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HEUTE compact
S FR 12 ,9 0
Futter für
R 7,9 0
die Seele
H E F T 44
3
Inhalt HEFT 44
14 Ich hab Stress: Ich muss was essen! 40 Nur das Essen ist immer für mich da
EVA TE NZE R R E N AT E G Ö C K E L
22 Warum uns schmeckt, was uns schmeckt 48 Magersucht – noch immer eine
ANNA ROMING rätselhafte Krankheit
BIRGIT SCHREIBER
26 Appetit auf Abwechslung
J OCHE N PAUL US 54 Mangel fürs Leben
KLAUS WILHELM
28 Essen nach Regeln
KAT HRIN BURGER 56 Der Dicke in meinem Kopf
B E RT R A M E I S E N H A U E R
34 Größe verleiht Prestige
INGRID GLOM P
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64 Das Essen und die Moral www.shop-psychologie-heute.de
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70 „Es gibt keine guten oder schlechten Nahrungsmittel“ Heute. Nachdruck, auch auszugsweise, nur mit schriftlicher
Genehmigung der Redaktion.
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78 „Fertignahrung hat Vorteile“ ähnlichem Wege oder im Magnettonverfahren, Vortrag, Funk-
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80 „Kochen ist Lebenskunst“ Kopien für den persönlichen und sonstigen Gebrauch herge-
stellt werden.“ Gerichtsstand: Weinheim a. d. B.
EIN GE SP RÄ CH M I T HARAL D L EM KE Bei einigen Texten in diesem Heft handelt es sich um zum
Teil überarbeitete Beiträge aus der monatlich erscheinenden
84 Mahlzeit! Psychologie Heute.
3 Editorial
5 Impressum
6 Magazin
88 Medien
96 Markt
98 Cartoon
Best.-Nr.: 47231
ISBN 978-3-407-47231-1
5
MAGAZIN R E D A K T I O N : E VA - M A R I A T R Ä G E R
H
ungrige gelüstet es nicht nur nach Nahrung: Das Hunger abschwatzten, zeigte sich Ähnliches: Die hungrigen
dringende Bedürfnis, etwas zu essen, geht auch mit Einkäufer hatten mehr Produkte erworben und auch mehr
einem gesteigerten Wunsch nach anderen Dingen Geld ausgegeben als jene, die sich satt ins Getümmel begeben
einher. Laut einer Studie von Wissenschaftlern aus China und hatten. Einfluss auf die wahrgenommene Attraktivität der
den USA tendieren wir bei starkem Hunger dazu, selbst Waren hatte der größere Appetit aber nicht. Hunger mindert
solche Objekte sammeln zu wollen, die alles andere als essbar also offenbar unsere Fähigkeiten zur Selbstkontrolle. In ande-
sind – und die uns nicht mal besonders gefallen müssen. ren Studien zeigte sich, dass wir mit leerem Magen beispiels-
In einem der Experimente der Autoren um Alison Jing Xu weise auch eher ärgerlich werden. Wer einen für sich und
sollten die Teilnehmer beispielsweise angeben, wie viele Pa- seine Begleitung angenehmen und nicht allzu kostspieligen
pierklammern eines Büroartikelmarktes sie sich zum Auspro- Einkaufsbummel unternehmen möchte, sollte sich also vorher
bieren bestellen wollten. Jene, die hungrig waren, orderten besser gut stärken, um Appetit, Gier und Ärger zu zügeln.
besonders viele. Ihre Wertschätzung der Klammern änderte EMT
sich aber nicht. Bei 81 Kunden eines Kaufhauses, denen die
Alison Jing Xu u. a.: Hunger promotes acquisition of nonfood objects. Proceedings of
Forscher direkt nach ihrem Streifzug durch die Abteilungen the National Academy of Sciences of the United States of America, 112/9, 2015,
auflauerten und Quittungen sowie Angaben zu Stimmung und 2688–2692. DOI: 10.1073/pnas.1417712112
J
e später der Tag, desto größer der Kalorienberg, den wir fut- genommen hatten, bei Unhöflichkeiten und Provo-
tern: Vor zwölf Uhr mittags wird nur ein Viertel der täglichen kationen feindseliger als jene, denen man stattdes-
Kalorienmenge verzehrt, in den wenigen wachen Stunden sen Wasser oder Zuckerwasser offeriert hatte.
nach sechs Uhr abends hingegen ein sattes Drittel. Das stellten
Forscher des kalifornischen Salk Institute in einer Studie fest, in DOI: 10.1177/0146167214552792
der die 150 Teilnehmer schlicht die Aufgabe hatten, drei Wochen
lang von ausnahmslos allem, was sie aßen und tranken, ein Han-
dyfoto zu machen. Wie zu erwarten, waren manche Nahrungsmit-
tel mit bestimmten Tageszeiten assoziiert: Kaffee, Milch und Jo-
ghurt gab es bevorzugt am Morgen, Sandwiches und Burger am
Mittag, Gemüse, Eis und Alkohol am Abend. Tee ging zu jeder
Uhrzeit, Schokolade und Süßigkeiten ab zehn Uhr morgens durch-
gängig. Die Tagesspanne, in der sie Nahrung zu sich nahmen, be-
trug bei der Mehrheit der Teilnehmer 15 Stunden und länger. In
einem Zusatzexperiment baten die Forscher acht übergewichtige
Probanden ohne weitere Ernährungsempfehlungen, diese Zeit auf
zehn bis elf Stunden zu begrenzen. Nach 16 Wochen hatten diese
3,5 Prozent ihres überschüssigen Gewichts verloren. Zudem fühl-
ten sie sich vitaler und schliefen besser. TSA
DOI: 10.1016/j.cmet.2015.09.005
7
Wer’s isst, wird selig Wer Gewichtsprobleme hat, sollte seine Mahl-
zeiten nicht zwischendurch im Gehen zu sich
B
ratwurst mit Kartoffelbrei? Arme
Ritter? Nach welcher Kost ist Ihnen
zumute, wenn Sie sich von aller Welt
nehmen. Forscher der University of Surrey beob-
verlassen wähnen? Wenn Sie eine gute Kind- achteten, dass diäthaltende Frauen, die ihren
heit hatten und sich daheim geborgen fühl-
ten, dann wird das mit großer Wahrschein- Müsliriegel beim Durchschreiten eines Korridors
lichkeit ein Gericht sein, das Ihnen seinerzeit statt im Sitzen vertilgt hatten, bei einem anschlie-
Ihre Mutter oder eine andere wichtige Be-
zugsperson gekocht hat. Die Psychologin ßenden „Geschmackstest“ beherzter zugriffen –
Shira Gabriel und ihr Team an der Univer-
vor allem bei der Schokolade.
sity at Buffalo haben in einer Studie bestätigt,
dass es Menschen in Situationen, in denen DOI: 10.1177/1359105315595119
sie sich zurückgewiesen oder einsam fühlen,
nach ganz bestimmten Gerichten gelüstet.
Dies sind meist Speisen, die sie mit der Zu-
neigung verbinden, die sie in ihrer Kindheit
erfahren haben. Gabriel geht davon aus, dass
dieser Schmaus in der Psyche mit einer Um-
gebung von Geborgenheit assoziiert ist –
wohl nach dem Prinzip der klassischen Kon-
ditionierung, wie bei Pawlows Hunden.
Vorbehaltlos und auf Dauer möchte sie die-
sen Trostspender allerdings nicht empfeh-
len: Er sei zwar Futter für die Seele, aber
mitunter Gift für die Figur. TSA
N
icht alle Suppenkasper sind gleich. Forscherinnen nicht kannten oder was zu ambitioniert zubereitet war. Und
der University of Illinois ließen 170 Zwei- bis Vier- dann waren da die Perfektionisten mit „speziellen Bedürfnis-
jährige, von denen 83 als „wählerische Esser“ ge- sen“: Zum Beispiel durften sich die Beilagen auf dem Teller
fürchtet waren, zwei Wochen lang von deren Eltern beim auf keinen Fall berühren! Untersucherin Sharon Donovan
Mittagsmahl beobachten. Dazu wurden im Wechsel fünf empfiehlt betroffenen Eltern, keine Tischkämpfe auszutragen.
Standardgerichte frei Haus geliefert. Die Forscherinnen Besser dem Kind auch die unerbetenen Zutaten ohne Zwang
identifizierten vier Typen kindlicher Kostverächter: Die immer wieder auftischen und wortlos demonstrieren, dass das
einen hatten eine sensorische Abneigung etwa gegen wabbelig vermeintlich Ungenießbare den Eltern und Geschwistern
oder klumpig aussehende Speisen. Andere waren einfach sichtlich schmeckt. TSA
dickköpfig, kamen nicht zu Tisch oder protestierten aus
Prinzip. Wieder andere aßen grundsätzlich nichts, was sie DOI: 10.1111/1750-3841.12698
STEIGENDER ABNEHMENDER
APPETIT APPETIT
A HYPOTHALAMUS
STRIATUM Der ventromediale Kern des Hypothala-
Das Zentrum unseres psychologischen mus ist das Sattheitszentrum des
Verlangens nach Essen beherbergt Gehirns. Er hemmt Essgelüste und
Dopaminrezeptoren und ist entscheidend Hunger. Hier wird das appetithemmende
für unser Empfinden von Motivation und Proopiomelanocortin (POMC) ausge-
Belohnung. Der Neutransmitter Dopamin schüttet.
stimuliert das Verlangen nach Essen. Seine
Ausschüttung kann aktiviert werden, wenn
wir Nahrung sehen oder riechen.
BLUT
Der Blutzuckerspiegel (Glukose) steigt
mit der Nahrungsaufnahme an — ein
Sättigungssignal für den Hypothalamus.
Quelle: Die Texte sind erstmals in englischer Sprache in der amerikanischen Psychology Today erschienen.
BAUCHSPEICHELDRÜSE
HYPOTHALAMUS Das in der Bauchspeicheldrüse gebildete
Das Zentrum des körperlichen Hormon Insulin führt zum Gefühl von
Bedürfnisses nach Nahrung Sattheit. Der Insulinspiegel im Blut sinkt
reguliert auch viele andere zwischen den Mahlzeiten mit dem
physiologische Funktionen und Glukosespiegel ab.
beeinflusst unter anderem unser
Sexualverhalten. Der laterale Kern
des Hypothalamus steuert unsere
Lust auf Essen.
Neuropeptid Y (NPY) ist ein
mächtiger Appetitanreger.
AgRP (Agouti-related Protein)
stimuliert das Essverlangen und
verlangsamt den Stoffwechsel.
Orexin wird bei einem geringen
Blutzuckerspiegel ausgeschüttet
und steigert den Appetit auf
fetthaltiges Essen sowie den DARM
Energieverbrauch.
Das Hormon Cholecystokinin (CCK)
befördert die Verdauung von Fett und
Proteinen im Magen-Darm-Trakt und wirkt
direkt auf den Vagusnerv, der ein
Sättigungssignal ans Gehirn sendet.
FETTZELLEN
Das Fettgewebe dient nicht nur als
Energiespeicher. Die Fettzellen produzie-
ren auch die Hormone Leptin und
Adiponektin.
Leptin verrät dem Gehirn, wie groß der
Fettanteil im Körper ist. Eine hohe
MAGEN Konzentration im Blut verstärkt das
Das Hormon Ghrelin wird in der Magen- Sättigungsgefühl, blockiert die Produkti-
schleimhaut produziert und bei leerem on von NPY sowie AgRP und regt die
Magen ausgeschüttet. Es stimuliert Bildung von POMC an.
Hunger- und Appetitgefühle, indem es Adiponektin hilft die Glukoseproduktion
den Hypothalamus zur NPY-Produktion zu mindern und reguliert den Lipidstoff-
anregt. Zudem hemmt es das appetitzü- wechsel.
gelnde Proopiomelanocortin (POMC) und
führt zu erhöhter Wachsamkeit.
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Männer essen in Begleitung von Frauen mehr,
als wenn sie unter sich bleiben. In einer ameri-
kanischen Untersuchung verputzten die
männlichenTeilnehmer 93 Prozent mehr
Pizza und 86 Prozent mehr Salat, wenn
eine Dame anwesend war. Das Essver-
halten der Frauen indes blieb unverän-
dert. Sie hatten bei Männern als
Gegenüber aber das Gefühl, mehr
und gehetzter gegessen zu haben.
DOI: 10.1007/s40806-015-0035-3
Bauchgefühle
L
iebe geht durch den Magen, sagt man. Offenbar trifft Schon Abraham Maslow hatte mit seiner „Bedürfnispyra-
der Satz – zumindest bei Frauen – in so elementarem mide“ postuliert: Erst wenn Basisbegehren wie Essen und
Sinn zu, dass der interessierte Mann auf das Gourmet- Trinken gestillt sind, melden sich andere Gelüste zu Wort.
menü verzichten kann: Hauptsache, sie ist satt! „Sobald wir satt sind, können wir uns besseren Dingen zu-
Dass selbst ein lieblos gefüllter Bauch die Liebe begünstigt, wenden“, sagt auch Untersucherin Alice Ely. Ist ein voller Ma-
zeigt ein Experiment an der Drexel University in Philadelphia(1). gen folglich gut für die Beziehungsharmonie, so weckt Dis-
Alice Ely und ihre Mitforscher zeigten 20 jungen Frauen, die harmonie den Appetit, wie eine andere Studie zeigt.(2)
ganz unromantisch in der Röhre eines Magnetresonanztomo- Lisa Jaremka von der University of Delaware schickte mit
grafen lagen, romantische Bilder von händchenhaltenden, in Kollegen 43 verheiratete Paare für neuneinhalb Stunden in
Liebe entflammten Paaren. Die Teilnehmerinnen verfolgten eine fiese Zweierklausur. Nachdem beide – zwecks einheitli-
die Diashow entweder mit knurrendem Magen, weil sie in den cher Sättigung – ein Standardmenü verkostet hatten, mussten
vorangegangenen acht Stunden nichts zu essen bekommen sie während der restlichen Zeit wunde Punkte ihrer Partner-
hatten. Oder aber sie hatten unmittelbar zuvor einen 500-Ki- schaft miteinander diskutieren. Das Resultat: Frauen und
lokalorien-Nährdrink zu sich genommen, was sie zwar nicht Männer, bei denen es dabei disharmonisch zuging, hatten –
kulinarisch befriedigt, aber doch gesättigt haben dürfte. Die obwohl sie ja satt waren – vergleichsweise hohe Mengen des
zwangsfastenden Frauen, so stellte sich heraus, waren zwar Hungerhormons Ghrelin im Blut; der Streit weckte ihren Ap-
hungrig, aber nicht sonderlich hungrig nach Liebe. Die petit. Schlimmer noch: Die feindselig streitenden Paare hatten
Schmachtbilder ließen sie jedenfalls kalt. Anders die satten hernach ein besonderes Verlangen nach fetten, süßen, salzigen,
Teilnehmerinnen: Bei ihnen wurden Belohnungsschaltkreise sprich: ungesunden und dickmachenden „Trostspeisen“. TSA
im Gehirn aktiv, sobald sie die Paarfotos sahen. Sie waren also
empfänglicher für diese Art von Reizen. (1) DOI:10.1016/j.appet.2015.06.022, (2) DOI: 10.1177/2167702615593714
W
enn Sie sich im Kino oder daheim am
Fernseher einen Schmachtfetzen anschau- RUND UMS ESSEN
en, sollten Sie Süßigkeiten und Chips besser
außer Reichweite halten. Ernährungsforscher der Cor-
1
nell University haben festgestellt, dass traurige Filme
den Snackverzehr merklich steigern. Im Labor vertilg- Folgen Sie Routinen
ten die Probanden 28 Prozent mehr Popcorn, wenn sie Menschen, die gesund essen, halten häufiger
vor dem Film Love Story, der Mutter aller Liebestragö- regelmäßige Mahlzeiten ein und kochen zu Hause,
dien, dahinschmolzen, als wenn sie sich bei der Komö- kurzum: Sie ernähren sich bewusster.
die Sweet Home Alabama amüsierten. Noch eindeutiger
2
fiel ein anschließender Feldversuch in ausgewählten
Kinos aus. Diesmal wurde die appetitanregende Wir- Konzentration!
kung von Solaris – einer traurigen Science-Fiction- Wer isst, während er fernsieht, etwas spielt
Erzählung, die von unverarbeitetem Verlust handelt – oder liest, nimmt mehr Nahrung zu sich als
mit jener der heiteren Romanze My Big Fat Greek Wed- bei ungestörten Mahlzeiten.
ding verglichen: Die Forscher zählten die verkauften
3
Popcornboxen und wogen die nicht verzehrten Reste,
die nach der Vorführung im Abfall landeten. Ergebnis: Planen Sie Diäten mit Pause
Während des traurigen Filmes wanderten 55 Prozent Fasten fühlt sich besser an, wenn man an
mehr Puffmais in den Magen (127 gegenüber 82 einem Tag pro Woche über die Stränge
Gramm). Studienleiter Brian Wansik erklärt das mit schlagen darf – und weniger Gewicht verliert
unserer Neigung, eine traurige Stimmung mit „emoti- man auch nicht.
onalem Essen“ zu kompensieren. Er schlägt aber vor,
4
uns diesen Mechanismus im Sinne einer kleinen Selbst-
überlistung zunutze zu machen: Stellen Sie sich beim Steigern Sie sich.
Kinoabend einfach etwas Obst vor die Nase, denn „trau- Wenn Sie Gästen mehrgängige Menüs
rige Filme verleiten die Leute zu essen, was vor ihnen servieren, achten Sie darauf, dass der Appetizer
steht, auch wenn es gesund ist“. TSA wirklich nur ein solcher ist. Schmeckt schon das
Entree besonders köstlich, beurteilen Speisende
DOI: 10.1001/jamainternmed.2014.7880
den Hauptgang weniger großzügig.
5
Riskieren Sie was
Frauen, die angeben, viele ungewöhnliche
Nahrungsmittel schon probiert zu haben,
beschreiben sich als gesundheitsbewusster,
aktiver und wiegen weniger.
11
Zu viel, zu wenig, zu fett, zu süß:
Warum wählen wir manchmal Speisen
wider unsere Vernunft?
Und ist das wirklich schlimm?
13
ICH HAB STRESS:
ICH MUSS
WAS
ESSEN!
Wenn die Stimmung im Keller ist,
beruhigen sich viele Menschen mit kalorien-
reichen Nahrungsmitteln. Kurzzeitig
trösten Schokolade & Co tatsächlich.
Auf Dauer aber schafft „emotionales Essen“
neue Probleme
V O N E VA T E N Z E R
V
ielleicht haben Sie diese Erfahrung auch
schon gemacht: Man hat sich über etwas ge-
ärgert, fühlt sich frustriert oder überfordert
und greift automatisch zu Schokoriegel oder
Kartoffelchips – je süßer, fett- und kalorien-
reicher, umso besser. Wird man von heftigen Gefühlen gebeu-
telt, schlägt der Appetit bisweilen seltsame Kapriolen, vor allem
negative Emotionen wie Stress, Einsamkeit, Trauer oder Lan-
geweile scheinen den Weg Richtung Kühlschrank zu bahnen.
Im Englischen bezeichnet man dieses Essverhalten als comfort
eating, hierzulande sprechen Fachleute vom emotionalen Essen.
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die Spiegel bestimmter Neurotransmitter (siehe Seite 20). Koh- zukommen und so auf das kompensatorische Essen zu ver-
lenhydratreiche Nahrung beispielsweise lässt den Tryptophan- zichten. Dabei müssen sich die Betroffenen klarmachen, wie
spiegel ansteigen, was wiederum das Serotoninsystem des und wann sie Essen für andere Zwecke als zur Sättigung funk-
Gehirns aktiviert und so die Stimmung verbessert. Fett und tionalisieren; so werden unbewusste Verhaltensmuster Schritt
Zucker setzen Endorphine frei. In Experimenten zeigten Pro- für Schritt aufgedeckt. Wer etwa nach jeder Auseinanderset-
banden nach einem zucker- und fettreichen Snack niedrigere zung mit Kollegen unbewusst zur Schokolade greift, um sich
Kortisolwerte und geringere Stressreaktionen. zu beruhigen, muss sich diesen Automatismus oft überhaupt
Allerdings sollten diese biologischen Effekte nicht über- erst bewusstmachen.
schätzt werden, wie das Beispiel Schokolade zeigt: Aufgrund Darauf aufbauend, können die Betroffenen neue Lösungs-
einiger Bestandteile der Kakao- strategien entwickeln, um auf die
bohne (etwa Anandamid oder identifizierten Stressoren anders
Phenylethylamin) wird sie oft als zu reagieren. Dazu gehört auch die
„Glücklichmacher“ angepriesen.
Fachleute weisen jedoch darauf
DIE MACHT Erkenntnis, dass das Verlangen
nach Frustessen wieder vergeht,
hin, dass die Dosis euphorisieren-
der Stoffe bei normalen Portionen
DER GEFÜHLE wenn man ihm nicht sofort nach-
gibt. Mit Achtsamkeitsübungen,
so gering ist, dass eine dadurch
verursachte Stimmungsaufhellung
ERKENNEN deren Wirksamkeit bei Essstörun-
gen mittlerweile gut erprobt ist,
praktisch ausgeschlossen werden
kann. Demnach scheinen die ge-
UND NACH wird trainiert, Nahrung bewusst
wahrzunehmen und zu genießen.
schmacklichen Wirkungen den
gewünschten Effekt beim emotio-
DEM ESSEN Im Anschluss an das Trainingspro-
gramm zeigte sich, dass die emo-
nalen Essen auszulösen, nicht aber
die Inhaltsstoffe. Über die sensori-
AUFSCHREIBEN tionalen Esser nunmehr seltener
aus Frust und schlechter Stim-
schen Empfindungen steigert
wohlschmeckendes Essen das
WIE ES EINEM mung aßen. Durch achtsame
Selbstbeobachtung hatten sie ge-
Wohlbefinden – wir genießen den
Geschmack und fühlen uns besser.
GEHT lernt, Essauslöser besser zu erken-
nen und sie von den körperlichen
Am wirksamsten für emotiona- Hungerempfindungen zu unter-
le Esser sind Nahrungsmittel mit scheiden.
einer hohen Energiedichte, die über ihren guten Geschmack Auch Jennifer Taitz, Klinische Psychologin am Amerikani-
Wohlgefühle auslösen – eben Süßigkeiten, Snacks, Knabber- schen Institut für kognitive Therapie in New York, hilft emo-
zeug, Fast Food. tionalen Essern in Einzel- und Gruppentherapien. Wie in den
Emotionales Essen gilt als „Essmuster“, nicht als pathologi- Würzburger Therapiegruppen bildet auch hier die dialektisch-
sche Essstörung. Diese Grenze wird allerdings überschritten, behaviorale Therapie (DBT) nach Marsha Linehan die Basis.
wenn Betroffene so exzessiv essen, dass ihre Lebensqualität ein- Stressmanagement, Akzeptanz und Achtsamkeit sind zentrale
geschränkt ist. Spätestens wenn emotionale Esser in regelmä- Punkte. Auf der Grundlage der kognitiven Verhaltenstherapie
ßigen Essanfällen sehr große Mengen verzehren, ist eine The- sollen die Betroffenen über den konstruktiven Umgang mit
rapie nötig. Experten nennen zwei Bedingungen hierfür: Kon- Stress und Ärger wieder zu einem gesunden Essverhalten zu-
trollverlust beim Essen und die Tatsache, dass das Essverhalten rückfinden. Taitz schafft mit speziellen Übungen ein Bewusst-
selbst zu Belastungen führt. Was aber hilft, wenn es so weit ist? sein dafür, wann man sich von Emotionen zu unkontrolliertem
Diät allein führt nicht weiter, sie kann die Symptome sogar Essen hinreißen lässt. Dafür schreiben Patienten zum Beispiel
verschlimmern, da sich durch den erzwungenen Verzicht auf ihre Gefühle vor und nach dem Essen auf, um sich über die
Nahrungsmittel die Stimmung der Betroffenen oft weiter ver- unterschiedlichen Motivationen zu essen klarzuwerden. Sie
schlechtert, was wiederum den Appetit auf die geliebten Snacks lernen, ihren Gefühlen auf den Grund zu gehen und die Ver-
steigert. Es kommt vielmehr darauf an, dass die Betroffenen bindung zum Essen zu verstehen. „Übungen in Achtsamkeit
Alternativen an die Hand bekommen, um ihre Emotionen zu und Akzeptanz zeigen einen Weg, der zu Lebensfreude und
regulieren. In den Würzburger Trainingsgruppen lernten sie, Ausgeglichenheit führt. Und der es erlaubt, in aller Ruhe einen
Probleme aktiv zu lösen, mit ihren Gefühlen besser zurecht- Marshmallow zu genießen.“
19
Ü
bergewichtige Men-
schen, vor allem US-
Amerikaner, folgen
der Devise Low carb
or no carb. Sie mei-
den kohlenhydratreiche Lebensmittel
wie Nudeln, Reis, Kartoffeln oder Brot,
stattdessen essen sie massenweise Fisch,
Fleisch, Käse und Eier – in der Hoffnung,
dadurch schlank und gesund zu werden.
Eine aktive Antikohlenhydratlobby ver-
sucht durch Kampagnen und Veranstal-
tungen Konsumenten, die Industrie und
die Politik für die Idee zu gewinnen. Es
gibt bereits spezielle Lebensmittelketten
für kohlenhydratarme Produkte, und
einige Fast-Food-Ketten sollen ihre
Hamburger schon ohne Brötchen anbie-
ten. Ein Vorreiter dieser Welle war der
amerikanische Arzt und Diätguru Ro-
bert Atkins. Der war überzeugt, dass
eiweißreiche Lebensmittel Übergewicht
abbauen und die Gesundheit fördern.
Ziel seiner „Diätrevolution“ ist deshalb
ein Kohlenhydratmangel im Körper.
MACHEN
Dass ernährungswissenschaftliche
Studien die Kohlenhydrathysterie kaum
KOHLENHYDRATE
FROH?
stützen, scheint seine Anhänger nicht zu
stören.
Doch es gibt noch ein anderes ge-
wichtiges Gegenargument: die Psyche.
Denn Ernährungswissenschaftler und
Psychologen haben Hinweise gefunden, Wer seiner Figur zuliebe weitgehend auf
dass kohlenhydratreiche Nahrungsmit- Kohlenhydrate verzichtet, geht möglicherweise
tel bei depressiven und stressanfälligen
Menschen die Stimmung stabilisieren
ein Risiko ein. Denn Nudeln, Reis und
und sie stressresistenter machen. Für sie Brot können Depressionen mindern
könnte eine kohlenhydratarme Ernäh-
rung deshalb fatal sein. V O N E VA T E N Z E R
21
WARUM UNS SCHMECKT,
WAS UNS
SCHMECKT
E
rnährungswissenschaftler geben sich große Mü- lang von ihren Müttern Zuckerwasser zu trinken, eine andere
he, die Verbraucher über ihre neuesten Erkennt- Gruppe von Babys erhielt keine süße Zusatzration. Nach sechs
nisse auf dem Laufenden zu halten. Was darf Monaten war die Süßpräferenz bei den „Zuckerwasserbabys“
man, was soll man essen? Welche Nahrungsmit- sehr viel ausgeprägter als bei den anderen Kleinkindern. Und:
tel enthalten welche wichtigen Nährstoffe? Wie Selbst Jahre danach unterschieden sich die beiden Gruppen in
groß ist der Fettanteil in Lebensmitteln? Das verbreitete Wissen ihrer Vorliebe für Süßes.
über die richtige Ernährung ist groß. Dennoch essen viele Zucker kann sogar Schmerzen blockieren: Wenn Neugebo-
Menschen „unvernünftig“. Woher rührt diese Unvernunft? rene Injektionen bekamen oder ihnen Blut abgenommen wer-
Warum bevorzugen viele immer noch Schweinebraten mit den musste, reagierten sie auf die Nadel weniger, wenn sie
Knödel, warum meiden sie nicht verächtlich die ungemütli- gleichzeitig an einem zuckergetränkten Schnuller saugen durf-
chen Fast-Food-Restaurants, warum schmeckt die Schwarz- ten. Saure und bittere Geschmacksrichtungen aber mögen
wälder Kirschtorte, obwohl das Wissen um den hohen Fett- Neugeborene nicht – eine Abneigung, die meist bis ins späte
und Zuckergehalt eigentlich den Appetit verderben müsste? Erwachsenenleben bestehen bleibt. Möglicher Grund: Bitter-
Und warum denkt man, wenn man sich mit Essen belohnen keit kann ein Zeichen für „giftig“ sein. Und Vergiftungen müs-
will, an Schokoriegel, Gummibärchen oder Bratwurst und sen natürlich vermieden werden. Erst wenn wir älter werden,
nicht an herzhaftes Vollkornbrot, saftige Äpfel oder ein bal- entwickeln wir einen Geschmackssinn für leicht bitter schme-
laststoffreiches Müsli? ckende Nahrungsmittel, besonders wenn sie süß und fett
Möglicherweise hilft dieses Umfrageergebnis weiter: Gefragt gleichzeitig sind – wie beispielsweise bittere Schokolade.
nach ihren Assoziationen zu den Wörtern „Ernährung“ und Abgesehen von den grundlegenden Geschmacksvorlieben
„Essen“, fielen 44,5 Prozent der Befragten beim „Essen“ die für Süßes, Fettes und später auch leicht Bitteres, gibt es deut-
Begriffe „Lust und Genuss“ ein, aber nur 25,9 Prozent hatten liche individuelle Unterschiede in der Zusammenstellung der
beim Stichwort „Ernährung“ diese Assoziation. Dagegen ver- Speisepläne. Wahrscheinlich erfolgt die Weichenstellung schon
banden 24,1 Prozent „Gesundheit“ mit „Ernährung“, während sehr früh. Ernährungswissenschaftler haben interessante Zu-
nur 6,9 Prozent „Essen“ für zwangsläufig gesund hielten. Das sammenhänge zwischen frühen Geschmackserfahrungen und
heißt also: Essen bringt Lust und Genuss, Ernährung dagegen späterem Essverhalten herausgefunden:
ist gesund – aber langweilig. So kommt es wohl, dass vielen Babys saugen länger an der Brust, wenn die Mutter kräftig
Menschen bei den „erlaubten“ Nahrungsmitteln (als da sind: gewürzte Nahrung (zum Beispiel Knoblauch) gegessen hat.
Hülsenfrüchte, Gemüse, Obst, Körner, fettarme Milchproduk- Der Säugling nimmt dabei allerdings nicht mehr Milch zu sich,
te) nur selten das Wasser im Munde zusammenläuft und sie sondern nutzt die verlängerte Saugzeit zur Analyse: Der kleine
trotz mannigfacher Information den Appetit auf Schokolade, Genießer behält die Milch länger im Mund, offensichtlich um
auf ein dick mit Leberwurst belegtes Brötchen oder 75-prozen- dem fremden Geschmack auf die Spur zu kommen.
tigen Käse nicht loswerden. Wir essen nicht, weil es gesund ist, Die Geschmacksschulung beginnt jedoch nicht erst nach
sondern weil es schmeckt. Das haben inzwischen auch die Ex- der Geburt, sondern bereits im Mutterleib. Wenn eine Schwan-
perten erkannt und fragen nicht mehr nur danach, was wir gere Knoblauch isst, verändert das den Geschmack des Frucht-
essen dürfen, sondern auch, warum wir essen, was wir essen. wassers. Möglicherweise nimmt der Fötus diese Veränderung
Psychologen und Ernährungswissenschaftler haben in den wahr und lernt so schon vor der Geburt unterschiedliche Ge-
letzten Jahren diese Frage ausgiebig erforscht. Da ist zum einen schmacksrichtungen unterscheiden. Ein weiterer Beleg für
23
diese Annahme: Die Bereitschaft des Kindes, verschiedene
Nahrungsmittel zu sich zu nehmen, ist umso größer, je vari- UNSERE UMWELT
antenreicher sich die Mutter ernährt. Wenn schwangere Frau-
en beispielsweise täglich Karottensaft trinken, dann mögen BIETET UNS
ihre Babys sechs Monate nach der Geburt Brei mit Karotten-
geschmack lieber als gleichaltrige Kinder, die keine entspre- ÜBERALL NAHRUNG
chenden Geschmacksvorerfahrungen hatten. Wenn wir be-
stimmte Speisen bevorzugen, dann assoziieren wir damit AN. DOCH GESUND
Dinge, die sich möglicherweise früh in unserem Leben, oftmals
schon vor der Geburt abgespielt haben. IST DAS MEISTE
Das ist möglicherweise auch die Erklärung dafür, dass die
Vorlieben für bestimmte Speisen von Kultur zu Kultur unter- DAVON NICHT
schiedlich sind. In verschiedenen Studien hat der Psychologe
Scott Parker von der American University in Washington die
Annahme widerlegt, Frauen seien überall auf der Welt wild Fleisch gefüllte Auberginen oder Molokhia, eine typische ägyp-
auf Schokolade. Zwar bevorzugt das weibliche Geschlecht in tische Suppe mit Spinat und Lamm- oder Hühnerfleisch. Auch
Ägypten, Spanien und den USA grundsätzlich süßere Speisen bei den Männern fanden die Forscher klare kulturelle Unter-
als das männliche, doch gab es deutliche Unterschiede bei der schiede: Amerikaner bekannten sich zu Pizzen, Bier, Burgern
Schokolade: In Spanien waren Männer und Frauen gleicher- und Steaks. Die spanischen Männer dagegen bevorzugten
maßen süchtig nach dem süßen Schmelz. Ägypterinnen dage- Serranoschinken, Pommes frites und Spaghetti. In Ägypten
gen konnten wenig mit Kakao anfangen – nur sechs Prozent freuen sich die Männer (wie die Frauen), wenn Molokhia auf
nannten Schokolade, wenn sie nach ihrer Lieblingsspeise ge- den Tisch kommt oder gegrillter Fisch.
fragt wurden. Sie mochten lieber gefüllte Weinblätter, mit Allerdings scheinen diese kulturellen Unterschiede nach
und nach nivelliert zu werden, wie das Beispiel Frankreich
zeigt. Lange Zeit wurde das Essverhalten der Franzosen als
vorbildlich dargestellt. Trotz Weißbrot, fetter Gänseleber und
Rotwein waren Übergewicht und Herzerkrankungen in Frank-
reich kein Thema. Vor allem die Tatsache, dass sich Franzosen
Zeit nehmen für ihre Mahlzeiten und diese meist in Gesell-
schaft verbringen, wurde als gesundheitsfördernd angesehen.
Inzwischen hat sich die Situation verschlechtert. Immer mehr
Franzosen gehen mittags nicht mehr ins Bistro, sondern tauen
Tiefkühlpizzen auf oder essen Hamburger. Immer weniger Zeit
wird für Kochen und Essen aufgewendet. Unterstützt werden
diese Veränderungen noch durch „ein Missverhältnis zwischen
unserer Physiologie und unserer Umwelt“, sagt der Psycholo-
ge James O. Hill vom University of Colorado Health Sciences
Center. „Unsere Umwelt bietet uns überall Nahrung an – die-
se ist meist billig, schmeckt und wird in großen Portionen
gereicht –, und unsere Physiologie sagt: ‚Iss, wann immer du
die Gelegenheit dazu hast.‘“ Gesunde Ernährung sei sehr viel
schwieriger zu erreichen, sei mühsamer zuzubereiten und zu-
dem teurer. So verwundert das Ergebnis einer Befragung unter
fast 500 Erwachsenen nicht. Die Anthropologin Jane Kauner
identifizierte eine Liste von Nahrungsmitteln, die von fast allen
Menschen gerne gegessen werden: Brathähnchen, Pommes
frites, Schokoladenkekse oder Fertigprodukte wie Macchero-
ni mit Käse. PHc
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25
APPETIT AUF
ABWECHS-
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Warum wir nach einem ausgiebigen
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auf ein Dessert haben
V O N J O C H E N PA U L U S
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ndlich haben die Gäste al- Zuckerwasser ins Mäulchen geträufelt, Letzteren predigen Ernährungswis-
le Vorspeisen und Haupt- schluckt sie erst einmal begeistert. Doch senschaftler sogar, auf möglichst vielfäl-
gänge bewältigt und stre- nach einer Weile hat sie genug und lässt tige Kost zu achten. Im Lehrbuch der
cken die Esswerkzeuge, da die Leckerei herauslaufen oder spuckt Ökotrophologie liest sich das logisch.
wird der Nachtisch ge- sie sogar aus. Eine Minute später hat sie Doch im verfressenen Alltag des überge-
reicht. Schon schlägt alles wieder zu und immer noch keine rechte Lust auf Zu- wichtigen Normalverbrauchers hat der
verputzt auch noch die Süßigkeiten. ckerwasser. Doch wenn nun stattdessen Rat seine Tücken. Denn je mehr unter-
Zwingen sich die Geladenen bloß, um Milch aus dem Schlauch fließt, trinkt schiedlich schmeckende Speisen in
die Gastgeber nicht zu beleidigen? sie ganz so, als wäre sie nicht gerade Reichweite sind, desto mehr verschlingt
Keineswegs, glauben Forscher: Die erst mit süßer Flüssigkeit abgefüllt wor- der Mensch. Das belegen 58 Studien,
wiedererwachte Gefräßigkeit liegt in un- den. Es muss nur eine neue Geschmacks- die Hollie Raynor und Leonard Epstein
serer Natur – und nicht nur in unserer. richtung her. Das gilt für Nager wie für von der Universität Buffalo zusammen-
Bekommt eine Ratte mit einem Schlauch Menschen. getragen haben.
spielsweise mehr Sandwichs, wenn statt Das lässt sich sogar physiologisch er-
einer Sorte solche mit Thunfisch, Roast- fassen. Gibt es bei einer Testmahlzeit
beef, Käse oder Ei im Angebot waren. immer die gleichen Cheeseburger zu
Die Auswahl, so zeigte sich, muss nicht essen, lässt der Speichelfluss nach. Kaum
einmal besonders schmecken. Die beste aber kommt etwas Neues auf den Tisch,
Eissorte allein hatte beim großen Fressen verfliegt der Gewöhnungseffekt. Im Ge-
keine Chance gegen das Gesamtsorti- hirn schalten bestimmte Zellen des Hy-
ment mehr oder weniger gelungener pothalamus und des Großhirns auf
Kreationen. Allerdings sollten die Unter- Sparflamme, und der Appetit auf eine
schiede zwischen den einzelnen Bestand- Speise lässt nach. Sowie es etwas Neues
teilen des Menüs schon deutlich sein. gibt, feuern sie wieder eifrig.
Zum Joghurt mit Kirschgeschmack noch Wahrscheinlich hat die Evolution un-
Sorten mit Himbeer- oder Erdbeer- sere Vorliebe für Abwechslung auf der
aroma anzubieten fördert den Konsum Speisekarte hervorgebracht, damit wir
nicht. Gut kommt es dagegen an, wenn viele verschiedene Nahrungsmittel zu
sich das Essen im Mund verschieden an- uns nehmen, um so einem Mangel an
fühlt. Nach einem vergleichsweise har- einzelnen Nährstoffen oder Vitaminen
ten Baguette mögen wir lieber etwas vorzubeugen. Dabei musste sie lediglich
Weiches wie Apfelmus oder Pudding. aufpassen, dass Neugeborene nicht der
Zur Not steigern aber auch nahezu iden- Muttermilch überdrüssig werden, des
tische Frischkäsesandwichs den Ver- einzigen Nahrungsmittels, das sie in den
brauch um ein Siebtel, sofern sie mit ersten Monaten bekommen. Tatsächlich
In einem der Experimente wurden Salz, Zitrone, Zucker und Curry nur setzt die rasche Gewöhnung an einen
nacheinander Würste, Brot und Butter, unterschiedlich genug aromatisiert sind. Geschmack erst nach dem Stillalter ein.
Schokodessert und Bananen aufgefah- Es stellte sich heraus, dass der Appetit Heute in unserer Überflussgesell-
ren. Die Teilnehmer futterten 44 Prozent auf Abwechslung sehr schnell kommt: schaft wird uns das genetische Erbe zum
mehr als die Kontrollgruppe, die zwar Schon zwei Minuten nachdem wir etwas Verhängnis. Die Nahrungsmittelindust-
auch vier Gänge serviert bekam, aber gegessen haben, finden wir die vertilgten rie ist ständig auf der Suche nach neuen
jedes Mal dasselbe. An Kalorien hatte die Speisen nicht mehr so attraktiv – so Aromen, damit wir mehr essen, als uns
vielfältig versorgte Tafelrunde am Ende rasch kann der Körper gar nicht heraus- guttut. Interessanterweise folgte die Zu-
sogar 60 Prozent mehr intus als die Kol- finden, wie viele Kalorien das Gegessene nahme der Fettleibigkeit exakt der zu-
legen nebenan. enthielt. Wir sind also oft nicht einfach nehmenden geschmacklichen Vielfalt
Andere Gelage im Dienst der Wissen- rundum satt, sondern jeweils nur für bei Süßigkeiten und Snacks, stellen die
schaft brachten ähnliche Resultate. Die Nahrungsmittel einer oder mehrerer Forscher mit Blick auf die letzten Jahr-
Versuchspersonen verschlangen bei- Geschmacksrichtungen unempfänglich. zehnte fest. PHc
27
28 PS YCH OLO G IE H EUTE com p a c t
ESSEN NACH
REGELN
Immer mehr Menschen verzichten auf Getreide, Milch, Eier oder Fleisch.
Andere treibt die ständige Angst vor Zusatzstoffen oder Rückständen
in den Lebensmitteln um, Fertigprodukte halten sie für Gift. Gesund zu essen
liegt imTrend – das nimmt teilweise schon pathologische Züge an
V O N K AT H R I N B U R G E R
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er 28-jährige Mann, nennen wir ihn George, (bitte kein Plastik!) entspricht oft einem ausgeklügelten Sys-
war blass und ausgemergelt, als er sich in der tem. Kulinarische Fehltritte werden von heftigen Schuldgefüh-
Ambulanz des Rocky Mountains West Medical len begleitet. Die Folgen der Extremdiäten: Mangelernährung
Center vorstellte. Er wog nur 44 Kilogramm und verminderte Lebensqualität. Teilweise wird diese Störung
bei einer Größe von 1,88 Meter, und sein von echten psychiatrischen Leiden wie Ess- oder auch Zwangs-
Gesundheitszustand war entsprechend desolat: Osteoporose, störungen überlagert. George nahm etwa seine Vitaminpillen
Verstopfung, Übersäuerung, Zahnprobleme, das Herz schlug immer über den Tag verteilt ein, da er glaubte, dass sie ihm
zu langsam, an weißen Blutkörperchen mangelte es ihm. Der nur auf diese Weise Energie geben würden. Laut Erhebungen
Mann litt aber offenbar nicht an einer psychiatrischen Krank- der Universität Düsseldorf zählen rund ein bis drei Prozent
heit wie Magersucht – sein Untergewicht erkannte er als solches der deutschen Bevölkerung zu den Orthorektikern, vor allem
und gab auch an, dass es ihn störe. Im Patientengespräch kam Frauen – schließlich achten sie generell mehr auf ihre Gesund-
er jedoch immer wieder auf seine Ernährung zu sprechen. Er heit und ihr Aussehen.
beschrieb diese als „pur“ und „rein“, bestehend vor allem aus Der Graubereich dürfte jedoch viel größer sein. Untersu-
Sojashakes, angereichert mit Eisen sowie Brokkoli, dem er ma- chungen, etwa an der Universität Wien, haben gezeigt, dass
gische Kräfte zuschrieb. Dazu schluckte er Multivitamintablet- spezielle Ernährungsformen wie Veganismus oder Steinzeit-
ten. Schließlich sei sein Körper ein „Tempel“, dem man exakt diät oft mit orthorektischem Verhalten verbunden sind.
die richtigen Bausteine zur Verfügung stellen müsse. Christoph Klotter, Ernährungspsychologe an der Universität
Die Ärzte bescheinigten dem jungen Ingenieur „Orthorexia Fulda, spricht gar von einer „essgestörten“ Gesellschaft, bei der
nervosa“. Eine Störung, für die es bislang keine klaren Diag- Orthorexie, Magersucht und Bulimie nur die Spitze des
nosekriterien gibt und die daher auch nicht in den Handbü- Eisberges seien.
chern der Psychologen auftaucht. Der Mediziner Steven Brat- Tatsächlich hegen immer mehr Menschen ein Unwohlsein
man, einst selbst an Orthorexie erkrankt, war der Erste, der gegenüber bestimmten Inhaltstoffen im Essen, während sie
das Störungsbild im Jahr 1997 beschrieb. Orthorektiker sind „Superfoods“ wie Chiasamen oder Grünkohl verehren. Sie
Menschen, die sich komplett auf die Heilwirkung von Nahrung meiden nicht mehr nur künstliche Zusatzstoffe, sondern seit
fokussieren. Sie wählen Lebensmittel penibel aus, auch die neuestem auch wegen Unverträglichkeit Laktose (in Milch)
Zubereitung und die Verwendung bestimmter Kochutensilien und Gluten (in Weizen), eigentlich vollkommen normale und
29
EINE VEGANE LEBENSWEISE
WÄHLEN MENSCHEN HÄUFIG NACH
KRISEN WIE JOBVERLUST,
SCHEIDUNG ODER BURNOUT
keineswegs schädliche Substanzen, wenn man gesund ist. Menschheitsgeschichte besehen – auch eher ab. Derzeit sind
Neben Veganismus und Paleodiät sind auch Rohkost, in Deutschland rund 10 Prozent betroffen. Die Existenz der
Clean-Eating, Makrobiotik oder Säure-Basen-Ernährung sogenannten „Glutensensitivität“ ist umstritten. In Deutsch-
im Trend. „Ernährung wird immer mehr ein gesundheitsför- land liegen die Schätzungen zwischen 0,5 und 6 Prozent. Noch
dernder Einfluss zugeschrieben, die Nähe zur Medizin wird weniger handfeste medizinische Gewissheiten gibt es in Sachen
größer“, bestätigt Daniel Kofahl vom Büro für Agrarpolitik und Histamin- oder Sorbitolintoleranz.
Ernährungskultur. So setzen sich offenbar viele Menschen ohne ärztliche Di-
Rund 20 Prozent der Deutschen geben an, sich gesund zu agnose selbst auf Diät. Das ist riskant. Und zwar dann, wenn
ernähren. Derzeit essen beispielsweise sieben bis acht Prozent ein Grundnahrungsmittel wie Milch oder Brot auf den Index
der Deutschen vegetarisch, ein Prozent vegan. Der deutsche kommt. Das gilt vor allem für den Nachwuchs. Pädiater be-
Markt an „Frei von“-Produkten wächst – so belief sich der richten bereits zunehmend von Kindern, die mangelernährt
Umsatz für glutenfreie Lebensmittel im Jahr 2013 auf 72 Mil- in ihrer Praxis auftauchen, zu langsam wachsen. Gesund wird
lionen Euro, im Jahr 2014 waren es 89 Millionen. dann auf einmal ungesund.
Zahlreiche Ratgeber, Kochbücher, Blogs, soziale Netzwerke Trotzdem schwärmen viele Trendköstler nach der Ernäh-
und angesagte Speiselokale befeuern diesen „Foodamentalis- rungsumstellung von gesteigerter Fitness, Reinigung oder gar
mus“. Auch dubiose Allergietests wie IgG-Tests oder Kinesio- Heilung schwerster Krankheiten. Die 38-jährige Sam Ebel,
logie tragen ihr Scherflein zur Hysterie gegenüber dem täglich ehemaliger Motorradprofi, macht etwa ihre vegane und koh-
Brot bei. Doch bei vielen Lebensmitteln ist das Meiden gera- lenhydratfreie Ernährung dafür verantwortlich, dass sie heute
dezu abstrus. So verzichten immer mehr Menschen auf Ge- nach 14 Jahren Krebserkrankung noch am Leben ist. Nach
treide, Milch, Eier oder Fleisch. Andere treibt die ständige Chemotherapie, Bestrahlung und langanhaltender Lungen-
Angst vor Zusatzstoffen oder Rückständen in den Lebensmit- entzündung sei ihr Immunsystem extrem geschwächt gewesen.
teln um, Fertigprodukte halten sie für Gift. Seitdem sie sich vorrangig von Gemüse und der Hülsenfrucht
Klar ist bei alldem: Es gibt viele Menschen mit Allergien Lupine ernährt, dafür Tierisches links liegen lässt, hatte sie
und Unverträglichkeiten, die erheblich leiden und sich unge- keinen Rückfall mehr.
rechtfertigt als „Hysteriker“ bezeichnet sehen. Oft haben sie Die Wirksamkeit sogenannter Krebsdiäten ist nicht
eine lange Odyssee durch zahlreiche Arztpraxen hinter sich, bewiesen. Kann sein, dass Sam tatsächlich mit der eiweiß-
bis die Ursache für Symptome wie Durchfall, starke Kopf- reichen Nahrung den Tumor in ihrem Dickdarm ausgehungert
schmerzen, bleierne Müdigkeit oder Hautausschläge erkannt hat, kann sein, dass es der Placeboeffekt war, den Mediziner
wurde. Für sie sind „Frei von“-Produkte ein Segen. dafür verantwortlich machen, wenn sich Symptome nach
Gemäß einer Berliner Studie aus dem Jahr 2012 glauben radikaler Diät bessern. Tatsächlich berichten in einer Studie
rund 60 Prozent der Bevölkerung, dass sie an einer Nahrungs- des Marktforschungsinstituts concept m Veganer von einem
mittelallergie leiden. Doch die Gesundheitsstatistiken spre- befreienden Gefühl, von dem Gefühl, endlich das Leben
chen eine andere Sprache: So belegen Zahlen des Robert-Koch- wieder selbst im Griff zu haben. „Eine vegane Lebensweise
Instituts einen Rückgang der Nahrungsmittelallergien von 5,4 befolgen demnach Menschen vor allem nach einer Krise,
auf 4,7 Prozent in den Jahren 2003 bis 2013. Die Anzahl der nach Jobverlust, Scheidung oder Burnout“, sagt Studienleiter
Menschen, die Milchzucker nicht vertragen, nimmt – über die Rochus Winkler.
WER STÄNDIG Wahrheit und sind für rationale Argumente nicht mehr zu-
gänglich.
SÜPPCHEN KOCHT, nießen. Heute sind das Angebot an Nahrungsmitteln und die
Ratschläge für eine gesunde Ernährung schier unübersichtlich
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33
© Silke Weinhsheimer
D GRÖSSE
ie Marketingetiketten
sprechen für sich: Tall
(gut 350 Milliliter),
Grande (ein knapper
halber Liter), Venti
(Italienisch für zwanzig, wie 20 Unzen, VERLEIHT
also etwa 600 Milliliter), so heißen die
Portionsgrößen im Coffeeshop. Auch
Kaffee, gezuckert und mit Sahne oder
Crema, kann dick machen. Ganz zu
schweigen von Schnitzel, Burger oder
PRESTIGE
Currywurst im XXL-Format. Restau- Wer sich machtlos fühlt, isst mehr. Große Portionen
rants, die dergleichen anbieten, erfreuen
sollen das Gefühl der Ohnmacht vertreiben
sich wachsender Beliebtheit. „Ein anhal-
tender Trend beim Lebensmittelkonsum VON INGRID GLOMP
ist, dass die Verbraucher tendenziell im-
mer mehr essen“, erklärt David Dubois
von der HEC (École des hautes études
commerciales) in Paris. „Was noch be-
denklicher ist: Die Zunahme dieses Kon-
sums ist besonders ausgeprägt in gefähr-
deten Bevölkerungsschichten, etwa bei
Käufern mit einem niedrigen sozioöko-
nomischen Status.“ Was verleitet Men-
schen dazu, Megabecher mit Kaffee oder
XXL-Burger zu kaufen?
Als Dubois an der Kellogg School of
Management studierte, fiel ihm etwas
auf: Die aus Früchten zubereiteten Ge-
tränke, sogenannte Smoothies, die das
Studentenwerk anbot, trugen die Grö-
ßenbezeichnungen „klein“, „mittel“ und
„power“ – also Macht. Konnte es sein,
dass große Portionen dem Käufer zu
mehr Ansehen verhelfen sollten? Das
war kein so abwegiger Gedanke, denn für
Statussymbole wie Autos und Flachbild-
fernseher gilt bekanntlich: Je größer,
desto prestigeträchtiger. Gemeinsam mit
seinen Kollegen Derek Ruckner und
Adam Galinsky machte Dubois sich da-
ran, der Sache mit sechs einfallsreichen
Experimenten auf den Grund zu gehen.
Beim ersten Test schilderten sie Studen-
ten Szenarien von Menschen, die Pizza,
Smoothies oder Kaffee auswählten. In
allen Fällen verliehen die größten Porti-
onen nach Aussagen der Befragten tat-
gleich blieb. Die Gruppe der Benachtei- sen, waren also nicht hungrig. Zudem
ligten entschied sich nicht nur insgesamt war das Popcorn fünf Tage alt, schmeck-
für größere Teller und Becher, sondern te also nicht einmal gut. Trotzdem aßen
deren Ausmaß wuchs von den privaten die Versuchspersonen aus den größeren
über die öffentlichen bis hin zu den so- Behältern 53 Prozent mehr.
35
MÜDIGKEIT
MACHT HUNGRIG
Ist man übernächtigt, fällt es schwer, die Figur zu halten.
Denn Schlafmangel steigert den Appetit und mindert zudem die Selbstkontrolle
VON DAGMAR KNOPF
37
Wir nutzen es als Trostspender,
wir kämpfen mit ihm,
und manche macht es sogar krank:
Unser Verhältnis
zum Essen ist selten ungestört
15
NUR DAS
ESSEN IST
IMMER
FÜR
MICH
DA
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eder kennt das: Man kommt aus der Kälte nach drin- sein. Gleichzeitig sind alle unangenehmen Zustände vorüber:
nen, ist durchgefroren und ausgehungert, und dann die Existenzangst, die Verzweiflung, das Alleinsein. Kommt
steht eine warme, lecker duftende Suppe auf dem Tisch. aber die Mutter oft und in unberechenbarer Weise viel zu spät,
Die Suppe wärmt einen von innen, nährt, befriedigt dann geschieht im Babygehirn etwas anderes. Das Baby kann
und weckt neue Lebensgeister. Und plötzlich sind Sor- die Situation nicht verändern, weil es noch nicht in der Lage
gen und Probleme ein bisschen weiter weg. „Essen und Trinken ist, aus seinem Bettchen herauszukrabbeln und sich aktiv Hil-
hält Leib und Seele zusammen“, heißt ein alter Spruch. Und fe zu holen. Wenn es schon die Situation nicht verändern kann,
die Volksweisheit hat recht. Essen ist lebenswichtig und stabi- dann verändert es eben seine Gefühle: Säuglinge lernen bereits
lisiert uns nicht nur körperlich, sondern auch psychisch. Das sehr früh, ihre Bedürfnisse zu dissoziieren, erklärt Karl Heinz
tut gut und ist ganz normal. Zu einem Problem wird es nur, Brisch. Dies bedeutet, so der Münchner Bindungsforscher,
wenn uns außer dem Essen wenig anderes stabilisiert. So war „dass das Gehirn in Situationen von extrem großem Stress,
es bei meiner Patientin Cora S. wenn das Baby Hilflosigkeit und Todesangst empfindet, alle
Immer wenn Cora S. abends nach einem anstrengenden Gefühle, Ängste, Schmerz abschaltet und nicht mehr wahr-
Arbeitstag nach Hause kommt, muss sie schnell etwas essen. nimmt“.
Nachdem der erste Hunger durch ein normales Abendessen
SATT SEIN BEDEUTET WOHLIGE TRÄGHEIT.
gestillt ist, isst sie noch weiter. Dazu muss der Fernseher laufen,
ALLES IST GUT
und Cora S. fläzt sich auf ihr Sofa und isst hemmunglos, mit
schlechtem Gewissen Süßigkeiten in sich hinein. Sie kann nicht Cora S. explorierte die „wohlige Trägheit“ weiter. Sie versuch-
aufhören. Zu diesem Zustand fällt Cora der Begriff „wohlige te diese Trägheit durch Essen über den Hunger hinaus zu ver-
Trägheit“ ein. Als wir Babyfotos von ihr anschauen, fällt uns längern. Es zeigte sich, dass Cora auch dann weiteraß, wenn
auf, dass Cora ihr Fläschchen in eben dieser Position getrunken ihr Magen bereits schmerzte. Und wir fanden heraus, dass sie
hat. Auf Nachfrage bei Coras Mutter stellt sich dann heraus, irgendwann nicht mehr weiteraß, um die wohlige Trägheit
dass diese – wie es früher oft üblich war – das Loch im Sauger auszukosten, sondern weil sie ganz einfach Angst hatte aufzu-
mit einer Nadel vergrößert hatte, sodass die Tochter schneller hören. Die kleine Cora von damals wurde nach dem Füttern
trinken musste und die ganze Fütterungsaktion früher beendet ins Bett gesteckt, das heißt im dunklen Zimmer abgelegt. So-
war. Und wir erfahren, dass Coras Mutter im Vierstunden- lange sie aber am Trinken war, durfte sie noch bei der Mutter
rhythmus gefüttert hat. bleiben. Und sie hatte gelernt, was es heißt, „satt“ zu sein. „Satt-
Wer schon mal ein Kind gestillt hat, weiß, dass der Vier- heit“ war jenes Gefühl, das Cora S. nach dem raschen Einflößen
stundenrhythmus für ein Baby, das durch seine Wachstums- der Milch aus der Flasche empfand: das Gefühl eines übervol-
phasen einen sehr unterschiedlichen Nahrungsbedarf hat, len Magens, was sie als „wohlige Trägheit“ gespeichert hat.
oftmals zu lang ist und für das Baby eine Qual bedeutet. Das Im Säuglingsalter treffen Erfahrungs- und Lernprozesse auf
Baby hat noch keinen Zeitbegriff und keinen Objektkonstanz- eine sehr hohe Plastizität des Gehirns. Sie haben damit einen
begriff, das heißt, es kann nicht ermessen, wie lange die Zeit viel stärkeren Einfluss auf das Wachstum von Nervenzellen
sein wird, bis die Mutter mit der Nahrungsquelle wiederkom- und synaptischen Verbindungen als Lernprozesse im erwach-
men wird. Und es weiß nicht, dass die Mutter überhaupt noch senen Gehirn. Grundlegende Strukturen des menschlichen
existiert, wenn es sie nicht körperlich spürt. Also liegt es in Gehirns bilden sich in den ersten Lebensjahren heraus, es wer-
seinem Bett und hat Hunger. Sein biologisches Programm sagt den in dieser ersten Zeit sozusagen die Weichen gestellt für
ihm, dass es laut schreien muss, damit die Mutter es hört und darauf folgende spätere Erfahrungen. Die frühen Erfahrungen
ihr die Milch einschießt. Kommt die Mutter nicht, so wird es hinterlassen im Gehirn einen Abdruck. Dieser Abdruck be-
schreien und schreien. Es spürt Hunger, Existenzangst, An- kommt eine emotionale Färbung, weil das Lernen bei kleinen
spannung, Verzweiflung, Wut und Ohnmacht. Kindern immer in einer Beziehung stattfindet.
41
„Wohlige Trägheit“ heißt also für das Baby: Die Mutter ist licher Liebe werde ich mir nicht auch noch wegnehmen. Denn
ganz nahe bei mir, ich habe es warm und bin geborgen, und das Essen ist das Einzige, was immer für mich da ist, wenn ich
ich habe gut gegessen. Alles ist gut. Diesen Zustand möchte es es brauche.“
festhalten. Im dunklen Zimmer allein abgelegt zu werden aber Essstörungen haben viel mit den frühen Bindungsmustern
heißt, von der Mutter getrennt zu sein, Einsamkeit, Kälte, Iso- zu tun, die John Bowlby und Mary Ainsworth in ihrer Bin-
lation, Ohnmacht. Dieser Zustand soll vermieden werden. dungstheorie beschreiben. Sie unterscheiden zwischen vier
Die Psychoanalytikerin Eva Rass bringt es auf den Punkt: Eine Hauptbindungsstilen – sicher, unsicher-vermeidend, unsi-
Gefühlsüberflutung, die keine Regulierung erfährt, bildet den cher-ambivalent, desorganisiert (siehe Kasten Seite 43). „Alle
Kern primärer Ängste, die in das implizite Gedächtnis einge- organisierten Bindungsmuster kann man als realistische
hen. Aber nicht nur Angsterfahrungen graben sich ein, sondern Adaptationen an die Umgebung und an die versorgenden Per-
auch der psychobiologische Prozess, mit dem damals dieser sonen betrachten“, sagt der Jenaer Bindungs- und Psychothe-
sehr belastende Zustand bewältigt wurde. Diese Strategien rapieforscher Bernhard Strauß. Der Bindungsstil beeinflusst
sind jedoch im späteren Leben keine flexiblen und vitalen das Selbstbild, das Weltbild und das Neugierverhalten. Erst
strukturellen Errungenschaften mehr, sondern vielmehr star- wenn die Bindung gesichert ist, will das ganz kleine Kind Neu-
re Bewältigungsstrategien bei auftauchenden primären qual- es entdecken.
vollen Ängsten. Viele Menschen mit Essstörungen sind in der einen oder
andern Art unsicher gebunden, weil sie frühe Enttäuschungen,
ESSSTÖRUNGEN WÜRDIGEN Verrat, Zurückweisungen und Ungerechtigkeiten vonseiten
UND IHREN SINN ERKENNEN der Bezugspersonen erlebt haben. Unsicher gebundene Er-
Auch wenn die konkrete ursprüngliche Situation vergessen wachsene sind vulnerabler, neigen häufiger zu Depressionen
wurde, so sind die Gefühle von damals (zunächst Geborgen- und Ängsten, und ihr Selbstwertgefühl ist niedriger. Interes-
heit, Sicherheit, Entspannung und dann abrupt Panik, Ein- sant ist auch, dass unsicher Gebundene ihre Angelegenheiten
samkeit, Dunkelheit, Anspannung, Angst) gespeichert. Und eher mit sich selbst ausmachen und ihren Kummer nach außen
die starre Bewältigungsstrategie zeigt sich als Fehlverhalten, weniger zeigen, weil sie sich vor weiteren Zurückweisungen
hier als Heißhungeranfall. Dieses Fehlverhalten aber ist auch schützen wollen.
der gespeicherte Lösungsversuch, nämlich das Weiteressen. Wenn Betroffene keine korrigierenden Erfahrungen in
Was hätte Cora S. geholfen, diesen Heißhungeranfall nicht Form von liebevollen, unterstützenden sozialen Beziehungen
zu brauchen? „Ich glaube, wenn mein Freund da gewesen wä- machen konnten, die die alten schmerzlichen Erfahrungen
re, wir zusammen zu Abend gegessen und hinterher gekuschelt überformten, dann schlussfolgern sie daraus: „Ich bin eine
hätten, dann hätte ich keinen Essanfall gehabt. Aber ich kann Zumutung“, „Keiner liebt mich“, „Ich bin es nicht wert“ und
den Freund nicht herzaubern. Menschen sind nicht immer so, „Ich habe es nicht verdient, dass ich wahrgenommen und an-
wie wir sie gerade bräuchten. Aber das Essen, das ist immer erkannt werde“. Daraus schließen sie: „Ich muss mich verän-
für mich da. Ich kann mir holen, was ich mag, ich weiß, was dern, um es wert zu werden.“ Zwei tiefe Ängste werden zu
mich erwartet, und es enttäuscht mich nicht.“ Antreibern: die Angst, verlassen zu werden, und die Angst,
Cora S. kann den Essanfall würdigen, denn er verschafft ihr nicht gut genug zu sein. Diese Ängste ballen sich dann zusam-
die wohlige Trägheit und signalisiert ihr Zuverlässigkeit, Ver- men zu der Megaangst: Wenn ich nicht gut genug bin, dann
fügbarkeit und Kontinuität – alles, was sie sich als Baby von werde ich verlassen.
ihrer Mutter gewünscht hätte. Diese Würdigung des Essanfal-
DIE BULIMIE ERSCHEINT ALS GENIALE LÖSUNG
les schaffen Essstörungspatienten erst nach vielen Therapie-
stunden, in denen sie die Auslöser der Heißhungeranfälle zu Frauen mit dieser „Grundausstattung“ versuchen häufig, ihre
identifizieren und erspüren gelernt haben. Und wenn Selbst- Gefühle über das Essen zu regulieren, und halten Diät. Weil
exploration an die Stelle der Selbstabwertung, der Scham, der aber das Essen bei Reizüberflutung, bei ohnmächtiger Wut, bei
Schuld und der Ohnmacht getreten ist. Eine Patientin hat mir Ängsten und Langeweile als Stabilisator gebraucht wird, wird
einmal anonym auf einen Fragebogen geschrieben: „Wenn mir die Diät bald gebrochen. Dieser Kontrollverlust führt rasch zur
meine Eltern ihre Liebe entzogen haben und ich nur noch Selbstzerfleischung („Du hast versagt“, „Du wirst es nie schaf-
durch Essen das Gefühl der Geborgenheit und Trost bekom- fen“) und zum Vorsatz, „ab morgen“ wirklich ernst zu machen
men habe, dann war die Einschränkung des Essens für mich mit der Diät. Wenn es aber wieder und wieder schiefgeht, dann
wie ein Liebesentzug. Das Einzige, was mich erfüllt mit elter- sammeln die Betroffenen bei diesen Diätaktionen viele »
43
Pfunde an. Das Selbstwertgefühl Maja G. ist mit ihrem Mann und
wird noch brüchiger, und die ihrer vierjährigen Tochter in Ur-
Verzweiflung wird immer größer. laub an die See gefahren. Sie hat
Die Bulimie erscheint in dieser alles, was sie braucht, Sonne, Meer,
Situation als „geniale Lösung“: Freizeit, und keiner stellt große An-
Essen, um sich emotional zu regu- forderungen an sie. Dennoch
lieren. Erbrechen, um schlank zu macht sich ein ständiger Essdrang
bleiben. Die langfristigen Kosten bemerkbar, den Maja zunächst
einer solchen „Lösung“ werden nicht versteht. Sie forscht nach, so
von den Betroffenen erst viel später wie sie es in der Therapie gelernt
erkannt. hat: „Was würde mir jetzt so gut-
Eine andere „Lösung“ ist die tun, dass ich das Essen nicht
Aufspaltung des Selbstbildes in ein bräuchte?“ Es tauchen Bilder auf,
bedrückendes dickes Selbst und ein in denen sie allein in der nahe ge-
hoffnungsfrohes dünnes Selbst. legenen Stadt spazieren geht, bum-
Wenn ich meine Traumfigur hätte, melt, sich alles anschaut, in den
so Aussagen von Betroffenen, dann Läden Souvenirs und Klamotten
wäre ich unbeschwert, glücklich,
würden mich die Leute ernster neh-
VIELE inspiziert. Maja wird klar: Sie
möchte etwas allein, ohne Mann
men, könnte ich mich besser
durchsetzen, und alles ginge mir
ESSGESTÖRTE und Kind unternehmen. Schuldge-
fühle melden sich: Das kannst du
leichter von der Hand.
Das dicke Selbstbild umfasst
HABEN FRÜH doch nicht machen, jetzt seid ihr
doch in Urlaub, damit ihr gemein-
Verletzbarkeit, soziale Isolation,
Faulheit, Trägheit, Ausgeschlossen-
ENTTÄUSCHUNG sam Zeit miteinander verbringt.
Und gleichzeitig spürt sie unbändi-
sein. Wenn ich dick bin, sagen Be-
troffene, ziehe ich mich resigniert
UND VERRAT gen Groll: Immer steht jemand an-
ders im Vordergrund, und sie soll
zurück, habe ich versagt, möchte
ich mich verstecken, fühle ich mich
ERLEBT zurückstecken. Als Maja dieser Zu-
sammenhang klargeworden ist,
ausgeliefert und ohne Kontur. spricht sie mit ihrem Mann und
Unsicher Gebundene und Frauen, die sich zu dick fühlen vereinbart mit ihm, dass sie ein paar Stunden frei bekommt
oder zu dick sind, haben das Gefühl, ihr Leben nicht kontrol- und mit dem Bus in die Stadt fährt. Im Gegenzug darf der
lieren zu können. Im dicken Selbstbild nehmen sich die Be- Mann einen Tauchkurs besuchen, und Maja beschäftigt sich
troffenen unrealistisch als wenig selbstwirksam („Solange ich mit dem Kind. Dieser Ausgleich ist wichtig, denn ohne ihn
dick bin, kann ich nicht glücklich sein“), im dünnen Selbstbild hätte Maja noch zu starke Schuldgefühle wegen ihres „Egois-
aber übersteigert als selbstwirksam wahr („Alles fliegt mir zu, mus“. Dann wäre ein Essanfall wieder vorprogrammiert.
und alles gelingt mir“). Neben der Arbeit am Symptom „Essstörung“ ist es wichtig
Es besteht ein Dilemma zwischen der Suche nach Bindung dass Betroffene auf lange Sicht für sich selbst zur liebevollen
und der Angst, zurückgewiesen zu werden. Essgestörte versu- und feinfühligen Mutter werden. Und da darf auch mal das
chen dabei, durch „Zugaben“ zu entkommen: sich nützlich Essen herhalten, wenn sie sich wieder „mutterseelenallein“
machen, zu viel Verantwortung übernehmen, nachgeben, et- fühlen. So viel wie nötig und so wenig wie möglich. PHc