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JUBILÄUMSAUSGABE Nr. 1-2/2012
€ 7,90 / 15,40 sFr.
˘ Preisrätsel – Gewinnen Sie eine Reise! (S. 72) mit ihren Babys (S. 32) Psyche belastet (S. 50)
editorial
Carsten Könneker
Chefredakteur
koenneker@gehirn-und-geist.de
dieses Heft möchten wir mit Ihnen feiern: G&G wird zehn Jahre alt! Seit der Der Psychologe Marc Hassen-
Premierennummer 1/2002 sind 87 reguläre Ausgaben und 40 Sonderhefte er- zahl von der Folkwang
schienen – Grund genug für uns, Danke zu sagen. Wir tun dies mit einem Booklet Universität der Künste in
voller wissenswerter Fakten; spielerisch beantwortet es 50 spannende Fragen Essen erklärt, warum Erfah
rund um Psyche und Gehirn. Außerdem ziehen wir im Jubiläumsjahr Zwischen- rungen glücklicher machen
bilanz. In einer neuen Serie über »Die großen G&G-Themen« unterziehen wir als materielle Güter – und
jene Forschungsfelder einem Aktualitätscheck, die unser Magazin in den ersten wie diese Erkenntnis Produkt
zehn Jahren besonders prägten: Neuroimaging, Psychogenetik, Lernforschung – designer inspiriert (S. 20).
was ist 2012 der Stand der Dinge? Teil 1 der Serie macht dabei einen ungewöhn-
lichen Auftakt: Bevor es in den Folgebeiträgen an die harte Wissenschaft geht,
blicken wir zurück auf Menschen und Ereignisse und plaudern ein wenig aus Früh übt sich, wer sein
dem Nähkästchen des Reaktionsalltags (S. 14). Sprachtalent entfalten will:
Auch inhaltlich schließt sich mit dieser Ausgabe ein Kreis. G&G 1/2002 hatte Ab S. 32 schildert Ursula
das »Rätsel Bewusstsein« zum Titel. Jetzt wenden wir uns erneut einer Fassette Horsch von der Pädago
des Ich zu – dem Egoismus. Jeder von uns hält sich manchmal für den Nabel der gischen Hochschule Heidel
Welt, ein andermal stellen wir unsere persönlichen Bedürfnisse hintan und han- berg, wie Eltern und Babys
deln selbstlos. Die spannende Frage lautet, wann diese beiden Wesenszüge je- miteinander kommunizieren.
weils zum Vorschein kommen. Sarah Zimmermann stellt ab S. 38 neue Experi-
mente im Grenzgebiet zwischen Eigennutz und Fairness vor. Dabei haben Psy-
chologen Erstaunliches entdeckt: Offenbar verfügt jeder Mensch über eine Art In Großstädten erkranken
inneres Moralkonto, dessen Bilanz er immer wieder unbewusst auszugleichen mehr Menschen an psy
versucht. Doch was geschieht im Gehirn, wenn wir der Versuchung widerstehen, chischen Störungen als auf
das größte Stück Torte für uns zu reklamieren? Es unterdrückt einen Handlungs dem Land. Die Ursachen
impuls. Wie die Neurowissenschaftler Daria Knoch und Bastian Schiller von der erläutert der Psychiater
Universität Basel herausgefunden haben, sitzt die neuronale Kontrollinstanz im Andreas Meyer-Lindenberg,
rechten präfrontalen Kortex (S. 44). Direktor des Mannheimer
Zentralinstituts für Seelische
Viel Spaß bei der Lektüre – und auf die nächsten zehn Jahre! Gesundheit (S. 50).
www.gehirn-und-geist.de 3
inhalt
stadtleben 50
klatsch und tratsch 26
erlebnisdesign 20 Säuglinge 32
Psychologie
8 Geistesblitze 20 Momente des Glücks
»Mein Haus, mein Boot, mein Auto«?
Neuronenüberschuss Besser sollte es heißen: meine Weltreise,
Autistische Kinder besitzen eine mein Rolling-Stones-Konzert, mein
erhöhte Zahl von Nervenzellen Bungeesprung! Denn besondere Erlebnisse
lehrreiche Wörter machen glücklicher als materieller
Räumliche Begriffe stärken das Besitz. Der Psychologe Marc Hassenzahl
Vorstellungsvermögen von Kindern erklärt, wie diese Erkenntis heute sogar
Wegbereiter der Sucht jubiläumsextra das Produktdesign beeinflusst
Nikotin verändert die Genaktivität im
Gehirn von Mäusen – was die Wirkung Neue Serie »Die groSSen G&G-Themen« Teil 1 26 Verbale Allzweckwaffe
von Kokain verstärkt 14 Wie alles begann Tratschen ist nicht bloß ein harmloser
Offenes Gen-heimnis Anlässlich des zehnten Geburtstags Zeitvertreib. Laut Sozialpsychologen kann
Träger einer Erbgutvariante verraten von G&G blickt Chefredakteur Klatsch über abwesende Dritte sowohl
sich durch ihr Verhalten Carsten Könneker zurück auf Menschen dem Wohl der Gruppe dienen – als auch
Attacke aus dem Darm und Themen dem eigenen Vorteil gegenüber Rivalen
Die Darmflora wirkt mit bei der
Entstehung von multipler Sklerose
32 Zwiegespräch mit einem Baby
Lebhafter Schlaf
Ursula Horsch von der Pädagogischen
Geträumte Bewegungen steuert das
Hochschule Heidelberg hat erforscht, wie
Gehirn ähnlich wie reale
Eltern mit ihren Säuglingen in Kontakt
Rausch der Schamanen
treten. Die frühkindliche Kommunikation
Eine pflanzliche Droge löst Halluzi
Titelmotiv: Gehirn&Geist / Manfred Zentsch klappt dabei erstaunlich gut
nationen aus, die wie echte Wahrneh
mungen erscheinen Das sind unsere Coverthemen
Helfen tut gut
Seinem Partner in misslicher Lage
beizustehen, aktiviert das
Belohnungssystem des Helfenden Gehirn&Geist – das Magazin für Psychologie
und Hirnforschung aus dem Verlag Spektrum
der Wissenschaft
4 G&G 1-2_2012
TITELTHEMA
Egoismus
38 Psychologen erkunden
unser moralisches Handeln
44 Selbstkontrolle im Gehirn
rubriken
www.gehirn-und-geist.de 5
leserbriefe
Autoverbalisation
Sich selbst Mut zuzusprechen oder ironische
Bemerkungen zu machen, kann in Stresssitu
ationen entlastend wirken.
Rezensionen
Alle in G&G erschienenen Sonderheft
Buchbesprechungen – natür- Das aktuelle G&G-Sonder-
lich kostenlos heft sowie Zugang
zum Sonderheftarchiv
geistesblitze Autoren dieser Rubrik: Miriam Berger, Jan Dönges, Daniel Lingenhöhl und Jan Osterkamp
Autismus
Neuronenüberschuss
Autistische Kinder verfügen offenbar über eine erhöhte Zahl von Nervenzellen.
sprache
Lehrreiche Wörter
Kleinkinder, die oft mit Größen- und Formbegriffen konfrontiert werden,
entwickeln ein besseres räumliches Verständnis.
8 G&G 1-2_2012
Zigarette: Dreamstime / Lukelake; Kokain: iStockphoto / Milos Jokic
Gefährliche Gesellschaft
Zigaretten sind nicht nur gesundheitsschädlich, sie können auch
die Abhängigkeit von Kokain und anderen Rauschmitteln fördern.
N e u ro chemie
www.gehirn-und-geist.de 9
iStockphoto / Goldmund Lukic
sympathischer Zeitgenosse?
Wir beurteilen unsere Mitmenschen bereits
auf den ersten Blick. Dabei offenbaren
sich auch genetische Dispositionen für eine
besondere soziale Ader.
Empathie
Offenes Gen-heimnis
Träger einer bestimmten Erbgutvariante verraten sich durch ihr zwischenmenschliches Verhalten.
starten.
Vielleicht lässt sich multiple Sklerose in Zukunft besser be Manfred Spitzer
kämpfen, indem man die mitschuldigen Keime im Darm ins Vi
sier nimmt, hoffen die Wissenschaftler. Die neuen Erkenntnisse
Nichtstun,
Nichtstun,
könnten ihrer Ansicht nach auch die seit Jahren steigenden Fall
Flirten, Küssen Flirten, Küssen
zahlen in Asien erklären: Durch veränderte Ernährungsgewohn und andere Leistungen des Gehirns
heiten weiter Bevölkerungsteile habe sich mit der Zeit die Zu In 20 neuen Beiträgen widmet sich der Neu-
sammensetzung der Darmflora »verwestlicht«. rowissenschaftler, Psychiater und Philosoph
Nature 10.1038/nature10554, 2011 Manfred Spitzer erneut seinem liebsten For-
schungsobjekt – dem menschlichen Gehirn.
Dabei spannt er den Bogen von der „Wis-
Mikroben iM leib
senschaft vom Flirten“ über das „Gehirn ei-
Baktieren wie Escherichia coli gehören zur Grundausstattung unseres und andere Leistungen des Gehirns
ner Mutter“ bis zur „Gehirnforschung in der
Darms. Doch mitunter können sie auch krank machen. Fastenzeit“.
2012. Ca. 300 Seiten, ca. 70 Abb., ca. 10 Tab., kart.
Ca. € 19,95 (D) / € 20,60 (A) • ISBN 978-3-7945-2856-1
Alois Burkhard
Achtsamkeit
Entscheidung für einen neuen Weg
Die Schulung der Achtsamkeit fördert die be-
wusste Wahrnehmung von Gefühlen, Hand-
lungen und Gedanken und verbessert damit
den Umgang mit Emotionen sowie die Stress-
toleranz. Dieses Buch bietet eine Vielfalt an
Meditationsanleitungen und Übungen gegen
Stress, die eigenständig oder unter Anleitung
Rocky Mountain Laboratories, NIAID, NIH
www.gehirn-und-geist.de 11
Traumforsch ung
Lebhafter Schlaf
Das Gehirn steuert geträumte Bewegungen
in ähnlicher Weise wie reale.
Halluzinationen
KULTISCHE DRÖHNUNG
Mittels pflanzlicher Drogen versetzen sich Indios vom Volk der
Tukano im Nordwesten Amazoniens in einen rauschhaften Zustand.
Fotolia / DX Foto
hafte Elektroschocks. Ein Teil der Proban fassen durften. Die belohnende Hirnak
dinnen durfte dabei den Arm des Mannes tivität trat also offenbar nur dann auf,
halten. Die Partnerinnen in der anderen wenn die Berührung eine unterstützende
Gruppe mussten der Prozedur zusehen, Funktion hatte. Gib mir Kraft!
ohne ihren Männern Beistand leisten zu Psychosom. Med. 10.1097/ Ein kräftiger Händedruck stärkt das Wohlbe-
können. PSY.0b013e3182359335, 2011 finden des Partners – und das eigene.
Dr. Willmar Schwabe Tebonin-Anzeige q_T/08/11/22 Ruck
T/08/11/22 Gehirn & Geist
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Behandlung von Beschwerden bei leichten bis mittelschweren hirnorganisch bedingten mentalen Leistungsstörungen im Rahmen eines thera-
peutischen Gesamtkonzeptes bei Abnahme erworbener mentaler Fähigkeit (dementielles Syndrom) mit den Hauptbeschwerden: Rückgang der
Gedächtnisleistung, Merkfähigkeit, Konzentration und emotionalen Ausgeglichenheit, Schwindelgefühle, Ohrensausen. Bevor die Behandlung mit
Ginkgo-Extrakt begonnen wird, sollte geklärt werden, ob die Krankheitsbeschwerden nicht auf einer spezifisch zu behandelnden Grunderkrankung
beruhen. Zu Risiken und Nebenwirkungen lesen Sie die Packungsbeilage und fragen Sie Ihren Arzt oder Apotheker.
Dr. Willmar Schwabe GmbH & Co. KG, Karlsruhe Stand: August 11 T//11/
Teil 7: Psychogenetik –
Vom Erbgut zum Verhalten
(9/2012) »Gehirn&Geist erfüllt eine wichtige Funktion:
Teil 8: Glaube und Neuro- Die Zeitschrift macht der breiten Öffentlichkeit
theologie: Wo Gott wohnt in klaren und anschaulichen Worten
(10/2012) verständlich, was Neurowissenschaftler tun.«
Teil 9: Die Gabe der Spra-
che (11/2012)
Mit frdl. Gen. von Eric Kandel
Damit war das Redaktionsteam der ersten war. Dieses Motiv baute Karsten Kramarczik
Stunde komplett: Reinhard Breuer, die Neurobio flugs auf seinem Rechner nach – und ich finde
login Katja Gaschler, der Biochemiker Hartwig noch heute, dass dieses Vorschaubild auf S. 98
Hanser, der bereits ein vierbändiges Lexikon der in G&G 1/2002 prima zum Thema passt!
Neurowissenschaft editiert hatte, und ich. 2003 Mit dem Erfolg des Magazins – die ersten
stieß mit dem Psychologen Steve Ayan auch un- Hefte wurden uns beinahe aus den Händen ge-
ser heutiger Redaktionsleiter zur Mannschaft. rissen – erhöhte der Verlag die Erscheinungsfre-
Unvergessen ist mir die Drucklegung des quenz: von vier Heften 2002 über sechs 2003
ersten Hefts. Wir hatten im Vorfeld an alles ge- und zehn 2005 bis zu den heutigen zehn regu-
dacht, es lief wie am Schnürchen. Doch einen lären und bis zu sechs Sonderheften (Dossiers,
Tag bevor wir die komplette Publikation elek- Serie »Kindesentwicklung« und Serie »Basis
tronisch an die Druckerei übermitteln mussten, wissen«).
fiel uns auf, dass wir noch eine Vorschau auf Dass G&G einen Nerv getroffen hatte, zeigt
Ausgabe Nr. 2 benötigten! Texte zu den längst auch die internationale Geschichte. Noch im
beauftragten Themen »Genetik des Sehens«, Jahr 2002 erschien als Übersetzung unserer
»Abnehmen« sowie »Neurotheorie« waren Premierenausgabe ein erstes spanisches Heft
schnell geschrieben. Doch wir brauchten noch (»Mente y Cerebro«); 2003 folgten Italien («Men-
Bilder, vor allem für das neue Titelthema »Krea- te e Cervello«) und Frankreich (»Cerveau & Psy-
tivität und Intelligenz«. cho«); 2004 Brasilien (»Mente e Cérebro«) und
Als wir im Büro unseres Artdirectors Karsten die USA (»Mind«); 2007 Belgien und die Nieder-
Kramarczik über schnell organisierbare Bild- lande (»Psyche en Brein«). Heute kann man
motive nachdachten, fiel uns plötzlich ein Ak- G&G auch noch auf Polnisch, Japanisch und in
tenordner auf, der im Regal an der gegenüber- weiteren Sprachen lesen.
liegenden Wand stand und mit einer Schutzfo- Sämtliche Schwesterpublikationen veröffent-
lie aus verschiedenfarbigen Quadraten beklebt lichen auch eigene, neue Artikel, übernehmen
Nachdem unter anderem Philosophen, Psy- ihr Fach (7-8/2005); die Rechtswissenschaftler
chiater und Theologen Stellung bezogen hatten, Björn Burkhardt und Reinhard Merkel über Wil-
erschien in G&G 7-8/2005 schließlich eine lensfreiheit und Strafrecht (5/2006). Der Bio
»Standortbestimmung« von sechs renommier loge Eckart Voland und der Theologe Eberhard
ten deutschen Psychologen. Sie führte unseren Schockenhoff stritten über das Verhältnis von
Lesern die Bedeutung der Psychologie als Neuroforschung und Religion (7-8/2006); der
Grundlagenwissenschaft neu vor Augen. Ich Sozialpsychologe Dieter Frey und der Soziologe
halte diesen mit »Psychologie im 21. Jahrhun- Michael Hartmann über die Abhängigkeit des
dert« überschriebenen Beitrag noch heute für Erfolgs eines Menschen von seiner Herkunft
einen wichtigen Orientierungspunkt in der (3/2009); die Lernpsychologin Elsbeth Stern
Diskussion über das Verhältnis von neurowis- und der Erziehungswissenschaftler Ulrich Herr
senschaftlicher und psychologischer Forschung mann über Chancen und Grenzen der Neuro
sowie eine Pflichtlektüre für Studierende dieser didaktik (6/2009); sowie der Philosoph Klaus
Fächer. Peter Rippe und der Hirnforscher Wolf Singer
über Tierversuche in der Grundlagenforschung
Wichtige Kontroversen (12/2010).
Wann immer es ein Thema gibt, bei dem es zu Einige dieser Expertendiskurse habe ich als
kurz gesprungen wäre, nur eine Seite, nur einen Redakteur mitgestaltet – und dabei trotz aller
Experten zu hören, lädt G&G zum Streitge- Kontroverse in der Sache stets nur positive, ja
spräch. Die entsprechenden Beiträge gehören inspirierende Erfahrungen gemacht. Und von
für mich gewissermaßen zur DNA unseres so manchem Streitgesprächsteilnehmer weiß
Hefts: Unter anderem diskutierten der Psycho- ich, dass er noch Jahre nach dem Abdruck auf
loge Manfred Döpfner und der Kinderarzt Diet- seine in G&G vertretenen Ideen angesprochen
rich Schultz über sinnvolle Therapien bei ADHS wurde.
(3/2004); der Neurobiologe Henning Scheich Doch nicht nur Redakteure, Autoren und In-
und der Philosoph Ansgar Beckermann de terviewpartner machen G&G aus – was wäre das
battierten über den Grenzverlauf zwischen ih- Heft ohne Sie, unsere Leserinnen und Leser?
ren Fächern (3/2005); die Psychologen Rainer Von Beginn an haben sich engagierte Leser mit
Mausfeld und Onur Güntürkün über mögliche konstruktiver Kritik und Ideen in der Redaktion
Herausforderungen eines Neurobooms für gemeldet. Keiner freilich dürfte dabei so nach-
»Vor zehn Jahren, als Gehirn&Geist entstand, hatte ich eine Frage an einen
Redakteur wegen eines Auftrags. Ein Kollege des Betreffenden sagte mir: ›Mo-
ment, der oszilliert hier irgendwo durch die Räume. Ich schau mal nach!‹ So
ist es bis heute geblieben: viel Bewegung, immer neue Erkenntnisse, die inte-
ressant visualisiert und verständlich erklärt werden. Meinen Glückwunsch!«
»Gehirn&Geist ist (und bleibt) für mich eines der kreativsten und informa-
tivsten neuen Formate der letzten Jahre. Unbestreitbar hat es einen Boom von
Wissenschaftszeitschriften in Deutschland gegeben. In meinen Augen hebt
sich Gehirn&Geist deutlich und wohltuend ab – was vielleicht der Grund für
Jürgen Bauer / Mit frdl. Gen. der Fischer-Verlage
wissen wir darüber hinaus von unserer Leser- lungen in Diagnose und Therapie sowie wichtige
schaft? Am meisten interessiert sie sich laut un- Debatten sind weiterhin auf dem Radarschirm
seren regelmäßigen Befragungen für psycholo- von uns Redakteuren. Aus der Fülle der wissen-
gische Forschung, dicht gefolgt von den Neuro- schaftlichen Veröffentlichungen suchen wir
wissenschaften; Medizin, Psychotherapie und jene Ergebnisse heraus, die über den Tag und
Pädagogik setzen die Hitliste beliebter Fachge- das Fachgebiet hinaus bedeutsam sein dürften,
biete fort. Aktuelle Forschung und Überblicks und laden Experten ein, für Sie zu berichten.
artikel werden besonders geschätzt, aber auch Kurz: Stets aufs Neue wollen wir uns aufmachen
Reportagen, Fallgeschichten und kontroverse in die Zukunft von Gehirn und Geist. Ÿ
Themen stehen hoch im Kurs.
Die beliebtesten Rubriken sind die Rezen Carsten Könneker war von 2002 bis 2003 stell
sionen und die Geistesblitze. Beide haben wir vertretender Chefredakteur von Gehirn&Geist.
mit den Jahren kontinuierlich weiterentwickelt – Seit 2004 ist er Chefredakteur.
NICHT NUR FÜR DEN AUGENBLICK
Auch kurze Abenteuer wirken oft intensiv
nach: Wir schwelgen noch lange in
Dreamstime / Jessamine
1
neuer Markt für möglichst aufregende, unge gen über 1000 US-Bürger und baten diese, je ei Neue und bedeutsa
wöhnliche Erlebnisse entstanden. Und selbst nen erlebnis- und einen besitzorientierten Kauf me Erfahrungen zu
für Designer und Ingenieure verändert die Su zu benennen und diese miteinander zu verglei sammeln, macht glückli
che nach dem perfekten Augenblick die Art, wie chen. Die Mehrheit fand das Erlebnis erfreu cher als das Anhäufen
sie Produkte gestalten. licher als den Gegenstand. Interessanterweise von Besitztümern.
Zu den ersten Wissenschaftlern, die Haben hing dieses Urteil aber vom sozioökonomischen
und Sein empirisch miteinander verglichen, ge
hören die Psychologen Leaf Van Boven von der
Status ab: Befragte mit mehr als 75 000 Dollar
Jahreseinkommen und höherem Bildungsab
2 Der Wandel zur »Er-
lebnisgesellschaft«
ist in vollem Gang: Mate-
University of Colorado in Boulder und Thomas schluss hatten eine deutlichere Präferenz für
rialistisch orientierte
Gilovich von der Cornell University in Ithaca den Erlebniskauf. Vor allem Geringverdienende,
Menschen gelten zuneh-
(US-Bundesstaat New York). 2003 fragten sie so Van Boven und Gilovich, müssten nun ein
mend als eigennützig
rund 100 Studierende, wann diese zuletzt mehr mal den Großteil ihrer finanziellen Mittel dafür
und unreif.
als 100 US-Dollar ausgegeben hatten, um sich aufwenden, wichtige Haushaltsgüter anzu
selbst eine Freude zu bereiten. Die eine Hälfte
wurde allerdings nach dem Kauf eines Erleb
nisses gefragt, die andere nach dem eines Ge
schaffen. Die Frage, ob sie ihr Geld nicht besser
in Aktivitäten investieren sollten, stelle sich ih
nen daher nicht.
3 In Pilotprojekten
entwickeln Ingeni-
eure und Designer heute
genstands. Warum machen Erlebnisse offenbar glück Produkte, die vor allem
An Unternehmungen nannten die Proban licher als Besitz? Dafür gibt es eine Reihe von dazu da sind, persönliche
den etwa Restaurantbesuche, Kurzreisen oder Gründen. Zum Beispiel lassen sich Erinne Erlebnisse zu schaffen.
Konzertabende. Typische Konsumgüter waren rungen positiv uminterpretieren. Im Rückblick
www.gehirn-und-geist.de 21
können wir Begebenheiten verändern und für die Stelle, die ihm größeres Prestige und Ge
Ein Speicher schärfen, sie sogar rosiger erscheinen lassen, als halt sowie günstige Mieten am Arbeitsort bie
für Erlebtes sie tatsächlich waren. Schnell sind das mittel tet, dafür aber in einer weniger interessanten
mäßige Essen und der schlechte Service im letz Stadt und mit nur mäßig freundlicher Atmo
Vor fast 40 Jahren be- ten Urlaub vergessen. Mit jeder vergangenen sphäre unter den Kollegen. Craig hingegen ver
schrieb der kanadische Woche – und jedem herumgezeigten Schnapp zichtet auf Ansehen und Einkommen, um dafür
Psychologe Endel Tulving schuss aus sonnigen Gefilden – erscheint die schöner zu wohnen und nettere Kollegen zu ha
das episodische Gedächt- Reise schöner. Dinge dagegen bleiben, wie sie ben. 24 der 26 Teilnehmer mochten Craig lieber
nis. Es speichert vor allem sind. Man gewöhnt sich schnell an sie, und sie und gaben an, sich lieber mit ihm als mit Mark
persönlich Erlebtes – das verlieren ihren Reiz. anfreunden zu wollen.
Was, Wann und Wo – und
In einer anderen Studie brachten die Psycho
erlaubt uns mentale Zeit- Prägende Erfahrungen logen zwei zuvor nicht miteinander bekannte
reisen. Störungen des Doch die Vorliebe für Unternehmungen hat Probanden zusammen. Diese sollten sich eine
episodischen Gedächtnis- noch tiefer gehende Gründe: Sie werden als Viertelstunde lang über einen kürzlich getätig
ses werden mit Autismus wichtiger für die eigene Identität empfunden. ten Kauf unterhalten – in einer Bedingung über
und Schizophrenie in Menschen sind die Summe dessen, was sie er den eines Gegenstands (zum Beispiel einer
Verbindung gebracht. Pa- lebt haben. Dafür besitzen wir sogar ein eigenes neuen Winterjacke), in der anderen über den
tienten, die Schäden am Gedächtnis, das episodische oder auch autobio eines Erlebnisses (etwa eines Skiurlaubs). Da
medialen Schläfenlappen grafische Gedächtnis (siehe Randspalte links). nach wurden beide getrennt vertraulich be
des Gehirns erleiden, Weil wir glauben, dass Erlebnisse etwas darüber fragt, welchen Eindruck sie voneinander hatten.
verlieren mitunter jede aussagen, wer wir sind, dokumentieren wir un Bei Paaren, die über Besitztümer geredet hat
Erinnerung an ihre Ver- sere kleinen und großen Abenteuer, um sie an ten, schätzten die Probanden sowohl ihren Ge
gangenheit, was sie als schließend mit anderen zu teilen – sei es bei sprächspartner als auch die Qualität der Un
ein Verlust ihres Selbst einem Diaabend oder mit Hilfe eines digitalen terhaltung negativer ein. Die Stigmatisierung
beschreiben. Fotoalbums auf Facebook. von Materialisten sei so weit fortgeschritten,
Dass immer mehr Menschen in den Indus schlussfolgern die Forscher, dass bereits etwas
trieländern am Sinn des Besitzstrebens zwei Small Talk über den Kauf einer neuen Winterja
feln, zeigt sich auch darin, dass materialistische cke uns in schlechtem Licht erscheinen lässt!
Zeitgenossen zunehmend einen schlechten Ruf Tatsächlich zeichnet auch die psychologi
genießen: Sie gelten als selbstsüchtig und nur sche Forschung in den letzten Jahren ein negati
an sozialem Status interessiert. Van Boven und ves Bild von konsumorientierten Zeitgenossen:
Gilovich behaupten sogar, dass Konsumorien Die Wirtschaftswissenschaftlerinnen Lan Cha
tierte regelrecht »stigmatisiert« würden. 2011 plin von der University of Arizona in Tucson
haben sie dieses Phänomen zusammen mit der und Deborah Roedder John von der University
Psychologin und Marketingforscherin Margaret of Minnesota in Minneapolis stellten beispiels
Campbell von der University of Colorado in ei weise 2007 fest, dass Kinder und Teenager umso
ner Reihe von Studien untersucht. materialistischer sind, je geringer ihr Selbst
In einer davon lernten studentische Ver wertgefühl ausgeprägt ist.
suchspersonen die fiktiven Absolventen Mark Ihre Versuchsteilnehmer zwischen 8 und 18
und Craig kennen, die beide vor der Wahl zwi Jahren mussten aus verschiedenen Fotos und
schen zwei Jobs stehen. Mark entscheidet sich Begriffen eine Collage zusammenstellen, auf
www.gehirn-und-geist.de 23
Vom Haben
zum Sein
Schon 1979 formulierte
der Psychologe Erich
Fromm in seinem Bestsel-
ler »Haben oder Sein« eine
leidenschaftliche Kritik am
Materialismus. Mit dem
Haben verband er Passivi-
tät, Egoismus und fehlen
des Verantwortungsbe-
wusstsein, das Sein dage-
gen zeichne sich durch
persönliche Entwicklung,
Aktivität und Konsumver-
zicht aus.
chen. Sie wollten der jüngste Amerikaner auf Bislang wurden Gefühle und Erleben haupt
dem Berg sein, der erste mit Diabetes oder der sächlich durch das Design eines Produkts und
quellen erste, der zehn Stunden auf dem Gipfel ver die dazugehörige Werbung vermittelt. Wenn
Hassenzahl, M.: Experience bracht hat. Nach der Tour gehen sie stolz auf beispielsweise Ferrero seine Küsschen als Sym
Design: Technology for All Vortragsreise. Für das eigentliche Erlebnis des bol für Freundschaft vermarktet, ist das bloßes
the Right Reasons. Morgan & Bergsteigens interessieren sie sich dagegen Marketing. Süßigkeiten können keine Gefühle
Claypool, Fort Collins 2010 kaum; die Forscher registrierten bei den Be von Freundschaft erzeugen, sie können höchs
Keinan, A., Kivetz, R.: Produc- fragten vor allem eigennützige Motive und Kon tens gut schmecken. Ich bekomme keinen ein
tivity Orientation and the kurrenzdenken. zigen neuen Freund allein durch das Essen von
Consumption of Collectable Eine Bergbesteigung als Statussymbol zu se Pralinen. Das Ziel des »Erlebnisdesigns« ist es je
Experiences. In: Journal of hen, zeigt, dass wir uns noch am Übergang von doch, Dinge zu schaffen, die durch ihre Nutzung
Consumer Research 37, S. einer materialistischen zu einer erlebnisorien ein Erlebnis erzeugen können.
935 – 950, 2011 tierten Gesellschaft befinden. Doch nachdem in An mehreren Gestaltungshochschulen wird
Van Boven, L. et al.: Stigmati- den 1990er Jahren vor allem teure Fernreisen, dieser Ansatz derzeit erprobt, unter anderem
zing Materialism: On Stereo- Freizeitparks und Wellnessoasen im Trend wa auch in meiner Arbeitsgruppe an der Folkwang
types and Impressions of Ma- ren, beobachtet der Soziologe Gerhard Schulze Universität der Künste in Essen. Es gibt bereits
terialistic and Experiential nun einen Wandel zur »ernsthaften Erlebnis eine Vielzahl innovativer Konzepte und Proto
Pursuits. In: Personality and gesellschaft«: Persönliches Wachstum ist ihren typen, die dabei helfen, die Idee des erlebnis
Social Psychology Bulletin 36, Vertretern wichtiger als Protz und Angeberei, orientierten Designs zu veranschaulichen (siehe
S. 551 – 563, 2010 Entschleunigung und Konzentration auf den Kasten S. 23).
Augenblick stehen im Vordergrund. Der Floh Die Möglichkeit, Menschen Erlebnisse zu
Weitere Quellen im Internet: marktbesuch, ein Wochenende auf dem Land, verschaffen, findet sich überall: beim Bahn
www.gehirn-und-geist.de/ Grillen mit Freunden, das Tischtennisspiel am fahren, beim Baden und beim Musikhören, im
artikel/1129751 Sonntagnachmittag – solche verhältnismäßig Auto und beim Backen mit den Kindern. Für alle
kleinen Freuden des Alltags geben dem Leben diese Aktivitäten braucht man Dinge. Aller-
WEBLINK Bedeutung. dings ist für Menschen nun wichtiger, was sie
http://bucketlist.org Doch auch sie benötigen eine Infrastruktur. durch ein Produkt erleben können, als es zu be
Hier können die Benutzer Zum Wandern braucht es in Stand gehaltene sitzen. Die Idee des erlebnisorientierten Designs
öffentlich machen, was sie Wege, Unterkünfte, Landkarten, Regenjacken, nimmt dies auf und versucht so, Menschen ein
gern noch erleben würden. Schuhe. Die Anbieter solcher Produkte stehen bisschen glücklicher zu machen. Ÿ
Die Listen können mit ande- also vor einer ganz neuen Herausforderung:
ren geteilt und abgehakt Wie lassen sich Produkte so gestalten, dass sie Marc Hassenzahl ist Psychologe und Professor
werden. dem Benutzer möglichst freudvolle und erinne für Experience Design im Fachbereich Gestaltung
rungswürdige Erlebnisse verschaffen? der Folkwang Universität der Künste in Essen.
Querdenker
Motivationshilfe
Für einen guten Start in den Tag: Unsere Zeigen Sie, was in Ihnen steckt – mit dem
G&G-Frühstücksbrettchen G&G-T-Shirt aus reiner Baumwolle
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Vorderseite
Rückseite
Verbale Allzweckwaffe
Manche Menschen halten Klatsch und Tratsch für boshaftes
Geschwätz, andere sehen darin einen unterhaltsamen Zeitvertreib.
Auch Psychologen gilt er als zweischneidiges Schwert:
Er dient ebenso als sozialer Kitt wie zum Ausschalten von Rivalen.
Lockeres kränzchen
Das vertraute Plaudern über
gemeinsame Bekannte ist ein
beliebter Zeitvertreib und
stärkt das gegenseitige Vertrauen.
www.gehirn-und-geist.de 27
Wesentlich kniffliger zu erfassen sind Sinn vestierte auf einem anderen Markt, bekam die
Kaffeeklatsch war und Zweck des Austauschs. Der Psychologe Paul ser zwar eine stattliche Summe, doch die ande
einst Männersache Bloom von der Yale University in New Haven ren guckten in die Röhre. Das geschah so häufig,
(US-Bundesstaat Connecticut) glaubt, dass der dass die Probanden im Schnitt nur 20 Prozent
Das Wort Kaffeeklatsch
so genannte gossip (englisch für Klatsch und der maximal möglichen Auszahlung kassierten.
geht zurück auf den
Tratsch) grundsätzlich kein spezielles Ziel ver Ostrom und Kollegen variierten nun eine ein
Brauch männlicher Zei-
folgt. »Menschen finden andere Menschen ein zige Bedingung: Sie erlaubten den Teilnehmern
tungsredakteure im 18.
fach so spannend, dass sie über sie reden«, eine Erfrischungspause, bei der sie miteinander
Jahrhundert, in Kaffeehäu-
meint er. Und wie der Small Talk übers Wetter sprechen konnten. Und siehe da, die Auszah
sern Neuigkeiten aus-
könne auch Klatsch allerlei Zwecken dienen. lungsquote sprang auf 80 Prozent! Allein die
zutauschen. Unter dem
Diese minimalistische Erklärung verträgt Möglichkeit, dass andere schlecht über sie re
englischen Pendant gossip
sich laut Bloom durchaus mit der Annahme, Ta den könnten, bewahrte die Gruppe vor den
verstand man bis zirka
lent im Tratschen habe Menschen einst einen meisten egoistischen Alleingängen.
1800 einen Mann, der mit
evolutionären Vorteil verschafft. Die These fußt Allerdings müssen potenzielle Nutznießer
Freunden trinkt.
auf einer grundlegenden Annahme: »Was so tief dafür auch identifizierbar sein, stellten Jared
im menschlichen Verhalten verankert ist, dient Piazza und Jesse Bering von der Queen’s Uni
der sozialen Fitness«, meint beispielsweise der versity in Belfast 2008 fest. Ihre studentischen
britische Anthropologe Robin Ian McDonald Versuchspersonen sollten jeweils zehn Lose mit
Dunbar von der University of Liverpool. Wer einer Chance auf einen 100-Euro-Gewinn mit
etwa potenzielle Rivalen treffsicher zu identifi einem zweiten Probanden teilen. Die Hälfte
zieren weiß und dieses Wissen mit Verbündeten glaubte, dass der Mitspieler ihre Entscheidung
teilt, der genieße besonderen Respekt im zwi danach mit einem Dritten diskutieren könnte,
schenmenschlichen Zusammenleben. mit dem sich wiederum ein Teil von ihnen zu
Für den sozialen Kitt zwischen Gruppenmit vor bekannt gemacht hatte. Mit diesem Vor
gliedern sorgte bei unseren Vorfahren vermut wissen gaben die Teilnehmer im Schnitt sogar
lich das wechselseitige Lausen, das so genannte mehr als fünf der zehn Lose ab. Die Probanden
grooming, das Forscher heute noch bei Affen in den übrigen Bedingungen billigten ihren
beobachten. Während der Fellpflege schütten Mitspielern im Schnitt nur vier Scheine zu. Die
die Tiere Endorphine aus, ihre Herzrate sinkt Befürchtung, Zielscheibe von Klatsch und
Warum wir tratschen und sie entspannen sich. Doch mit steigen- Tratsch zu werden, motiviert offenbar viele
Beispiel-Items aus der Gruppengröße (im Kampf gegen Feinde Menschen zu fairem oder gar altruistischem
dem Gossip Functions ein Überlebensvorteil) beanspruchte die nötige Verhalten.
Questionnaire wechselseitige Fellpflege wohl zu viel Zeit.
An ihrer Stelle habe sich der verbale Infor Lehrstück über das Leben
Information mationsaustausch als eine Art soziale Ersatz Das Entlarven von Schmarotzern kann die
»Ich versuche herauszufinden, währung etabliert; die Beteiligten bauen dabei Gruppe aber auch auf anderem Weg stärken:
was im Leben der Menschen Vertrauen zueinander auf und festigen ihre Be als gesellschaftliches Lehrstück. Nach Meinung
um mich herum passiert.« ziehung. Ein weiterer Vorteil für die Gruppe: des Psychologen Roy Baumeister von der Flo
Freundschaft Wie einst beim Lausen lassen sich »Parasiten« rida State University in Tallahassee vermitteln
»Ich teile meine Informatio- identifizieren – nicht die ungebetenen Gäste im Klatschgeschichten soziale Regeln und Normen.
nen mit guten Freunden.« Fell der Artgenossen, sondern die menschlichen Das informelle Gespräch am Kaffeeautomaten
Sozialschmarotzer. Und so halten wir es auch etwa sei »die zentrale Informationsquelle für
Einfluss heute noch, wenn wir über einen Nachbarn neue Mitarbeiter in einem Unternehmen«; auf
»Was ich über andere höre, schimpfen, der nie die Treppe putzt. diese Weise lernten sie die Gepflogenheiten an
kann meine Meinung über Wie effektiv Gruppentratsch egoistischen ihrem Arbeitsplatz am besten kennen. Dasselbe
sie verändern, im Guten wie Entscheidungen Einzelner vorbeugt, demons gelte für Märchen und Bibelgeschichten, denn
im Schlechten.« trierte schon Mitte der 1990er Jahre ein Team auch sie brächten moralische Werte und Ver
Unterhaltung um die Politologin Elinor Ostrom, Nobelpreis haltensnormen unters Volk. Ohne die Konse
»Ich könnte Stunden damit trägerin für Wirtschaftswissenschaften von quenzen eines Regelverstoßes am eigenen Leib
verbringen, Geschichten 2009 und heute Professorin an der Indiana Uni erfahren zu müssen, lernten die Zuhörer aus
über das Leben von Menschen versity in Bloomington. Die Forscher ließen Pro den Erfahrungen der handelnden Personen in
zu hören, die ich kenne.« banden am Computer Geld investieren und den Geschichten.
(Foster, E. K.: Research on Gossip: zahlten ihnen immer dann die Höchstsumme »Klatsch enthält wertvolle Lektionen darü
Taxonomy, Methods, and Future aus, wenn alle auf einem bestimmten Markt in ber, wie man sich verhalten sollte«, bestätigen
Directions. In: Review of General
Psychology, S. 78 – 99, 2004) vestierten. Scherte allerdings einer aus und in Sarah Wert und Peter Salovey von der Yale Uni
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Motivation deuten. Dass wir zum Beispiel
Freunde vor übler Nachrede schützen wollen,
muss nicht dem Eigennutz geschuldet sein, son
dern kann auch auf besondere Anteilnahme
und Sympathie hindeuten.
Befunde von Aggressionsforschern legen al
lerdings nahe, dass zumindest das Lästern als
Sonderform des Tratsches eine indirekte Form
von Gewalt darstellt und durchaus im Dienst
der eigenen Durchsetzungskraft steht. So be
richtete die Anthropologin Nicole Hess vom
Berliner Max-Planck-Institut für Bildungsfor
schung 2006 gemeinsam mit einem US-Kolle
gen, dass Frauen in einem fiktiven Szenario eher
nicht aber unehrliches Verhalten wie Compu dazu neigten, nach Verleumdung durch einen
terdiebstahl und Betrug. Der einzige Fall, wo Kollegen ihrerseits mit bösem Klatsch zu ant
Freunde nicht das größte Interesse weckten, worten. Zwar gaben die 255 studentischen Pro
waren jene Themen, bei denen die Verwandt bandinnen und Probanden gleichermaßen an,
schaftsverhältnisse eine Rolle spielen könnten, am ehesten nach einem anderen Mittel greifen
nämlich bei einer Erbschaft und bei einer zu wollen, etwa den Chef über den wahren Sach
schweren Krankheit. Frauen interessierten sich verhalt aufzuklären. An zweiter Stelle wählten
besonders für gleichaltrige Rivalinnen, und am die Frauen jedoch üble Nachrede, während
stärksten dann, wenn es um Promiskuität und Männer zu körperlicher Gewalt tendierten. Läs
Untreue ging. Männer zeigten keine besonders tern ist demnach eine vornehmlich weibliche
ausgeprägte Vorliebe für den Tratsch über das Reaktion auf eine Provokation, vermutlich weil
eigene Geschlecht, es sei denn, der finanzielle sie sich mit den Geschlechternormen eher ver
Lust auf Promi-News Status oder die sexuelle Potenz eines anderen einbaren lässt.
Das öffentliche Interesse Mannes waren das Thema.
für das Leben von Stars McAndrew und Milenkovic lesen aus ihren Zwei Seiten derselben Medaille
und Sternchen beruht Daten eine egoistische Motivation ab. »Men Dass physische und indirekte verbale Aggres
möglicherweise darauf, schen suchen nach Informationen, die sich im sionen ähnliche Funktionen erfüllen, demons
dass der Klatsch über sozialen Wettstreit für sie als nützlich erweisen trierten auch die britische Psychologin Sarah M.
Prominente denselben können«, so ihr Fazit. Das könnten bedeutsame Coyne von der University of Lancashire und
Instinkt anspricht wie der Vorgänge in der Familie sein, potenziell schäd ihre Kollegen in zwei Experimenten mit Schü
über persönliche Bekann- liches Wissen über Rivalen oder statusförder lern und erwachsenen Frauen.
te. Noch dazu taugt er als liche Neuigkeiten über Freunde. Letztere stün In einer 2004 veröffentlichten Untersuchung
Gesprächsstoff für Men- den ganz natürlich im Fokus. »Freunde sind un präsentierten die Forscher 11- bis 14-jährigen
schen, die keine gemein- sere besten Verbündeten und wichtig für den Kindern zunächst ein Video, in dem sich ein
samen Bekannten haben. sozialen Aufstieg, aber zugleich unsere größten Mädchen einer Clique anschloss und ihre bishe
(McAndrew, F. T., Milenkovic, M. A.: Rivalen«, glauben die Psychologen. rige Freundin dafür sitzen ließ. Diese reagierte
Of Tabloids and Family Secrets:
The Evolutionary Psychology of Ihre Untersuchung zeigt beispielhaft, woran darauf in der einen Filmversion mit indirekter
Gossip. In: Journal of Applied die Forschung zu Klatsch und Tratsch krankt: Aggression, etwa indem sie über ihre ehemalige
Social Psychology 32, S. 1 – 20,
2002) Die meisten Ergebnisse lassen sich ebenso im Freundin lästerte. In einer zweiten Fassung gab
Sinn einer egoistischen wie auch einer sozialen sie ihr beispielsweise eine Ohrfeige und rem
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psychologie ı kindesentwicklung
Zwiegespräch
mit einem Baby
Schon bevor ein Säugling das erste Wort spricht, können sich seine Eltern
differenziert mit ihm verständigen, erklärt die Heidelberger Pädagogik
professorin Ursula Horsch. Sie erforscht, wie die allerersten Dialoge die
frühkindliche Bildung beeinflussen.
1 Die ersten gesprächs »Hallo, da bist du ja endlich! Wir haben schon gen – bedarf es dazu einer besonderen, kindge-
artigen Interaktio- auf dich gewartet. Wolltest du nicht aus Mamas rechten Ausdrucksweise? Oder spielen vielmehr
nen zwischen Eltern und Bauch herauskommen?« Blickkontakt, Mimik oder gar Berührungen die
Kind lassen sich schon Wie selbstverständlich reden die meisten Hauptrolle? Wie »antwortet« ein Säugling? Und
kurz nach der Geburt be- Mütter und Väter bereits kurz nach der Geburt werden die kommunikativen Kompetenzen El-
obachten. liebevoll mit ihrem Kind, gerade so, als würde tern und Kind quasi in die Wiege gelegt oder
das winzige Geschöpf jedes Wort verstehen und entwickeln sie sich individuell im tagtäglichen
Tatsächlich aber kommunizieren Eltern und Bildung beginnt mit der Geburt
Forscher deren wich-
Säugling schon sehr früh miteinander und füh- Seit 2004 gehen wir solchen Fragen bundesweit
tigste Elemente heraus
ren sogar regelrechte »Zwiegespräche«. im Rahmen umfassender Studien nach. Zu un-
filtern.
Umfangreiche Videoanalysen von Eltern- seren langfristigen Zielen gehört es dabei auch,
3 Die Zwiegespräche
fördern nicht nur den
Spracherwerb, sie trans
Kind-Interaktionen enthüllen die verschiede
nen Komponenten dieser allerersten Verständi-
gung. Sie folgt einem dialogartigen Muster, das
die Eltern-Säugling-Dialoge auf ihre Bedeutung
für die frühkindliche Bildung zu untersuchen.
Darunter verstehen wir nicht nur den Erwerb
portieren auch elterliche sich im Verlauf des ersten Lebensjahres in ty- von Wissen, sondern auch von emotionalen
Haltungen wie Mitgefühl, pischer Weise verändert. Diese vorsprachliche Kompetenzen, Haltungen und Einstellungen.
Verständnis und einen Kommunikation legt vermutlich nicht nur den Wenn eine Mutter etwa auf Grund einer de-
partnerschaftlichen Grundstein für den Spracherwerb des Kindes, pressiven Erkrankung auf die Signale ihres Ba-
Umgang. sondern ist auch essenziell für dessen gesamte bys nicht feinfühlig reagiert, leidet dieses laut
emotionale, soziale und kognitive Entwicklung. Forschern vom Universitätsklinikum Heidelberg
www.gehirn-und-geist.de 33
Eltern-Kind-Interaktionen unter der Lupe
Zur computergestützten Analyse der Videos
von Eltern-Kind-Interaktionen setzen die Hei
delberger Forscher eine spezielle Software
ein. Links sind die Laufzeiten und die zugehö
rigen Kodierungen der Dialogelemente doku
mentiert, wie etwa Vokalisationen des Babys
oder die spezifische, an das Kind gerichtete
Sprachform des Vaters (»Fatherese«). In der
Mitte ist ein Steuerungsfenster zu sehen, mit
dem das Video bedient wird, rechts ein Fens
ter, in dem der aktuell analysierte Ausschnitt
angezeigt ist.
Mittels verschiedener Software-Tools kön
nen die Forscher unterschiedliche quantitative
Auswertungen vornehmen oder die Überein
stimmung zwischen verschiedenen Auswer
Screenshot der Auswertungssoftware tern prüften.
Diese Grafik zeigt das Ergebnis einer Videoanalyse hinsichtlich des Auftretens von Dialogelementen wie Blickkontakt, Vokalisa
tionen des Kindes, dialogischem Echo und Grußmoment. Auffallend ist der hohe Anteil von speziell an das Kind gerichteter Spra
che des Vaters, die »Fatherese«.
Mit frdl. Gen. von Ursula Horsch (auswertungssoftware: interact / Mangold)
Wie in der Partitur eines Musikstücks sind die einzelnen Dialogelemente untereinander angeordnet und geben so einen Einblick
in die Struktur des Vater-Kind-Dialogs. Fatherese verbunden mit einem Grußmoment provoziert eine Vokalisation des Kindes. Das
Abwechseln der kindlichen und väterlichen Beiträge wird in dieser Form der Visualisierung besonders gut sichtbar und belegt
den dialogischen Charakter der Interaktion. Indem der Vater die kindlichen Angebote aufgreift und beantwortet beziehungs
weise selbst dem Kind Angebote macht, hält er das »Gespräch« aufrecht. Die individuelle Passung zwischen Elternteil und Kind
erachten Spracherwerbs-, aber auch Bindungsforscher als bedeutsam.
teren Kindern tendieren Mütter zunehmend dazu, die Lautäußerung beim Wie
derholen in gängige Silben der Muttersprache abzuwandeln.
pfr prf Auf dem Foto sind noch weitere Dialogelemente zu erkennen, wie etwa
pfr Blickkontakt, Lächeln und zärtliche Zuwendung. Die Mutter gestaltet damit
nicht nur den Dialog, sondern vermittelt auf mehreren Ebenen ihrem Baby, dass
sie es liebt und gerne etwas mit ihm gemeinsam tut. Hierin zeigen sich nicht
WORTLOSE VERSTÄNDIGUNG nur Emotionen, sondern auch Haltungen und Verhaltensweisen, die für das
Eltern ahmen intuitiv die Lautäußerungen ihres Kind ein Angebot darstellen, diese für sich zu erwerben. Damit zielen die frühen
Säuglings nach. Dialoge ganz wesentlich auf den Faktor Bildung.
Je länger und detaillierter man Eltern-Säug- Allerdings verschoben sich bei den Eltern
ling-Interaktionen beobachtet, desto mehr sol- taubblinder Säuglinge die Anteile von den akus-
cher besonderer Verständigungskomponenten tischen Elementen hin zu den taktilen. Die Ver-
treten zu Tage. Doch wie ergeben diese ein mutung liegt also nahe, dass Eltern und Kind
zelnen Elemente einen Dialog? Und wie verän- von Natur aus spezifische kommunikative Kom-
dert sich dieser im Verlauf des ersten Lebens- petenzen besitzen, sich diese dann aber indivi-
jahres? Um solche Fragen zu klären, gewannen duell und in Abstimmung mit dem Dialogpart-
wir für unser Projekt 111 Elternpaare, die bereit ner weiterentwickeln. Vermögen Mütter oder
waren, sich ein Jahr lang einmal pro Monat mit Väter auf die Signale ihres Säuglings dagegen
ihrem Kind filmen zu lassen oder selbst Videos kaum einzugehen, kann laut Eltern-Kind-Thera- GESPRÄCHIGE MÜTTER
anzufertigen. Von diesen hatten 33 ein behin- peuten ein eigenes unverarbeitetes Kindheits Der Anteil an kindgerichteter
dertes Kind. Während der je etwa 20-minütigen trauma oder sogar eine psychische Erkrankung Sprache in der Mutter-Kind-
Aufzeichnungen beschäftigte sich ein Elternteil dahinterstecken (siehe G&G 9/2011, S. 48). Kommunikation (»Motherese«)
mit dem Baby entweder zweckgebunden (Ba- Dass Baby und Eltern wirklich einen Dialog ist durchgehend hoch und
den, Füttern) oder zweckfrei (Spielen, Schmu- führen und nicht etwa jeder für sich »einfach erreicht fünf bis acht Monate
sen) in der gewohnten Umgebung des eigenen daherredet«, führen unsere Analysen auf den nach der Geburt ein Maxi-
Zuhauses. ersten Blick vor Augen: Ein paralleles Auftreten mum. Die akustische Beteili-
dialogischer Elemente von Elternteil und Kind gung des Kindes nimmt da-
Grundelemente der Verständigung kommt eher selten vor. Vielmehr ist die Verstän- gegen stetig zu.
Jeweils die ersten vier Minuten einer solchen
Interaktion analysierten wir im Hinblick auf die
häufigsten Dialogelemente mittels einer com- Anteile ausgewählter Dialogelemente
putergestützten Auswertungsmethode sowohl während des ersten Lebensjahres
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GUT GELALLT!
Zwischen dem fünften und
achten Lebensmonat beginnen
Kinder so genannte kanonische
Silben zu bilden, aus denen
erste Protowörter entstehen.
babababab
GeTeilte Freude
Dieser Vater und seiner 14 Wochen alte Tochter amüsieren sich ganz offensichtlich köstlich miteinander.
Gut zu erkennen sind von links nach rechts das Grußmoment, zärtliche Zuwendung, Blickkontakt, erneutes
Grußmoment mit Zurücklehnen, gemeinsames Lachen.
Literaturtipp
Gopnik, A. et al.: Forscher
geist in Windeln. Wie Ihr Kind
die Welt begreift. Piper, Mün
chen, 6. Auflage 2007
Mit frdl. Gen. von Ursula Horsch
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titelthema ı egoismus
Zwischen Fairness
und Eigennutz
Gier, Machtstreben, Konkurrenzdenken – sind Menschen bloß an
ihrem persönlichen Vorteil interessiert? Oder dominieren unterm Strich
doch Mitgefühl und Altruismus unser Wesen? Psychologen glauben,
dass beides in uns schlummert: Laut einer neuen Theorie bemühen wir
uns unbewusst um ein ausgeglichenes Moralkonto.
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Au f ei n en B l ic k T om verlässt die Bank mit gemischten Ge-
fühlen. Er hat gerade 100 Euro für eine
sprochen sozial und dann wieder selbstsüchtig
handelt?
Balance von Hilfsorganisation gespendet, doch wie er beim Tatsächlich scheinen zwei Seelen in unserer
Hinausgehen bemerkt hatte er auf dem Weg Brust zu hausen, glaubt die Psychologin Sonya
Gut und Böse zum Schalter glatt die Schlange übersehen. Sachdeva von der Northwestern University in
1 Ob Menschen egois-
tisch oder hilfsbereit
handeln, hängt in hohem
Während er die Halle durchquert, spürt er die
vorwurfsvollen Blicke der Wartenden. Was soll’s,
denkt Tom, schließlich hat er ja ein gutes Werk
Evanston (US-Bundesstaat Illinois). Unser All-
tagshandeln werde von einem immer wieder
neuen Ausbalancieren unserer moralischen
Maß von der jeweiligen getan. Das Los der Hungernden in Afrika wiege Selbsteinschätzung begleitet. Ob beim Ansturm
Situation ab. schließlich mehr als die 90 Sekunden, die er den auf den Wühltisch im Kaufhaus, beim Türauf-
anderen Bankkunden geraubt hat. halten oder beim Anstehen – laufend führen
2 In Studien agieren
etwa Probanden, die
gerade für einen gemein-
Ob Schwarzfahren, Drängeln auf der Auto-
bahn oder Steuernhinterziehen – die Liste der
wir der Forscherin zufolge eine Pro-kontra-Lis
te: Bin ich ein guter Mensch oder ein schlech-
möglichen Delikte aus Eigennutz ist lang. Im ter? Soll ich helfen oder schauen, dass ich selbst
nützigen Zweck gespen-
Allgemeinen bewerten wir unser eigenes Ver- auf meine Kosten komme? Je nachdem, wie es
det haben, im Anschluss
halten dabei gern positiver als das unserer Mit- um unser Selbstbild gerade bestellt ist, fällt un-
daran weniger altruis-
menschen und nehmen für uns selbst allerlei sere Antwort ganz verschieden aus.
tisch als sonst.
Rechtfertigungen in Anspruch. Ist der Mensch
Der britische Philosoph Thomas Hobbes (1588 – 1679) erklärte Demnach sollten Unternehmen stärker auf Vertrauen statt
den Menschen einst zu einem machthungrigen Egoisten. auf Kontrolle setzen. Harte Führungsstile gründen oft auf der
»Homo homini lupus est« (»Der Mensch ist dem Menschen ein Angst, Mitarbeiter seien im Kern egoistisch und würden für
Wolf«) erklärt er, angelehnt an den griechischen Philosophen den jeweiligen Lohn so wenig wie möglich arbeiten. Dabei
Plautus (zirka 250 – 184 v. Chr.). Im Kampf ums Überleben sei könnte ein Vertrauensverhältnis zur Belegschaft vielen Firmen
sich jeder selbst der Nächste, so Hobbes. Später zeichnete der chefs mehr Gewinn bescheren: Ein Mitarbeiter, der sich fair be-
Schotte Adam Smith (1723 – 1790) ein etwas erfreulicheres Bild handelt fühlt, macht beispielsweise eher Überstunden.
der menschlichen Natur: Wir würden zwar im Prinzip egois-
tisch handeln, doch das sei gut so! Denn nur wenn jeder auf Unter mehr als 20 000 Befragten fand Falk sowohl positiv als
seinen eigenen Vorteil bedacht sei, könne die Wirtschaft florie- auch negativ reziproke Menschen. Erstere belohnen lieber gute
ren. Das tief verankerte Streben nach Gewinnmaximierung ga- Taten, letztere bestrafen eher schlechte. Langfristig besser
rantiere den »Wohlstand der Nation«. fahren nach Falks Ansicht positiv reziproke Personen. Sie schei-
In der Wirtschaftstheorie dominierte dieses Denken lange nen nicht nur insgesamt zufriedener zu sein, sondern pflegen
Zeit: Rational, gewinnorientiert und eigennützig – das charak- auch stabilere soziale Beziehungen.
terisiert den Homo oeconomicus, den bereits der Philosoph Wenn wir uns dennoch egoistisch verhalten, seien oft insti-
und Ökonom John Stuart Mill (1806 – 1873) ausgerufen hatte. tutionelle Anreize im Spiel. In der Schule, im Job oder Fernse-
Demnach verhalten sich Marktteilnehmer egoistisch, weil sie hen – überall erleben wir Wettbewerb hautnah. Viele Men-
das Gleiche von anderen erwarten. schen hätten sich angewöhnt, »draußen« eigennützig zu sein
Der Rechts- und Staatswissenschaftler Armin Falk von der und in den eigenen vier Wänden altruistisch. Hinzu kommt,
Universität Bonn stellt dies in Frage. Der Mensch sei vielmehr dass wir uns häufig am Vorbild anderer orientieren. Kaufen
ein Homo reciprocans, der nicht nach dem eigenen Vorteil stre- viele Menschen Elektroautos, so kommen auch wir selbst ins
be, sondern nach Fairness. Falk ist davon überzeugt, dass wir Grübeln, ob das nicht die besserer Alternative sei. Fazit: Ob je-
das Prinzip »Wie du mir, so ich dir« stärker verinnerlicht haben mand altruistisch oder egoistisch handelt, hängt stark von der
als jedes rationale Gewinnstreben. Wer von anderen gut be- jeweiligen Situation ab.
handelt wird, revanchiert sich, wem Unrecht widerfährt, sank- (Falk, A., Fischbacher, U.: A Theory of Reciprocity. In: Games and Economic
tioniert – selbst wenn ihm dadurch Kosten entstehen. Behavior 54, S. 293 – 315, 2006)
Den Effekt konnte die Psychologin mit ihrem andere zuschlagen: Sie hatten hierfür 25 Dollar Kurz erklärt
Team 2009 ganz einfach demonstrieren. Bei in der virtuellen Geldbörse.
Altruismus
dem Experiment sollten Versuchspersonen ein Im Anschluss wurde »Diktator« gespielt (sie-
Das Wohlbefinden anderer
wenig aus dem Nähkästchen plaudern. Die Auf- he Kasten S. 42). Jeder Teilnehmer stand nun vor
fördern, ohne dabei an
gabe lautete: von sich selbst erzählen und dabei der Wahl, wie viel von seinem erhaltenen Start-
einen persönlichen Gewinn
vorgegebene Adjektive einbinden. Teilnehmer, kapital er einem Mitspieler abgeben wollte. Das
zu denken
die sich dabei in besonders positiven Worten be- erstaunliche Ergebnis: Teilnehmer, die sich im
schreiben sollten, spendeten nach dem Experi- Ökoladen bloß umgesehen hatten, waren auf-
Egoismus
ment prompt weniger Geld als jene, die von per- fällig spendabel.
Die Motivation, einen Gewinn
sönlichen Schwächen berichtet mussten.
für sich allein zu erzielen – oft
Im selben Jahr übertrugen die kanadischen Biokauf mit Dagobert-Effekt zu Lasten anderer
Psychologen Nina Mazar und Chen-Bo Zhong Wer jedoch die Bioprodukte tatsächlich ein
das Modell vom moralischen Bilanzieren auf gekauft hatte, verhielt sich in Dagobert-Duck-
den Alltag. Die Idee der Forscher: Der Kauf von Manier und gab deutlich weniger von seinem
Bioprodukten wird allgemein ethisch höher be- Geld ab. Der Bioeinkauf hatte die Betreffenden
wertet als der von konventionell erzeugten Wa- augenscheinlich egoistischer gemacht – was das
ren. Sollte sich dies nicht auch auf das mora- Moral-Licensing-Modell so erklärt: Zum fragli
lische Handeln der Käufer auswirken? chen Zeitpunkt war das persönliche Moralkonto
Um das herauszufinden, schickten Mazar aufgefüllt.
und Zhong ihre Probanden zum Onlineshop- Über die menschliche Natur verrät das vor
ping mal in einen Bio-, mal in einen konventio- allem eins: Oft reicht schon ein Gedanke, um
nellen Supermarkt. Während einige Teilnehmer den Egoisten in uns hervorzukitzeln. Wie bei-
die Produktpalette nur sichten sollten, durften läufig dies geschieht, zeigte 2008 ein Team ame-
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Das Streben nach rikanischer Wirtschafts- und Sozialwissenschaft Nach dem offiziellen Ende des Experiments
ler. Ganz unauffällig pflanzten sie ihren Testper ließen die Betreffenden auch öfter Utensilien
Fairness ist so tief
sonen den Gedanken an Geld ein – etwa, indem auf dem Tisch zurück oder steckten den Stift des
im Menschen veran sie im Labor Plakate mit darauf abgebildeten Versuchsleiters ein. Die Forscher betonen, dass
kert, dass es ihn Banknoten aufhängten. Die derart manipulier dieser Verhaltensumschwung sich nicht allein
mitunter sogar ten Testteilnehmer griffen anschließend einem mit Frust erklären lasse. Schlechte Laune mache
irrational handeln offenbar hilfsbedürftigen Lockvogel seltener keinen Egoisten. Erst wenn wir auch unfair be-
unter die Arme. handelt werden, fühlen wir uns von üblichen
lässt
Angesichts solchen Wankelmuts verwundert moralischen Verpflichtungen entbunden.
es nicht, dass die Suche nach dem »wahren« We- Das Streben nach Fairness ist so tief im Men-
sen des Menschen zwischen Egoismus und Al- schen verankert, dass es ihn mitunter sogar irra-
truismus seit Jahrhunderten so viele Kontrover- tional handeln lässt. In Experimenten konnte
sen auslöste. In jüngerer Zeit rückte dabei ein der Wirtschaftswissenschaftler Ernst Fehr von
neuer Begriff in den Fokus der Forscher – die der Universität Zürich zeigen: Wenn ein Teil-
Fairness. nehmer die Möglichkeit hat, Gegenspieler für
ihr egoistisches Verhalten etwa mit einer Geld-
Unrecht wird bestraft buße zu bestrafen, so greift er selbst dann zu
Wer sich unfair behandelt fühlt, agiert ebenfalls diesem Mittel, wenn er dafür einen eigenen
eigennütziger. Das konnten Psychologen der Nachteil in Kauf nehmen muss.
Stanford University (Kalifornien) im Jahr 2010 Die aktuelle Diskussion um den globalen Kli-
belegen. Die Forscher baten Freiwillige, sich an mawandel liefert ein gutes Beispiel dafür, wie
eine Situation zu erinnern, in der ihnen Unrecht sehr andere unser persönliches Verhalten be-
widerfahren war. Mit einer grundlos erlittenen einflussen. Hier scheint es nicht nur darauf an-
Strafe oder einer vermeintlich ungerechten Be- zukommen, welche Normen gelten (etwa: »Wär-
notung durch ihren Dozenten im Kopf waren medämmung ist wichtig!«), sondern auch, wie
die Studenten eher zu egoistischen Handlun- viele unserer Mitmenschen sich daran halten.
gen bereit als Vergleichspersonen, die an an- Wer in einer Gegend wohnt, in der immer mehr
deres gedacht hatten. Bei einer Befragung ent- Häuser gedämmt werden, wird sich – selbst ent-
schieden die verletzten Seelen vermehrt zu ih- gegen seiner Überzeugung – ähnlich verhalten.
rem Vorteil: Blut spenden? Nein, danke. Baden In den Tauschspielen im Labor (siehe Kasten
trotz Wasserknappheit? Kein Problem. Müll unten) machen Geber ebenfalls bevorzugt un-
trennen? Können andere machen! fairere Angebote, wenn sie wissen, dass andere
MIttels verschiedener Spielszenarien lässt sich erkunden, wann müsste jedes Angebot annehmen, denn selbst ein Euro ist
Probanden eher zu altruistischem oder zu eigennützigem Ver- besser als nichts. Die Realität sieht jedoch anders aus: Schon
halten neigen. Die wichtigesten Methoden sind: Angebote im Verhältnis von zirka 70 zu 30 lehnt der Durch-
schnittsproband ab, weil sie unfair erscheinen.
Public Goods Dilemma
Wie verhalten sich Menschen, wenn individuelle und Gruppen- Vertrauensspiel
interessen miteinander in Konflikt stehen? Experimentell über Hierbei kann ein Teil des vom Treuhänder erhaltenen Betrags –
prüfbar ist das, indem Probanden entscheiden, wie viel Geld sie nach Aufstockung durch die Versuchsleiter – wieder an den Ge-
in eine Gemeinschaftskasse zahlen wollen, wenn sie selbst nur ber zurückgezahlt werden. Vertraut dieser seinem Mitspieler
einen Anteil zurückbekommen. also eine größere Summe an, so erhält er womöglich umso
mehr zurück, wenn der andere mitspielt.
Ultimatumspiel
Ein Versuchsteilnehmer bekommt einen Geldbetrag (zum Bei- Diktatorspiel
spiel 100 Euro) unter der Vorgabe, ihn zwischen sich und einem Im Unterschied zum Ultimatumspiel hat der Nehmer hier kei-
unbekannten Spielpartner aufzuteilen. Akzeptiert der andere ne Wahl – er muss das Angebot des Gebers annehmen. Der Ver-
das Angebot, profitieren beide davon; lehnt er hingegen ab, gleich mit dem Ultimatumspiel offenbart, ob ein Angebot aus
bekommt keiner von beiden etwas. Der Homo oeconomicus Fairness oder aus Angst vor Strafe gemacht wird.
www.gehirn-und-geist.de 43
44 G&G 1-2_2012
titelthema ı selbstkontrolle
Neuronales Bremspedal
Ohne unsere Impulse im Zaum zu halten, könnten wir nicht zivilisiert
zusammenleben. Doch was geschieht dabei im Gehirn? Laut
den Neurowissenschaftlern Daria Knoch und Bastian Schiller lässt
sich die Fähigkeit zur sozialen Selbstkontrolle an neurobiologischen
Merkmalen ablesen.
www.gehirn-und-geist.de 45
Au f ei n en B l ic k S tellen Sie sich vor, Sie würden immer alles
tun, was Ihnen gerade in den Sinn kommt.
logischen Grundlagen lange Zeit unbeachtet.
Heute stellen sich Forscher vor allem zwei Fra
Alles im Griff Wahrscheinlich hätten Sie längst Ihren Job ver gen: Welche Hirnprozesse sind für unsere Fähig
loren, keine Freunde mehr und jeden Tag un keit zur sozialen Selbstkontrolle verantwort
1 Unsere spontanen
Handlungsimpulse
laufen den Interessen
zählige Streitigkeiten mit anderen auszutragen.
Die Fähigkeit zur Selbstkontrolle in sozialen Si
lich? Und gibt es neurobiologische Merkmale,
die individuelle Unterschiede hinsichtlich die
tuationen ist essenziell für ein harmonisches ser Fähigkeit erklären können?
anderer oder gesell- Zusammenleben.
schaftlichen Normen oft So müssen wir unsere Impulse häufig zu Drohende Strafe macht sozialer
zuwider. rückstellen, damit etwa ein kleiner Zwist unter Um sie zu beantworten, nutzen Neurowissen
Kollegen oder in der Familie nicht eskaliert. schaftler in Experimenten die Tatsache, dass
2 Die Fähigkeit, in
solchen Situationen
eigene Bedürfnisse zu
Auch sollten wir manchen Versuchungen wider
stehen, wenn uns an einer stabilen Partner
die soziale Selbstkontrolle gemeinhin verstärkt
ausgeübt wird, wenn uns entweder eine Bestra
unterdrücken, bezeichnen schaft gelegen ist. Und wer stets ausspricht, was fung für gewisse Normverstöße droht oder
Psychologen als soziale er denkt, stellt sich damit oft selbst ein Bein – wenn wir von anderen beobachtet werden. Hat
Selbstkontrolle. zum Beispiel beim Bewerbungsgespräch. ein guter Freund schon einmal Ihr Vertrauen
All diese Situationen haben eines gemein missbraucht? Wahrscheinlich haben Sie dem
3 Entscheidend daran
beteiligt ist der Prä-
frontalkortex im Stirnhirn.
sam: Wir wenden Selbstkontrolle an, um soziale
Normen zu befolgen. Doch es fällt uns nicht im
jenigen deutlich die Meinung gegeigt oder viel
leicht sogar die Freundschaft gekündigt. Oder
mer leicht, unsere Reaktionen im Zaum zu hal haben Sie sich in letzter Zeit über ein Bußgeld
ten. Bestimmt erinnern auch Sie sich an Mo wegen zu schnellen Fahrens auf der Autobahn
mente, in denen Sie die Beherrschung verloren geärgert? Wenn wir Regeln verletzen, werden
oder miterlebten, wie jemand seinem Ärger wir dafür üblicherweise von unseren Mitmen
über irgendeine Nichtigkeit freien Lauf ließ. Mit schen oder von öffentlichen Institutionen be
der Selbstkontrolle ist es wie mit den meisten straft. Meist halten wir uns deshalb an soziale
menschlichen Eigenschaften: Es gibt große indi Normen und kontrollieren eigennützige Im
viduelle Unterschiede. pulse, um diese Sanktionen zu vermeiden.
Wer sich gut im Griff hat, wird von anderen Ein Forscherteam um den Wirtschaftswis
gemeinhin mehr respektiert als unberechen senschaftler Ernst Fehr von der Universität
bare Heißsporne – was durchaus zählbare Vor Zürich und den Psychiater Manfred Spitzer von
teile bringt. So sind Menschen mit guter Selbst der Universität Ulm untersuchte 2007, was
kontrolle im Schnitt beruflich erfolgreicher und dabei im Gehirn geschieht. Die Forscher ver
pflegen stabilere Beziehungen, wie Studien des glichen das Verhalten und die Hirnaktivität ge
Klassischer Fall Sozialpsychologen Roy Baumeister und seiner sunder Probanden unter zwei Bedingungen: In
Lange bevor es möglich wurde, Kollegen von der Florida State Universität in Tal der ersten erhielt die Versuchsperson einen
die Aktivität des Gehirns bei lahassee (USA) belegen. Euro pro Runde und sollte jeweils entscheiden,
bestimmten Aufgaben zu Obwohl die Selbstkontrolle für unser Zusam welchen Anteil sie an ein Gegenüber abgeben
messen, lieferten Studien an menleben so wichtig ist, blieben ihre neurobio wollte. Im anderen Fall sollte die Versuchsper
Patienten mit Hirnschädi-
gungen erste Erkenntnisse.
Besonders Menschen mit
verletztem Stirnhirn fallen Methoden der sozialen Neurowissenschaft
sozial oft aus der Rolle. Das Seit einigen Jahren kombinieren Wissenschaftler experimentelle Paradigmen aus der Verhal-
wohl berühmteste Beispiel tensökonomie (siehe Kasten S. 42) mit modernen bildgebenden Verfahren der Hirnforschung.
gab Mitte des 19. Jahrhun- Dazu zählt etwa die funktionelle Magnetresonanztomografie (fMRT), die Rückschlüsse auf die
derts der US-Bahnarbeiter Aktivierung bestimmter Hirnareale bei sozialer Selbstkontrolle zulässt. Während Magnetreso-
Phineas Gage, der bei einer nanztomografen den Sauerstoffanteil im Blut messen, registriert die Elektroenzephalografie
Dynamitexplosion einen (EEG) oder die Magnetenzephalografie (MEG) direkt die elektrische beziehungsweise die ma-
erheblichen Teil seines Fron- gnetische Aktivität des Gehirns.
talkortex verlor. Nachdem er Mittels transkranieller Magnetstimulation (TMS) sowie transkranieller Gleichstromstimula
sich von dem Unglück erholt tion (tDCS) können Forscher durch äußere magnetische oder elektrische Felder die Aktivierung
hatte, offenbarte der zuvor als bestimmter Hirnbereiche beeinflussen. So hemmt niederfrequente TMS vorübergehend die
besonnen und ruhig geltende neuronale Aktivität in der betreffenden Region. Ist die Fähigkeit zur sozialen Selbstkontrolle bei
Mann ein aufbrausendes Probanden währenddessen geschwächt, deutet dies auf eine Beteiligung des Areals hin.
Temperament.
Rücktransfer in Prozent
Rücktransfer in Prozent
konnte.
40 40
Erwartungsgemäß zeigten sich die Proban
30 30
Diagramme: Gehirn&Geist, nach: Knoch, D. et al., PNAS 106, S. 20895–20899, 2009, Fig. 3; Hirnscan: Mit frdl. Gen. von Daria Knoch;
den bei drohender Bestrafung wesentlich groß
zügiger als ohne. Während im ersten Fall kaum 20 20
jemand mehr als 20 Cent abgeben mochte,
10 10
machten die meisten Teilnehmer in der ande
0 0
ren Gruppe großzügig halbe-halbe.
Wie der Blick ins Gehirn mittels funktio Hemmung des rechten Hemmung des linken vorgetäuschte
neller Magnetresonanztomografie (fMRT) of präfrontalen Kortex präfrontalen Kortex Hemmung (Placebo)
fenbarte, waren bei drohender Bestrafung prä
b
www.gehirn-und-geist.de 47
änderte Situation an. Anscheinend konnten die
Betreffenden der Versuchung, das Geld zu be
halten, nicht so leicht widerstehen.
Die über den rechten Präfrontalkortex ge
steuerte Selbstkontrolle scheint demnach
auch für den Erwerb eines guten Rufs entschei
dend zu sein. Die Hemmung des linken
Präfrontalkortex wirkte sich hingegen nicht
darauf aus. Dieser Befund passt gut zu Beob
achtungen an hirngeschädigten Patienten, wo
nach Defizite im Sozialverhalten wie Takt
losigkeit oder Unzuverlässigkeit ebenfalls eher
nach Beeinträchtigung des rechten als des lin
ken Präfrontalkortex auftreten.
Warum sind manche Menschen deutlich
schlechter als andere in der Lage, ihre Impulse
zu kontrollieren? Mit Hilfe der TMS konnten wir
demonstrieren, dass es die soziale Selbstkon
trolle vermindert, wenn man die Aktivität im
rechten Präfrontalkortex hemmt. Könnte die
Funktionsfähigkeit dieses Hirnbereichs also für
die individuellen Unterschiede verantwortlich
sein? Dieser Frage gingen wir 2010 nach.
Zu diesem Zweck registrierten wir per Elek
partnern. Zudem führten wir eine kleine, aber troenzephalografie (EEG) die elektrische Aktivi
entscheidende Variation ein: Während in einer tät des Gehirns im Ruhezustand, also während
Bedingung alle Interaktionen verdeckt abliefen, die Probanden nichts weiter tun sollten, als die
wusste der Treuhänder in der anderen, dass der Augen geschlossen zu halten. Spezielle 3-D-
Genetischer Faktor Treugeber über seine früheren »Rücktransfers« Lokalisierungsmethoden ermöglichen es, die
Björn Wallace und seine informiert wurde. Um einen Ruf als vertrauens an der Schädeloberfläche gemessenen elektri
Kollegen von der Stockholm würdige Person zu erwerben, was in der Folge schen Potenzialschwankungen den jeweiligen
School of Economics vergli höhere Geldangebote bescherte, musste er in Ursprungsarealen im Gehirn zuzuordnen. Da
chen in einer Studie von 2007 dieser Reputationsbedingung seine eigennüt die gemessene Grundaktivität auch bei mehr
das Verhalten von ein- und zigen Impulse kontrollieren. maligen Messungen relativ stabil bleibt, stellt
zweieiigen Zwillingen im sie – vereinfacht gesagt – eine Art »neuronalen
Ultimatumspiel. Resultat: Profit versus Reputation Fingerabdruck« dar.
Genetisch identisch ausge- Wir teilten die Treuhänder in drei verschiedene Zu einem späteren Zeitpunkt erhoben wir
stattete Personen entschie- Gruppen ein: eine mit Placebostimulation, bei dann die Fähigkeit zur sozialen Selbstkontrolle,
den ähnlicher als zweieiige. der das TMS-Gerät gar nicht angeschaltet war, indem wir den Versuchspersonen die Rolle des
Als einen Erbfaktor, der über eine mit TMS über dem rechten Präfrontalkor Spielers B im Ultimatumspiel zuwiesen. In die
die soziale Selbstkontrolle tex und eine mit TMS über der entsprechenden sem macht Spieler A einen Vorschlag, wie ein
mitbestimmt, identifizierten linken Hirnregion (siehe Grafik a auf S. 47). In Geldbetrag zwischen ihm und Spieler B aufge
Forscher um Songfa Zhong der anonymen Bedingung handelten die Treu teilt werden soll. Spieler B hat dann die Möglich
von der National University of händer aller drei Gruppen gleich – sie gaben nur keiten, den Vorschlag anzunehmen oder abzu
Singapore das Gen DRD4. Es rund ein Drittel des vervierfachten Betrags an lehnen – im zweiten Fall gehen allerdings beide
beeinflusst die Empfindlich- den Treugeber zurück. Hier war also nicht der leer aus. Man nimmt an, dass für die Ablehnung
keit eines Dopaminrezeptors Ruf als fairer Teilnehmer wichtig, sondern vor unfairer Angebote die Ausübung von Selbst
in der Membran von Nerven- allem der eigene Profit. kontrolle nötig ist, weil Spieler B dem eigennüt
zellen. In der Reputationsbedingung jedoch zeigten zigen Impuls, wenigstens etwas Geld zu erhal
(Wallace, B. et al.: Heritability of sich große Unterschiede: Während die Treuhän ten, widerstehen muss.
Ultimatum Game Responder
Behavior. In: Proceedings of the der in der Placebogruppe sowie in der mit TMS Bemerkenswerterweise war es möglich, die
National Academy of Sciences über dem linken Präfrontalkortex nun fast die se durch die EEG-Grundaktivität im Ruhezu
USA 104, S. 15631 – 15634, 2007;
Zhong, S. et al.: Dopamine D4 Hälfte des Geldbetrags zurückgaben, passten stand vorherzusagen: Je höher die Grundaktivi
Receptor Gene Associated with Fair- die Treuhänder mit TMS über dem rechten tät im rechten Präfrontalkortex ausfiel, desto
ness Preference in Ultimatum
Game. In: PLoS One 5, e13765, 2010) Präfrontalkortex ihr Verhalten nicht an die ver eher lehnte die betreffende Versuchsperson als
Urbane Seelennöte
Rund um den Globus nimmt die Verstädterung seit
Jahrzehnten zu. Gleichzeitig mehren sich Hinweise darauf,
dass das Leben in Ballungszentren die Psyche belastet.
Andreas Meyer-Lindenberg vom Mannheimer Zentral
institut für Seelische Gesundheit erklärt, was im Gehirn
gestresster Großstädter schiefläuft.
www.gehirn-und-geist.de 51
van Os und Jean-Paul Selten von der Universität r otierte Figuren miteinander in Übereinstim
Au f ei n en B l ic k Maastricht sind jedoch davon überzeugt, dass mung zu bringen waren. Der Clou: Während
Vom Stadt- zum hierbei insbesondere sozialer Stress eine we dessen machten Autoritätspersonen als »Wis
sentliche Rolle spielt. senschaftler im weißen Kittel« Druck. Ohne
Seelenleben Zahlreiche epidemiologische Studien konn dass die Versuchspersonen dies ahnten, hatten
1 Menschen in Ballungs-
z entren leiden deut-
lich häufiger an psychi
ten dies bestätigen. So fanden Wissenschaftler
um Stanley Zammit von der Cardiff University
in Wales 2010 heraus, dass das Schizophrenie
wir das Experiment so ausgerichtet, dass sie
glauben mussten, den Anforderungen nicht ge
wachsen zu sein. So suggerierte beispielsweise
schen Erkrankungen wie risiko von 200 000 Menschen in Schweden ein auf dem Bildschirm im Tomografen ein
Depression oder Schizo- einerseits von individuellen Faktoren wie Mi geblendeter »Leistungsmesser«, sie seien ver
phrenie als Landbewohner. grantenstatus oder Einkommen abhing; ande glichen mit den anderen Teilnehmern beson
rerseits waren diese Risikofaktoren wiederum ders schlecht. Die Versuchsleiter forderten sie
3 Vermutlich verändern
die Belastungen des
Stadtlebens die Hirn
funktion beruhen, liegt es nahe, sich die Metho
den der modernen Neurobiologie zu Nutze zu
Hochschnellende Puls-, Blutdruck- sowie Corti
solwerte belegten ihren Stress.
machen, um die Beziehung zwischen Stadtle Welche Hirnareale regten sich unter solchem
physiologie und steigern ben und sozialem Stress zu ergründen. Hierzu »sozialevaluativen« Stress? Natürlich viele. Uns
somit das Risiko für müssen wir die Hirnfunktion von Versuchsper interessierten aber vor allem die Regionen, de
psychiatrische Leiden. sonen aus unterschiedlichen geografischen Re ren Aktivität etwas mit dem städtischen Umfeld
gionen messen, während sie gleichzeitig einer der Probanden zu tun hatte. Ein Teil von ihnen
sozialen Stresssituation ausgesetzt sind. stammte aus Metropolen mit mehr als 100 000
Ein solches Experiment führten wir im ver Einwohnern, eine zweite Gruppe aus Kleinstäd
gangenen Jahr am Mannheimer Zentralinstitut ten ab 10 000 Bürgern, und die übrigen Ver
für Seelische Gesundheit durch. Unsere gesun suchspersonen lebten auf dem Land. Gibt es
den Probanden lagen dabei in einem Hirnscan eine Hirnregion, deren Aktivität unter Stress
ner. Mittels funktioneller Kernspintomografie, mit dieser geografischen Herkunft korreliert?
Prägendes Umfeld die den lokalen Blutfluss in verschiedenen Hirn Eindeutig ja: Es handelt sich um die Amyg
Wer auf dem Land zu Hause ist arealen registriert, lässt sich ein Maß für die dala, den »Mandelkern«. Die kirschkerngroße
(links), reagiert auf Stress an- neuronale Aktivität gewinnen. Hirnstruktur, die beidseits tief im Schläfen
ders als Menschen, die in einer Wir baten nun unsere Freiwilligen, unter lappen liegt, kennen Psychiater und Hirnfor
Kleinstadt wie Meißen (Mitte) Zeitdruck Denksportübungen zu bewältigen; scher gut. Unter anderem dient sie als »Gefah
oder gar in der Bankmetropole sie sollten entweder kopfrechnen oder geome rensensor« und löst Reaktionen des Organis
Frankfurt (rechts) leben. trische Probleme lösen, bei denen räumlich mus auf eine wahrgenommene Bedrohung aus,
Dreamstime / Elena Solodovnikova
Dreamstime / Viktoras Mostovojus
Amygdala-Aktivität
auch mit Depression und Angsterkrankungen 1
verknüpft.
Es zeigte sich nun, dass die Aktivität der
Amygdala unserer gestressten Probanden mit 0
[21 –9 –15]
pACC-Aktivität
starken Korrelation hatten wir nicht gerechnet.
Wir wiederholten daher das Experiment mit
0
–11
anderen Versuchspersonen unter modifizierten
–2
Aktivität
Stressbedingungen – abermals offenbarte die 0
Aktivität
–3
selbe Hirnregion genau dasselbe Muster.
–4
–1
Das Ergebnis ist besonders spannend, da wir 15 20 25 30 35 40 45
0 4 –5
ja aus den epidemiologischen Daten wissen, Ortsindex (1/2/3Kleinstadt
Land Großstadt
Punkte je Kindheitsjahr
c d auf dem Land/in Kleinstadt/Großstadt)
wie sehr die Stadtumgebung das Risiko für De
pressionen und Angststörungen erhöht – also banden einen Wert zwischen 15 und 45. Unsere 2 Stadt, Land, Stress
solche Leiden, die mit einer Überaktivität der Testpersonen mussten nun wiederum im Hirn Bei Stadtmenschen, die unter
0
Aktivität
Amygdala verbunden sind. Das legt nahe, die scanner Denkaufgaben lösen, während sie ein sozialem Stress Denksport
verstärkte Anregung dieses Hirnareals könnte Experimentator gehörig stresste. –2 aufgaben lösen, regt sich ver-
tatsächlich ein Mechanismus sein, der zwischen Als wir die Tomografiedaten auswerteten, mehrt die Amygdala (a) – nicht
urbanem Leben und dem Risiko für diese Er –4 jedoch bei Probanden, die vom
fanden wir nur eine Hirnregion, die hochsignifi
krankungen vermittelt. 20oder
kant mit unserem »Stadtscore« korrelierte: das 15Land 25aus30einer
35Kleinstadt
40 45
Es lässt sich außerdem darüber spekulieren, perigenuale anteriore Zingulum (pACC; eng stammen (Grafik b). Das Stern-
ob die Aktivierung auch mit gewaltbereitem lisch perigenual anterior cingulate cortex). Je chen symbolisiert einen statis-
Verhalten zusammenhängen könnte. Natürlich länger die Probanden in ihrer Kindheit in der tisch signifikanten Unterschied.
handelt es sich hierbei nicht um eine psychia Stadt gelebt hatten, umso stärker regte sich die Mit einer besonders hohen
trische Erkrankungskategorie – Gewalt beruht ses zum limbischen System gehörende Areal Aktivität des perigenualen
auf sehr komplexen, multifaktoriellen Einflüs unter sozialem Stress (siehe Grafik d). Auch die anterioren Zingulums (pACC, c)
sen. Daten sowohl aus Deutschland als auch den sen Befund konnten wir mit einer zweiten Ver reagieren Menschen auf
USA belegen jedoch, dass Gewalt in Städten ein suchsgruppe bestätigen. sozialen Stress, die in einer
deutlich größeres Problem ist als auf dem Land. Großstadt aufwuchsen. Die
2006 konnte ich mit Kollegen vom National Gestörter Regelkreis Grafik d zeigt dessen Aktivitäts-
Institute of Mental Health in Bethesda (US-Bun Dass sich hier tatsächlich der soziale Stress des level in Stresssituationen in
desstaat Maryland) zudem nachweisen, dass Stadtlebens auswirkt, lässt sich aus einem Kon Abhängigkeit vom Ort der Kind-
Menschen mit genetischen Risikofaktoren für trollexperiment schließen: Als wir weitere Pro heit. Jedes Jahr in einer Groß-
so genannte impulsive Gewalttaten eine über banden ebenso schwierige Denkaufgaben lösen stadt zählt dabei drei Punkte, in
erregbare Amygdala aufweisen. ließen, ohne sie jedoch unter Druck zu setzen, einer Kleinstadt zwei und auf
Wie sieht es nun bei der Schizophrenie aus? fanden wir keinen Zusammenhang zwischen dem Land einen Punkt.
Bei ihr gilt nicht nur das Leben in einer Metro urbaner Herkunft und den Aktivitäten von
pole, sondern vor allem die Geburt sowie das Amygdala und pACC.
Aufwachsen in einem solchen Umfeld als Risiko. Das pACC ist aus mehreren Gründen beson
Auch hier fanden wir eine klare Antwort. ders interessant: Erstens haben verschiedene
Um die in einer Stadt verbrachte Kindheits Forscher wie etwa Tsutomu Takahashi von der
zeit unserer Versuchspersonen zu quantifizie Medizinischen und Pharmazeutischen Univer
ren, bildeten wir einen Wert aus den Lebensjah sität Toyama in Japan bei Schizophreniepatien
ren 0 bis 15. Dabei zählte jedes Jahr, in dem der ten strukturelle Veränderungen im pACC gefun
Proband überwiegend in einer Metropole gelebt den. Sie treten mitunter schon im Anfangsstadi
hatte, drei Punkte; Lebensjahre in einer Klein um, ja sogar bei Probanden mit nur erhöhtem
stadt zwei; eine dörfliche Umgebung brachte ei Krankheitsrisiko auf – also noch vor den ersten
nen Punkt. In Summe ergab dies für jeden Pro psychiatrischen Symptomen. Zweitens ist diese
www.gehirn-und-geist.de 53
dieser Schutz ist in anonymen Großstädten eher
seltener gegeben. Bereits ein Jahr zuvor hatte un
sere Arbeitsgruppe herausgefunden, dass das
Peptidhormon Vasopressin die Aktivität in Are
alen des zingulären Kortex drosselt und die Rück
kopplungsschleife mit der Amygdala fördert. So
wohl Risiko- als auch Schutzfaktoren beeinflus
sen demnach gemeinsam diesen Schaltkreis.
Die entscheidende nächste Frage lautet nun:
Was für Ursachen stecken hinter der beson
deren Stressverarbeitung bei Städtern? Wir wis
sen jetzt zwar, wie das Stadtleben das Risiko für
psychische Erkrankungen steigern kann, nicht
jedoch warum. Dass der pACC-Amygdala-Schalt
kreis insbesondere in der Jugend sehr empfind
lich auf Stress reagiert, zeigten bereits Tier
Hirnregion sehr eng mit der Amygdala ver versuche: 2003 fand die Arbeitsgruppe von Ka
knüpft. Anscheinend besteht zwischen beiden tharina Braun von der Universität Magdeburg
Arealen eine Rückkopplungsschleife, welche die heraus, dass sich die Verknüpfungen der Ner
Amygdala hemmt und insbesondere für die venzellen im Zingulum von Strauchratten (Oc-
Verarbeitung negativer Emotionen eine wich todon degus) nachhaltig veränderten, wenn die
tige Rolle spielt. Offensichtlich sind wir hier auf Tiere kurz nach der Geburt durch Isolation ge
einen Regelkreis gestoßen, der durch die Geburt stresst wurden.
und das Leben in einer Großstadt beeinflusst Wir vermuten deshalb, dass die erhöhte Ak
werden kann. tivität der besagten Hirnregionen nicht nur das
Risiko für psychische Erkrankungen steigert –
Schutzfaktor Freundeskreis soziale Stressfaktoren in der Stadt könnten viel
Durch Vergleich der Tomografiedaten konnten mehr selbst die eigentliche Ursache für diese
wir die »funktionelle Konnektivität« abschät Veränderungen sein. Der Nachweis hierfür steht
zen, also wie weit die beiden Hirnareale funktio aber noch aus. Wir müssen daher die jeweiligen
nell miteinander verknüpft waren. Wieder war Umweltfaktoren, mit denen Stadtmenschen
der Regelkreis umso stärker beeinträchtigt, je konfrontiert sind, wie mangelnde Grünflächen,
länger die Probanden in einer Stadt aufgewach Lärm oder soziale Fragmentierung, genau erfas
sen waren. Eine ähnlich gestörte Rückkopplung sen und die Daten mit den Resultaten aus Tests
zwischen pACC und Amygdala hatten wir zu mit bildgebenden Verfahren kombinieren.
sammen mit der Arbeitsgruppe von Daniel Ein solcher Forschungsansatz könnte weit
Weinberger vom National Institute of Mental reichende Folgen haben: Bis zu jede dritte Schi
Health 2005 bei Menschen gefunden, die auf zophrenieerkrankung ließe sich vermeiden,
Grund eines veränderten Gens für den Seroto wenn mehr Menschen in ländlicher Umgebung
nintransporter 5-HTT schlechter mit negativen zur Welt kämen. Um das zu realisieren, dürfte es
Lebenserfahrungen umgehen können (siehe auf dem Land allerdings rasch voll werden!
auch G&G 9/2007, S. 52). Das Zusammenwirken Wir müssen stattdessen den Lebensraum
von Genen und Umwelt dürfte für das Risiko, an Stadt so planen und gestalten, dass er für die
seelischen Erkrankungen wie Depression und psychische Gesundheit möglichst förderlich ist.
quellen Schizophrenie zu leiden, ausschlaggebend sein. Hierdurch könnten wir gesündere Lebens
Lederbogen, F. et al.: City Li- Es gibt jedoch auch schützende Mechanis welten schaffen und dabei endlich auch das ei
ving and Urban Upbringing men, die sich auf diesen Hirnkreislauf auswir gentliche Ziel jeglicher Psychiatrie anvisieren:
Affect Neural Social Stress ken. So entdeckten Wissenschaftler um Lisa schwer wiegende psychische Störungen wie De
Processing in Humans. In: Feldman Barrett vom Massachusetts General pression oder Schizophrenie nicht nur zu be
Nature 474, S. 498 – 501, 2011 Hospital in Charlestown (USA) 2011, dass das per handeln, sondern den Ausbruch solcher Erkran
Kernspintomografie gemessene Volumen der kungen zu verhindern. Ÿ
Weitere Quellen im Internet: Amygdala mit der Größe des Freundes- und Be
www.gehirn-und-geist.de/ kanntenkreises ansteigt. Ein gut ausgebautes Der Mathematiker und Psychiater Andreas
artikel/1128839 soziales Netz kann wiederum bekanntermaßen Meyer-Lindenberg ist Direktor des Zentralinstituts
vor seelischen Störungen bewahren – und gerade für Seelische Gesundheit in Mannheim.
Letztes Mittel
Bis heute dürfen psychiatrische Einrichtungen Patienten einsperren, sie ans Bett
binden oder ihnen gegen ihren Willen Medikamente verabreichen. Was solche
Zwangsmaßnahmen bewirken und wie oft Klinikmitarbeiter sie einsetzen, ist noch
relativ schlecht erforscht. Das wollen Ärzte und Patienten nun ändern.
1 Zwangsmaßnahmen
in der Psychiatrie
erlaubt der Gesetzgeber
rungsinstrumente betrachten und am liebsten
ins Museum verbannen würden; auf der ande
Isolierung besteht darin, den Patienten in einen
leeren, reizarmen Raum einzusperren, nur mit
ren Seite das Personal von psychiatrischen Ein einer Matratze und einer Decke ausgestattet.
nur im Notfall und wenn richtungen, das Zwangsmaßnahmen an Patien
alle anderen Mittel ver- ten als notwendige, wenn auch unschöne Reali Schockierender Mangel an Daten
sagt haben. tät ansieht, mit der man professionell umgehen Wie oft greifen Klinikmitarbeiter auf solche
2 Zu der Frage, wann müsse. »Wir würden es begrüßen, wenn die Psy Maßnahmen zurück? Warum und unter wel
und wie oft das chiatrie gewaltfrei wäre. Doch Aggression und chen Umständen? Im Jahr 2000 führten Wis
medizinische Personal sie Gewaltausbrüche von Patienten lassen sich senschaftler um Eila Sailas von der Universität
einsetzt, wie sie wirken nicht vollständig vermeiden«, erklärt Tilman Helsinki (Finnland) eine große Metastudie zu
und welche Alternativen Steinert, Psychiater und Leiter der Forschungs diesen Fragen durch und stellten fest, dass es
es gibt, existieren noch abteilung am Zentrum für Psychiatrie (ZfP) Süd keine kontrollierten klinischen Studien gab –
relativ wenige Untersu württemberg. Patientenvertreter wenden ein, ein schockierender Mangel an Daten. Erst da
chungen. Bisherige dass Zwangsmaßnahmen in der Psychiatrie zu nach rückten Zwangsmittel in der Psychiatrie in
Befunde zeigen, dass Traumatisierungen führen können, die lebens den wissenschaftlichen Fokus. Viele Studien
Zwang teils unzulässig lang wirken, und werfen die Frage auf, ob eine sind jedoch wenig aussagekräftig, weil sie nur
ausgeübt wird. gewaltfreie Psychiatrie nicht doch möglich sei eine kleine Zahl von Teilnehmern einschließen.
(siehe Kasten S. 61). »Generelle Aussagen über die Situation in
3 Pflegekräfte, Psycho-
logen und Ärzte ar-
beiten an neuen Vorge-
Was versteht man unter Zwangsmaßnah
men in der Psychiatrie? »Alles, womit der Pati
Deutschland sind schwierig – vor allem, weil es
keine systematische, gesetzlich geregelte Daten
ent im weiteren Sinn nicht einverstanden ist«, erhebung gibt, aber auch, weil sich die Psychiat
hensweisen für den klini- erläutert Steinert. Dazu zählt, wenn es dem Pa riegesetze in den 16 Bundesländern sehr vonei
schen Alltag, die helfen tienten verboten ist, die Station zu verlassen, nander unterscheiden«, sagt Steinert. Im Klinik
sollen, Dauer und Häufig- oder wenn das Personal durch Zureden psycho verbund des ZfP Südwürttemberg ermittelte er
keit von Zwangsmaß logischen Druck aufbaut, damit er seine Medi einen Anteil von acht Prozent aller Patienten,
nahmen zu reduzieren. kamente nimmt. Als äußerste Mittel gelten die die im Zuge der Behandlung fixiert und isoliert
Fixierung und die Isolierung. Bei der Fixierung wurden – im Durchschnitt jeweils knapp sieben
binden Pflegekräfte, meist auf ärztliche Anwei Stunden lang. »Diesbezüglich liegen wir in Eu
sung hin, aggressive oder bedrohlich wirkende ropa ungefähr im Mittelfeld«, schätzt Steinert.
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Zwangsmaßnah- gischen Kliniken. »Ältere und demente Men von Tilman Steinert. Der Anteil an aggressiven
schen kommen nachts oft nicht zur Ruhe und Patienten erhöht sich aber auf sieben Prozent,
men betreffen in wollen ihr Bett verlassen; sie werden vom Perso wenn man Drohungen, Sachbeschädigungen
Deutschland vor nal mit Bauchgurten festgebunden, damit sie und Selbstverletzungen einschließt.
allem ältere und nicht aus dem Bett stürzen und sich verletzen.« Aufschlussreich ist eine Studie, die Forscher
um Alice Keski-Valkama vom Vanha Vaasa Hos
demente Patienten Attacken von Patienten sind selten pital in Finnland 2010 veröffentlichten. Die
Ebenfalls stark von Zwangsmaßnahmen betrof Wissenschaftler untersuchten die Gründe, aus
fen sind Patienten mit akuten Psychosen und denen Psychiatriepatienten in Finnland isoliert
Manien, die durch wahnhaftes Verhalten auffal oder fixiert werden. Hierzu werteten sie Patien
len. Doch sind sie deshalb gefährlich? »Über die tenakten von 668 Fällen aus allen psychiat
gesamte Lebenszeit betrachtet ist ihr Risiko, ge rischen Kliniken des Landes aus, und zwar über
walttätig zu werden, etwa so groß wie bei jun einen Zeitraum von 15 Jahren. Das Ergebnis: In
gen, gesunden Männern«, sagt Steinert. »Wäh etwa jedem zweiten Fall begründete das Klinik
rend akuter Psychosen muss man aber von personal die Zwangsmaßnahme mit einer Er
einem erhöhten Risiko ausgehen, bis eine wirk regung und Desorientierung des Patienten.
same Behandlung eingesetzt hat.« Zudem Gemeint waren damit rastloses Umherirren,
könnten verzerrte Wahrnehmungen zu Aggres verwirrtes und fahriges Verhalten oder verbale
Abgeschnitten sionen führen: »Wenn ein Patient an Verfol Aggressionen. Deutlich seltener, nämlich in
Eines der äußersten Zwangs- gungsangst leidet und glaubt, dass ihm das Per jedem vierten bis fünften Fall, notierten die
mittel in psychiatrischen Ein- sonal Böses will, kann es vorkommen, dass er Mitarbeiter körperliche Gewalt. Gewaltandro
richtungen ist die Isolierung. sich zur Wehr setzt.« hung oder Sachbeschädigung vermerkten die
Dabei werden die Patienten in Direkte Attacken von psychisch Kranken auf Akten nur bei jedem zehnten beziehungsweise
einen leeren, reizarmen Raum Klinikmitarbeiter sind allerdings eher selten. zwanzigsten Patienten.
eingeschlossen. Die Aufnahme Zwei Prozent der Patienten aus vier untersuch- Kritisch hieran sei vor allem, dass erregtes
entstand am Zentrum für ten Kliniken haben Pfleger, Ärzte oder Mitpa und desorientiertes Verhalten nicht zuverlässig
Psychiatrie Südwürttemberg. tienten direkt angegriffen, ergab eine Studie vorhersage, ob der Patient wirklich gefährlich
werde, urteilen Keski-Valkama und ihre Kolle
gen. Die Wissenschaftler vermuten zudem,
dass Klinikmitarbeiter manchmal subjektiv
entscheiden oder Zwang als Strafe einsetzen:
Patienten, die das Personal attackiert hatten,
wurden doppelt so lange isoliert oder fixiert
wie Patienten, die andere Patienten angriffen.
»Die klinische Praxis weicht von den theore
tischen und gesetzlichen Begründungen für
Zwangsmaßnahmen ab und ist zu offen für
subjektive Einschätzungen«, resümieren die
Autoren der Studie. Um dem abzuhelfen, müs
se das Personal besser geschult werden und kla
re, verständliche Anweisungen haben.
Die Mitarbeiter im Zentrum für Psychiatrie
Südwürttemberg trainieren Deeskalationstech
niken, wie Tilman Steinert erläutert. »Damit
wollen wir den Teufelskreis von Gewalt und
Zwang möglichst durchbrechen«, sagt der Psy
chatrieexperte. »Wenn Zwangsmaßnahmen
schon nicht vermeidbar sind, sollen sie so pro
fessionell wie möglich ablaufen.«
2009 erarbeitete Steinert zusammen mit
Mit frdl. Gen. von Tilman Steinert
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Welche Zwangsmaß- Bis in die 1990er Jahre hinein waren einige pien«, heißt es in einer Studie, die Gerard Ni
Experten durchaus davon überzeugt, dass man veau von der Université de Génève im Jahr
nahmen in der Psy- che Patienten einen medizinischen Nutzen da 2004 veröffentlicht hat und die sich auf Be
chiatrie angewendet von haben, wenn sie isoliert oder fixiert werden. richte der Antifolterkommission des Europa
werden und auf Dies geht etwa aus Übersichtsarbeiten hervor, rats stützt. Die Menschenrechtler haben zwi
die das damalige Fachwissen bündeln. In den schen 1990 und 2001 zahlreiche psychiatrische
welche rechtlichen Artikeln wird das Festbinden als wirksame Im Einrichtungen in Europa besucht und 78 Fälle
Grundlagen sie sich pulskontrolle bei psychotischen Patienten auf ausgewertet. Fazit: Dort, wo es an Mitarbeitern
stützen, unterschei- geführt. Nach einer solchen Maßnahme, hieß es oder an klaren Regeln für die Anwendung von
in der Fachliteratur, verhielten sich die Patien Zwangsmaßnahmen fehlt, sind die Bedin
det sich zwischen ten weniger aggressiv, mit dem Effekt, dass Rast gungen schlechter. Unzumutbar seien zum Bei
den europäischen losigkeit und Reizüberflutungen nachlassen spiel stickige und schmutzige Isolationsräume
würden. »Das ist heute nicht mehr Konsens«, mit unzureichenden sanitären Anlagen, rügt
Staaten enorm
betont Steinert. die Kommission. Entwürdigend seien auch
Viele Experten schienen damals kaum zu er Praktiken, bei denen psychisch kranke Men
wägen, dass kranke, verwirrte und ängstliche schen eingesperrt werden und keine Möglich
Menschen, die eingesperrt, festgebunden und keit haben, das Personal zu rufen, oder keine
allein gelassen werden, auch schwer traumati Auskunft erhalten, wie lange die Maßnahme
siert werden können. Anders lässt sich nur andauern soll.
schwer erklären, dass kaum Studien zu Trauma
tisierungen von Patienten vorliegen – während Gefesselt unter den Augen
Traumata bei Mitarbeitern, die von Patienten der anderen
angegriffen wurden, bereits Gegenstand meh Als die Antifolterkommission im Jahr 2005
rerer Untersuchungen waren. auch deutsche Kliniken untersuchte, bemängel
Wissenslücken gibt es nicht nur bei den Ri te sie in einer allgemeinpsychiatrischen Ein
siken und Nebenwirkungen, sondern auch bei richtung, dass dort mitunter sechs Patienten
möglichen Gegenanzeigen. Bei welchen Pati gleichzeitig fixiert wurden, von denen einige
enten verbietet es sich, Zwang auszuüben? »Me wegen Platzmangels auf den Flur geschoben
dizinisch nicht vertretbar ist es, sexuell miss wurden – ins offene Blickfeld der Mitpatienten.
brauchte Patienten der körperlichen Ohnmacht Dies verletzte die Privatsphäre schwer kranker
des Zwangs auszusetzen. Auch bei selbstmord und erregter Patienten, heißt es im Bericht der
gefährdeten Patienten ist dies kontraindiziert, Kommission, der im Internet zugänglich ist
weil eine Zwangsmaßnahme die Suizidgedan (www.cpt.coe.int/documents/deu/2007-18-inf-
ken verstärken kann«, sagt Steinert. deu.pdf). Der Anblick von festgebundenen Men
Trotz der Bemühungen um gute klinische schen könne auch für die Mitpatienten beun
Praxis gibt es vereinzelt ziemlich schlechte Bei ruhigend sein. Die heute noch in Deutschland
spiele. »Kein Land ist frei von irrigen Thera gängige Praxis, isolierte und fixierte Patienten
allein zu lassen und lediglich alle 15 bis 30 Minu
ten nach ihnen zu schauen, hält die Antifolter
groSSe schwankungen Angaben in Prozent kommission für Besorgnis erregend.
(Daten von 1998 – 2000)
30
Der Anteil der Psychia Sitzwachen seien eine bessere Lösung, meint
triepatienten, die zwangs Tilman Steinert. Allerdings brauche man dafür
21,6
13,5
12,5
12,1
10,9
innerhalb Europas erheb- »Wenn nur zwei Pflegekräfte auf Station sind
lich. Forscher des Zentral und eine als Sitzwache abgestellt wird, dann ver
5,8
4,6
3,2
ien
h
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veröffentlicht.
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Por
der
Fin
rita
Öst
Fra
Dä
Lux
ßb
De
quellen
Kallert, T. et al.: Coercive
Treatment in Psychiatry: Clini-
cal, Legal and Ethical Aspects.
Kritik von Patientenseite Wiley-Blackwell, 2011
Keski-Valkama, A. et al.: The
Die Diskussion um Zwangsmaßnahmen in psychiatrischen Einrichtungen wird von Betroffe- Reasons for Using Restraint
nen intensiv geführt. »Kaum ein Thema erzeugt so viel Emotionen bei den Psychiatrie-Erfah- and Seclusion in Psychiatric
renen wie die Anwendung von Zwang und Gewalt in der Psychiatrie. Vor allem diejenigen, die Inpatient Care: A Nationwide
in diesem Zusammenhang Gewalt ausgesetzt waren, wissen, dass hier Traumatisierungen ent- 15-Year Study. In: Nordic
stehen können, die lebenslang wirken«, erklärt der Landesverband Psychiatrie-Erfahrener Ba- Journal of Psychiatrie 64, S.
den-Württemberg (LVPEBW), der dazu kürzlich einen Selbsthilfetag organisierte. »Spätestens 136 – 144, 2010
seit der Ratifizierung der UN-Behindertenrechtskonvention im Jahre 2009 handelt es sich hier Niveau, G.: Preventing Hu-
um Menschenrechtsverletzungen, die nicht geduldet werden dürfen. Die Frage ist nun, recht- man Rights Abuses in Psych
fertigen bestimmte Umstände die Anwendung von Zwang und Gewalt gegenüber Psychiatrie- iatric Establishments: The
Erfahrenen? Work of the CPT. In: European
Sei es bei Fremd- oder Selbstgefährdung oder auch bei dringender Behandlungsbedürftig- Psychiatry 19, S. 146 – 154,
keit aufgrund einer seelischen Erkrankung: Kann es eine gewaltfreie Psychiatrie geben und ist 2004
der Kampf für eine gewaltfreie Psychiatrie eine Vision oder eine Illusion? Die jüngsten Urteile Sailas, E., Fenton, M.: Seclu
des Bundesverfassungsgerichts setzen zu Recht hohe Hürden gegenüber der Ausübung von sion and Restraint for People
Zwang und Gewalt gegen Psychiatrie-Erfahrene.« with Serious Mental Ill-
Der Verband hat angekündigt, zum Thema ein überarbeitetes Positionspapier herauszuge- nesses. In: Cochrane Data
ben. Weitere Informationen im Internet: www.psychiatrie-erfahrene-bw.de oder unter der Tele- base of Systematic Reviews,
fonnummer 0711 76160702 CD001163, 2000
Salize, H. J., Dressing, H.: Epi-
demiology of Involuntary
Ärzte und Pflegekräfte eine Woche lang in einer in der Zwangssituation mitentscheiden zu las Placement of Mentally Ill
Klinik in Großbritannien hospitiert hatten, sen, was zur Entschärfung der Situation beitra People Across the European
stellten sie ihre Erfahrungen in dem »Arbeits gen kann. Mit einer solchen Technik ist es viel Union. In: The British Journal
kreis zur Prävention von Gewalt und Zwang in leicht möglich, die therapeutische Beziehung of Psychiatry 184, S. 163 – 168,
der Psychiatrie« vor, den Steinert leitet. Kolle zum Patienten aufrechtzuerhalten«, sagt Stei 2004
gen, die in Deeskalationstechniken trainiert wa nert. »Wenn Häufigkeit und Dauer von Fixie Steinert, T. et al.: A Rando-
ren, entwickelten daraus eine neue, an deutsche rungen dadurch vermindert werden könnten, mized Controlled Compari-
Verhältnisse angepasste Technik. »Während der wäre dies ein wichtiger Schritt hin zur weiteren son of Seclusion and Mecha-
Patient damit festgehalten wird, versuchen die Humanisierung in der Psychiatrie.« Ÿ nical Restraint in Inpatient
Pfleger im Gespräch verbal zu deeskalieren und Settings. In: Psychiatric Ser-
dabei den Patienten in Entscheidungen einzu Susanne Rytina ist freie Wissenschaftsjournalistin vices 62, S. 1310 – 1317, 2011
binden. Das ist ein Versuch, den Patienten noch und lebt in Altbach bei Stuttgart.
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hirnforschung ı gewohnheiten
Abendritual
Für viele gehört ein Snack zum
Fernsehen dazu. Der Ge-
schmack spielt dabei oft nur
eine untergeordnete Rolle.
1
werks solche Pläne geschmiedet. Doch oft bleibt Hälfte der notierten Aktivitäten immer wieder Die meisten Men-
es dabei. So fest wir uns manche Dinge auch am selben Ort ausgeübt wurde. schen glauben, ihr
vornehmen – nicht selten verharren wir im üb- Ist also der Kontext entscheidend? Dieser Verhalten sei durch
lichen Trott, und die glänzenden Vorsätze ver- Frage ging das Team um Wood 2005 nach. Die bestimmte Absichten mo-
blassen. Wissenschaftler befragten Studenten vor und tiviert.
»Gewohnheit heißt die große Lenkerin des nach dem Umzug an ein neues College über be-
Lebens«, wusste schon der englische Philosoph
Francis Bacon (1561 – 1626). »Daher sollen wir
stimmte Gewohnheiten wie Zeitunglesen. Die
Teilnehmer sollten etwa angeben, unter wel-
2 Laut Psychologen
trifft das aber nur für
Tätigkeiten zu, die man
uns auf alle Weise erstreben, gute Gewohn- chen Bedingungen und an welchen Orten sie zu
noch nicht automatisiert
heiten einzuimpfen.« Will man aber ungeliebte diesen Routinen neigten und ob sie diese auch
hat. Je häufiger sie
Laster ablegen, lohnt sich ein genauer Blick da- weiterhin pflegen wollten. Sie gaben zudem
wiederholt werden, desto
rauf, wie sie entstehen. Auskunft darüber, ob sich die Umstände be-
mehr verblasst das
Die Gesundheitspsychologin Philippa Lally stimmter Verhaltensweisen geändert hatten.
ursprüngliche Ziel, und
und ihre Kollegen vom University College in Führten die Probanden ihre alten Routinen
der Kontext wird wich-
London erforschten 2010, wie wiederholtes Ver- am neuen College fort oder krempelten sie ih-
tiger.
halten allmählich in Fleisch und Blut übergeht. ren Alltag völlig um? Anhand statistischer Mo-
Dazu baten die Forscher rund 100 Probanden,
sich zu überlegen, was sie sich gerne zur Ge-
wohnheit machen würden – etwa Obst zum
delle berechneten die Forscher, welche Faktoren
die Gewohnheiten besonders beeinflussten. 3 An der Gewohnheits-
bildung sind vor allem
Bereiche der Basalgang
Nachtisch zu verzehren. Sodann war Disziplin Entscheidender Kontext lien unterhalb der Groß-
gefragt, denn die Teilnehmer sollten der ge- Tatsächlich brachte der Umzug die Versuchs- hirnrinde beteiligt – ins-
wählten Tätigkeit mehr als 80 Tage lang täglich personen aus dem Trott – allerdings nur dann, besondere das Striatum.
nachgehen. Die Freiwilligen loggten sich jeden wenn sich das Umfeld stark verändert hatte. Das
Tag auf einer Website ein und gaben an, ob sie zeigte sich vor allem beim Sport: Einige Befragte
ihr Programm vorbildlich abgespult hatten. Auf hatten die Angewohnheit, sich an ihrer alten
einer Skala sollten sie zudem einschätzen, wie Uni im Fitnessstudio auszupowern. Wenn sich
stark automatisiert ihnen das entsprechende ihnen diese Möglichkeit nun nicht mehr in glei-
Verhalten inzwischen erschien. cher Weise bot, war die sportliche Ertüchtigung
Wenig überraschend wurde die jeweilige Tä- bald Vergangenheit. Soziale Aspekte wirkten
tigkeit für die Probanden im Lauf der Zeit im- sich besonders auf das Zeitunglesen aus: Hatten
mer mehr zur Routine. Eine Sache zum ersten einige Studenten zuvor regelmäßig gemein-
Mal zu machen, erfordere stets eine bewusste sam mit Kommilitonen in den neuesten Maga-
Absicht, erläutern die Forscher um Lally. Wie- zinen geschmökert, gaben sie diese Routine am
derhole man die Handlung dann immer wieder, ehesten auf, wenn es ihnen fortan an Mitlesern
werde sie allmählich mit weniger gedanklicher mangelte.
Kontrolle ausgeführt. Das knüpfe mental eine »Die meisten Menschen denken, Verhalten
enge Verbindung zwischen dem Umweltreiz, orientiere sich an bestimmten Zielen – und das
der als Auslöser diene, und der darauf folgenden tut es auch, wenn man etwas zum ersten Mal
Handlung. macht«, erläutert Wendy Wood. Aber je öfter es
Laut psychologischen Modellen basieren Ge- wiederholt werde, desto stärker sei es durch be-
wohnheiten auf dem so genannten assoziativen stimmte Reize aus der Umgebung geleitet. Ab-
Lernen. Dabei werden räumlich und zeitlich ge- sichten würden dann immer weniger wichtig.
meinsam auftretende Ereignisse durch Wieder- »Wir gehen täglich zum Snackautomaten oder
holung in der Erinnerung verknüpft. Bestimmte zum Fastfood-Imbiss gegenüber, nicht weil das
Signale lösen das verinnerlichte Verhalten dann Essen so toll ist, sondern weil wir es uns schlicht
automatisch aus. irgendwann angewöhnt haben.« Mehr zum thema
Doch welche Reize genau sind das? Wir wie- 2009 ging ein Forscherteam um den Psycho- > Routine am Glimmstängel
derholen viele alltägliche Tätigkeiten meist in logen David Neal von der Duke University der Neurobiologische Grund
einem ganz bestimmten Kontext – an einem Sache auf den Grund. Probanden sollten auf lagen der Nikotinsucht (S. 68)
speziellen Ort, zu einer gewohnten Zeit, in ge- einer Skala angeben, wie sehr bestimmte Ab-
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»Wir gehen täglich sichten – etwa überschüssige Pfunde loszuwer- Laufen zwar mit dem sportlichen Kontext asso-
den – entscheidend seien für Aktivitäten wie ziiert, nicht aber mit ihren Absichten.
zum Snackauto- Joggen oder Joga. Tatsächlich glaubten die Frei- Welchen Einfluss Absichten und Kontext auf
maten oder zum willigen umso mehr, ihr Tun sei durch ihre Ziele das tatsächliche Routineverhalten haben, sollte
Fastfood-Imbiss motiviert, je stärker ihre Gewohnheiten waren. ein weiteres Laborexperiment klären. Neal und
Ein anderes Bild ergab sich allerdings, als seine Kollegen suchten zunächst eine einfache
gegenüber, nicht Neal und seine Kollegen das »Unterbewusst- Gewohnheit aus, die sich im Labor leicht beein-
weil das Essen so toll sein« der Freiwilligen anzapften. In einem spe- flussen lässt: Menschen, die regelmäßig ein Foot-
schmeckt, sondern ziellen Test ließen sie die Probanden Wörter wie ballstadion besuchen, neigen möglicherweise in
»Joggen« von Pseudowörtern unterscheiden. diesem Umfeld dazu, besonders laut zu spre-
weil wir es uns Zuvor blitzten auf dem Bildschirm Begriffe chen. Daher brachten die Forscher die Proban-
schlicht irgendwann auf, die nach wenigen Millisekunden wieder den durch Priming in die »richtige Stimmung«,
verschwanden, so dass die Versuchspersonen indem sie ihnen während einer Aufgabe neben-
angewöhnt haben«
sie nicht bewusst wahrnahmen. Durch dieses so bei Fotos von Stadien vorführten. Alternativ be-
Wendy Wood, Psychologin
an der Duke University in genannte Priming beeinflussten die Forscher, kamen die Versuchspersonen verschiedene Kü-
Durham (USA) wie die Teilnehmer die Zielwörter mental ver chen zu sehen. Unbewusst auf die Atmosphäre
arbeiteten. Die Idee dahinter: Assoziierten die in einem Sportstadion eingestimmt, sprach ein
Probanden die unterschwellig wahrgenom- Teil der Probanden tatsächlich lauter – allerdings
menen Begriffe mit den Zielwörtern, sollte es ih- nur diejenigen, die in den letzten Monaten regel-
nen leichterfallen, diese zu erkennen. Wäre die mäßig solche Sportstätten aufgesucht hatten.
Gewohnheit zu joggen tatsächlich von den sub-
jektiven Absichten der Probanden bestimmt, Sieben Tage altes Popcorn
müsste es im Gedächtnis der Probanden folg- Auch ein Feldexperiment bestätigte dieses Er-
lich eine Verknüpfung zwischen der Absicht gebnis. In einem Kino auf dem Unicampus sa-
und der Tätigkeit geben. Ein unbewusst wahr hen sich Versuchspersonen verschiedene Film-
genommenes Wort wie »Gewichtskontrolle« trailer an, angeblich um Persönlichkeitsunter-
müsste das Erkennen des Wortes »Joggen« also schiede in den cineastischen Vorlieben zu
beschleunigen. testen. Dabei griffen Probanden, für die Snacks
Das ernüchternde Resultat: Nur Wörter, die gewohnheitsmäßig zu einem Kinobesuch dazu-
das sportliche Umfeld betrafen wie »Feld« oder gehörten, beherzt selbst zu beinahe ungenieß-
»Turnhalle«, ließen die Probanden schneller re- barem, sieben Tage altem Popcorn. Ihr Verhal-
agieren. Offenbar war in ihrem Gedächtnis das ten widersprach damit der zuvor bekundeten
Absicht, die Knabberei nur aus geschmack-
lichen Gründen zu essen.
Um den Irrglauben ihrer Probanden zu erklä-
ren, griffen die Forscher auf die Selbstwahrneh-
mungstheorie des Psychologen Daryl Bem zu-
rück. Demnach suchen Menschen oft nach inne-
ren Motiven, um ihr Verhalten zu erklären, selbst
wenn es von äußeren Faktoren ausgelöst wird.
Am Beginn einer Gewohnheit wie Joggen möge
also durchaus eine Absicht wie etwa der Wunsch
abzunehmen gestanden haben. Wenn es erst ein-
mal zu einem Ritual geworden sei, spiele das ur-
sprüngliche Ziel jedoch kaum mehr eine Rolle.
Auch Tierexperimente legen einen ähnli
chen Schluss nahe: Wenn beispielsweise Ratten
ein bestimmtes Verhalten erlernen, um dafür
Tägliche JoggingRunde mit Futter belohnt zu werden, bestimmt zu-
Regelmäßig zu joggen erfordert nächst diese Absicht ihr Handeln. Sobald sie satt
weniger Selbstdisziplin, als es sind, fehlt die Motivation, und sie lassen vonih-
scheint: Meist verschwindet der
Fotolia / Bernd Leitner
Thalamus
Nucleus
subthalamicus
Substantia
Hippocampus nigra
Gehirn&Geist / MEGANIM
Das bemerkten auch der Psychologe Mark entdeckte, dass das Verhalten der ȟbertrai- automatikgetriebe im kopf
Packard und sein Team von der Texas A&M Uni- nierten« Ratten flexibel blieb, wenn die For- Die Basalganglien unterhalb
versity in College Station, als sie Ratten darauf scher das Striatum der Nager lokal betäubten. der Großhirnrinde spielen eine
trainierten, in einem Labyrinth eine Belohnung Dieses Areal gehört zu den Basalganglien, einer wichtige Rolle bei der Gewohn-
zu finden. Wechselten sie später den Startpunkt Reihe von Kernen, die sich unterhalb der Groß- heitsbildung. Das Striatum und
der Futtersuche, zeigten sich die Nagetiere flexi- hirnrinde befinden (siehe Grafik oben). Dem- der Thalamus erhalten Input
bel und steuerten trotz veränderter Route ge- nach ist das Striatum offenbar am Erlernen von der Substantia nigra, deren
mäß bestimmter Hinweisreize auf die Beloh- fester Routinen beteiligt. Zellen bei der Parkinsonkrank-
nung zu. Wiederholte man die Prozedur zu oft, heit zu Grunde gehen. Deshalb
wurde ihr Verhalten starr, und sie schlugen Flexible Gedächtniszentrale haben die Betroffenen oft
trotz veränderten Ausgangspunkts stets den Schalteten Packard und Kollegen hingegen den Probleme mit automatisierten
gleichen Weg ein. Hippocampus aus, einen Teil des Temporallap- Handlungsabläufen.
Wie Packard und der Psychologe Russell pens, der elementar für das Langzeitgedächtnis
Poldrack von der University of California in Los ist, kehrte sich das Bild um. Die Nager schlugen
Angeles annehmen, sind zwei verschiedene schon nach kürzester Trainingszeit stur den
Lern- und Erinnerungssysteme hierfür verant- gleichen Weg ein. Anscheinend ist der Hippo-
wortlich. So genanntes deklaratives Wissen be- campus wichtig für flexibles Verhalten.
zieht sich auf Fakten und Ereignisse. Man kann Ähnliches belegen auch Experimente an
es sehr schnell erwerben und flexibel auf neue menschlichen Probanden. Die Psychologin Bar-
Situationen anwenden. Gewohnheiten hinge- bara Knowlton und ihr Team von der University
gen basieren auf so genanntem prozeduralem, of California in Los Angeles baten 1996 zwei un-
implizitem Wissen, das sich auf Handlungsab- terschiedliche Gruppen von Versuchspersonen
läufe bezieht und oft nicht sprachlich erfasst ins Labor. Die einen litten auf Grund eines ge-
werden kann. Es entsteht, wenn im Gedächtnis schädigten Hippocampus unter Amnesie, die
allmählich ein Reiz fest mit einer bestimmten anderen an der Parkinsonkrankheit. Bei Letz
Reaktion verknüpft wird. terer sterben Nervenzellen in der Substantia
Welche Hirnregionen liegen diesen beiden nigra ab (siehe Grafik oben), welche Informatio-
Systemen zu Grunde? Das Team um Packard nen an das Striatum weiterleitet. Die Freiwilli-
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quellen gen sollten lernen, das Wetter »vorherzusagen«. Es scheint also wenig Sinn zu machen, bei
Knowlton, B. J. et al.: A Neo Als Hinweise dienten gemusterte Spielkarten, seinen persönlichen Zielen anzusetzen, wenn
striatal Habit Learning Sys die mit einer gewissen Wahrscheinlichkeit ein man mit alten Gewohnheiten brechen will. Das
tem in Humans. In: Science bestimmtes Wetter andeuteten. Die Forscher bestätigte auch eine Metaanalyse von Thomas
273, S. 1399 – 1402, 1996 zeigten den Teilnehmern jeweils eine Karten- Webb von der University of Manchester und
Lally, P. et al.: How are Habits kombination und fragten sie, ob eher die Sonne Paschal Sheeran von der University of Sheffield
Formed: Modelling Habit For scheinen oder ob es regnen werde. in Großbritannien von 2006. Die Psychologen
mation in the Real World. In: werteten rund 50 Studien aus, in denen For-
European Journal of Social Wie wird das Wetter? scher versucht hatten, durch Interventionen
Psychology 40, S. 998 – 1009, Den Zusammenhang zwischen den Karten und persönliche Ziele und Verhaltensweisen von
2010 dem Wetter zu erkennen, erforderte langsames, Probanden zu ändern.
Poldrack, R. A. et al.: Striatal unbewusstes Lernen über viele Versuche hin- Ergebnis: Den Versuchsleitern war es zwar
Activation During Acquisi weg – ein Fall für das Striatum. Den Parkinson gelungen, die Absichten der Freiwilligen zu
tion of a Cognitive Skill. In: patienten bereitete die Aufgabe daher große modulieren. Deren Verhalten blieb aber wie ge-
Neuropsychology 13, S. 564 – Probleme. Die Probanden mit dem geschä habt – zumindest, wenn sie es zuvor regelmäßig
574, 1999 digten Hippocampus hatten hingegen keine in einem stabilen Kontext wiederholt hatten. So
Poldrack, R. A., Packard, M. G.: Schwierigkeiten. Sie mussten allerdings passen, erkannten sie zwar durchaus die Notwendigkeit,
Competition among Multiple wenn das deklarative Gedächtnis gefordert war. sich gesünder zu ernähren; auf ihre Essgewohn-
Memory Systems: Conver So konnten sich einige von ihnen irgendwann heiten hatte das allerdings wenig Einfluss. Wur-
ging Evidence from Animal nicht mehr daran erinnern, welche Karten beim den die Versuchspersonen hingegen von den
and Human Brain Studies. In: Experiment verwendet wurden. Vorzügen einer Grippeimpfung überzeugt (ein
Neuropsychologia 41, S. 245 – Den gleichen Test nutzte ein Team um Rus- Verhalten, das nicht automatisiert ist), so änder
251, 2003 sell Poldrack 1999 in einer bildgebenden Studie. ten sie ihre Absichten und ließen sich tatsäch-
Webb, T. L., Sheeran, P.: Does Darin konnte er bestätigen, dass das Striatum lich impfen.
Changing Behavioral Inten tatsächlich während des unbewussten Lernens Wer alte Gewohnheiten ablegen will, muss
tions Engender Behavior aktiver war als bei einer Kontrollaufgabe. vor allem den Kontext verändern, rät Wendy
Change? A Meta-Analysis of Die Basalganglien kommen offenbar auch Wood. Jemand, der beispielsweise kein Fastfood
the Experimental Evidence. dann verstärkt zum Zug, wenn einfache motori mehr essen möchte, solle etwa von seiner ge-
In: Psychological Bulletin 132, sche Tätigkeiten durch Wiederholen allmählich wohnten Fahrroute abweichen, die ihn norma-
S. 249 – 268, 2006 zur Gewohnheit werden. Das zeigten Messun lerweise an entsprechenden Schnellrestaurants
Wood, W. et al.: Changing Cir gen per funktioneller Magnetresonanztomo- vorbeiführt. »Man muss den auslösenden Reiz
cumstances, Disrupting Ha grafie (fMRT). Gleichzeitig fährt der präfrontale abstellen«, erklärt Wood. »Das Schwierigste aber
bits. In: Journal of Personality Kortex seine Aktivität herunter – ein Areal, das ist es, ihn zu erkennen.« Ÿ
and Social Psychology 88, S. sich regt, wenn wir Absichten kontrollieren und
918 – 933, 2005 Pläne schmieden (siehe auch Artikel ab S. 44 in Christian Wolf ist promovierter Philosoph und
diesem Heft). arbeitet als freier Wissenschaftsjournalist in Berlin.
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Routine am Glimmstängel
Nikotinsucht entsteht im Gehirn. Doch nicht nur in den neuronalen
Suchtzentren offenbart sich das Laster: Der regelmäßige Griff zur Zigarette
hinterlässt auch Spuren in sensorischen und motorischen Hirnregionen,
wie Yavor Yalachkov, Jochen Kaiser und Marcus J. Naumer von der Universität
Frankfurt berichten.
North Carolina) nikotinsüchtigen Versuchsper- Wie zu erwarten, entschieden sich die Teil- Geübter Qualmer
sonen im MRT-Scanner entweder Fotos ty- nehmer bevorzugt für den Kreis, der zuvor das Wer sich mehrmals täglich
pischer Rauchszenen – etwa von einer Hand, die meiste Geld eingebracht hatte. Interessanter- eine Zigarette anzündet,
eine Zigarette hält – oder aber vergleichbare weise spiegelte sich dieses Verhalten aber auch beherrscht die entsprechenden
»neutrale« Bilder, zum Beispiel von einer Hand in ihrer Hirnaktivität wider: Der Bereich der Handgriffe blind. Das spie-
mit Schreibutensil. Ergebnis: Die mit der Sucht Sehrinde, der den »attraktiveren« Stimulus ver- gelt sich auch in der Hirnakti
verbundenen Motive aktivierten die klassischen arbeitete, war stärker aktiviert als die Region, die vität wider.
»Belohnungszentren« wie das ventrale tegmen- Input von dem anderen Kreis erhielt.
tale Areal deutlich stärker. Vermutlich ist der visuelle Kortex nicht das
Aber nicht nur Emotionsareale spielen bei einzige sensorische Areal, das besonders emp-
Nikotinsucht eine Rolle. Wie die Forschergruppe findlich auf Suchtreize reagiert. Schließlich re-
um Arthur Brody an der University of California gistrieren wir sie auch noch über andere Sinne:
in Los Angeles 2007 feststellte, ist auch der sen- Wir riechen den Zigarettenrauch, fühlen das
sorische Kortex daran beteiligt, genauer gesagt kühle Metall des Feuerzeugs oder hören das Ra-
Bereiche der Sehrinde. Möglicherweise verar- scheln der Zigarettenschachtel.
beitet das Gehirn von Süchtigen Bilder, die mit Unsere Arbeitsgruppe beschäftigt sich mit Au f e i n e n B l i c k
dem Drogenkonsum assoziiert sind, schlicht in- der Frage, wie das Gehirn visuelle und haptische
tensiver. Außerdem hängt die Stärke der neu Informationen über Suchtreize verarbeitet und
Gewohnter Griff
ronalen Antwort vom Ausmaß des Verlangens miteinander »verrechnet«. Eine solche multi- zur Kippe
1
ab: Je größer es ist, desto aktiver der visuelle sensorische Integration ist entscheidend für das Neben den klas-
Kortex. Vielleicht ermöglicht es eine stärker er- Erkennen von Objekten. Ständig verknüpfen wir sischen Belohnungs-
regte Sehrinde den Betroffenen, die Suchtstoffe Signale aus verschiedenen Sinneskanälen; erst zentren des Gehirns
effizienter zu detektieren. Springt ihnen die Zi- dadurch erhalten wir ein einheitliches Bild von spielen auch sensorische
garettenschachtel besonders rasch ins Auge – ist unserer Umwelt (siehe auch G&G 7-8/2011, S. und motorische Areale
sie also sehr salient –, wird auch das Verlangen 62). Diese faszinierende Leistung des Gehirns eine wichtige Rolle bei
des Rauchers besonders schnell gestillt. wird von unseren Erfahrungen mit den ent Nikotinsucht.
sprechenden Reizen beeinflusst. Wie Tierexpe-
Empfänglich für Suchtreize
Offenbar gehen diese Effekte auf neurobiolo-
rimente und Studien mit menschlichen Pro
banden zeigten, kann man die multisensorische 2 So ist etwa der
visuelle Kortex eines
Nikotinabhängigen
gische Lernprozesse zurück, die gewöhnlich im Integration sogar trainieren. Das verstärkt die
Gehirn ablaufen. Das zeigte 2008 der Psycholo- neuronale Antwort auf die Stimuli und bewirkt, aktiver, wenn er mit dem
ge John T. Serences von der University of Califor- dass sie schneller wahrgenommen werden. Drogenkonsum assozi
nia in San Diego. Der Forscher ließ gesunde Ver- Ähnliches findet vermutlich auch bei Rau- ierte Bilder sieht. Offen-
suchspersonen im Hirnscanner einen Punkt auf chern statt: Der Anblick der Zigarettenschach- bar verarbeitet er solche
einem Bildschirm fixieren, während wiederholt tel, das Greifen nach der Zigarette, das Halten Reize intensiver.
3
links und rechts davon je ein rot und ein grün des Feuerzeugs in der anderen Hand – all das Auch Bewegungs
gemusterter Kreis erschien. Per Tastendruck sind Aspekte, deren Koordination auf einer effi- areale wie der prämo-
sollten die Probanden einen der beiden Stimuli zienten Integration multipler sensorischer In- torische Kortex werden
auswählen. Trafen sie die »richtige« Wahl, wur- formationen beruht. Über diese so genannte ob- bei Abhängigen durch
den sie mit Geld belohnt. Als »richtig« erwies jektspezifische multisensorische Erfahrung ver- Suchtreize aktiviert. Das
sich dabei mal die eine, mal die andere Farbe – fügen Nichtraucher dagegen nicht, da sie in fördert das Konsumver-
wobei einer der Stimuli besonders aussichts- ihrem Alltag Rauchutensilien zwar gelegentlich halten.
reich war. sehen, sie aber nur selten in der Hand halten.
www.gehirn-und-geist.de 69
Der Anblick der Um zu testen, ob sich dieser Unterschied hört, beeinflusst offenbar, wie das Gehirn die
auch in der Hirnaktivität widerspiegelt, zeigten entsprechenden Sinnesinformationen mitei-
Schachtel, das Grei-
wir Rauchern und Nichtrauchern, während sie nander verknüpft. Noch ist unklar, welche prak-
fen nach der Ziga- in der Tomografenröhre lagen, Bilder verschie- tische Bedeutung das für Menschen hat, die das
rette, das Halten des dener Objekte: zum einen Rauchutensilien wie Laster ablegen wollen. Möglicherweise ist die
Zigaretten und Aschenbecher, zum anderen schnelle und effiziente multisensorische Inte-
Feuerzeugs in der neutrale Objekte wie Stifte und Kremedosen. gration von Suchtreizen ein Grund, warum Ab-
anderen Hand – all Gleichzeitig hielten die Probanden die entspre- stinenzler so schnell rückfällig werden, sobald
das beruht auf einer chenden Dinge in ihren Händen, sie nahmen sie sie den Tabakgeruch in der Nase haben oder
also visuell und haptisch wahr. In manchen Be- eine Schachtel Zigaretten sehen.
effizienten Inte dingungen wiederum sahen sie nur die Fotos Wie wir 2009 feststellten, beeinflusst Niko-
gration multipler oder befühlten die Gegenstände. tinsucht jedoch nicht nur die Wahrnehmung.
Da Raucher immer wieder dieselben, beinahe
sensorischer
Erfolgreich verknüpft automatisierten Handgriffe ausführen, verän-
Informationen Besonders interessierte uns, wie der laterale ok- dert sich auch die Aktivität in Hirnregionen,
zipitale Komplex im Hinterhauptslappen (siehe die sich typischerweise regen, wenn wir Bewe-
Hirngrafik unten) auf die Sinneserfahrungen gungen planen oder ausführen sowie Werk-
reagiert. Dieses Areal ist unter anderem betei zeuge benutzen – darunter der prämotorische,
ligt, wenn wir Objekte oder Formen erkennen der superiore parietale und der mittlere fronta-
und visuelle mit haptischen Informationen ver- le Kortex sowie ein Bereich des mittleren tem-
knüpfen. poralen Kortex (siehe Hirngrafik unten).
Tatsächlich bemerkten wir, dass dieses Hirn- Wir zeigten Probanden im MRT-Scanner
gebiet linksseitig besonders aktiv war, wenn die neutrale oder mit Rauchen assoziierte Bilder,
Probanden die Gegenstände gleichzeitig sahen etwa Fotos rauchender Personen. Wie die fMRT-
und ertasteten. Anscheinend integrierte ihr Ge- Messungen offenbarten, aktivierten die Sucht-
hirn die Informationen aus beiden Sinneskanä- reize sensomotorische Areale wie den prämoto-
len. Die Kontrollobjekte erzeugten dieses Akti- rischen und den superioren parietalen Kortex
vitätsmuster sowohl bei Rauchern als auch bei bei Rauchern stärker als bei Nichtrauchern.
Nichtrauchern. Bei den Rauchutensilien sah das Auch in diesem Experiment regten sich die ent-
Ergebnis dagegen anders aus: Nur die Gehirne sprechenden Hirnregionen umso stärker, je ab-
von Rauchern verknüpften die haptischen und hängiger die Teilnehmer waren.
visuellen Reize erfolgreich. Und je abhängiger Bereits 1990 postulierte der Psychologe Ste-
die Raucher waren, desto stärker regte sich ihr phen Tiffany von der State University of New
lateraler okzipitaler Komplex. York, dass das Gehirn mit dem Rauchen assozi-
Die regelmäßige und intensive Beschäfti- iertes Verhalten als so genannte Handlungs-
gung mit dem Rauchen und allem, was dazuge- schemata kodiert. Sie beinhalten die moto-
prämotorischer Kortex
Schmachtzentren
Nikotinabhängigkeit verändert
nicht nur die klassischen Sucht-
schaltkreise des Gehirns. Sie
beeinflusst auch die Aktivität
sensorischer und motorischer
Areale – darunter die des
lateralen okzipitalen Komplex,
Gehirn&Geist / MEGANIM
quellen
Brody, A. L. et al.: Neural Sub
strates of Resisting Craving
during Cigarette Cue Expo
rischen Informationen, die es Rauchern erlau- motorischen Hirnregionen auf die Suchtreize. sure. In: Biological Psychiatry
ben, die entsprechenden Bewegungen effizient Diese haben offenbar tatsächlich die entspre- 62, S. 642 – 651, 2007
und schnell auszuführen. Sobald die Abläufe chenden Handlungsschemata aktiviert – Tiffa- Due, D. L. et al.: Activation in
zur Routine geworden sind, können konditio- nys Theorie scheint zu stimmen! Mesolimbic and Visuospatial
nierte Reize – wie etwa ein Feuerzeug oder eine Ähnliche Beobachtungen machten Forscher Neural Circuits Elicited by
Zigarettenschachtel – die Handlungsschemata auch bei anderen Suchtformen. So berichteten Smoking Cues: Evidence
aktivieren. Das, so Tiffanys Theorie, fördert wie- beispielsweise Thomas Kosten und seine Kolle- from Functional Magnetic
derum das Konsumverhalten: Die Betroffenen gen von der Yale University in New Haven (US- Resonance Imaging. In: Ame
zünden sich die nächste Zigarette an. Bundesstaat Connecticut) im Jahr 2006, dass rican Journal of Psychiatry
sich der motorische Kortex kokainabhängiger 159, S. 954 – 960, 2002
Zugreifen, bitte! Patienten regte, wenn sie einen Film über die Kosten, T. R. et al.: Cue-Indu
Wir überprüften Tiffanys Modell mit Hilfe eines Droge sahen. Mehr noch: Je aktiver die entspre- ced Brain Activity Changes
Experiments aus der kognitiven Psychologie. Es chenden Hirnregionen waren, desto wahrschein- and Relapse in Cocaine-De
basiert auf der Annahme, dass ein bestimmtes licher erlitten die Betroffenen einen Rückfall. pendent Patients. In: Neuro
Merkmal eines Objekts – etwa der Henkel einer Diese Ergebnisse könnten Folgen für die psychopharmacology 31, S.
Tasse – die Hirnareale aktiviert, welche die ent- Suchttherapie haben. Möglicherweise ließe sich 644 – 650, 2006
sprechende Handlung kodieren, in dem Fall das Signal aus dem sensorischen und moto- Serences, J. T.: Value-Based
Greifbewegungen. Das wiederum bereite das rischen Kortex sogar als spezifischer Biomarker Modulations in Human Visu
Gehirn auf die Bewegung vor. für die Suchterkrankung verwenden. Damit al Cortex. In: Neuron 693, S.
Dazu zeigten wir den Teilnehmern das Bild könnten Mediziner und Psychologen Patienten 1169 – 1181, 2008
eines Gegenstands, dessen Griff entweder nach mit erhöhtem Rückfallrisiko besser identifizie- Tiffany, S. T.: A Cognitive Mo
links oder nach rechts zeigte. Sobald das Foto er- ren und gezielter unterstützen. Auch der Erfolg del of Drug Urges and Drug-
schien, sollten die Versuchspersonen so schnell einer Behandlung lässt sich womöglich an der Use Behavior: Role of Auto
wie möglich einen Knopf drücken, und zwar Hirnaktivität ablesen. So bemerkte Arthur Bro- matic and Nonautomatic
mal mit der rechten und mal mit der linken dy von der University of California in Los An- Processes. In: Psychological
Hand. Wie sich zeigte, reagierten die Probanden geles 2007, dass das fMRT-Signal auf Rauchreize Review 97, S. 147 – 168, 1990
schneller, wenn sich der Griff auf derselben Sei- in sensorischen und motorischen Hirnregionen Yalachkov, Y. et al.: Brain Re
te befand wie die Hand, mit der sie die Taste von Rauchern abnahm, wenn sie ihr Verlangen gions Related to Tool Use and
drückten. nach einer Zigarette unterdrückten. Ÿ Action Knowledge Reflect Ni
Wir präsentierten den Versuchspersonen zu- cotine Dependence. In: Jour
dem Bilder von Rauchutensilien wie einem Yavor Yalachkov ist promovierter Psychologe und nal of Neuroscience 29, S.
Aschenbecher, auf dessen Rand eine Zigarette wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für 4922 – 4929, 2009
lag. Dabei bemerkten wir, dass die mit Nikotin- Medizinische Psychologie der Goethe-Universität Yalachkov, Y. et al.: Smoking
sucht assoziierten Objekte das Phänomen nur Frankfurt am Main. Jochen Kaiser ist Professor für Experience Modulates the
bei Rauchern hervorriefen, und zwar besonders medizinische Psychologie und Direktor des Instituts. Cortical Integration of Vision
bei den schwer Abhängigen. Das spiegelte sich Marcus J. Naumer arbeitet dort als wissenschaft- and Haptics. In: Neuroimage
auch in der Hirnaktivität wider. Je ausgeprägter licher Assistent und leitet die Arbeitsgruppe »Cross- 59, S. 547 – 555, 2012
der Effekt, desto stärker reagierten die senso- modale Hirnbildgebung«.
www.gehirn-und-geist.de 71
Kopfnuss
das Jubiläums-Gewinnspiel
Hätten Sie’s gewusst? 1. Mit welchem Fachbegriff bezeichnen 6. Wo ist das Risiko, an Schizophrenie zu
Psychologen jene Form des Gedächt- erkranken, besonders hoch?
Die Antworten auf die folgenden nisses, in der persönliche Erlebnisse o) In ländlichen Regionen mit hoher
Fragen finden Sie in den Artikeln dieser gespeichert werden? Arbeitslosigkeit
Ausgabe von G&G. e) Episodisches Gedächtnis p) In Ballungszentren mit hohem
Die Buchstaben vor den jeweils richtigen a) Szenisches Gedächtnis sozialem Stress
Antworten ergeben das Lösungswort. o) Situationsgedächtnis q) Das Risiko ist unabhängig vom
Viel Spaß beim Knobeln! Wohnort
2. Wer kann Klatsch und Tratsch verbrei-
Unter allen korrekten Zuschriften ten, ohne sich unbeliebt zu machen? 7. Wie hoch ist der Anteil der Psychiatrie-
verlosen wir insgesamt 260 Preise! l) Ältere Männer patienten in Deutschland, die gegen
(siehe rechts) m) Kleine Kinder ihren Willen in eine Klinik eingewiesen
n) Attraktive Frauen werden?
Wenn Sie an unserem Gewinnspiel f) 6 Prozent
teilnehmen möchten, schicken Sie 3. Welches typische Phänomen in der g) 12 Prozent
bitte das Lösungswort mit dem Stich- Eltern-Kind-Kommunikation bezeichnen h) 18 Prozent
wort »Jubiläum« per Post, Fax oder Pädagogen als »dialogisches Echo«?
E-Mail an: Spektrum der Wissenschaft b) Wenn ein Baby dieselbe Silbe mehr- 8. Welche Hirnregion ist nicht an Niko-
Verlagsgesellschaft mbH fach hintereinander ausspricht tinsucht beteiligt?
Postfach 104840, 69038 Heidelberg c) Wenn ein Kind die Äußerung eines i) Wernicke-Areal
Fax 06221 9126-751 Elternteils wiederholt e) Sensorischer Kortex
kopfnuss@gehirn-und-geist.de d) Wenn ein Erwachsener die Laute eines a) Basalganglien
Einsendeschluss ist der 13. Februar 2012 Babys nachahmt
(es gilt das Datum des Poststempels). 9. Wobei spielen die Basalganglien eine
Eine Barauszahlung der Preise ist nicht 4. Welcher Teil des Gehirns ist für unsere wichtige Rolle?
möglich. Der Rechtsweg ist ausge- Selbstkontrolle entscheidend? l) Hören
schlossen. i) Orbitofrontalkortex m) Kopfrechnen
o) Präfrontalkortex n) Automatisierte Bewegungsabläufe
Ihre persönlichen Daten werden allein u) Frontaler Pol
zur Gewinnbenachrichtigung verwen- 10. Welches berühmte lateinische Zitat
det und nicht an Dritte weitergegeben. 5. Wie nennen Psychologen das Phäno- beschreibt den egoistischen Machtwillen
men, dass wir nach einer guten Tat eher des Menschen?
zu eigennützigem Verhalten neigen? r) Cogito ergo sum
r) Moralisches Lizensieren s) Esse est percipii
s) Moralischen Zensieren e) Homo homini lupus est
t) Moralisches Korrumpieren
Museum
Museum Turm der Sinn
Turm der S inne e
2. – 5. Preis:
Je ein phrenologischer Kopf
Querdenker
Motivationshilfe
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bücher und mehr
dersprechen die renommierten Neuro- Die Autoren stellen die These auf, dass
wissenschaftler Stephen Macknik und Neurowissenschaftler von solchen Tricks
Susana Martinez-Conde entschieden. Zu- über die Arbeitsweise des Gehirns lernen
sammen mit der Wissenschaftsjourna könnten. Den Beweis dieser These blei-
Stephen L. Macknik,
listin Sandra Blakeslee möchten sie zei- ben sie jedoch schuldig: Sie beschreiben
Susana Martinez-
Conde, Sandra gen, dass Zaubertricks nur deshalb funk- keinen einzigen Fall, in dem die Untersu-
Blakeslee tionieren, weil unsere Sinneswahrneh- chung eines Zaubertricks zu einer neuen
DIE TRICKS UNSERES GEHIRNS mungen eine Konstruktion und keine wissenschaftlichen Erkenntnis geführt
Wie die Hirnforschung von den großen
objektive Abbildung der Wirklichkeit dar- hätte. Stattdessen bemühen sie stets hin-
Zauberern lernt
[Kreuz, Freiburg 2011, 320 S., € 24, 95] stellen. länglich bekannte psychologische Theo-
Um vor den Augen des Publikums bei- rien, um die Wirkungsweise von Zauber-
spielsweise Gegenstände verschwinden kunststücken zu erklären.
zu lassen, machen sich Zauberkünstler il-
Konstruierte lusionäre Wahrnehmungen von Bewe- Streben nach einem
Wirklichkeit gung zu Nutze. Durch solche Bewegungs- stimmigen Selbstbild
Magier entlarven unseren Hang illusionen glauben wir klar zu sehen, wie Weil die Autoren anhand von Zauber-
zu Illusionen der Zauberer eine Münze von der einen tricks das Gehirn als Konstrukteur un-
Hand zur anderen wirft, obwohl er sie serer Wirklichkeit entlarven, erweist sich
G&G – Bestsellerliste
einen bei der Wahrnehmung, zum ande-
ren oft auch beim Erinnern und Begrün-
1. Dobelli, R.: Die Kunst des klaren Denkens 52 Denkfehler, die Sie besser den unserer eigenen Handlungen täu-
anderen überlassen [Hanser, München 2011, 246 S., € 14,90] schen, weil wir versuchen, ein kohärentes
2. Lütz, M.: Irre – Wir behandeln die Falschen Unser Problem sind die Norma- und stimmiges Welt- und Selbstbild auf-
len. Eine heitere Seelenkunde [Goldmann, München 2011, 189 S., € 9,99] rechtzuerhalten. Illusionen treten also
3. Riemann, F.: Grundformen der Angst Eine tiefenpsychologische Studie nicht nur im Rahmen von Zaubertricks
[Reinhardt, München, 40. Auflage 2011, 244 S., € 14,90] auf. Sie sind so alltäglich, dass sie große
4. Soliman, T.: FUnkstille Wenn Menschen den Kontakt abbrechen [Klett-Cotta, Teile unserer Identität bestimmen. Das
Stuttgart 2011, 196 S., € 17,95] ist zwar nicht besonders neu und dürfte
5. Havener, T.: Denk doch, was du willst Die Freiheit der Gedanken [Wunder- neurowissenschaftlich vorgebildete Le-
lich, Reinbek 2011, 253 S., € 17,95] ser nicht überraschen, doch so anschau-
6. Baker, R.: Wenn plötzlich die Angst kommt Panikattacken verstehen und lich, verständlich und alltagsnah wie im
vorliegenden Band wurde es selten dar-
überwinden [Brockhaus, Witten, 14. Auflage 2011, 192 S., € 9,95]
gestellt.
7. Senzel, H.: »Arschtritt« Mein Weg aus der Depression zurück ins Leben
Die Anschaulichkeit hat allerdings ih-
[Südwest, München 2011, 224 S., € 16,99]
ren Preis: Wer sich vor allem für neuro-
8. Kitz, V., Tusch, M.: Psycho? Logisch! Nützliche Erkenntnisse der Alltagspsycho-
wissenschaftliche Zusammenhänge und
logie [Heyne, München 2011, 285 S., € 8,99]
weniger für Zaubertricks interessiert,
9. Dutton, K.: Gehirnflüsterer Die Fähigkeit, andere zu beeinflussen
dürfte die vielen ausführlichen Schilde-
[dtv, München 2011, 350 S., € 14,90]
rungen von Zauberern und Zauberwett-
10. Schmidt, W.: Dicker Hals und kalte FüSSe Was Redensarten über Körper bewerben mit der Zeit etwas langatmig
und Seele verraten. Eine heitere Einführung in die Psychosomatik [Gütersloher finden. Alle anderen werden an diesem
Verlagshaus, München 2011, 224 S., € 19,99] Buch ihre Freude haben.
Nach Verkaufszahlen des Buchgroßhändlers KNV in Stuttgart Alexander Soutschek ist promovierter
Mehr Informationen und Bestellmöglichkeiten: Philosoph und arbeitet am Department
www.science-shop.de/bestsellerliste Psychologie der Ludwig-Maximilians-
Universität München.
zehn Prozent seines Durchmessers wei- Radius gemeint ist; dann wird der Druck
ten muss, um beinahe 50 Prozent mehr eines Autoreifens mit 50 Atmosphären
Blut durchzulassen. Ferner befasst sich angegeben (richtig wären 2 bis 4 Atmo-
der Physikprofessor mit den elektrischen sphären) und ein Newton mit 700 Kilo-
Eigenschaften des Körpers, mit der elek pond gleichgesetzt (richtig wären 0,1 Kilo-
trischen Signalweiterleitung entlang den pond). Auch ergibt sich der Druck nicht
Nerven und mit der Optik des Auges. aus einer Masse pro Fläche, wie das Buch
Richard P. McCall Die Akustik des Sprechens und Hörens, stellenweise behauptet, sondern aus ei-
HALS ÜBER KOPF
die biologischen Auswirkungen von ner Kraft pro Fläche. Das Einbringen von
Die Physik des menschlichen Körpers
[Primus, Darmstadt 2011, 265 S., € 24,90] Kernstrahlung und die Verweildauer von Fremdatomen in Halbleiter bezeichnet
Medikamenten im Körper runden sein man außerdem als »Dotierung« und kei-
Werk ab. neswegs als »Doping«. Die Liste ließe sich
Wer an biophysikalischen Themen in- noch fortsetzen.
Lehrbuch mit Fehlern teressiert ist und sich eine leicht ver- Diese Schnitzer mindern den didak-
Eine Einführung in die Biophysik ständliche, sachliche Darstellung wünscht, tischen Wert des Buchs natürlich erheb-
wäre mit diesem Buch eigentlich gut be- lich. Schade, denn mit etwas mehr Sorg-
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www.gehirn-und-geist.de 77
und Pessimisten. Während Erstere an
nehmen, dass sie Erfolge vor allem ihren Alle rezensierten Bücher,
eigenen Fähigkeiten zu verdanken haben, CD-ROMs und DVDs können Sie
glauben Letztere, an jedem Misserfolg im Science-Shop bestellen
selbst schuld zu sein.
Neu sind diese Erkenntnisse nicht. Al- Direkt unter:
lerdings vermag der Autor sie zumindest www.science-shop.de
Luis Rojas Marcos unterhaltsam vorzutragen, indem er An- oder per E-Mail:
LEBE LIEBER GLÜCKLICH info@science-shop.de
ekdoten aus seinem Leben sowie Zitate
Die Macht des Optimismus Telefon: 06221 9126-841
aus Romanen und Mythen einstreut. Un-
[Piper, München 2011, 240 S., € 8,95] Fax: 06221 9126-869
term Strich hätte dem Buch jedoch weni-
ger Pathos gutgetan. So schildert der Arzt
die Begegnung mit einem querschnitts-
Impfstoff für die Psyche
gelähmten Patienten mit den Worten: verkauft, indem er ihr Publikationsda-
Wenig Neues über die Kraft »Wortlos legte ich ihm die Hand auf die tum verschweigt.
des Optimismus Schulter und sah ihm tief in die Augen. Neben Altbekanntem führt der Autor
Ich suchte nach einem Zeichen, das mei- noch so einige abwegige Kronzeugen für
www.gehirn-und-geist.de
auf sendung
Freitag, 16. Dezember Geldausgeben verführen – für Dinge, die Der Physiker Etienne Klein erkundet die
Schlaglicht er womöglich nie haben wollte. Grenzen zwischen physischer und ma
Darf’s noch etwas mehr sein? EinsExtra (ARD Digital), 23 Uhr thematischer Welt, wo sich Logik in Poe
Verkäufer sollen täglich den Umsatz stei sie verwandelt.
gern. Damit sie das auch schaffen, wer Samstag, 17. Dezember Arte, 0.40 Uhr
den sie von Verkaufstrainern geschult: Philosophie: Ursprung
Spezialisten, die alle psychologischen Die Sendung schlägt den Bogen vom Ur Sonntag, 18. Dezember
Tricks und Kniffe kennen, die Kunden sprung des Weltalls bis zu Gustave Cour Philosophie: Gott
zum Kauf animieren. Dazu gehören die bets skandalträchtigem Gemälde »L’Ori Liegt Gott jenseits der materiellen Welt,
richtige Begrüßung oder raffinierte Fra gine du monde«, das einen weiblichen oder ist der Begriff nur ein anderer Name
getechniken, die den Ladenbesucher zum Akt mit geöffneten Schenkeln darstellt. für die Natur? Welche Hoffnungen, wel
Radiotipps
Montag, 19. Dezember schreckte 1966 eine Invasion Klapperschlangen die Bewohner
Zeitfragen der Siedlung Parkfield. Und knapp zehn Jahre später hörten
Drogenfrei auf Knopfdruck? Wie Neurowissenschaftler in Neapel alle Stiere einer Zuchtanstalt gleichzeitig auf, sich
unser Gehirn verbessern mit den Weibchen zu paaren. Kurz darauf erschütterte die je
Die Hirnforschung hat in den letzten Jahrzehnten rasante weiligen Regionen ein Erdbeben. Welche Sinne haben Tiere,
Fortschritte gemacht. Inzwischen ist es möglich, das Nerven die wir nicht haben? Und wie forscht man in einer solchen wis
system des Menschen direkt zu beeinflussen: Chirurgen pflan senschaftlichen Grauzone, die von vielen als esoterisch belä
zen Elektroden ins Gehirn, welche die Aktivität bestimmter chelt wird?
Neurone anregen und den Patienten etwa bei Bewegungen Bayern2, 15.05 Uhr
unterstützen. An der Uniklinik in Magdeburg behandeln Me
diziner mit einer solchen Hirnstimulation sogar Alkoholkran IQ – Wissenschaft und Forschung
ke. Wo liegen die Grenzen dieser Technik? Und wie »defekt« Klangmagie und Gänsehaut
darf ein Geist künftig noch sein? Ob trauriges Requiem oder elektrisierender Rockklassiker –
Deutschlandradio, 19.30 Uhr Musik hat eine besondere Kraft, Menschen zu berühren. Fil
memacher steuern mit Musik die Gefühle ihrer Zuschauer,
Dienstag, 20. Dezember Psychologen nutzen sie, um in Experimenten gezielt Emotio
Journal am Vormittag nen zu erzeugen. Schon bloßes Zuhören versetzt das Gehirn in
Der andere Schlaganfall: Blutungen und Gefäßfehl höchste Aktivität: Es lässt Erinnerungen aufblitzen, spielt ima
bildungen des Gehirns ginäre Klaviersoli und schüttet während musikalischer Höhe
Das »Radiolexikon Gesundheit« klärt über Krankheiten auf, punkte gar Glückshormone aus. Die Hirnforschung versucht,
nach denen Hausärzte regelmäßig gefragt werden. Diesmal die überwältigende Wirkung der Musik auf den Menschen zu
spricht Professor Andreas Unterberg, geschäftsführender Di enträtseln.
rektor der Klinik für Neurochirurgie am Universitätsklinikum Bayern2, 18.05 Uhr
Heidelberg, über weniger bekannte Formen des Schlaganfalls.
Durch Veränderungen an Blutgefäßen im Gehirn, so genannte Sonntag, 25. Dezember
Malformationen, kann es zu Hirnblutungen kommen. Warn Frauenforum
zeichen sind zum Beispiel epileptische Anfälle oder chroni »Was Kinder betrifft, betrifft die Menschheit«
sche Kopfschmerzen. Werden die Fehlbildungen rechtzeitig 1907 eröffnete Maria Montessori in dem römischen Arbeiter
erkannt, gibt es verschiedene Möglichkeiten, dem Hirnschlag bezirk San Lorenzo die erste »Casa dei bambini«, ein Kinder
vorzubeugen. haus, das nach ihrem pädagogischen Ansatz arbeitete. Die ita
Deutschlandfunk, 10.10 Uhr lienische Ärztin und Philosophin reiste durch Europa, Ame
rika und Indien, um Menschen für ihr Ideal von Erziehung zu
Donnerstag, 22. Dezember begeistern. In den 1920er Jahren gehörte sie zu den bekanntes
radioWissen am Nachmittag ten Frauen der Welt. Voller Energie lebte sie bis ins hohe Alter
Tiere und Emotionen: Rätselhaft und widersprüchlich für ihre Ideen – ihre pädagogischen Konzepte haben sogar bis
Im Jahr 1910 verließen alle Bienen im Landkreis Bayern ihre heute Bestand.
Stöcke und schwirrten aufgeregt herum. In Kalifornien er NDR Info, 17.30 Uhr
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Der Premiumbereich – exklusiv für Abonnenten von Gehirn&Geist
Abonnenten von Gehirn&Geist profitieren nicht nur von besonders günstigen Konditionen,
exklusiv auf sie warten unter www.gehirn-und-geist.de/aboplus auch eine ganze Reihe
weiterer hochwertiger Inhalte und Angebote, unter anderem:
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+ l Ein Mitgliedsausweis, dessen Inhaber in zahlreichen Museen
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und wissenschaftlichen Einrichtungen Vergünstigungen erhält
können, das Gehirn selbst im Greisenal legt, dass die Liebe kulturelle Unterschie welche Hinweise schon Mimik und Ges
ter noch menatle Höchstleistungen voll de dauerhaft und wirkungsvoll überbrü tik eines Lügners liefern können.
bringen. cken kann. Discovery Channel, 23.20 Uhr
Discovery Channel, 10.35 Uhr Arte, ab 20.15 Uhr
Freitag, 30. Dezember
Themenabend Big Science Tierisch lustig
Heimat in der Fremde Lügen auf dem Prüfstand Die Wissenschaft vom Lachen
Was bedeuten Heimat und Fremde in Angenommen, ein Verdächtiger in einem Da lachen ja die Hühner! Mit diesem Satz
Zeiten weltweiter Mobilität? Zwei Filme Mordprozess ist ein so guter Lügner, dass kommentiert man vermeintlich absurde
beschäftigen sich mit der Frage nach alle seine Aussagen stimmig und authen Ideen. Dabei können Hühner gar nicht la
Identität im Spannungsfeld der Kulturen: tisch erscheinen, obwohl sie unwahr sind. chen – oder etwa doch?
In »Lost in Translation« begegnen sich Gibt es eine Möglichkeit, ihn dennoch der Arte, 21.30 Uhr
zwei auf unterschiedliche Weise verlo Tat zu überführen? Die Sendung zeigt,
rene Durchreisende in einem Hotel in welche wissenschaftlich fundierten Tech Kurzfristige Programmänderungen der
Tokio. Die Dokumentation »Sayome« be niken zur Lügendetektion es gibt und Sender sind möglich.
uli@u-winters.de
Ganz meinerseits!
S ie sind jetzt alt genug. Seit fast neun Jahren bewahre ich Sie
schon davor, leichtfertig zu glauben, was Ihnen zwielichtige
»Wissenschaftler« weismachen wollen. Unermüdlich im Dienst
Und nun? Ein Jegliches hat seine Zeit, und so möchte ich Sie,
liebe Leser, heute in die Freiheit entlassen und Ihnen dabei zuse-
hen, wie Sie Ihre zerbrechlichen Flügelchen entfalten und im ers
der Wahrheit habe ich jedes U so lange mit dem Lackmus des ten Licht des Morgens, ein wenig taumelnd noch, in das flüssige
Zweifels geprüft und mit dem Königswasser des gesunden Men- Blau des Himmels der Erkenntnis eintauchen. Und da sich nun,
schenverstands beträufelt, bis es sich schließlich als X im Schafs- wie Sie vielleicht bemerkt haben, erste Risse in jenen Dämmen
pelz zu erkennen geben musste. Oft genug bin ich – der Günter zeigen, hinter denen ich meine Gefühle während all der Jahre im
Wallraff des Wissenschaftsbetriebs – an die Grenze meiner eige- Dienst der wissenschaftlichen Neutralität zurückgehalten habe,
nen und der Belastbarkeit meiner Probanden gegangen (die ich möchte ich mich herzlich bedanken. Bei Ihnen, meinen Lesern und
jedoch stets, den strengen Regeln der Wissenschaftsethik folgend, Leserinnen, und bei Ihnen, liebe Redaktion (die Sie diesen Text hof-
nach Abschluss des Experiments über die damit verbundenen Ri- fentlich durchwinken, sonst streiche ich den Dank!). Meine erste
siken aufgeklärt habe). G&G-Kolumne war zugleich meine erste Veröffentlichung über-
Ich ließ mich von hartherzigen Redakteuren mit willkürlichen haupt. Nicht zuletzt dank Ihnen verdiene ich mein Brot inzwi-
Abgabefristen quälen, die oft erst fünf Wochen im Voraus fest- schen als Autor – ein Glück, das sich wohl am treffendsten mit
standen, wurde von Schulfreunden verklagt und von Verschwö- dem eines Schweins in der Hüpfburg vergleichen lässt.
rungstheoretikern mit Fanpost überhäuft (nur weil ich behauptet
hatte, den Mörder Kennedys zu kennen). Und wofür das alles? Für Ich werde jetzt nicht die schöne Melancholie des Augenblicks mit
Sie, liebe Leser! dem blöden, zu jedem noch so vergurkten Abschied aus der Sprü-
cheschublade gezerrten Satz versauen, man solle aufhören, wenn
Gut, natürlich habe auch ich meine Prominenz genossen. Unver- es ... Wenn ich Ihnen unbedingt erklären muss, warum dies meine
gessen der Moment, als mich um das Jahr 2007 herum eine wild- letzte Kolumne ist, kann ich nur sagen, dass ich noch nie in
fremde Schönheit im Intercity erkannte und auf meine G&G- meinem ganzen Leben etwas so lange und kontinuierlich ge-
Kolumnen ansprach! Ein zweiter Vorfall ähnlicher Art entpuppte macht habe. Ehrlich. Und wenn die innere Leere, die mich bald er-
sich allerdings als Verwechslung: Ein offenbar angetrunkener Ju- greifen wird, unerträglich werden sollte, kann ich immer noch mit
gendlicher hatte mich für den Imbisswirt aus der Comedyserie einem weißen Gaul vom Pferdeverleih nach Heidelberg reiten und
»Dittsche« gehalten. Aber ich bin immer mit beiden Füßen auf noch einmal die Hellebarde in die Schlacht tragen. Jetzt ist aber
dem Boden geblieben, auch wenn mindestens einer davon stets in auch mal gut, sonst tropft’s aufs Papier und dann kann wieder kei-
einem Fettnäpfchen stand. ner was lesen. Ich werde Sie vermissen, machen Sie es gut!
www.gehirn-und-geist.de 89
vorschau ı G&G 3/2012 erscheint am 13. februar 2012
Das Wechselspiel
von Körper und Psyche
Stress ma
Stress macht auf Dauer krank – darüber sind sich ner einig
Mediziner einig. Doch was genau steckt dahinter? Wie sen seelis
beeinflussen seelische Vorgänge die körpereigene Und waru
Immunabwehr? Und warum leiden etwa psychisch be öfter an H
lastete Menschen öfter an Hautkrankheiten wie Zeitgeno
Neurodermitis als andere Zeitgenossen? Nach und nach komplizi
entschlüsseln Forscher das komplizierte Zusammen- system. D
spiel von Nerven- und Immunsystem. Die Erkenntnisse eröffnen
der Psychoneuroimmunologen eröffnen womöglich
sogar neue Therapiewege
Fotolia / Sebastian Kaulitzki [M]
Illusorische Menschenkenntnis
»Ich kann andere ziemlich gut einschätzen.« Diesen Satz hat
wohl jeder schon einmal gehört – oder selbst ausgespro-
chen. Doch laut Psychologen überschätzen wir unser Talent,
Dreamstime / Minghua Nie
Krieg im Kopf
G&G-Newsletter Ob UNO-Blauhelme oder reguläre Truppen: Soldaten riskieren
Wollen Sie sich einmal im Monat über Themen und Autoren Leib und Leben. Auch wer vermeintlich unbeschadet vom
des neuen Hefts informieren lassen? Wir halten Sie gern auf Einsatz zurückkehrt, trägt oft Verletzungen davon. So hinterlas
dem Laufenden: per E-Mail – und natürlich kostenlos. sen etwa die psychische Belastung und Bombendetonationen
Registrierung unter www.gehirn-und-geist.de/newsletter teils schwere Folgeschäden im Gehirn, die sich in Gedächtnis
lücken, Schwindelanfällen oder Schlaflosigkeit äußern
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Alles über Ihre grauen Zellen.
Schwarz auf weiß. Seit 10 Jahren.
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Liebe Leserin, lieber Leser,
wissen Sie, welche Gesamtlänge die Milli-
arden von Nervenbahnen unseres Gehirns
haben? Oder wie viele Sinne der Mensch
wirklich besitzt? Wie wirkt eigentlich das
ADHS-Medikament Ritalin? Und was sind
noch mal »Qualia«?
2. W
ofür ist die unten blau hervor-
gehobene Hirnstruktur besonders
wichtig?
a) Gedächtnisprozesse
b) Motorische Reflexe
c) Tastsinn
Gehirn&Geist / MEGANIM
4 G&G KOMPAKT
3. Was erzeugt laut Psychologen einen
Widerspruch zwischen einer persön-
lichen Überzeugung (»Zigaretten-
rauch ist Krebs erregend«) und dem
eigenen Handeln (Rauchen)?
a) Kognitive Konkordanz
b) Kognitive Resonanz
c) Kognitive Dissonanz
4. G
ähnen ist bekanntlich ansteckend –
doch warum gähnen Menschen über-
haupt?
a) Es ist ein soziales Signal an unsere
Mitmenschen
b) Es erhöht die Sauerstoffsättigung
des Bluts
c) Es senkt die Temperatur des Gehirns
5. W
obei spielt die Langzeitpotenzie-
rung eine entscheidende Rolle?
a) Lernen
b) Motivation
c) Sexuelle Erregung
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antworten
6 G&G KOMPAKT
3. c . Nach der einflussreichen Theorie der
Kognitiven Dissonanz, die der US-Psy-
chologe Leon Festinger 1957 entwickel-
te, löst ein Widerspruch zwischen einer
persönlichen Überzeugung und dem
eigenen Handeln einen psychischen
Spannungszustand aus.
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FRAGEN
6. W
elches Organ beherbergt laut
Aristoteles die Seele des Menschen?
a) Lunge
b) Herz
c) Gehirn
7. W
as hilft am nachhaltigsten
gegen Angst vorm Zahnarzt?
a) Verhaltenstherapie
b) Hypnose
c) Beruhigungsmittel
8. W
as kann darauf hindeuten, dass ein
Kind an Prosopagnosie leidet?
a) Es hält übermäßig an Gewohnheiten
fest und besteht auf das Einhalten
fester Rituale
b) Es hält weniger Blickkontakt zu seinem
Gesprächspartner als andere Kinder
c) Es hat eher Probleme, Gegenstände
richtig zu benennen
8 G&G KOMPAKT
9. W
orauf beruht der Eindruck sich dre-
hender Kreise in der Illusion auf den
folgenden Seiten (bitte umblättern)?
a) Blinder Fleck
b) Räumliches Sehen
c) Augenbewegungen
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Bild zu Frage 9
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antworten
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FRAGEN
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FRAGEN
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antworten
orbitofrontaler
Kortex
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FRAGEN
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antworten
www.gehirn-und-geist.de 25
Der Aufbau deS GEHIRNs und
seine wichtigsten Funktionen
Scheitellappen (Parietal)
sich räumlich orientieren, Dinge
bildhaft vorstellen, tasten
Hinterhaupts-
lappen
(okzipital)
sehen
Kleinhirn (Zerebellum)
Bewegungen koordinieren
Stirnlappen (frontal)
Handlungen planen, entscheiden, sprechen,
Impulse und Gefühle kontrollieren
Schläfenlappen
(Temporal)
hören, Objekte und Gesichter erkennen,
Lernen, Umweltreize bewerten
stammHirn
Wachheit und Erregung steuern,
Fotolia / Vasiliy Yakobchuk
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antworten
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FRAGEN
tions. In: Science 323, S. 1183, 2009, Fig. 1;
Abdruck genehmigt von AAAS / CCC
Antonakis, J. et al.: Predicting Elec-
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FRAGEN
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Bild zu Frage 40
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