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Sonder-
ausgabe
W
as hat die Kollegin eben gemeint mit ih- keiten gleichmütiger zu begegnen und von Fall zu
rer spitzen Bemerkung? Warum igno- Fall zu entscheiden, wie wir die Einschätzung des
riert mich der Nachbar so geflissentlich? Soziometers bewerten wollen: Wie schlimm ist die
Wie stehe ich jetzt vor den Leuten da – nachdem ich Zurückweisung? Will ich die Kritik ernst nehmen?
so ins Fettnäpfchen getreten bin? Manches, was wir Ist dieser Mensch wichtig für mich?
im Alltag mit anderen erleben, geht uns buchstäblich Auch Hinweise, wie sie der amerikanische Sati-
unter die Haut. Anderes nehmen wir zwar zur Kennt- riker und Autor Roger Rosenblatt in seinem Buch
nis, aber es perlt an uns ab wie das Wasser an der Rules for Aging (Regeln fürs Älterwerden) gibt, sind
Ente, es lässt uns kalt. Und wieder anderes ist uns hilfreich, die Ausschläge des Soziometers in Grenzen
so was von gleichgültig, dass wir Karl Valentin zi- zu halten:
tieren könnten: „Das ignoriere ich nicht einmal!“ „Es ist nicht wichtig!“ Was immer wir denken –
Leider gelingt uns das mit dem Nicht-mal-Ignorieren es ist sub specie aeternitatis nicht wirklich von Be-
bei weitem nicht so gut, wie wir es gerne hätten; wir deutung. Ob der Boss böse guckt, ob die Freundin
sind meist alles andere als gelassen, wenn wir Krän- zickig ist, ob man einen bad hair day hat – was soll’s!
kungen erfahren oder vor Scham in den Boden ver- Und ein zweiter Hinweis: „Niemand denkt an dich!“
sinken möchten. Soll heißen: Wir bilden uns nur ein, dass die anderen
Es ist ein normaler Impuls, auf Kritik und Zu- zwei Drittel ihres Tages damit verbringen, über un-
rückweisung irritiert und betroffen zu reagieren. sere Angelegenheiten zu räsonieren oder unsere Ar-
Denn als soziale Wesen kann es uns nicht gleichgül- beit zu kritisieren oder unser Aussehen zu bewerten.
tig lassen, wie unsere Mitmenschen uns sehen und Rosenblatt: „Niemand denkt über dich nach. Die
bewerten. Unser Wohlbefinden hängt in hohem Ma- anderen denken an sich – so wie du auch!“
ße von der Akzeptanz und Wertschätzung anderer
ab, wir haben ein starkes Bedürfnis, uns zugehörig
und eingebunden zu fühlen. Über dieses need to be-
long wacht ein psychologisches System, das die So-
zialpsychologen Mark R. Leary und Roy Baumeister
als „Soziometer“ beschrieben haben. Dieses scannt
automatisch und ununterbrochen unsere soziale
Umgebung, um zu prüfen, wie es um unseren Be-
ziehungswert steht. Registriert es – zum Beispiel –
kritische Blicke oder negative Kommentare, signa-
lisiert das System: „Da stimmt was nicht!“ Unser
Selbstwertgefühl verschlechtert sich, wir fühlen uns
unwohl und unglücklich, grübeln über das Gesche-
hene nach. Die Arbeit des Soziometers spüren übri-
gens nicht nur die Sensiblen unter uns, sondern auch
Menschen, die glauben, von der Meinung anderer
u.nuber@beltz.de
weitgehend unabhängig zu sein.
Es lässt uns also nicht kalt, wenn andere mit uns
nicht einverstanden sind (und wir deshalb nicht mit
uns). Doch wir können lernen, unempfindlicher zu
werden und uns ein dickeres Fell zuzulegen, das uns
schützt vor unvermeidlichen Nadelstichen (Seite 18).
Denn – und das ist die gute Nachricht – wir sind
unserem Soziometer nicht ausgeliefert. Es ist mög-
lich, uns und unseren ganz normalen Unzulänglich-
TITELTHEMA
RUBRIKEN
78 Pehnts Alltag
Lob und Wahrhaftigkeit
Von Annette Pehnt
3 Editorial
6 Themen&Trends
52 Körper&Seele
57 Schilling & Blum: Irgendwas mit Menschen
80 Buch&Kritik
91 Medien
92 Leserbriefe
93 Impressum
94 Im nächsten Heft
95 Markt
106 Noch mehr Psychologie Heute
DOI: 10.1016/j.paid.2016.01.028
Schön glücklich?
Viele Menschen gehen ins Fitnessstudio, um ihren Körper
zu stählen. Manche unterziehen sich gar einer Schönheits-
OP. Da liegt die Vermutung nahe: Hätten wir ein hübscheres
Gesicht und einen attraktiveren Körper, dann wären wir auch
glücklicher. Dem widerspricht eine neue Studie des polni-
schen Glücksforschers Lukasz Kaczmarek von der Adam-
Mickiewicz-Universität in Posen.
Kaczmarek teilte 97 Probanden in zwei Gruppen ein. Die
eine Hälfte startete mit Fragen zum eigenen Aussehen und
dachte dann über ihre Lebenszufriedenheit nach. Die ande-
ren Teilnehmer widmeten sich den Aufgaben in umgekehr-
ter Reihenfolge.
Das Ergebnis: Je attraktiver die Probanden sich selbst ein-
schätzten, desto glücklicher schienen sie zu sein – aber nur
dann, wenn sie zuerst zu ihrem Aussehen befragt worden
waren. Im umgekehrten Fall war die Verbindung zwischen
Schönheit und Befinden nur sehr schwach ausgeprägt.
Wie kann das sein? Kaczmarek geht davon aus, dass die
Probanden einer sogenannten „Fokussierungsillusion“ un-
terliegen: Erst wenn sie darauf gestoßen werden, dass ihr
Glück etwas mit ihrem Aussehen zu tun haben könnte, stel-
len sie eine zuvor irrelevante Verbindung zwischen den
Aspekten her. Dazu bemerkte schon der Psychologe und
Nobelpreisträger Daniel Kahneman: „Nichts im Leben
ist so wichtig, wie man denkt, es sei denn, man denkt dar-
über nach.“ PATRICK SPÄT
Lukasz D. Kaczmarek u.a.: Would you be happier if you looked better? A focusing
illusion. Journal of Happiness Studies, 17, 2016, 357–365. DOI: 10.1007/s10902-014-
9598-0
DOI: 10.1016/j.foodqual.2016.02.010
Markus H. Schafer, Laura Upenieks: The age-graded nature of advice: Distributional patterns
and implications for life meaning. Social Psychology Quarterly, 79/1, 2016, 22–43. DOI:
10.1177/0190272516628297
Verbreitete Vorstellung
Schätzungsweise 37 Prozent aller Kinder im Alter bis
zu sieben Jahren haben zeitweise einen imaginären Freund.
Schließt man Kuscheltiere oder andere Spielzeuge, die Vielfältige Gestalten
als lebendig behandelt werden, mit ein, sollen es Ein zwei Meter großer Hase, ein gemütlicher
sogar 65 Prozent sein. Nicht immer wissen Bär, ein verständiger Stofft iger: Die Grenzen bei
die Eltern davon. der Gestalt und Persönlichkeit des imaginären
Freundes setzt nur die Fantasie des Kindes.
Viele dieser Kameraden sind unsichtbar und
verfügen über besondere Fähigkeiten, gerne
auch Zauberkräfte.
Die Quellen zu dieser Infografik finden Sie auf unserer Website: www.psychologie-heute.de/literatur
Abgründige Charaktere
Nicht alle imaginären Freunde sind freundlich:
Viele Kinder beschreiben ihren Begleiter auch als
streitsüchtig, ungehorsam und nicht zähmbar.
Trotzdem ist ihnen dabei durchaus bewusst,
dass es nur eine Vorstellung ist, die ihnen
Illustration: Eva Revolver/Sepia; Text: Eva-Maria Träger
Geteiltes Leid
Imaginäre Freunde können
Kindern als Beistand bei Krisen
und ihrer Bewältigung dienen.
Doch nicht jedes betroffene
Gewachsene Bindung Kind hat zwangsläufig Probleme.
Mädchen haben eher einen imaginären Viele scheinen besonders sozial
Freund als Jungen. Die Angaben des verständig, kreativ und fanta-
typischen Alters variieren: von drei bis sievoll zu sein, ohne auff ällige
sechs Jahren bis ins Jugendalter und Defizite. Doch welchem Zweck
darüber hinaus. Bei Teenagern kann auch immer der Fantasiefreund
ein Tagebuch die Funktion übernehmen, dient: Sobald er ihn erfüllt hat,
bei manchem Erwachsenen ein geliebter verschwindet er
Verstorbener – und viele Schriftsteller auch wieder.
fühlen sich beim Schreiben von
einem selbst erdachten
Charakter geführt.
Herr Dr. Brudermann, Sie beschäftigen sich wis- Die Rohheit und Aggressivität erinnern mich zum
senschaftlich mit Situationen, in denen Menschen Beispiel an den inszenierten Volkszorn in Libyen und
in der Gruppe ihre Individualität zu verlieren anderen arabischen Ländern im Jahr 2012. Ein
scheinen und zu einer gesichtslosen wütenden schlecht gemachtes YouTube-Video, das man als
Masse, zu einem Mob werden. War das in Claus- Schmähung des Propheten Mohammed empfand,
nitz und Bautzen der Fall? war damals der Initialzünder für Ausschreitungen,
Ich kann das, was dort vorgefallen ist, auch nur an- in denen unter anderem Botschaften attackiert und
hand der Medienberichte und Videos im Internet Fahnen verbrannt wurden. Der politische Hinter-
beurteilen und habe daher ein unvollständiges Bild. grund war ein anderer, aber die psychologischen Me-
Doch diese Bilder und Berichte legen nahe, dass wir chanismen sind ähnlich.
es hier mit einem aggressiven Mob zu tun haben, wie Um mal ein unpolitisches Beispiel zu nehmen: In-
wir ihn in Deutschland zumindest in der jüngeren wiefern ähnelt und unterscheidet sich der Mob in
Vergangenheit nicht oft gesehen haben. Clausnitz von einer Horde aufgebrachter Fußball-
Fallen Ihnen andere Begebenheiten ein, die dem fans, die fäusteschwingend den Mannschaftsbus
vergleichbar sind, was da in Sachsen passiert ist? belagern?
walttätigkeit, das aus dieser Dynamik entstehen kann, nen und der Bevölkerung insgesamt ab. Bestimmte
ist schwer vorauszusagen. Rahmenbedingungen machen uns empfänglicher für
Welche Rolle spielen Emotionen in diesem Pro- psychologische Ansteckung. Dabei sind zwei Fakto-
Thomas
zess des Hochschaukelns?
Brudermann ist
ren entscheidend: emotionale Erregung und Unsi-
Massen sind charakterisiert durch eine einzige ein- Assistenzprofessor cherheit. Die Psychologen Stanley Schachter und Je-
fache, starke Emotion, die alle vereint. Das kann auch an der Universität rome Singer haben schon in den 1960er Jahren in
Graz. Er schrieb
Euphorie sein, etwa der Investoren an der Börse, die Experimenten gezeigt, dass ängstliche oder eupho-
das Buch Massen-
dann zu Spekulationsblasen führt. Es kann Angst psychologie rische Erregung einerseits und Orientierungslosigkeit
sein, etwa bei einer Massenpanik. Oder eben Wut. (Springer 2010). andererseits Menschen anfälliger machen für Sug-
gestion: Sie nehmen dann eher die Erklärungen von Wenn ich Ich meine: ja. Es ändern sich ja nicht nur die politi-
anderen an, statt selbst abzuwägen. In einer Situati- Teil eines schen, sondern auch die wirtschaftlichen und gesell-
on wie jetzt haben wir beides: Wir haben Unsicher- Mobs bin, schaftlichen Rahmenbedingungen. Wir leben nun
heit – es kommen viele Zuwanderer, Flüchtlinge aus schon seit einigen Jahren in einer Zeit problemati-
löst sich das
Kriegsgebieten, und wir wissen nicht, in welcher Wei- scher Wirtschaftsentwicklung. Die Jahrzehnte des
se dies unser Zusammenleben verändern wird und Empfinden Aufschwungs sind tendenziell vorbei oder zumindest
ob diese Entwicklung bedrohlich ist. In dieser Un- persönlicher ausgesetzt. Das bewirkt eine latente Unsicherheit, und
sicherheit schwingt schon eine ängstliche Erregung Verant- die heftigen Reaktionen auf die Flüchtlingskrise zeu-
mit, und wenn dann ein Ereignis wie in der Silves- wortung gen von dieser Unsicherheit. Vor 15 Jahren wäre die
ternacht in Köln hinzukommt, dann kommt eine praktisch in Reaktion vielleicht gelassener ausgefallen. Der ame-
zusätzliche heftige Emotion hinzu, nämlich Wut. Das rikanische Finanzwissenschaftler Robert Prechter
nichts auf
ist der perfekte Nährboden für psychologische An- geht in seiner Socionomics-Theorie sogar davon aus,
steckung, für Suggestion, für einfache Erklärungen. dass die social mood, die gesellschaftliche Grund-
Daraus entstehen Massenphänomene. stimmung, keine Folge von Ereignissen ist, sondern
Ist eine Masse erst einmal entstanden, geht von umgekehrt die treibende Kraft hinter diesen Ereig-
ihr eine „hypnotische Wirkung“ aus, meinte Gus- nissen: Ängstliche Menschen führen Kriege. In Zei-
tave Le Bon, der Ende des 19. Jahrhunderts die ten des Optimismus gründet und erweitert man die
Massenpsychologie begründete. Kann man sich EU, in pessimistischen Zeiten, wie wir sie heute er-
dem Sog einer Masse dann gar nicht entziehen? leben, haben wir die Spaltungstendenzen.
Le Bon hatte in vielem recht und hat sehr viel vor- Welche Rolle spielt die Pegida-Bewegung aus
weggenommen. Allerdings sollte man relativieren: massenpsychologischer Sicht?
Eine Masse kann anziehen, aber auch abstoßen, je Sie ist eine Art Wegbereiter. Pegida reduziert sämt-
nach persönlichem Hintergrund. Ein überzeugter liche gesellschaftlichen Entwicklungen auf ein The-
Befürworter der Willkommenskultur, der einen sol- ma: Bildungsrückstand, Kriminalität, Arbeitslosig-
chen Mob erlebt, wird sich sicher abgestoßen fühlen. keit, Wohnungsmangel – alles wird auf Einwande-
Aber: Jeder, der schon einmal im Fußballstadion von rung und Überfremdung zurückgeführt. Diese ein-
einer kollektiven Begeisterung erfasst worden ist – dimensionale Diskussion senkt bei Einzelnen
oder von einer tiefen Trauer wie nach den Attentaten Hemmschwellen: Wer davon überzeugt ist, auf der
von Paris –, der weiß, dass von solchen Massen schon moralisch richtigen Seite zu stehen, schließt sich leich-
eine ganz besondere Wirkung ausgeht. ter einem Mob wie in Clausnitz an. Und das senkt
Sie vermuten unterschiedlich hohe individuelle seinerseits die Hemmschwelle für weitere Mobs: Der
„Reizschwellen“: Der oder die eine steckt sich Tabubruch ist dann ja bereits etabliert.
leichter mit dem Massenvirus an, der andere ist „Das sind keine Menschen, die so etwas tun“, ent-
resistenter. Wovon hängt das ab? fuhr es dem sächsischen Ministerpräsidenten Sta-
Wahrscheinlich von der persönlichen Geschichte, nislaw Tillich nach Clausnitz und Bautzen. Wird
dem Erfahrungsschatz und zum Teil von der Persön- man tatsächlich „entmenschlicht“, wenn man
lichkeit. Manche sind zudem anfälliger, sich von eu- zum Bestandteil einer Masse wird?
phorischen Emotionen anstecken zu lassen, andere Ich denke, wir müssen uns ohnehin von dem lange
stecken sich eher mit einer aggressiven Stimmung vorherrschenden humanistischen Ideal eines ratio-
an. Aber entscheidend sind vor allem die Rahmen- nalen, eigenständig denkenden Menschen verabschie-
bedingungen, das gesellschaftliche Klima, denn dies den. Wir Menschen sind nicht von Vernunft und
ändert die Reizschwellen von sehr vielen Menschen. Weisheit allein angetrieben. Wir handeln in vielen
Wir haben in unserem Modell beobachtet, dass oft Situationen intuitiv und rationalisieren unsere Hand-
schon eine geringfügige Änderung der durchschnitt- lungen erst im Nachhinein. Als soziale Wesen orien-
lichen Reizschwelle in einer Population darüber ent- tieren wir uns fast immer an dem, was andere Men-
scheidet, ob sich ein Massenphänomen ausbreitet schen denken, meinen und tun. Aus neurowissen-
oder nicht. schaftlichen Studien weiß man, dass wir gar nicht in
Flüchtlingskrise, Kriege rund um Europa, Terror- der Lage sind, solche sozialen Einflüsse auszublenden.
anschläge, schwere Konflikte innerhalb der EU In einer psychologischen Masse multipliziert sich
bis hin zum drohenden Zerfall: Leben wir in einer dieser Effekt sozialer Einflüsse natürlich enorm.
Zeit gesenkter Reizschwellen mit der Gefahr Schon in Gruppen verringert sich das individuelle
kaum kalkulierbarer Massenbewegungen? Verantwortungsgefühl. Wenn ich Teil eines Mobs
D
er ältere Mann mit grau melierten Er war Lehrer mit Leib scheinlich die Themen, die ihn belasten
Haaren, gepflegt und sorgfältig und umtreiben. Ich vermute, dass der Be-
gekleidet, wirkt etwas steif. Ich
und Seele. Nun steht die ruf auch ein Halt nach dem Tod seiner
frage ihn nach seinem Anliegen. Er schaut Pensionierung vor der Frau war. So konnte er den Schicksals-
auf den Boden. „Angst. Depression. Bei- Tür. Das bereitet ihm schlag leichter überwinden. Und die Aus-
des.“ Ich erfahre, dass er in einem Jahr sicht, dass er bald ohne diese Struktur im
Angst. Doch in Gesprächen
pensioniert wird und ihn das schon seit Alltag sein wird, dass ein Vakuum entste-
langem sehr ängstigt und bedrückt. „Ich mit der Psychotherapeutin hen könnte, ist natürlich ängstigend und
liebe meinen Beruf, und ich brauche ihn“, Margarethe Schindler deprimierend. Er denkt nach. „Ich brau-
erklärt er. Dann berichtet er, dass er als che Aufgaben“, fährt er fort. „Ohne Auf-
erkennt der Klient, dass
Gymnasiallehrer arbeitet und ihm der gaben ist mein Leben sinnlos.“ Ich erfah-
Kontakt mit den Schülern und Schülerin- das Leben durchaus noch re, dass seine Frau lange Zeit krank war
nen immer sehr wichtig war und ihn er- Neues bereithalten könnte und er sie gepflegt hat. „Ich war ja nach-
füllt. „Wahrscheinlich weil ich keine ei- mittags zu Hause“, erklärt er.
genen Kinder habe“, erklärt er. „Mit den Nun möchte ich gern mehr über seine
Kollegen ist es schwieriger als mit den Herkunft erfahren. „Wie sind Sie aufge-
Schülern. Die mögen mich.“ wachsen?“
Ich sehe, dass er den Tränen nahe ist. „Bei uns zu Hause war das Geld immer
„Und jetzt haben Sie Angst vor der Leere knapp“, fängt er an. „Das war schlimm.
nach der Pensionierung“, vermute ich. Er Ich schämte mich vor den Klassenkame-
nickt. Ich bitte ihn, mir Näheres über sei- raden, weil ich zum Beispiel nur mit fi-
ne Lebenssituation zu erzählen. nanzieller Unterstützung aus der Klassen-
Unter Tränen erzählt er, dass seine Frau Margarethe Schindler kasse ins Schullandheim mitkonnte. Aber
vor zwei Jahren gestorben ist und er seit- ist Psychologische Psychothera- ich war ein guter Schüler und wollte spä-
peutin und arbeitet als systemische
her allein lebt. Noch ein Verlust, denke Paar- und Familientherapeutin in
ter unbedingt studieren. Ich wollte etwas
ich. Abschied und Verlust sind wahr- eigener Praxis in Tübingen. werden, anders als mein Vater, der nur
könnte die genutzt werden? re. Anstelle von Leistung neue Eindrücke
Nach längerem Nachdenken kommt und emotionale Wiederanbindung an die
ihm die Idee, dass er vielleicht bedürftigen Schwester. Jetzt, wo er bald Zeit im Über-
Kindern ehrenamtlich Nachhilfeunter- fluss hat. www.hogrefe.ch/85239
richt geben könnte. Oder Kurse in der
Volkshochschule. Das würde gut zu sei-
nem Beruf passen. Auf diese Weise ent-
TITEL
Drüber
stehen!
Stress ist unvermeidbar. Ungerechtigkeiten passieren.
Wir können nicht verhindern, dass andere Menschen
uns verletzen. Ein dickeres Fell könnte helfen,
die kleinen und großen Kränkungen des Lebens
besser zu ertragen. Nur: Was tun, wenn man eher
zu den Dünnhäutigen und Sensiblen gehört?
VON BIRGIT SCHÖNBERGER
D
as Seminar Gesprächsführung geht ge später geht sie die demütigende Szene immer wie-
zu Ende. Die Trainerin hat ein gutes der in Gedanken durch. Und sie wünscht sich: „Hät-
Gefühl. Es war lebendig und inten- te ich doch nur ein dickeres Fell, an dem destruktive
siv, immer wieder löste sich die Kritik, gemeine Spitzen, nervende Jammertiraden,
Spannung durch befreiendes La- stressige Situationen und die täglichen Katastrophen-
chen. Bei der Abschlussrunde blickt sie in offene Ge- meldungen einfach abperlen wie Wassertropfen!“
sichter. Die Rückmeldungen sind positiv, manche „Mir fehlt ein dickes Fell.“ Dieser Satz fällt regel-
sogar überschwänglich. Guter Aufbau, tolle Übun- mäßig, nicht nur in Psychotherapien und Coachings,
gen, viele Aha-Momente. Sie freut sich schon auf ei- auch in Gesprächen mit Freunden und Kollegen. Va-
nen Espresso und ein Stück Kuchen in ihrem Lieb- riationen sind: „Ich möchte nicht mehr so empfind-
lingscafé. Da platzt die Bombe. „Sie haben es sich ja lich sein“, „Ich will nicht alles persönlich nehmen“,
verdammt leicht gemacht“, schimpft der letzte Teil- „Ich wünsche mir, dass Kritik an mir abperlt“, „Ich
ILLUSTR ATIONEN: HELENA PALL ARÉS
nehmer mit hochrotem Kopf. „Wir mussten alles will nicht so kränkbar sein“. Häufig ist die Sehnsucht
selbst machen. So, wie Sie arbeiten, möchte ich mal nach einem dicken Fell verbunden mit der Vorstel-
Urlaub machen. Das hat mir alles gar nichts gebracht. lung, andere seien im Besitz dieser beneidenswerten
Ich werde mich beschweren.“ Die Trainerin sackt in- Schutzschicht, nur man selbst sei vergessen worden,
nerlich in sich zusammen, die guten Rückmeldungen als die Felle verteilt wurden. Doch die Vorstellung
sind vergessen. Selbstzweifel tauchen auf. „Was habe vom dicken Fell, das in allen Lebenslagen zuverlässig
ich falsch gemacht? Bin ich eine schlechte Trainerin? vor Kränkungen, Vorwürfen, kritischen Bemerkun-
Werde ich weitere Aufträge bekommen?“ Noch Ta- gen und anderen unangenehmen Dingen schützt, hat
Ein dickes Fell schützt es ist auch kein Kampfanzug, mit dem wir uns gegen
die Außenwelt verteidigen.“ Vielmehr, so Berckhan,
das Immunsystem. sei es so etwas wie „ein Umhang, der dafür sorgt,
dass ich innerlich stabil und ruhig bleiben kann, wäh-
Es mildert die Wucht rend ich in einer stressigen Situation stecke.“ Wenn
von Kränkungen und uns ein Verkehrsstau in Zeitnot bringt, ein Streit mit
der Partnerin uns nachgeht, das Kind schlechte No-
Stresssituationen ten nach Hause gebracht hat und ein Wasserrohrbruch
im Haus für Chaos sorgt, dann kann eine gewisse
seelische Immunität all das zwar nicht verhindern,
aber sie kann die Wucht der Geschehnisse abmildern.
„Ein dickes Fell ist nicht davon abhängig, ob Sie
viel mit magischem Denken und wenig mit der Re- zufällig die richtigen Gene haben oder in einer tollen
alität zu tun. Das Bild des dicken Fells, so verlockend Familie aufgewachsen sind. Ihr dickes Fell hängt vor
und schön es ist, kann in eine Sackgasse führen. Es allem davon ab, mit welcher Grundhaltung Sie an
suggeriert, entweder man hat es oder man hat es nicht, die Dinge herangehen“, so Barbara Berckhan. „Sie
und wenn man in der glücklichen Lage ist, eins zu können das, was Ihnen das Leben serviert, innerlich
haben, braucht man es sich nur überzuziehen, und anders verarbeiten.“ Sie empfiehlt unter anderem,
schon ist man souverän, gelassen und unverwund- sich auf das Hilfreiche, Brauchbare, Angenehme zu
bar. konzentrieren und weniger auf das Nervige, Stören-
„Am liebsten wäre uns eine Pille, die wir einwer- de und Unangenehme und sich folgende Fragen zu
fen können, und dann tut es nicht mehr weh. Das ist stellen: Inwieweit bringt mich das, was mich nervt,
ein ganz normaler menschlicher Wunsch, nur leider ärgert oder stresst, weiter? Was kann ich daraus ler-
oder glücklicherweise ist er nicht erfüllbar“, sagt die nen? Was kann ich bei diesem Problem trainieren
Psychotherapeutin Bärbel Wardetzki. „Es wäre doch oder üben? Welche zu hohen Erwartungen kann ich
langweilig, wenn wir von morgens bis abends total endlich loslassen? Was gibt mir jetzt Kraft? Welche
kompetent wären und jedes Problem sofort vom Tisch Gedanken beruhigen oder trösten mich? Ziel ist nicht,
wischen könnten. Viele sagen, wenn ich ein dickes sich Unangenehmes schönzureden, sondern auch in
Fell hätte, würde es mir nichts mehr ausmachen, wenn schwierigen Situationen die eigene Stärke zu spüren,
mein Chef mich runterputzt oder mein Partner ex- mitten in der Turbulenz eines Angriffs.
zessiv mit anderen flirtet. Aber das ist Unsinn. Wenn Nur, wie geht das? Wie verändert man seine Ein-
ich so ein dickes Fell habe, dass mir solche Verlet- stellung und lernt, unempfindlicher gegen die kleinen
zungen nichts mehr ausmachen, bin ich nicht sou- oder größeren Nadelstiche zu werden? Es gibt Stra-
verän, sondern ein unerträglicher Zombie. Wir kön- tegien, die helfen, schneller wieder ins Gleichgewicht
nen nicht unverletzbar werden.“ (Siehe Interview zu kommen und die innere Mitte zu finden und von
Seite 24). dort aus besonnen und entschlossen zu handeln:
Dass andere uns Druck machen, unfair behandeln,
auf die Nerven gehen, im Stich lassen, kurz: sich nicht Erste Hilfe: Abstand gewinnen
so verhalten, wie wir es uns wünschen, können wir „Das kann auch nur mir passieren“, „Was denken die
nicht verhindern, auch nicht mit einem dicken Fell. anderen jetzt von mir?“, „Wäre ich nur selbstbewuss-
Ebenso wenig, dass das Leben uns immer wieder mit ter aufgetreten“ – wenn die Gedanken düster werden
schwierigen Situationen, Enttäuschungen, Verlusten und ständig um ein belastendes Erlebnis kreisen, hilft
und Schmerz konfrontiert. Die gute Nachricht aber als Erstes: Abstand gewinnen und ein paar Schritte
ist: Es ist möglich, mit Kritik, Anfeindungen, Igno- zurücktreten. Räumlich und mental. Oft wirkt es
ranz und Stress besser umzugehen und daran zu Wunder, den Raum zu verlassen, ein paar Schritte
wachsen. an der frischen Luft zu gehen, sich auf der Toilette
Für die Kommunikationstrainerin Barbara Berck- einzuschließen, ein paar tiefe Atemzüge zu nehmen
han ist ein dickes Fell ein „Aufprallschutz, der ver- und dann zurückzugehen in die stressige Konferenz
hindert, dass wir allzu gestresst werden. Oder dass oder das schwierige Gespräch mit dem Partner. Wenn
wir uns zu sehr über etwas aufregen.“ Auf keinen physischer Abstand nicht möglich ist, kann es ent-
Fall, so betont sie, ist das dicke Fell eine „starre Ab- lastend sein, innerlich auf Distanz zu gehen, die Si-
wehrmauer, mit der wir uns rigoros abschotten. Und tuation aus der Vogelperspektive zu betrachten oder
Wer dickfelliger
werden will,
sollte prüfen:
Stimmt das, was
ich über andere
denke?
sich vorzustellen, man säße an einem Flussufer und einfachen Gefallen abschlagen? Leute wie dieser Kerl
könne aus sicherer Entfernung zuschauen, wie die vergiften einem das Leben. Und dann bildet er sich
Turbulenzen des Alltags vorbeitreiben. noch ein, ich sei auf ihn angewiesen. Bloß weil er
einen Hammer hat. Jetzt reicht’s mir aber wirklich.“
Die eigene Interpretation überprüfen – Und so stürmt er hinüber, läutet, der Nachbar öff-
Ein Mann will ein Bild aufhängen. Den Nagel hat er, net, doch noch bevor er „Guten Tag“ sagen kann,
nicht aber den Hammer. Der Nachbar hat einen. Al- schreit ihn unser Mann an: „Behalten Sie Ihren Ham-
so beschließt der Mann, hinüberzugehen und ihn mer, Sie Rüpel!“
auszuborgen. Doch da kommt ihm ein Zweifel: „Was, Diese berühmte Geschichte, die auf Paul Watzla-
wenn der Nachbar mir den Hammer nicht leihen wick zurückgeht, erzählt der Würzburger Psycho-
will? Gestern schon grüßte er mich nur so flüchtig. therapeut Frank-M. Staemmler in seinem aktuellen
Vielleicht war er in Eile. Aber vielleicht war die Eile Buch Kränkungen. Verständnis und Bewältigung all-
nur vorgeschützt, und er hat etwas gegen mich. Und täglicher Tragödien nach, um aufzuzeigen, wie sehr
was? Ich habe ihm nichts angetan; der bildet sich da scheinbare Gewissheiten einen in die Irre führen
etwas ein. Wenn jemand von mir ein Werkzeug bor- können. „Die Wirkung, die das Verhalten des ande-
gen wollte, ich gäbe es ihm sofort. Und warum er ren auf mich hat, hängt weniger von dessen Verhal-
nicht? Wie kann man einem Mitmenschen einen so ten, sondern mehr davon ab, wie ich sein Verhalten
auffasse und deute“, so res suchen, der meinen Wunsch teilt. Wünsche darf
Staemmler. „Wenn man man äußern, aber man kann nicht erwarten, dass sie
diese Einsicht für sich nut- in Erfüllung gehen. Wer das akzeptiert, ist vor Krän-
zen möchte, kann man da- kungsgefühlen geschützter und dickfelliger als ein
raus ableiten, dass man aus Mensch, der ein Bedürfnis äußert und erwartet, dass
der Kränkung, die man andere darauf positiv reagieren. „Die Wahrschein-
empfindet, weniger über lichkeit, sich gekränkt zu fühlen, sinkt, je weniger
die Absichten des anderen man an seine Wünsche die Erwartung, die Forderung
erfährt als über die eigenen oder den Anspruch koppelt, sie müssten so erfüllt
Interpretationen.“ werden“, so Staemmler. Ein gewisses Maß an „Be-
Wer dickfelliger werden scheidenheit und Demut“ könne helfen, die seelische
will, sollte den eigenen Immunität zu stärken, „Wer andere Werte über den
Deutungen auf die Spur des eigenen Selbst stellt, ist weniger durch Kränkun-
kommen – zum Beispiel gen gefährdet“, stellt Frank-M. Staemmler fest.
durch offene Fragen. Fragt
sich die Trainerin im Ein- Buddhistisch werden
gangsbeispiel: „Was könnte Wie auch immer man zum Buddhismus steht, eini-
der Teilnehmer mit seiner ge buddhistische Prinzipien der Gelassenheit können
Super, ich bin Kritik meinen?“, fallen ihr garantiert mehr Möglich- helfen, den Herausforderungen des Alltags flexibler
nicht durch- keiten ein, als wenn sie denkt: „Was hat er damit und gelassener zu begegnen: wahrnehmen, was ge-
gedreht: Jede
Kränkung, die gemeint?“ Denn Studien zeigen, „dass Menschen auf rade geschieht, ohne es sofort zu bewerten; anneh-
wir überwinden, offene Fragen sehr viel kreativer antworten als auf men, was ist, ohne es größer oder kleiner zu machen
ist eine Einzah- solche, die nur eine Antwort zulassen“, erklärt Sta- (nicht leugnen, aber auch nicht dramatisieren); er-
lung auf unser
Selbstwertkonto
emmler. kennen, dass nur ein Teil von mir verwundet oder
Eine weitere Möglichkeit, die eigenen Überzeu- hilflos ist; nicht verallgemeinern, denn nur im Mo-
gungen infrage zu stellen, zeigt die amerikanische ment fühlt es sich schrecklich an, aber das geht auch
Therapeutin Byron Katie auf. Sie bittet ihre Klienten, wieder vorbei; sehen, dass man nicht der Einzige ist,
ihre Überzeugungen aufzuschreiben und sich dabei der leidet. Andere machen gerade Ähnliches durch.
zu fragen: „Kannst du wirklich wissen, dass das so Und schließlich helfen Fragen wie: Was werde ich in
stimmt?“ zehn Jahren über dieses Ereignis denken? Wird es
überhaupt noch eine Rolle spielen? Werde ich wo-
Erwartungen senken möglich darüber lachen?
Wer gekränkt wird, wer unter schmerzhaften (klei- Ein dickes Fell schützt uns nicht vor Verletzungen,
nen oder großen) Nadelstichen anderer leidet, wird aber es schützt unsere Ressourcen, unsere Energie
diese Aufforderung irritierend finden. Wie können und unsere Kraft. Wer dickfelliger wird, „besinnt
wir Verhaltensweisen anderer, die uns treffen und sich auf seinen Wert, seine Fähigkeiten und Mög-
verletzen, nicht wichtig nehmen? Sicherlich hängt es lichkeiten und lebt sie unabhängig von dem, was
von der jeweiligen Situation ab, ob wir es schaffen, draußen ist“, sagt Bärbel Wardetzki. „Jede Kränkung,
einen Schritt zurückzutreten und Abstand zwischen die ich überwunden habe, ist eine Einzahlung auf
dem Stressor und unserem Erleben zu schaffen. mein Selbstwertkonto. Weil ich mir dann auf die
Grundsätzlich aber hält Frank-M. Staemmler für Schulter klopfen und sagen kann: Super, ich bin nicht
sinnvoll, sich eines klarzumachen: Wir können nicht durchgedreht, ich habe mich nicht selbst beschimpft,
erwarten, dass andere immer auf unsere Wünsche ich habe mein Problem gelöst. Dann werde ich auch
eingehen, und wir sollten auch berücksichtigen, dass zukünftige Kränkungen anders erleben und verar-
ihre Interessen anders gelagert sind als unsere. An- beiten.“
genommen, man hat den Wunsch, mit einem Freund
LITERATUR
einen Spaziergang zu machen, der aber hat keine Lust
und lässt uns abblitzen. Dann, so Staemmler, „muss Frank-M. Staemmler: Kränkungen. Verständnis und Bewältigung
alltäglicher Tragödien. Klett-Cotta, Stuttgart 2016
ich nicht gleich beleidigt sein, sondern kann mich
Barbara Berckhan: Das dicke Fell. Wie Sie sich vor Frustfallen
vielleicht damit anfreunden, mit ihm eine Fahrrad- und Nervensägen schützen. Kösel, München 2014
tour zu machen oder mich einfach nur mit ihm in
Bärbel Wardetzki: Nimm’s bitte nicht persönlich. Der gelassene
den Garten zu setzen“. Oder ich kann jemand ande- Umgang mit Kränkungen. Kösel, München 2012
DICKFELLIGER WERDEN
Mentale Stärke hilft, cool zu bleiben
VON AMY MORIN
Finden Sie sich in den folgenden Ruhig bleiben • Welchen Beweis gibt es, dass das Ge-
Beispielen wieder? Wenn jemand etwas sagt, das Ihnen sagte nicht wahr ist? Überprüfen Sie,
• Sie fühlen sich von Kritik oder nega- nicht gefällt, und Sie fangen an ob Sie viel Mühe in Ihre Arbeit inves-
tivem Feedback tief betroffen, egal zu argumentieren, dann geben Sie tiert und hart gearbeitet haben.
wer sie äußert. den Worten noch mehr Gewicht. • Warum gibt mir dieser Mensch ein
• Ihr Selbstwertgefühl hängt davon Denken Sie vorher darüber nach, wie solches Feedback? Versuchen Sie
ab, was andere über Sie denken. Sie sich verhalten wollen, bevor Sie herauszufinden, warum jemand Ih-
• Sie sind lange verärgert, wenn je- reagieren. Jedes Mal, wenn Sie die nen negatives Feedback gibt. Weiß
mand Sie beleidigt oder verletzt hat. Kontrolle verlieren, geben Sie der derjenige genug über Sie? Wenn Ihr
anderen Person mehr Macht. Hier Chef Sie an einem Tag beobachtet
Wenn Sie diese Situationen kennen, ein paar Strategien, wie man ruhig hat, an dem Sie sich krank fühlten,
geben Sie anderen Menschen Macht bleiben kann: dann denkt er womöglich, Sie seien
über Ihre Gedanken, Ihre Gefühle und • Atmen Sie tief ein. Frustration und nicht sehr produktiv. Diese Schluss-
Ihre Handlungen. Wenn man sich als Wut rufen körperliche Reaktionen folgerung mag aber nicht richtig sein.
Opfer der eigenen Lebensumstände hervor, zum Beispiel Atemnot, • Möchte ich mein Verhalten verän-
betrachtet hat, dann fällt es oft Herzrasen und Schwitzen. Langsam dern? Es mag Zeiten geben, in de-
schwer zu erkennen, dass man die und tief ein- und ausatmen ent- nen Sie Ihr Verhalten verändern
Macht hat, seinen Weg selbst zu be- spannt Ihre Muskeln, was sich wie- möchten und Kritik annehmen.
stimmen. derum positiv auf Ihr emotionales Wenn Ihr Chef zum Beispiel sagt, Sie
Reaktionsvermögen auswirkt. seien faul, liegt es an Ihnen zu ent-
Wie schafft man es, seine Macht zu • Entziehen Sie sich der Situation. Je scheiden, ob Sie tatsächlich nicht so
bewahren und mental stark zu sein? aufgewühlter man ist, desto weniger viel Einsatz gezeigt haben, wie Sie
kann man rational denken. Erkennen gekonnt hätten. Vielleicht beschlie-
Ein Perspektivenwechsel Sie Ihre persönlichen Wut-Warn- ßen Sie, in Zukunft früher auf der
lohnt sich signale, zum Beispiel Zittern oder Arbeit zu sein und länger zu bleiben,
Manchmal benötigt man eine andere Schwitzen, und gehen Sie einfach weil es Ihnen wichtig ist, als fleißig
Sichtweise auf Dinge, um sich seine weg, bevor Sie die Kontrolle angesehen zu werden. Aber denken
Macht zurückzuerobern. Hier einige verlieren. Sagen Sie: „Darüber will Sie immer daran, dass Ihr Chef Sie
Beispiele: ich jetzt nicht reden.“ zu nichts zwingt. Sie verändern Ihre
• „Mein Chef macht mich so wütend.“ • Lenken Sie sich ab. Versuchen Sie Gewohnheiten, weil Sie das so
Vielleicht mögen Sie es nicht, wie Ihr nicht, ein Problem zu lösen oder wollen, nicht weil Sie müssen.
Vorgesetzter oder Chef sich Ihnen über etwas zu diskutieren, wenn Sie
gegenüber verhält, aber ist er wirk- emotional aufgeladen sind. Denken Sie immer daran, dass die
lich in der Lage, Sie wütend zu ma- Meinung eines Einzelnen nicht der
chen? Er mag sich nicht so beneh- Starker Umgang mit Kritik Wahrheit letzter Schluss ist. Man kann
men, wie Sie es gerne hätten, und Wenn Sie Kritik oder Feedback von auch auf respektvolle Art anderer
das hat Einfluss auf Ihre Gefühle, anderen bekommen, dann warten Sie Meinung sein, ohne Zeit und Energie
aber er zwingt Sie nicht dazu, etwas erst einmal, bevor Sie darauf antwor- darauf zu verschwenden, die Meinung
Konkretes zu empfinden. ten. Wenn Sie verärgert sind oder anderer revidieren zu wollen.
• „Mein Freund hat mich verlassen, emotional reagieren, dann nehmen
Amy Morin ist Psychotherapeutin und Sozial-
weil ich nicht gut genug für ihn bin.“ Sie sich Zeit, um sich zu beruhigen. pädagogin. Sie forscht seit vielen Jahren zum
Sind Sie wirklich nicht gut genug, Stellen Sie sich folgende Fragen: Thema mentale Stärke. Dieser
oder ist das nur die Meinung eines • Welchen Beweis gibt es dafür, dass Text ist ein Auszug aus ihrem
einzelnen Menschen? Nur weil ein das Gesagte wahr ist? Zum Beispiel Buch 13 Dinge, die mental
starke Menschen nicht tun. Für
Mensch so etwas denkt, heißt es wenn Ihr Chef behauptet, Sie seien
alle, die sich heute besser füh-
nicht, dass es wahr ist. Geben Sie ei- faul, überprüfen Sie, ob es Zeiten len möchten als gestern, das
nem Menschen nicht die Macht, dar- gab, in denen Sie vielleicht nicht so Ende Mai 2016 im S.-Fischer-
über zu bestimmen, wer Sie sind. ganz bei der Sache waren. Verlag erscheint.
ner damit nicht zur Geltung kommen lassen? In der Forschung sprechen Sie von einem rela-
Finn: Diese extreme Art von Selbstbewusstsein ist tionship-specific interpretation bias, einer Denk-
damit nicht gemeint. Es geht um Menschen, die mit falle, die selbstunsicheren Menschen das Bezie-
sich selbst zufrieden und im Reinen sind. Sie strah- hungsleben schwermacht.
len dies auch nach außen aus, und diese Sicherheit Finn: Das betrifft vor allem Menschen mit hohem
wirkt sich positiv auf den Partner und die Partner- „Neurotizismus“, die emotional nicht sehr stabil sind.
schaft aus. Selbstwertgefühl ist also gut für eine Be- Sie nehmen vieles im Leben eher negativ wahr und
ziehung, aber eine glückliche Beziehung ist auch gut reagieren daher oft unsicher oder gekränkt. Im Zwei-
für das Selbstwertgefühl. Dieses Merkmal ist sogar fel interpretieren sie harmlose oder allenfalls vieldeu-
eine Art Gradmesser dafür, wie sehr man sich in der tige Verhaltensweisen ihres Partners zu ihren Unguns-
Beziehung aufgehoben und vom Partner gemocht ten. Wenn der Partner ihnen etwa in einer hektischen
fühlt. Doch natürlich schadet es der Partnerschaft, Situation sagt, es gebe da noch etwas, was er später in
versität Jena und seinen Mitforschern das beide Partner, vermuten die Au-
WENN NÄHE
aus München und Berlin. Befragt wur- toren: den einen, weil er sich einge-
UNZUFRIEDEN den 332 zusammenlebende Paare engt fühlt; den anderen, weil der Part-
MACHT sowie 216 Paare, die mit Absicht und ner so wenig Nähe zulässt.
ohne beruflichen Zwang in getrenn- Dieses Missverhältnis spiegelte
Menschen mit einem hohen Be-
ten, aber nahe beieinanderliegenden sich auch in den Tagebüchern: Nor-
dürfnis nach Autonomie brauchen
Wohnungen lebten. Ein Teil der Paa- malerweise waren die Partner umso
Distanz zum Partner
re führte außerdem zwei Wochen zufriedener mit ihrer Beziehung, je
In einer Partnerschaft gilt es, zwei wi- lang ein Beziehungstagebuch für die mehr Zeit sie an dem betreffenden
derstreitende Bedürfnisse unter ei- Forschung. Tag zusammen verbrachten. Das galt
nen Hut zu bekommen: jenes nach Wie zu erwarten, war bei den auf übrigens auch für die getrennt leben-
Nähe und Verbundenheit (commun- Distanz lebenden Paaren das Grund- den Paare. Nur jene Probanden, die
ion) und jenes nach Distanz und Un- motiv nach Eigenständigkeit stärker a) ein hohes Autonomiebedürfnis hat-
abhängigkeit (agency). Honigsüße ausgeprägt als bei den zusammen- ten und b) mit dem Partner zusam-
Harmonie ohne agency ist kein er- lebenden. Ein starkes agency-Bedürf- menlebten, machte jede zusätzliche
strebenswerter Zustand. Doch auch nis ging bei diesen Paaren aber nicht zweisam verbrachte Stunde tenden-
wenn der Unabhängigkeitsdrang ei- zulasten der Beziehungszufrieden- ziell eher unzufriedener als glückli-
nes der Partner stark ist, kann dar- heit, denn sie hatten ja die Distanz, cher. Diese Paare wären also vermut-
unter die Beziehung leiden – es sei die sie brauchten. Bei den zusammen- lich gut beraten, mehr Abstand zu
denn, man entschließt sich von vorn- lebenden Paaren hingegen häuften halten. TSA
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er Ausdruck „Anti-Aging“ sagt Mensch kann dann zwar hören, aber nicht Alter über 85. Das Vergessen von Namen
alles: Alter wird heute fast wie ei- verstehen, was man gesagt hat. Ein be- und selten genutzten Fakten ist eine nor-
ne Krankheit behandelt, gegen die mutternder Tonfall – langsam, schlicht, male Alterserscheinung, ebenso das Ge-
es beizeiten Mittel zu ergreifen gilt. Das überbetont, mit hoher Stimme und „kind- fühl, dass einem etwas auf der Zunge liegt
liegt wohl auch daran, dass so falsche An- gerechten“ Kosewörtern – ist nicht nur und nicht einfallen will. Alarmzeichen
nahmen über den letzten Abschnitt des bevormundend, sondern zum Teil wir- sind, wenn man etwa die Regeln eines ge-
Lebens in Umlauf sind. Joan Erber und kungslos. Langsam sprechen fördert zwar liebten Spiels nicht mehr kennt oder den
Lenore Szuchman, die als emeritierte Psy- das Verstehen, aber nur bis zu dem Punkt, Heimweg nicht findet.
chologieprofessorinnen in der Forschung an dem die natürliche Sprachmelodie ver-
3
wie im Leben einschlägige Erfahrungen lorengeht. Überbetonung bringt gar MIT DER RENTE
gesammelt haben, entkräften in ihrem nichts. Wohl aber Blickkontakt. WERDEN WIR ALLE ZU
Buch 37 Mythen über das Alter. Hier sie- HYPOCHONDERN
2
ben der gängigsten: IM ALTER WIRD MAN Bisweilen ist das Wartezimmer beim Arzt
ERST VERGESSLICH voll mit alten Leuten. Wird man im Alter
1
ZU ALTEN SPRICHT MAN UND DANN DEMENT wehleidiger, neigt man dazu, sich Krank-
ILLUSTR ATION: STEFAN BACHMANN
AM BESTEN LAUT, Der Begriff „senile Demenz“ suggeriert, heiten einzubilden? Studien kamen zu
LANGSAM UND BETONT dass Alzheimer & Co fest mit dem Alter dem Ergebnis, dass Hypochondrie im Al-
Ja, es ist wahr: Vor allem sehr alte Men- verkettet sind. Doch erstens kommen De- ter nicht häufiger auftritt als in anderen
schen haben oft Probleme mit dem Gehör. menzerkrankungen auch in jüngeren Jah- Lebensphasen. Mit den Jahren tut einfach
Wenn dem so ist, spricht man automatisch ren vor, und zweitens sind die meisten mehr weh. Manchmal ist es etwas Ernstes.
lauter mit der oder dem Betreffenden. daheim lebenden alten Menschen nicht Häufige Arztbesuche sind dann eine Stra-
Doch ab einem bestimmten Punkt ver- dement. Betroffen sind bis zu 10 Prozent tegie, sich zu vergewissern, dass die Sym-
zerrt das Geschrei die Sprache. Der alte im Alter über 65 und bis zu 30 Prozent im ptome nichts Schlimmes bedeuten.
5
MIT DEM ALTER ses Leitbild ist motivierend, Körper und
KOMMT DIE WEISHEIT Geist bestmöglich in Schuss zu halten.
Das ist eines der wenigen positiven
7
Stereotype über das Alter, aber leider JE NÄHER DER TOD
scheint auch das nicht zuzutreffen. Wis- RÜCKT, DESTO MEHR
senschaftler definieren Weisheit als ein FÜRCHTET MAN IHN Wer heute in das Berufsleben eintritt, soll sich
tiefes Wissen um das Leben und seine Trotz allem Zukunftsoptimismus sind vom ersten Tag an um seine Alterssicherung
Wechselfälle und Begrenzungen. Ein wei- sich alte Menschen natürlich bewusst, dass kümmern. Wer das nicht tut, ist später von
ser Mensch betrachtet ein Problem aus der Tod näherkommt. Blicken sie ihm mit Altersarmut bedroht. Wohl noch nie stand
verschiedenen Perspektiven, wägt ab, zieht zunehmender Angst entgegen? Richtig ist: eine junge Generation so stark im Span-
keine voreiligen Schlüsse. Dazu braucht Wenn der Tod tatsächlich naherückt, sinkt nungsfeld von eigener Verantwortung und
man viel Lebenserfahrung – sollte man oft das Wohlbefinden (siehe Heft 4/2016). staatlicher Regulierung.
meinen. In einem klassischen Experiment Doch generell nimmt die Todesfurcht mit Die Studie gibt Aufschluss darüber, welche
bat die Berliner Forschungsgruppe des dem Alter eher ab. Am stärksten ist sie in Einstellungen Jugendliche und junge Er-
verstorbenen Psychologen Paul Baltes Pro- der Lebensmitte. Für die meisten alten wachsene zu Vorsorge und Finanzthemen
banden unterschiedlichen Alters, einem Menschen hat der Tod an sich wenig Schre- haben. Ergänzt wird sie durch Beiträge euro-
fiktiven Menschen bei einem beschriebe- cken. Sie machen sich eher Sorgen um den päischer Wissenschaftlerinnen und Wissen-
nen Lebensproblem einen guten Rat zu zurückbleibenden Lebenspartner, und es schaftler. Sie analysieren die Lösungsansätze
geben. Das Ergebnis: Nur fünf Prozent beunruhigt sie die Vorstellung, dass sie in verschiedenen Ländern und machen ein-
der Antworten erfüllten die Kriterien von starke Schmerzen haben könnten. „Sie dringlich klar: Nicht nur in Deutschland ist die
Weisheit – und die waren gleichmäßig wünschen sich, den Sterbeprozess halb- nachhaltige Alterssicherung in Gefahr.
über die Altersgruppen verteilt. Ältere wegs unter Kontrolle zu haben“, schreiben
Menschen gaben also nicht weisere (aber Joan Erber und Lenore Szuchman, „und
2016, 224 Seiten, broschiert, € 12,95
auch nicht weniger weise) Antworten als in Würde zu sterben.“
ISBN 978-3-7799-3369-4
junge. Eine erstrebenswerte Eigenschaft
Auch als E-Book erhältlich
ist Weisheit im Alter aber allemal. Alte LITERATUR
Menschen, die als weise beurteilt werden, Joan T. Erber, Lenore T. Szuchman: Great myths of
sind oft zufriedener mit ihrem Leben. aging. Wiley Blackwell, Chichester 2015
enorm wichtig, dass die Erziehungspartnerschaft gang der Eltern mit diesem Thema, den ich als lax
zwischen Kindertagesbetreuung und Eltern auch das bezeichnen würde“.
Thema Sexualität umfasst. Darauf angesprochen reagierten manche Mütter
Ein transparenter Umgang mit dem sensiblen Ge- und Väter erschrocken, andere wischten das Thema
genstand sollte eigentlich selbstverständlich sein. zur Seite. Es gebe sogar Eltern, die anböten, mal einen
Schließlich gehört Sexualerziehung gemäß den Bil- Porno auszuleihen. Zwar bringt Ulrika Ludwig nach
dungs- und Erziehungsplänen für Grundschulen und 30 Jahren Berufserfahrung so schnell nichts aus der
Das kuppelför-
mige Habitat am
Hang des Mauna
Loa dürfen die
„Astronauten“
nur in Rauman-
zügen verlassen
hindert geradeaus laufen zu können. Wir sind bis auf die Stunden am Tag, die für die Untersuchungen
fünf bis sechs Stunden in der Woche ständig drinnen. draufgehen, lieber für meine eigene Forschung nut-
Der Durchmesser unseres Habitats beträgt etwa zwölf zen. Aber ich gehöre auch zu dem Teil der Gruppe,
Meter, das ist die längste Strecke, die wir zurücklegen der sofort noch mehr Versuche auf sich nehmen wür-
können, ohne umkehren zu müssen. de, um aus dieser einmaligen Gelegenheit wissen-
Was tun Sie, um bei Laune zu bleiben? schaftlich so viel wie möglich herauszuholen.
Ich tausche mit ihnen gelegentlich Videonachrichten Wie hoch ist eigentlich die Vergütung dafür, ein
aus, wobei ich es immer noch eigenartig finde, mit Jahr die Kontrolle über sein Leben abzugeben?
einer Kamera zu sprechen. Ich denke, unser Kontakt Wir erhalten eine Aufwandsentschädigung, freies
hat sich vom Umfang her wenig geändert, nur das Essen und freie Unterkunft. Im Gesamtwert ent-
Medium ist jetzt ein anderes. Vermutlich hilft es, dass spricht das dem, was ich in Deutschland als wissen-
meine Freunde und Familie an die Trennung gewöhnt schaftliche Mitarbeiterin erhalten habe.
das mit Wasser versetzt werden muss. Das zeigt mir, Das Interview wurde per E-Mail geführt
www.coaching-meets-research.ch
was das Fach nicht zu leisten vermag? iater schlössen zu schnell auf eine psychi-
Richard David Precht jedenfalls sagt, nachzudenken – sche Störung und verordneten Therapien
dass das Interesse der breiten Bevölkerung also über das oder Medikamente. Dabei seien die meis-
an philosophischen Fragestellungen kein Leben, nicht ten mentalen Probleme weder emotional
wirklich neues Phänomen sei. Precht hat mein Leben“ noch biochemisch zu lösen, sondern phi-
kürzlich den ersten Band seiner dreiteiligen losophisch.
R I C H A R D DAV I D P R E C H T
Geschichte der Philosophie veröffentlicht Alain de Botton veröffentlichte 1998
und vergleicht darin unsere Gegenwart mit ein Buch, in dem er die Philosophie, Li-
jener Zeit, in der griechische Denker wie teratur und Kunst mit den gängigen For-
bruch der Konventionen, die den Alltag sei es die Verantwortung der Klienten, Brown weist freilich darauf hin, dass Phi-
strukturieren. Segal schreibt: „Von diesem auszuwählen, ob sie einen philosophi- losophen umgekehrt mit ihrer Expertise
Standpunkt aus ist das Ziel der philoso- schen oder psychologischen Ansatz für im kritischen Denken und ihrer Weltsicht
phischen Beratung nicht, das Selbst zu ihre Probleme bräuchten. alle mentalen Beschwerden als Folgen von
heilen, sondern die Störung der Konven- Die Philosophen, die ihre Beratung als Irrtümern im philosophischen Denken
tionen zu erkunden und einen alternativen Alternative zur Psychotherapie sehen, kri- interpretieren könnten.
Rahmen zu schaffen, damit sich im All- tisieren an heutigen Psychotherapeuten, Hinzu kommt, dass Philosophie eigent-
tagsleben wieder ein Sinn findet.“ dass sie alle Abweichungen von der Norm lich keine Wohlfühl-Veranstaltung ist – sie
So weit die Theorie. In der Praxis ist es als Symptom einer biologischen Störung soll nicht unbedingt die Seele stabilisieren.
nicht immer leicht, so eindeutig zwischen betrachteten. Auch der Bonner Philosoph Der Philosoph Tom Stern vom University
psychologischen und philosophischen Markus Gabriel schlägt in seinem Buch College London sagt, er habe Philosophie
Fragestellungen zu unterscheiden. Daher Ich ist nicht Gehirn in diese Kerbe, wenn studiert, weil sich das Fach mit jenen kom-
diskutieren die philosophischen Praktiker er schreibt, dass wir Neurowissenschaft- plexen Fragen beschäftige, die er sich selbst
seit Jahren, wie nahe die Philosophie sich lern zufolge zu Agenten der „Neuronen- stelle: Gibt es einen Gott? Wie kann ich
an die Psychotherapie herantrauen dürfe. gewitter unter unserer Schädeldecke“ de- es wissen? Und wie sicher ist das Wissen,
Der kanadische Praktiker Peter Raabe gradiert werden. Der Philosoph Sam wenn man bedenkt, dass der Kenntnis-
vertritt die Auffassung, dass philosophi- stand in 100 Jahren womöglich ein ganz
sche Praxis selbst für Menschen geeignet anderer sein könnte? „In der Philosophie
sei, die laut den Kriterien in der psychia- geht es um die Suche nach der Wahrheit
trischen Diagnostik an einer psychologi- – es geht nicht um etwas Bequemes, Be-
schen Störung leiden, sei es manische ruhigendes“, sagt Stern. „Sobald Philoso-
Depression, posttraumatische Belas- phie gut ist, ist sie schwierig und heraus-
tungsstörung oder Schizophrenie. Die fordernd. Wenn ich eine Kritik zum Bei-
philosophische Beratung müsse therapeu- spiel an der School of Life habe, dann die-
tische Ziele haben, da sie das Leid des Men- se: Ihre Behandlung philosophischer
schen zu verstehen und zu mildern ver- Fragen erscheint mir zu einfach. Wenn
suche. Da ein Philosoph sich zum Beispiel man schon die großen Denker mobilisiert,
mit Solipsismus auskenne – der Idee, dass um zum Beispiel Trost zu suchen, dann
nur der eigene Verstand sicher existiert muss die Möglichkeit bestehen, dass ei-
und außerhalb des Verstandes alles unsi- nem diese Denker die Augen öffnen und
cher ist –, sei der Philosoph nach Paul „In der Philosophie man zu dem Schluss kommt, dass es kei-
J. Gibbs sogar besonders geeignet, die geht es um die nen Trost geben könnte.“ Professionelle
Weltsicht eines an Schizophrenie Leiden- Suche nach der Philosophen präsentierten sich nie als wei-
den zu verstehen und ihm zu helfen. Ihm se Menschen, an die sich Leute ratsuchend
Wahrheit – es geht
müsse Skepsis beigebracht werden, damit wenden könnten, wenn es um ihr Leben
er die Rationalität des Solipsismus akzep-
nicht um etwas geht. „Warum sollten wir das auch? Das
tiere. Bequemes und ist nicht das, wofür wir ausgebildet sind.“
Die Psychologin und Philosophin Em- Beruhigendes“ Richard David Precht, der sich selbst
my van Deurzen stellt sich auf den Stand- als psychotherapieskeptisch beschreibt,
TO M S T E R N
punkt, dass Klienten, die zu einer exis- sagt: „Philosophie sollte nicht die gleiche
tenziellen Therapie kommen, wissen, wo- Rolle wie die Psychologie spielen; es ist
rum es dabei geht – um die grundsätzli- die Kunst, zu lernen, über das Leben re-
chen Erfahrungen des Lebens. Demnach flektiert nachzudenken – also über das
men, mich von einem Menschen operieren rungen können aufmerksam und intelli- Wilhelm Schmid: Gelassenheit. Was wir gewinnen,
zu lassen, der kein Chirurg ist, nur weil gent erscheinen, haben aber kognitive wenn wir älter werden. Insel, Berlin 2014
er eine andere gute Ausbildung hat. Au- weiße Flecken, die erst durch professio- Lou Marinoff: Bei Sokrates auf der Couch. Philoso-
phie als Medizin für die Seele. Dtv, München 2002
ßerdem sind auch psychische Erkrankun- nelle psychologische Untersuchungen auf-
Markus Gabriel: Ich ist nicht Gehirn. Philosophie
gen stigmatisiert, und ich sehe die Gefahr, gedeckt werden. Konfrontiert man sie mit
des Geistes für das 21. Jahrhundert. Ullstein, Berlin
dass Menschen mit ihren Problemen sich ihren logischen Anomalien, kann sie das 2015
lieber der Philosophie oder der philoso- in Bedrängnis bringen und seelisch ver- Alain de Botton: Wie Proust Ihr Leben verändern
phischen Beratung zuwenden, um diesem letzen, ohne dass dabei ihre kognitive Leis- kann. Eine Anleitung. Fischer, Frankfurt 2000
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Manche Menschen
haben die beneidens-
Bloß kein Stress mit dem Stress! werte Angewohnheit,
sich vom Stress nicht
mitreißen zu lassen
„Lass dich nicht stressen“, gibt man einander vor Sin und ihre Kollegen befragten nun 909 Teil-
einem anstrengenden Tag auf den Weg. Will heißen: nehmerinnen und Teilnehmer über gut eine Woche
Auch wenn es turbulent zugeht, lass die Hektik von hinweg täglich per Telefon, ob und wie viele stressi-
dir abperlen (siehe auch unser Titelthema, S. 18). Das ge Begebenheiten sie an diesem Tag durchlebt und
ist natürlich leichter dahergesagt als umgesetzt. wie sie sich dabei gefühlt hatten. Wütend? Traurig?
Dennoch: Der Rat hat was für sich, wie jetzt eine Nervös? Und wenn ja: Wie intensiv war die Emoti-
amerikanische Studie bekräftigt. on? Es stellte sich heraus: Diejenigen Probanden, die
Nancy Sin und ihrem Team von der Pennsylvania über eine Menge stressiger Vorfälle berichteten,
State und der Columbia University diente dabei die waren nicht notwendigerweise diejenigen mit der
„Herzfrequenzvariabilität“ als einfach zu erfassendes geringsten Herzfrequenzvariabilität – wohl aber
Maß dafür, inwieweit ein Mensch „sich stressen lässt“. diejenigen, die solche Vorkommnisse als sehr belas-
Ein niedriger Wert weist darauf hin, dass das auto- tend empfanden, begleitet von starken aversiven
nome Nervensystem nicht mehr flexibel je nach Si- Emotionen.
tuation zwischen Aufregung und Ruhe hin und her „Die Ergebnisse sagen uns, dass die Wahrnehmung
schalten kann. Es ist dann unentwegt in Habacht- und emotionale Reaktion eines Menschen wichtiger
stellung, was sich psychisch in chronischer unter- sind als das stressige Geschehen selbst“, kommen-
schwelliger Anspannung niederschlägt. Langfristig tiert Nancy Sin.
hat sich dies als Risiko für Herz-Kreislauf-Erkran-
kungen herausgestellt. DOI: 10.1097/PSY.0000000000000306
fülligen Avatars mit einem stattlichen Erinnerungen durch die Luft, die ich
einatme, durch physische Attribute.
Body-Mass-Index von 32,1. Ergebnis: Es geht mir noch heute so, dass eine
Erinnerung spontan und schockie-
Als schlanke Figur legten sie sich rend intensiv auftaucht, wenn ich
unerwartet eine Luft einatme, die
stärker ins Zeug. so riecht wie die in dieser Erinne-
rung, dann bin ich wieder da, wo ich
DOI: 10.1111/jcc4.12151
damals war, binnen einer Sekunde
ist alles wieder da.“
DOI: 10.2196/jmir.5140
Kurz mal
Bludenz
Sie haben ein verlängertes Wo-
chenende frei? Wie wäre es mit
einer Kurzreise nach Österreich?
Wir empfehlen 72 Stunden mit
Wanderungen und großer Liebe
auf 1.400 Metern Höhe. Die Alpen-
region Bludenz lädt mit „Shakes-
peare am Berg“ zu einem ganz
besonderen Theatererlebnis: In
Der Demenz davonrennen der Bergarena am Muttersberg
können Sie „Romeo und Julia“ vor
spektakulärer Bergkulisse und mit
Alzheimerdemenz ist in den Augen vieler eine cherquote lediglich auf elf Prozent wie in den technisch raffinierten Licht- und
ebenso gefürchtete wie schicksalhafte Erkran- USA drücken ließe, würde dies mehreren Soundeffekten erleben. Magisch!
kung. Doch Letzteres ist nur zum Teil richtig: Zehntausend Menschen die Altersdemenz er-
Fast jeder dritte der eine Million Fälle in sparen. Gelänge es, jeden zweiten Couch-
Deutschland ist die Folge eines ungesunden hocker zu aktivieren, blieben weitere 95 000
www.iubh-dualesstudium.de/medizintourismus-immer-beliebter/
DOI: 10.1037/hea0000282
D
ie junge Frau konnte es nicht fassen: „Ein Problem für die Suchtentwicklung ist die ho-
Die Blasen an den Füßen wollten he gesellschaftliche Akzeptanz von Sport“, erläutert
einfach nicht verschwinden, dabei Bär, stellvertretender Direktor der Uniklinik für Psy-
rannte sie kaum noch, ja machte fast chiatrie und Psychotherapie in Jena. Wer viel Sport
gar keinen Sport mehr, nur noch treibt und es schafft, regelmäßig seinen inneren
etwas Radfahren. Aber das belaste den Fuß doch Schweinehund zu überwinden, der wird häufig be-
kaum, sagte sie ihrem Arzt. Der fragte, wie viel sie wundert, erhält ein positives Feedback. Noch in den
mit dem Rad täglich unterwegs sei. „Nicht viel, nur 1970er Jahren wurde die Sportsucht glorifiziert. Der
drei bis vier Stunden am Tag. Und wenn es nicht US-Psychiater William Glasser sprach von einer po-
regnet, auch in der Mittagspause.“ Mit diesem Bei- sitive addiction – einer positiven Abhängigkeit. Er
spiel macht der Psychiater Karl-Jürgen Bär auf ein sah darin einen „wichtigen und neuen Weg für Sport-
Phänomen aufmerksam, das immer noch unter- ler, mental noch stärker zu werden“. Kein Wunder,
schätzt wird: Sport als Suchtmittel. dass sich so mancher Ausdauersportler damit brüs-
Für eine vernünftige Ernährung war da keine Zeit Ultramarathons teilnehmen oder lieber ihre Ehe ris-
mehr. Abends verschlang sie drei Nutellabrote im kieren, als ihr Kilometerpensum einzuschränken?
Stehen. Lange Zeit verdächtigten Forscher das körpereigene
Sie ignorierte Schmerzen, trainierte trotz Sehnen- Drogenlabor. So werden unter starker Belastung Sub-
scheidenentzündung weiter, brach einmal nach dem stanzen ausgeschüttet, die mit Opium- und Canna-
Training zusammen. Ihre Stimmungsschwankungen biswirkstoffen verwandt sind. Zunächst galt
nahmen drastisch zu. Irgendwann sagten ihre Freun- β-Endorphin als Favorit. Die Substanz wurde ver-
de: „Du bist sportsüchtig.“ dächtigt, rauschartige Zustände wie das Runner’s
Politik den terroristischen Anschlägen weniger Dr. Andreas M. Bock Anschlag mit islamistischem Hintergrund gab – im
Aufmerksamkeit schenken, wäre die Bedrohung ist Professor für Poli- März 2011 tötete ein 21-jähriger muslimischer Ko-
tikwissenschaft,
geringer? internationale Not-
sovo-Albaner am Frankfurter Flughafen zwei US-
Die Bedrohungswahrnehmung sicherlich. Denn das und Katastrophen- Soldaten und verletzte zwei weitere schwer –, nicht
Bedrohungspotenzial – also die Gefährlichkeit, die hilfe an der Akkon- zu einer Korrektur der Bedrohungswahrnehmung
Hochschule für
wir mit einem sozialen Akteur verbinden – ist eine Humanwissenschaf-
führen. Ebenso gut kann man das Ausbleiben isla-
psychologische Kategorie, die mit der öffentlichen ten in Berlin und mistischer Anschläge als Indiz für die Effektivität
Wahrnehmung terroristischer Gewalt korreliert und Lehrbeauftragter am des staatlichen Sicherheitsapparates werten – und an
Lehrstuhl für Frie-
von der sozialen Konstruktion sogenannter Mind- der Grundannahme eines bedrohlichen Islams fest-
dens- und Konflikt-
maps terroristischer Organisationen und ihrer Un- forschung der Uni- halten. Eine analoge Bedrohungswahrnehmung
terstützer profitiert. Mindmaps sind Sätze von Vor- versität Augsburg. durch einen rechtsextremen Terrorismus ist – trotz
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o eine hohle Frucht! Gleich in das Mäh- Was passiert da im Internet? Woher kommt der
werk von einem Mähdrescher werfen!“ Hass? Fünf Thesen und der Versuch einer Antwort.
„Ich schlage keine Frauen, aber bei dir
würde ich eine Ausnahme machen.“ „Du Schuld an allem ist die Anonymität
fette, dämliche Ratte.“ „Du ekelhaftes, Das ist zum Teil richtig. Es gibt zu diesem Punkt
fettes Schwein.“ mehrere Studien, die sich methodisch alle ähneln.
Das sind Beiträge, die auf Facebook geschrieben Man nimmt eine Reihe von Kommentaren, die unter
wurden. Sie landeten alle auf der Seite von Katrin Klarnamen ins Netz gestellt wurden. Dann vergleicht
Göring-Eckardt; die Grünen-Politikern zitiert sie in man deren Inhalt und Sprache mit anonymen Kom-
einem YouTube-Video, mit dem sie dokumentieren mentaren. Die Statistik offenbart, was jeder vermu-
will, welcher Ton gerade herrscht in einigen Teilen ten würde: Die anonymen Posts enthalten mehr Pro-
des Internets. Was die Thüringerin zur Zielscheibe vokationen, mehr Beleidigungen, mehr unzivilisier-
der Hassbeiträge werden ließ, war im Grunde eine tes Verhalten. Warum ist das so? Die meisten Psy-
Bagatelle: Sie hatte sich im Bundestag einen selbst- chologen sehen einen Prozess am Werk, den man
ironischen Scherz über Flüchtlinge und Ostdeutsche „Deindividuation“ nennt. In der Welt außerhalb des
erlaubt. Internets ereignet er sich dort, wo Menschen aufhö-
Noch schlimmer liest sich der Fall von Caroline ren, selbstverantwortliche Personen zu sein: in der
Criado-Perez. Der britischen Publizistin war aufge- Fankurve während eines Fußballspiels; in Gruppen,
fallen, dass auf den heimischen Geldscheinen außer die Uniformen tragen – oder wenn man am 14. Juli
der Queen bald nur Männer zu sehen sein würden. 1789 in Paris gerade dabei ist, die Bastille zu stürmen
Also startete sie eine Kampagne, die vor allem zwei und dadurch die Französische Revolution loszutre-
Dinge bewirkte: Erstens, dass ab 2017 ein Porträt der ten. In all diesen Situationen tun wir Dinge, die wir
Dichterin Jane Austen die Rückseite der neuen Zehn- als Einzelmensch niemals tun würden – wir werden
Pfund-Note zieren wird. Und zweitens, dass Criado- Teil eines wütenden Mobs. Einige der inspirierends-
Perez’ Twitter-Account zur Zielscheibe heftigsten ten Stücke psychologischer Literatur wurden über
Hasses wurde. Innerhalb weniger Wochen erhielt sie dieses Phänomen geschrieben: Gustave Le Bons Psy-
mehrere Zehntausend Posts – im Durchschnitt dau- chologie der Massen oder Freuds Massenpsychologie
erte es stets nur drei Sekunden bis zur nächsten Nach- und Ich-Analyse (siehe auch Seite 12).
richt. Mehrere Hundert davon gingen weit über den Doch wird tatsächlich alles gut, wenn man die
Tatbestand der Beleidigung hinaus („Stirb, du nutz- Anonymität im Netz beseitigt? Genau das dachten
loses Stück Dreck!“ „Ich werde dich finden!“ „Ich Politiker in Südkorea und erließen ein entsprechen-
schätze, manche Frauen brauchen von Zeit zu Zeit des Gesetz. Anlass dafür war ein tagespolitisches Er-
einfach ’ne tüchtige Vergewaltigung“). Zwei der Droh- eignis: Eine bekannte Schauspielerin hatte sich nach
briefschreiber wurden später von einem britischen Wochen perfider (und anonymer) Internethetze er-
Gericht zu Haftstrafen verurteilt. hängt. Doch drei Jahre später erklärten Koreas Ver-
fassungsrichter den Erlass für nichtig. Ihr Hauptar-
gument: Die Anonymität im Netz sei ein wesentlicher
Beitrag zur Meinungsfreiheit. Man kritisiert Miss-
stände einfach offener, wenn man keine persönlichen
Konsequenzen befürchten muss. Mit anderen Wor-
ten: Eine umfassende Klarnamenpflicht schwächt die
Demokratie eines Landes. Doch es gab noch ein zwei-
tes Argument: Eine Studie hatte nämlich gezeigt, dass
die Anzahl der Pöbeleien unter dem neuen Gesetz
praktisch nicht zurückgegangen war.
Wer sich mit einer Meinung an die Öf- nehmerin („Hör auf, uns zu provozie-
fentlichkeit wagt – und genau das ist ren“). Danach lässt man den Konflikt
das Internet: ein Ort der Öffentlich- eskalieren („Du bist wohl länger nicht
keit –, der sieht sich gelegentlich hefti- mehr richtig gevögelt worden“). Ein
gen Reaktionen ausgesetzt. Es gibt ei- solcher Schlagabtausch bleibt in den
ne ganze Reihe von Gegenstrategien. sozialen Medien selten unkommen-
Sie alle können helfen. Zumindest tiert – und der Troll bekommt genau
manchmal. den Zoff, den er will.
schließlich jeder trinken. Und mit mutlich die „Lügenpresse“ am Werk. 89 Tests und ihre Auflösungen –
ein unterhaltsamer Reiseführer
24 ist man alt genug, um Alkohol Manchmal halten wir auch dann
durch das Reich der modernen
zu bestellen. an einer falschen These fest, wenn Psychologie.
wir sehen, dass unsere Alltagserfah- Ben Ambridge: Das Psycho-
rung ihr widerspricht. Woran liegt Test-Buch. Knaur, 19,99 Euro
te, Herzklopfen, als stünde mir eine Prü- haben sich ziemlich verändert.“ berichtet von Menschen, die lieber an zwei
sich widersprechende Verschwörungstheo-
fung bevor. Ich bin es nicht mehr gewöhnt, Sie ließ die Teetasse sinken. Und dann rien glauben als an die Wahrheit, und von
kurz gemustert zu werden und gesagt zu schaute sie mir direkt ins brennende Ge- Menschen, die lieber zu Elektroschocks grei-
bekommen: „Sie sehen aber gar nicht gut sicht und nickte kurz. Ich wusste, was die- fen als mit ihren Gedanken alleine zu sein.
Wenn Sie nun denken, dass das doch mit
aus. Dann erklären Sie mal.“ ses Nicken bedeutete: Es war ihr größtes dem Teufel zugeht, dann sind Sie hier eben-
Aber als sie die Tür öffnete, war mir Lob. Ich hatte eine Prüfung bestanden, falls richtig, denn auch ihm ist ein Kapitel
ILLUSTR ATION: MAGDA WEL
sofort klar, dass der Habicht gebrochene und die war nicht weniger streng, nur weil gewidmet.
Flügel hatte. Wer nicht gut aussah, war sie. die Prüferin inzwischen am Stock ging. 2016. 320 Seiten, 79 Abb., 10 Tab., kart.
€ 24,99 (D) / € 25,70 (A) | ISBN 978-3-7945-3173-8
Sie war schmal geworden und hielt sich Ich wünschte, ich könnte sagen, ich
am Türrahmen fest. Die Kekse konnte sie hätte sie seitdem oft besucht. Oder öfter
nicht nehmen, weil sie sich auf einen Stock wahrhaftig gesprochen. Ich
stützte; ich trug sie ihr in die Küche, wo fürchte, so ist es nicht.
S.81
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Carlo Strenger ist in Basel geboren; heute Buch The Lonely Crowd (Die einsame „Nur ein
lebt und lehrt er in Israel. Der in einer Masse, deutsch 1956). In der modernen
orthodoxen jüdischen Familie aufgewach- Dienstleistungs- und Konsumgesellschaft Geschöpf, das
sene Philosoph und Psychoanalytiker ge- trete zunehmend ein neuer „Charakter-
hört zu den originellen Denkern der Ge- typ“ auf, der nicht mehr traditions- oder weiß, dass seine
genwart. Schon auf der ersten Seite zitiert innengeleitet sei, sondern durch den Ein-
er Immanuel Kant, und das ist Programm: f luss seiner Mitmenschen gesteuert.
Zeit begrenzt ist,
Strenger, erklärter Freigeist, Atheist und Strenger dehnt diese Argumentation auf kann die Frage
Weltbürger, versteht sich als Parteigänger die moderne digitalisierte Gesellschaft
der Aufklärung. Diese sieht er weltweit aus, für die er das „Infotainment“ für cha- stellen: ‚Lebe
bedroht und dringend der Wiederbele- rakteristisch hält.
bung bedürftig. Denn unserem Zeitalter Strengers Analyse liest sich überwie-
ich ein lebens-
mangele es immer mehr an der Bereit- gend flüssig und spannend. Am beein- wertes Leben?‘“
schaft und Fähigkeit zum kritischen, un- druckendsten finde ich die Passagen, in CARLO STRENGER
abhängigen Denken. denen er über seine Auseinandersetzung
Laut Strenger leben wir in einer Epoche mit ultraorthodoxen Juden berichtet.
des dogmatischen Schlummers, die do- Manchmal gerät die Lektüre etwas zäh
miniert wird von Menschen, „deren Iden- durch seine Neigung, in großem Umfang
tität in erster Linie dadurch definiert wird, andere Autoren zu zitieren und zu rezen-
dass sie Teile des globalen Infotainment- sieren, wo man lieber mehr über seine ei-
systems sind“. Dieses Zur-Ware-Werden genen Gedanken erfahren hätte. Unterm
unseres Selbst, von Strenger etwas um- Strich bleibt ein positiver Eindruck – denn
ständlich „Kommodifizierung“ genannt, Strenger trifft vollends ins Schwarze, wenn
führt zu einer Instabilität der Selbstach- er gegen Ende seines Textes schreibt: „Wie
tung und zum Zweifel daran, ob das ei- hoch der Preis ist, den wir dafür zahlen,
gene Leben wirklich sinnvoll sei. Dem dass die Bürger keine Ahnung haben von
daraus resultierenden existenziellen Un- den Grundlagen politischen Denkens, se-
behagen begegnet die Moderne mit Psy- hen wir täglich im Fernsehen. Hier haben
chopharmaka und einer seichten „Pop- wir das traurige Schauspiel einer auf kur-
spiritualität“. „Viele Menschen in der glo- ze Soundclips reduzierten Politik vor Au-
balisierten Welt leiden an tiefgreifenden gen, einer Politik, die zu einem Unterhal-
existenziellen Angststörungen und dem tungsspektakel verkommen ist, hinter
fortwährenden Gefühl, dass sie kein Leben dem ihre eigentliche Aufgabe, das Nach-
leben, das wirklich Sinn hat“, meint der denken über das Gemeinwohl, vollkom-
Autor. Er zeigt, dass der Großteil dieses men zurücktritt.“ TILL BASTIAN
Es gehört zu den bemerkenswerten Wi- Der Leser mag zunächst abgeschreckt Zu diesem Kulturpessimismus lässt
dersprüchen unserer Gesellschaft: Wäh- sein vom sperrigen Stil und von schwer- sich Julia Onken hingegen nicht hinrei-
rend der Anteil der älteren Menschen an verständlichen Passagen über die soge- ßen. Ihr Buch Im Garten der neuen
der Bevölkerung wächst, wird die Jugend nannte „Neotenie“, einen aus der Biologie Freiheiten ist auch der Frage gewidmet:
verherrlicht. In der Arbeitswelt oder in entliehenen Begriff, den Harrison als Wei- Wie kann man mit Würde und Freude
der Werbebranche setzt man auf die Le- terleben des inneren Kindes im Erwach- älter werden, wenn in der Gesellschaft
bensenergie und Innovationskraft von senenalter versteht. Wer sich aber durch die „Ideologie ewiger Jugendlichkeit“
Menschen unter 40. Die Senioren hinge- die Theorie kämpft, kommt zur interes- herrscht?
gen werden mit Demenz oder mit der Kri- santen Hauptthese: Ohne Bezug zur Ver- Die kurze Abhandlung der 74-jährigen
se des Rentensystems in Verbindung ge- gangenheit und eine Art Weiterleitung Autorin aus der Schweiz hat keinen kul-
bracht. Wenn ihnen doch Lob zugeteilt derselben in die Gegenwart droht eine turwissenschaftlichen Anspruch und liest
wird, dann als Silver Surfer, Cougar-Frau- Verkümmerung der Kultur. Richtige Re- sich dementsprechend viel leichter. Onken
en oder Best Ager sprich: Junggebliebene. volutionen – die Erfindung der Philoso- hat vor allem einen spezifischen Fokus:
Drei Bücher befassen sich mit diesem phie, das Christentum, die Geburt der Frauen. „Bei allen Frauen ist das Nach-
Phänomen – aus ganz unterschiedlichen amerikanischen Republik – seien nicht lassen der körperlichen Schönheit eine
Perspektiven. Bereits in der Einleitung von nur Ergebnisse eines rebellischen und zu- Tragödie von besonderem Ausmaß“, stellt
Ewige Jugend prangert der Literatur- kunftsorientierten Drangs, sondern auch die Autorin und Psychotherapeutin fest.
wissenschaftler und Philosoph Robert Folgen der Weisheit, die das Erbe der Ge-
Pogue Harrison den Jugendkult an: Er schichte antritt und weitergibt. Wollen wir
trenne die Generationen voneinander, wirklich jung bleiben und dennoch gleich-
Robert Pogue Harrison:
sodass der Erfahrungsschatz der Älteren zeitig reif sein, so Harrison, sollten wir Ewige Jugend. Eine
den Jüngeren nicht mehr zur Verfügung die historische Tiefe der Gegenwart wie- Kulturgeschichte des
Alterns. Aus dem
stehe. „In Wahrheit entzieht das Zeitalter derentdecken und Heranwachsende dafür Englischen von Horst
als Ganzes wissentlich oder unwissentlich sensibilisieren. Dazu empfiehlt der Autor Brühmann. Hanser,
München 2015,
den jungen Leuten das, was sie am meis- unter anderem die Abschaltung der „Ge- 288 S., € 24,90
ten brauchen, wenn sie sich entfalten sol- räte, die uns so fesseln“ und „die Welt auf
len“, urteilt der Autor. Bildschirmformat verkleinern“.
Es liege nicht daran, dass Frauen ober- Krieg, Unglück, aber auch von Heiterkeit
flächlich seien und mehr Wert auf Äußer- und Zufriedenheit geprägt sind. Etwas TRAUMA & GEWALT
lichkeiten legten, sondern daran, dass sie plump sind manchmal die Lehren, die die
so erzogen würden. Die Aufforderung, Autorin aus ihren Begegnungen zieht. We-
p geht den Weg von der
schön zu sein, sei etwas, was Mädchen be- niger lebensklug als platt klingen Sätze Klinik dorthin, wo Gewalt
reits im Kleinkindalter verinnerlichen: wie „Jeder Mensch braucht in seinem Le- entsteht
„Sei hübsch, räkle dich, richte dich her, ben ein spezielles Interesse“ oder „Man
mach das Beste aus deinem Äußeren, denn muss nicht immer erst unsterblich verliebt p diskutiert die Prävention
du musst vor allem eines: gefallen“, laute sein, um lieben zu können“. 100 Jahre Le- von Gewalt und die
die frühe, oft unbewusst übermittelte Bot- ben ist dennoch lesenswert. Es zeigt, dass Entgegnung von Gewalt
schaft in vielen Familien. Attraktiv blei- viele Frauen tatsächlich ihr Leben mehr
ben, einen Partner finden und behalten auf die Partnersuche ausgerichtet haben p verbindet die klinische
sei für Frauen eine lebenslange Heraus- als Männer und dabei auch in finanzielle
Sicht mit gesellschaft-
forderung. Im fortgeschrittenen Alter hät- Abhängigkeit geraten. Mathilde, Mariska
ten es Frauen daher noch schwerer als oder Agnes scheinen sich aber irgend- lichen Perspektiven
männliche Altersgenossen. wann vom Diktat der Attraktivität
Dies sei kein Grund zum Verzweifeln, befreit zu haben, um im hohen Alter ein '
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meint die Autorin. Sie setzt auf individu- selbstbestimmtes Leben zu führen – ganz TRAUMAGEWALT
elle Strategien gegen das Jugenddiktat. Der nach Onkens Modell.
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Vorschlag, sich als „Teil eines großen zu- Was das gute – und nicht perfekte –
sammenhängenden Weltorganismus“ zu Leben ausmacht, ist das gemeinsame
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begreifen, mutet freilich esoterisch an. In- Thema der drei Autoren, so unterschied-
teressanter sind ihre Ratschläge, vorhan- lich ihre Herangehensweisen und Schreib-
dene Beziehungen zu klären und Selbst- stile sind. Für Harrison muss sich eine
erforschung zu betreiben: Nur wer sich Gesellschaft die Frage ihres kulturellen
selbst kennt, kann selbstbestimmt altern. Alters stellen, denn nur so kann sie ver-
Diese Lehre lässt sich auch aus den Por- nünftig mit den kommenden Generatio-
träts von Hundertjährigen ziehen, die die nen umgehen und ihren Bildungsauftrag
Journalistin Kerstin Schweighöfer in 100 ihnen gegenüber erfüllen. Für Onken geht
Jahre Leben gesammelt hat. Ihr Buch taugt es darum, im Auf und Ab der eigenen
als Antwort auf Harrison, denn darin ist Biografie ein „gutes Einverständnis mit # & '# !,
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der Rückgriff auf den Erfahrungsschatz sich selbst“ zu erreichen. Egal wie man zu
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PSYCHOLOGIE HEUTE 06/2016
www.traumaundgewalt.de
AUFGEBLÄTTERT
Das geliebte Ringelshirt, der mit darunter Kim Gordon, Lena Dunham und Cindy Sherman.
glitzernden Schmetterlingen bedruckte Sie wurden gefragt: Was ist für dich der Unterschied zwi-
Rock, die Jeans mit den zerschlissenen schen Anziehen und Schickmachen? Erzähl uns davon, was
Nähten — Frauen und Kleider (S. Fischer, du im Schrank hast, aber nie trägst. Nach welchem Klei-
€ 24,99) sind ein immerwährendes The- dungsstück bist du noch immer auf der Suche? Wenn du all
ma. Ein ungewöhnliches Lesebuch ha- deine Kleider weggeben müsstest, was würdest du behal-
ben Leanne Shapton, Sheila Heti und ten? Ein inspirierender, interessant illustrierter Band, in den
Heidi Julavits zusammengestellt. Es ent- man lange abtauchen kann.
stand auf der Grundlage eines Fragebogens, den die Auto-
rinnen an 500 Frauen auf der ganzen Welt geschickt haben,
40 Prozent der Deutschen leiden im Laufe ihres Als die Pille am 1. Juni 1961 in die west-
Lebens an einer psychischen Störung. Doch der deutschen Apotheken kam, wurde sie
Gang zum Psychotherapeuten bringt viele Fragen ausschließlich verheirateten Frauen mit
mit sich: Welches ist die richtige Therapieform? mehr als zwei Kindern verschrieben. In der
Müssen überhaupt alle Störungen in einer Psycho- DDR gab es deutlich weniger Hürden:
therapie behandelt werden? Was passiert in einer 1970 konsumierten bereits 16-Jährige ohne
ambulanten, was in einer stationären Psychothe- Einwilligung der Eltern das kleine Dragee,
rapie? Welche Risiken und Nebenwirkungen hat und nur zwei Jahre später war das Medika-
eine Therapie? Und: Wann ist sie ment für alle Frauen kostenlos. Heute nehmen 87 Prozent
eigentlich beendet? Der informa- der 14- bis 17-jährigen Mädchen die Pille — viele nicht wegen
tive Wegweiser Psychotherapie ihrer verhütenden Wirkung, sondern aufgrund der er-
(Thieme, € 19,99) von Andrea sehnten Nebeneffekte: volleres, glänzenderes Haar, eine
Dinger-Broda und Michael Broda größere Oberweite, reinere Haut. Für ihr Buch Die Pille und
bringt Orientierung ins Dickicht ich (C.H. Beck, € 14,95) hat Katrin Wegner mit 250 Frauen
der Psychotherapielandschaft aus drei Generationen über die Bedeutung der Pille in
und baut Berührungsängste ab. ihrem Leben gesprochen. Ihr Fazit: Einst ein Symbol der
sexuellen Befreiung, ist die Pille zur Lifestyledroge gewor-
den, die jungen Mädchen dazu dient, den eigenen Markt-
wert zu steigern.
tion, durch Erzählen also. mäßig viel mit dem einst in England le- Informationen über den VFP erhalten Sie hier:
Siefer, Diplombiologe und Wissen- benden amerikanischen Romancier Hen- Verband Freier Psychotherapeuten,
schaftsredakteur, präsentiert eine Colla- ry James (1843–1916), einem Autor aus- Heilpraktiker für Psychotherapie
und Psychologischer Berater e.V.
ge ausgewählter Studien und Untersu- greifender psychologischer Romane, an-
Lister Str. 7, 30163 Hannover
chungen, deren Ergebnisse er geschmeidig fangen kann, mag ja noch angehen. Telefon 05 11 / 3 88 64 24
referiert. Das macht er mit leichter Hand. Henry James allerdings als kaum bekann- www.vfp.de | info@vfp.de
In die eigene Argumentationskette fädelt ten Schriftsteller zu deklarieren, seinen VFP
er viele Einsichten klinischer Studien ein. Bruder, den Philosophen und Psychologen
Dies sind die interessantesten Partien die- William James hingegen mit einem gro-
ses Buches. Daneben befleißigt sich der ßen, dafür konventionellen Lob zu verse-
Journalist und mehrfache Buchautor einer hen ist mehr als anfechtbar. Vor allem Gelungene Kommunikation
dramaturgischen Form, die Zugänglich- wenn Siefer William James falsche Le-
erleichtert das Leben
keit suggerieren soll: Jedes Kapitel richtet bensdaten mitgibt.
sich in Briefform an eine Person namens Es mutet denkwürdig an, dass ein Haus
Maurice. wie der Carl-Hanser-Verlag, der eine statt-
Warum aber denkt das Gehirn nun in liche Reihe von Literaturnobelpreisträ-
Geschichten? Wie macht es das? Wie beim gern in seinem Programm verzeichnet,
Kleinkind, wie im Erziehungsumfeld, wie diese größtenteils ahnungsfreien Passagen
im Alter, wenn eventuell erinnerungs- zum Druck hat freigeben können. Noch
4Ƚ
%t*4#/
schwächende Krankheiten auftreten? Und merkwürdiger ist, dass zwar eine Fülle an
ist nicht Konfabulation, die Selbstpro- Studien aufgeführt wird und zahlreiche
duktion und Autosuggestion falscher Namen fallen – so mancher davon ohne
Erzählungen, auch Erzählen? Wie kann Vornamen –, Siefer aber überzeugt ist,
nun Erzählen gemeinschaftsstärkend, ja auf eine Literaturliste zum vertiefenden
„wir-herstellend“ sein? Nachlesen verzichten zu können.
Das Problematische dieses Buches ist: ALEXANDER KLUY
Ohne Bildung
kein Herr im eigenen Haus
Überleben. Philipp Hübl entlarvt den Mythos von der Macht
des Unbewussten
Was haben Sigmund Freud und Neuro- wusster Effekt stark ist, können wir ihn
wissenschaftler gemeinsam? Sehr wenig, auch bewusst kontrollieren.“
könnte man meinen. Die Psychoanalyse Dieses Plädoyer für eine Wiederentde-
sucht die Ursachen des Seelenleids vor- ckung der menschlichen Gestaltungsfä-
wiegend in der Familiengeschichte des higkeit hat durchaus etwas Sympathi-
Patienten. Für Hirnforscher hingegen sind sches. Freiheit, Bewusstsein, Vernunft
es vor allem biologische Prozesse, die über kommen damit zu neuem Glanz – und
unser Wohlbefinden entscheiden. das sticht angenehm hervor in einer Zeit,
In seinem Buch Der Untergrund des in der angeblich überall dunkle Mächte
Denkens sieht der Philosoph Philipp Hübl wie die Algorithmen, die Pheromone oder
über diesen Unterschied hinweg und emp- die Werbebranche am Werk sind, um
fiehlt: Glaubt weder den einen noch den klammheimlich auf uns einzuwirken.
anderen! Den Anhängern der Psychoana- Leider muss der Leser Hübl viel Geduld
lyse wirft er vor, das Wesen und die Natur entgegenbringen, um sich durch das Di-
von Wünschen zu verkennen. Diese lägen ckicht seiner Argumente zu kämpfen.
weder verdrängt noch verschlüsselt im Auch die Art und Weise, wie der Autor
Unbewussten, wie „Freuds obskure Trieb- philosophiert, ist nicht jedermanns Sache:
theorie“ besagt. Hinter unserem Tun-, Er führt viele konkrete Beispiele an, be-
Nicht Klima, nicht Rohstoffe, son-
Sein- oder Habenwollen stecke nichts an- ansprucht für sich eine Denkweise, die
dern Bildung ist der Schlüsselfaktor
deres als die Wünsche selbst – und schon über die klassische Arbeit an Begriffen
für das Überleben der Menschheit.
Gesellschaften, in denen Breiten-
gar kein sexuelles Verlangen. hinaus auch „eine empirische Komponen-
bildung gefördert wird, stehen In ähnlich prüfender Manier geht Hübl te“ hat. Psychologische Labortests dienen
heute bildungsfernen, teils fun- an die Neurowissenschaften heran. Jede als Rohmaterial. Am Ende ist der Text lei-
damentalistischen gegenüber, die Veränderung im Bewusstsein geht mit ei- der überladen mit der Beschreibung un-
keine Antworten auf die sozialen ner Hirnaktivität einher, räumt der Autor zähliger Studienprotokolle und wider-
und technologischen Herausforde- ein. Doch daraus zu schließen, den sprüchlicher Ergebnisse, die keineswegs
rungen unserer Zeit haben. Klingholz menschlichen Geist könnte man allein das Vertrauen in die Aussagekraft des Ex-
und Lutz stellen klar: Wir stecken anhand jener Prozesse analysieren, die im perimentellen wecken. Seltsam ist, dass
mitten in einem Kampf der Bildungs- Gehirn ablaufen, sei ein gravierender Feh- Hübl sich dieser Methode bedient, aber
kulturen. Und der betrifft uns alle,
ler zahlreicher Wissenschaftler. gleichzeitig von ihrer Begrenztheit refe-
denn Armut, Verzweiflung und
Aus diesen spezifischen Einwänden riert. Allen Moden zum Trotz sollten Phi-
Terror machen vor Grenzen nicht
folgt eine allgemeinere Kritik: Psychoana- losophen gründlicher überlegen, ob und
halt. Es ist Zeit, global in Bildung zu
investieren!
lytiker und Hirnforscher würden unsere wie sie mit der experimentellen Psycho-
Entscheidungsfreiheit verkennen. Indem logie und den Naturwissenschaften auf
»Das glänzend geschriebene sie dem Unbewussten eine zu große Rol- deren Terrain konkurrieren wollen.
Buch ist ein einziges leidenschaft-
le im menschlichen Verhalten zuschrie- CLAIRE-LISE TULL
liches Plädoyer für mehr globale
ben, unterschätzten sie unsere Fähigkeit,
Verantwortung..« Vorwärts
rational und reflektiert zu handeln. Philipp Hübl. Der Unter-
Wir sind die Herren im eigenen Haus, grund des Denkens. Eine
2016. 300 Seiten. Gebunden
Philosophie des Unbe-
ISBN 978-3-593-50510-7 lautet Hübls zentrale These. Das Unbe- wussten. Rowohlt, Rein-
Auch als E-Book erhältlich wusste, wie auch immer es definiert wird, bek 2015, 478 S., € 19,95
Warum dominiert der Wunsch nach einem Kind fühlen sich dann wie auf einer Insel: rundherum das
bei manchen Paaren das gesamte Leben? Leben und auf der Insel große Leere.
Ein Kinderwunsch ist ein Lebenstraum. Solche Träu- Ist es legitim, dem Wunsch nach einem Kind eine
me lassen sich nicht abstellen, sie wirken intensiv. so hohe Priorität einzuräumen, dass man sich ei-
Solange es einen winzigen Funken auch noch so ir- nen anderen Partner sucht, wenn es mit dem jet-
rationaler Hoffnung gibt, lassen viele Wunscheltern zigen nicht klappt?
nichts unversucht. Für sie gehören Kinder und Fa- Paare sollten ehrlich miteinander sein. Kommt einer
Stephanie Katerles
milie zur persönlichen Identität. Ohne sie fühlen sie von beiden zum Schluss, dass er oder sie auf das Kind Buch Wir ohne dich.
sich nicht vollständig. Oft geben sie sich und manch- unter keinen Umständen verzichten will, ist eine Wie Paare mit uner-
fülltem Kinder-
mal auch ihr Liebesglück ohne Rücksicht auf das ei- Trennung ehrlicher, denn unbewusst geben sich die wunsch ihre Liebe
gene Wohlergehen für ihren Wunsch auf. Partner oft noch Jahre später die Schuld an geplatz- bewahren ist im
März bei Klett-Cotta
Leiden Frauen mehr als Männer? ten Träumen. erschienen
Seelisch leiden Frauen und Männer gleich stark un- Was raten Sie Paaren, die bisher vergeblich auf (160 S., € 16,95)
ter unerfülltem Kinderwunsch. Für Frauen hat das ein Kind warten und eine Kinderwunschbehand-
Warten aufs Kind aufgrund unserer sozialen Gefüge lung beginnen wollen?
größere negative Bedeutung. Viele Frauen rechnen Paare sollten in jedem Fall Kontakt zu anderen Be-
die Babypause in ihre Biografie mit ein und halten troffenen suchen. Es gibt so viel mehr davon, als Paa-
sich in der aktivsten beruflichen Phase deswegen zu- re ahnen. Viele Kliniken bieten psychologische Hil-
rück. Sie erleben sogar manchmal einen Karriere- fen an. Diese sollten genutzt werden. Im Internet
knick – und das ganz ohne Kind. Das ist extrem frus- sprechen mutige Paare in Videos oder Blogs über
trierend und belastend für die Frauen. ihre Erfahrungen. Zu wissen, dass man nicht allein
Viele Kinderwunscheltern berichten von einer ist, hilft, die Phase seelisch gesund zu überstehen.
Vereinsamung. Woher kommt dieses Gefühl? Was brauchen Paare, um eine gute Identität als
Schwangerschaft und Geburt gelten in vielen Köpfen „kinderloses Paar“ zu finden?
als Selbstverständlichkeiten, die „natürlich“ abzu- Paare – ob mit oder ohne Kinderwunsch übrigens
laufen haben. Wer sich Kinder wünscht, wird des- – tun gut daran, sich das Fundament ihrer Beziehung
ILLUSTR ATION: JAN RIECKHOFF
wegen zunächst großzügig unterstützt und ermun- gelegentlich anzuschauen. Warum haben wir uns
tert. Sobald das Paar aber für den Kinderwunsch füreinander entschieden? Was ermöglichen wir uns?
unangenehme Prioritäten setzt und etwa von Fami- Was erwarten wir voneinander? Solche ehrlichen Be-
lienfeiern fernbleibt, weil es unter Termindruck zur standsaufnahmen machen Offenheit auch für neue
Behandlung muss, sinkt das Verständnis rapide. gemeinsame Perspektiven möglich.
Plötzlich heißt es: „Seid mal nicht so verbissen dabei,
dann klappt’s von allein!“ Viele Kinderwunscheltern INTERVIEW: KATRIN BRENNER-BECKER
s 5MFANGREICHE "UCHAUSWAHL