Sie sind auf Seite 1von 94

www.psychologie-heute.

de D6940E

PSYCHOLOGIE
PSYCHOLOGIE
HEUTE

HEUTE
Unsere
Mai 2014

Kindheit
Wie sie die seelische
und körperliche
Gesundheit beeinflusst
Lebenskrisen
Gehen Sie ins
Kunstmuseum!
SFR 10,–

Psychotherapie
€ 6,50

Sind Sie in
guten Händen?
HEFT 5
41. JAHRGANG
www.klett-cotta.de

»John Gottman – Der Pionier der Paarforschung«


Stern

Die neuesten Forschungsergebnisse des Paar-


384 Seiten, geb mit SU, € 21,95 (D), Aus dem Amerikanischen von Cathrine Hornung

therapeuten John Gottman aus seinem legendären


»Love Lab« zeigen: Vertrauen ist das A und O jeder
Paarbeziehung, es ist die Grundvoraussetzung dafür,
dass Paare dauerhaft zusammenbleiben und eine
tiefe Intimität aufbauen.

»John Gottman ist etwas gelungen, was kein


anderer je geschafft hat. Er kann die Haltbarkeit
von Partnerschaften voraussagen.«
ISBN 978-3-608-94810-3

Christian Thiel, Stuttgarter Zeitung

Wenn Familie krank macht

304 Seiten, geb mit SU, € 21,95 (D), ISBN 978-3-608-94802-8


Menschen, die von ihren Familien schlecht behan-
delt werden, zu wenig Aufmerksamkeit und
Zuneigung erhalten oder gar ausgegrenzt werden,
sind zahlreich und sie verbindet ähnliche leidvolle
Erfahrungen. Doch es gibt Auswege aus der Opfer-
rolle. Für schwarze Schafe ist es ein erster Schritt
der Befreiung, um diese Zusammenhänge zu
wissen. Dann können sich Wege auftun, dieses
»Schicksal« hinter sich zu lassen.
Editorial 3

Unordnung
und spätes Leid

In seiner stark autobiografisch gefärbten Novelle Unordnung entwicklungspsychologische, biologische, endokrinologi-


und frühes Leid lässt Thomas Mann den Vater eines kleinen sche, systemtheoretische und seit kurzem auch medizinische
Mädchens über „die Kürze des kindlichen Gedächtnisses“ Erkenntnisse (S. 26). Sie ist damit die umfassendste und
räsonieren. Er vertraue darauf, dass es ein aufwühlendes, tragfähigste Theorie in der modernen Psychologie. Bindungs-
leidvolles Erlebnis bald wieder vergessen werde. Nur zu ger- forscher haben nicht weniger als eine Grammatik der frühen
ne wollen wir das alle glauben und hoffen: Nicht jedes frü- Beziehungen und ihrer Langzeitwirkung auf die Persönlich-
he Leid, das uns selbst und unseren Kindern widerfährt, keit erarbeitet. Den Stand des Bindungsparadigmas verdeut-
hinterlässt eine hässliche Spur. Die Zeit heilt alle Wunden. licht der deutsche Kinder- und Jugendpsychiater Karl Heinz
Brisch (Seite 20).
Tut sie nicht. Zwar sind nicht alle Verletzungen einzeln in
das kindliche Gedächtnis eingeschrieben. Aber unvergess- Diese Arbeit kann in ihrer Bedeutung kaum überschätzt
lich, mehr noch: prägend ist das grundlegende Erlebnismus- werden. Denn so aufgeklärt und fortgeschritten, wie wir
ter der frühen Kindheit. Das emotionale Klima, in dem wir glauben, ist unser Umgang mit Kindern nicht: Die emotio-
aufwachsen, wird von vielen kleinen Begebenheiten und nalen Bedürfnisse der Kinder kommen gerade heute häufig
Gewohnheiten in der Eltern-Kind-Beziehung bestimmt. zu kurz. Kinder erhalten in ihren ersten, prägenden Lebens-
Weitgehend unbemerkt und nicht immer dramatisch ent- jahren nicht immer das ausreichende Maß an sicherer Ori-
scheidet sie darüber, wie viel Sicherheit, Resonanz und Zu- entierung und personaler Kontinuität. Viele Eltern sind so
wendung ein Kind in der ersten Lebensphase erlebt. Welches sehr mit sich selbst oder, paradoxerweise, mit dem „Projekt
Maß an Vernachlässigung, Unsicherheit oder Gefühlskälte Kind“ beschäftigt, dass sie es an der zentralen Elternkom-
muss es verkraften? Vieles, vielleicht das Wesentliche in un- petenz fehlen lassen: an „Feinfühligkeit“. Die Bindungsfor-
seren erwachsenen Verhaltensmustern hängt im Guten wie scher benennen damit das jeweils richtige Maß an Zuwen-
im Schlechten von diesen Erfahrungen ab. Thomas Mann dung und emotionaler Kommunikation, ganz besonders in
und die Seinen bieten hier, fast lehrbuchhaft, reichhaltige Trennungs- und Krisensituationen.
Fallgeschichten.
Zwar meinen es die meisten Eltern gut mit ihren Kindern,
1952 erregte der englische Psychoanalytiker John Bowlby sie sind bemüht und fürsorglich. Und doch ist oft vieles gut
mit einem Dokumentarfilm Aufsehen: A two-year-old goes gemeint, aber schlecht gemacht. Wichtiger als etwa eine ko-
to hospital. Wie erlebt ein kleines Mädchen die abrupte Tren- gnitive Frühförderung und besser als Überbehütung durch
nung von Mutter und Familie? Er stellte verstörende Fragen: Helikopter-Eltern ist eine entspannte, „hinreichend liebe-
Warum hat bis dahin niemand die emotionale Not von Kin- volle“ Haltung. Das klingt einfach, es muss aber in unseren
dern, die sich plötzlich allein gelassen fühlen, wirklich ernst komplizierten Zeiten erst (wieder) gelernt werden. Damit
genommen? Warum empfanden Erwachsene die kindliche Eltern ihren Kindern sichere Bindungen bieten können und
Angst, die Trauer, die resignierte Anpassung als etwas Nor- damit auch die Fähigkeit zur selbstbewussten Welterfahrung,
males? Bowlby erkannte nach und nach die Verbindungsli- muss Basiswissen über Bindung (wieder) vermittelt werden.
nien solcher Erfahrungen zu bestimmten Störungsmustern Das ist das Aufklärungsprogramm der Bindungsforschung.
im Erwachsenenverhalten: das „Klammern“ oder das be-
flissene Meiden von Nähe, „unerklärliche“ Panikattacken
bei Trennungen, permanente Gefühlsunterdrückung, Nar-
zissmus und vieles mehr – all das sind die Auswirkungen
von defizitären oder verstörenden Bindungserfahrungen. Die
von Bowlby begründete Bindungsforschung vereint heute
(E-Mail: h.ernst@beltz.de)

P S YC H O L O G I E H E U T E Mai 2 0 1 4
4 In diesem Heft

Titelt hema
In den Fesseln der Kindheit
Die ersten Lebensjahre sind entschei-
dend. Erfahrungen, die wir in der frü-
hen Kindheit machen, formen unser
Seelenleben bis ins Alter. Misshandlung
und frühes Leid gefährden die psy-
chische und körperliche Gesundheit
noch als Erwachsener, wie die jüngste
Forschung leider bestätigt. Eine miss-
glückte Bindung zu den Eltern prägt uns
ebenfalls ein Leben lang. Bleibt uns
also nichts übrig, als auf immer mit den
Wunden der ersten Jahre zu leben?
Fatalismus wäre fehl am Platz, denn
ausgeliefert sind wir der Kindheit nicht.
Psychotherapie kann „nachbeeltern“
und Fehlentwicklungen korrigieren.

20

■ Karl Heinz Brisch im Gespräch ■ Michael Lambert im Gespräch


Bindung: Die sichere Basis fürs Leben 20 „Einige Therapeuten
■ Klaus Wilhelm
verschlimmern die Probleme noch“ 46
Die frühe Kindheit und der ■ Felix Tretter im Gespräch
späte Schmerz 26 Hype um die Hirnforschung:
■ Simone Ritter im Gespräch
„Viel heiße Luft“ 60
Kreativität: ■ Annette Schäfer
Wie wir auf gute Ideen kommen 32 Psychologie studieren im Internet 64
■ Martin Hecht ■ Jana Hauschild
Wie Kunst und Natur Wie blind kann Gehorsam sein? 70
uns in Krisenzeiten helfen 38 ■ Felicitas Hoppe im Gespräch
■ Jochen Paulus „Hier bin ich!
Gute Therapeuten – Ihr müsst mit mir rechnen!“ 76
schlechte Therapeuten 44

PSYC H O LO G I E H EUTE M a i 2014


In diesem Heft 5

Heilende Kunst Supertherapeuten und Versager


Eine Galerie oder ein Museum sind nicht nur Orte, Psychotherapie ist eine Erfolgsgeschichte, jedenfalls
an denen der Bildungshunger gesättigt wird. Auch in den Erzählungen der Therapeutenlobby. Im
die gestresste, gepeinigte, verunsicherte Seele findet Prinzip stimmt das auch. Doch es kommt drauf an,
Linderung in der „schönen Kunst“, vor allem in wer da therapiert. Es gibt Supershrinks – hochwirk-
der Malerei. Selbst im Kitsch der röhrenden Hirsche same Könner – und solche, die trotz guter Ausbil-
und naturbelassenen Gebirgsbäche stecken Trost dung ihren Patienten kaum zu helfen vermögen oder
und Ermutigung. ihnen sogar schaden.

38 44

8 52
Themen & Trends Gesundheit & Psyche
■ Mädchentrend: Schminktipps via YouTube ■ Schwangerschaft: Die High-Tech-Mütter
■ Betrügen: Wie die andern mir, so ich dir ■ Körper: Im Büro werden wir geschrumpft
■ Einkauf: „Tina, wat kosten die Kondome?“ ■ Psychotherapie: Länger ist besser
■ Der psychologische Begriff: Verdrängung ■ Praxis: Beschämende Arztpredigten
Und weitere Themen Und weitere Themen

82
Rubriken
6 Briefe
Buch & Kritik
8 Themen & Trends ■ Zukunft: Sind wir noch zu retten?
17 Impressum ■ Intelligenz: Die Frage nach der Erblichkeit ist sinnlos
52 Gesundheit & Psyche
■ Moderne: Die Facetten der Erschöpfung
82 Buch & Kritik
93 Cartoon ■ Geschwister: Welchen Einfluss haben sie auf unsere Psyche?
94 Im nächsten Heft Und weitere Bücher
6 Briefe

Leserbriefe
E-Mail ✍ k.brenner@ beltz.de

Alice Miller, die bekannte Kindheitsforscherin: Wie ihr Sohn unter ihr litt, erzählt er in einem Buch

der Geburt für sechs Monate (als er sich brauch gegenüber dem Sohn: Sie dräng-
Doppelter mütterlicher
nach der Geburt nicht stillen ließ), mit te ihren erwachsenen Sohn zur Therapie
Missbrauch sechs Jahren für zwei Jahre weggegeben bei dem von ihr gepriesenen Primär-
(Das Drama der verstörten Mutter. Rezension
in ein Heim (nach der Geburt einer therapieguru Konrad Stettbacher, in
des Buches Das wahre „Drama des begabten
Kindes“ von Martin Miller. Rezensent: Tilmann Schwester mit Downsyndrom), kein einer späteren Lebenskrise dann zur
Moser. Buch & Kritik, Heft 2/2014) einziges Mal von den Eltern im Heim Therapie bei einer Schülerin Stettba-
besucht. Die Mutter schreibt später in chers. Von diesen Therapiesitzungen
Ich hatte gerade mit großer Nachdenk- einem Brief, es sei ihr „nicht in den Sinn“ erhielt Stettbacher Mitschnitte, deren
lichkeit das Buch von Martin Miller über gekommen, bei der Einschulung des Inhalte er an die Mutter (und Analyti-
die Verleugnungen seiner Mutter, der Sohnes dabei zu sein … kerin) weiterleitete, die ihrerseits ver-
Die Redaktion behält es sich vor, Leserbriefe zu kürzen.

Psychoanalytikerin und Kindheitsfor- Statt der elterlichen Sprachlosigkeit suchte, auf diese Weise massiven Ein-
scherin Alice Miller, gelesen, als ich auf und familiären emotionalen Kälte be- fluss auf die Therapie des Sohnes zu
die Rezension des Psychoanalytikers tont Tilmann Moser die Anklagen, den nehmen.
Tilmann Moser stieß. Hass und die Verachtung von der Ana- Diese eklatanten therapeutischen
Mit Verwunderung und Befremden lytikerin Alice Miller auf die Psycho- Grenzverletzungen gipfelten darin, dass
stellte ich zunächst fest, dass bei Til- analyse und deren Lehrinstitutionen, als der Sohn Martin über Verleumdungen
mann Moser der mütterliche Miss- sei dies Haupttenor des Buches. Stettbachers und Drohungen der Mutter
brauch des Sohnes nur in sehr verkürz- Völlig weggelassen und verschwiegen gezwungen werden sollte, seine eigene
ter Form erwähnt wird: Die Mutter ha- wird dem Leser von Tilmann Moser in therapeutische Praxis aufzugeben, was
be den Sohn nicht vor dem gewalttätigen seiner Rezension der skandalöse dop- einer beruflichen Existenzvernichtung
Vater geschützt. pelte mütterliche Missbrauch: Zu dem gleichgekommen wäre und bei ihm zu
Das kindliche Drama wird nicht er- genannten mütterlichen Versagen kam bedrohlicher psychischer Instabilität
zählt: Weggegeben von der Mutter nach bei Alice Miller professioneller Miss- führte.

PSYC H O LO G I E H EUTE M a i 2014


Briefe 7

„Zu dem mütterlichen Versagen kam bei Alice Miller


professioneller Missbrauch des Sohnes“ Sabine Kohn, Schenefeld

1994 gewann Martin Miller seine Kla- verurteilt worden ist wegen Veruntreu- eine systemische Methodologie und die
ge gegen Konrad Stettbacher. Dieser war ung und Begünstigung, vorbestraft ist, Forderung nach einer engen Zusam-
angeklagt wegen Verletzung der Schwei- das Bundesverdienstkreuz zurückgege- menarbeit von Experiment und mathe-
gepflicht, gewalttätiger Manipulation ben hat ! Wenn die Arbeitslosen das Geld matisch ausgerichteter Theorie sind
und sexuellem Missbrauch von Patien- hätten, das er für gewisse Dienste ausge- noch kein Vorschlag, wie man darüber
tinnen. Er verlor seine Praxisbewilli- geben hat! Diese Selbstverliebtheit kotzt zu den für eine Gehirntheorie notwen-
gung. mich an! Ulrich Brennhäuser, per E-Mail digen Regeln kommen könnte. Somit
Der Sohn konfrontierte die Mutter bleibt mit der Forderung nach interdis-
damit, dass sie auf Manipulationen eines ziplinärer Zusammenarbeit der Aufruf
Scharlatans (ohne therapeutische Qua- Empiriegestützte zur Entwicklung einer Gehirntheorie als
lifikation) hereingefallen war. Gehirntheorie einem Durchbruch in der Hirnfor-
Dies scheint mir eher der äußere An- (Memorandum „Reflexive Neurowissenschaften“ schung einmal mehr im Morast der der-
lass für ihren nun folgenden menschen- auf www.psychologie-heute.de/home/lesenswert/ zeitigen wissenschaftlichen Landschaft
memorandum-reflexive-neurowissenschaft/)
scheuen Rückzug nach Frankreich in stecken. Elisabeth Dägling, per E-Mail
ihren letzten Lebensjahrzehnten gewe- Zehn Jahre nach dem berühmt-berüch-
sen zu sein. Mit 74 Jahren (1998) schrieb tigten Manifest, welches elf Hirnfor- Anstrengung weckt
sie in einem Schuldeingeständnis an den scher in der Zeitschrift Gehirn & Geist
Glücksgefühl
Sohn: „Ein verpfuschtes Leben lässt sich veröffentlichten, ziehen nun 14 Wissen-
(Konzentration. Titelthema Heft 2/2014)
nicht mit Lügen aufpolieren. Eine ver- schaftler mit ihrem Memorandum die
lorene Mutterschaft auch nicht.“ Die Bilanz aus den damaligen Ankündigun- Konzentrierte kreative, geistige Anstren-
Erklärungsversuche des Sohnes im Buch gen und vollmundigen Prognosen. Dass gung, der eine Problemklärung gelingt,
verstören teilweise, werfen neue Fragen diese Bilanz angesichts der eher mageren weckt Glücksgefühle, welche diese An-
auf und lassen viele Fragen unbeantwor- Erfolge der Neurowissenschaften nicht strengung mehr als lohnen.
tet. Die Auslassungen Tilmann Mosers positiv ausfallen konnte, versteht sich Dr. jur. Dr. rer. pol. Hagen Weiler, Göttingen
ebenso. Weiß er als Psychoanalytiker von selbst. Überraschend ist jedoch die
doch, dass Wichtiges gerade im Wegge- Forderung an die Neurowissenschaften Was Sie schreiben – schon im Editorial
lassenen, im Verschwiegenen zu finden nach der Entwicklung eines theoreti- – entspricht total dem, was auch mich
ist. Es fällt mir schwer, an einen „blinden schen Überbaus, einer „empiriegestütz- beschäftigt. Kurz gesagt: Je stärker und
Fleck“ beim Rezensenten zu glauben. ten Gehirntheorie“, deren Fehlen als größer sich die Widerstände einer Kon-
Interessant wäre, seine Motive für „das entscheidender Mangel gesehen wird. zentration auf etwas einstellen, umso
Weglassen“ zu erfahren. Die Einsicht der am Manifest beteiligten besser! Denn am Widerstand wächst ja
Sabine Kohn, Schenefeld Hirnforscher, dass für eine solche Ge- bekanntlich die Kraft (Muskeln, Kno-
hirntheorie die Kenntnis der Regeln, chen). Das ist das einzige Ziel aller mög-
nach denen das menschliche Gehirn ar- lichen Widerstände: dass wir uns ihrer
Hartz-IV-Verarsche beitet, unabdingbar ist, scheint den Ver- bewusstwerden und sie überwinden!
(Hartz 5. Ein Gespräch mit Peter Hartz und
fassern des Memorandums jedoch er- Deswegen die zunehmende Informati-
Hilarion Petzold. Heft 3/2014)
spart geblieben zu sein. Nach einer Idee onsflut und alles, was damit zusammen-
Das ist an Dreistigkeit nicht zu überbie- für eine Theorieentwicklung, welche die hängt. Diese Flut hat es darauf abgese-
ten: Der, dem wir diese Hartz-IV-Ver- Hirnforschung revolutioniert, sucht hen, einen vom (Geistes!) gegenwärtigen
arsche verdanken, schreibt ein Buch, wie man jedenfalls vergeblich. Denn der Augenblick abzuziehen und in (schein-
die Langzeitarbeitslosigkeit gelöst wer- Hinweis auf eine Fundierung der neu- bar) Vergangenem und Zukünftigem zu
den könnte: jemand, der zu zwei Jahren rowissenschaftlichen Forschung durch leben. Klaus de Benedetti, Walkungen, Schweiz
8

Themen & Trends


R E DA K T I O N : J O H A N N E S K Ü N Z E L

Bin ich schön? Auf Beauty-Kanälen im Internet zeigen Mädchen und junge Frauen Make-up-Tipps, bieten aber auch Lebenshilfe und Orientierung

Schöne neue Mädchenwelt


Mädchen geben auf YouTube Schminktipps. Ihre Clips haben höhere Zuschauerzahlen als
viele Kinofilme. Was ist von diesem Trend zu halten?

Um ihren 15. Geburtstag herum lädt die Zwei Jahre später steckt Ischtar mit- vieler Kinofilme und Fernsehsendun-
deutsch-aramäische Schülerin Ischtar ten im Abiturstress. Und: Sie ist jetzt gen. Inzwischen wird Ischtar auf der
Isik nach mehr als einem Dutzend Fehl- ein YouTube-Star. Mehr als 300 000 Straße erkannt.
versuchen endlich ihr erstes Video auf Mädchen haben ihren Beauty-Fashion- Auf Beauty-Kanälen geht es um
YouTube hoch. Es ist zwei Minuten lang, Lifestyle-Kanal abonniert, den sie im Schmink- und Stylingtipps, aber auch
denn ihre Kamera hat nur eine kleine Schnitt etwa zweimal pro Woche mit um Orientierung, Inspiration, Werte
Speicherkarte. In den nächsten Tagen neuen Clips bestückt. Bisher hat sie rund und Lebenshilfe von und für Mädchen.
und Wochen folgen weitere Videos. Isch- 250 Videos eingestellt. Mehr als 40 Mil- Von Ischtar möchten ihre Fans wissen,
tar zeigt, wie sie ihre langen braunen lionen Mal wurden diese seit Januar 2011 wie sie am besten für die Schule lernt,
Haare stylt und ein silbergraues Augen- abgerufen. Allein ihr viertelstündiges was sie über Magersucht und Drogen
Make-up schminkt, sie präsentiert ihre Video über „schöne & einfache Frisuren“ denkt, ob sie schon gemobbt wurde, wie
Nagellack- und ihre Schmucksamm- bringt es auf über eine Million Zuschau- sie mit ihren Eltern klarkommt, welche
lung. erinnen – das übertrifft die Reichweite Musik sie hört, ob sie schon eine Bezie-
Themen & Trends 9

hung hatte, wie man den Streit mit einer lässt sich feststellen: Auf den ersten Blick ßem Stil öffentlich sichtbar ihre alltäg-
Freundin beilegt. Wenn sie sich im Vi- wirkt alles sehr traditionell, Mädchen lichen Anliegen artikulieren und sich
deo spaßeshalber von ihrem kleinen und junge Frauen beschäftigen sich mit untereinander überwiegend solidarisch
Bruder schminken lässt, sind die Fans Beauty und Styling, huldigen der Kon- und unterstützend austauschen.
hingerissen. sumkultur, indem sie ständig neue Kos- Schminke ist dabei oft nur ein erster
YouTube-Stars sind zwar „cooler“ als metikprodukte begeistert in die Kame- Aufhänger, viele andere Themen kom-
die Gleichaltrigen aus dem Freundes- ra halten, stolz die Ausbeute ihrer Ein- men hinzu, und oft entdecken die Zu-
kreis, aber doch nicht so weit weg wie kaufstouren auspacken und ihre schauerinnen die Lust am Selberdrehen
die Celebritys aus den klassischen Mas- Schminksammlungen ausbreiten. Dabei von Videos. Die aktive Teilnahme an
senmedien. Internetlieblinge wie Isch- werden die gängigen Schönheitsideale der YouTube-Gemeinschaft geht mit
tar sind prinzipiell erreichbar, reagieren bestätigt: Hübsch und schlank muss dem Erwerb beträchtlicher Medien-
persönlich auf Videokom- kompetenz einher, von zuneh-
mentare und Anfragen, orga- mend professioneller Video-
nisieren Zuschauertreffen. „Es gibt Beauty-Gurus aller Kleider- produktion über den ge-
Dadurch entsteht eine treue, schickt kombinierten Einsatz
aber auch sehr anspruchsvol-
größen, Haarfarben und Nationalitäten, verschiedenster Social-Me-
le Fangemeinde, die genau manche senden aus dem Krankenhaus, dia-Kanäle bis zu Auftritten
weiß, dass es ihre Klicks sind, in den klassischen Massenme-
durch die die YouTube-Stars sitzen im Rollstuhl, haben eine Akne und dien. Für die einfallsreichsten
berühmt werden. Wenn regel- zeigen sich trotzdem ungeschminkt“ YouTuberinnen ist das ein
mäßige Videos ausbleiben, In- Hobby mit gutem Nebenver-
halte langweilig wirken oder dienst oder gar ein Karriere-
die YouTuberin sich in den Augen der man sein, den Modetrends folgen, aus sprungbrett in Medienberufe. Für an-
Fans negativ entwickelt, vielleicht „un- einem geschmackvoll dekorierten Zim- dere ist es ein Zeitvertreib, der viele neue
authentisch“ wirkt, dann hagelt es sofort mer heraus senden. All diese – die gän- Kontakte beschert und bei dem man sich
Beschwerden. Auch provozierende gigen Rollenvorstellungen und Normen kreativ ausprobiert.
(„Bist du noch Jungfrau?“) und belei- bekräftigenden – Tendenzen sind zu se- Dem Konsum- und Schönheitswahn
digende („Du blöde Kuh, deine Stimme hen. der Mainstreamgesellschaft wird nicht
ist einfach nur schrecklich“) Rückmel- Bei näherer Betrachtung zeigen sich abgeschworen, aber er wird auch nicht
dungen der berüchtigten Hater kommen aber auch emanzipatorische Aspekte. einfach kopiert. YouTube zeigt die un-
vor. Man muss sich „ein dickes Fell Konsumrausch steht neben Konsumkri- terschiedlichsten Varianten, sich als
wachsen lassen“, sagen YouTuber. tik: Welche Produkte erfüllen überhaupt Mädchen zu positionieren: Es gibt Beau-
Ischtar ist nur ein Beispiel für viele nicht die Werbeversprechen? Ist der ty-Gurus aller Kleidergrößen, Haarfar-
YouTuberinnen weltweit, die erfolgrei- Markenlippenstift aus der Parfümerie ben und Nationalitäten, manche senden
che Beauty- und Lifestylekanäle betrei- für 30 Euro wirklich besser als die Drei- wegen Krebs aus dem Krankenhaus, sit-
ben. Allein unter den Top-100-Kanälen Euro-Version aus der Drogerie? Wo zen im Rollstuhl, haben eine schlimme
in Deutschland sind neben Comedy-, fängt die Kaufsucht an? Die meisten be- Akne und zeigen sich trotzdem unge-
Musik- und Gameangeboten neun kannten Beauty-YouTuberinnen koope- schminkt, manche identifizieren sich als
Beauty-Lifestyle-Kanäle vertreten. Die rieren zwar zuweilen mit Firmen, stellen „Schminkmädels“, andere parodieren
meisten werden von jungen Frauen mit gesponserte Produkte vor: Die Szene ist genau das – und oft wird über die ak-
Migrationshintergrund betrieben. keine Gegenkultur. Aber sie setzt sich tuellen Trends der Internettechnologie,
Wie ist das Phänomen der selbstge- kritisch mit den Marktmechanismen über gute Kameras und Schnittpro-
drehten Schminkvideos und der sich auseinander. Alle Firmenkooperationen gramme gefachsimpelt.
darum organisierenden Mädchensze- und gesponserten Produkte müssen of- ■ Nicola Döring

nen einzuordnen? Wissenschaftliche fengelegt werden, sonst verliert die You-


Publikationen gibt es dazu bislang Tuberin schnell ihre Glaubwürdigkeit. Prof. Dr. Nicola Döring ist Diplompsychologin und
kaum, aber auf der Basis von Interviews Der innovativste Faktor der YouTube- leitet das Fachgebiet Medienpsychologie und Me-
dienkonzeption am Institut für Medien und Kom-
mit Zuschauerinnen und Inhaltsanaly- Beauty-Szene ist wohl der Umstand, dass munikationswissenschaft an der Technischen Uni-
sen der Videos und Videokommentare Mädchen und junge Frauen hier in gro- versität Ilmenau.

P S YC H O L O G I E H E U T E Mai 2 0 1 4
10 Themen & Trends

Wenn das Geheimnis zur Last wird


Viele Schwule und Lesben behalten ihre sexuelle Orientierung für sich. Doch wer wenig
von sich preisgibt, schafft eine Distanz zu anderen

Lange hatte Thomas Hitzlsperger gezö- auf den Prüfstand. Die Ergebnisse zei- Wer sich verstellt, beißt sich dagegen
gert, bis er sich Anfang des Jahres zu gen, welche unerwarteten Auswirkun- permanent mental auf die Zunge. Er
seiner Homosexualität bekannte. „Wer gen das Versteckspiel haben kann: Ei- lässt niemanden an sich heran. Dieser
ein Gefühl für die Stimmung in einer nerseits empfanden sich die Probanden Effekt wurde besonders deutlich, als die
Mannschaft hat, der weiß einfach, was Wissenschaftler die Gespräche auf Vi-
angesagt ist“, erklärte der ehemalige deo aufzeichneten und uneingeweihten
Bundesliga-Fußballer im Januar in ei- Beobachtern vorspielten. Diejenigen
nem Zeit-Interview. „Der Gruppen- Probanden, die sich beim Ge-
zwang kann enorm sein.“ spräch outen durften, wurden
Fast ein Viertel aller Schwu- als offener und sympathischer
len und Lesben in der EU ver- bewertet als diejenigen, die
heimlicht ihre sexuelle Ori- das nicht sollten.
entierung vor Arbeitskolle- „Die Strategie des Ver-
gen – so die Ergebnisse einer steckens hält nicht, was
Umfrage von 2013. Denn sie verspricht“, urteilen
wer sich outet, riskiert, die Wissenschaftler. „Sie
Freunde zu verlieren, nicht führt nicht zu dem Maß
mehr dazuzugehören, zum an sozialer Akzeptanz,
Außenseiter zu werden. das sich Menschen mit ei-
Wer seine Neigung für das ner stigmatisierten Identi-
gleiche Geschlecht versteckt, tät so sehr wünschen.“ Den-
geht dieser Gefahr aus dem Weg noch könne es natürlich ge-
– oder hofft es zumindest. Doch wichtige Gründe geben, seine
diese Strategie hat einen paradoxen sexuellen Neigungen oder auch
Nebeneffekt: Wenn man aus Sorge um eine psychische Erkrankung zu ver-
soziale Anerkennung wichtige Aspekte bergen.
seiner Persönlichkeit verheimlicht, be- Dieser Meinung ist auch Oliver Kahn.
„Der Gruppenzwang kann enorm sein“, sagte
kommt man oft nicht die Akzeptanz, der frühere Fußballprofi Thomas Hitzlsperger Im vergangenen September riet er Pro-
die man sich wünscht. nach seinem Coming-out fifußballern in der Zeitschrift Gala aus-
Das zeigt zumindest eine aktuelle drücklich von einem Coming-out ab:
Studie britischer und portugiesischer als weniger authentisch, wenn sie im Ein Spieler, der sich oute, müsse mit „un-
Wissenschaftler. Zu ihren Teilnehmern Gespräch mit einem Fremden diesen schönen Aktionen“ der gegnerischen
zählten Homosexuelle und Menschen wichtigen Aspekt ihrer Persönlichkeit Fans rechnen. „Wie gehen außerdem die
mit einer psychischen Erkrankung – bei- verheimlichen sollten. Gleichzeitig ka- Sponsoren damit um? Was bedeutet das
des Gruppen, die sich oft mit Berüh- men sich die Gesprächspartner weniger für die Karriere?“, gab Kahn weiter zu
rungsängsten und Diskriminierung nahe. Denn wer einen Teil seines Selbst bedenken. „All das macht die Situation
konfrontiert sehen. Viele der Probanden versteckt, achtet darauf, nicht zu viel doch schwieriger, als sie auf den ersten
gaben denn auch an, diesen Teil ihrer über sich preiszugeben. Ansonsten läuft Blick scheint.“ ■ Frank Luerweg

Identität bei der Arbeit zu verheimli- er Gefahr, sich unfreiwillig zu verraten.


chen, um ihre Beziehung zu den Kolle- „Um Intimität und ein Gefühl der Zu- Anna-Kaisa Newheiser, Manuela Barreto: Hidden costs
gen nicht zu gefährden. gehörigkeit zu entwickeln, muss man of hiding stigma: Ironic interpersonal consequences of
concealing a stigmatized identity in social interactions.
In mehreren Experimenten stellten sich aber offenbaren“, schreiben die Au- Journal of Experimental Social Psychology, 52, 2014,
die Forscher den Erfolg dieser Strategie toren. 58–70. DOI: 10.1016/j.jesp.2014.01.002

PSYCH O LO G I E H EUTE M a i 2014


Themen & Trends 11

Freunde wärmen
von innen
Temperaturen verarbeitet
das Gehirn ähnlich wie
Eindrücke der Nähe zu
anderen Menschen

Wenn man von Freunden allein gelassen gehört zum Be-


wird und sich einsam fühlt, also die „so- lohnungssystem,
ziale Wärme“ fehlt, dann tut äußere Hit- das uns Dinge oder
ze ganz besonders gut. Tristen Inagaki Erlebnisse als schön
und Naomi Eisenberger von der Uni- für mich da“) empfinden lässt. Inagaki
versity of California in Los Angeles haben und eher neutrale und Eisenberger gehen da-
jetzt erstaunliche Zusammenhänge zwi- Aussagen („gestern war von aus, dass das neuronale
schen emotionaler und physikalischer ich einkaufen“). Die Proban- System für die physikalische
Wärme in den Nervensystemen unseres den urteilten nach den Experi- Wärmeempfindung beim Füh-
Gehirns festgestellt. Denn unser Ober- menten, sie hätten sich „sozial ge- len sozialer Wärme „übernom-
stübchen aktiviert, wenn wir uns sozial bundener“ gefühlt, als sie das ange- men“ wurde. Die Wissenschaft-
gebunden fühlen, die gleichen neuro- heizte Wärmepaket hielten – im Ver- lerinnen glauben, ihre Erkennt-
nalen Netzwerke wie bei der Wahrneh- gleich zum kühlen Ball. Und natürlich nisse könnten auch im Alltag nut-
mung von äußerer Wärme. wurde ihnen warm ums Herz, als sie die zen. Angesichts der Tatsache, wie
In einem Hirnscanner liegend, muss- Freundschaftsbekundungen ihrer Ver- wichtig soziale Wärme für das Wohlbe-
ten 20 Probanden diverse Aufgaben er- trauten zu Gesicht bekamen. finden ist, wollen sie mittelfristig Ver-
ledigen. Zum Beispiel sollten sie einen In beiden Fällen wurden im Gehirn suche starten, Einsamkeitsgefühle mit,
kühlen Ball in den Händen halten – oder die sogenannte „mittlere Insel“ und das wie es heißt, „Temperaturmanipulatio-
ein angenehmes Wärmekissen. Um „ventrale Striatum“ aktiviert, wie die nen“ zu bekämpfen. ■ Klaus Wilhelm
nachzuweisen, welche Hirnareale bei Scanneraufnahmen zeigten. In der Insel
sozialer Wärme aktiviert werden, lasen werden etliche Empfindungen wie Ge- Tristen Inagaki, Naomi Eisenberger: Shared neural me-
chanisms underlying social warmth and physical
die Teilnehmer herzzerreißende Bot- schmack oder Hunger verarbeitet, aber warmth. Psychological Science, 24/11, 2013, 2272 bis
schaften ihrer Freunde („du bist immer auch Mitgefühl. Das ventrale Striatum 2280. DOI: 10.1177/0956797613492773

LQ3DUWQHU5HLVHSDUWQHUXQG)UHXQGHILQGHQ
+LHU OHUQHQ 6LH DQ %LOGXQJ .XOWXU XQG 3V\FKRORJLH LQWHUHVVLHUWH 0HQVFKHQ
NHQQHQ
HFKWH3URILOHQXU(85-DKUHVJHE½KU

Gleichklang.de
9HUPLWWOXQJVHUIROJLQHLQHP-DKUPHKUDOVLQQHUKDOEYRQ]ZHL-DKUHQ

'LHDOWHUQDWLYH.HQQHQOHUQ3ODWWIRUPI½UQDWXUQDKHWLHUOLHEHXPZHOWEHZXVVWHXQGVR]LDORULHQWLHUWH0HQVFKHQ
12 Themen & Trends

Frustrierst du mich, betrüg ich dich


Gerecht soll es zugehen, ausgewogen. Ist das nicht der Fall, greifen viele Menschen
zu Schummeleien, um das Gleichgewicht wieder herzustellen

Gewinner und Verlierer schummel-


ten. Doch die objektiv Frustrierten, die
zehn Dollar verloren hatten, logen viel
häufiger als die anderen: Sie waren
durchweg geneigt zu betrügen, um Geld
zu gewinnen. Diejenigen, die schon zu-
vor Glück gehabt hatten, nutzten diese
Chance nur vereinzelt. Ein zweites Ex-
periment zeigte, dass es nur zum Betrug
kam, wenn sich die reale Chance zum
Gewinn bot. In einer vermeintlichen
Übungsrunde, in der das erzielte Ergeb-
nis nicht in bares Geld umzuwandeln
war, verhielten sich auch die frustrierten
Versuchspersonen weitgehend ehrlich.
Im dritten Experiment sollten die
Probanden zunächst über eine Lebens-
situation berichten, in der sie sich an-
deren materiell unterlegen oder überle-
gen gefühlt hatten. So wollten die For-
scher die subjektive Dimension finan-
Anderen das Geld aus der Tasche ziehen? Das ist natürlich nicht in Ordnung. Doch hohe moralische zieller Frustration ausleuchten. Das
Ansprüche scheinen nur zu gelten, solange man sich selbst gut behandelt fühlt Ergebnis: Diejenigen, die sich an eine
frühere finanzielle Benachteiligung hat-
Haben Opfer das Recht, selbst zu Tätern zu werden? Eher ten erinnern müssen, verhielten sich deutlich seltener ehrlich
nicht: Benachteiligt zu werden entschuldigt unmoralisches als die Vergleichsgruppe und erschummelten sich häufiger
Verhalten nicht. Diesen Konsens teilen die meisten Men- den Gewinn. Doch nicht nur mit sich selbst waren die Pro-
schen. Das haben die Forscher Eesha Sharma, Nina Mazar, banden, die sich im Hintertreffen wähnten, gnädig. In zwei
Adam Alter und Dan Ariely anhand einer Umfrage gezeigt. folgenden Experimenten zeigte sich: Wer sich an eine miss-
Es gilt allerdings nur theoretisch. In mehreren Experimenten liche finanzielle Lage erinnerte, beurteilte moralisches Fehl-
stellte sich heraus: Sobald man sich herabgewürdigt fühlt, verhalten deutlich milder.
weicht diese Überzeugung auf. „Den meisten Menschen ist Die Autoren übertragen ihre Ergebnisse auf das echte Le-
nicht bewusst, wie schnell sie ihre gefühlte Benachteiligung ben. Da heute wegen weltwirtschaftlicher Turbulenzen immer
zur Legitimation unmoralischer Handlungen nutzen“, sagt mehr Menschen in finanzielle Engpässe geraten, fühlen sich
Mitautor Adam Alter. auch immer mehr Menschen ungerecht behandelt. Angestell-
Das amerikanisch-kanadische Team untersuchte diesen te, die sich im Vergleich mit ihren Chefs benachteiligt fühlen,
Graben zwischen theoretischen Werten und praktischem betrachten ihre eigene Neigung, zu lügen, zu betrügen und
Verhalten in fünf Experimenten. Daran nahmen jeweils rund zu stehlen, aber auch die ihrer Kollegen, mit viel Nachsicht.
100 Versuchspersonen teil. Das Prozedere war immer ähn- Sie verschaffen sich finanzielle Vorteile, rücken das empfun-
lich: Zuerst gewannen oder verloren die Probanden an einem dene Ungleichgewicht gerade und passen ihre moralischen
manipulierten Spielautomaten zehn Dollar. Anschließend Standards der Situation an. ■ Gerlinde Unverzagt

eröffnete eine zweite Aufgabe die Möglichkeit zu betrügen.


Eesha Sharma, Nina Mazar, Adam Alter, Dan Ariely: Financial deprivation selectively
Wer zuvor schlecht abgeschnitten hatte, konnte so den fi- shifts moral standards and compromises moral decisions. Organizational Behavior and
nanziellen Verlust wieder wettmachen. Human Decision Processes, 123/2, 2014, 90–100. DOI: 10.1016/j.obhdp.2013. 09.001

PSYCH O LO G I E H EUTE M a i 2014


Themen & Trends 13

Eine Familie
Nicht jede Hilfe hilft am Abgrund
Das Ergebnis vorsagen oder doch
lieber den Lösungsweg aufzeigen?
Das hängt davon ab, wie man
den Bittsteller einordnet

€ 19,99 [D]
ISBN 978-3-466-30994-8
Ist nett gemeint – aber hilft der weitergereichte Spickzettel wirklich?

Wer seine Kollegen ständig um Unterstützung bittet, dem unterstellen genau


diese Kollegen leicht, dass er seiner Arbeit nicht gewachsen ist. Andererseits »Die Geschichte von Jani Schofield erzählt
kann es manchmal ein Zeichen der Stärke sein, aktiv nach Rat zu suchen. Doch ihr Vater Michael mit väterlicher Liebe und
was gilt wann? Das haben sich die israelischen Psychologen Arie Nadler von ritterlichem Mut. Es ist wohl das fesselnds-
der Tel Aviv University und Lily Chernyak-Hai vom Netanya Academic College te Buch, das Sie jemals gelesen haben.«
gefragt. Jacquelyn Mitchard, Bestsellerautorin
An einem ersten Onlineexperiment nahmen 66 Probanden teil. Sie sollten
einen – fiktiven – 24-Jährigen bei Mathe- und Sprachaufgaben unterstützen. Jani ist erst vier Jahre alt, da befürchten
Vorab erfuhren einige Versuchspersonen, ihr Schützling habe bei vergleichba- die Eltern bei ihr eine Schizophrenie-
ren Tests sehr gut abgeschnitten. Andere lasen, die früheren Ergebnisse seien Erkrankung. Der Verdacht bestätigt sich:
äußerst dürftig gewesen. Als der vermeintliche Kandidat dann tatsächlich Jani lebt in einer Welt aus Halluzinatio-
Schwierigkeiten bei zwei Aufgaben anmeldete, war die Hilfsbereitschaft groß. nen und gewalttätigen Vorstellungen
Die Art der Unterstützung unterschied sich jedoch deutlich. mit Hunderten imaginärer innerer
Diejenigen, die sich einem Testversager gegenüber glaubten, boten ihm in »Freunde«. Mitten in diesem Chaos aus
acht von zehn Fällen das richtige Ergebnis an. Die anderen Teilnehmer lieferten nicht enden wollenden Wahnvorstellun-
dagegen in neun von zehn Fällen Hinweise auf den korrekten Lösungsweg. Sie gen und Wutanfällen setzen Janis Eltern
vertrauten offenbar grundsätzlich den intellektuellen Fähigkeiten ihres Schütz- alles daran, das Leben ihrer beiden Kin-
lings. In zwei weiteren ähnlichen Tests zeigten die Psychologen: Diese Hilfe zur der zu schützen, während die Familie
Selbsthilfe erhalten auch Menschen, denen ein hoher sozialer Status zugeschrie- auseinanderzubrechen droht.
ben wird, etwa weil sie in einem wohlhabenden Viertel leben. Wer dagegen in
einem verarmten Bezirk haust, wird von vornherein wie ein Testversager be- Eine packende, wahre Geschichte, dra-
handelt. Die Probanden führen hier die Suche nach Unterstützung auf ein Feh- matisch und Mut machend zugleich.
len von Können und Wollen zurück. Sie lässt hoffen, dass die bedingungslose
Allerdings sind diese Zuschreibungen nicht in Stein gemeißelt. In einem elterliche Liebe Jani künftig ein halbwegs
letzten Experiment hielten 118 Studenten eine sozial schlecht gestellte Schüle- lebenswertes Leben ermöglichen wird.
rin für besonders kompetent, wenn sie aktiv nach Hilfe zur Selbsthilfe fragte.
■ Johannes Künzel

Arie Nadler, Lily Chernyak-Hai: Helping them stay where they are: Status effects on dependency/autonomy-
oriented helping. Journal of Personality and Social Psychology, 106/1, 2014, 58–72. DOI: 10.1037/a0034152

www.koesel.de
14 Themen & Trends

Notizen

Einmal bestochen, immer bestechlich?


Fehler macht jeder. Manche Menschen allerdings belassen es bei einem Ausrutscher, während
anderen ethisch fragwürdiges Verhalten zur Gewohnheit wird. Nicht jeder Polizist, der einmal
ein Auge zugedrückt hat, entwickelt sich zum dauerhaften Schmiergeldempfänger. Die ameri-
kanischen Forscher Shu Zhang, James Cornwell und Tory Higgins glauben, die Theorie des re-
gulatorischen Fokus könnte diese Unterschiede erklären.
Menschen streben demnach entweder danach, etwas Gutes zu erreichen oder etwas Schlech-
tes zu verhindern. Wer sich aber darauf konzentriert, Veränderungen zu vermeiden, kann sich
in eine Verhaltenssackgasse manövrieren. Lässt sich zum Beispiel ein Polizist einmal bestechen,
kann er die Situation nicht bereinigen, indem er am Istzustand festhält. Die Forscher der Co-
lumbia University in New York testeten die Vorhersagekraft des regulatorischen Fokus für
ethisches Verhalten in fünf Versuchen. In einem ersten Experiment ließen sie 87 Studenten zwei Aufgaben lösen. In beiden Tests
wurde es den Teilnehmern sehr einfach gemacht zu betrügen. Abschließend erhoben die Wissenschaftler, ob die Probanden
ihre Ziele grundsätzlich eher durch Annähern oder durch Vermeiden erreichen. Die Auswertung bestätigte die Vorhersage:
Defensiv orientierte Versuchspersonen korrigierten einmal gemachte Fehler deutlich seltener.
Selbst risikofreudige Menschen lassen sich dazu bringen, vorübergehend auf Sicherheit zu setzen. Auch sie wiederholen
Schummeleien dann häufiger, wie weitere Experimente zeigten. Zhang und Kollegen folgern: Wer Veränderungen um jeden
Preis vermeiden möchte, riskiert damit, dass einmalige Ausrutscher zu chronischen Macken werden. ■ JOHANNES KÜNZEL

Shu Zhang, James Cornwell, Tory Higgins: Repeating the past. Prevention focus motivates repetition, even for unethical decisions. Psychological Science,
25/1, 2014, 179–187. DOI: 10.1177/0956797613502363

Spiegelt der Computer den Charakter seines Besitzers wider, unter-


scheiden sich also Mac-Fans von Windows-Freunden? Eher nicht.
Zumindest differierten 108 befragte Apple- oder PC-Eigner nicht in ihren
Persönlichkeitsmerkmalen, berichten amerikanische Psychologen.

JEFFREY NEVID, AMY PAST VA: “I’M A MAC” VERSUS “I’M A PC”: PERSONALIT Y DIFFERENCES BET WEEN MAC AND PC
USERS IN A COLLEGE SAMPLE. PSYCHOLOGY & MARKETING, 31/1, 2014, 31–37. DOI : 10.1002/ MAR.20672

Der peinliche Einkaufskorb


Es gibt Dinge, die niemand gerne kauft. Medikamente gegen Blähungen gehören wahrscheinlich dazu.
Kunden versuchen häufig, vom peinlichen Produkt abzulenken, indem sie noch weitere Waren erwerben.
Doch die amerikanischen Verhaltensökonomen Sean Blair und Neal Roese haben beobachtet: Mehr Güter
im Einkaufskorb machen den Einkauf nicht automatisch weniger heikel. Im Gegenteil. „Paradoxerweise
können zusätzliche Gegenstände das Gefühl der Scham noch verstärken“, schreiben sie. Das gilt dann,
wenn sie den schlechten Eindruck intensivieren, den das peinliche Kaufobjekt weckt.
In einem ihrer Versuche kauften 54 männliche Studenten entweder Kondome oder ein Mittel gegen
Blähungen. Außerdem konnten die Teilnehmer Papiertaschentücher sowie Lotion auf Kosten der Forscher
erwerben. Im Gegensatz zu Probanden, die die Arznei kauften, verzichtete der Großteil der Kondomkäu-
fer lieber auf Kleenex und Körpermilch. Denn gemeinsam mit dem Verhütungsmittel wirkten die beiden
Gegenstände umso verfänglicher. Es zählt der Gesamteindruck. In einem der weiteren Experimente soll-
ten sich 102 Erwachsene vorstellen, das Buch Die Anleitung für den kompletten Idioten zu einem höheren
IQ zu kaufen. 102 weitere Teilnehmer malten sich aus, außerdem eine Wissenschaftszeitung und einen
Zauberwürfel zu erwerben. Im Gegensatz zur ersten Gruppe hielten diese Freiwilligen das Buch nicht für
einen peinlichen Einkauf – denn die drei Waren vermittelten den Gesamteindruck, sie seien intelligent.
Wer also etwas Unangenehmes kaufen möchte, sollte es nicht unter einer Masse anderer Produkte
verbergen. Vielmehr lohnt es sich, den peinlichen Eindruck mit ein oder zwei gegensätzlichen Dingen
auszubalancieren. ■ ANNA GIEL AS

Sean Blair, Neal Roese: Balancing the basket: The role of shopping basket composition in embarrassment. Journal of Consumer
Research, 40/4, 2013, 676–691. DOI: 10.1086/671761
Themen & Trends 15

Lust auf Psychologie?

Verzerrt wie
El Greco
Sehen wir die Dinge wirklich,
wie sie sind? Es gibt einige
Beispiele, die dagegenspre-
chen. Psychologen haben im-
mer wieder gezeigt, dass sich
unsere Wahrnehmung leicht
durch äußere Umstände be-
einflussen lässt. Ein Hügel scheint steiler vor uns aufzuragen, wenn
wir einen schweren Rucksack tragen; ein Durchgang wirkt schmaler,
wenn wir einen breiten Stab in der Hand halten; und wenn wir über
negative Worte nachgrübeln, scheint die Welt gleich ein wenig düs-
terer zu sein. Tatsächlich? Die Harvardpsychologen Chaz Firestone
und Brian Scholl haben da ihre Zweifel. Mit einigen eleganten Expe-
rimenten führten sie vor, dass solche Verzerrungen auch zustande € 12,95 D
kommen können, wenn Versuchspersonen den Studienleitern einen Abonnenten von
Gefallen tun wollen. Firestone und Scholl berufen sich auf den Maler
El Greco. Der vor 400 Jahren verstorbene griechisch-spanische Künst-
zahlen € 10,– D
ler zeigte seine Figuren häufig mit überdimensionierten Armen und
Hälsen. Lange Zeit glaubte man, El Greco habe die Welt wohl insge-
samt verzerrt wahrgenommen und abgebildet. Aber das wäre unlo-
gisch: Schließlich hätte er auch seine Leinwände verzerrt sehen müs-
sen, was dann die langen Hälse aufgehoben hätte.
Mit diesem Wissen im Hinterkopf überprüften die Psychologen
bekannte Wahrnehmungsexperimente. Sie drückten Versuchsperso-
nen eine Stange in die Hand und ließen sie die Breite eines Durchgangs
220 Seiten, broschiert. ISBN 978-3-407-47209-0
schätzen. Jedoch nicht per Maßband, sondern indem sie einen zwei- Auch als erhältlich
ten Durchgang möglichst originalgetreu nachbilden sollten. Und sie-
he da: Probanden mit Stange arrangierten den zweiten Abstand
kleiner als den ersten. Hätte sich wirklich ihre Wahrnehmung verän-
dert, hätte genau das aber nicht passieren dürfen – El Greco lässt Psychologie studieren? Und dann?
grüßen. Die Forscher vermuten: Die Versuchspersonen hatten eine
Ahnung, was von ihnen erwartet wurde – und verhielten sich ent-
Was kann man mit dem Abschluss
sprechend. Sie schlagen für zukünftige Untersuchungen vor, gezielt anfangen? Eine Menge!
solche Fehler einzubauen. Das könnte helfen, echte von scheinbaren
Wahrnehmungsveränderungen zu unterscheiden. ■ JOHANNES KÜNZEL Dieses Buch präsentiert Psychologinnen
Chaz Firestone, Brian Scholl: Top-down effects where none should be found: The und Psychologen, deren Wissen in den
El Greco fallacy in perception research. Psychological Science, 25/1, 2014, 38–46.
DOI: 10.1177/0956797613485092 unterschiedlichsten Berufsfeldern
gefragt ist.
Informationen rund ums Studium
Autofahrer verhalten sich nicht rücksichts-
voller gegenüber Fahrradfahrern, wenn diese und Berichte aus der Praxis machen
Sicherheitswesten tragen oder sich als ungeübte das Buch zum wertvollen Begleiter für
Verkehrsteilnehmer zu erkennen geben. Die einzige alle, die Lust auf eine psychologische
Bekleidung, die in einer britischen Studie Autofahrer
Karriere haben.
dazu brachte, mehr Abstand beim Überholen zu
lassen, trug folgenden Aufdruck: Polizei. Leseprobe auf
www.psychologie-heute.kohlibri.de
IAN WALKER U. A.: THE INFLUENCE OF A BICYCLE COMMUTER’S APPEAR ANCE ON
DRIVERS’ OVERTAKING PROXIMITIES. ACCIDENT ANALYSIS & PREVENTION, 64, 2014,
69 –77. DOI : 10.1016 /J.A AP.2013.11.007

P S YC H O L O G I E H E U T E Mai 2 0 1 4
16 Themen & Trends

Notizen

Keine Zeit für alte Kontakte


Zeit ist heutzutage häufig Mangelware und will deshalb gründlich eingeteilt und
sorgsam genutzt sein. Das gilt auch für Freundschaften. Die Ergebnisse einer neu-
en Studie legen nahe, dass viele Menschen eine Gesamtzeit für enge Freundschaf-
ten kalkulieren, die sie auf ihre Freunde und Familienmitglieder aufteilen. Kommen
neue Kontakte hinzu, bleibt für die anderen, älteren Freundschaften folglich we-
niger Zeit übrig. Da die Pflege enger persönlicher Kontakte nicht nur das Wohl-
befinden steigert, sondern auch Energie kostet, ist die Kapazität für emotional
nahe Beziehungen beschränkt. Zwar schwankt sie individuell zwischen den Menschen, doch für jeden Einzelnen ist ihre
Anzahl im Laufe seines Lebens anscheinend recht konstant. Ändern sich die äußeren Umstände oder tritt der Mensch in
eine neue Lebensphase ein, wie die untersuchten 24 Studenten der internationalen Studie aus England und Finnland, kann
sich die Zusammensetzung des Freundeskreises ändern, und Freundschaften können ausgetauscht werden. Die insgesamt
dafür verwendete Zeit bleibt jedoch gleich. Robin Dunbar und seine Kollegen hatten hierfür das Telefonverhalten von 24
Studienanfängern über ihre ersten anderthalb Jahre an der Universität beobachtet und gesehen, dass sie insgesamt dieselbe
Anzahl von Anrufen machten, allerdings teilweise an neue Adressaten. Als Folge bekamen die anderen Teilnehmer des
Netzwerkes weniger Anrufe, sodass die Gesamtsumme der Telefonkontakte gleich blieb. Manko der Studie sind die geringe
Anzahl der Teilnehmer und die Beschränkung der Untersuchung auf telefonische Kommunikation. Ob sich die Ergebnisse
auf persönliche Treffen übertragen lassen, ist somit ungewiss. ■ DAGMAR KNOPF

Robin Dunbar u. a.: The persistence of social signatures in human communication. Proceedings of the National Academy of Sciences, 2014, online vor
Print. DOI: 10.1073/pnas.1308540110

Kinder verstehen Ironie häufig nicht. Möglicherweise fehlt ihnen


noch die Empathie. Kanadische Forscher haben gezeigt: Acht- und
Neunjährige, die sich gut in andere hineinversetzen können, verstehen
doppeldeutigen Humor besser als ihre Altersgenossen. Sie durchschau-
en eher, ob das Gesagte wirklich das Gemeinte ist.

ANDREW NICHOLSON U. A.: CHILDREN’S PROCESSING OF EMOTION IN IRONIC L ANGUAGE.


FRONTIERS IN PSYCHOLOGY, 2013. DOI : 10.3389 / FPSYG.2013.00691

Lizenz zum Prassen


Ein leichtes Schuldgefühl schleicht sich ins Gewissen, wenn wir etwas in den Restmüll werfen, was in die Recycling-
tonne gehört. Der Wurf in die richtige Tonne besänftigt hingegen, da wir wissen: Wiederverwerten schont die
Umwelt. Die Möglichkeit des Recycelns beruhigt sogar dermaßen, dass sie als „Freibrief“ für verschwenderisches
Verhalten dient. Diesem sogenannten Lizenzierungseffekt erlagen die Probanden des amerikanisch-chinesischen
Forscherteams um Jesse Catlin und Yitong Wang. Im ersten Experiment bewerteten die Probanden eine neue Sche-
re; dazu schnitten sie unter anderem Vierecke oder Quadrate aus Papierbögen. Jeder Proband erhielt dafür 200
Blätter, die insgesamt 1000 Gramm wogen. Das verbrauchte Papier sollten die Probanden anschließend wegwerfen
– vor ihnen stand entweder nur ein Mülleimer oder zusätzlich ein Recyclingbehälter. Letzterer lud die Probanden
zum Mehrverbrauch ein: 28 Gramm Papier verbrauchte jeder Proband im Mittel – dreimal so viel, wie wenn lediglich
der Mülleimer im Raum stand. Während des zweiten Experimentes zählten die Forscher die Papierhandtücher, die
Männer auf einer Unitoilette zum Händeabtrocknen benutzten. Zwei Wochen lang stand der reguläre Mülleimer
neben dem Waschbecken; für weitere zwei Wochen zusätzlich eine Tonne zum
Papierrecycling. Dreitausend Männer später zeigte sich der Lizenzierungseffekt
signifikant: Mit Recyclingtonne verbrauchten die Männer durchschnittlich ein
halbes Papierhandtuch mehr. Das klingt wenig, doch bei je 100 WC-Besuchern
an 250 Arbeitstagen im Jahr sind das 12 500 Papierhandtücher – rund 25 Kilo-
gramm Papier im Jahr, pro Toilettenraum.
Eine Recyclingoption wirkt demnach zumindest bei Gratisgütern wie ein Bu-
merang. Die Forscher empfehlen: Wir sollten stets daran denken, dass auch Re-
cyclingverfahren Wasser und Energie verbrauchen – und uns damit nicht auto-
matisch von Schuldgefühlen entbinden. ■ SEBASTIAN HAUPT

Jesse R. Catlin, Yitong Wang: Recycling gone bad: When the option to recycle increases resource
consumption. Journal of Consumer Psychology, 23/1, 2013, 122–127
Themen & Trends 17 Impressum / Service

REDAKTION SANSCHRIFT Werderstraße 10, 69469 Weinheim


Postfach 10 0154, 69441 Weinheim
Telefon 0 62 01/60 07-0
Fax 0 62 01/60 07-382 (Redaktion) Fax 0 62 01/60 07-310 (Verlag)
E-MAIL DER REDAKTION redaktion@psychologie-heute.de
WWW.PSYCHOLOGIE-HEUTE.DE

Schmeckt nach: Liebe HERAUSGEBER UND VERLAG Julius Beltz GmbH & Co. KG, Weinheim
Geschäftsführerin der Beltz GmbH: Marianne Rübelmann
CHEFREDAKTEUR Heiko Ernst
Man sagt: „Süß wie die Liebe“. Woher kommt diese Redewendung? Das
REDAKTION Ursula Nuber (stellvertr. Chefredakteurin), Katrin Brenner-Becker,
fragten sich Psychologen um Kai Qin Chan von der Radboud University Nij- Anke Bruder, Johannes Künzel, Thomas Saum-Aldehoff
megen in den Niederlanden. Sie befragten 37 Studenten und fanden heraus: REDAKTIONSASSISTENZ Nicole Coombe, Doris Müller
Die Emotion „Liebe“ wird stark mit dem Geschmack „süß“ assoziiert, „Ei- KORRESPONDENTEN IN DEN USA Dr. Annette Schäfer
LAYOUT, HERSTELLUNG Johannes Kranz
fersucht“ wird hingegen eher mit „sauer“ und „bitter“ in Verbindung ge- ANZEIGEN Claudia Klinger
bracht. Anschließend sollten sich 197 Probanden in eine verliebte, eifersüch- Postfach 10 0154, 69441 Weinheim
Telefon 0 62 01/60 07-386, Fax 0 62 01/60 07-93 86
tige oder neutrale Stimmung versetzen, indem sie über ein Ereignis oder Anzeigenschluss: 7 Wochen vor Erscheinungstermin
eine Phase in ihrer Vergangenheit GESAMTHERSTELLUNG Druckhaus Kaufmann, 77933 Lahr
schrieben, in der sie diese Gefüh- VERTRIEB ZEITSCHRIFTENHANDEL ASV Vertriebs GmbH, Süderstraße 77
le empfunden hatten. Dann pro- 20097 Hamburg, Telefon 0 40/3472 92 87

bierten sie entweder süßsaure Copyright: Alle Rechte vorbehalten, Copyright © Beltz Verlag, Weinheim. Alle
Rechte für den deutschsprachigen Raum bei Psychologie Heute. Nachdruck, auch
Fruchtbonbons oder ein Stück
auszugsweise, nur mit schriftlicher Genehmigung der Redaktion. Nachdruck, Auf-
Zartbitterschokolade und schätz- nahme in Onlinedienste und Internet sowie Vervielfältigung auf Datenträger wie
CD-ROM, DVD-ROM etc. nur nach vorheriger schriftlicher Genehmigung der Re-
ten ein, wie süß, sauer, bitter, daktion. Namentlich gekennzeichnete Beiträge geben nicht in jedem Fall die Mei-
würzig oder salzig ihnen diese nung der Redaktion wieder. Für unverlangt eingesandtes Material übernimmt die
Redaktion keine Gewähr.
Süßigkeiten vorkamen. Es zeigte Die in dieser Zeitschrift veröffentlichten Beiträge sind urheberrechtlich geschützt.
sich, dass die „verliebten“ Pro- Übersetzung, Nachdruck – auch von Abbildungen –, Vervielfältigungen auf
fotomechanischem oder ähnlichem Wege oder im Magnettonverfahren, Vortrag,
banden die Zartbitterschokolade Funk- und Fernsehsendung sowie Speicherung in Datenverarbeitungsanlagen –
als süßer empfanden als die eifer- auch auszugsweise – bleiben vorbehalten.

süchtig oder neutral gestimmten FRAGEN ZUM ABONNEMENT


Probanden. In einem weiteren Deutschland: Beltz Medien-Service
Postfach 10 05 65, 69445 Weinheim
Experiment wurden 93 Proban- Telefon: 0 62 01/60 07-330 / Fax: 0 62 01/60 07-9331
den in eine verliebte, eifersüchtige E-Mail: medienservice@beltz.de
www.psychologie-heute.de
oder glückliche Stimmung versetzt und sollten dann angeben, wie ihnen ein Studentenabos (Vollzeitstudium) gegen Vorlage der Studienbescheinigung (per
angeblich neuartiges Getränk schmecke. In Wirklichkeit handelte es sich um Fax, E-Mail-Anhang oder Zusenden einer Kopie)
Leitungswasser. „Die verliebten Probanden fanden das Wasser süßer als die EINZELHEFTBESTELLUNGEN
Deutschland: Beltz Medien-Service bei Rhenus
eifersüchtigen oder glücklichen Probanden“, berichten die Wissenschaftler. 86895 Landsberg, Telefon: 0 81 91/9 70 00-622
Für sie steht fest, dass Emotionen die sensorische Wahrnehmung beein- Fax: 0 81 91/9 70 00-405, E-Mail: bestellung@beltz.de.,
www.shop-psychologie-heute.de
flussen können. Allerdings trifft dies in erster Linie auf die Verbindung von
Schweiz, Österreich, Rest der Welt: Adressen wie unter „Abonnement“
Liebe und Süßem zu, andere Emotionen verleiten hingegen deutlich seltener
Einzelheftpreis: € 6,50 (Schweiz 10,– sFr.); bei Zu sendung zzgl Versandkosten.
zu dem Eindruck, dass etwas süßer, saurer oder bitterer schmeckt. Chan und Abonnementpreise: Jahres-/Geschenkabo: Deutschland € 69,90, Österreich,
Kollegen vermuten, dass die Erklärung für den engen Zusammenhang von Schweiz € 71,90 (jeweils inkl. Versand); alle anderen Länder € 63,90 zzgl. Porto
(auf Anfrage). Jahres-/Geschenkabo plus: Deutschland € 83,90, Österreich,
Liebe und Süßem im Gehirn zu finden ist: Das Betrachten von Fotos des Schweiz € 85,90 (jeweils inkl. Versand); alle anderen Länder: € 77,90 zzgl. Porto
(auf Anfrage). Studentenjahresabo: Deutschland € 62,90, Österreich, Schweiz
Partners aktiviert dieselbe Hirnregion (den anterioren zingulären Kortex) wie € 64,90 (jeweils inkl. Versand); alle anderen Länder € 56,90 zzgl. Porto (auf An-
das Essen von Süßem. ■ MARION SONNENMOSER frage). Studentenabo plus: Deutschland € 76,90, Österreich, Schweiz € 78,90
(jeweils inkl. Versand); alle anderen Länder: € 70,90 zzgl. Porto (auf Anfrage).
Kai Qin Chan u. a.: What do love and jealousy taste like? Emotion, 13/6, 2013, 1142–1149. Kennenlernabo: EU-Länder, Schweiz € 13,–, andere Länder auf An frage.
DOI: 10.1037/a0033758 Kennenlernabo plus: EU-Länder, Schweiz € 17,–, andere Länder auf Anfrage.
Die Berechnung in die Schweiz erfolgt in sFr. zum tagesaktuellen Umrechnungs-
kurs. Nähere Infos unter http://psychologie-heute-abo.kohlibri.de
Psychologie Heute kann im Abonnement oder als Einzelheft beim Buchhandel
oder direkt beim Verlag bestellt werden. Zahlungen bitte erst nach Erhalt der
Rechnung. Das Abonnement ist nach der Laufzeit von 6 Monaten jederzeit
kündbar. Zu viel bezahlte Beträge erhalten Sie zurück. Erfolgt keine Abbestel-
lung, verlängert sich das Abonnement automatisch um ein weiteres Jahr. Psy-
chologie Heute kann aus technischen Gründen nicht in den Urlaub nachge-
schickt werden.
Was erlaubt ist, regelt das Gesetz. Was geboten ist, ist
BEILAGENHINWEIS Der kompletten Aboauflage liegt eine Beilage der Büchergilde
dagegen Ansichtssache. Und da zeigt sich ein Genera- Gutenberg, Frankfurt bei. Der Aboauflage Inland liegt eine Beilage des RSD Reise
Service Deutschland GmbH, Kirchheim bei. Der gesamten Auflage liegt eine Beilage
tionenkonflikt: Viele Erwachsene halten etwa Skateboard- von Plan International Deutschland e.V., Hamburg bei. Wir bitten unsere Leser um
freundliche Beachtung.
fahren oder Abhängen in der Öffentlichkeit für unge-
BILDQUELLEN Titel: SIGN Kommunikation. S. 3: Gudrun-Holde Ortner. S. 4, 20,
bührlich. Teenager teilen diese Einschätzung nur selten, 21, 22, 23, 24, 26, 27, 29, 30: Marta Pieczonko. S. 5, 8, 11, 12, 13, 14, 15, 16 oben,
17, 38, 39, 41, 44, 47, 82, 94: Getty Images. S. 6, 58: dpa Picture-Alliance. S. 10, 16
berichtet die Kriminologin Susie Hulley. unten, 70, 71, 73, 74: Ullstein Bild. S. 18: Sabine Kranz. S. 23: privat. S. 32, 35, 36:
Alice Wellinger. S. 33: privat. S.43: akg Images. S. 46: privat. S. 52, 54 unten: Agen-
tur Focus/SPL. S. 54 oben, 55, 57, 58 oben, 59: Corbis. S. 56 Mauritius Images.
SUSIE HULLEY: WHAT IS ANTI -SOCIAL BEHAVIOUR? AN EMPIRICAL STUDY OF THE IMPACT OF S. 60, 62: Aniela Adams. S. 64, 65, 67, 68, Peter Kahrl. S. 76, 77, 79, Peter Peitsch.
AGE ON INTERPRETATIONS. CRIME PREVENTION AND COMMUNIT Y SAFET Y, 16, 2014, 20 –37. S. 93: Peter Thulke
DOI : 10.1057/ CPCS.2013.15

ISSN 0340-1677

P S YC H O L O G I E H E U T E Mai 2 0 1 4
18 Themen & Trends Serie: Der psychologische Begriff

A
lle fünf Sekunden stirbt ein bewusste abschieben, dass sie dieses Be-
Kind auf der Welt, das durch gehren gar nicht erst bewusst verspürt.
einfachste Mittel gerettet wer- Stattdessen komprimiert, verschiebt
den könnte. Und auch wir werden ir- und verfremdet das dynamische Unbe-
gendwann sterben, vielleicht schon in wusste die Denkinhalte soweit, dass sie
Kürze, falls wir Pech haben und von sich einer schnellen Erschließung ent-
einem Auto oder bösartigen ziehen. Gelinge diese Verdrän-
Virus erwischt werden. Man- gung nicht vollständig, könne
che Dinge sind so fürchterlich, es zu Symptomen in Form von
dass wir lieber nicht an sie
denken, obwohl sie doch tag-
Verdrängung Träumen, Fehlleistungen, Blo-
ckaden und Neurosen kom-
täglich passieren. Wären sie „Oh, das habe ich wohl verdrängt“, sagen wir, men, schrieb Freud. Auch spä-
uns aber ständig bewusst, wenn wir i einen
i h
unangenehmen T i vergessen
Termin tere Lebenssituationen könn-
könnten wir mit Sicherheit ten die verdrängten Konflikte
haben. Doch was bedeutet „Verdrängung“ eigent-
nicht mehr ruhig schlafen. Wir wieder aktualisieren, vor allem
lich? Und wie funktioniert das gezielte Vergessen?
verdrängen die Schattenseiten dann, wenn die verdrängten
und existenziellen Bedrohun- Gefühle noch aus der Kindheit
gen unseres Lebens, schieben stammten. Mit diesem Mate-
die unbequemen Gedanken oder Ge- inhalte jedoch nicht nur gegenwärtigen rial arbeitet dann die Psychoanalyse, die
fühle ins Unbewusste ab, um einiger- Erfahrungen, sondern können ihren darauf abzielt, verdrängte Inhalte aus
maßen unbeschwert durch den Tag zu Ursprung auch in weit zurückreichen- dem Unbewussten ins Bewusstsein auf-
kommen. den Kindheitserlebnissen haben. Legen- steigen zu lassen und dann zu bearbei-
Verdrängung – der Begriff stammt där ist der Fall der ersten psychoanaly- ten. „Positives vergisst man“, glaubt der
von Sigmund Freud, der die Verdrän- tischen Patientin Anna O., die sich un- Psychoanalytiker Wolfgang Schmid-
gung als wichtigen Abwehrmechanis- ter anderem weigerte, aus Gläsern zu bauer, „doch alles, was die vitale Bin-
mus beschrieb und von zwei verschie- trinken. Erst unter Hypnose erinnerte dung zwischen Mutter und Kind gefähr-
denen Systemen des Unbewussten aus- sie sich, dass sie früher einmal Hunde det, fällt besonders leicht der Verdrän-
ging: „Wir sehen, dass wir zweierlei Un- aus ihrem Glas habe trinken sehen und gung anheim.“
bewusstes haben, das latente, doch dies als so ekelerregend empfunden ha-

W
bewusstseinsfähige, und das Verdräng- be, dass sie die Erinnerung „verdrängt“ ährend die Psychoanalyse
te, nicht bewusstseinsfähige“, schrieb habe, schrieben Freud und sein Kollege die Verdrängungslehre fest
der Psychoanalytiker 1923 in seinem Josef Breuer im Jahr 1895. Zurück blieb verinnerlicht hat, ist sie wis-
Werk Das Ich und das Es. Während die nur das Symptom. senschaftlich allerdings schwer zu bele-
Erinnerungen im latenten Unbewussten Doch wie funktioniert die Verdrän- gen. Viele Jahrzehnte galt sie als speku-
lediglich „ruhten“ und bei Bedarf jeder- gung ins Unbewusste? Freud zufolge lativ und experimentell nicht messbar.
zeit wieder zugänglich seien, halte das zensiert das dynamische Unbewusste Doch im letzten Jahrzehnt brachten die
dynamische Unbewusste mithilfe eines Denkinhalte schon, bevor sie überhaupt Neurowissenschaften Licht ins Dunkel:
Zensors bedrohliche Wünsche, Fanta- in Worte gekleidet werden können. Ei- Im Jahr 2012 wiesen Forscher der Uni-
sien, Erinnerungen und Schuldgefühle ne Frau, die verbotenerweise ihren versitäten Regensburg und Konstanz
unter Verschluss. Freud zufolge ent- Schwager begehrt, könnte Freud zufol- nach, dass Menschen Dinge ganz gezielt
stammen die dort eingekerkerten Denk- ge diesen Impuls derart schnell ins Un- aus ihrem Gedächtnis löschen können.
Themen & Trends Serie: Der psychologische Begriff 19

Ein Forscherteam unter Leitung der ko- re cinguläre Cortex (zuständig für die
gnitiven Psychologen Karl-Heinz Bäuml Konfliktverarbeitung) aktiv. „Bei un-
und Simon Hanslmayr forderte ver- serem Experiment scheint das Vergessen
schiedene Versuchspersonen auf, zuvor also nicht durch eine willentliche Kon-
eingeprägte Informationen zu vergessen trolle erfolgt zu sein, sondern im Zu-
und mit aktuelleren zu überschreiben. sammenhang zu stehen mit der Akti-
Tatsächlich gelang das den Probanden. vierung von Konflikten“, schlussfolger-
Per Kernspintomografie und EEG zeich- te Axmacher. Womöglich waren die
neten die Forscher dann auf, was wäh- schambesetzten Begriffe also tatsächlich
renddessen im Gehirn geschah – und unbewusst „verdrängt“ worden.
fanden dabei heraus, dass das Gehirn Fazit: Menschen sind zu beidem in
mithilfe spezieller Steuerungsprozesse der Lage, sowohl zum unbewussten Ver- Richard Fletcher
Babys brauchen Väter
im Hippocampus (zuständig für den drängen aufgrund innerer Konflikte als Das ABC der Vater-Kind-Bindung
Erwerb neuer Gedächtnisinhalte) und auch zum bewussten Verdrängen auf- 2013. 172 Seiten, kartoniert
präfrontalen Kortex (zuständig für die grund der Entscheidung, an etwas nicht € 19.95 / CHF 28.50
ISBN 978-3-456-85301-7
Integration von Gedächtnisinhalten) mehr denken zu wollen. Klar ist aber
auch als E-Book erhältlich
unerwünschte Gedanken durch Übung auch, dass das Verdrängen in erster Li-
willentlich unterdrücken kann. Das Ver- nie eine wichtige und gesunde Eigen-
gessen ist also nicht nur ein passiver
Prozess, bei dem unwichtige Erinne-
schaft unseres Gehirns ist. Zwar kann
die Verdrängung schmerzlicher Inhalte
Für junge Väter –
rungsinhalte verblassen und verschwin- psychosomatische oder neurotische alles, was Sie
den, sondern bisweilen auch ein aktiver Symptome produzieren, viel schlimmer
Prozess, der psychische Arbeit erfordert. als zu verdrängen ist aber, dazu nicht in wissen müssen
„Man kann seine Erinnerungen nicht der Lage zu sein. Menschen mit post-
kontrollieren, aber wahrscheinlich ma- traumatischen Belastungsstörungen et- Babys suchen Kontakt, bereits am
nipulieren wir ganz bewusst, woran wir wa vergessen ihre fürchterlichen Erin- ersten Tag ihres Lebens. An der
denken wollen oder was wir lieber ver- nerungen nicht mehr, sondern müssen faszinierenden Entwicklung ihrer
gessen“, glaubt auch Martin Conway, sie immer wieder durchleben, zum Bei- Kinder hautnah teilhaben zu wol-
Professor für Kognitive Psychologie an spiel in Form von Flashbacks. Auch Schi- len, ist längst auch Sache der Väter.
der City University London. zophrene zeigen oft sogenannte „inhi- Und das zu Recht: denn die Bedeu-
Die willentliche Unterdrückung ge- bitorische Defizite“, also eine schwache tung des Vaters ist enorm, Kinder
zielter Inhalte belegt allerdings noch Verdrängungsfähigkeit, die wiederum brauchen – vom frühen Säug-
nicht das freudsche Konzept der Ver- zu Reizüberf lutung und seelischem lingsalter an – stärkende Vater-
drängung. Denn Freud zufolge findet Stress führt. Mit den existenziellen Be- beziehungen, um zu emotional
die Verdrängung unbewusst statt – und drohungen unseres Lebens können wir stabilen Persönlichkeiten zu reifen.
zwar ausschließlich bei konfliktbesetz- also besser umgehen, wenn unsere Ver- Wie entsteht eine gute, vertrauens-
ten Denkinhalten. Der Neurowissen- drängungskraft nicht allzu durchlässig volle Beziehung zwischen Vater
schaftler Nikolai Axmacher von der ist. Eigentlich keine neue Erkenntnis. In und Kind, wie innige, echte Verbun-
Universität Bonn dachte sich deshalb ein seinem Werk Das Gedächtnis und seine denheit? Wie lässt sich eine sichere
Testverfahren aus, bei dem Probanden Störungen schrieb der französische Psy- Bindung aufbauen?
zu konfliktbezogenen Sätzen wie „Ich chologe und Philosoph Théodule Ribot Vor dem Hintergrund seiner lang-
schäme mich darüber, wie ich bin“ as- bereits 1882: „Vergesslichkeit ist keine jährigen Elternarbeit zeigt der
soziieren mussten. Eine Stunde nach Krankheit des Gedächtnisses, sondern Psychologe Richard Fletcher anhand
dem Experiment zeigten Gedächtnis- eine Voraussetzung für seine Gesund-
I L L U S T R AT I O N : S A B I N E K R A N Z

von vielen Beispielen, wie junge


tests, dass die Probanden diejenigen heit.“ ■ Anne-Ev Ustorf
Väter die Signale und Bedürfnisse
Wörter, die ihnen besonderen Stress be- Die bisher erschienenen Beiträge der Reihe: „Ambiva- schon kleinster Kinder richtig
reitet hatten, schon wieder vergessen lenz. Das Gute im Bösen und das Böse im Guten sehen.“ verstehen und feinfühlig darauf
hatten. Im Kernspintomografen er- (Heft 03/2014). „Extraversion“ (Heft 04/2014)
reagieren können.
schien dabei jedoch ein anderes Muster IM NÄCHSTEN HEFT: VERSTÄRKUNG
Wir wissen: Positives Verhalten sollte man verstärken,
als bei Bäuml und Hanslmayr: Hier wa- negatives nicht. Was aber hat es mit dem Begriff „Ver- www.verlag-hanshuber.com
ren der Hippocampus und der anterio- stärkung“ wirklich auf sich?

P S YC H O L O G I E H E U T E Mai 2 0 1 4
20 Titel

BINDUNG
Die sichere Basis fürs Leben

D
ie ersten drei Lebensjahre sind entscheidend, sagen Der Kinder- und Jugendpsychiater Karl Heinz Brisch hat
Bindungsforscher. Machen Kinder in dieser Zeit- sich in den letzten 20 Jahren wie kaum ein anderer in
spanne mit ihren engsten Bezugspersonen positi- Deutschland mit dem Thema Bindung befasst und einen
ve Erfahrungen, bauen sie eine sichere Bindung auf und enormen Anteil daran, dass wir inzwischen viel über die
entwickeln Vertrauen. Dies ist aber nicht möglich, wenn sensiblen ersten Jahre im Leben eines Menschen wissen.
die Eltern nicht feinfühlig und angemessen auf die Bedürf- Doch dieses Wissen ist längst nicht breitenwirksam, wie er
nisse des Kindes reagieren. Die Folgen beeinträchtigen häu- im Gespräch mit Psychologie Heute erläutert. Denn immer
fig das ganze Leben. Denn die Beziehungsregeln, die wir in noch wachsen zu viele Kinder unsicher gebunden heran,
den frühen Jahren erwerben, beeinflussen, wie sicher wir immer noch reagieren Eltern auf die Bedürfnisse ihres Kin-
durchs Leben gehen, wie wir unsere Beziehungen gestalten des nicht angemessen, und immer noch lässt die Qualität
– und wie gesund wir sind. der frühen Betreuung zu wünschen übrig. Präventions-

W
elch gravierende Auswirkungen eine unsichere programme, die Brisch konzipiert hat, sollen hier Abhilfe
Bindung im frühen Kindesalter auf das ganze schaffen.
Leben haben kann, zeigen die neuesten Erkennt- Bindung ist kein Schicksal, die früh erworbenen negati-
nisse der Bindungsforscher: Es gibt einen klaren Zusam- ven Bindungsstile lassen sich später durchaus verändern.
menhang zwischen früher Bindungsqualität und späteren So kann eine Psychotherapie, die frühe Bindungserfahrun-
Erkrankungen. Belastende Erfahrungen in den ersten Le- gen berücksichtigt, nicht nur „nachbeeltern“, sondern auch
bensjahren führen oft im Erwachsenenalter zu chronischen chronisch Kranken in vielen Fällen helfen. Das belegen neu-
Erkrankungen wie beispielsweise Herz- und Kreislaufleiden, ere Forschungsergebnisse, über die Psychologie Heute in den
Krebs, Rheuma, Morbus Crohn, Asthma, Fibromyalgie und folgenden beiden Beiträgen informiert.
anderen „unerklärlichen“ Beschwerden.
I L L U S T R AT I O N E N : M A R TA P I E C ZO N KO

P S YC H O L O G I E H E U T E
Mai 2 0 1 4
Titel 21
22 Titel

„Bindung ist emotionale Nahrung,


die uns am Leben hält“
In Deutschland befasst sich kaum einer mehr mit dem Thema Bindung als der
Kinder- und Jugendpsychiater Karl Heinz Brisch. Er glaubt: In Sachen Bindung hat
Deutschland noch Nachholbedarf

P S YC H O L O G I E H E U T E Herr Brisch, einfach, aber nach ein paar Monaten an die Eltern binden, es kann sich ge-
seit zwanzig Jahren widmen Sie sich dem kommen sie meist gut auf den Weg. nauso gut an die Krippenerzieherin, Ta-
Thema Bindung und haben in dieser P H Warum ist die Bindung so wichtig? gesmutter oder Oma binden. Voraus-
Zeit viele Bücher geschrieben und Prä- B R I S C H Bindung ist emotionale Nah- setzung ist allerdings, dass diese sich
ventionsprojekte ins Leben gerufen – rung, die uns am Leben hält. Sie ist feinfühlig und zuverlässig kümmern.
neben Ihrer Arbeit als Oberarzt hier am gleichberechtigt mit lebenswichtigen P H Welche Fähigkeiten erwirbt ein si-
Dr. von Haunerschen Kinderspital in Bedürfnissen wie Hunger, Durst, Schlaf, cher gebundenes Kind?
München. Wie wichtig ist das Thema Luft oder Bewegung. Wenn kleine Kin- B R I S C H Es kann sich besser in andere
Bindung in der Kinderklinik? der keine Bindung haben, gedeihen sie Menschen hineinversetzen, hat eine bes-
K A R L H E I N Z B R I S C H Das Thema ist nicht, werden immer schwieriger in ih- sere Sprachentwicklung, kann sich bes-
ganz zentral. Wenn ein Kind sehr krank rem Verhalten, fangen an, sich in ihren ser konzentrieren, kann besser Freund-
ist, hat es automatisch Angst, und sein Bettchen zu schaukeln, weil sie es nicht schaften schließen und wird insgesamt
Bindungsbedürfnis ist aktiviert. Des- aushalten, dass niemand mit ihnen in in seinen Beziehungen voraussichtlich
halb braucht Deutschland bindungs- Kontakt ist. Wenn das weitergeht, ent- ein glücklicherer Mensch. Ungefähr 60
freundlichere Kinderkliniken, die das wickeln sie sich motorisch ganz zurück Prozent aller Kinder in Deutschland
Thema Bindung für alle Bereiche durch- und sterben. Eine sichere Bindung – al- sind sicher gebunden.
buchstabieren, im Sinne von Schutz und so eine liebevolle Beziehung zwischen P H Was ist mit den anderen Kindern,
Sicherheit für das Kind und seine Eltern Eltern und Kind, in der sich die Eltern die keine sichere Bindung auf bauen
von der telefonischen Erstanmeldung feinfühlig und verlässlich um ihr Baby konnten?
bis hin zur Aufnahme und Entlassung. kümmern – ist hingegen ein B R I S C H Diese sind eher unsicher-ver-
In meiner Abteilung, der Pädiatrischen Schutzfaktor. Das Kind meidend gebunden, das trifft in
Psychosomatik, spielt die Bindung aber kann sich aber nicht nur Deutschland auf 20 bis 25 Prozent
noch mal eine spezielle Rolle. Wir haben aller Kinder zu, je nach Stichprobe.
hier eine kleine Station für schwer bin- Vermeidend gebundene Kinder un-
dungsgestörte Kinder, die schon früh terdrücken ihre Nähebedürfnisse,
in ihrem Leben traumatisiert wur- weil die Eltern auf ihre emotionalen
den. Viele von ihnen sind aus ihren Signale meist abweisend reagieren. Sie
Familien herausgenommen. Mit ziehen sich eher zurück und sind ins-
diesen Kindern arbeiten wir mit gesamt nicht so widerstandsfähig gegen-
einem psychotherapeutischen In- über psychischen Belastungen. In
tensivprogramm. Das ist nicht Deutschland sind diese Kinder bei vie-

PSYC H O LO G I E H EUTE A pri l 2014


Titel 23

tes Kind von Johanna Haarer wurde Beziehungssysteme oder Vernachlässi-


Dr. med. habil. Karl Heinz Brisch leitet als
Oberarzt die Abteilung Pädiatrische Psycho-
hierzulande ja auch bis in die 1980er gung erlebt, entwickeln sich eher des-
somatik und Psychotherapie an der Kinder- Jahre verkauft. organisierte Bindungsmuster. Dann ist
klinik und Poliklinik im B R I S C H Das stimmt. Johanna Haarer die Gefahr sehr groß, dass das Weinen
Dr. von Haunerschen
schrieb vor, dass ein sattes und gewi- des Kindes die Eltern extrem stresst,
Kinderspital der Lud-
wig-Maximilians-Uni- ckeltes Baby nachts ins Kinderzimmer vielleicht sogar so sehr, dass plötzlich
versität München. Er ist gelegt werden soll und bis zum Morgen eine alte Kiste auffliegt und die Eltern
Dozent sowie Lehr- niemand mehr hineingehen darf. So ha- – unabhängig von ihrer sozialen Situa-
und Kontrollanalytiker
am Psychoanalytischen
ben unsere Großmütter das auch ge- tion – verrückte Dinge mit ihrem Kind
Institut Stuttgart. macht. Die Babys haben drei oder vier anstellen. Es schütteln, zum Beispiel.
Veröffentlichungen u. a.: Bindungspsycho- Nächte wie am Spieß gebrüllt und Oder es im Winter auf den Balkon stel-
therapie: Säuglings- und Kleinkindalter schließlich aufgehört. Sie haben gelernt, len und dort vergessen.
(Klett-Cotta, Stuttgart 2014). Weitere Infor-
es ist zwecklos, es kommt sowieso nie- P H Und diese Eltern und Kinder sehen
mationen: www.khbrisch.de
mand. Wenn man eine Generation von Sie dann hier in der Klinik?
Kriegern möchte, ist das gut, weil Babys B R I S C H Wir sehen hier viele Kinder,
len Eltern und Erziehern aber beliebt, auf diese Weise früh lernen, zu dissozi- die teilweise schon im Säuglingsalter viel
denn sie sind praktisch: Man kann sie ieren, das heißt Gefühle abzuspalten Stress erlebt haben. Und zwar aus allen
problemlos in zwei Tagen in die Kita und keine Schmerzen und Bedürfnisse Schichten. Eltern werden manchmal
eingewöhnen, sie weinen nicht und ma- mehr wahrzunehmen. Aber es ist nicht einfach überflutet von ihren Gefühlen,
chen in ihrem Verhalten keinen Stress. gut, wenn man partnerschafts- und be- das ist keine Frage der kognitiven Steu-
Aber gut geht es den Kindern nicht, sie ziehungsorientiert leben und eigene erung oder Schichtzugehörigkeit. Sonst
haben trotzdem großen Stress, haben Kinder emotional glücklich auf den Weg wären alle Menschen, die studiert haben,
jedoch gelernt, ihn nicht zu zeigen. Sie bringen will. glücklicher in ihren Beziehungen. Auch
simulieren also nur, dass es ihnen gut- P H Warum fällt es manchen Eltern promovierte Eltern bringen ihre Kinder
geht. schwer, eine sichere Bindung zu ihrem in die Klinik und sagen: Ich glaube, ich
P H Hat es kulturelle Gründe, dass in Kind aufzubauen? habe mein Baby geschüttelt.
Deutschland so viele Kinder unsicher- B R I S C H Wir wissen, dass es über P H Wie reagieren Sie darauf?
vermeidend gebunden sind? mehrere Generationen eine Weiterga- B R I S C H Wir führen Gesprä-
B R I S C H Ich glaube schon. Die Angst, be von Bindungsmustern gibt: Die che mit den Eltern und landen
das Baby zu verwöhnen, ist typisch Übereinstimmung zwischen dem Bin- dann schnell in ihrer Kindheit.
deutsch. Wenn wir Elternkurse machen, dungsmuster der Mutter und dem der Meist haben die Eltern frühe
merken wir immer wieder, dass deutsche Kinder beträgt ungefähr 75 Prozent, bei Erlebnisse, die sie selbst nicht ver-
Eltern sehr darum besorgt sind, ihre Ba- Vätern ungefähr 65 Prozent. Haben El- arbeitet und irgendwo abgelegt
bys früh zur Frustrationstoleranz zu er- tern selbst eine feinfühlige Betreuung haben. Wir machen dann mit ih-
ziehen. Diese Haltung finden Sie weder erlebt, können sie auch auf die nen Therapie; und viele sind dank-
in Italien noch in Asien oder Südame- Signale ihrer Kinder gut re- bar dafür. Dabei sind allerdings
rika, da denkt kein Mensch darüber agieren. Waren sie jedoch immer wieder Eltern auf uns zu-
nach, ob er sein Baby verwöhnt. Hier selbst unsicher gebunden, gekommen und haben gesagt:
aber sehen wir, dass viele Eltern auf die kann es sein, dass sie auch bei Wenn Ihr wisst, wie diese Dyna-
Signale ihrer Kinder nicht feinfühlig re- ihren Kindern mal auf die Si- mik abläuft, warum helft Ihr uns
agieren, sondern eher rigide mit ihnen gnale eingehen und mal nicht, dann nicht vorher? Und wir dach-
umgehen. Das hat wohl mit dem Erbe mal wütend reagieren und mal ten: Die Eltern haben recht. Wir
unserer preußischen Kultur und der nicht. Dann entsteht auch beim müssen früher anfangen und prü-
Schwarzen Pädagogik zu tun. Kind ein eher unsicheres Bin- fen, wer unverarbeitete frühe
P H Der nationalsozialistische Eltern- dungsmuster. Haben die Eltern Traumata im Gepäck hat. Eigent-
ratgeber Die deutsche Mutter und ihr ers- Gewalt oder ständig wechselnde lich schon in der Schwanger-

P S YC H O L O G I E H E U T E Mai 2 0 1 4
24 Titel

Die Feinfühligkeit für die Signale ihres Kindes ging


vielen Eltern verloren. Häufig fehlen Wissen und Erfahrung

schaft. Und das war die Ge- kriegt dann eher den Hinweis:
burtsstunde der SAFE-Kurse. Du kannst wohl nicht loslas-
P H SAFE steht für „Sichere sen. Dabei ist das ein sicher
Ausbildung für Eltern“ (www. gebundenes Kind, das erst mal
safe-programm.de). – Wie eine Bindung zur Erzieherin
kommen Sie den frühen Trau- aufbauen muss – und das sich
mata der Eltern in den Kursen schnell eingewöhnte Kind ein
auf die Spur? eher bindungsvermeidendes.
B R I S C H Die Kurse bestehen Drei Tage Eingewöhnung sind
aus geschlossenen Gruppen jedenfalls ungewöhnlich.
werdender Eltern, die sich P H Sehen Sie den Krippen-
vom siebten Schwanger- ausbau also kritisch?
schaftsmonat bis zum Ende B R I S C H Was Kinder brau-
des ersten Lebensjahres tref- chen, wenn sie fremdbetreut
fen. In der Schwangerschaft werden, ist inzwischen gut er-
machen wir mit allen Eltern forscht. Der jetzige Betreu-
ein Bindungsinterview und ungsschlüssel – zwei Erzieher-
gucken, was sie an Schutz- und Risiko- springen dann plötzlich auf und schrei- stellen auf 12 bis 15 Krippenkinder, oft
faktoren mitbringen und wo es vielleicht en. Wir üben mit ihnen, ganz klar und noch gesplittet auf verschiedene Teilzeit-
Erlebnisse gibt, die nicht gut verarbeitet bestimmt nein zu sagen, sogar die Wut- kräfte – ist für die Kinder ein riesengro-
wurden und Stress auslösen könnten. anfälle liebevoll zu begleiten. Denn das ßer Stress. Es gibt zu wenig Zeit für in-
Das müssen nicht unbedingt traumati- Baby hat ein Recht auf Wut: Wut ist ein dividuelle Zuwendung. Wenn die Kin-
sche Kindheitserlebnisse sein, das kann basaler Affekt, mit dem das Baby gut der anderthalb Jahre alt sind und zu
auch ein Sterbefall in der Schwanger- begleitet umgehen lernen muss, damit Hause sichere Bindungen haben, können
schaft sein oder eine Totgeburt vor zwei es später nicht alles herunterschluckt sie solche Erfahrungen etwas besser weg-
Jahren. Wir helfen den Eltern dabei und und depressiv wird oder sich zu aggres- stecken. Wenn sie aber sehr klein sind
bringen ihnen Feinfühligkeit im Um- siv verhält. Ich sage: Respekt für den und noch keine Bindungssicherheit ha-
gang mit dem Kind bei – auch das kann Affekt. ben und in ein System kommen, wo sie
man nämlich richtig gut lernen. Hier- P H Nun leben wir in Zeiten, in denen von vielen verschiedenen Menschen ver-
zulande gilt ja leider die Vorstellung: Eltern viel arbeiten und die Politik des- sorgt und gewickelt werden, wird es
Kinder großzuziehen lernt man neben- halb den Krippenausbau forciert. För- schwierig, diese selektive Bindung zu
bei. Weit gefehlt. dert das nicht unsicher-vermeidende einem Menschen aufzubauen. Im Gro-
P H Warum ist das so? Bindungsmuster? ßen und Ganzen, so wie die Qualität
B R I SC H Das Wissen um die Signale der B R I S C H Erfahrungen aus unseren der Krippenbetreuung derzeit organi-
Babys ist nicht mehr da, weil die Erfah- SAFE-Kursen lassen erkennen, dass der siert ist, ist das also eine Katastrophe.
rung fehlt. Ich würde mir wünschen, Druck auf das Baby, autonom zu sein Die Politik weiß das, aber es gibt keinen
dass deutsche Eltern irgendwann so ei- und zu funktionieren, in unserer Ge- politischen Willen, die Qualität in den
ne Feinfühligkeit für die Signale ihres sellschaft schon sehr groß ist. Das Kind, Krippen wirklich durchgängig und um-
Kindes entwickeln wie eine afrikanische das mit zwölf Monaten in die Krippe gehend zu verbessern.
Mutter, die merkt, wann das Baby auf kommt und nach drei Tagen eingewöhnt P H Sie sagen also: Krippen sind erst für
ihrem Rücken Wasser lassen muss. Auch ist, ist der Held in der Kindergruppe, größere Kleinkinder geeignet – und nur
Grenzen zu setzen fällt deutschen Eltern nicht das Kind, das drei Wochen zur dann, wenn sie einen wirklich guten Be-
schwer: Sie lassen vieles geschehen und Eingewöhnung braucht. Die Mutter treuungsschlüssel haben?

PSYC H O LO G I E H EUTE M a i 2014


Titel 25

BRISCH So ist es. Richtig sinnvoll sind


gute Krippen in Brennpunktstadtteilen,
wo viele Eltern sehr belastet sind. Dort DIE VIER KINDLICHEN BINDUNGSMUSTER
allerdings müssten Krippen die beste Der englische Psychiater und Psychoanalytiker John Bowlby wies als
Qualität der Welt haben. Also konstan- einer der Ersten auf die enorme Bedeutung der frühen Bindungsqua-
te, gut ausgebildete Erzieher im Schlüs- lität für eine gesunde psychische Entwicklung hin. Wurden seine Ver-
sel von 1:2. Wenn die Erzieher feinfüh- öffentlichungen Anfang der 1960er Jahre von der Fachwelt noch re-
lig sind, kann man ziemlich sicher sein, serviert bis ablehnend aufgenommen, so ist in den vergangenen Jahr-
dass die Kinder sich an sie binden wer- zehnten eine Fülle an Studien durchgeführt worden, die Bowlbys Kon-
den. Diese Bindungsmuster und Erfah- zepte und die unterschiedlichen Bindungsstile bestätigen.
rungen würden die Kinder dann verin-
nerlichen und für den Rest ihres Lebens SICHERE BINDUNG
als Schutzfaktor mitnehmen. Auch Schon im Säuglingsalter entwickeln Babys unterschiedliche Bindungs-
sprachlich und kognitiv würden sie sich muster, die bereits am Ende des ersten Lebensjahres klar unterschieden
gut entwickeln. Das hätte viele positive werden können. Eine sichere Bindung (60 bis 65 Prozent) entsteht
Effekte. dann, wenn die Bindungsperson sich dem Baby und seinen Signalen
P H Sie sind selbst Vater dreier Kinder. gegenüber feinfühlig und zuverlässig verhält. Dadurch verspürt das
Hat auch Ihre Familie Sie etwas über Baby emotionale Sicherheit und wird widerstandsfähiger gegenüber
das Thema Bindung gelehrt? psychischen Belastungen. Es lernt außerdem, sich besser in andere
B R I S C H Von meinen Eltern und Groß- einzufühlen.
eltern habe ich vieles an Schutz und Un-
terstützung mitgenommen. Als Vater UNSICHER-VERMEIDENDE BINDUNG
weiß ich, wie es sich anfühlt, emotional Die unsicher-vermeidende Bindung (20 bis 25 Prozent) entsteht, wenn
verwickelt zu sein. Meine Frau und ich die Bindungspersonen die Signale ihres Kindes hinsichtlich Schutz und
hätten selbst gern einen SAFE-Kurs be- Sicherheit eher zurückweisen und ihrem Kind vermitteln, dass es mit
sucht, dann hätten wir bestimmt man- Stress allein zurechtkommen solle. Das Kind bremst dadurch sein Be-
ches anders gemacht. dürfnis nach Nähe und Zuwendung, bleibt innerlich aber gestresst.
P H SAFE-Kurse für alle, wäre das Ihr
UNSICHER-AMBIVALENTE BINDUNG
Wunsch?
Eine unsicher-ambivalente Bindung hingegen (10 bis 15 Prozent) bilden
B R I S C H Ich würde mir tatsächlich –
Kinder aus, wenn die Eltern unklar auf ihre Bindungsbedürfnisse re-
wie bei den Schutzimpfungen – eine Art
agieren – also mal mit Schutz und Zuwendung und mal mit Zurück-
emotionale Grundimmunisierung der
weisung. Unsicher-ambivalente Kinder klammern sich häufig an die
Eltern wünschen, gegen die Tendenz zur
Eltern und können sich in ihrer Nähe dennoch schwer entspannen.
übermäßigen Frustration und Härte
Beide bindungsunsicheren Typen gelten als Risiken für die psychische
schon gegenüber Babys, gegen Fehlin-
Entwicklung, denn bindungsunsichere Kinder ziehen sich bei Proble-
terpretation und Missachtung von über-
men eher zurück und können sich nicht so gut in andere Menschen
lebenswichtigen Gefühlen und Bedürf-
einfühlen wie sicher gebundene Kinder. Trotzdem sind unsichere Bin-
nissen von Kindern. Und zwar für alle
dungen noch nicht pathologisch, sondern bewegen sich im Rahmen
Eltern, unabhängig davon, aus welchem
einer normalen Entwicklungsspanne.
Stadtteil sie kommen oder ob sie früher
gute oder schlechte Erfahrungen ge-
DESORGANISIERTE BINDUNG
macht haben. Wir wissen nämlich, dass
Hat ein Kind eine desorganisierte Bindung (5 bis 10 Prozent) an die
auch Eltern, die gute Kindheitserfah-
Bindungspersonen oder gar eine Bindungsstörung (ungefähr ein Pro-
rungen gemacht haben, immens viel von
zent), ist dies mit einem großen psychischen Risiko verbunden. Betrof-
den Kursen profitieren. Wenn möglichst
fene Kinder wachsen häufig mit einem traumatisierten Elternteil auf
viele Eltern einen SAFE-Kurs besuchen
oder werden von ihren Bindungspersonen seelisch oder körperlich miss-
würden, könnte sich die Welt im Kleinen
handelt. Sie brauchen frühzeitig eine intensive Kinderpsychotherapie.
also ein bisschen ändern. Das wäre dann
■ Anne-Ev Ustorf
echte Friedensarbeit.
■ Mit Karl Heinz Brisch
sprach Anne-Ev Ustorf
26 Titel

Die frühe Kindheit


und der späte Schmerz
Was haben Herz- und Kreislaufleiden, Krebs, Rheuma, Morbus Crohn, Asthma
oder Fibromyalgie mit der frühen Kindheit zu tun? Sehr viel! Belastende Erfah-
rungen in den ersten Lebensjahren können im Erwachsenenalter zu chronischen
Erkrankungen und „unerklärlichen“ Beschwerden führen. Bislang aber ignoriert
die Schulmedizin diesen Zusammenhang

■ Klaus Wilhelm

D
er übermächtige Vater! In Ute dungsstörung als Ursache für die Er- den Veränderungen im körperlichen
Zimmers Gehirn hinterließ er krankung angeht. Es war einer der Stresssystem, das sich die frühkindli-
schon früh Spuren, die Jahr- Schlüssel zu einem Leben ohne die chen Traumen merkt und auf seine Wei-
zehnte später in die Fibromyalgie führ- Tortur in ihren Muskeln: „Heute bin se reagiert. Denn der Arzt und Psycho-
ten – eine Erkrankung, bei der die Mus- ich schmerzfrei.“ loge redet nicht nur von psychischen
keln andauernd schmerzen. Und zwar Jegliche negative Erfahrung – vor al- Leiden wie Depression oder Angststö-
irgendwann so sehr, „dass ich nicht mal lem in den ersten Jahren, aber auch rungen, sondern von „der ganzen Pa-
mehr den Müll aus meiner Wohnung schon im Mutterleib – „steigert das Ri- lette der klassischen internistischen Er-
im ersten Stock nach unten bringen siko vieler Menschen für alle möglichen
konnte“. Dass „da was Schlimmes pas- Erkrankungen viel später im
siert ist in meiner Kindheit“, davon Leben. Dafür ha-
wollte sie zunächst nichts wissen. Dann ben wir in-
hat sie zugelassen, dass sie das hören
musste von ihrem „unsicheren und ver- krankungen“: Herz- und Kreislauflei-
meidenden Bindungsstil“, im Zuge zwischen ganz den, Krebs, Autoimmunerkrankungen
einer psychosomatischen Psy- klare Belege“, sagt Pro- wie Rheuma oder Morbus Crohn, Asth-
chotherapie, die die frühe Bin- fessor Christian Schubert, ma und vielen anderen. Oder eben dem
Arzt und Psychologe und Lei- Syndrom der Fibromyalgie.
ter des Labors für Psychoneu- Für Psychotherapeuten sind Einflüs-
roimmunologie der Univer- se früher Erlebnisse auf das gesamte Le-
sitätsklinik für Medizinische ben nicht neu. Dass sich allerdings die
Psychologie und Psychothe- medizinische Forschung für derlei Din-
rapie in Innsbruck. Schwe- ge interessiert, liegt an jüngsten Er-
re Traumen wie Miss- kenntnisfortschritten, vor allem im neu-
brauch und Misshandlung, rowissenschaftlichen Bereich. Zum ei-
aber auch vermeintlich nen zeigt sich, dass Umwelteinflüsse die
harmloser klingende Din- Aktivität von Genen auch in Nerven-
ge wie eine Bindungsstö- zellen anhaltend beeinflussen können.
rung oder widrige sozi- Zum Zweiten, so hat sich herausgestellt,
ale und wirtschaftliche ändert sich das Gehirn laufend, um sich
Lebensumstände resul- an veränderte Umweltbedingungen an-
tieren in langanhalten- zupassen; es ist „plastisch“. Zum Dritten
Titel 27

Je größer das kindliche Trauma,


desto größer das Erkrankungsrisiko
im späteren Leben.
Und das Risiko, frühzeitig zu sterben

Erkrankungen. Ob und (falls ja) wie zu erkranken. Sheldon Cohen sieht in


sehr die sozialen und wirtschaftlichen den Studienresultaten einen weiteren
Umstände als Kind den späteren Ver- „biologischen Mechanismus dafür, wa-
kürzungsprozess der Telomere beein- rum die kindlichen Erfahrungen für die
flussen, wollten Sheldon Cohen und Gesundheit als Erwachsener so wichtig
seine Kollegen wissen und heuerten für sind“.
ihre Studie 152 Personen zwischen 18 Dass dem so ist, behauptet Christian
und 55 Jahren an. Schubert seit vielen Jahren. Und verweist
Die Wissenschaftler fragten ihre Pro- zuallererst auf die sogenannte ACE-Stu-
banden zunächst, in welchen sozialen die (für Adverse Childhood Experiences).
und ökonomischen Verhältnissen sie als Mediziner der University of Southern
Kind aufgewachsen waren. Dann infi- California in San Diego berücksichtigten
zierten die Forscher die Teilnehmer mit für dieses Mammutprojekt fast 27 000
einem Schnupfenvirus und steckten sie Patienten aller Altersstufen, die kurz vor
fünf Tage lang in Quarantäne, um zu Studienbeginn wegen diverser Gesund-
ermitteln, ob sie eine Erkältung bekom- heitsprobleme auf Herz und Nieren un-
zeichnen sich neue un- men würden. Und sie stellten anhand tersucht worden waren. Das Team um
geahnte Mechanismen ab, der Blutzellen der Proban- Vincent Felitti schickte nach dem Kör-
wie frühkindliche Belastungen spä- den fest, wie stark percheck allen Patienten einen ausführ-
tes Unheil anrichten. ihre Telomere lichen Fragenkatalog: Gab es in der
Eines der jüngsten Beispiele liefert bereits ge- Kindheit emotionale, körperliche oder
eine Studie von Forschern der Carne- schrumpft sexuelle Misshandlungen? Nahmen die
gie Mellon University in den USA. Im waren. Eltern der Patienten Drogen? Waren sie
Zentrum der Untersuchung: die Telo- Es zeigte sich: psychisch krank? Schlug der Vater die
mere, also jene Proteinkomplexe, die wie Je problemati- Mutter? Haben die Eltern sich getrennt?
schützende Kappen auf den Enden der scher die sozio- Verhielten die Eltern sich kühl gegen-
Chromosomen unserer Zellen sitzen. ökonomische Her- über ihren Kindern? War ein Elternteil
Die Länge dieser Schutzkappen nimmt kunft der Studienteilnehmer, desto kür- kriminell, oder waren es gar beide? Und
im Laufe des Lebens individuell schnell zer ihre Telomere. Und ganz wesentlich: so weiter. Rund 17 000 der Patienten ant-
ab. Je zügiger die Telomere sich verkür- Je widriger die kindlichen Lebensum- worteten ausführlich.
zen, desto schneller altern Zellen, und stände, desto stärker stieg das Risiko, „Bei den Ergebnissen sehen wir sehr
desto größer ist das Risiko für diverse nach der Virusinfektion auch wirklich deutlich und linear, wie ungünstig sich

P S YC H O L O G I E H E U T E Mai 2 0 1 4
28 Titel

Frühe negative Bindungserfahrungen wirken sich


auf das Beziehungsverhalten aus.
Ein dominanter Vater macht unsicher und übervorsichtig bei der Partnersuche

traumatische Kindheitserfahrungen auf mer –, „beeinträchtigen Stresshormone Anfälligkeit für Allergien und Wund-
die Gesundheit im Erwachsenenalter aus dem Kreislauf der Mutter massiv die heilungsstörungen. Viertens resultiert
auswirken“, betont Schubert, „und je Entwicklung des kindlichen Immunsys- eine chronische Entzündung. Und fünf-
größer das Trauma, desto größer das tems“, wie der Innsbrucker sagt. Das tens schüttet das Stresssystem des Kör-
Erkrankungsrisiko und die Wahrschein- Gleiche passiert, wenn Stresshormone pers unentwegt Kortisol aus, denn das
lichkeit, an einer dieser Erkrankungen nach der Geburt auf Säugling, Kleinkind Hormon stoppt Entzündungen. „Des-
frühzeitig zu sterben.“ Im Falle der ACE- oder Kind einprasseln. Psychoneuroim- halb ist das Stresssystem“, so Schubert,
Studie zeigte sich dieser Zusammenhang munologen sehen dann die sogenannte „dauerhaft überaktiviert“, bis es im Lau-
für Herz- und Kreislauferkrankungen, Th1/Th2-Verschiebung. Th1- und Th2- fe der Jahre erschöpft ist und zusam-
Tumoren, chronische Lungenerkran- Zellen sind bestimmte Typen unserer menbricht. Dann schütten die Betrof-
kungen, Knochenbrüche und Leber- Körperabwehr, die unterschiedliche Im- fenen zu wenig Kortisol aus, und zwar
krankheiten. „Das heißt“, sagt Schubert, munreaktionen gegen unterschiedliche auch dann, wenn es bei seelischer Be-
„dass die Betroffenen schon als Kind Gefahren kennzeichnen. Das System der lastung dringend gebraucht wird. Und
psychobiologisch schlecht gepolt wor- Th1-Zellen kämpft vor allem gegen Vi- so bleibt auch die erhöhte Entzündung
den sind.“ ren und gegen Krebszellen, das System und ebnet vielen Erkrankungen den
der Th2-Zellen gegen Bakterien in Blut Weg. „Auf diese Weise manifestiert sich
Stress in der Schwangerschaft und Gewebe, was vor allem mit Entzün- die frühkindliche Belastung noch Jahr-
hemmt die Entwicklung des kindlichen dungsreaktionen einhergeht. zehnte später im Körper“, sagt der Arzt
Immunsystems Babys kommen natürlicherweise mit und Psychotherapeut, „weil sie nicht
Noch mehr Belege: In einer Studie der einem gedämpften Th1-System auf die verarbeitet wurde und weil unsere Me-
renommierten Johns Hopkins University Welt. Ein gesundes Kind wird aber in dizin in ihrem Alltagsbetrieb kaum
in Baltimore (USA) beleuchteten Exper- den kommenden Jahren seine Körper- wirksame Therapien anbietet.“
ten das Dasein von ehemaligen Studie- abwehr durch Infektionen so trainieren,
renden der Universität. Also von Men- dass sich eine Balance zwischen Th1 und Frühkindliche Belastungen führen
schen, die im Laufe ihres Lebens in gu- Th2 ergibt: Th1 stärkt sich, und Th2 re- noch Jahrzehnte später zu Krankheiten
ten sozialen Verhältnissen lebten. Aller- duziert sich auf ein normales Maß. Die Frage, ob die Psychotherapie mit Fug
dings hatten diese Leute dann ein hohes „Aber wenn ein Kind vor oder nach der und Recht Menschen mit bestimmten
Risiko, vor dem 50. Lebensjahr an einer Geburt aufgrund einer widrigen Umwelt körperlichen Erkrankungen behandeln
Herz-Kreislauf-Erkrankung zu sterben, immer wieder oder dauerhaft unter dürfe, sei „naturgemäß nicht leicht zu
wenn sie in misslichen Verhältnissen Stresshormonen steht, behält es ein un- beantworten“, erklärt Schubert. Aller-
aufgewachsen waren. „Die Herkunft natürlich aktives Th2-System bei“, er- dings belege die Psychoneuroimmuno-
zählt“, unterstreicht Schubert, „und klärt Christian Schubert. logie ganz klar die Verbindung zwischen
nicht der gesellschaftliche Aufstieg.“ Die Folgen: Erstens erkranken die Psyche und Immunsystem. Diese Ver-
Schon der Fötus im Mutterleib re- Betroffenen häufiger an Viruserkran- bindung sei natürlich gewachsen, schon
gistriert, was um ihn herum in seiner kungen als andere. Zweitens steigt die im Mutterleib. Das neue „biopsychoso-
Umwelt passiert. Wenn ein Kind eine Gefahr, dass immer wieder im Körper ziale Paradigma“ betrachtet die Psyche
gestresste Mutter erlebt – wegen Bezie- entstehende Tumorzellen nicht ausge- als komplexer und mächtiger als das
hungsproblemen oder was auch im- merzt werden. Drittens erhöht sich die Immunsystem.
Titel 29

Unter all diesen Voraussetzungen linien der Schulmedizin zur Behand- geschadet, vor allem in Partnerschaften.
„sollte die psychosomatische Psychothe- lung des Syndroms nicht. Ulrich Egle „Ich bin sehr schnell Feuer und Flamme
rapie, die auf der Kenntnis psychobio- hingegen ist davon überzeugt: „Psycho- für Mr. Right, ziehe mich aber genauso
logischer Zusammenhänge basiert, soziale Faktoren aus der Kindheit kön- schnell zurück, wenn nicht direkt eine
manche körperlichen Krankheiten spe- nen auch im Schmerzgeschehen ent- Bestätigung kommt“, erklärt sie. „Bevor
zifisch angehen können“, sagt der Arzt scheidend sein“, erklärt der Ärztliche ein anderer mich ablehnt, tue ich es lie-
– vorausgesetzt, die psychobiologischen Direktor der Psychosomatischen Fach- ber selbst, da ist der Schmerz noch etwas
Zusammenhänge seien in jedem Falle klinik im hessischen Gengen- berechenbarer.“ Aus der notorischen
geprüft worden. Sprich: Es muss ei- bach, „die Musik spielt im Angst heraus, abgelehnt zu werden, hat
ne frühkindliche traumatische Er- Stressverarbeitungssystem sie zudem so viel gearbeitet, als gäbe es
fahrung vorliegen. Im derzeitigen des Gehirns.“ kein Morgen: „Ich habe mich über die
System sei es jedoch kaum mög- Arbeit definiert.“ Stress bis zum Um-
lich, die Menschen so bald wie mög- fallen. Genau das mündete im Alter von
lich auf frühe Traumata zu checken: 52 Jahren im Schmerz der Fibromyalgie,
„Das würde einen Paradigmenwech- der nicht mehr enden wollte.
sel fordern, den wir verlangen.“ Und
zwar im Sinne einer vorbeugenden Liegt der Fibromyalgie eine Bindungs-
psychosomatischen Medizin, störung zugrunde?
„denn je früher wir diese Patien- Die Bindungsstörung beein-
ten behandeln, umso mehr kön- flusst über das Stressverarbei-
nen wir ihnen helfen“. tungssystem direkt auch das
Obwohl die Psychoneuroim- Schmerzempfinden, wie die US-
munologie als wissenschaftliche Neurowissenschaftlerin Naomi
Disziplin weithin anerkannt wird Eisenberger von der University
– „die Daten sind zu gut, da traut of California in Los Angeles he-
sich niemand mehr, nein zu sagen“ rausgefunden hat. Das Team der
(Schubert) –, lässt der medizinische Forscherin hat im Gehirn eine Re-
Betrieb die Erkenntnisse praktisch gion ausgemacht, die auf Ausgrenzung
links liegen. „Dass das diagnostisch und genauso reagiert wie auf einen Reiz, der
therapeutisch gelebt wird, ins Gehirn schießt, wenn wir uns in den
davon sind wir meilen- Finger geschnitten haben. „Der Schmerz,
weit entfernt“, klagt der den wir nach Ausgrenzung und Zurück-
Forscher, „da bewegen wir weisung fühlen, ist wirklich real“, meint
uns in einem medizinischen Eisenberger. Und je früher er passiert
Desaster.“ Hinzu komme, dass kaum und je bedeutender er ist, desto mehr
Geld in Forschung gesteckt werde, die prägt er sich in eine Art Gedächtnis
neue Formen der psychosomatischen für Schmerz ein. Das ist das eine.
Psychotherapie entwickeln könnte. Eine Bindungsstörung im Das andere: Bis auf einen Bereich
Ute Zimmer allerdings hat ein neu- frühen Kindesalter zählt zu den sind im Gehirn an der Verarbeitung
es Therapiekonzept geholfen, das früh- oftmals verborgenen frühen Traumata, von Schmerzempfinden die gleichen
kindliche Bindungsstörungen erstmals die aber häufig vorkommen und nach- Areale beteiligt wie an der Verarbeitung
berücksichtigt. Sie hatte Glück. Übli- haltige Folgen haben können. Wie viele von Stress. „Der frühe Stress durch die
cherweise werden Fibromyalgiepatien- andere auch, hat sich Ute Zimmer zu- negative Bindung führt also dazu, dass
ten wie sie in Deutschland von Rheu- rückgewiesen gefühlt, in diesem Falle diese Menschen leichter Schmerz emp-
matologen behandelt. Meist erfolglos: durch den dominanten Vater. Sie wurde finden als andere“, sagt Egle. Nach
Denn das auch „Weichteilrheuma“ ge- „psychobiografisch geprägt“, wie Egle jüngsten Befunden schüttet das Gehirn
nannte Leiden verschwindet nicht. Die es ausdrückt. Was sich zeit ihres Lebens der Betroffenen weniger Oxytocin aus
Patienten müssen lernen, mit ihrer in ihrem Beziehungsverhalten spiegelte. – also jenes „Kuschelhormon“, das auch
Krankheit zu leben, den Dauerschmerz Bei neuen Kontakten, sagt Frau Zimmer, für die Bindung zwischen Menschen
zu ertragen. Dass der Fibromyalgie eine „bin ich aus Unsicherheit und Angst vor wesentlich ist. Das Team des kanadi-
Bindungsstörung zugrunde liegen Zurückweisung sehr schnell zu freund- schen Forschers Michael Meaney hat
könnte, erwähnen die sogenannten Leit- lich“. Das habe ihr schon einige Male zunächst bei Ratten gezeigt: Nur wenn

P S YC H O L O G I E H E U T E Mai 2 0 1 4
30 Titel

Früher Stress macht uns generell empfindlicher für Schmerzen.


Denn es wird weniger vom „Kuschelhormon“ Oxytocin ausgeschüttet

der Nachwuchs ausreichend mit der „Unser Ziel war klar“, sagt Egle: wahrscheinlich weil wir in dieser Reha-
Mutter kuschelt, wird im Erbgut der „Wenn die Fibromyalgie Folge einer früh situation die einzelnen Therapiebaustei-
jungen Tiere ein Genabschnitt aktiv, der gelegten Bindungsstörung ist, dann ne sehr individuell dosieren können.“
letztlich zur Ausschüttung von Oxyto- können wir die Fibromyalgie behandeln, Ute Zimmers Schmerzen verschwan-
cin führt. Je weniger Fellpflege und Ku- indem wir die Bindungsstörung in den den in der fünften Therapiewoche. Ein
scheln, je schlechter also die Bindung, Mittelpunkt einer psychosomatischen Gefühl, das sie gar nicht mehr kannte.
desto weniger Oxytocin wird im Körper Psychotherapie stellen.“ Und weil es ja „Ich bin dankbar für alles, was ich in
produziert. um Beziehungen geht, entwarfen die der Therapie lernen durfte“, sagt die
Psychologen eine „interaktionelle“ Südhessin: „Und ich fühle mich wohl.“
Wenn einem alles über den Kopf Gruppentherapie, in der die Patienten PH
wächst: Bindungsstörungen können ihre Beziehungsgestaltung auch unter-
Zeitbomben sein einander auf den Prüfstand stellen. Was Literatur

Dieses Modell hat Meaney inzwischen passiert in den Interaktionen der Teil- Christian Schubert: Psychoneuroimmunologie und
Psychotherapie. Schattauer, Stuttgart 2011
auf den Menschen übertragen. Dem- nehmer? Was passiert dem Einzelnen
nach hängt die Bindungsfähigkeit eines im Alltag in Beziehung zu seiner Um- Christian Schubert: Psychoneuroimmunologie des
Lebenslaufs: Einfluss von Stress in der Kindheit auf
Menschen wesentlich von seinem Oxy- welt? Wie geht jeder mit sich selbst um? Immunfunktionsstörung und entzündliche Erkran-
tocinspiegel ab. „Ist die frühe Bindung Im weiterentwickelten stationären Kon- kung im weiteren Leben. Psychotherapie, Psycho-
gut, läuft der Oxytocinhaushalt im grü- zept kommen Einzeltherapien hinzu, somatik, Medizinische Psychologie, 2013. DOI:
10.1055/s-0033-1357175
nen Bereich“, betont Ulrich Egle. Und aber auch ein Bewegungsprogramm so-
Sheldon Cohen: Childhood socioeconomic status,
das Interessante: Oxytocin lindert wie Musiktherapie und Entspannungs-
telomere length, and susceptibility to upper respi-
Schmerzen, ist mithin ein Schmerzkil- verfahren. ratory infection. Brain, Behavior and Immunity,
ler: „Bei negativer Bindung im frühen Geprüft wurde das Programm aller- 34, 2013, 31–38
Kindesalter schwächelt das körpereige- dings erst in seiner ambulanten Vari- Ulrich Egle u. a.: Fibromyalgie-Syndrom – eine
ne Schmerzbekämpfungssystem“, so der ante. Teilnehmer der Studie waren 150 Stressverarbeitungsstörung. Schweizer Archiv für
Neurologie und Psychiatrie, 162(8), 2011, 326–337
Psychologe. „Durch Bindung“, resü- Patienten, die ein halbes Jahr lang mit
zwei Gruppensitzungen wöchentlich Homepage der ACE-Studie: www.cdc.gov/ace/
miert Egle, „haben wir einen direkten
Einfluss auf das Stressverarbeitungssys- behandelt wurden. Im Vergleich zu den
tem und damit auf das Schmerzemp- Patienten, die nur ein herkömmliches
finden.“ Schmerztraining erhielten, „war unsere
Die frühe negative Bindung „schlum- Therapie hochsignifikant besser“,
mert“ im Stress- und Schmerzgedächt- versichert Egle, „mit einer
nis, erzeugt aber erst dann Schmerz, Effektstärke von über eins.“
„wenn einem irgendwann im Leben über Effektstärken ab 0,8 gelten
längere Zeit alles über den Kopf wächst“, in der Welt der Psychothe-
wie der Psychologe erklärt. So wie bei rapiestudien als Beleg da-
Frau Zimmer, die schließlich eine sechs- für, dass eine Behandlung
wöchige stationäre Therapie absolviert wirkt. „In der sechswö-
hat, die Egle und sein Kollege Ralf Nickel chigen stationären Vari-
zunächst für die ambulante Anwendung ante“, so Egle, „sehen wir
erdacht haben. noch bessere Ergebnisse,

PSYC H O LO G I E H EUTE M a i 2014


www.shop-psychologie-heute.de

Sonderpreis

Der komplette Jahrgang 2013 NUR 35 €


Bestell-Nr.
48072JG

Nr. 1/13 · 48061 · € 6,50 Nr. 2/13 · 48062 · € 6,50 Nr. 3/132 · 48063· € 6,50 Nr. 4/13 · 48064 · € 6,50 Nr. 5/13 · 48065 · € 6,50 Nr. 6/13 · 48066 · € 6,50

Nr. 7/13 · 48067 · € 6,50 Nr. 8/13 · 48068 · € 6,50 Nr. 9/13 · 48069 · € 6,50 Nr. 10/13 · 4870 · € 6,50 Nr. 11/13 · 48071 · € 6,50 Nr. 12/13 · 48072 · € 6,50

Bestellen Sie doch einfach nach!


Alle lieferbaren Hefte finden Sie unter
www.shop-psychologie-heute.de

4 Hefte als Paket


Psychologie
Heute compact
19, 26, 28, 29

NUR 14,99 €
Bestell-Nr. 89572

Com 33 · 47220 · € 7,50 Com 34 · 47221 · € 7,50 Com 35 · 47222 · € 7,50

Bestellhotline:
Persönlich am Telefon: 030/447 314-50
PSYCHOLOGIE Schriftlich per Fax: 030/447 314-51 oder
HEUTE E-Mail: shop@psychologie-heute.de
Das bewegt mich! Alle Preise zuzüglich Versandkosten. Innerhalb von Deutschland: 1–3 Hefte: 2,50 €, 4 Hefte und mehr
Hefte: 5,00 €. Portofreie Lieferung ab einem Gesamtbestellwert von über 50 €.
32 Kreativität
Kreativität 33

Wie wir auf gute Ideen kommen


Wie lässt sich Kreativität steigern? Unter welchen Bedingungen gelingt
uns das Denken in neuen Bahnen? Die Sozialpsychologin Simone Ritter von
der niederländischen Universität Nimwegen hat das Geheimnis kreativer
Prozesse gelüftet

Frau Dr. Rit-


P S YC H O L O G I E H E U T E P H Noch einmal zum Mitschreiben: Leute machen ihre Hausaufgaben, an-
ter, arbeiten Sie an Ihrem Institut gele- Gruppen-Brainstorming ist Unfug? dere machen sie gar nicht oder schreiben
gentlich mit Gruppen-Brainstorming? R I T T E R Na ja, Unfug ist jetzt nicht ge- sie kurz vor dem Unterricht von ihrem
S I M O N E R I T T E R Das wäre nahelie- nau das Wort, das ich wählen würde. Nachbarn ab.
gend. Brainstorming ist die bekanntes- Aber fest steht: Wenn man gleich in der P H Bisher haben wir über Kreativität
te und beliebteste Kreativitätsmethode Gruppe mit Brainstorming anfängt, in der Gruppe gesprochen. Ihre Arbeit
überhaupt. Ihr Erfinder, der Werbefach- schießt man sich in der Regel viel zu beschäftigt sich allerdings mehr mit dem
mann Alex Osborn, hat einmal behaup- schnell auf bestimmte Ideen ein. Dabei schöpferischen Individuum. Manche
tet, sie sei doppelt so effektiv wie alles geht eine Menge Potenzial verloren. Und Menschen scheinen kreativer zu sein als
andere. das geschieht eben nicht, wenn sich jeder andere. Sie haben eine Methode gefun-
P H Und? Stimmt das? erst ein paar Minuten lang für sich allein den, diese Unterschiede im Gehirn sicht-
R I T T E R Fast alle Studien zeigen, dass seine Gedanken macht. Das ist nicht bar zu machen.
diese Behauptung falsch ist. Anfangs hat teuer: Papier und Bleistift genügen. R I T T E R Genau. Wir geben unseren
das niemanden so richtig interessiert. Trotzdem habe ich nicht den Eindruck, Testpersonen eine bestimmte Aufgabe,
Aber dann kamen die ersten Metaana- dass diese Methode schon sehr häufig bei der man ein bisschen rumspinnen
lysen mit recht eindeutigen Ergebnissen: angewendet wird. muss, um zu guten Lösungen zu kom-
Man bekommt deutlich mehr Ideen – PH Was kann man noch tun, wenn man men. Dabei sieht man recht schnell, dass
und deutlich bessere –, wenn man zu- in einem Team kreativ sein möchte? manche Testpersonen deutlich kreativer
nächst jeden für sich allein brainstor- R I T T E R Inzwischen arbeiten Forscher sind als andere. Unsere Frage war nun:
men lässt und erst dann in die Gruppe an diversen Varianten. Es gibt zum Bei- Wo finden wir die entsprechenden Un-
geht und alles zusammenfügt. Das ist spiel Techniken für eine Art Computer- terschiede im Gehirn? Und tatsächlich
im Übrigen auch die Methode, mit der Brainstorming, wo die Notizen der ein- gibt es solche Unterschiede, nämlich im
wir an unserem Institut gelegentlich ar- zelnen Teilnehmer direkt auf gemein- sogenannten Default Mode Network. Das
beiten. samen Bildschirmen erscheinen. Oder ist ein Netzwerk, das sich über mehrere
man notiert seine Ideen auf Papier – und Gehirnareale erstreckt. Es ist immer
I L L U S T R AT I O N E N : A L I CE W E L L I N G E R

Die Sozialpsychologin auf ein Signal hin wird jeder Zettel ein- dann aktiv, wenn unsere bewusste Auf-
Dr. Simone Ritter fach an den Nachbarn weitergereicht. merksamkeit nicht auf ein bestimmtes
stammt aus Deutsch-
Man liest, was der Kollege oder die Kol- Problem gerichtet ist. Etwa wenn wir
land, studierte und
promovierte jedoch legin geschrieben hat, und spinnt den tagträumen und einfach unseren Ge-
in den Niederlanden. Gedanken für sich weiter. Oder man danken nachhängen. Forscher glauben,
Sie arbeitet derzeit als bittet seine Mitarbeiter, sich vorher zu dass unbewusste Prozesse in diesem
Assistenzprofessorin
an der Radboud-Uni-
Hause Gedanken zu machen. In der Pra- Netzwerk verarbeitet werden. Jedenfalls
versität Nimwegen. xis läuft das aber meist so, wie wir das konnten wir in unserer Studie zeigen,
aus unserer Schulzeit kennen: Ein paar dass dieses Default Mode Network bei

P S YC H O L O G I E H E U T E Mai 2 0 1 4
34 Kreativität

kreativen Menschen stärker ausgeprägt turierte Techniken zuverlässiger zu Er- macht ihn mit der Hand aus. Oder: Er
ist. Das ist zwar kein Beweis, aber ganz folgen führen. Das entspricht auch mei- steht auf meinem Nachttisch. Im zwei-
sicher ein Hinweis darauf, dass unbe- ner Erfahrung als Trainerin. Die Leute ten Schritt schaue ich: Wie kann ich das
wusste Prozesse in der Kreativität eine können mit ganz konkreten Handlungs- Gegenteil davon annehmen? Etwa: Statt
gewisse Rolle spielen. anweisungen einfach mehr anfangen. Et- mit der Hand ausmachen – nicht mit
P H Bleibt die Frage: Wie lässt sich Kre- wa mit der Reverse Assumption-Technik. der Hand ausmachen. Er steht auf dem
ativität steigern? Und wenn ja: Welche P H Was genau ist das? Nachttisch – er steht nicht auf dem
Methoden funktionieren – und welche R I T T E R Sagen wir: Eine Gruppe von Nachttisch. Und im dritten Schritt
nicht? Designern hat das Ziel, eine neue Art schaue ich dann: Wenn er nicht auf dem
R I T T E R Zu dieser Frage gibt es eine re- von Wecker zu erfinden. Dann fragt sich Nachttisch steht – wo steht er dann? Tja.
lativ aktuelle Metastudie. An den Ergeb- die Gruppe: Was sind meine Annahmen Vielleicht steht er auf dem Boden. Und
nissen kann man sehen, dass sehr struk- über einen Wecker? Zum Beispiel: Man wenn ich ihn nicht mit der Hand aus-
mache – vielleicht mit dem Fuß? Und
dann käme man im nächsten Schritt auf
die Lösung: Der Wecker ist eine Art Tep-
SO BAUT MAN EIN KREATIVES TEAM pich. Er hört erst auf zu klingeln, wenn
Schöpferische Leistungen entstehen häufig in Teams. Diese sorgten bereits in den man auf ihm steht …
1940er Jahren für die Hälfte aller wissenschaftlichen Innovationen. Heute liegt ihr P H … und zwar mit beiden Füßen!
Anteil jenseits der 90-Prozent-Marke. Wie setzt sich eine erfindungsreiche Gruppe R I T T E R Genau, mit beiden Füßen! Das
zusammen? Hollywood, die große Suppenküche der abendländischen Kultur, liefert wäre etwas Neues, oder nicht? So jeden-
darauf zumindest vier idealtypische Antworten: falls funktioniert die Technik der „um-
gekehrten Vermutung“, mit der man
1. MODELL : OCEAN’S ELEVEN
sehr schnell und recht zuverlässig zu
Man nehme lauter erstklassige Experten, einen Crack für jeden Fachbereich. Sie
verblüffenden Ergebnissen gelangt.
kennen sich von früher und mögen sich – eine Art Nationalmannschaft, bestehend
P H Und welche Technik funktioniert
aus elf Freunden!
nicht? In Frauenzeitschriften liest man
2. MODELL : DIE GLORREICHEN SIEBEN zum Beispiel gerne den Tipp: „Ziehen
Auch dieses Team besteht aus Topexperten, ist aber eine Zweckgemeinschaft. Die Sie Analogien! Schon wird aus dem Ku-
Beziehungen sind in der Gründungsphase eher professioneller Natur. gelschreiber ein Deoroller!“
3. MODELL : HARRY POTTER R I T T E R Ja, das klingt super. Man liest
Man übergibt den Job einem Haufen enthusiastischer und naiver Anfänger. Immer- es und denkt: Natürlich! Kugelschreiber,
hin: Die Teammitglieder sind talentiert – und eng miteinander befreundet. Deoroller – auf die Idee wäre ich auch
gekommen. Aber es dann tatsächlich zu
4. MODELL : DER HERR DER RINGE
machen, ist wahnsinnig schwer. Eigent-
Die Mischung aus den genannten Modellen. Im Team sind einige Spitzenkönner,
aber auch ein paar Grünschnäbel. Einige Teammitglieder kennen und mögen sich
lich kein Wunder, dass es als Lehrme-
bereits. Andere sind neu in der Mannschaft – und nicht jeder erscheint dem ande-
thode nicht gut funktioniert.
ren besonders sympathisch. P H Gibt es denn eine allgemeingültige
Definition von Kreativität?
Welches dieser vier Modelle ist besser? Der US-Soziologe Brian Uzzi untersuchte in einer R I T T E R Es gibt zumindest eine Formel,
Studie die Besetzungslisten von Broadwayproduktionen aus mehreren Jahrzehnten. Wie
auf die sich die meisten Experten geei-
oft hatten die einzelnen Mitglieder schon zusammengearbeitet? Wie viel Erfahrung
nigt haben. Kreativ ist etwas, das zu-
hatten sie auf ihrem Gebiet? Die Teamdaten verglich Uzzi mit dem Erfolg der jeweiligen
gleich neu und brauchbar ist.
Produktion: Wie viele Tickets wurden dafür verkauft? Wie gut waren die Kritiken? Als
P H Wie misst man Kreativiät?
Uzzi die Ergebnisse sah, traute er seinen Augen nicht: „Ich hätte nie gedacht, dass die
R I T T E R Es gibt da eine Reihe von Tests.
Zusammensetzung des Teams eine so große Rolle spielt.“ Denn tatsächlich entpuppte
Am gebräuchlichsten ist die Alternative
sich eine der vier genannten Varianten als deutlich überlegen: War ein Team nach der
Uses Task: Man zeigt den Leuten einen
Herr der Ringe-Methode zusammengestellt, stieg die Wahrscheinlichkeit für einen kom-
merziellen und künstlerischen Erfolg um das Zweieinhalbfache. Uzzis Fazit: Die besten
Backstein und fragt: Was kann man da-
Teams bestehen aus ein paar dicken Freunden und einigen neuen Gesichtern, aus alten
mit alles machen? Und dann zählt man,
Hasen und ein paar Frischlingen. wie viele Antworten man bekommt und
wie originell die Antworten sind. Mit
Brian Uzzi u. a.: Collaboration and creativity: The small world problem. American Journal of Sociology,
111(2), 2014, 447–504 dieser Methode arbeiten Psychologen
schon seit den 1960er Jahren.
Kreativität 35

Rezept, um eine neue Art von Wecker zu erfinden:


Er steht nicht auf dem Nachttisch, er wird nicht mit der Hand ausgemacht

P H Zufall, dass Sie jetzt den Backstein R I T T E R Da muss ich zuerst eine Klei-
als Beispiel genannt haben? nigkeit vorausschicken. Wir begreifen
R I T T E R Nein, tatsächlich ist das die Kreativität ja als zweistufigen Prozess.
Frage, die mit Abstand am häufigsten Am Anfang steht das Generieren von
gestellt wird. Deshalb spricht man Ideen, das Brainstorming, wenn
unter Psychologen auch vom Brick Sie so wollen. Man notiert al-
Task. Eigentlich total langweilig. les, was einem einfällt. Im
Aber der Backstein wurde schon zweiten Schritt wählt man aus,
so häufig in Experimenten ab- welche Ideen man besonders brauchbar
gefragt – da weiß man sehr findet. Dieser zweite Schritt wird in der
genau, welche Antworten Forschungsliteratur kaum beachtet. Da-
kommen können, und hat bei ist er meiner Meinung nach ganz
deshalb weniger Probleme entscheidend für den gesamten Prozess.
mit der Auswertung. P H Aha!
P H Reden wir ein wenig über The- R I T T E R Jedenfalls hat das Experiment,
orie. Sie schreiben in Ihrer Arbeit das Sie gerade beschrieben haben, deut-
immer wieder über die Phase der liche Auswirkungen auf die Evaluations-
„Inkubation“. Das ist die Zeit, in der phase, aber nicht auf die Phase der Ge-
man eine neue Idee sozusagen ausbrütet. braucht Wissen, um so einen Heureka- nerierung. Das heißt: Die Testpersonen,
In der das Unbewusste arbeitet – um Moment zu erleben. Man muss sich in- die zwischendurch abgelenkt waren,
uns dann irgendwann mit guten Lösun- tensiv mit seinem Thema beschäftigt haben zwar nicht mehr oder originelle-
gen zu überraschen. haben. Das ist die eine Seite. Die ande- re Ideen entwickelt. Aber sie waren sig-
R I T T E R Richtig. Dieses Phänomen ist re sieht so aus: Wenn man in seiner Ar- nifikant besser darin, eine tolle Idee von
ja nicht gerade neu. Archimedes hat das beit nicht weiterkommt, ist es sehr rat- einer mittelmäßigen zu unterscheiden.
vor mehr als 2000 Jahren erlebt. Sein sam, die Sache ruhen zu lassen und sich Genau das machte sie am Ende kreativer.
Problem war: Er sollte herausfinden, ob mit etwas ganz anderem zu beschäfti- P H Es gibt noch mehr Möglichkeiten,
die neue Krone seines Königs tatsächlich gen. Dann verbinden sich im Gehirn eine Pause einzulegen. Im Volksmund
aus purem Gold war. Die Lösung fiel Wissensgebiete miteinander, die in un- heißt es zum Beispiel, man solle „eine
ihm ein, als er sich eine Denkpause ver- serem bewussten Denken voneinander Nacht darüber schlafen“, wenn man vor
ordnete und ein Bad in der Wanne getrennt sind. Die Forschungsliteratur einer schweren Entscheidung steht.
nahm. nennt das Spreading Activation. Es fin- Macht Schlaf kreativer?
P H Er soll vor Begeisterung splitter- det also eine breitere Aktivierung von R I T T E R Das haben wir untersucht.
nackt durch Syrakus gerannt sein und Gehirnarealen statt. Man weiß, dass unser Unterbewusstes
immer wieder „Heureka“ („Ich hab’s P H Sie haben diese Annahme experi- im Schlaf mit sehr vielen Dingen be-
gefunden“) gebrüllt haben. mentell überprüft. Sie gaben allen Pro- schäftigt ist. Wie aber kann man dafür
R I T T E R So ist es, diese Anekdote wird banden dieselbe Kreativaufgabe. Aber sorgen, dass es just an den Themen ar-
sehr häufig zitiert. Sie kann einen aber bei einem Teil der Versuchspersonen beitet, die uns gerade wichtig sind? Wir
in die Irre führen. Sie scheint uns näm- wurde dieser Prozess unterbrochen, die haben also Folgendes gemacht: Wir ha-
lich zu sagen: Hey, du kannst total kre- Probanden wurden durch eine andere ben unseren Versuchspersonen eine
ativ sein, selbst wenn du den ganzen Tag Aufgabe abgelenkt und durften erst da- Kreativitätsaufgabe gestellt und dabei
Shoppen gehst oder in der Badewanne nach wieder zur Kreativarbeit zurück- im Raum einen bestimmten Duft ver-
liegst. Das ist natürlich Unsinn. Man kehren. Was ist dabei herausgekommen? sprüht.

P S YC H O L O G I E H E U T E Mai 2 0 1 4
36 Kreativität

Große Kreativität lässt sich nicht mit


kleinen Tricks stimulieren.
Aber der Alltagskreativität können wir auf die Sprünge helfen

PH Orange-Vanille, wenn ich richtig sehr viel Talent. Aber es gibt auch
gelesen habe. eine Alltagskreativität – Little c.
R I T T E R Ja, der Duft war optimal: an- Diese Kreativität wohnt in uns al-
genehm und unaufdringlich. Jedenfalls len. Und ich glaube, dass jeder sei-
haben wir dafür gesorgt, dass ein Teil ne schöpferischen Fähigkeiten mit
der Versuchspersonen in der darauffol- ein paar kleinen Tricks verbessern
genden Nacht bei genau demselben Duft kann.
geschlafen hat. Die Personen aus dieser P H Einen dieser Tricks haben Sie
Duftgruppe haben am nächsten Tag mit einem ziemlich spektakulären Ex- Teil kam aber erst nach dem Trip in die-
mehr und auch originellere Antworten periment nachgewiesen. Sogar die BBC ses Wunderland: Die Probanden haben
gegeben als die übrigen Personen. Ge- hat ausführlich darüber berichtet. Was hinterher bemerkenswert hohe Kreativ-
rüche sind offenbar eine sehr einfache genau haben Sie da gemacht? leistungen erbracht. Einfach weil ihr
Methode, um das Unbewusste während R I T T E R Wir haben gezeigt, dass Men- Gehirn sich in einem anderen Modus
der Nacht auf eine bestimmte Aufgabe schen kreativer werden, sobald man ih- befand. In einer Welt, in der alles anders
zu lenken – und das wiederum steigert re Erwartungen unterläuft, sobald etwas ist, verlässt offenbar auch unser Denken
unsere Kreativität. passiert, mit dem sie nicht gerechnet seine gewohnten Bahnen. Das ist wahr-
P H Schlafen Sie seither mit Duftbäum- haben. Psychologen sprechen dabei von scheinlich auch der Grund, warum
chen unterm Kopfkissen? Schema Violation. Die Versuchsperso- Menschen durch längere Auslandsauf-
R I T T E R Das würde ich gerne. Leider nen setzten sich eine Computerbrille enthalte kreativer werden.
habe ich eine Allergie gegen künstliche und eine Art Rucksack auf. Sie haben P H Wie kann man dieses Wissen kon-
Geruchsstoffe. dann einen virtuellen Raum gesehen, kret nutzen?
P H Sie könnten Lavendel nehmen; der eine virtuelle Cafeteria. R I T T E R Dafür haben wir noch einen
wächst zur Not auch auf dem Balkon. P H Wozu diente der Rucksack? zweiten, etwas alltäglicheren Versuch
„Leichter denken mit Lavendel“ – klingt R I T T E R Er hat Bewegungsdaten auf das gestartet. Wie Sie vielleicht wissen, essen
doch super, oder? Computerprogramm übertragen. Man in den Niederlanden viele Menschen
R I T T E R Bevor die Euphorie zu groß konnte also ganz normal umhergehen zum Frühstück Brot mit Schokochips.
wird, möchte ich lieber noch eine Ein- – und hatte den Eindruck, sich tatsäch- Man nimmt die Chips und streut sie auf
schränkung machen: Psychologen un- lich durch die virtuelle Cafeteria zu be- sein Butterbrot, ganz einfach. Die Hälf-
terscheiden ja zwei Arten von Kreativi- wegen. Dort haben sich dann einige te unserer Versuchspersonen haben wir
tät oder Creativity, wie es im Englischen merkwürdige Dinge ereignet. Es gab nun gebeten, sich ihr Frühstück umge-
heißt. Auf der einen Seite stehen Leute zum Beispiel einen Koffer, der immer kehrt zuzubereiten: Erst die Chips auf
wie Einstein, Heisenberg, Darwin. Da kleiner wurde, je näher man ihm kam. den Teller streuen, dann das Butterbrot
spricht die Forschungsliteratur von Big Oder eine Flasche, die umfiel, dann aber draufdrücken. Das funktioniert ganz
C, von großer Kreativität. Und was die- nicht zu Boden plumpste, sondern nach gut, auch wenn das im wirklichen Leben
se Dinge betrifft, sollte man die Kirche oben an die Decke flog. Wir haben so- natürlich keiner macht. Und allein das
besser im Dorf lassen: Eine Nacht drü- zusagen ein paar Naturgesetze außer hat schon genügt, um die Leute aus ih-
ber schlafen – selbst bei Lavendelduft Kraft gesetzt. rer Routine zu holen. Die Teilnehmer
– wird sicher niemals genügen, um eine P H Klingt ein bisschen nach Alice im in dieser Gruppe haben beim anschlie-
neue Relativitätstheorie zu finden. Da- Wunderland. ßenden Kreativtest signifikant besser
für ist viel mehr nötig. Viel mehr Arbeit, R I T T E R Ja, das stimmt. Der spannende abgeschnitten als die anderen.
Kreativität 37

PH Sie haben vorhin davon gesprochen,


dass die Auswahl guter Ideen manchmal MACHT WIDERSPRUCH KREATIVER?
das eigentliche Problem der Kreativität NEIN! UND: JA!
ist. Warum ist diese Auswahl so schwie-
rig? „Keine Kritik“ lautet ein Grundsatz im klassischen Gruppen-Brainstorming. Viele
R I T T E R Weil wir keine Kriterien ha- Firmen, auch jene von der erfolgreich-kreativen Sorte, pflegen jedoch eine andere
ben, an denen wir uns orientieren kön- Kultur. Der US-Wissenschaftsautor Jonah Lehrer beschreibt etwa die Arbeitsweise
nen. Wenn eine Idee neu ist, wissen wir des kalifornischen Animationsstudios Pixar (Toy Story, Findet Nemo). Dort trifft man
ja per Definition nicht, ob sie etwas taugt sich allmorgendlich, um die gemeinsame Arbeit des Vortages zu bewerten. Der Ton
oder nicht. Andererseits müssen wir in der Sitzung sei „brutal kritisch“. Man möchte keine Lösung, die irgendwie funkti-
der Praxis andere Menschen davon oniert. Sondern eine, bei der es schlichtweg nichts mehr zu meckern gibt. Wie
überzeugen, dass unsere Idee Potenzial kreativ ist Kritik? Dieser Frage hat die Berkeley-Psychologin Charlan Nemeth einen
hat, unseren Vorgesetzten, unsere Kun- beachtlichen Teil ihres Forschungslebens gewidmet. In einer ihrer Studien arbeitete
den, unsere Geldgeber. Meistens sagen sie mit zwei Gruppen: Die einen Teilnehmer sprudelten ganz klassisch – ohne Be-
wir: Ich hab’ ein gutes Gefühl dabei. wertung und Widerworte. Die anderen sollten Vorschläge der eigenen Gruppe
Aber die wirklichen Argumente fehlen. ausdrücklich kritisieren und diskutieren. Das Ergebnis: Die „Kritiker“ lieferten ge-
P H Ihr Kollege Ap Dijksterhuis hat ge- ringfügig bessere Ergebnisse als die „Wertfreien“.
nau darüber geforscht: Er hat gezeigt, Doch dabei beließ es Nemeth nicht. Am Ende der Untersuchung befragte sie jede
dass unsere Intuition sehr wertvoll sein Versuchsperson, ob ihr vielleicht nach der Gruppensitzung weitere Ideen gekommen
kann, wenn wir komplizierte Entschei- seien. Und tatsächlich: In den Köpfen gab es noch eine ganze Reihe guter Einfälle.
dungen zu treffen haben. Könnte man Im Durchschnitt rund drei bei den Mitgliedern der „Keine-Kritik-Gruppe“. Und
diese Erkenntnis nicht einfach auf die sieben bei der „Kritikgruppe“. „Möglicherweise ist Freiheit – selbst die Freiheit, mit
Kreativitätsforschung übertragen? anderen zu streiten – am besten dazu geeignet, kreative Lösungen zu produzieren“,
R I T T E R Da habe ich meine Zweifel. vermutet Charlan Nemeth.
Dijksterhuis hat untersucht, wie gut un-
Zu einem ähnlichen Ergebnis kommt auch eine Feldstudie des niederländischen
ser Bauchgefühl funktioniert, wenn wir
Psychologen Carsten de Dreu: Ein bisschen Zoff macht Teams kreativer. Allerdings
Dinge kaufen – etwa neue Möbel oder
nur dann, wenn alle Gruppenmitglieder weiter produktiv an der Sache mitarbeiten.
ein neues Auto. Dort stehen wir meist
Genau hier liegt das Problem: Die meisten Menschen mögen keine Kritik. Wie stellt
vor dem Problem, dass wir viel zu viele
man sicher, dass sie sich nicht verschüchtert, beleidigt oder gekränkt aus dem
Informationen beachten müssen, viel zu
Prozess zurückziehen?
viele Kriterien. Im kreativen Prozess ist
es genau umgekehrt: Wir haben fast gar Die europäische Tradition behilft sich an dieser Stelle mit einem Rollenspiel: dem
keine Informationen. Trotzdem: Ich ver- Advocatus Diaboli, einem Gruppenmitglied also, dem die Rolle zufällt, Kritik und
mute, dass die Lösung auch bei der Aus- Gegenargumente vorzubringen. Charlan Nemeth unterzog diese Methode einem
wahl kreativer Ideen letztlich im Kör- wissenschaftlichen Test. Die Ergebnisse waren jedoch ausgesprochen dürftig. Rol-
perempfinden liegen kann. lenspiele funktionieren viel schlechter als das, was Nemeth als authentic dissent
P H Und am Ende entscheidet dann (echten Widerspruch) bezeichnet. Mit anderen Worten: Streit zündet nur dann den
trotzdem der Chef? Kreativturbo, wenn er von Herzen kommt. Bei Pixar ersetzt man die zähmende
R I T T E R Kann sein. Aber auch das wür- Kraft des Advocatus Diaboli übrigens durch eine Spielregel namens plussing: Kritik
de ich gerne erforschen: Wer ist am bes- ist erst dann erlaubt, wenn man sie mit einem brauchbaren Gegenvorschlag versüßt.
ten geeignet, Ideen auszuwählen? Je- Das lenkt den Fokus der Gruppe nicht so sehr auf den Fehler, sondern eher auf
mand, der bei der Entwicklung mit da- dessen Reparatur.
bei war? Oder jemand, der nur die Er-
Literatur
gebnisse sieht? In ein paar Jahren werden
Jonah Lehrer: Imagine! Wie das kreative Gehirn funktioniert. C.H. Beck, München 2014
wir es hoffentlich wissen. PH
(Anmerkung der Redaktion: Die amerikanische Originalausgabe dieses Buches wurde wegen etli-
■ Mit Simone Ritter cher unkorrekter Zitate stark kritisiert und zeitweilig vom Markt genommen; bei der deutschen
sprach Jochen Metzger Übersetzung handelt es sich um eine stark korrigierte und überarbeitete Fassung.)
Charlan J. Nemeth u. a.: Rogues and heroes: finding value in dissent. In: Jolanda Jetten u. a. (Hg.):
Rebels in groups: dissent, deviance, and defiance. Wiley-Blackwell 2014, S. 17 ff.
Literatur
Charlan J. Nemeth u. a.: The liberating role of conflict in group creativity: A study in two countries.
Simone Ritter: Creativity. Understanding and en- European Journal of Social Psychology, 34, 2004, 365–374
hancing creative thinking. Dissertation an der
Radboud-Universität Nimwegen, 2012

P S YC H O L O G I E H E U T E Mai 2 0 1 4
38 Selbstheilung

Schönheit heilt.
Wie Kunst und
Natur uns in
Krisenzeiten helfen
Wenn Chaos, Schmerz und Verzweiflung uns
befallen, aktivieren wir ein inneres Radar,
suchen nach einem Ausgleich – und werden
meistens fündig. Wir folgen einem Instinkt,
der uns hilft, wieder ins seelische Gleichgewicht
zu kommen. Das tun wir, indem wir empfäng-
lich werden für das Schöne
■ Martin Hecht

E
s mag auf den ersten Blick erstau- können Kunst – ebenso wie die Natur – unseren Körper, sondern vor allem auf
nen: Lebenskrisen sind dialekti- wenn schon nicht unbedingt ästhetisch, unser Gemüt. Gerade in Lebenskrisen
sche Prozesse. Wenn sie über uns so doch immer psychologisch decodie- entwickeln viele Menschen einen neuen
kommen, bringen sie mit dem Leid fast ren. Dazu braucht man nur offene Au- Sinn für Gefühlslagen, die etwa Land-
immer auch eine neue, unbekannte gen und die Bereitschaft, sich auf Neu- schaften auslösen können, für Abend-
Freude. es einzulassen. oder Morgenstimmungen in einem Mit-
„Ich schaue aus dem Fenster und telgebirge, an einer Flussniederung oder
staune, als hätte ich noch nie Sonne und Natur neu erleben in einer Moorlandschaft.
Wolken gesehen“, schrieb der Künstler Es ist eine alte und gültige Weisheit, dass Tatsächlich sind wir in der Lage, in
und Regisseur Christoph Schlingensief der Garten ein ziemlich guter Arzt ist der Natur Stimmungen auszumachen,
in seinem 2009 erschienenen Krebsta- und dass der Aufenthalt im Grünen der die für uns emotional und „romantisch“
gebuch mit dem Titel: So schön wie hier Erholung und Regeneration dient. Dem aufgeladen sind. Wir können in ihr äs-
kanns im Himmel gar nicht sein. Noch berüchtigten Satz, „frische Luft“ sei ge- thetische Strukturmerkmale und Ord-
im nüchternsten Nützlichkeitsmen- sund, hat man vielleicht schon öfter nungsprinzipien entdecken, die wir als
schen ist dieser Sinn für das Schöne an- misstraut, aber tatsächlich, zumal in der harmonisch (und zugleich harmonisie-
gelegt. Selbst wer meinte, ein Leben lang Krise, zeigt sich die Natur als wahrer rend) empfinden. Mit etwas Übung er-
keinen inneren Zugang zu Dingen der Kraftspender. Der amerikanische Jour- fassen wir das Typische, das Eigentüm-
Ästhetik gehabt zu haben, dem wird ei- nalist und Umweltaktivist Richard Louv liche einer natürlichen Form – und zie-
ne Lebenskrise zuverlässig die Tür dort- hat in seinem Buch Das Prinzip Natur hen einen ästhetischen Genuss daraus.
hin öffnen. auf zahlreiche wissenschaftliche Studi- Aber dafür muss man einen bestimmten
Wir müssen keine Ästhetikexperten en verwiesen, die das belegen. Es geht Blick einüben: „Es ist ein verbreiteter
sein, um die Segnungen der Kunst am jedoch nicht so sehr um den wohltuen- Irrtum, zu meinen, man brauche nur an
eigenen Leib zu erfahren. Denn wir alle den Effekt des „grünen Materials“ auf einen schönen Ort zu reisen, um der
Selbstheilung 39

hunger Nahrung findet, sondern auch


Heilung und Harmonisierung unserer
Innenwelt möglich wird.
Wie und warum wirkt die „schöne
Kunst“? Besonders die Landschaftsma-
ler des 19. Jahrhunderts hatten eine
Meisterschaft darin entwickelt, Gefüh-
le in ihren Betrachtern zu wecken. Jef
Rademakers, Besitzer einer der größten
Gemäldesammlungen romantischer
Landschaften weltweit, schreibt: „Die
Landschaft sollte vor allem ein Gefühl
zum Ausdruck bringen und hervorru-
fen: das Gefühl des Malers und die Emo-
tion des Betrachters. Um dieses Ziel zu
erreichen, war im Grunde jedes Mittel
erlaubt.“ Er weist damit indirekt auch
schon auf den Komplex hin, der der Ro-
mantik bald nachfolgte, den Kitsch der
röhrenden Hirsche und klappernden
Mühlen am rauschenden Bach. Kitsch
entstand als eine mindere Form der
Kunst, die Gefühle auslösen sollte, auch
um den Preis jener süßlich-klebrigen
Geschmacklosigkeit, die ihm inne-
wohnt. Aber selbst im Kitsch geht es
noch um die unbestreitbare Qualität von
Landschaftsbildern, in ihren Betrach-
tern Gefühle auszulösen.
,Natur‘ nahe zu sein und ihre Kräfte und Was geschieht genau, wenn wir
Tröstungen zu kosten“, schrieb Her- Kunstwerke betrachten? Mit den neu-
mann Hesse. „Es ist ja klar, dass dem ronalen Wirkungen, die von visuellen
(…) Großstädter die Kühle und Reinheit Wahrnehmungen ausgelöst werden, hat
der Luft am Meer oder in den Bergen sich der aus Wien stammende Neuro-
wohltun muss. Er fühlt sich frischer, at- loge und Nobelpreisträger Eric Kandel
met tiefer, schläft besser und kehrt dank- in seinem Buch Das Zeitalter der Er-
bar heim im Glauben, er habe die ,Natur‘ kenntnis beschäftigt. „Mittlerweile wis-
nun so recht genossen und in sich geso- sen wir“, schreibt er, „dass der Anblick
Natur plus Kunst = romantische
gen. Er weiß nicht, dass er nur das Flüch- eines geliebten Bildes, genauso wie der
Landschaftsmalerei
tigste, Unwesentlichste davon aufge- Anblick eines geliebten Menschen, nicht
nommen und verstanden hat, dass er das Den wohltuenden Effekt, den die Natur nur den orbitofrontalen Cortex akti-
Beste unentdeckt am Wege liegen ließ.“ auf die gepeinigte Seele hat, übt aber viert, der auf Schönheit reagiert, sondern
Aber was hält Hesse für das „Beste“? nicht nur der sensibilisierte Blick auf die auch die dopaminergen Neuronen an
Es gehe darum, sagt er, „das Charakte- unverstellte Landschaft aus, sondern der Hirnbasis, wenn eine Belohnung zu
ristische“ einer Landschaft zu erfassen. auch jener, wenn sie künstlerisch gestal- erwarten ist.“ Kunst erlaube uns, eine
„Die Natur wirft sich einem so wenig tet und gerahmt an den Wänden der „Vielzahl verschiedener Erfahrungen
vor die Füße wie Kultur und Kunst, und großen Kunstmuseen hängt. Das Still- und Emotionen in unserer Fantasie zu
sie fordert gerade vom ungeschulten leben im Kleinen, das Landschaftspa- erforschen und zu erproben“. Der
Stadtmenschen unendliche Hingabe, norama im Großen – sie haben beide Kunstphilosoph Denis Dutton geht
ehe sie sich entschleiert …“ Es spricht eine heilsame Wirkung. Eine Galerie noch einen Schritt weiter. In seinem
alles dafür, dass uns Lebenskrisen dieser oder ein Kunstmuseum ist deshalb nicht Buch The art instinct. Beauty, pleasure
Hingabe näherbringen. nur ein Ort, an dem unser Bildungs- and human evolution schreibt er, Kunst

P S YC H O L O G I E H E U T E Mai 2 0 1 4
40 Selbstheilung

Es geht nicht nur um bloße „Stimmungsaufhellung“ durch Schönes.


Kunst gibt Impulse, das eigene Problem greifbarer zu machen

bedeute uns so viel, „weil sie uns be- die in einem Kunstwerk angelegt sind, macht uns diese schließlich „klar“, wenn
schenkt mit einigen der tiefgreifendsten, also auch jene, die in einem ersten Zu- wir sie im Sprechen über das Kunster-
emotional bewegendsten Erfahrungen, gang noch nicht zugänglich waren.“ leben an die Oberfläche unseres Be-
die Menschen zugänglich sind“. Ein x-beliebiges Gemälde: Es mag wusstseins bringen. Der Psychologe und
Es scheint, als würden wir in der ro- sein, dass es dem einen auf das erste Be- Begründer der „morphologischen Psy-
mantischen Landschaft etwas wieder- sehen „traurig“ erscheint, von einem chologie“ Wilhelm Salber spricht in die-
erkennen, was uns wärmt, als ob da et- anderen dagegen als „heiter“, ja „eupho- sem Zusammenhang von einem „kunst-
was in uns eine schlummernde Erinne- rieauslösend“ empfunden wird. Wie analogen“ Funktionieren des Seelischen.
rung an einen vertrauten Ort geweckt das? Beide Stimmungen, alle Stimmun- Kunst und Seelisches legten sich gegen-
habe. Ist Erkennen immer nur ein Lust gen sind in diesem Gemälde angelegt. seitig aus. Kunstwerke sind daher geeig-
bereitendes Wiedererkennen eines eige- Allerdings überträgt sich zunächst nur nete Instrumente, um seelische Struk-
nen früheren Zustands, wie es schon jene Stimmung, die wir am besten ken- turen sichtbar zu machen. „Die Kunst
Aristoteles formuliert hat? Gerade bei nen. Wir blicken so auf dieses Gemälde, ist ein Diagramm unserer Seele“, schreibt
Naturstimmungen in der Kunst schei- wie wir das immer machen, wie wir ge- Hartmut von Hentig in seinen Schriften
nen wir uns so berühren zu lassen, weil lernt haben, unsere Welt zu sehen. Was zur ästhetischen Pädagogik. „Sie erfin-
wir glauben, die Welt dort auf der Lein- meine Psyche unterdrückt, blende ich det die Chiffren, mit denen die Tiefen-
wand zu kennen und sie oder zumindest zunächst aus, aber alles andere drängt psychologie sie selbst deutet. Die Ge-
Teile von ihr schon einmal selbst gesehen irgendwann nach diesem Primärein- schichte von Ödipus war vor Freud. Die
oder erfahren zu haben. druck genauso in meine Wahrneh- Tiefenpsychologie ist so alt wie die
Die Auseinandersetzung mit Kunst mung – wie bei anderen Betrachtern Kunst.“
führt uns immer an unsere eigenen Le- auch. Bald steigen in uns auch die an- Die Möglichkeiten, über die Ausein-
bensthemen, Kunst spiegelt unsere bio- deren, uns eher fernliegenden Erfahrun- andersetzung mit Kunst an Konflikte
grafischen und seelischen Grunderfah- gen auf, mit einem heilsamen Effekt: und Probleme in unserem Unterbe-
rungen. Man hat daher oft angenom- Was uns fehlt, finden wir im Kunst- wusstsein zu gelangen, macht sich vor
men, jeder Mensch sähe in einem Ge- werk. In einem Kunstwerk sind tatsäch- allem die rezeptive Kunsttherapie zunut-
mälde etwas anderes, da wir Kunstwer- lich alle Emotionserfahrungen ange- ze. Ihr Ziel ist, über den Kontakt mit
ke wie überhaupt Bilder stets vor ganz legt – und es finden immer auch dieje- Kunstwerken in ihren Patienten neue
individuell einzigartigen Erfahrungen nigen von ihnen den Weg zum Betrach- Handlungs- und Verhaltensweisen in
wahrnähmen. Jedoch ist nur der Ein- ter, die ihm vielleicht am fernsten liegen. Gang zu setzen. Dabei geht es nicht al-
stieg, der erste Zugang zu einem Kunst- lein um die „Stimmungsaufhellung“
werk ganz individuell. „Jeder kommt aus Das „Diagramm der Seele“ durch passende Ästhetik. Es wird auch
einer anderen biografischen Ecke mit Kunsterleben ist immer ein Wechsel- auf Bilder zurückgegriffen, die über-
einem Kunstwerk in Kontakt, ausgestat- spiel, ein reziproker Prozess zwischen haupt nicht als „schön“ im klassischen
tet mit ganz eigenen psychischen Erfah- Kunstobjekt und Betrachter. Wir lesen Sinne gelten. Das ist etwa bei Bildern
rungen und Reaktionsweisen auf die nicht nur heraus, was in einem Kunst- der Fall, die Klienten in Kunsttherapien
äußere Welt“, sagt Sonja Pöppel, Kunst- werk steckt. Am Ende erkennen wir anziehen, weil sie eine starke Aversion
therapeutin aus Köln, „wer sich aber nicht so sehr die Kunst, sondern sie viel- fühlen, etwa bei einem verzerrten Kopf
wirklich länger, also mindestens über mehr uns. Sie bringt unsere innere Welt von Francis Bacon. Hier wird das Bild
eine gewisse Zeitspanne hinweg auf ein in Bewegung, belebt untergegangene, zum Impulsgeber, der das eigene Prob-
Kunstwerk einlässt, wird am Ende alle verschüttete „gute“ Gefühle genauso wie lem greifbar und bewusstmacht, um es
seelischen Erfahrungen erleben können, die angstvollen, verstörenden – und bewältigen zu können. „Das Kunstwerk
Selbstheilung 41

wird in diesem Sinn zu einem fördern-


den Selbstobjekt und tritt mit dem Selbst
in Beziehung. Es unterstützt die Entfal-
tungs- und Entlastungsmöglichkeiten
des Selbst“, schreibt Georg Franzen, Psy-
chologe und Herausgeber des Buches
Kunst und seelische Gesundheit.
Ebenso geht es in der Kunsttherapie
darum, an eigene verborgene Resilienz-
ressourcen zu gelangen. Birgit Naphau-
sen, Psychologin und Therapeutin am
Forum für analytische und klinische
Kunsttherapie in München, erklärt: „In
der rezeptiven Kunsttherapie nutzen wir
eine positive Bildwirkung, indem wir
das Wie und das Was bewusstmachen:
Wie wirkt das Bild auf mich, und was WAS MACHT KUNST MIT UNS?
assoziiere ich damit? Indem der Klient In ihrem Buch Art as therapy beschreiben die Autoren Alain de Botton und
diesen Fragen nachgeht, können für ihn John Armstrong sieben Funktionen, die Kunst erfüllen kann – oder soll:
solche mit dem Bild verknüpften posi- Kunst erinnert uns an all das, was wichtig im Leben, aber auch sehr flüchtig ist:
tiven Erfahrungen ins Bewusstsein ge- Schönheit, große Momente, tiefe Gefühle, archetypische Situationen. Vermeers
rückt werden, die ihm (noch) nicht oder Bild Frau in Blau, einen Brief lesend zeigt die Konzentration und Absorption, in die
nicht mehr verfügbar sind und seine wir versinken können, wenn wir an einen nicht anwesenden Menschen denken.
Befindlichkeit positiv beeinflussen. Er
Kunst lehrt uns zu hoffen: Ein heiteres oder auch ein erhabenes Kunstwerk zu
kann sich an heilsame Handlungsopti-
betrachten, während die eigene Lebenssituation gerade nicht heiter ist, bedeutet,
onen erinnern oder neue Handlungs-
der Hoffnung Nahrung zu geben – auf andere Welten, auf Schönheit, Sorglosig-
strategien entwickeln, die er aktiv in keit, Transzendenz. Ein Stilmittel dabei ist die „strategische Übertreibung“ des
seiner Lebensgestaltung verwirklichen Guten, etwa in idealisierten Bildern.
kann.“
Kunst nimmt unsere Sorge ernst – und bringt sie zugleich in eine Perspektive.
Naphausen erklärt die Wirkungswei-
Künstler sublimieren selbst in Schreckensbildern die Erfahrungen von Schmerz,
sen in der therapeutischen Arbeit am
Verlust oder Angst – und transzendieren sie, stellvertretend für den Betrachter.
Fall eines 42-jährigen Mannes, der an
Viele von Caspar David Friedrichs Naturbildern (etwa Das Eismeer) relativieren und
Depressionen leidet. Der Mann wird
neutralisieren die Alltagssorgen durch die Darstellung der ambivalenten Erhaben-
aufgefordert, in einer Galerie oder einem
heit einer grausamen Welt.
Museum auf dasjenige Bild zuzugehen,
das ihn intuitiv anspricht. Er wählt ein Kunst hilft, eine innere Balance wiederzufinden. Wenn uns Gefühle aufwühlen
Landschaftsbild am Meer aus. „Er erlebt und quälen, wenn uns etwas im Leben schmerzlich fehlt – dann können uns Kunst-
werke durch ihre Aura, ihre Ruhe wieder ins Gleichgewicht bringen, und sei es nur
die Wirkung des Bildes als befreiend,
für die Dauer des Betrachtens.
weit, leicht und unbeschwert. Während
er das Bild betrachtet, erinnert er sich Kunst ermöglicht uns Selbsteinsicht. Sie hält uns einen Spiegel vor, sie lehrt uns,
an die Ostsee, die er von Ferienaufent- die blinden Flecken in der Selbstwahrnehmung zu überwinden. Im Kunstwerk er-
halten in seiner Kindheit kennt. Am kennen wir Züge, die wir an uns selbst übersehen oder verleugnet haben.
schönsten, so erzählt er, war es damals Kunst lässt uns wachsen. Sie kann verstören, ja sogar ärgern oder provozieren.
für ihn, am Ufer zu spielen. Er erinnert Aber sie lässt uns selten gleichgültig. Kunst fordert uns heraus, reizt uns zu Urteilen,
sich, dass er in diesen Situationen ganz zu Widerspruch und Auseinandersetzung. Damit weitet sie unseren Blick, versetzt
entspannt und tief versunken in das uns in heilsame Unruhe.
Spiel war. Auf die Frage, ob er diese Er- Durch Kunst lernen wir wieder, die Dinge und Menschen um uns herum wertzu-
lebnisse auch nach seiner Kindheit wie- schätzen. Wir sind oft blind geworden für Selbstverständliches, also auch für das
der erlebt hat, berichtet er, dass immer, Schöne und Hilfreiche. Kunst lehrt uns, wieder genauer hinzusehen, die Gewohn-
wenn er in der Natur unterwegs ist, sich heiten des Sehens zu durchbrechen – und Dankbarkeit empfinden zu können.
nach einiger Zeit etwas Wohltuendes ■ HEIKO ERNST
einstellt. Mit dem Gehen und dem ziel- Alain de Botton, John Armstrong: Art as therapy. Phaidon 2013

losen Schauen fielen mehr und mehr

P S YC H O L O G I E H E U T E Mai 2 0 1 4
42 Selbstheilung

Krisen sensibilisieren uns nicht nur für das Schöne.


Sie bringen auch unser eigenes kreatives Potenzial zur Entfaltung

Anspannung und Sorgen. Er fühle sich kunsttherapeutischen Ansätzen, die da- erfahren darin so etwas wie eine innere
wie ein Teil der Natur, mit ihr verbun- von ausgehen, dass sich ihre Patienten Klärung und Lösung ihrer Anspannun-
den und geborgen.“ mit ihren eigenen Problemlagen in den gen, eine Art innere Katharsis wie beim
Auf die Frage der Therapeutin, wann Werken von Künstlern wiederfinden Weinen oder Lachen. Wenn das kreati-
er dieses Naturerleben das letzte Mal so und darüber erst in der Lage sind, Din- ve Ventil geöffnet wird, lässt der innere
genossen habe, bemerkt er bald, es sei ge zu verbalisieren, die vorher nicht Druck nach, die innere Unordnung legt
viel zu lange her. „Nun begann er zu möglich gewesen wären. Und es gibt sich, eine Befriedung der Seele tritt ein.
überlegen“, sagt Birgit Naphausen, „wie Vertreter rezeptiv-kunsttherapeutischer Nicht nur hilft es oft, die eigene Kre-
er diese so wichtige und wirkungsvolle Ansätze, die einen Erfolg darin sehen, ativität bei der Bewältigung von Le-
Naturerfahrung für seine Gesundheit dass sie ihre Klienten über die Ausein- benskrisen zu entfalten, mitunter setzen
in seinem Leben wieder aktivieren andersetzung mit Kunstwerken zu ei- die Krisen selbst diese Kreativität erst
könnte. Ein Landschaftsbild wurde für genen bildnerischen Gestaltungsprozes- frei. Diese Denkfigur der Reziprozität
ihn der Schlüssel zu seinem Wissen um sen anregen und damit ihre Kreativität stammt aus der Kunsttherapie, sie findet
eine heilsame Ressource – mit der Mög- fördern.“ sich jedoch auch auf einer ganz anderen
lichkeit, sich diese im aktuellen Leben Ebene, nämlich in kulturgeschichtli-
verfügbar zu machen.“ Für Menschen Krisen machen uns zum Künstler chen Betrachtungen. Der große öster-
in Krisen werden über die Kunstreso- Krisen sensibilisieren uns nicht nur für reichische Kulturhistoriker Egon Frie-
nanz eigene Erfahrungen wieder zu- das Schöne, sondern bringen auch unser dell hat von 1927 bis 1931 eine mehr-
gänglich, die sie als Ressourcen der Re- eigenes kreatives Potenzial zur Entfal- bändige Kulturgeschichte der Neuzeit
silienz erschließen können. Über den tung. Menschen werden gerade in Kri- geschrieben. Zu Beginn dieser Schrift
Bildimpuls zu den eigenen Ressourcen senzeiten selbst zu Künstlern, Poeten, ging er der Frage nach, was die Epoche,
zu finden, das ist der Weg, der auch heilt: Schriftstellern. Dies macht sich vor al- die man heute die Neuzeit nennt, also
Gerade das gestaltete, komponierte lem die kreative Kunsttherapie zunutze. jene Zeit, die seit der Renaissance den
Kunstwerk, in das vom Künstler eine Was genau hilft oder heilt, wenn jemand Weg in unsere Moderne weist, nach vie-
bestimmte Ordnung gelegt wird, wirkt kreativ wird? Künstlerische Kreativität len „dunklen“ Jahrhunderten in Gang
auf unsere innere Unordnung; wie bei ist immer eine Form des Gefühlsaus- gesetzt hat. Seine Antwort: eine Krise.
einem Mandala wirkt das Organisierte drucks. Vor allem bedrückende Seelen- Genauer: eine Krankheit. Für ihn steht
organisierend. lagen werden durch den freien künstle- am Anfang der Entwicklung zur Neuzeit
Für Sonja Pöppel, die zurzeit an einer rischen Ausdruck ausagiert. Das eigene die Pest, die im 14. Jahrhundert Europa
Dissertation über „rezeptive Kunstthe- seelische Problem ist nun ausgedrückt, heimsuchte. „Dass nämlich Krankheit
rapie“ arbeitet, ist ein Kunstwerk immer es liegt vor uns, zum Kunstwerk ver- etwas Produktives ist“, führt er aus, „die-
ein Medium zur Bewusstseinswerdung wandelt. Das Kunstwerk, das dabei ent- se scheinbar paradoxe Erklärung müs-
und dann auch zur Selbstheilung. In ih- steht, ganz egal wie und ob es „gelungen“ sen wir an die Spitze unserer Untersu-
rer Arbeit über die sogenannte rezepti- ist, wird zu einer Art Spiegelbild der chungen stellen.“
ve Kunsttherapie untersucht sie, wie sich Seele. Auch in der Geschichte dürften „Er-
für ihre Patienten die heilende Kraft In einem nächsten Schritt können schütterungen des bisherigen Gleichge-
nutzen lässt, die von Kunstwerken aus- diese Formen des Krisenumgangs the- wichts durchaus nicht immer unter die
gehen kann. Was dabei als Therapieer- rapeutisch betrachtet werden, um dann verderblichen Erscheinungen gerechnet
folg angesehen wird, hängt, wie sie daraus Veränderungen anzuregen. Aber werden“. Vielmehr sei offensichtlich, so
schreibt, vom eigenen Therapiebegriff auch schon der unmittelbare kreative Friedell weiter, „dass jede fruchtbare
ab: „Es gibt Vertreter von rezeptiv- Akt wird als heilsam erlebt. Menschen Neuerung, jede wohltätige Neubildung
Selbstheilung 43

sich nur auf dem Umwege eines ,Um- Grenze zwischen sich und dem Ort, den was uns lieb und teuer ist. Das erklärt,
sturzes‘ zu vollziehen vermag, einer Dis- er sich als Wahlheimat aussuchte – und warum bei Menschen in Krisenphasen
gregation der Teile und Verschiebung in dem er doch nie wirklich heimisch einerseits ein Sinn für das Schöne ge-
des bisherigen Kräfteparallelogramms.“ wurde. Das Leiden macht empfänglicher weckt wird, dieses andererseits immer
Das Phänomen der Krankheit sei mit für das Schöne – und bringt es zugleich auch mit einer gewissen Wehmut erlebt
dem Geheimnis des Werdens eng ver- hervor. Menschen therapieren sich durch wird. Denn das, was da als Schönes ent-
knüpft – das ist Friedells originelle wie Kunst, weil ihr Leid einen Ausdruck fin- deckt und erschlossen wurde, will fest-
weitreichende Beobachtung. Aber nicht det – und sie finden in ihr eine große gehalten werden. Und man weiß doch
nur was die Kulturgeschichte ganzer Ge- seelische Widerstandskraft. Kunst ist ei- nur zu genau, dass es vergänglich ist und
sellschaften angeht, nein, er sieht diesel- ne Resilienzressource. wir es irgendwann wieder hergeben
ben Prozesse auch bei jedem einzelnen Wie lässt sich die Ressource Kunst müssen.
Menschen am Werk: „Der kranke Or- nutzbar machen? Durch Rezeption – Eine Krise wird nicht kleiner durch
ganismus ist unruhiger und darum lern- oder doch besser durch eigenes Dichten, die Entdeckung der Schönheit – oder
begieriger, empfindlicher und darum Philosophieren, Den-Pinsel-Schwingen? das Entstehen eines tieferen Empfin-
lernfähiger; ungarantierter und dungsvermögens. Aber es ent-
darum wachsamer, scharfsinni- steht eine Art Gegenpol, eine
ger, hellhöriger; in dauernder Gegenkraft, eine Gleichzeitig-
Gewohnheit und Nachbarschaft keit von zwei Zuständen, die dem
der Gefahr lebend und darum Schmerz ein positives, ein erha-
kühner, unbedenklicher, unter- benes Gefühl zugesellt. Krisen
nehmender; näher der Schwelle lassen uns einen Schritt zurück-
der jenseitigen Seelenzustände treten, eine andere Perspektive
und darum unkörperlicher, einnehmen. Und immerzu ist es
transzendenter, vergeistigter.“ am Ende der veränderte Blick,
Es gibt viele, viele prominen- dem auf einmal etwas auffällt,
te Beispiele in der Geschichte der was er so nie gesehen hat. Leiden
Kunst, der Literatur, der Philo- bringt Erkenntnisse, Tiefe im
sophie: Leiden, Krankheit, Kri- Fühlen, aber es befördert nicht
sen – sie setzen stets auch etwas nur die traurigen, „schwarzen“
Produktives in Gang, eine neue, Vincent van Gogh: Blick auf Arles Gefühle, sondern die Gefühle
ungeahnte Fülle von Ideen und insgesamt, es erhöht gleichsam
Ausdrucksformen. Franz Schubert, Vin- Diesen Unterschied von aktiver, kreativer unsere Resonanzfähigkeit – und wohl
cent van Gogh oder Frida Kahlo – ohne und passiver, rezeptiver Kunsterfahrung deshalb werden wir trotz aller Ohn-
ihr Leiden sind sie überhaupt nicht ver- gibt es eigentlich gar nicht. Denn auch macht gerade in der Krise zu einem un-
ständlich, wären ihre Werke kaum so beim bloßen Schauen und Betrachten erwarteten Genuss fähig. PH
intensiv, so dramatisch. Van Goghs Blick gibt es einen großen kreativen Anteil.
auf Arles etwa von 1889 ist wohl eines Denn auch „bloße“ Rezeption bedeutet
der eindrucksvollsten Beispiele der eine aktive Auseinandersetzung, sie löst
Kunstgeschichte, wie aus Leiden Schön- innere Suchprozesse aus und erfordert Literatur
heit wird. eigene Konstruktionsleistungen. So ge- Denis Dutton: The art instinct. Beauty, pleasure,
Auf diesem Ölgemälde ist das südfran- sehen ist bereits das intensive Betrachten and human evolution. Bloomsbury, New York 2009
zösische Arles aus der Ferne zu sehen, eines Kunstwerks ein schöpferischer Akt. Georg Franzen (Hg.): Kunst und seelische Gesund-
ein idyllischer Ort, gelegen an einem heit. Medizinisch Wissenschaftliche Verlagsgesell-
Berghang mit hübschen Häuschen, einer Vergehen und Werden schaft, Berlin 2009

Kirche, davor fette Felder, eine äußerlich Für Menschen in Krisen ist das Werden Eric Kandel: Das Zeitalter der Erkenntnis. Siedler,
München 2012
von Glück beschienene Szenerie – aber und Vergehen ein zentrales Thema. Es
Sonja Pöppel: Das therapeutische Potenzial von
alles in ein kühles Blaugrün getaucht. wird in der Betrachtung der Natur, vor
Kunstrezeption. Geplante Dissertation, Universität
Der Blick des Betrachters muss erst sei- allem aber auch in der Kunst wiederge- zu Köln 2014
nen Weg durch krüppelige Weiden hin- funden. In der sensiblen Seelenlage, in Wilhelm Salber: Morphologie des seelischen Ge-
durch finden, die das Städtchen verstel- die uns eine Lebenskrise versetzt, erle- schehens. Bouvier, Köln 2009
len und die van Gogh in den Vordergrund ben wir das Gefühl von Abschied, Tren- Martin Schuster: Wodurch Bilder wirken. Psycholo-
gesetzt hat wie eine undurchdringbare nung oder der Gefährdung all dessen, gie der Kunst. Dumont, Köln 2007 (5. Auflage)

P S YC H O L O G I E H E U T E Mai 2 0 1 4
44 Therapieforschung

Gute Therapeuten –
schlechte Therapeuten
Psychotherapie ist hilfreich. In vielen, in den meisten
Fällen. Allerdings geht es fünf bis zehn Prozent der
Patienten nach einer Therapie schlechter. Nicht selten
liegt es am Therapeuten

■ Jochen Paulus
Therapieforschung 45

W
enn es um ihre beruflichen Schon vor vierzig Jahren illustrierte gesellschaftlichen Legitimierungs-
Fähigkeiten geht, bersten eine kleine Untersuchung drastisch, wie druck, unter dem die Psychotherapie in
Psychotherapeuten schier unterschiedlich Therapeuten das Leben der Konkurrenz zu anderen Interventi-
vor Selbstbewusstsein. Im Schnitt halten ihrer Patienten prägen können. Damals onsansätzen bei psychischen Störungen
sie sich für besser als 80 bis 90 Prozent berichtete der Forscher David Ricks vom stand“. Die Psychotherapeuten wollten
ihrer Kollegen. Das ist natürlich mathe- Schicksal 28 schwer gestörter Jungen. vor allem nachweisen, dass ihre Behand-
matisch unmöglich. Doch so viel Selbst- Sie fühlten sich so ängstlich, verletzlich lung wirkt. Dass sie das nur tut, wenn
überschätzung schlug dem Therapiefor- und isoliert, dass sie es fast nicht aus- sie von den richtigen Kollegen prakti-
scher Michael Lambert von der Brigham hielten. Jeder Junge wurde von einem ziert wird, passte nicht in die Forde-
Young University und seinen Mitarbei- von zwei Therapeuten einer großen Be- rungskataloge der berufsständischen
tern entgegen, als sie 129 niedergelasse- ratungseinrichtung behandelt. Als Er- Lobby.
ne Psychologen, Psychiater und sonsti- wachsene litten 27 Prozent der früheren Erst nach der Jahrtausendwende ver-
ge Therapeuten um eine Selbsteinschät- Patienten des einen Therapeuten an ei- öffentlichten Forscher einige große Un-
zung baten. Eine solide Mehrheit ner schweren psychischen Störung. tersuchungen zu den Leistungen unter-
schmeichelt sich, dass es mindestens 80 Doch von den ehemaligen Patienten des schiedlicher Therapeuten. Lamberts
Prozent ihrer Patienten nach ihrer Be- anderen Therapeuten erlitten 84 Prozent Gruppe analysierte in einer Studie mit
handlung besser gehe, eine starke Min- dieses Schicksal. Den erfolgreichen The- dem schönen Titel Waiting for super-
derheit tippt sogar auf mindestens 90 rapeuten nannten die Jungen „Super- shrink die Ergebnisse von 56 Vertretern
Prozent. Fast die Hälfte glaubt, dass es shrink“ – Superseelenklempner. Ricks verbreiteter Therapierichtungen. Sie ar-
keinem ihrer Patienten nach der Be- behielt den Titel bei. Den anderen The- beiteten am Beratungszentrum einer
handlung schlechter geht, und schrieb rapeuten tauften die Forscher später großen Universität mit fast 1800 Studie-
allen Ernstes „0 Prozent“ in den Frage- „Pseudoshrink“. renden. Die Patienten litten zumeist an
bogen. Depressionen, Ängsten oder Anpas-
Ein gewisser beruf licher Stolz ist Es gibt die Supershrinks – sungsschwierigkeiten. Die besten drei
durchaus angemessen. Immerhin kön- aber auch viele Versager Therapeuten konnten die Werte ihrer
nen Psychotherapeuten etwa drei Vier- Ricks Bericht legt nahe, warum der eine Patienten auf einer Symptomliste um
tel ihrer Patienten durchaus helfen (sie- erfolgreich war und der andere nicht: beachtliche 15 Punkte verbessern. Dabei
he Interview auf Seite 46). Bei einem Der Supershrink kümmerte sich vor al- dauerten die Behandlungen dieser Su-
Viertel allerdings richten sie wenig aus. lem um die besonders leidenden Jungen, pershrinks im Schnitt gerade mal zwei-
Doch das wollen sie sich nicht eingeste- der Pseudoshrink tat das Gegenteil. Der einhalb Sitzungen. Die schlechtesten
hen. Mit etwa fünf bis zehn Prozent der Supershrink sorgte für Unterstützung Therapeuten dagegen brauchten acht
erwachsenen Patienten geht es in der außerhalb der Therapie, redete in festem – doch ihren Patienten ging es am Ende
Therapie sogar weiter bergab, bei Kin- Ton mit den Eltern und ermutigte die fünf Punkte schlechter als vorher.
dern und Jugendlichen gilt das für dop- Jungen, einen eigenen Willen zu entwi- Eher noch bedenklicher fielen die Er-
pelt so viele. ckeln. Der Pseudoshrink dagegen ließ gebnisse von 167 psychoanalytisch ori-
Einem Teil dieser Unglücklichen ist sich vom Elend der Kinder anstecken entierten Therapeuten aus, die Rolf San-
mit heutigen Mitteln wohl leider nicht und wusste ihm nichts entgegenzuset- dell von der schwedischen Linköping
zu helfen. Doch bei vielen schlägt die zen. University ermittelte. Immerhin 59 Pro-
Therapie einfach deshalb nicht an, weil Natürlich lässt sich aus einer Unter- zent halfen ihren Patienten gut oder sehr
ihr Therapeut nicht so gut ist, wie er suchung mit nur zwei Therapeuten nicht gut. Doch 20 Prozent erreichten prak-
sein könnte. In ihren Tagträumen sind ableiten, wie viele gute und schlechte tisch nichts. Und noch etwas mehr lie-
die meisten Psychoheiler fantastisch, Therapeuten es gibt und wie sie sich von- ferten „schlicht schlechte Ergebnisse“,
doch nur einige sind es auch in der Wirk- einander unterscheiden. Doch der Be- so Sandell. Aus dem noch normalen Be-
lichkeit. Und manche sind so schlecht, richt hätte als eindeutige Warnung wir- reich „befördern sie die durchschnittli-
dass sie kaum jemandem wirklich helfen ken müssen: Womöglich sind nicht al- che Patientin oder den durchschnittli-
können. Ihre Erfolgsraten liegen drama- le Therapeuten gut für ihre Patienten. chen Patienten an die Grenze des krank-
tisch unter denen der Könner. Natürlich Aber das wollte die Branche lieber gar haften Bereichs“.
gibt es in allen Berufen Spitzenkräfte nicht wissen – jahrzehntelang wurde das Auch eine Studie mit fast 11 000 Pa-
und Überforderte. Doch auch von den Problem kaum erforscht. Die Psycholo- tienten des britischen Gesundheitssys-
Brötchen eines schlechten Bäckers wird gieprofessorin Ulrike Willutzki von der tems zeigt: Man sollte besser einen gu-
man satt. Ein schlechter Therapeut aber Universität Witten/Herdecke sieht den ten Therapeuten erwischen. Denn wäh-
schadet oft mehr, als er nutzt. Grund hauptsächlich „in dem starken rend der beste fast all seinen Patienten

P S YC H O L O G I E H E U T E Mai 2 0 1 4
46 Therapieforschung

„Einige Therapeuten verschlimmern


die Probleme noch“
Was unterscheidet gute von schlechten Psychotherapeuten? Ein Gespräch mit dem
Therapieforscher Michael Lambert, Professor an der Brigham Young University in
Provo im amerikanischen Bundesstaat Utah

P S YC H O L O G I E H E U T E Herr Profes- tung Ihnen gegenüber. Das hilft Ihnen LAMBERT Erfahrene Therapeuten
sor Lambert, wie vielen Patienten kön- überhaupt nicht, sondern schadet Ihnen. sind nicht besser, aber sie sind schneller.
nen Therapeuten wirklich helfen? P H Und was machen die Superthera- Man kommt schneller ans Ziel, und
M I C H A E L L A M B E R T Wenn die Pati- peuten besonders gut? wenn man leidet, ist das sehr wichtig.
enten zwanzig Wochen in Therapie blei- L A M B E R T Bisher wissen wir, dass sie Der Ritt ist sanfter. Wenn man einen
ben, wird die Hälfte gut ansprechen und gut mit schwierigen Situationen umge- unerfahrenen Therapeuten hat, geht es
wieder das normale menschliche Leid hen können. Wenn der Patient ein Pro- rauer zu, langsamer und manchmal un-
mit uns allen teilen, statt sich supermi- blem mit der therapeutischen Beziehung gemütlich.
serabel zu fühlen. Wenn sie dreißig Wo- hat, wissen diese Therapeuten, wie sie P H Wie könnte man erreichen, dass die
chen bleiben, schaffen das drei Viertel. es lösen können. Einige andere Thera- richtigen Leute Psychotherapeuten wer-
Es bleibt also etwa ein Viertel, dem wir peuten wissen das nicht und verschlim- den?
kaum helfen. Einige davon kommen mern die Probleme noch. Wir sind also L A M B E R T Das ist sehr schwierig. Aber
vielleicht nur, weil sie dazu gedrängt sicher, dass ein Teil der Antwort lautet: das Wichtigste ist wahrscheinlich, Men-
werden. Sie sind nicht wirklich bereit Es kommt darauf an, wie jemand Scher- schen auszuwählen, die Menschen mö-
mitzumachen und halten sich sehr zu- ben wieder kittet. gen. Die nicht feindselig sind, nicht zum
rück. Andere sind möglicherweise bio- P H Was sollte der Therapeut machen, Kritisieren neigen, die sich auf andere
logisch so belastet, dass ihnen eine Be- wenn der Patient sich nicht willkommen freuen. Und Menschen, die flexibel den-
handlung nicht helfen kann. fühlt? ken, nicht starr. Die verschiedene Per-
P H Spielt bei Misserfolgen nicht auch L A M B E R T Wenn der Therapeut an- spektiven einnehmen können, nicht nur
der Therapeut eine Rolle? fängt, Gründe zu finden, und sein Ver- eine.
L A M B E R T Es gibt außergewöhnlich halten rechtfertigt, macht das alles nur P H Aber was machen Sie mit prakti-
effektive Therapeuten, aber etwa zehn schlimmer. Also wenn ein Patient sich zierenden Therapeuten, die ihren Pati-
Prozent sind so schlecht, dass sie die traut zu sagen: Sie sind offenbar nicht enten nachweislich nicht helfen können?
Leute sogar kränker machen. erfreut, mich zu sehen, und das schon L A M B E R T In unserer Klinik geben wir
P H Was machen diese Therapeuten zum dritten Mal, ich fühle mich hier ihnen beispielsweise Verwaltungsaufga-
falsch? nicht willkommen, dann ist es wichtig, ben oder andere Tätigkeiten, bei denen
L A M B E R T Hinter vielen schädlichen dass Therapeuten das sehr ernst nehmen sie nicht so viel mit Patienten zu tun
Wirkungen von Psychotherapie stecken und sich vielleicht sogar entschuldigen. haben. Oder wir hoffen, dass wir eines
Probleme in der Beziehung, die sich in Sie sollten nicht nach Erklärungen su- Tages eine Art von Patienten finden, bei
indirekten Zurückweisungen äußern. chen und sich nicht verteidigen. denen sie gut sind. Manche besitzen viel-
Wenn Sie zum Termin erscheinen und P H Und wenn ein Therapeut das nicht leicht eine große therapeutische Band-
der Therapeut ist müde, abgelenkt, fin- tut, sollte ich als Patient gehen? breite und andere eine kleine …
det Sie schwierig oder scheint sich nicht L A M B E R T Ja. Denn es gibt Therapeu- P H … manche sind vielleicht nur mit
zu freuen, dass er Sie sieht, ist das ein ten, die gerne mit Ihnen arbeiten werden Suchtpatienten gut oder mit rebellischen
schlechtes Zeichen. Sie fühlen sich dann und sich wirklich freuen, Sie zu sehen. Teenagern …
nicht wichtig, nicht willkommen und Diese sind nicht so schwer zu finden. L A M B E R T Wenn wir also herausfin-
nicht geschätzt, sondern als Last. Wo- Das Feld ist voller guter Leute, die gerne den würden, in welchem Bereich der
möglich sind Sie in einer Familie auf- Psychologen sind, weil sie die Leute mö- Therapeut kompetent ist, könnte er sich
gewachsen, wo Sie nur als Last empfun- gen, mit denen sie arbeiten. darauf spezialisieren.
den wurden. Und jetzt suchen Sie Hilfe P H Ist es besser, einen erfahrenen The- ■ Mit Michael Lambert
und stoßen wieder auf die gleiche Hal- rapeuten auszusuchen? sprach Jochen Paulus
Therapieforschung 47

die für ihre schlechten Ergebnisse be-


kannt sind oder die im Rahmen von
Qualitätssicherungsmaßnahmen iden-
tifizierbar wären, auf immer neue Pati-
enten loszulassen, wenn ein negatives
Therapieergebnis mit hoher Wahr-
scheinlichkeit vorausgesagt werden
kann?“ Natürlich nicht. Im Extremfall
kann eine gescheiterte Psychotherapie
den Patienten das Leben kosten. Depres-
sive bringen sich nicht selten um, Ma-
gersüchtige hungern sich zu Tode. Aber
auch wenn es nicht zum Schlimmsten
kommt, bedeutet eine gescheiterte Psy-
chotherapie oft, dass eine bedrückende
Leidensgeschichte weitergeht.

Der wahre Wert der Erfahrung


Darum wollen Forscher herausfinden,
warum manche Therapeuten viel besser
sind als andere. Auf der Suche nach den
idealen Therapeuten entdeckten sie zu-
Schlechte Therapeuten versagen vor allem nächst, was keine große Rolle spielt: das
Alter, das Geschlecht und die Hautfarbe.
bei schweren Fällen. Selbst eine Therapieausbildung scheint
nicht besonders wichtig. Der Wissen-
Bei leichten können sie noch mithalten
schaftler Larry Beutler resümiert gar,
die Forschungslage „spricht nicht für die
Ansicht, dass eine psychotherapeutische
Ausbildung etwas mit therapeutischen
helfen konnte, verbesserte sich kaum ein fand auch der Psychologieprofessor Fähigkeiten oder Erfolgen zu tun hat“.
Viertel nach regelmäßigen Besuchen Wolfgang Lutz von der Universität Trier Berufserfahrung wiederum bringt zwar
beim schlechtesten. Der Autor Dave in einer großen Studie für die Techniker- Routine, aber am Ende keine besseren
Saxon von der University of Sheffield krankenkasse. Ergebnisse. „Realitätsnahe Studien zei-
richtete sein Augenmerk speziell auf die Solche Befunde lassen auch hierzu- gen, dass Therapeuten in Ausbildung
19 der 119 Therapeuten, die konstant lande zumindest einige Experten auf- ähnliche Erfolge erzielen wie zugelasse-
unterdurchschnittliche Ergebnisse er- horchen. Es sei „erstaunlich, dass ein ne Profis“, hielt Terence Tracey, Profes-
zielten. Mit ihren Patienten ging es drei- möglicher Mangel an Kompetenzen der sor für Beratungspsychologie an der
mal so oft abwärts wie beim Rest. Hät- Psychotherapeuten in der Psychothera- Arizona State University, im führenden
te man sie rechtzeitig gefeuert und durch pieforschung im deutschsprachigen Fachblatt American Psychologist fest.
mittelmäßige Kräfte ersetzt, hätte 256 Raum bislang nur spärlich diskutiert Erfahrene Therapeuten erkennen teil-
Patienten mehr geholfen werden kön- wurde“, konnte die Zunft im Jahr 2013 weise sogar schlechter als solche in Aus-
nen, kalkuliert Saxon. im Branchenorgan Psychotherapeut le- bildung, woran ein Patient eigentlich lei-
Dazu kommt: Die schlechten Thera- sen. Die öffentliche Verwunderung kam det. Sabine Vollmer von der Universität
peuten versagten vor allem bei schweren von Professor Bernhard Strauß, Direk- Freiburg präsentierte einigen Vertretern
Fällen. Bei Patienten mit leichten Be- tor des Instituts für Psychosoziale Me- beider Gruppen schriftlich einen alltäg-
schwerden konnten sie noch ganz gut dizin und Psychotherapie des Universi- lichen Fall. Die fünf getesteten Azubis
mithalten. Doch wenn die Hilfesuchen- tätsklinikums Jena, und seiner Mitar- lieferten durchweg vorbildliche Fallana-
den massive Probleme mitbrachten, beiterin Steffi Nodop. Noch deutlicher lysen. Einige erfahrene Therapeuten
zeigten sich ihre Grenzen überdeutlich. wurde der Therapieforscher Professor schafften das auch. Aber andere hatten
Ähnlich große Qualitätsunterschiede Franz Caspar von der Universität Bern: wesentliche Krankheitsbilder offenbar
zwischen verschiedenen Therapeuten „Ist es ethisch vertretbar, Therapeuten, vergessen oder nie gelernt.

P S YC H O L O G I E H E U T E Mai 2 0 1 4
48 Therapieforschung

Wie schafft man es, ungeeignete Kandidaten fernzuhalten?


Wer erst mal Therapeut ist, ist schwer wieder loszuwerden

Entscheidend für den Therapieerfolg später zeigte sich: Diese Therapeuten kenkassen versuchen, die Leistungen
scheinen Eigenschaften zu sein, die sich konnten Patienten nicht so gut helfen von Therapeuten zu erfassen, müssten
nicht leicht lehren lassen und sich auch und hatten mehr Therapieabbrüche zu sie mit noch viel mehr Widerstand rech-
nicht mit der Zeit von allein einstellen. verzeichnen. Seither werden „sozial nen. In den USA aber beschäftigen ei-
Lamberts Arbeitsgruppe fand einen gro- schwache“ Bewerber in Osnabrück nicht nige Versicherungen schlechte Thera-
ßen Einfluss sogenannter „hilfreicher mehr so einfach genommen. peuten nicht mehr und zahlen besonders
zwischenmenschlicher Fähigkeiten“ (fa- Dagegen ist es kaum möglich, bereits guten einen Bonus. Hierzulande ist das
cilitative interpersonal skills). Wer über zugelassene Therapeuten zu testen und bislang ein Tabu. Psychologieprofesso-
sie verfügt, versteht, was andere sagen, die weniger guten von Patienten fern- rin Ulrike Willutzki hält es gerade noch
und kann sie überzeugen, das Richtige zuhalten. Forscher versuchen daher, ih- für denkbar, offensichtlich ungeeignete
zu tun. Diese Fähigkeiten lassen sich re Leistungen zu verbessern. Lamberts Kandidaten aus dem Beruf fernzuhal-
messen. Das Team um Lambert führte Arbeitsgruppe sammelt dazu Fragebö- ten. „Arbeitet jemand bereits als The-
kurze Videofilme mit Schauspielern in gen ein, die Patienten bei jeder Thera- rapeut, ist es sehr viel schwieriger, här-
der Rolle schwieriger Patienten vor und piestunde ausfüllen. Ein Computer ana- ter und unwahrscheinlicher (wenn auch
fragte Therapeuten, wie sie in der prä- lysiert sie. Verbessert sich der Patient aus Sicht der Patienten unerlässlich), ihn
sentierten Behandlungssituation reagie- weniger, als eigentlich zu erwarten wä- von seiner Tätigkeit zu entbinden“,
ren würden. Wer dabei hilfreiche zwi- re, wird der Therapeut gewarnt. Ein Teil meint sie pessimistisch.
schenmenschliche Fähigkeiten demons- der Therapien lässt sich so noch retten, Von den Therapeuten selbst sind je-
trierte, erwies sich bei seinen Klienten wie Lamberts Studien zeigen. Der Trie- denfalls keine Initiativen zu erwarten.
als besserer Therapeut. Ob sich solche rer Forscher Lutz kam in einer ähnlich Wieso auch? Ihre Selbsteinschätzungen
Fähigkeiten trainieren lassen, weiß kei- angelegten Studie für die Techniker- in Lamberts Studie zeigen ja: Sie sind
ner. Sicherer wäre es, Aspiranten mit krankenkasse zum gleichen Resultat. alle überdurchschnittlich gut. PH
Schwächen in diesem Bereich erst gar Die Rückmeldungen helfen, weil The-
nicht zu Therapeuten auszubilden. rapeuten es oft nicht merken, wenn die Literatur
Behandlung nicht läuft. Die meisten
Franz Caspar: Gibt es gute und schlechte Psycho-
Gibt es ein brauchbares fragen viel zu selten nach, ob es dem therapeuten und Psychotherapeutinnen? PPmP, 58,
Frühwarnsystem? Patienten wirklich besser geht. Sie be- 2008, 227
Wie sich zumindest einige Ungeeignete kommen auch nicht mit, wie lange Er- Michael J. Lambert: Prevention of treatment failure:
aussortieren lassen, stellte Julia Evers- folge nach Abschluss der Therapie an- the use of measuring, monitoring, and feedback in
clinical practice. American Psychological Associati-
mann an der Universität Osnabrück un- halten. Folglich erfahren sie nicht, wann on, Washington 2010
ter Beweis. Sie zeigte kleinen Gruppen sie gut waren und wann nicht. Genau
Steffi Nodop, Bernhard Strauß: Mangelnde Eignung
von Ausbildungskandidaten ein Video deshalb werden sie im Lauf der Zeit nicht bei angehenden Psychotherapeuten. Kriterien und
des umstrittenen Therapiegurus Bert besser, argumentiert Terence Tracey. Umgangsmöglichkeiten aus Sicht der Institutsleiter.
Hellinger. Anschließend sollten die Verbesserungen lassen sich natürlich Psychotherapeut, 58, 2013, 446–454

Kandidaten sich über ihre Gefühle und nur einführen, wenn die Therapeuten Terence J. G. Tracey u. a.: Expertise in psychothera-
py: an elusive goal? American Psychologist, 2014.
Gedanken dazu unterhalten. Experten mitmachen. Viele verweigern sich aber. Advance online publication. DOI: 10.1037/
beobachteten die Diskussionen und be- Schon Lambert hatte bei seiner Rück- a0035099
werteten jeden Teilnehmer: Hörte er meldestudie mit vielen Vorbehalten zu Steven Walfish, Brian McAlister, Paul O’Donnell,
anderen aufmerksam zu, verstand er kämpfen. Als Lutz seine deutsche Un- Michael J. Lambert: An investigation of self-assess-
deren Gefühle? Wie überzeugend brach- tersuchung plante, hatte er noch mehr ment bias in mental health providers. Psychological
Reports, 110/2, 2012, 639–644
te er seine eigenen Gedanken vor, nahm Probleme. Viele Therapeuten sorgten
Ulrike Willutzki, Britta Reinke-Kappenstein, Matthi-
er dabei auch Ideen anderer auf? sich um ihre therapeutischen Freiheiten,
as Hermer: Ohne Heiler geht es nicht. Bedeutung
Einige Kandidaten schnitten bei die- ihre Verbände mobilisierten gegen die von Psychotherapeuten für Therapieprozess und
sem Test nicht besonders gut ab. Jahre Untersuchung. Sollten deutsche Kran- -ergebnis. Psychotherapeut, 58, 2013, 427–437

PSYC H O LO G I E H EUTE M a i 2014


en
2014 such
ta z P a n ter Preis d
Für den ndels un
H e ld in des Wa llektive
wir d ie
e s A ll ta gs, die Ko
den Held
en d n und
n , d ie E ngagierte
etzte n Ideen.
und Vern mit neue
n s c h e n
die Me

www.taz.de/stiftung

Helfen Sie uns. Nennen Sie uns Ihre HeldInnen,


damit wir wahre Heldentaten ans Licht der Öffent-
lichkeit bringen können!
unter www.taz.de/panter

unter www.taz.de/panter

unter www.taz.de/panter

unter www.taz.de/panter

unter www.taz.de/panter

Der taz Panter Preis ist mit zweimal 5.000 Euro


Bis 27. April bewerben

Bis 27. April bewerben

Bis 27. April bewerben

Bis 27. April bewerben

Bis 27. April bewerben

dotiert und ist ein Projekt der taz Panter Stiftung.


HeldInnen des

HeldInnen des
HeldInnen mit

HeldInnen der
HeldInnen für

Senden Sie Ihren KandidatInnenvorschlag


bis 27. April 2014 an:
taz.die tageszeitung | Panter Preis
Rudi-Dutschke-Str. 23, 10969 Berlin
panter@taz.de | www.taz.de/panter
Psychologie Heute –
Ihr Abo fürs Tablet

MIT
INTERAKTIVEN
FUNKTIONEN
UND ZUSATZ-
INHALTEN

PSYCHOLOGIE
HEUTE
Was uns bewegt. www.psychologie-heute.de
Keine Ausgabe
mehr verpassen

Probeabo
3 Ausgaben für nur 16,99 €

Jahresabo
12 Ausgaben
zum Vorteilspreis 64,99 €

Jahresabo plus Print


Als Heftabonnent nutzen Sie die
Psychologie Heute-App kostenlos.
52

Gesundheit & Psyche


R E DA K T I O N : T H O M A S S A U M - A L D E H O F F

Das Kind auf


dem Monitor
Wie fühlt sich Schwangerschaft im Zeitalter
der Hightechmedizin an? Was bedeutet
es heute, Mutter zu werden? – Eine
qualitative Befragung von Frauen,
die ein Kind erwarten

Der Wunsch nach einem Kind ist ein Paares geben kann. Aus einem unge- Bekannte Begleiterscheinungen dieses
biologischer Imperativ, der dem Men- planten Kind kann ein erwünschtes sensiblen Geschehens können Übelkeit
schen unbewusst innewohnt, so die Ärz- Kind werden. Und aus einem Wunsch- und Erbrechen, rational unerklärliche
tin und Psychotherapeutin Ute Auha- kind kann ein unerwünschtes Kind wer- Stimmungsschwankungen, Heißhun-
gen-Stephanos. Auch in den Industrie- den, wenn die individuellen Rahmen- ger, plötzliche Aggressionen, lähmende
nationen hat sich daran nichts geändert: bedingungen nicht mehr stimmen. Müdigkeit, gesteigerte sexuelle Lust oder
Der Kinderwunsch gehört auch heute Eine Schwangerschaft geht mit vielen sexuelle Unlust sein. Phänomene, die
zur Agenda und wird zum Projekt im körperlichen Veränderungen und Tur- später mehr oder weniger verschwinden.
Lebenslauf von Frauen und Männern bulenzen für die Frau einher. Die rasche
– zumal Reproduktionsmedizin und Entwicklung des Embryos wird von der Von der Frau zur Mutter:
Pränataldiagnostik den Eindruck erwe- Bildung des körperfremden Hormons die „Statuspassage“
cken, dass Fortpflanzung ein rundum hCG (Humanes Choriongonadotropin) In der Literatur werden die ersten Mo-
planbarer und steuerbarer Vorgang sei. begleitet. Dieses Hormon wird in der nate einer Schwangerschaft mit all die-
Aus der soziologischen Forschung und Plazenta gebildet und ist für die Erhal- sen Turbulenzen als psychosoziale Sta-
der Pränatalpsychologie ist allerdings tung des Embryos verantwortlich. Man- tuspassage beschrieben, in der die Bin-
bekannt, welche Verwirrungen es um che Frauen spüren den Aufruhr in ihrem dung zwischen der Frau und dem Kind
den Kinderwunsch einer Frau oder eines Körper, andere nur wenig oder gar nicht. beginnt und sich die Schwangere auf
Gesundheit & Psyche 53

ihre zukünftige Rolle als Mutter vorbe- gen während ihrer Schwangerschaft. zeitaufwendige Untersuchungen folgen.
reitet. Oft erleben Frauen in diesen ers- „Das war schön. Von daher fand ich das Nicht immer ist deren Nutzen medizi-
ten Monaten ein Wechselbad ihrer Ge- nicht überflüssig. Weil mir das geholfen nisch nachgewiesen.
fühle und Gedanken mit vielen Zweifeln hat, mich mit dem Zustand der Schwan-
und Ängsten. Kann ich die schwierige gerschaft auseinanderzusetzen.“ Scheinzwänge und der Stress der
Verantwortung für ein Kind überneh- Kann ich mein Kind sicher bis zum „Qualitätskontrollen“
men? Kann ich es beschützen? Ende tragen und wird es gesund zur Welt Schon zu Beginn der 1990er Jahre hatte
Wie erleben Frauen heute die Status- kommen? Auf diese uralte, bange Frage die Kulturwissenschaftlerin Barbara
passage, den Übergang von der Frau zur der Frau will die moderne Medizin mit Duden darauf aufmerksam gemacht,
Mutter? Diesem Thema versuchte sich ihrer vorgeburtlichen Diagnostik eine dass der Uterus der Frau zu einem „öf-
die Sozialwissenschaftlerin Kati Mozy- Antwort geben. „Man begibt sich in de- fentlichen Ort“ geworden sei, dass die
gemba von der Universität Bremen in ren Hände, braucht deren Okay, statt Pränataldiagnostik mit einem „neuen
einer qualitativen Studie zu nähern. In auf sich selbst zu hören“, sagt eine der Erlebniszwang“ von Schwangerschaft
den westlichen Ländern prägen die bild- Befragten. einhergehe, der die Frau und ihr unge-
gebenden Verfahren der Medizin und Die medizinische Überwachung ei- borenes Kind zu Patienten mache. Sie
die Möglichkeiten der Pränataldiagnostik ner Schwangerschaft werde heute gesell- gab zu bedenken, dass das Szenario vor-
das Erleben der Schwangerschaft, so eine schaftlich erwartet, kommentiert Kati geburtlicher Diagnostik die Frauen un-
der zentralen Aussagen der Forscherin. Mozygemba. Sie sei Bestandteil des ter Stress setze, sie im Grunde hilflos
Handlungsskripts der schwangeren den Scheinzwängen einer Serie von Ent-
Diagnostik statt Empfindung: Frau, die als gute Mutter gelten will. scheidungen ausliefere, welche „Quali-
Ist das Kind okay? Frauen befürchteten, wenn sie sich dem tätskontrollen“ sie sich und ihrem un-
„Wir sind doch alle so’n bisschen medi- engmaschigen Netz der Vorsorgeunter- geborenen Kind zumuten wollten.
zinsozialisiert“, sagt eine der befragten suchungen entzögen, werde ihnen das Inzwischen weiß man, dass das un-
Mütter. „Im ersten Trimenon (den ersten als fahrlässiges Verhalten, wenn nicht geborene Kind die Aufregungen seiner
drei Schwangerschaftsmonaten, Red.) wird gar als Kindesgefährdung vorgeworfen. Mutter miterlebt: über ihren Herz-
die Statuspassage als irreal und abstrakt Dass das Kind in der Gebärmutter schlag, den es hören kann, und über die
empfunden“, schreibt die Forscherin. bereits in den ersten Tagen seiner Ent- Ausschüttung von Stresshormonen wie
Selbst die sichtbaren oder spürbaren Ver- wicklung beobachtet und auf genetische Adrenalin und Kortisol, die auch den
änderungen, die eine Schwangerschaft Abweichungen oder mögliche künftige Blutkreislauf des Fötus erreichen. Mehr
mit sich bringt – etwa das Schmerzen Krankheiten untersucht werden kann, noch: In der Forschung zeichnet sich ab,
oder die Vergrößerung der Brüste –, hat durchaus auch Schattenseiten. Die dass schwerer und anhaltender mütter-
scheinen für die befragten Frauen eher Möglichkeiten vorgeburtlicher Diag- licher Stress in Körper und Psyche des
sekundär zu sein. Die eigene Empfin- nostik führen der Frau vor Augen, von Kindes bleibende, lebenslange Spuren
dung, das subjektive Spüren der Frau, welchen Schädigungen ihr Kind betrof- hinterlässt und in späteren Krisensitu-
schwanger zu sein, hat sich verlagert auf fen sein könnte. Solange diese Art von ationen wieder virulent werden kann.
das Sehen des Kindes auf dem Monitor Diagnostik – etwa durch eine für das Die Hightechdiagnostik ist Aufklärer
und bedarf offenbar der ständigen pro- Kind nicht ganz ungefährliche Frucht- und Stressor, Segen und Fluch in einem.
fessionellen Bestätigung. Die Frauen wasseruntersuchung – die Gedanken- Dies gilt nicht nur, aber in besonderem
halten Ausschau nach „externen Verge- welt der schwangeren Frau beherrscht, Maße für die sensible Zeit der Schwan-
genständlichungshilfen“ und messbaren wird sie zögern, ihr Kind anzunehmen gerschaft. ■ Helga Levend

Beweisen, die ihnen signalisieren, dass und eine Bindung zu ihm aufzubauen.
alles in Ordnung ist mit dem Kind. Kati Mozygemba hat in ihren Inter-
„Ich hab das aber natürlich begrüßt, views herausgefunden: Den meisten Kati Mozygemba: „Vor der Geburt Mutter werden“. In
Katja Makowsky, Beate Schücking (Hg.): Was sagen
weil ich immer wieder mein Kind sehen Frauen ist nicht bewusst, dass jede So- die Mütter? Beltz Juventa, Weinheim 2013
konnte“, so kommentiert eine andere nografie bereits eine pränataldiagnos- Helga Levend, Ludwig Janus (Hg.): Bindung beginnt
Frau die vielen Ultraschalluntersuchun- tische Untersuchung ist, der oft weitere vor der Geburt. Mattes, Heidelberg 2011

P S YC H O L O G I E H E U T E Mai 2 0 1 4
54 Gesundheit & Psyche

Kurzvisite
Der Wellenritt der Pfunde
Wer sein Gewicht halten oder wer abnehmen möchte, muss sich nicht
grämen, wenn sie oder er am Wochenende ein wenig zulegt. Entschei-
dend ist vielmehr, ob man diesen Ballast werktags wieder abbaut. Das ist
die Quintessenz der Studie eines finnisch-amerikanischen Forscherteams,
in der die Gewichtsschwankungen von 80 Frauen und Männern im Alter
von 25 bis 62 über einen Zeitraum zwischen 15 und 330 Tagen beobach-
tet wurden. Die Probanden hatten schlicht die Aufgabe, sich jeden Mor-
gen vor dem Frühstück zu wiegen. Die so gewonnenen Kurven zeigten
einen ehernen Verlauf: Fast jede und jeder legte am Samstag und Sonn-
tag ein wenig zu und nahm dann während der Arbeitswoche wieder et-
was ab. Doch nicht bei allen war dieses Auf und Ab ein Nullsummenspiel:
Manche legten in der Bilanz etwas drauf, andere nahmen eher ab. Das Erfolgsrezept Letzterer bestand darin, dass sie
unter der Woche konsequent weniger Kalorien zu sich nahmen, sodass ihr Gewicht von Montag an kontinuierlich fiel
und am Freitag sein Minimum erreichte. Bei denjenigen, die insgesamt zunahmen, zeigte die Gewichtskurve hingegen
kein so klares Verlaufsmuster und schwankte auch werktags. Auf den Rhythmus kommt es also an.
DOI:10.1159/000356147

Gen + Schlaf = Depression


Diese und jene psychische Störung ist zu soundso viel Prozent erblich – so heißt es
oft in den Medien. Diese Darstellung ist aber verkürzt. Denn wie stark die Gene
durchschlagen, hängt von der Umwelt und den Verhaltensgewohnheiten ab – zum
Beispiel der Schlafdauer. Einen eindrucksvollen Beleg für das Wechselspiel von Ge-
„Schlaf ist der Preis, den das Gehirn nen, Depression und Schlaf lieferte jetzt eine Studie an der University of Washing-
für Lernen und Gedächtnis zahlen ton mit 1788 erwachsenen Zwillingen. Bei Probanden mit normaler Schlafdauer
muss. Der Schlaf ermöglicht ihm errechneten die Forscher eine Erblichkeit depressiver Symptome von 27 Prozent.
ein Reset und hilft ihm, frisch er- Aber: Bei Teilnehmern, die nachts weniger als fünf Stunden schliefen, stieg der
lerntes Material in den gefestigten Anteil der Gene am Depressionsrisiko auf 53 Prozent, und bei Langschläfern (min-
Bestand der Erinnerungen zu inte- destens zehn Stunden) betrug er 49 Prozent. „Sowohl kurze als auch exzessive
grieren. So kann das Gehirn am Schlafdauer scheint Gene zu aktivieren, die mit depressiven Symptomen in Verbin-
nächsten Tag neu beginnen.“ dung stehen“, vermutet Erstautor Nathaniel Watson – und bestärkt damit die Zu-
versicht, dass sich mit einer erfolgreichen Therapie des Schlafs auch das Depressi-
GIULIO TONONI, UNIVERSIT Y OF WISCONSIN
onsrisiko senken lässt. DOI: 10.5665/sleep.3412

Koks statt Wärme


Wer kokst, kann sich schlechter in andere Menschen einfühlen und verhält sich weniger
sozial. Das könnte daran liegen, dass Kokainkonsumenten Kontakte mit anderen als
weniger belohnend empfinden. Darauf deutet ein Experiment an der Psychiatrischen
Universitätsklinik Zürich hin. Die Psychologen Katrin Preller und Boris Quednow stellten
fest, dass Probanden, die regelmäßig Kokain einnahmen, die sogenannte geteilte Auf-
merksamkeit – man stellt nach einem Blickkontakt mit einer anderen Person fest, dass
diese anschließend der eigenen Blickrichtung folgt – als weniger angenehm erlebten als
Kontrollpersonen. Ein Hirnscanner bestätigte, dass diese Art des Blickkontaktes einen
bestimmten Teil des Belohnungssystems, den medialen Orbitofrontalkortex, bei den
Koksern weniger stark aktivierte. Diese Veränderungen der Hirnaktivität könnten laut
Preller und Quednow erklären, warum die sozialen Konsequenzen der Sucht – wie der
Verlust der Familie, von Freunden oder des Arbeitsplatzes – Kokainsüchtige oft nicht
vom weiteren Konsum abhalten. Daher schlagen die beiden Forscher vor, in der Sucht-
therapie „verstärkt soziale Fähigkeiten wie Empathie, Perspektivenübernahme und pro-
soziales Verhalten“ zu trainieren. DOI: 10.1073/pnas.1317090111
Gesundheit & Psyche 55

Ein Erfahrungs-
Der unaufrechte Gang
Die Evolution hat sich viel Mühe gegeben, uns den aufrechten Gang zu lehren. Doch die
schatz
fortschrittlichste Ausprägung des Homo sapiens geht nun wieder etwas gebeugter. Das ist
offenbar unerlässlich, denn die modernen Spielarten der Kommunikation erfordern einen
ununterbrochenen Austausch von Textnachrichten per Smartphone – ein Vorgang, der auch
beim Gehen unmöglich unterbrochen werden darf! Siobhan Schabrun und ihre Kollegen

4FJUFOö %r*4#/
an der University of Queensland wollten nun genau wissen, wie das Dauerdaddeln unser
Gangmuster verändert. 26 Probanden erhielten deshalb die Aufgabe, in einem ihnen an-
genehmen Tempo eine knapp neun Meter lange gerade Linie entlangzulaufen, mal ohne
Handy, mal auf diesem lesend, mal textend. Das Ergebnis: Beim Lesen und besonders beim
Texten veränderte sich nicht nur die Körperhaltung. Die Probanden liefen auch langsamer
und wichen häufiger von der Ide-

Auch als E-Book erhältlich.


allinie ab. Zudem hatte ihr Körper
Mühe, im Gleichgewicht zu blei-
ben: Arme und Kopf mussten stän-
dig die wippenden Gehbewegun-
gen ausgleichen, um den Sehab-
stand zum Display einigermaßen
konstant zu halten. All dies mindert 45 Anregungen, die den Lehreralltag
die Balance und Gehsicherheit, erleichtern: ideenreich, ermunternd
fürchtet Schabrun. Ganz zu schwei- und äußerst nützlich!
gen von der Kalamität, mit Hinder-
nissen etwa in Gestalt von Later- Leseprobe auf
nenmasten zu kollidieren. www.beltz.de
DOI: 10.1371/journal.pone.0084312

Andrea Nowak
Bis zur Hälfte der Verkehrsunfälle, an denen Praxis für lösungsorientierte Psycho-
therapie, Beratung und Hypnose
Erwachsene mit ADHS beteiligt sind, könnten Klosterring 3, 87660 Irsee
kontakt@andrea-nowak.de
vermieden werden, wenn die Fahrer Medikamente www.psychotherapie-andrea-nowak.de
gegen ihr Aufmerksamkeitsdefizit einnähmen. So
eine schwedische Studie, bei der die Unfallstatistik
von 17 000 ADHS-Betroffenen über vier Jahre hin- Ich bin
weg ausgewertet wurde.
Mitglied
DOI : 10.1001/JAMAPSYCHIATRY.2013.4174

im VFP weil
Im Büro werden wir geschrumpft ... ich es schätze, ein Netzwerk von
Im Lauf des Tages werden wir um einige Millimeter kleiner, weil unsere 23 Bandschei- Fachleuten im Rücken zu haben
ben Flüssigkeit verlieren. Wird das Rückgrat entlastet (zum Beispiel durch Liegen), sau- ... der VFP offen für die verschiedensten
gen sie die Flüssigkeit wieder auf. Ob hierbei die Autonomie im Job eine Rolle spielt, therapeutischen Richtungen ist
haben jetzt die Schweizer Psychologin Ivana Igic und ihr Team an der Universität Bern
... meine Mitgliedschaft im Verband
untersucht. Sie baten 39 Büroangestellte, 14 Tage lang morgens und abends ihre Kör-
auch für meine Klienten ein Signal
pergröße zu messen. Die durchschnittliche Schrumpfung der Probanden am Tag betrug
für meine Professionalität ist
14,3 Millimeter. An Arbeitstagen war die Schrumpfung ausgeprägter als an freien Tagen.
Besonders ausgeprägt war sie bei Probanden, die kaum selbst darüber bestimmen konn-
Informationen über den VFP erhalten Sie hier:
ten, wie sie ihre Arbeitstätigkeit ausführten. Teilnehmer mit mehr Freiheiten im Job Verband Freier Psychotherapeuten,
schrumpften hingegen deutlich weniger. Die Wissenschaftler führen diesen Effekt dar- Heilpraktiker für Psychotherapie
auf zurück, dass Personen, die Einfluss darauf haben, wann sie welche Tätigkeit verrich- und Psychologischer Berater e.V.
ten, häufiger die Sitzposition wechseln, aufstehen und mehr Pausen einlegen können, Lister Str. 7, 30163 Hannover
sodass die Bandscheiben zwischendurch entlastet werden und sich erholen können. Telefon 05 11 / 3 88 64 24
Und auch die Psyche profitiert von mehr Selbstbestimmung. ■ MARION SONNENMOSER
www.vfp.de | info@vfp.de

DOI: 10.1037/a0034256 VFP

P S YC H O L O G I E H E U T E Mai 2 0 1 4
56 Gesundheit & Psyche

„Sie können mir ja auch nicht helfen!“


Wenn Psychotherapeuten nicht mehr weiterwissen: Eine Befragung beleuchtet schwierige
Situationen mit schwierigen Patienten und Versagensängste der Behandler

Fast alle Therapeuten ken- Sie sind ja so toll.“ Ent-


nen solche heiklen Momen- gegen einer verbreiteten
te: Der Klient verhält sich Vorstellung sind aber Si-
feindselig nach dem Motto tuationen, in denen sich
„Seit ich bei Ihnen bin, geht die Patienten in ihre The-
es mir schlechter“. Oder die rapeuten verlieben, rela-
Klientin weigert sich, mit- tiv selten. Zumindest
zuarbeiten. Oder sie ist sehr konnten nur wenige der
unterwürfig. Die Therapeu- Befragten von solchen
tin oder der Therapeut fühlt Erfahrungen berichten.
sich überfordert, zweifelt an Wie kamen nun die
sich und der eigenen Kom- Therapeuten mit den
petenz. Schwierige thera- schwierigen Situationen
peutische Prozesse sind vor zurecht? Gegen Schuld-
allem bei Patienten mit frü- gefühle und Versagens-
hen traumatisierenden Be- ängste half manchmal
ziehungserfahrungen, chro- der Austausch oder die
Als besonders heikel empfinden Therapeuten Begegnungen
nischen Depressionen und mit lebensmüden Patienten Supervision mit Kolle-
Borderlinestörungen relativ gen – um das Problem
gut bekannt. Nur wenig Interesse zeigt Für die Aus- und Fortbildung relevant von verschiedenen Blickwinkeln aus zu
die Forschung dagegen an Konflikten, sind insbesondere Situationen mit sui- betrachten und vielleicht eine Lösung
wie sie – über alle Störungsbilder hinweg zidalen, feindseligen, vermeidenden und zu finden, auf die man allein nicht ge-
– in jeder Therapeut-Klient-Beziehung verschlossenen Patienten, da diese rela- kommen wäre. Generell besser gewapp-
auftreten können. tiv häufig erlebt und als vergleichsweise net zeigten sich die Befragten mit Zu-
Wie häufig diese Situationen vorkom- schwierig eingeschätzt werden“, berich- satzausbildungen wie zum Beispiel in
men und als wie schwierig sie empfun- tet Brakemeier. CBASP (Cognitive Behavioral Analysis
den werden, wollte die Psychologin Eva- Die Befragungen dauerten durch- System of Psychotherapy). Die Methode
Lotta Brakemeier von der Psychologi- schnittlich etwa 19 Minuten, sodass je- ist speziell für chronisch depressive Pa-
schen Hochschule Berlin wissen. In ei- de und jeder Interviewte ausreichend tienten entwickelt worden. Eine andere
ner nichtrepräsentativen Umfrage Zeit für Fallgeschichten hatte. Dabei hilfreiche Qualifikation ist die Dialek-
interviewte die Professorin zusammen stellte sich heraus, dass weder das Alter tisch-Behavoriale Therapie (DBT), die
mit einer Mitarbeiterin per Telefon 60 noch das Geschlecht noch die Berufs- in der Therapie mit Borderlineerkrank-
psychologische und ärztliche Psycho- erfahrung vor belastenden Situationen ten oft angewandt wird, weil Konflikte
therapeuten. Erste Ergebnisse stellte sie bewahren. Das galt sowohl für den sieb- hier zum täglichen Brot gehören. Die
jüngst auf dem Psychiatriekongress in zigjährigen Psychoanalytiker als auch Forschung über das wichtige Thema
Berlin vor. „Am häufigsten erlebten die für die junge, unerfahrene Therapeutin, Grenzsituationen solle demnächst fort-
Befragten Patienten, welche vermeidend wenn der Klient ihr zum Beispiel erklär- gesetzt werden, erklärt Eva-Lotta Bra-
oder reaktant (trotzig, „nun erst recht“, te, dass sie doch viel zu jung sei und ihm kemeier. Geplant ist eine Umfrage unter
Red.) erscheinen. Am schwierigsten wer- daher überhaupt nicht helfen könne. Hunderten von Therapeuten, die sich
den hingegen Situationen empfunden, Sehr unsicher reagierten Therapeuten auf einen detallierten Fragebogen stüt-
in denen Patienten extrem lebensmüde auch, wenn Menschen abhängig von ih- zen soll, um eine größere und repräsen-
wirken, gefolgt von Patienten, welche die nen wurden oder sich in sie verliebten: tative Datenbasis zu erhalten.
Therapeuten feindselig verbal angreifen. „Ich traue es mich gar nicht zu sagen, ■ Angelika Sylvia Friedl

PSYC H O LO G I E H EUTE M a i 2014


Gesundheit & Psyche 57

Sitzung Nr. 134:


„Frau Therapeutin,
sind Sie eigentlich
noch da?“

der anfangs genehmigten Therapiedau-


Länger ist besser er hin. Hingegen benötigten Patienten,
die weniger gestresst, depressiv oder
Stark belastete Patienten profitieren von einer Verlängerung ängstlich waren beziehungsweise selte-
ihrer Psychotherapie: Das Mehr an Behandlung mildert die ner über körperliche Probleme klagten,
kaum zusätzliche Behandlungszeit.
psychischen Probleme und stärkt das Wohlbefinden Ebenso spielte das Verhältnis zwischen
Patient und Therapeut eine Rolle: Wa-
Dauern Psychotherapien lang genug? Die Patienten waren zwischen 17 und ren beide sehr zufrieden mit der thera-
Womöglich nicht. Die meisten Psycho- 77 Jahren alt. Die meisten hatten wegen peutischen Beziehung, setzten sie die
therapiepatienten verlängern die ur- einer Depression oder einer Angststö- Behandlung oftmals fort.
sprünglich veranschlagte Therapiezeit, rung psychotherapeutische Hilfe ge- Doch half mehr auch mehr? Ja, mei-
weil es ihnen zum Behandlungsende sucht. Die Betroffenen wandten sich mit nen die Studienautoren. Sie konnten
noch nicht gutgeht. Das zeigt nun eine ihren Problemen vor allem an Verhal- zeigen, dass die stark belasteten Patien-
deutsche Studie. Mediziner und Psycho- tenstherapeuten oder tiefenpsycholo- ten von einer länger dauernden Behand-
logen haben dafür bei mehr als 800 ge- gisch fundierte Psychotherapeuten. lung profitierten. Diese erreichten erst
setzlich krankenversicherten Patienten Mindestens neun von zehn der Patien- nach den Zusatzstunden einen Grad an
mit unterschiedlichsten psychischen ten wurde von den Krankenkassen zu- Wohlbefinden, den Patienten ohne Ver-
Erkrankungen geprüft, ob sie mehr The- nächst nur eine Kurzzeittherapie geneh- längerung (und zumeist mit weniger
rapiezeit bei ihren Kassen beantragt und migt. Diese umfasst bei beiden Thera- Leid) schon zum regulären Behand-
erhalten hatten – und ob dieses „Mehr pierichtungen maximal 25 Sitzungen. lungsende aufwiesen. „Die Therapien
an Behandlung“ die psychischen Prob- Zum Gesundwerden war das offenbar wurden so lange fortgeführt …, bis die
leme wirklich milderte. zu wenig: Nur jeder dritte Patient been- vormals ungünstigen Werte zur Symp-
Sie baten zufällig ausgewählte Psy- dete die Behandlung nach dieser ersten tomatik und Lebensqualität einem ge-
chotherapeuten aus ganz Deutschland, Therapieetappe. Fast die Hälfte verlän- wissen Mindestmaß an psychischer Ge-
ihre Patienten vor Behandlungsbeginn, gerte hingegen die Behandlung einmal, sundheit entsprachen“, folgern die Stu-
zum Ende der ersten genehmigten Be- jeder Vierte sogar zwei- oder dreimal. dienautoren. Mehr Therapiestunden
handlung und – falls es eine Verlänge- Vor allem Patienten, die vor Behand- kosteten zwar mehr Geld, seien aber
rung gab – nach dieser zu ihren Symp- lungsbeginn oder wenige Wochen vor sinnvoll. ■ Jana Hauschild

tomen und der empfundenen Lebens- dem Therapieende über viele Belastun-
qualität zu befragen. Zudem sollten die gen und Symptome geklagt hatten,
Behandelnden sich erkundigen, wie zu- stockten ihre Stundenzahl auf. Auch wer Uwe Altmann u. a.: Verlängerung ambulanter Psycho-
frieden die Patienten mit dem Behand- vorab bereits wegen der psychischen therapien: Eine Studie zu Patienten-, Therapeuten-,
Behandlungs- und Verlaufsmerkmalen. Psychothera-
lungsergebnis und der Beziehung zum Probleme in einer Klinik behandelt wor- pie, Psychosomatik, Medizinische Psychologie, online
Therapeuten waren. den war, kam vergleichsweise selten mit vorab 2013. DOI: 10.1055/s-0033-1357134
58 Gesundheit & Psyche

Kurzvisite

Standpauke in Weiß
„Sie trinken zu viel!“ „Sie ernähren sich ungesund!“ Nicht immer ist es angenehm, was ei-
nem der Arzt oder die Ärztin ins Stammbuch schreibt. Jeder zweite Patient – Frauen etwas
häufiger als Männer – hat sich schon einmal beschämt und schuldig gefühlt, als er die Sprech-
stunde verließ. Das ermittelten Psychologen der University of California bei einer Befragung
von 417 Teilnehmern aller Schichten und Altersgruppen. Die heikelsten Themen waren Ge-
wicht und Sex. Auch Ermahnungen zu Zigaretten, Alkohol, Zahnpflege, Disziplin beim Ein-
nehmen der Medikamente und das Ansprechen psychischer Probleme wurden häufig als
beschämend empfunden. Allerdings reagierten die Patienten auf die als schmachvoll emp-
fundene Begegnung ganz unterschiedlich: Die einen fühlten sich als Person herabgesetzt
(„Ich bin fett“) und mieden den Arzt fortan. Die anderen fokussierten auf das beanstandete Verhalten und ver-
suchten, es zu ändern („Ich mach mir einen Essensplan“). Wichtig sei daher, dass auch der Doktor bei seinen Er-
mahnungen darauf achtet, den Patienten nicht als Person bloßzustellen, sagt Studienleiterin Christine Harris.
R.S. Darby, N. Henniger, C. R. Harris: Shame and guilt: Differential health outcomes in physician-patient interactions. Basic and Applied
Social Psychology, 2014 (im Druck)

Gehirntraining hält lange vor


Google ist nicht nur für Geheim- Wenn geistig gesunde ältere Menschen zehn Stunden lang ihr Gehirn trainieren, kom-
men sie ein Jahrzehnt später besser klar mit alltäglichen Aufgaben wie Einkaufen, Ko-
dienstler, sondern auch für Epidemio-
chen, Telefonieren oder Baden. Das zeigen die jetzt veröffentlichten Nachuntersuchun-
logen ein lohnendes Überwachungs- gen der Active-Studie. Diese große Untersuchung begann 1998 unter der Regie von
tool. Australische Forscher stellten George Rebok und Karlene Ball von der Johns Hopkins University. Fast 3000 Männer
fest, dass sich beim Ausbruch von und Frauen über 65 hatten damals entweder ihr Gedächtnis, ihre Denkfähigkeit oder
ihre Auffassungs- und Wahrnehmungsschnelligkeit trainiert oder waren als Mitglieder
Grippe oder Denguefieber schon früh
der Kontrollgruppe untrainiert geblieben. Jetzt zeigte sich: Die im Denken oder in der
entsprechende Suchanfragen häufen. Schnelligkeit Trainierten waren auch zehn Jahre später in ihrer Spezialität immer noch
Deren Analyse könne die Vorwarnzeit besser als die anderen. Die Gedächtnisgruppe allerdings konnte ihren Vorsprung nur
um bis zu zwei Wochen verlängern. die ersten fünf Jahre halten. Möglicherweise haben dann Gehirnregionen, die für das
Gedächtnis zuständig sind, zu stark abgebaut. Vielleicht warf bei einigen Teilnehmern
DOI : 10.1016 / S1473-3099 (13)7024 4 -5 sogar Alzheimer seine Schatten voraus. Dagegen klappte es in allen Trainingsgruppen
besser mit den alltäglichen Aufgaben. ■ JOCHEN PAULUS

DOI:10.1111/jgs.12607

Wenn Warnungen nach hinten losgehen


„Achtung: Nicht während der Schwangerschaft einnehmen!“ „Enthält künstliche Farbstoffe.“ Warn-
hinweise auf Lebensmitteln und anderen Produkten sollen gefährdete Verbraucher vom Kauf ab-
schrecken – unter bestimmten Umständen können sie aber den entgegengesetzten Effekt haben.
Das lässt eine Serie von Experimenten an der Tel Aviv University vermuten. Die Forscher zeigten zum
Beispiel Rauchern Anzeigen für eine unbekannte Zigarettenmarke: entweder mit oder ohne Warn-
hinweis auf die Gefahren. Kurzfristig hatte die Warnung Erfolg: Die Probanden, kauften weniger
Zigarettenpäckchen als die anderen. Hatten sie aber die Gelegenheit, die Glimmstängel erst in
drei Monaten zu beziehen, drehte sich das Ganze: Nun orderten die gewarnten Verbraucher
mehr statt weniger. Das gleiche Muster erbrachte ein Experiment mit weiblichen Probanden
bei der Kaufentscheidung für einen Süßstoff mit und ohne Warnhinweis. Yael Steinhart
und ihre Kollegen erklären diesen paradoxen Effekt mit einer Theorie von Nira Liber-
man. Sie besagt, dass Konsumenten bei spontanen Bewertungen auf die nahe-
liegenden Attribute eines Produkts achten – etwa den Warnhinweis. Langfristig
hingegen wird das Produkt auf einer abstrakteren Ebene bewertet. So könnte es
sein, dass die „ehrliche“ Warnung das Vertrauen in den Hersteller stärkt.
DOI: 10.1177/0956797613478948
Gesundheit & Psyche 59

Väter im Geburtsstress
Die meisten Männer begleiten ihre schwangere Partne-
rin zur Geburt in den Kreißsaal. Eine aktuelle Studie vom
Zentrum für Frauenheilkunde und Geburtshilfe des Uni-
versitätsklinikums Bonn zeigt jedoch, wie belastend die Aktiv
Geburt für Väter sein kann. Von den 174 befragten Män-
nern im Alter von 23 bis 54 Jahren beschrieb jeder Zehn- und zufrieden
te das Ereignis als schrecklich oder belastend. Dabei mach-
te es keinen Unterschied, ob es sich um die erste Geburt
handelte, bei der sie anwesend waren. Viele fühlten sich in der Situation schlicht hilflos,
älter werden!
litten unter den Schmerzen der Frau. Komplikationen oder ein ungeplanter Kaiserschnitt
erhöhten das Risiko für Enttäuschungsgefühle. Zwei von zehn Vätern wiesen in den Tagen Gerd Mietzel

nach der Geburt sogar depressive oder Angstsymptome auf. Hingegen erlebten Väter, die
sehr zufrieden mit der Hebamme waren, die Geburt eher als positives Ereignis, waren we-
niger enttäuscht und fühlten sich erfüllter davon. ■ JANA HAUSCHILD
Erfolgreich
Valenka Dorsch: Geburtserfahrung und postnatale Befindlichkeit von Vätern. Dissertation, Universität Bonn,
2013. http://hss.ulb.uni-bonn.de/2013/3233/3233.htm
altern

Strategien für ein aktives Auch als


und zufriedenes Älterwerden
E-Book
Freie Damenwahl schützt den Nachwuchs vor
Infektionen, zumindest bei Mäusen. Weibchen,
2014 299 Seiten,
2014, S it Kleinformat,
Kl i f t
die sich mit dem Partner ihrer Wahl paaren durften, € 29,95 / CHF 39,90 · ISBN 978-3-8017-2583-9
brachten widerstandsfähigere Junge zur Welt, beob-
So gelingt das glückliche und erfolgreiche Altern –
achtete ein – überwiegend weiblich zusammengesetz- basierend auf wissenschaftlichen Erkenntnissen
tes – Team der Vetmeduni Wien. und mit konkreten Anleitungen für den Alltag.

DOI : 10.1186 /1471-2148-14 -14

Wolf D. Oswald

Aktiv gegen
Demenz
Der Werther-Effekt und die Medien Fit und selbstständig bis ins hohe Alter
SimA® Gedächtnis- und Psychomotoriktraini
mit dem
ng

2., überarbeitete

Medienberichte über Selbsttötungen können zu einem Anstieg der Suizidrate führen. Die- und erweiterte Auflage

ses Phänomen wird, in Anlehnung an Goethes Roman, als „Werther-Effekt“ bezeichnet.


Medienberichte führen insbesondere dann zu Nachahmungstaten, wenn der oft prominen- Auch als
te Suizidant verehrt wird und sich die suizidgefährdete Person mit ihm identifiziert. Zudem E-Book
wird durch die Berichterstattung beim Leser zum Teil der Eindruck erweckt, dass suizidales
Verhalten mit positiven Konsequenzen wie etwa einer posthumen Verehrung verbunden
sein kann. Die Deutsche Gesellschaft für Suizidprävention hat daher Empfehlungen für die
Berichterstattung veröffentlicht. Vermieden werden sollte demzufolge eine heroisierende 2., überarbeitete und erweiterte Auflage 2014,
oder gar spektakuläre Darstellung des Suizids, eine Abbildung der Person auf der Titelseite 241 Seiten, € 19,95 / CHF 28,50
oder eine Beschreibung der Suizidmethode. Allerdings werden diese Empfehlungen kaum ISBN 978-3-8017-2607-2
berücksichtigt, wie nun Wissenschaftler der Universität Bochum in einer Studie feststellen
Wer mit diesem Programm regelmäßig sein Gedächtnis,
mussten. Sie werteten Berichte und Artikel in den zehn auflagenstärksten deutschen Zei- seine Alltagskompetenz und gleichzeitig seinen Körper
tungen und Zeitschriften aus, die im Monat nach dem Suizid des Fußballers Robert Enke trainiert, hat gute Chancen, bis ins hohe Alter geistig
zu diesem Thema veröffentlicht worden waren. Fast 78 Prozent der Artikel wiesen nach gesund und selbstständig zu bleiben!
dem Urteil der Forscher mindestens ein Merkmal unangemessener Darstellung auf, und in
mehr als jedem zweiten Artikel fehlte jeder Hinweis auf Prävention und Hilfsangebote.
■ CL AUDIA CLOS
Hogrefe Verlag GmbH & Co. KG
DOI: 10.1026/0943-8149/a000096 E-Mail: verlag@hogrefe.de · Internet: www.hogrefe.de

P S YC H O L O G I E H E U T E Mai 2 0 1 4
60 Hirnforschung

„Viel
heiße
Luft“
Welche Fortschritte hat
die Hirnforschung in
den letzten 10 Jahren
gemacht? Konnte sie
die in sie gesetzten
hohen Erwartungen
erfüllen? Ein Gespräch
mit dem Psychologen
und Suchtexperten
Felix Tretter

S
chon die bloßen Zahlen sind um-
werfend: 100 Milliarden Nerven-
zellen und 100 Billionen Verbin-
dungen – Synapsen – zwischen den
Neuronen prägen das menschliche Ge-
hirn. Damit ist es unfassbar komplex.
Ganz zu schweigen vom Geist. Und von
der Psyche. Trotzdem haben im Jahr Herr Profes-
P S YC H O L O G I E H E U T E Prof. Dr. med. Dr. phil. Dr. rer. pol. Felix Tretter
2004 namhafte Neurowissenschaftler sor Tretter, Neuroskepsis hat Tradition. ist Chefarzt am Kompetenzzentrum Sucht des
kbo-Isar-Amper-Klinikums in München-Ost. Er
ein Manifest zur Lage und Zukunft der Schon der Philosoph und Psychiater ist Nervenarzt, Psychotherapeut, Psychologe
Hirnforschung vorgelegt – und bahn- Karl Jaspers hat vor gut 100 Jahren die und Professor am Institut für Psychologie an der
brechende Fortschritte in der Diagnos- „Hirnmythologie“ beklagt. Seitdem ist Ludwig-Maximilians-Universität. Er organisiert
jährlich einen internationalen und interdiszipli-
tik, der Therapie und der Grundlagen- wohl unbestritten, dass die Hirnfor- nären Kongress Systems Neuropsychiatry in
forschung ihrer Disziplin prophezeit. schung Fortschritte gemacht und er- München. Tretter ist Initiator und Mitverfasser
des Memorandums „Reflexive Neurowissen-
Eher ernüchternd fällt zehn Jahre später staunliche Einblicke geliefert hat. Sehen
schaft“, dessen Text Psychologie Heute unter
die Bilanz aus, die eine 15-köpfige Trup- Sie die Dinge nicht zu negativ? www.psychologie-heute.de bereitstellt.
pe ebenso namhafter Wissenschaftler FEL I X T R E T T E R Keineswegs. Zwar hat
mit ihrem Memorandum „Reflexive die Hirnforschung wohl in der Techno- ins Gehirn transplantieren können, et-
Neurowissenschaft“ zieht (siehe www. logie Fortschritte gemacht. Zum Beispiel wa für die Therapie der parkinsonschen
psychologie-heute.de). Einer der „Neu- bei der optischen Darstellung der Ge- Erkrankung. Und wir wissen jetzt Ge-
roskeptiker“ ist der Suchtexperte Felix hirnaktivität mit der Kernspintomogra- naueres über die funktionelle Anatomie
Tretter, Chefarzt am kbo-Isar-Amper- fie in der Diagnostik. Wir haben außer- des Gehirns. Da gibt es schon einige
Klinikum München-Ost. dem eine ganz feine Elektronik, die wir Fortschritte. Entscheidend aber ist: In
Hirnforschung 61

seiner Bedeutung für das Psychische gezielter und deshalb wirksamer und haben die Wissenschaftler als Widerle-
verstehen wir das Gehirn keinen Deut nebenwirkungsärmer im Gehirn ein- gung der Willensfreiheit gedeutet. Tat-
besser. Deswegen müssen wir funda- greifen. Nur ist seitdem nichts Neues in sächlich steht dieses EEG-Signal wahr-
mental nachbessern. Forschung und Praxis in Sicht. Ich er- scheinlich nur für die allgemeine Bewe-
P H Ist es nicht nur eine Frage der Zeit, kenne Stillstand, und zwar auf unab- gungsbereitschaft und nicht eine unbe-
bis die Versprechen in jenem Manifest sehbare Zeit. wusste Entscheidung des Gehirns. Das
von 2004 eingelöst werden? P H Wie steht es denn um die Wissen- Experiment bildet nur die Endphase des
T R E T T E R Eben nicht. Denn die gegen- schaftlichkeit der Studien in der Hirn- Willensprozesses ab, in der man ein
wärtige Hirnforschung krankt an forschung? Sind wichtige Ergebnisse Handlungsprogramm zulässt. Die Wil-
grundsätzlichen Problemen, vor allem bestätigt? lensbildung und Handlungsplanung
einer Theorieschwäche. Sie hat zwar vie- T R E T T E R Die wissenschaftliche Qua- liegt in einer zeitlich weit vorgelagerten
le Daten erzeugt, gerade in der moleku- lität neurobiologischer Befunde lässt Phase, bei der Entscheidung, an diesem
sehr zu wünschen übrig. Experiment überhaupt teilzunehmen.
Die Studienergebnisse be- P H Aber der Befund wurde doch mehr-
„Derzeit entwickelt sich ruhen oft nur auf wenigen fach bestätigt!
Teilnehmern, und viele Er- T R E T T E R Viele Wiederholungen der
ein anderes Menschenbild: gebnisse sind nicht von an- Versuche gingen keineswegs so eindeu-
Du bist nur dein Gehirn, deren Forscherteams be-
stätigt, was aber ein Haupt-
tig aus, wie das gewünscht war. Trotz-
dem proklamieren viele Neurokollegen
ein neuronaler Automat!“ kriterium von Wissen- weiter, der Mensch habe keinen freien
schaftlichkeit ist. Dennoch Willen. Und sagen, dass deswegen Straf-
leiten die Autoren teilweise täter nicht eingesperrt, sondern thera-
laren Biologie. Aber sie weiß nicht, was maßlose Interpretationen ab. piert gehören. Das im Übrigen hat sich
diese Daten bedeuten. Mit Mathematik P H Weil die Dinge im Gehirn viel kom- für solche Fälle bereits seit über 30 Jah-
allein, die elektrische Hirnaktivität und plizierter sind, als dass man sie mit bild- ren im sogenannten Maßregelvollzug
Biochemie beschreibt, wird man nur auf gebenden Verfahren, also einem manifestiert. Insgesamt also: Viel heiße
der beschreibenden Ebene bleiben, aber Hirnscanner darstellen könnte? Oder Luft.
nichts erklären können. mit simpel gestrickten Experimenten? P H Trotzdem scheinen die Botschaften
P H Schütten Sie und Ihre Kollegen das T R E T T E R Beides trifft zu. Nehmen wir der Neurowissenschaften die Gesell-
Kind nicht mit dem Bade aus, indem Sie als Beispiel die Diskussion um den frei- schaft zu durchdringen! Bedingt durch
die Neurowissenschaft derart grund- en Willen … jene Neuroforscher, die oft Hoffnungen
sätzlich kritisieren? P H … in der viele Neurowissenschaft- schüren, die eine innovative, aber gleich-
T R E T T E R Noch mal nein. Ich glaube ler behaupten, der Mensch besitze kei- zeitig sorgfältige Wissenschaft selbst in
eher, dass die Neurowissenschaft bald nen freien Willen, sondern seine Ent- unseren rasanten Zeiten gar nicht er-
ein Glaubwürdigkeitsproblem be- scheidungsfreiheit werde allein von den füllen kann.
kommt, wenn sie so weitermacht wie unbewussten Strukturen seines Gehirns T R E T T E R Derzeit entwickelt sich un-
bisher. Ich persönlich bin kritischer bestimmt. Eine These, die inzwischen terschwellig tatsächlich ein anderes
Sympathisant der neurobiologischen viele Teile der Gesellschaft durchdrun- Menschenbild – mit der Maxime: Du
Grundlagenforschung. Und da sehe ich gen hat. bist nur dein Gehirn! Nichts weiter als
vor allem eines: dass sie sich selbst zu T R E T T E R Das nenne ich Legendenbil- ein neuronaler Automat, der entweder
positiv darstellt und selbstkritische Fra- dung. Doch was ist da eigentlich pas- funktioniert oder nicht funktioniert
gen kaum zulässt. Rationale Wissen- siert? Bei der Willensbildung handelt es und den man notfalls reparieren kann.
schaft prüft aber ihre experimentellen sich um psychologische Prozesse, die in P H Die Manifestautoren haben damals
Befunde auf deren Aussagekraft durch mehreren Schritten ablaufen. Diese Pro- ja versprochen, die Hirnforschung wer-
Abwägen der Pros und Contras. zesse haben Hirnforscher in ein simples de das Menschenbild verändern.
P H Sie meinen, dass sich einige Prota- Experiment gepackt. Personen haben T R E T T E R Jaja, nur: Diese schleichende
F O T O S : A N I E L A A DA M S

gonisten der deutschen Hirnforschung einen Finger bewegt, wann sie es bewusst Aushöhlung unseres klassischen Men-
zu weit aus dem Fenster gelehnt haben wollten. Die Probanden waren an ein schenbilds ist durch die vorliegenden
– und es noch heute tun? EEG angeschlossen, das die Hirnakti- Daten nicht gerechtfertigt. Unser geis-
T R E T T E R Kann man so sagen. Damals vität aufzeichnet. Und dieses EEG zeigt teswissenschaftlich geprägtes, klassi-
wurde zum Beispiel behauptet, dass Psy- eine Auslenkung, bevor die Probanden sches Menschenbild geht von der Wil-
chopharmaka entwickelt werden, die den Finger bewusst bewegt haben. Das lensfreiheit aus, von der Differenz des

P S YC H O L O G I E H E U T E Mai 2 0 1 4
62 Hirnforschung

Körperlichen und des Geistigen, von der er man eine psychische Funktion defi- PH Hat hier nicht eher die Psychologie
besonderen Bedeutung der Sprache, des niert, desto mehr Gehirnareale sind da- geschlafen?
sozialen Umfelds und der Kultur. Die bei beteiligt. Beim Sehen beispielsweise T R E T T E R Stimmt! Solange wir solche
Neurowissenschaften sagen: Im Kern ist über 30. Und je genauer man einen Ge- Modelle nicht haben, können wir auch
der Mensch nicht mehr als sein Gehirn hirnort abgrenzt, desto deutlicher wird, mit bildgebenden Verfahren nichts
und unser Verhalten vollständig von der dass er bei mehreren psychischen Funk- wirklich aufklären. Oder das Beispiel
Gehirnstruktur bestimmt. Dieses Men- tionen wie Wahrnehmung, Aufmerk- Bewusstsein: Dass es eine gewisse Funk-
schenbild passt nicht mit dem viel- samkeit, Arbeitsgedächtnis, Planung tionalität des Gehirns für bewusste Pro-
schichtigen alltäglich Erlebten zusam- und so weiter beteiligt ist. Für ein wei- zesse braucht, ist trivial und seit Jahr-
men und hat mehrere logische Schwach- terführendes Verständnis ist nicht nur zehnten bekannt. Es handelt sich also
punkte. Das Thema der Ambivalenz ein Netzwerkkonzept des Gehirns er- um „notwendige“ Bedingungen des Psy-
zum Beispiel, dass also jemand in seinen forderlich, sondern auch ein Netzwerk- chischen. Da es aber auch intakte Ge-
Absichten gepalten sein kann. Das dürf- modell des Psychischen, das Wechsel- hirne gibt, die kein Bewusstsein „erzeu-
te es gar nicht geben, wenn alles deter- wirkungen von Gedanken, Gefühlen, gen“ können, ist das, was wir vom Ge-
miniert wäre. Oder dass er Handlungen hirn wissen, nicht hinrei-
stoppen kann. Verhalten hat also Ursa- chend, um Bewusstsein
chen, ist „bedingt“, aber nicht „be- erklären zu können.
stimmt“. Zwar haben wir nur eine limi- P H Lässt sich das Gehirn
tierte Zahl an Verhaltensoptionen. Das im Labor überhaupt als iso-
heißt aber nicht Determination. Wir liertes, umweltunabhängi-
haben Spielräume, Freiheitsgrade. ges „Objekt“ untersuchen?
P H Das führt im Kern ja darauf zurück, T RE T T E R Das ist einer der
dass die Neurowissenschaft das psychi- größten grundsätzlichen
sche und geistige Leben des Menschen Mängel: Die Gehirnvor-
auf die Aktivität von Nervenzellen re- gänge werden aus dem na-
duziert. türlichen Kontext heraus-
T R E T T E R Genau. „Die Hirnforschung hat lange gerissen, wenn man sie
P H Also darauf, dass Geist allein aus
der physikalischen und biologischen
Zeit die Umwelt des Menschen neurowissenschaftlich un-
tersucht. Das ist auch ganz
Grundlage des Gehirns hervorgeht und – und seines Gehirns – klar: Laborforschung bringt
dass allein das Gehirn unser Verhalten mit sich, dass man be-
und unseren Geist determiniert. Was kategorisch ausgeblendet“ stimmte Elemente von ih-
kann man überhaupt dazu sagen, wie rem Kontext befreit, um
heute, zehn Jahre nach jenem Manifest, Antrieben, Erwartungen und so weiter bestimmte Faktoren, die man untersu-
„das Psychische“ im Gehirn manifestiert abbildet. Sie merken, wie schwierig das chen will, zu variieren und ihren spezi-
ist? alles ist. fischen quantitativen Einfluss zu mes-
T R E T T E R Diese Grundfrage ist heute P H Warum führen uns Aussagen wie sen.
so ungelöst wie damals, bis auf die jahr- „psychische Prozesse beruhen auf Ge- P H Das macht die psychologische For-
tausendealte Erfahrung, dass bei hirnprozessen“ denn nicht weiter? schung ja auch.
schwerst Hirnverletzten ohne das Ge- T RE T T E R Tja, vor allem weil überhaupt T R E T T E R Korrekt. Aber die hat noch
hirn alles nichts ist. Eine strenge Zuord- nicht klar ist: Was verstehen wir unter die Feldforschung im Alltag. Sprich: Sie
nung zwischen psychischen Funktionen psychischen Prozessen? Da läuft was ab. haben auch qualitative Forschung, nicht
und Gehirnstrukturen kann die aktu- Aber was? Nur Gedanken oder nur Ge- nur quantitative. Die Hirnforschung hat
elle Forschung nicht belegen – was sich fühle? Wenn ich denke: „Um Gottes lange Zeit die Umwelt eines Menschen
schon darin zeigt, dass manche Men- willen, wo habe ich meine Schlüssel hin- – und seines Gehirns – kategorisch aus-
schen mit erblich bedingten Fehlent- gelegt?“ – dann entstehen Angstgefüh- geblendet. Die Social Neuroscience ver-
wicklungen des Gehirns immerhin eine le. Die treiben mich vielleicht zu Panik- sucht jetzt, dieses Versäumnis zu korri-
mittlere Intelligenz aufweisen, ziemlich reaktionen. Damit sind wieder andere gieren. Die hochgradige Vernetzung von
unauffällig sind, arbeiten und eine Fa- psychische Prozesse verbunden. In we- molekularen und zellulären Elementen
milie haben. Auch die Strategie der Lo- nigen Sekunden laufen jede Menge psy- des Organismus und die Einbindung des
kalisierung psychischer Funktionen hat chische Prozesse ab. Dafür haben wir Menschen in die soziale Umwelt, einge-
in eine Pattsituation geführt: Je genau- nicht einmal ein beschreibendes Modell. bettet in die Kultur, legt sogar nahe, je-
Hirnforschung 63

Neurowissenschaftler müssen mit Psychologen, Philosophen,


Physikern und Biologen diskutieren. Und zwar auf Augenhöhe

den Menschen als Inhaber eines Öko- winnen wir nicht mehr Erkenntnis. Andersdenkende akzeptieren und nicht
systems zu sehen. Dieses hochkomplexe Mehr Daten bedeuten nicht mehr Wis- glauben, dass sie mit ihrem reduktio-
System mit Rückkopplungen in die eine sen, solange wir nicht die Organisati- nistischen Modell zu letzten Wahrheiten
und die andere Richtung hat auch die onsprinzipien der Gehirnprozesse besser finden. Und die Kliniker müssen mit
Neurowissenschaft weder durchschaut verstehen. Wir sollten deshalb dringend eingebunden sein, damit das nicht zu
noch verstanden. mehr Geld und Verstand in die Theorie akademisch wird. Denn die Klinik ist
P H Inwieweit haben die Autoren des des Gehirns und die Theorie der Gehirn- letztlich der Härtetest für alles, wenn es
Manifests übertrieben, was die gesell- Geist-Beziehungen investieren. um die Frage geht: Hat es was gebracht?
schaftliche und medizinische Bedeu- P H Sie fordern in diesem Zuge eine „re- P H Letzte Frage: Wo steht die Neuro-
tung der Ergebnisse der Hirnforschung flexive Neurowissenschaft“. Was bedeu- wissenschaft um das Jahr 2050? Wird
betrifft? tet das konkret? sie das Leben des Menschen, und zwar
T RE T TER Die gesellschaftlichen Folgen T R E T T E R Ref lexive Neurowissen- das gesunde wie auch die Verbesserung
der Hirnforschung sind bis dato sehr schaft heißt, zumindest einmal im Jahr des seelisch gestörten, verändert haben?
begrenzt. Beispielsweise kann man mit gründlich darüber nachzudenken, was T R E T T E R Ich bin da äußerst zurück-
den Ergebnissen der Hirnforschung kei- man eigentlich anstellt. Und was man haltend, gerade im klinischen Bereich.
nen Menschen mit einer Neigung zu gewonnen hat. Das Ganze mit einem Eine differenzielle und individualisier-
Gewalttaten sicher identifizieren. Die selbstkritischen Moment. Wir müssen te Therapie scheint mir aufgrund der
Neurowissenschaften haben auch nicht mehr Nachdenklichkeit einbringen. komplexen funktionellen Struktur des
dazu geführt, dass sich die Therapie ge- Und Methodenbewusstsein – im Sinne Gehirns allenfalls in kleinen Schritten
störten Verhaltens in den vergangenen der Logik der Methoden. Wir brauchen möglich zu sein. Sollte es je möglich sein,
zehn Jahren erheblich verbessert hätte. Theorie- und Konzeptentwicklung. Und 100 Billionen Nanoelektroden ins Ge-
Nicht zuletzt hat kürzlich der Deutsche eine wirklich interdisziplinäre Kultur. hirn einzupflanzen, die an einen Super-
Ethikrat bei einer Anhörung zum dia- Neurowissenschaftler müssen mit Psy- computer den Gehirnzustand melden
gnostischen Potenzial von Bildgebungs- chologen, Philosophen, Systemfor- könnten, dann ließe sich der jeweils
verfahren kein eindeutiges Votum für schern, Physikern und Biologen disku- nächste Zustand der einzelnen Synapsen
die stärkere Nutzung der Neurotechno- tieren. berechnen. Sollten diese Zustände
logie bekommen. P H Das tun sie ja zumindest teilweise … Krankheiten entsprechen, könnte man
P H Kann die Hirnforschung mit ihrer T R E T T E R Mag sein, aber nicht auf Au- modulierende elektrische Signale ins
derzeitigen Strategie überhaupt die Ver- genhöhe! Das ist nämlich entscheidend! Gehirn schicken. So ließen sich vielleicht
sprechen einlösen, die mit dem Manifest Heute geben die Neurobiologen die Krankheiten wie die Depression oder
gegeben wurden? Richtung vor, die anderen arbeiten zu. die Schizophrenie bekämpfen. Das hal-
T R E T T E R Unserer Ansicht nach wird Wir brauchen kontemplative und schöp- te ich aber für höchst unwahrscheinlich!
das nicht klappen. Die Vorstellung, was ferische Zirkel, die als Institution zu- Und: Was wären das für Menschen?
zu wissenschaftlicher Erkenntnis führt, sammenkommen – am besten an phi- Mensch-Technik-Hybride? PH
ist schlicht zu einseitig. Man glaubt, mit losophische Institute angekoppelt. Und ■ Mit Felix Tretter

noch stärkeren, größeren und umfang- wir haben ja ausgezeichnete Philoso- sprach Klaus Wilhelm
reicheren Maschinen etwas aufklären zu phen. Da kommt dann zur Wissen- HINWEIS
können – und letztlich Krankheiten zu schaftstheorie und Anthropologie auch Im nächsten Heft lesen Sie ein Gespräch mit Henrik
heilen. Wir haben also die Wettkämpfe: die Ethik mit rein. Wir brauchen neu- Walter, Leiter des Forschungsbereichs Mind and
Brain an der Charité in Berlin. Im Interview spricht
Wer hat die stärksten Apparate, um noch rophilosophische Stellen an den Univer-
er darüber, warum die Hirnforschung besser ist als
detaillierter ins Gehirn zu gucken? Aber sitäten oder wo auch immer. Das alles ihr Ruf – und warum mehr Philosophie nicht zu
mit dem „Noch-genauer-Messen“ ge- setzt aber voraus, dass Neurobiologen besserer Neurowissenschaft führt.

P S YC H O L O G I E H E U T E Mai 2 0 1 4
64 Onlinestudium

Psychologie studieren im Internet


Wer sich auf akademischem Niveau für Psychologie interessiert, muss sich nicht
mehr in einen Hörsaal begeben. Dank Internet kann man bequem von zu Hause
aus studieren – und das bei den besten Forschern der Welt. Amerikanische Uni-
versitäten wie Harvard und Stanford sind Vorreiter bei diesem Trend, aber auch
in Deutschland tut sich was. Psychologie Heute stellt interessante Angebote vor

■ Annette Schäfer

I L L U S T R AT I O N E N : P E T E R K A H R L
Onlinestudium 65

I
nternetrevolution“ gilt als abgenudeltes Wort. Genauer betrachtet rollt der „Bildungstsunami“,
Doch wenn es ums Studieren geht, wird es wie Stanford-Präsident John Hennessy den On-
momentan wieder gerne gebraucht. Das Web, lineboom bezeichnete, schon eine Weile heran. Seit
war in den letzten Monaten in deutschen Medien der sensationellen Ankündigung des Massachusetts
zu lesen, stellt die akademische Bildung auf den Institute of Technology im Jahr 2001, es werde künf-
Kopf. „Harvard für alle Welt“ titelte Die Zeit, „Die tig Lehrmaterialien für seine Veranstaltungen on-
Bildungsstürmer“ hieß es bei Brand eins, „Klick line zugänglich machen, stellen viele Uni-
dich schlau“ riet der Tagesspiegel. Die versitäten Audio- und Videoaufzeich-
Entwicklung ist in der Tat bemerkens- nungen ins Netz. Auch einige deut-
wert: Universitäten in aller Welt sche Hochschulen sind dabei. Die
drängen sich förmlich darum, Universität Tübingen macht
massive open online courses über den Internet-Multimedia-
(MOOCs) anzubieten. Das sind Server timms sogar bereits seit
für große Teilnehmerzahlen ge- dem Jahr 2000 Vorlesungen on-
eignete und mit interaktiven Ele- line zugänglich; Psychologiein-
menten wie Lerngruppen und Dis- teressierte können sich dort bei-
kussionsforen angereicherte offene spielsweise Videos über medizini-
Onlinekurse. Nicht selten werden sie von sche Psychologie mit Professor Nils
renommierten Professoren angeboten. Auch Birbaumer anschauen. Auch im Video-On-
die psychologischen Lehrstühle sind mit dabei. line-Service der Ludwig-Maximilians-Universität
Heute „Einführung in irrationales Verhalten“ mit München sind manche (meist ältere) Vorlesungen
Dan Ariely von der Duke-Universität, morgen frei zugänglich, unter anderem Einführungen in
„Moralisches Handeln im Alltag“ bei Harvard- die Arbeits-, Organisations- und Marktpsycholo-
Professor Paul Bloom – per Internet kann man gie (Lutz von Rosenstiel), Vorlesungen zur Sozi-
sich die neuesten Erkenntnisse von den Koryphä- alpsychologie (Heiner Keupp, Dieter Frey) und zur
en des Fachs erklären lassen. Persönlichkeitspsychologie (Tobias Haupt).

INTRODUCTION TO PSYCHOLOGY INTRODUCTION TO PSYCHOLOGY


Steve Joordens, University of Toronto Scarbourough, archivierter Susan Snycerski und Gregory Feist, San Jose State University,
MOOC, über Coursera fortlaufender MOOC, über Udacity
Inhalt: Kompakter, aber gründlicher Überblick zu wichtigen Inhalt: Eine einführende Reise durch die Psychologie mit
Gebieten der Psychologie: kognitive Fähigkeiten, Aufwachsen und abwechslungsreichen, oft unterhaltsamen Elementen. Forscher
Älterwerden, soziales Miteinander, psychische Krankheiten und aus anderen Fakultäten, aber auch eine Schlange, ein Kleinkind
ihre Behandlung. Auch ein kurzer geschichtlicher Überblick und ein Hundewelpe treten als Gäste auf. Studierende können
gehört dazu. Vorwissen ist nicht erforderlich; jeder „mit einem an einer „Olympiade der fünf Sinne“ und zahlreichen weiteren
hungrigen Geist“ ist willkommen. Bis zum November 2013 hatten Tests teilnehmen.
sich 72 000 Menschen registriert. Lehrer: Professorin Susan Snycerski führt seit 15 Jahren
Lehrer: Professor Steve Joordens ist eine große Zuhörerschaft „Neulinge“ in die Psychologie ein. In ihrer Forschung beschäftigt
gewohnt; in Toronto wird seine Einführungsvorlesung von bis zu sie sich unter anderem mit dem Einfluss von Medikamenten auf
1900 Studenten besucht. Für die technischen Innovationen bei das Verhalten. Professor Gregory Feist ist Experte für
seinen Vorlesungen wurde er mehrfach ausgezeichnet. Wissenschafts- und Technologiepsychologie.
Format: Acht Vorlesungseinheiten (80–120 Min., englische Format: 16 Vorlesungseinheiten, jeweils in Häppchen von 1 bis 5
Untertitel vorhanden), kursspezifische Wiki, Folien. Minuten, schriftliche Notizen der Instruktoren, Diskussionsforen,
Arbeitsaufwand: 4 bis 6 Stunden pro Einheit. Kurswiki und Begleittexte. Wer 80 Prozent der Tests und
https://www.coursera.org/course/intropsych Examensfragen richtig beantwortet, erhält ein Zertifikat.
https://www.udacity.com/course/ps001

P S YC H O L O G I E H E U T E Mai 2 0 1 4
66 Onlinestudium

Auch in Deutschland ist die MOOC-Welle angekommen.


Allerdings noch nicht für das Fach Psychologie

Inzwischen aber werden nicht mehr nur aufge- orientiert, im Oktober 2012 mehr als 750 000 Nut-
zeichnete Präsenzvorlesungen ins Internet gestellt. zer, rund 35 Kurse).
2008 bot die Universität im kanadischen Manito- Auch hierzulande ist die MOOC-Welle ange-
ba erstmals einen speziell für das Internet konzi- kommen. Seit 2012 bietet das private Hasso-Platt-
pierten, offenen und interaktiven Kurs an; mehr ner-Institut in Potsdam Onlinekurse zur Infor-
als 2000 externe Teilnehmer schrieben sich ein. mationstechnologie an. Bei Iversity, einer 2011 ge-
Der Begriff MOOC, massive open online course, gründeten GmbH bei Berlin, liefen im Herbst 2013
war geboren und verbreitete sich rasch. Ein Semi- die ersten MOOCs an. Bislang sind noch keine aus
nar über künstliche Intelligenz, 2011 von einem dem Bereich Psychologie oder Neurowissenschaf-
deutschen Professor an der Stanford-Universität ten dabei. Doch das wird sich wohl bald ändern,
gehalten, zog schon 160 000 Teilnehmer an. Inner- versichert das Unternehmen. So haben sich bei ei-
halb kurzer Zeit entstanden in den USA mehrere nem von Iversity und dem Stifterverband für die
spezielle MOOC-Anbieter, darunter Coursera Deutsche Wissenschaft ausgeschriebenen MOOC-
(kommerzielle Plattform, derzeit etwa 5,2 Millio- Wettbewerb auch Professoren und Institutionen
nen Nutzer, rund 540 Kurse, 107 universitäre und mit Themen zur Entscheidungspsychologie, Evo-
andere Partner), edX (nichtkommerzielles Kon- lution des menschlichen Gehirns, Demenz und
sortium von Harvard und MIT, derzeit rund 95 Prokrastination beworben. Von diesen hat es zwar
Kurse von 29 Universitäten) und Udacity (gewinn- keiner in die Endrunde geschafft. Man stehe aber,

INTRODUCTION TO PSYCHOLOGY SOCIAL PSYCHOLOGY


John Gabrieli, Massachusetts Institute of Technology, Cambridge, Scott Plous, Wesleyan University, MOOC, über Coursera, Start:
Videovorlesung, über MIT OpenCourseWare 14. Juli 2014
Inhalt: Eine Einführung mit stärkerem Fokus auf Inhalt: Warum mögen wir einen Menschen und finden einen
gehirnwissenschaftlichen Aspekten. Behandelt werden die anderen unsympathisch? Wie entstehen Vorurteile? Auf welche
neuronalen und mentalen Grundlagen von Wahrnehmung, Weise kann man Konflikte reduzieren? Eine Einführung in
Emotionen, Lernen, Gedächtnis, Persönlichkeit, kindlicher klassische und aktuelle sozialpsychologische Forschung, deren
Entwicklung, Psychopathologie und sozialer Interaktion. Es Ergebnisse nicht nur überraschend und oftmals unterhaltsam
handelt sich um eine Original-MIT-Vorlesung aus dem Jahr 2011; sind, sondern sich auch auf das tägliche Leben anwenden lassen.
bei MIT OpenCourseWare steht sie auf Nr. 20 der „Hitliste“. Lehrer: Scott Plous, Professor an der Wesleyan University in
Lehrer: Professor John Gabrieli, Direktor am McGovern Institute Connecticut, forscht über Vorurteile und Diskriminierung,
for Brain Research am MIT, ist Experte für das menschliche Terrorismusbekämpfung sowie ethische Fragen rund um
Gedächtnis und abnorme Hirnaktivitäten bei neurologischen und Tierhaltung und Umweltschutz.
psychiatrischen Krankheiten. Format: Ab Juli 2014 können über 7 Wochen Vorlesungsvideos
Format: 24 Vorlesungsvideos (je 50 bis 70 Min.), heruntergeladen werden (englische Untertitel vorhanden),
Vorlesungsnotizen und andere Begleittexte, Multiple-Choice-Tests Bonusvideos (z.B. zum Stanford-Prison-Experiment), Begleittexte,
und Fragen zur Selbstkontrolle, drei Originalprüfungen mit Tests, Hausaufgaben, Schlussexamen. Bei erfolgreicher Teilnahme
Antworten. Abschlusszertifikat.
http://ocw.mit.edu/courses/brain-and-cognitive-sciences/ https://www.coursera.org/course/socialpsychology
9-00sc-introduction-to-psychology-fall-2011/index.htm
Onlinestudium 67

Pensionäre, Schüler, denen der Regelunterricht


nicht reicht, Menschen, die sich und andere besser
verstehen wollen. Mehr als eine passable Internet-
verbindung und solide Englischkenntnisse sind in
der Regel nicht vonnöten. Die meisten Veranstal-
tungen sind frei zugänglich; bei Plattformen wie
Coursera und edX muss man sich allerdings zu-
nächst als Nutzer registrieren.
Wird man Psychologie irgendwann nur noch
per MOOCs und Onlinevorlesungen studieren?
Viele bezweifeln das. Hochschulbildung werde zu-
künftig sicher Onlinekomponenten beinhalten,
zeigt sich Ariely in einem Videoclip auf www.the
goodmooc.com überzeugt, doch das Präsenzstu-
dium schreibt er keineswegs ab. Er hat auch bereits
mit verschiedenen Lernformen experimentiert.
so ein Sprecher, mit den Bewerbern wegen einer Dabei stellte sich eine Mischung aus Onlinevideos
möglichen zukünftigen Realisation im Gespräch. und realen Diskussionen im Klassenraum als bes-
Das Interesse an psychologischen MOOCs ist te Option heraus. Ähnlich sieht es auch Frank Fi-
enorm. Für den von Dan Ariely angebotenen Kurs scher, Professor für Empirische Pädagogik und
zu irrationalem Verhalten registrierten sich 140 000 Pädagogische Psychologie an der Universität Mün-
Teilnehmer; 67 000 schauten sich auch tatsächlich chen: „MOOCs sind eine tolle Sache, denn viele
Videos an. Die potenzielle Zielgruppe ist breit: Stu- Menschen können Zugang zu Wissen erhalten.
denten, die Themen vertiefen wollen, Berufstätige Mittelfristig werden sie – wie andere neue Anwen-
mit Weiterbildungsambitionen, wissenshungrige dungen vor ihnen – ihren Platz in der Medien-

UNLOCKING THE IMMUNITY TO CHANGE ENVIRONMENTAL PSYCHOLOGY


Robert Kegan, Harvard University, MOOC, über edX Daniel Stokols, University of California, Irvine, Onlinevorlesung,
Inhalt: Wer sich zum neuen Jahr gute Vorsätze gefasst hat, ist bei über iTunes U
diesem Kurs richtig. Entwicklungspsychologe Robert Kegan und Inhalt: Die Beziehung zwischen menschlichem Verhalten und
seine langjährige Kollegin Lisa Lahey stellen ihren „Immunity to physischer Umgebung ist vielschichtig und kompliziert. Warum
Change“-Ansatz vor, der helfen soll, dauerhafte Veränderungen werfen Leute ihren Müll einfach auf die Straße? Wie wirken sich
im beruflichen und privaten Leben herbeizuführen und dabei Straßenverkehr und Lärm auf die Psyche aus? Wie sieht eine
auftretende Blockaden zu überwinden. Teilnehmer werden stressreduzierende Nachbarschaft aus? Die Vorlesung betont die
ausdrücklich ermuntert, das Konzept nicht nur theoretisch zu enge Verbindung zwischen physischen und sozialen Aspekten
erkunden, sondern auch auf sich selbst anzuwenden. von Orten („soziophysische Umwelt“), beispielsweise wie die
Lehrer: Robert Kegan, Professor für Erwachsenenbildung und Architektur von Wohnsiedlungen die Freundschaftsmuster der
berufliche Entwicklung an der Harvard-Universität, wurde durch Bewohner prägt. Aufzeichnung einer Präsenzvorlesung aus dem
sein Konzept des evolving self bekannt und hat mehrere Frühjahr 2012.
populärwissenschaftliche Bestseller geschrieben. Lehrer: Daniel Stokols, Professor für soziale Ökologie am Institut
Format: Vorlesungen, Demonstrationen, Übungen, Begleittexte, für Psychologie und soziales Verhalten, befasst sich nicht nur mit
Experimente und Kleingruppenarbeit. Umweltpsychologie, sondern auch mit Erfolgsfaktoren von
https://www.edx.org/course/harvardx/harvardx-gse1x-unlocking- Gesundheitsprogrammen und interdisziplinären Forscherteams.
immunity-change-940 Format: 18 Vorlesungen (45 bis 75 Minuten), Study Guides,
Folien und Hausaufgaben.
https://itunes.apple.com/us/podcast/environmental-psychology-
ppd151/id516983549?mt=2&ign-mpt=uo%3D4

P S YC H O L O G I E H E U T E Mai 2 0 1 4
68 Onlinestudium

landschaft finden. Sie werden die Präsenzlehre An der globalen Internetuniversität ändern sich
nicht ersetzen, sondern die Hochschulen dazu ver- Angebote und Konzepte rasch. Was heute gilt, kann
anlassen, genauer darüber nachzudenken, was ei- morgen schon überholt sein. Wer sich für Online-
gentlich der Mehrwert der Präsenzlehre ist.“ angebote interessiert, muss also am Ball bleiben.
Bislang können sich Studenten die Teilnahme In diesem Sinne sind auch die hier vorgestell-
an einem MOOC kaum auf ihr Studium anrech- ten Vorlesungen und Kurse zu verstehen.
nen lassen. Bei Anbietern wie Coursera und edX Die Informationen wurden mit
erhält man für manche Seminare immerhin ein größter Sorgfalt zusammengetra-
Zertifikat, wenn man sie erfolgreich abgeschlossen gen, mögen sich aber dennoch bis
hat. Es gibt allerdings auch die ersten anrechen- zum Erscheinen des Heftes ver-
baren Kurse. James Pennebaker und Sam Gosling ändert haben. Manchmal muss
von der Universität Texas führten von August bis ein angekündigter Kurs ver-
Dezember 2013 einen in Echtzeit ablaufenden so- schoben werden, oder archi-
genannten synchronous massive online course zur vierte Veranstaltungen werden
Einführung in die Psychologie durch, bei dem Teil- plötzlich vom Server genommen.
nehmer Credit Points erwerben konnten. Aller- Die Liste umfasst einige Videoauf-
dings kostete er 550 US-Dollar. Das Georgia In- zeichnungen traditioneller Präsenz-
stitute of Technology in Atlanta kündigte im August vorlesungen. Der Rest sind spezielle
2013 sogar an, es werde bald einen MOOC-basier- Onlinekurse – zum Teil momentan laufend
ten Masterabschluss für Computerwissenschaften oder in Zukunft startend, zum Teil archiviert (das
anbieten. Manche Experten meinen, dies könne heißt: Auf interaktive Elemente wie Chatrooms
„den Sprung in die nächste Phase der Evolution kann eventuell nicht mehr zugegriffen werden);
von MOOCs signalisieren“, berichtete die New York alle sind in Englisch. Viel Spaß! PH
Times.

UNETHICAL DECISION MAKING IN ORGANIZATIONS THE CLINICAL PSYCHOLOGY OF CHILDREN


Ulrich Hoffrage und Guido Palazzo, Universität Lausanne, MOOC, AND YOUNG PEOPLE
über Coursera, Start September 2014 Matthias Schwannauer, University of Edinburgh, über Coursera,
Inhalt: Warum verhalten sich auch Menschen mit einer an sich Start Juli 2014
hohen moralischen Integrität in der entsprechenden Umgebung
Inhalt: Teilnehmer werden mit zentralen Fragen der klinischen
manchmal „ethisch blind“? Dieser Kurs beleuchtet die organisati-
Psychologie für Kinder und Jugendliche vertraut gemacht: Merk-
onspsychologischen Aspekte von unethischem Verhalten. Teilneh-
male und Bedeutung einer gesunden Kindheit; problematische
mer sind eingeladen, eigene Erfahrungen aus Arbeitsleben oder
soziale und familiäre Einflüsse; Trauma und Resilienz bei jungen
sozialem Umfeld einzubringen; jede Woche werden einige Bei-
Menschen; Behandlung von kindlichen Ängsten, Depressionen,
spiele von den beiden (deutschen) Professoren diskutiert.
Autismus etc.
Lehrer: Hoffrage, Psychologe und Professor für Entscheidungs-
theorie, hat unter anderem zu kognitiven Illusionen und Risiko- Lehrer: Professor Matthias Schwannauer, Alumnus der Universi-
kommunikation geforscht. Palazzo, studierter Philosoph und tät Marburg, leitet die Abteilung klinische und Gesundheitspsy-
Betriebswirt, nun Professor für Wirtschaftsethik, beschäftigt sich chologie der Universität Edinburgh. In seiner Forschung wendet
mit unethischem Managerverhalten, organisierter Kriminalität er die Bindungstheorie und Ansätze zur Emotionsregulation auf
und Menschenrechtsfragen bei Produktionsauslagerungen. Psychosen und affektive Störungen an.
Format: Vorlesungsvideos (englische Untertitel vorhanden) über Format: Ab Juli Vorlesungsvideos über 5 Wochen (englische Un-
7 Wochen, interaktive Quizeinlagen, Begleittexte, Livediskus- tertitel vorhanden). Arbeitsaufwand: 1 bis 3 Stunden/ Woche.
sionen per Webcast und Twitter, Diskussionsforen, wöchentliche Weitere Informationen zu Format und Materialien werden noch
Hausaufgaben. Arbeitsaufwand 5 bis 7 Stunden/Woche. bekanntgegeben. Abschlusszertifikat.
Abschlusszertifikat. https://www.coursera.org/course/clinicalpsych
https://www.coursera.org/course/unethicaldecision
Onlinestudium 69

STAATLICH
ANERKANNTE
HOCHSCHULE

INTRODUCTION TO NEUROECONOMICS:
HOW THE BRAIN MAKES DECISIONS
Vasily Klucharev, Higher School of Economics (HSE), Moskau,
MOOC, über Coursera, Start Juni 2014
Inhalt: Warum nicht mal bei einem russischen Wissenschaftler
studieren? Professor Klucharev führt die Teilnehmer in die
interdisziplinäre Welt der Neuroökonomie ein. Zentrale Themen:
Entscheidungsverhalten in Finanzmärkten, Vertrauen und
Kooperation in Teams, die Beeinflussung von Konsumenten. IN ZUKUNFT KARRIERE
Zielgruppe: alle, die sich für Psychologie, Wirtschaft und/oder PSYCHOLOGIE IN DER WIRTSCHAFT
Neurowissenschaften interessieren.
Lehrer: Klucharev, ein studierter Physiologe, hat an Universitäten
in Helsinki, Rotterdam und Basel geforscht, bevor er 2009 als
Eröffnen Sie sich hervorragende Karriereperspektiven
Dekan an das Institut für Psychologie der HSE kam.
durch ein berufsbegleitendes Fernstudium. An der
Format: Ab Juni können über 9 Wochen Vorlesungsvideos
heruntergeladen werden (englische Untertitel vorhanden). SRH FernHochschule Riedlingen entscheiden Sie – wann,
Verständnisfragen am Ende jedes Videos, Diskussionsforen, wo und wie Sie studieren wollen.
optionale Begleitliteratur, Abschlussarbeit. Arbeitsaufwand 6–8
Stunden/Woche. Bei erfolgreicher Teilnahme Zertifikat erhältlich. Ihre Vorteile
https://www.coursera.org/course/neuroec \ Wissenschaftlich fundierte Studieninhalte
\ Effiziente und innovative Lehr- und Lernmethoden,
wie z. B. Mobile Learning per iPad
\ Flexible Studiengestaltung
\ Intensive und persönliche Betreuung
\ Ausgeprägte Praxisorientierung durch vielfältige
Unternehmenskooperationen
MORALITIES OF EVERYDAY LIFE \ Hohe Erfolgsquote
Paul Bloom, Yale University, MOOC, über Coursera \ Bundesweite Studien- und Prüfungszentren
Inhalt: Wie kommt es, dass der Mensch zu unglaublicher Güte,
aber auch abscheulichen Grausamkeiten fähig ist? Wie entstehen Bachelor-Studiengänge
Einstellungen zu Abtreibung, Homoehe oder Folter? Hängt mora- \ Wirtschaftspsychologie (B.Sc.)
lisches Handeln vom Geschlecht, von der politischen Richtung
\ Prävention und Gesundheitspsychologie (B.A.)
oder der Religion ab? Neben psychologischer Forschung werden
Erkenntnisse aus den Kognitions- und Neurowissenschaften, der
Master-Studiengänge
Philosophie und der Verhaltensökonomie behandelt.
Lehrer: Paul Bloom, Professor für Psychologie und Kognitionswis- \ Wirtschaftspsychologie, Leadership & Management (M.A.)
senschaften an der Yale-Universität, untersucht in seinem Labor \ Wirtschaftspsychologie & Change Management (M.Sc.)
unter anderem Einstellungen zu Fairness und Kunst, die Phäno-
mene Ekel und Humor sowie die Gedankengänge von Babys in Informieren Sie sich bei einer unserer Online-Infoveranstaltungen.
sozialen Situationen. Sehr gerne beraten wir Sie auch in einem persönlich vereinbarten
Format: 6 Vorlesungseinheiten (englische Untertitel vorhanden); Gespräch.
außerdem gibt es Texte und Links zu Videos. Arbeitsaufwand:
6 bis 14 Stunden/Einheit.
SRH FernHochschule Riedlingen
https://www.coursera.org/course/moralities Lange Straße 19
88499 Riedlingen
Telefon +49 (0) 7371 9315-0
info@fh-riedlingen.srh.de
Weitere Links
Universität Tübingen, timms: http://timms.uni-tuebingen.de/
LMU Video online: http://videoonline.edu.lmu.de/
WWW.WIRTSCHAFTSPSYCHOLOGIE-STUDIUM.DE
Iversity: https://iversity.org

P S YC H O L O G I E H E U T E Mai 2 0 1 4
70 Sozialpsychologie

Wie blind kann


Gehorsam sein?
Warum folgen Menschen Mordbefehlen,
wieso hatten die Nazis so viele Mitläufer?
Nach dem Zweiten Weltkrieg und dem
Holocaust suchten Psychologen fieber-
haft nach Erklärungen. Der Eifer brachte
weltberühmte Experimente hervor. Doch
was taugen die Antworten aus der Nach-
kriegszeit wirklich?
■ Jana Hauschild
Sozialpsychologie 71

A
dolf Eichmann handelte nur, Buches. Weltberühmte Studien ent-
wie ihm aufgetragen wurde. Er sprangen diesem Eifer. Sie überraschten
war ein Bürokrat, der sorgfältig und regten auch Laien an, über ihr ei-
seine Aufgaben erledigte. War der Mann, genes Handeln nachzudenken.
der die Deportation und Ermordung von So auch die Erkenntnisse aus der Stu-
mehreren Millionen Juden unter Adolf die zur Unterwürfigkeit, die der ameri-
Hitler maßgeblich vorantrieb, kein psy- kanische Psychologe Stanley Milgram
chopathisches Monster, sondern Opfer durchführte. Offiziell lud dieser 1961
seines Gehorsams? zu einer Gedächtnisstudie ein. Tatsäch-
Das Bild vom wehrlosen Untertan lich untersuchte er, wie weit sich die Ver-
leiteten Forscher aus den weltberühmten suchsteilnehmer an seine Anweisungen STA NLEY MILGR A M
Experimenten von Stanley Milgram und halten würden. Sie sollten dafür in die 1933 –1984
Philip Zimbardo ab. Die beiden ameri- Rolle eines Lehrers schlüpfen, der einen Wie autoritätshörig sind ganz normale
kanischen Psychologen hatten in den Schüler mit Elektroschocks bestrafen Menschen? Diese Frage versuchte Stanley
1960er und 1970er Jahren gezeigt, wie sollte, wenn dieser sich nicht richtig an Milgram mit seinem bekanntesten Experi-
unauffällige Bürger zu Folterknechten zuvor gelernte Wortpaare erinnerte. Die ment. Der Psychologe bat Probanden in
und Mördern werden können. Sie folg- Schocks wurden dabei zunehmend stär- ein Labor an der Yale University. Angeblich
ten einfach nur blind Anweisungen und ker: Zu Beginn betrugen sie nur 15 Volt, zum Herausfinden, wie sich Bestrafungen
Regeln, so die Schlussfolgerung. lösten also lediglich ein Kribbeln aus, auf die Leistung des Gedächtnises auswir-
Doch die Unterwerfung und blinde und konnten bis zur tödlichen Stärke ken. Für jede falsche Antwort eines ver-
meintlichen Schülers sollten die Freiwilli-
Tyrannei, wie sie Milgram und Zimbar- von 450 Volt erhöht werden. Was die
gen einen Elektroschock verabreichen.
do untersucht haben, gebe es in der Form Probanden nicht wussten: Der Schüler
Bedenken bügelte der Versuchsleiter ab:
nicht, sagen Forscher heute. Auch frü- war ein Schauspieler, und die Elektro-
„Das Experiment erfordert, dass Sie fort-
here Erkenntnisse zum Mitläufertum schocks wurden nicht wirklich verab- fahren!“ Tatsächlich gehorchten die meis-
und zur Entstehung von Antipathie und reicht. ten Teilnehmer. Milgram berichtete, nahe-
Hass zwischen zwei Gruppen scheinen Die Ergebnisse des Experiments ste- zu zwei Drittel seien sogar bis zum Äußers-
aus moderner Perspektive fragwürdig. hen heute in jedem sozialwissenschaft- ten gegangen.
Das zumindest zeigt das Buch Social Psy- lichen Lehrbuch. Alle Studienteilneh-
chology – Revisiting The Classic Studies, mer gingen bis 300 Volt, fast zwei Drit-
das Joanne Smith und Alexander Has- tel bis zum Maximum von 450 Volt.
lam herausgegeben haben. Darin inter- Milgram schlussfolgerte, dass Menschen schocks, wenn der Studienleiter keinen
pretieren namhafte Sozialpsychologen eine fremde Person einfach töten wür- Laborkittel trug, sondern legere Klei-
von heute die Studien von damals neu. den, wenn es ihnen eine Führungsper- dung. Auch unterwarfen sie sich weniger
son auftrage. Heutige Sozialpsychologen dem Druck des Studienleiters, wenn er
Tödliche Elektroschocks wie Alexander Haslam aus Australien sich mit einem anderen Forscher darü-
auf Anweisung und Stephen Reicher aus Schottland, ber stritt, ob mit dem Experiment fort-
Viele Sozialpsychologen suchten in der unterstützen dieses Fazit nicht. gefahren werden solle. „Die vielen Va-
Nachkriegszeit nach Erklärungen. Wa- Denn: Von Milgrams Experiment gab rianten zeigen, wie wichtig die Situation
rum konnte Nazideutschland überhaupt es mehr als dreißig Varianten. „Er hat ist, in der die Menschen handeln“, sagt
entstehen? Wie konnten Menschen an- solange an dem Studienablauf herum- Melanie Steffens, die an der Universität
dere Menschen diskriminieren, aus- geschraubt, bis die Ergebnisse besonders Landau Sozialpsychologie lehrt und die
grenzen, wegsperren, foltern und ermor- dramatisch und erschreckend waren“, neuen Sichtweisen auf die klassischen
den? Und weshalb schauten so viele da- sagen Haslam und Reicher. In den an- Studien bereits in ihre Vorlesung ein-
bei zu? „Diese Fragen waren formgeben- deren Versuchen gingen die Probanden baut.
der und inhaltlicher Anstoß für die nicht so oft bis zum Äußersten. Kaum Beim zweiten Blick auf Milgrams Stu-
meisten sozialpsychologischen Experi- einer der Studienteilnehmer gab bei- dien wird deutlich: Sie beschreiben nicht
mente“, schreiben die Herausgeber des spielsweise die überstarken Elektro- nur Unterwürfigkeit, sondern bezeugen

P S YC H O L O G I E H E U T E Mai 2 0 1 4
72 Sozialpsychologie

delten eher, wie ihnen gesagt wurde, schließlich zur gewaltsamen Revolution
wenn Milgram ihre Handlungen als Ge- aufrief, reagierten die Wärter ihrerseits
winn für die Wissenschaft deklarierte.“ mit Gewalt. Sie zwangen die Inhaftier-
Dachten die Probanden, sie nähmen an ten, sich auszuziehen, schikanierten und
einer kommerziellen Untersuchung teil, drangsalierten sie. Schon nach sechs Ta-
widerstanden deutlich mehr Teilnehmer gen musste das Experiment wegen der
den Aufforderungen des Forschers fort- massiven Übergriffe der Wärter abge-
zufahren. Wenn sie dachten, dass sie Teil brochen werden. Zimbardos Fazit: Die
einer Studie für die Yale-Universität Brutalität sei eine natürliche Folge davon
sind, folgten sie den Anweisungen eher. gewesen, in der Uniform des Wärters zu
Die Menschen glaubten, etwas Bedeut- stecken und die Macht in dieser Positi-
sames, etwas Gutes zu tun, und gaben on zu spüren. Normale Menschen wür-
deshalb die Schocks – nicht aber weil sie den zu Tyrannen, weil sie sich unbedacht
blind gehorchten. in die Rollen einfänden, die ihnen Au-
PHILIP ZIMBA R DO Aus diesem Blickwinkel könnte auch toritäten vorgeben.
GEBOR EN 1933 das Verhalten von Adolf Eichmann und Ein Phänomen, das sich auch in der
anderen NS-Bürokraten erklärt werden. Zeit des Nationalsozialismus wiederfin-
1971 schaltete der junge Psychologiepro-
„Solche Verbrechen entstehen, wenn det. Zumindest diente Zimbardos Ex-
fessor Philip Zimbardo eine Zeitungsanzei-
Menschen sich mit Autoritäten identi- periment dem Historiker Christopher
ge: Er suche Freiwillige für ein Experiment
fizieren, die bösartige Handlungen als Browning als Schablone für das brutale
zum Gefängnisleben. 24 nach Ansicht von
Zimbardo psychisch unauffällige Studen-
tugendhaft darstellen“, sagt der Psycho- Vorgehen des Reservepolizei-Bataillons
ten wurden ausgewählt. Der Zufall ent- loge Alexander Haslam. Verwalter des 101 im deutsch besetzten Polen zwischen
schied, wer Wärter und wer Inhaftierter Regimes gingen also nicht nur schlicht 1942 und 1943. Die Nazieinheit ermor-
war. Im Keller der Stanford University ge- Anweisungen nach, sondern wussten dete innerhalb von 16 Monaten mindes-
staltete Zimbardo Zellen für die Häftlinge. oftmals genau, was sie taten. Manche tens 38 000 Juden. Unter den Polizisten
Den Wärtern ließ er nach eigenen Anga- waren sogar stolz darauf, weil sie sich befanden sich jedoch keine Fanatiker,
ben freie Hand bei der Festlegung der mit Adolf Hitler und seinen Ansichten eher halbherzige Anhänger des Nazire-
Regeln. Schnell begannen die Aufseher, identifizierten. Wie wohl auch Eich- gimes, die nicht zu ihren Taten gezwun-
die Inhaftierten zu schikanieren. Nach mann, der kurz vor seinem Gerichts- gen wurden, so Browning.
sechs Tagen brach Zimbardo das Experi-
prozess einzig bedauerte, nicht mehr Auch der Folterskandal in dem Ge-
ment ab. Er hatte die Kontrolle über die
Juden getötet zu haben. fängnis Abu Ghuraib erinnerte stark an
Situation weitgehend verloren. Einige Ge-
das Stanford Prison Experiment. Im Jahr
fangene hatten extreme Stressreaktionen Was macht jemanden zum Killer?
gezeigt.
2004 misshandelten die amerikanischen
Wiegt die Persönlichkeit also doch mehr Wärter die irakischen Inhaftierten. Sie
als die Situation? Auch beim Stanford- zwangen diese, sich komplett zu ent-
Prison Experiment, das Philip Zimbardo kleiden, prügelten auf sie ein, folterten
auch, dass Menschen sich Befehlen und 1971 durchführte, legen die Sozialpsy- sie mit Elektroschocks, urinierten auf
Anweisungen widersetzen. Immerhin chologen Haslam und Reicher neue In- sie. Auf Fotos posieren einige Wärter
ein Drittel weigerte sich in dem bekann- terpretationen der Studienergebnisse stolz neben den nackten Körpern am
testen Versuch, die Elektroschocks ab vor, die die Macht der Situation infrage Boden.
einem bestimmten Level noch zu ver- stellen – und der Persönlichkeit der Pro- Doch kann Zimbardos Experiment
abreichen – in anderen Varianten sogar banden mehr Gewicht verleihen. diese zwei Beispiele der Tyrannei erklä-
deutlich mehr. Niemand verabreichte Zimbardo rekrutierte damals Stu- ren? Eher nicht, denn: Zimbardo hat den
die lebensgefährlichen Schocks, wenn denten, die gemeinsam zwei Wochen Probanden vor Beginn der Studie indi-
bei ihm zwei Eingeweihte saßen, die lang in einer Gefängnisattrappe auf dem rekt mitgeteilt, welches Verhalten er von
frühzeitig ablehnten weiterzumachen. Universitätsgelände leben sollten. Die den Wärtern erwarte. Er gab ihnen kei-
Die Art, wie der Studienleiter die Pro- einen als Gefängniswärter, die anderen ne exakten Handlungsanweisungen,
banden anwies fortzufahren, war schließ- als Inhaftierte. Nach einer Phase der sagte ihnen aber, dass sie bei den Gefan-
lich ausschlaggebend für die Erbar- Eingewöhnung rebellierten einige der genen ein Gefühl von Langeweile, Angst
mungslosigkeit in dem berühmt gewor- Inhaftierten gegen die strengen Regeln oder auch Willkür entstehen lassen
denen Versuch, meinen Haslam und der Wärter und fügten sich nicht mehr könnten, um ihnen so die Individualität
Reicher: „Die Versuchsteilnehmer han- ihren Anweisungen. Als ein Inhaftierter zu nehmen. Eine Anweisung, die vor al-
Sozialpsychologie 73

Die Situation ist nicht alleine ausschlaggebend:


Auch die Persönlichkeit kommt ins Spiel

lem die Wärter in Abu Ghuraib nicht normale Studenten seien. Sie alle mel- Fatale Gruppenloyalität
erhielten. deten sich jedoch auf eine Zeitungsan-
Das Gefängnisexperiment habe sol- zeige, die sie zu einer Gefängnisstudie Womöglich führte aber auch schlicht
che brutalen Ausmaße angenommen, einlud. „Wer auf eine solche Annonce die Aufteilung in zwei Gruppen zu den
weil sich unter den Wärtern engagierte reagiert, bringt womöglich schon gewis- Konflikten und der Antipathie. Das le-
Enthusiasten befanden, die Zimbardos se Persönlichkeitsmerkmale mit“, sagt gen die drei Boys-Camp-Studien des
Erwartungen erfüllen wollten, meinen die deutsche Forscherin Melanie Stef- türkischstämmigen Forschers Muzafer
Haslam und Reicher. Die Wärterpro- fens. Sherif nahe. In den Jahren 1949, 1953
banden waren überzeugt, etwas Ehren- Eine Untersuchung an der Western und 1954 lud er jeweils rund 20 Jungen
wertes zu tun. „Die Menschen handelten Kentucky University von 2007 stützt die- im Alter von 12 Jahren in ein Ferienla-
nicht blind, sondern wissend, nicht pas- sen Kritikpunkt. Die Wissenschaftler ger ein. Alle kamen aus protestantischen
siv, sondern aktiv. Sie begingen Gewalt- veröffentlichten in regionalen Tageszei- Familien und waren gesundheitlich und
akte, weil sie sich dafür entschieden hat- tungen zwei verschiedene Anzeigen. In sozial unauffällig. Im Camp durften die
ten, nicht, weil sie gezwungen wurden“, der einen wurden konkret Studenten für Kinder zunächst frei Bekanntschaften
sagt das Forscherteam. eine psychologische Studie zum Gefäng- und Freundschaften knüpfen. Nach ei-
In einer eigenen Gefängnisstudie, an- nisleben gesucht, in der anderen ließen nigen Tagen teilte Sherif die Jungs in
gelehnt an das Stanford-Experiment, die Forscher den Hinweis aufs Gefäng- zwei Gruppen ein, die immer wieder
konnten Haslam und Reicher ihre Sicht- nis weg. Personen, die sich auf die Ge- gegeneinander Wettkämpfe zu bestrei-
weise wissenschaftlich bekräftigen. fängnisanzeige meldeten, unterschieden ten hatten. Dabei trennte er bewusst
Auch sie teilten männliche Probanden sich deutlich von den anderen Proban- Jungen, die sich angefreundet hatten.
in Wärter und Insassen ein, machten den. Sie waren eher autoritär, narziss- Dennoch: Schon nach kurzer Zeit
ihnen aber keinerlei Vorgaben. Das Er- tisch und sozial dominant, aber weniger waren die Gruppen stark verfeindet. Ei-
gebnis: Die Studienteilnehmer passten fähig, sich in andere einzufühlen und ne Gruppe verbrannte die Flagge der
sich nicht automatisch ihren Rollen an. altruistisch zu handeln. anderen, weil diese ein Spiel gewonnen
Sie handelten nur im Gruppenverband, Diese Erkenntnis passt Haslam und hatte. Während eines Mittagessens be-
wenn sie sich mit der Gruppe identifi- Reicher zufolge auch zu dem Ergebnis, schimpften sich die Jungen lautstark und
zieren konnten. Die Gefangenengruppe dass nicht alle, sondern nur ein Drittel begannen Tassen und Messer auf ein-
konnte sich sogar aus einem Gemein- der Wärter gewalttätig wurde. Wäre die ander zu werfen. Anschließend brachen
schaftsgefühl heraus gegen die Wärter Situation handlungsbestimmend gewe- sie in die Schlafräume der anderen ein.
auflehnen und gleichberechtigtere Ver- sen, hätten sich alle Wärter tyrannisch Auch wenn eine hitzige Situation sich
hältnisse erwirken. verhalten. Doch anscheinend spielt auch abgekühlt hatte, schrieben die Jungen
Ebenso kritisch wie Zimbardos Rol- die Persönlichkeit eine Rolle. Haslam den Mitgliedern der anderen Gruppe
le als Studienleiter und Anstifter be- und Reicher nehmen daher an, dass Ver- deutlich mehr negative Eigenschaften
trachtet das Forscherduo auch, wie die halten – gutes wie böses – immer aus zu als ihren eigenen.
Stichprobe für das Experiment zustan- einem Zusammenspiel von Situation, Noch heute gehören die Boys-Camp-
de kam. Zimbardo betonte zwar, dass Persönlichkeit und einer dynamischen Studien zu jeder pädagogischen Ausbil-
die Probanden keinerlei psychologische Interaktion zwischen beiden sowie dung dazu. Denn Sherif zeigte auch, wie
Auffälligkeiten vor oder zum Beginn der durch die Haltung und Erwartung eines die Rivalitäten aufgehoben werden kön-
Studie aufwiesen und auch sonst ganz Menschen bestimmt wird. nen. Zum Ende des Camps stellte er die

P S YC H O L O G I E H E U T E Mai 2 0 1 4
74 Sozialpsychologie

Wir sind nicht automatisch feige Konformisten.


Konformität hat in der Gesellschaft sogar abgenommen

Jungen vor Herausforderungen, in de- Mitläufertum oder gänge, in denen die Eingeweihten ab-
nen die beiden Gruppen zusammenar- Harmoniebestreben? sichtlich falsch antworteten. Asch woll-
beiten mussten. Sherif gab Aufgaben vor, te nun wissen, wie die Versuchsperson
von deren Erfüllung beide Gruppen pro- Die Realität ist viel komplexer, als Ex- sich verhalten würde. Würde sie klein
fitierten, die aber auch nur gemeinsam perimente überhaupt erfassen können. beigeben und sich der Mehrheit fügen,
angegangen werden konnten. Die Grup- Das wird auch offensichtlich in der Kri- obwohl deren Antwort unbestreitbar
pen reparierten beispielsweise gemein- tik an den Konformitätsstudien von So- falsch war? Nur ein Viertel aller Studi-
sam die Wasserversorgung des Lagers lomon Asch. Der polnischstämmige enteilnehmer, die dieses Experiment
oder sammelten Geld um einen Film Psychologe ging Anfang der 1950er Jah- durchliefen, blieben bei ihrer Meinung
gucken zu können. Das gemeinsame Ziel re der Frage nach, warum wir uns an- und antworteten trotz des Gruppen-
schweißte zusammen. Die Kinder riefen deren Menschen und ihren Meinungen drucks richtig. Etwa ein Drittel gab in
sich weniger Ausdrücke zu, gingen ein- anpassen, auch wenn wir wissen, dass ein bis drei Durchläufen nach und beug-
ander nicht mehr aus dem Weg und be- die anderen falsch liegen. Tatsächlich te sich der Mehrheitsmeinung. Rund 18
werteten die anderen Gruppenmitglie- habe die Laborsituation wenig mit dem Prozent der Teilnehmer passten sich in
der positiver. Als sie erfuhren, dass sie realen Leben gemein, schreiben die So- bis zu neun Durchläufen an, jeder Zehn-
gemeinsam in einem Bus abreisen wür- zialpsychologen Jolanda Jetten und te in fast allen. Die meisten fügten sich,
den, freuten sie sich und vom Preisgeld Matthew Hornsey. Zudem könnten die um nicht dumm oder als Außenseiter
des letzten Wettbewerbs kauften die Ge- Ergebnisse von Aschs Untersuchung dazustehen, aber auch, weil sie befürch-
winner den Verlierern Getränke. auch aus einem anderen Blickwinkel in- teten, die Studienergebnisse unbrauch-
Kritiker warfen Sherif allerdings vor, terpretiert werden – nämlich als Studi- bar zu machen. Wer sich anpasste, streb-
dass er nicht das Verhältnis zwischen en zu Meinungsverschiedenheiten. te oftmals nach Harmonie und Zuge-
zwei Gruppen untersucht habe, sondern Asch bat seine Probanden, die Länge hörigkeit.
wie die machtvolle Gruppe der Experi- von Linien zu beurteilen. Dazu platzier- Aschs Studien erfuhren viel Auf-
mentleiter zwei schwächere Gruppen te er sie zusammen mit anderen Studen- merksamkeit, weil sich die von ihm er-
von Jungen manipuliert. Michael Platow ten an einem Tisch. Den Männern wur- forschte Konformität auch im echten
und John Hunter beklagen in dem Buch de zunächst eine Linie gezeigt. Auf ei- Leben wiederfinde und Menschen etwa
Social Psychology – Revisiting The Clas- nem Bild sahen sie drei Vergleichslinien. in Institutionen wie Schafe der Herde
sic Studies zudem, dass viele weitere Ein- Jeder sollte nun einzeln sagen, welche hinterherlaufen würden, geben die For-
flüsse auf das Verhalten nicht untersucht der drei Linien genauso lang war wie scher Jolanda Jetten und Matthew Horn-
wurden. Sherif habe nicht kontrolliert, die erste. Bis auf den einen tatsächlichen sey die damalige Besprechung der Stu-
ob die wechselseitige Frustration oder Probanden waren jedoch alle anderen dien wieder. Solch ein angepasstes Ver-
auch die Erwartung eines Wettkampfes Teilnehmer eingeweihte Schauspieler. halten habe sogar einst dazu geführt,
sowie die Folgen von Sieg und Nieder- Reihum mussten die Männer antwor- dass Menschen der Nazipropaganda
lage besondere Verhaltensweisen bei den ten. Der Proband kam erst als Sechster glaubten und ihren Aufforderungen
Jungen hervorgerufen haben – und we- dran. folgten.
niger die Gruppeneinteilung. „Es ist In den ersten zwei Durchgängen ent- Konformität, kritisieren Jetten und
beinahe unmöglich, zu unterscheiden, schieden sich die Schauspieler für die Hornsey, ist im realen Leben aber kei-
was in den einzelnen Situationen zu den richtige Linie, ab dem dritten Mal jedoch nesfalls so schwarz und weiß wie in den
beobachteten Effekten führte“, schrei- für eine sichtbar längere oder kürzere. Aschstudien dargestellt. „Stattdessen
ben sie. Insgesamt gab es zwölf dieser Durch- gehört immer eine subjektive Einschät-
Sozialpsychologie 75

tieren modernere Studien, die zeigen, Auch will keiner der Forscher die
dass jüngere Kinder eher zu Konformi- Durchschlagskraft der Studien infrage
tät tendieren als ältere, genauso wie stellen. „Ebenso wie die Kritik an den
Frauen sich eher als Männer anpassen. Experimenten zutreffend ist, bleiben
In Kulturen, die viel Wert auf die Fami- auch die Dinge, die wir aus den Studien
lie und den sozialen Umgang legen, fü- lernen, aktuell“, sagen Michael Platow
gen sich die Menschen deutlich häufiger und John Hunter über die Boys-Camp-
als jene in individualistischen Kulturen. Studien. Ähnlich sehen es die anderen
Schließlich habe Konformität generell Autoren bei Zimbardo, Milgram und
in der Gesellschaft über die Jahrzehnte Asch. „Natürlich ändert die methodi-
immer weiter abgenommen, so die For- sche Kritik nichts daran, dass in der
scher. Milgram-Studie immerhin zwei Drittel
Letztlich zeigten die Studienergeb- der Studienteilnehmer die tödlichen
nisse nicht ausschließlich, dass Men- Elektroschocks verabreichten“, pflichtet
SOLOMON ASCH
schen kopflos anderen in ihren Ansich- die Landauer Professorin Melanie Stef-
1907–1996
ten folgen, betonen Jetten und Hornsey. fens bei. Die Ergebnisse können durch
Wie angepasst sind wir eigentlich? Das Denn: Es leisteten deutlich mehr Ver- die neue Sichtweise keinesfalls ausge-
untersuchte Solomon Asch in einem be- suchspersonen Widerstand gegen die löscht werden. Die Menschen hätten sich
rühmten Experiment. Ein ahnungsloser Mehrheitsmeinung, als sich Probanden damals drastisch verhalten, das bleibe
Proband fand sich dabei in einem Raum
beugten. Nur 11 Prozent stimmten den unbestritten – und erschreckend.
mit mehreren von Asch eingeweihten Per-
Eingeweihten in fast allen Durchläufen Bei der Lektüre der modernen Stu-
sonen wieder. Der Reihe nach sollte eine
zu. Rund 57 Prozent aller Probanden dienschau wird dennoch deutlich, dass
einfache Frage beantwortet werden: Wel-
che von drei Linien stimmt mit einer vor-
fügten sich nicht mehr als dreimal in es trotz jahrzehntelanger Forschung bis
gegebenen Standardlinie überein? Die insgesamt 12 Runden. heute nur Hinweise darauf gibt, warum
Antwort war eigentlich offensichtlich. Dass Konformität nicht immer in Menschen zu Tyrannen werden oder
Doch manchmal gaben alle Verbündeten Gruppensituationen auftritt, zeigen weshalb sie sich Befehlen unterwerfen.
des Versuchsleiters eine falsche Antwort. auch Aschs Variationen des Experi- Als die Sozialwissenschaftler in den
Was tat nun die echte Versuchsperson? ments. Sobald eine weitere Person der 1960er und 1970er-Jahren ihre Ergeb-
Überraschend häufig ging sie mit der Mehrheit widersprach, nahm auch bei nisse veröffentlichten, dachten sie, die
Mehrheitsmeinung konform und gab den Versuchspersonen die Konformität Antworten gefunden zu haben. Und
ebenfalls die falsche Antwort. stark ab. In einer Variante saßen meh- doch wissen wir heute, dass die Studien
rere tatsächliche Probanden am Tisch, sowohl methodisch als auch in ihrer In-
die richtig antworteten, und nur ein terpretation angreifbar sind. Die Ergeb-
zung dazu, an welchen Stellen der Ein- Schauspieler, der dann wegen seiner fal- nisse der Klassiker weisen in mehrere
fluss von anderen akzeptiert und wo er schen Antwort ausgelacht wurde. Richtungen. Vor allem zeigen sie, dass
abgelehnt werden kann“, so die Forscher. man Menschen nicht allein durch Ex-
Freunde könnten sehr wohl einer Mei- Eine Formel mit vielen Unbekannten perimente begreifen kann. Wir handeln
nung sein, etwa dass der gemeinsam ge- Von Asch bis Zimbardo – die neuen aus komplexen Beweggründen und kei-
schaute Film furchtbar war. Dennoch Sichtweisen auf die klassischen Studien nesfalls nach Schema. Viele Faktoren
kann ein Einzelner zugleich die Spezi- werfen wiederum Fragen auf. Die drän- führen zu einer Handlung. Die situati-
aleffekte loben. Ein Proband von Asch gendste: Was können die Studien tat- ven Umstände, die eigene Persönlichkeit
sagte nach dem Experiment auch, wäre sächlich darüber aussagen, warum Men- und ihr Wechselspiel: Tyrannei, Unter-
es um eine politische Frage gegangen schen zu Feinden, Mitläufern oder gar würfigkeit, Mitläuferschaft entspringen
und er hätte eine andere Haltung zum Mördern werden? Fest steht: Dass Wis- einer Formel mit vielen Unbekannten.
Thema gehabt als die restlichen Teilneh- senschaftler heute überhaupt Erkennt- PH
mer, dann hätte er sich nicht angepasst. nisse darüber haben und dazu so um-
Ebenso zeigten spätere Untersuchungen, fassend forschen, verdanken sie Wegbe-
dass Menschen weniger konform reagie- reitern wie Milgram, Zimbardo, Sherif
ren, wenn es um Themen geht, die ihnen und Asch. Das wissen auch die Autoren Literatur
persönlich etwas bedeuten. des Revisiting-Buches: „Wir können nur Joanne R. Smith, S. Alexander Haslam: Social Psy-
Ebenso scheinen weitere Eigenschaf- so weit sehen, weil wir auf den Schultern chology – Revisiting the classic studies. Sage, Lon-
ten bedeutsam. Jetten und Hornsey zi- von Giganten stehen.“ don 2012

P S YC H O L O G I E H E U T E Mai 2 0 1 4
76 Literatur und Psyche

„Hier bin ich!


Ihr müsst mit mir
rechnen!“
Ein Gespräch mit der Schriftstellerin
Felicitas Hoppe über das reale
und das fantasierte Leben
Literatur und Psyche 77

W
er hätte sich nicht schon die ben. Jetzt, da ich dies schreibe, bin ich
Frage gestellt: Was wäre aus erst zehn Jahre alt und habe trotzdem
mir geworden, wenn …? schon eine Menge erlebt“, etwa so steht
Felicitas Hoppe spinnt mit ihrem Roman es da, in einer ganz deutlichen, klaren
Hoppe diese Frage aus. Darin nimmt sich Schrift. Der Wunsch, der eigenen Person
die Schriftstellerin alle literarischen Bedeutung zu geben, war offensichtlich
Freiheiten und erfindet sich eine zweite, schon vollkommen vorhanden. Gleich-
andere Kindheit und Jugend. Eigentlich zeitig natürlich das Wissen, so richtig
hat Felicitas Hoppe vier Geschwister, viel zu bieten hab ich nicht; darum bricht
aber in ihrer fiktiven Autobiografie ist das Ganze dann auch ab. Einerseits ist
sie Einzelkind und wächst
allein mit ihrem – meist mit
seinen Erfindungen be- „Der Vorwurf, dass das
schäftigten – Vater in Ka-
nada auf. Vater und Tochter Erzählen nur aus dem Erleben
verstehen sich vorzüglich
und lassen sich alle Freiheit,
komme, hat mein Schrift-
die sie brauchen. So entwi- stellerdasein lange begleitet“
ckelt die Roman-Felicitas
mit Hingabe, Neugier, Tat-
kraft und ungebremster Energie ihre dieser kindliche Versuch eine unfreiwil-
eigenen Interessen. Sie spielt leiden- lige Parodie auf das Schreiben von Au-
schaftlich Eishockey, schreibt erste Tex- tobiografie: Das hat ja auch was mit
te, erfindet großartige Produkte im Wichtigtuerei zu tun. Trotzdem beein-
Rahmen des Handarbeitsunterrichts druckt mich heute dieses „Hier bin ich!
und hat das absolute Gehör. Felicitas Ihr müsst mit mir rechnen“. Da meldet
Felicitas Hoppe, geboren 1960
traut sich alles, und sie traut sich auch sich jemand zu Wort, der für sich in An-
in Hameln, lebt als freie Schrift- alles zu. Als Vater und Tochter nach spruch nimmt, nicht nur über sich zu
stellerin in Berlin – wenn sie nicht Australien aufbrechen, kristallisiert sich sprechen, was schon der Gipfel ist, son-
gerade auf ausgedehnten Reisen
ist. Sie schreibt Erzählungen und
heraus: Felicitas will Dirigentin werden. dern auch über die Welt. Und zwar ob-
Romane. 1996 erschien ihr Debüt Wir sehen sie beherzt den Taktstock wohl dieses Ich eigentlich nichts erlebt
Picknick der Friseure, 1999, nach schwingen, aber mit der Pubertät und hat. Der Vorwurf, dass das Erzählen nur
einer Weltreise auf einem Fracht-
dem Heranwachsen wachsen auch Zwei- aus dem Erleben komme, hat mein
schiff, der Roman Pigafetta, 2003
Paradiese, Übersee, 2004 Verbre- fel und Reflexion. Zum Schluss landet Schriftstellerdasein lange begleitet. An
cher und Versager. 2006 folgte sie bei ihrem ersten Buch, und hier be- diesem frühen Beispiel sieht man aber,
der Roman Johanna und 2012 die gegnet die fiktive der wirklichen Felici- dass das Ich sich im Akt des Erzählens
vielbeachtete fiktive Autobiografie
F O T O S : P E T E R P E I T S CH / P E I T S CH P H O T O .CO M

Hoppe. Für ihr Werk wurde Felici-


tas. Traumleben und wirkliches Leben konstituiert: Indem ich erzähle, mar-
tas Hoppe mit zahlreichen Preisen sind eins, denn wir sind, was wir sind, kiere ich meine Existenz.
ausgezeichnet, unter anderem mit auch wenn wir uns ein anderes Leben P H Eine Literaturkritikerin hat Ihnen
dem Aspekte-Literaturpreis
(1996), dem Ernst-Willner-Preis im
erfinden. bescheinigt, die „einzige deutsche
Bachmann-Literaturwettbewerb P S YC H O L O G I E H E U T E Frau Hoppe, Schriftstellerin mit einer glücklichen
(1996), dem Brüder-Grimm-Preis Ihre erste Autobiografie haben Sie schon Kindheit“ zu sein. Oft gibt das Elend
(2005), dem Bremer Literaturpreis
als Zehnjährige geschrieben. Wie kommt der eigenen Kindheit den Anlass, nach
(2007) und dem Büchnerpreis
(2012). Ihre Bücher sind in zahlrei- man als Kind auf so eine Idee? einer kreativen Form der Bewältigung
che Sprachen übersetzt. F E L I C I TA S H O P P E Diese Autobiogra- zu suchen. Das trifft auf Sie nicht zu?
fie ist natürlich sehr kurz. „Ich, meine H O P P E Das Bedürfnis zu schreiben ist
Familie, meine Wünsche und mein Le- unabhängig davon, ob man glücklich

P S YC H O L O G I E H E U T E Mai 2 0 1 4
78 Literatur und Psyche

Weinend fragte die Mutter der Autorin:


„Ist denn dein Leben wirklich so schrecklich?“

oder unglücklich ist. Zwar setzen sich im Hinblick auf die emotionale Bewer- wieder herein, wie sie am Anfang war.
viele Autoren mit belastenden Situatio- tung von Ereignissen. Manchmal habe Es ist mir selbst erst viel später aufge-
nen, die sie erfahren haben, auseinander, ich das Gefühl, als ob meine Geschwis- fallen: Dieses Kind wird gar nicht er-
aber man darf daraus nicht im Umkehr- ter und ich nicht im selben Haus aufge- wachsen! Das Leben erscheint als eine
schluss ableiten, dass das Unglück die wachsen wären. Deshalb ist das „Unter- Aneinanderreihung von Abenteuern, es
Wurzel aller Kreativität sei. Nicht alle nehmen Autobiografie“ extrem unzu- gibt auch den Wunsch, irgendwo hin-
unglücklichen Menschen schreiben. verlässig und ergiebig zugleich. Weil es zukommen, etwas zu leisten, zu wach-
Und nicht alle glücklichen tun es nicht. gewissermaßen das flankiert, was all- sen, und gleichzeitig ist da eine Absage
Allerdings erinnere ich mich, dass mei- täglich passiert: das Umerzählen und an dieses Wachstum. Ich glaube, die
ne Mutter eines Tages nach der Lektüre Neuerzählen und Uminterpretieren der Vorstellung von Entwicklung, die uns
meiner frühen Geschichten weinend zu eigenen Geschichte. Wenn man Kraft der Bildungsroman vermittelt, dass das
mir kam und mich fragte: „Ist denn dein und Zeit hätte, alle fünf bis zehn Jahre Leben irgendwohin führt, sich vollen-
Leben wirklich so schrecklich?“ Ich ha- eine Autobiografie zu schreiben, käme det, ist eine Illusion. Ich sehe das Leben
be sie dann beruhigt, alles sei bestens, man zu sehr interessanten Ergebnissen. – und das meine ich überhaupt nicht
aber in der Literatur müsse Unglück vor- Wobei sich bestimmte Grundmuster negativ – als ein ständiges Versuchen
kommen, sonst hätte man ja nichts Auf- wohl wiederfinden würden. So wie ver- und Wiederangehen, und was mich ganz
regendes zu erzählen. Drama wird eben schiedene Bücher eines Autors sehr ver- persönlich betrifft, so habe ich das Ge-
durch Unglück erzeugt. So kamen denn schieden sein können und sich doch in fühl, mein Schreiben ist ein Versuch,
auch all die traurigen Figuren in meine irgendeiner Weise ähneln. meine Kindheit zurückzugewinnen.
Kurzgeschichten. P H Eine Autobiografie umreißt nach Das ist zwar nicht möglich, aber ich
P H Viele Jahre nach Ihrer ersten Auto- unserer Vorstellung ein Lebensganzes. möchte ganz stark dorthin zurück, wo
biografie haben Sie eine zweite geschrie- Sie schreiben schon in der Mitte des Le- es begonnen hat, zu der Autobiografie
ben, den Roman Hoppe. Ein Buch, mit bens eine Autobiografie, die sich per se der Zehnjährigen, zu diesem Selbstbe-
dem Sie sich ganz kühn eine Autobio- noch nicht vollenden konnte. wusstsein – sich hinzustellen und zu
grafie erfinden. Dieses Buch regt zu Fra- H O P P E Das Buch endet dort, wo die sagen: „Seht, da bin ich! Ich spreche!“
gen an: Wie faktentreu kann eine Au- Felicitas der Autobiografie in ihr Schrift- Diese Fähigkeit wächst ja interessanter-
tobiografie überhaupt sein? Was sind stellerleben eintritt. Eine Rundung gibt weise nicht mit dem Erwachsenwerden,
Erinnerungen? es nicht in dem Sinne, wie wir uns eine sondern man verliert sie. Das ist für mich
H O P P E Wir berufen uns zwar immer Rundung unseres Lebens wünschen, selbst die Lehre aus dem Hoppe-Buch.
wieder gern auf Fakten und Daten, aber aber es gibt eine Kreisbewegung. Das Ich sehe den Verlust, und er lässt sich
ich habe noch niemanden getroffen, der Buch beginnt, als Felicitas fünf Jahre alt nicht rückgängig machen.
sich durch einen tabellarischen Lebens- ist, und es endet mit der Vision eines P H Das Kind Felicitas ist das Begeis-
lauf hinreichend charakterisiert fühlt. Museumswärters in einer Porträtgale- ternde an Hoppe. Der Mut, auch der
Andererseits gehört die erzählte Erin- rie, der ein fünfjähriges Mädchen mit Übermut, die Kraft und Lust des Kindes,
nerung zum Unzuverlässigsten, das man einem Adventskranz auf dem Kopf sieht, sich die Welt anzueignen – im Vertrau-
sich denken kann. Da ich vier Geschwis- das die Reihe dieser Bilder abschreitet. en auf sich selbst. Man möchte es sofort
ter habe, kann ich die Probe aufs Exem- Das heißt, Felicitas kommt am Ende des Felicitas nachtun, alle inneren Zweifel
pel immer wieder machen – vor allem Buches durch die Hintertür genauso alt über Bord werfen und endlich machen,
Literatur und Psyche 79

was man schon immer wollte und sich


nicht traute. Das könnte gerade für Frau-
en eine Ermutigung sein, die sich oft als
unvollkommen und, wenn sie allein
sind, als unvollständig empfinden.
H O P P E Ich erlebe eher, dass das Buch
von manchen Frauen als Affront gesehen
wird. Obwohl die Felicitas im Buch ja
weiß Gott keine Superwoman ist. Sie
sagt nur einfach:„Hier bin ich, das will
ich, das mach ich.“ Das finden einige
Leserinnen offenbar zu selbstbezogen.
P H Vielleicht hat das damit zu tun, dass
Felicitas weibliche Rollenbilder über-
haupt nicht kümmern?
H O P P E Ja, es ist erstaunlich, wie sehr
wir noch immer in diesen Mustern den-
ken. Ich sehe oft bei Frauen einen Selbst-
hass, eine Selbstverachtung, eine Angst
vor ihrem Potenzial, obwohl sie wissen,
dass sie ungeheure Qualitäten haben. In
Hoppe heißt es an einer Stelle, es ist für
Felicitas egal, ob jemand Mann oder
Frau ist, es gilt eine geradezu ungeheu-
erliche Parität. Ich weiß, dass es diese
Gleichheit in unserer Gesellschaft nicht
gibt, aber ich habe immer einen Wider-
stand gegen diese Geschlechterfrage ge-
habt, weil sie von einer ursächlichen
Unterschiedlichkeit ausgeht und einer
potenziellen Minderwertigkeit. Mir
„Ich muss schnell schreiben, Zweifel einholen. Denn
dann werde ich aufhören
aber geht es um die Wesenhaftigkeit, um ehe mich die Zweifel einholen. zu schreiben und aufhören,
die Aussage: Ich bin ein Mensch. Ich bin die zu sein, die ich sein
dieses Wesen, mit meinen Begabungen Denn dann werde ich könnte. Es ist ein extrem
und meinen spezifischen Möglichkei- anstrengender Kampf, aber
ten. Dass wir der Ergänzung bedürfen
aufhören zu schreiben“ aus diesem Hinfallen und
durch andere, auf vielfältige Weise, das Aufstehen werden auch pa-
ist klar, aber das heißt ja nicht, dass man thetische Funken geschla-
selbst erst existiert durch einen anderen! gentin. Dann aber schleicht sich mit der gen. Die Ehrlichkeit des Buches ist doch
Wenn ich im Buch sexuelle Fantasien, Pubertät eine andere Seite ein – Zweifel, ein Beweis, dass man durch die Fiktion
Beziehungsquerelen und -qualen aus- Einsamkeit, Gefühle des Scheiterns. an einen Kern herankommt, an den man
gebreitet hätte, könnten sich Frauen, die Diese fiktive Biografie ist schonungslos direkt nie herangekommen wäre. Da
sich hauptsächlich über ihre Beziehun- ehrlich. Sie erlaubt eine extrem nahe Be- sieht man doch, was bei aller Qual im
gen definieren, vielleicht leichter mit gegnung mit Ihnen. Schreiben möglich ist!
Felicitas identifizieren. H O P P E Das Schreiben war durchaus P H Landet man, wenn man sich eine
P H Dass es darum gerade nicht geht, ein schmerzhafter Prozess. Die von Ih- andere als die eigene Lebensgeschichte
verstört. Das ist der wahre Tabubruch nen geschilderte Gegenbewegung spüre fantasiert, doch wieder bei sich selbst?
dieses Buchs. Aber ich möchte noch auf ich seit meiner Kindheit. Damals hab Weil auch die Fantasien an den eigenen
eine gegenläufige Bewegung zu sprechen ich sie noch ziemlich locker weggesteckt, Charakter gebunden sind?
kommen, die es im Buch gibt. Als Kind dann wurde sie stärker. In mir sind Vor- H O P P E Ich würde sogar noch weiter-
in Kanada will Felicitas Eishockeyspie- wärtsdrang und zögernder Zweifel. Ich gehen und sagen, man kann überhaupt
lerin werden, später in Australien Diri- muss schnell schreiben, ehe mich die nichts erfinden. Die Fantasie ist ja keine

P S YC H O L O G I E H E U T E Mai 2 0 1 4
80 Literatur und Psyche

Die Menschen unterschätzen die Lust des Erkennens.


Der „innere Frieden“ beruht nicht auf Erfolg, sondern auf Erkenntnis

eigene Welt, sondern nur das Mittel, mit begriffen, was mir hier widerfahren ist sind Größenfantasien ziemlich in Miss-
dem wir die Dinge betrachten. Ich bin auf dieser Welt? kredit geraten.
in jedem meiner Bücher sehr stark ent- P H Man hat Ihnen schon Größenwahn H O P P E Ich sehe einen riesigen Unter-
halten, so fantasievoll sie auch sein mö- unterstellt. Aber Hoppe ist ja geradezu schied zwischen Narzissmus und einer
gen, ich kann mich nicht verleugnen. das Gegenteil einer „Traumbiografie“, gesunden und unerlässlichen Selbstlie-
Das ist auch tröstlich: Was immer ich wie wir sie uns gern für Stars denken. be. Die extreme Ichbezogenheit ist ja der
erzähle, das bin ich. Sie finden aber trotzdem, dass man sich Wunsch, den eigenen Mangel zu kom-
P H Dann erübrigt sich die Frage, in hier und da „selbst die Krone aufsetzen pensieren durch gesteigerte Aufmerk-
welcher Autobiografie Sie sich wohler muss, auch wenn man nicht weiß, wie samkeit. Und wenn ich die nicht bekom-
fühlen – in der wirklichen oder der fik- krönen geht“? me, muss ich sie auf mich selbst richten.
tiven? H O P P E Ja, absolut. Das sieht man ja Heute haben ja alle irgendwelche Prob-
H O P P E Ja. Das Buch räumt auf mit der bei den Kindern. Kinder werden oft leme, wegen derer sie zum Beispiel die-
Vorstellung, dass wir uns ein besseres kleingemacht, gedemütigt. Aber im ses oder jenes nicht essen dürfen. Diese
Leben erfinden können, und sogar mit Normalfall machen die sich nicht klein, Menschen haben etwas, was sie als Män-
sondern steigen auf den gelwesen eben gerade wieder auszeichnet
Stuhl, strecken die Arme und hervorhebt. Das ist mir zum Beispiel
nach oben und zeigen, dass vollkommen fremd, die Art, sich wich-
„Wenn meine Mutter sich sie groß sind. Das ist ein tig zu tun durch die eigene Bedürftigkeit.
mal verkochte, sagte sie, Wunsch nach Expansion. Das ist nicht Selbstliebe und auch nicht
Später sieht man dann eher Selbstkrönung. Das ist der Unterschied
das sei ein neues Rezept. – vor allem bei Frauen wie- zum Selbstausdruck, der souverän ist
der – die Deformation, weil und auch unabhängig und keines stän-
So muss man es machen!“ sie sich immerzu zurück- digen Zuspruchs bedarf. Der Selbstkrö-
nehmen. Diese Selbster- ner braucht nicht dauernd das Publikum
niedrigung, die man so oft und dessen Anerkennung.
der Vorstellung, dass es ein besseres Le- beobachtet! Der Prototyp ist die Frau, P H Ich möchte noch kurz auf das Mo-
ben gäbe. Hoppes Leben im Buch ist die bei einer Einladung die Tür aufmacht tiv des Reisens kommen. Sie sind in Hop-
nicht schöner und nicht interessanter und sagt, während man die Blumen aus- pe auf verschiedenen Kontinenten un-
als mein wirkliches. Das wäre auch gar packt: Es tut mir leid, heute ist wieder terwegs und haben auch in der Realität
nicht mein Ziel. Ich will nicht etwas er- mal alles schiefgegangen … Dann weiß auf einem Schiff die Welt umrundet.
reichen, sondern etwas erkennen. Das man, jetzt muss man beteuern, dass das Warum ist Reisen wichtig?
sind zwei Paar Schuhe. Die Menschen Essen trotzdem toll ist. Da möchte ich H O P P E Das Reisen passt gut ins Bild
unterschätzen die Lust und die Schön- auf der Schwelle umdrehen. Wenn mei- der Bewegung und Gegenbewegung. Für
heit des Erkennens. Der sogenannte „in- ne Mutter sich mal verkochte, sagte sie, mich ist das Schönste am Reisen das Zu-
nere Frieden“ beruht nicht auf Erfolg, das sei ein neues Rezept. So muss man rückkommen. Zu Hause sein gibt es nur,
sondern auf Erkenntnis. Das ist übrigens leben und arbeiten! Das hat nichts mit weil es auch ein Wegsein gibt. Die Con-
mit viel Arbeit und Risiko verbunden. Selbstüberschätzung zu tun. tainerschiffreise habe ich eigentlich nur
Aber das Einzige, was am Ende bleibt. P H Und auch nicht mit Narzissmus? gemacht, weil man mich damals fragte,
Habe ich auch nur ein Gran von dem In unserer narzisstischen Gesellschaft was ich mit dem Literaturpreisgeld, das

PSYC H O LO G I E H EUTE M a i 2014


Literatur und Psyche 81

ich gewonnen hatte, machen wolle. Ich PH Sie haben einmal gesagt, eine Ihrer ich mich sehen. Ich bin nämlich – vom
habe geantwortet, ich reise um die Welt. Fantasien fürs Alter sei, Wirtin zu sein Erkenntnisdrang abgesehen – kein ge-
Da musste ich das dann. Das ist mein und zu sagen: „Kommt rein, macht’s triebener Mensch und auch eine große
Selbstüberlistungsprogramm – etwas euch gemütlich. Ihr könnt hier machen, Müßiggängerin und Zeitverschwende-
behaupten, um es tun zu müssen. Aber was ihr wollt.“ In Hoppe scheint die gan- rin, obwohl ich nach außen einigerma-
jetzt merke ich eine starke Gegenbewe- ze Welt für Felicitas so ein riesiges Wirts- ßen effizient wirke. Bei mir zu Hause,
gung. Als man mich nach der Verleihung haus zu sein, in dem man sich umtun in meiner Wohnküche, steht ein großer
des Büchnerpreises fragte, ob ich jetzt kann, das man erforschen, erobern und Tisch, an dem viele Leute, dunkle und
wieder auf Reisen gehe, sagte ich: Nein, in dem man sich – wenigstens vorüber- helle Geschichten gleichermaßen ihren
ich kauf mir ein Haus am Genfer See. gehend – niederlassen und tun kann, Platz haben. Mein Klavier steht übrigens
Das ist natürlich rührend angesichts was man will. Felicitas Hoppe als „Frau auch da. Dort finden öfter Küchenfeste
meiner finanziellen Verhältnisse, aber Welt“ – das ist doch eine schöne Grö- statt, mit wenig Aufwand. Und das ist
da äußert sich jetzt doch ein Sesshaftig- ßenfantasie: Als Schriftstellerin diri- für mich eigentlich der Ort des Glücks.
keitswunsch. Das Haus als Besitz inte- giert man die Welt nach eigenen Vor- Der Sehnsuchtsort. Ja, darüber sollte ich
ressiert mich nicht, es geht eher um das stellungen, ist dabei faktisch aber allein. mein neues Buch schreiben. Ich nehme
Thema Gast und Gastgeber. Es ist ex- Die Wirtin legt den Taktstock aus der das jetzt mal als Zeichen, was Sie mir
trem anstrengend, Gast zu sein. Und da Hand. Sie ist einfach da, von Freunden da anbieten. Warum sollte man keine
ich ein höflicher Mensch bin, ist Gast umgeben. Dichtend, aber nicht allein. Wirtin sein dürfen? PH
sein für mich immer auch ein Hemm- H O P P E Toll. In dem Bild „Frau Welt“ ■ Mit Felicitas Hoppe

nis. Es schränkt die Freiheit ein. liegt Freiheit und Sättigung. So könnte sprach Dörthe Binkert

Endlich mal einer,


der mitdenkt:
Ihr Bauch.
Jetzt im Handel. Oder direkt bestellen
Per Telefon: 040/5555 78 00
Via Internet: www.stern.de/gesundlebenshop

www.stern.de/gesundleben
82

Buch & Kritik


R E DA K T I O N : K AT R I N B R E N N E R - B E CK E R

„Wir sind nicht mehr zu retten“


Zwei Bücher widmen sich der Zukunft der Erde und der Frage, ob wir einfach zu viele sind

Wie durchbricht man die Mauer aus Wissenschaftler. Ich leite ein Labor in an sollten Sie denken, wenn Sie es sich
Gleichgültigkeit oder Desinteresse? Wie Cambridge, England. Dort erforsche ich das nächste Mal im Schlafanzug auf dem
erreicht man ein mit Katastrophenmel- mit einer Reihe herausragender junger Sofa gemütlich machen und Schokolade
dungen übersättigtes und emotional ab- Wissenschaftler insbesondere komple- futtern.“
gestumpftes Publikum? xe Systeme, darunter das Klima und di- Man kann diesen pessimistischen
Der Suhrkamp-Verlag buhlt mit einer verse Ökosysteme, sowie den Einfluss, Warnruf in wenigen Sätzen zusammen-
außergewöhnlichen Aufmachung um den wir Menschen auf die Erde als Gan- fassen: Wir sind zu viele. Und weil wir
Aufmerksamkeit: Schwarze Buchdeckel, zes haben.“ Kann ein solcher Experte zu viele sind, beschleunigt sich der Kli-
große rote Lettern mit der Aufschrift: irren? Das Kalkül besteht wohl darin, mawandel und in dessen Folge Wasser-
Zehn Milliarden. Auf jeder Seite nur we- dass ein Autor mit dieser Reputation knappheit und Artensterben; werden
nige Sätze. Dazwischen eindringliche glaubt, auf eine gründliche Argumen- alle Ressourcen knapp, bricht das Öko-
Bilder, manchmal surreale Schwarz- tation verzichten zu können. system zusammen.
Weiß-Fotos, etwa von Hungerrevolten Geboten wird eine knappe Fakten- Was uns retten könnte, sei eine radi-
oder Schrottplätzen. sammlung mit gelegentlich anmaßen- kale Verhaltensänderung und – man
Im Text versucht der Autor Stephen den Schlussfolgerungen: „27 000 Liter höre und staune! – ausgerechnet die
Emmott gleich zu Beginn, seine Leser Wasser werden ungefähr benötigt, um Kernenergie. Wir „müssten auf ein gi-
ein wenig einzuschüchtern: „Ich bin ein Kilo Schokolade herzustellen. Dar- gantisches Programm zur nuklearen
Buch & Kritik 83

Stephen Emmott: Zehn Milli-


arden. Aus dem Englischen
von Anke Caroline Burger.
Suhrkamp, Berlin 2013,
204 S., V 14,95
Energieerzeugung umstellen, und zwar
auf der Stelle und weltweit.“ Alan Weisman: Countdown.
Hat die Erde eine Zukunft?
Letztendlich aber sieht Emmott Aus dem Amerikanischen
schwarz: „Ich glaube, wir sind nicht von Ursula Pesch und Werner
Roller. Piper, München 2013,
mehr zu retten … Ich bin der Überzeu- 573 S., V 24,99
gung, dass wir die Situation, in der wir LESEPROBE
uns jetzt befinden, mit Fug und Recht
einen Notfall nennen können – einen
beispiellosen Notfall planetarischen
Ausmaßes … Egal aus welchem Blick-
winkel man die Sache betrachtet: Ein rungswachstums dargestellt. Denn so- völkerungskontrolle – sei, die Rechte der
Planet mit zehn Milliarden Menschen wohl für die Palästinenser als auch die Frauen zu garantieren und Bildung und
wird der reinste Albtraum sein.“ jüdisch-ultraorthodoxen Charidim sei soziale Gerechtigkeit für alle zu ermög-
Ist dies Alarmismus, eine übertrie- Kindersegen eine Möglichkeit der lichen. Und wenn die Bevölkerungszah-
bene Warnung? Ohne Zweifel ist unser Selbstbehauptung. Bei gleichbleibender len sinken – wie dies in Japan der Fall
Ökosystem bedroht, verschwenden wir Bevölkerungsentwicklung würde es sei –, „dann gibt es vielleicht neue Chan-
Ressourcen in gigantischem Ausmaß Mitte dieses Jahrhunderts 21 Millionen cen, zu Wohlstand zu gelangen, die wir
und zerstören so die Lebensgrundlage Israelis geben. Aber schon jetzt zeichnen in dem zwanghaften Bestreben, immer
dieses Planeten. Es steht auch jedem Au- sich nach Ansicht Weismans Katastro- weiter zu wachsen, verpasst haben“.
tor zu, die Menschheit aufrütteln zu phen ab, beispielsweise bei der Wasser- Es zeigt sich, dass Weisman kein stu-
wollen. Die Frage ist aber, ob die Ana- versorgung. Die Hälfte dieser überle- rer Verteidiger einer These vom Welt-
lyse stimmt. Ist wirklich die „Bevölke- bensnotwendigen Ressource werde in untergang durch Überbevölkerung ist.
rungsbombe“ (so ein Bestseller des Un- der Landwirtschaft verausgabt, „die nur Er lässt auch Gegenargumente gelten,
tergangspropheten Paul Ehrlich von mit einem Prozent zum Nationalein- etwa wenn er auf den übermäßigen Kon-
1968) der Grund allen Übels? kommen beiträgt“. sum in der westlichen Welt zu sprechen
Dieser Meinung scheint zunächst Der Amerikaner wirkt glaubwürdig, kommt.
auch Alan Weisman zu sein. Auch er er spart auch nicht mit Kritik am Wirt- Gelingt es den Autoren, die Mauer
schlägt Alarm. Schon die Zeittaktung schaften und der Lebensweise in seinem aus Gleichgültigkeit oder Desinteresse
im Titel – Countdown – lässt diesen Land. „Die USA sind nicht nur ein un- zu durchbrechen? Der Weckruf Stephen
Schluss zu. Auch im Text spitzt der Au- geheuerlicher Umweltverschmutzer, sie Emmotts hinterlässt ein Gefühl der
tor zu: „Entweder beschließen wir, das wachsen auch noch weiter, und das Hilflosigkeit, und er wirkt bei genauer
Bevölkerungswachstum in den Griff zu schneller als jedes andere Industrieland. Betrachtung manipulativ. Sind wirklich
bekommen – oder die Natur wird es für Jede Diskussion über eine Reduzierung alle gleich verantwortlich, wie er sugge-
uns tun, in Form von Hungersnöten, der Bevölkerungszahl, die die USA nicht riert? Nach einer Studie der Vereinten
Durst, Klimachaos, zusammenbrechen- mit einschließt, wäre sinnlos – und ras- Nationen besitzt das reichste Prozent der
den Ökosystemen und Kriegen um sistisch.“ Weltbevölkerung 40 Prozent des Welt-
schwindende Ressourcen, die unsere Die Rettung für den Planeten sieht vermögens, die ärmeren 50 Prozent ha-
Zahl schließlich dezimieren.“ er in der Familienplanung – „ein weni- ben dagegen nur ein Prozent.
Aber die Reportagen seiner Reisen ger belasteter Begriff für Geburtenkon- Reichtums- und Machtverteilung
durch die Kontinente wirken nicht auf- trolle“. Dieser Weg berge auch Gefahren spielen jedoch in seinem Buch keine Rol-
geregt, eher nachdenklich, scharf beob- in sich: „Wie alles andere, was Menschen le. Dagegen macht uns Alan Weismans
achtend, lebendig. Am Beispiel Israels tun, kann sie missbraucht werden – und fundierte Argumentation nachdenklich
mit derzeit zwölf Millionen Einwohnern wurde das ja auch schon wie im Fall der – eine Voraussetzung für kluges Han-
werden die Ursachen und Folgen eines Rassenhygiene.“ Ein Schlüssel für Fa- deln. ■ Christine Weber-Herfort

politisch-religiös motivierten Bevölke- milienplanung – im Gegensatz zur Be-

P S YC H O L O G I E H E U T E Mai 2 0 1 4
84 Buch & Kritik
Antwor t ite pe r Fa x an 030
- 209 166 413
Se nd en Sie die se Se
st an un ten ste he nd e Ad res se!
od er pe r Po

Wirtschaftspsychologie
aktuell Böse Moderne!
Leadership und Persönlichkeit Wolfgang Martynkewicz gibt Einblick in die Innenwelt
www.wirtschaf
tspsychologie-a
ktuell.de
einer von Erschöpfung geprägten Moderne
1|2014

Zeitschrift für
Personal und Manag
ement
Schwerpunk
t
Leadership
& Persönlich
chk
kei
ke
eiit Das „Erschöpfungsgefühl“ wurde be- Im Gefolge des großen „Untergangs-
Welche
Welc
elche Rolle

reits vor einiger Zeit in die ICD, die Klas- philosophen“ Oswald Spengler gab es
Motive
Führung spielen e für wirksa
Fü w
wirksam
ame
me e
en
Weshalb Einfluss
Ein ssn
Einflus

Ihr Vor
Macht ist snahm
nahme
ahme
e besser
besser als
als
Wiee man
m n die
Intellige
Inte
ntellige
die emotio
em
emo

il:
mottion
onale
nale
ale
te G esch
S c hw e n k :
igenz
nz ver
verbess
ve
erb
besssert
bessert
ert
Warum
Waru

Was
rum
m vi
ablehne
able
blehn
hne
Wass wi
Füh
hru
en Sie sp
viele
ele
e Manage

wirr von
Führun
ungs
ng
Manag
M ager
Man

me hr n
gerr Coac

are
von indisch
vo
gskräft
in
ndis
skrräft
ften
en
Coaching

ische
n ler
hen
en
lernen
ernen können
kö „Besse erpunk t
sifikation psychischer Störungen der seit der Jahrhundertwende zahllose
Foru
Forum
um
als r mana
Welche
W ellch
psycho
ps
hess Image
syccho
Wie
Im
Ima

e dysfunk
irke
dysf
dy
wirken
w ken
sfun
n un
mag
ologie
lo
ogie
unkt
und
ktio
30 % !
ge Wirtsch
e hat
ha
at
Wirt

tionale
nd wa
ona
rtschaft

ale
wass d
e Ged
afts-
fts-

Gedank
s

edanke
dagege
ag
agege
egen
en
n
n hilft
hi
gen“ Weltgesundheitsorganisation, aufge- Überlegungen zu den Ursachen dieser
nommen. Als „Neurasthenie“ existiert Zeitkrankheit. Diese lesen sich wie eine
es allerdings schon sehr viel länger, näm- Art „Handbuch der Moderne“: Religi-
Gerade ist das neue Themenheft „Leadership lich seit 1869. Es ist nicht – wie das Burn- onslosigkeit, der Wegfall von Normen
und Persönlichkeit“ erschienen. Darin wird outsyndrom – einem Übermaß an An- und Sitten, sexuelle Haltlosigkeit und
gezeigt, wie Führung funktioniert, welches strengung geschuldet, sondern ent- deren Gegenteil, dadurch hervorgeru-
Coaching Managern nutzt und wie die Per- springt, fast im Gegenteil, eher einer fener Alkoholismus und Erbkrankhei-
sönlichkeit widerstandsfähiger wird. Diese Unterforderung, einer sehr geringen ten, aber auch Lärm, Übererregung und
Ausgabe und die nachfolgende „Potenziale er- geistigen oder körperlichen Anstren- Reizmangel, falsche Ernährung oder gar
kennen“ erhalten Sie jetzt im Schnupper-Abo. gung und ist auch durch Erholung nicht der schädliche Einfluss der Juden (!)
zu verbessern. Es gilt als eine „Zeit- wurden als Ursachen diskutiert. Dass
Wenn Sie bis zum 31. Mai 2014 bestellen, krankheit“. sich auch die Nazis der gängigen Kul-
schenken wir Ihnen zusätzlich die Ausgabe Der Kulturhistoriker Wolfgang Mar- turkritik bemächtigt haben, wird eben-
„Besser managen“. tynkewicz ist dem Phänomen nachge- falls verzeichnet.
Das Buch ist voll von außerordentlich
Inhalte von „Leadership Inhalte von „Potenziale interessanten Schilderungen der Zeit vor
und Persönlichkeit“ erkennen“
• Motive und Fähigkeiten • Potenziale von Führungs-
dem Ersten Weltkrieg sowie der Zwi-
zur Führung kräften Wolfgang Martynke- schenkriegszeit. Gut und flüssig ge-
wicz: Das Zeitalter
• Resilienz bei der Mitarbeiter- • Auszubildende richtig schrieben, wird dem Leser die damalige
der Erschöpfung. Die
führung auswählen
Überforderung des Diskussionskultur sehr lebendig – und
• Führung durchs Studium • Leistung und Kompetenz Menschen durch die
lernen • Belastende Kundenkontakte Moderne. Aufbau, siehe da: In etwas anderem Gewand stellt
• Coachingresistente Manager Berlin 2013, 427 S., sie sich nicht gar so sehr anders dar als
V 26,99
die Kulturkritik unserer Zeit. Auch die
Ja, ich bestelle noch heute
mein Schnupper-Abo: Rezepte sehen ähnlich aus: Neben rich-
Senden Sie mir die beiden Ausgaben „Leadership und Persönlich-
tiger Ernährung und Fitness sind es vor
keit“ und „Potenziale erkennen“ (erscheint am 26. Juni 2014) zum allem die Appelle an die „innere Welt“,
Vorteilspreis zu je € 14,50 inkl. MwSt. zu. Ich spare gegenüber
die sich verändern muss. Dazu gehören
dem regulären Heftpreis mehr als 30% und die Versandkosten
übernimmt der Deutsche Psychologen Verlag für mich. Wenn Sie gangen und zeigt an vielen Beispielen, die Aufgabe des Narzissmus und die
bis 7 Tage nach Erhalt der letzten Ausgabe nichts von mir hören, in welchen Facetten sich die „Erschöp- Hinwendung zur Gemeinschaft, Medi-
möchte ich die Zeitschrift im Jahresabo beziehen (4 Ausgaben zu
je € 18,-). Als Geschenk erhalte ich zusätzlich die Ausgabe „Besser
fung“ im Laufe der Jahrzehnte gezeigt tation und andere östliche Philosophien,
managen“, wenn ich bis zum 31. Mai 2014 bestelle. hat und mit welchen Mitteln man da- Esoterik und neue Religiosität – bunt
gegen angehen wollte. Große Persön- gemischt und manchmal auch Gegen-
Organisation/Firma/Name
lichkeiten der Politik und Geistesge- sätzliches vereinigend.
schichte wie etwa Bismarck, Nietzsche, Was aber will der Autor mit seinem
Straße Cosima Wagner, Kafka, Rilke und Tho- Buch sagen? Wenn er zur Gegenwart
mas Mann werden in ihren Selbstbe- kommt, wird die Aussage dünn. Die di-
PLZ, Ort kundungen sowie in den Aussagen von gitale Welt sei eine Gefahr für unser
Zeitgenossen zitiert und analysiert, wo- Denken und führe zu Kontrollverlust
E-Mail/Telefon
bei die Müdigkeit und Lustlosigkeit, die und Entsinnlichung. Dabei bleibt es. Das
141601

Datum, Unterschrift
diese Personen in sich verspürten, im Fazit: Man möge nicht mit individuellen
Zentrum stehen. Therapien gegen die „Erschöpfung“ an-
Deutscher Psychologen Verlag GmbH
Am Köllnischen Park 2 · 10179 Berlin
Tel. 030 - 209 166 411 · Fax 030 - 209 166 413
wp@psychologenverlag.de · www.wirtschaftspsychologie-aktuell.de
Buch & Kritik 85

ERSTE HILFE BEI PANIKATTACKEN


Die in München als Psychotherapeutin tätige Heilpraktikerin Bettina Beck
hat ein Hörbuch zum Thema Panikattacken herausgebracht. Der Text ist
knapp gehalten – die CD hat eine Gesamtlaufzeit von 52 Minuten – und
wird von Bettina Beck selbst vorgetragen. Die Lesung hat etwa so viel Span-
nung wie eine Stunde im Konfirmandenunterricht. Der Hörer kann sich
noch einige PDF-Dateien mit Anleitungen zur Selbsthilfe von der CD her-
unterladen. Was Bettina Beck über die Symptome und die physiologischen
Abläufe bei einer Panikattacke zu sagen hat, ist im Wesentlichen korrekt,
wenngleich doch in recht groben Umrissen gezeichnet. Bei der Erörterung
der möglichen Ursachen, die ebenfalls sehr kurz gehalten ist, fehlt jeglicher
Hinweis auf mögliche innere Konflikte. Sie macht Vorschläge zur Selbst-
NEU
hilfe, wie etwa Akupressur der Meridiane, und erteilt im Kapitel „Präven-
tion“ Ratschläge wie „Achten Sie auf Ihr Zeitmanagement“ oder „Tanken Josef Eduard Kirchner
Sie bei einem Wellnesswochenende Seele und Körper auf!“. Solche Allge-
meinplätze helfen den Patienten nicht. Beim Thema Psychotherapie stellt
Kinder, Kinder...!
Nicht unsere Kinder sind verrückt,
Beck die kognitive Verhaltenstherapie im Allgemeinen und die Konfronta- sondern die Welt, in der sie leben
tionstherapie im Besonderen vor. Das geht in Ordnung – ein Hinweis dar- Vom ersten Schrei über Einschulung bis zum
auf, dass es auch andere Therapieformen gibt, wäre Auszug und darüber hinaus – Eltern durchleben
vieles mit ihren Kindern, freuen sich über ihre
indes durchaus angebracht gewesen. Was die Medi- Fortschritte, liegen nachts sorgenvoll wach und
kamente anbetrifft, werden ausschließlich Benzo- verzweifeln von Zeit zu Zeit fast an der großen
Aufgabe Erziehung.
diazepine erwähnt. In der Kürze liegt nicht immer die
Kindesentwicklung und Erziehung zwischen Alltag
Würze. ■ Till Bastian
und seelischer Achterbahnfahrt – pointiert präsen-
tiert von einem Autor, der sowohl Vater als auch
Bettina Beck: Panikattacken. Ursache und Wirkung, Therapie und Kinder- und Jugendpsychiater ist. Eine gelungene
Selbsthilfe. Audio-CD. Abod Verlag, München 2013. Laufzeit: Synthese aus persönlicher praktischer Erfahrung
52 Min., V 19,90 und den Erkenntnissen der modernen Gehirnfor-
schung.
Wissen und Leben
(Herausgegeben von Wulf Bertram)
2014. Ca. 296 Seiten, kart.
€ 19,99 (D) / € 20,60 (A) | ISBN 978-3-7945-3064-9

gehen, sondern – ja, was? Nicht das In- als „Gegenlektüre“ zu empfehlen wäre.
dividuum sei zu behandeln, sondern Schließlich ist auch bisher der „Unter-
unsere moderne „Weltlosigkeit“. gang des Abendlandes“ noch nicht er-
Nun ist klar, dass man gegen die „Mo- folgt, und gerade die von Martynkewicz
derne“ nicht so leicht ein Therapeuti- beschriebene Zeit hat besonders wich-
kum finden kann, das nicht – wie alle tige und kluge geistige Werke hervorge-
genannten Heilsversprechen – auch wie- bracht. ■ Eva Jaeggi

der aufgesogen wird von den Kräften


der „Moderne“, das heißt in den Sog
ökonomischer Interessen gerät. Das dür-
PSYCHOLOGIE HEUTE online Katja Gaschler, Anna Buchheim (Hrsg.)
Irrtum und Preisänderungen vorbehalten. Abb.: © www.fotolia.de

fen wir also nicht erwarten. Was mir


aber gefehlt hat: die Relativierung aller Kinder brauchen Nähe
kulturkritischen Strömungen, eine be- Unser Newsletter informiert Sie über Sichere Bindungen aufbauen und erhalten
aktuelle Themen, kostenlose Lese-
sonnene Distanz auch zu den Klagen der proben, neue Bücher, Termine und
Gehirn & Geist

Gegenwart. Eine solche Distanz findet noch viel mehr: jetzt anmelden! 2012. 160 Seiten, 27 Abb., kart.
€ 19,99 (D) / € 20,60 (A) | ISBN 978-3-7945-2872-1
man im Buch von Martin Dornes Die
www.psychologie-heute.de/service/newsletter/
Modernisierung der Seele, das sozusagen

P S YC H O L O G I E H E U T E Mai 2 0 1 4 www.schattauer.de
86 Buch & Kritik

NEU ERSCHIENEN
Rat und Lebenshilfe Dieter Mittelsten Scheid: Auf dem Weg des Almut Schnerring, Sascha Verlan: Die Rosa-
Schweigens. Vom Ich zum Sein. Nicolai, 207 S., Hellblau-Falle. Für eine Kindheit ohne Rol-
Gerhard Furtmüller: Energiepiraten. Wie Sie V 19,95 lenklischees. Kunstmann, 256 S., V 16,95
Lebensfreude gewinnen, wenn Sie Krafträuber
vermeiden. Goldegg, 248 S., V 19,95 Tali Sharot: Das optimistische Gehirn.
Springer Spektrum, 325 S., V 16,99
Beate Winkler: Es ist etwas in mir, das nach Schule und Bildung
Veränderung ruft. Der Sehnsucht folgen. Henri Julius, Andrea Beetz, Kurt Kotrschal, Den-
Rudolf H. Strahm: Die Akademisierungsfal-
Kösel, 192 S., V 19,99 nis C. Turner, Kerstin Uvnäs-Moberg: Bindung
le. Warum nicht alle an die Uni müssen. Mit
zu Tieren. Psychologische und neurobiologische
Werner Huber: Mehr Selbstvertrauen – Berufsbiografien von Rahel Eckert-Stauber. Hep,
Grundlagen tiergestützter Interventionen.
mehr Erfolg im Leben. Wie Sie Ihre Selbst- 120 S., V 24,–
Hogrefe, 237 S., V 29,95
zweifel besiegen und neue Kraft schöpfen kön- Armin Himmelrath, Sarah Neuhäuser: Amok-
nen. Mit praktischen Übungen für den Alltag. drohungen und School Shootings. Vom
WiSa, 273 S., V 29,90 Frauen und Männer Phänomen zur praktischen Prävention. Hep,
Anne Schienle, Verena Leutgeb: Angst vor Blut 160 S., V 19,–
Corinna Fischer, Bob Fischer: Ich liebe einen
und Spritzen. Ein Ratgeber für Betroffene und Asperger! Unsere Ehe, unsere Kinder – und das
Angehörige. Hogrefe, 50 S., V 8,95 Asperger-Syndrom. Trias, 192 S., V 19,99
Arbeit und Beruf
Karl-Ludwig Leiter: Wie vor was. Die Zauber- Markus Hauser: Wann wir lieben … und un-
formel für Zufriedenheit und Zuversicht. Arkana, Fredrike Bannink: Praxisbuch Positive KVT.
treu sind. Unsere biologischen Mechanismen
320 S., V 17,99 Ein integratives lösungsorientiertes Konzept.
für Bindungs- und Untreueverhalten. CreateSpace
Beltz, 352 S., V 39,95
Susan Piver: Der achtsame Weg zu einem Independent Publishing Platform, 130 S., V 11,72
authentischen Leben. Arbor, 185 S., V 12,90 Silvia Höfer: Spieltherapie. Geleitetes indivi-
Wolfram Zurhorst: Der Beziehungs-Retter.
duelles Spiel in der Verhaltenstherapie. Beltz,
Walter Zägelein: Move for Life. Gesund durch Wie Sie einfach überraschende Lösungen finden.
208 S., V 36,95
Bewegung. Springer Spektrum, 307 S., V 24,99 Arkana, 224 S., V 18,99
Birgit Weyel, Annette Haussmann, Beate Jakob,
Frank M. Lobsiger: Die Kunst der Selbstlie- Matthias Nöllke: Hörst Du mir überhaupt
Stefanie Koch (Hg.): Menschen mit Depres-
be. Der Weg zu einer wunderbaren Freundschaft zu? 100 Sätze, die zu einer Beziehung gehören –
sion. Orientierungen und Impulse für die Praxis
mit dir selbst. Integral, 256 S., V 16,99 ob man will oder nicht. Goldmann, 231 S., V 8,99
in Kirchengemeinden. Gütersloher Verlagshaus,
Kurt Langbein: Weißbuch Heilung. Wenn die Andrea Jolander: Treffen sich zwei Neuro- 216 S., mit CD-ROM, V 17,99
moderne Medizin nichts mehr tun kann. Ecowin, sen. Warum Männer und Frauen sich das Leben
Anne Boos: Kognitive Verhaltenstherapie
207 S., V 22,95 so schwer machen. Heyne, 221 S., V 14,99
nach chronischer Traumatisierung. Hogre-
Ruth Enzler Denzler: Die Kunst des klugen Wolf Ollrog: Aus der Traum! 101 bewährte fe, 245 S., V 44,95
Umgangs mit Konflikten. Springer Spektrum, Vorschläge, wie man seine Partnerschaft vor die
Christine Zens, Gitta Jacob: Schwierige
200 S., V 16,99 Wand fahren kann. Santiago, 327 S., V 20,–
Situationen in der Schematherapie. Beltz,
Su Busson: Das Wachstums-Abc So verwirkli- 281 S., V 39,95
chen Sie Ihre Wünsche, Träume und Ideen. Orac, Kinder und Familie Sabine Mühlisch: Das Prinzip Körpersprache
224 S., V 22,– im Unternehmen. Inspirationen für eine
Marco Walg, Gerhard W. Lauth: Erziehungs-
lebendige Arbeitsgestaltung. Junfermann, 190 S.,
schwierigkeiten gemeinsam meistern. In-
V 22,60
Psychische Gesundheit formationen und Übungen für gestresste Eltern.
Hogrefe, 100 S., V 14,95 Beate Westphal: Das Job-Patchwork-Buch.
Angelika Ebrecht-Laermann: Angst. Analyse der Kreativität. Freiheit. Selbstverwirklichung.
Psyche und Psychotherapie. Psychosozial, 138 S., Walter Schmidt: Solange du deine Füße …
Campus, 208 S., V 17,99
V 16,90 Was Erziehungsfloskeln über uns verraten.
Eichborn, 288 S., V 14,99
Lee H. Coleman: Depression. Ein Wegweiser
für Betroffene. Was Sie nach der Diagnose tun Reinhard Winter: Jungen brauchen klare An- Kultur und Gesellschaft
können. Junfermann, 139 S., V 17,40 sagen. Ein Ratgeber für Kindheit, Schule und
Catarina Katzer: Cybermobbing. Wenn das
die wilden Jahre. Beltz, 275 S., V 16,95
Internet zur W@ffe wird. Springer Spektrum,
Pamela Druckerman: Was französische 252 S., V 19,99
Denken, Fühlen, Handeln Eltern besser machen. 100 verblüffende Er-
Ines Geipel: Generation Mauer. Ein Porträt.
Manfred Spitzer: Rotkäppchen und der ziehungstipps aus Paris. Mosaik, 208 S., V 14,99
Klett-Cotta, 275 S., V 19,95
Stress. (Ent-)Spannendes aus der Gehirnfor- Mona Oellers: Voll Aggro! Warum Kinder im-
schung. Schattauer, 238 S., V 19,99 Ronald Lutz: Soziale Erschöpfung. Kulturelle
mer aggressiver werden und was wir dagegen
Kontexte sozialer Ungleichheit. Beltz, 155 S.,
Volker Kitz, Manuel Tusch: Warum uns das tun können. Piper, 256 S., V 19,99
V 14,95
Denken nicht in den Kopf will. Noch mehr Gunilla Wewetzer, Christoph Wewetzer: Ratge-
nützliche Erkenntnisse der Alltagspsychologie. Christiane Ludwig-Körner: Wiederentdeckt –
ber Zwangsstörungen bei Kindern und
Heyne, 288 S., V 8,99 Psychoanalytikerinnen in Berlin. Psycho-
Jugendlichen. Informationen für Kinder, Ju-
sozial, 288 S., V 19,90
Tobias Teismann: Grübeln. Wie Denkschleifen gendliche und Eltern. Hogrefe, 112 S., V 14,95
entstehen und wie man sie löst. Balance Buch + Peter Ballnik: Vaterseelenallein. Warum Kin-
Medien, 136 S., V 14,95 der einen Vater brauchen und wohin es führt,
Susan Blackmore: Bewusstsein. Eine sehr kur- wenn er fehlt. Adeo, 288 S., V 17,99
ze Einführung. Huber, 230 S., V 9,95

PSYC H O LO G I E H EUTE M a i 2014


Buch & Kritik 87

AUSSERDEM …
„Dies ist ein medizinisches Handbuch Lippen werden aufgespritzt, Schamlippen verkleinert, Pe-
der anderen Art“, warnen Traudl nisse begradigt, Körper geformt oder mit Tattoos und
Bünger, Ella Berthoud und Susan Piercings versehen. Was bringt Menschen dazu, ihren Kör-
Elderkin in der Einleitung. Bei Lei- per mehr oder weniger grundlegend zu verändern? Dieser
den aller Art, etwa bei dem Verlust Frage widmen sich Ada Borkenhagen, Aglaja Stirn und
eines geliebten Menschen oder Elmar Brähler in ihrem Sammelband Body Modification
dem Umstand, plötzlich alleinerzie- (MWV, % 39,95) , der einen Überblick über das gesamte
hend zu sein, empfehlen sie Die Spektrum der Körpermodifikationen liefert – von Adipo-
Romantherapie (Insel, % 20,–). In sitaschirurgie bis Zahnregulation. Der praxisorientierte
ihrem Medizinschrank stehen Bal- Band richtet sich an Ärzte und Therapeuten, liefert psy-
zac und Tolstoi, Siri Hustvedt, Har- chische und medizinische Aspekte, beleuchtet kulturge-
per Lee und Peter Stamm. Die Au- schichtliche Hintergründe und die rechtliche Situation.
torinnen glauben an die Heilkraft der Literatur, sie sind Unter dem Schlagwort Körpermodifikationen werden sehr
überzeugt von der Bibliotherapie, da Bücher die Macht heterogene Phänomene zusammengefasst. Einige davon
haben, uns einen anderen Blickwinkel zu eröffnen. Auf dürften für die meisten Menschen
insgesamt „253 Bücher für ein besseres Leben“ bringt es schwer nachvollziehbar sein. Der
die ambitionierte Sammlung, die tatsächlich nicht nur für Wunsch etwa, sich eine gesunde
die ganz tragischen Momente im Leben den passenden Gliedmaße amputieren zu lassen,
Lesestoff bereithält, sondern auch Linderung bei Geburts- wirkt sicher befremdlich. Umso
tagsblues („Mitternachtskinder“) und Montagmorgenge- wichtiger ist es, dass sich Thera-
fühl („Mrs. Dalloway“) verspricht. Und wer mit einem peuten für das Phänomen, das im
Partner geschlagen ist, der seit seiner Schulzeit keinen Rahmen einer Störung der Körper-
Roman mehr angefasst hat, bekommt eine Liste mit Buch- integrität und -identiät auftau-
titeln, getrennt nach Geschlechtern, geliefert, die die Lust chen kann, sensibilisieren.
aufs Lesen wecken sollen.

Der Psychiatriepatient Julius Klingebiel begann


1951, die Wände seiner kaum zehn Quadrat-
meter großen Zelle im „Festen Haus“ in Göt-
tingen nahezu vollständig mit kleinteiligen
Bildern in vielen Farben zu bemalen. Zunächst
benutzte er dazu verkohlte Holzstücke, Steine,
angeblich sogar Zahnpasta, vermengt mit Er-
de. Die Klingebiel-Zelle (Vandenhoeck & Rup-
recht, % 24,99) ist weltweit einzigartig, die
Herausgeber Andreas Spengler, Manfred Kol-
ler und Dirk Hesse wollen Psy-
chiatriegeschichte am Einzel-
schicksal lebendig und Klinge-
biels Biografie sowie seine
künstlerische Entwicklung
erstmals der Öffentlichkeit zu-
gänglich machen. Eine Nach-
bildung der Zelle kann zwei-
mal im Monat im Museum der
Asklepios-Klinik in Göttingen
besichtigt werden (Termine
unter Telefon 0551/402-0).
88 Buch & Kritik

Dumm – und dümmer?


Viele Freunde, zu viel Wissen und Schnelligkeit – das alles
macht dumm, behaupten Ernst Pöppel und Beatrice Wagner

Die Sorgen um den Zustand der mensch- ter Faden durch das Buch. Dazu unter-
lichen Intelligenz sind nicht neu. Schon nimmt Ernst Pöppel immer wieder
vor 500 Jahren beschäftigte sich der Phi- Ausflüge in die Hirn- und Psychologie-
losoph Erasmus von Rotterdam in sei- forschung. So können wir ständigen Ar-
nem Werk Das Lob der Dummheit in beitsmodus und Multitasking auf län-
ironischer Weise mit dem Thema. Der gere Zeit nicht verkraften, weil das Ge-
amerikanische Molekularbiologe Ge- hirn nach etwa 90 Minuten eine Pause
Was Deutschland bewegt, das sind Krisen und rald Crabtree behauptete vor kurzem, braucht. Zu viele Kontakte und Be-
Innovationen, das sind Wirtschaftsentwicklun- dass – bedingt durch den Prozess der kanntschaften überfordern uns, weil der
gen und Regierungsprogramme, und das sind
Zivilisation – die Menschheit seit 2000 Mensch aufgrund seines evolutionären
Medienevents und Katastrophen. Was aber
Jahren immer dümmer werde. Mit ähn- Erbes höchstens auf den Kontakt mit
treibt uns Deutsche wirklich an? Wie reagieren
lich provokanten Thesen arbeitet das 150 Menschen ausgerichtet ist.
wir auf sozialen Wandel? Was tut sich in Ost
und West? Diese Studie beschreitet neue Wege Autorenpaar Ernst Pöppel und Beatrice Die Rettung liegt in der Kunst, wieder
und vergleicht die Lebensansichten engagier- Wagner in seinem Buch Dummheit. Es mehr mit den Sinnen zu erleben und die
ter und disengagierter Bürger in Deutschland. sind Thesen, die – aufgrund der Über- Komplexität des Lebens zu reduzieren.
2014, 394 Seiten, broschiert, € 29,95 fülle des Materials und der vielen Ge- Wie schwer sich das für viele Menschen
ISBN 978-3-7799-2920-8 dankensprünge des Buches – nicht all- mit einem ausgefüllten Familien- und
zu sehr in die Tiefe gehen können. Nach-
denklich machen sie trotzdem.
Sieben Todsünden des modernen Ernst Pöppel, Beatrice
Wagner: Dummheit.
Menschen haben Hirnforscher Pöppel Warum wir heute die
und die Paar- und Sexualtherapeutin einfachsten Dinge nicht
mehr wissen. Riemann,
Wagner aufgespürt. So macht zu viel München 2013, 352 S.,
Wissen dumm, weil wir zu denken ver- V 17,99
lernen. Auch Schnelligkeit und viele
Freunde machen dumpf. Sogar Lesen
soll schlecht sein, wie die Autoren mit
einem Augenzwinkern vortragen, weil Arbeitsleben umsetzen lässt, sagen die
wir dadurch unsere Sinne vernachläs- Autoren leider nicht. Vielleicht helfen
sigen. Ihre Behauptungen belegen sie mit die kleinen Veränderungen, die das Au-
vielen Nachweisen aus Alltagsleben und torenduo vorschlägt? Also etwa nach
Gesellschaft. So schauen viele lieber bei Möglichkeit während der Arbeit immer
Google nach, wenn sie etwas wissen wol- wieder kleine Pausen von etwa 15 Mi-
Entlang von vier ausgewählten Themenschwer-
len, statt erst einmal selbst nachzuden- nuten machen.
punkten unternimmt der Band eine Bestands-
ken oder andere Menschen zu fragen. Am meisten soll wohl die Hauptthese
aufnahme der feministischen Debatten der
Es ist schon beängstigend: Pöppel und des Buches provozieren. Demnach ist der
letzten vierzig Jahre in Deutschland und fragt:
Was ist aus den ehemals zentralen Themen und Wagner finden für ihre Anklagen um- Mensch eine „peinliche Fehlkon-
Ansätzen geworden? Sind sie im gesellschaftli- fangreiches Anschauungsmaterial – et- struktion“, weil sein Gehirn so extrem
chen Diskurs noch präsent? Und wenn sie es wa den Berliner Großflughafen, bei dem anfällig für Störungen ist und er nicht
nicht sind, warum nicht? Und wenn sie es sind, überforderte Experten Milliarden Euro über eine Generation hinausdenken
wie haben sie sich verändert? im märkischen Sand vergraben. Die Ar- kann. Ein bekannter kulturpessimisti-
2014, 228 Seiten, broschiert, € 24,95 gumentation, dass das Gehirn des Men- scher Standpunkt, der unterschlägt, dass
ISBN 978-3-7799-2931-4 schen dem modernen Leben nicht ge- der Mensch trotz aller Fehler ein Anpas-
wachsen sei, zieht sich dabei wie ein ro- sungsweltmeister ist. ■ Angelika Friedl

www.juventa.de
www.juventa.de JJUVENTA
UVENTA
PSYC H O LO G I E H EUTE M a i 2014
Buch & Kritik 89
EIN FILM VON OSCAR®-PREISTRÄGER
PEPE DANQUART

Unkluge Intelligenzforschung Filmstart:


ab 17. April im
Kino

Die Frage nach der Erblichkeit der Intelligenz ist sinnlos,


„Eine fesselnde

meint Manfred Velden und bewegende Erzählung.


Keine einzige Minute ist überflüssig.“
SÜDDEUTSCHE ZEITUNG

Die Intelligenzforschung ist ein dunkles mal in Ansätzen. Das bringt verschie- NACH EINER
Kapitel der Wissenschaftsgeschichte. dene Probleme mit sich: Zum einen be- WAHREN BEGEBENHEIT

Manfred Velden hat in seinem Buch den


Mut, das zu sagen. Und vorneweg: Er
steht in der Psychologie überhaupt kei-
ne Einigkeit darüber, was die Intelligenz LAUF JUNGE
sagt es sachlich, fundiert, überzeugend und ihre Struktur eigentlich ist und wie
LAUF
PUBLIKUMSPREIS
Filmfest Cottbus 2013

und verständlich. man sie verlässlich messen kann. Prob- Prädikat


besonders wertvoll
FBW

Schon die Anfänge der Intelligenz- lematisch ist auch, dass statistische Wer-

ARTWORK: PROPAGANDA B
forschung bei Francis Galton waren ver- te, die den Zusammenhang zwischen
knüpft mit dem eugenischen Gedanken, Messwerten angeben, etwa zwischen der
gute Gene zu fördern. Kaum hatten die Intelligenz von Eltern und ihren Kin-
ersten Forscher Daten zur angeblichen dern, umgedeutet werden in Maße der LAUF, JUNGE LAUF
Erblichkeit der Intelligenz vorgelegt, er- genetischen Bedingtheit. Die Forschung schildert die unglaubliche Lebens-
ließ 1907 der US-Bundesstaat Indiana lässt dabei außer Acht, dass sich die In- geschichte von Yoram Fridman, die
das erste Gesetz zur Zwangssterilisie- telligenz je nach Umweltbedingungen Uri Orlev mit seinem gleichnamigen
rung weltweit. 1969 wies der amerika- dramatisch nach oben oder unten ent- Romanbestseller weltberühmt
nische Psychologe Arthur Jensen in ei- wickeln kann. Erbe und Umwelt inter- gemacht hat. Eine Geschichte, die
nem berühmt gewordenen Artikel För- agieren also in einer Weise, dass man lehrt, dass die Realität manchmal
derprogramme für Schwarze mit dem jede Phantasie übertrifft.
Hinweis zurück, sie schnitten in Tests www.laufjungelauf-derfilm.de
schlechter ab als Weiße, und das sei ein Manfred Velden: Hirntod
einer Idee. Die Erblich-
Zeichen für erblich geringere Intelli- keit der Intelligenz. Van-
genz. denhoeck & Ruprecht,
Göttingen 2013, 70 S.,
Später machte sich der weltbekannte V 19,99 EIN FILM VON OSCAR
PEPE DANQUART
® -PREISTRÄGER

Psychologe Hans-Jürgen Eysenck zu ei- LESEPROBE


EIN FILM VON OSCAR®
PEPE DANQUART
-PREISTRÄGER

nem Fürsprecher eines Rassismus, der


„Eine fesselnde
und bewegende Erzählung.
Keine einzige Minute ist überflüssig.“
SÜDDEUTSCHE ZEITUNG

NACH EINER „Eine fesselnde


WAHREN BEGEBENHEIT und bewegende Erzählung.

LAUF JUNGE
Keine einzige Minute ist überflüssig.“

Testunterschiede zwischen Schwarzen


SÜDDEUTSCHE ZEITUNG

LAUF
PUBLIKUMSPREIS
2013
Filmfest Cottbus

Prädikat
besonders wertvoll
NACH EINER

LAUF JUNGE
FBW WAHREN BEGEBENHEIT

KINO
B
ARTWORK: PROPAGANDA

und Weißen auf genetisch bedingte Un- B


ARTWORK: PROPAGANDA

LAUF PUBLIKUMSPREIS
Filmfest Cottbus 2013

Prädikat
besonders wertvoll
FBW

terschiede zurückführte. Sein Doktor- KINO


vater Cyril Burt hatte Daten zu Intelli- den Faktor Erbe nicht extrahieren kann. Die Film-Buchausgabe erscheint am 07.04.2014:
genzunterschieden bei Zwillingen, wie Beide addieren sich nicht zu einer Sum- 240 Seiten, gebunden, a 12,– D | ISBN 978-3-407-74459-3
später herauskam, schlichtweg gefälscht. me von zwei Anteilen. Daher, meint Vel-
Velden erzählt diese Geschichte be-
eindruckend nüchtern. Er skandalisiert
den, sage ein Erblichkeitskoeffizient
„praktisch nichts“ über die Änderbarkeit
GEWINNSPIEL
Zum Kinostart am 17. April verlost die
nicht, sondern klärt wissenschaftlich der Intelligenz aus.
Verlagsgruppe Beltz 10 Filmpakete,
auf. Und er zeigt die methodischen Feh- Velden fragt daher nach dem Sinn
bestehend aus je 2 Kino-Freikarten
ler der Forschung zur erblichen Bedingt- dieser Forschung. Der einzig bisher be-
heit von Intelligenz scharfsinnig auf, von kannte praktische Zweck sei der, Pro- und dem Buch zum Film.
Um an der Verlosung teilzunehmen, schicken
deren statistischen Grundlagen Eysenck gramme zur Bildungsförderung abzu- Sie bitte eine E-Mail mit Ihrer Adresse und
wenig verstanden habe. lehnen. Veldens Schlussfolgerung ist dem Betreff »Filmpaket Lauf, Junge lauf« an:
Alle Behauptungen der Forschung daher radikal, aber folgerichtig: Die Fra- Verlosung@beltz.de
zur erblichen Bedingtheit von Intelli- ge nach der Erblichkeit der Intelligenz Einsendeschluss ist der 17.04.2014.
genz beruhen auf statistischen Daten ist irrelevant und wissenschaftlich sinn-
von Intelligenztests. Denn molekular- los. Man sollte die Forschung zu dieser Leseprobe auf
genetische Nachweise gibt es nicht ein- Frage einstellen. ■ Ulfried Geuter
www.beltz.de
90 Buch & Kritik

Das bewegt mich! Mein Bruder, der Neurotiker


Dorothee Adam-Lauterbach fragt nach dem Einfluss von
Geschwistererfahrungen auf psychische Erkrankungen

Mythen, Märchen und ganz besonders wachsenenalter nachgeht, und zwar ex-
die biblischen Geschichten zeigen, dass plizit der Frage, inwieweit Geschwister-

Mobil
die Menschen sich schon immer inten- erfahrungen einen Einfluss auf psychi-
siv mit dem Thema Geschwisterbezie- sche Erkrankungen haben können.
hungen auseinandergesetzt haben. Gro- Der Arbeit, die aus einer Dissertation
ße Bedeutung kommt dabei dem Rang hervorgegangen ist, liegt das psychoana-
sein gehört zu den Anfor- in der Geschwisterfolge zu. lytische Entwicklungsmodell zugrunde,
derungen unserer Zeit. Auf Denkt man etwa an die Geschichte und die gewonnenen Erkenntnisse ba-
einen wichtigen Begleiter von Joseph und seinen Brüdern, an Kain sieren auf psychoanalytischen Einzel-
und Abel, an das grimmsche Märchen fallstudien. Ergänzt wird dieses Vorge-
müssen Sie ab sofort nicht Brüderchen und Schwesterchen oder auch hen durch eine Geschwisterstudie, ba-
mehr verzichten: Jetzt kön- an berühmte Geschwisterpaare wie sierend auf 215 Akten erwachsener, psy-
nen Sie über die Themen Thomas und Heinrich Mann, scheinen chisch erkrankter Personen, in denen
die Dramatik geschwisterlicher Rivali- Geschwisterkonflikte von den Thera-
Ihres Lebens auch unterwegs
tät, von Neid und Gerechtigkeitsstreben, peuten beobachtet und dokumentiert

lesen. aber auch von Liebe und tiefer Bindung


auf der Hand zu liegen.

Dorothee Adam-Lau-
wurden. Dabei ergaben sich einige über-
raschende Ergebnisse, etwa die Tatsache,
dass es bei den Diagnosen keinen sta-
tistisch nachweisbaren Unterschied zwi-
schen Patienten gab, die als Einzelkin-
terbach: Geschwister-
beziehung und seeli- der, und solchen, die mit Geschwistern
sche Erkrankung. Ent-
wicklungspsychologie,
aufgewachsen waren. Auch in Bezug auf
Psychodynamik, die Geschwisterpositionen und die Kon-
Therapie. Klett-Cotta, stellationen in der Familie gab es kaum
Stuttgart 2013, 174 S.,
V 24,95 Unterschiede. Allerdings war der Anteil
an psychisch gestörten Patienten, die
eine mittlere Geburtsposition hatten,
gegenüber denjenigen, die jüngstes Kind
Das „Volkswissen“ hatte schon immer waren, signifikant höher. Den höchsten
Zuschreibungen und Typisierungen pa- Anteil an psychischen Störungen wiesen
rat: Die Ältesten galten als eifersüchtig, Brüderkonstellationen auf.
neidisch und aggressiv, aber auch als Die Studie bietet freilich mehr als der-
konservativ und an die elterlichen Nor- artige Erhebungen. Die Autorin nähert
men angepasst, die Jüngsten als naiv und sich ihrem Thema mit großer, differen-
dumm und doch vom Schicksal dazu zierender Sorgfalt, was ihrer Arbeit als
ausersehen, am Ende als strahlende Sie- therapeutisch arbeitende Psychoanaly-
ger dazustehen. tikerin geschuldet ist. In den Therapie-
Mit solchen Zuschreibungen hat das protokollen wird ein ums andere Mal
AL S
N EU Buch von Adam-Lauterbach wenig zu deutlich, dass es auch auf dem Gebiet

A P P! tun. Es handelt sich um eine psycho-


analytisch orientierte empirische Stu-
der Geschwisterbeziehungen und ihren
vielfältigen Verstrickungen keine wohl-
die, die über den Einzelfall hinaus der feilen Verallgemeinerungen geben kann.
klinischen Bedeutung der Geschwister- Jede Familie ist mit ihren vielfältigen
dynamik und deren Wirkungen im Er- Binnen- und Außenbeziehungen so
www.psychologie-heute.de
PSYC H O LO G I E H EUTE M a i 2014
Buch & Kritik 91

komplex strukturiert, dass es unmöglich


erscheint, eindeutige Zuschreibungen LEBENSKRISEN BEWÄLTIGEN
in Bezug auf die Geschwisterposition zu Wenn in einer Krise die negativen Gefühle von allen Seiten auf uns einstür-
machen. men und die Verteidigungslinien durchbrechen, können wir kapitulieren
Die Autorin möchte ihre in der kli- und uns ihrer Herrschaft ausliefern oder in eine niemals ganz zu gewinnen-
nischen Situation gemachten Beobach- de Schlacht ziehen, die uns alles abverlangt und immer neue Feinde schafft.
tungen in einen erweiterten klinischen Das ruhige Leben ist jedenfalls vorüber. In seinem klugen Ratgeber erläutert
Zusammenhang stellen, sie versteht ih- der Arzt und Psychotherapeut Russ Harris, warum sich die negativen Emo-
re Arbeit als Vorstudie für weitergehen- tionen nur entwaffnen lassen, wenn wir sie mit Neugier und Offenheit will-
de Forschungen. Fazit ihrer derzeitigen kommen heißen. Die Logik scheint zu gebieten, dass entweder wir die Ge-
Untersuchung: Aktuell ist es nicht halt- fühle oder diese uns kontrollieren. Harris rät, jede quälende Empfindung
bar, Schlussfolgerungen aus bestimmten in ihrem eigenen Rhythmus kommen und gehen zu lassen und „wie das
Geschwisterkonstellationen zu ziehen. interessanteste Objekt einer Ausstellung“ zu studieren. Jede Emotion habe
Allerdings, und das ist das wesentli- uns eine Geschichte zu erzählen, die wir auch anhören sollten. Harris ist
che Verdienst dieser Arbeit, erweitert ein renommierter Vertreter der acceptance and commitment-Therapie, die
der Blick auf die Geschwisterkonstella- Studien zufolge zu den wirksamsten Verfahren zählt. Die zahlreichen Übun-
tion unsere Sicht auf die innere psychi- gen in diesem Buch lehren eine Haltung zu den Schattenseiten des Lebens,
sche Welt. Er vermag Konflikte, die in die uns schwere Lebenskrisen bewältigen hilft. Wenn wir den Schmerz an-
der Vergangenheit oft kaum aufzulösen nehmen, uns selbst mit Freundlichkeit behandeln und unsere Grundwerte
waren und sich häufig als unbewusste klären, sind wir nicht mehr so leicht zu erschüttern. Harris schildert mit
neurotische Konflikte bis ins Erwach- bewundernswerter Ehrlichkeit, wie er nach einem seelischen Totalzusam-
senenalter fortsetzen, zu benennen und menbruch die Kraft wiederfand, seinem autistischen
der Durcharbeitung zugänglich zu ma- Sohn ein guter Vater zu sein.
chen. Die Betroffenen erhalten so auch Dieses Buch macht Mut, peinigende Gefühle als Gäs-
die Möglichkeit, „sich von der erfahre- te zu empfangen, die unser Leben nicht zerstören, son-
nen infantilen Geschwisterposition zu dern bereichern. ■ Michael Holmes
lösen“. Voraussetzung dafür ist freilich,
dass Psychoanalytiker sich mehr, als dies Russ Harris: Wer vor dem Schmerz flieht, wird von ihm eingeholt. Unterstüt-
zung in schwierigen Zeiten. ACT in der Praxis. Aus dem Englischen von Bern-
bisher offenbar der Fall gewesen ist, mit hard Kleinschmidt. Kösel, München 2013, 254 S., V 17,99
ihrer eigenen Geschwistererfahrung
auseinandersetzen. ■ Irmela Köstlin

OHCYS P
www.fischerverlage.de 288 Seiten, gebunden, € (D) 19,99

Müde und
ausgebrannt?
Anstrengende
und aggressive
Kinder?
Zerstreut und
vergesslich?

Lassen Sie sich nicht irre machen – Gefühle und Wünsche sind keine Krank-
heiten! Der Bestsellerautor Jörg Blech enthüllt, wie die Grenze zwischen
psychisch gesund und gestört zunehmend verschoben wird, und zeigt
einen Ausweg aus der Psychofalle. Diagnose: unbedingt lesenswert.
92 Buch & Kritik

Umfangreiche Buchauswahl
zu den aktuellen Themen von
Psychologie Heute
Stress Raus aus dem
Mit ausführlichen Rezensionen
im Job? „Negativ-Land“
Es ist ein ungewöhnliches Duo, das sich Die US-Psychotherapeutin Margaret
Sofort und versandkostenfrei hier ans Werk gemacht hat: Catri Tegt- Wehrenberg nutzt die Erkenntnisse der
per Post ins Haus meier ist Chefärztin einer psychosoma- Neurowissenschaften, um zu verstehen,
tischen Klinik, Michael Tegtmeier Ge- wie Körper und Geist eine Depression
neralstabsoffizier der Bundeswehr – sei- verarbeiten – und im schlimmsten Fall
Die Buchtipps des Monats
ne Ausführungen beruhen „auf eigenen darin verharren. Auf den ersten 30 Sei-
Einsatzerfahrungen“. Mit ihrem Buch ten beschreibt sie, was währenddessen
Bindung - kurz Wie Stress im Beruf krank macht und wie im Gehirn passiert. Das komplexe The-
Sie sich schützen tummeln sie sich auf ma vermittelt sie bemerkenswert über-
und bündig
einem schwer überschaubaren Feld von sichtlich und verständlich. Das Buch
Reinhardt 2012 Ratgeberliteratur. Zwar ist das Buch lässt sich auch ohne diese Einführung
111 Seiten
Kartoniert handwerklich solide gefertigt und über- verstehen, doch die „zehn besten Anti-
ISBN sichtlich gestaltet – es enthält keine gro- depressionstechniken“ ruhen auf die-
978-3-8252-3758-5
ben Schnitzer und ist lesbar geschrieben. sem Fundament. Die Strategien sind
€ 14,99 (Im Kapitel über Burnout wäre es indes
wünschenswert gewesen, den Arzt Her-
nach vier Schwerpunkten gegliedert:
Zunächst gilt es, Auslöser zu erkennen
bert Freudenberger zu erwähnen, der den – und anders als sonst zu reagieren, et-
Zustand 1974 erstmals beschrieben hat.) wa durch Selbstreflexion, Selbstfürsor-
Wie oft in solchen Ratgebern sind jedoch ge oder To-do-Listen. Danach sollte man
Verständlicher die „praktischen Hinweise“ eigentlich idealerweise „in Schwung kommen“ –
Überblick Verweise auf genau das, was der kranke, wieder mit Menschen oder dem Spiri-
WBG 2013 nach Rat suchende Mensch eben nicht tuellen in Kontakt treten und sich so
140 Seiten kann – so etwa: „Um ein gutes Verhält- Energiequellen erschließen. In einem
Gebunden.
ISBN nis zwischen Arbeit und privatem Leben dritten Schritt heißt es „Neue Perspek-
978-3-534-24934-3 zu finden, ist eine ausgewogene Work- tiven gewinnen“, um „schlechte Ge-
Life-Balance enorm wichtig.“ Und wenn wohnheiten abzulegen“ und sich so we-
€ 24,90 mir just diese Balance persönlichkeits- nig wie möglich im „Negativ-Land auf-
bedingt einfach nicht gelingen will? Hier zuhalten“, und schließlich „das Leben
BESTELL- zeigt sich ein grundsätzliches Manko der von Grund auf ändern“. Neu sind nicht
HOTLINE: Ratgeberliteratur: Wo es konkret werden die Techniken selbst, sondern die akti-
030 / 447 314-50
shop@ müsste, ist sie in der Regel mit ihrem vierende Ansprache, mit der sich die
psychologie-
heute.de recht allgemein gehaltenen Latein am Autorin direkt an depressive Menschen
Ende. Vorzüge gegenüber der Fülle ähn- wendet. Ein Buch voller Anregungen,
Gelassen sein licher Bücher besitzt das Buch der Tegt- wie man depressive Denkmuster durch-
meiers nicht. Sein Preis ist mit 29 Euro brechen und Eigenständigkeit und Le-
im Alter
eher hoch. Daher das Fazit: Nur bedingt bensbejahung zurückerobern kann.
Insel 2014 empfehlenswert. ■ Till Bastian ■ Sylvia Meise
118 Seiten
Gebunden
ISBN Margaret Wehrenberg:
978-3-458-17600-8 Techniken zur Bewälti-
gung von Depressionen.
Catri Tegtmeier, Michael
Wie unser Gehirn Sie de-
€ 8,00 A. Tegtmeier: Wie Stress
im Beruf krank macht und
pressiv macht und was
Sie dagegen tun können.
wie Sie sich schützen.
Aus dem Englischen von
Walhalla, Regensburg
Claudia Campisi. Junfer-
2013, 239 S., V 29,–
mann, Paderborn 2013,
274 S., V 24,90

Jetzt bestellen

www.shop-psychologie-heute.de
93
C ar toon

P S YC H O L O G I E H E U T E Mai 2 0 1 4
94

Im nächsten Heft
Kindheit im Zeitraffer
Ist das schon die Pubertät? So früh? Mit
zehn Jahren? Eltern sind oft erstaunt,
wenn sie bei ihren Kindern entsprechen-
de körperliche Veränderungen beobach-
ten. Nicht immer sind diese dann schon
in der Pubertät, möglich aber ist es
schon. Denn diese Entwicklungsphase
verschiebt sich stetig nach vorne. Warum
ist das so? Und was tun mit Kindern, die
pubertieren, obwohl sie noch mit Lego
spielen?

Schöne Wehmut
„Hör mal, sie spielen unsere Musik!“
Dieser Hinweis kann ein Paar in einen
wohligen Zustand versetzen. Die Ge-
sichtszüge werden weich, ein Lächeln
umspielt die Mundwinkel. Auch ein
altes Foto, eine bestimmte Erinnerung
oder ein Duft können diese Reaktion
hervorrufen: Wir werden nostalgisch.
Ein schöner Zustand, für den sich jetzt
auch die Psychologen interessieren. Sie
T I T E LT H E M A
wollen wissen: Kann man nostalgische
Gefühle gezielt hervorrufen und damit
Bleiben – eine prima Alternative das Leben leichter machen?

Warum Sie in Beziehungen nicht vorschnell Die Angst der Chefs


die Flinte ins Korn werfen sollten Vorgesetzte zu fürchten ist kein ganz
seltenes Phänomen. Weniger bekannt ist,
Sie haben keine Hoffnung mehr? Die Beziehung, in der Sie leben, ist festge- dass auch viele Führungskräfte selbst
fahren, alle Veränderungsversuche sind gescheitert? Zärtlichkeit, interes- mit arbeitsbezogenen Ängsten bis hin zu
siertes Zuhören, Aufmerksamkeit, Freude haben sich verabschiedet? In Panikattacken zu kämpfen haben. Die
vielen Partnerschaften geht verloren, was zu Beginn der Liebesbeziehung Erforschung dieser – weitgehend tabu-
selbstverständlich war. So manches Paar lebt dann nur noch resigniert isierten – psychischen Belastungen steht
nebeneinander her. Oder denkt immer wieder an Trennung. Die aber ist noch am Anfang.
vermeidbar, meint der Paarforscher Guy Bodenmann, Professor für
Klinische Psychologie an der Universität Zürich. Er sieht im „emotionalen
Updating“ eine Lösung.
Außerdem:
■ Die Metaphern unseres Lebens

■ Wie geht’s dem Zeitgeist?

■ Die Philosophie der Mäßigung

D I E J U N I AU SG A B E VON P S YCHOLOGIE HEUTE


E RSC H E I N T A M 14 . M A I

PSYC H O LO G I E H EUTE M a i 2014

Das könnte Ihnen auch gefallen