Hemmung von
19 schmacksempfindungen bezeichnet. Sie werden bei ver- der kranken Seite wegfällt und damit die afferenten Nerven
schiedenen Krankheitsbildern beobachtet, v. a. bei Tumo- und/oder deren Synapsen leichter erregbar sind.
19.2 · Bau, Funktion und Verschaltung des Schmeckorgans
443 19
Finickiness (Heikelkeit)
Die im Alltag gebräuchliche Regel, dass wir umso weniger
wählerisch werden, je länger wir nicht gegessen haben,
gilt nur für extreme Formen der Nahrungsdeprivation. Bei
normalen Hungergefühlen nimmt die Selektivität für gut
schmeckende Speisen mit dem Hunger zu und auch die
Abneigung gegen schlecht, z. B. bitter, schmeckende. Im
Englischen bezeichnet man dies als Finickiness, was wört-
lich soviel wie Heikelkeit bedeutet. Dies erscheint biolo-
gisch wenig sinnvoll, könnte aber damit zu tun haben, dass
die im Gehirn verankerte Gleichung gut = nützlich unter

Genehmigung des Deutschen Ärzte-Verlags.


Aus Schmidt RF et al (2003). Mit freundlicher
Hunger besonders leicht aktiviert wird. Dazu passt auch die
Tatsache, dass übergewichtige und untergewichtige (ano-
rektische) Personen besonders wählerisch sind.
G Von extremem Hunger abgesehen, nimmt die Selek-
tivität für Speisen mit dem Hunger zu. Diese Finicki-
ness ist bei adipösen und anorektischen Personen
besonders ausgeprägt.

19.2 Bau, Funktion und Verschaltung


des Schmeckorgans . Abb. 19.1a–c. Die Zunge als Geschmackssinnesorgan. a Die
3 Typen der Geschmackspapillen. b Aufbau und Innervation einer
Geschmacksknospe, deren Sinneszellen mit den Mikrovilli in den
19.2.1 Lage, Bau und Innervation Porus ragen. Jede Sinneszelle wird meist von mehreren afferenten
der Schmeckzellen in den Hirnnervenfasern innerviert. c Verteilung der 4 Geschmacksqualitäten
Geschmacksknospen auf der Zunge

Bau der Pilz-, Wall- und Blätterpapillen


In der Schleimhaut der Zungenoberfläche liegen zahlreiche, G Über die Zungenoberfläche sind in ungleichmäßiger
Papillen genannte Erhebungen, von denen 3 Typen in Anzahl und Verteilung Pilz-, Wall- und Blätterpapil-
. Abb. 19.1a schematisch dargestellt sind. Diese Papillen- len angeordnet. An der Basis der beiden letzteren
typen sind nicht gleichmäßig über die Zunge verteilt. Nur liegen Spüldrüsen, die der Reinigung und Reizstoff-
die Pilzpapillen sind über die ganze Oberfläche verstreut. verdünnung dienen.
Die 1–3 mm großen, von oben gesehen runden Wallpapil-
len, beim Menschen nur 7–12, liegen an der Grenze zum
Zungengrund. Der dritte Typ, die Blätterpapillen, finden Bau der Geschmacksknospen
sich als dicht hintereinanderliegende Falten am hinteren In die Wände der Pilz-, Blätter- und Wallpapillen sind als
Seitenrand der Zunge; sie sind bei Kindern gut entwickelt, Geschmacksknospen bezeichnete Sinnesorgane eingela-
bei Erwachsenen jedoch weitgehend zurückgebildet (die gert (. Abb. 19.1a). Bei den Wall- und Blätterpapillen liegen
Fadenpapillen, die die übrige Zungenoberfläche bedecken, zahlreiche Geschmacksknospen in den Seitenwänden der
sind nicht gezeigt, da sie am Geschmack nicht beteiligt, son- Papillen (Mitte und rechts in . Abb. 19.1a), während sie bei
dern mechanosensitiv sind). den Pilzpapillen auf der Oberfläche des bis zu 1 mm breiten
In das Bindegewebe unterhalb der Wall- und Blätter- Pilzhuts liegen (links in . Abb. 19.1a). Die einzelnen Ge-
papillen sind Drüsen eingebettet, deren Ausführungsgänge schmacksknospen sind etwa 70 μm hoch und haben einen
in den Vertiefungen zwischen Papille und Wall bzw. zwi- Durchmesser von etwa 40 μm. Der Mensch besitzt etwa
schen den Papillen ausmünden (. Abb. 19.1a). Sie werden 2000 Geschmacksknospen. Etwa die Hälfte davon findet
als Spüldrüsen bezeichnet, denn ihr Sekret hat die Aufgabe, sich auf den Wallpapillen.
Speiseteilchen und Mikroorganismen fortzuschwemmen. Den Bau einer Geschmacksknospe zeigt . Abb. 19.1b.
Außerdem wird durch das Sekret dieser Drüsen die Kon- Es lassen sich dort Schmeckzellen (gelb, die eigentlichen
zentration an Reizstoffen im Bereich der Geschmacksknos- Sinneszellen, 7 unten), dazu Stützzellen und Basalzellen
pen herabgesetzt (Abschn. 19.1.2). Die Pilzpapillen haben (beide grün) unterscheiden, die nebeneinander wie Oran-
keine Spüldrüsen. genschnitze angeordnet sind. Kurz unterhalb der Epithel-
oberfläche liegt ein flüssigkeitsgefüllter Trichter (blau), der
als Porus bezeichnet wird. Wasserlösliche Reizstoffe, die
auf die Zungenoberfläche gelangen, können durch den
444 Kapitel 19 · Geschmack und Geruch

Porus in die Geschmacksknospe diffundieren und hier möglich sei. Die vorderen Abschnitte der Zunge galten
die Schmeckzellen erreichen (7 unten). als besonders empfindlich für süß und salzig, die seitlichen
für sauer und die hinteren Zungenabschnitte für bitter.
G In die Wände der Pilz-, Blätter- und Wallpapillen sind
. Abb. 19.1c zeigt aber, dass nur geringe Unterschiede
etwa 2000 Geschmacksknospen eingelagert, die aus
in der Empfindlichkeit der einzelnen Qualitäten auf der
Schmeck-, Stütz- und Basalzellen aufgebaut sind.
Zungenoberfläche bestehen, mit Ausnahme des Bitterge-
Diese Zellen bilden einen Porus an der Epithelober-
schmacks, der bevorzugt, aber keineswegs ausschließlich,
fläche, über den Geschmackstoffe die Schmeckzel-
am Zungenhintergrund lokalisiert ist.
len erreichen können.
G Die 4 Grundqualitäten des Geschmacks sind auf der
Anzahl, Lebensdauer und Innervation Zungenoberfläche ohne eindeutige Topographie für
der Schmeckzellen die einzelnen Qualitäten lokalisiert.

Jede der etwa 2000 Geschmacksknospen (7 oben) enthält


10–50 Schmeckzellen. An ihrem oberen Ende, das in 19.2.2 Signalverarbeitung
die Porenflüssigkeit eintaucht, ist ihre Membran vielfach in den Schmeckzellen
fingerförmig zu Mikrovilli aufgefaltet, was der Oberflächen-
vergrößerung dient (. Abb. 19.1b). In die Membranen der Allgemeiner Ablauf von Transduktion
Mikrovilli sind die eigentlichen Geschmacksrezeptoren und Transformation
eingebettet, deren Liganden die Geschmacksstoffe sind Ein Molekül, das eine bestimmte Geschmacksempfindung
(7 unten). auslöst, bindet sich an ein Rezeptorprotein in der Membran
Die Lebensdauer der Schmeckzellen ist gering. Sie der Mikrovilli einer Schmeckzelle. Diese Bindung des
werden im Durchschnitt bereits nach 10 Tagen durch eine Liganden an seinen Membranrezeptor löst eine Öffnung
nachrückende Zelle ersetzt. Bei dieser Zellmauser werden von Membrankanälen (»Poren«) aus. Der resultierende
die ausscheidenden Sinneszellen durch Abkömmlinge der Ionenstrom führt zu einem depolarisierenden Sensorpoten-
Stützzellen ersetzt, die ihrerseits aus den Basalzellen aus- zial in der Geschmackssinneszelle. Die molekularen intra-
differenzieren. zellulären Mechanismen dieser Transduktionsprozesse
Die Schmeckzellen werden von afferenten Nerven- sind in . Abb. 19.2 für die Rezeptoren der 4 Grundge-
fasern innerviert (rot in . Abb. 19.1b). Sie sind nämlich schmacksqualitäten gezeigt.
sekundäre Sinneszellen (Abschn. 14.2.3). Jede afferente Die afferenten Nervenfasern der Schmeckzellen sind
Nervenfaser zweigt sich vielfach auf, so dass eine Nerven- spontan aktiv. Erreicht ein depolarisierendes Sensorpoten-
faser häufig mehrere Geschmacksknospen und dort jeweils zial der Schmeckzelle die Schwelle für eine Transmitterfrei-
mehrere Sinneszellen innerviert. Entsprechend groß sind setzung, so verändert der Transmitter die Aktionspoten-
deren rezeptive Felder (nicht abgebildet). Die zentripetal zialfrequenz in der afferenten Nervenfaser. Die Transfor-
laufenden Impulse in einer afferenten Nervenfaser ent- mation besteht also in der Modulation der Spontanfrequenz
stammen also mehreren Geschmackssinneszellen. der afferenten Nevenfasern.
Die Schmeckzellen der vorderen 2 Drittel der Zunge
werden von afferenten Nervenfasern der Chorda tympani Transduktion am Sauerrezeptor
innerviert, einem Ast des Nervus facialis (VII. Hirnnerv, Das Sauerrezeptor-Kanalprotein (links gelb in . Abb. 19.2a)
. Abb. 19.4). Der Zungengrund wird vom IX. Hirnnerven, ist normalerweise für K+-Ionen permeabel. Bei der Verbin-
dem Nervus glossopharyngeus, innerviert. Die Schmeck- dung von H+-Ionen mit dem Sauer-Rezeptor-Kanalprotein
zellen sind auf diese Innervation angewiesen. Wird z. B. die verschließt sich der Kaliumkanal, wodurch es zu einer
Chorda tympani durchschnitten, so degenerieren alle von Depolarisation des Membranpotenzials, also zum Rezep-
ihr innervierten Geschmacksknospen. tor(Sensor)potenzial kommt.
G Die Schmeckzellen sind die in den Geschmacksknos- Transduktion am Salzrezeptor
pen liegenden Sinneszellen des Geschmackssinns.
Das Salzrezeptor-Kanalprotein ist kationenpermeabel, und
Sie haben nur eine Lebensdauer von 10 Tagen. Es
zwar hauptsächlich für Na+-Ionen (blau in . Abb. 19.2a).
sind sekundäre Sinneszellen, die teils vom VII., teils
Eine Erhöhung der Na-Konzentration außerhalb der Zelle
vom IX. Hirnnerven innerviert werden. Eine afferen-
durch Essen von salzhaltiger Kost führt zu einem erhöhten
te Nervenfaser versorgt mehrere Schmeckzellen.
Einstrom von Na+-Ionen in die Zelle und damit zur Depo-
larisation. Die eingeströmten Na+-Ionen werden anschlie-
Fehlende Topographie der Geschmacks- ßend durch eine Na+-K+-ATPase-Pumpe wieder aus der
19 qualitäten Zelle entfernt.
Lange Zeit wurde geglaubt, dass eine genaue Zuordnung
bestimmter Areale der Zunge zu einer Geschmacksqualität
19.2 · Bau, Funktion und Verschaltung des Schmeckorgans
445 19

. Abb. 19.2a, b. Signaltransduktion in Schmeckzellen. Die Aktivie- renten Nervenfaser. a Molekulare Prozesse der Transduktion von sauren
rung der für die einzelnen Geschmacksqualitäten spezifischen Rezeptor- (gelber Bildteil) und salzigen Substanzen (blau) in eine elektrische Zell-
proteine löst unterschiedliche intrazelluläre molekulare Mechanismen antwort (Depolarisation = Sensorpotential). b Transduktion von süß
aus, die zu einer Depolarisation der Sinneszelle führen. Dadurch kommt (roter Bildanteil) und bitter schmeckenden Substanzen (grün), zu denen
es zur Transmitterfreisetzung an der chemischen Synapse mit der affe- auch das Chinin zählt (nicht eingezeichnet)

Transduktion am Bitterrezeptor schn. 2.2.2) die Ca-Konzentration, was, wie bei der Bitter-
Die Verbindung eines Bitterstoffes wie des Chinin (. Tabel- transduktion schon erwähnt, die Transmitterfreisetzung
le 19.2) mit einem Bitterrezeptorprotein (T2R-Rezeptorfa- aus den Schmeckzellen erhöht.
milie) setzt eine intrazelluläre »Second-messenger«-Signal-
G Für jede der 4 Grundqualitäten gibt es in den Mem-
verstärkungskaskade in Gang (rechts grün in . Abb. 19.2b),
branen der Villi der Schmeckzellen spezifische
an deren Ende der Anstieg von Ca2+-Ionen in der Zelle
Chemorezeptoren, deren Aktivierung unterschiedli-
steht. Diese können dann direkt oder indirekt (durch Öff-
che intrazelluläre Mechanismen zur Depolarisation
nen von Kationenkanälen) eine Transmitterfreisetzung be-
und Transmitterfreisetzung auslöst. Der Transmitter
wirken.
moduliert die Frequenz der spontanen Aktions-
Transduktion am Süßrezeptor potenziale der Afferenzen.

Beim Süßrezeptor sind bisher 3 Rezeptorproteine bekannt,


von denen 2 in . Abb. 19.2b eingezeichnet sind. Kommt es Abgestufte Selektivität der Schmeckzellen,
zur Wechselwirkung eines Zuckermoleküls mit seinem Entstehung von Geschmacksprofilen
Rezeptor (rot), so wird über ein spezielles G-Protein, das Etwa ein Viertel aller Schmeckzellen reagieren spezifisch
Gustduzin, das Enzym Adenylatzyklase (AC) aktiviert, wo- für eine der 4 Grundqualitäten, die anderen reagieren auf
durch die cAMP-Konzentration in der Zelle erhöht wird, Vertreter mehrerer Geschmacksqualitäten, d. h. in ihren
was über eine Phosphorylierung K-Kanäle blockiert. Dies Membranen finden sich Vertreter mehrerer der oben ge-
verringert den Ausstrom von K+-Ionen, die Zelle wird schilderten und in . Abb. 19.2 illustrierten Rezeptoren in
länger depolarisiert. Synthetische Zucker (Süßstoffe wie unterschiedlicher Verteilung und Anzahl. Werden diese
Saccharin oder Aspartam) erhöhen über die Aktivierung aktiviert, so löst die resultierende Depolarisation, das Sen-
des IP3-Weges (IP3 ist ein sekundärer Botenstoff, Ab- sorpotenzial, an der Synapse zwischen Schmeckzelle und
446 Kapitel 19 · Geschmack und Geruch

afferenten Nervenfaser, sondern in der Gesamterregung


aller beteiligten afferenten Nervenfasern, also im afferen-
ten Impulsmuster enthalten. Dieses muss in den zentral-
nervösen Strukturen des Geschmacksinns (7 unten) ent-
sprechend dekodiert werden. Der Dekodierungsprozess
wird dadurch erleichtert, dass die afferenten Nerven-
fasern eine unvollkommene oder relative Spezifität auf-
weisen, d. h. bevorzugt auf eine Geschmacksqualität ant-
worten (. Abb. 19.3). Dazu kommt, wie die Registrie-
rung einer großen Zahl von Geschmacksprofilen gezeigt
hat, dass die wirkungsvollste Reizqualität auch die Reihen-
folge der Wirksamkeit der anderen Reizqualitäten be-
stimmt.
Für die zwar unvollkommene, aber doch beträcht-
liche Spezifität der Geschmacksafferenzen spricht auch die
selek tive Wirkung bestimmter Drogen auf Geschmacks-
organe. Wird z. B. Kaliumgymnemat, ein Stoff aus der
indischen Pflanze Gymnema silvestre, auf die Zunge ge-
bracht, erlischt spezifisch nur die Süßwahrnehmung: Zu-
cker »schmeckt wie Sand«. Ein in der Frucht der westafri-
kanischen Pflanze Synsepalium dulcificum enthaltenes
Protein verwandelt saueren Geschmack in süßen: Zitrone
schmeckt wie Orange. Wird Kokain auf die Zunge gebracht,
fallen nacheinander die Empfindungen für bitter, süß, salzig
und sauer aus.
. Abb. 19.3a, b. Antwortverhalten von Geschmacksnervenfasern
auf Reizstofflösungen aus den angegebenen Qualitätsbereichen. G Die meisten Schmeckzellen sind für mehrere, oft alle
a Originalregistrierungen der Nervenimpulse von einzelnen afferenten
4 Geschmacksqualitäten empfindlich. Die Informa-
Fasern des Nervus facialis einer Ratte. Die Reizung der Geschmacks-
knospen mit Geschmackssubstanzen verschiedener Qualität hat eine
tion über Geschmacksqualität und -intensität ist
Veränderung der Nervenimpulsfrequenz zur Folge (nach Y. Zotterman). daher im Impulsmuster, dem Geschmacksprofil, der
b Antwortverhalten von 4 verschiedenen einzelnen Geschmacksner- afferenten Nervenfasern enthalten.
venfasern aus der Chorda tympani einer Ratte. Es wurden alle Nerven-
impulse gezählt, die durch eine Reizsubstanz ausgelöst wurden. Jede
Nervenfaser antwortet auf Reizsubstanzen aller 4 Qualitätsklassen, 19.2.3 Zentrale Signalverarbeitung
allerdings mit unterschiedlicher Empfindlichkeit. Die typischen Muster
der Erregungszunahme werden als Geschmacksprofile bezeichnet Zentralnervöse subthalamische Bahnen
des Geschmacksinns
afferenter Nervenfaser (. Abb. 19.1b) eine Transmitterfrei- Die von den Geschmackszellen stammende Information
setzung aus. Dies bewirkt eine Änderung der Aktionspo- wird in die Hirnrinde übertragen. Wie andere sensori-
tenzialfrequenz der spontan aktiven afferenten Nervenfaser. sche Information, die schließlich in unser Bewusstsein
Beispiele dafür sind in . Abb. 19.3a zu sehen. Daraus er- eintritt, wird auch die Information über den Geschmack
geben sich von Nervenfaser zu Nervenfaser unterschied- im Thalamus umgeschaltet. Dabei verbleibt die Ge-
liche Reaktionsspektren. schmacksinformation zum Teil ipsilateral, d. h. die Ge-
. Abbildung 19.3b zeigt für 4 afferente Fasern die Verän- schmacksbahn kreuzt nicht vollständig auf die kontra-
derung der Entladungsfrequenz bei Reizung mit Substan- laterale Seite.
zen, die die 4 Grundqualitäten vertreten. Der Abbildung ist Die . Abb. 19.4 knüpft an . Abb. 19.1b an und zeigt den
zu entnehmen, dass die Nervenfasern auf Reize aus mehr als Verlauf der von der Zunge über die Chorda tympani und
einer Qualitätsklasse reagieren, wobei sie insofern abgestuft den Nervus glossopharyngeus kommenden Geschmacks-
spezifisch antworten, als bei Reizung mit einer Geschmacks- afferenzen in den Hirnstamm. Dort werden beiderseits die
stofflösung von bestimmter Konzentration die Entladungs- Geschmacksfasern im Tractus solitarius gesammelt. Dieser
frequenz der einzelnen Nervenfasern ungleich stark zu- Faserzug endet im rostralen Bereich in der Pars gustatoria
nimmt. Wir bezeichnen die jeweils typischen Muster der des Nucleus tractus solitarius im verlängerten Mark, wo die
Erregungszunahme einzelner afferenter Nervenfasern auch über die afferenten Fasern einlaufenden Erregungen auf ein
19 als die Geschmacksprofile dieser Fasern. zweites Neuron übertragen werden. Der Nucleus tractus
Die entscheidende Information über die Geschmacks- solitarii ist außerdem ein wichtiger Kern für die Verarbei-
qualität und -intensität ist also nicht in einer einzelnen tung viszeraler Information. In seinen kaudalen Teil laufen
19.3 · Wahrnehmungspsychologie des Geruchssinns
447 19

Geschmacksempfindung (Box 19.1), die im präfrontalen,


besonders orbitalen Frontalkortex erfolgt.

Verbindungen zum limbischen System


Eine weitere, nur schematisch in . Abb. 19.4 eingezeichnete
Geschmacksbahn verläuft aus dem Hirnstamm über das
Brückenhirn (Pons) zum limbischen System, speziell zur
Amygdala und zum Hypothalamus. Dort trifft sie auf
gemeinsame Projektionsgebiete mit olfaktorischen Ein-
gängen. Diese Verbindungen sind besonders wichtig für
die affektiven, hedonischen (lustvollen) Komponenten der
Geschmackswahrnehmung.
G Die Geschmacksinformation wird über die afferen-
ten Nervenfasern zum Nucleus tractus solitarius und
von dort zum Gyrus postcentralis, der Insel (Insula)
und zum Hypothalamus übertragen; dort hat sie
gemeinsame Projektionsgebiete mit dem Geruch.

19.3 Wahrnehmungspsychologie
. Abb. 19.4. Zentralnervöse Bahnen des Geschmackssinns am des Geruchssinns
Beispiel der linken Zungenhälfte. Beschreibung der einzelnen Sta-
tionen der Geschmacksbahn im Text. Die kontralaterale Projektion, die
möglicherweise gleichstark oder stärker als die ipsilaterale ausgeprägt 19.3.1 Geruchsqualitäten und die
ist, ist zur besseren Übersichtlichkeit weggelassen. Zusätzlich sche- Eigenschaften des Geruchssinns
matisch angegeben sind die Verbindungen der Geschmacksbahn aus
dem Brückenhirn des Hirnstamms zum limbischen System und zum Duftklassen (Primärgerüche)
Hypothalamus
Das menschliche Geruchssystem kann Tausende verschie-
dener Duftstoffe unterscheiden. Im Unterschied zur Ge-
nämlich afferente Erregungen aus den Darmeingeweiden, schmackpsychologie gelingt es der subjektiven Riechphy-
der Lunge und dem Herz-Kreislauf-System ein, die von siologie bisher nicht, Geruchsqualitäten scharf gegenein-
dort zu mehr rostral gelegenen Hirnstammkernen weiter- ander abzugrenzen. Allen Versuchen, solche Qualitäten zu
geleitet werden (Abschn. 26.2). definieren, haftet etwas Willkürliches an. Die Unsicherheit
der Abgrenzung ist schon daraus zu ersehen, dass die An-
Thalamische und kortikale Geschmacks- zahl der Primärgerüche oder Duftklassen von den ver-
repräsentation schiedenen Autoren sehr unterschiedlich angegeben wird.
Die Axone der die Geschmacksinformation tragenden Heute geht man davon aus, dass es mindestens 7 Primärge-
Neurone der Pars gustatoria des rostralen Nucleus tractus rüche gibt, die durch »Standarddüfte« gekennzeichnet wer-
solitarii ziehen als Teil eines Lemniscus medialis genannten den können (. Tabelle 19.3, in der Tabelle, die auf einen
Faserzugs in den ventralen Thalamus. Dort enden die Vorschlag von Amoore, 1952, zurückgeht, fehlt die Duft-
Axone an Neuronen des Nucleus ventralis posteromedialis. klasse »Schweißig«). Diese Geruchsempfindungen werden
Sie bilden dort einen eigenen, nur dem Geschmack vorbe- über die Riechzellen des Geruchsorgans vermittelt (Ab-
haltenen »Unterkern« aus besonders kleinzelligen Neuronen. schn. 19.4.1). Gerüche sind nicht nur viel schwerer zu be-
Von hier wird über die Axone dieser Neurone die Verbin- nennen als Geschmacksreize, sondern adaptieren auch viel
dung mit der Großhirnrinde hergestellt. rascher (7 unten) und sind kaum örtlich zu lokalisieren,
Die kortikalen Geschmacksfelder liegen im lateralen wenn nicht Zusatzreize aus anderen Sinnen vorhanden
Bereich des Gyrus postcentralis, ventral und rostral der so- sind.
matosensorischen Repräsentation der Zunge (. Abb. 14.11 Zusätzlich führen manche Stoffe zu stechenden oder
in Abschn. 14.4.2). Dort erfolgt die Analyse der sensorisch- brenzligen Geruchsempfindungen. Diese Reize werden
diskriminativen Komponente des Geschmacks, vergleich- nicht vom eigentlichen Geruchsorgan, sondern von freien
bar der bereits beim Schmerz beschriebenen Funktionsauf- Nervenendigungen des Nervus trigeminus (V. Hirnnerv)
teilung. Ein weiteres kortikales Geschmacksareal, das auch aufgenommen, der die gesamte Schleimhaut der Nasen-
in . Abb. 19.4 gezeigt ist, liegt in dem Insula genannten höhle innerviert. Im Rachenraum sprechen auch afferente
Hirnrindenbereich. Die anteriore Insula ist ein Teil des Nervenfasern des Nervus glossopharyngeus (IX. Hirn-
Frontalkortex und liegt versteckt unter dem vorderen nerv) und des Nervus vagus (X. Hirnnerv) auf Geruchs-
Temporalkortex. Hier beginnt die emotionale Analyse der reize an.
448 Kapitel 19 · Geschmack und Geruch

. Tabelle 19.3. Merkmale zur Kennzeichnung von Duftklassen


Duftklasse Bekannte repräsentative Riecht nach »Standard«
Verbindungen
Blumig Geraniol Rosen d-1-β-Phenyläthylmethylcarbinol
Ätherisch Benzylacetat Birnen 1,2-Dichloräthan
Moschusartig Moschus Moschus 1,5-Hydroxypentadecansäurelacton
Campherartig Cineol, Campher Eukalyptus 1,8-Cineol
Faulig Schwefelwasserstoff Faulen Eiern Dimethylsulfid
Stechend Ameisensäure, Essigsäure Essig Ameisensäure

G Beim Menschen geht man von etwa 10.000 unter- Im übrigen ist das Riechvermögen von einer Reihe von
scheidbaren Düften aus, die sich verbal nur schwer Umgebungsfaktoren abhängig. Es verschlechtert sich bei
differenzieren lassen. Die Düfte werden daher auf niedriger Temperatur, bei trockener Luft und bei Rauchern.
Grund verschiedener Kriterien in 7 Duftklassen ein- Auch hormonelle Einflüsse, z. B. Verschlechterung wäh-
geteilt. rend der Menstruation, sind bekannt. Bei Hunger sinkt die
Schwelle für bestimmte Duftstoffe und steigt bei Sattheit
signifikant an.
Wahrnehmungs-, Erkennungs- und Unterschieds-
schwelle G Gerüche werden bei geringer Duftstoffkonzentration
zunächst unspezifisch wahrgenommen (Wahrneh-
Unsere Geruchsschwellen sind äußerst niedrig. Wir
mungsschwelle) bevor sie bei höherer Konzentration
können schon die Anwesenheit von nur 108 Molekülen
identifiziert werden können (Erkennungsschwelle).
eines Geruchsstoffes in einem Raum entdecken. Dabei
Die Unterschiedsschwellen für Düfte sind hoch.
ist der menschliche Geruchssinn nicht einmal das emp-
findlichste Geruchssystem im Tierreich. Ein Hund ist
beispielsweise viel geruchsempfindlicher. Er kann ohne Empfindungsstärke und Adaptation
weiteres darauf trainiert werden, den individuellen Ge- Wie bei anderen Sinnesmodalitäten auch, folgt bei über-
ruch einer einzelnen Person exakt zu erkennen. Noch schwelligen Duftreizen die Empfindungsstärke E der Reiz-
geruchsempfindlicher sind z. B. Aale. Sie können im intensität S, also der Konzentration des Duftstoffes, gemäß
Verhaltensversuch den für uns »blumig« riechenden der Stevens-Potenzfunktion (Abschn. 14.5.2).
β-Phenyläthylalkohol noch bei Konzentrationen fest-
stellen, die einer Lösung von 1 ml dieses Duftstoffes in E = k × Sn.
einer Wassermenge vom 58-fachen Volumen des Boden-
sees entspricht. Benützt man zur Darstellung dieser Beziehung ein doppelt-
Bei sehr geringen Konzentrationen eines Duftstoffes ist logarithmisches Koordinatensystem, so ergibt sich, wie
die Geruchsempfindung unspezifisch: Wir können nur . Abb. 19.5 zeigt, eine Gerade, deren Steilheit ein Maß für
wahrnehmen, dass es riecht, aber den Geruch nicht deutlich das Anwachsen der Empfindungsstärke im Vergleich zur
identifizieren. Dies gelingt erst bei höheren Duftstoffkon- Zunahme der Konzentration ist. Der Exponent n, der die
zentrationen. So wird Skatol (β-Methylindol, entsteht im Steilheit angibt, liegt für den Geruchssinn bei 0,5–0,6. Im
Darm aus der Aminosäure Tryptophan und verleiht dem Vergleich zu anderen Sinnesmodalitäten ist die Steigung
Kot seinen typischen Geruch) bei niedrigen Konzentra- der Geraden und die Größe des Exponenten eher gering
tionen keineswegs als unangenehm riechend empfunden, (7 auch die beträchtliche Unterschiedsschwelle oben). Die
erst ab einer gewissen Grenze manifestiert sich der typische relative Empfindungsstärke steigt also beim Geruchssinn
widerwärtige Geruch dieser Substanz. Es lässt sich also eher langsamer an als bei anderen Sinnesmodalitäten.
beim Riechen eine Wahrnehmungsschwelle von einer Aus der alltäglichen Erfahrung ist uns gut bekannt, dass
Erkennungsschwelle abgrenzen. es beim längeren Andauern eines Geruchsreizes sehr rasch
Die Unterschiedsschwelle gibt an, um wieviel sich die zu einer Minderung der Empfindungsstärke kommt. In
Konzentrationen zweier Proben desselben Duftstoffs vielen Fällen ist diese Adaptation so vollständig, dass wir
unterscheiden müssen, um in unterschiedlicher Intensität den Duftstoff schon nach kurzer Zeit nicht mehr erkennen
19 empfunden zu werden. Sie liegt bei etwa 25%, was z. B. im können. Gleichzeitig lässt sich auch eine Kreuzadaptation
Vergleich zum Sehen ein sehr schlechter Wert (etwa um den für verwandte Duftstoffe feststellen, die aber in der Regel
Faktor 100) ist. weniger stark ausgebildet ist.
19.3 · Wahrnehmungspsychologie des Geruchssinns
449 19

ge hat eine Knochenmarkstransplantation erhalten. Eigen-


und Familiengeruch sind in der Lage, Mutter-Kind-Bezie-
hung, Partnerwahl, Inzestschranke oder die Fehlgeburten-
rate zu beeinflussen.

Hedonik und die emotionelle Komponente


der Düfte
Die Hedonik, also die subjektive Bewertung eines Duftes als
angenehm oder unangenehm, ist für einige Düfte genetisch
determiniert. Viele Naturdüfte wirken positiv, der Geruch
von faulem Fleisch erscheint dagegen negativ. Für die meis-
ten Düfte wird die Hedonik erlernt (7 unten).
Die unten in Abschn. 19.4.3 beschriebene direkte Ver-
bindung des Geruchssystems mit dem limbischen System
erklärt die starke emotionale Komponente des Geruchssin-
nes. Die vertraute Redewendung »jemanden nicht riechen
können« gibt einen Hinweis auf diesen Aspekt der Geruchs-
wahrnehmungen. Die enge Verbindung mit dem Hypotha-
lamus ist in ihrer biologischen Bedeutung nicht vollständig
. Abb. 19.5. Abhängigkeit der Empfindungsstärke des Geruchs- klar (7 jedoch auch unten). Für verschiedene Säugetiere
sinns von der Duftstoffkonzentration. Als Beispiel dient der Riech- gilt, dass Erregungen, die über diese Bahnen einlaufen, zur
stoff Pentanol. Im Vergleich zu anderen Sinnesmodalitäten ist der An-
Steuerung des Fortpflanzungsgeschehens beitragen (Phero-
stieg der Empfindungsstärke eher gering
monkommunikation, Kap. 26).
In diesem Zusammenhang ist der Befund wichtig, dass
Sinneszellen und Neurone der Riechbahn von Steroid-
G Die Empfindungsstärke bei ansteigender Duftstoff- hormonen beeinflusst werden. Bei Nagetieren wirken
konzentration folgt der Reizstärke mit einer Stevens- Östradiol, Testosteron und Aldosteron auf verschiedenen
Potenzfunktion, wobei der Exponent bei n=0,5–0,6 Ebenen des Systems. Dabei dürfte auch die Reaktionsfä-
liegt, also klein ist. Der Geruchssinn adaptiert stark, higkeit auf Pheromone gesteigert werden, also auf Duft-
auch bei lediglich ähnlichen Duftstoffen (Kreuzadap- stoffe, die vom Sexualpartner ausgehen. Beim Menschen
tation). kann Androsteron, ein Duft aus dem Achselschweiß des
Mannes, den Zyklus der Frau synchronisieren. Ansonsten
spielt beim Menschen die Pheromonkommunikation für
19.3.2 Biologische und psychologische Sexualverhalten eine weniger bedeutsame Rolle als im Tier-
Bedeutung des Riechens reich.

Duftstoffe als Signalstoffe Geruchs- und Geschmacksaversionslernen


Duftstoffe übernehmen in den wechselseitigen Beziehun- Beim Menschen können durch manche unangenehme Ge-
gen von Gruppen und Individuen eine wichtige Funktion rüche Schutzreflexe, wie z. B. Nies- und Würgereflexe, aus-
als Signale. Die Gruppenzugehörigkeit eines Individuums gelöst werden. Stechend riechende Substanzen, wie z. B.
kann durch ein Duftabzeichen ebenso mitgeteilt werden, Ammoniak, können reflektorischen Atemstillstand verur-
wie ein Revierinhaber das von ihm besetzte Territorium sachen. In diesem Zusammenhang ist wichtig, dass die enge
mit Hilfe von Duftmarken abgrenzen kann. Neugeborene anatomische Verbindung des Geruchs- und Geschmacks-
erkennen die Mutterbrust mit Hilfe eines Duftes, der von sinns mit dem limbischen System und dem Hypothalamus
den Drüsen um die Brustwarzen abgegeben wird, und sie den beiden Systemen eine Sonderstellung in Lernprozes-
können den Duft der eigenen Mutter von dem einer Frem- sen verleiht: Während bei allen Versuchen zum klassischen
den unterscheiden. Konditionieren (Kap. 25) das optimale Intervall zwischen
Bei jedem von uns ist sein Eigengeruch genetisch de- neutralem konditionalen Reiz (CS, z. B. Ton) und unkondi-
terminiert. Er basiert auf der immunologischen Selbst/ tionalem Reiz (US, z. B. Schmerzreiz) von einer halben Se-
Fremderkennung und ist mit dem Haupthistokompatibi- kunde bis maximal eine Minute beträgt, kann bei Geruchs-
litätskomplex (Abschn. 9.1.2, Komplementsystem) gekop- und Geschmacksreizen das CS-US-Intervall bis zu Stunden
pelt. Je näher verwandt, desto ähnlicher ist der Eigengeruch. ausgedehnt werden. Trotz dieser langen Intervalle kommt
Dies ist die Basis für den Familiengeruch. Eineiige Zwillin- es zu einer konditionierten Reaktion (CR, z. B. Ekel) auf
ge können auch von speziell trainierten Tieren nicht mehr einen neutralen Reiz (CS, z. B. Umgebung der Nahrungs-
am Geruch unterschieden werden, außer einer der Zwillin- aufnahme). Viele Menschen behalten beispielsweise die
450 Kapitel 19 · Geschmack und Geruch

Aversion auf Fischgeruch (CS) ein Leben lang bei, wenn 19.4 Bau, Funktion und Verschaltung
sie einmal verdorbenen Fisch (US) konsumiert hatten, der des Riechsystems
Stunden später zu Erbrechen (UR, unkonditionierte Reak-
tion) führte. 19.4.1 Lage, Bau und nervöse Versorgung
Im Bereich der Medizin stellt diese Art von Konditionie- des peripheren Riechorgans
rung ein Problem in der Bestrahlungstherapie von Krebs-
geschwülsten dar: Röntgenstrahlung und andere Strah- Lage und Bau der Riechzellen
lungsarten stellen wirksame US dar, die offenbar Geschmacks- Der Geruchssinn nimmt in Riechzellen genannten Senso-
sensoren oder deren zentrale Verschaltung so reizen, dass ren seinen Anfang, die tief in der Nasenhöhle liegen. Beim
die Patienten eine ausgeprägte Ekelaversion gegen alles ent- Menschen sind die Riechzellen auf ein kleines, bräunlich-
wickeln, was mit der Behandlung zusammenhängt, ein- gelb aussehendes Schleimhautareal beschränkt, das Riech-
schließlich der gedanklichen Vorstellung und Antizipation epithel, das auf jeder Seite etwa 5 cm2 der hinteren, oberen
der nächsten Behandlung. Nasenhöhle bedeckt (. Abb. 19.6a). Es enthält 10–30 Mio.
Riechzellen. Das Riechepithel enthält, darin ähnlich den
G Duftstoffe dienen als Duftabzeichen und Duftmar- Geschmacksknospen (. Abb. 19.1b), 3 Zelltypen: Riech-
ken, Individuen haben einen Eigengeruch, ebenso zellen (die eigentlichen Sensoren), Stützzellen und Basal-
Familien. Duftstoffe beeinflussen auch das Fort- zellen (. Abb. 19.6b).
pflanzungsverhalten und hormonelle Steuerungen. Die Riechzellen sind, anders als die Schmeckzellen (die
Die Hedonik der Gerüche ist teils angeboren, teils sekundäre Sinneszellen sind, Abschn. 19.2.1), spezialisierte
erlernt. bipolare Nervenzellen mit kurzen, dicken dendritischen

Box 19.2. »Prepared« (vorbereitetes) Lernen und Geruchs- und Geschmacksaversionen


Der Konditionierungserfolg hängt sowohl von der Art des
CS wie des US ab. Die Abbildung illustriert dies an einem
Experiment von John Garcia (daher auch Garcia-Effekt
genannt). In a (linke Spalte) trinkt die Ratte süßes Wasser
in Gegenwart von Licht und Lärm. Danach erhält sie
einen schmerzhaften Reiz auf die Pfote (b). Danach trinkt
sie das süße Wasser nur mehr, wenn das Licht und der
Lärm abwesend sind (c).
In d (rechte Spalte) folgt auf das Trinken des süßen
Wassers Röntgenbestrahlung (e), welche nach einer
halben bis Stunde später zu Erbrechen führt. Diese Tiere
tranken nie wieder süßes Wasser, egal ob Licht oder Lärm
vorhanden war, sondern nur normales Wasser (auch wenn
Licht und Lärm vorhanden, f).
Dies zeigt, dass die Tiere in d, e und f eine gastrointes-
tinale Reaktion (Übelkeit) bevorzugt mit einer anderen
körperinternen Reaktion, dem süßen Geschmack asso-
ziierten, während die Tiere in a, b und c lernten, einen
sensorischen (Licht, Lärm) mit einem anderen sensori-
schen Reiz (Schmerz auf Pfote) zu verbinden (eine sog.
»Prepared«-Assoziation). Das Experiment zeigt weiter,
dass bei Reizen, die auf das gastrointestinale System,
Geruch und Geschmack wirken, sehr lange CS-US-Ab-
stände existieren können und trotzdem sehr stabile, oft
lebenslange assoziative Verbindungen gelernt werden
(»preparedness«).
Die gelb unterlegte Markierung E der linken Ratte
steht für »elektrischen Schock«, das rot unterlegte X
rechts für »Röntgenstrahlen« (engl. x-rays).
19
19.4 · Bau, Funktion und Verschaltung des Riechsystems
451 19

Box 19.3. Gehirn und Schokolade


Die Abbildungen a bis c zeigen Durchblutungsänderun- offensichtlich die Aversion. Diese Regionen behalten den
gen des menschlichen Gehirns während die Versuchs- Belohnungswert oder Bestrafungswert antizipatorisch im
personen Schokolade aßen. Als Vergleichsbedingungen Arbeitsgedächtnis und bestimmen die Richtung unseres
dienten die Einnahme und der Geschmack von Wasser Verhaltens, also Annäherung oder Vermeidung einer mit
sowie Zungen- und Kaubewegungen. Es zeigt sich bei positiver/negativer Verstärkung assoziierten Situation. Die
diesen Messungen ein neuronales Netzwerk gustatori- Schnittebene von b ist in c mit einer gestrichelten Linie
scher Areale, wobei jedes Areal eine Teilfunktion in der und einem Pfeil markiert.
Geschmackswahrnehmung übernimmt. Dies ist vergleich-
bar mit der Multidimensionalität der Schmerzempfin- Literatur: Small D, Zatorre R., Dagher A, Evans A, Jones-Gotman
dung; die sensorisch-diskriminative Komponente (»süß- M (2001) Changes in brain activity related to eating choco-
bitter«) im postzentralen Kortex ist hier nicht eingezeich- late. Brain 124:1720–1733
net (. Abb. 19.4 und 19.9).
a Primäres kortikales Projektionsareal für Geschmack a
und Geruch: koronaler Schnitt durch die vordere Insel,
wo der Geschmack und Belohnungswert repräsentiert
sind, beide, sensorische (»bitter«, »süß«, »sauer«) und
affektive Analyse (gut, schlecht), überlappen sich hier
(7 Anfärbung). Die Information über den affektiven Wert
des wahrgenommenen Reizes kommt aus den mit der
Insel verbundenen präfrontalen Regionen (c).
b Kortikale Repräsentation von Hunger und Sätti-
gung: koronarer Schnitt mit Durchblutungsänderung im
b
Thalamus, ventralen Tegmentum und Striatum, die an der

Aus Small D et al (2001). Mit freundlicher Genehmigung der Oxford University Press.
Motivation und motorischen Steuerung des Essvorgangs
beteiligt sind. Anstieg der Aktivierung im Striatum löst
Nahrungssuche und Essen aus, mit Sättigung sinkt die
Aktivierung im Striatum.
c Sekundäres »emotionales« kortikales Projektions-
areal für Geschmack und Geruch: sagittaler Schnitt und
Durchblutungsänderung in der subkallosalen Region und
im mediodorsalen Orbitofrontalkortex (vorne rot), die die
affektive Bewertung und Reiz-Belohnungs-Assoziation re-
präsentieren. Der laterale Orbitofrontalkortex wird mit zu- c
nehmender Sättigung und Aversion aktiviert, der mediale
mit zunehmendem Belohnungswert (»incentive«, Anreiz-
wert des Essens, Kap. 26). Wenn die Schokolade nicht
mehr schmeckt, weil die Person gesättigt ist, steigt die
Aktivierung im lateralen und nicht im medialen Orbital-
kortex; der laterale Orbitalkortex repräsentiert

Fortsätzen in Richtung Schleimhautoberfläche (dort senden weit wir wissen, handelt es sich bei ihnen um die einzigen
diese Dendriten zahlreiche Zilien in die Schleimhaut) und Nervenzellen im erwachsenen Nervensystem, die zu regel-
jeweils einem langen Fortsatz, der als unmyelinisiertes Axon mäßiger mitotischer Zellteilung fähig sind. Jede sich neu
zentralwärts (zum Bulbus olfactorius 7 unten) zieht. entwickelnde Riechzelle muss ihren Dendriten zur Riech-
schleimhaut und ihr Axon in die Gegenrichtung zum Bul-
Lebensdauer der Riechzellen bus olfactorius senden.
Der Mensch besitzt zwischen 10 und 100 Millionen Riech-
zellen. Wie die Geschmackssinneszellen haben sie nur eine G Die Riechzellen des Riechepithels sind bipolare
kurze Lebensdauer. Alle 60 Tage werden sie aus den Basal- primäre Sinneszellen; ihre kurzen dendritischen
zellen neu gebildet. Diese rasche Zellmauser der Riech- Fortsätze enden in der Riechschleimhaut, die langen
zellen ist umso beachtenswerter, als sie – anders als die axonalen ziehen nach zentral (in den Bulbus olfacto-
Schmeckzellen – Nervenzellen mit einem Axon sind. So- rius). Ihre Lebensdauer liegt bei 60 Tagen.
452 Kapitel 19 · Geschmack und Geruch

19.4.2 Arbeitsweise der Riechzellen


und des Bulbus olfactorius

Transduktion und Transformation


in den Riechzellen
Wie beim Geschmackssinn beginnt die Transduktion in
den Riechzellen damit, dass sich in der Schleimschicht des
Riechepithels Riechstoffmoleküle an spezielle Rezeptor-
moleküle der Zilienmembranen binden. Die Bindung eines
Riechstoffmoleküls an ein Rezeptormolekül öffnet dann
über eine intrazelluläre Signalkaskade Ionenkanäle für
kleine Kationen (Natrium, Kalium). Dies ist beispielhaft in
. Abb. 19.7a zu sehen.
Die intrazelluläre Signalkaskade besitzt einen großen
Verstärkungsfaktor, so dass ein einziges Duftmolekül viele
Ionenkanäle öffnen kann (dies erklärt die sehr niedrigen
Schwellenwerte für manche Duftstoffe). Durch die resultie-
renden Ionenflüsse kommt es zu einem depolarisierenden
Sensorpotenzial.
Die Riechzellen sind spontan aktiv. Durch das depola-
risierende Sensorpotenzial wird die Frequenz der Aktions-
potenziale entsprechend erhöht. Diese Transformation des
Sensorpotenzials in fortgeleitete Aktionspotenziale findet
wahrscheinlich am Übergang der Riechzelle in ihr Axon
statt.
Alle am Transduktionsprozess beteiligten Moleküle,
nämlich Rezeptormolekül, G-Protein und Ionenkanal sind
inzwischen isoliert und sequenziert. Es gibt eine mehrere
hundert Mitglieder umfassende Genfamilie auf den Chro-
mosomen 11, 17 und 19 für solche Rezeptorproteine, die in
ihrer molekularen Struktur sehr ähnlich sind. Jede Riech-
zelle stellt vermutlich nur einen oder wenige Typen von
Rezeptorproteinen her, so dass es Tausende von Spezialis-
ten unter den Riechzellen gibt.
. Abb. 19.6a, b. Lage, Aufbau und nervöse Versorgung des Riech-
G Die Transduktion in den Riechzellen läuft über eine
epithels. a Lage des menschlichen Riechepithels (Regio olfactoria) in
der Gegend der oberen und mittleren Conche der lateralen (seitlichen) intrazelluläre Botenstoffkaskade mit einem großen
Nasenwand. Die von den Riechzellen fortführenden Axone ziehen als Verstärkungsfaktor. Das resultierende Sensorpoten-
Fila olfactoria durch die knöcherne Lamina cribosa (Siebbein) und zial erhöht die Frequenz der spontan aktiven Riech-
danach gemeinsam als Nervus olfactorius zum Bulbus olfactorius (mit zellen. Jede Riechzelle besitzt viele unterschiedliche
anderen Worten, die Fila olfactoria bilden nach ihrem Durchtritt durch
Riechrezeptoren.
das Siebbein in ihrer Gesamtheit den Nervus olfactorius, der nach
sehr kurzem Weg in den Bulbus olfactorius eintritt und dort endet,
vgl. auch . Abb. 19.8). Dort bilden die Riechzellneurone Synapsen auf Abgestufte Selektivität der Riechzellen,
den Mitralzellen (. Abb. 19.8, 19.9). b Der Aufbau des Riechepithels
nach mikroskopischen Beobachtungen in 2 verschiedenen Vergröße-
Entstehung von Geruchsprofilen
rungen. Die Riechzellen enden mit den Zilien ihres dicken dendriti- Ähnlich wie beim Geschmackssinn besitzen daher auch
schen Fortsatzes in der Schleimschicht des Riechepithels. Die dünnen die Riechzellen eine unvollkommene Spezifität oder abge-
axonalen Fortsätze vereinigen sich zu den Fila olfactoria (7 oben) stufte Selektivität für bestimmte Klassen von Duftstoffen,
so dass sie auf Reizung mit entsprechenden Geruchspro-
filen (. Abb. 19.3, Geschmacksprofile), also individuellen
Reaktionsspektren, antworten. Für diesen Kodierungs-
mechanismus und damit für die Existenz von Rezeptions-
orten an den Riechzellen, die nur bestimmte Stoffgruppen
19 binden, sprechen neben den Ergebnissen elektrophysiolo-
gischer Ableitungen von einzelnen Riechzellen bei Wirbel-
tieren auch Fälle von partieller Anosmie beim Menschen
19.4 · Bau, Funktion und Verschaltung des Riechsystems
453 19

(Box 19.4). Bei solchen partiellen Riechunfähigkeiten wird


nur eine begrenzte Zahl von chemisch nah verwandten Ge-
rüchen nicht mehr wahrgenommen.
Die Riechsinneszellen von Insekten lassen sich mit
Mikroelektroden weit besser untersuchen als die Riechzellen
von Wirbeltieren (. Abb. 19.7b, c). Dabei sind auch Senso-
ren gefunden worden, die auf bestimmte Duftstoffe höchst
spezifisch reagieren. Außerdem ist es beim Seidenspinner,
einem Schmetterling, gelungen nachzuweisen, dass ein ein-
zelnes, auf die Membran einer Sinneszelle auftretendes Mo-
lekül des von den Weibchen erzeugten Lockstoffes ausreicht,
um ein fortgeleitetes Aktionspotenzial auszulösen.

Elektroolfaktogramm
Vom Riechepithel von Wirbeltieren können bei Duftreizung
langsame Potenziale komplexen Aufbaus von einigen Milli-
volt Amplitude abgegriffen werden. Diese Elektroolfakto-
gramme (EOG) sind wie Elektroretinogramme Summen-
potenziale. Die Analyse des EOG lässt allerdings keine
Aussagen über die Eigenschaften einzelner Sensoren zu.
G Ein normaler Duftreiz löst wegen deren mangelnder
Spezifität (abgestuften Selektivität) Antworten in
vielen Riechzellen aus, sodass es in den Axonen
der Riechzellen zur Kodierung der Geruchssignale
in Form von Geruchsprofilen kommt.

Box 19.4. Störungen des Geruchssinns


Diese kommen in vielfältiger Form vor. Fehlt der Ge-
ruchssinn vollständig, so spricht man von (genereller)
Anosmie (bei vielen Tierarten führt Anosmie zu
schweren Störungen des reproduktiven Verhaltens).
Bei einer partiellen Anosmie, von der oben schon die
Rede war, können einige Geruchsqualitäten wahrge-
nommen werden, andere nicht. Bei einer Hyposmie
ist die Geruchsempfindlichkeit herabgesetzt, entwe-
. Abb. 19.7a–d. Transduktion an Riechzellen. a Die Bindung eines
der für einige (partielle Hyposmie) oder für alle Riech-
Duftstoffmoleküls an ein spezifisches Rezeptorprotein (R) bewirkt
eine G-Protein-vermittelte Aktivierung (G) der Adenylatzyklase (AC), stoffe (vollständige oder generelle Hyposmie). Das
die einen Anstieg von cAMP in der Zelle hervorruft. cAMP kann direkt Gegenteil ist die generelle oder partielle Hyperosmie.
einen unspezifischen Kationenkanal in der Membran des Sinneszell- Auch Fehlwahrnehmungen, Parosmien, und Geruchs-
dendriten öffnen. b Schema der Entnahme eines Membranfleckchens wahrnehmungen ohne Vorhandensein von Riech-
aus dem Zilium einer Riechsinneszelle mit Hilfe der Patch-Clamp-
stoffen, also Geruchshalluzinationen, Phantasosmien,
Pipette. Die zytoplasmatische Seite der entnommenen Membran zeigt
nach außen (Inside-Out-Konfiguration). Auf diese Weise kann die Wir- kommen vor. Schließlich werden Geruchsagnosien
kung von Reizsubstanzen auf Rezeptor-Kanal-Komplexe der Membran- beobachtet, bei denen die fehlende Geruchswahrneh-
innenseite getestet werden. c Reaktion einer Riechsinneszelle auf mung nicht durch eine Störung der Geruchsaufnahme
Zugabe von Duftstoff. Nach kurzer Latenz (ca. 200 ms) erfolgt die Öff- und -verarbeitung, eine Sprachstörung oder ein intel-
nung von Ionenkanälen in der Zellmembran, die auf der Aktivierung
lektuelles Defizit verursacht zu sein scheint.
einer »Second-messenger«-vermittelten Transduktionskaskade be-
ruht. Die untersten Spuren zeigen cAMP-aktivierte Kationenkanäle in Fällt das gesamte Riechepithel aus, z. B. durch Ab-
höherer Zeitauflösung. d Kalziumeinstrom blockiert mit Hilfe von scheren der Fila olfactoria im Siebbein bei einem Unfall,
Kalzium-Calmodulin den cAMP-aktivierten Kationenkanal (Adapta- so bleiben die vom Nervus trigeminus vermittelten
tion). e Rezeptorpotenzial einer Riechzelle des Frosches, die mit stechenden und brenzligen Geruchsempfindungen
o- (oben) und p-Hydrobenzaldehyd (unten) stimuliert wurde. Zu be-
übrig, ebenso die aus dem Rachenraum möglichen
achten ist der große Wirkungsunterschied trotz der sehr ähnlichen
Struktur der Duftmoleküle Geruchsempfindungen, die von den Nn. glossopha-
ryngeus und vagus vermittelt werden (7 oben).
454 Kapitel 19 · Geschmack und Geruch

Diese auffallend großen Mitralzellen stellen das zweite


Neuron in der Riechbahn dar. Sie senden den Riechzellaxo-
nen einen großen Dendriten entgegen (D1 in . Abb. 19.8b).
Auf jede dieser kugeligen synaptischen Kontaktzonen, ge-
nannt Glomeruli, also auf eine Mitralzelle, konvergieren
etwa 1000 Riechzellaxone. Zwischen den Glomeruli – und
diese miteinander verbindend – liegen die periglomulären
Zellen, die ebenfalls Synapsen von den Riechzellaxonen er-
halten. Auf diese Weise ist eine erste Informationsverarbei-
tung schon innerhalb der Glomeruli möglich.
An den sekundären Dendriten der Mitralzellen (D2 in
. Abb. 19.8b) bilden Dendriten der Körnerzellen (grün)
ebenfalls in beiden Richtungen wirksame dendro-dendri-
tische Synapsen aus, über die die Impulsbildung in den
Mitralzellen kontrolliert werden kann, wobei die auf die
Mitralzellen wirkenden Synapsen hemmend wirken (dies
ist in gleicher Weise in den Glomeruli der Fall). Die Körner-
zellen stehen ihrerseits unter einer starken efferenten Kon-
trolle (lila in . Abb. 19.8b). Die efferenten Axone enden
aber nicht nur an den Körner-, sondern auch an den peri-
glomulären Zellen. Sie sind dementsprechend in der Lage,
die über die Fila olfactoria einlaufenden Erregungen über
2 Wege bereits auf der Ebene der Mitralzellen zu modu-
lieren.
Die wesentlichen Merkmale der Informationsverarbei-
tung im Nervennetzwerk des Bulbus olfactorius sind also
4 eine starke Konvergenz der Riechzellaxone auf die
Mitralzellen,
4 ausgeprägte Hemmechanismen und
4 eine efferente Kontrolle der einlaufenden Erregungen.
. Abb. 19.8a, b. Informationsverarbeitung im Bulbus olfactorius.
a Überblick über die Ein- und Ausgänge des Bulbus olfactorius. Die G Die Fila olfactoria ziehen als N. olfactorius (I. Hirn-
Fila olfactoria bilden nach ihrem Durchtritt durch das Siebbein nerv) zum Bulbus olfactorius, wo sie mit hoher Kon-
(Lamina cribrosa) in ihrer Gesamtheit den Nervus olfactorius (nicht be- vergenz an den Glomeruli der Mitralzellen enden.
schriftet), der nach sehr kurzem Weg in den Bulbus olfactorius eintritt Im Bulbus olfactorius findet mit Hilfe der periglo-
und dort endet. b Schichtenanordnung und neuronale Verschaltung
merulären und der Körnerzellen sowie efferenten
im Bulbus olfactorius. In den Glomeruli enden die Riechzellaxone (aus
dem N. olfactorius, 7 oben) an den primären (D1) Dendriten der Mit- Fasern bereits eine erste Verarbeitung der Geruchs-
ralzellen. Die periglomerulären Zellen ermöglichen eine laterale signale statt.
Modulation der Mitralzellen. Ebenso wie die Körnerzellen, die an den
sekundären Dendriten (D2) der Mitralzellen enden, vermitteln sie die
efferenten Zuflüsse in den Bulbus olfactorius (rechts oben eintretend). 19.4.3 Zentrale Signalverarbeitung
Die Richtung der synaptischen Übertragung ist durch Pfeile angege-
ben (Erregung blau, Hemmung rot) Zentrale Verarbeitung im Riechhirn
Den Ausgang des Bulbus olfactorius bilden die Axone der
Mitralzellen (. Abb. 19.8a, b), die als Tractus olfactorius
Verarbeitung der Geruchssignale zentralwärts ziehen. Ein Teil dieser Axone bildet, wie in
im Bulbus olfactorius . Abb. 19.8a zu sehen, rückläufige Kollateralen aus, die
Die oben schon mehrfach erwähnten unmyelinisierten über die vordere Kommissur als zentripetale Faser zum
axonalen Fortsätze der Riechzellen bilden beim Austritt aus kontralateralen Bulbus ziehen und sich dort an der efferen-
der Riechschleimhaut Bündel von 10–100 Axonen. Sie wer- ten Kontrolle (7 oben) beteiligen.
den Fila olfactoria genannt. Diese treten durch die feinen Der Tractus olfactorius endet in verschiedenen Gebie-
Löcher des knöchernen Siebbeines (Lamina cribosa) aus ten des Palaeokortex, die insgesamt als Riechhirn bezeich-
der Nasenhöhle aus, um zusammen als Nervus olfactorius net werden (. Abb. 19.9). Dazu gehören das Tuberculum
19 (er ist der I. Hirnnerv) zum Bulbus olfactorius zu ziehen olfactorium, die Area praepiriformis, ein Teil des Man-
(. Abb. 19.8 und 19.9), um dort synaptisch an den Mitral- delkerns (Corpus amygdaloideum) sowie die Regio ento-
zellen zu enden. rhinalis. Alle diese kortikalen Areale gehören zum Typ des
19.4 · Bau, Funktion und Verschaltung des Riechsystems
455 19

. Abb. 19.9. Verlauf und Verbindungen der Riechbahn. Den paläokortikalen Riechhirns. Erst von dort ziehen Verbindungen einer-
Ausgang des Bulbus olfactorius bilden die Axone der Mitralzellen seits über den Thalamus zum Kortex und andererseits zum limbischen
(. Abb. 21.8), die als Tractus olfactorius zentralwärts ziehen. Wie im System
Text beschrieben, endet dieser in den verschiedenen Anteilen des

dreischichtigen Allokortex, der wesentlich einfacher als der nehmen vom Riechhirn Bahnen zum limbischen System
sechsschichtige Neokortex aufgebaut ist (Abschn. 5.3.1). (Mandelkern, Hippokampus) ihren Ausgang. Von dort
Innerhalb dieser Riechhirnareale gilt die Area praepiri- werden auch Verbindungen mit den vegetativen Kernen des
formis (. Abb. 19.9) als das wesentliche Zentrum für die Hypothalamus und der Formatio reticularis des Hirnstam-
Geruchsdiskrimination. mes hergestellt. Die limbischen Anteile der Riechbahnen,
zusammen mit den orbitofrontalen, werden für die starke
G In den verschiedenen Arealen des Riechhirns endet
emotionale Komponente (hedonische Komponente) der
der Tractus olfactorius. Diese Areale gehören zum
Geruchswahrnehmungen verantwortlich gemacht. Der
dreischichtigen Allokortex. Die Geruchsdiskrimina-
thalamokortikale Anteil dürfte mehr mit sensorischen Ge-
tion findet hauptsächlich in der Area praepiriformis
ruchsdiskriminationen befasst sein.
des Riechhirns statt.
G Die Riechbahn führt vom Bulbus olfactorius über
Beteiligung von Thalamus, Neokortex wenige Schaltstationen zum Riechhirn und zum
und limbischem System Neokortex sowie zum limbischen System, zum Hypo-
thalamus und zur Formatio reticularis.
Die Verarbeitung der von den Riechzellen kommenden In-
formation endet aber nicht im Riechhirn. Wie alle anderen
Sinnesinformationen auch, wird die Riechinformation zum
einen über den Thalamus zum Neokortex geleitet. Wie
. Abb. 19.9 zeigt, nimmt diese Verbindung im Tuberculum
olfactorium ihren Ausgang. Sie zieht zum ipsilateralen dor-
somedialen Kern des Thalamus und von dort zum ipsi-
lateralen orbitofrontalen Neokortex. Zum anderen, hierin
gleicht der Geruchssinn dem Geschmackssinn (7 oben),
456 Kapitel 19 · Geschmack und Geruch

Zusammenfassung
Als die 5 Grundqualitäten des Geschmacks gelten: 5 hat Kollateralen, die zum limbischen System und zum
5 süß, Hypothalamus gehen.
5 sauer,
5 bitter, Düfte
5 salzig und 5 werden in 7 typische Duftklassen eingeteilt;
5 umami. 5 sind meist Duftgemische, in denen es charakteristi-
sche Leitdüfte gibt;
Als Nebenqualitäten des Geschmacks gelten: 5 können zu mehreren Tausenden unterschieden,
5 alkalisch (oder seifig) und aber oft nicht benannt werden;
5 metallisch. 5 werden bei sehr geringer Konzentration zunächst nur
wahrgenommen und erst bei höherer Konzentration
Die Geschmacksqualtitäten erkannt;
5 sind auf der Zungenoberfläche ohne eindeutige 5 haben eine sehr ausgeprägte Adaptation.
Topographie angeordnet;
5 haben Wahrnehmungsschwellen, die besonders für Als Hauptaufgaben des Geruchssinns gelten
bittere und saure Stoffe sehr niedrig sind; 5 seine Rolle als Duftabzeichen, Duftmarken, Eigen-
5 zeigen eine deutliche Adaptation. und Familiengeruch etc. im Bereich der sozialen Be-
ziehungen,
Als Hauptaufgaben des Geschmacksinns gelten: 5 seine Rolle bei der Steuerung der Fortpflanzung,
5 Prüfung der Nahrung auf Verträglichkeit, bei beson- 5 seine ausgeprägte angeborene und erlernte Hedonik
ders hoher Empfindlichkeit für (giftige) Bitterstoffe; und
5 antizipatorische und reflektorische Anregung und 5 seine Schutzfunktion gegen aversive Geruchsreize.
Steuerung der Sekretfreisetzung durch die Verdau-
ungsdrüsen; Die Riechzellen
5 seine psychophysiologische Rolle als primärer positi- 5 sind primäre Sinneszellen, die auf das Riechepithel
ver Verstärker oder als primärer Bestrafungsreiz: Die der Nase begrenzt sind;
Reaktionsmuster auf Geschmacksreize sind teils an- 5 haben zentrale Axone, die als Fila olfactoria zum Bul-
geboren, teils erworben. Geschmacksreize gelangen bus olfactorius ziehen;
direkt in positive oder negative Verstärkerzonen des 5 sind spontan aktiv;
Gehirns und stellen daher besonders wirksame Reize 5 haben Transduktionsmechanismen, die über sekun-
für dauerhaftes instrumentelles Lernen dar. däre Botenstoffe laufen und im Endeffekt die Spon-
tanfrequenz erhöhen;
Die Schmeckzellen 5 haben je nach ihrem Rezeptorbesatz eine abgestufte
5 sind in den Geschmacksknospen der Geschmacks- Selektivität.
papillen (Pilz-, Wall- und Blätterpapillen) wie Apfel-
sinenscheiben angeordnet; Die Verarbeitung der Geruchssignale
5 sind sekundäre Sinneszellen, die von afferenten 5 beginnt im Bulbus olfactorius, wo sie durch starke
Nervenfasern des VII. und IX. Hirnnerven innerviert Konvergenz, ausgeprägte Hemmprozesse und eine
werden. deutliche efferente Kontrolle gekennzeichnet ist;
5 Ihre afferenten Nervenfasern sind für mehrere, oft alle 5 setzt sich in den verschiedenen Arealen des Riech-
Geschmacksqualitäten empfindlich. hirns (Tuberculum olfactorium, Area praepiriformis,
5 Sie verschlüsseln die Information über die Ge- Regio entorhinalis) fort, die alle zum dreischichtigen
schmacksqualität im afferenten Impulsmuster, das Allokortex gehören;
daher auch als Geschmacksprofil bezeichnet wird. 5 schließt auch die Weiterleitung in den Thalamus und
den orbitofrontalen Neokortex ein;
Die Geschmacksbahn 5 findet auch im limbischen System, im Hypothalamus
5 führt über den Tractus solitarius und den Thalamus und in der Formatio reticularis statt.
überwiegend ipsilateral zur primär sensorischen
Hirnrinde und zur Inselregion;

19
Literatur
457 19
Literatur
Capaldi ED, Powley TL (eds) (1993) Taste, experience and feeding. Am
Psychol Ass, Washington
Fain GL (2003) Sensory transduction. Sinauer, Sunderland
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Schmidt RF, Lang F (Hrsg) (2007) Physiologie des Menschen, 30. Aufl.
Springer, Berlin Heidelberg New York Tokyo
Schmidt RF, Schaible H-G (Hrsg) (2006) Neuro- und Sinnesphysiologie,
5. Aufl. Springer, Berlin Heidelberg New York Tokyo
IV Funktionen des
Nervensystems
und Verhalten
20 Methoden der Biologischen
Psychologie – 459

21 Bewusstsein und Aufmerk-


samkeit – 495

22 Zirkadiane Periodik, Schlaf


und Traum – 535

23 Vererbung – 571

24 Entwicklung und Altern – 593

25 Plastizität, Lernen
und Gedächtnis – 619

26 Motivation und Sucht – 661

27 Emotionen – 711

28 Kognitive Prozesse (Denken) – 749

»Wer weiß, ob die Gedanken


nicht auch einen ganz winzigen Lärm machen,
der durch feinste Instrumente aufzufangen
und empirisch (durch Vergleich oder Experiment)
zu enträtseln wäre?«

Chr. Morgenstern
20

20 Methoden der Biologischen


Psychologie

20.1 Forschungsstrategien in den Neurowissenschaften – 460


20.1.1 Gehirn und Verhalten als unabhängige und abhängige Variablen – 460
20.1.2 Forschungsstrategien der Biologischen Psychologie – 460

20.2 Neuroanatomische und neurochemische Methoden – 461


20.2.1 Mikroskopie und Histologie – 461
20.2.2 Neurochemische Methoden – 463

20.3 Läsion und Reizung – 464


20.3.1 Stereotaxie – 464
20.3.2 Läsionsmethoden – 464
20.3.3 Elektrische und magnetische Reizung des Gehirns – 465

20.4 Elektro- und Magnetoenzephalogramm – 468


20.4.1 Oszillationen des Gehirns – 468
20.4.2 Physiologische Grundlagen von Hirnoszillationen – 469
20.4.3 Magnetoenzephalographie – 473
20.4.4 Rhythmen und Synchronisation – 474
20.4.5 Auswertung und Interpretation von EEG/MEG – 476

20.5 Ereigniskorrelierte Hirnpotenziale und Magnetfelder – 478


20.5.1 Messmethodik von ereigniskorrelierten Hirnpotenzialen – 478
20.5.2 Entstehung langsamer Hirnpotenziale und Magnetfelder – 480
20.5.3 Psychophysiologie langsamer Hirnpotenziale – 483

20.6 Bildgebende Verfahren – 483


20.6.1 Messung der Hirndurchblutung und
Positronenemissionstomographie – 483
20.6.2 Magnetresonanztomographie – 486
20.6.3 Optische Bildgebung – 491

Zusammenfassung – 492
Literatur – 493

N. Birbaumer, Biologische Psychologie, DOI 10.1007/978-3-540-95938-0_20,


© Springer Medizin Verlag Heidelberg 2010
460 Kapitel 20 · Methoden der Biologischen Psychologie

)) gegen meist die Methode b. Läsion und Stimulation des


Nervengewebes im Tierversuch (a) beherrschen die Ge-
Der amerikanische Psychologe Karl S. Lashley (1880–1958) schichte der Biologischen und Physiologischen Psycho-
trainierte Ratten, auf 2 Lichtreize mit 2 unterschiedlichen logie, während Registrierung von hirnelektrischen oder
Verhaltensweisen zu reagieren: Durch unmittelbare Beloh- magnetischen Prozessen bei Verhalten und Denkprozessen
nung der jeweils richtigen Reaktion lernten die Tiere rasch, (b) im Humanversuch in der Psychophysiologie dominiert.
beim Lichtreiz A mit der einen Pfote und beim Lichtreiz B Die Neuropsychologie steht methodisch zwischen Bio-
mit der anderen Pfote zu drücken. Danach zerstörte Lashley logischer Psychologie und Psychophysiologie; sie unter-
einen Großteil der Verbindungen zwischen den Großhirn- sucht Verhaltens- und Denkstörungen nach Läsionen und
arealen, indem er eine Vielzahl von Schnitten im Gehirn der Störungen des menschlichen Gehirns (Kap. 1). Mit der Ent-
Tiere anbrachte. Auch nach fast völliger Zerstörung der Ver- wicklung bildgebender Verfahren (Abschn. 20.6) wurde
bindungen und Kortexregionen konnten die Tiere das ge- eine neue Phase der Neurowissenschaften eingeleitet: Die
lernte Verhalten reproduzieren. Daraus und aus vielen an- Aktivität des gesamten lebenden menschlichen Gehirns
deren, ähnlichen Experimenten schloss Lashley, dass zu- kann ohne Eingriff während Verhaltens- und Denkpro-
mindest am Kortex keine speziellen »Zentren« für Lernen zessen studiert werden.
und Gedächtnis existieren, sondern dass alle Großhirn-
areale gleich (equi-) geeignet (-potenzial) für die Etablie- Hirnstrukturen und Hirnprozesse
rung von Gedächtnisspuren (Engrammen) seien. Dieser Während man bei der Strategie (a) in der Regel enge Zusam-
Auffassung einer Äquipotenzialität für Lernprozesse wurde menhänge zwischen einzelnen Hirnstrukturen und Verhal-
von 2 Neurochirurgen, W. Penfield und T. Rasmussen, ener- ten findet, berichten die Vertreter der Strategie (b) fast aus-
gisch widersprochen: Schon nach relativ kleinen Zerstö- schließlich Zusammenhänge zwischen Hirnprozessen und
rungen oder Reizungen in temporalen Regionen während Verhalten und weniger klare Beziehungen zu einzelnen ana-
Hirnoperationen an Patienten traten deutliche Gedächtnis- tomischen Regionen. Dies liegt natürlich daran, dass Mani-
störungen auf. Auch die Wiederholung der Eingriffe an pulation des physiologischen Substrats (a) fast immer an
Tieren erbrachte Ausfälle in der Lern- und Gedächtnisleis- einem oder mehreren Orten im Gehirn oder an einzelnen
tung. Betrachtet man diese Widersprüche rein theoretisch, Zellen erfolgt, während Strategie (b) Verhalten manipuliert
so erscheinen sie kaum auflösbar; Lokalisationisten und und an den meisten Verhaltensweisen – und seien sie noch
Vertreter der Äquipotenzialität standen einander im 19. so einfach – mehrere Hirnregionen oder Zellen beteiligt
und 20. Jahrhundert stets ohne gegenseitiges Verständnis sind, so dass man deren Abhängigkeit von bestimmten ana-
gegenüber. Dabei handelt es sich um einen Konflikt, der tomischen Konfigurationen leicht aus den Augen verliert
nur durch 2 verschiedene methodische Zugänge bedingt und sich bei Registrierung der abhängigen physiologischen
ist. Im Fall von Lashley unterbrach er die Verbindungen in- Variablen auf deren dynamischen Verlauf konzentriert.
nerhalb des Kortex, während die Neurochirurgen auch die
G Je nach methodischem Zugang konzentriert sich die
Verbindungen zu subkortikalen Regionen zerstörten.
Biologische Psychologie mehr auf die anatomischen
Orte oder auf die Dynamik von Hirnprozessen.
20.1 Forschungsstrategien
in den Neurowissenschaften 20.1.2 Forschungsstrategien
der Biologischen Psychologie
20.1.1 Gehirn und Verhalten als unab-
hängige und abhängige Variablen Interaktive Forschungsstrategien
. Abb. 20.1 gibt 4 verschiedene methodische Zugänge der
Manipulation und Registrierung Biologischen Psychologie wieder, die sich aus den beiden
Wir unterscheiden 2 methodische Zugänge zur Untersu- beschriebenen Forschungsstrategien ergeben. In der Realität
chung der Zusammenhänge zwischen physiologischen Pro- werden durch die hohe methodische Spezialisierung die
zessen und Verhalten: 4 Forschungsstrategien getrennt angewandt. Dies stellt das
a) Das physiologische Substrat wird als unabhängige Vari- größte Hindernis für ein tieferes Verständnis der Hirn-Ver-
able manipuliert und Verhalten als abhängige Variable haltens-Beziehung dar. Manchmal wird schrittweise von
gemessen. Strategie zu Strategie vorgegangen. Der Idealfall interdiszip-
b) Verhalten wird als unabhängige Variable manipuliert linärer und interaktiver Strategie (. Abb. 20.1d) ist selten.
und Veränderungen des physiologischen Substrats wer-
den als abhängige Variable gemessen. Beispiel: Intelligenztraining
Betrachten wir als Beispiel die Frage der biologischen
Biologische Psychologie und Neuropsychologie benutzen Grundlagen der Intelligenz (Abschn. 28.1): Zunächst stel-
fast ausschließlich Methode a, die Psychophysiologie da- len wir fest, dass bei Zerstörung oder Wachstumsverände-
20
20.2 · Neuroanatomische und neurochemische Methoden
461 20

G Die Herstellung kausaler Beziehungen zwischen Ge-


hirn, Körper und Verhalten erfordert die simultane
Erfassung und Beeinflussung von physiologischen
und psychologischen Variablen.

20.2 Neuroanatomische und


neurochemische Methoden

20.2.1 Mikroskopie und Histologie

Fixation und Färbung


Modifiziert nach Rosenzweig MR, Leiman LA, Breedlove SM (2005). Mit freundlicher Genehmigung von Sinauer.

. Tabelle 20.1 gibt die wichtigsten Größenverhältnisse im


Nervensystem wieder. Um Zellanhäufungen und Bahnen im
Lichtmikroskop sichtbar zu machen, ist erforderlich, das Ner-
vengewebe zu fixieren und zu färben. Fixierung wird benö-
tigt, um die postmortale Auflösung des Materials zu verhin-
dern. Dazu wird meist Formalin verwendet. Vor der Fixierung
wird das Blut in den Gefäßen durch eine andere Flüssigkeit
ersetzt; dieser Prozess wird Perfusion genannt. Nach dem
Fixieren kann das neuronale Gewebe mit einem Mikrotom in
Scheiben von 1–80 μm Dicke geschnitten werden. Vorher
muss das Nervengewebe gehärtet werden; dazu wird es ent-
weder in Paraffin getränkt oder gefroren. Die Schnitte werden
auf Glasplättchen fixiert und anschließend meist gefärbt.
Je nach Färbemethode werden entweder Zellkörper, Mye-
linscheiden oder Zellmembranen angefärbt (. Abb. 20.2).
Zur Zellkörperfärbung wird meist die Nissl-Färbung
(. Abb. 20.2c) verwendet: Methylenblau und andere Farben,
die auch zum Einfärben von Stoffmustern verwendet werden,
verbinden sich mit Zellproteinen und färben sie dunkler als
die myelinisierten Fasern. Zur Sichtbarmachung der mye-
liniserten Faseranteile werden andere Färbemittel verwendet,
. Abb. 20.1a–d. Die Forschungsstrategien der Biologischen
zur Membranfärbung die Golgi-Färbung. Dabei werden
Psychologie
Soma-, Axon- und Dendritenmembranen durch Salze ver-
schiedener Schwermetalle (meist Silber oder Schwärzung
rung einiger kortikaler Hirnregionen einzelne Intelligenz- mit Osmiumtetroxid) gefärbt (. Abb. 20.2).
aufgaben nicht mehr gelöst werden. Wir trainieren danach
diese Intelligenzaufgaben über viele Monate bei Kindern Elektronenmikroskopie
oder Tieren und messen die Durchblutungsänderung Eine mehr als 1500-fache Vergrößerung erbringt auf Grund
oder das Zellwachstum in den posterioren Hirnregionen. der Wellenlänge des sichtbaren Lichts keine Verbesserung
Danach beobachten wir über diesen Arealen charakteris- der Detailauflösung im Lichtmikroskop. Im Elektronenmik-
tische Unterschiede der elektromagnetischen Aktivität roskop wird ein Elektronenstrahl mit elektromagnetischen
zwischen intelligenten und weniger intelligenten Personen Feldern auf das extrem dünn geschnittene Präparat (<1 μm)
(. Abb. 20.14) und korrelieren diese miteinander. gerichtet, das den Elektronen einen gewissen Widerstand
Schließlich trainieren wir die elektromagnetische Akti- entgegensetzt. Hinter dem Präparat werden die verbliebenen
vität selbst, in dem wir spezifisch jene Hirnwellen produ- Elektronen auf einem photographischen Film aufgefangen.
zieren lassen, die die intelligenztypische Hirnaktivität über . Abb. 2.11d und e in Abschn. 2.3.3 geben elektronenoptische
den gewünschten Arealen vermehren. Erhöht sich danach Aufnahmen der Querschnitte dünner Nervenfasern wieder.
die Intelligenzleistung proportional, so haben wir mit großer Das Auflösungsvermögen liegt im Bereich von 0,1–1,5 μm,
Wahrscheinlichkeit einen von vielen möglichen kausalen damit kann man auch kleine Moleküle sichtbar machen.
Mechanismen aufgeklärt, nämlich, dass eine bestimmte
Konfiguration von Zellsystemen eine spezifische Hirnakti- G Nach Fixierung und Färbung des Nervengewebes
vität produziert, die zur Lösung von Intelligenzaufgaben kann es entweder lichtmikroskopisch oder elektro-
notwendig ist. nenmikroskopisch betrachtet werden.
462 Kapitel 20 · Methoden der Biologischen Psychologie

. Tabelle 20.1. Größenverhältnisse im Gehirn, Vergrößerungs- und Maßeinheiten

a b c
. Abb. 20.2a–c. Färbemethoden für Nervenzellen: a Golgi-Färbung, b fluoreszierender Farbstoff, c Nissl-Färbung

Degenerationsmethoden nungen auf. Die degenerierenden Axone werden wie bei der
Wenn ein Zellkörper zerstört oder ein Axon von diesem Golgi-Färbung präpariert. Dazu werden Materialien ver-
abgeschnitten wird, stirbt das Axon innerhalb von einigen wendet, die speziell degenerierende Axone anfärben.
Tagen bis Wochen ab. Dies wird anterograde Degenera-
tion genannt. Auch die Zellkörper und Dendriten schrump- Meerrettichperoxidase
fen meist nach dem Abtrennen ihres Axons; nach Läsionen Die Meerrettichperoxidase (MRP, »horseradish peroxidase«)
kommt es auch zu transsynaptischer Degeneration, d. h. ist ein Enzym, das spezifisch von den präsynaptischen
auch die postsynaptischen Neurone weisen Zerfallserschei- Endigungen der Axone (nicht von den Axonen selbst) auf-
20
20.2 · Neuroanatomische und neurochemische Methoden
463 20

genommen und von dort zum Zellkörper transportiert gehen chemische Prozesse voraus und auf elektrische Akti-
wird (retrograder axoplasmatischer Transport). MRP wird vität folgen neurochemische Änderungen. Der Hirnstoff-
in die interessierende Region eingespritzt, das Tier ca. 1 Tag wechsel benutzt als Energielieferant primär Glukose. Des-
danach getötet und das geschnittene Präparat auf MRP an- halb wird vor der Autoradiographie oft 2-Deoxyglukose
gefärbt. Für die angefärbten Somata gilt, dass ihre Axone (2-DG) in das Tier injiziert, weil es gut in die aktiven Zellen
zum Einspritzort der MRP projizieren und dort synaptisch aufgenommen wird. So kann man die vor dem Tod des
enden. Damit kann man also die Axone, die zu den interes- Tieres aktivsten Hirnregionen darstellen. Beim Menschen
sierenden Zellen hinführen, markieren. kann dies auch ohne Gewebsfixierung nach Injektion
oder Naseneinatmung radioaktiven 2-DGs und mit einer
G Degenerationsmethoden markieren jene Teile des
PET-Kamera (Positronenemissionstomographie) realisiert
Neurons, die nach Läsion absterben. Meerrettichper-
werden (Abschn. 20.6; . Abb. 20.21).
oxidase erlaubt die Färbung von Axon und Zellkörper.
G Bei autoradiographischen Methoden werden radio-
Immunhistochemische Färbungen aktive Substanzen in das Nervengewebe einge-
spritzt, die dort selektiv aufgenommen werden.
Immunhistochemische Methoden können sowohl am le-
Dadurch kann die radioaktive Strahlung lokal ge-
benden wie toten Präparat verwendet werden. Sie erlauben
messen werden.
v. a. die Beobachtung von Axonen. Dazu werden zunächst
spezifische Antikörper gegen unterschiedliche Zellbestand-
teile hergestellt. Der spezifische Antikörper bindet an sein Genaktivierung
Gewebsantigen (Kap. 9); der Ort dieser Antigen-Anti- In aktivierten Neuronen werden spezifische Gene im Zell-
körper-Reaktion kann dann mit Immunfluoreszenz oder kern exprimiert und Proteine produziert. Ein besonders
Immunhistochemie sichtbar gemacht werden. Die Immun- wichtiges Zellkernprotein wird Fos genannt, das ebenfalls
fluoreszenz bindet den Antikörper an ein fluoreszierendes autoradiographisch sichtbar gemacht werden kann.
Molekül, die Immunhistochemie bindet den Antikörper Mit der In-situ-Hybridisierung lassen sich im Prinzip
an eine chemische Verbindung (häufig wird das Ferment alle Peptide und Proteine sichtbar machen. Wie in Ab-
Peroxidase als Markierung verwendet), die im Licht- oder schn. 23.1 kurz beschrieben, wird die genetische Infor-
Elektronenmikroskop sichtbar ist. mation vom Chromosom auf ein Stück mRNS kopiert, das
Antikörper werden heute gentechnisch hergestellt; man den Zellkern verlässt und zum Ribosom wandert, wo das
nennt die für die Histochemie wichtigen Antikörper mono- Protein synthetisiert wird. Wenn man die Sequenz der Nu-
klonal. Monoklonale Antikörper werden über Klonierung kleotide der mRNS kennt, wird diese Sequenz hergestellt
hergestellt: Dabei wird aus Zellkulturen über Anregung der und radioaktiv markiert. Hirnschnitte werden dann der
Zellteilung ein Zellstamm (Klon) isoliert, der einen einzi- radioaktiven mRNS ausgesetzt und in den Zellen, wo das
gen Antikörper bildet (Kap. 23). jeweilige Protein synthetisiert wird, aufgenommen. Mit
Autoradiographie werden sie dann sichtbar gemacht.
G Immunhistochemische Methoden sind besonders
für die Darstellung von Axonen geeignet. Mikrodialyse
Zur Messung der Sekretion von Neurotransmittern in ein-
20.2.2 Neurochemische Methoden zelnen Hirnregionen im Tierversuch wird diese Technik
eingesetzt. . Abb. 20.3 illustriert das Prinzip: Eine künst-
Aminosäurenautoradiographie liche Membran in Form eines Zylinders wird in das interes-
Bei der Aminosäurenautoradiographie werden radioaktive sierende Gewebe eingeführt. Diese Membran ist nur für
Proteine (Definition »radioaktiv«, Abschn. 20.6) in die ex- eine bestimmte Molekülgruppe permeabel, z. B. Azetylcho-
trazelluläre Umgebung jener Nervenzellsysteme eines Ver- lin. Eine kleine Menge Flüssigkeit, die der extrazellulären
suchstieres eingespritzt, die interessieren. In den nächsten Flüssigkeit (Azetylcholin) äquivalent ist, wird durch das
1–2 Tagen werden die radioaktiv markierten Proteine in die innere Röhrchen gepumpt. Die Flüssigkeit zirkuliert am
Zellen aufgenommen und über das Axon zu den präsynap- Ende der Sonde, wo die Dialysemembran angebracht ist.
tischen Endigungen transportiert. Von dort entweicht die eingepumpte Flüssigkeit in die
Das nach Fixation (7 oben) geschnittene Hirnmaterial äußere Röhre. Die äquivalente Extrazellulärflüssigkeit im
wird dann in einer Dunkelkammer mit photographischer Gehirn, also Azetylcholin, wird durch Diffusion über die
Emulsion bestrichen; nach Wochen werden die Emulsio- Membran gedrückt und von der abfließenden Äquivalent-
nen wie ein Film entwickelt, und die radioaktiv bestrahlten flüssigkeit mitgerissen. Über die nach außen führende
Stellen erscheinen als schwarze Punkte auf dem ansonsten Röhre kann dann die Menge des zusätzlichen Azetylcholin
wie üblich angefärbten histologischen Schnitt. gemessen werden. Änderungen von wenigen Molekülen
Zwar ist die allen psychischen Vorgängen zugrunde lie- Transmittersubstanz können auf diesem Wege erfasst
gende Aktivität elektrisch, aber dieser elektrischen Aktivität werden.
464 Kapitel 20 · Methoden der Biologischen Psychologie

. Abb. 20.3. Mikrodialyse zur Gewinnung von freigesetzten


Molekülen aus dem Extrazellulärraum. Eine Blutersatzlösung (iso-
tonische Salzlösung) wird langsam in die Mikrodialyse-Kanüle ge-
pumpt, wo sie die Moleküle aus der extrazellulären Flüssigkeit auf-
nimmt. Die Flüssigkeit wird dann aufgefangen und mit der Methode
der Flüssigkeitschromatographie (HPLC) auf die in ihr enthaltenen
Substanzen analysiert

. Abb. 20.4. Stereotaxie. Ein stereotaktischer Apparat für Ratten.


Besprechung im Text. Vergleichbare Apparate werden auch für Ein-
G Die In-situ-Hybridisierung erlaubt die Visualisierung griffe am menschlichen Gehirn in der Neurochirurgie eingesetzt
einzelner Proteine oder Proteinabschnitte. Die
Mikrodialyse kann bereits winzige Mengen von
Transmittern erfassen. durch Bewegen des Elektrodenhalters nach anterior-poste-
rior und lateral-medial am narkotisierten Tier oder Mensch
(beim Menschen oft in Lokalanästhesie, 7 unten) wird ein
20.3 Läsion und Reizung Loch in die Schädeldecke gebohrt und die Elektrode ent-
sprechend den Angaben des Atlas in die Tiefe gesenkt. Auf-
20.3.1 Stereotaxie grund der Variabilität der verschiedenen Entfernungen
müssen die verschiedenen Zielorte allerdings nach Ab-
Arbeitsprinzip der Stereotaxie schluss des Experiments histologisch nachträglich über-
Um eine Elektrode oder Kanüle in einen bestimmten Kern prüft werden, wenn die Verifizierung im Experiment durch
oder in Faserzüge in der (unsichtbaren) Tiefe des Gehirns Auslösen typisch evozierter Potenziale oder definierter Ver-
einzustechen, wird ein stereotaktisches Gerät in Kombina- haltensweisen (Mensch) nicht gelang.
tion mit einem stereotaktischen Atlas der jeweiligen Tier- Im Humanbereich bei neurochirurgischen Eingriffen
art oder des Menschen verwendet. Obwohl sich kein Kopf erfolgt die Verifikation vor und auch während der Opera-
oder Gehirn völlig gleicht, lassen sich mit hoher Genauig- tion röntgenologisch und z. T. durch elektrische Reizung
keit die wichtigsten Strukturen lokalisieren: Atlas und Ap- mit gleichzeitiger Beobachtung des Verhaltens und Bericht
parat gehen (eine bestimmte Haltung des Kopfes vorausge- des Patienten.
setzt) dabei von einem gut sichtbaren universellen Fixier-
G Stereotaktische Apparate ermöglichen ortsgenaue
punkt an der Schädeldecke aus, z. B. dem Kreuzungspunkt
punktförmige Eingriffe oder Registrierungen aus
mehrerer Schädelknochen (Bregma). Der Atlas enthält
der Tiefe des Gehirns.
Frontalschnitte des Gehirns, wobei die Entfernungen in
Millimeter vom Fixpunkt in allen 3 Raumachsen (anterior-
posterior, dorsal-ventral, lateral-medial) angegeben sind. 20.3.2 Läsionsmethoden

Anwendung des stereotaktischen Apparats Läsionstechniken


. Abb. 20.4 zeigt einen stereotaktischen Apparat, der Be- Eine irreversible Läsion erfolgt meist durch Hochfrequenz-
wegung und Fixierung der Elektrode oder Kanüle in den koagulation über eine isolierte Elektrode, die nur an ihrer
3 Ebenen erlaubt. Nach Auffinden der gesuchten Stelle Spitze Strom austreten lässt. Der hochfrequente Wechsel-
20
20.3 · Läsion und Reizung
465 20

strom erhitzt das umgebende Gewebe und koaguliert es G Verhaltensstörungen nach Hirnläsionen erlauben
dabei (die hohe Frequenz des Wechselstroms verhindert meist nur indirekte Schlüsse über Struktur-Funk-
elektrische Reizung der Umgebung). An der Kortexober- tions-Beziehungen, da die Ursache für die Störungen
fläche kann man Gewebe absaugen. auch auf sekundäre Veränderungen des Gewebes,
Selektiver wirken chemische Läsionen, die Zellkörper der Funktion und des Verhaltens nach der Läsion
zerstören, ohne die Axone zu beeinflussen (Kainsäure, zurückführbar sein kann.
Ibotensäure), oder es werden nur solche Zellen zerstört, die
einen bestimmten Transmitter benützen: 6-Hydroxydopa- Neuropsychologische Methodik
min zerstört z. B. selektiv alle Zellen und ihre Ausläufer, die zur Quantifizierung von Läsionserfolgen
Katecholamine als Überträgerstoff verwenden. Reversible Mit der Entwicklung der Kognitiven Psychologie wurden
Läsionen erfolgen entweder durch Kühlung (kryogene neuropsychologische Methoden für die Biologische Psycho-
Blockade auf etwa +25°C) oder im Falle des Neokortex logie und die Neurowissenschaften zunehmend ein uner-
durch Auftropfen kleiner Mengen von Kaliumchlorid- setzbarer Bestandteil neben Läsion, Reizung und Regis-
lösung (KCl). KCl führt zu einer sich ausbreitenden negati- trierung. Die Anwendung experimentalpsychologischer
ven Gleichspannungsverschiebung von 5–10 mV mit da- Untersuchungsstrategien und psychologischer Tests auf
rauffolgender elektrischer Stille, einem isoelektrischen Menschen mit reversiblen oder irreversiblen Störungen der
EEG. Diese »spreading depression« (SD) bleibt über Hirntätigkeit gehören ebenso zur neuropsychologischen
Minuten bestehen und ist auf eine Hemisphäre beschränkt. Methodik wie die psychologische Untersuchung gesunder
Durch Aufbringen von KCl-Kristallen an der Hirnober- Menschen mit Versuchsanordnungen, die einen vermute-
fläche kann die SD erheblich verlängert werden. ten neuronalen Prozess »sichtbar« werden lassen. Beispiele
für neuropsychologische Untersuchungen finden sich v. a.
Bewertung von Läsionsmethoden in Kap. 21 und 28.
Die reversible oder irreversible Zerstörung von Hirnsubs-
tanz ist die am häufigsten verwendete Methode der Biolo- Neuropsychologische Tests
gischen und Physiologischen Psychologie. Obwohl häufig Für alle sensorischen, motorischen und intervenierenden
verwendet, ist die Interpretation von Ergebnissen dieser Variablen des psychologischen Funktionierens wurden
Methode besonders schwierig. Wenn nach Läsion einer be- kurze neuropsychologische Verhaltensstichproben ent-
stimmten Hirnstruktur ein Verhalten verändert ist oder wickelt. Diese Verhaltensausschnitte werden zu standardi-
ausfällt, kann dies verschiedene Ursachen haben: sierten neuropsychologischen Testbatterien zusammen-
4 Die lädierte Struktur ist zur Steuerung des Verhaltens gefasst, die einen umfassenden Überblick über hirn-
notwendig. Dieser optimale Fall ist selten. organisch bedingte Störungen der Sensorik, Motorik und
4 Die Störung des beobachteten Verhaltens ist nur ein kognitiven Funktionen geben. Die bekanntesten davon sind
Nebeneffekt der Elimination eines anderen Verhaltens. die Luria-Nebraska-Neuropsychologische Testbatterie
Wenn z. B. das Tier nach der Läsion den Weg zum und die Halstead-Reitan-Batterie.
Futter nicht mehr findet, kann es blind sein, usw.
G Die Folgen von Hirnläsionen beim Menschen werden
4 Der Effekt der Läsion ist nur vorübergehend; psycho-
mit neuropsychologischen Tests und experimental-
logische (Lernen) und neuronale Kompensations-
psychologischen Verhaltensproben erfasst.
prozesse (z. B. Auswachsen von Fasern, Kap. 24) führen
oft zu völliger Wiederherstellung.
4 Die zerstörte Struktur ist für das untersuchte Verhalten 20.3.3 Elektrische und magnetische
nicht selbst verantwortlich, sendet aber Fasern mit wich- Reizung des Gehirns
tiger Teilinformation in den entfernt liegenden eigentlich
verantwortlichen Kern. Dadurch wird dessen Funktion Reizung des Gehirns bei neurochirurgischen
gestört; man schließt aber fälschlich, dass der zerstörte Eingriffen
Kern allein für das Verhalten verantwortlich ist. Am Menschen führte die elektrische Reizung – v. a. der
4 Läsion einer Region führt zu Disinhibition einer ande- Kortexoberfläche – während neurochirurgischer Eingriffe
ren Region, die zuvor von der zerstörten Struktur ge- zu wichtigen Erkenntnissen über die Lokalisation psychi-
hemmt wurde. scher Funktionen. Die bedeutendsten Arbeiten stammen
4 Die Effekte sind nur sekundäre Folgen der mit der Ope- von Penfield, Jasper und Rasmussen, die an der neurochi-
ration und Heilung verbundenen Prozesse (z. B. Schock, rurgischen Klinik Montreal fokale Epilepsien operierten.
Ödeme). Dabei wird am wachen Patienten (Hirnsubstanz ist schmerz-
unempfindlich, die Zugangsoperation wird unter örtlicher
Betäubung durchgeführt) das Ausgangsgebiet (Fokus) epi-
leptischer Anfälle, meist Teile des Temporallappens, ent-
fernt.
466 Kapitel 20 · Methoden der Biologischen Psychologie

Um keine wichtigen Funktionen auszuschalten – v. a. Dabei wird ein schwacher, nicht spürbarer Gleichstrom
Sprachfunktionen – werden verschiedene Regionen der expo- (0,2–1 mA) zwischen 2 Elektroden über den Arealen für
nierten Hirnrinde mit einer Elektrode gereizt und die Reak- eine bestimmte Zeit (hier 6 s) von einer Elektrode zur an-
tionen der Patienten beobachtet oder erfragt. Problematisch deren geschickt. Unter der positiv polarisierten Elektrode
ist bei diesen Eingriffen die Tatsache, dass wir die »natür- (Anode) (im Verhältnis zur negativen, gegenüberliegenden
lichen« im Gehirn vorhandenen Reizstärken und Reizmuster Elektrode) wird eine Depolarisation mit erhöhter Erregbar-
nicht kennen und somit von Außen angebrachte Reize arti- keit des Nervengewebes erwartet (Kap. 3 und . Abb. 20.10
fizielle (künstliche) Ergebnisse erbringen können. Deshalb im Abschn. 20.4.2). Damit wird artifiziell ein Gleichspan-
lokalisiert man wichtige Funktionen heute präoperativ mit nungsfeld in einem Hirngebiet nahe der Elektrode aufge-
MEG/EEG (Abschn. 20.4) und MRT (Abschn. 20.6). baut, das dem natürlich dort vorhandenen Feld gleicht und
Im Tierversuch kann lokale elektrische Reizung in somit ähnliche Effekte auf Verhalten haben sollte: in diesem
allen Hirnregionen über stereotaktische Implantation Fall, bei anodaler Polarisation (positiver Pol) der linken prä-
(Abschn. 20.3.1) der Elektroden erfolgen. Dieser Methode zentralen Handregion, sollte die Leistung und Reaktions-
haben wir z. B. eine der wichtigsten Entdeckungen der Bio- geschwindigkeit der rechten Hand besser werden, weil das
logischen Psychologie, die intrakranielle Selbstreizung unmittelbar darunter liegende Kortexgewebe (Schicht I)
(ICSS, Kap. 26) als Substrat von Verstärkungsprozessen, zu erregt wird. Erregt wird es vermutlich deshalb, weil negative
verdanken. extrazelluläre Ionen von der positiv polarisierten Elektrode
angezogen werden und damit die oben liegenden Dendri-
G Während operativer Eingriffe kann das Gehirn des
ten depolarisieren (Kap. 3 und 4). Darüber hinaus müsste
wachen Patienten schmerzlos elektrisch oder
insgesamt die Bereitschaft, der »Wunsch« mit der rechten
mechanisch gereizt und die Verhaltenseffekte ge-
Hand zu reagieren, zunehmen. Bei Umpolung müsste sich
prüft werden.
dasselbe für die linke Hand wiederholen. Genau das ist auch
der Fall.
Transkranielle Gleichstromstimulation (tDCS)
des Gehirns G Gleichstromreizung des menschlichen Gehirns führt
in der Nähe der Anode zu Erregung, in der Nähe der
Mit schwachen Gleichströmen (DC, »direct currents«), die
Kathode zu Hemmung.
die Schädeldecke durchdringen, lässt sich der Kortex erre-
gend oder hemmend reizen. . Abb. 20.5 zeigt eine Ver-
suchsanordnung zur Reizung von rechter und linker senso- Transkranielle Magnetstimulation (TMS)
motorischer Region mit transkranieller Gleichstromstimu- Eine nahe der Kopfhaut angelegte Spule erzeugt einen
lation. starken magnetischen Puls von wenigen Millisekunden mit
einer Intensität von 1–2 Tesla, der im Hirngewebe einen
Strom auslöst (. Abb. 20.6). Die ausgelösten Ströme ent-
sprechen dem Strom, der üblicherweise zur direkten elek-
trischen Reizung von Nervenfasern verwendet wird. Da
magnetische Felder das Gewebe ohne Abschwächung
durchdringen, kann man nichtinvasiv und ohne Berührung
der Versuchsperson reizen. Ein kurzer Magnetimpuls de-
polarisiert die darunter liegenden Zellen in einem Umkreis
von einigen Millimetern und einer Tiefe von bis zu 3 cm
unter die Kortexoberfläche, was bei Reizung am moto-
rischen Kortex zu unwillkürlichen Kontraktionen der ent-
sprechenden Muskeln führt (. Abb. 20.6).

Anwendungen von TMS


Auch außerhalb des motorischen Kortex kann man durch
Einzelimpulse oder kurze hochfrequente Reizung die Ner-
ventätigkeit unterbrechen. Während kognitiven oder sen-
. Abb. 20.5. Transkranielle Gleichstromreizung (tDCS). Bei An- somotorischen Aufgaben stört man damit die Informa-
legen eines nicht spürbaren Gleichstroms von ca. 0,2 mA zwischen tionsverarbeitung und schließt daraus auf den Ort im
rechter (C4) und linker (C3) Zentralregion am Menschen kommt es auf Gehirn und die gerade ablaufende zeitliche Sequenz der
der Seite der anodalen Polarisierung (C3 Pol, rot) zu einer Anregung
Verarbeitung (Box 21.4). Für die Biologische Psychologie ist
des Verhaltens, das von der entsprechenden Hirnregion gesteuert
wird: bei anodaler Polarisation von C3 werden sensomotorische Reak- diese Methode daher von größtem Nutzen, z. B. dient sie
tionen der rechten Hand, bei anodaler Polarisation von C4 die der auch der Messung sensomotorischer Reorganisation des
linken Hand erleichtert Gehirns bei chronischen Schmerzen und Lernen.
20
20.3 · Läsion und Reizung
467 20

. Abb. 20.6a–e. Transkranielle Magnetstimulation (TMS). Ein zu 2 Tesla erzeugt. Der Puls hat eine Anstiegszeit von ca. 200 μs und
elektrischer Strom von bis zu 8000 A wird erzeugt und in einer kreis- dauert 1 ms. Das Magnetfeld bewirkt ein elektrisches Feld, das die
oder achterförmigen Spule entladen, die einen Magnetpuls von bis neuronale Aktivität oder Ruhepotenziale beeinflusst

Durch systematische Reizung des motorischen Ho- Repetitive transkranielle Magnetstimulation


munkulus (Kap. 13) kann man z. B. feststellen, dass nach (rTMS)
Amputation, Nervenverletzung oder Querschnittslähmung Reizt man über einen Zeitraum von Sekunden bis Minuten
das entsprechende kortikale Projektionsareal (z. B. Hand- mit einer Frequenz von 15–20 Hz, so führt dies auch nach
areal) sehr viel leichter reizbar (d. h. die motorische Schwel- Absetzen der Reizung zu einer anhaltenden Erhöhung
le zur Auslösung einer Bewegung wird niedriger) und auch (bis 20 min) der Erregbarkeit des darunter liegenden
in seiner Ausdehnung größer wird. In der neurologischen Hirngewebes. Damit lassen sich einige Lern- und Verarbei-
Diagnostik kann man damit Funktionsstörungen des tungsprozesse positiv beeinflussen. Niederfrequente Rei-
motorischen Traktes (z. B. bei multipler Sklerose und zung von 1 Hz dagegen hemmt die entsprechende Hirn-
Schlaganfall), aber auch Rückenmarksstörungen erfassen. region.
468 Kapitel 20 · Methoden der Biologischen Psychologie

Inwieweit rTMS auch therapeutisch nutzbar ist (z. B. ten Spannungsschwankung außerhalb des Kortex erkaufen
zur Verbesserung kortikaler Reorganisation nach Läsionen müssen. Mit Hilfe mathematisch-statistischer Analysen
oder Schlaganfall) oder die Behandlung psychologisch- konnten aber zunehmend genaue Lokalisationen der elek-
psychiatrischer Störungen (z. B. Depressionen) erleichtern trischen Generatoren erzielt werden. Aber auch mit den
könnte, wird zurzeit intensiv untersucht. mathematisch-biophysikalischen Verfahren können die
anatomischen Lokalisationen nur theoretisch vorgenom-
G Kurze Pulse von transkranieller Magnetstimulation
men werden und müssen durch die bildgebenden Verfah-
unterbrechen die gerade ablaufenden Nerven-
ren (PET, NMR) ergänzt werden. Die Ableitung des Mag-
vorgänge, hochfrequente Stimulation erhöht und
netenzephalogramms erlaubt ebenfalls eine präzisere Loka-
niederfrequente Stimulation erniedrigt die Erreg-
lisation (7 unten).
barkeit.
. Abb. 20.7 symbolisiert vergleichend die Vor- und
Nachteile der verschiedenen nichtinvasiven Messverfahren
20.4 Elektro- und Magneto- der Biologischen Psychologie und Kognitiven Neurowis-
enzephalogramm senschaften. Dabei sind die zeitliche Auflösung in der Or-
dinate und die örtliche Auflösung in der Abszisse in loga-
20.4.1 Oszillationen des Gehirns rithmischer Skala eingetragen. In der z-Achse ist symbo-
lisiert, ob die jeweilige Methode korrelative oder kausale
Methodenvergleich Aussagen erlaubt, letzteres ist nur bei direkter Hirn- oder
Die Aufzeichnung der elektrischen Aktivität des Gehirns ist Zellstimulation möglich (Box 20.1).
zusammen mit der Aufzeichnung der Magnetfelder (MEG,
G EEG und MEG erlauben präzise Zeitmessung menta-
7 unten) der wichtigste methodische Zugang zur Erfor-
ler Prozesse. Wenn von der Schädeloberfläche ab-
schung der Zusammenhänge zwischen Hirn und Verhalten
geleitet, ist ihre örtliche Auflösung weniger gut als
beim Menschen. Da die informationsverarbeitenden Pro-
bildgebende Verfahren. Von der Hirnoberfläche
zesse im Gehirn z. T. sehr rasch ablaufen (in ms-Interval-
abgeleitet, ergibt sich eine bessere Orts- und Zeit-
len) erfordert ihre Messung eine Zeitauflösung, die bild-
auflösung neuroelektrischer Vorgänge.
gebende Verfahren (20.6) nicht aufweisen. Der Nachteil
elektroenzephalographischer Methoden besteht darin, dass
sie ihre präzise Zeitstruktur mit relativer örtlicher Unge-
nauigkeit über den anatomischen Ursprung einer bestimm-

. Abb. 20.7. Orts- und Zeitauflösung. Vergleich einiger wichtiger netresonanztomographie; EEG Elektroenzephalogramm; ERP ereignis-
Methoden der Biologischen Psychologie (7 Text). CT Computertomo- korrelierte Potenziale (»event-related potentials«); MEG Magnetoenze-
graphie; MRT Magnetresonanztomographie; fMRT funktionelle Mag- phalographie; TMS transkranielle Magnetstimulation
20
20.4 · Elektro- und Magnetoenzephalogramm
469 20

Box 20.1. Geschichte der EEG-Forschung


Die Geschichte der Entdeckung der hirnelektrischen Akti- menschlichen EEG führen sollten. Am 6.7.1924 leitete
vität ist eng mit den zunehmenden technischen Möglich- Berger mit einem empfindlichen Saitengalvanometer an
keiten der Spannungsmessung und -verstärkung im aus- einem 7-jährigen Patienten erstmals spontane elektrische
gehenden 19. und im 20. Jahrhundert verbunden. Nach Spannungsschwankungen von der Hirnrinde ab. Aber erst
der Entdeckung der Bioelektrizität durch Luigi Galvani nach einer Vielzahl von Kontrollversuchen und weiteren
und seine Frau 1791, leiteten erstmals 1848 Matteucci Ableitungen an 38 Versuchspersonen publizierte Berger
am Muskel und Du Bois-Raymond an der Nervenfaser 1929 seine ersten Mitteilungen Ȇber das Elektroenke-
elektrische Spannungsschwankungen ab. Als Entdecker phalogramm des Menschen«. Seiner ersten Mitteilung
des tierischen EEG darf man Richard Caton bezeichnen, folgten bis zum Jahre 1938 weitere 13 Mitteilungen. Die
der 1875 erstmals spontane Spannungsschwankungen Bergerschen Arbeiten, seine Experimentiermethodik und
vom unverletzten Kortex ableiten konnte. Evozierte sein Einfallsreichtum gehören zu den großartigen Leis-
Potenziale nach Lichtreizen beschrieb erstmals Fleischl tungen der Naturwissenschaft. Zu den Pionieren der EEG-
von Marxow, der seine Beobachtungen 1883 an der Forschung gehört auch Hubert Rohracher, der ab 1933
Wiener Akademie der Wissenschaften deponierte und sie EEG-Versuche durchführte und Wesentliches zur tech-
erst nach der Replikation Becks 1890 publizierte. nischen Weiterentwicklung der Ableitverfahren beitrug.
1902 begann Hans Berger mit Experimenten an
Hunden und an Katzen, die ihn zur Entdeckung des

EEG-Rhythmen ziale, die bis zum Kortex als Feldpotenziale (»far-field«)


. Abb. 20.8 zeigt die wichtigsten Frequenzbänder im weitergeleitet werden können.
menschlichen EEG, wobei jeweils die EEG verschiedener
G Das EEG weist Oszillationen von 0 bis ca. 100 Hz auf,
Personen untereinander gezeigt werden, um die individu-
die im Allgemeinen mit zunehmender Wachheit
elle Variabilität der Form der Hirnpotenziale zu demonst-
schneller werden.
rieren. Für das bloße Auge ist besonders der sinusförmige
Alpha-Rhythmus (8–13 Hz) gut erkennbar, der im Wachzu-
stand geringer visueller Aufmerksamkeit v. a. okzipitopari- Elektrokortikogramm (ECoG)
etal auftritt. Bei visueller Konzentration oder Aufmerksam- Legt man Makroelektroden direkt auf den Kortex, wie das
keit wird er sofort blockiert und geht bei den meisten, aber vor größeren Eingriffen in das Gehirn in der Epilepsie-
nicht allen Personen, in höherfrequenten Beta-Rhythmus chirurgie notwendig ist, ergibt sich ein sehr viel komplexe-
(β-Rhythmus, 13–30 Hz) über. Dieses Phänomen bezeich- res Bild als im EEG der Schädeloberfläche: Insgesamt sind
net man als »Alpha-Block«. Die übrigen, auf . Abb. 20.8 die Amplituden im Durchschnitt 3- bis 10-mal höher als
gezeigten Frequenzen, treten im Schlaf oder unter patho- im EEG. Vor allem die niedrigen Amplituden der hohen
logischen Bedingungen auf und werden in Kap. 22 be- Gamma-Frequenzen werden nun bis über 100 Hz sichtbar.
sprochen. Im Tiefschlaf oder bei pathologischen Verände- Die Schädeldecke und Kopfhaut stellt nicht nur einen Am-
rungen treten Theta- (4–8 Hz) oder Delta-Wellen (<4 Hz) plituden dämpfenden Widerstand dar, sondern auch einen
auf. sehr variablen Filter, der das reale Bild der elektrischen
Frequenzen über 30 Hz bezeichnet man auch als Hirnaktivität verschmiert und damit die lokale Spezifität
Gamma-Wellen (γ-Wellen). Diese Wellen zeichnen sich an der einzelnen Oszillationen, v. a. der hohen Frequenzen,
der Schädeloberfläche durch extrem kleine Amplituden verbirgt.
(1–10 μV) und hohe lokale Spezifität aus. Sie werden mit
G Das ECoG weist 3- bis 10-mal höhere Amplituden auf
lokalen Verbindungen von sog. Zell-Assemblies oder Zell-
als das EEG.
ensembles (Kap. 21 und 25) zu synchron feuernden Ner-
vennetzen in Verbindung gebracht.
Über den prämotorischen Regionen tritt bei Verhal- 20.4.2 Physiologische Grundlagen
tenshemmung der sog. sensomotorische Rhythmus (SMR) von Hirnoszillationen
oder mu-Rhythmus von 10–15 Hz auf. Dieser Rhythmus
ist vermutlich neurophysiologisch mit Schlafspindeln Oszillationen neuronaler Netze
(Kap. 22) identisch. Bei einer Bewegung oder Vorstellung Wie mechanische Uhren ticken, so oszillieren neuronale
einer Bewegung wird der mu-Rhythmus desynchronisiert. Netze im gesamten Reich des Lebendigen. Das rhythmische
Obwohl man unter dem EEG im Allgemeinen die elek- Auf und Ab von Erregung steuert die Verteilung von Ak-
trischen Spannungsschwankungen der Großhirnrinde ver- tionspotenzialen zu rhythmischen Gruppen und erst diese
steht, gehören dazu auch subkortikale elektrische Poten- rhythmischen Gruppen von Aktionspotenzialen repräsentie-
470 Kapitel 20 · Methoden der Biologischen Psychologie

Nach Simon, O (1997). Mit freundlicher Genehmigung von Elsevier.

. Abb. 20.8. Beispiele von EEG-Wellen der verschiedenen Fre- Die Amplitudenhöhen können nicht zwischen den einzelnen Ablei-
quenzbänder, Amplituden und Formen. Es ist jeweils ein Ausschnitt tungen verglichen werden, da sie mit unterschiedlichen Verstärkungs-
von ca. 3,3 s dargestellt. Jede Zahl kennzeichnet eine andere Person. faktoren aufgezeichnet wurden

ren Information im ZNS. . Abb. 20.9b stellt einen einfachen Die Regularität der EEG-Wellen
Schaltkreis für einen neuronalen Oszillator dar. Für alle neu- EEG-Signale an der Schädeloberfläche stellen stets die
ronalen Oszillationen, die Frequenzen von 0,5–1000 Hz summierte Aktivität aus einer Vielzahl elektrischer Prozesse
umspannen, gilt, dass ihre Amplitude (»power density«) dar, die in vielen neuronalen Strukturen unter Beteiligung
umgekehrt proportional der Frequenz ist. Hohe Frequenzen unterschiedlicher Transmittersysteme ablaufen. Das EEG
sind im Allgemeinen auf räumlich wenig ausgedehnte und die ereigniskorrelierten Potenziale (EKP, 20.5) sind
Oszillatoren und langsame auf weit ausgedehnte Oszillato- gerade deshalb als Substrat von Kognition und Verhalten
ren beschränkt. Da sich aber die Aktivität von Oszillatoren bedeutsam: Trotz der scheinbar unübersehbaren Vielfalt
überlagern kann, finden wir langsame und hohe Frequen- zellulärer Prozesse bildet sich ein geordnetes Muster elek-
zen oft gleichzeitig, v. a. im Schlaf. trischer Potenziale ab, das mit psychischen Vorgängen eng
Oszillationen sind ein phylogenetisch alter Mecha- zusammenhängt.
nismus, um die ankommende Information zu gruppieren,
einzelne neuronale Schaltkreise zeitlich und physisch zu G Die elektrische Aktivität des Gehirns oszilliert in unter-
sog. neuronalen Ensembles zusammenzubinden (Kap. 21) schiedlich großen neuronalen Netzen. Die Geordnet-
und neuronale Plastizität und Gedächtnis zu garantieren heit der Oszillationen im EEG z. B. resultiert aus ihren
(Kap. 24). synchronen (gleichzeitigen) Feuereigenschaften.

20
20.4 · Elektro- und Magnetoenzephalogramm
471 20

. Abb. 20.9. Neuronale Oszillatoren (7 Text)

Dipolstruktur des Neokortex Somanähe als an den Dendriten. Inhibitorische Potenziale


Die Geordnetheit der EEG-Wellen (und wahrscheinlich tragen kaum zur Genese von Feldpotenzialen bei, da die bei
unseres subjektiven Erlebens) verdanken wir der Geordnet- hemmenden Potenzialen fließenden Ströme pro Zeiteinheit
heit des zytoarchitektonischen Aufbaus des Neokortex. sehr viel kleiner sind als die für EPSP erforderlichen Ströme.
Trotz regionaler Unterschiede in der Schichtung (Kap. 5, Auch Aktionspotenziale spielen keine Rolle für das EEG,
. Abb. 20.10) ist die Grundstruktur stets gleich: Die Den- abgesehen von den sie auslösenden EPSP: Der Extrazellu-
driten der Pyramidenzellen liegen oben (Schichten I und II), lärraum des Nervengewebes wirkt wie ein Kondensator
die Zellkörper unten (Schichten III, IV und V). Diese senk- (RC-Glied), der hohe Frequenzen abschirmt. Für die Gene-
rechte Ausrichtung der kortikalen Module führt zu einer rierung der elektrischen Spannungsänderungen im Spon-
Stromverteilung an den Zellen, die weiter entfernt regis- tan-EEG, MEG (Magnetoenzephalogramm) und bei den
trierbare Feldpotenziale bewirkt. Die Verteilung dieser ereigniskorrelierten Hirnpotenzialen (EKP, Definition
Feldpotenziale in der Hirnrinde wird theoretisch am besten Abschn. 20.5.1) spielen die apikalen Dendriten (Kap. 5
mit einer sog. Dipolstruktur beschrieben. und . Abb. 20.10) und die unspezifischen Afferenzen im
An den oberen apikalen Dendriten in den Schichten I Vergleich zu den übrigen Zellanteilen eine dominierende
und II enden primär exzitatorische Fasern aus den »unspezi- Rolle.
fischen« thalamischen Kernen (Kap. 5), sowie Kommis- Gliazellen, die sowohl Soma wie auch Dendriten umge-
suren- und langen Assoziationsfasern. Die spezifischen ben (Kap. 2), bewirken – neben vielen anderen Vorgängen
sensorischen thalamischen Afferenzen und kurze Fasern – eine Verstärkung und Ausbreitung der extrazellulären
von benachbarten Kolumnen enden in tieferen Schichten negativen Potenziale, v. a. im DC-Potenzialbereich und
(III und IV). Inhibitorische Synapsen finden wir mehr in Delta-Wellenbereich (Abschn. 20.5).
472 Kapitel 20 · Methoden der Biologischen Psychologie

fließt der Strom also immer von Regionen geringer Depo-


larisation (in unserem Fall Soma) in Richtung der Depola-
risation (apikale Dendriten), die Polarität der extrazellu-
lären Spannung ist daher an der Senke relativ zur Quelle
negativ. Intrazellulär ist die Stromausrichtung entsprechend
umgekehrt.
Aus Rockstroh B et al (1982). Mit freundlicher Genehmigung von Lippincott Williams & Wilkins.

Durch die vertikale Lage der Pyramidenzellen im Neo-


kortex und die dort herrschenden elektrischen Wider-
standsverhältnisse kommt es zu einer Phasenumkehr zwi-
schen Soma und apikalen Dendriten: Von dieser Potenzial-
verteilung leitet sich die Bezeichnung Dipol (aus der Physik
elektromagnetischer Felder entlehnt) ab. Die beschriebe-
nen Ionenbewegungen generieren Feldpotenziale, die auch
von weiter entfernt liegenden Elektroden aufgefangen
werden können.
G Die Hirnrinde kann elektrisch als Dipol beschrieben
werden mit umgekehrter Polarisierung zwischen
oberen und unteren Schichten. Der negative Pol
wird als Senke, der positive als Quelle bezeichnet.

Elektrische Entstehung und Ausrichtung


von Dipolen
Dabei ist zu bedenken, dass auch in dem Dipolschema von
. Abb. 20.10. Ein kortikaler Dipol. Oberflächennegative langsame . Abb. 20.10 ein Ausgleich der Ströme im Gewebe erfolgen
Hirnpotenziale (LP) werden durch Polarisation des Kortex erzeugt,
würde und dann natürlich kein EEG entfernt von den
wobei Afferenzen die apikalen Dendriten von Pyramidenneuronen
aktivieren. Die extrazellulären Ströme erzeugen an der Kopfhaut Stromsenken sichtbar würde. EEG-Potenziale können nur
messbare Potenziale (7 Text) dann sichtbar werden, wenn sich der extrazelluläre Strom
von Quelle zu Senke nicht mehr ausgleichen kann. Strom
geht immer den Weg des geringsten Widerstandes und
G Das EEG entsteht v. a. aus exzitatorischen postsynap- nach dem Prinzip, die Stromdichte so klein wie möglich zu
tischen Potenzialen. Der Ort der EEG- und MEG-Ent- halten. Wenn gleichzeitig viele Zellen synchron aktiviert
stehung ist in den apikalen Dendriten von Schicht 1 werden, steht nur noch der unmittelbare Extrazellulärraum
und 2 zu suchen, wo die meisten unspezifischen für den Potenzialausgleich von Quelle zur Senke zur Verfü-
Afferenzen und intrakortikalen Fasern enden. gung. Da dieser Durchmesser sehr klein ist und der Wider-
stand in der 4. Potenz mit abnehmendem Durchmesser
Aufbau eines Dipols eines Leiters zunimmt, sucht der Strom nun den Umweg
. Abb. 20.10 gibt die Situation bei Einlaufen einer afferen- über die weiße Substanz, inaktive Kortexareale (Fernfeld),
ten Impulssalve aus dem Thalamus oder anderen Kortex- durch die Hirnhäute und Knochen, zurück zur Stromsenke
gebieten an die apikalen Dendriten wieder. Die extrazel- (. Abb. 20.10).
luläre Region der apikalen Dendriten wird negativ, da durch
den Na+-Einstrom positiver Ionen (Kap. 3) ein negatives Kugelförmige Dipole
Feldpotenzial an dieser Stelle entsteht. Strom, das sind po- Um die Bedeutung der vertikalen Dipole im Kortex zu ver-
sitive Ladungsträger, fließt ins Zellinnere und von der Elek- deutlichen, stelle man sich einmal eine kreisförmig-radiale
trode, die sich in der Umgebung der Dendriten befindet, Ausrichtung der Dendriten-Soma-Achsen vor, wie sie z. B.
weg; an der Membraninnenseite »bewegt« er sich dem in Hirnstammkernen vorkommt. Die positiven Pole lägen
Stromgradienten folgend in Richtung Soma und entlang alle im Zentrum dieser kugelförmigen Anordnung, die
der extrasynaptischen Membran in umgekehrter Richtung negativen außen: Die Potenzialdifferenzen außerhalb der
zum Ort der Depolarisation. Der elektrische Widerstand Kugel, wo die Elektrode liegt, wären Null, da an allen Punk-
der nichterregten Membran ist so groß, dass sich der Strom ten der Kugeloberfläche das gleiche Potenzial herrscht, z. B.
entlang der gesamten Längenausdehnung des Dendriten- +10 μV. Geschlossene Potenzialfelder dieser Art kommen
baumes und Somas verteilen muss. Die Stelle des Strom- im Kortex (z. B. in Schichten III und IV, alle sternförmigen
eintritts wird Senke (»sink«) genannt, da sie als negativer Zellen bilden theoretisch geschlossene Felder) und v. a.
Pol positive Ladungen anzieht. Die Orte des Stromaus- subkortikal (Thalamus) vor, gehen aber nicht in unsere
tritts werden Quellen (»source«) genannt. Extrazellulär Oberflächenregistrierung ein. Bei einem einheitlich akti-
20
20.4 · Elektro- und Magnetoenzephalogramm
473 20

vierten vertikal ausgerichteten Dipol werden auf einer 2 cm device«) nachgewiesen werden können, die etwa 10–15 mm
benachbarten Elektrode nur noch 10% der Amplitude re- von der Schädeloberfläche entfernt angebracht werden
gistriert; dies bedeutet, dass man auch an der Schädelober- (. Abb. 20.11).
fläche die »Generatoren« einer bestimmten elektrischen Die im MEG (Magnetoenzephalogramm) gemessenen
Aktivität mit Hilfe von vielen Elektroden auf etwa 2–3 mm magnetischen Flussdichten liegen unterhalb eines pT (pico
genau angeben kann. Mit speziellen mathematischen Ver- Tesla) im Femto-Tesla-Bereich (fTesla) und betragen damit
fahren lässt sich diese Genauigkeit noch etwas erhöhen. weniger als der hundertmillionste Teil der durch das Erd-
feld hervorgerufenen magnetischen Flussdichte (Induk-
G Viele benachbarte kortikale Dipole müssen sich
tion). 1 pico Tesla ist 10-12 des Erdmagnetfelds, ein femto
summieren, um im EEG sichtbar zu werden. Kugel-
Tesla 10-15. Mit den auf der Temperatur von flüssigem Helium
förmige Zellorientierungen erzeugen keine regis-
zu haltenden Detektoren wurde 1968 erstmals α-Aktivität
trierbaren Potenziale.
und von 1975 an ereigniskorrelierte Aktivität gemessen. Da
mit SQUID wie beschrieben hauptsächlich horizontal und
20.4.3 Magnetoenzephalographie radial zur Schädeldecke gelegene elektrische Ströme erfasst
werden können (tangentiale Dipole) und das EEG meist aus
Messung von Magnetfeldern den vertikalen kortikalen Säulen entspringt, lassen sich
Jede Bewegung elektrischer Ladungen ruft ein Magnetfeld durch die Kombination beider Messverfahren die Aktivi-
hervor. Die magnetischen Feldlinien umgeben die longitu- tätsquellen im Kortex mit hoher Genauigkeit (bis zu 2 mm)
dinale Achse eines durch einen elektrischen Dipol hervor- lokalisieren. Das EEG misst dabei v. a. die Aktivität der
gerufenen Stroms. Das Gehirn generiert daher auch schwa- Windungsoberflächen (Gyri), das MEG die Aktivität der
che magnetische Felder, die mit hochempfindlichen Detek- Furchen (Sulci), da dort die Dipole horizontal gegenüber
toren, sog. SQUIDs (»superconducting quantum interference den Sensoren liegen.

. Abb. 20.11a–f. Magnetoenzephalographie (MEG) illustriert am leitete Magnetfelder nach Darbietung eines taktilen Reizes am Finger
Beispiel eines Ganzkopf-MEG-Systems mit 150 Aufnahmekanälen. der linken Hand. Jede einzelne Linie stellt das Magnetfeld in den Re-
a MEG-Aufnehmer (dewar). b Querschnitt durch den dewar. Die Re- gistrierspulen 80 ms nach Darbietung des taktilen Reizes dar. Rechts
gistrierspulen und die SQUIDs schwimmen in flüssigem Helium, da die tritt das Magnetfeld aus dem Kopf aus (rot), links wieder ein. Die Quelle
SQUIDs nur in extrem tiefen Temperaturen ihre Aufnahmefähigkeit liegt genau dazwischen. f Lokalisation des Ursprungs des Magnet-
entwickeln. c Registrierspulen. d Typische Versuchssituation. e Abge- feldes im Gyrus postcentralis (roter Dipol) (Erläuterungen im Text)
474 Kapitel 20 · Methoden der Biologischen Psychologie

Kein anderes nichtinvasives Verfahren der Registrierung 30–80 ms) die Dipole berechnet. Diese werden dann mit
neuronaler Aktivität erreicht eine vergleichbar gute örtliche speziellen Programmen dem individuellen Gehirn aus dem
und zeitliche Auflösung als das MEG. Da das MEG durch MRT überlagert. Damit kann man die Quelle der Aktivität
umliegende Schichten wie Hirnhaut, Zerebrospinalflüssig- nicht nur zeitgetreu mit der ablaufenden Informations-
keit und Schädelknochen nicht beeinflusst wird, ist das verarbeitung, sondern – zumindest am Kortex – mit extrem
MEG besonders gut geeignet, Quellen elektrischer Aktivität hoher Ortsgenauigkeit von wenigen Millimetern, bestim-
aufzuspüren. Das MEG misst die Aktivität von Stromsenken men. In Kombination mit der Messung der Hirndurchblu-
und -quellen auch in tieferen Hirnregionen und im Klein- tung mit MRT oder PET (7 unten) erhält man auf diesem
hirn, selbst im Fötus im Mutterleib (Box 20.2). Wege eine bildhafte und realistische Wiedergabe der Hirn-
prozesse während geistiger Tätigkeit.
G Das MEG misst radiale Dipole, das bedeutet, dass
v. a. elektrische Aktivität aus den Furchen (Sulci) G Durch Überlagerung von Kernspintomographie
des Kortex widerstandslos registriert werden. und MEG-Aktivitätsquellen können die Entstehungs-
orte eines MEG-Feldes millimetergenau angegeben
MEG-MRT-Überlagerung werden.

In . Abb. 20.11f ist die Kombination von MEG und Mag-


netresonanztomographie (MRT, Abschn. 20.6) dargestellt. 20.4.4 Rhythmen und Synchronisation
Zunächst wird die Anatomie des individuellen Gehirns
einer Person im MRT bestimmt. Danach werden für eine Synchronisation und Spontan-EEG/MEG
bestimmte EEG-Potenzial- und die äquivalente MEG-Feld- Bei zufälliger, ungeordneter Aktivität der aus dem Thala-
komponente (z. B. auf . Abb. 20.11 das taktile Potenzial um mus und den Kortexregionen kommenden Afferenzen

Box 20.2. Fetale Magnetoenzephalographie: ein Blick in das Gehirn vor der Geburt

Auf der Abbildung oben (a) ist der erste fetale Magnetoen-
zephalograph zu sehen, der erlaubt, ohne jeden Eingriff

Nach Eswaran H et al (2002). Mit freundlicher Genehmigung von Elsevier.


oder Strahlung nichtinvasiv die magnetischen Felder vom
Gehirn eines Fetus ab der 28. Schwangerschaftswoche
auf einfache visuelle und auditorische Reize zu messen.
Darunter (in b) sind die visuellen Antworten zu sehen.
Die Position des Fetus wird durch Ultraschall bestimmt.
Rechts davon oben die aus dem Gehirn stammenden
magnetischen Felder nach visueller Reizung (durch den
Körper der Mutter), darunter die aus dem Kopf austreten-
den magnetischen Felder (rot) und das eintretende Feld
(blau). Zwischen den beiden Feldverteilungen liegt die
Quelle der magnetischen Aktivität. Beachtenswert ist die
geringe zeitliche Latenzverschiebung der magnetischen
Antwort gegenüber Erwachsenen, was auf eine erstaun-
lich reife Entwicklung des fetalen Gehirns weist.
Nach Eswaran H et al (2002). Mit freundlicher Genehmigung von Elsevier.

Literatur: Eswaran H et al (2002) Magnetoencephalographic re-


cordings of visual evoked brain activity in the human fetus.
Lancet 360:779–780

20
20.4 · Elektro- und Magnetoenzephalogramm
475 20

würde trotz Dipolstruktur kein messbares EEG/MEG


an der Schädeloberfläche entstehen, da sich die Feldpoten-
ziale von Einzelzellen nicht summieren könnten. Es müssen
also ein oder mehrere Module (ein Modul hat ca. 10.000
Nach Speckmann EJ, Elger CE, (1999). Mit freundlicher Genehmigung

Pyramidenzellen) gleichzeitig synaptisch aktiviert werden,


um die EEG/MEG-Potenziale am Schädel auffangen zu
können. Dies heißt, zeitliche Synchronisation der afferen-
ten Impulssalven ist Voraussetzung für die EEG/MEG-
Rhythmen.
Aus den beschriebenen anatomischen Gründen
(Kap. 5) kommt als rhythmusgebende und synchronisie-
rende Struktur v. a. der Thalamus in Frage: Vom Thalamus
von Wolters Kluwer Health.

isolierte Kortexzellen entfalten keine spontane rhythmische


Aktivität, v. a. im Bereich von Alpha-Wellen, auch wenn die
Kommissuren und Assoziationsfasern erhalten bleiben.
Hochfrequente Synchronisationen und Oszillationen im
Gammabereich können aber direkt im Kortex entstehen.
. Abb. 20.12 illustriert schematisch die Prinzipien der
. Abb. 20.12. Generation von EEG-Wellen. Die exzitatorischen
Entstehung von EEG-Wellen. Dabei wird auch der enge
Synapsen zweier afferenter Fasern (blau) enden am oberfläch-
lichen Dendritenbaum (rot oben) von 2 longitudinalen neuronalen Zusammenhang von synchronen postsynaptischen Poten-
Elementen. Die Aktivität dieser afferenten Fasern wird durch 2 intra- zialen der einzelnen Zellen und der EEG-Kurven deutlich.
zelluläre Elektroden 1 und 2 registriert. Die Membranpotenziale (MP) Eine Desynchronisation des EEG mit Amplitudenabnahme
der dendritischen Elemente werden durch die Elektroden 3 und kann also 2 Ursachen haben; die Afferenzen feuern mit
4 registriert. Das Feldpotenzial an der kortikalen Oberfläche wird
hoher Frequenz, aber irregulär, oder sie feuern extrem
von Elektrode 5 aufgefangen. Synchrone Gruppen von Aktionspoten-
zialen in den afferenten Fasern (1, 2) generieren Wellenformen von selten, sodass keine Summation von EPSP möglich ist.
EPSPs in den Dendriten (3, 4) und entsprechende Feldpotenziale in Eine Amplitudenverkleinerung kann aber auch auf
den EEG- und DC-Ableitungen (oben rechts 5a und 5b). Tonische Erhöhung der Synchronisation hoher Frequenzen mit
Aktivität in den afferenten Fasern (Mitte rechts) resultiert in einem niederer Amplitude, v. a. im Gamma-Frequenz-Bereich,
anhaltenden EPSP mit kleinen Fluktuationen. Während dieser Periode
zurückzuführen sein, man spricht dann von akzelerierter
weist das EEG nur eine Reduktion der Amplitude auf, während die
DC/EEG-Ableitung (5a) auch die Depolarisation der neuronalen Ele- Synchronisation.
mente wiedergibt Die kortikalen Netzwerke werden also von den thalami-
schen Efferenzen »getrieben«, der Rhythmus den Dendri-
ten und Zellen am Kortex »aufgezwungen«. . Abb. 20.13
gibt die Vorstellung über die thalamokortikalen Rhythmus-
geber wieder.

a b

. Abb. 20.13a, b. Darstellung der Entstehung rhythmischer EEG- den Hemmung bestimmt wird, und dass die hemmenden Interneuro-
Wellen. a Darstellung der neuronalen Schaltkreise in Thalamus und ne wiederum unter Kontrolle nichtspezifischer Aktivierungssysteme
Kortex. b Die resultierenden Aktivitäten. Man beachte, dass die oszil- des Hirnstamms und des retikulären Thalamus stehen. Einzelheiten
lierende Aktivität im Thalamus durch den Zeitverlauf der rekurrieren- 7 Text
476 Kapitel 20 · Methoden der Biologischen Psychologie

G Der Thalamus synchronisiert die kortikalen Oszilla- Mit dem Auge und dem Lineal kann man zwar grobe
tionen in den unteren Frequenzbereichen (bis Frequenzänderungen langsamer und hochamplitudiger
ca. 30 Hz) und bewirkt damit die Summation von Rhythmen messen, psychologische Versuchsanordnungen
vielen postsynaptischen Potenzialen. führen aber meist zu Frequenzverschiebungen im α-,
β- und γ-Band, die nur durch Computeranalyse und elek-
Postinhibitorische Entladung thalamischer tronische Filter sichtbar gemacht werden können. Dabei
Neurone wird das analoge Originalsignal in einer bestimmten zeit-
Die Entstehung regelmäßiger Muster zumindest in den lichen Abtastrate in digitale Punkte zerlegt, die der Rechner
unteren Frequenzbereichen (bis 30 Hz) des EEG ist auf die weiterbearbeiten kann (Analog-Digitalwandlung).
anatomisch-histologischen Eigenheiten des Aufbaus thala-
mischer Zellverbände und auf das elektrophysiologische Fourier-Analyse und Leistungsspektren
Phänomen »postinhibitorischer Entladung« zurückzu- Die wichtigste Auswertungsmethode für diese digitalen
führen, wie in . Abb. 20.9 und Abb. 20.13 dargestellt: Punkte ist die Fourier-Analyse, die zu sog. Leistungsspek-
Ein afferenter Impuls aus der Peripherie oder den sub- tren (»power spectrum«) des EEG führt. Dabei geht man
kortikalen unspezifischen Aktivierungsstrukturen der For- davon aus, dass jede Kurvenform in eine Anzahl von Sinus-
matio reticularis führt zur Entladung eines thalamischen kurven unterschiedlicher Frequenz zerlegt werden kann
Neurons. Der Impuls wird entlang der thalamokortikalen (Kap. 18); die Summe der Einzelschwingungen muss dann
Faser weitergeleitet, geht aber auch rückläufig an ein hem- das Originalsignal wiedergeben. Die Fourier-Analyse be-
mendes Interneuron (rückläufige kollaterale Hemmung stimmt das Ausmaß jener Frequenzanteile, die in einer be-
über hemmendes Zwischenneuron des Nucleus reticularis stimmten Zeiteinheit vorkommen. Die »Stärke« des Signals
(Kap. 21)). wird in Volt zum Quadrat pro Sekunde (V2) ausgedrückt,
Das inhibitorische Interneuron hat viele laterale Ver- d. h. wir erhalten die Verteilung der quadrierten EEG/
zweigungen und erzeugt an den benachbarten thalami- MEG-Amplituden für einen bestimmten Frequenzaus-
schen Zellen andauernde Hyperpolarisationen. Nach ca. schnitt.
100 ms kommt es zu spontanen rhythmischen postinhi-
G Nach der Filterung und Digitalisierung des EEG-/
bitorischen Nachentladungen in den beteiligten Zellen.
MEG-Signals wird eine Fourier-Analyse zur Bestim-
Durch weitere inhibitorische Zwischenneurone wird der
mung des Frequenzspektrums durchgeführt.
Kreis betroffener Zellen erweitert. Das Fortbestehen des
Eigenrhythmus der Zellgruppe wird durch das Ankommen
eines zweiten afferenten Impulses vor einer spontanen Deterministisches Chaos und Komplexität
Nachtentladung unterdrückt (Desynchronisation), während In neuerer Zeit wird neben der Frequenzverteilung an ver-
ein afferenter Impuls zur Zeit der zweiten Entladung schiedenen Hirnarealen (»brain mapping«) das Ausmaß der
den Rhythmus verstärkt. Letzteres ist die Grundlage für das Komplexität (im Gegensatz zur Vorhersagbarkeit) mit Me-
sog. »Driving«-Phänomen (Flackerlicht einer bestimmten thoden der nichtlinearen Systemtheorie untersucht. Eines
Frequenz oder Tonfrequenzen lösen EEG/MEG-Rhythmen dieser mathematischen Verfahren, die Korrelationsdimen-
derselben Frequenz aus). sion, wurde aus den Verfahren zur Berechnung determinis-
tisch-chaotischer Prozesse (z. B. Wetter, Wellen, Wasser-
G Langsame Frequenzen des EEG/MEG werden durch
tropfen etc.) entwickelt. Dabei wird die Zeitreihe (also in
postinhibitorische Entladungen thalamokortikaler
unserem Fall eine EEG- oder MEG-Ableitung) in einen
Neuronen erzeugt.
mehrdimensionalen Phasenraum eingepasst und es wird
errechnet, wie viele Raumdimensionen man mindestens
20.4.5 Auswertung und Interpretation benötigt, um die Original-Zeitreihe zu rekonstruieren. Je
von EEG/MEG komplexer, d. h. unvorhersagbarer der Prozess, umso mehr
Dimensionen weist der Phasenraum auf und umso häufiger
Frequenzen und Amplitude durchläuft die Zeitreihe (EEG, MEG) diese Phasenräume.
Trotz der synchronisierenden Wirkung der thalamischen Die Untersuchung einer Vielzahl kognitiver und emoti-
Kerne variieren Frequenz und Amplitude auch innerhalb onaler Leistungen ergab, dass die Dimensionalität des EEG
eines gegebenen Bewusstseinszustandes ganz erheblich an die Anzahl unabhängig aktiver Zellensembles (Kap. 24)
verschiedenen Punkten des Kortex. Je nach dem Ort der wiedergeben könnte. . Abb. 20.14 gibt sog. Chaos-Hirn-
ablaufenden Informationsverarbeitung werden einzelne karten für intelligente und weniger intelligente Personen
Hirnareale erregt (desynchronisiert) und oft benachbarte wieder. Dabei erkennt man, dass in Ruhe, ohne mentale
gehemmt. Eine exakte Analyse der Frequenzen, Phasen- Aufgabe, intelligente Personen eine höhere Komplexität
verschiebungen und Amplituden von möglichst vielen ihrer hirnelektrischen Vorgänge aufweisen. In Kap. 27 sind
Arealen ist deshalb für die meisten psychophysiologischen die kortikalen Dimensionalitäten beim Musikhören dar-
Fragen notwendig. gestellt.
20
20.4 · Elektro- und Magnetoenzephalogramm
477 20

G Mit Hilfe nicht-linearer Auswertungsverfahren lässt


sich das EEG/MEG auch als Abfolge unterschiedlich
komplexer Hirnzustände darstellen.

Interpretation des EEG


. Tabelle 20.2 gibt eine Übersicht der Zuordnungen ein-
zelner Frequenzbänder zu Bewusstseinszuständen. Dabei ist
nicht berücksichtigt, dass bei Analyse der topographischen
Verteilung der einzelnen Frequenzen an den verschiedenen
Regionen der Hirnrinde subtilere Aussagen über die Quali-
tät der informationsverarbeitenden Vorgänge möglich sind:
z. B. rechts- versus linkshemisphärische Desynchronisation
bei Gestalt- und Sprachaufgaben (Kap. 27) oder frontale ver-
sus okzipitale Alpha-Verteilung bei Blinden in bestimmten
Aufgaben.

Klinisches EEG
Im klinischen Bereich wird das EEG v. a. zur Diagnose und
Lokalisation von Anfallsleiden, zur Bestimmung des zerebra-
len Todes, zur Abschätzung von Vergiftungen auf die Hirn-
tätigkeit, in der Anästhesie zur Abschätzung der Narkosetiefe,
in der Pharmakologie zur Untersuchung von Pharmakawir-
kungen und in der Neurologie zur Abschätzung von zerebra-
len Störungen nach Durchblutungsproblemen verwendet.
Seine Bedeutung als Diagnoseinstrument für neurologische
Ausfälle nach Läsionen und zur Lokalisation von Tumoren
ist nach der Einführung bildgebender Verfahren (Abschn.
20.6) gering geworden. Zur Klassifikation und Behandlung
von Epilepsien stellt das EEG nach wie vor das zentrale Diag-
noseinstrument dar (Box 20.3).

G Die Geordnetheit (Komplexität) des EEG ist ein wich-


. Abb. 20.14. Komplexität des EEG bei intelligenten Personen in
Ruhebedingung bei Vorstellen und Konzentration im Vergleich zu tiger quantitativer Kennwert des EEG, der auch in
weniger intelligenten Personen (über und unter einem IQ von 100). der klinischen Diagnostik zur Vorhersage von epilep-
CTP Konzentrationsaufgabe: »continuous performance test« tischen Anfällen genutzt wird.

. Tabelle 20.2. Zuordnung von Aktivation und EEG-Frequenz

Verhaltenskontinuum EEG-Frequenz Verhaltenseffizienz


Konzentration der Aufmerksamkeit Lokale Gamma-Aktivität Unterschiedlich, hängt von tonischer Wachheit
und Einprägung und EEG-Hintergrundaktivität ab
Sehr starke Aktivierung Desynchronisiert, niedrige Amplituden, Schlecht; Kontrollverlust; desorganisiert;
(emotionale Erregung) β-Wellen Schreckreflex
Mäßige Aktivierung Gemischt schnelle Frequenzen Gut; effektiv; selektive, schnelle Reaktion
(wache Aufmerksamkeit) (kontrolliert)
Motorische Hemmung mu-Rhythmus Gehemmte Motorik, oft verbesserte
Aufmerksamkeit
Entspannter Wachzustand Synchronisation, deutlicher Alpha Gut für automatische Reaktionen (z. T. für
kreative Gedanken)
Dösen, schläfrig Alpha, Theta Schlecht; unkoordiniert; sporadisch
Leichter SWS (»slow-wave-sleep«); Theta, Vertexwellen, Schlafspindeln, K-Komplexe Reaktionen nur auf sehr starke oder bestimm-
tiefer SWS Delta, große, langsame Wellen ten Einstellungen entsprechenden Reizen
Koma Isoelektrisch und große langsame Wellen
Tod Isoelektrisch, zunehmendes Verschwinden elektrischer Aktivität
478 Kapitel 20 · Methoden der Biologischen Psychologie

Box 20.3. Anfallsleiden


Epilepsien (von griechisch epilepsia: ergreifen) haben die begrenzten Orten im Temporallappen, Amygdala-
Menschheit seit der Antike fasziniert. Valentin Braiten- Hippokampus und anderen funktionell wichtigen Hirn-
berg, einer der bedeutendsten Neuroanatomen, spricht regionen entstehen und sich von dort zu sekundär
vom »kurzen Weg vom Einfall zum Anfall«. Er meint damit, generalisierten Anfällen ausdehnen können. (Zur psycho-
dass ein Kontinuum von normaler Erregbarkeit bis zur physiologischen Behandlung Abschn. 28.6.)
Hyperexzitabilität des Kortex im epileptischen Anfall be-
steht. F. Dostojewski hat in seinem Roman »Der Idiot«
seine eigene Epilepsie in Gestalt des sensiblen Helden
Fürst Myschkin unnachahmlich beschrieben. Etwa 1% der
Bevölkerung leidet an einer der Epilepsien, ein Drittel da-
von spricht auf Medikamente oder Operation nicht an.
Die Ursachen sind vielfältig und reichen von Traumen bis
zu vererbten Formen. Gemeinsam ist allen Epilepsien,
dass ein Anfall eine extrem starke synchronisierte elek-
trische Erregung von Nervenzellenverbänden darstellt
(paroxysmale Depolarisation). Ein Teil der Anfälle kann im
EEG oder ECoG bereits eine Stunde bis Minuten vorher
durch Berechnung nicht-linearer Algorithmen (7 oben)
vorhergesagt werden. Das EEG verliert in dieser Zeit an
Komplexität.
Ein Grand-mal-Anfall erfasst weite Teile des Gehirns,
die Person verliert das Bewusstsein, in der tonischen
Phase kontrahieren sich die Muskeln, in der klonischen
Phase 1–2 min später kontrahieren und entspannen sie
rhythmisch (. Abb. a).
Petit-mal-Anfälle sind im EEG/MEG durch ein Spike/
Wave-Muster gekennzeichnet (. Abb. b), die 5–15 s
dauern, das Bewusstsein ist kurz unterbrochen, es fehlt
aber ein muskulärer Anfall.
Komplex-partielle fokale Anfälle sind sehr schwer
medikamentös zu behandeln, da ihre Anfälle meist an

20.5 Ereigniskorrelierte Hirn- Lösung dieses Problems – in einem »verrauschten« Prozess


potenziale und Magnetfelder ein Signal zu entdecken – die Mittelungstechnik verwendet.
Dasselbe Prinzip lässt sich auf EKP anwenden.
20.5.1 Messmethodik von ereignis-
korrelierten Hirnpotenzialen Mittelungstechnik
Bei Wiederholung ein und desselben Reizes, derselben
Definition Reaktion oder desselben psychischen Vorgangs geht man
Unter ereigniskorrelierten Hirnpotenzialen (EKP) verste- davon aus, dass der zugrunde liegende elektrokortikale Pro-
hen wir alle elektrokortikalen Potenziale oder Magnet- zess gleich oder zumindest ähnlich aussieht, während die
felder, die vor, während und nach einem sensorischen, EEG/MEG-Hintergrundaktivität in Bezug auf das Ereignis
motorischen oder psychischen Ereignis im EEG messbar zufällig verteilt ist. . Abb. 20.15 gibt die zunehmende Ver-
sind. EKP sind in der Regel von sehr viel kleinerer Ampli- besserung des Signal-Rausch-Verhältnisses mit Summie-
tude (1–30 μV) als das Spontan-EEG, das diese Potenziale rung der zeitsynchronen EEG-Aktivität wieder. Wie leicht
als »Rauschen« so stark überlagert, dass sie mit freiem Auge zu sehen ist, summieren sich Amplituden, die zum selben
in der Regel nicht sichtbar sind. Der Grund für die kleinen Zeitpunkt die gleiche Form und Phase haben, und werden
Amplituden der EKP liegt sowohl in ihrer stärkeren ört- zunehmend größer. Die variablen EEG-Wellen (einmal
lichen Lokalisation in den verschiedenen Kortexarealen, als positiv, einmal negativ) bleiben gleich oder werden kleiner.
auch an der Tatsache, dass sie seltenere Ereignisse sind als Die spezifischen Komponenten, also jene Spannungs-
die in Form und Amplitude ähnlichen, dauernd vorhan- schwankungen, die in unveränderlicher, immer gleicher
denen EEG-Wellen. In der Nachrichtentechnik wird zur Form auf den Reiz folgen, werden hervorgehoben und mit
20
20.5 · Ereigniskorrelierte Hirnpotenziale und Magnetfelder
479 20

Nach Cooper R, Osselton JW, Shaw JC (1980). Mit freundlicher Genehmigung von Elsevier.

. Abb. 20.15. Darstellung des Mittelungsprozesses. Mit zunehmender Anzahl der aufsummierten Durchgänge nimmt das Rauschen ab.
Die überlagerten Verläufe sind in der untersten Zeile dargestellt

zunehmender Summierung (größer werdender Reizzahl) und psychologischen Prozess so exakt wie möglich be-
deutlicher. Um die Originalgröße zu erhalten, bilden wir schreibt?
abschließend das arithmetische Mittel der summierten Auf diese Frage gibt es mehrere methodische Antwor-
Kurven. Alle hier beschriebenen Vorgänge werden heute ten. Jede der Methoden zur Bestimmung von unabhängigen
von Computern übernommen, die das Ergebnis sofort ver- Komponenten weist Vor- und Nachteile auf. Der einfachste
fügbar machen (Online-Analyse). Weg ist die Bestimmung der Amplituden zweier aufeinan-
der folgender Potenzialgipfel in einem bestimmten Zeit-
G Ereigniskorrelierte Hirnpotenziale oder Magnet-
raum (z. B. N100–P200 in . Abb. 20.16). Die Variation der
felder werden durch zeitsynchrone Mittelung aus
Amplituden in Abhängigkeit von experimentellen Bedin-
dem Hintergrundrauschen gefiltert.
gungen (z. B. aufmerksam versus unaufmerksam) stellt die
wichtigste Informationsquelle dar. Aus diesen Gipfel-zu-
Identifikation von Komponenten Gipfel-Analysen geht aber nicht hervor, ob den einzelnen
Nach Mittelung des EEG auf einen Reiz oder vor einer Wellen real unterschiedliche Prozesse zugrunde liegen; z. B.
Reaktion liegt meist eine komplexe Aufeinanderfolge kann eine Wellenform nur eine Nachschwankung (»re-
von Wellen vor, die unterschiedliche neurophysiologische bound«) der vorausgegangenen sein.
und damit unterschiedliche psychologische Vorgänge Wenn eine bestimmte Amplitude in einem gegebenen
repräsentieren. . Abb. 20.16 zeigt ein typisches EKP auf Zeitraum Variationen zeigt, die immer wieder bei verschie-
einen akustischen Reiz. Welche der dort sichtbaren Ab- denen Personen oder Tieren auftaucht, so nimmt man eine
schnitte stellt nun eine unabhängige und reliable Kompo- Komponente an. Mathematisch lassen sich solche unab-
nente dar, die einen spezifischen neurophysiologischen hängigen Komponenten über die sog. »Principal-compo-
480 Kapitel 20 · Methoden der Biologischen Psychologie

. Abb. 20.16. Schematische Darstellung eines akustisch evozier- riert, also relativ weit entfernt von dem Ableitungsort und der Schädel-
ten Potenzials (AEP). AEP (logarithmischer Maßstab der Zeitachse) oberfläche. Diese Gipfel werden daher auch »far field potentials« ge-
nach einem Warnsignal und einer Erwartungsphase, in der ein lang- nannt. Gipfel VI tritt in der Vertexableitung am zentralen Punkt des
sames Hirnpotenzial (»contingent negative variation«, CNV) auftritt. Schädels nicht hervor. Die mit N (negativ) und P (positiv) bezeichneten
Die Gipfel (»peaks«) I–VI werden zwischen akustischem Nerv und me- Gipfel repräsentieren Aktivität aus Thalamuskernen, dem akustischen
dialem Kniekörper des Thalamus (Corpus geniculatum mediale) gene- Kortex (ab ca. 15 ms) und Assoziationsarealen (ab ca. 50 ms)

nent«-Analyse (PCA) errechnen, die analog der in der Psy- oberen Olivenkern, IV und V im Colliculus inferior und VI
chologie gebräuchlichen Faktorenanalyse funktioniert im Geniculatum mediale des Thalamus.
(. Abb. 20.17). Die Verteilung, Phasen und Polarisations- Aus den Latenz- und Amplitudenverschiebungen dieser
variationen der Potenziale geben bei Berücksichtigung der Komponenten lassen sich Schlüsse auf eventuelle Unter-
Windungen und Täler der Hirnrinde Information über den brechungsorte und Störungen im akustischen Leitungs-
Ursprung in einem bestimmten Verarbeitungszentrum. system ziehen. Die Komponenten zwischen 10 ms und
100 ms nach einem Reiz entstehen zum Großteil in den
G Ereigniskorrelierte Hirnpotenziale zeigen eine Ab-
spezifischen primären Projektionsarealen des Neokortex.
folge charakteristischer Komponenten, die unter-
Alle Komponenten ab 50 ms zeigen Variationen in Ab-
schiedliche Phasen und Komponenten informations-
hängigkeit von psychischen Veränderungen und sind nicht
verarbeitender Prozesse darstellen.
mehr von den physikalischen Reiz- und Reaktionsbedingun-
gen allein abhängig. Sie werden als endogene Komponenten
Exogene und endogene Komponenten bezeichnet, da man den primären Ursprung ihrer Variabilität
Grundsätzlich gilt, dass die Amplitude einer Potenzial- innerhalb des Organismus vermutet (. Abb. 20.18). Wir be-
komponente mit der Anzahl funktionstüchtiger Neurone in sprechen diese ausführlich in Kap. 21 und 27.
dem Hirnabschnitt unter der Elektrode korreliert. Das Feh-
G Frühe exogene Komponenten ereigniskorrelierter
len, die Reduktion oder das Überschießen einer bestimm-
Potenziale spiegeln die physikalischen Reizeigen-
ten Amplitude erlauben uns daher Aussagen über den Funk-
schaften, späte Komponenten psychologische
tionszustand des Nervengewebes. Dies gilt v. a. für Kom-
Prozesse wider.
ponenten, die bis zu 100 ms nach einem sensorischen Reiz
auftreten: die exogenen Komponenten. . Abb. 20.16 zeigt
ein EKP nach einem einfachen akustischen Reiz (beachte 20.5.2 Entstehung langsamer
die logarithmische Zeitachse). Die Amplituden bis 100 ms Hirnpotenziale und Magnetfelder
ändern sich v. a. in Abhängigkeit von den physikalischen
Charakteristiken des Reizes, primär seiner Intensität. Die Komponenten und Topographie von langsamen
Wellen bis 10 ms bezeichnet man als Hirnstammpotenziale Hirnpotenzialen
(oder »far-field-potentials«), da ihre Komponenten in ver- Registriert man das EEG mit Gleichspannungsverstärkern,
schiedenen Umschaltstationen des akustischen Systems sodass auch langsame Veränderungen unter 1 Hz sichtbar
generiert werden und sich von dort bis an die Schädeldecke werden, so zeigen sich charakteristische Verschiebungen des
fortpflanzen. Welle II entsteht im Nucleus cochlearis, III im EEG in elektrisch negative oder positive Richtung. Da diese
20
20.5 · Ereigniskorrelierte Hirnpotenziale und Magnetfelder
481 20

. Abb. 20.18. Akustisches ereigniskorreliertes Potenzial. Blau


auf einen aufgabenrelevanten Ton, rot derselbe Ton ohne Bedeutung
(7 Text)

. Abb. 20.17 gibt den typischen Verlauf der LP in einer


Erwartungssituation wieder. Nach einem Warnreiz (S1) er-
folgt 6 s später ein zweiter imperativer Reiz (S2), auf den
die Person so rasch wie möglich reagieren muss. Unter
der summierten Rohkurve des EEG oben sind einige mit
Hilfe der PCA berechneten Komponenten aufgetragen.
Jede dieser Komponenten entspringt in verschiedenen
Hirnregionen und stellt einen unterschiedlichen Verarbei-
tungsprozess dar. Beispielsweise kommt die erste, frühe
Komponente aus dem präfrontalen Kortex, während die
späte Komponente stets in jenen Hirnregionen dominiert,
in denen der zweite Reiz verarbeitet oder die Reaktion vor-
bereitet wird: So finden wir z. B. bei Reaktion der linken
Hand auf S2 ein negatives Maximum über der rechten prä-
. Abb. 20.17a, b. Langsame Hirnpotenziale (LP). a gemittelte zentralen Windung. Die als PINV (»postimperative nega-
Kurve. Bei S1 wird ein akustischer Warnreiz dargeboten, 6 s danach tive Variation«) bezeichnete Negativierung dagegen tritt
erfolgt bei S2 ein imperativer akustischer Reiz, auf den die Person eine dann auf, wenn eine Erwartung verletzt wurde, z. B. wenn
Taste drücken muss. b 5 mathematisch errechnete »principal com-
bei S2 nicht die gewünschte Änderung in der Umgebung
ponents«, unabhängige Komponenten der oben dargestellten Kurve.
Eine »frühe« Komponente (ca. 1 s nach S1) repräsentiert die von S1
auftritt. Sie entspringt im vorderen Gyrus cinguli und Prä-
ausgelöste Erwartung, die »späte« Komponente die Vorbereitung auf frontalkortex.
S2 und Reaktion. Die positiven Wellen (P 300) hängen mit Orientierung
und Kurzzeitgedächtnis zusammen, die PINV (postimperative nega-
G Langsame kortikale Hirnpotenziale (LP oder SCP,
tive Variation) stellt eine Neumobilisierung bei unerwarteten Ereignis- »slow cortical potentials«) treten in Vorbereitungs-
sen dar und Planungssituationen auf.

Elektrogenese von langsamen Hirnpotenzialen


Gleichspannungsverschiebungen auf bestimmte Ereignisse LP und EKP stellen – wie schon in Abschn. 20.4.2 beschrie-
eher träge reagieren (selten schneller als 200–300 ms), spricht ben – lokale Verschiebungen synchroner postsynaptischer
man von langsamen Hirnpotenzialen (LP, »slow brain Potenziale der oberen Rindenschicht dar (. Abb. 20.12).
potentials«). Diese LP sind für die Psychologie von großer Negative LP treten immer dann auf, wenn es zu einer rela-
Bedeutung, da sie die Aktivität eines ausgedehnten neuro- tiven Erhöhung der Synchronisation einlaufender tonischer
nalen Systems widerspiegeln, das für die Planung und Mobi- Impulssalven an den apikalen Dendriten kommt. Das heißt,
lisierung zielgerichteten Verhaltens notwendig ist. mit zunehmender Gleichzeitigkeit (Synchronisation) der
482 Kapitel 20 · Methoden der Biologischen Psychologie

tonisch ununterbrochen ankommenden EPSP steigt die Neurophysiologische Grundlagen


Negativierung in der betroffenen Gruppe von neokorti- von langsamen Hirnpotenzialen
kalen Modulen. Wie schon oben erwähnt, sind negative LP Ausdruck
Die Negativierung dürfte primär auf kortikale cho- der Aktivität eines Mobilisierungssystems, das die Erre-
linerge Synapsen rückführbar sein, da die Blockade mit gungsschwellen ausgedehnter neokortikaler Netzwerke
Anticholinergika die LP reduziert. Positivierung ist ent- regelt. Damit wird die Entladungsbereitschaft einzel-
weder auf Nachlassen der synchronen thalamischen Ent- ner Netzwerke lokal schon vor der aktuellen Verarbeitung
ladungsrate oder aber auf eine Erregung der somanahen ankommender Erregung bzw. in Vorbereitung auf nicht-
Rindenschicht IV zurückzuführen (Dipolmodell, Ab- automatische Handlungen geregelt. Die gemessenen LP
schn. 20.4.2). Die funktionelle Bedeutung der Negativie- sind also stets das Resultat des momentanen labilen Gleich-
rung (Depolarisation) apikaler Dendriten liegt primär gewichts zwischen Erregungsbereitschaft (negativ) und
in der Tatsache, dass sie die synaptische Übertragung Hemmung dieser Bereitschaft (apikale Positivierung) oder
nachfolgender Impulse und das Auslösen von Aktions- Konsumation der Bereitschaft (somanahe Negativierung).
potenzialen am Axonhügel begünstigt. Negativierung Steigt die Erregungsschwelle über ein bestimmtes Ausmaß
der oberen Kortexschicht stellt somit elektrophysiologisch an, so wird eine Gegenregulation eingeleitet (mit ca. 50–
einen Mobilisierungszustand des betreffenden Areals 100 ms Latenz), die das betroffene Netzwerk wieder in ein
dar, während Positivierung entweder die Hemmung oder »mittleres« Erregungsniveau zurückregelt. Beim epilep-
den »Verbrauch« (Konsumation) der Mobilisierung (z. B. tischen Krampfanfall z. B. versagt dieser Gegenregula-
durch Impulssalven der Pyramidenzellen in Schicht IV) tionsmechanismus und die Erregungsschwelle sinkt
repräsentiert. In jedem Fall ist während Positivierung unkontrolliert (Negativierung). Extreme Feuerraten der
die Erregbarkeit des jeweiligen Kortexareals reduziert Pyramidenzellen mit entsprechenden Konsequenzen in
(Box 20.4). den Erfolgsorganen (Anfall) sind die Folge. Da dieses Sys-
tem der kortikalen Erregungsregulation gleichzeitig für
G Negativierung von LP mobilisiert die kortikalen die Steuerung motorischer und sensorischer Aufmerksam-
Zellen an den apikalen Dendriten, Positivierung keit verantwortlich ist, besprechen wir es ausführlicher in
reduziert die Erregbarkeit. Kap. 21.

Box 20.4. Langsame Hirnpotenziale und metabolische Hirnaktivität

Die Abbildung zeigt die simultane Registrierung lang- feedback, Abschn. 20.5.3). Man erkennt links darunter die
samer Hirnpotenziale und funktionelle Magnetresonanz- vermehrte Hirndurchblutung (rot) während Negativierung
tomographie (fMRT), während die Versuchsperson eine und die reduzierte Hirndurchblutung (grün) während korti-
kortikale Negativierung (oben rot) und eine kortikale kaler Positivierung.
Positivierung (oben grün) willentlich herstellt (über Bio-

Nach Hinterberger T et al (2005). Mit freundlicher Genehmigung von Wiley-Blackwell.

20
20.6 · Bildgebende Verfahren
483 20

Untersuchungen an der Katze und am Affen ergaben, 300 ms sind die einzelnen Verarbeitungsschritte nicht
dass für die antizipatorische Verteilung der Erregungs- bewusst: Bewusstes Erleben ist im Allgemeinen an hin-
schwellen z. B. nach einem Warnreiz am Neokortex die In- reichend synchrone Negativierung eines größeren Zell-
taktheit des präfrontalen Kortex und des vorderen Gyrus areals gebunden. In der Regel treten klar feststellbare Be-
cinguli Voraussetzung ist. Die negative Rückmeldung, über wusstseinsänderungen erst mit der ersten LP-Komponente
die ein übermäßig starkes Ansteigen der lokalen Erregungs- (auch CNV genannt, kontingente negative Variation von
schwellen verhindert wird, erfolgt über die Basalganglien. . Abb. 20.16 und 20.17) um 300 ms auf. Während die Nega-
Beide Systeme konvergieren im retikulären Thalamus als tivierung vor 100 ms (N100) im Wesentlichen auf das
gemeinsame Endstrecke, dessen tonisches Erregungsniveau primäre Projektionsareal beschränkt bleibt, breiten sich die
selbst wieder von dem »Aktivierungsfluss« aus der mesen- übrigen Potenzialanteile in verschiedenen Hirnregionen
zephalen Retikulärformation und den cholinergen Kernen aus, je nach den oft weit auseinanderliegenden Arealen, die
des basalen Vorderhirns abhängt (Kap. 5 und 21). an einem bestimmten Verarbeitungsschritt beteiligt sind.
G LP sind Ausdruck der Tätigkeit eines kortiko-sub- G Bewusste Informationsverarbeitung wird erst in
kortikalen Netzwerkes, das die Erregbarkeit des den späten, endogenen EKP und LP sichtbar und
Kortex innerhalb bestimmter Grenzen hält. erfordert synchrone Aktivierung ausgedehnter
neuronaler Netze.
20.5.3 Psychophysiologie langsamer
Hirnpotenziale 20.6 Bildgebende Verfahren

Instrumentelles Lernen von langsamen 20.6.1 Messung der Hirndurchblutung und


Hirnpotenzialen Positronenemissionstomographie
Wenn die LP-Negativierung ein relatives Übergewicht an
lokaler zerebraler Potenzialität widerspiegelt und Positi- O2-Verbrauch und Durchblutung bei vermehrter
vierung zerebrale Leistung, müssten Verhaltensweisen oder neuronaler Aktivität
Denkprozesse, die von einem bestimmten kortikalen Netz- Von den rund 250 ml Sauerstoff, die ein ruhender Mensch
werk ausgehen, während Negativierung effizienter und pro Minute verbraucht, nimmt das Gehirn einen, gemessen
während Positivierung fehleranfälliger werden. Dies wurde an seinem Gewicht, unverhältnismäßig hohen Anteil von
mit sog. biologischen Konditionierungs-Versuchen (»Bio- 20%, also 50 ml/min, für den Stoffwechsel seiner Neurone
feedback«) gezeigt: Personen können lernen, ihre eigene LP und Gliazellen in Anspruch. Den höchsten Bedarf hat dabei
über instrumentelle Versuchsanordnungen selbst zu regu- die Großhirnrinde, die etwa 8 ml Sauerstoff pro 100 g
lieren. Dabei werden sie für negative oder positive LP sys- Gewebe pro Minute verbraucht, während in der darunter
tematisch belohnt. Nach solchen Lernphasen, die detailliert liegenden weißen Substanz nur ein Verbrauch von etwa
in Kap. 21, 28 und 29 beschrieben werden, können die Per- 1 ml O2/100g/min gemessen wurde.
sonen ihre LP an den entsprechenden Regionen des Kortex Die Hirnrinde hat aber nicht nur einen ständig hohen
regulieren. Werden danach sensorische und motorische Grundbedarf an Sauerstoff (und Glukose!), sondern jede
Aufgaben dargeboten, die in umschriebenen Hirnregionen zusätzliche Aktivität in einer bestimmten Hirnregion führt
verarbeitet werden, so ist die Verhaltenseffizienz durch dort innerhalb von Sekunden zu einem erhöhten Sauer-
selbsterzeugte Negativierung für diese spezifischen Verhal- stoffverbrauch und einem entsprechend vermehrten Anfall
tensweisen aus der betroffenen Kortexregion erhöht. von Metaboliten. Diese sauren Stoffwechselprodukte wie-
derum erweitern die lokalen Arteriolen, was eine Erhöhung
G Langsame Hirnpotenziale können willentlich über
der lokalen Durchblutung zur Folge hat.
Biofeedback gesteuert werden. Damit hat die Person
Die Durchblutungszunahme kann u. a. durch die in
einen gewissen Einfluss auf die Erregbarkeit ihrer
. Abb. 20.19 skizzierte Methode der Messung der regiona-
Hirnrinde.
len Hirndurchblutung mit Hilfe eines in die Blutbahn ver-
brachten schwach und kurz radioaktiven Edelgases (z. B.
Informationsverarbeitung und EKP Xenon) erfasst werden. Sein Auftauchen in den verschiede-
Die Deutung von einzelnen Potenzialkomponenten als nen Hirnregionen wird mit seitlich am Kopf angebrachten
Substrate der Informationsverarbeitung beruht ausschließ- Geigerzählern gemessen. Die Strahlungsintensität hängt da-
lich auf experimental-psychologischen Befunden, die neuro- bei direkt von der lokalen Hirndurchblutung ab, die aus
physiologische Basis vieler Komponenten ist ungeklärt. dem Gesamtsauerstoffverbrauch des Gehirns und der Strah-
. Abb. 20.18 zeigt die EKP-Komponenten eines bedeut- lungsverteilung errechnet werden kann. Durch die radio-
samen und eines irrelevanten akustischen Reizes. Die Zu- aktive Markierung von Glukose, Sauerstoff und anderen im
ordnung an die einzelnen Stadien der Informationsverar- Blut transportierten Stoffen können verschiedene Aspekte
beitung wird in Kap. 21 und 28 ausführlich beschrieben. Bis des Hirnstoffwechsels sichtbar gemacht werden, die aber alle
484 Kapitel 20 · Methoden der Biologischen Psychologie

. Abb. 20.19a, b. Messung der regionalen Hirndurchblutung des ruhenden Gehirns wurde als 100% bezeichnet. Nur Regionen,
mittels intraarterieller Injektion von radioaktivem Xenon (133Xe). die in ihrer Durchblutung um mehr als 20% nach oben (gefüllte rote
a Überblick über die Methodik. b Maxima und Minima der regionalen Kreise) und nach unten (blaue Kreise) abweichen, sind eingetragen.
Hirndurchblutung auf der sprachdominanten (linken) Seite in Ruhe Die Einsatzfigur rechts oben in a zeigt die Durchblutungsveränderun-
und bei 7 verschiedenen Hirnaktivitäten. Die Gesamtdurchblutung gen beim lauten Zählen (verstärkte Aktivität zunehmend rot)

eng mit der lokalen Durchblutung oder dem Durchblu- Regionale Hirndurchblutung bei mentaler Arbeit
tungsvolumen korreliert sind (. Abb. 1.1 und 20.21). Ergebnisse solcher Messungen an gesunden Versuchs-
personen zeigt für die linke Hemisphäre . Abb. 20.19. In
G Zur Messung der regionalen Hirndurchblutung
Ruhe, also bei einem typischen Alpha-Wellen-EEG, sind
werden unschädliche radioaktive Substanzen oder
die Stirnhirnregionen deutlich stärker durchblutet als
Gase eingespritzt, die sich bevorzugt in gut durch-
die übrigen Hirnareale. Nichtschmerzhafte Hautreizung
bluteten, d. h. aktiven Hirnarealen ausbreiten.
an der rechten Hand (Berührung) verändert das Durch-
blutungsbild nur unwesentlich. Bei leicht schmerzhaften
Reizen (Schmerz) steigt die Gesamtdurchblutung (Pro-
20
20.6 · Bildgebende Verfahren
485 20

zentzahlen über jeder Hirnskizze) deutlich an, v. a. über unter den Detektoren liegt, erfassen kann, wird mit der
den postzentralen Hirnregionen, wo der Schmerzreiz ver- Positronenemissionstomographie (PET) das gesamte Ge-
arbeitet wird. hirn vermessen. Die PET-Technologie basiert auf dem
Auch bei willkürlichem, rhythmischem Öffnen und raschen radioaktiven Zerfall von Positronen in Radio-
Schließen der rechten Hand (Handbewegung) steigt die isotopen. Die positiv geladenen Teilchen (Positronen)
Gesamtdurchblutung an. Gleichzeitig erhöht sich die lokale werden vom Atomkern eines instabilen Radioisotops ab-
Durchblutung im linken somatosensorischen Gyrus post- gestoßen: Zum Beispiel hat der Kern des am meisten be-
centralis und den benachbarten Anteilen des Scheitelhirns. nutzten 15O 8 Protonen und 7 Neutronen (der normale
Sprechen und Lesen führen links zu einer Z-förmigen Ver- Sauerstoff der Luft 16O hat 8 Protonen und 8 Neutronen).
teilung der Durchblutungsmaxima, die beim Lesen bis Nach wenigen Millimetern im Hirngewebe wird das Pro-
in die visuellen Areale des Hinterhauptlappens reichen. Bei ton von der negativen Ladung eines Elektrons angezogen,
Denk- und Rechentests (Nachdenken und Zählen) erhöht sie treffen aufeinander, kollidieren und verschmelzen
sich die Gesamtdurchblutung, und es treten Maxima vor (. Abb. 20.20).
und hinter der Zentralfurche auf. Die Verschmelzung (Annihilisation) setzt mit hoher
Energie 2 Annihilisationsphotone frei, die in entgegenge-
G Das ruhende Gehirn hat einen hohen Stoffwechsel,
setzter Richtung den Kopf mit Lichtgeschwindigkeit ver-
der sich bei Zunahme der Neuronenaktivität weiter
lassen. Multiple Photone bilden die Gammastrahlung, die
steigert; die vermehrt anfallenden Metaboliten
nun den Kopf verlässt und von 2 gegenüberliegenden Strah-
erweitern die lokalen Arteriolen und bewirken
lungsdetektoren registriert werden. Die beiden Detektoren
dadurch eine erhöhte Durchblutung.
geben nur dann ein Signal, wenn sie gleichzeitig getroffen
werden: Dies wird Koinzidenzschaltung genannt. Die Zahl
PET-Prinzip der simultanen Kollisionen wird gezählt und die Zählungen
Während die Messung der regionalen Hirndurchblutung in ein Bild (»image«) des Blutflusses (viel 15O) für eine Mi-
nur den Kortex, der direkt an der Schädeldecke und somit nute nach der Injektion übersetzt.

. Abb. 20.20. Die Positronenemissionstomographie (PET). Links aufgezeichnet. Unten verschiedene horizontale Schichten, die simul-
PET-Prinzip: Ein Positron und ein Elektron kollidieren im Hirngewebe tan mit der Koinzidenzschaltung erfasst werden können (Erläuterung
und verschmelzen (Annihilisation). Die Annihilisationsphotonen 7 Text)
werden von einem Strahlungsdetektor außerhalb des Kopfes (rechts)
486 Kapitel 20 · Methoden der Biologischen Psychologie

G Injizierte oder eingeatmete Positronen von Radio-


isotopen verschmelzen mit den Elektronen der-
selben Moleküle und senden Gammastrahlung aus
dem Kopf.

PET-Kamera
Eine PET-Kamera besteht aus vielen Strahlungsdetektoren,
die in Form eines Ringes um den Kopf der Versuchsperson
angebracht ist (. Abb. 20.20 und . Abb. 20.21). Jeder Detek-
tor ist in Koinzidenz mit vielen anderen gegenüber liegenden
Detektoren geschaltet, wodurch die Genauigkeit und Auflö-
sung der Zahl messbarer Hirnschichten weiter erhöht wird.
Verschiedene Radioisotope, nicht nur von Sauerstoff,
sondern auch von Wasser, Fluor, Kohlenstoff, Stickstoff,
L-DOPA und viele andere Transmitter können injiziert und
deren Aktivitätsverteilung im Gehirn studiert werden. Denn
dort, wo die meisten Moleküle der jeweiligen Substanz vor-
handen sind, werden die Gammastrahlen entstehen.
Das örtliche Auflösungsvermögen von PET liegt bei
a etwa 4 mm, die zeitliche Auflösung in vielen Sekunden bis
Minuten. Da die benötigten Isotope eine kurze Halbwerts-
zeit haben, muss ein Zyklotron in unmittelbarer Nähe
liegen. Im Zyklotron werden zusätzliche Protonen in Atom-
kerne von Elementen eingeführt, die normalerweise gleich
viel Protonen und Neutronen aufweisen. Dadurch wird
PET zur teuersten neurowissenschaftlichen Methodik.
G Die Positronenemissionstomographie (PET) erlaubt
die Messung verschiedener Stoffwechselprodukte
im lebenden Gehirn des Menschen.

20.6.2 Magnetresonanztomographie

Prinzip der Magnetresonanztomographie


Die Magnetresonanztomographie (MRT) benutzt die seit
1946 bekannte Erscheinung der kernmagnetischen Reso-
nanz (»nuclear magnetic resonance«, NMR, »magnetic
resonance imaging«, MRI), um Dichte und Relaxations-
zeiten magnetisch erregter Wasserstoffatomkerne (Protonen)
im menschlichen Körper zu erfassen. Beide Parameter –
b Dichte und Relaxationszeiten – können als Funktion des
. Abb. 20.21a, b. Glukose-PET. Durchblutungsmaxima einer Ver- Ortes mittels bildgebender Systeme dargestellt werden.
suchsperson (a) und eines schizophrenen Patienten (b) gemessen NMR basiert auf dem Grundprinzip des Drehimpulses
über die lokale Aufnahme von Glukose durch die Nervenzellen. Ver- (Spin) geladener Teilchen, wobei der Kern (Proton) des Was-
suchsperson und Patient haben die Augen geschlossen, sie erhalten
schwache elektrische Reize auf einen Arm. Areale mit hoher Glukose-
serstoffatoms (H+) das größte magnetische Moment auf-
aufnahme erscheinen rot. Der Patient hat im Vergleich zur Versuchs- weist (. Abb. 20.22 und 20.23a). Zunächst bringt man den
person eine erhöhte Stoffwechselaktivität im Okzipitalbereich (unten) Organismus in ein starkes statisches Magnetfeld (1–7 Tesla).
und im Temporallappen, jedoch eine erniedrigte im Frontallappen Dadurch werden die Protonen, die üblicherweise ungeord-
(oben) (zur Erläuterung Kap. 28) net rotieren, in eine Richtung gebracht (»alignment«). Legt
man nun zusätzlich ein externes starkes magnetisches Feld
mit einem Radiofrequenzpuls derselben Frequenz, in der
die Protonen rotieren an, so führt die Abweichung von der
bevorzugten Ausrichtung der Felder zur Präzession (Aus-
lenkung) um die Feldachse. Dies nennt man Resonanzbe-
20
20.6 · Bildgebende Verfahren
487 20

c d

. Abb. 20.22a–d. Magnetresonanztechnik. a Der Patient ist von Richtungen (b). Starke Hochfrequenzradioimpulse treffen auf die Pro-
Elektromagneten umgeben, die starke magnetische Feldimpulse tonen, wodurch sie um ihre Achse zu rotieren beginnen (Präzession)
(1–7 Tesla) erzeugen. Die Feldimpulse führen zur Auslenkung der Was- (c). In wenigen Sekunden kehren die Protonen in die Ausgangslage
serstoffatome, die besonders in gut durchblutetem Gewebe vorhan- zurück und geben dabei schwache hochfrequente Radiowellen ab, die
den sind. Diese Kerne der H+-Atome (Protonen) sind normalerweise in von einem sensitiven Empfänger registriert werden (d)
alle Richtungen ausgerichtet, das Magnetfeld lenkt sie in parallele

. Abb. 20.23a, b. Grundlagen der Magnetresonanztomographie. im Magnetfeld (Alignment). 3. Ein Radiofrequenzpuls bringt die Pro-
a Verhalten von Protonen im magnetischen Feld und bei Auslenkung tonen zur Rotation (Präzession). 4. MR misst vertikale und horizontale
durch Radiofrequenzpulse. 1. Chaotische Ausrichtung und Rotation Komponente der Auslenkung. b T1 (horizontale) und T2 (vertikale
(spin) der Protonen im Magnet-freien Raum. 2. Parallele Ausrichtung Quer-) Relaxationszeiten (Erläuterung 7 Text)
488 Kapitel 20 · Methoden der Biologischen Psychologie

Nach Kandel ER, Schwartz JH, Jessell TM (2000). Mit freundlicher Genehmigung von Elsevier.
. Abb. 20.24a–d. Dreidimensionale Verschlüsselung des bringt (a). Danach wird dieser »slice« (von a) wiederum in Reihen
MR-Signals. Die Signale, die aus einem dreidimensionalen Volumen und Spalten zerlegt, deren Feldstärke des Magnetfelds entlang einer
entspringen, werden so verschlüsselt, dass sie zuerst einen einzigen zweiten Raumachse variieren. Die Rotation (Präzession) der Protonen
Schnitt vom Gewebe (»slice«) erregen, dann werden unterschiedliche ist an jedem Platz verschieden. Wenn also der zweite magnetische
Gradienten angelegt, die das Gewebe in Reihen und Spalten aufteilen. Gradient abgeschaltet wird, so behält jede einzelne Reihe von Pro-
Die Person wird in ein magnetisches Feld gelegt, dessen Stärke ent- tonen ihre spezifische Phase (b). Der »slice« wird weiterhin in Reihen
lang einer Achse abfällt. Im MR-Gerät ist der Patient von einer Röhre geteilt, indem man das vertikale Magnetfeld so abstuft, dass die Pro-
eingeschlossen, die von magnetischen Spulen umgeben ist, hier tonen in jeder Reihe in einer unterschiedlichen Frequenz rotieren
werden die Magneten einfach als Platten gezeigt. Diese Art von Gra- (präzessieren) (c). Mit dieser Enkodierung wird jedes Pixel in einem
dientenschaltung teilt also das Gewebe in viele »slices«. Ein bestimm- »slice« sein spezifisches, charakteristisches Signal abgeben (d); mit
ter »slice« ist durch einen spezifischen Radiofrequenzpuls charakteri- der sog. Fourier-Transformation identifiziert man dann jedes einzelne
siert, der die Protonen in dem gewünschten Magnetfeld in Resonanz Signal aus jedem Pixel

dingung. Die Winkelgeschwindigkeit der Kernpräzession einen Hochfrequenzimpuls, dessen Frequenz mit derjeni-
ist dabei proportional zur Feldstärke. Je stärker das Magnet- gen der Kernpräzession übereinstimmt (. Abb. 20.23). Das
feld, umso schneller rotieren die Protone (Lamor-Frequenz, Abklingen des Prozesses, also die Relaxationszeiten, hängen
z. B. bei 1 Tesla 42,5 MHz). Danach kehren die Protonen in auch von der Moleküldichte ab (so dreht sich ja auch ein
ihre Ausgangsposition zurück (Relaxation) und geben da- Kreisel im Wasser anders als in der Luft). Sorgt man dafür,
bei je nach den Gewebeeigenschaften schwache elektrische dass das magnetische Grundfeld über dem Messvolumen
Ströme mit bestimmten Frequenzen ab. (Gehirn) stark variiert (. Abb. 20.24a), in einem Punkt je-
doch ein Extrem annimmt, so kann man den Kernresonanz-
G Die Magnetresonanztomographie benützt die
empfänger auf die Präzessionsfrequenz des Extrems ab-
Auslenkung und Relaxation von Protonen in starken
stimmen und erhält nur Kernresonanzsignale, die von der
Magnetfeldern als Messprinzip.
Umgebung des »empfindlichen Punktes« mit einer be-
stimmten Magnetfeldstärke herrühren (. Abb. 20.24). In
Gepulste Kernresonanz der Praxis wird dann aus tausenden räumlichen Punkten
Bei der gepulsten Kernresonanz stört man die Ausrichtung ein Bild aufgebaut. Die Auflösung des Bildes ist durch ther-
der Protonen in bestimmten zeitlichen Abständen durch misches Rauschen und die Dämpfung durch die Leitfähig-
20
20.6 · Bildgebende Verfahren
489 20

keit des menschlichen Körpers begrenzt. Da die Zeit für RF-Pulse in unterschiedlicher Stärke an unterschiedlichem
einzelne Projektionen wenige Sekunden oder nur Sekun- Ort. Zum Beispiel ist das Magnetfeld am oberen Ende des
denbruchteile beträgt, können – in Abhängigkeit der Rela- Kopfes stark, am unteren schwach. Das Gewebe wird da-
xationszeiten – auch schnelle Veränderungen in der Ge- durch in Schnitte (»slices«) zerlegt, die in jedem »slice« die
hirnaktivität sichtbar gemacht werden (funktionelle MRT Protonen unterschiedlich stark magnetisieren. Gleichzeitig
– fMRT). Medizinische Risiken der MRT sind nicht bekannt. wird der Kopf der Person von Spulen (»coils«) mit Radio-
Allerdings könnten solche aus der Induktion (v. a. schnell frequenzsendern umgeben, die im rechten Winkel zum
veränderlicher) Ströme durch die angelegten Felder er- Magnetfeld stehen, aber auch wieder in ihrer Stärke »slice«
wachsen. für »slice« abgestuft werden; schließlich wird die drei-
dimensionale Abbildung geschlossen, indem man noch eine
G Wenn das Magnetfeld über dem Messvolumen
Gradientenebene mit vertikalen Magnetfeldern unter-
(Kopf) variiert, so bewirkt dies systematisch unter-
schiedlicher Frequenz hinzufügt, sodass die Protonen in
schiedliche Anregungen (Spins) und Relaxations-
jeder Schnittebene mit einer charakteristischen Frequenz
zeiten, aus denen man den Ort der jeweiligen Ände-
rotieren (»precessing«). Jeder Ort im Raum (Pixel) kann da-
rung rekonstruieren kann.
mit durch eine dreidimensionale Raumkoordinate aus Fre-
quenzen mit Fourier-Transformation identifiziert werden
Relaxationszeiten T1 und T2 (. Abb. 20.24).
Die wichtigsten Maßzahlen der MR-Technologie, die die
G Durch räumlich variierende Magnetfeld- und Radio-
Gewebe zu charakterisieren erlauben, sind – wie erwähnt
frequenzgradienten kann mit Fourier-Transforma-
– die Relaxationszeiten der sich wie Kreisel drehenden
tion die Quelle der Aktivität identifiziert werden.
Protonen. Nachdem also die Protonen durch das starke
statische Magnetfeld (1–7 Tesla) aus ihrem chaotischen
Rotieren in dieselbe Richtung des vertikalen Magnetfeldes Funktionelle Magnetresonanztomographie
gebracht werden, lenkt sie der im rechten Winkel horizon- (fMRT)
tal angebrachte Hochfrequenzimpuls (HF- oder RF-Puls, Veränderungen des zerebralen Blutflusses, ablesbar an der
RF = Radiofrequenz) aus ihrer streng vertikalen Richtung lokalen Sauerstoffanreicherung, können mit hoher Zeit-
in eine nun nach horizontal ausgelenkten Kreisbewegung und Ortsauflösung im MRT gemessen werden. Wenn Hä-
(. Abb. 20.23a). Bei Abschalten des RF-Pulses kehren die moglobin (Kap. 10) im venösen Blut mit Sauerstoff ange-
Protonen schnell in ihre Ausgangslage zurück (Relaxation); reichert wird (z. B. durch den Sauerstoffverbrauch beim
den Verlauf dieser Rückkehrkurve nennt man T2 (Querrela- Denken), ist es weniger paramagnetisch und diese Ände-
xation), vergleichbar der Zeitkonstante im EEG, also die Zeit rung ergibt bei Anlegen hoher Magnetfelder von 1,5–7 Tesla
bis eine Spannung auf 2/3 ihrer Ausgangsspannung zurück- in der Umgebung der Gefäße deutliche Differenzen der
gekehrt ist (. Abb. 20.23). Gleichzeitig aber verlieren die Feldstärken im Vergleich zur Umgebung. Wenn die Nerven-
Protonen den durch den horizontalen Magnetpuls angereg- zellen nach Reizung (»Denken«) aktiv werden, kommt es zu
ten synchronen Drehimpuls und gehen auch in horizontaler höherer Anreicherung von sauerstoffreichem Blut in der
Richtung außer Phase (»dephasing«). Diese Zerfallszeit bil- Umgebung der Zellen als abgebaut werden kann. Die Pro-
det sich in der T1-Funktion ab (Längsrelaxation) (beide tonen des mit O2-angereicherten Oxyhämoglobin haben
Buchstaben T kommen von transversaler Magnetisierung). eine langsamere T2-Relaxationszeit, sie kehren viel lang-
. Abb. 20.23b zeigt, dass für verschiedene Gewebe T1 und samer in den »Außer Phase«-Zustand zurück als das Des-
T2 spezifische Verläufe haben, man misst sie in der Regel oxyhämoglobin, das im inaktiven Zustand der Nervenzellen
wie Zeitkonstanten, nachdem sie 2/3 ihres Weges hinter sich dominiert. Daher ist das Magnetresonanzsignal, das die
haben, das resultierende MR-Bild wird als T1- oder T2-ge- Antennen des MR-Scanners auffangen, viel stärker, z. B.
wichtet bezeichnet. wenn mehr Hämoglobin, also mit Sauerstoff angereichertes
Blut, an dieser Stelle ist. Diesen Effekt nennt man BOLD-
G Die Abklingzeiten T1 und T2 von ausgelenkten Proto-
Effekt (»blood oxygenation level dependent«). . Abb. 20.25
nen sind für verschiedene Gewebe unterschiedlich.
zeigt die vom Computer rekonstruierten Maxima im visu-
Für graue und weiße Substanz ergeben sich dadurch
ellen Kortex einer Versuchsperson nach Reizung des rech-
unterschiedliche Kontraste.
ten visuellen Feldes mit einfachen Lichtblitzen. Die lokale
Aktivierung im kontralateralen primären Feld ist gut
Gradientenschaltung sichtbar.
Wie kann man nun bestimmen, von wo im Gehirn ein
Radiofrequenzsignal von einem in T1 oder T2 abklingen- G Der BOLD-Effekt beruht auf der Tatsache, dass
den »Protonenschwarm« kommt? Wir haben dies für die sauerstoffreiches Blut eine langsamere Relaxations-
Magnetfelder bereits oben beschrieben, man schaltet so- zeit T2 aufweist und damit aktive Hirnareale
wohl das statische Magnetfeld wie auch die angelegten hervorgehoben werden.
490 Kapitel 20 · Methoden der Biologischen Psychologie

G Die funktionelle Magnetresonanztomographie


(Kernspintomographie) mit Echo- Planar-Imaging
Modifiziert nach Daten aus Belliveau JW et al (1991). Mit freundlicher Genehmigung

stellt ein örtlich besonders gut auflösendes bildge-


bendes Verfahren dar. Blutflussänderungen können
nach 3 s mit Millimetergenauigkeit im gesamten
Gehirn erfasst werden.

Magnetresonanzspektroskopie
Eine Weiterentwicklung der MRT stellt die Magnetresonanz-
spektroskopie (MRS, »magnetic resonance spectroscopy«)
dar. Gegenüber PET und MRT hat MRS den Vorteil, auch
die chemische Zusammensetzung von Gewebe zu berück-
sichtigen und damit metabolische Charakteristika bzw.
Veränderungen aufdecken zu können. Wie bei der MRT
basiert auch die MRS auf den magnetischen Eigenschaften
von Atomkernen mit ungepaarten Protonen und Neutro-
von Science.

nen und der Möglichkeit, durch ein starkes magnetisches


Feld eine Auslenkung der dominanten Kreisel-Frequenz
herbeizuführen. Die Präzessionsfrequenz ist nicht nur
. Abb. 20.25. Funktionelle Magnetresonanztomographie (fMRT)
des lokalen zerebralen Blutflusses im visuellen Kortex des durch die Stärke des externen Magnetfeldes determiniert,
Menschen. Erhöhung des Blutflusses im linken primären visuellen sondern auch durch die das Proton umgebenden Elek-
Areal nach Reizung des kontralateralen Feldes in roter Farbe tronenwolken. Das Ausmaß der Veränderung in der Reso-
nanzfrequenz für einen gegebenen Molekülkern variiert
mit der umgebenden Wolke, sodass man von einer che-
Echo-Planar-Imaging (EPI) mischen Verschiebung (»chemical shift«) spricht. Auf diese
In der klassischen MR-Technik muss man vor erneutem An- Weise kann man für verschiedene neurochemische Ele-
legen eines Magnetfeldes und Radioimpulses mindestens mente, die solche unterschiedlichen Elektronenwolken auf-
0,4–2 s warten, bis sich die Kernspins »erholen« und in ihre weisen, Dichtespektren bestimmen und damit ihre mög-
Ausgangslage vor dem Beschuss durch die Radiofrequenz liche Beteiligung an – normalen oder auch pathologischen
zurückkehren. Damit könnten nur relativ selten Bilder re- – Hirnfunktionen untersuchen.
konstruiert werden, bedenkt man die hohe Geschwindigkeit Leider werden nur Metabolite erfasst, die in großer
elektrischer Hirnprozesse in Millisekunden. Um dieses Prob- Menge an dem angegebenen Ort des Gehirns vorhanden
lem zu lösen, wird zunächst vor der Rückkehr der Spins in sind. Dazu gehören aber auch wichtige Substanzen wie
die Ausgangsstellung (. Abb. 20.23) ein zweiter »Echo«-Im- Glutamin und Glutamat, Cholin und N-Azetylaspartat
puls von dem Radiofrequenzsender ausgelöst und die Dichte (NAA). Besonders reizvoll für den Biologischen Psycholo-
der Protonen für den gegebenen Magnetfeldwinkel in den gen ist dabei die Messung der metabolischen Veränderun-
3 Raumdimensionen gezählt. Schließlich werden nach dem gen bei unterschiedlichen Verhaltensweisen.
ersten und zweiten Echo-Impuls die Gradienten des Mag-
G Mit Magnetresonanzspektroskopie lässt sich die
netfeldes rasch geändert (in weniger als 100 ms Intervallen),
Dichte einzelner neurochemischer Substanzen im
sodass die variierenden Resonanzfrequenzen extrem schnell
Nervengewebe lokal bestimmen.
erfasst werden können.
Da aber Blutflussänderungen und damit die Oxy-
genierung und Protonendichte aus metabolischen Grün- Diffusions-Tensor-Bildgebung
den nicht schneller als 1–3 s auf Änderungen der Erregbar- Beim Menschen können die Faserverbindungen im leben-
keit von Neuronen folgen, ist die Zeitauflösung der fMRT den und intakten Gehirn heute nichtinvasiv mit fMRT bild-
auch mit EPI prinzipiell auf 3 s beschränkt. In Kombina- haft dargestellt werden: Mit Diffusions-Tensor-Bildgebung
tion mit MEG/EEG stellt aber fMRT zur Zeit das zeitlich (»diffusion-tensor-imaging«) lässt sich die Vorzugsrich-
und örtlich optimal auflösende Messverfahren in den tung der Molekularbewegung von Protonen bestimmen.
Human-Neurowissenschaften und der Biologischen Psy- Mit der Weiterleitung der Nervenimpulse entlang der Axone
chologie dar. bewegt sich auch der Energiefluss (in Form des Blutes und
somit Wasser und seine Protonen). Durch Ausrichtung der
Magnetfeldgradienten in die Flussrichtung lässt sich das
Verschwinden des Magnetresonanzsignals entlang einer
Nervenfaser messen und mit der sog. Tensorrechnung re-
konstruieren.
20
20.6 · Bildgebende Verfahren
491 20
20.6.3 Optische Bildgebung daher reduziertes Hämoglobin im Kapillarblut fließt (Kap.
10). Bleiche Hautfarbe zeigt Anämie an, gelbe Farbe indi-
Das Lambert-Beer-Gesetz ziert zuviel Bilirubin durch Leberversagen (Kap. 12). Das
Jedes Gewebe wechselt mit einer Änderung seines funk- Nervensystem und seine Zellen verhalten sich nicht anders.
tionellen Zustandes auch seine optischen Eigenschaften. Wenn Lichtquanten (Photone) in das Gewebe eindringen,
So verfärben sich die Haut und Schleimhäute blau-rot werden sie absorbiert, verlieren Energie oder sie erzeugen
(Zyanose), wenn der Sauerstoffgehalt im Blut abnimmt und Fluoreszenz; sie werden mit unveränderter Frequenz bei

Modifiziert nach Rosenzweig MR, Leiman LA, Breedlove SM (2005). Mit freundlicher
Genehmigung von Sinauer.

. Abb. 20.26a–d. Optische Bildgebung mit Nah-Infrarot-Spek- von hellen Balken (c), die hier zur besseren Anschaulichkeit je nach
troskopie. a, b Darstellung okularer Dominanzsäulen (Kap. 17), c, d Richtung in Farbkodierung wiedergegeben sind, findet man an eini-
von Orientierungskolumnen. In a werden Bänder von Neuronen sicht- gen Stellen des scheinbar ungeordneten Aktivitätsmusters in V1 (d)
bar, wenn das Licht aus V1 der rechten okzipitalen Region nach Ab- ein Windmühlen-artiges Aktivitätsmuster: Jede Orientierung ist an
deckung des rechten Auges reflektiert wird. Der Affe betrachtet ein einer bestimmten Stelle streng aufeinander folgend repräsentiert.
umspringendes Schachbrettmuster. Die kortikalen Regionen, die Weitere Erläuterungen 7 Text
stärker aktiv sind, werden schwächer reflektiert (b). Bei Darbietung
492 Kapitel 20 · Methoden der Biologischen Psychologie

stationärem Gewebe zerstreut, oder bei bewegten Partikeln reflektierten Lichtes vom Areal V1 des okzipitalen Kortex
(z. B. Hämoglobin) treten Doppler-Verschiebungen auf den Aktivitätsanstieg der Zellen der okularen Dominanz-
(Frequenzveränderungen durch Zu- u. Wegbewegung von säulen vom linken Auge, während die okularen Dominanz-
Licht- oder Schallquelle). Biologisches Gewebe ist besonders säulen des rechten Auges still bleiben. Präsentiert man einen
durchlässig für Licht in der Nähe des Infrarotspektrums Lichtbalken in wechselnder Orientierung (. Abb. 20.26c),
(700–1000 nm), deshalb werden für Hirngewebe Nah-Infra- so erhält man scheinbar ein ungeordnetes Aktivitätsmuster
rotspektroskopie-Geräte (NIRS) verwendet. Die Konzent- (. Abb. 20.26d), das aber an bestimmten Stellen ein völlig
ration der Photonen in einem angestrahlten Gewebe wird geordnetes, radial sich bewegendes, Aktivitätsmuster (ver-
nach dem modifizierten Lambert-Beer-Gesetz von einem größerter Ausschnitt) ergibt. Jede Orientierung ist an einem
Empfänger (Detektor) berechnet: Dabei ist die Licht- bestimmten Ort mit maximaler Aktivität repräsentiert.
absorption proportional der Substanzkonzentration (z. B. Für die klinische Anwendung in Psychologie und
Hämoglobin) und der Distanz, die die Photonen unter Medizin wird die optische Bildgebung, die billig und völlig
Lichtverlustdifferenz zwischen den 2 interessierenden Zu- unschädlich ist, von großer Bedeutung werden: Man kann
ständen im Gewebe überwinden müssen (. Abb. 20.26). das Licht durch die Schädeldecke senden und sich frei mit
den Sendern und Empfängern bewegen. Zerebrovaskuläre
G Durch Messung der Lichtabsorption im durchblu-
Störungen und Alzheimer-Erkrankung gehen mit reduzier-
teten Hirngewebe lassen sich stark von schwach
ter vaskulärer Aktivität einher. Bei epileptischen Anfällen
durchbluteten Arealen trennen; dies wird Nah-Infra-
oder starken Depolarisationen um eine Hirnläsion herum
rotspektroskopie genannt.
steigt die Hämoglobinkonzentration ebenso wie bei vielen
kognitiven Tätigkeiten.
Anwendung optischer Bildgebung
. Abb. 20.26 zeigt eine typische Anwendung optischer G Optische Bildgebung (»optical imaging«) erlaubt
Bildgebung zur Visualisierung okularer Dominanzsäulen die nichtinvasive Messung physiologischer Verände-
(Kap. 17) und Orientierungskolumnen. Wenn der Affe die rungen der Hirnaktivität durch photographische
umspringenden Schachbrettmuster (. Abb. 20.26a) nur mit Erfassung der Reflexion und Absorption von Licht
einem Auge betrachtet, sieht man bei der Registrierung des aus dem Hirngewebe.

Zusammenfassung
Kausale Beziehungen zwischen Gehirn und Verhalten Elektroenzephalographie (EEG), Elektrokortikogra-
erfordern die gleichzeitige (simultane) Erfassung von phie (EcoG) und Magnetoenzephalographie (MEG)
neuronalen und psychologischen Maßen: 5 bilden die neuronalen und psychischen Prozesse zeit-
5 invasive Methoden der Biologischen Psychologie, wie getreu ab;
die Läsionsmethode und histologische Präparation 5 erlauben Quantifizierung von Zeit und Ort der Infor-
von Hirngewebe; sie können zwar in der Regel nur mationsverarbeitung im Gehirn;
im Tierversuch eingesetzt werden, bilden aber die 5 erlauben keine Aussage über strukturell-anatomische
Grundlage unseres Wissens über Hirn-Verhaltens- und metabolische Veränderungen während geistiger
Beziehungen; Tätigkeit.
5 histologische Präparation von Hirngewebe;
5 Läsionsmethode zum Studium der Verhaltensausfälle; Bildgebende Verfahren umfassen
5 elektrische und magnetische Hirnreizung (TMS, tDCS). 5 Messung regionaler Hirndurchblutung (rCBF),
5 Positronenemissionstomographie (PET),
5 funktionelle Magnetresonanztomographie (fMRT),
5 optische Bildgebung und Nahinfrarotspektroskopie.

20
Literatur
493 20
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21

21 Bewusstsein und Aufmerksamkeit

21.1 Psychologie von Bewusstsein und Aufmerksamkeit – 496


21.1.1 Die Heterogenität von Bewusstseinsformen – 496
21.1.2 Bedingungen für bewusste und nicht-bewusste
Informationsverarbeitung – 497
21.1.3 Das limitierte Kapazitätskontrollsystem – 498
21.1.4 Bewusstsein und kontrollierte Verarbeitung von Information – 500
21.1.5 Vergleich und Bewertung: die Rolle von Gedächtnis und Motivation
für bewusstes Erleben – 502

21.2 Die Großhirnhemisphären und Bewusstseinsformen – 505


21.2.1 Entstehung von Bewusstsein und das Corpus callosum – 505
21.2.2 Split brain und Wahrnehmung – 507
21.2.3 Bewusstsein und Wille – 510

21.3 Neuroanatomische und neurochemische Grundlagen


von Aktivierungsniveau und Aufmerksamkeit – 512
21.3.1 Subkortikale Aktivierungssysteme – 512
21.3.2 Neurochemie subkortikaler Aktivierungs- und Hemmsysteme – 514
21.3.3 Der Thalamus: Interaktion von Aktivierung und Aufmerksamkeit – 516
21.3.4 Assoziationskortizes, Aktivierung und Aufmerksamkeit – 519
21.3.5 Anatomische Grundlagen des limitierten Kapazitätskontrollsystems – 524

21.4 Psychophysiologie von Bewusstsein und Aufmerksamkeit – 526


21.4.1 Neuronale Oszillationen – 526
21.4.2 Ereigniskorrelierte Hirnpotenziale und Aufmerksamkeit – 527
21.4.3 Bereitschaft, Intention, Handlung – 530

Zusammenfassung – 533
Literatur – 534

N. Birbaumer, Biologische Psychologie, DOI 10.1007/978-3-540-95938-0_21,


© Springer Medizin Verlag Heidelberg 2010
496 Kapitel 21 · Bewusstsein und Aufmerksamkeit

)) 21.1 Psychologie von Bewusstsein


21 und Aufmerksamkeit
Die Entstehung von Bewusstsein und Aufmerksamkeit im
menschlichen Gehirn, besonders im Kortex, lässt sich am 21.1.1 Die Heterogenität
besten in der Metapher vom Parlament eines demokra- von Bewusstseinsformen
tischen Staates erläutern: Wie das Gehirn aus 2 Hemisphä-
ren, bestehen fast alle Parlamente aus einer rechten (kon- Illusion der Einheit von Bewusstsein
servativen) und linken (liberalen) Gruppierung. Wie im Obwohl uns im Wachzustand unser Bewusstsein als ein-
Gehirn gibt es kleine Gruppen von Abgeordneten und ein- heitlich und verbunden erscheint, ist bewusstes Erleben
zelne Abgeordnete (Module), die als Spezialisten die täg- stets Resultat der Zusammenarbeit vieler heterogener psy-
lichen Aufgaben des Parlaments ohne Beteiligung der chologischer Funktionen und heterogener Hirnfunktionen
übrigen Parlamentarier lösen. (In der psychologischen in oft weit auseinander liegenden kortikalen und subkor-
Sprache wird das Parlament auch als Arbeitsplatz (»work- tikalen Netzwerken. Der in der Introspektion so dominant
space«) des Bewusstseins bezeichnet.) wirkende Eindruck von Einheit entsteht vermutlich durch
Wenn ein Problem (Reiz) von Außen herangetragen eben dieses zentrale Kennzeichen von bewussten im Ver-
wird, kann es rasch von diesen Spezialisten (Module) an die gleich zu nicht-bewussten Vorgängen: Während die nicht-
ausführenden Organe und Bürger gebracht werden (auto- bewusste Informationsverarbeitung in vielen heterogenen
matische, nicht-bewusste, implizite Informationsverar- Verarbeitungseinheiten (im Gehirn oft als Module bezeich-
beitung). Gut bekannte und geübte Aufgaben können net) gleichzeitig und unverbunden ablaufen kann, zeich-
auch gleichzeitig und parallel ohne Störung und Beanspru- nen sich bewusste Vorgänge durch ein höheres Ausmaß an
chung des Gesamtparlaments (d. h. unbewusst) von den Synchronie und Zusammenarbeit zwischen den unter-
Spezialisten erledigt werden. schiedlichsten Funktionen aus, wie wir es in der Einleitung
Tritt allerdings eine neue Problemlage oder Gefähr- in der Metapher vom Bewusstsein als Arbeitsplatz eines
dung der Zielerwartungen des Parlaments oder einfach Parlaments erläutert haben. Wir werden in diesem Kapitel
ein physisch intensiver Reiz auf, also komplexe Probleme, erkennen, dass dieser Zusammenarbeit auf psychologischer
die von den einzelnen Spezialisten allein nicht mehr gelöst Ebene auch eine Synchronie der Nervenzellentladungen
werden können, dann muss zwischen den einzelnen Abge- (synchrone neuronale Dynamik) und eine anatomische
ordneten und Gruppierungen ein Austausch und eine Synchronizität entspricht, nämlich die Zusammenfassung
Diskussion stattfinden. Dies verzögert zwar die Lösung mehrerer Hirnmodule zu stärker verbundenen Arbeitsein-
des Problems, garantiert aber eine aus- und abgeglichene heiten.
Problemlösung (kontrollierte Verarbeitung). Die einset- Eine einheitliche Definition von Bewusstsein ist des-
zende Diskussion erzeugt einen höheren Lärmpegel (Be- halb nicht möglich, weil es heterogene Bewusstseinspro-
wusstsein), die Wachheit steigt, v. a. an jenen Orten des zesse und -formen gibt, deren gemeinsames physiologisches
Parlaments, wo sich Spezialisten und Entscheidungsträger Merkmal der weiträumige Erregungsanstieg und psycho-
für das Problem befinden. logisch der Übergang von nicht-bewusster »automatischer«
Allerdings kann bei derart komplexen Aufgaben nur zu aufmerksamer, »kontrollierter« Informationsverarbei-
mehr eine oder wenige Aufgaben zu einer Zeit gelöst wer- tung darstellt. Dieser Übergang kann kontinuierlich oder
den, da ein Großteil der Abgeordneten mit der Bearbeitung ruckartig erfolgen. Obwohl nicht alle kontrollierten Verar-
und Diskussion des Problems befasst werden müssen (ein- beitungsvorgänge bewusst sind, gilt dies doch für einen
geschränkte Ressourcen), die anderen Aufgaben treten Großteil dieser in Abschn. 21.1.2 beschriebenen Prozesse.
zurück (selektive Aufmerksamkeit). Nach Diskussion des
G Bewusste Vorgänge unterscheiden sich von nicht-
Problems auf der Grundlage von alten Erfahrungen mit
bewussten Vorgängen durch ein verstärktes Ausmaß
ähnlichen Problemen (Gedächtnis) und der Abschätzung
an Zusammenarbeit von heterogenen informations-
ihrer Bedeutung für den Staat (positive oder negative
verarbeitenden Untereinheiten (Module).
Motivation) wird durch eine mit exekutiven Funktionen
befasste Gruppe (Präfrontalkortex) eine Entscheidung ge-
troffen und von dort an ausführende Organe (Motorik) ab- Aktivierung und Aufmerksamkeit
gegeben. Innerhalb der Kategorie bewusster Prozesse müssen wir
zwischen tonischer (anhaltender) ungerichteter Wachheit
und Aktivierung bis zu Bewusstlosigkeit und phasischer
(kurzfristiger) gerichteter Aufmerksamkeit unterscheiden.
Beiden liegen, wie wir noch sehen werden, unterschied-
liche neuroanatomische Strukturen und unterschiedliche
neurochemische und neurophysiologische Vorgänge zu-
grunde.
21.1 · Psychologie von Bewusstsein und Aufmerksamkeit
497 21

Die wichtigsten tonischen Aktivierungszustände (auch


oft als Vigilanz bezeichnet) sind (. Tabelle 20.2):
4 bewusster Ruhezustand,
4 bewusster Bereitschaftszustand (»default state«),
4 verschiedene Schlafstadien (Kap. 22),
4 Narkosezustände,
4 epileptische Bewusstseinsänderungen,
4 vegetativer Zustand (»vegetative state«, VS),
4 Koma.

Wachheit und Aktivierung allein garantieren nicht die be-


wusste Wahrnehmung eines Sinnesreizes oder einer Bewe-
gung. In den Endstadien des Morbus Alzheimer etwa ist der
Patient durchaus wach und führt einfache, gezielte, automa-
tische Bewegungen durch, ohne dass dem Patienten die
Umgebung bewusst wird.
Während wir für Bewusstseinsinhalte ein ausreichend
hohes tonisches Bewusstseinsniveau benötigen, gilt also das
Umgekehrte nicht: Inhalte des Bewusstseins und Aufmerk-
samkeit können ausfallen, ohne dass das Niveau beein- . Abb. 21.1. »Top-down«-Verarbeitung. Rückführendes (»recur-
trächtigt ist. Selektive (sensorische) und exekutive (motori- rent«), verteiltes neuronales Netz, wie man es z. B. zwischen primären
kortikalen Arealen (unten) und sekundären kortikalen Arealen (oben)
sche) phasische Aufmerksamkeit dagegen besteht aus einem
oder zwischen Thalamus und Kortex als Grundlage bewusster Pro-
auf einen Inhalt oder ein Ziel gerichteten Erregungsan- zesse annimmt. Die rückführenden Bahnen von den »höheren« zu den
stieg bei gleichzeitiger Hemmung konkurrierender Inhal- »einfacheren« (primären) Strukturen sind rot und dick gezeichnet
te oder Ziele. Phasische Aufmerksamkeit definiert die In-
halte des Bewusstseins, die tonische nur das Niveau, die
Intensität des Bewusstseins. temen im Gehirn (nach oben) entsteht. »Top-down«-Auf-
merksamkeit dagegen bezeichnet die »von oben«, z. B. von
G Ein ausreichend hohes Wachheitsniveau allein
Einstellungen und gespeicherten Zusammenhängen (Ab-
garantiert nicht bewusstes Erleben einzelner Inhalte
schn. 21.1.4) abhängige Verstärkung oder Abschwächung
oder Vorstellungen.
von Inhalten (Erregungskonstellationen im Nervensystem)
(. Abb. 21.1). Beiden Arten von Aufmerksamkeit liegen un-
Die Funktionen von Aufmerksamkeit terschiedliche neuronale Prozesse zugrunde.
4 Setzen von Prioritäten zwischen konkurrierenden und
G Die wichtigste Aufgabe von Aufmerksamkeit ist die
kooperierenden Zielen in einer Zielhierarchie zur Kon-
Selektion wichtiger Erlebnisinhalte. Dies kann ent-
trolle von Handlung
weder »bottom-up« oder »top-down« erfolgen.
4 Aufgeben (»disengagement«) alter oder irrelevanter
Ziele
4 Selektion von sensorischen Informationsquellen zur 21.1.2 Bedingungen für bewusste
Kontrolle der Handlungsparameter (sensorische und und nicht-bewusste
motorische Selektion) Informationsverarbeitung
4 Selektive Präparation und Mobilisierung von Effektoren
(»tuning«) Neuheit und Komplexität
Nur ein Bruchteil der ankommenden Reize wird bewusst.
»Bottom-up«- (aufsteigende) und Bewusstsein tritt nur auf:
»Top-down«- (absteigende) Aufmerksamkeit 4 beim Erwerb neuer Information oder beim Lernen
Wenn ein Reiz von ausreichender Intensität dargeboten wird neuer Reaktionen,
oder sich deutlich von der Umgebung abhebt (»salience«), 4 bei Abgabe von Urteilen und Wahlreaktionen und
erregt dies automatisch »von unten«, ohne willentliches Zu- 4 bei Nicht-Eintreffen erwarteter Reize.
tun unsere Aufmerksamkeit. Das Objekt »fesselt« uns durch
seine Merkmale allein, die im afferenten Teil unserer Sinnes- Auf der exekutiven Seite wird uns Verhalten erst in Situa-
systeme bereits herausgehoben werden. Diese Art von Auf- tionen bewusst, die
merksamkeitsmechanismus bezeichnet man mit dem eng- 4 neue Aktionspläne und
lischen Begriff »Bottom-up«-Aufmerksamkeit, weil sie auf 4 eine Wahl (Entscheidung) zwischen Handlungsalterna-
dem Weg von der Außenwelt (von unten) zu den Sinnessys- tiven erfordern;
498 Kapitel 21 · Bewusstsein und Aufmerksamkeit

4 in gefährlichen oder als schwierig beurteilten Situa- sieren und die nicht-relevanten, altbekannten, automa-
21 tionen und tisierten Repräsentationen hemmen. Wir haben die dazu-
4 bei Handlungen, die eine starke Gewohnheit oder »Ver- gehörigen Experimente in Kap. 17 eingehend beschrieben
suchung« überwinden müssen. (. Abb. 17.30). Synchrone Oszillationen von Nervennetzen
als Grundlage von »Binding« werden in Abschn. 25.2 ab-
Aber auch in diesen Situationen tritt Bewusstsein oft erst gehandelt. Der Binding-Prozess muss dabei nicht bewusst
nach bereits erfolgter Handlung auf (z. B. beim Bergsteiger, ablaufen, er ist nur die Voraussetzung für die Entstehung
der eben »instinktiv« einen gefährlichen Schritt vollzogen eines einheitlichen Bewusstseinsinhalts.
hat und dem dies erschreckt bewusst wird).
Die Reizaufnahme, die Repräsentation (Enkodierung)
des Reizes (Kap. 15), die Musterextraktion (Kap. 17) und 21.1.3 Das limitierte Kapazitäts-
der Vergleich des gegenwärtigen Reizmusters mit gespei- kontrollsystem
cherten Reizmustern sind ebenso wenig bewusst wie die
Auswahl und Ausführung der auf den Reiz »passenden« Begrenzte Aufmerksamkeit und Bewusstsein
Reaktion und die Rückmeldung des Reaktionserfolgs aus Drei wichtige Befunde haben zur Annahme von mehreren
der Peripherie (Box 21.1). Bewusstseinsformen geführt:
4 Bewusstseinsprozesse resultieren stets aus vorbewuss-
G Ein Großteil der Informationsverarbeitung läuft
ter (subliminaler) Informationsverarbeitung.
ohne Mitwirkung des Bewusstseins vorbewusst ab.
4 Die Annahme eines einzigen Selektionssystems (Fla-
Nur in Situationen, in denen die Anforderungen die
schenhalstheorien) ist mit den experimentellen Befun-
Kapazität (Ressource) der Person für eine bestimmte
den nicht vereinbar.
Aufgabe überschreitet, entsteht ein bewusster Vor-
4 Für jeden Informationsverarbeitungsprozess wird
gang.
Energie benötigt und jeder benötigt seine eigenen »Res-
sourcen«. Bei Aufgaben, deren Ressourcen sich über-
Kohärente Bindung (»binding«) lappen, kommt es zur Ressourcenkonkurrenz, die sich
Damit ein Sinnesreiz oder eine Reaktion als einheitliche meist in Interferenzen und Leistungsstörungen äußert.
Erfahrung bewusst wird, muss er aus den Elementen des 4 Unter Ressource versteht man in der Psychologie eine
Reizes (z. B. Ecken, Kanten etc.) zu einem ganzheitlichen nicht direkt beobachtbare Erregungshöhe, die einem
Objekt zusammengebunden werden (»binding«), und die informationsverarbeitenden System verliehen werden
Aufmerksamkeit muss diese gebundene Objektrepräsenta- muss, damit es eine bestimmte Leistung erbringen
tion aus den übrigen Sinnesreizen herausheben und fokus- kann. Jene Systeme des mentalen Apparats, die die Res-

Box 21.1. Komplexität und Bewusstsein

Magnetoenzephalographisch erfasste Zunahme an neu-


ronaler Komplexität bei bewusster Wahrnehmung von
einfachen Reizen im Vergleich zu subliminaler, nicht-be-
wusster Wahrnehmung desselben Reizes (Flackerlicht von
7,4 Hz) im Gehirn des Menschen. Ist der Reiz bewusst, er-
geben sich die abgebildeten magnetoenzephalographi-
schen Muster. Die nicht-bewussten sind hier nicht ge-
zeigt, nur das Mehr an Aktivität bei der bewussten Wahr-
nehmung bei 2 gesunden Versuchspersonen (J.S. und
C.H.). Die unterlegte Farbskala zeigt die Zunahme der
magnetischen kortikalen Reaktion auf den bewusst
wahrgenommenen Reiz. Gelb: Eintritt, blau: Austritt
des magnetischen Feldes; grüne Punkte: magnetische
Sensoren. Oben frontal, unten okzipital. Die blauen
Verbindungen zeigen die zusätzlich, im Vergleich zu
nicht-bewusster Wahrnehmung desselben Musters auf-
tretenden Korrelationen (Kohärenzen) zwischen den
verschiedenen Hirnarealen bei bewusster Wahrnehmung.

Literatur: Tononi G, Edelmann GM (1998) Consciousness and com-


plexity. Science 282:1846–1851
21.1 · Psychologie von Bewusstsein und Aufmerksamkeit
499 21

sourcen für eine oder mehrere sensorische und moto- Flaschenhalstheorie


rische Funktionen zur Verfügung stellen, nennt man . Abb. 21.2a zeigt ein »natürliches« dichotisches Hörex-
Kontrollsysteme mit limitierter Kapazität (LCCS, periment, aus dem man – fälschlich – auf die Existenz eines
»limited capacity control systems«). einzigen (Flaschenhals-)Filters schloss: das Cocktail-Party-
4 Ressourcen werden in der Regel antizipatorisch – d. h. Phänomen. Aus einer Vielzahl ankommender Reize wird
vor einem Reiz oder einer Reaktion – nach Warnsigna- von dem selektiven Filter jener Reiz ausgewählt, dessen
len, die Reiz oder Reaktion (oder beides) ankündigen, physikalische Charakteristiken überlegen sind (z. B. der
zur Verfügung gestellt. lauteste Schwätzer einer Gesellschaft). . Abb. 21.2b er-
läutert den Grundgedanken der Flaschenhalstheorie von
Alle Theorien der Aufmerksamkeit gehen von einer limi- Broadbent: Ein Informationskanal mit limitierter Kapazität
tierten Aufmerksamkeitskapazität (LC , »limited capacity«) (LC) führt zum zentralen Verarbeitungssystem, das als
aus. Der gemeinsame Mechanismus hinter allen Bewusst- Kurzzeitgedächtnis (KZG) mit dem Arbeitsgedächtnis
seinsformen und Aufmerksamkeit wird in Situationen synonym genannt wird (Kap. 25). Bevor die Information
sichtbar und messbar, in denen die Anforderungen die zum KZG gelangt, wird vom vorgeschalteten Filter nur ein
Kapazität (Ressource) der Person für die Aufgabe über- physikalisch herausragender Reiz aus den vielen ankom-
schreiten. Die Aufgabenschwierigkeit wird als die Diffe- menden ausgewählt. Die vollständige Analyse des Reizes
renz zwischen erwarteter und aktueller Leistung defi- erfolgt erst nach der Passage durch den Filter.
niert. Erwartete Aufgabenschwierigkeit und Leistung sind
G Die Flaschenhalstheorie postuliert einen frühen
somit ein zentraler Bestandteil jeder Aufmerksamkeits-
Filter der einlaufenden Information vor dessen Ver-
theorie.
gleich im Kurzzeitgedächtnis.
G Die Entstehung bewusster Vorgänge ist an die Zu-
weisung erhöhter Verarbeitungsressourcen an die Kritik der Filtertheorie
informationsverarbeitenden Systeme gebunden.
Dass Flaschenhalstheorien unvollständig sind, zeigt sich
Die Energieressourcen des Aufmerksamkeitssystems
bereits an alltäglichen Beobachtungen, wie der bewussten
bestimmen sich aus der Differenz zwischen erwarte-
Wahrnehmung des eigenen Namens in einer »verrausch-
ter und aktueller Aufgabe.
ten« Gesellschaft, auch wenn er von jemand leise gespro-
chen wird. Die Mutter, die von ihrem Kind selbst bei lautem
Bewusstsein als multisensorische Interaktion Verkehrslärm aus dem Schlaf geweckt wird, ist ein beson-
Bewusstsein sichert also den Informationsfluss zwischen ders deutliches Beispiel. Aber auch experimentell lässt sich
den verschiedenen Arbeitseinheiten und erlaubt auch neu- zeigen, dass die ankommende Information vor ihrer Selek-
en Zugriff auf unterschiedliche Kombinationen von Sinnes- tion relativ vollständig und unbewusst analysiert und be-
reizen, die normalerweise isoliert bearbeitet werden. Auch urteilt wird.
die Metapher einer Theaterbühne wird oft herangezogen. Auch schwierige Aufgaben, die geteilte Aufmerksam-
Dabei ist natürlich der Regisseur des Stücks wichtig, der keit erfordern, werden gelöst, wenn nicht dieselben Res-
selbst nicht auftritt, aber doch den Ablauf mitbestimmt. In sourcen benötigt werden (7 unten). Zum Beispiel kann
der Bewusstseinsmetapher einer Demokratie ist der Regis- man gleichzeitig addieren oder andere Rechenoperationen
seur der Kontext der gesamten Situation (Grundgesetz, und eine Handgeschicklichkeitsaufgabe (visuelle Folgeauf-
Erwartungen an das Parlament). Im psychologischen Be- gaben) durchführen. Dagegen wird dieselbe Rechenopera-
reich sprechen wir analog zum Regisseur oft vom Selbst- tion nicht gelöst, wenn man gleichzeitig Wahlreaktionen
bewusstsein, das neuroanatomisch in den präfrontalen auf visuell dargebotene Zahlen durchführen muss. Diese
Kortexregionen lokalisiert wird (Abschn. 28.6). Das Selbst Beispiele sind mit der Annahme eines einzigen Kanals mit
(der Direktor, Kontext, Regisseur, das Grundgesetz) enthält begrenzter Kapazität unvereinbar.
allgemeine Ziele (Zielkontexte) und Konzepte (Konzept- Wir werden später sehen, dass der Grad der Interferenz
kontext, Wissen) und auf einer oberflächlichen Ebene (Störung) zwischen 2 Aufgaben von der zerebralen Distanz
unmittelbare Ziele und Erwartungen. Das Bewusstseins- der daran beteiligten Analysatoren abhängt. Je mehr sich
system (Parlament) reagiert besonders sensibel auf Ver- diese überlappen (also gemeinsame Ressourcen nutzen),
letzungen dieser Zielerwartungen, aber auch der unmittel- umso größer ist die Interferenz.
baren Erwartungen (in unserer Analogie z. B. Einschrän-
G Aufmerksamkeitsprozesse werden nicht über das
kung von Freiheiten, Gesetzesverletzungen, Ungerechtig-
frühe Ausfiltern unwichtiger Information, sondern
keit etc.).
von einem übergeordneten Prozess der Bewertung
ankommender Information gesteuert.
G Bewusstein und Aufmerksamkeit hängt auch vom
Kontext und den Zielen der Informationsverarbei-
tung im Gehirn ab.
500 Kapitel 21 · Bewusstsein und Aufmerksamkeit

21

. Abb. 21.2a, b. Aufmerksamkeitstheorien. a Das »Cocktailparty- werden. b Grundgedanke eines Flaschenhalsmodells der Aufmerk-
Phänomen«. Die Versuchsperson konzentriert sich auf die Information, samkeit. KZG Kurzzeitgedächtnis, LZG Langzeitgedächtnis (Erläuterun-
die dem rechten Ohr dargeboten wird, die Information, die gleich- gen im Text in Abschn. 25.1)
zeitig dem linken Ohr dargeboten wird, kann nicht wiedergegeben

21.1.4 Bewusstsein und kontrollierte mationen verarbeitet und erst danach zentral ausgewählt
Verarbeitung von Information werden, müssen wir zusätzlich zu den Grenzen der sensori-
schen Übertragung (Kanalkapaziät) noch einen oder mehrere
Automatische und kontrollierte Verarbeitung zentrale Aufmerksamkeitsmechanismen annehmen.
Jeder sensorische Kanal (optisch, akustisch, taktil) besitzt nur Wenn ein bestimmtes Erregungsmuster eines Reizes
eine begrenzte Kapazität der Informationsübertragung. im Gehirn durch die Aufmerksamkeitsprozesse aktiviert
Diese Begrenzung der Sinnessysteme ist durch eine Reihe und von der Hintergrundinformation abgehoben wird, ist
von Faktoren bedingt: Anzahl und Ausrichtung von rezepti- es nicht notwendigerweise sofort bewusst. Bei überlernten,
ven Feldern, Grenzfrequenzen der afferenten Fasern, Konver- geübten Aufgaben (z. B. Autofahren) erfolgt die Reaktion
genz und Divergenz der kommunizierenden Neuronenver- ohne Bewusstsein, und andere Reaktionssysteme können
bände und v. a. durch die Ernährungs- und Stoffwechselbe- gleichzeitig ohne gegenseitige Behinderung (Interferenz)
dingungen der beteiligten Zellverbände. Da aber offensichtlich funktionieren (geteilte Aufmerksamkeit). Wir nennen
große Teile der im ZNS gleichzeitig ankommenden Infor- diesen Vorgang der unbewussten selektiven Absenkung von
21.1 · Psychologie von Bewusstsein und Aufmerksamkeit
501 21

Erregungsschwellen »tuning«. Dieser englische Ausdruck Bewertung löst den Effort-Mechanismus (willentliche An-
ist schwer zu übersetzen; damit ist das automatische Ein- strengung) aus, der in neuen und komplexen Situationen
stellen von Erregungsschwellen gemeint. Dies muss man Ein- und Ausgabeprozesse (sensorische und motorische
sich folgendermaßen vorstellen: Aktivierung) koordiniert und mit Bewusstsein und erhöh-
Die gesamte ankommende Information wird zuerst für tem Energieverbrauch (z. B. mehr Glukoseverbrauch im
wenige Millisekunden in einem sensorischen Speicher ZNS) einhergeht und eine »kontrollierte Suche« der rich-
gehalten (sensorisches Gedächtnis). Dort werden Muster- tigen Antwortalternativen durch ständigen Vergleich erfor-
erkennung (Erkennung der wesentlichen Merkmale), Enko- dert. . Abb. 21.3 gibt diese Modellvorstellung wieder.
dierung und danach der besprochene Vergleich (»match«)
G In neuen und vital bedeutsamen Situationen wird
vorgenommen (linke Seite von . Abb. 21.2b). Passt der
nach Reizbewertung ein kontrollierter, unter
ankommende Reiz vollkommen in ein (überlerntes) gespei-
Willenskontrolle stehender Anstrengungs- und
chertes Reiz-Reaktions-Muster, wird die Reaktion »auto-
Suchmechanismus ausgelöst.
matisch« ausgelöst, d. h. ohne besondere Erhöhung der
Erregung in den beteiligten Netzwerken und ohne Mitwir-
kung des Bewusstseins. Ressourcenzuordnung (»resource allocation«)
Während es mehrere KZG-Systeme (z. B. akustisch, visuell,
G Neben einer begrenzten sensorischen Kanalkapa-
taktil etc.) zu geben scheint, die die Anzahl gleichzeitig
zität müssen wir noch einen zentralen Selektions-
durchführbarer Aufgaben beschränken, existieren nur ein,
mechanismus annehmen.
maximal 2 übergeordnete Effort-Systeme (eines für senso-
rische, eines für motorische Verarbeitung). Wenn Überlap-
Willentliche Anstrengung pungen zwischen den 6 in . Abb. 21.4 dargestellten Verar-
Erst wenn neue oder komplexe Situationen und Handlun- beitungsdimensionen durch simultane Aufgabendarbietung
gen auftauchen (»mismatch«) und Reaktionsalternativen entstehen, wird das LCCS aufgerufen und die Aufmerksam-
bestehen, wird das LCCS aktiviert. Das LCCS erregt die be- keitsenergie auf eine Dimension (z. B. visuell) konzentriert
teiligten informationsverarbeitenden und reaktionsplanen- (Ressourcenzuordnung). Jedes der in . Abb. 21.4 gezeigten
den Systeme und hemmt die nicht-beteiligten (. Abb. 21.3). Verarbeitungssysteme verfügt über beschränkte Ressourcen,
Dabei greift die Stärke motivationaler Einflüsse direkt in sonst könnten mehrere neue Aufgaben gleichzeitig sowohl
die Hemmung und Erregung ein (Triebkonkurrenz 7 unten, innerhalb einer Verarbeitungsdimension (z. B. visuell) als
Bewertungsmechanismus . Abb. 21.3). Dies bedeutet, dass auch zwischen diesen ohne Interferenz gelöst werden. Dies
Reize oder Reaktionen, die in der Vergangenheit mit bio- gelingt innerhalb einer Dimension am schlechtesten (neue
logisch bedeutsamen Reizen (z. B. Triebbefriedigung) asso- akustische Aufgaben stören akustische mehr als visuelle).
ziiert waren, eher einen Erregungsanstieg auslösen. Die Aber auch zwischen den Verarbeitungsdimensionen sind

. Abb. 21.3. Kognitive Prozesse der Informationsverarbeitung. Information der ressourcenmobilisierende Prozess willentlicher
Unten sind die einzelnen Stadien der Verarbeitung vom Eingang des Anstrengung (»effort«) aktiviert. Dieser kann sowohl sensorische als
Reizes bis zur Reaktion skizziert. Darunter einige Beispiele von expe- auch motorische Aktivierung beeinflussen und wird zur Entscheidung
rimentellen Umweltvariationen, mit denen die Stadien beeinflussbar über Reaktionsalternativen benötigt. Abschließend erfolgen dann
sind. Darüber die eigentlichen Aufmerksamkeitsprozesse: Die Aktivie- Planung und Ausführung der entsprechenden Reaktion, nicht ohne
rung und Mobilisierung sensorischer Systeme führt sowohl zu ver- eine vorherige Bewertung der antizipierten Konsequenzen (rechts
besserter Mustererkennung (unten) als auch zu dem multisenso- und oben). Bei überlernter, automatischer Verarbeitung wird die Be-
rischen Vergleich gespeicherter mit angekommener Information. teiligung von »Effort«-Systemen minimal
Je nach Resultat dieser Vergleiche wird bei neuer oder komplexer
502 Kapitel 21 · Bewusstsein und Aufmerksamkeit

vorerst aufgeben. . Abb. 21.5 zeigt eine typische Aufgabe


21 zur Aufmerksamkeitssteuerung.
Zuerst erfolgt ein Warnsignal (Hinweisreiz; »cue«),
kurz danach erscheint der Zielreiz (»target«) in dem erwar-
teten oder unerwarteten Feld. Auf den unerwarteten Reiz
reagiert die Versuchsperson langsamer. Es braucht Zeit,
sich vom erwarteten Ort zu lösen. Die Leistung ist an dem
Ort erleichtert, auf den die Aufmerksamkeit gelenkt war,
und am anderen gehemmt. . Abb. 21.6 führt die wesent-
lichen Denkoperationen auf, wenn ein angekündigter Reiz
beantwortet wird.
Personen mit Neglekt, die eine Körper- oder Gesichts-
hälfte völlig ignorieren, achten automatisch auf periphere
Reize, wenn ihre Aufmerksamkeit nicht gebunden ist, igno-
. Abb. 21.4. Verarbeitungsmechanismen. Für jeden der 3 Ver- rieren diese aber völlig, wenn sie aufmerksam mit einem
arbeitungsschritte Enkodierung, zentrale Verarbeitung und Reak- anderen Reiz oder Gedanken beschäftigt sind. Es liegt hier
tionsvorbereitung bzw. -ausführung werden je 2 Verarbeitungsarten ein Defekt des »disengagement« vor, die Personen können
(räumlich-verbal), je 2 Sinnesmodalitäten (visuell-akustisch) und je
sich nicht von dem gerade aufmerksam verfolgten Vorgang
2 Reaktionsmodalitäten (manuell-vokal) als Beispiele eingezeichnet.
Bei neuen Aufgaben konkurrieren diese sechs Verarbeitungsdimen- lösen (Abschn. 21.3.4).
sionen um die limitierten Ressourcen
G Nach Warnsignalen oder Fehlern muss ein gerade
ablaufender Konzentrationsvorgang unterbrochen
werden und der Aufmerksamkeitsfokus von der
die Ressourcen beschränkt: Eine komplexe visuelle Aufgabe
alten Situation auf die neue gerichtet werden; dies
stört z. B. eine akustisch-musikalische erheblich. Erst nach
wird als »disengagement« bezeichnet.
häufiger Wiederholung tritt Automatisierung ein, und ge-
teilte Aufmerksamkeit wird möglich. Natürlich sind mehr
als sechs Verarbeitungsdimensionen denkbar, die hier be- 21.1.5 Vergleich und Bewertung:
schriebenen sind nur die wichtigsten bei der menschlichen die Rolle von Gedächtnis und
Informationsverarbeitung. Motivation für bewusstes Erleben
G Die simultane Verarbeitung von Information inner- Arbeitsgedächtnis: Vergleich und Kontrolle
halb oder zwischen den wichtigsten Verarbeitungs-
Die ankommenden Inhalte aus dem sensorischen Ge-
dimensionen (räumlich, semantisch etc.) ist bei
dächtnis (echoisch und ikonisch in . Abb. 21.2b und in
neuen Reizen nicht möglich.
. Abb. 25.1) müssen vor ihrer Bewusstwerdung auf Neu-
heit untersucht und danach die Analysatoren und Hand-
Unterbrechung, Fehlermeldung und Lösung lungsmodule, in denen diese neue Information verarbeitet
(»disengagement«) der Aufmerksamkeit wird, selektiv über ausreichend lange Zeit (>100 ms) in
Führt die in . Abb. 21.3 gezeigte Bewertung der Reizkon- seiner Erregung erhöht und andere gleichzeitig aktive Sub-
figuration zu einem »mismatch«, also einem Warnsignal, so systeme gehemmt werden. Damit die Neuheit eines Inhalts
muss das informationsverarbeitende System die gerade ab- überhaupt bestimmt werden kann, muss er mit allen bisher
laufenden Operationen unterbrechen und die alten Ziele im Langzeitgedächtnis (LZG) niedergelegten ähnlichen

. Abb. 21.5a–c. Aufgabe zur selektiven Aufmerksamkeit. a Die kurz danach der Zielreiz entweder am Ort des Hinweisreizes (b) oder
Versuchsperson fixiert das Kreuz in der Mitte, im rechten Gesichtsfeld auf der Gegenseite (c)
erscheint zunächst ein Hinweisreiz (Aufleuchten des Quadrats) und
21.1 · Psychologie von Bewusstsein und Aufmerksamkeit
503 21

Inhalten verglichen werden. Diese beiden Leistungen,


nämlich
4 Vergleich aktueller mit erwarteter (gespeicherter) In-
formation und
4 selektive und zeitlich ausreichend lange Kontrolle der
Aktivität der mit der Verarbeitung befassten Subsys-
teme

vollbringt (in der Regel ohne Mitwirkung des Bewusstseins)


das sog. Arbeitsgedächtnis, in dem ankommende Inhalte
von Außen und aus dem Langzeitgedächtnis einige Zeit
(Millisekunden bis Sekunden) aktiv gehalten werden kön-
nen, bevor sie zerfallen (vergessen) oder über das Kurz-
zeitgedächtnis zu einer Handlungsvorbereitung gebracht
oder permanent im Langzeitgedächtnis gespeichert wer-
den. . Abb. 21.7, welche dieselben Verarbeitungsabläufe
wie . Abb. 21.2b enthält, symbolisiert die Leistungen des
Arbeitsgedächtnisses. Wir werden später (Abschn. 21.4)
sehen, dass diese Leistungen primär vom dorsolateralen
Frontalkortex (anhaltende Aktivierung und Selektion) und
posterioren Parietalkortex (Vergleich der Inhalte) erbracht
werden (s. auch Kap. 28).
G Das Arbeitsgedächtnis hält eine Erregungskonstella-
tion von einem Reiz oder einer geplanten Reaktion
einige Zeit aktiv und wählt nach Vergleich im Lang-
zeitspeicher (LZG) das verarbeitende Modul aus.

. Abb. 21.6. Aufmerksamkeitsablauf. Hypothetische mentale Motivationale Bewertung


Operationen, die nach Aufleuchten des Hinweisreizes (»cue«) aus Jeder ankommende Inhalt und jede ausgewählte oder ge-
. Abb. 21.5 ablaufen. Der Hinweisreiz unterbricht (»interrupt«) zu-
speicherte Reaktion wird aber auch mit einem emotionalen
nächst die Aufmerksamkeit der Versuchsperson von ihrem derzeitigen
Fokus. Die Person muss daher ihre Aufmerksamkeit von diesem Punkt oder motivationalen Assoziationselement (»Bias«, am bes-
lösen (»disengage«). Danach muss sie die Aufmerksamkeit auf den Ort ten mit »Neigung« zu übersetzen) versehen, welches das
des cues lenken (»move«). Die Fixierung (»engage«) der Aufmerksam- vitale »Gewicht« eines Inhalts oder einer Reaktion be-
keit auf den neuen Punkt bewirkt, dass am Ort der Reizverarbeitung stimmt. Wir werden in Kap. 26 und 27 detailliert auf die
der dargebotenen Hinweisreize (»cues«) erhöhte Aktivität auftritt
Mechanismen von Motivation und Gefühl eingehen. Die
zentrale Exekutive in . Abb. 21.7 (in . Abb. 21.2 als limi-
tiertes Verarbeitungssystem für maximal 7±2 Inhalte bezeich-

. Abb. 21.7. Informationsfluss ankommender Erregungen (wie in Langzeitgedächtnis und Motivationssystemen über Neuheit und vita-
. Abb. 21.2b). Das limitierte Verarbeitungssystem (Arbeitsgedächtnis) ler Bedeutung erhalten und sie muss das Resultat der Analyse aus-
erhält bereits grob vorselektierte (z. B. nach Intensität, Salienz und reichend lange (mindestens 100 ms) aktiv halten, damit der Strom
Neuheit) Information und verstärkt oder schwächt die ankommende der Aufmerksamkeitserregung die Analysatoren des Reizeinstroms
Information je nach dem Resultat der Prioritätsanalyse. Für diese ausreichend lange aktiviert. Dies ist Funktion des Arbeitsgedächt-
Aufgabe muss die zentrale Exekutive (Mitte) aber Informationen aus nisses
504 Kapitel 21 · Bewusstsein und Aufmerksamkeit

net) muss daher für beide Funktionen, den Vergleich und 4 das ankommende wird mit dem (erwarteten) gespei-
21 die Auswahl, über die motivationale Bedeutung informiert cherten Modell des Reizes verglichen,
werden, um sicherzustellen, dass erwartete Belohnungen 4 entsprechend dem Ausmaß der Abweichung vom er-
erreicht und erwartete Bestrafungen vermieden werden. warteten Reiz (des »mismatch«) wird eine Mobili-
sierung der Sinnessysteme in der Peripherie und der
Orientierung zentralen Sinnessysteme (Orientierung) sowie der moto-
Die Intensität der Aufmerksamkeitszuwendung und Reak- rischen Systeme eingeleitet,
tionsvorbereitung hängt offensichtlich vom Resultat eines 4 der momentane Inhalt des KZG abgeschwächt, das
Vergleichsprozesses zwischen ankommenden Reizmustern KZG vom alten Modell »bereinigt« und
und im LZG gespeicherten Modellen desselben Verarbei- 4 im LZG das gespeicherte Modell des Reizes modifiziert,
tungssystems (z. B. visuell, akustisch etc.) ab (. Abb. 21.7). danach ändert sich die Erwartung erneut usw.
Jede Abweichung vom gespeicherten Modell (»mismatch«)
G Der Orientierungsreflex tritt bei neuen Reizen auf
löst eine Orientierungsreaktion (OR) aus. Die Intensität der
und habituiert, Defensiv- und Schreckreflexe folgen
OR ist proportional dem Ausmaß des »mismatch«, was wir
auf intensive und bedrohliche Reize und habituieren
subjektiv als Grad der Neuheit erleben. Obwohl dieser Ver-
schlecht.
gleichsprozess relativ spät in der Verarbeitungskette ankom-
mender Information erfolgt (ca. 200–250 ms bei einfachen
Reizen), steht er zeitlich unmittelbar an der Schwelle zwi- Habituation
schen vorbewusster und bewusster Verarbeitung. Habituation ist die Verringerung der Intensität einer OR
nach wiederholter identischer Darbietung eines Reizes.
G Nach dem Vergleichsprozess wird von der zentralen
Habituation muss von Adaptation sowie von Effektorer-
Exekutive eine Orientierungsreaktion bei einem
müdung (Kap. 13) und Extinktion (Kap. 25) unterschieden
neuen und wichtigen Reiz ausgelöst.
werden: Adaptation meint die Erhöhung der Reizschwelle
eines Sinnesorgans bei kontinuierlicher Reizung, Extink-
Orientierungs- und Defensivreaktion tion die Abnahme der Reaktionsintensität einer klassisch
Die OR ist ein Reflex, der von anderen Reflexen, der Defen- oder instrumentell gelernten Reaktion.
sivreaktion (DR) und dem Startlereflex (SR), auch Schreck-
reflex genannt, unterschieden werden muss (Kap. 13 und Kennzeichen von Habituation
Kap. 26). Um als OR bezeichnet zu werden, müssen 4 Kri- Die Abnahme der Reaktionsrate bei wiederholter Darbie-
terien erfüllt sein: tung identischer Reize erfolgt im Allgemeinen exponen-
4 Die Reaktion muss auf neue Reize sensitiv sein. tiell. Erlangt ein bereits habituierter Reiz wieder Neuheits-
4 Die Reaktion muss habituieren (7 unten). qualität (z. B. durch Paarung mit einem biologisch be-
4 Das Auftreten eines neuen Reizes muss eine vergleich- deutsamen Reiz), so wird die OR wieder hergestellt. Die
bare OR auslösen wie das plötzliche Ausbleiben eines Habituationsrate hängt unter anderem von der Regelmä-
erwarteten Reizes. ßigkeit der Reizdarbietung ab; mit zunehmender Regulari-
4 Wenig intensive Reize (besonders in Schwellennähe) tät steigt die Habituationsgeschwindigkeit. Je schneller die
müssen eine OR, Reize mit hoher Intensität eine DR, Darbietungsrate, umso schneller erfolgt Habituation. Wenn
Reize mittlerer Intensität eine Mischung aus beiden der Reiz eine Diskrimination, eine negative oder positive
hervorrufen. Durch extrem steile Anstiegszeiten der Konsequenz oder eine Entscheidung verlangt, ist die Habi-
Reizenergie wird ein Schreckreflex (SR) (z. B. Blinken tuationsrate verzögert (Box 21.2).
des Augenlids) ausgelöst. Die Darbietung eines unterschiedlichen Reizes in einer
Serie identischer Reize führt zur teilweisen Wiederher-
Der Verlauf der Herzrate (HR) wenige Sekunden nach einem stellung der ursprünglichen Reaktion: Dishabituation. Zu-
Reiz ist z. B. ein gutes Maß für die OR bzw. die DR: Auf einen stände extrem hoher Aktivierung (z. B. »Angst«) und ge-
neuen Reiz geringer physikalischer Intensität sinkt sie (OR), senkter tonischer zentralnervöser Aktivierung (Schlaf)
auf Reize mit hoher Intensität steigt sie (DR). verlangsamen die Habituation. Mit zunehmender Reiz-
intensität sinkt die Habituationsrate im Allgemeinen; aber
Orientierung und Erwartung auch bei schwellennahen, schwachen Reizen ist die Habi-
Orientierung ist unauflöslich mit der Bildung von Erwar- tuation verzögert. Nach Schlafverlust erfolgt beschleunigte
tungen verbunden. Erwartungen sind das Resultat von Habituation. Stimulierende Drogen verlangsamen die Ha-
zunehmenden Präzisierungen des im LZG gespeicherten bituationsrate.
Reiz-Reaktions-Modells, bedingt durch häufige Wieder- Beim Menschen ist nicht die objektive Reizintensität,
holung derselben Reiz-Reaktionssequenz. sondern die subjektive Signifikanz für die Höhe der OR
Die OR besteht also aus 4 zeitlich nacheinander ablau- und die Habituationsrate entscheidend. Dauerhafte Störun-
fenden Prozessen: gen der Habituationsgeschwindigkeit gehen häufig mit Ver-
21.2 · Die Großhirnhemisphären und Bewusstseinsformen
505 21

Box 21.2. Habituation der Angst

Im Rahmen der Behandlung von Angst wird die Person Prüfungssituation vorstellt. Man erkennt, dass mit Beginn
wiederholt mit der Angstsituation in der Realität oder der Vorstellung von der ersten zur dritten Wiederholung im-
in der Vorstellung konfrontiert. Folgt keine negative, mer mehr Alpha-Wellen von ca. 10 Hz auftreten (regelmä-
gefürchtete Konsequenz, so habituiert die Angstreak- ßige Schwankungen höherer Amplitude). Dies zeigt, dass
tion auch im Gehirn. Die Abbildung zeigt das Elektro- mit Wiederholung die Erregung habituiert. Die Person be-
enzephalogramm eines Studenten mit exzessiver Prü- richtet, dass ihre Angstgefühle von der ersten zur dritten
fungsangst, während er sich wiederholt die kommende Vorstellung abnahmen.

haltensauffälligkeiten einher (bei Angst und schizophrenen einzelne Areale innerhalb der rechten und linken Hemis-
Störungen wenig Habituation, bei Soziopathie zu rasche phäre qualitativ verschiedene Bewusstseinsformen und un-
Habituation, Kap. 27 und 28). terschiedliches bewusstes (und nicht-bewusstes) Erleben,
aber die rechts-links-Dichotomie dominiert unser Erleben
G Habituation (Gewöhnung) erfolgt exponentiell in
und Verhalten in besonderer Weise, auch wenn wir davon
Abhängigkeit von der subjektiven Signifikanz. Dis-
durch die in Abschn. 21.1.1 beschriebene Illusion eines
habituation kann zu Verhaltens- und Denkstörungen
einheitlichen Bewusstseins wenig merken.
führen.
G Voll ausgebildetes und sprachlich fassbares bewuss-
21.2 Die Großhirnhemisphären tes Erleben entsteht zwar im Neokortex, rudimentä-
und Bewusstseinsformen res unkoordiniertes und sprachlich nicht beschreib-
bares Bewusstsein existiert aber auch subkortikal.
21.2.1 Entstehung von Bewusstsein
und das Corpus callosum Kommissurektomie und Kallosotomie
Unter Kommissurektomie versteht man die Durchtrennung
Die Bedeutung des Großhirns aller verbindenden Fasern zwischen rechter und linker
Man ist sich einig, dass die in Abschn. 21.1 beschriebenen Hemisphäre, beim Menschen mehr als 200 Millionen
höheren bewussten Vorgänge an die Existenz des Neokor- (. Abb. 21.8). Kallosotomie bedeutet teilweise Durchtren-
tex gebunden sind und vermutlich in den obersten Rinden- nung einzelner Abschnitte des Corpus callosum.
schichten I und II (Kap. 5) entstehen, wo Fasern aus weit Lange vor den ersten Split-brain-Versuchen R. Sperrys
entfernten Hirnarealen ankommen. Dies bedeutet nicht, war aus neuropsychologischen Experimenten an Personen
dass rudimentäres Bewusstseins- und Empfindungserleben mit lokalen Hirnschädigungen und aus Reizversuchen
ohne Neokortex nicht möglich ist: So zeigen Neugeborene während neurochirurgischen Operationen seit Mitte des
ohne Kortex (anenzephale Kinder) deutliche emotionale 19. Jahrhunderts bekannt, dass die beiden neokortikalen
Zu- und Abwendungsreaktionen und auch bei schwerst Hemisphären unterschiedliche Funktionen für Verhalten
kortikal Geschädigten finden wir ähnliche, aber wenig aufweisen. In keinem Experiment konnte dieser Unter-
selektive und unkoordinierte Reaktionen. Wir werden in schied aber so dramatisch und eindrucksvoll demonstriert
Abschn. 21.4 auch noch erläutern, dass ohne die Einflüsse werden wie bei Menschen nach Kommissurektomie.
subkortikaler Systeme überhaupt kein Bewusstsein und Die Untersuchungen am Menschen begannen 1960, als
Wachheit (weder tonisch-anhaltend noch kurz-phasisch) der Neurochirurg J. Bogen das Corpus callosum und alle
entstehen können, aber der Ort der Entstehung liegt im weiteren Verbindungen (Kommissuren) zwischen den
Neokortex. Deshalb lässt sich an den sehr unterschiedli- Hemisphären eines epileptischen Patienten durchtrennte,
chen Bewusstseinsprozessen der rechten und linken Hirn- um eine medikamentös unbeeinflussbare Epilepsie, die sich
hemisphäre die in Abschn. 21.1 erläuterte Heterogenität der von einer Hemisphäre zur anderen ausbreitete, unter Kon-
Bewusstseinsformen gut demonstrieren. Zwar erzeugen trolle zu bekommen. Die Operationstechnik war nicht neu,
506 Kapitel 21 · Bewusstsein und Aufmerksamkeit

. Abb. 21.8. Funktionelle Aufteilung


21 des Corpus callosum. Die posteriore Re-
gion, das Splenium, projiziert primär in den
Okzipitallappen, der Trunkus des Corpus
callosum projiziert zum Parietallappen und
Teilen des Temporallappens, der anteriore
Genu projiziert zu den Frontallappen. Die
Temporallappen sind zusätzlich noch über
die vordere Kommissur verbunden

sondern war schon früher angewandt worden, ohne dass kennt man, dass der Affe in der linken Hemisphäre nur
besondere Verhaltensänderungen bei den Patienten beob- visuelle Information aus der rechten Hälfte des visuellen
achtet werden konnten. Erst durch die Entwicklung geeig- Feldes erhält, die rechte Hemisphäre Information aus der
neter psychologischer Testverfahren konnten die Wirkun- linken Hälfte des visuellen Feldes. Die Untersuchungen an
gen dieser Operation auf das Verhalten des Patienten be- diesen Tieren zeigen, dass normalerweise mit einer Hemis-
schrieben werden. . Abb. 21.8 zeigt die von der Operation phäre gelernte Information aktiv (nicht »automatisch«) in
betroffenen Hirnregionen und die Struktur des Corpus die andere Hemisphäre übertragen wird. Dem Tier muss
callosum. also z. B. eine zusätzliche Aufgabe in der anderen Hemis-
Rechter und linker präfrontaler Kortex und die beiden phäre dargeboten werden, wozu es die Information aus der
inferioren Parietallappen sind nur teilweise miteinander ursprünglich aktiven Hemisphäre benötigt. Erst ein aktiver
verbunden, die vordere Kommissur verbindet die anterio- Prozess transportiert die gespeicherte Information (En-
ren Temporallappen, die Amygdalae und deren Umgebung gramm) von der einen Hemisphäre in die andere. Beim
(z. B. S. inominata und Basalganglien, Kap. 5). Menschen ist dies bei manchen Verhaltensweisen ebenso.
Mit zunehmender sprachlicher Beteiligung kommt es aber
G Erst nach der Entwicklung sensibler psychologischer zu verstärkter Lateralisierung der Gedächtnisspur in eine
Testverfahren konnten die Folgen der Split-brain- Hemisphäre (Kap. 28). (Auch bei anderen Leistungen ist die
Operation auf Wahrnehmung, Denken und Verhalten Lateralisierungstendenz beim Menschen stärker als beim
erfasst werden. Affen.)
Lernt ein Tier mit Kommissurenläsion, Durchtrennung
Informationsübertragung zwischen rechter des Corpus callosum und Läsion der Sehnervenkreuzung
und linker Hemisphäre z. B. nur mit dem einen Auge eine Diskrimination zwischen
Im Tierversuch trennte Sperry auch die Sehnervenkreu- Kreuz und Kreis (Drücken bei Kreuz) und schließt man dann
zung, wodurch die visuelle Information der beiden nasalen dieses Auge, so muss das Tier die Aufgabe mit dem anderen
Netzhauthälften verloren geht (Kap. 17). In . Abb. 21.9 er- Auge völlig neu lernen. Ja, es kann sowohl hintereinander als
21.2 · Die Großhirnhemisphären und Bewusstseinsformen
507 21

Nach Sperry RW (1964). Mit freundlicher Genehmigung der Scientific American Inc.
. Abb. 21.9a, b. Split brain. a Nach Durchtrennung der Sehnerven- len Feld des rechten Auges in die rechte Hemisphäre. b Ausmaß der
kreuzung gelangt nur Information aus dem rechten visuellen Feld Trennung (»split brain«) im Frontalschnitt
des linken Auges in die linke Hemisphäre und aus dem linken visuel-

auch gleichzeitig (!) jede Hemisphäre ein entgegengesetztes Phänomene mit 2 gegensätzlichen Willensentscheidun-
Verhalten lernen, ohne dass es zu Anzeichen eines Konflikts gen auf, Gesichtsausdruck und Inhalt des Verbalisierten
wie beim normalen Tier kommt. Zum Beispiel lernt das Tier können einander widersprechen. Der emotionale Aus-
bei Projektion von einem Kreis in das rechte Gesichtsfeld mit druck, besonders die Sprachmelodie (Prosodie), bleibt
der linken Pfote zu drücken und bei Projektion eines Kreuzes verringert, da diese Funktionen stärker rechts lokalisiert
nicht zu drücken und gleichzeitig bei Projektion eines Kreu- sind und den Erregungskonstellationen der Weg nach links
zes ins linke Gesichtsfeld mit der rechten Pfote zu drücken verschlossen bleibt. Die linke Hand interferiert mit der
und bei Kreis nicht zu reagieren. Im intakten Tier kommt es Tätigkeit der rechten, der Patient muss die linke dabei fest-
bei solchen Aufgaben zu allen Anzeichen eines emotionalen halten. Der rechtshändige Patient erlebt die linke Hand
Konflikts und Versagens. Dies zeigt, dass es in solchen Lebe- als fremd, da sie schwer seinem sprachbewussten Willen
wesen auch zu einer Verdoppelung der Aufmerksamkeits- gehorcht. In wenigen Monaten lernt der Patient aber,
prozesse kommt. Es ist, als ob 2 Lebewesen gelernt hätten. Sinnesorgane und Motorik so zu orientieren, dass eine ge-
wisse Synchronizität zwischen rechter und linker Hemis-
G Gespaltenes Gehirn ergibt gespaltenes Bewusstsein. phäre besteht.
Nach Trennung des Corpus callosum können beide Um Einflüsse von Split-brain-Effekten nachzuweisen,
Hemisphären gleichzeitig und unabhängig vonein- müssen besondere Anordnungen entwickelt werden, die
ander arbeiten. eine einseitige Darbietung des Reizmaterials ermöglichen
(. Abb. 21.10). Diese Versuchsanordnungen müssen auf
den anatomischen Verlauf der Afferenzen im jeweiligen
21.2.2 Split brain und Wahrnehmung Sinnessystem und die Tatsache fast völlig gekreuzter Effe-
renzen für Arme und Hände abgestimmt sein.
Alltagsverhalten
Die Effekte vollständiger Balkendurchtrennung auf das G Nach Balkendurchtrennung treten gegensätzliche
Gesamtverhalten sind gering. Die Unabhängigkeit der bei- Willensimpulse auf und der emotionale Ausdruck
den Hemisphären wird wenige Wochen nach der Opera- und Sprachmelodie passt oft nicht zum ablaufenden
tion kaum mehr bemerkt. Anfänglich treten dissoziative Verhalten.
508 Kapitel 21 · Bewusstsein und Aufmerksamkeit

Akustischer Sinn
21 Obwohl die Hörbahnen nur unvollständig gekreuzt sind
(Kap. 18), werden Wörter bei dichotischer Darbietung be-
vorzugt aus dem rechten Ohr wiedergegeben (»auditory
suppression«). Allerdings zeigt . Abb. 18.7, dass die gekreuz-
ten Bahnen stärker entwickelt sind und daher auch im Nor-
malfall akustisches Material auf der zum Ohr kontralatera-
len Seite verarbeitet werden.
Beim dichotischen Hören (Abschn. 21.1) von Sprach-
lauten sind auch bei intaktem C. callosum die Informatio-
nen aus dem linken Ohr durch die simultane Afferenz aus
dem rechten gehemmt. Dieser Rechts-Ohr-Vorteil ist bei
Split-brain-Patienten deutlicher, da die rechte Hemisphäre
nicht mehr mit den Funktionen der linken interferiert.
Bei emotionaler Tönung von Lauten oder Wörtern ist
es genau umgekehrt: Es existiert eine deutliche Links-Ohr-
Überlegenheit. Sprachlaute aus dem rechten Ohr werden
bei Split-brain-Patienten nicht mehr in die linke Hemis-
phäre übertragen, wenngleich einfache Instruktionen
durchaus von der rechten Hemisphäre verstanden werden.
Niedrige Tonfrequenzen werden eher rechtshemisphärisch,
hohe linkshemisphärisch verarbeitet. Dies erklärt auch die
Überlegenheit der rechten Hemisphäre für prosodische
Klangelemente der Sprache, während die linke eher Wörter
identifiziert, was am besten durch Analyse hochfrequenter
Anteile der Sprache erfolgt.
G Geruch aus dem rechten Nasenloch kann nach split
brain nicht benannt werden. Für Wörter besteht ein
Rechts-Ohr-Vorteil, für emotionale und melodische
Spracheigenheiten ein Links-Ohr-Vorteil.

Tastsinn
. Abb. 21.10. Split-brain-Experiment. Oben: Versuchsanordnung Objekte in der linken Hand, die nicht im rechten Gesichts-
zur testpsychologischen Erfassung von Störungen nach »split brain«. feld gesehen werden, können nicht beschrieben werden,
Auf dem Bildschirm vor der Versuchsperson kann in das rechte oder obwohl sie in der Regel von der rechten Hemisphäre korrekt
linke visuelle Feld getrennt für kurze Zeit ein Objekt projiziert werden,
identifiziert werden (Diskonnektionsanomie).
da die Versuchsperson den Punkt dazwischen fixiert. Die Versuchs-
person soll das projizierte Objekt mit einer Hand ertasten. Unten: Das B Bei taktiler Diskrimination der Hände gelangt der
wird korrekt unter mehreren Buchstaben von der linken Hand Erregungsstrom zuerst in die kontralateralen Areale BA
(rechte Hemisphäre) identifiziert, kann aber nicht benannt werden, (Brodmann-Areal, Kap. 5) 1, 2 und 3, von dort ipsi- und
die Versuchsperson sagt »R« kontralateral nach beiden Arealen 43 (sekundäres somato-
sensorisches Areal), dann in den ipsilateralen medialen
Temporalkortex und den orbitalen Frontalkortex: Von
dort führt der Weg in den prämotorischen und motorischen
Geruchssinn Kortex zur Ausführung der Reaktion. Bei Split-brain-Pa-
Wenn die Commissura anterior und das Corpus callo- tienten erreicht die Information aus Area 43 nicht das ge-
sum durchtrennt sind, können Gerüche aus dem rechten genüberliegende Areal und die gelernte Diskrimination
Nasenloch von der sprachdominanten linken Hemis- bleibt auf die zur Hand kontralaterale Hemisphäre be-
phäre nicht benannt werden, da die Geruchsbahn un- schränkt; im Normalfall dagegen können beide Hände die
gekreuzt verläuft. Die rechte Hemisphäre kann aber mit Diskrimination ausführen, auch wenn sie nur auf einer
der linken Hand unterschiedlich riechende Objekte aus- Seite gelernt wurde.
wählen. Die rechte Hemisphäre wird durch unange-
nehme Gerüche aus dem rechten Nasenloch stärker er- G Eine taktile Unterscheidung, die mit einer Hand
regt als die linke, sie ist generell auf Emotionen reagibler gelernt wurde, bleibt auf das kontralaterale Hirn-
(Kap. 27). areal beschränkt.
21.2 · Die Großhirnhemisphären und Bewusstseinsformen
509 21
Optischer Sinn Patienten in jeder Hemisphäre getrennt ein Gesamtbild
Die Überlegenheit der rechten Hemisphäre bei der Analyse ergänzen, alle Patienten berichten aber, ein ganzes, einheit-
visuell-räumlicher Muster und manipulativ-räumlicher liches Bild zu sehen.
Aufgaben wurde durch getrennte Darbietung der Inhalte Durch stufenweise Läsion verschiedener Faserzüge, ein-
ins rechte und linke visuelle Feld nachgewiesen. . Abb. 21.9 schließlich des posterioren C. callosum und der Commissura
zeigt den Verlauf des Informationsflusses in die beiden anterior bei Affen, konnten die an der visuellen Diskrimina-
Hemisphären. Zur Vermeidung von Augenbewegungen tion beteiligten Hirnstrukturen aufgeklärt werden.
wird entweder das Material sehr kurz (tachistoskopisch, Die visuelle Information verlässt Area 17 über 18, 19
unter 20 ms) bei Fixierung auf einen Mittelpunkt dar- (visuelles Gedächtnis), kreuzt auf die Gegenseite und läuft
geboten oder es werden Linsensysteme verwendet, die beidseitig in die beiden unteren Temporallappen (Kap. 17
den Gegenstand nur auf eine Hälfte der Retina projizieren. und 28) und von dort in die Amygdala und den orbitalen
Obwohl die rechte Hemisphäre bei fast allen Patienten Frontalkortex (motivationale und emotionale Signifikanz),
expressiv aphasisch ist, also nicht sprechen kann (Aus- wo wiederum Transfer zwischen beiden Seiten erfolgt. Ein-
nahmen existieren allerdings), werden Zeichnungen nur seitige Läsionen in diesen Systemen haben beim Affen da-
mit der linken Hand korrekt kopiert, geometrische Formen her wenig Effekt, Unterbrechung der Efferenzen aus Area
sowohl besser erkannt, wenn sie ins linke Gesichtsfeld pro- 17, 18, 19 über den Balken bei zusätzlicher Unterbrechung
jiziert werden, als auch geometrische und taktile Aufgaben der Verbindungen zu den temporalen Arealen führen zu
besser mit der linken Hand gelöst. Die rechte untere tem- »Seelen-Blindheit«, trotz erhaltener optischer Systeme. See-
porale Hemisphäre ist beim Erkennen von Gesichtern len-Blindheit bedeutet, dass die Sehreize zu emotionalen
überlegen, nicht bei Aufgaben, in denen Gesichter seman- und reflektorischen Reaktionen führen, aber die Inhalte
tisch kategorisiert werden sollen. . Abb. 21.11 zeigt auch, nicht mehr bewusst wahrgenommen werden, das Lebewe-
dass bei Darbietung von chimärischen Reizen Split-brain- sen verhält sich so, als ob es blind sei (»blindsight«, »Blind-

Nach Levy J, Trevarthen C, Sperry RW (1972). Mit freundlicher Genehmigung der Oxford University Press.

. Abb. 21.11a–c. Chimärische Reize bei Split brain. a Der Patientin zieren. Den Split-brain-Patienten ist in dieser Anordnung nicht be-
wird mitgeteilt, dass sie eine Photographie sehen wird. Sie wird auf- wusst, dass die chimärischen Reize unvollständig oder gegensätzlich
gefordert, den Mittelpunkt der Projektionsleinwand zu fixieren, da- sind. Wenn sie ihre Antwort verbal geben sollen, wählen sie immer die
nach wird das zusammengesetzte Bild kurz dargeboten, um Augen- Gesichtshälfte aus dem rechten visuellen Feld. Wenn sie das Gesicht
bewegungen zu verhindern. Danach muss die Patientin das Gesicht durch Zeigen mit der linken Hand herausfinden müssen, wählen sie
entweder verbal (b) oder durch Hinzeigen mit einer Hand (c) identifi- korrekt die Gesichtshälfte aus dem linken visuellen Feld
510 Kapitel 21 · Bewusstsein und Aufmerksamkeit

die Reize wahrnimmt, so sucht sie jene heraus, deren Aus-


21 sehen (äußere Erscheinung) zu den Objekten passt.

G Die linke Hemisphäre verarbeitet Information eher


seriell-sequenziell, während die rechte Hemisphäre
parallel-ganzheitlich arbeitet. Alle mit Schreiben
und Kopieren verbundenen Tätigkeiten können mit
der linken Hand schwer ausgeführt werden. Die lin-
ke Hemisphäre sucht die Umwelt nach Funktionen,
die rechte nach Ähnlichkeiten ab.

21.2.3 Bewusstsein und Wille

. Abb. 21.12. Funktion und Erscheinung und Hemisphären-Spe- Zwei getrennte Willensimpulse
zialisierung. Informationverarbeitung der rechten und linken Hemis-
. Abb. 21.10 zeigt eine der erfolgreichsten Versuchsanord-
phäre bei Split-brain Patienten. Die Figuren der oberen Reihe werden
lateralisiert einer der beiden Hemisphären dargeboten. Der Patient
nungen zur Aufdeckung von Folgen der Split-brain-Opera-
wird instruiert, aus den Wahlreizen der unteren Zeile jene herauszu- tion. Die Versuchsperson hat vor sich im rechten Gesichts-
suchen, die am besten zu dem jeweils dargebotenen Reiz der oberen feld ein R projiziert, im linken ein B und soll nun – für sie
Objekte passen. Wird die Brille z. B. der linken Hemisphäre dargeboten unsichtbar – das B (in der rechten Hemisphäre) mit der
und der Patient instruiert, den am besten passenden Gegenstand
linken Hand aus mehreren Buchstaben herausfinden. Dies
(entweder Nadel + Faden oder Hut) auszuwählen, wählt er immer den
Hut: Hut und Brille sind 2 Objekte, die eine Funktion am Kopf ausüben.
gelingt auch ohne Schwierigkeiten, die Person kann den
Wird die Brille der rechten Hemisphäre dargeboten, wird das Nadel + Buchstaben aber nicht benennen.
Faden-Bild ausgewählt, weil es flüchtig der Brille ähnelt Alle Aufgaben, in denen sprachliches Denken zu ko-
ordinierten Bewegungen beider Körperhälften führen soll,
sind gestört. Verbale Kommandos können schwer mit lin-
ker Hand oder linkem Fuß ausgeführt werden. Wenn man
sehen«). Dies bedeutet, dass die Areale 17, 18 alleine keine die dominante linke Hemisphäre fragt (z. B. durch Projek-
bewusste Sehleistung herstellen können. tion der Frage ins rechte Gesichtsfeld), was die linke Hand
gerade tut, kann keine Auskunft gegeben werden. Keine
G Visuell-räumliche Aufgaben und Gesichter werden
Hemisphäre weiß von der anderen.
eher in der rechten Hemisphäre erkannt. Unterbre-
Im Allgemeinen kooperieren zwar durch Ausbildung
chung der Efferenzen aus dem primären Sehsystem
ähnlicher Bewegungsstrategien die motorischen Aktivitäten
in den unteren Temporalkortex oder Zerstörung des
beider Seiten, häufig aber kommt es zu getrennten
primären visuellen Kortex führen zu »blindsight«.
»Willensimpulsen«, z. B. zog beim Anziehen die rechte Hand
die Hose rauf, die linke runter, oder die rechte Hemisphäre
Einflüsse auf Motorik zog bei Begrüßung die Person heran, die linke stieß sie wie-
Neben Apraxie der linken Körperseite, Agraphie der der weg. »Die Tatsache, dass 2 freie Willen innerhalb dessel-
linken Hand auf verbale Kommandos und Akopie (Un- ben Schädels wohnen, erinnert uns daran und verstärkt un-
fähigkeit abzuschreiben oder abzuzeichnen) der rechten, sere Vermutung, dass der freie Wille eine Illusion ist, wie das
sind alle Aufgaben, die eine Kooperation der Feinmoto- Auf- und Untergehen der Sonne. Je mehr wir über Gehirn
rik beider Hände verlangen, bei Split-brain-Patienten und Verhalten lernen, umso deterministischer, gesetzmäßi-
beeinträchtigt (z. B. mit rechter Hand Kaffeetasse halten ger und kausaler erscheint es uns« (Roger Sperry).
und mit linker einschenken, genauer Abschn. 28.2).
G Jede Hemisphäre verfügt über einen eigenen Willen,
Holistische versus analytische mit dem sie die gegenüberliegende (kontralaterale)
Informationsverarbeitung Körperseite und den kontralateralen Raum kon-
trolliert.
Aus den wenigen Split-brain-Patienten, die expressive Spra-
che rechts besitzen (. Abb. 21.12), und aus Experimenten
an Affen mit Zerstörung der Kommissuren wird geschlos- Zwei Bewusstseinsprozesse
sen, dass die linke Hemisphäre eher sequenziell, analytisch, Die subjektiv erlebbare Einheit des Bewusstseins ist also
kausal, die rechte eher ganzheitlich-holistisch, parallel, in- auf die Existenz der Kommissuren und Assoziationsfasern
tuitiv verarbeitet. Wenn die linke Hemisphäre eines der in und anderer weiträumiger Verbindungen im ZNS rück-
. Abb. 21.12 oben dargestellten Objekte wahrnimmt, so führbar. Im intakten Gehirn kommt es zu ständigem Infor-
sucht sie aus den Wahlreizen jene heraus, deren Funktion mationsfluss zwischen den Hemisphären. Die linke, eher
zum dargebotenen Reiz passt. Wenn die rechte Hemisphäre sprachbegabte Hemisphäre dominiert die Kommunikation
21.2 · Die Großhirnhemisphären und Bewusstseinsformen
511 21

. Abb. 21.13. »Bewusstsein« der rechten Hirnhemisphäre: Wenn der warum die Person lachte, so entwickelt die linke Hemisphäre eine Er-
rechten Hirnhemisphäre (linkes Gesichtsfeld) Instruktionen gegeben klärung dafür (Kausalattribution). Wenn die verlangte Reaktion für die
wurden, antwortet sie korrekt im Verhalten. Obwohl die linke Hirn- linke Hemisphäre gut sichtbar war (Haltung eines Boxers einnehmen,
hemisphäre die Instruktion nicht kannte, versuchte sie, eine »Erklä- unten), ist die Reaktion der linken Hemisphäre korrekt, obwohl sie kei-
rung« für die rechtshemisphärische Reaktion zu finden. Wenn oben ne Kenntnis der Instruktion haben konnte
die Instruktion »Lachen« erschien und der Versuchsleiter fragte,

zwischen Menschen, weshalb uns das sprachliche Bewusst- torisch-räumliche Inhalte und kann darüber auch in nicht-
sein auch als dominierend erscheint. Ohne die Kommis- sprachlicher Form (Deuten, Zeigen, emotionale Reaktionen)
suren teilt die linke Hand nicht mehr die Erfahrungen der Auskunft geben, besitzt also zweifelsfrei »Bewusstsein«;
rechten, die beiden visuellen Welten der beiden Hemisphä- trotzdem ist die Definition rechtshemisphärischen Bewusst-
ren sind vollständig getrennt, das Tun der linken Körper- seins schwierig, da wir zur Beschreibung dieses Bewusstseins
seite können wir nicht mehr beschreiben und verstehen es Sprache benutzen müssten. Sprachlich kann diese Bewusst-
schlecht; sprachlich-syntaktische Aufgaben können nur seinsform aber nur schwer beschrieben werden.
gelöst werden, wenn sie der linken Hemisphäre (rechtes . Abb. 21.13 zeigt die Reaktionen einer Split-brain-Pa-
visuelles Feld, rechtes Ohr) dargeboten werden. Nur eine tientin, deren rechte Hemisphäre ein gewisses Instruktions-
kleine Gruppe von Menschen besitzt vergleichbare syntak- verständnis aufwies, ohne sprechen zu können: Die einzel-
tische Fertigkeiten in der rechten Hemisphäre. nen Reize und Aufforderungen auf . Abb. 21.13 wurden
Beide »Bewusstseine« besitzen ein unabhängiges »Wil- ausschließlich der rechten Hemisphäre dargeboten. In die-
lens-Kontrollsystem«, das aber normalerweise durch die sem Fall ist die linke Hemisphäre primär mit Kausal-
linke Hemisphäre dominiert wird (Abschn. 28.2). Die rechte attribution (Ursachenzuschreibung) beschäftigt, ohne zu
Hemisphäre verarbeitet primär visuell-räumliche und audi- wissen, was rechts vor sich geht. Wir werden in Kap. 26 und
512 Kapitel 21 · Bewusstsein und Aufmerksamkeit

27 noch detailliert auf die Unterschiede zwischen rechts- und lokale Erregungsmodulation einzelner Module und Funk-
21 linkshemisphärischer Informationsverarbeitung eingehen. tionseinheiten reicht zur Hervorbringung bewusster Vor-
gänge und Inhalte nicht aus. Um Inhalte des Bewusstseins
G Die Split-brain-Versuche belegen, dass wir innerhalb
herauszuheben, also für die Aufmerksamkeitsprozesse,
eines Schädels 2 unterschiedliche Formen von Be-
müssen diese »zusammengebundenen« Module phasische
wusstsein, 2 eigenständige und manchmal gegen-
und lokal-synchrone Erregungsanstiege in einzelnen »Unter-
sätzliche Willensimpulse mit getrennter und unter-
Modulen« erzeugen können und es muss ein länger an-
schiedlicher Zuschreibung für Verantwortung und
haltender Austausch zwischen den beteiligten Modulen er-
Ursachen unseres Verhaltens besitzen.
folgen (kreisende Erregung und »re-entry«, Abschn. 21.4).
. Abb. 21.14 symbolisiert den Arbeitsplatz und Arbeitsablauf
21.3 Neuroanatomische und des Bewusstseins in Analogie zur Darstellung von . Abb. 21.3
neurochemische Grundlagen der psychologischen Abläufe und in Analogie zur Metapher
von Aktivierungsniveau und der Einleitung zu diesem Kapitel.
Aufmerksamkeit
G Bewusstsein ist an den kontinuierlichen Austausch
21.3.1 Subkortikale Aktivierungssysteme der Information oder Gedächtnisinhalte zwischen
verschiedenen Analyseeinheiten gebunden.
Modularität von Hirnfunktionen
und Bewusstsein Aufsteigendes retikuläres Aktivierungssystem
Wir haben Bewusstsein (Wachheit) und Aufmerksamkeit Die großflächige Aktivierung und Hemmung des Neokortex
auf psychologischer Ebene beschrieben und suchen nun auf wird von subkortikalen Systemen in der Retikulärformation
anatomischer und neurochemischer Ebene die den psycho- (Formatio reticularis, FR) des Mittel- und Hinterhirns, dem
logischen Konzepten zugehörigen Korrelate. Dabei werden basalen Vorderhirn und Teilen des Thalamus geregelt. Die
wir eine erstaunliche Konvergenz und Entsprechung zwi- phasische Aufmerksamkeitsregulation wird in einer kon-
schen den beiden Beschreibungsebenen feststellen. zertierten Aktion von Teilen des Thalamus, v. a. dem Nucleus
Zunächst müssen wir die neuronalen Grundlagen von reticularis (NR), dem Präfrontalkortex, Parietalkortex, Gyrus
tonischer, länger anhaltender Aktivierung und Hemmung Zinguli und Teilen der Basalganglien gesteuert.
von wacher Aufmerksamkeit bis zum Koma erläutern. Gene- . Abb. 21.15 zeigt die Versuchsanordnung, die zur Ent-
rell ist aus dem bisher Besprochenen klar geworden, dass an deckung des aufsteigenden retikulären Aktivierungssys-
der Steuerung von Bewusstsein und Aufmerksamkeit meh- tems (ARAS) 1949 führte. Lindsley, Magoun und Moruzzi
rere weitgestreute Hirnsysteme (Module) zu einer Funk- waren die ersten, die das Phänomen »unspezifischer Weck-
tionseinheit verschmolzen werden müssen (Synchronie). effekte« beschrieben. Der belgische Physiologe Frederic
Bewusstes Erleben benötigt eine großflächige Aktivierung Bremér hatte allerdings schon in den 30er Jahren die Wir-
des Neokortex zur Aufrechterhaltung und Variation des kungen subkortikaler Läsionen auf Bewusstsein und Schlaf
tonischen Aktivierungsniveaus kortikaler Zellverbände. Die auf Verhaltensebene gezeigt.

. Abb. 21.14. Hypothetische Struktur des Bewusstseins (7 Text; . Abb. 21.3 und 21.24)
21.3 · Neuroanatomische und neurochemische Grundlagen von Aktivierungsniveau und Aufmerksamkeit
513 21

Anatomisch ist die Formatio eine schwer definierbare


Struktur. Sie beginnt kurz oberhalb der Pyramidenkreu-
zung und ist von den langen spezifischen Bahnen und Ker-
nen wie von einer Muschel umgeben. Sie erhält Bahnen aus
vielen Rückenmarksegmenten und Kollateralen aus den
spezifischen Bahnen verschiedener Sinneskanäle; Fasern
zur mesenzephalen retikulären Formation (MRF, »mesen-
cephalic reticular formation«) entspringen in fast allen Ge-
hirngegenden, v. a. dem limbischen Kortex und dem Tha-
lamus. Die Zellen innerhalb der Formatio zeichnen sich
durch eine im übrigen Gehirn nicht wieder auffindbare Va-
riabilität aus. Viele sind unspezifisch, d. h. es konvergieren
Fasern aus allen Sinnessystemen, motorische und vegeta-
tive Fasern auf diese Zellen. Aus der Antwort der Zelle ist
keine Reiz- oder Reaktionsspezifität erkennbar. Besonders
intensiv sind die Verbindungen von und zu den medialen
Thalamuskernen (7 unten).
. Abb. 21.16a–c gibt eine Zusammenfassung des auf-
steigenden retikulären Aktivierungssystems: EEG-Desyn-
chronisation und verhaltensmäßige Aktivierung wird durch
aufsteigende afferente Fasern aus der Formatio reticularis
in höher gelegene Regionen bewirkt. Im Falle der phasi-
schen (kurzdauernden) Weckreaktion splittern die Impulse
aus der Formatio die thalamischen Schrittmacher (Kap. 20)
auf, wodurch das Kortex-EEG desynchronisiert wird.
G Die mesenzephalen retikulären Aktivierungssysteme
(MRF, »mesencephalic reticular formation«) stellen
d e f die anatomische und physiologische Grundlage des
. Abb. 21.15a–f. »Encephale et cerveau isolé«. a Sagittaler Schnitt tonischen Wachbewusstseins dar.
durch das Katzenhirn mit den kritischen Transsektionen, darunter
die dazugehörigen EEG-Bilder (b, c). b »encephale isolé«, Sektion
Multiple subkortikale Aktivierungssysteme
zwischen Medulla und Rückenmark, normales Wach-EEG. c »cerveau
isolé«, Schnitt zwischen dem oberen und unteren Vierhügel durch Betrachtet man die 5 cm Hirnstamm vom Beginn der
das Mittelhirn; Schlaf-EEG. F Fornix, Hy Hypothalamus, Lq Vierhügel- Medulla und dem Ende des Rückenmarks bis zum oberen
platte (Lamina quadrigemina). Me Mittelhirn. Mi Massa intermedia, Ende des Mittelhirns, so erkennt man auf beiden Seiten der
Mo Medulla oblongata, P Pons. d–f Giuseppe Moruzzi, Horace Magoun
Retikulärformation paarig angeordnet eine Vielzahl von
und Frédéric Brémer, die Entdecker des ARAS
Kernen, die sehr spezifische Projektionen aufweisen. Einige
projizieren gar nicht in die intralaminaren Kerne des Tha-
Läsionen im medialen Mittelhirn und/oder Zwischen- lamus (. Abb. 5.8 in Abschn. 5.2.2), sondern direkt in
hirn (»cerveau isolé«) hatten extreme Synchronisation des den Nucleus reticularis des Thalamus oder in die Kerne des
EEG und Koma oder dauerhaften Schlaf zur Folge, Läsionen basalen Vorderhirns und die Substantia innominata
der lateralen Anteile des Hirnstammes hatten keinen Effekt. (. Abb. 21.16c und 5.16 in Abschn. 5.2.4).
Auch Durchtrennung der gesamten Medulla (»encephale Die cholinergen Anteile des basalen Vorderhirns wir-
isolé«) führt zu keiner Störung des Wach- und Schlafrhyth- ken auf viele kortikale Regionen aktivierend, andere Zellan-
mus. Sie zeigten ferner, dass der Aktivierungseffekt von peri- häufungen innerhalb der Kerne des basalen Vorderhirns
pheren Reizen im intakten Gehirn durch Kollateralen der lösen bei Reizung Spindeln im kortikalen EEG und Schlaf
spezifischen Bahnen zur Formatio vermittelt wird. aus (Kap. 22). Jedes der ca. 30 Kerngebiete in der FR modu-
Die retikuläre Formation des Hirnstamms hat v. a. liert unterschiedliche Funktionen oft an denselben Zielor-
3 Funktionen: ten der darüber liegenden Zielgebiete. Zum Beispiel führt
4 Generierung der tonischen (lang anhaltenden) Wach- Erhöhung des Blutdrucks durch Aktivität der Barorezep-
heit, toren zu Erregung des Nucleus tractus solitarii (NTS),
4 Einfluss auf die Muskulatur, v. a. die tonische (lang an- der hemmend auf weite Teile des Großhirns einwirkt (Ab-
haltende) Anspannung, schn. 10.6.3 und 26.2.1).
4 Verstärkung oder Abschwächung der Aufnahme und
Weiterleitung sensorischer und motorischer Impulse.
514 Kapitel 21 · Bewusstsein und Aufmerksamkeit

. Abb. 21.16a–c. Aufsteigende Aktivierungssysteme. a Links:


21 Stark schematisierte Darstellung des aufsteigenden retikulären Akti-
vierungssystems im Affengehirn, ohne Berücksichtigung der genauen
Verbindungen zwischen Hypothalamus, Thalamus und limbischem
Kortex. Angedeutet die multisynaptischen retikulären Neurone und
Kollateralen aus den spezifischen Bahnen (blau). Rechts: Stimulation
vieler kortikaler Areale führt zu Potenzialen in der Formatio, was eine
kortikoretikuläre Verbindung und eine funktionelle Kontrolle der Auf-
merksamkeitssteuerung vom Kortex zur FR zeigt. b Erhöhter Blutfluss
in der mesenzephalen Retikulärformation (MRF), gemessen mit PET
bei 10 Personen (gemittelt) während einer visuellen Aufmerksamkeits-
aufgabe. Neben der Aktivierung in der FR auch Aktivierungen (rot,
weiß, gelb) in visuellen Arealen (rechts). c Moderne Auffassung des
ARAS. Die Aktivierung des Neokortex (CC) kann durch verschiedene
Kanäle aus den subkortikalen Kernen erfolgen, wobei die retikulären
Kerne sich weniger anatomisch als neurochemisch abgrenzen lassen.
Einige Kerne senden glutamaterge Projektionen (Glu) in die intralami-
naren Kerne des Thalamus (ILN) und das basale Vorderhirn (BF), von
wo weitgestreute Verbindungen zum Kortex führen. Die cholinergen
Kerne projizieren bevorzugt in den Nucl. reticularis des Thalamus
(RNT) und das BF. Der RNT hemmt die übrigen thalamischen Kerne.
Direkte monoaminerge Verbindungen aus den noradrenergen (NE),
serotonergen (SHT) und dopaminergen (DA) Kernen führen zum BF
und zum Kortex (CC)

ten Neurotransmitter und Neuromodulatoren aus, die wir


nirgendwo im Gehirn in vergleichbarem Ausmaß finden.
Einige dieser Neurotransmittersysteme sind lokal auf die
FR beschränkt, andere senden ihre Axone bis in kortikale
Zielgebiete. Wir haben die wichtigsten schon in Kap. 5 be-
sprochen, . Abb. 21.15 und 21.16 fassen die bedeutendsten
Aus Kinomura S et al (1996). Mit freundlicher Genehmigung von Science.

übergreifenden Einflüsse zusammen.


Die verschiedenen Kerngebiete der FR regeln auch
die einzelnen Schlafstadien und werden selbst wieder von
der »Master-Clock« des Tag-Nachtrhythmus, dem Nucleus
suprachiasmaticus (SCN, Kap. 22) beeinflusst.

Azetylcholin (ACh) und Glutamat (Glu)


Azetylcholin (ACh) und Glutamat (Glu) bewirken am
Kortex eine Verschiebung des Ruhepotenzials der Zellen
und Dendriten in Richtung Depolarisation. Die Negativie-
rung des Kortex erhöht sich und damit die Bereitschaft zu
feuern, wenn eine zusätzliche Impulssalve auf die Zellen
auftrifft.
Damit gewinnt ACh eine entscheidende Bedeutung für
Assoziationsbildung und Gedächtnis (Kap. 25). Das erste
G Die retikuläre Formation von Medulla, Brückenhirn Hauptkennzeichen der Alzheimerschen Erkrankung ist ein
und Mittelhirn enthält viele paarig angeordnete dramatischer Abfall von ACh im basalen Vorderhirn, Hip-
Kerne, die oft sehr spezifisch einzelne Regionen des pokampus und Kortex. Auch die Effekte von REM-Schlaf
darüber liegenden Groß- und Zwischenhirns erregen auf prozedurales Lernen und Einprägung hängen von der
oder hemmen. subkortikalen ACh-Aktivierung ab (Kap. 22).
Die Sensitivität der ACh-Rezeptoren wird durch elek-
trische Potenziale, v. a. langsame DC-Potenziale (DC von
21.3.2 Neurochemie subkortikaler »direct current«, Gleichstrom) beeinflusst, was gut zu der
Aktivierungs- und Hemmsysteme in Kap. 20 und unter Abschn. 21.4.2 beschriebenen Rolle
von DC-Potenzialen und langsamen Hirnpotenzialen im
Variabilität der Formatio reticularis Aktivierungsprozess passt. Allerdings ändern auch gluta-
Zusätzlich zur anatomischen Abgrenzbarkeit der Kerne der materge und dopaminerge neokortikale Neurone ihr Entla-
FR zeichnen sich diese durch eine Variabilität der beteilig- dungsverhalten unter DC-Einfluss.
21.3 · Neuroanatomische und neurochemische Grundlagen von Aktivierungsniveau und Aufmerksamkeit
515 21
Noradrenalin Mittelhirns ist für die Regelung der aufmerksamkeits-
Noradrenalin (NA) entfaltet je nach Ursprungsort (im steuernden Areale des dorsolateralen Frontalkortex, v. a.
Nucl. coeruleus oder Mittelhirn, . Abb. 5.22) und je nach an Zellen mit D1-Rezeptoren, essenziell. Die in Abschnitt
Rezeptortyp am Zielort ganz unterschiedliche Wirkungen. 21.1. besprochenen Funktionen des Arbeitsgedächtnisses
Die subkortikalen NA-Neurone reagieren auf neue und in- fallen aus, wenn die D1-Rezeptoren im Präfrontalkortex
tensive Reize und habituieren schnell. Am Kortex bewirken blockiert werden.
sie eine Verbesserung des Signal-Rauschverhältnis der Pyra- Wenn zusätzlich mit den D1-Rezeptoren die α1b-Rezep-
midenzellen: Lokale Erregungsanstiege werden erhöht, die toren präfrontaler Zellen durch neue Reize erregt werden,
umliegende Hemmung verstärkt, so dass die lokalen Auf- fällt die fokussierende D1-Wirkung im Präfrontalkortex
merksamkeitsveränderungen deutlicher ausfallen. Für die weg und subkortikale dopaminerge Regionen wie die
Aufrechterhaltung von Wachheit sind die NA-Systeme Amygdala und das anteriore Striatum und der Nucleus
nicht notwendig, ihre Zerstörung beeinträchtigt das all- accumbens (. Abb. 21.17 und Abschn. 26.3) erhöhen bei
gemeine, tonische Aktivierungsniveau kaum. Das Gleich- neuen Reizen die Alarmbereitschaft des Organismus und
gewicht von Erregung und Hemmung zwischen ein- unterbrechen die zielgerichteten, aber langsamen kogniti-
zelnen Rezeptoren des NA-Systems und Dopamin ist aber ven Erwartungsprozesse.
für die Regulation der Aufmerksamkeit von zentraler Be- Die extreme Ablenkbarkeit von Schizophrenen, die
deutung. jeden Reiz als neu und bedrohlich erleben, hängt mit dem
Ungleichgewicht von Dopamin und NA in präfrontalen
Dopamin Regionen zusammen (. Abb. 21.17, Abschn. 28.5). Die
Dopamin (DA) aus dem Tegmentum (Area ventralis teg- α1b-Rezeptoren oder NA haben bei der Schizophrenie das
mentalis, »ventral tegmental area«, VTM, . Abb. 5.22) des Übergewicht. Clozapin, ein neues Neuroleptikum, das

. Abb. 21.17a, b. Gleichgewicht von Dopamin und


Noradrenalin im dorsalen präfrontalen Kortex.
α1b-Rezeptoren und D1-Rezeptoren müssen beide aktiv
b
sein, um Aufmerksamkeit aufrecht zu erhalten (7 Text)
516 Kapitel 21 · Bewusstsein und Aufmerksamkeit

schizophrene Symptome »knebeln« kann, blockiert die Thalamokortikale Rückmelde(Feedback)-


21 α1b-Rezeptoren und ermöglicht damit die erneute Teil- Schleifen
nahme des präfrontalen Kortex und des Arbeitsgedächt- Afferente sensorische Fasern bilden Synapsen sowohl
nisses an der Aufmerksamkeitssteuerung. Die α1b-Rezep- mit spezifischen thalamokortikalen Projektionen, als auch
toren sind notwendig, damit sich Dopamin an präfrontale lokalen thalamischen Zellen. Auf ihrem Weg zum Kortex
D1-Neurone binden kann. Die klassischen Neuroleptika erhält der Nucleus reticularis thalami Kollateralen von
(z. B. Chlorpromazin) blockieren nur die D2-Rezeptoren in den aufsteigenden Fasern und die Axone aus dem Nucleus
limbischen und Stammhirnstrukturen und dämpfen damit reticularis thalami (NR) bilden wiederum Synapsen mit
die emotionale Hyperaktivität. . Abb. 21.17 symbolisiert den spezifischen Projektionen des Thalamus zum Kortex
diesen Gleichgewichtsprozess. (. Abb. 21.18b). Geschlossen wird dieser Kreis durch die
rückkehrenden Axone aus den kortikalen Pyramidenzellen,
G Während Azetylcholin und Glutamat für Assozia-
die ihrerseits mit den lokalen Zellen im Thalamus erregen-
tionsbildung und Gedächtnisaktivierung notwendig
de Synapsen bilden. Die multipolaren Axone aus dem
sind, entscheidet das Gleichgewicht von Noradrena-
Nucleus reticularis thalami gehen bis in die Retikulärfor-
lin- und Dopaminrezeptoren v. a. im Präfrontalkor-
mation (Abschn. 21.3.1), die selbst nach dem Nucleus reti-
tex über Aufmerksamkeitsleistungen.
cularis thalami projiziert. Man muss sich diese thalamokor-
tikalen Verbindungen als große Zahl parallel geschalteter
21.3.3 Der Thalamus: Interaktion von Erregungskreise vorstellen.
Aktivierung und Aufmerksamkeit Der Nucleus reticularis thalami ist somatotopisch,
visuotopisch etc. organisiert: die Afferenzen aus den verschie-
Thalamokortikales »gating« denen Regionen lassen sich entsprechend ihrer funktionellen
Die Eigenheit neuronaler Netzwerke, einen Teil der ankom- Bedeutung gliedern. In Abhängigkeit vom Ursprung der Af-
menden Information weiterzuleiten und den übrigen Teil ferenz wird also nur jenes Tor vom Nucleus reticularis tha-
von der Weiterleitung auszuschließen, bezeichnet man im lami geöffnet oder geschlossen, das der entsprechenden
angloamerikanischen Sprachraum als »gating« (im Deut- Afferenz (Sinnesmodalität) zugeordnet ist.
schen am besten mit »Schleusen« zu übersetzen). Da wir in Die thalamokortikal-retikuläre Schleife ist auch für die
Abschn. 21.1 gesehen haben, dass ankommende Informa- Entstehung der Schlafspindeln und des mu-Rhythmus
tion, auch wenn sie gut gelernt wurde, stets relativ vollstän- (10–15 Hz) verantwortlich (. Abb. 20.8). Wenn die choli-
dig analysiert wird, bevor sie abgeschwächt oder verstärkt nergen und glutamatergen Regionen der FR den NR nicht
wird, müssen wir vor einer Hemmung eine Analyse des hemmen – was sie im Wachzustand tun –, entwickelt sich
Reizmaterials auf neokortikaler Ebene in den primären und zwischen den Neuronen des NR und den thalamokorti-
sekundären Projektionsarealen annehmen. Erst danach ist kalen Neuronen langsame rhythmische Aktivität. Diese
eine efferente (»top-down«) (von höheren zu niedrigen Eigenart der cholinergen Hirnstammafferenzen ist darauf
Strukturen verlaufende) Hemmung des afferenten Impuls- zurückzuführen, dass ihre Fasern zum NR hemmende
einstromes denkbar. Eine Schlüsselposition für diese Funk- Wirkung haben, die zum spezifischen Thalamus erregende
tion des Gatings nimmt der Thalamus ein. (. Abb. 21.18b).
Innerhalb der thalamischen Kerne stellt der Nucleus G Die erregenden thalamokortikalen Verbindungen
reticularis thalami (NR) das »Tor« zum Kortex dar. Der werden (von den hemmenden Verbindungen) aus
Nucleus reticularis thalami umgibt den Thalamus wie eine dem Nucl. reticularis bei Nachlassen der Aktivierung
Muschel (Kap. 5) und weist eine Feinstruktur auf, die für aus den mesenzephalen Systemen in langsame
Selektion ankommender sensorischer Erregungsmuster Oszillationen versetzt.
ideal ist: Die Zellen im Nucleus reticularis thalami sind
hemmend (Gamma-Aminobuttersäure, GABA) und durch
weitverzweigte Dendriten innerhalb des Nucleus reticularis Kortikothalamische Rückmeldeschleifen
thalami und multipolare Axone mit vielen Kollateralen Die aktivierenden cholinergen Regionen können die Hem-
in die spezifischen Thalamuskerne gekennzeichnet; diese mung des Nucl. reticularis durch tonischen Impulszustrom,
langen, multipolaren Axone kommunizieren mit dem übri- d. h. Aktivierung von »unten«, aufheben. Bei Nachlassen
gen Thalamus und Mittelhirn, aber nicht mit neokortikalen der Aktivierung zum spezifischen Thalamus und Nach-
Strukturen (. Abb. 21.18a, b). lassen der Hemmung zum NR ermöglichen sie Schlaf. Die
kortikothalamischen Neuronen (oben auf . Abb. 21.18b)
G Der Nucleus reticularis des Thalamus ist wesentlich verhindern durch ihre erregenden (glutamatergen) Ein-
für die selektive Aufmerksamkeit mitverantwortlich, flüsse auf den Thalamus phasisch die Absenkung der Akti-
indem er selektiv die spezifischen Kerne des Thala- vierung und Schlaf bei Aufmerksamkeitszuwendung. Beim
mus hemmen kann. Menschen zeigt sich gleichzeitig mit der kortikothalami-
schen Aktivierung bei Aufmerksamkeit erhöhte neuronale
21.3 · Neuroanatomische und neurochemische Grundlagen von Aktivierungsniveau und Aufmerksamkeit
517 21

. Abb. 21.18a, b. Funktion des Nucl. reticularis. a Schematisierter


Horizontalschnitt durch den ventralen Abschnitt des Thalamus.
VB ventrobasaler Komplex des spezifischen Thalamus, R Ncl. reticularis
thalami (rot). Eine thalamokortikale Projektionszelle (t) gibt ihr Axon
(3) rostral u. a. in den Kortex ab, während 2 Neurone aus dem Nucl.
reticularis ihre Axone (1 und 2) nach kaudal in den VB abgeben. 1 und
2 kommunizieren mit t. b Funktion des Nucl. reticularis und Kortex.
Neuronale Verbindung zwischen Zellen des retikulären Thalamus,
einer spezifischen thalamokortikalen (rechts), der kortikothalamischen
(oben) und der Zellen der unspezifischen Aktivierungsregionen des
Hirnstamms (unten). + indiziert erregende, – hemmende Verbindung
(7 Text)

Nach Scheibel AB (1981). Mit freundlicher Genehmigung von Lippincott Williams & Wilkins.

b
518 Kapitel 21 · Bewusstsein und Aufmerksamkeit

Aktivität im anterioren Zingulum und im dorsolateralen Das Pulvinar


21 Frontalkortex, letzterer für die vom Arbeitsgedächtnis be- Neben dem Nucl. reticularis ist v. a. bei der visuellen Auf-
wirkte Aufrechterhaltung der Selektivität der Aufmerksam- merksamkeit das Pulvinar (. Abb. 5.8), ein großer Kern
keit verantwortlich. Diese frontalen Regionen werden nur im posterioren Thalamus, an der Erhöhung der Erregbarkeit
bei phasischer Aufmerksamkeit vom Thalamus aktiviert, bei aufmerksamer Zuwendung im posterioren parietalen
was zeigt, dass die Interaktion zwischen tonischen Aktivie- Kortex beteiligt. Das Pulvinar ist Teil des tektopulvinaren
rungsniveaus und phasischer Aufmerksamkeit auf Ebene Systems, das die visuelle Information parallel zum geniku-
des Thalamus stattfindet. lostriatären Sehsystem verarbeitet und die Information
direkt in die parietalen Assoziationsareale leitet. Dies v. a.
G Die kortikothalamischen Neuronen können die beim Menschen, wo das Pulvinar extrem groß wird. Das
Rückmeldeschleifen zwischen Nucl. reticularis und Pulvinar ist auch mit dem lateralen präfrontalen Kortex eng
spezifischem Thalamus ebenso beeinflussen wie verbunden. Immer, wenn visuelle Reize zusammen mit an-
präfrontale Regionen. deren, potenziell ablenkenden Reizen dargeboten werden,

. Abb. 21.19a, b. Bewusstlosigkeit. a Zerebraler Blutfluss


und Bewusstlosigkeit. Gegenüber entspannter Wachheit
verminderter zerebraler Blutfluss (in schwarz) gemessen mit
Positronenemissionstomographie (PET) bei Koma, persistie-
rendem Vegetativen Zustand (VS), Tiefschlaf und Allgemein-
anästhesie. Rechte Hemisphäre (links), medialer Blick
auf die linke Hemisphäre (rechts). F präfrontal, MF medio-
frontal, P posteriorer Parietalkortex, Pr posteriores Zingulum
und/oder Präcuneus. b Ereigniskorrelierte Hirnpotenziale
(EKP) im persistierenden Vegetativen Zustand (VS). Die Pa-
tientin unten ist seit Jahren im VS, zeigt aber normale EKP
auf komplexe kognitive Reize: links EKP auf abweichende
Töne (rote Linie abweichender Reiz, schwarz Standardreiz),
kein Unterschied; Mitte: EKP auf abweichende (neue) Sprach-
laute; rechts: Sätze mit semantisch unpassenden Endigun-
gen (rot). Fz frontal, Cz zentral, Pz parietal. Der Patient rechts
oben befindet sich im Locked-in-Zustand im Endstadium
der amyotrophen Lateralsklerose (ALS): EKP und lokale Hirn-
durchblutung sind trotz vollkommener Lähmung intakt

Nach Baars BJ, Ramsy TS, Laurey S (2003). Mit freundlicher Genehmigung von Elsevier.

b
21.3 · Neuroanatomische und neurochemische Grundlagen von Aktivierungsniveau und Aufmerksamkeit
519 21

feuern im Tierversuch die Pulvinarzellen vermehrt und er- Parietal- und Temporalkortex
regen die striatalen und extrastriatalen Areale des visuellen Ein extensiver Vergleich gespeicherter mit ankommender
Kortex, wo das beachtete Signal schon nach 60 ms zu einem Information und damit der Bestimmung von Bedeutung
erhöhten evozierten Potenzial führt (. Abb. 21.26). Diese und Neuheit ist vor der aufmerksamen Ressourcenzuwei-
Erhöhung des evozierten Potenzials belegt, dass sehr früh, sung mit lokaler Erregungserhöhung der neuronalen Akti-
lange vor bewusstem Erleben, der Thalamus einfache Selek- vität notwendig (Abschn. 21.4). Diese Leistung wird von
tionsleistungen auf kortikaler Ebene bewirken kann. den sekundären und tertiären Assoziationskortizes im Pa-
rietal- und Temporalkortex erbracht (Box 21.3 und Box
G Thalamische Kerne wie das Pulvinar erbringen
21.4), wo die relevante Sinnesinformation gespeichert ist
bereits mit minimaler kortikaler Beteiligung Selek-
und enge Verbindungen mit emotionalen limbischen Struk-
tionsleistungen.
turen (z. B. Amygdala bei Angstreizen) und den Basal-
ganglien (z. B. Striatum für positive Erwartungen) die sub-
21.3.4 Assoziationskortizes, Aktivierung jektive Signifikanz des Reizes und der Reaktion abzuschät-
und Aufmerksamkeit zen erlauben. Das bewusste Erkennen eines Objektes
erfordert die anhaltende und wiederkehrende (rekurrente)
Nicht-bewusstes Bewusstsein – bewusstes Nicht- Aktivität zwischen dem primären Projektionsareal und den
Bewusstsein dazugehörigen Assoziationskortizes mit den gespeicherten
Wie wir schon in 21.1 dargestellt haben, sind Wachheit und Engrammen.
die Inhalte von Bewusstsein und der Aufmerksamkeit von- Wenn 2 Reize gleichzeitig dargeboten werden, verrin-
einander teilweise unabhängig, was sich auch darin nieder- gern sich die Antworten beider Zellensembles. Der Präf-
schlägt, dass eine Person (z. B. Alzheimer oder Neglekt, rontalkortex entscheidet zwar, welche Information im Pa-
7 unten) wach sein kann und trotzdem keinerlei kohärente rietalkortex Priorität erhält, aber die Aufmerksamkeitszu-
Bewusstseinsinhalte erlebt, und umgekehrt kann in einem wendung auf den mit Priorität versehenen und die Loslösung
(tonisch) bewusstlosen Zustand wie dem vegetativen Zu- vom irrelevanten Reiz erfolgen in den temporo-parietalen
stand (VS, »vegetative state«) ein einzelner Inhalt verarbei- Assoziationsarealen. Zellen im unteren Parietallappen, wo
tet werden (bewusst und nicht-bewusst). . Abb. 21.19a visuelle, akustische und taktile Information einläuft, feuern
zeigt den gegenüber einem entspannten Wachzustand ver- im Tierversuch nur, wenn das Tier sich der Reizquelle auf-
ringerten Blutfluss im Koma, vegetativen Zustand, Tief- merksam zuwendet; die Axone dieser Aufmerksamkeits-
schlaf und Allgemeinanästhesie. zellen führen sowohl zum Frontalkortex als auch in den
Alle Zustände mit tonisch-anhaltender Bewusstlosig- Thalamus und die Basalganglien (7 unten). Dies bestätigt
keit zeichnen sich durch verringerten Blutfluss in den pa- die Bedeutung des Parietallappens für multisensorische
rieto-präfrontalen Assoziationskortizes aus. Beim Koma, in Vergleiche (Box 21.4 und Box 21.5).
dem keinerlei Reagibilität und im EEG langsame, hohe δ-
G Die Bestimmung von Bedeutung eines visuellen
Wellen vorherrschen, ist auch die Aktivität in der FR oder
Reizes benötigt multisensorische Vergleiche im
im gesamten Kortex stark reduziert, im VS können oft mini-
Parietalkortex und eine anhaltende Interaktion
male Verhaltensreaktionen auf Schmerz ausgelöst werden,
zwischen primären und sekundären Projektions-
das EEG folgt einem Wach-Schlafzyklus und die FR ist im
arealen. Diese wiederholten Interaktionen gehen
Wachzustand aktiviert. Trotz der Inaktivität und vermut-
der Aufmerksamkeitszuwendung voraus.
lich vorhandenen Bewusstlosigkeit im VS, erkennbar an der
frontoparietalen Unteraktivierung, und manchmal auch im
Koma, lassen sich bei 20–30% der Patienten kognitive Er- Neglekt
eigniskorrelierte Potenziale (EKP, Abschn. 21.4) auf kom- Beim Menschen tritt nach Läsion des rechten Parietal-
plexe kognitive Aufgaben auslösen, auch wenn keine EKP lappens und des posterioren Temporallappens, aber auch
auf einfache Reize (z. B. Töne) mehr auslösbar sind (. Abb. nach subkortikalen thalamo-retikulären und manchmal
21.19b)! Dies bedeutet, dass auch in diesen »nicht-bewuss- auch präfrontalen und zingulären Läsionen eine Störung
ten« Zuständen in einzelnen Modulen des Gehirns norma- auf, die als kontralateraler Neglekt bezeichnet wurde. Die
le, hoch-komplexe Informationsverarbeitung (z. B. »Verste- Person reagiert nicht auf visuelle, taktile und akustische
hen von Bedeutung«) erhalten sein kann. Reize kontralateral zur Läsion (meist linke Körperseite). Sie
berichtet auch keinerlei Inhalte von dieser Seite und orien-
G Störungen der dynamischen oder anatomischen tiert sich bei neuen Reizen nicht dahin. . Abb. 21.20 zeigt
Verbindungen zwischen sekundären und tertiären die Selbstporträts des Malers Räderscheidt im Laufe der
Assoziationskortizes und dem Präfrontalkortex Erholung von einem rechten parietalen Infarkt.
führen zu schweren Aufmerksamkeitsdefiziten, bei Ein besonders originelles Experiment, das demonst-
denen trotz erhaltener Wachheit kein bewusstes riert, dass die Information auf einem präattentiven Niveau
Erleben von Erlebnisinhalten mehr möglich ist. wahrgenommen, aber nicht explizit, bewusst verarbeitet
520 Kapitel 21 · Bewusstsein und Aufmerksamkeit

Box 21.3. Intrakortikale Erregungskreise und Bewusstsein


21
Damit bewusstes Erleben entsteht, muss der Informa- Feldern fehlen aber, ebenso wie die bewussten Empfin-
tionsaustausch (Feedback) zwischen den primären und dungen. Auch im visuellen System kann man die bewuss-
assoziativen kortikalen Arealen einige Zeit (50–100 ms te Wahrnehmung optischer Reize durch reversible Läsion
bei einfachen Reizen) fortgesetzt werden. Die Abbildung der Assoziationsareale mit transkranieller Magnetstimula-
zeigt einen Patienten mit einem Tumor im sekundären tion (TMS, Kap. 20) verhindern.
(assoziativen) somatosensorischen Areal, ohne Verletzung
des primären Rindenfeldes. Der Proband bemerkt Tast-
Literatur: Preissl H, Flor H, Lutzenberger W, Duffner F, Freudenstein
und Berührungsreize nicht, obwohl die darunter aufge-
D, Grote E, Birbaumer N (2001) Early activation of the primary
zeichneten Magnetfelder im primären Projektionsareal somatosensory cortex without conscious awareness of so-
nach 70 ms ankommen (Kap. 28, Agnosien). Die späteren matosensory stimuli in tumor patients. Neuroscience Letters
Antworten (ab 80 ms) aus den benachbarten assoziativen 308:193–196

Nach Preissl H et al (2001). Mit freundlicher Genehmigung von Elsevier.

Folgen eines Tumors (rot) im linken sekundären parietalen Hand- die Quelle der Erregung (Dipol) liegt dazwischen. Auf der läsio-
areal (oben). Das primäre, postzentrale Handareal ist verschoben, nierten Seite (rechter Teil) ist zwar das frühe Feld (70–100 ms nach
aber intakt (gelber Punkt). Unten: Magnetische Felder nach Reiz) erhalten, aber das späte (> 100 ms) nicht. Der Patient spürt
Darbietung eines taktilen Reizes auf der rechten und linken Hand. nichts bewusst. A anterior, P posterior, L links, R rechts
Rot symbolisiert Austritt, Blau Eintritt des magnetischen Feldes,

wird, stammt von Bisiach und Luzzati. Sie baten einen Pa- Nun beschrieb der Patient exakt jene Details des Dom-
tienten mit rechts-inferiorer parietal-temporaler Läsion, platzes, die er aus der gegenüberliegenden Vorstellungs-
der sein Leben in Mailand verbracht hatte und »die Piazza« position nicht beschreiben konnte.
mit Dom vor der Läsion perfekt gekannt hatte, sich vor- Dass es sich um eine Aufmerksamkeitsstörung und
zustellen, er stünde auf den Stufen des Doms und solle nun nicht um einen sensorischen Defekt handelt, kann man an
den Platz vor ihm beschreiben. . Abb. 21.21 zeigt das Er- einer Reihe von Verhaltensweisen erkennen: Extinktion
gebnis auf der linken Seite. Danach baten sie den Patienten, (nicht zu verwechseln mit dem lernpsychologischen Be-
sich vorzustellen, er stünde genau dem Dom gegenüber. griff) bedeutet, dass der Patient korrekt auf Reize reagiert,
21.3 · Neuroanatomische und neurochemische Grundlagen von Aktivierungsniveau und Aufmerksamkeit
521 21

a b

c d

. Abb. 21.20a–d. Kontralateraler Neglekt. Vier Selbstporträts des ralen Neglekt. Der Künstler kann seine Aufmerksamkeit nicht auf die
deutschen Malers Anton Räderscheidt im Laufe der Erholung von linke Hälfte seines Gesichtsfeldes richten. Das zweite Selbstporträt (c)
einem rechts-parietalen Infarkt. a Vor dem Infarkt. Das erste Selbst- entstand 5 Monate nach dem Insult, das dritte (d) 9 Monate danach
porträt 2 Monate nach dem Infarkt (b) zeigt vollständigen kontrolate-

die zeitlich getrennt in das rechte oder linke Gesichtsfeld Neglekt und Aufmerksamkeit
präsentiert werden, aber den Reiz im linken Gesichtsfeld Neglekt spricht für die Teilnahme des Parietalkortex an
vollkommen ignoriert, wenn beide Reize simultan gezeigt einem weit gestreuten kortiko-subkortikalen Aufmerksam-
werden. Dieses Phänomen spricht dafür, dass sich der Fo- keitssystem. Den multimodalen parietalen und temporalen
kus der Aufmerksamkeit nicht vom (gesunden) Gesichts- Assoziationsarealen kommt dabei die Aufgabe zu, ankom-
feld löst (»disengage«, . Abb. 21.6). Die gesunde linke mende Erregungsmuster mit gespeicherten und vorhande-
Hemisphäre dominiert durch den Mangel an Hemmung aus nen zu vergleichen und daraus die Bedeutung des Musters
der läsionierten rechten Seite und/oder Übererregung der zu extrahieren. Während temporal mehr die Bedeutung
gesunden Seite derart, dass eine Lösung vom gesunden (was?) analysiert wird, verarbeitet die Parietalregion die
kontralateralen Gesichts- und Körperfeld nicht gelingt. Für räumliche Lokalisation (wo?) (Abschn. 17.5.2).
weitere Aspekte des Neglekts s. Abschn. 28.5.2. Die inferiore parietale Region erhält Information von
den 3 wichtigsten Sinnessystemen (visuell, auditiv, soma-
G Beim kontralateralen Neglekt, meist nach Läsion tisch) und gibt nach multisensorischem Vergleich die Infor-
des rechten unteren Parietotemporalkortex werden mation über die »Bedeutung« des Reizmusters an frontale
alle Reize aus dem gegenüberliegenden Halbfeld und temporale Regionen ab (Kap. 17 und 25, Bindungs-
(einschließlich der eigenen Körperseite) ignoriert. problem); diese modulieren durch hemmende Verbindun-
522 Kapitel 21 · Bewusstsein und Aufmerksamkeit

21

Nach Gazzaniga MS, Ivry R, Mangun G (1998). Mit freundlicher Genehmigung


von W.W. Norton & Company.
. Abb. 21.21. Visueller Neglekt nach Läsion des rechten Parietalkortex (7 Text)

gen das thalamische Filtersystem des Nucl. reticularis, wie G Der dorsolaterale Präfrontalkortex ist als Grundlage
oben beschrieben. des Arbeitsgedächtnisses für das Aufrechterhalten
Sensorischer Neglekt muss von intentionalem motori- flüchtiger Information verantwortlich.
schem Neglekt unterschieden werden. Hauptsymptom ist
die fehlende Intention, der fehlende Wille eine korrekte Ziel- Anteriores Zingulum
bewegung auszuüben (Akinesie). Von den thalamischen . Abb. 21.22 zeigt eine typische Aufmerksamkeitsaufgabe
Filtersystemen sind bei intentionalem Neglekt und Akinesie und die damit einhergehende Erhöhung des zerebralen
im Unterschied zu sensorischem Neglekt die motorischen Blutflusses. Die Ergebnisse stimmen gut mit den elek-
Kerne (VA, VL), der mediale Thalamus und die Basalgang- trischen und magnetischen Messungen überein, im PET
lien beteiligt. findet man aber auch eine Erhöhung der Aktivierung im
vorderen Gyrus cinguli und den Basalganglien, die man
G Sekundäre und tertiäre Assoziationskortizes (v. a.
in den elektrischen Ableitungen durch die große Dis-
der Parietalkortex) sind für Vergleich ankommender
tanz dieser Areale von den Elektroden nicht sehen kann.
Information mit gespeicherter, für Prioritätssetzun-
Während die Eingangsseite in einer Aufmerksamkeits-
gen zwischen konkurrierenden Bewusstseinsinhal-
aufgabe, wie in . Abb. 21.6 dargestellt, mit Aufgeben alter
ten und Loslösung (»disengagement«) und Umlen-
Ziele (hinterer parietaler Kortex) und Orientierung auf
kung (»switching«) von alten und konkurrierenden
die neue Aufgabe (jeweiliges primäres und sekundäres
Inhalten verantwortlich. Läsionen dieser Areale füh-
sensorisches Hirnrindenfeld) eher posteriore Areale akti-
ren zu sensorischem, motorischem oder emotiona-
viert, so sind bei den exekutiven Funktionen der Auf-
lem Neglekt.
merksamkeit, also wenn Entscheidungen, v. a. nach Feh-
lern (»error-detection«), verlangt sind, die frontalen
Dorsolateraler Präfrontalkortex Regionen einschließlich des vorderen Gyrus cinguli
Damit ein bewusstes Erlebnis entsteht, müssen die zwi- aktiv.
schen dem Thalamus und den Assoziationsarealen kreisen- Läsionen des Gyrus cinguli beim Menschen führen
den Erregungsoszillationen (. Abb. 21.18, Box 21.4) und häufig zu akinetischem Mutismus, bei dem die Person zwar
lokale Erregungserhöhung bei Hervorhebung des relevan- alles aufmerksam verfolgt, aber weder Worte ausspricht
ten Inhalts einige Zeit erhalten bleiben (mindestens 100– noch andere Ziele ausführt. Der vordere Gyrus cinguli wird
200 ms). Diese Leistung erbringt der dorsolaterale Frontal- vom parietalen Kortex, aber auch vom Thalamus und den
kortex, der die anatomische Grundlage des in Abschn. 21.1 dopaminergen Kernen des mesolimbischen Systems (Kap. 5)
erläuterten Arbeitsgedächtnisses ist. Die extensiven rezip- and anderen limbischen Regionen versorgt und projiziert
roken parieto-frontalen und fronto-temporalen Verbin- in die präfrontalen Regionen des Arbeitsgedächtnisses und
dungen ermöglichen diese Leistung (. Abb. 21.22 und die akustischen und visuellen Projektionsfelder. . Abb. 21.22
. Abb. 21.23). und 21.23 geben diese Verbindungen und die im PET je-
21.3 · Neuroanatomische und neurochemische Grundlagen von Aktivierungsniveau und Aufmerksamkeit
523 21

Box 21.4. Rückmeldung aus den Assoziationsarealen zu den primären Projektionsarealen – notwendig für Bewusstwerden
von Wahrnehmungsinhalten

Damit ein Wahrnehmungsinhalt bewusst bleibt, muss Ein phantasievolles Experiment von Pascual-Leone
zwischen den primären Analyse-Arealen des Kortex und und Walsh mit transkranieller Magnetstimulation
den für den Wahrnehmungsinhalt spezifischen thala- (TMS, Kap. 20) illustriert diesen Sachverhalt nachdrück-
mischen Kernen eine kreisende erregende (»re-entrant«) lich. Wenn man einen magnetischen Puls, der eine lokale
Verbindung hergestellt werden. Dies reicht aber allein elektrische Übererregung erzeugt (und die betroffenen
nicht aus, um den Inhalt ins Bewusstsein zu »befördern«. Zellen kurz »zum Schweigen« bringt), auf V1 (primäres
Wie die Box 21.3 zeigt, führt Zerstörung der sekundären visuelles Areal) anbringt, sehen die Versuchspersonen
Assoziationsareale auch bei Unversehrtheit der primären stationäre Phosphene (Lichtblitze), reizt man MT/V5,
Analyse zum Ausfall des Bewusstwerdens. Natürlich gilt das visuelle Bewegungsareal, so sieht man sich bewe-
auch der umgekehrte Fall, aber aus anderen Gründen: gende Phosphene. Reizt man V5 5–45 ms vor V1, also V1
Zerstörung des primären Areals (z. B. im visuellen »blind- nach der Aktivierung von V5, so sieht man keine statio-
sight«) verhindert die frühe Bearbeitung der Erregungs- nären Phosphene in V1 mehr. Die rasche Rückmeldung
konstellation, damit kann es zu keiner Rückmeldung zum von V5 nach V1 ist also notwendig, damit der in V1 ana-
und vom sekundären Areal kommen. Diese (»re-entrant«) lysierte Wahrnehmungsinhalt bewusst wird. Wie rasch
Rückmeldeschleife von dem sekundären zu dem pri- diese Rückmeldung sein kann, demonstriert dieses Expe-
mären sind für die bewusste Wahrnehmung kritisch. riment.

Aus Pascual-Leone A, Walsh V (2001). Mit freundlicher Genehmigung von Science.

Transkranielle Magnetstimulation (TMS) von V1 (stationäre Phos- TMS am Okzipitalpol. Wird V5 kurz vor V1 überschwellig gereizt
phene) und V5 (bewegte Phosphene). Links die Magnetresonanz- und damit die Verbindung zu V1 unterbrochen, so sieht die
aufnahme einer typischen Versuchsperson mit dem stimulierten Person den Wahrnehmungsinhalt (stationäres Phosphen in V1)
Areal V5 hell hervorgehoben. Rechts die Reizorte V1 und V5 für nicht mehr
524 Kapitel 21 · Bewusstsein und Aufmerksamkeit

21

Modifiziert nach Ganzzaniga MS, Ivry RB, Mangun GR (1998). Mit freundlicher
Genehmigung von W.W. Norton & Company.
Corbetta M et al (1991). Permission is hereby granted by Wiley.

. Abb. 21.22a, b. Gehirndurchblutung und Aufmerksamkeit.


a Die Änderungen der zerebralen Durchblutung (PET) bei einer typi-
schen Aufmerksamkeitsaufgabe. Die Versuchspersonen mussten
durch Knopfdruck nach 1,5 s anzeigen, ob sich das zweite Bild gegen-
über dem ersten in Farbe, Form oder Geschwindigkeit der bewegten
Rechtecke unterscheidet. Blutflussänderungen zeigen sich in den
primären und sekundären Arealen des Parietal- und Temporallappens,
dem dorsolateralen Frontallappen, dem vorderen Gyrus cinguli und
den Basalganglien. b Zusammenfassung jener Hirnareale, die bei
exekutiv-kontrollierter Aufmerksamkeit in visuell-räumlichen Auf-
gaben aktiv sind. Emotionale Strukturen und Basalganglien sind weg-
gelassen

weils aktiven Areale bei Aufmerksamkeitsaufgaben wieder.


Wenn man nur passiv auf einen Reiz achtet, ohne damit
Ziele zu verfolgen, bleibt der Gyrus cinguli still.
Aus Posner MI, Raichle ME (1996). Mit freundlicher

G Kontrolliert-exekutive Aufmerksamkeit geht mit er-


höhter Durchblutung und Energieverbrauch einher.
Genehmigung von WH Freemann.

Der G. cinguli ist besonders aktiv, wenn Fehler


auftreten und ablaufende Routinen unterbrochen
werden müssen.

21.3.5 Anatomische Grundlagen


des limitierten
Kapazitätskontrollsystems
. Abb. 21.23. Bedeutung des Gyrus cinguli. Bei schwierigen Ent-
scheidungen kontrollierter Aufmerksamkeit und nach Fehler-Erken-
nung wird der vordere Gyrus cinguli aktiv und aktiviert die frontalen Das limitierte Kapazitätskontrollsystem
Regionen des Arbeitsgedächtnisses für Ort und Raum (superior) und Wir haben bereits wesentliche Teile des limitierten Kapa-
Worte (inferior links) wie auch die sensorischen Projektionsareale (zu- zitätskontrollsystems (LCCS, »limited capacity control sys-
sammen mit dem Thalamus)
tem«) in Gestalt der MRF als »Energielieferant« und des
Nucleus reticularis thalami als »Tor« der Aktivierungsver-
teilung kennen gelernt. Es fehlen uns noch 2 Systemeigen-
schaften, die wir zur Lenkung (Fokussierung) gerichteter
Aufmerksamkeit benötigen:
21.3 · Neuroanatomische und neurochemische Grundlagen von Aktivierungsniveau und Aufmerksamkeit
525 21

4 eine Entscheidungsinstanz, die vor der aktuellen Das rückwirkende Informationssystem über die Topo-
Schwellenerniedrigung (Erregungserhöhung) der kor- graphie der Erregungsverteilung am Neokortex läuft über
tikalen Areale eines der thalamischen »Tore« (z. B. das die Basalganglien zum Nucleus reticularis thalami und
visuelle, akustische etc.) öffnet und damit den Er- schließt die thalamischen Tore durch Anwachsen der Hem-
regungsfluss dort hinlenkt, wo er für die weitere Reiz- mung bei Erregungssteigerung in den entsprechenden kor-
analyse oder die Handlungsvorbereitung »gebraucht« tikalen »Modulen« über kritische Schwellen.
wird; . Abb. 21.24 stellt eine schematische Zusammenfas-
4 ein System, das den Nucleus reticularis thalami über sung aller bisher in Kap. 21.3 beschriebenen Systeme dar,
die zurzeit bestehende Erregungsverteilung am Neo- unter Einbeziehung des sog. medio-thalamo-frontokorti-
kortex informiert und verhindert, dass bereits erregte kalen Systems (MTFCS) und der Basalganglien.
Areale weiter erregt werden (z. B. bis zu einer epilepti-
G Die Entscheidung über eine Aufmerksamkeitser-
schen Übererregung).
höhung treffen Anteile des präfrontalen Kortex
und Zingulum. Teile der Basalganglien regeln die
Die »Entscheidungsinstanz« besteht aus dem medialen und
Erregungsverteilung am Kortex.
orbitalen präfrontalen Kortex (PFC) und dem Gyrus cinguli,
die Informationen aus allen Teilen des Neokortex, beson-
ders dem (rechten) inferior-parietalen Assoziationskortex, Funktion und Dynamik des Präfrontalkortex
über die eingelaufene visuelle Information und das Resultat Efferenzen des Präfrontalkortex (PFC) und der MRF kon-
der (nicht-bewussten) Vergleichsprozesse erhalten und vergieren an dem retikulären Kern (R), der die thalamo-
gleichzeitig aus dem limbischen System über die motiva- kortikale Aktivität verteilt. MRF-Reizung öffnet die Tore
tionale Bedeutung (»vital wichtig« oder »unwichtig«) im unspezifisch, d. h. die Amplituden der ereigniskorrelierten
präfrontalen Orbitalkortex informiert werden. Potenziale (EKP, Abschn. 21.4 und Kap. 20) steigen, das

. Abb. 21.24. Das limitierte Kapazitätskontrollsystem (LCCS). schwarz strichliert. Die parieto-frontalen und tempero-frontalen Ver-
ZusammenfassendeDarstellung der an der Aufmerksamkeitssteue- bindungen sind einfach strichliert. Die Einflüsse des »Gates« aus dem
rung beteiligten Hirnstrukturen und ihre Verbindungen. Das medio- Nucleus reticularis (R) sind rot. FC Frontalkortex, MT medialer Thalamus,
thalamisch-frontokortikale System (MTFCS) ist mit durchgezogenen Nucl. reticularis (rot), GM C. geniculatum mediale, VL Nucl. ventrolate-
Pfeilen verknüpft, thalamo-kortikale Afferenzen sind horizontal strich- ralis, VC visueller Kortex, AC akustischer Kortex, MRF mesenzephale
liert, die Verbindungen Kortex-Basalganglien-Thalamus blau bzw. Retikulärformation, DA Dopamin, TC Temporalkortex
526 Kapitel 21 · Bewusstsein und Aufmerksamkeit

EEG wird desynchronisiert, die hochfrequenten, lokalen 21.4 Psychophysiologie von Bewusst-
21 Gamma-Oszillatoren synchronisieren sich in den relevanten sein und Aufmerksamkeit
Hirnarealen. Eine generelle Bereitschaft für Informa-
tionsaufnahme und Orientierung ist die Folge. Aktivierung 21.4.1 Neuronale Oszillationen
des PFC schließt die thalamischen Tore. Im Gegensatz zur
MRF sind aber die Afferenzen und Efferenzen des prä- Oszillationen als neuronale Repräsentation
frontalen Kortex anatomisch selektiv tätig, d. h. dass nur ein Als Hans Berger, der Entdecker des menschlichen Elektro-
Teil der Bahnen vom PFC zum R aktiviert ist, ein anderer enzephalogramms, die Regularität und das Auf und Ab der
Teil »still« bleibt und damit ein »Tor« (z. B. das C. genicula- wiederkehrenden rhythmischen Spannungswellen des EEG
tum mediale bei akustischer Information) geöffnet, alle an- beobachtete, war ihm sofort klar, dass diese rhythmischen
deren geschlossen bleiben. Spannungsänderungen eng mit der Produktion von be-
wusstem Erleben zu tun haben müssen. Sein Freund und
G Der mediale Präfrontalkortex kann selektiv die
Gegenspieler in den 30er-Jahren des 20. Jahrhunderts, der
Durchlässigkeit der thalamischen Kerne regeln.
Psychologe Hubert Rohracher, widersprach dem Psychiater
und Physiologen und sah die Rhythmizität des EEG als
Funktion und Dynamik der Basalganglien Ausdruck von Stoffwechselprozessen der Nerven- und Glia-
Blau ist in . Abb. 21.24 die rückwirkende Schleife vom zellen, die wenig mit bewusstem Erleben zu tun haben.
Kortex zu den Basalganglien (über Striatum und Nucleus Diese beiden wissenschaftlichen Positionen, die die
subthalamicus (NST) (. Abb. 5.14 u. 5.15) zum Pallidum Entdeckung von Oszillationen im menschlichen Gehirn
und von dort wieder in den Thalamus) eingetragen. Der begleiteten, sind auch heute noch präsent. Die große Mehr-
Gyrus cinguli kann bei schwierigen Entscheidungen zu- heit der (molekularen) Neurowissenschaften sieht in dem
sätzlich die frontalen Areale des Arbeitsgedächtnisses akti- Auf und Ab der Erregbarkeitsschwankungen des EEG,
vieren. Reizung des Nucl. caudatus und Pallidum bewirkt des Elektrokortikogramms (ECoG) und der Nervenzellen
eine Hemmung (Positivierung, Erregungssenkung) in eini- selbst nur ein Epiphänomen der molekularen neuronalen
gen umschriebenen kortikalen Arealen. Alle neokortikalen Stoffwechselprozesse. Erst als die Einzelzellableitungen von
Regionen projizieren ins Striatum (Kap. 13), Reizung dieser weit entfernt liegenden Neuronen bei Reizung mit bedeu-
Region bewirkt bevorzugt verhaltensmäßige und neuronale tungsvollen Reizmustern im Vergleich zu physikalisch
Hemmung. identischen, aber bedeutungslosen Mustern eine synchrone
Diese basalen Systeme verhindern ein Anwachsen der Oszillation sogar mit derselben Frequenz und Dauer zeig-
Erregung in den kortikothalamischen Rückmeldekreisen, ten (Abschn. 17.4 und Kap. 20), wurde klar, dass neuronale
sie erhöhen die Erregungsschwelle, wenn die Aktivierung Oszillationen einen fundamentalen Mechanismus der In-
(Depolarisation) der kortikalen Module über eine kritische formationserzeugung und -speicherung darstellen: Infor-
Schwelle steigt. Je höher die neokortikale Erregung, desto mation im Nervengewebe ist Oszillation, da sich darin die
»stärker« wird der neuronale Zustrom in die Basalganglien geordnete Aktivität von Zell-Ensembles, also synchron
und um so mehr werden die »Tore« geschlossen. Der PFC entladende Nervennetze, widerspiegelt (zum Begriff des
moduliert wie oben dargestellt diesen neokortikal-striata- Zell-Ensembles Kap. 1, 20 und 25).
len Hemmungskreis.
G Synchrone elektrische Oszillationen zwischen neuro-
Störungen in einem dieser weitverzweigten Systeme ge-
nalen Zellverbänden repräsentieren Information
hen daher stets mit Bewusstseins- und Aufmerksamkeits-
im Gehirn.
störungen einher. Zerstörung der Basalganglien führt wie
die des Thalamus zu Bewusstlosigkeit. Inkomplette Ausfälle,
wie z. B. der dopaminergen Projektionen von der S. nigra Oszillationsfrequenz und Zell-Ensembles
zum Striatum bei der Parkinsonschen Erkrankung (Kap. 13, Dabei gilt eine einfache Gesetzmäßigkeit: Hohe synchrone
28), führen zu Reduktion der Bereitschaftspotenziale und zu Oszillationsfrequenzen geben die Zusammenarbeit klei-
Aufmerksamkeitsstörungen. Bei Ausfall des PFC kommt es ner, lokaler Zell-Ensembles wieder, niedere Frequenzen
zu schweren Störungen der »Selektivität«, die Person wird sehr ausgedehnte (. Abb. 21.25). Im Nervensystem von
von unmittelbar gegenwärtigen Reizen »gesteuert«, zu viele Säugern finden wir Frequenzen von 0–500 Hz, manchmal
thalamische »Tore« sind geöffnet (Kap. 24). bis zu 1000 Hz. Oszillationen und die langsamen Hirn-
potenziale (Abschn. 20.2) sind nicht Epiphänomene neuro-
G Striatum und Pallidum hemmen den Erregungsan-
naler Aktivität, sondern erlauben dem Gehirn an vielen
stieg in einzelnen Kortexarealen, wenn dieser über
Orten und zu ganz unterschiedlichen Zeiten multiple, aber
eine bestimmte Erregungshöhe angestiegen ist.
gleichartige Verarbeitungsprozesse auszuführen.
Komplexe Gehirne haben mit Oszillationen einen ener-
giesparenden speziellen Mechanismus entwickelt, mit
dem Zellen zeitlich befristete, flexible Koalitionen einge-
21.4 · Psychophysiologie von Bewusstsein und Aufmerksamkeit
527 21

die während des Tages bei spezifischen Erlebnissen auf-


getreten sind, die nun im Schlaf erneuert, wiederholt und
damit eingespeichert werden (Kap. 22).
G Zellensembles vereinigen sich zu kleinen, hoch-
frequent schwingenden oszillierenden oder weiter
auseinander liegenden langsamer oszillierenden
Netzwerken. Damit gehen diese Ensembles vorüber-
gehende Koalitionen für die Reizaufnahme, Speiche-
rung und Reizabwehr ein.

Oszillationen und Aufmerksamkeit


Aufmerksamkeit besteht auf neuronaler Ebene darin, dass
die Aktionspotenzialsequenzen zu synchronen Bündeln zu-
sammengeschlossen werden (Box 21.5). Ein solcher »Chor«
. Abb. 21.25. Architektur der neuronalen Konnektivität. In den von »spikes« (Aktionspotenzialen) hebt sich natürlich ge-
Gehirnen von Säugern sind die Verbindungen und die Konnektivität genüber seiner Umgebung deutlicher hervor als ein Chor,
der Netzwerke so realisiert, dass zwischen eng benachbarten Neu-
indem jeder ungeordnet singt. Dabei wird ein starker Reiz
ronenansammlungen (Ensembles) viele (synchron hochfrequent
oszillierende) Verbindungen existieren und die Verbindungen über leichter synchronisiert als ein schwacher; der Aktivierungs-
weite Distanzen durch lange »Abkürzungen« hergestellt werden zustand des Gewebes, z. B. die Dominanz von Schlafspin-
(niederfrequent oszillierend). Man nennt solche Netzwerke »Kleine- deln, modifiziert und filtert, was an Erregungssalven über-
Welt«-Netzwerke. Je nach den Zeitkonstanten der beteiligten (hem- haupt ins NS eingelassen wird (. Abb. 21.18). Je schwieriger
menden) Interneuronen können die einzelnen Ensembles ganz unter-
eine Aufgabe zu lösen ist, umso mehr synchron arbeitende
schiedliche Frequenz- und Phasenbeziehungen eingehen. Je »höher«
entwickelt ein Gehirn, umso höher die Variabilität der Zeitkonstanten Ensembles sind notwendig.
der hemmenden Interneurone, die an solchen »Neue-Welt«-Netzwer-
G Aufmerksamkeitserhöhung besteht in der synchro-
ken beteiligt sind (7 Text)
nen Gruppierung von Aktionspotenzialsequenzen.

hen können. Die Oszillationen wirken wie ein Band-Pass 21.4.2 Ereigniskorrelierte Hirnpotenziale
(»Notch«-)Filter, das die ankommenden und wegführen- und Aufmerksamkeit
den Aktionspotenzialsequenzen gruppiert, indem es die
Membranleitfähigkeiten rhythmisch ändert, sodass immer Komponenten von ereigniskorrelierten
nur eine bestimmte Gruppierung von Erregbarkeitsän- Hirnpotenzialen
derungen (neuronale Repräsentation) eine Antwort errei- Ereigniskorrelierte Hirnpotenziale (EKP) geben uns In-
chen kann. formationen über den Zeitverlauf (Latenz) und die »Stärke«
Durch die kohärente Summierung vieler Oszillatoren (Amplitude) eines bestimmten Stadiums der Informa-
können auch extrem schwache spezifische Signale erkannt tionsverarbeitung. Wir haben in 20.5.1 bereits die metho-
und verstärkt werden. In . Abb. 21.18 haben wir an der dischen Grundlagen und wichtigsten EKP kennengelernt.
Entstehung von Schlafspindeln in der thalamokortikalen Wir wollen diese EKP nun zu den in Kap. 21.1 beschrie-
Feedbackschleife gesehen: Immer mehr thalamokortikale benen psychologischen Prozessen in Verbindung bringen.
Neurone werden von der Spindeloszillation (8–20 Hz) Dabei zeigt sich, dass zwischen den elektrophysiologischen
erfasst und damit sinkt progredient der Einfluss externer Substraten und den psychologisch beschreibbaren Stadien
Aktivierbarkeit, das Gehirn kann zunehmend einschlafen der Aufmerksamkeitssteuerung Korrespondenz besteht
und sich der Konsolidierung von Informationen ohne (. Abb. 20.16). Je automatisierter, d. h. je häufiger die akus-
äußere Ablenkung widmen (Kap. 22). tischen Reize folgenlos dargeboten worden sind, um so
Das Kontinuum vom Koma zur wachen Aufmerksam- kleiner werden die Amplituden v. a. der Komponenten
keit (. Tabelle 20.2, . Abb. 21.19a) spiegelt diesen Sachver- um 20–50 ms (positive Komponente), der N100 und aller
halt besonders gut wider: Von den δ-Wellen im Tiefschlaf nachfolgenden negativen Komponenten. Die Erhöhung der
und Koma bis zu hochfrequenten, lokalen Gamma-Wellen Amplituden ab 50 ms bei aufmerksamer Zuwendung
bei lokaler Aufmerksamkeit besteht ein Kontinuum von (. Abb. 21.26) ist ortsspezifisch, die frühen Komponenten
»Abwehr« bis »Offenheit« gegenüber Reizverarbeitung. treten im primären Projektionsareal im visuellen System je
Allerdings treten im Tiefschlaf im Gegensatz zum Koma nach Reizart (Ort, Farbe, Größe) im extrastriatalen und
an den negativen, depolarisierenden Flanken der δ-Wellen striatalen visuellen Kortex auf. Die späteren Komponenten
simultan und überlagert hochfrequente Gammawellen auf, (nach N100) breiten sich häufig über weite Bereiche des
die jenen Gammawellen in Frequenz und Ort entsprechen, Kortex aus (. Abb. 21.26).
528 Kapitel 21 · Bewusstsein und Aufmerksamkeit

Box 21.5. Aufmerksamkeit durch Synchronie


21
Entladungsmuster von Aktionspotenzialen von 3 Zellen nen Neuronen feuern, zeigt das Krosskorrelogramm einen
(grün, rot, blau) aus dem somatosensorischen Kortex sind Gipfel. a das Tier konzentriert sich auf einen ablenkenden
in dem oberen Abschnitt gezeigt, darunter die Krosskor- visuellen Reiz und kann die taktile Aufmerksamkeitsauf-
relationen dieser Neuronen, die die Wahrscheinlichkeit gabe, rechtzeitig auf eine Berührung zu reagieren, nicht
angibt, dass ein Neuron x Millisekunden vor (links vor 0) lösen. Keine Synchronie. b Das Tier konzentriert sich auf
oder nach (rechts nach 0) einem anderen Neuron feuert. den taktilen Reiz und löst die Aufgabe. Man erkennt die
Bei einer Zeitverzögerung 0 feuern sie gleichzeitig. Wenn synchronen Gruppierungen der Entladungen der 3 Neu-
die Aktionspotenzialsequenzen synchron in verschiede- rone unter Aufmerksamkeit. Synchronie existiert.

G Aufmerksamkeitszuwendung erhöht die Amplitude und nicht der primäre sensorische Kortex. Der Ursprung
von EKP je nach Sinnessystem ab 50 ms in den (»source«) des dahinter stehenden Prozesses, der das Spot-
primären und sekundären Sinnessystemen. light in den Fokus der Aufmerksamkeit im sekundären as-
soziativen Kortex bewegt, ist natürlich auch der primäre
Die P1/N1-Komponente sensorische Kortex und die oben beschriebenen subkorti-
Wie in Kap. 20 ausgeführt, ist die P1/N1 eine frühe Kom- kalen Regionen (Box 21.4 und . Abb. 21.24).
ponente der EKP, die auf Änderung der Aufmerksamkeit Die sehr frühe Erhöhung der EKP bei einfachen
anspricht und ca. 100 ms nach dem Reiz gemessen wird Orientierungs- und Aufmerksamkeitsleistungen (vor
(daher die Bezeichnung N1). Bei akustischen Reizen tritt 100 ms) zeigt, dass die synchrone Mehraktivierung der
die N1 etwas früher auf als bei visuellen. Die N1 registriert betroffenen Zellensembles bereits vor dem Abschluss der
man über den primären und sekundären sensorischen Objekterkennung und anderer Verarbeitungsschritte und
Projektionsarealen. Bei Läsionen des jeweiligen Projek- vor der bewussten Hinwendung und Wahrnehmung statt-
tionssystems verschwindet die P1/N1. Sie steigt zwar mit findet. Deshalb wurden diese frühen Komponenten auch
der Reizintensität, reagiert aber im Wesentlichen auf zeit- als präattentiv oder automatisch bezeichnet. Erst wenn
liche Änderungen (zeitliche Unsicherheit) in einer gegebe- sich die synchronen Entladungserhöhungen von den pri-
nen Reizfolge. Bei langen Abständen zwischen den Reizen, mären auf die sekundären und tertiären benachbarten
wenn deren Abfolgesequenz keine zeitlichen Regularitäten Assoziationsareale ausbreiten und eine bestimmte mini-
zwischen den Reizen herzustellen erlaubt, wird die P1/N1 male Amplitude und zeitliche und örtliche Ausdehnung
sehr klein oder verschwindet. Die Stärke des Effektes hängt überschreiten, werden die Reize bewusst (Box 21.3 für das
von der Menge der Information ab, die unterdrückt, ge- somatosensorische System und Box 21.4 für das visuelle
hemmt werden muss. System).
Die kurz darauf folgende N1-Komponente (negativ,
100–140 ms nach Reiz) steigt mit der subjektiven Verstär- G Die Untersuchung des Zeitverlaufs der Aufmerksam-
kung des beachteten Reizes im Fokus der Aufmerksamkeit keit und der EKP zeigt, dass vor dem Bewusstwerden
(Spotlight-Funktion). Wie man in . Abb. 21.26 links eines Inhalts präattentive neuronale Vorgänge,
unten bei der PET-Registrierung sieht, ist der Ort der Auf- die von Merkmalen des dargebotenen Objekts ab-
merksamkeitsmodulation der sekundäre visuelle Kortex 6
21.4 · Psychophysiologie von Bewusstsein und Aufmerksamkeit
529 21

Modifiziert nach Heinze HJ, Mangun G et al (1994). Reprinted by permission from Macmillan Publishers Ltd: Nature.

. Abb. 21.26a, b. Ereigniskorrelierte Potenziale (EKP) und Hirn- lateral zum externen Aufmerksamkeitsfokus in den extrastriatalen
durchblutung (PET). a EKP bei Konzentration auf linkes Gesichtsfeld okzipitalen Hirnregionen (weißer Pfeil). b PET (links) und EKP (rechts)
(linker Teil der Abbildung) und rechtes Gesichtsfeld (rechts). Isokontur- jeweils die Blutflussdaten (PET) und die EKP bei Aufmerksamkeit nach
linien der maximalen Spannungsverteilung (mehr rot und gelb) der links, subtrahiert von Aufmerksamkeit nach rechts. Man sieht, dass
P1-Komponente, die darunter als summiertes Potenzial im Zeitverlauf sich PET und EKP-Lokalisation überlappen
eingezeichnet ist. Man erkennt die maximale Amplitude der P1 kontra-

hängen (Ort, Intensität, Farbe etc.), eine lokale Erre- Reizes mit den vorher gespeicherten Reizen derselben
gungserhöhung und Verstärkung hochfrequenter Modalität stellen würde: Änderungen der Reizintensität
Oszillationen auftreten. nach oben und unten lösen die N2 aus. Weglassen des Rei-
zes: Je größer die Abweichung von den vorausgegangenen
Die N2 und Mismatch-Negativität (MMN) Reizen, umso höher ist die N2. Sie ist insensitiv auf Ände-
Die N2 lässt sich auch durch Auslassen eines Reizes in rungen der willentlichen, gerichteten Aufmerksamkeit,
einer Reizsequenz auslösen. Sie erhielt deswegen auch den gibt daher wie die P1/N1 automatische Aufmerksamkeit
Namen »Mismatch-Negativität«. Die modalitätspezifische wieder.
N2 erfüllt alle Charakteristiken, die man an ein neuronales Um 200 ms erfolgt auch die Objektbindung (»bind-
Korrelat eines Vergleichsprozesses des ankommenden ing«), bei der die Einzelkomponenten (»features«) eines
530 Kapitel 21 · Bewusstsein und Aufmerksamkeit

Reizes zu einem »Ganzen« zusammengesetzt werden. Da-


21 bei tritt im visuellen System eine N2 Komponente auf.
N1, N2 und P3 sind eher als Korrelate präattentiver,
selten bewusster Prozesse im Rahmen der Orientierung auf
zeitlich oder räumlich noch unsicher lokalisierbare Reize
aufzufassen.
G Die negativen Komponenten des EKP nach
ca. 200 ms bei einfachen neuen Reizen wird auch als
Mismatch-Negativität bezeichnet und spiegelt den
. Abb. 21.27. Arbeitsgedächtnis. BOLD-Antwort in Abhängigkeit
präattentiven Vergleichsprozess mit gespeicherten von der Belastung des Arbeitsgedächtnis. Dargestellt ist das Mehr an
Reizen wider. Aktivität (in Rot) auf der linken (L) und rechten (R) Hemisphäre, wenn
ablenkende Reize präsent sind

Die P300-Komponente
Die P300 (Kap. 20) ist an kein Sinnessystem gebunden, son- samkeits»strahl« getroffenen Hirnareal sind umso stärker,
dern tritt »unspezifisch« immer dann auf, wenn eine Er- je mehr Ablenkung vorhanden ist, also je mehr sich das
wartung nicht erfüllt wird. Sie tritt nach allen aufgabenre- Arbeitsgedächtnis anstrengen muss (»effort«, Ressourcen-
levanten Reizen (»targets«) auf, die eine vorher aufgebaute bindung auf . Abb. 21.2 und 21.3), um das verarbeitende
Erwartung verletzen, und kann Sekunden andauern, in Hirnareal zu erregen. Vom Aufmerksamkeits»strahl« ge-
Abhängigkeit vom Ausmaß der »Verletzung« der Erwar- troffene Hirnareale verstärken natürlich alle in diesem
tung (z. B. steigt die Amplitude mit der Auftrittsunwahr- Areal gespeicherten Muster, sodass auch irrelevante Ele-
scheinlichkeit wie sie von der Versuchsperson angegeben mente eines Reizes oder eines gleichzeitig vorhandenen
wird (Überraschung) und nicht mit der objektiven Auf- ähnlichen Reizes verstärkt werden. Dies erleben wir subjek-
trittswahrscheinlichkeit). Die P300 ist Korrelat eines sen- tiv als Ablenkung.
sorischen und nicht motorischen Prozesses, es werden
G Die Belastung des Arbeitsgedächtnisses bei ablen-
Vergleiche zwischen Reizen vor ihrem Auftreten angestellt.
kenden Reizen geht mit Aktivierung des dorsolate-
In . Abb. 20.11 haben wir gesehen, dass der Versuch einer
ralen Präfrontalkortex einher.
motorischen oder gedanklichen Korrektur der verletzten
Erwartung zu einer postimperativen Negativierung führt
(PINV). Der Reiz muss vor Auftreten der P300 bereits als 21.4.3 Bereitschaft, Intention, Handlung
abweichend erkannt sein; die P300 spiegelt den postulierten
Löschungsprozess eines Inhalts im KZG wider, wenn eine Langsame Hirnpotenziale und kontrollierte
Erwartung korrigiert werden musste. Wird beim Vergleich Aufmerksamkeit
von angekommenem und gespeichertem Reizmuster (um . Abb. 21.28 (s. auch . Abb. 20.17) zeigt den Verlauf langsa-
200 ms) festgestellt, dass die beiden Muster voneinander mer Hirnpotenziale in einer typischen Erwartungssituation.
abweichen, wird »automatisch« der alte Inhalt gelöscht. Die Person wird von einem Reiz S1 gewarnt. Nach 6 s erfolgt
Die P3 ist Korrelat dieses reflektorischen Hemmprozesses ein zweiter (S2) imperativer Reiz, z. B. ein unangenehmer
im Kurzzeitgedächtnis (KZG). Sie tritt v. a. zentral am Ver- lauter Ton in . Abb. 21.28, den die Versuchsperson durch
tex und parietal auf. Nach der P3 beginnen dann jene Pro- einen Knopfdruck abstellen kann. Abwechselnd mit dieser
zesse, die sich in Negativierung und Positivierung lang- Sequenz erfolgt dieselbe Reihenfolge, nur ist S2 ein neutraler
samer Hirnpotenziale (LP) und Erwartungsvorgängen wider- Ton. Nach 40 solchen Durchgängen wird die Situation plötz-
spiegeln. lich unkontrollierbar, der laute S2 bleibt für 5 s bestehen,
egal was die Person tut (Verlust der Verhaltenskontrolle).
G Ist der Reiz neu und verlangt eine Modifikation der
Die dabei abgeleiteten Hirnpotenziale spiegeln die Vertei-
Repräsentation im Kurzzeitgedächtnis, so tritt ab
lung der Aufmerksamkeit im Gehirn zeitgetreu wider.
300 ms eine Positivierung auf, die den Löschungs-
Aus . Abb. 21.28 ist ersichtlich, dass die Höhe der ne-
prozess des »alten« Inhalts repräsentiert.
gativen Amplitude mit dem Ausmaß von Ressourcen für
sensorische und motorische Aufmerksamkeit zusammen-
Arbeitsgedächtnis-Belastung hängt: Generell ist die Amplitude in der Experimentalgrup-
Wenn durch das Arbeitsgedächtnis (Abschn. 21.1) über pe gegenüber der Kontrollgruppe, die keinen Einfluss auf
einen »Top-down«-Aufmerksamkeitsprozess die Erregbar- das Geschehen hat, aber sonst alles gleich erlebt, höher, v. a.
keit in jenem Hirnareal, wo die Reizantwort erhöht werden in den zweiten 40 Durchgängen. Obwohl beide Gruppen
muss, verstärkt wird, so zeigt sich eine Aktivierung im dor- dieselben Reize bekommen und gleich reagieren, mobili-
solateralen Frontalkortex (. Abb. 21.27). Aktivierungen, siert die EG mehr Ressourcen, um die Kontrolle über die
sowohl im Arbeitsgedächtnis wie auch dem vom Aufmerk- Versuchsanordnung zu behalten. Dies besonders in den
21.4 · Psychophysiologie von Bewusstsein und Aufmerksamkeit
531 21

Nach Rockstroh B et al (1989). Mit freundlicher Genehmigung von Lippincott Williams & Wilkins.
. Abb. 21.28. Willenskontrolle und langsame Hirnpotenziale. tion, bei Beginn des IS nach Beendigung des 6 s dauernden Warnsignals
Präzentrale LP in Mikrovolt für 2 Gruppen von Versuchspersonen in je (WS) eine Taste zu drücken. Die Versuchspersonen der EG konnten in
2 Versuchsbedingungen. Die Experimentalgruppe (EG, oben) verlor der ersten experimentellen Periode den unangenehmen IS durch Tas-
zwischen erster (links) und zweiter (rechts) experimenteller Periode die tendruck abstellen, in der zweiten blieb der IS 5 s bestehen, unabhängig
Kontrolle über den unangenehmen IS (imperativen Reiz, blau unter- von der Reaktion der Versuchsperson (rote Linie). Als Kontrollbedin-
legt). Die Kontrollgruppe (YC) hatte keine Kontrolle über den aversiven gung erhielten alle Versuchspersonen einen neutralen IS (schwarze
IS (blau unterlegt), sie erhält vor Beginn des Experiments die Instruk- Linie), der ebenfalls von einem WS angekündigt wurde (7 Text)

zweiten 40 Durchgängen nach Darbietung des nun unkon- der Positivierung der LP. Da in vielen Situationen beides
trollierbaren Lärms. simultan reguliert wird, kann man an der Höhe der LP an
einer Stelle des Neokortex meist nur das Nettoresultat
G Die Amplitude der Negativierung langsamer Hirn-
beider Prozesse ablesen. Beobachtet man allerdings die Ver-
potenziale spiegelt das Ausmaß an bereitgestellten
teilung der mobilisierenden Aktivierung über den ge-
Aufmerksamkeitsressourcen wider.
samten Neokortex, so findet man, dass genau dort Vorakti-
vierungen (Ressourcen) bereitgestellt werden, wo sie gegen-
Ressourcen-Bereitstellung und -Konsumation wärtig oder in Zukunft gebraucht werden.
Die erste Negativierung 500 ms bis 2 s nach Darbietung
von S1 tritt in den frontalen Hirnregionen auf und reprä- G Kontrolliert-exekutive Aufmerksamkeits-Bereit-
sentiert die Erwartung und Ressourcen-Mobilisierung der schaft geht mit Änderung langsamer Hirnpoten-
sensorischen Eingänge und Reizverarbeitung, also v. a. die ziale einher. Die Erwartung spiegelt sich in frontalen,
Aktivität des Arbeitsgedächtnisses (. Abb. 21.28, linke die Reaktionsvorbereitung in späten zentralen Nega-
Seite), während die zweite Negativierung vor dem S2 tivierungen. Die Verletzung einer Erwartung führt
motorische Mobilisierung und willentliche Anstrengung zu einer erneuten postimperativen Negativierung
(»effort«) auf die Reaktion widerspiegelt. Wird eine Reak- am Ort der verletzten Erwartung.
tion ausgeführt – die bereitgestellten Ressourcen »konsu-
miert« –, so verschiebt sich das LP in elektrisch positive Kontrollattribution
Richtung. Dies erkennt man deutlich nach Darbietung von Ein wichtiger Aspekt bewussten Erlebens ist der Wille,
S2. Nur in der Experimentalgruppe in den zweiten Durch- der aus dem Gefühl (der Illusion?) von Kontrolle über die
gängen, bei Darbietung des unkontrollierbaren Lärms, Konsequenzen unserer eigenen Handlungsintention ent-
kommt es sofort zu neuer Mobilisierung sensomotorischer steht. Diese intentionale Kontrollattribution (= subjektive
Areale (v. a. der Frontalregion). Dieses elektrisch-negative Zuschreibung von Kontrolle) muss von der Stimuluskon-
Hilflosigkeitspotenzial nennt man postimperative nega- trollattribution unterschieden werden, bei der wir glau-
tive Variation (PINV). ben oder zu wissen glauben, dass wir das Auftreten der
Ressourcen-Bereitstellung ist also proportional der sensorischen Konsequenzen unserer Handlungen kon-
Negativierung, Ressourcen-Konsumation proportional trollieren. Bei der Handlungskontrollintention (oder ihrer
532 Kapitel 21 · Bewusstsein und Aufmerksamkeit

Verletzung, dem Kontrollverlust) tritt das LP fronto- Auch auf der efferenten Seite ist die Amplitude des LP
21 zentral auf, bei der Stimuluskontrollattribution parietal, über den motorischen Arealen ein gutes Maß der für eine
je nach der Modalität des Reizes. . Abb. 21.29 zeigt die bestimmte Handlung zur Verfügung stehenden Aufmerk-
vermehrte Hirndurchblutung gemessen mit fMRT, wenn samkeit. Bei spontanen »freien« Handlungen entsteht vor
ein Tastreiz von jemand anderem gesetzt wurde im Ver- der aktuellen Handlung ein negatives Bereitschaftspoten-
gleich zu dem selbst verabreichten und selbst kontrollier- zial, dessen verschiedene Komponenten unterschiedliche
ten Tastreiz. Das Gefühl von anderen kontrolliert zu wer- Aspekte der Planung, Entscheidung und Ausführung einer
den in der Schizophrenie oder das Gefühl einer »fremden« Handlung widerspiegeln (Kap. 13 und 21). Ab einer be-
eigenen Hand nach rechts-parietalen Läsionen geht mit stimmten Amplitudenhöhe des Bereitschaftspotenzials
erhöhten PINV und erhöhter BOLD-Antwort in dem ent- über dem supplementär-motorischen Areal (SMA, Kap. 13)
sprechenden Sinnesareal und präfrontalen Regionen wird der »Wille« zur Handlung bewusst; stets geht aber
einher. dem bewussten Willen eine Periode nicht-bewusster Nega-
tivierung des LP voraus. Der nicht-bewusste Vorplanungs-
G Je mehr subjektive Kontrolle über die Konsequenzen prozess beginnt bei einfachen Bewegungen (z. B. Fingerfle-
von Reizen ausgeübt werden soll, umso höher die xion) etwa 350 ms vor dem Bewusstwerden des Antriebs
Negativierung und der BOLD-Effekt parietaler (»Wille«) zur Handlung. Die aktuelle Handlung wird dann
Areale, je mehr Ressourcen (»effort«, Anstrengung) oft weitere 400 ms später ausgeführt; während dieser Zeit
für die Kontrolle über eigene oder fremde Hand- steigt die Amplitude des Bereitschaftspotenzials kontinu-
lungsabsichten notwendig sind, umso mehr Nega- ierlich. Erfolgt vor der Entscheidung zur Handlung ein
tivierung und BOLD über prämotorischen und prä- »Veto«, so fällt die negative Amplitude rasch wieder ab, und
frontalen Arealen. die Bewegung unterbleibt.
. Abb. 21.30 gibt ein Beispiel einer Untersuchung, die
LP und die Entstehung bewusster das eben Gesagte illustriert: Die Versuchspersonen sollten
Willenshandlungen von Zeit zu Zeit, wenn sie »einen Drang dazu« verspürten,
Gut geübte, automatisierte Bewegungen benötigen ein eine Bewegung mit einem Finger ausführen. Gleichzeitig
Minimum an Aufmerksamkeitsaufwand, neue, komplizier- wurden sie angehalten, sich am Stand eines laufenden Uhr-
te und schlecht gelernte Handlungen dagegen eine entspre- zeigers zu merken, wann der »Drang« vor der Bewegung
chende Konzentration der limitierten Ressourcen in den bewusst wurde. Die LP über dem SMA wurden durch
prämotorischen, supplementär-motorischen (SMA) und Rückwärtsmittlung des EEG, von den Bewegungen zeitlich
motorisch-neokortikalen Arealen (Kap. 13). zurück, erhoben (Kap. 20). RP 2 ist ein typisches LP vor

Nach Frackowiak et al (2004). Mit freundlicher Genehmigung von Elsevier.

. Abb. 21.29. Selbst- und Fremdkontrolle. BOLD-Antwort des taktiler Reizung von Außen (externe Attribution) im Vergleich zur
fMRT im somatosensorischen System (Gelb). Das Mehr an BOLD bei Selbstreizung (interne Ursachenattibution)
Zusammenfassung
533 21

Nach Libet B (1986). Mit freundlicher Genehmigung


der Cambridge University Press.
. Abb. 21.30. Willensentstehung. LP der linken präzentralen Hand- RP 2 automatische Bewegungen; S ist eine Kontrollbedingung, bei der
region vor Willkürbewegungen. Die Bewegung wurde bei dem verti- nur ein taktiler Reiz ohne Bewegung appliziert wurde (Erläuterungen
kalen Strich ausgeführt. RP 1 sind LP bei vorgeplanten Bewegungen, 7 Text)

einer spontanen Bewegung ohne längere bewusste Vorpla- Höhe der Negativierung besser werden. Dies müsste topo-
nung, RP 1 ein LP vor einer Bewegung mit »kontrollierter« graphisch spezifisch sein: Nur solche Aufgaben sollten pro-
Vorplanung. Das Bewusstsein des Drangs tritt bei RP 1 fitieren, die in jenen Hirnregionen verarbeitet werden, wo
etwa 350 ms nach Beginn der Negativierung auf, bei RP 2 die Ressourcen zur Verfügung gestellt werden.
kurz vor der Bewegung. Die kortikale Negativierung vor Beim Menschen sind nur 2 Methoden denkbar, dies zu
der automatischen Bewegung ohne Vorplanung ist kurz prüfen, da sich ein experimenteller Eingriff ins Gehirn ver-
und gering, die vor einer kontrollierten, bewusst geplanten bietet: Die Selbstregulation langsamer Hirnpotenziale
beginnt ca. 250 ms vor der Bewusstwerdung der Entschei- durch instrumentelle Konditionierung und die Beeinflus-
dung. Im Moment des Bewusstwerdens ist kein Bruch oder sung des LP mit an den Kopf angelegten schwachen exter-
sprunghafte Veränderung der kortikalen Mobilisierung nen Gleichspannungen (Abschn. 20.1). Die Methode und
(Negativierung) zu erkennen. Unbewusstes geht kontinu- Ergebnisse zur instrumentellen Konditionierung von LP
ierlich in Bewusstsein über. sind in Kap. 20 und Abschn. 28.2 beschrieben. Personen,
die gelernt haben, ihre eigenen LP auf »Kommando« eines
G Am Anstieg der Negativierung langsamer Hirnpoten-
Signals (z. B. Ton oder Licht) selbst in bestimmten Hirn-
ziale vor Bewegungen lässt sich der kontinuierliche
regionen zu verändern, ändern auch ihre Aufmerksam-
Übergang von nicht-bewusster zu bewusster moto-
keitsleistung: Mit zunehmender Negativierung verbessert
rischer Aufmerksamkeit (Mobilisierung) ablesen.
sich die Leistung. Dies bestätigt die Bedeutung der LP als
Grundlage der Mobilisierung von Aufmerksamkeit.
Modifikation langsamer Hirnpotenziale
und Aufmerksamkeit G Die Selbstregulation langsamer negativer und posi-
Wenn die Zuordnung von LP und Aufmerksamkeitspro- tiver Hirnpotenziale ändert nicht nur die Erregbar-
zessen richtig ist, müssten sich bei Manipulation des LP als keit der kortikalen Areale, sondern auch die Bereit-
unabhängige Variable die Aufmerksamkeit als abhängige schaft zur Bereitstellung von Aufmerksamkeits-
Variable in gesetzmäßiger Art und Weise ändern: Mit ver- ressourcen und die Bereitschaft zur Ausübung von
mehrter Bereitstellung von Mobilisierung (Ressourcen) Kontrolle.
müssten die Verhaltensleistungen in Abhängigkeit von der

Zusammenfassung
Es existieren mehrere heterogene Formen von Bewusst- Ein limitiertes Kapazitätskontrollsystem (LCCS) ent-
sein und Aufmerksamkeit. scheidet über
Voraussetzung für das Bewusstwerden von Informa- 5 automatische (nicht-bewusste) oder kontrollierte
tion sind (bewusste) Verarbeitung,
5 ein hohes Maß an Neuheit, 5 Zuteilung der Aufmerksamkeitsressourcen,
5 Komplexität und 5 Unterbrechung und Lösung der Aufmerksamkeit,
5 subjektive Bedeutung durch assoziative Bindungs- 5 die Ergebnisse der motivationalen Bewertung und
prozesse. des Vergleichs im Gedächtnis.
6
534 Kapitel 21 · Bewusstsein und Aufmerksamkeit

21 6
Die beiden Großhirnhemisphären produzieren unter- Der retikuläre Thalamus (NR, Nucl. reticularis) regelt die
schiedliche Bewusstseinszustände. Die rechte Hemisphäre Selektion der ankommenden Information und Motorik zu-
verarbeitet die Information sammen mit dem präfrontalen Kortex.
5 holistisch,
5 nach Ähnlichkeiten, Bewusstwerden von Erlebnisinhalten ist an den Informa-
5 nonverbal. tionsaustausch (»re-entry«) zwischen
5 primären und sekundären Assoziationskortizes (bei
Die linke Hemisphäre verarbeitet die Information visuellen Inhalten Parietal- und Temporalkortex),
5 kausal, 5 präfrontalen Kortizes und
5 nach Funktion, 5 anteriorem Zingulum
5 verbal-syntaktisch. gebunden.

Das aufsteigende retikuläre Aktivierungssystem Die Entstehung und der Zeitverlauf bewussten, aufmerksa-
(ARAS) erhöht die tonische Wachheit des Kortex, garan- men Verarbeitens kann man an neuronalen Oszillationen
tiert aber keine zielgerichtete bewusste Aufmerksamkeit: und ereigniskorrelierten Hirnpotenzialen (EKP) ablesen.
Es besteht aus mehreren heterogenen subkortikalen
Systemen, die v. a. Hochfrequente, am Kortex lokalisierte Gamma-Oszillatio-
5 Azetylcholin (ACh), nen und EKP vor 150–200 ms nach Reizdarbietung reprä-
5 Glutamat, sentieren präattentive, vorbewusste Verarbeitung. Da-
5 Noradrenalin (NA), nach setzt die kontrollierte, bewusste Verarbeitung ein,
5 Dopamin (DA) und die am Verlauf langsamer Hirnpotenziale verfolgt werden
5 Histamin kann.
als Transmitter verwenden.

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more
22

22 Zirkadiane Periodik, Schlaf


und Traum

22.1 Prinzipien zirkadianer Periodik – 536


22.1.1 Endogene Oszillatoren – 536
22.1.2 Arbeitsweise endogener Oszillatoren – 538

22.2 Der Nucleus suprachiasmaticus und molekulare Genetik


zirkadianer Periodik – 539
22.2.1 Die suprachiasmatischen Kerne des Hypothalamus – 539
22.2.2 Molekulare Uhren – 541

22.3 Zirkadiane Rhythmen – 543


22.3.1 Physiologische Rhythmen – 543
22.3.2 Psychologische Rhythmen – 544
22.3.3 Störungen der zirkadianen Periodik – 545

22.4 Schlaf und Traum – 547


22.4.1 Schlafstadien – 547
22.4.2 REM-Schlaf: Indikatoren – 550
22.4.3 Vegetativ-endokrine Änderungen und zerebraler Blutfluss – 551
22.4.4 Evolution und Entwicklung im Lebensalter – 552

22.5 Neurobiologie der Schlafstadien – 554


22.5.1 Subkortikale Steuerung der Schlafstadien – 554
22.5.2 Schlafsteuerung im Zwischen- und Großhirn – 555
22.5.3 Non-REM-Schlaf – 557

22.6 Psychophysiologie der Schlafstadien – 559


22.6.1 Funktion der Schlafstadien – 559
22.6.2 Bewusstes Erleben während der Schlafstadien – 560
22.6.3 Schlaf und Gedächtnis – 561
22.6.4 Schlaf- und Traumtheorien – 562

22.7 Schlafstörungen – 563


22.7.1 Ein- und Durchschlafstörungen – 563
22.7.2 Hypersomnien (exzessive Müdigkeit) – 565
22.7.3 Epilepsien und Schlaf – 567

Zusammenfassung – 569
Literatur – 569

N. Birbaumer, Biologische Psychologie, DOI 10.1007/978-3-540-95938-0_22,


© Springer Medizin Verlag Heidelberg 2010
536 Kapitel 22 · Zirkadiane Periodik, Schlaf und Traum

))

Nach Hildebrandt G (1978). Mit freundlicher Genehmigung des Urban & Fischer Verlags.
Am 26. April 1986 um 1.23 Uhr morgens führten ermüdete
Angestellte des Reaktorblocks 4 des Kernkraftwerks Tscher-
22 nobyl in der Ukraine eine Routine-Sicherheitskontrolle
durch. Die Angestellten waren am Tiefpunkt ihres Tempe-
raturzyklus und am Tiefpunkt ihrer Aufmerksamkeit und
Effizienz. Versehentlich drückten sie auf einige »falsche«
Knöpfe und bemerkten zu spät, dass sie eine Kettenreak-
tion ausgelöst hatten, die zur größten zivilen Nuklearkatas-
trophe führte. Jahre davor war in dem Atomkraftwerk
Three Mile Island bei Harrisburgh in Pennsylvania um 4 Uhr
morgens eine fast identische Kette von Fehlreaktionen pas-
siert, die nur durch glückliche Umstände nicht zu einer
vergleichbaren Katastrophe führten. In beiden und vielen
ähnlichen Situationen war die Hauptursache in »mensch-
lichem Fehlverhalten« zu suchen, obgleich dieses »Fehlver-
halten« nur die natürliche Konsequenz des angeborenen . Abb. 22.1. Zirkadiane Rhythmen. Zeitlicher Verlauf verschiedener
zirkadianen Rhythmus ist. Messgrößen bei einer Versuchsperson, die unter strenger 24-Stunden-
Routine lebt. Dargestellt sind von oben nach unten: Aktivitätszustand;
Etwa ein Viertel bis ein Drittel unseres Lebens ver-
Rektaltemperatur, kontinuierlich gemessen; Kalium-Ausscheidung
bringen wir im Schlaf. Während uns die biologische Not- im Urin; maximale Rechengeschwindigkeit, gemessen mit einem
wendigkeit des Schlaf-Wach-Rhythmus wohl bewusst Pauli-Testgerät; Geschwindigkeit der Zeitschätzung, gemessen an der
ist, nehmen wir die Vielzahl anderer endogener biologi- Herstellung eines 10-s-Intervalls. Nachts wurde die Versuchsperson zu
scher Rhythmen nur selten wahr: Ein Tief der Aufmerk- den Messungen geweckt
samkeit um 14–15 Uhr haben wir in nördlichen Breiten
gelernt zu unterdrücken, während in südlichen Ländern
die Siesta eben diesem »Druck« des endogenen Rhythmus nierten Oszillationsperioden (τ), die meist von »Zeitge-
nachgibt; das Anwachsen der Schmerzempfindlichkeit bern« der Umgebung synchronisiert, »mitgenommen«
um 3 Uhr früh spüren wir nur in Ausnahmesituationen, werden. Die Oszillationsperiode des externen Zeitgebers
wenn z. B. eine Zahnwurzel entzündet ist und das einge- (T) stimmt dabei selten exakt mit der Periode des endo-
nommene Schmerzmittel in dieser Zeit kaum Wirkung genen Rhythmus überein. In diesem Fall sprechen wir von
zeigt. Phasenverschiebung zwischen den Phasen des biologi-
Viele Verhaltensweisen, die uns als Reaktionen auf schen Rhythmus mit einer definierten Phase und der Phase
äußere Reize oder freie Entscheidungen erscheinen, stellen des Zeitgebers.
sich bei systematischer Beobachtung als Folgen bio- Den endogenen Charakter vieler, aber nicht aller bio-
logischer Zyklen dar. Die Kenntnis der physiologischen logischer Rhythmen erkennt man v. a. nach Ausschaltung
Prozesse, die diese biologischen Uhren lenken, erlaubt uns, des externen Zeitgebers, z. B. der Hell-Dunkel-Variation.
die Bedeutung innerer Antriebe zu verstehen, die nicht auf Endogene Rhythmen laufen danach mit veränderter Perio-
ein physiologisches Ungleichgewicht (z. B. Hunger, Durst) dik weiter (Freilauf). . Abb. 22.1 zeigt die Periodik einiger
zurückzuführen sind. wichtiger Rhythmen bei strenger zeitlicher Synchronisation
durch einen 24-Stunden-Zeitgeber (Wecken – Schlafen
durch Versuchsleiter bei gleicher Beleuchtung). In der na-
22.1 Prinzipien zirkadianer Periodik türlichen Umgebung sind diese Rhythmen um 1–2 h nach
rechts versetzt, der Tiefpunkt (Nadir) liegt zwischen 2 und
22.1.1 Endogene Oszillatoren 3 Uhr früh.
Neben der zirkadianen Periodik existiert eine Vielzahl
Merkmale endogener Oszillatoren endogener Oszillatoren. Die kurzen Periodizitäten wie EEG,
Die Umdrehung der Erde um ihre Achse führte bei pflanz- Atmung und einige vegetative Rhythmen sind in den ent-
lichen und tierischen Organismen zu einem ca. 24-stün- sprechenden Kapiteln besprochen, die längeren haben mit
digen Licht- und Temperaturrhythmus, der fast alle phy- Ausnahme des Menstruationszyklus (Abschn. 7.4.3) für
siologischen und psychologischen Variablen beeinflusst. den Menschen vermutlich nicht die Bedeutung der zirka-
Diese zirkadianen (circa = ungefähr; dies = Tag) Rhythmen dianen Periodik, z. B. Winterschlaf-Perioden. Rhythmen
sind zum Großteil keine passiven Konsequenzen des Hell- mit längerer Periodendauer als die zirkadianen werden als
Dunkel-Rhythmus des Tages, sondern Ausdruck der Akti- infradiane, mit kürzerer Periode als ultradiane Rhythmen
vität organismusinterner Oszillatoren (»Uhren«) mit defi- bezeichnet.
22.1 · Prinzipien zirkadianer Periodik
537 22

G Endogene Oszillatoren sind Rhythmusgeber, die nur


eine begrenzte Flexibilität durch Umweltreize auf-
weisen. Die wichtigste zirkadiane Periodik wird von
Zeitgebern (Licht) synchronisiert und weist im Frei-
lauf (ohne Zeitgeber) zeitverschobene Perioden auf.

Frei laufende endogene Oszillatoren


Bei den endogenen Oszillatoren handelt es sich um Rhyth-
musgeber. Dies zeigen Züchtungsversuche an Tieren, die
über mehrere Generationen unter absoluter Isolation leb-
ten, ihre Rhythmen aber beibehielten und molekulargene-
tische Experimente, die in Abschn. 22.2 beschrieben wer-
den. Bei Isolation von den Zeitgebern der Umgebung wei-
sen die meisten Säugetiere und der Mensch weiterhin in
vielen Körperfunktionen eine zirkadiane Periodik auf. Die
Periodik dieser frei laufenden Rhythmen ist aber meist
etwas länger oder kürzer als 24 h.
Beim Menschen beträgt die frei laufende Periodik der
in . Abb. 22.1 angegebenen Variablen oft etwas mehr als
24 h. . Abb. 22.2 zeigt die Periodik von Wachen und Schla-
fen und der Rektaltemperatur unter Umgebungseinfluss
und unter Isolation (konstante Helligkeit, keine sozialen
Hinweisreize). Die Tatsache, dass unter frei laufenden Be-
dingungen die Tagesperiodik selten exakt 24 h ist, könnte
auf die Flexibilität der endogenen Uhren hinweisen, die
sich innerhalb bestimmter Grenzen an veränderte Zeitge-
ber (z. B. Außentemperatur) anpassen können.
Beim Menschen liegt der maximale Mitnahmebereich
(7 unten) für die Körpertemperatur zwischen 23 und 27
Stunden (h), für die motorische Aktivität zwischen 20 und
32 h. Innerhalb dieser Grenzen passt sich der zirkadiane
Rhythmus einem Zeitgeber (z. B. einem 26-Stunden-Kunst-
. Abb. 22.2a, b. Zirkadiane Periodik des Menschen. a Rhythmus
tag) an. Außerhalb dieses Mitnahmebereichs werden die
des Wachens (rote Balkenabschnitte) und Schlafens (blaue Balken-
Rhythmen gestört, und es kommt zu Desynchronisationen abschnitte) einer Versuchsperson in der Isolierkammer bei offener Tür
zwischen verschiedenen Rhythmen. (also mit sozialem Zeitgeber) und in Isolation (ohne Zeitgeber). Die
Dreiecke geben den Zeitpunkt der höchsten, bzw. tiefsten Körpertem-
G Viele endogene Rhythmen des Menschen weisen als peratur an. Bei offener Tür betrug die Periodendauer jeweils genau
Spontanrhythmus Rhythmen von etwas mehr als 24 h (mittlere tägliche Abweichungen ±0,7 bzw. ±0,5 h), in der Isola-
24 h auf. Dies erlaubt eine begrenzte Flexibilität der tion aber 26,1±0,3 h. b Aktivitätsrhythmus einer im Bunker isolierten
Anpassung an veränderte Zeitgeber. Der Mitnahme- Versuchsperson, bei der sich am 15. Tag der Temperaturrhythmus
(Maxima = rote Dreiecke nach oben. Minima = blaue Dreiecke nach
bereich durch Zeitgeber ist aber sehr begrenzt.
unten) vom Wach-Schlaf-Rhythmus abkoppelt und mit einer Periode
von 25,1 h weiterläuft. Der Wach-Schlaf-Rhythmus (Aktivitätsrhythmus)
Desynchronisation endogener Rhythmen sprang zu dieser Zeit aus unbekannten Gründen auf eine Periode von
33,4 h
Aber auch unter Freilaufbedingungen in absoluter Isola-
tion treten bei einigen Personen spontane Desynchronisa-
tionen zweier Rhythmen auf: Zum Beispiel ergab sich bei Angesichts des Bestehens multipler Oszillatoren weisen
einigen Versuchspersonen nach 10 Tagen ein Aktivitäts- Säuger und Menschen viele nebeneinander laufende Rhyth-
zyklus (gemessen durch Registrierung der Trittaktivität in men physiologischer Funktionen, die nicht einheitlich mit-
der Isolierkammer) von τ=32,6 h bzw. 33,4 h, während einander synchronisiert sind, auf. Der Aktivitäts-Wach-
die Rektaltemperatur weiter ihre τ=24–25 h beibehielt Schlaf-Rhythmus lässt sich z. B. relativ leicht durch einen
(. Abb. 22.2b). Subjektiv merkten die uhrlosen Versuchs- Zeitgeber synchronisieren, während Temperatur und Nat-
personen weder, dass ihr Tag 32 h aufwies, noch die Tren- riumionenausscheidung resistenter gegenüber Zeitgebern
nung der beiden ursprünglichen Oszillatoren. Diese und sind. Einfache intellektuelle Aufgaben (psychomotorische
andere Befunde zeigen, dass es mehrere endogene Oszilla- Tests) sind ebenfalls leicht beeinflussbar. Komplexe Auf-
toren gibt, die unterschiedlich eng gekoppelt sind. gaben scheinen mehr den Temperaturverläufen zu folgen.
538 Kapitel 22 · Zirkadiane Periodik, Schlaf und Traum

Die Enge der Kopplung endogener Oszillatoren und G Zirkadiane Uhren und Rhythmusgeber sind eine
ihre Beeinflussbarkeit durch Zeitgeber hängen von der ge- wichtige Ursache für Antrieb und Emotion. Hinzu-
meinsamen physiologischen Funktion der Oszillatoren ab. kommt, dass die Wirksamkeit positiver und nega-
Zweifellos bedeutet die Existenz endogener Rhythmen und tiver Verstärker auch vom Zeitpunkt und der Phase
22 die Flexibilität ihres Mitnahmebereiches einen deutlichen der zirkadianen Periodik abhängt.
Selektionsvorteil: Die normalerweise perfekte Synchroni-
sation des internen Milieus mit der externen Licht-Dunkel-
Variation (LD) und/oder Temperatur erlaubt eine ökono- 22.1.2 Arbeitsweise endogener
mische Anpassung des internen Milieus an externe Anfor- Oszillatoren
derungen.
Messfühler und Schrittmacher
G Spontane Desynchronisation frei laufender zirka-
. Abb. 22.3 zeigt die wichtigsten Elemente eines zirkadia-
dianer Rhythmen in Isolation ohne Zeitgeber weist
nen Systems: Als Messfühler für die Licht-Dunkel-Zyklen
darauf hin, dass mehrere endogene Oszillatoren
fungieren bei Säugern die Retina und für Ess-Fasten-Zyk-
nebeneinander existieren.
len vermutlich Messfühler im Hypothalamus. Thermo-
rezeptoren der Haut und auditive Rezeptoren spielen nur
Rhythmen und Antrieb dann eine Rolle, wenn die primären Rezeptoren ausgeschal-
Vor der Entdeckung endogener Rhythmen wurde die moti- tet sind. Als eigentliche Oszillatoren werden Schrittmacher
vationale Steuerung des Verhaltens durch externe Ein- angesehen, die die Zeit in Abwesenheit externer Hinweis-
flüsse v. a. durch positive oder negative Rückkopplung er- reize messen. Diese zirkadianen Schrittmacher liegen im
klärt: Wiederherstellung eines stabilen Zustandes (Sollwert) ZNS. Periphere Schrittmacher und sekundäre Oszillatoren
»motiviert« jenes Verhalten, das der Wiederherstellung (wie auch z. B. das Erregungsbildungs- und -leitungssystem
vorausgegangen war. Endogene Rhythmen sind aber durch des Herzens als nicht-zirkadianer Schrittmacher) synchro-
Rückkopplungs-Regulation und homöostatische Mecha- nisieren dann das jeweilige Organsystem.
nismen nicht in diesem Ausmaß beeinflussbar. Damit
haben sie neben der Triebreduktion (z. B. Stillen des Hun- Sekundäre Oszillatoren und passive Elemente
gers und Verstärkung) einen entscheidenden Einfluss auf Außerhalb des ZNS sind für die messbare Rhythmizität
die Motivation (Kap. 26). einer physiologischen Variable sekundäre Oszillatoren ver-
Die Effektivität eines Rückmeldereizes und damit antwortlich. So wird z. B. das Plasmaniveau der Neben-
z. B. die Lern- und Gedächtnisleistung hängt auch von nierensteroide vom hypophysären ACTH synchronisiert
der momentanen Phase des zirkadianen Rhythmus ab. (. Abb. 7.12b in Abschn. 7.3.5) (Mediator des hypothalami-
Beispielsweise wirkt die Gabe von Wasser (Rückmelde- schen Schrittmachers), aber in vitro (Zellkultur) oszilliert
reiz) in einem durstigen Organismus während der Nacht- das Plasmasteroidniveau mit einem labilen Rhythmus von
stunden weit stärker als während des Tages. Durstige weniger als 24 h weiter.
Tiere und Menschen lernen sehr viel rascher in den Nacht- Unter passiven Elementen (. Abb. 22.3) verstehen
stunden, wenn Flüssigkeit als Verstärker verwendet wir Erfolgsorgane, die selbst keine zirkadiane Periodizi-
wird. tät aufweisen (z. B. verliert die Zirbeldrüse der Ratte

. Abb. 22.3. Ein zirkadianes Schrittmachersystem. Die Lichtinformation nimmt den endogenen Schrittmacher mit und treibt sekundäre
Oszillatoren
22.2 · Der Nucleus suprachiasmaticus und molekulare Genetik zirkadianer Periodik
539 22

ihren zirkadianen Rhythmus der Melatoninsynthese, 22.2 Der Nucleus suprachiasmaticus


wenn die neuronalen Afferenzen zerstört sind). Media- und molekulare Genetik
toren (Vermittlersysteme) übertragen die zeitliche In- zirkadianer Periodik
formation zwischen den verschiedenen Körperregionen
und können z. T. erhebliche Phasenverschiebungen be- 22.2.1 Die suprachiasmatischen Kerne
wirken. Neuronale Entladungsraten, Konzentration von des Hypothalamus
Neurotransmittern, synaptische Erregbarkeit, endo-
krine Schwankungen sind nur einige wenige der vielen Neuroanatomie der suprachiasmatischen Kerne
möglichen Mediatoren. Der zentrale Schrittmacher der zirkadianen Periodik wurde
von Richter an geblendeten Ratten in einer Region des
G Endogene Oszillatoren haben Messfühler in der
ventralen Hypothalamus identifiziert. Deren Läsion führte
Peripherie (z. B. Retina) und im ZNS. Sie teilen ihren
zu völligem und anhaltendem Verlust der Rhythmizität von
Rhythmus sekundären Oszillatoren oder passiven
motorischer Aktivität vor Änderungen der Nahrungs- und
Elementen mit.
Flüssigkeitsaufnahme. Kontrollläsionen in und außerhalb
des ZNS hatten keinen vergleichbar radikalen Effekt auf
Perinatale Entwicklung der Synchronisation die Rhythmizität. Eine genaue Lokalisation der Region ist
endogener Rhythmen Richter nicht gelungen; erst durch autoradiographische
Beim Menschen entwickelt sich eine zirkadiane Rhythmik Techniken konnte der Weg von den retinalen Ganglien-
erst etwa 15 Wochen nach der Geburt, während bei einigen zellen bis zum Hypothalamus verfolgt werden: Die Endsta-
Säugern bereits in utero eine Mitnahme des fetalen Rhyth- tion der Fasern lag im Nucleus suprachiasmaticus (»supra-
mus durch den Rhythmus der Mutter erfolgt. Die Endoge- chiasmatic nucleus«, SCN).
nität auch des menschlichen 24-Stunden-Rhythmus ist u. a. . Abb. 22.4 zeigt die Lage des SCN, der aus ca. 16.000
daran zu erkennen, dass der Rhythmus auftritt, bevor die Zellen besteht, im Gehirn über der Sehnervenkreuzung und
Möglichkeit zur Synchronisation mit den Hell-Dunkel- lateral der vordersten Spitze des III. Ventrikels (. Abb. 5.6).
Perioden besteht: Nach den »chaotischen« ersten Wochen Vor allem die Temperaturperiodik wird durch einen ande-
entwickeln sich frei laufende Schlafphasen, die ab der ren Schrittmacher gesteuert, aber ein Großteil aller mit dem
20. Woche mit dem Rhythmus der Eltern synchronisierbar Licht-Dunkel-Zyklus synchronisierten Funktionen schei-
sind. nen vom SCN »rhythmisiert« zu werden. Die meisten Zellen
(70%) sind GABAerg, der Rest enthält Vasopressin, Oxyto-
Synchronisation durch Licht und soziale zin u. a. Neuropeptide.
Interaktion
Beim Menschen wirkt helles Licht (7000–50.000 Lux) als Transplantation und Läsion des SCN
stärkster Zeitgeber. Daneben sind soziale Hinweisreize Transplantation von neuronalem Gewebe des SCN von
wichtige Zeitgeber: In der Isolierkammer entwickeln einige Hamstern auf Hamster, deren SCN zerstört wurde und die
Versuchspersonen trotz stabilen Licht-Dunkel-Wechsels daher völlig arrhythmisch waren, stellte den zirkadianen
frei laufende Rhythmen um 25 h und synchronisieren erst, Rhythmus wieder her. Im Allgemeinen zeigten die Empfän-
wenn durch den Versuchsleiter zusätzlich ein Tonsignal gertiere 6–7 Tage nach der Transplantation den zirkadianen
oder andere z. B. soziale Reize eingeführt werden. Rhythmus der Spendertiere.
Wenn 2 oder mehrere Versuchspersonen gemeinsam Bilaterale Läsion des SCN führt bei Primaten zu einem
isoliert sind, synchronisieren sich die Rhythmen häufig zu völligen Verlust der Aktivitätsrhythmen, einschließlich des
einem konstanten Gruppenrhythmus, auch wenn eine Ver- Trinkrhythmus, ohne dass die absolute Menge aufgenom-
suchsperson vor der gemeinsamen Isolation eine erheblich mener Flüssigkeit reduziert wird. Tumore im vorderen Teil
unterschiedliche Periodendauer aufwies. Sozialer Druck, des III. Ventrikels über dem Chiasma führen bei den Pa-
Verfügbarkeit von Nahrung und Flüssigkeit und Körper- tienten zu irregulärem Einschlafen und erschwertem
temperatur spielen dabei eine wichtige Rolle. Wecken. Ähnlich ist auch der Schlaf-Wach-Rhythmus der
Tiere nach Läsion eliminiert, ohne dass die Absolutzeiten
G Die Mitnahme (»entrainment«) endogener Rhyth-
von Schlafen und Wachen verändert sind. REM-Schlaf (Ab-
men durch Umgebungsreize erfolgt zwar v. a. durch
schn. 22.4.1) scheint durch SCN-Läsionen nicht beein-
Licht, kann aber durch soziale Reize (z. B. Gruppen)
flusst zu werden, was für einen getrennten Schrittmacher
beeinflusst werden.
spricht. Auch Nahrungsantizipationsrhythmen werden
durch SCN-Läsionen nicht beeinflusst, vermutlich weil sie
sehr stark lernabhängig sind. Bei Blinden besteht häufig
ein freilaufender 25-Stunden-Rhythmus und gestörter oder
irregulärer Schlaf, weil der wichtigste Lichtzeitgeber aus-
fällt.
540 Kapitel 22 · Zirkadiane Periodik, Schlaf und Traum

a etwa 1000 Lux feuern und danach rasch in Sättigung gehen,


also z. B. nicht zwischen einem sonnigen und wolkigen Tag
unterscheiden können. Ihre Dendriten versorgen die ge-
samte Retina mit Licht-Dunkel-Information, ihre Axone
22 gehen nicht nur in den SCN, sondern könnten weit ins Ge-
hirn reichen.
Neben dem retinohypothalamischen Trakt erhält der
SCN visuelle Information aus dem Nucleus geniculatum
laterale des Thalamus und direkt, ohne Umschaltung, aus
dem Chiasma opticum. Efferenzen des SCN sind in vielen
hypothalamischen Kernen, Hypophyse, Zirbeldrüse, Septum,
Hirnstamm und Rückenmark nachweisbar (. Abb. 6.5 und
. Tabelle 22.1). Besonders ausgeprägt sind die Efferenzen
zu aktivierenden und REM-Schlaf erzeugenden Strukturen
des Hirnstamms und des cholinergen basalen Vorderhirns,
das für die kortikalen »Traum«-Phänomene mitverantwort-
lich ist.
b Über diese Verbindungen beeinflusst der SCN den
Schlaf-Wach-Rhythmus. Der SCN erfüllt somit anatomisch
und neurophysiologisch alle Voraussetzungen für einen
zentralen Schrittmacher. Ein dominierender Zelltyp des
SCN liegt direkt an den Kapillaren und scheint Neuromo-
dulatoren in die Zirkulation abzugeben, die Zielorgane
rhythmisch aktivieren können. Bei Isolation der SCN vom
übrigen Hirngewebe behalten die SCN-Zellen ihre zirka-
diane Periodik der Entladungsraten bei (Anstieg der Ent-
ladungsfrequenzen von 21 bis ca. 3 Uhr, Abfall bis 9 Uhr,
stabiles Tief von 9–21 Uhr).
G Der SCN wird von spezialisierten retinalen Ganglien-
zellen, die Melanopsin als lichtsensitives Pigment
aufweisen, mit Licht-Dunkel-Informationen versorgt.
Den zirkadianen Rhythmus zwingt er dann vielen
Hirnstrukturen auf.

Mitnahme des SCN


. Abb. 22.4a, b. Lage des suprachiasmatischen Kerns (SCN) im Der Nucleus suprachiasmaticus veranlasst andere Kern-
Gehirn. a Sagitaler Schnitt, b Koronalschnitt auf Ebene des Chiasma
strukturen, seinen endogenen Rhythmus über die gepulste
opticums. Der SCN ist im Hypothalamus über dem Chiasma lokalisiert,
jeweils lateral am vorderen Teil des III. Ventrikels
Freisetzung von Hormonen und über rhythmische Ent-

G Der Nucleus suprachiasmaticus (SCN) ist bei Säuge-


tieren der zentrale zirkadiane Schrittmacher. Bei
Transplantation der SCN-Zellen in Empfängertiere
wird auch der zirkadiane Rhythmus des SCN übertra-
gen, bei Läsion des SCN geht der Rhythmus verloren.

Verbindungen des SCN


Der SCN wird über den retinohypothalamischen Trakt
(RHT) ohne Umschaltung aus der kontralateralen peri-
pheren Retina mit Licht-Dunkel-Information versorgt. Die
Rezeptoren für Hell-Dunkel sind spezialisierte Ganglien-
. Abb. 22.5. Nucleus suprachiasmaticus und Schlaf-Wach-Struk-
zellen in der hintersten Ganglienzellschicht. Das lichtsen- turen. Diagramm der anatomischen Beziehungen zwischen dem
sitive Pigment dieser Ganglienzellen ist v. a. Melanopsin Nucleus suprachiasmaticus und anderen Hirnstrukturen, die an der
und Kryptochrom, die kontinuierlich-tonisch bei Licht bis Schlaf-Wach-Steuerung beteiligt sind
22.2 · Der Nucleus suprachiasmaticus und molekulare Genetik zirkadianer Periodik
541 22

. Tabelle 22.1. Projektionen des SCN über die supraventrikuläre Zone (SPVZ) des Hypothalamus zu den wichtigsten Regulationszentren
rhythmischer psychophysiologischer Funktionen

Projektionsfeld Funktionen

Autonome
Basales Regulation
Vorderhirn
Psychomotorische
Leistung

Medialer
Gedächtnis
Thalamus
Verstärkungsmechanismen

SCN SPVZ Melatonin


Paraven-
Autonome Regulation
trikulärer
Hypophysen-Nebennierenachse
Kern
Thymusdrüse

Präoptischer Temperatur-Regulation
anteriorer Reproduktive Funktionen
Hypothalamus Autonome Regulation

Schlaf-Wach-Zyklen
Tuberal-
Wachstumshormon
posteriorer
Prolaktion
Hypothalamus
Autonome Regulation

ladungen seiner Neurone anzunehmen. Die wichtigsten der 22.2.2 Molekulare Uhren
dazu benutzten Verbindungen zeigt . Abb. 22.5. Die Funk-
tionen der auf . Abb. 22.5 dargestellten Kerngruppen wer- Homöostatischer, zirkadianer und ultradianer
den in Abschn. 22.4 besprochen. Schlafantrieb
Licht in den frühen Stunden der subjektiven Nacht (im Wenn wir die zirkadiane Komponente des Schlaf-Wach-
Dunkel schlafend) bewirkt Phasenverzögerungen der zir- Rhythmus besprechen, dürfen wir nicht vergessen, dass
kadianen Rhythmen, während Licht in den späten Stunden Schlaf- oder Ruhephasen auch eine homoöstatische Kom-
der subjektiven Nacht eine Phasenbeschleunigung bewirkt ponente haben, die bestehen bleibt, auch wenn der SCN
(z. B. setzt der Temperaturanstieg früher ein). Während des und die zirkadiane Rhythmik zerstört sind. Homoöstatisch
subjektiven Tages hat Licht keinen Einfluss auf die zirka- bedeutet hier, dass Müdigkeit auch von Schlaffaktoren be-
diane Phase. Diese Effekte von Licht sind auf die moleku- stimmt wird, die während der Wachperiode akkumulieren
lare Struktur der Rhythmusbildung zurückzuführen (Ab- und den Schlafantrieb extrazellulär durch Liganden an den
schn. 22.2.2). Zellmembranen der »Schlafzentren« für Tiefschlaf (SWS,
Außerhalb des SCN und der Retina gibt es vermutlich Abschn. 22.5) anregen und von Schlaf wieder eliminiert
noch andere Hell-Dunkel-sensitive Regionen (z. B. in der werden: Dazu gehören Zytokine (Kap. 9), Prostaglandine
Kniekehle), deren Bedeutung für die Synchronisation der (Kap. 16) und Adenosin (Abschn. 22.5.3). Zum Beispiel
wichtigsten Körperrhythmen ist aber im Vergleich zum reichert sich Adenosin an entsprechenden Membranrezep-
SCN gering. toren des cholinergen basalen Vorderhirns (Nucleus basalis,
. Abb. 22.5) während des Tages an und hyperpolarisiert
G Licht hat v. a. während der subjektiven Nacht einen
(hemmt) diese für Wachen und Traumschlaf verantwort-
modifizierenden Einfluss auf die zirkadiane Periodik.
lichen Neurone. Diese und ähnliche extrazelluläre Signale
beeinflussen die intrazellulären Kaskaden.
Die homöostatischen und zirkadianen Rhythmen wer-
den von den kürzeren ultradianen Rhythmen überlagert.
Diese werden von unterschiedlichen genetischen Uhren
außerhalb des SCN und unabhängig von den dort tätigen
542 Kapitel 22 · Zirkadiane Periodik, Schlaf und Traum

molekularen Uhren gesteuert. Der in Abschn. 22.4.1. be- Laufe des Tages; dadurch wird auch die Produktion der PER-
schriebene 90-Minuten-»Basic-rest-activity-cycle« (BRAC), und CRY-Proteine verlangsamt, was selbst wieder den
der dem REM-Schlaf-Zyklus entspricht, sorgt für den Clock/Cycle-Dimer enthemmt, der nun wieder die Trans-
90-minütigen Rhythmus aus Tagträumen und Vigilanz- kription von per und cry stimuliert. Der Zyklus benötigt
22 schwankungen. ungefähr 24 h, wobei Licht die Produktion von PER-Protein
über die glutamaterge Transmission der Fasern des retino-
G Neben dem zirkadianen Schlaf-Wach-Antrieb existie-
hypothalamischen Traktes (RHT) anregt und damit den
ren davon unabhängige, aber die zirkadianen Rhyth-
Zyklus auf die Tag-Nacht-Periode synchronisiert.
men überlagernde homöostatische und ultradiane
Knock-out-Mäuse oder Mutationen auf per, cry oder
Aktivitäts-Ruhe-Zyklen. Bei den homöostatischen
clock zerstören die zirkadiane Periodik, einige der Muta-
Komponenten spielt Adenosin eine entscheidende
tionen sind letal, andere erhöhen die Krebsinzidenz und
Rolle.
reduzieren die Immunkompetenz. Durch eine PER-Muta-
tion werden Gene, die das unkontrollierte Zellwachstum zu
Gen-Protein-Rhythmen Krebs fördern, angeregt. Dies könnte auch die Zusammen-
Der endogene Oszillator in den Zellen des SCN von Säugern hänge zwischen Immunkompetenz und Tiefschlaf, sowie
synthetisiert 2 Proteine. Clock (von »circadian locomotor die Störungen der Gesundheit durch Nachtarbeit zumin-
output cycles kaput«) und Cycle. Wie aus . Abb. 22.6 ersicht- dest teilweise erklären. In der Evolution sind die moleku-
lich, verbinden sich diese beiden Proteine zu einem Dimer, laren Grundsätze der Rhythmusregulation erstaunlich ähn-
also einem Proteinpaar, das in den Zellkern eindringen kann lich, sodass mit einfachen Manipulationen der genetischen
und dort an die DNA des per-Gens (per von »period«) und Uhren weitreichende Verschiebungen der Rhythmizität er-
des cry-Gens (cry von Cryptochrom, das wir bereits als Pho- reicht werden können.
torezeptor für blaues Licht kennengelernt haben) bindet.
Die resultierenden Proteine PER und CRY verbinden sich G Die zirkadiane Periodik wird von molekularen Rück-
mit dem Tau-Protein (von τ (Tau), der frei laufenden Perio- meldevorgängen zwischen Proteinen und deren Ge-
denlänge eines zirkadianen Zyklus) und der PER/CRY/Tau- nen in den Rhythmus-gebenden Hirnstrukturen be-
Komplex hemmt die Aktivität des Clock/Cycle-Dimers und stimmt. Die Auf- und Abbauzeiten von Genen und
verlangsamt die Transkription der per- und cry-Gene im Proteinen bestimmen den endogenen Rhythmus.

. Abb. 22.6. Eine molekulare Uhr. 1. Zwei Proteine, Clock und Clock/Cycle und ermöglichen den erneuten Beginn des ganzen
Cycle, verbinden sich und bilden einen sog. Dimer. 2. Der Clock/Cycle- Zyklus. Die Gentranskription, die Proteinsynthese und deren Abbau
Dimer bindet an die DNA und regt die Transkription der Gene für benötigen ca. 24 h. 6. Ganglienzellen in der Retina registrieren Licht
Period (Per) und Cryptochrom (Cry) an. 3. Per und Cry verbinden sich mit Melanopsin. Die Axone dieser Zellen im hypothalamischen Trakt
und binden an das Protein Tau. 4. Der Per/Cry/Tau-Komplex hemmt schütten an den Neuronen des SCN Glutamat aus. Die Glutamat-
die Aktivität des Clock/Cycle-Dimers und verlangsamt die Transkrip- Stimulation erhöht die Transkription des per-Gens und synchronisiert
tion der per- und cry-Gene und damit auch der Per- und Cry-Proteine. die molekulare Uhr auf den Tag-Nacht-Wechsel
5. Die Per- und Cry-Proteine werden abgebaut, enthemmen den
22.3 · Zirkadiane Rhythmen
543 22
Synchronisation (»entrainment«) durch Licht
Im linken unteren Abschnitt der . Abb. 22.6 (6) ist der
synchronisierende Einfluss von Licht auf den endogenen
molekularen Zyklus dargestellt. Dieser Einflussfaktor wird
auch als extrazellulärer Anteil bezeichnet.
Der Neurotransmitter Glutamat der Fasern des retino-
hypothalamischen Trakts aktiviert NMDA-Rezeptoren in
den Zellen des SCN. Dies wiederum öffnet die Zellmem-
bran für Ca++, das in die Zelle einströmt. Der Anstieg der
intrazellulären Ca++-Konzentration aktiviert die Produk-
tion des gasartigen Neurotransmitters Stickoxid (NO). NO
breitet sich in der Umgebung der aktivierten Zellen aus und
synchronisiert deren Membranleitfähigkeiten.

Nach Kerkhof GA, Van Dongen HPA (1996). Mit freundlicher


Frühe Reaktionsgene
Die Synchronisation der Neurone des SCN wird durch
Expression früher Reaktionsgene (»immediate early
genes«, Kap. 23 und 25) gesteuert. Die frühen Reaktions-
gene werden durch Licht aktiviert; bereits nach wenigen

Genehmigung von Elsevier.


Minuten hellen Lichts lässt sich in den Neuronen des SCN
die Aktivierung eines C-fos-Protoonkogens feststellen. Das
C-fos-Protein ist ein Transkriptionsfaktor in den frühen
intrazellulären Reaktionssystemen, die rasch in die Regula-
tion von Zellproliferation und Membrandifferenzierung
eingreifen (Kap. 25). Die schnelle Expression des Trans-
. Abb. 22.7a, b. Körpertemperaturrhythmus. a Tagesgang der
kriptionsfaktors wird durch Anstieg der cAMP- und der Rektaltemperatur des Menschen bei 4 verschiedenen Umgebungs-
Ca++-Konzentration nach Eintreffen des Nervenimpulses temperaturen. Jede Kurve stellt das Mittel aus 9 männlichen Versuchs-
ausgelöst. personen dar. b Durchschnittlicher Verlauf der Körpertemperatur von
Wenn man C-fos in den schlafauslösenden Hirnstruk- Morgen- und Abendtypen
turen blockiert, so sinkt das Schlafbedürfnis ab, was zeigt,
dass die intrazellulären Kaskaden sowohl für die homoösta-
tischen wie zirkadianen Rhythmen mitverantwortlich
sind. 22.3 Zirkadiane Rhythmen
Da Licht den intrazellulären Gen-Protein-Zyklus inner-
halb von 10 min anregt, können Rhythmusprobleme, wie 22.3.1 Physiologische Rhythmen
sie in Abschn. 22.7 beschrieben werden (z. B. Jet-lag nach
Interkontinentalflügen), nur auf Störungen des Output- Körpertemperatur
Teils, also die Übertragung des SCN-Rhythmus auf sekun- Der Körpertemperaturrhythmus ist bei den meisten Säu-
däre Oszillatoren und Organe zurückzuführen sein. gern ähnlich: Nach 18 Uhr erreicht die Temperatur ein
Morgen- und Abendtypen, also Personen, die früher Maximum. In der Inaktivitätsphase sinkt sie kontinuierlich.
oder später am Morgen oder Vormittag ein Temperatur- Vor dem Erwachen steigt sie »antizipatorisch« (ab 5–6 Uhr)
maximum erreichen, tragen unterschiedliche Typen von an. . Abb. 22.7a zeigt den durchschnittlichen Tagesgang
Clock-Genen, ebenso wie die Sensibilität auf Rhythmusver- beim Menschen, . Abb. 22.7b den Temperaturverlauf von
schiebungen (z. B. Jet-lag) zu einem erheblichen Anteil ge- Morgen- und Abendtypen. Licht erhöht die Amplitude der
netisch bedingt sein dürfte. Perioden, ähnlich wie die Raumtemperatur Nahrungsauf-
nahme und Aktivitätszyklen beeinflusst, ohne die Rhyth-
G Die synchronen Entladungen der SCN-Zellen werden
mizität der jeweiligen Variable zu ändern. Die homöosta-
durch Diffusion von NO und frühe Reaktionsgene
tische, nicht-zirkadiane Regulation von Temperatur wird in
gesteuert.
Kap. 11 besprochen.
Einschlafen sollte nur in der abfallenden Phase der
Körpertemperatur erfolgen. Wir sollten ca. 6 h vor Errei-
chen des Minimums zu Bett gehen, nach Einsetzen der
Melatoninsekretion, die nach dem Einschlafen im ersten
Tiefschlafstadium ein Maximum erreicht. In der Zeit des
Zu-Bett-Gehens ist der periphere Hitzeverlust am größten,
544 Kapitel 22 · Zirkadiane Periodik, Schlaf und Traum

weshalb die Füße und Hände in dieser Zeit auch eine peri- Dies zeigt, dass sich im Hypothalamus wichtige Regu-
phere Vasodilatation aufweisen. Die Körperkerntempera- lationsstrukturen befinden, die Stoffwechselhomöostase
tur sinkt, die Wärme wird an die Peripherie transportiert. und Schlaf-Wach-Rhythmus steuern.
Wärmen der Füße ist daher ein potenter Reiz für Einschla- Die Region des lateralen Hypothalamus (LH, Kap. 26),
22 fen, deutlich stärker als Melatoningabe. oft als Hunger»zentrum« bezeichnet, aktiviert über Neu-
rone, die das Neuropeptid Orexin (auch als Hypokretin
G Der Verlauf der Körpertemperatur und der Außen-
bezeichnet, Abschn. 22.5.3) als Transmitter benutzen, bei
temperatur bestimmt das Schlaf-Wach-Verhalten
Hunger (also Energieverlust) weite Teile von Kortex, Basal-
und Einschlafen.
ganglien und limbischem System. Damit wird Wachzeit
und die Chance, Nahrung zu finden, erhöht. Nach Nah-
Endokrine Rhythmen rungsaufnahme, die u. a. die Ausschüttung lipostatischer
In Kap. 7 und 8 wurden bereits die Rhythmen von Wachs- Hormone wie Leptin, Galanin und Neuropeptid Y (Kap.
tumshormon (GH), Kortisol, CRH und ACTH (Abschn. 26) hemmt, reduzieren die Orexinstrukturen des lateralen
7.3.5) besprochen. Die Kortisolkurve verläuft mit der Tem- Hypothalamus ihren erregenden Einfluss, und Müdigkeit
peraturkurve und ist genau reziprok der GH- und Melan- tritt auf (postprandiale Müdigkeit). Zerstörung des LH
toninkurve, beide erreichen in den ersten 3 Schlafstunden oder Eliminierung des Orexingens führt zu Schläfrigkeit
des »Tiefschlafes« ein Maximum. Die meisten Erholungs- und Narkolepsie (7 unten).
prozesse, v. a. des Immunsystems (Kap. 9) finden in diesen
G Der Rhythmus der Nahrungsaufnahme ist an den
ersten 3 Schlafstunden statt, weshalb er auch als Kernschlaf
Schlaf-Wach-Rhythmus gekoppelt, wird aber stark
im Kontrast zum Optionalschlaf bezeichnet wird. Unsere
von Lernfaktoren (Gewohnheiten) bestimmt. Die
Lebenszeit wird von der Schlafgüte (Abschn. 22.4) und den
Nahrungsaufnahme selbst führt durch Abfall der
damit verbundenen Immunstörungen begrenzt.
Orexinaktivität zu Müdigkeit.
Melatonin (Abschn. 9.2.3) ist wenig von Außenreizen
beeinflusst und bleibt auch bei Blindgeborenen konstant,
obwohl diese eine Vielzahl von Rhythmusstörungen aufwei- 22.3.2 Psychologische Rhythmen
sen. Deshalb kann Melatonin am Nachmittag oder frühen
Abend eingenommen (es reichen wenige mg) die zirkadiane Schmerzempfindlichkeit und Analgetikawirkung
Uhr vorverlegen (macht müde), in der Nacht und am frühen Die Akut-Schmerzempfindlichkeit der Hand kann man mit
Morgen eingenommen, verzögert sie die Periodik. elektrischen Schwellenmessungen und die der Zähne mit
der sog. »Kaltreiznutzzeit« (Zeit bis zum Zurückziehen
G Endokrine Rhythmen sind für geordnete Stoffwech-
eines vereisten Wattezylinders von einem intakten Front-
sel- und Immunregulation notwendig, ihre Störung
zahn) im Tagesgang untersuchen. Beide verlaufen gleich.
führt zu lebensbedrohlichen Folgen.
Das Maximum der Schmerzschwelle (geringste Schmerz-
empfindlichkeit) liegt zwischen 12 und 18 Uhr, das Mini-
Nahrungsaufnahme und Orexin (Hypokretin) mum zwischen 0 und 3 Uhr. Bei Nachttypen (»Eulen«, die
Nahrungsaufnahme und Aktivitätszyklen sind bei Säugern erst nach 24 h zu Bett gehen) steigt die Schmerzempfind-
eng synchronisiert. Der Rhythmus wird durch die Antizipa- lichkeit später an. Erhöhte unspezifische vegetative Erre-
tion der Verfügbarkeit von Nahrung bestimmt und hängt gung (»Stress«) verschiebt das Maximum und Minimum
somit primär von frühen Lernvorgängen ab. Wir lernen, früher in die Nachtzeit.
wann Nahrung zur Verfügung stehen wird, und sowohl Ak- Analgetika wirken in der Nachtzeit, also zum Zeitpunkt
tivität (Nahrungssuche) als auch Ausschüttung von gastro- erhöhter Schmerzempfindlichkeit, weniger gut als zu den
intestinalen Hormonen in Antizipation der Nahrungsauf- Tageszeiten. Auch Placebos (unspezifische und suggestive
nahme steigen an. Die Zeiten, in denen die Nahrung zur Faktoren der Schmerzhemmung) wirken zwischen 12 und
Verfügung steht, bestimmen den Rhythmus. 20 Uhr besser als zwischen 0 und 4 Uhr. Gibt man z. B. eine
Der Hunger mittags und abends ist weniger von einem unwirksame Tablette, die als schmerzstillend deklariert wur-
Rhythmus des Glukosespiegels als von der Tatsache be- de, zwischen 12 und 20 Uhr, so zeigt sich bei den meisten
stimmt, dass wir gelernt haben, zu diesen Zeiten zu essen. Versuchspersonen eine deutliche Schmerzreduktion. Die-
Wird die Nahrung nach Läsion des SCN nur in bestimmten selbe Tablette und Instruktion zeigen keine Wirkung zwi-
zirkadianen Intervallen zur Verfügung gestellt, bleibt der anti- schen 0 und 4 Uhr. Unklar bleibt, ob für chronische Schmer-
zipatorische Nahrungssuchrhythmus entsprechend dem zen (Kap. 16) ähnliche Verläufe gelten und mit welchem der
Rhythmus des Zeitgebers intakt. Antizipatorische Rhythmen Schrittmacher der Schmerzverlauf verbunden ist.
sind somit nicht von SCN-Aktivität allein abhängig. Eine
Läsion des ventromedialen Kerns des Hypothalamus, der als G Das Maximum der Schmerzempfindlichkeit liegt
Sättigungs-»zentrum« identifiziert wurde, zerstört aber den zwischen 0 und 4 Uhr früh. In dieser Zeit wirken auch
antizipatorischen Nahrungssucherhythmus (Kap. 26). Placebos schlecht.
22.3 · Zirkadiane Rhythmen
545 22
22.3.3 Störungen der zirkadianen Periodik
Nach Folkard S, Monk TM (1983). Mit freundlicher Genehmigung von Elsevier.

Lebensbereiche und Störungen der Periodik


Es gibt etliche Lebensbereiche, die von Störungen der zir-
kadianen Periodik betroffen sind:
4 Akute Katastrophen
5 Unfälle
4 Arbeits- und Reisestress
5 Rund-um-die-Uhr-24-h-Dienste
5 Leistungsdruck in Arbeit und Schule
5 Ärzte und Pflegepersonal – Nachtdienste
5 Bedienungspersonal in nuklearen u. a. Fabriken
5 Schichtarbeit
5 Lastkraftwagen-Transporte
5 Militärische Operationen
. Abb. 22.8. Tageszeit und Leistungen in verschiedenen Aufgaben. 5 Jetlag (Zeitzonen überfliegen)
Im Vergleich dazu ist die Körpertemperatur dargestellt (rote Linie). 5 Weltraumflüge
Die subjektive Müdigkeit folgt der blau strichlierten Kurve für Denk- 4 Medizinische Diagnose und Behandlung
aufgaben 5 Diagnoseverfahren, die lange Zeiträume benötigen
5 Schwere Krankheiten, die an bestimmten Zeitpunk-
Reaktionszeit und Vigilanz ten der zirkadianen Periodik beginnen
Die Leistung in einfachen akustischen Reaktionszeitauf- 5 Behandlungszeiten, die nicht der zirkadianen Peri-
gaben von gesunden Personen ist maximal um ca. 3 Uhr mor- odik folgen
gens. In diesen Aufgaben muss die Versuchsperson nur »re- 4 Schlaf-Wach-Störungen und Affektstörungen
flektorisch« auf eine Taste drücken, wenn ein Ton erfolgt. 5 Extreme Lichtbedingungen: Bewohner der Arktis
Die Daueraufmerksamkeit (Vigilanz) dagegen verläuft und Antarktis
exakt gegensätzlich zur einfachen Reaktionszeit. Dement- 5 Rhythmen bei Blinden
sprechend ist die Fehlerhäufigkeit (Einschlafen am Steuer, 5 Schlaf-Wach-Probleme bei Schülern und Studenten
Zwangsbremsungen bei Lokomotivführern, Unfälle) um 3 Uhr 5 Rhythmen bei alten Menschen
morgens maximal (7 Einleitung). Bei den beruflichen Leistun- 5 Schlaf- und Affektstörungen
gen liegt ein weiterer Gipfel der Fehler um 14 bis 15 Uhr. 4 Behandlung zirkadianer Störungen
Die Rechengeschwindigkeit ist mit den Oszillatoren 4 Gesetzliche Bestimmungen der Arbeitszeit
der Körpertemperatur zumindest in den Morgenstunden
korreliert (. Abb. 22.8). Kognitive Funktionen scheinen je Die häufigsten Störungen zirkadianer Periodik sind die ver-
nach den beteiligten informationsverarbeitenden Prozes- schiedenen Formen von Schlafstörungen (Abschn. 22.7),
sen verschiedenen Schrittmachern zu folgen. ferner Depressionen, die Folgen von Nacht- und Schicht-
arbeit, sowie das Überschreiten von Zeitgrenzen mit dem
Unmittelbares Gedächtnis Flugzeug (Jetlag). Auch einige Epilepsieformen dürften eng
Der Leistungsverlauf ist mit der Temperatur korreliert: mit Abweichungen des Schlafrhythmus verbunden sein.
maximale Reproduktion am Morgen, minimale abends, Kennzeichen aller Rhythmusstörungen sind Desynchroni-
Anstieg der Leistung nachts bis 23 Uhr. Mit zunehmender sationen von normalerweise eng korrelierten physiologi-
Gedächtnisbelastung (z. B. sich 6 Buchstaben merken und schen und psychologischen Variablen oder extreme Syn-
in einer Buchstabenliste finden) schiebt sich das Maximum chronisation von normalerweise unkorrelierten Größen.
der Leistung in die Mitte des Tages. . Abb. 22.8 zeigt den Einige Zytokine, die bei entzündlichen und fiebrigen
Leistungsverlauf für die 2 verschiedenen Aufgabentypen. Erkrankungen vom Immunsystem vermehrt produziert
Kognitive Anforderungen haben nicht nur einen modu- werden, stoßen auch während des Tages Tiefschlaf an,
lierenden Einfluss auf den Tagesverlauf einer Leistung, son- lassen aber die Melatoninausschüttung tagsüber relativ un-
dern können die endogenen Oszillatoren »direkt« beein- beeinflusst (Kap. 8 und 9), desynchronisieren also einen
flussen und dessen »An- und Abschwellen« verschieben. normalerweise verbundenen Rhythmus. Ähnliche Desyn-
chronisationen findet man bei Depressionen, wo extreme
G Viele psychologische Leistungen folgen dem Tem- Müdigkeit mit Einschlafstörungen und einem chaotischen
peraturoszillator und der Müdigkeit und weisen Temperaturrhythmus einhergehen. Nach Schlafentzug
von 1 bis 4 Uhr früh einen Tiefpunkt auf. Die besten synchronisieren diese Rhythmen kurzfristig, v. a. die en-
kognitiven Leistungen werden in den Stunden vor dokrinen mit den elektrophysiologischen Zeichen von
Mittag erbracht. Schlaf.
546 Kapitel 22 · Zirkadiane Periodik, Schlaf und Traum

G Bei Störungen der zirkadianen Periodik kommt Aperiodik nachweisbar sind, sollte zu Sorge Anlass geben.
es entweder zu Desynchronisation oder extremer Es konnten bei den Mannschaften zu Zeiten ihrer endo-
Synchronisation verschiedener Rhythmen. genen »Tiefs« zwischen 2 und 5 Uhr morgens erhebliche
Bedienungsfehler nachgewiesen werden, auch wenn man
22 Nacht- und Schichtarbeit versuchte, durch Rhythmisierung des künstlichen Lichts
Diese führen zu anhaltenden Störungen der Periodik und der und der sozialen Aktivitäten dies zu verhindern. Personen,
mit ihr verbundenen physiologischen Systeme (zurzeit sind die am Polarkreis arbeiten, zeigen keine Anpassung ihrer
in den Industrieländern ca. 20% der arbeitenden Bevölkerung Rhythmen, sondern erhebliche Desynchronisationen.
davon betroffen). Angesichts der Stabilität einiger wichtiger Die Nuklearkatastrophe von Tschernobyl, die Fast-Ka-
endogener Oszillatoren gibt es für die meisten Störungen der tastrophe von Three Mile Island, die Tankerkatastrophe
Periodik auch nur wenig positive Beeinflussungsmöglich- der Exxon Valdez vor Alaska, die meisten Autounfälle v. a.
keiten; so auch für die Rhythmusstörungen von Nachtarbeit: von Lastwagen, die meisten Herzinfarkte, Geburten, alle
ausreichend lange Erholungsphasen, die eine Synchronisa- sind am Nadir der zirkadianen Periodik von 1 bis 4 Uhr
tion desynchronisierter Rhythmen erlauben, Änderung der früh passiert.
Periodik der für den Menschen bedeutsamen sozialen Zeit-
G Die Folgen der Missachtung der zirkadianen Periodik
geber (was praktisch nie möglich ist, da Familie und übrige
sind in vielen Bereichen modernen Arbeitslebens
Sozietät selten dem Zeittakt der Nachtarbeiter folgen kön-
gravierend. Viele Katastrophen und Unfälle werden
nen), Auswahl jener Personen, die eher Abendtypen sind und
zwischen 0 und 4 Uhr früh ausgelöst.
daher eine Phasenverschiebung eher verkraften (Box 22.1).
Abgesehen von den Leistungstiefs nach 24 Uhr, die auch
bei »erfahrenen« Schichtarbeitern bestehen bleiben, sind Zeitumstellung nach Überfliegen von Zeitzonen
gastrointestinale Störungen (Magengeschwür, Gastritis) (Jetlag)
durch das Weiterbestehen antizipatorischer Nahrungsauf- Da die meisten internationalen Fluglinien Ost–West ver-
nahmerhythmen bis zu 10-mal häufiger (das Essen erfolgt kehren, sind Millionen Fluggäste und das Personal von den
nicht zum Zeitpunkt optimaler antizipatorischer Einstellung Störungen der Periodik betroffen: Schlafprobleme, gastro-
des Gastrointestinaltraktes). Hinzu kommen Schlafstörun- intestinale Störungen, Vigilanzabfall, Unwohlsein und
gen, respiratorische Probleme und Schmerzen (Rücken- Schwächung des Immunsystems. Je mehr Zeitzonen über-
schmerzen). Auf immunologische Effekte sind wir bereits in flogen werden, umso intensiver sind die Störungen. Auch
Kap. 4 und 6 eingegangen. die bereits einstündige Umstellung von Sommer- auf Win-
terzeit und umgekehrt führt besonders bei älteren Men-
G Nacht- und Schichtarbeit führen zu gesundheit-
schen zu messbaren Alterationen. Das Störungsausmaß
lichen Störungen, wenn nicht ausreichend Zeit für
hängt neben der Anzahl der Zeitzonen und der Flugzeit
die Resynchronisation besteht.
(bei Nachtflügen sind die Störungen ausgeprägter), sowie
Persönlichkeitsfaktoren (Morgen- oder Abendtyp) von der
Bedienungsfehler und Unfälle Richtung der Reise ab: Flüge von West nach Ost sind beson-
Die Tatsache, dass etwa bei den Mannschaften nuklearer ders betroffen. Dies liegt v. a. an der Tatsache, dass die frei-
U-Boote erhebliche Störungen als Folge der chronischen laufende zirkadiane Periode (τ) beim Menschen etwas mehr

Box 22.1. Schichtarbeit

Um Katastrophen und Unfälle, verursacht durch Müdig-


keit und zirkadiane Störungen, zu vermeiden, sind länge-
re Perioden von Nachtschichten, getrennt durch längere
Perioden von Tagesschichten und lange Ruheperioden,
besser. Zu kurze Ruhezeiten wirken sich schlecht auf Auf-
merksamkeit, zirkadiane Periodik und körperliche Stabili-
tät, v. a. auf Herz-Kreislauf-System und Magen-Darm-Trakt
aus (Nachtarbeiter haben ein erhöhtes Risiko für schwere
Herz-Kreislauf-Erkrankungen).
Die Abbildung zeigt ein Protokoll zur Anpassung an
die Nachtarbeit. Die Pfeile zeigen das Temperaturmini-
mum und Adrenalinminimum an. Durch jeweils sukzes-
sives 3-h-Verschieben von Phasen hellen Lichts (2000– kurve angepasst. Einschlafen ist nur am abfallenden Ast
12.000 Lux) wird die Temperaturkurve nach vorne verlegt der Temperaturkurve möglich, normalerweise ist das
und das Schlafmuster (orange Quadrate) der Temperatur- Minimum zwischen 3 und 5 Uhr früh.
22.4 · Schlaf und Traum
547 22

als 24 h beträgt und wir daher das Verlängern der Periode Bei manchen Blindgeborenen, die einen chaotischen
(Flug von Ost nach West) eher tolerieren als Verkürzen der Schlaf-Wach-Rhythmus aufweisen, kann durch Gabe von
Periode (Flug von West nach Ost). Melatonin 3 h vor dem Einschlafen eine weitgehende Nor-
Die Erholungsdauer ist schneller nach Westflügen, die malisierung der zirkadianen Periodik erreicht werden.
tagsüber erfolgen: Herzrate, Temperatur, Katecholamine,
G Dauerhaft verzögertes oder verfrühtes Einschlafen
Kortisol und psychologische Variablen resynchronisieren in
lassen sich durch Lichttherapie, langsames Verschie-
etwa der Hälfte der Zeit (statt 88 min nur 56 min pro Tag).
ben des Rhythmus und Melatonin positiv beeinflus-
Wenn die Person sich sofort den neuen Zeitgebern, v. a.
sen. Auch bei Blindgeborenen verbessert Melatonin-
hellem Tageslicht aussetzt, sind die Störungen geringer. Per-
gabe vor dem Einschlafen die Rhythmizität.
sonen mit einer niedrigen Amplitude ihres Temperaturrhyth-
mus erholen sich am schnellsten und zeigen auch weniger
Störungen (geringe Persistenz des zirkadianen Oszillators). 22.4 Schlaf und Traum
Inwieweit die Einnahme von Melatonin (Kap. 8 und 9), z. B.
kurz vor dem Einschlafen nach Ankunft in einer neuen Zeit- 22.4.1 Schlafstadien
zone, den Rhythmus neu synchronisiert, ist umstritten.
Der Einfluss der sozialen Rhythmen ist im Vergleich zu Elektroenzephalogramm, Elektromyogramm
den endogenen Oszillatoren gering: Auch wenn man sich und Elektrookulogramm
nach Überfliegen von Zeitzonen dem sozialen Rhythmus . Abb. 22.9 zeigt die verschiedenen Stadien des Schlafes.
nach der Ankunft anpasst, vergehen in der Regel 3–6 Tage, Von oben nach unten sind repräsentative Ausschnitte der
bis endogener Rhythmus und sozialer Rhythmus wieder Stadien A–E wiedergegeben: A: Alpha, in der Alpha nicht
synchron ablaufen (7 unten). mehr kontinuierlich vertreten ist, sondern zunehmend
Beim Flugpersonal zeigen sich nach Jahren chronischer gruppiert erscheint. B: Niederamplitudige Aktivität und
Störung der Periodik Beeinträchtigungen wie bei Nachtar- Theta. C: Spindelaktivität: niederamplitudig mit 12–17-Hz-
beiten und auch Störungen des Arbeitsgedächtnis (Kap. 21). Spindelgruppen (über den sensomotorischen Arealen,
daher auch SMR – sensomotorischer Rhythmus – genannt),
G Bei Überfliegen der Zeitzonen, besonders von West
die irregulär in mehreren Sekundenabschnitten auftauchen.
nach Ost, kommt es auch beim Flugpersonal zu Rhyth-
D: Spindeln mit unregelmäßig auftauchenden hohen
mus- und Gesundheitsstörungen. Der Einfluss sozialer
0,5–3 Hz, 300 μV hohen Wellen (negative K-Komplexe).
Rhythmen ist auf diese Störungen eher gering.
E: hohe, langsame Delta-Aktivität.
Dement und Kleitman (1957) unterscheiden 4 Schlaf-
Verzögertes und verfrühtes Einschlafen stadien (1 bis 4) und das Stadium REM (»rapid eye move-
Patienten mit DSPI (»delayed sleep phase insomnia«) ge- ment«; . Abb. 22.9). Diese Klassifikation wird häufiger ge-
lingt es nicht mehr, eine einmal eingetretene Phasenver- braucht.
schiebung (später zu-Bett-gehen, verzögertes Einschlafen, 4 Stadium 1: Fehlen von Alpha, niedrige schnelle Beta-
Flugreise über Zeitzonen) wieder rückgängig zu machen. Aktivität und niedrige Theta-Aktivität;
Mehrere solcher Patienten wurden erfolgreich durch Chro- 4 Stadium 2: niedrige schnelle Aktivität mit Spindeln und
notherapie behandelt: Von einer Zeitgeberperiode von später K-Komplexen;
27 h (24 h + 3 h) ausgehend, mussten die Patienten jeden 4 Stadium 3: 10–50% der Zeit Delta;
Tag 3 h später zu Bett gehen, bis zum Erreichen der ge- 4 Stadium 4: mehr als 50% der Zeit Delta (>100 μV,
wünschten Periode (z. B. 21 Uhr zu Bett gehen, 6 Uhr auf- <3 Hz) und schließlich
wachen). Wenn der Patient z. B. erst gegen 3 Uhr früh ein- 4 REM-Stadium: niederamplitudiges EEG mit niederen
schlafen konnte, so durfte er am nächsten Tag erst um 6 Uhr Theta-Wellen, sog. Sägezahnwellen, ansonsten ähnelt
früh zu Bett gehen, am darauffolgenden um 9 Uhr usw. das EEG einem aufmerksamen Wachstadium ohne
Verfrühtes Einschlafen (»advanced sleep phase syndro- Alpha. Vermehrte Gamma-Wellen (30–70 Hz).
me«, ASPS) ist eine seltene Störung, bei der die Personen
sehr verfrüht (vor 21 Uhr) einschlafen und sehr früh auf- Spindeln signalisieren Hemmung der sensomotorischen
wachen, ansonsten aber gesund sind und keine Depression Areale, während K-Komplexe Korrelate starker interner
haben. Die Störung ist durch eine Mutation des per-Gens Entladungen sensorischer Systeme darstellen dürften. Von
(Abschn. 22.2.2) verursacht, das für die Phosphorylierung Stadium 1 bis 4 nimmt die EMG-Aktivität – besonders der
des PER-Proteins im zirkadianen Zyklus verantwortlich Hals- und Nackenmuskulatur – ab, im REM-Stadium
ist. Die Störung kann durch Lichttherapie, also helle Be- schließlich herrscht völlige Muskelatonie. Man sieht auch
leuchtung von 21 bis 23 Uhr kontrolliert werden. Dies zeigt auf . Abb. 22.9 die Phasen schneller Augenbewegungen im
deutlich, wie genetische Faktoren die zirkadiane Periodik REM-Stadium; die langsamen Wellen an den Augenelek-
steuern und dass eine einfache Umgebungsmaßnahme die troden, die man häufig in Stadium 3 und 4 sieht, sind Delta-
erbliche Störung wieder normalisieren kann. Wellen, die sich bis zu den Augenelektroden fortpflanzen.
548 Kapitel 22 · Zirkadiane Periodik, Schlaf und Traum

22

. Abb. 22.9. Schlafstadien beim Menschen und EEG. In den ersten Stadium D bzw. 3: Mittlerer Schlaf. Stadium E bzw. 4: Tiefschlaf. In den
6 Ableitungen sind links die Schlafstadien nach Loomis, rechts die nächsten 3 Ableitungen sind das EEG, das Elektrookulogramm (EOG)
nach Kleitman et al. angegeben. Stadium W: Entspanntes Wachsein. und das Elektromyogramm eines Zeigefingers (EMG) während des
Stadium A: Übergang vom Wachsein zum Einschlafen. Dieses Stadium REM-Schlafes (Traumschlafes) aufgezeichnet. Die REM-Phasen stehen
wird von vielen Autoren dem Stadium W zugerechnet. Stadium B typischerweise am Ende jeder Schlafperiode. Sie können keinem
bzw. 1: Einschlafstadium und leichtester Schlaf. Die am Ende der Ab- der »klassischen« Schlafstadien zugeordnet werden, sondern stellen
leitung auftretenden Vertexzacken werden auch als »physiologisches ein eigenständiges Stadium dar (Erläuterungen 7 Text)
Einschlafmoment« bezeichnet. Stadium C bzw. 2: Leichter Schlaf.

G Mit dem Elektroenzephalogramm (EEG) lassen sich tungen führen, sind die 40-Hz-Oszillationen nicht mehr an
die verschiedenen Grade des Wachseins (von ange- den Reizzeitpunkt gebunden, sondern treten in Abhängig-
spannt bis entspannt) und die verschiedenen Arten keit von den spontanen, inneren Erlebnisinhalten auf.
des Schlafes (REM-, NREM-Schlaf) unterscheiden. Gamma-Oszillationen treten auch, wie auf . Abb. 22.10
Es wurden 4 Schlafstadien und das REM-Stadium sichtbar, im Tiefschlaf und allen übrigen Schlafstadien auf,
klassifiziert. wenngleich seltener als im REM-Schlaf. Meist sind sie lokal
fokussierter als andere elektrokortikale Aktivitäten. Im
Gamma-Oszillationen (»40 Hz«) Tiefschlaf findet man sie auf den negativen depolarisieren-
Wir haben bereits in Abschn. 20.2 auf die Rolle kohärenter den Anstiegsflanken der langsamen δ- und θ-Wellen. Ge-
kortikaler Oszillationen für die assoziative Verbindung von nerell sind sie an jenen Orten im Gehirn anzutreffen, wo
Einzelobjekten zu Gestalten von subjektiver Bedeutung die Inhalte des Tages im Gedächtnis konsolidiert und ge-
hingewiesen. . Abb. 22.10 zeigt die 40-Hz-Oszillationen speichert werden.
des Magnetoenzephalogramms von einer Versuchsperson
G Die Gamma-Oszillationen treten in allen Schlafsta-
im Wachzustand (oben), im Langsamen-Wellen-Schlaf
dien auf und zeigen kohärentes Schwingen von Zell-
(SWS-Tiefschlaf, auch δ-Schlaf genannt) und im REM-
ensembles an. Im REM-Schlaf sind sie besonders
Schlaf. Man erkennt die regelmäßigen Oszillationen, die an
deutlich, im Tiefschlaf überlagern sie die langsamen
allen Ableitungspunkten auftreten, allerdings vor allem im
elektrokortikalen Schwingungen.
Wach- und REM-Zustand.
Bietet man einen bedeutungsvollen Reiz dar, so synchro-
nisieren sich die 40-Hz-Oszillationen mit dem Reizauftritt, Verlauf einer Nacht
d. h. sie treten unmittelbar nach dem Reiz in steigender Am- . Abb. 22.11 zeigt den durchschnittlichen Verlauf der EEG-
plitude und Synchronisation auf, sofern sich die Person mit Stadien und anderer physiologischer Größen innerhalb
dem Reiz »beschäftigt«, d. h. ihn beachtet. Im REM-Schlaf, einer Nacht bei einem jungen männlichen Erwachsenen.
wo die externen Reize meist nicht zu bewussten Verarbei- Die Abweichungen von diesem »Idealverlauf« sind sowohl
22.4 · Schlaf und Traum
549 22

. Abb. 22.10. 40-Hz-Ryhthmen. 40-Hz-Oszillationen im Wachzu-


stand (A), Tiefschlaf (B), REM-Schlaf (C) und Hintergrundrauschen des
Gerätes (D). Originalregistrierung der Oszillationen kortikaler Magnet-
felder aufgezeichnet mit einem Magnetoenzephalographen (MEG) von
37 Sensoren über der rechten Hirnhemisphäre einer Versuchsperson
(JV). Links: Originalregistrierung von jedem Sensor. Rechts: Vergrößer-
tes summiertes MEG über einen kurzen Ausschnitt mit einer Zeitachse
von 3 s. Die Oszillationen sind deutlich im Wach- und Traumzustand

. Abb. 22.11. Verlauf verschiedener physiologischer Maße in


bei einer gegebenen Person im Verlauf vieler Nächte als einer Nacht. Von oben nach unten: EEG-Stadien, EOG (Elektrookulo-
auch zwischen den Personen hoch. Aus dieser Abbildung gramm) mit schnellen Augenbewegungen (REM), EMG (Elektromyo-
gramm), Herzrate, Atmung und Peniserektion (PE)
sind die wesentlichen peripher-physiologischen Unter-
schiede zwischen den Stadien 1 bis 4 und dem REM-Sta-
dium bereits deutlich zu erkennen (7 unten). NREM-REM-Zyklus beträgt bei jungen Menschen
Von Schlaf – bei gesunden und sehenden Menschen – 90 min, zu Beginn der Nacht etwas kürzer (70–80 min)
spricht man erst, wenn keine Alpha-Wellen mehr vorhan- (. Abb. 22.11). Der zweite und dritte Zyklus sind länger
den sind. Der Moment des Einschlafens kann manchmal an (100–110 min), die folgenden ein bis 2 wieder etwas kürzer.
einer Gruppe von hohen Vertex-Zacken von ca. 170–180 ms Die Dauer von Stadium 2 (mehr als 50% des Gesamt-
Dauer und Amplituden größer als 100 μV festgestellt wer- schlafes) wird im Laufe eines 8-Stunden-Schlafes zuneh-
den. Die Dauer der REM-Phasen – auch paradoxer Schlaf, mend länger und okkupiert im letzten Zyklus meist voll-
PS, REM-Schlaf genannt (im Gegensatz zu »orthodoxem« ständig die NREM-Phasen. SWS kommt in den letzten
oder NREM-Schlaf (Non-REM)) – beträgt im Durchschnitt beiden Zyklen selten oder nicht mehr vor. Die REM-Dauer
bei jungen Erwachsenen 104 min mit einer Streubreite beträgt im Mittel 10 min und wird im Laufe des Schlafes
von 16 min in einer Nacht (ultradianer Rhythmus). Dies länger (von 5–10 min in der ersten Periode bis 22 min in der
entspricht etwa 17,5–23,8% der gesamten Schlafdauer. Die letzten, aus der man in der Regel erwacht).
erste NREM-Phase dauert im Durchschnitt eine Stunde. Peniserektionen und Erhöhung der Vaginaldurchblu-
tung während REM-Schlaf können zur Abgrenzung orga-
G Im Laufe einer 7- bis 8-stündigen subjektiven Nacht
nisch versus psychologisch bedingter Impotenz benutzt wer-
erfolgt alle 80–90 min eine REM-Phase getrennt
den. Tritt die Erektion oder vermehrte Vaginaldurchblutung
durch Schlafphasen mit synchronisiertem, lang-
während REM auf, so ist die Diagnose organisch bedingter
samem EEG.
Impotenz oder weiblicher Sexualstörung (z. B. durch Nerven-
schädigung oder Durchblutungsstörung) unwahrscheinlich.
Tiefschlaf vor REM
Bei Säugetieren geht unter Normalbedingungen SWS stets »Basic rest activity cycle«
REM voraus. »Slow wave sleep« (SWS) bezeichnet Sta- Die durchschnittlich 90 min dauernde REM-NREM-Phase
dium 3 und 4 («Tiefschlaf ”). Die Periodendauer eines wird auch »basic rest-activity cycle« (BRAC) genannt, da sie
550 Kapitel 22 · Zirkadiane Periodik, Schlaf und Traum

22

. Abb. 22.12. Polygraphische Standardregistrierung des Schlafes. Von unten nach oben: EEG, EMG (Kinnmuskulatur) und EOG. Bei Pfeil
Beginn einer REM-Phase

im Wachzustand möglicherweise weiterbesteht. Eine Reihe


anderer Rhythmen sind damit teilweise synchronisiert:
Essen, Trinken, Rauchen, Herzrate, Sauerstoffaufnahme,
Magenbewegungen, Urinproduktion und Daueraufmerk-
samkeit in verschiedenen Aufgaben.
Das Tiefschlafbedürfnis, also das Bedürfnis nach »Slow-
wave«-Schlaf, erreicht nicht nur in den ersten Nachtstunden
(ca. ab 23 Uhr) ein Maximum, sondern auch um ca. 14 Uhr,
zur Zeit der südländischen Siesta, kommt es zu einem rela-
tiven Leistungstief mit Anstieg des Tiefschlafbedürfnisses.
G Während der Langsame-Wellen-Schlaf (SWS) bei
jüngeren Menschen die erste Nachthälfte dominiert,
verdrängt der REM-Schlaf, der in einem stabilen . Abb. 22.13. Registrierung des Elektrookulogramms (EOG)
90-Minuten-»Basic-rest-activity«-Zyklus auftritt, zu- (Erläuterung 7 Text)
nehmend den SWS in der zweiten Nachthälfte.

so können die sich im Kopfgewebe ausbreitenden Potenzi-


22.4.2 REM-Schlaf: Indikatoren aländerungen registriert werden: Bei Bewegungen des Aug-
apfels wandern die Pole der »Augenbatterie« jeweils zu der
Augenbewegungen einen Elektrode bzw. von der zweiten weg. Die resultieren-
Die entscheidende Entdeckung der modernen Schlaffor- den Änderungen des Potenzials können registriert und ver-
schung war die Beobachtung von Aserinsky und Kleitman stärkt werden.
(1953): Sie registrierten an Kindern Körperbewegungen
G Schnelle Augenbewegungen werden mit dem Elek-
während des Schlafes und stellten dabei fest, dass in regel-
trookulogramm registriert und haben eine Frequenz
mäßigen Abständen von ungefähr einer Stunde unter den
von 1–4 Hz.
Augenlidern Phasen von schnellen Bewegungen des Aug-
apfels mit einer Frequenz von 1–4 Hz auftreten. Die REM
(»rapid eye movements«) treten im Allgemeinen in Grup- Ponto-genikulo-okzipitale Aktivität
pen über mehrere Sekunden (maximal 23 s) auf, die von 20–120 s vor der EEG-Desynchronisation im REM-Schlaf
unterschiedlich langen »stillen« Zwischenzeiten (200 ms treten die ponto-genikulo-okzipitalen Kortex-Wellen (PGO)
bis 23 s) unterbrochen sind. auf. Sie bleiben während der ganzen REM-Phase bestehen.
. Abb. 22.12 zeigt die Standardregistrierung zur Er- Wie der Name impliziert, entstehen sie in umschriebenen
fassung der wichtigsten physiologischen Kennzeichen des Regionen der cholinergen pontinen Retikulärformation
REM-Schlafes beim Menschen. Man registriert die REMs und breiten sich von dort in das Corpus geniculatum late-
mit der elektrookulographischen Methode (EOG): Zwi- rale und den visuellen und limbischen Kortex aus. Ihre Am-
schen Hornhaut und Augenhintergrund besteht ein stän- plitude mit Mikroelektroden erfasst, ist größer als 100 mV,
diges Potenzial (. Abb. 22.13). Wenn seitlich der Augen, ihre Frequenz im REM-Schlaf ca. 60/min, die Polarität po-
über und unter dem Auge Elektroden angebracht werden, sitiv, Dauer 100 ms bei extrazellulärer Registrierung mit
22.4 · Schlaf und Traum
551 22

negativer Nachschwankung. Trotz ihrer anatomischen Ver- 22.4.3 Vegetativ-endokrine Änderungen


bindung mit dem visuellen System, sind sie unabhängig und zerebraler Blutfluss
vom visuellen Input; häufig werden sie als Reaktion auf
körperinterne visuelle Orientierungsreize gedeutet. Wäh- Vegetativum
rend PGO kommt es zu präsynaptischer Hemmung der Die auf . Abb. 22.11 dargestellten tonischen Schwankun-
Afferenzen aus dem Tractus opticus im Nucleus geniculatum gen der Schlafstadien spiegeln sich in den trägen endo-
(»afferente Hemmung«). Der Eingang von visueller Infor- krinen und vegetativen Funktionen wider. Wir haben in
mation in den Thalamus wird damit verhindert. Kap. 7, 8 und 9 bereits gesehen, dass in den ersten Nacht-
stunden Stresshormone wie ACTH und Cortisol unter-
G PGO treten 20–120 s vor Beginn der ersten Augen-
drückt, dafür restaurative Immunparameter und Wachs-
bewegungssalven des REM-Schlafes auf und breiten
tumshormone verstärkt ausgeschüttet werden. Melatonin
sich von der Retikulärformation kommend im
erreicht ebenfalls ein Maximum in den ersten Nachtstun-
ganzen visuellen System aus.
den und wird durch Licht unterdrückt. Zwergwuchs bei
Kindern in sozialer Verwahrlosung wird durch Störung des
Motorik SWS und der Ausschüttung der Wachstumshormone in den
Im SWS kommt es zu langsamen, rollenden Bewegungen ersten Nachtstunden verursacht (7 Einleitung zu Kap. 8).
der Augen, die während der REM-Periode von raschen Ab- Während REM-Schlaf sind beim Menschen die meisten
wärtsbewegungen und konjugierten Augenbewegungen vegetativen Funktionen leicht erhöht (. Abb. 22.11): Herz-
abgelöst werden. Die späteren REM-Stadien gegen morgen rate, Blutdruck, Atemfrequenz, penile Erektion und vagina-
enthalten mehr und längere »bursts« (kurze Salven) von le Durchblutung. Adrenalin ist in der Peripherie während
REM (und längere und lebendigere Träume 7 unten). Mit REM erhöht (Herzattacken eher während REM in den
den REMs gehen kurze phasische Muskelaktivitäten in den Morgenstunden), die Magen- und Zwölffingerdarmaktivi-
Extremitäten und der Gesichtsmuskulatur (Myokloni) und tät steigt (Ulkusschmerz nachts). Mehr als die Absoluthöhe
den Pupillen einher. Der Muskeltonus dagegen kommt steigt die Variabilität autonomer Funktionen gemeinsam
während des REM-Stadiums zum Erliegen (Atonie). Die mit den übrigen phasischen REM-Aktivitäten. Teile der
tonische REM-Schlaf-Atonie ist für das unangenehme Ge- Temperaturregulation sind während REM-Schlaf aufge-
fühl des Gelähmtseins während mancher Träume und bei hoben: Schwitzen und Kältezittern verschwinden auch bei
Erwachen aus einem Traum verantwortlich. Grobbewe- hohen bzw. niedrigen Umgebungstemperaturen, die vaso-
gungen und Haltungsänderungen sind während REM- motorischen Änderungen werden irregulär und tempera-
Schlaf selten, REM-Schlaf wird aber häufig durch eine turunabhängig. Die Körpertemperatur gleicht sich langsam
grobmotorische Reaktion (Änderung der Schlafposition) an die Umgebungstemperatur an. Tiere mit Winterschlaf
eingeleitet. reduzieren konsequenterweise REM-Schlaf während Hiber-
Die Atonie während des REM-Schlafes ist durch Hyper- nation auf ein Minimum.
polarisation der α-Motoneurone des Rückenmarks (Kap. 13)
G Im REM-Schlaf kommt es zum Anstieg der vegeta-
verursacht. Gleichzeitig mit der tonischen Blockade der
tiven Funktionsparameter und ihrer Variabilität.
spinalen Motoneurone werden diese phasisch durch abstei-
Nur die Regelung der Körpertemperatur wird unter-
gende Erregungssalven aus dem Hirnstamm erregt. Simul-
brochen.
tan mit den REMs kommt es zusätzlich zur tonischen Hem-
mung, zu präsynaptischer Depolarisation (präsynaptische
Hemmung) der Gruppe-I-primären Afferenzen und damit Hirndurchblutung und lokaler zerebraler
zur Unterdrückung monosynaptischer Reflexe und des sen- Blutfluss
sorischen Einstroms (Kap. 13). Aber auch die polysynap- Mit PET (Kap. 20) gemessener Blutfluss zeigt Anstiege wäh-
tischen Reflexe werden durch die vom Hirnstamm via rend REM, zum Teil deutlich (3–15%) über dem entspann-
ventrales Horn des Rückenmarks absteigende Hemmung ten Wachzustand. Im SWS sinkt die Stoffwechselrate des
blockiert. Gehirns bis unter 50% des Wachzustands ab, die Durchblu-
tung ist entsprechend reduziert (die Sauerstoffaufnahme
G REM-Schlaf ist durch extreme tonische Muskelhem-
des Gehirns sinkt um 20%).
mung (Atonie) und gleichzeitig durch phasische
. Abb. 22.14 zeigt schematisch die Hauptergebnisse
Aktivitätsmaxima an den Motoneuronen gekenn-
von PET und fMRT-Untersuchungen während des Schlafes.
zeichnet.
Auch dies belegt, dass REM (und vermutlich aktives Träu-
men) fundamental vom Wachzustand verschieden ist und
nicht nur Wachen bei blockierter Sensorik und Motorik
bedeutet.
Aktivierungen während REM zeigen sich in der ponti-
nen Retikulärformation (v. a. cholinergen und histaminer-
552 Kapitel 22 · Zirkadiane Periodik, Schlaf und Traum

Retikulärbereich, wo die cholinergen REM-an-Zellen loka-


lisiert sind (7 unten), zerstört. Dies trifft sicher in Tier-
versuchen zu, beim Menschen sind die Ausfälle meist zu
schwer, um Beziehungen zu Träumen herzustellen.
22
G Während REM-Schlaf ist zwar die metabolische Akti-
vität in vielen Hirnregionen erhöht, die primären
Projektionsareale und der dorsolaterale Frontalkor-
tex aber desaktiviert.
Nach Purves D, Williams S (2001). Mit freundlicher Genehmigung von Sinauer.

22.4.4 Evolution und Entwicklung


im Lebensalter

Evolution
Während Säuger mit Ausnahme der großen Meeressäuger
und Vögel (Warmblütler) im EEG den beschriebenen
Wechsel von synchronisiertem und desynchronisiertem
Schlaf zeigen, ist bei Reptilien, Amphibien, Fischen, Mol-
lusken und Insekten diese Differenzierung schwer möglich,
obwohl alle bisher untersuchten Lebewesen Phasen verhal-
tensmäßiger und metabolischer Inaktivität aufweisen.
Obwohl Schlaf die Wahrscheinlichkeit, Beute zu wer-
den, erhöht, hat offensichtlich die evolutive Bedeutung des
Schlafes als Erholung Vorrang. Die »Auffüllung« von Gly-
. Abb. 22.14. PET und fMRT im Schlaf. Kortikale Regionen, die kogenspeichern ist sicher eine wichtige Funktion, die in
während REM-Schlaf verstärkt aktiviert oder desaktiviert sind der Nacht leichter geschieht: Da die Außentemperatur
nachts absinkt, müssten wir sehr viel mehr Energie wäh-
gen Strukturen 7 unten), dem Thalamus, dem cholinergen rend Wachen aufwenden, um warm zu bleiben und könn-
basalen Vorderhirn, das ortsspezifisch den Kortex aktiviert ten die Glykogenspeicher nicht füllen. Da die Körper-
(Kap. 21) und Teile der Basalganglien, letzterer könnte mit temperatur aber in der Nacht (um ca. 3 Uhr früh) auf ein
den erlebten Bewegungen beim Träumen zusammenhän- Minimum sinkt, wird Hitzeverlust reduziert. Tiere, die
gen. Während inferiore parietale Regionen und visuelle leichter als Beute dienen könnten, wie Hase oder Pferd,
Assoziationskortizes aktiviert werden, ist Area 17, also der schlafen nur kurze Intervalle von Minuten, obwohl ihre Ge-
primäre visuelle Kortex, desaktiviert. Die visuell-räum- samtschlafzeit nicht sehr von der des Menschen abweicht.
lichen Halluzinationen des Traumes werden mit der Stimu- Die REM-Schlafdauer scheint mit dem Ausmaß an Ge-
lation der anterioren visuellen Assoziationsareale in Zu- fahr, gefressen zu werden, korreliert zu sein (große Tiere
sammenhang gebracht. Die paralimbischen Strukturen mit erhöhter Vulnerabilität haben weniger REM-Schlaf).
Amygdala, medialer präfrontaler Kortex und G. cinguli Die Gefahr, Beutetier zu werden, begrenzt die Schlafdauer.
sind ebenfalls stark aktiviert, was die emotionale Tönung Rätselhaft bleiben einige Ausnahmen von dieser groben
von Träumen verursachen kann. Regel. Der Tümmler (eine Delphinart) z. B. schläft ab-
Desaktivierungen zeigen sich im REM-Schlaf dagegen wechselnd mit der rechten und linken Hirnhemisphäre
neben den primären sensorischen und motorischen Projek- (Box 22.2). Tiere, die unreif geboren werden, haben längere
tionsarealen und im dorsolateralen präfrontalen Kortex, und mehr REM-Perioden als reif geborene Tiere. Der
der wesentlich für Arbeitsgedächtnis und damit verbunde- Mensch liegt im Mittelfeld der Säuger.
ner exekutiver Aufmerksamkeit (Kap. 21) verantwortlich Es bleibt unklar, ob REM-Schlaf phylogenetisch älter
ist. Das Vergessen der meisten Träume und ihre oft unge- (»primitiver«) als NREM-Schlaf ist. Man unterscheidet da-
richtete bizarre Aufeinanderfolge und Kombination könnte her oft zwischen Kernschlaf und Optionalschlaf. Beim er-
damit zusammenhängen. wachsenen Menschen sind die ersten 4 h Kernschlaf, der
Läsionsstudien stützen diese anatomischen Zuordnun- offensichtlich vital notwendig ist, die späteren Schlafzyklen
gen: Zerstörung der (v. a. der rechten) unteren Parietal- erscheinen eher als Füll- oder Optionalschlaf.
und oberen hinteren Temporalregion führt zu fast vollstän-
diger Traumlosigkeit (Anonerie), ähnliche Traumlosigkeit G Der evolutionäre Ursprung der verschiedenen
tritt nach Läsion tiefer medialer präfrontaler Strukturen Schlafphasen ist unklar. Die ersten 3 Nachtstunden
auf, die das basale Vorderhirn in Mitleidenschaft ziehen. (Kernschlaf) mit Tiefschlaf haben aber klar restau-
Vermutlich ist REM auch nach Läsionen im pontinen rative Funktionen.
22.4 · Schlaf und Traum
553 22

Box 22.2. Schlaf des Delphins


Viele der großen Meeressäuger und auch manche Vogel- lich, weil sie häufig zum Luft holen auftauchen oder ein
arten schlafen abwechselnd mit einer Hemisphäre, vermut- Auge zur Beobachtung von Räubern offen halten müssen.

Nach Purves D, Williams S (2001). Mit freundlicher


Genehmigung von Sinauer.
Ontogenie Alter zusammen und damit ist das REM-NREM-Verhältnis
. Abb. 22.15 zeigt den Verlauf von Wachen, REM-Schlaf für Lebensspanne und physiologisches Altern entscheidend
und NREM-Schlaf im Laufe des menschlichen Lebens. Da- (Kap. 9).
bei ist anzumerken, dass ab dem 50. Lebensjahr NREM- Die meisten Untersuchungen über die neurobiolo-
Schlaf im Wesentlichen aus den Stadien 1 und 2 besteht, gischen Grundlagen des Schlafes beziehen sich auf SWS
während in jungen Jahren SWS (Stadien 3 und 4) bis zu 40% und REM-Schlaf. Wenig ist über jene Stadien bekannt, die
der Totalschlafzeit ausmachen kann. Alte Menschen wa- mit zunehmendem Lebensalter beim Menschen mehr als
chen häufiger auf und zeigen verringerte REM-Phasendau- 50% des Schlafes ausmachen, nämlich Stadium 1 und 2 mit
er und deutlich weniger SWS. . Abb. 22.15 zeigt nur die K-Komplexen, Spindeln und niederamplitudiger EEG-Ak-
zusammenhängenden Schlafphasen REM und NREM, alte tivität. Spindeln (12–17 Hz), möglicherweise identisch mit
Leute sind häufig müde und verbringen mehr Zeit bei Ver- dem sensomotorischen Rhythmus (SMR, Kap. 21.4), treten
suchen zu schlafen. Bei dementen Personen kann der SWS- allerdings auch im SWS und REM-Schlaf auf, in Stadium 1
Anteil bis auf 0 reduziert sein. Die Kompetenz des Immun- und 2 sind sie aber durch die niedrige Hintergrundaktivität
systems hängt eng mit diesem Verlauf der Schlafphasen im eher sichtbar.

Aus Roffwarg HP, Muzio JN, Dement WC (1966). Mit freundlicher Genehmigung von Science.

. Abb. 22.15a, b. Schlafzeiten. a Durchschnittliche Schlafdauer: Verlauf des menschlichen Lebens. Neben dem Rückgang der Gesamt-
Zwei Drittel der Bevölkerung schlafen zwischen 6,25 und 8,75 h/Nacht. schlafzeit ist u. a. die starke Abnahme der REM-Schlafdauer nach den
b Wach- und Schlafzeiten und der Anteil von NREM- und REM-Schlaf im ersten Lebensmonaten bemerkenswert
554 Kapitel 22 · Zirkadiane Periodik, Schlaf und Traum

Bei Säugern ist der REM-Schlaf-Anteil vor und kurz


nach der Geburt, also im noch unterentwickelten ZNS mit
geringerem sensorischen Input, maximal. REM-Schlaf be-
ginnt 30 Wochen nach der Zeugung und ist mit 40 Wochen
22 maximal. Das Neugeborene verbringt 50–70% der Lebens-
zeit im REM-Schlaf, nach dem 6. Lebensmonat sinkt der

Nach Hobson A, Stickgold R (1995). Mit freundlicher Genehmigung der MIT Press.
REM-Anteil langsam ab. Der REM-Schlafanteil zeigt somit
eine deutliche Korrelation mit der Reifung des ZNS, beson-
ders der sensorischen Systeme. Die Reifung des ZNS bedarf
im Fötus und Kleinstkind eines ständigen internen »Bom-
bardements« an sensorischen Reizen, die von den REM-
Strukturen im Stammhirn zum Vorderhirn gelangen. Diese
interne Reizung während REM kompensiert den Mangel an
strukturiertem Reizeinstrom aus den noch unterentwickel-
ten sensorischen Systemen und sorgt so für die Bildung
synaptischer Verbindungen. In diesem Sinne könnte REM
auch ein Relikt aus der Frühphase unserer ontogene-
tischen Entwicklung sein, das später kaum mehr benötigt
wird.
G Tiefschlaf und Schlafdauer nehmen mit dem Lebens-
alter (ca. ab 30) ab; REM ist vor und nach der Geburt
maximal und könnte mit der Reifung des ZNS zu- . Abb. 22.16a–c. Aminerg-cholinerge Interaktion. Physiologische
sammenhängen. Die Zwischenstadien des Schlafes Mechanismen, die das Aktivierungsniveau beeinflussen. a Struktur der
reziproken Interaktion: REM-an-Zellen der pontinen retikulären Forma-
nehmen im Alter zu.
tion werden cholinerg aktiviert oder/und sind cholinerg-exzitatorisch
(ACh+) an ihren Synapsen. Pontine REM-aus-Zellen sind noradrenerg
22.5 Neurobiologie der Schlafstadien (NE) oder serotonerg (5HT) und inhibitorisch (–) an ihren Synapsen.
b Dynamisches Modell: Während Wachen ist das pontine aminerge
System tonisch aktiv und hemmt das pontine cholinerge System.
22.5.1 Subkortikale Steuerung Während NREM-Schlaf verschwindet die aminerge Hemmung langsam
der Schlafstadien und die cholinerge Erregung steigt proportional-reziprok an. Wenn
der REM-Schlaf beginnt, ist die aminerge Hemmung ausgeschaltet und
Cholinerg-aminerge Interaktion die cholinerge Erregung erreicht ihr Maximum. c Aktivierungsniveau:
Als Konsequenz des Zusammenspiels der neuronalen Systeme in a
. Abb. 22.16 zeigt eine Zusammenfassung der bisherigen und b ist das Netto-Aktivierungsniveau des Gehirns bei Wachen und
Befunde zur Stammhirnsteuerung der beiden Schlaftypen, REM-Schlaf gleich und im NREM-Schlaf etwa halb so hoch
die allerdings nicht in allen Details als gesichert angesehen
werden kann. Im Wachzustand sind noradrenerge und se-
rotonerge Systeme (Nucl. coeruleus und Nucl. raphe) aktiv, In . Abb. 22.17 ist der Antagonismus von REM-an-
während der cholinerge Einfluss gedämpft, wenn auch und -aus-Zellen in den beiden untersten Ableitungen klar
nicht völlig gehemmt ist. Während des REM-Schlafes sind sichtbar.
die beiden aminergen Systeme völlig gehemmt und choli- Da wir in der Regel aus dem letzten Traum aufwachen,
nerge Systeme dominieren. Der aktuelle Bewusstseinzu- benötigen die aminergen Systeme des Hirnstammes einige
stand ist ein Resultat des Verhältnisses der Aktivität zwi- Zeit, um wieder »Kontrolle« über die kortikalen Regionen
schen cholinergen und aminergen (Serotonin, Noradrena- und die cholinergen Zellen zu bekommen. Dies erleben wir
lin) Systemen im Hirnstamm. als den oft Minuten dauernden Verwirrtheitszustand nach
Während des REM-Schlafes kommt der visuelle Input dem Aufwachen.
nicht mehr aus der Retina (Wachen), sondern aus dem
G Zunächst dominieren beim Einschlafen serotonerge
Hirnstamm (in Form von PGO), was mit Abnahme der
und noradrenerge Einflüsse. REM wird danach durch
Aktivität noradrenerger und serotonerger Neurone ver-
starke Aktivität der cholinergen Kerne bewirkt,
bunden ist. Dies enthemmt cholinerge Neurone, die nun in
danach dominieren wieder die aminergen.
ungeordneten Salven feuern und im visuellen System des
Thalamus und Kortex einige der subjektiven Vorstellungs-
bilder der Träume erzeugen könnten. Die PGO-Wellen, die Drei Bewusstseinszustände
mit den raschen Augenbewegungen korrelieren, könnten . Abb. 22.17 zeigt die 3 im EEG klar unterscheidbaren Be-
an der häufigen Reorientierung und den abrupten Szenen- wusstseinszustände Wachen (links), SWS (Mitte) und REM
wechseln des Traumes beteiligt sein. (rechts) bei der Katze und darunter die Aktivität von Zell-
22.5 · Neurobiologie der Schlafstadien
555 22

Nach Kandel E, Schwartz J, Jessel T (2000). Mit freundlicher Genehmigung


von Elsevier.
. Abb. 22.17. Elektrophysiologie der Schlafstadien. Wachen, leich- auch Non-REM erzeugen. Im cholinergen basalen Vorderhirn befinden
ter Langsamer-Wellen-Schlaf (»slow wave sleep«, SWS) und REM-Schlaf sich aber auch REM-Neurone. REM-wach-an: REM-Wach-Zellen der
bei der Katze. EEG Elektroenzephalogramm vom sensomotorischen Retikulärformation (RF), die bei Wachen und REM aktiv sind. PGO-an
Kortex, EMG Elektromyogramm vom Nacken, EOG Augenbewegun- Zellen in der pontinen RF, die kurz vor den LGN-Zellen feuern. REM-aus
gen, LGN Elektrode im N. geniculatum laterale der Sehbahn. Bei REM noradrenerge, adrenerge und serotonerge Zellen im Hirnstamm und
sind PGO dort sichtbar. Kortikale und thalamische Zellen synchronisie- histaminerge in einigen Regionen des basalen Vorderhirns. Die moto-
ren im SWS die Entladungen (Aktionspotenziale) zu Spindeln und rischen Zellen im Vorderhorn des Rückenmarks verhalten sich ähnlich.
langsamen Wellen. Non-REM-an: Non-REM-an-Zellen im vorderen REM-an: cholinerge Zellen im N. reticularis pontis oralis/caudalis
Hypothalamus und einigen Regionen des basalen Vorderhirns, die

gruppen in jenen subkortikalen Kernen, die in . Abb. 22.18a zeugen. Damit wird das EEG desynchronisiert und der Kor-
dargestellt sind. Die REM-aus-Zellen sind (nor)adrenerge, tex erregt.
serotonerge Zellen im Hirnstamm und histaminerge Zellen . Abb. 22.19 zeigt eine Katze, bei der die atoniever-
in Teilen des basalen Vorderhirns (7 unten). REM-an-Zellen ursachenden Kerne und absteigende Bahnen aus den REM-
befinden sich v. a. in der Retikulärformation und hier an-Strukturen zerstört wurden. Das Tier zeigt alle Zeichen
wiederum im N. reticularis pontis oralis und caudalis, aber von REM-Schlaf, bewegt sich aber in Abhängigkeit von den
auch im basalen Vorderhirn und paralimbischen System. vermutlich halluzinatorischen REM-Phänomenen, ohne
. Abb. 22.18b zeigt wieder den Hirnstamm und das auf äußere Reize zu reagieren.
Zwischenhirn der Katze von . Abb. 22.18a mit den beteilig-
G Die cholinergen Kerngruppen in der Retikulärfor-
ten Neuronengruppen und ihren Transmittern, einschließ-
mation hemmen über Glyzin-Zwischenneurone die
lich des absteigenden Systems, das die Muskelatonie ver-
motorischen Vorderhornzellen des Rückenmarks
ursacht. Am Beginn eines REM-Stadiums werden zunächst
und erzeugen so Atonie. Im Vorderhirn bewirken sie
GABAerge Neurone in der Brücke (Pons) von verschiede-
Desynchronisation.
nen anderen (z. B. SCN) zirkadianen Regionen aktiviert.
Diese GABA-Aktivierung hemmt adrenerge und seroto-
nerge Zellen (Coeruleus und Raphe) und enthemmt (akti- 22.5.2 Schlafsteuerung im Zwischen-
viert) die cholinergen Zellen der Brücke. Der Muskeltonus und Großhirn
wird durch das deszendierende System gehemmt: Die cho-
linergen Neurone erregen glutamaterge Neurone in der Vorderhirn
Brücke, die in die Medulla projizieren. Dort erregen sie Die in Kap. 21 dargestellten Studien zur Retikulärformation
Glyzin-Neurone, die die motorischen Neurone im Rücken- (RF) und zum ARAS haben gezeigt, dass
mark während REM blockieren und die Muskelatonie bei 4 der Schlaf-Wach-Rhythmus ohne Großhirn weiterbe-
REM bewirken. steht;
Das aufsteigende cholinerge System bewirkt die EEG- 4 Deafferenzierung bei encephale isolé keinen Einfluss
Desynchronisation. Die aszendierenden cholinergen Neu- auf den Schlaf-Wach-Rhythmus hat;
rone projizieren auf die GABAergen Neurone (viele im Nu- 4 schlafsteuernde Strukturen v. a. unter dem Zwischen-
kleus reticularis des Thalamus). Diese wiederum hemmen hirn vom Mittelhirn abwärts bis in die Medulla lokali-
die hemmenden Zwischenneurone, die das rhythmische siert sind;
Feuern jener Zellen unterbricht, die Spindeln und langsame 4 trotz der dominierenden Rolle subkortikaler Struktu-
Wellen in den thalamokortikalen Rückmeldeschleifen er- ren üben Teile des Vorderhirns, besonders der orbitale
556 Kapitel 22 · Zirkadiane Periodik, Schlaf und Traum

22

. Abb. 22.19a, b. Träumen ohne Atonie. a Katze mit bilateralen


pontinen Läsionen bei Beginn einer REM-Episode ohne Atonie, b die-
selbe Episode etwas später, Katze voll aufgerichtet, möglicherweise
Nach Kandel E, Schwartz J, Jessel T (2000). Mit freundlicher Genehmigung von Elsevier.

eine Maus halluzinierend

te, auch nach Monaten REM-PGO-Unterdrückung, auf-


treten.
Die meisten trizyklischen Antidepressiva hemmen die
5-HT(Serotonin)-Autorezeptoren und damit die Wieder-
aufnahme von Serotonin in die synaptische Endigung. Da-
durch steigt die Verfügbarkeit von Serotonin im synapti-
schen Spalt (Box 4.2 in Abschn. 4.2.1). Die serotonergen
REM-aus-Strukturen werden dadurch dominant und sub-
kortikaler REM-Schlaf bleibt aus.
Einige Fälle von Läsion v. a. des rechten unteren Parie-
tallappens (oft mit posteriorer oberer Temporalwindung)
führte in Einzelfällen zu Verlust von subjektivem Träumen
oder vielleicht nur der Traumerinnerungen, ohne dass die
phasischen REM-Phänomene, also REM, PGO-ähnliche
. Abb. 22.18a, b. Neuronale Schlafkontrolle. a Die wichtigsten
subkortikalen Kerne und das basale Vorderhirn, die Schlaf kontrollieren Wellen oder Atonie gestört waren. . Abb. 22.20 zeigt die
(Sagittalschnitt). Rechts oben ein Koronarschnitt durch die pontine wichtigsten aktiven und inaktiven Hirnabschnitte bei Träu-
Retikulärformation. Die REM-Region des N. reticularis pontis oralis/ men und REM (7 unten).
caudalis (RPO/RPC) ist grau. Läsion dieser Region eliminiert REM-
Schlaf, aber nicht unbedingt Träumen. CG zentrales Grau, LC Locus G Antidepressiva blockieren REM und PGO. Trotzdem
coeruleus, LDT lateral-dorsaler tegmentaler Kern, PPN pedunkulopon- bleiben Träume erhalten. Dies zeigt, dass die pha-
tiner Kern, PT Pyramidenbahn. 5ME Trigeminuskern. 7G 7. Hirnnerv. sischen Kennzeichen von REM-Schlaf für Träumen
6 Ursprung des 6. Hirnnerven. b Neuronale Verbindungen und Trans-
nicht essenziell sind.
mitter, die REM-Schlaf steuern (derselbe Schnitt wie a)

Bildgebung während des Schlafes


frontale Kortex, der anteriore Hypothalamus und Teile Die in Kap. 20 und 21 dargestellten bildgebenden PET- und
des Thalamus und des Striatums, einen schlaffördern- fMRT-Untersuchungen haben unser Wissen über Hirnstruk-
den Einfluss aus; nach Entfernung aller Vorderhirn- turen, die an Träumen beteiligt sind, wesentlich erweitert
strukturen über thalamischem Niveau sinken SWS und und gezeigt, dass die Vorstellung subkortikaler chaotischer
REM-Anteile auf 20% ihres Normalwertes ab. Impulse auf den Kortex als alleinige Traumgeneratoren zu
einfach ist. . Abb. 22.20 fasst die Ergebnisse aus den neuro-
Träumen ohne REM physiologischen Untersuchungen am Tier und den bild-
Die subkortikalen REM-an- und REM-aus-Kerne von gebenden PET-fMRT-Experimenten zusammen. Die den
. Abb. 22.17 können aber nicht allein für Träumen und einzelnen Hirnregionen zugeordneten subjektiven Traum-
andere subjektive Phänomene verantwortlich sein, da nach inhalte sind natürlich hypothetisch und bisher nicht be-
fast vollständiger pharmakologischer Unterdrückung von wiesen. Desaktiviert während Träumen und REM sind der
REM und PGO, z. B. durch trizyklische Antidepressiva, dorsolaterale Präfrontalkortex und die primäre Sehrinde
Träumen erhalten bleibt und auch sonst kaum Nebeneffek- (. Abb. 22.14 und 22.20). Die Rolle der übrigen primären
22.5 · Neurobiologie der Schlafstadien
557 22

Modifiziert nach Hobson JA, Pace-Schott E, Stickgold R (2000). Mit freundlicher Genehmigung
der Cambridge University Press.
. Abb. 22.20. Traumregionen im Gehirn. Hypothetischer Zusam- Retikulärformation (1) und des basalen Vorderhirns (2) sind durch Pfeile
menhang zwischen Aktivierung und Hemmung (rote Querstriche) symbolisiert. Die Areale 3, 11 und 9 sind durch dicke Pfeile verbunden,
jener Hirnstrukturen, die für verschiedene Traumerlebnisse verantwort- da sie für Traumerlebnisse besonders wichtig sind. Die primären Pro-
lich sind. Die unspezifischen (cholinergen) Aktivierungsstrukturen der jektionsareale sind gehemmt oder ihre Ein- und Ausgänge blockiert

motorischen und sensorischen Projektionsareale ist noch Ordnende Rolle des Hypothalamus
unklar. Die heftigen sensorischen und motorischen Erleb- . Abb. 22.22 gibt eine zusammenfassende Übersicht über
nisse können auf Aktivierung der Assoziationsareale und die hauptverantwortlichen Hirnregionen für zirkadiane
der Basalganglien zurückgehen. Schlafregelung (NREM–REM), homöostatische Schlafsteu-
erung und thalamokortikale Wachheits- und Aufmerksam-
G Bildgebende Untersuchungen zeigen, dass wäh-
keitssysteme (Kap. 21). . Abb. 22.22 symbolisiert die ord-
rend REM und aktiven Träumens limbische Areale
nende Rolle des Hypothalamus, der einerseits auf den Ak-
und Assoziationskortizes aktiv, primäre Projektions-
tivitätszustand des thalamokortikalen Bewusstseinssystems
areale und dorsolateraler Frontalkortex inaktiv
sind.

22.5.3 Non-REM-Schlaf

Homöostatische Funktionen von Schlaf


. Abb. 22.21 fasst die möglichen Beziehungen zwischen
REM, SWS und Wachen zusammen. . Abb. 22.21a be-
schreibt die Möglichkeit, dass durch Anhäufung mehrerer
»toxischer« Substanzen während des Tages (z. B. Adenosin),
ein Teil durch Tiefschlaf, ein anderer Teil durch REM-Schlaf
abgebaut wird. . Abb. 22.21b symbolisiert die Möglichkeit,
dass nur SWS diese toxischen Substanzen abbaut, aber
selbst wieder Stoffwechselprodukte erzeugt, die durch
REM-Schlaf abgebaut werden. SWS könnte zu lange Passi- . Abb. 22.21a, b. Funktionen von Schlaf. Zwei Möglichkeiten der
Beziehungen zwischen Wachsein, SWS und REM-Schlaf. a Der Stoff-
vität des Gehirns bedeuten, die durch periodisches Wecken
wechselaufwand während Wachsein bewirkt sowohl SWS wie REM-
des Gehirns im REM-Schlaf verhindert werden muss. Die Schlaf. b Wachsein benötigt SWS, dessen Erholungsfunktionen er-
Atonie und die physiologischen REM-Schlaf-Eigenheiten zeugen Nebeneffekte, die durch REM-Schlaf repariert werden müssen
schützen uns aber vor dem Aufwachen. (7 Text)
558 Kapitel 22 · Zirkadiane Periodik, Schlaf und Traum

Einige Subregionen des basalen Vorderhirns


(. Abb. 22.18) sind nicht in die cholinerge Wach- und
REM-Steuerung involviert, sondern führen bei nieder-
frequenter Reizung zu SWS. Die Regionen sind rostral des
22 Hypothalamus gelegen und synchronisieren wie beim natür-
lichen Einschlafen die thalamokortikalen Oszillatoren.

Nach Hobson AS (1999). Mit freundlicher Genehmigung von Elsevier.


G Niederfrequente elektrische Reizung von Teilen des
basalen Vorderhirns, des lateralen präoptischen
Hypothalamus und des Nucleus tractus solitarius
führt zu SWS.

Orexin
Orexin (auch Hypokretin genannt) ist ein Neuropeptid,
das in Zellen des lateralen Hypothalamus produziert wird.
Die Axone dieser Zellen erreichen wie die Fasern der Reti-
kulärformation (Kap. 21) fast alle kortikalen, subkortikalen
und zerebellären Hirnregionen. Orexin wirkt stimulierend
v. a. auf Hirnregionen, die mit Nahrungssuche und -auf-
. Abb. 22.22. Hypothalamus und Schlafsteuerung. Das thalamo-
nahme befasst sind. Die Zellen werden bei Nahrungs-
kortikale System ändert seinen Zustand als Funktion zweier subkorti-
kaler Systeme. Homöostatische Schlafmechanismen im Hypothala-
mangel aktiv, weshalb hungernde Menschen schlecht
mus (»slow wave sleep«, SWS) synchronisieren den NREM-REM-Zyklus schlafen, Nahrungsdeprivation erhöht Wachsein und Ore-
in tieferen Hirnregionen des Hirnstamms und die darüber liegenden xinproduktion.
Aufmerksamkeits- und Wachsysteme. VLPO ventrolaterale präoptische Die Orexinneurone wirken stimulierend auf die adre-
Region, SCN N. suprachiasmaticus
nergen Neurone des Hirnstamms und blockieren damit
(über den auf . Abb. 22.16, 22.17 und 22.18 beschriebenen
Einfluss nimmt und andererseits diese mit den adrenerg- Hemmmechanismus) REM-Schlaf und Atonie, wodurch
cholinergen Zentren von REM und NREM synchronisiert. Nahrungssuche erst möglich wird. Mangel an Orexin ent-
Jedes einzelne der 3 Systeme kann auf den Erregungszu- hemmt die cholinergen REM-Strukturen und führt zu Nar-
stand des Kortex Einfluss nehmen (rechte Pfeile), die hypo- kolepsie (Abschn. 22.7.2), gleichzeitig werden adrenerge
thalamischen Strukturen sorgen aber dafür, dass nicht un- Neurone des N. coerulens (. Abb. 5.22) bei Orexinmangel
vereinbare Zustände (Tiefschlaf und Wachen z. B.) gleich- hypoaktiv, was zu Konzentrationsverlust und Tagesmüdig-
zeitig auftreten. keit führt.
G Hypothalamische Kerne im anterioren und lateralen G Das Neuropeptid Orexin (Hypotretin) des lateralen
Hypothalamus synchronisieren sowohl homöosta- Hypothalamus fördert Wachheit und Nahrungs-
tische wie zirkadiane Schlaf- und Wachzentren im suche. Sein Mangel führt zu Narkolepsie mit REM-
Thalamus und Hirnstamm. Enthemmung.

SWS-Strukturen Adenosin
Drei Regionen konnten mit Sicherheit als SWS-produzie- Wie wir in Abschn. 2.1.3 besprochen haben, ist Adenosin-
rend interpretiert werden: Teile des basalen Vorderhirns, triphosphat (ATP) der wichtigste Energielieferant für den
die laterale präoptische Region des Hypothalamus und zellulären Stoffwechsel. Im ZNS fungiert Adenosin, das
der Nucleus tractus solitarius, letzterer hemmt die aktivie- aus ATP gespalten wird, als Neuromodulator v. a. der choli-
rende Retikulärformation (RF; Kap. 21). Der Nucl. tractus nergen Neurone des basalen Vorderhirns, auf die es eine
solitarius erhält Fasern aus dem Vagus und hat einen syn- hemmende Wirkung hat. Es steigt während des Tages, in
chronisierenden Einfluss auf das kortikale EEG: Barorezep- . Abb. 22.23 (Abschn. 22.6.4) als Prozess S bezeichnet, kon-
toren-Aktivität bei Blutdruckanstieg (Vagusafferenzen) tinuierlich im Extrazellulärraum an. Bei Schlafdeprivation,
und Druckerhöhungen aus Magen (Müdigkeit nach Essen) v. a. SWS-Deprivation, steigt es weiter. Während SWS sinkt
und Lunge (tiefer Atemzug entspannt) senken das kortikale es ab. Müdigkeit hängt mit dem Anstieg von Adenosin eng
Aktivierungsniveau (Kap. 10). Der posteriore Hypothala- zusammen (Box 22.3).
mus scheint für die (cholinerge) tonische Aktivität der RF Bei Katzen löst Adenosin, in die aktivierenden Regio-
bei Wachen mitverantwortlich zu sein. Seine Zerstörung nen von Stamm- und Zwischenhirn injiziert, Schlaf aus.
führt zu SWS, was schon von Economo (Kap. 21) bei Ence- Damit könnte Adenosin die lange gesuchte neurochemi-
phalitis-lethargica-Patienten festgestellt wurde. sche Grundlage des homöostatischen SWS sein.
22.6 · Psychophysiologie der Schlafstadien
559 22

Box 22.3. Kaffee und Adenosin G Selektive nicht-pharmakolosiche Schlafdeprivation


von SWS ohne die Behinderung der REM-Phasen
Die Überwindung von Müdigkeit mit Kaffee oder Coca
ist nicht möglich, da REM stets von SWS eingeleitet
Cola ist die häufigste »psychopharmakologische« Selbst-
wird. Eine selektive Deprivation von REM ist aber
behandlung. Koffein blockiert die Adenosinrezeptoren
möglich, wenn man nach einer ersten SWS-Phase
und dies beseitigt die Müdigkeit. Die Adenosinrezep-
beim ersten Anzeichen von REM weckt.
toren, die für Schlaf wichtig sind, liegen im hemmenden
Anteil des cholinergen basalen Vorderhirns und den Schlafdeprivation beim Menschen
retikulären cholinergen Zellen. Während des Wachens
Der längste bisher gut dokumentierte quasi-experimentelle
akkumuliert Adenosin dort, da ATP mit Energiever-
totale Schlafentzug beim Menschen (REM + alle anderen
brauch Phosphat verliert und zu Adenosin wird.
Stadien) betrug 11 Tage (264 h): Ab der 3. Nacht kann ohne
fremde Hilfe nicht mehr Wachheit erhalten werden, beson-
ders zwischen 3 und 5 Uhr morgens. REM- und SWS-Epi-
G Adenosin stellt eine neurochemische Grundlage soden greifen zunehmend auf den Tag über, Illusionen und
der homöostatischen Funktion von SWS dar. Es Halluzinationen im optischen und akustischen System neh-
akkumuliert während des Tages und wird während men zu, ab 4 Tagen werden gelegentlich Wahnideen para-
SWS abgebaut. noiden Inhalts berichtet. In den Erholungsnächten wird
vorerst SWS und erst sekundär REM-Schlaf nachgeholt:
Nach 200 h Wachzeit erhöht sich der SWS-Anteil in den
22.6 Psychophysiologie ersten 9 h Erholungsschlaf um 50% einer normalen Nacht.
der Schlafstadien Personen mit einem Gendefekt für das Prion-Protein
entwickeln als Erwachsene die sog. fatale familiäre Insom-
22.6.1 Funktion der Schlafstadien nie, die innerhalb von 7–24 Monaten zum Tode führt.
Manchmal mutiert das Gen spontan, was ebenfalls zu Atro-
Schlafdeprivation phie des Thalamus und Bewusstlosigkeit und Tod führt.
Als biologische Funktion des Schlafens – unabhängig vom
G Totaler Schlafentzug beim Menschen führt in
jeweiligen Schlafstadium – werden primär 4 Funktionen
den Erholungsnächten vorerst zu Nachholen von
genannt:
SWS. Völlige Schlaflosigkeit über Wochen führt
4 Energieerhaltung,
zum Tode.
4 Vermeiden, als Beute zu »dienen«,
4 Erholung von Körperfunktionen,
4 Gedächtniskonsolidierung und Kreativität. REM-Schlaf-Entzug
REM-Rebound (Überschießen) ist bei selektivem REM-
Die Ergebnisse der Schlafentzugsexperimente sind schwer zu Schlafentzug die Regel, insgesamt wird in den Erholungs-
interpretieren, da häufig ungeklärt ist, welche der vielen toni- nächten aber nur ein kleiner Teil des versäumten SWS und
schen und/oder phasischen Anteile der Schlafstadien depri- REM-Schlaf nachgeholt (1/4–1/3 des »Kernschlafs«). Depri-
viert wurden: Eine selektive Deprivation von SWS-Schlaf ist viert man im Tierversuch selektiv die phasischen REM-An-
beim Menschen unmöglich; ein Raum (REM) kann nicht teile (PGO, REM), so werden diese in den Erholungsnächten
betreten werden, ohne vorerst durch die Tür (SWS) zu gehen. bis zu 100% nachgeholt. Für die phasischen REM-Anteile
Bei SWS-Behinderung wird stets auch REM depriviert. Bei besteht somit ein sehr viel stärkeres »biologisches Bedürfnis«
längerer Deprivation ist das »Durchsickern« (»leakage«) von als für die tonischen. Andererseits unterdrücken Antidepres-
Mikroschlafepisoden, v. a. der phasischen Anteile, nicht zu siva die phasischen REM-Anteile ohne besondere Folgen.
verhindern. Auch eine vollständige und spezifische pharma- Barbiturate und Benzodiazepine, die SWS und/oder
kologische Deprivation der Schlafanteile ist so lange nicht REM-Schlaf beeinträchtigen, führen in den drogenfreien
möglich, bis die physiologischen und neurochemischen Nächten zu Rebound und deshalb meist zu neuerlicher
Schlafmechanismen bekannt sind. Einnahme (Sucht). Nach Schlafmitteleinnahme steigt die
Schlafentzug im Tierversuch führt nach wenigen Tagen Dauer der Zwischenstadien 2–3 an. Wenn man die Phar-
zu immunologischen Störungen mit Infektionen, die mit maka absetzt, so wird der unterdrückte REM-Schlaf meist
zunehmendem Versagen einzelner Organsysteme (Haut, nachgeholt oder die Person bleibt völlig wach (Rebound).
Niere, Lunge, Herz) einhergehen und schließlich zum Tode Sowohl exzessiver REM-Schlaf wie auch Wachen werden
des Tieres führen. als sehr unangenehm erlebt und meist das Schlafmittel da-
raufhin wieder eingenommen, was den Schlaf erneut ver-
schlechtert usw.
560 Kapitel 22 · Zirkadiane Periodik, Schlaf und Traum

G Nach REM-Schlaf-Deprivation wird ein Teil des ver- rischer Hemmung an der Peripherie und sensorischer Akti-
lorenen REM-Schlafes nachgeholt. Antidepressiva vität im Zentrum einher: Diese »korrolare Entladung« im
unterdrücken allerdings viele REM-Kennzeichen. ZNS (Kap. 28) scheint für die Stabilität der Wahrnehmungs-
Schlaf- und Beruhigungsmittel führen nach Abset- leistung während der REM und die Entwicklung der senso-
22 zen zu REM-Rebound. rischen Strukturen beim heranwachsenden Lebewesen und
für Lern- und Gedächtnisprozesse von Bedeutung zu sein.
Schlaf und Energieerhaltung Beim Menschen hängt die Weckschwelle auch von der
Stoffwechselrate und Gesamtschlafzeit, sowie Körper- »Bedeutung« (Assoziation mit Verstärkern) des Reizmate-
temperatur während des Tages, sind hoch korreliert rials ab, die Verarbeitung selbst komplexer Reizmuster
(. Abb. 22.1). Schlaf, besonders SWS, hat wahrscheinlich bleibt offenbar in allen Schlafstadien erhalten (z. B. Mutter,
eine energiekonservierende Funktion, zumindest für das die auf schwächste Reize ihres Kindes reagiert). In den pha-
ZNS. Hyperthyroide Personen mit erhöhtem Energie- sischen REM-Episoden wird auf äußere Reize am
umsatz zeigen deutlich erhöhten SWS, hypothyroide Per- schlechtesten reagiert, während der tonischen REM-Indi-
sonen weniger. Hungernde leiden unter Schlaflosigkeit, katoren, also z. B. der EEG-Desynchronisation ohne REM,
obwohl sie mit SWS vermutlich Energie sparen würden ist die Reaktionshäufigkeit und -genauigkeit deutlich bes-
(Abschn. 22.5.3, Orexin). Nach extremer körperlicher An- ser, wenngleich immer noch schlechter als im Wachzustand.
strengung kommt es zu kompensatorischem SWS-Anstieg Von Stadium 1 bis 4 nimmt die Reaktionsfähigkeit zuneh-
und erhöhter Hirntemperatur. mend ab. Nach Schlafdeprivation vereinheitlicht sich das
Schlafzeit, besonders REM-Schlaf, ist maximal in Ent- Bild insofern, als die Weckschwelle eine lineare Funktion
wicklungsperioden, in denen besonders viel Glukose ge- der Schlafdauer wird; sie nimmt bis zur 6. Stunde zu (weni-
speichert werden muss und gleichzeitig beschleunigte ger Reagibilität), um dann bis zum Erwachen wieder zu
Proteinsynthese für einige Proteine und Zellsysteme fest- sinken (erhöhte Reagibilität).
stellbar ist (das Orexinsystem des lateralen Hypothalamus).
G Die Weckschwellen sind während der phasischen
REM-Schlaf und Nahrungsaufnahme REM und PGO erhöht. Innerhalb einer Nacht nimmt
die Weckschwelle bis zur 6. Stunde zu. Reduzierter
REM-Schlaf weist eine enge Beziehung zur Nahrungsauf-
Kontakt zur Außenwelt geht im REM-Schlaf mit er-
nahme bei verschiedenen Spezies, einschließlich Mensch,
höhter sensorischer, mentaler und vegetativer Akti-
auf: Übergewicht geht mit erhöhtem REM-Anteil einher,
vität einher.
Patienten mit Magersucht (Anorexie) erhöhen REM-
Schlaf, wenn sie ihr Gewicht normalisieren, also das Kör-
pergewicht wieder steigt. Diese Veränderungen hängen Träume während REM und Non-REM
mit dem in Abschn. 22.5.2 beschriebenen Orexinsystem Die Beobachtung Aserinskys und Kleitmans, dass Proban-
zusammen. Das Orexinsystem des lateralen Hypothalamus den nach Wecken aus REM-Phasen in 80–90% der Fälle
erhöht seine Aktivität nach Wachheit und bei Hunger. Träume berichten, jedoch nach NREM-Schlaf nicht, blieb
Knock-out-Mäuse ohne das Orexingen sind hypophagisch nur wenige Jahre unwidersprochen, weil sich zeigte, dass
und entwickeln Katalepsie, also Eindringen von REM- systematische Weckungen aus NREM-Phasen ebenfalls zu
Schlaf in die Tageszeit (Abschn. 22.7). Traumerinnerungen führten.
Stets handelt es sich ja in diesen Experimenten nicht
G SWS hat energiekonservierende und immunsystem-
um die objektive Feststellung von »Träumen«, sondern um
stärkende Wirkung. REM könnte mit der Aufrecht-
Traumberichte von Probanden. Berichtet ein Proband nach
erhaltung der Proteinbiosynthese und Nahrungs-
dem Wecken aus einer REM-Phase detaillierte Traum-
regulation zusammenhängen.
inhalte im Gegensatz zu NREM-Weckungen, so schließen
wir auf einen Zusammenhang, obwohl Unterschiede nur
22.6.2 Bewusstes Erleben während darauf zurückgehen können, dass man sich an das Erleben
der Schlafstadien aus aktiven Schlafphasen besser erinnern kann.
Es ist dabei offensichtlich, dass die Klassifikation eines
Weckschwellen berichteten Inhaltes als Traum von einer Vielzahl unzuver-
Die Weckschwelle ist während der phasischen REM-Pe- lässiger Messdaten abhängt. Alle Untersuchungen stimmen
rioden deutlich gegenüber den übrigen tonischen REM- aber darin überein, dass die Traumberichte nach REM-Schlaf
Kennzeichen (z. B. der EEG-Desynchronisation) und SWS meist deutlich länger, lebendiger, visueller und emotionaler
erhöht. Mit den phasischen REM und Myokloni werden die sind als in Zeiten okularer Ruhe und während SWS.
spinalen Umschaltstationen gehemmt, während in den spe- Aber auch in etwa 70% von NREM-Weckungen werden
zifischen Thalamuskernen und an einigen Kortexregionen Träume berichtet. Ihr Inhalt ist häufiger fragmentarisch,
erhöhte neuronale Aktivität auftritt. Die phasische moto- gedankenartig, realitätsbezogen und das Ich ist weniger in-
rische Aktivität während REM-Schlaf geht also mit senso- volviert.
22.6 · Psychophysiologie der Schlafstadien
561 22

Nach REM-Weckungen treten die gedanklichen, ab- G Luzides Träumen kann gelernt werden und erlaubt,
strakten Ausarbeitungen in den Hintergrund gegenüber sich selbst beim Träumen zu beobachten.
den sensorischen Qualitäten, der berichtete Trauminhalt ist
»sensorischer« (Bilder, Körperempfindungen, Töne) und
zieht den Schläfer eher in seinen Bann. Geschulte Beobach- 22.6.3 Schlaf und Gedächtnis
ter können mit 90%iger Sicherheit aus dem berichteten
Trauminhalt angeben, aus welchem Stadium der Traum Methodische Probleme
stammt. REM-Schlaf stellt einen tonischen Zustand dar, in dem
ideale Bedingungen für das Speichern von (phasischen) In-
G Traumberichte sind in allen Schlafphasen erzielt
halten bestehen: Abgeschirmt von externer Reizzufuhr –
worden, nach REM-Phasen enthalten sie mehr sen-
durch absteigende afferente Inhibition – besteht im ZNS ein
sorische Inhalte, nach NREM sind sie abstrakter.
Zustand erhöhter Aktivierung, der ungestörtes »Verarbei-
ten« ohne sensomotorische Interferenzen erlaubt.
Trauminhalte innerhalb einer Nacht Beim Menschen liegt die Schwierigkeit eines Nach-
Zwischen erster und zweiter Nachthälfte bestehen erheb- weises des Zusammenhangs zwischen Gedächtnis und
liche Unterschiede in den REM-Trauminhalten: Während REM-Schlaf in der Unmöglichkeit völliger Deprivation v. a.
die frühen Träume mehr realitätsbezogen sind und Ereig- der phasischen Anteile. Es müsste nach REM-Deprivation
nisse des vergangenen Tages zum Inhalt haben, sind (oder Deprivation anderer Stadien) eine Merkfähigkeits-
die Träume der zweiten Nachthälfte ungewöhnlicher, irreal störung auftreten. Aber auch im Tierversuch fällt der Nach-
und weniger auf Tageserleben bezogen, sie werden zuneh- weis schwer, da keine adäquate Kontrollbedingung für se-
mend bizarr und emotional intensiver. lektive phasische und/oder tonische REM-Schlaf-Depriva-
Wenn man aber die Angaben der Versuchspersonen tion zur Verfügung steht und man stets auch den Ablauf der
einer Längenkorrektur unterzieht, verblassen die Unter- zirkadianen Periodik stört. Deshalb ist die Evidenz für
schiede zwischen REM und NREM. Da die späteren Träume einen Zusammenhang zwischen REM-Schlaf und Gedächt-
einer Nacht mehr Inhalte aufgrund ihrer Länge enthalten, nis vorerst nur korrelativ.
werden typische Angaben über Traumqualitäten (lebendig,
emotional) häufiger. Konsolidierung von Gedächtnismaterial
Da besonders die späten Träume innerhalb einer Nacht Schlaf erleichtert die Konsolidierung jeder Art von Ge-
spontan erinnert werden, erscheint uns das Traumerleben dächtnismaterial und erhöht Kreativität und Problemlö-
so irreal. Alle Träume enthalten dagegen durchaus sinn- seleistung im Vergleich zu einer gleich langen Wachperio-
volles und kohärentes Material, wenngleich in einigen de. In der Regel sind mindestens 6 h Schlaf notwendig, um
Untersuchungen solche Inhalte v. a. in der ersten Nacht- deutliche Effekte zu erzielen. Dass im Schlaf – und zwar in
hälfte gefunden wurden. Dies kann aber auch mit der Länge beiden Schlaftypen REM und Non-REM – Gedächtnispro-
der Berichte korrelieren, die später zunehmen. Allerdings zesse ablaufen, zeigt sich an der Tatsache, dass während des
treten auch unmittelbar nach dem Einschlafen traumartige Schlafes dieselben Hirnareale aktiv sind und dieselben
Erlebnisse ohne REM-Schlaf-Kennzeichen auf. Oszillationen am selben Ort wieder auftreten (»replay«), wo
sie tagsüber bei Darbietung der Aufgabe auftraten, beson-
G Die Trauminhalte werden mit der Dauer der Nacht
ders im Hippokampus und Neokortex.
zunehmend vitaler und aktiver, was aber auch daran
Dabei scheint in den Non-REM- und SWS-Phasen
liegen kann, dass sie länger werden und daher ins-
mehr der Hippokampus den Kortex zu beeinflussen und
gesamt mehr Inhalte berichtet werden.
mit den hohen Depolarisationen in der negativ polarisier-
ten Phase einer langsamen synchronen Entladung einer
Luzides Träumen δ-Welle Langzeitpotenzierung (LTP, Kap. 25) im Kortex
Manche Personen sind in der Lage, zu träumen und gleich- und damit Einspeichern v. a. von deklarativen Inhalten zu
zeitig explizit bewusst zu wissen, dass sie träumen. Sehr oft erleichtern. Die eingespeicherten Inhalte sind dabei als
können diese Personen auch die Trauminhalte bewusst be- schnelle Gamma-Oszillationen repräsentiert, die diese ne-
einflussen, ohne davon aufzuwachen. Luzides (= »durch- gativen Depolarisationsphasen der Spindeln und langsamen
sichtig«) Träumen kann gelernt werden und tritt nur Wellen überlagern. Im REM-Schlaf dagegen scheinen eher
während REM-Phasen, v. a. während der phasischen Ak- neue, kreative assoziative Verbindungen im Neokortex ge-
tivierungen (PGO, REM) auf und ist nicht mit kurzem formt und von dort der Hippokampus aktiviert und die
Erwachen verbunden. Therapeutisch kann es bei Albträu- neuen Verbindungen konsolidiert zu werden. Dafür spricht
men und bei wiederkehrenden traumatischen Träumen auch, dass die Dichte der PGO-Wellen mit dem Lernfort-
der posttraumatischen Belastungsstörung geübt werden schritt korreliert.
und »neutralisiert« häufig die albtraumhafte Qualität der
Träume.
562 Kapitel 22 · Zirkadiane Periodik, Schlaf und Traum

G Schlaf von mehr als 6 h verbessert die Gedächtnislei- (stets ein unbewusster Wunsch) wird auf seinem Weg vom
stung und die Kreativität. In allen Schlafphasen tre- Es (dessen Inhalte unbewusst sind) von der Traumzensur
ten hohe Depolarisationen und LTP auf, die Konsoli- des Ichs (vorbewusst) entstellt. Die Traumbildung selbst
dierung begleiten. wird erst durch die Tatsache des Schlafzustandes (Immobi-
22 lität) ermöglicht, der nach Freud die »endopsychische Zen-
REM-Schlaf und Proteinsynthese sur herabsetzt«. Die Willkürmotorik sieht Freud als Ich-
Für die REM-Gedächtnisbeziehung sprechen auch Unter- funktion an. Zwischen Eingangsseite (W Wahrnehmung)
suchungen zur RNA- und DNA-Synthese während des und Ausgang (Motorik) befinden sich »Erinnerungsspuren«
Schlafes. Dabei wurde der RNA-Gehalt innerhalb der (Er) vergangener Wahrnehmungen. Die einzelnen Erinne-
Nerven- und Gliazellen in verschiedenen Hirnregionen rungssysteme sind unterschiedlich stabil und durch gegen-
und die Synthese von RNA und DNA nach Injektion radio- seitige Assoziationen verbunden. Vor dem Ausgang des
aktiver Vorläufer bei REM-Schlafdeprivation untersucht. Systems steht das Vorbewusste (Vbw), das »den Schlüssel
Obwohl die Ergebnisse für Zellen aus verschiedenen Struk- zur willkürlichen Motilität innehat«. Davor steht noch das
turen und Zeitverläufen nach Entnahme des Zellmaterials Unbewusste, aus dem Inhalte bei ihrem Durchgang durch
uneinheitlich sind, tritt nach eintägiger REM-Schlafdepri- das Vorbewusste Veränderungen (Zensur) erfahren.
vation sowohl bei der Katze als auch bei der Ratte eine deut- In der Nacht kommt es durch relative Inaktivität des
liche Abnahme der RNA-Synthese auf, während nach tota- Ich zu einem Absinken der Zensur. Normalerweise (im
ler Schlafdeprivation ein Anstieg auftritt. Wachen) nimmt die ankommende Erregung den Weg vom
Dabei scheint eher die RNA aus dem Zellkern durch Wahrnehmungssystem zur Motorik, im Traum pflanzen
Schlaf erhöht, weniger ribosomale RNA; RNA aus dem sich die Er nicht zum motorischen Ende des Apparates fort,
Zellkern ist eher für die Akkumulation neuer Proteinketten sondern zum sensiblen, d.h. in das Wahrnehmungssystem;
(und Gedächtnismaterial) verantwortlich. Ratten nach dies bedingt den halluzinatorischen Charakter von Träu-
einer Lernaufgabe zeigen erhöhte DNA-Konzentration; men. Die Regression der Er, ihre »halluzinatorische Bele-
Ratten mit längeren REM-Episoden weisen ebenfalls er- bung«, wird durch die Ausschaltung externen Reizzuflusses
höhte DNA im Hirn, nicht in der Leber auf. Da REM beson- und der Motorik und die dadurch erhöhte assoziative Be-
ders in der frühen Entwicklung dominiert, sollte man hier weglichkeit erzielt. »Das Gefüge der Traumgedanken wird
einen besonders destruktiven Effekt der Deprivation und bei der Regression in sein Rohmaterial aufgelöst«.
Hemmung der Proteinsynthese finden. Dies ist auch der
G Im Traum ist nach Freud die Ich- und Über-Ich-
Fall: DNA-Synthese in der Entwicklung wird durch
Zensur herabgesetzt. Die Erinnerungen werden
REM-Deprivation reduziert, Schlafentzug im Säuglings-
nicht in Motorik umgesetzt, sondern werden in
und Kindesalter wirkt besonders destruktiv auf kognitive
die sensorischen Systeme zurückgeleitet.
Funktionen, Körper- und Gehirnwachstum.
G Die Proteinsynthese im Zellkern und Aufbau neuer Hüter des Schlafes
Proteinketten ist im REM-Schlaf erhöht. REM-Schlaf
Der Traum ist keineswegs als Hüter des Schlafes zu inter-
verbessert die synaptische Plastizität und erleichtert
pretieren, wie die Psychoanalyse behauptet, da wir aus
Konsolidierung von implizitem Gedächtnismaterial.
Träumen häufiger erwachen als aus »tiefen« SWS-Episoden.
Dies gilt natürlich besonders für jene Träume, die gegen
Lernen im Schlaf Morgen auftreten.
Die Darbietung von Lernmaterial während des Schlafes Freuds Wunscherfüllungstheorie erwies sich als nicht
führt nur dann zu Behalten, wenn während und nach der zutreffend, ebenso seine Spekulationen über die symbo-
Darbietung zumindest Alpha-Aktivität, d. h. Wachen auf- lische Bedeutung von Träumen. REM-Deprivation führte
tritt. Zwar wird während NREM-Schlaf und in reduziertem zu keinerlei Erhöhung der Antriebsbereitschaft für sexuelle
Ausmaß auch während REM-Schlaf Information aufge- oder andere Triebregungen. Wünsche sind als Traumin-
nommen und verarbeitet, was man am kognitiven »Ein- halte äußerst selten, in der Regel dominieren Ereignisse des
bau« von Außenreizen ablesen kann (die Katze am Bauch vergangenen Tages. Trotz dieser Situation stellt die Traum-
wird zu einem Traum über Sättigung). deutung nach wie vor eine wichtige Stütze der psychoana-
lytischen Behandlung dar, die sich, wie auch die übrigen
Leitsätze dieses gedanklichen Spekulationsgebäudes, nicht
22.6.4 Schlaf- und Traumtheorien mit den Ergebnissen neurobiologischer Forschung in Ein-
klang bringen lassen. Die nun schon über ein Jahrhundert
Psychoanalyse dauernde Ignoranz der psychoanalytischen »Schulen« ge-
Freud unterschied einen manifesten (erinnerten) Traumin- genüber den Ergebnissen der experimentellen Psychologie
halt vom latenten Traumgedanken. Ersterer geht aus dem und Physiologie steht in der Geschichte der Humanwissen-
letzteren über Traumarbeit hervor. Der Traumgedanke schaften beispiellos da.
22.7 · Schlafstörungen
563 22

. Abb. 22.24. Schlaf und Depression. Prozess S (Tiefschlaf,


. Abb. 22.23) bei einer gesunden Person (strichlierte Kurve) und bei
einem depressiven Patienten (ausgezogene grüne Kurve). Die Schlaf-
perioden des Patienten sind durch die rote Fläche symbolisiert. Wegen
des SWS-System-(S)-Defektes sind Schlafdruck und SWS reduziert und
die Schlafperioden verkürzt. Die S-Defizienz führt zu »Enthemmung«
des REM-Prozesses im ersten Teil der Nacht (verkürzte REM-Latenz).
Dies ist im linken Teil der Abb. am Überschießen der C-Linie, die nach
unten zunehmenden REM-Druck anzeigt, über die S-Linie symboli-
siert. Durch den Abfall des S-Druckes tritt der C-Druck relativ zu S
mehr in den Vordergrund des Schlafes. Schlafdeprivation (rechter Teil
der Abb.) normalisiert die Schlafstruktur und reduziert die depressive
Stimmung

. Abb. 22.23a, b. Zwei-Prozess-Theorie der Schlafregulation.


a Ausmaß an SWS (Verbindungslinie zwischen den Punkten) in erster
Ausgangsnacht und nach einer Nacht Schlafdeprivation (Verbindung hypothetischen Prozesse »NREM-Schlaf-Bedürfnis« (S)
zwischen Punkten rechts). Der theoretisch postulierte exponentielle
und die Periodik des zirkadianen Temperaturoszillators
Anstieg von SWS-Druck (S) während des Wachens ist durch die schräg
ansteigende Linie symbolisiert. b Reziprokwert des zirkadianen REM- eingetragen. »REM-Schlafbedürfnis« entspricht dem re-
Drucks C und Verlauf des SWS-Drucks in erster Nacht und nach Schlaf- ziproken Wert des Temperaturoszillators: Der REM-Druck
deprivation. Die rote Fläche (Differenz SWS-REM) gibt die »Schlaftiefe« (C) sinkt bis nachmittags und abends, um dann bis mor-
im Verlauf einer Nacht wieder (Erläuterung 7 Text) gens anzusteigen.
Das Modell von Borbély erlaubt Vorhersagen über die
Effekte von Schlafdeprivation auf Depression (7 unten und
G Die psychoanalytische Traumtheorie ist zwar popu- . Abb. 22.24) und impliziert die Existenz eines oder meh-
lär, kann aber mit den Ergebnissen der experimen- rerer kumulativ aktiver Schlafsubstanzen (»Hypnotoxine«)
tellen Schlafforschung nicht in Einklang gebracht als Grundlage von S und sieht den zirkadianen SCN-Oszil-
werden. lator als neuronanatomische Basis von C. Das Modell er-
klärt auch, warum Einschlafen besser am »abfallenden Ast«
Borbélys Zwei-Prozess-Theorie der Temperaturkurve gelingt und nicht am steigenden:
Eine moderne Theorie der Schlaf- und Traumregulation Wäre die Temperatur z. B. um 23 Uhr hoch (niedriger
wurde von Borbély entwickelt. Sie berücksichtigt die bisher REM-Druck), wäre die Differenz zwischen S und C niedrig,
besprochenen neurobiologischen Fakten und erlaubt Vor- die Schlaftiefe somit gering.
hersagen über pathophysiologische Veränderungen der
G Der SWS-Druck steigt linear mit der Müdigkeit
Schlafregulation, die wir in Abschn. 22.7 besprechen.
(Wachzeit), der REM-Druck folgt der zirkadianen
Die Schlafentzugsexperimente zeigen, dass Theta-
Periodik und ist mit dem Temperaturabfall korreliert.
Delta-Schlaf eher nachgeholt wird und hoch mit den
Bei der Depression ist der SWS-Druck reduziert.
zirkadianen Schwankungen der Müdigkeit kovariiert
(. Abb. 22.23). Müdigkeit (Tiefschlafbereitschaft) wird
primär durch die Dauer des Wachzustandes kumulativ 22.7 Schlafstörungen
bestimmt (Prozess S). Der zirkadiane Prozess C entspricht
der REM-Schlafbereitschaft und Körpertemperatur. Die 22.7.1 Ein- und Durchschlafstörungen
REM-Schlafbereitschaft ist am niedrigsten nachmittags
und abends, die Temperatur am höchsten. Übersicht: Schlafstörungen

Deswegen ist C als Reziprokwert C auf . Abb. 22.23 ein- Die wichtigsten Schlafstörungen, bei denen Schlafstörungen
getragen. Der Gesamt-»Schlafdruck« bestimmt sich durch nicht sekundär die Folge einer organischen, häufig neuro-

den Abstand von S und C. Auf . Abb. 22.23 sind die beiden logischen, Erkrankung darstellen, sind:
564 Kapitel 22 · Zirkadiane Periodik, Schlaf und Traum

4 Insomnie (Ein- und Durchschlafstörungen) kurzen Schlaf mit häufigem Erwachen, ohne dass eine orga-
5 Pseudoinsomnie nische Ursache oder eine andere der oben genannten Stö-
5 Idiopathische Insomnie rungen vorliegt. Meist sind die Ursachen aus der Verhaltens-
5 Drogen-Insomnie analyse und der wiederholten polygraphischen Erfassung
22 5 Stimulanzienmissbrauch des Schlafes diagnostizierbar: Erhöhte Anspannung, zuviel
5 Alkoholismus oder zu wenig körperliche Aktivität, kognitive Störungen
5 Entzug von Schlaf- und Beruhigungsmitteln (Personen mit Insomnie weisen erhöhtes Nachdenken über
5 Exzessive Müdigkeit Sorgen und wenig erlebte Selbsteffizienz auf), Diät, Stö-
5 Insomnie bei Hyperaktivität u. a. Verhaltensstörun- rung der zirkadianen Regularität (Reisen, unregelmäßige
gen und psychiatrischen Störungen Schlafzeiten), chronischer Stress, Abendaktivitäten (Fern-
5 Schlafapnoe sehen), inadäquate Schlafumgebung u. a. kennzeichnen
4 Hypersomnie chronische Insomnie.
5 Narkolepsie Bei chronischer, idiopathischer Insomnie ist die Mus-
5 Drogen-Hypersomnie kelanspannung (EMG) vor dem Einschlafen meist erhöht
5 Hypersomnie bei Verhaltensstörungen und die Hauttemperatur im Tagesdurchschnitt oft er-
5 Pickwick-Syndrom u. a. Atmungsstörungen des niedrigt. Besonders bei Einschlafstörungen sind auch noch
Schlafes andere physiologische Parameter vor Eintritt des Schlafes
4 Schlafstadien-gebundene Störungen aktiviert. Oft gehen diese Personen am ansteigenden Ast
5 Schlafwandeln (Somnambulismus) ihrer Temperaturkurve zu Bett, was mit Einschlafen unver-
5 Enuresis nocturna (nächtliches Einnässen) einbar ist.
5 Albträume (Pavor nocturnus) Personen mit Insomnie sind ängstlicher als normale
5 Bruxismus nocturnus (nächtliches Schläfer sowie schlechter hypnotisierbar; sie unterschätzen
Zähneknirschen) die Schlafzeit und überschätzen die Einschlafzeit, sie neigen
5 Iactatio capitus nocturnus (nächtliches Kopfschla- eher zu interner Stressbewältigung (Nachdenken, »Ärger
gen) schlucken«) als zu handlungsorientierter Bewältigung.
5 Somniloquie (Sprechen im Schlaf) Je nach Ergebnis der Verhaltensanalyse und des Schlaf-
5 Ruhelose Beine (»Restless-leg«-Syndrom) profils sind folgende Behandlungsverfahren indiziert:
5 Schlafepilepsien 4 Entspannungstraining,
4 Störungen des Schlaf-Wach-Rhythmus 4 EMG und/oder EEG-Biofeedback (Theta- oder SMR-
5 Zeitzonenüberschreitung (»jetlag«) Rhythmus),
5 Schicht- und Nachtarbeit 4 Reizkontrolle (Verhaltenstherapie durch Neuarrange-
5 Persistierende Rhythmusstörungen (»delayed sleep ment des Einschlafverhaltens),
phase insomnia«) 4 Kognitive Verhaltenstherapie (Neuattribution der Ur-
sachen für Schlafstörungen).
Pseudoinsomnien
G Ein- und Durchschlafstörungen sind entweder psy-
Pseudoinsomnien sind Schlafstörungen, bei denen subjek-
chologisch bedingt oder Folgen organischer Erkran-
tiv eine Störung des Ein- oder Durchschlafens berichtet
kungen. Nach Klärung der Ursachen in der Verhal-
wird, aber nach wiederholter polygraphischer Registrie-
tensanalyse und Kontrolle psychophysiologischer
rung des Schlafes keine Auffälligkeiten des altersent-
Hyperaktivierung ist Biofeedback oder Verhaltens-
sprechenden Schlafprofils vorliegt. Ursache ist ein fehler-
therapie als Behandlung indiziert.
hafter kognitiver Zuschreibungsprozess (Attribution) des-
sen, was »richtig« schlafen bedeutet. Dies ist häufig bei alten
Menschen der Fall, die sich nicht an die zunehmende »Leich- Drogen-Insomnie
tigkeit« des Schlafes gewöhnen können. Meist liegen psycho- Die häufigste Ursache von Schlafstörungen ist der chro-
logische Störungen vor, die den gestörten Attributionsprozess nische Gebrauch von Schlafmitteln durch ärztliche Ver-
verursachen, u. a. Partnerschafts- und Sexualstörungen. schreibungen. Drogen-Insomnie ist die häufigste iatrogene
(d. h. von Medizinern erzeugte) Störung der Gesundheit,
G Pseudoinsomnien haben ein normales Schlafprofil
v. a. bei Frauen und alten Menschen. Alle heute gebräuch-
bei polygraphischer Registrierung, die Patienten
lichen Schlafmittel führen zu Veränderungen des Schlaf-
klagen aber über Schlafprobleme.
profils: Barbiturate und die meisten Benzodiazepine redu-
zieren REM-Schlaf und SWS zugunsten einer Verlängerung
Idiopathische Insomnie der Zwischenstadien. Das Schlaf-EEG weist bei beiden Subs-
Diese Verhaltensstörung weist ein gestörtes physiologi- tanztypen erhöhte Beta-Aktivität auf. Auch Alkohol redu-
sches Schlafprofil und ein damit konkordantes subjektives ziert REM und führt zu irregulärem Schlafprofil. Nach Ab-
Erleben auf: Die Personen berichten schlechten oder zu setzen der Schlafmittel treten Rebound-Phänomene auf
22.7 · Schlafstörungen
565 22

(z. B. REM-Rebound mit Albträumen), die durch neuer- gen (monopolare und bipolare Depressionen) weisen eine
liche Einnahme unterdrückt werden. ausgeprägte Irregularität auf, die – so im Fall des zirkadia-
Drogen- und Alkoholabhängige zeigen dieselben Phä- nen Temperaturrhythmus – oft schon vor Eintritt der psy-
nomene, häufig mit völligem Verlust einer zirkadianen chophysiologischen Störungen auftritt. Die Änderungen
Schlaf-Wach-Periodik. Ironischerweise ergibt sich auch sub- sind äußerst heterogen. Die Amplituden vieler zirkadianer
jektiv im Durchschnitt kein besserer Schlaf bei Personen, die und ultradianer Rhythmen sind erniedrigt. Am häufigsten
über Insomnie klagen und Drogen einnehmen, verglichen aber wird bei Depression eine Verkürzung der REM-Latenz
mit Personen, die über Insomnie klagen und keine Schlaf- nach dem Einschlafen berichtet, im Durchschnitt von 70
mittel nehmen. Auch die kurzfristige Verschreibung von auf 40 min. . Abb. 22.24 zeigt die Effekte der Schlafdepri-
Schlafmitteln bei primären Schlafstörungen (Abschn. 22.7.1) vation auf Depressionen auf der Grundlage der Borbély-
ist kontraindiziert, da Suchtzyklen außerordentlich schnell schen Zwei-Prozess-Theorie (. Abb. 22.23). Totaler Schlaf-
in Gang kommen können und keinerlei langfristige Nor- entzug führt zu vorübergehender Besserung bei einigen
malisierung des Schlafes erreicht werden kann. Schon nach depressiven Patienten, wobei isolierte REM-Deprivation
3 Tagen Einnahme kommt es zu Rebound-Insomnie! auch langanhaltende Verbesserung erzielen kann.
Bei Winterdepression (»seasonal affective disorder«,
G Schlafmittel, v. a. Benzodiazepine und Barbiturate,
SAD) oder anderen Störungen der zirkadianen Periodik
stören den Schlaf und sind bei Schlafstörungen nicht
kann Lichttherapie den Schlaf-Wach-Rhythmus wieder
indiziert.
resynchronisieren. Dabei werden die Patienten über Tage
oder Wochen am Morgen etwa 1 h hellem Licht von 7000–
Schlafstörungen alter Menschen 12.000 Lux ausgesetzt (. Abb. 22.25a und b). . Abb. 22.25b
70–100% der über 60-Jährigen klagen über Schlafstörungen, zeigt den Effekt von Lichttherapie auf einen Patienten mit
wobei besonders Frauen betroffen sind, die auch häufiger Alzheimer-Demenz.
von Schlafmitteln abhängig werden (Kap. 26). Auch Melatonin, 3 h bis 1 h vor dem Einschlafen (0,5–
Der Verlust von Schlafstadium 3 und 4 (»Kernschlaf« 5 mg) eingenommen, kann den zirkadianen Rhythmus resyn-
der ersten 3 Stunden) ab dem 55. Lebensjahr geht mit einer chronisieren (z. B. bei Jetlag). Sowohl bei Lichttherapie wie
Einschränkung der Immunkompetenz einher. Der zirka- bei Melatonin ist aber zurzeit noch unklar, warum manche
diane Rhythmus flacht ab, Müdigkeit, Schlafstörungen und Personen nicht profitieren und welche Dosis-Wirkungs-Kur-
Tagesschlaf (Einnicken) nehmen zu. Mehr als die Hälfte aller ven für unterschiedliche Rhythmusstörungen existieren.
65-Jährigen geben Schlafstörungen an. Der relative Anteil
G Depressionen weisen Abflachen der Amplitude
von REM-Schlaf steigt leicht, Schlafstadium 1 und 2, deren
vieler physiologischer Rhythmen, Irregularität und
Erholungswert gering ist, werden die dominierenden Schlaf-
Verkürzung der REM-Latenz auf. Bei Winterdepres-
stadien. Trotz Müdigkeit sinkt die Gesamtschlafzeit.
sion und anderen Rhythmusstörungen wie Jetlag,
Die meisten Schlafmittel sind nur unzureichend an
Schichtarbeit und Demenzen haben sich Lichtthera-
alten Menschen geprüft. In der Regel führen die Angaben
pie und Melatonin als wirksame und nebenwir-
der Hersteller zu Übermedikation und gravierenden Neben-
kungsfreie Behandlungen etabliert.
wirkungen mit anderen Pharmaka (z. B. fand man im
Durchschnitt bei 100 alten Patienten 536 verschiedene ein-
genommene Pharmaka, davon 65% Psychopharmaka). 22.7.2 Hypersomnien
Für alle bekannten Schlafstörungen im Alter existieren (exzessive Müdigkeit)
gut geprüfte und nebenwirkungsfreie psychologische und
soziotherapeutische Behandlungsverfahren und Hilfen, so Narkolepsie
dass die Gabe von Schlafmitteln zur Behandlung von In- Die Narkolepsie ist eine chronische Schlafstörung unbe-
somnien nicht indiziert, sondern in der Regel kontraindi- kannten Ursprungs. Etwa 0,05% der Bevölkerung sind
ziert ist. davon betroffen. Die Hauptsymptome sind eine vermehrte
Tagesschläfrigkeit und Kataplexien. Kataplexien stellen
G Die Einnahme von Schlafmitteln ist eine der Haupt-
einen plötzlich einsetzenden und nur kurz (Sekunden bis
ursachen für gestörten Schlaf, besonders bei Frauen
wenige Minuten) anhaltenden partiellen oder kompletten
und älteren Menschen. Schlafmittel unterdrücken
Verlust des Tonus der Halte- und Stellmuskulatur dar, der
v. a. REM-Schlaf und führen zu Abhängigkeit, bei Ab-
durch Emotionen, insbesondere durch Lachen und freudige
setzen treten Schlaflosigkeit und REM-Rebound auf.
Erregung, ausgelöst wird.
Kataplektiker fallen sofort nach Einschlafen in eine
Insomnie bei Verhaltensstörungen REM-Episode, was auch auf reduzierte Hemmung von
Bei fast allen Verhaltensstörungen treten auch Schlafstö- REM-aktivierenden Strukturen bei diesen Patienten hin-
rungen und Störungen der zirkadianen und ultradianen weist. Narkolepsie tritt mit Kataplexie auch bei Säugetieren
90-Minuten-Periodik auf: Vor allem die affektiven Störun- auf und scheint dort oft unter genetischer Kontrolle zu
566 Kapitel 22 · Zirkadiane Periodik, Schlaf und Traum

22

. Abb. 22.25a, b. Lichttherapie. a Lichtbox mit hellem Licht zur disorder«). b Wirkungen der Lichttherapie auf einen Alzheimer-Patien-
Behandlung der jahreszeitlichen Depression (SAD, »seasonal affective ten mit Schlafproblemen, aufgetragen ist die motorische Aktivität

stehen. Eliminierung des Orexingens führt bei Mäusen zu Somnambulismus


Narkolepsie, es besteht also ein Zusammenhang zwischen Somnambulismus (Schlafwandeln), Pavor nocturnus,
Nahrungsregulation und Narkolepsie. (Nacht-»terror«, häufig mit Schrei) und einige Formen von
Albträume mit Schlafparalyse (Gefühl der Unfähigkeit, Enuresis nocturna (Bettnässen) treten in SWS-Phasen auf.
die Glieder zu bewegen) sind bei Narkolepsie häufig und Tagesmüdigkeit und Hypersomnia gehen damit oft einher.
stellen meist REM-Episoden dar, bei denen die motorische Sie sind bei Kindern besonders häufig. Die sensomotorische
Hemmung besonders ausgeprägt ist: Berichtet werden oft Koordination ist dabei z. T. intakt, die Augen weit geöffnet,
Flucht- und Verfolgungssituationen, denen die Person aber es besteht keine Erinnerung an die Episoden. Die Ge-
durch Bewegungslosigkeit ausgeliefert ist. nese dieser Störungen ist unklar, eine funktionelle Desyn-
. Tabelle 22.2 zeigt die Wirkungen des bei Narkolep-
sie charakteristischen Orexinmangels, den wir in Abschn.
26.5.3 beschreiben. . Tabelle 22.2. Auswirkungen des Orexin-/Hypokretin-
Als Therapie ist Verhaltenstherapie mit Training der mangels
Unterdrückung der Symptome und Antidepressiva, die
Cholinerge Dopaminerge
REM-Schlaf reduzieren, wirksam. Die Tagesmüdigkeit wird Hyperaktivität Hyperaktivität
oft mit Amphetaminen und Koffein behandelt.
Symptome Kataplexie, hypnagoge Übermäßige Tages-
Halluzinationen, Schlaf- müdigkeit, auto-
G Die Narkolepsie mit Eindringen von REM-Schlaf in lähmung matisches Verhalten
den Wachzustand und Kataplexien und Tagesmüdig-
Polysomno- Sleep-onset-REM- Verkürzte
keit ist durch einen Mangel an Orexinproduktion im graphische Episoden Einschlaflatenz
Hypothalamus bedingt und kann mit Antidepressiva Befunde
und Verhaltenstherapie gebessert werden.
22.7 · Schlafstörungen
567 22

Box 22.4. Schlaf-Apnoe


Ein 62-jähriger Wissenschaftler, leicht übergewichtig,
klagt anlässlich einer Konferenz (an einem einsamen Ort)
einem Kollegen sein »Lebensproblem«: chronische
Müdigkeit tagsüber. Er habe eine Vielzahl von Ärzten auf-
gesucht und habe nach Jahren der Einnahme von Schlaf-
tabletten sogar eine Entzugsbehandlung machen müssen,
da er von Benzodiazepinen und Barbituraten abhängig
wurde. Eine 5 Jahre dauernde Psychoanalyse hätte keiner-
lei Effekt gehabt, außer, dass er sich danach von seiner
Frau trennte. Da man auf der Tagung nachts die Schlaf-
zimmer teilen musste, merkte der neben ihm liegende konnte man Atemverhalten und Sauerstoffsättigung des
Kollege, dass er von seinem Nachbarn nach einem lauten Blutes messen.
Schnarchton für mehr als eine Minute keine Atemge- Die Abbildung zeigt eine typische Registrierung
räusche mehr hörte. Er beobachtete seinen Kollegen während einer REM-Schlafperiode von 6 min, während
länger und stellte fest, dass dieser nach einer solchen der vom Patienten nur 4 (!) Atemzüge erfolgten. Ein ge-
Atempause (Apnoe: a = nicht, pnea = Atmen) kurz die sunder Schläfer würde ca. 60-mal einatmen müssen. Nach
Augen öffnete oder sich leicht drehte, dann tief einatmete einer verhaltenstherapeutischen Behandlung des Über-
und wieder eine lange Atempause darauf folgte. Auf gewichts und einigen Nächten mit einer Sauerstoffmaske
Empfehlung des Kollegen schlief der Patient danach normalisierte sich das Atemverhalten des Patienten und
einige Nächte im Schlaflabor seiner Universität. Dabei die Tagesmüdigkeit verschwand.

chronisation von Hirn- und Körperschlaf, wie er nach G Schlaf-Apnoen sind bei Neugeborenen und Klein-
hohen Cerveau-isolé-Präparationen bei Katzen beobachtet kindern lebensbedrohliche Störungen der Atem-
wurde, wird häufig als Erklärung herangezogen: »Wache« tätigkeit im Schlaf. Bei Erwachsenen sind die langen
subkortikale Motorik und teilweise auch »wache« subkor- Atempausen meist mit Schnarchen, Übergewicht
tikale sensorische Kerne (die Personen »sehen« die Hinder- und Rauchen kombiniert, wodurch eine Obstruktion
nisse) auf Zwischen- und Mittelhirnniveau gehen dabei der Atemwege eintritt.
mit Endhirnsynchronisation einher. Auch Restless-leg-Syn-
drom mit ständigen Beinbewegungen und Pavor nocturnus
(Nachtschrei) treten v. a. in NREM-Episoden auf. 22.7.3 Epilepsien und Schlaf
G Schlafwandeln geht mit subkortikaler Aktivierung Epileptische Entladungen
bei schlafendem Endhirn einher.
Es besteht ein enger Zusammenhang zwischen der »Krampf-
schwelle« zentralnervöser Strukturen und den Schlaf-
Schlaf-Apnoe Wach-Phasen. Eine Erniedrigung der Krampfschwelle
Respiratorische Pausen von mehr als 15 s Dauer während lässt sich am kortikalen Spontan-EEG durch Auftreten von
des Schlafes (oft bei Personen mit Schnarchen) sind nicht »spikes« (hohe negative Entladung von 20–70 ms, die aus
nur mit häufigem Erwachen (meist aus REM) und Tages- dem Hintergrund-EEG hervortritt) ablesen, die meist
müdigkeit, sondern auch mit erhöhtem Risiko für plötz- gemeinsam mit oder kurz vor »Spike-wave«-Komplexen
lichen Tod und kardiovaskulären Leiden verbunden (Box auftreten. Auch bei Normalpersonen treten diese Spikes
22.4). Obwohl bei Personen mit Obstruktionen der Luft- auf, bevorzugt bei Einschlafen und Aufwachen, eine
röhre (z. B. bei Übergewichtigen, die auf dem Rücken liegen Zuckung des ganzen Körpers oder einzelner Glieder geht
und bei Rauchern) häufiger, tritt Schlaf-Apnoe in allen Al- damit einher. Den »Spike-wave«-Komplexen gehen eine
tersstufen auf. Entfernbare Plastik-Tuben in der Luftröhre Desynchronisation und DC-Negativierung des EEG voraus
oder Sauerstoffzufuhr können neben psychologischer Adi- (Kap. 20).
positas-Therapie eine Reduktion der Apnoe bewirken.
Das Pickwick-Syndrom (nach Charles Dickens dickem G Negativierungen und Spikes mit motorischen
Held in der Novelle »The Pickwick-Papers« benannt) Zuckungen treten beim Einschlafen und Aufwachen
bezeichnet Schlafattacken von übergewichtigen Personen auf.
während des Tages, die vermutlich eher zur Schlaf-Apnoe
gehören: Fettleibige wachen häufig nachts durch Apnoe-
Phasen auf und sind deshalb hypersomnisch.
568 Kapitel 22 · Zirkadiane Periodik, Schlaf und Traum

Psychophysiologische Behandlung
von Epilepsien
Nach Halasz P (1984). Mit freundlicher

Regelmäßiger Schlaf und gute Schlafhygiene sollte der


erste Behandlungsschritt bei jeder Epilepsiebehandlung
22
Genehmigung von Elsevier.

sein. Sowohl zu kurzer als auch exzessiver Schlaf senken die


Krampfschwellen. Hyperventilation während des Tages
oder der Nacht (z. B. nach chronischen Belastungen) stellt
einen zusätzlichen Risikofaktor dar.
Neben REM-Schlaf mit seiner ausgeprägten Desyn-
chronisation und sensomotorischen Hemmung ist auch
. Abb. 22.26. Schema eines Schlafzyklus bei Epilepsien. Die nach
SMR (sensomotorischer Rhythmus über dem motorischen
oben gerichteten Pfeile zeigen Mikroaktivierungen an, die nach unten
gerichteten Pfeile Mikroschlafperioden in Richtung SWS. Die Länge der
Projektionsfeld von 12–17 Hz, Kap. 20) mit motorischer
Pfeile symbolisiert die Beziehung zwischen den aktivierenden und Hemmung verbunden und deshalb mit dem Krampf-
desaktivierenden »Kräften«. Das Zwischenstadium ist durch vermehr- geschehen inkompatibel. . Abb. 22.26 zeigt in der oberen
te Fluktuationen ohne Dominanz einer der beiden »Kräfte« gekenn- EEG-Kurve die hemmende Spindel-SMR-Aktivität nach
zeichnet. Während Wachheit (Aw) und SWS dominiert klar jeweils
einem »gefährlich« hohen K-Komplex. Psychologisches
einer der beiden Zustände. Die eingezeichneten EEG-Kurven zeigen
einen Aktivierungsanstieg (K-Komplex) mit einem kompensatorischen
Selbstkontroll-Training von EEG-Aktivität bei generali-
Rebound (Spindeln-SMR) und darunter die Konsequenz eines Akti- sierten Epilepsien (Biofeedback, Kap. 21 und 27) konzen-
vierungsabfalls (Synchronisation) gefolgt von Spike- und Wave-Par- triert sich deshalb auf Unterdrückung von Synchronisation
oxysmen. Aw wach, Int Zwischenstadium 1 und 2, D abfallender Ast (Theta-Delta), Erhöhung der Häufigkeit von SMR und
des Zyklus, A ansteigender Ast des Zyklus
Selbstkontrolle der auslösenden Aktivierungsschübe durch
Regulation negativer DC-Verschiebungen.
Schlaf als Provokationsmethode . Abb. 28.8 und Box 28.3 zeigen die bei der Rück-
Zwei der verlässlichsten Provokationsmethoden interik- meldung langsamer Hirnpotenziale verwendete Lernproze-
taler (zwischen Anfällen auftretender) Krampfpotenziale dur. Der Patient sitzt vor einem Bildschirm, auf dem er seine
sind neben der Hyperventilation und Photostimulation langsamen Hirnpotenziale (Kap. 20) für jeweils 8–10 s be-
Schlaf und Schlafdeprivation. Interiktale Krampfpotenziale obachten kann. Leuchtet ein A auf dem Bildschirm auf, muss
im Schlaf gehen dabei nicht notwendigerweise mit Anfällen er das Potenzial erhöhen (negative Polarität), bei B erniedri-
im Schlaf (Schlafepilepsien) oder nach dem Aufwachen gen (positive Polarität). Für jeden geglückten Versuch wird
(Aufwachepilepsien) einher; Anfälle im Schlaf sind bei der Patient belohnt. Nur positive Polarität ist mit epilep-
Patienten mit einem primären Fokus (Ort im Gehirn, von tischer Übererregung des Kortex unvereinbar. In den ersten
dem die Übererregung ausgeht) und sekundärer Genera- 20 Sitzungen lernt der Patient sowohl zu Negativieren wie
lisation der Anfälle häufig (50% der Attacken), weniger bei zu Positivieren, danach nur noch kortikale Positivierung.
primär generalisierten Anfällen. Anfälle mit einem Durch Übungen zu Hause und in natürlichen Situationen
primären Fokus nehmen von einer bestimmten Hirnregion kann man die gelernte Selbstkontrolle auf die soziale Realität
ihren Ausgang und generalisieren später in andere übertragen und lernen, anfallsfördernde Situationen und
Regionen. Zustände rechtzeitig wahrzunehmen und zu unterdrücken.
Anfälle treten nie aus REM-Perioden, sondern bevor- Bei entsprechend intensiver Übung und Automatisierung
zugt aus den Übergangsstadien 1 und 2 mit plötzlichen der Selbstkontrolle können damit auch nächtliche Anfälle
phasischen Aktivierungsschwankungen (nach oben oder unterdrückt werden.
unten) auf (. Abb. 22.26).
G Therapieresistente Epilepsien können mit Training
G Epileptische Anfälle treten nie während REM- der Selbstkontrolle von langsamen Hirnpotenzialen
Phasen, sondern in Übergangsstadien auf. und mu-SMR-Rhythmus gebessert werden.
Literatur
569 22

Zusammenfassung
Die zirkadiane Periodik von ungefähr 24 h 5 wird von aminergen subkortikalen Kerngruppen
5 wird von endogenen Oszillatoren erzeugt; gehemmt.
5 wird durch helles Licht beeinflusst (mitgenommen);
5 vom Nucleus suprachiasmaticus (SCN) dem Gehirn SWS
und Körper »aufgezwungen«; 5 ist homöostatisch organisiert;
5 hängt von rhythmischer Genexpression ab; 5 akkumuliert mit Anwachsen von Adenosin während
5 ist mit endokrinen und psychologischen Rhythmen Wachheit;
gekoppelt; 5 wird von hypothalamischen und subkortikalen
5 wird durch Nacht- und Schichtarbeit und Überfliegen Kernen erzeugt;
von Zeitzonen gestört. 5 ist im Alter reduziert.

Das Elektroenzephalogramm und schnelle Augen- Träumen


bewegungen (REM, »rapid eye movements«) erlauben 5 tritt in allen Schlafstadien auf;
5 Einteilung der Schlafstadien, 5 ist während REM bizarr und aktiv;
5 Messung des 90-min-»Basic-rest-activity-cycle« 5 geht mit Hemmung der primären Projektionsareale
(BRAC), und des dorsolateralen Frontalkortex einher;
5 Abgrenzung von SWS (»slow wave sleep«) beim 5 ist am Beginn der Nacht eher abstrakt-gedankenartig.
Einschlafen und der darauffolgenden REM-Phase mit
schnellem EEG, REM und Muskelatonie (= 1 BRAC), SWS und REM sind
5 Messung der 4–6 Wiederholungen einer BRAC- 5 lebensnotwendig;
Periode in einer Nacht. 5 durch Schlafmittel störbar;
5 durch psychologische und medizinische Krankheiten
REM-Schlaf praktisch immer gestört.
5 ist vor der Geburt und in Entwicklung maximal;
5 führt zu Erregungsentladungen in subkortikalen und Schlafstörungen bestehen aus
kortikalen Systemen (PGO); 5 Ein- und Durchschlafstörungen,
5 geht mit aktiven Träumen einher; 5 Hypersomnien mit exzessiver Tagesmüdigkeit.
5 wird von cholinergen subkortikalen Kerngruppen
erzeugt;

Literatur Jovanovic UJ (1971) Normal sleep in man. Hippokrates, Stuttgart


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Nature Rev. Neurosc. 3:679–693
Horne J (1988) Why we sleep. Oxford. Univ. Press, Oxford
23

23 Vererbung

23.1 Klassische Genetik – 572


23.1.1 Erbe (Nature) versus Umwelt (Nurture) – 572
23.1.2 Grundregeln der Mendel-Genetik – 572
23.1.3 Ergänzungen der Mendel-Grundregeln – 574

23.2 Molekulare Genetik – 575


23.2.1 Bau und Funktion der zellulären Makromoleküle (Biopolymere) – 575
23.2.2 Der Aufbau der Erbsubstanz – 576
23.2.3 Das menschliche Erbgut und seine Replikation – 577
23.2.4 Vom Gen zu Eiweißsynthese und Zellaufbau – 581

23.3 Ablauf normaler und gestörter Vererbung – 582


23.3.1 Ursachen der genetischen Variabilität – 582
23.3.2 Biotechnologische Modifikation von Genen, Klonierung – 584
23.3.3 Störungen der Vererbung – 586

23.4 Polygene Vererbung und Verhaltensgenetik – 587


23.4.1 Erblichkeitsschätzungen – 587
23.4.2 Emergenesis – 589

Zusammenfassung – 591
Literatur – 592

N. Birbaumer, Biologische Psychologie, DOI 10.1007/978-3-540-95938-0_23,


© Springer Medizin Verlag Heidelberg 2010
572 Kapitel 23 · Vererbung

)) Sonderfall der Dominanz angeborener


Verhaltensweisen
Alle Lebewesen bringen nur ihresgleichen als ihre Nach- Der neugeborene Säugling atmet und er beherrscht die ein-
kommen zur Welt, auch die Menschen also nur Menschen, zelnen Bewegungselemente des Saugens (Mund spitzen,
wobei die Nachkommenschaft ihren Eltern jeweils mehr Lippen schließen etc.) und Schluckens angeborenermaßen.
gleicht als die Kinder anderer Eltern. Diese über Generatio- Um aber die Milch aus der Brust der Mutter oder dem
nen andauernde Weitergabe ähnlicher Merkmale bezeich- Fläschchen zu erhalten, muss er zu ihr hingeführt werden
23 nen wir als Vererbung. Die Eltern statten ihre Nachkommen und er lernt die notwendigen Schluck- und Saugbewegun-
also mit einer kodierten Form von Erbeinheiten aus, die wir gen erst nach einigen Versuch-und-Irrtum-Durchgängen.
als Gene bezeichnen. Jeder Mensch besitzt vermutlich um Selbst einfache Verhaltensweisen, wie z. B. Gehen, deren
die 25.000 Gene, die zusammengefasst sein Genom bilden. elementare motorische Untereinheiten (z. B. Zehen an-
Das Genom besteht jeweils zur Hälfte aus väterlichen und heben) nicht gelernt werden müssen, erfordern spezifische
mütterlichen Genen, und dies ist der wesentliche Grund Anregung durch die Umgebung.
dafür, dass die Nachkommen nicht nur Ähnlichkeit, sondern Andererseits scheint relativ komplexes emotionales
auch Variabilität aufweisen. Die genetisch bedingte Indivi- Verhalten beim Menschen, wie Lachen oder Weinen, keine
dualität kann durch Lernen und Umwelteinflüsse weiter spezifische Stimulation zu benötigen, es kommt auch bei
angeregt oder verändert werden. Umgekehrt beeinflussen taubstummen und blindgeborenen Kindern vor. Der Um-
wir mit unseren vererbten Eigenschaften unsere Umwelt gebungseinfluss ist auf manche Charaktereigenschaften
wie auch die unserer Nachkommen. Wie in diesem Kapitel oft erstaunlich gering, ihr genetischer Anteil sehr hoch,
zu zeigen sein wird, sind viele physiologische Reaktionen obwohl sie meist nicht auf Nachkommen vererbt werden
und Verhaltenswiesen, sowie physische und psychische (Abschn. 23.4.2).
Erkrankungen durch eine Kombination von Genkonfigura-
tionen und Umwelteinflüssen bedingt. Sonderfall der Dominanz erlernter
Verhaltensweisen
Unter besonderen Umständen dominiert das gelernte Ver-
halten über das ererbte. So berichten die anekdotischen,
23.1 Klassische Genetik aber gut dokumentierten Fälle von Kindern, die von Tieren
aufgezogen wurden, dass die Kinder auf allen Vieren liefen,
23.1.1 Erbe (Nature) versus Umwelt obwohl der genetisch fixierte Bau der menschlichen Gelen-
(Nurture) ke dafür nicht geschaffen ist. Ein weiteres, sehr bekanntes
Beispiel ist Kaspar Hauser, ein vermutlich seit seiner Geburt
Normalfall der Interaktion von Anlage in Isolation aufgezogener Mensch im 18. Jahrhundert, der
und Umwelt nach seiner Befreiung Schwierigkeiten hatte, Sprache und
Die Frage, ob und wie stark ein bestimmtes Verhalten von soziales Verhalten zu erlernen.
Umgebungsfaktoren und von genetischen Faktoren ab- Bevor wir uns mit der Erblichkeit von Verhalten, der
hängt, kann heute für viele Verhaltensweisen empirisch Verhaltensgenetik, beschäftigen, müssen wir kurz die
beantwortet werden. Trotzdem wird besonders bei der Dis- Prinzipien der Vererbung besprechen. Ohne die Kenntnis
kussion von Intelligenz und Persönlichkeitseigenschaften der Grundprinzipien der Genetik können wir die Grenzen,
das »Entweder–Oder«, »Nature (Erbe) or Nurture (Um- die sie für die Ausbildung unseres Verhaltens setzt, nicht
welt)« leidenschaftlich verteidigt. Auseinandersetzungen verstehen.
dieser Art haben häufig ihre Wurzel in der Unkenntnis der
G Verhalten ist stets auf das Zusammenwirken von
klassischen und molekularen Genetik. Meist wird dabei un-
Erbanlagen und Umwelteinflüssen rückführbar. Bei
ausgesprochen von der falschen Annahme ausgegangen,
einfacher Motorik (z. B. Atmen, Saugen, Schlucken),
dass Erbfaktoren zumindest innerhalb einer Lebensspanne
aber auch bei emotionalem Verhalten und bei Cha-
unveränderbar sind, während Umgebungseinflüsse modi-
raktereigenschaften dominiert oft die Veranlagung.
fizierbar sind.
Eine Dominanz erlernter Verhaltensweisen ist selten.
Nicht erst im Zeitalter der Gesamtkartierung des
menschlichen Genoms, der Klonierung von DNA-Seg-
menten (7 unten) und anderen Manipulationen am Ge- 23.1.2 Grundregeln der Mendel-Genetik
nom sind Wirkungen von Genen beeinflussbar und steuer-
bar. Auch die triviale Feststellung, dass praktisch alle Mendels Grundversuch der monohybriden
Genwirkungen auf Verhalten bestimmte Umgebungs- und Kreuzung
Entwicklungsfaktoren benötigen, um sich überhaupt ent- Der Augustinermönch Gregor Mendel (1822–1884) be-
falten zu können, sollte alle von der Unauflösbarkeit von gründete mit seinen Züchtungsversuchen mit reinerbigen
Anlage und Umwelt überzeugen. Rassen von Gartenerbsen die moderne Genetik. Reinras-
23.1 · Klassische Genetik
573 23

abilität bei Erbmerkmalen. Sie wird daher auch Mendels


»Gesetz« der Spaltungsregel genannt.

Dominante und rezessive Allele


Wie das Wiederauftauchen grüner Samen in der F2-Genera-
tion zeigt (. Abb. 23.1, unterste Reihe), war dieses Allel bei der
Hybridisierung nicht verloren gegangen, es konnte sich ledig-
lich in der F1-Generation nicht gegen das Gelb-Allel durchset-
zen. Das gelbe Allel dominierte also über das rezessive grüne,
ohne dass, wie die F2-Generation zeigt, das grüne Allel »verlo-
ren ging«. Es ist vielmehr so: Wenn beide Allele unterschied-
lich sind, wird immer nur das dominante Allel voll exprimiert;
das andere, das rezessive Allel, zeigt keinerlei Ausprägung. Es
handelt sich also um einen dominant-rezessiven Erbgang.
. Abb. 23.1. Monohybride Kreuzung. Mendels Grundversuch der
Vererbung zwischen reinerbigen Elternpflanzen, die sich in einem G Mendel schloss aus seinen Ergebnissen, dass jedes
Merkmal, der Samenfarbe (gelbe bzw. grüne Erbsensamen), unter- Merkmal (Gen) in jeder Zelle als ein Paar vorliegt und
scheiden. Die Paarung der beiden reinrassigen Sorten (P-Generation
je einer dieser beiden Anteile, Allel genannt, auf die
für parental) wird Kreuzung oder Hybridisierung genannt (Symbol X).
Sie führt in diesem Fall in der ersten Tochtergeneration (F1-Generation,
Nachkommenzelle übertragen wird, wobei es domi-
F für Filia) ausnahmslos zu gelben Erbsensamen. Selbstbestäubung nante (hier: gelb) und rezessive Allele gibt.
der F1-Generation führt in der F2-Generation zu 3/4 gelben und 1/4
grünen Samen (die angegebenen Zahlen stammen aus Mendels Ver-
öffentlichung)
Genotyp und Phänotyp
. Abb. 23.2 zeigt den monohybriden Erbgang der . Abb. 23.1
mit den dominanten Gelb-Allelen (Y für »yellow«) und den
rezessiven grünen (y). Von jedem Elter wird je ein Allel
sige Gartenerbsen (Pisum sativum) haben verschiedene vererbt, so dass in der F1-Generation jede Erbse die Kombi-
erbliche Eigenschaften, vom Genetiker Merkmale genannt, nation Yy erhält und dadurch gelb erscheint. In der zweiten
beispielsweise die Farbe der Blüten und der Samen, die bei Generation haben jedoch ein Viertel der Nachfahren die
der Selbstbefruchtung unverändert weitergegeben werden. Allele yy und erscheinen daher grün. Wegen der Dominanz
Mendel führte aber nun wechselseitige Befruchtungen, also oder Rezessivität der Allele entspricht daher das äußere
Paarungen oder Kreuzungen zweier Rassen mit unter- Erscheinungsbild eines Organismus, also sein Phänotyp,
schiedlichen Merkmalen, durch, so z. B., wie in . Abb. 23.1 nicht immer seinen genetischen Anlagen, also seinem Ge-
illustriert, von Erbsen mit gelben und grünen Samen. Dies notyp. Dies wird auch durch das Punnett-Quadrat unten in
wird Hybridisierung genannt, in diesem Fall ist es eine der . Abb. 23.2 deutlich.
monohybride Kreuzung, da nur ein einziges Merkmal, die
Samenfarbe, studiert wird. Heterozygote und homozygote Allelpaare
Die reinerbigen Elternpflanzen werden als P-Genera- Liegen in einer Zelle beide Allele einheitlich vor, also im
tion (P für parental, elterlich) bezeichnet, die hybriden Beispiel der . Abb. 23.2 die Paarungen YY und yy, so ist die
Nachkommen als F1-Generation (erste Filial- oder Tochter- Zelle für dieses Merkmal homozygot, im anderen Fall (Yy)
generation). Lässt man bei der Tochtergeneration Selbst- ist sie heterozygot. Wie eben schon gesagt, ist der Phänotyp
befruchtung zu, so entsteht die F2-Generation (2. Filial- der Allelpaare YY und Yy wegen der Dominanz des Y-Allels
generation). Bei diesen Experimenten kam Mendel zu dem gleich (7 oben).
zunächst überraschenden Befund, dass in der F1-Genera-
G Bei einem dominant-rezessiven Erbgang ist das
tion alle Samen gelb waren (. Abb. 23.1), in der F2-Genera-
dominante Allel sowohl bei homozygotem wie bei
tion jedoch die Samen zu 75% gelbe und zu 25% grüne
heterozygotem Vorkommen für den Phänotyp ver-
Färbung hatten.
antwortlich. Das rezessive Allel kann sich nur bei
Allelaufteilung und Spaltungsregel homozygotem Vorkommen durchsetzen.

Ohne etwas über Chromosomen (7 unten) zu wissen, leitete


Mendel aus Versuchen in Art der . Abb. 23.1 ab, dass in Mendels Unabhängigkeitsregel
jedem Organismus jedes Merkmal (Gen) als ein Paar vor- Mendel erschloss diese Regel aus der Tatsache, dass bei der
liegt und je eines dieser beiden Anteile, Allel genannt, von Kreuzung von Pflanzen, die sich in 2 Merkmalen unter-
einem der beiden Eltern stammt. Er folgerte weiterhin, dass scheiden, z. B. bei der dihybriden Kreuzung von Erbsen der
die Allele jeweils getrennt auf die Nachkommen übertra- Form rund-gelb, rund-grün, runzelig-gelb, runzelig-grün,
gen werden. Diese »Spaltung« bewirkt die genetische Vari- zwar in der F1-Generation die Phänotypen alle gleich sind
574 Kapitel 23 · Vererbung

23

. Abb. 23.2. Mendels Grundversuch der . Abb. 23.1 eines do-


minant-rezessiven Erbgangs, aber unter Berücksichtigung der
beteiligten Allele. Das Allel für gelbe Erbsen (Y) ist dominant, das für
grüne rezessiv (y). Jede reinerbige Parentalerbse besitzt identische
Allele, entweder YY (gelbe Samen) oder yy (grüne). Von jedem Elter
wird ein Allel eines Gens (Kreise) vererbt, so dass die F1-Generation . Abb. 23.3. Dihybride Kreuzung: Mendels Grundversuch der Ver-
alle die Kombination Yy und damit eine gelbe Farbe erhalten. Deren erbung zwischen reinerbigen Elternpaaren, die sich in 2 Merkmalen,
Allele mischen sich dann in der nächsten Generation so, dass die un- Samenfarbe und Samenform, unterscheiden. Die Allele für gelb (Y)
ten gezeigten Genkombinationen auftreten. Das dort gezeigte Qua- und glatt (R für »round«) sind dominant. Es resultieren daher in den
drat wird Punnett-Schema genannt, ein Hilfsmittel, um alle möglichen F1-Generationen ausschließlich gelbe, glatte Erbsen (Allele YyRr).
Kombinationen von Allelelen bei den Nachkommen zu ermitteln. Das Punnett-Quadrat für die F2-Generation zeigt, dass es dort zu
In diesem Fall liegen die Genotypen YY einmal, Yy zweimal und yy einer 9:3:3:1-Aufspaltung der Phänotypen kommt. Dieses Versuchs-
wiederum einmal vor, was sich im Phänotyp in 3 gelben und einem ergebnis zeigt, dass die beiden Merkmale unabhängig voneinander
grünen Erbsensamen äussert. Die in . Abb. 23.1 und 23.2 gezeigten vererbt werden, was als Mendels Unabhängigkeitsregel bezeichnet
Züchtungsergebnisse ließen Mendel seine Spaltungsregel formulieren wird

(in . Abb. 23.3 rund-gelb, da YR dominant ist), in der F2- 23.1.3 Ergänzungen der Mendel-
Generation aber in einem bestimmten Verhältnis auftreten. Grundregeln
Die Phänotypen der F2-Generation sind, wie in . Abb. 23.3
im Punnet-Quadrat zu sehen, 9:3:3:1 verteilt (9 rund-gelb, Gekoppelte Gene
3 rund-grün, 3 runzelig-gelb, 1 runzelig-grün). Mendel hatte glücklicherweise Merkmale untersucht, deren
Bei einer genügend großen P- und F1-Generation tritt Gene auf verschiedenen Chromosomen lagen und für die
jede mögliche Kombination auf, woraus man schließen die Unabhängigkeitsregel uneingeschränkt gilt. Es hat sich
muss, dass die Allele der Eltern aufgespalten werden und in später herausgestellt, dass viele Gene, die benachbart oder
der F2-Generation nach den Regeln der Wahrscheinlichkeit nahe auf einem Chromosom liegen, gemeinsam vererbt
(also wie z. B. beim Würfelspiel) neue Kombinationen der werden (»linkage«, Kopplungsgruppe). Die Vererbung
Elterngenotypen auftreten. Das reale Verhältnis spiegelt nur solcher gekoppelter Gene ergibt Resultate, die anders sind
die Rezessivität, bzw. Dominanz der einzelnen Allele wider. als von der Unabhängigkeitsregel erwartet.

G Mehrere Merkmale werden unabhängig voneinan- Unvollständige Dominanz (intermediärer


der nach den Regeln der Wahrscheinlichkeit vererbt. Erbgang)
Dies wird umso deutlicher, je größer die untersuch- In den Mendelschen Versuchen mit insgesamt 7 Merk-
ten P- und F1-Generationen sind. malen war – wiederum glücklicherweise – jedes Merkmal
23.2 · Molekulare Genetik
575 23

durch ein Gen bestimmt, für das es ein vollständig domi- haben«). So ist bei vielen Säugetieren die schwarze Fellfarbe
nantes und ein vollständig rezessives Allel gab. Diese Be- dominant über die braune. Es gibt aber gleichzeitig ein
dingungen erfüllen keineswegs alle Erbmerkmale und des- weiteres Gen, das bestimmt, ob überhaupt Pigment in die
wegen sind die Beziehungen zwischen Genotyp und Haare eingelagert wird oder nicht. Ist das Tier homozygot
Phänotyp im Allgemeinen nicht so einfach. So zeigen z. B. rezessiv für dieses Gen, wird kein Pigment eingelagert und
manche F1-Hybriden ein Erscheinungsbild, das zwischen es resultiert ein Albino unabhängig von der Allelkombina-
den beiden elterlichen Phänotypen liegt. Also beispiels- tion für die schwarze oder braune Fellfarbe.
weise eine rosarote Blütenfarbe bei Kreuzung eines roten
Löwenmäulchens mit einem weißen. Dies nennt man einen Polygene Vererbung
intermediären Erbgang. Mendel (wiederum glücklicherweise oder war es geniale
Weitsicht?) untersuchte nur Merkmalspaare mit »Entwe-
Kodominanz und multiple Allele der-oder-Ausprägung«. Es gibt aber eine große Zahl von
Eine weitere Komplikation ergibt sich daraus, dass beide Merkmalen, z. B. die Hautfarbe oder die Körpergröße des
Allele gleich dominant sein können und daher beide un- Menschen, bei denen eine solche Entweder-oder-Klassifi-
abhängig voneinander ihren Phänotyp exprimieren. Auch zierung nicht möglich ist, weil die Merkmale in der Popu-
kommen viele, wenn nicht die meisten Gene, in mehr als lation ein Kontinuum bilden, also quantitative Merkmale
2 allelen Formen vor. Das AB0-Blutgruppensystem des sind. Dies deutet in der Regel darauf hin, dass 2 oder mehr
Menschen (Abschn. 9.1.7) ist ein gutes Beispiel für beides: Gene an der phänotypischen Ausprägung beteiligt sind
Ein Mensch kann eine der 4 folgenden Blutgruppen besit- (diese polygene Vererbung ist das Gegenteil der oben be-
zen: A, B, AB oder 0 (Null). Diese Symbole beziehen sich sprochenen Pleiotropie, bei der ein Gen verschiedene phä-
auf 2 Kohlenhydrate A und B, die auf der Membran der notypische Auswirkungen hat). So sind an der Hautpig-
Erythrozyten vorkommen, wobei ein Mensch das eine oder mentierung des Menschen mindestens 3 unabhängige Gene
das andere oder beide oder keines dieser Moleküle besitzen beteiligt, was eine sehr weite Abstufung zwischen sehr
kann. Es gibt je ein Allel für A, B und 0, wobei die für A und dunkler und sehr heller Hautfarbe möglich macht (dazu
B kodominant sind (was die Blutgruppe AB möglich kommen die Einflüsse der Umwelt).
macht), das für 0 aber rezessiv zu beiden ist (die Blutgruppe
G Viele Gene haben mehrfache phänotypische Aus-
0 tritt also nur auf, wenn beide 0-Allele vorliegen).
wirkungen (Pleiotropie), andere Gene verändern die
G Spaltungs- und Unabhängigkeitsregel müssen er- phänotypischen Wirkungen von Genen (Epistase),
gänzt werden: Viele Gene werden gekoppelt vererbt, und mehrere Gene können ein Kontinuum der Aus-
und Allele können unvollständig dominant oder prägung, z. B. bei der Körpergröße des Menschen,
gleich dominant sein. Auch kommen viele Gene in bewirken (polygene Vererbung).
mehr als 2 Allelen vor.
23.2 Molekulare Genetik
Pleiotropie
Bisher wurde davon ausgegangen, dass ein Gen jeweils nur 23.2.1 Bau und Funktion der zellulären
eine phänotypische Wirkung – also z. B. die Gelbfärbung Makromoleküle (Biopolymere)
des Erbsensamens – hat. In Wirklichkeit ist es aber meistens
so, dass ein Gen in vielfältiger (»pleion« griech. »mehr«) Bau und Funktion der Polysaccharide
Weise den Phänotyp eines Organismus zu beeinflussen Die Polysaccharide sind von der Natur »erfundene« Zu-
vermag. So ist bei der dominant-rezessiv vererbten Sichel- sammenlagerungen, also Biopolymere von Hunderten und
zellanämie der Afro-Amerikaner nur eine einzige Amino- Tausenden von Monosacchariden (Abschn. 2.1.2 und 2.1.3).
säure im Blutfarbstoff Hämoglobin ausgetauscht, aber dies Das zur zellulären Energiespeicherung wichtigste tierische
führt (bei homozygoten Trägern) bei Sauerstoffmangel Polysaccharid ist das aus Glukosemolekülen zusammenge-
(z. B. starke körperliche Anstrengung) zur Sichelzellbildung setzte Glykogen. Ähnlich ist in den Pflanzen die Stärke das
der Erythrozyten mit erheblichem Funktionsverlust. Wie- weitverbreiteste Reservekohlenhydrat (ebenfalls nur aus
derum als deren (nicht-pleiotrope) Folge kommt es zu einer Glukose aufgebaut). Die Polysaccharide sind aber nicht nur
Kaskade von z. T. schweren Krankheitssymptomen (u. a. für die Bevorratung und Bereitstellung von Energie wichtig.
Herzversagen, Hirnschäden mit Lähmungen, Rheumatis- Sie bilden auch Stützsubstanzen außerhalb der Zellen. So ist
mus). die ebenfalls nur aus Glukose aufgebaute Zellulose der
Pflanzen die auf der Erde am weitesten verbreitete orga-
Epistase nische Substanz.
Es kommen auch Gene vor, die die phänotypische Aus- Die Zucker gehen zur Bildung von Polysacchariden
prägung anderer Gene verändern, also in gewisser Weise auch mit anderen Molekülen Verbindungen ein, so z. B. mit
kontrollieren können (»epistateo« griech. »die Aufsicht Eiweißen zur Bildung von Glykoproteinen und mit Fetten
576 Kapitel 23 · Vererbung

zu Glykolipiden. Diese haben die verschiedensten Aufgaben Wie anschließend in Abschn. 23.2.2 dargelegt werden
in und außerhalb der Zellen. Als Beispiele seien hier nur wird, ist die Erbsubstanz in DNA-Molekülen verschlüsselt.
genannt, dass die Glykoproteine als Bestandteile der Zell- Die Nukleotide mit den in . Tabelle 23.1 gezeigten Basen
membran und des Bindegewebes des Menschen wichtige sind also die kleinsten Bausteine des Vererbungssystems.
Funktionen erfüllen und dass es sich bei den eben schon Daneben dienen die Nukleotide, besonders das ATP, als
erwähnen Blutgruppensubstanzen (Abschn. 9.1.7) im We- wichtigster Energiespeicher der Zellen (. Abb. 2.2a in
sentlichen um Glykoproteine und -lipide handelt, die zu Abschn. 2.1.3).
23 85% aus Sacchariden bestehen.
G Drei Biopolymere sind unentbehrlich: 1. Die Poly-
Bau und Funktion der Proteine saccharide dienen v. a. als Energiespeicher und als
Bausubstanz. 2. Die Proteine (Eiweiße) sind gleicher-
Die wichtige Rolle der Eiweiße als Biokatalysatoren oder
maßen an Bau und Funktion der Zellen (z. B. Muskeln,
Enzyme zur Beschleunigung chemischer Reaktionen und
Enzyme, Rezeptoren) beteiligt. 3. In den Nuklein-
ihr Aufbau aus Aminosäuren werden in Abschn. 2.1.3 und
säuren ist die Erbsubstanz verschlüsselt.
2.2.2 erläutert. Daneben dienen die Proteine, wie ebenfalls
in Abschn. 2.1.3 schon erwähnt, v. a. als Gerüstsubstanzen
(in Binde- und Stützgewebe), als Strukturbestandteile zur 23.2.2 Der Aufbau der Erbsubstanz
Aufteilung des Zellraumes, also in Membranen, als Signale
zur Regulation des Stoffwechsels und der Zelltätigkeit (die Verschlüsselung in DNA-Molekülen
meisten Hormone sind aus Aminosäuren aufgebaut, Diese Erkenntnis ist kaum 60 Jahre alt. Den Genetikern war
Abschn. 7.1.4) und als Einrichtungen zum Empfang von zwar schon davor klar, dass die bei der Zellteilung im Zell-
Signalen am Erfolgsorgan (Rezeptoren, Abschn. 4.3.1 und kern sichtbar werdenden Chromosomen die Erbinforma-
7.1.3). Auch die kontraktilen Strukturen der glatten und tion enthalten, aber die DNA wurde wegen ihres relativ
quergestreiften Muskulatur sind Proteine (Abschn. 13.1.1). einfachen Aufbaues für lange Zeit als nicht geeignet zur
Die Information für den Aufbau all dieser Proteine ist in Verschlüsselung des genetischen Kodes gehalten. Dazu
den anschließend zu besprechenden Nukleinsäuren nieder- schienen nur die ebenfalls in den Chromosomen enthalte-
gelegt. nen Eiweiße wegen ihrer viel höheren Komplexität in der
Lage. Der Komplex aus DNA und Eiweiß, genannt Chroma-
Bau und Funktion der Nukleinsäuren tin, bildet eine lange und dünne Faser, die im Chromosom
Die Nukleinsäuren sind Biopolymere, die aus Ketten von eng gefaltet und aufgewunden ist.
Nukleotiden bestehen (Abschn. 2.1.2 und 2.1.3). Ähnlich
wie bei den Eiweißen handelt es sich dabei um außeror- Strukturmodell Doppelhelix
dentlich lange, immer unverzweigte Ketten. . Tabelle 23.1 Im Jahre 1953 schlugen J.D. Watson und F. Crick ein Struk-
zeigt, dass in der Zelle nur 2 Grundformen von Nukleinsäu- turmodell für die DNA vor, dessen Richtigkeit als gesichert
ren gebildet werden, nämlich einmal die Desoxyribonuklein- gelten kann. Danach sind die DNA-Moleküle in Doppel-
säuren, abgekürzt DNA (»desoxyribo nucleic acid«) und strängen angeordnet, wobei die Desoxyribose und das
zum anderen die Ribonukleinsäuren, entsprechend als RNA Phosphat jeweils das »Rückgrat« jedes Stranges bilden,
abgekürzt. Eine Nukleinsäure enthält also immer nur während die Basen nach einer festen Spielregel (A nur mit
die eine oder die andere Pentoseform, gleichgültig aus wie T, C nur mit G, . Abb. 23.4) die Querbrücken herstellen.
vielen Tausenden von Nukleotiden (. Abb. 23.4) sie zu- Diese Basenpaarung hat zur Folge, dass die Struktur eines
sammengesetzt ist. Daneben kommen die Basen Adenin, Stranges die des anderen vollständig bestimmt. Die Wechsel-
Guanin und Cytosin in beiden Nukleinsäuren, die Base wirkungen zwischen den Basenpaaren ergeben außer-
Thymin aber nur in DNA und die Base Uracil nur in RNA dem eine Verdrillung des Doppelstranges. Dadurch ent-
vor. steht die bekannte dreidimensionale Struktur der Doppel-
helix, wobei sich pro Wendelgang 10 Basenpaare finden
(. Abb. 23.4).

. Tabelle 23.1. Bausteine von DNA und RNA Vorkommen der RNA
DNA RNA Der zweite Nukleinsäuretyp, also die RNA, kommt in
Pentosen Dexoxyribose Ribose jeder menschlichen Zelle rund 5- bis 10-mal häufiger vor
Basen Adenin (A) Adenin (A)
als die DNA. Es gibt mindestens 3 verschiedene RNA-
Guanin (G) Guanin (G) Klassen, die sich in ihren Eigenschaften deutlich unter-
Cytosin (C) Cytosin (C) scheiden (7 unten). Sie sind alle an der im nächsten
Thymin (T) Uracil (U) Abschnitt geschilderten Eiweißsynthese beteiligt. RNA-
Phosphat ja ja Moleküle sind in der Regel einsträngig, wenn auch Teile
eines Moleküls als Doppelhelix vorliegen können.
23.2 · Molekulare Genetik
577 23

. Abb. 23.4a–c. Strukturmodell der DNA. a Primärstruktur einer Querbrücken herstellt. Auf diese Weise ist die Struktur jedes Stranges
hypothetischen Sequenz von DNA, die alle 4 Basen enthält. Diese durch die seines Gegenübers vollkommen bestimmt. Die beiden
sind an das »Rückgrat« von Desoxyribose und Phosphat gebunden. Stränge sind als Doppelhelix ineinander verdreht. c Atommodell der
b Basenpaarung von 2 sich gegenüberliegenden DNA-Strängen. Doppelhelix nach dem Vorschlag von Watson und Crick
Die Paarung erfolgt nach der Spielregel, dass A nur mit T, C nur mit G

G Die Chromosomen sind aus Chromatin aufgebaut. 23.2.3 Das menschliche Erbgut
Dieses besteht aus Eiweiß und DNA. In der DNA ist und seine Replikation
die Erbsubstanz verschlüsselt. Die DNA ist als Dop-
pelhelix angeordnet, in der die Struktur eines Stran- Anzahl, Bau und Zusammensetzung
ges die des anderen durch die Basenpaarung der der Chromosomen
Querbrücken eindeutig bestimmt. Der in . Abb. 23.5 und 23.6 gegebene Überblick stellt die
wichtigsten Begriffe vor. Danach enthalten die mensch-
lichen Zellkerne 23 Chromosomenpaare mit insgesamt
rund zweimal 12.500 verschiedenen Erbmerkmalen oder
Genen (jedes Gen kommt, wie schon erwähnt, zweimal vor,
nämlich ein mütterliches und ein väterliches. Ei und Samen-
zelle, die Gameten, enthalten jedoch nur einen Chromo-
somen- und damit Gensatz). Jedes Chromosom enthält
daher rund 1.100 Gene (die Schätzungen über die Gesamt-
578 Kapitel 23 · Vererbung

23

. Abb. 23.5. Die menschliche Erbsubstanz. Übersicht über den in dem sehr langen DNA-Molekül verschlüsselt sind, aus dem jedes
Aufbau der Erbsubstanz im Kern der menschlichen Zelle. Jeder Zell- Chromosom (neben einem Eiweißanteil) besteht. Jedes Gen besteht
kern enthält 23 Chromosomenpaare (Ausnahme sind die Ei- und wiederum aus zahlreichen Kodons (weitere Erläuterung 7 Text)
Samenzellen, 7 Text) mit jeweils rund 1100 Genen, die hintereinander

zahl der menschlichen Gene scheint bei 25.000 Genen, also G Das menschliche Erbgut ist in 23 Chromoso-
12.500 Genpaaren, zu liegen). Die Nukleotide stellen dabei, men(paaren) enthalten; jedes Chromosom enthält
wie die Zeichen eines Morsealphabets, den genetischen in seinem DNA-Molekül rund tausend Gene. Die
Kode dar. in den Kodons enthaltene Information, die den
Jedes Gen besteht aus vielen »Wörtern«. Diese sind Bauplan des gesamten Organismus darstellt, wird
aus jeweils 3 Nukleotiden zusammengesetzt. Sie werden bei der Zellteilung unverändert an die Tochterzellen
Triplets oder Kodons genannt. Da 4 verschiedene weitergegeben.
Nukleotide verwendet werden (. Tabelle 23.1), ergibt dies
43, also 4×4× 4=64 Wörter. Von diesen werden 61 als Verdopplung der Doppelhelix bei der Zellteilung
Anweisungen für die Bildung von Eiweiß aus den 20 im Der prinzipielle Mechanismus dieses Vorganges, der Repli-
Körper vorkommenden Aminosäuren benutzt, die übrigen kation genannt wird, ist in . Abb. 23.7a veranschaulicht.
Kodons signalisieren Anfang und Ende eines Eiweißmoleküls An einer bestimmten Stelle des DNA-Stranges kommt es
bzw. Gens. zur Aufspaltung der Doppelhelix in 2 Einzelstränge, von
denen jeder unter Berücksichtigung der Basenpaarungs-
Umfang der Erbinformation regel (7 oben) als Matrize für die Synthese eines neuen
Um einen Eindruck von der Größenordnung der in der Strangs dient. Es entstehen 2 neue Doppelhelices, die aus je
DNA verschlüsselten Erbinformation zu geben, sei erwähnt, einem alten und einem neuen Strang bestehen und jeweils
dass die Gesamtlänge der in einer Menschenzelle als Dop- das genaue Abbild des elterlichen Stranges darstellen
pelhelix vorliegenden DNA etwa 2 m beträgt. Dies ent- (. Abb. 23.7b). Dieser Vorgang wiederholt sich in jeder
spricht 5,5×109 Basenpaaren. Man würde etwa 1000 Bücher nachfolgenden Zellgeneration, sodass der Bauplan des
zu je 1000 Druckseiten benötigen, um diese Basensequenz Organismus im Prinzip für alle Zeiten unverändert weiter-
in der abgekürzten Schreibweise (ein Buchstabe pro Base, gegeben, d. h. vererbt wird.
. Tabelle 23.1) aufzuzeichnen.
23.2 · Molekulare Genetik
579 23

Nach Lewin B (1999). Mit freundlicher Genehmigung von WH Freeman.

. Abb. 23.6. Standardkarte der Bandenmuster des menschlichen fest zusammenhängen. Von dort gehen die kurzen p- und die langen
Chromosomensatzes während einer bestimmten Phase der Zell- q-Arme aus. Die Genlokalisationen einiger Erbkrankheiten sind einge-
teilung, der Metaphase. Zu diesem Zeitpunkt besteht jedes Chromo- tragen
som aus 2 Schwesterchromatiden, die an einer Stelle, dem Zentromer,

Auftreten von Replikationsfehlern Träger der Mutation, andere Mutationen führen zu einer
Die Replikation eines DNA-Stranges ist ein komplexer Veränderung im Organismus, die nachteilig gegenüber
biologischer Vorgang. Es ist daher nicht verwunderlich, dem bisherigen Zustand ist, sodass die betroffenen Orga-
wenn dabei ab und zu ein »Irrtum« unterläuft und damit nismen auf dem Weg der natürlichen Auslese alsbald aus-
eine »falsche« Erbinformation weitergereicht wird. Einen sterben. Nur sehr gelegentlich erweist sich die neue Vari-
solchen Irrtum nennen wir eine Mutation. Mutationen ante der alten überlegen und setzt sich gegenüber dieser
erbringen veränderte, zusätzliche Allele, die man Poly- durch.
morphismen nennt. Mutationen treten völlig zufällig auf, . Tabelle 23.2 fasst die wichtigsten Arten von Mutatio-
wenn nicht äußere Einflüsse (z. B. radioaktive Strahlung) nen zusammen und kennzeichnet jene mit +, die einen po-
diese begünstigen. Die meisten Mutationen sind offen- sitiven Effekt auf den Träger haben können. Alle übrigen
sichtlich »neutral«, d. h. sie haben keinen Effekt auf den haben nachteilige Effekte (Abschn. 23.3.3).
580 Kapitel 23 · Vererbung

©1989 From Molecular Biology of the Cell, 2E by Alberts et al. Reproduced by permission of Garland Science/Taylor & Francis LLC.
23

. Abb. 23.7a, b. Mechanismus der Replikation bei der Zelltei- einem alten und einem neuen Strang bestehen und das genaue Ab-
lung. Bei jeder Zellteilung wird die in der DNA niedergelegte Informa- bild des parenteralen Stranges darstellen. Diesen Vorgang nennt man
tion, die den Bauplan des gesamten Organismus enthält, unverändert den semikonservativen Mechanismus der DNA-Replikation. Er scheint
an die Tochterzelle weitergegeben. Dazu muss der gesamte DNA- nicht nur beim Menschen, sondern bei allen Spezies verwirklicht
Strang redupliziert werden. a Darstellung des prinzipiellen Mechanis- zu sein. Den Fortgang der Replikation bei weiteren Zellteilungen
mus dieser Reaktion. An einer bestimmten Stelle des DNA-Stranges skizziert b. b Jeder neu entstandene Doppelstrang dient jeweils als
kommt es zur Aufspaltung der Doppelhelix in 2 Einzelstränge, von Matrize für den neu zu synthetisierenden Strang. Auf diese Weise
denen jeder als Matrize für die Synthese eines neuen Stranges dient. erhalten die einzelnen Stränge ihre Individualität durch viele Zell-
Als Reaktionsprodukt entstehen 2 neue Doppelhelices, die aus je generationen (bzgl. Mutationen 7 Text)

. Tabelle 23.2. Arten von Mutationen

Gen- oder Punktmutationen Chromosomenmutationen Genommutationen


Definition Ein Gen ist von der Mutation Mehrere Gene sind von der Änderung der Chromosomenzahl
betroffen Mutation betroffen
Mutations- 1. Basenaustausch+ 1. Deletion: Verlust eines Chromo- 1. Aneinploidie: Chromosomensatz
möglichkeiten a. Transition, z. B. A→G somenstücks weicht im einzelnen Chromosom von
(Purinbase → Purinbase); 2. Duplikation+: Verdoppelung eines der Normalzahl ab
führt zu Allelen Chromosomenstücks 2. Polyploidie+: Ganze Chromosomensätze
b. Transversion, z. B. A→T 3. Inversion+: Umkehr der Chromo- sind vervielfacht (Triploidie, Tetraploidie)
(Purin → Pyrimidin); somenstruktur a. Autopolyploidie: wenn alle Chromo-
führt zu Allelen 4. Translokation: Austausch eines somen von einer Art stammen
2. Deletion: Ausfall einzelner Chromosomenstücks b. Allopolyploidie: wenn die Chromo-
Nukleotide somensätze von verschiedenen Arten
3. Insertion: Einschub einzelner stammen (Hybridisation)
Nukleotide
+
können positiven Effekt haben, alle anderen Mutationsformen sind immer negativ für den Träger.
23.2 · Molekulare Genetik
581 23

G Bei der Zellteilung spaltet sich die Doppelhelix in und . Abb. 2.1 in Abschn. 2.1.2). Diese RNA heißt daher
2 Einzelstränge, die jeweils als Matrize für einen auch Boten-RNA oder mRNA (von »messenger« = Bote).
neuen Strang dienen, sodass die nächste Doppel- Andere, relativ kurze RNA-Moleküle, die ebenfalls im
helix jeweils aus einem elterlichen und einem neuen Zellkern synthetisiert werden, binden jeweils eine der
Strang besteht. Fehler bei diesem Kopiervorgang 20 Aminosäuren der Zelle an sich und transportieren diese
werden Mutationen genannt. Sie können vorteilhaft, zu den Ribosomen. Diese RNA-Moleküle werden daher als
nachteilig oder irrelevant sein. Transport- oder tRNA bezeichnet. Sie sind für jeweils eine
Aminosäure und das zugehörige Kodon auf der mRNA spe-
Rolle der Gene im Alltag zifisch.
Die Bedeutung der Gene für die Weitergabe des elterlichen
Erbgutes an die Kinder ist den meisten Menschen bekannt. G Der erste Schritt der Übertragung der genetischen
Viele wissen aber nicht, dass die gleichen Gene auch die Information aus dem Zellkern in die Zelle ist die
alltäglichen Lebensfunktionen der Zellen kontrollieren. Transkription der DNA in mRNA. Die für die Synthese
Die Gene haben also eine Doppelrolle, nämlich einerseits benötigten Aminosäuren werden mit tRNA zu den
die eben skizzierte Steuerung der Zellvermehrung bei der Ribosomen transportiert.
Fortpflanzung und bei der Neubildung von Zellen im er-
wachsenen Organismus, bei der die bestehenden Chromo- Box 23.1. Introns, Exons und RNA-Spleißen
somen sich selbst kopieren, um sich bei der anschließenden Die Durchschnittslänge einer Transkriptionseinheit auf
Zellteilung auf die beiden entstehenden Zellen zu verteilen, einem DNA-Molekül beträgt etwa 8000 Nukleotide
und andererseits die Kontrolle aller Lebensvorgänge in der und damit auch die Länge des transkribierten RNA
Zelle. Diese ist chemischer Natur, nämlich über die Synthe- Produkts. Aber nur rund 1200 Nukleotide werden zur
se von Eiweißen, die als Enzyme und als Bausteine der Zell- Kodierung eines durchschnittlichen Eiweißes benötigt.
struktur dienen. Es gibt also auf einem solchen RNA Molekül viele »un-
nötige« Nukleotidfolgen, die dazu noch zwischen den
G Gene sind nicht nur bei der Zellteilung, sondern
kodierenden Nukleotidketten verstreut sind (Mosaik-
lebenslänglich auch bei jeder Eiweißsynthese in den
gene). Die nichtkodierenden Nukleotidfolgen werden
Zellen beteiligt.
als Introns, die kodierenden Segmente dagegen als
Exons (weil sie in der Regel exprimiert, also in Protein
23.2.4 Vom Gen zu Eiweißsynthese übersetzt werden) bezeichnet. Vor der Eiweißsynthese
und Zellaufbau werden in einem Schneide- und Klebevorgang die In-
trons entfernt, ein Vorgang der RNA-Spleißen ge-
Syntheseeinleitung durch Transkription nannt wird. Die biologische Bedeutung der Introns ist
In einem weitgehend aufgeklärten Prozess, der in stark ver- noch umstritten, vielleicht sind sie nicht mehr als »evo-
einfachter Form in . Abb. 23.8 dargestellt ist, wird dazu im lutionärer Ballast«.
Zellkern der Kode der DNA durch die ähnlich aufgebaute
RNA »kopiert«. Dieser Vorgang wird Überschreibung oder
Transkription genannt. Die RNA bringt dann diese »Bot- Synthesevollendung durch Translation
schaft« zu den für die Proteinsynthese zuständigen kleinen In den Ribosomen findet dann, unter Mitwirkung der dort
Organellen, nämlich den Ribosomen, die nur im Elektro- vorhandenen Enzyme und einer dritten Form der RNA,
nenmikroskop gesehen werden können und meist an das nämlich der ribosomalen RNA oder rRNA, die Synthese von
endoplasmatische Retikulum angelagert sind (. Abb. 23.9 Eiweiß so statt, dass die sehr lange mRNA durch das Ribo-
som hindurchwandert und dass dabei, Kodon für Kodon,
die im Kode niedergelegten Eiweißmoleküle durch Anein-
anderknüpfen der von den tRNA herbeigebrachten Amino-
säuren aufgebaut werden. Dieser Prozess wird Übersetzung
oder Translation genannt (. Abb. 23.9). Die Proteine sind
also das Endprodukt der Gene. Alle anderen Substanzen
der Zellen und Organe werden mit Hilfe der aus Eiweiß
bestehenden Enzyme aufgebaut.

Mechanismen der Wachstumsbegrenzung


und -kontrolle
Die Zelldifferenzierung, also die Ausbildung der verschie-
. Abb. 23.8. Transkription und Translation, schematisch darge- denen Arten von Körperzellen (Nervenzellen, Muskel-
stellt (7 Text) zellen etc), beruht nicht auf einer Veränderung des Inhalts
582 Kapitel 23 · Vererbung

23

. Abb. 23.9. Die wichtigsten Schritte der zellulären Eiweißsyn- Eiweiß besteht (Translation). Die mRNA ist also die Matrize der Eiweiß-
these. Wiedergabe in stark vereinfachter, schematisierter Form. Die struktur. Die kleeblattförmige tRNA transportiert die Aminosäuren
genetische Information der DNA-Sequenz wird im Zellkern in einem zum Syntheseort im Ribosom und dient dort als »Adapter« zwischen
Transkription genannten Prozess in eine einsträngige mRNA-Sequenz Nukleotid und Aminosäure. Es gibt mindestens eine tRNA für jede
überschrieben. Anschließend wird diese Nukleotidsequenz im Ribo- Aminosäure. Die ebenfalls an der Synthese beteiligte ribosomale RNA,
som in die Sequenz von Aminosäuren überschrieben, aus denen das rRNA, stammt aus dem Nukleolus

der Erbsubstanz. Zellen aus der Leber, aus dem Gehirn Hilfe von mRNA, tRNA und rRNA die Eiweißmoleküle
oder aus einem Muskel enthalten in ihren Kernen alle die aus Aminosäuren aufgebaut werden. Ausdifferen-
gleichen Gene: In ein Froschei, dessen Zellkern man mikro- zierte Zellen, z. B. Nervenzellen, enthalten immer
chirurgisch entfernt hatte, wurde der Zellkern einer Haut- einen kompletten Gensatz, der aber nur teilweise
bzw. einer Leberzelle eingepflanzt, und es entwickelte sich aktiv ist.
daraus ein normales Individuum.
Zur Erklärung dieser Befunde nimmt man, in Anleh-
nung an Ergebnisse bei Bakterien, an, dass auch in der tie- 23.3 Ablauf normaler und gestörter
rischen, einschließlich der menschlichen Zelle, Stoffe Vererbung
synthetisiert werden, die die Funktion bestimmter Gene
ein- oder ausschalten können. Man spricht von Aktivato- 23.3.1 Ursachen der genetischen
ren bzw. Repressoren. Solche Aktivatoren und Represso- Variabilität
ren könnten auch über ihre Zellgrenzen hinaus auf andere
Zellen einwirken und dort bestimmte Differenzierungen Freie Rekombination von Chromosomen
auslösen (induzieren). Aber es muss hier auch gesagt wer- Bei der normalen Zellteilung, Mitose genannt, wird der
den, dass wir über die Mechanismen der Wachstumsbe- diploide (komplette, doppelte) Chromosomensatz unver-
grenzung und -kontrolle insgesamt noch sehr unvollkom- ändert an die beiden Tochterzellen weitergegeben. Bei der
men unterrichtet sind. Bildung der Gameten, also von Ei- und Samenzellen,
kommt es jedoch, wie schon kurz erwähnt, in einem viel-
G Der zweite Schritt der Proteinsynthese ist der Pro- stufigen Zellteilungsprozess, der Meiose heißt, zu einer Hal-
zess der Translation, bei dem in den Ribosomen mit bierung des Chromosomensatzes. Der Chromosomensatz
6 ist dann nur noch haploid (griech. »einfach«).
23.3 · Ablauf normaler und gestörter Vererbung
583 23

. Abb. 23.10. Meiose (Entstehung der Gameten) in 2 hypothe- väterlichen Chromosomen auszutauschen (Crossing-over, 7 Text).
tischen Zellen mit 2 Chromosomenpaaren (vereinfachte, schema- Als nächstes (Metaphase I, Anaphase I) ordnen sich die Chromosomen
tisierte Darstellung). Mütterliche und väterliche Chromosomen eines wieder so an, dass sich die Zelle in der Metaphase II teilen kann. Bei
Paares sind jeweils andersfarbig dargestellt. Zu Beginn der Meiose dieser Anordnung werden die mütterlichen und väterlichen Chro-
(Interphase I, nicht alle Phasen sind hier gezeigt) verdoppelt sich matidenpaare zufällig zueinander angeordnet, sodass sich im Durch-
jedes Chromosom zu einem Chromatidenpaar und anschließend schnitt die beiden gezeigten Anordnungen ergeben. Das Endresultat
(Prophase I) legen sich die homologen Chromatidenpaare eng anei- der Meiose nach der nochmaligen Teilung sind pro Elterzelle 4 haploi-
nander an, wobei sie sich teilweise überkreuzen. Diese Kreuzungs- de Keimzellen (Gameten), deren Chromosomen 4 mögliche Misch-
punkte, Chiasmata genannt, halten die Chromosomen zusammen produkte aus den elterlichen Chromosomen sind (unterste Reihe)
und bieten die Möglichkeit, Gene zwischen den mütterlichen und

In . Abb. 23.10 sind in schematisierter Form die wich- 223 oder gut 8 Millionen (genau 8.388.608 Möglichkeiten).
tigsten Schritte der Meiose an den Zellen eines hypotheti- Jeder von einem Menschen produzierte Gamet (Eizellen
schen Organismus mit 2 Chromosomenpaaren wiederge- der Frau oder Samenzellen des Mannes) enthält also eine
geben. Aus jeder Elterzelle werden bei der Meiose 4 haploide von 8 Millionen möglichen Rekombinationen von väterli-
Gameten, entweder 4 Ei- oder 4 Samenzellen (in der Abb. chen und mütterlichen Chromosomen.
nicht unterschieden), die sich bei der Befruchtung wieder
G Durch die zufällige Verteilung der 23 (ehemals)
zu einer diploiden Zelle ergänzen.
mütterlichen und väterlichen Chromosomen bei der
Bei der Meiose kommt es, wie schon die klassische Ge-
Meiose (Bildung von Ei- bzw. Samenzellen) können
netik von Mendel zeigte, zu einer völlig unabhängigen und
mehr als 8 Millionen neue »Mischungen« (Rekombi-
damit zufälligen Verteilung der (ehemals) mütterlichen
nationen) zustande kommen.
und väterlichen Chromosomen auf die beiden Gameten.
Hätte der Mensch 2 Chromosomen, so wären also 22=
2×2=4 Kombinationen möglich, wie dies in . Abb. 23.10 Crossing-over
gezeigt ist, bei 3 Chromosomen gäbe es 23=8 Möglichkei- Nach dem bisher Gesagten, sollte jedes Chromosom eines
ten. Da der Mensch aber 23 Chromosomen besitzt, beträgt Gameten jeweils nur mütterliches oder väterliches Genma-
die Anzahl möglicher Rekombinationen väterlicher und terial enthalten. Dem ist aber nicht so, und dies hat seine
mütterlicher Chromosomen in den entstehenden Gameten Ursache darin, dass zu einer bestimmten Phase der Meiose,
584 Kapitel 23 · Vererbung

der Prophase I, sich die homologen Chromosomen so eng


aneinander legen, dass einzelne ihrer Gene ihre Plätze ver-
tauschen können (. Abb. 23.10). Beim Menschen beobach-
tet man im Durchschnitt 2 oder 3 solcher Crossing-over-
Ereignisse pro Chromosomenpaar. Auch dieser Prozess,
bei dem die DNA beider Eltern in einem einzelnen Chro-
mosom rekombiniert wird, ist eine wichtige Quelle der ge-
23 netischen Variabilität.

Zufälligkeit der Befruchtung


Ohne das Crossing-over zu berücksichtigen, vereinen
sich bei der Befruchtung ein Ei und eine Samenzelle, die
jede eine von jeweils gut 8 Millionen Möglichkeiten der
Mischung der väterlichen und mütterlichen Chromosomen
enthält (7 oben). Es resultiert eine Zygote (befruchtete
Eizelle), die eine unter 64 Millionen (8 Millionen × 8 Millio-
nen) möglichen diploiden Kombinationen darstellt. Es ist
also kein Wunder, dass Brüder und Schwestern so verschie-
den sein können. Von eineiigen Zwillingen abgesehen, ist
jeder Mensch genetisch völlig einzigartig.
G Zur genetischen Variabilität der Nachkommen
tragen auch das Crossing-over in der Prophase I
der Meiose und die Zufälligkeit der Vereinigung von
Ei- und Samenzelle bei der Befruchtung bei.

23.3.2 Biotechnologische Modifikation


von Genen, Klonierung

Gen-Verhaltens-Beziehung
Die Desoxyribonukleinsäure(DNA)-Sequenz der Gene legt
die Grenzen fest, innerhalb derer sich ein Merkmal ent- . Abb. 23.11. Genklonierung. 1 Zunächst wird ein Plasmid aus
wickeln kann (Reaktionsnorm). Die Primärstruktur eines einem Bakterium isoliert. Plasmide sind kleine, ringförmige DNA-Mo-
leküle von einzelligen Organismen, welche sich gut als mobile gene-
Proteins ist das einzige direkte Genprodukt, das erst weitere
tische Transportvehikel eignen. 2 Das gewünschte DNA-Fragment
Zwischenstufen durchlaufen muss, bevor es zu seinem End- wird isoliert und gereinigt. 3 Das DNA-Fragment wird ins Plasmid
produkt (z. B. einem Neurotransmitter) gelangt. Auf dem eingebaut und 4 in die Bakterienzelle eingeschleust. 5 Diese Zellen
Weg dahin wirken eine Vielzahl von Umwelteinflüssen und werden vermehrt und enthalten nun viele Genkopien, die (unten
der Zufall. Z. B. kann die Genexpression in sensiblen Pha- rechts) zur Produktion von großen Mengen von Proteinen dienen
sen der Entwicklung durch äußere Einflüsse (wie z. B. die
Körpertemperatur) beeinflusst werden. Das Endprodukt
der Gene (z. B. der Neurotransmitter) ist selbst häufig für G Die Gene bestimmen die Grenzen der Entwicklung
viele Verhaltensweisen Voraussetzung, es ist unspezifisch. eines Merkmals. Die Gen-Verhaltens-Beziehungen
Die Tatsache, dass man prinzipiell über Genmanipulation unterliegen zahlreichen, oft zufälligen Umweltein-
Verhaltensweisen verändern könnte, spricht genauso wenig flüssen, da zahlreiche Zwischenschritte vom Gen
für die Vererbbarkeit allen Verhaltens wie die Tatsache, dass zum »Erfolgsprodukt« der Proteinsynthese führen.
über Lernprozesse (Kap. 25) praktisch jedes Verhalten be-
einflussbar ist, für die Gelerntheit allen Verhaltens spricht. Gentechnologie
Die meisten der aktiven Gene kodieren Eigenschaften, Die Techniken zur Analyse und gezielten Vermehrung von
die nur indirekt für Verhalten wichtig sind. Es kann also Erbsubstanz werden unter dem Begriff der DNA-Rekombi-
schon rein quantitativ für die meisten Verhaltensweisen nation zusammengefasst. Dabei werden Teile der DNA
keine direkte Gen-Verhaltens-Beziehung geben. Sollte es einer bestimmten Art mit der DNA einer anderen Art, ty-
eine direkte Gen-Verhaltens-Beziehung für Verhaltenswei- pischerweise von Bakterien, ausgetauscht (. Abb. 23.11).
sen geben, so kann diese über Klonierung (. Abb. 23.11) Sog. Restriktionsenzyme schneiden eine DNA-Kette an der
des Genotyps und nachfolgenden »Einbau« in einen Orga- gewünschten Stelle auf und erlauben die Einfügung frem-
nismus nachgewiesen werden. der DNA-Fragmente in geeignete Chromosomen, meist
23.3 · Ablauf normaler und gestörter Vererbung
585 23

sog. rekombinante Plasmide von Bakterien oder Phagen,


die sich vervielfältigen lassen und in fremde Zellen einge-

Aus Palmiter, R D (1998). Mit freundlicher Genehmigung des International


setzt werden können, wo sie dann die neue DNA exprimie-
ren. Diese Vermehrung von DNA-Segmenten in Plasmiden
oder Viren nennt man Klonierung, die produzierten Zellen
mit den Kopien der rekombinierten DNA heißen Klone
(. Abb. 23.11).
Neben Bakterienzellen als rekombinierte DNA kann
man eine fremde DNA direkt in den Zellkern einer Emp-

Journal of Developmental Biology.


fängerzelle injizieren, was zu deren Einbau und Expression
führen kann. Häufig werden auch Retroviren benützt, die
in fremde Zellen »einbrechen«, indem sie mit dem Enzym
reverse Transkriptase eine DNA-Kopie aus der RNA her-
stellen, die in die Empfängerzellen-Chromosomen einge-
baut wird.
Die klonierten rekombinierten DNA- oder auch andere
Genom-Sequenzen können exakt durch die sog. In-situ-Hy- . Abb. 23.12. Riesenmaus nach Mikroinjektion eines Wachs-
bridisation bestimmt werden (Abschn. 20.2.2). Dabei wird tumsgens in den Zygotenkern
eine klonierte Zellkolonie mit der interessierenden DNA
gewaschen, so dass ein ungepaarter DNA-Strang bleibt. An
diesen wird radioaktiv oder mit Meerrettichperoxidase Box 23.2. Gentherapie
markierte DNA herangebracht, die sich nur dann mit dem Durch Einschleusen von Genen und Genabschnitten
ursprünglichen DNA-Strang verbindet (hybridisiert), wenn in die DNA oder RNA lassen sich Änderungen der Trans-
sie die komplementär-passenden Nukleotidbasen findet. kription und Translation auslösen, die zu neuen Pro-
Legt man eine photographische Emulsion über die hybridi- teinbestandteilen führen oder geschädigte Zellen (z. B.
sierte DNA, so erscheinen dort die Hybriden als helle Bän- Krebszellen) selektiv absterben lassen. Im Tierversuch
der, aus denen man die DNA-Sequenzen erschließen kann ließ sich dadurch bereits die Entstehung von Fettsucht
(Autoradiographie). (Kap. 25) verhindern, wenn ein Gen, das ein Enzym
In der Biotechnologie wird aus den klonierten rekombi- für den Fettstoffwechsel exprimiert, in die sich ent-
nierten DNA-Sequenzen die Synthese der rekombinierten wickelnden Zellen »eingeschmuggelt« wurde. Die
Proteine versucht. So wurden menschliches Insulin, Wachs- Hoffnung, rasch Gentherapien für schwerste Hirn-
tumshormon, Somatostatin, Interferon und andere mensch- erkrankungen, wie Alzheimer, Parkinson und amyotro-
liche Proteine durch Benützung von Bakterien und protein- phe Lateralsklerose zu entwickeln, hat sich noch nicht
reichen Pflanzen (Hefe, Pilze etc.) als »Klonierungsvektoren«, erfüllt. Über Infektion mit Retroviren kann in langsam
in die eine DNA-Sequenz eingebaut wird, synthetisiert. sich teilenden Zellen des ZNS, wie z. B. Astrozyten,
In der modernen molekularen Genetik werden die Gren- eine fehlende Transmittersubstanz produziert werden.
zen zwischen Umgebungs- und Geneinfluss zunehmend Dies wäre für den Dopaminmangel bei der Parkinson-
fließend. Zum Beispiel kann die Transfektion (Gentrans- krankheit (Kap. 13) von größter Bedeutung. Bisher
plantation) der Erbsubstanz von Spendertieren zur Auf- lassen sich nur fetale Zellen, die noch kein Abwehrsys-
nahme der fremden Gene in die eigenen führen und das tem aufweisen, in das Gehirn von Parkinson-Patienten
Wachstum der Spendertiere beeinflussen (. Abb. 23.12). einbringen.

G Gene eines Lebewesens können aus einem Zellkern


entnommen, mit Hilfe von Plasmiden in Bakterien
tungsexperimente und Familienstudien angewiesen war,
eingeschleust und dort gezielt vermehrt werden.
können heute die Genstruktur direkt analysiert (»gelesen«)
Diese Genklonierung dient der anschließenden Ex-
und selektiv einzelne Gene beeinflusst werden. Im »Human
pression der erwünschten Eiweiße, z. B. von mensch-
Genome Project«, das ursprünglich von D. Watson, dem
lichem Insulin, für die Diabetestherapie. Gentrans-
Entdecker der DNA, koordiniert wurde, wurde die gesamte
plantation kann auch unmittelbar körperliche
menschliche Gensequenz kartiert. Dies schafft die Voraus-
wie psychologische Merkmale verändern, neu ent-
setzung für ihre selektive Beeinflussung, wenngleich die
wickeln oder eliminieren.
Kartierung vorerst nichts über die Funktion der Gene
aussagt.
DNA-Marker Restriktionsenzyme können DNA-Stränge (meist aus
Während man früher zur Schätzung von Erblichkeit und der Schleimhaut der Mundinnenseite) an bestimmten Stel-
Genwirkungen auf Populationsstudien, selektive Züch- len ihres Segments aufschneiden (7 oben und . Abb. 23.11),
586 Kapitel 23 · Vererbung

und damit lassen sich beliebig definierte DNA-Fragmente mosomen vertauscht (Translokation), dasselbe Chromoso-
herstellen. Dabei zeigt sich, dass vom gleichen Genom- mensegment wiederholt werden (Duplikation), oder ein
bereich hergestellte DNA-Reaktionsfragmente bei verschie- Chromosomensegment dreht sich (Inversion). Innerhalb
denen Personen erhebliche Variationen in ihrer Länge auf- einzelner Gensequenzen können zusätzlich Mutationen auf
weisen. Dies nennt man Reaktionsfragmentlängenpoly- molekularer Ebene auftreten, wie Substitutionen und Ein-
morphismus (RFLP, »riftips«). fügungen einzelner Basen in der DNA (. Tabelle 23.2).
Die aufgeschnittenen DNA-Stücke dienen als eine Art
23 »Sonden«, die sich an komplementäre Basenpaare anlegen, Folgen von Chromosomenaberrationen
so dass man die Orte der RFLP identifizieren kann. Inwie- Die meisten Chromosomenabweichungen führen zu schwe-
weit eine solche markierte DNA-Sequenz wirklich funktio- ren geistigen Störungen, da viele Gene kognitive Leistun-
nell ist, also ein Protein kodiert, kann damit natürlich nicht gen über Veränderungen der Entwicklungs- und Differen-
bestimmt werden. zierungsprozesse indirekt beeinflussen. Mit zunehmendem
Alter »lockern« sich die homologen, einander gegenüber-
G Die Kartierung (»mapping«) und die direkte Beein-
liegenden Chromosomenpaare und auch die Basenpaare
flussung der Gene mit den Methoden der klassi-
der DNA, daher steigt das Risiko für viele Störungen mit
schen und molekularen Genetik ermöglichen im
dem Alter der Eltern.
Prinzip die Aufklärung des exakten Weges vom Gen
. Tabelle 23.3 gibt eine Übersicht über die häufigsten
zum Gehirn und damit zum Verhalten.
Chromosomenstörungen an den Autosomen (so werden
alle Chromosomen benannt, die nicht direkt an der Fest-
23.3.3 Störungen der Vererbung legung des Geschlechts beteiligt sind, also beim Menschen
44 seiner 46 Chromosomen) und der häufigsten Störungen
Formen von Chromosomenaberrationen der Geschlechtschromosomen.
Bei der Meiose (Bildung der Gameten, 7 oben) treten Chro- Das Down-Syndrom oder Trisomie 21 (Mongolismus)
mosomenmutationen auf (in etwa 1 von 200 Geburten), die ist die Folge einer Vermehrung des kleinsten menschli-
uns Auskunft über deren Bedeutung für Verhalten und chen Autosomenpaares um ein drittes Chromosom, sodass
Hirnentwicklung geben können. Dabei kann ein Teil eines ein Triplett statt des Chromosomenpaares 21 resultiert
Chromosoms verloren gehen (Deletion), Teile von Chro- (. Abb. 23.6). Die Kinder haben neben körperlichen

. Tabelle 23.3. Einige Chromosomenanomalien

Typ der Anomalie Auftretenshäufigkeit Symptome


(Inzidenz)
pro Lebendgeburt
Autosomale Anomalien
Edward-Syndrom Trisomie 18 1 in 5000 Früher Tod; viele Probleme
D-Trisomie-Syndrom Trisomie 13 1 in 6000 Früher Tod; viele Probleme
(Patau-Syndrom)
Katzenschrei-Syndrom Deletion eines Teils des kurzen Arms 1 in 50.000 Schrilles, monotones Schreien;
von Chromosom 4 und 5 schwere Retardierung
Down-Syndrom Trisomie 21: 5% durch Translokation 1 in 700 Viele Probleme; Retardierung

Anomalien der Geschlechtschromosomen


Turner-Syndrom X0 oder XX-X0 1 in 2500 Einige physische Stigmata,
hormonelle Probleme; räumliches
Denken gestört
Frauen mit zusätzlichen XXX 1 in 1000 Bei Trisomie X keine physischen
X-Chromosomen XXXX Störungen; leichte Retardierung
XXXXX
Klinefelter-Syndrom XXY 2 in 1000 Mit XXY große Probleme bei der
XXXY sexuellen Entwicklung; leichte
XXXXY Retardierung
XXYY
XXXYY
Männer mit zusätzlichen XYY 1 in 1000 Großwuchs; manchmal leichte
Y-Chromosomen XYYY Retardierung
XYYYY
23.4 · Polygene Vererbung und Verhaltensgenetik
587 23

Gebrechen Intelligenzquotienten (IQs) von 20–90 (unter 70 schließlich Männer betreffen, sind Hämophilie (»Bluter-
beginnt Retardierung). Einige Mongoloide sind also durch- krankheit«, ein Blutgerinnungsdefekt der durch einen re-
schnittlich intelligent. Auf welche Stoffwechselveränderun- zessiv vererbten Mangel an dem Blutgerinnungsfaktor VIII
gen die Retardierung zurückgeht, ist noch nicht bekannt. entsteht; es gibt auch viele andere Formen der Hämophilie),
Rot-Grün-Blindheit (Protanopie bzw. Deuteranopie. Ab-
G Bei der Meiose treten seltene, aber sehr unterschied-
schn. 17.1.5) und verschiedene Retardierungsformen.
liche Mutationen auf, die bei alten Eltern häufiger
sind als bei jungen. Viele dieser Mutationen führen G Neben Chromosomenmutationen sind autosomal-
zu schweren geistigen Störungen. Dies zeigt, dass dominante (z. B. Chorea Huntington) und autoso-
psychische Eigenschaften auf eine Vielzahl von Ge- mal-rezessive Erbstörungen (z. B. Phenylketonurie)
nen und deren Wirkkombinationen zurückzuführen sowie Störungen des X-chromosomalen Erbgangs
sind. (z. B. Hämophilie) eine häufige Ursache vererbter
Defekte.
Autosomal-dominante und autosomal-rezessive
und X-chromosomale Erbstörungen 23.4 Polygene Vererbung
Wie im Abschnitt 23.1 erläutert, hat bei dominanter Ver- und Verhaltensgenetik
erbung bereits ein Allel die Ausprägung des Merkmals zur
Folge (. Abb. 23.2). Damit hat jeder Nachkomme eines 23.4.1 Erblichkeitsschätzungen
Merkmalsträgers in der Elterngeneration eine 50-prozentige
Wahrscheinlichkeit zu erkranken. Für die Neurologie wich- Methode der Erblichkeitsschätzungen
tigstes Beispiel ist die Huntington-Krankheit (»Veitstanz« in der Verhaltensgenetik
im Volksmund). Sie ist in Abschn. 5.4.8 angesprochen und Solche Abschätzungen bedeuten nicht, dass es sich um ab-
in Box 13.7 in Abschn. 13.7.1 ausführlich beschrieben. solute und feststehende Werte handelt: Sie können sich von
Auch die meisten übrigen bekannten autosomal-do- Population zu Population und über die Zeit hinweg ändern.
minanten Erbkrankheiten gehen mit geistiger Retardierung Ändert sich die Population, ändert sich auch die Erblich-
einher, deren Ursache aber meist unklar bleibt, da wie bei keit. Wenn wir also sagen, die Erblichkeit der Körpergröße
der Huntington-Krankheit der Weg vom Gen zum Gehirn ist 0,8, so meinen wir, dass 80% der beobachteten Variation
unbekannt ist. in einer definierten Population zu einer bestimmten Zeit
Beim autosomal-rezessiven Erbgang werden nur ho- auf genetische Differenzen zurückgeht. Wie alle deskrip-
mozygote Träger einer Erbkrankheit oder Eigenschaft tiven statistischen Maße enthält auch dieses Maß eine ge-
phänotypisch das in Frage stehende Merkmal zeigen. Eltern wisse, abschätzbare Fehlerbreite.
mit einem rezessiven Gen werden also mit einer Wahr- In der Verhaltensgenetik des Menschen werden die
scheinlichkeit von 25% homozygot kranke Kinder be- Erblichkeitsanteile über den Vergleich von Korrelationsko-
kommen. Sind die Eltern blutsverwandt (»Inzucht«), so ist effizienten zwischen Eltern und Kindern (additive gene-
das Risiko für Homozygotie der rezessiven Gene natürlich tische Varianz VG=50%), Halbgeschwistern (VG=25%),
erhöht. Es gibt ca. 1000 autosomal-rezessive Erkrankun- Geschwistern (VG=50%), zweieiigen Zwillingen DZ
gen, die bekanntesten Beispiele sind die Sichelzellanämie (VG=50%) und eineiigen Zwillingen MZ (VG=100%) abge-
(Abschn. 23.1.3), die zystische Fibrose und die Phenyl- schätzt. Hinzu kommt, dass man eineiige und zweieiige
ketonurie. Zwillinge vergleicht, die kurz nach der Geburt voneinan-
Die Phenylketonurie ist durch die Inaktivität des der getrennt und adoptiert wurden und in 2 verschiedenen
Enzyms Phenylalaninhydroxylase in der Leber gekenn- familiären und physischen Umgebungen aufgewachsen
zeichnet. Dieses Enzym konvertiert Phenylalanin zu Tyro- sind. Die letztere Methode ergibt naturgemäß die besten
sin, was bei der Phenylketonurie unterbleibt, wodurch sich Erblichkeits- und Umwelteinflussschätzungen. Jede der
Phenylalanin im Blut anhäuft. Dadurch werden wichtige Methoden hat gewisse Fehlerquellen, trotzdem besteht heu-
Aminosäuren im sich entwickelnden Nervensystem unter- te bezüglich einzelner Merkmale meist eine hohe Überein-
drückt, was häufig zu Retardierung, Hyperaktivität und stimmung. . Tabelle 23.4 gibt eine Zusammenfassung der
Irritabilität und anderen Symptomen (z. B. »Mäusegeruch«) bisherigen Ergebnisse.
führt. Durch eine phenylalaninarme Diät ab der Geburt
kann die Retardierung weitgehend verhindert werden. Das G Erblichkeitsanteile werden über den Vergleich von
Gen für Phenylketonurie ist auf dem langen Arm des Chro- Korrelationskoeffizienten zwischen Eltern und
mosom 12 lokalisiert (. Abb. 23.6), aber auch bei diesem Kindern abgeschätzt. Je nach Verwandtheitsgrad
Gen ist der exakte Weg vom Gen zu seinem Endprodukt liegt dieser bei 25–50%. Nur eineiige Zwillinge
(z. B. der Retardierung) noch nicht bekannt. haben einen Koeffizienten von 100%. Getrennt auf-
Beispiele für Störungen des geschlechtschromosomal gewachsene eineiige Zwillinge ergeben besonders
gebundenen, X-chromosomalen Erbgangs, die fast aus- aussagekräftige Abschätzungen.
588 Kapitel 23 · Vererbung

. Tabelle 23.4. Erblichkeitsschätzung (VG) verschiedener Verhaltensmerkmale (++ viele Studien mit positivem Resultat; + wenige
Studien mit positivem Resultat)

Methode der Schätzung


Familienvergleich Zwillingsstudie Adoptionsstudie Ergebnisse
Intelligenzquotient (IQ) ++ ++ VG=40–60%
23 ++ (Korrelation rMZ=0,85, rDZ=0,6)
Die Umgebungsvarianz ist in der frühen Jugend
groß, beim Erwachsenen klein
Beruflicher Status + + VG≈40% (rMZ=0,4, rDZ=0,2)
+
Spezifische kognitive Fertigkeiten + + VG=30–50%
(verbale und räumliche Operationen)
+
Kreativität ++ 0 VG=20% (emergente Eigenschaft)
+
Homosexualität – + Für männliche Homosexualität wurde eine Region
+ (Xq28) am X-Chromosom identifiziert
Musikalität + + Hängt teilweise von Art der Musikalität ab (Talent
+ zum Singen ist z. B. emergent)
Leseschwäche + Kommt in Familien gehäuft vor
+
Geistige Retardierung Für spezifische Syndrome hoher genetischer Anteil;
für leichte Retardierung familiäre Häufung
Schizophrenie ++ + Risiko für Verwandte ersten Grades 10%; Risiko für
++ MZ≈40%; Adoptionswerte geringer (ca. 20%)
Depressive Störung (unipolar) ++ + Risiko für Verwandte ersten Grades ≈10%; Risiko für
++ MZ≈60%, DZ≈20%; Adoptionswerte geringer (20%)
Bipolare (manische) Störung 0 0 Risiko für Verwandte ersten Grades ≈5%
++
Delinquenz + 0 Nur geringer genetischer Einfluss
+
Kriminalität + + MZ=70%, DZ=30%, genetischer Einfluss vorhanden,
+ Adoption geringere Werte
Alkoholismus 0 + Risiko, auf Alkohol besonders stark anzusprechen,
++ teilweise vererbt; vermutlich emergente Eigenschaft
Persönlichkeitsfaktoren ++ ++ VG≈40% (rMZ=0,5, rDZ=0,3)
(Extraversion, Hilfsbereitschaft etc.)
++
Einstellungen und Glaubenshaltungen ++ + Vor allem Traditionalismus und Konservativismus
+
Freizeitinteressen + + VG≈50% (wahrscheinlich auf Emergenesis, d. h.
+ Genkonfiguration zurückzuführen)
Dickleibigkeit (Obesitas) ++ ++ VG≈50–60%
++

Probleme der Erblichkeitsschätzungen ändert sich natürlich bei jeder neuen Genvariante, bei Epis-
Die Berechnung der Erblichkeit wird in der Forschung tase und Dominanz, und ändert sich natürlich auch mit
meist realisiert, indem die phänotypische Variation (VG) neuen Umwelteinflüssen. Die Intelligenz steigt z. B. bei
von genetisch identischen Personen (eineiigen Zwillingen) fördernden Umgebungsbedingungen besonders stark in
mit der gesamten phänotypischen Varianz (VP) in der na- wenig privilegierten sozioökonomischen Schichten, ob-
türlichen, genetisch vielfältigen Population verglichen wird. wohl der IQ einen hohen Erblichkeitsanteil aufweist.
Der Quotient E=VG/Vp gibt die Anteile der genetischen Va- Wenn Personen über längere Zeit in einer Umgebung
rianz an den Umgebungseinflüssen wieder. Der Quotient leben, die für die Entwicklung eines genetischen Potenzials
23.4 · Polygene Vererbung und Verhaltensgenetik
589 23

günstig ist, so werden jene Prozesse, die ein gegebenes und den sofort nach der Befruchtung einsetzenden, dieses
genetisches Potenzial im Phänotyp realisieren, verstärkt fördernden oder behindernden Umwelteinflüssen ver-
aktiviert. Der IQ stieg z. B. nach 1945 deutlich an, nachdem ständlich. Die quantitative Messung dieser Interaktion
vermehrt Kinder armer Kreise gefördert wurden, die das steckt allerdings noch in den Kinderschuhen.
genetische Potenzial maximierten.
G Umgebungseinflüsse, die ein gegebenes geneti-
Box 23.3. Knock-out und transgene Tiere sches Potenzial verstärkt realisieren, können zu
Überschätzungen der genetischen Varianz führen
Eine relativ spezifische Methode zum Studium von
und vice versa. Erblichkeitsschätzungen beim Men-
Gen-Verhaltens-Wegen ist die Erzeugung von Knock-
schen können also durch reziproke Beeinflussung
out-Tieren (bisher meist Insekten und Mäuse): Eine
von Genen und Umwelt erheblich verzerrt werden.
Mutation einer bekannten Gensequenz wird in einer
embryonalen Zelle durch Hybridisierung (Abschn.
23.1.2) erzeugt, die Gensequenz oder das Gen wird 23.4.2 Emergenesis
aktiviert und in die Gameten eines sich entwickelnden
Tieres »geschmuggelt«. Dieses Tier produziert dann Die Minnesota-Studie
durch Inzucht Nachkommen, bei denen beide Kopien In einer über Jahrzehnte dauernden Untersuchung (»Minne-
des Gens fehlen und an dem man die Folgen für Ver- sota Study of Twins Raised Apart« von Lykken und Mitar-
halten untersuchen kann. Wenn man ein manipulier- beitern) haben die Forscher mehr als 200 eineiige mit zwei-
tes, aber funktionales Gen (z. B. ein Krankheit er- eiigen Zwillingen verglichen, die getrennt voneinander
zeugendes Gen) in ein lebendes Tier »einschmuggelt«, aufgewachsen waren und anlässlich der Untersuchung in
spricht man von einem transgenen Tier, da ein Gen in Minnesota wieder vereint wurden. Dabei fanden sie für die
seinem Genom transferiert wurde. meisten untersuchten psychologischen und physiologi-
Die Interpretation der Folgen dieser Manipulatio- schen Merkmale eine extrem hohe Konkordanz (>80%)
nen ist schwierig, weil ein fehlendes oder zusätzliches zwischen den eineiigen Zwillingen. Nach einem additiv-
Gen oder eine fehlende Gensequenz viele spezifische polygenen Modell der Vererbung müsste man annehmen,
und unspezifische sekundäre Folgen haben kann, die dass die Eltern von zweieiigen Zwillingen etwas mehr als
nicht direkt damit zusammenhängen müssen, oder 50% ihrer Gene an diese weitergeben, sodass diese in poly-
der Organismus kompensiert für den Ausfall mit un- gen vererbten Merkmalen eine etwa 50%ige Konkordanz,
vorhersagbaren Veränderungen. Beim sich entwickeln- die eineiigen 90–100% aufweisen müsste. Dies ist für ein-
den Tier ist die veränderte Genstruktur in allen Zellen zelne Merkmale wie Körpergröße und IQ auch der Fall.
des Organismus präsent, was zu vielen, nicht beab-
sichtigten Konsequenzen führt. Intelligenz, Erblichkeit und Hirnvolumen
In . Abb. 23.13 sind die Beziehungen zwischen Genen, all-
gemeiner Intelligenz und Gehirnvolumen dargestellt. Etwa
Ein Großteil der auf . Tabelle 23.4 angegebenen Erblich- 40–50% der Intelligenz kann genetischen Faktoren zuge-
keitsschätzungen überschätzen das Ausmass der geneti- schrieben werden. Die Wirkungen von Genen auf die Hirn-
schen Varianz. Ein Kind formt seine Umgebung natürlich struktur kann man dadurch abschätzen, indem man das
auch entsprechend seinen Begabungen. Wird es dafür von Hirnvolumen von Zwillingen und Familien vergleicht und
der Umwelt (Eltern, Schule) gefördert, so kann es zu multi- mit der psychometrisch erfassten Intelligenz korreliert:
plikativen Effekten zwischen begabtem Kind und Umwelt Dabei kann man das Volumen der grauen Substanz (grün),
kommen: Ein durchschnittlich musikalisch begabtes Kind der weißen Substanz (rot) oder der Zentralflüssigkeit (blau)
beginnt ein Instrument zu lernen. Eltern und Schule för- als Parameter korrelieren.
dern dies, z. B. durch eine besondere Ausbildung. Darauf-
hin steigt die musikalische Leistung und das heranwachsen-
Nach Gray JR, Thompson PM (2004). Reprinted

de Kind sucht zunehmend eine Umgebung auf, in der mu-


by permission from Macmillan Publishers Ltd:

siziert wird. Dies steigert weiterhin die Leistung usw. Somit


kann die Umgebung auch bei Eigenschaften mit hohem
oder niedrigem Erblichkeitskoeffizienten zu einem bemer-
Nature Rev Neuroscience.

kenswert großen Anstieg der Leistung und somit des Um-


gebungseffektes führen. Dies wurde für den IQ, sportliche
Leistungen und Musikalität nachgewiesen.
Nicht ausgedrücktes (= nicht gefördertes) genetisches
Potenzial kommt in der Bestimmung von Erblichkeit (E)
nicht zum Tragen. Die phänotypische Varianz ist aber nur . Abb. 23.13. Beziehungen zwischen Genen, Gehirnstruktur
aus der Interaktion zwischen dem genetischen Potenzial und Intelligenz (Erläuterung im Text)
590 Kapitel 23 · Vererbung

Das Gesamtvolumen ist zu 85% vererbt (Pfeil oben Box 23.4. Verhaltensähnlichkeiten bei getrennt aufge-
links) und korreliert 0,33 mit Intelligenz (Pfeil links unten wachsenen eineiigen Zwillingen
nach rechts oben). Intelligenz und das Volumen der grauen
Die Minnesota-Untersuchung erbrachte überraschend
Substanz hängen zwar von denselben Genen ab, die Korre-
wenig Hinweise auf Einflüsse der Umgebung bei
lation beträgt aber nur 0,25 (Pfeil links unten nach rechts
den angegebenen Eigenschaften, aber auch bei vielen
oben). Allerdings ist diese Korrelation zwischen Volumen
persönlichen Eigenheiten des täglichen Lebens. Die
der grauen Substanz und Intelligenz über Kortexabschnitte
23 verschieden, die höchste besteht zur Präfrontalregion
Zwillinge empfanden fast ausnahmslos eine starke
und anhaltende Sympathie füreinander nach der Zu-
(rechts in rosa und gelb), v. a. zum dorsolateralen Präfron-
sammenführung in Minneapolis. Die Untersuchungen
talkortex (Arbeitsgedächtnis).
und Interviews fanden vor der Wiederbegegnung statt:
G Die Erblichkeit der allgemeinen Intelligenz ist zwar Ein Zwilling erzählte z. B. laufend lustige Episoden, der
im statistischen Mittel der Gesamtbevölkerung rela- zweite trat ins Zimmer mit der Bemerkung »Soll ich
tiv hoch (ca. 50%), schwankt aber stark nach Alter Euch eine lustige Geschichte erzählen« – eben dieser
und Gruppenzugehörigkeit. Besonders das Volumen Zwilling war in einer ernsten und wenig zu Scherzen
der grauen Substanz der Präfrontalregion ist auf ge- neigenden Familie erzogen worden. Ein anderes Paar
netische Faktoren rückführbar und korreliert positiv baute in jedem eigenen Garten eine runde Bank um
mit allgemeiner Intelligenz. einen Baum. Beide Zwillinge wählten dieselben Ge-
schenke für andere, andere nahmen beide an Wahlen
Emergente Merkmale nicht teil, weil sie sich nicht genug informiert fühlten.
Von 200 Zwillingen wollten 2 Personen nicht in das
Für die meisten untersuchten Merkmale besteht aber eine
psychophysiologische Labor kommen, weil sie Angst
hohe Konkordanz zwischen den eineiigen Zwillingen, die
vor dem Eingeschlossensein hatten, diese beiden
getrennt aufwuchsen (Box 23.4) und eine extrem kleine
waren eineiige Zwillinge. Zwei trugen 7 Ringe an den
zwischen den zweieiigen Zwillingen. Dies kann nur be-
Fingern, sie waren eineiige Zwillinge; 2 waren 5 mal
deuten, dass Epistase (Abschn. 23.1.3) am Werk ist und
verheiratet, sie waren Zwillinge etc. Bei keinem der
bei solchen Eigenschaften eine Neukonfiguration der
zweieiigen Zwillingspaare konnten solche Ähnlich-
elterlichen Gene aufgetreten ist, die eine stark von den
keiten gefunden werden, die nicht auf Zufall beruhen
Genen abhängige Eigenschaft produziert; diese Eigen-
können.
schaft war aber in der Familie bisher nicht aufgetreten
und wird dies erst wieder mit einer gewissen Wahrschein-
lichkeit nach Generationen tun. Daher die Bezeichnung
emergente Eigenschaft. Emergente Eigenschaften kom- Insgesamt also zeigt sich eine überraschend »bunte«
men von Konfigurationen, nicht aus Summation von Erb- Mischung von Eigenschaften als emergent. Sowohl Merk-
substanz! male, die man bisher als stark vererbt angenommen hatte
Folgende Eigenschaften sind als emergent erkannt (psychophysiologische Parameter), wie auch Eigenschaften,
worden: denen man ein starkes Umweltpotenzial (sozialer Einfluss,
4 EEG-Alpha-Vorzugsfrequenz (Kap. 21), Interesse) zuschrieb, erwiesen sich emergenter als ursprüng-
4 Habituationsrate psychophysiologischer Variablen lich angenommen.
(Kap. 22),
4 berufliche und geistige Interessen und Talente, G Emergenesis bedeutet, dass durch Gen-Konfigura-
4 Kreativität (Genialität im Guten wie im Bösen), tionen ein starker genetischer Einfluss entstehen
4 Stärke des Einflusses auf andere (»social impact«), kann, der aber nicht innerhalb von Familien weiter-
4 Extraversion (optimistisch, sozial aufgeschlossen, Ge- gegeben wird. Viele menschliche Verhaltensweisen
fühl persönlicher Kontrolle, wenig stressanfällig), und physiologische Merkmale sind auf Emergenesis
4 »gutes« Aussehen. zurückzuführen.
Zusammenfassung
591 23

Zusammenfassung
Was die Interaktion zwischen Erbe (Nature) und Umwelt 5 Proteine aus Aminosäuren. Als Bausubstanz, zur
(Nurture) angeht, Signalübertragung (Hormone, Rezeptoren) und als
5 so ist der Normalfall die Interaktion von Anlage und Biokatalysatoren (Enzyme).
Umwelt, eine dynamische Interaktion, die bereits 5 Nukleinsäuren aus Ketten von Nukleotiden. In DNA
unmittelbar nach der Befruchtung einsetzt; und RNA ist die Erbsubstanz verschlüsselt.
5 gibt es einige wenige Sonderfälle der Dominanz an-
geborener Verhaltensweisen (z. B. Atmen, Schlucken); Die Erbsubstanz ist in den Chromosomen enthalten, die
5 gibt es auch wenige Sonderfälle der Dominanz bei der Zellteilung sichtbar werden.
erlernten Verhaltens (z. B. Kaspar Hauser). 5 Die Chromosomen sind aus Komplexen von DNA und
Eiweiß, Chromatin genannt, aufgebaut, von denen
Mit monohybriden Kreuzungen reinrassiger Garten- die DNA die Erbsubstanz enthält.
erbsen konnte Gregor Mendel seine Vererbungsregeln 5 Die Doppelhelix ist das Strukturmodell der DNA.
erarbeiten: Dabei sind die DNA so angeordnet, dass die Struktur
5 Jedes Merkmal (Gen) liegt als Paar vor, jedes Paar- eines Stranges die des anderen bestimmt.
anteil wird Allel genannt. 5 Die RNA ist v. a. an der Eiweißsynthese beteiligt.
5 Von jedem Allelpaar wird jeweils ein Anteil auf die
Nachkommen übertragen (Spaltungsregel). Das menschliche Erbgut
5 Es gibt dominante und rezessive Allele. Beim ge- 5 ist in 23 Chromosomenpaaren enthalten, von dem
mischten (heterozygoten) Vorkommen setzt sich jedes mehrere tausend Gene enthält;
das dominante durch, das rezessive Gen kann sich 5 besteht in jedem Gen aus vielen »Wörtern«, die
nur beim homozygoten Vorkommen durchsetzen. Triplets oder Kodons genannt werden;
5 Wegen der Dominanz oder Rezessivität der Allele 5 verdoppelt sich bei der Zellteilung (Replikation) der-
entspricht daher der Phänotyp nicht immer seinem art, dass jeder Strang der Doppelhelix als Matrize für
Genotyp. einen neuen Strang dient;
5 Die Allele werden unabhängig voneinander nach den 5 verändert sich bei der Replikation durch Mutationen,
Regeln der Wahrscheinlichkeit vererbt. die zu Polymorphismen führen.

Die Mendel-Regeln bedürfen der Ergänzung: Die Eiweißsynthese


5 Gene werden nicht immer unabhängig voneinander, 5 beginnt mit der Transkription, bei der die DNA im
sondern viele auch gekoppelt vererbt. Zellkern durch die ähnlich aufgebaute RNA kopiert
5 Bei unvollständiger Dominanz kommt es zu inter- wird;
mediären Erbgängen (z. B. rosa Blüten statt weißen 5 wird durch den Prozess der Translation in den Ribo-
oder roten). somen vollendet.
5 Beide Allele eines Paars können unterschiedlich für
den Phänotyp, aber gleich dominant sein (Kodomi- Bei der Bildung der Ei- und Samenzellen, der Meiose,
nanz). Viele Gene kommen in mehr als 2 Allelen vor 5 kommt es zu einer Halbierung des Chromosomen-
(multiple Allele, z. B. beim AB0-Blutgruppensystem). satzes, wobei sich die ehemals mütterlichen und
5 Allele können mehr als eine phänotypische Wirkung väterlichen Chromosomen zufällig auf die Gameten
haben, genannt Pleiotropie (Beispiel Sichelzell- verteilen;
anämie). 5 kommt es durch Crossing-over zu einer weiteren
5 Manche Gene können die phänotypische Ausprä- Vermischung der Gene, die durch die anschließenden
gung anderer Gene verändern (Epistase). Zufälligkeiten der Befruchtung noch verstärkt werden.
5 Manches phänotypische Merkmal wird als Kontinuum
ausgeprägt (z. B. die Körpergröße), was darauf hin- Chromosomenstörungen entstehen meist durch Gen-
weist, dass 2 oder mehr Gene beteiligt sind (poly- mutationen.
gene Vererbung). 5 Sie bewirken meist intellektuelle Störungen und
Minderleistungen.
Drei Biopolymere sind für normales Leben und die Erb- 5 Sie zeigen, dass psychische Leistungen meist polygen
substanz unentbehrlich: vererbt werden.
5 Polysaccharide, hauptsächlich zur zellulären
Energiespeicherung, aber auch als Bausubstanz. 6
592 Kapitel 23 · Vererbung

6
Die Verhaltensgenetik vergleicht Familien und ein- und 5 hohe Erblichkeitskoeffizienten oft stark von Umwelt-
zweieiige Zwillinge. Sie erbrachte, dass bedingungen erzeugt werden;
5 eine starke Erblichkeit für Intelligenz, Persönlichkeit, 5 meist emergente Eigenschaften vererbt werden,
Interessen und Verhaltensstörungen vorliegt; die aber nicht innerhalb von Familien weitergegeben
werden.
23

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developmental perspective: a bio-ecological model. Psycholol Rev
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Watson JD, Crick FHC (1953) Molecular structure of nucleic acids.
A structure for desoxyribose nucleic acid. Nature 171:737–738
24

24 Entwicklung und Alter

24.1 Entwicklung des Nervensystems – 594


24.1.1 Aufbau von Hirnstrukturen und Nervenzellen in der Entwicklung – 594
24.1.2 Chemoaffinität und Aktivitätsabhängigkeit in der Nerven-
entwicklung – 595
24.1.3 Zelltod (Apoptose) und synaptisches Überleben – 597
24.1.4 Degeneration und Regeneration – 599
24.1.5 Hirnentwicklung und Verhalten – 602

24.2 Altern des Menschen – 603


24.2.1 Evolution des Alterns und Lebenserwartung – 603
24.2.2 Zelluläre und molekulare Ursachen des Alterns – 605
24.2.3 Organ- und Funktionsbeeinträchtigungen durch Alter
und Krankheit – 607
24.2.4 Kognitives und motorisches Altern: Gesundheitsstatus
alter Menschen – 609

24.3 Neurodegenerative Erkrankungen – 611


24.3.1 Alzheimer- und Parkinson-Erkrankung – 611
24.3.2 Neuropsychologische Rehabilitation – 614

Literatur – 618

N. Birbaumer, Biologische Psychologie, DOI 10.1007/978-3-540-95938-0_2,


© Springer Medizin Verlag Heidelberg 2010
594 Kapitel 24 · Entwicklung und Alter

)) Menschen, beim Salamander um einen Salamander handelt


(. Abb. 24.1, s. auch . Abb. 5.5a).
PA, ein populärer, 68-jähriger, sportlicher Fernsehmodera- Wie auf Abb. 5.5a (S. 76) ersichtlich, entwickelt sich das
tor, erlitt während eines Auftritts einen »Schwächeanfall« menschliche Gehirn von einem aus 3 Abschnitten (»Kam-
mit Schwindel, Übelkeit und einem pelzigen Gefühl des mern«) bestehenden System zu einem 5-Kammern-Ge-
linken Arms. Er fuhr anschließend noch einen Kilometer in hirn: Vorderhirn (»forebrain«), Mittelhirn (»midbrain«)
Richtung Wohnort, merkte aber plötzlich, dass er das Be- und Rhombenzephalon (»hindbrain«) entwickeln sich in
wusstsein verlieren würde, fuhr an den Straßenrand, konn- Großhirn und Zwischenhirn (aus Vorderhirn), Brücke
te sich aber später an keine seiner Reaktionen erinnern. Er und Kleinhirn (aus Mittelhirn) und verlängertes Mark
24 verlor das Bewusstsein und wurde erst Stunden später (aus Rhombenzephalon, Hinterhirn) ohne jeden Einfluss
über das Lenkrad gebeugt gefunden. In der Klinik wurde nach einem in den Zellen niedergelegten genetischen Bau-
zunächst ein Computertomogramm (7 Kap. 20) angefer- plan.
tigt, auf dem man eine großflächige subkortikale Blutung
rechts erkannte. Obwohl Stunden nach einem solchen Zelluläre Entwicklung
Schlaganfall (Apoplex) eine Thrombolyse kaum effektiv ist, Neurone und Glia entwickeln sich aus neuronalen Stamm-
wurde die Lyse mit Infusion gerinnungshemmender (»blut- zellen, die in einer 3-schichtigen Zone um die Ventrikel
verdünnender«) Pharmaka eingeleitet. Die Schädigung der
Hirnsubstanz war aber bereits zu weit fortgeschritten, denn
die optimale Zeit für den Beginn einer Lysetherapie beträgt
nur 1-2 Stunden. Herr PA blieb halbseitig gelähmt und
hatte die ersten Monate nach dem Schlaganfall einen aus-
geprägten Linksneglekt, d. h., er beachtete keinerlei Reize
im linken Gesichtsfeld und ignorierte seine linke Körper-
seite. Nach einem Jahr war der Neglekt deutlich besser, PA
saß aber immer noch im Rollstuhl und konnte die linke
Hand nicht bewegen. In dieser Zeit blieb die Physiothe-
rapie und die medikamentöse Behandlung ohne Erfolg,
sodass sie eingestellt wurden. PA fiel in die Rubrik »Zu-
stand nach Schlaganfall ohne Restbewegung«, für die kei-
nerlei Besserung zu erwarten sei. Erst als er 2 Jahre nach
dem Ereignis mithilfe des in 7 Box 24.4 beschriebenen
»Brain-Computer-Interfaces« seine gelähmte Hand wieder
bewegen konnte und dies mit einer intensiven, lebens-
nahen und aktive Bewegungen forcierenden Physiothera-

Aus Kolb, Whishaw (2004). Mit freundlicher Genehmigung von FH Freemann.


pie kombiniert wurde, konnte er den Rollstuhl verlassen,
er fuhr wieder Auto und konnte seine Hand für einfache,
aber wichtige Greifbewegungen benutzen: Türen öffnen,
sich selbst an- und ausziehen, das Essbesteck halten und
nutzen.

24.1 Entwicklung des Nervensystems

24.1.1 Aufbau von Hirnstrukturen und


Nervenzellen in der Entwicklung

Ein genetischer Bauplan


Nach der Befruchtung resultiert zunächst die Zygote über
die ersten 2 Wochen, danach spricht man vom Embryo (von
2 bis 8 Wochen) und danach vom Fetus (9 Wochen bis Ge- . Abb. 24.1. Embryos und Evolution. In den frühesten Stadien der
burt). In den frühsten Stadien der Entwicklung sind sich Entwicklung (oberste Reihe) sind die Embryos von Salamander, Huhn
und Mensch sehr ähnlich, sie werden aber im Laufe der embryonalen
alle Vertebraten (Wirbeltiere) ähnlich, was zeigt, dass der
Entwicklung (mittlere und untere Reihen) immer unterschiedlicher.
grobe genetische Bauplan – das Gerüst des Hauses »Or- Dies zeigt, dass alle Vertebraten phylogenetisch aus den gleichen Or-
ganismus« – vergleichbar ist. Nach 7 Wochen erkennt man ganismen entstanden und nicht nur Miniaturausgaben des jeweiligen
allerdings bereits, dass es sich beim Menschen um einen erwachsenen Organismus sind. (Aus Kolb u. Whishaw 2004)
24.1 · Entwicklung des Nervensystems
595 24

liegen (die Ventrikelzonen): Beim Erwachsenen stirbt im- von einem Zellstadium in das andere verantwortlich: EGF
mer eine Zelle nach der Teilung ab, sodass ihre Zahl stets (»epidermal growth factor«) modifiziert Stammzellen zu
gleich bleibt, im frühen fetalen Stadium entwickeln sich aus Progenitorzellen und bFGF (»basic fibroblast growth
den Stammzellen sog. Progenitorzellen (Vorläuferzellen) factor«) stimuliert Progenitorzellen zur Produktion von
und aus diesen Neuroblasten und Glioblasten, aus denen Neuroblasten. Die fetalen Stammzellen werden oft als pluri-
wiederum vier Zelltypen entstehen: aus Neuroblasten In- potent bezeichnet, da aus ihnen alle Arten von Zellen »her-
terneurone (oft hemmend) und Projektionsneurone, aus gestellt« werden können, was zu wichtigen therapeutischen
Glioblasten Astrozyten und Oligodendrozyten (7 Ab- Konsequenzen in der Therapie von Hirn- und Nervenschä-
schn. 2.3.2). Neurotrophe Faktoren sind für den Übergang den führen könnte (. Box 24.1).

Box 24.1. Verpflanzung embryonaler Stammzellen

Während beim Menschen die Verpflanzung fötaler kortex erwachsener Mäuse implantiert. Nach 8 Wochen
Stammzellen der Nebenniere in die Basalganglien von erreichten die kortikalen Neurone, ohne Zugabe neuro-
Parkinson-Patienten und von Stammzellen aus dem tropher Faktoren ihre Zielzellen im Rückenmark. Die Zel-
olfaktorischen System ins Rückenmark von Querschnitts- len »wanderten« völlig geordnet durch das Corpus callo-
gelähmten zu negativen Resultaten, bei Parkinson durch sum, innere Kapsel, Basalganglien, Brücke bis zu den Ziel-
unkontrolliertes Zellwachstum sogar zu Verschlechte- zellen, wo sie funktionell korrekte Verbindungen mit den
rung führte, ließen sich im Tierversuch an Mäusen be- Rückenmarkszellen eingingen. Die Abbildung zeigt einige
merkenswerte Effekte erzielen: Stammzellen aus dem der Prozesse, die zu diesen erstaunlichen Ergebnissen
embryonalen Kortex wurden in den zerstörten Motor- führte.

Aus Tuszynski, M. (2007). Reprinted by permission from Macmillan


Publishers Ltd: Nature Neuroscience.

Entstehung kortikospinaler Projektionen während der liganden zu binden. Viele Moleküle wie Laminine, Integrine,
Embryonalentwicklung. Diese benötigt Genexpression L1 müssen synthetisiert werden, um die Adhäsion und
und Proteinsynthese, anterograden Transport von Struk- das Absterben und Andocken von Axonen, Synapsen und
turproteinen und anderen Molekülen über das Axon, Spines zu ermöglichen.
retrograden Transport von Signalkomplexen, welche die
Genexpression regulieren. Rezeptoren werden dynamisch Lit.: Tuszynski, M. (2007) Rebuilding the brain: Resurgence of fetal
auf- und abgebaut, um die Anziehungs- und Abstoßungs- grafting. Nature Neurosc. 10:1229–1230.

Struktur des Nervensystems haben. Die Aktivität des gene-


24.1.2 Chemoaffinität und Aktivitäts- tischen Apparats bestimmt nur die grobe topographische
abhängigkeit in der Nerven- Zuordnung und Anhäufung bestimmter Zellarten, die
entwicklung Feinabstimmung und -formung erfolgt von Anfang an un-
ter dem Einfluss von umweltabhängigen Aktivitätsmustern
Stadien der Zellentwicklung in den Zellen.
Umweltveränderungen und Erfahrungen können bereits In der Hirnentwicklung lassen sich grundsätzlich 6 Ent-
im Laufe der pränatalen Entwicklung Einflüsse auf die wicklungsschritte unterscheiden (. Abb. 24.2):
596 Kapitel 24 · Entwicklung und Alter

24

. Abb. 24.2a–f. Sechs Stadien der Entwicklung im Nervensystem. rone. d Neurone erweitern ihre Axone und Dendriten und bilden Sy-
a Zellen im Neuralrohr teilen sich. b Die Zellen wandern in bestimmte napsen aus. e Viele Zellen sterben früh ab. f Manche Synapsen ziehen
Regionen. c Die Zellen differenzieren in verschiedene Typen von Neu- sich zurück, anderen bilden sich neu

4 Neurogenese: Zellteilung in der Mitose (erste 18 Wo- und die Differenzierung der jeweiligen Zellen produzieren.
chen); Dabei haben Nachbarzellen und Aktivitätsänderungen
4 Zellmigration: Nervenzellen wandern an ihre Bestim- selbst als Induktionsfaktoren einen zentralen Einfluss auf
mungsorte und bilden Hirnkerne (von der 7. bis zur die Ausprägung des jeweiligen Zelltyps. Umwelteinflüsse
27. Woche); und Lernprozesse – abgebildet in den Aktivitätsmustern
4 Differenzierung in verschiedene Neuronentypen (die in den sich entwickelnden Zellen, Axone und Synapsen
ersten 27 Wochen); arbeiten mit den molekulargenetischen Hand in Hand.
4 Synaptogenese: Bildung synaptischer Verbindungen
G Wachstum, Differenzierung und Absterben von Ner-
an Axonen und Dendriten (5. Monat vor bis 1 Jahr nach
venzellen und Synapsen sind Mechanismen neuro-
der Geburt);
naler Modifikation in der Entwicklung. 6 solche
4 Neuronaler Zelltod: selektives Absterben (überflüssi-
Entwicklungsschritte des ZNS lassen sich unter-
ger) Nervenzellen (ab 1. bis 2. Lebensjahr);
scheiden.
4 Neubildung und selektiver Verlust von Synapsen;
4 Myelogenese (Bildung von Myelin).
Chemoaffinität
In der Migrationsphase »kriechen« die Nervenzellen auf Die Chemoaffinitätshypothese besagt, dass prä- und post-
den vorgeformten Gliasträngen unter dem Einfluss von Zell- natales Wachstum von Dendriten, Axonen und Synapsen
adhäsionsmolekülen (CAM), wie z. B. Netrine (von San- von chemotrophen Faktoren der Zielzellen »angezogen«
skrit »führen«) und Cadherine (von »fassen«), in Richtung werden. Die noch unreifen wachsenden Zellendigungen
der Zielzone, dem späteren Kern oder Zentrum. Dieser besitzen Wachstumskegel (»growth cones«), welche die
Migrationsprozess kann auch noch im adulten Nerven- Dendriten und Axone in Richtung der Zielzellen verlän-
system stattfinden. In den Zielzonen exprimieren die Ner- gern. Die chemotaktischen topographischen Gradienten
venzellen spezifische Gene, die Proteine für den Aufbau ziehen z. B. Synapsen vor allem an die dendritischen »spi-
24.1 · Entwicklung des Nervensystems
597 24

. Abb. 24.3. Postnatale Entwicklung der Hirnrinde am Beispiel in den nächsten Monaten mehr und mehr aus bis im 2. Jahr mit er-
von Brocas Areal von der Geburt bis in den 24. Monat. Die Neurone folgter Sprachentwicklung eine weite Verzweigung der Dendriten
haben anfangs nur sehr einfache dendritische Felder. Diese wachsen sichtbar ist

nes« (Dornen), die auch im erwachsenen Organismus als Kortex wie Orientierungsselektivität, Farbselektivität usw.
zentraler Ort von Veränderungen durch Lernen angesehen (7 Kap. 17). Es ist der visuelle Einstrom und nicht die
werden können. Verzweigung und Verdickung der Den- genetisch festgelegte Chemoaffinität, die die Funktion und
driten und der Spines sowie Zunahme der Zahl der Synap- den Aufbau des Hirnareals bestimmt. Auch bei Blind- oder
sen sind sowohl in der Entwicklung als auch beim Lernen Taubgeborenen kommt es zu solchen aktivitätsabhängigen
entscheidend. Abb. 24.3 illustriert diesen Zuwachs an Kom- Reorganisationen der primären Seh-, Hör- und Tastrinden:
plexität im embryonalen Kortex des Menschen. Bei Blinden wird der Okzipitalkortex primär von Tastrei-
zen »versorgt« und trägt zur Verbesserung der Tastempfin-
Regeneration und Chemoaffinität dung bei.
Spezifische Regeneration unter dem Einfluss von Chemo-
G Wie im erwachsenen Gehirn, so finden Axone, Den-
affinität kann auch im erwachsenen Säugetiergehirn statt-
driten und Synapsen im sich entwickelnden Gehirn
finden: Implantation eines vorher isolierten und entfernten
ihre Zielareale und Zielzellen unter dem Einfluss von
Tektums in dasselbe Tier führt innerhalb weniger Monate
Chemoaffinität und genetischen Steuermechanis-
zur ursprünglichen topographischen Neuinnervation des
men unter dem Einfluss umweltabhängiger Aktivi-
Tektums durch afferente optische Fasern. Die durchtrenn-
tätsmuster.
ten Axone des optischen Nervs »folgen« der Affinität (An-
ziehung) der tektalen Empfangsneuronen. Oder: Implanta-
tion der Iris in das Zwischenhirn der Ratte führt zur regel- 24.1.3 Zelltod (Apoptose)
haften Neuinnervation (Einwachsen von Axonen) der Iris und synaptisches Überleben
von adrenergen Fasern aus der Umgebung in derselben
topographischen Anordnung, wie sie ursprünglich im Auge Lernen und Wachstum
bestand, wo auch adrenerge Fasern die Iris versorgen. Obwohl manche Wachstumsprozesse für Lernvorgänge
Andererseits bestimmen die Umwelt- und Lerneinflüs- nicht verantwortlich sein können, da sie zu lange dauern
se mit, wie sich Zellen und Regionen formen. Leitet man (Monate), hängt die starke Zunahme des relativen Hirnge-
z. B. die Fasern aus der Retina während der nachgeburtli- wichts beim Menschen in den ersten beiden Lebensjahren
chen Entwicklung in den akustischen Corpus geniculatum mit der Lernfähigkeit und Intelligenz zusammen. Die Zu-
mediale statt in den C. geniculatum laterale um, so bildet nahme des Hirngewichts beruht auf Vermehrung der
sich in der Folge im akustischen Kortex zusätzlich ein Synapsen (1015 im erwachsenen Gehirn, 7 Abschn. 9.1.2),
visueller Kortex aus, mit allen Eigenschaften des visuellen Größenzunahme der Zellen, Dendriten und dendritischen
598 Kapitel 24 · Entwicklung und Alter

Dornen (Spines), Vermehrung (Teilung) von Zellen, Zu-


nahme der Gliazellen und Vergrößerung des Kapillarnet-

Aus Kolb, Whishaw (2004). Mit freundlicher Genehmigung von FH Freemann.


zes im Gehirn (7 Abschn. 2.1.4). Voraussetzung für diese
Wachstumsprozesse ist eine entsprechende sensorische und
motorische Stimulation durch adäquate Umgebungsreize.

Apoptose, Neurotrophine und »Pruning«


Zelltod ist ein wichtiger, positiver Faktor in der Embryoge-
nese und Entwicklung von Nervenzellen, danach, also im
24 erwachsenen Organismus, schädigt er meist das Zentral-
nervensystem. Je nach Region sterben 20–80% der ausge-
bildeten Nervenzellen kurz nach der Geburt ab und be-
stimmen somit Art und Ausmaß der Verbindungen in den
einzelnen Hirnregionen. . Abb. 24.4 zeigt die geschätzte
Zahl der Synapsen im visuellen Kortex über die Lebens-
spanne. In der Zeit ab dem 1. bis 2. Lebensjahr sterben pro
Sekunde etwa 100.000 Synapsen ab! Die Überproduktion
. Abb. 24.4. Synaptisches Pruning (Zuschneiden) im Laufe
von potenziellen synaptischen Verbindungen und das des Lebens. Ordinate: Zahl der Synapsen des menschlichen Gehirns.
darauf folgende selektive Absterben unbenutzter Verbin- Abszisse: Lebensalter, vor und im ersten Jahr nach der Geburt in
dungen garantiert, dass nur die für den Einzelorganismus Monaten, danach in Jahren. (Aus Kolb u. Whishaw 2004)
wichtigen Erinnerungen erhalten bleiben. Wenn keine
neurotrophen Faktoren von den Zielzellen abgegeben
werden (also z. B. ein Tier kein Bein entwickelt hat und dort Entwicklung von Gliazellen und Myelinisierung
keine Zielzellen existieren), »beschließen« Todesgene, die Die Entwicklung von Gliazellen beginnt nach Ende der ers-
an jeder Zelle vorhanden sind, DNS-zerstörende Proteine ten Neurogenese. Oligodendrozyten formen Myelin, ohne
zu produzieren. das die normale Weiterleitung von Nervenerregung nicht
Für vegetative Fasern ist es der Nervenwachstumsfak- möglich ist (7 Kap. 2). Paul Flechsig in Leipzig zeigte bereits
tor (»nerve growth factor«, NGF), der von den Zielzellen um 1820, dass die Myelinisierung nach der Geburt beginnt
produziert, von den Axonen aufgenommen und retrograd und bis ins 18. Lebensjahr anhält. . Abb. 24.5 zeigt die
in den Zellkörper transportiert wird. Dort blockiert er die kortikale Karte mit den sensorischen und motorischen
Apoptose. Es gibt eine Vielzahl von solchen »brain-derived Arealen, die früh, und die »höheren« Assoziationsareale,
neurotrophic factors« (BDNF), deren Gene man kennt und die später myelinisiert werden (zur Lage der einzelnen
die gentechnisch herstellbar sind; sie werden Neurotrophi- Areale . Abb. 5.17). Beispielsweise ist die Entwicklung des
ne genannt. Leider konnte bisher kein BDNF gefunden Greifens bis zum 10. Monat eng an die Myelinisierung des
werden, der das Wachstum adulter Motoneurone anregen motorischen Kortex gebunden.
könnte. Damit könnten Schädigungen der Motoneurone
oder Durchtrennung der Motoaxone behoben werden (z. B.
bei Querschnittslähmungen; . Box 24.1).
Aus Kolb, Whishaw (2004). Mit freundlicher Genehmigung

Apoptose ist für den Tod überflüssiger Neurone und


Synapsen verantwortlich, nicht für die Stutzung (»prun-
ing«, »Zuschneiden«) von Synapsen, die von Lernprozes-
sen und Erfahrung abhängt: Nur jene Verbindungen über-
leben, welche kompetitiv an der Bildung und Aufrechter-
haltung eines Zellensembles (7 Abschn. 25.4) teilnehmen.
Pruning folgt dem Hebb’schen Prinzip (7 Abschn. 25.3):
Simultane elektrische Aktivität (Hebb-Regel) erhält die
von FH Freemann.

funktionellen Netzwerke. Was nicht gleichzeitig aktiv ist,


wird eliminiert.
Ein besonders dramatisches Beispiel für die Wirkung
von Pruning ist die Tatsache, dass Kleinstkinder ohne jede . Abb. 24.5. Zeitlicher Verlauf der Myelinisierung der mensch-
Vorerfahrung im 1. Lebensjahr Sprachlaute aus vielen lichen Großhirnrinde. Die spät myelinisierten Regionen sind hell
Sprachen (Englisch, Hindi, Indianersprachen) unterschei- gezeichnet (nach Flechsig). (Aus Kolb u. Whishaw 2004)
den lernen, diese Fähigkeit aber im Laufe des 1. Jahres
durch die Benutzung der Muttersprache wieder verler-
nen.
24.1 · Entwicklung des Nervensystems
599 24

G Sowohl unter genetischem Einfluss, aber vor allem


unter dem Einfluss der Stimulation aus der Umwelt
sterben große Teile von Zellen und Synapsen in der
Entwicklung ab und begünstigen damit die Eliminie-
rung »überflüssiger« Verbindungen. Das Absterben
(Apoptose) wird durch Neurotrophine verhindert,
die unter genetischem Einfluss stehen und aktivi-
tätsabhängig produziert werden.

Aus Kolb, Whishaw (2004). Mit freundlicher Genehmigung von FH Freemann.


Synaptisches Überleben und Prägung
Der letzte wichtige Entwicklungsschritt in . Abb. 24.2 ist
synaptische Neubildung und synaptisches Wachstum. Vor
allem nach selektivem Zelltod wachsen benachbarte Synap-
sen aus (Sprossung), die Spines verdicken sich oder vorhan-
dene Spines formen zusätzliche synaptische Kontakte. In
7 Kap. 17 haben wir ausführlich eine erfahrungsabhängige
Fehlentwicklung des visuellen Kortex besprochen. Zwar ist
Neubildung und Wachstum von Dendriten und Synapsen
am stärksten in der embryonalen und frühen postnatalen
Phase, aber alle in . Abb. 24.7 und 24.8 abgebildeten synap-
tischen Verbindungen durch Lernen bleiben das ganze
Leben möglich.
Dabei zeigte sich, dass auch die Prädisposition für den
spezifischen Lernprozess nicht genetisch bedingt ist, son-
. Abb. 24.6. Dendritische Spines und Intelligenz. Anzahl der
dern dass der sensorische Reizeinstrom (z. B. Gesicht der Spines auf einem Dendriten eines intelligenten (links) und eines retar-
Mutter) zusammen mit dem motivationalen Zustand und dierten Kindes (rechts). Diskussion im Text. (Aus Kolb u. Whishaw 2004)
der Aufmerksamkeit mit erhöhter Adrenalinausschüttung
im Gehirn und β-adrenerger Rezeptorenaktivierung ein-
hergeht. Nur emotional »gesunde«, d. h. in positiver Mo- Ersatzmutter in Form eines Drahtgestells mit weichem Fell
tivation gehaltene Tiere, zeigen diese Aktivierung. Die nicht mehr annimmt, bleibt lebenslang gestört.
Induktion von Langzeitpotenzierung (LTP, s. unten und Erwachsene, in der frühen Entwicklung deprivierte
7 Kap. 4), die auch der Prägung zugrunde liegt, wird von Tiere zeigen kein Sozial- und Reproduktionsverhalten und
der β-adrenergen NA-Ausschüttung in die gedächtnisrele- sind geistig zurückgeblieben.
vanten Areale des Vorderhirns (Kortex, Hippocampus) aus
G Der Prägung liegen ähnliche zelluläre Vorgänge in
den »emotionalen« limbischen Regionen (z. B. Amygdala)
den betroffenen Hirnregionen wie anderen Formen
begünstigt. Schlaf mit Aktivierung cholinerger Hirnstruk-
des Langzeitgedächtnisses auch zugrunde. Die Prä-
turen (7 Kap. 8 und 22) ist für die dauerhafte Stabilisierung
disposition (Empfindlichkeit in einer bestimmten
mit Bildung von neuronalen Zelladhäsionsmolekülen und
Entwicklungsphase) hängt nicht nur von vererbten
stabilen Proteinsynthesen und Genexpression (7 Abschn.
Eigenschaften, sondern auch von bevorzugter Rei-
24.5) mitverantwortlich.
zung in einem bestimmten Zeitabschnitt und dem
Kinder, welche am Schlaf gehindert werden, wachsen
motivationalen Zustand des Organismus und dem
nicht, wie die von R. Spitz beschriebenen verwahrlosten
Schlafverhalten ab.
Kinder oder die in Rumänien in Waisenhäusern nach Ende
des autoritären Regimes gefundenen Waisen. . Abb. 24.6
zeigt dendritische Verzweigungen eines kortikalen Neu- 24.1.4 Degeneration und Regeneration
rons von einem normal intelligenten und einem gleich al-
ten retardierten Kind. Solche synaptische Degeneration ist Retrograde und anterograde Degeneration
auch auf S. 635 und in . Abb. 25.15 bei der Beschreibung Nach Läsionen von Hirngewebe kommt es zu großflächi-
der Wirkung anregender und verarmter Umgebung be- gen und mikroskopischen Veränderungen. Sofort nach der
schrieben. Schädigung breitet sich eine Depolarisationswelle in der
Besonders drastisch und lebenslang anhaltend sind die Umgebung des Gewebes aus, die mit erhöhter Glutamat-
Effekte frühkindlicher Deprivation auf Gehirn und Verhal- ausschüttung einhergeht. Nervenzellen benötigen zwar
ten. Ein nach der Geburt von der Mutter getrenntes Affen- Glutamat und NMDA-Rezeptoren zum Lernen, reagieren
baby, das »autistisches Verhalten« ähnlich einer schweren aber sehr empfindlich auf ein Übermaß an Glutamat
Depression mit geistiger Retardierung zeigt und auch eine (. Box 4.3). Je nach Intensität dieser kompensatorischen
600 Kapitel 24 · Entwicklung und Alter

24

. Abb. 24.7. Degeneration und Regeneration von Neuronen. von der Lokalisation der Schädigung ab, wie in der linken (Situationen
Der Verlauf von Degeneration und Regeneration des verletzten Axons, 2–4) und rechten Bildhälfte (Situationen 5–7) dargestellt. Weitere Erläu-
seines Somas und der von seinen Synapsen erreichten Neurone hängt terung im Text

Hypererregung kann dadurch die Ausbreitung des Scha- Reorganisation nach peripheren und zentralen Läsionen
dens vermehrt oder verringert werden, z. B. durch sofortige solche Aussprossungen zugrunde. Diese können adaptiv
Gabe von GABA-Agonisten wie Benzodiazepinen oder oder maladaptiv sein (wie z. B. im Fall der Phantomschmer-
NMDA-Antagonisten (7 Abschn. 4.3.2). zen nach Amputationen, 7 Abschn. 16.4.3).
. Abb. 24.7 zeigt einige typische De- und Regenera-
tionsmuster nach Verletzung eines Axons (Situation 1 in Kollaterales Sprossen
. Abb. 24.7). Wenn die Verletzung nahe am Zellkörper liegt, Im erwachsenen Tier konnte bisher vor allem kollaterales
kommt es zur retrograden Degeneration (2 und 3 in Sprossen (. Abb. 24.8) beobachtet werden. Kollaterales
. Abb. 24.7). Wenn das verletzte Neuron abstirbt, kann Sprossen geht dabei – sofern die richtigen Zielzellen von
auch die Zielzelle degenerieren (Situation 4). Dies wird den neu wachsenden Synapsen erreicht werden – mit einer
transneuronale Degeneration genannt. Erholung der Verhaltensfunktion einher. Dabei handelt
Liegt die Verletzung weiter vom Zellkörper weg, kann es sich um einen Prozess, der nicht nur nach Läsion auftritt,
es zu anterograder Degeneration (5 und 6) und/oder kol- sondern Neusprossung wie auch die Aktivitätszunahme
lateralem Aussprossen (»sprouting«) und reaktiver Synap- vorher inaktiver Synapsen, »stiller Synapsen«, ist ein stän-
togenese (Neuaussprossen von Synapsen), vor allem zu dig im ZNS ablaufender Vorgang, der auch unter vielen
benachbarten Zielzellen kommen (. Abb. 24.8). Wie wir pathologischen Bedingungen weiterfunktioniert. Aller-
im nächsten Abschnitt sehen werden, liegen der neuronalen dings können die ursprünglichen Zielzellen auch verfehlt
24.1 · Entwicklung des Nervensystems
601 24

ten Auges. Setzt man aber zusätzlich eine ausgedehnte Lä-


sion im ipsilateralen visuellen Kortex, so kann man in we-
nigen Minuten normales Entladungsverhalten der Kolliku-
luszellen beobachten. Der visuelle Kortex hat offensichtlich
einen hemmenden Einfluss auf die Kollikulusneuronen,
und erst nach dessen Entfernung werden die stillen Zellen
wieder »laut«.
Umgebungsfaktoren (z. B. selektive Deprivation einer
Situation oder Reizung) bestimmen in der Entwicklung,
Nach Cotman CW, Nadler LG (1978). Mit freundlicher Genehmigung von Lippincott Williams & Wilkins.

welche Verbindungen dominant werden (häufig simultan


benutzte sind aktiver); der Rest der ursprünglich vorhande-
nen Verbindungen wird von den gelernten dominanten
Verbindungen gehemmt. Bei Zerstörung der hemmenden
Zellsysteme werden dann die ursprünglich gehemmten
Zellen wieder aktiv (»demasking«, Entlarvung) und verur-
sachen Auflösung oder Veränderung des »Gedächtnisin-
halts« (z. B. Phantomschmerz; 7 Kap. 16).

Synaptische Plastizität
Neben der Aktivierung stiller Zellen kommen eine Reihe
anderer synaptischer Mechanismen als Basis für Lernvor-
gänge in Frage, sowohl das Herstellen neuer Verbindungen
als auch der Abbruch alter, »störender« Verbindungen wer-
den an Lernvorgängen beteiligt sein. . Abb. 24.8 gibt einige
der potenziell für Plastizität verantwortlichen Prozesse
wieder.
Verstärkte Transmitterausschüttung geht mit erhöhter
postsynaptischer Dichte einher, die auf . Abb. 24.9 durch
. Abb. 24.8a–c. Mechanismen reaktiver Synaptogenese. Die eine Verbreiterung und Verstärkung der postsynaptischen
roten Areale und die roten Pfeile symbolisieren 3 Formen neuen Membran, vor allem an den dendritischen Spines symboli-
synaptischen Wachstums. a Kollaterales Sprossen, b Paraterminale
siert ist: Die Membran wird dicker durch Rezeptorvermeh-
Sprossung, c Kontakt-Synaptogenese
rung, vor allem NMDA- und AMPA-Rezeptoren (7 Ab-
schn. 25.5) und strukturelle Proteine wie Zelladhäsionsmo-
werden, was zu einer Reihe pathologischer Phänomene leküle des Zytoskelettes, die die Verbindung zwischen der
führen kann. prä- und postsynaptischen Membran erhöhen. Zusätzlich
werden Signalelemente wie Kinasen und Phosphatasen
G Nach Verletzung von Nervengewebe kommt es bei
(7 Abschn. 24.1.1), die die Durchlässigkeiten der Mem-
größeren Läsionen zu Zerstörung auch des umge-
bran steuern, vermehrt. Mit Sicherheit sind nicht ein,
benden Gewebes durch Hypererregung und Anstieg
sondern mehrere dieser Vorgänge an den verschiedenen
von Glutamat in den toxischen Bereich. Bei Zerstö-
Formen des Lernens beteiligt; einschränkend muss aber
rung einzelner Fasern können verschiedene Formen
betont werden, dass in höheren Organismen die physio-
reaktiver Synaptogenese und Degeneration auf-
logischen Grundlagen assoziativer Lernprozesse nur über
treten, die sowohl adaptive wie negative Folgen für
das Verhalten größerer Zellensembles erklärbar sind
Lernen und Verhalten haben.
(7 Abschn. 25.3).

Demaskierung G Grundlage jedes Lernprozesses ist die Veränderung


Lernprozesse können auch auf der Aktivierung vorher stil- der synaptischen Plastizität in den beteiligten
ler oder gehemmter synaptischer Verbindungen (Letzteres Hirnregionen. Diese kann mit Aktivierung stiller
wird auch als Demaskierung bezeichnet, 7 Abschn. 4.4) be- Verbindungen, Demaskierung (Aufhebung) hem-
ruhen, da die Neuaktivierung stiller Verbindungen inner- mender Verbindungen, Erhöhung der Transmit-
halb von Minuten nach einer Läsion erfolgen kann: Depri- terausschüttung und der synaptischen Dichte ein-
viert man Katzen durch Schließen eines Auges kurz nach hergehen.
der Geburt und öffnet man das Auge 6–12 Monate später
und registriert die Aktivität im kontralateralen Colliculus
superior, so reagiert dieser nicht auf Reizung des deprivier-
602 Kapitel 24 · Entwicklung und Alter

liche Verhaltens- und Hirnleistungen des Fötus: optisch


und akustische evozierte Hirnpotenziale auf Licht und Töne
vergleichbar mit Neugeborenen ab der 26. Woche, nur et-
was langsamere Latenz (ca. 300 ms in der 26. Woche und
240 ms nach der Geburt im akustischen System). Die
Schwellen für Tonreize liegen in der 20. Woche bei 115 db,
in der 35. Woche bei 80 db. Dies bedeutet, dass erhebliche
zentralnervöse Seh- und Hörkapazität vorliegt. Ab der
33. Woche zeigt sich eine Mismatch-Negativität (MMN,
24 . Abb. 24.10), bei der ein überraschender, abweichender
Ton in eine gleichförmige Tonfolge eingebettet wird und
eine negative Hirnantwort (7 Kap. 20) im sekundären audi-
Nach Rosenzweig MR, Leiman AL, Breedlove JM (2005). Mit freundlicher Genehmigung von Sinauer.

torischen Kortex auslöst. Neue akustische Reize werden als


neu »erkannt«.
Habituation auf einfache auditorische und optische
Reize erfolgt ab der 28. Woche; dies bedeutet, dass einfaches
Lernen und Aufmerksamkeit möglich ist. Pawlow’sches
klassisches Konditionieren ist wahrscheinlich auch schon
erzeugbar.
Sensomotorische Zellensembles sind ausreichend my-
elinisiert und mit Synapsen vermutlich ab der 28. Woche
versehen. Auch emotionale Reaktionen des Fötus sind
nachweisbar, z. B. vermehrte fötale Bewegungen bei Angst
der Mutter. Die mütterliche Stimme wird vor der Geburt
von der Stimme des Vaters und von Fremden unterschie-
den.

Box 24.2. Niedriges Geburtsgewicht als Prädiktor für


Krankheit

Von besonderer Bedeutung sind Untersuchungen, die


Schlüsse von der fetalen auf die nachgeburtliche Ent-
. Abb. 24.9a–f. Synaptische Plastizität. Einige Hypothesen über wicklung bis ins Erwachsenenalter erlauben. Zum Bei-
synaptische Veränderungen, die Grundlage für Speicherung sein könn- spiel lässt sich im Bereich der körperlichen Entwick-
ten. a Nach einer Trainingsprozedur führt jeder neue Nervenimpuls im lung zeigen, dass niedriges fetales Gewicht und niedri-
betroffenen neuronalen System zu einer verstärkten Ausschüttung
ges Geburtsgewicht verbunden sind mit sehr raschem
von Transmittermolekülen (symbolisiert durch rote Punkte) und der
postsynaptischen Dichte. Entsprechend kommt es zu einem Anstieg
Gewichtszuwachs nach der Geburt, Schlaganfallsrisiko
des postsynaptischen Potenzials. b Ein Interneuron bildet eine axo- und Risiko für Herz-Kreislauf-Erkrankungen im späten
axonische Synapse. Deren Aktivierung moduliert die Polarisation der Erwachsenenalter. Inwieweit ähnliche Vorhersagen aus
Axonendigung und löst die Ausschüttung vermehrter Transmittermo- der Beobachtung neuroelektrischer Änderungen vor
leküle pro nervalem Impuls aus. c Modifikation der postsynaptischen
der Geburt möglich sind, wird sich zeigen.
Rezeptormembran führt zu einer verstärkten Reaktion auf dasselbe
Ausmaß von Transmittersubstanz. d Die Fläche des synaptischen Kon-
takes erhöht sich mit Training. e Ein Erregungskreis, der öfter benützt
wird, erhöht die Anzahl der synaptischen Kontakte. f Eine häufig be-
nutzte neuronale Verbindung »übernimmt« vorher wenig benützte Nachgeburtliche Entwicklung
Synapsen
Obwohl die synaptischen Verbindungen wenig entwickelt
sind, läßt sich bereits bei 3 Monaten alten Babies eine Ak-
tivierung bei sinnvollen (vorwärts gesprochenen) Sprach-
24.1.5 Hirnentwicklung und Verhalten lauten rechts präfrontal dorsolateral im Vergleich zu
sinnlosen (rückwärts gesprochenen) nachweisen. Dies ob-
Entwicklung vor der Geburt wohl präfrontale Regionen bis zum 20. Lebensjahr reifen
Durch die Entwicklung des fetalen Magnetenzephalo- und beim Neugeborenen unreif sind. Vertraute und frem-
gramms (fMEG); . Box 20.2) wurde die Messung der elek- de Gesichter werden sofort nach der Geburt im Vergleich
tromagnetischen Hirnaktivität des Ungeborenen ohne jede zu verfremdeten Gesichtern verfolgt und die typische
Berührung oder Strahlen oder Felder möglich. Dabei zei- ERP-Komponente N170 auf Gesichter tritt im Gyrus fusi-
gen sich in den letzten Schwangerschaftsmonaten erstaun- formis auf.
24.2 · Altern des Menschen
603 24

a b
. Abb. 24.10a, b. Durch akustische Reize evozierte magnetenze- Negativität von Feten in der 33. Schwangerschaftswoche und
phalographische Felder vor und kurze Zeit nach der Geburt b die bei der gleichen Reizfolge entstandene Mismatch-Negativität
(Magnetoenzephalogramm, MEG). In eine gleichförmige Tonfolge am 10. Tag nach der Geburt. Neben einer etwas größeren Amplitude
wurde ein abweichender Ton eingefügt und das durch diesen Ton hat dieses MEG eine von 0,31 s auf 0,33 s verlängerte Latenz. Weitere
evozierte MEG gemessen; a zeigt die dabei entstandene Mismatch- Erläuterung im Text

. Abb. 24.11 zeigt den Verlauf der Sprachentwicklung gen unserer Zeit sind hochsignifikant mit dem Lebensalter
nach der Geburt und darunter die ereigniskorrelierten assoziiert und die Wahrscheinlichkeit, an ihnen zu erkran-
Hirnpotenziale des EEG auf die jeweiligen Sprachreize ken, nimmt mit dem Alter steil zu.
(7 Kap. 20). Die Mismatch-Negativität (MMN, . Abb. 24.10)
tritt bereits vor der Geburt mit einer Latenz von 200 ms Box 24.3. Unsterbliche Lebewesen
(normal 100-250 ms) auf Unterschiede im phonetischen Es gibt in der Tat nicht alternde Organismen. So sind
Material auf (z. B. »pa« versus »ba«). viele Protozoen unsterblich. Auch einige Pflanzen
Die N400 von zentroparietalen Ableitungen tritt bei (Stecklinge) und zahlreiche Wümer sind ebenso unbe-
Verletzung semantischer Regeln auf (z. B. auf das Wort grenzt regenerierbar wie der Süßwasserpolyp Hydra.
»Ente« wird eine Katze gezeigt). Als Letztes entwickeln sich Auch bei anderen Pflanzen und Tieren, so bei verschie-
Syntax und Satzbildung, welche durch eine anteriore, linke denen Bäumen, bei Muscheln, beim Hummer und ei-
Negativität (ELAN) und eine späte Positivität um 600 ms ner Reihe von Amphibien und Reptilien, ist ein Anstieg
(P600) nach syntaktischen Verletzungen der Wortfolge der Sterblichkeit mit dem Alter nicht nachweisbar. Ihre
auftritt. Regeneration und ihre Fortpflanzungsfähigkeit nimmt
. Abb. 24.11 unten zeigt den Verlauf der Sprachwahr- mit dem Alter nicht ab.
nehmung und der Sprachproduktion in den ersten 12 Le-
bensmonaten. Dabei zeigt sich die schon in 7 Abschn. 24.1.3
erwähnte Tatsache, dass wir vor dem Ende des 1. Lebens- Bei den meisten Tierpopulationen, teilweise auch beim
jahres Sprachlaute aus vielen Sprachen wahrnehmen und Menschen, hängt die mittlere Lebenserwartung von äu-
produzieren lernen, dass diese Fertigkeit aber danach ßeren Risiken ab (z. B. Krankheiten, Unfälle, Kämpfe),
»abstirbt«, vermutlich durch synaptisches Pruning. d. h., die meisten Menschen und Tiere sterben aufgrund
äußerer Umstände lange bevor Alterserscheinungen be-
merkbar werden. Werden diese äußeren Risiken, wie in den
24.2 Altern des Menschen westlichen Zivilisationen der Neuzeit oder bei sorgfältig
gehaltenen Haustiern minimiert, kommt es zu einem dra-
24.2.1 Evolution des Alterns matischen Anstieg der mittleren Lebenserwartung, wobei
und Lebenserwartung aber, das ist der entscheidende Punkt, die maximal mögli-
che Lebensspanne nicht verändert wird (. Box 24.3).
Altern als evolutionäre Anpassung Im Laufe der Evolution waren also Lebensspanne und
Menschliches Altern ist keine Krankheit, sondern ein Dauer der Fortpflanzungsphase im Wesentlichen durch
normaler physiologischer Prozess, dessen Wesen darin äußere Risiken bestimmt, und es war daher evolutions-
besteht, dass es fortlaufend die Wahrscheinlichkeit zu er- biologisch sinnvoll, nur limitierte Resourcen in lebens-
kranken erhöht, und zwar an verschiedenen Erkrankungen verlängernde Erhaltungs- und Reparaturfunktionen zu
gleichzeitig (Multimorbidität). Alle schweren Erkrankun- investieren. Dies ist jedenfalls die Sicht moderner Alte-
24
604
Kapitel 24 · Entwicklung und Alter

. Abb. 24.11. Phasen der Entwicklung von Sprachwahrnehmung und Sprachproduktion werden. Dies geht um den 9. Monat verloren und die eigene Sprache »dominiert«. Zusammenge-
vom 1. bis 36. Lebensmonat. In der Mitte ereigniskorrelierte Hirnpotenziale, die auf Sprachreize stellt aus den Ergebnissen eigener und zahlreicher anderer Untersuchungen
auftreten. Bis zum 8.-10. Monat können Sprachlaute aller Sprachen unterschieden und produziert
24.2 · Altern des Menschen
605 24

rungstheorien, die darin übereinstimmen, dass Altern das Landes und in Abhängigkeit von der jeweiligen sozialen,
Ergebnis permanenter (Zell-)Schädigungen ist, die langfris- wirtschaftlichen und politischen Entwicklung. Japan hat
tig nicht ausreichend kompensiert und/oder repariert wer- seit Längerem den steilsten Anstieg der mittleren Lebens-
den. Diese Sicht schließt ein, dass es keine spezifischen erwartung und zwar ist sie dort seit 1840 Jahr für Jahr um
Gene gibt, die Altern hervorbringen und dass die Rate des nahezu 3 Monate für Frauen und 2,5 Monate für Männer
Alterns und die maximale Lebensspanne in erster Linie das angestiegen, ohne dass bisher eine Verlangsamung be-
Ergebnis einer Anpassung an das Ausmaß der äußeren obachtet werden konnte.
Risiken ist. Diese Entwicklung zusammen mit der Beobachtung,
dass einige wenige Menschen bisher bis zu 120 Jahre alt
G Altern ist biologisch nicht notwendig und nicht
wurden (Jeanne Calment starb 1997 im Alter von 122 Jah-
programmiert, sondern das Ergebnis permanenter
ren), deutet darauf hin, dass die maximale Lebensspanne
(Zell-)Schädigungen, die langfristig nicht ausrei-
des Menschen derzeit bei der oben schon genannten Grenze
chend kompensiert und/oder repariert werden.
von mindestens 120 Jahren oder etwas darüber liegt. Wahr-
scheinlich ist sie noch nicht abschließend bekannt, noch
Lebenserwartung und Lebensspanne lässt sich bisher sagen, ob sie auf die eine oder andere Weise
des Menschen gesteigert werden kann.
Wie die . Abb. 24.12 eindrucksvoll demonstriert, hat sich
G Die mittlere Lebenserwartung des Menschen hängt
in Deutschland wie in den meisten westlichen Industrie-
sehr stark von seinen Lebensumständen ab. Derzeit
ländern durch die verbesserten Lebensbedingungen, d. h.
ist sie in den hochindustriellen Ländern mit guter
die Minimierung äußerer Risiken (s. oben) die mittlere
medizinischer Versorgung der Gesamtbevölkerung
Lebenserwartung seit dem Ausgang des 19. Jahrhunderts
am längsten. Die maximale Lebenspanne des Men-
fast verdoppelt. Die extrapolierte Kurve für 2040 zeigt die
schen ist größer als 122 Jahre. Ihr Grenzwert ist un-
derzeit angenommene Grenze des Erreichbaren unter der
bekannt.
Voraussetzung einer maximalen Lebenserwartung von
etwa 120 Jahren (s. unten). Die immer deutlicher werdende
Rektangularisierung der Lebenskurve besagt, dass das 24.2.2 Zelluläre und molekulare Ursachen
Durchschnittsalter steigt, immer mehr Menschen immer des Alterns
älter werden, ohne dass sich die maximale Lebenserwar-
tung oder die Rate des Alterns wesentlich verändern. Vererbung von Langlebigkeit
Weltweit variiert die mittlere Lebenserwartung des Langlebigkeit tritt familiär gehäuft auf. Allerdings ist nur
Menschen über einen weiten Bereich zwischen Bevölke- etwa ein Fünftel bis ein Drittel der Variabilität der Lebens-
rungsgruppen oder sozialen Schichten innerhalb eines spanne genetisch bedingt, den größeren Anteil haben Um-
welt und Zufall, wobei insbesondere dem nicht vorhersag-
baren zufälligen Schadensauftreten die wichtigste Rolle
zukommt. Dies unterscheidet das Altern deutlich von den
weitgehend genetisch gesteuerten Entwicklungsprozessen.
In langlebigen Familien sind bei einigen Genen gehäuft
Polymorphismen gefunden worden, die in Familien mit
durchschnittlicher Lebenserwartung nicht vorkommen. So
ist das e2-Allel für das Apolipoprotein E in langlebigen
Familien signifikant häufiger und das e4-Allel signifikant
seltener als in Familien mit kürzerer Lebenserwartung.
Allerdings ist die Signifikanz der Zusammenhänge bei sol-
chen »Langlebigkeitsgenen« zwischen Allelhäufigkeit und
Lebensspanne nur schwach, abhängig von der untersuchten
Population und oft nicht reproduzierbar. Möglicherweise
spielen Wechselwirkungen zwischen Genen untereinander
und mit Umwelteinflüssen die entscheidende, aber noch
. Abb. 24.12. Lebenserwartung in Deutschland. Dargestellt ist die nicht aufgedeckte Rolle.
Überlebensrate eines Geburtsjahrgangs (Ordinate) zu den 4 angege-
benen Zeiten. Das Lebensalter der Überlebenden ist auf der Abszisse Altern durch molekulare Schäden
aufgetragen. Die Kinder- und Jugendsterblichkeit im 16. und 19. Jahr-
Bei den täglich milliardenfach ablaufenden Stoffwechsel-
hundert ist später praktisch verschwunden. Die Verbesserung der
medizinischen, sozialen und ökonomischen Verhältnisse hat in den
prozessen in den Zellen des menschlichen Gewebes sind
letzten Jahrhunderten in Deutschland dazu geführt, dass die Überle- fehlerhafte Abläufe unvermeidlich. In ihrer Summe sind sie
bensrate bis ins hohe Alter stabil bleibt. (Aus Schmidt u. Lang 2007) über die Zeit die ultimative Ursache des Alterns. Die kom-
606 Kapitel 24 · Entwicklung und Alter

plexe Biochemie solcher Fehlabläufe wird hier nicht dar- Es handelt sich einmal um Enzyme, welche die ROS
gestellt. Erwähnt sei aber, dass hochreaktive Sauerstoffver- katalytisch abbauen und zum anderen um Eiweiße und
bindungen, die zusammengefasst als ROS (»reactive oxygen andere Moleküle, wie z. B. die Vitamine C und E, die nicht-
species«) bezeichnet werden, häufig solche Schäden verur- enzymatisch als »Radikalfänger« dienen. Je effektiver diese
sachen, nämlich dann, wenn mehr ROS auftreten, als die diversen antioxidativen Schutzmechanismen arbeiten, desto
Zelle entgiften kann (s. unten). Ein solcher Zustand wird als langsamer altert der Organismus. (Aus ungeklärten Grün-
oxidativer Stress bezeichnet. Geschädigt werden insbeson- den hat sich bisher nicht bestätigt, dass durch Einnahme
dere Makromoleküle wie Lipide, Eiweiße und Nukleinsäu- hoher Dosen dieser beiden Vitamine radikalverursachte
ren (DNA und RNA). Gefäßschäden verhindern lassen.)
24 Neben der oxidativen Schädigung von Biomakromolekülen Neben den antioxidativen Schutzmechanismen verfü-
tragen auch nichtoxidative Schädigungen zum Altern bei. gen die Zellen noch über Reparatursysteme, die eingetretene
So treten Schäden an DNA- und RNA-Molekülen spontan Schäden wieder rückgängig zu machen suchen. Dazu zählt
etwa genauso häufig auf wie oxidativ verursachte (s. Muta- einmal der bevorzugte Abbau geschädigter Eiweiße im
tionen in 7 Kap. 23). Ein weiteres wichtiges Beispiel ist die Rahmen des ohnehin erfolgenden Auf- und Abbaus (ge-
Anlagerung von Zucker an Eiweißmoleküle, wodurch nannt Protein-Turn-over) aller Körpereiweiße. Werden, wie
»advanced glycation end products« (AGE) entstehen, die beim Altern typisch, mehr Eiweiße durch Oxidation ge-
den Aufbau von Bindegewebe verändern und Zellschäden schädigt als abbaubar, entsteht als Endprodukt Lipofuszin,
verursachen. Sie treten vermehrt bei der Zuckerkrankheit das dann in den Zellen akkumuliert. Dieses fluoreszierende
auf und sind dort für die Gefäßschäden mitverantwortlich Molekül ist das Alterspigment schlechthin. Es wirkt seiner-
(7 Abschn. 7.2.2). seits hemmend auf den Protein-Turn-over und trägt damit
weiter zum Alterungsprozess bei.
Schutz- und Reparaturprozesse gegen Altern Lipofuszinakkumulation ist nicht nur ein Marker des
Die oben angesprochenen reaktiven Sauerstoffverbindun- Zellalterns, sondern hemmt selbst die Fähigkeit zum Pro-
gen (ROS) sind wichtige Signalmoleküle des Zellstoffwech- tein-Turn-over und trägt somit aktiv zum Altern der Zelle
sels, die aber schädigen, wenn sie im Übermaß gebildet wer- bei. Dies gilt auch für weitere Typen von Aggregaten fehler-
den (oxidativer Stress, s. oben). Um dies zu verhindern, ver- haft oder ungenügend abgebauter Proteine, wie z. B. Ceroid
fügen alle Zellen über antioxidative Schutzmechanismen, oder Lewy-Körper als intrazelluläre Einschlüsse und Amy-
die der Kontrolle des ROS-Spiegels dienen. In . Abb. 24.13 loid im Extrazellulärraum.
ist der Zusammenhang zwischen Antioxidanzien und Le- Ein zweites wichtiges Reparatursystem jeder Zelle sind
bensspanne aufgetragen. Superoxiddismutase ist ein Enzym Mechanismen, die DNA-Schäden reparieren. Derzeit sind
der Erythrozyten, das Superoxidradikale abbaut. Je weniger über 100 verschiedenene DNA-Reparaturenzyme bekannt,
freie Sauerstoffradikale im Gewebe vorhanden sind, umso die dazu dienen, die beim Zellstoffwechsel auftretenden
länger leben Tiere; Mutation der Gene für freie Sauerstoff- DNA-Schäden (wie Fehlpaarungen, Einzel- und Doppel-
radikale verlängern die Lebensspanne um bis zu 30%. strangbrüche etc.; 7 Kap. 23) zu beheben. Fallen diese

. Abb. 24.13. Antioxidativer Schutz


korreliert mit der Lebensspanne in
Säugetieren. Verhältnis von Superoxid-
Dismutase (SOD) zu spezifischer Stoff-
wechselrate (SMR) in der Säugetierleber
(Ordinate) als Funktion der maximalen
Lebensspanne in Jahren (Abszisse) (mod.
nach Cutler 1993). (Aus Schmidt u. Lang
2007)
24.2 · Altern des Menschen
607 24

. Abb. 24.14. Die Rolle von Autophagie


und Krebs im Alter. Als Autophagie
(»Selbstverdauung«) werden alle metabo-
lischen Prozesse zusammengefasst, die der
Beseitigung geschädigter oder abgestor-
bener Zellen oder Zellbestandteile dienen.
Je effizienter die Autophagie, desto lang-
samer geht die Vergreisung voran und desto
geringer ist das Risiko, dass Zellschädigun-
gen in eine Tumorerkrankung münden.
Grüne Pfeile symbolisieren Anregung, blaue
mit Querstrich Hemmung. Die roten Pfeile
jeweils Anstieg oder Abfall. Weitere Erläute-
rung im Text

Systeme teilweise aus oder werden sie überfordert, kommt Die Effizienz der Autophagie hängt von Tumorsup-
es zur beschleunigten Zellalterung. pressoren (rechts oben in . Abb. 24.14), welche die Onko-
gene (links oben) »in Schach« halten, ab. Geringe Nah-
G Altern ist eine Folge oxidativer und nichtoxidativer
rungsaufnahme wirkt sich günstig auf die Autophagie aus,
Zellschädigungen, die nur teilweise durch antioxida-
welche die beschädigten Proteine beseitigt. Dadurch wird
tive Schutzmechanismen und durch Eiweiß- und
die Instabilität der Telomere gehemmt, es treten weniger
DNA-Reparatursysteme verhindert bzw. behoben
hochreaktive Sauerstoffverbindungen (ROS) auf und die
werden. Eine Folge dieser Prozesse ist die Akkumula-
Vergreisung wird gehemmt: Die Lebensspanne steigt und
tion des Alterspigments Lipofuszin, das seinerseits
das Krebsrisiko sinkt. Krebserkrankungen steigen nach
die Zellalterung weiter beschleunigt.
dem 45. Lebensjahr stark und kontinuierlich mit dem Alter
an und zwar parallel mit all den bisher genannten physio-
Telomere, Autophagie und Krebs logischen und genetischen Veränderungen im Alter.
Telomere sind spezialisierte G-Protein-reiche Strukturen
G Anhäufung reaktiver Sauerstoffverbindungen, Telo-
am Ende jedes Chromosoms, welche für die Stabilität der
merverlust und Abnahme des zellulären Recycling
Aktivität der Chromosomen verantwortlich sind. Mit dem
durch Autophagie verkürzen die Lebensspanne und
Alter verkürzen sie sich, weil das Enzym Telomerase offen-
fördern Tumorwachstum.
sichtlich seine Fähigkeit verliert, den progressiven Telomer-
verlust aufzuhalten. Syndrome frühzeitigen Alterns sind
mit verringerter Telomerlänge verbunden; subjektiv erleb- 24.2.3 Organ- und Funktionsbeein-
ter Stress (7 Kap. 7), Rauchen und Übergewicht beschleu- trächtigungen durch Alter
nigen den Telomerverlust. Einschleusen des Telomerangens und Krankheit
verlängert das Leben von Zellen zum Teil dramatisch, die
in . Abb. 24.15 gezeigten Altersverluste verschwinden. Physiologisches Altern und seine Variabilität
Eines der deutlichsten Indizien für Altern ist der An- Die einzelnen Organsysteme des jugendlichen Organismus
stieg von zellulärem Müll und zunehmender Schwierigkeit, verfügen über Kapazitäten, die mehrfach über denen liegen,
diesen Müll durch »Recycling« zu erneuern. Das Recycling die zur Alltagsbewältigung notwendig sind. Etwa ab dem
zellulärer Abbauprodukte erfolgt durch Autophagie, also 30. Lebensjahr kommt es zu einer langsamen, aber stetigen
»Selbstverdauung« der Zellbestandteile, an der etwa 16 Gene Abnahme dieser Organreserve, wie dies in . Abb. 24.15
und deren Enzyme beteiligt sind. Autophagie wird durch an einigen Beispielen dargestellt ist. Die resultierenden
geringe Nahrungsaufnahme verbessert und zuviel Nahrung Funktionseinschränkungen machen sich zuerst bei Belas-
gehemmt. . Abb. 24.14 zeigt den Zusammenhang von Auto- tung bemerkbar, während unter Ruhebedingungen kaum
phagie, Tumorbildung, reaktiven Sauerstoffverbindungen Veränderungen gegenüber jüngeren Erwachsenen fest-
(ROS), Lebensspanne und Krebs. stellbar sind.
608 Kapitel 24 · Entwicklung und Alter

24

. Abb. 24.15. Altersphysiologische Veränderungen verschiedener Organfunktionen (mod. nach Bafitis u. Sargent 1977, Lakatta 1990,
Larsson et al. 1979 und Shock 1983). (Aus Schmidt u. Lang 2007)

Geschwindigkeit des Alternsprozesses wobei nach einem akuten Ereignis, wie einem Schlaganfall
Diese ist sowohl zwischen den einzelnen Organsystemen durch Therapie und Änderung der Lebensführung eine
(intraindividuell), wie interindividuell sehr unterschied- Besserung erreicht werden kann (von 2a auf 2b). Der rasche
lich, wobei diese beiden Variabilitäten mit steigendem Alter Verlauf der Funktionsbeeinträchtigung der Linie 3 ist für
immer deutlicher werden. Dazu kommt, dass die alters- Demenzkranke typisch, wobei insbesondere die jahrelan-
physiologischen Veränderungen durch eine entsprechen- gen Phasen der Behinderung und der Pflegeabhängigkeit
de Lebensweise verzögert werden können, und zwar ins- zu beachten sind. Beim »physiologischen« Altern, wie in
besondere durch regelmäßiges köperliches Training, durch Linie 4 illustriert, bestehen bis ins hohe Alter nur leichte
geistige Regsamkeit und durch eine ausgewogene Ernäh- Beeinträchtigungen und die Phasen von Behinderung und
rung (s. unten). Pflegeabhängigkeit sind auf die letzten Lebensmonate be-
schränkt. Die Linie 5 zeigt schließlich den idealtypischen
Alternsassoziierte Erkrankungen Altersverlauf.
Altern ist zwar keine Krankheit, aber bedingt durch die
oben diskutierten Alterungsprozesse sind alte Menschen Interventionelle Verlangsamung
häufiger krank als junge, wobei chronische Krankheiten des Alternsprozesses
überwiegen. In erster Linie sind davon das Herz-Kreislauf- Wie oben berichtet, ist nach heutigem Wissensstand die
System (arterielle Hypertonie, koronare Herzkrankheit, mittlere menschliche Lebensspanne nicht über 120 Jahre zu
Herzinsuffizienz), der Bewegungsapparat (Wirbelsäulen- steigern. Ziel jeglicher Intervention in den Alternsprozess
syndrome, Arthrosen, rheumatische Erkrankungen) und ist also nicht a priori die Lebensverlängerung, sondern die
das Zentralnervensystem (Alzheimer- und andere Demen- Verlängerung der Lebensqualität im Alter durch Verlang-
zen) betroffen. Außerdem steigt die Inzidenz von Stoff- samung des Alterns und Kompression der terminalen
wechselerkrankungen (z. B. Diabetes mellitus) und von Phase der Behinderung und Pflegeabhängigkeit (grüne
Tumoren. Geriatrische Patienten weisen charakteristi- Kurve 4 in . Abb. 24.16). Innerhalb dieses Rahmens lässt
scherweise mehrere Krankheiten gleichzeitig auf (Multi- sich aber ein langes, gesundes Leben um so wahrscheinli-
morbidität), die sich wechselseitig beeinflussen und durch cher machen, je mehr die folgenden Aspekte der Lebens-
Funktionsverlust die selbstständige Lebensführung be- führung beachtet werden:
drohen. 4 gesundheitsbewusster Lebensstil (s. oben unter »Ge-
Wie unterschiedlich die Altersverläufe sein können, ist schwindigkeit des Alternsprozesses«): Vermeidung von
schematisch und beispielhaft in . Abb. 24.16 illustriert. Übergewicht und Rauchen als den beiden wichtigsten
Linie 1 zeigt den stark beschleunigten Altersprozess ab dem Faktoren, die heute die erreichbare Lebensspanne in
6. Lebensjahr bei vorzeitiger Vergreisung (Progerie). Ähn- den Industrieländern begrenzen;
lich können, wie Linie 2 zeigt, Risikofaktoren wie Bluthoch- 4 medizinische Prophylaxe (z. B. Krebsvorsorge) und gute
druck, Nikotin etc. zu einer schnelleren Alterung beitragen, medizinische Betreuung im Erkrankungsfall.
24.2 · Altern des Menschen
609 24

. Abb. 24.16. Beispiele verschiedener Alterungsverläufe. Linie 1: erreicht werden (2a→2b). Linie 3: Rasche Funktionsbeeinträchtigung,
Stark beschleunigter Alterungsprozess ab dem 6. Lebensjahr bei der wie sie für Demenzkranke typisch ist. Zu beachten ist die lange Phase
Progerie (vorzeitige Vergreisung). Linie 2: Risikofaktoren (Bluthoch- der Behinderung bei alltäglichen Verrichtungen und die Pflegeab-
druck, erhöhte Blutfette, Nikotin etc.) können ebenfalls zu einer schnel- hängigkeit. Linie 4: »Normales« Altern. Bis ins hohe Alter bestehen nur
leren Alterung beitragen. Nach einem Akutereignis (z. B. Schlaganfall) leichte Beeinträchtigungen. Die Phase von Behinderung und Pflege-
kann durch therapeutische Intervention eine Besserung des funktio- abhängigkeit ist auf die letzten Lebensmonate beschränkt. Linie 5:
nellen Status, der Lebenserwartung und damit der Lebensqualität Idealtypischer Verlauf des Alterns. (Aus Schmidt u. Lang 2007)

In Tiermodellen sind teils durch Genmutationen (u. a. 24.2.4 Kognitives und motorisches Altern:
beim Fadenwurmn) teils durch kalorische Restriktionen Gesundheitsstatus alter Menschen
(Einschränkung der Nahrungsaufnahme auf 60–70% der
normalen Kalorienzufuhr bei Würmern und Nagern) z. T. . Abb. 24.17 zeigt ein Modell selektiver Optimierung durch
erhebliche Lebensverlängerungen möglich. Ob hieraus ei- Kompensation von P. Baltes, wie es bei gesundem Alter ty-
nes Tages wirksame Mittel zur menschlichen Lebensverlän- pisch ist. Es betont, dass eine medizinische und psychologi-
gerung gewonnen werden können, ist noch offen. Biolo- sche Beurteilung von Altersfolgen nicht ohne den Einbezug
gisch kann man nicht erwarten, dass die isolierte Restorati- plastischer Mechanismen der Optimierung, Selektion und
on einzelner Teilaspekte des Alterns (z. B. Hormonersatz) Kompensation auskommen kann.
den Alternsprozess insgesamt positiv beeinflusst. Die »Anti- Viele der Vorurteile und Antipathien (engl. »Ageism«),
aging-Medizin«, die verlangsamtes Altern auf der Basis die junge Ärzte, Psychologen und Pflegepersonal mittleren
einer (Über-)Kompensation bestimmter Hormone oder Alters (bis 50 Jahre) sowie andere Berufsgruppen dem alten
anderer einzelner altersabhängiger Parameter verspricht, Menschen entgegenbringen, erweisen sich bei Prüfung der
hat keine seriöse Basis. Befundlage als besonders gefährlich. Die Vorurteile und
negativen Erwartungshaltungen, die Ärzte und Pflegeper-
G Menschliches Altern ist von großer intra- und inter- sonal alten Menschen (>65) entgegenbringen, sind größer
individeller Variabilität geprägt, wobei insgesamt als die bekannten Vorurteile gegenüber Fremden, Minder-
die Wahrscheinlichkeit multimorbider chronischer heiten und Rassen.
Erkrankungen im Alter exponentiell zunimmt. Die Bei gesunden Alten (>65) findet man bei 100% der
individuelle Lebensspanne kann allerdings durch Personen pathophysiologische Befunde, wobei die Zahl
Optimierung von Lebensstil und -form deutlich ver- pathologischer Befunde mit sozioökonomischer Zugehö-
längert und die Lebensqualität bis kurz vor dem rigkeit und der Zugänglichkeit zur Gesundheitsversorgung
Tod frei von Behinderung und Pflegeabhängigkeit korreliert, besonders bei alten und armen Frauen (in
gehalten werden. Deutschland leben zur Zeit ca. 1–2 Mio. Menschen über
60 unter der Armutsgrenze von ungefähr 400 Euro pro Mo-
nat). 36% der über 65-Jährigen sind in ärztlicher Behand-
lung, 27% chronisch krank und 35% haben psychologisch-
psychiatrische Probleme. Die wichtigsten psychologisch
bedingten Störungen sind in . Tab. 24.1 dargestellt.
610 Kapitel 24 · Entwicklung und Alter

. Abb. 24.17. Das Modell selekti-


ver Optimierung und Kompensa-

Nach Baltes (1991). Mit freundlicher Genehmigung


tion im Alter. Besprechung im Text.
(Nach Baltes 1991)

des Deutschen Ärzte-Verlags.


24

vergessen werden, dass 90% der Varianz des kognitiven


. Tab. 24.1. Krankheitssymptome der über 60-jährigen in Altersabbaus durch Nachlassen der sensorischen und moto-
Prozent rischen Funktionen (Hören, Sehen, Tasten, Riechen, Schme-
Männer Frauen cken, erhöhte Schmerzempfindlichkeit) erklärt wird.
1. Übergewicht 28% 42% Der terminale Abfall (»terminal drop«) bedeutet ein
2. Hypertonie 20% 20% plötzliches und überdurchschnittliches Nachlassen der
Testleistung vor allem in Problemlöseaufgaben, wie z. B.
3. Gastritis 16% 13%
dem Raven-Farbmatrizentest, bei dem in eine Serie farbiger
4. Kardiovaskuläre Beschwerden 5% 18%
Puzzles ein zu der Serie passendes Puzzle eingesetzt werden
5. Schlafstörungen 70–100% muss. Der »terminal drop« tritt ein halbes Jahr bis vier
6. Druchfall/Obstipation 60% Jahre vor dem Todeszeitpunkt ein und kann nicht auf eine
organische Demenz zurückgeführt werden.

G Die meisten der universell gefundenen Alters- G Die kognitiven Leistungseinbußen und emotionalen
abfälle in Intelligenz, Problemlösen, Gedächtnis, Re- Probleme im Alter sind kleiner, die körperlichen Ein-
aktionsgeschwindigkeit und -genauigkeit sind se- bußen größer als erwartet.
kundäre Folgen von externen Drittfaktoren und
nicht altersinhärent. Neuronale Plastizität
Angesichts der bis zum Tode erhaltenen Plastizität des Ge-
Kristalline und fluide Intelligenz im Alter hirns, das noch weitgehende makro- und mikroanatomi-
Armut, Depression, Fehlernährung, medizinische Erkran- sche Reorganisation durch Lernen und Erfahrung zeigen
kungen (v. a. Diabetes und Osteoporose), sensorische und kann, sind intellektuelle Einbrüche entweder Folge von
motorische Einbußen, Entwurzelung durch Umzug, Heim- Krankheit (Morbus Alzheimer, Diabetes) oder Folgen gei-
aufenthalt und Emigration drücken die Testleistungen. Kog- stig-körperlicher Inaktivität (Inaktivitätsatrophie). Neuro-
nitives Training und gutes Ernährungsniveau sind protek- psychologische Rehabilitationsverfahren erlauben in der
tive Faktoren, welche die kognitiven Verluste weitgehend Regel eine Kompensation der Ausfälle (7 Abschn. 24.3.2).
kompensieren können. Kristalline Intelligenz (Sprachauf- Eine der häufigsten Folgen der mangelnden Plastizität
gaben, allgemeines Wissen, musikalische Fertigkeiten, im- des motorischen Nervensystems sind Stürze im Alter. Zur
plizites Gedächtnis) bleibt im Alter stabil oder steigt, fluide Vermeidung von Stürzen sollte, abgesehen von mechani-
(flüssige) Intelligenz zeigt über 60 einen exponentiellen schen Schutzeinlagen an den kritischen Skelettteilen, ein
Abfall bis zu mehr als eine Standardabweichung unter den wenige Sitzungen umfassendes psychologisch-präventives
Mittelwert. Training durchgeführt werden. Dabei lernen die Patienten
Unter fluider Intelligenz werden Aufgaben und Prob- mit operanten Strategien kritische Hindernisse zu über-
leme zusammengefasst, die nicht durch Ausbildung oder winden, Pausen und Selbstkontrolle vor raschen Bewegun-
kulturelle Praktiken lösbar sind: Reaktionszeiten, explizites gen einzusetzen, bestimmte Orte und Bewegungen zu ver-
Kurzzeitgedächtnis, visuell-räumliche Aufgaben (gemessen meiden, Stützen und Prothesen in schwierigen Situationen
z. B. mit dem Handlungsteil des Hamburg-Wechsler-Intel- zu benutzen und deren Wiederauffinden nach Vergessen.
ligenztests) und motorische Geschicklichkeit. Viele dieser Hinzu kommt das Anbringen von visuellen oder akus-
Funktionen hängen von der Funktionstüchtigkeit des tem- tischen Wegweisern, Warnzeichen und Schutzeinrichtun-
poral-hippocampalen Systems im Gehirn ab, das sowohl gen in der häuslichen und Heimumgebung. Damit konnten
mit dem Alter als auch mit der Akkumulation von Stress Brüche nach Stürzen um bis zu 75% gegenüber Kontrollen
zunehmend störanfällig wird (s. Kap. 26). Dabei darf nicht (mit orthopädischen Einlagen) vermieden werden.
24.3 · Neurodegenerative Erkrankungen
611 24

G Eine der gravierendsten Komplikationen im hohen G Demenzen zeichnen sich durch einen überdurch-
Alter sind Stürze mit Brüchen von Oberschenkelhals, schnittlichen Abfall intellektueller Funktionen,
Becken und Armen. Durch operantes Training lassen besonders der Merkfähigkeit, gegenüber dem
sie sich vermeiden. vorausgegangenen Funktionsniveau und gegen-
über Gleichaltrigen aus.

24.3 Neurodegenerative Symptome der Alzheimer-Erkrankung


Erkrankungen Der Psychiater Alois Alzheimer beschrieb 1902 als erster
den Verlauf einer Erkrankung bei seiner Patientin
24.3.1 Alzheimer- und Parkinson- Auguste D., die über mehrere Jahre von Merkfähigkeits-
Erkrankung störungen zum völligen Zerfall der Persönlichkeit führten
(. Abb. 24.18).
Demenzen 60% aller Personen mit Demenzen sind an dieser Stö-
Unter Demenzen verstehen wir einen überdurchschnitt- rung erkrankt. Wie die meisten Demenzen beginnt sie
lichen Verlust intellektueller Funktionen, vor allem der schleichend und entwickelt sich über ein Anfangsstadium
Merkfähigkeit. Überdurchschnittlich bedeutet hier im Ver- von 1–3 Jahren bis zu vollständiger apathischer Demenz
gleich zum normalen Abfall intellektueller Funktionen mit Inkontinenz, motorischen Störungen und körperlichem
im Laufe des Alterns. Spezifische neuropsychologische Verfall und Tod nach durchschnittlich 5–10 Jahren (7 Ab-
Tests für Gedächtnis, Merkfähigkeit und Problemlösen und schn. 9.3.2 und 9.3.4). Einsicht in die Erkrankung geht nach
räumliche Desorientierung geben Grenzwerte an, ab denen dem Anfangsstadium in der Regel verloren. Der Beginn
normaler Abfall intellektueller Funktionen in krankhaftes wird oft nicht erkannt, die Vergesslichkeit besonders für
Altern, die Demenz, übergeht. Eine Differenzialdiagnose neues Gedächtnismaterial (Merkfähigkeit für Minuten
erfordert aber zusätzlich zu den Tests eine Verhaltensana- vorher dargebotene Inhalte) unterscheidet sich vorerst
lyse und neurologische Untersuchungen. nicht von den Behaltensschwierigkeiten älterer Menschen
5% der Bevölkerung über 65 Jahre weisen schwere De- (7 Abschn. 21.1 und 21.3). Bereits ab dem 50. Lebensjahr
menzen, weitere 10% der über 65-Jährigen und über 40% können die ersten Merkfähigkeitsstörungen auftreten.
der über 80-Jährigen leichte bis mittelschwache Demen- Erst etwas später fallen Persönlichkeitsveränderungen
zen auf. Nach der Ursache der Schädigung werden unter- auf: Depression, extreme Verschärfung vorhandener Per-
schieden: sönlichkeitszüge, apathische Einstellung gegenüber Neuem
4 neurodegenerative Erkrankungen: und Ablenkbarkeit, Konfusion und soziale Desorientie-
5 Alzheimer, rung. Neurologische Zeichen (Verlust von Reflexhem-
5 Parkinson, mungen, Inkontinenz, Sprachstörungen) folgen erst relativ
5 Huntington, spät.
5 amyotrophe Lateralsklerose, ALS; Die Schwere der Erkrankung wird üblicherweise mit der
4 neuroplastische Erkrankungen: »Mini-Mental-State-Examination« (MMSE) bestimmt. Diese
5 Hirntumoren; besteht aus 11 Aufgaben, die unterschiedlich gewichtet wer-
4 vaskuläre Erkrankungen: den, z. B. 3 Worte (Apfel, Penny, Tisch) 6-mal wiederholen
5 zerebrale Blutungen (»Schlaganfälle«), und wenige Minuten danach wieder abfragen, zeitliche und
5 subdurale Hämatome, örtliche Orientierung abfragen usw. Eine Punktzahl unter
5 Vaskulitits; 10 ist eine schwere Demenz, 11 bis 13 mittelschwere De-
4 metabolische und demyelinsierende Erkrankungen: menz, bis 16 leichte Demenz, ab 16 normaler Wert.
5 multiple Sklerose, Risikofaktoren für Alzheimer sind
5 Leukodystrophie; 4 Alter,
4 infektiöse Erkrankungen: 4 positive Familienanamnese,
5 Neurosyphilis, 4 Vererbung des Apolipoprotein-E4-Allels (s. unten),
5 Aids, 4 schlechte Ausbildung und niedrige sozioökonomische
5 Hirnabszesse, Schicht sowie
5 Enzephalitis und Meningitis, 4 schwere Kopftraumen.
5 Jakob-Creutzfeld-Erkrankungen (z. B. BSE, bovine
spongiforme Enzephalopathie, »mad cows disease«, G Die Alzheimer-Erkrankung beginnt mit Merkfähig-
»Rinderwahnsinn«); keitsstörungen gefolgt von affektiven Störungen.
4 Hirntraumen. Sie schreitet innerhalb weniger Jahre bis zum völ-
ligen Verfall von Intelligenz und Persönlichkeit fort.
612 Kapitel 24 · Entwicklung und Alter

Ursachen der Alzheimer-Erkrankung


Die Entstehung der Alzheimer-Erkrankung ist zurzeit noch
unbekannt; diskutiert werden ein langsamer Virus (»slow
virus«), genetische Disposition, Aluminiumunverträglich-
keit und immunologische Defekte. Am wahrscheinlichsten,
besonders für die früh auftretende, schwere Form von Alz-
heimer ist eine Mutation im Zellstoffwechsel vor dem Hin-
tergrund einer genetischen Disposition (. Abb. 24.18).
Im Kernspintomogramm erkennt man schon bei Be-
24 ginn der Erkrankung eine Hypoaktivierung im Hippocam-
pus, entorhinalen Kortex, N. basalis, posteriorem Zingulum
und posterioren temperoparietale Arealen.
Die beiden neuropathologischen Hauptkennzeichen
sind
4 senile neuritische Plaques (Ablagerungen) und
4 neurofibrilläre Einlagerungen

in den genannten kortikalen und limbischen Regionen. Als


Folge tritt eine Unterbrechung des Zellstoffwechsels und
Zelltod ein.
Senile Plaques bestehen aus Aβ-Amyloid, einem Amy-
loid-Vorläuferprotein (APP), das es in allen Körperzellen
gibt. Es wird in den Nervenzellen aus β- und γ-Sekretase
gebildet.
Für die schwere familiäre Form der Erkrankung (ca.
a 10% aller Patienten) konnte die Mutation eines Genes auf
Chromosom 21 verantwortlich gemacht werden. Dieses
Gen kodiert für das Vorläuferprotein von β-Amyloid (APP),
das für die Zerstörung der Zellen verantwortlich ist und in
hohen Mengen im Gehirn der Patienten nachweisbar ist.
Allerdings fand man in anderen Untersuchungen an belas-
teten Familien eine Mutation auf Chromosom 1 (Preseni-
lin 2) und Chromosom 14 (Presenilin 1) und Chromo-
som 19, die ähnliche Funktionen wie jene auf Chromo-
som 21 haben.
Neurofibrilläre Einlagerungen sind intrazelluläre Ver-
änderungen des Zytoskeletts, die aus dem hyperphosphori-
lierten Protein Tau bestehen. Die Einlagerungen blockieren
den intraneuronalen Transport und führen zum Tod der
Zellen.
G Die Alzheimer-Erkrankung beginnt in denjenigen
Hirnarealen, die für explizites, episodisches Gedächt-
nis verantwortlich sind (Hippocampus und medialer
Temporallappen). In diesen Arealen kommt es zu
exzessiver Ablagerung von β-Amyloid und Tau, was
b
über einige Zwischenschritte langsam zum Zelltod
führt.
. Abb. 24.18a,b. Alzheimer-Erkrankung. a Auguste D, die erste
Patientin Alois Alzheimers 1902. b Vergleich des Gehirns einer Alzhei-
mer-Patientin (rechts) und einer gesunden, gleich alten Person (links). Azetylcholin und Alzheimer-Erkrankung
Das Alzheimer-Gehirn ist kleiner und weist erheblich ausgedehntere Die Schwere der Alzheimer-Demenz korreliert hoch mit
Furchen und schmale Windungen auf. dem post mortem festgestellten Verlust des Vorläuferen-
zyms des Transmitters Azetylcholin (ACh) Cholin-Azetyl-
transferase (ChAT), vor allem in den Assoziationsarealen
und im Hippocampus (auch 7 Abschn. 25.4.3). Als Folge
24.3 · Neurodegenerative Erkrankungen
613 24

wird zu wenig ACh produziert und die cholinergen Neu- inhaltsstoffen (Crack, 7 Kap. 5, . Box 5.5), die Dopamin-
rone atrophieren. Allerdings wird auch das Abbauenzym zellen zerstören, sind eine Ursache, kommen aber nicht bei
Azetylcholinesterase und NA, Serotonin und die Reaktivi- allen Betroffenen vor. Heute sind Parkinson-Symptome oft
tät auf einige Neuropeptide (Somatostatin, Neurotensin) Folge chronischer Gabe von antipsychotischer Medikation
verringert. Der Verlust cholinerger Neurone nimmt aber mit antidopaminerger Wirkung (s. unten und 7 Kap. 13).
von den subkortikalen Ursprungskernen des cholinergen Da bei Parkinson ein Verlust dopaminerger Zellen in der
Systems (7 Kap. 21 und 25) seinen Ausgang. Substantia nigra und dem benachbarten ventralen Teg-
Die Ursache für den Verlust cholinerger Zellen dürfte mentum vorliegt und die S. nigra Teil eines komplexen Sys-
in einer Reduktion des Nervenwachstumsfaktors (»nerve tems mit motorischen, kognitiven und motivationalen
growth factor«, NGF) liegen. NGF wird vor allem im Hip- Funktionen ist (7 Kap. 5 und 26), sind motorische Ausfälle
pocampus und dem Basalkern (N. basalis) des Vorderhirns allein unwahrscheinlich.
produziert und stimuliert Wachstum und ChAT-Produk- Die Tatsache, dass der präfrontale Assoziationskortex
tion speziell im cholinergen System (. Abb. 5.16). Im Tier- eine zentrale Empfangsstelle dopaminerger, cholinerger
versuch hebt Injektion oder Implantation von NGF die und noradrenerger Faserzüge ist, lässt Störungen, wie sie
Lern- und Gedächtnisdefekte nach Hippocampusläsion auf bei dorsolateraler Frontalläsion festzustellen sind, vermu-
(7 Abschn. 25.4.3). ten. In der Tat zeigen Parkinson-Patienten und Patienten
mit Frontalläsionen häufig vergleichbare Störungen im
G Zum Zeitpunkt des Todes von Alzheimer-Patienten
Wisconsin-Card-Sorting-Test (. Abb. 28.38) und bei Auf-
ist die cholinerge Aktivität der Nervenzellen und Sy-
gaben, in denen verschiedene Hinweisreize mit unter-
napsen des Gehirns stark reduziert. Die Ursache da-
schiedlichen Handlungsabfolgen assoziiert werden müssen
für ist ein Mangel an Nervenwachstumsfaktor (NGF).
(»delayed alternating response«). Da bei Parkinson-Patien-
ten aber auch noradrengerge Zellen im Nucl. coeruleus
Therapie der Alzheimer Erkrankung degenerieren und Serotonin im Gehirn reduziert ist, kann
Im Zentrum der palliativen (»schützenden« nicht kausalen) die Krankheit nur durch Interaktion von mehreren Trans-
Therapie steht die neuropsychologische Rehabilitation mittern verstanden werden. Wie bei Morbus Alzheimer ist
(s. unten). Eine gewisse Verlangsamung des Verlaufs (um auch ein Verlust cholinerger Zellen im basalen Kern des
ca. 1 Jahr) kann durch Vorderhirns (. Abb. 5.16) festgestellt worden, der aber of-
4 Cholinesterasehemmer (z. B. Tacrin), fensichtlich nicht zu den weiten kortikalen Schädigungen
4 antioxidantes Vitamin E (2000 Einheiten täglich) und der Alzheimer-Erkrankung führt, sondern bei Morbus
Selegilin oder Parkinson am Kortex primär die Frontalregion zu betref-
4 Memantin, einen NMDA-Rezeptor-Blocker, fen scheint. Trotz mancher neuropathologischer Verän-
derungen sind bei vielen Parkinson-Patienten kognitive
erzielt werden. Eine kausale Therapie müsste natürlich die Funktionen kaum beeinträchtigt.
Anhäufung von Aβ-Protein und die Hyperphosphorilie-
G Die Parkinson-Erkrankung besteht aus Ruhetremor,
rung des Tau-Proteins blockieren. Erste Tierversuche an
Rigidität und Bradykinesie oder Akinesie. Sie ist vor
transgenen Mäusen mit einem Alzheimer-Modell sind er-
allem auf Verlust des Dopamins im nigrostriatalen
folgreich.
Dopaminsystem zurückzuführen. Dies kann auch zu
Parkinson-Erkrankung präfrontalen Störungen des präfrontalen Dopamin-
und NA-Systems führen.
Obwohl Ruhetremor, Rigidität, Bradykinesie (langsame
und träge Bewegungen) und Akinesie (Initiierung von Be-
wegung gestört) als die Hauptsymptome beim Morbus Par- Therapie der Parkinson-Erkrankung
kinson gelten (7 Abschn. 13.7), sind die kognitiven Störun- Die Behandlung der Parkinson-Krankheit mit L-Dopa,
gen und die Depressivität mancher Patienten genauso als dem Vorläuferenzym von Dopamin, bessert in den ersten
Teil dieser Erkrankung zu sehen (7 Abschn. 5.2 und 5.4). Behandlungsmonaten und -jahren die psychomotorischen
Vor Einsetzen der motorischen Ausfälle äußert sich die Störungen, intellektuelle Verbesserungen und Stimmungs-
Krankheit schon früh in einem Nachlassen visuell-räumli- aufhellungen sind in der Regel nur von kurzer Dauer
cher Funktionen (bei beidseitiger oder rechts-dominanter (7 Kap. 13). Dies weist darauf hin, dass die Balance eines
Lokalisation der Störung, weniger bei links-dominanter). komplizierten Gefüges von Netzwerken mit kognitiven
Die Erkrankung tritt meist nach dem 50. Lebensjahr auf und motorischen Funktionen gestört ist. Die früher häufig
und verläuft progredient, innerhalb von 5–20 Jahren nach praktizierte stereotaktische Ausschaltung motorischer
erstem Auftreten ist die Mortalität 3-mal so hoch wie bei Kerne des Thalamus als Therapie der Parkinson-Erkran-
Gesunden (7 Abschn. 1.3.7 und 21.3.5). kung hat sich genauso wenig bewährt wie die Ausschaltung
Bei idiopathischer Parkinson-Erkrankung ist die Ursa- der Frontalregion bei Schizophrenien oder Zwangsstö-
che unbekannt; Aufnahme von Pestiziden und Drogen- rungen.
614 Kapitel 24 · Entwicklung und Alter

Erstaunliche Anfangserfolge erbrachte die Implanta- psychologischer Seite bisher selten eingesetzt worden. Dies
tion embryonalen dopaminergen und noradrenergen gilt besonders für Folgen von Läsionen des Gehirns nach
Gewebes in die Umgebung der Substantia nigra (. Box 5.5). Traumen, Tumoren, operativen Eingriffen, kardiovasku-
Das Gewebe vermehrt sich rasch und wächst in die degene- lären Störungen, infektiösen Erkrankungen, Vergiftungen
rierten Zonen der Basalganglien ein. Bei einigen Patienten und Geburts- oder Vorgeburtsschäden. Dafür gibt es meh-
wuchsen die Zellen aber unkontrolliert in alle Richtungen, rere Gründe:
sodass eine deutliche Verschlechterung des Krankheitsbil- 4 Pessimistische Prognosen: Obwohl für die Folgen von
des mit Krämpfen und Zuckungen auftrat. Hirnschäden Verbesserungen im Verhalten, kognitiven
Elektrische Stimulation der motorischen thalami- Funktionen und beruflichem Status noch nach 15 Jah-
24 schen Kerne und des Subthalamus (»deep brain stimula- ren nachgewiesen werden konnten, hält sich das Vor-
tion, DBS) über implantierte Elektroden zeigt ebenfalls urteil fehlender Plastizität des ZNS bei erwachsenen
erhebliche und dauerhafte Verbesserungen der Be- und alten Menschen. Für die meisten Störungen wer-
wegungsstörungen, vor allem der Bradykinesie. Die den Verbesserungschancen bis zu maximal 1 Jahr nach
Mechanismen dieses Effektes sind in 7 Kap. 5 und 13 be- dem Auftreten der Läsion angegeben. Dies widerspricht
schrieben. den meisten empirischen Untersuchungen. Durch die
Die Verhaltenstherapie des Morbus Parkinson kann Konzentration der medizinischen Forschung auf
zwar die Degeneration der Zellen nicht beenden, aber in molekulare Ansätze und damit erhoffte ökonomische
ihrem Verlauf verlangsamen: Intensives Training der Moto- Vorteile wird die verhaltensorientierte Forschung ver-
rik mit EMG-Biofeedback und Übungsprogrammen des nachlässigt.
Gesichtsausdrucks und Verbesserung der Depressivität, 4 Emotionale Störungen als Konsequenz der Ausfälle
Ängstlichkeit und des sozialen Rückzugs verlangsamt das beeinträchtigen die Rehabilitation. Die Betroffenen
Fortschreiten der Erkrankung erheblich. Die Patienten sind entweder depressiv und/oder leugnen unkritisch
müssen aber die Übungen in der häuslichen und sozialen jede Störung. Dasselbe gilt für die Familienangehöri-
Umgebung lebenslang fortsetzen, sonst verlieren sie ihre gen, die eine Schlüsselstellung in der Wiederherstellung
Wirkung. einnehmen. Diese übernehmen häufig die pessimis-
tischen Prognosen des medizinischen und psycholo-
G Durch die Gabe des Vorläuferenzyms von Dopamin,
gischen Personals und tragen damit zu mangelnden
dem L-Dopa, lässt sich über einige Jahre eine Verbes-
rehabilitativen Versuchen bei.
serung der Symptomatik der Parkinson-Erkrankung
4 Inadäquate Behandlung und Unterlassen von Ver-
erzielen. Vor allem in Fällen mit Akinesie ist tiefe
haltensmodifikation. Klinisch-psychotherapeutische
elektrische Hirnstimulation des N. subthalamicus
Behandlung ohne Einbezug der Familie und Umgebung
sehr wirksam. Die Implantation von embryonalen
des Betroffenen ist inadäquat für die meisten dieser
dopaminergen und noradrenergen Stammzellen ist
Patienten. Intensive (mehrmals pro Woche) und lang-
umstritten.
wierige neuropsychologische Rehabilitation ist die ein-
zige derzeit vorhandene Möglichkeit zur Wieder-
24.3.2 Neuropsychologische herstellung kognitiver und emotionaler Funktionsaus-
Rehabilitation fälle.

Anwendung neuropsychologischer Im Gegensatz zu den oben behandelten lokalen Hirn-


Rehabilitation schädigungen ist die Lebensqualität bei anderen Hirner-
Mehr als 2 Mio. Menschen in Deutschland leiden an Er- krankungen kaum beeinträchtigt. . Abb. 24.19 zeigt die
krankungen des ZNS, die mit schweren Störungen psychi- Lebensqualität von schwerst beeinträchtigten gelähmten
scher Funktionen und des Verhaltens einhergehen. 20% und teilweise künstlich beatmeten Patienten mit amyotro-
aller Insassen in psychiatrischen Krankenhäusern haben pher Lateralsklerose, ALS: Durchweg ist die Beurteilung
organische Hirnläsionen, vergleichbar neurologischen Pa- der eigenen Lebensqualität durch den Patienten signifi-
tienten. Die Zahl der Erkrankten nimmt mit dem Alter zu, kant besser als die durch die Familie und das Pflegeper-
wobei vor allem senile Demenzen (Alzheimer-Krankheit, sonal.
s. oben) und zerebrovaskuläre Ausfälle (»Hirnschlag«)
dominieren. Bei jüngeren Menschen erleiden pro Jahr mehr G Neuropsychologische Rehabilitation bei Erkrankun-
als 3% der Bevölkerung Schädel-Hirn-Traumen als Folge gen des Gehirns ist wenig verbreitet, da pessimis-
von Verkehrs- und anderen -unfällen, die mit bleibenden tische Prognosen, Konzentration auf molekulare
Schäden, vor allem Gedächtnisstörungen einhergehen. Ansätze und inadäquate Behandlung der sozialen
Obwohl neurologische und psychologische Diagnosen und affektiven Folgen von Hirnschäden ihren Einsatz
zunehmend präziser wurden, sind therapeutische Reha- behindern.
bilitationsmethoden sowohl auf medizinischer wie auf
24.3 · Neurodegenerative Erkrankungen
615 24

. Abb. 24.19. Lebensqualität von Patienten mit amyotropher dererseits durch die Patienten selbst (blaue Säulen). Die Patienten
Lateralsklerose (ALS). Die Einschätzungen erfolgten einerseits durch (N = 19) waren mit ihrer Lebensqualität signifikant zufriedener als von
die Angehörigen und/oder das Pflegepersonal (rote Säulen) und an- ihrer Umgebung angenommen. (Nach Birbaumer & Cohen 2007)

Neuropsychologische Rehabilitation bei Demenz Meist stehen Aufmerksamkeits- oder Gedächtnis-


Erstes Auftreten von Alzheimer-Demenz und deren Verlauf training am Beginn der Behandlung, dabei werden die Auf-
wird deutlich positiv durch psychologische Trainingsmaß- gaben über Computer in ansteigender Schwierigkeit darge-
nahmen beeinflußt. Diese bestehen aus: boten. Computer erlauben individuelle, selbstkontrollierte
4 Aufmerksamkeitstraining (s. unten); Darbietung des Lernmaterials und geben unmittelbare
4 Gedächtnistraining (s. unten); Rückmeldung über die Richtigkeit der Lösung, ohne stö-
4 Stimulation und Aktivität: dazu gehören aktives Musi- rende Gefühlsschwankungen beim Patienten auszulösen.
zieren und Singen, Ersatz von Fernsehen durch aktive Familienangehörige werden geschult, die erzielten Verhal-
soziale Interaktion mit physischen Übungen, sensorisch tensänderungen in der häuslichen Umgebung weiter zu
»reicher« und abwechslungsreicher Umgebung; verstärken.
4 Realitätsorientierung und Orientierungshilfen: klarer Bei linksseitigem Neglekt werden die visuellen Reize
Tagungsablauf, räumliche und kognitive Erinnerungs- zunehmend in das linke Gesichtsfeld eingeblendet, z. B. sig-
hilfen (elektronische Kalender, Wecker), Tagebücher nalisiert ein Warnreiz im linken Gesichtsfeld eine kurz
über Aktivitäten, konsistente Kontingenzen (Beloh- danach dargebotene Aufgabe (z. B. Puzzle) im rechten Ge-
nung und Bestrafung) durch gesamte soziale Umge- sichtsfeld, die nur bei Beachtung des Warnreizes gelöst wer-
bung, Erlernen von neuem Wissen durch Kombination den kann. Zeit- und Distanzschätzungsaufgaben werden
mit Bewegung, z. B. das Wort und der Begriff »Aufste- so aufgebaut, dass sie nur nach Absuchen (»scanning«) der
hen« mit motorischem Aufstehen assoziieren; linken Seite lösbar sind. Die Aufgaben werden häufig aus
4 Verhaltensmanagment: Reduktion von ziellosem »Wan- neuropsychologischen Testbatterien entlehnt, mit denen
dern« und Ruhelosigkeit, verbalen und physischen vor der Rehabilitation die Ausfälle des Patienten qualitativ
Aggressionen, urinale und fäkale Inkontinenz (7 Ab- erfasst wurden.
schn. 13.7.2), Schreien, Essensschwierigkeiten, Reduk-
G Am Beginn vieler neuropsychologischer Behand-
tion der Vernachlässigung persönlicher Hygiene durch
lungen steht das Training von Aufmerksamkeit und
operantes Konditionieren und Feedback (7 Kap. 25).
Konzentration mit individueller Aufgabenstellung
Aufmerksamkeitstraining und unmittelbarer Rückmeldung.

Angesichts der Heterogenität neuropsychologischer Aus-


fälle nach Hirnläsionen müssen die Behandlungsprogram- Gedächtnistraining
me individuell an die Patienten angepasst werden. Ort und Störungen des Kurzzeitgedächtnisses (7 Kap. 25) und der
Ausmaß der zerstörten Hirnsubstanz spielen dabei eine Einprägung (Konsolidierung) gehören zu den häufigsten
wichtige Rolle. Konsequenzen nicht nur von Hirnläsionen, sondern auch
616 Kapitel 24 · Entwicklung und Alter

bei Demenzen. Verschiedene Strategien haben sich als Gehirn-Computer-Interfaces


wirksam in der Rehabilitation von hirnorganischen Ge- und Neuroprothesen
dächtnisstörungen erwiesen: »Brain computer interfaces« (BCI) können in vielen Berei-
4 »Flugzeuglistenmethode«: Die zu merkenden Worte chen der neuropsychologischen Rehabilitation Anwendung
und Begriffe werden in eine absurde, aber leicht visuell finden. Sie benutzen ein elektrisches, magnetisches oder
vorstellbare Geschichte eingebaut; z. B. zum Einprägen metabolisches Hirnsignal, das der Patient selbst zu pro-
der Worte »Flugzeug« und »Giraffe« soll sich die Person duzieren lernt, und steuern damit eine externe Maschine,
vorstellen, dass in den bequemen Sitzen eines Flugzeugs einen Schalter oder ein Gerät. Wir haben in diesem Buch
Giraffen sitzen. Derart ungewöhnliche Inhalte werden bereits einige Beispiele dargestellt:
24 leichter gespeichert. 4 BCI und Selbstregulation des Gehirns bei Anfallser-
4 Vorstellungsmethode: Diese geht ähnlich vor; wenn krankungen in . Box 20.3;
die Worte »Injektion«, »Milch«, »Tomate« etc. einge- 4 Selbstregulation frontaler Hirnregionen bei kindlicher
prägt werden sollen, wird der Patient angehalten, die Aufmerksamkeits- und Hyperaktivitätsstörung in
einzelnen Begriffe assoziativ zu verbinden, z. B. »Stellen 7 Abschn. 25.7.1;
Sie sich eine Injektion vor ..., verbinden Sie diese Vor- 4 Kommunikation mit Locked-in-Patienten und voll-
stellung mit der Milch« usw. Dabei werden Hinweis- ständig Gelähmten durch ein »Gedankenübersetzungs-
reize (z. B. Anfangsbuchstaben, Klänge) im Laufe des system« in . Box 28.3;
Trainings zunehmend weggelassen. Damit wird die 4 ein metabolisches fMRT-BCI für soziopathischen
Speicherung der Begriffe und Inhalte »tiefer« und somit Mangel an Angst und Sozialisation in 7 Abschn. 27.2.
leichter abrufbar, es werden mehr Assoziationen damit
verbunden. Wie bereits in 7 Kap. 13 und in . Box 13.8 dargestellt, ist die
4 Sprachtraining: Je nach Lokalisation der Läsion werden Behandlung der Wahl bei chronischen Schlaganfällen
mehr motorische oder sensorisch-semantische Pro- (länger als 1 Jahr nach Läsion) mit vorhandener Restbewe-
gramme zur Behandlung von Aphasien und Dyslexien gung die Fixierung der gesunden Glieder (meist Arm) und
(7 Abschn. 28.3) verwendet. Bei schweren Sprachstö- Training der gelähmten Hand. Bei chronischen Schlag-
rungen bedient man sich der Erkenntnisse, die beim anfällen ohne Restbewegung funktioniert dies aber
Sprachtraining mit Menschenaffen gemacht wurden. nicht, da ja keinerlei funktionelle Bewegung nach Fixierung
Die Worte und syntaktischen Hinweisreize werden z. B. des gesunden Arms möglich ist. In diesen Fällen ist BCI-
als unterschiedlich farbige Plättchen auf einer Tafel fi- Training angezeigt: Bei der Rehabilitation von einseitigen
xiert, und nach Erlernen von »Anbringen von Sätzen« Paresen nach Schlaganfällen wird ein BCI-System einge-
in Form von Plättchenfolgen werden Lautäußerungen setzt, wie es in . Box 24.4 dargestellt ist, allerdings unter
damit verbunden und vom Therapeuten der richtige Benützung einer Hand-Neuroprothese: Über der Läsion
Gebrauch systematisch belohnt (Verhaltensmodifika- (meist Capsula interna) werden EEG-Elektroden oder
tion). Angehörige werden trainiert, selbst als Lehrer zu MEG-Sensoren angebracht, der sensomotorische μ-Rhyth-
fungieren, wobei unmittelbare Verstärkung von kor- mus (. Box 24.4) abgeleitet und das Signal auf eine an der
rektem Sprachgebrauch die wichtigste Trainingsmetho- gelähmten Hand angebrachte Kunsthand geleitet. Die
de darstellt (instrumentelles Konditionieren, 7 Kap. 25). Kunsthand bewegt die gelähmte Hand. Durch Bewegungs-
Bei motorischen Aphasien wird oft eine Melodien- vorstellungen kann der Patient den mu-Rhythmus reduzie-
Intonations-Methode als Hilfe verwendet: Die Silben ren oder vermehren und damit seine Kunsthand direkt vom
und Wörter werden zuerst genannt, gesungen und Gehirn ansteuern (. Abb. 24.19). Im Laufe des Trainings
rhythmisch begleitet. Danach werden die rhythmischen erlernt er dies zunehmend, auch durch Kontrolle und Re-
»Krücken« langsam weggelassen. gulation anderer (kontralateraler) Hirnareale, sodass sich
nach längerem Training neue, plastische Verbindungen des
G Gedächtnistrainings bei Hirnläsionen und Demen-
Gehirns außerhalb der Läsion zu motorischen Arealen bil-
zen benutzen Vorstellungsmethoden, Sprachtrai-
den. Schließlich können einige Patienten auch die eigene
ning und verschiedene assoziative Übungen und
Hand ohne die Kunsthand bewegen.
verschiedene Techniken der Verhaltensmodifika-
tion. G Gehirn-Computer-Interfaces (BCI) erlauben die direk-
te, willentliche Ansteuerung eines externen Compu-
ters oder Schalters oder einer Neuroprothese mit der
eigenen Hirnaktivität. Damit können gelähmte
Glieder wieder bewegt, Kommunikation ermöglicht,
Anfälle beseitigt und emotionale Störungen gebes-
sert werden.
24.3 · Neurodegenerative Erkrankungen
617 24

Box 24.4. Rehabilitation und motorische Restoration bei chronischen Schlaganfällen mit Brain Computer Interfaces (BCI)
In der Abbildung ist die Versuchsanordnung im Magnet- gung mit dem Ort der maximalen μ-Aktivität: Je mehr
enzephalogramm (MEG) dargestellt (a). Die Bewegungs- μ-Rhythmus umso besser die Leistung, umso heller und
vorstellungen bewirken einen Anstieg (Hand öffnen) oder um so mehr rot. c: Lernkurve des Patienten über 20 Sit-
Abfall (Hand schließen) des μ-Rhythmus im MEG. Dieser zungen. Man erkennt, dass der Patient lernt, mit dem Brain
bewegt die an der Hand fixierte Prothese. Abbildung Computer Interface (BCI) seine vollständig gelähmte
d: kernspintomographisches Bild der Läsion (rot einge- Hand zu öffnen und zu schließen: auf der Ordinate Pro-
kreist) eines typischen Patienten. b: MEG-Gehirnkarte zent richtiger Bewegungen, 50% ist Zufall.
der Hirnaktivität, je heller und je mehr rot, umso mehr
μ-Rhythmus. Die Punkte zeigen jene MEG-Sensoren an,
Lit.: Buch E, Weber C, Cohen L, Braun C, Dimyan M, Ard T, Mellinger
welche die Hand am besten bewegen. Man sieht, dass J, Caria A, Soekadar S, Fourkas A, Birbaumer N (2008) Think to
diese Stelle des Gehirns die maximale μ-Aktivität produ- move: A neuromagnetic brain-computer interface (BCI) sys-
ziert. Rechts davon: Korrelation des Erfolges der Bewe- tem for chronic stroke. Stroke, 39, 910–917.

Nach Buch E et al (2008). Mit freundlicher Genehmigung der American Stroke Association.
618 Kapitel 24 · Entwicklung und Alter

Literatur Kolb B, Whishaw IQ (2004) An introduction to brain and behavior. 2nd


ed. Worth, New York
Baltes PB (1991) The many faces of human ageing: Toward a psycho- Sauer DM, Reh T, Morris W (2006) Development of the nervous system.
logical culture of old age. Psychol Med, 21: 85 2nd ed. Academic Press, Amsterdam
Birbaumer N, Cohen L (2007) Brain-computer interfaces: communica- Schmidt RF, Lang F G (Hrsg) (2007) Physiologie des Menschen, 30. Aufl.
tion and restoration of movement in paralysis. J Physiol, 579.3, Springer, Heidelberg Berlin New York Tokyo
621–636
Kesner RP, Martinez JL (eds) (2007) Neurobiology of learning and mem-
ory. 2nd ed. Academic Press, New York

24
25

25 Plastizität, Lernen und Gedächtnis

25.1 Psychologie von Lernen und Gedächtnis – 620


25.1.1 Formen von Lernen und Gedächtnis – 620
25.1.2 Klassische Konditionierung – 622
25.1.3 Instrumentelle (operante) Konditionierung – 624
25.1.4 Imitationslernen, Selbstkontrolle und Erlernen von Fertigkeiten – 625

25.2 Erwerb von Wissen: Kurzzeit- und Langzeitgedächtnis – 627


25.2.1 Sensorisches und Kurzzeitgedächtnis – 627
25.2.2 Langzeitgedächtnis – 628

25.3 Assoziative neuronale Plastizität – 629


25.3.1 Hebbs synaptische Theorie spezifischer Gedächtnisinhalte – 629
25.3.2 Zellensembles und neuronale Oszillationen – 632
25.3.3 Zellwachstum, Neurotransmitter und Lernen – 635
25.3.4 Neuronale Karten und Reorganisation – 641

25.4 Zelluläre Korrelate von Lernen – 642


25.4.1 Lernen bei der Meerschnecke (Aplysia) – 642
25.4.2 Langzeitpotenzierung und -depression – 644
25.4.3 Proteinbiosynthese und Langzeitgedächtnis – 647

25.5 Neuropsychologie des explizit-deklarativen Gedächtnisses – 650


25.5.1 Störungen des deklarativen Gedächtnisses nach Hirnläsionen – 650
25.5.2 Das mediale Temporallappen-Hippokampus-System – 653

25.6 Verhaltensmedizin und Biofeedback: Die Anwendung operanten


Konditionierens auf pathologische Prozesse – 655
25.6.1 Verhaltensmedizin und Biofeedback – 655
25.6.2 Anwendungen der Verhaltensmedizin – 657

Zusammenfassung – 658
Literatur – 659

N. Birbaumer, Biologische Psychologie, DOI 10.1007/978-3-540-95938-0_25,


© Springer Medizin Verlag Heidelberg 2010
620 Kapitel 25 · Plastizität, Lernen und Gedächtnis

)) Die Divergenz ist vor allem methodisch und weniger theo-


retisch begründet: Während Lernen und Behalten im Tier-
»Wer Wissen hat, verläuft sich nirgends«, sagt ein jiddisches versuch einfacher mit Konditionierungsprinzipien vorher-
Sprichwort. Es drückt aus, dass wir ohne die Verfügbarkeit sagbar ist, wird im Humanversuch der Erwerb, das Behal-
und Abrufbarkeit von erlerntem Verhalten und Wissen ten und Wiedergeben von Wissen und Fertigkeiten mit
völlig hilflos wären. Menschen mit schweren Gedächtnis- Prinzipien der Informationsverarbeitung erklärt (Rohra-
störungen, z. B. Patienten, die an der Alzheimer Erkrankung cher spricht von Verhaltensgedächtnis und Wissensge-
leiden, verlieren im Spätstadium jede persönliche, zeitliche dächtnis). Während die behavioristisch orientierten Kon-
und örtliche Orientierung. ditionierungsforscher (z. B. B.F. Skinner, 1904–1990) auch
Die Anpassung des Organismus an sich ständig ver- komplexe Lernprozesse (z. B. Spracherwerb) auf der Grund-
ändernde Umweltbedingungen erfordert eine Vielzahl lage von Konditionierungsregeln erklären wollen, glauben
homöostatischer und nichthomöostatischer Anpassungs- kognitive Gedächtnisforscher, dass zusätzliche Prinzipien
25 vorgänge. All diese physiologischen Regelungen setzen zum Verständnis von Wissenserwerb notwendig sind.
aber voraus, dass der Organismus lernt, potenziell gefähr- Die Kontroverse setzt sich auch in der biologischen Psy-
dende Situationen und Reize schon vor deren Auftreten zu chologie des Lernens fort. Während die einen Lernen
vermeiden und potenziell nützliche Situationen aufzu- und Gedächtnis auf Einzelzellniveau glauben erklären zu
suchen. Meist werden solche »nützlichen« Situationen können, gehen die anderen davon aus, dass in der evolutio-
auch als lustvoll erlebt und deshalb wiederholt aufgesucht. nären Entwicklung komplexer Lern- und Gedächtnisvor-
Die Lernpsychologie hat in den letzten 100 Jahren die psy- gänge viele, einander z. T. überlappende Systeme hinzu-
chologischen Gesetzmäßigkeiten, die dem Lernen von An- gekommen sind: Sowohl die Repräsentation als auch die
näherung und Vermeidung und dem Lernen von Signal- Verarbeitung von Information komme nicht ohne Zusam-
bedeutungen zugrunde liegen, im Wesentlichen aufge- menarbeit vieler neuronaler Netzwerke aus und könne
klärt. Erst ab Mitte des 20. Jahrhunderts begann man, nicht aus der Tätigkeit einer einzigen Zelle erklärt werden.
vorerst im Tierversuch, die biologischen Grundlagen dieser Eine Biologische Psychologie des Lernens sollte alle aus
im Reich des Lebendigen universell geltenden Lerngesetze der Lern- und Gedächtnispsychologie bekannten Phäno-
systematisch physiologisch zu erforschen. mene in physiologische Prozesse übersetzen können. Die
Dabei wiederholte sich der erstaunliche Erfolg der Kenntnis der psychologischen Gesetze des Lernens ist da-
Lernpsychologie auch in der Lernphysiologie: Den Gesetz- her Voraussetzung für eine zielführende physiologische
mäßigkeiten für die Modifikation von Verhalten und Den- Analyse eben dieser Prinzipien.
ken lagen wiederum universelle, d. h. für alle Lebewesen
G Lernen und Gedächtnis kann als Konditionierung
geltende physiochemische Prozesse zugrunde. In ihrer
(Verhaltensgedächtnis) oder als kognitiver Prozess
Universalität lassen sich die psychologischen und physio-
(Wissensgedächtnis) aufgefasst werden.
logischen Lernvorgänge durchaus mit den Prinzipien der
Weitergabe von biologischer Information über Generatio-
nen, den Gesetzen der Vererbung (Kap. 23), vergleichen, Gedächtnissysteme
mit denen sie erstaunliche Parallelitäten aufweisen. Ein Gedächtnissystem besteht aus einer abgrenzbaren
Die Anwendung der biologischen Psychologie des Ler- Gruppe von Hirnarealen, die auf die Speicherung und Wie-
nens auf die Heilung von psychischen und physischen dergabe ganz bestimmter Information spezialisiert sind.
Krankheiten stellt eine der wichtigsten Aufgaben der Hu- Die aufzunehmende Information in die einzelnen Systeme
manwissenschaften für die Zukunft dar. wird seriell kodiert und enkodiert: Sie wird zeitlich, in der
Reihenfolge ihres Eintreffens verschlüsselt. Gespeichert
wird in der Regel parallel, das bedeutet, dass die Informa-
25.1 Psychologie von Lernen tion gleichzeitig in mehreren Systemen abgelegt werden
und Gedächtnis kann. . Abb. 25.1 gibt die wichtigsten, heute unterscheid-
baren Gedächtnissysteme und einige Hirnsysteme wieder,
25.1.1 Formen von Lernen die für die verschiedenen Gedächtnisarten wichtig sind; sie
und Gedächtnis werden später im Einzelnen besprochen.

Verhaltens- und Wissensgedächtnis Implizites und explizites Lernen


Die Lern- und Gedächtnispsychologie ist in zwei diver- Die Grobunterscheidung zwischen impliziten und explizi-
gierende Forschungsrichtungen geteilt, die sich auch in der ten Lernen, wie sie in . Abb. 25.1 dargestellt ist, bezieht
Physiologie von Lernen und Gedächtnis wiederfinden: sich ausschließlich auf die subjektive Erfahrung der Person
4 Lernen und Gedächtnis als Konditionierung (klassisch zum Zeitpunkt der Wiedergabe aus dem jeweiligen Ge-
oder instrumentell), dächtnissystem: Erfolgt die Wiedergabe ohne willentliche
4 Lernen und Gedächtnis als kognitive Prozesse. Anstrengung und nicht bewusst, so sprechen wir von im-
25.1 · Psychologie von Lernen und Gedächtnis
621 25

. Abb. 25.1. Gedächtnisarten. Hirnregionen, die für die verschiedenen Formen von Lernen und Gedächtnis verantwortlich sind

. Tabelle 25.1. Explizit-deklaratives und implizit-prozedurales Gedächtnis

Deklaratives Wissensgedächtnis Prozedurales Verhaltensgedächtnis


Ort Hippokampus, dorsomedialer Nucl. des Thalamus, Motorischer und prämotorischer sowie lateral-präfrontaler
sekundäre sensorische Areale, präfrontaler Kortex Kortex, extrapyramidale Kerne (Striatum), Zerebellum,
limbische und dienzephale Verstärkerstrukturen
Kodierung Konfigurationen von Reizen und Reaktionen (propositionell) S-R- und S-S-Assoziationen, Wahrscheinlichkeitslernen –
– kognitiv (episodische und semantische Inhalte). Speichert behavioral (Verhaltensakte, Gewohnheiten [Habits]).
Fakten, Episoden und Daten: »Gewusst, was«. Kann in einem Speichert gezielte Bewegungsfolgen (»skills«) und Regeln
Durchgang gelernt werden (Alles-oder-Nichts-Lernen) (Prozeduren): »Gewusst, wie«. Benötigt Wiederholungen
Wiedergabe Nur nach Konsolidierung, nur über aktiven intentionalen Keine Konsolidierung (»automatic processing«), kein aktiver
Suchprozess zugänglich (»controlled processing«) – Suchprozess notwendig – »reflexiv«: Wiedergabe weniger
»reflektiv«: Wiedergabe stark von Kontext und elaborierter stark von Kontext abhängig. Elaborierte Verarbeitung
Verarbeitung abhängig nicht notwendig
Auslöser für »Incentives«, propositionelle »cues« (Hinweisreize) CS (konditionierte Reize) und SD (diskriminative Reize)
Wiedergabe
Behalten Zielgerichtete Erwartungen werden aufgebaut und Verstärkung stabilisiert Verhalten
bestätigt bzw. verworfen
Für viele Verarbeitungssysteme zugänglich In den Verarbeitungssystemen (z. B. visuell, motorisch)
selbst enthalten
Phylogenetisch jung, ontogenetisch spät (ab 3. bis Phylogenetisch alt, ontogenetisch früh (infantile »Erinne-
5. Lebensjahr) rungen«)
Der bewussten Erinnerung zugänglich Der bewussten Erinnerung schwer zugänglich

plizitem Gedächtnis, erfolgt sie intentional-willentlich, Mit den Begriffen prozedural und deklarativ soll betont
nennen wir dies ein explizites Gedächtnis. werden, dass wir die Tatsache, dass wir »etwas wissen« (pro-
Die Begriffe implizit – explizit werden oft mit prozedu- zedural) unterscheiden müssen von der Tatsache, dass »wir
ral – deklarativ synonym gebraucht, was wiederum den wissen, dass wir es wissen« (deklarativ). Prozedural ist die
alten Begriffen Verhaltensgedächtnis und Wissensgedächt- Modifikation von Verhalten beim Erlernen einer Fertig-
nis entspricht. . Tabelle 25.1 zeigt aber auch, dass diese ein- keit, deklarativ ist die Fähigkeit wiederzugeben, wann
fache Dichotomie – prozedural = motorische Fertigkeiten und wie die Information erworben wurde. Prozedurales
und deklarativ = bewusstes Wissen von Fakten – der Hetero- Gedächtnis ist nicht bewusst, benötigt weniger aktive
genität von Lern- und Gedächtnisprozessen nicht mehr Willensanstrengung (»effort«) und Aufmerksamkeit und
vollständig gerecht wird (sie wird dennoch aus didaktischen kann verbal nur schwer »auf Kommando« aufgerufen wer-
Gründen hier weitgehend beibehalten). den. Prozedurales Gedächtnis »enthält« also in detaillierter
622 Kapitel 25 · Plastizität, Lernen und Gedächtnis

Form die Aktionen, deklaratives Gedächtnis vor allem die Wortanfänge ohne Bedeutung dargeboten werden und spä-
sprachlich kodierten Regeln ihrer Ausführung. ter dargebotene Wörter erinnert werden sollen, so ist die
Wiedergabeleistung von Wörtern, deren Wortanfänge vor-
G Gedächtnisinhalte werden entweder implizit, d. h.
her (unbewusst) wahrgenommen wurden, besser.
unbewusst, oder explizit, d. h. bewusst und willent-
lich, wiedergegeben; synonyme Begriffspaare sind Assoziatives und nicht-assoziatives Lernen
prozedural vs. deklarativ und Verhaltens- vs. Wissens-
Assoziatives Lernen wird von nicht-assoziativem Lernen
gedächtnis.
abgegrenzt: Bei nichtassoziativen Lernprozessen ändert
sich Verhalten auch als Konsequenz von Wiederholung der
Parallele Gedächtnismechanismen Reizsituation oder der Reaktion, und nicht als Folge der
. Tabelle 25.1 fasst die Charakteristiken der beiden Lern- engen zeitlichen Paarung (Assoziation) von Reizen und
vorgänge, die sowohl beim Menschen als auch bei höheren Reaktionen. Habituation und Sensitivierung sind Beispiele
25 Primaten identifiziert werden, zusammen. Beide Gedächt- für nicht-assoziative Lernvorgänge (Kap. 21): Die Ände-
nismechanismen können simultan ablaufen. Bei Amnesien, rungen im Verhalten sind dabei nur eine Funktion der Reiz-
Korsakoff und nach ECS (»electro-convulsive shock«) oder stärke und der wiederholten Darbietung und nicht der zeit-
auch bei Änderungen des Bewusstseinszustandes (z. B. lichen Paarung (Kontiguität).
Traumwiedergabe, oder »Wort-auf-der-Zunge-Phäno-
G Die enge zeitliche Paarung (Kontiguität) von Reiz
men«) kommt es zur Dissoziation der beiden Mechanis-
und Reaktion oder zwischen verschiedenen Reizen
men. D. h. aus einem Traum werden konkrete Inhalte auch
(Signalen) ist das Kennzeichen assoziativen Lernens.
nur schwer aktiv erinnert, wohl aber tauchen passiv Stim-
mungen und Bewegungsfolgen auf.
Die Unterscheidung von prozeduralem und deklara- 25.1.2 Klassische Konditionierung
tivem Gedächtnis löst nach fast 100 Jahren den Streit zwi-
schen Behavioristen und Kognitivisten. In der Regel laufen Akquisition (Aneignung)
beide Lernvorgänge nebeneinander und miteinander ab, Die Prinzipien der klassischen Konditionierung sind uni-
die Gegenwart des einen schließt die des anderen nicht aus. verselle Lerngesetze: Sie gelten von einfachen Lebewesen
Wissensgedächtnis und Verhaltensgedächtnis sind aber an (wie z. B. Schnecken) bis zum Menschen. Ein neutraler
unterscheidbare Hirnstrukturen gebunden, auch wenn Reiz, z. B. Licht oder Ton (CS, konditionaler oder kondi-
letztlich der biochemische Mechanismus der permanenten tionierter Reiz, S = Stimulus), wird kurz vor (optimales
Ablage der Gedächtnisinhalte bei beiden Gedächtnisfor- Intervall 200–500 ms) einem unkonditionierten Reiz, US
men vergleichbar ist. (Futter) dargeboten, der eine unkonditionierte Reaktion,
UR (Speichelfluss), auslöst. Nach wiederholter Paarung
Episodisches (biographisches) und semantisches (Kontiguität) löst der CS allein (auch ohne US) eine kondi-
(Wissens-)gedächtnis tionierte Reaktion, CR (Speichelfluss), aus (. Abb. 25.2a, b).
Deklaratives Gedächtnis lässt sich in episodisches und Überschreitet das CS-US-Intervall 1 s, so wird eine klas-
semantisches Gedächtnis untergliedern (. Abb. 25.1) Epi- sische (Pawlowianische) Konditionierung zunehmend
sodisches Gedächtnis enthält die Ereignisse unserer eigenen schwieriger, abgesehen von potenziell toxischen Geruchs-
Vergangenheit, weshalb es oft auch als autobiographisch be- und Geschmacksreizen, bzw. Reizen, die eine angeborene
zeichnet wird. Das semantische Gedächtnis ist unabhängig (»prepared«) »assoziative« Verbindung bei längerem
von Zeit und Ort, es enthält generelle Konzepte und Regeln, CS-US-Intervall aufweisen (z. B. Essen und Darbietung
also Sinnzusammenhänge und Bedeutung. Man kann sich eines toxischen Reizes eine Stunde später, Kap. 26). Die
z. B. an das Konzept der »Löwen« erinnern, ohne je einen optimalen Intervalle zwischen CS und US bei konditio-
Löwen gesehen zu haben. Nach einem aktuellen Erlebnis nierter Geschmacksaversion sind (in Abhängigkeit vom
mit einem Löwen wird der Gedächtnisinhalt episodisch. Chemismus des toxischen US) Minuten bis Stunden. Bei
Geruch, Geschmack und vital wichtigen Reizen bleibt die
G Deklaratives Gedächtnis ist episodisch-biographisch
Gedächtnisspur (»trace«) länger aktiv (Box 25.1).
oder semantisch.
G Bei der klassischen Konditionierung wird ein neu-
Implizite Gedächtnisformen traler Reiz mit einem unkonditionierten Reiz solange
zeitlich eng gepaart, bis ersterer alleine die konditio-
Implizites (oder auch automatisches) Gedächtnis kann in
nierte Reaktion auslöst.
Erwartungslernen (»priming«) und Konditionierung unter-
schieden werden. Priming bedeutet, dass ein Wahrneh-
mungsinhalt (perzeptuell) oder ein Konzept (z. B. Tier) Eigenschaften klassischer Konditionierung
kurz vor dem eigentlichen Inhalt dargeboten, Wiedererken- Die wiederholte Darbietung des CS allein nach erfolgter
nen und Einprägung erleichtert (. Abb. 25.1) Wenn z. B. Konditionierung führt zur Abschwächung der CR und wird
25.1 · Psychologie von Lernen und Gedächtnis
623 25

. Abb. 25.2a, b. Klassische Konditionierung. a Pawlows Konditio-


nierungsapparat: Pawlows Versuchsanordnung zur Konditionierung
des Speichelflusses beim Hund. Mit einem Röhrchen im Maul des
Hundes konnte der Speichelfluss automatisch gemessen und aufge-
zeichnet (links) werden. b Ablauf klassischer Konditionierung (7 Text).
Links Ereignisse während der ersten Konditionierungsdurchgänge,
rechts danach

Extinktion (Löschung) genannt. Extinktion und Habitua- geboten, so fällt die Konditionierung schwächer aus; dieses
tion weisen viele Ähnlichkeiten auf, so dass häufig von Phänomen wird als latente Hemmung bezeichnet.
Identität der zugrunde liegenden neuronalen Prozesse aus-
G Generalisation (Ausbreitung), Diskrimination (Unter-
gegangen wird.
scheidung) und Extinktion (Löschung) sind die wich-
CR werden auch auf Reize ausgelöst, die dem ursprüng-
tigsten Kennzeichen von Konditionierung. Rückwärts-
lichen CS sehr ähnlich sind; wenn der CS ein Ton von
konditionierung (CS nach US) und latente Hemmung
1000 Hz war, so erfolgt eine – allerdings abgeschwächte –
(CS alleine vor CS-US-Paarung) verzögern oder ver-
CR auf einen 700-Hz-Ton, auch wenn dieser nie mit dem
hindern Lernen.
US gepaart wurde: Wir nennen diesen Vorgang Generalisa-
tion.
Werden 2 CS (z. B. ein Licht und ein Ton) abwechselnd Verhaltensketten und Konditionierung
und hintereinander dargeboten und nur der CS1 (Licht) höherer Ordnung
von einem US (z. B. Lärm) gefolgt, so reagiert der Orga- Verhaltensketten (z. B. von A nach B gehen, dort mit je-
nismus nach mehreren Durchgängen nur mehr auf CS1. mand sprechen und dann erst zu C gehen) können sowohl
Er hat gelernt, CS1 von CS2 zu unterscheiden (Diskrimi- klassisch, wie auch instrumentell-operant (7 unten) erlernt
nation). werden. Wenn z. B. nach Erlernen der Speichelreaktion
Erscheint der US vor dem CS, so erfolgt in der Regel (CR) auf Licht (CS1) nur der ursprüngliche US (Futter) als
keine Konditionierung, d. h. der CS löst danach, allein dar- CS2 vor einem neuen US, z. B. einem unangenehmen elek-
geboten, keine CR aus. Wird der CS alleine, vor der eigent- trischen Schlag, dargeboten wird, der eine Wegzugreaktion
lichen Konditionierung, also vor der CS-US-Paarung dar- der betroffenen Pfote (UR) auslöst, so zeigt das Tier nach
624 Kapitel 25 · Plastizität, Lernen und Gedächtnis

einigen Paarungen auch auf das Futter allein eine Speichel-


reaktion und danach eine Wegzugreaktion. Schließlich ge-
nügt das Licht (CS1) allein, um eine Speichelreaktion und
danach eine Wegzugreaktion auszulösen. Dies nennt man
Konditionierung höherer Ordnung.

Lernen von Erwartungen


Klassisches Konditionieren wird auf kognitiver Ebene
häufig als Erwartungslernen beschrieben (Rescorla-Wagner-
Modell). Ob eine Reaktion überhaupt konditioniert wird,
hängt von den Erwartungen des Individuums ab: Ist die
Intensität des US stärker als die Intensität der Erwartung
25 des Individuums, werden alle konditionierten Reize, die
mit dem US gepaart werden, exzitatorisch konditioniert,
d. h. sie lösen eine CR aus (wie z. B. in Box 19.2 der elek-
trische US). Dagegen ist bei geringerer Intensität des US als
die Erwartung des Individuums die Konditionierung in-
hibitorisch, d. h. alle mit dem US gepaarten CR werden
schwächer (wie z. B. in Box 19.2 die Wirkung des Lärms von
der Wirkung der Röntgenbestrahlung »übertönt« wird).
Wenn der US genau der Erwartung des Individuums ent-
spricht, findet keine Konditionierung statt. Dies bedeutet,
. Abb. 25.3. Operante Konditionierung in der »Skinner-Box«.
dass Erwartungsdiskrepanzen und Auffälligkeit (Salienz)
Das Versuchstier kann auf einen durch die Reizkontrolle angebotenen
der Reize die Konditionierung wesentlich mitbestimmen Reiz, hier Licht, den Hebel drücken und wird dann automatisch mit
(. Abb. 25.17 und 25.18 für die neuronalen Grundlagen). Futter belohnt. Die Reaktionen werden durch den Schreiber als Lern-
kurve kumulativ aufgezeichnet. Abszisse: Versuchstage ab Lernbe-
ginn. Ordinate: Prozentsatz der korrekten Antworten auf den Testreiz
25.1.3 Instrumentelle (operante)
Konditionierung
tive Verstärker. Primäre positive Verstärker sind Reize, die
Ablauf instrumenteller Konditionierung angeborenermaßen oder sehr früh in der ontogenetischen
Wenn auf eine motorische Reaktion (z. B. Tastendruck in Entwicklung die Wahrscheinlichkeit für das Wiederauftre-
einer Skinner-Box, . Abb. 25.3, . Abb. 14.12) unmittel- ten einer Reaktion erhöhen (positive Verstärker): Nahrung,
bar eine positive oder negative Konsequenz (z. B. Futter) Flüssigkeit, sexuelle Aktivität, soziale Zu- und Abwendung,
folgt und danach die Reaktion wiederholt (bzw. unterlas- Temperaturänderungen etc. Strafreize, unmittelbar nach
sen) wird, so heißt dies instrumentelles oder operantes einer Reaktion verabreicht, reduzieren die Auftrittswahr-
Lernen. Instrumentell, weil die Reaktion als »Instrument« scheinlichkeit einer Reaktion. Ein negativer Verstärker ist
für die Konsequenz benutzt wird; im Englischen spricht ein Reiz, dessen Beendigung oder Vermeidung zum An-
man von »operates on«, die Reaktion wirkt auf die Konse- stieg der Auftrittswahrscheinlichkeit der vorausgegangenen
quenz, daher auch operantes Konditionieren genannt. Da- Reaktion führt.
bei muss die Konsequenz wie der US im klassischen Kon-
ditionieren unmittelbar, d. h. im Sekundenabstand, auf Sekundäre Verstärker
die Reaktion folgen, sonst wird nicht gelernt. Ausnahmen Dies sind verstärkende Reize, die erst durch zeitliche Paa-
sind wieder angeborene (»prepared«) Reiz-Reaktions-Ver- rung mit primären Verstärkern die Wahrscheinlichkeit von
bindungen (Abschn. 25.1.2). Wie beim klassischen Kondi- Verhalten verändern; z. B. kann ein völlig neutraler Licht-
tionieren gelten die Prinzipien instrumentellen Lernens reiz, wenn er mit Futtergabe gepaart wurde, danach selbst
für Mensch und Tier gleichermaßen. Während klassische als sekundärer positiver Verstärker Verhalten beeinflussen.
Konditionierung fast immer vegetative oder hormonelle Generalisierte Verstärker sind verstärkende Reize, die auf
Reaktionen verändert, ist instrumentelles Lernen meist eine Vielzahl von Verhaltensklassen modifizierend einwir-
(oder immer?) auf die (willentliche) quergestreifte Musku- ken (z. B. Geld, soziales Prestige etc.).
latur, also motorisches Verhalten beschränkt.

Primäre Verstärker
Die positiven oder negativen Konsequenzen, die zu instru-
mentellem Lernen führen, nennt man positive oder nega-
25.1 · Psychologie von Lernen und Gedächtnis
625 25

G Bei der instrumentellen (operanten) Konditionierung Wie beim klassischen Konditionieren führt positive Ver-
folgt unmittelbar auf die zu lernende Reaktion ein stärkung einer Reaktion in Gegenwart eines sog. diskrimi-
belohnender oder bestrafender Reiz; dies führt zu nativen Reizes (SD) zum Anstieg dieser Reaktion im Ver-
Anstieg oder Abfall der Auftrittswahrscheinlichkeit gleich zu Reaktionen in Gegenwart eines nichtverstärkten
der vorausgegangenen Reaktion. Generalisierte Ver- Reizes (S-Delta) oder eines Reizes, auf den Bestrafung folgt:
stärker (z. B. Geld) wirken auf viele Verhaltensweisen instrumentelle Diskrimination im Gegensatz zu instrumen-
verstärkend. teller Generalisation, wo eine in Gegenwart eines SD1 ver-
stärkte Reaktion auch in Gegenwart eines unverstärkten,
Eigenschaften instrumenteller Konditionierung aber ähnlichen SD2 auftritt.
. Tabelle 25.2 zeigt die wichtigsten Kategorien und Typen
G Neben Belohnung und Bestrafung sind aktives und
instrumentellen Lernens:
passives Vermeiden, Diskrimination, Extinktion und
4 Darbietung eines positiven Verstärkers unmittelbar
Generalisation die wichtigsten instrumentellen Lern-
nach einer Reaktion (z. B. Lob nach Vortrag) führt zu
phänomene.
Erhöhung der Reaktionsrate und Annäherungsverhalten
an die Lernsituation (1).
4 Beenden eines negativen Verstärkers, z. B. Abschalten Verstärkungspläne
eines elektrischen Schocks, führt zu Wiederholung Wie beim klassischen Konditionieren wird die Akquisi-
einer Fluchtreaktion bei neuerlichem Auftreten des tionsrate (Lernerwerbsphase) und Stabilität (Extinktions-
Schocks (Bestrafung vom Typ I, 2). resistenz) von einer Reihe von Variablen beeinflusst. Neben
4 Wird durch eine Reaktion das Auftreten eines negativen dem motivationalen Zustand des Lebewesens sind die Ver-
Verstärkers verhindert, z. B. durch Händewaschen Ver- stärkungspläne (»schedules of reinforcement«) entschei-
schmutzung, so wird diese Reaktion bei Wiederauf- dend. Ein Verstärkungsplan kennzeichnet die Abfolge der
treten der Situation wieder ausgelöst. Aktives Vermei- Darbietung von negativen und positiven Verstärkern oder
den kann auch mit »tu das, sonst...« umschrieben von Strafreizen. Wird ein Verhalten jedes Mal bei seinem
werden (3). Auftreten verstärkt, so wird zwar rasch gelernt, aber auch
4 Dagegen wird bei passivem Vermeiden (»tu das nicht, wieder rasch verlernt. Bei intermittierender Verstärkung,
sonst…«) ein Strafreiz nach der Reaktion dargeboten. wo nicht jede Reaktion verstärkt wird, bleibt das Gelernte
Ein elektrischer Schlag nach Tastendruck führt in länger stabil. Dies wird auch partieller Verstärkungseffekt
Zukunft zu Unterlassen der Reaktion (Bestrafung, 4). oder Humphrey-Paradoxon genannt: Nach einer kontinu-
4 Wird eine Reaktion vom Beenden eines positiven ierlichen Verstärkung erkennt man sofort, wenn der Ver-
Verstärkers gefolgt, so sinkt ihre Auftrittswahrscheinlic stärker ausbleibt und die Reaktion löscht daher rasch. Beim
hkeit, z. B. ein tobendes Kind kurz in ein leeres Zimmer intermittierenden Verstärkungsplan erkennt man den
transportieren (»Auszeit«, 5). möglichen Wechsel zur Extinktion sehr viel schwerer und
4 Bleibt ein positiver Verstärker aus, so sinkt die behält daher die Reaktion länger bei (Diskriminations-
Verhaltenshäufigkeit, es wird gelöscht (Extinktion, 6). hypothese).

G Verstärkerpläne (»schedules of reinforcement«) ent-


. Tabelle 25.2. Verhaltenskonsequenzen (vertikale Spalten) scheiden über die Stabilität des erlernten Verhaltens.
operanter Verstärkungsprozeduren (horizontale Reihen); Intermittierende Verstärkung führt zu stabileren
p(R)↑ Konsequenz der Prozedur ist ein Anstieg der Reaktions-
Lerneffekten als kontinuierliche Verstärkung.
wahrscheinlichkeit p(R) jener Reaktionen, auf die ein ver-
stärkender Reiz folgt. p(R)↓ Konsequenz der Prozedur ist ein
Abfall der Reaktionswahrscheinlichkeit p(R) jener Reaktion,
auf die ein verstärkender Reiz folgt. Die Zahlen beziehen sich 25.1.4 Imitationslernen, Selbstkontrolle
auf die Erläuterungen im Text und Erlernen von Fertigkeiten
Konsequenz
Imitationslernen (Beobachtungslernen)
Prozedur p(R)↑ p(R)↓
Alle operanten Reaktionen können durch Beobachtung
Darbietung Belohnung 1 Bestrafung 4
(presentation) (Annäherung) (passives Ver-
und Nachahmung anderer bereits ab dem 12. Tag nach
meiden) der Geburt imitierend erlernt werden. Deshalb wird das
Beenden Bestrafung Typ I 2 Belohnung Typ I 5
Imitationslernen auch als soziales Lernen bezeichnet.
(Termination) (Flucht) (Auszeit, time out) Damit können neue Reaktionen ohne lange Übung »auf
Ausbleiben Bestrafung Typ II 3 Belohnung Typ II 6
einmal« erworben werden. Dabei spielt eine Rolle, ob das
(omission) (Aktives Ver- (Extinktion) »Modell« und/oder der Nachahmer für das Verhalten
meiden) belohnt oder bestraft werden. Imitationslernen kann man
als Generalisierung früherer Erfahrungen ansehen, wo in
626 Kapitel 25 · Plastizität, Lernen und Gedächtnis

ähnlichen Situationen Nachahmungen einzelner Reak-


tionen belohnt wurden. Später generalisiert das Kind, ahmt
ganze Verhaltensketten nach, wenn diese zu einer po-
sitiven Konsequenz oder Vermeidung einer negativen
führen.

Selbstkontrolle und Wahlverhalten


Wenn ein kurzfristig angebotener positiver Verstärker für
einen langfristig (Stunden bis Jahre) in der Zukunft liegen-
den attraktiveren Verstärker aufgegeben wird, spricht man
von Selbstkontrolle. Dabei wird aber nicht ökonomisch

Nach Hailman JP (1969). Mit freundlicher Genehmigung der Scientific American Inc.
vorgegangen, also Verstärkung bei minimaler Anstrengung
25 maximiert. Eher ist es so, dass jene Reaktion gewählt wird,
die in einer gegebenen Lernsituation im jeweiligen Augen-
blick den höchsten subjektiven Wert hat (Deshalb irren
Ökonomen so oft, da sie von rationalem, nützlichen Verhal-
ten ausgehen). Dabei kann durchaus eine in zeitlich weiter
Ferne liegende Befriedigung im Moment als die beste Alter-
native erscheinen. Im Allgemeinen haben aber kurzfristig
verfügbare Verstärker eine größere Wirkung als ver-
zögerte.
Impulsive Sofortwahlen können aber durch Strategien
des »precommitment« (Vorausverpflichtung) vermieden
werden: Nachdenken über einen Verstärker, sich damit
distanzieren, Ablenkung oder Vereinbarungen eingehen,
die eine sofortige Wahl des Verstärkers verhindern. Ausmaß
(objektive Intensität) und subjektive Qualität (Anreizwert)
bestimmen, welche Reaktion aus konkurrierenden Verhal- . Abb. 25.4. Prägung. Zielreaktion eines Vogels auf einen Attrappen-
tensweisen als »Sieger« hervorgeht. schnabel unmittelbar nach dem Ausschlüpfen (0) und 1, 2, 3 und 4
Tage später. Auf der Ordinate Prozent richtiger Reaktionen
G Imitationslernen und Selbstkontrolle sind Lern-
prozesse, die ganze Verhaltensketten über soziale
Beobachtung und Vermeidung impulsiver Verhal-
tensweisen zu lernen ermöglichen. G Lernen von motorischen Fertigkeiten verläuft meist
exponentiell, wird durch verzögerte Verstärkung
Lernen von Fertigkeiten (»skills«) und intermittierendes Feedback und Ergebniswissen
verbessert, kann aber auch ohne Feedback, nur
Motorische Fertigkeiten sind kontinuierlich oder diskret:
durch Stabilisierung (durch Wiederholung) des
Diskrete sind meist »Open-loop«-Bewegungen (z. B. auf
motorischen Verhaltens gelernt werden.
Bremse steigen) oder »Closed-loop«-Bewegungen (z. B.
Radfahren), die kontinuierlich Feedback erhalten. Zwar
werden Fertigkeiten durch Verstärkung auch beeinflusst, Der Prägungsvorgang
aber wichtiger ist das Ergebniswissen (»knowledge of Konrad Lorenz’ junge Graugänse folgten innerhalb eines
results«). Intermittierendes Feedback wirkt besser auf eng umschriebenen Zeitabschnittes ihrer Entwicklung auch
das Erlernen – das meist exponentiell verläuft – da in den dem Menschen, wenn der natürliche Auslöser (Mutter-
Durchgängen ohne Feedback Fehler korrigiert werden kön- gans) nicht vorhanden ist. Prägung (»imprinting«) ist eine
nen. Deshalb ist auch verzögertes Ergebniswissen meist spezielle Form von assoziativem Lernen auf der Grundlage
wirksamer als unmittelbares. einer angeborenen Sensibilitätserhöhung für spezifische
Die »perzeptuelle Spur« also das Wahrnehmen von Reiz-Reaktionsverkettungen in einem bestimmten Ab-
Fehlern und Erfolg und der propriozeptiven Rückmeldung schnitt der Entwicklung eines Lebewesens. Bei der Prägung
von der Bewegung, ist zwar zum Erlernen von Fertigkeiten äußert sich also die soziale Bindung in Annäherungsverhal-
nicht so wichtig wie die »motorische Spur«, also die Hand- ten an das »geprägte« Objekt (in der Regel das Muttertier)
lungsausführung und der Handlungsplan selbst, aber er- und in Abwehr- und Fluchtverhalten gegenüber fremden
leichtern das Erlernen. Die meisten Fertigkeiten laufen als Objekten.
geplante motorische Programme, die viele Einzelbewe- Prägung tritt vor allem bei Tieren auf, die sich schon
gungen enthalten, parallel-gleichzeitig ab. wenige Stunden nach der Geburt fortbewegen können, ins-
25.2 · Erwerb von Wissen: Kurzzeit- und Langzeitgedächtnis
627 25

besondere bei Vögeln. Ohne rasche Einprägung potenziell verarbeitende Prozesse (in . Abb. 25.5 blau unterlegt) und
bedrohlicher Objekte und örtliche Bindung an die für bereiten die Information für die nächste Stufe der Verarbei-
Fütterung »Verantwortlichen« würden diese Tiere Gefahr tung auf.
laufen, sich zu weit vom Bindungsobjekt zu entfernen und
G Beim Wissensgedächtnis wird ein Kurzzeit- oder
nicht zu überleben. Bei Säugetieren und Menschen, die
Arbeitsgedächtnis vom Langzeitgedächtnis ab-
nach der Geburt längere Zeit völlig hilflos sind, findet man
gegrenzt; Speicherung im Langzeitgedächtnis er-
Prägung selten. In der Regel benötigt aber auch Prägung
fordert Konsolidierung.
einige Lerndurchgänge mit Verstärkungen, es liegt also kein
fundamentaler Unterschied zu den anderen Formen asso-
ziativen Lernens vor (. Abb. 25.4). Sensorisches Gedächtnis
Wenn eine große Zahl von Reizen (z. B. 12 Buchstaben)
G Unter Prägung verstehen wir das Erlernen eines extrem kurz dargeboten werden (<50 ms), so können 1/2–1 s
Verhaltens auf ein spezifisches Reizmuster in einer danach oft bis zu 80% wiedergegeben werden, ähnlich wie bei
begrenzten Periode der Entwicklung. optischen Nachbildern (Kap. 17). Nach wenigen Sekunden
sinkt die Wiedergabe auf bis zu 20% ab. Aus solchen und
anderen Befunden schließt man auf die Existenz eines senso-
25.2 Erwerb von Wissen: Kurzzeit- rischen Speichers mit großer Speicherkapazität in den pri-
und Langzeitgedächtnis mären Sinnessystemen, der die sensorischen Reize für Se-
kunden und Sekundenbruchteile stabil hält, um die Kodie-
25.2.1 Sensorisches und Kurzzeit- rung und Merkmalsextraktion (7 unten) sowie die Anregung
gedächtnis von Aufmerksamkeitssystemen zu ermöglichen.
Wie wir in Kap. 21 gesehen haben, werden alle an-
Allgemeines Modell des Wissensgedächtnisses kommenden Reizmuster nicht-bewusst und äußerst schnell
Hermann Ebbinghaus unterschied bereits 1885 zwischen (in ms) auf einige wichtige Elemente (z. B. bedrohlich-neu-
Gedächtnisspanne und natürlichem Gedächtnis, heute tral) analysiert, bevor selektive Aufmerksamkeitssysteme
Kurzzeit- (KZG) und Langzeitgedächtnis (LZG) (»short aktiviert werden. Auch dieser Befund macht die Annahme
term memory«, STM; »long term memory«, LTM) genannt. eines umfangreichen und äußerst schnell funktionierenden
Das KZG wird häufig auch Arbeitsgedächtnis (»working Gedächtnissystems notwendig. Dieses schnelle perzeptive
memory«) genannt oder als aktives Gedächtnis und un- Repräsentationssystem fasst gleichzeitig auftretende Merk-
mittelbares Gedächtnis mit begrenzter Speicherkapazität male zusammen (»binding«) und ermöglicht damit bereits
bezeichnet. Der Übergang vom KZG in das LZG erfordert auf vorbewusster Ebene die Bildung von Gestalten und von
meist Organismus-interne oder -externe Wiederholung Bedeutung (Abschn. 17.5).
(»rehearsal«) des dargebotenen Materials. Der zugrunde lie- Merkmalextraktion, Erkennen und Identifikation des
gende Prozess wird Konsolidierung genannt (. Abb. 25.5). Reizes, Mustererkennen und Benennen sind die wichtigs-
Unter Konsolidierung wird das zyklische »Kreisen« (Wieder- ten Enkodierungsaufgaben des sensorischen Gedächtnis-
holen) von Information im selben Abschnitt des KZG ver- ses. Im visuellen System wird es als ikonisches, im akusti-
standen, das die Information dort »am Leben« hält, so dass schen als echoisches Gedächtnis bezeichnet. Die Informa-
sie nach einer bestimmten Anzahl von Zyklen eine hypothe- tion ist nicht nur kurzlebig (im ikonischen weniger als 1 s),
tische kritische Schwelle zum LZG überschreiten kann. sondern auch noch nicht bewertet (durch einen Vergleich
In dem Modell von . Abb. 25.5 passieren die Reize zu- mit Inhalten des Langzeitgedächtnisses).
erst das sensorische Gedächtnis, danach KZG und LZG: Unter Enkodierung verstehen wir auf psychologischer
Auf jeder der 3 Ebenen wirken kognitive, informations- Ebene die Umformung oder Entschlüsselung der Informa-
Lyle E. Bourne, Jr., University of Colorado.
Mit freundlicher Genehmigung von Prof.

. Abb. 25.5. Gedächtnis als Informationsverarbeitungssystem. orange Rechtecke, die beteiligten Prozesse blau gezeichnet (Einzel-
Die einzelnen Stadien oder Ebenen der Gedächtnissysteme sind als heiten im Text)
628 Kapitel 25 · Plastizität, Lernen und Gedächtnis

tion in unverwechselbare zeitliche Sequenzen, räumliche G Durch die Organisation von Wissenselementen
Konfigurationen oder semantische Beziehungen. Auf neu- in »chunks« können große Informationsmengen im
ronaler Ebene wird die Information durch Änderung zellu- Kurzzeitgedächtnis gespeichert werden.
lärer Bestandteile und neuronaler Aktivität so umforma-
tiert, dass sie für den nächsten Verarbeitungsschritt verfüg-
bar ist und gleichzeitig die psychologische Ebene korrekt 25.2.2 Langzeitgedächtnis
abbildet.
Elaboriertes Speichern
G Dem Kurzzeitgedächtnis ist ein sensorisches Ge-
Die Übertragung in das LZG erfolgt nur bei »tiefer« und
dächtnis vorgeschaltet, das die Information für das
»reichhaltiger« Kodierung der Information im KZG. Dies
KZG aufarbeitet. Das sensorische Gedächtnis ist nur
wird elaboriertes Memorieren genannt. Elaboriertes
wenige Millisekunden aktiv, sorgt aber für eine erste
Memorieren meint das Fortschreiten der Reizanalyse von
Merkmalsextraktion und Enkodierung der Informa-
25 tion.
»oberflächlicher« physikalischer Beschaffenheit etwa eines
Satzes über dessen syntaktische und phonemische Struktur
bis zur »tiefen« semantischen Analyse seiner Bedeutung. Je
Speicherkapazität des Kurzzeitgedächtnis elaborierter die Kodierung um so mehr Zeit benötigt sie,
Ohne Training können wir maximal 7–9 Zahlen oder Ein- aber um so stabiler wird die Information behalten; je mehr
heiten wiedergeben. Die Inhalte des KZG sind aber nicht Beziehungen (zeitliche, räumliche und semantische) zwi-
wie im sensorischen Gedächtnis »roh«, den ankommenden schen den dargebotenen Inhalten entwickelt werden, um so
Reizen entsprechend und kaum bewertet, sondern werden reichhaltiger der »Kode« und größer die Wahrscheinlich-
auf einer Art Werkbank wiederholt, zu Einheiten verkettet keit der Übertragung ins LZG.
und geordnet. Damit können trotz des raschen Verlustes . Tabelle 25.3 zeigt einige typische Fragen und Antwor-
von Information in Sekunden bis Minuten viele Inhalte ten aus einem Experiment von Craik u. Tulving: Nachdem
als zusammengesetzte Einheiten behalten werden. Auf der die Versuchspersonen viele solcher Fragen beantwortet
Werkbank (Arbeitsbereich in . Abb. 25.5) werden also hatten, wurden Behaltens- und Wiedergabeerkennungstests
neue Inhalte erzeugt, die so nicht in der Umgebung vorhan- für die Wörter gegeben. Wörter, die elaboriertes Verarbeiten
den waren. Je mehr Inhalte einströmen, umso weniger Platz erfordert hatten (z. B. Satz statt Form in . Tabelle 25.3), wur-
bleibt für Assoziation, Organisation und Gruppierungen. den sehr viel besser behalten.
Die Arbeit an der Werkbank benötigt Aufmerksamkeitsres-
G Die Übertragung und Speicherung von Information
sourcen, die sich als bewusste, kontrollierte Verarbeitung
in das Langzeitgedächtnis wird durch tiefes und
äußern. Wir haben dieses limitierte Kapazitätskontrollsys-
reichhaltiges (elaboriertes) Verarbeiten erleichtert.
tem in Kap. 21 beschrieben.
G Das Kurzzeitgedächtnis (KZG) hat eine beschränkte Merken im Kontext
Speicherkapazität von 7±2 Elementen und besteht
Gedächtnisexperimente mit sprachlichem und nichtsprach-
aus einem Arbeitsbereich (»workbench«) und seinen
lichem Material zeigen, dass Tiere wie Menschen nicht nur
Inhalten.

»Chunking«: Gruppenbildung . Tabelle 25.3. Typische Fragen und Antworten im Experi-


ment von Craik u. Tulving (1975). Elaborierte Verarbeitung,
Durch die Organisation von Elementen in »chunks« (Ver-
die z. B. durch die Satzfrage ausgelöst wurde, führt zu besse-
haftungen, Gruppierungen oder Superzeichen) können rer Reproduktion als weniger elaborierte Verarbeitung
sehr viel größere Informationsmengen auch ohne Wieder-
Art Frage Antwort
holung (»rehearsal«) im KZG aufgenommen werden. Auf
»chunking« schloss man, da viele Personen enorm große, Ja Nein
weit mehr als 7±2 Einheiten behalten konnten. Es passen Form Is the word in capital letters? TABLE table
allerdings nicht mehr als 5–7 »chunks« in das KZG. (Ist das Wort in Großbuch- (TISCH) (Tisch)
»Chunks« können die Verbindungen z. B. von Buchstaben- staben geschrieben?)

gruppen in einem Wort oder mehrerer Töne zu einem Reim Does the word rhyme with crate MARKET
Rhythmus u. ä. darstellen. Deshalb ist das KZG auch für weight? (Reimt sich das Wort (Korb) (Markt)
mit weight [Gewicht]?)
Sprachverständnis und Sprachproduktion essenziell. Die
Informationsmenge pro »chunk« kann sehr hoch sein. Satz Would the word fit in the FRIEND cloud
sentence: »He met a … (FREUND) (Wolke)
Wiederholung (»rehearsal«) und Konsolidierung sind
in the street«? (Passt das
die wesentlichen Funktionen des KZG, wobei nach jedem Wort in den Satz: »Er traf
Memorierungsdurchgang eine Teileinheit (»chunk«) des einen … auf der Straße«?)
verfügbaren Materials in das LZG übertragen wird.
25.3 · Assoziative neuronale Plastizität
629 25

das zu lernende Objekt einprägen und wiedergeben, son- 25.3 Assoziative neuronale Plastizität
dern stets auch inzidenziell (ohne Absicht) die gesamte
Umgebung, in der gelernt wurde, einprägen: Kodierung der 25.3.1 Hebbs synaptische Theorie
Information im LZG und deren Abruf ist kontextabhängig: spezifischer Gedächtnisinhalte
Ein Abruf ist nur dann erfolgreich, wenn der Kontext oder
große Teile des ursprünglichen Kontexts der Kodierung in Zellensembles
Realität oder in der Vorstellung wiederhergestellt werden. Engramme sind in Zellensembles zunächst reverbarato-
Es handelt sich hier um ein ganz ähnliches Phänomen wie risch gespeichert; anschließend kommt es zur Verstärkung
der oben erwähnte Unterschied zwischen elaboriertem und der beteiligten synaptischen Verbindungen. Unter einem
oberflächlichem Memorieren; je mehr vom ursprünglichen Engramm verstehen wir alle die einem spezifischen Ge-
Kontext eingeprägt wurde und je vielfältiger der Kontext ist dächtnisinhalt (z. B. der Erinnerung an das Gesicht einer
(z. B. multisensorische Reizung im Gegensatz zu nur einer befreundeten Person) zugrunde liegenden elektroche-
Sinnesmodalität), um so eher wird ein Teilelement der ur- mischen Vorgänge im ZNS. Jene Zellen, deren Aktivität zur
sprünglichen Umgebung bei der Einprägung später den Speicherung und Wiedergabe eines Engramms notwendig
gesamten Gedächtnisinhalt auslösen. Auch der physiolo- ist, sind ein Zellensemble (»cell-assembly«), wie es D.O.
gische Zustand (»Aktivierung«, Gefühl) des Lernenden Hebb, der Vater aller physiologischen Gedächtnistheorien,
gehört zum Einprägungskontext, weshalb in der Regel kor- genannt hat. Unter einem Zellensemble versteht er eine An-
rekte Wiedergabe an den ursprünglichen Zustand während sammlung (»assembly«) von spezifisch durch die Reizung
des Einprägens gebunden ist (zustandsabhängiges Ler- aktivierten Nerven-Zellen, die als ein geschlossenes (asso-
nen). So kann man z. B. ein unter Alkoholeinfluss erlerntes ziativ miteinander verbundenes) System auch nach Been-
Verhalten sehr viel leichter unter neuerlichem Alkoholein- digung der Reizung aktiv bleibt. Hebbs (1949) Theorie des
fluss als nüchtern wiedergeben. Lernens bildet den Ausgangspunkt der gegenwärtigen
Dem Wiedergabeprozess liegt also ein Mustervervoll- Überlegungen zur neurobiologischen Grundlage des Ge-
ständigungsprozess zugrunde: Das Muster der Abrufungs- dächtnisses (Box 25.1). Die Grundgedanken dieser Theorie
reize muss zumindest teilweise dem gespeicherten Muster haben sich erstaunlich gut bestätigen lassen (. Abb. 1.3 und
entsprechen. Nur bei »Passen« (»matching«) von einigen Abschn. 1.3.2).
Musterelementen wird das gesamte Muster wiedergegeben
G Die Grundlage eines spezifischen Wahrnehmungs-
(Kap. 21). Solche Teile der ursprünglich eingeprägten Reiz-
oder Erfahrungsinhaltes (»Gestalt«) ist ein assoziativ
situation nennt man »retrieval cues« (Hinweisreize für
geformtes Zellensemble.
Wiedergabe), das Arbeitsprinzip »encoding specificity
principle«. Wiedererkennen ist deshalb sehr viel leichter als
Wiedergeben, weil sehr viel mehr Hinweisreize des ur- Reverbatorisches Kreisen
sprünglichen Musters und des Einprägungskontextes vor- Jede Erregungskonstellation, die aus den Sinnesorganen ins
handen sind. ZNS transportiert wird und die Aufmerksamkeitsfilter
Wiedergabeprozesse dagegen erfordern in jedem Fall (Kap. 21) passiert, kann zur Bildung eines geschlossenen
»Rücktransport« der Information in das KZG (oder Arbeits- Erregungskreises führen, wie in . Abb. 25.6 symbolisiert.
gedächtnis), eine direkte Wiedergabe von explizitem Wis- In diesen, durch erregende Synapsen miteinander stärker
sen aus dem LZG ist vermutlich nicht möglich (deswegen verbundenen Nervennetzen kann ein Erregungsmuster
können wir auch nicht gleichzeitig aktiv reproduzieren und einige Zeit zirkulieren. Ein derartig kreisförmig geschlos-
speichern). Dies erkennt man u. a. daran, dass Information sener Erregungsverlauf wird daher auch reverberatorischer
aus dem Langzeitgedächtnis trotz seiner Stabilität beim Kreisverband (»reverberatory circuit«) genannt. Ein be-
»Rücktransport« leicht störbar ist, wie alle Information im stimmtes Engramm kann aus mehreren solcher reverbera-
KZG. Allerdings ist das LZG bisher fast nur im Zusammen- torischer Kreisverbände bestehen, die selbst wieder zu aus-
hang deklarativen Wissens studiert worden. Prozedurales gedehnteren »cell-assemblies« verbunden sind. Damit ein
Wissen benötigt vermutlich den dazwischengeschalteten gegebenes Assembly in kreisende Erregung verfällt, muss es
Arbeitsspeicher weniger. Bezüglich des Lernens und Be- eine gewisse Erregungsschwelle überschreiten, diese wird
haltens von Fertigkeiten 7 Kap. 13. von den in Kap. 21 beschriebenen Aufmerksamkeitspro-
zessen bestimmt. Negative langsame Hirnpotenziale haben
G Explizites Gedächtnis ist stets kontextabhängig. Je
wir als ein Maß für solche Schwellenänderungen kennen
elaborierter der eingeprägte Kontext, umso mehr
gelernt.
Wiedergabehinweise existieren und erlauben Re-
produktion des Einprägungskontextes und des Ein- G Ein reverberatorischer Kreisverband sind miteinander
prägungszustandes. stärker als die Umgebung verbundene Nervenzellen.
630 Kapitel 25 · Plastizität, Lernen und Gedächtnis

Box 25.1. Donald O. Hebb (1904–1985)

Donald O. Hebb wurde in einer kanadischen Kleinstadt, als Grundlage von assoziativem Lernen postulierte. Später
in Chester, Nova Scotia geboren. Ursprünglich wollte er wurde seine Theorie als »Hebb-Synapse« und »Hebb-Re-
Schriftsteller werden, studierte daher Englisch und wurde gel« zur wichtigsten Entdeckung der Neurowissenschaf-
Lehrer. Nebenher studierte er Psychologie an der McGill ten des 20. Jahrhunderts; Sir John Eccles (1903–1996), der
Universität in Montreal. Seine Doktorarbeit schrieb er bei 1963 den Nobelpreis erhielt, bestätigte Hebbs Postulat
Karl Lashley an der Universität Chicago; Lashley war einer (Abschn. 25.3.1 und Kap. 4). Die Abb. zeigt Hebb bei einer
der bedeutendsten Physiologischen Psychologen und Ver- Vorlesung 1958 an der McGill Universität, wo er von 1947
treter des Antilokalisationismus (Kap. 1). 1937 wechselte bis zu seinem Tode wirkte.
Hebb ans Montreal Neurological Institute und entwickelte
spezifische Verhaltensproben für Wilder Pensfields Patien-
ten (Kap. 13 und 15), denen Teile des Gehirns zur Epilepsie-

Aus Brown RE, Milner PM (2003). Mit freundlicher


25 therapie entfernt wurden. 1942 kehrte er zu Karl Lashley
zurück, der mittlerweile Direktor der Yerkes Laboratories of
Primate Biology in Florida geworden war und entwarf Ver-
haltensproben und Experimente zur Messung emotiona-

Genehmigung von Nature.


len Verhaltens bei Affen und Delphinen. In dieser Zeit
schrieb er sein revolutionäres Buch »The Organization of
Behavior« (1949), das den strengen Behaviorismus über-
wand und Zellensembles (»cell assemblies«) als neurona-
le Grundlage des Erlebens und synaptische Verstärkung

Konsolidierung von reverberatorischen


Kreisverbänden
Reverberatorische Erregungskreise nach Ende der aktu-
ellen Reizung könnten die neurophysiologische Basis der
Konsolidierung darstellen. Nach mehrmaliger Reverbera-
tion treten anhaltende strukturelle synaptische und zellu-
läre Änderungen auf, die unser LZG repräsentieren. In der
Reverberationsphase müssen die Zellensembles ungestört
von weiterer Impulszufuhr bleiben, da sonst keine wieder-
holte Erregung der Synapsen mit denselben Impulsmustern
erfolgen kann. Diese Zeit ungestörter Erregungszirkulation
wird Konsolidierungsphase genannt. Darbietung ähnlicher
oder neuer Inhalte in dieser Zeit führt zu Einprägungshem-
mungen. Schlaf ist deshalb eine wichtige Voraussetzung für
Konsolidierung (Kap. 22).
Während der Konsolidierungsphase werden zunächst
schwache synaptische Verbindungen zwischen Neuronen
mächtiger, vor allem dann, wenn beide Neurone gleich-
zeitig oder in enger zeitlicher Nachbarschaft mehrmals
. Abb. 25.6. Reverberierende Neuronenkreise. Vereinfachtes »assoziativ« erregt werden. Solche zeitlich eng gekoppelten
Diagramm der Verbindungen für reverberierende neuronale Schalt- Aktivierungen von Synapsen bilden die Grundlage von
kreise. Das afferente Axon erregt 4 Neurone (A, B, D und E). E und B Konditionierungsprozessen. Wichtig für das Verständnis
senden Impulse aus dem System (efferente Axone) in andere Systeme. des Hebbschen Konzepts ist die Tatsache, dass prä- und post-
A-B-B’, B-C, und B-C-C’ bilden geschlossene Erregungskreise, sog.
synaptische Zellen gleichzeitig oder leicht zeitverschoben
Zellensembles (nach Hebb)
entladen müssen. Die gleichzeitige Aktivität von präsynap-
tischen Neuronen und Synapsen allein genügt nicht. Wenn
auf . Abb. 25.6 A kurz vor B aktiviert wird, erhöht sich die
Wahrscheinlichkeit, dass auch Neuron B über die Schwelle
aktiv und die Verbindung zwischen A und B verstärkt wird
(. Abb. 25.7). Später, nach Stabilisierung der Verbindung,
25.3 · Assoziative neuronale Plastizität
631 25

genügt bereits die Teilaktivität in einem solchen Ensemble,


um das gesamte Ensemble (die Wahrnehmung der Bewe-
gung des Rüssels allein hinter der Zoomauer aktiviert das
Gesamtbild (Gestalt) des Elefanten) zu aktivieren.
G In der Konsolidierungsphase müssen die spezifischen
neuronalen Erregungskonstellationen zu geschlos-
senen Zellensembles werden. Später genügt Teilakti-
vierung des Ensembles, um das ganze Ensemble zu
aktivieren. . Abb. 25.7. Hebb-Synapsen. Links klassische Vorstellung Hebbs:
prä- und postsynaptische Neurone feuern gleichzeitig oder leicht
zeitverschoben; nach mehrmaliger Paarung wird die Verbindung
Der neuronale Kode zwischen ihnen verstärkt. Denkbar – und bei einfachen Lebewesen
wie Aplysia häufig – ist die Stärkung der Verbindung zwischen prä-
Die Spezifität, der abgrenzbare Inhalt eines Gedächtnis-
und postsynaptischem Neuron durch gleichzeitige Aktivität an der Prä-
inhalts, wird sowohl durch den Ort des Ensembles im ZNS synapse (Erläuterung 7 Text)
als auch durch die Frequenzphasen und Rhythmuseigen-
schaften der kreisenden »Erregungskonstellation« bestimmt.
Nach der Konsolidierung, bei Wiedergabe des Gedächtnis- Arbeitsweise von Hebb-Synapsen
inhalts, wird die Erregungskonstellation durch die Struktur- Wie wir in Abschn. 25.3.5 noch sehen werden, sind an der
änderungen in Synapsen und Zellen identisch oder teilweise Realisierung der Hebb-Regel im Allgemeinen 2 präsynap-
identisch rekonstruiert. Damit ist die zeitliche Stabilität der tische Elemente (Synapse 1 und 2) und eine postsynaptische
Erfahrungen gesichert. Im Elektroenzephalogramm oder Zelle beteiligt (. Abb. 25.12): Nehmen wir an, Synapse 1
Magnetoenzephalogramm beobachten wir in solchen be- wird durch einen neutralen Ton erregt, der allein nicht aus-
deutungshaltigen Situationen hochfrequente, synchrone reicht, die postsynaptische Zelle, an der sowohl Synapse 1
Oszillationen (Kap. 20, Gamma-Band, »40« Hz). wie Synapse 2 konvergieren, zum Feuern zu bringen. Nun
wird Synapse 2, die z. B. aus einer somatosensorischen
Hebb-Regel Zelle im Auge erregt wird, kurz nach oder gleichzeitig mit
Aus dem Studium der selektiven Deprivation einzelner Synapse 1 durch einen Luftstoß auf das Auge erregt, der in
Wahrnehmungsfunktionen, vor allem des visuellen Systems, der postsynaptischen Zelle die Aktivierung eines Blinkre-
konnte man die wesentlichen der am Lernen beteiligten neu- flexes auslöst. Dieser Akt des Feuerns der postsynaptischen
ronalen Prozesse isolieren. Beispielsweise führt die Schlie- Zelle, ausgelöst durch Synapse 2, verstärkt nun die Akti-vität
ßung eines Auges unmittelbar nach der Geburt zu einer Atro- aller Synapsen, die an dieser postsynaptischen Zelle gleich-
phie der okularen Dominanzsäulen im visuellen Kortex des zeitig aktiv waren, so auch die Erregbarkeit der »schwachen«
deprivierten Auges (Kap. 17). Dabei zeigt sich ein fundamen- Synapse 1. Nach mehreren zeitlichen Paarungen der beiden
tales Prinzip neuronaler Plastizität, das auch Lernen zugrun- Reize, genügt dann der Ton allein, um die postsynaptische
de liegt und das nach seinem Entdecker, dem kanadischen Zelle zum Feuern zu bringen und damit einen Blinkreflex
Psychologen Hebb, als Hebb-Regel bezeichnet wird: auszulösen: »Klassisches Konditionieren« des Blinkreflexes
»Wenn ein Axon des Neurons A das Neuron B erregt wurde somit aufgebaut.
und wiederholt oder anhaltend das Feuern, d. h. die über- Beispielsweise ist für die Ausbildung der okularen
schwellige Erregung von Neuron B bewirkt, so wird die Dominanzsäulen (Kap. 17) die simultane Aktivierung prä-
Effizienz von Neuron A für die Erregung von Neuron B und postsynaptischer Elemente im visuellen Kortex aus
durch einen Wachstumsprozess oder eine Stoffwechselän- beiden Augen notwendig.
derung in beiden oder einem der beiden Neurone erhöht«
(. Abb. 25.7). G Zeitlich simultane Aktivierung von präsynaptischen
Die Hebb-Regel wird häufig auf die gereimte Kurzform und postsynaptischen Elementen führt also zu einer
gebracht: »Neurons that fire together wire together« (»Neu- funktionellen und anatomischen Stärkung der
rone, die gemeinsam feuern, verbinden sich«). Verbindung zwischen prä- und postsynaptischem
Während viele Neurone des Zentralnervensystems Element in Hebb-Synapsen.
bei wiederholter Erregung durch ein anderes Neuron ihre
Feuerrate reduzieren oder nicht verändern, haben Hebb-
Synapsen die Eigenheit, bei simultaner Erregung ihre Ver- Anzahl und Lokalisation von Hebb-Synapsen
bindung zu verstärken (. Abb. 25.6). Wie viele der synaptischen Verbindungen unseres Gehirns
plastische Hebb-Synapsen sind, ist nicht bekannt. Sicher ist
G Simultane Aktivierung von Hebb-Synapsen verstärkt nur, dass die meisten dieser Verbindungen im Neokortex
deren Bindung durch Wachstumsprozesse und/oder liegen und viele der subkortikalen neuronalen Verschal-
Stoffwechseländerungen. tungen ihre Entladungseigenschaften durch simultane Er-
632 Kapitel 25 · Plastizität, Lernen und Gedächtnis

regung zweier (oder mehrerer) Synapsen eben nicht än- gänge sind dieselben wie bei der Entstehung geordneter
dern, also keine Hebb-Synapsen sind. Wahrnehmungsvorgänge. Die Evolution hat mit der Kodie-
Assoziatives Lernen und Sensibilisierung (Abschn. 25.4) rung und Neubildung von Information in synchronen Os-
ist nicht nur in Hebb-Synapsen möglich, sondern es werden zillationen von Zellensembles einen energiesparenden und
stille, aber schon existierende Verbindungen durch wieder- die Information unverwechselbar speichernden Mechanis-
holte Nutzung auch verstärkt, wenn die Erregungssalven z. B. mus gefunden (Kap. 17, . Abb. 17.29 und Abschn. 21.4.1).
schnell hintereinander kommen und somit an einer einzigen Entsprechend der Hebb-Theorie von Konsolidierung,
prä- und postsynaptischen Verbindung eine Verstärkung muss eine Erregungskonstellation im Allgemeinen mehr-
analog von Hebb-Synapsen bewirken. Auch Neurogenese, mals in ein und demselben Zellensemble ungestört kreisen,
also das Wachstum neuer Nervenzellen kann sowohl in he- bevor strukturelle Änderungen LZG und Wiedergabe er-
ranwachsenden wie erwachsenen Lebewesen durch Lernen möglichen. Nicht die Aktivität einer einzigen oder weniger
(vor allem im Hippokampus) angeregt werden. Zellen, sondern erst das gleichförmige, kohärente Ent-
25 ladungsverhalten eines ganzen Zellensembles stellt »speicher-
bare« Information für das ZNS dar. Die Aktivität einer ein-
25.3.2 Zellensembles und neuronale zigen Zelle geht im elektrochemischen »Rauschen« des ZNS
Oszillationen unter. Kohärenz entsteht durch gleichzeitiges oder korrelier-
tes Entladen eines Erregungsmusters in einem Zellensemble,
Erregungskreise, Speichern und Wiedergabe von dessen Form und Frequenz für den Gedächtnisinhalt spezi-
Information fisch ist (. Abb. 25.8 und 25.9).
Wir haben bereits an mehreren Stellen dieses Buches die
Bedeutung synchroner Oszillationen in Nervennetzen für Kohärente EEG/MEG-Oszillationen
Wahrnehmung von Bedeutung und Gestalt (Kap. 1, 17 Ein Maß für die Kohärenz ist die Amplitudenhöhe evo-
und 20) und für Bewusstsein und Aufmerksamkeit (Ab- zierter Potenziale, des EEG oder MEG über einem gege-
schn. 21.4.1) beschrieben. Lernen besteht in der graduellen benen Zellensemble oder die Kreuzkorrelationsfunktionen
oder plötzlichen Neubildung oder Modifikation solcher der elektrischen Entladungsmuster bzw. des EEG zwischen
Erregungskreise, die sich in elektrischen Oszillationen verschiedenen Zellensembles (Kap. 20). Je höher die Ampli-
niederschlagen. Die dabei ablaufenden neuronalen Vor- tude eines evozierten Potenzials oder eines EEG-Musters,

Nach John ER (1967). Mit freundlicher Genehmigung von Elsevier.

. Abb. 25.8. Tracer-Technik. 10-Hz-Flackerlicht (SIG) vor (oben) und dene Kortexableitungen, FX Fornix, VH Hippokampus, VC visueller
nach (unten) Konditionierung des Lichtreizes als SD (Erläuterungen Kortex (7 Text)
7 Text). MG und LG ist EEG aus Thalamus. CL, AUD und MSS verschie-
25.3 · Assoziative neuronale Plastizität
633 25

Nach John ER (1967). Mit freundlicher Genehmigung von Elsevier.


. Abb. 25.9. Oszillationen und Gedächtniswiedergabe. Richtige akustischer Kortex, VIS visueller Kortex, VPL, GL, GM Thalamuskerne,
(links) und falsche (rechts) Reproduktion eines »Gedächtnisinhalts« MRF Formatio reticularis des Mittelhirns. Strich in Farbe symbolisiert
aus verschiedenen Hirnregionen. MOT motorischer Kortex, AUD 7,7-Hz-Lichtreiz (Erläuterungen 7 Text)

umso mehr Zellen müssen synchron geordnet entladen. Je kampus (VH) sowie das visuelle System (VC, visueller Kor-
komplexer das Lernmaterial und je mehr Sinnessysteme an tex, und LG, laterales Geniculatum).
dem Engramm beteiligt sind, um so größer werden die Zell- Keine Speicherung findet im akustischen System (MG,
ensembles und um so länger muss die Erregung kreisen, um mediales Geniculatum) und sensomotorischen Areal (MSS)
eine kritische Verschiebung metabolischer Änderungen statt. Bei Wiedergabe der Information tritt derselbe assimi-
(z. B. Ca++-Anstieg in den Zellen) zu erzielen (. Abb. 21.25 lierte Rhythmus in den entsprechenden Regionen wieder
und 21.26). auf.
Mit dem Lernerfolg steigen die Amplitudenhöhen . Abb. 25.9 zeigt, dass auch fehlerhafte Reproduktion
evozierter Potenziale in den Akquisitionsdurchgängen am »assimilierten« Rhythmus des EEG aus den einzelnen
an. Die Wellenform evozierter Potenziale in verschiedenen Hirnregionen gut ablesbar ist: In . Abb. 25.9 lernte das
Hirnregionen auf ein und denselben Reiz ist ähnlicher Tier eine Annäherungsreaktion auf einen 7,7-Hz-Flacker-
(kohärenter) als die Form der evozierten Potenziale in licht-SD und eine Vermeidungsreaktion (CAR) auf 3,1-Hz
ein und derselben Hirnregion auf verschiedene Reize: Flackerlicht. Am linken Teil der . Abb. 25.9 führt das
Weniger der Ort der Speicherung definiert, was gespei- Tier die Annäherungsreaktion auf den 7,7-Hz-Reiz kor-
chert wird, sondern die Kohärenzverteilung der auf einen rekt aus (man kann den »Gedächtnisinhalt« besonders
Reiz folgenden Erregungsmuster über verstreute Hirn- gut im rechten visuellen Kortex (RVIS) und dem linken
areale. Diese antilokalisationistische Position steht im N. geniculatum (LGL) beobachten). Im rechten Teil der
Gegensatz zu Befunden, die einzelnen Hirnregionen (z. B. . Abb. 25.9 vermeidet das Tier irrtümlich auf einen
Hippokampus) kritische Positionen für das Behalten zu- 7,7-Hz-SD: Das Auftreten des falschen Gedächtnisin-
schreiben. haltes kann vor allem am visuellen Kortex klar gesehen
werden, bevor das Tier die falsche Reaktion (CR) aus-
G Die Bildung von Zellensembles beim Lernen ent-
führt. Besonders deutlich erkennt man die unmittelbare
steht durch gleichzeitiges, kohärentes Feuern und
Verhaltenswirksamkeit von neuronalen Oszillationen an
wird in der Synchronisation von neuronalen Ent-
ihrer Korrelation mit peripheren EMG-Entladungen
ladungen und EEG-/MEG-Rhythmen sichtbar.
(Kap. 13) oder rhythmischen Muskelaktivitäten. Die peri-
pheren Verhaltensänderungen folgen dabei wenige Milli-
Assimilierte Rhythmen sekunden auf die neuronalen Oszillationen entweder im
. Abb. 25.13 zeigt die Akquisitionsphase in einer instru- selben Rhythmus oder in einer regelhaften Phasenbe-
mentellen Konditionierungsaufgabe: Als diskriminativer ziehung.
Reiz SD wird ein sog. »Tracer«-Lichtreiz (Flackerlicht von
10 Hz) dargeboten, das Tier lernt auf den SD für Verstär- G Neuronale Oszillationen und deren Änderung
kung zu reagieren. Das EEG bildet im Verlauf der Lernpha- können direkt und phasenverschoben in Verhalten
sen einen »assimilierten« Rhythmus in der Frequenz des SD umgesetzt werden oder aber aktivieren über
in jenen Hirnarealen aus, wo der SD gespeichert wird. In arrhythmische Zwischenstationen spezifische Ver-
. Abb. 25.9 sind dies vor allem Fornix (FX) und Hippo- haltensweisen.
634 Kapitel 25 · Plastizität, Lernen und Gedächtnis

Sparsame Kodierung und Koaktivation G Oszillierende Zellensembles können eine Vielzahl


Jede kortikale Zelle hat mit 4000–10.000 anderen kortikalen von Neuronenverbänden dynamisch rekrutieren
Zellen synaptischen Kontakt. Die meisten Verbindungen und daher können relativ wenige neuronale Ver-
gehen zu benachbarten Zellausläufern, einige zu weit ent- bindungen eine große Zahl kohärenter Inhalte ab-
fernten, wie dies in . Abb. 21.26 symbolisiert ist. Wenn die bilden (repräsentieren). Dieses Prinzip wird auch als
Spezifität eines Wahrnehmungsinhalts nur durch feste kon- »sparse-coding« bezeichnet.
vergente Verbindungen von Sinnesorganen zum Kortex,
wie z. B. bei der retinotopen Repräsentation (Kap. 17), ge- Größe und Frequenz von Zellensembles
löst würde, hätten wir für die Unzahl unserer Wahrneh- Da eine Summation von Spikes an einem Dendriten nur
mungs- und Gedächtnisinhalte nicht ausreichend viele dann zu überschwelliger Depolarisation führt, wenn sie
Verbindungen. Wir wissen aber, dass eine Zelle an der Re- innerhalb von Millisekunden gleichzeitig oder zeitverscho-
präsentation vieler Inhalte beteiligt sein kann, also mit ben erfolgt, muss man annehmen, dass eine synchrone Ent-
25 verschiedenen »assemblies« verschaltet ist. Damit haben ladung über weit verteilte Regionen innerhalb von Millise-
wir eine unlimitierte Anzahl von Kombinationsmöglich- kunden möglich sein muss. Wenn diese synchronen Ent-
keiten funktionaler Verschaltungen, die den Reichtum un- ladungen, die zu einem Zellensemble (Inhalt) führen,
seres Erlebens und Verhaltens und die enorme Lernfähig- stabilisiert werden sollen, müssen sie im selben Ensemble
keit ausmachen (»sparse coding« = sparsames Kodierungs- mehrmals kreisen (»reverberatory cycles«). Der Rhythmus
prinzip). Ein spezifisches Element eines Inhalts (z. B. eine dieses Zyklus soll in der Regel der Größe des Ensembles,
Kontur) kann von vielen Repräsentationen geteilt werden, also der Entfernungen der Einzelelemente voneinander pro-
die zu verschiedenen Zeiten an verschiedenen »assemblies« portional sein: je größer das Ensemble, um so langsamer.
teilnehmen. Welcher Inhalt zu einem bestimmten Zeit-
G Synchronisation kann auch über große Areale in
punkt im Vordergrund des Bewusstseins steht, wird durch
Millisekunden erfolgen. Je größer das Ensemble,
synchrone, korrelierte Aktivität in einer verteilten Popula-
umso langsamer die Frequenz der Oszillationen.
tion von Neuronen bestimmt (. Abb. 21.27). Diesen Me-
chanismus bezeichnet man auch als neuronale Bindung
(»binding«). Eine extreme Form von »binding« wird in Langsame und schnelle Oszillationen
Box 25.2 geschildert. Wie wir in Kap. 20 und 21 gesehen haben, sind die lang-
Die Summation synchronen Einstroms in einem samen EEG-Oszillationen im Bereich von 0–15 Hz primär
»assembly« ist auch dadurch notwendig, dass bei der Kon- von thalamokortikalen Erregungskreisen und deren un-
vergenz nur weniger Synapsen an einer Zelle, diese nie die spezifischem Einstrom aus retikulären subkortikalen Struk-
kritische Schwelle zum Feuern erreichen würde. Wenn turen abhängig. Sie bestimmen großflächig die Erregungs-
Information miteinander in Beziehung steht (Kontext), so schwellen kortikalen Gewebes im Wach- und Schlafzu-
treten ihre Einzelelemente zeitlich synchron, also gemein- stand.
sam auf und erlauben damit die Bildung von Hebb-Synap- Da unsere expliziten und auch die meisten impliziten
sen. Die Bildung von Synchronisation wird durch die in Gedächtnisinhalte kortikal gespeichert sind und die meisten
Kap. 21 beschriebenen thalamokortikalen Aufmerksam- thalamischen Zellen nicht plastisch sind, müssen für die Re-
keitsmechanismen erleichtert, kann aber auch im Falle im- präsentation von Gedächtnisinhalten und deren Wieder-
pliziten Lernens und Konditionierung unabhängig von gabe kortikokortikale Ensembles verantwortlich sein. Be-
diesen entstehen. rechnet man die Nerven-Leitungszeiten innerhalb des kor-

Box 25.2. Synästhesien als Formen extremer assoziativer Bindung

Wenn eine vorhandene Reizeigenschaft (Farbe) immer mit einem einzigen verschmelzen, sodass das eine kohärente
einer nicht-vorhandenen Reizeigenschaft (Form) wahrge- Ensemble nicht mehr ohne das andere aktiviert werden
nommen oder assoziiert wird, so spricht man von Synäs- kann. Sehr häufig sind Farb-Ton-Synästhesien: Im EEG oder
thesie. Es existieren viele Formen von Synästhesien, intra- fMRT sieht man, dass z. B. die Hirnareale, die Farbe reprä-
modal und krossmodal: Zum Beispiel löst eine bestimmte sentieren, beim Synästhetiker immer gleichzeitig mit dem
Form (ein Buchstabe) immer auch den Eindruck einer Tonareal aktiviert werden und zusätzlich noch die Parietal-
Farbe oder Töne lösen die Wahrnehmung einer Farbe aus. region, die die Aufmerksamkeit auf den Reiz steuert: Auf-
Dabei handelt es sich um angeborene oder früh erwor- merksamkeit verbessert Binding und macht es bewusst.
bene Formen von einheitlichen Zellensembles, in denen Und nur bei bewusster Wahrnehmung und Konzentration
2 normalerweise getrennt repräsentierte Ensembles zu tritt das Synästhesieerleben auf.
25.3 · Assoziative neuronale Plastizität
635 25

tikalen Ensembles, so ergeben sich auch bei weit auseinander


liegenden Ensembles optimale Abstände zwischen 2 syn-
chronen Depolarisationen im Bereich von 10–80 ms. Das
führt zu Oszillationsfrequenzen im Gamma-Bereich, die wir
bei Wahrnehmung von Gestalten, Bedeutung, Worten und
im Traum im EEG und MEG finden (7 die entsprechenden
Ergebnisse in Kap. 17, 22 und 28). In klassischen Konditionie-
rungsversuchen beim Menschen z. B. treten diese Oszilla-
tionen dann erstmals auf, wenn die Person (bzw. ihr Gehirn)
den zeitlichen Zusammenhang zwischen CS und US erkannt
hat und verschwinden wieder in der Extinktion bzw. wenn
die CR extrem überlernt, also automatisiert ist.

G Assoziative Verknüpfung (»binding«) durch neuro-


nale Konvergenz und zeitliche Synchronisation liegt
. Abb. 25.10a–c. Stimulierende Umgebung. Beispiele für stimulie-
nicht nur Wahrnehmungsprozessen, sondern auch rende und weniger stimulierende Umgebung aus den Untersuchun-
Gedächtnisvorgängen zugrunde. Änderungen hoch- gen von Rosenzweig u. a. a Standardkolonie mit 3 Ratten pro Käfig.
frequenter Gamma-Oszillationen sind die neurophy- b Reizarme Umgebung (IC) mit einer isolierten Ratte. c Stimulierende
siologischen Korrelate dieses Vorgangs. Umgebung (EC) mit 10–12 Ratten pro Käfig und einer Reihe von
Spielmöglichkeiten.

25.3.3 Zellwachstum, Neurotransmitter rückführbar waren. Primär war der Neokortex von den
und Lernen Stoffwechseländerungen betroffen und hier wieder vor
allem der Okzipitalbereich.
Unspezifische Einflüsse auf Lernen
G Anregende Umgebung, die zu aktivem Handeln
Außer für die Proteinbiosynthese konnte bisher für keine
führt, fördert die neokortikalen Wachstumsprozesse;
einzelne Substanz oder Substanzklasse ein kausaler und
in eintöniger Umgebung bleiben sie aus.
spezifischer Einfluss auf das Gedächtnis nachgewiesen
werden. Dies spricht dafür, dass Gedächtnis in einer Viel-
zahl von synaptischen und zellulären Prozessen verschlüs- Wirkungen anregender Umgebung
selt sein kann, die letztlich alle zum selben Endresultat EC-Tiere haben dickere und schwerere Kortizes (bis zu
führen: anhaltend veränderte Entladungsmuster eines Zell- 10%), erhöhte Azetylcholinesterasekonzentration (AChE),
ensembles. mehr dendritische Fortsätze (primär der basalen Dendriten,
Fast alle neurotropen Substanzen beeinflussen Lernen die von benachbarten Neuronen versorgt werden), ausge-
und Gedächtnis dosis- und ortsabhängig. Die Stimulanzien dehntere Verdickungen der postsynaptischen Membran,
wie Amphetamine erhöhen Dopamin- und Noradrenalin- vergrößerte Zellkörper und Zellkerne in jenen Zellen, die
stoffwechsel und verbessern neuronale Plastizität und Ler- besonders reich an Dendriten sind, sowie ein Anstieg der
nen. Opiate, Sedativa, Serotonin und Kannaboide haben Anzahl der Gliazellen. Weder die soziale Erfahrung (zah-
ebenfalls vielfältige Effekte auf einzelne Lernprozesse, aber lenmäßig mehr Tiere in der EC) noch der passive Umge-
keine spezifische, also nur Lernen und Gedächtnis beein- bungseinfluss sind für die Effekte verantwortlich. Nur wenn
flussende Wirkung. die Tiere aktiv mit den Gegenständen in ihren Käfigen
interagieren (»spielen«), treten die Unterschiede auf.
Anregende und verarmte Umgebung Die Effekte sozialer Erfahrung wurden kontrolliert, in-
Besonders aufschlussreich sind Untersuchungen, in denen dem Einzeltiere unter EC aufgezogen wurden, aber zusätz-
die anatomischen und physiologischen Effekte einer »ange- lich Lernerfahrung erhielten. Die EC-Tiere lernten, in
reicherten«, stimulierenden Umgebung (»enriched envi- einem Labyrinth mit vielen Barrieren den Weg zum Futter
ronmental condition«, EC) im Vergleich zu verschiedenen zu finden. Die Kontrolltiere der IC lernten im selben Laby-
Kontrollbedingungen auf das Rattenhirn beobachtet wur- rinth, aber ohne Barrieren. Die EC-Tiere zeigten deut-
den. . Abb. 25.10 gibt Beispiele für EC und IC (»impove- lichere Änderungen der Anatomie und Histologie des ZNS.
rished environmental condition«, IC, »verarmte«, eintö- Split-brain-Ratten, denen ein Auge abgedeckt wurde, so-
nige Umgebung) wieder. Die Ergebnisse sind sowohl im dass der visuelle Lernprozess nur in einer Hemisphäre statt-
heranwachsenden als auch beim erwachsenen Tier eindeu- finden konnte (Ratten haben keine ipsilateralen Verbin-
tig; bereits nach Tagen in den verschiedenen Bedingungen dungen von der Netzhaut zum Kortex), zeigten die oben
zeigen sich signifikante Unterschiede, die nicht auf moto- aufgeführten Veränderungen nur in der »sehenden« und
rische Aktivität oder Behandlung der Tiere (»handling«) somit lernenden Hemisphäre.
636 Kapitel 25 · Plastizität, Lernen und Gedächtnis

Ratten, die nach längerem Aufenthalt unter IC eine La- G Alzheimer-Demenz mit deklarativem explizitem Ge-
byrinthaufgabe lernen, zeigen danach vermehrtes Aus- dächtnisverlust geht vor allem mit Verlust der choli-
wachsen von Verzweigungen (»branching«) sowohl der nergen Versorgung von Kortex und septohippokam-
apikalen als auch der basalen Dendriten der kortikalen palen System einher.
Pyramidenzellen. Es bilden sich vermehrt Filipodien aus,
die bei Reizung zu dendritischen »spines« auswachsen, Azetylcholin und Lernen
an denen neue oder stille synaptische Verbindungen ent- Klassische Furchtkonditionierung führt im Tierversuch z. B.
stehen. am auditorischen Kortex zu einer Vergrößerung des rezep-
Die biochemischen Veränderungen stützen die Inter- tiven Feldes des CS. Wenn als CS ein Ton mit einer Frequenz
pretation, dass es sich um spezifische morphologische und z. B. von 84 Hz verwendet wird und als US ein unangenehmer
biochemische Korrelate von LZG und nicht nur um unspe- elektrischer Reiz, so feuern nach der Konditionierung im
zifische Einflüsse auf die Plastizität im Sinne von mehr oder rezeptiven Feld (Kap. 15) die Zellen nur auf den CS vermehrt,
25 weniger starker sensorischer Deprivation handelt. nicht auf andere Frequenzen. Man nennt dies »tuning«, was
Nach Hirnläsionen erholen sich Tiere und deren Ge- mit »Einstellen« oder »Verschärfen« übersetzt werden kann.
hirn schneller in angereicherter Umgebung als wenn man Darüber hinaus erweitert sich das rezeptive Feld für den CS,
sie explizit trainiert. Die Transplantation von fetalen Zellen d. h. mehr Zellen reagieren auf den CS und die Erregbarkeit
ins lädierte Gehirn hatte nur dann einen positiven Einfluss auf andere Frequenzen als die des CS wird unterdrückt
auf die Reorganisation, wenn die Tiere in angereicherter (. Abb. 25.11a). . Abb. 25.11b zeigt die wichtigsten Kompo-
Umgebung gehalten wurden. Angereicherte Umgebung nenten dieser assoziativen Plastizität. Drei subkortikale Sys-
stellt zusätzlich einen Schutzfaktor gegen vorzeitiges Altern teme konvergieren am akustischen Kortex:
und Neurodegeneration (z. B. Alzheimer) dar. 4 Der spezifisch thalamische Einstrom in Schicht III und
IV, der die Frequenzinformation (CS) transportiert.
G Die neuroanatomischen und neurochemischen
Diese Verbindung ist nur kurzfristig plastisch.
Änderungen bei angereicherter Umgebung sind
4 Das US-System aus den nicht-spezifischen Kernen des
nicht auf unspezifische soziale Erfahrung allein,
Thalamus (MGm und PIN, . Abb. 25.11b), das die akti-
sondern auf aktives Lernen rückführbar. Erholung
vierende Verhaltensbedeutung des vorausgegangenen
nach Hirnläsionen gelingt nur in angereicherter
akustischen Reizes an den Kortex signalisiert. Dieses
Umgebung.
System ist extrem plastisch und modifiziert langfristig
die Entladungswahrscheinlichkeit und synaptische
Azetylcholin und Alzheimer-Demenz Struktur in der apikalen Dendritenschicht.
Wir haben gesehen, dass ACh eine große Rolle bei Lernen 4 Damit die synaptischen »spines« in Schicht I und II
in angereicherter Umgebung spielt. Es existieren mehrere überhaupt ihre Stärke verändern, benötigen sie aber In-
ACh-Systeme im Säugetierhirn (Kap. 5 und 21): Mindestens formation über die vital-biologische Bedeutung (Trieb-
8 abgrenzbare vom Rückenmark zum Kortex; ACh-Vorläu- bedeutung) des akustischen Reizes. Diese erhält der
fer und Metaboliten sind an fast allen Verhaltensweisen di- Nucleus basalis Meynert, der einen Großteil des Azetyl-
rekt (als Transmitter) oder indirekt (als Neuromodulatoren) cholins im ZNS produziert, aus der Amygdala und
beteiligt. Der Nachweis der Beteiligung von ACh-Systemen anderen limbischen Regionen (Kap. 27).
am assoziativen Lernen ist daher besonders schwierig.
Skopolamin, das muskarinerge ACh-Rezeptoren blo- Das ausgeschüttete ACh wirkt unspezifisch modulatorisch
ckiert, führt bei jungen Müttern, wenn es während der Ge- in allen Schichten, erniedrigt aber in Schicht I und II die
burt gegeben wird, zu Erinnerungsausfall des Geburtsvor- Depolarisationsschwelle der Synapsen (z. B. ablesbar an
ganges. Vereinzelt wurde berichtet, dass Physostigmin und negativen langsamen Hirnpotenzialen, Kap. 21) durch
Arecolin, postsynaptische cholinerge Stimulatoren, die Ge- NMDA- oder AMPA-Rezeptor-Entblockierung (7 unten).
dächtnisleistung bei Patienten mit Alzheimer-Demenz ver-
G Die Ausschüttung von Azetylcholin (ACh) aus dem
bessern (Kap. 28). Die effektive Dosis ist aber vom beste-
basalen Vorderhirn und Bindung an muskarinerge
henden kognitiven Niveau und vielen anderen Faktoren
Rezeptoren in der obersten Kortexschicht ist Voraus-
abhängig, die Nebenwirkungen z. T. intolerabel und die Er-
setzung für Gedächtnis und kortikale Lernprozesse.
gebnisse wenig einheitlich. Bei Patienten mit M. Alzheimer,
von denen angenommen wird, dass der neuronale Alte-
rungsprozess extrem beschleunigt verläuft, finden sich re- Azetylcholin und Noradrenalin
duzierte AChE, geringere muskarinerge Rezeptorendichte Angesichts der geringen Wirksamkeit cholinerger Stimula-
(vor allem des sog. M1-Rezeptors), weniger ACh-Neurone tion allein liegt nahe, dass ACh- und NA-Systeme (Emotio-
im Vergleich zu »normalen« Alterungsprozessen. Der ACh- nen) vor allem in Schicht I und II des Kortex zusammen-
Verlust ist im septohippokampalen System, das für explizi- wirken müssen, um normales Gedächtnis und Konsolidie-
tes Gedächtnis verantwortlich ist, besonders ausgeprägt. rung zu ermöglichen, selbst aber nicht an der Verschlüsselung
25.3 · Assoziative neuronale Plastizität
637 25

Aus Weinberger NM (1995). Mit freundlicher Genehmigung von MIT Press.

. Abb. 25.11a, b. Lernen, Azetylcholin und kortikale Repräsenta- des rezeptiven akustischen Kortexfeldes hängt von der Konvergenz
tion. a Instrumentelles Belohnungslernen in Gegenwart eines diskrimi- dreier subkortikaler Systeme am Kortex ab: 1. des Kurzzeit-plastischen
nativen akustischen Reizes (SD von 6 kHz) bewirkt eine spezifische Ver- lemniskalen, spezifischen Thalamus, der detaillierte Frequenzinforma-
größerung der kortikalen Repräsentation im akustischen Kortex. Die tion über den CS vermittelt, rechts. 2. des Systems, das die Verhaltens-
Vergrößerung der kortikalen Repräsentation geht mit Verbesserung bedeutung und vitale Signifikanz des US über die plastischen, non-
der Leistung einher. Das Tier musste nur bei Anwesenheit des SD lemniskalen Bahnen weitergibt und 3. der dadurch ausgelösten (Akti-
drücken und nicht bei anderen Tönen. Links Größe des Areals im vierungs-)Modulation (modulatorisches ACh). AMYG Amygdala, MGm
primären akustischen Kortex (in Blau) vor dem Training, von der ein Ton magnozellulärer N. geniculatum laterale des Thalamus, MGv ventraler,
bestimmter Frequenz (CF, Farbskala) ein Feuern der Zellen auslösen medialer N. geniculatus laterale, NBM Nucleus basalis Meynert, PIN
konnte, rechts nach dem Belohnungstraining. b Diagramm der wich- posteriorer intralaminarer Thalamus. Bei Belohnungslernen ist statt
tigsten Komponenten der durch klassische Konditionierung im audito- der Amygdala das Dopamin- und Opiatsystem beteiligt, der Effekt auf
rischen System ausgelösten plastischen Veränderungen. Die Plastizität das cholinerge System (NBM) ist derselbe (7 Text)
638 Kapitel 25 · Plastizität, Lernen und Gedächtnis

und Speicherung beteiligt sind. Bei Alzheimer-Patienten erhöhen sie die Feuerrate, ist sie kleiner, erniedrigen sie
z. B. liegt neben der ACh-Degeneration auch eine Degene- diese. . Abb. 25.12 symbolisiert die Funktionen des Dopa-
ration der Nucl. coeruleus-Zellen (NA) vor. Im Tierversuch minsystems.
konnte man durch 6 Monate dauernde elektrische Stimula- Die Modifikation der Zielhierarchie erfolgt in einem
tion des Nucl. coeruleus bei alternden Mäusen »Vergessen« Feedback-Kreis zwischen den Basalganglien und dem prä-
einer Schock-Vermeidungsreaktion durch den Alterspro- frontalen Kortex: Der Belohnungswert ist im N. accumbens
zess verhindern. Ähnliche Effekte erzielte man durch Er- (Abschn. 26.6.4 und 26.7) und im anterioren Striatum re-
höhung des NA-Outputs aus dem Nucl. coeruleus durch präsentiert, wird die Belohnung durch eine aktive Hand-
Piperoxon, einen Alpha2-NA-Rezeptoren-Blocker, der die lung erreicht, so wird auch das dorsale Striatum aktiviert
Autoinhibition der NA-Zellen hemmt. (. Abb. 25.13). Dopamin verbindet, »verklebt« den Beloh-
nungswert des Reizes mit dem operanten Verhalten oder
G Gedächtnisvorgänge sind auf das Zusammenspiel
dem dargebotenen Objekt (Box 26.5). Das Dopaminsignal
mehrerer Transmitter neben Glutamat vor allem
25 Azetylcholin und Noradrenalin in spezifischen Hirn-
teilt dem Präfrontalkortex (PFC) mit, dass er seine Ziel-
hierarchie ändern muss und nur dann bearbeitet der PFC
regionen, primär im Kortex und Hippokampus und
die ankommende Information. Diesen Effekt des Dopamins
limbischen Regionen angewiesen.
nennt man den Selektions(»gating«)-Effekt. Bei der Schi-
zophrenie ist dieser Effekt durch Überaktivität des Dopa-
Dopamin minsystems gestört, jeder Reiz wird wichtig und ändert die
Dopaminneurone sind für instrumentelles Lernen und Zielhierarchie.
die Modifikation von Zielhierarchien im Präfrontalkortex
(Kap. 21) essenziell. In Kap. 5 haben wir die Anatomie G Das Dopaminsystem teilt anderen Hirnsystemen, vor
des ventraltegmentalen, mesolimbischen und anterioren allem dem Präfrontalkortex und den Basalganglien
(Basalganglien und Präfrontalkortex) Dopaminsystems Abweichungen vom erwarteten Belohnungswert mit.
dargestellt. Dopaminneurone ändern ihre Feuerrate in Ab- Der Präfrontalkortex modifiziert dadurch seine Ziel-
hängigkeit vom Belohnungs-Vorhersagewert (»reward- erwartungen und steuert mit den Basalganglien Ein-
prediction error«): Ist die Belohnung größer als erwartet, prägung und Auswahl der belohnten Handlungen.

Extrazelluläre Dopamin-
konzentration ist proportional
dem Belohnungsvorhersage-
Fehler (ϕ)

Nach OeLoy (2004). Reprinted by permission from Macmillan Publishers Ltd: Nature.

Dopamin-
Dopamin-Synapse
neuron im
Mittelhirn
Dendrit

. Abb. 25.12. Informationsfluss des dopaminergen Bewertungs- kontrolliert Dopamin die Selektion und Bearbeitung relevanter Signale
systems. 1 Dopaminneurone signalisieren Belohnungsvorhersage- im Arbeitsgedächtnis. 5 Die Vorhersagen über zukünftige Verstärker
Fehler (ø); 2 übersetzen diesen in Transmitterausschüttung. 3 Dopamin werden korrigiert und gespeichert. 6 Die veränderte und gespeicherte
breitet sich von der Synapse weg aus und teilt den Belohnungsvorher- Belohnungsvorhersage wird über weitreichende Verbindungen zurück
sage-Fehler anderen neuronalen Strukturen mit. 4 Im Präfrontalkortex zu den subkortikalen Dopaminneuronen gemeldet
Reprinted by permission
25.3 · Assoziative neuronale Plastizität
639 25

schwer an den Kontext der Ereignisse erinnern, weil ihr


Publishers Ltd: Nature.
Nach OeLoy (2004).

Hippokampus durch die Stresshormone geschädigt ist. An


from Macmillan

dieser Verbesserung des impliziten LZG hat das β-adrenerge


System wesentlichen Anteil: Personen, die einen β-Blocker
(Propranolol) vor Darbietung emotionaler oder neutraler
. Abb. 25.13. Strukturen für Belohnungsvorhersage. Belohnungs- Erzählungen erhielten, zeigten bei den emotionalen Er-
vorhersage-Fehler im anterioren Striatum. Im funktionellen Magnet- zählungen deutliche Einbrüche eine Woche danach in
resonanztomogramm (fMRT) erhöht sich die Aktivierung (gelb), wenn verschiedenen Wiedergabetests, nicht bei den neutralen
die Versuchsperson mehr Belohnung (Geld oder Nahrung) als bisher
Erzählungen (Kap. 8).
erhält
G Noradrenalinabhängige Stimulation β-adrenerger
Noradrenalin Rezeptoren verbessert die Konsolidierung und Ein-
prägung emotionaler Gedächtnisinhalte und führt
Angesichts der Bedeutung von peripheren Katecholaminen
bei der posttraumatischen Belastungsstörung zu
für Motivation, Emotion und Aktivierung (Kap. 25 und 26),
extrem dauerhaften impliziten Erinnerungen.
lag es nahe, zentralem NA und Dopamin auch eine ent-
scheidende Rolle bei der Stabilisierung von Information
zuzuschreiben. Obwohl die Tatsache unbestritten bleibt, Glutamat
dass die Stimulierung der peripheren NA-Synthese und Die hohe Konzentration von Glutamat im Hippokampus
-verbreitung bis zu einem optimalen »mittleren« Niveau und Neokortex sprechen für eine bedeutsame Rolle dieser
Lernen und Behalten fördert, wird die Rolle des zentralen Aminosäure im Konsolidierungsprozess. Unklar bleibt die
Noradrenalins für Lernen und Gedächtnis als ver- Frage, ob die Vermehrung von Glutamatrezeptoren und das
nachlässigbar angesehen. Nur bei der Speicherung emo- damit korrelierte Wachsen von dendritischen Fortsätzen
tionaler Inhalte spielt die zentrale NA-Verfügbarkeit eine nach Langzeitpotenzierung des Hippokampus (Abschn.
Rolle. 25.4.2) eine kausale und spezifische Rolle spielt (Abschn.
Entfernung der Medulla der Nebenniere mit Reduktion 25.3.2).
des peripheren NA führt zu schweren Amnesien. Dies be- Wenn die in Abschn. 4.2.2 beschriebenen Mechanis-
deutet, dass die peripheren, autonomen Effekte von NA men der Langzeitpotenzierung und -depression für Kon-
den Konsolidierungsprozess modulieren können, da zen- solidierung und LZG beim Menschen wirklich essenziell
trales NA keinen Einfluss auf Behalten hat. Ein starkes für Einprägung sein sollten, dann ist das Vorhandensein
Argument gegen die kausale Bedeutung von zentralner- und die Produktion schwacher bis mittlerer Mengen von
vösem NA bei Lernprozessen kommt aus Locus-coeruleus- Glutamat am NMDA-Rezeptor für Lernen und Gedächtnis
Läsionen: auch nach 80%-Reduktion des kortikalen NA notwendig. Glutamat wirkt in höheren Dosen toxisch auf
gibt es kaum Einflüsse auf Aneignung, Konsolidierung und die synaptische Übertragung und die intrazellulären Kas-
Wiedergabe, unabhängig davon, wann im Lern-Experi- kaden, sodass eine Anregung von Lernen durch Glutamat-
ment die Läsion folgt. Agonisten für die verschiedenen exzitatorischen Aminso-
säurerezeptoren (N-methyl-D-Aspartat [NMDA], α-Ami-
G Zentrales Noradrenalin alleine spielt im Gegensatz
no-3-hydroxy-5-methyl-4-Isoxazolpropionsäure [AMPA],
zum peripheren NA keine große Rolle beim Lernen.
Kainat) bisher keine konsistenten Erfolge erbrachte. Da
die Alzheimer-Erkrankung zwar mit deutlicher Reduktion
Katecholamine und Verhaltensstörungen (60%) von ZNS-Glutamat einhergeht, aber in den Früh-
Das zentrale Katecholaminniveau wird in der Regel z. B. stadien von einer toxischen Hyperaktivität des Glutamat-
bei der Parkinson-Erkrankung durch orale L-Dopa-(L-De- systems verursacht sein könnte, sind Therapieversuche, die
hydroxyphenylamin-) und durch MAOI(Monoaminoxida- den Glutamatstoffwechsel beeinflussen, bisher wenig kon-
seinhibitor)-Gabe erhöht. Sowohl beim Tier als auch beim sistent.
Menschen wird außer Aktivierungsanstieg und einer all-
gemeinen Leistungsverbesserung kein Effekt auf das Ge- G Ohne Glutamat und seine Rezeptoren (NMDA,
dächtnis sichtbar. AMPA, Kainat) ist Lernen nicht möglich. Auch schon
Die Aktivierung von β-adrenergen Rezeptoren (Kap. 6) kleine Abweichungen der Glutamataktivität von
zentral oder peripher durch emotionale Reize hat einen einem optimalen, mittleren Niveau führen zu
fördernden Einfluss auf die Wiedergabe aus dem LZG. schweren Beeinträchtigungen kognitiver Funkti-
Untersuchungen an Patienten mit posttraumatischen onen und des Lernens.
Stressstörungen (PTSD) zeigen, dass auch extrem emotio-
nal negative Reize (Folterungen etc.) bei diesen Personen
schwer löschbar im impliziten LZG »eingegraben« sind
(Box 8.1). Explizit können sich Patienten mit PTSD nur
640 Kapitel 25 · Plastizität, Lernen und Gedächtnis

25

Nach Merzenich MZ, Jenkins WM (1993). Mit freundlicher Genehmigung von Elsevier.

. Abb. 25.14a–e. Kortikale Reorganisation. Plastische Verschie- gefunden: die rezeptiven Felder sprachen nun auf die Fingerrücken
bung rezeptiver Felder im somatosensorischen Kortex des erwach- von D1, D2 und D3 an (c). Bei d wurde der Mittelfinger amputiert,
senen Affen. Das Kartieren rezeptiver Felder erfolgt durch multiple nach wenigen Stunden waren die Nachbarfinger in die nun »leere«
Einzellzellableitungen bei taktiler Reizung der fünf Finger (D1–D5). Repräsentation von D3 eingedrungen. In e musste das Tier eine ro-
In a und b sind die rezeptiven Felder der gesunden Hand geordnet tierende Scheibe entweder mit D2 oder D3 berühren, um Futter zu
sichtbar; nach Durchtrennung der Fasern von Daumen (D1) und Zeige- erhalten. Nach einigen Trainingswochen hatten sich die Repräsenta-
finger (D2) antworten deren rezeptiven Felder vorerst nicht mehr, tionen von D2 und D3 erheblich vergrößert
aber nach 5 Monaten hat eine Neukartierung (»remapping«) statt-
25.3 · Assoziative neuronale Plastizität
641 25
25.3.4 Neuronale Karten und Diese topographischen Karten sind von Individuum
Reorganisation zu Individuum verschieden, je nach der bevorzugten Akti-
vität des Sinnessystems oder des jeweiligen motorischen
Modifikation kortikaler Karten Outputs. Die erworbene Individualität eines Organismus
Auf anatomischer Ebene zeigen sich aktivitätsabhängige Än- (in Abgrenzung von der genetischen) könnte somit in
derungen z. B. an den Modifikationen somatotopischer Kar- unterschiedlichen topographischen (ortssensitiven) und
ten (Kap. 16) im Gehirn. Wenn z. B. ein Tier eine bestimmte zeitsensitiven Hirnkarten repräsentiert sein.
Bewegung über einen längeren Zeitraum übt, so lässt sich
G Die Ausbreitung oder Reduktion kortikaler soma-
eine Ausbreitung des »geübten« somatotopischen Areals
totopischer Repräsentationen und Karten ist ein
auf benachbarte Areale nachweisen (. Abb. 25.13). Es lassen
Korrelat von neuronaler Plastizität.
sich dann Zellantworten, z. B. von der postzentralen Hand-
region, über früher nicht aktiven Hirnarealen ableiten.
. Abb. 25.14 zeigt einige typische Beispiele der Verschiebung Pathologische Veränderungen kortikaler Karten:
somatotopischer Repräsentationen nach Nervenverletzung, Phantomschmerz, Tinnitus und Dystonie
Amputation und Diskriminationstraining beim Affen. Am . Abb. 16.16 und 16.17 zeigen ein Beispiel der Verschiebung
Menschen konnten dieselben Veränderungen nachgewiesen somatotopischer Repräsentation am postzentralen Kortex
werden (Abschn. 16.4). des erwachsenen Menschen. Nach Amputation eines

Box 25.3. Dystonie der Finger bei Musikern

Robert Schumann (1810–1856) war ein weltberühmter Die Abbildungen zeigen eine Fingerdystonie. a Typi-
Pianist, der viele Stunden des Tages am Klavier zubrachte. sche Verkrampfung der Hand, hervorgerufen durch ex-
Nach langem Üben konnte er eines Tages den mittleren trem häufiges gleichzeitiges Aktivieren der Repräsenta-
und Ringfinger der rechten Hand nicht mehr getrennt tion benachbarter Finger (Hebb-Regel!). b Metallschiene,
anschlagen. Wollte er einen der beiden Finger benutzen, die einen Finger fixiert und die der dystonische Pianist
bewegte sich der andere mit. Nachdem die Dystonie nicht beim Üben für einige Wochen tragen muss. Damit wird
verschwand, fixierte er einen der beiden Finger mit einem der dystone Finger gezwungen, getrennt vom benach-
Band an der Zimmerdecke. Das verbesserte die Dystonie, barten Finger zu funktionieren. Dadurch trennen sich im
verletzte aber den Finger so stark, dass er seine Karriere somatomotorischen Kortex (c) wieder die Repräsentatio-
als Pianist aufgeben musste. Wir haben also der Schu- nen der benachbarten Finger. Die roten Punkte zeigen die
mannschen Dystonie viele wunderbare Kompositionen Repräsentation von kleinem Finger (D5) und Daumen
zu verdanken, da er sich nun voll der Komposition zu- (D1) vor, die grünen Quadrate nach der Behandlung durch
wandte. Fixation, gemessen mit Magnetoenzephalographie.
642 Kapitel 25 · Plastizität, Lernen und Gedächtnis

Glieds, Armes oder der Brust (bei Frauen) und auch bei Prozesse bei Aplysia erläutert werden. Für deren Aufklä-
Querschnittslähmungen kommt es häufig zu Phantomem- rung erhielt Eric Kandel 2000 den Nobelpreis.
pfindungen und -schmerzen (Kap. 16). Der Patient spürt . Abb. 25.15 (1) zeigt die Versuchsanordnung: Wenn
dabei deutlich und oft quälend das nicht mehr vorhandene das Saugrohr (Siphon) oder das Mantelgerüst (»mantle
Glied oder Teile desselben. shelf«) oder der Schwanz gereizt werden, kontrahieren sich
In . Abb. 16.16 sind die magnetisch evozierten Felder Siphon und Kieme (»gill«) (Abwehr). Dieser vorerst un-
auf taktile Reize ipsi- und kontralateral der amputierten konditionierte Reflex habituiert, sensibilisiert und lässt sich
Hand am Gyrus postcentralis zu sehen. Dabei ist auffällig, klassisch über eine schwache taktile Reizung des Schwanzes,
dass nach Reizung von Stumpf oder Lippe der amputierten Mantelgerüsts oder Siphons als CS konditionieren.
Seite ein starkes magnetisches Feld über dem Fingerareal auf-
G Bei Aplysia lässt sich eine Kontraktion von Kiemen
tritt. Je größer die Verschiebung der Repräsentation von
und Saugrohr an einen taktilen CS konditionieren.
Lippe oder Gesicht, umso größer der Phantomschmerz.
25 Bei der Modifikation solcher topographischen (orts-
sensitiven) oder zeitsensitiven Hirnkarten zeigt sich wieder, Habituation und Sensibilisierung
dass die Hebb-Regel Gültigkeit hat: Die Ausweitung einer Wiederholte Reizung des Siphons führt zu Habituation,
topographischen Repräsentation durch Lernen wird durch d. h. bei wiederholter Reizung des Siphons wird die Dauer
gleichzeitige Aktivierung einzelner Zellen von 2 benach- der Kontraktion des Siphons und der Kiemen zunehmend
barten Fasern aus benachbarten Haut- oder Handregionen, kürzer. Nach zehn Reizungen mit je 30 s Abstand tritt der
z. B. bei sensomotorischen Aufgaben bewirkt (Box 16.6). Es Reflex nicht mehr auf. Die Abnahme der Reaktion ist auf
ist also nicht nur der rein quantitative Anstieg der Aktivität, die abnehmende Ausschüttung von Transmittern durch das
der für die anatomischen Veränderungen verantwortlich sensorische Neuron (. Abb. 25.15 [2]) an den Synapsen des
ist, sondern die durch synchrone Aktivität ausgelösten Ver- Motoneurons zurückzuführen. Die Reduktion der Aus-
änderungen (Box 25.3). schüttung wird durch Abnahme des Ca++-Einstroms in die
Ein Beispiel für ein Phantom im auditorischen System ist sensorische Synapse mit jedem neuen Aktionspotenzial
der chronische Tinnitus, den wir in Kap. 18 beschrieben ha- verursacht. Wie wir in Kap. 4 gesehen haben, bestimmt der
ben: Die tonotope Karte (tiefe Töne auf der Heschl-Quer- Ca++-Einstrom die Menge des ausgeschütteten Transmit-
windung mehr lateral) ist verändert: der tonotope Ort der ters. Langzeithabituation (über Wochen und Monate) wird
Tonfrequenz vergrößert sich mit dem Ausmaß der subjektiven dagegen durch Abnahme der Zahl aktiver Zonen der Trans-
Beeinträchtigung und die Tonrepräsentation verschiebt sich mitterfreisetzung in der Synapse, d. h. weniger Vesikel, be-
aus der üblichen linearen Anordnung heraus (Box 18.4). wirkt.
Bei der Sensibilisierung ist dieser Mechanismus um-
G Bei verschiedenen sensorischen und motorischen gekehrt: Wenn ein »aversiver« noxischer Reiz (Wasser-
Störungen wie Phantomschmerz, Tinnitus und Dys- strahl oder Schock) auf den Schwanz auftrifft, führen
tonien ist die Modifikation der kortikalen Karte die darauffolgende, ursprünglich unwirksame Reize, wie z. B.
Ursache. leichte Berührung am Mantelgerüst, zu der Defensivreak-
tion. Diese Sensibilisierung kann Minuten bis Wochen,
je nach Stärke des noxischen Reizes, andauern. Dishabi-
25.4 Zelluläre Korrelate von Lernen tuation beruht auf demselben Mechanismus (Kap. 21).
Neurophysiologisch ist Sensibilisierung auf Erhöhung
25.4.1 Lernen bei der Meerschnecke der ausgeschütteten Transmittermenge durch die Synapsen
(Aplysia) der sensorischen Interneurone am Motoneuron zurück-
führbar.
Der konditionierte Abwehrreflex
G Habituation besteht aus Abnahme des Ca++-Ein-
Untersuchungen von Lernvorgängen an einzelnen Zellen
stroms in der präsynaptischen Region einer Hebb-
und/oder extrem einfachen Nervensystemen von Inverte-
Synapse, Sensibilisierung in einem Anstieg.
braten liegt die Annahme zugrunde, dass die komplexen
Vorgänge assoziativen Lernens in höheren Organismen als
Variationen eines oder weniger fundamentaler neurophy- Adenylatzyklase als Koinzidenzdetekor
siologischer Vorgänge anzusehen sind. In den letzten Jahr- Bei der klassischen Konditionierung des Abwehrreflexes
zehnten konnte tatsächlich nachgewiesen werden, dass des Siphons bei Aplysia folgt der US (z. B. Schock auf den
Habituation, Sensibilisierung und einfache Formen klas- Schwanz) 0,5 s auf den CS (z. B. schwacher taktiler Reiz auf
sischen Konditionierens auf spezifische präsynaptische Siphon und Mantelgerüst). Wie beim Menschen und ande-
Modifikationen in Neuronensystemen mit einigen wenigen ren Säugern scheint dieser von Pawlow gefundene Zeitab-
Zellverbindungen rückführbar sind, wie dies D.O. Hebb stand auch bei Invertebraten optimal für die molekular
angenommen hatte. Beispielhaft sollen hier die zellulären vermittelte assoziative Bindung zu sein. Der CS vom senso-
25.4 · Zelluläre Korrelate von Lernen
643 25

. Abb. 25.15a, b. Klassische Konditionierung von Aplysia. a Ver- konditionierten Reaktion (blau), der Sensibilisierung (rot) und unge-
suchsanordnung. (1) Ein taktiler Reiz fungiert als konditionierter Reiz paarten Kontrolle (schwarz). b Molekulare Mechanismen. Die Aus-
(CS), ein elektrischer Schlag als unkonditionierter Reiz (US). Die Kon- schüttung von 5-HT durch ein Interneuron verursacht die Schließung
traktion von Fühler und Saugrohr ist die Reaktion. (2) Neuronale Ver- von Kaliumkanälen in den Synapsen des sensorischen Neurons und
schaltung von CS-Neuron und US-Neuron. Beide konvergieren prä- bewirkt damit eine Verlängerung des Aktionspotenzials, verstärkten
ynaptisch am motorischen Neuron. (3) Konditionierung, Sensibilisie- Ca2+-Einstrom und verstärkte Ausschüttung des Neurotransmitters
rung und ungepaarte Kontrollbedingung. (4) Verlauf der Stärke der
644 Kapitel 25 · Plastizität, Lernen und Gedächtnis

rischen Neuron des Mantelgerüsts z. B. löst am sensori-


schen Neuron Einstrom von Ca2+ aus (. Abb. 25.15b). Die
wenig später eintreffenden Aktionspotenziale aus dem
US-Neuron (. Abb. 25.15b) führen zu Serotoninausschüt-
tung. Der Serotoninrezeptor ist an ein G-Protein gekoppelt,
das das Enzym Adenylatzyklase aktiviert (Kap. 4). Adenyl-
atzyklase synthetisiert cAMP. cAMP aktiviert danach
cAMP-abhängige Proteinkinasen (Proteinkinase A). Das
Enzym Proteinkinase phosphoryliert verschiedene Proteine,
d. h. es bindet eine Phosphatgruppe an den K+-Kanal des
postsynaptischen Neurons, wodurch dieser geschlossen
wird.
25 Die Reduktion der Durchlässigkeit der K+-Kanäle führt
zu einer Verlängerung des präsynaptischen Aktionspoten-
zials und dies wiederum bewirkt mehr Ca+-Einstrom und
damit verstärkte Transmitterausschüttung.

G Adenylatzyklase wird von einem G-Protein-Rezeptor


aktiviert, wenn die Aktionspotenzialsequenz des CS
von der Aktionspotenzialsequenz des US gefolgt
wird (Hebb-Regel). Verstärkter Ca++-Einstrom an der
präsynaptischen Endigung und vermehrte Transmit-
terausschüttung mit gleichzeitiger Erregung der prä-
und postsynaptischen Zellen sind die Folge.
. Abb. 25.16a, b. Langzeitpotenzierung (LTP) im Hippokampus.
a Versuchsanordnung mit Registrierung in CA1-Zelle nach Reizung der
25.4.2 Langzeitpotenzierung Schaffer-Kollateralen. b Verlauf der EPSP bei einmaliger früher Reizung
und -depression (1 s, 100 Hz) und späte LTP (4 Reizserien alle 10 min). Frühe LTP dauert
2–3 h, späte 24 h und mehr

Langzeitpotenzierung im Hippokampus
1973 entdeckten Timothy Bliss und Terje Lomo das Phäno- der CA1-Schicht reduziert, die synaptische Verbindung
men der Langzeitpotenzierung (LTP) und Langzeitdepres- geschwächt. Dies wird mit Vergessen und Extinktion in
sion (LTD) im Hippokampus der Ratte. . Abb. 25.16 zeigt Zusammenhang gebracht. Die frühe LTP benötigt keine
die Versuchsanordnung und die anatomischen Verbin- neue Proteinsynthese (7 unten), um aufrecht zu bleiben,
dungen im Hippokampus der Ratte. Für die Übertragung während die späte mit verstärkter Proteinsynthese ein-
auf den Menschen ist wichtig, dass die LTP oder LTD hergeht.
von den Zellen in der CA1-Schicht über die reziproken Ver-
G LTP kann Tage dauern und wird u. a. durch hoch-
bindungen zum Kortex weitergegeben werden können
frequente Reizung in der CA3-Schicht des Hippo-
(Abschn. 5.2.3). . Abb. 25.16 zeigt auch, dass es 2 Arten
kampus ausgelöst. LTD führt nach niederfrequenter
von LTP gibt, frühe und späte, die man häufig mit der
Reizung zu anhaltender Hyperpolarisation.
Trennung von Kurz- und Langzeitgedächtnis in Verbin-
dung bringt. Reizt man z. B. die Schaffer-Kollateralen,
die die CA3-Schicht mit der CA1-Schicht verbinden, über Molekulare Mechanismen von LTP
1s mit einer 100 Hz elektrischen Pulsfrequenz (Tetanus), LTP im Hippokampus und Kortex folgt der assoziativen
so sind die EPSP der CA1-Zellen (unten) über Minuten Hebb-Regel: Sie benötigt simultane kooperative Aktivie-
bis Stunden erhöht. Reizt man mit derselben Pulsfrequenz rung mehrerer Axone, die an der postsynaptischen Zelle
alle 10 min, z. B. 4-mal (. Abb. 25.16), dann sind die konvergieren (. Abb. 25.17). Eine einzelne Sequenz von Ak-
EPSP über Stunden bis Wochen erhöht (»Langzeitge- tionspotenzialen über ein Axon kann an plastischen Synap-
dächtnis«). sen keine Erregungsübertragung auslösen (. Abb. 25.17a),
Wie am Kortex wird die Erregung im Hippokampus weil die NMDA-Rezeptoren durch ein Magnesiummolekül
über Glutamat und NMDA(N-methyl-D-Aspartat)-Rezep- (Mg2+) versperrt sind. Glutamat bindet erst an den post-
toren übertragen. LTD entsteht dagegen, wenn die Puls- synaptischen Rezeptor, wenn gleichzeitig Glutamat von
frequenz des Reizes ca. 1 Hz, also langsamer, und/oder der präsynaptischen Zelle ausgeschüttet wird und die post-
die postsynaptische Membran hyperpolarisiert (gehemmt) synaptische Membran ausreichend z. B. durch ein kurz da-
ist. Danach ist das EPSP an der postsynaptischen Zelle vor eingelaufenes konditioniertes Signal depolarisiert ist.
25.4 · Zelluläre Korrelate von Lernen
645 25

Nach Kandel ER, Schwartz JH, Jessell TM (2000). Mit freundlicher Genehmigung von Elsevier.

. Abb. 25.17a, b. Mechanismen der Induktion von LTP. a Normale nal gelöst. Dies löst Kalzium-abhängige Kinase-Aktivität (Ca2+/
synaptische Transmission nach Reizung mit langsamer Frequenz: Calmodulin-Kinase und Proteinkinase C, PKC) und Tyrosin-Kinase(Fyn)-
Glutamat (Glu) wird aus der präsynaptischen Endigung ausgeschüttet Aktivität aus. Die Kalzium-Calmodulin-Kinase phosphoryliert Non-
und bindet an NMDA und Nicht(Non)-NMDA-Rezeptoren. Die Non- NMDA-Kanäle (AMPA) und erhöht deren Sensibilität auf Glutamat
NMDA-Rezeptoren sind oft AMPA-Rezeptoren. Na+ und K+ kann durch Aktivierung »stiller« Rezeptorkanäle. Dadurch wird
nur durch die Non-NMDA-Kanäle fließen, da der NMDA-Kanal durch postsynaptisch die LTP aufrechterhalten. Die LTP selbst löst die
MG2+ verschlossen ist. b Wenn die postsynaptische Membran durch Ausschüttung retrograder Botenstoffe (»messenger«) aus (z. B. NO),
die Non-NMDA-Rezeptoren und durch den Hochfrequenzimpuls, der die die Proteinkinase in der präsynaptischen Endigung aktiviert,
LTP auslöst, depolarisiert ist, wird die Mg2+-Blockade vom NMDA-Ka- wodurch vermehrt Transmitter ausgeschüttet werden
646 Kapitel 25 · Plastizität, Lernen und Gedächtnis

Diese Depolarisation führt zur Entfernung der Mg2+-Sper- Damit die erhöhte Erregbarkeit erhalten bleibt, produ-
re und Bindung an den NMDA-Rezeptor (. Abb. 25.17b). ziert die postsynaptische Zelle sog. retrograde Messenger,
Danach strömt Ca2+ durch die postsynaptische Membran Botenstoffe, die aus der Membran diffundieren und retro-
und stößt die intrazelluläre Kaskade (»Second–messen- grad in die präsynaptische Zelle eindringen und dort die
ger«-Kaskade) an, die mit der beim klassischen Konditio- Erhöhung der Transmitterausschüttung in Gang halten.
nieren schon besprochenen vergleichbar ist: Kalzium-ab- Einer dieser retrograden Messenger ist das Gas Stickoxid
hängige Kinasen (z. B. Calmodulin und Proteinkinase C, NO, das leicht durch die post- und präsynaptische Membran
PKC) phosphorylieren non-NMDA-Rezeptoren-Kanäle diffundieren kann. Im Laufe der Langzeit-LTP wachsen
und erhöhen deren Empfindlichkeit für Glutamatbindung, neue präsynaptische Regionen und prä- und postsynapti-
oder »wecken« vorher stille Rezeptoren. Auf . Abb. 25.17b sche Rezeptoren aus und es kommt zu Aktivierung des gene-
sind das besonders AMPA-Rezeptoren (α-Amino-3-hydro- tischen Apparates der Zelle. Damit kann die Änderung der
xy-5-methyl-4-Isoxazolpropionsäure), die den Einstrom Erregbarkeit der Zelle für eine spezifische Kombination von
25 von Na+ und Ausstrom von K+ erhöhen. ankommender Erregung dauerhaft stabilisiert werden.

a b

. Abb. 25.18a–d. Strukturänderungen von Synapsen und


»spines« nach LTP. a Neubildung von AMPA an den »spines«. b Ver-
dichtungen an der postsynaptischen Membran. c Neue aktive Zonen
d am »spine«. d Neue Synapsen
25.4 · Zelluläre Korrelate von Lernen
647 25

G Langzeitpotenzierung (LTP) im Kortex und Hippo- wenige Minuten nach dem Training, je nach Dauer des
kampus von Säugern stellt ein Modell der Gedächt- Trainings. Die erhöhte Proteinbiosynthese nach Lerndurch-
niskonsolidierung, Langzeitdepression ein Modell gängen kann Stunden andauern.
der Extinktion dar: Die molekularen Mechanismen Die Ergebnisse sind trotz einiger methodischer Pro-
der LTP benützen ähnliche intra- und extrazelluläre bleme einheitlich: 80–90% der zerebralen Proteinsynthese
Signalkaskaden wie klassische Konditionierung, kann vorübergehend blockiert werden, ohne dass es zu
Habituation und Sensibilisierung im einfachen groben Verhaltensausfällen in anderen Bereichen als dem
Lebewesen. Dabei fungiert der NMDA-Rezeptor als Gedächtnis kommt. Enkodierung und Aufnahme der In-
Koinzidenzdetektor zwischen CS und US. formation wird nicht gestört, sofern sich die Trainingszeiten
nicht zu lange mit den Wirkungszeiten des Antibiotikums
Strukturelle Konsequenzen von LTP überschneiden. Auch Wochen nach Abschluss des Trainings
Neben der auf . Abb. 25.17 symbolisierten Einfügung von bleibt die Wiedergabe beeinträchtigt. Die stärkste Amnesie
AMPA-Rezeptoren in die dendritischen »spines« (Fortsät- wird erzielt, wenn die Proteinsynthese kurz vor Trainings-
ze) der postsynaptischen Membran (. Abb. 25.18a) kommt beginn gehemmt wird, die Proteinsynthese also während
es zu postsynaptischen Verdichtungen (. Abb. 25.18b) des Trainings ausfällt. Wiedergabe wird durch Hemmung
dendritischer »spines«, bei der sich Rezeptoren, Enzyme, der Proteinsynthese nicht beeinflusst, da Antibiotika-Injek-
Transmitter und Strukturproteine zur Fixierung der Mole- tionen zum Zeitpunkt der Wiedergabe keinen Effekt auf
küle an den aktivierten »Spine«-Stellen am Ort der post- gespeichertes Material aufweisen.
synaptischen Aktivierung konzentrieren. Schließlich ver- Dies bedeutet, dass die Proteinbiosynthese nur für eine
größert sich der Spine und bildet neue aktive Zonen aus kritische Konsolidierungsphase während und nach dem
(. Abb. 25.18c) und neue Synapsen (. Abb. 25.18d). Training notwendig ist.
G Hemmung der Proteinbiosynthese in der Konsolidie-
G LTP führt zu vielfältigen Strukturänderungen an
rungsphase verhindert die dauerhafte Einprägung
den dendritischen »spines« der postsynaptischen
und Wiedergabe von Information.
Membran, welche die Effizienz der Verbindungen,
wie von Hebb vorhergesagt, dauerhaft erhöhen.
Modifikation der Genexpression
. Abb. 25.19 gibt eine Grobübersicht der einzelnen neuro-
25.4.3 Proteinbiosynthese chemischen Schritte, die durch Induktion lang anhaltender
und Langzeitgedächtnis LTP (oder einer anderen durch simultane Reizung zweier
Synapsen verursachte Erregungswelle) ausgelöst werden.
Konsolidierung und Proteinbiosynthese . Abb. 25.19 verdeutlicht in Nahsicht auf Zellmembran und
LTP ist an der Konsolidierung von Information, also der Zellkern die intrazellulären Kaskaden, Genexpression und
Überführung der flüchtigeren KZG-Spur (Engramm) in Übertragung ins Langzeitgedächtnis. Die intrazellulären
die dauerhafte LZG-Spur beteiligt. Die oben beschriebenen Botenstoffe (»second messengers«), die durch die anhal-
morphologischen Strukturänderungen nach LTP benö- tende Erregung oder Hemmung der postsynaptischen Zelle
tigen aber veränderte Proteinsynthesen, um die Membran synthetisiert werden, regen über die RNA-Synthese die Ex-
stabil zu verändern. Stört man die Proteinbiosynthese der pression von Proteinen an. Langzeit-LTP ist ein Mechanismus,
Nervenzellen kurz nach Darbietung der zu lernenden In- der zu diesen dauerhaften intrazellulären Veränderungen
formation und prüft die Wiedergabe sofort, so treten keine führt. Der Aufbau neuer Proteine benötigt mindestens 30–
Störungen des KZG auf, aber langfristiges Behalten wird 60 min, während die oben besprochenen Prozesse der Phos-
unmöglich. Dies ist ein wichtiges Argument für die Unter- phorylierung und Ionenflüsse extrem rasch (von ms bis min)
scheidung von KZG und LZG (. Abb. 25.5). ablaufen. Genetische »Schalter« (7 CREB links unten) können
die Struktur und Antworteigenschaften eines Neurons per-
Hemmung der Proteinbiosynthese manent ändern. Die Menge synthetisierter Proteine hängt
Verschiedene Antibiotika hemmen die zerebrale Protein- von der Transkriptionsrate von der DNA auf die RNA ab.
biosynthese bei der Übersetzung (Translation) von tRNS in
die entsprechende Aminosäure am Ribosom (Kap. 23). Phosphorylierung von Transkriptionsfaktoren
Verwendet wurden vor allem Puromycin (PURO), Cyclo- Die Proteinsynthese beginnt mit der Bindung von Trans-
hexamid (CYC) und das mit den geringsten Nebeneffekten kriptionsfaktoren (am DNA-Molekül eines bestimmten
behaftete Anisomycin (ANI). In einem typischen Experi- Chromosoms). Meist binden sie am Beginn einer bestimm-
ment wird ein Tier kurz nach Injektion des Pharmakons ten Gensequenz am DNA-Molekül. Als Folge dieser Bin-
trainiert und die Wiedergabe zu unterschiedlichen Zeit- dung kann das Enzym RNA-Polymerase an die Promotor-
punkten geprüft. Die Zunahme der Proteinbiosynthese Region der DNA »andocken« und die Transkription be-
erfolgt im Normalfall bei der Maus während und meist ginnen (. Abb. 25.19 und Kap. 23).
648 Kapitel 25 · Plastizität, Lernen und Gedächtnis

25

Nach Purves D, Williams S (2001). Mit freundlicher Genehmigung von Sinauer.


. Abb. 25.19. Transkription durch CREB. Die verschiedenen intra- Die Phosphorylierung erlaubt die Bindung verschiedener Koenzyme,
zellulären Kaskaden, z. B. von Langzeitpotenzierung (LTP) ausgelöst, die die RNA-Polymerase stimulieren und damit die RNA-Synthese
konvergieren an Proteinkinasen, die CREB phosphorylieren. Die einleiten. Die RNA wird dann ins Zytoplasma transportiert, wo sie als
häufigsten Proteinkinasen in Nervenzellen sind Ca2+/Kalmodulin- mRNS die Translation in ein Protein bewirkt (weitere Erläuterungen
Kinase, MAPK (Mitogen-aktivierte Protein-Kinase) und Proteinkinase A. 7 Text)

Die in den vorausgegangenen Abschnitten beschriebe- der Katecholamine, Neuropeptide und Neurotrophine
nen intrazellulären Signalkaskaden regulieren die Genex- (BDNF, »brain derived neurotrophic factor; NGF, »nerve
pression, indem sie die Transkriptionsfaktoren aus einem growth factor«; Substanz P, SP; Kap. 16). Damit kann so-
inaktiven Zustand in einen aktiven überführen, so dass sie wohl die Menge und Wirkung von Neurotransmittern wie
an die DNA binden können. Dieser entscheidende Akti- auch die Struktur der Zellmembranmoleküle spezifisch
vierungsschritt benützt das cAMP-Reaktions-Element- verändert und die »Kartographie« des Gehirns (z. B. neuro-
Bindungs-Protein (CREB) als universell verfügbaren An- nale Karten wie in . Abb. 5.17 in Abschn. 5.3.1 und . Abb.
reger der Transkription. 25.14 beschrieben) neu geformt werden.
CREB ist normalerweise in Zellen, die nicht länger er-
regt werden, inaktiv am Beginn einer Gensequenz an der G Bei LTP oder anders ausgelöstem verstärktem
DNA lokalisiert. Im inaktiven Zustand nennt man es daher Ca2+-Einstrom werden entweder direkt von Ca2+
nur cAMP-Reaktions-Element (CRE), wie in . Abb. 25.19 oder durch Adenylatzyklasen und Proteinkinasen
dargestellt. Nur die länger anhaltende Phosphorylierung CREB an der DNA phosphoryliert. Dies löst Trans-
von CRE aktiviert es. kription im Zellkern und Translation am endo-
Einige Möglichkeiten dafür sind auf der . Abb. 25.19 plasmatischen Retikulum aus, wodurch Enzyme zu
sichtbar. Besonders intrazelluläres Kalzium (Ca2+) bewirkt Synthese und Abbau von Neurotransmittern, Struk-
die Phosphorylierung von CRE, das für diesen Fall CaRE turproteine und Rezeptormoleküle an der post-
(Kalzium-Reaktions-Element) genannt wird. Viele Gene synaptischen Membran entstehen.
können durch CREB reguliert werden, z. B. die Vorläufer
25.4 · Zelluläre Korrelate von Lernen
649 25

Nach Kandel ER, Schwartz JH, Jessell TM (2000). Mit freundlicher Genehmigung von Elsevier.
. Abb. 25.20a, b. Genetische Mechanismen von angeborenen und rylierung (P) von CREB bewirkt die Aktivierung des CREB-Bindungs-
erworbenen Verhaltensstörungen. Während vererbte Störungen proteins (CBP), das die Transkription einleitet. a Beispiel der schizo-
durch Genexpression veränderter (z. B. durch Mutation) Gene entste- phrenen Erkrankung, bei der das Risiko angeboren ist. 1. Bedingung
hen, bewirken Lernprozesse die Transkription inaktiver oder die Hem- eines gesunden Gens. 2. Mutierte Form der Kodierungsregion des
mung aktiver Gene. Ein Gen hat 2 Segmente, die Kodierungsregion, Strukturgens, bei der Thymin (T) für Cytosin (C) ausgetauscht wurde.
die in eine mRNS durch die RNS-Polymerase umgeschrieben, kopiert Dadurch wird eine veränderte mRNS-Sequenz transkribiert. b Erwor-
wird. Die mRNS wird dann im Zytoplasma in ein spezifisches Protein bene Verhaltensstörung wie z. B. posttraumatische Belastungsstörung
übersetzt, das die Membraneigenschaften und intrazellulären Kaska- (PTSD). 1. Vor Phosphorylierung des Regulatorproteins, keine Über-
den modifiziert. Die Regulatorregion des DNS-Segments besteht aus setzung (Translation) des Gens. 2. Die traumatische Erfahrung, z. B.
einer sog. Aktivator- (»enhancer«) und Promotorregion (. Abb. 25.24). gelernte Furcht, aktiviert Serotonin (5-HT) und cAMP und in der Folge
Ein Regulatorprotein muss an die Aktivatorregion binden, sonst kann cAMP-abhängige Proteinkinasen. Diese gelangt in den Zellkern und
die RNS-Polymerase das Gen nicht transkribieren. Das Regulatorprote- phosphoryliert CREB. CREB bindet an die Aktivatorregion der DNS und
in (z. B. CREB) muss aber davor phosphoryliert werden. Die Phospho- leitet die Gen-Transkription ein

Entstehung von Verhaltensstörungen durch stimmter Proteine. Diese ändern dauerhaft die Erregbarkeit
Änderung der Genexpression in bestimmten Hirnregionen. Bei Patienten mit PTSD fin-
. Abb. 25.20 illustriert die Tatsache, dass länger anhaltende det man z. B. häufig eine Schrumpfung des Hippokampus,
Verhaltensstörungen oder Persönlichkeitseigenschaften wodurch die Amnesie, das explizite Vergessen des trauma-
und Intelligenz dieselben Mechanismen der in den voraus- tischen Ereignisses, verursacht wird.
gegangenen Abschnitten und in Kap. 23 beschriebenen Gen- Assoziatives Lernen wird durch die molekulare Genetik
expression benützen. Während im Fall einer teilweise ver- zu einem universellen Prinzip, das sowohl die Vererbung
erbten Störung wie der Schizophrenie die fehlerhafte von Verhaltensweisen, wie die frühe Entwicklung, wie die
Translation auf einem vorhandenen Gendefekt beruht, der späte Aneignung mit denselben Prinzipien erklären kann.
in der Pubertät aktiviert wird, entsteht z. B. bei der post- Die Nature–Nurture-Debatte (Anlage–Umwelt) verliert
traumatischen Belastungsstörung (PTSD) durch ein trau- dadurch ihre polarisierende Wirkung.
matisches Ereignis eine Über- oder Unterproduktion be-
650 Kapitel 25 · Plastizität, Lernen und Gedächtnis

G Zwischen vererbten und durch Lernen erworbenen Der Fall H.M.


Störungen des Verhaltens besteht auf molekularer Dem Patienten wurden 1953 wegen unbehandelbaren epi-
Ebene kein prinzipieller Unterschied. In allen Fällen leptischen Anfällen von Scoville beide medialen Temporal-
wird durch die genetisch gesteuerte Neustrukturie- lappen, einschließlich G. hippocampus, Amygdala und
rung der synaptischen Membran das Entladungs- die beiden vorderen Drittel des Hippokampus entfernt.
verhalten postsynaptischer Zellen verändert. . Abb. 25.21 zeigt das Ausmaß der Zerstörung. B. Milner
hat den Patienten erstmals untersucht und eine bis zu sei-
nem Tod 2009 bestehende schwere anterograde Amnesie
25.5 Neuropsychologie des explizit- bei erhaltener Intelligenz (IQ=118) diagnostiziert. Ver-
deklarativen Gedächtnisses gleichbare Ausfälle im Gedächtnis treten bei keiner anderen
Läsion oder neurochirurgischem Eingriff auf.
25.5.1 Störungen des deklarativen H.M. erinnert sich an Ereignisse vor der Operation, er-
25 Gedächtnisses nach Hirnläsionen fasst komplexe sprachliche Reize, erinnert sich aber nicht
an den Tod des Vaters, der nach der Operation erfolgte,
Amnesieformen kann auch nach mehr als einem Jahrzehnt seinen jetzigen
Der Ausgangspunkt für die systematische Klassifikation des Wohnort nicht angeben oder finden, nachdem seine Fa-
Gedächtnisses auf neurobiologischer Basis war ein Einzel- milie übersiedelte. Alle Aufgaben, bei denen zwischen Dar-
fall, der Patient H. M. (7 unten), der nach einer beidseitigen bietung des Lernmaterials und Reproduktion mehr als eine
Entfernung der Hippokampi und der darüberliegenden Minute Zeit verstreicht, kann er auch nach hundertfachen
Kortexschichten eine schwere anterograde Amnesie erlitt, Wiederholungen nicht wiedergeben, wie z. B. Gesichter,
die auch 30 Jahre nach der Operation unverändert geblie- Wörter, geometrische Figuren, also sowohl rechts- als auch
ben ist (. Abb. 25.21). linkshemisphärische Aufgaben. H.M. kann auch einfache
Unter anterograder Amnesie verstehen wir die Tat- Arbeiten nicht verrichten, da er sofort vergisst, was er tun
sache, dass eine Person nach einer Hirnschädigung (Unfall, sollte. Kurzzeitgedächtnistests, wie z. B. Zahlennach-
Schlaganfall, Operation etc.) keine neue Information be- sprechen, gelingen, wenn keine interferierenden Reize dar-
halten (lernen) und wiedergeben kann. geboten werden.
Unter retrograder Amnesie verstehen wir die Tatsache, Emotional ist H.M. angepasst, flach, die Wahrnehmung
dass eine Person Ereignisse vor einer Hirnschädigung, z. B. autonomer Veränderungen (Hunger, Schmerz, Sättigung) ist
vor einem Unfall, nicht erinnern kann. erheblich eingeschränkt, was auf die Amygdalektomie rück-
Der Patient H. M. und viele der nach ihm untersuchten führbar sein könnte. Sowohl H.M. als auch N.A., ein Patient
Patienten mit Amnesien schienen auf den ersten Blick mit Läsion des dorsomedialen Thalamus, sind sozial isoliert,
keinerlei neue Informationen und Ereignisse nach der Zer- haben Schwierigkeiten soziale Bindungen aufzubauen und
störung des Hippokampus aufnehmen zu können. Bei ge- zu erhalten, zeigen aber keine depressiven Verstimmungen
nauer testpsychologischer Untersuchung ergab sich aber, (Depression erfordert wahrscheinlich deklaratives Gedächt-
dass bei diesen Patienten das prozedurale (implizite) Lernen nis mit Erwartungsvergleichen, Kap. 27). »Jeder Tag steht für
erhalten bleibt. Dagegen zeigten systematische Studien sich alleine, egal ob Freude oder Trauriges passierte … Ge-
dieser Patienten und Läsionsstudien an Affen, dass dekla- rade jetzt frage ich mich, habe ich irgendwas Schlechtes ge-
ratives Lernen von der Intaktheit des Hippokampus, des sagt oder getan? Jeder Moment erscheint mir klar, aber was
entorhinalen Kortex und der darüberliegenden perirhi- war gerade davor? Es ist wie wenn man gerade aus einem
nalen und parahippokampalen Kortizes abhängt. Traum erwacht. Ich kann mich einfach nicht erinnern«.
Nach Milner B (1970). Mit freundlicher Genehmigung
von Elsevier.

. Abb. 25.21. Querschnitte (auf verschiedenen Ebenen) des Gehirns von H.M. Die Operation erfolgte bilateral (7 Text)
25.5 · Neuropsychologie des explizit-deklarativen Gedächtnisses
651 25
Aus Mines, M. (2004). Mit freundlicher Genehmigung der Oxford University Press.

. Abb. 25.22a, b. H.M. und Spiegelfolge-Aufgabe. a Nachfahren


von Stern. b H.M.s Fehler von Tag 1 bis 3 (7 Text)
. Abb. 25.23. Schematische Darstellung des Turms von Hanoi.
Das Problem kann nur im Rahmen von mindestens 31 Schritten gelöst
werden. Hier ist eine einfache Version mit 3 Blöcken gezeigt. 5 hölzer-
G Nach Entfernung oder Läsion beider Hippokampi ne Blöcke liegen links und sollen mit Hilfe der in der Mitte liegenden
und darüber liegender temporaler Hirngebiete Stange in derselben Form um die rechte Stange aufgebaut werden,
kommt es zu anhaltender anterograder Amnesie. wobei der größte Block unten und der kleinste oben liegen muss.
Es darf immer nur ein Block zu einer Zeit bewegt werden, und es darf
nie ein größerer Block auf einem kleineren liegen. Um das Puzzle zu
H.M. und implizites Lernen lösen, muss die Versuchsperson die einzelnen Blöcke mehrmals an
Erstaunliche Fortschritte macht H.M. dagegen bei moto- allen 3 Stangen aufbauen. Die optimale Lösung ist über 31 Schritte
erreichbar. In den hier berichteten Untersuchungen mussten die Ver-
rischen Lernaufgaben, wie einem Stiftlabyrinth oder Spie-
suchspersonen die Aufgabe viermal pro Tag an 4 hintereinanderliegen-
gelzeichnen (. Abb. 25.22). Dabei muss der Patient ein den Tagen lösen
Muster (z. B. einen Stern), das vor ihm auf dem Tisch liegt,
möglichst genau nachfahren, darf dabei aber nur in einen
Spiegel schauen, der ihm die Aufgabe seitenverkehrt zeigt. H.M. davon nichts bemerkt: Trotz der Fortschritte erlebt
Auch bei schwierigen Denkaufgaben, wie dem »Turm von H.M. jede Aufgabendarbietung als neu.
Hanoi« (. Abb. 25.23) zeigen H.M. und andere schwer am-
G Trotz des völligen Verlustes von explizitem Behalten
nestische Patienten Fortschritte.
können nach beidseitiger Läsion des Hippokampus
Erhalten ist bei amnestischen Patienten auch der sog.
und darüber liegender Regionen implizite Fertig-
»Repetition-priming-Effekt«: Zum Beispiel werden spiegel-
keiten gelernt und behalten werden.
bildlich geschriebene oder fragmentarische Wörter mehr-
mals dargeboten und der Patient muss die Aufgabe zu
einem späteren Zeitpunkt wiederholen oder die Wörter er- Korsakoff-Syndrom und Konfabulation
gänzen. Die erste Aufgabe bereitet die Darbietung der zwei- Carl Wernicke beschrieb 1881 eine »Enzephalopathie«, die
ten identischen Aufgabe vor (»priming«). Obwohl auch nach Vergiftungen und Alkoholismus zu Ataxie (Gleichge-
hier dem Patienten die verbesserte Leistung nicht bewusst wichtsstörung), peripherer Neuropathie mit Schmerzen
ist, ergänzt er z. B. die bereits gesehenen Wörter besser. und Verwirrtheit führt. Sergej Korsakoff fügte diesem Syn-
Wenn die Aufgabe aber auf einer bewussten Anstrengung drom 1887 eine schwere Gedächtnisstörung (Amnesie) mit
(»effort«, »controlled processing«, Kap. 21) mit Wiederer- Konfabulationen hinzu. Konfabulationen sind »Erfin-
kennen beruht, gelingt sie nicht mehr, bewusstes Wiederer- dungen« der Patienten, um den verwirrten Zustand zu ord-
kennen bleibt gestört. Motorische, perzeptive und kogni- nen. Die Patienten sind Alkoholiker und Alkoholismus geht
tive »skills« (Fertigkeiten) werden gut gelernt, obwohl durch die chronische Lebererkrankung mit einem Defizit
652 Kapitel 25 · Plastizität, Lernen und Gedächtnis

Nach Nature Reviews (2003). Reprinted by permission from Macmillan Publishers Ltd:
25

Nature Reviews.
. Abb. 25.24. Anatomie der Konfabulation und Amnesie. Links Rechter Teil fMRT während Einprägen von episodischer Information,
die überlagerten Läsionen von Patienten mit Amnesie (oben) und darunter Aufgaben, bei denen aus dem Langzeitgedächtnis selegiert
Konfabulation (unten). Man sieht, dass Läsionen mit Amnesien tempo- werden sollte (weisse Flecken)
ral und Konfabulationen präfrontal und orbitofrontal lokalisiert sind.

an Vitamin B1 (Thiamin) einher. Thiamin ist zur Synthese wichtiger Teil der Belohnungsvorhersage-Fehler-Anzeige
von Azetylcholin und GABA im Gehirn notwendig. Der fehlt, so dass Realität und Erinnerung nicht mehr auseinan-
Thiamin-Mangel führt vor allem in den Mamillarkörpern der gehalten werden können (. Abb. 25.24).
und dem dorsomedialen Kern des Thalamus zu Zell-
G Die deklarative Gedächtnisstörung beim Korsakoff-
untergang. Beide Areale projizieren in den Hippokam-
Syndrom ist auf die Zerstörung dienzephaler Anteile
pus und Teile des präfrontalen Kortex, die für exekutive
des medialen Temporallappen-Hippokampus-Sys-
Funktionen und deklaratives Gedächtnis verantwortlich
tems (7 unten), die Konfabulation auf Verlust der
sind.
Realitätskontrolle durch den posterioren Orbito-
Im Gegensatz zu Läsionen des mediotemporalen Hippo-
frontalkortex zurückzuführen.
kampus-Systems spricht man daher beim Korsakoff-
Syndrom von »dienzephaler Amnesie«. Korsakoff be-
schrieb seine Patienten so: »Der Patient vergisst selbst Der Hippokampus und Konsolidierung
das, was gerade einen Moment davor geschah: Du kommst Die Ergebnisse von H.M. sind seither an einer Vielzahl am-
herein, sprichst mit ihm, gehst eine Minute raus, kommst nestischer Patienten bestätigt worden, bei denen stets ein
wieder herein, und der Patient hat absolut keine Erin- Ausfall der mediotemporalen Region und beider Hippo-
nerung, dass Du gerade bei ihm warst …« »Wenn man ihn kampi vorlag. Ein von Squire untersuchter Patient (R.B.)
fragt, wie er seine Zeit verbracht hat, erzählt er häufig mit erheblicher anterograder Amnesie nach einem opera-
eine Geschichte, die nichts mit dem zu tun hatte, was wirk- tiven Zwischenfall (Anoxie) wies post-mortem nur eine
lich geschah; z. B. er erzählt, dass er gestern in die Stadt nachweisbare Läsion auf: Alle Pyramidenzellen der CA1-
gefahren sei, obwohl er schon 2 Monate im Bett gelegen Schicht beider Hippokampi waren zerstört. Wie aus Kap. 5,
war, usf.« . Abb. 5.12 ersichtlich, ist damit der gesamte Fluss der In-
Während der Verlust des deklarativen Gedächtnis auf formation vom Hippokampus über Subiculum, entorhi-
die Zerstörung der dienzephalen Anteile des medialen nalen Kortex und damit auch zu den übrigen neokortikalen
Temporallappen-Hippokampus-System zurückzuführen Regionen unterbrochen.
ist, besteht die Konfabulation aus dem Problem, dass spon- Das CA1-Feld des Hippokampus benutzt Glutamat als
tan auftauchende Gedächtnisinhalte und die gegenwärtige Transmitter. Anoxie, Elektroschock (7 unten) und Blu-
Situation nicht unterdrückt werden können. Dies ist die tungen führen daher leicht zu Überaktivierung der NMDA-
Leistung des posterioren Orbitofrontalkortex (Abschn. Rezeptoren und vermehrtem Ca++-Einstrom mit Zerstö-
25.3.3, Rolle des Dopaminsystems), der weiter perseverativ rung der Neuronen. Die Schwelle für epileptische Entla-
auf Reize antwortet, die nicht mehr belohnt werden. Ein dungen ist hier besonders nieder.
25.5 · Neuropsychologie des explizit-deklarativen Gedächtnisses
653 25

Da Patienten mit Läsion des Hippokampus oft keine 25.5.2 Das mediale Temporallappen-
retrograde Amnesie aufweisen und sich an vor der Läsion Hippokampus-System
Zurückliegendes erinnern, ist der Hippokampus offen-
sichtlich nur bei der Einprägung neuen Materials wichtig. Hippokampus und kognitive Karten
Abruf und Speicherung vertrauten Materials geschieht im des raum-zeitlichen Kontextes
Kortex ohne »Hilfe« des Hippokampus. Wir haben in Abschn. 5.3 bereits die wichtigsten Verbin-
dungen und Funktionen des Hippokampus besprochen.
G Amnesien nach Hirnschädigung vor allem des medi-
Im Tierversuch, besonders bei Ratten zeichnen sich die
alen Temporallappens und des Hippokampus führen
Pyramidenzellen des Hippokampus dadurch aus, dass sie
zu Ausfall des expliziten Gedächtnisses durch Stö-
ortsspezifische rezeptive Felder aufweisen, sog. Ortszellen.
rung der Konsolidierung.
Diese feuern nur dann, wenn sich das Tier an einem be-
stimmten Ort, bezogen auf die Lage und Beziehung äußerer
Elektroschock Objekte zueinander (Raumpunkte) befindet. Auch die Zeit,
Ähnliche Ergebnisse wurden auch bei Patienten nach bilate- an der sich der Organismus an einem bestimmten Punkt
ralem Elektroschock berichtet (ECS, »electroconvulsive befand, ist Teil dieses Kontextes. Genauso der Gefühls- oder
shock«). Dabei wird ein 70–120 V starker Wechselstrom für Motivationszustand. In . Abb. 5.12 und 5.13 haben wir
ca. 1/2 Sekunde mehrmals hintereinander (9- bis 10-mal) schon dargestellt, dass auch beim Menschen der Hippo-
meist an Schläfenelektroden (Temporallappen) appliziert. kampus bei örtlicher Orientierung und Abschätzung von
An den epileptischen Krampfanfall, der vom Strom aus- Ortsbeziehungen aktiv ist.
gelöst wird, schließt sich unterschiedlich lange Bewusst-
losigkeit und Somnolenz an. Anterograde und retrograde Mediale Temporallappenregionen
Amnesien von Minuten bis Tage und Wochen bei erhal- . Abb. 25.25 zeigt die engen Verbindungen der medialen
tenem Lernen von Fertigkeiten (»skills«) sind die Folgen Temporalregion mit dem Rest des Neokortex am Gehirn
dieser umstrittenen »Therapie« für Depressionen und Schi- des Rhesusaffen. Alle Projektionen enden im parahippo-
zophrenien. kampalen Gyrus und entorhinalen Kortex, der mit dem
ECS führt zu Krampfentladungen und reversibler Inak- Hippokampus reziprok verbunden ist. Die permanente
tivierung primär im Hippokampus und den vom Hippo- Speicherung der Gedächtnisinhalte selbst muss in den für
kampus versorgten Regionen. Reizt man den Hippokampus entsprechende Verhaltensfunktionen spezialisierten neo-
mit starken elektrischen Stromstößen über Tiefenelektro- kortikalen Arealen erfolgen (. Abb. 25.26).
den beim Menschen, so kommt es zu reversibler Blockade Der Hippokampus erhält über den entorhinalen Kortex
der Hippokampusaktivität. Während solcher Reizung tritt Informationen aus allen Assoziationsfeldern des Neo-
völlig identische anterograde Amnesie wie bei ECS auf, aber kortex sowie aus Teilen des limbischen Systems, vor allem
ohne Bewusstseinsverlust: Bilder, die kurz vorher erkannt dem Gyrus cinguli und dem frontalen Kortex sowie aus
wurden, werden auch bei mehrmaliger Darbietung nicht verschiedenen Regionen des Temporalkortex. Alle diese
mehr eingeprägt und bei neuerlicher Darbietung nicht er- Verbindungen sind reziprok, d. h. dass der Hippokampus
kannt. Nach Ende der Reizung verschwindet der Effekt. auch efferente Verbindungen zu den Assoziationskortizes
Semantisches Gedächtnis ist nach Läsionen des Hippo- hat, wo die eigentlichen Langzeitveränderungen im Rah-
kampus oder Elektroschock kaum beeinträchtigt. Die Pa- men der Gedächtnisspeicherung stattfinden.
tienten wissen um die semantische Bedeutung der Dinge Das mediale Temporallappensystem muss während der
und Situationen, verlieren aber das episodische Gedächtnis Darbietung oder Wiederholung des Gedächtnismaterials
nach der (reversiblen) Läsion. Ist aber mit den Hippokampi aktiv sein, damit sich zwischen den verschiedenen Reizen,
auch die darüber liegende Temporalregion zerstört oder die während der Einprägung präsent sind, assoziative Ver-
beeinträchtigt, wie z. B. in der sog. Pick-Atrophie und beim bindungen ausbilden können. Der Hippokampus und der
Morbus Alzheimer, so geht auch die semantische Speiche- darüberliegende entorhinale Kortex müssen die verschie-
rung und Abruf verloren. denen verstreuten Repräsentationen der gesamten Umge-
bung, die während des Lernens präsent sind, zeitlich wie
G Der eigentliche Hippokampus (Hippocampus pro- örtlich miteinander verketten (. Abb. 25.26). Die Herstel-
per) ist zur Konsolidierung von neuer episodischer lung eines solchen Kontextes ist vor allem dann notwendig,
und kontextueller Information notwendig. Die da- wenn neue Situationen und neues Lernmaterial eingeprägt
rüber liegenden Regionen des Temporallappens sind werden, da in einer solchen Situation neue Wahrnehmungen
für explizites semantisches Gedächtnis essenziell. und neue Gedanken, die bisher nicht assoziativ miteinander
verbunden waren, miteinander verbunden werden müssen.
Sobald diese neuen Inhalte assoziativ verkettet sind, genügt
zu einem späteren Zeitpunkt ein kleiner Ausschnitt oder ein
Einzelaspekt dieser Situation, um die Gesamtsituation zu
654 Kapitel 25 · Plastizität, Lernen und Gedächtnis

Modifiziert nach Squire LR, Zola-Morgan S (1991). Mit freundlicher Genehmigung von Science.

Nach Van Hoesen (1982). Mit freundlicher Genehmigung von Elsevier.


25

. Abb. 25.26. Rolle des Hippokampus (unten: Schicht CA1 und


CA3), des entorhinalen Kortex (EC), des perirhinalen Kortex (PRC) und
des parahippokampalen Kortex (TF/TH) in der Verknüpfung von Kon-
. Abb. 25.25a, b. Mediales Temporallappen-Hippokampus- texten in verschiedenen Kortexarealen (V1 primärer visueller Kortex;
System. a Ventrale Ansicht des Affengehirns mit den verschiedenen PG Gyrus postcentralis, TE temporaler Kortex (. Abb. 25.25 und Text)
Läsionsorten, die im Tiermodell zur Amnesie führten. Amygdala (A)
und Hippokampus (H) sind punktiert eingezeichnet und die benach-
barten kortikalen Regionen in Farbe. Blau der perirhinale Kortex (Area
35 und 36); orange der periamygdaloide Kortex (Area 51); rot der Hippokampus-Theta-Rhythmus und die
entorhinale Kortex (Area 28) und grün der parahippokampale Kortex Bündelung von Information
(Areale TH und TF). b Schematischer Aufbau des Gedächtnissystems
des medialen Temporallappens. Der entorhinale Kortex projiziert in Das in Kap. 5.4 beschriebene autoassoziative Netzwerk
den Hippokampus, wobei 2 Drittel der kortikalen Afferenzen in den (. Abb. 5.12 und 5.13) des Hippokampus kann man sich als
entorhinalen Kortex aus den benachbarten perirhinalen und parahip- landwirtschaftliche Maschine vorstellen, die im 5–8-Hz-
pokampalen Kortizes entspringen. Diese wiederum erhalten Projek- Rhythmus ihres Motors über ein mit verschiedenen Pflan-
tionen von unimodalen und polymodalen kortikalen Arealen im fron-
zentypen ungeordnet bebautes Feld fährt und gleichartige
talen, temporalen und parietalen Bereich. Der entorhinale Kortex
erhält darüber hinaus direkte Afferenzen vom orbitalen Frontalkortex, Pflanzen bündelt. Dabei werden die gleichartigen Pflanzen
dem Gyrus cinguli, dem insulären Kortex und dem oberen Temporal- nur in der Ansaugphase des Motors (negative Polarität
lappen. Alle diese Projektionen sind reziprok einer Theta-Welle) erfasst. Durch Feinregulation der Phase
und des Rhythmus des Motors wird bestimmt, wann ein
Pflanzenbündel erfasst und welches nicht erfasst (positive
reproduzieren. Das hippokampale System verbindet also die Phase) wird. Damit wird durch Variation der Motorumdre-
kortikalen Repräsentationen einer bestimmten Situation hungen auch geregelt, welche Pflanzentypen gerade gebün-
miteinander, so dass sie ein Gesamt des Gedächtnisinhaltes delt werden. Jede Kammer der Maschine (entorhinaler →
bilden (»binding«, Kap. 21 und Abschn. 25.3.2). Fällt dieses perirhinaler → parahippokampaler Kortex → Hippokam-
System aus, so erscheint uns jede Situation neu, völlig un- pus, . Abb. 25.26) führt einen weiteren Verdichtungszyklus
abhängig davon, wie oft wir sie schon gesehen oder erlebt hinzu: Gedächtnisstörungen werden mit jeder zusätzlich
haben, da sie zu keiner der gleichzeitig vorliegenden Aspekte gestörten Region stärker, Zerstörung des Hippokampus
dieser Situation irgendeine Beziehung hat. Deshalb spricht allein hat nur geringe Auswirkungen.
man auch vom hippokampalen System als relationales Lern- Die Maschine arbeitet besonders stark (Hippokampus-
system. Theta hochamplitudig und synchron), wenn neue, bisher
nicht bestellte Felder mit chaotischen Anbauflächen auf-
G Der Hippokampus und das mediale Temporallap- tauchen: im REM-Schlaf, wenn die PGO ungeordnete In-
pensystem verbinden assoziativ die kontextuellen halte im Kortex erzeugen und bei Exploration neuer, poten-
Reize einer Situation und übertragen sie bereits as- ziell gefährlicher Umgebung. Die Steuerung der Maschine,
soziativ verknüpft in die kortikalen Speicherareale. wann sie z. B. besonders intensiv arbeiten muss (neue Um-
25.6 · Verhaltensmedizin und Biofeedback
655 25

gebung, für Ziele wichtig), ob sie angekommenes Material aufrecht (Arbeitsgedächtnis) und prüft, ob das Endresultat
ordnen oder bereits vorhandenes Material ausgeben oder des iterativen Vergleichsvorganges mit den vorher spezi-
nur angekommenes Material wieder finden muss, bestimmt fizierten Wiedergabekriterien übereinstimmt. Stimmt das
der Präfrontalkortex. Ziel und die aktuelle Wiedergabe überein, kann der Inhalt
als Gedanke oder Vorstellung bewusst und/oder für Verhal-
G Der Hippokampus-Theta-Ryhtmus steuert die Kon-
ten genützt werden. Wenn das Ziel der Wiedergabe und die
text-Bündelung im medialen Temporallappen-
aktuelle Wiedergabe nicht übereinstimmen, modifiziert der
Hippokampussystem zwischen Hippokampus und
VLPFC die iterative Suche. Der mediale und orbitofrontale
den höheren Nachbarstrukturen, wobei ein Bünde-
Kortex (nicht auf Abb.) werden bei vitaler Relevanz oder
lungszyklus mit der erregenden, negativen Phase
Relevanz aktiv (Kap. 21 und 28).
einer Theta-Welle verbunden ist.

G Der MTL benötigt in der Einprägungsphase von


Medialer Temporallappen, Hippokampus neuer Information zur Organisation und Separie-
und präfrontaler Kortex rung der Engramme den präfrontalen Kortex. In der
. Abb. 25.27 zeigt die engen anatomischen Verbindungen Wiedergabephase wird der gesuchte Gedächtnis-
zwischen den beiden Hirnsystemen des medialen Tem- inhalt im MTL durch einen iterativen Vergleichs-
porallappens (MTL) und des Präfrontalkortex (PFC): das prozess mit den Wiedergabekriterien im PFC ge-
Kontext-Herstellungssystem für episodische Information funden.
und das eigentliche »top-down« (Kap. 21) Ordnungs- und
Kontrollsystem. Links sind die Enkodierungsspeicher,
rechts die Wiedergabefunktion beider Systeme dargestellt. 25.6 Verhaltensmedizin und
In der Enkodierungsphase wird die posterior aufge- Biofeedback: Die Anwendung
nommene Information in hierarchisch aufgebauten Schrit- operanten Konditionierens
ten in zunehmend höhere (abstraktere) Repräsentationen auf pathologische Prozesse
umgewandelt, die vom MTL zu einem Gedächtnisinhalt
zusammengebündelt wird. Der linke dorsolaterale präfron- 25.6.1 Verhaltensmedizin und
tale Kortex (DLPFC) kontrolliert als Arbeitsgedächtnis die Biofeedback
getrennte Speicherung (Separierung) und der ventrale prä-
frontale Kortex (VLPFC) semantische und phonologische Definitionen
Verarbeitung. Verhaltensmedizin ist eine Wissenschaftsdisziplin, die
In der Wiedergabephase werden im VLPFC die Wie- aus der Klinischen, Physiologischen und Allgemeinen
dergabe-Hinweisreize (»retrieval cues«) iterativ mit gespei- Psychologie entstanden ist. Sie wendet die Erkenntnisse
cherter Information im MTL verglichen, bis die gesuchte der Lernpsychologie auf die psychologische (Selbst-)Kon-
Erinnerung in einem Muster-Vervollständigungszyklus er- trolle von physiologischen und pathophysiologischen
reicht wird. Der DLPFC hält diesen Vorgang einige Zeit Prozessen bei körperlichen Erkrankungen an. Die ver-

. Abb. 25.27a, b. Präfrontaler Kortex und mediales Temporallap- Präfrontalkortex, MTL medialer Temporallappen, APFC anteriorer
pen-System. DLPFC dorsolateraler Präfrontalkortex, VLPFC ventraler Präfrontalkortex (Erläuterungen 7 Text)
656 Kapitel 25 · Plastizität, Lernen und Gedächtnis

Aus Birbaumer N et al (1994). Mit freundlicher Genehmigung von Elsevier.


25

. Abb. 25.28. Biofeedbackbehandlung von Skoliose und sofort beendet wird. Ohne die Aufrichtreaktion innerhalb der 20 s wird
Kyphose. Gerät zur Rückmeldung der Streckung des Rückgrates. Bei der Ton lauter und für Umstehende hörbar
Krümmung ertönt ein 20 s anhaltender leiser Ton, der bei Aufrichten

haltensmedizinischen Behandlungsmethoden wurden konnten vegetative Reaktionen nur mit klassischer Kondi-
erfolgreich bei einer Vielzahl organmedizinischer Erkran- tionierung psychologisch modifiziert werden.
kungen eingesetzt: koronare Herzkrankheiten, Bluthoch- Es gibt unzählige Möglichkeiten der mechanischen, che-
druck, Magen-Darmleiden, neurologische und neuro- mischen und reflektorischen Beeinflussung viszeraler auto-
muskuläre Leiden, in der Pädiatrie und Frauenheil- nomer Reaktionen durch die Aktivität der Skelettmuskula-
kunde etc. tur: Zum Beispiel hat erhöhte Laktatsäureproduktion in
Eines der wichtigsten Verfahren in der Verhaltensme- aktiven Muskeln vasomotorische Effekte auf benachbartes
dizin sind die sog. Biofeedback-Therapien (biologische Gewebe, durch muskulär bedingte Änderung der Brust-
Rückmeldung). Dabei wird ein biologisches Signal einer korbspannung wird Herzrate und Blutdruck beeinflusst etc.
Person oder eines Tieres (z. B. Herzrate) registriert und die Um diese peripheren Einflussgrößen auszuschalten, inji-
Person für die Änderung dieses Signals in eine bestimmte ziert man im Tierversuch eine hinreichend hohe Dosis des
Richtung, z. B. Herzratenerniedrigung, negativ oder positiv indianischen Pfeilgiftes Kurare, was zu einer vollständigen
verstärkt. Die Verstärkung wird auch in Form informativer Blockade der cholinergen Erregungsübertragung an den
Rückmeldung dargeboten, z. B. kann die Person ihren motorischen Endplatten und somit Lähmung der gesamten
Herzschlag auf einem Bildschirm oder Digitalzähler verfol- quergestreiften Muskulatur führt. Da auch die Atemmusku-
gen. Damit erwirbt der Mensch über das Prinzip des ope- latur gelähmt ist, wird künstlich beatmet. Kurare führt zu
ranten (instrumentellen) Lernens automatisierte Selbst- keiner Änderung der viszeralen oder somatisch-muskulären
kontrolle über eine physiologische Reaktion (. Abb. 25.28 Afferenzen (Wahrnehmung), Kurare verändert auch den
und Box 28.3). efferent motorischen Output in und aus dem ZNS nicht. Die
Droge eliminiert aber die autonomen Konsequenzen einer
Instrumentelles Konditionieren autonomer muskulären Aktivität, die durch mechanische, chemische
Prozesse oder reflektorische Verbindungen ausgelöst werden.
Ungeklärt ist die Frage, ob instrumentelles Lernen auch bei Wenn ein kurarisiertes und beatmetes Tier eine auto-
vegetativen, hormonellen, biochemischen und zentralner- nome Reaktion durch systematische Verstärkung dieser
vösen Prozessen ohne Beteiligung und Vermittlung (Medi- autonomen Reaktion verändern lernt, dann ist damit aus-
ation) der quergestreiften Muskulatur möglich ist. Bisher geschlossen, dass die gelernte Änderung der viszeralen
25.6 · Verhaltensmedizin und Biofeedback
657 25

Reaktion durch indirekte Einflüsse der Skelettmuskulatur a


verursacht wurde.
N.E. Miller und Mitarbeitern gelang in den sechziger
und siebziger Jahren, an kurarisierten Mäusen und Ratten
durch Belohnungs- und Vermeidungsversuche verschie-
dene viszerale und humorale Funktionen instrumentell zu
konditionieren: Herzratenanstieg und -abfall, Blutdruckan-
stieg und -abfall, Darm- und Magenmobilität, Blutvertei-
lung im Magen, Urinproduktion, Uteruskontraktionen,
Haut- und Körpertemperatur und Durchblutung verschie-
dener Körperregionen. Hinzu kam, dass auch beim voll-
ständig gelähmten Menschen die instrumentelle Kontrolle
b
der elektrischen Aktivität lokaler Hirnregionen ohne
messbare motorische oder autonome Beteiligung (Kap. 21
und 28) nachgewiesen werden konnte.
Beide Befunde stellen starke Argumente für die Mög-
lichkeit direkten instrumentellen Lernens isolierter und
spezifischer viszeraler und kortikaler Reaktionen dar und
eröffnen den Weg für die therapeutische Anwendung dieses
Prinzips zur selektiven Beeinflussung gestörter Organ-
systeme durch Rückmeldung und Belohnung der entspre-
chenden Funktionen (Biofeedbacktherapien wurden bereits
an mehreren Stellen dieses Buches dargestellt).

G Instrumentelles Lernen autonomer und zentralner-


vöser Vorgänge scheint möglich zu sein, auch wenn
man eine Beteiligung der Willkürmuskulatur nicht
ganz ausschließen kann. Damit können aber auch
gestörte Organsysteme und ihre Funktionen willent-
lich gesteuert werden.

25.6.2 Anwendungen der Verhaltens-


medizin
c
Skoliose
. Abb. 25.28 zeigt eine typische Anwendung dieses Prinzips
zur Behandlung von Skoliose und Kyphose bei vorpuber-
tären und pubertären Mädchen.
Skoliose ist eine progressive Verkrümmung des Rück-
grates unbekannter Ursache. Ohne Behandlung führt sie zu
Buckel, inneren Verwachsungen und, in einigen Fällen,
zum Tode. Bei leichteren Verkrümmungen wird ein Korsett
verordnet, bei schweren eine aufwendige Operation.
Das Biofeeback-Gerät auf . Abb. 25.28 ersetzt das
schmerzhafte und belastende Korsett und meldet der Pa-
tientin kontinuierlich Fehlhaltungen und deren Korrektur
zurück. Bei Verkrümmung der Wirbelsäule (Lockerung . Abb. 25.34a–c. Biofeedback bei Kindern mit ADDH. a Selbst-
der vertikalen Leine) ertönt für 20 s ein leiser Ton, richtet bildnis eine Kindes beim EEG-Feedback-Training b Die Fähigkeit zur
sich die Patientin auf, stoppt der Ton sofort; richtet sich Selbstkontrolle der langsamen Potenziale verändert sich signifikant
die Patientin nicht auf, wird der Ton nach 20 s lauter. Bei nach 30 Sitzungen und ist auch 6 Monate nach Ende des Trainings
stabil (oben: Veränderung der LP-Amplitude gegenüber der Baseline
Abschalten durch Haltungsverbesserung gewinnt die Per-
unter Feedback-Bedingen; unten: Selbstkontrolle ohne Feedback =
son unterschiedlich lange Auszeiten, in denen der Ton nicht Transfer) c Verbesserung des Verhaltens; zum Zeitpunkt des Follow-
hörbar ist, je nachdem wie schnell und häufig sie den Ton ups 6 Monate nach Ende des Trainings liegen die Beurteilungen unter-
rechtzeitig abschaltet. Die vertikale Leine dient der Korrek- halb des Grenzwerts für problematisches Verhalten
658 Kapitel 25 · Plastizität, Lernen und Gedächtnis

tur des Brustkorbumfanges durch Atmung, mit der natür- Die pharmakologische Behandlung hat keine dauerhaft
lich ebenfalls, aber artifiziell, die vertikale Leine gespannt heilenden Effekte, muss für die Dauer der Störung über
und eine Haltungskorrektur vorgetäuscht werden kann. Jahre fortgesetzt werden, beeinträchtigt die Beweglichkeit
Die Person trägt das Gerät Monate bis Jahre bis zu 24 h und die Selbstkontrolle. Nach Absetzen kommt es zu Rück-
pro Tag. fällen, Abstinenzerscheinungen (Amphetamine haben
Suchtpotenzial) und Müdigkeit.
Hyperaktivität und Aufmerksamkeitsstörung Die verhaltensmedizinische Behandlung besteht aus
Aufmerksamkeitsstörungen treten früh, meist schon im Selbstkontrolltraining, Elterntraining und Selbstbehaup-
Kindergarten, bei Kindern mit durchschnittlicher bis über- tungsübungen. Am wirksamsten und der Pharmakothera-
durchschnittlicher Intelligenz auf. Sie treffen vor allem pie langfristig überlegen ist Neurofeedbacktherapie, wobei
männliche Kinder und sind oft mit Allergien, motorischer sowohl langsame Hirnpotenziale (Kap. 20 und 21) als auch
Unruhe, geringem Selbstwert und Impulsivität verbunden. sensomotorischer Rhythmus (SMR, 8–15 Hz über dem
25 Wir haben bereits in Kap. 9 die Beziehungen von Aufmerk- motorischen Kortex) rückgemeldet werden (. Abb. 25.29).
samkeitsstörungen (ADDH, »attention deficit disorder Die Kinder lernen frontale Negativierungen (Aktivierun-
and hyperactivity«), Allergien und Noradrenalin bespro- gen) und/oder SMR zu erhöhen. Während die langsamen
chen. Der genetische Anteil beträgt je nach Symptomatik Hirnpotenziale die zentralnervöse Erregbarkeit frontal
50–70% der Varianz. Elektroenzephalographisch zeigen verbessern, reduzieren die synchronisierte thalamokor-
ADDH-Kinder eine Verlangsamung des EEG präfrontal tikale Hirnaktivität des SMR die ablenkende überschie-
und reduzierte Amplituden später ereigniskorrelierter Po- ßende impulsive kognitive und motorische Aktivität.
tenziale.
Die Behandlung besteht heute überwiegend aus der G Instrumentelles Lernen (Biofeedback) von Körper-
Gabe stimulierender, amphetaminhaltiger Medikamente, positionen führt bei Skoliose zu einer Normalisie-
vor allem Ritalin. Ritalin ist ein Methylphenidat, das die rung des Knochenwachstums. Bei Aufmerksamkeits-
Wiederaufnahme von NA und Dopamin in die präsynap- störungen bewirkt Selbstregulation (instrumentelle
tische Endigung verhindert und damit die Verfügbarkeit Kontrolle) von elektrischer Hirnaktivität eine deut-
beider Neurotransmitter erhöht. liche Zunahme der Konzentrationsfähigkeit.

Zusammenfassung
Die Psychologie von Gedächtnis und Lernen Synaptische Plastizität wird erzeugt durch
unterscheidet 5 Langzeitpotenzierung und Langzeitdepression,
5 implizites Gedächtnis oder Verhaltensgedächtnis 5 Modifikation dendritischer »spines«,
(Fertigkeiten und Konditonierung) und 5 Aktivierung von NMDA-Rezeptoren,
5 explizites Gedächtnis oder Wissensgedächtnis: 5 Regulation von Erregungsschwellen an ACh-Synapsen
episodisch und semantisch im Kortex und
5 Modulation emotionaler Einflüsse über dopaminerge
Erwerb von Wissen (explizites Lernen) unterscheidet sich und noradrenerge Systeme.
von implizitem Gedächtnis durch
5 Inanspruchnahme des Kurzzeit- und Arbeitsge- Intrazellulär besteht Konditionierung aus
dächtnis sowie 5 G-Protein-gesteuerten Veränderungen der synapti-
5 limitierte Verarbeitungs- und Aufmerksamkeitsres- schen Erregbarkeit,
sourcen. 5 verstärktem Ca++-Einstrom und
5 veränderter Genexpression und Proteinbiosynthese.
Kortikale Plastizität beruht auf der Bildung von
5 assoziativen Hebb-Synapsen, Das Temporallappen-Hippokampus-System ist verant-
5 Zusammenschluss von Zellensembles, wortlich für
5 synchronen Oszillationen in Zellensembles 5 explizites Gedächtnis,
(»binding«) und 5 assoziatives Zusammenbinden von Kontextreizen und
5 kortikalen Karten. 5 Bündelung der aufgenommenen Information vor Ab-
lage in den Kortexarealen.
Literatur
659 25
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26

26 Motivation und Sucht

26.1 Grundbegriffe der Motivation – 662


26.1.1 Antrieb und Verstärkung – 662
26.1.2 Interaktion von Antrieb und Verstärkung – 663
26.1.3 Reflexhierarchien und Spontanverhalten – 665

26.2 Durst und Hunger – 667


26.2.1 Formen von Durst und Salzappetit – 667
26.2.2 Durststillung – 669
26.2.3 Hormonelle Regulation von Hunger und Sättigung – 670
26.2.4 Neuronale Regulation von Hunger und Sättigung – 670
26.2.5 Störungen des Essverhaltens – 674

26.3 Sexualverhalten, Reproduktion und Partnerbindung – 675


26.3.1 Sexuelle Reaktionszyklen – 675
26.3.2 Die sexuellen Reaktionen des Mannes – 676
26.3.3 Die sexuellen Reaktionen der Frau – 678
26.3.4 Sexuelle Dysfunktionen und Abweichungen – 679

26.4 Sexuelle Entwicklung – 680


26.4.1 Chromosomen, Geschlechtshormone und Entwicklung – 680
26.4.2 Sexuelle Orientierung – 682

26.5 Neuronale und kognitive Geschlechtsdifferenzen – 685


26.5.1 Neuronale Mechanismen sexuellen Verhaltens – 685
26.5.2 Differenzen in Verhalten und kognitiven Leistungen zwischen
den Geschlechtern – 689

26.6 Gelernte Motivation und Suchtverhalten – 692


26.6.1 Abhängigkeit und Toleranz – 692
26.6.2 Die Gegensatz-Prozess-Theorie erworbener Motivation – 693
26.6.3 Positiver Anreiz, Sucht, Toleranz und Entzug – 694
26.6.4 Freude und Verlangen – 696

26.7 Neurobiologie süchtigen Verhaltens – 698


26.7.1 Intrakranielle Selbstreizung – 698
26.7.2 Kurzzeit- und Langzeitwirkung von süchtig machenden Reizen – 702
26.7.3 Spezifische Suchtwirkungen – 704
26.7.4 Behandlung von Süchten – 706

Zusammenfassung – 708
Literatur – 709

N. Birbaumer, Biologische Psychologie, DOI 10.1007/978-3-540-95938-0_2,


© Springer Medizin Verlag Heidelberg 2010
662 Kapitel 26 · Motivation und Sucht

)) kurrenz (»drive-competition«) zwischen verschiedenen


Trieben darstellt. Die »Stärke« eines Triebes und damit auch
Herr S., 47, Besitzer eines Reisebüros, wurde bei einer Trun- seine Stellung in der Triebhierarchie, bestimmen sich aus
kenheitsfahrt mit einem Blutalkoholgehalt von 2,3 Promille dem Ausmaß der Abweichung von einem vital »notwendi-
auffällig. Die psychologische Untersuchung ergab, dass gen« körperlichen homöostatischen Gleichgewicht (z. B.
Herr S. mit 15 Jahren zu trinken begonnen hatte. Während Glukoseniveau im Blut). Dieses Ausmaß der Abweichung
des Dienstes bei der Bundeswehr steigerte sich der Konsum vom homöostatischen Gleichgewicht wird vor allem durch
von drei auf bis zu 10 Flaschen Bier pro Tag, an Wochen- jene Zeitspanne bestimmt, die seit dem letzten Ausgleich
enden und bei festlichen Angelegenheiten deutlich mehr. des homöostatischen Ungleichgewichts verstrichen ist.
Der Vater von Herrn S. war Alkoholiker und hatte Ehefrau Diese Zeitspanne wird Deprivationszeit genannt, z. B. wird
und Sohn jahrelang, vor allem an Wochenenden nach aus- der Hunger auch von den tageszeitlichen Schwankungen
gedehnten Sauftouren, misshandelt. Nach der Bundeswehr des Glukoseniveaus im Blut bestimmt (z. B. Zeit, die seit
studierte Herr S. Betriebswirtschaft und trat einer Studen- letzter Nahrungsaufnahme verstrichen ist). Dabei sind aber
tenverbindung bei, in der ebenfalls exzessiv getrunken die zirkadianen Perioden dieser Zeiten zu berücksichtigen,
wurde. Nachdem er geheiratet hatte und bis zur Geburt des die eine eigene Quelle der Motivation darstellen (Kap. 22).
26 Sohnes und einzigen Kindes, reduzierte Herr S. seinen Beispielsweise wirkt ein Anstieg der Temperatur auf Verhal-
Alkoholkonsum auf durchschnittlich 2 Flaschen Bier ten in den späten Nachtstunden stark positiv, am Vormittag
abends, wobei an Wochenenden erneut zunehmend dagegen weniger verstärkend.
häufiger Trinkexzesse auftraten. Schließlich traten auch
geschäftlich zunehmend Probleme auf. Nach der Beratung Homöostatische und nichthomöostatische
durch einen Klinischen Psychologen entschloss er sich zu Triebe
einer stationären sechsmonatigen Entzugsbehandlung, Die Unterscheidung von homöostatischen und nichthomö-
von der er »trocken« zurückkehrte. ostatischen Trieben ist für das Verständnis der Motivations-
Eineinhalb Jahre später traf Herr S. auf der Straße einen mechanismen von Bedeutung: Homöostatische Triebe sind
Freund aus der Studentenzeit. Dieser lud ihn in seine weniger von Umgebungsbedingungen und der Lernge-
Stammkneipe, die in der Nähe lag, ein. Nach anfänglicher schichte des Individuums als von der Abweichung der kör-
Weigerung bestellte Herr S. ein kleines Bier, da auch der perinternen Homöostasen abhängig (Abschn. 7.2). Sie wei-
Freund ihm versicherte, dass ein kleines Bier keinen Rück- sen stabile Sollwerte auf, deren Unter- oder Überschreitung
fall bedeute. Herr S. kam an diesem Abend vollkommen zu einer stereotypen Sequenz von Verhaltensweisen bis zur
betrunken heim und nahm seine alten Trinkgewohnheiten Wiederherstellung des Sollwertes führen. Bei homöosta-
wieder auf. tischen Trieben wird daher eine von Umweltreizen unab-
Dieser typische Fall zeigt, dass Rückfälle in der Regel hängige Messung der Triebstärke (z. B. Glukoseabfall) eher
nicht aus Entzugssymptomen resultieren, sondern durch möglich sein. Temperaturerhaltung, Hunger, Durst, zirka-
positiv konditionierte Hinweisreize (Freund, Kneipe) vor diane Periodik (Schlaf) und möglicherweise einige Auf-
dem Hintergrund eines konstitutionell erhöhten Sucht- zuchtsreaktionen bei Nachkommenschaft gehören dazu.
risikos (Vater) verursacht werden. Allerdings gilt dies für Hunger und Durst nur eingeschränkt,
Eine der zentralen Fragen der Motivation, was den denn auch diese werden stark von Anreizen (»cues«) be-
Menschen »vorantreibt«, was ihn immer wieder zu lust- stimmt.
vollen Zielen »zieht«, kann durch die neurobiologische Nichthomöostatische Triebe weisen stärker variable
Untersuchung von süchtigem Verhalten beantwortet Sollwerte und variable Deprivationszeiten auf, die von Lern-
werden. prozessen und anderen Umgebungsvariationen (Verfüg-
barkeit, Anreize) mitbestimmt werden. Sexualität, Explo-
rations»trieb«, Bindungsbedürfnis und die Emotionen
26.1 Grundbegriffe der Motivation (Kap. 27) gehören hierzu. Die experimentelle Bestimmung
der körperinternen Sollwerte ist dabei nicht mehr möglich,
26.1.1 Antrieb und Verstärkung es können nur Mindest- und Höchstgrenzen angegeben
werden (z. B. eine Mindestmenge an Sexualhormonen im
Triebe Blut als Voraussetzung für das Auftreten kopulatorischen
Unter einem Trieb verstehen wir jene psychobiologischen Verhaltens).
Prozesse, die zur bevorzugten Auswahl einer Gruppe ab-
grenzbarer Verhaltensweisen (z. B. Nahrungsaufnahme) G Homöostatische und nichthomöostatische Triebe
bei Ausgrenzung anderer Verhaltenskategorien (z. B. sexu- liefern die Energie für Verhalten. Homöostatische
elles Verhalten, Fortpflanzung) führen. Die Auswahl richtet Triebe entstehen aus der Abweichung körperinter-
sich nach der zu einem bestimmten Zeitpunkt bestehenden ner stabiler Sollwerte, nichthomöostatische aus
Triebhierarchie, die selbst das Resultat einer Triebkon- variablen Sollwerten und Lernen.
26.1 · Grundbegriffe der Motivation
663 26
Verstärkung
Wir haben in Kap. 24.1 bereits die wichtigsten Begriffe des
instrumentellen oder operanten Konditionierens kennen
gelernt. Reize, die zu einem Anstieg der Auftrittswahr-
scheinlichkeit des vorausgegangenen Verhaltens führen,
haben wir verstärkende Reize oder einfach Verstärker ge-
nannt. Reize, die einen Abfall der Auftrittswahrscheinlich-
keit bewirken, werden bestrafende Reize genannt. Unter
Verstärkung verstehen wir die Erhöhung der Auftritts-
wahrscheinlichkeit einer Reaktion in Gegenwart einer be-
stimmten (diskriminativen) Situation durch die Darbie-
tung verstärkender Reize unmittelbar nach einer Reaktion.
Wie wir in Abschn. 24.1.2 und 24.4.3 bereits erläutert haben,
bestimmt auch die Erwartung an die Intensität eines Ver-
stärkers seine Wirkung: fällt sie schwächer aus, wirkt sie als
Bestrafung, fällt sie stärker aus, als Belohnung (Verstärker-
vorhersage-Fehler (. Abb. 24.12)).

G Positive und negative Verstärkung lenkt das Verhal-


ten in eine bestimmte Richtung. Ob ein Reiz verstär-
kend oder bestrafend wirkt, hängt nicht nur von
seiner biologischen Bedeutung und der Depriva-
tionszeit und der zirkadianen Periodik, sondern
auch von der Diskrepanz oder Übereinstimmung
zwischen der Intensität von erwarteten und aktuel-
len Reizen ab. . Abb. 26.1. Wirkung von Verstärkung auf neuronale Verschal-
tung. Hypothetische neuronale Verschaltung, die den Effekt von Ver-
stärkung auf instrumentelles Lernen erklärt
26.1.2 Interaktion von Antrieb
und Verstärkung
Box 26.5 ist die neuronale Grundlage dieses Mechanismus
Verstärkung und Triebenergie dargestellt.
Um die neuronalen Prozesse von Verstärkung zu verstehen, Nicht nur Triebreduktion (z. B. Herstellung des alten
müssen wir die neuronalen Mechanismen untersuchen, die Glukoseniveaus nach Deprivation), sondern manchmal auch
4 zum einen den verstärkenden Reiz als verstärkend er- »Triebinduktion« ist verstärkend: So führt z. B. das Öffnen
kennen und eines Fenster, um Neues zu sehen, zu keinem Ausgleich eines
4 zum anderen die Verbindung zwischen den Zellsys- biologischen Gleichgewichts; trotzdem kann diese Reaktion
temen, die die diskriminativen Reize verarbeiten, und verstärkt d h. wiederholt werden, wenn sie z. B. in sehr reiz-
jenen, die das motorische Verhalten kontrollieren, armer Umgebung (»Monotonie«) auftritt. In diesem Fall
stärken. kommt die Verstärkung von der Reaktion selbst (Fenster
öffnen und hinaussehen sind appetitive Reaktionen, die in der
Wir werden in Abschn. 26.6 die Mechanismen dieser Ver- Vergangenheit mit positiver Verstärkung verbunden waren).
stärkersysteme erläutern und beschränken uns hier auf Dieses Beispiel und . Abb. 26.2 zeigen zwei wichtige
deren allgemeine Funktionen in der Organisation motivier- Eigenschaften von Verstärkungsprozessen:
ten Verhaltens. . Abb. 26.1 zeigt ein hypothetisches Modell 4 Sie können von homöostatischen Triebmechanismen
instrumenteller Verstärkung. Dabei handelt es sich um ein unabhängig sein.
Zellensemble, wie wir es in Kap. 25 beschrieben haben, das 4 Die Reize von einer appetitiven Reaktion (z. B. der Ge-
die Einprägung eines Verhaltens durch simultane synap- schmack beim Essen, die Wahrnehmung der Kaubewe-
tische Erregung bei A und B bewirkt. Das Verstärkungs- gungen) stellen wichtige verstärkende Reize dar, auch
system (hier Geschmack) und das Triebsystem (links 4b, ohne Bestehen eines Antriebszustandes.
Hunger) erhöhen die Aktivität an der Synapse B und be-
schleunigen und verstärken damit die Wahrscheinlichkeit G Verstärkungs- und Triebsysteme arbeiten zusam-
der Bildung einer Hebb-Synapse; diese, im oberen Teil der men, um die Festigkeit der assoziativen Beziehung
Abbildung dargestellt (A), wird nach der verstärkten simul- zwischen Reizen und Reaktion und Konsequenz zu
tanen Aktivität von A und B eher das Verhalten auslösen, bestimmen. Nicht nur Triebreduktion, sondern auch
wenn in Zukunft der damit assoziierte Reiz auftritt. In Triebinduktion kann verstärkend wirken.
664 Kapitel 26 · Motivation und Sucht

Nach Gallistel CR (1973). Mit freundlicher Genehmigung von Elsevier.


26

. Abb. 26.2. Multiples Homöostasemodell der Verhaltenssteue- aber durch die Tätigkeit der Verstärkersysteme (rot) »adjustiert«; d h.
rung. Jeder Triebhomöostat (meist im Hypothalamus, links) regelt auf jene motorischen Einheiten gelenkt, die in der Vergangenheit im
eine andere Körperfunktion (hier Wasserhaushalt und Glukoseniveau). Homöostaten wieder Gleichgewicht hergestellt haben. Wenn Verhal-
Ein Mangel einer der beiden Grundbausteine des Organismus führt ten eine Belohnung (rot) hervorruft, so wird dieses Verhalten mit eben
zu erhöhter Erregung der Homöostaten im Hypothalamus, die diese demselben Homöostaten verbunden. Wird dieser Homöostat später
Erregung (Triebenergie) auf die dafür zuständigen motorischen Areale wieder aus dem Gleichgewichtszustand gebracht, so wird er jene
(z. B. für Beine oder Hände zur Nahrungssuche) übertragen müssen. Verhaltensweisen aktivieren, die in der Vergangenheit mit dem Ho-
Diese Triebenergie ist zunächst ungerichtet (z. B. Suchverhalten), wird möostaten verbunden worden sind (weitere Erläuterungen 7 Text)

Appetitive und konsumatorische Reaktionen G Tritt ein homöostatisches Ungleichgewicht ein (z. B.
Die Wirkungsweise der beiden Motivationsmechanismen Glukoseabfall), so folgt ungerichtetes appetitives
Trieb und Verstärkung wird in . Abb. 26.2 dargestellt. Im Suchverhalten. Erst die Verstärkung lenkt die Trieb-
Unterschied zu . Abb. 26.1 nehmen wir hier 2 Triebsyste- energie auf ein bestimmtes Verhalten.
me an, die miteinander konkurrieren können (Hunger und
Durst). Das Lebewesen lernt bei Hunger links zu gehen, bei Anreizmotivation (»incentive motivation«)
Durst rechts: dies aber nur, wenn das (hier noch hypothe- Natürliche Anreize sind Nahrung, Wasser, soziale und se-
tische) Verstärkungssystem, (Abschn. 26.6) die Verbindung xuelle Partner, Wärme, Berührung. Künstliche Anreize sind
zu den motorischen Systemen herstellt, wie es auf . Abb. 26.1 Drogen oder intrakranielle Selbstreizung, die die senso-
symbolisiert ist. rische Verarbeitung umgehen und direkt auf das neuronale
Die Tatsache, dass für Trieb und Verstärkung anatomisch Anreizsystem (Dopaminsystem) wirken. Anreize sind kon-
und neurochemisch abgrenzbare Strukturen auffindbar sind, ditionierte Verstärker oder sekundäre Verstärker.
bestätigt die begriffliche Trennung von Trieb und Verstär- Die Richtung eines Verhaltens (auf einen Reiz hin oder
kung. . Abb. 26.2 zeigt, dass die Triebhomöostaten bei feh- weg) wird nach einigen Verstärkungen von den verstärken-
lender Homöostase vorerst relativ ungerichtetes appetitives den Reizen (Anblick der Speisen) selbst und nicht nur vom
Suchverhalten auslösen. Erst nach Erregung eines Verstär- primären Trieb (Hunger) allein ausgelöst. Im Falle eines
kungssystems durch die konsumatorischen Reaktionen positiven Anreizes wird das Ausmaß der Anreizmotivation
(Aufnahme der Nahrung oder Flüssigkeit) werden die Trieb- von drei Prozessen bestimmt:
reize durch die Verstärkersysteme auf die zielführenden Ver- 4 Die neuronalen Substrate für positive Verstärkung
haltensmuster gelenkt, adjustiert. Gleichnishaft könnte man (Freude) werden durch die Konsequenzen des Verhal-
sagen, dass die Triebsysteme den Wasserdruck für die Bewäs- tens erregt (. Abb. 26.2).
serung (ausreichend intensive neuronale Erregung) liefern, 4 Die positive Empfindung, ausgelöst durch die positive
die Verstärkersysteme das Wasser in jene Kanäle lenken, die Verstärkung, wird durch klassische Konditionierung
zu den trockenen Feldern (Motorik) führen. Je häufiger die (Abschn. 25.1) mit dem Ort, dem Objekt, der Handlung
Bewässerung (Verstärkung), umso stärker der Pflanzen- oder dem Anlass der Freude assoziiert.
wuchs (Reaktionsstabilität durch mächtigere Verbindung 4 Bei der zukünftigen Wahrnehmung dieser Objekte und
zwischen Reiz- und Reaktionssystemen). Handlungen werden sie aus den übrigen Reizen heraus-
26.1 · Grundbegriffe der Motivation
665 26

gehoben und werden attraktiv und erwünscht. Diesen wird und daher unterschiedliche Verhaltensprogramme für
Prozess nennt man Anreizhervorhebung (»incentive ein und dasselbe Ziel benutzen kann, bleibt das Instinktver-
salience«). Zielgerichtetes Suchverhalten und instru- halten im Wesentlichen konstant. Leerlaufverhalten (z. B.
mentelles, operantes Verhalten sind die beobachtbaren die Stereotypien von Tieren in Gefangenschaft, wie zielloses
Manifestationen von Anreizhervorhebung. von rechts nach links Laufen im Käfig oder monotone
Kopfbewegungen) und Übersprungshandlungen (z. B. das
G Anreizmotivation entsteht durch Assoziation der
Huhn, das bei einer Attacke am Boden zu picken beginnt
Hinweisreize mit positiven oder negativen Verstär-
oder beim Menschen das verlegene Sich-am-Kopf-kratzen)
kern. Dadurch werden diese Reize aus dem Kontext
sind Teile von Instinktreaktionen; bei starker unspezifischer
hervorgehoben (»incentive salience«).
Erregung des Systems (Angst, Aggression) kommt es zu
einem »Rückfall« auf ein einfacheres und starreres Reflex-
26.1.3 Reflexhierarchien und niveau und Instinktreaktionen erscheinen. Instinktives
Spontanverhalten Verhalten wird eher automatisierte als kontrollierte Infor-
mationsverarbeitung benutzen (Kap. 21). Es wird daher
Instinktverhalten auch seltener mit affektiven Reaktionen im Sinne einer
In der Biologischen Psychologie unterscheiden wir zwischen positiv-negativ Färbung einhergehen, sondern affektiv neu-
Instinkt und Motivation, auch wenn beide Verhaltensklas- tral sein.
sen neben ihren Unterschieden auch Gemeinsamkeiten
G Instinktives Verhalten tritt als stereotype Reaktion
aufweisen:
auf angeborene Schlüsselreize auf und ist »blind«
Beide sind von variablen internen Zuständen (z. B.
gegenüber den Konsequenzen. Seine vorgegebene
Hormonspiegel) des Organismus abhängig, die die Reak-
Verschaltung erspart dem Organismus, Aufmerk-
tionsbereitschaft variieren. Anreize und Verstärkung über-
samkeitsressourcen und Lernen zu aktivieren.
tragen die Reaktionsbereitschaft auf eine bestimmte Reak-
tionsklasse, z. B. Kopulation. Beide, Instinkt und Triebver-
halten, weisen appetitive und konsumatorische Phasen auf Reflexhierarchien
(Abschn. 26.2). Beide sind hierarchisch organisiert, von zu- Den fließenden Übergang von instinktivem zu motiviertem
nehmend einfachen Reflexkreisen bis zu komplizierten Verhalten kann man auch als eine Kette hierarchisch auf-
Verhaltenssequenzen. einander aufgebauter Reflexe verstehen. Dabei bauen kom-
Instinktreaktionen sind vererbte Phänotypen, im Laufe pliziertere Reflexe auf die einfachen auf und ergeben nach
der ontogenetischen Entwicklung erscheint das Verhalten Abschluss einer Entwicklung das auf ein Ziel gerichtete
als Folge eines bestimmten Genotyps (z. B. sexuelle Reak- »ganze« Verhalten. Dieser stufenweise Aufbau motivierten
tionen in der Pubertät). Instinkte sind vom Vorhandensein Verhaltens durch das ZNS lässt sich anhand der Erholung
eines angeborenen Auslöse- oder Schlüsselreizes abhängig. von völlig motivationslosem Verhalten nach Läsionen des
Der eben geschlüpfte Vogel benötigt den Anblick des Hypothalamus und anderen Hirnstrukturen studieren.
Schnabels der Eltern oder einer Attrappe, um gezielt die Nach Zerstörung des lateralen Hypothalamus treten bei
Nahrung dort zu suchen (. Abb. 24.4). Zusätzlich benö- der Ratte Katalepsie und Akinese auf. Katalepsie entspricht
tigen Instinktreaktionen wie Triebverhalten endogene beim Menschen zumindest äußerlich der Katatonie bei
Reize (z. B. Hungerkontraktionen oder Hormonspiegel in Schizophrenien (Kap. 28). Der Organismus nimmt für lange
bestimmtem Alter), damit ein Schlüsselreiz als solcher er- Zeit (Stunden, Tage) Körperpositionen und Haltungen ein,
kannt wird. die normalerweise nicht auftreten (z. B. mit gespreizten
Instinkte sind einfacher organisiert als Triebreaktionen, Beinen und gebeugtem Rücken stehen). Akinese ist Still-
sowohl physiologisch als auch im sichtbaren Verhalten; sie stand der Bewegung trotz intakter Wachheit. Die Erholung
sind in kleinhirnigen, isoliert lebenden Lebewesen häufiger von solchen Läsionen beginnt mit Verhaltensstillstand und
und aufgrund der genetischen Determiniertheit speziesspe- reicht bis zu »spontanem« operantem Verhalten; sie verläuft
zifisch. Instinkte sind blind gegenüber den Konsequenzen, in gesetzmäßiger und hierarchischer Weise, vergleichbar
sie äußern sich, wann immer der angeborene Auslösereiz mit der Entwicklung des reflexabhängigen Neugeborenen
auf den endogenen Trieb-Auslösemechanismus trifft, auch bis zu »spontanen« Verhaltensweisen des Kindes. Die Er-
wenn die Konsequenz des Verhaltens sinnlos oder destruk- holung verläuft rostrokaudal, zuerst werden Kopfreflexe
tiv ist (z. B. ignorieren viele Vögel ihre eigenen Eier und be- (anheben, drehen), später Rumpfhaltungen und Lokomo-
brüten sie nicht, wenn ein großes Pseudoei vorhanden ist, tion wieder ausgeführt. . Abb. 26.3 demonstriert dies an
das aber die wesentlichen Auslösereize aufweist). der Ratte.

Leerlauf- und Übersprungshandlungen G Motiviertes Verhalten besteht aus komplexer wer-


Während motiviertes Verhalten von operantem Lernen, denden Reflexhierarchien. Die Erholung nach Verlust
d h. von Antizipation und Erwartung des Ziels dominiert von Motivation verläuft vom Kopf »abwärts«.
666 Kapitel 26 · Motivation und Sucht

gigkeit der einzelnen Bausteine des komplexen Reflexmus-


ters von der Gegenwart ganz bestimmter Reize nicht oder
nur mehr schwer sichtbar wird. Unter extremer Aktivie-
rung (Angst) treten aber die elementaren Reflexe (z. B.
»Einfrieren« der Bewegung, Starre) wieder hervor; z. B.
hängt der Neuerwerb »motivierten« Laufens auf ein Ziel
nach Hypothalamusläsionen (bei Ratten) ausschließlich
von der Berührung des Rumpfes und der Beine mit dem
Boden ab (taktil-kinästhetisch). In die Höhe gehalten, ver-
schwindet die Lokomotion, das hypothalamische Tier wird
kataplektisch, erstarrt in einer stereotypen Haltung; seine
»Spontaneität kommt vom Boden«.
Aber nicht nur für primäre, homöostatische Triebreak-
tionen gilt das eben Gesagte, sondern auch für Emotionen:
In Kap. 27 wird dies am Beispiel aggressiven Verhaltens
26 (. Abb. 27.23) besonders deutlich. Die aus dem Körper
kommenden Signale wirken als »somatische Marker«, die
einen Teil der jeweiligen emotional-motivationalen Reak-
tion bilden.
G Der Aufbau von Reflexhierarchien und Spontanver-
halten hängt nicht nur von den Konsequenzen eines
Verhaltens ab, sondern auch von Informationen aus
dem eigenen Körper über den Bewegungsablauf
und den Zustand innerer Organe.

Operantes Lernen und Verhaltensflexibilität


. Abb. 26.3. Motivationsverlust nach Hypothalamusläsion. Fünf Nur operantes Lernen kann in die Stereotypie von Reflex-
Phasen der zephalokaudalen Erholung der Körperhaltung von Akine-
sie nach Läsion des lateralen Hypothalamus. Die Ausschnitte stammen
hierarchien eine gewisse Flexibilität bringen: die unmittel-
aus Filmsequenzen, die Tage bis Wochen auseinander liegen baren Konsequenzen modifizieren das Auftreten des ge-
samten, zusammengesetzten Reflexmusters und zwar teil-
weise unabhängig von der momentanen Gegenwart der
Spontanverhalten und körpernahe Reize spezifischen, auslösenden Reize (Kap. 25).
Spontanes Verhalten, das nicht direkt von einem Reiz aus- Ein fundamentales Problem für operantes Lernen und
gelöst ist, wird durch zwei Arten von Einflüssen erzeugt: Verhaltens- und Denkflexibilität stellt seine Abhängigkeit
4 Die aktivierende Wirkung der eigenen Bewegung (re- von der Willkürmuskulatur und der Rückmeldung über
afferente Aktivierung, z. B. wiederholt das Baby die Auf- Intention und Ablauf der Bewegung dar. Es ist bisher nicht
richtebewegung immer wieder. Daher das Stichwort: gelungen, bei vollständig gelähmten Menschen oder kura-
Spontaneität kommt vom Boden). risierten Tieren nach längerem Ausfall der Rückmeldung
4 Durch vestibuläre, kinästhetische, taktile, gastrische von der Intention und Ausführung einer Bewegung (und
und thermale Reize; ohne deren Einfluss tritt kein vermutlich auch eines Gedankens oder eines Gefühls)
spontanes Verhalten auf. irgendeine physiologische Reaktion (z. B. Herzrate, Hirn-
potenziale etc., Abschn. 28.2) instrumentell zu konditio-
Das Vorhandensein oder Fehlen eines bestimmten Hor- nieren (7 25.6.1).
mons oder eines anderen homöostatischen Ungleichge- Dies könnte bedeuten, dass bei diesen Organismen ziel-
wichts reicht also nicht aus, um zielgerichtetes Verhalten zu gerichtetes, willentliches Denken oder Steuern von physiolo-
ermöglichen. Jede neue Bewegungssequenz hängt von der gischen Parametern nicht mehr möglich, obwohl die kogni-
Präsenz einer vorausgegangenen Klasse von Reizen und tive Leistungsfähigkeit erhalten ist (Box 28.3). Für operante
deren Erregungssequenzen im Nervensystem ab. Kontrolle (»Wille«) ist die Rückmeldung über die ausge-
Motiviertes Verhalten besteht also aus geordneten führte Intention und ihre Konsequenz über einen somati-
Reflexen, die in Abhängigkeit von adäquater Reizung zu schen Marker, also eine Rückmeldung aus Muskulatur oder
immer komplexeren Reflexgruppen zusammengesetzt Vegetativum notwendig, um die Richtung der Intention
werden. Der Eindruck von Spontaneität entsteht dadurch, und Gedanken bestimmen zu können (Abschn. 27.1). Man
dass komplexere, zusammengesetzte Reflexmuster die ein- könnte sich vorstellen, dass bei vollkommen gelähmten,
facheren überlagern oder hemmen und damit die Abhän- sog. »Locked-in«-Patienten zwar Gedanken und Absichten
26.2 · Durst und Hunger
667 26

spontan entstehen, dass ihre Richtung aber nicht mehr (auf sensoren über den Nucleus tractus solitarii (NTS) in der
ein Ziel) lenkbar sind. Klassische Konditionierung, die keine Medulla das Renin-Angiotensin II-System aktiviert (Kap. 12
Intention verlangt, sondern passiv erfolgt, ist aber weiterhin zum Wasserhaushalt). Angiotensin II steigert über die
möglich. Nebennierenrinde die Freisetzung von Aldosteron (Kap. 5),
das über das Subfornikalorgan Ausschüttung von ADH und
G Operantes Lernen ermöglicht flexibles Verhalten
Oxytozin bewirkt. ADH macht Durst und Oxytozin redu-
in Abhängigkeit von Verhaltenszielen. Ohne Rück-
ziert den Salzappetit.
meldung der Bewegung, ihrer Intention und Konse-
quenz und ohne körpernahe Reize von ihrer Ausfüh- G Unter Durst verstehen wir einen spezifischen zentra-
rung, ist operantes Lernen und damit willentliches len Triebzustand, der die Bereitschaft erzeugt, trink-
und zielgerichtetes Verhalten nicht mehr möglich. bare Flüssigkeit zu suchen und zu konsumieren;
das Trinkverhalten wird über die intra- und extra-
26.2 Durst und Hunger zelluläre Osmolalität und das intravasale Volumen
geregelt.
26.2.1 Formen von Durst und Salzappetit
Salzappetit
Voraussetzungen für Durst Wasserverlust löst sowohl Wasseraufnahme als auch Auf-
Der erwachsene menschliche Körper besteht zu etwa nahme von NaCl (Salz) aus, um Volumen und Osmolalität
70–75% seines Gewichtes aus Wasser (Fettdepots unbe- der Extrazellulärflüssigkeit wieder in ein Gleichgewicht zu
rücksichtigt). Dieser Wassergehalt wird mit großer Genau- bringen. Deshalb ist die Abnahme der Aktivität in den vis-
igkeit konstant gehalten: Er schwankt langfristig normaler- zeralen vagalen Afferenzen vom rechten Vorhof des Her-
weise nur um ±0,22%, also nur um rund ±150 ml. Verliert zens und den arteriellen Barorezeptoren bei Hypovolämie
der Körper mehr als 0,5% seines Gewichtes an Wasser (also nicht der einzige auslösende physiologische Reiz für Durst
etwa 350 ml bei 70 kg Körpergewicht), entsteht Durst und ADH-Ausschüttung, sondern auch für Salzappetit. Die
(meistens wird ohne Durst getrunken). Salzaufnahme setzt verspätet ein und überdauert die Was-
In Kap. 5, 7, 10 und 12 haben wir bereits einige Grund- seraufnahme um Minuten bis Stunden; d h. Tiere nehmen
prinzipien der Regelung von Wasser- und Kochsalzaus- nach experimenteller Hypovolämie weiterhin Salz zu sich,
scheidung besprochen. Wir fassen die wichtigsten Regel- nachdem die Balance der Extrazellulärflüssigkeit wieder
vorgänge zur Erhaltung des Volumen- und Osmolalitäts- hergestellt ist. Das bedeutet, dass ein weiteres (langsames)
gleichgewichts zusammen: Dehnungsrezeptoren in den Signal für die Auslösung des Salzappetits verantwortlich
Vorhofgefäßen des Herzens (Kap. 10) melden an den Hirn- sein muss. Dieses Signal ist Aldosteron, das bei Hypo-
stamm und darüber liegende Hirnregionen den Füllungs- volämie über den Renin-Angiotensin-Mechanismus aus
zustand der wichtigen Blutgefäße. Dies und die Osmolalität der Nebennierenrinde ausgeschüttet wird und an allen
der Körperzellen wird von Zellen des Hypothalamus, die in Na+-ausscheidenden Epithelien (Nierentubuli, Mukosa des
den zirkumventrikulären Organen des 3. Ventrikels liegen Darmes, Ausführungsgänge von Speichel- und Schweiß-
und bei Anstieg der extrazellulären Osmolalität schrump- drüsen) die Natriumresorption fördert (Abschn. 12.3.3, 7.1
fen, geregelt. Schrumpfen die Zellen durch Wasserverlust und 7.3).
im Intrazellulärraum und den wachsenden osmotischen Bereits 1940 wurde von Wilkins und Richter der Fall
Druck im Extrazellulärraum (. Abb. 26.4a), bewirkt dies eines 4-jährigen Knaben berichtet, der exzessiv Salz auf-
die Öffnung ihrer Kationenkanäle und damit die Depolari- nahm. Im Krankenhaus wurde er daran gehindert und
sation der Zellen im N. praeopticus und paraventricularis starb wenige Tage später. Die Autopsie ergab, dass er einen
des Hypothalamus. Dieser schüttet ADH (antidiuretisches Tumor beider Nebennierenrinden aufwies. Seine Neben-
Hormon oder Vasopressin) aus, wodurch die Niere Wasser- nierenrinde konnte kein Aldosteron produzieren und er
und Salzausscheidung regelt. verlor unkontrolliert Na+ im Urin. Box 7.5 berichtet über
Nebennierenrinden-(NNR)-Über- und Unterfunktion.
Osmotischer und hypovolämischer Durst Angiotensin II wirkt auch direkt auf spezialisierte Re-
Entsprechend den beiden Regelungsmechanismen der zeptorpopulationen für Salzappetit in den zirkumventriku-
Flüssigkeitsbalance gibt es auch 2 Arten von Ursachen für lären Organen. Die verzögerte Befriedigung des Salzappe-
Durstentstehung, osmotische und hypovolämische, die in tits wird auf diese Weise durch die Aktivierung oxytoziner-
. Abb. 26.4a, b dargestellt sind. ger Neurone im Hypothalamus gesteuert. Diese Neurone
Zerstörung der oben beschriebenen zirkumventriku- hemmen verzögert jene Neurone, die für Salzappetit ver-
lären Organe führt zu Adipsie (Verlust von Trinkverhalten), antwortlich sind (und fördern gleichzeitig in der Niere die
Zerstörung der ADH-Neurone zu exzessivem Trinken Natriurese). Die experimentelle Gabe von Oxytozin in die
(Polydipsie). Beim hypovolämischen Durst wird über die zerebrovaskuläre Flüssigkeit beendet sofort die NaCl-, nicht
arteriellen Barorezeptorenafferenzen (Kap. 10) u. a. Druck- aber die Wasseraufnahme.
668 Kapitel 26 · Motivation und Sucht

26

. Abb. 26.4a, b. Hypovolämischer und osmotischer Durst. steht, wenn das Gesamtvolumen an Wasser konstant bleibt, aber
a Hypovolämischer Durst (links) wird durch Verlust von Blut oder plötzlich ein starker Anstieg von extrazellulären Lösungsbestandteilen
anderen Körperflüssigkeiten (Schwitzen, Verdunsten, Erbrechen, und Salz (z. B. nach sehr salziger Nahrung) auftritt. b Regelung des
Durchfall) ausgelöst. Intra- und extrazelluläre Lösungs- und Salzbe- hypovolämischen (links) und osmotischen Durstes (7 Text)
standteile bleiben dabei konstant. Osmotischer Durst (rechts) ent-
26.2 · Durst und Hunger
669 26
Natriuretisches Peptid des Herzens so viel Wasser wie ein normaler Hund mit dem gleichen
Wenn das Volumen des Blutplasmas stark ansteigt (z. B. bei Wasserdefizit. Danach unterbricht er das Trinken für
bestimmten Formen des Bluthochdrucks, Wasserintoxika- 20–60 min. Also bewirkt das Trinken selbst, bzw. die mit
tionen bei gestörter Natriumausscheidung, Herzinsuffi- ihm verbundenen motorischen und sensiblen Vorgänge,
zienz und Leberzirrhose), wird als eine Art Notfallsystem eine vorübergehende Durststillung. Auch Volumen- und
ein Hormon, das atriale natriuretische Peptid (ANP), aus Osmosensoren des Magens und des Duodenums scheinen
den Vorhöfen des Herzens ausgeschüttet, das die Ausschei- eine Rolle in der präresorptiven Durststillung zu spielen:
dung von Salz aus den Nieren beschleunigt. ANP fördert Wird bei Affen nach Beendigung des Trinkens die Flüssig-
zusätzlich noch Wasserausscheidung und hemmt Renin- keit über einen vorher gelegten Magenschlauch abgesaugt,
und Vasopressinausschüttung und Salzappetit. nehmen die Tiere das Trinken alsbald wieder auf. Umge-
kehrt hört das Trinken sofort auf, wenn über einen Katheter
G Nach Hypovolämie (Volumenverlust) stellt der Baro-
eine kleine Menge Wasser direkt in das Duodenum appli-
rezeptormechanismus mit ADH- und verspätet Aldos-
ziert wird. Nimmt man statt Wasser Kochsalzlösung, geht
teronausschüttung das Na+-Gleichgewicht durch Na-
das Trinken weiter. Das Duodenum scheint also Rezeptoren
triumresorption wieder her. Auch die Aktivierung von
zu enthalten, die die Wasseraufnahme registrieren; es ist
Oxytozin-Neuronen im Hypothalamus durch Salz er-
damit an der präresorptiven Durstentstehung beteiligt.
folgt verzögert: diese hemmen nach Salzaufnahme
Die jeweils getrunkene Flüssigkeitsmenge hängt auch
jene Neurone, die für Salzappetit verantwortlich sind.
von ihrem Geschmack ab. Zusatz von Zucker führt bei
Menschen, Affen und Ratten, aber nicht bei Katzen, zu
26.2.2 Durststillung deutlich größerer Flüssigkeitsaufnahme. Auch eine Aus-
wahl unterschiedlicher Getränke erhöht den Konsum im
Präresorptive und resorptive Durststillung Vergleich zu einem gleichförmigen Angebot. Umgekehrt
Vom Beginn des Trinkens bis zur Beseitigung eines Wasser- wird der Wohlgeschmack eines Getränkes, auch von Was-
mangels vergeht geraume Zeit, da das Wasser zunächst in ser, umso positiver beurteilt, je größer der Durst ist. Die
den Blutkreislauf überführt (resorbiert) werden muss. Es ist niedrigsten Bewertungen finden sich nach Durststillung.
aber eine alltägliche und im Tierexperiment vielfach be- Für die affektive Bewertung des Geschmacks (gut –
stätigte Beobachtung, dass das Durstgefühl erlischt, d h. das schlecht) ist der mediodorsale Orbitalkortex verantwort-
Trinken aufhört, lange bevor der extra- und intrazelluläre lich, wie auch für andere Verstärker (Kap. 19). Nach dessen
Wassermangel beseitigt ist. Der resorptiven Durststillung Läsion wird die Bedeutung von Belohnung und Bestrafung
geht also eine präresorptive voraus, die eine übermäßige nicht mehr erkannt und die Selbstkontrolle geht verloren
Aufnahme von Wasser verhindert und die Zeit bis zur re- (Kap. 28).
sorptiven Durststillung überbrückt (. Abb. 26.5). Die prä-
G Wie alle homöostatischen Triebe besitzen die Durst-
resorptive Durststillung arbeitet mit großer Präzision: Die
systeme einen antizipatorischen Sättigungsmecha-
getrunkene Wassermenge entspricht in engsten Grenzen
nismus, der das Trinken lange vor Erreichen des
der benötigten. Sensoren im Zungen-Rachenraum wie im
Sollwertes im Gewebe beendet (präresorptive Durst-
Magen und Duodenum und der Leber informieren das
stillung).
Hirn über vagale Afferenzen über die aufgenommene Was-
sermenge und hemmen den Trinkakt über Verbindungen
zu motorischen Systemen. Primäres und sekundäres Trinken
Ein Hund mit einer Ösophagusfistel (aus der das auf- Trinken als Folge eines absoluten oder relativen Wasser-
genommene Wasser wieder herausläuft) trinkt etwa doppelt mangels in einem der Flüssigkeitsräume des Körpers
bezeichnen wir als primäres Trinken, Trinken ohne offen-
sichtliche Notwendigkeit der Wasserzufuhr als sekundäres
Trinken.
Primäres Trinken ist im Grunde eine Notfallreaktion,
die bei regelmäßiger Lebensweise und ausreichender Ver-
fügbarkeit von Wasser nur selten auftritt. Sekundäres Trin-
ken ist die übliche Form der Flüssigkeitszufuhr. Im Allge-
meinen nehmen wir (das gilt auch für andere Säuger) meist
schon im Voraus das physiologischerweise benötigte Wasser
auf. Zum Beispiel wird mit und nach dem Essen Flüssigkeit
aufgenommen, wobei wir anscheinend gelernt haben, die
Flüssigkeitsmenge an die Speise anzupassen, bei salzhaltiger
. Abb. 26.5. Präresorptive und resorptive Durststillung durch Kost also mehr zu trinken, selbst wenn noch kein Durstge-
Wasseraufnahme fühl aufgetreten ist. Lernen spielt also eine große Rolle.
670 Kapitel 26 · Motivation und Sucht

Klinischer Durst Die Regulation des Fettgewebes ist eine Langzeitregu-


Vermehrter Durst im Verlaufe von Erkrankungen kann lation, die langsam und quantitativ sehr genau ist. Unter
einmal die Folge eines abnorm hohen Wasserverlustes bei biologischen Bedingungen wird die Größe des Fettgewebes
ansonsten normal funktionierenden Durstmechanismen (und damit auch das Körpergewicht) auf <1% über Monate
sein, zum anderen kann er Störungen der Durstmecha- und Jahre konstant gehalten. Die Kontrollzentren dieser
nismen oder, allgemeiner, der Regelung des Salz-Wasser- Regulation im Hypothalamus erhalten ein Rückkopplungs-
Haushaltes anzeigen. Eklatante Beispiele für den ersten signal vom Fettgewebe, dessen Konzentration im Blut
Fall sind die Wasserverluste bei anhaltendem Erbrechen quantitativ proportional zur Größe des Fettgewebes ist
oder schweren Durchfällen, wie z. B. bei der Cholera (der (Adipositassignal). Dieses Signal ist das Peptid Leptin, das
englische Arzt Thomas Latta stillte 1832 erstmals den Durst von den Adipozyten synthetisiert wird. Insulin aus den In-
der Cholerakranken durch intravenöse Flüssigkeits- selzellen des Pankreas spielt auch eine Rolle als Rückkopp-
zufuhr und konnte dabei schlagartige Besserung der Sym- lungssignal in dieser Regulation (. Abb. 26.6 links und
ptome beobachten). Diabetes insipidus: Box 12.8 in Ab- Box 26.1). Sowohl Insulin wie auch Leptin gelangen neben
schn. 12.3.3. dem Hypothalamus in andere Areale des Gehirns und ent-
falten eine Vielfalt von Wirkungen.
G Sekundäres Trinken wird in der Regel antizipatorisch
26 gelernt, nur in Notfallsituationen erfolgt primäres Kurzzeitregulation
Trinken bei Störung der Flüssigkeitsbalance.
Die Regulation der Nahrungsaufnahme durch den Gastro-
intestinaltrakt (GIT) ist eine Kurzzeitregulation (rechter
26.2.3 Hormonelle Regulation von Hunger Teil von . Abb. 26.6), die schnell und ungenau ist. Die Re-
und Sättigung gulationszentren liegen in der Medulla oblongata (Nucleus
tractus solitarii, NTS; Nucleus dorsalis nervi vagi, NDNV)
Langzeitregulation und im Hypothalamus (. Abb. 26.7a, b). Diese Zentren er-
Die hauptsächliche Energiereserve des Körpers ist das Fett- halten multiple afferente neuronale und hormonelle Signa-
gewebe (etwa 5- bis 6-mal 105 kJ bei einem 75 kg schweren le vom Gastrointestinaltrakt, die vor allem die Beendigung
Mann mit 15% des Körpergewichtes als Fett). Ein kleiner der Nahrungsaufnahme kontrollieren (Sättigungssignale).
Teil der verfügbaren Energiereserve ist als Kohlenhydrat (in Vagale Afferenzen zum NTS signalisieren mechanische
der Leber und im Skelettmuskel) gespeichert. Diese Energie- und chemische (Glukose, Aminosäuren, Lipide) Änderun-
reserve steht praktisch sofort zur Verfügung und reicht für gen. Die Hormone Cholezystokinin (CCK) und »gluca-
etwa einen Tag. Die Regulation von Hunger und Sattheit ist gon-like peptide« (GLP) signalisieren über das neurohä-
mit der homöostatischen Regulation dieser Energiereser- male Organ Area postrema den Lipid- bzw. Glukosegehalt
ven und mit der homöostatischen Regulation der Nahrungs- im oberen Dünndarm (. Abb. 26.7c). Das Neuropeptid
aufnahme eng verknüpft (. Abb. 26.6). Ghrelin aus der Mukosa des Magens fördert die Nahrungs-
aufnahme. Das Neuropeptid PYY aus der Mukosa des
Dünndarms hemmt die Nahrungsaufnahme. Beide Neuro-
Nach Arnow B et al (2002). Mit freundlicher Genehmigung der Oxford University Press.

peptide wirken über Neurone im Nucleus arcuatus des Hy-


pothalamus (. Abb. 26.7b).
G Hunger und Sättigung hängen von der präzisen
homöostatischen Langzeitregulation der Energie-
reserven über das Fettgewebe und Leptin und der
ungenauen homöostatischen Kurzzeitregulation
der Nahrungsaufnahme aus dem Gastrointestinal-
trakt ab.

26.2.4 Neuronale Regulation von Hunger


und Sättigung

Hypothalamus und Medulla oblongata:


Langzeit- und Kurzzeitregulation
Die Zentren der homöostatischen Lang- und Kurzzeitregu-
lationen des Fettgewebes und der Nahrungsaufnahme im
. Abb. 26.6. Regulation der Nahrungsaufnahme. Konzept der
homöostatischen Lang- und Kurzzeitregulation von Energiereserven
Hypothalamus und in der Medulla oblongata sind synap-
und Nahrungsaufnahme und ihre Kontrolle durch zerebrale Systeme. tisch miteinander verknüpft und wirken immer zusammen
GIT Gastrointestinaltrakt (. Abb. 26.7b, c). An dieser Integration sind Neurone in ver-
26.2 · Durst und Hunger
671 26

Box 26.1. Insulinresistenz im Gehirn von Adipösen

Das Körpergewebe adipöser Personen und von Typ-2-Dia- graphie (MEG, Kap. 20) erlaubt die Registrierung von
betikern spricht nur mehr reduziert auf Insulin an. Diese Theta-Oszillationen im Gehirn (links oben) und der frühen
Insulinresistenz ist wesentlich für Diabetes 2 verantwort- magnetischen Antwort auf unerwartete akustische Reize
lich. Bei Adipösen scheint das Problem aber in Wirklich- (unten, Mismatch-Negativity, MMN (7 Kap. 20)). Nach
keit im Gehirn zu liegen: Die Abbildung zeigt, dass unser Insulingabe (ausgezogene Balken) erfolgt bei Normalge-
Gehirn äußerst sensibel auf Insulin reagiert, wenn man wichtigen ein Zuwachs an elektromagnetischer Aktivität
die magnetischen Felder des Gehirns bei Insulingabe er- im Gehirn, bei Übergewichtigen keiner, eher eine gegen-
fasst. Man erkennt, dass das Gehirn der Adipösen auf In- teilige Antwort. Dies belegt, dass nicht nur der Hunger
sulin nicht reagiert, was erklären könnte, warum der Hun- dämpfende Effekt von Insulin im Gehirn fehlt, sondern
ger unterdrückende Effekt von Insulinanstieg beim über- dass auch die Aufmerksamkeit verbessernde Wirkung im
gewichtigen Menschen versagt. Magnetoenzephalo- Gehirn verloren geht: Während normal-gewichtige Ge-
sunde nach Insulingabe eine deutliche Verbesserung der
Aufmerksamkeit, sichtbar z. B. an der MMN erleben, fehlt
dies bei den Übergewichtigen.

Literatur: Tschritter O et al (2006) The cerebrocortical respons to


hyperinsulinemia. Proc Nat Acad Science (PNAS) 32:12103–
12108

Mismatch-Feld im MEG

schiedenen Kerngebieten im Hypothalamus und mehrere G Zwei einander gegenseitig hemmende Kerngebiete
Neuropeptide beteiligt: Die Aktivierung von Neuronen im im Hypothalamus regeln übergeordnet die Langzeit-
Nucleus arcuatus mit den Peptiden NPY (Neuropeptid Y) nahrungsaufnahme. Diese Hunger- und Sättigungs-
und AgRP (»Agouti-related peptide«) und Neuronen im zentren steuern über anabolische (Hunger) und
lateralen hypothalamischen Areal mit den Peptiden Orexin katabolische (Sättigung) Efferenzen zum Nucleus
oder synonym MCH (»melanin concentrating hormone«) tractus solitarii (NTS) die Kurzzeitnahrungsaufnahme.
aktiviert die Nahrungsaufnahme und erzeugt eine anabole
Stoffwechsellage (Aufbau der Energiereserven). Die Akti- Limbisches System und Inselkortex:
vierung von Neuronen im Nucleus arcuatus, die POMC Hunger- und Sättigungsempfindung
(Proopiomelanokortin) und α-MSH (α-Melanozyten- Die bewussten allgemeinen Körperempfindungen von
stimulierendes Hormon) synthetisieren (Kap. 7 und 8), und Hunger und Sattheit und die speziellen Geschmacks-
Neuronen im Nucleus paraventricularis hypothalami, die empfindungen sind im viszeralen sensorischen Kortex
die Peptide Oxytozin, CRH (Kortikotropin-Releasing- repräsentiert. Dieser Kortex besteht aus dem Inselkor-
Hormon) oder TRH (Thyreotropin-Releasing-Hormon) tex (granulär und agranulär). Er wird durch vielfältige
synthetisieren, hemmt die Nahrungsaufnahme und er- mechano- und chemosensible Afferenzen vom Gastro-
zeugt eine katabole Stoffwechsellage (Abbau der Energie- intestinaltrakt, mechanosensible Afferenzen vom Oro-
speicher). pharynx, durch Geschmacksafferenzen und vermutlich
672 Kapitel 26 · Motivation und Sucht

Nach Carlson NR (1998). Mit freundlicher Genehmigung von Pearson.


26
Modifiziert nach Schwartz MW et al (2000). Reprinted by permission from Macmillan Publishers Ltd:

. Abb. 26.7a–c. Hypothalamus und Hunger. a fMRT einer Person,


die nach Fasten eine süße, glukosehaltige Flüssigkeit trank. Aktivie-
rung im medialen Hypothalamus und Septum blau. b Frontal-koro-
narer Schnitt durch das Gehirn der Ratte, in dem die wichtigsten Re-
gionen des Hypothalamus eingezeichnet sind, die bei der Regulation
von Hunger und Sättigung eine Rolle spielen. c Neuronale und hor-
monale Komponenten der Regulation der Nahrungsaufnahme.
Afferente hormonale Signale (Leptin, Insulin, Ghrelin, Peptid YY,
»glukagon-like peptide-1«) und neuronale vagale Signale vom Fett-
gewebe und vom Gastrointestinaltrakt. Neuronenpopulationen und
ihre Verschaltung im Hypothalamus (Nucl. arcuatus; Nucl. paraventri-
cularis hypothalami, PVH; laterales hypothalamisches Areal und para-
fornikales Areal, LHA/PFA). Die Neurone sind durch ihre Neuropeptide
charakterisiert (7 Text). Durch Wirkung auf den dorsalen Vagusmotor-
komplex (NTS: Nucleus tractus solitarii; NDNV: Nucleus dorsalis nervi
vagi; AP: Area postrema) fördern die Neurone im LHA/PFA die Nah-
rungsaufnahme und eine anabole Stoffwechsellage. Die Neurone
Nature.

im PVH hemmen dagegen die Nahrungsaufnahme und fördern eine


katabole Stoffwechsellage.  Aktivierung;
Hemmung

auch gastrointestinale Hormone (z. B. Cholezystokinin, Im PB, VPpc und im Inselkortex sind Geschmack
CCK, über die Area postrema) aktiviert und moduliert (Kap. 19) und Gastrointestinaltrakt (neben anderen viszera-
(. Abb. 26.8). len Organen) topisch organisiert. Diese Viszerotopie ist die
Die Afferenzen vom Gastrointestinaltrakt, vom Oro- Grundlage für die allgemeinen Körperempfindungen (wie
pharynx und von den Geschmacksrezeptoren projizieren z. B. Hunger und Sattheit) und spezielle Geschmacksemp-
viszerotop (organ-spezifisch) zum Nucleus tractus solitarii findungen. Das dopaminerge mesolimbische Verstärker-
(NTS). Die Sekundärneurone im NTS projizieren viszero- system steht über den Nucleus accumbens unter der Kon-
top zum Nucleus parabrachialis (PB), dessen Neurone trolle des viszeralen sensorischen Kortex (. Abb. 26.8).
einerseits zu den Kerngebieten der hypothalamischen Re-
gulationszentren projizieren und andererseits über einen G Die emotionalen Komponenten der Empfindung Hun-
speziellen Thalamuskern (Nucleus ventroposterior parvo- ger und Sattheit und der aufgenommenen Nahrung
cellularis, VPpc) zum Inselkortex (. Abb. 26.8). Weitere (Geschmack) werden von den kortikalen und limbi-
synaptische Eingänge bekommt der Inselkortex von den schen Projektionsgebieten des Mund- und Rachen-
hypothalamischen Kerngebieten. raumes und des Gastrointestinaltraktes repräsentiert.
26.2 · Durst und Hunger
673 26

. Abb. 26.8. Zentrale Repräsentation afferenter Signale vom . Abb. 26.9. Integration zwischen homöostatischem Regula-
Gastrointestinaltrakt und von Geschmacksrezeptoren. Übertra- tionssystem von Nahrungsaufnahme und Energiestoffwechsel
gung afferenter (neuronaler und hormoneller [CCK, GLP-1]) Signale und positivem Verstärkungssystem. Der Nucleus accumbens wird
zu den Reflexzentren in der Medulla oblongata, den Regulationszen- vom lateralen Hypothalamus über MCH-Neurone aktiviert und wirkt
tren im Hypothalamus und den viszeralen sensorischen Kortex- auf den lateralen Hypothalamus über (hemmende) GABAerge Neu-
arealen. VPpc Nucleus ventroposterior parvocellularis im Thalamus, rone. Er steht unter der Kontrolle des viszeralen sensorischen Kortex
DMH Nucleus dorsomedialis im Hypothalamus, LHA laterales hypo- (u. a. Insel) und des dopaminergen Systems im ventralen tegmentalen
thalamisches Areal, PVH Nucleus paraventricularis hypothalamischer Areal (VTA) des Mesenzephalons
Kortex: AIC agranulärer insulärer Kortex, GIC granulärer insulärer Kor-
tex, GIT Gastrointestinaltrakt, Ncl. acc Nucleus accumbens

Mesolimbisches System: die Freude am Essen Systeme auf die homöostatischen Regulationssysteme sind
Die homöostatischen Regulationen der Energiereserven mitverantwortlich für die Entgleisungen (z. B. Fettsucht)
und der Nahrungsaufnahme können durch nichtho- dieser homöostatischen Regulationen.
möostatische Mechanismen außer Kraft gesetzt werden
(. Abb. 26.8 linke, grüne Seite). So können Anblick, Ge- G Das mesolimbische Verstärkersystem (Freude) und
ruch, Vorstellung und Erwartung von wohlschmeckender die kortikalen viszeralen Systeme, vor allem die
und schön zubereiteter Nahrung die homöostatischen Insel, können die homöostatische Regulation der
Sättigungsprozesse überspielen. Diese Einflüsse werden Nahrungsaufnahme stark beeinflussen.
vermutlich über das mesolimbische dopaminerge Verstär-
kersystem (Abschn. 26.6) vermittelt. Konditionierung der Nahrungsaufnahme
Der Nucleus accumbens, der seinen dopaminergen sy- Bei ausreichendem Nahrungsangebot wird Essen in der
naptischen Eingang von ventralen Tegmentum des Mittel- Regel durch klassische Konditionierung (Abschn. 25.1)
hirns (VTA) bekommt und unter der Kontrolle des viszera- ausgelöst. Soziale und Umgebungsreize, wie Essenszeit, Ge-
len sensorischen Kortex steht (. Abb. 26.8), ist mit den schmack und Aussehen von Speisen und die beim Essen
Neuronen im lateralen hypothalamischen Areal (LHA) re- anwesenden Personen (je mehr Personen, umso mehr isst
ziprok verbunden. Das mesolimbische Verstärkersystem man), bestimmen Zeitpunkt und Menge der Nahrung mehr
aktiviert über diese neuronale Verbindung, durch Hem- als physiologische Faktoren. Geschmacksreize, vor allem
mung GABAerger Neurone die Neurone im lateralen hypo- süß schmeckende Speisen, erhöhen den Appetit, obwohl
thalamischen Areal und fördert die Nahrungsaufnahme der Hunger schon längst »gestillt« ist. Wesentlich für die
und anabole Stoffwechsellage (. Abb. 26.7c). Weiter- Selektion bestimmter Nahrungsmittel sind besonders ge-
hin können die Neurone im Nucleus accumbens von lernte Geruchsaversionen oder -vorlieben (Kap. 19).
den Orexin(MCH)-Neuronen im LHA aktiviert werden Es handelt sich hier also um eine vorausplanende
(. Abb. 26.9). Nahrungsaufnahme, die abhängig ist von Kultur und Erzie-
Die neuronale Verschaltung zwischen LHA, Nucleus hung und bei der nicht ein bereits entstandenes Defizit aus-
accumbens, viszeralem Kortex und dopaminergem System geglichen, sondern der erwartete Energiebedarf vorweg-
ist vermutlich das neuronale Substrat für die Integration nehmend abgedeckt wird. Dieses Verhalten entspricht dem
der homöostatischen und nichthomöostatischen Kompo- sekundären Trinken, das die normale Form der Flüssig-
nenten der Regulation von Energiereserven und Nahrungs- keitszufuhr für die vorausplanende Wasseraufnahme ist.
aufnahme. Unter physiologischen Bedingungen interagie-
ren die homöostatischen Regulationssysteme und das endo- G Klassische Konditionierung von Essensreizen ist für
gene Verstärkungssystem. Der modulierende Einfluss des die vorausplanende Nahrungsaufnahme neben den
mesolimbischen Verstärkungssystems und der kortikalen homöostatischen Faktoren entscheidend.
674 Kapitel 26 · Motivation und Sucht

26.2.5 Störungen des Essverhaltens armen Umgebung wird dadurch die Anlegung von Fett-
reserven erleichtert. Sind Nahrungsmittel im Überfluss
Übergewicht (Adipositas, Obesitas) vorhanden, werden sie aufgrund der mangelnden Wahr-
Natürlich überschreitet bei übergewichtigen Personen die nehmung von Sättigungssignalen als Hungerreize vom Ge-
Energieaufnahme die verbrauchte Energie, aber Überge- hirn »interpretiert« und exzessiv gegessen.
wichtige nehmen im Allgemeinen wenig mehr Kalorien als Fettleibigkeit in den reichen Industriestaaten tritt be-
Normalgewichtige auf (Box 26.1). Ratten mit beidseitigen vorzugt in den unteren Einkommensschichten und einigen
Läsionen im lateralen Hypothalamus regeln auf ein erhöh- Minderheiten (z. B. Afro-Amerikanern, Indianern) auf.
tes Körpergewicht ein, nehmen aber auch nicht mehr Nah- Mangelnde Verfügbarkeit ausgewogener Nahrungsmittel,
rung auf als Kontrollen (nach anfänglicher Nahrungsmehr- mangelnde Verfügbarkeit positiver Verstärker, sozialer
aufnahme). Stress und gezielte Verbreitung fett- und zuckerhaltiger
Der Großteil unserer Stoffwechselenergie wird in Wärme Billigprodukte durch die Nahrungsmittelindustrie sowie
abgegeben, Bewegung (Sport) spielt dabei eine Rolle. Unter- sedentärer Lebensstil sind die Hauptursache für die
suchungen an getrennt aufgewachsenen eineiigen Zwillin- Schichtabhängigkeit der Fettleibigkeit.
gen zeigen, dass die Stoffwechselrate und Wärmeabgabe in
G Obwohl Übergewicht einen starken genetischen
26 Ruhe wie auch die Energieabgabe bei Bewegung und die
Anteil hat, sind die Ursachen für den dramatischen
Vorlieben für die Zusammensetzung der Nahrung (Anteile
Anstieg von Fettleibigkeit kulturell und psychologisch
an Kohlehydraten, Proteinen und Fetten) einen geneti-
verursacht. Mangelnde viszerale Wahrnehmung des
schen Anteil von 50–80% aufweisen. Dicke Personen sind
Gehirns für periphere Signale der Sättigung verur-
daher häufig effizientere »Verbraucher«, die ihre über-
sachen das exzessive Essen und Diabetes 2, vor allem
schüssigen Kalorien im Langzeitfettreservoir ablegen und
bei den ärmeren Bevölkerungsschichten.
weniger in Wärme umwandeln. In der Regulation der Ther-
mogenese ist (im Tierversuch) der paraventrikuläre Kern
zentral beteiligt. Seine »Fähigkeit«, die Temperatur des Fett- Therapie der Fettleibigkeit
gewebes und damit die Wärmeabgabe zu steuern, scheint Dauerhaft wirksame medizinische oder psychologische
stark von genetischen Faktoren abhängig zu sein. Somit Therapien gegen Fettleibigkeit existieren kaum. Chirurgi-
könnte bei Personen mit erblicher Neigung zur Fettleibig- sche Eingriffe in den gastrointestinalen Trakt haben oft er-
keit eine zentralnervöse Störung der Temperaturregulation hebliche Nebenwirkungen und sind nur in Extremfällen
vorliegen. angezeigt. Fenfluramin, ein 5-HT(Serotonin)-Agonist,
Biologisch-hereditäre Faktoren der Stoffwechselrate unterdrückt Appetit für den Zeitpunkt der Einnahme, nach
spielen bei der Fettleibigkeit eine große Rolle, aber auch Absetzen kehrt – wie bei allen anderen Pharmaka – der
hier wird durch häufige Diäten und Fasten der langfristige Appetit und das Gewicht zurück. Die besten Erfolge er-
Gewichtsanstieg erhöht und damit das Problem verschlim- zielen bisher eine Kombination aus radikaler Diät (weniger
mert. Untersuchungen sowohl an Ratten wie auch die als 800 kcal/Tag), Bewegungsprogrammen und Verhal-
Langzeitverläufe von Personen mit häufigen Diäten zeig- tenstherapie (Abschn. 12.1.3).
ten, dass nach einer erfolgreichen und stets kurzfristigen Da Verhaltenstherapie (VT) mit Bewegungsprogram-
Gewichtsabnahme, die Tiere bzw. Menschen wieder zuneh- men zeitlich und ökonomisch aufwendig ist, verspricht die
men, aber ihr Gewicht auf einem höheren Niveau einregeln. Kombination von VT und Pharmakotherapie langfristig
Man nennt dieses Phänomen »cycling« (Kreisen) (Kap. 12). breitere Anwendung, vor allem um anfängliche Gewichtsre-
Gewichtsabnahme ist aber auch schwierig, weil bei redu- duktion durch VT langfristig zu halten. Üblicherweise ist die
zierter Kalorienaufnahme der Grundumsatz (Baustoff- Rückfallquote (wie bei allen Süchten) nach 2 Jahren 80%.
wechsel, Kap. 12) stärker als das Gewicht absinkt und somit Zugelassene Pharmaka sind Orlistat, das die Fette vor
Körperfett kaum angegriffen wird. Personen, die also nach deren Absorption entzieht und mit den Fäzes ausscheidet
Übergewicht schlank sein wollen, müssen ihre Diät dauer- und Sympathomimetika (z. B. Sibutramin, Efedrin, β-
haft fortsetzen, damit sie hypometabolisch bleiben. adrenerge Agonisten, Koffein), die die Stoffwechselrate er-
höhen. Mit der Langzeitpharmakotherapie plus VT werden
Soziale und neuronale Grundlagen 20% Gewichtsreduktion bei sehr übergewichtigen Perso-
der Fettleibigkeit nen (BMI 27–39 kg/m2) erreicht.
Untersuchungen an Indianerstämmen, die nach Aufgabe Sinnvoll wären natürlich gesetzliche Maßnahmen, die
ihrer angestammten Diät und aktiven Lebensweise durch die Fast-food-Industrie und die großen Nahrungsmittel-
die fettreiche »Zivilisationsdiät« extrem fettleibig wurden, konzerne verpflichtet, auf geschmacksverbessernde Fett-
weisen darauf hin, dass bei diesen Indianern die Leptin- und Zuckerzusätze zu verzichten und die Werbung für der-
sensibilität der Zellen geringer ist. Dies wiederum ist ver- artige Nahrungsmittel einzuschränken. Dies ist natürlich
mutlich auf eine (durchaus sinnvolle) Mutation des Leptin- nur in Grenzen sinnvoll, da viele Nahrungsmittel ohne aus-
rezeptorgens zurückzuführen. In einer an Nahrungsmitteln reichenden Fettgehalt ihren angenehmen Geschmack ver-
26.3 · Sexualverhalten, Reproduktion und Partnerbindung
675 26

lieren. Deshalb besteht auch eine paradox anmutende posi- lösen. Dies gilt auch für die Bulimie, die allerdings
tive Korrelation zwischen dem Verbrauch niedrig-kalori- durch verhaltenstherapeutische und antidepressive
scher Nahrungsmittel und dem Anstieg von Übergewicht. Maßnahmen leichter zu behandeln ist als die lebens-
»Cycling« (7 oben) wird dadurch begünstigt. bedrohliche Anorexie.
G Wirksame Behandlung des Übergewichts ist die
Kombination von verhaltenstherapeutischen Maß- 26.3 Sexualverhalten, Reproduktion
nahmen mit extrem niedrig-kalorischer Diät, und Partnerbindung
pharmakotherapeutischen Maßnahmen und Be-
wegungsprogrammen. Diäten allein führen zu 26.3.1 Sexuelle Reaktionszyklen
»cycling« und langfristigem Gewichtsanstieg.
Stadien des Ablaufes sexuellen Verhaltens
Anorexie und Bulimie Die Grundstruktur reproduktiven Verhaltens ist bei den
Anorexie besteht aus exzessivem Fasten, oft mit zu viel meisten Säugern und Vögeln ähnlich. Da aber die Aktivie-
Sport und Bewegung gepaart, extremer Abneigung und rung der einzelnen Verhaltenshierarchien (Abschn. 26.1)
Angst vorm Zunehmen. Bulimie dagegen führt zu Ess- die zeitliche und räumliche Feinabstimmung von mindes-
attacken mit willentlich herbeigeführtem Erbrechen und tens 2 Lebewesen benötigt, ist die Aufeinanderfolge und
oft Missbrauch von Abführmitteln. Anorexie und Bulimie Verkettung der einzelnen Reflexbausteine zu hierarchisch
sind überdurchschnittlich häufig bei Mädchen oder jünge- geordneten, komplexeren Reflexmustern störanfällig.
ren Frauen der Mittel- und Oberschicht der Industriena- Vier Stadien reproduktiven Verhaltens müssen hinter-
tionen anzutreffen. Ihre Entstehung ist primär kulturell- einander innerhalb des einen Individuums ablaufen und
psychologisch durch Angst vor Übergewicht und Verlust das jeweils entsprechende Stadium beim anderen Individu-
des Schlankheitsideals bedingt. Anorexie und Bulimie wer- um auslösen, damit »erfolgreiche« Paarung abgeschlossen
den stets von einer Diät ausgelöst. Die biologischen Folgen werden kann:
exzessiven Fastens haben mit den psychologischen Ur- 4 sexuelle Anziehung
sachen der Störung wenig zu tun, stellen aber die eigent- 4 appetitives Verhalten
liche Gefährdung dar und halten den Teufelskreis aus Fasten 4 kopulatorisches Verhalten
und Erfolgserlebnis (schlank bleiben) aufrecht. 4 postkopulatorisches Verhalten
Ein Großteil der endokrinen Systeme, vor allem das
Hypophysen-Nebennierenrinden-System und die Steue- Die 4 Stadien müssen beim weiblichen und männlichen
rung der Sexual- und Reproduktionsfunktionen ist für Organismus – oder im Fall gleichgeschlechtlicher Paarung
die Dauer des Fastens gestört. Vereinzelt wurde auch eine bei den beiden gleichgeschlechtlichen Partnern – zeitlich
reversible Reduktion von Hirnsubstanz beobachtet, was mit synchron aufeinander abgestimmt ablaufen. Den 4 Stadien
den negativen Langzeitfolgen (psychische Störungen, dauer- liegen differenzierbare neuronale und humorale Mechanis-
hafte Gewichtsprobleme) bei etwa 30% der Patienten in men zugrunde.
Zusammenhang steht. Diese organmedizinischen Störun- Sexuelle Anziehung (»attraction«) und alle weiteren
gen sind aber nicht spezifisch für Anorexie, sondern die Stadien werden bei den meisten Tierarten durch das Andro-
»natürlichen« Folgen extremen Fastens und Hungerns. Wir genniveau und Oxytozin und Vasopressin positiv beein-
finden sie genauso bei Hungernden, vor allem in Entwick- flusst (Abschn. 26.4 und 26.5). Geruch der Sexualorgane,
lungsländern, in denen natürlich die Anorexie als Angst vor Haltungs- und Farbänderungen und andere Reize tragen
Gewichtszunahme nicht vorkommt. dazu bei. Attraktion bringt Partner zusammen, appetitives
Bei der Bulimie ist zwar das Körpergewicht in der Regel Verhalten hält sie beieinander und löst kopulatorisches
konstant, es kommt aber nach oft mehrtägigen Fastenzeiten Verhalten (Koitus) aus. Zu appetitiven Reaktionen gehören
zu Essanfällen, in denen extreme Mengen hochkalorischer »Einladungen« zur Annäherung und zum Besteigen, Hal-
Nahrung aufgenommen wird. Personen mit Bulimie leiden tungsänderungen, Erektion und Lautäußerungen. Während
überdurchschnittlich häufig an Depressionen. Auch bei der für die Ausbildung kopulatorischer Reaktionen der Neo-
Bulimie sind die vielfältigen körperlichen Konsequenzen kortex nicht Voraussetzung ist, wird appetitives Verhalten
nicht Ursache, sondern Folge der Verhaltensstörung, die durch Dekortisierung desorganisiert. Kopulatorisches Ver-
durch verhaltenstherapeutische Behandlung langfristig zu halten besteht auf Seiten des männlichen Partners in Intro-
bessern sind. mission und Orgasmus, bei der weiblichen Seite aus Vaso-
kongestion (7 unten), Lubrikation und Orgasmus.
G Obwohl bei der Anorexie die zentrale Hungerregula-
tion anfangs intakt ist, kann eine Diät mit längerem G Reproduktives Verhalten besteht aus Anziehung,
oder extremem Fasten Essensverweigerung aus- appetitivem, kopulatorischem und postkopulatori-
6 schem Verhalten.
676 Kapitel 26 · Motivation und Sucht

voneinander aktiv sein (z.B. multiple Orgasmen beim Mann


ohne Samenerguss).
Die postkopulatorische Phase oder Refraktärphase
kann bei verschiedenen Arten von Sekunden bis Monate
dauern. Bei vielen Tieren und beim Menschen kann sie
durch einen neuen Partner verkürzt werden. Man spricht
dabei oft vom Coolidge-Effekt (Box 26.2).

Box 26.2. Der Coolidge-Effekt


Der amerikanische Präsident Coolidge und seine Frau
besuchten eine Hühnerfarm im Mittelwesten der USA.
Frau Coolidge fragte den Besitzer – beeindruckt von der
sexuellen Aktivität des Hahnes – wie oft er denn eine
»Beziehung« mit einem Huhn pro Tag habe: »Mehrmals
pro Tag«, antwortete der Besitzer. »Bitte erzählen Sie das
26 einmal dem Präsidenten«, sagte Frau Coolidge beein-
druckt. Später wurde der Präsident zum Hahn geführt
und war auch beeindruckt, fragte aber: »Dieselbe
Henne jedesmal?« »Nein«, antwortete der Besitzer der
Farm, »jedesmal eine andere«. »Bitte, erzählen Sie das
. Abb. 26.10. Der sexuelle Reaktionszyklus beim Mann und bei Frau Coolidge«, antwortete der Präsident.
der Frau. Dabei handelt es sich um eine schematische Darstellung
von durchschnittlichen Verläufen. Die männliche Reaktion weist eine
absolute Refraktärperiode nach dem Orgasmus auf. Bei Frauen (unten)
ist die Variabilität der Verläufe größer. Drei typische Verläufe (A, B und
C) sind abgebildet. 26.3.2 Die sexuellen Reaktionen
des Mannes

Der sexuelle Reaktionszyklus beim Menschen: Erektion


Allgemeinreaktionen An den komplexen Genitalreflexen der Säuger einschließ-
. Abb. 26.10 zeigt die durchschnittlichen Verlaufskurven lich der Menschen nehmen parasympathische, sympathi-
der kopulatorischen und postkopulatorischen Stadien beim sche und motorische Efferenzen sowie viszerale und soma-
Menschen. Die physiologischen Mechanismen bei den Ge- tische Afferenzen teil.
schlechtern sind zum Großteil identisch, die Plateauphase Dilatation der Arterien zu und in den Corpora cavernosa
muss bei der Frau meist länger anhalten, um einen Orgas- und im Corpus spongiosum urethrae und der Arteriolen (Si-
mus auszulösen; die Refraktärzeit ist nur beim Mann ab- nusoide) des Schwellkörpergewebes erzeugt eine Erektion
solut, d h. es muss bis zur nächsten Erektion und Orgasmus des Gliedes (. Abb. 26.11). Die Sinusoide des erektilen Ge-
eine gewisse Zeit verstreichen (Minuten bis Stunden), bei webes füllen sich und weiten sich infolge des ansteigenden
der Frau sind multiple Orgasmen möglich. Drucks prall auf. Der venöse Abfluss aus den Schwellkörpern
wird passiv durch Zusammenpressen der Venen erschwert.
G Trotz großer interindividueller Differenzen läuft der
Das Zusammenspiel von Vasodilatation und Abflussbehin-
sexuelle Reaktionszyklus bei Frau und Mann struk-
derung nennt man Vasokongestion. Die Dilatation wird
turell gleich in 4 Phasen ab: Erregungs-, Plateau-,
durch Aktivierung postganglionärer parasympathischer
Orgasmus- und Refraktärphase.
Neurone erzeugt, deren Zellkörper in den Beckenganglien
liegen und durch den N. cavernosus zu den Schwellkörpern
Kopulation und Orgasmus: Allgemeinreaktionen projizieren (. Abb. 26.11). Die Neurone werden einerseits
Der Orgasmus hat beim höheren Primaten und Menschen reflektorisch durch Afferenzen des Penis und der umliegen-
2 Elemente: Ejakulation (Samenausstoß) und Kontraktion den Gewebe aktiviert, andererseits psychologisch von supra-
der Beckenmuskulatur und des Penis. Beim weiblichen Or- spinalen (auch kortikalen) Strukturen, die auch die sexuellen
ganismus kommt es zu Uteruskontraktionen und ebenfalls Empfindungen erzeugen. Die Überträgersubstanzen dieser
Kontraktionen der Beckenmuskulatur. Das positive Gefühl Neurone sind Azetylcholin, das Neuropeptid VIP (»vasoactive
beim Orgasmus korreliert mit den Kontraktionen der pel- intestinal polypeptide«) und das Radikal Stickoxid (NO).
vischen Muskulatur, der Samenerguss beim Mann und die Diese Substanzen sind in den parasympathischen postgang-
Uteruskontraktionen bei der Frau leiten das Nachlassen der lionären Vasodilatatorneuronen lokalisiert (Kap. 6).
sexuellen Erregung ein. Unter bestimmten Umständen Die Glans penis ist am dichtesten mit Mechanosen-
können die beiden »orgasmischen« Subsysteme getrennt soren versorgt. Ihre Afferenzen laufen im N. dorsalis penis.
26.3 · Sexualverhalten, Reproduktion und Partnerbindung
677 26

des cGMP erfolgt durch das Enzym Phosphodiesterase 5


(PDE5). Sildenafil hemmt relativ spezifisch PDE5 und be-
wirkt dadurch eine lokale Anhäufung und Verlängerung
der vasodilatatorischen Wirkung von cGMP. Andere PDE
werden durch Sildenafil ebenfalls, wenn auch schwächer
gehemmt. Nebenwirkungen (Gesichtsrötungen, Sehstö-
rungen, Kopfschmerzen etc.) sind daher häufig.

Erektion bei Durchtrennung des Rückenmarks


(Querschnittslähmung – Paraplegie)
Normalerweise läuft der Erektionsreflex über das Sakral-
mark (S2–S4) ab. Er funktioniert auch bei querschnittsge-
lähmten Männern, deren Rückenmark oberhalb des Sakral-
marks durchtrennt ist. Etwa 25% der Männer mit zerstör-
tem Sakralmark können psychologisch eine Peniserektion
auslösen. Diese Erektion wird durch sympathische prä-
ganglionäre Neurone im unteren Thorakalmark und im
oberen Lumbalmark ausgelöst. Ihre Axone werden im
Plexus splanchnicus pelvinus auf postganglionäre Neurone
zum erektilen Gewebe umgeschaltet, auf die vermutlich
auch die parasympathischen präganglionären Neurone
synaptisch konvergieren (2 in . Abb. 26.11). Es ist unbe-
kannt, in welchem Ausmaße die Erregung des Sympathikus
. Abb. 26.11. Männliche Genitalorgane. Innervation und spinale beim Gesunden zur Erektion beiträgt. Bei Zerstörung aller
Reflexbögen zur Regulation männlicher Geschlechtsorgane. 1 para-
parasympathischen Neurone im Sakralmark fehlt aber die
sympathische Neurone zu erektilem Gewebe; 2 sympathische Neu-
rone zu erektilem Gewebe; 3 sympathische Neurone zu Ductus defe-
Erektion.
rens, Prostata, Samenbläschen und Blasenhals. 4 Motoaxone; 5 aszen- Wenn das Zervikal- oder Thorakalmark (Quadroplegie
dierende und deszendierende Bahnen. Interneurone im Rückenmark oder Tetraplegie) bei Männern durchtrennt ist, fehlen Emis-
sind z. T. weggelassen worden. NH N. hypogastricus sion, Ejakulation und Orgasmus fast immer. Spontane oder
reflektorisch ausgelöste Erektionen sind aber noch möglich.
Die adäquate Reizung dieser Sensoren geschieht durch Die Gründe dafür sind nicht vollkommen klar, aber die zeit-
rhythmische und massierende Scherbewegungen, wie sie liche Koordination des sexuellen Reaktionszyklus benötigt
beim Geschlechtsverkehr stattfinden. Eine wichtige Kom- offensichtlich die zentralen »Kommandos« (Box 26.4). Bei
ponente zur anhaltenden Erregung der Sensoren in der Frauen werden zumindest subjektiv kaum Beeinträchtigun-
Glans penis während des Geschlechtsverkehrs ist die Gleit- gen angegeben, aber objektive Daten fehlen.
fähigkeit der Oberflächen von Vagina und Penis, die reflek- Personen mit Durchtrennung des Rückenmarks erleben
torisch durch die vaginale Transsudation (Abschn. 26.3.3) den Orgasmus natürlich nicht als Resultat der Stimulation,
und die Aktivierung der bulbourethralen Drüsen beim da sie die Erektion und Ejakulation bzw. Lubrikation nicht
Manne herbeigeführt wird. wahrnehmen. Die visuelle Beobachtung zeigt nur an, was
abläuft, es wird aber keine sexuelle Erregung empfunden.
G Die Erektion des Gliedes leitet den sexuellen Reak-
Dafür treten »im Kopf«, unabhängig von den peripheren
tionszyklus des Mannes ein; sie wird reflektorisch
Erregungen »Phantomerregungen« auf.
spinal, bevorzugt durch den sakralen Parasympathi-
kus und durch supraspinale Zentren, ausgelöst. G Querschnittslähmungen bei Männern führen bei
Durchtrennung von Hals- und Brustmark zum Ausfall
PDE5-Hemmstoffe des sexuellen Reaktionszyklus; bei Abtrennung des
Sakralmarks mit intakter parasympathischer Inner-
An dem eben beschriebenen Mechanismus setzen Sildenafil
vation treten keine wesentlichen Störungen auf.
(Viagra) und andere Stoffe zur Behandlung von Erektions-
schwächen ein (s. Box 6.4): Bei sexueller Reizung wird Stick-
stoffmonoxid (NO) im Corpus cavernosum freigesetzt. Das Emission
NO aktiviert das Enzym Guanylatzyklase. Dieses Enzym Bei Akkumulation der Erregung der sakralen Afferenzen
führt zu einer vermehrten Bildung von zyklischem Guano- von den Sexualorganen während des Sexualaktes kommt es
sinmonophosphat (cGMP, Kap. 3), das die glatte Muskula- zur Erregung sympathischer Efferenzen im unteren Thora-
tur der Penisarterien entspannt, wodurch mehr Blut in den kal- und oberen Lumbalmark. Die Erregung der sympathi-
Penis strömen kann. Dies führt zur Erektion. Der Abbau schen Neurone führt zu Kontraktionen von Ductus defe-
678 Kapitel 26 · Motivation und Sucht

rens, Vesicula seminalis und Prostata. Damit werden Samen G Männliche Sexualhormone haben von der Konzep-
und Drüsensekrete in die Urethra interna befördert. Gleich- tion bis zur Pubertät organisierende und aktivieren-
zeitig wird ein Rückfluss des Ejakulats in die Harnblase de Funktionen für Sexualverhalten. Danach verlieren
durch Kontraktion des Sphincter vesicae internus reflekto- sie ihre Bedeutung und müssen nur in einer Mindest-
risch verhindert. menge vorhanden sein.
Die Ejakulation setzt nach der Emission ein. Sie wird
durch Erregung der Afferenzen von der Prostata und von
der Urethra interna in den Beckennerven ausgelöst. Die Rei- 26.3.3 Die sexuellen Reaktionen der Frau
zung dieser Afferenzen während der Emission erzeugt re-
flektorisch über das Sakralmark tonisch-klonische Kontrak- Erregungsphase und Vasokongestion
tionen der Beckenbodenmuskulatur und der Mm. bulbo- Die Labia majora, die sich normalerweise in der Mittellinie
und ischiocavernosi, die das proximale erektile Gewebe berühren und dadurch Labia minora, Vaginaleingang und
umschließen. Diese rhythmischen Kontraktionen erhöhen Urethraausgang schützen, weichen bei sexueller Erregung
die Rigidität des Penis (wobei der Druck im erektilen auseinander, verdünnen sich und verschieben sich in ante-
Gewebe über den arteriellen Blutdruck ansteigen kann) rolaterale Richtung. Bei fortgesetzter Erregung entwickelt
26 und die Sekrete werden aus der Urethra interna durch die sich eine venöse Blutstauung. Die Labia minora nehmen
Urethra externa herausgeschleudert. Gleichzeitig kontra- durch Blutfüllung um das 2- bis 3-fache zu und schieben
hieren sich die Muskeln von Rumpf und Beckengürtel sich zwischen die Labia majora. Die angeschwollenen Labia
rhythmisch, was dem Transport des Samens in die proxi- minora ändern ihre Farbe von rosa zu hellrot (Sexualhaut,
male Vagina und die Cervix uteri dient. Während der Eja- »sex skin«). Die Klitoris schwillt an und nimmt an Länge
kulationsphase sind die parasympathischen und sympathi- und Größe zu. Bei zunehmender Erregung wird die Klitoris
schen Neurone zu den Geschlechtsorganen maximal erregt. an den Rand der Symphyse gezogen (. Abb. 26.12).
Nach Abnahme der Aktivität in den parasympathischen Die Veränderungen der äußeren Genitalien während
Vasodilatatorneuronen klingt die Erektion allmählich ab. der sexuellen Erregung werden einerseits reflektorisch
Mit der Refrektärphase kommt es zu deutlichem Anstieg
von Oxytozin (Kap. 8).
G Emission von Samen und Drüsensekreten in die
prostatische Harnröhre und ihre Ejakulation aus der
Urethra externa sind der Höhepunkt des männlichen
Sexualaktes; der Orgasmus beginnt mit der Emission
und endet nach der Ejakulation.

Androgene und Sexual-Verhalten


Während bei nicht-humanen Säugern, vor allem Ratten,
Androgene die Frequenz sexueller Reaktionen deutlich be-
einflussen, ist beim erwachsenen Mann und bei Primaten
der Effekt relativ gering, sofern eine Mindestmenge vor-
handen bleibt. Die Normalmenge beträgt 350–1000 ng/l
Blut. Auch in hohem Alter bleibt die Mindestmenge in der
Regel erhalten. Wenn der Testosteronspiegel unter 350 ng/l
sinkt, tritt allerdings häufig Impotenz auf. Testosteron-
gaben stellen in diesen Fällen das Sexualverhalten wieder
her, bei normalem Niveau führt Testosterongabe dagegen
häufig zu einem Absinken der Libido (negatives Feedback
auf Hypothalamus).
Kastration (Entfernung oder Inaktivierung der Hoden)
nach der Pubertät führt beim Mann mit vorausgegangener
sexueller Erfahrung meist zu einem langsamen Absinken
sexueller Aktivität über Jahre. Je mehr sexuelle Erfahrung
vor der Kastration lag, umso langsamer der Abfall. . Abb. 26.12. Innervation der weiblichen Genitalorgane. 1 para-
sympathische Neurone zu Vaginalgewebe; 2 sympathische Neurone
Hilflosigkeit und Depression führen zu einem Nachlassen
zu erektilem Vaginalgewebe; 3 sympathische Neurone zum Uterus
der Testosteronproduktion: die Antizipation sexueller Aktivi- 4 Motoaxone; 5 aszendierende und deszendierende Bahnen. Inter-
tät stimuliert normalerweise die Testosteronproduktion; die- neurone im Rückenmark sind z. T. weggelassen worden. NH N. hypo-
ser antizipatorische Anstieg unterbleibt bei Belastung. gastricus, PSP Plexus splanchnicus pelvinus
26.3 · Sexualverhalten, Reproduktion und Partnerbindung
679 26

durch Reizung von Sensoren in den Genitalorganen, Der Uterus richtet sich während der sexuellen Erregung
deren Axone im N. pudendus zum Sakralmark (2 bis 4 auf auf, vergrößert sich und steigt bei voller Erregung im Be-
. Abb. 26.12) laufen, erzeugt. Andererseits werden sie auch cken so auf, dass sich die Zervix von der hinteren Vaginal-
psychogen hervorgerufen. Die Vergrößerung der äußeren wand entfernt und dadurch im letzten Drittel der Vagina
Genitalien ist auf eine allgemeine Vasokongestion zurück- ein freier Raum zur Aufnahme des Samens (Receptaculum
zuführen. Sie wird durch vasodilatatorisch wirkende para- seminis) entsteht. Während des Orgasmus kontrahiert
sympathische Neurone aus dem Sakralmark, deren Axone sich der Uterus regelmäßig. Aufrichtung, Elevation und Ver-
durch die N. splanchnici pelvini laufen, erzeugt. Die Erek- größerung des Uterus kommen durch die Vasokongestion
tion der Klitoris wird wie beim Penis des Mannes durch die im kleinen Becken und wahrscheinlich auch durch sympa-
Blutfüllung von Schwellkörpern erzeugt. In Analogie zu thisch und hormonell erzeugte Kontraktionen der glatten
den Befunden beim Mann wird vermutet, dass auch die Muskulatur in den Haltebändern des Uterus zustande.
sympathische Innervation aus dem Thorakolumbalmark Nach dem Orgasmus bilden sich die Veränderungen an
an der Erzeugung der Vasokongestion beteiligt ist. den äußeren und inneren Geschlechtsorganen meist schnell
Die Klitoris spielt wegen ihrer dichten afferenten Inner- zurück. Tritt nach starker Erregung der Orgasmus nicht ein,
vation eine besondere Rolle. Ihre Mechanorezeptoren so laufen die Rückbildungen langsamer ab. Die Refraktär-
werden sowohl durch direkte Berührung als auch indirekt zeit ist deutlich kürzer als beim Mann.
– besonders nach Retraktion der Klitoris an den Rand der 40% der Frauen berichten auch eine Ejakulation, ver-
Symphyse durch Manipulationen an den äußeren Ge- gleichbar den Männern. Das »Ejakulat« besteht in der Regel
schlechtsorganen oder durch die Penisstöße erregt. Die Er- aus Urin, aber auch kleinen Mengen eines Sekrets – dem
regung der Afferenzen vom Mons pubis, vom Vestibulum Prostatasekret des Mannes identisch – aus parauterinen
vaginae, von der Dammgegend und besonders von den Drüsen.
Labia minora können ebenso starke Effekte während der
G Der sexuelle Erregungszyklus der Frau gleicht dem
sexuellen Erregung herbeiführen wie die klitoridalen Affe-
des Mannes, führt aber zu unterschiedlich anato-
renzen. Die Empfindlichkeit wird durch das Anschwellen
misch-physiologischen Konsequenzen und benötigt
der Organe verstärkt.
in der Regel bei gleichem Alter der Partner mehr Zeit
G Die Veränderungen der äußeren Geschlechtsorgane als beim Mann.
im sexuellen Reaktionszyklus der Frau werden durch
das vegetative Nervensystem erzeugt. Sie unter- 26.3.4 Sexuelle Dysfunktionen
scheiden sich in ihrem physiologischen Ablauf kaum und Abweichungen
vom Manne. Die indirekte oder direkte Stimulation
der Klitoris spielt dabei eine wichtige Rolle. Sexuelle Dysfunktionen
. Abb. 26.13 zeigt die Häufigkeit sexueller Dysfunktionen bei
Innere Geschlechtsorgane bei der Männern und Frauen. . Tabelle 26.1 gibt eine Übersicht.
Vasokongestion
Innerhalb 10–30 s nach afferenter oder psychogener Stimu-
lation setzt eine Transsudation mukoider Flüssigkeit durch
das Plattenepithel der Vagina ein. Dies verbessert die Gleit-
fähigkeit in der Vagina. Die Transsudation entsteht auf dem
Boden einer allgemeinen venösen Stauung (Vasokonges-
tion) in der Vaginalwand, die wahrscheinlich durch Erre-
gung parasympathischer und sympathischer Neurone aus-
gelöst wird. Sie wird von einer reflektorischen Erweiterung
und Verlängerung des Vaginalschlauches begleitet. Mit zu-
nehmender Erregung bildet sich im äußeren Drittel der
Vagina durch lokale venöse Stauung die orgastische Man-
schette aus (. Abb. 26.12). Diese Manschette bildet zusam-
men mit den angeschwollenen, vergrößerten Labia minora
einen langen Kanal, der die optimale anatomische Voraus-
setzung zur Erzeugung eines Orgasmus bei Mann und Frau
ist. Während des Orgasmus kontrahiert sich die orgastische
Manschette je nach Stärke des Orgasmus. Diese Kontrak-
tionen werden wahrscheinlich neuronal durch den Sympa-
thikus vermittelt und sind mit Emissionen und Ejakulation
beim Mann zu vergleichen. . Abb. 26.13. Prävalenz sexueller Dysfunktionen in den USA
680 Kapitel 26 · Motivation und Sucht

. Tabelle 26.1. Sexuelle Dysfunktionen

Mann Frau
Geringer und fehlender sexueller Antrieb
Gestörte sexuelle Erregung: Gestörte sexuelle Erregung:
primäre und sekundäre geringe Erregung, keine Lubrika-
Impotenz (keine oder nicht tion und fehlendes Schwellen
ausreichende Erektion) der äußeren und inneren
Schamlippen
Anorgasmie: Nicht-Erreichen des Orgasmus trotz normaler
Erregungs- und Plateauphase
Frühzeitige Ejakulation Funktionelle Dyspareunie
bei der Frau (Schmerzen beim
Sexualverkehr ohne patho-
physiologische Grundlage)

26
Die große Mehrzahl der sexuellen Dysfunktionen ist
psychisch bedingt. Nur in seltenen Fällen liegen Störungen . Abb. 26.14. Paraphilien. Häufigkeit von sexuellen Abweichungen
bei Männern, die klinisch oder juristisch auffällig wurden
des Hormonhaushalts vor. Sexuelle Dysfunktionen können
aber auch durch eine organische Grundkrankheit als Be-
gleitsymptom bedingt (z. B. Diabetes) oder pharmakolo- in Kombination mit Masturbation senkt die Schwelle für
gisch ausgelöst sein (Alkohol-, Drogen-, Barbituratmiss- das Auftreten von Paraphilien, die selten isoliert, sondern
brauch, Nebeneffekte vieler therapeutischer Drogen). oft in Kombination auftreten.
Die psychologischen Störungsursachen von sexuellen Die effektive Behandlung und Prävention von Paraphi-
Dysfunktionen (Angst, Ekel, Schmerz, Abneigung) kon- lien benutzt eine Kombination aus Verhaltenstherapie und
vergieren auf eine gemeinsame pathophysiologische End- Pharmakotherapie. Medroxyprogesteronazetat (Depo-
strecke, nämlich sympathischer Übererregung in der Er- Provera) hemmt die Ausschüttung des Gonadotropin-Releas-
regungs- und Plateauphase. Dadurch werden die para- ing-Hormons (GnRH, Kap. 7) und damit die Testosteron-
sympathisch dominierten physiologischen Reaktionen in produktion. Ein direkter Androgenrezeptor-Antagonist ist
den Geschlechtsorganen gehemmt. Zyproteronazetat, der auch sexuelle Phantasien reduziert.
Die psychologischen Therapien vieler sexueller Dys- Die Antidepressiva der selektiven Serotoninaufnahme-
funktionen verwenden daher Strategien, die die sympa- hemmer (SSRI, Kap. 27) wie Prozac (Fluoxetin) oder Ser-
thische Dominanz verringern: Entspannung, Desensi- tralin (Zoloft) reduzieren ebenfalls den sexuellen Antrieb.
bilisierung, gemeinsame Berührung ohne Intromission,
G Paraphilien sind zum Großteil erlernte sexuelle Ab-
Partnerschaftstherapie, mechanische Hilfen (Dildo,
weichungen, die durch eine Kombination aus Ver-
Öle etc.).
haltenstherapie und Pharmakotherapie substantiell
G Sexuelle Dysfunktionen sind meist psychisch be- reduziert werden können.
dingt und auf sympathische Erregung und Angst
zurückzuführen. 26.4 Sexuelle Entwicklung

Atypisches Sexualverhalten und sexuelle 26.4.1 Chromosomen, Geschlechts-


Abweichungen (Paraphilien) hormone und Entwicklung
. Abb. 26.14 zeigt die Frequenz verschiedener Paraphilien
bei Männern, die mit dem Gesetz in Konflikt kamen oder Geschlechtschromosomen und
als verhaltensauffällig diagnostiziert wurden. Hirnentwicklung
Die Häufigkeit der Paraphilien bei Frauen ist unbe- Bei der Befruchtung vereinigt sich eine weibliche Eizelle
kannt, da diese in der Regel keine Gewalt- oder sozial ag- (Ovum) mit einer Samenzelle (Spermie). Alle Eizellen
gressiv-auffälliges Verhalten zeigen. weisen ein X-Chromosom auf, die Samenzellen entweder
Paraphilien sind zum Großteil psychologisch-sozial be- ein X- oder Y-Chromosom. Nur wenn sich eine Samenzelle
dingt (erlernt). Inwieweit prä- oder postnatale Androgen- mit einem Y-Chromosom mit einer Eizelle vereint, kann ein
produktion (7 unten) einen Risikofaktor darstellt, ist un- männlicher Organismus (XY) entstehen, in allen anderen
klar, eine gewisse genetische Disposition ist wahrscheinlich. Fällen entsteht ein weiblicher (»Eva-Prinzip« über »Adam-
Pornographisches Material mit paraphilen Darstellungen Prinzip«). Bis zur 8. Schwangerschaftswoche ist das Schwan-
26.4 · Sexuelle Entwicklung
681 26

gerschaftsprodukt bisexuell. Erst danach bilden sich die Androgene


Vorläufer der inneren und äußeren Sexualorgane getrennt Beim Menschen sind die 8. bis 22. Schwangerschaftswoche
für beide Geschlechter unter dem Einfluss der Sexualhor- (von insgesamt 40 Wochen, Abschn. 7.4.4) sowie die ersten
mone (. Abb. 7.15). 15 Wochen nach der Geburt und die Pubertät sensitive
Das X- und Y-Chromosom enthalten alle Gene, die für Perioden für Androgeneinwirkung. Besonders in der prä-
geschlechtsspezifische Funktionen und Körpermerkmale natalen Entwicklungsperiode wirken die Androgene auch
kodieren. Darunter auch am X-Chromosom eine Reihe auf das ZNS und formen die geschlechtsspezifischen Unter-
von Genen, die für die Entwicklung von Hirnfunktionen schiede vor allem im Hypothalamus und limbischen System.
notwendig sind. Am Y-Chromosom befindet sich das sog. Damit legen sie auch die Grundlage für späteres geschlechts-
Sry-Gen (von »sex-determining region of the Y-chromo- typisches Verhalten und den sexuellen Status (hetero-,
some«), das die Entwicklung der Hoden (Testes, von latei- homo- oder bisexuell, Abschn. 7.4).
nisch testis = Hoden) und damit die Produktion von Tes- Bei Vorhandensein des XY-Komplements bilden sich
tosteron anregt (Abschn. 7.4.4). in der 7. und 8. Schwangerschaftswoche Vorstufen der
Die Situation ist bei der Entwicklung zum weiblichen Hoden (Testes). Die von den Testes produzierten Andro-
Organismus ähnlich: Das sog. DAX-1-Gen am kurzen Ast gene sind für die Differenzierung zum männlichen Orga-
des X-Chromosoms muss in den ersten 4 Schwanger- nismus und die Maskulinisierung des Gehirns entschei-
schaftswochen exprimiert werden, damit sich Eierstöcke dend (andros = Mann, gennan = produzieren). Das wich-
u. a. weibliche Geschlechtsorgane entwickeln. Insofern ist tigste Androgen ist Testosteron. Ohne ausreichende
das »Eva-Prinzip« auch nur relativ zu sehen: der weibliche Androgenproduktion entwickeln sich äußerlich weibliche
Organismus entwickelt sich zwar in Abwesenheit von An- Geschlechtsorgane.
drogenen, benötigt aber wie diese mit dem Sry-Gen die Testosteron variiert in einem 2- bis 4-Stunden-Rhyth-
aktive Wirkung eines Gens. mus in beiden Geschlechtern (bei der Frau stammt es vor
Einige Gene am Y-Chromosom können aber auch direkt allem aus den Nebennieren). Im Gehirn wird Testosteron
die Hirnentwicklung steuern: So hängt die erhöhte Variabili- von Aromatase in Östradiol umgewandelt oder wirkt direkt
tät mentaler Funktion bei Männern mit erhöhter Variabilität auf Androgenrezeptoren, in einigen Körperzellen, vor al-
von polymorphen Allelen am X-Chromosom der Mutter lem der externen Genitalien, wird Testosteron über 5α-Re-
zusammen. Box 26.3 zeigt ein besonders extremes Beispiel duktase in 5α-Dihydrotestosteron (DHT) umgewandelt.
des direkten Einflusses von Genen auf die Entwicklung. DHT zirkuliert nicht im Blut, sondern wirkt spezifisch auf
Trotzdem ist die indirekte Wirkung der Androgene auf die das jeweilige Organ.
Hirnentwicklung bedeutsamer als die direkte Genwirkung,
G Androgene, speziell Testosteron und Dihydrotes-
auch wenn diese schon vor dem Beginn der Wirkung der
tosteron sind für die Maskulinisierung von Körper
Androgene in der 7. bis 8. Woche auftreten kann.
und Gehirn verantwortlich.

G Gene am X- und Y-Chromosom sind für die Entwick-


lung geschlechtstypischer morphologischer und Östrogene und Verhalten
psychologischer Eigenschaften verantwortlich. Generell ist der Einfluss der Sexualhormone aus den
Meist ist ihr Einfluss indirekt, indem sie die Voraus- Sexualorganen bei erwachsenen Primaten geringer als bei
setzungen für hormonelle Reaktionsketten schaffen. anderen Säugetieren. Es muss aber eine gewisse Lern-

Box 26.3. Halb männlicher, halb weiblicher Fink


Der abgebildete Fink entwickelte sich aufgrund einer
genetischen Störung gynandomorph: die rechte Körper-
Aus Arnold AP (2004). Reprinted by permission from Macmillan

und Hirnhälfte war männlich und mit Testes ausgestattet,


die linke weiblich mit Eierstöcken. Männliche Gene waren
nur rechts vorhanden, weibliche nur links. Der Gesang war
aber relativ einheitlich männlich, da die Gehirnregionen,
die für Gesang zuständig sind, zumindest teilweise mas-
Publishers Ltd: Nature Neuros. Rev.

kulinisiert waren. Anomalien wie dieser gynandomorphe


Fink zeigen, dass eine direkte Wirkung der Geschlechts-
chromosomen auf Gehirn und Organismus möglich ist.
682 Kapitel 26 · Motivation und Sucht

erfahrung mit Annäherungs- und Kopulationsverhalten G Obwohl beim Menschen ein vomeronasales Organ
vorliegen, um nach Ovarektomie (oder Kastration) Sexual- fehlt, gibt es einige experimentelle Hinweise, dass
verhalten aufrecht zu erhalten. Weibliches Annäherungs- Geruchsstoffe in Achselschweiß und Urin (Phero-
und Kopulationsverhalten ist sehr viel stärker von Testoste- mone) das Sexualverhalten und die Hormonaus-
ronproduktion als von Östrogen abhängig. (Die Androgene schüttung vor allem bei Frauen beeinflussen.
werden auch in der Nebenniere und Ovarien produziert
und halten eine gewisse Produktion zu allen Zeiten des
Menstruationszyklus aufrecht.) Kontrazeptiva, die den 26.4.2 Sexuelle Orientierung
Rhythmus der hypothalamischen, hypophysären und ova-
riellen Hormone unterdrücken, haben keinen Einfluss auf Psychoneuroendokrinologie sexueller
die Frequenz des Sexualverhaltens, was auch gegen die Orientierung
Bedeutung der Hormone Östrogen und Progesteron für In den Sozialwissenschaften wurden die psychologischen
Appetenz- und Kopulationsverhalten spricht (Box 7.7). und erziehungsbedingten Ursachen sexueller Orientierung
und Präferenzen getrennt von der hormonellen Entwick-
G Schwankungen des Östrogenspiegels bei Frauen
lung gesehen, und umgekehrt der prägende Einfluss der
haben einen geringeren Einfluss auf Sexualverhalten
26 als die Androgenproduktion der Nebenniere und
Umgebung und psychologische Bedingungen auf die Hor-
monproduktion in der endokrinen Forschung ignoriert.
Ovarien.
Durch die Untersuchung von Kindern und Erwachsenen
mit Hormonstörungen und deren sexuellen und repro-
Pheromone duktiven Verhaltens wurde die enge Verschränkung von
Pheromone (von griech. pherein »übertragen« und horman genetischem Geschlecht, morphologischer und psycholo-
»erregen«) sind Substanzen, die von einem Organismus gischer Entwicklung und sexuellem Verhalten deutlich
abgegeben werden und über das Geruchsorgan direkt das (Kap. 7 und 8). Beim Menschen kann man die Beziehungen
Verhalten oder physiologische Mechanismen eines zweiten zwischen Hormonen und Verhalten am besten an Störun-
Organismus beeinflussen. Pheromone werden nicht von gen der endokrinen Drüsen studieren. Die folgenden Bei-
Rezeptorzellen im Bulbus olfactorius, sondern bei Nagern spiele sollen vor allem den Einfluss prä- und unmittelbar
u. a. niederen Säugern vom vomeronasalen Organ (VNO), postnataler Hormonstörungen illustrieren.
eine Gruppe von metabotropen Rezeptoren, dem Bulbus
G Sexuelle Orientierung und Präferenzen hängen von
vorgelagert, aufgenommen. Das VNO ist auf nicht-flüch-
den prä- und postnatalen hormonellen Einflüssen
tige, d h. im Urin oder Schweiß oder andere Substanzen
auf das Gehirn, Erziehung und Lernen wie von den
aufgelöste, Geruchsstoffe sensibel. Bei Vögeln, Fischen und
sozialen Normen der jeweiligen Gruppe (»was ist
höheren Säugern existiert das VNO aber nicht oder ist nur
normal?«) ab.
in nicht-funktionellen Resten vorhanden.
Während Pheromone bei Ratten eine Vielzahl von Fort-
pflanzungs-bezogenen Verhaltensweisen steuern, ist dies Chromosomen und Gene
beim Menschen umstritten, wenngleich einige positive Wir haben in Abschn. 26.4.1 und in Box 26.3 bereits auf die
Ergebnisse, vor allem bei Frauen, berichtet wurden: Frauen direkte Wirkung der Gene auf die sexuelle Entwicklung
in gemeinsamen Wohnungen synchronisieren ihren Mens- hingewiesen. Hier nur einige klinische Beispiele.
truationszyklus innerhalb einer Streuung von 1–2 Tagen. Beim Turner-Syndrom fehlt das Y-Chromosom oder ist
Die Anwesenheit von Männern verkürzte sie. Auch in verkümmert. Es entwickeln sich Mädchen ohne Ovarien,
Alkohol gelöster Achselschweiß anderer Frauen, der blind da diese zu ihrer Entwicklung beide X-Chromosomen be-
täglich auf die Oberlippen der Empfängerfrauen gestrichen nötigen. Die Mädchen bleiben klein, kommen nicht in die
wurde, synchronisierte die Zyklen von Empfängerinnen Pubertät und zeigen einige kognitive Defizite, wie gestörte
und Spenderinnen. visuell-räumliche Leistungen, die möglicherweise die Prä-
Androstendion, das Androgen der Nebenniere, im senz kleiner Mengen von Androgenen (aus den Ovarien)
Achselschweiß von Männern führt nur bei Frauen zu Akti- benötigen. Mit der Gabe von Wachstumshormonen und
vierung des präoptischen und ventromedialen Hypotha- Androgenen entwickeln sich die Mädchen normal, sind
lamus, bei Männern bewirkt dies östrogenhaltiger Achsel- heterosexuell und weisen mit der Gabe von Östrogenen se-
schweiß. Wie andere Verhaltensmerkmale auch, können kundäre Geschlechtsmerkmale auf.
Freunde, Partner und Familienangehörige Gerüche nahe Beim Klinefelter-Syndrom liegt zum Y-Chromosom ein
stehender Personen diskriminieren lernen und bestimmte oder mehr zusätzliche X-Chromosomen vor (XXY, XXXY).
Gerüche »kann man nicht riechen«. Inwieweit solche Es entwickeln sich Knaben, die in der Pubertät sehr groß
Geruchsaversionen oder Geruchsvorlieben Partner- und werden, kleine Testes, Brüste und weibliche Körperkonturen
Sexualverhalten beim Menschen beeinflussen können, wird aufweisen. Ihre Spermien sind nicht fruchtbar, da diese
sehr kontrovers diskutiert. für ihre Entwicklung nur ein X-Chromosom benötigen, ihr
26.4 · Sexuelle Entwicklung
683 26

Sexualtrieb ist niedrig, über ihre sexuelle Orientierung ist dern als Normvariante variabler Hormonproduktion in
wenig bekannt, sie scheint aber heterosexuell zu sein. kritischen Wachstumsphasen des ZNS.
Interessant sind Individuen, die die falschen Chromo-
G Primäre Homosexualität beim Menschen hängt
somen (oder das falsche phänotypische Geschlecht) auf-
von der sexuellen Differenzierung des Gehirns
weisen (XY-Frauen und XX-Männer). Beispielsweise kann
unter dem Einfluss der Sexualhormone in kritischen
das Sry-Gen am Y-Chromosom fehlen, es entwickelt sich
Phasen der Entwicklung ab.
trotz Y-Chromosom eine heterosexuell orientierte Frau und
umgekehrt bei einem XX-Mann mit einem Sry-Gen auf
einem X-Chromosom eine heterosexuelle Frau! Genetik der primären Homosexualität
Erste Hinweise gibt es auch für eine genetische Kompo-
G Nicht die chromosomale Struktur, sondern die
nente der primären Homosexualität. Die Häufigkeit homo-
Expression von Genen pränatal, die Testes- oder
sexueller Männer ist größer in der Verwandtschaft der Müt-
Ovarienentwicklung anregen, entscheiden über
ter homosexueller Männer als in der Verwandtschaft der
Feminisierung oder Defeminisierung.
Väter. Dies passt gut zu der Tatsache, dass auf dem X-Chro-
mosom einiger homosexueller Männer und ihrer homo-
Endokrinologie der primären Homosexualität sexuellen Brüder am Ort q28 (dem untersten, langen Ende
Zweifellos gibt es unterschiedliche Subgruppen und des Chromosoms) ein Gen gefunden wurde, das spezifisch
Ätiologien homosexuellen Verhaltens. Die Tatsache, dass für die Homosexuellen war. Es ist daher anzunehmen, dass
zumindest primäre Homosexualität in allen Kulturen bei einigen Formen männlicher Homosexualität die ver-
etwa gleich viele Menschen betrifft (bis zu 5% der männ- änderte DNA-Sequenz physiologisch zu Änderungen des
lichen Bevölkerung, bei Frauen nicht bekannt, aber ver- Aufbaus von Strukturproteinen führt, die für die Anatomie
mutlich etwas geringere Zahl), spricht für eine biologische und Physiologie der hypothalamischen Kerne verant-
Grundlage. Unter primärer Homosexualität verstehen wortlich sind. Welche Aufgaben dieses Gen oder diese Gen-
wir ausschließliche sexuelle Attraktivität und Wunsch kombinationen haben, ist noch unklar. Erfahrungsgemäß
nach Geschlechtsverkehr mit äußerlich gleichgeschlecht- spielen für das Auftreten der primären Homosexualität bei
lichen Partnern. Die Androgen- oder Östrogenmenge im Frau und Mann, die bereits vor der Pubertät ausschließlich
Blut des erwachsenen Menschen ist für die Richtung sexu- auf das eigene (sichtbare) Geschlecht gerichtet ist, auch
ellen Verhaltens bedeutungslos, daher können nur gene- wenn die Möglichkeit andersgeschlechtliche Partner zu
tische oder entwicklungsbedingte Einflüsse eine Rolle wählen vorhanden ist, Erziehungs- und psychologische
spielen. Einflüsse nur eine geringe Rolle.
Bei Ratten lässt sich männliche und weibliche »Homo- Kinder, die von lesbischen oder männlich homosexu-
sexualität« zumindest für Teile des konsumatorischen Ver- ellen »Eltern« aufgezogen werden, zeigen keine Häufung
haltens durch Manipulation der Sexualhormone in den homosexueller Orientierung. Die psychotherapeutische
kritischen Phasen der prä- und postnatalen Entwicklung Behandlung primär Homosexueller zur Änderung ihrer
herstellen; z. B. führt extremer Stress des Muttertiers in der sexuellen Orientierung ist ineffektiv, vermutlich verursacht
Schwangerschaft zu Androgenunterdrückung in den sie mehr Störungen als sie beseitigt.
männlichen Föten. Postnatal entwickeln diese zwar alle
G Einige Formen männlicher Homosexualität können
männlichen Geschlechtsorgane normal, ignorieren aber
genetisch bedingt sein. Edukative oder psychothera-
weibliche Annäherung (»Hüpfen-und-Zeigen«, Lordose,
peutische Modifikation primärer Homosexualität ist
Abschn. 26.5) und zeigen selbst weibliches Paarungsver-
ineffektiv, wenn nicht sogar schädlich.
halten. Umgekehrt weisen weibliche Tiere nach Androgen-
zufuhr in der kritischen pränatalen Phase später männliches
Sexualverhalten auf. Gonadale Intersexualität (Hermaphroditen)
Neben extremen Belastungen der Mutter in der Schwan- Unter gonadaler Intersexualität (»wahrer Hermaphrodit«,
gerschaft wurden auch Abwehrreaktion des mütterlichen Kind der griechischen Götter Hermes und Aphrodite) ver-
Immunsystems besonders gegen Androgene des männli- steht man Personen, die sowohl testikuläres Gewebe wie
chen Fötus für die Entwicklung primärer Homosexualität Ovarien aufweisen (. Abb. 26.15). Die meisten sind gene-
verantwortlich gemacht. Die höhere Anzahl männlicher tisch weiblich (XX) und entwickeln in der Pubertät Brüste
Homosexualität und anderer abweichender sexueller Orien- und einen kleinen Penis. Sie identifizieren sich als Frauen
tierungen bei Männern im Vergleich zu entsprechenden und sind – wenn sexueller Antrieb überhaupt entsteht –
Varianten bei Frauen könnte mit einem erhöhten Risiko für heterosexuell, d. h. auf Männer hin, orientiert.
Abwehrreaktionen zusammenhängen. Bei mangelnder Androgenproduktion eines XY- (männ-
Für einige Formen homosexuellen Verhaltens erscheint lichen) Fötus wird das Kind mit unklaren Geschlechtsorga-
daher eine biologische Grundlage durchaus wahrschein- nen geboren, die keine klare Bestimmung des Geschlechts
lich: nicht im Sinne einer pathologischen Abweichung, son- erlauben. Die Kinder werden daher als Jungen oder Mäd-
684 Kapitel 26 · Motivation und Sucht

Aus LeVay S, Valente SM (2006). Mit freundlicher Genehmigung von Sinauer.


Aus LeVay S, Valente SM (2006). Mit freundlicher Genehmigung von Sinauer.

26

. Abb. 26.15. Gonadale Intersexualität (Hermaphrodit) . Abb. 26.16. Androgeninsensitiver genetischer Mann

chen aufgezogen, unabhängig vom genetischen Geschlecht. Ovarien und Testes) sind. Da die Gehirne in der Schwanger-
In der Pubertät erfolgt häufig Feminisierung mit Wachstum schaft von Androgenen nicht maskulinisiert werden, ver-
der Brüste durch die verstärkte Ausschüttung weiblicher halten sich diese genetischen Männer und körperlich (teil-
Sexualhormone gegenüber den insuffizienten Androgenen weise) Frauen heterosexuell, auf Männer hin orientiert.
(»Eva-Prinzip«). Als Jungen aufgezogene und oft mehrmals
G Mangelnde oder ausbleibende Maskulinisierung
chirurgisch behandelte Jungen, mit in der Regel deformier-
des Gehirns in den ersten Schwangerschaftsmona-
tem Penis, erleiden aufgrund des deformierten Geschlechts-
ten durch Androgene führt unabhängig vom gene-
organs schwere Verhaltensstörungen, da ihre Präferenzen
tischen Geschlecht zu einer sexuellen Orientierung
auf weibliche Partner gerichtet sind.
auf das männliche Geschlecht.
G Bei Vorhandensein männlicher und weiblicher
äußerer Geschlechtsmerkmale (»Hermaphrodit«) Androgenitales Syndrom
setzt sich vermutlich das feminisierte oder maskuli-
Beim androgenitalen Syndrom (»congenital adrenal hy-
nisierte Gehirn in der sexuellen Orientierung durch.
perplasia«, CAH) werden aufgrund einer genetischen Ab-
normität beim Fötus statt Kortisol aus der Nebennieren-
Androgen-Insensitivitätssyndrom rinde männliche Sexualhormone ausgeschüttet. Die Folge
Personen mit Androgen-Insensitivitätssyndrom (AIS) sind ist bei genetisch männlichen wie weiblichen Föten eine Ver-
genetisch männlich (XY), weisen aber ein mutiertes Gen männlichung der äußeren Sexualorgane. Ein genetisch
für den Androgenrezeptor auf, so dass sie vollständig insen- weiblicher Fetus wird im Extremfall mit einem Penis aller-
sitiv für Testosteron u. a. Androgene sind. dings ohne ausgebildete Testes geboren. Die inneren Sexu-
. Abb. 26.16 zeigt einen solch genetischen Mann, der alorgane sind weiblich (Ovarien und Uterus).
nach dem Eva-Prinzip äußerlich weiblich wird, wenngleich Solche genetisch weiblichen Kinder werden als Jungen
die inneren Abschnitte der Geschlechtsorgane nicht funk- aufgezogen. Die sexuelle Orientierung dieser genetischen
tionsfähig (kein Uterus, keine oder ungenügend entwickelte Mädchen, die aber äußerlich Männer sind, ist nach der Pu-
26.5 · Neuronale und kognitive Geschlechtsdifferenzen
685 26

bertät auf das weibliche Geschlecht gerichtet, sie entwickeln 26.5 Neuronale und kognitive
heterosexuelles Verhalten mit Frauen, sind aber unfrucht- Geschlechtsdifferenzen
bar. Da das Gehirn pränatal hohen Androgenmengen aus-
gesetzt ist, entwickelt sich ein viriles (vermännlichtes) Ge- 26.5.1 Neuronale Mechanismen sexuellen
hirn. Verhaltens
In den 50er-Jahren wurden diese Kinder, sofern die
Ausbildung der äußeren Sexualorgane nur unzureichend Mensch-Tier-Vergleich
vermännlicht war, postnatal mit Kortisol behandelt, das die Angesichts der großen Variabilität menschlichen Sexualver-
Vermännlichung zumindest teilweise verhindert. Chirur- haltens ist der Schluss vom Tierversuch auf den Menschen
gisch wurden die äußeren Genitalien korrigiert. Die spätere in diesem Bereich besonders schwierig. Fast die gesamte
sexuelle Orientierung und Präferenz dieser »Frauen« ist Information über neuronale und humorale Mechanismen
deutlich von der Norm abweichend: 48% sind bisexuell und stammt aber aus Tierversuchen, vieles davon an der Ratte,
17% klar »homosexuell« (lesbisch). Der Prozentsatz von die ein gut beobachtbares und hochstereotypes Verhaltens-
ausschließlich lesbischer Orientierung in der Normalbevöl- muster aufweist.
kerung ist nur 2–5%. Für weibliches und männliches Sexualverhalten exis-
tieren 2 unterschiedliche neuronale Netzwerke innerhalb
G Beim Androgenitalsyndrom führt das vermännlichte
desselben Individuums, unabhängig vom Geschlecht: das
Gehirn in der Mehrzahl zu einer sexuellen Orientie-
jeweils sichtbare typische sexuelle Verhalten eines bestimm-
rung auf (äußerlich) Frauen, auch wenn die Betroffe-
ten Geschlechts resultiert aus der Hemmung und/oder Er-
nen (chirurgisch korrigiert) als Frauen erscheinen
regung eines der beiden Netzwerke. Unter bestimmten
und aufgezogen wurden.
Umständen (z. B. Änderung des Hormonspiegels) kann
aber auch das gegengeschlechtliche Verhalten hervortreten.
5-α-Reduktasedefizit Im Gehirn sind beide Geschlechts»rollen« vorhanden.
Der Einfluss der kulturellen und elterlichen Umgebung Während sexuelle Dimorphismen, also Formunterschiede
wird an jenen genetisch männlichen Personen besonders beim Menschen in der Körperperipherie offensichtlich
deutlich, die in isolierten Dörfern der Dominikanischen sind, konnten sie im Gehirn bisher nur an wenigen Struk-
Republik und Papua Neu-Guinea untersucht wurden; hor- turen überzeugend nachgewiesen werden.
monelle oder chirurgische Behandlung waren nicht verfüg-
G In jedem Organismus existieren unabhängig vom
bar. Durch einen genetischen Defekt fehlten bei den unter-
äußeren oder genetischen Geschlecht die neuro-
suchten Personen das Enzym 5-α-Reduktase, das Testoste-
nalen Netzwerke für das Sexualverhalten beider Ge-
ron zu Dihydrotestosteron umwandelt. Dihydrotestosteron
schlechter.
ist für die Ausbildung der äußeren männlichen Geschlechts-
organe verantwortlich. Der Defekt beeinflusst aber kaum
die Entwicklung des Gehirns, das »in Richtung« männlich Das parakrine Herz der Neurachse
verläuft, die äußeren Sexualorgane sind allerdings vor der Für beide Geschlechter wird reproduktives Verhalten
Pubertät weiblich. durch das Zusammenspiel sensorischer und motorischer
In der ersten Generation nach dem offensichtlich Reflexbahnen in den Genitalien, den autonomen extra-
plötzlichen Auftreten der Störung wurden die Kinder spinalen Ganglien und Fasern, spinalen Reflexen und
als weiblich erzogen; in der Pubertät erfolgte dann teil- dem Hypothalamus als zentraler Kontrollinstanz geregelt.
weise Maskulinisierung der äußeren Sexualorgane, da die Kortex und limbisches System üben einen modulato-
im Inneren des Körpers verbliebenen Hoden ausrei- rischen und koordinierenden Einfluss auf die darunter
chend Dihydrotestosteron produzierten. In der darauf liegenden Strukturen, vor allem den Hypothalamus aus
folgenden Generation wurden die Kinder konsequenter- (Abschn. 26.3).
weise »männlich« erzogen und führten auch später ein Die anatomische Ausbreitung von Zellsystemen mit
Leben mit der kulturell »zugeteilten« männlichen Rolle. Sexualhormonen ist im gesamten limbischen System,
Die »Mädchen« und »Frauen« der ersten Generation wur- Hypothalamus und deren wichtigsten Afferenzen und
den allerdings zum Großteil als »machi hambra«, Macho- Efferenzen sehr hoch. . Abb. 26.17 zeigt die Verteilung
Frau, bezeichnet und hatten erhebliche Anpassungsschwie- von Östradiol und Testosteron enthaltenden Neuronen.
rigkeiten. Diese Zellsysteme überlappen sich natürlich mit Neu-
ronen, die andere Neuromodulatoren und -transmitter
G Beim 5-α-Reduktasedefizit ist bei genetischen benützen. Viele Zellen enthalten mehrere Neuromodu-
Jungen vor der Pubertät ihr Geschlecht nicht sicht- latoren und sogar mehrere Transmitter. Östradiolzellen
bar, das Gehirn aber vermännlicht. Diese äußerlich scheinen mehr mit sensorischen Eingängen, Testosteron
als Mädchen imponierenden Jungen verhalten sich bevorzugt mit grob-motorischen Strukturen verbunden
aber vermännlicht. zu sein.
686 Kapitel 26 · Motivation und Sucht

26

. Abb. 26.17. Das »parakrine Herz der Neurachse«. Die Lokalisa- nis des Textes wichtigen Strukturen sind benannt. ah Nucl. anterior
tion von Östradiol (rote Punkte) und Testosteron (blaue Punkte) ent- hypothalami, aphl Area präoptico-hypothalamica lateralis, inf infundi-
haltenden Zellen ist schematisch dargestellt. Nur die für das Verständ- bulum, vm Nucl. ventromedialis

Dieses »System«, dessen Ausdehnung sich mit der Reaktionen ist (Pheromone, Abschn. 26.4.1), bleibt sexu-
Lokalisation der Sexualhormone deckt, wird auch das »para- elles Verhalten nach Durchtrennung des Bulbus olfactorius
krine Herz der Neurachse« genannt, da es zentral in die relativ ungestört. Wird aber eine Durchtrennung des Bulbus
Steuerung jener Verhaltensweisen und des inneren Milieus mit sozialer Isolation in der Entwicklung kombiniert,
eingreift, die zum Überleben der Spezies und des einzelnen kommt es zu Unterdrückung männlichen Sexualverhaltens
Organismus notwendig sind: die homöostatischen und bei Ratten.
nichthomöostatischen Triebe, Erhöhung der Erregbarkeit Wichtiger als das Geruchssystem sind kutane Mecha-
der Motoneurone, Kampf-Flucht-Verhalten, Reproduktion, norezeptoren am Penis; Deafferenzierung ihrer Afferenzen
Bindung, antagonistisches Verhalten (Aggression) und Ter- zum Rückenmark führt bei erwachsenen Tieren zu lang-
ritorialität. Parakrin, da es sich nicht um rein endokrine samem »Versiegen« sexuellen Verhaltens, bei unreifen
Systeme handelt (Abschn. 7.2). Tieren zu vollständiger Unterdrückung.
Regionen des ZNS zur Steuerung des Sexualverhaltens
G Das parakrine »Herz« des Gehirns umfasst alle für
sind weit ausgedehnt, entsprechend den vielen sensorischen,
das Überleben der Art essenziellen Hirnsysteme,
motorischen und autonomen Komponenten, aus denen
die sich im und um den Hypothalamus gruppieren
sexuelles Verhalten zusammengesetzt ist (. Abb. 26.17). Die
und männliche und weibliche Sexualhormone als
präoptische Region des Hypothalamus, der laterale Hypo-
Neuromodulatoren verwenden.
thalamus und der dorsomediale Kern des Hypothalamus
spielen die Hauptrolle in der Steuerung sexueller Reak-
Neuronale Grundlagen männlichen tionen.
Sexualverhaltens Für heterosexuelle Kopulation bei Affen ist die mediale
Obwohl der Geruch der weiblichen Genitalien bei den präoptische Region im anterioren Hypothalamus (MP-AH)
meisten Säugern ein wichtiger Auslöser kopulatorischer essenziell, bei Zerstörung fällt Kopulation aus, nicht aber
26.5 · Neuronale und kognitive Geschlechtsdifferenzen
687 26

G Männliches Sexualverhalten hängt von der Existenz


kutaner Mechanorezeptoren des Penis und seiner
kortikalen Analysatoren, sozialem Lernen und der
Intaktheit des vorderen Hypothalamus und der
Amygdala ab.

Neuronale Grundlagen weiblichen Sexual-


verhaltens am Beispiel der Lordoseposition
Das neurohumorale System zur Steuerung der Lordosepo-
sition der weiblichen Ratte (. Abb. 26.19) konnte von der
sensorischen Eingangsseite bis zum muskulären Ausgang
weitgehend geklärt werden. Dabei wurde die in Abschn. 26.1
beschriebene hierarchische Struktur von Reflexketten und
deren Abhängigkeit von eng umschriebenen Reizkonstella-
tionen besonders deutlich. Die Aufklärung der Lordosehal-
tung der weiblichen Ratte kann als Modellsystem für andere
Verhaltensweisen angesehen werden. . Abb. 26.20 gibt die
. Abb. 25.18. Integration der Kopulation. Sagittale Ansicht der beteiligten Strukturen und Bahnen schematisch wieder.
Region des Hypothalamus (gestrichelt) beim Rhesusaffen, deren Zer-
Die Position braucht etwa 300 ms, bis sie voll ausgebil-
störung (dick umrandete Region, rot) zu Störung kopulatorischer
Reaktionen führt. Rot strichliert sind benachbarte Areale, die beim det ist. Bilaterale kutane Reize an den Flanken der Beine
Menschen vermutlich eine ähnliche Rolle spielen und am Perineum durch das Männchen (. Abb. 26.20,
rechts unten) lösen die erste Sequenz der Reflexkette aus:
die Vertebralkrümmung des Rückens wird durch die spina-
Masturbation, Urinmarkierung oder andere sexuelle Reak- len Motoneurone gesteuert (. Abb. 26.20, rechts). Östrogen
tionen. Beim Menschen dürften diese Regionen mit den muss dafür bereits in Minimalmengen in den Zellen des
interstitiellen Kernen (INAH, . Abb. 26.21) korrespon- Hypothalamus vorhanden sein.
dieren. . Abb. 26.18 zeigt die kritische Region im Hypotha- Dies ist aber nur ein (unzureichender) Abschnitt der
lamus des Rhesusaffen. gesamten Verhaltenskette. Um die Lordoseposition zu hal-
Die MP-AH-Region ist bei männlichen Tieren größer ten, muss das Tier symmetrisch und rigide beide Beinpaare,
als bei weiblichen. Trotz der Intaktheit der kopulatorischen ähnlich wie bei der Dezerebrierungsstarre (Kap. 13), ab-
Reflexe auf spinalem Niveau übt die MP-AH-Region den spreizen und den Kopf senken (»unter den Kasten schauen«).
entscheidenden auslösenden Einfluss für das gesamte Ver- Dies wird durch einen supraspinalen »Reflex« erreicht: er
halten in »sexuellen« Situationen aus. besteht aus einem deszendierenden Einfluss über den late-
Der sekundäre somatosensorische Kortex und der ba- ralen vestibulospinalen Trakt. Die deszendierende Aktivität
solaterale Kern der Amygdala (Kap. 20 u. 26) und Basal- im lateralen vestibulospinalen System wird durch das der
ganglien spielen eine wichtige Rolle in der Modulation Paarung unmittelbar vorausgehende »Hüpfen-und-Zeige«-
männlichen sexuellen Verhaltens (Box 26.4): Das sog. Verhalten des Weibchens ausgelöst: die lineare Akzeleration
Klüver-Bucy-Syndrom nach Entfernung des Temporallap- des Körpers reizt das vestibuläre System (Nucl. vestibularis
pens und der Amygdala besteht bei Affen aus Zahmheit lat. in . Abb. 26.20 Mitte), das die »Hintergrund«erregung
und Hypersexualität und ist vermutlich auf Wegfall des der spinalen Strukturen so anhebt, dass die Haltungsän-
hemmenden Einfluss der Amygdala oder einer temporalen derung über die medulläre Retikulärformation möglich
Region auf die MP-AH-Region zurückzuführen. wird.

. Abb. 26.19. Kopulation von Ratten.


Das angehobene »Hinterteil« des weiblichen
Tieres (Lordose) und die seitliche Haltung
des Schwanzes ermöglicht Intromission
688 Kapitel 26 · Motivation und Sucht

Box 26.4. Sexuelle Erregung beim Mann


Die Abbildung zeigt jene Hirnregionen in Rot und Gelb an- Cingulum (D): Wie in Kap. 21 ausführlich beschrie-
gefärbt, die bei Betrachten explizit erotischer Filme aktiv ben, ist das anteriore Cingulum Teil des Aufmerksamkeits-
sind, wenn gleichzeitig eine Erektion auftritt (gemessen mit und Mobilisierungssystems, das natürlich auch durch die
fMRT, Kap. 20). Folgende Hirnregionen sind an unterschied- neuartigen sexuellen Filme angeregt wird.
lichen Teilaspekten sexuellen Verhaltens beteiligt: Mittlerer rechter temporaler und okzipitaler Gyrus
Rechte Insel- (A) und subinsuläre Region (Claus- (BA 37/19): Teil des ventralen visuellen »Was?«-Systems
trum, B): Diese Areale sind eng mit dem sekundären soma- (Kap. 17). Hier werden neue visuelle Reize und menschliche
tosensorischen System verbunden und verarbeiten viszera- Gesichter und menschliche Körper analysiert. BA 37/19
le, vibrotaktile, Geruchs- und Geschmacksreize, die mit kennzeichnet das Brodmann-Areal im rechten mittleren
Erektion und sexueller Reizung verbunden sind. Läsion die- okzipitalen und temporalen Gyrus, BA 24/32 im hinteren
ser Regionen führt zu reduzierter sexueller Erregung. und vorderen Cingulum.
Basalganglien (Striatum [Caudatus und Putamen, Insgesamt ergibt sich also eine gute Übereinstim-
C] und Hypothalamus, E): Diese Regionen sind bei fast mung zu jenen Hirnregionen, die bei Untersuchungen
allen positiv-emotionalen Reizen aktiv, wobei der Hypo- zum sexuellen Verhalten im Tierversuch gefunden wurden.
26 thalamus hier die spezifisch sexuelle Natur des positiven Das Fehlen von Amygdalaaktivierung oder -desaktivierung
Gefühls anzeigen dürfte. Die ventralen Basalganglien sind hängt damit zusammen, dass beim Menschen Amygdala-
zentraler Teil des positiven dopaminergen (»incentive«) aktivierung nur bei den ersten »interessanten« Reizdarbie-
Anreizsystems (Abschn. 25.6). Elektrische Reizung in dieser tungen auftritt und dann rasch habituiert, so dass man
Region beim Menschen und Menschenaffen führt oft zu sie bei Summierung über längere Zeitabschnitte selten
Erektion. Dopaminagonisten erniedriegen die Schwelle für erkennen kann (. Abb. 27.2).
sexuelles Verhalten, Dopaminantagonisten erhöhen sie.

Nach Arnow B et al (2002). Mit freundlicher Genehmigung der Oxford University Press.

Hierarchische Reflexketten bei Lordoseposition fungiert als tonischer »Wegbereiter« für die gesamte Ver-
Der Hypothalamus übt einen hemmenden oder erregenden haltenskette (»priming-function«), während die einzelnen
Einfluss (je nach Region) auf die ganze Verhaltenskette aus: motorischen und vegetativen Elemente der Verhaltenskette
der mediale präoptische Kern hemmt, der ventromediale von den Spinalreflexen abhängig sind.
Kern verstärkt den Reflex und senkt die Schwelle für seine
Auslösung. Die hypothalamischen Efferenzen konvergie- G Weibliches Sexualverhalten wird durch eine kom-
ren mit den somatosensorischen Afferenzen im zentralen plexe Sequenz von Berührungsreizen und subkor-
Grau des Mittelhirns und der dorsolateralen Retikulär- tikalen Reflexen gesteuert; wie bei männlichem Se-
formation. Die Stärke der hypothalamischen Einflüsse auf xualverhalten ist die Balance zwischen hemmenden
diese konvergierenden Strukturen werden primär durch die und erregenden Strukturen des Hypothalamus ent-
hormonelle Ausgangslage bestimmt; der Hypothalamus scheidend.
26.5 · Neuronale und kognitive Geschlechtsdifferenzen
689 26

. Abb. 26.20. Steuerung des Lordoseverhaltens bei der weib- Die aufsteigenden Fasern für Lordose ziehen im anterolateralen Teil
lichen Ratte. Östradioleffekte sind durch Neuronen symbolisiert (rote des Rückenmarks zur Retikulärformation, dem zentralen Grau des
Punkte), die Östrogen im Hypothalamus und zentralem Grau binden. Mittelhirns und dem Hypothalamus (Erläuterungen 7 Text)

Neuroanatomische Grundlagen der Homosexuelle Männer zeigen auch häufig einen ver-
Homosexualität änderten zirkadianen Rhythmus (stehen früher auf, gehen
Die attraktive Idee, dass es sich beim männlichen Homo- früher schlafen, ein Rhythmus, den auch Frauen bevorzu-
sexuellen um einen Mann mit feminisiertem und/oder gen). Der Nucleus suprachiasmaticus innerviert eine Reihe
demaskulinisiertem Gehirn handelt, ist wohl zu einfach. anderer für Emotionen und Sozialverhalten wichtige Kerne
Auch dass die sexuelle Differenzierung des Hypothalamus im Hypothalamus und limbischen System, u. a. die Amyg-
und anderer Hirnregionen unter dem Einfluss der Andro- dala (Kap. 27).
gene und Östrogene vor und kurz nach der Geburt, ab- Auch bei Transexuellen, die das genetisch gegenseitige
geschlossen ist, musste zurückgenommen werden. Zum Geschlecht annehmen wollen, fand man erhebliche Ab-
Beispiel zeigte sich im sexuell dimorphen Kern der prä- weichungen in dieser Struktur, vor allem wenn sie Frau-zu-
optischen Region (SDN-POA), dass dieser sich erst nach Mann-Transsexuelle waren: Als Erklärung wurde ange-
dem 4. Lebensjahr zwischen den beiden Geschlechtern nommen, dass der SCN in der Entwicklung durch zirkulie-
anatomisch unterscheiden läßt und dass es in der Puber- rende Östrogene in seiner Größe beeinflusst wird.
tät und in höherem Alter erneut zu erheblichen neuro-
G Neuroanatomische Unterschiede zwischen homo-
anatomischen und neurochemischen Änderungen der
sexuellen und heterosexuellen Männern finden sich
sexuell dimorphen Kerne kommt (. Abb. 26.21). Viele
im N. suprachiasmaticus und dem interstitiellen Kern
der anatomisch und histologisch fassbaren Unterschiede
des vorderen Hypothalamus.
zwischen den Geschlechtern gehen nicht auf Wachs-
tumsprozesse, sondern auf selektiven Zelltod (Apoptose)
in einzelnen Hirnregionen und Entwicklungsphasen zu- 26.5.2 Differenzen in Verhalten und
rück. kognitiven Leistungen zwischen
Interessanterweise fand man, dass der Vasopressin ent- den Geschlechtern
haltende Subkern des Nucleus suprachiasmaticus (SCN,
Kap. 22 und . Abb. 26.21) bei homosexuellen Männern Sind wir kognitiv verschieden?
zweimal so groß war wie bei heterosexuellen, während man Geschlechtsdifferenzen in kognitiven und emotionalen Ei-
eine Verkleinerung (Demaskulinisierung) des SDN-POA genschaften sollten nur mit größter Zurückhaltung akzep-
nicht fand. Dafür ist der INAH-3, der beim Menschen dem tiert und interpretiert werden. Wie ja in den vorausgegange-
SDN-POA homolog ist, bei homosexuellen Männern ver- nen Abschnitten dargestellt, ist bei einem(r) Erwachsenen
kleinert, ähnlich wie bei Frauen. Auch die vordere Kommis- die Zuschreibung als Mann oder Frau nicht eindeutig: Sind
sur (. Abb. 26.18) war bei homosexuellen Männern wie bei die sichtbaren primären oder sekundären Geschlechtsorga-
heterosexuellen Frauen gegenüber heterosexuellen Män- ne gemeint, oder das Vorhandensein der inneren Abschnit-
nern vergrößert. te der Geschlechtsorgane, die Gene, das demaskulinisierte,
690 Kapitel 26 · Motivation und Sucht

defeminisierte oder maskulinisierte, feminisierte Gehirn,


die sexuelle Orientierung, Hormone, die soziale Zuschrei-
bung als Mädchen oder Junge vor der Pubertät usw.? Inso-
fern müssen Geschlechtsdifferenzen stets auf eine eindeu-
tige Definition des Geschlechts bezogen sein, was aber prak-
tisch unmöglich ist.
Die zweite Schwierigkeit besteht darin, dass wissen-
schaftliche Zeitschriften (und die Reputation der Wissen-
schaftler) fast ausschließlich positive Ergebnisse publizie-
ren, negative Ergebnisse (Gleichheit der Geschlechter) fin-
den kaum Interesse.
Besonders bedeutsam sind Plazebo- oder Erwartungs-
effekte (auch Versuchsleiter- oder Rosenthal-Effekte ge-
nannt): In den meisten Gesellschaften dominieren Männer
die Berufs- und Sozialfelder, so hält sich beständig das Vor-
26 urteil, dass Frauen in Mathematik und Naturwissenschaf-
ten weniger leisten können als Männer, obwohl kulturun-
abhängige Untersuchungen keinen Hinweis auf Unterschie-
de erbrachten. Die meisten Frauen folgen dieser Erwartung,
sind von ihrer Minderbegabung überzeugt und produzie-
ren in den entsprechenden Tests erwartungskonforme Re-
sultate (selbst-erfüllende Prophezeiung, »self-fulfilling pro-
phecy«), bzw. vermeiden Berufswahl und Ausbildung in
diesen »männlichen« Bereichen. Auch das Umgekehrte gilt,
z. B. dass Frauen in Erziehung und Betreuung und sozialer
Anpassung bessere Leistungen als Männer erbringen, wo-
für ebenfalls keine stützenden Daten vorliegen.
G Geschlechterunterschiede im Verhalten und kogni-
tiven Leistungen und deren Beziehung zum Gehirn
Nach Swaab DF, Hofman MA (1995). Mit freundlicher Genehmigung von Elsevier.

und Hormonen sind schwer zu beweisen, da die


Definition von Geschlecht oft nicht eindeutig ist, fast
nur Unterschiede publiziert werden und Erwar-
tungseffekte die Ergebnisse verfälschen. Kausale
Beziehungen zwischen Hirnstruktur, Geschlecht und
Verhalten sind beim Menschen sehr schwer zu be-
weisen.

Neuroanatomische Unterschiede
Besonders schwer sind neuroanatomische, neurophysiolo-
gische und neuroendokrine Unterschiede zu interpretieren.
Natürlich bestehen eine Vielzahl von großen Unterschieden
in der Hirnanatomie, -histologie und -endokrinologie. Um
auf eine kausale Beziehung zwischen einem Verhalten oder
Leistung schließen zu können, muss experimentell der
. Abb. 26.21a, b. Topographie der sexuell dimorphen Strukturen Nachweis der Kausalität und nicht nur einer korrelativen
des Hypothalamus. a ist ein mehr rostraler Schnitt als b. III 3. Ven-
Beziehung erbracht werden.
trikel, AC vordere Kommissur, BNST bed-Nucleus der Stria terminalis,
Fx Fornix, I Infundibulum, INAH 1–4 interstitieller Kern des vorderen
Frauen haben ein kleineres und leichteres Gehirn, dies
Hypothalamus 1–4, LV Seitenventrikel, OC Chiasma opticus, Ot Tractus korreliert abgesehen vom Körpergewicht und -größe mit
opticus, PVN N. paraventricularis, SCN N. suprachiasmaticus, SDN sexu- einer Vielzahl von körperlichen und psychischen Eigen-
ell dimorpher Kern der präoptischen Region, SON N. supraopticus schaften. Bisher wurde zu keiner eine kausale Beziehung
hergestellt. Auch die vielen Beziehungen, die man zur
Größe des Planum temporale der linken Hemisphäre und
rechten Hemisphäre hergestellt wurden (Sprachbegabung,
Musikalität, Mathematik etc.), konnten zum Großteil nicht
26.5 · Neuronale und kognitive Geschlechtsdifferenzen
691 26

. Abb. 26.22a, b. Kognitive Geschlechtsdifferenzen. a Mentale In beiden Fällen soll aus den rechts stehenden Figuren jene gefunden
Rotationsaufgaben im Raum erbringen signifikante Vorteile für das werden, die mit der rotierten Figur links identisch ist
männliche Geschlecht. b Rotationen allein zeigen kaum Differenzen.

repliziert werden. Die Größe einer Hirnregion ist darüber Kreative musikalische Begabung
hinaus vermutlich der unwichtigste Faktor für die Hervor- Kreative musikalische Begabung wurde auch häufig mit
bringung einer bestimmten Leistung: Nervenzellendichte, dem Verhältnis männlicher und weiblicher Sexualhormone
Dendritenbäume, Gliazelldichte und -funktion, synaptische in Zusammenhang gebracht: Bei erwachsenen Komponis-
Übertragung u. v. a. m. spielen eine bedeutsame Rolle. ten und Komponistinnen zeigte sich jeweils ein verstärkt
zum anderen Geschlecht tendierendes Hormonprofil (An-
Kognitive Leistungen drogynie). Die männlichen Komponisten wiesen ein ge-
In allgemeiner Intelligenz (gemessen mit Intelligenztests) genüber Kontrollgruppen erniedrigtes Testosteronniveau
existieren keine Unterschiede, es wurde aber eine signifi- bei relativer Erhöhung einzelner Östrogene auf, bei weib-
kant bessere Leistung von Jungen und Männern in dreidi- lichen Komponisten war es umgekehrt.
mensionalen mentalen Rotationsaufgaben (. Abb. 26.22a)
gefunden. Bei räumlicher Vorstellung (. Abb. 26.22b) sind Verhaltensdifferenzen: Aggressivität,
die Unterschiede bereits vernachlässigbar. Promiskuität und Spielen
In mathematischen Fertigkeiten findet man keine Un- Es wird allgemein davon ausgegangen, dass Testosteron
terschiede vor der Pubertät, eher eine bessere Leistung z. B. prä- und postnatal für eine erhöhte Aggressivität bei Män-
in arithmetischen Aufgaben bei Mädchen. Mit zunehmen- nern und ihre geringere »Fähigkeit«, ihre Nachkommen zu
dem Alter dreht sich der Unterschied um und Männer zei- betreuen, zusammenhängt: Das Testosteronniveau nach
gen bessere Leistungen, was natürlich auch mit dem sozialen der Pubertät zeigt keinerlei Zusammenhänge mit diesen
Stereotyp, das oben angesprochen wurde, zusammenhän- Größen. Angesichts der unterschiedlichen Arten von Ag-
gen könnte. gressionsverhalten (Kap. 27, Aufzuchtsaggression, antago-
Sprachliche Leistungen, wie verbale Flüssigkeit (z. B. nistische Aggression zwischen Gleichgeschlechtlichen
Zahl der Worte, die man pro Zeiteinheit hervorbringen usw.) ist der Mangel an Konsistenz nicht verwunderlich.
kann) haben Frauen leicht favorisiert. Fasst man die Unter- Eindeutig ist nur, dass soziale Einflüsse Aggression deutlich
suchungen zu anderen sprachlichen Leistungen zusammen, stärker determinieren als biologische. Zwischen pränatalem
gibt es keinen Geschlechtsunterschied. Die leicht erhöhte Testosteronniveau und postnataler Aggression wurde im
Sprachflüssigkeit bei Frauen korreliert mit geringeren Tierversuch eine positive Beziehung gefunden, beim Men-
Hemisphärendifferenzen sowohl funktional wie auch ana- schen waren die Ergebnisse weniger eindeutig wie für sexu-
tomisch zwischen rechtem und linkem Planum temporale elle Orientierung, die bei pränatal erhöhtem Androgen-
und dickerem Splenium (hinterer Teil des Corpus callosum) niveau bei Frauen häufiger eine homosexuelle (lesbische)
beim weiblichen Geschlecht. Frauen weisen nach Schlag- Orientierung ergab.
anfällen links-temporal-parietal eine raschere Erholung der Die evolutionäre Psychologie nimmt an, dass Männer
Sprachfunktionen auf, was ebenfalls auf geringere Latera- aus evolutionären Gründen angeboren eine höhere sexuelle
lisierung der Sprache bei Frauen hinweist. Das Planum tem- Promiskuität (mehr Sexualpartner) aufweisen als Frauen.
porale ist links bei Männern häufig größer. Das aktuelle Androgenniveau hat Auswirkungen auf das
sexuelle Interesse, es gibt aber keine Evidenz, dass es auch
G Es existiert ein Leistungsunterschied zwischen Promiskuität erhöht. Auch das pränatale Androgenniveau
Mann und Frau bei mentalen Rotationsaufgaben (z. B. Frauen mit kongenitaler adrenaler Hyperplasie, Ab-
(Männer besser) und Sprachflüssigkeit (Frauen schn. 26.4.2) scheint darauf keinen Effekt zu haben. Homo-
besser). sexuelle Männer wechseln aber deutlich öfter den Sexual-
692 Kapitel 26 · Motivation und Sucht

partner, was auch nicht mit der im Abschn. 26.4.2 beschrie- Wesentlich an der Definition der WHO ist die Tatsache,
benen Hypothese übereinstimmt, dass ihr Androgenniveau dass im Vordergrund nicht Aspekte der Toleranz und Abs-
pränatal reduziert ist. tinenz stehen, sondern die zunehmende Ausschließlichkeit
Es existiert darüber hinaus eine Vielzahl von sozialen der Drogensuche. Das zwanghafte Bedürfnis und die
Gründen, warum Frauen weniger häufig ihre Sexualpartner Suche, nicht das Erreichen eines positiven Zustandes, nicht
wechseln (was bisher übrigens nie bewiesen wurde). Ihre die Toleranz und nicht die Beseitigung von Entzugser-
stärkere Abhängigkeit vom Mann in Bezug auf sozialen scheinungen stehen im Vordergrund der Definition. Wir
Status und Einkommen könnte zu ihrer erhöhten »Treue« werden im Folgenden sehen, dass auch die Erkenntnisse
beitragen. der biologischen Psychologie diese Auffassung vom zen-
Es besteht klare Evidenz dafür, dass männliche, später tralen Element der Sucht als konditioniertes Verlangen
heterosexuelle Kinder anderes Spielzeug benutzen als (»craving«) und Anreizhervorhebung (»incentive salience«,
weibliche (Autos, Werkzeuge statt Puppen). Dies korreliert Abschn. 26.6.3) unterstützen.
mit dem pränatalen Androgenniveau und scheint auch für
G Erst wenn die Einnahme einer Substanz oder die
Primaten zu gelten. Es ist aber nicht denkbar, dass das
häufige Wiederholung eines Annäherungsverhal-
männliche (androgene) Gehirn auf Autos, Flugzeuge etc.
tens mit der sozialen Anpassung einer Person inter-
26 hin evolutionär »programmiert« wurde.
feriert, spricht man von Abhängigkeit.
G Aggressivität und Promiskuität, die üblicherweise
bei Männern als androgenabhängig erhöht ange- Sucht und soziales Lernen
sehen werden, sind primär von sozialen Einflüssen
Süchtiges Verhalten ist ein »Modell« erworbener Motiva-
bestimmt. Dagegen ist Spielverhalten bei Kindern
tion, aus dem wichtige Erkenntnisse über die neuronalen
deutlich geschlechtsspezifisch und vom pränatalen
Mechanismen von Trieb und Anreiz entstanden. Obwohl
Androgenniveau (Maskulinisierung des Gehirns)
für Süchte ein genetisches Risiko (Prädisposition) besteht,
abhängig.
handelt es sich bei süchtigem Verhalten um ein erlerntes
Verhaltensmuster, bei dem psychologische und biologische
26.6 Gelernte Motivation Faktoren eine Rolle spielen. Beim Erwerb süchtigen Verhal-
und Suchtverhalten tens haben soziopsychologische Faktoren eine dominieren-
de Bedeutung, die Aufrechterhaltung der meisten Süchte
26.6.1 Abhängigkeit und Toleranz und die Rückfallwahrscheinlichkeit wird aber von zentral-
nervösen Prozessen erheblich beeinflusst.
Definition der Weltgesundheitsorganisation Die positiv und negativ verstärkende Wirkung einer
Die Definition der Weltgesundheitsorganisation (WHO) Substanz und deren assoziative Bindung an vorausgegan-
von Drogenabhängigkeit legt ihren Schwerpunkt auf gene und gleichzeitig vorhandene Reize und der Zeitverlauf
den fließenden Übergang von »normalem« Annäherungs- der Einnahme (Verstärkungspläne Kap. 25) sind die ent-
verhalten und Sucht: »Abhängigkeit ist ein Syndrom, scheidenden Determinanten von Sucht, genauso wie von
das sich in einem Verhaltensmuster äußert, bei dem die anderen Verhaltenskategorien auch. Jede Substanz hat
Aufnahme der Droge Priorität gegenüber anderen Verhal- unterschiedlich verstärkende Eigenschaften und dement-
tensweisen erlangt, die früher einen höheren Stellenwert sprechend verschieden ist der Verlauf des Erwerbs und der
hatten … es muss nicht dauernd vorhanden sein … Abhän- Stabilität süchtigen Verhaltens. Die Verhaltenspharmako-
gigkeit ist nicht absolut, sondern existiert in unterschied- logie untersucht die psychologischen und pharmakologi-
licher Stärke. Die Intensität des Syndroms wird an den schen Determinanten der verschiedenen Süchte.
Verhaltensweisen gemessen, die im Zusammenhang mit . Tabelle 26.2 gibt eine Zusammenfassung aller bisher
der Drogensuche und -aufnahme gezeigt werden und ande- gefundenen Schutz- und Risikofaktoren für Drogenmiss-
ren Verhaltensweisen, die daraus resultieren«. In seiner brauch, die zeigen, dass es vor allem soziale und psycholo-
extremen Form ist Sucht mit zwanghaftem Substanzkon- gische und nicht neurochemisch oder neuropharmakolo-
sum assoziiert. gisch fassbare Ursachen sind, die das Problem ausmachen.
Unter Toleranz verstehen wir die Abnahme der ur-
G Sucht ist gelerntes Verhalten, an dessen Aufrecht-
sprünglichen Wirkungen der Substanz mit wiederholter
erhaltung aber neurochemische Vorgänge im ZNS
Einnahme (Habituation, Drogenadaptation). Toleranz ist
einen wesentlichen Anteil haben. Protektive und
nicht Teil der Suchtdefinition der WHO. Toleranz tritt nicht
Risikofaktoren der Entstehung von Suchtverhalten
auf alle Wirkungselemente der Substanz auf (Abschn. 26.7);
sind sozialer, nicht biologischer Natur.
z. B. sind bei Opiaten die Atemdepression, die Analgesie und
die sedierende Wirkung nach mehreren Einnahmen ver-
schwunden (Toleranz), dagegen bleiben viele der endokrinen
und vegetativen Effekte (z. B. Obstipation) bestehen.
26.6 · Gelernte Motivation und Suchtverhalten
693 26

. Tabelle 26.2. Schutz- und Risikofaktoren für Drogenmissbrauch

Protektive Faktoren Risikofaktoren


Starke und positive Familienbande Chaotische häusliche Umgebung. Eltern betreiben Substanzmissbrauch
und/oder leiden an psychologisch-psychiatrischen Störungen
Starke Involviertheit der Eltern und Bezugspersonen in die Ineffektiver und inkonsequenter Erziehungsstil, speziell bei verhaltens-
Aktivitäten der Kinder und ihrer Freunde auffälligen Kindern (z. B. Aufmerksamkeits-Hyperaktivitätsstörung)
Klare und konsequente Verhaltensregeln innerhalb der Familie Mangel an Eltern-Kind-Bindung
Schulerfolg. Starke Bindung an Institutionen (Schule, religiöse Extrem aggressiv oder scheu in der Schule; schlechte Schulleistungen
oder politische Einrichtungen)
Soziale Konventionen und Normen betreffend Drogen und Mangel an sozialen Fertigkeiten
Substanzen werden eingehalten Bindung an Gleichaltrige mit Verhaltensauffälligkeiten
Erleben und Wahrnehmen der Akzeptanz von Substanzmissbrauch in
Familie, Schule und sozialen Gemeinschaften

. Abb. 26.23. Gegensatz-Prozess-Theorie der Motivation. Ver- und eine an den Gegensatz-b-Prozess. Der b-Prozess gibt seine In-
laufsdiagramm der postulierten motivationalen Prozesse in der Ge- formation ebenfalls an den Summator weiter, der die Summe aus
gensatz-Prozess-Theorie. Der einen Affekt auslösende Input aktiviert a–b bildet. Der resultierende Verstärkerwert ist rechts oben und in
den a-Prozess, der 2 Informationen weitergibt, eine an den Summator . Abb. 25.24 abgebildet

26.6.2 Die Gegensatz-Prozess-Theorie Man spricht dabei von der hedonischen Qualität eines
erworbener Motivation Reizes und versteht darunter das Ausmaß an Lust, das der
Reiz auslöst, wobei die Skala von extrem lustvoll bis zu
Die Zwei-Prozess-Theorie völliger »Unlust« (Aversion) reichen kann.
Die Zwei-Prozess-Theorie erworbener Motivation eignet Bei dem System in . Abb. 26.23 handelt es sich um ein
sich besonders zur Erklärung von süchtigem Verhalten, negatives Feedforward-System, dessen Funktion darin
aber auch zum Verständnis der Dynamik nichthomöosta- besteht, die Intensität affektiver Aktivierung innerhalb to-
tischer Triebe und Emotionen. lerabler Grenzen zu halten: 2 einander hemmende Prozesse
Bei häufiger Wiederholung eines Verstärkers nach einer (a und b) kontrollieren einen Summator (Additionsglied);
Reaktion in Gegenwart eines bestimmten Kontextes (Hin- der Summator bestimmt die Richtung (positiv-negativ, an-
weisreize) kommt es zu suchtartigem Verhalten und auch zu nähernd, vermeidend) und Stärke des Affekts, der Motiva-
Toleranz- und Entzugssymptomen (z. B. jeden Morgen über tion oder des Verstärkerwertes.
Jahre Kaffee). Wie ist dieses Phänomen erklärbar?
. Abb. 26.23 gibt die hypothetischen Prozesse im Orga- G Die Gegensatz-Prozess-Theorie erworbener Motiva-
nismus wieder, die bei Darbietung eines Reizes ablaufen, tion erklärt Süchte aus der Summe zweier gegen-
der positive oder negative emotionale Qualität aufweist. sätzlicher hedonischer Vorgänge.
694 Kapitel 26 · Motivation und Sucht

Dynamik hedonischer Gegensätze


Bei Darbietung eines affektiven Reizes wird vorerst der
a-Prozess aktiviert. Die Dauer, Stärke und Qualität des
a-Prozesses ist der Dauer, Stärke und Qualität des Reizes
direkt proportional (z. B. Heroin mit der Dosis X erzeugt
Euphorie). Die Aktivierung des a-Prozesses führt etwas
zeitverzögert zur Aktivierung des gegensätzlichen b-Pro-
zesses (z. B. Depression). Der b-Prozess weist die umge-
kehrte hedonische Qualität von a auf, er hat eine längere
zeitliche Latenz (kommt später und dauert länger, da er erst
verarbeitet werden muss) und langsame Refraktärzeit und
steigt langsamer an. Seine Amplitude ist bei der ersten Dar-
bietung des Verstärkers zwar proportional der Amplitude
von a, aber stets kleiner als a. Beide, das Signal aus dem
a-Prozess und dem b-Prozess werden in den Summator ein- . Abb. 26.25. Verlauf affektiver Dynamik. Affektive Dynamik bei
26 gegeben, der nach Addition der beiden Signale (wobei b Darbietung eines neuen verstärkenden Reizes und nachdem der Reiz
stets ein negatives Vorzeichen hat) den aktuellen Verlauf bereits häufig wiederholt wurde. Die Änderung der Summe a–b wird
nur durch den Anstieg des Gegensatz-b-Prozesses bedingt, der durch
und Intensität des Verstärkers bestimmt. Bei den ersten
Wiederholung an »Stärke« zunimmt
Darbietungen entspricht daher das Standardmuster der af-
fektiven Dynamik dem Verlauf von . Abb. 26.24 der Sum-
me aus a+b. Im Falle einer positiven affektiven Situation als a-Pro-
Nehmen wir einen positiven affektiven Zustand an, so zess-Auslöser, wird sich der positive Wert des Reizes durch
erreicht dieser kurz nach Darbietung seine maximale Ampli- Addition (Wiederholung) von b neutralisieren, nach Ab-
tude (»Freude«); danach sinkt der affektive Wert ab (Adapta- bruch des Reizes kommt es zu einer negativen Nachschwan-
tion) weil b verspätet, aber mit wachsender Amplitude ein- kung, da der b-Prozess träge verläuft. Die Zwei-Prozess-
setzt. Wenn dann der positive Reiz plötzlich entfernt wird, Theorie macht dieselben Vorhersagen, wenn der a-Prozess
kommt es zu einer negativen Nachschwankung, da der b-Pro- hedonisch negativ ist: der b-Prozess hält dann den a-Pro-
zess verzögert zu a abklingt und daher in dieser Phase domi- zess aufrecht (siehe die folgenden Beispiele).
niert (»schaler Nachgeschmack nach großer Freude«).
G Die Gegensatz-Prozess-Theorie nimmt an, dass jeder
Eine zentrale Zusatzannahme bezieht sich nun auf die
affektive Reiz verzögert die hedonisch gegensätz-
Dynamik des b-Prozesses: im Gegensatz zum a-Prozess, der
liche Reaktion auslöst. Die aktuelle Empfindung
bei Wiederholung konstant bleibt, wird b durch Wieder-
(affektive Reaktion) entspricht der Summe der
holung verstärkt und durch Nicht-Benutzung abgeschwächt.
beiden hedonisch gegensätzlichen Reaktionen.
. Abb. 26.25 symbolisiert die affektive Dynamik bei einem
neuen Reiz und nach häufiger Wiederholung desselben.
26.6.3 Positiver Anreiz, Sucht, Toleranz
und Entzug

Sucht als Entzugsvermeidung


Ein einfaches Beispiel einer affektiv scheinbar positiven
Gewohnheit (zumindest in kälteren Regionen) ist das Auf-
suchen einer Sauna:
Nach dem wiederholten Aufsuchen der ursprünglich
aversiv-heißen Sauna (a), wird der negative Effekt zuneh-
mend neutralisiert (b) und die positive Nachempfindung
stärker. Es entwickelt sich selten eine »Sucht« nach Sauna, da
die zeitlichen Abstände zwischen dem Aufsuchen der Sauna
so weit auseinander liegen, dass der b-Prozess wieder auf die
neutrale Ausgangsbasis zurückgekehrt ist, wenn eine neuer-
liche Darbietung von a erfolgt. Ähnliches ist auch bei ver-
schiedenen Sportarten festgestellt worden: Fallschirm-
springen, Laufen etc., die durchaus in suchtartiges Verhalten
. Abb. 26.24. Affektive Dynamik. Der Standardverlauf affektiver
münden können, wenn sie während der positiven Nach-
Dynamik nach einem gleichförmigen »Rechteckimpuls« eines affek- schwankung wieder ausgeführt werden und b sich weiter
tiven Reizes (. Abb. 25.23 und Erläuterungen im Text) addiert. Dem sind natürlich physische Grenzen gesetzt.
26.6 · Gelernte Motivation und Suchtverhalten
695 26

Bei Drogen mit extrem positiver Wirkung während der Stimmung ausgelöst. Schließlich ist die Korrelation zwi-
ersten Darbietung (z. B. »Crack«, hohe Kokaindosen oder schen Verlangen (»craving«) nach der Substanz und Ent-
pures Methamphetamin, auch »Ice« oder »Speed« genannt) zugserscheinungen insgesamt niedrig. Die meisten Men-
treten starke negative Nachschwankungen (b) auf, die nur schen können süchtig machende Substanzen wiederholt
durch neuerliche Drogeneinnahme (a) reduziert werden einnehmen, ohne jede Abstinenzerscheinung und -vermei-
können, wodurch sich b weiter addiert und die Rückkehr dung; Faktoren wie Alter (Sucht entsteht selten nach dem
zum neutralen Ausgangspunkt verzögert wird; damit wird 35. Lebensjahr), familiäre Belastung, Persönlichkeitsfakto-
die Chance, dass in diesem Zeitintervall der Nachschwan- ren und soziale Situation erlauben sehr viel bessere Vor-
kung die Droge neuerlich zugeführt wird, größer: der hersagen über Suchtentstehung und Rückfall als das Auftre-
Circulus vitiosus aus Toleranz (Abnahme von a mit Wieder- ten physischer und psychischer Entzugserscheinungen
holung) und Entzugssymptomen ist geschlossen. Die Ent- (. Tabelle 26.2).
zugssymptome (b-Prozess) sind stets affektiv und vegetativ
G Die erwarteten positiven Effekte der Substanzeinnah-
genau das Gegenteil der ursprünglichen positiven Zustän-
me sind das Hauptmotiv für ihre Wiedereinnahme.
de (a-Prozess): wenn bei Einnahme Euphorie auftritt, folgt
darauf Depression, wenn ein Gefühl der Allmacht auftrat,
folgt soziale Angst und Panik etc. Dies ist für alle bisher Sucht als klassische Konditionierung:
untersuchten Drogen der Fall, besonders bei Alkohol, der Der Einfluss von Erwartung
viele der angesprochenen Wirkungen vereint (7 unten). Sowohl a- als auch b-Prozess werden an kurz vorher und
Mit der Dauer und Intensität (Amplitude) der durch gleichzeitig dargebotene Reize (z. B. Situation der Drogen-
den negativen b-Prozess verursachten Nachschwankung aufnahme, interozeptive Reize) klassisch konditioniert.
wird die Suchtgefahr steigen. Bei Morphium z. B. ist die Beispielsweise läuft der Raucher zum Automaten und
negative Nachreaktion 8–120 h (je nach Dosis und Erfah- raucht sofort eine neue Zigarette, auch wenn die Zeit bis
rung), die Gefahr einer neuerlichen Einnahme und damit zum Einsatz des Entzugssymptoms (b-Prozess) noch nicht
die Addition von b sind daher bei Morphium besonders abgelaufen ist: Der Anblick der leeren Schachtel (CS) löst
groß. Bei hinreichend langen Intervallen zwischen der Ein- sofort den (negativen) b-Prozess aus, der in vorausgegan-
nahme entsteht auch bei »harten« Drogen keine Sucht. genen Situationen mit dem Anblick der leeren Schachtel
verbunden war. Ein großer Teil dieser Vorgänge ist bewusst
G Wird eine hedonisch positiv wirkende Substanz oder
nicht merkbar!
Verhalten während der Gegenwart der hedonisch
Die Tatsache, dass nach 2 Jahren 80% der Drogen-,
negativen Gegensatz-Nachschwankung (»Entzug«)
Alkohol-, Nikotinabhängigen und z. B. auch 80% der Adi-
aufgenommen, um die Nachschwankung zu neutra-
pösen rückfällig geworden sind, wenn sie keinen radikalen
lisieren, so kommt der Suchtzyklus in Gang. Wird die
Umgebungswechsel vorgenommen haben, illustriert die
hedonisch positive Substanz aber nach Abklingen
Wirkung konditionierter Reize für das Wiederauftreten des
der negativen Nachschwankung aufgenommen, so
negativen oder positiven b-Prozesses (Abstinenzerschei-
kommt es selten zu einem Suchtzyklus durch Ent-
zugsvermeidung.

Sucht und positiver Anreiz (»incentive«)


Schematisiert nach Robins LN, Davis DH, Goodwin DW (1974).
Mit freundlicher Genehmigung der Oxford University Press.

Nur in seltenen Fällen stellt aber die Vermeidung oder Re-


duktion von physischen und psychischen Entzugssympto-
men eine Ursache von Entstehung oder Aufrechterhaltung
süchtigen Verhaltens dar. Die meisten Drogen und süchtig
machenden Substanzen werden nicht während Entzugs-
symptomen eingenommen, sondern primär wegen der
erwarteten positiven Effekte. Viele süchtig machenden
Substanzen produzieren keine subjektiv starken Entzugs-
oder Toleranzeffekte (z. B. Nikotin, einzelne Opioide) und
umgekehrt machen viele Substanzen Abstinenzerscheinun-
gen ohne süchtig zu machen (z. B. trizyklische Antidepres-
siva, Kap. 5 und 27).
Rückfälle treten in der überwiegenden Mehrheit lange
. Abb. 26.26. Kontextabhängigkeit von Sucht. Prozentsatz der
nach Abklingen physischer und psychischer Gewöhnung
Vietnam-Veteranen (grün), die in Vietnam heroinabhängig waren und
und Toleranz auf. Die überwiegende Zahl der Rückfälle in den USA die Droge weiter einnehmen im Vergleich zu »zivilen«
wird durch konditionierte Reize für die positiven Effekte Abhängigen (violett), die zum selben Zeitpunkt in staatlichen Institu-
der Substanz, oft vor dem Hintergrund einer negativen tionen behandelt wurden
696 Kapitel 26 · Motivation und Sucht

nungen). 80% der US-Soldaten in Vietnam waren heroin-


abhängig, nur eine Minderheit setzte das Verhalten nach
Rückkehr in die USA – trotz Verfügbarkeit der Droge – fort
(. Abb. 26.26). Die konditionierten Reize der Umgebung in
Vietnam waren in den USA nicht vorhanden.
Dieser Einfluss von Erwartung, ausgelöst durch konditi-
onierte Reize (CS) für b-Prozess- oder a-Prozess-Reaktionen,
wurde für so divergierende Phänomene wie Bindungssuche,
Barbituratabhängigkeit und Adipositas nachgewiesen.
G Erwartungsprozesse, die auf klassischer Konditio-
nierung beruhen und konditionierte Reize, die ent-
weder positive (»Lust«) oder negative (»Entzug«)
Empfindungen auslösen, halten die Abhängigkeit
aufrecht.

26
Sucht als kompensatorische klassische . Abb. 26.27. Klassische kompensatorische Konditionierung.
Konditionierung Versuchsplan eines Experiments zur »diskriminativen Kontrolle von
Toleranz« von S. Siegel. In dem Experiment wurde der Einfluss von
Bei der klassischen Konditionierung von Abhängigkeit und
Umgebungsreizen auf Toleranz gegenüber tödlichen Heroindosen bei
Toleranz muss beachtet werden, dass bei einigen Substan- der Ratte untersucht, die mit der Drogeneinnahme assoziiert wurden
zen kompensatorische konditionierte pharmakologische (»Erwartung«). Erläuterungen 7 Text
Reaktionen auftreten. Die unkonditionierte Reaktion
(UCR) auf Morphium (unkonditionierter Reiz, UCS oder
US, Abschn. 25.1.2 und 9.3.1) besteht aus Analgesie. Die ten Umwelteinflüssen. Eine Analyse der Todesfälle zeigt,
Reaktion auf einen ursprünglich neutralen CS (z. B. Bahn- dass selten eine reale Überdosierung vorlag, sondern meist
hofsumgebung), der früher mit dem UCS gepaart wurde, eine »normale« Dosis in einer ungewohnten Umgebung
ist Hyperalgesie; oder: die UCR auf Alkohol ist Hypo- (z. B. Bahnhofstoilette) eingespritzt wurde; da für die Um-
thermie, die CR Hyperthermie. Die kompensatorischen gebung noch keine konditionierte vorbereitende und kom-
Reaktionen »bereiten« den Organismus auf die UCR, die pensatorische Reaktion ausgebildet worden war, wirkte die
von der Droge verursacht wird, vor und verhindern somit »normale« Dosis als Überdosis, so als ob dieselbe Dosis das
antizipatorisch extreme Schwankungen in einem homöo- erste Mal eingenommen würde.
statischen System.
G Kompensatorische klassische Konditionierung
. Abb. 26.27 zeigt einen typischen Versuchsplan zur
kann wie Entzugsvermeidung einen Suchtzyklus
Demonstration des kompensatorischen Erwartungsef-
mit Toleranzentwicklung in Gang setzen. Dabei
fekts und des Umgebungseinflusses auf Toleranz bei Heroin-
wird die »erwartete« kompensatorische Gegensatz-
einnahme. In . Abb. 26.27 wird ein Experiment an Ratten
reaktion in Gegenwart der konditionierten Hin-
dargestellt, in dem nach identischer Dosis von Heroin und
weisreize durch erneute Drogeneinnahme neutra-
einer Plazebosubstanz in 2 unterschiedlichen Umgebungen
lisiert.
(der konditionierte Reiz (CS) war entweder der Käfig oder
der Versuchsraum) über mehrere Tage hinweg Toleranz
(»Gewöhnung an Heroin«) aufgebaut wurde. Am letzten 26.6.4 Freude und Verlangen
Testtag erhielten die Tiere eine normalerweise tödliche Do-
sis von Heroin in den 2 Umgebungsbedingungen. Unterschied zwischen »Mögen« (positiver
Die Kontrollgruppe, die keinerlei Toleranz entwickelt Verstärkung) und »Möchten« (Verlangen)
hatte, wies eine Mortalität von 96,4% auf, die Gruppe, die Die Entwicklung von Sucht und vor allem der Rückfälle
die letale Dosis in einer neuen Umgebung erhielt, 64,3%; geht aber – wie oben schon angedeutet – in der Mehrzahl
die Gruppe mit derselben Heroin-Vorgeschichte wie die der Fälle auf (positive) Erwartung der positiven Wirkungen
anderen Gruppen, bei der der CS aber sowohl unter Lern- zurück und weniger auf negative Nachschwankung und
wie Testbedingungen gleich war, eine Mortalität von 32,4%. kompensatorische klassische Konditionierung.
Nur die letzte Gruppe konnte kompensatorische pharma- Zunächst liegt vor der Einnahme ein leicht positiver
kologische »Erwartungsreaktionen« in der Testsituation affektiver Zustand und entsprechender Anreizwert der
entwickeln, da die konditionalen Reize von Lern- und Test- Kontextreize vor. Danach erfolgt die erste Drogen- oder
bedingung identisch waren. Substanzeinnahme (oder z. B. Begegnung mit der später
Dieser Versuch erklärt auch die Häufigkeit von Todes- begehrten Person). Das positive Verstärkungssystem be-
fällen nach Heroin-»Überdosis« unter neuen, unerwarte- wirkt Euphorie (Mögen) und gleichzeitig wird die Auf-
26.6 · Gelernte Motivation und Suchtverhalten
697 26

. Abb. 26.28 gibt den Verlauf von »Mögen« (positive


Nach Robinson TE, Berridge KC (1993). Mit freundlicher Genehmigung

Verstärkung, Freude etc.) und »Möchten« (Verlangen, An-


reiz) im Verlauf der Suchtentwicklung wieder, wie man ihn
bei Süchtigen über längere Zeiten hinweg (Monate, Jahre)
findet. Man erkennt, dass eine etwas andere Kurve als auf
. Abb. 26.23 bis 26.25 resultiert und nicht die negativen
affektiven Zustände additiv-kumulativ wachsen, sondern
nur die Antriebskräfte (die Stärke der konditionierten Reize
für positive affektive Zustände).
G Während der positive Verstärkereffekt (Mögen) lang-
sam abfällt, steigt der Anreizwert (Möchten) für
von Elsevier.

einen positiven Verstärker mit Wiederholungen.


Süchtiges Verhalten (Verlangen, zwanghafte Suche
und Einnahme) ist auf Anwachsen des Anreizwertes
der Hinweisreize für Drogenkonsum zurückzuführen.
. Abb. 26.28. Verlauf von Anreiz (»incentive«) und Befriedigung
nach wiederholter Drogeneinnahme. Während das Verlangen expo-
nentiell steigt, nimmt die Befriedigung langsam ab Konditionierung von Verlangen
. Abb. 26.29 gibt eine Zusammenfassung der wichtigsten
Systeme und Prozesse für die Entstehung von Verlangen
merksamkeit selektiv auf die dabei gegenwärtigen Reize und Freude. Gegenüber der Zwei-Prozess-Theorie (Ab-
gerichtet (noch hat keine assoziative Verbindung statt- schn. 26.6.2) hat sich am Verlauf wenig geändert, nur die
gefunden). Nach mehreren Erfahrungen mit der Substanz Mechanismen sind etwas besser definiert. Der Anreizwert
ist die Reaktion auf dieselbe Dosis verändert. Der positive steigt wie der b-Prozess deutlich stärker als der a-Prozess.
Effekt (»Mögen«) ist durch Toleranz (Neuroadaptation, wie Die zeitliche Paarung von CS und US (Kap. 25) führt
im Gegensatz-Prozess-Modell in Abschn. 26.6.2 vorher- über die in Kap. 25 beschriebenen Mechanismen zu ihrer
gesagt) reduziert, oder auch bei manchen Drogen unverän- assoziativen Verbindung; die Stärke der assoziativen Ver-
dert. Aber die mit der Einnahme assoziativ verbundenen knüpfung hängt aber auch vom Vergleich mit ähnlichen
Reize (intero- und exterozeptiv) haben nun einen hohen gespeicherten Verstärkern ab. Die Richtung der Auf-
Aufmerksamkeits-Anreizwert (»incentive salience«) erhal- merksamkeit auf einen bestimmten Reiz wird von diesem
ten, was – wie wir später sehen werden – auf Sensitivierung Gedächtnisprozess gesteuert. Wird die Erwartung auf
des Dopaminsystems zurückzuführen ist. Wenn der (die) einen positiven Verstärker enttäuscht (Vergleichsprozess),
Süchtige danach den konditionierten »Incentive«-Reizen so steigt die Aufmerksamkeit (»incentive salience«) für
ausgesetzt ist, erzeugen diese Verlangen (Wollen), das nicht diesen Verstärker. Die Aktivierung des dopaminergen An-
unbedingt hedonisch positiv wie der ursprüngliche positive reizsystems oder auch Belohnungsvorhersage-Fehler-Sys-
Verstärker sein muss. tems (. Abb. 25.12) wird durch bestehende Triebzustände

. Abb. 26.29. Theorie der Suchtentstehung. Zusammenfassende Darstellung der Suchtentstehung, getrennt für subjektiv positives Erleben
(unterer Teil) und Verlangen (oberer Teil). Erläuterungen 7 Text
698 Kapitel 26 · Motivation und Sucht

mitbestimmt. Drogen können aber jedes der beiden Syste- die Stromstärke bei der Ratte ca. 10–300 μA bei einem
me, das positive Verstärkersystem und das Anreizsystem Wechselstrom von 60 Hz.)
direkt und unabhängig voneinander reizen, wodurch Ver- Es zeigte sich, dass Tiere bis zu 5000-mal und mehr pro
langen oder positives Empfinden getrennt aktiviert werden Stunde drückten und dies bis zur völligen Erschöpfung.
können. Die Reizung tiefer gelegenen Strukturen des Mittelhirns
Diese Mechanismen der Entwicklung von Anreizwert (periventrikuläres System) hatte den gegenteiligen Effekt;
und Belohnung sind für alle gelernten motivierten Verhal- die Tiere versuchten, jede Art von elektrischer Reizung
tensweisen gleich, weshalb auch zwischen den positiven in diesen Hirnteilen zu verhindern. Olds sprach daher
Verstärkern (z. B. Drogen) Kreuztoleranz besteht. Unter von »pleasure centers« (»Zentren der Freude«) und Bestra-
Kreuztoleranz verstehen wir die Tatsache, dass Anreizwert fungs- und Aversionszentren.
und Toleranz (»Gewöhnung«) an eine bestimmte Substanz
G Reizung des mesolimbischen Dopaminsystems kann
(z. B. Morphin) auch dazu führt, dass man sich an eine an-
zu anhaltender elektrischer Selbstreizung bis zur Er-
dere Substanz (z. B. Alkohol) »gewöhnt«, ohne diese einge-
schöpfung führen. Die gemeinsame Endstrecke allen
nommen zu haben. Aus diesem Grund nehmen Drogen-
Strebens stellt das positive Verstärkungssystem des
oder Alkoholsüchtige meist mehrere Substanzen ein, sofern
Gehirns dar.
26 diese verfügbar sind.
G Der Anreizwert einer Substanz oder Person in Selbststimulation, Belohnung und »incentive«
Gegenwart einer belohnten Reaktion hängt auch
Auch bei den Effekten von intrakranieller Selbststimulation
davon ab, ob die erwartete Belohnung auftritt,
(»intra-cranial-selfstimulation«, ICSS) muss zwischen Be-
enttäuscht oder übertroffen wird. Kreuztoleranz
lohnungs- und Antriebseffekten unterschieden werden,
besteht zwischen Drogen, da die Entwicklung der
obwohl in der Regel von der ICSS-Elektrode beide gleich-
Anreizstärke für alle positiv verstärkten Reaktionen
zeitig gereizt werden. Belohnung wirkt immer retroaktiv
gleich gilt.
auf Lernen: die Erinnerungsspur der Reaktion, die belohnt
wurde, wird fixiert. Die Reize aber, die vor und bei der Be-
26.7 Neurobiologie süchtigen lohnung präsent sind und damit assoziiert werden, wirken
Verhaltens proaktiv als Antrieb (im Englischen spricht man auch von
»priming« = vorbereiten; . Abb. 26.1, Box 26.5).
26.7.1 Intrakranielle Selbstreizung ICSS ist auch nicht immer die »Illusion« einer natür-
lichen Triebbefriedigung, wie häufig eingewandt wurde,
»Pleasure-centers« (Zentren der Freude) wenngleich Durst und Hunger häufig die ICSS-Rate erhö-
1954 gelang Olds und Milner die erste Demonstration eines hen, also z. B. eine Sättigung nach Hunger vortäuschen.
Phänomens, dessen theoretische und praktische Bedeutung Manche Reizorte scheinen keinerlei Interaktion mit natür-
für die gesamte Psychologie außerordentlich ist. Etwa zur lichen Motivationen aufzuweisen, sondern »pure« positive
selben Zeit berichteten N.E. Miller und seine Mitarbeiter, Verstärkung (»Lust«) zu erzeugen. ICSS löscht (Extinktion
dass Reizung bestimmter Teile des Hypothalamus der Ratte – Löschung, Kap. 25) aber extrem rasch, wenn nicht ein
belohnende oder aversive Wirkung hatte (. Abb. 26.30). natürlicher Antriebszustand vorliegt, was auch dafür
Die Entdeckung von Olds und Milner beruht, wie so spricht, dass die Elektrode einmal beide Komponenten –
manches unerwartete Ergebnis, auf einem Versuchsfehler: Antrieb und »incentive« (z. B. Hunger) und Verstärkung
beim Studium der Formatio reticularis verfehlte eine der – stimulieren kann.
Elektroden das Ziel und wurde in das Septum implantiert. Für die Trennung von Trieb- und Verstärkersystemen
Die Autoren reizten die Hirnregion immer dann, wenn das (. Abb. 26.1) spricht auch die Tatsache, dass »Triebneu-
Tier in eine bestimmte Ecke des Käfigs lief. Es zeigte sich, rone« meist lange Abfallszeiten der Depolarisation nach
dass Tiere (Ratten) mit Elektroden im Septum diese Ecke Reizung, sowie langsamere Leitungsgeschwindigkeiten
wiederholt aufsuchten, im Gegensatz zu jenen Tieren, die (2–3 m/s) aufgrund schwächerer Myelinisierung ihrer
ihre Elektroden tiefer implantiert hatten. Vorerst dachten Axone als »Verstärkerneurone« aufweisen. Unter »Trieb-
die Autoren an eine Anregung von Explorationsverhalten neuronen« verstehen wir Zellen, die bei Erhöhung oder
und nicht an Belohnung. Erniedrigung des Antriebsniveaus feuern. Sie liegen meist
Ein Versuch im T-Labyrinth, bei dem das nahrungs- im Hypothalamus. Verstärkerneurone dagegen sind beson-
deprivierte Tier in einem Gang Futter, im anderen einen ders bei Triebreduktion (z. B. Futtergabe) oder ICSS aktiv
elektrischen Reiz ins Gehirn erhielt, zeigte aber, dass der und reagieren nicht auf Änderungen des Antriebs.
elektrische Reiz stets bevorzugt wurde. Schließlich ermög- ICSS ist kein motorischer Zwang, bei dem der Reiz-
lichten die Versuchsleiter dem Tier, sich selbst zu reizen, strom eine motorische Erregung und damit die Tasten-
indem das Tier den Stromkreis bei jedem Hebeldruck selbst druckreaktion auslöst: um Tiere zu erneuter Selbstreizung
schließen konnte (. Abb. 26.30a; im Allgemeinen beträgt nach längerem Inter-Stimulus-Intervall (ISI) zu bewegen,
26.7 · Neurobiologie süchtigen Verhaltens
699 26

Box 26.5. Dopaminbelohnung als »Klebstoff« von sensomotorischen synaptischen Verbindungen


Die Abbildung zeigt die Wirkung der durch belohnende (LTP) bei Lernprozessen (Kap. 24). Bei der nächsten Rei-
Selbstreizung der Substantia nigra pars compacta aus- zung ist diese Hebb-Verbindung bereits verstärkt und
gelösten (SNc) Aktivierung einer sensomotorischen Ver- damit das Verhalten leichter auslösbar.
bindung in den Basalganglien (Striatum). Das Tier (Ratte)
stimulierte sich selbst elektrisch in der Substantia nigra,

Nach Reynolds JN, Hyland BI, Wickens JR (2001). Reprinted by permission


von der dopaminerge Fasern ins Striatum der Basal-
ganglien ziehen. Dort projizieren die glutamatergen
Fasernvom Kortex, die das Signal z. B. vom Hinweisreiz
(»incentive«, z. B. Lichtreiz) auf die motorischen Efferen-
zen zum Kortex übertragen. Die Zellen, an denen die
dopaminergen und glutamatergen kortikalen Neurone
konvergieren, sind sog. »Spiny«-Neurone (Dornenneurone)

from Macmillan Publishers Ltd: Nature.


mit vielen dendritischen Verästelungen, an denen die
beiden Fasertypen vom Kortex und vom SNc enden.
Wenn das Tier kurz nach der Bewegung auf einen Reiz
(im Kortex verarbeitet) belohnt wird, oder sich selbst mit
einem Stromstoß verstärkt, wird die Verbindung zwischen
dem vom Kortex kommenden und zum Kortex führenden
Neuron gebahnt, vergleichbar der Langzeitpotenzierung

muss häufig ein einzelner »priming« (Anstoß)-Reiz ge- Das Dopaminsystem besteht aus Zellen mit langen
geben werden. Aber die Tiere suchen auch ohne Rei- Axonen, die an der Grenze von Mittel- und Zwischenhirn
zung jene Käfigorte wieder auf, wo sie gereizt wurden. (Das entspringen und weit in mehrere Vorderhirnstrukturen
bedeutet, dass der Ort der Reizung mit positiver »Erinne- projizieren (. Abb. 5.22 und 26.30b). Die Hauptstrukturen
rung« assoziiert wird): dazu nehmen sie das Überlaufen sind das
elektrisch geladener Gitter in Kauf und lassen ihre Jungen 4 nigrastriatale Dopaminsystem von der Substantia ni-
bzw. Sexualpartner im Stich. ICSS wird jedem anderen Ver- gra pars compacta ins Caudatum/Putamen (Parkinson-
halten vorgezogen. ICSS hat auch angsthemmende Wir- Krankheit, Abschn. 5.4 und Kap. 13);
kung, die Tiere reagieren auf aversive CS oder US nicht 4 medial davon entspringt das mesolimbische System im
mehr. ventralen Tegmentum (VTH) und zieht zum N. accum-
bens, aber auch zu Septum, Amygdala und Hippo-
G Im intrakraniellen Verstärkersystem sind Antriebs-
kampus;
»incentive«-Neurone und Belohnungsneurone so
4 mesokortikale System vom VTA zum medialen Präfron-
eng verknüpft, dass meist beide gereizt werden, so
talkortex, G. cinguli und perihinalen Kortex (Kap. 25).
dass schwer zu unterscheiden ist, ob die Erinnerung
an die Belohnung oder der Antrieb für neue Beloh-
. Abb. 26.31 gibt das Opioidsystem und Dopaminsystem
nung wirkt.
in diesen Regionen bei der Ratte wieder, die parallel und
verflechtet verlaufen. Das Opioid-System weist ebenfalls
Anatomie des intrakraniellen starke ICSS-Effekte auf, die aber eher belohnend als an-
Dopaminverstärkersystems triebsfördernd sind (Box 26.5).
Persistierende ICSS kann von vielen subkortikalen und
G Positive Verstärkersysteme sind um das mediale
kortikalen Regionen ausgelöst werden: optimal sind bei der
Vorderhirnbündel und den lateralen Hypothalamus
Ratte das deszendierende mediale Vorderhirnbündel
zentriert. Das mesolimbische und mesokortikale
(MFB, »medial forebrain bundle«) und der laterale Hypo-
dopaminerge System und das benachbarte Opioid-
thalamus (LH). Am Neokortex ist der mediale präfrontale
system stellen eine letzte gemeinsame Endstrecke
Kortex besonders gut geeignet. . Abb. 26.30b gibt die Ana-
für viele verstärkend wirkende Substanzen dar.
tomie des Dopaminsystems der Ratte wieder und zeigt, dass
der LH eine zentrale Integrationsstruktur für dieses, sowohl
histologisch als auch neurochemisch uneinheitliche Faser- Nucleus accumbens und ventrales Striatum
geflecht darstellt. Das Dopaminsystem ist nur ein Teil des Wie auf . Abb. 26.30b erkennbar, fungiert der N. accumbens
MFB, von dem aber »zwanghafte« Selbstverstärkung be- (Kap. 5 und . Abb. 25.12) und das ventrale Striatum der Ba-
sonders gut auslösbar ist (. Abb. 5.22, Box 26.5). salganglien als gemeinsame Endstrecke des meso limbischen
700 Kapitel 26 · Motivation und Sucht

26
a

. Abb. 26.30a, b. Intrakranielle Selbstreizung (ICCS). a Anord- eigene Gehirn (b). b Das positive Verstärkersystem des medialen
nung von Olds zur intrakraniellen Selbstreizung. Das Tier verabreicht Vorderhirnbündels (7 Text). Abkürzungen 7 auch . Abb. 25.31
sich durch Tastendruck einen kurzen verstärkenden Stromstoß in das

. Abb. 26.31. Das Opioidsystem. Der schematische Längsschnitt taler Kortex, VTA ventrale Mittelhirn-Area, VP ventrales Pallidum,
durch das Rattengehirn stellt die opioidhaltigen Neuronenbündel, LH lateraler Hypothalamus, Snr Substantia nigra, pars reticulata,
die die Opiumwirkung hervorbringen als rote Linien mit weißen Zell- DMT dorsomedialer Thalamus, PAG Periaquäduktales Grau, OT Tractus
körpern dar. Das Opioidsystem enthält lokale enkephalinhaltige olfactorius, AC vordere Kommissur, LC Locus coeruleus, AMG Amyg-
Neurone (kurze Segmente) und β-endorphinhaltige Neurone (lange dala, Hippo Hippokampus. Cer Zerebellum, C-P Caudatum-Putamen,
Segmente), die vom Hypothalamus zum Mittelhirn ziehen. Das Opioid- IF Colliculus inferior, SC Colliculus superior, ARC Nucleus arcuatus
system überlagert das Dopamin-System (schwarz) teilweise. FC fron-
26.7 · Neurobiologie süchtigen Verhaltens
701 26

Dopaminsystems. Während der N. accumbens von limbi- Darunter erkennt man Stoffwechselabnahme im Orbito-
schen Kernen und dem medialen Frontalkortex erregt wird, frontalkortex bei Süchtigen: Aufhebung von hemmender
wird das ventrale Striatum von kortiko-thalamischen Regio- Kontrolle und soziopathisches Verhalten (Abschn. 27.2.9)
nen erregt. Beide projizieren zum Pallidum und S. nigra könnte darauf zurückgehen.
(Kap. 5, Box 26.5) und diese wiederum an viele kortikale
G Die subkortikalen dopaminergen Fasern konvergie-
Areale.
ren am N. accumbens und im ventralen Striatum, die
DA wirkt auf die Zellen des N. accumbens und ventralen
bei Belohnungsgabe oder Drogeneinnahme erhöht
Striatums so, dass starker, konvergenter und synchroner Er-
aktiv sind, vor allem, wenn das Verlangen danach
regungseinstrom (z. B. nach Drogenaufnahme) weiter ver-
stimuliert wird. Im Laufe der Chronifizierung und
stärkt und kompetitiver Einstrom gehemmt wird. Dies er-
Toleranz sinkt die Aktivität vor allem von D2-Rezep-
klärt den Anstieg von »incentive salience« (Anreizwert,
toren in einigen dopaminergen Strukturen, vor
. Abb. 26.28 und 26.29) mit wiederholter Substanzaufnahme.
allem im G. cinguli und Orbitofrontalkortex.
Die Aktivierung der Amygdala sinkt bei Kokaingabe u. a.
Drogen, was mit der Abnahme negativer Furchtgefühle und
Stressreduktion einhergeht (negative Verstärkung). Dopaminagonisten
. Abb. 26.32a zeigt die Aktivität des N. accumbens bei Neuroleptika blockieren die gemeinsame Endstrecke des
einem Kokainabhängigen, gemessen mit funktioneller Ma- positiven Anreizsystems von . Abb. 26.30 und 26.31 und
gnetresonanztomographie (fMRT) während der Euphorie führen im Tierversuch zu anhedonischem Verhalten, in-
(»high«) bei Einnahme (oben) und danach während der dem sie verhindern, dass die verstärkenden Aspekte der
Phase des Verlangens (craving). Man erkennt, dass der Umgebung als herausragend (»incentive salience«) wahrge-
N. accumbens vor allem auf den Anreizwert anspricht, wie nommen werden. (Beim Menschen wird Anhedonie z. B.
es aus dem dargestellten Modell auf . Abb. 26.29 vorher- durch Fragebogen gemessen; anhedonische Personen zei-
gesagt wurde. gen wenig oder keine positiven, aber auch keine ausgeprägt
. Abb. 26.32b zeigt, dass aber im Laufe der chronischen negativen Gefühle). Obwohl die anhedonischen Tiere keine
Suchtentwicklung die D2-Rezeptoren einiger Dopamin- Bewegungsdefizite aufweisen, wie sie bei DA-Rezeptor-
system-Komponenten wie des G. cinguli abnehmen, was blockade ab einer bestimmten Dosis auftreten, und in
mit dem Anstieg der zwanghaften Drogensuche und Auf- Vermeidungsparadigmen normal reagieren, haben positive
merksamkeitsfixierung (»incentive salience«) einhergeht. Verstärker keinen motivierenden (Anreiz) Effekt mehr.

a
Aus Volkow ND et al (1997). Reprinted by permission from Macmillan Publishers Ltd: Nature.

Nach Volkov ND et al (1997). Mit freundlicher Genehmigung von Nature.

. Abb. 26.32a, b. Folgen von Kokainmissbrauch im Gehirn. (oben) und während Verlangen (unten). b D2-Rezeptorendichte im
a Funktionelle Magnetresonanztomographie (fMRT) des Nucleus G. cinguli (oben) und Orbitofrontalkortexstoffwechsel (OFC) unten
accumbens während akuter kokaininduzierter (»High«) Euphorie von Gesunden (Kontrolle) und nach Kokainmissbrauch (7 Text)
702 Kapitel 26 · Motivation und Sucht

Beim Menschen, bei dem Neuroleptika zur Behandlung natürlich. Die molekularen Prozesse in der Zelle sind
schizophrener Störungen eingesetzt werden, hemmen den Vorgängen, die wir bei Kurz- und Langzeitgedächtnis
Neuroleptika zwar auch die euphorischen Reaktionen auf (Kap. 25.2) besprochen haben, ähnlich. Der Unterschied
Amphetamine (ein DA-Agonist), scheinen aber eher eine besteht darin, dass bei Drogeneinnahme die Rezeptor-
Art »Bleichung« und Abschwächung positiver Affekte und bindungen an der Membran der beteiligten Zellsysteme im
reduzierte Anreizmotivation als völlige Anhedonie zu Gehirn nicht auf »natürlichem« Weg, also über ein Verhal-
bewirken. Konsumatorisches Verhalten bleibt völlig intakt, ten oder Sinnesreize, entstehen, sondern dass die Substanz
nur Anreize verlieren ihre Wirkung. direkt, meist ohne »Umwege« über vermittelnde Hirn-
Dass die Anhedonie nicht ein Resultat motorischer regionen an den Rezeptoren »andockt«. Die Rezeptorver-
Hemmung dopaminerger Systeme durch DA-Rezeptoren- bindungen sind dabei in der Regel vollständiger und erfol-
blocker (z. B. Pimozid) sein kann, sondern auf Verlust von gen gleichzeitiger, was zu besonders starken und stabilen
Anreizmotivation zurückzuführen sind, zeigen u. a. Ex- Lernprozessen und Empfindungen führt.
tinktionsversuche, in denen das Tier ein Labyrinth durch-
G Kurz- und Langzeitwirkung von süchtig machenden
laufen muss, um ICCS zu erhalten: Abschalten des Stromes
Substanzen beruhen auf unterschiedlichen moleku-
führt zu langsamer Extinktion, die Tiere laufen noch mehr-
laren Mechanismen.
26 mals durch das Labyrinth, bevor sie »aufgeben«. Pimozid,
ein Neuroleptikum, hat denselben Effekt, die Tiere laufen
einige Zeit weiter. Legt man eine Pause von ca. 10 min ein, Akute Einnahme
in der man die Tiere aus dem Käfig nimmt, und gibt sie Extrazellulär führt die Bindung der zugeführten Substanz
dann ins Labyrinth zurück, so beginnen sie sofort wieder in Zellen des mesolimbischen Dopaminsystems zunächst
zu dem Hebel zu laufen, wo sie ICSS erhalten hatten, auch – wie in den Kap. 4, 5 und 25 beschrieben – an den Dopa-
unter Pimozid (spontane Erholung). min- oder Opiatrezeptoren zur Aktivierung von G-Pro-
teinen, die eine Reduktion von Adenylatzyklase-Aktivität
G Dopaminantagonisten wie Neuroleptika führen
und als Folge reduzierte cAMP und cAMP-abhängige Pro-
zur »Bleichung« von positiven Verstärker-Empfin-
teinkinase bewirken. Blockade des cAMP-Abfalls mit Cho-
dungen und reduzieren den Anreizwert konditio-
leratoxin z. B. hemmt die ICSS, also die Freude und Be-
nierter »incentives«.
friedigung (. Abb. 26.34). Durch die Reduktion der cAMP-
Aktivität wird auch die Phosphorylierung einiger
26.7.2 Kurzzeit- und Langzeitwirkung Ionenkanäle an der Membran reduziert.
von süchtig machenden Reizen Welche elektrophysiologischen Konsequenzen für die
beteiligten Zellen diese cAMP-Reduktion hat, ist unklar,
Suchtverlauf außer dass zu diesem Zeitpunkt das mesolimbische Dopa-
Auf . Abb. 26.33 sind die wichtigsten Stadien des Verlaufes minsystem auf Ebene des Nucleus accumbens noch nicht
von Süchten dargestellt. Oben sind jeweils die wichtigsten dauerhaft hyperaktiviert ist.
Kennzeichen im Verhalten, darunter die neurochemischen, Die Aktivierung positiv verstärkender Areale des ven-
neurohumoralen und molekularen Prozesse, die für die tralen Striatums ist erhöht, ebenso wie die Sensibilität der
jeweilige Suchtphase charakteristisch sind, dargestellt. Die Dopaminrezeptoren des mesolimbischen Systems. Die
neuronalen Prozesse stimmen dabei gut mit den psycholo- Amygdalaaktivierung in Stresssituationen ist deutlich redu-
gischen überein. Die einzelnen Phasen überlappen sich ziert, was zeigt, dass der CRF-Anstieg bei Kurzzeitabstinenz

. Abb. 26.33. Verlauf von Suchtverhalten auf psychologischer (oben) und molekularer (unten) Ebene (Erläuterungen 7 Text)
26.7 · Neurobiologie süchtigen Verhaltens
703 26

Nach Self DW, Nestler EJ (1995). Mit freundlicher Genehmigung von Annual Reviews.
. Abb. 26.34. Molekulare Mechanismen der Sucht. Schematisiert keit). Die dünnen Pfeile symbolisieren, wenn nicht anders vermerkt,
dargestellt an einer Zelle des opioidergen Systems (Heroinabhängig- akute Substanzwirkung, die dicken (rot) chronische (7 Text)

(. Abb. 26.34) seine Wurzeln in der stressreduzierenden Die Zellen im VTA schrumpfen während die Nucleus-
Wirkung der Droge hat, wie von der Gegensatz-Prozess- accumbens-Zellen mit dem kompensatorischen cAMP-
Theorie vorhergesagt. Anstieg und der beschleunigten Transkription überaktiv
werden, wenn nicht die an die Rezeptoren bindende Subs-
G Kurzzeiteinnahme einer süchtig machenden Subs-
tanz erneut zugeführt wird.
tanz sensibilisiert das mesolimbische Dopamin-
Zusätzlich oder unabhängig von diesen intrazellulären
system und erniedrigt intrazellulär die Aktivität von
Vorgängen hat man aber auch eine Rezeptorneuroadapta-
»Second-messenger«-Systemen wie des cAMP.
tion an D2-Rezeptoren beobachtet, die mit zunehmender
Drogeneinnahme ihre Sensitivität reduzieren. Diese geht
Chronische Einnahme: Neuroadaptation aber bereits nach einer Woche Entzug zurück, während die
Das intrazelluläre Milieu ändert sich radikal bei chronischer Änderungen des genetischen Apparats stabiler bleiben
Einnahme: Adenylatzyklase steigt, cAMP steigt (kompen- (. Abb. 26.32b).
satorisch) und die Aktivität der cAMP- oder Ca2+-abhängi-
G Langzeiteinnahme von süchtig machenden Drogen
gen Proteinkinasen führt zu vermehrter Phosphorylierung
führt zu erhöhter Aktivität des genetischen Appa-
von CREB im Zellkern. Wie schon in Kap. 24 ausgeführt,
rates der beteiligten Zellen und erhöhter Erregbar-
handelt es sich bei CREB um DNA-Sequenzen, die als
keit mit cAMP-Anstieg. Die subkortikalen DA-Zellen
cAMP-Reaktions-Element-Bindungs-Protein (»cAMP-re-
schrumpfen und die D2-Aktivierbarkeit sinkt.
sponse-element-binding-protein«) bezeichnet werden.
c-fos und c-jun sind ähnliche DNA-Proteine, die an be-
stimmte DNA-Sequenzen »andocken« und die Gentrans- Abstinenz
kription von Proteinen auslösen. Die Erregbarkeit der ad- Wird die Zufuhr der Substanz plötzlich eingestellt, kommt es
aptierten Zelle an der Membran steigt dauerhaft an. zur Überkompensation der durch chronischen Konsum
704 Kapitel 26 · Motivation und Sucht

adaptierten Zellen und der von der Gegensatz-Theorie vor- psychologische Wirkungsprofil bestimmen. . Tabelle 26.3
hergesagten affektiven Gegenreaktion: der dramatische An- gibt die wichtigsten neuropharmakologischen Wirkorte von
stieg von cAMP und der Erregbarkeit der Zellen stimuliert häufig missbrauchten Substanzen wieder.
die Ausschüttung von CRF und Stresshormonen (Kap. 7 und Psychologisch wirksame Substanzen lassen sich grob in
8 sowie . Abb. 26.33) und über die Verbindung zu Basal- sedativ-hypnotische, stimulierende, analgetische und hallu-
ganglien und Kortex glutamaterge und noradrenerge Zellen zinogene (psychodelisch wirkende) sowie therapeutische
(extreme subjektive Erregung und »incentive salience«). Psychopharmaka einteilen.
Die Änderungen des genetischen Apparates bleiben aber 4 Sedativa sind Alkohol und Inhalanzien, Barbiturate,
auch nach jahrelanger Abstinenz erhalten. Anästhetika und Antiepileptika sowie Benzodiazepine
Unterschiedliche Transmittersysteme und Drogen wei- und Anxiolytika.
sen aber differenzierbare Veränderungen an unterschied- 4 Stimulanzien sind Kokain, Amphetamine, Metham-
lichen Orten auf. So kommt es bei Opioiden zu Toleranzent- phetamin (»ICE«), Koffein und Nikotin.
wicklung mit cAMP-Anstieg vor allem in den analgetisch 4 Analgetika sind Opiate und nicht-opioide Analgetika
wirkenden Regionen des Mittelhirns z. B. dem periaquä- (z. B. antientzündliche Analgetika).
duktalen Grau. Damit geht ein Anstieg der Schmerzemp- 4 Halluzinogene sind Tetrahydriokannabiol (»Haschisch«,
26 findlichkeit bei Abstinenz einher. Marihuana), Meskalin, LSD, Phenzyklidin und Ke-
Der Nachteil dieser molekularen Modelle zur Sucht be- tamin.
steht darin, dass sie nur an der Maus oder Ratte nach intra- 4 Psychopharmaka umfassen noch Antidepressiva, Phar-
kranieller Selbstreizung unter Laboratoriumsbedingungen maka gegen bipolare Depression (Lithium), Antipsy-
gewonnen wurden und Neuroadaptation und Entzugser- chotika und Anti-Parkinson-Mittel.
scheinungen beim Menschen nicht oder nur in geringem
Ausmaß für wiederholte und exzessive Drogenaufnahme Die spezifischen Wirkungen der einzelnen Substanzen
verantwortlich sind, wie wir bereits in Abschn. 26.6.2 dar- werden in den einzelnen Kapiteln besprochen.
gestellt haben. Ihr Vorteil ist die Möglichkeit, gezielt in den . Abb. 26.35 symbolisiert zusammenfassend die Tat-
Zellstoffwechsel eingreifen und damit die Wirkung einzelner sache, dass jede spezifische Substanz über ihre Substanz-
molekularen Syntheseschritte im Ablauf einer Suchtentste- spezifischen Rezeptoren und Hirnregionen ein individu-
hung und -aufrechterhaltung prüfen zu können. elles Wirkprofil aufweisen, aber alle positiv verstärkende
und Anreizmotivation erhöhende Wirkung über das meso-
G Entzug führt zu exzessivem Anstieg glutamaterger
limbische Dopaminsystem entfalten.
und noradrenerger Aktivität in den Verstärkersys-
temen sowie Ausschüttung von Stresshormonen. G Ob eine Substanz süchtig macht, hängt u. a. auch von
ihrer Affinität zu einem bestimmten Rezeptortyp und
26.7.3 Spezifische Suchtwirkungen ihrer Wirkung auf das DA-System ab. Wir unterschei-
den Sedativa, Stimulanzien, Analgetika und Halluzi-
Substanzgruppen nogene als süchtig machende Substanzen.

In Kap. 4 und 5 wurden bereits die wichtigsten neuroche-


mischen Transmittersysteme im ZNS beschrieben. Jedes Alkohol
dieser Systeme weist eine Gruppe spezifischer exzitatorischer Nur wenige der Menschen (etwa einer von 15), die regel-
oder inhibitorischer Wirkungen auf, die das individuelle mäßig Alkohol trinken, sind im Sinne der WHO-Defini-

. Tabelle 26.3. Beispiele für pharmakologische Wirkungen von Substanzen, die zu Missbrauch führen können

Substanz Pharmakologische Wirkung


Opiate Agonisten von μ-, δ- und κ-Opiatrezeptoren. Nur μ und δ-Rezeptoren wirken verstärkend
Kokain Hemmt Wiederaufnahme von Monoaminen und führt so zu Anstieg von Dopamin, Serotonin
und Noradrenalin im synaptischen Spalt
Amphetamine (Speed, Ecstasy) Stimulieren Monoaminausschüttung
Alkohol Stimuliert GABAA-Rezeptor-Funktionen und hemmt NMDA-Glutamatrezeptor-Funktionen
Nikotin Agonist von nikotinergen Azetylcholinrezeptoren, Glutamatrezeptoren und DA
Kannabis Agonist von Kannabisrezeptoren
Halluzinogene (z. B. LSD) Partieller Agonist an 5-HT2A-Serotoninrezeptoren
Phenzyklidin (PCP, Angeldust) NMDA-Antagonist an Glutamatrezeptoren
26.7 · Neurobiologie süchtigen Verhaltens
705 26

dann in einzelnen Hirnsystemen, die teilweise mit Endor-


phin-Enkephalin-Systemen identisch sind, die Opiat-Neu-
roadaptation in Gang.
G Alkoholabhängigkeit ist die häufigste und folgen-
schwerste Missbrauchsstörung. Die sedierende
Komponente der Alkoholwirkung geht auf die ver-
stärkte GABAA-Bindung, die euphorisierende auf
Hemmung der NMDA-Rezeptorbindung und
verstärkte Aktivität des Opiatsystems zurück.

Alkohol und soziale Erwartung


Wie für die Opiatsucht ist auch für die Alkoholsucht eine
Vielzahl von kulturellen, psychologischen, genetischen
und pharmakologischen Faktoren verantwortlich. Kein
Faktor allein ist in der Lage, Ätiologie und Stabilität des
Verhaltens zu erklären. Angesichts der sozialen Akzeptanz
. Abb. 26.35. Alkohol und Kokain. Substanz-spezifische und ge- in vielen Kulturen ist die Aufnahme und Wirkung von
meinsame Effekte einiger wichtiger Substanzklassen, die Sucht aus-
alkoholischen Getränken an eine Vielzahl von sozialen und
lösen können
internen Hinweisreizen (z. B. Tageszeit) konditioniert, was
die Einnahme meist »in Grenzen« hält.
tion als süchtig zu bezeichnen. Diese kleine Gruppe (1–5% Eine Reihe von Untersuchungen belegen, dass die Er-
der Männer) trinkt mehr als 50% der konsumierten alko- wartung der spezifischen Wirkung in einer sozialen Situa-
holischen Getränke. tion (bei geringen und mittleren Alkoholmengen) die Wir-
Alkohol wird vom gastrointestinalen System rasch aufge- kungen mehr bestimmt als die aktuelle Menge von Alkohol
nommen und durchdringt als kleines Molekül die Blut-Hirn- im Blut. Auch ohne Alkoholaufnahme treten die Wirkun-
schranke. Die depressorische, sedierende Wirkung setzt gen auf, wenn die Personen glaubten, Alkohol getrunken zu
innerhalb von Minuten ein. Bei kleinen Dosen werden inhi- haben (Plazeboeffekt); und umgekehrt wurden keine Wir-
bitorische Synapsen im ZNS durch glutamaterge Neurone kungen gespürt und gemessen, wenn die Personen glaub-
selbst blockiert, daher die Enthemmung des Verhaltens. ten, keinen Alkohol aufgenommen zu haben, trotz aktueller
Später kommt es zu Hemmung auch der exzitatorischen Aufnahme (die Getränke waren geschmacksneutral).
Zellen durch verstärkte Bindung an GABA-Rezeptoren und Das psychologische Korrelat der oben beschriebenen
ausgedehnter Inhibition im Hirnstamm, bei weiterer Zufuhr Anreizhervorhebung (»incentive salience«) bei wiederholter
auch in kortikalen Regionen. Das EEG ist verlangsamt, Tief- Alkoholaufnahme) wird als Alkoholmyopie (Engsichtig keit)
schlaf (SWS) vermehrt, REM unterdrückt (Kap. 22), der Er- bezeichnet. Alkohol verstärkt z. B. sowohl altruistisch-posi-
holungswert des Schlafes reduziert. Langzeiteffekte sind vor tive wie auch negativ-aggressive Handlungen und Gefühle,
allem eine Hochregulierung von NMDA-Rezeptoren. da die Aufmerksamkeit auf die gerade gegenwärtigen Reize
90–95% von 10 ml Äthanol (etwa ein Whisky) wird nach und Personen extrem fokussiert und eingeschränkt wird.
einer Stunde zu Wasser und CO2 metabolisiert. Bei höheren
G Die Wirkung von Alkohol hängt vor allem von sozia-
Dosen verzögert sich die Ausscheidung und Metabolisierung
len Erwartungen und der damit verbundenen Fokus-
in Abhängigkeit von mehreren Faktoren: der aufgenom-
sierung der Aufmerksamkeit auf spezifische soziale
menen Menge des Alkohols, Körpergewicht, gleichzeitige
Situationen ab (Alkoholmyopie).
Nahrungsaufnahme, körperliche Aktivität, Rasse, Alter, Ge-
schlecht und genetischer (familiärer) Vulnerabilität.
Die unkonditionierte physische Abhängigkeit (Neuro- Rauchen von Tabak
adaptation) scheint – zumindest teilweise – auch über die Das Rauchen von Tabak in Zigaretten ist – verglichen mit
mehrfach beschriebene Opiat-Rezeptorbindung zu erfol- harten Drogen (Heroin, Kokain) und Alkohol – für die Ge-
gen: Bei der Oxidation von Alkohol in der Leber durch die sundheit der Bevölkerung das größere Problem. Bis auf die
Enzyme Alkoholdehydrogenase (ADH) und Aldehydhy- Zeitverläufe und Intensität ähnelt die Wirkung von Nikotin
drogenase (AldHD) gelangen Aldehydmetaboliten ins ZNS, – ein Alkaloid mit stereochemisch ähnlicher Struktur wie
wo sie in Gegenwart von Alkohol zusammen mit zentralen die Opiate – in vielen Aspekten den Opiaten. Nikotin ent-
Monoaminen Kondensationsprodukte herstellen, die struk- faltet eine Vielzahl von Wirkungen, die es weder als stimu-
turell morphinähnliche Alkaloide bilden. Diese Produkte lierende noch sedierende Droge charakterisieren. Vielmehr
(Tetrahydro-Isoquinolon, TIQ) fungieren als »falsche« kann der Raucher durch subtile Dosierung des inhalierten
Transmitter und binden an Opiatrezeptoren. Dies setzt Rauches (z. B. »Tiefe« des Zuges, Dauer etc. und in Kombi-
706 Kapitel 26 · Motivation und Sucht

nation mit Manipulation der Situation, in der geraucht


wird), die Wirkung selbst regulieren (ein durchschnitt-
licher Raucher macht pro Jahr 50–100.000 Züge!). Die Wir-
kung eines Zuges tritt innerhalb von Sekunden im ZNS ein.
Etwa 20 min nach dem letzten Zug an einer Zigarette ist das
Nikotin metabolisiert und erneutes Verlangen tritt auf, das
stark situationsabhängig ist.
G Die Nikotinwirkung kann wie bei keiner anderen
Substanz durch das Verhalten des Rauchers selbst
reguliert werden. Die extreme Häufigkeit der Niko-
tineinnahme führt zu besonders stabilen Konditio-
nierungen an eine Vielzahl von Situationen.

Nikotinwirkungen
26 Stimulation nikotinerger cholinerger Rezeptoren im ZNS
(Kap. 4) ist einer der Wirkmechanismen von Nikotin . Abb. 26.36a–c. Nikotin und Dopamin. a Nikotin stimuliert (+)
in niedrigen Dosen; bei höherer Dosierung werden die Neurone im ventralen Tegmentum (VTA), die Dopamin (DA) in den
ACh-Rezeptoren blockiert und Entspannung tritt auf. N. accumbens (Nac) ausschütten. Nikotin stimuliert aber auch Gluta-
mat (Glu), was zusätzlich Dopamin stimuliert. VTA aktiviert auch GABA,
Nikotin regt zusätzlich die Produktion von Hirnkatecho-
die den DA-Effekt begrenzen. b Minuten später setzen die Glu-Zellen
laminen und Serotonin an, was vermutlich die verbesserte ihre Aktivierung von DA fort (++), GABA wird gehemmt (–), sodass
Aufmerksamkeit verursacht. Raucher scheinen dadurch extreme DA-Niveaus im Nac entstehen. c Der Anstieg des Glutamat/
auch weniger häufig eine Alzheimer- oder Parkinson-De- GABA-Verhältnis im VTA dauert bis mehr als 1 h nach einer einzigen
menz zu erleiden. Blockade nikotinerger cholinerger Rezep- Nikotindosis an und verlängert den positiven Effekt

toren durch Mecamylamin reduziert Rauchen, hat aber


erhebliche Nebeneffekte wie Nachlassen der kognitiven
Leistungsfähigkeit, Müdigkeit.
Nikotin hat aber auch direkte Effekte auf die dopa-
minergen VTA-Zellen im Stammhirn. . Abb. 26.36 zeigt die
unmittelbare Wirkung auf die VTA-Zellen, die die DA-Aus-
schüttung im N. accumbens erhöhen, die GABA-Transmis-
sion ist ebenfalls erhöht und begrenzt den DA-Effekt auf den
N. accumbens. Aber schon wenige Minuten später kommt
es zu Langzeitpotenzierung (Abschn. 25.4.2) an gluta-
. Abb. 26.37. Selbstregulation langsamer Hirnpotenziale bei
matergen Synapsen und Aufhebung der GABA-Wirkung schweren Rauchern (S) und Leichtrauchern (L). Die Aufgabe der
(7 unten). Damit wird die verstärkende Wirkung von Niko- Versuchspersonen bestand darin, nach Rauchen einer Zigarette die
tin weit über die Einnahme hinaus verlängert und die Kon- linke zentrale Hirnhemisphäre gegenüber der rechten elektrisch zu
ditionierung an die positiven Hinweisreize verbessert. positivieren (rot) und abwechselnd die rechte zu positivieren (blau).
Als Rückmeldung beobachtet die Versuchsperson eine stilisierte
Bei Rauchern führt die Zufuhr von Nikotin zu be-
Rakete auf einem Videoschirm, die exakt ihre eigenen langsamen
schleunigter Reaktionszeit, verbesserter Konzentration, Hirnpotenziale wiedergibt (Kap. 27 zur detaillierten Beschreibung des
reduzierter Aggressivität, Angstreduktion und Muskelent- Versuchs). Raucher nach Rauchen einer Zigarette mit hohem Nikotin-
spannung (letzteres über Reizung von hemmenden Zellen gehalt (S) zeigen deutlich verbesserte Selbstregulationsleistung
im Rückenmark). Rauchen verkürzt das Ausmaß der sub-
jektiv verstrichenen Zeit und damit Langeweile. Diese
Effekte bilden sich deutlich im kortikalen EEG und in den 26.7.4 Behandlung von Süchten
Hirnpotenzialen ab: die Selbstregulation der langsamen
Hirnpotenziale (Kap. 21 und 27) ist verbessert, was mit Sozialpsychologische Aspekte
Erhöhung der Flexibilität von Aufmerksamkeitsprozessen Die allgemeinen Prinzipien der Neurobiologie und Psycho-
einhergeht (. Abb. 26.37). logie zur Änderung von Verhalten gelten auch für Süchte.
Es besteht nur ein gradueller Unterschied, da die Beziehung
G Die Nikotinwirkung umfasst Stimulation cholinerger zwischen auslösenden Reizen, Motivation und Verhalten bei
Rezeptoren vor allem im Kortex und Verstärkung Süchten besonders stabil ist. Süchtiges Verhalten in diesem
der DA-Ausschüttung im N. accumbens durch Lang- Sinne ist ein extrem gut gelerntes Verhalten, dessen Beseiti-
zeitpotenzierung. Im Verhalten tritt Verbesserung gung auf dieselben Schwierigkeiten stößt, wie die Änderung
der Aufmerksamkeit und Stressreduktion auf. von Gewohnheiten (»habits«). Dabei spielen die motivieren-
26.7 · Neurobiologie süchtigen Verhaltens
707 26

den Eigenheiten der Drogen eine ähnliche Rolle wie Hunger dem psychomotorischen (»Vorwärts«)Drang gelöst werden
und Durst unter Deprivationsbedingungen: jeder Hinweis- (Löschung durch Reaktionsverhinderung).
reiz, der die Erwartung der Konsumation signalisiert,
G Die Beseitigung oder Konfrontation mit den kondi-
»überträgt« ein hohes Ausmaß an »Triebenergie« auf die
tionierten Reizen für Substanzaufnahme stellt die
verhaltenssteuernden Hirnregionen (. Abb. 26.2). Der Be-
wirksamste Strategie der Suchtbehandlung dar.
seitigung der Verfügbarkeit von Drogen durch sozialpo-
litische Maßnahmen ist – zumindest in demokratischen
Systemen – eine Grenze gesetzt. Dies gilt besonders für Behandlung von Alkoholismus
Alkohol und Nikotin. Angesichts der Bedeutung dieser Naltrexon, das Opiatrezeptoren an den Nervenzellen blo-
Drogen für die Lebensqualität und Ökonomie konzentriert ckiert und damit die Bindung extern zugeführter Opiate an
sich die Forschung zunehmend auf die Frage des kontrol- opioide Zellen verhindert, hat daher auch einen positiven
lierten Konsums dieser Drogen mit minimalen negativen therapeutischen Effekt auf Alkoholabhängigkeit. Die Wir-
Auswirkungen auf die Gesundheit und das »Funktionie- kung hängt natürlich direkt von der Compliance der Pa-
ren« einer Kultur und Subkultur. tienten ab: nur bei kontinuierlicher Einnahme wirkt es.
Die Rückfallquote ist bei den meisten Therapien von Dasselbe gilt für Disulfiram (»Antabus«), das klassische
Süchten gleich: nach einem Jahr sind nur mehr 20% der Pharmakon gegen Alkohol, das über einen operanten Be-
Teilnehmer abstinent. Nur jene Personengruppen, die radi- strafungsmechanismus wirkt: Es blockiert den Abbau von
kale Lebensänderungen einleiten und damit einen Teil der Alkohol und führt zu Anhäufung von Azetaldehyd, das
konditionalen Reize für a- und b-Prozess-Reaktionen ver- toxisch wirkt und Übelkeit und Erbrechen nach Einnahme
mindern, bleiben abstinent. von Alkohol verursacht.
»Alles-oder-Nichts«-Theorien des Rückfalls (wie im Acamprosat dagegen ist eine Substanz, die die anhal-
Falle des »ersten Schlucks« und des darauf folgenden Kon- tende neuronale Übererregung nach chronischem Alkohol-
trollverlust bei Alkoholikern) tragen wenig zur Reduktion genuss reduziert. Es hemmt die Expression von erregenden
des Verhaltens bei: ein Großteil der Bevölkerung genießt Aminosäurerezeptoren, vor allem Glutamat und bewirkt
Alkohol ohne gesundheitlichen oder sozialen Schaden zu damit vermutlich das »Vergessen« der positiven Alko-
erleiden, 10–15% der US-Bevölkerung nimmt im Laufe des holwirkungen über die Hemmung der in Abschn. 26.7.2
Lebens Heroin zu sich, davon wird ein minimaler Prozent- und Kap. 25 beschriebenen intrazellulären Kaskaden beim
satz »süchtig« (0,1–0,5%) etc. Diese Fakten minimieren Langzeitgedächtnis.
nicht die schädigenden Einflüsse von Drogen, sondern zei- Die Kombination aus Verhaltenstherapie und Pharma-
gen nur, dass eine »rein« neurobiologische Betrachtung von kotherapie hat bisher die besten Ergebnisse in der Behand-
Sucht ohne Beachtung der lernpsychologischen und sozial- lung des Alkoholismus erzielt.
historischen Bedingungen unvollständig bleiben muss.
Behandlung von Rauchern
G Süchtig machende Gewohnheiten wie Alkoholauf-
Die Abstinenzerscheinungen (b-Prozess) sind eher kogni-
nahme und Rauchen fungieren auch als soziales
tiver und emotionaler als physischer Natur, so dass bei
»Gleitmittel« von Gesellschaften und Gruppen, wes-
Nikotin nicht von physischer Abhängigkeit gesprochen
halb sich die Prävention und Therapie auf Selbstkon-
werden kann: Konzentrationsprobleme, Fokussierung des
trollmaßnahmen wie Stimuluskontrolle (Aufnahme
Denkens auf Beschaffung von Zigaretten, Nervosität und
nur in definierten Situationen) und ausreichend lange
Stressintoleranz erreichen bis zu einem Tag nach der letzten
Aufnahmeintervalle konzentrieren sollte.
Zigarette ein Maximum, um dann bis nach einer Woche
abzusinken. Die konditionierten Effekte (CS für a- oder
Psychologische Therapien b-Prozess-Reaktionen) bleiben oft noch Jahre bestehen.
Präventive Maßnahmen auf verhaltenstherapeutischer Die Resistenz der Rauchersucht gegenüber Selbst- und
Basis in Kindergärten, Schulen und Betrieben haben sich Fremdtherapie erklärt sich sowohl aus der Möglichkeit zur
als wirksamstes Instrument erwiesen. subtilen Selbstregulierung der Dosis in Abhängigkeit von
Angesichts der Tatsache, dass lebenslang wirksame der Situation, als auch aus der extrem häufigen Addition
Lernprozesse an der Suchtentwicklung beteiligt und das von a- und b-Prozess-Reaktionen und der Möglichkeit,
Dopamin- und Lustsystem für »vorwärts« gerichtetes sofort nach Abklingen der Wirkung, am Höhepunkt der
(»drängendes«) Verhalten Voraussetzung sind, ist die Ent- b-Prozess-Nachschwankung, neuerlich zu rauchen. Die
wicklung einer wirksamen pharmakologischen Behand- kurzen Zeitintervalle zwischen den Zigaretten erlauben
lung der Süchte wenig wahrscheinlich. Nur durch wieder- kein Abklingen des b-Prozesses und die Häufigkeit führt zu
holte Konfrontation mit allen konditionierten Reizen für einer fast unendlichen Zahl externer und körperinterner
positive Antriebswerte in der Lebensrealität des(r) Süchti- konditionierter Reize (CS) für a- und b-Reaktionen.
gen bei gleichzeitiger Verhinderung der Wiederaufnahme Ähnlich wie bei der Behandlung des Alkoholismus
kann die Verbindung zwischen auslösenden Reizen und ist Aversionstherapie in einer natürlichen Umgebung, wo
708 Kapitel 26 · Motivation und Sucht

möglichst viele positiv-konditionierte Hinweisreize vor- G Die Abstinenzerscheinungen bei Absetzen von
handen sind, sehr wirksam: Diese als »rapid smoking« be- Nikotin sind zwar in ihrer Intensität gering, aber an
zeichnete Strategie verlangt vom Raucher über mehrere extrem viele Situationen konditioniert und vor allem
Tage extrem viele Zigaretten zu rauchen, so dass Über- kognitiv. Aversionstherapie, Substitution durch
dosierung mit anhaltender Übelkeit auftritt. Besetzen der Nikotinrezeptoren und DA-Aufnahme-
Pharmakologisch werden Nikotinkaugummi und Transport-Hemmer haben sich in Kombination mit
-pflaster verwendet, die die nikotinergen ACh-Rezeptoren Verhaltenstherapie bewährt.
besetzen. Anhaltende Wirkung haben diese Ersatzthera-
pien aber nur in Kombination mit Verhaltenstherapie.
Bupropion ist ein DA-Aufnahme-Transport-Hemmer,
der paradoxerweise die DA-Wirkung erhöht, aber trotzdem
die Rauchsucht – vermutlich über eine Abregulation der
DA-Rezeptoren – reduziert.

26 Zusammenfassung
Homöostatische Triebe sind Anorexie und Bulimie treten auf
5 Durst, Hunger, Temperaturerhaltung und Schlaf; 5 fast nur bei jungen Frauen,
5 besitzen feste Sollwerte; 5 nach einer Diät,
5 die Homöostaten sind im Hypothalamus; 5 als Folge kulturell bedingter Körperideale,
5 stellen die Antriebsenergie für Instinkte und ge- 5 nur in entwickelten Industrieländern,
lerntes Verhalten zur Verfügung. 5 mit pathophysiologischen Konsequenzen des Fas-
tens oder Medikamentenmissbrauchs.
Nichthomöostatische Triebe
5 sind Sexualität, Exploration, Bindung und Emotio- Übergewicht (Fettsucht)
nen; 5 ist eines der bedeutendsten Krankheitsrisiken der
5 werden in kritischen Phasen der Entwicklung ge- »entwickelten« Länder (Diabetes 2, Herz-Kreislauf );
lernt; 5 hat ein genetisches Risiko;
5 besitzen variable oder zyklische Sollwerte. 5 bewirkt veränderte Insulin-/Leptin-Sensitivität im
Gehirn;
Motiviertes Verhalten benötigt Verstärkung 5 ist schwer zu behandeln.
5 für seine Richtung (Annäherung – Vermeidung –
Kampf ) und Die sexuelle Reaktion beim Menschen besteht aus
5 zur Entwicklung körpernahen Sinneseinstroms. 5 Erregungsphase (sympathisch – parasympathisch),
5 Plateauphase (parasympathisch),
Durst entsteht als 5 Orgasmus (sympathisch),
5 osmotischer Durst über Osmosensoren im Hypo- 5 Refrektärphase (oxytozinerg).
thalamus;
5 hypovolämischer Durst über Barorezeptoren, Aus- Sexuelle Differenzierung
schüttung von ADH und Renin-Angiotension II. 5 beginnt nach Vereinigung von Ei- und Samenzelle;
5 wird genetisch gesteuert;
Hunger entsteht bei 5 benötigt Androgene zur Entwicklung eines männ-
5 Glukosemangel im Hypothalamus, lichen Körpers und Gehirns;
5 Leptinabfall im Fettgewebe, 5 benötigt weibliche Sexualhormone zur Demasku-
5 Änderung gastrointestinaler Hormone (Ghrelin), linisierung;
5 konditionierter Anreizsituation. 5 benötigt männliche Sexualhormone zur Defemini-
sierung.
Sättigung erfolgt
5 präresorptiv und schnell über Mund- und Rachen- Die sexuelle Orientierung (homo, bi, hetero, trans)
raum, hängt
5 resorptiv und langsam über Chemorezeptoren. 5 vom organisierenden Einfluss der Sexualhormone
auf das pränatale Gehirn,
6
Literatur
709 26

6
5 von kritischen Entwicklungsphasen der hypothalami- Die neuronalen Grundlagen der Sucht sind
schen Entwicklung, 5 Aktivierung deszendierender und aszendierender
5 in einigen Fällen von genetischen Faktoren ab, mesolimbischer Dopamin- und Opiatsysteme für po-
5 wenig mit Erziehung und sozialem Kontext zusammen. sitiven Anreiz,
5 kurzzeitig reduziertes intrazelluläres cAMP und Prote-
Die neurophysiologischen Mechanismen sexuellen inkinase
Verhaltens umfassen 5 chronische Neuroadaptation mit erhöhter Aktivität
5 eine hypothalamische Integrationsstruktur, des genetischen Apparates, vor allem in dopaminer-
5 das »parakrine Herz« der Neurachse, gen und opioidergen Zellen,
5 sensorisch-taktile Systeme, 5 D2-Rezeptoradaptation,
5 kortikosubkortikale Areale für die emotionalen Be- 5 bei Abstinenz Ausschüttung von Stresshormonen
gleitreaktionen, und glutamaterge Überaktivierung,
5 das Sakralmark und die Nerven des Urogenitaltraktes. 5 substanzspezifische pharmakologische Wirkungen.

Abhängigkeit und Sucht sind Die Behandlung der Sucht besteht aus
5 gelerntes motiviertes Verhalten; 5 Konfrontation mit Drogenreizen und Reaktionsbe-
5 von sozial-kulturellen Normen bedingt; handlung,
5 von protektiven und nicht-protektiven Risikosituatio- 5 Umgebungswechsel,
nen in der Entwicklung des Kindes und Heranwach- 5 Verabreichung von Rezeptorantagonisten,
senden ausgelöst; 5 Aversionstherapie.
5 durch die Gegensatzdynamik von positiven und ne-
gativen emotionalen Hirnsystemen bestimmt;
5 aufrechterhalten durch positiven Anreiz und Verlan-
gen, weniger Abstinenzaversion;
5 klassisch und instrumentell konditioniert.

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dopamine in behavioural control. Nature 431:760–767
27

27 Emotionen

27.1 Psychophysiologie von Gefühlen – 712


27.1.1 Gefühle als Reaktionsmuster auf drei Reaktionsebenen – 712
27.1.2 Gefühlsausdruck und Rückmeldung aus der Körperperipherie – 713
27.1.3 Die Rolle kognitiver Prozesse in der Gefühlsentstehung – 717
27.1.4 Neuronale Grundlagen emotionaler Valenz – 718
27.1.5 Die neokortikalen Hemisphären und Gefühle – 720

27.2 Vermeidung (Furcht und Angst) – 722


27.2.1 Zwei-Prozess-Theorie des Vermeidungslernens – 722
27.2.2 Funktionelle Neuroanatomie der Amygdala und des Furchtsystems – 724
27.2.3 Die Potenzierung des Schreckreflexes und das Furchtsystem – 725
27.2.4 Neuropharmakologische Grundlagen des Furchtsystems – 728
27.2.5 Angststörungen – 729

27.3 Trauer und Depression – 733


27.3.1 Psychologie der Depression – 733
27.3.2 Neuronale Grundlagen der Depression – 734
27.3.3 Neurochemie der Depression – 737
27.3.4 Bewältigung und Therapie der Depression – 739

27.4 Aggression – 739


27.4.1 Klassifikation und Genetik – 739
27.4.2 Neurobiologie aggressiven Verhaltens – 740
27.4.3 Neurochemie der Aggression – 743
27.4.4 Antisoziales Verhalten und Psychopathie-Soziopathie – 745

Zusammenfassung – 747
Literatur – 748

N. Birbaumer, Biologische Psychologie, DOI 10.1007/978-3-540-95938-0_2,


© Springer Medizin Verlag Heidelberg 2010
712 Kapitel 27 · Emotionen

)) bestimmen damit die Auftrittswahrscheinlichkeit aller Re-


aktionen und die Einprägung von Gedächtnisinhalten.
Der große österreichische Komponist Gustav Mahler hat Emotionen und Motivationen sind nur graduell von-
einmal ausgerufen: »Die einzige Wahrheit auf der Erde ist einander abgrenzbar. Wir haben bereits am Beginn von
unser Gefühl!«. Damit verdeutlicht er unser Ausgeliefert- Kap. 25 erläutert, dass Emotionen auch psychische Kräfte
und Abhängigsein von Gefühlen und hat – wie auch in wie Triebe und Motivationen sind, aber weniger triebnah:
seiner Musik – ausgedrückt, was wir auch psychobiologisch Es fehlt die homöostatische Eigenheit von Trieben mit ihrer
heute zu wissen glauben: Jene Hirnregionen, die Gefühls- stereotypen Abfolge von Anreiz–Verlangen–Befriedigung.
zustände erzeugen, liegen in der Mehrzahl zwischen den
G Gefühle (Emotionen) sind Reaktionsmuster auf
phylogenetisch sehr alten Strukturen des Stammhirns und
3 Verhaltensebenen (subjektiv, physiologisch, moto-
den neokortikalen Hemisphären. Diese Zwischenposition
risch), die Annäherung oder Vermeidung auslösen
ist aber nicht als ein hierarchischer Baustein in der Hirnent-
und mit unterschiedlicher Erregung einhergehen.
wicklung zu verstehen; die Verbindungen der emotionalen
Sie bestimmen den hedonischen Wert eines Reizes.
Strukturen zu den darüber (superior) und darunter lokali-
Von den Motivationen sind sie nur graduell abzu-
sierten sind so eng, dass man sie symbolisch wie eine Klam-
grenzen.
mer sehen könnte, die Kognition und Trieb zusammenhält.
So entsteht in unserem subjektiven Erleben die Untrenn-
barkeit aller Gedanken, Vorstellungen und Verhaltens- Gefühle und Stimmungen
27 weisen von ihren emotionalen Begleitreaktionen, die aber Die primären Emotionen (Glück–Freude, Trauer, Furcht,
eben keine Begleiterscheinungen unseres Denkens, son- Wut, Überraschung und Ekel) sind angeborene Reaktions-
dern deren integraler Bestandteil sind. Trotzdem lassen muster, die in vielen Kulturen gleich ablaufen (Box 27.1).
sich, vor allem anhand von Gefühlsstörungen, die wich- Ihre Dauer überschreitet selten Sekunden. Dies ist die
tigsten neuronalen Quellen einzelner Gefühle isolieren. Zeit, die maximal für die ununterbrochene Dauer eines Ge-
Sowohl ein Zuviel (Angst, Trauer) als auch ein Zuwenig an fühls angegeben und in der gleichzeitig verstärkte physio-
Emotionen (Soziopathie) stören das Zusammenleben mit logische Reaktionen (z. B. Herzratenanstieg) gemessen
anderen Menschen empfindlich und können zu individuel- werden.
len und sozialen Katastrophen führen. Die Biologische Psy- Die Latenz vom Auftreten eines emotionalen Reizes bis
chologie der Emotionen ist daher nicht nur theoretisch von zur Messung erster gefühlsspezifischer Reaktionen im Ge-
Bedeutung, sondern stellt eine notwendige Grundlage von hirn kann außerordentlich kurz, im Extremfall wenige ms
Prävention und Therapie solcher emotionaler Verhaltens- sein. Bis zum Auftreten einer voll ausgebildeten primären
störungen dar. Emotion mit entsprechendem Ausdruck müssen aber min-
destens 70–100 ms vergehen. Beim heranwachsenden und
erwachsenen Menschen in zivilisierten Kulturen treten
27.1 Psychophysiologie von Gefühlen Gefühle meist als Gefühlsgemisch der primären Emotio-
nen auf.
27.1.1 Gefühle als Reaktionsmuster Stimmungen sind länger anhaltende (Stunden, Tage)
auf drei Reaktionsebenen emotionale Reaktionstendenzen, die das Auftreten einer
bestimmten Emotion wahrscheinlich machen (gereizte
Gefühlsdimensionen Stimmung führt z. B. häufiger zu Ärger). Sie treten in der
Gefühle sind Reaktionen auf positiv verstärkende oder Regel ohne externe positive oder negative Reize auf. Stim-
aversive körperexterne oder -interne Reize, die auf 3 Reak- mungen sind keine Gefühle, da ein Gefühl, vor allem ein
tionsebenen ablaufen: der motorischen, der physiologi- primäres Gefühl nicht länger als Sekunden ununterbrochen
schen (einschließlich hormonellen Reaktionen) und der bestehen kann und Stimmungen keinen begleitenden Ge-
subjektiv-psychologischen Ebene. sichts- und Körperausdruck aufweisen müssen. Während
Gefühle werden stets auf der Dimension angenehm– Emotionen stets die Wahrscheinlichkeit für bestimmte
unangenehm (Annäherung–Vermeidung) und der Dimen- gerichtete motorische Verhaltensweisen (Annäherung–
sion erregend–desaktivierend erlebt. Vermeidung) erhöhen, beeinflussen Stimmungen eher
Emotionen treten in der Regel als Reaktionen auf posi- Vorstellungen und Gedanken, also kognitive Prozesse.
tiv verstärkende Reize (Freude) oder deren Unterbleiben Man kann davon ausgehen, dass die primären Emotio-
(Frustration–Wut) oder aber als Reaktion auf bestrafende nen in der Evolution der höheren Primaten und der Men-
aversive Reize (Angst) oder deren Unterbleiben (Erleichte- schen als Mechanismus der Informationsausgabe über ab-
rung) auf. Die Gefühlssysteme des Gehirns bestimmen den laufende Motivationen entwickelt wurden: Furchtausdruck
hedonischen Wert (Valenz) eines exterozeptiven Reizes und Weglaufen signalisieren Gefahr, Trauer nach Verlust teilt
zusammen mit den Triebsystemen und teilen diesen den Isolation oder Hilfebedürfnis mit, Freude–Ekstase signa-
höheren sensorischen und motorischen Regionen mit. Sie lisieren Besitz oder Erwerb eines Gefährten, Ekel indiziert
27.1 · Psychophysiologie von Gefühlen
713 27

Box 27.1. Gesichtsausdruck und primäre Emotionen

In den meisten Kulturen sind einige grundlegende primä- bemerkten) Verstärkung der Änderungen des Gesichts-
re Emotionen im Gesichtsausdruck einander so ähnlich, ausdruckes führen. Zum Beispiel belohnen Eltern bereits
dass sie auf Photographien oder Filmen sofort erkannt unmittelbar nach der Geburt jene Ausdrucksäußerungen
werden. Emotionen auf Photos, wie die hier dargestellten, des Kleinkindes stärker, die eher den kulturellen Gegeben-
werden als Freude, Trauer, Furcht, Wut, Überraschung und heiten angepasst sind. Dadurch entwickeln sich sehr früh
Ekel zweifelsfrei erkannt. Daraus schloss man, dass die kulturelle »Überlagerungen« der vorgegebenen Aus-
Änderungen des Gesichtsausdruckes und anderer Mus- drucksäußerungen. Die unsichtbaren Aktivierungen der
keln genetisch determiniert sind. Dieser Schluss könnte Ausdrucksmuskulatur müssen aber auf einer genetisch
voreilig sein, auch wenn unsystematische Beobachtun- vorgegebenen Verbindung zwischen Gehirn und Musku-
gen wie auf . Abb. 27.1 dies zu stützen scheinen: Sowohl latur des Gesichts und anderer Muskeln aufbauen.
pränatale wie postnatale Einflüsse könnten zu einer (un-

Wut Trauer Glück Furcht

Ekel Überraschung Verachtung

Zurückweisung, Überraschung Orientierung etc. Insofern tan auftreten). Sie können in vielen menschlichen Kulturen
haben Gefühle stets eine adaptive Bedeutung in einem so- (einschließlich sog. Primitivkulturen) identifiziert werden.
zialen Gefüge (kommunikative Bedeutung von Gefühlen). . Abb. 27.1 zeigt z. B. spontanes Lachen bei einem blind
und taub geborenen Jungen, der Lachen nicht durch Beob-
G Gefühle (primäre Emotionen) sind kurz, maximal
achtung oder Nachahmung erlernt haben kann.
Sekunden dauernde Reaktionen. Stimmungen sind
Jede Kultur entwickelt Darstellungsregeln für die ein-
länger anhaltende Reaktionstendenzen. Jedes
zelnen Gefühle, die die angeborenen Muskelreaktionen der
Gefühl hat eine kommunikative Bedeutung, die in
primären Emotionen überlagern, aber nicht völlig maskie-
der Evolution dessen inneren und äußeren Ausdruck
ren können.
formte.
Unwillkürliche (primäre) Gefühle benutzen andere
neuronale Verbindungen und andere Muskelgruppen als
27.1.2 Gefühlsausdruck und Rückmeldung willkürlich erzeugte (z. B. ein miserables Lächeln): Unwill-
aus der Körperperipherie kürliche (eher subkortikal gesteuert) Gesichtsausdrücke
sind symmetrisch auf beiden Seiten des Gesichts, willkür-
Ausdruck primärer Gefühle liche (eher kortikal gesteuert) stärker auf der rechten Ge-
Die mit primären Emotionen einhergehenden Ausdrucks- sichtsseite konzentriert; beim künstlichen Lächeln z. B.
äußerungen des Gesichts sind angeboren (in dem Sinn, fehlt die Kontraktion des M. orbicularis oculi, dafür sind die
dass sie ab einer bestimmten Hirnreifung auf einige wenige Lippen stärker zusammengepresst u. ä. Echtes Lächeln löst
Reize ohne instrumentelles oder klassisches Lernen spon- z. B. verstärkte EEG-Aktivität links frontotemporal aus,
714 Kapitel 27 · Emotionen

(Musculus zygomaticus major) und der Augenpartie (Mus-


culus corrugator supercilii) entscheidend (. Abb. 27.19).
Die Dauer und Stärke der muskulären Aktivität des
Gesichtsausdrucks (gemessen mit EMG oder einem psy-
chophysiologischen Beobachtungssystem, . Abb. 27.2) ist
ein Index für die Dauer und Stärke des subjektiven Gefühls.
Emotionen sind neben den Gesichtsmuskeln auch in der
Stimme (prosodische Merkmale), im Gang und in Handbe-
wegungen differenzierbar; bis hin zu Mikrobewegungen
der Finger lassen sich die Gefühlsqualitäten voneinander
trennen. . Abb. 27.2 zeigt die nicht sichtbaren Mikroschwin-
gungen eines Mittelfingers bei der wiederholten Vorstel-
lung von Gefühlen.
G Jedes »echte« (d. h. nicht gespielte) Gefühl geht
mit charakteristischen Aktivierungen der unwillkür-
lichen Ausdrucksmuskulatur einher. Die zentralner-
vöse Steuerung von unwillkürlicher und willkürlicher
27 Ausdrucksmuskulatur ist unterschiedlich. Präfron-
tale, limbische und subkortikale Kerne arbeiten an
der Steuerung des unwillkürlichen Ausdrucksver-
haltens zusammen, während das willkürliche Aus-
drucksverhalten aus motorischen Arealen gesteuert
wird.

Die James-Lange- und Cannon-Bard- Theorien


. Abb. 27.3 gibt die beiden kontroversen theoretischen
Konzepte über die Bedeutung peripher-physiologischer
Faktoren (vegetativ und motorisch) wieder. William James
(1842–1910) hat in der Nachfolge des Physiologen Carl
Lange (1837–1900) betont, dass voll ausgebildete Gefühle
einer Rückmeldung der peripheren Gefühlsäußerungen
ins ZNS bedürfen (»wir sind traurig, weil wir weinen«),
während Walter Cannon, James Bard und die Neurophy-
siologie den ausschließlichen Ursprung von Gefühlen nach
der Reizwahrnehmung und -bewertung ins ZNS lokali-
sieren.
Beide Theorien haben eindrucksvolle Ergebnisse ge-
sammelt, die ihre Position stützen. Niemand bezweifelt
heute die Richtigkeit der Cannonschen Formulierung: beim
. Abb. 27.1. Phasen des Lachens bei einem blind und taub Tier und Menschen führt lokale Hirnstimulation (7 unten)
geborenen, 5 Jahre alten Jungen
in limbischen und einigen kortikalen Arealen unmittelbar
zu spezifischen, intensiven Gefühlen auch ohne Gegenwart
gestelltes Lächeln bewirkt keine Hemisphärenunterschiede eines entsprechenden Reizes. Dies schließt aber nicht aus,
im EEG. Bei Blutungen der weißen Substanz des linken dass die peripheren Veränderungen für die Ausprägung
Präfrontallappens, aber auch Läsionen im Zingulum, Amyg- und Entwicklung einer Gefühlsreaktion auch notwendig
dala, Thalamus und subkortikalen Kernen fällt die Steue- sind.
rung der spontanen Ausdrucksmuskulatur aus. Sie bleibt Voraussetzung für die Gültigkeit der James-Lange-The-
aber auch nach völliger Zerstörung des zentralen willkür- orie wäre der Nachweis differenzierbarer vegetativer hor-
motorischen Systems, z. B. bei Patienten mit amyotropher moneller und somatomuskulärer Begleiterscheinungen
Lateralsklerose (ALS), erhalten. Allerdings sind die unwill- von Gefühlen. Wenn jedes primäre Gefühl auch ein dafür
kürlichen emotionalen mimischen Bewegungen so schwach, spezifisches vegetatives oder motorisches Reaktionsmuster
dass sie nur mit Elektromyographie (EMG, Kap. 13) messbar aufwiese, läge die Vermutung nahe, dass ein solches Muster
sind. Für das Erkennen des Gesichtsausdrucks sind die auch einen spezifischen Einfluss auf das ZNS ausüben
Kontraktion und Entspannung der Lippen und des Mundes könnte und dort zur Identifikation des Gefühls führt (auch
27.1 · Psychophysiologie von Gefühlen
715 27

Nach Clynes M (1989). Mit freundlicher Genehmigung von Lippincott Williams & Wilkins.
. Abb. 27.2. »Sentographie«. Oben: Sentograph zur Registrierung nenten des Fingerdrucks; Jede Kurve gemittelt über 50 Einzelgefühle.
vertikaler und horizontaler Komponenten von Mikrobewegungen des Muskelableitungen von verschiedenen Arm- und Schultermuskeln
Fingers. Signale von 0–300 Hz, mit 0,5 mm/100 g können registriert unter den Sentogrammen. Die Verläufe der einzelnen Gefühlskurven
werden. Unten: Sentogramme als vertikale und horizontale Kompo- sind klar differenzierbar

Aus Matlin, M. W. (1989). Mit freundlicher Genehmigung von John Wiley & Sons.

. Abb. 27.3. Die periphere James-Lange-Theorie der Gefühle und die zentrale Theorie von Cannon-Bard (7 Text)
716 Kapitel 27 · Emotionen

als somatischer Marker bezeichnet). Dies konnte nach- Instrumentelles und klassisches Konditionieren
gewiesen werden. . Abb. 27.19 zeigt den Verlauf von auto- von Ausdrucksverhalten
nomen und somatomuskulären Maßen, während die Ver- Neben der nur anekdotisch informativen Methode der
suchspersonen emotionale Diapositive betrachten. Dabei Kurarisierung des Menschen versuchte man, unsichtbare
erkennt man die klar unterschiedlichen peripheren Reak- EMG-Reaktionen, die den Ausdrucksveränderungen bei
tionsmuster für die verschiedenen Gefühlsreaktionen. primären Emotionen entsprachen, instrumentell, ohne
Für die Bedeutung der peripheren Rückmeldung spre- Wissen der Versuchsperson, zu konditionieren: Zuerst
chen aber vor allem die Studien zum muskulären Ausdruck bittet man die Person, sich mehrmals hintereinander auf ein
von Gefühlen, die wir oben bereits einleitend dargestellt Signal bestimmte Gefühle vorzustellen (Liebe, Hass etc.).
haben. Dabei werden nicht sichtbare Mikrobewegungen eines
Mittelfingers registriert. Für jedes Gefühl ergibt sich dabei
G Die James-Lange-Theorie postuliert, dass ein Um-
eine unterschiedliche Gefühlskurve. Danach mussten die
weltereignis oder eine emotionale Vorstellung spe-
Versuchspersonen die auf . Abb. 27.2 abgebildeten Kur-
zifische motorische, vegetative und hormonelle
venformen ihrer eigenen Emotionen vom Bildschirm im
Reaktionen in der Körperperipherie auslöst. Die
Geiste mit dem Finger nachfahren, ohne zu wissen, um
afferente Rückmeldung dieser peripheren Reaktio-
welche Emotionskurve es sich handelte. Nach mehreren
nen in das Zentralnervensystem ist die Vorausset-
Wiederholungen traten bei einigen Versuchspersonen
zung für das Zustandekommen der jeweiligen Emo-
plötzlich spontan die entsprechenden Gefühle auf.
27 tion. Die Cannon-Bard-Theorie dagegen behauptet,
Dies bedeutet, dass die mehrmalige Ausführung einer
dass die Umweltereignisse direkt im Gehirn, ohne
muskulären Begleitreaktion eines Gefühls (hier Mikrobe-
Umweg über die Peripherie, Emotionen auslösen.
wegungen des Mittelfingers) das entsprechende Gefühl er-
zeugen kann, auch ohne adäquaten Umweltreiz. Ähnliches
Emotionen bei Gelähmten wurde durch unbewusste Konditionierung nicht sichtbarer
Für die Beurteilung der James-Lange-Kontroverse wäre EMG-Reaktionen der Gesichtsmuskel, wie sie bei Depres-
es notwendig, die Bedeutung der Rückmeldung der Aus- sionen auftreten, versucht. Auch hier zeigen sich die Ge-
drucksmotorik für die Entstehung von Gefühlen quantita- fühle als Folge der veränderten Muskelaktivität.
tiv zu bestimmen. Dies ist schwierig, wenn nicht unmög- Am Mund-Lippen-Muskel (M. masseter) und am Mus-
lich: die Ausschaltung der Ausdrucksmotorik bei erhalte- kel der Augenbrauen (M. orbicularis oculi) kann durch Mes-
nem Bewusstsein ist nur über Kurarisierung mit künstlicher sung des Elektromyogramms (EMG, Kap. 13) zwischen
Beatmung möglich: die heroischen Selbstversuche einiger positiven und negativen Gefühlen unterschieden werden,
Wissenschaftler berichten in Übereinstimmung mit der auch wenn im Gesichtsausdruck keine Veränderungen
Vorhersage der James-Lange-Theorie nicht von Angst und merkbar sind (. Abb. 27.19).
Erregung, sondern meist von Müdigkeit und Schlaf. Die Wir haben in Kap. 1 und . Abb. 1.2 bereits einen schla-
Ergebnisse an hoch Querschnittsgelähmten, die reduzierte genden Beweis für die Bedeutung der James-Lange-Theorie
Rückmeldung aus der Peripherie (Gesichtsausdruck vor- dargestellt: Kortikal blinde Patienten lernten, in einer klas-
handen) erhalten, sind uneinheitlich. sischen Konditionierung auf ein Gesicht (konditionaler
Patienten, die vollständig gelähmt sind und künstlich Reiz, CS) Angst zu entwickeln, da ein unangenehmer Schrei
beatmet und ernährt werden (»locked-in«, eingeschlossen (unkonditionaler Reiz, US) immer auf das Gesicht folgte.
sein, Box 28.3), zeigen auf subjektiver und kortikaler Ebene Die Patienten konnten aber den CS nicht sehen, da ihre
dieselben emotionalen Reaktionen auf emotionale Diapo- visuelle Hirnrinde vollkommen zerstört war. . Abb. 1.2 und
sitive wie Gesunde. Dies spricht gegen die universelle Not- . Abb. 27.4 erklären diesen verblüffenden Befund: Die Er-
wendigkeit vegetativer, hormoneller oder somatischer regungskonstellation des Reizes (Gesicht) gelangt über den
Rückmeldung (»somatischer Marker«) aus der Körperperi- Thalamus und die oberen Vierhügel (Kap. 17) in die Amyg-
pherie, zumindest bei Erwachsenen. Das Vorhandensein dala, wo kurze Zeit später auch der unangenehme Reiz
von emotionalen Reaktionen bei vollständig gelähmten Er- eintrifft und assoziativ mit dem CS verknüpft wird (Ab-
wachsenen schließt aber nicht aus, dass vor der Erkrankung schn. 27.2 und . Abb. 27.8). Die Amygdala löst periphere
im Laufe der Entwicklung die Rückmeldung der peripher- Furchtreaktionen in der Peripherie des Körpers aus, die in
physiologischen Reaktionsmuster gespeichert wurden und den oberen parietalen und somatosensorischen Kortex ge-
nun – im gelähmten Zustand – aus dem Gefühlsgedächtnis meldet werden (»somatische Marker«). Dort entsteht das
reproduziert werden. unangenehme Gefühl, weil diese Körpersignale als negative
emotionale Reaktionen (Angst) gespeichert sind, auch ohne
G Vollkommen gelähmte Erwachsene weisen trotz die bewusste Wahrnehmung des visuellen Reizes.
reduzierter afferenter Rückmeldung aus der Körper-
peripherie differenzierbare emotionale Reaktionen
auf.
27.1 · Psychophysiologie von Gefühlen
717 27

G Die Speicherung des peripher-physiologischen


Reaktionsmusters im Kortex ist Voraussetzung für
Aus Anders S, Birbaumer N, Sadowski B et al (2004). Reprinted by permission from Macmillan

die korrekte Klassifikation von Emotionen.

27.1.3 Die Rolle kognitiver Prozesse


in der Gefühlsentstehung

Attribution
Die in . Abb. 27.3 in A dargestellte Gefühlstheorie von
Cannon-Bard nimmt an, dass vor der Entstehung eines Ge-
fühls der Reiz als potenziell gefährlich, wichtig, etc. erkannt
Publishers Ltd: Nature Neuroscience.

werden muss.
Als integraler Bestandteil einer Emotion wird ein kogni-
tiver Bewertungsprozess (»appraisal«) oder ein Attribu-
tionsvorgang (Zuschreibung) angesehen, ohne den eine
Emotion richtungslos – erregend oder desaktivierend –
bleibt, ohne ihre spezifische Qualität zu erhalten. Furcht
wäre nur erregend, es fehlte aber die Vermeidungstendenz,
. Abb. 27.4. Analyse somatischer Marker. Die emotionale Infor- Liebe wäre entspannend, es fehlte aber das Annäherungsbe-
mation (hier ein Gesicht) gelangt über den Thalamus in die Amygdala; dürfnis. Die bekannteste Theorie hierzu, mit einer Vielzahl
diese erregt die gesamte Peripherie; diese Information aus der Peri- höchst origineller Experimente, stammt von Schachter:
pherie (somatische Marker) gelangt ebenso in den anterioren Parietal- Die Versuchspersonen erhielten eine aktivierende
kortex wie die Amygdala ihre Eigenaktivität dorthin meldet (breite
Droge, in der Regel ein Adrenalinabkömmling, oder ein
rote Pfeile)
Placebo. Danach wurde das kausale Erklärungs-(Attribuie-
rungs-)Bedürfnis durch Instruktionen über die Wirkung
G Instrumentelle und klassische Konditionierung der Droge bzw. des Placebo manipuliert (z. B. korrekt infor-
somatischer und viszeraler Reaktionselemente miert, falsch informiert, keine Nebenwirkungen etc.). Im
(»Marker«) von Emotionen zeigen, dass diese über Anschluss daran wurden die Versuchsperson mit ärger-
die nicht-bewusste Wahrnehmung der peripheren oder euphorieproduzierenden (gestellten) Situationen
Reaktionselemente im oberen parietalen Kortex zu konfrontiert und ihre Emotionen erfragt. Dabei ergab sich,
spezifischen bewussten Emotionen führen. dass die Qualität der Emotionen von der Bewertung der
Situation (Ärger oder Euphorie) und der Wahrnehmung
der unspezifischen und nicht erklärbaren Aktivierung ab-
James-Lange-Theorie: Stand der Ermittlungen hängt. Stellen Sie sich z. B. einen Mann vor, der alleine einen
Der gegenwärtige Wissensstand zur James-Lange-Kontro- dunklen Weg entlang geht, auf dem plötzlich eine Gestalt
verse lässt sich wie folgt zusammenfassen: Zwar kann durch mit einem Gewehr auftaucht. Die Wahrnehmung »Gestalt
Hirnstimulation direkt ein Gefühl ohne jede peripher-phy- mit Gewehr« wird einen Zustand physiologischer Erregung
siologische Rückmeldung ausgelöst werden, aber nur, hervorrufen; dieser Zustand wird dann im Sinne des Wis-
wenn diese peripher-physiologischen Muster zumindest sens über dunkle Wege und Gewehre interpretiert und der
einmal in der Vergangenheit mit dem zentralnervösen An- Erregungszustand wird als Furcht bezeichnet.
teil des Gefühls assoziiert wurden. Dies bedeutet, dass zur
G Die kognitive Emotionstheorie von Schachter nimmt
Speicherung des emotionalen Reaktionsmusters die peri-
an, dass ein physiologischer Erregungszustand sub-
pher-physiologischen Anteile irgendwann notwendig waren
jektiv bewertet wird und die Bewertung (Attribu-
und später als Ganzes durch Aktivierung des zentralner-
tion) dann die Richtung und Qualität der Emotion
vösen Gedächtnisinhalts abgerufen werden.
bestimmt.
Wie auch immer man die Bedeutung der peripheren
Rückmeldung beurteilt, jeder verstärkende und bestrafende
Reiz muss vor seiner bewussten oder nicht-bewussten »Be- Gefühle ohne bewusste Attribution
urteilung« von den (kortikalen) sensorischen Analysatoren Emotionen entstehen auch ohne unspezifische periphere
erkannt worden sein (. Abb. 27.3 und 27.4); dieser Prozess Aktivierung, ohne Attributionsbedürfnis, ohne bewusste
kann ohne Mitwirkung des Bewusstseins sehr rasch ablau- Klassifikation der Person (z. B. als kontrollierbar oder
fen. Denn ohne die Klassifikation der Valenz (positiv–ne- nicht-kontrollierbar, erklärbar oder nicht-erklärbar), oft
gativ) des Reizes können keine spezifischen peripheren sogar gegen die bewusste Erklärung und Ursache. Zum
Korrelate entstehen. Beispiel können elektrische und mechanische Reizung
718 Kapitel 27 · Emotionen

verschiedener Hirnregionen während Hirnoperationen davon ab, was wir als kognitiven Prozess definieren. Wenn
beim Menschen unmittelbar intensive Gefühle der Furcht wir alle informationsverarbeitenden Prozesse, auch jene,
(N. amygdala) und Trauer oder Einsamkeit (orbitofrontaler die in subkortikalen Systemen ablaufen, als kognitiv be-
Kortex) bei den Patienten auslösen, obwohl die subjektiv zeichnen, dann hat auch die Fruchtfliege Emotionen, denn
bedrohliche Operationssituation, in der sie ja bei dem Fruchtfliegen in einem Fliegenlabyrinth lernen, bestimmte
Experiment sind, klar von den Patienten wahrnehmbar ist Labyrintharme, in denen sie elektrisch gereizt werden, zu
(Kognition: »Das passt aber nicht hierzu«). Auch sind die vermeiden. Wenn wir allerdings unter Emotionen Reaktio-
elektrisch ausgelösten Gefühle nicht immer Erinnerungen nen verstehen, die den orbitalen und präfrontalen Kortex
an Emotionen (und Kognitionen), sondern oft reine spon- sowie Sprachregionen des Assoziationskortex zu antizipa-
tane Gefühle mit entsprechenden Ausdrucksäußerungen torischem Planen von Verhalten (»Was ist gut/schlecht für
(»Ich fühle mich glücklich, ich weiß nicht warum«). mich und andere?«) benutzen, so haben nur der Mensch
Gegen die allgemeine Gültigkeit der kognitiven Theorie und nicht-humane Primaten und die großen Meeressäuger
von Gefühlen sprechen auch eine Vielzahl von Experimen- Gefühle.
ten, die zeigen, dass Gefühle häufig vor jeder bewussten Der Gefühlsreichtum und die Vielzahl an vorstellbaren
Wahrnehmung und vor jedem bewussten Wiedererkennen Nuancen von Gefühlen und deren Antizipation und Vor-
oder Diskriminieren der Situation auftreten: Primat des stellung – weit über die wenigen Basisemotionen hinaus –
Affektes. sind sicher eine Eigenheit des Menschen. Die Entwicklung
Experimente zur subliminalen Wahrnehmung von von engen anatomischen und physiologischen Verbindun-
27 tachistoskopisch (1–20 ms Dauer) dargebotenem emotio- gen zwischen limbischen, thalamischen, hypothalamischen
nalen Material belegen Einflüsse auf die Stimmung. Wenn und kortikalen Regionen hat beim Menschen ein besonders
häufig wiederholt, können subliminal dargebotene Reize hohes Maß erreicht. Dies betrifft vor allem Hirnregionen,
(z. B. drohende Gesichter) starke Emotionen auslösen, ob- die am Aufschub unmittelbarer Verstärkungen und der
wohl sie weder bewusst erkannt noch wiedererkannt wer- gedanklichen Antizipation von Konsequenzen beteiligt
den, noch sonst im Gedächtnis verfügbar sind (. Abb. 1.2). sind, also frontale und linguistische Funktionen. Verstehen
Reize, die häufiger dargeboten werden (bekannte wir Gefühle dagegen als Ausdruck von Annäherungs- und
Reize), werden deutlich positiver bewertet als neue, auch Vermeidungsdispositionen mit unterschiedlichem Aktivie-
wenn sie als solche in Wahrnehmungs- und Gedächtnisex- rungsniveau, dann haben alle Vertebraten und möglicher-
perimenten nicht erkannt werden können (z. B. Vielecke, weise auch einige Invertebraten Gefühle.
sinnlose Silben etc.).
G Annäherungs- und Vermeidungsreaktionen kom-
Geschmacks- und Geruchsaversionen, von intensiven
men bereits bei Invertebraten vor. Verbale Attribu-
Gefühlen begleitet, können auch im anästhesierten Zu-
tion von Gefühlen und zeitlicher Aufschub von
stand erlernt werden.
Annäherungs- und Vermeidungsreaktionen und
Psychologisch wirksame Drogen (Psychopharmaka)
Gefühlskontrolle kommen nur bei höheren Säugern
lösen starke und differenzierbare Gefühle aus, z. T. unab-
und beim Menschen vor.
hängig von der bestehenden Situation.
Es bestehen direkte Verbindungen von Sinnesorganen
zu Regionen des ZNS, die mit großer Sicherheit nicht 27.1.4 Neuronale Grundlagen
mit kognitiven, sondern emotional-motivationalen Pro- emotionaler Valenz
zessen befasst sind (z. B. der retino-hypothalamische Trakt,
Kap. 22). Positiv verstärkende und bestrafende Reize
Affektive und motivationale Systeme des ZNS sind Das Herz jeder Gefühlsreaktion ist seine Valenz (Dimen-
phylogenetisch und ontogenetisch vor kognitiven Syste- sion angenehm – unangenehm). Bereits in Box 19.1 (Ab-
men entstanden (phylogenetisches und ontogenetisches schn. 19.1.2) ist klar, dass primäre, angeborene Verstärker
Primat). wie Geschmack, Geruch, Tast-, Schmerz- und Temperatur-
empfinden auf unterschiedlichen Wegen aus den primären
G Sprachlich-kognitive Prozesse sind für das Zustande-
kortikalen und subkortikalen sensorischen Projektions-
kommen von Emotionen nicht notwendig, da Ge-
arealen in ein ausgedehntes paralimbisches und präfron-
fühle häufig vor jeder bewussten Bedeutungs-
tales Verstärkersystem führen (Abschn. 26.6 und 26.7,
analyse und ohne intakte primäre Sinnessysteme
. Abb. 27.5 und 27.6).
entstehen können.
Die Hauptbestandteile dieses Systems sind der orbitale
Präfrontalkortex, das mesolimbische und mesokortikale
Haben Tiere Gefühle? Dopaminsystem, Amygdala, vorderer Inselkortex, vorderer
Diese Frage ist eng mit den oben besprochenen kognitiven G. cinguli und am motorischen Ende die Basalganglien,
Vorgängen bei Emotionen verbunden. Die Rolle kognitiver besonders ventrales und anteriores Striatum. Wie aus
Prozesse bei der Entstehung von Gefühlen hängt natürlich . Abb. 27.5a auch ersichtlich ist, liefern Amygdala und
27.1 · Psychophysiologie von Gefühlen
719 27

. Abb. 27.5a, b. Hirnstrukturen für hedonische Gefühlsquali- areal); STP superiore temporale Ebene; TE übergeordnete visuelle
täten. a Schematische Darstellung des Affenkortex und subkortikaler Areale 1–4; VIP ventrales intraparietales Areal; Die Zahlen bezeichnen
Areale, die an der Steuerung von Emotionen beteiligt sind. Gezeigt die Brodmann-Areale: 1, 2, 3 somatosensorischer Kortex; 4 motorischer
sind die Verbindungen von den primären olfaktorischen und Ge- Kortex; 5 oberer Parietallappen; 6 lateraler prämotorischer Kortex;
schmackskortizes zum orbitofrontalen Kortex und der Amygdala. 7a inferiorer Parietallappen (visueller Teil); 7b inferiorer Parietallapp-
Auch die Verbindungen des »ventralen visuellen Systems« (»Was- pen (somatosensorischer Teil); 8 frontales Augenfeld; 12 Teil des Orbi-
System«) mit dem Orbitofrontalkortex sind dargestellt (7 die Pfeile tofrontalkortex; 46 dorsolateraler Präfrontalkortex. b Anatomische
von V1 nach V2 und V4 in den inferioren visuellen Temporalkortex und Verbindungen der Auslöser impliziter (nicht-bewusster) und expliziter
deren Verbindungen mit der Amygdala und dem Orbitofrontalkortex). emotionaler Reaktionen als Antwort auf belohnende und bestrafende
Im oberen Teil sind die Verbindungen der somatosensorischen korti- Reize. Die Eingänge aus den verschiedenen sensorischen Systemen
kalen Areale 1,2 und 3 sichtbar, die den Orbitofrontalkortex sowohl in den orbitofrontalen Kortex und in die Amygdala führen zu Feststel-
direkt erreichen als auch über den insulären Kortex, der dann auch lung des Belohnungswertes. Die Ausgänge aus diesen emotionalen
wieder in die Amygdala projiziert. Schmerz- und Tastsysteme er- Bewertungssystemen laufen über die Basalganglien (einschließlich
reichen aus Area 1, 2, 3, z. T. über die Insel die beiden Bewertungs- Striatum und ventrales Striatum mit N. accumbens) und steuern die
systeme. as Sulcus arcuatus; cal Sulcus calcarinus; lun Sulcus lunatus; impliziten, direkten, bewusst kaum kontrollierbaren emotionalen
ps Sulcus principalis; io Sulcus occipitalis inferior; ip Sulcus intraparie- Reaktionen, oder führen in den linken Temperofrontalkortex, vor allem
talis; FST visuelles Bewegungsareal; LIP laterale intraparietale Areale; den dorsolateralen Präfrontalkortex, wo bewusste emotionale Ent-
MST visuelles Bewegungsareal; MT V5 (auch ein visuelles Bewegungs- scheidungen und Pläne über die motorischen Areale entstehen

Orbitalkortex dem Hypothalamus emotionale Information. talen und striatalen System zur Analyse positiver
Diese richten die ausgelösten Emotionen auf den momen- Verstärker und bestrafender, schmerzhafter Reize
tanen Triebzustand aus, wobei der Orbitofrontalkortex den bestimmt.
subjektiven Belohnungs- oder Bestrafungswert abschätzt.
Basalganglien und Annäherungs-
G Die emotionale Valenz eines Reizes oder einer emo- Vermeidungsverhalten
tionalen Vorstellung wird von einem ausgedehnten, . Abb. 27.5b gibt den Weg belohnender und bestra-
sich teilweise überlappenden limbischen, präfron- fender Reize in die Amygdala und den orbitofrontalen
6 Kortex (Bewertung der Belohnung) und von dort in das
720 Kapitel 27 · Emotionen

Aus Gazzaniga, M (2004). Mit freundlicher Genehmigung der MIT Press.


a b
. Abb. 27.6a, b. Belohnungs- und Bestrafungssysteme. a Erwar- sind und die positiv verstärkenden Opioidsysteme dem Schmerzsys-
tung positiver Geldverstärker und Erwartung von Kokain bei Kokain- tem folgen, überrascht deren örtliche Nachbarschaft nicht. Links sind
abhängigen im Nucleus accumbens. Die stärkere positive Erwartung die Belohnungsregionen (*) und Schmerzzonen (6) des G. cinguli und
von Kokain drückt sich in erhöhter Aktivierung des N. accumbens aus, der subkallosalen Regionen (Basalganglien, vordere Insel, Thalamus)
27 aber auch Erwartung von finanzieller Belohnung aktiviert dasselbe
dopaminerge Areal. b Obwohl man in einigen Hirnarealen positiv
eingezeichnet, rechts ein Koronarschnitt auf Höhe der Inselregion.
Die starke Überlappung positiver und negativer Regionen hat natür-
verstärkende von bestrafenden (aversiven) Regionen trennen konnte, lich auch mit der mangelnden örtlichen Auflösung der bildgebenden
überlappen sich beide. Da negative Reize oft mit Schmerz assoziiert Verfahren zu tun

Striatum wieder, wo implizite, automatische Annäherungs- G Teile der Basalganglien, vor allem das anteriore
und Vermeidungsreaktionen ausgewählt und über Thala- Striatum und der N. accumbens bestimmen die
mus und motorischen Kortex realisiert werden (. Abb. Richtung von instrumentellem Verhalten über die
27.6a und b). Verschiedene Anteile der Basalganglien (Pu- Verstärkung der synaptischen Bindung zwischen
tamen, Pallidum, N. caudatus, Kap. 5 und 13) sind dabei Hinweisreizen und emotionaler Annäherungsreak-
auf unterschiedliche Reaktionsklassen spezialisiert. Die tion.
Basalganglien erhalten die bereits verarbeitete Information
und wechseln die Verhaltensrichtung und die Reaktion
(»switching«), wenn konkurrierende Informationen ein- 27.1.5 Die neokortikalen Hemisphären
gehen. und Gefühle
Vom Putamen und N. caudatus über das Pallidum
und die Substantia nigra wird die konfliktträchtige In- Ursachenattribution und Emotionalität
formation über sukzessive inhibitorische Kompression Im gesunden Gehirn erfolgt ein kontinuierlicher Austausch
(über rekurrente hemmende GABA-Kollateralen, ähnlich zwischen rechter und linker Hemisphäre (Kap. 21), wobei
wie die laterale Hemmung in der Retina, Kap. 17) zuneh- die linke Hemisphäre vor allem die Rolle eines Ursachen-
mend ausgeschaltet, bis nur der stärkste (ursprünglich interpreten spielt (Kausalattribution): Erregungskonstella-
vom Kortex und Amygdala kommende) Kanal übrig bleibt tionen aus allen Teilen des Neokortex und subkortikalen
(z. B. Flucht). Auch die Neurone der Basalganglien sind Regionen werden mit dem Ziel einer kognitiven Disso-
plastisch, sodass einmal assoziierte Verbindungen (z. B. nanzreduktion von der linken Hemisphäre auf ihre Ursache
ein Hinweisreiz aus dem Kortex für Flucht und eine be- untersucht. Die linke Hemisphäre konstruiert Theorien
stimmte Körperposition) rasch bei der Darbietung auch über die Ursachen des Auftretens von sichtbaren motori-
nur eines Elementes der Reizsituation ausgelöst werden schen und unsichtbaren emotional-vegetativen Reaktionen,
können. bis eine widerspruchsfreie Einordnung oder Änderung der
Wie in Box 26.6 sowie in . Abb. 25.12 und 25.13 sicht- Erwartungs-(Glaubens-)haltung der Inhalte erfolgen kann
bar, wird in Gegenwart positiver Verstärker oder entspre- (Konsonanz). . Abb. 27.7 zeigt das an dem Split-brain-Pa-
chender Hinweisreize die Verbindung zwischen dem posi- tienten P.S., dessen rechte und linke Hemisphäre zu expres-
tiven Hinweisreiz (z. B. aus dem Kortex) und der motori- sivem Sprachverhalten in der Lage war.
schen operanten Reaktion (z. B. Hebeldruck für Futter) Hintereinander werden Kärtchen der rechten und lin-
durch den (oft dopaminergen) Zufluss aus N. accumbens ken Hemisphäre getrennt (durch Fixierung der Blickrich-
und Striatum gefestigt (. Abb. 27.6a und b), sodass bei der tung in der Mittellinie) dargeboten. Nach Darbietung der
nächsten Darbietung des Hinweisreizes die gerichtete Re- Serie soll der Patient die Geschichten wiedergeben, das Er-
aktion ausgelöst wird. gebnis zeigt . Abb. 27.7. Die Beschreibungen der rechten
27.1 · Psychophysiologie von Gefühlen
721 27

Nach Gazzaniga MS (1985). Copyright © 1985 by Basic Books. Veröffentlicht mit Genehmigung Nr. 67'850
der Paul & Peter Fritz AG in Zürich.
. Abb. 27.7. Rechtshemisphärische und linkshemisphärische botenen Diapositiven 2 Sätze gezeigt: der linken Hemisphäre »Anna
Informationsverarbeitung bei dem Patienten P.S., der sowohl aus kam heute zur Stadt«, der rechten Hemisphäre »Mary wird das Schiff
der rechten, als auch linken Hemisphäre nach Split-brain sprechen besuchen«. Nach Darbietung der Diapositivserie wurde P.S. nach der
konnte. Den beiden Hemisphären werden auf 5 sequenziell darge- Geschichte gefragt, die Antwort ist rechts auf der Abbildung zu lesen

Hemisphäre sind emotional gefärbt, ausschweifend, ohne Läsionen der Hemisphären und Emotionen
dass logische Schlüsse aus dem Gesagten hervorgingen. Die Bei Läsionen der rechten Hemisphäre beobachtet man
Sprache der rechten Hemisphäre – wenn vorhanden – ist klinisch häufig emotional indifferente oder euphorisch dis-
syntaktisch und semantisch wie die der linken, sie wird aber inhibierte Zustände, bei Läsionen der linken – auch wenn
völlig anders gebraucht; oft nur zur Beschreibung der emo- Sprachfunktionen nicht betroffen sind – Katastrophen-
tionalen und/oder wahrgenommenen Inhalte, voll von reaktionen mit tiefen Depressionen. Dabei ist neurophysio-
Widersprüchen und für Zuhörer und Patient verwirrend. logisch zu beachten, dass bei Läsion einer Seite eine Über-
Dabei ist auch der Sprachklang (Prosodie) der wieder- erregung der anderen Hemisphäre durch Enthemmung
zugebenden Inhalte anders: emotionale Intonation und resultieren könnte.
Metaphern werden eher rechts-hemispärischen Inhalten Emotionaler Ausdruck ist nach frontalen rechtshemis-
unterlegt. phärischen Läsionen, emotionales Erkennen und Diskri-
Bei diesen und anderen Befunden zur Emotionalität mination von posterioren rechtshemisphärischen Läsionen
der rechten Hemisphäre bleibt allerdings meist die Frage beeinträchtigt: z. B. können Patienten mit rechter temporo-
offen, ob die verstärkte Emotionalität auf die überlegene parietaler Läsion den emotionalen Gehalt mehrerer mit
Verarbeitungsstrategie für nicht-verbale, räumliche Inhalte unterschiedlicher Intonation (Prosodie) gelesenen Worte
zurückgeht oder eine spezifische Überlegenheit der rech- schlechter identifizieren als links temporoparietale Läsio-
ten Hemisphäre für die Verarbeitung gefühlvoller Inhalte nen trotz gleichem Verständnis und Wiedergabe. Nach pos-
darstellt. terioren rechtshemisphärischen Läsionen wird das Erken-
nen oder Ausdrücken des emotionalen Gehalts von Gesich-
G Die rechte Hirnhemisphäre ist bei der Verarbeitung tern beeinträchtigt (Prosopagnosie, Kap. 17). Bei rechter
von externen und interozeptiven Reizen, die für parietaler Läsion werden die Existenz und Folgen der
die Wahrnehmung von Emotionen wichtig sind, der Krankheit und/oder emotionaler Inhalte häufig geleugnet
linken überlegen. Die linke Hemisphäre dagegen (sensorischer und emotionaler Neglekt, Kap. 21 und 28),
dominiert die rechte bei der kausalen Erklärung von der emotionale Ausdruck verarmt oder ist unangepasst ent-
Ereignisabfolgen. hemmt.
722 Kapitel 27 · Emotionen

Elektrokonvulsive Schockbehandlung (ECS) der rech-


ten Hemisphäre (Abschn. 27.3.4) führt zu deutlich besserer

Nach LeDoux J (1995). Mit freundlicher Genehmigung


Depressionsaufhellung als linksseitige. Umgekehrt tritt
beim linksseitigen Wada-Test (. Abb. 28.7) stark depres-
sives Empfinden auf. Dabei wird ein Barbiturat zur re-
versiblen Inaktivierung der linken Hemisphäre in die linke
A. carotis interna injiziert.
Die Sensibilität der rechten Hemisphäre für negative

von Annual Reviews.


Gefühle wird auch durch die Tatsache gestützt, dass aversive
Gerüche und Schmerz bevorzugt die rechte Hemisphäre
erregen, positive die linke.
G Läsion und Stimulation der Hirnhemisphären zeigen
eine verstärkte Aktivität der rechten Hemisphäre bei . Abb. 27.8. Klassische Konditionierung von Furcht. Furchtkon-
negativen Emotionen. Die linke Hemisphäre bewirkt ditionierung durch zeitliche Paarung eines neutralen konditionierten
über die Hemmung der rechten eine positive Aufhel- Reizes (CS) mit einem nozizeptiven unkonditionierten Reiz (US). Vor der
Konditionierung (vc) besitzt der CS nicht die Fähigkeit, wie natürliche
lung von Gefühlen.
Gefahren Hirnsysteme zu aktivieren, die Defensivreaktionen steuern.
Nach der Konditionierung (nc) erwirbt er diese. Furchtkonditionierung
27 Entwicklung und affektive ist Reizkonditionierung, nicht Reaktionslernen, bei der neue Reize
Kontrolle über angeborene fest verdrahtete Netzwerke erlangen
Hemisphärendominanz
Für eine stärkere Involviertheit der rechten frontalen Hemi-
sphäre in negativen Emotionen und eine stärkere Bedeu- Furcht stellt die spezifische motorische, physiologische
tung der linken frontalen Hemisphäre für die Hemmung und subjektive Reaktion bei Identifikation der Gefahr und
negativer Gefühle sprechen auch die Untersuchungen an bei Auslösung der entsprechenden Bewältigungsreaktio-
Neugeborenen, die man als funktionelle Split-brain-Lebe- nen dar. Im Rahmen von Furcht und Flucht muss zwischen
wesen betrachten kann, da die Myelinisierung des Corpus aktivem (»tu das, sonst …«) und passivem (»tu das nicht,
callosum noch sehr rudimentär ist und vollständig erst um sonst …«) Vermeiden unterschieden werden (. Tabelle 25.1
das 13. Lebensjahr abgeschlossen wird. in Abschn. 25.1.1).
Untersuchungen mit der Darbietung wohlschmecken- Zwei Stadien der Angstentstehung werden in der Zwei-
der Zuckerlösung und aversiver Zitronenlösung bei Neuge- Prozess-Theorie unterschieden: eine erste klassische Kon-
borenen mit rechtshändigen Eltern zeigen deutlich erhöhte ditionierungsphase und eine zweite instrumentell-ope-
EEG-Aktivierung links bei positiver und rechts bei negativer rante Phase (Kap. 25), die auch als Bewältigungsphase be-
Geschmacksreizung. zeichnet wird.
Bei 10-monatigen Kindern zeigt sich ebenfalls eine aus- In der klassischen Konditionierung (Abschn. 25.1) er-
geprägte EEG-Aktivierung links bei Darbietung glücklicher langen neutrale Reize über assoziative Verbindungen die
Gesichter. Je früher verbale Fertigkeiten in der Entwicklung Fähigkeit, die unkonditionierten Furchtreaktionen (Flucht,
erreicht werden, umso eher funktioniert die Hemmung »Einfrieren« – »freezing«) auszulösen (. Abb. 27.8, 27.9).
negativer Gefühle: verbal aktivere 18 Monate alte Kinder Nach mehreren Paarungen von CS und US entwickelt sich
zeigen weniger Angst bei Fremden und weniger Protest bei eine konditionierte emotionale Reaktion (CER, »condi-
Trennung. tioned emotional response«, Prozess 1).
Besteht nun die Möglichkeit, nach Erscheinen der CS
G Die Entwicklung der Hemisphären und des Corpus
auf einen diskriminativen Reiz (SD, Abschn. 25.1), das Auf-
callosum spricht für eine angeborene oder früh
treten des US zu vermeiden, so verstärkt die dadurch erziel-
erworbene Präferenz der beiden Hirnhemisphären
te Beseitigung der CER und später das Auftreten des Sicher-
für positive (links) und negative (rechts) Emotionen.
heitssignals der SD allein die instrumentelle Vermeidungs-
oder Fluchtreaktion (Prozess 2).
27.2 Vermeidung (Furcht und Angst)
G Während Angst ungerichtete Überaktivierung dar-
27.2.1 Zwei-Prozess-Theorie stellt, ist Furcht entweder mit aktiver oder passiver
des Vermeidungslernens Vermeidung gekoppelt. Furchtlernen beginnt mit
Akquisition der konditionierten emotionalen Reak-
Lernen von Angst und Furcht tion (CER).

Angst wird meist als ungerichtete (diffuse), peripher-phy-


siologische, zentralnervöse und subjektive Überaktivierung
bei der Wahrnehmung von Gefahren definiert.
27.2 · Vermeidung (Furcht und Angst)
723 27
Psychophysiologie des Furchtlernens
. Abb. 27.9 zeigt den Verlauf der langsamen kortikalen
Hirnpotenziale (Kap. 21 und 22) für diese beiden Prozesse
der Furchtentstehung und späteren Stabilisierung der Ver-
meidungsreaktion. Prozess b zeigt die klassische Konditio-
nierung, c und d den Prozess 2 des Vermeidungslernens.
Ein Lichtsignal (CS) kündigt in der ersten Phase für 15 s
(unten, die ersten beiden Potenzialverläufe) den US (elek-
trischer Reiz) an. In Antizipation des US entwickelt sich
eine kortikale Negativierung (Kap. 20), deren Amplitude
als Maß der kortikal gegebenen assoziativen Verknüpfung
angesehen werden kann. Nach einigen Durchgängen (ab c
auf . Abb. 27.9) ertönt nach 7,5 s ein Ton (SD), der den CS
abschaltet und den US vermeidet, wenn die Person in der
Zeit seiner Präsenz (500 ms) eine willentliche Muskel-
zuckung des Armes durchführt.
Nachdem die Versuchsperson dies gelernt hat (d),
erfolgt die Negativierung nur noch vor dem SD (d, e) und
nach der Vermeidungsreaktion eine Positivierung (Hem-
mung) des Potenzials, das das Ausmaß der kortikalen Ver-
stärkung für die gelungene Vermeidung wiedergibt (dritte
und vierte Potenziallinie, c und d in . Abb. 27.9).
In der Extinktion erfolgt kein US mehr, auch wenn die
Versuchsperson nicht mehr vermeidet (fünfte Linie, e), und
in der forcierten Extinktion (g, h) wird der Versuchsperson
mitgeteilt, dass sie nun aufhören könne zu vermeiden, da
kein US mehr komme. 50% der Versuchspersonen führen
die Vermeidungsreaktion trotzdem bei Erscheinen des SD
weiter aus (Potenziallinie h).
Versuche dieser Art stellen Analogexperimente zur
Entstehung von Phobien, Panik, posttraumatischer Be-
lastungsstörung und Zwangsverhalten dar (experimen-
telle Neurose) und zeigen, dass die kortikale assoziative
Verknüpfung zwischen CS und SD und die kortikale Ver-
stärkung der Vermeidungsreaktion über die Stabilität
des Vermeidungsverhaltens entscheiden und nicht die Be-
seitigung der peripher-physiologischen Angstzeichen auf
den CS.
In Kap. 25 haben wir bereits gezeigt, dass mit Fort-
schreiten der Furchtkonditionierung und dem Anwachsen
der langsamen Hirnpotenziale (LP) am Kortex eine Aus-
breitung der sensorischen Repräsentation des CS einher-
geht und sich die Hirnrepräsentationen von CS und US ver-
binden. Die anhaltende Vermeidungsreaktion bei einigen
Personen in der forcierten Extinktion zeigt, dass »Reste« . Abb. 27.9a–h. Langsame kortikale Hirnpotenziale bei klassisch-
instrumenteller Furchtkonditionierung. Erläuterung 7 Text. Die
der assoziativen Bindung nicht gelöscht werden, was auch
Zeit zwischen CS (Licht) und US (elektrischer Reiz) beträgt 15 s, die
erklärt, dass viele Opfer bei posttraumatischer Belastungs- Negativierung des langsamen Hirnpotenzials ist nach oben abge-
störung (PTSD) ihre Angst trotz Therapie (Extinktion) tragen. Jede Kurve stellt einen Mittelwert aus 10 Durchgängen über
nicht vollkommen verlieren. 10 Personen dar. Extinktion I und II bedeutet die ersten 10 bzw.
zweiten 10 Durchgänge ohne US, dasselbe gilt für forcierte Extinktion.
Die langsamen Hirnpotenziale wurden an sensomotorischen Kortex-
G Furcht wird über klassische Konditionierung erlernt,
regionen abgeleitet
durch aktive oder passive instrumentelle Vermei-
dung aufrecht erhalten und durch Unterlassen der
Vermeidung in Gegenwart der angstauslösenden
konditionierten Reize gelöscht.
724 Kapitel 27 · Emotionen

Nach LeDoux J (1995). Mit freundlicher Genehmigung von Annual Reviews.

Nach LeDoux J (1995). Mit freundlicher Genehmigung von Annual Reviews.


27
. Abb. 27.10. Rolle der Amygdala bei Furchtentstehung. Unkon- . Abb. 27.11. Amygdala und Furchtkonditionierung. Der laterale
ditionierte emotionale Furchtreaktion mit motorischen, vegetativen Kern der Amygdala (LAT AMYG) erhält Informationen aus den senso-
und endokrinen Reaktionen (unten). Die Reaktionen werden schnell rischen Kernen des Thalamus (1) und Neokortex (2), aber auch aus
und stereotyp über die thalamo-amygdalären Verbindungen und höheren neokortikalen Assoziationsregionen (3) und dem Hippo-
langsamer über die kortikalen Verbindungen zur Amygdala erzeugt. kampus (4). Während der Furchtkonditionierung verarbeitet die
Die sensorische Information vom Thalamus zur Amygdala ist sche- Amygdala parallel die Eingänge aus diesen verschiedenen Kanälen.
menhaft und auf den biologischen Sachverhalt reduziert (z. B. grobe Bei einfachen Hinweisreizen (CS), die keine Diskrimination erfordern,
Konturen einer Schlange), die vom Kortex ist präzise. Die Information kann die Konditionierung schon über (1) erfolgen, (2) ist aber bereits
gelangt von der Amygdala in den ventromedialen Frontalkortex, notwendig, wenn 2 Reize unterschieden werden müssen (CS+ und
wo die Entscheidung über die Bewegung fällt. Exekutive Aufmerksam- CS–). Die Verbindung 4 wird dann notwendig, wenn Furchtkonditio-
keitsfunktionen werden über das Cingulum aktiviert nierung auf Reizkontexte mit vielen Reizelementen erfolgen soll. (3)
vom medialen präfrontalen Kortex zur Amygdala wird bei Extinktion
gebraucht. Innerhalb der Amygdala wird die Information zum latera-
len über den basolateralen (BL) und basomedialen (BM) zum zentralen
27.2.2 Funktionelle Neuroanatomie Kern (ACE) geleitet; die Aktivierung des ACE erzeugt dann die spezi-
der Amygdala fische emotionale Reaktion auf allen Ebenen
und des Furchtsystems
G Die schnelle thalamo-amygdaloide Verbindung er-
Thalamus-Amygdala-Verbindung möglicht rasche und nicht bewusste Furchtkonditio-
Die Amygdala ist das »Herz« der gelernten Furchtreaktion, nierung.
hier werden CS (kortikal) und US (Amygdala) miteinander
assoziativ verknüpft. In Abschn. 5.2.3 sind bereits Aufbau Kortex-Amygdala-Verbindungen
und Verbindungen der Amygdala dargestellt. . Abb. 27.10 . Abb. 27.11 zeigt die verschiedenen kortikalen Areale und
zeigt den Verlauf der visuellen Erregungskonstellation des ihre Beziehungen und Funktionen für die Furchtentstehung
US (unkonditionierter Reiz, Schlange) über die Amygdala durch die Amygdala. Wenn z. B. ein CS+ (z. B. Ton), der
und . Abb. 27.11 zeigt detaillierter als . Abb. 27.10 die Ver- den US (Schock) ankündigt, von einem anderen Ton 2,
bindungen der Amygdala: der keinen Schock ankündigt (CS–), unterschieden werden
Zum Verständnis des Furchtlernens sind 2 anatomische muss, sind die sensorischen Areale des Neokortex not-
Eigenheiten wichtig: Die spezifischen Thalamuskerne geben wendig, um differenzielle Furchtkonditionierung zu er-
die Information vor der kortikalen Analyse (nach ca. 15 ms) möglichen. Soll schließlich der ganze Kontext (z. B. ein
an das laterale Areal (LA) der Amygdala ab, sodass schon bestimmter Raum, in dem aversiv gereizt wurde) erinnert
vor der bewussten Unterscheidung im kortikalen ventralen werden, sind zusätzlich medialer Temporalkortex und
(»Was«-)System die Amygdala informiert ist (. Abb. 1.2). Hippokampus wichtig.
Der Reiz ist zwar nur in Grobumrissen im Thalamus reprä-
sentiert, dies reicht aber aus, um eine spezifische assoziative G Diskriminatives Lernen von Furchtreaktionen
Bindung zwischen Reiz und Reaktion im LA herzustellen und Lernen von Furchtkontexten benötigt die
und über den zentralen Kern die Ausgangs-Erfolgssysteme Verbindungen der Assoziationskortizes und des
zu aktivieren. Hippokampus mit der Amygdala.
27.2 · Vermeidung (Furcht und Angst)
725 27
Präfrontaler Kortex und Amygdala a
Der laterale Kern der Amygdala erhält nicht nur erregende,
glutamaterge Eingänge vom Thalamus und den sensori-
schen Assoziationskortizes, sondern auch vom medialen
Präfrontalkortex, der allerdings auf hemmende Zellen im
lateralen Kern konvergiert (Abschn. 28.7). Diese Verbin-
dung ist für die Extinktion der konditionierten Furchtreak-
tion notwendig. . Abb. 27.10 zeigt diese Verbindung und
. Abb. 27.11 die vom Hippokampus, die den lateralen Kern
der Amygdala über den Kontext der Situation, in der in der
Vergangenheit Furcht oder Sicherheit gelernt wurde, infor-

Aus Davis M, Hitchcock J, Rosen JB (1991). Mit freundlicher Genehmigung von Lippincott Williams & Wilkins.
miert und bei Gegenwart von Sicherheitssignalen (CS–) die
Amygdala hemmt.
Der glutamaterge Einstrom von CS und US in den
lateralen Kern führt dort zu Langzeitpotenzierung (LTP;
Abschn. 25.4.2) und assoziativer Verkettung mit nachfol- b
gender Erhöhung der Feuerrate der Neurone des lateralen
Amygdalakerns (LAT AMYG in . Abb. 27.11) und verstärk-
ter Erregung des zentralen und basalen Kerns.
Die basolateralen Amygdalakerne (BL in . Abb. 27.11)
geben das gelernte Furchtsignal auch an den orbitalen
Frontalkortex (. Abb. 27.5) und das dorsale und ventrale
Striatum ab. Der orbitale Frontalkortex führt aufgrund des
Vergleichs mit gespeicherten vergangenen positiven und
negativen Verstärkerreizen eine Wahlreaktion aus (An-
näherung–Vermeidung–Aufschub). Wenn dagegen ein ak-
tives instrumentelles Vermeidungsverhalten oder An-
näherung das Lebewesen aus der Furchtsituation befreit,
müssen Striatum und N. accumbens aktiviert werden.
G Löschung (Extinktion) von Furcht erfolgt über die
Hemmung der lateralen Amygdala vom medialen
Präfrontalkortex. Wahlreaktionen (Annäherung– . Abb. 27.12a, b. Startle-Reflex. Messung des Schreckreflexes an
Vermeidung) nach Vergleich der Furchtreaktion mit den Muskeln der Beine bei der Ratte. a Schreckreflex im Dunkeln,
b Schreckreflex bei zusätzlicher Darbietung eines Lichtreizes, der
vergangenen Verstärkern und Furchtreizen sind auf
vorher mit elektrischen Reizen assoziiert wurde. Oben jeweils der
die Funktionstüchtigkeit des frontalen Orbitalkortex Schreckreiz, in der Mitte die EMG-Reaktion (rot), darunter ein Beschleu-
angewiesen. nigungsmaß, gemessen mit Vibration des Käfigbodens

27.2.3 Die Potenzierung des Schreck- Wichtig für die Messung der emotionalen Valenz mit
reflexes und das Furchtsystem dem Startle-Reflex ist dabei, dass der modulierende Ein-
fluss der emotionalen Valenz (positiv–negativ) unabhän-
Schreckreflexmodulation gig von Aufmerksamkeit und Aktivierung des Lebewesens
Der Schreckreflex (»startle reflex«) ist eine rasche, protek- erfolgt. Wenn die Reaktionsdisposition des Organismus
tive Reflexantwort der Muskulatur auf extrem laute Töne auf Annäherung, Bindung und Konsumation gerichtet ist,
oder andere überraschende Reize. Ein Teil dieser Antwort wird der Reflex gehemmt, ist sie auf Vermeidung, Flucht
ist der Lidschluss des M. orbicularis oculi (. Abb. 13.15), und Verteidigung gerichtet, wird er verstärkt.
der beim Menschen 30–50 ms nach einem überraschend Ist die Reaktionsdisposition mit einem ausgelösten Re-
dargebotenen akustischen Reiz von 95–110 dB auftritt. Wie flex kompatibel (»match«), so wird er in seiner Wirkung
in . Abb. 27.12 und . Abb. 13.15 gezeigt, lässt er sich mit verbessert, da er auf ein bereits vorbereitetes (»primed«)
dem Elektromyogramm registrieren. neuronales Netz trifft. Ein lauter Hintergrundlärm z. B. hat
Die Amplitude des Schreckreflexes wird durch den das auditorische System und das Furchtsystem bereits auf
emotionalen Hintergrundszustand des Lebewesens, wie auf den lauten Startle-Ton »vorbereitet«. Da der Startle-Reflex
. Abb. 27.13 dargestellt, beeinflusst: Furcht erhöht die Re- protektiv die Informationsaufnahme und motorische Akti-
flexantwort (»Startle-Potenzierung«), positive Emotionen, vität bei neuen und aggressiven Reizen kurz unterbricht,
real oder vorgestellt, reduzieren sie (Startle-Hemmung). um das Verhalten und Aufmerksamkeit rasch auf den po-
726 Kapitel 27 · Emotionen

sind, können wir ähnliche Verhältnisse beim Menschen


vermuten.
Die direkte Reflexbahn (unten rot auf . Abb. 27.14)
benötigt nur 2 Synapsen im ZNS, die vom N. cochlearis auf
den pontinen retikulären Kern und von dort direkt auf die
Motoneuronen projizieren. Die Amygdala spielt für die
Furchtpotenzierung die schon beschriebene zentrale Rolle,
der CS und aversive US werden dort assoziativ verbunden,
die noradrenergen Verbindungen zum N. coeruleus liefern
a die dafür notwendige Aufmerksamkeitsenergie. Die Aus-
gangseinheit der Amygdala, der zentrale Kern, wirkt erre-
Nach Davis M, Hitchcock J, Rosen JB (1991). Mit freundlicher Genehmigung von Lippincott Williams & Wilkins.

gend auf den pontinen Startle-Kern, wobei die aversiven


und schmerzhaften Aspekte des US über das zentrale Grau
und den laterodorsalen Kern gesteuert werden.
Im Gegensatz zur erregenden Modulation durch aversive
Reize sind die meisten Verbindungen aus dem N. accum-
bens, der vom ventralen Tegmentum versorgt wird und
den wir in Kap. 25 ausführlich als positive Anreiz- und Ver-
27 stärkerstruktur beschrieben haben, hemmend; als Netto-
effekt der Aktivierung positiv verstärkender Hirnregionen
b resultiert daher eine Hemmung der Startle-Bahn. Wie in
. Abb. 27.14 links sichtbar, kann der Kortex (z. B. eine po-
sitiv-emotionale Vorstellung) den N. accumbens aktivieren
und damit die Startle-Potenzierung abschwächen.
G Der Schreckreflex benötigt nur 2 Synapsen als Um-
schaltstationen. Das Furchtsystem mit der Amygdala
im Zentrum potenziert den Schreckreflex, positive
Verstärkerregionen wie der N. accumbens hemmen
ihn.

c Psychophysiologie der Schreckreflex-Modulation


. Abb. 27.13a–c. Schreckreflex-(Startle-)Potenzierung. In a wird Die Messung des Schreckreflexes, wie in . Abb. 13.15 und
eine Furchtreaktion auf einen Lichtreiz (CS) klassisch konditioniert, in 27.12 beschrieben, wurde zu einer der wichtigsten psycho-
b eine Schreckreaktion durch einen lauten Ton ausgelöst. In c wird der physiologischen Methoden zur Prüfung der emotionalen
CS dargeboten und danach derselbe Schreckreiz
Valenz von Gefühlszuständen bei Gesunden und Kranken.
Der Schreckreflex wird durch die Valenz der konditionalen
tenziell gefährlichen Reiz umzuorientieren, passt diese Re- Reize (z. B. positive, neutrale oder negative Diapositive)
aktionsdisposition zur aversiven Natur des Startle-Reizes. bestimmt.
Die klinische Anwendung dieses Befundes erlaubt z. B.
G Die Modulation des Schreckreflexes durch positive
die Trennung von phobischen und nicht-phobischen Pa-
und negative Gefühle erlaubt die Messung der Akti-
tienten. Bei Darbietung der relevanten Furchtreize kommt
vität von angstfördernden und angsthemmenden
es zu stärkerer Startle-Potenzierung bei solchen Angstzu-
Hirnsystemen.
ständen. . Abb. 27.15 zeigt im unteren Teil die Kontrast-
gruppe zu Gesunden und Phobikern, nämlich Psycho-
Anatomie der Schreckreflexmodulation pathen (auch Soziopathen oder antisoziale Persönlichkeiten
Durch systematische Ausschaltungs- und Reizversuche genannt), die sich durch Furcht- und Schuldgefühls-
konnten die beteiligten Hirnstrukturen und Neurotrans- mangel auszeichnen und deshalb häufig straffällig werden
mitter der Schreckreflexmodulation auf einen lauten akus- (. Abb. 27.17). Sie zeigen keine Furchtpotenzierung auf
tischen Reiz bei der Ratte aufgeklärt werden (. Abb. 27.14). aversive Diapositive. Denselben Mangel an Furchtpotenzie-
Dabei sind links die Verbindungen zur Hemmung des Re- rung finden wir bei Personen mit ein- oder beidseitiger
flexes durch positive Hintergrundemotionen und rechts Läsion der Amygdala.
die Potenzierung durch negative Emotionen dargestellt. Es liegt daher die Vermutung nahe, dass Soziopa-
Da in subkortikalen Regionen die wesentlichen anatomi- then eine angeborene oder erworbene Mangelaktivität der
schen Beziehungen beim Menschen der Ratte homolog Amygdala und anderer Furchtregionen, vor allem des late-
27.2 · Vermeidung (Furcht und Angst)
727 27

. Abb. 27.14. Anatomie der Schreckreflexpotenzierung. Kern- Glu Glutamat, ACh Azetylcholin, SP Substanz P, SOM Somatostatin,
gebiete und Transmitter, die an der Schreckreflexpotenzierung (rechts) CRF Kortikotropin-Releasing-Faktor. Erläuterung 7 Text (. Abb. von
und der Schreckreflexhemmung (links) beteiligt sind. DA Dopamin, Prof. Michael Koch, Bremen)

Birbaumer N, Öhmann A (1993) ©1993 Hogrefe & Huber Publishers. •


Seattle • Toronto • Bern • Göttingen

a b
. Abb. 27.15a, b. Schreckreflexmodulation bei Soziopathen tiven oder aversiven Darstellungen betrachten. Man erkennt, dass bei
(Psychopathen). Modulation des Schreckreflexes durch Hintergrund- Normalpersonen (a) mit zunehmender Aversivität der Schreckreflex
gefühle. Die Stärke des Schreckreflexes (Lidschlag) ist auf der Ordinate steigt, während bei Psychopathen (b) unangenehme Gefühle keinen
aufgetragen, während die Personen Diapositive mit neutralen, posi- Effekt auf die Schreckreaktion haben
728 Kapitel 27 · Emotionen

ralen Kerns aufweisen. Dies sind auch jene Personengrup- dem medialen Frontalkortex, in dem das Langzeitgedächt-
pen, die, wie im nächsten Abschnitt beschrieben, auf Ben- nis für Sicherheitssignale und Furchtextinktion gespeichert
zodiazepine mit einem weiteren Abfall der Verhaltenshem- ist. Zerstörung des medialen Frontalkortex verhindert Ex-
mung und Anstieg des Hautwiderstandes reagieren. tinktion, und Mangel an Aktivierung des medialen Präfron-
talkortex führt zu persistierender Furcht.
G Die Messung der Potenzierung des Schreckreflexes
Eine Blockade der NMDA-Rezeptoren in der Amygdala
wird zur Differenzialdiagnose von Verhaltensstörun-
verhindert die Einprägung der Furchtreaktionen im Tierver-
gen verwendet. Phobiker zeigen eine Verstärkung
such. Es ist daher denkbar, dass z. B. Memantin, ein selek-
und Psychopathen zeigen keine Potenzierung bei
tiver NMDA-Rezeptorenblocker, präventiv die Entstehung
gleichzeitiger Darbietung aversiver Reize.
von Phobien oder PTSD verhindern könnte. Besonders
wirksam wäre die Kombination eines NMDA-Agonisten
27.2.4 Neuropharmakologische (z. B. D-Zykloserin) zur Beschleunigung der therapeu-
Grundlagen des Furchtsystems tischen Extinktion während Verhaltenstherapie: Die »Stär-
kung« des medialen Präfrontalkortex müsste die Wirkung
Glutamat und NMDA-Rezeptoren der Verhaltenstherapie potenzieren.
Wie wir in Abschn. 27.2.2 gesehen haben, erfolgt die asso-
G Glutamat und NMDA-Rezeptoren in der Amygdala
ziative Verbindung und deren Konsolidierung von CS und
sind für Akquisition und Konsolidierung des Furcht-
US im lateralen Kern der Amygdala durch Glutamat und
27 NMDA-Rezeptoren. Die LTP in der Amygdala, wie wir sie
gedächtnisses notwendig. Löschung der Furcht er-
fordert NMDA-Aktivierung der Amygdala vom medi-
in Abschn. 25.4.2 beschrieben haben, setzt die molekularen
alen Präfrontalkortex.
Vorgänge zur Konsolidierung der synaptischen plastischen
Veränderungen in Gang, nicht anders als bei allen Lernvor-
gängen im Gehirn. Deshalb ist die Amygdala auch nur für Katecholamine
die erste Phase der Furchtkonditionierung und deren Kurzzeitstress und Furcht sind mit dem Anstieg peripherer
Konsolidierung wichtig. Einmal eingeprägt, können auch und zentraler Katecholamine verbunden. Langzeitstress und
andere kortikale und subkortikale Regionen die Erinne- gelernte Hilflosigkeit (Abschn. 27.3) führen zu Entleerung
rung an die Furchtsituation auslösen (Box 27.2). der zentralen Noradrenalin(NA)-Produktions- und Spei-
cherstätten, vor allem im N. coeruleus (. Abb. 5.20). Auch
Box 27.2. Chronischer Stress, kognitive Störungen und schon kleinste Dosen einer Injektion von NA in die Amyg-
Zelladhäsionsmoleküle
dala führen zu verbesserter Einprägung und Lernen von
Chronischer Stress oder einmalig extremer Stress (z. B. Furchtreaktionen. Beta-Blocker (Kap. 10) verhindern den
Folter) führt zu exzessiver Glutamat- und Glukokorti- Einprägungseffekt.
koidausschüttung (Kap. 8), vor allem im Hippokampus, Aber auch im Hippokampus bewirkt NA zusammen
Amygdala und präfrontalen Kortex. Schrumpfung der mit den Glukokortikoiden der Stresshormon-Ausschüttung
apikalen Dendriten und Unterdrückung der Neuro- eine Gedächtnisfixierung der Furchtreize. Dies wurde be-
genese, der Zellneubildung, vor allem im Hippokampus sonders bei der posttraumatischen Belastungsstörung
sind die Folge. (PTSD, Abschn. 27.2.5) gezeigt, wo eine lebenslange Furcht
Diese Änderungen, die bei Mensch und Tier zu mit unkontrollierbaren Erinnerungen (»flashbacks«) mit
chronischer Angst und kognitiven Störungen (Amnesie NA-Anstieg nach intensivem Kurzzeitstress (Trauma) ein-
für den Kontext des Traumas) führen, werden durch Ver- hergeht. Im Kortex bewirkt das NA eine Verbesserung des
änderungen der Expression von neuronalen Zelladhä- Signal-Rausch-Verhältnisses und damit selektive Aufmerk-
sionsmolekülen (NCAM) verursacht. Diese Moleküle samkeitszuwendung auf intensive Reize.
sind zur Stabilisierung der synaptischen Kontakte und
G Die Aktivität der zentralen und peripheren noradre-
der Synapsenbildung essenziell. Einige Typen von
nergen Systeme ist für Angst- und Furchtreaktionen
Adhäsionsmolekülen werden nach chronischem Stress
notwendig; vor allem die Konzentration der Auf-
reduziert, wodurch der synaptische Kontakt gelockert
merksamkeit auf die Angstreize hängt vom zentra-
wird und die postsynaptischen Zellen schrumpfen.
len NA-(Noradrenalin-)System ab.
Andere wiederum (z. B. das Immunoglobulin L1) stei-
gen nach mildem Stress an und schützen die präsynap-
tische Membran vor der Übererregung des Glutamats. Benzodiazepine und der GABA-Rezeptor-Komplex
Die Entdeckung der Barbitursäure in den 60er-Jahren des
20. Jahrhunderts, die einen schlafanstoßenden, beruhigen-
Extinktion der Furchtreaktion erfolgt über dieselben neu- den und anfallshemmenden Effekt hat, führte zur Entwick-
ronalen Mechanismen wie die Akquisition (Aneignung): lung von Substanzen, die die GABA-Rezeptoren im ZNS
Aktivierung der NMDA-Rezeptoren durch Glutamat aus beeinflussen: . Abb. 4.12a zeigt den GABAA-Rezeptor mit
27.2 · Vermeidung (Furcht und Angst)
729 27

. Abb. 27.16. GABAA-Rezeptor und Benzodiazepine. Der GABAA- schen System, die GABA-Rezeptoren besitzt und bei Reizung hyperpo-
Rezeptor mit verschiedenen Bindungsorten ist in . Abb. 4.12 dar- larisiert. Der Benzodiazepinrezeptor verstärkt die hyperpolarisierende
gestellt. Abgebildet ist eine neuronale Membran einer Zelle im limbi- Wirkung. Erläuterung 7 Text und Kap. 4

den Bindungsstellen für die verschiedenen Liganden, führen zur raschen Mobilisierung der CRH und NA und
. Abb. 27.16 den Wirkmechanismus der Benzodiazepine führen zum Abruf der nicht kontrollierbaren Albträume
am GABAA-Rezeptor. Die Hauptbindungsorte des Benzo- und Flashbacks (»Aufleuchten« alter Erinnerungsfrag-
diazepinsystems sind der Kortex mit reduzierter Rezeptor- mente) in der PTSD (7 unten). In der frühen Jugend miss-
menge in Amygdala und Hippokampus. Fast alle am brauchte Kinder zeigen ohne Therapie lebenslang erhöhte
GABAA-Rezeptor wirksamen Transmitter wirken anxioly- Katecholamin- und oft auch CRH-Niveaus, was den Teufels-
tisch, also angstlösend und entfalten ein erhebliches Sucht- kreis aus Angst und Zellzerstörung im Hippokampus mit
potenzial, vor allem in Kombination mit Alkohol, der auch Verlust der expliziten Erinnerung und Eindringen (»intru-
am GABAA-Rezeptor bindet. sion«) von impliziten Erinnerungen verstärkt.
Das Benzodiazepin Diazepam (Valium) wurde (vor
G Kortikotropin-Releasing-Hormon (RH) und NA
der Viagra-Ära) zu einem der meist verkauften Pharmaka,
verstärken die Fixierung impliziter traumatischer
obwohl es weder für Angst- noch Schlafstörungen indiziert
Erinnerungen.
ist (Kap. 22). Seine unkontrollierte Abgabe, vor allem an
ältere Menschen mit Schlafstörungen und an Frauen, verur-
sachte und verursacht eine der häufigsten iatrogenen (von 27.2.5 Angststörungen
Medizinern verursachte) Störungen der Medizin: Sucht,
Schlafstörungen und verstärkte Angst nach Absetzen. Posttraumatische Belastungsstörung (PTSD,
Barbiturate und Benzodiazepine reduzieren nur pas- »post-traumatic stress disorder«)
sives Vermeidungsverhalten (z. B. Phobien) und Frustra- PTSD ist durch 3 Hauptgruppen von Symptomen gekenn-
tion, sie zeigen keine Wirkung auf unkonditionierte Furcht zeichnet:
und Aggression (z. B. Lärm, plötzliche Attacken) oder auf 4 Intrusionen (Eindringen): Flashbacks, Albträume, in-
aktives Vermeidungsverhalten (z. B. zwanghaftes Hände- trusive Erinnerungen des Traumas,
waschen aus Angst vor Ansteckung). 4 Vermeidung: sozialer Rückzug, Vermeiden von Ge-
danken, Gefühlen und Aktivitäten, die mit dem Trauma
G Benzodiazepine bewirken Verstärkung der Öffnung
assoziiert sind,
des GABAA-Rezeptors und hyperpolarisieren damit
4 Hyperaktivierung: Schlafstörung, Wutausbrüche,
vor allem kortikale Zellen. Sie wirken anxiolytisch,
Schreckreaktionen.
sind aber für Schlaf- und Angststörungen trotz ihres
häufigen Gebrauchs kontraindiziert. Benzodiazepine
Die Störung folgt auf ein Trauma (Folter, Krieg, Vergewal-
sind als Antiepileptikum und in der Anästhesiologie
tigung, Unfall) und Personen mit unterdurchschnittlichem
sinnvoll.
Hippokampusvolumen (Box 8.1 und Box 27.3) haben ein
erhöhtes Risiko, an PTSD zu erkranken.
Das Hypophysen-Nebennierenrinden-System PTSD-Patienten zeigen erhöhte Amygdala-Durchblu-
In Kap. 8 wurde der Mechanismus der Wirkung von Stress- tung auf subliminal dargebotene bedrohliche Reize und
hormonen ausführlich besprochen. An dieser Stelle sei nur Gesichter und reduzierte Aktivierung in zingulären und
daran erinnert, dass Kortikotropin-Releasing-Hormon medial-frontalen Regionen, die die Amygdala hemmen
(CRH) zusammen mit NA eine dauerhafte Konsolidierung und Extinktion erleichtern. Sie erwerben klassische aversive
von Angstreaktionen und traumatischen Erinnerungen be- Konditionierung schneller als Gesunde und löschen lang-
wirkt. Innere (Erinnerungen) und äußere Hinweisreize samer. Diese verbesserte aversive Konditionierung äußert
730 Kapitel 27 · Emotionen

Box 27.3. Phobie und posttraumatische Belastungsstörung


Horst J. war ein erfolgreicher Juwelier, 40-jährig, verhei- gung, die zu einer schweren amnestischen Störung
ratet, 2 Kinder, der seine Kunden mit dem Auto in ganz führte.
Deutschland belieferte. Innerhalb von 2 Jahren wurde er Herr J. wurde von dem behandelnden Neurologen in
schuldlos Opfer von 4, fast identisch ablaufenden, Unfällen einem Krankenwagen in fast bewegungslosem Zustand zur
mit Lastkraftwagen: Sein Personenwagen geriet beim konfrontativen Verhaltenstherapie gebracht. Der Patient
Überholen zwischen Zugmaschine und Anhänger und wurde am Beifahrersitz in hohem Tempo über mehrere Wo-
fing Feuer. Herr J. erlitt keine nennenswerten Verletzun- chen täglich mit potenziell gefährlichen Verkehrssituatio-
gen. Am Beginn des dritten Jahres dieser Unglücksserie nen konfrontiert. Nach vorerst massiven vegetativen Reak-
fuhr an einer Kreuzung eine Dame mit ihrem Kleinwagen tionen (Einnässen, Einkoten, Abwehr etc.) löste sich der
auf sein Auto. In diesem Moment erlitt Herr J. einen stuporöse Zustand, Herr J. begann wieder zu sprechen und
Angstanfall, urinierte und kotete ein, verlor die Kontrolle konnte das Krankenhaus verlassen. Nach weiteren massi-
über Bewegungen und Gedanken und verfiel in einen ven Konfrontationen mit Filmen ähnlicher Unfälle und ent-
stuporösen, unansprechbaren Zustand. Nach 4-wöchiger sprechenden Ausfahrten war die Angst so weit reduziert,
medikamentöser psychiatrischer Behandlung mit Be- dass nur noch Albträume auftraten, die so intensiv waren,
ruhigungsmitteln und Neuroleptika (Antipsychotika) dass Herr J. bei geträumten Fluchtversuchen mehrere Kopf-
wurde er ohne Besserung nach Hause entlassen. Seine verletzungen erlitt: Ein elektrischer Haltungsmonitor, der
27 Ehefrau verbannte ihn in die Kellerräume des Hauses, im Schlaf an seiner Brust befestigt wurde, weckte den Pati-
wo Herr J. zunehmend verwahrloste. Er verlor seine enten bei jedem Aufrichteversuch. Nach 2-monatiger Re-
Arbeit und vegetierte für Monate in diesem Keller, wo gistrierung und Weckungen reduzierten sich die Albträume
seine Frau auch einen Mordversuch unternahm, bei so weit, dass keine nächtlichen Fluchtversuche auftraten
dem er eine ausgedehnte Läsion des Frontalkortex erlitt. und der Allgemeinzustand des Patienten ihm erlaubte, ein
Erneut im Krankenhaus, versuchte sich Herr J. durch unabhängiges Leben außerhalb von Institutionen wieder
einen Sprung aus dem Fenster des 3. Stocks das Leben aufzunehmen. Auch 20 Jahre nach Abschluss der Therapie
zu nehmen und erlitt erneut eine frontale Hirnschädi- blieb der positive Effekt stabil.

sich in erhöhter peripherer Erregbarkeit im Startle-Reflex, Hautwiderstand und erhöhte frühe ereigniskorrelierte
Hautwiderstand und frühen ereigniskorrelierten Hirnpo- Hirnpotenziale auf die angstrelevanten Reize auf. Sie zeich-
tenzialen (um 100 ms) auf Trauma-relevante Reize und nen sich durch Vermeiden von sozialen Interaktionen und
erhöhtes zentrales NA-Niveau. Die erhöhte NA-Ausschüt- massiven Ängsten vor sozialen Leistungssituationen aus
tung geht mit verstärkter CRH-Produktion (Kap. 8) im (berufliche Gespräche, Einkaufen, Ausgehen etc.). Die Habi-
Hypothalamus, aber deutlich erniedrigtem peripheren Glu- tuation auf diese Reize ist in allen Maßen verzögert. Die
kokortikoidniveau und verstärktem negativen Feedback auf Amygdala, Insel, Zingulum und Orbitofrontalkortex sind
die ACTH-Ausschüttung einher. bei Darbietung von Angstreizen verstärkt aktiv.
Die Therapie der PTSD besteht aus wiederholter Kon- Die Therapie der sozialen Ängste besteht in wiederhol-
frontation mit dem traumatischen Ereignis in der Vorstel- ter Konfrontation (Extinktion) mit den angstauslösenden
lung und – soweit möglich – mit möglichst vielen realen Situationen und Personen (Box 27.3). Dabei wird die asso-
Elementen der Situation (z. B. Schreie, Gerüche). Die Kon- ziative Verbindung zwischen den konditionalen Reizen und
frontation muss aber ergänzt werden durch verbal-expli- den unkonditionierten Angstreizen gelockert, da die be-
zites Erinnern der Abläufe und verbale Versuche der Bewäl- fürchteten Konsequenzen nicht mehr auftreten.
tigung, ähnlich wie in der kognitiven Therapie der Depres- An diesem Vorgang sind also kortiko-subkortikale Pro-
sion (Abschn. 27.3). zesse der Extinktion von Gedächtnisverbindungen beteiligt
wie wir sie in Kap. 25 beschrieben haben, die nicht mit Be-
G PTSD ist durch Intrusionen, Vermeidung und Hyper-
ruhigung wie in der psychopharmakologischen Therapie,
aktivierung gekennzeichnet. Sie weist periphere
sondern mit exzessiver Erregung am Beginn der Behand-
Hypererregung und verstärkte NA-Ausschüttung
lung einhergehen. Auch dies zeigt, dass eine auf pharma-
auf. Die Amygdala-Durchblutung ist erhöht, der
kologische Ruhigstellung ausgerichtete Therapie der Angst
medial präfrontale Kortex und anteriores Zingulum
kontraindiziert ist.
reduziert aktiv.
Ein zusätzliches Training sozialer Fertigkeiten ist in-
diziert, wenn soziale Defizite vorliegen. Die Prognose für
Soziale Ängste den Therapieerfolg ist bei allen Angststörungen besser,
Soziale Ängste weisen wie PTSD erhöhte periphere Ak- wenn klare und eindeutige Angstreize vorliegen, die Stö-
tivierung der Herzrate, Startle-Potenzierung, erniedrigten rung nicht auf andere Situationen oder Personengruppen
27.2 · Vermeidung (Furcht und Angst)
731 27

generalisiert ist und die peripher-physiologischen Reaktio- of mind«). Beide Mechanismen benötigen die präfrontalen
nen am Beginn der Therapie auf die angstauslösenden Orbitalregionen, um das entsprechende Verhalten, z. B.
Reize sehr hoch sind. Je besser die Korrelation zwischen Unterlassen einer physischen oder verbalen Aggression,
physiologischer, subjektiver und motorischer Angstakti- auszubilden. Soziopathen (oder der synonym gebrauchte
vierung auf die Angstreize ist, umso rascher erfolgt die Ex- Begriff »Psychopathen« oder antisoziale Persönlichkeit)
tinktion. lernen passives Vermeiden (»Tu das nicht, sonst …«)
schlecht, entwickeln keine antizipatorische Angst auf phy-
G Soziale Phobien und Ängste weisen in Gegenwart
siologischer Ebene und werden daher, wenn sie ökono-
sozialer Reize peripher und zentral in Amygdala,
misch oder intellektuell benachteiligt sind, überzufällig
Insel und Orbitofrontalkortex erhöhte Aktivierung
häufig kriminell. Ihr Gegenpart sind Sozialphobiker, die
auf. Wiederholte Konfrontation und soziales Training
extreme Angst vor sozialen Situationen haben und diese
reduzieren die Angst.
exzessiv vermeiden.
. Abb. 27.17 zeigt die mit funktioneller Magnetreso-
Psychopathie (Mangel an Furcht) nanztomographie (fMRT) gemessene Hirndurchblutung
Benzodiazepine, Barbiturate und Alkohol reduzieren – zu- (BOLD-Effekt, Kap. 20) bei einer Gruppe von schwerst kri-
mindest kurzfristig – Furcht nur in passiven Vermeidungs- minellen Psychopathen (PP) und Gesunden (HC) während
situationen, nicht in aktiven; damit steht der Befund in Ein- einer klassischen Konditionierung von Angstreaktionen.
klang, dass diese Substanzen z. B. kurzfristig Phobien Die BOLD-Reaktion auf den konditionalen Angstreiz (CS),
beeinflussen (passives Vermeiden), keine Effekte auf Zwangs- ein neutrales menschliches Gesicht, auf das ein unangeneh-
verhalten (aktives Vermeiden) haben und soziopathisches mer Druckreiz folgte, wurde verglichen mit einem CS ohne
Verhalten sogar verstärken können. Der letzte Befund ist negative Folgen. Man erkennt, dass vor allem der ventrale
besonders interessant, als soziopathische, antisoziale Reak- Orbitalkortex (mittlere Reihe, ventrale Ansicht, rechts orbi-
tionen auf einen Defekt im Erwerb passiven Vermeidens tofrontal) bei Soziopathen nicht aktiv wird.
(»Tu das nicht, sonst …«) beruhen. Personen mit antisozia-
G Psychopathen zeigen reduzierte Aktivierung in der
lem Verhalten haben dementsprechend häufig ein schwach
Amygdala, vorderen Insel, Zingulum und Orbitofron-
entwickeltes Furchtsystem und eine wenig erregbare Amyg-
talkortex bei Antizipation von Angstreizen. Benzo-
dala, die durch Alkohol und Barbiturate weiter geschwächt
diazepine, Barbiturate und Alkohol verstärken sozio-
werden (. Abb. 27.15). Dies könnte auch erklären, warum
pathisches und kriminelles Verhalten.
bei Soziopathen ein Großteil ihrer antisozialen Verhaltens-
weisen unter Alkohol geschieht. Sedierende Drogen sind
danach für soziopathische Personen kontraindiziert. Panikstörungen
Die menschliche Sozialisation beruht zu einem erheb- Panikstörungen zeichnen sich durch starke unbegründete
lichen Teil auf aktivem und passivem Vermeidungslernen Angst vor Bewusstlosigkeit und Herzinfarkt bei vermeint-
(Kap. 25) und der Entwicklung von Empathie, also der licher Änderung der Herzrate aus, obwohl eine solche meist
Möglichkeit, sich in andere Personen einzufühlen (»theory gar nicht vorhanden ist. Clonidin, ein Agonist noradre-
Nach Veit et al (2002). Mit freundlicher Genehmigung von Elsevier.

. Abb. 27.17. Psychopathie. Klassische Konditionierung von pathen (PP): Hirndurchblutungsanstiege (rot und gelb) während Er-
antizipatorischer Angst bei Gesunden (HC) und antisozialen Psycho- lernen der antizipatorischen Angst
732 Kapitel 27 · Emotionen

nerger Neurone, bewirkt bei diesen Patienten ein paradoxe (obszöne Gesten) und Echolalie (Imitation der Worte oder
Hemmung der Wachstumshormonausschüttung (GH) aus Laute anderer).
der Hypophyse, während normalerweise ein NA-Anstieg OCD und GTS sind insofern verwandt, als kurze Er-
im Hypothalamus eine Erhöhung der GH-Ausschüttung leichterung nach einem Tic wie nach einem Zwang diesen
bewirkt. aufrechterhält und Stress und Angst der Vermeidungs-
Man nimmt an, dass durch lang anhaltende exzessive reaktion vorausgehen.
Überschwemmung des Hypothalamus durch zentrales NA Bei beiden Störungen sind Hyperaktivität im Orbito-
die postsynaptischen α2-Adrenorezeptoren in ihrer Sen- frontalkortex, Globus pallidus (oder anderen Kernen der
sitivität (Ansprechbarkeit auf NA) oder in ihrer Anzahl Basalganglien) und Thalamus gefunden worden. Aus der
reduziert werden (Down-Regulation). Subjektiv bewirkt Tatsache, dass OCD-Patienten von einer Therapie mit Anti-
die Gabe von Clonidin eine kurzfristige Verbesserung der depressiva profitieren, die die Serotoninaufnahme in die
Angst, was mit der Hypothese geringerer Sensitivität der Präsynapsen hemmen und die Verfügbarkeit von Serotonin
zentralen Rezeptoren übereinstimmt. im synaptischen Spalt erhöhen, schließt man, dass die sero-
tonergen Synapsen in dem Netzwerk von Basalganglien,
G Panikstörungen gehen mit unbegründeter Angst
orbitalem Frontalkortex und Thalamus gestört sind, wenn-
vor Organversagen und mit Störungen des limbisch-
gleich die Art der Störung unklar blieb (Box 4.2).
hypothalamischen NA-Stoffwechsels einher.
Die wirksamste Therapie für OCD ist allerdings auch
hier wiederholte Konfrontation und Reaktionsbehinderung,
27 Zwangsstörung und Gilles-de-la-Tourette- d. h. die Person wird mit den Zwang auslösenden Reizen
Syndrom konfrontiert, wird aber am Ausüben des Rituals behindert.
Zwangsstörungen (»obsessive-compulsive disorder«, OCD) Bei GTS wirken vor allem Dopaminantagonisten
weisen schwer kontrollierbare Obsessionen (Zwangsgedan- (Neuroleptika), weshalb man auf eine Überaktivität dopa-
ken, Ängste, Zweifel) und/oder Zwangsrituale auf. Im Zen- minerger Zonen in den Basalganglien (vor allem im N. cau-
trum der Problematik steht zumindest am Beginn der Stö- datus) schließt. Verhaltenstherapie hat im Gegensatz zu
rung aktives Vermeidungsverhalten (z. B. Waschen aus OCD bei GTS bisher wenig Wirkung.
Angst vor Infektion, der »geglückte« Waschvorgang ver- Die neurochirurgische Unterbrechung der Bahnen vom
stärkt die Angst vor der Infektion). Später automatisieren Orbitofrontalkortex oder Zingulum zu und von den Basal-
die Rituale (Box 27.4). ganglien bei seltenen schweren Fällen von OCD erwies sich
Georges Gilles de la Tourette, ein Schüler des berühm- als erfolgreich, bei GTS hatte dies wenig Wirkung.
ten französischen Psychiaters und Neurologen Charcot
beschrieb eine Tic-Störung, die, vom 2. bis 15. Lebensjahr G Zwangsstörungen und Tics bestehen aus aktiven
erstmals auftretend, aus motorischen und/oder verbalen Vermeidungsreaktionen mit unkontrollierbaren
Tics besteht (Gilles-de-la-Tourette-Syndrom, GTS): Lecken, kognitiven oder motorischen Ritualen. Ein neuro-
Riechen, Spucken, Springen, Haltungstics und zwang- nales System aus orbitofrontalem Kortex, Basal-
haftes Berühren. Die Vokalisierungen bestehen aus Bellen, ganglien und Thalamus ist für die Verhaltens-
Grunzen, Schnarchen, Schnalzen, emotionalen Ausrufen, störungen verantwortlich, die exakte Ursache bleibt
Koprolalie (obszöne Ausrufe und Laute), Kopropraxie aber unbekannt.

Box 27.4. Zwangsstörung

Frau O., 24-jährige Tochter einer Diplomatenfamilie, Frau O. und hinterließ der Familie das Haus, in dem alte
erfolgreiche Studentin der Medizin, die sich gerade in Möbel, Kleider, Kunstwerke, Papiere und andere – poten-
Indien aufhielt, erlitt auf einer staubigen Landstraße ziell verstaubte – Gegenstände angesammelt waren. Frau
einen Unfall, bei dem sie sich an der Hand verletzte. Hilfs- O. empfand zunehmend Ekel vor diesen Objekten und die
bereite Einheimische versuchten, die Wunde mit dem Waschfrequenz steigerte sich dramatisch, sodass Frau O.
offensichtlich schmutzigen Wasser eines Flusses zu nach wenigen Monaten die meiste Zeit des Tages mit
»reinigen«: Frau O. konnte dies nur mit Mühe abwehren, Reinigungsritualen zubrachte. Sie musste ihr Studium un-
erinnert sich aber später in der Therapie an die panische terbrechen und entwickelte auch Ekelgefühle vor den El-
Angst vor Infektion und die große Erleichterung, nach- tern und allen Personen, von denen sie annahm, dass sie
dem es ihr gelang, die Einheimischen von ihrem Vor- mit alten oder staubigen Objekten in Berührung gekom-
haben abzubringen. Sie begann aber danach, sich mehr- men waren. Sie schloss sich zunehmend von ihrer Umge-
mals täglich zu duschen und spürte zunehmende innere bung ab und entwickelte eine Denkstörung, in der sie
Spannung vor staubigen Objekten wie Schuhen, Kleidungs- mit Napoleon sprach, den sie als »reinen« und »sauberen«
stücken, Personen, die mit Staub in Berührung kamen. historischen Charakter bezeichnete. In dieser präpsychoti-
Nach Europa zurückgekehrt, starb die Großmutter von schen Situation erschien sie zur Konfrontationstherapie.
27.3 · Trauer und Depression
733 27
27.3 Trauer und Depression G Unipolare Depressionen weisen nur Episoden der
Niedergeschlagenheit auf, bipolare haben auch
27.3.1 Psychologie der Depression manische Phasen mit extremem Hochgefühl und
Hyperaktivität. Bipolare Depressionen haben
Funktion von Trauer eine unterschiedliche Ätiologie und sprechen auf
Trauer ist ein angeborenes primäres Gefühl, das nach Tren- verschiedene Pharmaka an.
nung oder Verlust von Bindungen auftritt. Die Äuße-
rungsweisen von Trauer sind in allen Kulturen ähnlich, Soziale und psychologische Faktoren
auch bei höheren Säugern beobachtbar und mit dem hu- Wie erwähnt ist ein wesentlicher Reiz zur Entstehung von
manen Ausdrucksverhalten und menschlichen physio- Trauer und Depression Verlust durch Auflösung von Bin-
logischen Begleitreaktionen vergleichbar. Evolutionsge- dungen an Menschen, Tiere oder Objekte. Personen, die im
schichtlich könnte man Trauer als psychobiologische Reak- Laufe ihrer Kindheits- und Jugendentwicklung z. B. einen
tion zur Aufrechterhaltung von Gruppenbindung bei Elternteil durch Tod verloren haben, neigen als Erwachsene
Trennung von einem oder mehreren Gruppenmitgliedern häufiger zu Depressionen als Kontrollpersonen.
auffassen. Entscheidend für die Intensität und Dauer von Depres-
Das Ausdrucksverhalten bei Trauer hat auf (nicht- sionen sind die Ergebnisse der sozialen und kognitiven Be-
soziopathische) Mitglieder einer Gruppe oder Horde wältigungsversuche des Verlusterlebnisses. Personen, die
einen Aufforderungscharakter, sich dem trauernden nach Bindungsverlust keine ausreichend wirksamen De-
Organismus zuzuwenden und damit werden neue so- fensivverhaltensweisen (Verdrängen, Ausschluss von In-
ziale Bindungen geknüpft. Die kurzfristigen hormonel- formationen, Gewöhnung, Umdeutung, Attributionsände-
len und physiologischen Folgen von Hilflosigkeit (Trauer) rung) entwickeln, zeigen später stabile Erwartungshaltun-
haben energiekonservierende Effekte, die langfristigen gen, dass sich die Verlustereignisse in Zukunft wiederholen.
führen zu pathophysiologischen Änderungen. Wir haben Diese Erwartungen sind in der Regel nicht bewusst, son-
in Kap. 8 und 9 bereits die wichtigsten hormonell-im- dern wirken aus dem Langzeitgedächtnis ohne Mitwirkung
munologischen Folgen andauernder Hilflosigkeit dar- des Bewusstseins auf die Einordnung und Speicherung
gestellt. neuer Informationen.
Als Risikofaktoren für depressive Störungen konnten
G Trauer entsteht nach Hilflosigkeitserlebnissen und
eine Reihe von sozialen Bedingungen ermittelt werden:
Trennungen von wichtigen Bezugspersonen.
4 restriktive äußere Umstände, über die das Individuum
keine Kontrolle ausüben kann (z. B. Verlusterlebnisse,
Klassifikation der Depression pathologisches Familiensystem);
Die unipolare Depression ist ein komplexes Mischgefühl, 4 starre Handlungsmuster des Individuums selbst (z. B.
das einen gewissen Anteil an Trauer enthält, aber auch Ekel, hohes Anspruchsniveau, Abhängigkeit von anderen,
Wut, Ärger, Feindseligkeit, Furcht, Schuld und Scham. Ent- wenig Selbsteinsicht, mangelnde soziale Fertigkeiten
sprechend der Variabilität beteiligter Gefühle sind Depres- etc.);
sionen und Hilflosigkeit stets durch eine Vielzahl von so- 4 begrenzter Handlungsspielraum (z. B. auf eine soziale
zialen, psychologischen und biologischen Einflussfaktoren Gruppe und Person bezogen, zu viel oder zu wenig Ar-
ausgelöst. Die früher häufig verwendete Klassifikation in beit, unrealistische Ambitionen, Armut).
endogene (biologisch bedingte) und exogene (umweltbe-
dingte) Depressionen ist nicht haltbar. Dem trägt auch die . Abb. 27.18 fasst diese sozialen Einflussfaktoren zusam-
Klassifikation der Depressionen im Diagnostisch-Statis- men und führt sie auf den zentralen Faktor einer geringen
tischen Manual Psychiatrischer Störungen (DSM-IV) positiven Verstärkerrate zurück.
Rechnung, die nur noch nach der Intensität der Störung
G Verlust- und Trennungserlebnisse werden bei Per-
und nach der Präsenz von psychotischen Symptomen (Hal-
sonen mit einem hohen Depressionsrisiko im Lang-
luzinationen, Wahn) unterscheidet.
zeitgedächtnis gespeichert und führen zu stabilen
Bipolare Depressionen, bei denen zumindest eine
Erwartungshaltungen über das Wiederauftreten
manische Episode mit Hochgefühlen und Hyperaktivität
negativer Ereignisse. Dies geht mit einer erniedrig-
aufgetreten sein muss, scheinen in ihrer Ätiologie (Entste-
ten positiven Verstärkerrate einher.
hungsgeschichte) nicht mit monopolaren Depressionen (nur
depressive Zustände) identisch zu sein. Sie weisen u. a. eine
stärkere genetische Beteiligung als unipolare Depressionen
auf und sprechen auf Lithiumsalze an (Abschn. 27.3.3 und
. Tabelle 27.1), während unipolare Depressionen z. B. durch
trizyklische Antidepressiva (7 unten) und Verhaltensthera-
pie zu bessern sind (Abschn. 27.3.4).
734 Kapitel 27 · Emotionen

27 . Abb. 27.18. Einflussfaktoren auf depressives Verhalten: Un- soziale Verstärkung und soziale Vermeidung (ganz rechts) aufrechter-
mittelbare Ursache depressiven Verhaltens ist eine niedrige Rate halten wird (Erläuterungen 7 Text)
positiver Verstärkung, die durch 3 Faktoren (links) bedingt und durch

27.3.2 Neuronale Grundlagen der jeder Valenzkategorie gemittelt. Beispielsweise bewirken


der Depression Trauer und Ekel im M. corrugator (Augenbrauen) einen
Anstieg des EMG (mehr Spannung), Glück eine Reduktion.
Genetik Man erkennt, dass in den elektromyographischen und
Wie für viele chronische Erkrankungen spielt ein konsti- elektrodermalen Reaktionen bei gesunden Personen Trauer
tutionelles, genetisch verankertes Risiko, besonders bei klar von allen übrigen Gefühlen, bis auf Ekel, trennbar ist.
bipolaren Depressionen eine große Rolle, deren absoluten Sowohl zwischen den verschiedenen Personengruppen
Beitrag man im Einzelindividuum bisher ebenso schwer (depressiv–nicht-depressiv), wie auch innerhalb der Grup-
festlegen kann wie die Anteile der Umweltfaktoren. Sowohl pen können die Gefühlszustände aufgrund des Musters der
in Zwillingsstudien als auch in Adoptionsstudien treten er- Muskelspannung in den verschiedenen Muskeln unter-
höhte Konkordanzraten mit der Nähe der biologischen schieden werden.
Verwandtschaft auf, bei der bipolaren Depression ist in Im EEG zeigt sich bei Depressiven und depressiven
eineiigen Zwillingsstudien die erbliche Varianz 60–80%, bei Stimmungen verstärkte Aktivierung (β-Aktivität) rechts-
der unipolaren ist sie deutlich niedriger, aber immer noch frontal. Dies stimmt mit neuropsychologischen Befunden
um die 30–50% (Kap. 23). überein, dass nach Läsion links Depressionen auftreten
Dies gilt für viele Persönlichkeitseigenschaften und (Abschn. 27.1.5). Positive Gefühle dagegen erhöhen die
physische Merkmale. Die Lokalisation einer Genkombina- EEG-Aktivität links-frontal.
tion für manisch-depressive Störungen in einer Familie In den langsamen ereigniskorrelierten Hirnpotenzialen
des isoliert lebenden Amish-Ordens in Pennsylvania auf zeigen Depressive eine erhöhte kortikale Reagibilität auf
Chromosom 11 konnte in anderen Populationen nicht Kontingenzänderungen (z. B. wenn erwartete Belohnung
bestätigt werden. Für die Disposition für unipolare und nicht auftritt) und Hilflosigkeit. Mit zunehmender An-
bipolare Depressionen existiert ein polygener Vererbungs- hedonie (Lustverlust) steigt die Negativierung der lang-
gang. samen Hirnpotenziale (Kap. 20 und 21) nach Kontingenz-
änderung an. Dies ist sowohl bei akut Depressiven als auch
Psychophysiologie bei gesunden Personen mit einem erhöhten Risiko für An-
. Abb. 27.19 zeigt die Position von Trauer in Beziehung zu hedonie der Fall.
anderen Gefühlen beim Betrachten von Diapositiven des
International Affective Picture Systems (IAPS), die in vielen G Depressionen weisen ein genetisches Risiko auf,
Ländern auf ihre psychologischen und physiologischen das über polygene Erbgänge weitergegeben wird.
Wirkungen geeicht wurden. Aus jeder Valenzkategorie Depressive Stimmungslage ist aus dem Elektromyo-
(positiv–negativ) wurden je 30 verschiedene Diapositive gramm des Gesichtsausdrucks und einer EEG-Akti-
gezeigt und die physiologischen Reaktionen über die 30 Bil- vierung rechts frontal rekonstruierbar.
27.3 · Trauer und Depression
735 27

Birbaumer N, Öhmann A (1993) ©1993 Hogrefe & Huber Publishers. • Seattle • Toronto • Bern • Göttingen

. Abb. 27.19a–d. Spezifität peripher-physiologischer Emotions- gator), b die des Mundwinkels (Zygomaticus), c Herzrate (HR, bpm
indikatoren. Beziehungen zwischen psychophysiologischen Reak- »beats per minute«), d Hautwiderstand (SCR in logarithmischen
tionen und subjektiver Bewertung von Diapositiven, die verschiedene Einheiten; Erläuterungen 7 Text)
Gefühle auslösen. a Reaktionen des Muskels der Augenbrauen (Korru-

Bildgebende Verfahren metabolischen Aktivität, sowohl im fMRT wie im PET.


. Abb. 27.20a–c zeigt das typische Bild der Hirndurch- Diese Hyperaktivität geht nach erfolgreicher Behandlung
blutungsänderungen bei unbehandelten unipolaren De- mit Antidepressiva, Elektroschock (Abschn. 27.3.4) oder
pressionen in Ruhe. Bei Depressiven zeigt sich eine Verhaltenstherapie zurück. Die Änderungen werden mit
Volumenreduktion (auf Abb. nicht eingezeichnet) und der Zahl der depressiven Episoden deutlicher.
Aktivitätsreduktion des linken sog. subgenualen ante- Die orbitofrontale Hyperaktivierung könnte die er-
rioren Zingulums, das unter dem Corpus callosum liegt höhte negative Erwartung zukünftiger Konsequenzen und
(. Abb. 27.20c). Ein Verlust an Gliazellen und Dendriten die Entwertung der positiven Verstärker widerspiegeln. Die
ist für die Volumenreduktion verantwortlich und könnte ventrale Präfrontalaktivierung, die obsessive, wiederholte
für die relative Überaktivierung der rechten präfrontalen Erinnerung und exzessive Wiederholung negativer Ereig-
Areale, die man allerdings nur im EEG feststellen kann, nisse aus dem Langzeitgedächtnis und die Aktivierung der
verantwortlich sein. Amygdala und Insel sind Teil des in Abschn. 27.2 beschrie-
Der Zellverlust wird mit dem destruktiven Einfluss der benen Furcht-Aversions-Nervennetzes. Die in bildgeben-
Stresshormone (Glukokortikoide) auf diese Region in Zu- den Verfahren gefundenen pathologisch aktivierten Regio-
sammenhang gebracht. Dagegen findet man im linken nen weisen auch ein reduziertes Bindungspotenzial an den
ventrolateralen Präfrontalkortex (VLPFC in . Abb. 27.20a 5-HT1A-Rezeptoren auf, was erklärt, warum die Serotonin-
und b), im Orbitofrontalkortex, der anterioren Insel und wiederaufnahmehemmer (SSRI) in diesen Regionen die
der Amygdala (Pfeile in . Abb. 27.20) einen Anstieg der Hirnaktivität normalisieren (7 unten).
736 Kapitel 27 · Emotionen

G Bildgebende Verfahren ergeben einen Hypermeta-


bolismus in orbitofrontalen und ventral-präfronta-
len Arealen und in der Amygdala und Insel bei
Depressionen. Der subgenuale (unter Genum des C.
callosum) Anteil des linken anterioren Zingulums
weist dagegen eine Volumenreduktion und Unterak-
tivierung auf.

Hypophysen-Nebennieren-Achse und zirkadiane


Periodik
In Kap. 8 haben wir bereits einige der Störungen des Hypo-
physen-Nebennierenrinden-Systems bei der Depression
beschrieben. . Abb. 27.21 zeigt die Veränderungen der Hy-
pophysen-Nebennierenrinden-Aktivität bei Depressionen
im Vergleich zu PTSD (Abschn. 27.2.5). Dabei erkennt man
a
den Hyperkortisolismus und die verringerte negative
Feedbackhemmung auf den Hypothalamus und Hypo-
physe. Über die negativen Folgen der Glukokortikoid-Sti-
27 mulation auf hippokampale limbische Strukturen und Neu-
rogenese haben wir bereits in Kap. 8 und bei Besprechung
der PTSD im Abschn. 27.2.5 hingewiesen. Sowohl bei der
PTSD wie der Depression ist CRH verstärkt aktiv, bei der
Depression kommt es aber zu verstärkter Kortisolaktivität,
während sie bei PTSD reduziert ist.
Bereits Tage und Wochen vor der aktuellen Verstim-
mung zeigt sich häufig Desynchronisation der Temperatur-
periodik. Die zirkadiane Temperaturkurve (. Abb. 22.7) ist
abgeflacht oder völlig irregulär. Die Wachstumshormon-
ausschüttung (Kap. 8) ist in der ersten Nachthälfte redu-
ziert. Die REM-Schlafzeit wird höher, was mit der negativen
Stimmung tagsüber zusammenhängt. Während depres-
b
siven Verstimmungen sinkt vor allem langsamer Wellen-
schlaf (SWS) ab, die Gesamtschlafzeit sinkt, häufiges Er-
Drevets, W.C. (2001). Mit freundlicher Genehmigung von Elsevier.

wachen, besonders in den Morgenstunden, tritt auf. Die


REM-Latenz ist kürzer, d. h. die Personen fallen ohne den
normalen Übergang durch eine SWS-Periode in REM, was
vermutlich auf den geringen SWS-Druck zurückzuführen
ist (Kap. 22).
Schlafdeprivation verbessert den Zustand am folgen-
den Tag. Im freilaufenden Rhythmus (Bunkerversuche)
zeigt sich bei Depressiven eine Verkürzung der zirkadianen
Phase von 25 auf 24 h und weniger. Das Phasenmaximum
am frühen Morgen (Erhöhung der Kortisolausschüttung,
. Abb. 7.12b, und Temperaturminimum) scheint sich nach
c
vorne (also in die Nachtstunden) zu verschieben, was mit
. Abb. 27.20a–c. Glukosemetabolismus im Gehirn von Depres- der generellen Beschleunigung des endogenen Rhythmus-
siven. a Hyperaktivierung der anterioren Insel und des ventrolate- gebers zusammenhängen kann.
ralen Präfrontalkortex (VLPFC). b Hyperaktivierung des Orbitofrontal-
kortex und der Amygdala. c Hypoaktivierung des subgenualen G Bei Depressionen liegt in vielen Fällen Hyperkortiso-
vorderen Zingulums (Die t-Werte sind unten in Farbskalen angegeben lismus und eine Störung der zirkadianen Periodik
und ab 1.96 signifikant) mit verkürzter REM-Latenz und Abflachung der
zirkadianen Rhythmen vor.
27.3 · Trauer und Depression
737 27

Aus Schiffer, Rao, Fogel (2003). Mit freundlicher Genehmigung von Lippincott Williams & Wilkins.
. Abb. 27.21a–c. Hypophysen-Nebennierenrinden-Achse bei De- gung (blau +) und Hemmung (rot strichliert –) an. (Erläuterungen
pression und PTSD. Die Dicke der Pfeile deuten die Stärke der Erre- 7 Text)

27.3.3 Neurochemie der Depression Trizyklische Antidepressiva weisen eine positive Wir-
kung auf den depressiven Zustand für die Dauer der Ein-
Biogene Amine nahme auf, allerdings erst mit einer 1- bis 3-wöchigen Ver-
. Tabelle 27.1 gibt jene Substanzen wieder, die eine Ver- zögerung auf die Einnahme. Bei der Manie findet man da-
besserung depressiver Zustände bewirken und ihre Wir- gegen einen deutlichen Anstieg noradrenerger Aktivität,
kungen auf die neuronale Übertragung. . Abb. 27.22 zeigt der durch Lithium gesenkt wird.
den Synthese- und Abbauprozess der beiden wichtigen Ursprünglich ging man davon aus, dass Trizyklika eine
biogenen Amine, nämlich von Tyrosin und Tryptophan Erhöhung der Verfügbarkeit von NA und/oder Serotonin
(Abschn. 27.3.4). im synaptischen Spalt bewirken. Dieser Zusammenhang
Trizyklische Antidepressiva (. Tabelle 27.1) bewirken stützte sich auf Beobachtungen mit der blutdrucksenken-
im Tierversuch eine Reduktion der Synthese und des Stoff- den Droge Reserpin, die zentrales NA und Serotonin redu-
wechsels von NA und Serotonin bei Erhöhung der Verfüg- ziert, indem sie Monoaminoxidase (MAO) freisetzt, das
barkeit im synaptischen Spalt. die beiden Transmitter abbaut. Reserpin verursacht bei

. Tabelle 27.1. Wirkung von vier Antidepressiva auf die Erregungsübertragung von Noradrenalin und Serotonin

Substanz Akute Wirkung Neutrotransmission


Noradrenalin Serotonin
Tranylzypromin Blockiert Monoaminooxidase ↑ ↑
Imipramin Blockiert Noradrenalin- und Serotoninwiederaufnahme ↑ ↑
Desipramin Blockiert nur Noradrenalinwiederaufnahme ↑ Keine Änderung
Fluoxetin Blockiert nur Serotoninwiederaufnahme Keine Änderung ↑
738 Kapitel 27 · Emotionen

27

. Abb. 27.22. Synthese, Abbau und Ausscheidung von Noradrenalin und Serotonin im Gehirn und in der Zerebrospinalflüssigkeit
(CSF) sowie in Blut und Urin

manchen Personen Depressionen. Monoaminoxidaseinhi- bindungen, gemessen an der Zahl der Liganden-Rezeptor-
bitoren (MAOI) führen konsequenterweise auch zu Besse- verbindungen, und nicht mit dem Anstieg der Verfügbarkeit
rung der Depression. von NA und Serotonin einher! Depressionen könnten dem-
Gegen eine Monoamintheorie der Depression sprechen nach auch durch ein Zuviel an zentralem NA verursacht
eine Reihe von Fakten: Substanzen, die nicht direkt auf den sein und erst nach Zerstörung postsynaptischer NA-Re-
NA- und Serotoninhaushalt wirken, sind ebenfalls zur Be- zeptoren durch das Medikament (was in der Regel Tage bis
handlung der Depression geeignet (z. B. Mianserin). Post- Wochen dauert) wird die Depression besser. Man nimmt
mortem-Analysen von depressiven Suizidanten zeigen an, dass mit der Reduktion der Zahl der Rezeptoren ein
keine Änderung des NA-Gehalts, die Enzyme der NA-Syn- kompensatorischer Anstieg der Aktivität (Bindung) der
these (das Enzym Dopamin-β-Hydroxylase, DBH) sind verbliebenen β-Rezeptoren einhergeht. Damit wäre dann
unverändert, die Metaboliten von zentralem NA und Sero- die normale neuronale Aktivität der postsynaptischen
tonin sind ebenfalls nicht bei allen unipolar Depressiven Zellen wieder hergestellt.
reduziert. Man muss somit entweder einen anderen Mecha-
G Antidepressiva erhöhen die Bindungsfähigkeit sero-
nismus als die Zunahme des Transmitters im synaptischen
tonerger und noradrenerger Rezeptoren. Diese
Spalt annehmen, oder aber andere Neurotransmitter verur-
Sensibilitätserhöhung könnte durch Zerstörung
sachen die Änderungen von NA und Serotonin sekundär
oder Insensitivierung postsynaptischer Rezeptoren
als Folgeeffekt.
verursacht werden, was in der Folge zu einem kom-
G In der Depression sind die Bindung von einigen Sero- pensatorischen Anstieg der Sensibilität der verblie-
tonin- und Noradrenalinrezeptoren (prä- und postsy- benen noradrenergen und serotonergen Rezeptoren
naptisch) und/oder die Verfügbarkeit von NA und führt.
5-HT reduziert. Antidepressiva haben eine Vielzahl
von molekularen Wirkungen auf die synaptische Akti- Dopamin
vität, deren Zusammenwirken schlecht verstanden ist.
Besonders problematisch für eine Monoamintheorie der De-
pression ist die Tatsache, dass jene Transmittersysteme, die
Rezeptoränderungen an noradrenergen auf intrakranielle Selbstreizung ansprechen (Abschn. 26.3
Synapsen und 26.4), nämlich Dopamin- und Opiatsysteme, in dieser
Antidepressiva bewirken einen Verlust der noradrenergen Theorie keine Rolle spielen und NA-Systeme sowie Seroto-
β2- und α2-Rezeptoren. Der klinische Effekt der Besserung nin mit positiven Verstärkerprozessen (Freude) wenig zu tun
geht mit der Geschwindigkeit der Reduktion der Rezeptor- haben.
27.4 · Aggression
739 27

Das zentrale Symptom der Depression, die negative gleichzeitiger Erhöhung der Aktivität β-adrenerger Zellen
Stimmung und Antriebslosigkeit, müsste daher auf eine ist vermutlich auf einen Desensibilisierungsprozess der
Hemmung von positiven Verstärkerstrukturen, die An- β-adrenergen Membranen rückführbar (Abschn. 27.3.2).
triebslosigkeit und motorische Inaktivität auf Reduktion Auch mehrmalige Elektroschockbehandlung (ECS,
dopaminerger (nigrostratialer) Systeme rückführbar sein. Abschn. 27.1.5), die bei schweren Depressionen positive
In der Tat verursachen Antidepressiva eine Subsensitivität Effekte aufweist, erzeugt im Tierversuch erhöhte Aktivität
präsynaptischer dopaminerger Autorezeptoren und damit β-adrenerger und dopaminerger Zellen. Vor allem bei
eine Erhöhung der Aktivität von DA-Synapsen. Andererseits Frauen wirkt rechtshemisphärisch angebrachter Elektro-
hellt die Gabe von DA-Vorläufern die Stimmung bei De- schock. Die rechte Hemisphäre ist ja, wie in Abschn. 27.1.
pressionen kaum auf, wohl aber Morphingabe. Die Blockade beschrieben, verstärkt mit der Verarbeitung negativer Emo-
von Histaminrezeptoren im medialen Vorderhirnbündel tionen befasst. Der elektro-konvulsive Schock zerstört vor-
durch Antidepressiva könnte eher erklären, warum sie die übergehend diese rechts gespeicherten negativen Erinne-
Stimmung aufhellen, da Histamin in diesen positiven ver- rungen. Die Rolle der Stresshormone, des Wachstumshor-
stärkenden Strukturen eine hemmende Wirkung hat. Ihre mons und der zirkadianen Periodik bei Stress, Hilflosigkeit
Blockade könnte die Dopaminwirkung wieder ermöglichen. und Depression haben wir ausführlich in Kap. 7 und Kap. 8
Zusammenfassend kann man sagen, dass die Monoamin- erläutert.
theorie der Depression grundsätzlich korrekt ist, dass aber
G Desensibilisierung der β-adrenergen Rezeptoren
viele zusätzliche und wenig bekannte subsynaptische und
durch Antidepressiva oder Bewältigungsverhalten
molekulare Mechanismen zur Verbesserung des Entla-
über mehrere Wochen könnte ein genereller Wirk-
dungsverhaltens monoaminerg übertragender Zellen bei-
mechanismus aller Behandlungsmethoden der
tragen.
Depression sein.
G Die Stimmungsverbesserung bei erfolgreicher
Bewältigung der Depression geht mit einer Ver- Psychologische Therapie
besserung der synaptischen Übertragung mono-
Unipolare Depressionen werden heute entweder mit anti-
aminerger limbischer Zellsysteme einher.
depressiver Medikation oder mit Verhaltenstherapie (VT)
behandelt. Beide Methoden weisen dieselbe Effektivität auf,
27.3.4 Bewältigung und Therapie aber Verhaltenstherapie führt zu stabileren Besserungen.
der Depression Die verhaltenstherapeutische Behandlung der De-
pression besteht aus dem systematischen Training sozialer
Antidepressiva und die Bewältigung und motorischer Aktivität, Umstrukturierung der nega-
von Angst und Hilflosigkeit tiven Denk- und Attributionsprozesse (kognitive Therapie)
Wie wir schon in Kap. 8 gesehen haben, erhöht ein- oder und sozial-familiären Maßnahmen zur Erweiterung
mehrmalige Belastung zunächst sowohl zentrales als auch der verfügbaren Handlungsalternativen. Nach kognitiver
peripheres NA. Lang anhaltende Belastung und Hilflosig- Therapie ist die Verfügbarkeit von Serotonin und NA ver-
keit führt zu einem zentralen NA-Verlust. Dies würde mit bessert, die Aktivität der Amygdala und des Orbitofrontal-
der Monoamintheorie der Depression übereinstimmen, kortex reduziert.
nicht aber mit einem Zuviel an NA. Ein Teil der Widersprüche
G Die kognitive Verhaltenstherapie der Depression
lässt sich beseitigen, wenn man den zeitlich-dynamischen
führt zu einer anhaltenden und physiologisch und
Verlauf der Wirkung von Antidepressiva mit dem zeitlich-
neurochemisch nachweisbaren Besserung schwerer
dynamischen Verlauf der Bewältigung von wiederholter
depressiver Zustände.
Belastung (Stress) vergleicht.
Bei Depressionen und nach unbewältigbarem Stress ist
die Aktivität von Neuronen mit β-adrenergen Rezeptoren 27.4 Aggression
im Gehirn von Tieren gering. Wenn Anforderungen an das
Individuum (die Zellen) gerichtet werden, die energie- »… an organism learns to do nothing by doing nothing;
mobilisierendes Bewältigungsverhalten erfordern, können therefore a person learns to be nonviolent by being non-
die mit NA-Systemen verbundenen Netzwerke nicht aus- violent.« (S. P. Scott)
reichend reagieren (gelernte Hilflosigkeit, Abschn. 27.3.1).
Dagegen ist nach mehrmaliger erfolgreicher Stressbewäl-
tigung (Immunisierung) oder nach Behandlung mit Anti- 27.4.1 Klassifikation und Genetik
depressiva auch die Aktivität der postsynaptischen Zellen
mit NA-Rezeptoren erhöht (Abschn. 27.3.2). Arten von Aggression
Die reduzierte Zahl β-adrenerger Rezeptoren nach Anti- Wir unterscheiden neben Wut und (offener) Aggression ver-
depressivabehandlung oder nach Stressbewältigung bei schiedene Kategorien antagonistischer Verhaltensweisen:
740 Kapitel 27 · Emotionen

4 Beuteaggression ist nicht nur von Hunger, sondern tionen von männlichen Mäusen beträgt nach selektiven
auch von verschiedenen Auslösereizen der Beute ab- Züchtungsversuchen im Durchschnitt zwischen 0,3 und 0,5
hängig. (bei einem Maximum von 1), die Umweltvarianz daher
4 Zwischen-männliche Aggression innerhalb einer Art zwischen 70–50% (Abschn. 23.4). Für unterschiedliche Ar-
ist vermutlich häufig von der Präsenz der Androgene ten von Aggression existieren unterschiedliche Erbgänge.
abhängig (männliche Eifersucht?). Die genetische Transmission aggressiven Verhaltens
4 Zwischen-weibliche Aggression innerhalb einer Art, beim Menschen ist nicht bekannt, die Konkordanzrate ein-
kann auch ohne zirkulierende Androgene nachgewie- und zweieiiger Zwillinge ist nicht unterschiedlich, was für
sen werden. Sie hängt vermutlich mit territorialer Kon- eine geringe erbliche Komponente spricht. Die Lokalisa-
kurrenz um das fitteste Männchen zusammen (weib- tion eines Gens für Aggression auf dem männlichen Y-Chro-
liche Eifersucht?). mosom ist aus einer Reihe von Gründen empirisch nicht zu
4 Furcht-induzierte Aggression tritt stets nach einem stützen: Zum Beispiel haben weibliche Tiere und Frauen
Fluchtversuch (defensive Reaktion) auf. kein Y-Chromosom, aber deutlich ausgeprägte aggressive
4 Maternale (mütterliche) Aggression dient nicht bei Reaktionen. Auch der Zusammenhang zwischen Gewalt-
allen Arten nur zum Schutz der Jungen, sondern tritt verbrechen und der Existenz einer XYY-Genkonfiguration
häufig bei Einschränkung des Territoriums des Mutter- bei Männern konnte nicht bestätigt werden.
tiers auf. Sie wird auch von weiblichen Tieren ohne Bei einer Gruppe von 14 episodisch extrem aggressiven
Junge gezeigt. Männern fand man ein defektes Gen am Chromosom X,
27 4 Irritationsaggression (reaktive Aggression) tritt nach das für das Enzym Monoaminoxidase A kodiert. Mono-
Schmerz und Frustration auf, sie ist spontan und ziel- aminoxidase A war auch im Urin dieser Männer verringert.
gerichtet. Dies könnte auf einen Mangel an Serotonin im Gehirn hin-
4 Sexuelle Aggression, meist bei männlichen Tieren zu deuten (. Abb. 27.22).
beobachten, wird von Paarungsreizen ausgelöst, ihre Knockout-Mäuse ohne 5-HT1B-Rezeptorgen oder ohne
Funktion ist unklar. MAOA-Gen sind deutlich reaktiv aggressiver als Kontroll-
4 Instrumentelle Aggression, nur beim Menschen, ziel- tiere, was die Hypothese stützt, dass Serotonin an der Hem-
gerichtet, »kaltblütig«, ist auf einen Zweck ausgerichtet, mung aggressiven Verhaltens beteiligt ist.
daher der Name instrumentell. Bei Tieren am ehesten Für Beuteaggression, die der instrumentellen Aggres-
mit Beuteaggression vergleichbar. Tiere zeigen aber sion beim Menschen am ähnlichsten ist, wurde ein Gen in
keine instrumentelle Aggression gegen die eigene Art. der Maus isoliert, das als »tailless« (schwanzlos) bezeichnet
wird und für einige Rezeptortypen des Zellkerns kodiert.
Gemeinsamkeiten aggressiven Verhaltens Tailless-Knockout-Mäuse, auch weibliche, zeigen reduzier-
Man kann alle genannten Subklassen aggressiven Ver- tes Amygdalavolumen und exzessive Aggression auch gegen
haltens auf 2 Umweltereignisse zurückführen und reaktive den eigenen Nachwuchs.
Aggression und instrumentelle Aggression als die wich- Dass der zentrale Androgenspiegel als aktivierender
tigsten Kategorien bezeichnen: Die reaktive Aggression Schwellenregulator für die über der weiblichen Aggression
wird von der Darbietung aversiver, schmerzhafter Reize liegende Aggressivität der Männer verantwortlich ist, haben
und dem Entzug von positiven Reizen (Frustration), die wir bereits in Kap. 7 und 8 erläutert. Der Androgenspiegel
zum Überleben wichtig und/oder positiv verstärkend sind, während der prä- und postnatalen Hirnentwicklung ist zu-
ausgelöst. Sie bewirken als angeborene elementare Aggres- mindest in großen Teilen genetisch determiniert.
sionsreaktion Beißen (beim Menschen rudimentär als
G Beim Menschen sind aggressive, antisoziale Ver-
Zähne-Zusammenpressen messbar). Instrumentelle Aggres-
haltensweisen primär umweltbedingt. Allerdings
sion dagegen kann von vielen Reizen aktiviert werden, die
konnten genetisch bedingte Risikofaktoren, vor
eine positive Verstärkung für Aggression versprechen.
allem ein verringertes zentrales Serotoninniveau,
G Die für den Menschen wichtigsten Klassen aggres- identifiziert werden.
siven Verhaltens sind reaktive (Irritations-)Aggres-
sion und instrumentelle Aggression. Beißen und 27.4.2 Neurobiologie aggressiven
Zähne-Zusammenpressen ist die allen Aggressionen Verhaltens
gemeinsame Verhaltensäußerung.
Der Hypothalamus als Musterstruktur
Genetik der Aggression Die Lokalisation aggressiven Verhaltens in eine oder auch
Aggressives Verhalten ist kein homöostatischer Trieb son- nur einige wenige Hirnstrukturen ist aufgrund der Hetero-
dern primär gelerntes Verhalten, dessen Auftretenswahr- genität aggressiven Verhaltens nicht möglich. Wie bei ande-
scheinlichkeit auch von konstitutionell-hormonellen Vor- ren Emotionen können jedoch – zumindest für Katze, Maus
aussetzungen abhängt. Die Vererbbarkeit aggressiver Reak- und Ratte – einige Knotenpunkte neuronaler Verbindun-
27.4 · Aggression
741 27

Nach Flynn J et al (1970). Mit freundlicher Genehmigung von Elsevier.


. Abb. 27.23. Aggressionsverhalten (R) der Katze gegenüber der können die Erregung der Mustermechanismen unterdrücken oder
Ratte (S). Die Mustermechanismen (»patterning«) aktivieren direkt bahnen. Diese sind oben als Summations- und Hemmungsmechanis-
motorische Systeme, die zu relativ umgebungsunabhängigen unspe- mus skizziert. Der mediale Präfrontalkortex hemmt Aggression, der
zifischen Reaktionen (R1) führen und auch Systeme, die gezielte Reak- laterale Orbitofrontalkortex erregt oder hemmt Aggression je nach-
tionen (R2) in Anpassung an die Reizsituation (links) steuern; die sen- dem, ob ein erwarteter Verstärker oder Bestrafung eingetreten ist
sorischen Systeme werden gleichzeitig ebenfalls durch Erhöhung (weitere Erläuterungen 7 Text)
der selektiven Aufmerksamkeit beeinflusst. Andere Strukturen (oben)

gen angegeben werden, die zeigen, dass aggressives Verhal- (Scheinwut, »sham rage«). Aktivierung einer übergeord-
ten hierarchisch organisiert ist. . Abb. 27.23 demonstriert neten Musterstruktur wie des Hypothalamus legt also auf
dies für aggressive Attacken der Katze auf die Ratte. Wir die untergeordneten kaudal gelegenen Kerne eine Art Bias,
wollen einige wesentliche Anteile dieses hierarchischen eine Tendenz, die das Auftreten aggressiven Verhaltens be-
Systems beispielhaft erläutern. günstigt.
. Abb. 27.23 symbolisiert die zentrale Rolle des latera-
G Der lateral-mediale Hypothalamus agiert als koor-
len und medialen Hypothalamus als integrierende Struk-
dinierende Musterstruktur für reaktives aggressives
tur für Aggressionsverhalten. Reizung des lateralen Hypo-
Verhalten. Er wird vor allem durch limbische Struk-
thalamus im Tierversuch bewirkt Beuteaggression, des
turen (Amygdala, Hippokampus, »limbischer« ante-
medialen affektive Aggression. Dorsale Hypothalamusrei-
riorer Thalamus) moduliert und steuert die senso-
zung erzeugt Flucht und bei vorhandenen Hindernissen
motorische Expression der Aggression in tieferen
Furchtaggression.
Hirnstrukturen.
Der Hypothalamus erhöht die Aktivität von kaudal ge-
legenen Axonen und Kernen (R1 und R2 auf . Abb. 27.23),
vor allem die des periaquäduktalen Grau des Mittelhirns Amygdala
bei affektiver Attacke und die des ventralen Tegmentums Läsionen der kortikomedialen Teile der Amygdalae können
bei Beuteangriff (bei der Ratte). Zwar kann jede der beiden zu extrem aggressiven Attacken auf lebende und unbelebte
Aggressionsarten auch von den kaudal gelegenen Struktu- Objekte führen. Dieser Effekt wird dahingehend interpre-
ren ausgelöst werden, das Verhalten ist dabei aber oft blind tiert, dass diese Areale über die Stria terminalis auf die
und nicht mit den bestehenden Umweltreizen koordiniert hypothalamischen Musterstrukuren hemmend einwirken.
742 Kapitel 27 · Emotionen

Dies gilt aber nur für Beuteaggression. Eine affektive Attacke


dagegen wird durch Reizung der basolateralen Kerne (Ab-
schn. 27.2), besonders in Rangkonflikten zwischen männ-
lichen Tieren, ausgelöst. Läsion der basalen Kerne produ-
ziert zahme und aggressionslose Tiere. Die Stimulations-
studien zeigen, dass laterale und kaudale Regionen der
Amygdala bei Reizung einen graduellen Anstieg aggres-
siven Verhaltens produzierten (Summationsmechanismus
auf . Abb. 27.23), andererseits mehr rostrale Regionen
Furcht induzieren. Hypothalamische Reizung löst sofort
eine geordnete Attacke aus.
Generell verlieren amygdalaektomierte Tiere ihre
soziale Dominanz, dies allerdings auch abhängig von den
historischen, innerhalb der Gruppe gewachsenen Domi-
nanzverhältnissen. Dies zeigt . Abb. 27.24: Zwei der ope-

Aus Rosvold EH, Mirsky AF, Pribram KH (1954). Mit freundlicher Genehmigung der APA.
rierten Tiere (Dave und Zeke) fielen an das unterste Ende
der sozialen Hierarchie, während eines (Riva) hyperaggres-
siv wurde.
27 Das Klüver-Bucy-Syndrom, bei dem nach Abtragung
der anterioren Temporalpole, Zahmheit und Hypersexuali-
tät bei Rhesusaffen beobachtet wurde, ist auf die (unbeab-
sichtigte) Entfernung der Amygdalae zurückzuführen und
weniger auf die Entfernung der Temporalpole. Beim Men-
schen zeigen sich häufig ähnliche Symptome, wenngleich
man aus Fallberichten alleine keine wissenschaftlich brauch-
baren Schlüsse ableiten soll.
Beim Menschen wird die Funktion der Amygdala für
aggressives Verhalten vor allem durch ihren Beitrag zur
klassischen Furchtkonditionierung in der Sozialisation be-
stimmt sein: ohne adäquates Erlernen antizipatorischer
Angst werden Aggressionstendenzen nicht gehemmt, wie
dies z. B. bei den kriminellen Psychopathen auf . Abb. 27.17
. Abb. 27.24. Amygdala und Aggression. Änderungen der Hierar-
sichtbar ist. Inkonsistente und bestrafende Erziehung führt chie einer Affenhorde vor (oben) und nach (unten) beidseitiger Läsion
zu geringer Ausbildung und Aktivierbarkeit der Amygdala der Mandelkerne (N. amygdalae) bei Dave, Zeke und Riva. Erläuterun-
und erhöht die Wahrscheinlichkeit für antagonistisches Ver- gen 7 Text
halten und Psychopathie (7 unten).
G Die basolateralen (erregend) und medialen (hem-
. Abb. 27.25 zeigt die Aktivierung des medialen Prä-
mend) Kerne der Amygdala sind nicht nur für Furcht-
frontalkortex bei Personen mit niedriger Ausprägung von
verhalten, sondern auch für dominanzerhaltende
psychopathischen Charakterzügen, die Schuldgefühle
Aggression verantwortlich. Furcht- und Aggressions-
entwickeln, nachdem sie eine ihnen nur flüchtig be-
areale überlappen sich.
kannte Person für langsames Reagieren mit einem schmerz-
haften Schlag bestraften. Personen mit hohen Psycho-
Medialer und lateraler orbitaler Präfrontalkortex pathiewerten (7 unten) und geringem Schuldgefühl zeigen
und Sozialverhalten keinerlei medial-frontale Aktivierung. Schuldgefühl re-
In . Abb. 27.23 ist die Rolle dieser beiden Hirnareale dar- sultiert aus der Fertigkeit, sich motorisch oder emotional
gestellt. Läsionen des Präfrontalkortex führen häufig zu in andere Personen hineinzuversetzen. Voraussetzung für
Ansteigen des Risikos für reaktive und instrumentelle dieses als Empathie bezeichneten Phänomens ist die
Aggressionen. Allerdings scheint beim lateralen Orbito- Funktionstüchtigkeit des medialen Präfrontalkortex (Ab-
frontalkortex sowohl Enthemmung wie Hemmung der sub- schn. 28.7.3).
kortikalen Musterstrukturen und der Amygdala möglich zu Der orbitofrontale Kortex (die posteriomediale Re-
sein: Je nach dem Auftreten oder Nichteintreten erwarteter gion) projiziert in den Temporalpol und vice versa, wie die
Belohnung oder Bestrafung (z. B. Frustration) wird Aggres- oberen und mittleren G. temporali (. Abb. 27.5). Von dort
sion gehemmt (Belohnung erhalten) oder stimuliert (Be- erhält der Orbitofrontalkortex die gespeicherten Beloh-
lohnungserwartung verletzt). nungs- und Bestrafungswerte der Verstärker. Die Amyg-
27.4 · Aggression
743 27

. Abb. 27.25. Schuld und Empathie. Hirnaktivierungen, gemessen allem die starke medial präfrontale Aktivierung. Zusätzlich sind noch
mit fMRT, von Personen mit niederen Psychopathiewerten, die eine der vordere Thalamus und Basalganglien, Zingulum, Insel und Klein-
andere, ihnen flüchtig bekannte, Person mit einem schmerzhaften hirn aktiviert
Reiz bestrafen und dabei Schuldgefühle empfinden. Man erkennt vor

dalae erhalten aus den meisten neokortikalen Regionen 5-Hydroxindolessigsäure (5-HIAA ist ein indirektes Maß
Erregungseinstrom über den Temporallappen und projizie- für die Zahl der 5-HT-Bindungsstellen im Gehirn,
ren bevorzugt in den frontalen, entorhinalen und insulären . Abb. 27.22) in der Zerebrospinalflüssigkeit, reaktiver Ag-
Temporalkortex (Kap. 5), damit erhält der Kortex stets die gressivität und Suizidalität. Dabei scheint die 5-HT-Rezep-
Stärke der potenziellen Vermeidungstendenz (»bias«) eines tor-Aktivierung mehr zur Impulsivität beizutragen, wäh-
Reizes mitgeteilt. rend das 5-Serotonintransportmolekül (SERT), das 5-HT
Amygdala und posteriomedialer Orbito-Frontalkortex in die präsynaptische Endigung wieder aufnimmt, ein guter
projizieren beide in dieselben Regionen von lateralem und Prädiktor für aggressives Verhalten ist. Beide zusammen,
medialem Hypothalamus, den wir als Mustergenerator für SERT-Abfall und geringe Serotoninrezeptorbindung, sagen
Aggression auf . Abb. 27.23 charakterisiert haben. Dieses gewalttätiges suizidales Verhalten voraus. Die subkortika-
System aus Amygdala, präfrontalem und orbitalem Fron- len Raphe-Kerne üben eine generell dämpfende Wirkung
talkortex und rostralem sowie superiorem Temporalkortex auf die Aggressionssysteme aus.
scheint somit auch anatomisch als oberste Steuer- und Mo-
G Reduktion der synaptischen Aktivierung für Sero-
dulationsstruktur für Sozialverhalten zuständig zu sein.
tonin und Reduktion der Wiederaufnahme von
G Der mediale Präfrontalkortex wird bei Schuldgefüh- Serotonin in die präsynaptische Endigung in den
len und empathischen Gefühlen aktiviert, während Aggressionssystemen erhöht das Risiko für impul-
der laterale Orbitofrontalkortex Verletzungen von sives, aggressives und suizidales Verhalten.
Erwartungen mit Hemmung oder Aktivierung von
Aggression im subkortikalen Aggressionssystem Gamma-Amino-Buttersäure (GABA)
beantwortet.
Alle Substanzen, die am GABAA-Rezeptor binden, vor
allem Alkohol und Benzodiazepine (Valium), erniedrigen
27.4.3 Neurochemie der Aggression die Schwelle für reaktive und instrumentelle Aggression.
Die Kombination aus beiden senkt sie weiter. Area 47 des
Serotonin orbitofrontalen Kortex (7 oben) wird besonders stark durch
Ein Anstieg der 5-HT-Rezeptor-Bindungsstellen reduziert GABAerge Agonisten gehemmt: nach Alkoholaufnahme
Aggression, ein Abfall erhöht Aggressivität. Läsion der und Diazepam können die Personen die wütenden und ag-
Raphe-Kerne fördert Aggressivität im Tierversuch. Auch gressiven und auch traurigen Gesichter anderer nicht mehr
beim Menschen besteht eine negative Korrelation zwischen erkennen, was die Hemmschwelle für antagonistische Akte
744 Kapitel 27 · Emotionen

(Aggressionen) senkt. Bei Psychopathen (Abschn. 27.4.4


und . Abb. 27.17) ist dieser Effekt noch ausgeprägter.
Alkohol und Diazepam sowie blutdrucksenkende Subs-
tanzen wie Propanolol führen zu Reduktion der NA-Aktivie-
rung in der Amygdala, eine Voraussetzung für das Antizipie-
ren und Behalten furchtrelevanter Reize (Abschn. 27.2.2)
und somit der gesamten Sozialisation. Insofern wirken Alko-
hol und Benzodiazepine sowohl über den Orbitofrontalkor-
tex wie über die Amygdala aggressionsfördernd.
G GABAA-Aktivierung in Orbitofrontalkortex und
Amygdala senkt die Hemmschwelle für aggressive
Akte. Alkohol und Diazepam sind die häufigste Ur-
sache für einen Anstieg des Risikos antisozialer Akte.
. Abb. 27.26. Schematische Darstellung der Wirkung weib-
licher und männlicher Sexualhormone auf die Aggressions-
Sexualhormone musterstruktur des Hypothalamus bei defensiver Aggression.
Erwachsene Tiere, die bereits Auseinandersetzungen mit Ob diese auch auf die Mittelhirn-Expressions-Strukturen (unten) eine
Artgenossen hatten, brauchen kein Testosteron zur Auf- gleichsinnige Wirkung entfalten, ist nicht bekannt. Die Wirkungen der
27 rechterhaltung ihrer Rangposition. Allerdings kommt es Sexualhormone im limbischen System sind Areal- und Kontextspezi-
fisch, (+) ist fördernd, (–) hemmend
ohne die Gegenwart von Androgenen im Fötus und un-
mittelbar nach der Geburt (frühe Androgenisierung) nicht
zur Ausbildung der für Aggressionsverhalten notwendigen
neuronalen Verbindungen. Injektion von Testosteron in Gewalttätigkeit und Kastration
Tiere, die unmittelbar nach der Geburt kastriert wurden, Kastration männlicher Mäusestämme vor oder während
hat keinen aggressionsfördernden Effekt, wenn die Andro- der Pubertät, während der – wie beim Menschen – der Tes-
gene prä- und postnatal blockiert wurden. Der aktivierende tosterongehalt stark steigt, verhindern das postpubertäre
Effekt von Testosteron auf Aggression tritt aber bei spät- Ansteigen der Aggression. Insgesamt scheint Testosteron
kastrierten Tieren schon auf. Dies bedeutet, dass erst ab die Entwicklung zwischenmännlicher Aggression zu be-
einer bestimmten Hirnentwicklung (Pubertät?) Androgene einflussen, andere Aggressionsarten (Abschn. 27.4.1) sind
ihre aggressionsfördernde Wirkung entfalten, wenn prä- auf Variationen des Testosteronspiegels weniger sensibel.
natal Androgene in ausreichender Menge auf das Gehirn Der häufig zitierte aggressionsdämpfende Effekt von
eingewirkt haben (. Abb. 27.26). Kastration und reversibler Kastration mit Testosteronanta-
Bei selektiver Züchtung von aggressiven Mäusen ergibt gonisten (Abschn. 26.3) bei männlichen Gewaltverbrechern
sich, dass die Gene für zwischenmännliche Aggressivität ist nicht eindeutig auf Androgensenkung rückführbar, da
nur in Gegenwart von hinreichend hohen Testosteron- mit diesem Eingriff eine Vielzahl anderer bedeutsamer Än-
Konzentrationen wirksam werden. Aggressive Mäuse mit derungen einhergehen, z. B. Nachlassen der Sexualität und
hoher Androgenkonzentration sind darüber hinaus weni- Motorik, die alle einen schwer kontrollierbaren Einfluss auf
ger ängstlich, lernen schneller, sind stärker sympathisch das aggressive Verhalten zeigen. Dasselbe gilt für psycho-
aktiviert und weisen erhöhte Adrenalinausschüttung der chirurgische Eingriffe, vor allem Läsionen in der Amygdala
Nebennierenrinde auf. Dasselbe gilt für weibliche Tiere, die und Läsionen der Verbindungen zu präfrontalen Regionen
offensichtlich auch autosomale Gene für Aggressivität be- (Abschn. 28.7), die auch aggressives Verhalten beeinflussen.
sitzen, die bei Gegenwart von Androgenen aktiv werden. Klare Schlüsse sind nicht möglich, da jede höhere Hirn-
Bei selektiv auf Aggressivität gezüchteten Tieren er- region eine Vielzahl von Funktionen steuert und nie allein
scheint diese nicht mehr nach 1–16 Tagen sozialer Isolation: für ein Verhalten verantwortlich ist (für weitere Informa-
Die sozialen Bedingungen, in denen die Tiere miteinander tionen über Hormone und Verhalten: Kap. 8).
interagieren, können die genetische Variation fast völlig
G Reversible und irreversible Kastration senkt die
zum Verschwinden bringen.
Wahrscheinlichkeit für aggressive Akte. Der Effekt
hängt aber von vielen Faktoren ab und kann nicht
G Die Beziehung von Androgenen und unterschied-
allein auf die Androgen-Hemmung zurückgeführt
lichen Formen von Aggression sind komplex. Ohne
werden.
ausreichende Androgenwirkung pränatal auf das
Gehirn verliert das in der Pubertät vermehrt aus-
geschüttete Testosteron seine aggressionsfördernde
Wirkung. Östrogene hemmen, wenn im Hypothala-
mus vorhanden, Aggressivität.
27.4 · Aggression
745 27
27.4.4 Antisoziales Verhalten
und Psychopathie-Soziopathie

Die psychopathische Persönlichkeit


Soziopathen sind Personen, die wiederholt antisoziale
aggressive Akte begehen, ohne durch Strafe oder negative
Konsequenzen beeindruckbar zu sein. Sie zeigen weder
Reue noch Schuld nach antisozialen Aktivitäten, über-
blicken aber intellektuell sowohl die Tat als auch ihre Kon-
sequenzen. In der Forschung wurde bisher nur die anti-
soziale soziopathische Verhaltensstörung untersucht.
Mindestens genauso häufig sind aber erfolgreiche Sozio-
. Abb. 27.27. Mittlere logarithmierte Hautleitfähigkeit (Ordinate)
pathen, die nicht als gestört eingestuft werden, obwohl sie als Funktion eines antizipierten aversiven elektrischen Reizes.
für ihre Mitmenschen vermutlich eine mindestens ver- Die Versuchspersonen beobachteten das Auftauchen der Zahlen 1 bis
gleichbare Last sind. Über Erfolg oder Misserfolg (Anti- 12 auf einem Bildschirm, bei 8 erhielten sie den elektrischen Reiz.
sozialität) entscheiden neben der Intelligenz vor allem die Der zweite (links) und sechste (rechts) Durchgang ist dargestellt. Rot:
psychopathische Kriminelle (P); darüber nicht-psychopathische Krimi-
Zugehörigkeit zur sozialen Schicht (Modell des Vaters),
nelle (NP); punktiert: nicht-kriminelle Normalpersonen (C). Sowohl
Konsistenz der Erziehung, Schulbildung und Geschlecht. die absolute Höhe der Hautleitfähigkeit ist bei den Soziopathen
Wichtige psychologische Merkmale des Soziopathen, signifikant verringert, als auch die Höhe der antizipatorischen Haut-
die über Fragebogen, experimentelle Prozeduren und In- leitfähigkeitsreaktion
terview erhoben werden können, sind:
4 durchschnittliche bis überdurchschnittliche Intelligenz; tan-EEG krimineller Soziopathen weist eine etwas erhöhte
4 lernt schlecht, wenn Strafreize verwendet werden (pas- Tendenz zu temporalen Verlangsamungen auf. In Antizipa-
sives Vermeiden), dagegen lernt er normal bei Geld- tion realer oder vorgestellter aversiver Reizung zeigen
oder Verstärkerentzug als negative Verstärker; Soziopathen eine deutlich verringerte Hautwiderstands-
4 weist geringe Toleranz gegenüber Verzögerung von änderung (. Abb. 27.27) auf.
positiven Verstärkern auf – meist durch Impulsivität Die Startle-Reflex-Potenzierung bei gleichzeitiger Dar-
bedingt –, erträgt Langeweile und Monotonie schlecht, bietung emotional negativer Reize ist bei Soziopathen deut-
sucht Erregung (»Sensations-Suche«); lich erniedrigt (. Abb. 27.15), was die mangelnde Aktivier-
4 zeigt keinerlei Irrationalität oder psychotische Zeichen; barkeit der Amygdala durch Furcht- und Angstreize unter-
wenig bis keine antizipatorische Angst; plant kaum streicht.
länger voraus; In passiven Vermeidungssituationen (z. B. in einer
4 ist unzuverlässig, verantwortungslos; bestimmten Reihenfolge auf unterschiedlich beleuchtete
4 hat selten anhaltende enge Partnerbindungen und Tasten drücken, wobei falsche Sequenzen mit einem elek-
Freundschaften; trischen Reiz oder Lärm bestraft werden) machen Sozio-
4 häufige aggressive bis kriminelle Angriffe auf andere, pathen häufiger Fehler, da sie bestrafte Sequenzen nicht
besonders unter Alkohol (alkoholisiertes Fahren, Rück- unterdrücken, sondern im Sinne eines disinhibitorischen
sichtslosigkeiten); Verhaltensdefizits immer wieder ausführen (Mangel an
4 zeigt nach antisozialen Akten wenig oder keine Reue. Angst). Bei Gabe von Adrenalin oder Amphetamin gleichen
sie sich der normalen Kontrollgruppe an. Alkohol und
Das erste Auftreten der genannten Verhaltensweisen muss sedierende Beruhigungsmittel (Barbiturate, Diazepam)
bereits vor dem 18. Lebensjahr sein, und es sind nicht alle reduzieren die antizipatorische Angst und verstärken daher
Verhaltensmuster immer vorhanden. Für die sichere Diag- das impulsive und aggressive Verhalten der Psychopathen,
nose müssen aber mindestens sechs davon existieren. da sie die Folgen ihres Verhaltens noch weniger fürchten.
Insgesamt besteht also im EEG oft eine Verlangsamung,
G Soziopathie-Psychopathie ist ein früh auftretendes
im Hautwiderstand Unteraktivierung, die NA-Reagibilität
Syndrom antisozialer Verhaltensweisen, das vor
ist reduziert, Schreckreflex verkleinert und Anfälligkeit für
allem durch mangelnde emotionale Antizipation
Langeweile und Sensationssuche subjektiv erhöht.
sozialer Strafreize bedingt ist.

G Bei Psychopathen ist der Hautwiderstand in Anti-


Psychophysiologie zipation aversiv-bestrafender Reize nicht erniedrigt
Kriminelle Soziopathen, die 10–30% der schwer gewalttäti- und die Potenzierung des Schreckreflexes unter-
gen Gefängnispopulation ausmachen, zeigen überraschend drückt. Amphetamin reduziert, Alkohol und Benzo-
konsistente physiologische Befunde in peripher-physiolo- diazepine erhöhen die Wahrscheinlichkeit für psy-
gischen Reaktionen in spezifischen Situationen. Das Spon- chopathisches Verhalten.
746 Kapitel 27 · Emotionen

Neuronale Grundlagen Prävention und Behandlung


. Abb. 27.17 zeigt typische Veränderungen der Hirn- Die Therapie der antisozialen Soziopathie (erfolgreiche So-
durchblutung, gemessen mit fMRT, bei kriminellen Psy- ziopathen suchen keine Therapie) ist aufgrund des passiven
chopathen und bei Gesunden. Der laterale Orbitofrontal- Vermeidungsdefizits sehr schwierig: Die soziale Anpassung
kortex, die vordere Inselregion und der vordere Gyrus an eine Kultur oder Subkultur beruht zu einem wesent-
cinguli sind in Antizipation eines aversiven Reizes bei Dar- lichen Teil auf passivem Vermeiden, d.h. wir lernen, be-
bietung eines menschlichen Gesichts als konditioniertem stimmte Handlungen nicht auszuführen, da sie aversive
Reiz nicht aktivierbar. Die Amygdala-Aktivierung habitu- Konsequenzen nach sich ziehen.
iert extrem schnell. Die medial-präfrontale Region, ver- Die übliche Therapie der Strafe (Gefängnis) zeigt wenig
antwortlich für Schuldgefühle und empathisches Verhal- Einfluss auf das Verhalten der kriminellen Soziopathen.
ten ist nach aggressiven Akten bei Psychopathen nicht aktiv Sedierende Drogen, die häufig eingesetzt werden, sind –
(. Abb. 27.25). wie oben ausgeführt – kontraindiziert. Aber auch stimu-
lierende Drogen haben nur kurzfristig positive Effekte, da
G Psychopathische Personen zeichnen sich in Situa- die unter Drogen erworbenen Verhaltensweisen nur im
tionen antizipatorischer sozialer Angst durch Unter- selben Aktivitätszustand, also wieder unter Drogen, wieder-
aktivierung des Amygdala-präfrontalen-Inselkortex- gegeben werden können (zustandsabhängiges Lernen)
Furchtsystems aus. (Box 27.5).

27
Box 27.5. Selbstregulation der lokalen Hirndurchblutung: Erlernen von Angst bei Psychopathen?

Die Abbildung zeigt ein sog. fMRT-Gehirn-Computer-


Interface zum Training der Regulation des lokalen BOLD-
Effektes (Kap. 20). Die Personen beobachten ihre Hirn-
durchblutung (BOLD) auf einem Bildschirm (rote Kurve
links unten in b) und erhalten die Aufgabe, diese abwech-
selnd zu erhöhen (grüner Hintergrund) oder zu ernied-
rigen (blauer Hintergrund). Meist erreichen die Personen
dies durch emotionale oder kognitive Vorstellungen, je
nach ausgewähltem Hirnareal. Auf diesem Bild lernen
die Personen ihren parahippokampalen Gyrus (grünes
Quadrat in a und PPA in c) zu aktivieren und desaktivieren.
Nach 3–4 Sitzungen können dies gesunde Personen und
damit ihre Gedächtnisleistung im Hippokampus positiv
und negativ beeinflussen. Bei Psychopathen wird geübt,
in Angstsituationen wieder das Amygdala-präfrontale
Furcht- und Schuldsystem (. Abb. 27.17 und 27.25) zu
aktivieren und diese erlernte Fähigkeit mit Verhaltens-
therapie und Sozialtherapie zu kombinieren.

Literatur: Weiskopf N, Veit R, Erb M, Mathiak K, Grodd W, Goebel R,


Birbaumer N (2003) Physiological self-regulation of regional
Aus Weiskopf N et al (2003). Mit freundlicher Genehmigung von Elsevier.

brain activity using real-time functional magnetic resonance


imaging (fMRI): methodology and exemplary data. NeuroImage
19:577–586.
Zusammenfassung
747 27

Es wird deutlich, dass möglichst frühes Einsetzen von puterspiele sowie gewalttätige Pornographie, psychische
präventiven psychologischen Maßnahmen, die ohne Straf- Störungen und/oder Substanzmissbrauch in der Familie,
reize auskommen, bei auffälligen Jugendlichen gute Er- inkonsistenter und überwiegend bestrafender Erziehungs-
folgsaussichten haben, solange die Jugendlichen nicht in stil und Geburtskomplikationen.
ihr altes soziopathisches Milieu (z. B. Slum) zurückkehren
müssen. G Psychopathie entsteht aus einer Vielzahl von sozia-
Familiäre Risikofaktoren für antisoziale Psychopathie len, biologischen und psychologischen sowie gene-
und Kriminalität sind physischer und sexueller Missbrauch, tischen Risikofaktoren. Nur eine Behandlung aller
Schwangerschaft und Geburt von jungen, ökonomisch de- Faktoren, einschließlich der biologischen (z. B. Hirn-
privierten alleinstehenden Müttern, aggressive Modelle durchblutung des Furchtsystems), kann die Rückfall-
und Vorbilder, exzessives Fernsehen und aggressive Com- quote bei kriminellen Psychopathen senken.

Zusammenfassung
Gefühle sind Reaktionen auf hedonisch positive An der Steuerung von Furcht und Angst sind neben
und aversive Reize, die auf 3 Reaktionsebenen der Amygdala beteiligt:
ablaufen: 5 Orbitofrontalkortex,
5 der physiologisch-hormonellen, 5 vordere Inselregion und
5 der motorisch-verhaltensmäßigen und 5 anteriores Zingulum.
5 der subjektiv-psychologischen.
Im Furchtnetzwerk
Die Rückmeldungen der peripher-physiologischen 5 steuern NMDA-Rezeptor- und glutamaterge Synapsen
und muskulären Ausdrucksäußerungen von Gefühlen die assoziativen Bindungen;
bestimmen Qualität und Intensität der Gefühlsreaktionen 5 erhöht Noradrenalin die Aufmerksamkeit auf Furcht-
mit (James-Lange). Die Rückmeldungen aus den peri- reize und verbessert deren Speicherung;
pheren Erfolgsorganen (»somatic markers«) werden 5 hemmen GABAerge-Systeme Furcht;
im superioren Parietalkortex analysiert und erlauben 5 führen die Stresshormone der Hypophysen-Neben-
Gefühlswahrnehmung ohne bewusste Registrierung der nierenrinde bei lange anhaltendem Stress zu Zerstö-
auslösenden Reize. rung hippokampaler und präfrontaler Neurone und
der Neurogenese.
Höhere kognitive Prozesse sind zur Entstehung
der Basisgefühle nicht notwendig. Als Basisgefühle Trauer und Depression sind Folgen von
gelten: 5 gelernter Hilflosigkeit und
5 Freude–Glück, 5 Mangel an positiver Verstärkung.
5 Interesse–Orientierung,
5 Wut, Die Hirnregionen, die für Depression verantwortlich sind,
5 Trauer, bestehen aus:
5 Furcht, 5 subgenualem anteriorem Zingulum,
5 Ekel. 5 ventrolateralem Präfrontalkortex,
5 vorderer Insel,
Angst und Furcht werden 5 Amygdala,
5 über klassische emotionale Konditionierung erwor- 5 serotonergen und noradrenergen Systemen,
ben und 5 Nebennierenrinden-Hypophysen-Achse.
5 über instrumentelles Vermeidungslernen aufrecht
erhalten. Neurochemisch ist bei Depression
5 die Wachstumshormonausschüttung in der ersten
Die assoziative Verknüpfung zwischen auslösenden Rei- Nachthälfte reduziert;
zen und Furchtreaktionen erfolgt im lateralen Kern der 5 die Kortisolausschüttung in der 2. Nachthälfte ver-
Amygdala. früht erhöht;
Die efferenten Ausgänge zu den autonomen, mus- 5 die Rezeptor-Bindung von serotonergen und noradre-
kulären und endokrinen Erfolgsorganen erfolgen über nergen Synapsen erniedrigt.
den zentralen Kern der Amygdala. 6
748 Kapitel 27 · Emotionen

6
Aggressives Verhalten wird gelernt und besteht aus Neurochemisch
5 reaktiver Aggression, z. B. Frustration nach Verstär- 5 reduziert Anstieg der Rezeptorbindung und Ver-
kerverlust, und fügbarkeit von Serotonin die Aggressivität;
5 instrumenteller Aggression, z. B. zielgerichteter 5 erhöhen Substanzen, die an GABAA-Rezeptoren
Beuteaggression. binden, vor allem Alkohol und Benzodiazepine,
die Aggressivität;
Der lateral-mediale Hypothalamus integriert bei Ag- 5 erhöhen männliche Sexualhormone in kritischen
gression die Afferenzen aus Perioden der Hirnentwicklung das Risiko für anti-
5 der Amygdala, soziale Akte.
5 dem medialen Präfrontalkortex und
5 dem lateralen Orbitofrontalkortex. Psychopathie-Soziopathie erhöht das Risiko für anti-
soziales-aggressives Verhalten, weil
Er gibt die neuronalen Muster an subkortikale Regionen 5 das Furchtsystem im Gehirn unteraktiv ist;
weiter, nämlich 5 die allgemeine Aktivierbarkeit durch Strafreize auf
5 das periaquäduktale Grau, allen Ebenen vermindert ist;
5 Mittelhirnregionen, reich an Androgenrezeptoren, 5 familiäre und soziale Bindungen reduziert sind.
27 und
5 motorische und sensorische Ein- und Ausgänge.

Literatur
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Siegel A (2005) Neurobiology of aggression and rage. CRC Press, Boca
Raton
28

28 Kognitive Prozesse (Denken)

28.1 Sprache, Vorstellungen und Denkprozesse – 750


28.1.1 Sprache – 750
28.1.2 Vorstellungen – 753
28.1.3 Strategien des Denkens – 754

28.2 Zerebrale Asymmetrie – 756


28.2.1 Geschichte des Asymmetriekonzeptes – 756
28.2.2 Entwicklung der Hemisphärenasymmetrie – 757
28.2.3 Motorische Funktionen und Hemisphärenasymmetrien – 761

28.3 Evolution und Neurophysiologie der Sprache


und deren Störungen – 766
28.3.1 Evolution der Sprache – 766
28.3.2 Sprache und Assoziationslernen – 767
28.3.3 Neurophysiologische Korrelate von Sprache – 771

28.4 Sprachstörungen – 773


28.4.1 Aphasien – 773
28.4.2 Alexie, Agraphie und Dyslexie – 776

28.5 Funktionen und Störungen des Parietalkortex – 779


28.5.1 Multisensorische Integration – 779
28.5.2 Kontralateraler Neglekt – 781

28.6 Funktionen und Störungen des Temporallappens – 782


28.6.1 Visuelle und auditorische Diskrimination – 782
28.6.2 Neuronale Grundlagen von Musik – 785

28.7 Funktionen und Störungen des Präfrontalkortex:


exekutive und soziale Funktionen – 788
28.7.1 Entwicklung, Neuroanatomie, Verbindungen und Funktionen – 788
28.7.2 Kognitive Funktionen des Präfrontalkortex – 790
28.7.3 Soziales Verhalten und Präfrontalkortex – 794

28.8 Störungen des Denkens: Die Schizophrenien – 797


28.8.1 Entstehungsgeschichte (Ätiologie) – 797
28.8.2 Neuronale Grundlagen der Schizophrenien – 799

Zusammenfassung – 802
Literatur – 803

N. Birbaumer, Biologische Psychologie, DOI 10.1007/978-3-540-95938-0_2,


© Springer Medizin Verlag Heidelberg 2010
750 Kapitel 28 · Kognitive Prozesse (Denken)

)) wollen wir die neuronalen Korrelate einiger dieser elemen-


taren kognitiven Prozesse beschreiben.
Phineas Gage, von Beruf Sprengmeister, erledigte seine
Arbeit gewissenhaft und war ein vorbildlicher Familien- Struktur und Entwicklung von Sprache
vater. Bei einer frühzeitigen Detonation drang der Eisen- Sprache besteht aus einem hierarchisch gegliederten System
stab, den er zur Abfüllung des Dynamits benützte, in seinen von Grundbausteinen: Phonemen (Sprachlaute für Gespro-
vorderen Schädel und in das Gehirn ein (zur Lokalisation chenes) und Buchstaben (für Geschriebenes); diese ele-
der Verletzung . Abb. 28.36). Nach der Ausheilung der Ver- mentaren Einheiten werden zu größeren linguistischen
letzung zeigten sich keine besonderen Ausfälle, seine Intel- Einheiten kombiniert: Silben zu Wörtern → Wörter zu
ligenz war wie früher, sein Gedächtnis gut und die Sinnes- Phrasen → zu Sätzen → zu Texten. Die Phrasen- oder Kon-
funktionen und Bewegungsabläufe normal. Verändert war stituentenstruktur eines Satzes gliedert gesprochene Sätze
und blieb sein soziales Verhalten: die Arbeit interessierte durch Pausen und geschriebene Sätze in Wortgruppen, die
ihn ebenso wenig wie die Familie, er lebte in den Tag hin- man durch ein einzelnes Wort ersetzen kann, ohne den
ein, wurde unzuverlässig und vulgär. Eine spätere Rekons- Sinn der Sätze zu verändern (. Tabelle 28.1). Die Reihen-
truktion seiner Verletzung ergab, dass große Teile seines folge der Worte in der Konstituentenstruktur erfolgt nach
präfrontalen Kortex zerstört waren und damit eine Gruppe den Regeln der Syntax, die für viele Sprachen ähnlich ist
spezifischer kognitiver Funktionen ausfielen, die auch für (»universelle Grammatik«).
Sozialverhalten von großer Bedeutung sind. In der Entwicklung müssen Kinder die Morphologie
Unter kognitiven Funktionen verstehen wir alle be- der Sprache lernen, nämlich Fragmente von Wörtern und
wussten und nicht bewussten Vorgänge, die bei der Verar- ganze Wörter zu größeren Einheiten zusammenbinden,
beitung von organismusexterner oder -interner Informa- Wörter und Phrasen zu Sätzen kombinieren und Phono-
28 tion ablaufen, z. B. Entschlüsselung (Enkodierung), Vergleich logie, Töne in verständliche und zugelassene Muster zu
mit gespeicherter Information, Verteilung der Information verbinden. Alle Kinder lernen diese Sprachelemente etwa
und sprachlich-begriffliche Äußerung. Als psychische zur gleichen Zeit, wenn sie ausreichend durch soziale Vor-
Funktionen grenzen wir Denken, Gedächtnis und Wahr- bilder stimuliert werden.
nehmung von den Trieben und Gefühlen als psychische Sprachentwicklung verläuft wie ein Instinkt, bei dem
Kräfte ab. unser Gehirn eine Prädisposition in einer bestimmten Zeit-
periode (0–10 Jahre) aufweist, in der die neuronalen Vor-
gänge, die für Phonologie, Morphologie und Syntax not-
28.1 Sprache, Vorstellungen wendig sind, dauerhaft etabliert werden.
und Denkprozesse Dafür sprechen Untersuchungen an sprachgestörten
Familien, bei denen eine Mutation auf Chromosom 7 am
28.1.1 Sprache sog. FOXP2-Gen auf Region 7q31 autosomal-dominant
vererbt wird. Diese Mutation bewirkt, dass Sprachareale in
Kognitive Psychologie und Neuropsychologie der Broca-Region und das Neostriatum, das u. a. für Orga-
Die Untersuchung von Denkvorgängen durch die kogniti- nisation rascher Bewegungssequenzen notwendig ist, nicht
ve Psychologie hat in den letzten Jahrzehnten einen be- ausreichend entwickelt werden und dass Sprache nur rudi-
deutsamen Aufschwung erfahren. Allerdings begnügt sich mentär entwickelt wird.
die kognitive Psychologie methodisch bisher meist mit der
Messung subjektiv-psychologischer Variablen (z. B. Aus-
sagen der Versuchsperson) oder einfacher motorischer
Größen (Reaktionszeiten).
Andererseits hat die Neuropsychologie, die vor allem . Tabelle 28.1. Baumdiagramm der Phrasen- oder Konsti-
die neuronalen Grundlagen menschlichen Denkens und tuentenstruktur des Satzes »der Student liest das Buch«. Die
Phrasenstruktur bestimmt die Pausen zwischen den Wörtern
der Sprache an Patienten mit Hirnläsionen untersucht,
und Satzteilen. Die Pausen erfolgen an den Satzteilen, wo eine
von den Versuchsanordnungen der kognitiven Psychologie neue Phrase beginnt, nicht in der Mitte einer Phrase
einen wesentlichen Impuls erhalten, so dass wir heute deut-
lich mehr über die neuronalen Grundlagen des Denkens
wissen als vor wenigen Jahren. Bevor wir uns diesen neuro-
nalen Mechanismen zuwenden, müssen wir vorerst auf psy-
chologischer Ebene eine möglichst präzise (d. h. opera-
tionalisierbare) Beschreibung von Denken und Sprache zur
Verfügung haben. Neben der Sprache werden wir uns mit
Konzeptbildung, Vorstellungen und Problemlösen (»reason-
ing«) beschäftigen. In den darauf folgenden Abschnitten
28.1 · Sprache, Vorstellungen und Denkprozesse
751 28

G Sprache besteht aus Phonemen (Sprachlauten) und


in der Schrift aus Buchstaben. Die Gliederung eines . Tabelle 28.2. Satz eines Textes, die dazugehörige Liste
Satzes von Silben zu Wörtern und von Wörtern zu von Propositionen und der entsprechende Kohärenz-Graph.
»Zusammenstöße zwischen Polizei und Demonstranten«
Phrasen nennt man Phrasen- oder Konstituenten-
wäre ein chunk, der als eine sinngemäße Einheit, als Ganzes
struktur. Die Phrasen- und Konstituentenstruktur gespeichert wird (Erläuterungen 7 Text)
der Sprache hängt von der Entwicklung von Hirn-
Text: »Mehrere gewaltsame und blutige Zusammenstöße
arealen ab, deren Struktur autosomal-dominant ver- zwischen Polizei und Demonstranten kennzeichnen die ersten
erbt wird. Frühlingstage 1969.«
Propositionen:
Sprachverständnis (1) Mehrere Zusammenstöße
Sprachverständnis besteht aus mehreren komplexen, nur (2) gewaltsam, Zusammenstöße
teilweise bekannten Prozessen: Hören und Diskrimina- (3) blutig, Zusammenstöße
tion der Phoneme und Wörter → Speichern derselben im (4) zwischen, Zusammenstöße, Polizei, Demonstranten
(5) Zeit: in, Zusammenstöße, Frühling
Kurzzeitgedächtnis (KZG) → Erfassen der Bedeutung von (6) ersten, Frühlingstage
Wörtern mit Hilfe des Langzeitgedächtnis (LZG) → Orga- (7) Zeit: in, Frühlingstage, 1969
nisation der Repräsentationen von Phonemen und Konsti- Kohärenz-Graph (Die Knoten sind die Nummern der
tuenten → Erfassen der Bedeutung von Konstituenten → Propositionen von oben)
Kombination der Konstituenten zum Erfassen der Bedeu-
tung des Satzes → Vergessen der aktuellen Wörter und
Konstituenten durch Ersatz derselben zu Makroproposi-
tionen (z. B. Zusammenfassung eines Textes oder einer
Rede).
Sprache ist in Bedeutungseinheiten (Propositionen)
repräsentiert. Propositionen sind Konzepte (meist aus ein
oder 2 Wörtern bestehend) mit einem Prädikat (Verben,
Adjektiven, Adverben), das die Beziehungen der Proposi- Die Planung der Sprache verläuft ähnlich einem Prob-
tionen klarstellt. lemlöseprozess (7 unten) und führt schließlich zur Arti-
Propositionen mit überlappenden Bedeutungen (z. B. kulation von Lauten. Dabei wird durch Ausstoßen und –
Lincoln und Präsident) kann man mit Kohärenz-Graphen seltener – durch Einatmen von Luft der Larynx (. Abb. 11.1)
zu einem Text formen, der zu »chunks« (Ketten) von be- und dessen Stimmbänder zum Schwingen gebracht und
deutungsähnlichen Propositionen (z. B. »Der Student liest« durch Lippen- und Zungenstellung der geäußerte Laut ent-
in . Tabelle 28.1) zusammengefasst wird. . Tabelle 28.2 sprechend der Sprechplanung moduliert. Obwohl geordnetes
gibt ein Beispiel für Propositionen und den entsprechenden Sprechen, Verständnis und Planung von Sprache auf eng ver-
Kohärenz-Graphen. Im LZG werden in der Regel nur bundene neuronale Strukturen zurückführbar sind, lassen
Makropropositionen gespeichert, die aus mehreren Präpo- sich diese unterschiedlichen Dimensionen der Sprache doch
sitionen und »chunks« (sinngemäße Zusammenfassung) voneinander abgrenzen, sowohl auf psychologischer als auch
bestehen, deren Bedeutung sich überlappt. Das LZG ent- neurophysiologischer Ebene. Besonders deutlich werden die
hält darüber hinaus das Sprachlexikon und syntaktische Unterschiede zwischen den einzelnen Sprachfunktionen bei
Regeln. pathologischen Veränderungen des Gehirns.
Sprachproduktion und Sprachverständnis sind nicht
G Sprache ist in größeren Bedeutungseinheiten (Pro-
an die akustische Sinnesmodalität und die Anatomie und
positionen) gespeichert. Propositionen sind Kon-
Physiologie des Sprechapparats und seiner zentralnervösen
zepte, die mit einem Prädikat verbunden werden,
Steuerzentren gebunden; dies geht aus den Sprachstudien
die zu »chunks« (Ketten) mit mehreren Propositio-
an Menschenaffen hervor, die sowohl Zeichensprache als
nen verbunden werden können.
auch visuell-haptische Sprachsymbole erlernen (Kap. 28.3).

Sprachproduktion Sprachentwicklung bei Taub- und


Wie beim Sprachverständnis müssen zur Produktion von Blindgeborenen
Sprache mehrere Prozesse hintereinander (seriell) und Taub geborene Kinder lernen zwar gesprochene Sprache
zeitlich nebeneinander (parallel) ablaufen. Die Auswahl schwer, da die akustische Rückmeldung des Eigen- und
von Wörtern und Sätzen hängt primär vom sozialen Kon- Fremdsprechens fehlt, erwerben aber Sprachverständnis
text des Sprechenden ab. Dabei werden in der Regel vom und Sprechfertigkeiten über Lippen- und Zeichensprache;
Sprecher gleichzeitig sowohl bekannte als auch neue Zeichensprachen sind in ihren semantischen und syntak-
Informationen in einem Satz oder einer Satzgruppe mit- tischen Elementen der gesprochenen Sprache vergleichbar
geteilt. (. Abb. 28.1, Box 28.1).
752 Kapitel 28 · Kognitive Prozesse (Denken)

Box 28.1. Erfindung einer Zeichensprache

In Nicaragua wurde in den späten 70er-Jahren des vorigen


Jahrhunderts eine Schule für taube Kinder eröffnet, die
diesen Kindern das Lesen, Schreiben und Ablesen von
den Lippen der spanischen Sprache ermöglichen sollte.
Außerhalb ihrer Klassenzimmer entwickelten die Kinder
aber eine eigene Zeichensprache, die heute unter dem
Namen Nicaragua-Zeichen-Sprache (»Nicaraguan sign
language«, NSL) bekannt ist. Vor allem die jüngeren
Kinder zwischen 5 und 8 Jahren waren dabei die ent-
scheidenden Erfinder sowohl der grammatikalischen wie
semantischen Regeln dieser Sprache. Die Jüngeren gaben
ihre Erfindung an die Älteren weiter (Abb.). Dabei kann
man natürlich nicht entscheiden, ob die NSL die Reaktion
auf ein angeborenes »Bedürfnis« nach Sprache oder als
gelerntes Verhalten, aufbauend auf soziale und gestische
Normen der Umgebung, entstanden ist. Es lässt sich aber
an der Entstehung und dem Ausbau der NSL sehr ein-
drucksvoll die Formung einer Sprache aus ihren sozu- Ein taubstummer Junge aus Nicaragua lehrt einen
sagen »prähistorischen« Wurzeln bis zu komplizierten anderen eine neue Zeichensprache
28 Ausdrucksformen studieren.

. Abb. 28.1. Beispiele aus der amerikanischen Zeichensprache

Alle bekannten und hier beschriebenen kognitiven ten und die Korrektur von verdrehten Figuren primär
Operationen, einschließlich Aufmerksamkeit, KZG, LZG Rückmeldungen aus dem eigenen Bewegungsapparat statt
(Kurzzeitgedächtnis und Langzeitgedächtnis), Problemlö- visueller Vorstellungen; d. h. sie bewegen die Muskeln in der
sen und Intelligenz sind bei Taubgeborenen und Blindge- Realität oder in der Vorstellung, so als würden sie die Ge-
borenen identisch, es wird nur auf andere Sinneskanäle genstände betasten, drehen etc. Taubstumme Kinder mer-
ausgewichen. Blindgeborene benützen z. B. für das Behal- ken sich vor allem den visuellen Kontext, in dem die Zei-
28.1 · Sprache, Vorstellungen und Denkprozesse
753 28

chensprache gesprochen wurde, nicht die einzelnen Zei- werden kann. Wenn ein äußerer Reiz zu dem gespeicherten
chensätze. Sie lernen daher nur schwer lesen, da hierzu eine Netzwerk oder einem Element davon passt (»match«), so
Kodierung in Klänge und Laute vorausgehen muss. werden die assoziativ damit zusammenhängenden Propo-
sitionen und die daran geknüpften motorischen und physi-
G Planung und Produktion von Sprache gehorcht uni-
ologischen Reaktionen aktiviert.
versellen neurophysiologischen Gesetzmäßigkeiten,
. Abb. 28.2 zeigt das Netzwerkmodell der Vorstellung
die auch bei Taubstummen zu identischen seman-
»Schlangenangst« mit einigen motorisch-physiologischen,
tischen und syntaktischen Kommunikationsstruk-
sensorischen und bedeutungshaltigen (semantischen)
turen führen.
Propositionen (semantischer Kode, Stimulusrepräsenta-
tion und Reaktionsprogramme). Aus Netzwerkmodellen
28.1.2 Vorstellungen von Vorstellungen lassen sich einige Vorhersagen ableiten,
die empirisch bestätigt wurden: Für beobachtbares Verhal-
Propositionelle Netzwerke ten und physiologische Reaktionen sind vor allem moto-
Vorstellungen sind für fast alle Denkprozesse notwen- rische Propositionen wichtig. Bei Vorstellung der motori-
dige Vehikel. Gedächtnis, Konzeptbildung und Problem- schen Propositionen sind die physiologischen Reaktionen
lösen kommen nicht ohne Vorstellungen aus. Vorstellungen stärker, die Wiedergabe aus dem Gedächtnis ist besser, und
sind nicht nur Bilder im Kopf, sondern meist – wie auf die Reaktionszeiten für die vorgestellten Reaktionen sind
. Abb. 28.2 beschrieben – als verbale oder bildlich-ab- kürzer.
strakte Propositionen gespeichert (»Ich fürchte mich vor
Schlangen«, . Abb. 28.2). In der kognitiven Psychologie G Vorstellungen sind als assoziative propositio-
symbolisiert man die assoziativen Verbindungen zwischen nelle Netzwerke mit motorisch-physiologischen,
den Elementen der Propositionen (Wörtern) als Netzwerke sensorischen und bedeutungshaltigen Proposi-
(Kap. 25). Die Stärke der assoziativen Verbindungen be- tionen gespeichert. Motorische Propositionen
stimmt die Wahrscheinlichkeit (Schwelle), mit der ein bestimmen die physiologischen Reaktionen be-
Netzwerk erinnert und durch einen äußeren Reiz ausgelöst sonders stark.

. Abb. 28.2. Prototyp einer Schlangenphobie. Bei diesem Proto- Rücken. Es könnte eine gefährliche Schlange sein. Meine Augen treten
typ handelt es sich um ein konzeptuelles Netzwerk, in dem die Infor- aus dem Kopf hervor und folgen den Bewegungen der Schlange.
mation in Propositionen kodiert ist und die einzelnen Informations- Mein Herz beginnt stark zu schlagen. Schlangen sind unberechenbar.
einheiten durch Assoziationen miteinander verbunden sind. Dieses Ich fürchte mich. Ich sage es zwar laut, aber niemand ist hier, der mich
konzeptuelle Netzwerk hat die Funktion eines sensomotorischen hören kann. Ich bin allein und fürchte mich sehr. Jetzt fange ich zu
Programms. Der Prototyp wird als Einheit etwa durch Instruktionen, laufen an…« Die Linien indizieren einige der Verbindungen zwischen
Medien oder den objektiven sensorischen Input aktiviert, der Teilin- den Propositionen, die eine hohe Assoziationswahrscheinlichkeit
formationen enthält, die in das Netzwerk passen. Der oben skizzierte haben. Es werden nicht alle Propositionen oder möglichen Verbindun-
Phobie-Prototyp könnte z. B. in einer deskriptiven Form so gelesen gen hier aufgezeigt. Sensorische, motorische und bedeutungshaltige
werden: »Ich stehe alleine in einem Wald und sehe eine große Schlange. Propositionen werden unterschieden (Erläuterung im Text)
Sie bewegt sich langsam auf mich zu. Sie hat ein gezacktes Muster am
754 Kapitel 28 · Kognitive Prozesse (Denken)

Ideomotorische Funktion von Vorstellungen G Assoziatives »priming« (Bahnung) durch Vorstel-


Die physiologischen Reaktionen während Vorstellungen lungen ergänzt und vervollständigt die Bildung von
sind spezifisch für die gespeicherten Propositionen und Wahrnehmungsinhalten.
ihre Verbindungen (. Abb. 28.2); z. B. löst die Vorstellung
einer Wurfbewegung auch ohne aktuelle, sichtbare Bewe-
gung elektromyographische Reaktionen (Kap. 13) in jenen 28.1.3 Strategien des Denkens
Muskeln aus, die an dieser speziellen Bewegung beteiligt
sind (ideomotorische Reaktion, . Abb. 28.40). Dasselbe gilt Konzept- und Begriffsbildung
für die Vorstellung von Gefühlen (. Abb. 28.2). Personen Konzepte werden vor allem über den Vergleich mit Proto-
mit guter Vorstellungsfähigkeit erinnern Gefühle besser, typen gelernt. Prototypen sind thematisch verbundene
entwickeln leichter Ängste, verlieren diese aber auch eher assoziative Netzwerke wie der in . Abb. 28.2 dargestellte
als Personen mit schlechter Vorstellungsfähigkeit. Die bes- Prototyp einer Schlangenphobie. Prototypen und Vorstel-
sere Hypnotisierbarkeit solcher Menschen erklärt sich aus lungen von Prototypen fungieren als Referenzpunkte, Mar-
der leichten Abrufbarkeit gespeicherter assoziativer Netz- kierungspunkte; je ähnlicher ein Element eines Konzeptes
werke (z. B. Vorstellung einer Brandblase in Hypnose) einem Prototyp ist, umso leichter wird ein Begriff (Kon-
durch die Instruktionen des Hypnotiseurs. zept) gebildet (z. B. von Schwalbe (Prototyp) wird der
Netzwerkmodelle emotionaler Vorstellungen sagen z. B. Begriff Vogel leichter gebildet als von Huhn). Prototypen
voraus, dass die Gedächtnisleistung stimmungsabhängig mit einem mittleren Allgemeinheitsgrad (z. B. Apfel,
ist: in positiver Stimmung werden positive Gedächtnisinhal- Korkenzieher) führen leichter zu Begriffen als solche mit
te eher wiedergegeben als negative und umgekehrt (»prim- einem hohen (z. B. Frucht, Werkzeug) oder niedrigem (z. B.
ing«). Die zur Stimmung passenden Propositionen werden Granny-Smith, Philips-Korkenzieher).
28 leichter aktiviert als nicht passende. Genau dieses Resultat Der Allgemeinheitsgrad eines Konzepts wird aus der
wurde gefunden und erklärt auch, warum negative-depres- Anzahl von Propositionen geschätzt, den die Allgemeinpo-
sive Stimmungen oft sehr lange bestehen bleiben, trotz ihres pulation oder die Wörterbücher einer bestimmten Sprache
aversiven Charakters. Die negativen Gedanken werden durch mit dem Konzept assoziieren. Auch hier spielt wieder die
die negative Stimmung in einem Circulus vitiosus in ihrem Zahl der motorischen Elemente, die man mit dem Begriff
Auftreten erleichtert (»preprimed«). assoziiert, für die Leichtigkeit der Begriffsbildung eine be-
deutsame Rolle. Die Zeichensprache für Taubstumme be-
G Die mit den propositionellen Netzwerken assoziativ
nutzt daher vor allem Basisbegriffe, die mit Bewegungen
verbundenen motorischen Reaktionen werden bei
assoziiert sind (. Abb. 28.1).
Vorstellungen mit aktiviert. Dies wird als die ideo-
motorische Funktion von Vorstellung bezeichnet. G Konzepte werden über Vergleich mit Prototypen
Die Wiedergabe von Vorstellungen ist stimmungs- gebildet: Prototypen sind assoziativ verbundene
abhängig: positive Inhalte werden in positiver Stim- konzeptuelle Netzwerke (z. B. Prototyp einer Schlan-
mung leichter erinnert und umgekehrt. genphobie).

Bedeutung von Vorstellungen für die Problemlösung


Wahrnehmung Probleme bestehen aus
Obwohl Vorstellung und reale Wahrnehmung gewisse Dif- a) einem Ausgangszustand (Situationen zu Beginn des
ferenzen in ihrer neuronalen Struktur aufweisen, sind sie Problemlöseprozesses),
im Wahrnehmungsvorgang so eng verbunden, dass wir oft b) einem Zielzustand – im Arbeitsgedächtnis gehalten –,
keinen Unterschied zwischen Wahrnehmung und Vorstel- der durch die Lösung erreicht werden soll und
lung bemerken. Wir benötigen aber unsere gespeicherten c) den Regeln und Restriktionen, denen man von a) nach
Vorstellungen, um unvollständige Objekte in der Wahrneh- b) folgen muss.
mung zu vervollständigen. Wenn wir ein Objekt in der Vor-
stellung erwarten, wird es schneller verarbeitet (»priming«). Menschen benützen im Gegensatz zu Tieren selten reine
Wenn eine Vorstellung einem Reiz entspricht (»match«), so Versuchs-Irrtum-Strategien, sondern passen die Regeln
wird das Erkennen des Reizes erleichtert und die Vorstel- der Problemsituation und dem Ziel flexibel an. Vorausset-
lung verstärkt. Wenn das Objekt der Vorstellung nicht ent- zung für a) bis c) ist das Verstehen eines Problems, d. h. die
spricht, wird der Erregungsfluss in das Wahrnehmungs- Konstruktion einer internen Repräsentation der Problem-
system gestört. situation (z. B. das Lesen eines Textes zur Anleitung für
Wir antizipieren in der Vorstellung die Konsequenzen einen Bausatz) und die Lenkung der Aufmerksamkeit be-
unseres Verhaltens, was die Grundlage jedes Verstärkerauf- sonders auf Ausgangssituation und Regeln.
schubs und damit der (manchmal) überlegenen Selbstkon- In der Regel wird das Gesamtziel in Teilziele zerlegt,
trolle des Menschen darstellt (Abschn. 28.7). weil die Person (oder das Tier) Operatoren für das Erreichen
28.1 · Sprache, Vorstellungen und Denkprozesse
755 28

von Teilzielen eher gespeichert hat. Operatoren sind Hand- ersten Fall lösen wir uns nicht von einer angenommenen
lungen, die einen Problemzustand in einen anderen trans- Funktion eines Objektes, im zweiten Fall verwenden wir
formieren. Neue Operatoren, die eine Person dem Zielzu- Strategien, die in der Vergangenheit erfolgreich waren, aber
stand näher bringen, werden über Instruktion oder Beob- auf das neue Problem nicht passen.
achtung (Modelllernen) erworben.
G Zur Problemlösung wird der kognitive Ziel-
Zur Problemlösung werden vor allem 2 Arten von Stra-
zustand in Teilziele zerlegt und über Operatoren
tegien verwendet: zufallsorientierte Suchstrategien und
sukzessive transformiert. Dazu werden entweder
heuristische Suchstrategien. Unsystematische Zufalls-
zufallsorientierte oder heuristische Suchstrategien
strategien sind wegen ihrer Ineffizienz selten (z. B. Wählen
verwendet.
irgendeiner Telefonnummer, in der Hoffnung die richtige
zu finden), systematische Zufallsstrategien werden oft mit
Algorithmen verwendet (z. B. bei Algebraaufgaben), sind Intelligenz
aber sehr zeitaufwändig. Intelligenz ist der Leistungsgrad der kognitiven Funktionen
Heuristische Suchstrategien (Daumenregeln) sind die (Denken, Vorstellung, Problemlösen etc.) beim Lösen neuer
häufigsten; sie bestehen aus selektiven Suchvorgängen, bei Probleme. Wir haben in Kap. 23 bereits ausführlich auf den
denen nur jener Teil des Problems beachtet wird, von dem Zusammenhang zwischen präfrontalem Hirnvolumen, vor
die Lösung am ehesten zu erwarten ist; sie garantieren keine allem der grauen Substanz, und allgemeiner Intelligenz hin-
Lösung wie Algorithmen, machen Lösungen aber wahr- gewiesen. Allgemeine, generelle Intelligenz (g-Faktor) be-
scheinlicher. zeichnet eine allen Intelligenzaufgaben gemeinsame Grup-
Nach Zerlegung in Subprobleme werden diese einzeln pe von kognitiven Funktionen. Testpsychologisch lässt sich
gelöst, wobei die Unterschiede zwischen Ausgangszu- der g-Faktor am besten mit dem Raven-Test erfassen: dabei
stand und Ziel auf ein Minimum reduziert werden, z. B. in wird die Versuchsperson bei jeder Aufgabe mit einer Serie
. Abb. 28.3 werden bei richtiger Strategie alle Männchen von zunehmend schwierigen Aufgaben der Mustervervoll-
vom Ausgangszustand zum Zielzustand (zum anderen ständigung, wie in . Abb. 28.4 gezeigt, konfrontiert.
Ufer) transportiert, dazwischen aber müssen einige mehr- Aufgaben dieser Art weisen die höchsten Erblichkeits-
mals über den Fluss bewegt werden. Der Leser möge versu- koeffizienten und einen starken Zusammenhang mit elek-
chen, die Aufgabe zu lösen und dabei seine Denkstrategie trophysiologischen, metabolischen und volumetrischen
introspektiv zu beobachten. Maßen der Hirnfunktionen auf. Damit sich aber eine hohe
Problemlösen wird durch funktionelle Fixiertheit und generelle Intelligenz entwickeln kann, benötigen wir im
mentale Einstellungen (»mental set«) häufig erschwert. Im Kindes- und Jugendalter entsprechende Stimulation.

. Abb. 28.3. Problemlösung. Das Hobbits-und-Orcs-Problem: walttätige Kreaturen und wenn mehr Orcs als Hobbits auf einer Seite
Versuchen Sie, dieses Problem zu lösen: 3 Hobbits (rechts) und 3 Orcs des Flusses sind, dann würden die Orcs sofort die Hobbits angreifen
(links) stehen am Ufer und alle wollen auf die andere Seite des Flusses und fressen. Sie müssen also sicher sein, dass nie mehr Orcs als
kommen. Glücklicherweise haben sie ein Boot, unglücklicherweise Hobbits auf einer Flussseite sind. Wie lösen Sie dieses Problem? (Man
kann das Boot zu einem Zeitpunkt nur 2 der Männchen befördern. muss dazusagen, dass die Orcs, obwohl sie gewalttätig sind, das Boot
Darüber hinaus gibt es noch ein anderes Problem. Die Orcs sind ge- immer wieder zurückbringen!)
756 Kapitel 28 · Kognitive Prozesse (Denken)

suchen, wie sie von der Aktivität der beiden Hemisphären


abhängig sind und welche Arbeitsteilung zwischen den bei-
den Hemisphären besteht.

19. Jahrhundert
Bereits in der Antike wurde behauptet, dass die linke Hirn-
hälfte den Intellekt und Verstehen, die rechte den Sensus, die
Wahrnehmung steuert. Allerdings wurde erst im 19. Jahr-
hundert die Dichotomie rechter und linker Neokortex zu
einer dominierenden Doktrin der Neurophysiologie, Ana-
tomie und Neuropsychiatrie: Arthur Ladbroke Wigan ver-
öffentlichte 1844 ein Buch mit dem Titel »A New View of
Insanity: Duality of Mind«, in dem er beide Hemisphären als
unabhängige Teile mit 2 unabhängigen Willen und 2 Denk-
systemen bezeichnete, die im Normalfall wie 2 Zugpferde
eine Kutsche ziehen, im Krankheitsfall aber getrennt laufen
und zu Konflikten beitragen können.
Pierre Paul Broca lieferte schließlich empirische Daten
als Argument für unterschiedliche Funktionen der beiden
Hemisphären, indem er von 1861–1863 über 20 Personen
. Abb. 28.4. Typische Intelligenzaufgabe. Aus den unteren 4 soll mit Aphasien autopsierte, die alle eine Läsion der linken
28 jenes Muster so schnell wie möglich gefunden werden, das mit dem
frontalen Hemisphäre aufwiesen. Broca legte damit den
obersten Zielreiz identisch ist
empirischen Grundstein zur lokalisationistischen Position,
die kurz darauf, 1870 von Fritsch und Hitzig durch elektri-
G Allgemein-generelle Intelligenz (g) weist sowohl sche Reizung der motorischen Areale beim Hund bestätigt
eine hohe Erblichkeit wie auch eine starke Abhän- wurde: Schwache galvanische Reizung der motorischen
gigkeit von Umgebungsstimulation auf. Der g-Faktor Areale führte zu kontralateraler Bewegung.
korreliert hoch mit Maßen der Hirnfunktionen. 1874 publizierte Carl Wernicke seine Beobachtungen
an Patienten mit linken posterioren Läsionen (vor allem
dem superioren Gyrus temporalis) – Patienten, die zwar
28.2 Zerebrale Asymmetrie sprechen konnten, aber Gesprochenes nicht verstanden
(sensorische, rezeptive oder flüssige Aphasie). Wernicke
28.2.1 Geschichte des Asymmetrie- entwickelte auch das bis heute gültige Konzept für die
konzeptes Sprachsteuerung: die Verbindungen vom primären akus-
tischen Areal zum oberen posterioren Temporallappen
Zusammenarbeit von rechter und linker (Wernicke-Areal), von dort zum unteren posterioren Fron-
Hemisphäre tallappen (Broca-Areal). Er legte damit auch den Grund-
Unter zerebraler Asymmetrie verstehen wir die Tatsache, stein zum Begriff der Leitungsstörungen (»disconnection
dass die Funktionstüchtigkeit der beiden neokortikalen syndrome«), indem er spezifische Ausfälle bei Unterbre-
Hemisphären für die Steuerung von unterschiedlichen chung der Verbindungen zwischen diesen 3 Arealen postu-
Verhaltensweisen und psychischen Funktionen verschieden lierte (Abschn. 28.4).
ist (Abschn. 21.2). Obwohl (in der Regel) rechte und linke
G Paul Broca und Carl Wernicke festigten mit ihren
Hemisphäre bei den meisten »höheren« Funktionen zu-
Beobachtungen und nachfolgenden pathologisch-
sammenwirken, gibt es fast keine Reaktion, bei der nicht
anatomischen Untersuchungen von linkshemis-
eine der beiden Hirn-Hemisphären ein gewisses Überge-
phärisch läsionierten Patienten mit motorischen
wicht gegenüber der anderen hätte. Wir haben in Kap. 21
und sensorischen Aphasien die dominierende neuro-
bereits die Folgen der Lateralisierung rechts- oder links-
anatomische Auffassung Mitte des 19. Jahrhunderts:
hemisphärischer Aufmerksamkeit diskutiert. Kap. 21 be-
die rechte und linke Hemisphäre verarbeiten Infor-
fasst sich auch mit den Konsequenzen der Split-brain-Ope-
mation verschieden.
rationen auf Bewusstsein und Aufmerksamkeit. In Kap. 27
wurden Beispiele für die unterschiedliche Bedeutung der
Hemisphären für die Entstehung von Gefühlen berichtet. Beginn des 20. Jahrhunderts: die Apraxien
Wir wollen uns in diesem Abschnitt mit der Geschichte Wernickes Schüler Hugo Liepmann beschrieb 1908 einen
dieser für die Biologische Psychologie so bedeutsamen Tat- rechtshändigen Patienten, der nach Läsion des C. callosum
sache beschäftigen und kognitive Funktionen darauf unter- eine Apraxie (Unfähigkeit zu Willkürbewegungen, Kap. 13)
28.2 · Zerebrale Asymmetrie
757 28

der linken Hand aufwies. Der Patient konnte links auch Beim Menschen ließ sich diese Position nicht halten,
nicht schreiben (Agraphie). Die Zerstörung des Balkens was dann nach Ende des 2. Weltkriegs vor allem unter dem
wurde post-mortem nachgewiesen. Apraxie bedeutet eine Einfluss der viel früher erschienenen Schriften von John
kognitive Störung des Bewegungsablaufes und der Bewe- Hughlin Jackson (1835–1911) zu einer Kompromisslösung
gungsplanung, die nicht auf Schwäche, Deafferenzierung, führte, die heute noch Gültigkeit hat: bezogen auf die bei-
Bewegungsstörungen wie Tremor und Chorea oder intel- den Hirnhemisphären erkannte Jackson, dass willkürliche
lektuelle Störungen rückführbar ist (Abschn. 28.5 und Bewegungen eng mit sprachlichem, d. h. linkshemisphäri-
. Abb. 28.26). Liepmann zog 2 Schlüsse aus diesem Fall: schem Bewusstsein verknüpft sind, dass aber die sprach-
5 Verbale Kommandos für linksseitige Bewegungen müs- lose rechte Hemisphäre objektorientiertes Bewusstsein
sen über das C. callosum zur rechten Hemisphäre ge- (Erkennen von visuellen und räumlichen Strukturen) und
leitet werden (. Abb. 28.25 und Kap. 21.2). automatisiertes Handeln steuert. Der Neuropsychologe
5 Die linke Hemisphäre ist nicht nur für Sprache domi- Alexander Luria schließlich spricht von einzelnen Kortex-
nant, sondern auch für komplexe gelernte Bewegungen arealen als Knotenpunkten dynamischer Erregungssys-
und die Feinmotorik. teme, die in Abhängigkeit von der psychologischen Funk-
tion der Nervennetze z. T. weit auseinander liegen können.
Die zweite Annahme wird vor allem durch die Tatsache Die Informationsanalyse schreitet dabei hierarchisch von
gestützt, dass Apraxien überwiegend nach linkshemisphä- den primären posterioren Projektionsarealen zu den tertiä-
rischen Schädigungen auftreten (Abschn. 21.2.2). Danach ren und von dort in die frontalen motorischen Areale fort.
können komplexe Willkürbewegungen vor allem mit der Die Split-brain-Untersuchungen Roger W. Sperrys
rechten Hand nicht mehr korrekt ausgeführt werden, auch (Kap. 21) in den 50er-Jahren, vorerst an Katzen und Affen,
wenn sie gut geübt sind. Solche Apraxien werden ideomo- später bei Patienten mit vollständiger Durchtrennung des
torische Apraxien genannt. C. callosum (ausgeführt, um die Ausbreitung schwerer Epi-
Wir wissen heute, dass die Planung, Initiierung und lepsien von der einen auf die andere Hemisphäre zu verhin-
Ausführung von Willkürbewegungen auch von der rechten dern), führten zu einer unerwarteten Wiederbelebung der
Hemisphäre ihren Ausgang nehmen kann. sog. konstruk- Ideen des 19. Jahrhunderts über die Dualität des Bewusst-
tive Apraxien treten nach Läsionen der rechten Hemisphä- seins; dabei scheint die oft verhängnisvolle Neigung der
re auf: z. B. können Puzzles nicht mehr gelegt, Zeichnungen Menschen, Dichotomien zu bilden, eine größere Rolle ge-
und Bausteinbauten nicht mehr angefertigt werden. spielt zu haben, als die experimentellen Befunde, die solche
Apraxien treten aber auch nach Läsionen der Basalganglien Dichotomien selten stützten.
und des Thalamus auf (Kap. 13).
G Während vollkommene Unterbrechungen der Ver-
G Nach Balkenläsionen treten Apraxien auf, mit bindungen zwischen kortikalen Regionen kaum zu
Störungen der komplexen Feinbewegung und Lernstörungen bei Tieren führten und Lashley zur
Bewegungsplanung. Diese sind auf Trennung der Annahme völliger Äquipotenzialität des Kortex ver-
motorischen Ausführungsregion von der kontrala- leiteten, zeigen die Ergebnisse mit Läsionen beim
teralen Planungsregion zurückzuführen. Läsionen Menschen, dass es Knotenpunkte dynamischer Er-
der linken Hemisphäre führen zu ideomotorischen, regungssysteme gibt, die rechts und links unter-
der rechten zu konstruktiven Apraxien. schiedlich sind.

20. Jahrhundert: Äquipotenzialität gegen Zentren 28.2.2 Entwicklung der Hemisphären-


Der Anfang des 20. Jahrhunderts ist von der Kritik an den asymmetrie
»Diagrammzeichnern«, wie Henry Head 1926 die Lokalisa-
tionisten nannte, gekennzeichnet. Friedrich Goltz hatte Ontogenetische Entwicklung der Lateralität
schon 1892 den gesamten Neokortex von Hunden entfernt, Bereits beim Neugeborenen lässt sich eine Bevorzugung
ohne dass es zu gravierenden Bewegungsstörungen kam. linkshemisphärischer Verarbeitung (rechtes Ohr) für
Sein Befund wurde kaum beachtet. Die antilokalisationis- Sprachlaute bei dichotischem Hören feststellen und er-
tische Position erreichte erst mit Karl Lashleys Prinzip der höhte Amplituden evozierter Potenziale auf Sprache links.
Äquipotenzialität in den 20er-Jahren seinen Höhepunkt: Da aber nach linkshemisphärischen Läsionen alle Sprach-
stufenweise Abtragung von mehr als 50% des Neokortex bei funktion noch bis zum 10. Lebensjahr von der rechten
Ratten und Durchtrennung der wichtigsten Assoziations- Hemisphäre übernommen werden, ist offensichtlich nur
bahnen hatte kaum Konsequenzen auf das Verhalten. Vor die Anlage zu Sprachfunktionen links angeboren. Auch
allem für Lernen und Gedächtnis seien keine spezifischen Affen weisen eine Bevorzugung für Kommunikationslaute
Hirnzentren anzunehmen, sondern Massenaktion ent- links temporal zu einem sehr frühen Zeitpunkt auf.
scheide über Ausfälle: je größer die Läsion, umso stärker die Da auch bei einigen Vogelarten und höheren Säugern
Störung (Kap. 1 und 25). ähnliche linkshemisphärische Bevorzugung von Kommu-
758 Kapitel 28 · Kognitive Prozesse (Denken)

nikationsäußerungen und Lautsequenzen und ähnliche


anatomische Unterschiede auftreten, handelt es sich dabei
um allgemeine Voraussetzungen des Gehirns für Kommu-
nikation. Dass die Anlage für Lateralisierung von Sprache
bereits bei der Geburt vorhanden ist, zeigt auch die Tatsache
eines stärker aktivierten linken Planum temporale bereits
bei Neugeborenen. Das Planum temporale bezeichnet jene
Region, die innerhalb der Sylvischen Furche hinter dem
auditorischen Kortex beginnt.
G Die Anlage für Sprachfunktionen und anderer audi-
torischer Kommunikationsäußerungen ist in der

Nach Previc EH (1991). Mit freundlicher Genehmigung der APA.


linken Hemisphäre lokalisiert, aber es besteht bis
zum 10. Lebensjahr eine hohe Plastizität für die
Repräsentation von Sprache im Gehirn.

Pränatale Entwicklung der Lateralität


Was könnte die Ursache für die bereits bei der Geburt vor-
handene Überlegenheit der linken Hemisphäre für audito-
rische Sequenzen und der rechten für räumliche Beziehun-
gen sein? Neben genetischen Ursachen kommen v. a. prä-
28 natale Einflüsse in Frage.
Es besteht Übereinstimmung darüber, dass die bei
ca. 75% der Erdbevölkerung anzutreffende Bevorzugung
. Abb. 28.5. Fetale Lateralisierung. Der menschliche Fötus ist
der rechten Hand mit dem aufrechten Gang des Menschen
stärker mit dem rechten Ohr nach außen gerichtet, wodurch die
zu tun hat. Die Präferenz für die rechte Körperseite ist bei der rechte Hemisphäre stärker vom vestibulären System (Lageänderun-
Geburt bereits vorhanden. Dabei entwickelt sich eine stabile gen) und die linke Hemisphäre stärker von akustischen und Sprach-
rechte Handpräferenz später in der Entwicklung als die über- lauten gereizt wird
legene Fähigkeit der rechten Hemisphäre für die Verarbei-
tung visuell-räumlichen Aufgaben. Die Lateralisierung der
visuell-räumlichen Funktionen in der rechten Hemisphäre empfingen und dass auch bei Schimpansen eine gewisse
könnte durch die bevorzugte Aktivierung der fetalen linken Seitenbevorzugung für Höreindrücke in der Schwanger-
Vestibularorgane und damit der rechten Hemisphäre wäh- schaft existiert.
rend der Schwangerschaft entstehen (. Abb. 28.5).
G Die unterschiedlichen Funktionsschwerpunkte der
Biomechanische und bioakustische Überlegungen zei-
rechten und linken Hemisphäre können mit bevor-
gen nämlich, dass durch die übliche Lage des Fetus mit der
zugter lateralisierter Stimulation von auditorischem
rechten Körper- und Gesichtsseite nach außen einerseits
System auf der rechten Körperseite und Vestibularis
der linke Utrikulus (der bevorzugt in die rechte Hemisphäre
auf der linken Körperseite zusammenhängen.
projiziert), andererseits das rechte Ohr (projiziert verstärkt
in die linke Hemisphäre) durch das Gehen bzw. Sprechen
der Mutter bevorzugt gereizt werden. Unter dem Einfluss Auditorische Erfahrung
akustischer Reizung in der Sprachfrequenz entwickelt sich Zusätzlich zu den zweifellos genetisch gesteuerten anato-
in den letzten Schwangerschaftsmonaten die dominante mischen Voraussetzungen für Lateralität, ist auditorische
Verbindung rechtes Ohr–linke Hemisphäre mit verstärkter Erfahrung in der Entwicklung ein zentraler Einflussfaktor
anatomischer Ausprägung der linken Hemisphäre für die für deren Ausprägung: Sprachdeprivierte Kinder, d. h. Kin-
Sprachregionen. der, die äußerst wenig Anreiz zum Sprechen erhielten und
Gegen diese Hypothese spricht allerdings, dass auch daher auch kaum sprechen (Kaspar Hauser), zeigen ebenso
Taubgeborene die auf Gesten basierende Zeichensprache geringere Linkslateralisierung im dichotischen Hörtest
links lateralisiert haben und dass bei Affen nach Läsion der (Kap. 21.1) wie Taubgeborene. Allerdings ist auch die
linken Hemisphäre auch deren innerartliche Kommunika- Wahrnehmung und motorische Steuerung der Zeichen-
tion beeinträchtigt ist. Schimpansen weisen auch wie Men- sprache (. Abb. 28.1 und Box 28.1) primär links-dominant,
schen ein größeres linkes Planum temporale auf, die Region was sowohl mit der Überlegenheit der linken Hemisphäre
der Wernicke-Areale. für sequenzielle Informationsverarbeitung als auch mit der
Aber es ist natürlich denkbar, dass Taubgeborene trotz- Dominanz der linken Hemisphäre für komplizierte und
dem in der Frühzeit der Schwangerschaft Höreindrücke gelernte Feinbewegungen zusammenhängt.
28.2 · Zerebrale Asymmetrie
759 28

Inwieweit das oben erwähnte sog. FOXP2-Gen an der


Entwicklung sprachrelevanter Hirnareale zentral beteiligt
ist, bleibt noch offen. Trotzdem bleibt unbestritten, dass
ohne adäquate soziale Spracherfahrung nach der Geburt,
Sprache sich nicht spontan entwickelt. Z. B. ist das lang-
same, mit hohen Frequenzen versehene Sprechen von Er-

Aus Mechetti A et al (2004). Reprinted by permission from Macmillan Publishers Ltd: Nature.
wachsenen mit Kindern, im Englischen »motherese« (etwa
mit »müttern« zu übersetzen) in allen Kulturen und Sprachen
gleich und Voraussetzung für phonetisches Unterschei-
dungslernen bei Kleinstkindern.
G Kinder ohne auditorische Erfahrung oder Sprach-
vorbilder lernen Sprache nicht. Zur Sprachent-
wicklung nach der Geburt ist daher adäquate soziale
Stimulation und Imitation notwendig.
c

Zweisprachigkeit
Selbst nach der Pubertät ist eine gewisse Modifikation der La-
teralisierung möglich: Bilinguale, die ihre zweite Sprache spät
lernen und dabei keine schulisch-formale (sequenzielle) Aus-
bildung erhalten, sondern die zweite Sprache informell (ganz-
heitlich) erlernten, weisen erhöhte rechtshemisphärische Be-
teiligung in der Analyse von Sprechinhalten für die zweite
Sprache auf. Die später erworbene Sprache ist darüber hinaus
. Abb. 28.6a–c. Strukturelle Reorganisation des Gehirns bei
in den frontalen Spracharealen (»Broca«, Abschn. 28.3) von
Zweisprachigkeit. a Lage der Region (gelb) im unteren linken Parie-
den Arealen der Muttersprache getrennt, während Sprachen, tallappen, die bei Zweisprachigkeit eine größere Dichte der grauen
die gleichzeitig früh erworben wurden, überlappen. In den Substanz aufweist. b Korrelation zwischen Sprachfertigkeit (in neuro-
posterioren Sprachgebieten findet sich kein Unterschied. psychologischen Tests) und Dichte der grauen Substanz parietal links
. Abb. 28.6 zeigt das Volumen der grauen Substanz im c Negative Korrelation zwischen Dichte der grauen Substanz parietal
links und Alter bei Erwerb der Zweitsprache
linken unteren Parietallappen bei Bilingualen (italienisch-
englisch). Das Volumen ist positiv korreliert mit der Sprach-
fertigkeit und negativ mit dem Beginn des Erwerbs der Geschlechtsunterschiede der Hemisphären-
Zweitsprache. Diese Region liegt hinter der Wernicke- lateralisierung
Region und ist für Sprachflüssigkeit essenziell. Die Hypothese der bevorzugten Reizung von linkem Vesti-
Die reduzierte Übernahme von Sprachfunktionen nach bularorgan und rechtem Ohr während der Schwangerschaft
Hirnläsionen im späteren Leben hängt damit zusammen, (7 oben) versucht eine Reihe von Unterschieden in der
dass die Plastizität des Gehirns generell bis zur Pubertät Lateralisierung zu erklären, z. B. die Tatsache, dass das
abnimmt. Die Fähigkeit zum Spracherwerb, vor allem einer weibliche Geschlecht in verbaler Flüssigkeit (»verbal
Zweitsprache, nimmt bereits ab dem 7. Jahr leicht und ab fluency«) (linkshemisphärische Funktion) leicht überlegen,
dem 10. bis zum 30. Lebensjahr zunehmend deutlich ab. andererseits die Sprachlateralisation weniger ausgeprägt ist,
Je besser eine Sprache beherrscht wird, umso kleiner ist während Männer räumlich-geometrische Aufgaben besser
das kortikale Areal, das von einer Sprachleistung benötigt lösen (Abschn. 26.5.2).
wird. Dies gilt zumindest für die kortikale Durchblutung im Die verstärkte motorische Aktivität des männlichen
PET oder fMRT (Kap. 20 und Box 28.2): Die zweite, schlecht Fetus könnte zu einer weniger ausgeprägten Handlatera-
beherrschte Sprache weist deutlich vergrößerte Durch- lisierung nach rechts führen (es gibt mehr männliche Links-
blutungsanstiege rechts und links auf. Frauen zeigen – wie händer). Das mehr nach außen gerichtete Ohr des männ-
aufgrund ihrer höheren Sprachbegabung zu erwarten – ge- lichen Fetus (verursacht durch eine größere linke Gesichts-
genüber Männern verringerte Durchblutung, d. h. weniger seite) bewirkt eine verstärkte Linkslateralisierung der
»Anstrengung« bei Sprachaufgaben. Sprache bei zwei Drittel der Männer.
Die geringere Lateralisierung der Frauen für Sprache
G Mit dem frühen Erwerb einer Zweitsprache geht beruht wahrscheinlich auf starkem interhemisphärischen
eine Dichtevergrößerung der grauen Substanz links Informationsaustausch, der durch das bei Frauen meist
parietal und eine Verbesserung der Aufmerksam- dickere posteriore Corpus callosum ermöglicht wird. Die
keitsunterdrückung für die Zweitsprache links tem- etwas bessere Sprachleistung der Frauen und die leicht
poral einher. erhöhte räumliche (vestibuläre) Fähigkeit der Männer
760 Kapitel 28 · Kognitive Prozesse (Denken)

Box 28.2. Zweisprachigkeit (Bilingualismus) und Gehirnfunktionen


Oft wird behauptet, dass Kinder, die zweisprachig auf- zwischen beiden Sprachen »hin-und-her«-schalten, ohne
wachsen, Nachteile in ihrer Sprachleistung oder Entwick- die informationsverarbeitenden Systeme für Bedeutung
lungsstörungen in Kauf nehmen müssten. Für diese Be- (Semantik) zu belasten. Die Abbildung zeigt die deutliche
hauptung gibt es keine wissenschaftliche Grundlage. Im vermehrte Aktivierung der Bilingualen im unteren linken
Gegenteil: Es zeigte sich, dass Personen, die zweisprachig Frontalkortex (»Broca«) auf spanische Wörter, wenn sie auf
in der Schule und sozialen Umgebung aufwuchsen (z. B. die spanischen Wörter achten und verstärkte Aktivierung
katalanisch/spanisch, italienisch/deutsch) über eine ver- auf die »unterdrückten« katalanischen und Pseudowörter
besserte Aufmerksamkeitsleistung für beide Sprachen im Planum temporale und einer anterioren Frontalregion
verfügen: Sie unterdrücken bei Beachtung einer der bei- (LIFC). Von diesen letzten beiden Regionen muss also die
den Sprachen die Verarbeitung der anderen sehr schnell verbesserte Hemmung der nicht beachteten Sprache aus-
vor jeder semantischen Analyse. Dies wurde so interpre- gehen. Das macht auch Sinn, weil diese beiden Regionen
tiert, dass Bilinguale auch Zugriff auf ihr Lexikon (Wort- für phonologische Analyse (Planum temporale) und sub-
schatz) über eine indirekte Buchstaben-Klang-Route ha- vokales, stilles Wiederholen (anteriorer Frontalkortex) zu-
ben und nicht nur über die bei Monolingualen üblichen ständig sind, Funktionen, die Zweisprachige besonders
Buchstaben-Lexikon-Route. Sie können damit flexibel gut unterdrücken können.

28

Aus Rodriguez-Fornells A et al (2002). Reprinted by permission from


Macmillan Publishers Ltd: Nature.

Funktionelle Magnetresonanztomographie (fMRT) der linken He- suchspersonen mussten nur auf die spanischen Wörter achten.
misphäre beim Beachten von schnell aufeinander folgenden spa- Hier sind nur die verstärkten Aktivierungen der Bilingualen ge-
nischen, katalanischen Wörtern und Pseudowörtern. Die Ver- genüber den Monolingualen in Farbe angegeben.

(Kap. 26.5.2) könnten mit der geringeren Lateralisierung rung nicht unbedingt bessere Leistung bedeutet (sonst
des jeweiligen Geschlechts für diese beiden Funktionen zu- müssten Frauen geringere statt bessere sprachliche Leistun-
sammenhängen. Die weniger ausgeprägte Lateralisierung gen haben).
ermöglicht verbesserten und rascheren Informationsaus- Die Geschlechtsunterschiede könnten mit der gene-
tausch durch verringerte kontralaterale Hemmung der tischen Steuerung von Reifungsgeschwindigkeit oder der
jeweils gegenüberliegenden Hemisphäre. Genetik räumlicher Begabung des Gehirns zusammen-
Läsionen der linken Hemisphäre führen gleich häufig hängen. Das weibliche Gehirn reift schneller und langsame
bei Männern wie bei Frauen zu Aphasien, wenngleich inner- Reifung bei Männern könnte zu stärkerer Lateralisation
halb der Hemisphären Frauen eher nach anterioren, führen. Die schnellere Reifung der Mädchen scheint primär
Männer nach posterioren Schädigungen aphasisch und die linke Hemisphäre zu betreffen; sie sprechen früher als
apraktisch werden. In den meisten Untersuchungen an Knaben und entwickeln ein größeres Vokabular. Entweder
Normalpersonen waren Frauen in allen Aufgaben weniger existiert ein rezessives Gen für räumliche Fertigkeiten oder
lateralisiert und nach Läsionen weniger gestört als Männer, aber für Reifungsgeschwindigkeit am X-Geschlechtschro-
was zumindest darauf hinweist, dass stärkere Lateralisie- mosom. Aus dem ersten Fall würde folgen, dass 50% der
28.2 · Zerebrale Asymmetrie
761 28

männlichen Nachkommen und 25% der weiblichen Nach-


kommen die Eigenheit ausprägen (erhöhte räumliche Bega-
bung). Dies entspricht der beobachteten Rate.
G Das weibliche Geschlecht weist eine verbesserte
Sprachflüssigkeit und geringere Linksdominanz für
Sprachleistungen und eine geringere Störbarkeit
nach Läsionen für Sprache auf. Dies könnte mit der
Lateralität der auditorischen Reizung in der Schwan-
gerschaft oder einer genetisch vorgegebenen Prä-
disposition zusammenhängen.

Axon-Leitgeschwindigkeit und Syntax


Eine interessante, wenn auch anatomisch noch nicht be-
wiesene Theorie der anatomischen Grundlage von Sprache,
vor allem Syntax, von Robert Miller bezieht sich auf die
Tatsache, dass in der linken Hemisphäre die Myelinisierung
der transkortikalen Axone variabler ist. In der perisylvi-
schen Region finden sich schnell leitende Axone mit dicker
Myelinschicht und langsam leitende dünn myelinisierte.
. Abb. 28.7. Der Wada-Test. Zur Lokalisation der Sprachfunktio-
Eine erhöhte Variabilität der Leitungsgeschwindigkeit wäre nen wird ein Narkotikum (Natrium-Amobarbital) in die linke Karotis
die Voraussetzung für die Herausbildung zeitlich variabler injiziert (7 Text)
Assoziationen (z. B. »Wenn-dann«-Sätze, Relativsätze, bei
denen das Verb erst am Ende kommt u. ä.).
Sprache und Syntax könnten auf die weniger rigide Bil- es zu vollständiger rechtsseitiger Parese und globaler
dung von flexiblen assoziativen Verkettungen in der linken Aphasie (vollständigem Sprachversagen) bei fast allen Pa-
Hirnhemisphäre (Kap. 21) zurückzuführen und nicht- tienten, während Narkose der rechten Hemisphäre zwar zur
sprachspezifisch sein. Lähmung der linken Körperhälfte führt, die Sprache aber
erhalten bleibt. . Tabelle 28.3 zeigt, dass 96% der Rechts-
G Die Überlegenheit der linken Hemisphäre für zeit-
händer und 70% der Linkshänder Sprache links lokalisiert
liche Abläufe könnte auf die variablere Myelinisie-
haben und nur 4% der Rechtshänder Sprache rechts, sowie
rung der Axone der linken Hemisphäre zurückzufüh-
15% der Linkshänder bilaterale Repräsentation aufweisen.
ren sein. Dadurch wird die Bildung zeitlich variabler
Assoziationen, wie sie vor allem für Syntax notwen- G Mit dem Wada-Test (kurzzeitige isolierte Narkose
dig ist, verbessert. jeweils einer Hemisphäre) lässt sich vor neuro-
chirurgischen Eingriffen bestimmen, welche Hirn-
28.2.3 Motorische Funktionen hemisphäre sprachdominant ist.
und Hemisphärenasymmetrien
Händigkeit und Sprachlokalisation
Der Wada- oder Sodium-Amobarbital-Test Wie . Tabelle 28.3 belegt, ist der Zusammenhang zwischen
Bei den meisten Analysen von Dominanzverhältnissen han- Lateralität und Händigkeit zwar eng, aber nicht perfekt. Die
delt es sich um indirekte Hinweise aus dichotischen Hör- Sprachlokalisation ist beim Menschen ein weit besserer
versuchen, einseitiger Gesichtsfelddarbietung visueller Reize Prädiktor der anatomischen Organisation als die Bevorzu-
oder Registrierung evozierter Potenziale oder PET-fMRT- gung der Hand. Mit Linkshändigkeit geht keine verbesserte
Untersuchungen in den beiden Hemisphären. Direkte ex- Fähigkeit der rechten Hemisphäre für expressive und re-
perimentelle Beweise der Überlegenheit einer Hemisphäre
sind nur bei reversibler einseitiger Ausschaltung im Wada-
Test oder bei elektrischer Hirnreizung möglich. . Tabelle 28.3. Beziehung zwischen Sprachlateralisation
Beim Wada-Test, nach seinem Entdecker, dem kanadi- und Händigkeit nach Wada-Test
schen Neurochirurgen Juhn Wada benannt, wird vor neu-
Händig- N Sprachrepräsentation (%)
rochirurgischen Eingriffen zur Diagnose der Dominanz keit
ein kurzwirkendes Narkotikum (Natrium-Amytal) in die Links Bilateral Rechts
A. carotis des wachen Patienten gespritzt, was für einige Rechts 140 96 0 4
Minuten zu ipsilateraler Narkose der gesamten Hemisphäre Links 122 70 15 15
führt (. Abb. 28.7). Im Fall der linken Hemisphäre kommt
762 Kapitel 28 · Kognitive Prozesse (Denken)

zeptive Sprache (Abschn. 28.3) einher. Linkshänder zeigen und sind sehr viel komplizierter, erfordern daher mehr visu-
aber nach linkshemisphärischen Läsionen manchmal we- ell-räumliche Informationsverarbeitung. Entsprechend ent-
niger Sprachprobleme. steht bei Japanern eine aphasische Störung nach Läsion der
Obwohl die Ursachen für Linkshändigkeit unklar sind, linken Hemisphäre mehr beim Erkennen und Schreiben
scheint es 2 Gruppen von Linkshändern zu geben: eine mit von Kana, während Kanji relativ wenig durch linkshemis-
starkem genetischem Anteil und eine zweite, deren Links- phärische Läsionen beeinträchtigt wird, obwohl es aus lingu-
händigkeit Konsequenz prä- oder postnataler Hirnschädi- istischer Sicht eine höher entwickelte Sprache darstellt.
gung der linken Hemisphäre mit folgendem Ausweichen
G Sensomotorische Funktionen sind deutlich laterali-
auf die rechte ist. Die erste Gruppe allerdings unterscheidet
siert, wobei auch wieder gestalthafte sensomotori-
sich intellektuell nicht von Rechtshändern, abgesehen von
sche Leistungen primär rechtshemisphärisch lokali-
einer gewissen Häufung musikalischer und künstlerisch-
siert sind. Dies gilt auch für Schriften, die auf bedeu-
malerischer Begabung unter Linkshändern.
tungshaltigen Zeichen basieren.
G Händigkeit und funktionelle Hemisphärendominanz
sind voneinander unabhängig. Bei Linkshändern ist Motorische Funktionen
aber die Wahrscheinlichkeit einer Rechtslateralisie-
Der Asymmetrie der Informationsverarbeitung steht auch
rung von Sprachfunktionen erhöht.
eine Asymmetrie der Bewegungsplanung und -ausfüh-
rung gegenüber (Abschn. 28.4): Zwar dominiert die linke
Sensomotorische Funktionen Hemisphäre bei Rechtshändern bei gelernten Geschicklich-
Bei Tastaufgaben mit Erkennen von Formen und Figuren keitsaufgaben (Apraxien sind daher häufig mit Aphasien
ist die linke Hand bei Rechtshändern durchwegs überlegen, korreliert), beim Lösen verbaler Probleme drehen wir den
28 sofern das Material statisch (ganzheitlich) dargeboten wird. Kopf und die Augen eher nach rechts (Linksdominanz), bei
Bei sequenzieller Darbietung (z. B. Reihenfolge von Figuren räumlichen Problemen nach links. Gleichzeitiges Sprechen
durch Reihenfolge von Fingerbewegungen angeben) macht interferiert mehr mit Tätigkeiten der rechten Hand, das
die rechte Hand weniger Fehler. Musikalische Kinder erzie- Summen von Melodien interferiert mehr mit der linken
len im dihaptischen Test (blindes Ertasten und Wiederer- Hand. Es besteht also eine Interaktion zwischen Linksdo-
kennen von Formen) bessere Leistungen. Das kann sowohl minanz für Feinmotorik und bevorzugtem kognitiven Ver-
auf das bessere Training durch die Instrumentenbenutzung arbeitungsstil. . Tabelle 28.4 fasst die bisher gesicherten Er-
wie auf die allgemein erhöhte Leistungsfähigkeit bei musi- kenntnisse zur Lateralisation von Funktionen zusammen.
kalisch aktiv Tätigen (Abschn. 28.6) zurückzuführen sein.
G Die linke Hemisphäre dominiert bei Rechtshändern
Dass die gefundenen Asymmetrien nicht eine Funktion
die Planung komplexer Willkürbewegungen.
der Sprachlateralisierung, sondern eine Funktion des bevor-
zugten Modus der Informationsverarbeitung sind, zeigen
Untersuchungen an den 2 japanischen Schreibsystemen Lernen von kortikaler Lateralisierung
Kana und Kanji: Kana-Symbole basieren auf Tönen von Die kortikale Lateralität lässt sich mit lernpsychologischen
Silben ohne Bedeutung (phonologisch) ähnlich unserem Methoden direkt beeinflussen. Ein Beispiel dafür sind
Alphabet, Kanji-Symbole basieren auf Bedeutung (ideo- Untersuchungen zur Selbstregulation von elektrischen
graphisch, vergleichbar den chinesischen Schriftzeichen) Hirnvorgängen in den beiden Hemisphären (Kap. 21). Da-

. Tabelle 28.4. Zusammenfassung der Daten zur zerebralen Lateralisation: Funktionen der jeweiligen Hemisphäre, die überwiegend
von der einen Hemisphäre bei Rechtshändern gesteuert werden

Funktion Linke Hemisphäre Rechte Hemisphäre


Visuelles System Buchstaben, Wörter Komplexe geometrische Muster, Gesichter
Audiotorisches System Sprachbezogene Laute Nichtsprachbezogene externe Geräusche, Musik
Somatosensorisches System Komplexe Tastsequenzen (Braille) Taktiles Wiedererkennen von komplexen Mustern
Bewegung Komplexe Willkürbewegung und Bewegungen in räumlichen Mustern
Planung von Feinbewegungen
Gedächtnis Verbales Gedächtnis Nonverbales Gedächtnis
Sprache Sprechen, Lesen, Schreiben, Rechnen Prosodie (Sprachmelodie)
Räumliche Prozesse Geometrie, Richtungssinn, mentale Rotation von Formen
Emotionen Neutral-positiv Negativ-depressiv
28.2 · Zerebrale Asymmetrie
763 28

Box 28.3. Neuroprothesen, Gehirn-Computer-Interfaces und Hirnregulation


Elektrische Gehirnaktivität kann direkt in Verhalten über- gen tritt ein Locked-in-Zustand ein. Mit dem TTD, einem
setzt werden. Nicolelis und Mitarbeiter pflanzten 90 Mi- psychophysiologischen Hirn-Computer-Interface, können
kroelektroden in den motorischen Kortex von Affen ein diese Personen weiter kommunizieren (Abb.). Zunächst
und trainierten diese, eine komplexe Greifbewegung aus- lernen sie, wie im Text beschrieben, ihre langsamen Hirn-
zuführen. Später wurde das trainierte Muster an Aktions- potenziale oder einen EEG-Rhythmus (z. B. 10–15 Hz μ
potenzialen direkt auf eine Roboterhand übertragen oder SMR-Rhythmus, Kap. 20) zu kontrollieren. Wenn sie
und der Affe konnte diese Hand durch das »Denken« der nicht mehr sehen können, erhalten die Patienten auditori-
Bewegung sinnvoll bewegen und damit Objekte heran- sche Rückmeldung über ihre langsamen Hirnpotenziale:
holen. Hoher Ton bedeutet z. B. Negativierung, niedriger Positi-
Weniger spezifisch, aber vom Prinzip gleich, ist das vierung. Wenn sie in mehr als 90% der Durchgänge mehr
Gedankenübersetzungssystem (»thought translation de- als 8 μV Veränderung erzielen, werden sie mit einem
vice«, TTD) für vollständig gelähmte Patienten mit dem Sprachcomputer konfrontiert, der in einer bestimmten
sog. Locked-in-Syndrom. Unter »locked-in« (Eingeschlos- Sequenz Buchstaben oder Wörter darbietet, die die Pati-
sensein), versteht man Krankheiten, bei denen alle Mus- enten mit ihrer Hirnantwort (z. B. Positivierung) auswäh-
keln, einschließlich Augenmuskeln und die Atmung ver- len können. . Abb. b zeigt den ersten Brief, den ein durch
sagen, aber die Personen sensorisch und kognitiv intakt ALS vollständig gelähmter Mensch mit seinem Gehirn ge-
sind, also hören und verstehen. Vor allem bei fortgeschrit- schrieben hat.
tener amyotropher Lateralsklerose (ALS), einer relativ häu-
figen neurologischen Erkrankung, bei der alle motori- Literatur: Birbaumer et al (1999) A spelling device for the paralyzed.
schen Zellen absterben, und nach subkortikalen Blutun- Nature 398:297–298

Nach Birbaumer N et al (1999). Reprinted by permission from


Macmillan Publishers Ltd: Nature.

Das Gedankenübersetzungssystem (TTD). Auf


der Abbildung links ist der Patient mit Elektrode
und Verstärker symbolisiert. Der Computer rechts
oben filtert und klassifiziert das EEG in Echtzeit
und meldet es dem Patienten als Lichtpunkt
(Mitte am PC) zurück. Leuchtet das untere Tor am
Bildschirm des PC auf, muss der Patient innerhalb
von 2 s positivieren. Später erscheinen in dem
unteren Feld (»Tor«) Buchstaben, die der Patient
mit einem Hirnpotenzial auswählen kann. Für
jede richtige Hirnreaktion wird er sofort vom
Rechner mit einem lachenden Gesicht oder einer
b Melodie belohnt.
764 Kapitel 28 · Kognitive Prozesse (Denken)

geschwindigkeit müsste links besser sein und auch insge-


samt sollte die Tendenz mit der linken Seite zu reagieren
(»willingness to respond«), steigen.
Wie Experimente zeigen, ist die Selbststeuerung von
elektrokortikaler Lateralität möglich. . Abb. 28.8 stellt die
Trainingsbedingungen dar. Die Versuchsperson beobachtet
eine Rakete auf dem Bildschirm, die ihre eigene elektrische
Gehirnaktivität darstellt, in diesem Fall die Differenz der
langsamen kortikalen Hirnpotenziale zwischen rechtem
und linkem sensomotorischem Areal. Abwechselnd muss
sie auf ein Lichtsignal (SD), das als diskriminativer Reiz fun-
giert, die linke oder rechte zentrale Region für 6 s elektrisch
negativieren. Für jede geglückte Differenzierung erhält sie
Punkte (Box 28.3).
Mehrere Sitzungen sind notwendig, um diese hemisphä-
rischen Polarisierungen zu lernen und gleichzeitig Negati-
vierung oder Positivierung in der gegenüberliegenden zen-
tralen Region zu unterdrücken. Nachdem die Versuchsper-
son gelernt hat, mit Hilfe der Rückmeldung am Bildschirm
ihre langsamen Hirnpotenziale einmal rechts und einmal
links negativ zu polarisieren, muss sie versuchen, die Auf-
28 gabe ohne die Hilfe des Bildschirms zu lösen. Es wird nun
keine Rückmeldung über die langsamen Hirnpotenziale ge-
geben, sondern die Versuchsperson erhält nur mehr ab-
wechselnd die beiden Lichtsignale (SD), die ihr signalisieren,
welche der beiden Hemisphären zu negativieren ist; z. B. bei
Nach Birbaumer N et al (1990). Mit freundlicher Genehmigung der APS.

rotem Licht die linke Hirnhälfte zu negativieren, bei gelbem


die rechte. Die Person wird aufgefordert, das biologische
Signal willentlich zu produzieren, wie sie es gelernt hat.
Auf . Abb. 28.9 ist zu sehen, dass dies gelingt und die
gelernte Differenzierung zwischen rechter und linker Zen-
tralregion im Wesentlichen auf diese beschränkt bleibt; nur
nach frontal breitet sich die Aktivität aus. Zur Untersuchung
der Rückmeldungseffekte auf Verhalten werden nun in den
Durchgängen ohne Rückmeldung der rechten und linken
Hand Tastaufgaben dargeboten, während die Person ihre
langsamen Hirnpotenziale (LP) willentlich beeinflusst
(. Abb. 28.10).
G Die Lateralität des Gehirns für bestimmte kognitive
. Abb. 28.8. Selbstregulation langsamer Hirnpotenziale. Rückge- Leistungen lässt sich durch Lernen von Potenzial-
meldet wird die Differenz der Amplitude der langsamen Hirnpotenziale differenzen zwischen rechter und linker Hemisphäre
zwischen rechter und linker zentraler Hirnregion (Erläuterung 7 Text)
beeinflussen. Gelernte Negativierungen einer Hemi-
sphäre verstärken deren Dominanz gegenüber den
Funktionen der anderen.
bei lernen Personen gleichzeitig und abwechselnd die bei-
den Hemisphären gegensätzlich elektrisch zu polarisieren
(Box 28.3). Physiologisches Lernen von Willen
Wie in Kap. 21 beschrieben, bedeutet elektrische Nega- und Entscheidung
tivierung in einem bestimmten Areal eine Erhöhung der Nicht alle Versuchspersonen lernen die hemisphärenspezi-
Bereitschaft dieses Areals, Informationen zu verarbeiten. fische Veränderung ihrer langsamen Hirnpotenziale (LP).
Wenn eine Person z. B. lernt, die rechte Hemisphäre über Bei denjenigen Versuchspersonen jedoch, die erfolgreich
dem sensomotorischen Areal der Hand zu negativieren und arealspezifische Negativierung erreichen, ändert sich die
gleichzeitig die gegenüberliegende Seite zu positivieren, so Leistung z. B. in den Tastaufgaben. Die selbstinduzierte
muss die Verarbeitungseffizienz für taktile Reize an der lin- arealspezifische Negativierung wirkt sich auf die Leistung
ken Hand besser als rechts sein, die motorische Reaktions- der kontralateralen Hand aus: Negativierung der linken
28.2 · Zerebrale Asymmetrie
765 28
Nach Birbaumer N et al (1990). Mit freundlicher Genehmigung der APS.

. Abb. 28.9. Selbstregulation von Hemisphärenunterschieden.


Langsame Hirnpotenziale nach 5 Trainingssitzungen. Summierte lang-
same Potenziale von 20 Versuchspersonen für frontale Hirnregionen
(F3–F4), zentrale Hirnregionen (C3–C4), parietale Hirnregionen (P3–P4),
temporale Regionen (T3–T4) und, zur Kontrolle, der rechten und linken
Ohrläppchen (A1–A2). Die Versuchspersonen erhielten Rückmeldung
über die Differenz zwischen rechter und linker zentraler Region (C3–C4).
Die jeweils obere Kurve bedeutet, dass die Versuchsperson die linke
Hemisphäre gegenüber der rechten negativieren sollte, die jeweils
untere Kurve bedeutet, dass die Versuchsperson die rechte Hemisphäre
gegenüber der linken negativieren musste (Erläuterungen 7 Text)

Hemisphäre erhöht die Leistung der rechten Hand und um-


gekehrt. Leistung bedeutet hierbei statistisch überzufällig
kürzere Reaktionslatenzen und signifikant geringere Feh-
lerhäufigkeiten (. Abb. 28.10). Die Versuchspersonen rea-
gieren im Mittel 102 ms schneller mit der kontra- als mit
der ipsilateralen Hand, während Versuchspersonen, die
Nach Birbaumer N et al (1990). Mit freundlicher Genehmigung der APS.

keine hemisphärenspezifische LP-Kontrolle lernten, keine


überzufälligen Unterschiede in der Reaktionslatenz zwi-
schen den Händen aufwiesen.
Wenn die Versuchspersonen gleichzeitig mit beiden
Händen Hebel bewegen sollten, reagierten wiederum die-
jenigen Versuchspersonen, die arealspezifische Kontrolle
lernten, überzufällig häufig schneller mit der Hand kontra-
lateral zur zuvor negativierten Hemisphäre. Auch die Lust
zu reagieren (»willingness to respond«) ändert sich in der
vorhergesagten Weise: erlaubt man der Person – während
sie das Gehirn einmal links, einmal rechts negativiert – nach
ihrem momentanen Wunsch eine der beiden Hände zu be-
nutzen, so wählt sie überzufällig häufig die der selbster-
zeugten kortikalen Negativierung gegenüberliegende Hand.
. Abb. 28.10. Tastaufgaben zur Überprüfung der Wirkung
Dabei wissen die Personen nicht, dass sie rechte und linke
rechts- versus linkshemisphärischer Selbstregulation des Ge-
hirns. Auf Zeigefinger und Mittelfinger der rechten und linken Hand
Negativierung manipulieren, auch die einseitige Wahl der
wurden 1–4 Stifte (rot, hier sind 1 und 3 dargestellt) vorgedrückt, Hand wird nicht bewusst.
deren Berührung die Versuchsperson mit einer Hebelbewegung nach Bei selbst erzeugter Positivierung erfolgt das Gegen-
rechts oder links beantworten musste. Die linke Hand erhielt rechts- teil, Verlangsamung, mehr Fehler und Reaktionshemmung.
hemisphärische Aufgaben, »gleich/verschieden« Urteile abzugeben,
Dies zeigt, dass Verhalten und Willen immer den elektro-
die rechte linkshemisphärische Aufgaben, nämlich die Anzahl der
Berührungen zu zählen. Während der Aufgabendarbietung musste
physiologischen Voraussetzungen folgt und nicht den sub-
die Versuchsperson abwechselnd die rechte oder linke Hemisphäre jektiven, bewussten Zuschreibungen, welche die linke He-
negativieren misphäre verspätet konstruiert.
766 Kapitel 28 · Kognitive Prozesse (Denken)

G Instrumentelles Lernen von hemisphärischen Unter- beide Funktionen fallen bei Läsion des linken Parietalkortex
schieden der Hirnaktivität modifiziert die Lateralität aus. Kinder entwickeln gestische Kommunikation vor Er-
für bestimmte Verhaltensleistungen, selbst bei einer werb von Sprachlauten. Taubstumme Kinder entwickeln
scheinbar so ausgeprägten Präferenz wie der Hän- eine eigene Zeichensprache aus Gestik (Box 28.1).
digkeit entsprechend den lernpsychologischen Be- Emotionale Laute und Ausdrucksäußerungen, wie
dingungen. man sie bei Schreien von Menschenaffen beobachten kann,
kommen weniger für den Sprachursprung in Frage: emo-
tionale Schreie können kaum für die Benutzung als Zeichen
28.3 Evolution und Neurophysiologie konditioniert werden, Gesten dagegen sind auch bei Affen
der Sprache konditionierbar.
und deren Störungen Taubstumme können sich nach Läsion der linken He-
misphäre weiterhin durch Pantomime (nicht-sprachliche
28.3.1 Evolution der Sprache Gestik) verständlich machen; dies spricht für getrennte
Repräsentation von emotionaler Ausdrucksgestik und
Beginn der menschlichen Sprache Sprache. Trotzdem könnte die Entwicklung von Sprache
Sprache wurde über Jahrtausende als typisch menschliche aus Gesten auch über die zunehmend perfektere Kontrolle
Leistung angesehen, die uns vom Tier, speziell unseren der Gesichtsmuskulatur erfolgt sein. Grobe Körperbewe-
nächsten Verwandten, den Primaten, abheben soll. Die Dis- gungen könnten durch subtilere Lippen- und Zungenbewe-
kussion über diese Frage wurde durch neuere anatomi- gungen ersetzt worden sein.
sche Untersuchungen und die Sprach-Lernversuche bei
G Mit dem aufrechten Gang und dadurch freien
Menschenaffen, Vögeln und Delphinen wiederbelebt. Beide
28 Forschungsfelder weisen darauf hin, dass sich die menschli-
Händen hat sich Sprache aus Gestik entwickelt.
Emotionale Ausdrucksäußerungen sind als Ursprung
che Sprache quantitativ, nicht qualitativ von der Kommuni-
von Sprache wenig wahrscheinlich.
kation von Tieren unterscheidet. Vor allem die Zunahme der
Geschwindigkeit und der zeitlich-variablen Gliederung des
Austauschs von neuronaler Kommunikation im menschli- Werkzeuggebrauch und Sprache
chen Kortex wird für die hohe Leistungsfähigkeit der Andere Theorien bringen die Entstehung von Sprache in
menschlichen Sprache als Kommunikationsmittel verant- Phylogenese und Ontogenese mit dem Werkzeuggebrauch
wortlich gemacht. in Verbindung. Dafür spricht die enge zeitliche Koppelung
Obwohl die physiologisch-anatomischen Vorausset- von Sprachentwicklung und Werkzeuggebrauch in der Ent-
zungen zum Spracherwerb beim Menschen angeboren wicklung des Kindes. Im Alter von 2–4 Jahren kommt es
sind, scheint die Entwicklung der heute gesprochenen meh- zu einem Wachstumsschub der linken Hemisphäre, der eng
reren 1000 Sprachen und Dialekte mit ausgeprägten syntak- mit dem Erwerb komplizierten Werkzeuggebrauchs und
tischen Strukturen relativ jung zu sein. Anthropologische der Sprachentwicklung einhergeht. Dasselbe könnte in der
Daten, wie der Aufbau von Larynx und Halsraum (Kap. 11) Phylogenese geschehen sein: Das »Vokabular« eines Schim-
bei unseren Vorfahren, sprechen dafür, dass vokale Sprache pansen bleibt auf dem Niveau eines dreijährigen Kindes
erst ab ca. 100.000 Jahren vor unserer Zeit möglich war. stehen, wie auch sein Werkzeuggebrauch.
Geschriebene Symbole finden sich in Höhlenmalereien Anthropologische Überlegungen dieser Art können
erstmals vor 30 000 Jahren, »echte« Schriftentwicklung erst nur schwer durch überprüfbare Daten belegt werden und
seit 3500 Jahren. Künstlerisch kommunikative Zeichen sind bleiben spekulativ. Deswegen wurde versucht, menschliche
aber bereits vor diesen Zeiträumen, also vor 100.000 Jahren Sprache oder ein Äquivalent bei nicht-humanen Primaten
nachzuweisen. durch lernpsychologische Versuche zu entwickeln: Lernen
diese Tiere die Semantik und Syntax einer menschlichen
G Gesprochene Sprache scheint erst vor ca. 100.000
Sprache, wird die Annahme eines grundsätzlichen und
Jahren entstanden zu sein, da die anatomischen
qualitativen Unterschieds in der Sprachproduktion zwi-
Voraussetzungen des Sprechapparates vorher nicht
schen Mensch und Tier unwahrscheinlich.
gegeben waren. Schriftsymbole gibt es seit etwa
30.000 Jahren. G Werkzeuggebrauch, Sprachentwicklung und ein
Wachstumsschub des Gehirns um das 2. Lebensjahr
Gestik und Sprache sind hoch korreliert.

Sprache könnte sich aus gestischer Kommunikation ent-


wickelt haben; Voraussetzung dafür war natürlich der auf- Spracherwerb bei nicht-humanen Primaten
rechte Gang, der die Hände erst für Gesten frei machte. Für Obwohl die Anatomie von Larynx und Rachenraum bei
die Gestiktheorie spricht: sowohl Gestik wie auch Sprach- Affen kein Sprechen erlaubt, sind Schimpansen, Gorillas,
laute werden bevorzugt in der linken Hemisphäre generiert, Orang-Utans, einzelne Vogelarten und Delphine nach
28.3 · Evolution und Neurophysiologie der Sprache und deren Störungen
767 28

G Semantische und syntaktische Aspekte der Sprache


können auch von Tieren, besonders von Primaten,
erlernt und spontan benutzt werden.

28.3.2 Sprache und Assoziationslernen

Zellensembles und Sprache


Wir haben in Kap. 20, 21 und 25 bereits beschrieben, dass
die neuronalen Repräsentationen von Wahrnehmungs-
inhalten, zielgerichteten Bewegungen und Gedanken im
Kortex als Zellensembles (. Abb. 26.1) gespeichert sind.
. Abb. 28.11. Piktogramme, die von der Schimpansin Sarah Zellensembles (»cell assemblies«) sind Gruppen von mit-
gelegt wurden. Von links nach rechts zu lesen einander besonders stark verbundenen Neuronen, die
durch gleichzeitige (assoziative) Aktivität entstanden sind.
Training (1/2–4 Jahre) in der Lage, mehr als 100 Zeichen, Nach ihrer Bildung genügt die Aktivierung eines Teils des
ähnlich oder identisch der Zeichensprache für Taubstumme, Ensembles, um es als Ganzes zu zünden (»ignition«). Diese
zu lernen (. Abb. 28.1 und 28.11). Premack lehrte die funktionellen Einheiten sind horizontal im Kortex ver-
Schimpansin Sarah mehr als 100 geometrische Symbole schaltete Pyramidenzellen, die über ihre langen Axone weit
in Form von Plastikchips, die das Tier auf einer Tafel satz- auseinander liegende Zellgruppen miteinander dauerhaft
artig anordnete. Nicht nur kurze Sätze, sondern auch spon- verbinden können. Die molekularen Mechanismen dieser
tane Wünsche und Gefühle äußerte das Tier mit dieser exzitatorischen Zellensembles haben wir in Kap. 25 er-
Sprache. Nicht nur das, die Tiere geben diese Sprache durch läutert.
Demonstration und Modelllernen spontan an ihre Nach- Solche transkortikalen Ensembles liegen auch Pho-
kommen weiter. Sie benützen dabei die korrekte Wort- nemen, Morphemen und Sätzen zugrunde. Der Neo-
ordnung wie sie auch in der Syntax des Englischen verlangt kortex ist vor allem in seinen assoziativen Anteilen als
wird. riesiger Assoziativspeicher organisiert. Die assoziative
Obwohl unklar bleibt, ob die Affensprachen nur auf Speicherung syntaktischer Regeln der Wortabfolge wird
Modelllernen (Imitation der Signale des Lehrers) oder auch durch die anatomische Struktur präfrontaler-prämoto-
auf das Erlernen syntaktischer Strukturen, vergleichbar der rischer Kortexareale in der linken Hemisphäre mit va-
menschlichen Sprache, zurückführbar sind, sind einfache riableren Axon-Leitgeschwindigkeiten erleichtert (Ab-
Sprachäußerungen kein exklusiv menschliches Phäno- schn. 28.2.2).
men, wie dies Jahrtausende hindurch geglaubt wurde. Die
G Wie andere kognitive Vorgänge sind Semantik und
Art der Sprachproduktion und das Sprachverständnis
Syntax in assoziativ verbundenen Zellensembles
der Menschenaffen, von Vögeln und von Delphinen ent-
repräsentiert.
sprechen den humanen Eigenheiten: aktive und affirma-
tive Äußerungen werden besser als negative und passive
erinnert, die Bedeutung und der Kontext von Sätzen wird Sprachzellen
leichter erkannt und wiedergegeben als die einzelnen Wie im visuellen Kortex (Kap. 17) gibt es im auditorischen
Wörter. Kortex eine hierarchisch aufgebaute Verschaltung von Neu-
Die Kritik, die den Spracherwerbsstudien entgegenge- ronen, von einfach bis hyperkomplex, die selektiv auf die
bracht wird, bezieht sich auf das Phänomen des klugen verschiedenen Merkmale von Lauten reagieren: Einzelne
Hans (von Oskar Pfungst um die Wende zum 20. Jahrhun- Zellen antworten bevorzugt auf Tonhöhen, Beginn und
dert beschrieben), eines Pferdes, das auf subtile Hinweis- Ende von Tönen und phonetische Merkmale von Silben
reize (»cues«) seines Trainers mit den Vorderbeinen »ant- (ba, pa) und Konsonaten (b, g).
worten« und rechnen konnte. Das Tier lernte über instru- Viele solche einfache Merkmale repräsentierende Neu-
mentelle Konditionierung auf einzelne diskriminative Reize rone werden auf höhere Ensembles verschaltet, wenn sie
reflexhaft zu reagieren. Bei den Hinweisreizen handelt es häufig gemeinsam erregt werden. Im Bereich des Sprach-
sich um nicht-sprachliche Hinweisreize (z. B. Ruf), das lexikons bilden sich so Ensembles von Phonemen, die zu
Pferd hat sich natürlich darüber hinaus nie spontan ge- Worten verknüpft werden. . Abb. 28.12 zeigt das Ent-
äußert oder Syntax gelernt. Die Tatsache, dass die Äffin ladungsverhalten einer kortikalen Zelle im oberen Tempo-
Washoe ihr adoptiertes Affenkind Louis in der selbst erlern- rallappen bei einem Erwachsenen. Diese Zelle entlädt bei
ten Sprache (amerikanische Zeichensprache, . Abb. 28.1) jedem Wort in einer charakteristischen Frequenz, da sie bei
aktiv über Imitation unterrichtete, spricht gegen eine ein- jedem einzelnen Wort Teil eines unterschiedlichen Zellen-
fache Erklärung im Sinne des klugen Hans. sembles wird.
768 Kapitel 28 · Kognitive Prozesse (Denken)

. Abb. 28.12a–d. Entladungsverhalten


einer Nervenzelle im oberen Temporal-
lappen einer Person bei Darbietung
von 4 verschiedenen Worten (Tonband-
frequenzen in unterer Ableitung). Die
Aktionspotenziale sind jeweils für die erste
(oberste Ableitung) und zweite Darbietung
der Worte gezeigt

G Zellen, die Sprache verarbeiten, weisen dieselben syntaktischen Aspekte der Sprache in der linken Hemisphäre
Entladungseigenschaften auf wie andere Zellen im noch nicht endgültig. Bis dahin führen Läsionen der linken
ZNS auch: Die Zellen werden von einfachen zu hoch- Hemisphäre zu keinen dauerhaften Sprachschäden. Ande-
komplexen Zellen verschaltet. rerseits gibt es für die einzelnen Phasen der Sprachentwick-
lung kritische Zeitperioden. Wenn in diesen Perioden nicht
Die Entwicklung von Wortensembles gelernt wird, so kommt es zu bleibenden Sprachstörungen.
Bereits kurz vor oder unmittelbar nach der Geburt ist das Auch der Erwerb einer Fremdsprache gelingt vor der Puber-
28 Neugeborene auf Silben der Muttersprache sensibler als tät besser als danach.
auf Kontrolllaute. Zwischen 6. und 12. Lebensmonat, in der Man muss also annehmen, dass in den ersten Lebens-
Lallphase, werden gehörte Silben, die ca. 200 ms dauern jahren vor allem die semantischen, lexikalen Aspekte der
(akustischer Kortex) häufig wiederholt (inferiorer Frontal- Sprache in beiden Hemisphären gebildet werden. Für syn-
kortex) und dadurch assoziativ miteinander zu transkorti- taktische Aspekte scheint es aber eine vererbte oder sehr
kalen Silben- und später zu Phonemensembles verbun- früh im Mutterleib erworbene Sensibilität der linken vorde-
den. Die Artikulationen führen natürlich auch zu proprio- ren perisylvischen Region zu geben (Abschn. 28.2). Bereits
zeptiven Reizen aus der Artikulationsmuskulatur, die ein kurz nach der Geburt werden Sprechlaute bevorzugt links
inferior-parietales Ensemble aktivieren und sich so zu wahrgenommen und evozierte Potenziale nach Worten
einem Gesamtensemble in der perisylvischen Region ver- sind links ausgeprägter.
binden. . Abb. 28.13 symbolisiert die dabei aktivierten
G In der Lallphase werden Silben- und Phonemen-
Hirnregionen.
sembles in beiden Hemisphären in der perisyl-
Wie bereits in Abschn. 28.2.2 besprochen, ist in den
vischen Region gebildet. Nur die syntaktischen (zeit-
ersten Lebensjahren (bis zum 10. Lebensjahr abnehmend)
lichen) Aspekte der Sprache weisen eine deutliche
dabei die später so charakteristische Spezialisierung für die
Linkslateralisierung auf.

Die Lokalisation von Wortensembles


Wenn das Kind vom 2. bis 4. Lebensjahr lernt, dass be-
stimmte Wortformen immer in bestimmten Kontexten
(z. B. Glas für Trinken) auftreten, so werden dadurch simul-
tan in vielen Kortexarealen (akustisch, visuell für Glas, tak-
til für Anfassen, gustatorisch für Geschmack etc.) Zellgrup-
pen aktiviert, die dann das Ensemble für ein Inhaltswort,
das einen Gegenstand oder Handlung (Nomina, Verben
und Adjektive) repräsentiert, bilden.
. Abb. 28.14 zeigt die Unterschiede in der 30 Hz-Gam-
ma-EEG-Aktivität (Kap. 20) zwischen Verben und Haupt-
worten, wobei die Worte in Klang und Länge vergleichbar
waren; bei Verben wurden motorische Assoziationen und
bei Hauptworten mehr visuelle Assoziationen erinnert.
. Abb. 28.13. Bildung eines Wortensembles im Laufe der Sprach-
Man erkennt, dass diese hohen EEG-Frequenzen, die die
entwicklung: Die beteiligten Hirnstrukturen werden bei Lautäußerun- assoziative Verbindung (die lokalen Zellensembles) wider-
gen simultan aktiviert (7 Text) spiegeln, sich in der perisylvischen Region am stärksten
28.3 · Evolution und Neurophysiologie der Sprache und deren Störungen
769 28

Nach Pulvermüller F, Lutzenberger W, Birbaumer N (1995). Mit freundlicher Genehmigung


von Elsevier.
. Abb. 28.14a, b. 30 Hz-Oszillationen (a) und evoziertes Poten- an, wobei frontal oben, okzipital unten liegt. Man erkennt, dass so-
zial (b) nach Darbietung von Verben und Nomina. Dargestellt ist wohl die 30 Hz-Oszillation bei Verben die linke vordere perisylvische
jeweils die Differenz der EEG-Antwort zwischen Verben minus Haupt- Region als auch die P2-Komponente des evozierten Potenzials
wörter, gemittelt über 30 Versuchspersonen und je 60 Worte. Zuneh- (rechts) frontal maximal auf Verben und posterior maximal auf Nomina
mendes Rot zeigt an dieser Stelle des Gehirns zunehmende Aktivität (grau) ist

unterscheiden, wobei 30 Hz-Oszillationen bei Nomina tionen haben und nicht mit bestimmten konkreten Um-
posterior und bei Verben frontal auftreten. weltreizen assoziiert sind, so findet man eine deutliche
Die flexible Dynamik sprachlich-assoziativer Verbin- Einschränkung der Aktivierung auf die linke perisylvische
dungen und von Wortensembles ist auch aus . Abb. 28.15 Region nach dem 5. Lebensjahr. . Abb. 28.16 zeigt diesen
ersichtlich, in der mehrere Studien zur Positronenemissions- Unterschied in der Ausdehnung der Wortensembles für
tomographie (PET) und zur funktionellen Magnetresonanz- Inhalts- und Funktionswörter. Die typischen evozierten Po-
tomographie (fMRT, Kap. 20) von Wortproduktion zusam- tenziale für diese beiden Wortkategorien sind bei Inhalts-
mengefasst sind. worten bis in die rechte Hemisphäre zu verfolgen.
Wie bei den EEG-Ableitungen erkennt man, dass bei allen Zur Entstehung von Syntax in der linken frontalen
Wortformen, welche visuelle oder taktile oder akustische As- Region muss man neben assoziativen Mechanismen auch
soziationen beinhalten, eine gemeinsame Region im linken noch annehmen, dass die zeitlichen Verläufe von Zündung
hinteren ventrobasalen Temporalkortex (Area B37) aktiviert und Nachlassen der Erregung von Funktionswort- und Satz-
ist, eine multimodale Konvergenzzone, in der die sensorischen ensembles syntaktischen Regeln entsprechen. Zum Beispiel
Inhalte zu Wortformen (sei es in Braille bei Blindgeborenen, wird in einem eingebetteten Satz (Die Frau, die ein Pferd,
sei es die Zeichensprache bei Taubgeborenen, sei es die Buch- das…) hintereinander für jeden Satzteil ein Ensemble akti-
staben-Laut-Kombination bei Gesunden) verbunden werden. viert, wobei der zeitlich letzte immer relativ noch am stärks-
Dieses Areal ist bei Sprachstörungen (z. B. Dyslexie, Abschn. ten aktiviert ist und so die Sequenz der Satzteile erhalten
28.4) unteraktiviert. Hier scheinen also Zellen lokalisiert zu bleibt: Beim Wiedergeben aus dem Speicher wird zuerst
sein, die besonders geeignet sind, sensorische Assoziationen der letzte Relativsatz, der noch am stärksten aktiviert ist,
mit arbiträren »Supersymbolen« zu verknüpfen. ausgelesen, dann der davor liegende assoziativ verbundene,
der sich mit dem letzten überlappt hat usw. Die Satzeinbet-
G Inhaltsworte sind je nach Bedeutung und syntak-
tungen bleiben in der Abfolge der Ensembleaktivierung
tischer Eigenschaft als hochfrequent oszillierende
erhalten.
Zellensembles in der perisylvischen Region und im
Einfache Regeln, wie z. B. das Lernen der Vergangen-
linken ventrobasalen Temporalkortex repräsentiert.
heitsform (-te, hatte, machte etc.) werden mit den Endungen
erworben. Überlappende Zellensembles (z. B. die gemein-
Syntax und Funktionswörter same Aktivierung von »hat«, »mach«) haben eine stärkere
Betrachtet man die neuronale Grundlage von Funktions- assoziative Verbindung zum Suffix-Ensemble te, wodurch
wörtern (z. B. vor, wie, ist, es etc.), die syntaktische Funk- die Erregung bevorzugt zu dieser Endigung fließt.
770 Kapitel 28 · Kognitive Prozesse (Denken)

28

Nach Cabeza R, Kingstone A (2001). Mit freundlicher Genehmigung der MIT Press.

. Abb. 28.15. Hämodynamisch mit PET gemessene Aktivierungen bei verschiedenen Sprachaufgaben. Nur linke Hemisphäre dar-
gestellt (Erläuterungen 7 Text)
28.3 · Evolution und Neurophysiologie der Sprache und deren Störungen
771 28
28.3.3 Neurophysiologische Korrelate
von Sprache

Semantische und syntaktische Fehler


Aus . Abb. 28.14 bis . Abb. 28.16 ist bereits klar, dass man
zwar den konkreten Inhalt eines Wortes oder seine syntak-
Nach Pulvermüller F, Lutzenberger W, Birbaumer N (1995). Mit freundlicher Genehmigung von Elsevier.

tische Funktion (noch) nicht in den hohen Frequenzen des


Gamma-Bandes (Kap. 20) in EEG und MEG ablesen kann,
wohl aber die Wortkategorie (Hauptwort, Zeitwort, Funk-
tionswort, Inhaltswort).
Wenn semantische Fehler in einem Satz auftreten, beob-
achtet man im ereigniskorrelierten Hirnpotenzial (»event
related potentials«, ERP), eine starke Negativierung (meist
um 400 ms). . Abb. 28.17 zeigt die typischen N400-Poten-
ziale auf semantische Fehler.
Bei syntaktischen Fehlern treten dagegen spätere Posi-
tivierungen in der linken perisylvischen Region auf (um
600–800 ms) (z. B. bei Sätzen wie »Die meisten Besucher
freuen sich über die Blumen schönen in Holland«) oder aber
eine späte frontale Negativierung um 450–500 ms links
(z. B. bei Fehlern wie: »der Lehrer wurde gefallen«).
Auch funktionell bildgebende Verfahren wie PET und
fMRT zeigen inferior parietale und superior präfrontale
Aktivitätsanstiege bei semantischer Kategorisierung von
Wörtern (»Was bedeutet …«), allerdings deutlicher late-
ralisiert als die elektrophysiologischen Maße. Es könnte
. Abb. 28.16. Ereigniskorrelierte Hirnpotenziale auf Inhalts- sein, dass die N400 stärker rechts lateralisiert erscheint, weil
wörter (···) und Funktionswörter (–) gemittelt über 15 Versuchs-
der in der Tiefe der Fissura interhemispherica links parietal
personen und mehr als 100 Wörter. Der vertikale Strich zeigt den
Reizzeitpunkt an. Die wesentlichen Unterschiede treten bereits nach liegende Dipol (posteriore Aktivierung auf . Abb. 28.17b
160 ms vor allem in der rechten Hemisphäre auf, wo die Inhaltswörter und . Abb. 25.27) auf die gegenüberliegende Hemisphäre
deutlich stärkere negative Aktivität (rot ausgefüllt) verursachen. projiziert.
B Broca, S Sylvisch, W Wernicke
G Eine ereigniskorrelierte Negativierung um 400 ms
tritt nach semantischen Fehlern (N400) und eine
linke Positivierung und frontale Negativierung nach
Die Annahme einer angeborenen Universalgrammatik
syntaktischen Fehlern auf.
wird mit solchen neurobiologischen Überlegungen der dy-
namischen Verbindung von Zellensembles von Funktions-
worten, Endungen und Satzteilen durch einen universellen Kortikaler Lügen- und Bewusstseinsdetektor
Lernprozess erklärt. Es handelt sich dabei um assoziative Die ERP sind nicht sprachspezifisch, sondern zeigen das
Prozesse, die vielleicht auf einer angeborenen (oder prä- jeweilige Ausmaß der Erregungsschwellen in semantischen
natal erworbenen) Eigenart der Verschaltung der linken oder syntaktischen Zellensembles auf, wie in Kap. 20 und 21
perisylvischen Region beruhen. Diese günstige Verschal- beschrieben. Die N400 oder andere Negativierungen nach
tung kann aber auch an anderen Hirnregionen erlernt wer- überraschenden Ergebnissen, indizieren einen erneuten Be-
den, sonst könnten wir keine Fremdsprachen lernen und reitschaftszustand der Hirnregion mit Suchprozessen nach
Kinder mit Läsionen in dieser Region wären lebenslang Lösungsstrategien. In . Abb. 21.28 haben wir ein solches
agrammatisch. Beispiel im Zusammenhang mit Hilflosigkeit der Personen
gesehen. Man kann im Kontext einer Sprachaufgabe aus
G Die zeitliche Gruppierung von neuronalen Worten- den Potenzialen ablesen, ob ein Wort oder Satzteil als rich-
sembles stellt die neurophysiologische Grundlage tig oder falsch erkannt wird, wann dies im Gehirn geschieht
der Syntax dar. Syntaktische Regeln sind als zeitliche und an welchem Ort. Dies wird auch zur Aufdeckung von
Gruppierungen von Wortensembles in der linke Lügen genutzt: Der kortikale Lügendetektor ist eine höhe-
perisylvischen Region, vor allem im Broca-Areal re- re positive Welle (P300) auf Worte oder Objekte gegenüber
präsentiert. Darauf basieren die als Universalgram- gleich klingenden oder aussehenden Kontrollreizen, die nur
matik bezeichneten Mechanismen der als Syntax der Täter kennen kann. Bei genauer Kenntnis des Tather-
bezeichneten zeitlichen Gliederung von Worten. gangs und gerichteter Anordnung der Testreize lassen sich
772 Kapitel 28 · Kognitive Prozesse (Denken)

28

Nach Cabeza R, Kingstone A (2001). Mit freundlicher Genehmigung der MIT Press.

. Abb. 28.17. Gehirnaktivierung und Semantik. N400-Kompo- malien (···) an verschiedenen Kopfpositionen. Maximale N400 rechts
nente des ereigniskorrelierten Hirnpotenzials auf semantische Ano- parietal auf das semantisch falsche Wort (Erläuterungen 7 Text)

mit den ERP Aufklärungsquoten von 90–100% erzielen, die stand, Locked-in-Zustand, Komapatienten und in der An-
sehr viel höher liegen als die konventionellen Lügende- ästhesiologie. Dabei zeigt sich besonders bei Patienten, die
tektoren, in denen der Hautwiderstand registriert wird man als bewusstlos oder im vegetativen Zustand und Koma
(Tathergangsdiagnostik). diagnostiziert, dass sie auf hochkomplexe semantische
Eine klinisch besonders wichtige Anwendung von er- Reize und Fehler z. B. mit einer N400 reagieren, während
eigniskorrelierten Hirnpotenzialen auf semantische und sie oft auf einfache Reize wie einem P300-Versuch (Ab-
syntaktische Reize ist die Prüfung der verbliebenen Infor- schn. 21.4.2) mit neuen Reizen, nicht mehr antworten.
mationsverarbeitung bei Personen, die nicht kommuni- Solche Personen sind kognitiv oft intakt, können sich aber
zieren können, z. B. vollständig Gelähmte, vegetativer Zu- nicht mitteilen (Box 28.3).
28.4 · Sprachstörungen
773 28

heit auslöst, so wird natürlich zuerst der rechte Temporal-


bereich aktiviert (. Abb. 25.27).
G Zur Vorstellung von Objekten und Bewegungen
werden dieselben Hirnareale wie zu ihrer Wahrneh-
mung und Ausführung benützt. Beim Abruf der
Vorstellung aus dem Gedächtnis werden aber jene
Areale zusätzlich aktiviert, wo die jeweilige Wahr-
nehmung oder Bewegung gespeichert ist.

. Abb. 28.18. Erregungsrichtung und Vorstellung. Während bei Vorstellungsfähigkeit, Intelligenz und
der Wahrnehmung eines Objektes die Information von peripher nach
Komplexität von Hirnfunktionen
zentral fließt, wird sie bei einer Vorstellung in umgekehrter Richtung
von den obersten Projektionsfeldern ausgehend in nachgeschaltete . Abb. 20.14 zeigte bereits die Komplexität der elektrischen
Strukturen geleitet Hirnaktivität für intelligente und weniger intelligente Per-
sonen bei Wahrnehmung und Vorstellung eines ertasteten
und gesehenen Objektes. Die Komplexität der Hirnvorgänge
G Ereigniskorrelierte Hirnpotenziale, vor allem die wird mit deterministisch-chaotischen Analyseverfahren
P300-Komponente auf Sprachreize werden als korti- berechnet (Kap. 20). Dabei wird im Wesentlichen errechnet,
kale Lügendetektoren und als Indikatoren gestörter wie viele physiologische Einzelprozesse (Zellensembles) an
bzw. trotz fehlenden Bewusstseins intakter verbaler einer bestimmten mentalen Tätigkeit beteiligt sind.
Verarbeitung angewandt. Vorstellungen lösen komplexere Vorgänge als reale
Wahrnehmung aus, weil eben mehr Hirnareale an ihrer
Neuronale Korrelate von Vorstellungen Steuerung beteiligt sind. Personen mit hoher Intelligenz
Das neuronale Muster einer Vorstellung richtet sich nach zeigen nur in Ruhe, wenn sie frei vor sich hin phantasieren,
dem Inhalt des vorgestellten Ablaufes oder Objektes wie wir eine erhöhte Hirnkomplexität. Wenn sie sich auf eine Auf-
es in . Abb. 28.2 dargestellt haben: Reaktionskomponen- gabe oder Vorstellung konzentrieren müssen, nähern sich
ten registrieren wir in motorischen und prämotorischen Intelligente und weniger Intelligente einander an.
bzw. limbischen Arealen, sensorische posterior und Be- Im PET und MRT tritt bei Vorstellungs- und kognitiven
deutung parieto-fronto-temporal, je nach assoziativer Ver- Leistungsaufgaben bei Intelligenten häufiger eine geringere
bindung in unterschiedlichen Arealen. Durchblutung der betroffenen Hirnareale auf, weil weniger
Bei der Vorstellung eines Objektes werden all jene Energieumsatz zur Bewältigung der Aufgabe notwendig ist.
Hirnareale aktiviert, die auch bei seiner Wahrnehmung
G Je mehr Einzelprozesse (Zellsensembles) an einer
aktiviert werden. Die Reihenfolge der Aktivierung ist
Vorstellung beteiligt sind, umso komplexer die ab-
aber umgekehrt (. Abb. 28.18): während beim realen visu-
laufenden neuroelektrischen Vorgänge. Durchblu-
ellen Reiz zuerst Area 17 (V1) und danach die extrastria-
tungsmaße zeigen meist bei Vorstellung geringere
talen Areale, vor allem Area 18, aktiviert sind, wird bei
Aktivität der Hirnareale als bei realer Wahrnehmung.
der Vorstellung zuerst Area 18 und danach Area 17 akti-
viert. Die Zeitabläufe entsprechen dabei aber durchaus
der realen Wahrnehmung; evozierte Potenzialänderungen 28.4 Sprachstörungen
in Area 18 sind bereits 200 ms nach Beginn der Vorstellung
sichtbar. 28.4.1 Aphasien
Die im PET und MRT (Kap. 20) gemessenen Blutfluss-
änderungen sind im allgemeinen am selben Ort wie bei der Lateralisation des Gehirns und Sprachstörungen
Wahrnehmung zu sehen, allerdings kommt bei dem Abruf Aphasien sind hirnorganische Sprachstörungen, die bei
eines visuellen Inhalts (Buchstaben) aus dem Gedächtnis Menschen auftreten, die bereits eine Sprache beherrschen.
eine PET-Aktivierung vor allem links temperoparietal, Die Ursache ist meist ein ischämischer oder hämorrha-
rechts-parietal und beidseitig frontal hinzu. Die frontale gischer Insult, seltener ein Tumor, Enzephalitis oder ein
Aktivierung, die auch im EEG sichtbar ist, hängt vermutlich Trauma. Beim Aphasiker (oder Aphatiker) sind in der Regel
mit einer Aktivierung des Arbeitsgedächtnisses zusammen alle sprachlichen Modalitäten von der Störung betroffen
(Kap. 21 und 25), das den Inhalt in seiner Abwesenheit am (Sprachproduktion, Sprachverständnis, Nachsprechen,
Leben erhält. Die linke perisylvische Hirnregion ist zum Schreiben, Lesen etc.). Selektive organische Sprachstörun-
Abruf der Vorstellung dann notwendig, wenn er sprachlich gen, die nur eine Modalität betreffen, sind selten.
erfolgt, was nicht immer der Fall sein muss. Wenn z. B. eine Die Erkenntnis, dass die linke Hemisphäre beim Rechts-
Melodie in einem Lautsprecher beim Zuhörer automatisch händer sprachdominant sei, beruht vor allem darauf, dass
(klassisch konditioniert) eine visuelle Szene aus der Kind- bei Rechtshändern Schädigungen der linken Hemisphäre
774 Kapitel 28 · Kognitive Prozesse (Denken)

. Abb. 28.19. Eine Split-brain-Patientin mit getrennter Reprä-


sentation für gesprochene (links oben) und geschriebene (links
unten) Sprache. Versuchsaufbau wie auf . Abb. 21.9 beschrieben
(Erläuterung 7 Text)

28
meist zu Aphasien führen. Demgegenüber gibt es vielerlei
Hinweise darauf, dass im intakten Gehirn auch rechtshe-

Nach Benson, DF (1993). Mit freundlicher Genehmigung der Oxford University Press.
misphärische Prozesse an der Sprachverarbeitung beteiligt
sind. So sind z. B. die durch Wörter evozierten Gehirnpo-
tenziale im EEG meist über beiden Hemisphären sichtbar,
wenn manche Komponenten auch über einer Hemisphäre
stärker ausgeprägt sind. Bereits in Abschnitt 28.3 wurde auf
rechtshemisphärische sprachliche Leistungen hingewiesen.
Sprachverstehen, Worterkennung (vor allem von Inhalts-
wörtern), das Generieren von Satzmelodie und Betonung
(Prosodie), sowie die Klassifikation von Sprechakten (z. B.
als Frage oder als Vorwurf) sind Leistungen, zu denen die
rechte Hemisphäre nicht nur beiträgt, sondern zu denen sie
sogar selbständig in der Lage ist.
Besonders deutlich wird die Rolle der rechten Hemi-
sphäre nach »split brain« (Kap. 21.2); . Abb. 28.19 zeigt eine
linkshändige Patientin mit klarer Linkslateralisation für ge-
sprochene Sprache, die aber nicht in der Lage war, mit ihrer
linken Hemisphäre, sondern nur mit der rechten zu schrei- . Abb. 28.20a–c. Läsionsorte von Patienten mit Wernicke-,
Broca- und globaler Aphasie. Die unterste Reihe zeigt globale
ben. Ihre Sprache ist offensichtlich beidseitig repräsentiert,
Aphasien, obwohl das Wernicke-Areal intakt ist
aber nur die rechte Hemisphäre kann schreiben und nur
die linke sprechen. Phonologie und Orthographie wurden
offensichtlich in ihrem Gehirn in relativ unabhängigen lässt sich die Broca-Region (Brodmann Area 44 und 45)
»Modulen« entwickelt. von der Wernicke-Region (Area 22) unterscheiden.
In der Nachbarschaft der Wernicke-Region befinden
G Zwar ist die linke Hemisphäre bei fast allen Rechts-
sich weitere Bereiche, deren Läsion regelmäßig zu Aphasien
händern für Syntax und geordnetes Sprechen
führt: der Gyrus angularis (Area 39, . Abb. 28.24), der
verantwortlich, die rechte Hemisphäre ist aber für
Gyrus supramarginalis (Area 40) sowie die mittlere
Sprachverständnis und Prosodie zuständig.
und untere Temporalwindung (. Abb. 28.20). Broca- und
Wernicke-Region sind in der Nähe der primären Kortizes
Broca- und Wernicke-Region lokalisiert, die bei der frühen Sprachentwicklung des
Die kortikalen Aphasie-verursachenden Läsionen betreffen Kindes aktiviert werden. Artikuliert das Kind einen Laut
primär die Areale in der Nähe der sylvischen Furche. Hier oder ein Wort, so tritt neuronale Aktivität sowohl im moto-
28.4 · Sprachstörungen
775 28

Nach Kolb B, Whishaw IQ (2003). Mit freundlicher Genehmigung von Worth Publishers.
. Abb. 28.21. Geschwinds Modell der an Sprache beteiligten Hirnregionen. Es fehlen die subkortikalen Verbindungen

rischen System auf, wo die artikulatorischen Befehle ge- G Obwohl die Schwerpunkte motorischer Sprachstö-
neriert werden, als auch im akustischen System, das durch rungen stärker links frontal und die der sensorischen
die selbstproduzierten Lautäußerungen stimuliert wird Sprachstörungen stärker links parietotemporal loka-
(. Abb. 28.13). Die Nachbarschaft der Sprachzentren zu lisiert sind, richtet sich die Symptomatik bei einer
den sprachrelevanten primären Kortizes ist deshalb nicht Läsion nach den individuell erlernten Lokalisationen
erstaunlich. der Sprach- und Sprechensembles. Diese können
Das präfrontale Sprachzentrum (Broca) wird auch die zwischen Personen und Kulturen ganz erheblich
motorische Sprachregion genannt. Das posteriore Zen- variieren.
trum (Wernicke) wird auch als sensorische Sprachregion
bezeichnet. Diese Etikettierungen beruhen allerdings auf Lokalisation von Aphasien
einer sehr vereinfachten Sichtweise, nach der Sprachpro- Die meisten Aphasien entstehen als Folge von Gefäß-
duktion primär durch frontale und Sprachverständnis nur störungen im Versorgungsgebiet der A. cerebri media. Da-
durch temporale Hirnstrukturen gesteuert wird. Dies pos- rüber hinaus treten aber Aphasien auch nach Gefäßsyn-
tuliert das von Wernicke und Lichtheim Ende des 19. Jahr- dromen in subkortikalen Einzugsgebieten auf. . Abb. 28.20
hunderts vorgeschlagene Sprachmodell, das von Geschwind gibt die übereinander projizierten Computertomogram-
später weiterentwickelt wurde (. Abb. 28.21). Auch Ge- me von mehreren Patienten mit den entsprechenden Apha-
schwind lokalisiert das Sprachverstehen alleine in posterio- sieformen wieder. Die anomische Aphasie ist zwar sehr
ren Kortexgebieten. häufig, aber schwer zu lokalisieren, meist werden Läsio-
Diese Sicht ist nicht vollständig angemessen: Lä- nen im linken G. angularis gefunden. Sie ist daher auf
sionen einer der beiden Regionen verursachen in der . Abb. 28.20 nicht eingezeichnet. Im Extremfall beherr-
großen Mehrzahl der Fälle multimodale Störungen. Das schen diese seltenen Patienten mit Anomie alle Fertig-
»motorische Sprachzentrum« ist also keineswegs aus- keiten gesprochener und geschriebener Sprache, können
schließlich für motorische Sprachfunktionen notwendig, aber keine Objekte benennen, verwenden also keine Haupt-
sondern auch für die Perzeption von Sprache, ebenso wie wörter.
das »sensorische Sprachzentrum« für die Sprachpro- Alle Aphasien beinhalten Störungen des Benennens
duktion notwendig ist. PET-Studien zeigen, dass bei von Objekten, der Produktion und des Verständnisses von
der Perzeption von Silben und Wörtern im intakten Ge- Sätzen, sowie des Lesens (Alexie) und Schreibens (Agra-
hirn in der Regel Broca- und Wernicke-Region gemein- phie). Der zurzeit am weitesten verbreitete Aphasietest, der
sam aktiviert werden. Dies macht wahrscheinlich, dass sog. »Blättchentest« (Token-Test), überprüft, ob ein Patient
die Sprachareale sowohl bei der Sprachproduktion als in der Lage ist, manuelle Manipulationen mit einer Anzahl
auch beim Sprachverständnis zusammenarbeiten, dass farbiger Blättchen auszuführen (z. B.: »Berühren Sie den
also sprachverarbeitende neuronale Einheiten über den roten Kreis«, »Legen Sie den blauen Kreis auf das rote Vier-
perisylvischen Kortex und angrenzende Areale verteilt eck« etc.). Nahezu alle Aphasiker zeigen Defizite in diesem
sind. Test.
776 Kapitel 28 · Kognitive Prozesse (Denken)

Kortikale Aphasieformen G Bei den meisten Aphasien liegen umschriebene Lä-


Folgende aphasischen Syndrome sind klinisch bedeutsam sionen der linken Broca- und/oder Wernicke-Region
(Brodmann-Lokalisationen, . Abb. 28.21): vor, aber auch bei Unterbrechung der Verbindungen
Broca-Aphasie: Sprachproduktionsprobleme stehen zwischen den posterioren und anterioren Sprach-
im Vordergrund. Artikulationen erfolgen meist sehr mühe- regionen können schwere Aphasien auftreten.
voll und ohne Prosodie. Wörter sind phonematisch ent-
stellt. In komplexen Sätzen fehlen häufig die grammatika- Subkortikale Aphasieformen
lischen Funktionswörter. Das Verständnis vieler Satztypen Subkortikale Aphasie: Nach anfänglichem Mutismus
(z. B. Passivsätze) ist oft nicht möglich. Probleme beim (Stummheit), entstehen Paraphasien, die verschwinden,
Nachsprechen von Sätzen treten auf. Organische Grund- wenn Gesprochenes nur wiederholt werden soll. Geringe
lage: Schädigung der Broca-Region und angrenzender Ge- Sprachproduktion, gutes Verständnis und meist rasche Er-
biete. holung kennzeichnen subkortikale Aphasien.
Wernicke-Aphasie: Sprachproduktion ist zwar »flüs- Subkortikale Sprachsteuerung: Vor allem an expressiven
sig«, jedoch oft unverständlich. Viele Wörter sind phone- Sprachfunktionen sind subkortikale Strukturen beteiligt. Die
matisch entstellt, so dass noch verständliche phonema- linksseitige Verbindung Neokortex – Neostriatum – Pallidum
tische Paraphasien (z. B. »Spille« statt »Spinne«) oder ganz – vorderer Thalamus – frontaler Kortex hat auch Bedeutung
unverständliche Neologismen auftreten. Oft werden Wörter für adäquate Sprachproduktion. Bei Messung des regionalen
durch bedeutungsverwandte ersetzt (semantische Para- zerebralen Blutflusses (rCBF) nach Inhalation von radioak-
phasien). Das Sprachverständnisdefizit ist sehr ausgeprägt. tivem Xenon-133 zeigen diese Strukturen während unter-
Das Verständnis einzelner Wörter gelingt häufig nicht. Das schiedlicher Sprachleistungen spezifische Verteilungen der
Nachsprechen von Wörtern und Sätzen ist beeinträchtigt. Durchblutung. Auch bilaterale Durchblutungserhöhung im
28 Organische Grundlage: Schädigung der Wernicke-Region N. caudatus und in retrolandischen Regionen bei Nacherzäh-
und angrenzender Gebiete. len und Erinnern wurde festgestellt. Personen mit Läsionen
Globale Aphasie: Schwerste Sprachproduktionsstö- in den linken Basalkernen weisen dauerhafte Sprachstörun-
rung, bei der oft nur noch stereotype Silben- oder Wortfol- gen auf. Welche subkortikalen Regionen an welchen Sprach-
gen geäußert werden können. Ebenso stark ausgeprägtes leistungen beteiligt sind, muss noch geklärt werden.
Defizit im Sprachverständnis und im Nachsprechen. Orga-
G Wie an allen motorischen Leistungen sind vor allem
nische Grundlage: Schädigung der gesamten perisylvischen
die Basalganglien auch an der Sprachproduktion be-
Region.
teiligt. Sprachspezifische Zellensembles, wie wir sie
Amnestische Aphasie: Leichte Sprachstörung, bei der
in der linken perisylvischen Region finden, sind aber
semantische Paraphasien auffallen und Benennstörungen
subkortikal nicht nachweisbar.
im Vordergrund stehen. Probleme treten vor allem mit be-
deutungstragenden Inhaltswörtern auf. Das Sprachver-
ständnisdefizit ist schwach ausgeprägt. Organische Grund- 28.4.2 Alexie, Agraphie und Dyslexie
lage: Schädigung des Gyrus angularis oder anderer Areale,
die dem linken perisylvischen Kortex eng benachbart sind. Alexie (Wortblindheit)
Gelegentlich führt bei Rechtshändern Schädigung der Die erworbene Unfähigkeit geschriebene Sprache zu ver-
rechten Hemisphäre zu amnestischer Aphasie (»gekreuzte stehen, heißt Alexie. Neben globaler Alexie gibt es auch ver-
Aphasie«). bale Alexie (nur Wörter) und literale Alexie (nur Buchsta-
Transkortikale Aphasien: Die Fähigkeit nachzuspre- ben). Alexien kommen mit und ohne Agraphie vor (Schreib-
chen ist verhältnismäßig gut erhalten, wogegen Defizite störung oder aphasische Alexie), je nach der Lokalisation
in der Sprachproduktion (transkortikale motorische Apha- der Störung im Hirngewebe. Meist ist die Verbindung von
sie), im Sprachverständnis (transkortikal sensorische Apha- den visuellen Regionen zur Wernicke-Region zerstört.
sie) oder in beiden Leistungen (gemischt transkortikale Alexie ohne Agraphie und Aphasie ist ein Diskon-
Aphasie) hervortreten. Organische Grundlage: Läsionen nektionsyndrom, bei dem die Verbindungen vom rechten
in der Nähe des linken perisylvischen Bereichs. Auch visuellen Assoziationskortex (gesehene Zeichen) zum
größere Läsionen innerhalb des perisylvischen Bereichs korrespondierenden Sprachareal, dem linken G. angularis
können zu schweren Formen der transkortikalen Aphasie (. Abb. 28.24), unterbrochen ist. Dies kann durch verschie-
führen. dene Läsionen, z. B. im Splenium des Balkens, verursacht
Leitungsaphasie: Die Fähigkeit zum Nachsprechen ist sein. Alexien mit Agraphien weisen meist eine isolierte
stark beeinträchtigt, wogegen andere sprachliche Symp- Läsion des linken G. angularis auf (Abschn. 17.5.1).
tome im Hintergrund stehen. Organische Grundlage: Lä-
sion des Fasciculus arcuatus (. Abb. 28.21), der Broca- und Agraphie
Wernicke-Region verbindet, plus Läsion im oberen Tempo- Zwar treten Schreibstörungen häufig gemeinsam mit Apha-
rallappen und/oder der Insula. sien auf, sie sind aber auch unabhängig davon, was auf teil-
28.4 · Sprachstörungen
777 28

Modifiziert nach Daten aus Levy-Lahad E, Wijsman E, Nemens E (1995). Mit freundlicher Genehmigung von Science.
. Abb. 28.22. Neuropsychologisches Modell für Schreiben und weils im oberen Teil eines Kastens angeführt, das anatomische Subs-
verbales Buchstabieren. Die neuropsychologische Funktion ist je- trat im unteren Teil (Erläuterungen 7 Text)

weise getrennte Hirnstrukturen für die Steuerung beider aber der Unfähigkeit sie auszusprechen; verantwortlich
Funktionen hinweist (. Abb. 28.22). Mehrere, oft weit aus- dafür ist eine Läsion im G. supramarginalis oder der
einander liegende Hirnregionen, können Schreibstörungen perisylvischen Region, eines Teils der Broca-Region.
verursachen, was angesichts der Komplexität des Schreibens, 4 Bei semantischer Agraphie kann bedeutungshaltiges
an dem semantische, visuell-räumliche und motorische Material weder ausgesprochen noch geschrieben wer-
Funktionen beteiligt sind, nicht verwundert. . Abb. 28.22 den. Verantwortlich sind Störungen der Bahnen von der
symbolisiert die wichtigsten an Aussprache (Buchstabieren) semantischen Region (links parietal) auf . Abb. 28.22
und am Schreiben beteiligten Funktionen und die verant- zum Wernicke-Areal und dem G. angularis oder subkor-
wortlichen Hirnregionen. tikale Läsionen, wie wir sie in 28.4.1 beschrieben haben.
Entsprechend den Sprachfunktionen der Hirnregionen 4 Apraktische Agraphie ist meist mit Aphasie gekoppelt,
von . Abb. 28.20 und 28.21 lassen sich eine Reihe von Stö- die Patienten können ihre Feinmotorik nicht mehr zum
rungen des Schreibens und Sprechens unterscheiden: Schreiben formen, gestört sind bei Rechtshändern die
4 Lexikalische Agraphie: Seltene, aber schwer unter- linken parietalen Regionen.
scheidbare Wörter können nicht ausgesprochen werden.
Die visuellen Wortbilder entstehen eher aus visuellen G Alexie (Wortblindheit) ist auf Störungen der Verbin-
und weniger aus phonologischen Engrammen, eine Lä- dungen (z. B. vom rechtshemisphärischen Sehsystem)
sion im linken G. angularis ist dafür verantwortlich zum linken Wernicke-Areal zurückzuführen. Die ver-
(. Abb. 28.22). schiedenen Formen von Agraphie beruhen – je nach
4 Phonologische Agraphie führt dagegen zu korrekter Symptomatik – auf Läsionen des linken unteren Pa-
schriftlicher Wiedergabe seltener und vertrauter Wörter, rietal- oder posterioren, oberen Temporalareals.
778 Kapitel 28 · Kognitive Prozesse (Denken)

Aus Paulesu E, Dèmonet JF, Fazio F et al (2001). Mit freundlicher Genehmigung von Science.
28

. Abb. 28.23a–d. Gehirndurchblutung (gemessen mit PET) von fanden. a Gesunde; b Dyslektiker aller 3 Sprachen; c Areal, das bei Ge-
Gesunden und Dyslektikern aus Frankreich, Italien und England sunden durchblutet und bei Dyslektikern inaktiv war. d Durchschnitt-
während des Lesens von Worten und Nicht-Worten. Nur die linke licher Anstieg und Abfall des zerebralen Blutflusses beim Lesen in den
Hemisphäre ist dargestellt, da sich in der rechten keine Unterschiede 3 Sprachgruppen

Sprachentwicklungsstörungen und Dyslexie Allerdings sind Dyslexien in jenen Sprachen, bei denen
Sprachentwicklungsstörungen treten bereits vor der Ein- die Sprachlaute genau zu den Buchstaben passen (»letter-
schulung auf und sind durch spätes Sprechen (Verzöge- phoneme mapping«), wie im Italienischen oder Deutschen,
rung um ein bis mehrere Jahre), schlechtes Sprach- und sehr viel weniger ausgeprägt, während im englischen und
Wortverständnis und extrem viele grammatikalische Fehler französischen Sprachraum, wo die 40 Sprachlaute (Pho-
gekennzeichnet. Viele dieser Kinder entwickeln später da- neme) in 1120 verschiedenen Formen ausgesprochen
raus eine Lesestörung, Dyslexie. Wichtige Abgrenzung werden können, Dyslexien häufig und schwer sind. Im
von globalen Retardierungen und anderen Störungen ist Deutschen und Italienischen existieren ca. 25 Phoneme,
die Tatsache, dass diese Kinder einen altersentsprechenden die nur in 33 Kombinationen ausgesprochen werden. Im
IQ haben. Englischen und Französischen werden daher sehr viel
Die häufigste Ursache für diese Störungen sind Um- ausgedehntere Hirnareale aktiviert als in Sprachen mit
weltfaktoren wie Armut, soziale Verwahrlosung, exzessives exaktem »letter-phoneme mapping«. . Abb. 28.23 zeigt,
Fernsehen und mangelndes Lesetraining. Wenn diese Ur- dass aber bei allen 3 Sprachen die Unteraktivierung der
sachen ausgeschlossen sind, bleiben immer noch 2–5% der posterioren inferioren Temporalregion bei Dyslexien ge-
Bevölkerung übrig, die diese Defizite trotz optimaler Erzie- meinsam ist.
hung nicht kompensieren. 50% der Varianz ist erblich be- Hinter den Sprachentwicklungsstörungen steht häufig
dingt und führt von einem polygenetischen Defekt zu einer ein phonologisches Defizit; die Kinder können schon sehr
vermutlich mangelnden intrakortikalen Verschaltung der früh schnell aufeinanderfolgende Sprachlaute, vor allem
betroffenen posterioren und inferioren temporalen Areale Konsonanten (ba, da) nicht unterscheiden. Verschärft man
(. Abb. 28.23). die Kontraste elektronisch und verlangsamt man den Ab-
28.5 · Funktionen und Störungen des Parietalkortex
779 28

lauf der oft nur das Zehntel einer Millisekunde dauernden


Laute, dann werden sie mühelos identifiziert. . Tabelle 28.5. Überblick über Funktionsausfälle nach Läsion
In einem sensomotorischen Training, bei dem 3 Stun- des Partietallappens

den pro Tag über 2 Wochen hindurch bis zu 10-jährige Symptome Wahrscheinlicher Ort
Kinder mit zunehmend schnelleren und weniger kontrast- der Läsion
reichen Computer-Laut-Spielen trainiert werden, können Störungen der taktilen Areale 1, 2, 3 + angrenzende
völlig normale Niveaus der Sprachentwicklung erreicht und Wahrnehmung posteriore Assoziationsareale
damit auch Dyslexien präventiv verhindert und verbessert Visuelle oder taktile Agnosie Areal 5, 7, 37
werden. Beispielsweise werden die Silben pi und bi zuneh- Apraxie Areale 7, 40 links
mend schneller dargeboten, und das Kind muss unterschei-
Konstruktions-Apraxie Areale 7, 40
den, ob sie unterschiedlich sind. Durch das Training erhöht
Sprachstörungen Areale 39, 40 links
sich auch die Durchblutung in den betroffenen temporalen
(Alexie, Aphasie)
Hirnarealen bis auf Normalniveau. Dies demonstriert ein-
Akalkulie Areale 39, 40 links
drücklich, dass genetisch bedingte Störungen durch gezielte
Trainingseingriffe gebessert oder beseitigt werden können. Gestörtes cross-modales Areale 37, 40
Vergleichen (»matching«)

G Sprachentwicklungsstörungen und Dyslexien gehen Kontralateraler Neglekt, Areale 7, 40, 22 posterior,


Aufmerksamkeit eher rechts
mit mangelnder Aktivierung im linken posterioren
Temporallappen einher. Dyslexien können durch Schlechtes Kurzzeit- Areale 37, 40
gedächtnis
intensives sensomotorisches Training der Unter-
scheidung von Sprachlauten behandelt werden. Körpergefühlsstörungen Areal 7 und angrenzende
parietale Anteile (5, 40)
Rechts-links-Verwechslung Areale 7, 40 links
28.5 Funktionen und Störungen Störungen der räumlichen Areale 7, 40 rechts
des Parietalkortex Fertigkeiten
Störungen des Zeichnens Areal 40
28.5.1 Multisensorische Integration Augenbewegung defekt Areal 7, 40
Fehlerhafte Zielbewegung Areale 5, 7
Aufbau und Funktion des Parietalkortex (»misreaching«)
Vereinfachend betrachtet, könnte man den 3 großen Asso-
ziationsfeldern 3 psychische Hauptfunktionen zuordnen:
während der Temporallappen mit seinen limbischen Ver-
bindungen primär Gedächtnis- und Beurteilungsfunktio- überproportional groß entwickelt. Dies ist auf die Bedeu-
nen und der frontale Kortex motorisch-motivationale und tung der räumlichen Informationsverarbeitung und die
exekutive Verhaltensweisen steuert, darf man den parietalen Steuerung von Zielbewegungen im Raum beim Menschen
Assoziationskortex als Basis sensorisch-kognitiver Funk- (über die Verbindungen zur Frontalregion) zurückzufüh-
tionen ansehen. Als wichtigen Bestandteil der parietalen ren (dorsaler visueller Strom, Abschn. 17.5.1).
Funktionen muss man allerdings auch das posteriore Die Efferenzen des posterioren Parietalkortex proji-
Striatum einbeziehen, das eine indirekte subkortikale Ver- zieren in die frontalen und temporalen Assoziationsareale
bindung vor allem zu präfrontalen Regionen herstellt. Der (. Abb. 28.24c), Thalamus, Striatum, Mittelhirn und Rücken-
parietale Kortex hat daher aufgrund seiner multisenso- mark; (die subkortikalen Verbindungen sind in . Abb. 28.24
rischen Integrationsfunktion auch eine entscheidende Be- nicht dargestellt). Neben den Afferenzen aus den 3 primären
deutung als Kommandostruktur für Bewegungsabläufe, die und sekundären Projektionsarealen (. Abb. 28.24d) kommt
auf ein Ziel mit motivationaler Bedeutung hin gerichtet der Einstrom aus lateralem und posteriorem Thalamus und
sind. Damit tragen diese parietalen Regionen auch ent- Hypothalamus.
scheidend zur Steuerung von Aufmerksamkeit und Be- . Tabelle 28.5 gibt einen Überblick über parietale Funk-
wusstsein bei (Abschn. 21.3). tionen und deren anatomische Zuordnungen. Einige wur-
Die Vielzahl von kognitiven Störungen nach Läsion den schon in Kap. 16, 17 und 21 beschrieben. Wir wollen uns
der parietalen Regionen (. Tabelle 28.5) erklärt sich aus hier auf einige psychologisch bedeutsame beschränken.
der zentralen anatomischen Stellung des Parietallappens
zwischen den 3 Sinnesmodalitäten Sehen, Gehör und So- G Der Parietallappen stellt anatomisch und physio-
matosensorik, von denen er mit Informationen versorgt logisch den zentralen Kreuzungspunkt zwischen
wird (. Abb. 28.24). Der posteriore Parietallappen mit den Sinnesmodalitäten dar. Funktionen, die multi-
dem G. angularis, dem G. supramarginalis und dem oberen sensorische Vergleiche benötigen, hängen daher
Parietallappen ist beim Menschen auf der rechten Seite von der Intaktheit des Parietallappens ab.
780 Kapitel 28 · Kognitive Prozesse (Denken)

Nach Kolb B, Whishaw IQ (2003). Mit freundlicher Genehmigung von Worth Publishers.
28

. Abb. 28.24a–d. Grobanatomie und Verbindungen des Parie- und den Temporallappen; d die kurzen kortikokortikalen Projektionen
talkortex. a Die wichtigsten Windungen; b Brodmanns zytoarchitekto- aus den primären und sekundären somatosensorischen, visuellen und
nische Regionen; c kortikokortikale Projektionen in den Frontallappen auditorischen Regionen in die tertiären Regionen des Parietallappens

Kurzzeitgedächtnis G Läsionen des Parietallappens führen zu Störungen


In Kap. 21 und 25 haben wir bereits den engen Zusammen- des Kurzzeitgedächtnisses und damit auch der lang-
hang zwischen kontrollierter Aufmerksamkeit und Kurz- fristigen Einprägung, vor allem visuell-räumlichen
zeitgedächtnis beschrieben (Abschn. 21.1.3, LCCS mit Materials.
KZG und Filtertheorie). Jede Aufmerksamkeitszuwendung
und Speicherung neuen Gedächtnismaterials benötigt Ideomotorische und konstruktive Apraxie
Vergleich mit Information im Kurzzeit- und Langzeit- Engramme für reafferente motorische und visuokinetische
gedächtnis, vor allem wenn die Information aus mehreren räumliche Funktionen sind im parietalen Kortex lokali-
Sinnesmodalitäten besteht. Angesichts der Bedeutung des siert. Wie wir bereits in Abschn. 28.3 ausgeführt haben,
inferioren Parietalkortex in multisensorischen Aufmerk- werden vor allem Nachahmungen von Bewegungen und
samkeitsprozessen sind daher bei Läsionen auch Einschrän- Gesten nach linken Parietalläsionen und zeichnerisch-
kungen im KZG zu erwarten. Dabei ist der rechte Parietal- räumliche Tätigkeiten nach Läsion der rechten Hemis-
lappen mehr für das Behalten visuell-räumlicher Struktu- phäre gestört. Wie aus . Abb. 28.25 und 28.26 hervor-
ren und der linke für sprachlich-rechnerisches Material geht, gibt es eine Reihe von Möglichkeiten für Läsionen,
zuständig. die alle die Initiierung, Planung und Ausführung kom-
Defizite unmittelbaren Behaltens (z. B. Zahlennach- plexer und zielgerichteter Bewegungsabläufe bei der
sprechen im Wechsler-Test) treten tatsächlich nach parieta- (linkshemisphärischen) ideomotorischen Apraxie be-
len Läsionen auf. Dies bedeutet nicht, dass KZG eine aus- hindern können (siehe auch »Spiegelneurone«, Ab-
schließliche Funktion des Parietallappens ist, sondern nur, schn. 13.3.5 und 28.7). Die Tatsache, dass viele Patienten
dass ein wichtiger Verarbeitungsschritt im Rahmen der mit Aphasien auch Apraxien aufweisen, ist darauf zurück-
vielfältigen Prozesse des deklarativen KZG (Kap. 24) auf die zuführen, dass bei Läsionen links-parietal häufig auch
multisensorische Integration und Vergleiche der Parietal- Sprachregionen mitbetroffen sind. Auch das Speichern
region angewiesen ist. von Gesten und damit verbale Bewegungskommandos
und Planung und Bewegungsabläufen ist bei Apraxien ge-
stört (7 unten).
Nach Heilman KM & Valenstein E. Mit freundlicher Genehmigung 28.5 · Funktionen und Störungen des Parietalkortex
781 28
der Oxford University Press.

. Abb. 28.25. Schema der Hirnregionen und Verbindungen zur


Planung und Ausführung nicht-automatisierter Bewegungen.
Die visuokinesthetischen Engramme (Reafferenzen) sind im linken
Parietalkortex gespeichert (SMG G. supramarginalis; AG G. angularis).
Von dort werden sie ins prämotorische Areal (PM) übertragen, wo die
Planung der Bewegung erfolgt; der PM innerviert den motorischen
Kortex (M), der die spezifischen Muskelgruppen der Gegenseite inner-
viert. Das Kommando zum Aufruf der Bewegungsengramme kann
sprachlich (W Wernicke) oder visuell (z. B. Gestik) aus den visuellen . Abb. 28.26. Räumliche visuell-motorische Koordinations-
Assoziationsarealen (VAA) erfolgen. Läsion von SMG und AG führt störung nach Läsion der rechten Parietalregion
daher zu Schwierigkeiten in der Initiative, Auslösung und Imitation
von Bewegungen sowie zu Störungen der Bewegungsdiskrimination
(z. B. Erkennen von Gesten). Läsion von PM oder der Verbindungen Form, Lokalisation) nicht mehr miteinander assoziativ ver-
von SMG zu PM führt dagegen zu Fehlern in der Bewegungsfolge,
bunden werden (Binding-Problem, Kap. 17 und Kap. 25).
Imitations- und Auslöseschwierigkeiten ohne Diskriminationsprob-
leme. Zielgerichtete Bewegungsfolgen der linken Körperseite (rechte Die Folge davon ist völlig getrenntes Erleben von Einzelele-
Hemisphäre) werden nach diesem Schema auch von der linken Hemi- menten der Umwelt und Orientierungslosigkeit. Beispiels-
sphäre ausgelöst weise kann die Farbe von Buchstaben nicht mehr erkannt
und die Lage und Größe geometrischer Gegenstände nicht
mehr verglichen werden.
Visuell-räumliche Orientierung Besonders eindrücklich sind Störungen des Gesicht-
Die sequentiell-räumlichen Funktionen der linken Parietal- erkennens (Prosopagnosie): Störungen der Diskrimination
region sind von den perzeptiven Funktionen des rechten unbekannter Gesichter treten bei Läsionen des rechten
Parietallappens zu trennen (Abschn. 28.2). Visuoperzeptive G. fusiformis auf, das gestörte Erkennen vertrauter Gesich-
Leistungen sind Erkennen visueller Objekte, Synthese und ter, einschließlich des eigenen im Spiegel, allerdings beruht
Vergleich visueller Objekte, Linienorientierung, Nachzeich- auf bilateralen okzipitoparietalen Läsionen (Kap. 17 und
nen, Gesichtererkennen. (Die Aufgaben des Handlungs- Box 5.4).
teiles im Hamburg-Wechsler-Bellevue-Intelligenztest,
G Läsionen des linken unteren Parietalkortex führen
HAWIE, sind gute Beispiele für dominant rechts-parietale
zu ideomotorischen und konstruktiven Apraxien, bei
Leistungen, der Handlungs-IQ ist daher bei Personen mit
denen vor allem Nachahmungen von Bewegungen
rechten posterioren Läsionen reduziert.) Visuell-räumliche
und Initiierung und Planung komplexer Bewegun-
Leistungen sind die Lokalisation von Objekten im Raum,
gen gestört sind. Läsionen des rechten unteren Pari-
Beurteilung von Richtung und distanztopographische Ori-
etalkortex führen zu perzeptiven und räumlichen
entierung im Raum, Lokalisation des eigenen Körpers und
Orientierungsstörungen.
seiner Teile im Raum.
Läsionen des Parietallappens führen daher häufig zu
topographischer Agnosie und Amnesie. Objekte, Land- 28.5.2 Kontralateraler Neglekt
marken, die eigene Position darin und Orientierung sind
gestört oder werden nicht erinnert. . Abb. 28.26 gibt ein Neglekt und Lösung der Aufmerksamkeit
typisches Beispiel einer solchen Störung nach Läsion des Die Rolle des parietalen Assoziationskortex bei der visuel-
rechten, hinteren Parietallappens wieder. Die Orientierung len und taktilen Aufmerksamkeit geht nicht nur aus Läsio-
der Handbewegung auf das sichtbare Ziel hin versagt. nen beim Menschen, sondern auch aus elektrophysiolo-
Bei parietookzipitalen Läsionen können die Zellen- gischen Untersuchungen an Affen hervor. Im posterioren
sembles für die Einzelcharakteristiken eines Reizes (Farbe, Parietal- und Temporalkortex existieren Nervenzellgrup-
782 Kapitel 28 · Kognitive Prozesse (Denken)

pen, die nur dann feuern, wenn sich das Tier selektiv auf lisation (wo?). Wie wir schon in Kap. 17 und 21 darlegten,
einen Reiz konzentriert und andere ignoriert, unabhängig spielen dabei auch motivationale und aktivierende Struk-
vom Aktivierungszustand (Abschn. 21.3.4 und Box 21.5). turen im limbischen System, Basalganglien, Retikulärfor-
Beim Menschen tritt nach Läsion des rechten Parietal- mation (MRF), Thalamus und Frontalkortex eine bedeut-
lappens und des posterioren Temporallappens, aber auch same Rolle.
nach subkortikalen thalamoretikulären und manchmal Die inferiore parietale Region erhält Information von
auch präfrontalen und zingulären Läsionen, eine Störung den 3 wichtigsten Sinnessystemen (visuell, auditiv, soma-
auf, die als kontralateraler Neglekt bezeichnet wurde. Die tisch) und gibt nach multisensorischem Vergleich die In-
Person reagiert nicht auf visuelle, taktile und akustische formation über die »Bedeutung« des Reizmusters an
Reize kontralateral zur Läsion (meist linke Körperseite). Sie frontale und temporale Regionen ab (Bindungsproblem,
berichtet auch keinerlei Inhalte von dieser Seite, und orien- Kap. 17 und 25). Diese modulieren durch hemmende Ver-
tiert sich bei neuen Reizen nicht dahin. . Abb. 21.20 zeigt bindungen das thalamische Filtersystem des Nucl. reticu-
die Selbstporträts des Malers Anton Räderscheidt im Laufe laris, wie in Kap. 21 beschrieben. Bei Läsionen der inferio-
der Erholung von einem rechten parietalen Infarkt (Box 15.2 ren parietalen Region könnte ein kontralateraler Neglekt
und 21.1.4 und 17.5.2). auch durch mangelnde Informationsbasis über das »Was«
Ein besonders originelles Experiment, das demonst- und »Wo« der Reize und daraus resultierende Fehlaktivie-
riert, dass die Information auf einem präattentiven Niveau rung des selektiven Aufmerksamkeitssystems zustande
wahrgenommen, aber nicht explizit, bewusst verarbeitet kommen.
wird, stammt von Bisiach und Luzzati (. Abb. 21.21). Sensorischer Neglekt muss von intentionalem motori-
Dass es sich um eine Aufmerksamkeitsstörung und schem Neglekt unterschieden werden. Hauptsymptom ist
nicht um einen sensorischen Defekt handelt, kann man an die fehlende Intention, der fehlende Wille eine korrekte
28 einer Reihe von Verhaltensweisen erkennen: Extinktion Zielbewegung auszuüben (Akinesie). Von den thalamischen
(nicht zu verwechseln mit dem lernpsychologischen Be- Filtersystemen sind bei intentionalem Neglekt und Akinesie
griff) bedeutet, dass der Patient korrekt auf Reize reagiert, die motorischen Kerne (VA, VL) des »thalamischen Filter-
die zeitlich getrennt in das rechte oder linke Gesichtsfeld systems« und die Basalganglien beteiligt. Der präfrontale
präsentiert werden, aber den Reiz im linken Gesichtsfeld Kortex (7 unten) fungiert wie bei sensorischem Neglekt
vollkommen ignoriert, wenn beide Reize simultan gezeigt als Entscheidungsinstanz, die jene Reaktionen auswählt,
werden. Dieses Phänomen spricht dafür, dass sich der Fokus die am ehesten eine Chance haben, verstärkt (belohnt) zu
der Aufmerksamkeit nicht vom (gesunden) Gesichtsfeld werden. Deshalb tritt manchmal auch Neglekt nach Lä-
löst (»disengage«, . Abb. 21.6). sionen des Präfrontalkortex auf.
Zugrunde liegt wahrscheinlich, dass die gesunde linke
G Neglekt kann auch durch fehlende Aktivierung
Hemisphäre durch den Mangel an Hemmung aus der läsio-
des selektiven sensorischen und motorischen
nierten rechten Seite und/oder eine Übererregung der
thalamischen Aufmerksamkeitssystems entstehen.
gesunden Seite derart dominiert, dass eine Lösung vom
Im motorischen Fall spricht man von intentionalem
gesunden kontralateralen Gesichts- und Körperfeld nicht
Neglekt.
gelingt.
G Kontralateraler Neglekt nach Läsion der rechten 28.6 Funktionen und Störungen
parietotemporalen Region könnte durch eine Re- des Temporallappens
duktion des hemmenden Einflusses der läsionierten
(meist rechten) Hemisphäre auf die Aufmerksam- 28.6.1 Visuelle und auditorische
keitsneurone der gesunden (meist) linken Hemis- Diskrimination
phäre zustande kommen.
Anatomie des Temporallappens
Neglekt und selektive Aufmerksamkeit Der Temporallappen umfasst die neokortikalen Regionen
Die Tatsache, dass auch andere Läsionen zu Neglekt führen, 20, 21, 22, 37, 38, 41 und 42, die als Archikortex bezeichnet
spricht für die Einbindung des Parietalkortex in ein weit werden, und die medial gelegenen, phylogenetisch älteren,
gestreutes kortikosubkortikales Aufmerksamkeitssystem dreischichtigen Anteile des Paleokortex (Kap. 5.3): Gyrus
(Kap. 17 und 21). Den multimodalen, parietalen und tem- ambiens, parahippokampaler Gyrus und Uncus. Der enthor-
poralen Assoziationsarealen kommt dabei die Aufgabe zu, hinale (Area 28) und perirhinale Kortex (Area 35 und 36)
ankommende Erregungsmuster mit gespeicherten und vor- gehören zum mediotemporalen Gedächtnissystem und
handenen zu vergleichen und daraus die Bedeutung des wurden ausführlich in Kap. 24 besprochen (. Abb. 24.29);
Musters zu extrahieren. Hippokampus und Amygdala sind eng mit dem Paläokortex
Während temporal mehr die Bedeutung (was?) analy- verbunden. . Abb. 28.27 und . Abb. 25.23 zeigen auch
siert wird, verarbeitet die Parietalregion die räumliche Loka- einige der afferenten und efferenten Verbindungen, die
28.6 · Funktionen und Störungen des Temporallappens
783 28

Nach Kolb B, Whishaw IQ (2003). Mit freundlicher Genehmigung von Worth Publishers.
. Abb. 28.27a–c. Grobanatomie des Temporallappens. a Die in die medialen Regionen, einschließlich Amygdala und Hippokam-
3 wichtigsten Windungen an der lateralen Oberfläche. b Die Windun- pus. Man beachte, dass die Information nach ihrer Analyse im Tem-
gen bei medialer Sicht auf den Temporallappen. c Aktivitätsfluss aus poral- oder Parietallappen stets im Frontallappen endet
den visuellen und auditorischen Regionen durch die Temporallappen

man sich reziprok vorstellen soll. Daraus geht hervor, dass G Die Temporalregion des menschlichen Neokortex
der inferiore Temporalkortex als tertiäres visuelles Feld zeichnet sich durch große Heterogenität der Funk-
angesehen werden muss. tionen aus: Von der oberen Temporalwindung
nehmen die akustischen ventralen und dorsalen
Funktionsübersicht Pfade ihren Ausgang, die untere ist dem ventralen
. Tabelle 28.6 gibt einen Überblick über die wichtigsten visuellen »Was«-Pfad zuzuordnen, die mediale Tem-
Funktionen und Störungen bei Ausfall der Temporalregion. poralregion ist mit dem Hippokampus für Konsoli-
In den vorausgegangenen Kapiteln wurden die meisten be- dierung expliziten Gedächtnismaterials verant-
reits abgehandelt, vor allem die Gedächtnis- und Sprach- wortlich. Der anteriore Pol ist eng mit limbischen
funktionen sowie die akustischen Analysatoren. und orbitofrontalen emotionalen Funktionen ver-
Die Rolle der beiden Temporalregionen für motiva- bunden.
tionale Funktionen sind uns aus der engen Verbindung zu
limbischen Regionen verständlich und wurden in Kap. 26 Störungen der visuellen Diskriminations-
und 27 diskutiert. Entsprechend den anatomischen Sub- leistungen
strukturen hat der Temporallappen als primäres und sekun- Die Rolle des inferioren G. temporalis für visuelle Diskrimi-
däres auditorisches System (Kap. 18) und Teil des tertiären nations- und Erkennungsleistungen ist sowohl im Tierver-
visuellen Systems (Kap. 17) Sinnesfunktionen (superiore such als auch im Humanexperiment nachweisbar (Kap. 17).
und inferiore Anteile), der mediale und limbische Teil da- . Abb. 28.28 zeigt ein Beispiel aus dem McGill-Bild-Anoma-
gegen Gedächtnisfunktionen und affektive Färbung. Wäh- lietest, bei dem der Patient ungewöhnliche visuelle Inhalte
rend man die visuellen Funktionen des Parietellappens mit erkennen muss. Obwohl das Gesehene korrekt identifiziert
dem Schlagwort »Wo ist es?« umschreiben könnte, fragt der wird, scheint der Vergleichsprozess der aktuell angekom-
Temporalkortex: »Was ist es?« menen Information mit im LZG gespeicherter Information
784 Kapitel 28 · Kognitive Prozesse (Denken)

. Tabelle 28.6. Funktionsausfälle nach Ausfall verschiedener


Temporalregionen

Symptome Möglicher Läsionsort


Modifiziert nach Levy-Lahad E, Wijsman E, Nemens E (1995). Mit freundlicher Genehmigung von Science.

Störungen der akustischen Areale 22, 41, 42


Enkodierung
Störung der Selektion visueller Areale 20, 21, 22, 37, 38
und akustischer Reize
Störungen der visuellen Erken- Areale 20, 21
nungsleistung (ventraler Pfad)
Störungen der akustischen Areale 41, 42, 22
Erkennungsleistung (ventraler
auditorischer Pfad)
Gestörte semantische und Areale 21, 38 links
perzeptive Organisation und
Kategorisierung
Gestörte Kontexterinnerung Hippokampus,
(Kap. 24) und explizite Konso- parahippokampale Bereiche
lidierung
Störung der Sprachwahr- Areal 22 links
nehmung

28 Störung des Langzeitgedächtnis Areal 21 (Hippokampus und


umliegendes Gewebe)
Änderungen des Affektes Areale 21,
38 + Amygdala
. Abb. 28.28. Aufgabe aus dem McGill-Bild-Anomalien-Test. Änderungen sexuellen Amygdala und Temporalpol
Die Versuchsperson soll erkennen, dass ein Bild im Affenkäfig unge- Verhaltens
wöhnlich ist

erschwert. Auch die Bedeutung (Signifikanz) von Gesich- Aktivierungen innerhalb des ventralen Temporalkortex
tern wird nicht erkannt, besonders wenn diese im linken wichtig ist.
visuellen Halbfeld erscheinen. Bei Läsionen kommt es zu verschiedenen Formen der
. Abb. 28.29 zeigt einige der mit bildgebenden Verfah- »Seelenblindheit« (Agnosie) je nach dem Ort der Läsion,
ren identifizierten Areale des basal-ventralen Temporal- z. B. bei Läsion der oberen Temporalregion werden akusti-
lappens: links Gesichter, rechts visuelle unbelebte Objekte. sche (akustische Agnosie) oder musikalische Reize (Amusie)
Man erkennt, dass weniger der Ort, als das Muster der nicht mehr erkannt. Werden die Objekte visuell dargeboten
Nach Haxby JV et al (2001). Mit freundlicher Genehmigung von Science.

. Abb. 28.29a, b. Überlappende Aktivierungen für Gesichter (a) Körper lösen unterschiedliche Muster von Erregungsanstieg (rot) und
und Objekte (b) im ventralen Temporalkortex gemessen mit Abfall (blau) in überlappenden Arealen aus
fMRT. Objekte, lebend und unbelebt, und Gesichter und menschliche
28.6 · Funktionen und Störungen des Temporallappens
785 28

(z. B. Geige statt Geigenklang) werden sie erkannt. Solche Aus-


fälle werden als apperzeptive Agnosie bezeichnet (z. B. er-
kennt der Patient sein Gesicht nicht im Spiegel), während der

Kolb, Whishaw © 1996 by W. H. Freeman and Company.


Patient bei assoziativen Agnosien zwar die Objekte diskrimi-
nieren können, aber ihren Sinn und Bedeutung nicht verste-

Used with the permission of Worth Publishers.


hen, mit anderen Worten die semantische Bedeutung geht
verloren. Hinzu kommen Kategorie-spezifische Agnosien für
unbelebte Objekte und belebte Objekte (Abschn. 21.3.4).
Wie ist die hohe Spezifität der Agnosien nach Läsionen
mit dem Modell anatomisch überlappender Erregungs-
und Hemmungsmuster in Einklang zu bringen? Innerhalb
eines Individuums bilden sich idiosynkratische, gleich-
bleibende Erregungsmuster für jedes Objekt heraus, so dass
bei lokalen Läsionen die eine oder andere Objektkategorie
spezifisch betroffen sein kann. Zwischen Individuen gibt es . Abb. 28.30. Simultane Aktivierung verschiedener Hirnregio-
nen beim aktiven Musizieren
allerdings nur wenig vergleichbare Orte der Verarbeitung.
G Je nach Ort der Läsion im unteren Temporallappen
treten globale oder spezifische Agnosien auf, die 28.6.2 Neuronale Grundlagen von Musik
intraindividuell anatomisch sehr stabil, aber inter-
individuell variabel sind. Der »Mozart-Effekt«
Aktiv Musizierende weisen erhöhte IQ im Vergleich zu
Störungen der akustischen Diskriminations- parallelisierten Kontrollgruppen auf. Es zeigten sich Ver-
leistungen besserungen vieler komplexer kognitiver Leistungen schon
Bilaterale Läsionen des auditorischen Kortex führen nicht nach relativ kurzer Zeit aktiven Musizierens, vor allem
zu völliger kortikaler Taubheit, wie dies beim primären bei »ernster« Musik; daher die Bezeichnung Mozart-Effekt,
visuellen Feld der Fall ist. Geschädigt ist aber die Tonunter- da meist Mozart-Stücke als Übungsmaterial ausgewählt
scheidung, vor allem die minimale Zeit, die verstreichen wurden. Passives Hören derselben Musik zeigt keine ver-
muss, um 2 Töne oder Sprachlaute noch als unterschiedlich gleichbaren Effekte. Diese leistungsfördernden Effekte der
wahrzunehmen. Die minimale Darbietungsdauer zur Ton- Musik treten nicht nur bei Beginn des Trainings im jugend-
unterscheidung beträgt ca. 50 ms. Nach Läsionen kann sie lichen Alter auf, sondern auch bei alten Menschen ohne
auf das Mehrfache ansteigen, was Sprachwahrnehmung aktives vorausgegangenes Musiktraining.
unmöglich macht, sofern die Laute und Wörter nicht sehr . Abb. 28.30 symbolisiert, warum aktives Musizieren
lange dargeboten werden. Dies gilt vor allem für den linken nach Noten die optimale »Nahrung« für das Gehirn dar-
oberen posterioren Temporallappen. stellt. Keine menschliche Tätigkeit führt zu einer derart weit
Auch bei Dyslexien und Kindern mit Sprachverständ- über das ganze Gehirn ausgedehnten simultanen Aktivie-
nisstörungen ist die Lautdiskrimination beeinträchtigt rung von Neuronenverbänden. Dabei werden alle primären
(Abschn. 28.4.2). Durch langes Training der Unterschei- Sinne, pyramidale und extrapyramidale Motorik und eine
dungsfähigkeit kann aber die kortikale Leistungsfähigkeit Vielzahl assoziativer und paralimbischer Systeme aktiviert.
bei diesen Kindern wiederhergestellt werden. Beim Men- Die Simultaneität dieser Aktivierungen liegt zeitlich in dem
schen wie beim Affen zeigt sich nach längerem Training der für Lernen und Plastizität idealen Fenster (»Hebb-Prinzip«:
akustischen Unterscheidungsfähigkeit im oberen Temporal- Abschn. 25.3.4).
lappen und nach Training der visuellen im unteren Tempo-
G Die assoziative Simultaneität vieler sensorischer,
rallappen ein Anstieg der Aktionspotenzialfrequenz auf die
motorischer und affektiver Funktionen bei aktivem
geübten Tonsequenzen und visuelle Muster um mehr als 30%
Musizieren führt zu Leistungsverbesserungen vieler
gegenüber der Zeit vor dem Training. Wie auch im somato-
kognitiver Funktionen.
sensorischen Kortex kommt es zur Vergrößerung der kom-
plexen rezeptiven Felder durch Lernen (Abschn. 25.3.4).
Anatomische Strukturveränderungen
G Obwohl völlige kortikale Taubheit nach Läsion des bei Musikern
oberen, hinteren Temporallappens selten ist, kommt Wie wir bereits in Kap. 26 und 27 gesehen haben, spielen
es zu Erhöhung der zeitlichen Diskriminations- die durch Sexualhormone ausgelösten anatomischen Struk-
schwellen und damit zu schweren Sprachverständ- turveränderungen vor und nach der Geburt eine gewisse
nisstörungen, Amnesien und spezifischen akusti- Rolle in der musikalischen Begabung. Vermessung der Kor-
schen Agnosien. tizes von Musikern mit und ohne absolutes Gehör ergaben
28
786

b
Kapitel 28 · Kognitive Prozesse (Denken)

Aus Lotze M et al (2003). Mit freundlicher Genehmigung von Elsevier. Aus Schlaug G et al (1995). Mit freundlicher Genehmigung von Science.
28.6 · Funktionen und Störungen des Temporallappens
787 28

9 . Abb. 28.31a, b. a Verstärkte Ausdehnung des Planum temporale bietung von komplexer (artifizieller) Musik, die von einem
links bei Musikern mit absolutem Gehör (obere Reihe) und einer Kon- Computer nach Gleichungen des deterministischen Chaos
trollgruppe von Laien (untere Reihe). Die Größe wurde volumetrisch
erzeugt wurde (Kap. 20), im Vergleich zu einfacher, repe-
mit struktureller Kernspintomographie bestimmt, die erste Spalte
zeigt die rechte Hemisphäre, die zweite Spalte Blick von oben auf titiver (Pop-)Rhythmik, dass die Gehirnströme wie in Reso-
Kortex (seitenverkehrt, frontal jeweils unten), die dritte Spalte die linke nanz der dargebotenen Musik schwingen und ebenso kom-
Hemisphäre. b Funktionelle Kernspintomographie (fMRT) von musi- plexe oder repetitive Muster im EEG bilden (. Abb. 28.32).
kalischen Laien (beide linke Spalten) und professionellen Musikern Personen, die nur repetitive (Pop-)Musik hören, zeigen die-
(beide rechte Spalten) während eines schwierigen Violinstückes (oben)
se Hirnresonanz nur bei einfach-repetitiven Rhythmen:
mit der linken Hand und die Differenzen der Aktivierung zwischen
der Vorstellung und der Ausführung desselben Stückes (unten). Man ihre Hirnaktivität wird ebenso repetitiv und vorhersagbar,
erkennt oben, dass Laien bei aktueller Ausführung sehr viel mehr zen- die Komplexität nimmt ab.
trale Areale (linke 1. Spalte) und das Zerebellum (darunter in der Mitte)
aktivieren als professionelle Musiker (dritte rechte Spalte oben). Untere G Aktives Musizieren in Kombination mit einem abso-
Reihe links erste beide Spalten: Differenz vorgestelltes minus aus- luten Gehör vergrößert das linke Planum temporale.
geführtes Musikstück bei Amateuren: zusätzliche medial-frontale Die Komplexität hirnelektrischer Vorgänge steigt mit
Aktivierung und hinteres Zingulum bei der Vorstellung, während bei der rhythmischen und melodischen Komplexität der
Professionellen (rechts unten) keinerlei Differenz zwischen vorgestell-
Musik.
tem und ausgeführtem Musikstück besteht

Kortikale Reorganisation durch Musik


ein deutlich größeres linkes Planum temporale bei Per- Die Plastizität des Kortex führt bei Musikern, z. B. Geigen-
sonen mit absolutem Gehör, wie auf . Abb. 28.31a dar- spielern, zu einer kortikalen Reorganisation der Repräsen-
gestellt. tation der Finger jener Hand im primären somatosenso-
Dies bedeutet aber nicht, dass musikalische Begabung rischen Areal, die für die Tonführung beim Geigenspiel
mit links-hemisphärischer Dominanz des hinteren Tem- besonders wichtig sind. Je länger eine Person bereits Geige
porallappens einhergehen muss: Für die Wahrnehmung spielt, umso ausgedehnter das Fingerareal und umso höher
und Produktion von Obertönen und Melodien ist die rechte die Aktivierung (. Abb. 28.33; bezüglich der Messmethode
Hemisphäre notwendig, wie dies auch für die Prosodie Kap. 20, . Abb. 20.17).
(Sprachmelodie) im Bereich der Sprache gilt. . Abbildung 28.31b zeigt die BOLD-Antworten im
fMRT von professionellen Musikern (Geigern) und vergleich-
Musik und Hirndynamik baren Laienmusikern, die weniger kontinuierliches Training
Die Produktion und Beschäftigung mit Musik hat einen aufwiesen, während sie einige Takte des ersten Satzes des Vio-
dauerhaften Einfluss auf anatomische und physiologische linkonzertes G-Dur von Mozart mit ihren Fingern (ohne Vio-
Strukturen des Gehirns (. Abb. 18.8). Dies gilt zumindest line) spielten und sich dieselbe Tonabfolge vorstellten.
für jene Personen, die sich mit klassischer Musik beschäf- Zwei wichtige Erkenntnisse lassen sich daraus ableiten:
tigen oder aber Musik produzieren. So zeigt sich bei Dar- die professionellen Musiker benötigen weniger Ressourcen

Aus Elbert T et al (1995). Mit freundlicher Genehmigung von Science.


Nach Birbaumer N et al (1996). Mit freundlicher Genehmigung
von World Scientific.

. Abb. 28.32. Dimensionale Komplexität des EEGs bei Darbie- . Abb. 28.33. Stärke und Ausdehnung postzentraler Feldstär-
tung periodischer, rhythmischer aber nicht perfekt vorhersag- ken magnetisch evozierter Felder, symbolisiert durch Länge der
barer und hoch chaotischer Computermusik. Die Musik wurde Pfeile, an der Region des Daumens (D1) und des kleinen Fingers (D5),
einmal frequenzmoduliert (links), das andere Mal nur in verschiedenen gemessen mit Magnetoenzephalographie (MEG). Erfahrene Geigen-
Rhythmen (rechts) dargeboten. Rot die gemittelten Werte von Personen, spieler (rot) weisen deutliche kortikale Reorganisation jener Finger
die klassische Musik bevorzugen, schwarz jene, die Popmusik hören auf, die sie bevorzugt beim Geigenspiel benutzen
788 Kapitel 28 · Kognitive Prozesse (Denken)

in zentralen motorischen und somatosensorischen Hirn- tige Größe und stabile Verbindungen erst um das 20. Le-
regionen, d. h. sie nützen diese Areale ökonomischer. Dies bensjahr erreichen. Keine Hirnregion weist einen derart
führt zum »Frei«-Werden anderer Hirnregionen wie der langsamen Reifungsprozess auf. In Abschn. 23.4.2 haben
präfrontalen Aktivierung, vermutlich im Bereich des Ar- wir die engen Beziehungen des Volumens der dorsolatera-
beitsgedächtnisses. Dadurch, dass die primären und sekun- len Frontalregion zur menschlichen Fähigkeit, neue Prob-
dären Projektionsareale auf kleinstem Raum aktiviert wer- leme zu lösen (Intelligenz), dargestellt.
den, können nun Ressourcen zum Präfrontalkortex »ab-
gezogen« werden. Diesen Bereich können die Laien nur bei Heterogenität der Funktionen
Vorstellung des Musikstücks aktivieren (unten), während Jede einheitliche Sicht dieser ausgedehnten Kortexregionen
bei Musikern die Vorstellung des Musikstücks mit seiner übersieht die enorme Heterogenität sowohl in der phyloge-
Realisierung identisch ist. netischen wie ontogenetischen Entwicklung. Gegenüber
anderen Kortexarealen sind auch die Plastizität und Aus-
G Bei Musikern zeigen sich eine Verstärkung und häufig
tauschbarkeit der Funktionen im Präfrontalkortex so groß,
eine anatomische Ausbreitung der neuronalen Re-
dass eine Lokalisation von Funktionen sehr schwierig wird.
präsentation, besonders in jenen motorischen und
Auch bei ausgedehnten Läsionen des Frontalkortex
sensorischen Arealen, die für die Benutzung des je-
(FC) treten meist keine sensorischen oder motorischen
weiligen Instrumentes notwendig sind. Diese Verstär-
Ausfälle auf. Die psychologischen Störungen sind dagegen
kung geht mit einer Ökonomisierung des zerebralen
fundamental: im Zentrum der Funktionen vor allem des
Energieverbrauchs bei gut geübter Musik einher.
dorsolateralen FC steht die Herstellung von stabilen Kon-
tingenzen zwischen Reaktionen und deren Konsequenzen,
28.7 Funktionen und Störungen wenn diese länger auf sich warten lassen: Assoziationen
28 des Präfrontalkortex: exekutive zwischen einem Hinweisreiz, der darauf folgenden moto-
und soziale Funktionen rischen Reaktionssequenz und der biologisch-sozialen
Konsequenz führen zum Aufbau stabiler Erwartungshal-
28.7.1 Entwicklung, Neuroanatomie, tungen. Der FC spielt dabei eine bedeutsame Rolle: ohne
Verbindungen und Funktionen ihn verliert Verhalten seine Zukunftsorientierung, es wird
schwer vorhersagbar, irregulär oder extrem stereotyp und
Entwicklung perseverativ.
Die präfrontalen Hirnregionen umfassen beim Menschen
etwa 30% des gesamten Neokortex. Zählt man die moto- G Der Präfrontalkortex des Menschen ist in der Evolu-
rischen und prämotorischen Regionen hinzu, sind es 50%. tion spät entstanden und entwickelt sich ontogene-
Es ist umstritten, ob diese Größenverhältnisse beim Men- tisch langsam. Er weist die höchste Plastizität und
schen im Vergleich zu Menschenaffen oder Meeressäugern Heterogenität von Funktionen im Neokortex auf,
überproportional gewachsen sind, vieles spricht dafür. In wobei vor allem der Aufbau stabiler Erwartungs-
jedem Fall ist ein derart entwickelter Präfrontalkortex haltungen und Zukunftsorientierung des Verhaltens
(PFC) in der Evolution sicher der letzte Schritt gewesen. als grundlegender, gemeinsamer Funktionsschwer-
Dafür spricht auch, dass präfrontale Regionen ihre endgül- punkt besteht.
Aus Ongur D, Ferry AT, Price JL (2003). Reprinted with permission

Aus Petrides M, Pandaya DN (1994). Mit freundlicher Genehmigung


of John Wiley & Sons, Inc.

von Elesevier

. Abb. 28.34a–c. Brodmann-Areale des Präfrontalkortex. kortex (Area 10) ist rosa gezeichnet; b sagittale Ansicht; c laterale
a Blick auf den orbitalen Präfrontalkortex; der mediale Präfrontal- Ansicht (Kap. 5.3 und . Abb. 26.5 für weitere Details)
28.7 · Funktionen und Störungen des Präfrontalkortex: exekutive und soziale Funktionen
789 28

Nach Kolb B, Whishaw IQ (1995). Mit freundlicher Genehmigung von Worth Publishers.
. Abb. 28.35a, b. Verbindungen des Frontallappens. a Faserver-
bindungen von und zum Frontallappen. Schematische Darstellung
der Assoziationsfasersysteme zu den Assoziationsfeldern des Frontal-,
Parietal-, Temporal- und Okzipitallappens beim Rhesusaffen. b Wich-
tige Abschnitte des Frontallappens. Links oben: Orbitofrontaler Kortex
(grün) und ventromedialer präfrontaler Kortex (rot). Rechts oben:
Dorsolateraler Präfrontalkortex. Links unten: Amygdala. Rechts unten:
Anteriores Zingulum. Amygdala und anteriores Zingulum gehören
zwar nicht mehr zum Frontalkortex, sind aber eng damit verbunden
und bilden ein einheitliches neuronales System zur Regulation von
sozialen Emotionen (Erläuterungen 7 Text)

Anatomischer Aufbau
. Abb. 28.36a, b. Phineas Gage. a Büste und Schädel von Phineas
. Abb. 28.34 und 28.35 geben einen Grobüberblick über ei- Gage. Die Austrittsstelle des Eisenstabes ist links frontal zu sehen.
nige funktionell abgrenzbare Regionen des Frontalkortex. b Computerrekonstruktion der Verletzung und des Eisenstabes von
4 die motorischen (BA4) und prämotorischen (BA6) H. Damasio
Regionen (Kap. 13), das Broca-Areal (BA44) und die
frontalen Augenfelder (Teil von Brodmann-Areal 8);
4 der dorsolaterale Präfrontalkortex (blau in . Abb. 28.35, Die wesentlichen Afferenzen zum PFC stammen aus dem
BA 8, 9, 44, 45, 46); mediodorsalen Nucleus des Thalamus. Allerdings projizie-
4 der mediale Präfrontalkortex (BA10), der sich in den ren auch der Nucl. anterior des Thalamus, Hypothalamus,
Frontalpol (10p auf . Abb. 28.36) und den ventromedi- Amygdalae, limbischer Kortex und G. cinguli und MRF,
alen Präfrontalkortex (10m und 10n) unterteilen lässt; sowie die nicht-primären sensorischen und motorischen
4 der orbitale (»orbit« von Sockel) Präfrontalkortex Assoziationsareale zum PFC (. Abb. 28.37). Alle Verbin-
(BA 11, 12, 47). dungen sind reziprok, der PFC projiziert vor allem in Area
790 Kapitel 28 · Kognitive Prozesse (Denken)

28

. Abb. 28.37. Zerfall von Verhaltensplänen bei Störungen des Frontallappens. Über den Zeichnungen der Patienten sind jeweils die
Instruktionen des Untersuchers angegeben

7 (somatisch), Area 22 (auditorisch) und Area 21 (visuell). dass abends Gäste zum Essen kommen. Sie machen also
Der orbitale FC hat auch olfaktorische Verbindungen. eine Liste der Lebensmittel und Getränke, die Sie in der
Die Efferenzen des FC gehen neben den Ursprüngen Mittagspause kaufen wollen, davor müssen Sie noch Ihre
der Afferenzen auch in die Basalganglien, Hippokampi und Wäsche aus der Reinigung holen und deshalb vorher über-
in limbische Regionen, nicht in die primären motorischen legen, welchen Weg Sie mit dem Auto am besten nehmen.
Areale. Die Verbindungen zu den Basalganglien sind Alles geschieht unter Zeitdruck. Sie müssen genau darauf
zur Steuerung des Aufmerksamkeitsverhaltens besonders achten, keinen Fehler in der Fahrt und Abfolge der Einkäufe
bedeutsam und wurden in den Kapiteln über Motorik zu machen.
(Kap. 13) und Aufmerksamkeit (Kap. 21) bereits ausführ- Ohne präfrontalen Kortex können Sie diese Aufgabe
lich besprochen. nicht mehr bewältigen, nämlich
4 das Verhalten im Voraus zu planen und die richtigen
G Der Präfrontalkortex lässt sich grob funktionell in
Verhaltensabläufe auszuwählen (prämotorisch),
einen motorischen, dorsolateralen, medialen und
4 ablenkende Reize ignorieren und bei dem begonne-
orbitalen Anteil unterscheiden.
nen und ausgewählten Verhalten zu bleiben (Area 10)
und
28.7.2 Kognitive Funktionen 4 zu behalten, was Sie schon erledigt und gekauft haben
des Präfrontalkortex (dorsolateraler Präfrontalkortex).

Planung und Zielverfolgung Zu dieser zeitlichen Organisation des Verhaltens braucht


. Abb. 28.36a und b zeigt die Büste und den Schädel des in der präfrontale Kortex detaillierte Information über die
der Einleitung beschriebenen Phineas Gage, der als erster sensorischen Reize und den Kontext der Situation aus dem
und zugleich paradigmatischer Fall in die Geschichte der parietalen und temporalen Kortex sowie den motivatio-
Erforschung des Frontallappens einging. Illustrieren wir nalen Wert der gespeicherten Situation. . Tabelle 28.7 gibt
seine Probleme, die wir in der Einleitung zu diesem Kapitel einen Gesamtüberblick der verschiedenen Ausfälle nach
beschrieben haben, an einem alltäglichen Beispiel unseres Läsion des Frontalkortex, einschließlich seiner motorischen
eigenen Lebens. Stellen Sie sich einen typischen Arbeitstag und prämotorischen Anteile, die wir nun im Einzelnen be-
vor: Sie müssen um 6 Uhr aufstehen und daran denken, sprechen wollen (Kap. 21, 25, 26 und 27).
28.7 · Funktionen und Störungen des Präfrontalkortex: exekutive und soziale Funktionen
791 28

und Perseveration wird vor allem durch Läsion der linken


. Tabelle 28.7. Überblick über Funktionsausfälle nach Area 9 verursacht, die Ablenkbarkeit gilt generell für
Läsion des Frontallappens. mediale präfrontale Läsionen. . Abb. 28.38b zeigt die
Symptom Läsionsort Veränderung der Hirndurchblutung bei Durchführung
Störungen der Bewegungsabläufe des WCST.
Verlust der Feinmotorik Areal 4 Der Zerfall von Verhaltensplänen könnte auch mit feh-
lenden Reafferenzen (korrolaren Entladungen) über zur-
Kraftverlust Areale 4, 5; dorsolateral
zeit ablaufende Bewegungsfolgen vom FC an die poste-
Fehlerhafte Bewegungsplanung Prämotorisch, dorsolateral
rioren sensorischen Regionen zusammenhängen. Wenn
Willentliche Fixierung Frontale Augenfelder
eine Bewegung durchgeführt wird, so gehen damit 2 Erre-
der Augen
gungsabläufe einher: Erstens wird das Kommando zur Be-
Gestörte korrolare Entladung Dorsolateral, prämotorisch
wegung von dem prämotorischen FC an den motorischen
Broca-Aphasie Areal 44 und Umgebung Kortex gegeben. Zweitens gibt der dorsolaterale FC an die
Verlust divergenten Denkens parietalen und temporalen sensorischen Assoziationskor-
Reduzierte Spontaneität Orbital tizes ein reafferentes (korrolares) Signal über die geplante
Verhaltensstrategien gestört Dorsolateral, orbital Bewegung ab (Efferenzkopie). Diese korrolare Entladung
Handlungen anderer Ventraler prämotorischer bereitet die zentralen sensorischen Systeme auf die motori-
nachvollziehen (Empathie, Broca, ventromedial schen Änderungen vor und erlaubt antizipatorische Anpas-
Spiegelneurone) und parietal sungsprozesse an veränderte Körperhaltungen. Fehlen die
Reizkontrolle des Verhaltens frontalen korrolaren Entladungen, so wird keine Korrektur
Schlechte Reaktionshemmung Dorsolateral der Wahrnehmung auf der Grundlage der veränderten Kör-
Risikofreude und Regelverletzung Präfrontal – orbital
perposition eingeleitet.
Personen mit Läsionen des PFC machen z. B. daher
Koordination multipler kognitiver Anteriorer Frontalpol
Prozesse (BA 10) auch Fehler, wenn man sie bittet, bei zur Seite geneigter
Körperhaltung ein schräges Objekt horizontal zu stellen.
Schlechtes Zeitgedächtnis, Arbeitsgedächtnis
Auch die Probleme, die diese Patienten besonders beim Imi-
Gestörte Frequenzwahrnehmung Dorsolateral
tieren von Gesichtsausdruck aufweisen, könnten auf man-
Gestörte Wiedergabe Dorsolateral gelnde Rückmeldung über den momentanen Ausdruck
von Reihenfolgen
rückführbar sein.
Verzögerte Reaktionsaufgabe Dorsolateral
Arbeitsgedächtnis für räumliche Dorsolateral, superior G Rückmeldung über die abgelaufenen Bewegun-
Orientierung gen an Parietal- und Temporalkortex erlauben
Arbeitsgedächtnis für Objekte Inferior, dorsolateral die Antizipation und Planung der motorischen
Abläufe.
Sozialemotionales Verhalten
Gestörtes Sozialverhalten Orbital, ventromedial
Verändertes Sexualverhalten Orbital
Verzögerte Verstärkung und Erwartung
Gestörte Geruchsunterscheidung Orbital Im Tierversuch dominiert bei Läsion des dorsolateralen
und Verstärkerbewertung FC, speziell des Sulcus principalis, eine Störung, die sowohl
Aufmerksamkeits- als auch Lernfunktionen einschließt:
Aufgaben, die eine verzögerte Reaktion (»delayed re-
sponse«) verlangen, sind gestört. Solche Aufgaben enthal-
G Läsionen großer Teile des Präfrontalkortex führen ten 5 zentrale Elemente: Ein Objekt, meist Nahrung, wird
zu Zerfall von Verhaltensplänen, da Antizipation, unter einem oder mehreren Objekten versteckt (1), das Tier
Aufmerksamkeitsfokussierung und kurzfristiges muss Sekunden bis Minuten warten, während deren das
Behalten gestört sind. Objekt außer Sicht- und Reichweite ist (2), die Objekte
werden zur Wahl gestellt (3), das Tier wählt (4) und erhält
Handlungspläne und korrolare Entladungen die Verstärkung (5). Die Position des Köders ist dabei für
Bei dorsolateralen Läsionen des FC verlieren sprachlich das Tier schwer vorhersagbar (z. B. im »Delayed-alterna-
formulierte Handlungsprogramme ihren verhaltenssteu- tion«-Versuch wechselt der Köder von Durchgang zu
ernden Einfluss (. Abb. 28.37). Der Zerfall von Verhaltens- Durchgang).
plänen geht mit Ablenkbarkeit und gleichzeitig einer Un- »Delayed-matching-to-sample«-Aufgaben (DMS)
fähigkeit einher, einmal eingeschlagene Reaktionsstrategien sind ebenfalls gestört: Meist wird ein visueller Reiz präsen-
aufzugeben (Perseveration). Im Wisconsin Card Sorting tiert, nach einer Verzögerung derselbe zusammen mit an-
Test (WCST, . Abb. 28.38a, b) behalten die Patienten trotz deren, und das Tier muss wählen, die richtige Wahl wird
gegenteiliger Evidenz die Strategie bei. Die Inflexibilität verstärkt. Von Durchgang zu Durchgang wird der Ziel-Reiz
792 Kapitel 28 · Kognitive Prozesse (Denken)

Aus Meyer-Lindenberg A et al (2002). Reprinted by permission from Macmillan Publishers Ltd: Nature Neuroscience.
28

. Abb. 28.38a–c. Der Wisconsin-Card-Sorting-Test (WCST). a Die der Versuchsleiter nach jeder Karte Rückmeldung gibt, bleiben Per-
Testperson muss die Karten des Pakets vorerst nach den Kategorien sonen mit Läsionen des Frontallappens bei der eingeschlagenen Stra-
der Form zuordnen, nach 10 Zuordnungen wechselt der Versuchs- tegie, auch wenn der Versuchsleiter nur mehr negative Rückmeldun-
leiter ohne Ankündigung das Zuordnungsprinzip, z. B. muss die gen gibt. b Kortikale Aktivierungen bei Bearbeitung des WCST: rechte
Person danach die Karten nach der Farbkategorie zuordnen. Obwohl Hemisphäre (A), linke Hemisphäre (B), Frontalkortex (C)

gewechselt. DMS-Aufgaben sind auch nach Temporalläsio- Arbeitsgedächtnis und Aufmerksamkeits-


nen gestört, da sie eine visuelle Diskrimination erfordern zuwendung
(7 unten und . Abb. 28.38). »Matching-to-sample«-Aufgaben erfordern, dass die In-
formation über ein relevantes Ereignis, Objekt oder Ort so
G Im Tierversuch sind nach Läsion des dorsolateralen lange vorübergehend gespeichert wird, bis der Reiz zur
Präfrontalkortex vor allem Lern- und Gedächtnisleis- Handlungsausführung erfolgt. Dafür ist vor allem der dor-
tungen gestört, in denen verzögerte Reaktionen und solaterale Präfrontalkortex verantwortlich (Abschn. 5.2.2
Warten gelernt werden muss. und 21.3).
28.7 · Funktionen und Störungen des Präfrontalkortex: exekutive und soziale Funktionen
793 28

Arbeitsgedächtnis besteht nicht nur aus dem passiven nach einem Warn- oder Hinweisreiz die Aktivität des
Aufrechterhalten der (parietalen und temporalen) Reprä- orientierenden supervisorischen Aufmerksamkeits-
sentationen, sondern auch eine Aufmerksamkeitsorientie- systems.
rung auf den relevanten oder bevorstehenden Reiz. Simul-
tan präsentierte, irrelevante Reize müssen gehemmt werden, Zeitliche Kontiguität
wenn sie dem Ziel nicht entsprechen. Diese Aufgabe wird Das Grundprinzip allen Lernens, Assoziation zwischen
durch den medialen Präfrontalkortex erledigt. Wie wir in Reaktion und deren Konsequenz (zeitliche Kontiguität,
Kap. 21 gesehen haben, ist die Erhöhung der ereigniskorre- Kap. 24), scheint zu einem erheblichen Teil von präfron-
lierten Hirnpotenziale bei Aufmerksamkeitserhöhung nach talen Strukturen abhängig zu sein, vor allem, wenn die Zeit-
Frontalläsionen reduziert oder verschwunden, gleichzeitig abstände zwischen den assoziierten Reizen lang sind. Zwi-
werden irrelevante Reizrepräsentationen nicht gehemmt. schen CS und UCS bzw. zwischen Reaktion und Verstär-
Deshalb wird der laterale und mediale Präfrontalkortex kung muss sich durch wiederholte zeitliche Paarung eine
zusammen mit dem anterioren G. cinguli auch als super- elektrophysiologische Verbindung ausbilden. Ausdruck
visorisches Aufmerksamkeitssystem (SAS) bezeichnet. dieser Verbindung ist die Oberflächennegativität.
. Abb. 21.22 und 21.23 zeigen die Bestandteile des Arbeits- Der enge Zusammenhang zwischen PFC-Entladungen
gedächtnisses für Objekte inferior, für räumliche Orientie- und langsamen Hirnpotenzialen ist ein weiteres Indiz für
rung superior und den anterioren G. cinguli als wichtige die bereits mehrmals beschriebene Tatsache (Kap. 20 und
Steuereinheit der exekutiven Aufmerksamkeit. 21), dass langsame Potenziale und PFC essenzielle Bestand-
teile der Hirnsysteme zur Steuerung kontrollierter Verarbei-
G »Aus den Augen – aus dem Sinn«; der laterale prä-
tung und selektiver Aufmerksamkeit sind. Beim Menschen
frontale Kortex erfüllt Aufgaben des Arbeitsgedächt-
ist nach PFC-Läsion die Aufmerksamkeitsstörung funda-
nisses, der mediale Präfrontalkortex hält die Auf-
mental: das Verhalten wird schwer vorhersagbar, da offen-
merksamkeit aufrecht, auch wenn mehrere Denk-
sichtlich keine willentliche Anstrengung zum rechten Zeit-
operationen verlangt sind.
punkt nach einem Warnreiz (»effort«) bei Aufgaben entwi-
ckelt wird, die neu oder kompliziert (nicht automatisch)
Langsame Hirnpotenziale und präfrontale sind. Dies führt auch zu Abhängigkeit von körperinternen
Funktionen und externen Interferenzen und Gedächtnishemmungen
In Erwartungssituationen kommt es bei Säugern wie beim (Ablenkung) und Hyperaktivität.
Menschen zu einem charakteristischen Verlauf der korti- Information wird im PFC nicht wie in den primären Pro-
kalen Gleichspannung, wie wir ihn in Kap. 20 und 21 aus- jektionsarealen (Kap. 15 bis 19) verarbeitet, sondern die zeit-
führlich beschrieben haben. Zwischen einem ankündigen- liche Steuerung der Information und motorischer Akte für
den Reiz (CS, S1, SD) und einem zweiten imperativen Reiz andere neokortikale Regionen nimmt hier ihren Ausgang.
(US, S2), der eine motorische und kognitive Reaktion ver- Dieser aktive Mechanismus bezieht seine Energie aus
langt, bilden sich 2 Negativierungen oder Komponenten den limbischen und subkortikalen Strukturen, vor allem
des EEG aus: eine nach S1 (0,5–2 s danach) und eine vor S2. dem anterioren G. cinguli. Fällt diese Energiequelle aus
Die erste Negativierung (. Abb. 21.28) ist präfrontal loka- oder wird sie zeitlich unabhängig von gelernten Hinweis-
lisiert, die zweite kann topographisch über verschiedenen reizen verteilt (wir haben sie im Zusammenhang mit lang-
kortikalen Regionen variieren. Bei Gesunden ist die erste samen Hirnpotenzialen kortikale Potenzialität genannt),
Komponente über dem Frontalkortex bei automatisierten so wird die zeitliche Abfolge von Gedanken und Verhaltens-
Handlungen, habituierten Reizen, Reizen ohne Signalbe- abläufen irregulär und insgesamt sinkt die Wahrscheinlich-
deutung reduziert, bei informativen Reizen erhöht. keit für ziel- und zweckgerichtetes Verhalten. Dies wurde
Untersuchungen mit unterschiedlich komplexen Reizen klinisch in den Fällen bilateraler Läsion des PFC bestätigt.
ergaben, dass die erste frontale Komponente der langsamen Zusammenfassend lässt sich sagen, dass der präfrontale
Hirnpotenziale mit der präparatorischen Aktivierung von Kortex immer dann aktiviert wird, wenn ein Reiz eine zeit-
Gedächtnisinhalten nach Darbietungen des ersten Warnrei- liche Diskrimination erfordert. Dies ist bei allen Warnrei-
zes zusammenhängt. Die Erwartung der angekündigten Rei- zen und konditionierten Reizen der Fall: der Organismus
ze ist das subjektive Korrelat dieser präparatorischen Aktivie- schätzt die Auftretenswahrscheinlichkeit eines zweiten
rung. Bei Patienten mit beidseitiger Entfernung des FC fehlt Reizes ab und mobilisiert vorausahnend entsprechende
diese erste Komponente, was die Störung der Erwartungs- sensorische und motorische Systeme.
prozesse bei längeren Zeitintervallen zwischen 2 Reizen – wie Ist die zeitliche Abschätzung der zukünftigen Ereignis-
den »Delayed-response«-Aufgaben – widerspiegelt. se fehlerhaft oder fällt aus, so wird der Zeitpunkt der senso-
rischen und motorischen Mobilisierung falsch gewählt und
G In Erwartungssituationen reflektiert die erste präfron- unterbleibt. Die Folge ist die beschriebene Symptomatik des
tale Negativierung der langsamen Hirnpotenziale Frontalpatienten: schwer vorhersagbares, irreguläres Verhal-
6 ten, besonders in Wartesituationen und extreme Ablenkbar-
794 Kapitel 28 · Kognitive Prozesse (Denken)

keit. Wir erinnern uns hier auch an die Bedeutung des unte-
ren lateralen PFC für syntaktische Regeln (. Abb. 28.21).
G Die Areale des Präfrontalkortex sind für jeweils un-
terschiedliche Aspekte der zeitlichen Abschätzung
von zukünftigen Ereignissen und der Herstellung
stabiler zeitlicher Reiz-Reaktions-Konsequenz-
Sequenzen verantwortlich. Der Begriff der zeitlichen
Kontiguität fasst diese Funktionen zusammen.

28.7.3 Soziales Verhalten


und Präfrontalkortex

Selbstkontrolle
Beim Menschen ist die Fertigkeit, unmittelbare Verstärker
zugunsten langfristiger Belohnungen aufzuschieben, be-
sonders gut ausgeprägt. Nach Zerstörung des Präfrontal-
kortex – wie im Falle von Phineas Gage – fällt der Verlust
dieser essenziell-menschlichen Fähigkeit der Selbstkontrol-
le besonders auf.
Um Selbstkontrolle zu erzielen, muss
28 4 die gegenwärtige oder vergangene (Langzeitgedächtnis)
Information über den Reizkontext aus den Parietalre-
gionen in den ventro- und dorsolateralen Frontalkortex
transportiert werden.
4 Dort muss diese Information auch in Abwesenheit der
Reize zumindest für Sekunden bis Minuten präsent ge-
halten werden (Arbeitsgedächtnis im dorsolateralen
präfrontalen Kortex). . Abb. 28.39. Beispiel aus einem Test für Kinder zur Messung
4 Es muss eine Entscheidung für einen bestimmten Hand- des Persönlichkeitsmerkmals »Theory of Mind«
lungsplan auf der Grundlage der antizipierten positiven
oder negativen Konsequenzen (Informationsfluss aus
limbischen in orbitofrontale Regionen) und der gegen- of-mind«-Fähigkeit messen kann (Box 28.4). Dazu eignen
wärtig vorhandenen oder erinnerten (vorgestellten) sich Situationen wie diese, in denen jemandes Verhalten
Situationen (aus den Parietalregionen) erfolgen. vorherzusagen ist, der z. B. getäuscht und betrogen wurde,
4 Die Entscheidung muss von einem generellen Hand- besonders gut.
lungsplan in zunehmend spezifische Handlungsziele Die Einfühlungsgabe (Empathie) hängt natürlich auch
und -abfolgen bzw. deren Hemmung umgesetzt werden von anderen elementaren Funktionen ab. Dazu gehört es,
(Area 10 und supplementär-motorisches Areal unter zwischen belebten und unbelebten Inhalten zu unterschei-
Einschluss der dorsalen Basalganglien und des Tha- den, den Augenbewegungen, Ausdrucksverhalten und Auf-
lamus). merksamkeitsreaktionen anderer zu folgen, zielgerichtete
Aktionen zu identifizieren und zwischen eigenen und frem-
G Das Ausüben von Selbstkontrolle erfordert eine Serie
den Handlungen zu unterscheiden. Für die ersten 3 Elemen-
von kognitiven und emotionalen Operationen, die an
tarfunktionen (belebt–unbelebt, Ausdruck erkennen, Auf-
präfrontale Hirnregionen gebunden sind. Im Arbeits-
merksamkeit folgen) wird vor allem der obere temporale
gedächtnis müssen die Reize einige Zeit vor der Ent-
Sulkus und inferiore Temporallappen (G. fusiformis, Box
scheidung verfügbar bleiben, um den Handlungs-
5.4) aktiviert. Für die übrigen ideomotorischen Funktionen
plan in den prämotorischen Arealen zu erstellen.
ist ein ausgedehntes neuronales Netz verantwortlich, das oft
als »Spiegelneuronen«-System bezeichnet wird (7 unten).
Empathie und »Theory of mind«
Der Erfolg sozialer Interaktionen hängt wesentlich von der G Soziale Intelligenz und das Erkennen der Absichten
Fertigkeit ab, den mentalen Zustand (emotional, kognitiv, anderer (»Theory of mind«) erfordert die Unterschei-
Absichten) anderer vorherzusagen. . Abb. 28.39 zeigt ein dung der Person von anderen Personen, den Aus-
Beispiel aus einem psychologischen Test für Kinder und druck und die Absichten anderer zu erkennen und
kindliche Autisten, mit dem man das Ausmaß an »Theory- mit den eigenen zu vergleichen.
28.7 · Funktionen und Störungen des Präfrontalkortex: exekutive und soziale Funktionen
795 28

Box 28.4. Rain Man’s Botschaft: Neurobiologie von Autismus und Savants
In dem Film »Rain Man« spielt der amerikanische Schau-
spieler Dustin Hofman einen erwachsenen Autisten, der
einige wenige extrem gut ausgebildete Fertigkeiten be-
herrscht: Er erkennt innerhalb von Millisekunden, dass 98
Streichhölzer zu Boden fielen, er kann extrem schnell beim
Glücksspiel die Wahrscheinlichkeiten der Treffer errechnen
u. a. Die Abbildung zeigt oben die Zeichnung eines drei-
jährigen autistischen Savant (franz. »Gelehrte(r)«); gesun-
de Dreijährige sind nicht in der Lage, ein Tier derart natu-
ralistisch wiederzugeben. Nur ein kleiner Prozentsatz von
Autisten und geistig Retardierten weist solche Talente
auf. Autisten wehren bereits früh Augen- und Gesichts-
kontakt ab, lernen nicht oder nur unzureichend sprechen
(in ca. 50%), bleiben bevorzugt isoliert, zeigen Bewe-
gungsautomatismen (z. B. Schaukeln) und eine profunde
Aufmerksamkeitsstörung. Nur einige wenige »erholen«
a sich von der Störung, die offensichtlich angeboren ist und
auf einen polygenetischen Vererbungsgang mit Störun-
gen der Hirnentwicklung während der Schwangerschaft
zurückzuführen ist. Bis heute und das ganze 20. Jahrhun-
dert hindurch haben Psychoanalytiker und Tiefenpsycho-
logen fälschlich behauptet, die Mütter würden diese
Kinder emotional tiefgreifend ablehnen. Heute wissen wir,
dass jene Hirnregionen, die selektive Aufmerksamkeit
Birbaumer (1999). Reprinted by permission from Macmillan Publishers Ltd: Nature.

(G. cinguli), Gesichter-Erkennen und soziale Interaktion


(fusiformer Gyrus und Amygdala) und expressive Sprache
sowie Automatismen (Kleinhirn) steuern, beeinträchtigt
sind. Bei Savants gibt es erste Ergebnisse (Abb.), dass sie
extrem rasch und vorbewusst Zugriff auf primäre präat-
tentive (<100 ms) informationsverarbeitende Hirnmecha-
nismen haben.

Literatur: Birbaumer N (1999) Rain Man’s revelations. Nature 398:


297–298

a Zeichnung eines dreijährigen autistischen Mädchens von Selfe.


b Ereigniskorrelierte Hirnpotenziale (EKP) auf eine schwierige
Rechenaufgabe, die der Savant (rote Kurve) viel schneller als die
vergleichbare Kontrollgruppe (schwarze Kurve) löst. Man erkennt,
dass die frühen (unbewussten) Komponenten des EKP deutlich
erhöht sind, während die späten (bewussten) erniedrigt sind. Dies
wird als verbesserte, tiefe Verarbeitung frühen Reizeinstroms und
schlechte späte Verarbeitung gedeutet.
796 Kapitel 28 · Kognitive Prozesse (Denken)

Intuitives Verstehen von Handlungen zeigt das Entladungsverhalten von Neuronen in Area F5 des
und Gefühlen anderer Affen bei der Beobachtung von Bewegungen einer mensch-
Im ventralen prämotorischen Kortex (BA F5 des Affen, pars lichen Hand (Abschn. 13.3.5 und 17.5.1).
opercularis des inferioren frontalen Gyrus beim Menschen) Wenn emotionale Ausdrucksäußerungen anderer Men-
und im rostralen inferioren Parietallappen reagieren die schen beobachtet werden und sie empathisch-ideomo-
Neurone vor allem auf Beobachtungen der zielgerichteten torisch ohne eigene Motorik nachvollzogen werden, sind
Bewegungen anderer oder der eigenen Bewegungen im Spie- beim Menschen, je nach Emotion z. B. bei Ekel, Schmerz
gel (daher die Bezeichnung »Spiegelneurone«). . Abb. 28.40 die vordere Inselregion und bei Furcht Teile der Amygdala

a c

28

b d

Aus Gallese V, Keysers C, Rizzolatti G (2004). Mit freundlicher Genehmigung von Elsevier.

. Abb. 28.40a–d. Spiegelneurone. Die Bewegungen des mensch- ander 10 aufeinander folgende Durchgänge derselben Handbewe-
lichen Versuchsleiters sind unter jeder Abbildung gezeigt. Bei (c) ist gung aufgezeichnet. Man erkennt, dass in a und b das Neuron aktiv
nur eine Bewegungsintention wie bei a) dargestellt, in (b) dieselbe feuert, unabhängig davon, ob der Bewegungserfolg sichtbar ist oder
Greifbewegung, die aber nur am Beginn der Bewegung erkennbar nicht, dann aber in c und d, wenn die Bewegung ihre »Bedeutung«
ist und dann im Dunkel verschwindet (b, d). In c und d fehlt das Ziel- verliert, der Aktivitätsanstieg ausbleibt
objekt. In den jeweils oberen Abschnitten von a bis d sind unterein-
28.8 · Störungen des Denkens: Die Schizophrenien
797 28

aktiv (. Abb. 27.17 und 27.25) zusätzlich zum ventralen Stabilität der Verhaltenspläne fehlen. Positive und negative
prämotorischen Kortex (vor der Broca-Region). Das Er- Verstärker haben nur kurzfristig – und wenn sie unverzö-
kennen der emotionalen Bedeutung des Verhaltens anderer gert gegeben werden – einen verhaltenssteuernden Ein-
erfolgt schnell und intuitiv, eine längere kognitive Bewer- fluss.
tung ist nicht notwendig. Sehen oder spüren wir peripher-
G Antisoziales Verhalten und Psychopathie können
physiologische Begleiterscheinungen anderer bei emotio-
auch durch ausgedehnte Schädigungen des Prä-
nalem Verhalten, so wird noch zusätzlich der somatosen-
frontalkortex entstehen. Vor allem der Orbitofrontal-
sorische Parietalkortex aktiviert (. Abb. 1.2).
kortex ist für die Steuerung positiver sozialer Inter-
G Ein ausgedehntes präfrontal-parietales Spiegel- aktion wichtig.
neuronensystem sorgt dafür, dass wir sofort und
intuitiv die Bewegungen, Absichten und Gefühle 28.8 Störungen des Denkens:
anderer »verstehen«. Die Schizophrenien

Antisoziales Verhalten 28.8.1 Entstehungsgeschichte (Ätiologie)


Wir haben bereits in Kap. 27 (. Abb. 27.17) ausführlich dar-
gestellt, dass Verlust oder Einschränkung des Furcht-Kon- Symptomatik
ditionierungssystems zu schweren Störungen der Soziali- Schizophrenie besteht aus verschiedenen Verhaltensstö-
sation und zu Kriminalität und Psychopathie führen. Dabei rungen, deren Differenzierung in klar abgrenzbare Sub-
spielt vor allem der orbitale Präfrontalkortex eine zentrale gruppen schwierig ist. Gemeinsam sind den verschiedenen
Rolle, da er die Wirkungen positiver und negativer Verstär- Formen der Schizophrenie Symptome, die in unterschied-
ker nach einem intendierten Verhalten abschätzt. Wie in licher Kombination auftreten: bizarrer Wahn, Verfolgungs-
. Abb. 27.17 sind aber auch der vordere Inselkortex und die und Eifersuchtsideen, akustische Halluzinationen, inkohä-
Amygdala und der parietal-somatosensorische Kortex bei rente und lose Assoziationen, Verlust sozialen Funktionie-
antisozialen Persönlichkeiten und Psychopathen deutlich rens.
reduziert aktivierbar. Wenn die Wahnvorstellungen logisch und kohärent
Bilaterale Frontalläsion unter Einschluss der orbitalen sind und Eifersuchts- und Verfolgungsideen dominieren,
Anteile führt weniger zu Intelligenzdefekten (der IQ bleibt sprechen wir von paranoider Störung. Alle genannten
häufig gleich) als zu einem pseudopsychopathischen Zu- Symptome gehen oft mit sozialer Isolation und flachen oder
standsbild (Kap. 27). Die psychopathischen Verhaltens- extrem unangepassten Affekten einher.
weisen umfassen jene Störungen, die früher unter dem Schizophrenie beginnt bei Männern im jüngeren Er-
unklaren Begriff ethischer Gefühle zusammengefasst wachsenenalter, bei Frauen kommt es zu einer erneuten
wurden. Häufung des Auftretens in der Menopause, bzw. bei Abfall
Heute verstehen wir unter pseudopsychopathischen des Östrogenniveaus. Die Krankheit führt selten zu voll-
Zuständen einige beobachtbare Verhaltensweisen, die ständiger Remission auf früheres soziales Funktionieren.
denen der psychopathischen Störung ähnlich sind. Es fehlt Trotzdem sind weitgehende Besserungen vor allem bei den
allerdings die Verhaltensstabilität des echten Psychopathen, akuten Schizophrenien mit plötzlichem Einsatz und posi-
die zeitliche Konstanz im Verhalten bei den Frontalläsionen; tiver Symptomatik eher möglich als bei schleichend ver-
innerhalb weniger Minuten können normalerweise unver- laufenden, prämorbid schlecht angepassten Schizophrenien
einbare Verhaltensweisen abwechselnd in schneller Folge mit negativ-defekter Symptomatik (isoliert, apathisch,
auftreten. Das Verhalten des Psycho(Sozio)pathen ist da- 7 unten).
gegen über das ganze Leben hinweg vergleichbar stabil,
G Die Schizophrenien sind eine heterogene Gruppe
wenn auch sozial destruktiv.
von Störungen mit Wahn-, Verfolgungs- und Eifer-
Personen mit ausgedehnten bilateralen Frontalschädi-
suchtsideen, akustischen Halluzinationen und losen
gungen zeigen folgende soziale Hauptsymptome: Unfähig-
Assoziationen. Positive Symptome bilden sich eher
keit, Zukunftspläne zu verwirklichen, auch wenn diese
zurück als Negativsymptomatik mit sozialer Isolation.
nur wenige Minuten in die Zukunft reichen, Oberflächlich-
keit, gestörtes passives Vermeiden. Nicht-Ertragen von
Verstärkeraufschub, soziale Auffälligkeit durch Taktlosig- Denkstörungen
keit, verbale Inkontinenz, im Extremfall auch Inkontinenz Da bei Schizophrenen bei vielen Denkaufgaben z. T.
der Ausscheidungen sind Folgeerscheinungen dieser fun- schwere Störungen festgestellt wurden, erbrachte vor allem
damentalen kognitiven Störung. Bei Läsion der linken Seite das Studium jener Aufgaben, die Schizophrene ebenso gut
kommen Anhedonie (Verlust der Verstärkerqualitäten, oder besser wie Normalpersonen bewältigen, im Vergleich
Lustverlust), Apathie und stereotypes Verhalten hinzu. Of- zu den unbewältigten Aufgaben, wichtige Einsichten in die
fene Kriminalität ist selten, da der Antrieb und die zeitliche Informationsverarbeitung dieser Personen (Beispiele dafür
798 Kapitel 28 · Kognitive Prozesse (Denken)

unten). Vor allem in der Bildung neuer und origineller lingen, dass das Risiko vererbt wird. Allerdings scheint
Assoziationen sind Schizophrene oft Gesunden überlegen. dieses genetische Risiko nur die Empfindlichkeit für eine
Drei Defizite sind zentral, die miteinander zusammen- Wachstumsstörung der Zellen im Gehirn des Embryos zu
hängen: bestimmen (7 unten). Letzteres wiederum könnte mit einem
4 mangelnde Selektivität von Aufmerksamkeitsprozes- Virus zusammenhängen, der in nördlichen, kalten Regionen
sen; häufiger ist: Schizophrene werden eher in Wintermonaten
4 kontrollierte Suche (»controlled search«) im KZG ist geboren und nach Grippeepidemien steigt die Wahrschein-
erschwert (Kap. 21 und 25); lichkeit der Geburt eines schizophrenen Kindes.
4 lose Assoziationen, vor allem im sprachlich-akus- Bei Überlegungen zur genetischen und neuroche-
tischen Bereich, sind häufig (z. B. wird auf »Haus« nicht mischen Ätiologie der Schizophrenien darf nicht vergessen
»wohnen«, sondern »Hölle« assoziiert). werden, dass nur die Vulnerabilität, das Risiko für die Er-
krankung, vererbt und/oder durch eine intrauterine virale
G Bei Schizophrenien ist die selektive Aufmerksamkeit
Infektion erhöht wird, der Ausbruch aber durch eine Viel-
und kontrollierte Suche gestört und lose Assozia-
zahl entwicklungspsychologischer und sozialer Belastungs-
tionen dominieren.
faktoren begünstigt wird (Diathese-Stress-Modell): z. B. ist
in den Entwicklungsländern der Verlauf günstiger als in
Entwicklung Industrieländern. Familien mit wenig ausgedrückten kri-
Die oben angeführten 3 Hauptsymptome lassen sich bereits tischen Emotionen, eine stabile Partnerschaft und Zu-
vor Ausbruch der Erkrankung im Kindes- und Jugendalter gehörigkeit zur Mittel- und Oberschicht stellen Schutzfak-
erfassen: In Längsschnittstudien von Kindern schizophre- toren dar, die eine Dauertherapie mit Neuroleptika in vielen
ner Mütter ergeben sich deutliche Störungen des Aufmerk- Fällen überflüssig machen.
28 samkeitsverhaltens bei den Kindern solcher Mütter: Die Eine Reihe von genetischen Abweichungen wurden bei
Habituation der Hautwiderstandsreaktion auf wiederholte Schizophrenien gefunden, z. B. auf Chromosom 22q11 eine
einfache Reize ist verlangsamt. Während Kinder, die später Deletion (Kap. 23) von 30 Genen, die mit dem starren Ge-
nicht erkranken, nach 10 hintereinander dargebotenen Tö- sichtsausdruck der Kranken zusammenhängen: Das Neuro-
nen keine Reaktion des Hautwiderstands mehr aufweisen, regulin-1-Gen, das die neuronale Migration in der Ent-
reagieren die Risikokinder auch noch nach dem 10. Reiz wicklung und NMDA-Rezeptorfunktion steuert, und das
gleich stark (Abschn. 21.14 und 11.3.3). D-Aminosäure-Oxidase-Gen (DAAO), das ebenfalls NMDA-
Der Reiz behält also seinen Neuheitswert trotz seiner Rezeptorfunktionen beeinflusst, sind mutiert.
offensichtlichen Bedeutungslosigkeit bei. Unwichtiges wird
G An der Entstehung der Schizophrenie sind verschie-
nicht von Wichtigem unterschieden, das Aufmerksamkeits-
dene genetische Defekte beteiligt, die das Risiko für
system (Kap. 21) reagiert unselektiv und intensiv (Abschn.
eine Wachstumsstörung der Nervenzellen erhöhen.
13.2.2, mangelnde Prä-Puls-Inhibition); man spricht daher
Stress kann die genetische Vulnerabilität fördern.
auch oft von einer Überflutung der Aufmerksamkeit, des
Gene, die NMDA-Rezeptorfunktionen steuern, sind
KZG und des verbalen Arbeitsgedächtnisses. In Aufgaben,
mutiert.
wo auf Zielreize schnell reagiert und auf ähnliche oder ab-
lenkende Reize nicht reagiert werden soll (z. B. im »conti-
nuous performance test«, CPT, in dem schnell auf Buchsta- Familiäre Interaktion
ben reagiert und auf bestimmte Buchstaben die Reaktion Verschiedene Faktoren scheinen das Auftreten dieser
unterlassen werden muss), schneiden Kinder schizophrener Denkstörungen zu begünstigen: Geburtskomplikationen
Eltern, die später erkranken, deutlich schlechter ab als Kin- wie Anoxie oder extrem langer Geburtsverlauf, traumatische
der, die später nicht erkranken (bei einem schizophrenen Lebensereignisse, z. B. Tod eines Familienangehörigen, und
Elternteil beträgt die Wahrscheinlichkeit des Auftretens ei- Kommunikationsstörungen in der Familie. Schizophrene,
ner schizophrenen Erkrankung bis zu 15%, bei 2 erkrankten die in Familien leben, wo ein oder mehrere Angehörige zu
Eltern 40%, in der Allgemeinbevölkerung 1%). stark negativen und kritischen Gefühlsäußerungen nei-
gen, erleiden häufiger Rückfälle und benötigen eine höhere
G Bereits vor der Pubertät ist bei später erkrankenden
Dosis an Medikamenten. Bei Konfrontation mit einem sol-
Kindern schizophrener Eltern die Habituation auf
chen Familienangehörigen zeigen Schizophrene anhaltend
einfache Reize verlangsamt. Dadurch kommt es zu
erhöhte autonome Erregung (erhöhte Herzrate, verstärkte
einer Überflutung der Aufmerksamkeit.
Hautleitfähigkeit). In diesen Situationen verlangsamt sich
die Habituationsrate und die Aufmerksamkeitsstörungen
Genetik und Schwangerschaft treten verstärkt auf.
Obwohl bisher kein Gen für das Risiko, an Schizophrenie
zu erkranken, gefunden wurde, zeigen die Untersuchungen G Hoch emotionale, kritische Familieninteraktionen
an getrennt aufgewachsenen ein- und zweieiigen Zwil- fördern den Ausbruch schizophrener Episoden.
28.8 · Störungen des Denkens: Die Schizophrenien
799 28
Kontrollierte Suche im Arbeitsgedächtnis G Halluzinationen sind Folgen extrem starker Bedeu-
und lose Assoziationen tungszuweisung zu unwichtigen Reizen und
Die Störung in kontrollierter Informationsverarbeitung mangelnden konsistenten Erwartungen an Selbst-
wird erst mit Ausbruch der Krankheit sichtbar und äußert und Fremdgespräche.
sich vor allem bei komplexen sprachlichen Funktionen,
weniger bei Gestaltaufgaben. Automatisierte Denkprozesse
sind oft ungestört. Wenn im Arbeitsgedächtnis (dorsolate- 28.8.2 Neuronale Grundlagen
raler Präfrontalkortex) aktive und bewusste (kontrollierte) der Schizophrenien
Operationen durchgeführt werden sollen, kommt es zu
gravierenden Leistungseinbußen: z. B. treten lange Pausen Neuronale Grundlage von Halluzinationen
vor Sätzen und Wörtern auf, wo Entscheidungen über Rich- Während akustischer Sprachhalluzinationen sind Regio-
tung und Verlauf der Sprache gemacht werden müssen. In nen um das Wernicke Areal aktiviert, während visueller
diesen Pausen fließt irrelevante Information ins Arbeits- die visuellen Regionen, usw. Der inferotemporale Kortex
gedächtnis und die Patienten finden die passenden Asso- ist überzufällig häufig bei Halluzinationen Schizophrener
ziationen nicht mehr. Schizophrene sind daher gute Zu- betroffen. Dies wird durch Hyperaktivität im ventralen
hörer und schlechte Sprecher in allen Situationen, in denen (dopaminergen) Striatum, Putamen und Pallidum erklärt,
sie selbst eine sprachliche Assoziation finden müssen, die was die Aktivität in der dopaminergen S. nigra pars reti-
für Zuhörer verständlich ist (z. B. schwer zu erkennende cularis erhöht, und von dort werden der N. ventralis ante-
Figuren so beschreiben, dass ein Zuhörer sie erkennen rior des Thalamus und dann der Temporalkortex erregt
kann). (. Abb. 28.41).
Obwohl die schwachen assoziativen Verbindungen zwi- Für diese Hypothese sprechen nicht nur die Hyperak-
schen sprachlich-konzeptuellen Zellensembles den Aufbau tivierungen im PET und fMRT und MEG/EEG in diesen
konsistenter Erwartungen und von Verhaltensplänen er- Arealen (meist der linken Hemisphäre), sondern auch die
schweren, schneiden Schizophrene in Aufgaben, die Ori- durch L-Dopa-Therapie ausgelösten gelegentlichen Hallu-
ginalität von assoziativen Verkettungen verlangen, besser zinationen bei Parkinson-Patienten. Wenn gleichzeitig die
als Gesunde ab. Sie erfinden mehr ungewöhnliche Worte in lateral-präfrontale Kontrolle zielgerichteter Aufmerksam-
Wortassoziationstests, ihre künstlerischen Produkte zeich- keit im Arbeitsgedächtnis versagt, wofür die Unterdurch-
nen sich oft durch die Ungewöhnlichkeit der Kombinati- blutung dieser Areale bei Schizophrenen spricht, so sind
onen und Einfälle aus.
G Das Arbeitsgedächtnis ist bei Schizophrenen ge-

Nach Kandel ER, Schwartz JH, Jessell TM (2000). Mit freundlicher Genehmigung
stört, dadurch fließt zu viel irrelevante, aber oft auch
originelle Information in das Denken.

Halluzinationen
Die beschriebenen Denkstörungen führen zu den Wahn-
vorstellungen und Halluzinationen Schizophrener: Ange-
sichts der mangelnden Auswahl von Reizen durch das Auf-
merksamkeitssystem und durch die erhöhte Aktivität des
dopaminergen Anreizsystems (Kap. 26) erhalten eine Viel-
der McGraw-Hill Companies.

zahl von Ereignissen und Gedächtnisinhalten eine über-


starke Bedeutung (z. B. das Flüstern einer Gruppe wird
zur Verschwörung). Stille Selbstgespräche werden als laute
Stimmen wahrgenommen, da keine konsistenten Erwar-
tungen zu dem Gesprochenen existieren; die Überlastung
des (linkshemisphärischen) Arbeitsgedächtnisses mit unse-
. Abb. 28.41. Akustische Halluzinationen bei der Schizophre-
lektierten Reizen verursacht die bizarren, unzusammen-
nie. Aus PET-Studien an halluzinierenden Patienten zeigt sich Akti-
hängenden Assoziationen. Wie wenn die eigene Stimme im vierung in einem neuronalen Schaltkreis zwischen Basalganglien
Lautsprecher das erste Mal fremd erscheint, weil man die (Putamen und Substantia nigra), anteriorem-ventralen Thalamus und
Verzerrungen nicht erwartet hat, so erscheint dem/der inferotemporalem Kortex (Caudatus). Zusätzlich findet man erhöhte
Schizophrenen das eigene Denken im Selbstgespräch Aktivierung im Hippokampus, Cingulum und je nach emotionalem
Gehalt in paralimbischen Regionen und orbitofrontalem Kortex. Bei
fremd und daher von außen (Gott, Feinde, Tote) aufgeprägt.
sprachlicher Beteiligung (Stimmen) ist auch der visuell-auditorische
Die Inhalte der Halluzinationen sind aber auf die eigene Kortex um das Wernicke-Areal erregt. Das Broca-Areal dagegen ist
Biographie und Gedächtnis bezogen, daher werden sie als gehemmt und die Überaktivierung des Thalamus kann die exzessive
persönlich bedrohlich erlebt. »Durchlässigkeit« der selektiven Aufmerksamkeit erklären
800 Kapitel 28 · Kognitive Prozesse (Denken)

die Halluzinationen nicht steuerbar und erscheinen ich- anstieg (z. B. wenn ein seltener Reiz erscheint, auf den man
fremd (. Abb. 20.21). Die Ich-Fremdheit kann auch durch reagieren muss) eher einen Abfall der Amplituden als den
die Unteraktivität in den in 28.7 beschriebenen »Theory-of- erwarteten Anstieg, was die Aufmerksamkeitsstörung bei
mind«-Arealen bedingt sein. Schizophrenen widerspiegelt (paradoxe Amplitudenre-
duktion).
G Akustische Halluzinationen sind von Überaktivie-
rung der auditorischen Temporalareale und im ven- Struktur des Temporallappen-Hippokampus-
tralen limbisch-striatalen Dopaminsystem begleitet. Systems
Gleichzeitig sind die dorsolateralen präfrontalen
. Abb. 28.42 zeigt die ungeordnete Zellorientierung im
Areale des Arbeitsgedächtnisses unteraktiviert.
Hippokampus Schizophrener, vor allem des Typs II. Der
mediale Temporalkortex ist häufig verdünnt und der ante-
Positiv- und Negativsymptomatik riore Hippokampus links verkleinert. Das Zellwachstum in
Es werden heute oft 2 Typen schizophrener Patienten un- dieser Region findet im 2. und 3. Trimester der Schwanger-
terschieden, deren Erkrankung auf verschiedene Ursachen schaft statt und stellt ein zusätzliches Argument für die em-
rückführbar sein soll: bryonale Ursache zumindest einiger Schizophrenien dar.
Typ-I-Schizophrenie hat akustische Halluzinationen Die Tatsache, dass die Störung erst nach der Pubertät bei
und bizarre Wahnvorstellungen. Vor Auftreten der akuten Männern und häufig nach der Menopause bei Frauen auf-
Symptome wird keine bedeutsame länger bestehende Ver- fällig wird, spricht für eine Auslösefunktion von Andro-
änderung von den Angehörigen und dem Patienten fest- genen im Gehirn von Schizophrenen.
gestellt, vor allem keine extreme soziale Isolation. Diese
G In der Temporalregion und im Hippokampus Schizo-
Gruppe weist eine sog. Positivsymptomatik auf, d. h.
28 plötzliche, intensive Krankheitszeichen; Typ-I-Patienten
phrener findet man oft eine chaotische Ausrichtung
der Nervenzellen, die während der Schwangerschaft
sprechen gut auf medikamentöse Behandlung an, die
ihre Lage erhalten.
Symptome werden nachhaltig reduziert.
Typ-II-Schizophrenien zeigen lange vor Auftreten der
Symptome sozialen Rückzug, intellektuellen Abbau, ihre
Wahnvorstellungen sind einfach, die Halluzinationen des-
organisiert. Der Verlauf ist schleichend und chronisch, über
Jahre verfolgbar und kaum reversibel. Wir sprechen daher
von Negativsymptomatik. Typ-II-Patienten sprechen nicht
oder schlecht auf antipsychotische Behandlung an.
Die beiden Gruppen lassen sich auch neurologisch
unterscheiden. Typ-II-Patienten zeigen deutliche Zeichen
einer Degeneration des Gehirns: sie haben erweiterte
Ventrikel, Hippokampus und medialer Temporalkortex
sind dünner, was mit dem intellektuellen Verfall korreliert.
Die genetische Vulnerabilität der Typ II-Schizophrenien für
eine Viruserkrankung, die später zur schizophrenen Stö-
rung führt, dürfte größer sein als für Gruppe I. Ähnlichkei-
Nach Kolb B, Whishaw IQ (2006). Mit freundlicher Genehmigung von Worth.

ten zwischen der Typ-II-Gruppe und Patienten mit mul-


tipler Sklerose sprechen für eine immunologische Erkran-
kung des ZNS. In der Tat fand man in der zerebrospinalen
Flüssigkeit einer Subgruppe von Schizophrenen Antikörper
gegen eine virale Infektion, ähnlich dem Herpes-Virus
(7 die jahreszeitlichen Schwankungen, die wir oben berichtet
haben).
Allerdings zeigt Gruppe I auch neurophysiologische
Änderungen. Die frontale Hirnregion ist vor allem in der
linken Hemisphäre gegenüber der okzipitalen mangelhaft
durchblutet, die frontale Glukoseaufnahme im PET (Kap. 20)
ist ebenfalls reduziert. Die kortikale glutamaterge synap-
tische Stimulation der Basalganglien ist reduziert, was den
Mangel an Hemmung auf die dopaminergen Systeme erklä-
ren könnte (Kap. 13). Die ereigniskorrelierten Hirnpoten- . Abb. 28.42a, b. Pyramidenzell-Schichtung im Hippokampus
ziale (Kap. 21) zeigen bei gefordertem Aufmerksamkeits- einer gesunden (a) und gleich alten schizophrenen Person (b)
28.8 · Störungen des Denkens: Die Schizophrenien
801 28

Nach Kandel ER, Schwartz JH, Jessell TM (2000). Mit freundlicher Genehmigung der McGraw-Hill Companies.
. Abb. 28.43. Synthese und Abbau von Dopamin an einer blockieren die D2-Rezeptoren und die präsynaptischen Autorezepto-
dopaminergen Synapse des mesolimbischen Systems. 1 Enzy- ren. 5 Wiederaufnahme: Dopaminaktivität wird gedrosselt, wenn
matische Synthese von Dihydroxyphenylalanin (DOPA) aus Tyrosin. Dopamin in die präsynaptische Endigung aufgenommen wird. Kokain,
L-Dopa stimuliert die Synthese, α-Methyltyrosin hemmt sie. 2 Speiche- Amphetamin und Benztropin (Anticholinergikum) hemmen die
rung: Reserpin (irreversibel) und Tetrabenazin blockieren die Wieder- Wiederaufnahme, Dopamin akkumuliert im synaptischen Spalt.
aufnahme und Speicherung von Dopamin. 3 Ausschüttung: 6 Abbau: Monoaminoxidase (MAO) baut Dopamin ab, Pargylin hemmt
Amphetamin und Tyramid stimulieren die Ausschüttung. 4 Rezep- MAO, genauso wie Katechol-O-Methyltransferase (COMT)
torinteraktion: Antipsychotika wie Haloperidol oder Phenotiazine

Das mesolimbische Dopaminsystem Wirkung, während Blockade des D1-Rezeptors nur wenig
Eine pharmakologische Substanz, die die Schizophrenie Wirkung auf die Symptomatik aufweist. Eine generelle
positiv beeinflusst, ist umso wirksamer, je leichter sie eine Überaktivität dopaminerger Neurone liegt also nicht vor.
Bindung mit Dopaminrezeptoren an den Zellmembranen (Der D1-Rezeptor an dopaminergen Zellen unterscheidet
des mesolimbischen Systems eingeht und den Rezeptor sich vom D2-Rezeptor durch seine Koppelung an cAMP,
inaktiviert. Das mesolimbische Dopaminsystem (Kap. 5) während der D2-Rezeptor die cAMP-Bildung nicht stimu-
zieht vom ventralen Tegmentum über das mediale Vorder- liert, sondern eher blockiert, Kap. 2.) D2-Rezeptoren wer-
hirnbündel in das basale Vorderhirn und limbische System, den durch Apomorphin erregt und durch neuroleptische
besonders ventrales Striatum mit N. accumbens (Kap. 26). Substanzen blockiert. Dopaminagonisten, wie Ampheta-
Das mesokortikale Dopaminsystem zieht vom selben Ur- min und Kokain, bewirken auch bei Normalpersonen
sprungsort, dem ventralen Tegmentum, direkt in den schizophrenieähnliche Symptome und verschlimmern bei
präfrontalen Kortex. Die Unteraktivität dieses Systems Schizophrenen die Störung.
ist mit Negativsymptomatik bei Typ-II-Schizophrenie ver- . Abb. 28.43 zeigt nochmals zusammenfassend die An-
bunden. griffspunkte von psychotisch und antipsychotisch wir-
Typ I spricht auf Dopaminantagonisten an. Dies spricht kenden Substanzen an einer dopaminergen Synapse im
für eine Überaktivität des mesolimbischen Dopaminsystems mesolimbischen System.
als hauptverantwortliche Ursache der positiven Sympto-
matik bei Schizophrenien. Bei Typ-I-Schizophrenen geht G Vor allem bei Schizophrenen mit Positivsymptoma-
man davon aus, dass die sog. D2-Rezeptoren in der Schi- tik liegt eine Überaktivität der D2-Rezeptoren im
zophrenie entweder vermehrt oder überempfindlich sind mesolimbischen System vor. Neuroleptika unter-
(. Abb. 28.43 sowie Kap. 3 und 4). Substanzen, die den drücken die Denkstörung über Blockade der D2-Re-
D2-Rezeptor blockieren, haben die beste therapeutische zeptoren.
802 Kapitel 28 · Kognitive Prozesse (Denken)

Tardive Dyskinesie Die Blockade des überaktiven mesolimbischen Dopa-


Die Neuroleptika haben eine Reihe unerwünschter Neben- minsystems durch Neuroleptika führt nicht nur zur Unter-
effekte, die häufigsten sind Parkinson-ähnliche Bewegungs- drückung der Denkstörung und Halluzinationen, sondern
störungen, wie Verlust des Gesichtsausdrucks, Muskel- auch zu Anhedonie. Wie wir in Kap. 26 gesehen haben,
starre und Tremor. 10% der Patienten entwickeln zusätzlich spielt das dopaminerge System bei der intrakraniellen
nach langer Medikamenteneinnahme die irreversible Selbststimulation (ICSS) eine wichtige Rolle, seine Hem-
tardive Dyskinesie (langsame Bewegungsfehler): Gesichts- mung reduziert die Wirkung positiver Verstärker und führt
und Zungentics, unverständliche Gesten, Sprechprobleme, daher über medikamentös ausgelöste Anhedonie zu all-
Schlenkern der Arme u. a. Die Rezeptoren entwickeln in gemeiner Sedierung. Die beruhigende und das Aufmerk-
diesem Fall eine Übersensitivität durch Denervierung samkeitssystem (Kap. 21) stabilisierende Wirkung wird mit
(»denervation supersensitivity«): die dauerhafte Hemmung einem die Apathie und Initiativlosigkeit verstärkenden
der Rezeptoren durch die Drogen verursacht kompensato- Effekt erkauft.
risch eine irreversible Übersensitivität auf den blockierten Die Überaktivität des mesolimbischen Dopaminsys-
Transmitter. tems als Anreizsystem, wie wir es in Kap. 26 beschrieben
Die Parkinson-Symptome entwickeln sich durch Blocka- haben, könnte auch einige Symptome der Schizophrenie
de nicht nur des mesolimbischen Systems, sondern auch der erklären: Da dieses System positive Verstärkung und An-
Dopaminrezeptoren der Basalganglien und der Substantia reizmotivation erzeugt, führt Überaktivität zur Verstär-
nigra. Eine lokale Wirkung auf das mesolimbische System kung einer Vielzahl von Reizen und Reaktionen. Auch Un-
allein ist bisher nicht erreichbar. wichtiges und Unzusammenhängendes wird plötzlich be-
deutsam und verfolgt. Die Aufmerksamkeitsselektion bricht
G Durch die Dopaminantagonisten können Parkinso-
zusammen. Genau dies sind die hervorstechendsten Sym-
28 nismus und im Extremfall schwere, irreversible
ptome der schizophrenen Störung.
Bewegungsstörungen ausgelöst werden.

G Neuroleptika entfalten ihre therapeutische Wir-


Anhedonie kung bei Schizophrenen auch durch Blockade posi-
Unter Anhedonie verstehen wir die Tatsache, dass positive tiver Verstärkerwirkung und Anreizmotivation.
Verstärker (Speisen, sexuelle Aktivität, freundschaftliche Die resultierende Anhedonie unterdrückt die Ver-
Beziehungen, künstlerische Aktivitäten, Naturerlebnisse) stärkung von Wahnideen und bewirkt Antriebs-
bei manchen Menschen nicht als positiv, sondern neutral losigkeit.
empfunden werden.

Zusammenfassung

Die Kognitiven Neurowissenschaften befassen sich mit Die Funktionen der rechten und linken Hemisphäre und
den neuronalen Grundlagen von anderer kognitiv-kortikaler Areale sind durch Lernen
5 Sprache, modifizierbar.
5 Vorstellungen,
5 Konzeptbildung, Syntaktische Verarbeitung und Produktion äußern sich in
5 Problemlösen und Intelligenz. 5 links-perisylvischen hochfrequenten Oszillationen im
EEG/MEG sowie in
Die rechte Hemisphäre bevorzugt räumlich-ganzheit- 5 ereigniskorrelierten Hirnpotenzialen mit einer Latenz
liche kognitive Prozesse, die linke Hemisphäre sequen- von 200–700 ms.
ziell-zeitliche.
Die linke perisylvische Region ist beim Menschen Semantische Verarbeitung findet in beiden Hemisphären
besonders ausgedehnt, assoziiert in einem ausgedehnten präfrontalen medial-parietalen
5 akustisch temporale, assoziativen Netzwerk statt.
5 visuell-räumlich parietale, 5 Agrammatismus und Aphasien sind primär links-
5 somatisch postzentrale und hemisphärisch.
5 motorisch-artikulatorische 5 Alexien und Störungen des Sprachverständnisses
Information und bildet so die Voraussetzung für können beidseitig sein.
Sprachentwicklung und Syntax. 5 Agraphie (Störungen des Schreibens), Apraxie
(Störungen der Planung und koordinierten
6
Literatur
803 28

6
Ausführung von Willkürbewegungen) sowie Dys- Die Präfrontalregion umfasst
lexien (Lese-Rechtschreib-Störung) sind auf lokale 5 prämotorische Anteile für Planung und Durchführung
Läsionen oder Unteraktivierungen primär der linken von Handlungen,
parietotemporalen Regionen zurückzuführen. 5 dorsolaterale Anteile für Funktionen des Arbeits-
gedächtnisses,
Neglekt und Extinktion betreffen vor allem Läsionen des 5 medial-ventrale Anteile für konsistente Zukunftser-
rechten parietotemporalen Gebietes, das als assoziatives wartungen und Zielhierarchien des Verhaltens,
Koordinationsnetzwerk zwischen allen sensorischen 5 orbitale Anteile zur Bewertung von Verstärkern sowie
Eingängen dient und Aufmerksamkeit gemeinsam mit 5 alle gemeinsam zur exekutiven Selbstkontrolle und
präfrontalen Strukturen steuert. Verstärkeraufschub notwendigen Abschnitte.

Der Temporallappen ist ein besonders heterogenes Schwere Störungen kognitiver Funktionen sind
Gebilde zur Koordination 5 Demenzen, besonders Alzheimer (cholinerge und
5 expliziten Gedächtnisses und Kontexterinnerung, temporal-limbische Gedächtnisstrukturen),
5 hierarchischer Analyse der Bedeutung visueller und 5 Parkinson-Erkrankung (Basalganglien),
auditiver Information, 5 Schizophrenien (Präfrontalkortex und mesolimbisches
5 der Kategorisierung von Wahrnehmungsinhalten Dopaminsystem und Temporalregionen mit
und Begriffsbildung sowie Hippokampus).
5 sensorisch-musikalischer Funktionen.

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Anhang
Glossar – 807

Abkürzungsverzeichnis – 821

Quellenverzeichnis – 825

Sachverzeichnis – 839

Über die Autoren – 882

»Wenn das Unerwartete nicht erwartet wird,


wird man es nicht entdecken,
da es dann unaufspürbar ist
und unzugänglich bleibt.«

Heraklit nach Clemens v. Alexandria

N. Birbaumer, Biologische Psychologie, DOI 10.1007/978-3-540-95938-0,


© Springer Medizin Verlag Heidelberg 2010
807

Glossar
Für dieses Glossar mussten wir notgedrungen eine Auswahl aus der Vielzahl an Fachbegriffen in diesem Lehrbuch treffen.
Der Studentische Beirat des Springer Verlags war uns dabei behilflich – und wir bedanken uns an dieser Stelle herzlich für
die Rückmeldungen. Der Schwerpunkt des Glossars liegt auf den naturwissenschaftlichen/physiologischen Fachbegriffen.
Alle Begriffe sind selbstverständlich auch im Text erklärt und können über das Sachverzeichnis gefunden werden. Auf der
Website zu diesem Lehrbuch, www.lehrbuch-psychologie.de, finden Sie darüber hinaus eine erweiterte und ständig ak-
tualisierte Version dieses Glossars.

Absteigendes Retikulärsystem. Verbindung von der For- Alzheimer Demenz. Eine Form der Demenz, die bevorzugt
matio reticularis (Kerngebiet, Schaltzentrum von Reflexen im mittleren oder höheren Lebensalter auftritt und vor
und Nervenzentren) zum Rückenmark allem durch Verlust des expliziten Gedächtnisses gekenn-
zeichnet ist
Adam-Prinzip. Erst durch Einwirkung spezifischer Fakto-
ren (Androgene) entwickelt sich aus dem primär bisexuel- Aminosäure. Einfachste Eiweißbausteine: Karbonsäuren,
len Fetus ein männlicher Organismus bei denen ein Wasserstoffion durch eine Aminogruppe
(-NH2) ersetzt ist
Afferenz. Nervenbahn oder -faser, die Erregungen aus der
Peripherie zum zentralen Nervensystem leitet Amygdala. Mandelkern; zum limbischen System gehörende
Struktur des Temporallappens, enthält mehrere Kerne
Agonist (Muskel). Muskeln, die auf ein Gelenk dieselbe
Wirkung, z. B. Beugung oder Streckung, ausüben Androgen. Männliches Geschlechts- und Keimdrüsenhor-
mon; wichtigster Vertreter: Testosteron
Agonist (Nerv). Ein Molekül, z. B. ein Pharmakon, das an
einen (z. B. synaptischen) Rezeptor bindet und dort die Anion. Negativ geladene Ionen, wandern zur Anode
gleiche Wirkung hat wie die körpereigene Substanz (z. B.
Antagonist (Muskel). Gegenspieler der agonistischen Mus-
der Transmitter)
keln (7 oben)
AIDS. Aquired immune deficiency syndrome
Antagonist (Nervensystem). Ein Molekül, das wie ein ago-
Akromegalie. Vergrößerung der distalen Körperteile (Fin- nistisches an einen Rezeptor bindet (7 oben), aber dort
ger, Zehen, Nase, Kinn, Jochbogen…) durch eine Somato- keine Wirkung ausübt und damit den Rezeptor blockiert.
tropinüberproduktion (Wachstumshormon)
anterior. Vorderer/s, vorne gelegen; beim ZNS in Kopfrich-
Aktionspotenzial. Kurzdauernde Potenzialänderung an tung befindlich
Muskel- oder Nervenzellen, die immer gleiche Amplitude
Antidiurese. Einschränkung der Harnbildung in der Niere,
und Dauer aufweist (Alles-oder-Nichts-Gesetz)
durch Wasserausscheidungshemmung oder Reabsorp-
Albumin. Wasserlöslicher Eiweißkörper, der z. B. in Eiern, tionserhöhung
Milch, Blutserum und Urin vorkommt; dient dem Trans-
antidrom. Entgegen der normalen Richtung der Ausbrei-
port freier Fettsäuren im Blut
tung des Aktionspotenzials verlaufend
Algesimetrie. Messung der Schmerzempfindlichkeit
Antigen. Eiweißkörper auf einem Mikroorganismus, durch
Alexie. Unfähigkeit zu lesen den der Körper den Mikroorganismus als fremd erkennt
Alkaloide. Stickstoffhaltige Pflanzenbasen; die Gruppe Apoptose. Physiologischer Zelltod, der durch in der Zelle
umfasst ca. 2000 unterschiedliche Substanzen, die als Ge- selbst gebildete organische Botenstoffe induziert wird
nuss-, Rausch- oder Heilmittel verwendet werden
Äquipotenzialität. Auch Equipotenzialität; gleiches Poten-
Allel. Der vom Vater bzw. der Mutter stammende Anteil des zial an unterschiedlichen Hirn- oder Zellabschnitten
paarig angelegten Chromosoms
Arterie, vertebrale. Ast der A. subclavia; versorgt Halsmus-
Allokortex. Stammesgeschichtlich alte, 3- bis 4-schichtig kulatur, Wirbelkanal, Rückenmark, harte Hirnhaut und
aufgebaute Hirnrinde Kleinhirnteile mit sauerstoffreichem Blut
Allostase. Ungleichgewicht; Störung des Gleichgewichts Astrozyten. Zur Neuroglia gehörende sternförmige, phago-
zwischen Stress und Stressbewältigung im Gehirn zytosefähige Zellen, die über Zellfortsätze mit Nervenzellen
interagieren; bilden die Gliagrenzmembran
Alveole. Kleiner Hohlraum, bezeichnet sowohl die Lungen-
bläschen als auch die Zahnfächer

N. Birbaumer, Biologische Psychologie, DOI 10.1007/978-3-540-95938-0,


© Springer Medizin Verlag Heidelberg 2010
808 Anhang

Asymmetrie, zerebrale. Unterschiedliche Funktionstüch- Bulimie. Krankheitssyndrom, bei dem Essattacken von
tigkeit beider Hirnhälften für bestimmte Verhaltensweisen willkürlichem Erbrechen oder Abführen gefolgt sind, um
und psychische Funktionen einen Gewichtsanstieg zu vermeiden
Atemzeitvolumen. Menge des pro Zeit eingeatmeten Ga- cAMP (cyclisches Adenosin-Mono-Phosphat). Botensub-
ses stanz (second messenger), sowohl intra- als auch extrazellu-
lär; wichtig bei der Glykolyse, Glykogenese, Glykogenolyse,
Aufsteigendes retikuläres Aktivierungssystem (ARAS).
Gluconeogenese, Lipolyse und vielen anderen intrazellulä-
Vom Mittelhirn bis zum Thalamus reichendes Kern- und
ren Stoffwechselprozessen
Zellsystem, welches die Hirnrinde weiträumig erregt
Cannon-Bard-Theorie. Umwelteinflüsse lösen im Gehirn
autokrin. Wirkung eines Hormons zurück auf seine Erzeu-
Emotionen aus, ohne Umweg über die Körperperipherie
gerzelle
Cerebellum. Kleinhirn; Vielzahl von motorischen und ko-
Autorezeptor. Rezeptor in der Membran eines Neurons,
gnitiven Funktionen
der auf den von diesem Neuron freigesetzten Transmitter
reagiert Chemoaffinität. Die Zielzellen ziehen aufgrund chemischer
Reize andere Zellausläufer an, z. B. Wachstum von Axonen,
AV-Knoten. Atrio-ventrikular Knoten; Teil des Herzreizlei-
Dendriten und Synapsen wird so gesteuert
tungssystems, sekundäres Erregungsbildungssystem; liegt
an der Vorhof-Kammer-Grenze und überträgt die Erre- Chemorezeptor. Sinnesrezeptor (Sensor), der auf chemi-
gung vom Vorhof auf die Kammer sche Reize reagiert; syn: Chemosensor
Bahn, extrapyramidale. Alle zentrifugalen Bahnen des Chemosensor. syn: Chemorezeptor
motorischen Systems, die nicht in der Pyramidenbahn ver-
Cholesterin. Wichtigstes im menschlichen Körper vor-
laufen
kommendes Steroid (7 Steroide); Grundsubstanz von z. B.
Barorezeptor. Druckrezeptor in Blut- und Herzvorhof- Steroidhormonen, wie denen der Nebennierenrinde
gefäßwänden, reagiert auf Druck- oder Volumenverände-
Cholinerg. Synapsen, die Azetylcholin als Transmitter be-
rungen
nutzen
Basalganglien (Stammganglien). Subkortikale Kerne im
Chorda tympani. Ein Endast des N. facialis; zieht durch die
Telenzephalon (Nc. Caudatus, Globus pallidus, Putamen)
Paukenhöhle zur Zunge; leitet Geschmacksempfindungen
Bayliss-Effekt. Blutgefäßverengung (Konstriktion) bei der vorderen 2/3 des Zungenrückens zum ZNS
Druckerhöhung
Chromatin. Spezifisch anfärbbare Zellkernsubstanz; aus ihr
Biokatalysator. Sammelbegriff für Enzyme, Hormone und entstehen in der Teilungsphase im Zellzyklus die Chromo-
Vitamine, die chemische Reaktionen beschleunigen somen
Biopolymer. Körpereigene Verbindungen, die bei gleichem Chromosom. Träger der Erbinformation; der Mensch ver-
atomaren Verhältnis unterschiedliche Molekülgrößen ha- fügt über 46 Chromosomen
ben
Chymus. Angedauter Speisebrei, der vom Magen in den
Bläschen (Vesikel), synaptische. Speichern die Überträger- Darm übertritt
substanzen (Transmitter), die präsynaptisch freigesetzt wer-
Codon. Basentriplet in der DNA oder RNA; Grundlage der
den und zur postsynaptischen Potenzialänderung führen
Verschlüsselung der Erbinformation
blinder Fleck. Stelle, an der der Sehnerv die Netzhaut ver-
Corpus callosum. Balken; Nervenfasern, die beide Hirn-
lässt
hälften verbinden
Blut-Hirn-Schranke. Zelluläre Barriere, die die Diffusion
Corti-Organ. Sensorischer Apparat des Innenohrs, der v.a.
von Substanzen aus den Blutkapillaren in das Hirngewebe
aus Hör- und Stützzellen besteht
erschwert und damit das Gehirn vor dem Eindringen toxi-
scher Substanzen, evtl. auch von Pharmaka, schützt Crossing-over. Teilweiser Chromosomenaustausch zwi-
schen gepaarten Chromosomen während der Zellteilungs-
BRAC. Basic rest activity cycle; Grundrhythmus der Schlaf-
phase
Wach-Aktivität
Cupula. Kuppel, Teil des Corti-Organs
Broca-Region. Motorisches Sprachzentrum; im unteren,
linken, posterioren Frontallappen gelegen; Brodmann Cupula cochleae. Stumpfe Spitze der Innenohrschnecke
Areale 44 und 45
809
Glossar

Cupula ampullaris. Kammartige, gallertige Erhöhung der Doppler-Verschiebung. Doppler-Effekt; Änderung der
Bogengangampullen, beinhaltet die Sinneszellen (Sen- Schallwellenfrequenz in Abhängigkeit von der Bewegung
soren) des Gleichgewichtsorgans der Sender und Empfänger
Cycling. Kreisen; z. B. bei Diäten: Der Patient nimmt ab, dorsal. Rückwärts; auf der oder in Richtung der Körper-
nimmt erneut zu, beginnt eine neue Diät, nimmt ab usw. rückseite
Dantrolen. Zentral wirkendes Muskelrelaxanz, welches bei D-Rezeptoren. 7 Differentialrezeptoren
Skelettmuskelspastik nach ZNS-Schäden oder bei maligner
Drüse, endokrine. Ein Organ, dessen Zellen Hormone syn-
Hypertonie eingesetzt wird
thetisieren, speichern und in die Blut- oder Lymphbahn abge-
DAX-1-Gen. Gen am kurzen Ast des X-Chromosoms, ben, z. B. Nebenniere, Thymusdrüse, Schildrüse, Hypophyse
welches für die Entwicklung der Ovarien und weiblichen
Drüse, exokrine. Ein Organ, dessen Zellen Sekrete unter-
Geschlechtsorgane notwendig ist
schiedlichster Zusammensetzung synthetisieren und über
Deafferenzierung. Durchtrennung der Hinterwurzeln des eine Ausführungsgang abgeben (z. B. Schweiß-, Tränen-,
Rückenmarks oder von sensorischen Nerven Speichel- und Verdauungsdrüsen)
deklarativ. Bewusstes Erinnern von Fakten und Ereignis- Drüsenzelle. Zellen, die Stoffe (Hormone, Enzyme, Schleim)
sen bilden und abgeben (Sekretion); unterschieden werden
endokrine und exokrine Drüsen
Dendrit. Baumartig verzweigter Nervenfortsatz, der über
seine Synapsen Nervenimpulse aufnimmt und an den Ner- Dunkeladaptation. Anpassung des Auges an die Dunkelheit,
venzellkörper (Soma) weiterleitet geht mit Verlust des Farbsehens und Verminderung der Seh-
schärfe, aber Verbesserung der Sehempfindlichkeit, einher
Depolarisation(sphase). Phase der schnellen Polarisations-
änderung des Aktionspotenzials, wird auch als Aufstrich Dura mater. Harte, äußere Haut, die Rückenmark und Ge-
bezeichnet hirn umgibt
Depression, synaptische. Abnahme der Amplitude des Effektor. Substanz, die an einer Zelle ihre Wirkung entfaltet
postsynaptischen Potenzials während oder nach langsamer
Efferenz. Vom ZNS zur Peripherie verlaufende Nervenfa-
repetitiver (synaptischer) Aktivierung einer Synapse
ser, die Neurone (in peripheren Ganglien), Muskeln (Herz-,
Desoxyribonukleinsäure. DNS/DNA; Makromolekül, des- Skelett- oder glatte Muskeln), exokrine oder endokrine Drü-
sen Basenreihenfolge die Geninformationen aller Lebewe- sen innerviert. Syn: efferente Nervenfasern innerhalb des
sen (Ausnahme: RNA-Viren) kodiert, Bausteine der Chro- ZNS, welche von einer Zelle oder einem Zellensemble weg-
mosomen führen
Dezerebration. Chirurgische Trennung von Vorderhirn Efferenzkopie. Neuronales, meist motorisches Impulsmus-
und Nachhirn ter, das an andere ZNS-Strukturen als Kopie des Nerven-
erregungsmusters zur Mitinformation gesandt wird
Diastole. Erschlaffungsphase, die auf eine Herzkontraktion
folgt, das Blut fließt aus den Vorhöfen in die Herzkam- Eigenreflex. Kontraktion eines Muskels nach Reizung
mern (durch Dehnung) seiner eigenen (homonymen) Muskel-
spindeln; bekanntestes Beispiel: Patellarsehnenreflex
Differentialrezeptoren. Sinnesrezeptoren (Sensoren), die
v. a. die Änderungsgeschwindigkeit eines physikalischen, Elektroenzephalographie. EEG; Aufzeichnung der Hirn-
chemischen oder thermischen Reizes messen ströme (Summenpotenziale der Großhirnrinde) durch auf
der Kopfhaut angebrachte Elektroden
Differenzlimen. Unterschiedsschwelle; Größe der Verände-
rung der Intensität zu einem Vergleichsreiz, die zu einer Elektrogastrogramm. Aufzeichnung der elektrischen Ak-
schwächeren bzw. stärkeren Empfindung führt tivität (Summenpotenziale) der glatten Muskulatur der
Magenwand
Diffusion. Bewegung von Molekülen aus Gebieten höherer
Konzentration zu niedriger Konzentration bis zum voll- Elektrokardiogramm. EKG; Aufzeichnung der elektrischen
ständigen Konzentrationsausgleich; beruht auf der Brown- Aktivität (Summenpotenziale) der Herzmuskulatur
Molekularbewegung
Elektrokonvulsive Schockbehandlung (ECS). Durch mehr-
Diffusionsgradient. Konzentrationsgefälle zwischen Gebie- maliges (ca. 10 mal) kurzes (0,5 s) Anlegen einer Wechsel-
ten mit unterschiedlicher Konzentration; beeinflusst die spannung (70–120 V) an den Kopf wird ein generalisierter
Geschwindigkeit des Konzentrationsausgleichs epileptischer Anfall ausgelöst; eingesetzt z. B. bei schwerer
Depression, Schizophrenie, Katatonie
810 Anhang

Elektrokortikogramm. Aufzeichung der Summenpotenzi- Eva-Prinzip. Ohne Einwirkung von männlichen Hormonen
ale (Feldpotenziale) der Hirnrinde durch direkt auf das Ge- bildet sich in utero ein weiblicher Organismus aus; nur ein-
hirn aufgelegte Elektroden geschränkt korrekt, da für die weibliche Entwicklung keine
Androgene, aber das DAX-1-Gen notwendig ist
Elektromyogramm. EMG, Aufzeichnung der Aktionspo-
tenziale (Summenpotenziale) von Skelettmuskeln Exozytose. Austritt von Zellen aus den Blutgefäßen

Elektroneurographie. Aufzeichnung der Aktionspotenziale Explizites Lernen. Bewusste Wiedergabe von Gedächtnis-
(Summenpotenziale) der Nerven inhalten; Wissensgedächtnis
Elektrookulogramm. EOG, Aufzeichnung der Augapfelbe- extrafusal. Außerhalb einer Muskelspindel liegend
wegungen durch Messung korneoretinaler Potenziale
Extrapyramidalmotorik. Motorische Systeme, die nicht die
Endigung, präsynaptische. Vor der Erregungsleitungsum- Pyramidenbahn als efferente Bahn benutzen; anatomische
schaltstelle lokalisiertes Ende einer Nervenfaser, hier erfolgt Abgrenzung, die funktionell wenig Sinn macht
die Freisetzung der Überträgersubstanzen auf das nächste
Extravasation. Austritt von Flüssigkeit
Neuron
Faszie. Bindegewebige Hülle um Muskeln
Endokrinologie. Lehre von den Drüsen mit innerer Sekre-
tion, ihrer Funktion und ihrer Hormone Faszikel. Kleines Bündel von Nerven- und Muskelfasern

Endozytose. Aufnahme von Molekülen und Partikeln in die Filamente. Fadenförmige Gebilde
Zelle über eine Einstülpung der Zellmembran
Filtrationsrate, glomeruläre. Volumen des in einer be-
Endplatte, neuromuskuläre. Synapse der motorischen stimmten Zeit in die Nierenkanälchen fließenden gefilter-
Nervenfasern auf einer Skelettmuskelfaser, hier wird die ten Vorharns (ca. 125 ml/min)
Erregung vom Motoneuron an die Muskelfaser weiterge-
Flimmerfusionsfrequenz. Bildfrequenz, bei der Einzelbil-
geben
der zu einem Bild werden, ca. 25 Lichtreize/s
Endplattenpotenzial. Überschwelliges synaptisches Poten-
Formalin. Wässrige Lösung von Formaldehyd mit 10%igem
zial an der Endplatte, das eine Kontraktion der Muskelfaser
Methanol; Anwendung als Desinfektionsmittel oder Kon-
auslöst
servierungsmittel für (Organ)präparate
Energieumsatz. Energieverbrauch pro Zeiteinheit
Formatio reticularis. Intrazerebrale Formation, die sich
Engramm. Gedächtnisspur im Gehirn vom Rückenmark bis zur Brücke und dem Zwischenhirn
erstreckt; wichtiges Koordinationszentrum im ZNS zur
Enzym. Von lebenden Zellen gebildete organische Substanz,
Steuerung von Wachheit
die Stoffwechselvorgänge des Organismus beschleunigt,
7 Biokatalysator Fornix. Faserbündel, das den Hippokampus mit anderen
Hirnteilen verbindet
Epidermis. Oberhaut; äußere Hautschicht, besteht aus drei
Schichten: Regenerations-, Verhornungsschicht und Horn- Fos. Zellkernprotein
haut
Fossa. Höhle, Nische
Equipotenzialität. 7 Äquipotenzialität
Fovea centralis. Zentralgrube, gelber Fleck; Stelle des
Ereigniskorreliertes Potenzial (EKP). Potenzial im Elek- schärfsten Sehens auf der Retina (Netzhaut)
troenzephalogramm nach einem sensorischen, moto-
Fremdreflex. Reflex, bei dem der Sinnesrezeptor vom Er-
rischen oder kognitiven Ereignis
folgsorgan (z. B. Skelettmuskel) räumlich getrennt ist; die
Erregungsleitung, saltatorische. Markhaltige Nervenfa- Reflexzeit ist länger als beim Eigenreflex
sern leiten ein Aktionspotenzial sprunghaft (saltatorisch)
Frontalschnitt. Schnittebene parallel zum Gesicht durch
von einem Ranvier-Schnürring zum nächsten weiter
das Gehirn
Erythrozyt. Rotes Blutkörperchen; scheibenförmige, kern-
Fundus. Boden eines Hohlorgans
lose, hämoglobinhaltige Blutzelle, die Sauerstoff transpor-
tiert Gamma-Oszillation. Frequenzen über 30 Hz im EEG und
MEG mit extrem kleiner Amplitude und hoher lokaler Spe-
evaporativ. Durch Verdampfung
zifität
Gamma-Strahlen. Elektromagnetische Strahlen, die bei ra-
dioaktivem Zerfall freigesetzt werden
811
Glossar

Ganglion. Nervenknoten in verschiedenen Nervensträngen Hemisphärenasymmetrie. Unterschiedliche Struktur und


außerhalb des ZNS Funktionstüchtigkeit beider Hirnhälften
Hemisphärenlateralisierung. Bevorzugte Funktionen einer
Genom. Gesamtheit aller Gene eines Organismus
der beiden Hirnhemisphären; z. B. Anlage für Sprachfunk-
Genotyp. Gesamtheit aller Erbanlagen eines Organismus tion in linker Hirnhälfte, für räumliche Beziehungen in
rechter Hirnhälfte
Geruchsepithel. Riechepithel; aus 3 Zelltypen (Riechzellen,
Stützzellen, Basalzellen) bestehendes Sinnesepithel in der Hemmung, autogene. Von den Sehnenrezeptoren ausge-
Nasenhöhle hende Hemmung der homonymen Motoneurone; verhin-
dert schädlich hohe Muskelkontraktionen/-spannungen
Geschmacksknospe. Geschmackszellen und Stützzellen
bilden dieses auf der Zungenoberfläche angesiedelte Sin- Hemmung, laterale. Zone mit gehemmten Neuronen, die
nesorgan maximal erregte Neurone umgibt; dient u. a. der Kontrast-
verschärfung
Gleichgewichtspotenzial. Potenzial zwischen der Innen-
und der Außenseite einer semipermeablen Membran, bei Hippokampus. Ammonshorn, Teil des Vorderhirns, im
dem die osmotischen Kräfte den elektrischen das Gleichge- Temporallappen liegend, zum limbischen System gehörig
wicht halten, sodass genauso viel Ionen ein- wie auswärts
Hirnstamm. Alle Bereiche, die unter dem Diencephalon
diffundieren; ist die Ionenverteilung bekannt, lässt es sich
(Zwischenhirn) liegen, d. h. Mittelhirn, Brücke, verlänger-
mit der Nernst-Gleichung berechnen
tes Mark
Gliazelle. Neben den Neuronen der 2. Zelltyp des Nerven-
homoiotherm. Warmblütig (Vögel, Säugetiere)
systems mit vielen wichtigen Funktionen; bildet aber keine
Aktionspotenziale aus Homöostase. Gleichgewicht der physiologischen Körper-
funktionen
Globulin. Kugelförmige, wasserlösliche Eiweiße, z. B. En-
zyme, Plasmaproteine, Peptidhormone, Hämoglobin oder Hormon. Körpereigener Botenstoff, der von spezialisierten
Myoglobin Drüsenzellen gebildet wird; wird über den Blutstrom beför-
dert und löst an Zielzellen spezifische Reaktionen aus
Globus pallidum. Kern der Basalganglien, medial zum
Putamen gelegen Hormon, antidiuretisches (ADH). Syn. Adiuretin, Vasopres-
sin; in der Hypophyse gebildetes Hormon, das u.a. die Was-
Glomeruli. Gefäßknäuel, speziell in der Niere: hier findet
serrückresorption in der Niere reguliert
die erste Phase der Harnbildung statt
Hormon, glandotropes. Auf Drüsen einwirkendes Hor-
Glomus caroticum. Nervenzellknäuel, das im Halsbereich in
mon
der Gabelung der A. carotis communis in die Aa. carotis ext.
et int. sitzt; registriert pO2 und pH-Wert und ist so an der Hormon, hypophysäres. Hormon, das in der Hypophyse
Steuerung der Sauerstoffversorgung des Gehirns mitbeteiligt gebildet wird
Granulozyt. Haupttyp der weißen Blutkörperchen; Granu- Hybride. Durch Kreuzung genetisch unterschiedlicher
lozyten machen ca. 60% der weißen Blutkörperchen aus Eltern erhaltener Nachkömmling
Grundumsatz. Stoffwechselumsatz unter Standard-Ruhe- Hypoglykämie. Verminderung des Blutzuckerspiegels un-
bedingungen (nüchtern, am Morgen, in Ruhe etc) ter die Normgrenze, häufig bei Diabetikern nach Insulin-
überdosierung
Gyrus cinguli. Paariges Hirnareal des limbischen Systems,
das auf dem Corpus callosum (Balken) aufliegt Hypophyse. Hirnanhangdrüse; hormonproduzierende und
-speichernde Drüse, am vorderen Boden des Zwischenhirns
Gyrus fusiformis. Hirnareal im hinteren, unteren Tempo-
hängend; wird in Vorder- und Hinterlappen unterteilt
rallappen, das u.a. für das Erkennen von Gesichtern verant-
wortlich ist Hypophysennebennierenachse. Die Hypophyse steuert
über das Hormon ACTH die Nebennierenrinde und deren
Hämatokrit. Anteil der roten Blutkörperchen am Gesamt-
Steroidhormonproduktion
blutvolumen
Hypothalamus. Unterhalb des Thalamus gelegene Kerne
Hämoglobin. Roter Blutfarbstoff, transportiert Sauerstoff
des Dienzephalons, die vegetative und homöostatische Trie-
Hämolyse. Zerfall der roten Blutkörperchen be und Funktionen regulieren und Hormone produzieren
Hedonik. Subjektiv-emotionale Bewertung von Reizen und idiopathisch. Ohne erkennbare Ursache
Reaktionen als positiv oder negativ
812 Anhang

Immunglobuline. Glykoproteine, die von Plasmazellen Kapillarnetz. Netz feinster Blut- und Lymphgefäße
produziert werden; sie neutralisieren Krankheitserreger
Katecholamine. Die biogenen Amine Adrenalin, Noradre-
(Antigene) und sind Antikörper
nalin und Dopamin werden wegen ihres Katecholrings als
Immunkompetenz. Fähigkeit eines Organismus auf »Ein- Katecholamine zusammengefasst; sie dienen als Transmit-
dringlinge von außen«, z. B. Krankheitserreger, zu reagieren ter und Hormone
Immunologie. Lehre von den Abwehrmechanismen des kaudal. »schwanzwärts gelegen« bzw. zu den Füßen, nach
Organismus unten hin orientiert
Immunsuppression. Unterdrückung bzw. Abschwächung Klon. Genetisch identische Kopie
der körpereigenen Immunreaktion durch chemische, bio-
Klonierung. Vermehrung von DNA-Segmenten in Plasmi-
logische Substanzen oder Strahlen oder durch psychische
den oder Viren
Einflüsse; klinische Anwendung z. B. zur Verhinderung ei-
ner Tranplantatabstoßung Knock-out-Mäuse. Mäuse, denen ein oder mehrere Gene
entfernt wurden
implizites Lernen. Nicht bewusste Wiedergabe ohne wil-
lentliche Anstrengung; Verhaltensgedächtnis Kohlenhydrate. Organische Verbindungen aus Wasserstoff,
Kohlenstoff und Sauerstoff; dienen zur Deckung des Ener-
Indifferenztemperatur. Hauttemperatur, die bei längerer
giebedarfs, als Speicher- und als Baustoffe
Einwirkung keine Temperaturempfindung mehr hervorruft
Kollaterale. 1. Nebenäste von Arterien oder Venen, die die-
Innervation. Versorgung mit Nervenfasern
selbe Körperregion versorgen, können z. B. bei Stenosen als
Inspirationsmuskulatur. Das Zwerchfell und diejenigen Umgehungskreislauf genutzt werden; 2. Seitenäste von
Muskeln des Brustkorbs, die bei Kontraktion den Brust- Axonen und Dendriten
raum erweitern
Kommissur. Naht, Verbindungsstelle; im Gehirn unter-
Internodium. Markhaltiges Nervenfaserstück zwischen scheidet man die vordere und hintere Kommissur, über die
zwei Ranvier-Schnürringen beide Hirnhälften zusätzlich zum Corpus callosum (dem
Balken) miteinander kommunizieren
Interstitium. Zwischenraum zwischen Zellen und Körper-
organen oder -teilen Konduktion. Wärmeleitung durch Körpergewebe

intrafusal. Innerhalb einer Muskelspindel liegend Konnexonen. Verbindung, auch verbindender Organteil,
Teil elektrischer Synapsen
Intrusion. Eindringen; Albträume, Flashbacks; Symptom
bei posttraumatischen Belastungsstörungen Kontraktion. Zuckung oder Anspannung eines Muskels
oder muskulären Hohlorgans
Irradiation. Ausbreitung von Erregungen oder Schmerzen
im Bereich zentraler und peripherer Nerven Konvektion. Wärmeleitung durch das Blut und die Lymphe

isometrisch. Kontraktion (Spannungsentwicklung) eines Kortikosteroide. Große Gruppe von chemischen Verbin-
Skelett- oder Herzmuskels ohne Längenänderung dungen mit Steran-Grundgerüst aus der Nebennierenrin-
de; die einzelnen Steroide haben sehr unterschiedliche bio-
Isophon. Kurven gleicher Lautstärkepegel, d. h. alle Töne
logische Eigenschaften und Wirkungen
auf dieser Kurve werden als gleichlaut empfunden; z. B. alle
Töne, die auf der Hörschwelle (bei 4 Phon) liegen, sind ge- Kotransmitter. Zusätzlicher Transmitter an einer Synapse,
rade hörbar meist ein Peptid
isotonisch. Kontraktion mit Verkürzung eines Skelettmus- Kreuzadaptation. Experimentelle Klassifizierungsmög-
kels ohne Spannungsänderung lichkeit von Gerüchen; nach gewisser Zeit werden Gerüche
mit gemeinsamer chemischer Struktur nicht mehr wahrge-
Isotrop. Einfachbrechend
nommen, syn: Adaptation dehnt sich von einem bestimmten
James-Lange-Theorie. Umweltereignis löst spezifische pe- Reiz auf andere aus
riphere Reaktionen (motorisch, vegetativ, hormonell) aus;
Kurare. Pfeilgift südamerikanischer Indianer, welches die
deren afferente Rückmeldung an das Gehirn bewirkt eine
cholinerge Übertragung an der neuromuskulären Endplatte
Emotion
blockiert und daher eine muskelrelaxierende oder -lähmen-
Kapillare. Kleinste Blutgefäße, die zwischen dem arteriellen de Wirkung hat
und venösen Teil des Blutkreislaufs liegen, deren Wand nur
aus Epithelzellen besteht
813
Glossar

Kurarisierung. Behandlung mit Kurare oder einem kürzer Makulaorgan. Teil des Gleichgewichtsorgans im Vestibu-
wirkenden Agonisten; wird bei operativen Eingriffen zur lum labyrinthi (Innenohrvorhof), bestehend aus Stütz- und
Muskelrelaxierung angewandt; künstliche Beatmung erfor- Sinneszellen (Haarzellen)
derlich
Mamillarkörper. Kerngruppe des Hypothalamus
Langzeitdepression. Langanhaltende Reduzierung der sy-
Marker. Substanz (Hormon, Enzym, Protein), deren ver-
naptischen Effektivität; tritt an Synapsen nach niederfre-
mehrtes oder vermindertes Auftreten Hinweis auf eine be-
quenter Reizung auf; mögliche Beteiligung an Lernvor-
stimmte Veränderung ist, z. B. Tumormarker
gängen (Habituation, Extinktion)
Marker, somatischer. Spezifisches motorisches, hormonel-
Langzeitpotenzierung. Langanhaltende Zunahme der
les oder vegetatives Reaktionsmuster auf bestimmte Gefüh-
synaptischen Effektivität; tritt an Synapsen nach hochfre-
le, welches zur Identifikation des Gefühls im ZNS führt
quenter Reizung auf; Beteiligung an Lernprozessen
Matrix, extrazelluläre. Außerhalb der Zellen befindliche
Läsion. Bezeichnung für Verletzungen oder Störungen der
Matrix, wird bei Tumorprogression umgebaut und degra-
Organ- oder Körperfunktion
diert; im Knochen v. a. aus Kollagen (Eiweiß) bestehend
Latenz. Zeit zwischen Reiz und Reizerfolg
Mechanorezeptor. Rezeptor, der auf mechanische Reize
Leukozyten. Weiße Blutkörperchen; Oberbegriff kernhal- (Druck, Berührung, Vibration) reagiert
tiger Blutzellen, die kein Hämoglobin enthalten; werden in
Mediator. Körpereigene Substanzen, die im Körper bioche-
Granulo-, Mono- und Lymphozyten differenziert
mische oder physiologische Reaktionen hervorrufen; z. B.
Lichtquant. Photon; Elementarteilchen der Lichtwellen Neurotransmitter, biogene Amine
Linkage. Kopplungsgruppe; bezeichnet Gene, die gemein- Medulla oblongata. Verlängertes Mark; der am weitesten
sam vererbt werden kaudal gelegene Hirnteil, im Myelenzephalon, direkt an das
Rückenmark angrenzend
Lipase. Fettspaltendes Enzym der Bauchspeicheldrüse
Meissner-Körperchen. Niederschwelliger Mechanosensor
Lubrikation. Vermehrte Gleitfähigkeit (z. B. der Vagina
in der unbehaarten Haut und Unterhaut; reagiert besonders
durch erhöhte Sekretproduktion bei sexueller Erregung)
auf die Änderung eines mechanischen Reizes (Geschwin-
Lungenparenchym. Gesamtheit aller spezifischen Lungen- digkeitsdetektor)
zellen
Melatonin. Hormon der Hirnanhangdrüse (Zirbeldrüse),
Lungenwurzel. Die am Lungenhilus in die Lunge eintre- wichtig für den Tag-Nacht-Rhythmus und Immunsteue-
tenden Gefäße und Nerven (Pulmonalarterien, -venen, rung
Stammbronchien, Nerven)
Membran. Bei Zellen aller Art eine Lipiddoppelschicht mit
Lymphozyt. Weißes Blutkörperchen; Hauptaufgabe: Zer- eingelagerten Proteinen, die die äußere Zellbegrenzung bil-
störung von Erregern und abnormalen Zellen det und die Zellorganellen (z. B. den Zellkern) umhüllt
Macula cribrosae. 3 kleine Verdickungen in der Wand des Membran, arachnoide. Gefäßreiche Membran der weichen
Vestibulum labyrinthi (Innenohrvorhof) durch die Fasern Hirnhaut
des N. vestibulocochlearis ziehen
Membranleitfähigkeit. Durchlässigkeit einer Membran
Macula lutea. Neben der Sehnervpapille liegender gelb- (Grenzfläche) für Ionen und Moleküle
licher Netzhautfleck in dessen Mitte die Fovea centralis
Membranpotenzial. Verteilung elektrischer Ladungen an
liegt
einer semipermeablen Zellmembran, daraus ergibt sich die
Macula staticae. Teil des Gleichgewichtsorgans im Vestibu- elektrische Potenzialdifferenz zwischen Zellinnerem und
lum labyrinthi (Innenohrvorhof), bestehend aus Stütz- und der Zellaußenseite
Sinneszellen (Haarzellen)
Merkel-Zelle. Mechanorezeptor in der Haut an der Epider-
Magnetoenzephalographie. Aufzeichnung der Magnet- mis/Dermis-Grenze, registriert vorwiegend die Intensität
felder des lebenden Gehirns eines Druckreizes und ist langsam adaptierend
Magnetresonanztomographie. Radiologische Technik, die Metabolit. Zwischen- oder Endprodukt des Stoffwechsels,
das Körperinnere aufgrund der Wechselwirkung zwischen kann seinerseits Wirkungen auf den Stoffwechsel oder an-
Radiowellen und einem starken Magnetfeld abbildet dere Körperfunktionen (z. B. Gefäßerweiterung) ausüben
Makrophage. Einkerniges, phagozytosefähiges, beweg-
liches, weißes Blutkörperchen
814 Anhang

Mikroneurographie. Transkutane Ableitung der Impuls- Neokortex. Jüngster Kortexteil, besteht aus den sensiblen,
aktivität einzelner Nervenfasern des Menschen mit Hilfe motorischem und den Assoziationskortices
feiner Metallelektroden
Nephron. Funktionelle Einheit der Niere (ca. 1,2 Mio/Nie-
Mikrotom. Apparat zur Anfertigung extrem dünner Gewe- re), bestehend aus Glomerulus, Bowman-Kapsel, proxima-
beschnitte (1–15 μm) zur histologischen Untersuchung lem und distalem Tubulus und der Henle-Schleife
Mikrovilli. Kleinste fingerartige Ausstülpungen der Zell- Nervensystem, autonomes. Syn. vegetatives Nervensys-
membran bei den unterschiedlichen Zelltypen tem; reguliert die Organfunktionen und kontrolliert das
innere Milieu
Miktion. Harnlassen, Harnblasenentleerung
Nervensystem, peripheres. Die Gesamtheit der Nerven,
Mitochondrium. Zellorganelle, die aus den Nährstoffen
außerhalb von Gehirn und Rückenmark
Energie gewinnt
Nervus vagus. X. Hirnnerv, mit motorischen, sensiblen und
Mitralzelle. Pyramidenartige Zelle im Bulbus olfactorius;
parasympathischen Fasern
hier werden Duftreize zusammengeführt; mehr als 1000
Riechzellaxone projezieren auf eine Mitralzelle Neurogliazelle. 7 Gliazelle

Monoamin. Ammoniakverbindung, zu den biogenen Ami- Neuro-Imaging. Bildgebungsverfahren zum Sichtbarma-


nen gehören die Katecholamine (z. B. Adrenalin) und Indo- chen von neuronalen Funktionen
lamine (z. B. Serotonin)
Neuron. Strukturelle Einheit aus Nervenzellkörper (Soma)
Monozyt. Großes einkerniges, phagozytosefähiges, weißes und deren Fortsätzen (Axon und Dendriten)
Blutkörperchen
Neurotransmitter. Substanzen, die an Synapsen bei Erre-
Motoneuron. Neuron im Vorderhorn des Rückenmarks gung präsynaptisch freigesetzt werden und postsynaptisch
und im Hirnstamm, dessen Axon Skelettmuskelfasern in- erregende oder hemmende Potenziale (EPSP bzw. IPSP)
nerviert auslösen
Mozart-Effekt. Verbesserung mentaler Leistungsfähigkeit Nozizeptor. Sinnesrezeptor (Sensor), der nur durch ge-
durch Hören oder Produzieren klassischer Musik websschädigende oder potenziell gewebsschädigende me-
chanische, chemische oder thermische Reize erregt wird
Muskelspindel. Dehnungsorgan im Skelettmuskel, senso-
und Schmerzempfindungen vermittelt
risch von Ia- und II-Nervenfasern, motorisch von Aδ-Fa-
sern innerviert; Hauptaufgabe ist die Messung der Muskel- Nukleotid. Grundbausteine der Nukleinsäuren DNA und
länge RNA, auch wichtiger Energiespeicher, v. a. als ATP
Myasthenie. Krankhafte Muskelschwäche, die besonders Opsonierung. »Markierung« von Bakterien durch Opso-
bei Belastung deutlich wird nin; regt die Phagozytoserate von Makrophagen und Gra-
nulozyten an
Myofibrille. Kontraktiles Element der Muskelzelle
Opsonin. Akute-Phase-Globulin, das zu Beginn einer bak-
Myokard. Arbeitsmuskulatur des Herzens
teriellen Infektion mit der Aufgabe gebildet wird, sich an die
Myoklonus. Schnelle, kurze und unwillkürliche Muskel- Oberfläche der Bakterien anzuheften
zuckungen; können einzelne Fasern befallen, aber auch
Organelle. Hochorganisierte, von einer Lipidmembran
den ganzen Körper erfassen und sind daher ohne oder mit
umgebene Struktur im Zytoplasma, z. B. Golgi-Apparat,
sichtbaren Bewegungen möglich
Mitochondrium
Myotonie. Pathologische, ständige Erhöhung des Muskel-
orthodrom. In der efferenten Richtung vom Zellkörper
tonus
(Soma) zu den Synapsen verlaufend (Gegensatz: antidrom)
Nahrungsdeprivation. Nahrungsentzug
Osmolalität. Menge gelöster Teilchen pro Kilogramm Was-
Nebennierenmark. Sympathisch innervierte Drüsenzellen, ser [mosm/kgH2O]
die bei ihrer Aktivierung ein Gemisch aus Adrenalin (80 %)
Osmolarität. Menge gelöster Teilchen pro Liter Wasser
und Noradrenalin (20 %) in die Blutbahn ausschütten
[mosm/lH2O]
Nebennierenrinde. Das Äußere der Nebenniere, die Ne-
Osmose. Übergang eines Lösungsmittels oder eines gelö-
bennierenrinde, wird in 3 Zonen unterteilt, in denen un-
sten Moleküls in eine stärker konzentrierte Lösung durch
terschiedliche Hormone produziert werden: Mineralkor-
eine nur für das Lösungsmittel bzw. das Molekül durchläs-
tikoide, Glukokortikoide und Androgene (von außen nach
sige (semipermeable) Membran
innen)
815
Glossar

Oszillation. Periodische Schwingung oder Schwankung in Permeabilität. Durchlässigkeit einer Membran (Grenzflä-
der belebten und unbelebten Natur che) für Ionen oder Moleküle
Otolithen. Syn: Statoconien; Kalkkonkremente in der Phagozytose. Aktive Aufnahme von verschiedensten
Deckmembran von Sacculus und Utriculus des Gleichge- Strukturen in Leukozyten, v.a. Granulozyten, wichtig z. B.
wichtorgans; wichtig für die Erregungsentstehung bei Be- zur Infektabwehr
schleunigung des Kopfes
Phänotyp. Äusseres Erscheinungsbild eines Organismus,
Overshoot. Nach Reizung einer erregbaren Zelle entwickelt das nicht durch genetische Einflüsse bedingt ist. Gegensatz
sich durch Natriumeinstrom ein positives Potenzial, das von Genotyp
Overshoot
Pheromone. Geruchsstoffe, welche der innerartlichen Kom-
Oxytozin. Hormon des Hypophysenhinterlappens, bewirkt munikation dienen, z. B. kann Androsteron aus dem Achsel-
u. a. eine Kontraktion der glatten Muskulatur der Milchaus- schweiß des Mannes den Zyklus der Frau synchronisieren
gänge, der Gebärmutter und des männlichen ejakulatori-
photopisches Sehen. Farbsehen bei Tageslicht
schen Systems (postejakulatorische Refraktärphase) und
wirkt als Neurotransmitter im Gehirn; begünstigt Partner- Physiologie. Lehre von den normalen Lebensfunktionen,
Bindungsverhalten baut auf der Anatomie auf und setzt sich in die Biochemie
(Physiologische Chemie) fort.
Pacini-Körperchen. Niederschwelliger Mechanorezeptor
(Mechanosensor), der auf Grund seiner Bindegewebshül- Plantarfläche. Fußsohle
len besonders auf Vibrationsreize anspricht (Beschleuni-
Plastizität des Gehirns. Fähigkeit des Gehirns, sich anzu-
gungsdetektor)
passen und zu lernen, neue neuronale Verbindungen zu
Palmarfläche. Innenfläche knüpfen
Pankreas. Bauchspeicheldrüse, produziert exokrin Verdau- poikilotherm. Wechselwarm
ungsenzyme und endokrin Hormone
Polygenie. An der Phänotypbildung sind mehrere Gene
Papilla lacrimalis. Tränenpapillen; Teil der ableitenden Trä- beteiligt
nenwege im medialen Augenwinkel
Polymorphismus. Genort mit 2 oder mehr Allelen
Papilla nervi optici. Sehnervpapille, weißlicher Fleck auf
Populationsvektor. Entladungsverhalten einer Population
der Netzhaut ohne Rezeptoren, daher auch blinder Fleck
von Nervenzellen, das eine Sequenz von sensorischen oder
genannt, an dem die Sehnervenfasern die Netzhaut verlas-
motorischen Ereignissen abbildet
sen
Positronenemissionstomographie (PET). Bildgebendes
Papillae linguales. Auf der Schleimhaut des Zungenrückens
Verfahren, bei dem von kollidierenden Positronen abgege-
und des Zungenrandes lokalisierte Papillenarten (4 Arten),
bene Gammastrahlung registriert wird
die sensorische Aufgaben haben
posterior. Hinterer/s; hinten liegend
Papille. Warzenförmige Hauterhebung, z. B. Sehnervpapil-
le, Zungenpapillen, Tränenpapillen Potenzierung, tetanische. Nach hochfrequenter Entladung
von Neuronen in diesen oder im Muskel auftretender Erre-
parakrin. Wirkung eines Hormons auf unmittelbar in sei-
gungsanstieg
ner Nachbarschaft liegende Zielzellen
P-Rezeptoren. 7 Proportionalrezeptoren
Parasympathikus. Teil des autonomen Nervensystem (die
anderen sind Sympathikus und Darmnervensystem); prä- Prion. Molekül, das nur aus Aminosäuren besteht; Auslöser
ganglionäre Ursprungszellen liegen in Hirnstamm und verschiedener Krankheiten, z. B. Creuzfeldt-Jakob, Rinder-
Sakralmark, die postganglionären organnah; Transmitter wahnsinn
an allen Synapsen ist Azetylcholin
Proportionalrezeptoren. Syn: P-Rezeptoren; messen die
Pathophysiologie. Lehre von den krankhaften Verände- Reizstärke (Amplitude) eines mechanischen, chemischen
rungen physiologischer Prozesse, 7 Physiologie oder thermischen Reizes (Intensitätsdetektoren)
Perfusion. Durchströmung mit einer Flüssigkeit; Vorgang Propositionen. Assoziativ eng verbundene sensorische,
bei dem das Blut des Tieres durch Salzlösung oder Fixativ motorische und semantische Netzwerke
ersetzt wird
Propriozeption. Modalität der Somatosensorik, dient der
Perfusionsdruck. Druckdifferenz, die die Durchströmung Eigenwahrnehmung von Körperstellung und -bewegung,
eines Organs mit einer Flüssigkeit bewirkt syn: Tiefensensibilität
816 Anhang

Propriozeptor. Obergriff für alle Mechanorezeptoren, die Repolarisation. Absteigende Phase des Aktionspotenzials,
zur Propriozeption beitragen die durch den Rückgang der Na-Leitfähigkeit und den An-
stieg der K-Leitfähigkeit verursacht ist; führt das Membran-
prozedurales Gedächtnis. Merken von Fertigkeiten; Ein-
potenzial zu seinem Ruhewert zurück
prägung und Wiedergabe benötigen keine bewusste Auf-
merksamkeit Repressor. Substanz, die die Ausprägung eines Gens oder
die Enzymaktivität hemmt
pulsatil. Schlagend, pulsierend, pochend
Reserpin. Medikament, das an katecholaminergen Synap-
Pulvinar. Kerngebiet des posterioren Thalamus, vor allem
sen die Wiederaufnahme des freigesetzten Transmitters in
mit visuellen kortikalen Arealen verbunden
die präsynaptische Endigung hemmt und dadurch die Ef-
Purinbasen. Die auf dem Puringerüst aufbauenden Basen fektivität dieser Synapsen reduziert
Adenin, Guanin, Xanthin und Hypoxanthin
Residualvolumen. Luft, die sich nach maximaler Ausat-
Pyramidenbahn. Syn: Tractus corticospinalis; schnellste der mung noch in der Lunge befindet (ca. 1 – 1,5 Liter)
efferenten motorischen Bahnen, verläuft ohne Umschaltung
Resistenz. Abwehrkraft, Widerstandsfähigkeit; bei Anti-
ins Rückenmark; kreuzt in der Pyramide des Hirnstamms
biotika die Widerstandsfähigkeit der Bakterien gegen den
Pyrimidinbasen. Thymin, Cytosin, 5-Hydroxymethylcyto- Wirkstoff (Antibiotikaresistenz)
sin und Uracil; Bausteine der DNA und RNA
Resorption. Aufnahme von Flüssigkeiten oder niedermole-
Pyrogen, endogenes. Vom Körper gebildete fieberauslö- kularen Substanzen über die (Schleim)haut
sende Substanz
Restriktionsenzym. Enzym, das die Doppelstrang-DNA an
Pyrogen, exogenes. Von außen dem Körper zugeführte spezifischen Stellen spaltet; wird zur DNA-Analyse be-
fieberauslösende Substanz nutzt
Querdisparation. Objekte in endlicher Entfernung bilden Retikulum, endoplasmatisches. Zellorganelle; unterschie-
sich auf den Netzhäuten beider Augen an unterschiedlichen den wird glattes und raues endoplasmatisches Retikulum
Orten ab; wird vom ZNS zur Entfernungsmessung genutzt
Retikulum, endoplasmatisches, glattes. Zellorganelle,
Ranvier-Schnürring. Abschnitt des myelinisierten Axons wichtig für die Steroid- und Glykogensynthese
ohne Myelinscheide; kommt etwa alle 1–2 mm vor
Retikulum, endoplasmatisches, raues. Mit Ribosomen
Reafferenzprinzip. Efferente motorische Kommandosigna- (Protein-Ribonukleinsäure-Körnchen) besetzte Organelle
le werden mit afferenten Signalen verrechnet, um das Bild im Zytoplasma, wichtig für die Proteinsynthese
der Umwelt bei Körperbewegungen stabil zu halten; 7 Effe-
Retikulum, sarkoplasmatisches. Endoplasmatisches Reti-
renzkopie
kulum der Muskelzelle; dient als Speicher für Ca24-Ionen,
Reflex. Eine unwillkürliche, stereotyp (immer gleich oder die bei Kontraktion freigesetzt werden
fast gleich) ablaufende Reaktion (Bewegung, Drüsensekre-
retinotop. Topologische, aber nicht lineare Abbildung der
tion, Gefäßverengung etc) auf einen spezifischen Reiz.
Retina auf der primären Sehrinde
Reflexbahn. Besteht aus afferenten Nervenfasern vom
Rezeptor. Proteinmolekül, an das ein Ligand bindet, um
Sinnesorgan zum ZNS, einem oder mehreren zentralen
eine Wirkung auszulösen. Der Begriff wird auch synonym
(Inter)neuronen und efferenten Nervenfasern zum Erfolgs-
für Sinnesrezeptor und Sensor gebraucht
organ
Rezeptor, ionotroper. Rezeptor in erregbaren Membranen,
Refraktärphase. Zeitabschnitt nach einer Aktion, während
der bei Andocken seines Liganden, z. B. eines Transmitters
der diese Aktion nicht erneut auftreten kann
oder Hormons, einen Ionenkanal öffnet; syn: ligandenge-
Reize, chimärische. Trügerische optische Reize, die aus steuerter Ionenkanal
mehreren, schwer erkennbaren, aber unvereinbaren Teilen
Rezeptor, metabotroper. Ligandengesteuerter Rezeptor,
zusammengesetzt sind, z. B. Gesichtshälften von 2 verschie-
der bei Aktivierung über ein G-Protein eine second-
denen Personen
messenger-Kette aktiviert, die ihrerseits eine Ionenkanal
Reizlimen. Absolutschwelle; kleinster Reiz, der eine Emp- öffnet oder andere Wirkungen in der Zelle auslöst
findung verursacht
Rhodopsin. Sehpurpur; in den Netzhautstäbchen lokali-
sierte Substanz für das Dämmerungssehen
817
Glossar

Ribonukleinsäure. Makromolekül aus Ribose und Purin- sezernieren. Ausscheiden, absondern


oder Pyrimidinbasen aufgebaut, mit wichtiger Funktion für
Sinusknoten. Areal im rechten Herzvorhof, das in der Regel
die Eiweißsynthese
die steilsten Schrittmacherpotenziale ausbildet und daher
Riechepithel. Riechschleimhaut, die aus 3 Zelltypen (Riech- die Herzschlagfrequenz bestimmt
zellen, Stützzellen, Basalzellen) besteht
skotopisches Sehen. Dämmerungssehen; Schwarz-weiß-
rostral. Kopf- oder nasenwärts Sehen; Helligkeitsunterschiede werden erkannt, Farben
nicht; wird durch Stäbchenzellen der Netzhaut ermög-
Ruffini-Körperchen. In der unbehaarten wie der behaarten
licht
Haut liegende Mechanosensoren, die z. T. richtungsemp-
findlich sind; liefern Information über die Richtung und Sodium-Amobarbital-Test. Barbiturat wird in eine der bei-
Stärke von Scherkräften auf der Haut den Aa. carotis internae beim wachen Patienten injiziert
und führt zu ipsilateraler Narkose der Hemisphäre; hier-
Ruhepotenzial. Elektrischer Spannungsgradient an einer
durch kann die Sprachdominanz einer Hemisphäre vor
Zellmembran in Ruhe
neurochirurgischen Eingriffen bestimmt werden; syn.:
Ruhetonus. Grundspannung von glatter und von Skelett- Wada-Test
Muskulatur, dient z. B. der aufrechten Körperhaltung gegen
Somatotopie. Repräsentation der einzelnen Körperteile im
die Schwerkraft
Gehirn, besonders ausgeprägt in den primär somatosenso-
Sagittalschnitt. Anatomischer Schnitt rechtwinklig zum rischen und motorischen Kortexarealen (sensorischer und
Boden motorischer Homunculus)
Sarkomer. Grundeinheit der Muskelfaser Spalt, subarachnoidaler. Spalt zwischen der Arachnoidea
(Spinnenhaut) und der Pia mater (weiche Hirnhaut); mit
Schaffer-Kollateralen. Fasern, die vom Ammonshorn (Hip-
Liquor gefüllt
pokampus) in den entorhinalen Kortex ziehen
Spalt, synaptischer. Nur 20–40 nm breiter Spalt zwischen
Scheinwut. Aggressives Verhalten, das nicht mit bestehen-
prä- und postsynaptischer Membran
den Umweltreizen koordiniert ist
sparse-coding. Sparsame Kodierung; Prinzip, nach dem
Schlafspindel. Sinusförmige Oszillationen (8 – 15 Hz) wäh-
wenige Nervenzellensembles viele Inhalte abbilden kön-
rend aller Schlafstadien; sie überlagern die spontane EEG-
nen
Aktivität und zeigen Hemmung des sensomotorischen Sys-
tems an Spasmus. Krampf, Verkrampfung

Schwelle, absolute. Bei Überschreitung einer bestimmten Spin. Drehimpuls von Elementarteilchen
Reizintensität wird eine Reaktion ausgelöst; kleinste Reiz-
Spurenelement. Chemisches Element, das in kleinsten
stärke, die eine neuronale Impulsfrequenzänderung be-
Mengen im Körper vorhanden ist und dessen Fehlen zu
dingt
Mangelerscheinungen führt, z. B. Jod, Magnesium, Zink
Scopolamin. Alkaloid mit parasympathikolytischer Wir-
Sry-Gen. Gen auf dem Y-Chromosom, welches die Hoden-
kung, das in Nachtschattengewächsen vorkommt
entwicklung und Testosteronbildung anregt
Second messenger. Sekundärer Botenstoff, der Teil einer
Startle-Reflex. Schreckreflex; eine protektive Reflexantwort
intrazellulären Signalkette ist; typische Vertreter Ca2+-
der Muskulatur auf überraschende Reize; durch bestehende
Ionen und cAMP
Furcht wird der Reflex potenziert und bei positiver Grund-
Sehnenorgan. Am Übergang von Skelettmuskelfasern in emotion gehemmt
ihre Sehnen »in Serie« liegender Mechanorezeptor, der die
Statoconien. 7 Otolithen
Muskelspannung registriert
Stereotaktischer Apparat. 7 Stereotaxie
Sehnervpapille. Weißlicher Fleck auf der Netzhaut ohne
Rezeptoren, daher auch blinder Fleck genannt, an dem die Stereotaxie. Verfahren, mit dem intrazerebrale Orte gezielt
Sehnervenfasern die Netzhaut verlassen durch Fixierung des Schädels und Messung in den 3 Raum-
ebenen identifiziert werden können
Sensor. Fühler; Ausdruck wird sowohl im technischen wie
physiologischen Bereich verwendet Steroide. Große Gruppe von chemischen Verbindungen
mit Steran-Grundgerüst; die einzelnen Steroide haben sehr
Sensorpotenzial. Bei der Transduktion eines mechanischen,
unterschiedliche biologische Eigenschaften und Wirkungen
thermischen, chemischen oder elektrischen Sinnesreizes im
Sensor gebildetes Potenzial; syn: Generatorpotenzial
818 Anhang

Striatum. Neostriatum; entwicklungsgeschichtlich jüngerer Thrombozyt. Blutplättchen; kleine, kernlose, scheibenför-


Teil des Corpus striatum (Teil der Basalganglien); unterteilt mige Blutkörperchen; wichtiger Bestandteil der Blutgerin-
in einen vorderen (ventralen) und hinteren (dorsalen) Teil nung
Subcutis. Unterhaut Tiefensensibilität. Modalität der Somatosensorik, syn: Pro-
priozeption, 7 diese
sudomotorisch. Wärmeabgabe durch Schweißsekretion
aus den Schweißdrüsen, wird über sudomotorische sympa- Toleranz. Widerstandsfähigkeit; Verträglichkeit einer The-
thische Nervenfasern gesteuert rapie; verminderte Ansprechbarkeit auf ein Medikament
oder eine Droge; Ausbleiben einer Immunreaktion
Supervisorisches Aufmerksamkeitssystem (SAS). Über-
wacht die Selektion bedeutsamer Reize und Reaktionen; Tränenpapillen. Teil der ableitenden Tränenwege im medi-
besteht aus lateralem und medialem Präfrontalkortex und alen Augenwinkel
anteriorem Gyrus cinguli
Transduktion. 1) Umwandlung eines Sinnesreizes in ein
Sympathikus. Teil des autonomen Nervensystem (die ande- Rezeptorpotenzial
ren sind Parasympathikus und Darmnervensystem); prä- 2) Übertragung eines Gens von einer Bakterienzelle zur
ganglionäre Ursprungszellen liegen in Brustmark und obe- anderen mithilfe von Mikroorganismen
rem Lendenmark, die postganglionären im Grenzstrang
transkutan. Durch die Haut
und z. T. in unpaaren Ganglien
Transmitter. Überträgersubstanz
Synapse. Verbindung zwischen dem Axon eines Neurons
und einer Nerven-, Muskel- oder Drüsenzelle; die Übertra- Trieb, homöostatischer. Trieb, der durch Abweichungen
gung erfolgt meist chemisch, seltener elektrisch vom stabilen körperinternen Sollwert entsteht und nicht
aus der Lerngeschichte oder den Umgebungsbedingungen
Synzytium. Durch Zellteilung oder -verschmelzung entste-
resultiert, z. B. Hunger, Durst, Temperaturerhalt
hender mehrkerniger Zellverband ohne Zellgrenzen
Trieb, nichthomöostatischer. Trieb, der von variablen Soll-
System, cholinerges. Alle muskarinergen und nikotinergen
werten, Lernprozessen und Umgebungsvarianten abhängig
Rezeptoren, die Azetylcholin als Transmitter benutzen
ist, z. B. Sexualität, Bindung, Emotionen
System, limbisches. ringförmiges Hirnsystem zwischen
Triebreduktion. Befriedigung eines Triebs, führt zu einer
Hirnstamm und den zerebralen Strukturen. Dazu gehören
assoziativen Bindung zwischen Reiz, Reaktion und Konse-
Teile des Hypothalamus, Amygdala, Hippokampus, C.
quenz
mammillare, Gyrus cinguli, Septum und Fornix; Aktivität
des Systems ist v. a. verbunden mit Gefühlen und Trieben Triplets. Verbindung dreier Nukleotid-Basen, Grundstruk-
tur von RNA und DNA
Systole. Phase im Herzzyklus, in der sich die Kammermus-
kulatur erst anspannt und dann zusammenzieht, um das Tuba Eustachii. Ohrtrompete; Verbindung zwischen Pau-
Blut in die Arterien auszuwerfen kenhöhle und Rachen; Aufgabe ist die Belüftung der Pau-
kenhöhle, damit das Trommelfell schwingen kann
Tachykinine. Neuropeptide, die z. B. in Gehirn, Rücken-
mark, peripheren Geweben vorkommen und die Immun- ultradian. Mehr als 24 Stunden dauernd
kompetenz reduzieren und so das Entstehen psychosoma-
Ultrafiltration. Durch hydrostatische Druckdifferenz zwei-
tischer Krankheiten fördern; z. B. Substanz P, vasoaktives
er Flüssigkeiten entlang einer halbdurchlässigen Membran
intestinales Peptid (VIP)
kommt es zu Flüssigkeitsbewegungen in Richtung der nied-
Tastscheiben. Merkel-Zellen (7 diese) in der behaarten rigeren Konzentration
Haut
umami. Geschmacksempfindung für Glutamat (Natrium-
Tetanus. 1) extreme, krampfartige Aktivierung von Mus- salz von Glutamin)
kel- und Nervenzellen
Unterschiedsschwelle. Minimaler Unterschied zwischen 2
2) durch Tetanusbazillus ausgelöster Wundstarrkrampf
Reizparametern, der gerade eine unterschiedliche Empfin-
Thermogenese. Wärmebildung entweder durch Stoffwech- dung auslöst
selprozesse, durch Muskelzittern oder zitterfrei in braunem
Urämie. Harnvergiftung des Organismus, z. B. bei Nieren-
Fettgewebe
versagen
Thermorezeptor. Sinnesrezeptor, dessen adäquater Reiz
Uterus. Gebärmutter
Wäme oder Kälte ist (Warm- bzw. Kaltsensoren)
Thermosensor. syn: Thermorezeptor
819
Glossar

vagale Afferenzen. Zum ZNS führende Teile des N.vagus; Zweipunktschwelle. Simultane Raumschwelle; Maß für das
geben Informationen aus dem Körper an das Hirn weiter räumliche Auflösungsvermögen der Haut auf taktile Reize,
d. h. der Abstand zwischen 2 gerade noch getrennt wahr-
Vasodilatation. Weitstellung der Blutgefäße
nehmbaren Reizen
Vasokongestion. Blutstauung in den Blutgefäßen
Zwerchfell. Zwischen Brust- und Bauchraum bogenförmig
Vasokonstriktion. Engstellung der Blutgefäße gespannte Muskelplatte; wichtigster Atemmuskel
Vasopressin. Syn. Adiuretin, antidiuretisches Hormon, Zyanose. Syn: Blausucht; Bläulich-livide (Schleim)hautfär-
ADH, 7 dort bung, bedingte durch eine starke Abnahme der Sauerstoff-
sättigung des Blutes
ventral. Bauchwärts; im ZNS im rechten Winkel zur Schä-
delbasis oder der Körpervorderfläche verlaufend Zyklotron. Anlage zur Beschleunigung von Ionen oder
Elementarteilchen auf sehr hohe Energie
Vibrationssensor. 7 Pacinikörperchen
Zytoarchitektonik. Anordnung von Zellen gleicher Bauart
Viszerosensoren. Rezeptoren der inneren Organe, ver-
auf zusammenhängendem Raum
mitteln Informationen über den Zustand der Organe im
Körper Zytokine. Lösliche Botenstoffe, steuern Kommunikation
zwischen Körperzellen; werden von Immun- und anderen
Viszerozeption. Wahrnehmung der Tätigkeit der inneren
Körperzellen freigesetzt und beeinflussen im Immunsys-
Organe
tem Vermehrung, Differenzierung und Migration
Vitalkapazität. Nach maximaler Einatmung maximal aus-
atembares Luftvolumen
Vitamin. In der Nahrung vorkommende, lebenswichtige
organische Substanzen, die der Organismus nicht oder
nicht in genügender Menge synthetisieren kann und deren
Energiegehalt ohne Bedeutung ist
Wada-Test. 7 Sodium-Amobarbital-Test

Wahrnehmung, subliminale. Wahrnehmung unterschwel-


liger Reize
Wärmekonduktion. Wärmeleitfähigkeit durch das Körper-
gewebe (von Zelle zu Zelle)
Wärmekonvektion. Wärmeleitfähigkeit durch das Blut und
die Lymphe
Wernicke-Areal. Sensorisches Sprachzentrum im oberen
posterioren Temporallappen und unteren Parietallappen
der sprachdominanten Hemisphäre, benannt nach Karl
Wernicke (1848–1905)
Zelladhäsionsmoleküle (CAMs). Aus 2 oder mehr Atomen
bestehende chemische Verbindungen, die an anderen Zel-
len oder Partikeln anhaften
Zellmembran. In sich geschlossene äußere Begrenzung
tierischer Zellen (Syn. Plasmalemm, Zellwand)
Zellnekrose. Absterben von Zellen im lebenden Organis-
mus als krankhafte Reaktion auf bestimmte Einwirkungen
Zentralnervensystem. Gehirn und Rückenmark bilden das
ZNS
Zungenpapillen. Auf der Schleimhaut des Zungenrückens
und des Zungenrandes lokalisierte Papillenarten (4 Arten),
die teils als Geschmackssensoren dienen, teils mechanische
und taktile Aufgaben haben
821

Abkürzungsverzeichnis
α-MSH α-Melanozyten-stimulierendes Hormon CM »cochlear microphonics«, Mikrophon-
potenziale
2-DG 2-Deoxyglukose CNV »contingent negative variation«, kontingente
negative Variation
5-HIAA 5-Hydroxindolessigsäure CPT »continuous performance test«, Konzentra-
5-HT 5-Hydroxytryptamin, Serotonin tionstest
CR konditionierte Reaktion
AC Adenylatzyklase CRE cAMP-Reaktions-Element
ACh Azetylcholin CREB cAMP-Reaktions-Element-Bindungs-
AChE Azetylcholinesterase Protein
ACTH adrenokortikotropes Hormon CRH »corticotropin releasing hormone«, Kortiko-
ADDH »attention deficit disorder and hyperactivity« tropin-Releasing-Hormon, Kortikoliberin
ADH antidiuretisches Hormon, Adiuretin, auch CRPS »complex regional pain syndrome«
Vasopressin genannt CS konditionierter Reiz
ADP Adenosindiphosphat CSF »cerebrospinal liquor fluid«, Zerebrospinal-
AEP akustisch evoziertes Potenzial flüssigkeit
AIDS »acquired immunodeficiency syndrom« CY Zyklophosphamid
ALS Amyotrophe Lateralsklerose
AMPA α-Amino-3-hydroxy-5-methyl-4-Isoxazol-
propionsäure DA Dopamin
ANP atriales natriuretisches Peptid DBH Dopamin-β-Hydroxylase
ANS autonomes Nervensystem DBS »deep brain stimulation«
ARAS aufsteigendes retikuläres Aktivierungssystem DC »direct current«, Gleichstrom
ASIC »acid sensing ion channel« DHT 5α-Dihydrotestosteron
ATP Adenosintriphosphat DL Differenzlimen
AV-Knoten Atrioventrikularknoten des Herzens DMS »delayed matching to sample«
DNA »desoxyribonucleic acid«, Desoxyribonuk-
leinsäure
BCI »brain computer interfaces« Dopa L-Dehydroxyphenylamin
BDNF »brain-derived neurotrophic factors« dpt Dioptrie
BERA »brainstem evoked response audiometry«
BMI Body-Mass-Index
BOLD-Effekt »blood oxygenation level dependent«-Effekt ECoG Elektrokortikogramm
bei der fMRT ECS »electroconvulsive shock«, Elektroschock
BRAC »basic rest activity cycle« EEG Elektroenzephalogramm
EEG Elektrogastrogramm
EKP ereigniskorreliertes Potenzial
CAH »congenital adrenal hyperplasia«, andro EMG Elektromyogramm
genitales Syndrom ENG Elektroneurographie
CAM »cell adhesion molecule«, Zelladhäsions- EOG Elektrookulogramm
molekül EOG Elektroolfaktogramm
cAMP zyklisches Adenosinmonophosphat EPI Echo-Planar-Imaging
CaRE Kalzium-Reaktions-Bindungs-Element EPS »extra sensory perception«, außersinnliche
CCK Cholezystokinin Wahrnehmung
CD »cluster of differentiation« EPSP erregendes postsynaptisches Potenzial
CER »conditioned emotional response«,
konditionierte emotionale Reaktion
CF charakteristische Frequenz fMRT funktionelle Magnetresonanztomographie
CGL Corpus geniculatum laterale FR Formatio reticularis
cGMP zyklisches Guanosinmonophosphat FSH Follikel-stimulierendes Hormon
CGRP »calcitonin gene-related peptide«
ChAT Cholin-Azetyltransferase

N. Birbaumer, Biologische Psychologie, DOI 10.1007/978-3-540-95938-0,


© Springer Medizin Verlag Heidelberg 2010
822 Anhang

GABA Gamma-Aminobuttersäure MRF »mesencephalic reticular formation«


GDP Guanidindiphosphat mRNA »messenger-RNA«, Boten-RNA
GFR glomeruläre Filtrationsrate mRNS messenger-Ribonukleinsäure
GH »growth hormone«, Wachstumshormon MRP »horseradish peroxidase«, Meerrettich-
GIT Gastrointestinaltrakt peroxidase
GLP »glucagon-like peptide« MRS »magnetic resonance spectroscopy«,
Glu Glutamat Magnetresonanzspektroskopie
GnRH Gonadotropin-Releasing-Hormon MRT Magnetresonanztomographie
GTP Guanidintriphosphat
GTS Gilles-de-la-Tourette-Syndrom
NA Noradrenalin
NAA N-Azetylaspartat
HAWIE Hamburg-Wechsler-Bellevue-Intelligenz- NGF »nerve growth factor«, Nervenwachstums-
test faktor
HHL Hypophysenhinterlappen NIRS Nahinfrarotspektroskopie
HIV humanes Immundefekt-Virus NK natürliche Killerzellen
HR Herzrate NKCA »natural killer cell activity«
HVL Hypophysenvorderlappen NMDA N-Methyl-D-Aspartat
NNM Nebennierenmark
NNR Nebennierenrinde
IAPS International Affective Picture System NO Stickoxid
IC »impoverished conditions« NO Stickstoffmonoxid
ICSS »intra-cranial-selfstimulation«, intra- NP Neuropeptid
kranielle Selbststimulation NR Nucleus reticularis
IFN Interferon NRM Nucleus raphe magnus
Ig Immunglobulin NSAID »nonstereoidal antiinflammatory drugs«
IL Interleukin NSL »Nicaraguan Sign Language«
IPSP inhibitorisches postsynaptisches Potenzial NST Nucleus subthalamicus
IQ Intelligenzquotient NTS Nucleus tractus solitarius
ISI Inter-Stimulus-Intervall Nucl Nucleus

KZG Kurzzeitgedächtnis OCD »obsessive compulsive disorder«


OR Orientierungsreaktion
OT Oxytozin
LCCS limitiertes Kapazitätskontrollsystem,
»limited capacity control system«
LD Licht-Dunkel-Variation PAG periaquäduktales Grau
LH lateraler Hypothalamus PCA »Principal-component«-Analyse
LH luteinisierendes Hormon PDE Phosphodiesterase
LP langsames Hirnpotenzial, »slow brain PDE5 Phosphodiesterase 5
potential« PET Positronenemissionstomographie
LTD Langzeitdepression, »long term depression« PFC Präfrontalkortex
LTP Langzeitpotenzierung, »long term potentia- PGO pontogenikulookzipitale Kortex-Wellen
tion« PINV »postimperative negative Variation«
LZG Langzeitgedächtnis PINV postimperative Negativierung
PKC Proteinkinase C
POMC Proopiomelanokortin
MAO Monoaminooxidase PRL Prolaktin
MAOI Monoaminoxidaseinhibitor PS paradoxer Schlaf
MEG Magnetoenzephalographie PTP posttetanische Potenzierung
MFB »medial forebrain bundle« PTSD »posttraumatic stress disorder«, posttrau-
MMSE »Mini-Mental-State-Examination« matische Stressstörung
MP Membranpotenzial
MPA Medroxiprogresteronsäure
823
Abkürzungsverzeichnis

rCBF regionale Hirndurchblutung, »regional VAS visuelle Analogskala


cerebral blood flow« VEP visuell evozierte Potenziale
REM »rapid eye movements« (Schlafstadium VIP »vasoactive intestinal polypeptide«, vaso-
mit schnellen Augenbewegungen) aktives intestinales Peptid
RF Formatio reticularis, Retikulärformation VNO vomeronasales Organ
RF Radiofrequenz VS vegetativer Zustand, »vegetative state«
RFLP Reaktionsfragmentlängenpolymorphismus VT Verhaltenstherapie
RHT retinohypothalamischer Trakt VTA ventrales Tegmentum des Mittelhirns
RNA »ribonucleic acid«, Ribonukleinsäure VTM Area ventralis tegmentalis
rTMS repetitive transkranielle Magnetstimulation

WCST Winsconsin Card Sorting Test


SAD »seasonal affective disorder«
SCL »skin conductance level«
SCN »suprachiasmatic nucleus«, Nucleus supra- ZNS Zentralnervensystem
chiasmaticus
SCP »slow cortical potentials«
SCR »skin conductance response«
SD »spreading depression«
sEPSP slow EPSP
SMA supplementär-motorisches Areal
SMR sensomotorischer Rhythmus
SP Substanz P
SPA stimulationsproduzierte Analgesie
SPL »sound pressure level«
SQUID »superconducting quantum interference
device«
SR Startlereflex
SSRI Serotoninaufnahmehemmer
STH Somatotropin
STN Nucleus subthalamicus
SWS »slow wave sleep«

TCT »T-cell-receptor«, T-Zell-Rezeptor


tDCS transkranielle Gleichstromreizung
TENS transkutane elektrische Nervenstimulation
TGF »transforming growth factor«, transformie-
render Wachstumsfaktor
TH Tyrosinhydroxylase
THC Delta-9-Tetrahydro-cannabinol
TIQ Tetrahydro-Isoquinolon
TMS transkranielle Magnetstimulation
TNF Tumornekrosefaktor
TRH Thyreotropin-Releasing-Hormon
tRNA Transport-RNA
TRP »transient receptor potential«
TSH Thyreoidea-stimulierendes Hormon
TTD »thought translation device«
TTS »temporary threshold shift«, Hörschwelle
TTX Tetrodotoxin

U(C)R unkonditionierte Reaktion


U(C)S unkonditionierter Reiz (Stimulus)
825

Quellenverzeichnis

Seite Abb.-Nr. Quelle

Kapitel 1

4 Box 1.1 Universitätsarchiv Leipzig


6 1.1 Mit freundlicher Genehmigung von Steven E. Peterson, Ph.D., NeuroImaging Laboratory, Washington University,
St. Louis
7 1.2 Reprinted by permission from Macmillan Publishers Ltd: Nature Neuroscience. Aus Anders S, Birbaumer N, Sadowski B
et al (2004) Parietal somatosensory association cortex mediates effective blindsight. Nature Neuroscience 7, 4,
pp. 339-340. 2004.
8 Box 1.2 Hieronymus Brunschwig, 1497
8 Box 1.2 Aus Human nature library, New York, July 1887, p. 11, fig. 6 (the phrenological organs)
8 Box 1.2 Aus Marshall LH, Magounlt W (1998) Discoveries in the human brain, p 75. Humana Press Totowa, N.Y. Mit freundlicher
Genehmigung
9 1.3 Aus Hebb DO (1949) The Organization of Behavior, John Wiley, New York

Kapitel 2

13 2.1 Die Zeichnung verdanken wir Prof. em. Dr. K. H. Andres, Lehrstuhl für Anatomie II der Ruhr-Universität Bochum
18 2.3a,b Nach Schillers H, Danker T, Madeja M, Oberleithner H (2001) Plasma membrane protein clusters appear in CFTR-expres-
sing Xenopus laevis oocytes after cAMP stimulation. J Membrane Biol 180: 205-212
19 2.5a,b Modifiziert nach Schmidt RF, Thews G, Lang F (2000). Physiologie des Menschen, 28. Aufl. Springer, Berlin Heidelberg
New York Tokyo
20 2.6a,b Modifiziert Nach Schmidt RF, Thews G, Lang F (2000) Physiologie des Menschen, 28. Aufl. Springer, Berlin Heidelberg
New York Tokyo
22 2.7 Aus Schmidt RF, Lang F, Thews G (2005) Physiologie des Menschen, 29. Aufl. Springer, Berlin Heidelberg New York Tokyo
24 2.10a Mit freundlicher Genehmigung von Professor C. Steinhäuser, Bonn

Kapitel 3

35 3.2 Darstellung von Dudel J in Schmidt RF (Hrsg) (1987) Grundriß der Neurophysiologie, 6. Aufl. Springer, Berlin Heidelberg
New York (Heidelberger Taschenbücher, Bd 96)
36 3.3 Darstellung von Dudel J in: Schmidt RF (Hrsg) (1987) Grundriß der Neurophysiologie, 6. Aufl. Springer, Berlin Heidelberg
New York (Heidelberger Taschenbücher, Bd 96)
38 Box 3.1 Modifiziert nach Schmidt RF, Lang F, Thews G (2005) Physiologie des Menschen, 29. Aufl. Springer, Berlin Heidelberg
New York Tokyo
44 3.8b Nach Huxley AF, Stämpfli R (1949) Evidence for saltatory conduction in peripheral myelinated nerve fibres. J. Physiol
(Lond) 108:315, mit freundlicher Genehmigung

Kapitel 4

50 4.1 Nach den elektronenmikroskopischen Befunden zahlreicher Autoren, insbesondere von K. Akert, Zürich, und Mit-
arbeitern.
51 4.3a-g 4.3e-g: Aus Eccles JC (1969) The inhibitory pathways of the central nervous system. The Sherrington Lectures IX.
Thomas, Springfield
53 4.4a,b Nach Nicholls J, Martin AR, Wallace BG (2001) From neuron to brain, 4th edn. Sinauer, Sunderland und Kuffler SW (1980)
Slow synaptic responses in autonomic ganglia and the pursuit of a peptidergic transmitter. J Exp Biol 89:257-286.
Reproduced/adapted with permission.
53 4.5a-d Aus Eccles JC (1964) The physiology synapses. Springer, Berlin Heidelberg New York
54 Box 4.1 Nach Loewi O (1960) An autobiographic sketch: In: Perspectives in Biology and Medicine, vol. IV:3–25. The Johns
Hopkins University Press, Baltimore
54 Box 4.1 Nach Loewi O (1960) An autobiographic sketch: In: Perspectives in Biology and Medicine, vol. IV:3–25. The Johns
Hopkins University Press, Baltimore
59 4.9 Modifiziert nach Schmidt RF, Lang F, Thews G (2005) Physiologie des Menschen, 29. Aufl. Springer, Berlin Heidelberg
New York Tokyo
61 4.10a-c Aus Schmidt RF, Unsicker K, Birbaumer N, Kurtz A, Schartl M (Hrsg.) (2003) Lehrbuch Vorklinik. Deutscher Ärzte-Verlag.
Mit freundlicher Genehmigung.
62 4.11a,b Aus Schmidt RF, Unsicker K, Birbaumer N, Kurtz A, Schartl M (Hrsg.) (2003) Lehrbuch Vorklinik. Deutscher Ärzte-Verlag.
Mit freundlicher Genehmigung.
63 4.12a,b Aus Schmidt RF, Unsicker K, Birbaumer N, Kurtz A, Schartl M (Hrsg.) (2003) Lehrbuch Vorklinik. Deutscher Ärzte-Verlag.
Mit freundlicher Genehmigung.

N. Birbaumer, Biologische Psychologie, DOI 10.1007/978-3-540-95938-0,


© Springer Medizin Verlag Heidelberg 2010
826 Anhang

Seite Abb.-Nr. Quelle

63 4.13 Aus Schmidt RF, Unsicker K, Birbaumer N, Kurtz A, Schartl M (Hrsg.) (2003) Lehrbuch Vorklinik. Deutscher Ärzte-Verlag.
Mit freundlicher Genehmigung.
66 4.15b Aus Braun M, Schmidt RF, Zimmermann M (1966) Facilitation at the frog neuromuscular junction during and after
repetitive stimulation. Pflügers Arch Ges Physiol 287:41-55
66 4.15c Aus Braun M, Schmidt RF, Zimmermann M (1966) Facilitation at the frog neuromuscular junction during and after
repetitive stimulation. Pflügers Arch Ges Physiol 287:41-55
66 4.15d Zusammengestellt von J.C. Eccles in Eccles JC (1975) Das Gehirn des Menschen. Piper, München
66 4.15f Zusammengestellt von J.C. Eccles in Eccles JC (1975) Das Gehirn des Menschen. Piper, München
67 4.16a,b Nach Dudel J, Menzel R, Schmidt RF (Hrsg) (2001) Neurowissenschaft vom Molekül zur Kognition, 2. Aufl. Springer,
Berlin Heidelberg New York

Kapitel 5

73 5.2 Nach Carlson NR (1998) Physiology of Behavior. 7th ed, p. 59. Allyn & Bacon, Boston. Mit freundlicher Genehmigung.
76 5.5a-c Nach Rosenzweig MR, Leiman LA, Breedlove SM (2005) Physiological Psychology. 4th ed, p. 37, fig. 2.9 A-C. 2001.
Sinauer Associates, Sunderland, Mass. Mit freundlicher Genehmigung.
78 5.8 Nach Mountcastle VB, Poggio GF (1960) A study of the functional contributions of the lemniscal and spinothalamic
systems to somatic sensibility. Central nervous mechanisms in pain. Bull Johns Hopkins Hosp 106: 266-316
80 5.9a-d Nach Schmidt RF, Thews G, Lang F (2000) Physiologie des Menschen, 28. Aufl. Springer, Berlin Heidelberg New York
Tokyo
81 5.10 Aus Heimer L (1995) The Human Brain and Spinal Cord., 2nd ed. Springer, New York
81 5.11a,b Aus Heimer L (1995) The Human Brain and Spinal Cord., 2nd ed. Springer, New York
83 5.12b Nach Heimer L (1995) The Human Brain and Spinal Cord., 2nd ed. Springer, New York
85 5,14a,b Aus Benninghoff A (1994) Anatomie. 15. Aufl. Urban & Schwarzenberg, München. Mit freundlicher Genehmigung.
87 5.16a,b Nach Heimer L (1995) The Human Brain and Spinal Cord., 2nd ed. Springer, New York
88 5.17b Aus Sobotta J (1999) Atlas der Anatomie des Menschen, 21. Aufl. Urban & Fischer, München. Mit freundlicher Geneh-
migung.
88 5.17c Aus Sobotta J (1999) Atlas der Anatomie des Menschen, 21. Aufl. Urban & Fischer, München. Mit freundlicher Geneh-
migung.
88 5.17d Aus Sobotta J (1999) Atlas der Anatomie des Menschen, 21. Aufl. Urban & Fischer, München. Mit freundlicher Geneh-
migung.
88 5.17e Aus Sobotta J (1999) Atlas der Anatomie des Menschen, 21. Aufl. Urban & Fischer, München. Mit freundlicher Geneh-
migung.
89 5.18a,b Nach Schmidt RF, Thews G, Lang F (2000) Physiologie des Menschen, 28. Aufl. Springer, Berlin Heidelberg New York Tokyo
und aus Schmidt RF, Schaible HG (2001) Neuro- und Sinnesphysiologie, 4. Aufl. Springer, Berlin Heidelberg New York
96 Box 5.5 Mit freundlicher Genehmigung von Dr. Hakan Widner, M.D., PhD., Lord University, Sweden

Kapitel 6

103 6.3a,b Nach Schmidt RF, Thews G, Lang F (2000) Physiologie des Menschen, 28. Aufl. Springer, Berlin Heidelberg New York Tokyo
104 6.4 Nach Schmidt RF, Thews G, Lang F (2000) Physiologie des Menschen, 28. Aufl. Springer, Berlin Heidelberg New York Tokyo
108 6.5 Nach Schmidt RF, Thews G, Lang F (2000) Physiologie des Menschen, 28. Aufl. Springer, Berlin Heidelberg New York Tokyo
111 6.7 Nach Mellander S (1960) Comparative studies on the adrenergic neuro-hormonal control of resistance and capacitance
blood vessels in the cat. Acta physiol scand 50 (Suppl 176): 1-86
111 6.8 Modifiziert nach Ranson SW, Clark SL (1959) The Anatomy of the Nervous System. Wb Saunders Company, Philadel-
phia and London und Petras JM, Cummings JF (1972) Autonomic neurons in the spinal cord of the Rhesus monkey:
a correlation of the findings of cytoarchitectonics and sympathectomy with fiber degenerations following dorsal
rhizotomy. J Comp Neurol 146: 189-218
112 6.9 Aus Schmidt RF (1987) Bauchschmerzen aus physiologischer Sicht. In: Wackenheim A, Vouge M (Hrsg) Bauchschmerz,
edition medizin, Weinheim © Chapman & Hall, London
113 6.10 Nach Schmidt RF, Thews G, Lang F (2000) Physiologie des Menschen, 28. Aufl. Springer, Berlin Heidelberg New York Tokyo

Kapitel 7

119 7.1 Nach Schmidt RF, Thews G, Lang F (2000) Physiologie des Menschen, 28. Aufl. Springer, Berlin Heidelberg New York Tokyo
119 7.2 Nach Schmidt RF, Thews G, Lang F (2000) Physiologie des Menschen, 28. Aufl. Springer, Berlin Heidelberg New York Tokyo
119 7.3 Nach Schmidt RF, Thews G, Lang F (2000) Physiologie des Menschen, 28. Aufl. Springer, Berlin Heidelberg New York Tokyo
120 7.4 Nach Lang F (2000) Basiswissen Physiologie. Springer, Berlin Heidelberg New York
122 7.5 Nach Schmidt RF, Thews G, Lang F (2000) Physiologie des Menschen, 28. Aufl. Springer, Berlin Heidelberg New York Tokyo
123 7.6a-c Nach Schmidt RF, Thews G, Lang F (2000) Physiologie des Menschen, 28. Aufl. Springer, Berlin Heidelberg New York Tokyo
124 7.7a Nach Lang F (2000) Basiswissen Physiologie. Springer, Berlin Heidelberg New York
827
Quellenverzeichnis

Seite Abb.-Nr. Quelle

124 7.7b Nach Schmidt RF, Thews G, Lang F (2000) Physiologie des Menschen, 28. Aufl. Springer, Berlin Heidelberg New York Tokyo
127 7.8c Nach Schmidt RF, Thews G, Lang F (2000) Physiologie des Menschen, 28. Aufl. Springer, Berlin Heidelberg New York Tokyo
129 7.10 Nach Schmidt RF, Thews G, Lang F (2000) Physiologie des Menschen, 28. Aufl. Springer, Berlin Heidelberg New York Tokyo
132 7.12b Nach M.P. Sambi, Ann. Inter. Med. 79:411, 1973
134 7.13 Nach Schmidt RF, Lang F, Thews G (2005) Physiologie des Menschen, 29. Aufl. Springer, Berlin Heidelberg New York Tokyo

Kapitel 8

142 8.1 Aus Richard Brown (1994) An introduction to neuroendocrinology, 1st edition, Cambridge University Press.
Mit freundlicher Genehmigung.
143 8.2 Nach Voigt KH, Fehm H (1993) Psychoendokrinologie. In: Uexküll T von (ed) Lehrbuch der psychosomatischen Medizin,
3. Aufl. Urban und Schwarzenberg, München. Mit freundlicher Gehnehmigung.
152 8.9a-c Nach Maier et al. (1988) in: Miltner M, Birbaumer N, Gerber W (1993) Verhaltensmedizin. Springer, Berlin Heidelberg
New York Tokyo

Kapitel 9

161 9.3 Aus Schmidt RF, Unsicker K, Birbaumer N, Kurtz A, Schartl M (Hrsg.) (2003) Lehrbuch Vorklinik. Deutscher Ärzte-Verlag.
Mit freundlicher Genehmigung.
162 9.4 Nach Schmidt RF, Lang F, Thews G (2005) Physiologie des Menschen, 29. Aufl. Springer, Berlin Heidelberg New York Tokyo
169 9.6 Nach Goetzl E, Turck C & Streedhasan, S (2001). Production and recognition of neuropeptides by cells of immune
system. In: Ader R, Felten D, Cohen N (eds). Psychoneuroimmunology, 3rd edn. Academic Press, San Diego. Mit freund-
licher Genehmigung.
172 9.8a,b Aus Felten S, Felten DL (2001) Innervation of lymphoid tissue. In: Ader R, Felten D, Cohen N (eds) (2001) Psychoneuro-
immunology, 3rd ed. Academic Press, San Diego. Mit freundlicher Genehmigung.
179 9.14 Nach Mrazek & Klinert, in: Ader R, Felten D, Cohen N (eds) (2001) Psychoneuroimmunology, 3rd ed. Academic Press,
San Diego. Mit freundlicher Genehmigung.

Kapitel 10

185 10.2b Nach Schmidt RF, Thews G, Lang F (2000) Physiologie des Menschen, 28. Aufl. Springer, Berlin Heidelberg New York Tokyo
189 10.5a-d Nach Schmidt RF, Thews G, Lang F (2000) Physiologie des Menschen, 28. Aufl. Springer, Berlin Heidelberg New York Tokyo
192 10.6a,b Nach Schmidt RF, Thews G, Lang F (2000) Physiologie des Menschen, 28. Aufl. Springer, Berlin Heidelberg New York Tokyo
193 10.7 Aus Thews G, Vaupel P (2001) Vegetative Psychologie, 4. Aufl. Springer, Berlin Heidelberg New York Tokyo
194 10.8 Aus Thews G, Vaupel P (2001) Vegetative Psychologie, 4. Aufl. Springer, Berlin Heidelberg New York Tokyo
197 10.10 Nach Schmidt RF, Thews G, Lang F (2000) Physiologie des Menschen, 28. Aufl. Springer, Berlin Heidelberg New York Tokyo
202 10.15 Nach Schmidt RF, Lang F, Thews G (2005) Physiologie des Menschen, 29. Aufl. Springer, Berlin Heidelberg New York Tokyo
203 10.16a,b Nach Schmidt RF, Thews G, Lang F (2000) Physiologie des Menschen, 28. Aufl. Springer, Berlin Heidelberg New York Tokyo
204 10.17 Nach Schmidt RF, Lang F, Thews G (2005) Physiologie des Menschen, 29. Aufl. Springer, Berlin Heidelberg New York Tokyo
206 10.19 Nach Schmidt RF, Thews G, Lang F (2000) Physiologie des Menschen, 28. Aufl. Springer, Berlin Heidelberg New York Tokyo
207 10.20 Nach Schmidt RF, Thews G, Lang F (2000) Physiologie des Menschen, 28. Aufl. Springer, Berlin Heidelberg New York Tokyo

Kapitel 11

216 11.3 Nach Schmidt RF, Lang F, Thews G (2005) Physiologie des Menschen, 29. Aufl. Springer, Berlin Heidelberg New York Tokyo
216 11.4 Nach Schmidt RF, Thews G, Lang F (2000) Physiologie des Menschen, 28. Aufl. Springer, Berlin Heidelberg New York Tokyo
217 11.5a,b In Anlehnung an Richter DW (1996) Neutral regulation of respiration: Rhythmogenesis and afferen control. In: Greger R,
Windhorst U (eds) Comprehensive Human Physiologie, Vol 2, pp 2079-2095. Springer, Berlin Heidelberg New York Tokyo
und Richter DW, Ballanyi K, Schwarzacher S (1992) Mechanisms of respiratory rhythm generation. Curr Opin Neurobiol
2: 788-793 und an H. P. Koepchen, Freie Universität, Berlin
218 11.6 Nach Schmidt RF, Thews G, Lang F (2000) Physiologie des Menschen, 28. Aufl. Springer, Berlin Heidelberg New York Tokyo
220 11.7a,b Nach Boothby WM, Berkson J, Dunn HL (1936) Studies of the energy of metabolism of normal individuals: A standard
of basal metabolism, with a nomogram for clinical application. Am J Physiol 116:468 aus Ulmer in: STL, 28. Aufl.
221 11.8 Messungen von Göpfert et al., in: Göpfert H, Bernsmeier A, Stufler R (1953). Über die Steigerung des Energiestoff-
wechsels und der Muskelinnervation bei geistiger Arbeit. Pflügers Arch 256:304
222 11.9a,b Nach Schmidt RF, Lang F, Thews G (2005) Physiologie des Menschen, 29. Aufl. Springer, Berlin Heidelberg New York Tokyo
224 11.10a-e Die unveröffentlichte Abbildung wurde uns dankenswerterweise von M. Nischik und C. Forster, Institut für Physiologie
und experimentelle Pathophysiologie, Universität Erlangen, zur Verfügung gestellt.
224 11.11a,b Rainer Schandry, Lehrbuch Psychophysiologie © 4. Auflage 1998 Psychologie Verlags Union in der Verlagsgruppe
Beltz, Weinheim und Basel. Mit freundlicher Genehmigung.
225 11.12 Nach Schmidt RF, Thews G, Lang F (2000) Physiologie des Menschen, 28. Aufl. Springer, Berlin Heidelberg New York Tokyo
226 11.13 Nach Schmidt RF, Thews G, Lang F (2000) Physiologie des Menschen, 28. Aufl. Springer, Berlin Heidelberg New York Tokyo
828 Anhang

Seite Abb.-Nr. Quelle

Kapitel 12

237 12.1 Aus Schmidt RF (2001) Physiologie kompakt. 4. Aufl. Springer, Berlin Heidelberg New York Tokyo
238 12.2a-d Nach Schmidt RF, Lang F, Thews G (2005) Physiologie des Menschen, 29. Aufl. Springer, Berlin Heidelberg New York Tokyo
239 12.3 Nach Sleisenger MH, Fordtran JS (eds) (1983), Gastrointestinal disease. 4 th edn., Saunders, Philadelphia. Mit freund-
licher Genehmigung.
240 12.4 Nach Schmidt RF, Lang F, Thews G (2005) Physiologie des Menschen, 29. Aufl. Springer, Berlin Heidelberg New York Tokyo
242 12.6a-c Aus Schmidt RF (2001) Physiologie kompakt. 4. Aufl. Springer, Berlin Heidelberg New York Tokyo
246 12.8 Nach Levey A S, Perrone R D, Madias N E: Serum creatinine and renal function. Ann Rev Med. 1988, 39 465-490. Mit
freundlicher Genehmigung.
247 12.9a,b Aus Schmidt RF (2001) Physiologie kompakt. 4. Aufl. Springer, Berlin Heidelberg New York Tokyo
252 12.11a,b 12.11b: Nach Nathan PW (1976) Scientific Foundations of Urology Vol II, 51–58 in Williams DI, Chrishohn GD, Year Book
Medical Publ, Chicago

Kapitel 13

256 13.1 Nach Schmidt RF, Lang F, Thews G (2005) Physiologie des Menschen, 29. Aufl. Springer, Berlin Heidelberg New York Tokyo
264 13.5a,b Nach Schmidt RF, Lang F, Thews G (2005) Physiologie des Menschen, 29. Aufl. Springer, Berlin Heidelberg New York Tokyo
266 13.6 Aus Schmidt RF, Unsicker K, Birbaumer N, Kurtz A, Schartl M (Hrsg.) (2003) Lehrbuch Vorklinik. Deutscher Ärzte-Verlag.
Mit freundlicher Genehmigung.
274 13.16a-c Nach Delwaide PJ, Young RR (1985) Clinical Neurophysiology in Spasticity. Elsevier, Amsterdam. Mit freundlicher Ge-
nehmigung.
275 13.17a,b 13.17a: Nach: Evarts EV, Wise SP, Bousfield D (eds) (1985) The motor system in neurobiology. Elsevier, Amsterdam
13.17b: Nach Jankowska E, Lundberg A (1981) Interneurones in the spinal cord. Trends Neurosci 4: 230–233
276 13.18a-c Reproduced / Adapted with permission from The Structure of Emotion by Niels Birbaumer & Arne Öhmann, ISBN
0-88937-055-9 and ISBN 3-456-82010-9, p. 244 ©1993 Hogrefe & Huber Publishers. • Seattle • Toronto • Bern • Göttingen
279 13.20 Nach Alexander GE, Crutcher MD (1990) Functional architecture of basal ganglia circuits: neural substrates of parallel
processing. Trends Neurosci 13: 266–271. Mit freundlicher Genehmigung.
282 13.22a,b Nach Schmidt RF, Lang F, Thews G (2005) Physiologie des Menschen, 29. Aufl. Springer, Berlin Heidelberg New York Tokyo
283 13.23a Aus Rosenzweig MR, Breedlove SM, Watson NV (2005) Biological psychology: an introduction to behavioral and cogni-
tive neuroscience. 4th ed, p. 333, fig. 1.11. Sinauer Associates, Sunderland, Mass. Mit freundlicher Genehmigung.
283 13.23b Aus Rosenzweig MR, Breedlove SM, Watson NV (2005) Biological psychology: an introduction to behavioral and cogni-
tive neuroscience. 4th ed, p. 339, fig. 11.17. Sinauer Associates, Sunderland, Mass. Mit freundlicher Genehmigung.
284 13.24a,b Nach Woolsey C u. Mitarb. in: Woolsey CN, Settlage PH, Meyer DR, Sencer W, Pinto-Hamuy T, Travis HM ( 1950) Patterns
of localization in precentral and supplementary motor areas and their relation to the concept of a premotor area. Proc
Assoc Res Nerv Ment Dis 30
285 13.25a,b Nach Daten von Gratton, Coles et al. Aus Birbaumer N, Öhman A (eds) (1993) The structure of emotion. Hogrefe & Huber,
Seattle
286 13.26a-f Aus Seitz RJ, Roland P, Bohm C, Greitz T, Stone-Elander S (1991) Somatosensory discrimination of shape: Tactile explo-
ration and cerebral activation. Europ J Neuroscience 3:481-492. Mit freundlicher Genehmigung.
288 13.27a Nach Preuschoft H, Chivers DJ (eds) (1993) Hands of Primates. Springer, Wien
288 13.27b Nach Preuschoft H, Chivers DJ (eds) (1993) Hands of Primates. Springer, Wien
288 13.27c Nach Schmidt RF, Thews G, Lang F (2000) Physiologie des Menschen, 28. Aufl. Springer, Berlin Heidelberg New York Tokyo
288 13.27d Permission is hereby granted for the use requested subject to the usual acknowledgements (Humphrey D.R., Freund H.-J.
(eds) (1991) Motor Control: Concepts and Issues. In: Dahlem Workshop Reports Berlin (1989). Wiley-Interscience: Chichester)
289 13.28 Nach Schmidt RF, Thews G, Lang F (2000) Physiologie des Menschen, 28. Aufl. Springer, Berlin Heidelberg New York Tokyo
290 13.29 Aus Schmidt RF, Unsicker K, Birbaumer N, Kurtz A, Schartl M (Hrsg.) (2003) Lehrbuch Vorklinik. Deutscher Ärzte-Verlag.
Mit freundlicher Genehmigung.
292 13.30 In Anlehnung an Whitehead WE, Schuster MM (1983) Manometric and electromyographic techniques for assessment
of the anorectal mechanism for continence and defecation. In: Hölzl R, Whitehead WE (eds): Physiology of the gastro-
intestinal tract. Experimental and clinical applications. Plenum, New York
293 Box 13.8 Aus Kopp B, Flor H, Mühlnickel W (1999) Neuroreport 10:807-810. Mit freundlicher Genehmigung.

Kapitel 14

299 14.1 Nach Schmidt RF, Thews G, Lang F (2000) Physiologie des Menschen, 28. Aufl. Springer, Berlin Heidelberg New York Tokyo
301 14.2 Aus Schmidt RF (2001) Physiologie kompakt. 4. Aufl. Springer, Berlin Heidelberg New York Tokyo
303 14.4a-c Aus Dudel J (1985) Allgemeine Sinnesphysiologie. In: Schmidt RF, Thews G (Hrsg) Physiologie des Menschen, 22. Aufl.
Springer, Berlin Heidelberg New York Tokyo, S. 191-208.
304 14.5a Aus Dudel J (1985) Allgemeine Sinnesphysiologie. Aus Schmidt RF, Thews G (Hrsg) Physiologie des Menschen, 22. Aufl.
Springer, Berlin Heidelberg New York Tokyo, S. 191-208.
829
Quellenverzeichnis

Seite Abb.-Nr. Quelle

304 14.5b Aus Dudel J (1985) Allgemeine Sinnesphysiologie. Aus Schmidt RF, Thews G (Hrsg) Physiologie des Menschen, 22. Aufl.
Springer, Berlin Heidelberg New York Tokyo, S. 191-208.
306 14.6a,b Aus Dudel J (1985) Allgemeine Sinnesphysiologie. Aus Schmidt RF, Thews G (Hrsg) Physiologie des Menschen, 22. Aufl.
Springer, Berlin Heidelberg New York Tokyo, S. 191-208.
307 14.7 Nach M. Zimmermann, Heidelberg
307 14.8 Aus Dudel J (1985) Allgemeine Sinnesphysiologie. Aus Schmidt RF, Thews G (Hrsg) Physiologie des Menschen, 22. Aufl.
Springer, Berlin Heidelberg New York Tokyo, S. 191-208.
308 14.9a,b Aus Dudel J (1985) Allgemeine Sinnesphysiologie. Aus Schmidt RF, Thews G (Hrsg) Physiologie des Menschen, 22. Aufl.
Springer, Berlin Heidelberg New York Tokyo, S. 191-208.
309 14.10 Nach Zimmermann M (1995) Das somatoviszentrale sensorische System. In: Schmidt RF, Thews G (Hrsg) Physiologie
des Menschen, 26. Aufl. Springer, Berlin Heidelberg New York Tokyo
310 14.11a Modifiziert und erweitert nach Penfield W, Rassmussen T (1950) The cerebral cortex of man. Macmillan, New York
310 14.11c Modifiziert und erweitert Nach Penfield W, Rassmussen T (1950) The cerebral cortex of man. Macmillan, New York
313 14.12a-c Modifiziert nach Zimmermann M (1995) Das somatoviszentrale sensorische System. In: Schmidt RF, Thews G (Hrsg)
Physiologie des Menschen, 26. Aufl. Springer, Berlin Heidelberg New York Tokyo
314 Box14.3 Röder B, Rösler F, Henninghausen E, Näcker F (1996) Event-related potentials during auditory and somatosensory
discrimination in sighted and blind subjects. Cogn Brain Res 4:77–93. Mit freundlicher Genehmigung.
315 14.13a,b Nach Blough DS, Yager D (1972) Visual psychophysics in animals. In: Jameson D, Hurvich LM (eds) Visual psychophysics.
(Handbook of sensory physiology, vol VII/4). Springer, Berlin Heidelberg New York
317 14.14 Messungen von Borg et al. J. Physiol. 192, 13 (1967)
318 14.15 Messungen von Stevens SS (1975) Psychophysics. John Wiley, New York
318 14.16 Nach L.E. Marks. Aus Dudel J (1985) Allgemeine Sinnesphysiologie. Aus Schmidt RF, Thews G (Hrsg) Physiologie des
Menschen. 22. Aufl. Springer, Berlin Heidelberg New York Tokyo, S. 191-208

Kapitel 15

322 15.1a-c Aus Schmidt RF (Hrsg) (1985) Grundriß der Sinnesphysiologie. 5. Aufl. Springer, Berlin Heidelberg New York Tokyo. Nach
Lindblom und Lindström in: Zottermann Y (ed) Sensory Functions of the Skin in Primates. Pergamon Press, Oxford.
323 15.2a,b Nach Weber EH (1835) Archiv für Anatomie, Physiologie und wissenschaftliche Medizin
325 15.3a-c Modifiziert nach Schmidt RF, Lang F, Thews G (2005) Physiologie des Menschen, 29. Aufl. Springer, Berlin Heidelberg
New York Tokyo
326 15.4a-d Nach Daten von Vallbo AB, Johannson RS (1984) Properties of cutaneous mechanoreceptors in the human hand
related to touch sensation. Human Neurobiol 3:2. Aus Schmidt RF (Hrsg) (1985) Grundriß der Sinnesphysiologie.
5. Aufl. Springer, Berlin Heidelberg New York Tokyo
327 15.5a,b Nach Handwerker HO aus Zimmermann M, Handwerker HO (Hrsg) (1984) Schmerz. Konzepte und ärztliches Handeln.
Springer, Berlin Heidelberg New York Tokyo
328 15.6a-c Modifiziert nach Jänig W, Schmidt RF, Zimmermann M (1968) Single unit responses and the total afferent outflow from
the cat‘s footpad upon mechanical stimulation. Exp Brain Res 6: 100
329 15.7 Aus Schmidt RF (Hrsg) (1985) Grundriß der Sinnesphysiologie. 5. Aufl. Springer, Berlin Heidelberg New York Tokyo.
Nach Knibestöl und Vallbo in: Zottermann Y (ed) Sensory Functions of the Skin in Primates. Pergamon Press, Oxford.
331 15.8 Aus Schmidt RF (Hrsg) (1985) Grundriß der Sinnesphysiologie. 5. Aufl. Springer, Berlin Heidelberg New York Tokyo
333 15.9 Modifiziert nach Zottermann Y (ed) (1976) Sensory functions of the skin in primates. Pergamon, Oxford
335 15.10a,b Modifiziert nach Zottermann Y (ed) (1976) Sensory functions of the skin in primates. Pergamon, Oxford
335 Box 15.3 Nach Schmidt RF, Lang F, Thews G (2005) Physiologie des Menschen, 29. Aufl. Springer, Berlin Heidelberg New York Tokyo

Kapitel 16

343 16.1 Nach Schmidt RF, Thews G, Lang F (2000) Physiologie des Menschen, 28. Aufl. Springer, Berlin Heidelberg New York Tokyo
346 16.3 Nach Schmidt RF, Lang F, Thews G (2005) Physiologie des Menschen, 29. Aufl. Springer, Berlin Heidelberg New York Tokyo
347 16.4 Nach Schmidt RF, Thews G, Lang F (2000) Physiologie des Menschen, 28. Aufl. Springer, Berlin Heidelberg New York Tokyo
348 16.6a-c Nach Schmidt RF, Lang F, Thews G (2005) Physiologie des Menschen, 29. Aufl. Springer, Berlin Heidelberg New York Tokyo
348 16.7a-i Aus Torebjörk HE (1974) Acta Physiol. Scand. 92, 374. Mit freundlicher Genehmigung.
349 16.8a,b Nach Schmidt RF, Lang F, Thews G (2005) Physiologie des Menschen, 29. Aufl. Springer, Berlin Heidelberg New York Tokyo
350 16.9 Nach Schmidt RF, Lang F, Thews G (2005) Physiologie des Menschen, 29. Aufl. Springer, Berlin Heidelberg New York Tokyo
352 16.10a,b Nach Schmidt RF, Lang F, Thews G (2005) Physiologie des Menschen, 29. Aufl. Springer, Berlin Heidelberg New York Tokyo
353 16.11a,b Nach Schmidt RF, Lang F, Thews G (2005) Physiologie des Menschen, 29. Aufl. Springer, Berlin Heidelberg New York Tokyo
353 Box 16.3 Die Aufnahmen wurden von Dr. Karen Davis, Universität Toronto zur Verfügung gestellt.
355 16.12 Nach Schmidt RF, Thews G, Lang F (2000) Physiologie des Menschen, 28. Aufl. Springer, Berlin Heidelberg New York Tokyo
356 16.13a-c Nach Schmidt RF, Lang F, Thews G (2005) Physiologie des Menschen, 29. Aufl. Springer, Berlin Heidelberg New York Tokyo
357 16.14 Nach Schmidt RF, Lang F, Thews G (2005) Physiologie des Menschen, 29. Aufl. Springer, Berlin Heidelberg New York Tokyo
358 16.15a-c Nach Schmidt RF, Thews G, Lang F (2000) Physiologie des Menschen, 28. Aufl. Springer, Berlin Heidelberg New York Tokyo
830 Anhang

Seite Abb.-Nr. Quelle

359 16.16 Aus Kaas JH (1991) Plasticity of sensory and motor maps in adult mammals. Annu Rev Neurosci 14:137. Mit freund-
licher Genehmigung.
360 16.17 Aus Flor H, Birbaumer N (2000) Phantom limb pain: cortical plasticity and novel therapeutic approaches. Current
Opinion in Anaesthesiology 13:561-564 mit freundlicher Genehmigung
360 Box 16.6 Aus Huse E, Preissl M, Birbaumer N (2001) Phantom limb pain. The lancet 358:1015-1016. Mit freundlicher Genehmigung.
365 16.21a Nach Breitenstein C, Flor H, Birbaumer N (1994) Interaktionsverhalten chronischer Schmerzpatienten und ihrer Partner.
Zeitschrift für klinische Psychiologie 23:105-116. Mit freundlicher Genehmigung.
366 16.22a-d Modifiziert nach Mantyh P, Demaster E, Malhotra A, Ghilardi J, Rogers S, Mantyh C, Lin H, Basbaum A, Vigna S, Maggro J,
Simone D (1995) Receptor endocytosis and dendrite reshaping in spinal neurons after somatosensory stimulation.
Science 268:1629–1632. Mit freundlicher Genehmigung.
367 16.23a-c Modifiziert nach Birbaumer N, Flor H, Lutzenberger W, Elbert T (1995) The corticalization of chronic pain. In: Bromm B,
Desmedt J (eds) Pain and the Brain: From Nociception to Cognition. Raven, New York. Mit freundlicher Genehmigung.
368 16.24 Aus Schmidt RF (Hrsg) (1985) Grundriß der Sinnesphysiologie. 5. Aufl. Springer, Berlin Heidelberg New York Tokyo

Kapitel 17

377 17.1a-d Nach Grüsser OJ & Grüsser-Cornehls U in: Schmidt RF, Thews G (Hrsg) (1985) Physiologie des Menschen. 22. Aufl. Springer
Berlin Heidelberg New York Tokyo
378 17.2a-b Nach Untersuchungen von E. Auerbach, 1973. Aus Grüsser und Grüsser-Cornehls in Schmidt RF, Thews G (Hrsg) (1987)
Physiologie des Menschen. 23. Aufl. Springer Berlin Heidelberg New York Tokyo
379 17.3a-f Aus Grüsser OJ & Grüsser-Cornehls U in: Schmidt RF, Thews G (Hrsg) (1987) Physiologie des Menschen. 23. Aufl. Springer
Berlin Heidelberg New York Tokyo
381 Box 17.1 Reprinted by permission from Macmillan Publishers Ltd: Nature. Nach Anderson BL, Winawer J (2005) Image segmen-
tation and lightness perception. Nature 434: 79-83. 2005.
384 17.6a-d Zusammengestellt von Grüsser OJ & Grüsser-Cornehls U in: Schmidt RF (Hrsg) (1985) Grundriß der Sinnesphysiologie.
5. Aufl. Springer, Berlin Heidelberg New York Tokyo
384 17.7a Nach Yarbus AL (1967) Eye movements and visions. Plenum Press, New York
386 17.9a,b Nach Grüsser OJ & Grüsser-Cornehls U in: Schmidt RF (Hrsg) (1985) Grundriß der Sinnesphysiologie. 5. Aufl. Springer,
Berlin Heidelberg New York Tokyo und Schmidt RF, Thews G (Hrsg) (1987) Physiologie des Menschen. 23. Aufl. Springer
Berlin Heidelberg New York Tokyo
387 17.10 Aus Grehn, F (1991) Augenheilkunde. 27. Aufl. Springer Berlin Heidelberg New York Tokyo
387 17.11 Nach Schmidt RF, Schaible HG (Hrsg) (2000) Neuro- und Sinnesphysiologie. Springer, Berlin Heidelberg New York
389 17.12a-c Modifiziert nach Schmidt, RF (1983) Medizinische Biologie des Menschen. 2. Aufl. Piper, München
390 17.13 Nach Boycott BB, Dowling JE (1966) Organization of the primate retina: electron microscopy. Proc R Soc Lond [Biol]
166: 80 und Grüsser O-J (1978) Grundlagen der neuronalen Informationsverarbeitung in den Sinnesorganen und im
Gehirn. (Informatik-Fachberichte 16) Springer, Berlin Heidelberg New York und Grüsser O-J (1983) Die funktionelle
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392 17.14a-e Zusammengestellt von Grüsser OJ & Grüsser-Cornehls U in: Schmidt RF (Hrsg) (1985) Grundriß der Sinnesphysiologie.
5. Aufl. Springer, Berlin Heidelberg New York Tokyo und Schmidt RF, Thews G (Hrsg) (1987) Physiologie des Menschen.
23. Aufl. Springer Berlin Heidelberg New York Tokyo und Grüsser O-J und Grüsser-Cornehls U (1995) Gesichtssinn und
Okulomotorik. In: Schmidt RF, Thews G (Hrsg) (1987) Physiologie des Menschen. 23. Aufl. Springer Berlin Heidelberg
New York Tokyo
394 17.15a,b Nach Grüsser OJ & Grüsser-Cornehls U in: Schmidt RF (Hrsg) (1985) Grundriß der Sinnesphysiologie. 5. Aufl. Springer,
Berlin Heidelberg New York Tokyo
394 17.16a,b Nach Grüsser OJ & Grüsser-Cornehls U in: Schmidt RF, Thews G (Hrsg) (1985) Physiologie des Menschen. 22. Aufl. Springer
Berlin Heidelberg New York Tokyo
395 17.17 Darstellung von Grüsser OJ & Grüsser-Cornehls U in: Schmidt RF (Hrsg) (1985) Grundriß der Sinnesphysiologie. 5. Aufl.
Springer, Berlin Heidelberg New York Tokyo
396 17.18a-e Modifiziert nach Schmidt RF (Hrsg) (1985) Grundriß der Sinnesphysiologie. 5. Aufl. Springer, Berlin Heidelberg
New York Tokyo. Nach Hubel DH, Wiesel TH (1977) Functional architecture of macaque visual cortex. Proc R Soc Lond
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399 17.21 Aus Grüsser OJ & Grüsser-Cornehls U (1995) Gesichtssinn und Okulomotorik. In: Schmidt RF, Thews G (Hrsg) (1987)
Physiologie des Menschen. 23. Aufl. Springer Berlin Heidelberg New York Tokyo
401 17.22a-d Aus Grüsser OJ & Grüsser-Cornehls U (1995) Gesichtssinn und Okulomotorik. In: Schmidt RF, Thews G (Hrsg) (1987) Physio-
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402 17.24 Umgezeichnet nach Grüsser OJ in: Schmidt RF, Thews G (Hrsg) (1985) Physiologie des Menschen. 22. Aufl. Springer
Berlin Heidelberg New York Tokyo
831
Quellenverzeichnis

Seite Abb.-Nr. Quelle

404 17.25a-h Aus Grüsser OJ & Grüsser-Cornehls U in: Schmidt RF, Thews G (Hrsg) (1985) Physiologie des Menschen. 22. Aufl. Springer
Berlin Heidelberg New York Tokyo
405 17.26 Aus Grüsser OJ & Grüsser-Cornehls U in: Schmidt RF, Thews G (Hrsg) (1985) Physiologie des Menschen. 22. Aufl. Springer
Berlin Heidelberg New York Tokyo
408 17.27a,b Aus Grüsser OJ & Grüsser-Cornehls U (1995) Gesichtssinn und Okulomotorik. In: Schmidt RF, Thews G (Hrsg) (1987)
Physiologie des Menschen. 23. Aufl. Springer, Berlin Heidelberg New York Tokyo. Nach Jung R (ed) (1973) Central
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409 17.28a-c Aus Grüsser OJ & Grüsser-Cornehls U (1995) Gesichtssinn und Okulomotorik. In: Schmidt RF, Thews G (Hrsg) (1987)
Physiologie des Menschen. 23. Aufl. Springer, Berlin Heidelberg New York Tokyo. Nach Grüsser O-J (1978) Grundlagen
der neuronalen Informationsverarbeitung in den Sinnesorganen und im Gehirn. Springer, Berlin Heidelberg New York
Tokyo, p 234 (Informatik-Fachberichte 16)
409 17.29 Nach einer Abbildung aus der Arbeitsgruppe von Ungerleider L Aus Grüsser OJ und Grüsser-Cornehls U (1995) Gesichts-
sinn und Okulomotorik. In: Schmidt RF, Thews G (Hrsg) (1987) Physiologie des Menschen. 23. Aufl. Springer, Berlin Heidel-
berg New York Tokyo
411 17.30a-g Mit freundlicher Genehmigung von MIT Press. Nach Singer W., Putative Functions of Temporal Correlations in Neocorti-
cal Processing. In: C Koch & JL Davis (eds) Large-scale neuronal theories of the brain. MIT Press, Cambridge Mass.,1994,
pp 201-237, figure 10.2

Kapitel 18

417 18.1a-c Nach Schmidt RF, Lang F, Thews G (2005) Physiologie des Menschen, 29. Aufl. Springer, Berlin Heidelberg New York Tokyo
418 18.2 Nach Schmidt RF, Lang F, Thews G (2005) Physiologie des Menschen, 29. Aufl. Springer, Berlin Heidelberg New York Tokyo
421 18.3a-d Nach Schmidt RF, Thews G, Lang F (2000) Physiologie des Menschen, 28. Aufl. Springer, Berlin Heidelberg New York Tokyo
425 18.5 Modifiziert nach Zenner HP, Zimmermann U, Schmitt U (1985) Reversible contraction of isolated mammalian cochlear
hair cells. Hear Res 18: 127–133 und Zenner HP (1986) Motile responses in outer hair cells. Hear Res 22: 83–90 und
Zenner HP, Zimmermann U, Gitter AH (1987) Fast motility of isolated mammalian auditory sensory cells. Biochem
Biophys Res Commun 1: 304–308
425 18.6a-c Nach Schmidt RF, Thews G, Lang F (2000) Physiologie des Menschen, 28. Aufl. Springer, Berlin Heidelberg New York Tokyo
426 18.7 Nach Moore EJ (1983) Bases of Auditory Brainstem Evoked Responses. Thieme & Stratton, New York. Mit freundlicher
Genehmigung.
427 18.8a-e Aus R. Klinke in: Schmidt RF (Hrsg) (1985) Grundriß der Sinnesphysiologie. 5. Aufl. Springer, Berlin Heidelberg
New York Tokyo
429 18.9a,b In Anlehnung an Schmidt RF (Hrsg) (1985) Grundriß der Sinnesphysiologie. 5. Aufl. Springer, Berlin Heidelberg
New York Tokyo, und Klinke R (1995) Der Gleichgewichtssinn (Kap.14), Hören und Sehen (Kap.15) in Schmidt RF,
Thews G, Lang F (2000) Physiologie des Menschen, 28. Aufl. Springer, Berlin Heidelberg New York Tokyo
432 18.10 Modifiziert nach Schmidt RF, Lang F, Thews G (2005) Physiologie des Menschen, 29. Aufl. Springer, Berlin Heidelberg
New York Tokyo
433 18.11 Modifiziert nach Schmidt RF, Lang F, Thews G (2005) Physiologie des Menschen, 29. Aufl. Springer, Berlin Heidelberg
New York Tokyo
434 18.13 Modifiziert nach Schmidt RF, Lang F, Thews G (2005) Physiologie des Menschen, 29. Aufl. Springer, Berlin Heidelberg
New York Tokyo
434 18.14a,b Modifiziert nach Schmidt RF, Thews G, Lang F (2000) Physiologie des Menschen, 28. Aufl. Springer, Berlin Heidelberg
New York Tokyo
436 18.15 Modifiziert nach Schmidt RF, Lang F, Thews G (2005) Physiologie des Menschen, 29. Aufl. Springer, Berlin Heidelberg
New York Tokyo
437 Box 18.7 Mit freundlicher Genehmigung von Professor William Stern, Pennsylvania.State University zur Verfügung gestellt.

Kapitel 19

443 19.1a Modifiziert nach Schmidt RF, Lang F, Thews G (2005) Physiologie des Menschen, 29. Aufl. Springer, Berlin Heidelberg
New York Tokyo
443 19.1b Modifiziert nach Schmidt RF, Lang F, Thews G (2005) Physiologie des Menschen, 29. Aufl. Springer, Berlin Heidelberg
New York Tokyo
443 19.1c Aus Schmidt RF, Unsicker K, Birbaumer N, Kurtz A, Schartl M (Hrsg.) (2003) Lehrbuch Vorklinik. Deutscher Ärzte-Verlag.
Mit freundlicher Genehmigung.
445 19.2a,b Modifiziert nach Schmidt RF, Lang F, Thews G (2005) Physiologie des Menschen, 29. Aufl. Springer, Berlin Heidelberg
New York Tokyo
832 Anhang

Seite Abb.-Nr. Quelle

446 19.3a,b Modifiziert nach Schmidt RF, Lang F, Thews G (2005) Physiologie des Menschen, 29. Aufl. Springer, Berlin Heidelberg
New York Tokyo
449 19.5 Nach H. Altner, Regensburg
451 Box 19.3 Aus Small D, Zatorre R, Dagher A, Evans A, Jones-Gotman M (2001) Changes in brain activity related to eating chocolate.
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454 19.8a,b Umgezeichnet nach Altner H, Boeckh J (1987) Geschmack und Geruch. In: Schmidt RF, Thews G (Hrsg) (1987) Physio-
logie des Menschen. 23. Aufl. Springer Berlin Heidelberg New York Tokyo, und Shepherd GM (1972) Synaptic organiza-
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Kapitel 20

461 20.1a-d Modifiziert nach Rosenzweig MR, Leiman LA, Breedlove SM (2005) Physiological Psychology. 4th ed, p.8., fig. 1.2 A-D.
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470 20.8 Nach Simon, O.: Das Elektroencephalogramm. München: Urban & Schwarzenberg, 1997. Mit freundlicher Genehmigung.
472 20.10 Aus Rockstroh B, Elbert T, Birbaumer N, Lutzenberger W (1982) Slow Brain Potentials and Behavior. Urban & Schwarzen-
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474 Box 20.2 Nach Eswaran H et al (2002) Magnetoencephalographic recordings of visual evoked brain activity in the human fetus.
The Lancet 360:779–780. Mit freundlicher Genehmigung.
474 Box 20.2 Nach Eswaran H et al (2002) Magnetoencephalographic recordings of visual evoked brain activity in the human fetus.
The Lancet 360:779–780. Mit freundlicher Genehmigung.
475 20.12 Nach Speckmann EJ, Elger CE, (1999) Neorophysiological basis of the EEG and of DC potentioal. In: Niedermeyer E,
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475 20.13a,b Nach Andersen P, Andersen SA (1968) Physiological Basis of the Alpha-Rhythm. Appleton-Century-Crofts, New York
479 20.15 Nach Cooper R, Osselton JW, Shaw JC (1980) EEG Technology. 2nd ed. Butterworth, London. Mit freundlicher Geneh-
migung.
482 Box 20.4 Nach Hinterberger T et al (2005) Neuronal mechanisms underlying control of a brain-computer interface. Europ J
Neuroscience. Mit freundlicher Genehmigung.
484 20.19a,b Messungen von D.H. Ingvar, N. Lassen und Mitarbeitern
486 20.21a,b Aufnahmen von Dr. Monte Buchsbaum, Dep. of Psychiatry and Behavioral Sciences, School of Medicine, Univ. of
California, Irvine, California, mit freundlicher Genehmigung
488 20.24a-d Nach Kandel ER, Schwartz JH, Jessell TM (eds.) (2000) Principles of neutral science. 4th ed. Elsevier, Amsterdam.
Mit freundlicher Genehmigung.
490 20.25 Modifiziert nach Daten aus Belliveau JW, Kennedy DN, McKinstry RC, Buchbinder BR, Weisskopf RM, Cohen MS,
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491 20.26a,b Modifiziert nach Rosenzweig MR, Leiman LA, Breedlove SM (2005) Physiological Psychology. 4th ed, p. 308, fig. 10.22
A-D. Sinauer Associates, Sunderland, Mass. Mit freundlicher Genehmigung.
491 20.26c,d Courtesy of A. Grinvald.

Kapitel 21

507 21.9a,b Nach Sperry RW (1964) The great cerebral commissure. Sci Amer, Jan 1964. Auch in: Chalmers N, Crawley R, Rose SPR
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509 21.11a-c Nach Levy J, Trevarthen C, Sperry RW (1972) Perception of bilateral chimeric figures following hemispheric disconnec-
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510 21.12 Nach Levy J, Trevarthen C (1976) Metacontrol of hemispheric functions in human split brain patients. J Exp Psychol
2:299-312
511 21.13 Nach Gazzaniga M, LeDoux JE (1979) The integrated mind. Plenum Press, New York
513 21.15d Courtesy of Giuseppe Moruzzi
513 21.15e Courtesy of Horace Magoun
513 21.15f Courtesy of Frédéric Brémer
514 21.16a-c Aus Kinomura S, Larrson S, Gulyás B, Roland PE (1996) Activation by attention of the human reticular formation and
thalamic intraminar nuclei. Science 271:512-515. Mit freundlicher Genehmigung.
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520 Box 21.3 Nach Preissl H, Flor H, Lutzenberger W, Duffner F, Freudenstein D, Grote E, Birbaumer N (2001) Early activation of the
primary somatosensory cortex without conscious awareness of somatosensory stimuli in tumor patients. Neuroscience
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833
Quellenverzeichnis

Seite Abb.-Nr. Quelle

521 21.20a-d Die Selbstporträts wurden von Richard Jung in Freiburg gesammelt und mit Erlaubnis der Witwe des Künstlers, Gisela
Räderscheidt, publiziert
522 21.21 Mit freundlicher Genehmigung von W.W. Norton & Company. Nach Gazzaniga MS, Ivry R, Mangun G (1998) Cognitive
neuroscience. Norton & Co. New York, fig. 6.38
523 Box 21.4 Aus Pascual-Leone A, Walsh V (2001) Fast Backprojections from the Motion to the Primary Visual Area Necessary for
Visual Awareness. Science 292:510-512. Mit freundlicher Genehmigung.
524 21.22a Permission is hereby granted for the use requested subject to the usual acknowledgements (Corbetta M, Miezin FM,
Dobmeyer S, Shulman GL, Petersen SE (1991) Selectice attention modulates extrastriate visual regions in humans
during visual feature discrimination and recognition. Exploring brain functional anatomy with positron tomography,
No. 163. Ciba Foundation Symposium. Wiley, New York).
524 21.22b Mit freundlicher Genehmigung von W.W. Norton & Company. Modifiziert nach Ganzzaniga MS, Ivry RB, Mangun GR
(1998) Cognitive neuroscience. Norton, New York, fig. 6.21
524 21.23 Aus Posner MI, Raichle ME (1996) Images of mind 2nd edn. Scientific American Library, New York. Mit freundlicher
Genehmigung.
525 21.24 Das Schema und das hier dargestellte Konzept stammen von Prof. Thomas Elbert, mit freundlicher Erlaubnis
529 21.26a,b Reprinted by permission from Macmillan Publishers Ltd: Nature. Modifiziert nach Heinze HJ, Mangun G et al (1994)
Combined spatial and temporal imaging of brain activity during visual selective attention in humans. Nature 372:
543–546. 1994.
531 21.28 Nach Rockstroh B, Elbert T, Birbaumer N, Lutzenberger W (1989) Slow brain potentials and behavior. 2nd ed. Urban &
Schwarzenberg, Baltimore. Mit freundlicher Genehmigung.
532 21.29 Nach Frackowiak, Friston, Frith, Dolan, Price, Zeki, Ashburner, Penny (2004) Human Brain Function. 2nd ed. Academic
Press, Elsevier Science. Mit freundlicher Genehmigung.
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Kapitel 22

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537 22.2a,b Messungen von Prof. J. Aschoff, Seewiesen u. Mitarbeiter. Aschoff J, Daan S, Groos GA (1982) Vertebrate Circadian
Systems. Structure and Physiology. Springer, Heidelberg New York Tokyo
543 22.7a Nach Aschoff J, Daan S, Groos GA (1982) Vertebrate Circadian Systems. Structure and Physiology. Springer, Heidelberg
New York Tokyo
543 22.7b Nach Kerkhof GA, Van Dongen HPA (1996). Morning-type and evening-type individuals differ in the phase position of
their endogenous circadian oscillator. Neuroscience Letters 218: 153-156.??)
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553 Box 22.2 Nach Purves D, Williams S (Eds.) (2001) Neuroscience. 2nd ed, p. 605. Sinauer, Sunderland, Mass.
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556 22.18a,b Nach Kandel E, Schwartz J, Jessel T (2000) Principles of Neural Sciences. 4th ed. Elsevier, Amsterdam. Mit freundlicher
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557 22.20 Modifiziert nach Hobson JA, Pace-Schott E, Stickgold R (2000) Dreaming and the brain: Toward a cognitive neuroscience
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mental Neuroscience. Academic Press, San Diego. Mit freundlicher Genehmigung.
563 22.23a,b Nach Borbély A, Valatx JL (Eds.) (1984) Sleep Mechanisms. Springer, Berlin, Heidelberg, New York, Tokyo
563 22.24 Nach Borbély A, Valatx JL (Eds.) (1984) Sleep Mechanisms. Springer, Berlin, Heidelberg, New York, Tokyo
566 22.25a,b Nach Van Someren et al., 1997
834 Anhang

Seite Abb.-Nr. Quelle

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In: Degen R, Niedermeyer E (Eds.) Epilepsy, Sleep and Sleep Deprivation. Elsevier, Amsterdam. Mit freundlicher Geneh-
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Kapitel 23

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580 23.7b © 1989 From Molecular Biology of the Cell, 2E by Alberts et al. Reproduced by permission of Garland Science/Taylor &
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584 23.11 Nach Campbell 1996, mit freundlicher Genehmigung
585 23.12 Aus Palmiter, R D: Transgenic mice - the early days. Int. J. Dev. Biol. 42: 847-854 (1998), fig. 7. Mit freundlicher Geneh-
migung.
589 23.13 Reprinted by permission from Macmillan Publishers Ltd: Nature Rev Neuroscience. Nach Gray JR, Thompson PM.
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Kapitel 24

594 24.1 Aus Kolb u. Whishaw: An Introduction to Brain and Behavior. Worth, NY, 2004, p. 191, fig 6-3. Mit freundlicher Geneh-
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595 Box 24.1 Reprinted by permission from Macmillan Publishers Ltd: Nature Neuroscience. Aus Tuszynski, M. (2007) Rebuilding
the brain: Resurgence of fetal. 2007.
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598 24.4 Aus Kolb u. Whishaw: An Introduction to Brain and Behavior. Worth, NY, 2004, p. 200 fig. 6-16. Mit freundlicher Geneh-
migung.
598 24.5 Aus Kolb u. Whishaw: An Introduction to Brain and Behavior. Worth, NY, 2004, p. 201 fig. 6-17. Mit freundlicher Geneh-
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599 24.6 Aus Kolb u. Whishaw: An Introduction to Brain and Behavior. Worth, NY, 2004, p. 219 fig. 6-28. Mit freundlicher Geneh-
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605 24.12 Aus Schmidt u. Lang 2007)
606 24.13 Aus Schmidt u. Lang 2007)
607 24.14 Aus Schmidt u. Lang 2007)
608 24.15 Aus Schmidt u. Lang 2007)
609 24.16 Aus Schmidt u. Lang 2007)
610 24.17 Nach Baltes 1991, VorKli Bd D, 6-35, S. 164. Mit freundlicher Genehmigung.
615 24.19 Nach Birbaumer & Cohen 2007, Kübler et al, Neurehab. & Repair 2005
617 Box 24.2 Nach Buch E, Weber C, Cohen L, Braun C, Dimyan M, Ard T, Mellinger J, Caria A, Soekadar S, Fourkas A, Birbaumer N
(2008) Think to move: A neuromagnetic brain-computer interface (BCI) system for chronic stroke. Stroke, 39, 910–917.
Mit freundlicher Genehmigung.

Kapitel 25

621 25.1 Modifiziert nach Schmidt RF, Lang F, Thews G (2005) Physiologie des Menschen, 29. Aufl. Springer, Berlin Heidelberg
New York Tokyo
624 25.3 Modifiziert nach Schmidt RF, Lang F, Thews G (2005) Physiologie des Menschen, 29. Aufl. Springer, Berlin Heidelberg
New York Tokyo
626 25.4 Nach Hailman JP (1969) How an instinct is learned. Sci Am 221:6. Mit freundlicher Genehmigung.
627 25.5 Courtesy of Prof. Lyle E. Bourne, Jr., University of Colorado. Mit freundlicher Genehmigung.
630 25.a Aus Brown RE, Milner PM (2003). The Legacy of Donald O. Hebb. Nature 4: 1013–1019, p. 1018. Mit freundlicher
Genehmigung.
630 25.6 Nach Hebb DO (1949) The Organization of Behavior. Wiley, New York. Reprint Lawrence Erlbaum, N.J. 2002
632 25.8 Nach John ER (1967) Mechanism of Memory. Academic Press, New York. Mit freundlicher Genehmigung.
633 25.9 Nach John ER (1967) Mechanism of Memory. Academic Press, New York. Mit freundlicher Genehmigung.
637 25.11b Mit freundlicher Genehmigung von MIT Press. Aus Weinberger NM, Retuning the brain by fear conditioning.
In: Gazzaniga, M (Ed) The Cognitive Neurosciences. MIT Press, Cambridge, Mass., 1995, figure 71.9
638 25.12 Reprinted by permission from Macmillan Publishers Ltd: Nature. Nach OeLoy (2004). Nature 14:765. 2004.
639 25.13 Reprinted by permission from Macmillan Publishers Ltd: Nature. Aus OeLoy (2004). Nature 14:764, Fig. 4a. 2004.
640 25.14a-e Nach Merzenich MZ, Jenkins WM (1993) Reorganisation of cortical representations of the hand following alterations of
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835
Quellenverzeichnis

Seite Abb.-Nr. Quelle

641 Box 25.3 Untersuchungen von Prof. Elbert, Konstanz


643 25.15a,b Modifiziert nach Schmidt RF, Lang F, Thews G (2005) Physiologie des Menschen, 29. Aufl. Springer, Berlin Heidelberg
New York Tokyo
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727 27.14 Die Abbildung wurde freundlicherweise von Professor Dr. M. Koch, Universität Bremen zur Verfügung gestellt und von
den Autoren modifiziert
727 27.15a,b Reproduced / Adapted with permission from The Structure of Emotion by Niels Birbaumer & Arne Öhmann,
ISBN 0-88937-055-9 and ISBN 3-456-82010-9, S. 280 ©1993 Hogrefe & Huber Publishers. • Seattle • Toronto • Bern •
Göttingen
729 27.16 Foto von I. Eibl-Eibesfeldt. Aus Eibl-Eibesfeldt I (1967) Grundriß der vergleichenden Verhaltensforschung. Piper, München
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735 27.19a-d Reproduced / Adapted with permission from The Structure of Emotion by Niels Birbaumer & Arne Öhmann,
ISBN 0-88937-055-9 and ISBN 3-456-82010-9, p. 62 ©1993 Hogrefe & Huber Publishers. • Seattle • Toronto • Bern •
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839 A

Sachverzeichnis
– Empfindungsintensität 318 Adrenalektomie 152
A – Geruch 318, 448 Adrenalin
– Geschmack 441 – autonomer Transmitter 109
Abbildung – Helladaptation 378 – Biosynthese 57
– photographische 298, 299 – Hell-Dunkel-Adaptation 391 – metabotrope Rezeptorfamilie 64
– sinnesphysiologische 298, 299 – Hitzeadaptation 227 – NNM-Produktion 107
Abendtyp 543 – Hören 420 Adrenalinsystem 95
Abhängigkeit 692–708 – motorische 282 adrenogenitales Syndrom 134
– Schlaf 565 – Sensor 303 adrenokortikotropes Hormon (ACTH)
Ablenkung 530, 793 – Thermorezeption 333 132
ABO-System 165–166 – Thermosensor 336 Adriopeptin, Resorptionswirkung
absteigendes Aktivierungssystem 514 – Zeitverlauf im Sensor 303 248
Abstimmkurve 247, 428 Adaptationssyndrom, generelles 150 advanced glycation end product (AGE)
Abstoßungsreaktion, Konditionierung Addison-Krankheit 134 606
173,174 additive Farbmischung 386 advanced sleep phase syndrome (ASPS)
Abweichung, sexuelle 680 A-Delta-Faser 348, 352 547
Acamprosat 707 Adenohypophyse 127 AEP (auditorisch evozierte Potenziale)
Acetylcholin (ACh) 259 Adenosin 421, 480–481
– Aktivierung 514–515 – Kotransmitter 109 affektive Dynamik 693–696
– Alzheimer 612–613 – Neuromodulator 59 affektive Störung, Schlaf 563, 565
– autonomer Transmitter 109 – Schlaf 541, 558–559 affektiver Schmerz 344
– Inaktivierung 56 – Stoffwechsel 557 afferente Innervation, Herz 198
– Inaktivierung im synaptischen Spalt Adenosinmonophosphat, zyklisches Afferenz
56 21 – Definition 27, 28
– Lernen 635–638 Adenosintriphosphat (ATP) 14, 15, 16 – Eingeweideafferenz 105
– Nikotin 706 – Kotransmitter 109 – nozizeptive 355–358
– Schlaf 554–556 – Muskelenergie 257 – viszerale 105
– Transmitter im autonomen Nerven- Adenylatzyklase AGE (advanced glycation end product)
system 56 – Lernen 642–644 606
– Transmitter im zentralen Nerven- – Sucht 702–703 ageism 609
system 56 – Transkription 648 Ageusie 442
– Transmitter-Endplatte 56 ADH (antidiuretisches Hormon) 127, Agglutinin 166
– Transmitterfunktion 56 128, 248 Agglutinogen 166
ACh 7 Acetylcholin Adhäsion, Immunsystem 164 Aggression 739–747
Achillessehnenreflex 272 Adhäsionsmolekül 596, 601 – Anatomie 741
ACh-Rezeptor ADHD (attention deficit disorder and – Hormone 147,148
– ionotroper nikotinerger 61 hyperactivity) – männliche 148
– metabotroper muskarinerger 64 – Immunsystem 180–181 – Serotonin 96
– Ziliarmuskel 64 – Noradrenalin 181 – Testosteron 148
Achromasie 386, 387 Adipositas 674 – weibliche 148
Achromatopsie, kortikale 410 – Diät 236 Aggressionsarten 740
acquired immunodeficiency syndrome – Gesundheitsrisiko 235, 236 Aggressivität, Geschlecht 691
(AIDS) 165 – Insulinrestistenz 671 Agnosie (Seelenblindheit) 520, 781,
ACTH (adrenokortikotropes Hormon) – Verhaltenstherapie 236 784–785
131, 132 Adipositassignal 670 – räumliche 332
– Verhalten 144 Adipsie 667 – visuelle 408
– Stress 150–152 Adiuretin 248 agouti related peptide (AgRP) 671
Adam-Prinzip 137, 680–681 – Harnkonzentrierungsrolle 248 Agraphie 410, 775–777
Adaptation Adiuretinsystem 207 AIDS (acquired immunodeficiency
– Definition 504 Adoption, Erblichkeit 589–590 syndrome) 165
– Dunkeladaptation 378 Adoptionsstudie 587–590 – psychologische Faktoren 176–177

N. Birbaumer, Biologische Psychologie, DOI 10.1007/978-3-540-95938-0,


© Springer Medizin Verlag Heidelberg 2010
840 Anhang

Akinese 613 Allelaufteilung 573 AMPA-Kanal 66


– Hypothalamus 665–666 Allergie 164 AMPA-Rezeptorkanal 62
– Neglekt 782 Alles-oder-Nichts-Gesetz 37, 38 Amphetamin 181, 704–706
akinetischer Mutismus 522 allgemeine Wahrnehmungspsychologie – Schizophrenie 801
Akquisition 622 314–319 Amplitude, ereigniskorreliertes Hirn-
A/K-Rezeptor 61 allgemeines Adaptationssyndrom 150 potenzial 479–481
Akromegalie 129 Allgemeingefühl 301 Amputation 359–360
Aktionspotenzial 37–43 Allodynie 358 – Diabetesfolge 125
– Alles-oder-Nichts-Verhalten 37, 38 Allokortex 455 – Reorganisation 640–642
– Amplitude 37 Allostase 151–152,176 Amusie 784–786
– Anteil 37 Alpha-Amino-3-hydroxy-5-methyl-4- Amygdala
– Aufmerksamkeit 528 Isoxazolpropionsäre (AMPA) 639, 645 – Aggression 741–742
– Aufstrich 37 Alpha-Reduktasedefizit 685 – Aufbau 79–81
– Dauer 37 Alpha-Welle – Basalganglien 81, 87
– Fortleitung 39, 43 – Angst 505 – einseitige Furcht 82
– Herz 190, 191 – Definition 469 – Furchtlernen 724–728
– Ionenmechanismus 38–40 ALS (amyotrophe Lateralsklerose) 518, – Gefühlsanatomie 719
– Ionenumsatz 39 614–615 – Geschmacksrepräsentation 447
– Refraktäphase 42 Alter – Kortex 724, 727
– Repolarisation 37 – Hippokampus 154 – Lage 77, 79–81
– Skelettmuskel 259 – Immunsystem 173 – präfrontaler Kortex 725
Aktivator, Genetik 582 – Krebs 177, 607 – Schlaf 557
aktive Immunisierung 164 – Schlaf 173 – Schreckreflex 82, 726–727
aktiver Transport, Pumpenvergleich 21 – Schlaf 553 – Sucht 701
Aktivierung 5 – Schlafstörung 565 Amylase 242
– absteigende 514 – Sucht 695 Amyloid 612–613
– Aufmerksamkeit 501 – Telomere 607 amyotrophe Lateralsklerose (ALS) 518,
– Neurochemie 514–516 Altern 614–615
– Thalamus 513–517 – Gedächtnis 155 anabole Stoffwechsellage 671
Aktivierungssystem, subkortikales – Immunsystem 179–180 Analgesie 358
512–519 – molekulare Ursachen 605–606 – gelernte 363–364
Akupunktur 369 – Nahrungsaufnahme 607 Analgetikum
akustisch evoziertes Hirnpotenzial (AEP) – Stress 154 – negative Verstärkung 364–365
420, 480–481 Alterspigment 606 – Schlaf 544
Akut-Phase-Protein 159–160 Alterssichtigkeit 390 Analog-Digital-Wandlung 476
Alarmphase 150 Altersverläufe 608–609 Analogskala, Schmerzmessung 318
Albino 575 Alveolarluft, Zusammensetzung 214 Anaphase 583
Albtraum 566 Alveole, Lunge 212 anaphylaktischer Schock 164
Albumin, Blut 185 Alzheimer-Demenz, Azetylcholin Anaesthesia dolorosa 357
Aldosteron 131, 132 636–637 Anästhesie 518–519
– Resorptionswirkung 248 Alzheimer-Erkrankung 611–617, 620 – EEG 477
Aldosteronsystem 207 – Chromosom 579 Anatomie
Alexie (Wortblindheit) 410, 775–778 – Immunsystem 179–180 – Aggression 741
Algesimetrie Amboss, Ohr 422 – Depression 735–736
– klinische 347 aminerg-cholinerge Interaktion 554–556 – Frontalkortex 788–789
– objektive 346–347 Aminosäure 15 – Parietallappen 780
– subjektive 346 – Eiweißbaustein 233 – Schlaf 555–557
alignment, MRT 486–487 – essenzielle 15, 233 – Schmerz 352–355
Alkohol 704–706 – Gehirn 97 – Temporallappen 783
– Aggression 729, 743 – Transmitterfunktion 57 Androgen 131, 134, 135, 147,148
– Schlaf 564–565 Aminosäurenautoradiographie 463 – Aggression 740, 744
Alkoholmyopie 705 Ammonshorn 81–85 – Physiologie 681
Allel Amnesie 650 – Schizophrenie 800
– Definition 573 – soziale 147 – Sexualverhalten 678
– multiples 575 AMPA, Lernen 639, 645 Androgeninsensitivität 684
Sachverzeichnis
841 A

androgenitales Syndrom 684–685 Antigenbindungsstelle 161 Arm, Zielbewegung 287


Androstendion 682 Antikörper 160–161 Aromatase 681
Aneinploidie 580 – Lernen 173–175 Arteria carotis externa 218, 775
ANF (atrialer natriuretischer Faktor) 144, – monoklonaler 463 Arteria cerebri posterior 410
248 Antilokalisationismus 9 Arterialisierung, Blut 215, 216
Anfall, epileptischer 478, 482 antinozeptives System 354 Arterie, Elastizität als Energiespeicher
angeborenes Immunsystem 158–159 Antioxidation 606–607 187
angereicherte Umgebung 635–636 antioxidativer Schutz 606 Arteriole
Angiotensin, Verhalten 144 Antiport 20 – Autoregulation 202
Angiotensin I 206 antisoziale Persönlichkeit, Schreckreflex – Bayliss-Effekt 202
Angiotensin II 206 726–727 Arthritis 358
Angiotensinogen 206 antisoziales Verhalten (7 auch Psycho- Aspirin 367
Angst 9, 722–732 pathie) 745–747 assimilierter Rhythmus 633
– Habituation 505 – frontal 797 Assoziationsareal 88, 90–91
– Immunsystem 175–176 antizipatorische Synergie 278 Assoziationsbildung 10
Angstreaktion, Messung 224 Antrieb, Körperrythmus 538 Assoziationsfaser, kortikale 87–90
Angsttherapie 729–732 An-Zentrum-Feld 307 Assoziationsfeld, visuelles 406, 407
Anhedonie, Neuroleptika 701, 802 Aortenklappenstenose 188 Assoziationskortex
Anhidrose, Horner-Syndrom 104 Apathie, Neuroleptika 802 – Aufmerksamkeit 519–520
Anion 12, 13 Aphasie 410, 773–779 – parietaler 525
– Bedarf 234 – Definition 756, 761 – Schlaf 557
Annäherungsverhalten, Basalgangien apikaler Dendrit 89–91, 471–472 Assoziationslernen, Sprache 767–771
719–720 – Elektrogenese 481–482 assoziatives Lernen, Definition 622
Annihilationsphotondetektor 485 Aplysia 642–644 Ästhetik, visuelle 407
anodale Hirnstimulation 466 Apnoe, Schlaf 567 ästhetische Reaktion, erlernte 411
Anomaloskop 386 Apolipoprotein E 605 Asthma 168, 179
anomische Aphasie 775 Apoplex 616–617 Astrozyt 25
Anonerie (Traumlosigkeit) 552 – Schlaganfall 594 Asymmetrie, zerebrale 756–766
Anorexie 675 Apoptose 17, 159–160, 596–599 Atemantrieb 217–219
Anorgasmie 680 – Stress 175 – chemischer 218
Anosmie 453 appetitives Suchverhalten 664 – Mitinnervation 219
– partielle 452, 453 Apraxie 756–757, 780–781 – peripherer 218, 219
Anreiz, Sucht 695 Äquipotenzialität 8, 460, 757 – zentraler 218, 219
Anreizhervorhebung, Definition 665 Äquivalent, kalorisches 221 Atemfrequenz, Altersabhängigkeit 212
Anreizmotivation, Definition 664 Arachidonsäure 59 Atemmuskel, Dehnungsrezeptor 218
Anreizwert, Dynamik 697 arachnoide Membran 72–73 Atemregulation 217–219
ANS (7 auch autonomes Nervensystem) Arbeitsgedächtnis Atemspende 14
102–115 – Aufmerksamkeit 502–503 Atemweg 212
Anspannungszeit, Herz 187 – BOLD (blood oxygenation level – Obstruktion 567
Anstrengung, willentliche 501, 531 dependent) 489 Atemwegswiderstand 214
Antabus 707 – Definition 627 Atemwiderstand 214
anterior 72 – dorsolateraler Präfrontalkortex 522 Atemzeitvolumen 212, 213
anteriorer Gyrus cinguli, Schmerz – frontal 792–793 Atmung
353–354 – Hirnpotenzial 530 – Alveole 212
anteriorer Präfrontalkortex (APFC) 655 – Schizophrenie 799 – Atemfrequenz 212
anterograde Amnesie 650 Arbeitsumsatz 220, 221 – Atemmittellage 212
anterograde Degeneration 462, 599–601 Archikortex 782 – Atemreflex 218
Antibiotikum, Lernen 647 Area hypothalamica posterior 225 – Atemzeitvolumen 212, 213
Antidepressivum 58, 96, 737–739 Area lateralis hypothalami 672–673 – Einatmung 214
– REM 556 Area praepiriformis 454, 455 – Gasuhr 212
Antidiurese 248 Area tegmentalis 77 – Hyperventilation 214
antidiuretisches Hormon (ADH) 127, Area ventralis tegmentalis, Funktion – Inspiration 214, 217
128, 248 515 – Lungenatmung 212–219
Antigen 158–161 Areal , kortikales 88 – Lungenbläschen 212
Antigen-Antikörper-Komplex 161 Areflexie 277 – Lungenelastizität 213
842 Anhang

Atmung – kontrollierte 500–501 Aus-Zentrum-Feld 307


– Lungenkapazität 213 – Kurzzeitgedächtnis 499–501 Autismus, Neurobiologie 795
– Lungenvolumen 213 – Langzeitgedächtnis 503–504 Autoantigen 163
– Pneumotachograph 213 – Lösung 502–503 Autoassoziation, Hippokampus 84–85,
– Pneumothorax 213 – Neglekt 781–782 654
– Psychophysiologie 214 – Nikotin 706 autogene Hemmung 273
– Reservevolumen 212 – Schizophrenie 798–802 Autoimmunerkrankungen 178
– Residualkapazität 212 – Thalamus 78, 516–518 Autoimmunität, Alzheimer-Erkrankung
– Residualluft 212 – Verdoppelung 507 179–180
– Residualvolumen 212 Aufmerksamkeitsablauf 503 autokinetisches Phänomen 380
– Ruheatmung 212 Aufmerksamkeits-Anreizwert 697 automatische Aufmerksamkeit 500–501
– Spirogramm 213 Aufmerksamkeits-Hyperaktivitäts- autonomes Nervensystem (ANS)
– Spirometer 212, 213 störung (ADDH) 657–658 102–115
– Totraum 212 Aufmerksamkeitskapazität 498–500 – absteigende Bahn 113
– Vitalkapzität 212 Aufmerksamkeitsmodulation 528 – Afferenz 105
– zentrale Rhythmogenese 217, 218 Aufmerksamkeitsregulation – cholinerger Rezeptor 109, 110
– Zwerchfell 214 – phasische 512–517 – Darmnervensystem 102, 105
Atom 12, 13 – tonische 512–517 – Definition 72
Atomgewicht 12 Aufmerksamkeitsressource, Definition – Effektor 103
Atonie 498 – funktioneller Synergismus 107
– Schlaf 551, 556 Aufmerksamkeitsstörung, Immun- – Grenzstrang 102, 103
– Traum 556 system 180–181 – Hirnstammkontrolle 112–114
ATP (Adenosintriphosphat) 14, 15, 16 Aufmerksamkeitstraining 615 – Horner-Syndrom 104
– Muskelenergie 257 Aufregung, Muskeltonus 263 – Immunsystem 171–172
– Neuromodulator 59 aufsteigendes retikuläres Aktivierungs- – Lernen 656–657
– Rezeptor 61 system (ARAS) 512–517 – Nebennierenmark (NNM) 107, 108
atrialer natriuretischer Faktor (ANF) 144, Aufstrich, Herzaktionspotenzial 191 – Nervus vagus 103
248 Auge (7 auch Sehen) 387–395 – Neurotransmission 108, 109
atriales natriuretisches Peptid 669 – Augenkanmer 387 – periphere Arbeitsweise 110–112
Atrioventrikularknoten 190 – Bau 387 – peripheres 102–108
Atrophie – Iris 387, 388 – Raynaud-Erkrankung 113
– hippokampale 152 – Linse 387, 388 – Ruheaktivität 111
– muskuläre 289 – Mydriasis 388 – Schmerz 105
Atropin 64 – Netzhaut 390–395 – Sensor 105
Attraktion, sexuelle 675 – Phototransduktion 393 – spezifische Organisation 110
Attribution, Gefühl 717, 720–722 – Pupille 388 – Spontanaktivität 110, 111
Attributionsbedürfnis 717, 720–722 – Ziliarmuskel 388 – Thermoregulation 113
auditorisch evoziertes Potenzial (AEP) – Zonulafaser 388 – Zielorgan 104
421, 480–481 Augenbewegung (7 auch Okulo- Autophagie 607
auditorische Signalverarbeitung motorik) 402–406 Autoregulation
(7 auch Ohr, 7 auch Hören) 427–430 – Gestaltwahrnehmung 383 – Arteriole 202
auditorischer Kortex 428, 429 – gleitende 403 – Nierendurchblutung 245
Auerbach-Plexus 242 – konjugierte 403 Autorezeptoren 58
Auflösungsvermögen, räumliches 323 – Registrierung 403 – Dopamin 95
Aufmerksamkeit – schnelle 550 – Hauptaufgabe 60
– Arbeitsgedächtnis 502–503 Augenfarbe 388 – präsynaptische 60
– disengagement 502–503 Augenfolgebewegung 403, 409, 410 Autosom 586
– ereigniskorrelierte Hirnpotenziale Augeninnendruck 388 Aversionslernen 449, 450
526–531 Augenmuskel Aversionstherapie 707
– Filtertheorie 499 – äußerer 402 AV-Knoten 190
– frontal 793 – motorische Einheit 263 axoaxonische Synapse, Arbeitsweise 55
– geteilte 499 Ausdauertraining, Herzwirkung 199 Axon
– Gyrus cinguli 522, 524 Ausdrucksverhalten 715–716 – Neuron 23
– Hirndurchblutung 524 Auslösereiz 665 – Stofftransport 28
– Informationsfluss 503–504 außersinnliche Wahrnehmung 300 axonaler Transport 28
Sachverzeichnis
843 A–B

axoplasmatischer Transport 453 Bedeutungsproposition 753 – Corpus callosum 505–511


Azetylcholin 7 Acetylcholin Befruchtung, Eizelle 137 – Einheit 496, 510–511
Azidose, Zuckerkrankheit 125 Begabung, Geschlecht 689–692 – Komplexität 497–498
Begriffsbildung 754 – rechte Hemisphäre 511–512
Behaviorismus 621 – re-entry 497, 512, 523
Belohnung, Striatum 639 – rückführende Verbindung 497
B Belohnungslernen, Schmerz 362–364 – Schlaf 554–555
Belohnungsvorhersage 638–639 – Schlafstadien 560–561
Babinski-Reflex 275 Belohnungswert, Gefühl 719–720 – Thalamus 516–518
Baclofen, Wirkmechanismus 64 Benzodiazepin 98, 728–729 Bewusstseinsdetektor 771–772
Bacterium 159–160 – Aggression 744 Bewusstseinsstörungen 526–527
– Klonierung 584 – Schlaf 559 Bewusstseinsstruktur 512
Bahnung, polysynaptischer Reflex 274 – Schlaftherapie 564–566 Bicepssehnenreflex 272
Balkentrennung 505–511 Beobachtungslernen 625–626, 796 Bicucullin, synaptischer Wirk-
Bandenmuster, Chromosom 579 BERA (brain stem evoked response mechanismus 62
Bandscheibensyndrom 355 audiometry) 421 Bilanzminimum, Eiweiß 233
Barbiturate Bereichseinstellung, absteigende bildgebendes Verfahren 6, 483–492
– Schlaf 559 Hemmung 313 Bildgebung, Schlaf 552, 556–557
– Schlaftherapie 564–566 Bereitschaft, Hirnpotenzial 530–533 Bildsegmentierung, visuelle 381
Barorezeptor 204, 301 Bereitschaftspotenzial 286 Bilingualismus 759–760
– Durst 667 Bereitschaftsumsatz 219 Bindung (binding) 498, 529, 634
Barorezeptorreflex, Arbeitsweise 204 Berthold, Arnold Adolph 121 – kohärente 498
Barosensor 204 Berührungsempfindung 322, 323 – neuronale 634
basales Vorderhirn 94–95 – klinische Prüfung 324 – soziale 146,147
– Schlaf 556–559 Berührungssensor 326 – Synchronie 420, 411
Basalganglion Beschleunigungsarbeit, Herz 196 binokulares Deckfeld 376
– Amygdala 81 Beschleunigungsdetektor 326, 327 Bioassay, Hormonnachweis 121
– Anatomie 85–87 Beschleunigungswahrnehmung 431 Biofeedback 223
– Aufgabe 280 Bestandspotenzial, korneoretinales 403 – Definition 655–658
– Bewusstsein 522, 524, 526 Bestrafungswert, Gefühl 719–720 – Epilepsie 568
– Erregungsschwellen 525–526 Beta-Rezeptorblocker 64 – Hirnpotenziale 762–766
– Erregungsverteilung 483 Betäubung, örtliche 368–369 – LP 483
– Funktionsschleife 280 Beta-Welle, Definition 469 – Raynaud-Erkrankung 113
– Gefühle 719–720 Bettnässen, Schlaf 566 – Schlafstörung 564
– Motorikbeteiligung 278, 279 Bewältigung, Stress 150,151 – Schmerz 370–371
– Schlaf 557 Bewegung – Sphinkterkontrolle 244
– Überträgersubstanz 279 – Immunsystem 180 biogene Amine
Basalkörpertemperatur 136 – instinktive 265 – Depression 737–739
Basalzelle 443, 450 – neuronale Kontrolle 266 – Transmittefunktion 57
Basedow-Krankheit 131 – Planung 265 biographisches Gedächtnis 622
Basenpaar, DNA 576–577 – programmgesteuerte 265 Biokatalysator 16, 576
Basentausch 580 – reflexgesteuerte 265 biologische Psychologie 2, 3
basic rest activity cycle (BRAC) 542, – rhythmische 265 – Definition 460
549–550 – unwillkürliche 265 biologischer Brennwert, Nährstoff 221
Basilarmembran, Innenohr 424 – willkürliche 265 Biopolymer 14, 575–576
basolateraler Kern, Amygdala 87, 742 Bewegungsentwurf 267 Biotechnologie, Genetik 584
Bauchspeicheldrüse, Aufgabe 240, 241 Bewegungskrankheit 436 bipolare Depression 733
Baustoffwechsel 232, 233 Bewegungsplanung Bitterrezeptor, Transduktion 445
Bayliss-Effekt 202 – Hemisphäre 762–764 Blasenentleerung 251
BCI (brain computer interface) 277, 616, – parietale 781 – Querschnittslähmung 112
763 Bewegungssinn 329 Blasengalle 241
BDNF (brain derived neurotrophic Bewegungstäuschung 406 Blätterpapille 443
factor) 598 Bewegungswahrnehmung, visuelle 406 Blickfeld, photopisches 376
bed nucleus 80–81, 87 Bewusstlosigkeit 518–519 Blickmotorik, Steuerung 405, 406
Bedeutungseinheit 751 Bewusstsein 7 blinder Fleck 378
844 Anhang

Blindgeborene – transkapilläre Volumenverschiebung


– Schlaf 547 206
C
– Sprache 751–752 – Volumenregulationssystem 207
Blindheit 401 Blutfluss, Schlaf 551–552 CA (Cornu ammonis) 81–85
– Diabetesfolge 125 Blutgefäß, Nervensystem 25, 26 Cadherin 596
– kortikale 401, 716–717 Blutglukosespiegel, Regelung 123 Ca-Ion
Blindsehen 7,9 Blutgruppe 165–166 – Erregbarkeitseinfluss 42
Blindsight 7, 9, 509 – Vererbung 575, 576 – intrazelluläre Steuerfunktion 43
Blind-Taubgeborene 714 Blut-Hirn-Schranke 25 Ca-Kanal 42, 43
Blinkreaktion 276 Bluthochdruck Calmodulin 645
blood oxygenation level dependent – Barorezeptorlernen 205 cAMP 21
(BOLD) 489 – Herz-Kreislauf-Risiko 208 – Immunsystem 169
Blut 184–186 Blutkörperchen, rotes 215, 216 – Sucht 702–703
– Albumin 185 Blutkreislauf, Gehirn 73 cAMP-Reaktions-Element-Bindungs-
– Anteile 184 Bluttransfusion 165–166 Protein (CREB) 648–649
– Arterialisierung 215, 216 Blutversorgung, Gehirn 73 Cannaboid 59
– Aufgabe 184, 185 Blutzucker 14 Cannon-Bard-Theorie 714–717
– Eiweiß 185 B-Lymphozyt 160–161 Capsaicin 350, 366
– Globulin 185 body mass index (BMI) 235 CCK-8 (Cholezystokinin 8) 144
– Hämatokrit 184 Bogengangsorgan 431, 432 CD (cluster of differentiation) 162
– kolloidosmotischer Druck 185, 186 BOLD (blood oxygenation level CD-4 Helferzelle 162–163
– Kommunikationsaufgabe 184 dependent), Definition 489 CD-Nomenklatur 162
– Körperkreislaufvolumen 200 Bolus, Nahrungsbissen 237 CD-Zelle 162, 163
– Lungenkreislaufvolumen 200 Bombesin, Verhalten 144 Cell-assembly 629–635
– Plasma 184 Boten-RNA 581 CER (konditionierte emotionale
– Sauerstofftransport 215, 216 Botenstoff, sekundärer 21 Reaktion) 722–723
– Stofftransport 184 Bottom-up, Informationsverarbeitung Cerebrum 25
– Viskosität 185 497 Ceroid-Körper 606
– Volumen 184 BRAC (basic rest activity cycle) 549–550 Cerveau isolé 513
– Zelle 184 Bradykinesie 613 C-Faser 348, 352
– Zusammensetzung 184 Bradykinin 348 C-fos, Schlaf 543
Blutdruck 195, 196 Bradykininrezeptor 350 C-fos-Protoonkogen 543
– Altersabhängigkeit 195 brain derived neurotrophic factor CGL (Corpus geniculatum laterale) 395,
– Amplitude 195 (BDNF) 598 396
– Ausbreitung 195 Brain-Computer-Interface (BCI) 277, chaining (Verhaltenskette) 623–624
– automatisierte Messung 195, 196 616, 763 Chaos, deterministisches 476
– blutige Messung 196 – fMRI 746 chemical shift 490
– diastolischer 188 Brechzentrum 238 chemischer Sinn, Einteilung 440
– diastolischer 195 Brennstoffwechsel 232 Chemoaffinität 595–597
– FINAPRES-Messung 196 Brennwert, biologischer 221 Chemokin 164
– kontinuierliche Messung 196 Brillenberechnung 388 Chemorezeptor 301
– Kontrolle 205–209 Broca-Areal (Broca-Region) 774–779 Chemosensor
– langfristige Regulation 206, 207 – Zweisprachigkeit 759–760 – peripherer 218
– Lungenkreislauf 197 BROCA-Index 235 – pulmonales System 337
– Messung 195, 196 Brodmann-Areal 88 – Transduktion 303
– nichtinvasive Messung 196 Bronchiole 213, 214 – zentraler 218
– Normwert 195 Bronchokonstriktion, Asthma 179 Chemotroph 596
– reflektorische Steuerung 204 Bronchus 213, 214 Chiasma opticum 395
– Regulation 113, 114, 205–209 Brown-Molekularbewegung 18 chimärischer Reiz 509
– Renin-Angiotensin-System 206 Brown-Séquard-Syndrom 335 Cholesterin 131
– Riva-Rocci-Messung 195 Brückenhirn, Pons 73, 76 Cholesterol, Herz-Kreislauf-Risiko 208
– Sollwerteinstellung 204 Bulbus olfactorius, Signalverarbeitung Cholezystokinin 8 (CCK-8) 144
– Stressrelaxation der Gefäße 206 454 Cholin-Azetyltransferase 612
– systolischer 188, 195 Bulimie 675 cholinerg-aminerge Interaktion
– Trainingseffekt 199 Bupropion 708 554–556
Sachverzeichnis
845 B–D

cholinerges System 87, 94–95 COX-2-Hemmer 367 dekompensierte Herzinsuffizienz 188


– Alzheimer 613 craving, Verlangen 697–702 delayed sleep phase insomnia (DSPI) 547
Cholinesterase 56, 57 CREB (cAMP-Reaktions-Element- Delayed-matching-to-sample-Aufgabe
Chorda tympani 317, 442, 444 Bindungs-Protein), Lernen 648–649 791–792
Chordotomie 359, 370 CRF-System 151 Deletion 580, 586
Chorea Huntington, GABA 97 CRH (corticotropin releasing hormone) Delphin, Schlaf 553
chromaffine Zelle 108 131, 132, 144 Deltaschlaf 547–550
Chromatin 577 crossing-over 583–584 Delta-Schlaf-induzierendes Peptid 144
Chromosom 576–581 CRPS (complex regional pain syndrome, Delta-9-Tetrahydro-cannabinol (THC)
– Bandenmuster 579 komplexes regionales Schmerz- 97
– falsches 683 syndrom) 105, 356 Delta-Welle
– Geschlechtsentwicklung 680–681 Cry-Gen 542 – Definition 469
Chromosomenaberrationen 586–587 Cryptochrom (Cry) 542 – Koma 527
Chromosomenpaar 577 CS (konditionierter Reiz) 622 Demaskierung, synaptische 601
Chromosomenstörung 586–587 CSF (Kolonie-stimulierende Faktor) 164 Demenz 611–617
chronischer Schmerz 358–367 Cupula, Gleichgewichtsorgan 432, 434 – Lichttherapie 565–566
Chronobiologie, Hormon 145, 146 Cushing-Syndrom 134 – Verlauf 608–609
Chronotropie, Herznervenwirkung 198, Cycle-Protein 542–543 Dendrit 23
199 cycling, Kreisen 674 – apikaler 89–91, 471–472
chunk 751 – Entwicklung 597
chunking (Gruppenbildung) 628 – kortikale 88
Chylomikrin 242 – Schmerzgedächtnis 365–366
Chymotripsin 243
D Denkstörung, Schizophrenie 797–802
Clock-Protein 542–543 Denkstrategie 754–755
Clozapin 515 Dale, Sir Henry 56 Deoxyglukose 463
cluster of differentiation (CD) 162 DANN-Marker 585 Deoxyhämoglobin, MRT 489
CNV (contingent negative variation) Darmentleerung, Querschnittslähmung Dephasing, MRT 489
480–481 112 Depolarisationswelle 599
Coca-Cola, Schlaf 559 Darmnervensystem (7 auch autonomes Depotfett 233
Cochlea, Hörorgan 424 Nervensystem) 102, 105, 241, 242 Depression 145–149, 733–739
cochlear implant 430 Dauerläufer, trainierter 262 – Anatomie 735–736
Cocktail-Party-Phänomen 499–500 Dauerleistungsgrenze 262 – biogenes Amin 737–739
Coffein, Wirkmechanismus 59 DAX-1-Gen 681 – elektrokonvulsiver Schock 722
Colitis ulcerosa 179 DBS (deep brain stimulation) 614 – Genetik 734
Colliculus inferior 428 DC-Potenzial 481–483 – Hirndurchblutung 735–736
Colon irritabile 243 – Entstehung 474–475 – Immunsystem 175–176
Coma, Hirnpotenzial 772 Deadaptation, Empfindungsintensität – Kortisolwirkung 133
Coma diabeticum 126 318 – Langzeitdepression (LDP) 67
contingent negative variation (CNV) Deafferenzierung 359 – neuronale Grundlage 734–736
480–481 deep brain stimulation (DBS) 614 – posttetanische 67
Coolidge-Effekt 676 Defäkation 245 – psychologische Ursache 733
Cornu ammonis (CA) 81–85 Defensivreaktion 504 – Psychophysiologie 734–735
Corpus amygdaloideum 454 Defibrillator, Herzanwendung 194 – Schlaf 563
Corpus callosum Degeneration 599–601 – synaptische 53
– Anatomie 506 – anterograde 462 – tetanische 67
– Gefühl 720–722 – transsynaptische 462 – Therapie 58
– Bewusstsein 505–511 Degranulation 161 – Zingulum 735–736
Corpus geniculatum laterale (CGL) 395, Dehnungsreflex 271 Deprivation, Schlaf 559–560, 599
396 – hemmender 273 Dermatom 356
Corpus geniculatum mediale 428 – intrafusale Aktivierung 272 Desensibilisierung 60, 152
Corpus mamillare 77, 80 Dehnungsrezeptor, Atemmuskel 218 Desensitisierung, ligandengesteuerter
corticotropin releasing hormone (CHR) Dehnungssensor, Lunge 218 Rezeptorkanal 60
131, 132, 144 deklaratives Gedächtnis Desmosom 22
Corti-Organ 424 – Definition 621 Desoxyribonukleinsäure (DNA) 562
– Ersatz 430 – Läsion 650–655 – Definition 576
846 Anhang

Desynchronisation, Körperrhythmus Diskonnektionsanomie 508 – Schlaf 552, 557


537–539 Diskrimination dorsomedialer Kern 686–687
deszendierende Bahn, Schmerzsystem – kortikale Reorganisation 640–642 Down-Syndrom 586
352 – Lernen 623 Drehnystagmus 405
deszendierendes System, Schmerz – temporal 782–785 Drehschwindel 436
354–355 Dissonanz, kognitive 720 Drei-Ebenen-Theorie 712
deterministisch-chaotisch, Immun- Distribution, alveolarer Gasaustausch driving, EEG 476
system 167 215 Drogenabhängigkeit, Definition 692
deterministisches Chaos 476 Disulfiram 707 Drogen-Insomnie 564–565
Deuteroanomalie 386 Divergenz, Neuronetzwerk 305 Druckempfindung 322
Dezibel-Skala 416 DLPFC (dorsolateraler Präfrontalkortex) Druckpulswelle 195
Diabetes 655 Drucksensor 325, 326, 328
– Behandlung 126 DANN (Desoxyribonuleinsäure) 562 Druck-Volumen-Arbeit, Herz 196
– Herz-Kreislauf-Risiko 208 DNA-Rekombination 584, 585 Drüsenzelle, Hormonproduktion 118
– Stress 155 DNA-Reparatur 606 DSPI (delayed sleep phase insomnia)
Diabetes mellitus 125, 126 Domäne, Ionenkanal 40 547
diabetische Neuropathie 244 dominant-rezessiv 573 DTL (diffusion tensor imaging, Diffusions-
diabetische Polyneuropathie 125 Dominanz Tensor-Bildgebung) 490
diabetisches Koma 125 – soziale 742 Dualismus 7
diagonales Band 87 – unvollständige 574–575 Duft, Hedonik (7 auch Geruch) 449
Dialyse 249, 250 Dominanzsäule Duftabzeichen 449
Diastole 187, 188 – okuläre 397 Duftklasse 447
Diät, Adipositas 674 – visuelle 491 Duftmarke 449
dichotisches Hören 499–501 Dopamin Duftstoff 449
– split brain 508 – Aufmerksamkeitsverteilung 525–526 Dunkeladaptation, Zeitverlauf 315, 378
Dickdarm – Bewertung 638 Dünndarm
– Aufbau 243 – Biosynthese 57 – Anteil 241
– Aufgabe 243 – Depression 738–739 – Aufgabe 241–243
Dickdarmbewegung 243 – Hunger 671–673 – Schleimhaut 241
dienzephale Amnesie 652 – Implantation 96 – Wandschicht 241
Differenzialrezeptor 326 – Inhibiting-Hormon 129 Duodenum 241
Diffusion 18, 19 – metabotroper Rezeptor 64 – slow wave 239
– alveolarer Gasaustausch 215 – Nikotin 706 Duplikation, Chromosom 580
Diffusionspotenzial 35 – Parkinson 86, 613 Dura mater 72–73
diffusion tensor imaging (DTI, Diffusions- – präfrontaler Kortex 515 Durst 667–670
Tensor-Bildgebung) 490 Dopaminagonisten 701–702 Durstgefühl 338
Digitalis 191 Dopaminbelohnung 699 Durststillung 669
dihaptischer Test 762 Dopaminrezeptor dynamische Knotenpunkte 9
dihybride Kreuzung 573–574 – Aktivierung 515 Dynorphin 355
Dihydrotestosteron, Sexualität 685 – Sucht 701–707 Dysgeusie 442
Diltiazem 191 Dopaminsystem 93, 95 Dyskinesie, Schizophrenie 802
Dimensionalität, Hirnprozesse 476 – Schizophrenie 799–802 Dyslexie 778–779
Dimer 542 – Vorhersagefehler 638 – Training 785
dimorpher Kern, Hypothalamus 687, Dopaminverstärkung, Anatomie Dyspareunie 680
689–690 699–702 Dystonie, Musik 641–642
Dimorphismus, sexueller 685 Doppelbild 382
Diploid 582–583 Doppelhelix, Strukturmodell 576–581
Dipo, EEG 472 Doppler-Effekt 492
Dipolstruktur, Neokortex 471–472 dorsaler Strom 779–780
E
Disaccharidase 242 dorsolateraler Frontalkortex
disengage 521 – Aktivierung 515 early left anterior negativity (ELAN)
disengagement – Bewusstsein 522, 524 602–604
– Aufmerksamkeit 502–503 dorsolateraler Präfrontalkortex (DLPFC) Eccles, John C. 51
– Neglekt 782 655 echoisches Gedächtnis 627
Dishabituation 504 – Hirnpotenzial 530 Echo-Planar-Imaging (EPI) 490
Sachverzeichnis
847 D–E

ECS (electroconvulsive shock) 653 EKG (Elektrokardiogramm) 191–195 Elektrookulogramm/Elektrookulo-


EEG (Elektroenzephalogramm) 410, – Ableitung 191, 192 graphie (EOG) 403, 436, 547–554
411, 468–483 – Diagnosehilfe 194, 195 Elektrookulographie 436
– Driving-Phänomen 476 – Extremitätenableitung 192 Elektroolfaktogramm 453
– Epilepsie 477–478 – Grundlage 191, 192 Elektrophysiologie, Schlafstadien
– Intelligenz 477 – Schrittmacherlokalisation 194 554–557
– Methodik 468–483 – Standardableitung 192 Elektroretinogramm (ERG) 403
– Schlaf 547–554 – Terminologie 192 Elektroschock
– Schlaganfall 617 – vektorielle Interpretation 192, 193, – Depression 739
EEG-Entstehung, Dipol 472 194 – Gedächtnis 653
EEG-Forschung, Geschichte 469 EKP (ereigniskorreliertes Hirnpotenzial) Element (Atom) 12, 13
EEG-Frequenz, Verhalten 477 478–483, 527–533 Embryo 594
EEG-Rhythmus 469–470 – Bewusstlosigkeit 518 embryonale Stammzelle 96, 595
EEG-Synchronisation, Thalamus – Entwicklung 601–604 Emergenesis 589–590
475–476 – Informationsverarbeitung 483 emergentes Merkmal 590
Effektor, autonomes Nervensystem elaboriertes Speichern 628 EMG (Elektromyogramm, Elektro-
(ANS) 103 ELAN (early left anterior negativity) myographie) 264, 265
Effektorermüdung 504 602–604 – Depression 735
efferente Hemmung 516 electroconvulsive shock (ECS) 653 – Gefühl 714, 716
Efferenz, Definition 27, 28 elektrische Quelle 472 – Reflexregistrierung 276
Efferenzkopie 284, 330 elektrische Schmerztherapie 369 – Schlaf 547–550
Effort 501, 512 elektrische Synapse – Schmerz 362
– Hirnpotenzial 530 – erregende 67 EMG-Biofeedback 370
Eigengeruch 449 – gap junction 67 Emission 677–678
Eigengrau 378 – hemmende 68 Emotion
Eigenreflex 271 – Konnexon 67 – Asthma 179
– klinische Bedeutung 272 – Nexus 58, 67 – Definition 712
Eileiter 137 Elektroakupunktur 369 – Evolution 712–713
Einatmung 214 Elektrode – Immunsystem 171–172, 175–176
Eindruck, Definition 299 – ENG (Elektroneurographie) 45 emotional expression, Schizophrenie
Einfühlungsgabe 794–797 – intrazelluläre 34 798
Eingeweideschmerz 343 Elektroenzephalogramm (7 auch EEG) emotionale Reaktion, konditionierte
Eingeweidesensor 336 410, 411, 468–483 (CER) 722–723
Einschlafen 543–544, 563 Elektrogenese, langsames Hirnpotenzial emotionaler Schmerz 344
– verschobenes 547 481–482 Empathie
Eisenbahnnystagmus 403 Elektrokardiogramm (7 auch EKG) – medialer Frontalkortex 742–743
Eisenresorption 234 191–195 – präfrontal 794–797
Eisprung 136 Elektrokardiographie, Definition 191 Empfindlichkeitskontrolle, absteigende
Eiter 159 elektrokonvulsiver Schock, Depression Hemmung 313
Eiweiß 14 722 Empfindung
– Baustein 15 Elektrokortikogramm (ECoG), Definition – Adaptation 318
– Bilanzminimum 233 469 – affektive Tönung 298
– biologischer Brennwert 221 elektromechanische Entkopplung, – Deadaptation 318, 319
– Mindestbedarf 233 Myokard 191 – Definition 299
– Nährstoff 233 elektromechanische Kopplung – Grunddimension 300, 301
– pflanzliches 233 – Herz 191 – Weber-Regel 316
– Resorption 243 – Skelettmuskel 258, 259 – Zeitstruktur 312
– tierisches 233 elektromygraphisches Biofeedback Empfindungsschwelle 328
– Verdauung 243 370 Emulgator 241
eiweißkatabole Wirkung 132 Elektromyogramm/Elektromyographie Encephale isolé 513
Eiweißmangelödem 186 (7 auch EMG) 264, 265 Enddarm, Aufgabe 244, 245
Eiweißminimum, funktionelles 233 Elektronarkose 355 endogene Komponente, EKP 480
Eiweissynthese 581–582 Elektronenmikroskopie 461 endogener Oszillator 536–543
Ejakulation 678 Elektroneurographie (ENG) 45, 46 endogenes Opiat 363–364
Ekelaversion 450 Elektronystagmographie 436 – Schmerzhemmung 353, 354–355, 357
848 Anhang

endokriner Rhythmus 544 – Schmerz 358 Erregung


endokrines System, Immunsystem Entzündungsmediatoren 349 – Alles-oder-Nichts-Gesetz 37, 38
(7 auch Hormon) 167 Entzündungsschmerz, Neuropeptide 358 – emotionale 224
Endokrinologie 7 Hormon Enuresis nocturna Erregungsausbreitung
Endolymphe 432 – psychophysische Behandlung 253 – divergente 305
Endometrium 136 – Schlaf 566 – Herz 190
endoplasmatisches Retikulum 13 Enzym 16 – konvergente 305
Endorphin-Rezeptor 355 Enzyme, Immunsystem 159–160 Erregungsbildung, Schrittmacherzelle
Endozytose 20, 21 EOG (Elektrookulogramm) 403, 436, 189, 190
Endplatte 547–554 Erregungskreis, neuronaler 632–634
– ACh als Transmitter 56 Ephapse 68 Erregungsleitung, saltatorische 45
– neuromuskuläre 258, 259 EPI (Echo-Planar-Imaging) 490 Erregungsverteilung 525–526
Endplattenpotenzial 259 Epilepsie – Gyrus cingulum 483
Energieäquivalent, Nährstoff 221 – EEG 477–478 error-detection 522
Energieerhaltung, Schlaf 560 – Flimmerlichtauslösung 380 Erschöpfung 150,152
Energieerhaltungsgesetz 219 – Hippokampus 652 Erwartung 504
Energiegehalt, Nahrungsmittel 221 – Kanalopathie 41 – Hirnpotenzial 530–533
Energiequelle, Skelettmuskel 262 – psychophysiologische Behandlung – Hirnsystem 621–622
Energiespeicherung, Stress 150 568 – Lernen 624
Energieumsatz – Schlaf 567–568 – Schizophrenie 799
– geistige Arbeit 221 – Selbstkontrolle 568 – Sucht 695–697
– körperliche Arbeit 220, 221 epileptischer Anfall 478, 482 Erwartungs-Effekt 690
– menschlicher 219–222 Epimysium, Skelettmuskel 256 Erwartungshaltung, frontal 788–797
– Zelle 219 Epiphänomenalismus 300 Erwartungspotenzial 286, 481
Energiezufuhr, Bedarfsermittlung 222 Epiphyse, Lage 540 erworbenes Immunsystem 158–159
ENG (Elektroneurographie) 45, 46 episodisches Gedächtnis, Definition Erythrozyt 184
Enkephalin 355 621–622 – Anzahl 215
– Schmerz 352–354 Epistase 575, 590 – Immunsystem 165
Enkodierung 498, 627–628 Epithelzelle, Krebsentwicklung 17 – Sauerstofftransport 215, 216
– Verarbeitungsmechanismen 502 EPS (extra sensory perception) 300 Erythrozytenantigen 165
Enkodierungsphase 655 – EPS-Phänomen 300 essenzielle Hypertonie 155
Enophthalmus, Horner-Syndrom 104 EPSP (erregendes postsynaptisches – Herz-Kreislauf-Risiko 208
enriched environment 635–636 Potenzial) 51–53 ethisches Gefühl 797
Ensemble, neuronales 470–471 – Entstehung 52 ethnischer Kontext, Schmerz 345
Enterozeptor 301 – langsames 53 Euphorie
Enterozyt 242 – Registrierung – Dynamik 697
Entmarkung, Nachweis 46 – Transmitterfreisetzung 52 – Kortisolwirkung 133
entorhinaler Kortex 83–84, 653 – Zeitverlauf 52 Evaporation 223
Entscheidungsinstanz 525 Equipotenzialität 8 Eva-Prinzip 137, 680–681
Entspannungstherapie, Schmerzen Erbgang, intermediärer 574–575 Evolution
369–370 Erblichkeitsschätzung 587–590 – Embryo 594
Entspannungstraining 262 Erbrechen, psychophysische Behand- – Gefühle 712–713
– EMG-Biofeedback 263 lung 238 – Schlaf 552–554
Entwicklung Erbstörung 586–587 – Sprache 766–767
– fetale 148 Erbsubstanz 576 evozierte Hirnpotenziale
– Nervensystem 594–597 ereigniskorreliertes Hirnpotenzial (EKP) – akustische 421
– Neuron 594–595 478–483, 527–533 – fetale 603
– Schizophrenie 798–802 – Bewusstlosigkeit 518 – Schmerz 346–347
– Schlaf 553 – Entwicklung 601–604 – visuelle 400, 401
– Schmerz 346 – Informationsverarbeitung 483 Exekutive, zentrale 503–504
– sexuelle 680–682 Erektion 676 exekutive Funktion 788–797
Entzugsvermeidung, Sucht 694–965 ERG (Elektroretinogramm) 403 exogene Komponente, EKP 480
Entzündung Erhaltungsumsatz 219 Exon 581
– neurogene 349 erregendes postsynaptisches Potential Exophthalmus 131
– Nozizeptor 349 7 EPSP Exozytose 20, 21
Sachverzeichnis
849 E–F

– Hormonfreisetzung 118 fetale Entwicklung 148 Follikel 135


experimentelle Neurose 723 – Gehirn 76 Follikelphase 135
explizites Gedächtnis, Läsion 650–655 fetale Lateralisierung 758 Foramen interventriculare 75
Exploration, Hippokamus 654 fetale Magnetoenzephalographie Formatio reticularis
Extensorreflex, gekreuzter 275 (fMEG) 474, 482, 602 – Geruchsinformation 455
Exterozeptor 301 Fett – Schmerz 352
Extinktion – biologischer Brennwert 221 – sensorische Funktion 311
– Definition 623 – Depotfett 233 Fornix 76–77, 80
– Furcht 723, 725 – Nährstoff 232 – Hippokampus 84
– Neglekt 520–522 – Resorption 242 Forschungsmethode 5
– Schmerz 362, 371 – sichtbares 233 Forschungsstrategie, Neurowissen-
– Unterscheidung 504 – verborgenes 233 schaft 460
extralemniskale Bahn 309, 311 – Verdauung 242 Fortleitung
extrapersonaler Raum 407, 408 Fettleibigkeit – Aktionspotenzial 39
extrapyramidale Bahn 284 – androide 208 – Nervenfasererregung 43, 44
extra sensory perception (EPS) 300 – Art 208 Fötus, Lernen 602
extrazelluläre Matrix 22 – gynoide 208 Fourier-Analyse 476
Extrazellulärraum 18, 25 – Herz-Kreislauf-Risiko 208 Fovea centralis 391
Exzitotoxizität 62 Fettsäure 15 FOXP2-Gen, Sprache 750, 759
Fettsucht 674 Frank-Starling-Mechanismus
– Definition 235 – Herz 197
– Genetik 585 – Herztransplantation 198
F Fetus, Organentwicklung 137 – physiologische Rolle 198
Fibromyalgie 371 freie Nervenendigung 348
Faeces, Bildung 243 Fibrose, zystische 587 – Mechanosensor 327
Fahrradwandern, Trainingseffekt 199 Fieberabfall 227 Freilauf, Rhythmus 536
fäkale Inkontinenz 244 Fieberanstieg 227 Freizeitumsatz 220
falsches Chromosom 683 Fila olfactoria 454 Fremderkennung, Immunsystem 163
Familie, Schizophrenie 798 Filtertheorie, Aufmerksamkeit 499 Fremdkontrolle, BOLD (blood oxygen-
Familiengeruch 449 Filtration, Kapillare 185 ation level dependent) 532
Farbblindheit 386, 387 Filtrationsdruck, Primärharnbildung Fremdreflex 274
– Chromosom 579 246 Frequenz, neuronale 526–527
Farbenkreis 385 Filtrationsrate, glomeruläre 246 Freqenzenkodierung
Farbensehen FINAPRES-Blutdruckmessung 196 – MRT 488
– Signalverarbeitung 410 Finikiness 443 – Sensor 304
– Theorie 399 Fixation, Gewebe 461 Freude, Verlangen 696–698
– Wahrnehmungspsychologie Fixiertheit, Denken 755 Freudezentrum 698
384–387 Flaschenhalstheorie 499–501 frontale Lobotomie, Schmerz 357
Farbkonstanz 399 Flexorreflex 275 Frontalis-EMG 264
Farbmischung 386 Fliegen, Sinnestäuschung 435 Frontalkortex
Farbsinnstörung 386 Flimmerfusionsfrequenz 318 – Bewusstsein 518–519
Färbungsmethode, histologische Flimmerlicht 380 – dorsolateraler 522, 524
461–463 Flocculus 281 – Funktionen 788–797
Far-field-Potenzial 469, 480 Flugzeuglistenmethode 616 Frontallappen, Läsion 791
Faszikel, Skelettmuskel 256 fluide Intelligenz 610 Frontalschnitt 72
fatale familiäre Insomnie 559 Fluor 234 FSH (Follikel-stimulierendes Hormon)
Fehlererkennung 522 Fluoreszenz 491 135
Fehlerkorrektur, Gyrus cinguli 524 Fluoxetin 58 Fühlraum 331
Fehlhaltung 657 Flüssigkeitschromatographie (HPLC) Führungsgröße, Regelungslehre 123
Feldpotenzial 472 464 Fundus, Magen 238
Feldsensor, Ionenkanal 41 fMEG (fetale Magnetoenzephalographie) Funktion, Schlaf 557–559
Fenfluramin, Fettleibigkeit 674 474, 482, 602 funktionelle Magnetresonanztomo-
Fertigkeitenlernen (skill learning) fMRI-Gehirn-Computer-Interface graphie (fMRT) 482, 489–490
626–627 746–747 funktionelle Residualkapazität
– Läsion 651 fokale Epilepsie 465 (7 auch Atmung) 212
850 Anhang

Funktionsausfall – Lungenalveole 214 Gen


– frontal 791 gastrointestinales Peptid 144 – Alter 605
– Parietallappen 779 Gastrointestinaltrakt 236–245 – Bau 577–581
Funktionsprinzip, Gehirn 74 – Hunger 672–673 Generalisation
Funktionsschleife, Basalganglion 280 – Rhythmus 546 – Definition 623
Funktionswort 769–771 Gasuhr 212 – operante 625
Furcht 722–732 Gate-control-Theorie 352 generelles Adaptationssyndrom 150
– Glutamat 728 Gating, thalamisches 516–517 Genetik
Furchtkonditionierung 722–724 gating current 41 – Aggression 739–740
– Amygdala 724–728 Geburt 137 – Biotechnologie 584
fusiformes Areal 91 Geburtsgewicht, Krankheit 602 – Depression 734
Fußsohlenreflex 275 Gedächtnis – Homosexualität 683
– Altern 155 – klassische 572–575
– präattentives 503 – Körperrhythmen 541–543
– räumliches 409 – Lernen 648–649
G – Schlaf 561–562 – molekulare 575–582
– Schmerz 361–367 – Schizophrenie 798
GABA (Gamma-Amino-Buttersäure) 57 – unmittelbares 545 – Verhaltensstörung 649
– Aggression 743–744 Gedächtnissystem 620–621 genetische Variabilität 582–584
– Erregung 97 Gedächtnistraining 615 genetische Varianz 589
– Funktion 97 Gedankenlesen 300 Genexpression
– Furcht 728–729 Gedankenübersetzung 763 – Lernen 647–649
– Transmitterfunktion 57 Gefühl – Sucht 703
GABAA-Rezeptor 62 – Definition 712 Gen-Instabilität 607
– Bindungsstelle für Barbiturat 62 – Evolution 712–713 Genitalienentwicklung, Mann 138
– Bindungsstelle für Benzodiazepin 62 Gefühlsanatomie 719 Genitalorgan
GABAC-Rezeptor 62 Gefühlsäusserung, Schizophrenie – Frau 678
Gage, Phineas 750, 789 798–799 – Mann 677
Galle Gefühlstheorie, kognitive 717 Genkartierung 586
– Blasengalle 241 Gegenfarbentheorie 399 Genotyp 573
– Lebergalle 241 Gegensatz-Prozess-Theorie 693 Gen-Protein-Rhythmus 542–543
Gallensäure 241 Gehirn Gentechnologie 584
Gamet 577–581, 582–584 – Bedarfsdurchblutung 203 Gentherapie 585
Gamma-Amino-Buttersäure – Funktionsprinzip 74 Gentranskription, Körperrhythmen 542
(7 auch GABA) 57 – Glukosemessung 484–486 Gentransplantation 585
Gamma-Oszillation 526–527 – Größenverhältnis 462 gepulste Kernresonanz 488
– Schlaf 548–549 – Immunsystem 167,170 Geräusch 417
Gamma-Spindel-Schleife 272 – Intelligenz 589 Geruch
Gammastrahlung 485 – Sauerstoffverbrauch 483–485 – Adaptation 318, 448
Gamma-Welle, Definition 469 – Temperaturgefälle 223 – Aversionslernen 449, 450
Ganglienblocker 109, 110 – Ventrikel 25 – Duftklasse 447, 448
Ganglienzelle Gehirn-Computer-Interface (BCI) 277, – Eigengeruch 449
– Netzhaut 390, 391 616–617, 763 – Einteilung 440
– rezeptives Feld 393, 394 Gehirnoszillation 468–471 – Emotion 449
– Riesengangienzelle 394, 395 Gehirnschnitt 72 – Empfindungsstärke 448
Ganglion Gehirnstoffwechsel, Kohlenhydratbedarf – Erkennungsschwelle 448
– parasympathisches 104 232 – Familiengeruch 449
– sympathisches 102, 104 Gehörknöchelchenkette 422 – Geschmacksabgrenzung 440
Ganglion scarpae 432 geistige Anspannung, Muskeltonus – Hedonik 449
Ganglion vestibuli 432 263 – Primärgeruch 447
Ganzkörperreflex 276 gelber Fleck 391 – Qualität 447, 448
gap junction 22, 67 Gelenknozizeptor 330 – Stevens-Potenzfunktion 448
Garcia-Effekt 450 Gelenksensor 330 – Störung 453
Gasaustausch gelernte Hilflosigkeit 142, 364 – unspezifischer 448
– geweblicher 217 gelernte Vernachlässigung 270 – Unterschiedsschwelle 448
Sachverzeichnis
851 F–G

– Wahrnehmungschwelle 448 Geschwindigkeitsdetektor 326 glomeruläre Filtration 246


– Wahrnehmunspsychologie 447–450 Gesichtererkennung 91, 407, 784 Glomerulus
Geruchsagnosie 453 – Störung 781 – Bulbus olfactorius 454
Geruchsdiskrimination 455 Gesichtsausdruck 713 – Niere 245
Geruchsprofil, Riechzelle 452 Gesichtsfeld Glomus caroticum 218
Geruchssinn, split brain c – Ausfall 402 glucagon-like peptide (GLP) 670
(7 auch Geruch) 508 – binokulares 376 Glückspille 58
Geschichte – einäugiges 376 Glukagon 123, 124
– biologische Psychologie 4 – monokulares 376 Glukokortikoid 131, 132, 151, 153
– EEG-Forschung 469 – photopisches 376 – immunologische Wirkung 133
Geschlechterdifferenz 689–692 – zweiäugiges 376 – Immunsystem 171
Geschlechtschromosom, Anomalie Gesichtsmuskel, Emotion 713–714 – Kurzzeitstress 143
586–587 Gesichtsschmerz 362 – metabolische Wirkung 132
Geschlechtsdifferenzen 685 Gestagen 134 – Wahrnehmung 143,146
Geschlechtsentwicklung, Chromo- Gestaltergänzung, visuelle 411 Glukoneogenese 132
somen 680–681 Gestaltwahrnehmung Glukose 242
Geschlechtshormon, Gehirn 686 – Signalverarbeitung 410, 411 – Energielieferung 14
Geschlechtsunterschied, Lateralisierung – visuelle 382–384 Glukosemessung, Gehirn 484–486
759–760 Gestik, Sprachentstehung 766 Glutamat
Geschmack (7 auch Schmecken) Gewalttätigkeit 148, 744 – Aktivierung 514
672–673 Gewebe – Furcht 728
– Adaptation 441 – Definition 22 – Glia 25
– Alltagsbedeutung 442 – Gasaustausch 217 – Lernen 639, 645
– Aversionslernen 449, 450 Gewebsansäuerung 350 – Schizophrenie 800
– biologische Bedeutung 441–443 GH 129 – Schmerz 358
– Bitterstoff 442 Ghrelin 670–673 – SCN (suprachismatic nucleus) 542
– Drogenwirkung 446 GHRH (growth hormone releasing – Transmitterfunktion 57, 66, 67
– Einteilung 440 hormone) 144 Glutamatrezeptor 66, 67
– Funktion 442 Gilles-de-la-Tourette-Syndrom 732 – ionotroper 61
– Geruchsabgrenzung 440 Glandula parotis 237 – metabotroper 351
– Intensität 446 Glandula sublingualis 237 – Schmerz 351–352
– Nucleus accumbens 673 Glandula submandibularis 237 Glykogen 14
– psychologische Bedeutung 441–443 Glanzstreifen 68 Glykolipid 576
– Qualität 440, 446 Gleichgewicht, Motorik 278 Glykoprotein 575–576
– Qualitätsumschlag 441 Gleichgewichtsorgan (Vestibularorgan) Glykosid, Herzwirkung 191
– Störung 442 – Bau 432 Glyzin
– Umamigeschmack 441 – Prüfung 436 – Kotransmitter am NMDA-Rezeptor 62
– Wahrnehmungspsychologie 440–443 – Transduktion 433 – Schmerz 351, 352
– Wahrnehmungsschwelle 441 Gleichgewichtssinn, Wahrnehmungs- – Transmitterfunktion 57
– zentrale Signalverarbeitung 446, 447 psychologie 431, 432 Glyzinrezeptor
Geschmacksaversion 174, 622 Gleichspannungspotenzial 481–483 – ionotroper 63
Geschmacksfaser 317 – Entstehung 474–475 – ligandenaktivierter 63
Geschmacksfeld, kortikales 447 Gleichstromstimulation, transkranielle – Strychninwirkung 63
Geschmacksknopse (tDCS) 466 Golgi-Apparat, Hormonproduktion 121
– Bau 443 Gleitfilamenttheorie, Sarkomerkontrak- Golgi-Färbung 461
– Anzahl 443 tion 257 gonadale Intersexualität 683–684
Geschmackskortex, Gefühl 719 Glia, Verhaltensrolle 25 Gonadenhormon (7 auch Sexual-
Geschmacksnervenfaser, Antwort- Glianarbe 25 hormon) 133
verhalten 446 Gliazelle 24 G-Protein
Geschmacksorgan 7 Geschmack – Entwicklung 598 – Anteil 63
Geschmacksprofil, Schmeckzelle 445, – Hirnpotenziale 471 – Namensgebung 63
446 – Kortex 87, 89 – Schmerz 349–350
Geschmacksqualität, Topographie 444 Glioblaste 595 – Sucht 702–703
Geschmacksrezeptor 444 Globulin, Blut 185 Gradientenschaltung, MRT 489
Geschmackssinn 7 Geschmack Globus pallidus 81, 85–86 Grammatik, universelle 750
852 Anhang

Grand-mal-Anfall 478 – Schizophrenie 799–800 – Entwicklung 598


Granulozyt 159 – Schlaf 557 – Schmerz 360
Greifakt 287 Halluzinogen 704 Hebb-Synapse 630–631
Greifkraft, Einstellung 287 Halsmassage 205 Hebb-Theorie 629–635
Grenzkontrast 380 Haltetonus, Stützmotorik 271 Hedonik 449
Grenzstrang (7 auch autonomes Haltung, neuronale Kontrolle 266 – Anatomie 719
Nervensystem) 102, 103 Hämatokrit 184 – Dynamik 693–696
Grenzwertmethode 314 Hammer, Ohr 422 Heikelkeit 443
Größenverhältnisse, Gehirn 462 Hämoglobin 215, 216 Helferzelle, Immunsystem 161–162
Großhirn 87–91 – Blutkonzentration 215 Heliobacter pylori 154
– Schlaf 555–557 – Karbamin-Hämoglobin 217 Helix, Ionenkanal 40
Großhirnrinde – Kohlenmonoxidwirkung 215 Helladaptation 378
– Bauprinzip 89 Hämolyse 165 Hell-Dunkel-Adaptation 391
– Immunsystem 170, 171 Hämophilie 587 Hell-Dunkel-Neuron 396
– Sauerstoffverbrauch 217 hämopoetische Stammzellen 158 Hellsehen 300
growth hormone releasing hormone Hand, Zielbewegung 287 Hemeralopie 392
(GHRH) 144 Handgeschicklichkeit, motorische Hemiachromatopsie 410
Grundumsatz 220 Kontrolle 287, 288 Hemineglekt, visueller 408
Gruppenbildung 628 Händigkeit, Sprache 761–762 Hemisphäre
Guanosinmonophosphat, zyklisches Handlungsantrieb 267 – Funktion 505–511
677 Handlungsplan, frontal 791–792 – Gefühl 720–722
gustofazialer Reflex 442 Hanoi, Turm von 651 – Immunsystem 171
Gynandomorphie 681 Hans, kluger 767 Hemisphärenasymmetrie 756–766
Gyrus, kortikaler 88 Haploid 582–583 – Entwicklung 757–759
Gyrus angularis 410,774–777 Harnbildung, hormonelle Kontrolle 248 Hemisphärendominanz, Entwicklung
Gyrus cinguli Harnblase 722
– Aufmerksamkeit 522, 524 – Entleerung 251 Hemmung
– Erregungverteilung 483 – Innervation 251, 252 – synaptische 53
– Lage 80 – Lage 251 – absteigende 312, 313
– Schmerz 353 Harndrang 338 – antagonistische 273
Gyrus circumflexus 410 – nächtlicher 186 – autogene 273
Gyrus dendatus 83–84, 152 Harninkontinenz 252 – direkte 273
Gyrus fusiformis 91, 781 – psychophysische Behandlung 253 – efferente 516
Gyrus parahippocampalis 653–655 Harnröhre, männliche 251 – latente 623
Gyrus postcentralis 311 Harnsäure 222 – laterale 305, 306
– Geschmacksfeld 447 Harnverhaltung 251 – präsynaptische 55, 56
Gyrus praecentralis 285 Harnweg – reziproke 273
Gyrus supramarginalis 774–777 – Bau 251 – rückläufige kollaterale 476
– Funktion 251 – sensorisches System 305
Haupthistokomplatibilitätskomplex – Umfeldhemmung- 306, 307
449 – zentrifugale 312, 313
H Hauptsprachbereich 417, 418 Hering-Breuer-Reflex 218
Hauser, Kaspar 572 Hermaphrodit 138, 683–684
Haarfollikel-Sensor 326 Haut, Bedarfsdurchblutung 203 Heroin, Parkinson 96
Haarzelle Hautentzündung, Zinkmangel 235 Herz
– Innenohr 424, 425 Hautleitfähigkeit 224 – Abstimmung der Förderleistung
– vestibuläre 432 – Psychopathie 745 rechts-links 198
Habituation 504–505 Hautsensor, Tiefensensibilität 330 – afferente Innervation 198
– Angst 730 Hauttemperatur – Aktionspotenzial 190, 191
– Aplysia 642–644 – Biofeedback 371 – Aktionspotenzialionenmechanismus
– Lernen 622–623 – Messung 223, 224 190, 191
– pränatal 602 HCl, Magen 239 – Anspannungszeit 187
– Schizophrenie 798 Head-Zone 356 – Arbeitsbereichsoptimierung 199
Hagen-Poiseuille-Gesetz 202 Hebb, Donald O. 630 – Arbeitsleistung 196, 197
Halluzination Hebb-Regel 630–631 – Arbeitszyklus 187
Sachverzeichnis
853 G–H

– Atrioventrikularknoten 190 – Vorhof 187 Hirnaktivität


– Ausdauertrainingseffekt 199 – Vorhof-Kammer-Knoten 190 – Barorezeptorwirkung 205
– Autoregulation des Schlagvolumens – Wirkungsgrad 199, 200 – EEG-Verlangsamung 205
197 – Zeitvolumen 188 Hirnantikörper 180
– AV-Knoten 190 Herzaktionspozential 190 Hirnantwort, Schmerz 345, 363, 367
– Bau 186 Herzflimmern 194, 227 Hirnareal, sexuelle Erregung 688
– Beschleunigungsarbeit 196 Herzgeräusch 188 Hirn-Bewusstseins-Problem 299
– Blutflussrichtung 186 Herzinfarkt, Elektrokardiogramm (EKG) Hirndurchblutung
– Chronotropie durch Sympathikus 198 195 – Aufmerksamkeit 524
– Diastole 187, 188 Herzinfarktrisiko 153 – Depression 735–736
– Druck-Volumen-Arbeit 196 Herzkammer 186 – Hirnpotenzial 482
– Durchblutung 199 Herzklappe, Funktion 186 – Messung 483–484
– Elektrokardiogramm 191–195 Herzklappeninsuffizienz 188 – Schlaf 551–552
– elektromechanische Kopplung 191, Herzklappenstenose 188, 189 Hirndynamik, Musik 787
198 Herz-Kreislauf-Risiko Hirnentwicklung 594
– Erregungsausbreitung 190 – Prävention 208 – Chromosom 680–681
– Erregungsbildung 189, 190 – Therapie 208 – Phase 595–596
– Erregungsleitungsgewebe 190 Herz-Kreislauf-System, Fehlregulations- Hirnfunktion, Modularität 512
– Frank-Starling-Mechanismus 197, 198 risiko 208 Hirnhäute (Meninges) 72–73
– Frequenzanpassung 196 Herzmassage 194 Hirnhemisphäre
– Glykosidwirkung 191 Herzmechanik 186–189 – Denken 756–766
– Inotropie durch Sympathikus 198 Herzmuskel, Sauerstoffverbrauch 217 – Funktion 505–511
– insuffiziente Tätigkeit 188 Herzmuskelinsuffizienz 188 – Gefühl 720–722
– Kammerflattern 194 Herzschlag, Wahrnehmung 337 Hirnläsion
– Leitungsstörung 194 Herzspitzenstoß 187, 188, 337 – Bewusstsein 519–522
– maximales diastolisches Potenzial 190 Herzton 187, 188, 337 – Immunkompetenz 171
– Minutenvolumen 200 HHL (Hypophysenhinterlappen) 127 Hirnnerv 29, 30
– muskarinerge ACh-Rezeptoren 64 Hilflosigkeit 142, 733–739 Hirnpotenzial
– Myokard 186 – gelernte 149, 364 – Azetylcholin 636–637
– Nervenwirkung 198, 199 – Herz-Kreislauf-Risiko 208 – Epilepsietherapie 568
– parasympathische Innervation 199 – Immunsuppression 145, 146 – ereigniskorreliertes (EKP) 478–483,
– Pumpfunktion 186, 187 – Stress 149 527–533
– reflektorische Steuerung 204 Hinterhirn, Definition 73, 76 – fetales 603
– Rehabilitation 199 Hinterhorn, synaptische Verschaltung – fMRI 482
– Restvolumen 197 308, 309 – Gliazelle 471
– Rhythmusstörung 194 Hinterstrang, spinaler 309 – langsames (LP) 286, 530–533
– Ruhepotenzialionenmechanismus Hinterstrangkern 309 – langsames, frontales 793
190, 191 Hinterstrangläsion 309 – Locked-in-Zustand 772
– Schlagfrequenz und Geschlechtsab- Hinterstrangsystem 311 – Negativierung 472, 482–483
hängigkeit 200 Hinterwurzel 26 – Neurophysiologie 472, 482–483
– Schlagfrequenz und Trainingszustand Hinterwurzelausriss 270 – PET 529
200 Hippokampus – Positivierung 472, 482–483
– Schlagphase 187 – Altern 154 – Schmerz 347,363
– Schlagvolumen 196 – Epilepsie 652 – Sprache 603–604
– Schrittmacherpotenzial 190, 198, 199 – Exploration 654–655 Hirnreizung, Methodik 465–468
– Spontanerregung 189 – Langzeitpotenzierung 644–647 Hirnrinde
– suffiziente Tätigkeit 188 – Läsion 650–655 – Geschmacksverarbeitung 445, 447
– sympathische Innervation 198 – Ortszelle 653 – sensorische 311, 312
– Synopsis der Herzaktion 197 – räumliches Gedächtnis 409 Hirnstamm
– Synzytiumstruktur 189 – Schizophrenie 800 – Atemzentrum 217
– Systole 187, 188 – Struktur 81–85 – Kreislaufzentrum 204
– Trainingseffekt 199 – Theta-Rhythmus 654–655 – Miktionszentrum 251
– transplantiertes 198 – Zellverlust 152 – Schmerzkontrolle 352
– Ventilklappe 186 Hirn und Seele 299 – stützmotorische Funktion 278
– Ventrikel 186 Hirnaktivierung, Semantik 772 Hirnstammpotenzial 480
854 Anhang

Hirnvolumen, Intelligenz 589, 755 – evoziertes Potenzial 421 – Exozytose 118


Histamin 164 – Frequenzunterschiedsschwelle 419 – fettlösliches 120, 121
– Depression 739 – Geräusch 417 – glandotropes 127
– Gehirn 95–96 – Hauptsprachbereich 417, 418 – granuläre Speicherung 118
– intradermale Injektion 223 – Hörvermögenprüfung 421 – hormoneller Angriffspunkt 119
– Jucken 351 – Innenohrschwerhörigkeit 420, 421 – Hypophysenhinterlappen (HHL) 127
– Schmerz 350 – Intensitätsunterschiedsschwelle 419 – Hypophysenvorderlappen (HVL) 127
– Transmitterfunktion 57 – Isophone 418, 419 – Hypothalamus 126–133
Histaminsystem 93 – Klang 417 – Inhibitinhormon 126
Histokompatibilitätskomplex 449 – Knochenleitung 421 – Körperrhythmen 145,146
Histologie, Definition 22 – Kommunikationslaut 430 – Liberin 126
histologische Methode 461–463 – Lärmmessung 419 – lipophiles 121
Hitzeadaptation 227 – Lärmschaden 419 – Nachweis 121
Hitzebelastung, Tropenklima 227 – Lautheit 419 – Neurohormonwirkung 119
Hitzekollaps 227 – Lautstärke 418 – nichtglandotropes 127
Hitzereize 346 – Lautstärkepegel 418 – nichtgranuläre Speicherung 118
Hitzewallung 139 – Luftleitung 421 – Oxytozin 127, 128
Hitzschlag 227 – Maskierung 420 – Pankreashormon 123–126
HIV-Infektion 165 – Mithörschwelle 420 – parakriner Angriffspunkt 119
HLA-Molekül 160, 162, 163 – Mittelohrschwerhörigkeit 421 – Peptide 121
Hochfrequenz, MRT 486–489 – Musikwahrnehmung 430 – Produktionsort 118
hochreaktive Sauerstoffverbindung, – Oktave 418 – Prolaktin 128
ROS 606 – Pascal (Pa) 416 – Proteine 121
Höhenschwindel 412 – Phonskala 418, 419 – Regelkreisanteil 123, 124
homoiothermes Lebewesen 222 – physikalische Voraussetzung 416, 417 – Releasing-Hormon 126
Homöostase 18 – Presbyakusis 420 – Rezeptor 119, 120
– Begriff 150 – Psychophysik 417–420 – Rhythmen 143
– inneres Milieu 336 – Richtungshören 420 – Schilddrüsenhormon 121, 122,
– prädiktive 145 – Ruhehörschwelle 420 129–131
– Schlaf 557 – Schalldruckmessung 416 – Schlaf 145, 146
Homöostasemodell, multiples 664 – Schallempfindungsstörung 420 – Sexualhormon 133–139
homöostatischer Schlafantrieb 541–542 – Schallkodierung 427, 428 – Somatotropin 129
homöostatischer Trieb 662 – Schallleitungsstörung 420 – Speicherort 118
Homosexualität – Schallortung 420 – Statin 126
– Genetik 683 – Schalltransduktion 426 – Steuerhormon 127
– Neuroanatomie 689 – Schmerzschwelle 419 – Vesikel 118
– primäre 683–684 – Schwellenaudiometrie 421 – Wachstumshormon 129
Homunkulus – Schwerhörigkeit 419 – Wahrnehmung 142
– Schmerz 359–360 – split brain 508 – Zeitgeber 143
– sensorischer 312 – Tinnitus 422 – zellulärer Angriffspunkt 119
Hörbahn – Ton 417 – Zentralnervensystem 142
– Colliculus inferior 428 – Tonschwellenaudiogramm 421 – Zielort 118, 119
– medialer Kniehöcker 428 – Unterschiedsschwelle 420 – Zytoplasmarezeptor 120
– Mustererkennung 429, 430 – Verdeckung 420 Hormonsubstitutionstherapie,
– Olivenkomplex 428 – Wahrnehmungspsychologie 416–422 Menopause 139
– subkortikale Station 428 Hörexperiment, dichotisches 499–501 Horner-Syndrom 104
Hörbereich 417, 418 Hormon 118–140 Hornhauttransplantation 401
Hören (7 auch Ohr) 416–438 – Abbau 123 Hörrinde 428, 429
– Adaptation 420 – Aggression 147–148 Hörschwelle 417, 418
– auditorische Signalverarbeitung – allgemeine Endokrinologie 118–123 Hörsturz 422
427–430 – antidiuretisches (ADH) 127, 128 Hörsystem 7 Hören, 7 Ohr
– brain stem evoked response – autokriner Angriffspunkt 119 hostility, Typ A 208
audiometry (BERA) 421 – Bindung, soziale 146, 147 HPLC (Flüssigkeitschromatographie)
– Corti-Organ-Ersatz 430 – chemische Struktur 120–122 464
– Dezibel-Skala 416 – Drüse als Produktionsort 118 Human Genome Project 585
Sachverzeichnis
855 H–I

human leucocyte antigen (HLA, huma- – Geruchsinformation 455 Immunologie


nes Leukozytenangigen) 160, 162 – Geschmacksrepräsentation 447 – Schizophrenie 800
humanes Immun-Defekt-Virus (HIV) – Hormonvielfalt 126 – Schlafstadien 559
165 – Hungerregulation 670–673 Immunorgan 158
humorale Immunität 158–159 – Immunsystem 170, 171 Immunparalyse 165
Hunger 448, 670–674 – medialer 147, 148 Immunsuppression 165
– Orexin 558 – medialer präoptischer 686–687 – gelernte 173–175
Hungergefühl 338 – Rhythmus 539–541 – Hirnhemisphäre 171
Huntington, Chromosom 579 – Schlaf 557–558 – Kortisol 145
Huntington–Krankheit 567 – sexuelle Orientierung 690 – Stress 151–152
Hustenreflex 274, 338 – Temperaturregulationszentrum 225 Immunsystem
Hyäne 148 – Verbindungen 76–77 – Alter 173
Hybridisation, in situ 585 Hypothermie 227 – Altern 179–180
Hybridisierung 573 – induzierte 228 – Alzheimer-Erkrankung 179–180
Hydroxytryptamin 96 Hypothyreose 131 – Angst 175–176
Hyperaktivität hypothyreotischer Kropf 131 – Arbeitsweise 158–166
– Chromosom 579 Hypotonus, motorischer 289 – Depression 175–176
– frontale 793 Hypovolämie 667 – Emotion 175–176
– Immunsystem 180–181 hypovolämischer Durst 668–669 – Großshirn 170, 171
Hyperaktivitätsstörung, Biofeedback – Hirnhemisphäre 171
657–658 – Hyperaktivität 180–181
Hyperalgesie 358 – Hypothalamus 170, 171
Hyperästhesie 357
I – Katecholamin 169
Hyperglykämie 125, 126 – Krankheit 167–168, 176–177
Hyperkolumne, Sehrinde 397, 398 IAPS (International Affective Picture – Lernen 173–175
Hyperkortisolismus 736–738 System) 734 – Neurotransmitter 172–173
Hyperosmie 453 iatrogene Schmerzen 364 – Opiate 168
Hyperpathie 357, 358 iatrogene Störung 729 – Schlaf 145
Hypersensibilität 169 ICSS (intrakranielle Selbstreizung) – Schlaf-Wach-Rhythmus 171
Hypersomnien 565–567 698–701 – Schmerz 168–169
Hyperthermie 227 Idealgewicht 235 – soziale Stützung 176
Hypertonie ideographische Schrift 410 – Stress 169
– essentielle 155, 208 Ideomotorik, Vorstellung 754 – Synapse 172–173
– Phäochromozytom 108 ideomotorische Apraxie 780–781 – Zentralnervensystem 167, 170
Hyperventilation 42, 214 idiopathische Insomnie 564 Impedanzanpassung, Ohr 422
Hyperventilationstetanie 42, 214 idiotypisches Areal 88–90 Implantation, Stammzellen 96
Hypnotisierbarkeit 754 ikonisches Gedächtnis 627 implizite Informationsverarbeitung
Hypoalgesie 358 Ileum 241 496
Hypogeusie 442 Imbezillität 131 implizites Gedächtnis, Defintion 621
hypoglykämischer Schock 126 Imitation implizites Lernen, Schmerz 364
Hypokretin (Orexin) 558 – Gestik 780–781 Impotenz 680
– Rhythmus 544 – neuronale 796 imprinting 626–627
Hypophyse 143 Imitationslernen 625–626 incentive
– Körperrhythmen 146 Immunabwehr 164–166 – Dynamik 697
– Lage 77 Immunantwort, kompensatorische – Sucht 695
Hypophysen-Nebennieren-Achse Konditionierung 174–175 incentive motivation, Definition 664
150–152 Immunglobulin, Depression 176 incentive salience
– Depression 736–738 immunhistochemische Färbung 463 – Definition 665
– Furcht 729 Immunisierung – Sucht 697, 698
Hyposmie 453 – aktive 164 Incus, Ohr 422
hypothalamisch-hypophysäres System – passive 164 Indifferenztemperatur 333
127, 128 Immunkompetenz 168 Infektion 164
Hypothalamus 75–78 – Hypothalamus 170, 171 – Sport 180
– absteigende Bahn 113 – Körperrhythmus 542 Infektionskrankheit, Psyche 168
– Aggression 740, 741 Immunoglobulin 161 inferiore Parietalregion, Neglekt 522
856 Anhang

Informationsfluss, Aufmerksamkeit – Psychologie 755–756 – hemmende Wirkung 54, 55


503–504 – Spine 599 – Ionenmechanismus 53, 54
Informationsverarbeitung Intelligenztest 755–756 – langsames 54
– bottom-up 497 Intelligenztraining 460 – sympathisches Ganglion 54
– EKP 483 Intensität, Empfindung 301 – Wirkweise 54, 55
– implizite 496 Intensitätsdetektor 325, 326 – zentrale Synapse 54
– kausale 510–511 Intensitätsfunktion Iris 387, 388
– top-down 497 – neuronale 317 irritables Kolon 338
Informationsvergleich 501 – psychophysische 317 Ishihara-Farbtafel 387
infradianer Rhythmus 536 Intensitätsunterschiedsschwelle 308 Isolation, Körperrhythmus 537
Infraschall 416 Intensitätvergleich, intermodaler 317, Isophone 418, 419
Inhaltswort 768–771 318 Isotop 12
Inhibiting-Hormon 126 Intention, Hirnpotenzial 530–533
Inhibition, synaptische Interaktion, soziale 539
(7 auch Hemmung, synaptische, Interaktionismus 7
7 auch Synapse) 53 Interferon 163
J
inhibitorisches postsynaptisches Interleukine 163
Potenzial 7 IPSP intermediärer Erbgang 574–575 James-Lange-Theorie 714–717
Inkontinenz, fäkale 244 intermodaler Intensitätsvergleich 317, Jejunum 241
Inkubator 227 318 Jet-lag 546–547
inneres Milieu 18, 336 International Affective Picture System Jochkontrolle 149, 531
Inotropie, Herznervenwirkung 198 (IAPS) 734 Jod 234
Inselkortex, Hunger 671–673 Interneuron, hemmendes 305 Jodopsin 391
Insertion 580 Intersexualität 683–684 Joule, Definition 219
In-situ-Hybridisierung 463, 585 Interstitium 18, 25 Jucken, stummer Nozizeptor 351
Insomnie 563–569 intrafusale Kontraktion 272 Juckrezeptor 351
– fatale 559 intrakranielle Selbstreizung (ICSS)
Inspiration 214, 217 698–701
Inspirationsmuskel 214 intralaminarer Kern, Thalamus 78,
Instinktverhalten 665 513–514
K
instrumentelle Aggression 740 Intron 581
instrumentelle Konditionierung, LP 533 Inversion, Chromosom 580 Kaffee, Adenosin 559
instrumentelles Lernen inzidenzielles Lernen 629 Kainat 639
– autonomes 656 Ion 12, 13 Kalium, Lernen 642–644
– Schmerz 362–364 – Konzentrationsverteilung 35 Kaliumkanal 42
Insula Ionenkanal – Bau 40
– Geschmacksfeld 447 – Aufbau 40 Kallosotomie 505–511
– Schmerz 353–354 – Domäne 40 Kalorie, Definition 219
Insulin 123 – Familie 41 kalorisches Äquivalent 221
– Freisetzung 124 – Feldsensor 41 Kaltempfindung 225
– Hunger 670–673 – gating current 41 Kälteschmerz 333
– Verhalten 144 – Klasse 41 Kaltpunkt 332
Insulinresistenz – ligandengesteuerter 60 Kaltreiznutzzeit 544
– Adipositas 671 – Membrandichte 41 Kaltsensor 225, 334
– Gehirn 671 – molekularer Aufbau 40, 41 Kaltzittern 222
Integralvektor, Elektrokardiogramm – Potenzialabhängigkeit 38 Kalzium, Lernen 642–644
192, 193, 194 – Schmerz 349–350 Kalzium-Antagonist, Herzwirkung 191
Integrationszentrum, Körpertemperatur – Selektivitätsfilter 40 Kalziumbedarf 234
225 – Torstrom 41 Kalziumion
Integrin 595 – Zeitabhängigkeit 38 – Auffülleffekt am Herzen 191
Intelligenz Ionenpumpe 36, 37 – elektromechanische Kopplung 198
– Altern 610 Ionenumsatz, Aktionspotenzial 39 – Inotropiewirkung 198
– EEG-Komplexität 477 IPSP (inhibitorisches postsynaptisches – Triggereffekt am Herzen 191
– Erblichkeit 588–590 Potenzial) Kalzium-Kanal 42, 43
– Hirnprozess 477 – Ablauf 53 Kammerflimmern, Herz 194
Sachverzeichnis
857 I–K

Kampf-Flucht-Syndrom 150–151 Kernschlaf 552 Kohärenz, Oszillation 632–634


Kana 762 Kernspintomographie 486–490 Kohlendioxid
Kanalklasse 41 – Depression 735–736 – alveolarer Partialdruck 214
Kanalopathie 41 Kerntemperatur 222 – Bluttransport 215, 216
Kanalselektivität 19, 20 Ketamin 358 Kohlenhydrat
Kanji 762 Killerzelle, natürliche 159–163 – biologisches 221
Kannabis 704–706 Kilojoule (kJ) 219 – Mindestbedarf 232
Kannabisrezeptor 97 Kilokalorie 219 – Nährstoff 232
Kannaboidsystem 97 Kinetose 436 – Resorption 242
Kapazitäts-Kontrollsystem, limitiertes Kinozilium 432, 433 – Verdauung 242
498–499 Kitzelempfindung 322 Kohlenmonoxid 215
Kapillare, Filtration 185 K-Komplex 547–548 Kohlensäure, Bluttransport 215, 216
Kapillarnetz, Niere 245 Klang 417 Koinzidenzdetektor 642–643
Karbaminhämoglobin 217 klassische Genetik 572–575 Koinzidenzschaltung, PET 485
Karboanhydrase 217 klassische Konditionierung Kokain 701, 704–706
kardiovaskuläre Reagibilität 196 – Aplysia 642–644 Kokainerwartung 720
kardiovaskulärer Mechanosensor 337 – Definition 622–624 Kollaterale 23
Kariesprophylaxe 234 – Immunsystem 173, 174 – unspezifisches Aktivierungssystem
Karotissinus – Psychopathie 731 513–514
– EEG-Verlangsamung 205 – Schmerz 362–364 kollaterales Sprossen 600–601
– Inaktivitätsinduktion 205 – Sucht 695–697 Kolloid, Definition für Eiweißmolekül
– Schlafinduktion 205 Klaustrophobie 412 185
Karotissinusreflex 204 Kleine-Welt-Netzwerk 527 kolloidosmotischer Druck, Blut 185, 186
Karte, kortikale 641–642 Kleinhirn Kolon
Kaspar Hauser 572 – Gleichgewichtsbeteiligung 435 – Aufgabe 243
Kastration 148, 678, 744 – Kompartiment 281, 282 – irritables 338
katabole Stoffwechsellage 671 – motorisches Lernen 282 Kolonie-stimulierender Faktor (CSF) 164
katalanisch 760 – Struktur 91–92 Kolumne, kortikale 90, 312
Katalepsie 665–666 – Zielmotorikbeteiligung 280 Koma 518–519
Katalysator 16 klimakterische Beschwerden 139 – diabetisches 125
Kataplexie 565–566 Klinefelter-Syndrom 586 – Hirnpotenzial 772
Katastrophe, Tagesperiodik 545 Klitoris 678–679 – urämisches 249
Katastrophenreaktion 721 Klonierung 584 Kommissur
Katatonie, Motivation 665–666 Klonierungsvektoren 585 – Bewusstsein 505–511
Katecholamin 57 kluger Hans 767 – kortikale 87
– Biosynthese 57 Klüver-Bucy-Syndrom 687 – vordere 81
– Furcht 728 Kniehöcker, medialer 428 Kommissurektomie 505–511
– Immunkompetenz 173 Knochenleitung, Ohr 422 Kommunikation, Speichelnutzung 237
– Immunsystem 169, 170 Knochenmark, Immunsystem 158–159 Kommunikationslaut 430
– natürliche Killerzellen 177–178 Knock-out-Tiere 589 kompensatorische Konditionierung
– Organwirkung 108 Kochsalz 696
– Stress 151–152 – Bedarf 234, 235 – Immunantwort 174–175
Katecholaminsystem 95 – Molekülstruktur 13 kompensierte Herzinsuffizienz 188
Kation 12, 13 Kodierung, sparsame 634 Komplementsystem 159–161
– Bedarf 234 Kodominanz 575 komplexes regionales Schmerzsyndrom
Kationenkanal 61 Kodon 578 (CRPS) 105, 356
Katzenschrei-Syndrom 586 Kofaktormodell, Immunsystem 176–177 komplex-fokaler Anfall 478
Kauakt 236 kognitive Gefühlstheorie 717 Komplexität
Kauautomatismus 236 kognitive Leistung, Tagesrhythmus 545 – Bewusstsein 497–498
kaudal 72 kognitive Neurowissenschaft 3 – EEG 476
Kausalattribution 510–511, 720 kognitive Psychologie, Definition 750 Komponente, ereigniskorreliertes
kausale Informationsverarbeitung kognitive Schmerzkomonente 344–345 Hirnpotenzial 479, 481, 527–531
510–511 kognitive Therapie 739 konditionierte emotionale Reaktion
Kausalgie 105 – Schmerzen 372 (CER) 722–723
Kernresonanz, gepulste 488 kognitives Altern 609–610 konditionierter Reiz (CS) 622
858 Anhang

Konditionierung kopulatorisches Verhalten 675 – ZNS-Wirkung 133


– Abstossungsreaktion 173,174 Körnerzelle, Bulbus olfactorius 454 Kot, Bildung 243
– instrumentelle 624–625 Koronarschnitt 72 Kotransmission 58
– klassische 362–364, 622–624 Körpergleichgewicht, Kontrolle 431 Kotransmitter
– klassische zelluläre 643–644 Körperkerntemperatur 222, 225 – ATP 59
– kompensatorische 696 Körperkreislauf, Flusswiderstand 201 – autonomes Nervensystem (ANS) 108,
– Nahrungsaufnahme 673 Körperrhythmus 145, 146 109
– operante 624–625 – Immunkompetenz 542 – NMDA-Rezeptor 62
Konfabulation 651–652 Körperschalentemperatur 222, 225 – peptiderger 59, 60
Konfrontation, Sucht 707 Körperschall 416 Kraftgriff 287
Konfrontationstherapie 729–732 Körperschema 331 Kraftsinn, Unterscheidungsvermögen
Konkordanz, Erblichkeit 589 Körperstellung, Kontrolle 431 330
Konnektivität, neuronale 527 Körpertemperatur Krampf
Konnexon 22, 67 – Regulation 225 – Hyperventilationstetanie 214
Konsolidierung – Rhythmus 543–544 – Wundstarrkrampf 28
– Hippokampus 652–653 Körperzelle, Energieumsatz 219 Krankheit
– Proteinbiosynthese 647–649 korrolare Entladung 791 – Alter 608
– reverberatorische 630–632 Korsakoff-Syndrom 650–651 – Immunsystem 167–168, 175, 176–177
Konstantreizmethode 314 Kortex Krankheitsrisiko, Immunsystem 173, 175
Konstituentenstruktur, Sprache 750 – Amygdala 724, 727 Krankheitsverhalten 170
konsumatorische Reaktion 664 – auditorischer 428, 429 Kreatinin 222
Kontakt-Synaptogenese 601 – Geschmacksrepräsentation 447 Kreativität, Schlaf 561
Kontaktverbindung, Zelle 22 – Hormone 144 Krebs
Kontext – Kolumnenorganisation 312 – Alter 177, 607
– Hippokampus 653–654 – motorischer 283 – Wachstumsstörung 17
– Selbstbewusstsein 499 – primär motorischer 283, 285 Krebsinzidenz, Körperrhythmen 542
Kontextabhängigkeit, Sucht 695–696 – sekundär motorischer 285 Krebsrisiko
Kontextlernen 628–629 – somatosensorischer 311, 312 – Psyche 168
Kontiguität 793 – vestibulärer 435, 436 – psychologischer Faktor 177
Kontinenz 244 – visueller 396–399, 400 Kreislauf
Kontraktion Kortexmobilisierung 482 – Autoregulation 203
– intrafusale 272 Kortexschichten 88 – Bayliss-Effekt 202
– isometrische 260 Kortexstruktur, elektrische 472 – Bedarfsanpassung 200–205
– isotonische 260 kortikale Blindheit 401, 716–717 – Fehlregulationsrisiko 208
– langsame 261 kortikale Karte 641–642 – Flusswiderstand Körperkreislauf 201
– schnelle 261 kortikale Mobilisierung 531–533 – Flusswiderstand Lungenkreislauf 201
– tetanische 261 kortikale Reorganisation 640–642 – Gefäßwiderstandseinfluss 202
kontralateraler Neglekt 519–522, – Musik 787 – Hagen-Poiseuille-Gesetz 202
781–782 – Phantomschmerz 359–360 – Herzminutenvolumen 200
Kontrast, Aufmerksamkeit 85 kortikaler Vergleichsprozess 481 – langfristige Regulation 206, 207
Kontrastneuron 396 Kortikoliberin (CRH) 132 – mittelfristige Regulation 205, 206
Kontrastverschärfung, visuelles System kortikothalamische Rückmeldeschleifen – Modulation der Organdurchblutung
305 516–517 202
Kontrazeption, orale 136 Kortikotropin-Releasing-Hormon (RH), – Querschnittsverteilung Körper-
Kontrazeptivum, Verhalten 682 Angstfixierung 729 kreislauf 202
Kontrollattribution 531 Kortisol – Querschnittsverteilung Lungen-
kontrollierte Aufmerksamkeit 500–501 – antiallergische Wirkung 133 kreislauf 202
kontrollierte Suche, Schizophrenie 799 – antiphlogistische Wirkung 133 – Reflexanpassung 204
Kontrollverlust, Hirnpotenzial 530–531 – Immunantwort 176 – Regulation 205–209
Konvergenz, Neuronetzwerk 305 – immunologische Wirkung 133 – Risikoprävention 208
Konvergenztrias 403 – Immunsuppression 145 – Risikotherapie 208
Konzeptbildung 754 – metabolische Wirkung 132 – Strömungsgeschwindigkeit 201, 202
Kopfschmerz 155 – Sinnesschwellenänderung 133 – Volumen Körperkreislauf 200
Kopulation 676 – Wachstumshormon 145 – Volumen Lungenkreislauf 200
– Ratte 687 – Wahrnehmung 143 – Volumenregulationssystem 207
Sachverzeichnis
859 K–L

Kreislaufzentrum 114 – Proteinsynthese 647–649 Lesbismus 684–685


– Hirnstamm 204 Langzeitpotenzierung 644–647 Lesen, Signalverarbeitung 410
Kretinismus 131 – Amygdala 725 Lese-Rechtschreibstörung 778–779
Kreuztoleranz, Sucht 698 Langzeitregulation, Hunger 670 Lesestörung (Alexie) 775–778
Kreuzungsexperimente 573–575 Lappen, kortikale 88 Leukozyt 184, 159–160
Kriegserfahrung 153 Lärmmessung 419 Leukozytenantigen, humanes 160
Kriminalität, Frontalkortex 797 Lärmschaden 419 Leuzin-Enkephalin 355
kristalline Intelligenz 610 Läsionsmethoden 464–465 Lewy-Körper 606
Kropf, hypothyreotischer 131 latente Hemmung 623 lexikalische Verarbeitung 604
Kryptochrom 540 laterale Hemmung 305, 306 Leydig-Zwischenzelle 135
Kühlung, Gehirn 465 lateraler Hypothalamus, Hunger 672–673 LH (luteinisierendes Hormon) 135
Kupfer 234 lateraler Schleifenkern 428 LHRH (luteinisierendes Hormon-
Kurare 259 laterales thalamokortikales System Realeasing-Hormon) 144
– Lernen 656 352–354 Liberin 126
Kurarisierung, Gefühl 716 Lateralisierung, Geschlechtsunterschied Libet, Benjamin 312
Kurzsichtigkeit 388 759–760 Libido 676–679
Kurzzeitgedächtnis Lateralität, Hirn 756–766 Licht, Synchronisation 539, 566
– Aufmerksamkeit 499–500 Lateralsklerose, amyotrophe 518 Lichtabsorption, Messung 492
– Enkodierung 627–628 Lautheit 419 Lichtscheu, Zinkmangel 235
– Parietallappen 780 Lautstärke 418 Lichttherapie 547, 566
Kurzzeitplastizität 637 Lautstärkepegel 418, 419 – Demenz 565–566
Kurzzeitregulation, Hunger 670 Lavoisier, Antoine Laurent 212 Liftreaktion 431
Kyphose 656–658 LCCS (limited capacity control system, limbisches System
kyrogene Blockade 465 Kontrollsysteme mit limitierter – Immunsystem 170, 171
Kapazität) 499, 524–526 – Funktion 79–85
L-Dopa, Parkinson 613–614 – Geruchsinformation 455
learned distress 270 – Geschmacksrepräsentation 447
L Lebensereignis, unbewältigbares – Hormone 144–147
178–179 – Hunger 671–673
Labia majora 678 Lebenserwartung 603–605 – Schmerz 353–354
Labia minora 678 Lebensmittel, Wassergehalt 234 – Struktur 79–85
Labyrinthausfall 436 Lebensqualität, ALS 614 – visuelle Signalverarbeitung 412
Labyrinthreflex 431 Lebensspanne 603–605 limitiertes Kapazitäts-Kontrollsystem
Lähmung, schlaffe 289 Leber, Bedarfsdurchblutung 203 (LCCS) 499, 524–526
Lähmungszeit 14 Lebergalle, Aufgabe 241 Linkage, Definition 574
Lambert-Beer-Gesetz 491 Leerlaufhandlung 665 Linkshänder 762
Laminin 595 Leib-Seele-Problem 7 – Immunsystem 170
Längenkontrollsystem, Muskel 273 Leistung, kognitive 545 Linksneglekt 332
Langerhans-Insel 123 Leistungsspektrum, EEG 476 Linse, Auge 387
Langeweile 745 lemniskales System 309 Linsentransplantation 401
Langlauf, Trainingseffekt 199 Leptin 670–673 Lipase 242
Langlebigkeit 605 Leptinsensibilität 674 Lipofuszin 606
langsames Hirnpotenzial 481–483, Lernen 9 Lipolyse 132
530–533 – autonome Reaktion 656–657 Liquor cerebrospinalis 25
– Azetylcholin 636–637 – Azetylcholin 635–638 Lithium 737
– Biofeedback 658 – Barorezeptorhochdruck 205 Lobotomie, frontale 357
– Epilepsie 568 – Entwicklung 601 Lobus, kortikaler 88
– frontal 793 – Genetik 648 Locked-in-Zustand 518, 666
– Selbstregulation 533, 762–766 – Immunsystem 173–175 – Gefühl 716, 763
– Vermeidungslernen 723 – motorisches, im Kleinhirn 282 – Hirnpotenzial 772
Langzeitdepression (LDP) 67 – operantes 362–364 – Therapie 616
Langzeitgedächtnis – perzeptuelles 402 Locus coereuleus 93–95
– Aufmerksamkeit 503–504 – Schlaf 562 – Schlaf 554–557
– Definition 621 – Schmerz 361–367 Lokalanästhetikum, Wirkmechanismus
– Enkodierung 627–628 – soziales 146, 147 46
860 Anhang

Lokomotion, spinale 277 Macula utriculi 432, 433, 434 Mechanosensibilität


Lokomotionsreflex 274 Magen – psychophysische Intensitätsfunktion
longitudinaler Tubulus, Skelettmuskel – Aufgabe 238–240 328
259 – Entleerung 239 – Verteilung 322
Longitudinalwelle 416 – Fundus 238 Mechanosensor
Lordoseposition 687–689 – peristaltische Welle 239 – freie Nervenendigung 327
Low-density-Lipoprotein, Herz-Kreis- – Potenzialwelle 239 – gastrointestinales System 338
lauf-Risiko 208 – Schrittmacherpotenzial 239 – Hautposition 324
LSD, Wirkmechanismus 64 – Speicherung 238, 239 – Innervationsdichte 324
LTP (Langzeitpotenzierung) 66 – Speisenverweildauer 239 – kardiovaskulärer 337
Luftleitung, Ohr 422 – Tonus 238, 239 – Nervenfaser 324
Luftröhre 213 Magen-Darm-Trakt 236–245 – pulmonales System 337
Lügendetektor 224, 771–772 – Bedarfsdurchblutung 203 – Reiz-Antwort-Verhalten 325
Lunge – Innervation 105 – rezeptives Feld 327
– alveolarer Partialdruck 214 Magengeschwür 240 – Struktur 324
– Dehnungssensor 218 – Stress 154 – Transduktion 302
– Elastizität 213 Magensaft mediale Schleifenbahn 309
– Gasaustausch 214 – Aufgabe 239 medialer Frontalkortex, Empathie
– Pneumothorax 213 – Bestandteil 239 742–743
Lungenatmung (7 auch Atmung) – Sekretionsphase 239, 240 medialer Hypothalamus 147, 148
212–219 Magenschleim 239 medialer Kniehöcker 428
Lungenbläschen 212 Magnetfeld medialer Präfrontalkortex 525
Lungendehnungsreflex 218 – Gehirn 473–474 medialer präoptischer Hypothalamus
Lungenkapazität 213 – MRT 486–489 686–687
Lungenkreislauf 197 magnetic resonance imaging (MRI) medialer Temporalkortex 651–655
– Blutdruck 197 486–490 medialer Thalamus, Aktivierung
– Flusswiderstand 201 Magnetoenzephalogramm (MEG) 513–517
Lungenvolumen 213 473–483 mediales thalamokortikales System 354
Lungenwurzel 213 Magnetoenzephalographie, fetale 474 mediales Vorderhirnbündel (MFB)
Lupus 168 Magnetresonanzspektroskopie 490 76–77, 699–702
Lupus erythematodes, Lernen 174 Magnetresonanztomographie medio-thalamo-frontokortikales System
Lust-Unlust 5 – funktionelle (fMRT) 489–490 (MTFCS) 524–526
Lustzentrum 5 – MRT 486–490 Medroxiprogesteronsäue 148, 680
Lutealphase 136 Magnetstimulation, transkranielle (TMS) Medulla oblongata
luteinisierendes Hormon (LH) 135 466–468 – Definition 73–74
luteinisierendes Hormon-Releasing- Makromolekül, Bau 575–576 – Hunger 670–673
Hormon (LHRH) 144 Makrophage 17, 159, 169 – Kreislaufzentrum 114
luzides Träumen 561 Makulaorgan 431, 432 – Speichelsekretionskontrolle 237
lymphatisches Organ Malleus, Ohr 422 Meerrettichperoxidase (MRP) 462–463
– primäres 158 Mamillarkörper 77, 80 Meerschnecke 642–644
– sekundäres 158 Mandelkern, Aufbau 79–81 MEG (Magnetenzephalogramm) 473–483
Lymphe, Entstehung 185 Mangansperre 645–646 – Schlaganfall 617
Lymphgefäß 185 Manie 737 Mehrdeutigkeit, Thermorezeption 335,
Lymphknoten 158,160 Marihuana, Immunsystem 166 336
Lymphozyt 159–166 Markscheide 27 Meiose 582–584
– Nervensystem 172 Massenpotenzial, ENG 45 Meissner-Körperchen 324, 326, 327
Lymphsystem 159–160 Materialismus 7 Meissner-Plexus 242
Lysosom 13, 159 Materie, lebende 12 melanin concentrating hormone (MCH)
Matrix, extrazelluläre 22 671
Maximalkapazität 608 Melanopsin 540
McGill-Bildanomalien-Test 783–784 Melatonin
M Mechanoperzeption, renales System – Immunkompetenz 146
338 – Immunsystem 171
Mach-Band 379, 380 Mechanorezeption 322–328 – Jet-lag 547
Macula sacculi 432, 433, 434 – klinische Prüfung 324 – Rhythmus 544
Sachverzeichnis
861 L–M

– Schlaf 146 Mikrophonpotenzial, Ohr 426 Monozyt 159


– Therapie 547, 565 Mikroskopie 461–463 mood stabilizer 58
Memantine, Furcht 728 Mikrotom 461 Moosfaser, Hippokampus 83–84
Membran Mikrotremor, Okulomotorik 402, 403 Morbus Crohn 179
– Ladungsverteilung 35 Mikrotubulus 28 Morbus Parkinson, dopaminerger
– semipermeable 18, 19 Mikrovillus, Schmeckzelle 444 Rezeptor 64
Membranleitfähigkeit 36 Mikrozustände, Bewusstsein 512 Morgentyp 543
– Aktionspotenzial 39 Miktion 251 Morphin 705–706
Membranpotenzial – verhaltenstherapeutisches Training – Behandlung 368
– Ableitung 34 252 – Schmerz 355
– Haupttyp 34 Miktionsstörung 251, 252 Mosaikgen 581
Mendel-Experiment 573–575 Miktionszentrum, Hirnstamm 251 motivationale Bewertung, Aufmerk-
Mendel-Genetik 572–574 Milchejektionsreflex 129 samkeit 503–504
Menopause 138, 139 Milz 158, 160, 161 Motivationsverlust, Hypothalamus 666
Mensch Mimik 265 Motoaxon 51
– Grundumsatz 220 Mineralokortikoid 131, 248 Motoneuron
– Ruheumsatz 220 Mini-Mental-State-Examination (MMSE) – homonymes 271
Menstruationsblutung 136 611 – Motorikendstrecke 276
Menstruationszyklus 135, 136 Minnesota-Studie 589–590 – Schlaf 551
mentale Rotation 691 Mirror-Neuron 780–781, 796 – Synapse 51
Mentalismus 7 Mischfarbe 385 Motorik
Merkel-Zelle 325, 327 mismatch negativity (MMN) 529–530 – Adaptation 282
mesenzephales retikuläres Aktivie- – Fötus 602–603 – ballistische 281
rungssystem 512–517 – Insulin 671 – Basalganglienbeteiligung 278, 279
Mesenzephalon, Definition 76 Mitinnervation, Atemantrieb 219 – Bewegungsentwurf 267
mesokortikales System 699–702 Mitnahme, Körperrhythmus 539 – Endstrecke 276
mesolimbisches System 95, 673, Mitnahmebereich, Rhythmus 537 – funktionelle Organisation 265–266
699–702 Mitochondrium 13, 16 – Haltetonus 271
Messfühler, Körperrhythmus 538–539 Mitose 582–584 – Handlungsantrieb 267
metabotroper Glutamatrezeptor 351 Mitralzelle 454 – Hierarchieskala 265, 266
metabotrope Rezeptoren Mittelhirnhaube 515 – höhere 267
– Adrenalin 64 Mittelungstechnik 478–479 – Kleinhirnrolle 280
– ATP 64 Mobilisierung 530–533 – Pathophysiologie 289–292
– Dopamin 64 – Kortex 482 – Schlaf 548, 551
– GABAB 64 – kortikale 531–533 – Sensorikverknüpfung 267
– Glutamat 64 Modalität, Definition 300 – Spinalmotorik 266, 267
– Noradrenalin 64 Modelllernen 625–626 – split brain 509
– Serotonin (5-HT) 64 Module, kortikale 90, 475 – Stützmotorik 266, 278
Metaphase 583 Modularität, Hirnfunktion 512 – Wahrnehmungsbeteiligung 313
Metenzephalon, Definition 73, 76 Molekül 12, 13 – Zielmotorik 266, 278
Methionin-Enkephalin 355 – Lernen 643–646 motorische Efferenz 27
Methyphenidat 658 Molekularbiologie, Ionenkanal 40 motorische Einheit 263
Mg-Sperre 645–646 molekulare Genetik 575–582 motorische Planung 78
MHC (major histocompatibility complex) molekulare Uhr 541–543 motorische Reorganisation 360
162 molekularer Mechanismus, Sucht motorischer Schmerz 345
Migräne, Therapie 371 703–704 motorisches Lernen 286
Migränemittel, Wirkmechanismus 64 molekulares Lernen 642–646 Motorkortex 281, 283
Migration Mongoloid 586–587 – Aufgabe 285
– Immunsystem 164 Monoamin 57 – Kartendarstellung 284
– Zelle 596 – ZNS 94 – Somatotopie 285
Mikrobewegung, Gefühl 714–715 Monoaminoxidase (MAO) 57 Mozart-Effekt 785
Mikrodialyse 463–464 Monoaminoxidaseinhibitor (MAOI) 738 MPTP (1-Methyl-4-phenyl-1,2,3,6-
Mikroelektrode 34 monohybride Kreuzung 573 tetrahyropyridin) 96
Mikroneurographie, transkutane 300, monoklonaler Antikörper 463 MRI (magnetic resonance imaging)
325, 328 Monoschromasie 386, 387 486–490
862 Anhang

mRNA 581 – Längenkontrollsystem 273 Myosinkopf 257


MRP (Meerrettichperoxidase) 462–463 – longitudinaler Tubulus 259 Myotonie, Kanalopathie 41
MRT (Magnetresonanztomographie) – motorische Einheit 263 Myxödem 131
486–490 – Myofibrille 257
Müdigkeit – Organgewicht 256
– exzessive 565–567 – Parallelelastizität 260
– Orexin 544 – Rekrutierung 263
N
multimodaler Nozizeptor 348 – Sarkomer 257
Multimorbidität 603, 608 – Spannungskontrollsystem 273 Nabelschnur 137
multiples Allel 575 – Stoffwechsel 262, 263 Nachbild 379
multiples Homöostasemodell 664 – Terminalzisterne 259 Nachpotenzial 37
multisensorische Interaktion 499–501 – tetanische Kontraktion 261 Nachtarbeit 546
multisensorischer Vergleich 519–520 – Tetanisierung 263 Nachtblindheit 392
Mund-zu-Mund-Beatmung 14 – Tetanus 261, 262 Nachttyp 544
Mu-Rhythmus – Titinmolekül 260 Nacken-EMG 547–550
– Definition 469 – Tonus 263 Nadir 536
– Entstehung 516–517 – Tonusregistrierung 265 Nah-Infrarot-Spektroskopie (NIRS)
– Schlaganfall 617 – transversaler Tubulus 259 491–492
Musculus dilatator pupillae 388 – Verkürzungsgeschwindigkeit 262 Nährstoff 232, 233
Musculus sphincter ani 244 Muskelerkrankung, Elektromyogramm – Brennwert 232
Musculus sphincter pupillae 388 264 – Energieäquivalent 221
Musik Muskelhemmung, Schlaf 548–549, 551 – Mangelerscheinung 232
– Dystonie 641–642 Muskelkrampf, Strychninvergiftung 63 – Mindestbedarf 232
– Gehirn 785–788 Muskelmechanik 260–263 – Überdosierung 232
– Hirndynamik 787 Muskelsensor, Tiefensensibilität 330 Nahrungsaufnahme
musikalische Begabung 691 Muskelspannung, Schmerz 361–362 – Altern 607
Musiker, Gehirn 785–788 Muskelspindel 268–270 – Konditionierung 673
Musikwahrnehmung 430 – Aktivierung 271 – Orexin 544
Muskel – Aktivierungsweg 269 – Regulation 670
– Aktionspotenzial 259 – Bau 268 – Schlaf 560
– Aufbau 256 – Funktion 269 Nahrungsmittel 232–236
– Bewegungsfunktion 261 – Gamma-Spindel-Schleife 272 – Energiegehalt 221
– Deafferenzierungsfolge 270 – Innervation 268 Na-K-Pumpe 20
– Einzelzuckung 261 – intrafusale Muskelfaser 269 Naloxon 355
– elektromechanische Kopplung 258, Muskeltonus – Stress-Analgesie 364
259 – geistige Arbeit 221 Narkolepsie 565–566
– Elektromyogramm (EMG) 264 – Schlaf 555 Narkose 354
– Endplatte 258, 259 Muskelzittern, Wärmebildung 226 Natrium
– Energiequelle 262 Muskulatur, Bedarfsdurchblutung 203 – Lernen 644–646
– Energieumsatz 262, 263 Musterextraktion 498, 524 – Tubulusresorption 248
– Epimysium 256 Mustervervollständigung 629 Natrium-Kalium-ATPase-Pumpe 20
– Faszikel 256 Mutation 579–580 Natriumkanal, schneller 41
– Feinbau 256 Mutismus, akinetischer 522 Natriumresorption, Durst 667
– Gleitfilamenttheorie 257 Mutterkuchen 137 Natriurese 248
– Haltefunktion 261, 263 Mydriasis 388 natriuretisches Peptid 669
– homonymer 51 Myelenzephalon 76 natürliche Killerzelle (NK) 159–163
– intrafusale Muskelfaser 269 Myelin 26 – Katecholamin 177–178
– Kater 262 Myelinisierung 598–599 – Stress 177–178
– Kontraktionsform 260 Myelinscheide 24 Naturvolk, Halsmassagetherapie 205
– Kontraktionsgeschwindigkeit 261 Myelogenese 596 Nebennierenmark (NNM) 106, 107, 108
– Kontraktionsmechanismus 256–260 Myofibrille, Skelettmuskel 257 Nebennierenrinde (NNR) 131
– Kraftabstufung 263 Myokard 186 – Fehlfunktion 134
– Kraftentwicklung 262 – Aktionspotenzialablauf 190 Nebennierenrindenhormon 131
– Krampf 262 Myoklonus, Schlaf 548–549, 551 negative Feedback-Hemmung 313
– Längenkontrolle 271 Myopie 388, 389 negative Rückkopplung 305
Sachverzeichnis
863 M–N

Negativierung, Hirnpotenzial 472, Nervus statoacusticus 428 – exspiratorisches 217


482–483 Nervus trigeminus (V) 310, 351, 447, 453 – Formenvielfalt 24
Negativität, Hirnpotenzial 530–533 Nervus vagus (X) 29, 30, 103, 218, 336, – Hell-Dunkel-Neuron 396
Negativsymptomatik 800 447, 453 – inspiratorisches 217
Neglekt 502, 519–522 Nervus vestibularis 432 – Kontrastneuron 396
– kontralateraler 781–782 Nervus vestibulocochleares (VIII) 432 – Kortex 87
Neigung, sexuelle 579 Netrin 596 – Netzhaut 393
Neokortex 87–91 Netzhaut 390–395 – postganglionäres 102
– Aktivierung 513–517 – Aufbau 390, 391 – präganglionäres 102
– orbitofrontaler 455 – Farbreizverarbeitung 394 – Schlaf 554–557
neonatale Umstellung 137 – Fovea centralis 391 – serotonerges 58
Neozerebellum 92 – Ganglienzelle 390, 391, 393 – Soma 23
Nephron 245 – gelber Fleck 391 – Spiegelneuron 289, 407
Nerv – Informationsverarbeitung 390 – Zahl 75
– Definition 26 – Neuronentyp 393 neuronale Plastizität
– Hirnnerv 29, 30 – rezeptives Feld 393 – assoziative 629–630
– Karotissinusnerv 204 – Riesenganglienzelle 394, 395 – Schmerz 358–360
– Klassifikation 28, 29 – Sehschärfenverteilung 391 neuronale Synchronizität 526–528
– peripherer 28, 29 – Signalverarbeitung 393–395 neuronales Zellensemble 9, 470–471
– Vagusnerv 204 – Stäbchen 390, 391 Neuronetzwerk, Erregungsausbreitung
nerve growth factor (NGF) 598 – Zapfen 390, 391 305
Nervenaxon 26 Neue-Welt-Netzwerke 527 Neuropathie, diabetische 244
Nervenendigung, freie 348 Neugeborenes, Thermoregulation 227 Neuropeptid 144
Nervenfaser Neuheit 497–498 – Entzündungsschmerz 358
– autonome 103 – Habituation 504 – Hunger 671–673
– Bau 26, 27 Neukartierung, Phantomschmerz – Kotransmitter im autonomen Nerven-
– Erregungsfortleitung 43, 44 359–360 system 109
– Innenohr 424 Neuralgie 355–356 – Schmerz 349–350
– Klassifikation 27 neuralgischer Schmerz 355–356 Neuropeptid Y 144, 670–673
– Länge 75 Neuroadaptation 703 Neuropharmakologie, Furcht 728–729
– Leitungsgeschwindigkeit 27 Neuroästhetik, visuelle 385 Neurophysiologie, Hirnpotenzial 472,
– markhaltige 26, 27 Neuroblaste 595 482–483
– marklose 26, 27 Neurochemie 6 Neuroplastizität, Schmerz 358–367
– Mechanosensor 324 neurodegenerative Erkrankung 611–617 Neuroprothese 616
– sudomotorische 223 Neurofeedback 656–658, 762–766 Neuropsychologie 3
Nervensystem Neurofribrille 612 – Definition 460, 750
– autonomes (7 auch autonomes neurogene Entzündung 349 neuropsychologische Rehabilitation
Nervensystem) 102–115 Neurogenese 596 614–617
– Lymphozyt 172 Neurogliazelle 24 neuropsychologische Testbatterien
– vegetatives 7 autonomes Nerven- Neurohormon 119 365
system – Hypothalamus 126 Neurose, experimentelle 723
– Zytokin 170 Neurohypophyse 127 Neurotensin 144
Nervenwachstumsfaktor (NGF) 598 Neuroleptikum 801–802 Neurotransmitter 56, 57
Nervenzelle 7 Neuron – Anhedonie 701 – Immunsystem 172–173
Nervenzellmembran, Ladungs- Neuromodulation – Schmerzsystem 352–353
verteilung 35 – nicht-peptiderge 59 – zentraler 92–97
Nervi I–XII 29, 30 – peptiderger Kotransmitter 59 Neurotrophin 598
Nervus acusticus 432 Neuromodulator 58, 59 Neutron 12
– Schallkodierung 427, 428 – Adenosin 59 Nexus 22, 67, 68
Nervus cochlearis 428 neuromuskuläre Endplatte 23, 258, 259 NGF (nerve growth factor) 598
Nervus facialis (VII) 442, 444 neuromuskuläre Synapse 56 nicaraguan sign language 752
Nervus glossopharyngeus (IX) 447, 453 Neuron nichthomöostatischer Trieb 662
Nervus olfactorius (I) 454 – Axon 23 nicht-lineare Dynamik, immunologisch
Nervus opticus 395 – Bau 23, 24 167
Nervus splanchnicus 336 – Dendrit 23 Niederlage 149
864 Anhang

Niere 245–253 – Furcht 728 Nucleus praeopticus 137, 138


– ableitender Harnweg 251 – Lernen 636–638 Nucleus principalis 310
– Autoregulation 245 – metabotrope Rezeptorfamilie 64 Nucleus raphe, Schlaf 554–557
– Bedarfsdurchblutung 203 – NNM-Produktion 107 Nucleus reticularis thalami 513–517
– Durchblutung 245 – Schlaf 554–556 Nucleus ruber 284
– Durchblutungsautoregulation 203 – Stress 151–152 Nucleus spinalis nervi trigemini 310
– Feinbau 245 Noradrenalinsystem 93, 95 Nucleus subthalamicus (STN) 79
– Form 245 Normalgewicht 235 – Parkinson 86, 614
– Glomerulus 245 Notfallsituation, NNM-Reaktion 107 Nucleus suprachiasmaticus (SCN) 146,
– Hauptaufgabe 245 Novocain 46 539–543
– Kapillarnetz 245 Noxe 342, 347, 350 – Anatomie 539–541
– künstliche 250 Nozizeption 342 – Homosexualität 689
– Lage 245 – postsynaptische Hemmung 352–354 Nucleus tractus solitarius 446
– Transplantation 250, 251 – renales System 339 – Durst 668–669
– Volumenregulationssystem 207 – Thalamus 352–354 – Hunger 670–673
Niereninsuffizienz 249–251 – Viszerorezeption 338 Nucleus ventralis posteromedialis
Nierenkolik 339 nozizeptive Afferenz 355–357 447
Nierenversagen Nozizeptor 347–351 Nuklearunfall 536, 546
– akutes 249 – Entzündung 349 Nukleinsäure 14, 15, 576–582
– chronisches 249 – Gelenknozizeptor 330 – Lernen 648–649
– Diabetesfolge 125 – Molekularbiologie 349–350 Nukleotid 15, 576
Nifedipin 191 – multimodaler 348 Nuklid 12
nigrostriatales System 95 – polymodaler 348 Nutritionsreflex 274
Nikotin 259, 704–706 – pulmonales System 338 Nystagmogramm 403, 436
– Dopamin 706 – schlafender 349 Nystagmus 403–405, 431
– psychophysische Wirkung 61 – Sensibilisierung 349 – Drehnystagmus 405
Nissl-Färbung 461 – Struktur 347–348 – Eisenbahnnystagmus 403
NK (natürliche Killerzellen) 159–163 – stummer 349 – kalorischer 436
NK-1-Rezeptor 365 – Transduktion 350 – optokinetischer 403
NMDA (N-methyl-D-Aspartat), Lernen – viszeraler 105 – pathologischer 436
639, 645 Nozizeptorterminale 350 – Schwerelosigkeit 436
NMDA-Kanal 66 N400-Potenzial 771–772 – Spontannystagmus 405
NMDA-Rezeptor NSAID (nonstereoidal antiinflammatory – vestibulärer 403, 405
– Bicucullinwirkung 62 drugs) 367
– Blockade durch Mg++ 61 NTS (Nucleus tractus solitarius), Durst
– Daueraktivierung 62 668–673
– Exzitotoxizität 62 Nucleus accessorius 428
O
– Furcht 728 Nucleus accumbens 699–702
– Schmerz 351, 352, 358 – Geschmack 673 Oberfächenschmerz 342–343
NMDA-Rezeptorkanal 62 – Lage 85–86 Obesitas 674
N-methyl-D-Aspartat (NMDA), Lernen – Verstärkung 699–702 – Genetik 585
639, 645 Nucleus anterior, Thalamus 78 Objektagnosie, visuelle 331
NNR (Nebennierenrinde) 131 Nucleus arcuatus 671–673 Objektbindung 529
NO (Stickoxid) 59, 66, 67, 543, 645–646 Nucleus basalis 86–87 Objekterkennung, visuelle 407
Nodulus 281 Nucleus coeruleus, Schlaf 554–557 Objektlokalisaton, visuelle 407
Non-NMDA-Rezeptor 61 Nucleus cuneatus 309 Ödem 20
Non-REM-Schlaf 547–550 Nucleus dentatus 92 – Eiweissmangelödem 186
nonstereoidal antiinflammatory drugs Nucleus gracilis 309 – Nierenversagen 249
(NSAID) 367 Nucleus habenulae 77 Off-Zentrum-Feld 307
Noradrenalin Nucleus lentiformis 85 Off-Zentrum-Neuron 393
– ADHD 181 Nucleus magnus raphe 352, 354–355 Ohr (7 auch Hören) 422–426
– Aktivierung 514–515 Nucleus parabrachialis (PB) 672 – Amboss 422
– autonomer Transmitter 109 Nucleus paragigantocellularis 355 – äußeres 422
– Biosynthese 57 Nucleus pontis caudalis 555–556, – Cochlea 424
– Depression 737–739 726–727 – Corti-Organ 424
Sachverzeichnis
865 N–P

– Gehörknöchelchenkette 422 Operationsstress 178 Ösophagussphinkter 238


– Hammer 422 Operator 754–755 Osteoporose 139
– Impedanzanpassung 422 Opiat Östradiol 146, 148
– Incus 42 – Behandlung 368 – Gehirn 686
– Knochenleitung 422 – endogenes 363–364 – Regulation 134, 135
– Luftleitung 422 – endogenes, Schmerz 352, 354–355, Östrogen 134
– Malleus 422 357 – Sexualität 689
– Mikrophonpotenzial 426 – Immunsystem 168 – Verhalten 681–682
– Mittelohr 422 – Tumorwachstum 178 Oszillation
– Nervenfaser 424 Opiatanalgesie 355 – Gehirn 468–471
– otoakustische Emission 426 Opioid – neuronale 631–634
– ovales Fenster 424 – endogenes 144, 147 – Sprache 769
– Paukenhöhle 422 – Immunsystem 171 Oszillationsperiode 536
– Reissner-Membran 424 – Stress 154 Oszillator
– Skalen 424 Opioidsystem 699–702 – endogener 536–543
– Schallaufnahme 423 Opsonierung 161 – neuronaler 470–471, 526–527
– Schalltransduktion 424–426 Optionalschlaf 552 – sekundärer 538
– SOAE (spontane akustische optische Bildgebung 491–492 otoakustische Emission 426
Emissionen) 426 optischer Sinn, split brain 509–510 Otolith 432
– Stapes 422 orbitaler Präfrontalkortex 525 Otolithenmembran 432
– Steigbügel 422 Orbitalkortex, posteriorer 652 ovales Fenster 424
– Stereozilie 424, 425 Orbitofrontalkortex Ovulation 136
– Summenaktionspotenzial 426 – Aggression 742–743 Ovulationsphase 135, 136
– Tektorialmembran 424 – Gefühl 719 oxidativer Stress 606–607
– TEOAE (transitorisch evozierte – Kriminalität 797 Oxyhämoglobin 215
otoakustische Emissionen) 426 – Zwangsstörung 732 – MRT 489
– tip link 424 Orexin (Hypokretin) Oxytozin 127, 128, 144
– Trommelfell 422 – Hunger 558, 672–673 – Durst 667
– Tuba Eustachii 422 – Hypothalamus 673 – neonatale Umstellung 137
– Wanderwelle 424, 425, 426 – Rhythmus 544 – soziale Bindung 146, 147
Ohrspeicheldrüse 237 Organ, Aufbau 22
Oktave 418 Organdurchblutung 202
Okulomotorik 402–406 – Autoregulation 203
– Augenfolgebewegung 403 – Bedarfsabstimmung 203
P
– Augenmuskel 402 Organelle 13
– Konvergenztrias 403 Organfunktion, Alter 608 Pacini-Körperchen 326, 327, 337
– Mikrotremor 402, 403 Organreserve 607 Palaeokortex 454, 782
– Reafferenzprinzip 405 Organspendermangel 250 Pallidum 85–86, 525–526
– Sakkade 403 Organtransplantation 165–166 Panikstörung 731–732
– Steuerung 405, 406 Orgasmus, Frau 679 Pankreas
– Vergenzbewegung 403 Orgasmusphase 676 – exokriner 240, 241
– zentralnervöse Kontrolle 405, 406 Orientierung 781 – Sekretionsphase 241
Oligodendroglia 24 – sexuelle 682–685 – Sekretzusammensetzung 241
Oligosaccharidase 242 Orientierungsreaktion 504 Pankreashormon 123–126
Olivenkomplex 428 Orientierungssäule 397 Papez-Kreis 79
Ontogenie, Schlaf 553 – visuelle 400, 491 paradoxer Schlaf 549
On-Zentrum-Feld 307 Orlistat 674 parahippokampaler Gyrus 653–655
On-Zentrum-Neuron 393 örtliche Betäubung 368–369 parahippokampaler Kortex 83
operante Konditionierung, Seh- Ortsunterschiedsschwelle 308 parakrines Herz, Neurachse 685–686
schwellenbestimmung 315 Ortszelle, Hippokampus 85, 653 paralimbische Struktur, Schlaf 557
operante Schmerztherapie 371 Osmolalität, Definition 667–668 paralimbisches Areal 88, 90
operante Strategie, Alter 610 Osmose 19 Paralyse 289
operantes Lernen osmotischer Druck 19 paranoide Störung 797
– Reflexhierarchie 666 osmotischer Durst 668–669 Paraphilie 680
– Schmerz 362–363, 364 Ösophagus 237 Parapsychologie 300
866 Anhang

Parasympathikus (7 auch autonomes – Aggression 741 Phosphodiesterase 5 (PDE5) 677


Nervensystem) 102–105 Perilymphe 432 Phospholipid 15, 17
– Antagonismus und Synergismus 105, Perimeter 377 Phosphorylierung 21, 22
106 Perimetrie 376, 377 – Langzeitgedächtnis 647–649
– Herzinnervation 199 perinataler Rhythmus 539 – Lernen 643–647
– Sexualität 676–679 Period (Per) 542 Photophobie, Zinkmangel 235
– Zielorgan 104 Periode, endogene 536–538 Phototransduktion 393
paraterminales Sprossen 601 Periodikstörung, zirkadiane 545 Phrasenstruktur, Sprache 750
paraventikulärer Kern 146 peripheres Nervensystem, Definition 76 Phrenologie 8
Parese 289 perirhinaler Kortex 83, 654 Phylogenese, visuelle Hirnregion 407
– Schlaganfall 616–617 Peristaltik, Magen 239 physikalische Therapie, Schmerz 369
Parietalkortex perisylvische Region 768–770 physiologische Psychologie 2, 3, 4
– Bewusstsein 518–522 Peroxidase 463 – Definition 460
– Emotion 717 Perpetuum mobile 219 Physiotherapie 594
– Funktion 779–782 Persönlichkeit, Immunsystem 176 Pia mater 73
Parietallappen, visuelles Areal 406, 407 perzeptuelles Lernen 402 Pickwick-Syndrom 567
Parietalregion PET (Positronenemissionstomographie) Picrotoxin, synaptischer Wirkmecha-
– inferiore 522 483–486 nismus 62
– Stuhldrang 244 – Hirnpotenzial 529 Pilzpapille 443
Parkinson – Kamera 486 pineal gland 146
– Anatomie 86 – Schlaf 551–552 PINV (postimperative negative variation)
– Heroin 96 Petit-mal-Anfall 478 481
– Implantation 96 PGO (ponto-genikulo-okzipitale Placebo, Körperrhythmus 544
– STN (Nucleus subthalamicus) 79 Aktivität) 550–551, 554–558 Placebo-Effekt 690
– Therapie 613–614 Phagozytose 159–160 Planum temporale
Parkinson-Erkrankung 613–614 Phänotyp 573 – Begabung 690–691
Parosmie 453 Phantasosmie 453 – Musik 786–787
Partialdruck, alveolarer 214 Phantomempfindung 331, 332 Planung
Partnereffekt, Schmerz 365 Phantomschmerz 332, 359–360 – motorische 78
Partnerinteraktion, Schmerz 365 – Behandlung 360 – Präfrontalkortex 790–797
Partnerschaft, Oxytozin 147 – Reorganisation 642 Plaque, seniler 612
Pascal (Pa) 416 Phäochromozytom 108 Plasmaextravasation 349
passive Immunisierung 164 pharmakologische Behandlung, Plasmamembran 13
passives Vermeiden, Psychopathie Schmerz 367–368 – aktiver Transport 20
745–746 Phasenbeschleunigung, Körperrhythmus – Eiweißbaustein 17
patch clamp 38 541 – Stoffaustausch 17–21
Patellarsehnenreflex 272 Phasenenkodierung, MRT 488 Plasmid 584
Pathophysiologie Phasenverschiebung Plastizität
– Schmerz 355–360 – Nachtarbeit 546 – Entwicklung 597–602
– Stress 155 – Rhythmus 536 – kompensatorische neuronale 400
Paukenhöhle 422 Phenylalaninhydroxylase 587 – neuronale 358–360, 610–611,
Pavor nocturnus 566 Phenylketonurie 587 629–632
Pawlow 273 – Gen 579 – Raumschwelle 324
Pawlowsche Konditionierung 621–624 Phenzyklidin 704–706 – rezeptives Feld 307
PD-Rezeptor 326 Pheromon 682 Plateau, Herzaktionspotenzial 191
PD-Sensor 326 Pheromonkommunikation 449 Plateauphase, sexuelle Reaktion 676
Peniserektion, Schlaf 549 Phineas Gage 750, 789 Plazenta 137
Pepsin 243 Phi-Phänomen 380, 406 Plazentaschranke 137
Pepsinogen 239 Phobie 730–731 pleasure centers 698
Peptid, neuroaktives 58 Phonem 750 Pleiotropie 575
Peptidase 243 Phonologie 750 Pleuralspalt 213
Peptidhormon 121 phonologische Störung 778 Plexus chorioideus 73
Perfusion, alveolare Kapillare 215 Phonskala 418, 419 Plexus myentericus 242
Per-Gen 542 Phosphat, Nukleinsäure 576 Plexus submucosus 242
periaquäduktales Grau 352, 354 Phosphen 523 Pneumotachograph 213
Sachverzeichnis
867 P

Pneumothorax 213 Potenzialentstehung 471–472 Progenitorzelle 595


Poliomyelitis 289 Potenzierung Progerie 608–609
Polydipsie 667 – Langzeitpotenzierung (LTP) 66 Projektionsareal, primäres 527
– Zuckerkrankheit 125 – posttetanische 65, 66, 366 projizierter Schmerz 355
polygene Vererbung 575, 587–590 – Schreckreflex 725–728 Prolactin-Inhibiting-Hormon (PIH)
polymodaler Kortex 88–90 – tetanische 65, 66 129
polymodaler Nozizeptor 348 präattentives Gedächtnis 503 Prolaktin 128, 144
Polymorphismus 579, 586 präattentives Hirnpotenzial 528 Prolaktostatin 129
Polyneuropathie, diabetische 125 Präfrontalkortex Proliferatonsstadium 136
Polypeptid, Entstehung 582 – Aggression 742 Promiskuität 691
Polyploidie 580 – Amygdala 725 Prophase 583–584
Polysaccharid 14, 575–576 – Anatomie 788–790 Proportionalrezeptor 326
Polyurie, Zuckerkrankheit 125 – dorsolateraler (DPFC) 522, 524, 552, Proposition 751, 753
Pons 557 Propriozeptor 301, 329
– Brückenhirn 73, 76 – Funktion 788–797 Prosodie 721, 774
– Schlaf 556 – Gedächtnis 655 – split brain 507
pontiner retikulärer Kern 726–727 – orbitaler 525 Prosopagnosie 91, 781
pontines cholinerges System 554–556 – Parkinson 613 Prostaglandin 59, 350, 367
ponto-genikulo-okzipitale Aktivität – Schmerz 354 – Entzündung 349
(PGO) 550–551, 554–558 – Sozialverhalten 794–797 Protanomalie 386
Pontozerebellum 281 Präfrontalregion, Intelligenz 589–590 Protein 14
Pore, Plasmamembran 18, 19 Prägung 599, 626–627 – Bau 576
Porus, Geschmacksknospe 443 Präkognition 300 – Baustein 15
Positivierung präoptische Region, Hypothalamus – Nährstoff 233
– Hirnpotenzial, 472, 482–483 558, 686–689 Protein-Gen-Rhythmus 542–543
– Sprache 771–772 präresorptive Durststillung 669 Proteinhormon 121
Positivität, Hirnpotenzial 530–533 präsynaptische Endigung 50, 51 Proteinkinase
Positivsymptomatik 800 präsynaptische Hemmung 55, 56 – Lernen 643–646
Positronenemissionstomographie – Ablauf 55 – Sucht 703
7 PET – funktionelle Bedeutung 56 Proteinkinase A (PKA) 21
postimperative Negativierung (PINV) – Schmerzbahn 352 Proteinsynthese
481, 531 – Wirkort 55 – Langzeitgedächtnis 647–649
postinhibitorische Entladung 476 – Wirkweise 56 – Schlaf 562
Postmenopause 138, 139 präsynaptischer Autorezeptor 60 Proteinturnover 606
postprandiale Müdigkeit 544 Präzession 486–487 Prothese, Schlaganfall 617
postsynaptische Hemmung, Nozizeption Präzisionsgriff 287 Proton 12, 486–488
353 precommitment 626 Protoonkogen, Rhythmen 543
postsynaptischer Rezeptor 60–63 prepared Lernen 450 Protoplasma 13, 14
– Agonist 60 prepared Reiz 622, 624 Prototyp, kognitiver 753, 754
– Antagonist 60 Presbyakusis 420 Protozoe 603
– Pharmakawirkung 60 Presbyopie 390 Provitamin 233
postsynaptisches Potenzial, EEG 475 Presenilin 612 prozedurales Gedächtnis, Definition
posttetanische Depression 67 Pressorezeptor 204 621–622
posttetanische Potenzierung 65, 66 Pressosensor 204 Prüfungsangst 505
– Schmerz 366 primäre Homosexualität 683–684 Prüfungsstress, Immunsystem 175
post-traumatic stress disorder (PTSD) primäres kortikales Areal 91 Pruning, synaptisches 598–602
7 posttraumatische Belastungs- Primärgeruch 447 pseudo-chromatische Tafel 387
störung Primärharn, Ultrafiltration 246 Pseudoinsomnie 564
posttraumatische Belastungsstörung Priming 621–622 Pseudopsychopathie 797
(PTSD) 152, 153, 723, 649, 729–730 – Emotion 754 Psyche 2
posturale Synergie 278 principal component analysis (PCA) Psychoakustik (7 auch Hören) 417–420
Potenzialabhängigkeit, Ionenkanal 38 479–480 Psychoanalyse, Schlaf 562
Potenzfunktion Problemlösen 754–755 Psychobiologie 2
– Reizabbildung 308 – Frontalkortex 788 Psychochirurgie, Aggression 744
– Sensor 304, 305 – Schlaf 561–562 psychogener Schmerz 361, 363
868 Anhang

psychologische Schmerztherapie Pyramidenzelle – Thermorezeption 332


370–372 – EEG-Entstehung 472 Rautenhirn 76
psychologische Therapie, Sucht 707 – Hirnpotenzial 472, 482–483 Raven-Test 755–756
psychologischer Faktor, Krebs 177 – Kortex 87–89 Raynaud, Maurice 113
Psychoneuroendokrinologie 142 Pyrogen, exogenes 227 Raynaud-Erkrankung 113
Psychoneuroimmunologie, Definition Reafferenzprinzip, Okulomotorik 405
167 Reaktionsdisposition, Gefühl 725
Psychopathie (7 auch antisoziales Reaktionsfragmentlängenpoly-
Verhalten) 731, 745–747
Q morphismus 586
– Behandlung 746–747 Reaktionsgen
– Diagnose 224 Qualia 7 – frühes 543
– fMRT 731 Qualität, Definition 300, 301 – Körperrhythmus 543
– Schreckreflex 726–727 Quantität, Definition 301 Reaktionsnorm 584
Psychopathologie, Neurotransmitter 93 quartäre Ammoniumbase 109 Reaktionsproposition 753
Psychopharmakologie 5 Quecksilber, Blutdruckmessung 195 Reaktionsstereotypie 361–363
Psychopharmakon 93 Quelle, elektrische 472 Reaktionszeit, Körperrhytmus 545
– Angriffspunkt 58 Querdisparation 380 Reaktionszyklus, sexueller 675–676
Psychophysik 300 Querfortsatz, Sarkomer 257 reaktive Aggression 740
– Hirn-Bewusstseins-Problem 299 Querschnittslähmung 112, 277, 289 reaktive Sauerstoffverbindung (ROS)
– Schmerz 346–347 – Gefühl 716 606–607
Psychophysiologie 3 – Reflexblase 252 Reanimation 14
– Atmung 214 – Sexualität 677 Rebound, Schlafmittel 564–565
– Depression 734–735 Querschnittsläsion, Schmerz 359 Receptaculum seminis 679
– Elektromyogramm 264 Rechengeschwindigkeit 545
– Furchtlernen 723 Rechenkünstler 795
– Psychopathie 745–747 Re-entry, Bewusstsein 497, 512, 523
– Schlaf 223
R Reflex
– Schmerz 361–372 – Achillessehnenreflex 272
psychophysiologische Behandlung, Radiatio optica 395 – angeborener 265
Epilepsie 568 radioaktive Messung 483–485 – Atemreflex 218
psychophysische Belastung, Herz-Kreis- Radiofrequenz, MRT 486–488 – autonomer 111, 112
lauf-Risiko 208 Radioimmunoessay (RAI), Hormon- – Babinski-Reflex 275
psychophysische Intensitätsfunktion, nachweis 121 – Bahnung 274
Mechanosensibilität 328 rain man 795 – Barorezeptorreflex 204
Psychosomatik 151–152, 154 Ramsey-Hunt-Syndrom 442 – Bizepssehnenreflex 272
psychosomatische Krankheit 178–179 Ranvier-Schnürring 27 – Definition 265
psychosomatische Störung 152, 154 – saltatorische Erregungsleitung 45 – Dehnungsreflex 271
Ptosis, Horner-Syndrom 104 Raphekerne – disynaptischer 270, 271
Pubertät – Schmerz 352, 354–355 – Eigenreflex 271
– männliche 138 – Schlaf 554–557 – elektromyographische Analyse 274
– weibliche 138 rapid eye movement (REM), Definition – erlernter 265
Pudendusnerv 677 547–548 – Extensorreflex 275
pulmonaler Gasaustausch 214, 215 rapid smoking 707 – Flexorreflex 275
Pulswelle 195, 337 Rauchen 705–706 – Fremdreflex 274
Pulswellengeschwindigkeit 195 – Telomer 607 – Fußsohlenreflex 275
Pulvinar 518–519 Raum – Ganzkörperreflex 276
Pumpe, aktiver Transport 21 – extrapersonaler 407, 408 – gustofazialer 442
Punktmutation 580 – soziale Bedeutung 412 – hemmender 273
Punnett-Quadrat 573–574 Raumbeziehung, Hippokampus 84 – Hering-Breuer-Reflex 218
Pupille 388 räumliche Agnosie 332 – Hustenreflex 274, 338
Putamen 81 räumliches Denken 759–761 – intestinointestinaler 112
– Aufbau 85–86 Räumlichkeit, Empfindung 301 – Karotissinusreflex 204
P2X-Rezeptor 61 Raumschwelle – klinische Bedeutung 272
Pyramidenbahn 283, 284 – Plastizität 324 – konditionierter 273
– Handgeschicklichkeit 287, 288 – Tastsinn 323 – kutiviszeraler 112
Sachverzeichnis
869 P–R

– Labyrinthreflex 431 – visuelle 401, 402 Ressourcen-Bereitstellung 531–533


– Liftreaktion 431 Reifung, Schlaf 553–554 Ressourcenkonkurrenz 498
– Lokomotionsreflex 274 Reissner-Membran 424 Ressourcen-Konsumation 531–533
– Lungendehnungsreflex 218 Reiz Ressourcenzuordnung 501–502
– Milchejektionsreflex 129 – adäquater 302 Restharn 251
– monosynaptischer 270, 271 – Kodierung 302 Rest-Kalzium 66
– myotatischer 271 – nichtadäquater 302 restraint, physical 616
– Nutritionsreflex 274 Reizkolon 243 Restriktionsenzyme 584
– Nystagmus 431 Reizkontrolle, Schlaftherapie 564–565 Restvolumen, Herz 197
– Patellarsehnenreflex 272 Reizproposition 753 Resynchronisation, Körperrhythmus
– polysynaptischer 274 Reizung, Gehirn 465–468 546–547
– Querschnittslähmung 112 Rekombination 583, 584 Retardierung, Genetik 586
– Schreckreflex 276 Rekrutierung, Skelettmuskel 263 retikuläre Formation 5, 512–517
– Schutzreflex 274, 275 Rektaltemperatur, Rhythmus 536–537, retikulärer Thalamus 483
– Sehnenreflex 272 543 – Aktivierung 513–517
– spinaler 266, 267 Rektum, Aufgabe 244, 245 – Aufbau 78
– spinalmotorischer 270–273 rekurrente Aktivität, Bewusstsein 519 retikuläres Aktivierungssystem 512–517
– statokinetischer 431 Relaissystem, Thalamus 78 Retikulärformation
– Summation 274 relationales Lernsystem 654 – Erregungsverteilung 525–526
– Tendonreflex 272 Relaxation, MRT 487–489 – Schlaf 554–557
– T-Reflex 272 Releasing-Hormon 126 Retina (7 auch Netzhaut) 390–395
– Trizepssehnenreflex 272 REM (rapid eye movement) retinohypothalamischer Trakt (RHT) 540
– vegetativer 111, 112, 274 – Definition 547–548 retrograde Amnesie 650
– viszerokutaner 112 – Orexin 558 retrograde Degeneration 599–601
– viszerosomatischer 112 remapping 359 Retrovirus 585
Reflexblase, Querschnittslähmung 252 REM-Latenz 565, 736 reverberatorisches Kreisen 629–630
Reflexbogen REM-Schlaf, Hirndurchblutung 551–552 reverberatory circuit 629–630
– Anteil 270 REM-Schlaf-Atonie 551, 556 reverse stress-relaxation 206
– autonomer 111, 112 REM-Zelle 554–555 reverse Transkriptase 585
– vegetativer 111, 112 renales System rezeptives Feld
Reflexhierarchien 665–666 – Mechanoperzeption 338 – Definition 305, 306
Reflexumkehr 275 – Nozizeption 339 – erregendes 306, 307
Reflexzeit 274 Renin 206 – Größe 306
Refraktärphase 53 Renin-Angiotensin-System 206 – hemmendes 306, 307
– Aktionspotenzial 42 Reorganisation – Mechanosensor 327
– sexuelle 676 – kortikale 359–360, 640–642 – Plastizität 307
Refraktärzeit, Herzaktionspotenzial 190 – motorische 360 – retinale Ganglienzelle 393
Regelabweichung 123 – Musik 787 – Schmerz 348, 358, 359
Regelgröße 123 – neuronale 599–601 – Sehrinde 397
Regelkreis Repetition-priming 651 Rezeptor
– Dimensionierung 123, 124 repetitive transkranielle Magnet- – adrenerger 110
– Körpertemperatur 225 stimulation (rTMS) 467–468 – Agonist 60
Regelschwingung 124 Replikation 578–581 – Antagonist 60
Regelstrecke 123 Replikationsfehler 579–580 – Anzahl metabotroper 64
Regelungslehre, Grundbegriff 123 Repräsentation, Abbildungsprozess 299 – catecholaminerger 110
Regeneration 597–602 Repressor 582 – cholinerger 109, 110
Regio entorhinalis 454 Rescorla-Wagner-Modell 624 – Domäne 61
regionale Hirndurchblutung 483–486 Reserpin 737 – GABAC-Rezeptor 62
regionales Schmerzsyndrom, komplexes Reservevolumen, expiratorisches 212 – Geruchsstoffrezeptor 64
356 Residualluft 212 – G-Protein gekoppelter 60
Regler 123 Residualvolumen 212 – Hormonrezeptor 119, 120
Rehabilitation Resorption, tubuläre 246 – ionotroper 60, 61–63
– einseitige Lähmung 270 resorptive Durststillung 669 – Kationenkanal 61
– Herzeffekt 199 resource allocation 501 – ligandengesteuerter 60
– neuropsychologische 614–617 Ressource, Hirnpotenzial 530–533 – metabotroper 60, 63, 64, 110
870 Anhang

Rezeptor – Zellmauser 451 Sarkomer


– muskarinerger 110 Riesenganglienzelle, Netzhaut 394, 395 – Dehnbarkeit 260
– nikotinerger 109, 110 Riesenmaus 585 – Feinbau 257
– Pharmakawirkung 60 Riesenwuchs 129 – Gleitfilamenttheorie 257
– postsynaptischer 60–64 Rigor mortis 258 – Kontraktion 257
– Schmerz 349–350 Risikofaktor, Herz-Kreislauf-System 208 – Myosinkopf 257
– subsynaptischer 60 Ritalin 181, 658 – Skelettmuskel 257
– zellmembranärer 21 Riva-Rocci-Methode 195 Sattheit 448
Rezeptorbindung, Depression 738 ROS (reactive oxygen species) 606–607 Sättigung 670–674
Rezeptorendozytose 365 rostral 72 Sättigungsgefühl 338
Rezeptorfamilie, nikotinerge 61 Rotation, mentale 691 Sauerrezeptor, Transduktion 444, 445
Rezeptorkanal Rot-Grün-Blindheit 587 Sauerstoff
– Desensitisierung 60, 61 rRNA (ribosomale RNA) 581 – alveolarer Partialdruck 214
– ligandengesteuerter 60 Rückenmark – Bindungskurve 215, 216
Rezeptorpotenzial 302 – Brown-Séquard-Syndrom 335 – Bluttransport 215, 216
Rezeptorzelle 298 – Halbdurchtrennung 335 – Gewebepartialdruck 217
rezessiv-dominant 573 – Schmerz 351–352 Sauerstoffverbindung, hochreaktive
Rhesusfaktor 165–166 – synaptische Verschaltung 308, 309 606–607
Rh-Faktor 165–166 Rückenschmerz 155, 362 Sauerstoffverbrauch, Gehirn 483–485
Rhodopsin 391 – Hirnantwort 367 Savant 795
Rhombenzephalon 76 Rückfall, Sucht 662 Scala cochlea 424
Rhythmogenese, Atmung 217 rückführende Verbindung, Bewusstsein Schaffer-Kollaterale 82–84
Rhythmus 497 Schalentemperatur 222
– assimilierter 633 Rückkopplung, negative 123, 305 Schall, Spektralanalyse 428
– EEG 469–470 rückläufige kollaterale Hemmung 476 Schalldruck 416
– EEG/MEG 474–476 Rückwärtskonditionierung 623 Schalldruckbereich 416
– Hormon 143, 145, 146 Ruffini-Körperchen 326, 327 Schalldruckmessung 416
– Hypothalamus 539–541 Ruheatmung 212 Schalldruckpegel 416
– infradianer 536 Ruhepotenzial 34–37 Schalldruckpegelskala, Vorteil 417
– Krebsinzidenz 542 – aktiver Transport 36 Schalldruckwelle, longitudinale 416
– ultradianer 536 – Instabilität 36 Schallempfindungsstörung 420
Rhythmusgeber, zirkadianer 537–538 – Ionenbeteiligung 35, 36 Schallkodierung 427, 428
Ribonukleinsäure (RNA) – Ionengleichgewicht 36 Schallleitungsstörung 420
– Definition 576 – Ionenpumpe 36, 37 Schallortung 420
– Schlaf 562 – Ladungsverteilung 35 Schalltransduktion 426
Ribosom 581–582 Ruhetremor 613 – Innenohr 424–426
ribosomale RNA 581 Ruheumsatz, Mensch 220 Schallwelle 416
Richtungshören 420 schedule of reinforcement (Verstärker-
Riechen plan) 625
– biologische Bedeutung (7 auch Ge- Scheinbewegung 380
ruch) 449
S Scheinkontur 398
– psychologische Bedeutung 449 Scheinwut 741
Riechepithel 450, 452 Saccharose 242 Schicht, Großhirnrinde 89
Riechhirn, Signalverarbeitung 454, 455 Sägezahnwelle, EEG 547 Schichtarbeit 546
Riechorgan 450–452 Sagittalschnitt 72 Schielamblyopie 382
Riechphysiologie 447 Sakkade 403 Schielen 389
Riechsystem (7 auch Geruch) 450–455 salience, incentive 665, 697, 698 Schilddrüse 146
Riechzelle 450–453 Salienz 624 – Fehlfunktion 131
– abgestufte Selektivität 452 saltatorische Erregungsleitung 45 Schilddrüsenfollikel 130
– Anzahl 450 Salz 13 Schilddrüsenfunktion, Störung 131
– Geruchsprofil 452 Salzappetit 667 Schilddrüsenhormon 129–131
– Lebensdauer 451 Salzrezeptor, Transduktion 444, 445 Schilddrüsenhormonproduktion 130
– Rezeptormolekül 452 Salzsäure, Magen 239 Schimpanse, Sprache 766–767
– Transduktion 452, 453 Samenzelle 135 Schizophrenie 797–802
– Transformation 452 Sammelrohr, Niere 248 – Dopamin 515
Sachverzeichnis
871 R–S

– Frühdiagnose 224 Schleifenkern, lateraler 428 – Sensibilisierung 358–359


– Ganzkörperreflex 276 Schluckakt – sensorisch-diskriminativer 344
– Genetik 649 – Phase 238 – somatischer 342–343
– PET 486 – unwillkürlicher 237 – soziale Zuwendung 364–365
Schlaf – zentralnervöse Steuerung 237, 238 – sozialer Kontext 345
– Alter 553 Schlucken 237, 238 – Stress 361–367
– Anatomie 555–557 Schlüsselreiz 665 – Substantia gelatinosa 352
– Bewusstsein 554–555 Schmecken 7 auch Geschmack – übertragener 356–357
– Depression 563 – Hauptqualität 440 – vegetativer 344
– Elektroenzephalogramm (EEG) – Nebenqualität 441 – Verhaltensanalyse 370
547–554 Schmeckorgan (7 auch Geschmack) – viszeraler 342–343
– Energieerhaltung 560 443–447 – zentraler 357–360
– Epilepsie 567–568 Schmeckzelle 443, 444 – zentraler Transmitter 351–352
– Evolution 552–554 – abgestufte Selektivität 445, 446 – zentrifugale Kontrolle 352
– Gammaoszillationen 548–549 – Innervation 444 – zweiter 342
– Gedächtnis 561–562 – Signalverarbeitung 444, 445 Schmerzadaptation, Messung 346
– Homöostase 145 – Transduktion 444 Schmerzbahn 352
– Immunsystem 145 – Transformation 444 Schmerzbewertung 344, 345
– Karotissinuswirkung 205 Schmerz Schmerzcocktail 371
– Motorik 548, 551 – affektiver 344 Schmerzebene 361
– Orexin 558 – akuter 343 Schmerzempfindlichkeit, Rhythmus 544
– Schmerz 354 – Anatomie 352–355 Schmerzentwicklung 346
– Wachstum 599 – Antrieb 342 Schmerzgedächtnis 359, 360, 361–367
Schlafantrieb, homöostatischer 541–542 – chronischer 343, 358–367 Schmerzgedächtnis
Schlaf-Apnoe 567–568 – Definition 342, 344 – Schmerzbewertung 345
Schlafdeprivation 145, 559–560 – emotionaler 344 – zelluläre Grundlage 365–366
– Depression 736 – erster 342 Schmerzhemmung, endogenes Opiat
schlafender Nozizeptor 349 – ethnischer Kontext 345 354–355
Schlafentzug 559–560 – evozierte Hirnpotenziale 346–347 Schmerzintensität, Messung 346–347
– Zytokin 545 – Formatio reticularis 352 Schmerzkomponente 344
Schlaffunktion 557–559 – G-Protein 349–350 Schmerzkontrolle, endogene 352, 354
Schlafkontrolle, neuronale 555–557 – Hirnantwort 345, 363, 367 Schmerzmessung 346
Schlaflosigkeit, Kortisolwirkung 133 – Hirnpotenzial 347, 363 Schmerzmittel 365
Schlafmittel 564–565 – Immunsystem 168–169 – nicht-narkotisches 367
Schlafparalyse 566 – Intensitätsmessung 318 Schmerzpunkt 343
Schlafregulation 563 – Ionenkanal 349–350 Schmerzqualität 343
Schlafspindel, Entstehung 516–517 – Kälteschmerz 333 Schmerzrezeptor 349–350
Schlafstadium 547–569 – klassische Konditionierung 362–364 Schmerzschwelle 346–347
– Bewusstsein 560–561 – kognitiver 344–345 Schmerzsyndrom, komplexes regionales
– Elektrophysiologie 554–557 – Lernen 361–367 356
Schlafstörung 563–569 – motorischer 345 Schmerzsystem
– Alter 565 – Muskelspannung 361–362 – Basalganglion 720
– Immunsystem 176 – Neuropeptid 349–350 – Neurotransmitter 353
Schlaftheorie 562–563 – Neuroplastizität 358–367 Schmerztagebuch 318
Schlaftherapie 564–569 – operantes Lernen 362–364 Schmerztherapie 367–372
Schlaf-Wach-Rhythmus, Immunsystem – Pathophysiologie 355–360 – operante 371
171 – Phantomschmerz 332 – psychologische 370–372
Schlaf-Wach-Störung 545 – pharmakologische Behandlung Schmerztoleranzschwelle 346
Schlafzeit 553 367–368 Schmerzverarbeitung, vorbewusste
Schlaganfall 616–617 – projizierter 355 366
– Fallbeispiel 594 – psychogener 361, 363 Schmerzverhalten, Definition 344
Schlagvolumen – Psychophysik 346–347 Schnarchen 567
– Autoregulation 197 – Psychophysiologie 361–372 Schnecke, Hörorgan 424
– Herz 196 – rezeptives Feld 348, 358, 359 Schnürring, saltatorische Erregungs-
Schleifenbahn, mediale 309 – Rückenmark 351–352 leitung 45
872 Anhang

Schock Seelenblindheit (Agnosie) 509, 784–785 – Mischfarben 385


– hypoglykämischer 126 Sehbahn 395 – Monochromasie 386, 387
– spinaler 277 Sehen 7 auch Auge – Myopie 388, 389
Schokolade, Gehirneffekt 451 – Achromasie 386, 387 – Nachbild 379
Schonhaltung, Schmerz 361 – Achromatopsie 410 – Objekterkennung 407
Schreckreflex (startle) 276, 504, 725–728 – Agnosie 408 – Objektlokalisation 407
– Amygdala 82 – Alterssichtigkeit 390 – Perimetrie 376, 377
– Psychopathie 726–727 – Anomaloskop 386 – Phi-Phänomen 380, 406
Schreiben, Signalverarbeitung 410 – Augenbewegung (7 auch Okulo- – photopisches 376
Schrift, ideographische 410 motorik) 383, 402–406 – Phototransduktion 393
Schrittmacher – autokinetisches Phänomen 380 – Presbyopie 390
– aktueller 190 – Bewegungstäuschung 406 – Protanomalie 386
– Messfühler 538–539 – Bewegungswahrnehmung 406 – pseudochromatische Tafel 387
– potenzieller 190 – Bildsegmentierung 381 – Purkinje-Phänomen 378
– sekundärer 190 – binokulares Deckfeld 376 – Querdisparation 380
Schrittmacherpozential 190 – Blendung 378 – Scheinbewegung 380
– Herznervenwirkung 198, 199 – Blickfeld 376 – Scheinkontur 398
– Magen 239 – blinder Fleck 378 – Schielamblyopie 382, 389
Schrittmachersystem, zirkadianes 538 – Blindheit 401 – Schielen 382, 389
Schrittmacherzelle, Erregungbildung – Brillenberechnung 388 – Sehschärfemessung 377
189, 190 – Dämmerungssehen 376 – Simultankontrast 379
Schuldgefühl 742–743 – Deuteroanomalie 386 – Sinnestäuschung 383, 384
Schutzreflex 274 – Doppelbild 382 – Skotom 376, 402
Schwangerschaft 137 – Dunkeladaptation 315 – skotopisches 376, 378
– Schizophrenie 798 – Dunkeladaptationsverlauf 378 – Spektralfarbe 384, 385
Schwann-Zelle 26 – Eigengrau 378 – Störung 400–402
Schweißdrüse, Innervation 104 – emotionale Bewertung 407 – Tageslichtsehen 376
Schweißsekretion 223 – emotionale Komponente 411, 412 – Tiefensehen 382
Schwelle – Entfernungsmessen 380 – Tiefenwahrnehmung 380
– absolute 308 – Farbensehen 384–387, 410 – trichromatisches 399
– Erregung 525–526 – Farbenblindheit 386, 387 – Tritanomalie 386
– Kitzelempfindung 323 – Farbenkreis 385 – Urfarbe 399
– neuronale 54 – Farbkonstanz 399 – visuelle Ästhetik 385
– sensorisches Neuron 308 – Farbmischung 386 – visuelle Rehabilitation 401, 402
– Unterschiedsschwelle 308 – Farbsinnstörung 386 – visueller Hemineglekt 408
– Vibrationsempfindung 323 – Flimmerlicht 380 – visuelles Assoziationsfeld 406, 407
Schwellenaudiometrie 421 – Formkonstanz 383 – Visusbestimmung 377
Schwellenmessung – Gegenfarbentheorie 399 – Wahrnehmungspsychologie
– sensorische 314 – Gesichtsfeld 376 376–387
– Tierverhalten 314 – Gestaltergänzung 411 – wanderndes Licht 380
Schwellenregulation, Basalganglion – Gestaltwahrnehmung 382–384 – Wasserfalltäuschung 406
86–87 – Graustufe 378 – Weitsichtigkeit 389
Schwerelosigkeit 436, 437 – Grenzkontrast 380 – Zentralskotom 378
Schwerhörigkeit 419, 420, 421 – Größenkonstanz 382, 383 – zweiäugiges 380–382
Schwindel (Vertigo) 436 – Helladaptation 378 Sehentwicklung, Motorikeinfluss 400
– Drehschwindel 436 – Helligkeitswahrnehmung 381 Sehfarbstoff 391
Schwitzen, emotionales 223, 224 – Hemeralopie 392 Sehkreuzung 395
SCL (skin conductance level) 224 – Hemiachromatopsie 410 Sehnenorgan 268–270
SCN (Nucleus suprachismaticus) 542 – Ishihara-Farbtafel 387 – Bau 269
SCP (slow cortical potential) 481–483 – kompensatorische Plastizität 400 – Funktion 269
SCR (skin conductance response) 224 – Kontrastüberhöhung 379 – Innervation 273
Sebstbewusstsein, Kontext 499 – Konvergenz 380 – Reflexverbindung 273
second messenger 120 – kortikale Blindheit 401 Sehnenreflex 272
Sedativum 704–706 – Kurzsichtigkeit 388, 389 Sehnerv 395
Seekrankheit 436 – Mach-Band 379 Sehpurpur 391
Sachverzeichnis
873 S

Sehrinde sensomotorische Aktivität, Epilepsie Sexualorgan


– höheres Areal 398, 399 568 – Frau 678
– Hyperkolumne 397, 398 sensomotorische Information 91 – Innervation 104
– okuläre Dominanzsäule 397 sensomotorischer Rhythmus (SMR) Sexualverhalten 675–680
– Ontogenese 399, 400 – Definition 469 – männliches 686–687
– Orientierungssäule 397, 400 – Schlaf 547 sexuelle Abweichungen 680
– Plastizität 399, 400 sensomotorisches Training, Dyslexie sexuelle Anziehung 675
– primäre 396, 397 779 sexuelle Differenzierung 137
– retinotope Organisation 397 Sensor 298, 301 sexuelle Dysfunktionen 679–680
– rezeptives Feld 397 – Adaptation 303 sexuelle Entwicklung 680–682
– topologische Organisation 397 – adäquate Reizung 302 sexuelle Erregung, Hirnareale 688
Sehschärfe, photopische 376 – autonomes Nervensystem (ANS) 105 sexuelle Neigung, Chromosom 579
Sehschärfemessung 377 – Dehnungssensor 218 sexuelle Orientierung 682–685
Sehschwelle, absolute 315 – Eingeweidesensor 336 sexueller Reaktionszyklus 675–676
Sehstörung 400–402 – freie Nervenendigung 327 Sherrington, Ch.S. 273
Sehstrahlung 395 – Frequenzkodierung 304 Sichelzellanämie 575, 587
Sekretion, tubuläre 247 – Kaltsensor 225, 334 Sieg 149
Sekretionsphase, Magensaft 239, 240 – nichtadäquate Reizung 302 Signalkette, intrazelluläre 21, 22
Sekretionsstadium 136 – primärer 303 Signal-Rausch-Verhältnis, EEG 478–479
Sekundärer Oszillator 538 – pulmonales System 337 Signalstoff 449
Selbst-Fremderkennung, Immunsystem – sekundärer 303 Sildenafil (Viagra) 110, 677
163 – Thermosensor 225 simultane Raumschwelle 323
Selbstkontrolle – Transduktion 302 Simultankontrast 379, 394
– BOLD (blood oxygenation level – Übertragungsfunktion 304 Sinneseindruck, Definition 299
dependent) 532 – Viszerosensor 336 Sinnesempfindung
– Definition 626 – Warmsensor 225, 334 – Adaptation 318
– Epilepsie 568 Sensorik, Motorikverknüpfung 267 – Deadaptation 318, 319
– Präfrontalkortex 794 sensorisch-diskriminativer Schmerz – Definition 299
Selbstregulation 344, 353 Sinnesfühler 301
– langsames Hirnpotenzial 533 sensorische Hirnrinde 311, 312 Sinnesmodalität
– langsames Potenzial 762–766 sensorische Schwellenmessung 314 – Definition 300
– Nikotin 706 sensorisches Gedächtnis 627–628 – Kooperation 314
Selbstreizung, intrakranielle (ICSS) sensorisches System – Sensor 301
698–701 – kortikales Areal 311 – spezifische 301
Selbststeuerung, Gehirn 762–766 – subkortikale Schaltstelle 311 – split brain 508–510
Selektion, gating 638 – unspezifisches 309 Sinnesorgan
selektive Aufmerksamkeit, Experiment Sensorpotenzial 302, 303 – Aufzählung 298
502 – Nozizeptor 350–351 – Definition 298
Selektivitätsfilter, Ionenkanal 40 Sensorschwelle 328 – Klassifikation 301
Semantik 767 Sentographie 714–715 – Reizung 302
– Hirnaktivierung 772 Septum 80, 85 Sinnesphysiologie
semantischer Fehler 771 – Hippokampus 84 – Grundbegriff 298–301
semantisches Gedächtnis Serotonin 57 – Hirn-Bewusstseins-Problem 299
– Definition 621–622 – Aggression 96, 740, 743 – objektive 298
– Läsion 653 – Depression 737–739 Sinnesqualität, Definition 300, 301
semipermeable Membran 18, 19 – Schlaf 554–556 Sinnesreiz 299
seniler Plaque 612 – Stress 153 Sinnesrezeptor 301
Senke, elektrische 472 – Transmitterfunktin 57 Sinnesschwelle, Kortisolwirkung 133
Sensationssuche 745 Serotoninrezeptor 58, 61 Sinnestäuschung 383, 384
Sensibilisierung Serotoninsystem 93 – visuell-vestibuläre Interaktion 435
– Aplysia 642–644 Sexualhormon 133–139 Sinneswahrnehmung, affektiver Prozess
– Nozizeptor 349 – Aggression 744 298
– Schmerz 358–359 – männliches 133–135 Sinneszelle, sekundäre 432
Sensibilität, viszerale 336–339 – weibliches 133–135 Skelettmuskel 7 Muskel
sensible Afferenz 27 Sexualität, Oxytozin 147 Skilanglauf, Trainingseffekt 199
874 Anhang

Skill-Lernen 626 sparsame Kodierung 634 Sprachentstehung, Gestik 766


skin conductance level (SCL) 224 Speichel Sprachentwicklung 603–604, 750–753,
skin conductance response (SCR) 224 – Aufgabe 236, 237 758
Skinner-Box 624 – Tagesproduktion 237 Sprachentwicklungsstörung 778–77
Skoliose 656–658 Speichelsekretion 237 Spracherwerb, Tier 766–767
Skopolamin 636 – klassische Konditionierung 237 Sprachflüssigkeit 691, 759–761
Skotom 376, 402 – nervöse Kontrolle 237 Sprachmelodie, split brain 507
skotopisches Sehen 376, 378 Speiseröhre 237 Sprachproduktion
slow cortical potentials (SCP) 481–483 Spektralanalyse, Schall 428 – Entwicklung 604
slow wave Spektralfarbe 384, 385 – Psychologie 751
– Duodenum 239 Sperma 135 Sprachstörung 773–779
– Magen 239 Spermatogenese 135 Sprachtraining 616
slow wave sleep (SWS) 547–550 Spezifitätstheorie, Schmerz 343 Sprachverständnis, Psychologie 751
SMR, Gehirn-Computer-Interface 763 Sphincter vesicae internus 678 Sprachwahrnehmung, Entwicklung
SOAE (spontane akustische Emissionen) Spiegelneuron 289, 407, 780–781, 796 602–604
426 spin, Protonen 487 Sprachzelle 767–768
Sodium-Amobarbital-Test 761 Spina 25 Sprossung, synaptische 599–601
Soma, Neuron 23 Spina bifida 244 Spüldrüse 441, 443
somatische Afferenz 27 spinale Lokomotion 277 Spurenelement 233–235
somatischer Marker 716–717 spinaler Schmerz 356–357 SQUID (superconducting quantum
– Wille 666 spinaler Schock 112, 277 interference device) 473
somatischer Schmerz 342–343 Spinalmotorik 266, 267 Sry-Gen 681
Somatosensorik 321–340 Spindel Stäbchen 390, 391
– zentrifugale Hemmung 312, 313 – Definition 470 Stammzelle 595
somatosensorische Hirnrinde 312 – EEG 547–551 – embrionale 595
somatosensorischer Kortex, Schmerz Spine – hämopoetische 158
352–353 – Azetylcholin 636–637 Stammzellentherapie, Parkinson 614
Somatostatin 123, 124, 144 – Intelligenz 599 Stapediusreflex, Kortisol 143
Somatotopie, Motorkortex 285 – LTP 646 Stapes, Ohr 422
somatotopische Reorganisation Spinozerebellum 92, 281 Stärke 14, 242
640–642 Spirogramm 213 Stärke, pflanzliche 232
Somatotropin 129 Spirometer 212, 213 Startle-Potenzierung, Psychopathie
somatoviszerale Information Spleissen, RNA 581 745
– Aufnahme 308 split brain 505–511 Startle-Reflex 504, 725–728
– Weiterleitung 309 – Denken 757 state dependent learning 629
Sommerzeit 546 – Experiment 508 Statin 126
Somnambulismus 566–567 – Gefühl 720–722 Statokonie 432
soziale Amnesie 147 – Prosodie 507 Steigbügel, Ohr 422
Soziale Angst 730–731 – Sinnesmodalitäten 508–510 Stellglied 123
soziale Belastung, Herz-Kreislauf-Risiko – Sprache 774 – Thermoregulation 226
208 Spontannystagmus 405 Stellgröße 123
soziale Erfahrung, Gehirn 635–636 Spontanverhalten 666 Stellungssinn 328, 329
soziale Interaktion, Rhythmen 539 Sport Stellungswahrnehmung 431
soziale Stützung 152 – Immunsystem 180 Stereotaxie 464
– Immunsystem 176 – Infektion 180 Stereozilie 432
soziale Zuwendung, Schmerz 364–365 Sportexzess 180 – Innenohr 424, 425
soziales Lernen 625–626 Spotlightfunktion, Aufmerksamkeit 528 Sternzelle, Kortex 87, 89
Sozialverhalten, präfrontal 742, Sprachaufgabe, Hirnaktivierung 770 Steroid, Sexualhormon 133
794–797 Sprache 6 Stethoskop 188
Soziopathie 731 – Assoziationslernen 767–771 Steuerung 123
SPA (stimulationsproduzierte Analgesie) – Evolution 766–767 Stevens psychophysische Beziehung
355 – Fötus 602 316, 317
Spaltungsregel 573 – Händigkeit 761–762 Stevens-Potenzfunktion 317
Spaltverbindung 22 – Oszillationen 769 – Geruch 448
Spannungskontrollsystem, Muskel 273 – Psychologie 750–753 STH (somatotropes Hormon) 129
Sachverzeichnis
875 S

Stickoxid (NO) 59, 66, 67, 543, Strychnin, synaptischer Wirkmecha- SWS-Struktur 558
645–646 nismus 63 Sympathikus (7 auch autonomes
– Rhythmus 543 Strychninvergiftung, Behandlung 63 Nervensystem, ANS) 102
– Kotransmitter 109 Stuhldrang 244, 338 – Antagonismus und Synergismus 105,
Stickstoffmonoxid (NO) 59 stummer Nozizeptor 349 106
stille Synapse 600 – Jucken 351 – Herzinnervation 198
Stimmung, Definition 712 Sturtz 610 – Sexualität 676–679
Stoffaustausch, intrazellulär 21 Stützelle 450 – Zielorgan 104
Stoffwechsel Stützmotorik 266, 271, 278 sympathische Reflexdystrophie 105
– aerober 14 Stützung,soziale 152 Synapse 23, 50–70
– anaerober 14 Stützzelle 443 – axoaxonische 55
– oxidativer 14 subfornikuläres Organ 667 – Bauelemente 50
– Skelettmuskel 262, 263 subgenualer Präfrontalkortex, – chemische 50–55
Strafreiz 624 Depression 735–736 – cholinerge 56
Strahlungsdetektor 484–485 Subikulum 83–84 – direkte, erregende 51
Strangulation 14 subkortikales Aktivierungssystem – elektrische 22, 67, 68
Stress 150,152 512–519 – ephaptische Übertragung 68
– ACTH 151–152 Substantia gelatinosa, Schmerzleitung – EPSP (erregende postsynaptische
– ACTH-Freisetzung 133 352 Ptenziale) 51–53
– Altern 154 Substantia innominata 86–87 – GABAerge 57
– Apoptose 175 Substantia nigra – Glutamaterge 56
– CRH-Freisetzung 133 – Dopamin 93 – Grundstruktur 50
– emotionaler 107 – Parkinson 86, 613 – hemmende chemische 53–55
– Glukokortikoide 143 – Verstärkung 699 – Immunsystem 172–173
– Hilflosigkeit 149 Substanz P 144 – langsames EPSP 53
– Hormoneinfluss 133 – Nozizeption 351 – Motoneuron 51
– Immunsystem 169, 175 – Schmerzgedächtnis 365 – neuromuskuläre 56
– Krankheit 150–152 subsynaptische Membran 50 – präsynaptisch hemmende 55
– Muskeltonus 263 Subthalamicus 79 – präsynaptische Endigung 50, 51
– natürliche Killerzelle 177–178 – Parkinson 86, 614 – Rezeptor 50
– Opioid 154 subtraktive Farbmischung 386 – stille 600
– Pathophysiologie 155 Suchstrategie, Denken 755 – subsynaptische Membran 50
– Schmerz 361–367 Sucht 692–708 – synaptischer Spalt 50
– Serotonin 153 – Definition 692 – Transmitter 56, 57
– Stress, oxidativer 606–607 – Genexperession 703 – Wachstum 597–602
– Sucht 702–704 – Neurobiologie 698–707 synaptische Endigung, Nozizeption
– Telomer 607 – Rückfall 662 353
– Tumorwachstum 178 – Stress 702–704 synaptische Interaktion 65–67
– Wirkung 149,152 Suchtbehandlung 706–708 synaptische Plastizität 65–67
– Zellverlust 151–152 Suchtverlauf 702–703 synaptische Sprossung 599–601
Stressanalgesie 154 Suchverhalten, appetitives 664 synaptischer Kontakt, Zahl 75
– gelernte 363–364 sudomotorische Nervenfaser 223 synaptischer Spalt 21–50
Stressbewältigung 150–152 Suizidalität 153 synaptisches Bläschen 50
Stressrelaxation, Blutdruckregulation sukzessive Raumschwelle 323 Synaptogenese 596
206 Sulcus, kortikaler 88 – reaktive 601
Stria terminalis 76–77, 80, 87 Sumatriptan, Wirkmechanismus 64 Synästhesie 634
Striatum 85–87, 525–526 Summation, Reflexsummation 274 Synchroniebindung 410, 411
– Belohnung 639 Summenaktionspotenzial, Ohr 426 Synchronisation
– Verstärkung 699–702 Superoxiddismutase (SOD) 606 – EEG/MEG 474–476
Striosom 85 supervisorisches Aufmerksamkeits- – Körperrhythmus 537–539
Strophantin 191 system 793 – langsames Potenzial 482
Strukturmodell, Doppelhelix supplementär-motorisches Areal, Synchronizität, neuronale 526–528
576–581 Hirnpotenzial 532 Syndaktilie 359
Strukturprotein, Lernen 647–649 supraventrikuläre Zone (SPVZ) 541 Synergismus, autonomes Nervensystem
Struma 131 Süßrezeptor, Transduktion 445 (ANS) 107
876 Anhang

syntaktische Fertigkeit 511 Temperaturempfindung (7 auch – Furcht 724


syntaktischer Fehler 771–772 Thermorezeption) 332–335 – Geruchsinformation 455
Syntax Temperaturfeld, menschliches 222 – Geschmacksverarbeitung 446, 447
– Axon 761 Temperaturregulation, Neugeborenes – Hunger 672
– Zellensemble 769–771 227 – medialer, Aktivierung 513–517
Synzytium 23, 68 Temperatur-Rhythmus 543 – motorischer 281
Systole 187, 188 Temporallappen – Nozizeption 352–354
– Anatomie 783 – Parkinson 86
– Funktion 782–788 – retikulärer 483
– Läsion 650–655 – retikulärer, Aktivierung 513–517
T – Schizophrenie 800 – Schmerz 351–352
– visuelles Areal 406, 407 – somatosensorischer 311
T3 130 Temporalwindung 774–777 – ventrobasaler Komplex 517
T4 130 Tendon-Reflex 272 Thalamusschmerz 357
Tabak 705–706 TENS (transkutane elektrische Nerven- THC (Delta-9-Tetrahydro-Cannabiol) 97
Tachykinin 168 stimulation) 369 T-Helferzelle 162
Tagesperiodik, Vigilanz 545 Tensorrechnung 490 Theophyllin, Wirkmechanismus 59
Tagtraum 542 TEOAE (transitorisch evozierbare theory of mind 794
taktile Diskrimination, split brain 508 otoakustische Emissionen) 426 Therapie, Schmerz 367–372
tardive Dyskinesie 802 terminaler Abfall 610 Thermodynamik, 1. Hauptsatz 219
Tastpunkt 322 Terminalzisterne 259 Thermogenese, Adipositas 674
Tastscheibe 325 Tesla 487–489 Thermographie 223
Tastsinn – Definition 473 Thermoperzeption, Viszerorezeption
– Empfindungsschwelle 322 Testosteron 338
– histologische Grundlage 324 – Aggression 744 Thermoregulation 225
– objektive Sinnesphysiologie 328 – Aggressivität 148 – autonomes Nervensystem (ANS) 113
– Qualität 322 – Gechlechtsentwicklung 681 – Integrationszentrum 225
– Raumschwelle 323 – Gehirn 686 – Langfristaspekt 227
– Wahrnehmungspsychologie 328 – Hauptwirkung 135 – Pathophysiologie 227
Tastwelt 331 Tetanie, Hyperventilationstetanie 214 – Stellglied 226
Tathergangsdiagnostik 772 tetanische Depression 67 Thermorezeption (Temperatur-
Tätigkeitsumsatz 219 tetanische Potenzierung 65, 66 empfindung) 332–335
Tau 612–613 Tetanisierung, Skelettmuskel 263 – Adaptation 336
Taub-Blindgeborene 714 Tetanus 164 – Dauerkaltempfindung 333
Taube, Sehschwellenbestimmung – Muskelkontraktion 261, 262 – Dauerwarmempfindung 333
315 Tetanustoxin 28 – dynamische 333, 334
Taubgeborener Tetraplegie, Sexualität 677 – Kälteschmerz 333
– Hemisphäre 758 Tetrodotoxin 351 – Kaltpunkt 332
– Sprache 751–752 thalamischer Hauptkern 310 – Mehrdeutigkeitsbeseitigung 335, 336
Tau-Protein 542 thalamisches Neuron, EEG-Rhythmus – Psychophysiologie 332
TCR (T-Zellrezeptor) 162 474–476 – Qualität 332
tDCS (transkranielle Gleichstrom- thalamokortikale Faser 88 – räumliche Bahnung 334
stimulation) 466 thalamokortikale Rückmeldeschleife – Raumschwelle 332
tegmentales System 95 516–517 – Sensor 334
Tegmentum, ventrales 515 thalamokortikale Synchronisation 475 – statische 333
Tektorialmembran 424 thalamokortikales System – Warmpunkt 332
Telenzephalon, Definition 76 – laterales 352–354 – Weber-Drei-Schalen-Versuch 333, 334
Telepathie 300 – Schlaf 558 – zentrale Verarbeitung 335
Telomer Thalamus Thermosensor
– Alter 607 – Amygdala 724 – Adaptation 336
– Krebs 177 – Aufbau 78–79 – äußerer 225
Telomerase 607 – Aufmerksamkeit 516–518 – innerer 225
Temperatur – EEG-Synchronisation 475–476 Theta-Rhythmus, Hippokampus 84–85,
– Kognition 545 – Erregungsverteilung 525–526 654–655
– Rhythmus 536–537 – Funktion 516–517 Theta-Welle, Definition 469
Sachverzeichnis
877 S–T

Thrombolyse 594 Tractus olfactorius 454 – zentraler Schmerz 351–352


Thrombozyt 184 Tractus perforans 83–84 transneuronale Degeneration 599
Thymus 158–160 Tractus reticulospinalis 284 Transplantation
Thyreoglobulin 130 Tractus rubrospinalis 284 – Hornhaut 401
Thyreoidea-stimulierendes Hormon Tractus solitarius 446 – Immunsystem 165
(TSH) 130 Tractus spinoreticularis 309 – Linse 401
Thyreostatikum 131 Tractus spinothalamicus 309, 352 Transport
Thyreotropin 130 Tractus vestibulospinalis 284 – aktiver 20
Thyreotropin-Releasing-Hormon (TRH) Training, Herzwirkung 199 – anterograder 28
130 Transduktion – axonaler 28
Thyroxin 130, 146 – Innenohr 425, 426 – orthograder 28
tiefe Hirnstimulation 614 – Molekularmechanismus 303 – retrograder 28
Tiefenschmerz 342–343 – Netzhaut 392 Transportprotein 19
Tiefensensibilität 328–331 – Nozizeptor 350 Transsexualität 689
– Bewegungssinn 329 – Photorezeptor 391–393 Transsudation 679
– Efferenzkopie 330 – Riechzelle 452, 453 transsynaptische Degeneration 462
– Informationsverarbeitung 330 – Schmeckzelle 444 transversaler Tubulus, Skelettmuskel
– Körperstellungskontrolle 431 – Sensor 302 259
– Kraftsinn 329 – Vestibularorgan 433 Traubenzucker 14
– Mehrdeutigkeitsausschaltung 331 Transfektion 585 Trauer 733–739
– polysensorische Integration 330 Transfer-RNA (tRNA) 582 Traumdeutung 562
– Qualität 328–330 Transformation Träumen 560
– Sensor 330 – Molekularmechanismus 303 – Atonie 556
– Stellungssinn 328, 329 – Riechzelle 452 – luzides 561
– Wahrnehmung 331 – Schmeckzelle 444 Trauminhalt 561
Tiefenwahrnehmung, visuelle 380 transformierender Wachsumsfaktor 163 Traumlosigkeit (Anonerie) 552
Tiefschlaf transgenes Tier 589 T-Reflex 272
– Bewusstlosigkeit 518–519 transkranielle Gleichstromstimulation Tremor 613
– SWS (slow wave sleep) 549 (tDCS) 466 TRH (thyreotropin releasing hormone)
tight junction 22 transkranielle Magnetstimulation (TMS) 130, 144
Tinnitus 422, 641–642 466–468 Trizepssehnenreflex 272
tip link 424 – Bewusstsein 523 Trieb
Titinmolekül 260 – Schmerz 360 – Definition 662–664
T-Killerzelle 161–162 Transkriptase 585 – Körperrhythmus 538
T-Lymphozyt 160, 162, 163 Transkription 581 – Schmerz 342
Tod Transkriptionsfaktor, Lernen 647–649 Triebenergie 664
– Schlaf-Apnoe 567 transkutane elektrische Nerven- Triebhierarchie 662
– zerebraler 477 stimulation (TENS) 369 Triebinduktion 663
Toleranz, Abhängigkeit 692–708 transkutane Mikroneurographie 300, Triebkonkurrenz 501, 662
Ton 417 325, 328 Triebneuron 698
tonotope Karte 642 Translation 581 Triebreduktion, Definition 663
Tonschwellenaudiogramm 421 – Lernen 648–649 Trigeminuskern, spinaler 310
Tonsilla 158–160 Translokation 586 Trigeminusneuralgie 342
Tonus, Kontrolle durch Ruheaktivität – Chromosom 580 Triglyzerid 15, 232, 242
111 Transmitter (Überträgerstoff ) Trijodthyronin 130
Top-down-Informationsverarbeitung – Azetylcholin 56 Trinkalkohol, synaptischer Wirk-
497 – AMPA-Kanal 66 mechanismus 62
Torstrom, Ionenkanal 41 – autonomes Nervensystem (ANS) 108, Trinken 669
Totenstarre 258 109 Triplet 578
Totraum, anatomischer 212 – biogenes Amin 57 Trisomie 586
Tourniquet-Schmerzquotient 347 – Glutamat 66, 67 Tritanomalie 386
Tracer-Technik 632–634 – niedermolekularer 56, 57 tRNA (Transport-RNA) 582
Trachea 213, 214 – NMDA-Kanal 66 Trommelfell 422
Tractus lemniscus medialis 309 – Schlaf 554–556 Tropenklima, Hitzebelastung 227
Tractus mamillothalamicus 77 – Übersicht 59 Trypsin 243
878 Anhang

TSH (Thyroidea-stimulierendes Hormon) Universalgrammatik 771 Vegetativum


130 unkonditionierter Reiz (UCS) 622 – Schlaf 551
Tuba Eustachii 422 Unkontrollierbarkeit 149 – Sexualität 676–679
Tuberculum olfactorium 454 unspezifisches aufsteigendes Vektororientierung, Elektrokardio-
Tubulus Aktivierungssystem 512–517 gramm (EKG) 193, 194
– longitudinaler 259 Unsterblichkeit 603 Vene, Vasokonstriktion 204
– Niere 247 Untergewicht 235 Ventilklappe, Herz 186
– transversaler 259 Unterkieferdrüse 237 ventral 72
Tumornekrosefaktor (TNF) 163 Unterschiedsschwelle 308 ventraler Pfad 780
Tumorschmerz 361 – Hören 420 ventraler Präfrontalkortex (VLPFC) 655
Tumorwachstum – Messung 316 ventraler Thalamuskern 78
– Opiat 178 – subjektive 316 ventrales Striatum 699–702
– Stress 178 – Verhaltensversuch 315 ventrales Tegmentum, Funktion 515
Tuning 501 – Zeitunterschiedsschwelle 318 Ventrikel
– Lernen 636 Unterzungendrüse 237 – Blutkreislauf 73
Tuning-Kurve 427, 428 Unzer 265 – Gehirn 25
Turm von Hanoi 651 Urämie 249 – Schizophrenie 800
Turner-Syndrom 586, 682 Urethra, männliche 251 Ventrikelsystem 75
Tyrosin 151 Urfarbe 399 Ventrikelzone 595
Tyrosinkinase, Lernen 645 Ursachenattribution, Gefühl 720–722 ventrobasaler Komplex, Thalamus 517
T-Zellaktivierung 162 Uterus 678 VEP (visuell evozierte Potenziale) 401
T-Zellrezeptor 162 – Eieinnistung 137 Verapamil 191
Utilisation, Sauerstoff 217 Verarbeitungsmechanismus, Definition
502
verarmte Umgebung 635–636
U Vererbung
V – Langlebigkeit 605–606
Übelkeit, gelernte 174 – polygene 575, 587–590
Übergangsfunktion, Sensor 304 Vaginaldurchblutung, Schlaf 549 Vergenzbewegung, Okulomotorik 403
Übergewicht 235, 674 Vagus (7 auch Nervus vagus) Vergleich, Aufmerksamkeit 501
– Schlaf 567 – Asthma 179 Vergleichsprozess
Übersäuerung, Nierenversagen 249 – Durst 668–669 – kortikaler 481
Überschreibung, Genetik 581 – Hunger 670–673 – MMN (Mismatch-Negativität) 529
übersinnliche Kraft 300 Vagusnerv, Blutdruckregelung 204 Verhalten
Übersprungshandlung 665 Valenz – EEG-Frequenz 477
übertragener Schmerz 356–357 – Definition 712 – geschlechtsspezifisches 137, 138
Überträgerstoff 7 Transmitter – emotionale 718 – instinktives 265
Überträgersubstanz Vanilloidrezeptor 350 – Neuropeptid 144
– autonome 108, 109 Variabilität, genetische 582–584 – Östrogen 681–682
– Basalganglion 279 Varikosität, synaptische 108 Verhaltensanalyse, Schmerz 370
– Glutamat 50 vasoactive intestinal polypeptide (VIP) Verhaltensgedächtnis 620
Uhr 109, 169, 676 Verhaltensgenetik 587–590
– molekulare 541–543 Vasokongestion 676 Verhaltenskette (chaining) 623–624
– ultradiane 541 – Frau 679 Verhaltensmedizin 223, 655–658
ultradiane Uhr 541 Vasokonstriktoraktivität 111 Verhaltensneurobiologie 2
ultradianer Rhythmus 536 Vasopressin 144 Verhaltensneurowissenschaft 2, 3
Ultrafiltration, Primärharn 246 – Partnerschaft 147 Verhaltensplan 790
Ultraschall 416 vegetative Efferenz 27 Verhaltensstörung, Genetik 649
Umami-Geschmack 441 vegetativer Schmerz 344 Verhaltenstherapie
Umfeldhemmung 306, 307 vegetativer Zustand 518–519 – Adipositas 236
Unabhängikkeitsregel, Mendelsche vegetatives Nervensystem – Depression 739
573–574 (7 auch autonomes Nervensystem, – Schlaf 564–567
Unbewusstes 7 ANS) 102–115 – Sucht 707
Unfall, Rhythmus 546 Vegetatives System, Immunsystem – Vermeidung 729–732
unipolare Depression 733 170 Verhätnisschätzmethode 347
Sachverzeichnis
879 T–W

Verkalkung, Arterie 208 visuelle Rehabilitation 401, 402 Vorstellung


Verlangen, Freude 696–698 visueller Kortex 7 auch Sehrinde – Hirnvorgang 773
Vermeiden, Psychopathie 745–746 – Ontogenese 399, 400 – Komplexität 773
Vermeidung 722–732 – Phylogenese 407 – Psychologie 753–754
– aktiv 723, 729 – Zytoarchitektonik 407 Vorstellungstraining 616
– passiv 723,729 visuelles System (7 auch Auge,
Vermeidungslernen 722–724 7 auch Sehen) 376–414
– Definition 625 visuelles Zentrum 396–399
– langsames Hirnpotenzial 723 Visusbestimmung 377
W
Vermeidungsverhalten, Basalganglien viszerale Afferenz 27
719–720 viszerale Sensibilität 336–339 Wachstum, Schlaf 599
Vermis 281 viszeraler Kortex 673 Wachstumsgen 585
Verpflanzung, Stammzelle 595 viszeraler Schmerz 342–343 Wachstumshormon 129, 142
Verschmelzungsfrequenz 318 Viszerorezeption – Kortisol 145
Verstärker – gastrointestinales System 338 Wachstumskegel 596
– Hunger 672–673 – kardiovaskuläres System 337 Wada-Test 722, 761
– Lernen 624–627 – pulmonales System 337, 338 Wahrnehmung
Verstärkeraufschub, Gefühl 718 – renales System 338, 339 – Abbildungsprozess 298, 299
Verstärkermechanismus 699 Viszerosensor – außersinnliche 300
Verstärkerneuron 698 – Funktion 336 – Definition 299
Verstärkerplan 625 – Lokalisation 336 – Hormon 142
Verstärkerrate, Depression 733–734 Viszerotopie 672 – Kortisol 143
Verstärkung Vitalkapazität (7 auch Atmung) 212 – Motorikbeteiligung 313
– positive 696–698 Vitamin 233–235 Wahrnehmungspsychologie 298
– Trieb 663–664 – Bedarf 234 – allgemeine 314–319
– verzögerte 791–792 – Definition 233 – Definition 298
Vertigo 436 – Fettlösliches 233 Wallpapille 443
Vesikel – Klassifizierung 233 Wanderwelle 426
– Hormonspeicherung 118 – Vorkommen 233 – Innenohr 424, 425
– intrazellulärer 21 Vitamin A 233, 234 Warmblüter 222
– zellulärer 20, 21 Vitamin B, Mangel 652 Wärmeabgabe 223
vestibulärer Kortex 435, 436 Vitamin E 613 – menschliche 222, 223
vestibuläres System 432–437 Vitamin K 233 – Verhalten 226
– Untersuchung 436 Völlegefühl 338 Wärmebildung
Vestibularis, Sprache 758 voltage clamp 38 – fakultative 222
Vestibulariskern, Hirnstamm 435 Volumenregulationssystem, renales – menschliche 222
Vestibularorgan 7 Gleichgewichtsorgan 207 – zitterfreie 222, 226
Vestibularsystem, Sexualität 687 vomeronasales Organ (VNO) 682 Wärmekonduktion 223
Vestibulozerebellum 91–92, 281 Von-Frey-Haar 322, 343 Wärmekonvektion 223
Viagra (Sildenafil) 110, 677 Vorausverpflichtung (precommitment) Warmempfindung 225
Vibrationsempfindung 322, 323 626 Wärmestrahlung 223
– klinische Prüfung 324 Vorderhirn Warmpunkt 332
Vibrationssensor 326, 327 – basales 94–95, 556–559 Warmsensor 225, 334
Vigilanz 497 – Definition 76 Wasserfalltäuschung 406
– Rhythmus 545 – Entwicklung 594 Wasserretention 668–669
VIP (vasoaktives intestinales Peptid) 144 – Schlaf 555–557 Wasserstoffatom, MRT 486–487
Virilisierung 139 Vorderhirnbündel, mediales (MFB) Wasserverlust 670
Virus 164–165 76–77, 699–702 Weber-Fechner-Gesetz 316, 393
Viskosität, Blut 185 Vorderhornzelle, motorische 51 Weber-Regel 316
visuell evoziertes Potenzial 400, 401 Vorderseitenstrang 309 Weckschwelle 560
visuelle Agnosie 408 Vorderseitenstrangbahn 351–352 Weitsichtigkeit 389
visuelle Analogskala, Schmerzmessung Vorderwurzel 26 Werkzeuggebrauch 766
318 Vorhersagefehler, Dopamin 638 Wernicke-Region 774–779
visuelle Objektidentifikation 407 Vorhof, Herz 187 Wiederaufnahmehemmer von Sero-
visuelle Orientierung 524 Vorhof-Kammer-Knoten 190 tonin 58
880 Anhang

Wiederbelebungszeit 14 Zeitstruktur, Empfindung 312 – Neurotransmitter 92–97


Wiedergabephase 655 Zeitunterschiedsschwelle 318 Zentralskotom 378
Wille 531–533 Zeitzone, Rhythmus 546–547 zentrifugale Hemmung 312, 312
– freier 764–765 Zelladhäsionsmolekül 596, 601 zentrifugale Kontrolle, Schmerz 352
– getrennter 510 – Furcht 728 Zerebellum, Struktur 91–92,
– operanter 666 Zelldifferenzierung 581–582 7 auch Kleinhirn
Willensentscheidung 507 Zelle zerebrale Asymmetrie 756–766
Willensentstehung 756, 764–765 – Altern 605–606 zerebraler Tod 477
Willenskontrolle 501 – Apoptose 17 Zerebrospinalflüssigkeit (CSF) 25, 73
– Hirnpotenzial 531–533 – Bauplan 13, 14 Zielbewegung
willentliche Anstrengung 501 – Bestandteil 14 – Arm 287
Winterdepression 565–566 – Energieumsatz 219 – Hand 287
Winterzeit 546 – gap junction 22 Zielkontext, Bewusstsein 499
Wirkungsgrad, Herzarbeit 199, 200 – Gliazelle 24 Zielmotorik 266, 278
Wisconsin-Card-Sorting-Test (WCST) – Inhalt 13 – ballistische 281
791–792 – intrazelluläre Signalkette 21, 22 – Basalganglienrolle 278, 279
Wissensgedächtnis 620 – intrazellulärer Stoffaustausch 21 Zielverfolgung 790–797
– Mechanismus 627 – Kontaktverbindung 22 Ziliarmuskel, Auge 388
Wortblindheit (Alexie) 775–778 – Konzentrationsverteilung 35 Zingulum
Wortensemble 768–770 – Lebenszyklus 16, 17 – anteriores 522
Wundheilung, Psyche 168 – Lernen 642–645 – Depression 735–736
Wundstarrkrampf 28, 164 – Membran 13, 17–21 Zinkmangelsyndrom 234
Wunscherfüllung, Traum 562 – Nekrose 17 Zirbeldrüse 146
Würgen, psychophysische Behandlung – Neurogliazelle 24 – Epiphyse 540
238 – Nexus 22 zirkadiane Periodik
– Plasmamembran 13 – Depression 736–737
– REM 554–555 – Hormone 145,146
– Spaltverbindung 22 – Störung 545
X – Struktur 13 zirkadianer Rhythmus, Immunsystem
– Synzytium 22, 23 171
X-Chromosom 137 – tight junction 22 zirkadianes Schrittmachersystem 538
Xenobiotikum 247 – Untergang 17 zirkumventrikuläres Organ 77, 667
Xenotransplantation 250 – Verbindung 22, 23 zitterfreie Wärmebildung 222, 226
– Vesikel 20, 21 Zittern 222
– Wachstum 16 Zone, supraventrikuläre 541
Zellensemble 9 Zonulafaser, Auge 388
Y – Definition 629–635 Züchtungsexperimente, Mendel
– Oszillation 526–527, 632–633 573–575
Y-Chromosom 137 Zellentwicklung 594–595 Zuckerkrankheit 125, 126
yoked control 149, 531 Zellmauser – Behandlung 126
– Riechzelle 451 Zuschneiden, synaptisches 598–602
– Schmeckzelle 444 zustandsabhängiges Lernen 629
Zellmembranmolekül, Lernen 647–649 Zwangsstörung 732
Z Zellteilung 578–580, 582–584 Zwangsverhalten 723
Zelltod 596–599 Zwei-Prozess-Theorie
Zapfen 390, 391 zelluläre (erworbene) Immunität 162 – Furcht 722–723
Zapfenopsin 391 Zellulose 14, 232, 575 – Schlaf 563
Zeichensprache 752 Zellverlust, Stress 151–152 – Sucht 693–694
Zeitabhängigkeit, Ionenkanal 38 Zell-Zell-Verbindung 22, 23 Zweipunktschwelle, Tastsinn 323
Zeitgeber 536–538 zentrale Exekutive 503–504 Zweisprachigkeit 759–760
– Hormon 143 zentraler Schmerz 357–360 zweiter Botenstoff 21
– zerebellärer 92 Zentralheizung, Regelsystem 225 Zwerchfell 214
zeitliche Steuerung 793–794 Zentralnervensystem Zwergwuchs 129
Zeitlichkeit, Empfindung 301 – Hormon 142 – Schlaf 551
Zeitschätzung, Rhythmus 536 – Immunsystem 167, 170 Zwillingsmethode, Genetik 587–590
Sachverzeichnis
881 W–Z

Zwischenhirn, Schlaf 555–557


Zwölffingerdarm 241
Zygote 594
zyklisches Adenosinmonophophat
(cAMP) 21
Zyklophosphamid 174
Zyklotron 486
Zyproteronazetat 148, 680
zystische Fibrose 587
Zytoarchitektonik
– Grosshirnrinde 87–91
– visueller Kortex 407
Zytokin 163, 169–170
– Depression 175, 176
– Emotion 176
– Nervensystem 170
– Schlafentzug 545
– Schmerz 350
Zytoplasma 13
– Stoffaustausch 21
Zytoskelett 28
Zytostatikum 158
882 Anhang

Über die Autoren

Robert F. Schmidt
Robert F. Schmidt studierte Humanmedizin in Heidelberg. Der Promotion zum Dr.
med. schloss sich eine klinische Tätigkeit und ein zweijähriger Forschungsaufent-
halt mit der Promotion zum Ph. D. im neurophysiologischen Laboratorium des
Nobelpreisträgers Sir John C. Eccles in Canberra/Australien an. Nach der Habilita-
tion 1964 und einigen Jahren als Dozent und Professor in Heidelberg leitete er
1971–1982 das Physiologische Institut der Universität Kiel und 1982–2000 das Phy-
siologische Institut der Universität Würzburg. Seither ist er als Professor emeritus
an der Universität Würzburg und als Honorarprofessor an der Universität Tübingen
tätig. Von 1996–2009 forschte er als Investigador Visitante am Instituto de Neuro-
ciencias der Universidad Miguel Hernández in Alicante, Spanien. Zahlreiche For-
schungsaufenthalte in Australien, Japan, Mexiko und den USA, mehrere Ehrenmit-
gliedschaften in- und ausländischer wissenschaftlicher Gesellschaften sowie zahl-
reiche Auszeichnungen, z. B. 1987 die Wahl zum ordentlichen Mitglied der Akademie
der Wissenschaften und der Literatur, Mainz, 1991 der Max-Planck-Forschungs-
preis, 1994 der Deutsche Schmerzpreis, 1996 die Ehrendoktorwürde der University
of New South Wales in Sydney/Australien und 2000 die Verleihung des Bundes-
verdienstkreuzes I. Klasse, zeugen von seinem wissenschaftlichen Engagement.

Niels Birbaumer
Der 1945 geborene Niels Birbaumer studierte Psychologie, Kunstgeschichte und
Statistik an der Universität Wien und habilitierte sich 1975 für Physiologische Psy-
chologie an der Universität München. Seit 1975 hatte er einen Lehrstuhl für Klini-
sche und Physiologische Psychologie inne, seit 1993 ist er Direktor des Instituts für
Medizinische Psychologie und Verhaltensneurobiologie und des Magnetenzepha-
lographiezentrums der Universität Tübingen. Er verbrachte mehrere Jahre in For-
schungsinstituten der USA (Pennsylvania State University, University of Madison,
Wisconsin, National Institutes of Health, NIH) und Italiens (Universität Padova
und Trento). Neben seinen grundlagenwissenschaftlichen Interessen hat er stets
auch klinisch, vor allem in der psychophysiologischen Behandlung von organischen
Krankheiten, geforscht. Für seine Forschungsarbeiten wurde er vielfach ausgezeich-
net, so auch 1995 mit dem Gottfried-Wilhelm-Leibniz-Preis der Deutschen For-
schungsgemeinschaft (DFG) und 2001 mit dem Einstein World Award of Science.
2010 erhielt er die Ehrendoktorwürde der Universität Jena und die Helmholtz-
Medaille der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften. Er ist or-
dentliches Mitglied der Akademie der Wissenschaften und der Literatur, Mainz und
der Deutschen Nationalakademie, Leopoldina, Halle.

N. Birbaumer, Biologische Psychologie, DOI 10.1007/978-3-540-95938-0,


© Springer Medizin Verlag Heidelberg 2010

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