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GEHIRN&GEIST

Das Magazin
JUBILÄUMSAUSGABE Nr. 1-2/2012
€ 7,90 / 15,40 sFr.

für Psychologie und Hirnforschung gehirn-und-geist.de


GEHIRN&GEIST

Sei kein Egoist!


· Wann wir eigennützig handeln – und wann nicht
· Die Neurobiologie der Selbstkontrolle

JUBILÄUMSEXTRAS IN DIESEM HEFT SÄUGLINGE GESUNDHEIT


˘ NEUE SERIE »Die großen G&G-Themen« (S. 14) So kommunizieren Eltern Wie das Stadtleben die
D 57525

˘ Preisrätsel – Gewinnen Sie eine Reise! (S. 72) mit ihren Babys (S. 32) Psyche belastet (S. 50)
editorial

Carsten Könneker
Chefredakteur
koenneker@gehirn-und-geist.de

Liebe Leserinnen, liebe Leser, Autoren in diesem Heft

dieses Heft möchten wir mit Ihnen feiern: G&G wird zehn Jahre alt! Seit der Der Psychologe Marc Hassen-
Premierennummer 1/2002 sind 87 reguläre Ausgaben und 40 Sonderhefte er- zahl von der Folkwang
schienen – Grund genug für uns, Danke zu sagen. Wir tun dies mit einem Booklet ­Universität der Künste in
voller wissenswerter Fakten; spielerisch beantwortet es 50 spannende Fragen Essen erklärt, warum Erfah­
rund um Psyche und Gehirn. Außerdem ziehen wir im Jubiläumsjahr Zwischen- rungen glücklicher machen
bilanz. In einer neuen Serie über »Die großen G&G-Themen« unterziehen wir als materielle Güter – und
jene Forschungsfelder einem Aktualitätscheck, die unser Magazin in den ersten wie diese Erkenntnis Produkt­
zehn Jahren besonders prägten: Neuroimaging, Psychogenetik, Lernforschung – designer inspiriert (S. 20).
was ist 2012 der Stand der Dinge? Teil 1 der Serie macht dabei einen ungewöhn-
lichen Auftakt: Bevor es in den Folgebeiträgen an die harte Wissenschaft geht,
­blicken wir zurück auf Menschen und Ereignisse und plaudern ein wenig aus Früh übt sich, wer sein
dem Nähkästchen des Reaktionsalltags (S. 14). Sprachtalent entfalten will:
Auch inhaltlich schließt sich mit dieser Ausgabe ein Kreis. G&G 1/2002 hatte Ab S. 32 schildert Ursula
das »Rätsel Bewusstsein« zum Titel. Jetzt wenden wir uns erneut einer Fassette Horsch von der Pädago­
des Ich zu – dem Egoismus. Jeder von uns hält sich manchmal für den Nabel der gischen Hochschule Heidel­
Welt, ein andermal stellen wir unsere persönlichen Bedürfnisse hintan und han- berg, wie Eltern und Babys
deln selbstlos. Die spannende Frage lautet, wann diese beiden Wesenszüge je- miteinander kommunizieren.
weils zum Vorschein kommen. Sarah Zimmermann stellt ab S. 38 neue Experi-
mente im Grenzgebiet zwischen Eigennutz und Fairness vor. Dabei haben Psy-
chologen Erstaunliches entdeckt: Offenbar verfügt jeder Mensch über eine Art In Großstädten erkranken
inneres Moralkonto, dessen Bilanz er immer wieder unbewusst auszugleichen mehr Menschen an psy­
versucht. Doch was geschieht im Gehirn, wenn wir der Versuchung widerstehen, chischen Störungen als auf
das größte Stück Torte für uns zu reklamieren? Es unterdrückt einen Handlungs­ dem Land. Die Ursachen
impuls. Wie die Neurowissenschaftler Daria Knoch und Bastian Schiller von der erläutert der Psychiater
Universität Basel herausgefunden haben, sitzt die neuronale Kontrollinstanz im Andreas Meyer-Lindenberg,
rechten präfrontalen Kortex (S. 44). Direktor des Mannheimer
Zentralinstituts für Seelische
Viel Spaß bei der Lektüre – und auf die nächsten zehn Jahre! Gesundheit (S. 50).

NEU AM KIOSK: G&G Basiswissen Teil 4


Seit mehr als 100 Jahren ergründen Forscher die Feinmecha­
nik unseres Denkorgans. Wie kommunizieren Nervenzellen
miteinander? Was lässt neue Synapsen sprießen? Wie kann
man neuronale Netzwerke bei der Arbeit beobachten? Heft 4
unserer Serie »Basiswissen« gewährt tiefe Einblicke in das
Wissen und die Methoden der modernen Hirnforschung –
fundiert und anschaulich erklärt.


www.gehirn-und-geist.de 3
inhalt

stadtleben 50
klatsch und tratsch 26

erlebnisdesign 20 Säuglinge 32

Psychologie
8 Geistesblitze 20 Momente des Glücks
»Mein Haus, mein Boot, mein Auto«?
Neuronenüberschuss Besser sollte es heißen: meine Weltreise,
Autistische Kinder besitzen eine mein Rolling-Stones-Konzert, mein
erhöhte Zahl von Nervenzellen ­Bungeesprung! Denn besondere Erlebnisse
lehrreiche Wörter machen glücklicher als materieller
Räumliche Begriffe stärken das Besitz. Der Psychologe Marc Hassenzahl
Vorstellungsvermögen von Kindern erklärt, wie diese Erkenntis heute sogar
Wegbereiter der Sucht jubiläumsextra das Produktdesign beeinflusst
Nikotin verändert die Genaktivität im
Gehirn von Mäusen – was die Wirkung Neue Serie »Die groSSen G&G-Themen« Teil 1 26 Verbale Allzweckwaffe
von Kokain verstärkt 14 Wie alles begann Tratschen ist nicht bloß ein harmloser
Offenes Gen-heimnis Anlässlich des zehnten Geburtstags Zeitvertreib. Laut Sozialpsychologen kann
Träger einer Erbgutvariante verraten von G&G blickt Chefredakteur Klatsch über abwesende Dritte sowohl
sich durch ihr Verhalten Carsten Könneker zurück auf Menschen dem Wohl der Gruppe dienen – als auch
Attacke aus dem Darm und Themen dem eigenen Vorteil gegenüber Rivalen
Die Darmflora wirkt mit bei der
Entstehung von multipler Sklerose
32 Zwiegespräch mit einem Baby
Lebhafter Schlaf
Ursula Horsch von der Pädagogischen
Geträumte Bewegungen steuert das
Hochschule Heidelberg hat erforscht, wie
Gehirn ähnlich wie reale
Eltern mit ihren Säuglingen in Kontakt
Rausch der Schamanen
treten. Die frühkindliche Kommunikation
Eine pflanzliche Droge löst Halluzi­
Titelmotiv: Gehirn&Geist / Manfred Zentsch klappt dabei erstaunlich gut
nationen aus, die wie echte Wahrneh­
mungen erscheinen Das sind unsere Coverthemen
Helfen tut gut
Seinem Partner in misslicher Lage
beizustehen, aktiviert das
Belohnungssystem des Helfenden Gehirn&Geist – das Magazin für Psychologie
und Hirn­forschung aus dem Verlag Spektrum
der Wissenschaft

4 G&G 1-2_2012
TITELTHEMA

Egoismus
38 Psychologen erkunden
unser moralisches Handeln
44 Selbstkontrolle im Gehirn

TITELthema medizin hirnforschung

38 Zwischen Fairness 50 Urbane Seelennöte SPEZIAL: Neurobiologie der GEWOHNHEIT


und Eigennutz Das Leben in Ballungszentren belastet 62 Der Autopilot im Kopf
Gier, Machtstreben, Konkurrenz- die Psyche. Was das im Gehirn von Groß­ Bei allem, was wir tun, verfolgen wir
denken – sind Menschen geborene Ego­ städtern bewirkt, schildert Andreas Meyer- bestimmte Ziele – oder nicht? Forschern
isten? Oder dominieren doch Mitgefühl Lindenberg, Direktor des Zentral­instituts zufolge rückt die ursprüngliche Absicht
und Altruismus unser Wesen? Psychologen für Seelische Gesundheit in Mannheim immer mehr in den Hintergrund, je öfter
glauben, dass beides in uns schlummert: wir eine Tätigkeit ausführen
Nach einer neuen Theorie bemühen 56 letztes Mittel
wir uns sogar unbewusst um ein ausgegli­ Bis heute ist es in der Psychiatrie nicht 68 Routine am Glimmstängel
chenes Moralkonto unüblich, psychisch Kranken gegen ihren Nikotin macht süchtig, weil es das Beloh­
Willen Medikamente zu verabreichen nungssystem im Gehirn stimuliert. Der
44 Neuronales Bremspedal oder sie zeitweise sogar einzusperren. Wie gewohnte Griff zur Kippe verändert aber
Wenn wir unsere Gefühle und spontanen häufig solche Zwangsmaßnahmen ein­ auch sensorische und motorische Hirn­
Handlungsimpulse nicht im Griff hätten, gesetzt werden und welche Folgen sie für regionen. Und das hat Konsequenzen für
wäre ein harmonisches Miteinander kaum die Patienten haben, soll endlich besser die Therapie
möglich. Wie die Neurowissenschaftler erforscht werden
Daria Knoch und Bastian Schiller in
Experimenten herausfanden, spielt ein
bestimmtes Hirnareal die Hauptrolle in
Sachen soziale Selbstkontrolle

rubriken

3 Editorial 6 Leserbriefe 72 Kopfnuss: Das Jubiläums-Gewinnspiel


74 Bücher und mehr, u. a. mit
 Stephen L. Macknik et al.: Die Tricks unseres Gehirns
Günter H. Seidler et al. (Hg.): Handbuch der Psychotraumatologie
Thomas Grüter: Klüger als wir?
79 Impressum 80 Auf Sendung 82 Termine
89 Winters’ Abschied 90 Vorschau


www.gehirn-und-geist.de 5
leserbriefe
Autoverbalisation
Sich selbst Mut zuzusprechen oder ironische
Bemerkungen zu machen, kann in Stresssitu­
ationen entlastend wirken.

Gerda Kuhfittig, Gerbrunn: Wenn ich


mich recht erinnere, hat Jean Piaget das
Selbstgespräch bei Kindern als nutzlos
bezeichnet. Stimmt das? Und wo kann ich
diese Aussage bei Piaget finden?

Antwort der Redaktion: Der bekannte


Schweizer Entwicklungspsychologe Jean
Piaget (1896 – 1980) betrachtete Selbst­
gespräche als Ausdruck des besonderen
Egozentrismus, der Kindern vor allem in
der »präoperationalen Phase« im Alter
von zwei bis sieben Jahren eigen sei. Erst
danach gelinge es ihnen, den inneren
­Dialog des Denkens nicht mehr laut zu
führen, was Piaget als höhere Entwick­
lungsstufe auffasste. Nachzulesen ist dies
zum Beispiel in seinem Buch »Das Welt­
bild des Kindes« (1978). Piaget unter­
schätze das Potenzial des Selbstgesprächs
etwa als Hilfsmittel beim Problemlösen,
worüber es zu einem Disput mit dem
russi­schen Psychologen Lew Wygotski
(1896 – 1934) kam.

Manfred H. Freude, Aachen: Der Mensch


Martin Burkhardt

führt immer Selbstgespräche. Texte sind


ebenfalls Selbstgespräche, sowohl für den
Autor als auch für den Leser. Es ist doch
vermessen zu glauben, dass wir einem
nützliche selbstgespräche Vorzüge, wie Klaus Wilhelm erklärte. Sie anderen etwas mitteilen, also teilen
Jeder tut es, doch kaum jemand gibt es kann beispielsweise dazu beitragen, könnten. Wir teilen nur, wie wir eine Spei­
gerne zu: Die verbreitete Neigung, ­Probleme zu lösen oder sich zu motivieren se zubereiten – essen muss jeder selbst.
verbale Appelle oder Fragen an sich selbst (»Schweigen ist Silber, Reden ist Gold«, Auch Ludwig Wittgenstein meinte, dass
zu richten, hat aber durchaus ihre Heft 12/2011, S. 14). keineswegs alles sagbar sei.

Briefe an die Redaktion Zuletzt erschienen:

… sind willkommen! Schreiben Sie bitte


mit Ihrer vollständigen Adresse an:
Gehirn&Geist
Frau Petra Mers
Nachbestellungen unter:
Postfach 10 48 40, 69038 Heidelberg
E-Mail: leserbriefe@gehirn-und-geist.de www.gehirn-und-geist.de
Fax: 06221 9126-729 oder telefonisch:
Weitere Leserbriefe finden Sie unter: 06221 9126-743
www.gehirn-und-geist.de/leserbriefe 12/2011 11/2011 10/2011

6 G&G 1-2 _2012


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geistesblitze Autoren dieser Rubrik: Miriam Berger, Jan Dönges, Daniel Lingenhöhl und Jan Osterkamp

Autismus

Neuronenüberschuss
Autistische Kinder verfügen offenbar über eine erhöhte Zahl von Nervenzellen.

D as Gehirn eines Menschen mit


­Autismus ist oft größer und
schwerer als das Durchschnittsdenk­
der Kinder hatten an Autismus gelitten.
Die Forscher bestimmten die Anzahl
der Nervenzellen im präfrontalen Kor­
erkrankten Kinder eine ungewöhnlich
große Hirnmasse auf.
Alle kortikalen Nervenzellen entste­
organ. Woher die zusätzliche Masse tex. Dieses Hirnareal wirkt insbesonde­ hen schon vor der Geburt – überschüssi­
kommt, konnten Forscher bisher nicht re an sozialen, sprachlichen und emo­ ge Neurone werden im Lauf des Lebens
erklären. Jetzt zeigt eine neue Studie: tionalen Vorgängen mit – Funktionen, abgebaut. Die Befunde deuten ­darauf
Gehirne von autistischen Kindern ent­ die bei Autisten mehr oder weniger hin, dass dieser »strategische Zelltod«
halten ungewöhnlich viele Neurone. stark eingeschränkt sind. bei Autisten gestört sein könnte. Denk­
Eric Courchesne von der University Die Unterschiede waren deutlich: bar wäre aber auch, dass betroffene
of California in San Diego und seine Im Gewebe der autistischen Kinder Kinder bereits mit zu vielen Neuronen
Kollegen untersuchten das Hirngewebe ­fanden die Wissenschaftler im Schnitt auf die Welt kommen.
von 13 Jungen, die im Alter zwischen 2 67 Prozent mehr Neurone als im Ge­ J. Am. Med. Assoc. 306,
und 16 Jahren gestorben waren. Sieben hirn der gesunden. Zudem wiesen die S. 2001 – 2010, 2011

sprache

Lehrreiche Wörter
Kleinkinder, die oft mit Größen- und Formbegriffen konfrontiert werden,
entwickeln ein besseres räumliches Verständnis.

F ormt Sprache unser Denken? Im Fall des räumlichen Den­


Dreamstime / Tinna

kens könnte es so sein. Ein Team um die Psychologin Shan­


non Pruden von der Florida International University in Miami
fand heraus: Wer von klein auf viele geometrische Begriffe ge­
wöhnt ist, entwickelt im Schnitt bessere räumliche Fähigkeiten.
Die Forscher hatten 14 Monate alte Kinder mit jeweils einem
Elternteil in Abständen von vier Monaten gefilmt, wobei sich
die Mütter und Väter dem Nachwuchs gegenüber ganz normal
verhalten sollten. Dabei registrierten die Wissenschaftler, wie
häufig Wörter für Objekte (»Dreieck«), Größenbezeichnungen
(»breit«) oder Beschreibungen charakteristischer Erscheinun­
gen (»Ecke«) fielen.
Im Alter von viereinhalb Jahren wurden dieselben Kinder auf
ihr räumliches Denkvermögen getestet – beispielsweise mit
mentalen Rotationsaufgaben, bei denen sie Objekte im Kopf
drehen sollten. Kinder, die viele geometrische Begriffe gehört
hatten, erzielten dabei durchschnittlich bessere Leistungen als
andere Altersgenossen. Selbst wenn die Forscher den Einfluss
der allgemeinen sprachlichen Fähigkeiten herausrechneten,
hatte das Ergebnis Bestand. Pruden und ihre Kollegen vermu­
ten, dass die häufig verwendeten Begriffe die Aufmerksamkeit
der Kinder stärker auf räumliche Beziehungen lenkten.
Developmental Sci. 14, S. 1417 – 1430, 2011

Mit Ecken und Kanten


Lernen Kleinkinder geometrische Begriffe frühzeitig kennen, fördert
das ihr räumliches Vorstellungsvermögen.

8 G&G 1-2_2012
Zigarette: Dreamstime / Lukelake; Kokain: iStockphoto / Milos Jokic

Gefährliche Gesellschaft
Zigaretten sind nicht nur gesundheitsschädlich, sie können auch
die Abhängigkeit von Kokain und anderen Rauschmitteln fördern.

N e u ro chemie

Wegbereiter der Sucht


Nikotin verändert die Genaktivität im Gehirn von Mäusen und verstärkt so die Wirkung von Kokain.

F ungiert Tabak als Einstiegsdroge für den Konsum von Ko­


kain und anderen illegalen Substanzen? Wissenschaftler ha­
ben einen biologischen Mechanismus entschlüsselt, die diesen
Der Einfluss zeigte sich aber nur, wenn die Tiere das Nikotin
über längere Zeit zu sich genommen hatten. Mäuse, die das ma­
nipulierte Wasser lediglich einen Tag lang getrunken hatten,
Verdacht erhärten könnte: Nikotin verändert demnach die Akti­ waren für das Kokain nicht empfänglicher als die Kontrollgrup­
vität eines Gens im Belohnungszentrum des Gehirns und er­ pe. Es handelt sich somit nicht um eine kurzfristige Wirkung,
höht so die Suchtanfälligkeit. sondern vermutlich um eine langfristige Veränderung der
Das Team um den Neurowissenschaftler Amir Levine an der Suchtschaltkreise im Gehirn.
Columbia University in New York testete die Wirkung von Ko­ Sollte dieser Befund auf den Menschen übertragbar sein,
kain an Mäusen. Ein Teil der Tiere hatte zuvor eine Woche lang könnten Präventionsmaßnahmen gegen das Rauchen auch
nikotinhaltiges Trinkwasser zu sich genommen. Diese Gruppe dem Konsum härterer Drogen entgegenwirken, so die Hoff­
reagierte anschließend neuronal stärker auf die verabreichte nung der Forscher. Frühere Studien haben gezeigt, dass Kokain­
Kokaindosis. Die Aktivität des so genannten FosB-Gens, das be­ konsumenten größere Schwierigkeiten haben, von der Droge
kanntermaßen an der Suchtentwicklung beteiligt ist, war deut­ wegzukommen, wenn sie gleichzeitig rauchen.
lich höher als bei Tieren ohne Nikotingabe. Sci. Transl. Med. 3, 107ra109, 2011


www.gehirn-und-geist.de 9
iStockphoto / Goldmund Lukic

sympathischer Zeitgenosse?
Wir beurteilen unsere Mitmenschen bereits
auf den ersten Blick. Dabei offenbaren
sich auch genetische Dispositionen für eine
besondere soziale Ader.

Empathie

Offenes Gen-heimnis
Träger einer bestimmten Erbgutvariante verraten sich durch ihr zwischenmenschliches Verhalten.

V iele Aspekte prosozialen Handelns


werden durch das Hormon Oxy­
tozin reguliert. Wer besonders stark zu
nisses zuhörten. Die so entstandenen
Clips zeigten die Forscher insgesamt 116
Probanden, die das Sozialverhalten der
Wie die Forscher betonen, geht mit
dem Vorhandensein einer entsprechen­
den Genvariante nur eine bestimmte
­altruistischem Verhalten neigt, ist daher abgefilmten Personen beurteilen sollten. Neigung einher – und keinesfalls ein un­
womöglich Träger einer bestimmten Positive Beurteilungen bekamen im abwendbares Schicksal. Träger des A-Al­
Gen­variante, die den Oxytozinrezeptor Schnitt vor allem Träger der G-Variante lels müssten laut Saturn »lediglich ein
an Hirnzellen beeinflusst. des Gens. Sie fördert laut früheren For­ bisschen mehr aus ihrem Schneckenhaus
Wie Forscher um Sarina Saturn von schungen ein besonders soziales Verhal­ gelockt werden«.
der Oregon State University in Corvallis ten, sofern sie auf beiden Chromosomen Proc. Natl. Acad. Sci. USA 10.1073/
(USA) nun entdeckten, lassen sich solche vorliegt. Die Einzelauswertung zeigte: pnas.1112658108, 2011
Personen relativ zuverlässig erkennen: Unter denjenigen zehn Personen, welche
Ein 20-sekündiger Stummfilm genügte die höchsten Werte erhielten, trugen
Beobachtern bereits für eine Einschät­ sechs die doppelte G-Variante; von den Tagesaktuelle Meldungen aus
zung mit hoher Trefferquote. zehn mit den niedrigsten Empathiewer­ Psychologie und Hirnforschung finden
Die Wissenschaftler hatten bei 23 Frei­ ten hingegen hatten neun auf mindes­ Sie im Internet unter
willigen die Ausprägung des entspre­ tens einem Chromosom das komplemen­ www.wissenschaft-online.de/
chenden OXTR-Gens bestimmt. Anschlie­ täre A-Allel. Vermutlich waren es vor psychologie
ßend filmten sie die Versuchspersonen, allem nonverbale Hinweise wie Kopfni­
während sie ihrem Lebenspartner bei der cken oder Lächeln, welche die Probanden
Schilderung eines aufwühlenden Ereig­ bei ihrer Begutachtung berücksichtigten.

10 G&G 1-2_2012


i m Munsystem

Attacke aus dem Darm


Darmbakterien wirken bei multipler Sklerose mit.

B ei multipler Sklerose greift das Immunsystem die körperei­


genen Nervenzellen an und zerstört sie nach und nach. Da­
für könnte die eigentlich gesunde Darmflora mitverantwortlich
sein: Bei gentechnisch veränderten Mäusen, die Wissenschaft­
Reinhart Lempp
ler als Modellorganismen für multiple Sklerose dienen, ent­
deckten Hartmut Wekerle vom Max-Planck-Institut für Neuro­ Generation 2.0 und
biologie in Martinsried und seine Kollegen, dass sämtliche die Kinder von morgen
Krankheitssymptome nahezu völlig ausblieben, wenn die Tiere aus der Sicht eines Kinder- und
in einer keimfreien Umgebung aufgezogen wurden. Jugendpsychiaters
In weiteren Experimenten zeigte sich, dass die Mausvariante Von den Kriegskindern zur „Generation Face-
der multiplen Sklerose tatsächlich nur mit einer intakten Darm­ book“ hat sich vieles geändert: Die Familien
flora fortschritt. Möglicherweise löst ein wiederholter Kontakt sind kleiner geworden, die klassische Rollen-
verteilung hat sich verschoben und technische
mit Substanzen bestimmter Bakterien im Darm die immuno­
Erfindungen haben unseren Alltag revolu-
logische Überreaktion aus, spekulieren die Forscher: Die Keime tioniert. Werte und Erziehung mussten sich
könnten etwa Glykoproteine aufweisen, die den später angegrif­ wandeln, um mit dieser Entwicklung Schritt
fenen Oberflächenproteinen der Myelinscheiden der Nerven­ zu halten.
zellen ähneln. Sie werden im Darmepithel von T-Zellen erkannt, 2011. 192 Seiten, 11 Abb., kart.
die dann die typischen, schubweisen Attacken auf die Neurone € 14,95 (D) / € 15,40 (A) • ISBN 978-3-7945-2877-6

starten.
Vielleicht lässt sich multiple Sklerose in Zukunft besser be­ Manfred Spitzer
kämpfen, indem man die mitschuldigen Keime im Darm ins Vi­
sier nimmt, hoffen die Wissenschaftler. Die neuen Erkenntnisse
Nichtstun,
Nichtstun,
könnten ihrer Ansicht nach auch die seit Jahren steigenden Fall­
Flirten, Küssen Flirten, Küssen
zahlen in Asien erklären: Durch veränderte Ernährungsgewohn­ und andere Leistungen des Gehirns
heiten weiter Bevölkerungsteile habe sich mit der Zeit die Zu­ In 20 neuen Beiträgen widmet sich der Neu-
sammensetzung der Darmflora »verwestlicht«. rowissenschaftler, Psychiater und Philosoph
Nature 10.1038/nature10554, 2011 Manfred Spitzer erneut seinem liebsten For-
schungsobjekt – dem menschlichen Gehirn.
Dabei spannt er den Bogen von der „Wis-
Mikroben iM leib
senschaft vom Flirten“ über das „Gehirn ei-
Baktieren wie Escherichia coli gehören zur Grundausstattung unseres und andere Leistungen des Gehirns
ner Mutter“ bis zur „Gehirnforschung in der
Darms. Doch mitunter können sie auch krank machen. Fastenzeit“.
2012. Ca. 300 Seiten, ca. 70 Abb., ca. 10 Tab., kart.
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Alois Burkhard
Achtsamkeit
Entscheidung für einen neuen Weg
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wusste Wahrnehmung von Gefühlen, Hand-
lungen und Gedanken und verbessert damit
den Umgang mit Emotionen sowie die Stress-
toleranz. Dieses Buch bietet eine Vielfalt an
Meditationsanleitungen und Übungen gegen
Stress, die eigenständig oder unter Anleitung
Rocky Mountain Laboratories, NIAID, NIH

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Irrtum und Preisänderungen vorbehalten.

Herausgegeben von Wulf Bertram


www.gehirn-und-geist.de 11
Traumforsch ung

Lebhafter Schlaf
Das Gehirn steuert geträumte Bewegungen
in ähnlicher Weise wie reale.

E inem Forscherteam um Michael Czisch vom Max-Planck-­


Institut für Psychiatrie in München ist es gelungen, die

MPI für Psychiatrie


Hirnaktivität von geträumten Handbewegungen mit funktio­
neller Magnetresonanztomografie sichtbar zu machen – indem
sie »luzide« Träumer untersuchten. Die Wissenschaftler nutzten
die Fähigkeit der Probanden, ihre Fantasiereisen im Schlaf gedacht, getan
selbst steuern zu können. Eine nur im Traum ausgeführte Bewegung (links) erregt die
Sobald die Teilnehmer im luziden, also bewussten Traumzu­ gleichen Gebiete der motorischen Hirnrinde wie die echte im Wachzu-
stand angekommen waren, signalisierten sie durch eine verab­ stand (rechts).
redete Folge von Augenbewegungen den Beginn einer bestimm­
ten Aktion: das abwechselnde Ballen der rechten und linken
Faust. Nach dem Aufwachen berichteten sie, ob es ihnen tat­ auch bei echten Handbewegungen im Wachzustand aktiv wird.
sächlich gelungen war, die Instruktion auszuführen. Durch weitere Untersuchungen mit Probanden, die das luzide
Zwar brachten nur zwei von sechs Personen das Kunststück Träumen erlernt haben, erhoffen sich die Wissenschaftler ge­
fertig. Bei diesen aber zeigte sich, dass die geträumte Handlung nauere Einblicke in die Traumfabrik im Kopf.
einen Teil der sensomotorischen Großhirnrinde anregte, der Curr. Biol. 21, S. 1833 – 1837, 2011

Halluzinationen

Rausch der Schamanen


Eine pflanzliche Droge lässt Visionen wie echte Wahrnehmungen erscheinen.

W ährend ritueller Sitzungen nehmen die Schamanen ei­


niger Indianerstämme vom Amazonas und aus den An­
den ein Elixier zu sich, das sie aus der Lianenart Banisteriopsis
ten. Anschließend sollten die Probanden ihre Augen schließen
und sich vorstellen, dass sie immer noch das Bild sähen. Die per
funktioneller Magnetresonanztomografie gemessene neuro­
caapi – auch »Liane der Geister« genannt – sowie dem Strauch nale Aktivität im primären visuellen Kortex, die beim Blick auf
Psychotria viridis gewinnen. Das daraus resultierende Gebräu die echten Fotos noch auf vollen Touren lief, sackte bei der Ima­
namens Ayahuasca löst starke Halluzinationen aus und schärft ginationsaufgabe stark ab.
das Gehör, während Arme und Beine oft kontrollierte Bewe­ Das änderte sich jedoch, nachdem die Teilnehmer Ayahuasca
gungen vollführen. Wie nun ein Team um Draulio de Araujo zu sich genommen hatten: Unter dem Einfluss der Droge feu­
von der Universidade Federal do Rio Grande do Norte im brasi­ erten die Neurone ebenso stark wie im rauschfreien Zustand.
lianischen Natal herausfand, empfinden die Konsumenten die Der gleiche Bereich im Gehirn, der für das Sehen verantwortlich
auftretenden Visionen als reale Bilder. ist, werde also auch bei diesen Halluzinationen aktiviert, wes­
Die Neurologen ließen zehn regelmäßige Nutzer zuerst in halb die Ayahuasca-Konsumenten sie als sehr echt wahrnäh­
nüchternem Zustand Bilder von Menschen und Tieren betrach­ men, so die Forscher. Womöglich sei dies einer der Gründe da­
für, warum Schamanen die Droge seit Jahrhunderten verwen­
den, um mystische Offenbarungen zu erzeugen.
Die Wirkung des Getränks beruht auf der Kombination zwei­
er Pflanzenstoffe: Ein Monoaminooxidasehemmer aus der Lia­
ne verhindert, dass der Wirkstoff Dimethyltryptamin aus dem
Strauch zu schnell abgebaut wird – und so langfristig seine be­
rauschende Wirkung entfalten kann.
Hum. Brain Mapp. 10.1002/hbm.21381, 2011
Eye Ubiquitous / Hutchison

KULTISCHE DRÖHNUNG
Mittels pflanzlicher Drogen versetzen sich Indios vom Volk der
Tukano im Nordwesten Amazoniens in einen rauschhaften Zustand.

12 G&G 1-2_2012


Sozi alpsychologie

Helfen tut gut


Seinem Partner in misslicher Lage beizustehen, aktiviert das
Belohnungssystem des Helfenden.

W er in schwierigen Situationen so­


ziale Unterstützung findet, fühlt
sich besser – aber was hat derjenige da­
Im Gehirn der Frauen, die zu ihren lei­
denden Partner Kontakt halten durften,
offenbarte sich eine Erregung im ventra­
von, der die Hilfe leistet? Die Psycholo­ len Striatum und in anderen Bereichen
ginnen Tris­ten Inagaki und Naomi Eisen­ des Belohnungszentrums im Gehirn –
berger von der University of California in dieselben Regionen, die sich auch beim
Los Angeles fanden heraus: Hilfsbereit­ Genuss von Schokolade regen. Zusätzlich
schaft macht sich in erhöhter Aktivität war das Septum aktiviert, das bei der Ver­
des Belohnungssystems im Gehirn be­ ringerung von Stress eine Rolle spielt.
merkbar. Wider Erwarten erwiesen sich diese
Die Forscherinnen untersuchten Paare Hirnregionen in der Kontrollbedingung,
mittels funktioneller Magnetresonanz­ in der die Partner keine Elektroschocks
tomografie. Während die Frauen im Scan­ erhielten, als weniger rege – selbst wenn
ner lagen, erhielten ihre Partner schmerz­ die Probandinnen ihre Männer am Arm

Fotolia / DX Foto
hafte Elektroschocks. Ein Teil der Proban­ fassen durften. Die belohnende Hirnak­
dinnen durfte dabei den Arm des Mannes tivität trat also offenbar nur dann auf,
halten. Die Partnerinnen in der anderen wenn die Berührung eine unterstützende
Gruppe mussten der Prozedur zusehen, Funktion hatte. Gib mir Kraft!
ohne ihren Männern Beistand leisten zu Psychosom. Med. 10.1097/ Ein kräftiger Händedruck stärkt das Wohlbe-
können. PSY.0b013e3182359335, 2011 finden des Partners – und das eigene.
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Behandlung von Beschwerden bei leichten bis mittelschweren hirnorganisch bedingten mentalen Leistungsstörungen im Rahmen eines thera-
peutischen Gesamtkonzeptes bei Abnahme erworbener mentaler Fähigkeit (dementielles Syndrom) mit den Hauptbeschwerden: Rückgang der
Gedächtnisleistung, Merkfähigkeit, Konzentration und emotionalen Ausgeglichenheit, Schwindelgefühle, Ohrensausen. Bevor die Behandlung mit
Ginkgo-Extrakt begonnen wird, sollte geklärt werden, ob die Krankheitsbeschwerden nicht auf einer spezifisch zu behandelnden Grunderkrankung
beruhen. Zu Risiken und Nebenwirkungen lesen Sie die Packungsbeilage und fragen Sie Ihren Arzt oder Apotheker.
Dr. Willmar Schwabe GmbH & Co. KG, Karlsruhe Stand: August 11 T//11/

173x117_Gehirn_u_Geist.indd 1 29.09.11 15:50


Neue Serie

Wie alles begann


Zum zehnten Geburtstag von G&G blickt Chefredakteur Carsten Könneker
zurück auf Menschen und Themen.

A ls die Geschichte von Gehirn&Geist am


31. Januar 2002 begann, war sie bereits
mehr als ein Jahr alt. An diesem Tag erschien
spannende Themen aus der Forschung als auch
Interesse auf Leserseite versprachen.
Eine neue Zeitschrift konzipieren? Natürlich
­unser Premierenheft. Doch viele Monate zuvor war ich Feuer und Flamme! In der Rückschau
SERIE IM ÜBERBLICK schon hatte sich eine kleine, langsam wachsen- markiert jener Tag für mich den Beginn einer
Die großen de Schar von Verlagsmanagern, Redakteuren aufregenden Reise.
G&G-Themen und Lay­outern mit dem beschäftigt, was laut Dabei ist die Geschichte von G&G noch äl-
einem Sitzungsprotokoll aus dem Mai 2001 ter: Unser Gründungschefredakteur und lang-
Teil 1: Wie alles begann. noch den internen Arbeitstitel »Spektrum der jähriger Herausgeber Reinhard Breuer hatte
Ein Rückblick auf zehn Psychologie/Hirnforschung/Intelligenz/…« trug. bereits im November 2000 auf einer gemein-
Jahre G&G 1 (1-2/2012) Meine persönliche G&G-Geschichte begann samen Zugfahrt mit Dean Sanderson und dem
am 10. Januar 2001. An diesem Tag betrat der heutigen Geschäftsführer Markus Bossle erste
Teil 2: Willensfreiheit und
­damalige Geschäftsführer von »Spektrum der Ideen für neue Spezialreihen auf einem Notiz-
Bewusstsein: Die Geheim-
Wissenschaft«, Dean Sanderson, mein kleines block ­notiert. Schon damals fiel der Name
nisse des Ich (3/2012)
Büro in der Heidelberger Vangerowstraße und »Gehirn und Geist« als möglicher Titel einer
Teil 3: Blick ins Gehirn – stellte mir eine rhetorische Frage: ob ich nicht Zeitschrift über neurowissenschaftliche und
Neuroimaging und die Lust hätte, Konzepte für Tochterzeitschriften psychologische Forschung, inspiriert durch
Folgen (4/2012) von »Spektrum der Wissenschaft« mit zu ent­ ein gleich­namiges »Spektrum«-Sonderheft aus
wickeln? Dieses Magazin, das denselben Namen dem Jahr 1993, das auf große Leserresonanz ge-
Teil 4: Psychotherapie und
wie der Verlag trägt, berichtet seit 1978 monat- stoßen war.
seelische Gesundheit
lich über die ganze Bandbreite der Wissen- In den Frühjahrswochen 2001 begab ich
(5/2012)
schaft – von Physik und Astronomie über Medi- mich auf Streifzug durch Institutsbibliotheken,
Teil 5: Alzheimer & Co. zin, Biologie, Mathematik und Technik bis hin Webseiten und Zeitschriftenkioske. Die Resulta­
Das kranke Gehirn (6/2012) zu Archäologie, Psychologie und Sozialwissen- te meiner Recherchen wurden in regelmäßigen
Teil 6: Kinder, Erziehung, schaften. Nun sollten Ideen für thematisch en- Runden mit Chefredakteur und Geschäftsfüh-
Neurodidaktik (7-8/2012) ger zugeschnittene Heftreihen her, die sowohl rung sowie später auch anderen Kollegen aus

Teil 7: Psychogenetik –
Vom Erbgut zum Verhalten
(9/2012) »Gehirn&Geist erfüllt eine wichtige Funktion:
Teil 8: Glaube und Neuro- Die Zeitschrift macht der breiten Öffentlichkeit
theologie: Wo Gott wohnt in klaren und anschaulichen Worten
(10/2012) verständlich, was Neurowissenschaftler tun.«
Teil 9: Die Gabe der Spra-
che (11/2012)
Mit frdl. Gen. von Eric Kandel

Teil 10: Chancen und


Risiken des Neuroenhance­ Eric Kandel, Medizin-Nobelpreisträger
ments (12/2012) und Neurowissenschaftler
an der Columbia University in New York

14 G&G 1-2_2012


Redaktion, Layout, Marketing und Vertrieb dis-
kutiert und weiter geformt.
Anfangs verlief diese Arbeit ergebnisoffen;
an Stelle von »Gehirn&Geist« hätten wir also
auch eine Zeitschrift für Technologie oder Medi­
zin stricken können. Doch neben harten Indika-
toren wie den Interessenprofilen von Magazin-
lesern, die wir ermittelten, faszinierte uns die
Idee, ein Forum für aktuelle Forschung jenseits die ers­ten Hefte publiziert waren, zeigten
der herkömmlichen Fächergrenzen von Neuro- Befragun­gen innerhalb der schnell wachsenden
biologie, Psychologie, Philosophie des Geistes Leserschaft, dass die von uns Redakteuren als
und KI-Forschung zu schaffen. Wodurch sich im­ zentral erachteten Gebiete Künstliche Intelli-
mer klarer die redaktionelle Leitidee herausbil- genz und Robotik das Publikum weit weniger
dete, so packende Themen wie »Bewusstsein«, ansprachen als etwa Pädagogik, Psychiatrie und
»Intelligenz«, »Lust und Liebe« oder das »Ich« Psychotherapie – Disziplinen, die wir anfangs
(die Titelthemen des ersten Jahrgangs) stets von nicht ganz oben auf der Prioritätenliste hatten.
allen relevanten Disziplinen aus zu beleuchten, Natürlich haben wir darauf reagiert; heute
um den Leserinnen und Lesern eine Gesamt- bringen wir ­sogar Sonderhefte zu diesen The-
schau zu ermöglichen. Bis heute hat sich an die- mengebieten heraus, zur Kindesentwicklung
sem Ansatz nichts geändert, und ich glaube, ge- sogar seit 2007 eine Heftserie, verantwortet von
nau er macht den Charme unseres »Magazins meiner Kollegin Katja Gaschler. Sie stieß als
für Psychologie und Hirnforschung« aus. zweite eigens für G&G eingestellte Redakteurin
Doch nicht alle Gedankengänge, die wir zim- Mitte September 2001 zum Team – 14 Tage nach
merten, hatten dauerhaft Bestand; manche dem ersten neuen Kollegen Hartwig Hanser, der
stürzten schnell ein. Das betraf selbst so ele- im vergangenen Jahr als Redaktionsleiter zu
mentare Dinge wie den Fächermix. Nachdem »Spektrum der Wissenschaft« wechselte.

»Gehirn&Geist wurde auf dem vermeintlichen Höhepunkt der teils heftigen


Debatte um die Resultate der Hirnforschung und ihrer Bedeutung für unser
Menschenbild gegründet, und wir alle nahmen an, dass sich dieser Boom
Mit frdl. Gen. des Hanse-Wissenschaftskolleg

bald verflüchtigen würde. Doch der Abschwung ist nicht eingetreten – im


Gegenteil! Aber die Diskussion hat sich auf allen Seiten erheblich versachlicht
und vertieft. Dazu hat Gehirn&Geist wesentlich beigetragen, und schon
deshalb gebührt der Zeitschrift zum Jubiläum ein herzlicher Dank.«
Gerhard Roth, Professor für Verhaltensphysiologie an der Universität Bremen
und Direktor des dortigen Zentrums für Kognitionswissenschaften
»Ich kam als Praktikantin zu Gehirn&Geist, als sich das Redak-
tionsteam gerade ans fünfte Heft machte. Eine aufregende
Zeit, in der vieles ausprobiert wurde. Sollen wir Institute und
Wissenschaftler porträtieren? Interessieren sich die Leser eher
für ›harte Forschung‹ oder mehr für Alltagsthemen?
In den letzten zehn Jahren haben sich Team und Heft im-
mer wieder verändert und weiterentwickelt. Geblieben ist ein
spannendes Themenspektrum – gerade auch für mich als
Journalistin. Von Schreibabys über Schizophrenie bis hin zu Stefanie Reinberger, langjährige Autorin und
Tierversuchen, der Stoff geht nicht aus. Weiter so!« freie G&G-Mitarbeiterin

Damit war das Redaktionsteam der ersten war. Dieses Motiv baute Karsten Kramarczik
Stunde komplett: Reinhard Breuer, die Neuro­bio­ flugs auf seinem Rechner nach – und ich finde
login Katja Gaschler, der Biochemiker Hartwig noch heute, dass dieses Vorschaubild auf S. 98
Hanser, der bereits ein vierbändiges Lexikon der in G&G 1/2002 prima zum Thema passt!
Neurowissenschaft editiert hatte, und ich. 2003 Mit dem Erfolg des Magazins – die ersten
stieß mit dem Psychologen Steve Ayan auch un- Hefte wurden uns beinahe aus den Händen ge-
ser heutiger Redaktionsleiter zur Mannschaft. rissen – erhöhte der Verlag die Erscheinungsfre-
Unvergessen ist mir die Drucklegung des quenz: von vier Heften 2002 über sechs 2003
­ers­ten Hefts. Wir hatten im Vorfeld an alles ge- und zehn 2005 bis zu den heutigen zehn regu-
dacht, es lief wie am Schnürchen. Doch einen lären und bis zu sechs Sonderheften (Dossiers,
Tag bevor wir die komplette Publikation elek- Serie »Kindesentwicklung« und Serie »Basis­
tronisch an die Druckerei übermitteln mussten, wissen«).
fiel uns auf, dass wir noch eine Vorschau auf Dass G&G einen Nerv getroffen hatte, zeigt
Ausgabe Nr. 2 benötigten! Texte zu den längst auch die internationale Geschichte. Noch im
beauftragten Themen »Genetik des Sehens«, Jahr 2002 erschien als Übersetzung unserer
»Abnehmen« sowie »Neurotheorie« waren ­Premierenausgabe ein erstes spanisches Heft
schnell geschrieben. Doch wir brauchten noch (»Mente y Cerebro«); 2003 folgten Italien («Men-
Bilder, vor allem für das neue Titelthema »Krea- te e Cervello«) und Frankreich (»Cerveau & Psy-
tivität und Intelligenz«. cho«); 2004 Brasilien (»Mente e Cérebro«) und
Als wir im Büro unseres Artdirectors Karsten die USA (»Mind«); 2007 Belgien und die Nieder-
Kramarczik über schnell organisierbare Bild- lande (»Psyche en Brein«). Heute kann man
motive nachdachten, fiel uns plötzlich ein Ak- G&G auch noch auf Polnisch, Japanisch und in
tenordner auf, der im Regal an der gegenüber- wei­teren Sprachen lesen.
liegenden Wand stand und mit einer Schutzfo- Sämtliche Schwesterpublikationen veröffent-
lie aus verschiedenfarbigen Quadraten beklebt lichen auch eigene, neue Artikel, übernehmen

»Liebe G&Gler, ab ins nächste Jahrzehnt! Darf ich


mir etwas von euch wünschen? Traut euch, Fragen
zu stellen, die viele Forscher vor lauter Publikations-
druck und Antragstingeltangel nicht mehr stellen.
Schaut zwischen die Zeilen. Fragt nach den Daten,
die nicht in den Publikationen stehen. Vernetzt
Ergebnisse, die sonst keiner vernetzt, und zieht
umwerfende Schlüsse daraus. Erkämpft euch Zeit
und Raum für solche Gedanken. Traut euch!«
Annette Lessmöllmann, Professorin für Wissenschaftsjournalismus
an der Hochschule Darmstadt – und ehemalige G&G-Redakteurin

16 G&G 1-2_2012


aber nach wie vor Beiträge aus dem deutschspra- »Herzlichen Glückwunsch zum
chigen Original. Umgekehrt übersetzen wir für Geburtstag! Wann immer ich
G&G ausgewählte Beiträge der Kollegen in New
­Gehirn&Geist lese, werden beide

Frank Eidel / Mit frdl. Gen. von Herbert Management


York, Barcelona, Paris oder anderswo. Die inter-
nationale Zusammenarbeit trägt Früchte: Allein angeregt, darüber nachzudenken,
im Jahr 2010 wurden weltweit mehr als 2,1 Millio- in welchem Verhältnis sie stehen.
nen Hefte der G&G-Familie gekauft. Was kann man von einer Zeitschrift
Wenn Redakteure Bilanz ziehen, tun sie das mehr erwarten? Und wie hätte
freilich weniger auf der Grundlage nackter Zah-
sie sonst heißen sollen? ›Herr und
len. Auf die Themen kommt es an! Was also wa-
ren die Artikel-Highlights der ersten zehn Jahre? Hund‹ gab es ja schon.
Seit Beginn berichten in G&G wie im Mutter- Faszinierend für uns alle, wie sich
blatt »Spektrum der Wissenschaft« Forscher die Bildgebung in dieser Zeit ent­ Dr. Eckart von Hirschhausen,
über ihre eigene Arbeit. Dieses redaktionelle wickelt hat. Was da nicht alles auf- Arzt, Komiker, Autor und Mode­
Prinzip kommt bis heute gut an. In unserer rator
leuchtet, und so bunt! Im Journalis-
jüngsten Leserbefragung von 2011 bekundeten
mehr als die Hälfte der Teilnehmerinnen und mus ist die eigentliche Meinungs-
Teilnehmer, dass sie sogar noch mehr von For- macht, was man nicht schreibt. Und
schern geschriebene Beiträge lesen wollen. im Hirn die Hemmung womöglich so
wichtig wie die Aktivierung. Wenn
Kurzer Draht in die Forschung
man sich die Scans wie Fotos einer
Dank unserer Autoren und wissenschaftlicher
Beiräte haben wir einen besonders kurzen Draht nächtlichen Stadt vorstellt, schaut
in die Labore und Institute. So hatten wir früh- man automatisch erst einmal dort-
zeitig Übersichtsartikel zu brandaktuellen For- hin, wo es leuchtet. Aber kann es
schungstrends im Heft: Gerhard Friedrich und nicht hinter den Fenstern, die gerade
Gerhard Preiss etwa stellten in G&G 4/2002 das
nicht leuchten, noch viel spannender
Konzept der Neurodidaktik vor; Ernst Fehr be-
richtete in G&G 1/2004 über seine Altruismus- zugehen? Nur so ein Gedanke.
forschungen; Gerd Kempermann in G&G 3/ Und für die Zukunft: Da nach dem
2006 über die Entdeckung der adulten Neuro- zehnten Lebensjahr bald der turbu-
genese; Herta Flor schrieb in Heft 3/2009 über lente pubertäre Umbau ansteht,
die Anfänge einer Neuropsychiatrie; Stefan
wünsche ich der Redaktion und Le-
Klöppel in G&G 5/2010 über Alzheimerdiagnos-
tik per MRT. Aus dem Jahrgang 2011 reiht sich serschaft viel von der komplexesten
zum Beispiel der Beitrag von Rainer Goebel und und rätselhaftesten Hirnleistung
Jan Zimmermann in Ausgabe 6/2011 über Diffu- überhaupt: Humor!«
sions-Tensor-Bildgebung in diese Serie ein.
Auch viele ethisch brisante Themen hatten
wir früh im Heft, etwa die Auswertung neuer der elf Autoren hatten sich ursprünglich mit der
Aktenfunde über die systematische Ermordung Idee an uns gewandt, ob nicht ein großer Exper-
psychiatrischer Patienten im NS-Staat (6/2003); tendialog mit einer Reihe führender Hirnfor-
mögliche Herausforderungen durch Neuro­ scher über die Zukunft der Neurowissenschaf-
enhancement (12/2005); und die Frage, ob bild- ten für unsere Leser interessant wäre.
gebende Verfahren einst geeignet sein könnten, Das Thema gehörte ohne Frage in das Maga-
Gedanken zu lesen (3/2006). zin, aber ein Round-Table-Interview mit einem
Ein interdisziplinäres Magazin muss fachli­ knappen Dutzend Teilnehmer erschien uns
che Kontroversen an die Öffentlichkeit bringen kaum praktikabel und zu unübersichtlich. Des-
und Raum für Diskussion schaffen. Besonders halb schlugen wir im Gegenzug vor, verschie-
stechen für mich jene Beiträge heraus, die in dene Repräsentanten aus allen wichtigen Sub-
wichtige Debatten mündeten. So publizierte disziplinen der Hirnforschung einzuladen, einen
G&G in Heft 6/2004 ein Manifest von elf Hirn- gemeinsamen Essay über den Status quo und
forscherinnen und Hirnforschern – und ent­fach­ die Zukunft ihres Fachs zu verfassen. Die darin
­te damit eine Diskussion über eine mögliche präsentierten Thesen sollten in Folgeheften Ex-
Deutungshoheit der Neurowissenschaften. Drei perten aus anderen Disziplinen kommentieren.
»Es war mutig, eine biologisch orien-
tierte Zeitschrift über psychologische
Themen auf den Markt zu bringen.
Und schwierig, damit Erfolg zu ha-
ben. Die Qualität über zehn Jahre zu
halten und die Leser mit jeder Ausga-
be neu zu faszinieren – herzlichen
Glückwunsch, Gehirn&Geist, es funk-
Arvid Leyh, Braincast-Blogger und Redaktions­
leiter von www.dasGehirn.info
tioniert!«

Nachdem unter anderem Philosophen, Psy- ihr Fach (7-8/2005); die Rechtswissenschaftler
chiater und Theologen Stellung bezogen hatten, Björn Burkhardt und Reinhard Merkel über Wil-
erschien in G&G 7-8/2005 schließlich eine lensfreiheit und Strafrecht (5/2006). Der Bio­
»Standortbestimmung« von sechs renommier­ loge Eckart Voland und der Theologe Eberhard
ten deutschen Psychologen. Sie führte unseren Schockenhoff stritten über das Verhältnis von
­Lesern die Bedeutung der Psychologie als Neuroforschung und Religion (7-8/2006); der
Grundlagenwissenschaft neu vor Augen. Ich Sozialpsychologe Dieter Frey und der Soziologe
halte diesen mit »Psychologie im 21. Jahrhun- Michael Hartmann über die Abhängigkeit des
dert« überschriebenen Beitrag noch heute für Erfolgs eines Menschen von seiner Herkunft
einen wichtigen Orientierungspunkt in der (3/2009); die Lernpsychologin Elsbeth Stern
Diskus­sion über das Verhältnis von neurowis- und der Erziehungswissenschaftler Ulrich Herr­
senschaftlicher und psychologischer Forschung mann über Chancen und Grenzen der Neuro­
sowie eine Pflichtlektüre für Studierende dieser didaktik (6/2009); sowie der Philosoph Klaus
Fächer. Peter Rippe und der Hirnforscher Wolf Singer
über Tierversuche in der Grundlagenforschung
Wichtige Kontroversen (12/2010).
Wann immer es ein Thema gibt, bei dem es zu Einige dieser Expertendiskurse habe ich als
kurz gesprungen wäre, nur eine Seite, nur einen Redakteur mitgestaltet – und dabei trotz aller
Experten zu hören, lädt G&G zum Streitge- Kontroverse in der Sache stets nur positive, ja
spräch. Die entsprechenden Beiträge gehören inspirierende Erfahrungen gemacht. Und von
für mich gewissermaßen zur DNA unseres so manchem Streitgesprächsteilnehmer weiß
Hefts: Unter anderem diskutierten der Psycho- ich, dass er noch Jahre nach dem Abdruck auf
loge Manfred Döpfner und der Kinderarzt Diet- seine in G&G vertretenen Ideen angesprochen
rich Schultz über sinnvolle Therapien bei ADHS wurde.
(3/2004); der Neurobiologe Henning Scheich Doch nicht nur Redakteure, Autoren und In-
und der Philosoph Ansgar Beckermann de­ terviewpartner machen G&G aus – was wäre das
battierten über den Grenzverlauf zwischen ih- Heft ohne Sie, unsere Leserinnen und Leser?
ren Fächern (3/2005); die Psychologen Rainer Von Beginn an haben sich engagierte Leser mit
Mausfeld und Onur Güntürkün über mögliche konstruktiver Kritik und Ideen in der Redaktion
Herausforderungen eines Neurobooms für gemeldet. Keiner freilich dürfte dabei so nach-

»Vor zehn Jahren, als Gehirn&Geist entstand, hatte ich eine Frage an einen
Re­dakteur wegen eines Auftrags. Ein Kollege des Betreffenden sagte mir: ›Mo-
ment, der oszilliert hier irgendwo durch die Räume. Ich schau mal nach!‹ So
ist es bis heute geblieben: viel Bewegung, immer neue Erkenntnisse, die inte-
ressant visualisiert und verständlich erklärt werden. Meinen Glückwunsch!«

Thomas Braun, Grafiker und Illustrator

18 G&G 1-2_2012


haltig erfolgreich gewesen sein wie Uli Winters so garniert G&G-Redakteurin Christiane Gelitz
aus Hamburg. die Seiten von »Bücher und mehr« mittlerweile
Im August 2003 schickte er uns einen Leser- auch mit Kurzbesprechungen, Interviews, Neu-
brief mit dem Vorschlag, in G&G neben all den erscheinungs- und Bestsellerlisten. Und Andreas
Topexperten doch auch Laien zu Wort kom- Jahn versorgt nicht nur das Heft, sondern auch
men zu lassen – zum Beispiel ihn! Wir be­ die Website www.gehirn-und-geist.de mit aktu-
gutachteten seine lustige Textprobe in der ellen Meldungen.
­Redaktionskonferenz und entschieden, es ein- Pünktlich zum Jubiläum erstrahlt unsere
mal miteinander zu probieren. Daraus wurden Website in neuem Glanz (siehe auch S. 7). Neben
acht Jahre, die leider mit dem vorliegenden Nachrichten aus der Forschung finden Sie dort
Jubi­läumsheft auf Wunsch des Kolumnisten unter anderem Redaktionstipps sowie zwei um-
­enden. Seit Ausgabe 6/2003 traktierte er als fangreiche aktuelle Studienführer für Psycholo-
­Erkenntnisforscher in eigener Sache je ein aus- gie und Neurowissenschaften, die Interessierten
gewähltes Thema in seinem satirischen »Nach- eine Übersicht über die Möglichkeiten geben,
schlag«. Herr Winters, wir werden Sie und Ihren diese Fächer in Deutschland zu studieren.
Humor vermissen! Ob im gedruckten Heft oder digital – auch in
Uli Winters hat in seiner Kolumne über die den nächsten zehn Jahren wird es nicht langwei-
Jahre vieles von sich preisgegeben. Was aber lig! Bahnbrechende Forschungen, neue Entwick­

»Gehirn&Geist ist (und bleibt) für mich eines der kreativsten und informa-
tivsten neuen Formate der letzten Jahre. Unbestreitbar hat es einen Boom von
Wissenschaftszeitschriften in Deutschland gegeben. In meinen Augen hebt
sich Gehirn&Geist deutlich und wohltuend ab – was vielleicht der Grund für
Jürgen Bauer / Mit frdl. Gen. der Fischer-Verlage

den bemerkenswerten Umstand ist, dass das Magazin auch international


zum Vorbild werden konnte. Inzwischen gibt es höchst erfolgreiche Ausgaben
unter anderem in den USA, Brasilien und Spanien. Keine Zeitschrift hat die
neurowissenschaftliche Diskussion in all ihren Fassetten derart kompetent,
seriös und dennoch für interessierte Laien nachvollziehbar begleitet und
kommentiert – und das über Jahre!
Gert Scobel, Es ist nicht zuletzt ein Verdienst von Gehirn&Geist, die verkrustete Debatte
Fernsehmoderator und weitergebracht, die harten Fronten gelockert und Philosophen, Psychologen
Sachbuchautor und Neurobiologen wieder miteinander ins Gespräch gebracht zu haben.
Last but not least: Gehirn&Geist wagt immer wieder den interdisziplinären
Blick in Randgebiete und damit in die Zukunft. Das Magazin ist für mich eine
wichtige und innovative Informationsquelle, beruflich wie privat.«

wissen wir darüber hinaus von unserer Leser- lungen in Diagnose und Therapie sowie wichti­ge
schaft? Am meisten interessiert sie sich laut un- Debatten sind weiterhin auf dem Radarschirm
seren regelmäßigen Befragungen für psycholo- von uns Redakteuren. Aus der Fülle der wissen-
gische Forschung, dicht gefolgt von den Neuro- schaftlichen Veröffentlichungen suchen wir
wissenschaften; Medizin, Psychotherapie und jene Ergebnisse heraus, die über den Tag und
Pädagogik setzen die Hitliste beliebter Fachge- das Fachgebiet hinaus bedeutsam sein dürften,
biete fort. Aktuelle Forschung und Überblicks­ und laden Experten ein, für Sie zu berichten.
artikel werden besonders geschätzt, aber auch Kurz: Stets aufs Neue wollen wir uns aufmachen
Reportagen, Fallgeschichten und kontroverse in die Zukunft von Gehirn und Geist. Ÿ
Themen stehen hoch im Kurs.
Die beliebtesten Rubriken sind die Rezen­ Carsten Könneker war von 2002 bis 2003 stell­
sionen und die Geistesblitze. Beide haben wir vertretender Chefredakteur von Gehirn&Geist.
mit den Jahren kontinuierlich weiterentwickelt – Seit 2004 ist er Chefredakteur.
NICHT NUR FÜR DEN AUGENBLICK
Auch kurze Abenteuer wirken oft intensiv
nach: Wir schwelgen noch lange in
Dreamstime / Jessamine

Erinnerungen und betrachten das Erlebte


als Teil unserer Persönlichkeit.

20 G&G 1-2_2012


psychologie ı erlebnisse

Momente des Glücks


Studien belegen: Nicht Einkommen oder Besitztümer sind der Schlüssel
zu Wohlbefinden und Zufriedenheit, sondern bedeutsame Erfahrungen. Der
Psychologe Marc Hassenzahl erklärt, wie die Suche nach dem perfekten
Augenblick einen neuen »Erlebnismarkt« schuf und sogar das Design neuer
Produkte beeinflusst.

Von Marc Hassenzahl

W as haben Sie sich von Ihren Liebsten zu


Weihnachten gewünscht? Die begehrten
Konzerttickets oder ein teures Paar Schuhe? Die
dagegen Kleidung, Schmuck oder Unterhal­
tungselektronik. Die Befragten hatten in Aktivi­
täten durchschnittlich genauso viel Geld ge­
Armbanduhr oder doch lieber einen Wochen­ steckt wie in Sachen. Allerdings bejahten die
endtrip nach Paris? Kurzurlaub und Musik­ Erlebniskäufer anschließend deutlich entschie­
genuss haben eines gemeinsam: Es sind Erleb­ dener die Frage, ob sie ihr Geld gut investiert sä­
nisse, die vorübergehen. Kleidung und Uhr da­ hen, und sie machten sich weniger Gedanken
gegen besitzt man nach dem Kauf für Jahre oder darüber, ob sie es nicht lieber anders hätten aus­
Jahrzehnte. geben sollen. Die Erinnerung an das Erlebte
So schwer uns die Entscheidung privat fallen machte sie zudem froher als ihre materialis­
mag, wissenschaftlich gesehen liegt der Fall tischen Kommilitonen. Au f e i n e n B l i c k
klar. Denn eine Reihe psychologischer Studien
Nichts Gutes,
kommt zu dem Resultat: Erlebnisse machen Rosarote Erinnerungsbrille
glücklicher als Dinge! Mittlerweile ist sogar ein In einer zweiten Studie befragten die Psycholo­
außer man tut es

1
neuer Markt für möglichst aufregende, unge­ gen über 1000 US-Bürger und baten diese, je ei­ Neue und bedeutsa­
wöhnliche Erlebnisse entstanden. Und selbst nen erlebnis- und einen besitzorientierten Kauf me Erfahrungen zu
für Designer und Ingenieure verändert die Su­ zu benennen und diese miteinander zu verglei­ sammeln, macht glückli­
che nach dem perfekten Augenblick die Art, wie chen. Die Mehrheit fand das Erlebnis erfreu­ cher als das Anhäufen
sie Produkte gestalten. licher als den Gegenstand. Interessanterweise von Besitztümern.
Zu den ersten Wissenschaftlern, die Haben hing dieses Urteil aber vom sozioökonomischen
und Sein empirisch miteinander verglichen, ge­
hören die Psychologen Leaf Van Boven von der
Status ab: Befragte mit mehr als 75 000 Dollar
Jahreseinkommen und höherem Bildungsab­
2 Der Wandel zur »Er-
leb­nisgesellschaft«
ist in vollem Gang: Mate-
University of Colorado in Boulder und Thomas schluss hatten eine deutlichere Präferenz für
rialistisch orientierte
Gilovich von der Cornell University in Ithaca den Erlebniskauf. Vor allem Geringverdienende,
Menschen gelten zuneh-
(US-Bundesstaat New York). 2003 fragten sie so Van Boven und Gilovich, müssten nun ein­
mend als eigennützig
rund 100 Studierende, wann diese zuletzt mehr mal den Großteil ihrer finanziellen Mittel dafür
und unreif.
als 100 US-Dollar ausgegeben hatten, um sich aufwenden, wichtige Haushaltsgüter anzu­
selbst eine Freude zu bereiten. Die eine Hälfte
wurde allerdings nach dem Kauf eines Erleb­
nisses gefragt, die andere nach dem eines Ge­
schaffen. Die Frage, ob sie ihr Geld nicht besser
in Aktivitäten investieren sollten, stelle sich ih­
nen daher nicht.
3 In Pilotprojekten
entwickeln Ingeni-
eure und Designer heute
genstands. Warum machen Erlebnisse offenbar glück­ Produkte, die vor allem
An Unternehmungen nannten die Proban­ licher als Besitz? Dafür gibt es eine Reihe von dazu da sind, persönliche
den etwa Restaurantbesuche, Kurzreisen oder Gründen. Zum Beispiel lassen sich Erinne­ Erlebnisse zu schaffen.
Konzertabende. Typische Konsumgüter waren rungen positiv uminterpretieren. Im Rückblick


www.gehirn-und-geist.de 21
können wir Begebenheiten verändern und für die Stelle, die ihm größeres Prestige und Ge­
Ein Speicher schärfen, sie sogar rosiger erscheinen lassen, als halt sowie günstige Mieten am Arbeitsort bie­
für Erlebtes sie tatsächlich waren. Schnell sind das mittel­ tet, dafür aber in einer weniger interessanten
mäßige Essen und der schlechte Service im letz­ Stadt und mit nur mäßig freundlicher Atmo­
Vor fast 40 Jahren be- ten Urlaub vergessen. Mit jeder vergangenen sphäre unter den Kollegen. Craig hingegen ver­
schrieb der kanadische Woche – und jedem herumgezeigten Schnapp­ zichtet auf Ansehen und Einkommen, um dafür
Psychologe Endel Tulving schuss aus sonnigen Gefilden – erscheint die schöner zu wohnen und nettere Kollegen zu ha­
das episodische Gedächt- Reise schöner. Dinge dagegen bleiben, wie sie ben. 24 der 26 Teilnehmer mochten Craig lieber
nis. Es speichert vor allem sind. Man gewöhnt sich schnell an sie, und sie und gaben an, sich lieber mit ihm als mit Mark
persönlich Erlebtes – das verlieren ihren Reiz. anfreunden zu wollen.
Was, Wann und Wo – und
In einer anderen Studie brachten die Psycho­
erlaubt uns mentale Zeit- Prägende Erfahrungen logen zwei zuvor nicht miteinander bekannte
reisen. Störungen des Doch die Vorliebe für Unternehmungen hat Probanden zusammen. Diese sollten sich eine
episodischen Gedächtnis- noch tiefer gehende Gründe: Sie werden als Viertelstunde lang über einen kürzlich getätig­
ses werden mit Autismus wichtiger für die eigene Identität empfunden. ten Kauf unterhalten – in einer Bedingung über
und Schizophrenie in Menschen sind die Summe dessen, was sie er­ den eines Gegenstands (zum Beispiel einer
Verbindung gebracht. Pa- lebt haben. Dafür besitzen wir sogar ein eigenes ­neuen Winterjacke), in der anderen über den
tienten, die Schäden am Gedächtnis, das episodische oder auch autobio­ eines Erlebnisses (etwa eines Skiurlaubs). Da­
medialen Schläfenlappen grafische Gedächtnis (siehe Randspalte links). nach wurden beide getrennt vertraulich be­
des Gehirns erleiden, Weil wir glauben, dass Erlebnisse etwas darüber fragt, welchen Eindruck sie voneinander hatten.
verlieren mitunter jede aussagen, wer wir sind, dokumentieren wir un­ Bei Paaren, die über Besitztümer geredet hat­
Erinnerung an ihre Ver- sere kleinen und großen Abenteuer, um sie an­ ten, schätzten die Probanden sowohl ihren Ge­
gangenheit, was sie als schließend mit anderen zu teilen – sei es bei sprächspartner als auch die Qualität der Un­
ein Verlust ihres Selbst einem Diaabend oder mit Hilfe eines digitalen terhaltung negativer ein. Die Stigmatisierung
beschreiben. Fotoalbums auf Facebook. von Materialisten sei so weit fortgeschritten,
Dass immer mehr Menschen in den Indus­ schlussfolgern die Forscher, dass bereits etwas
trieländern am Sinn des Besitzstrebens zwei­ Small Talk über den Kauf einer neuen Winterja­
feln, zeigt sich auch darin, dass materialistische cke uns in schlechtem Licht erscheinen lässt!
Zeitgenossen zunehmend einen schlechten Ruf Tatsächlich zeichnet auch die psychologi­
genießen: Sie gelten als selbstsüchtig und nur sche Forschung in den letzten Jahren ein negati­
an sozialem Status interessiert. Van Boven und ves Bild von konsumorientierten Zeitgenossen:
Gilovich behaupten sogar, dass Konsumorien­ Die Wirtschaftswissenschaftlerinnen Lan Cha­
tierte regelrecht »stigmatisiert« würden. 2011 plin von der University of Arizona in Tucson
haben sie dieses Phänomen zusammen mit der und Deborah Roedder John von der University
Psychologin und Marketingforscherin Margaret of Minnesota in Minneapolis stellten beispiels­
Campbell von der University of Colorado in ei­ weise 2007 fest, dass Kinder und Teenager umso
ner Reihe von Studien untersucht. materialistischer sind, je geringer ihr Selbst­
In einer davon lernten studentische Ver­ wertgefühl ausgeprägt ist.
suchspersonen die fiktiven Absolventen Mark Ihre Versuchsteilnehmer zwischen 8 und 18
und Craig kennen, die beide vor der Wahl zwi­ Jahren mussten aus verschiedenen Fotos und
schen zwei Jobs stehen. Mark entscheidet sich Begriffen eine Collage zusammenstellen, auf

Glücklichsein leicht gemacht


Der Ökonom Sir Richard Layard von der London School of Economics empfiehlt auf der Website
actionforhappiness.org eine Reihe von Aktivitäten, die Menschen zufriedener machen, darunter:

J Sich Zeit nehmen für Familie und Freunde


J Neues entdecken, etwa unbekannte Stadtviertel erkunden
J Ein Straßenfest organisieren
J Etwas für die eigene Gesundheit tun
J Die Natur genießen

22 G&G 1-2_2012


der sie alles versammeln sollten, was sie glück­
lich macht. Wer laut einem Fragebogen mit sich
zufriedener war, wählte seltener Dinge wie
»Geld« oder »neue Turnschuhe« aus, dafür öf­
ter zum Beispiel »Camping« oder »nette Leute
kennen«. In einer zweiten Studie sollten die Mit­
schüler zuvor positive Dinge über die jeweils an­
deren Teilnehmer aufschreiben. Wer diese Lo­
beshymnen über sich vor dem Experiment zu
lesen bekam, wählte anschließend weniger ma­

Mit frdl. Gen. von Marc Hassenzahlw


terialistische Bestandteile für seine Collage aus.
Neuere Studien zeigten auch bei Erwachsenen,
dass besonders einsame Männer und Frauen
eine ausgeprägte Liebe zu Dingen wie Compu­
tern oder Fahrrädern entwickeln.

Raus aus dem Alltag


Der Trend zum Erleben lässt sich in Deutsch­ Nähe und Erinnerungen
land gut am Beispiel des Wanderns illustrieren,
das plötzlich wieder in ist. Laut Deutschem An der Folkwang Universität der Künste in Essen untersuchen Mitarbeiter
Wanderverband sind 40 Millionen Deutsche und Studierende neue Produktideen, die den Ansprüchen des »erlebnisori-
über 16 Jahren aktive Wanderer. Sie stapfen entierten Designs« genügen. Das Flüsterkissen, entworfen von Wei-Chi
durch Wälder und Wiesen, um sich zu besinnen, Chien, beschäftigt sich mit der romantischen Kommunikation zwischen Lie-
den Alltag zu vergessen oder die Natur zu erle­ benden. Es hat eine Tasche mit eingebautem Mikrofon, in die man eine Nach-
ben. Die dabei entstehenden Wahrnehmungen richt an den Liebsten sprechen kann. Öffnet man die Tasche erneut, gibt das
und Gefühle, schreibt der Verband, seien zu Kissen die Botschaft wieder ab. Die Funktionalität wurde dabei bewusst be-
einem Sinnbild für die zentralen Bedürfnisse schränkt: Der Rekorder hält nur eine einzige Nachricht, die nach einmaligem
und Sehnsüchte unserer Gesellschaft gewor­ Abhören automatisch gelöscht wird. Das betont den besonderen emotio-
den: Natur, Authentizität, Abstand vom Alltag. nalen Wert der Botschaft – es geht hauptsächlich um ein Gefühl der Nähe
Doch manche Menschen schätzen Erlebnis­se statt um Kommunikation.
nicht nur, sondern sammeln diese regelrecht. Ein Entwurf von Arthur Almenräder, das Tickboard, verstärkt das Erlebnis
Die beiden US-amerikanischen Marketing­ von Konzertbesuchen: Umfragen ergaben, dass viele Musikbegeisterte ihre
forscher Anat Keinan und Ran Kivetz sprechen Eintrittskarten zu diesen Events sammeln und in ihrer Wohnung »ausstel-
sogar von einem Erlebnis-Lebenslauf, den wir len«. Beim Tickboard handelt es sich um einen digitalen Bilderrahmen, an
uns erarbeiten: alle 50 Staaten der USA berei­ dessen Seite man Tickets festklemmen kann. Auf dem Rahmen erscheinen
sen, in einem Eishotel übernachten, Eiskrem dann jeweils in der Form der verdeckten Billets digitale Konzertfotos. Kon-
mit Speck­geschmack probieren, einmal im krete und digitale Erinnerungsstücke werden so miteinander verwoben.
Auge eines Tornados stehen. http://hassenzahl.wordpress.com
Der Drang, sich über Erfahrungen selbst zu Blog des Autors mit vielen weiteren Konzepten
für »erlebnisorientierte« Produkte
definieren, ist offenbar groß – denn viele Unter­
nehmungen sind in erster Linie ungemütlich
und anstrengend. Wie stark der Wunsch ist, Er­
lebnisse trotz damit verbundener Unannehm­ Mittlerweile ist ein eigener Erlebnismarkt
lichkeiten zu sammeln, zeigt sich in einfachen entstanden, der mitunter seltsame Blüten treibt.
Experimenten: Vor die (hypotheti­sche) Wahl ge­ So können Touristen für rund 50 000 bis 60 000
stellt, einen sechsstündigen Zwischenstopp in US-Dollar eine geführte Mount-Everest-Bestei­
Budapest auf dem Flughafen mit einer DVD zu gung buchen. Der Wirtschaftswissenschaftler
verbringen oder aber trotz Winterkälte die Stadt Russell Belk von der York University im kana­
zu besuchen, entschieden sich 77 Prozent der dischen Toronto hat gemeinsam mit seiner Kol­
Teilnehmer für den Ausflug. Und das, obwohl 64 legin Gülnur Tumbat von der San Francisco State
Prozent das Anschauen der DVD als ­angenehmer University über sechs Jahre lang Bergführer und
einschätzten. In klirrender Kälte ­herumzulaufen, ihre Kunden beobachtet und interviewt.
klingt zwar erst einmal wenig verlockend, aber Ihr Fazit: Viele der vermeintlichen Abenteu­
dafür ergibt sich vielleicht ein unvergessliches rer interessieren sich nur für das Erreichen des
Erlebnis. Gipfels, um es als persönlichen Erfolg zu verbu­


www.gehirn-und-geist.de 23
Vom Haben
zum Sein
Schon 1979 formulierte
der Psychologe Erich
Fromm in seinem Bestsel-
ler »Haben oder Sein« eine
leidenschaftliche Kritik am
Materialismus. Mit dem
Haben verband er Passivi-
tät, Egoismus und fehlen­
des Verantwortungsbe-
wusstsein, das Sein dage-
gen zeichne sich durch
persönliche Entwicklung,
Aktivität und Konsumver-
zicht aus.

chen. Sie wollten der jüngste Amerikaner auf Bislang wurden Gefühle und Erleben haupt­
dem Berg sein, der erste mit Diabetes oder der sächlich durch das Design eines Produkts und
quellen erste, der zehn Stunden auf dem Gipfel ver­ die dazugehörige Werbung vermittelt. Wenn
Hassenzahl, M.: Experience bracht hat. Nach der Tour gehen sie stolz auf beispielsweise Ferrero seine Küsschen als Sym­
Design: Technology for All Vortragsreise. Für das eigentliche Erlebnis des bol für Freundschaft vermarktet, ist das bloßes
the Right Reasons. Morgan & Bergsteigens interessieren sie sich dagegen Marketing. Süßigkeiten können keine Gefühle
Claypool, Fort Collins 2010 kaum; die Forscher registrierten bei den Be­ von Freundschaft erzeugen, sie können höchs­
Keinan, A., Kivetz, R.: Produc- fragten vor allem eigennützige Motive und Kon­ tens gut schmecken. Ich bekomme keinen ein­
tivity Orientation and the kurrenzdenken. zigen neuen Freund allein durch das Essen von
Consumption of Collectable Eine Bergbesteigung als Statussymbol zu se­ Pralinen. Das Ziel des »Erlebnisdesigns« ist es je­
Experiences. In: Journal of hen, zeigt, dass wir uns noch am Übergang von doch, Dinge zu schaffen, die durch ihre Nutzung
Consumer Research 37, S. einer materialistischen zu einer erlebnisorien­ ein Erlebnis erzeugen können.
935 – 950, 2011 tierten Gesellschaft befinden. Doch nachdem in An mehreren Gestaltungshochschulen wird
Van Boven, L. et al.: Stigmati- den 1990er Jahren vor allem teure Fernreisen, dieser Ansatz derzeit erprobt, unter anderem
zing Materialism: On Stereo- Freizeitparks und Wellnessoasen im Trend wa­ auch in meiner Arbeitsgruppe an der Folkwang
types and Impressions of Ma- ren, beobachtet der Soziologe Gerhard Schulze Universität der Künste in Essen. Es gibt bereits
terialistic and Experiential nun einen Wandel zur »ernsthaften Erlebnis­ eine Vielzahl innovativer Konzepte und Proto­
Pursuits. In: Personality and gesellschaft«: Persönliches Wachstum ist ihren typen, die dabei helfen, die Idee des erlebnis­
Social Psychology Bulletin 36, Vertretern wichtiger als Protz und Angeberei, orientierten Designs zu veranschaulichen (siehe
S. 551 – 563, 2010 Entschleunigung und Konzentration auf den Kasten S. 23).
Augenblick stehen im Vordergrund. Der Floh­ Die Möglichkeit, Menschen Erlebnisse zu
Weitere Quellen im Internet: marktbesuch, ein Wochenende auf dem Land, verschaffen, findet sich überall: beim Bahn­
www.gehirn-und-geist.de/ Grillen mit Freunden, das Tischtennisspiel am fahren, beim Baden und beim Musikhören, im
artikel/1129751 Sonntagnachmittag – solche verhältnismäßig Auto und beim Backen mit den Kindern. Für alle
kleinen Freuden des Alltags geben dem Leben diese Aktivitäten braucht man Dinge. Aller-
WEBLINK Bedeutung. dings ist für Menschen nun wichtiger, was sie
http://bucketlist.org Doch auch sie benötigen eine Infrastruktur. durch ein Produkt erleben können, als es zu be­
Hier können die Benutzer Zum Wandern braucht es in Stand gehaltene sitzen. Die Idee des erlebnisorientierten Designs
öffentlich machen, was sie Wege, Unterkünfte, Landkarten, Regenjacken, nimmt dies auf und versucht so, Menschen ein
gern noch erleben würden. Schuhe. Die An­bieter solcher Produkte stehen bisschen glücklicher zu machen. Ÿ
Die Listen können mit ande- also vor einer ganz neuen Herausforderung:
ren geteilt und abgehakt Wie lassen sich Produkte so gestalten, dass sie Marc Hassenzahl ist Psychologe und Professor
werden. dem Benutzer möglichst freudvolle und erinne­ für Experience Design im Fachbereich Gestaltung
rungswürdige Erlebnisse verschaffen? der Folkwang Universität der Künste in Essen.

24 G&G 1-2_2012


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psychologie ı Kommunikation

Verbale Allzweckwaffe
Manche Menschen halten Klatsch und Tratsch für boshaftes
Geschwätz, andere sehen darin einen unterhaltsamen Zeitvertreib.
Auch Psychologen gilt er als zweischneidiges Schwert:
Er dient ebenso als sozialer Kitt wie zum Ausschalten von Rivalen.

Von Christiane Gelitz

Lockeres kränzchen
Das vertraute Plaudern über
gemeinsame Bekannte ist ein
beliebter Zeitvertreib und
stärkt das gegenseitige Ver­trauen.

Alle Illustrationen dieses Artikels: Martin Burkhardt

26 G&G 1-2_2012


»L iebe Teilnehmerin, stellen Sie sich vor,
Sie sind Single und Ihre neue Nachbarin
blem, indem sie negative Kommentare oder
ganz allgemein Tratsch über Mitspieler oder Au f e i n e n B l i c k
flirtet bei jeder Gelegenheit mit einem Mann Versuchsleiter zu provozieren versuchen. Doch
Diener
aus Ihrer Straße, in den Sie seit geraumer Zeit derart gewonnene Daten lassen sich nicht ohne
heimlich verliebt sind. Würden Sie beim Kaffee­ Weiteres auf Situationen außerhalb des Labors
vieler Herren
klatsch mit einer Freundin über die Nachbarin
lästern?«
Mit diesem Szenario konfrontierten die So­
übertragen.
Um unverfälschte Ergebnisse zu erhal­ten,
bevorzugen manche Wissenschaftler deshalb
1 Klatsch und Tratsch
kann gruppen­dienlich
sein: Er festigt Bezie­
zialpsychologin Karlijn Massar von der nieder­ die Feldforschung. Sie belauschen Restaurant­ hungen und beugt egois­-
ländischen Universität Maastricht und ihre besucher und Fahrgäste in öffentlichen Ver­ ti­schem Verhalten vor.
­Kollegen 83 Probandinnen zwischen 20 und kehrsmitteln, protokollieren den Flurfunk im
50 Jahren. Das erstaunliche Ergebnis der 2012
erscheinenden Studie: Frauen lästerten umso
Büro oder schleusen sich gar in eine Stam­
mesgesellschaft ein. Eine aufwändige Methode,
2 Lästern als Sonder-
form des Tratsches ist
eine indirekte Aggression.
eher über eine Rivalin, je höher sie ihren eige­ denn sie müssen sich erst einmal das Vertrauen
Es kann physische Gewalt
nen »Marktwert« einschätzten, gemessen etwa ihrer unfreiwilligen Probanden erwerben, bevor
ersetzen, etwa wenn
daran, wie häufig ihnen Männer Komplimente sie damit rechnen können, mit Klatsch und
Menschen Rache üben
machten. Ob sie Single oder in festen Händen Tratsch versorgt zu werden.
oder ihrem Ärger Luft
waren, machte keinen Unterschied. Anders als In solchen Feldstudien beobachteten ver­
machen wollen.
das Klischee von Tratschtanten beim Kaffee­ schiedene Forscher in den 1990er Jahren, dass
klatsch vielleicht vermuten lässt, zogen jüngere
Probandinnen außerdem öfter vom Leder als äl­
tere. Aber als die Forscher Frauen mit gleichem
sich der Löwenanteil der Gespräche zwischen
Erwachsenen um deren eigene Angelegenhei­ 3 Attraktive junge
Frauen tratschen be-
sonders häufig und
ten drehte und erst an zweiter Stelle um die
gefühltem »Marktwert« verglichen, spielte das von abwesenden Dritten. Nur in fünf Prozent verlieren dabei in den
Alter keine Rolle mehr. Die subjektive Anzie­ der Zeit äußerten sich die unfreiwilligen For­ Augen Dritter nicht an
hungskraft auf Männer verriet sogar mehr über schungs­­objekte deutlich negativ. Dabei kam es Anziehungskraft oder
ihre Klatschfreudigkeit als das Alter. auch auf den Kontext an. Wenn sich beispiels­ Popularität.
Ist Tratschen also ein charakterliches Defizit weise Kol­legen in der Pause treffen, hat dem­
von Frauen, die sich für etwas Besseres halten? nach etwa ­jedes siebte Gespräch einen nega­
Oder doch nur ein harmloser, unterhaltsamer tiven Beigeschmack.
Zeitvertreib?
Klatsch hat ein Imageproblem: Die meisten Jungs tratschen anders
Menschen stehen ihm mit gemischten Gefüh­ Kinder stehen Erwachsenen dabei in nichts
len gegenüber. Einerseits interessiert es uns nach. Jungs ebenso wie Mädchen tratschen im
schon, welcher Kollege ein Alkoholproblem hat, Schnitt 18-mal pro Stunde, berichteten die Psy­
wer seinen Partner betrügt und wer mit wel­ chologen Jeffrey Parker und Stephanie Teasley
chem Promi per Du ist. Andererseits würden wir von der University of Michigan in Ann Arbor
nicht wollen, dass andere unsere Privatangele­ 2006. Sie hatten Videoaufnahmen von Kindern
genheiten kommentieren, schon gar nicht hin­ zwischen neun und zwölf Jahren in einem Som­
ter unserem Rücken. Klatsch oder Tratsch – ein mercamp ausgewertet. Die Schüler ließen sich
Gespräch über einen abwesenden Dritten mit dreimal häufiger über Angehörige des eigenen
wertender Note – kann sogar Freundschaften als des anderen Geschlechts aus. Während enge
zerstören, vor allem, wenn das böse Stiefkind Freundinnen am meisten tratsch­ten – und zwar
der Tratschtante am Werk ist: das Lästermaul, besonders gerne über ihren Schwarm –, führten
das über Eigenarten, Misserfolge und andere männliche Kumpels solche Gespräche eher sel­
Unzulänglichkeiten von Mitmenschen her­ ten und schon gar nicht über ihre weiblichen Fa­
zieht. voritinnen.
Diese moralisch bedenkliche Seite macht Ähnliche Geschlechtsunterschiede zeigten
Psychologen die Erforschung des schwer greif­ sich auch in zahlreichen Studien mit erwachse­
baren Phänomens nicht leicht. Denn wer Pro­ nen Probanden. Männer bewegen sich demnach
banden um Selbsteinschätzungen per Fragebo­ lieber auf emotional ungefährlichem Terrain.
gen oder Tagebuch bittet, muss damit rechnen, Sie unterhalten sich zum Beispiel über Promi­
dass die Antworten geschönt sind. So mancher nente wie Sportler und Politiker, die sie aus dem
Befragte spielt mehr oder minder bewusst seine Fernsehen kennen, oder über entfernte Bekann­
eigene Tratscherei herunter, um sich vorteilhaft te. Frauen reden am häufigsten über nahe Ange­
darzustellen. Experimente umgehen dieses Pro­ hörige wie Freunde und Verwandte.


www.gehirn-und-geist.de 27
Wesentlich kniffliger zu erfassen sind Sinn vestierte auf einem anderen Markt, bekam die­
Kaffeeklatsch war und Zweck des Austauschs. Der Psychologe Paul ser zwar eine stattliche Summe, doch die ande­
einst Männersache Bloom von der Yale University in New Haven ren guckten in die Röhre. Das geschah so häufig,
(US-Bundesstaat Connecticut) glaubt, dass der dass die Probanden im Schnitt nur 20 Prozent
Das Wort Kaffeeklatsch
so genannte gossip (englisch für Klatsch und der maximal möglichen Auszahlung kassierten.
geht zurück auf den
Tratsch) grundsätzlich kein spezielles Ziel ver­ Ostrom und Kollegen variierten nun eine ein­
Brauch männlicher Zei-
folgt. »Menschen finden andere Menschen ein­ zige Bedingung: Sie erlaubten den Teilnehmern
tungsredakteure im 18.
fach so spannend, dass sie über sie reden«, eine Erfrischungspause, bei der sie miteinander
Jahrhundert, in Kaffeehäu-
meint er. Und wie der Small Talk übers Wetter sprechen konnten. Und siehe da, die Auszah­
sern Neuigkeiten aus-
könne auch Klatsch allerlei Zwecken dienen. lungsquote sprang auf 80 Prozent! Allein die
zutauschen. Unter dem
Diese minimalistische Erklärung verträgt Möglichkeit, dass andere schlecht über sie re­
englischen Pendant gossip
sich laut Bloom durchaus mit der Annahme, Ta­ den könnten, bewahrte die Gruppe vor den
verstand man bis zirka
lent im Tratschen habe Menschen einst einen meis­ten egoistischen Alleingängen.
1800 einen Mann, der mit
evolutionären Vorteil verschafft. Die These fußt Allerdings müssen potenzielle Nutznießer
Freunden trinkt.
auf einer grundlegenden Annahme: »Was so tief dafür auch identifizierbar sein, stellten Jared
im menschlichen Verhalten verankert ist, dient ­Piazza und Jesse Bering von der Queen’s Uni­
der sozialen Fitness«, meint beispiels­weise der versity in Belfast 2008 fest. Ihre studentischen
britische Anthropologe Robin Ian McDonald ­Versuchspersonen sollten jeweils zehn Lose mit
Dunbar von der University of Liverpool. Wer einer Chance auf einen 100-Euro-Gewinn mit
etwa potenzielle Rivalen treffsicher zu identifi­ einem zweiten Probanden teilen. Die Hälfte
zieren weiß und dieses Wissen mit Verbündeten glaubte, dass der Mitspieler ihre Entscheidung
teilt, der genieße besonderen Respekt im zwi­ danach mit einem Dritten diskutieren könnte,
schenmenschlichen Zusammen­leben. mit dem sich wiederum ein Teil von ihnen zu­
Für den sozialen Kitt zwischen Gruppenmit­ vor bekannt gemacht hatte. Mit diesem Vor­
gliedern sorgte bei unseren Vorfahren vermut­ wissen gaben die Teilnehmer im Schnitt sogar
lich das wechselseitige Lausen, das so genannte mehr als fünf der zehn Lose ab. Die Pro­banden
grooming, das Forscher heute noch bei Affen in den übrigen Bedingungen billigten ihren
beobachten. Während der Fellpflege schütten Mitspielern im Schnitt nur vier Scheine zu. Die
die Tiere Endorphine aus, ihre Herzrate sinkt Befürchtung, Zielscheibe von Klatsch und
Warum wir tratschen und sie entspannen sich. Doch mit steigen­- Tratsch zu werden, motiviert offenbar viele
Beispiel-Items aus der Gruppengröße (im Kampf gegen Feinde Menschen zu fairem oder gar altruistischem
dem Gossip Functions ein Überlebensvorteil) beanspruchte die nötige Verhalten.
­Ques­tionnaire wechselseitige Fellpflege wohl zu viel Zeit.
An ihrer Stelle habe sich der verbale Infor­ Lehrstück über das Leben
Information mationsaustausch als eine Art soziale Ersatz­ Das Entlarven von Schmarotzern kann die
»Ich versuche herauszufin­den, währung etabliert; die Beteiligten bauen dabei Gruppe aber auch auf anderem Weg stärken:
was im Leben der Menschen Vertrauen zueinander auf und festigen ihre Be­ als gesellschaftliches Lehrstück. Nach Meinung
um mich herum passiert.« ziehung. Ein weiterer Vorteil für die Gruppe: des Psychologen Roy Baumeister von der Flo­
Freundschaft Wie einst beim Lausen lassen sich »Parasiten« rida State University in Tallahassee vermitteln
»Ich teile meine Informatio- identifizieren – nicht die ungebetenen Gäste im Klatschgeschichten soziale Regeln und Normen.
nen mit guten Freunden.« Fell der Artgenossen, sondern die menschlichen Das informelle Gespräch am Kaffeeautomaten
Sozialschmarotzer. Und so halten wir es auch etwa sei »die zentrale Informationsquelle für
Einfluss heute noch, wenn wir über einen Nachbarn neue Mitarbeiter in einem Unternehmen«; auf
»Was ich über andere höre, schimpfen, der nie die Treppe putzt. diese Weise lernten sie die Gepflogenheiten an
kann meine Meinung über Wie effektiv Gruppentratsch egoistischen ihrem Arbeitsplatz am besten kennen. Dasselbe
sie verändern, im Guten wie Entscheidungen Einzelner vorbeugt, demons­ gelte für Märchen und Bibelgeschichten, denn
im Schlechten.« trierte schon Mitte der 1990er Jahre ein Team auch sie brächten moralische Werte und Ver­
Unterhaltung um die Politologin Elinor Ostrom, Nobelpreis­ haltensnormen unters Volk. Ohne die Konse­
»Ich könnte Stunden damit trägerin für Wirtschaftswissenschaften von quenzen eines Regelverstoßes am eigenen Leib
verbringen, Geschichten 2009 und heute Professorin an der Indiana Uni­ erfahren zu müssen, lernten die Zuhörer aus
über das Leben von Menschen versity in Bloomington. Die Forscher ließen Pro­ den Erfahrungen der handelnden Personen in
zu hören, die ich kenne.« banden am Computer Geld investieren und den Geschichten.
(Foster, E. K.: Research on Gossip: zahlten ihnen immer dann die Höchstsumme »Klatsch enthält wertvolle Lektionen darü­
Taxonomy, Methods, and Future aus, wenn alle auf einem bestimmten Markt in­ ber, wie man sich verhalten sollte«, bestätigen
Directions. In: Review of General
Psychology, S. 78 – 99, 2004) vestierten. Scherte allerdings einer aus und in­ Sarah Wert und Peter Salovey von der Yale Uni­

28 G&G 1-2_2012


versity. Als Wurzel des menschlichen Klatsch­ A. Milenkovic vom Knox College in Galesburg
instinkts betrachten die Psychologen aber ein (US-Bundesstaat Illinois). In einer Studie von
eigennütziges Bedürfnis mit dem Ziel, persön­ 2002 legten die Psychologen Studierenden
liche Ansichten zu überprüfen, Bestätigung zu zwölf Arten von gossip vor, zum Beispiel über
suchen und sich mit anderen zu vergleichen, Drogenmissbrauch und eheliche Untreue. Den
etwa um sich als klüger darzustellen. Wer sich Tratsch bezogen sie jeweils auf Verwandte,
zum Beispiel über Nachbars neuen Gelände­ Freunde, Bekannte, Fremde oder Professoren.
wagen wundere, füge gerne hinzu, dass er selbst Die Befragten sollten angeben, wie stark sie sich
das Geld lieber in ein Klavier für den Sprössling dafür interessierten und wie wahrscheinlich es
anlege. Aus solchen Vergleichen erwachse ein wäre, dass sie die Geschichte weitererzählen
befriedigendes Gefühl eigener Überlegenheit würden. AUF NEUTRALEM TERRAIN
und gemeinsamer Identität in Abgrenzung zu Wie die Auswertung zeigte, bevorzugten die Männer tratschen lieber über
Dritten. Probanden im Allgemeinen Tratsch über enge prominente Sportler und
Die eigennützige Seite des Tratsches beob­ Bekannte. Weitererzählen wollten sie vor allem Politiker als über enge Freunde
achteten auch Francis T. McAndrew und Megan gute Neuigkeiten über Freunde und Verwandte, und Bekannte.


www.gehirn-und-geist.de 29
Motivation deuten. Dass wir zum Beispiel
Freunde vor übler Nachrede schützen wollen,
muss nicht dem Eigennutz geschuldet sein, son­
dern kann auch auf besondere Anteilnahme
und Sympathie hindeuten.
Befunde von Aggressionsforschern legen al­
lerdings nahe, dass zumindest das Lästern als
Sonderform des Tratsches eine indirekte Form
von Gewalt darstellt und durchaus im Dienst
der eigenen Durchsetzungskraft steht. So be­
richtete die Anthropologin Nicole Hess vom
Berliner Max-Planck-Institut für Bildungsfor­
schung 2006 gemeinsam mit einem US-Kolle­
gen, dass Frauen in einem fiktiven Szenario eher
nicht aber unehrliches Verhalten wie Compu­ dazu neigten, nach Verleumdung durch einen
terdiebstahl und Betrug. Der einzige Fall, wo Kollegen ihrerseits mit bösem Klatsch zu ant­
Freunde nicht das größte Interesse weckten, worten. Zwar gaben die 255 studentischen Pro­
­waren jene Themen, bei denen die Verwandt­ bandinnen und Probanden gleichermaßen an,
schaftsverhältnisse eine Rolle spielen könnten, am ehesten nach einem anderen Mittel greifen
nämlich bei einer Erbschaft und bei einer zu wollen, etwa den Chef über den wahren Sach­
schweren Krankheit. Frauen interessierten sich verhalt aufzuklären. An zweiter Stelle wählten
besonders für gleichaltrige Rivalinnen, und am die Frauen jedoch üble Nachrede, während
stärksten dann, wenn es um Promiskuität und Männer zu körperlicher Gewalt tendierten. Läs­
Untreue ging. Männer zeigten keine besonders tern ist demnach eine vornehmlich weibliche
ausgeprägte Vorliebe für den Tratsch über das Reaktion auf eine Provokation, vermutlich weil
eigene Geschlecht, es sei denn, der finanzielle sie sich mit den Geschlechternormen eher ver­
Lust auf Promi-News Status oder die sexuelle Potenz eines anderen einbaren lässt.
Das öffentliche Interesse Mannes waren das Thema.
für das Leben von Stars McAndrew und Milenkovic lesen aus ihren Zwei Seiten derselben Medaille
und Sternchen beruht Daten eine egoistische Motivation ab. »Men­ Dass physische und indirekte verbale Aggres­
möglicherweise darauf, schen suchen nach Informationen, die sich im sionen ähnliche Funktionen erfüllen, demons­
dass der Klatsch über sozialen Wettstreit für sie als nützlich erweisen trierten auch die britische Psychologin Sarah M.
Prominente denselben können«, so ihr Fazit. Das könnten bedeutsame Coyne von der University of Lancashire und
Instinkt anspricht wie der Vorgänge in der Familie sein, potenziell schäd­ ihre Kollegen in zwei Experimenten mit Schü­
über persönliche Bekann- liches Wissen über Rivalen oder statusförder­ lern und erwachsenen Frauen.
te. Noch dazu taugt er als liche Neuigkeiten über Freunde. Letztere stün­ In einer 2004 veröffentlichten Untersuchung
Gesprächsstoff für Men- den ganz natürlich im Fokus. »Freunde sind un­ präsentierten die Forscher 11- bis 14-jährigen
schen, die keine gemein- sere besten Verbündeten und wichtig für den Kindern zunächst ein Video, in dem sich ein
samen Bekannten haben. sozialen Aufstieg, aber zugleich unsere größten Mädchen einer Clique anschloss und ihre bishe­
(McAndrew, F. T., Milenkovic, M. A.: Rivalen«, glauben die Psychologen. rige Freundin dafür sitzen ließ. Diese reagierte
Of Tabloids and Family Secrets:
The Evolutionary Psychology of Ihre Untersuchung zeigt beispielhaft, woran darauf in der einen Filmversion mit indirekter
Gossip. In: Journal of Applied die Forschung zu Klatsch und Tratsch krankt: Aggression, etwa indem sie über ihre ehemalige
Social Psychology 32, S. 1 – 20,
2002) Die meisten Ergebnisse lassen sich ebenso im Freundin lästerte. In einer zweiten Fassung gab
Sinn einer egoistischen wie auch einer sozialen sie ihr beispielsweise eine Ohrfeige und rem­

30 G&G 1-2_2012


pelte sie an. Aber in jedem Fall vertrugen ter weg, ­obwohl es ja eigentlich sie war, die den
sich die beiden am Ende wieder; das aggressive Probandinnen Frust bereitet hatte. Stattdessen
Verhalten wurde also belohnt. Nach der Video­ zielte der Ärger der Studentinnen allein auf
session mussten alle Probanden eine schwie-­ die Mitspielerin. Offenbar übertrugen die Ver­
rige Aufgabe lösen, wobei der Versuchsleiter suchsteilnehmerinnen ihre Aggressionen vom
ihr Be­mühen herablassend kommentierte. Zum eigentlichen Übeltäter auf eine »schwächere«
Schluss sollten die Schüler den Versuchsleiter in Zielscheibe.
einem Fragebogen bewerten – angeblich, weil Das zwiespältige Image des Tratschens hat
die Universität wissen wollte, wie gut er seine also einen wahren Kern, denn hinter scheinbar quellen
Arbeit gemacht hatte. Sollte er den Job behal­ harmlosen Worten verbergen sich mitunter Ag­ Baumeister, R. et al.: Gossip
ten? Und wie viel Honorar (zwischen 1 und 100 gressionen. Demnach verrät Klatsch wohl weni­ as Cultural Learning; Bloom,
Pfund) würden sie ihm zahlen? ger über sein Objekt als über den, der ihn ver­ P.: Postscript to the Special Is-
breitet. Wer es damit übertreibe, riskiere gar sue on Gossip; Dunbar, R. I.
Die Rache der Probanden »den sozialen Tod«, glaubt denn auch Francis T. M.: Gossip in Evolutionary
Wie eingangs erwähnt, setzen Forscher die ne­ McAndrew. Mit einem Ruf als ­Lästermaul ge­ Perspective; Wert, S. R., Salo-
gative Bewertung einer Person per Fragebogen winne man keine Freunde und schon gar kein vey, P.: A Social Comparison
mit Lästern gleich. Und das bestätigte auch die­ Vertrauen. Ist Klatsch also eine schlechte Strate­ Account of Gossip. In: Review
ser Befund: Welche Art von aggressivem Verhal­ gie? Oder zahlt sie sich im Konkurrenzkampf of General Psychology 8, Spe-
ten die Probanden im Film gesehen hatten, trotzdem aus? cial Issue: Research on Gos-
spielte keine Rolle. In beiden Fällen bewerteten Sie zahlt sich tatsächlich aus – aber nur für sip, S. 100 – 140, 2004
sie den Versuchsleiter deutlich schlechter, als jene, die in Sachen Attraktivität ohnehin im Vor­ Coyne, S. M. et al.: The Effects
wenn sie in einer neutralen Kontrollbedingung teil sind. Dieses Fazit zogen Forscherteams um of Viewing Physical and Rela-
Sportclips präsentiert bekamen. Auch das Ho­ die Psychologin Maryanne Fisher von der Saint tional Aggression in the Me-
norar fiel unter diesen Bedingungen niedriger Mary’s University im kanadischen Halifax aus dia: Evidence for a Cross-Over
aus, nämlich 7 beziehungsweise 14 Pfund bei di­ Studien von 2009 und 2010. In den Augen Effect. In: Journal of Experi-
rekter und indirekter Aggression und 26 Pfund männlicher Zuhörer verblassten die körper­ mental Social Psychology 44,
in der Kontrollgruppe, die den Sportfilm gese­ lichen Reize einer Frau nämlich tatsächlich, S. 1551 – 1554, 2008
hen hatte. Es machte keinen Unterschied, ob wenn andere, attraktive Frauen negative Kom­ Fisher, M., Cox, A.: The Influ-
die Probanden Mädchen oder Jungen, jünger mentare über sie abgaben. Die Klatschbasen ence of Female Attractive-
oder älter waren, ob sie von ihren Mitschülern selbst büßten hingegen nicht an Anziehungs­ ness on Competitor Deroga-
als mehr oder weniger aggressiv beschrieben kraft ein; auch als kurz- oder langfristige Se­ tion. In: Journal of Evolutio-
wurden. xualpartner disqualifizierten sie sich nicht. Der nary Psychology 7, S. 141 – 155,
Ein ähnliches Ergebnis erhielten Coyne und Klatsch fiel aber insofern negativ auf sie zurück, 2009
Kollegen 2008 in einem Experiment mit rund als sie nicht mehr so freundlich und vertrauens­ Massar, K. et al.: Age Diffe-
60 Studentinnen, die Ausschnitte aus Kinofil­ würdig erschienen. rences in Women’s Tendency
men mit verbaler oder physischer Gewalt gese­ Attraktive Jugendliche haben ebenfalls keine to Gossip Are Mediated by
hen hatten, zum Beispiel Szenen aus Quentin negativen Konsequenzen zu fürchten, wenn sie their Mate Value. In: Persona-
Tarantinos »Kill Bill«. Sie absolvierten darauf­ Gleichaltrige direkt oder indirekt attackieren. lity and Individual Differen­
hin einen frustrierenden Intelligenztest, wobei Das ergab ein Befund von Lisa Rosen und Ma­ ces 52, S. 106 – 109 (im Druck)
die Versuchsleiterin sie unter Druck setzte und rion Underwood von der University of Texas in Piazza, J. R., Bering, J. M.: Con-
ihre Ergebnissse abwertend kommentierte. Dallas aus dem Jahr 2010. Weniger attraktive cerns about Reputation via
Dann sollten sie einer Mitspielerin schlechte Re­ ­Jugendliche, die tratschten, verloren dagegen an Gossip Promote Generous
aktionszeiten per Tonsignal zurückmelden und Popularität. ­Allocations in an Economic
schließlich noch Mitspielerin sowie Versuchs­ Diese Befunde erklären auch das erstaun­ Game. In: Evolution & Hu-
leiterin in einem Fragebogen bewerten. liche Resultat aus der eingangs geschilderten man Behavior 6, S. 487 – 501,
Egal, welche Form von Gewalt die Studen­ Studie, dass Frauen mit einem hohen gefühlten 2008
tinnen zuvor in den Filmszenen gesehen hat­- »Marktwert« besonders gerne klatschen. Offen­ Rosen, L. H., Underwood,
ten: Sie reagierten daraufhin stets aggressiver bar können sie es sich leisten – während die M. K.: Facial Attractiveness as
als jene, die das neutrale Video präsentiert be­ unattraktiveren damit ihren Ruf aufs Spiel set­ a Moderator of the Associati-
kommen hatten. Das äußerte sich sowohl im zen. Die unerfreuliche Moral dieser Geschichte: on between Social and Physi-
höheren Lautstärkepegel und der längeren Dau­ Um ungestraft tratschen zu dürfen, sollte man cal Aggression and Populari-
er des Tons, mit dem sie die Mitspielerin trak­ vor allem gut aussehen. Ÿ ty in Adolescents. In: Journal
tierten, als auch in ihrer negativeren Bewertung of School Psychology 48, S.
im Fragebogen. Die Versuchsleiterin kam in Christiane Gelitz ist Diplompsychologin und Redak- 313 – 333, 2010
dem Bewertungsbogen hingegen nicht schlech­ teurin bei G&G.


www.gehirn-und-geist.de 31
psychologie ı kindesentwicklung

Zwiegespräch
mit einem Baby
Schon bevor ein Säugling das erste Wort spricht, können sich seine Eltern
differenziert mit ihm verständigen, erklärt die Heidelberger Pädagogik­
professorin Ursula Horsch. Sie erforscht, wie die allerersten Dialoge die
frühkindliche Bildung beeinflussen.

Von Ursula Horsch

Au f ei n en B l ic k G lücklich und dankbar nimmt der Vater sein


Neugeborenes in Empfang. Ganz vorsich-
tig hält er es, so zerbrechlich wirkt das Kleine.
Seit Jahren fasziniert mich die Frage, was den
Austausch von Mutter, Vater und Kind im ers­
ten Lebensjahr kennzeichnet. Wie können sich
Frühe Dialoge Dann studiert er verzückt das Gesichtchen: die Eltern mit ihrem Baby überhaupt verständi-

1 Die ersten gesprächs­ »Hallo, da bist du ja endlich! Wir haben schon gen – bedarf es dazu einer besonderen, kindge-
artigen Inter­aktio- auf dich gewartet. Wolltest du nicht aus Mamas rechten Ausdrucksweise? Oder spielen vielmehr
­nen zwischen Eltern und Bauch herauskommen?« Blickkontakt, Mimik oder gar Berührungen die
Kind lassen sich schon Wie selbstverständlich reden die meisten Hauptrolle? Wie »antwortet« ein Säugling? Und
kurz nach der Geburt be­- Mütter und Väter bereits kurz nach der Geburt werden die kommunikativen Kompetenzen El-
obachten. liebevoll mit ihrem Kind, gerade so, als würde tern und Kind quasi in die Wiege gelegt oder
das winzige Geschöpf jedes Wort verstehen und entwickeln sie sich individuell im tagtäglichen

2 Durch eine Analyse


per Video aufgezeich­
neter Dialoge konnten
wäre in der Lage zu antworten. Außenstehende
mögen das manchmal als kurios empfinden.
Miteinander?

Tatsächlich aber kommunizieren Eltern und Bildung beginnt mit der Geburt
Forscher deren wich­-
Säugling schon sehr früh miteinander und füh- Seit 2004 gehen wir solchen Fragen bundesweit
tigste Elemente heraus­
ren sogar regelrechte »Zwiegespräche«. im Rahmen umfassender Studien nach. Zu un-
filtern.
Umfangreiche Videoanalysen von Eltern- seren langfristigen Zielen gehört es dabei auch,

3 Die Zwiegespräche
fördern nicht nur den
Spracherwerb, sie trans­
Kind-Interaktionen enthüllen die verschiede­
nen Komponenten dieser allerersten Verständi-
gung. Sie folgt einem dialogartigen Muster, das
die Eltern-Säugling-Dialoge auf ihre Bedeutung
für die frühkindliche Bildung zu untersuchen.
Darunter verstehen wir nicht nur den Erwerb
portieren auch elterliche sich im Verlauf des ersten Lebensjahres in ty- von Wissen, sondern auch von emotionalen
Haltungen wie Mitgefühl, pischer Weise verändert. Diese vorsprachliche Kompetenzen, Haltungen und Einstellungen.
Verständnis und einen Kommunikation legt vermutlich nicht nur den Wenn eine Mutter etwa auf Grund einer de-
partnerschaftlichen Grundstein für den Spracherwerb des Kindes, pressiven Erkrankung auf die Signale ihres Ba-
Umgang. sondern ist auch essenziell für dessen gesamte bys nicht feinfühlig reagiert, leidet dieses laut
emotionale, soziale und kognitive Entwicklung. Forschern vom Universitätsklinikum Heidelberg

32 G&G 1-2_2012


Fotolia / Melissa Schalke
sichtlich darunter (siehe G&G 10/2007, S. 44). Raffinierte Studien eines Psychologenteams DAS ERSTE »DU«
Auch nach unseren Beobachtungen sind es ge- um Erik Thiessen von der University of Pennsyl- Sanfte Berührungen vermit-
rade die frühen intensiven Zwiegespräche, die vania mit etwa sieben Monate alten Säuglingen teln die Botschaft: »Wunderbar,
schon Säuglingen die Botschaft vermitteln, dass belegten schon 2005, dass sich die Kleinen in dass du da bist.«
sie geschätzt, beschützt und geliebt werden. Motherese artikulierte Worte tatsächlich besser
Besondere Elemente des Austauschs zwi- einprägen können. Auch merkt das Kind so so-
schen Eltern und Säugling lassen sich bereits fort, ob sich die Mutter ihm oder einem anderen
kurz nach der Geburt beobachten. Jedes Neuge- Menschen (oder etwa dem Familienhund) zu-
borene gibt zum Beispiel Laute von sich: Es wendet, je nachdem ob sie Motherese oder die
schmatzt, niest oder räuspert sich. Alle diese Normalsprache benutzt.
akustischen Äußerungen können als Vokalisati- Doch die frühen Dialoge beinhalten auch
onen zusammengefasst werden. Viele Eltern re- nicht­a­kustische Elemente. Wie entscheidend
agieren auf diese intuitiv, indem sie die Laute etwa der Blickkontakt schon bei Neugeborenen
möglichst identisch wiederholen – wir nennen ist, belegt eine 2011 publizierte Studie von Ba-
das ein »dialogisches Echo« (siehe Kasten S. 35, hia Guellai und Arlette Streri von der Univer­
oben). sité Paris Descartes. So bevorzugen schon zwei
Ein weltweit verbreitetes Phänomen ist au- Tage alte Säuglinge das Gesicht einer Person,
ßerdem eine ausschließlich an das Baby gerich- die kurz zuvor mit ihnen gesprochen hat – aller­
tete Sprache. Diese verwenden Frauen ebenso dings nur, wenn jene das Baby dabei auch ange-
wie Männer, weshalb sie auch Motherese bezie- schaut hat.
hungsweise Fatherese genannt wird. Sie gleicht Noch anziehender wirkt das »Grußmoment«:
einem melodischen Singsang, bei dem der Er- Ein Erwachsener öffnet dabei weit die Augen,
wachsene in höherer Tonlage etwas verlang­ zieht die Brauen nach oben und sucht den Blick-
samt spricht und überdeutlich akzentuiert. Die kontakt zum Baby. Allein mimisch sendet er so
grammatische Struktur ist zwar einfach, aber die Botschaft: »Hallo Kleines, pass mal auf: Wir
korrekt. beide, wie machen jetzt etwas zusammen …«


www.gehirn-und-geist.de 33
Eltern-Kind-Interaktionen unter der Lupe
Zur computergestützten Analyse der Videos
von Eltern-Kind-Interaktionen setzen die Hei­
delberger Forscher eine spezielle Software
ein. Links sind die Laufzeiten und die zugehö­
rigen Kodierungen der Dialogelemente doku­
mentiert, wie etwa Vokalisationen des Babys
oder die spezifische, an das Kind gerichtete
Sprachform des Vaters (»Fatherese«). In der
Mitte ist ein Steuerungsfenster zu sehen, mit
dem das Video bedient wird, rechts ein Fens­
ter, in dem der aktuell analysierte Ausschnitt
angezeigt ist.
Mittels verschiedener Software-Tools kön­
nen die Forscher unterschiedliche quantitative
Auswertungen vornehmen oder die Überein­
stimmung zwischen verschiedenen Auswer­
Screenshot der Auswertungssoftware tern prüften.

Kodierung eines knapp vierminütigen Vater-Kind-Dialogs

Diese Grafik zeigt das Ergebnis einer Videoanalyse hinsichtlich des Auftretens von Dialogelementen wie Blickkontakt, Vokalisa­
tionen des Kindes, dialogischem Echo und Grußmoment. Auffallend ist der hohe Anteil von speziell an das Kind gerichteter Spra­
che des Vaters, die »Fatherese«.
Mit frdl. Gen. von Ursula Horsch (auswertungssoftware: interact / Mangold)

Vergrößerung des oben grün markierten Ausschnitts von 44 Sekunden

Wie in der Partitur eines Musikstücks sind die einzelnen Dialogelemente untereinander angeordnet und geben so einen Einblick
in die Struktur des Vater-Kind-Dialogs. Fatherese verbunden mit einem Grußmoment provoziert eine Vokalisation des Kindes. Das
Abwechseln der kindlichen und väterlichen Beiträge wird in dieser Form der Visualisierung besonders gut sichtbar und belegt
den dialogischen Charakter der Interaktion. Indem der Vater die kindlichen Angebote aufgreift und beantwortet beziehungs­
weise selbst dem Kind Angebote macht, hält er das »Gespräch« aufrecht. Die individuelle Passung zwischen Elternteil und Kind
erachten Spracherwerbs-, aber auch Bindungsforscher als bedeutsam.

34 G&G 1-2_2012


Das »dialogische Echo«
pfr prf
Die eingefügten Sprechblasen visualisieren die akustische Ebene dieser Mutter-
pfr
Kind-Interaktion. Geht der Impuls in Form einer Vokalisation vom Säugling aus,
antwortet die Mutter mit einem dialogischen Echo. Dabei verändert sie nichts
in der Lautfolge, sondern imitiert ihre Tochter nahezu eins zu eins. Erst bei äl­
Fotolia / FotoArts / Arnd Rockser

teren Kindern tendieren Mütter zunehmend dazu, die Lautäußerung beim Wie­
derholen in gängige Silben der Muttersprache abzuwandeln.
pfr prf Auf dem Foto sind noch weitere Dialogelemente zu erkennen, wie etwa
pfr Blickkontakt, Lächeln und zärtliche Zuwendung. Die Mutter gestaltet damit
nicht nur den Dialog, sondern vermittelt auf mehreren Ebenen ihrem Baby, dass
sie es liebt und gerne etwas mit ihm gemeinsam tut. Hierin zeigen sich nicht
WORTLOSE VERSTÄNDIGUNG nur Emotionen, sondern auch Haltungen und Verhaltensweisen, die für das
Eltern ahmen intuitiv die Lautäußerungen ihres Kind ein Angebot darstellen, diese für sich zu erwerben. Damit zielen die frühen
Säuglings nach. Dialoge ganz wesentlich auf den Faktor Bildung.

Je länger und detaillierter man Eltern-Säug- Allerdings verschoben sich bei den Eltern
ling-Interaktionen beobachtet, desto mehr sol- taubblinder Säuglinge die Anteile von den akus-
cher besonderer Verständigungskomponenten tischen Elementen hin zu den taktilen. Die Ver-
treten zu Tage. Doch wie ergeben diese ein­ mutung liegt also nahe, dass Eltern und Kind
zelnen Elemente einen Dialog? Und wie verän- von Natur aus spezifische kommunikative Kom-
dert sich dieser im Verlauf des ersten Lebens- petenzen besitzen, sich diese dann aber indivi-
jahres? Um solche Fragen zu klären, gewannen duell und in Abstimmung mit dem Dialogpart-
wir für unser Projekt 111 Elternpaare, die bereit ner weiterentwickeln. Vermögen Mütter oder
waren, sich ein Jahr lang einmal pro Monat mit Väter auf die Signale ihres Säuglings dagegen
ihrem Kind filmen zu lassen oder selbst Videos kaum einzugehen, kann laut Eltern-Kind-Thera- GESPRÄCHIGE MÜTTER
anzufertigen. Von diesen hatten 33 ein behin- peuten ein eigenes unverarbeitetes Kindheits­ Der Anteil an kindgerichteter
dertes Kind. Während der je etwa 20-minütigen trauma oder sogar eine psychische Erkrankung Sprache in der Mutter-Kind-
Aufzeichnungen beschäftigte sich ein Elternteil dahinterstecken (siehe G&G 9/2011, S. 48). Kommunikation (»Motherese«)
mit dem Baby entweder zweckgebunden (Ba- Dass Baby und Eltern wirklich einen Dialog ist durchgehend hoch und
den, Füttern) oder zweckfrei (Spielen, Schmu- führen und nicht etwa jeder für sich »einfach erreicht fünf bis acht Monate
sen) in der gewohnten Umgebung des eigenen daherredet«, führen unsere Analysen auf den nach der Geburt ein Maxi-
Zuhauses. ers­ten Blick vor Augen: Ein paralleles Auftreten mum. Die akustische Beteili-
dialogischer Elemente von Elternteil und Kind gung des Kindes nimmt da­-
Grundelemente der Verständigung kommt eher selten vor. Vielmehr ist die Verstän- gegen stetig zu.
Jeweils die ersten vier Minuten einer solchen
Interaktion analysierten wir im Hinblick auf die
häufigsten Dialogelemente mittels einer com- Anteile ausgewählter Dialogelemente
putergestützten Auswertungsmethode sowohl während des ersten Lebensjahres

formal als auch qualitativ. So lassen sich bei- 180


Anzahl pro Vier-Minuten-Sequenz

spielsweise die Anteile von Motherese/Fa­the­rese 160

und kindlichen Vokalisationen gut dokumentie- 140


120
ren (siehe Kasten links). Uns be­eindruckte, dass
100
bei ausnahmslos allen großen und kleinen Teil-
80
Gehirn&Geist / Mit frdl. Gen. von Ursula Horsch

nehmern bestimmte Dialog­elemente vom ers­


60
ten Tag an durchgängig und immer wiederkeh-
40
rend zu beobachten waren: Blickkontakt, Mothe-
20
rese/Fatherese, das dialogi­sche Echo, Grußmo-
0
mente, Vokalisationen, Lächeln und Lachen, 1 bis 4 5 bis 8 9 bis 12
zärtliche Gesten und Kör­perkontakt – all das Lebensalter in Monaten
scheint offenbar grund­legend für den Austausch Motherese mit dialogischem Echo Vokalisation Blickkontakt
zwischen Eltern und Kind zu sein.

www.gehirn-und-geist.de  35
GUT GELALLT!
Zwischen dem fünften und
achten Lebensmonat beginnen
Kinder so genannte kanonische
Silben zu bilden, aus denen
erste Proto­wörter entstehen.
babababab

Fotolia / Franz Pfluegl


digung von Anfang an von einem Abwechseln Unserer Ergebnisse zeigen jedoch auch einen
der Dialogbeiträge gekennzeichnet, nach dem negativen Zusammenhang der Grußmomente
Motto: Jetzt bin ich dran, dann bist du dran. mit dem dialogischen Echo, das heißt: Je weni-
Aber auch eine deutliche Vernetzung von be- ger die Kinder vokalisierten, umso häufiger ver-
stimmten Dialogelementen konnten wir mit- wendeten Mutter oder Vater Grußmomente.
tels statistischer Auswertungen belegen. Sie ver- Vermutlich versuchen Eltern eines »ruhigeren«
leihen dem Dialog seinen spezifischen Aufbau, Säuglings vermehrt, ihn dazu zu ermuntern,
seine »Topologie«: So starten Vater oder Mutter den Dialog (wieder) aufzunehmen oder im Ge-
häufig die Interaktion durch ein Grußmoment spräch zu bleiben. Hierfür spricht auch die hohe
und Fatherese/Motherese. Das Kind reagiert Korrelation von Grußmomenten mit dem Ein-
mit Vokalisationen, die von den Eltern mit satz von Motherese/Fatherese: Eltern, die häufig
einem dialogischen Echo beantwortet werden. Grußmomente als visuelle Stimuli nutzten,
Letzteres veränderte sich übrigens im Verlauf setzten gleichzeitig auch viel Motherese ein,
des ersten Lebensjahres. So tendierten vor allem welche die Aufmerksamkeit des Kindes nach-
Mütter zunehmend dazu, die Lautäußerungen weislich stärker fesselt als normale Sprache.
des Babys nicht mehr identisch, sondern leicht Wie verändert sich der Dialog im Verlauf des
korrigierend zu beantworten, indem sie diese in ersten Lebensjahres? Während die Häufigkeit
gängige Silben der Muttersprache abwandelten. des Blickkontakts nahezu konstant bleibt, neh-

GeTeilte Freude
Dieser Vater und seiner 14 Wochen alte Tochter amüsieren sich ganz offensichtlich köstlich miteinander.
Gut zu erkennen sind von links nach rechts das Grußmoment, zärtliche Zuwendung, Blickkontakt, erneutes
Grußmoment mit Zurücklehnen, gemeinsames Lachen.

36 G&G 1-2_2012


men die Lautäußerungen des Kindes über die teraktionen zwischen Eltern und Säuglingen, »Eoeo!« heißt bei
gesamte Dauer kontinuierlich zu (siehe Dia- bei denen im Rahmen des Neugeborenen-Hör-
gramm S. 35 unten). Insgesamt ist aber der An- screenings eine Hörschädigung erkannt wurde.
Lotta: »Lass uns mit
teil an Motherese im Vergleich zu den Voka­- Die Babys erhielten leider erst in einem Alter Leo spielen, Papa,
li­sationen des Babys über den gesamten Erhe- von etwa fünf Monaten Hörhilfen. Erstes Ergeb- und du fauchst wie
bungszeitraum um ein Vielfaches höher. Er nis: Zu diesem Zeitpunkt unterscheiden sich die
steigert sich zunächst kontinuierlich und er- Eltern-Kind-Dialoge bereits deutlich. Die betref- ein echter Löwe«
reicht zwischen dem fünften und achten Le- fenden Mütter verwenden seltener Mothe­rese
bensmonat sein Maximum. als jene mit normal hörenden Kindern, dafür re-
den sie aber länger am Stück, sprechen akzentu-
Wende im Spracherwerb ierter und wiederholen die wichtigsten Wörter.
Es ist kein Zufall, dass sich gerade in dieser Als sinnvoll hat sich erwiesen, das Hörscree-
Zeitspanne hinsichtlich des Spracherwerbs eine ning durch eine frühpädagogische Beratung
entscheidende Wende vollzieht. Die Kinder bil- ­betroffener Familien zu ergänzen. Denn wie gut
den jetzt Silbenketten und kanonische Silben- en­ga­gierten Eltern die Kommunikation mit ih-
strukturen wie »mamamama«, aus denen das rem hörbehinderten Kind gelingen kann, zeigt
erste Protowort entsteht, das erste »Mama«. folgendes Fallbeispiel aus unserer Studie: Der
Gleichzeitig gehen sie auch den unumkehr- Vater und seine 13 Monate alte, frühgeborene
baren Schritt zur eigenen Muttersprache. Tochter Lotta spielen mit Schmusetieren. Lotta
Schon seit den 1990er Jahren weiß man, dass bevorzugt den Löwen Leo. Noch kann das Mäd-
Babys bis zum sechsten Lebensmonat noch die chen, das ein Cochlea-Implantat trägt, dies nicht
Laute verschiedenster Sprachen ganz leicht sagen, aber der Vater weiß: »Eoeo!« steht bei ihr quellen
voneinander unterscheiden können. Diese Fä- für: »Lass uns mit Leo spielen, und du, Papa, Guellai, B., Streri, A.: Cues for
higkeit verlieren sie aber nach dem sechsten bis lässt den Leo fauchen wie einen echten Löwen.« Early Social Skills: Direct Gaze
achten Monat zu Gunsten einer deutliche­- Der Vater greift das »eo« auf und antwortet mit Modulates Newborns’ Re­
ren Wahrnehmung muttersprachspezifischer »ja, der Leo, der macht chrrr«, wobei er dieses cognition of Talking Faces. In:
Phoneme, wie verschiedene internationale For- »chrrr« danach noch einmal sehr eindrucksvoll PLoS One 10.1371/journal.
schergruppen zeigen konnten. Die zuneh- intoniert. Damit bestätigt er Lotta nicht nur, pone.0018610, 2011
mende Spezialisierung ist der Grund dafür, dass er sie ernst nimmt, er stellt auch gleichzei- Horsch, U.: Frühe Dialoge –
warum beispielsweise erwachsene Chinesen tig den Bezug zu einem Objekt, zum Löwen, her frühe Bildung. Zur Notwen­
Probleme haben, den Unterschied zwischen l und gibt so dem Spracherwerb neue Impulse. digkeit einer Bildungsdiskus­
und r, oder Schweizerdeutsche den zwischen p Beziehung und Gespräch, Liebe und Haltung sion in der Frühpädagogik. In:
und b überhaupt bewusst wahrzunehmen. zum Kind ergeben ein Mosaik elterlicher und Horsch, U., Bischoff, S. (Hg.):
Das Kind erfährt die Welt zunächst vor allem kindlicher Interaktionsmöglichkeiten, auf dem Bildung im Dialog. Median,
im Dialog mit seinen Eltern, die dabei auch ihre Erziehung und Bildung erst möglich werden. Heidelberg 2008, S. 16 – 42
Einstellungen und Haltungen transportieren, Dialogische Kompetenzen, darin sind sich Horsch, U.: Wurzeln früher
wie Respekt oder Mitgefühl. Indem sie das Dia- Bildungsforscher aktuell einig, stellen dabei Bildungsprozesse oder mehr
logangebot des Kindes aufnehmen, signalisie- Schlüsselqualifikationen dar. Dialog aber kann Bildungschancen durch das
ren sie ihrem Baby immer wieder, dass sie es als nur im Dialog gelernt werden: Er ist der Weg NHS? In: Hörgeschädigten­
Partner betrachten, mit dem sie gerne etwas ge- und das Ziel der frühkindlichen Bildung. Ÿ pädagogik 2, S. 50 – 59, 2011
meinsam tun und mit dem sie Gefühle teilen. Thiessen, E. D. et al.: Infant
Das zu berücksichtigen, ist gerade für Eltern Ursula Horsch lehrt Früh- und Sonderpädagogik Directed Speech Facilitates
mit einem hörbehinderten Kind wichtig. In un- an der Pädagogischen Hochschule in Heidelberg, Word Segmentation. In: In­
serem aktuellen Projekt untersuchen wir die In- die diese Studien finanziert. fancy 7, S. 49 – 67, 2005

Literaturtipp
Gopnik, A. et al.: Forscher­
geist in Windeln. Wie Ihr Kind
die Welt begreift. Piper, Mün­
chen, 6. Auflage 2007
Mit frdl. Gen. von Ursula Horsch

Mit originellen Experimenten


belegen die Autoren die
erstaunlichen Kompetenzen
von Säuglingen.


www.gehirn-und-geist.de 37
titelthema ı egoismus

Zwischen Fairness
und Eigennutz
Gier, Machtstreben, Konkurrenzdenken – sind Menschen bloß an
ihrem persönlichen Vorteil interessiert? Oder dominieren unterm Strich
doch Mitgefühl und Altruismus unser Wesen? Psychologen glauben,
dass beides in uns schlummert: Laut einer neuen Theorie bemühen wir
uns unbewusst um ein ausgeglichenes Moralkonto.

Von Sarah Zimmermann


Mehr zum titelthema
> Neuronales Bremspedal
Selbstkontrolle im Gehirn
(S. 44)

38 G&G 1-2_2012


Gehirn&Geist / Manfred Zentsch

nehmen statt geben?


Das größte Stück vom Kuchen
für sich selbst einzuheimsen,
mag reizvoll erscheinen – das
Miteinander fördert es nicht.


www.gehirn-und-geist.de 39
Au f ei n en B l ic k T om verlässt die Bank mit gemischten Ge-
fühlen. Er hat gerade 100 Euro für eine
sprochen sozial und dann wieder selbstsüchtig
handelt?

Balance von Hilfsorganisation gespendet, doch wie er beim Tatsächlich scheinen zwei Seelen in unserer
Hinausgehen bemerkt hatte er auf dem Weg Brust zu hausen, glaubt die Psychologin Sonya
Gut und Böse zum Schalter glatt die Schlange übersehen. Sachdeva von der Northwestern University in

1 Ob Menschen egois-
tisch oder hilfsbereit
handeln, hängt in hohem
Während er die Halle durchquert, spürt er die
vorwurfsvollen Blicke der Wartenden. Was soll’s,
denkt Tom, schließlich hat er ja ein gutes Werk
Evanston (US-Bundesstaat Illinois). Unser All-
tagshandeln werde von einem immer wieder
neuen Ausbalancieren unserer moralischen
Maß von der jeweiligen getan. Das Los der Hungernden in Afrika wiege Selbsteinschätzung begleitet. Ob beim Ansturm
Situation ab. schließlich mehr als die 90 Sekunden, die er den auf den Wühltisch im Kaufhaus, beim Türauf-
anderen Bankkunden geraubt hat. halten oder beim Anstehen – laufend führen

2 In Studien agieren
etwa Probanden, die
gerade für einen gemein-
Ob Schwarzfahren, Drängeln auf der Auto-
bahn oder Steuernhinterziehen – die Liste der
wir der Forscherin zufolge eine Pro-kontra-Lis­
te: Bin ich ein guter Mensch oder ein schlech-
möglichen Delikte aus Eigennutz ist lang. Im ter? Soll ich helfen oder schauen, dass ich selbst
nützigen Zweck gespen-
Allgemeinen bewerten wir unser eigenes Ver- auf meine Kosten komme? Je nachdem, wie es
det haben, im Anschluss
halten dabei gern positiver als das unserer Mit- um unser Selbstbild gerade bestellt ist, fällt un-
daran weniger altruis-
menschen und nehmen für uns selbst al­lerlei sere Antwort ganz verschieden aus.
tisch als sonst.
Rechtfertigungen in Anspruch. Ist der Mensch

3 Laut der Theorie des


Moral Licensing
führen wir unbewusst
im Kern ein unverbesserlicher Einzelkämpfer?
Das wäre zu einfach gedacht, denn anderer-
seits nehmen wir zum Wohl der Allgemeinheit
Altruistische Befriedigung
Das kann scheinbar paradoxe Folgen haben:
Wer eben einer alten Dame über die Straße half,
eine Art Moralkonto, durchaus auch Verluste in Kauf. Wir entrichten ist danach eher geneigt, andere beiseitezudrän-
indem wir den ethischen Steuern, spenden Blut und kooperieren mitei- gen. Denn nach einer vermeintlich guten Tat
Wert unseres Handelns nander. Ist das nicht Beweis genug für den Al- ­suchen wir erst einmal nicht mehr nach »altru-
austarieren. truisten in uns? Bei genauerem Hinsehen wird istischer Befriedigung«, so Sachdeva. Als Moral
schnell klar: Kein Mensch ist immer hilfsbereit Licensing (zu Deutsch: moralische Lizensie-
und keiner handelt immer egoistisch. rung) bezeichnet die Forscherin das Phänomen,
Doch woran liegt es, dass wir im einen Mo- das sie in einer Reihe von Studien untersuchte.
ment für andere einstehen, während wir sie im Demnach steige die Bereitschaft zu prosozia­
nächsten im Regen stehen lassen? Wie kommt lem Verhalten erst wieder, wenn unsere ethi-
es, dass ein und derselbe Mensch mal ausge- schen Lorbeeren vergessen sind.

Ein gutes Werk


Dreamstime / Stefan Redel

Wer einen Akt der Nächstenlie­


be vollbringt, ist laut Psycho­
logen anschließend zunächst
weniger altruistisch gesinnt.

40 G&G 1-2_2012


Abschied vom Homo oeconomicus

Der britische Philosoph Thomas Hobbes (1588 – 1679) erklärte Demnach sollten Unternehmen stärker auf Vertrauen statt
den Menschen einst zu einem machthungrigen Egoisten. auf Kontrolle setzen. Harte Führungsstile gründen oft auf der
»Homo homini lupus est« (»Der Mensch ist dem Menschen ein Angst, Mitarbeiter seien im Kern egoistisch und würden für
Wolf«) erklärt er, angelehnt an den griechischen Philosophen den jeweiligen Lohn so wenig wie möglich arbeiten. Dabei
Plautus (zirka 250 – 184 v. Chr.). Im Kampf ums Überleben sei könnte ein Vertrauensverhältnis zur Belegschaft vielen Firmen­
sich jeder selbst der Nächste, so Hobbes. Später zeichnete der chefs mehr Gewinn bescheren: Ein Mitarbeiter, der sich fair be-
Schotte Adam Smith (1723 – 1790) ein etwas erfreulicheres Bild handelt fühlt, macht beispielsweise eher Überstunden.
der menschlichen Natur: Wir würden zwar im Prinzip egois-
tisch handeln, doch das sei gut so! Denn nur wenn jeder auf Unter mehr als 20 000 Befragten fand Falk sowohl positiv als
seinen eigenen Vorteil bedacht sei, könne die Wirtschaft florie- auch negativ reziproke Menschen. Erstere belohnen lieber gute
ren. Das tief verankerte Streben nach Gewinnmaximierung ga- Taten, letztere bestrafen eher schlechte. Langfristig besser
rantiere den »Wohlstand der Nation«. ­fahren nach Falks Ansicht positiv reziproke Personen. Sie schei-
In der Wirtschaftstheorie dominierte dieses Denken lange nen nicht nur insgesamt zufriedener zu sein, sondern pflegen
Zeit: Rational, gewinnorientiert und eigennützig – das charak- auch stabilere soziale Beziehungen.
terisiert den Homo oeconomicus, den bereits der Philosoph Wenn wir uns dennoch egoistisch verhalten, seien oft insti-
und Ökonom John Stuart Mill (1806 – 1873) ausgerufen hatte. tutionelle Anreize im Spiel. In der Schule, im Job oder Fernse-
Demnach verhalten sich Marktteilnehmer egoistisch, weil sie hen – überall erleben wir Wettbewerb hautnah. Viele Men-
das Gleiche von anderen erwarten. schen hätten sich angewöhnt, »draußen« eigennützig zu sein
Der Rechts- und Staatswissenschaftler Armin Falk von der und in den eigenen vier Wänden altruistisch. Hinzu kommt,
Universität Bonn stellt dies in Frage. Der Mensch sei vielmehr dass wir uns häufig am Vorbild anderer orientieren. Kaufen
ein Homo reciprocans, der nicht nach dem eigenen Vorteil stre- viele Menschen Elektroautos, so kommen auch wir selbst ins
be, sondern nach Fairness. Falk ist davon überzeugt, dass wir Grübeln, ob das nicht die besserer Alternative sei. Fazit: Ob je-
das Prinzip »Wie du mir, so ich dir« stärker verinnerlicht haben mand altruistisch oder egoistisch handelt, hängt stark von der
als jedes rationale Gewinnstreben. Wer von anderen gut be- jeweiligen Situation ab.
handelt wird, revanchiert sich, wem Unrecht widerfährt, sank- (Falk, A., Fischbacher, U.: A Theory of Reciprocity. In: Games and Economic
tioniert – selbst wenn ihm dadurch Kosten entstehen. Behavior 54, S. 293 – 315, 2006)

Den Effekt konnte die Psychologin mit ihrem andere zuschlagen: Sie hatten hierfür 25 Dollar Kurz erklärt
Team 2009 ganz einfach demonstrieren. Bei in der virtuellen Geldbörse.
Altruismus
dem Experiment sollten Versuchspersonen ein Im Anschluss wurde »Diktator« gespielt (sie-
Das Wohlbefinden anderer
wenig aus dem Nähkästchen plaudern. Die Auf- he Kasten S. 42). Jeder Teilnehmer stand nun vor
fördern, ohne dabei an
gabe lautete: von sich selbst erzählen und dabei der Wahl, wie viel von seinem erhaltenen Start-
einen persönlichen Gewinn
vorgegebene Adjektive einbinden. Teilnehmer, kapital er einem Mitspieler abgeben wollte. Das
zu denken
die sich dabei in besonders positiven Worten be- erstaunliche Ergebnis: Teilnehmer, die sich im
schreiben sollten, spendeten nach dem Experi- Ökoladen bloß umgesehen hatten, waren auf-
Egoismus
ment prompt weniger Geld als jene, die von per- fällig spendabel.
Die Motivation, einen Gewinn
sönlichen Schwächen berichtet mussten.
für sich allein zu erzielen – oft
Im selben Jahr übertrugen die kanadischen Biokauf mit Dagobert-Effekt zu Lasten anderer
Psychologen Nina Mazar und Chen-Bo Zhong Wer jedoch die Bioprodukte tatsächlich ein­
das Modell vom moralischen Bilanzieren auf gekauft hatte, verhielt sich in Dagobert-Duck-­
den Alltag. Die Idee der Forscher: Der Kauf von Manier und gab deutlich weniger von seinem
Bioprodukten wird allgemein ethisch höher be- Geld ab. Der Bioeinkauf hatte die Betreffenden
wertet als der von konventionell erzeugten Wa- augenscheinlich egoistischer gemacht – was das
ren. Sollte sich dies nicht auch auf das mora- Moral-Licensing-Modell so erklärt: Zum fragli­
lische Handeln der Käufer auswirken? chen Zeitpunkt war das persönliche Moral­konto
Um das herauszufinden, schickten Mazar aufgefüllt.
und Zhong ihre Probanden zum Onlineshop- Über die menschliche Natur verrät das vor
ping mal in einen Bio-, mal in einen konventio- allem eins: Oft reicht schon ein Gedanke, um
nellen Supermarkt. Während einige Teilnehmer den Egoisten in uns hervorzukitzeln. Wie bei-
die Produktpalette nur sichten sollten, durften läufig dies geschieht, zeigte 2008 ein Team ame-


www.gehirn-und-geist.de 41
Das Streben nach rikanischer Wirtschafts- und Sozialwissenschaft­ Nach dem offiziellen Ende des Experiments
ler. Ganz unauffällig pflanzten sie ihren Testper­ ließen die Betreffenden auch öfter Utensilien
Fairness ist so tief
sonen den Gedanken an Geld ein – etwa, indem auf dem Tisch zurück oder steckten den Stift des
im Menschen veran­ sie im Labor Plakate mit darauf abgebildeten Versuchsleiters ein. Die Forscher betonen, dass
kert, dass es ihn Banknoten aufhängten. Die derart manipulier­ dieser Verhaltensumschwung sich nicht allein
mitunter sogar ten Testteilnehmer griffen anschließend einem mit Frust erklären lasse. Schlechte Laune mache
irrational handeln offenbar hilfsbedürftigen Lock­vogel seltener keinen Egoisten. Erst wenn wir auch unfair be-
unter die Arme. handelt werden, fühlen wir uns von üblichen
lässt
Angesichts solchen Wankelmuts verwundert moralischen Verpflichtungen entbunden.
es nicht, dass die Suche nach dem »wahren« We- Das Streben nach Fairness ist so tief im Men-
sen des Menschen zwischen Egoismus und Al- schen verankert, dass es ihn mitunter sogar irra-
truismus seit Jahrhunderten so viele Kontrover- tional handeln lässt. In Experimenten konnte
sen auslöste. In jüngerer Zeit rückte dabei ein der Wirtschaftswissenschaftler Ernst Fehr von
neuer Begriff in den Fokus der Forscher – die der Universität Zürich zeigen: Wenn ein Teil-
Fairness. nehmer die Möglichkeit hat, Gegenspieler für
ihr egoistisches Verhalten etwa mit einer Geld-
Unrecht wird bestraft buße zu bestrafen, so greift er selbst dann zu
Wer sich unfair behandelt fühlt, agiert ebenfalls diesem Mittel, wenn er dafür einen eigenen
eigennütziger. Das konnten Psychologen der Nachteil in Kauf nehmen muss.
Stanford University (Kalifornien) im Jahr 2010 Die aktuelle Diskussion um den globalen Kli-
belegen. Die Forscher baten Freiwillige, sich an mawandel liefert ein gutes Beispiel dafür, wie
eine Situa­tion zu erinnern, in der ihnen Unrecht sehr andere unser persönliches Verhalten be-
widerfahren war. Mit einer grundlos erlittenen einflussen. Hier scheint es nicht nur darauf an-
Strafe oder einer vermeintlich ungerechten Be- zukommen, welche Normen gelten (etwa: »Wär-
notung durch ihren Dozenten im Kopf waren medämmung ist wichtig!«), sondern auch, wie
die Studenten eher zu egoistischen Handlun- viele unserer Mitmenschen sich daran halten.
gen bereit als Vergleichspersonen, die an an- Wer in einer Gegend wohnt, in der immer mehr
deres gedacht hatten. Bei einer Befragung ent- Häuser gedämmt werden, wird sich – selbst ent-
schieden die verletzten Seelen vermehrt zu ih- gegen seiner Überzeugung – ähnlich verhalten.
rem Vorteil: Blut spenden? Nein, danke. Baden In den Tauschspielen im Labor (siehe Kasten
trotz Wasserknappheit? Kein Problem. Müll unten) machen Geber ebenfalls bevorzugt un-
trennen? Können andere machen! fairere Angebote, wenn sie wissen, dass andere

Paradigmen der Verhaltensökonomie

MIttels verschiedener Spielszenarien lässt sich erkunden, wann müsste jedes Angebot annehmen, denn selbst ein Euro ist
Probanden eher zu altruistischem oder zu eigennützigem Ver- ­besser als nichts. Die Realität sieht jedoch anders aus: Schon
halten neigen. Die wichtigesten Methoden sind: Angebote im Verhältnis von zirka 70 zu 30 lehnt der Durch-
schnittsproband ab, weil sie unfair erscheinen.
Public Goods Dilemma
Wie verhalten sich Menschen, wenn individuelle und Gruppen- Vertrauensspiel
interessen miteinander in Konflikt stehen? Experimentell über­­ Hierbei kann ein Teil des vom Treuhänder erhaltenen Betrags –
prüfbar ist das, indem Probanden entscheiden, wie viel Geld sie nach Aufstockung durch die Versuchsleiter – wieder an den Ge-
in eine Gemeinschaftskasse zahlen wollen, wenn sie selbst nur ber zurückgezahlt werden. Vertraut dieser seinem Mitspieler
einen Anteil zurückbekommen. also eine größere Summe an, so erhält er womöglich umso
mehr zurück, wenn der andere mitspielt.
Ultimatumspiel
Ein Versuchsteilnehmer bekommt einen Geldbetrag (zum Bei- Diktatorspiel
spiel 100 Euro) unter der Vorgabe, ihn zwischen sich und einem Im Unterschied zum Ultimatumspiel hat der Nehmer hier kei-
unbekannten Spielpartner aufzuteilen. Akzeptiert der andere ne Wahl – er muss das Angebot des Gebers annehmen. Der Ver-
das Angebot, profitieren beide davon; lehnt er hingegen ab, gleich mit dem Ultimatumspiel offenbart, ob ein Angebot aus
­bekommt keiner von beiden etwas. Der Homo oeconomicus Fairness oder aus Angst vor Strafe gemacht wird.

42 G&G 1-2_2012


quellen
Bateson, M. et al.: Cues of
Being Watched Enhance
­Cooperation in a Real-World
Setting. In: Biology Letters 2,
S. 412 – 414, 2006
Camerer, C. F., Fehr, E.: When
Does »Economic Man« Domi-
nate Social Behavior? In: Sci-

Dreamstime / Sergey Lavrentev


ence 311, S. 47 – 52, 2006
Frey, B. S. et al.: Interaction of
Natural Survival Instincts and
Internalized Social Norms
­Exploring the Titanic and
Moralische Rechtfertigung? ­Lusitania Disasters. In: Pro-
Selbst mancher Dieb handelt womöglich in dem Gefühl, mit seiner Tat ein zuvor ceedings of the National
erlittenes Unrecht auszugleichen. ­Academy of Sciences 107, S.
4862 – 4865, 2010
Mazar, N., Zhong, C.-B.: Do
das vor ihnen ebenfalls getan haben. Halten giere auf sinkenden Kreuzfahrtdampfern? Ant- Green Products Make Us Bet-
sich die Mitspieler hingegen an die Regeln der wort: Kommt ganz darauf an, wie lange es dau- ter People? In: Psychological
Fairness, tut man es ihnen gleich. ert, bis das Schiff sinkt! Die Titanic verschwand Science 21, S. 494 – 498, 2010
Aber handeln wir nur deshalb altruistisch, erst nach zwei Stunden in den Tiefen des Oze- Pienkowski, D.: Selfishness,
weil wir uns revanchieren wollen? Einige Wis- ans – genug Zeit, um altruistische Normen weit Cooperation, the Evolutio­
senschaftler vermuten, dass der Mechanismus, gehend aufrechtzuerhalten: Frauen und Kin- nary Point of View and its
der uns gegenüber nichtverwandten Personen der zuerst! Dauert ein Unglück hingegen nur I­mplications for Economics.
großzügig sein lässt, mit dem daraus folgenden wenige Minuten, kommt es viel häufiger zu Tu- In: Ecological Economics 69,
Prestigegewinn zusammenhängt. Wie die Statis­ multen. S. 335 – 344, 2009
tik zeigt, profitieren Menschen von einem sozi- Eigennutz ist menschlich, auch wenn er häu- Sachdeva, S. et al.: Sinning
alen Ruf: Wer gibt, dem wird gegeben. fig negative Folgen zeitigt. Das lässt sich regel- Saints and Saintly Sinners:
mäßig auf der Autobahn beobachten: Tausende The Paradox of Moral Self-­
Unter Beobachtung von Pendlern wählen Morgen für Morgen den Regulation. In: Psychological
Psychologen um Melissa Bateson von der Uni- kürzesten Weg zur Arbeit – Ergebnis: Stau. Wenn Science 20, S. 523 – 528, 2009
versity of Newcastle (Großbritannien) unter- jedoch ein Trupp von mehr als 10 000 Ameisen Vohs, K. D. et al.: Merely Acti-
suchten das im Jahr 2006 mit einem einfachen durch einen Engpass muss, stellt das kein Hin- vating the Concept of Money
Trick. Sie klebten das Foto eines Augenpaars dernis für die Insekten dar. Was machen die Changes Personal and Inter-
auf einen Getränkeautomaten und zählten das Tiere anders als wir? personal Behavior. In: Current
Geld, dass Studenten in eine danebenstehende Sie behalten stur ihre Marschformation bei – Directions in Psychological
Spendenbox warfen. Siehe da: Es war dreimal so was ihnen laut Physikern, die solche Bewegungs­ Science 17, S. 208 – 212, 2008
viel wie bei Studenten, die statt der Augen Blu- ströme am Computer simulieren, den »Preis der Zitek, E. M. et al.: Victim En­
menbilder gesehen hatten. Wenn jemand zu- Anarchie« erspart: Wer drängelt, braucht am titlement to Behave Selfish-
schaut, kommt das Gute im Menschen eher Ende länger! Selbst wenn Ameisen im größten ly. In: Journal of Personality
zum Vorschein. Getümmel unterwegs sind, halten sie am über- and Social Psychology 98, S.
Und wenn es hart auf hart kommt? Zeigen geordneten Ziel fest – der Gemeinschaft. Viel- 245 – 255, 2010
wir im nackten Kampf ums Überleben nicht un- leicht können wir von den kleinen Krabblern
weigerlich unser egoistisches Gesicht? Um das noch manches lernen. Ÿ Weitere Literaturhinweise im
zu beantworten, durchkämmten Forscher aus Internet: www.gehirn-und-
Zürich und Brisbane (Australien) internationale Sarah Zimmermann arbeitet als freie Wissenschafts- geist.de/artikel/1130007
Schifffahrtsarchive. Wie verhalten sich Passa- journalistin in Würzburg.


www.gehirn-und-geist.de 43
44 G&G 1-2_2012
titelthema ı selbstkontrolle

Neuronales Bremspedal
Ohne unsere Impulse im Zaum zu halten, könnten wir nicht zivilisiert
zusammenleben. Doch was geschieht dabei im Gehirn? Laut
den Neurowissenschaftlern Daria Knoch und Bastian Schiller lässt
sich die Fähigkeit zur sozialen Selbstkontrolle an neurobiologischen
Merkmalen ablesen.

Von Daria Knoch und Bastian Schiller

Mehr zum titelthema


> Zwischen Fairness und
Ups! Eigennutz
Wenn die Impulskontrolle Psychologen ergründen
versagt, kann man es sich mit unsere gefühlte Moral (S. 38)
Dreamstime / Refat Mamutov

anderen schnell verscherzen.


www.gehirn-und-geist.de 45
Au f ei n en B l ic k S tellen Sie sich vor, Sie würden immer alles
tun, was Ihnen gerade in den Sinn kommt.
logischen Grundlagen lange Zeit unbeachtet.
Heute stellen sich Forscher vor allem zwei Fra­

Alles im Griff Wahrscheinlich hätten Sie längst Ihren Job ver­ gen: Welche Hirnprozesse sind für unsere Fähig­
loren, keine Freunde mehr und jeden Tag un­ keit zur sozialen Selbstkontrolle verantwort­

1 Unsere spontanen
Handlungsimpulse
laufen den Interessen
zählige Streitigkeiten mit anderen auszutragen.
Die Fähigkeit zur Selbstkontrolle in sozialen Si­
lich? Und gibt es neurobiologische Merkmale,
die individuelle Unterschiede hinsichtlich die­
tuationen ist essenziell für ein harmonisches ser Fähigkeit erklären können?
anderer oder gesell- Zusammenleben.
schaftlichen Normen oft So müssen wir unsere Impulse häufig zu­ Drohende Strafe macht sozialer
zuwider. rückstellen, damit etwa ein kleiner Zwist unter Um sie zu beantworten, nutzen Neurowissen­
Kollegen oder in der Familie nicht eskaliert. schaftler in Experimenten die Tatsache, dass
2 Die Fähigkeit, in
solchen Situationen
eigene Bedürfnisse zu
Auch sollten wir manchen Versuchungen wider­
stehen, wenn uns an einer stabilen Partner­
die soziale Selbstkontrolle gemeinhin verstärkt
ausgeübt wird, wenn uns entweder eine Bestra­
unterdrücken, bezeichnen schaft gelegen ist. Und wer stets ausspricht, was fung für gewisse Normverstöße droht oder
Psychologen als soziale er denkt, stellt sich damit oft selbst ein Bein – wenn wir von anderen beobachtet werden. Hat
Selbstkontrolle. zum Beispiel beim Bewerbungsgespräch. ein guter Freund schon einmal Ihr Vertrauen
All diese Situationen haben eines gemein­ missbraucht? Wahrscheinlich haben Sie dem­

3 Entscheidend daran
beteiligt ist der Prä-
frontalkortex im Stirnhirn.
sam: Wir wenden Selbstkontrolle an, um soziale
Normen zu befolgen. Doch es fällt uns nicht im­
jenigen deutlich die Meinung gegeigt oder viel­
leicht sogar die Freundschaft gekündigt. Oder
mer leicht, unsere Reaktionen im Zaum zu hal­ haben Sie sich in letzter Zeit über ein Bußgeld
ten. Bestimmt erinnern auch Sie sich an Mo­ wegen zu schnellen Fahrens auf der Autobahn
mente, in denen Sie die Beherrschung verloren geärgert? Wenn wir Regeln verletzen, werden
oder miterlebten, wie jemand seinem Ärger wir dafür üblicherweise von unseren Mitmen­
über irgendeine Nichtigkeit freien Lauf ließ. Mit schen oder von öffentlichen Institutionen be­
der Selbstkontrolle ist es wie mit den meisten straft. Meist halten wir uns deshalb an soziale
menschlichen Eigenschaften: Es gibt große indi­ Normen und kontrollieren eigennützige Im­
viduelle Unterschiede. pulse, um diese Sanktionen zu vermeiden.
Wer sich gut im Griff hat, wird von anderen Ein Forscherteam um den Wirtschaftswis­
gemeinhin mehr respektiert als unberechen­ senschaftler Ernst Fehr von der Universität
bare Heißsporne – was durchaus zählbare Vor­ ­Zürich und den Psychiater Manfred Spitzer von
teile bringt. So sind Menschen mit guter Selbst­ der Universität Ulm untersuchte 2007, was
kontrolle im Schnitt beruflich erfolgreicher und ­dabei im Gehirn geschieht. Die Forscher ver­
pflegen stabilere Beziehungen, wie Studien des glichen das Verhalten und die Hirnaktivität ge­
Klassischer Fall Sozialpsychologen Roy Baumeister und seiner sunder Probanden unter zwei Bedingungen: In
Lange bevor es möglich wurde, Kollegen von der Florida State Universität in Tal­ der ersten erhielt die Versuchsperson einen
die Aktivität des Gehirns bei lahassee (USA) belegen. Euro pro Runde und sollte jeweils entscheiden,
bestimmten Aufgaben zu Obwohl die Selbstkontrolle für unser Zusam­ welchen Anteil sie an ein Gegenüber abgeben
messen, lieferten Studien an menleben so wichtig ist, blieben ihre neurobio­ wollte. Im anderen Fall sollte die Versuchsper­
Patienten mit Hirnschädi-
gungen erste Erkenntnisse.
Besonders Menschen mit
verletztem Stirnhirn fallen Methoden der sozialen Neurowissenschaft
sozial oft aus der Rolle. Das Seit einigen Jahren kombinieren Wissenschaftler experimentelle Paradigmen aus der Verhal-
wohl berühmteste Beispiel tensökonomie (siehe Kasten S. 42) mit modernen bildgebenden Verfahren der Hirnforschung.
gab Mitte des 19. Jahrhun- Dazu zählt etwa die funktionelle Magnetresonanztomografie (fMRT), die Rückschlüsse auf die
derts der US-Bahnarbeiter Aktivierung bestimmter Hirnareale bei sozialer Selbstkontrolle zulässt. Während Magnetreso-
Phineas Gage, der bei einer nanztomografen den Sauerstoffanteil im Blut messen, registriert die Elektroenzephalografie
Dynamitexplosion einen (EEG) oder die Magnetenzephalografie (MEG) direkt die elektrische beziehungsweise die ma-
erheblichen Teil seines Fron- gnetische Aktivität des Gehirns.
talkortex verlor. Nachdem er Mittels transkranieller Magnetstimulation (TMS) sowie transkranieller Gleichstromstimula­
sich von dem Unglück erholt tion (tDCS) können Forscher durch äußere magnetische oder elektrische Felder die Aktivierung
hatte, offenbarte der zuvor als bestimmter Hirnbereiche beeinflussen. So hemmt niederfrequente TMS vorübergehend die
besonnen und ruhig geltende neuronale Aktivität in der betreffenden Region. Ist die Fähigkeit zur sozialen Selbstkontrolle bei
Mann ein aufbrausendes Probanden währenddessen geschwächt, deutet dies auf eine Beteiligung des Areals hin.
Temperament.

46 G&G 1-2_2012


son die gleiche Entscheidung fällen – allerdings a
anonyme Bedingung Reputationsbedingung
wissend, dass der Empfänger unfaire Vorschläge 60 60
mit der Vergabe von Strafpunkten quittieren 50 50

Rücktransfer in Prozent

Rücktransfer in Prozent
konnte.
40 40
Erwartungsgemäß zeigten sich die Proban­
30 30

Diagramme: Gehirn&Geist, nach: Knoch, D. et al., PNAS 106, S. 20895–20899, 2009, Fig. 3; Hirnscan: Mit frdl. Gen. von Daria Knoch;
den bei drohender Bestrafung wesentlich groß­
zügiger als ohne. Während im ersten Fall kaum 20 20
jemand mehr als 20 Cent abgeben mochte,
10 10
machten die meisten Teilnehmer in der ande­
0 0
ren Gruppe großzügig halbe-halbe.
Wie der Blick ins Gehirn mittels funktio­ Hemmung des rechten Hemmung des linken vorgetäuschte
neller Magnetresonanztomografie (fMRT) of­ präfrontalen Kortex präfrontalen Kortex Hemmung (Placebo)
fenbar­­te, waren bei drohender Bestrafung prä­
b

Akzeptanz unfairer Angebote in Prozent


frontale Areale (siehe rechts, Hirngrafik c) in 100
­beiden Hemisphären stärker aktiviert als ohne. L R
Dieser Unterschied fiel umso größer aus, je
deutlicher sich das Verhalten der Versuchsper­ 67
son in beiden Bedingungen unterschied. Pro­
banden, die besonders stark auf eine mögliche

Hirngrafik: Gehirn&Geist / Meganim


Bestrafung eines allzu knauserigen Angebots 33
ansprachen, indem sie dann wesentlich mehr
Geld abgaben, zeigten den größten Aktivie­
rungsschub im Stirnhirn. 0
Die Forscher erklärten dies damit, dass die 0,6 0,7 0,8 0,9
Grundaktivität im rechten
Versuchspersonen eine stärkere Kontrolle über präfrontalen Kortex
ihre eigennützigen Impulse ausüben mussten,
um mehr zu geben, als sie eigentlich wollten. c präfrontaler Kortex
Offenbar spielt der präfrontale Kortex hierbei
eine besondere Rolle. HORT der beherrschung
Interessant ist das Resultat auch im Hinblick Der präfrontale Kortex (siehe c)
auf Studien, die eine verminderte Aktvierung gilt als entscheidende Kontroll­
präfrontaler Areale bei straffälligen Psycho­ instanz des Gehirns. In einem
pathen ergaben (siehe G&G 7-8/2009, S. 28). De­ Experiment der Autoren waren
ren mangelnde Fähigkeit, das eigene Verhalten Probanden mit einer erhöhten
trotz drohender Sanktionen zu kontrollieren, Grundaktivität in diesem
könnte mit einem Defizit in diesen Arealen zu­ Hirnbereich (b, gelb) im Schnitt
sammenhängen. weniger bereit, unfaire Geld­
angebote im Ultimatumspiel
Ein guter Ruf zahlt sich aus (TMS) vorübergehend die Hirnaktivität in anzunehmen, was auf starke
Menschen befolgen auch dann verstärkt soziale präfrontalen Arealen von Probanden. Anschlie­ soziale Selbstkontrolle hinweist.
Normen, wenn sie sich von anderen beobachtet ßend ließen wir sie mehrmals mit jeweils einer Galt es in einem anderen
fühlen. In der Regel wollen wir unseren Nächs­ anderen Person das so genannte Vertrauens­ Spielszenario einen guten Ruf
ten signalisieren, dass wir durchaus verläss­ spiel spielen (siehe auch Kasten S. 42). Hierbei zu wahren (siehe a, rechts), so
liche und kooperative Interaktionspartner sind. entscheidet sich zunächst ein Teilnehmer – der erhöhte sich der Anteil des
Das kann sich zwar kurzfristig nachteilig aus­ so genannte Treugeber –, wie viel er von einem abgegebenen Geldbetrags
wirken – etwa wenn wir auf einen möglichen bestimmten Geldbetrag an den anderen, den (Rücktransfer) verglichen zum
Gewinn verzichten –, langfristig aber profitie­ Treuhänder, abgeben will. Um einen Anreiz für anonymen Teilen – es sei denn,
ren wir von diesem »guten Ruf«, weil sich ande­ hohe Transfers zu schaffen, wird die anver­ der rechte Präfrontalkortex
re uns gegenüber dann eher kooperativ verhal­ traute Summe vom Versuchsleiter vervierfacht. wurde gehemmt (hellbrauner
ten. Um eine solche Reputation zu erwerben, Nun steht der Treuhänder vor der Wahl: Soll er Balken). Bei Störung des lin-
muss man Eigeninteressen häufig zurückstel­ das Vertrauen belohnen, indem er einen Teil des ken Präfrontalkortex oder bei
len. Sind hierbei ebenfalls präfrontale Hirn­ vervierfachten Betrags zurückgibt – oder ein­ bloß vorgetäuschter Hemmung
strukturen beteiligt? fach alles selbst einstreichen? war die Selbstkontrolle – ge­
Im Jahr 2009 hemmten wir mittels nieder­ Diese Entscheidung fällten die Teilnehmer in messen an der Höhe des finan-
frequenter transkranieller Magnetstimulation unserer Studie 15-mal mit jeweils anderen Spiel­ ziellen Rücktransfers – hoch.


www.gehirn-und-geist.de 47
änderte Situation an. Anscheinend konnten die
Betreffenden der Versuchung, das Geld zu be­
halten, nicht so leicht widerstehen.
Die über den rechten Präfrontalkortex ge­
steuerte Selbstkontrolle scheint demnach
auch für den Erwerb eines guten Rufs entschei­
dend zu sein. Die Hemmung des linken
Präfrontalkortex wirkte sich hingegen nicht
darauf aus. Dieser Befund passt gut zu Beob­
achtungen an hirngeschädigten Patienten, wo­
nach Defizite im Sozialverhalten wie Takt­
losigkeit oder Unzuverlässigkeit ebenfalls eher
nach Beeinträchtigung des rechten als des lin­
ken Präfrontalkortex auftreten.
Warum sind manche Menschen deutlich
schlechter als andere in der Lage, ihre Impulse
zu kontrollieren? Mit Hilfe der TMS konnten wir
demonstrieren, dass es die soziale Selbstkon­
trolle vermindert, wenn man die Aktivität im
rechten Präfrontalkortex hemmt. Könnte die
Funktionsfähigkeit dieses Hirnbereichs also für
die individuellen Unterschiede verantwortlich
sein? Dieser Frage gingen wir 2010 nach.
Zu diesem Zweck registrierten wir per Elek­
partnern. Zudem führten wir eine kleine, aber troenzephalografie (EEG) die elektrische Aktivi­
entscheidende Variation ein: Während in einer tät des Gehirns im Ruhezustand, also während
Bedingung alle Interaktionen verdeckt abliefen, die Probanden nichts weiter tun sollten, als die
wusste der Treuhänder in der anderen, dass der Augen geschlossen zu halten. Spezielle 3-D-­
Genetischer Faktor Treugeber über seine früheren »Rücktransfers« Lokalisierungsmethoden ermöglichen es, die
Björn Wallace und seine informiert wurde. Um einen Ruf als vertrauens­ an der Schädeloberfläche gemessenen elektri­
Kollegen von der Stockholm würdige Person zu erwerben, was in der Folge schen Potenzialschwankungen den jeweiligen
School of Economics vergli­ höhere Geldangebote bescherte, musste er in Ursprungsarealen im Gehirn zuzuordnen. Da
chen in einer Studie von 2007 dieser Reputationsbedingung seine eigennüt­ die gemessene Grundaktivität auch bei mehr­
das Verhalten von ein- und zigen Impulse kontrollieren. maligen Messungen relativ stabil bleibt, stellt
zweieiigen Zwillingen im sie – vereinfacht gesagt – eine Art »neuronalen
Ultimatumspiel. Resultat: Profit versus Reputation Fingerabdruck« dar.
Genetisch identisch ausge- Wir teilten die Treuhänder in drei verschiedene Zu einem späteren Zeitpunkt erhoben wir
stattete Personen entschie- Gruppen ein: eine mit Placebostimulation, bei dann die Fähigkeit zur sozialen Selbstkontrolle,
den ähnlicher als zweieiige. der das TMS-Gerät gar nicht angeschaltet war, indem wir den Versuchspersonen die Rolle des
Als einen Erbfaktor, der über eine mit TMS über dem rechten Präfrontalkor­ Spielers B im Ultimatumspiel zuwiesen. In die­
die soziale Selbstkontrolle tex und eine mit TMS über der entsprechenden sem macht Spieler A einen Vorschlag, wie ein
mitbestimmt, identifizierten linken Hirnregion (siehe Grafik a auf S. 47). In Geldbetrag zwischen ihm und Spieler B aufge­
Forscher um Songfa Zhong der anonymen Bedingung handelten die Treu­ teilt werden soll. Spieler B hat dann die Möglich­
von der National University of händer aller drei Gruppen gleich – sie gaben nur keiten, den Vorschlag anzunehmen oder abzu­
Singapore das Gen DRD4. Es rund ein Drittel des vervierfachten Betrags an lehnen – im zweiten Fall gehen allerdings beide
beeinflusst die Empfindlich- den Treugeber zurück. Hier war also nicht der leer aus. Man nimmt an, dass für die Ablehnung
keit eines Dopaminrezeptors Ruf als fairer Teilnehmer wichtig, sondern vor unfairer Angebote die Ausübung von Selbst­
in der Membran von Nerven- allem der eigene Profit. kontrolle nötig ist, weil Spieler B dem eigennüt­
zellen. In der Reputationsbedingung jedoch zeigten zigen Impuls, wenigstens etwas Geld zu erhal­
(Wallace, B. et al.: Heritability of sich große Unterschiede: Während die Treuhän­ ten, widerstehen muss.
Ultimatum Game Responder
Behavior. In: Proceedings of the der in der Placebogruppe sowie in der mit TMS Bemerkenswerterweise war es möglich, die­
National Academy of Sciences über dem linken Präfrontalkortex nun fast die se durch die EEG-Grundaktivität im Ruhezu­
USA 104, S. 15631 – 15634, 2007;
Zhong, S. et al.: Dopamine D4 Hälfte des Geldbetrags zurückgaben, passten stand vorherzusagen: Je höher die Grundaktivi­
Receptor Gene Associated with Fair- die Treuhänder mit TMS über dem rechten tät im rechten Präfrontalkortex ausfiel, desto
ness Preference in Ultimatum
Game. In: PLoS One 5, e13765, 2010) Präfrontalkortex ihr Verhalten nicht an die ver­ eher lehnte die betreffende Versuchsperson als

48 G&G 1-2_2012


Antwor t ite pe r Fa x an 030
- 209 16 6 413
Se nd en Sie die se Se e Ad res se!
ten ste he nd
od er pe r Po st an un
unfair empfundene Angebote im Ultimatum­ Die Grundaktivität
spiel ab – ein Zeichen vermehrter sozialer
Selbstkontrolle (siehe Grafik b auf S. 47).
des präfrontalen Wirtschaftspsychologie
­Kortex im Stirnhirn
Dieses Ergebnis ist auch im Hinblick auf die
Forschung des Psychologen Roy Baumeister entspricht der Kraft aktuell
spannend. Ihm zufolge benötigt die Fähigkeit unseres »Selbst­ Die neue Ausgabe
zur Selbstkontrolle »mentale Energie«, die bei kontrollmuskels« „Professionelle Personalauswahl“
Belastung verbraucht wird (siehe auch G&G
11/2010, S. 26). Unsere Forschungsresultate deu­
ten darauf hin, dass die Grundaktivität des
Präfrontalkortex dieser Kraft des »Selbstkon­
trollmuskels« im Gehirn entsprechen könnte.
Ihr Vor G esch
il:te Theme k:
en
Mögliche Erklärung Sie sp
ar „Coach nheft
me hr en in
für jugendlichen Übermut als
30 % ! Aufwin g im
d“
Was die Frage nach den für die soziale Selbstkon­
trolle wichtigen Hirnprozessen angeht, ist die
Forschung durch Kombination moderner neu­ In der neuen Ausgabe „Professionelle Personal-
rowissenschaftlicher Methoden mit öko­nomi­ auswahl“ geht es um die faire und zuverlässige
schen und psychologischen Paradigmen ein Auswahl geeigneter Bewerber. Diese Ausgabe
gutes Stück vorangekommen. Präfrontale Areale und die darauf folgende „Erfolg durch Kompe-
sind offenbar entscheidend an den zu Grunde
tenz“ erhalten Sie jetzt im Schnupper-Abo.
liegenden neuronalen Mechanismen be­teiligt.
Interessant ist diese Erkenntnis auch des­ Wenn Sie bis zum 31. Januar 2012 das Schnupper-
halb, weil sie die teilweise mangelnde Selbst­ quellen Abo bestellen, schenken wir Ihnen zusätzlich
kontrolle bei Kindern und Jugendlichen erklä­ Baumeister, R. F., Vohs, K. D.: die Ausgabe „Coaching im Aufwind“ zu neuen
ren könnte: Da der Präfrontalkortex erst im frü­ Self-Regulation, Ego Depleti-
Coachingtrends.
hen Erwachsenenalter vollständig entwickelt on, and Motivation. In: Social
ist, erreicht er vermutlich auch erst dann seine and Personality Psychology Inhalte von „Professionelle Inhalte von „Erfolg durch
Personalauswahl“ Kompetenz“
volle Funktionsfähigkeit. Compass 1, S. 1 – 14, 2007
• wann sind Eignungstests • Wege zu mehr Kompetenz
Wie die Neurowissenschaftler Todd Heather­ Heatherton, T. F., Wagner, D. zulässig • Kompetenzmodelle im
ton und Dylan Wagner vom Dartmouth College D.: Cognitive Neuroscience of • Selbstdarstellung bei der Einsatz
in Hanover (US-Bundesstaat New Hampshire) Self-Regulation Failure. In: Personalauswahl • Komptenzprofile für
• Fairness bei der Bewerber- Arbeitslose
in einem Überblicksartikel von 2011 beschrei­ Trends in Cognitive Sciences
auswahl zahlt sich aus • Führung mit Kompetenz
ben, spielen präfrontale Areale allerdings nicht 15, S. 132 – 139, 2011 • Auswahl von Führungskräften • Einzel-Check-up für
nur bei der Selbstkontrolle in sozialen Situa­ Knoch, D. et al.: A Neural Mar- • was Karrieren steuert Führungskräfte
tionen eine wichtige Rolle; sie sind darüber hi­ ker of Costly Punishment Be-
naus auch bei der Zähmung unserer Impulse, havior. In: Psychological Sci- Ja, ich bestelle noch heute
etwa beim Sucht- oder Essverhalten, beteiligt. ence 21, S. 337 – 342, 2010
mein Schnupper-Abo:
Senden Sie mir die beiden Ausgaben 4/11 „Professionelle Perso-
Zudem beeinflussen neben dem Präfrontalkor­ Knoch, D. et al.: Disrupting
nalauswahl“ und 1/12 „Erfolg durch Kompetenz“ (erscheint am
tex noch eine Reihe weiterer Areale die soziale the Prefrontal Cortex Dimi- 29. März 2012) zum Vorteilspreis zu je € 14,50 inkl. MwSt. zu. Ich
Selbstkontrolle beim Menschen. nishes the Human Ability to spare gegenüber dem regulären Heftpreis mehr als 30% und die
Versandkosten übernimmt der Deutsche Psychologen Verlag für
Unser Denkorgan stellt folglich keine starre Build a Good Reputation. In:
mich. Wenn Sie bis 7 Tage nach Erhalt der letzten Ausgabe nichts von
Ansammlung von Einzelinstrumenten dar. Viel­ Proceedings of the National mir hören, möchte ich die Zeitschrift im Jahresabo beziehen (4 Aus-
mehr bilden diese ein harmonisch abgestimm­ Academy of Sciences USA gaben zu je € 18,-). Als Geschenk erhalte ich zusätzlich die Ausgabe
„Coaching im Aufwind“, wenn ich bis zum 31. Januar 2012 bestelle.
tes Orchester, das je nach Situation unser So­ 106, S. 20895 – 20899, 2009
zialverhalten auf flexible Weise steuert. Dem Spitzer, M. et al.: The Neural
Präfrontalkortex kommt dabei offenbar häufig Signature of Social Norm Organisation/Firma/Name

die Rolle des Dirigenten zu. Ÿ Compliance. In: Neuron 56, S.


185 – 196, 2007 Straße

Daria Knoch ist Förderungsprofessorin des Schweizer


PLZ, Ort
Nationalfonds für Soziale und Affektive Neuro­ Weitere Quellen im Internet:
wissenschaften an der Universität Basel (Schweiz). www.gehirn-und-geist.de/
E-Mail/Telefon
Bastian Schiller forscht als Doktorand in ihrer artikel/1129629
114402

Arbeitsgruppe. Datum, Unterschrift

Deutscher Psychologen Verlag GmbH


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Am Köllnischen Park 2 · 10179 Berlin
Tel. 030 - 209 166 411 · Fax 030 - 209 166 413
wp@psychologenverlag.de · www.wirtschaftspsychologie-aktuell.de
medizin ı stadtleben

Urbane Seelennöte
Rund um den Globus nimmt die Verstädterung seit
­Jahrzehnten zu. Gleichzeitig mehren sich Hinweise darauf,
dass das Leben in Ballungszentren die Psyche belastet.
­Andreas Meyer-Lindenberg vom Mannheimer Zentral­
institut für Seelische Gesundheit erklärt, was im Gehirn
­gestresster Großstädter schiefläuft.

Von Andreas Meyer-Lindenberg

D ie kulturellen Umwälzungen der Renais­


sance, die industrielle Revolution, ja auch
die politischen Bewegungen des 19. und 20.
psychische Erkrankungen treten hier verstärkt
auf (siehe G&G 5/2011, S. 44): Städter leiden
auch in Deutschland zu etwa 40 Prozent häu­
Jahrhunderts – all dies wäre ohne Städte un­ figer an Depressionen; die Quote der Angststö­
denkbar gewesen. Die Urbanisierung zählt si­ rungen ist um rund 20 Prozent erhöht. Noch
cherlich zu den größten Veränderungen, welche dramatischer steigt das Risiko, an Schizophre­
die Menschheit je durchgemacht hat. Heute lebt nie zu erkranken, für Menschen an, die in einer
bereits mehr als die Hälfte der Weltbevölkerung Stadt zur Welt kamen und dort ihre frühe Kind­
in Städten; bis 2050 werden es zwei Drittel sein. heit verbracht haben. So fanden Lydia Krab­
Während Europa und Nordamerika schon weit bendam und Jim van Os von der niederländi­
gehend verstädtert sind, wird die Urbanisierung schen Universität Maastricht nach Auswertung
in Südamerika oder Asien in den nächs­ten Jah­ von zehn Studien heraus, dass sich das Risiko
ren so rasch voranschreiten, dass etwa in China für dieses schwere psychische Leiden bei Stadt­
jedes Jahr Megastädte um mehr als zehn Millio­ kindern verglichen mit auf dem Land aufge­
nen Menschen anwachsen. wachsenen Personen mindestens verdoppelt.
Ist das urbane Leben aber auch gesund? Dies Andere Forscher gehen sogar von einer Verdrei­
scheint auf den ersten Blick tatsächlich der Fall fachung aus.
zu sein: Verglichen mit Landbewohnern geht es Diese Daten gelten zwar als gut gesichert, sie
Städtern weltweit im Schnitt zumindest finan­ lassen jedoch die Frage offen, welche Ursachen
ziell besser, sie können leichter auf Gesund­ dahinterstecken. Prinzipiell könnte es ja sein,
heitsvorsorge und Krankenbehandlung zurück­ dass Ballungszentren auf Menschen mit einem
greifen, und sie sind besser ernährt. Dem stehen erhöhten Risiko für seelische Erkrankungen
jedoch Lärm, räumliche Enge und Hektik gegen­ oder bereits offenkundigen psychischen Stö­
über. Nicht zu vernachlässigen ist auch die so­ rungen besonders anziehend wirken oder dass
ziale Fragmentierung, also der Verlust direkter solche Menschen krankheitsbedingt seltener
familiärer Bezugspersonen. So ergibt sich ein aufs Land ziehen. Diese »Drift«-Hypothesen ha­
komplexes Gefüge von Risiko- und Schutzfak­ ben Epidemiologen allerdings ausgeschlossen.
toren, deren biologische und psychologische Insofern müssen wir davon ausgehen, dass es
Wirkmechanismen wir bislang nur unzurei­ tatsächlich Faktoren in der Stadt selbst gibt, die
chend verstehen. das Risiko für psychische Leiden erhöhen.
Schon seit vielen Jahrzehnten wissen Psy­ Welche könnten das sein? Auch hier könnte
chologen, dass das Leben in einer Großstadt die man an Verkehrslärm oder Luftverschmutzung
seelische Gesundheit belastet – etliche schwere denken; etliche Forscher wie beispielsweise Jim

50 G&G 1-2_2012


Anonyme Masse
Gedränge und Hektik kennzeichnen
das Leben in der Großstadt.
iStockphoto / René Mansi


www.gehirn-und-geist.de 51
van Os und Jean-Paul Selten von der Universität r­ otierte Figuren miteinander in Übereinstim­
Au f ei n en B l ic k Maastricht sind jedoch davon überzeugt, dass mung zu bringen waren. Der Clou: Während­
Vom Stadt- zum hierbei insbesondere sozialer Stress eine we­ dessen machten Autoritätspersonen als »Wis­
sentliche Rolle spielt. senschaftler im weißen Kittel« Druck. Ohne
Seelenleben Zahlreiche epidemiologische Studien konn­ dass die Versuchspersonen dies ahnten, hatten

1 Menschen in Ballungs-
z­ entren leiden deut-
lich häufiger an psychi­
ten dies bestätigen. So fanden Wissenschaftler
um Stanley Zammit von der Cardiff University
in Wales 2010 heraus, dass das Schizophrenie­
wir das Experiment so ausgerichtet, dass sie
glauben mussten, den Anforderungen nicht ge­
wachsen zu sein. So suggerierte beispielsweise
schen Erkrankungen wie risiko von 200 000 Menschen in Schweden ein auf dem Bildschirm im Tomografen ein­
Depression oder Schizo- ­einerseits von individuellen Faktoren wie Mi­ geblendeter »Leistungsmesser«, sie seien ver­
phrenie als Landbewohner. grantenstatus oder Einkommen abhing; ande­ glichen mit den anderen Teilnehmern beson­
rerseits waren diese Risikofaktoren wiederum ders schlecht. Die Versuchsleiter forderten sie

2 Sozialer Stress führt


vor allem bei Groß-
städtern zu einer erhöh-
eng verknüpft mit der Stadtgröße. Vor allem
Personen, die sich in ihrem Stadtteil als fremd
kopfschüttelnd auf, sich doch bitte etwas mehr
anzustrengen, weil man sonst die Ergebnisse
und isoliert empfanden – wie etwa Immigran­ nicht verwerten könnte.
ten Aktivität der Amyg­
ten –, zeigten ein erhöhtes Erkrankungsrisiko.
dala und des anterioren
Zingulums. Diese Hirn­
Derartige Untersuchungen liefern allerdings Gefahrensensor schlägt Alarm
nur indirekte Hinweise; sie stützen sich auf ein Die Wirkung blieb nicht aus. Die Probanden, die
areale spielen für unseren
recht grobes Maß: die Häufigkeit einer klinisch wir natürlich hinterher über unsere wahren
Gefühlshaushalt eine
diagnostizierten psychischen Erkrankung. Da ­Absichten aufklärten, bestätigten, dass sie sich
wichtige Rolle.
diese Leiden letztlich auf einer gestörten Hirn­ in der Tat unter Druck gesetzt gefühlt hatten.

3 Vermutlich verändern
die Belastungen des
Stadtlebens die Hirn­
funktion beruhen, liegt es nahe, sich die Metho­
den der modernen Neurobiologie zu Nutze zu
Hochschnellende Puls-, Blutdruck- sowie Corti­
solwerte belegten ihren Stress.
machen, um die Beziehung zwischen Stadtle­ Welche Hirnareale regten sich unter solchem
physiologie und steigern ben und sozialem Stress zu ergründen. Hierzu »sozialevaluativen« Stress? Natürlich viele. Uns
somit das Risiko für müssen wir die Hirnfunktion von Versuchsper­ interessierten aber vor allem die Regionen, de­
psychiatrische Leiden. sonen aus unterschiedlichen geografischen Re­ ren Aktivität etwas mit dem städtischen Umfeld
gionen messen, während sie gleichzeitig einer der Probanden zu tun hatte. Ein Teil von ihnen
sozialen Stresssituation ausgesetzt sind. stammte aus Metropolen mit mehr als 100 000
Ein solches Experiment führten wir im ver­ Einwohnern, eine zweite Gruppe aus Kleinstäd­
gangenen Jahr am Mannheimer Zentralinstitut ten ab 10 000 Bürgern, und die übrigen Ver­
für Seelische Gesundheit durch. Unsere gesun­ suchspersonen lebten auf dem Land. Gibt es
den Probanden lagen dabei in einem Hirnscan­ eine Hirnregion, deren Aktivität unter Stress
ner. Mittels funktioneller Kernspintomografie, mit dieser geografischen Herkunft korreliert?
Prägendes Umfeld die den lokalen Blutfluss in verschiedenen Hirn­ Eindeutig ja: Es handelt sich um die Amyg­
Wer auf dem Land zu Hause ist arealen registriert, lässt sich ein Maß für die dala, den »Mandelkern«. Die kirschkerngroße
(links), reagiert auf Stress an- neuronale Aktivität gewinnen. Hirnstruktur, die beidseits tief im Schläfen­
ders als Menschen, die in einer Wir baten nun unsere Freiwilligen, unter lappen liegt, kennen Psychiater und Hirnfor­
Kleinstadt wie Meißen (Mitte) Zeitdruck Denksportübungen zu bewältigen; scher gut. Unter anderem dient sie als »Gefah­
oder gar in der Bankmetropole sie sollten entweder kopfrechnen oder geome­ rensensor« und löst Reaktionen des Organis­
Frankfurt (rechts) leben. trische Probleme lösen, bei denen räumlich mus auf eine wahrgenommene Bedrohung aus,
Dreamstime / Elena Solodovnikova
Dreamstime / Viktoras Mostovojus

Dreamstime / Jan van der Wolf

52 G&G 1-2_2012


Lederbogen, Florian et al.: City living and urban upbringing affect neural social stress processing in humans.
beispielsweise Furcht oder Aggression. Wie wir a b
wissen, ist eine erhöh­te Aktivität der Amygdala *

Amygdala-Aktivität
auch mit Depression und Angsterkrankungen 1
verknüpft.
Es zeigte sich nun, dass die Aktivität der
Amygdala unserer gestressten Probanden mit 0

der Größe der Stadtumgebung stufenweise an­


Aktivität
stieg (siehe Grafik b): Bei Dorfbewohnern schien
–1
das Gefühlszentrum nahezu unbeeindruckbar Land- Klein- Groß-
zu sein, bei Kleinstädtern regte es sich schon
0 3 bewohner städter städter

­etwas mehr, bei Bewohnern von Großstädten cc dd


3
2
*

In: Nature 474, S. 498–501, 2011, fig. 1 und 2


war die Aktivität am größten. Mit einer so
21

[21 –9 –15]
pACC-Aktivität
starken Korrelation hatten wir nicht gerechnet.
Wir wiederholten daher das Experiment mit
0
–11
­anderen Versuchspersonen unter modifizierten
–2

Aktivität
Stressbedingungen – abermals offenbarte die­ 0
Aktivität
–3
selbe Hirnregion genau dasselbe Muster.
–4
–1
Das Ergebnis ist besonders spannend, da wir 15 20 25 30 35 40 45
0 4 –5
ja aus den epidemiologischen Daten wissen, Ortsindex (1/2/3Kleinstadt
Land Großstadt
Punkte je Kindheitsjahr
c d auf dem Land/in Kleinstadt/Großstadt)
wie sehr die Stadtumgebung das Risiko für De­
pressionen und Angststörungen erhöht – also banden einen Wert zwischen 15 und 45. Unsere 2 Stadt, Land, Stress
solche Leiden, die mit einer Überaktivität der Testpersonen mussten nun wiederum im Hirn­ Bei Stadtmenschen, die unter
0

Aktivität
Amygdala verbunden sind. Das legt nahe, die scanner Denkaufgaben lösen, während sie ein sozialem Stress Denksport­
verstärkte Anregung dieses Hirnareals könnte Experimentator gehörig stresste. –2 aufgaben lösen, regt sich ver-
tatsächlich ein Mechanismus sein, der zwischen Als wir die Tomografiedaten auswerteten, mehrt die Amygdala (a) – nicht
urbanem Leben und dem Risiko für diese Er­ –4 jedoch bei Probanden, die vom
fanden wir nur eine Hirnregion, die hochsignifi­
krankungen vermittelt. 20oder
kant mit unserem »Stadtscore« korrelierte: das 15Land 25aus30einer
35Kleinstadt
40 45
Es lässt sich außerdem darüber spekulieren, perigenuale anteriore Zingulum (pACC; eng­ stammen (Grafik b). Das Stern-
ob die Aktivierung auch mit gewaltbereitem lisch perigenual anterior cingulate cortex). Je chen symbolisiert einen statis-
Verhalten zusammenhängen könnte. Natürlich länger die Probanden in ihrer Kindheit in der tisch signifikanten Unterschied.
handelt es sich hierbei nicht um eine psychia­ Stadt gelebt hatten, umso stärker regte sich die­ Mit einer besonders hohen
trische Erkrankungskategorie – Gewalt beruht ses zum limbischen System gehörende Areal Aktivität des perigenualen
auf sehr komplexen, multifaktoriellen Einflüs­ unter sozialem Stress (siehe Grafik d). Auch die­ anterioren Zingulums (pACC, c)
sen. Daten sowohl aus Deutschland als auch den sen Befund konnten wir mit einer zweiten Ver­ reagieren Menschen auf
USA belegen jedoch, dass Gewalt in Städten ein suchsgruppe bestätigen. sozialen Stress, die in einer
deutlich größeres Problem ist als auf dem Land. Großstadt aufwuchsen. Die
2006 konnte ich mit Kollegen vom National Gestörter Regelkreis Grafik d zeigt dessen Aktivitäts-
­Institute of Mental Health in Bethesda (US-Bun­ Dass sich hier tatsächlich der soziale Stress des level in Stresssituationen in
desstaat Maryland) zudem nachweisen, dass Stadtlebens auswirkt, lässt sich aus einem Kon­ Abhängigkeit vom Ort der Kind-
Menschen mit genetischen Risikofaktoren für trollexperiment schließen: Als wir weitere Pro­ heit. Jedes Jahr in einer Groß-
so genannte impulsive Gewalttaten eine über­ banden ebenso schwierige Denkaufgaben lösen stadt zählt dabei drei Punkte, in
erregbare Amygdala aufweisen. ließen, ohne sie jedoch unter Druck zu setzen, einer Kleinstadt zwei und auf
Wie sieht es nun bei der Schizophrenie aus? fanden wir keinen Zusammenhang zwischen dem Land einen Punkt.
Bei ihr gilt nicht nur das Leben in einer Metro­ urbaner Herkunft und den Aktivitäten von
pole, sondern vor allem die Geburt sowie das Amygdala und pACC.
Aufwachsen in einem solchen Umfeld als Risiko. Das pACC ist aus mehreren Gründen beson­
Auch hier fanden wir eine klare Antwort. ders interessant: Erstens haben verschiedene
Um die in einer Stadt verbrachte Kindheits­ Forscher wie etwa Tsutomu Takahashi von der
zeit unserer Versuchspersonen zu quantifizie­ Medizinischen und Pharmazeutischen Univer­
ren, bildeten wir einen Wert aus den Lebensjah­ sität Toyama in Japan bei Schizophreniepatien­
ren 0 bis 15. Dabei zählte jedes Jahr, in dem der ten strukturelle Veränderungen im pACC gefun­
Proband überwiegend in einer Metropole gelebt den. Sie treten mitunter schon im Anfangsstadi­
hatte, drei Punkte; Lebensjahre in einer Klein­ um, ja sogar bei Probanden mit nur erhöhtem
stadt zwei; eine dörfliche Umgebung brachte ei­ Krankheitsrisiko auf – also noch vor den ersten
nen Punkt. In Summe ergab dies für jeden Pro­ psychiatrischen Symptomen. Zweitens ist diese


www.gehirn-und-geist.de 53
dieser Schutz ist in anonymen Großstädten eher
seltener gegeben. Bereits ein Jahr zuvor hat­te un­
sere Arbeitsgruppe herausgefunden, dass das
Peptidhormon Vasopressin die Aktivität in Are­
alen des zingulären Kortex drosselt und die Rück­
kopplungsschleife mit der Amygdala fördert. So­
wohl Risiko- als auch Schutzfaktoren beeinflus­
sen demnach gemeinsam diesen Schaltkreis.
Die entscheidende nächste Frage lautet nun:
Was für Ursachen stecken hinter der beson­
deren Stressverarbeitung bei Städtern? Wir wis­
sen jetzt zwar, wie das Stadtleben das Risiko für
psychische Erkrankungen steigern kann, nicht
­jedoch warum. Dass der pACC-Amygdala-Schalt­
kreis insbesondere in der Jugend sehr empfind­
lich auf Stress reagiert, zeigten bereits Tier­
Hirnregion sehr eng mit der Amygdala ver­ versuche: 2003 fand die Arbeitsgruppe von Ka­
knüpft. Anscheinend besteht zwischen beiden tharina Braun von der Universität Magdeburg
Arealen eine Rückkopplungsschleife, welche die heraus, dass sich die Verknüpfungen der Ner­
Amygdala hemmt und insbesondere für die venzellen im Zingulum von Strauchratten (Oc-
Verarbeitung negativer Emotionen eine wich­ todon degus) nachhaltig veränderten, wenn die
tige Rolle spielt. Offensichtlich sind wir hier auf Tiere kurz nach der Geburt durch Isolation ge­
einen Regelkreis gestoßen, der durch die Geburt stresst wurden.
und das Leben in einer Großstadt beeinflusst Wir vermuten deshalb, dass die erhöhte Ak­
werden kann. tivität der besagten Hirnregionen nicht nur das
Risiko für psychische Erkrankungen steigert –
Schutzfaktor Freundeskreis soziale Stressfaktoren in der Stadt könnten viel­
Durch Vergleich der Tomografiedaten konnten mehr selbst die eigentliche Ursache für diese
wir die »funktionelle Konnektivität« abschät­ Veränderungen sein. Der Nachweis hierfür steht
zen, also wie weit die beiden Hirnareale funktio­ aber noch aus. Wir müssen daher die jeweiligen
nell mit­einander verknüpft waren. Wieder war Umweltfaktoren, mit denen Stadtmenschen
der Regelkreis umso stärker beeinträchtigt, je konfrontiert sind, wie mangelnde Grünflächen,
länger die Probanden in einer Stadt aufgewach­ Lärm oder soziale Fragmentierung, genau erfas­
sen waren. Eine ähnlich gestörte Rückkopplung sen und die Daten mit den Resultaten aus Tests
zwischen pACC und Amygdala hatten wir zu­ mit bildgebenden Verfahren kombinieren.
sammen mit der Arbeitsgruppe von Daniel Ein solcher Forschungsansatz könnte weit
Weinberger vom National Institute of Mental reichende Folgen haben: Bis zu jede dritte Schi­
Health 2005 bei Menschen gefunden, die auf zophrenieerkrankung ließe sich vermeiden,
Grund eines veränderten Gens für den Seroto­ wenn mehr Menschen in ländlicher Umgebung
nintransporter 5-HTT schlechter mit negativen zur Welt kämen. Um das zu realisieren, dürfte es
Lebenserfahrungen umgehen können (siehe auf dem Land allerdings rasch voll werden!
auch G&G 9/2007, S. 52). Das Zusammenwirken Wir müssen stattdessen den Lebensraum
von Genen und Umwelt dürfte für das Risiko, an Stadt so planen und gestalten, dass er für die
seelischen Erkrankungen wie Depression und psychische Gesundheit möglichst förderlich ist.
quellen Schizophrenie zu leiden, ausschlaggebend sein. Hierdurch könnten wir gesündere Lebens­
Lederbogen, F. et al.: City Li- Es gibt jedoch auch schützende Mechanis­ welten schaffen und dabei endlich auch das ei­
ving and Urban Upbringing men, die sich auf diesen Hirnkreislauf aus­wir­ gentliche Ziel jeglicher Psychiatrie anvisieren:
Affect Neural Social Stress ken. So entdeckten Wissenschaftler um Lisa schwer wiegende psychische Störungen wie De­
Processing in Humans. In: Feldman Barrett vom Massachusetts General pression oder Schizophrenie nicht nur zu be­
Nature 474, S. 498 – 501, 2011 Hospital in Charlestown (USA) 2011, dass das per handeln, sondern den Ausbruch solcher Erkran­
Kernspintomografie gemessene Volumen der kungen zu verhindern. Ÿ
Weitere Quellen im Internet: Amygdala mit der Größe des Freundes- und Be­
www.gehirn-und-geist.de/ kanntenkreises ansteigt. Ein gut ausgebautes Der Mathematiker und Psychiater Andreas
artikel/1128839 soziales Netz kann wiederum bekanntermaßen ­Meyer-Lindenberg ist Direktor des Zentralinstituts
vor seelischen Störungen bewahren – und gerade für Seelische Gesundheit in Mannheim.

54 G&G 1-2_2012


medizin ı psychiatrie

Letztes Mittel
Bis heute dürfen psychiatrische Einrichtungen Patienten einsperren, sie ans Bett
binden oder ihnen gegen ihren Willen Medikamente verabreichen. Was solche
Zwangsmaßnahmen bewirken und wie oft Klinikmitarbeiter sie einsetzen, ist noch
relativ schlecht erforscht. Das wollen Ärzte und Patienten nun ändern.

Von Susanne Rytina

Au f ei n en B l ic k Ü ber Zwang in der Psychiatrie scheiden sich


die Geister. Auf der einen Seite stehen
Patienten mit Gurten am Bett fest. Je nach Erre­
gungszustand werden dabei an bis zu zehn
Grauzone ­Pa­tientenschutzorganisationen, die Isolations­ Punkten des Körpers Fesseln angelegt, vor allem
räume und Fesseln als tyrannische Disziplinie­ an Armen, Beinen oder im Rumpfbereich. Die

1 Zwangsmaßnahmen
in der Psychiatrie
erlaubt der Gesetzgeber
rungsinstrumente betrachten und am liebsten
ins Museum verbannen würden; auf der ande­
Isolierung besteht darin, den Patienten in einen
leeren, reizarmen Raum einzusperren, nur mit
ren Seite das Personal von psychiatrischen Ein­ einer Matratze und einer Decke ausgestattet.
nur im Notfall und wenn richtungen, das Zwangsmaßnahmen an Patien­
alle anderen Mittel ver- ten als notwendige, wenn auch unschöne Reali­ Schockierender Mangel an Daten
sagt haben. tät ansieht, mit der man professionell umgehen Wie oft greifen Klinikmitarbeiter auf solche

2 Zu der Frage, wann müsse. »Wir würden es begrüßen, wenn die Psy­ Maßnahmen zurück? Warum und unter wel­
und wie oft das chiatrie gewaltfrei wäre. Doch Aggression und chen Umständen? Im Jahr 2000 führten Wis­
me­dizinische Personal sie Gewaltausbrüche von Patienten lassen sich senschaftler um Eila Sailas von der Universität
einsetzt, wie sie wirken nicht vollständig vermeiden«, erklärt Tilman Helsinki (Finnland) eine große Metastudie zu
und welche Alter­nativen Steinert, Psychiater und Leiter der Forschungs­ diesen Fragen durch und stellten fest, dass es
es gibt, existieren noch abteilung am Zentrum für Psychiatrie (ZfP) Süd­ keine kontrollierten klinischen Studien gab –
relativ wenige Untersu­ württemberg. Patientenvertreter wenden ein, ein schockierender Mangel an Daten. Erst da­
chun­gen. Bisherige dass Zwangsmaßnahmen in der Psychiatrie zu nach rückten Zwangsmittel in der Psychiatrie in
Befunde zeigen, dass Traumatisierungen führen können, die lebens­ den wissenschaftlichen Fokus. Viele Studien
Zwang teils unzu­lässig lang wirken, und werfen die Frage auf, ob eine sind jedoch wenig aussagekräftig, weil sie nur
ausgeübt wird. gewaltfreie Psychiatrie nicht doch möglich sei eine kleine Zahl von Teilnehmern einschließen.
(siehe Kasten S. 61). »Generelle Aussagen über die Situation in

3 Pflegekräfte, Psycho-
logen und Ärzte ar-
beiten an neuen Vor­ge-
Was versteht man unter Zwangsmaßnah­
men in der Psychiatrie? »Alles, womit der Pati­
Deutschland sind schwierig – vor allem, weil es
keine systematische, gesetzlich geregelte Daten­
ent im weiteren Sinn nicht einverstanden ist«, erhebung gibt, aber auch, weil sich die Psychiat­
hensweisen für den klini- erläutert Steinert. Dazu zählt, wenn es dem Pa­ riegesetze in den 16 Bundesländern sehr vonei­
schen Alltag, die helfen tienten verboten ist, die Station zu verlassen, nander unterscheiden«, sagt Steinert. Im Klinik­
sollen, Dauer und Häufig- oder wenn das Personal durch Zureden psycho­ verbund des ZfP Südwürttemberg ermittelte er
keit von Zwangsmaß­ logischen Druck aufbaut, damit er seine Medi­ einen Anteil von acht Prozent aller Patienten,
nahmen zu reduzieren. kamente nimmt. Als äußerste Mittel gelten die die im Zuge der Behandlung fixiert und isoliert
Fixierung und die Isolierung. Bei der Fixierung wurden – im Durchschnitt jeweils knapp sieben
binden Pflegekräfte, meist auf ärztliche Anwei­ Stunden lang. »Diesbezüglich liegen wir in Eu­
sung hin, aggressive oder bedrohlich wirkende ropa ungefähr im Mittelfeld«, schätzt Steinert.

56 G&G 1-2_2012


Cinetext Bildarchiv
Vor einigen Jahren schlossen sich zwölf euro­ stützen, all dies unterscheidet sich zwischen Aufstand der »Irren«
päische Länder zu einem Forschungsverbund den ­europäischen Staaten enorm. Der Anteil an Miloš Formans berühmtes Film-
zusammen, um die klinische Praxis in verschie­ Zwangseinweisungen etwa – wenn also Men­ drama »Einer flog über das
denen Regionen zu untersuchen und heraus­ schen auf ärztliches Attest und richterlichen Be­ Kuckucksnest« (1975) handelt
zufinden, welche zwischenstaatlichen Unter­ schluss hin in eine psychiatrische Klinik kom­ von den Insassen einer psychi-
schiede bestehen. Die Forschungen laufen unter men, obwohl sie das nicht wollen – beträgt in atrischen Klinik, die mit Medi-
der Bezeichnung Eunomia (»European Evalua­ Deutschland 18 Prozent, in Portugal 3 Prozent kamenten und Elektroschocks
tion of Coercion in Psychiatry and Harmoniza­ und in Schweden 30 Prozent aller Einweisungen. ruhiggestellt werden. Einer der
tion of Best Clinical Practise«, auf Deutsch »Eu­ Über einen längeren Zeitraum betrachtet verän­ Patienten, Randall P. McMurphy
ropäische Bewertung von Zwangsmaßnahmen dert sich dieser Anteil in den meisten EU-Län­ (gespielt von Jack Nicholson,
in der Psychiatrie und Harmonisierung bester dern nur wenig, wie Hans Joachim Salize und Bildmitte), rebelliert gegen die
klini­scher Praxis«). Zwischen 2003 und 2006 Harald Dressing vom Zentralinstitut für See­ unmenschliche Behandlung
wurden die Daten für die Studie erhoben. 2007 lische Gesundheit in Mannheim 2004 in einer und ruft seine Leidensgenossen
fand in Dresden erstmals eine internationale Studie feststellten. zum Widerstand auf.
Konferenz zum Thema statt. Seither ist den For­ Zwangsmaßnahmen betreffen in Deutsch­
schern vor allem eines klar ge­worden: Welche land vor allem ältere und demente Patienten.
Zwangsmaßnahmen in der Psychiatrie ange­ Tilman Steinert beziffert ihren Anteil an allen fi­
wendet werden, wie oft sie zum Einsatz kommen xierten Patienten auf 28 Prozent, gestützt auf
und auf welche rechtlichen Grundlagen sie sich seine Untersuchungen in zehn südwürttember­


www.gehirn-und-geist.de 57
Zwangsmaßnah- gischen Kliniken. »Ältere und demente Men­ von Tilman Steinert. Der Anteil an aggressiven
schen kommen nachts oft nicht zur Ruhe und Patienten erhöht sich aber auf sieben Prozent,
men betreffen in wollen ihr Bett verlassen; sie werden vom Perso­ wenn man Drohungen, Sachbeschädigungen
Deutschland vor nal mit Bauchgurten festgebunden, damit sie und Selbstverletzungen einschließt.
allem ältere und nicht aus dem Bett stürzen und sich verletzen.« Aufschlussreich ist eine Studie, die Forscher
um Alice Keski-Valkama vom Vanha Vaasa Hos­
demente Patienten Attacken von Patienten sind selten pital in Finnland 2010 veröffentlichten. Die
Ebenfalls stark von Zwangsmaßnahmen betrof­ Wissenschaftler untersuchten die Gründe, aus
fen sind Patienten mit akuten Psychosen und denen Psychiatriepatienten in Finnland isoliert
Manien, die durch wahnhaftes Verhalten auffal­ oder fixiert werden. Hierzu werteten sie Patien­
len. Doch sind sie deshalb gefährlich? »Über die tenakten von 668 Fällen aus allen psychiat­
gesamte Lebenszeit betrachtet ist ihr Risiko, ge­ rischen Kliniken des Landes aus, und zwar über
walttätig zu werden, etwa so groß wie bei jun­ einen Zeitraum von 15 Jahren. Das Ergebnis: In
gen, gesunden Männern«, sagt Steinert. »Wäh­ etwa jedem zweiten Fall begründete das Klinik­
rend akuter Psychosen muss man aber von personal die Zwangsmaßnahme mit einer Er­
einem erhöhten Risiko ausgehen, bis eine wirk­ regung und Desorientierung des Patienten.
same Behandlung eingesetzt hat.« Zudem ­Gemeint waren damit rastloses Umherirren,
könnten verzerrte Wahrnehmungen zu Aggres­ verwirrtes und fahriges Verhalten oder verbale
Abgeschnitten sionen führen: »Wenn ein Patient an Verfol­ Aggressionen. Deutlich seltener, nämlich in
Eines der äußersten Zwangs- gungsangst leidet und glaubt, dass ihm das Per­ ­jedem vierten bis fünften Fall, notierten die
mittel in psychiatrischen Ein­- sonal Böses will, kann es vorkommen, dass er Mitarbeiter körperliche Gewalt. Gewaltan­dro­
richtungen ist die Isolierung. sich zur Wehr setzt.« hung oder Sachbeschädigung vermerkten die
Dabei werden die Patienten in Direkte Attacken von psychisch Kranken auf Akten nur bei jedem zehnten beziehungsweise
einen leeren, reizarmen Raum Klinikmitarbeiter sind allerdings eher selten. zwanzigsten Patienten.
eingeschlossen. Die Aufnahme Zwei Prozent der Patienten aus vier untersuch- Kritisch hieran sei vor allem, dass erregtes
entstand am Zentrum für ten Kliniken haben Pfleger, Ärzte oder Mitpa­ und desorientiertes Verhalten nicht zuverlässig
Psychiatrie Südwürttemberg. tienten direkt angegriffen, ergab eine Studie vorhersage, ob der Patient wirklich gefährlich
werde, urteilen Keski-Valkama und ihre Kolle­
gen. Die Wissenschaftler vermuten zudem,
dass Klinikmitarbeiter manchmal subjektiv
entscheiden oder Zwang als Strafe einsetzen:
Patienten, die das Personal attackiert hatten,
wurden doppelt so lange isoliert oder fixiert
wie Patienten, die andere Patienten angriffen.
»Die klinische Praxis weicht von den theore­
tischen und gesetzlichen Begründungen für
Zwangsmaßnahmen ab und ist zu offen für
subjektive Einschätzungen«, resümieren die
Autoren der Studie. Um dem abzuhelfen, müs­
se das Personal besser geschult werden und kla­
re, verständliche Anweisungen haben.
Die Mitarbeiter im Zentrum für Psychiatrie
Südwürttemberg trainieren Deeskalationstech­
niken, wie Tilman Steinert erläutert. »Damit
wollen wir den Teufelskreis von Gewalt und
Zwang möglichst durchbrechen«, sagt der Psy­
chatrieexperte. »Wenn Zwangsmaßnahmen
schon nicht vermeidbar sind, sollen sie so pro­
fessionell wie möglich ablaufen.«
2009 erarbeitete Steinert zusammen mit
Mit frdl. Gen. von Tilman Steinert

Fachleuten der Deutschen Gesellschaft für Psy­


chiatrie, Psychotherapie und Nervenheilkunde
(DGPPN) die Leitlinie »Therapeutische Maßnah­
men bei aggressivem Verhalten in der Psychiat­
rie und Psychotherapie«. Sie soll eine Hilfe für

58 G&G 1-2_2012


Ärztinnen, Ärzte und Pflegekräfte sein. Auch der
Patientenvertreter Klaus Laupichler war an der
Ausarbeitung beteiligt, konnte jedoch nicht al­ Zwang in der Psychiatrie: Juristischer Grenzfall
len Passagen zustimmen. »Aber ich halte eine
solche Leitlinie in der Psychiatrie für besonders Rechtliche Bestimmungen zur Zwangseinweisung, Isolierung und Fixierung
wichtig, für einen weiteren Schritt hin zu einer finden sich in Deutschland vor allem in den Psychiatriegesetzen der Länder
menschlichen und hilfreichen psychiatrischen und im Strafgesetzbuch. »Wir müssen im Notfall eingreifen, wenn der Pati-
Versorgung«, betont Laupichler. ent sich oder andere gefährdet; Psychiatrie hat also eine Doppelfunktion –
Leitlinien für die Behandlung von Psychia­ sie behandelt nicht nur kranke Menschen, sondern sie muss auch deren Si-
triepatienten basieren überwiegend auf Exper­ cherheit und die Sicherheit anderer Menschen gewährleisten«, erklärt der
tenkonsens. Aber auch angesehene Fachleute Psychiater Tilman Steinert. Das Strafgesetz erlaubt dies bei einem Not-
können irren, wie tragische Fälle der Medizin­ stand: »Eine Zwangsmaßnahme ist das letzte Mittel, die Ultima Ratio, wenn
geschichte gezeigt haben (siehe G&G 5/2010, alle anderen Mittel versagt haben.« Zwangsmaßnahmen sollen den Betrof-
S. 30). Randomisierte Studien, die Zwangsmaß­ fenen so wenig einschränken und entwürdigen wie möglich und vor allem
nahmen in der Psychiatrie zuverlässig auf Wir­ der Situation angemessen sein. Klinikmitarbeiter dürfen sie nicht anwen-
kungen, Nebenwirkungen und Alternativen un­ den, um Patienten zu bestrafen oder zu disziplinieren. Ebenso unzulässig ist
tersuchen, sind nach wie vor selten. Randomi­ es, Patienten zu isolieren oder zu fixieren, damit der Klinikalltag reibungslos
sierung heißt, dass Probanden per Zufall in zwei ablaufen kann, etwa wenn nicht genügend Mitarbeiter da sind, um alle
oder mehrere Gruppen eingeteilt werden – die Kranken angemessen zu betreuen.
eine erhält eine bestimmte Behandlung, die an­ Stark erregte, aggressive Patienten müssen manchmal gegen ihren Wil-
dere nicht. So kann man sehen, wie ein Verfah­ len Medikamente nehmen – die Zwangsmedikation. »Im Extremfall werden
ren abschneidet, wenn man es bei der Gruppe A sie dabei festgehalten und das Medikament intravenös injiziert«, erläutert
anwendet, während man bei der Gruppe B gar Steinert. »Dies betrifft etwa Menschen mit Psychosen oder mit Manien, die
nichts tut und die Gruppe C eine alternative Be­ nicht einsehen, dass sie krank sind, und die deshalb nicht zu ihrem Wohl
handlung erhält. entscheiden können.« In Deutschland beschäftigte sich unlängst das Bun-
desverfassungsgericht damit, ob psychisch Kranke gezwungen werden dür-
Schwieriges Forschungsfeld fen, Medikamente einzunehmen. Bei der medizinischen Zwangsbehand-
Tilman Steinert hält die Randomisierung bei lung von untergebrachten Patienten mit Neuroleptika handle es sich um
Zwangsmaßnahmen für problematisch, obwohl einen besonders schweren Eingriff in das Grundrecht auf körperliche Unver-
er selbst mit seinem Forscherteam eine derar­ sehrtheit, so die Verfassungshüter. Dieser könne im Einzelfall gerechtfertigt
tige Studie durchgeführt hat. Die Studie unter­ sein, wenn der Patient nur bedingt einsichtig bezüglich seiner Behand-
suchte, welche Zwangsmaßnahme die Men­ lungsbedürftigkeit sei. Allerdings schlössen die Grundrechte auch die »Frei-
schenrechte aus Sicht der Betroffenen stärker heit zur Krankheit« und damit das Recht ein, Eingriffe abzulehnen, die auf
einschränkt. Dazu wählte das Personal in Situ­ die Heilung abzielen.
ationen, die ein Einschreiten unumgänglich
machten, per Zufallsprinzip zwischen Fixierung Eine grundsätzliche Frage in diesem Zusammenhang lautet, ab wann ein
und Isolierung. Anschließend wurden die Be­ psychisch kranker Mensch nicht mehr in der Lage ist, einen autonomen Wil-
troffenen ausführlich interviewt. len zu äußern. Ethiker und Psychiater bemängeln, dass es hierzu keine taug-
Zunächst stellten sie den beiden Maßnahmen lichen Konzepte gebe. Manche Psychiatriegesetze seien sogar diskriminie-
ein ähnliches Urteil aus, bei der Nachbefragung rend, meinen etwa der Psychiater George Szmukler vom King’s College in
ein Jahr später bewerteten sie die Fixierung aber London (England) und der Rechtswissenschaftler John Dawson von der Uni-
als deutlich belastender. Steinert betont, dass es versity of Otago (Neuseeland) – etwa wenn vorausgesetzt werde, dass psy-
sich beim Fixieren oder Isolieren eines Patien­ten chisch kranken Menschen die Einsicht in ihre Krankheit fehle. Laut Szmukler
primär um Sicherungsmaßnahmen handle und und Dawson verbinden psychiatriebezogene Gesetzgebungen häufig die
nicht um medizinische Behandlungen. Es sei Vorstellung von psychischer Krankheit mit »Gefährlichkeit« und »Risko« für
ethisch nicht vertretbar, Sicherungsmaßnahmen sich selbst oder andere. In medizinischer Hinsicht gehe man von der Idee aus,
mit einem Nichteinschreiten zu vergleichen – dass der Patient zu krank sei, um für sich selbst zu entscheiden, oder dass er
etwa bei einigen Patienten untätig zu bleiben, nur eingeschränkt dazu fähig sei, nötige Entscheidungen zu seiner Behand-
während diese eine Pflegerin attackierten oder lung zu treffen. Solche Übereinkünfte benachteiligten jedoch psychisch
sich selbst verletzten. Andere ­Studienkonzepte kranke Menschen gegenüber körperlich kranken, die das volle Recht be-
seien sinnvoller, etwa solche, die medizinische säßen, medizinische Behandlungen abzulehnen, wenden Szmukler und
Evidenz, Expertenurteile und fach­­übergreifende Dawson ein. Auch die von der EU unterzeichnete UN-Behindertenkonven­
Ansätze kombinierten, um soziale Wechselbezie­ tion bestimmt, dass körperlich und psychisch kranke Menschen nicht mit
hungen zwischen Klinikpersonal und Patienten zweierlei Maß gemessen dürfen.
zu erforschen.


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Welche Zwangsmaß- Bis in die 1990er Jahre hinein waren einige pien«, heißt es in einer Studie, die Gerard Ni­
Experten durchaus davon überzeugt, dass man­ veau von der Université de Génève im Jahr
nahmen in der Psy- che Patienten einen medizinischen Nutzen da­ 2004 veröffentlicht hat und die sich auf Be­
chiatrie angewendet von haben, wenn sie isoliert oder fixiert werden. richte der Antifolterkommission des Europa­
werden und auf Dies geht etwa aus Übersichtsarbeiten hervor, rats stützt. Die Menschenrechtler haben zwi­
die das damalige Fachwissen bündeln. In den schen 1990 und 2001 zahlreiche psychiatrische
welche rechtlichen Artikeln wird das Festbinden als wirksame Im­ Einrichtungen in Europa besucht und 78 Fälle
Grundlagen sie sich pulskontrolle bei psychotischen Patienten auf­ ausgewertet. Fazit: Dort, wo es an Mitarbeitern
stützen, unterschei- geführt. Nach einer solchen Maßnahme, hieß es oder an klaren Regeln für die Anwendung von
in der Fachliteratur, verhielten sich die Patien­ Zwangsmaßnahmen fehlt, sind die Bedin­
det sich zwischen ten weniger aggressiv, mit dem Effekt, dass Rast­ gungen schlechter. Unzumutbar seien zum Bei­
den europäischen losigkeit und Reizüberflutungen nachlassen spiel stickige und schmutzige Isolationsräume
würden. »Das ist heute nicht mehr Konsens«, mit unzureichenden sanitären Anlagen, rügt
Staaten enorm
betont Steinert. die Kommission. Entwürdigend seien auch
Viele Experten schienen damals kaum zu er­ Praktiken, bei denen psychisch kranke Men­
wägen, dass kranke, verwirrte und ängstliche schen eingesperrt werden und keine Möglich­
Menschen, die eingesperrt, festgebunden und keit haben, das Personal zu rufen, oder keine
allein gelassen werden, auch schwer traumati­ Auskunft erhalten, wie lange die Maßnahme
siert werden können. Anders lässt sich nur andauern soll.
schwer erklären, dass kaum Studien zu Trauma­
tisierungen von Patienten vorliegen – während Gefesselt unter den Augen
Traumata bei Mitarbeitern, die von Patienten der anderen
angegriffen wurden, bereits Gegenstand meh­ Als die Antifolterkommission im Jahr 2005
rerer Untersuchungen waren. auch deutsche Kliniken untersuchte, bemängel­
Wissenslücken gibt es nicht nur bei den Ri­ te sie in einer allgemeinpsychiatrischen Ein­
siken und Nebenwirkungen, sondern auch bei richtung, dass dort mitunter sechs Patienten
möglichen Gegenanzeigen. Bei welchen Pati­ gleichzeitig fixiert wurden, von denen einige
enten verbietet es sich, Zwang auszuüben? »Me­ wegen Platzmangels auf den Flur geschoben
dizinisch nicht vertretbar ist es, sexuell miss­ wurden – ins offene Blickfeld der Mitpatienten.
brauchte Patienten der körperlichen Ohnmacht Dies verletzte die Privatsphäre schwer kranker
des Zwangs auszusetzen. Auch bei selbstmord­ und erregter Patienten, heißt es im Bericht der
gefährdeten Patienten ist dies kontraindiziert, Kommission, der im Internet zugänglich ist
weil eine Zwangsmaßnahme die Suizidgedan­ (www.cpt.coe.int/documents/deu/2007-18-inf-
ken verstärken kann«, sagt Steinert. deu.pdf). Der Anblick von festgebundenen Men­
Trotz der Bemühungen um gute klinische schen könne auch für die Mitpatienten beun­
Praxis gibt es vereinzelt ziemlich schlechte Bei­ ruhigend sein. Die heute noch in Deutschland
spiele. »Kein Land ist frei von irrigen Thera­ gängige Praxis, isolierte und fixierte Patienten
allein zu lassen und lediglich alle 15 bis 30 Minu­
ten nach ihnen zu schauen, hält die Antifolter­
groSSe schwankungen Angaben in Prozent kommission für Besorgnis erregend.
(Daten von 1998 – 2000)
30

Der Anteil der Psychia­ Sitzwachen seien eine bessere Lösung, meint
triepatienten, die zwangs­ Tilman Steinert. Allerdings brauche man dafür
21,6

ein­gewiesen wurden, ausreichend Personal: deutlich mehr als in vie­


17,7
18

unterscheidet sich sogar len psychiatrischen Einrichtungen vorhanden.


13,2

13,5
12,5

12,1
10,9

innerhalb Europas erheb- »Wenn nur zwei Pflegekräfte auf Station sind
lich. Forscher des Zentral­ und eine als Sitzwache abgestellt wird, dann ver­
5,8
4,6

3,2

instituts für Seeli­sche schlechtert sich die Behandlungsqualität für die


Gesundheit in Mannheim anderen Patienten auf der Station.«
uts ich

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haben 2004 diese Zahlen Neue Impulse und Anregungen vermittelt


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veröf­fentlicht.
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ein Projekt, das derzeit am Zentrum für Psychi­


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Fra

Lux

atrie Wiesloch in einer Pilotstudie erprobt wird.


Sc
Nie

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De

Es übernimmt Techniken aus Großbritannien,


wo Fixierungen gesetzlich verboten sind, so
(Salize, H. J., Dressing, H.: Epidemiology of Involuntary Placement of Mentally Ill People Across dass die Patienten stattdessen von geschultem
the European Union. In: The British Journal of Psychiatry 184, S. 163 – 168, 2004)
Personal festgehalten werden müssen. Nachdem

60 G&G 1-2_2012


DPA / Hans Wiedl

quellen
Kallert, T. et al.: Coercive
Treatment in Psychiatry: Clini-
cal, Legal and Ethical Aspects.
Kritik von Patientenseite Wiley-Blackwell, 2011
Keski-Valkama, A. et al.: The
Die Diskussion um Zwangsmaßnahmen in psychiatrischen Einrichtungen wird von Betroffe- Reasons for Using Restraint
nen intensiv geführt. »Kaum ein Thema erzeugt so viel Emotionen bei den Psychiatrie-Erfah- and Seclusion in Psychiatric
renen wie die Anwendung von Zwang und Gewalt in der Psychiatrie. Vor allem diejenigen, die Inpatient Care: A Nationwide
in diesem Zusammenhang Gewalt ausgesetzt waren, wissen, dass hier Traumatisierungen ent- 15-Year Study. In: Nordic
stehen können, die lebenslang wirken«, erklärt der Landesverband Psychiatrie-Erfahrener Ba- ­Journal of Psychiatrie 64, S.
den-Württemberg (LVPEBW), der dazu kürzlich einen Selbsthilfetag organisierte. »Spätestens 136 – 144, 2010
seit der Ratifizierung der UN-Behindertenrechtskonvention im Jahre 2009 handelt es sich hier Niveau, G.: Preventing Hu-
um Menschenrechtsverletzungen, die nicht geduldet werden dürfen. Die Frage ist nun, recht- man Rights Abuses in Psych­
fertigen bestimmte Umstände die Anwendung von Zwang und Gewalt gegenüber Psychiatrie- iatric Establishments: The
Erfahrenen? Work of the CPT. In: European
Sei es bei Fremd- oder Selbstgefährdung oder auch bei dringender Behandlungsbedürftig- Psychiatry 19, S. 146 – 154,
keit aufgrund einer seelischen Erkrankung: Kann es eine gewaltfreie Psychiatrie geben und ist 2004
der Kampf für eine gewaltfreie Psychiatrie eine Vision oder eine Illusion? Die jüngsten Urteile Sailas, E., Fenton, M.: Seclu­
des Bundesverfassungsgerichts setzen zu Recht hohe Hürden gegenüber der Ausübung von sion and Restraint for People
Zwang und Gewalt gegen Psychiatrie-Erfahrene.« with Serious Mental Ill-
Der Verband hat angekündigt, zum Thema ein überarbeitetes Positionspapier herauszuge- nesses. In: Cochrane Data­
ben. Weitere Informationen im Internet: www.psychiatrie-erfahrene-bw.de oder unter der Tele- base of Systematic Reviews,
fonnummer 0711 76160702 CD001163, 2000
Salize, H. J., Dressing, H.: Epi-
demiology of Involuntary
Ärzte und Pflegekräfte eine Woche lang in einer in der Zwangssituation mitentscheiden zu las­ Placement of Mentally Ill
Klinik in Großbritannien hospitiert hatten, sen, was zur Entschärfung der Situation beitra­ People Across the European
stellten sie ihre Erfahrungen in dem »Arbeits­ gen kann. Mit einer solchen Technik ist es viel­ Union. In: The British Journal
kreis zur Prävention von Gewalt und Zwang in leicht möglich, die therapeutische Beziehung of Psychiatry 184, S. 163 – 168,
der Psychiatrie« vor, den Steinert leitet. Kolle­ zum Patienten aufrechtzuerhalten«, sagt Stei­ 2004
gen, die in Deeskalationstechniken trainiert wa­ nert. »Wenn Häufigkeit und Dauer von Fixie­ Steinert, T. et al.: A Rando-
ren, entwickelten daraus eine neue, an deutsche rungen dadurch vermindert werden könnten, mized Controlled Compari-
Verhältnisse angepasste Technik. »Während der wäre dies ein wichtiger Schritt hin zur weiteren son of Seclusion and Mecha-
Patient damit festgehalten wird, versuchen die Humanisierung in der Psychiatrie.« Ÿ nical Restraint in Inpatient
Pfleger im Gespräch verbal zu deeskalieren und Settings. In: Psychiatric Ser-
dabei den Patienten in Entscheidungen einzu­ Susanne Rytina ist freie Wissenschaftsjournalistin vices 62, S. 1310 – 1317, 2011
binden. Das ist ein Versuch, den Patienten noch und lebt in Altbach bei Stuttgart.


www.gehirn-und-geist.de 61
hirnforschung ı gewohnheiten

Der Autopilot im Kopf


Meist sind wir davon überzeugt, unser Verhalten orientiere sich an festen Zielen:
Wir treiben etwa Sport, um wieder in die geliebte Jeans zu passen. Doch je
öfter wir einer Tätigkeit nachgehen, desto weiter rückt die ursprüngliche Absicht
in den Hintergrund, und unsere Gewohnheiten verselbstständigen sich.

Von Christian Wolf

Abendritual
Für viele gehört ein Snack zum
Fernsehen dazu. Der Ge-
schmack spielt dabei oft nur
eine untergeordnete Rolle.

iStockphoto / Christopher Bernard

62 G&G 1-2_2012


»N ächstes Jahr werde ich endlich mehr
Sport treiben, weniger Alkohol trinken
und abends auch mal ein Buch lesen, statt mich
wissen Stimmungslagen oder mit ausgewähl-
ten Menschen. In einer Tagebuchstudie von
2004 bemerkte die Psychologin Wendy Wood
Au f e i n e n B l i c k

vom Fernseher berieseln zu lassen.« Jedes Jahr


Macht der
von der Duke University in Durham (US-Bun-
aufs Neue werden im Schein des Silvesterfeuer- desstaat North Carolina), dass annährend die Wiederholung

1
werks solche Pläne geschmiedet. Doch oft bleibt Hälfte der notierten Aktivitäten immer wieder Die meisten Men-
es dabei. So fest wir uns manche Dinge auch am selben Ort ausgeübt wurde. schen glauben, ihr
vornehmen – nicht selten verharren wir im üb- Ist also der Kontext entscheidend? Dieser Verhalten sei durch
lichen Trott, und die glänzenden Vorsätze ver- Frage ging das Team um Wood 2005 nach. Die bestimmte Absichten mo-
blassen. Wissenschaftler befragten Studenten vor und tiviert.
»Gewohnheit heißt die große Lenkerin des nach dem Umzug an ein neues College über be-
Lebens«, wusste schon der englische Philosoph
Francis Bacon (1561 – 1626). »Daher sollen wir
stimmte Gewohnheiten wie Zeitunglesen. Die
Teilnehmer sollten etwa angeben, unter wel-
2 Laut Psychologen
trifft das aber nur für
Tätigkeiten zu, die man
uns auf alle Weise erstreben, gute Gewohn- chen Bedingungen und an welchen Orten sie zu
noch nicht automatisiert
heiten einzuimpfen.« Will man aber ungeliebte diesen Routinen neigten und ob sie diese auch
hat. Je häufiger sie
Laster ablegen, lohnt sich ein genauer Blick da- weiterhin pflegen wollten. Sie gaben zudem
wiederholt werden, desto
rauf, wie sie entstehen. Auskunft darüber, ob sich die Umstände be-
mehr verblasst das
Die Gesundheitspsychologin Philippa Lally stimmter Verhaltensweisen geändert hatten.
ursprüngliche Ziel, und
und ihre Kollegen vom University College in Führten die Probanden ihre alten Routinen
der Kontext wird wich-
London erforschten 2010, wie wiederholtes Ver- am neuen College fort oder krempelten sie ih-
tiger.
halten allmählich in Fleisch und Blut übergeht. ren Alltag völlig um? Anhand statistischer Mo-
Dazu baten die Forscher rund 100 Probanden,
sich zu überlegen, was sie sich gerne zur Ge-
wohnheit machen würden – etwa Obst zum
delle berechneten die Forscher, welche Faktoren
die Gewohnheiten besonders beeinflussten. 3 An der Gewohnheits-
bildung sind vor allem
Bereiche der Basalgang­
Nachtisch zu verzehren. Sodann war Disziplin Entscheidender Kontext lien unterhalb der Groß-
gefragt, denn die Teilnehmer sollten der ge- Tatsächlich brachte der Umzug die Versuchs- hirnrinde beteiligt – ins-
wählten Tätigkeit mehr als 80 Tage lang täglich personen aus dem Trott – allerdings nur dann, besondere das Striatum.
nachgehen. Die Freiwilligen loggten sich jeden wenn sich das Umfeld stark verändert hatte. Das
Tag auf einer Website ein und gaben an, ob sie zeigte sich vor allem beim Sport: Einige Befragte
ihr Programm vorbildlich abgespult hatten. Auf hatten die Angewohnheit, sich an ihrer alten
einer Skala sollten sie zudem einschätzen, wie Uni im Fitnessstudio auszupowern. Wenn sich
stark automatisiert ihnen das entsprechende ihnen diese Möglichkeit nun nicht mehr in glei-
Verhalten inzwischen erschien. cher Weise bot, war die sportliche Ertüchtigung
Wenig überraschend wurde die jeweilige Tä- bald Vergangenheit. Soziale Aspekte wirkten
tigkeit für die Probanden im Lauf der Zeit im- sich besonders auf das Zeitunglesen aus: Hatten
mer mehr zur Routine. Eine Sache zum ersten einige Studen­ten zuvor regelmäßig gemein-
Mal zu machen, erfordere stets eine bewusste sam mit Kommi­litonen in den neuesten Maga-
Absicht, erläutern die Forscher um Lally. Wie- zinen geschmökert, gaben sie diese Routine am
derhole man die Handlung dann immer wieder, ehesten auf, wenn es ihnen fortan an Mitlesern
werde sie allmählich mit weniger gedanklicher mangelte.
Kontrolle ausgeführt. Das knüpfe mental eine »Die meisten Menschen denken, Verhalten
enge Verbindung zwischen dem Umweltreiz, orientiere sich an bestimmten Zielen – und das
der als Auslöser diene, und der darauf folgenden tut es auch, wenn man etwas zum ersten Mal
Handlung. macht«, erläutert Wendy Wood. Aber je öfter es
Laut psychologischen Modellen basieren Ge- wiederholt werde, desto stärker sei es durch be-
wohnheiten auf dem so genannten assoziativen stimmte Reize aus der Umgebung geleitet. Ab-
Lernen. Dabei werden räumlich und zeitlich ge- sichten würden dann immer weniger wichtig.
meinsam auftretende Ereignisse durch Wieder- »Wir gehen täglich zum Snackautomaten oder
holung in der Erinnerung verknüpft. Bestimmte zum Fastfood-Imbiss gegenüber, nicht weil das
Signale lösen das verinnerlichte Verhalten dann Essen so toll ist, sondern weil wir es uns schlicht
automatisch aus. irgendwann angewöhnt haben.« Mehr zum thema
Doch welche Reize genau sind das? Wir wie- 2009 ging ein Forscherteam um den Psycho- > Routine am Glimmstängel
derholen viele alltägliche Tätigkeiten meist in logen David Neal von der Duke University der Neurobiologische Grund­
einem ganz bestimmten Kontext – an einem Sache auf den Grund. Probanden sollten auf lagen der Nikotinsucht (S. 68)
speziellen Ort, zu einer gewohnten Zeit, in ge- ­einer Skala angeben, wie sehr bestimmte Ab-


www.gehirn-und-geist.de 63
»Wir gehen täglich sichten – etwa überschüssige Pfunde loszuwer- Laufen zwar mit dem sportlichen Kontext asso-
den – entscheidend seien für Aktivitäten wie ziiert, nicht aber mit ihren Absichten.
zum Snackauto- Joggen oder Joga. Tatsächlich glaubten die Frei- Welchen Einfluss Absichten und Kontext auf
maten oder zum willigen umso mehr, ihr Tun sei durch ihre Ziele das tatsächliche Routineverhalten haben, sollte
Fastfood-Imbiss motiviert, je stärker ihre Gewohnheiten waren. ein weiteres Laborexperiment klären. Neal und
Ein anderes Bild ergab sich allerdings, als seine Kollegen suchten zunächst eine einfache
gegenüber, nicht Neal und seine Kollegen das »Unterbewusst- Gewohnheit aus, die sich im Labor leicht beein-
weil das Essen so toll sein« der Freiwilligen anzapften. In einem spe- flussen lässt: Menschen, die regelmäßig ein Foot-
schmeckt, sondern ziellen Test ließen sie die Probanden Wörter wie ballstadion besuchen, neigen möglicherweise in
»Joggen« von Pseudowörtern unterscheiden. diesem Umfeld dazu, besonders laut zu spre-
weil wir es uns Zuvor blitzten auf dem Bildschirm Begriffe chen. Daher brachten die Forscher die Proban-
schlicht irgendwann auf, die nach ­wenigen Millisekunden wieder den durch Priming in die »richtige Stimmung«,
ver­schwanden, so dass die Versuchspersonen indem sie ihnen während einer Aufgabe neben-
an­gewöhnt haben«
sie nicht bewusst wahrnahmen. Durch dieses so bei Fotos von Stadien vorführten. Alternativ be-
Wendy Wood, Psychologin
an der Duke University in ­genannte Priming beeinflussten die Forscher, kamen die Versuchspersonen verschiedene Kü-
Dur­ham (USA) wie die Teilnehmer die Zielwörter mental ver­ chen zu sehen. Unbewusst auf die Atmosphäre
arbeiteten. Die Idee dahinter: Assoziierten ­die in einem Sportstadion eingestimmt, sprach ein
Probanden die unterschwellig wahrgenom- Teil der Probanden tatsächlich lauter – allerdings
menen Begriffe mit den Zielwörtern, sollte es ih- nur diejenigen, die in den letzten Monaten regel-
nen leichterfallen, diese zu erkennen. Wäre die mäßig solche Sportstätten aufgesucht hatten.
Gewohnheit zu joggen tatsächlich von den sub-
jektiven Absichten der Probanden bestimmt, Sieben Tage altes Popcorn
müsste es im Gedächtnis der Probanden folg- Auch ein Feldexperiment bestätigte dieses Er-
lich eine Verknüpfung zwischen der Absicht gebnis. In einem Kino auf dem Unicampus sa-
und der Tätigkeit geben. Ein unbewusst wahr­ hen sich Versuchspersonen verschiedene Film-
genommenes Wort wie »Gewichtskontrolle« trailer an, angeblich um Persönlichkeitsunter-
müsste das Erkennen des Wortes »Joggen« also schiede in den cineastischen Vorlieben zu
beschleunigen. testen. Dabei griffen Probanden, für die Snacks
Das ernüchternde Resultat: Nur Wörter, die gewohnheitsmäßig zu einem Kinobesuch dazu-
das sportliche Umfeld betrafen wie »Feld« oder gehörten, beherzt selbst zu beinahe ungenieß-
»Turnhalle«, ließen die Probanden schneller re- barem, sieben Tage altem Popcorn. Ihr Verhal-
agieren. Offenbar war in ihrem Gedächtnis das ten widersprach damit der zuvor bekundeten
Absicht, die Knabberei nur aus geschmack-
lichen Gründen zu essen.
Um den Irrglauben ihrer Probanden zu erklä-
ren, griffen die Forscher auf die Selbstwahrneh-
mungstheorie des Psychologen Daryl Bem zu-
rück. Demnach suchen Menschen oft nach inne-
ren Motiven, um ihr Verhalten zu erklären, selbst
wenn es von äußeren Faktoren ausgelöst wird.
Am Beginn einer Gewohnheit wie Joggen möge
also durchaus eine Absicht wie etwa der Wunsch
abzunehmen gestanden haben. Wenn es erst ein-
mal zu einem Ritual geworden sei, spiele das ur-
sprüngliche Ziel jedoch kaum mehr eine Rolle.
Auch Tierexperimente legen einen ähnli­
chen Schluss nahe: Wenn beispielsweise Ratten
ein bestimmtes Verhalten erlernen, um dafür
Tägliche JoggingRunde mit Futter belohnt zu werden, bestimmt zu-
Regelmäßig zu joggen erfordert nächst diese Absicht ihr Handeln. Sobald sie satt
weniger Selbstdisziplin, als es sind, fehlt die Motivation, und sie lassen von­ih-
scheint: Meist verschwindet der
Fotolia / Bernd Leitner

rem Tun ab. Haben die Tiere ihr Verhalten aber


innere Schweinehund von durch exzessives Training automatisiert, hat
allein, sobald die tägliche Runde der volle Bauch keinen Effekt mehr. Die Nager
zur Gewohnheit geworden ist. spulen das Programm quasi auf Knopfdruck ab.

64 G&G 1-2_2012


Striatum
Basalganglien
Globus
Nucleus caudatus Putamen pallidus

Thalamus

Nucleus
subthalamicus

Substantia
Hippocampus nigra
Gehirn&Geist / MEGANIM

Das bemerkten auch der Psychologe Mark entdeckte, dass das Verhalten der ȟbertrai- automatikgetriebe im kopf
Packard und sein Team von der Texas A&M Uni- nierten« Ratten flexibel blieb, wenn die For- Die Basalganglien unterhalb
versity in College Station, als sie Ratten darauf scher das Striatum der Nager lokal betäubten. der Großhirnrinde spielen eine
trainierten, in einem Labyrinth eine Belohnung Dieses Areal gehört zu den Basalganglien, einer wichtige Rolle bei der Gewohn-
zu finden. Wechselten sie später den Startpunkt Reihe von Kernen, die sich unterhalb der Groß- heitsbildung. Das Striatum und
der Futtersuche, zeigten sich die Nagetiere flexi- hirnrinde befinden (siehe Grafik oben). Dem- der Thalamus erhalten Input
bel und steuerten trotz veränderter Route ge- nach ist das Striatum offenbar am Erlernen von der Substantia nigra, deren
mäß bestimmter Hinweisreize auf die Beloh- fester Routinen beteiligt. Zellen bei der Parkinsonkrank-
nung zu. Wiederholte man die Prozedur zu oft, heit zu Grunde gehen. Deshalb
wurde ihr Verhalten starr, und sie schlugen Flexible Gedächtniszentrale haben die Betroffenen oft
trotz veränderten Ausgangspunkts stets den Schalteten Packard und Kollegen hingegen den Probleme mit automatisierten
gleichen Weg ein. Hippocampus aus, einen Teil des Temporallap- Handlungsabläufen.
Wie Packard und der Psychologe Russell pens, der elementar für das Langzeitgedächtnis
Poldrack von der University of California in Los ist, kehrte sich das Bild um. Die Nager schlugen
Angeles annehmen, sind zwei verschiedene schon nach kürzester Trainingszeit stur den
Lern- und Erinnerungssysteme hierfür verant- gleichen Weg ein. Anscheinend ist der Hippo-
wortlich. So genanntes deklaratives Wissen be- campus wichtig für flexibles Verhalten.
zieht sich auf Fakten und Ereignisse. Man kann Ähnliches belegen auch Experimente an
es sehr schnell erwerben und flexibel auf neue menschlichen Probanden. Die Psychologin Bar-
Situationen anwenden. Gewohnheiten hinge- bara Knowlton und ihr Team von der University
gen basieren auf so genanntem prozeduralem, of California in Los Angeles baten 1996 zwei un-
implizitem Wissen, das sich auf Handlungsab- terschiedliche Gruppen von Versuchspersonen
läufe bezieht und oft nicht sprachlich erfasst ins Labor. Die einen litten auf Grund eines ge-
werden kann. Es entsteht, wenn im Gedächtnis schädigten Hippocampus unter Amnesie, die
allmählich ein Reiz fest mit einer bestimmten anderen an der Parkinsonkrankheit. Bei Letz­
Reaktion verknüpft wird. terer sterben Nervenzellen in der Substantia
Welche Hirnregionen liegen diesen beiden ­nigra ab (siehe Grafik oben), welche Informatio-
Systemen zu Grunde? Das Team um Packard nen an das Striatum weiterleitet. Die Freiwilli-


www.gehirn-und-geist.de 65
quellen gen sollten lernen, das Wetter »vorherzusagen«. Es scheint also wenig Sinn zu machen, bei
Knowlton, B. J. et al.: A Neo­ Als Hinweise dienten gemusterte Spielkarten, seinen persönlichen Zielen anzusetzen, wenn
striatal Habit Learning Sys­ die mit einer gewissen Wahrscheinlichkeit ein man mit alten Gewohnheiten brechen will. Das
tem in Humans. In: Science ­bestimmtes Wetter andeuteten. Die Forscher bestätigte auch eine Metaanalyse von Thomas
273, S. 1399 – 1402, 1996 zeigten den Teilnehmern jeweils eine Karten- Webb von der University of Manchester und
Lally, P. et al.: How are Habits kombination und fragten sie, ob eher die Sonne ­Paschal Sheeran von der University of Sheffield
Formed: Modelling Habit For­ scheinen oder ob es regnen werde. in Großbritannien von 2006. Die Psychologen
mation in the Real World. In: werteten rund 50 Studien aus, in denen For-
European Journal of Social Wie wird das Wetter? scher versucht hatten, durch Interventionen
Psychology 40, S. 998 – 1009, Den Zusammenhang zwischen den Karten und persönliche Ziele und Verhaltensweisen von
2010 dem Wetter zu erkennen, erforderte langsames, Probanden zu ändern.
Poldrack, R. A. et al.: Striatal unbewusstes Lernen über viele Versuche hin- Ergebnis: Den Versuchsleitern war es zwar
Activation During Acquisi­ weg – ein Fall für das Striatum. Den Parkin­son­ gelungen, die Absichten der Freiwilligen zu
tion of a Cognitive Skill. In: patienten bereitete die Aufgabe daher große ­modulieren. Deren Verhalten blieb aber wie ge-
Neuropsychology 13, S. 564 – Probleme. Die Probanden mit dem geschä­ habt – zumindest, wenn sie es zuvor regelmäßig
574, 1999 digten Hippocampus hatten hingegen keine in einem stabilen Kontext wiederholt hatten. So
Poldrack, R. A., Packard, M. G.: Schwierigkeiten. Sie mussten allerdings passen, erkannten sie zwar durchaus die Notwendigkeit,
Competition among Multiple wenn das deklarative Gedächtnis gefordert war. sich gesünder zu ernähren; auf ihre Essgewohn-
Memory Systems: Conver­ So konnten sich einige von ihnen irgendwann heiten hatte das allerdings wenig Einfluss. Wur-
ging Evidence from Animal nicht mehr daran erinnern, welche Karten beim den die Versuchspersonen hingegen von den
and Human Brain Studies. In: Experiment verwendet wurden. Vorzügen einer Grippeimpfung überzeugt (ein
Neuropsychologia 41, S. 245 –  Den gleichen Test nutzte ein Team um Rus- Verhalten, das nicht automatisiert ist), so änder­
251, 2003 sell Poldrack 1999 in einer bildgebenden Studie. ten sie ihre Absichten und ließen sich tatsäch-
Webb, T. L., Sheeran, P.: Does Darin konnte er bestätigen, dass das Striatum lich impfen.
Changing Behavioral Inten­ tatsächlich während des unbewussten Lernens Wer alte Gewohnheiten ablegen will, muss
tions Engender Behavior aktiver war als bei einer Kontrollaufgabe. vor allem den Kontext verändern, rät Wendy
Change? A Meta-Analysis of Die Basalganglien kommen offenbar auch Wood. Jemand, der beispielsweise kein Fastfood
the Experimental Evidence. dann verstärkt zum Zug, wenn einfache motori­ mehr essen möchte, solle etwa von seiner ge-
In: Psychological Bulletin 132, sche Tätigkeiten durch Wiederholen allmählich wohnten Fahrroute abweichen, die ihn norma-
S. 249 – 268, 2006 zur Gewohnheit werden. Das zeigten Messun­ lerweise an entsprechenden Schnellrestaurants
Wood, W. et al.: Changing Cir­ gen per funktioneller Magnetresonanztomo- vorbeiführt. »Man muss den auslösenden Reiz
cumstances, Disrupting Ha­ grafie (fMRT). Gleichzeitig fährt der präfrontale abstellen«, erklärt Wood. »Das Schwierigste aber
bits. In: Journal of Personality Kortex seine Aktivität herunter – ein Areal, das ist es, ihn zu erkennen.« Ÿ
and Social Psychology 88, S. sich regt, wenn wir Absichten kontrollieren und
918 – 933, 2005 Pläne schmieden (siehe auch Artikel ab S. 44 in Christian Wolf ist promovierter Philosoph und
diesem Heft). arbeitet als freier Wissenschaftsjournalist in Berlin.

66 G&G 1-2_2012


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­hinterlässt auch Spuren in sensorischen und motorischen Hirnregionen,
wie Yavor Yalachkov, Jochen Kaiser und Marcus J. Naumer von der Universität
Frankfurt berichten.

Von Yavor Yalachkov, Jochen Kaiser und Marcus J. Naumer

E in Morgen wie fast jeder andere: Noch das


Klingeln des Weckers in den Ohren, schlur-
fen Sie in die Küche, greifen wie ferngesteuert
lich integrieren wir die mit Suchtstoffen wie Ni-
kotin verbundenen Reize sogar besonders effizi-
ent in unser Verhaltensrepertoire.
zur Kaffeedose, löffeln die übliche Menge des Unsere Arbeitsgruppe an der Universität
braunen Pulvers in die Kaffeemaschine und Frankfurt erforscht mit Hilfe der funktionel­-
drücken den kleinen Schalter – worauf sich das len Magnetresonanztomografie (fMRT), welche
Gerät gurgelnd in Betrieb setzt. Die Handgriffe Hirnregionen an diesen Lernprozessen betei­
sind Ihnen so vertraut, dass Sie keine Sekunde ligt sind. Bisher konzentrierten sich Wissen­
darüber nachdenken müssen. Selbst wenn die schaft­ler auf Areale, die unterhalb der Groß-
Kaffeedose mal nicht an ihrem üblichen Platz hirnrinde liegen. So ist schon lange bekannt,
steht, springt sie Ihnen sofort ins Auge. dass das ventrale tegmentale Areal des Mittel-
Der Grund ist nicht überraschend. Wir rich- hirns und das ventrale Striatum, ein Teil der Ba-
ten unsere Aufmerksamkeit bevorzugt auf Din- salganglien, eine besondere Rolle beim Beloh-
ge, die wir mit Angenehmem verbinden, et­- nungslernen und auch bei der Suchtentste-
wa Kaffee. Der Muntermacher besitzt beson­- hung spielen. Wie wir aus Tierexperimenten
ders hohe »Salienz«, wie Forscher sagen. Wie sa- wissen, verändert der chronische Konsum von
lient – also »beachtenswert« – ein Gegenstand abhängig machenden Substanzen die synap-
für uns ist und wie routiniert wir mit ihm um- tischen Verschaltungen in diesen beiden Are-
gehen, hängt von unseren Erfahrungen ab. alen. Die Folge: Reize aus der Umwelt, die das
Solche Lernprozesse spielen aber nicht nur Tier mit dem Suchtstoff assoziiert, gewinnen
Mehr zum thema beim Kaffeekochen eine Rolle. Auch Raucher eine besondere Bedeutung.
> Der Autopilot im Kopf spulen ein automatisiertes Programm ab, wenn Ähnliches belegen auch bildgebende Studien
Wie sich Gewohnheiten sie die vertraute Schachtel anvisieren, eine Ziga- mit menschlichen Probanden. 2002 präsen-
verselbstständigen (S. 62) rette herausfischen, sich in den Mund stecken, tierten Deborah Due und ihre Kollegen von der
anzünden und den Rauch einatmen. Vermut- Duke University in Durham (US-Bundesstaat

68 G&G 1-2_2012


iStockphoto / TLRReflex [M]

North Carolina) nikotinsüchtigen Versuchsper- Wie zu erwarten, entschieden sich die Teil- Geübter Qualmer
sonen im MRT-Scanner entweder Fotos ty- nehmer bevorzugt für den Kreis, der zuvor das Wer sich mehrmals täglich
pischer Rauchszenen – etwa von einer Hand, die meiste Geld eingebracht hatte. Interessanter- eine Zigarette anzündet,
eine Zigarette hält – oder aber vergleichbare weise spiegelte sich dieses Verhalten aber auch beherrscht die entsprechenden
»neutrale« Bilder, zum Beispiel von einer Hand in ihrer Hirnaktivität wider: Der Bereich der Handgriffe blind. Das spie­-
mit Schreibutensil. Ergebnis: Die mit der Sucht Sehrinde, der den »attraktiveren« Stimulus ver- gelt sich auch in der Hirnakti­
verbundenen Motive aktivierten die klassischen arbeitete, war stärker aktiviert als die Region, die vität wider.
»Belohnungszentren« wie das ventrale tegmen- Input von dem anderen Kreis erhielt.
tale Areal deutlich stärker. Vermutlich ist der visuelle Kortex nicht das
Aber nicht nur Emotionsareale spielen bei einzige sensorische Areal, das besonders emp-
Nikotinsucht eine Rolle. Wie die Forschergruppe findlich auf Suchtreize reagiert. Schließlich re-
um Arthur Brody an der University of California gistrieren wir sie auch noch über andere Sinne:
in Los Angeles 2007 feststellte, ist auch der sen- Wir riechen den Zigarettenrauch, fühlen das
sorische Kortex daran beteiligt, genauer gesagt kühle Metall des Feuerzeugs oder hören das Ra-
Bereiche der Sehrinde. Möglicherweise verar- scheln der Zigarettenschachtel.
beitet das Gehirn von Süchtigen Bilder, die mit Unsere Arbeitsgruppe beschäftigt sich mit Au f e i n e n B l i c k
dem Drogenkonsum assoziiert sind, schlicht in- der Frage, wie das Gehirn visuelle und haptische
tensiver. Außerdem hängt die Stärke der neu­ Informationen über Suchtreize verarbeitet und
Gewohnter Griff
ronalen Antwort vom Ausmaß des Verlangens miteinander »verrechnet«. Eine solche multi- zur Kippe

1
ab: Je größer es ist, desto aktiver der visuelle sensorische Integration ist entscheidend für das Neben den klas-
Kortex. Vielleicht ermöglicht es eine stärker er- Erkennen von Objekten. Ständig verknüpfen wir sischen Belohnungs-
regte Sehrinde den Betroffenen, die Suchtstoffe Signale aus verschiedenen Sinneskanälen; erst zentren des Gehirns
effizienter zu detektieren. Springt ihnen die Zi- dadurch erhalten wir ein einheitliches Bild von spielen auch sensorische
garettenschachtel besonders rasch ins Auge – ist unserer Umwelt (siehe auch G&G 7-8/2011, S. und motorische Areale
sie also sehr salient –, wird auch das Verlangen 62). Diese faszinierende Leistung des Gehirns eine wichtige Rolle bei
des Rauchers besonders schnell gestillt. wird von unseren Erfahrungen mit den ent­ Nikotinsucht.
sprechenden Reizen beeinflusst. Wie Tierexpe-
Empfänglich für Suchtreize
Offenbar gehen diese Effekte auf neurobiolo-
rimente und Studien mit menschlichen Pro­
banden zeigten, kann man die multisensorische 2 So ist etwa der
visuelle Kortex eines
Nikotinabhängigen
gische Lernprozesse zurück, die gewöhnlich im Integration sogar trainieren. Das verstärkt die
Gehirn ablaufen. Das zeigte 2008 der Psycholo- neuronale Antwort auf die Stimuli und bewirkt, aktiver, wenn er mit dem
ge John T. Serences von der University of Califor- dass sie schneller wahrgenommen werden. Drogenkonsum assozi­
nia in San Diego. Der Forscher ließ gesunde Ver- Ähnliches findet vermutlich auch bei Rau- ierte Bilder sieht. Offen-
suchspersonen im Hirnscanner einen Punkt auf chern statt: Der Anblick der Zigarettenschach- bar verarbeitet er solche
einem Bildschirm fixieren, während wiederholt tel, das Greifen nach der Zigarette, das Halten Reize intensiver.

3
links und rechts davon je ein rot und ein grün des Feuerzeugs in der anderen Hand – all das Auch Bewegungs­
gemusterter Kreis erschien. Per Tastendruck sind Aspekte, deren Koordination auf einer effi- areale wie der prämo-
sollten die Probanden einen der beiden Stimuli zienten Integration multipler sensorischer In- torische Kortex werden
auswählen. Trafen sie die »richtige« Wahl, wur- formationen beruht. Über diese so genannte ob- bei Abhängigen durch
den sie mit Geld belohnt. Als »richtig« erwies jektspezifische multisensorische Erfahrung ver- Suchtreize aktiviert. Das
sich dabei mal die eine, mal die andere Farbe – fügen Nichtraucher dagegen nicht, da sie in fördert das Konsumver-
wobei einer der Stimuli besonders aussichts- ihrem Alltag Rauchutensilien zwar gelegentlich halten.
reich war. sehen, sie aber nur selten in der Hand halten.

www.gehirn-und-geist.de  69
Der Anblick der Um zu testen, ob sich dieser Unterschied hört, beeinflusst offenbar, wie das Gehirn die
auch in der Hirnaktivität widerspiegelt, zeigten entsprechenden Sinnesinformationen mitei-
Schachtel, das Grei-
wir Rauchern und Nichtrauchern, während sie nander verknüpft. Noch ist unklar, welche prak-
fen nach der Ziga- in der Tomografenröhre lagen, Bilder verschie- tische Bedeutung das für Menschen hat, die das
rette, das Halten des dener Objekte: zum einen Rauchutensilien wie Laster ablegen wollen. Möglicherweise ist die
Zigaretten und Aschenbecher, zum anderen schnelle und effiziente multisensorische Inte-
Feuerzeugs in der neutrale Objekte wie Stifte und Kremedosen. gration von Suchtreizen ein Grund, warum Ab-
anderen Hand – all Gleichzeitig hielten die Probanden die entspre- stinenzler so schnell rückfällig werden, sobald
das beruht auf einer chenden Dinge in ihren Händen, sie nahmen sie sie den Tabakgeruch in der Nase haben oder
also visuell und haptisch wahr. In manchen Be- eine Schachtel Zigaretten sehen.
effizienten Inte­ dingungen wiederum sahen sie nur die Fotos Wie wir 2009 feststellten, beeinflusst Niko-
gration multipler oder befühlten die Gegenstände. tinsucht jedoch nicht nur die Wahrnehmung.
Da Raucher immer wieder dieselben, beinahe
sensorischer
Erfolgreich verknüpft automatisierten Handgriffe ausführen, verän-
Informa­tionen Besonders interessierte uns, wie der laterale ok- dert sich auch die Aktivität in Hirnregionen,
zipitale Komplex im Hinterhauptslappen (siehe die sich typischerweise regen, wenn wir Bewe-
Hirngrafik unten) auf die Sinneserfahrungen gungen planen oder ausführen sowie Werk-
reagiert. Dieses Areal ist unter anderem betei­ zeuge benutzen – darunter der prämotorische,
ligt, wenn wir Objekte oder Formen erkennen der superiore parietale und der mittlere fronta-
und visuelle mit haptischen Informationen ver- le Kortex sowie ein Bereich des mittleren tem-
knüpfen. poralen Kortex (siehe Hirngrafik unten).
Tatsächlich bemerkten wir, dass dieses Hirn- Wir zeigten Probanden im MRT-Scanner
gebiet linksseitig besonders aktiv war, wenn die neutrale oder mit Rauchen assoziierte Bilder,
Probanden die Gegenstände gleichzeitig sahen etwa Fotos rauchender Personen. Wie die fMRT-
und ertasteten. Anscheinend integrierte ihr Ge- Messungen offenbarten, aktivierten die Sucht-
hirn die Informationen aus beiden Sinneskanä- reize sensomotorische Areale wie den prämoto-
len. Die Kontrollobjekte erzeugten dieses Akti- rischen und den superioren parietalen Kortex
vitätsmuster sowohl bei Rauchern als auch bei bei Rauchern stärker als bei Nichtrauchern.
Nichtrauchern. Bei den Rauchutensilien sah das Auch in diesem Experiment regten sich die ent-
Ergebnis dagegen anders aus: Nur die Gehirne sprechenden Hirnregionen umso stärker, je ab-
von Rauchern verknüpften die haptischen und hängiger die Teilnehmer waren.
visuellen Reize erfolgreich. Und je abhängiger Bereits 1990 postulierte der Psychologe Ste-
die Raucher waren, desto stärker regte sich ihr phen Tiffany von der State University of New
lateraler okzipitaler Komplex. York, dass das Gehirn mit dem Rauchen assozi-
Die regelmäßige und intensive Beschäfti- iertes Verhalten als so genannte Handlungs-
gung mit dem Rauchen und allem, was dazuge- schemata kodiert. Sie beinhalten die moto-

prämotorischer Kortex

mittlerer frontaler Kortex superiorer parietaler Kortex

Schmachtzentren
Nikotinabhängigkeit verändert
nicht nur die klassischen Sucht-
schaltkreise des Gehirns. Sie
beeinflusst auch die Aktivität
sensorischer und motorischer
Areale – darunter die des
lateralen okzipitalen Komplex,
Gehirn&Geist / MEGANIM

des superioren parietalen


Kortex sowie von Bereichen des mittlerer temporaler Kortex lateraler okzipitaler Komplex
prämotorischen, des frontalen inferiorer temporaler Kortex
und des temporalen Kortex.

70 G&G 1-2_2012


Klarer Fall
Zeigt man nikotinabhängigen
Probanden das Foto einer
rauchenden Person, regen sich
links: iStockphoto / Sergey Galushko; rechts: iStockphoto / Ivan Mateev [M]

in ihren Gehirnen senso­moto­


rische Areale wie der prä­
motorische und der supe­riore
parietale Kortex. Ein ähnliches
Foto mit Stift hat dagegen
keinen solchen Effekt.

quellen
Brody, A. L. et al.: Neural Sub­
strates of Resisting Craving
during Cigarette Cue Expo­
rischen Informationen, die es Rauchern erlau- motorischen Hirnregionen auf die Suchtreize. sure. In: Biological Psychiatry
ben, die entsprechenden Bewegungen effizient Diese haben offenbar tatsächlich die entspre- 62, S. 642 – 651, 2007
und schnell auszuführen. Sobald die Abläufe chenden Handlungsschemata aktiviert – Tiffa- Due, D. L. et al.: Activation in
zur Routine geworden sind, können konditio- nys Theorie scheint zu stimmen! Mesolimbic and Visuospatial
nierte Reize – wie etwa ein Feuerzeug oder eine Ähnliche Beobachtungen machten Forscher Neural Circuits Elicited by
Zigarettenschachtel – die Handlungsschemata auch bei anderen Suchtformen. So berichteten Smoking Cues: Evidence
aktivieren. Das, so Tiffanys Theorie, fördert wie- beispielsweise Thomas Kosten und seine Kolle- from Functional Magnetic
derum das Konsumverhalten: Die Betroffenen gen von der Yale University in New Haven (US- Resonance Imaging. In: Ame­
zünden sich die nächste Zigarette an. Bundesstaat Connecticut) im Jahr 2006, dass rican Journal of Psychiatry
sich der motorische Kortex kokainabhängiger 159, S. 954 – 960, 2002
Zugreifen, bitte! Patienten regte, wenn sie einen Film über die Kosten, T. R. et al.: Cue-Indu­
Wir überprüften Tiffanys Modell mit Hilfe eines Droge sahen. Mehr noch: Je aktiver die entspre- ced Brain Activity Changes
Experiments aus der kognitiven Psychologie. Es chenden Hirnregionen waren, desto wahrschein- and Relapse in Cocaine-De­
basiert auf der Annahme, dass ein bestimmtes licher erlitten die Betroffenen einen Rückfall. pendent Patients. In: Neuro­
Merkmal eines Objekts – etwa der Henkel einer Diese Ergebnisse könnten Folgen für die psychopharmacology 31, S.
Tasse – die Hirnareale aktiviert, welche die ent- Suchttherapie haben. Möglicherweise ließe sich 644 – 650, 2006
sprechende Handlung kodieren, in dem Fall das Signal aus dem sensorischen und moto- Serences, J. T.: Value-Based
Greifbewegungen. Das wiederum bereite das rischen Kortex sogar als spezifischer Biomarker Modulations in Human Visu­
Gehirn auf die Bewegung vor. für die Suchterkrankung verwenden. Damit al Cortex. In: Neuron 693, S.
Dazu zeigten wir den Teilnehmern das Bild könnten Mediziner und Psychologen Patienten 1169 – 1181, 2008
eines Gegenstands, dessen Griff entweder nach mit erhöhtem Rückfallrisiko besser identifizie- Tiffany, S. T.: A Cognitive Mo­
links oder nach rechts zeigte. Sobald das Foto er- ren und gezielter unterstützen. Auch der Erfolg del of Drug Urges and Drug-
schien, sollten die Versuchspersonen so schnell einer Behandlung lässt sich womöglich an der Use Behavior: Role of Auto­
wie möglich einen Knopf drücken, und zwar Hirnaktivität ablesen. So bemerkte Arthur Bro- matic and Nonautomatic
mal mit der rechten und mal mit der linken dy von der University of California in Los An- Processes. In: Psychological
Hand. Wie sich zeigte, reagierten die Probanden geles 2007, dass das fMRT-Signal auf Rauchreize Review 97, S. 147 – 168, 1990
schneller, wenn sich der Griff auf derselben Sei- in sensorischen und motorischen Hirnregionen Yalachkov, Y. et al.: Brain Re­
te befand wie die Hand, mit der sie die Taste von Rauchern abnahm, wenn sie ihr Verlangen gions Related to Tool Use and
drückten. nach einer Zigarette unterdrückten. Ÿ Action Knowledge Reflect Ni­
Wir präsentierten den Versuchspersonen zu- cotine Dependence. In: Jour­
dem Bilder von Rauchutensilien wie einem Yavor Yalachkov ist promovierter Psychologe und nal of Neuroscience 29, S.
Aschenbecher, auf dessen Rand eine Zigarette wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für 4922 – 4929, 2009
lag. Dabei bemerkten wir, dass die mit Nikotin- Medizinische Psychologie der Goethe-Universität Yalachkov, Y. et al.: Smoking
sucht assoziierten Objekte das Phänomen nur Frankfurt am Main. Jochen Kaiser ist Professor für Experience Modulates the
bei Rauchern hervorriefen, und zwar besonders medizinische Psychologie und Direktor des Instituts. Cortical Integration of Vision
bei den schwer Abhängigen. Das spiegelte sich Marcus J. Naumer arbeitet dort als wissenschaft- and Haptics. In: Neuroimage
auch in der Hirnaktivität wider. Je ausgeprägter licher Assistent und leitet die Arbeitsgruppe »Cross- 59, S. 547 – 555, 2012
der Effekt, desto stärker reagierten die senso- modale Hirnbildgebung«.


www.gehirn-und-geist.de 71
Kopfnuss
das Jubiläums-Gewinnspiel
Hätten Sie’s gewusst? 1. Mit welchem Fachbegriff bezeichnen 6. Wo ist das Risiko, an Schizophrenie zu
Psychologen jene Form des Gedächt- erkranken, besonders hoch?
Die Antworten auf die folgenden nisses, in der persönliche Erlebnisse o) In ländlichen Regionen mit hoher
Fragen finden Sie in den Artikeln dieser gespeichert werden? Arbeitslosigkeit
Ausgabe von G&G. e) Episodisches Gedächtnis p) In Ballungszentren mit hohem
Die Buchstaben vor den jeweils richtigen a) Szenisches Gedächtnis sozialem Stress
Antworten ergeben das Lösungswort. o) Situationsgedächtnis q) Das Risiko ist unabhängig vom
Viel Spaß beim Knobeln! ­Wohnort 
2. Wer kann Klatsch und Tratsch verbrei-
Unter allen korrekten Zuschriften ten, ohne sich unbeliebt zu machen? 7. Wie hoch ist der Anteil der Psychiatrie-
verlosen wir insgesamt 260 Preise! l) Ältere Männer patienten in Deutschland, die gegen
(siehe rechts) m) Kleine Kinder ihren Willen in eine Klinik eingewiesen
n) Attraktive Frauen werden?
Wenn Sie an unserem Gewinnspiel f) 6 Prozent
teilnehmen möchten, schicken Sie 3. Welches typische Phänomen in der g) 12 Prozent
bitte das Lösungswort mit dem Stich- Eltern-Kind-Kommunikation bezeichnen h) 18 Prozent
wort »Jubiläum« per Post, Fax oder Pädagogen als »dialogisches Echo«?
E-Mail an: Spektrum der Wissenschaft b) Wenn ein Baby dieselbe Silbe mehr- 8. Welche Hirnregion ist nicht an Niko-
Verlagsgesellschaft mbH fach hintereinander ausspricht tinsucht beteiligt?
Postfach 104840, 69038 Heidelberg c) Wenn ein Kind die Äußerung eines i) Wernicke-Areal
Fax 06221 9126-751 Elternteils wiederholt e) Sensorischer Kortex
kopfnuss@gehirn-und-geist.de d) Wenn ein Erwachsener die Laute eines a) Basalganglien
Einsendeschluss ist der 13. Fe­bruar 2012 Babys nachahmt
(es gilt das Datum des Poststempels). 9. Wobei spielen die Basalganglien eine
Eine Barauszahlung der Preise ist nicht 4. Welcher Teil des Gehirns ist für unsere wichtige Rolle?
möglich. Der Rechtsweg ist ausge- Selbstkontrolle entscheidend? l) Hören
schlossen. i) Orbitofrontalkortex m) Kopfrechnen
o) Präfrontalkortex n) Automatisierte Bewegungsabläufe
Ihre persönlichen Daten werden allein u) Frontaler Pol
zur Gewinnbenachrichtigung verwen- 10. Welches berühmte lateinische Zitat
det und nicht an Dritte weitergegeben. 5. Wie nennen Psychologen das Phäno- beschreibt den egoistischen Machtwillen
men, dass wir nach einer guten Tat eher des Menschen? 
zu eigennützigem Verhalten neigen? r) Cogito ergo sum
r) Moralisches Lizensieren s) Esse est percipii
s) Moralischen Zensieren e) Homo homini lupus est
t) Moralisches Korrumpieren

Hier können Sie das 1 2 3 4 5 6 7 8 9 10


Lösungswort eintragen:

Auflösung der Kopfnuss 11/2011: 1c, 2b, 3b, 4a, 5b


Jeweils ein Exemplar von »Still« geht an: Gaëlle Heywang (Hildesheim), Tobias Kläden (Erfurt), Martin Overbeck (Braunschweig)

72 G&G 1-2_2012


Gewinnen Sie ein Wochenende
auf der »brainWEEK 2012«
1. Preis:
Eine Reise für zwei Personen zur brainWEEKEND 2012
brainweek nach Nürnberg, mit einer
exklusiven Führung durch den »Turm 15. – 17. März, Nürnberg
der Sinne«, Besuch der Veranstaltung
»Science meets Comedy« am 16. März
2012 sowie Hin- und Rückreise mit der
Bahn und zwei Übernachtungen im
Doppelzimmer

Museum
Museum Turm der Sinn
Turm der S inne e

2. – 5. Preis:
Je ein phrenologischer Kopf

Querdenker

Motivationshilfe

6. – 10. Preis: 11. – 260. Preis:


Je ein Buch »Wir Je ein Frühstücksbrettchen, T-Shirt, G&G-Spezial
sind unser Gehirn« »Entdeckung­sreise durch das Gehirn«, G&G-Kaffeepott
von Dick Swaab oder G&G-Schlüsselanhänger aus Filz


www.gehirn-und-geist.de 73
bücher und mehr

 dersprechen die renommierten Neuro- Die Autoren stellen die These auf, dass
wissenschaftler Stephen Macknik und Neurowissenschaftler von solchen Tricks
Susana Martinez-Conde entschieden. Zu- über die Arbeitsweise des Gehirns lernen
sammen mit der Wissenschaftsjourna­ könnten. Den Beweis dieser These blei-
Stephen L. Macknik,
listin Sandra Blakeslee möchten sie zei- ben sie jedoch schuldig: Sie beschreiben
Susana Martinez-
Conde, Sandra gen, dass Zaubertricks nur deshalb funk- keinen einzigen Fall, in dem die Untersu-
Blakeslee tionieren, weil unsere Sinneswahrneh- chung eines Zaubertricks zu einer neuen
DIE TRICKS UNSERES GEHIRNS mungen eine Konstruktion und keine wissenschaftlichen ­Erkenntnis geführt
Wie die Hirnforschung von den großen
objektive Abbildung der Wirklichkeit dar- hätte. Stattdessen bemühen sie stets hin-
Zauberern lernt
[Kreuz, Freiburg 2011, 320 S., € 24, 95] stellen. länglich bekannte psychologische Theo-
Um vor den Augen des Publikums bei- rien, um die Wirkungsweise von Zauber-
spielsweise Gegenstände verschwinden kunststücken zu erklären.
zu lassen, machen sich Zauberkünstler il-
Konstruierte lusionäre Wahrnehmungen von Bewe- Streben nach einem
Wirklichkeit gung zu Nutze. Durch solche Bewegungs- stimmigen Selbstbild
Magier entlarven unseren Hang illusionen glauben wir klar zu sehen, wie Weil die Autoren anhand von Zauber-
zu Illusionen der Zauberer eine Münze von der einen tricks das Gehirn als Konstrukteur un-
Hand zur anderen wirft, obwohl er sie serer Wirklichkeit entlarven, erweist sich

W as haben Zaubertricks im Zirkus


mit neurowissenschaftlicher For-
schung zu tun? Nicht viel, werden die
längst heimlich versteckt hat – und wir
sind erstaunt, wenn sich die Münze auf
einmal nicht mehr in der Hand des Zau-
das Buch dennoch als sehr lesenswert.
Sein besonderer Vorzug: Es ist nicht nur
für Freunde der Zauberei geeignet, son-
meisten intuitiv vermuten. Doch dem wi- berkünstlers befindet. dern für alle, die auf unterhaltsame
­Weise etwas über das Gehirn lernen
möchten.
Die Autoren zeigen, dass wir uns zum

G&G – Bestsellerliste
einen bei der Wahrnehmung, zum ande-
ren oft auch beim Erinnern und Begrün-
1. Dobelli, R.: Die Kunst des klaren Denkens 52 Denkfehler, die Sie besser den unserer eigenen Handlungen täu-
anderen überlassen [Hanser, München 2011, 246 S., € 14,90] schen, weil wir versuchen, ein kohärentes
2. Lütz, M.: Irre – Wir behandeln die Falschen Unser Problem sind die Norma- und stimmiges Welt- und Selbstbild auf-
len. Eine heitere Seelenkunde [Goldmann, München 2011, 189 S., € 9,99] rechtzuerhalten. Illusionen treten also
3. Riemann, F.: Grundformen der Angst Eine tiefenpsychologische Studie nicht nur im Rahmen von Zaubertricks
[Reinhardt, München, 40. Auflage 2011, 244 S., € 14,90] auf. Sie sind so alltäglich, dass sie große
4. Soliman, T.: FUnkstille Wenn Menschen den Kontakt abbrechen [Klett-Cotta, Teile unserer Identität bestimmen. Das
Stuttgart 2011, 196 S., € 17,95] ist zwar nicht besonders neu und dürfte
5. Havener, T.: Denk doch, was du willst Die Freiheit der Gedanken [Wunder- neurowissenschaftlich vorgebildete Le-
lich, Reinbek 2011, 253 S., € 17,95] ser nicht überraschen, doch so anschau-
6. Baker, R.: Wenn plötzlich die Angst kommt Panikattacken verstehen und lich, verständlich und alltagsnah wie im
vorliegenden Band wurde es selten dar-
überwinden [Brockhaus, Witten, 14. Auflage 2011, 192 S., € 9,95]
gestellt.
7. Senzel, H.: »Arschtritt« Mein Weg aus der Depression zurück ins Leben
Die Anschaulichkeit hat allerdings ih-
­[Südwest, München 2011, 224 S., € 16,99]
ren Preis: Wer sich vor allem für neuro-
8. Kitz, V., Tusch, M.: Psycho? Logisch! Nützliche Erkenntnisse der Alltagspsycho-
wissenschaftliche Zusammenhänge und
logie [Heyne, München 2011, 285 S., € 8,99]
weniger für Zaubertricks interessiert,
9. Dutton, K.: Gehirnflüsterer Die Fähigkeit, andere zu beeinflussen
dürfte die vielen ausführlichen Schilde-
[dtv, München 2011, 350 S., € 14,90]
rungen von Zauberern und Zauberwett-
10. Schmidt, W.: Dicker Hals und kalte FüSSe Was Redensarten über Körper bewerben mit der Zeit etwas langatmig
und Seele verraten. Eine heitere Einführung in die Psychosomatik [Gütersloher finden. Alle anderen werden an diesem
Verlagshaus, München 2011, 224 S., € 19,99] Buch ihre Freude haben.

Nach Verkaufszahlen des Buchgroßhändlers KNV in Stuttgart Alexander Soutschek ist promovierter
Mehr Informationen und Bestellmöglichkeiten: ­Philosoph und arbeitet am Department
www.science-shop.de/bestsellerliste Psy­chologie der Ludwig-Maximilians-­
Universität München.

74 G&G 1-2_2012


   
exzellent solide durchwachsen mangelhaft

zehn Prozent seines Durchmessers wei- Radius gemeint ist; dann wird der Druck
 ten muss, um beinahe 50 Prozent mehr eines Autoreifens mit 50 Atmosphären
Blut durchzulassen. Ferner befasst sich angegeben (richtig wären 2 bis 4 Atmo-
der Physikprofessor mit den elektrischen sphären) und ein Newton mit 700 Kilo-
Eigenschaften des Körpers, mit der elek­ pond gleichgesetzt (richtig wären 0,1 Kilo-
trischen Signalweiterleitung entlang den pond). Auch ergibt sich der Druck nicht
Nerven und mit der Optik des Auges. aus einer Masse pro Fläche, wie das Buch
Richard P. McCall Die Akustik des Sprechens und Hörens, stellenweise behauptet, sondern aus ei­-
HALS ÜBER KOPF
die biologischen Auswirkungen von ner Kraft pro Fläche. Das Einbringen von
Die Physik des menschlichen Körpers
[Primus, Darmstadt 2011, 265 S., € 24,90] Kern­strahlung und die Verweildauer von Fremdatomen in Halbleiter bezeichnet
Medikamenten im Körper runden sein man außerdem als »Dotierung« und kei-
Werk ab. neswegs als »Doping«. Die Liste ließe sich
Wer an biophysikalischen Themen in- noch fortsetzen.
Lehrbuch mit Fehlern teressiert ist und sich eine leicht ver- Diese Schnitzer mindern den didak-
Eine Einführung in die Biophysik ständliche, sachliche Darstellung wünscht, tischen Wert des Buchs natürlich erheb-
wäre mit diesem Buch eigentlich gut be- lich. Schade, denn mit etwas mehr Sorg-

W arum das Buch »Hals über Kopf«


heißt, bleibt rätselhaft. Die Rede-
wendung bedeutet so viel wie »hastig,
raten. Die minimalistischen Erläuterun­
gen, die einfachen Abbildungen und die
gut nachvollziehbaren Rechenbeispiele
falt wären solche Mängel leicht zu behe-
ben gewesen. So aber kann man das Buch
kaum empfehlen – gerade im Hinblick
überstürzt, planlos«, und das hat mit sind an sich sehr einsteigerfreundlich. auf die anvisierte Zielgruppe, die eben
dem Inhalt – der Physik des menschli- Leider enthält das Buch jedoch zahlreiche nicht aus Fachleuten besteht und daher
chen Körpers – reichlich wenig zu tun. Fehler, möglicherweise infolge der Über- sicherlich Gefahr läuft, die fehlerhaften
Der Titel der englischen Originalausgabe, setzung aus dem Amerikanischen ins Passagen für bare Münze zu nehmen.
»Physics of the Human Body«, beschreibt Deutsche.
viel treffender, worum es in dem Werk ei- So ist im Text gelegentlich vom Durch- Frank Schubert ist promovierter Biophysiker
gentlich geht. messer die Rede, obwohl eigentlich der und Redakteur bei G&G.
Autor Richard P. McCall arbeitet als
Professor für Physik am St. Louis College
of Pharmacy im US-Bundesstaat Missou-
ri. Mit seinem Buch wendet er sich an 
Schüler, Studenten und Mitarbeiter im
Renate Köcher, Bernd Raffelhüschen
Gesundheitswesen. Um einen möglichst GLÜCKSATLAS DEUTSCHLAND 2011
hohen Grad an Verständlichkeit zu errei- [Knaus, München 2011, 176 S., € 14,99]
chen, hält sich McCall bei fachlichen De-
tails zurück, bringt nur die nötigsten For- Auf einer Skala von 0 bis 10 – wie zufrieden sind Sie mit Ihrem
meln und beschränkt sich beim Darstel- Leben? Das fragte das Allensbacher Institut für Demoskopie 2011
len komplexer Zusammenhänge auf ein im Auftrag der Deutschen Post eine repräsentative Auswahl von
Minimum. Bundesbürgern. Rund zwei von drei Befragten zogen mit einem Wert von sieben oder
höher ein positives Fazit; jeder fünfte hielt sich sogar für sehr oder vollkommen
Lektionen über Drehmomente glücklich. Was die Zufriedenen hier zu Lande von den Unzufriedenen unterscheidet,
und elektrische Signale fassen der Finanzwissenschaftler Bernd Raffelhüschen und die Volkswirtin Renate
Das Themenspektrum entspricht einer Köcher in diesem Band zusammen. Sie vergleichen dazu Geschiedene mit Verwitwe­ten,
klassischen Einführung in die Biophysik. Eltern mit Kinderlosen, Gläubige mit Atheisten sowie die Bewohner der 16 Bundes­
McCall widmet sich unter anderem den länder. Das Ergebnis bringen sie in einer Top Ten der Glücksbringer auf den Punkt, von
Bewegungen des menschlichen Körpers guter Gesundheit übers Eigenheim bis hin zum regelmäßigen Kulturgenuss. Ein
und den Kräften und Drehmomen­ten, Extrakapitel widmen Köcher und Raffelhüschen der Arbeitszufriedenheit. Der wich-
die dabei wirken. So erfährt der Leser, tigste Glücksfaktor hier: die Anerkennung für eigene Leistungen.
warum es besser ist, schwere Lasten aus Schade nur, dass die Autoren ihre zuweilen arg spekulativen Interpretationen
der Hocke zu heben statt aus einer nach nicht überprüfen, indem sie etwa mögliche andere Einflussgrößen statistisch
vorn gebeugten Haltung. Der Autor be- ­konstant halten. Wenn sie zum Beispiel behaupten, dass Kinder keinen Effekt auf die
schreibt auch Strömungen und Druck- Lebens­zufriedenheit ihrer Eltern haben, sollten sie auch einmal Paare mit und ohne
verhältnisse in den Organen, etwa den Kinder vergleichen, die im selben Alter sind und über einen gleichwertigen Bildungs-
Blutkreislauf. Es dürfte viele Leser über- stand sowie ein ähnliches Einkommen verfügen. Trotz solcher Versäumnisse eine
raschen, dass man ein Blutgefäß nur um interessante Lektüre nicht nur für Zahlenfreaks.


www.gehirn-und-geist.de 75


schaufenster – weitere neuerscheinungen


hirnforschung und Philosophie
• Gerdes, L.: DAS ZUFRIEDENE GEHIRN Frei von Depressionen, Traumata, ADHS,
Sucht und Angst [Kamphausen, Bielefeld 2010, 324 S., € 19,95]
• Reusch, S.: 18 ANTWORTEN AUF DIE FRAGE NACH DEM GLÜCK Ein philosophi- Frank Henning
scher Streifzug [Hirzel, Stuttgart 2011, 232 S., € 19,90] KRIEG IM GEHIRN
Wie uns der Stress beherrscht
• Schroeter, M. L.: DIE INDUSTRIALISIERUNG DES GEHIRNS Eine Fundamentalkritik
[Primus, Darmstadt 2011, 135 S., € 16,90]
der kognitiven Neurowissenschaften [Königshausen & Neumann, Würzburg
2011, 228 S., € 36,–]
• Tran, N. H.: GEHIRNFORSCHUNG AUS DER ANDEREN SICHT [Utz, München 2011,
Schlachtfeld
216 S., € 22,–]
der Metaphern
Psychologie und Gesellschaft Kampfansagen gegen den Stress
• Bloom, P.: SEX UND KUNST UND SCHOKOLADE Warum wir mögen, was wir
mögen [SAV, Heidelberg 2011, 330 S., € 24,95]
• Cacioppo, J. T.: EINSAMKEIT Woher sie kommt, was sie bewirkt, wie man ihr
entkommt [SAV, Heidelberg 2011, 386 S., € 19,95]
S tress kennt jeder. Verkehrslärm, Leis­
tungsdruck und Konkurrenz bringen
unser Gehirn in einen Zustand, in dem es
• Kitz, V., Tusch, M.: PSYCHO? LOGISCH! Nützliche Erkenntnisse der Alltagspsycho- einen ähnlichen Cocktail von Boten-
logie [Heyne, München 2011, 288 S., € 8,99] stoffen ausschüttet wie das eines Solda-
• Riedelbauch, K., Laux, L.: PERSÖNLICHKEITSCOACHING Acht Schritte zur Füh- ten im Kampfeinsatz. Dem Physiker und
rungsidentität [Beltz, Weinheim 2011, 395 S., € 49,95] psychotherapeutisch tätigen Heilprakti-
ker und NLP-Trainer Frank Henning ge-
Medizin und Psychotherapie fällt dieser Vergleich, er nimmt sogar an,
• Frank, E., Levenson, J. C.: INTERPERSONELLE PSYCHOTHERAPIE [Reinhardt, Mün- dass ein Großteil unserer Stressgefühle
chen 2011, 190 S., € 24,90] überhaupt nur durch kriegerische As-
• Riechert, I.: PSYCHISCHE STÖRUNGEN BEI MITARBEITERN Ein Leitfaden für pekte unseres Alltagslebens zu Stande
Führungskräfte und Personalverantwortliche [Springer, Heidelberg 2011, 246 S., kommt. Bei ihm wird das Gehirn zum
€ 39,95] Kommandanten, die Zeit zum Feind und
• Stolberg, M.: DIE GESCHICHTE DER PALLIATIVMEDIZIN Medizinische das morgendliche Weckerklingeln zur
­Sterbebegleitung von 1500 bis heute [Mabuse, Frankfurt am Main 2011, 303 S., Kampfansage. Die fast zwangsläufige Fol-
€ 29,90] ge: »Krieg im Gehirn«.
• Wild, B.: HUMOR IN DER PSYCHIATRIE UND PSYCHOTHERAPIE Neurobiologie,
Methoden, Praxis [Schattauer, Stuttgart 2011, 324 S., € 39,95] Eine Gesellschaft im
permanenten Kriegszustand
Kinder und Familie Der Autor lässt in den ersten Kapiteln
• Küchler, U.: TAUSENT GRSSE UND KÜESSE. Vom Leben mit einer behinderten kaum eine Gelegenheit aus, diese Me­
Tochter [C.H.Beck, München 2011, 283 S., € 12,95] tapher an den Mann zu bringen. Er fin-
• Largo, R. H., Czernin, M.: JUGENDJAHRE Kinder durch die Pubertät begleiten det sie in unserer gesamten Umwelt, in
[Piper, München 2011, 400 S., € 24,99] unserem Arbeits-, Ess- und Sozialverhal-
• Metzger, J.: ALLE MACHT DEN KINDERN Ein Selbstversuch [Patmos, Mannheim ten, und er skizziert mit Schlagwörtern
2011, 180 S., € 16,90] wie »Schlachtfeld«, »Rettung« und »In­
valide« ein Gesellschaftssystem, das im
Ratgeber und Lebenshilfe permanenten Kriegszustand zu stecken
• Ankowitsch, C.: MACH’S FALSCH, UND DU MACHST ES RICHTIG Die Kunst der scheint.
paradoxen Lebensführung [Rowohlt, Berlin 2011, 336 S., € 19,95] Wer vor der Lektüre nicht gestresst
• Köbele, A.: EIN JUNGE NAMENS SUE Transsexuelle erfinden ihr Leben [Psycho­ war, wird es danach gewiss sein. Der Leser
sozialverlag, Gießen 2011, 282 S., € 24,90] wird zunehmend in eine Habt-Acht-Stel-
• Scherer, H.: GLÜCKSKINDER Warum manche lebenslang Chancen suchen – und lung gedrängt, und selbst den Abstecher
andere sie täglich nutzen [Campus, München 2011, 237 S., € 19,99] ins Wellnesshotel deutet der Psychothera-
peut als ein Wiederfitmachen für den All-
tagskampf.

76 G&G 1-2_2012


Ein roter Faden findet sich nicht in die- ein Opfer, wer ein Täter? Welche trauma-
ser Aneinanderreihung von Worst-Case-  tischen Folgen hatte der Holocaust? Wie
Szenarien. Während Henning nach den hat sich die Rechtsprechung für Trauma-
organischen Ursachen von Alltagsstress opfer entwickelt? Nicht zufällig widmen
fahndet, gönnt er dem Leser immerhin die Herausgeber ihr Buch Ulrich Venzlaff,
eine Auszeit von der Kriegsmetapher und Facharzt für Neurologie und laut Vorwort
Günter H. Seidler,
somit erstmals die Gelegenheit, auch In- Harald J. Freyberger, ein »Wegbereiter der Psychotraumatolo-
halte mitzunehmen. Andreas Maercker (Hg.) gie«, der sich seit Langem mit Entschädi-
Es folgen Einblicke in Hirnphysiologie HANDBUCH DER gungsansprüchen politisch Verfolgter be-
PSYCHOTRAUMATOLOGIE
und Verhaltensmodelle und schließlich schäftigt. Von ihm selbst findet sich ein
[Klett-Cotta, Stuttgart 2011, 776 S., € 89,95]
die Erkenntnis: Wir sollten uns auf uns Kapitel zum »erlebnisbedingten Persön-
besinnen und unser geistiges und körper- lichkeitswandel«, das über die Langzeit-
liches Selbst wieder miteinander in Ein- folgen schwerer Traumatisierungen auf-
Geballtes Fachwissen
klang bringen. Es helfe nicht, die Gesell- klärt.
schaft verändern zu wollen. »Wir müssen 80 fundierte Beiträge Das Handbuch zeichnet sich neben
bei uns selbst beginnen.« von Traumaexperten seiner inhaltlichen Dichte und Ausführ-
Für den Transfer in die Praxis legt lichkeit durch eine übersichtliche Gliede-
Henning seinen Lesern »heilsame Ritua-
le« ans Herz. Man solle Gedichte rezitie-
ren, die Natur und die Kunst genießen
D ie Psychotraumatologie, lange Zeit
Steckenpferd weniger Spezialisten,
ist zum breiten Forschungsfeld avanciert.
rung und eine schnörkellose Sprache aus.
Stellenweise werfen die Autoren aber
doch mit Fremdwörtern um sich – eine
oder hin und wieder »ein Essen zelebrie- Dieser fast 800 Seiten starke Herausge- gefälligere Formulierung hier und da hät-
ren«. Ungewöhnlich weiche Antworten berband bildet den aktuellen Erkenntnis- te der wissenschaftlichen Qualität nicht
also auf die harten Geschosse, die er auf- stand aus Wissenschaft und Praxis ab: 80 geschadet. So gerät die Darstellung zum
gefahren hat. Und dann folgt ein – in An- Experten beleuchten darin ihr Fachge- Teil recht trocken, zumal jegliche Bebilde-
betracht seiner Metaphern – ironischer biet von allen Seiten. rung fehlt und der Text nur mit ein paar
Tipp: Man solle doch aufhören, sich Das Handbuch beginnt mit grundle- wenigen Tabellen und Diagrammen gar-
sprachlich permanent in den Kriegszu- genden Theorien und Befunden der Trau- niert ist. Anschaulich sind dagegen die
stand zu versetzen! Um sich vor der düs­ maforschung, behandelt ihre Entwick- Fallbeispiele in einigen Kapiteln, etwa in
teren Schlachtfeldrhetorik zu schützen, lung in verschiedenen Schulen der Psy- dem von Venzlaff.
hätte der Leser allerdings besser zu einem chotherapie und arbeitet sich dann
besinnlichen Gedichtband gegriffen oder systematisch durch eine Vielzahl weiterer Psychologisches Vorwissen
einen Spaziergang in der Natur unter- Aspekte. Neben einer differenzierten Be- erforderlich
nommen. schreibung verschiedener Krankheits- Wer sich mit dem Gebiet der Psychotrau-
bilder, Ursachen und Therapiemöglich- matologie wissenschaftlich oder klinisch
Sarah Zimmermann arbeitet als freie Journa­ keiten greift es gesellschaftliche, kultu- auseinandersetzen möchte, dem sei die-
listin in Würzburg. relle und rechtliche Fragen auf. Wer ist ses fachkundige, gründlich recherchierte
Sammelwerk ans Herz gelegt. In diesem
Sinn ist es vor allem für Traumatologen,
Psychotherapeuten und -analytiker, Psy-
 chiater, Sozialarbeiter und Erzieher sowie
als Lehrbuch für Studierende geeignet.
Alfred Wiater, Gerd Lehmkuhl (Hg.)
HANDBUCH KINDERSCHLAF Dem interessierten Laien, der sich einen
Grundlagen, Diagnostik und Therapie organischer ersten Überblick verschaffen möchte, ist
und nichtorganischer Schlafstörungen davon eher abzuraten. Denn das Fach-
[Schattauer, Stuttgart 2011, 344 S., € 44,95]
buch, reich an Quellen und wissenschaft-
lichen Begriffen, erfordert vom Leser viel
Von elf bekannten Kinderärzten und Therapeuten aus Deutschland psychologisches Vor­wissen. Eine Online­
verfasst, bietet das Handbuch einen umfassenden und wissenschaftlich fundierten leseprobe mit zahlreichen ergänzenden
Überblick über das verbreitete Phänomen kindlicher Schlafstörungen. Mögliche Informationen gibt es auf der Website
internistische oder neurologische Ursachen kommen zwar nicht zu kurz, das Haupt- zum Buch: www.handbuch-psychotrau-
augenmerk legen die Herausgeber aber auf die Diagnose und Therapie von nicht­ matologie.de
organisch bedingten Schlafproblemen. Eigene Kapitel zu kindlichem Träumen und
zur Narkolepsie komplettieren das Nachschlagewerk. Empfehlenswert für alle, die Miriam Berger arbeitet als freie Wissen-
beruflich mit dem Thema Kinderschlaf zu tun haben. schaftsjournalistin in Köln.


www.gehirn-und-geist.de 77
und Pessimisten. Während Erstere an­
 nehmen, dass sie Erfolge vor allem ihren Alle rezensierten Bücher,
eigenen Fähigkeiten zu verdanken haben, CD-ROMs und DVDs können Sie
glauben Letztere, an jedem Misserfolg im Science-Shop bestellen
selbst schuld zu sein.
Neu sind diese Erkenntnisse nicht. Al- Direkt unter:
lerdings vermag der Autor sie zumindest www.science-shop.de
Luis Rojas Marcos unterhaltsam vorzutragen, indem er An- oder per E-Mail:
LEBE LIEBER GLÜCKLICH info@science-shop.de
ekdoten aus seinem Leben sowie Zitate
Die Macht des Optimismus Telefon: 06221 9126-841
aus Romanen und Mythen einstreut. Un-
[Piper, München 2011, 240 S., € 8,95] Fax: 06221 9126-869
term Strich hätte dem Buch jedoch weni-
ger Pathos gutgetan. So schildert der Arzt
die Begegnung mit einem querschnitts-
Impfstoff für die Psyche
gelähmten Patienten mit den Worten: verkauft, indem er ihr Publikationsda-
Wenig Neues über die Kraft »Wortlos legte ich ihm die Hand auf die tum verschweigt.
des Optimismus Schulter und sah ihm tief in die Augen. Neben Altbekanntem führt der Autor
Ich suchte nach einem Zeichen, das mei- noch so einige abwegige Kronzeugen für

O ptimisten gewinnen häufiger Wah­


len oder sportliche Wettkämpfe und
meistern auch Trennungen oder Kündi-
ne Skepsis hätte rechtfertigen können.
Doch das einzig Auffällige war der Opti-
mismus, der in Roberts Blick glänzte.«
die Macht des Optimismus an, darunter
die pawlowschen Hunde, den Rohr-
schachtest und dann auch noch die Re­
gungen besser als Pessimisten. Eine opti-
mistische Einstellung preist der Psychia-
ter Luis Rojas Marcos von der New York Der Autor führt abwegige Kronzeugen
University deshalb als wirksamsten Impf- für die Macht des Optimismus an
stoff für die Psyche. Um diese These zu
belegen, zitiert er klassische Befunde
etwa zur erlernten Hilflosigkeit: Wer wie- Dass zudem nur wenige Studien aus lativitätstheorie. Laut Marcos sollen sie
derholt erlebt, dass sein Tun zwecklos ist, den vergangenen zehn Jahren auftau- belegen, dass alles eine Frage der Perspek-
wirft auch in anderen Lebensbereichen chen, mag man noch entschuldigen, da tive ist. Ähnlich fragwürdig spekuliert er
rasch die Flinte ins Korn. das Buch bereits 2005 auf Spanisch er- in einem historischen Abriss darüber,
Außerdem kennzeichnen unterschied- schien. Ärgerlich ist jedoch, dass Marcos dass schon unter unseren Vorfahren eine
liche Denkstile die typischen Optimisten Resultate aus den 1980er Jahren als neu hoffnungsvolle Einstellung geherrscht
haben müsse. Ohne diesen inneren An-
trieb hätten unsere Vorfahren schließlich
niemals beharrlich nach Essbarem ge-
 sucht und ausdauernd gegen Feinde ge-
Manfred Spitzer, Harald Lesch, Friedemann Schenk
kämpft.
BIG BANG Wer wissenschaftlich fundierte, neue
Vom Urknall zum Bewusstsein (3 Audio-CDs) Erkenntnisse sucht, wird in diesem Buch
[Galila, Wien 2011, 210 Minuten, € 29,90] nicht fündig. Durchaus lesenswert sind
jedoch Marcos’ eigene Erfahrungen mit
Der Astrophysiker Harald Lesch hat eine seltene Gabe: Wenn er über sein Fach spricht, schwer kranken Patienten und der Heil-
ist er mit so viel Spaß und Begeisterung bei der Sache, dass sich dies auf den Zuhörer kraft des Optimismus im Krankenhaus-
überträgt. Dabei geht es auf dieser dreiteiligen Audio-CD um so komplexe Dinge wie alltag. So beschreibt der Mediziner die
die Entstehung des Universums und die Evolution des Menschen. Egal ob er erklärt, Kraft von Placebos und kritisiert Kolle-
warum Gott eine Ausdehnung von 10 –35 Metern haben müsse und wie das Leben auf gen, die Patienten aus falscher Wahr-
der Erde überhaupt entstanden ist: Alles ist verständlich präsentiert – und unterhalt- heitsliebe ihre Heilungschancen lieber
sam noch dazu. Im Vergleich zu Lesch klingt Hirnforscher Manfred Spitzer, eigentlich ganz verschweigen. Marcos ist vermut-
ein begnadeter Dozent, eher hölzern. Sein Zwiegespräch mit dem Paläoanthropolo- lich ein guter und einfühlsamer Arzt, als
gen Friedemann Schrenk ist noch dazu weniger laientauglich. Was die menschliche Wissenschaftsautor überzeugt er jedoch
von tierischen Kulturen unterscheide? Dazu brauche es Sprache, »um das Ganze nicht nicht.
nur implizit durch Nachahmung weiterzutreiben, sondern lateral zu kommunizieren,
also zu explizieren«. Alles klar? Abgesehen von solchen Details ein gelungener Über- Hanna Drimalla ist Bachelor-Psychologin und
blick über die Evolution der Welt und des Menschen. arbeitet als freie Journalistin in Bochum.

78 G&G 1-2_2012


impressum

Chefredakteur: Dr. Carsten Könneker (verantwortlich)


Medikamente wie der »Wachmacher« Artdirector: Karsten Kramarczik
 Methylphenidat würden zwar helfen, län- Redaktionsleiter: Dipl.-Psych. Steve Ayan
Redaktion: Dr. Katja Gaschler (Koordination Sonderhefte),
gere Zeit konzentriert zu bleiben, intelli- Dipl.-Psych. Christiane Gelitz, Dr. Anna von Hopffgarten, Dr. Andreas
genter machten sie deshalb noch lange Jahn (Online-Koordinator), Dr. Frank Schubert
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nicht. Und mitunter geht die aufmerk- Schlussredakt2ion: Christina Meyberg (Ltg.), Sigrid Spies,
samkeitssteigernde Wirkung kaum über Katharina Werle
Bildredaktion: Alice Krüßmann (Ltg.), Anke Lingg, Gabriela Rabe
Thomes Grüter die einiger Tassen Kaffee hinaus. Layout: Karsten Kramarczik
KLÜGER ALS WIR? Das Turbogehirn aus dem Labor ist bis Redaktionsassistenz: Petra Mers
Redaktionsanschrift: Postfach 10 48 40, 69038 Heidelberg
Auf dem Weg zur Hyperintelligenz dato nur ein Gedankenspiel. Zudem hätte Tel.: 06221 9126-776, Fax: 06221 9126-779
[Spektrum Akademischer Verlag, ein Zugewinn an Geisteskraft sicher auch E-Mail: redaktion@gehirn-und-geist.de
Heidelberg 2011, 343 S., € 24,95] Wissenschaftlicher Beirat:
seinen Preis. Es sei, so Grüter, völlig unab- Prof. Dr. Manfred Cierpka, Institut für Psychosomatische Koopera-
sehbar, ob etwa mittels Psychopharmaka tionsforschung und Familientherapie, Universität Heidelberg;
Prof. Dr. Angela D. Friederici, Max-Planck-Institut für neuro-
verlängerte Wachzeiten nicht die neuro- psychologische Forschung, Leipzig; Prof. Dr. Jürgen Margraf,
Auf dem Boden Arbeitseinheit für klinische Psychologie und Psychotherapie, Ruhr-
nale Hardware schädigen.
der Tatsachen Nach Lage der Dinge werden Medizi-
Universität Bochum; Prof. Dr. Michael Pauen, Institut für Philosophie
der Humboldt-Universität zu Berlin; Prof. Dr. Frank Rösler, Fachbereich
Psychologie, Universität Potsdam; Prof. Dr. Gerhard Roth, Institut für
Schein und Sein der künstlich ner in absehbarer Zeit zwar Defekte wie Hirnforschung, Universität Bremen; Prof. Dr. Henning Scheich, Leibniz-
gesteigerten Intelligenz etwa eine Degeneration von Sinneszellen
Institut für Neurobiologie, Magdeburg; Prof. Dr. Wolf Singer, Max-
Planck-Institut für Hirnforschung, Frankfurt/Main; Prof. Dr. Elsbeth
in der Retina des Auges oder im Innenohr Stern, Institut für Lehr- und Lernforschung, ETH Zürich
Herstellung: Natalie Schäfer, Tel.: 06221 9126-733

K larer denken, mehr wissen, länger


konzentriert bleiben – wer wünscht
sich das nicht? Doch die eigene Geistes-
»reparieren« können. Die aussichtsreiche
Forschung auf dem Gebiet der Neuro­
implantate schildert Grüter ausführlich.
Marketing: Annette Baumbusch (Ltg.), Tel.: 06221 9126-741,
E-Mail: service@spektrum.com
Einzelverkauf: Anke Walter (Ltg.), Tel.: 06221 9126-744
Verlag: Spektrum der Wissenschaft Verlagsgesellschaft mbH,
kraft zu tunen, scheint heute nicht mehr Und vielleicht wird man eines Tages so- Postfach 10 48 40, 69038 Heidelberg, Hausanschrift:
Slevogtstraße 3–5, 69126 Heidelberg, Tel.: 06221 9126-600,
nur von privatem Interesse zu sein. Visio- gar dem massenweisen Zellsterben im Fax: 06221 9126-751, Amtsgericht Mannheim, HRB 338114
näre aus Politik und Wissenschaft träu- Ge­hirn von Alzheimerpatienten ent­ge­ Verlagsleiter: Richard Zinken
Geschäftsleitung: Markus Bossle, Thomas Bleck
men inzwischen von einer »hyperintelli- gen­­wirken können. Von einer flächen­de­ Leser- und Bestellservice: Helga Emmerich, Sabine Häusser, Ute Park,
genten« Gesellschaft der Zukunft. cken­­den Intelligenzsteigerung durch Auf- Tel.: 06221 9126-743, E-Mail: service@spektrum.com
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Sie werde ermöglicht durch die Fort- rüstung des (gesunden) Gehirns ist das Spektrum der Wissenschaft Verlagsgesellschaft mbH, c/o ZENIT
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schritte der Neurotechnologie: mittels freilich weit entfernt. Tel.: 0711 7252-192, Fax: 0711 7252-366, E-Mail: spektrum@zenit-presse.
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Hirndoping, mittels gentechnischer Opti- IQ-Schub überhaupt Vorteile für die Ge- (10 Ausgaben): € 68,–, Jahresabonnement Ausland: € 73,–,
mierung oder Aufrüstung von Gehirn sellschaft hätte und etwa helfen könnte, Jahres­abonnement Studenten Inland (gegen Nachweis): € 55,–,
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und Sinnesorganen durch Neurochips, Kriege, Börsencrashs und die Umwelt­ Zahlung sofort nach Rechnungserhalt.
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die etwa unser Wahrnehmungs- oder zerstörung einzudämmen. Grüter argu- Die Mitglieder der DGPPN, des VBio, der GNP, der DGNC, der GfG, der
Lernvermögen steigern. Sinn und Unsinn mentiert, mit verbesserten kognitiven Fä- DGPs, der DPG, des DPTV, des BDP, der GkeV, der DGPT, der DGSL, der
DGKJP, der Turm der Sinne gGmbH sowie von Mensa in Deutschland
solcher Szenarien untersucht der Journa- higkeiten würden vermutlich auch ein- erhalten die Zeitschrift G&G zum gesonderten Mitgliedsbezugspreis.
list und Hirnforscher Thomas Grüter in fach die Anforderungen steigen, die sich Anzeigen/Druckunterlagen: Karin Schmidt, Tel.: 06826 5240-315,
Fax: 06826 5240-314, E-Mail: schmidt@spektrum.com
seinem Buch. uns stellten. Und wir wären – relativ gese- Anzeigenpreise:
Zurzeit gilt die Anzeigenpreisliste Nr. 10 vom 1. 11. 2010.
Es präsentiert zunächst einen Abriss hen – genauso schlau wie vorher.
Gesamtherstellung: Westermann druck GmbH, 38104 Braunschweig
der letzten 100 Jahre Intelligenzfor- Im Lauf der Buchlektüre schrumpft
schung, mit einem ernüchternden Fazit: die vermeintliche Hyperintelligenz zu Sämtliche Nutzungsrechte an dem vorliegenden Werk liegen bei der
Spektrum der Wissenschaft Verlagsgesellschaft mbH. Jegliche
So lässt sich bis heute nicht eindeutig sa- nicht viel mehr als Sciencefiction. Dass Nutzung des Werks, insbesondere die Vervielfältigung, Verbreitung,
öffentliche Wiedergabe oder öffentliche Zugänglichmachung, ist ohne
gen, was Intelligenz ist, wie sie sich genau über derlei Verheißungen dennoch so die vorherige schriftliche Einwilligung der Spektrum der Wissenschaft
zusammensetzt oder ob sie sich (außer viel geschrieben und nachgedacht wird, Verlagsgesellschaft mbH unzulässig. Jegliche unautorisierte Nutzung
des Werks berechtigt die Spektrum der Wissenschaft Verlagsgesell­
durch den Gebrauch derselben) steigern wirft die Frage auf, warum uns Intelli- schaft mbH zum Schadensersatz gegen den oder die jeweiligen
Nutzer. Bei jeder autorisierten (oder gesetzlich gestatteten) Nutzung
lässt. genz überhaupt als ein so erstrebens- des Werks ist die folgende Quellenangabe an branchenüblicher Stelle
Sodann gewährt uns Grüter detail- wertes Gut, ja als Heilsbringer schlecht- vorzunehmen: © 2012 (Autor), Spektrum der Wissenschaft
Verlagsgesellschaft mbH, Hei­delberg. Jegliche Nutzung ohne die
lierte Einblicke in die aktuelle Neuroen- hin erscheint. Vielleicht brauchen wir, Quellenangabe in der vorstehenden Form berech­tigt die Spektrum der
Wissenschaft Verlagsgesellschaft mbH zum Schadensersatz gegen
hancement-Forschung. Ein ums andere wie Grüter am Ende treffend bemerkt, den oder die jeweiligen Nutzer. Für unaufgefordert eingesandte
Mal nimmt sich der Autor dabei jedoch statt eines IQ, der durch die Decke Manuskripte und Bücher übernimmt die Redaktion keine Haftung;
sie behält sich vor, Leserbriefe zu kürzen.
selbst den Wind aus den Segeln, indem er schießt, ja vielmehr Vernunft, Gelassen-
konstatiert, dass Wissenschaftler bislang heit, Weisheit und Augenmaß. Bildnachweise: Wir haben uns bemüht, sämtliche Rechteinhaber
von Ab­bildungen zu ermitteln. Sollte dem Verlag gegenüber dennoch
noch nicht über Mittel verfügen, um das der Nachweis der Rechtsinhaberschaft geführt werden, wird das
branchenübliche Honorar nach­träglich gezahlt.
menschliche Denkvermögen grundle- Steve Ayan ist Diplompsychologe und Redak­ ISSN 1618-8519
gend zu verbessern. tionsleiter von G&G. www.gehirn-und-geist.de


www.gehirn-und-geist.de
auf sendung
Freitag, 16. Dezember Geldausgeben verführen – für Dinge, die Der Physiker Etienne Klein erkundet die
Schlaglicht er womöglich nie haben wollte. Grenzen zwischen physischer und ma­
Darf’s noch etwas mehr sein? EinsExtra (ARD Digital), 23 Uhr thematischer Welt, wo sich Logik in Poe­
Verkäufer sollen täglich den Umsatz stei­ sie verwandelt.
gern. Damit sie das auch schaffen, wer­ Samstag, 17. Dezember Arte, 0.40 Uhr
den sie von Verkaufstrainern geschult: Philosophie: Ursprung
Spezialisten, die alle psychologischen Die Sendung schlägt den Bogen vom Ur­ Sonntag, 18. Dezember
Tricks und Kniffe kennen, die Kunden sprung des Weltalls bis zu Gustave Cour­ Philosophie: Gott
zum Kauf animieren. Dazu gehören die bets skandalträchtigem Gemälde »L’Ori­ Liegt Gott jenseits der materiellen Welt,
richtige Begrüßung oder raffinierte Fra­ gine du monde«, das einen weiblichen oder ist der Begriff nur ein anderer Name
getechniken, die den Ladenbesucher zum Akt mit geöffneten Schenkeln darstellt. für die Natur? Welche Hoffnungen, wel­

Radiotipps

Montag, 19. Dezember schreckte 1966 eine Invasion Klapperschlangen die Bewohner
Zeitfragen der Siedlung Parkfield. Und knapp zehn Jahre später hörten
Drogenfrei auf Knopfdruck? Wie Neurowissenschaftler in Neapel alle Stiere einer Zuchtanstalt gleichzeitig auf, sich
unser Gehirn verbessern mit den Weibchen zu paaren. Kurz darauf erschütterte die je­
Die Hirnforschung hat in den letzten Jahrzehnten rasante weiligen Regionen ein Erdbeben. Welche Sinne haben Tiere,
Fortschritte gemacht. Inzwischen ist es möglich, das Nerven­ die wir nicht haben? Und wie forscht man in einer solchen wis­
system des Menschen direkt zu beeinflussen: Chirurgen pflan­ senschaftlichen Grauzone, die von vielen als esoterisch belä­
zen Elektroden ins Gehirn, welche die Aktivität bestimmter chelt wird?
Neurone anregen und den Patienten etwa bei Bewegungen Bayern2, 15.05 Uhr
unterstützen. An der Uniklinik in Magdeburg behandeln Me­
diziner mit einer solchen Hirnstimulation sogar Alkoholkran­ IQ – Wissenschaft und Forschung
ke. Wo liegen die Grenzen dieser Technik? Und wie »defekt« Klangmagie und Gänsehaut
darf ein Geist künftig noch sein? Ob trauriges Requiem oder elektrisierender Rockklassiker –
Deutschlandradio, 19.30 Uhr Musik hat eine besondere Kraft, Menschen zu berühren. Fil­
memacher steuern mit Musik die Gefühle ihrer Zuschauer,
Dienstag, 20. Dezember Psychologen nutzen sie, um in Experimenten gezielt Emotio­
Journal am Vormittag nen zu erzeugen. Schon bloßes Zuhören versetzt das Gehirn in
Der andere Schlaganfall: Blutungen und Gefäßfehl­ höchste Aktivität: Es lässt Erinnerungen aufblitzen, spielt ima­
bildungen des Gehirns ginäre Klaviersoli und schüttet während musikalischer Höhe­
Das »Radiolexikon Gesundheit« klärt über Krankheiten auf, punkte gar Glückshormone aus. Die Hirnforschung versucht,
nach denen Hausärzte regelmäßig gefragt werden. Diesmal die überwältigende Wirkung der Musik auf den Menschen zu
spricht Professor Andreas Unterberg, geschäftsführender Di­ enträtseln.
rektor der Klinik für Neurochirurgie am Universitätsklinikum Bayern2, 18.05 Uhr
Heidelberg, über weniger bekannte Formen des Schlaganfalls.
Durch Veränderungen an Blutgefäßen im Gehirn, so genannte Sonntag, 25. Dezember
Malformationen, kann es zu Hirnblutungen kommen. Warn­ Frauenforum
zeichen sind zum Beispiel epileptische Anfälle oder chroni­ »Was Kinder betrifft, betrifft die Menschheit«
sche Kopfschmerzen. Werden die Fehlbildungen rechtzeitig 1907 eröffnete Maria Montessori in dem römischen Arbeiter­
erkannt, gibt es verschiedene Möglichkeiten, dem Hirnschlag bezirk San Lorenzo die erste »Casa dei bambini«, ein Kinder­
vorzubeugen. haus, das nach ihrem pädagogischen Ansatz arbeitete. Die ita­
Deutschlandfunk, 10.10 Uhr lienische Ärztin und Philosophin reiste durch Europa, Ame­
rika und Indien, um Menschen für ihr Ideal von Erziehung zu
Donnerstag, 22. Dezember begeistern. In den 1920er Jahren gehörte sie zu den bekanntes­
radioWissen am Nachmittag ten Frauen der Welt. Voller Energie lebte sie bis ins hohe Alter
Tiere und Emotionen: Rätselhaft und widersprüchlich für ihre Ideen – ihre pädagogischen Konzepte haben sogar bis
Im Jahr 1910 verließen alle Bienen im Landkreis Bayern ihre heute Bestand.
Stöcke und schwirrten aufgeregt herum. In Kalifornien er­ NDR Info, 17.30 Uhr

80 G&G 1-2_2012


che Sorgen stehen hinter dem Wunsch DONNERSTAG, 22. DEZEMBER Sonntag, 25. Dezember
nach einer göttlichen Instanz? Bedarf es Bewusst leben (4/13): Das Unbewusste – Themenabend
der Religion, um zu ihr zu gelangen? Und kreative Möglichkeiten Die Macht der Musik
wenn Gottes Existenz bewiesen wäre, Der Psychologe, Coach und Buchautor Musik hatte immer schon einen großen
würden die Menschen dann noch an ihn George Pennington erläutert, wie das Un­ Einfluss auf die Menschen – doch woher
glauben? In der Sendung zu Gast ist der bewusste funktioniert: Was entscheidet kommt diese Macht? Der Arte-Themen­
französische Philosoph Abdennour Bidar. darüber, welche Inhalte daraus in unser abend beginnt mit dem Spielfilm »Ama­
Arte, 13.30 Uhr Bewusstsein dringen? Und wie lassen deus« über das exzentrische Wunderkind
sich die darin schlummernden Poten­ Wolfgang Amadeus Mozart, im Anschluss
Big Science ziale abrufen, um unsere Lebensqualität folgt die Dokumentation »Noten und
Wissenschaft der Angst zu verbessern? Neuronen«, in der aktuelle neurowissen­
Angst zählt zu den stärksten Urinstink­ Bayern Alpha, 19 Uhr schaftliche Erkenntnisse zur Musikfor­
ten: Sie warnt uns vor Gefahren und kann Wdh. am 23. 12. um 9.30 Uhr schung vorgestellt werden.
im Extremfall Leben retten. Doch was ist Arte, ab 20.15 Uhr
das eigentlich für ein Gefühl und woher Freitag, 23. Dezember
kommt es? Psychologen und Verhaltens­ Geist und Gehirn Dienstag, 27. Dezember
forscher geben Antworten auf die Frage, Hirnforschung zum Weihnachtsfest Next World – Das Leben von morgen
warum wir uns fürchten. Sie erklären, Was haben Neurowissenschaften mit Ewige Gesundheit
was davon angeboren ist und was wir Heiligabend zu tun? Eine ganze Menge! Ein längeres, gesünderes, aktiveres Leben
erst im Lauf des Lebens erlernen, wie Feiern und Zusammensein aktivieren be­ ist seit Jahrhunderten ein großer Mensch­
Ängste unseren Alltag beeinflussen kön­ stimmte Bereiche unseres Denkapparats. heitstraum. Neurologen, Nanowissen­
nen – und wie wir es trotzdem schaffen, Manfred Spitzer, Direktor der psychiat­ri­ schaftler und Genforscher arbeiten welt­
uns nicht von ihnen beherrschen zu schen Universitätsklinik Ulm, erklärt das weit an Projekten, die den Menschen vi­
­lassen. Entstehen weihnachtlicher Gefühle wie taler und widerstandsfähiger machen
Discovery Channel, 14.30 Uhr Freude, Liebe und Hilfsbereitschaft. sollen. Ihre Vision ist ehrgeizig: Der Kör­
Wdh. am 25. 12. um 23.25 Uhr Bayern Alpha, 22.45 Uhr per soll ganze Gliedmaßen regenerieren

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Termine
12. – 15. Januar 2012, Köln Kontakt: Akademie Kind Jugend Familie, Lagergasse 98 a,
Ethnopsychoanalytische Deutungswerkstatt A-8020 Graz
Kontakt: Deutsche Psychoanalytische Vereinigung e. V. Telefon: +43 316 774344
(DPV), Daniela Dutschke, Körnerstraße 11, 10785 Berlin E-Mail: akjf@akjf.at
Telefon: +49 30 2655-2504 www.staerkestattmacht.at
E-Mail: geschaeftsstelle@dpv-psa.de
www.dpv-psa.de 1. – 3. Februar, Genf (Schweiz)
6. Europäische Konferenz zur Gesundheitsförderung
13. – 14. Januar, Göttingen in Haft: Patient or Prisoner? Wege zu einer gleichwertigen
20. Konferenz des Gremiums der Lehranalytiker Gesundheitsversorgung in Haft
Kontakt: DPG-Geschäftsstelle, Goerzallee 5, 12207 Berlin Kontakt: Prof. Dr. Heino Stöver, Fachhochschule Frankfurt
Telefon: +49 30 8431-6152 am Main, Nibelungenplatz 1, 60318 Frankfurt
E-Mail: geschaeftsstelle@dpg-psa.de Telefon: +49 69 1533-2823
www.dpg-psa.de E-Mail: hstoever@fb4.fh-frankfurt.de
www.gesundinhaft.eu
19. – 21. Januar, Graz (Österreich)
7. Grazer psychiatrisch-psychosomatische Tagung: 2. – 3. Februar, Hamburg
Wahnsinnig schön Kongress: Glücksspielsucht-Forschung der Bundesländer –
Kontakt: Landesnervenklinik Sigmund Freud, Helga Hohen­ wissenschaftliche Erkenntnisse für Prävention, Hilfe und
singer, Wagner-Jauregg-Platz 1, A-8053 Graz Politik
Telefon: +43 316 2191-2204 Kontakt: Förderverein interdisziplinärer Sucht- und
E-Mail: helga.hohensinger@lsf-graz.at ­Drogenforschung (FISD) e. V., c/o Zentrum für interdiszipli­
www.lsf-graz.at näre Suchtforschung, Martinistraße 52, 20246 Hamburg
Telefon: +49 40 7410-54221
20. – 22. Januar, Hofgeismar E-Mail: kongress@isd-hamburg.de
Tagung: Das psychohistorische Erbe der Nazizeit und seine www.zis-hamburg.de/veranstaltungen
Spuren in der Gegenwart
Kontakt: Evangelische Akademie Hofgeismar, 2. – 4. Februar, Basel (Schweiz)
Postfach 1205, 34362 Hofgeismar 17. Jahrestagung der Gesellschaft für die seelische Gesund­
Telefon: +49 5671 881-0 heit in der frühen Kindheit (GAIMH): Frühe Kindheit –
E-Mail: ev.akademie.hofgeismar@ekkw.de Brücken bauen
www.akademie-hofgeismar.de Kontakt: Dr. Heidi Simoni c/o Marie Meierhofer,
Institut für das Kind, Schulhausstrasse 64,
27. – 29. Januar, Wien (Österreich) CH-8002 Zürich
Tage Neuer Autorität: Stärke statt Macht – Haim Omers Telefon: +41 44 2055220
Konzept »Neue Autorität und Gewaltloser Widerstand« E-Mail: basel2012@gaimh.org
in Pädagogik, Psychologie und Therapie www.gaimh.org

können, das Gehirn selbst im Greisenal­ legt, dass die Liebe kulturelle Unterschie­ welche Hinweise schon Mimik und Ges­
ter noch menatle Höchstleistungen voll­ de dauerhaft und wirkungsvoll überbrü­ tik eines Lügners liefern können.
bringen. cken kann. Discovery Channel, 23.20 Uhr
Discovery Channel, 10.35 Uhr Arte, ab 20.15 Uhr
Freitag, 30. Dezember
Themenabend Big Science Tierisch lustig
Heimat in der Fremde Lügen auf dem Prüfstand Die Wissenschaft vom Lachen
Was bedeuten Heimat und Fremde in Angenommen, ein Verdächtiger in einem Da lachen ja die Hühner! Mit diesem Satz
Zeiten weltweiter Mobilität? Zwei Filme Mordprozess ist ein so guter Lügner, dass kommentiert man vermeintlich absurde
beschäftigen sich mit der Frage nach alle seine Aussagen stimmig und authen­ Ideen. Dabei können Hühner gar nicht la­
Identität im Spannungsfeld der Kulturen: tisch erscheinen, obwohl sie unwahr sind. chen – oder etwa doch?
In »Lost in Translation« begegnen sich Gibt es eine Möglichkeit, ihn dennoch der Arte, 21.30 Uhr
zwei auf unterschiedliche Weise verlo­ Tat zu überführen? Die Sendung zeigt,
rene Durchreisende in einem Hotel in welche wissenschaftlich fundierten Tech­ Kurzfristige Programmänderungen der
­Tokio. Die Dokumentation »Sayome« be­ niken zur Lügendetek­tion es gibt und Sender sind möglich.

82 G&G 1-2_2012


winters’ abschied

Uli Winters ist Diplomkünstler –


und grüßt leider zum letzten Mal an dieser Stelle.

uli@u-winters.de

Ganz meinerseits!

Liebe Leserinnen und Leser von Gehirn&Geist,

S ie sind jetzt alt genug. Seit fast neun Jahren bewahre ich Sie
schon davor, leichtfertig zu glauben, was Ihnen zwielichtige
»Wissenschaftler« weismachen wollen. Unermüdlich im Dienst
Und nun? Ein Jegliches hat seine Zeit, und so möchte ich Sie,
liebe Leser, heute in die Freiheit entlassen und Ihnen dabei zuse-
hen, wie Sie Ihre zerbrechlichen Flügelchen entfalten und im ers­
der Wahrheit habe ich jedes U so lange mit dem Lackmus des ten Licht des Morgens, ein wenig taumelnd noch, in das flüssige
Zweifels geprüft und mit dem Königswasser des gesunden Men- Blau des Himmels der Erkenntnis eintauchen. Und da sich nun,
schenverstands beträufelt, bis es sich schließlich als X im Schafs- wie Sie vielleicht bemerkt haben, erste Risse in jenen Dämmen
pelz zu erkennen geben musste. Oft genug bin ich – der Günter zeigen, hinter denen ich meine Gefühle während all der Jahre im
Wallraff des Wissenschaftsbetriebs – an die Grenze meiner eige- Dienst der wissenschaftlichen Neutralität zurückgehalten habe,
nen und der Belastbarkeit meiner Probanden gegangen (die ich möchte ich mich herzlich bedanken. Bei Ihnen, meinen Lesern und
jedoch stets, den strengen Regeln der Wissenschaftsethik folgend, Leserinnen, und bei Ihnen, liebe Redaktion (die Sie diesen Text hof-
nach Abschluss des Experiments über die damit verbundenen Ri- fentlich durchwinken, sonst streiche ich den Dank!). Meine erste
siken aufgeklärt habe). G&G-Kolumne war zugleich meine erste Veröffentlichung über-
Ich ließ mich von hartherzigen Redakteuren mit willkürlichen haupt. Nicht zuletzt dank Ihnen verdiene ich mein Brot inzwi-
Abgabefristen quälen, die oft erst fünf Wochen im Voraus fest- schen als Autor – ein Glück, das sich wohl am treffendsten mit
standen, wurde von Schulfreunden verklagt und von Verschwö- dem eines Schweins in der Hüpfburg vergleichen lässt.
rungstheoretikern mit Fanpost überhäuft (nur weil ich behauptet
hatte, den Mörder Kennedys zu kennen). Und wofür das alles? Für Ich werde jetzt nicht die schöne Melancholie des Augenblicks mit
Sie, liebe Leser! dem blöden, zu jedem noch so vergurkten Abschied aus der Sprü-
cheschublade gezerrten Satz versauen, man solle aufhören, wenn
Gut, natürlich habe auch ich meine Prominenz genossen. Unver- es ... Wenn ich Ihnen unbedingt erklären muss, warum dies meine
gessen der Moment, als mich um das Jahr 2007 herum eine wild- letzte Kolumne ist, kann ich nur sagen, dass ich noch nie in
fremde Schönheit im Intercity erkannte und auf meine G&G-­ meinem ganzen Leben etwas so lange und kontinuierlich ge-
Kolumnen ansprach! Ein zweiter Vorfall ähnlicher Art entpuppte macht habe. Ehrlich. Und wenn die innere Leere, die mich bald er-
sich allerdings als Verwechslung: Ein offenbar angetrunkener Ju- greifen wird, unerträglich werden sollte, kann ich immer noch mit
gendlicher hatte mich für den Imbisswirt aus der Comedyserie einem weißen Gaul vom Pferdeverleih nach Heidelberg reiten und
»Dittsche« gehalten. Aber ich bin immer mit beiden Füßen auf noch einmal die Hellebarde in die Schlacht tragen. Jetzt ist aber
dem Boden geblieben, auch wenn mindestens einer davon stets in auch mal gut, sonst tropft’s aufs Papier und dann kann wieder kei-
einem Fettnäpfchen stand. ner was lesen. Ich werde Sie vermissen, machen Sie es gut!


www.gehirn-und-geist.de 89
vorschau ı G&G 3/2012 erscheint am 13. februar 2012

Das Wechselspiel
von Körper und Psyche
Stress ma
Stress macht auf Dauer krank – darüber sind sich ner einig
­Mediziner einig. Doch was genau steckt dahinter? Wie sen seelis
beeinflussen seelische Vorgänge die körpereigene Und waru
­Immunabwehr? Und warum leiden etwa psychisch be­ öfter an H
lastete Menschen öfter an Hautkrankheiten wie Zeitgeno
­Neuro­dermitis als andere Zeitgenossen? Nach und nach komplizi
entschlüsseln Forscher das komplizierte Zusammen- system. D
spiel von Nerven- und Immun­system. Die Erkenntnisse eröffnen
der Psychoneuroimmunologen eröffnen womöglich
sogar neue Therapiewege
Fotolia / Sebastian Kaulitzki [M]

Serie »Die groSSen G&G-Themen« Teil 2 Im Namen des Volkes


Bewusstsein und Willensfreiheit Richter sollten ihre Urteile auf objektive Fakten und Merkmale
Wie das Feuern von Milliarden von Nervenzellen subjektives des zu verhandelnden Falls gründen. In der Praxis unterliegen
Bewusstsein hervorbringen kann, zählt nach wie vor zu den Gerichtsentscheidungen jedoch oft sachfremden Einflüssen,
großen Rätseln der Neurowissenschaften. Mehr noch: Dass wie wissenschaftliche Studien belegen. Staatsanwälte und Ver­­-
unser Wille gleichzeitig frei und neuronal manifestiert sein teidiger versuchen, sich das zu Nutze zu machen
soll, verursacht auch Philosophen Kopfschmerzen. Im zweiten
Teil unserer Serie zu den großen G&G-Themen stellen wir die
wichtigsten Antworten auf diese umstrittenen Fragen vor –
und wagen einen Ausblick in die Zukunft

Illusorische Menschenkenntnis
»Ich kann andere ziemlich gut einschätzen.« Diesen Satz hat
wohl jeder schon einmal gehört – oder selbst ausgespro-
chen. Doch laut Psychologen überschätzen wir unser Talent,
Dreamstime / Minghua Nie

die Persönlichkeit unserer Mitmenschen zu beurteilen, meist


deutlich. Denn der erste Eindruck unterliegt zahlreichen
kognitiven Verzerrungen

Krieg im Kopf
G&G-Newsletter Ob UNO-Blauhelme oder reguläre Truppen: Soldaten riskieren
Wollen Sie sich einmal im Monat über Themen und Autoren Leib und Leben. Auch wer vermeintlich unbeschadet vom
des neuen Hefts informieren lassen? Wir halten Sie gern auf Einsatz zurückkehrt, trägt oft Verletzungen davon. So hinterlas­
dem Laufenden: per E-Mail – und natürlich kostenlos. sen etwa die psychische Belastung und Bomben­detonationen
Registrierung unter www.gehirn-und-geist.de/newsletter teils schwere Folgeschäden im Gehirn, die sich in Gedächtnis­
lücken, Schwindelanfällen oder Schlaflosigkeit äußern

90 G&G 1-2_2012


gehirn&Geist Kompakt
50 Fragen – Intelligenz
50 Antworten
Spannende Erkenntnisse
Sinne

aus Psychologie und Hirnforschung


Neurone
Bewusstsein
gefühle
seele

therapie
sprache
freier wille

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Alles über Ihre grauen Zellen.
Schwarz auf weiß. Seit 10 Jahren.

Auch im Handel erhältlich!

www.gehirn-und-geist.de
Liebe Leserin, lieber Leser,
wissen Sie, welche Gesamtlänge die Milli-
arden von Nervenbahnen unseres Gehirns
haben? Oder wie viele Sinne der Mensch
wirklich besitzt? Wie wirkt eigentlich das
ADHS-Medikament Ritalin? Und was sind
noch mal »Qualia«?

Zum 10. Geburtstag unseres Magazins


»Gehirn&Geist« haben wir uns einige
Extras für Sie ausgedacht – unter anderem
diesen kompakten Wissensspeicher für
unterwegs. Die folgenden 50 Fragen und
Anworten präsentieren spannende Fakten,
historische Hintergründe und kuriose Er-
kenntnisse rund um Psyche und Gehirn.

Nehmen Sie auch teil an unserem Preis­


rätsel in der Jubiläumsausgabe 1-2/2012
(S. 72) und lesen Sie im selben Heft ab S. 14,
»Wie alles begann« – ein Rückblick auf
Menschen und Themen aus zehn Jahren
»Gehirn&Geist«.

Viel Vergnügen wünscht


Ihre G&G-Redaktion
FRAGEN

1. Was misst die funktionelle


Magnetresonanztomografie?
a) Elektrische Aktivität von Gehirnzellen
b) Die Durchblutung von Nervengewebe
c) Den Zerfall von schwach radioaktiven
Teilchen

2. W
 ofür ist die unten blau hervor-
gehobene Hirnstruktur besonders
wichtig?
a) Gedächtnisprozesse
b) Motorische Reflexe
c) Tastsinn

Gehirn&Geist / MEGANIM

4 G&G KOMPAKT
3. Was erzeugt laut Psychologen einen
­Widerspruch zwischen einer persön-
lichen Überzeugung (»Zigaretten-
rauch ist Krebs erregend«) und dem
eigenen Handeln (Rauchen)?
a) Kognitive Konkordanz
b) Kognitive Resonanz
c) Kognitive Dissonanz

4. G
 ähnen ist bekanntlich ansteckend –
doch warum gähnen Menschen über-
haupt?
a) Es ist ein soziales Signal an unsere
Mitmenschen
b) Es erhöht die Sauerstoffsättigung
des Bluts
c) Es senkt die Temperatur des Gehirns

5. W
 obei spielt die Langzeitpotenzie-
rung eine entscheidende Rolle?
a) Lernen
b) Motivation
c) Sexuelle Erregung


www.gehirn-und-geist.de 5
antworten

 . Die funktionelle Magnetresonanz-


1. b
tomografie (fMRT) gibt Auskunft über
die Durchblutung des Nervengewebes.
Sie weist indirekt auf die neuronale
Aktivität hin, denn feuernde Nervenzel-
len werden vermehrt mit sauerstoff­
reichem Blut versorgt. Da dieses andere
magnetische Eigenschaften besitzt als
sauerstoffarmes Blut, kann der fMRT-
Scanner ein entsprechendes Signal
detektieren. Eine direkte Messung der
elektrischen Aktivität im Gehirn ermög-
licht die Elektroenzephalografie (EEG),
während die Positronenemissionstomo-
grafie (PET) die Verteilung schwach ra-
dioaktiv markierter Teilchen registriert.

 . Die blaue Struktur in der Hirngrafik


2. a
stellt die »Gedächtniszentrale« des
Gehirns dar – den Hippocampus. Der
Name leitet sich von seiner auffälligen
Form ab: Mit etwas Fantasie kann man
in ihm ein Seepferdchen (lateinisch:
hippocampus) erkennen. Diese Struktur
ist entscheidend für die Gedächtnis-
konsolidierung, die Überführung von
Gelerntem vom Kurz- ins Langzeitge-
dächtnis.

6 G&G KOMPAKT
3. c . Nach der einflussreichen Theorie der
Kognitiven Dissonanz, die der US-Psy-
chologe Leon Festinger 1957 entwickel-
te, löst ein Widerspruch zwischen einer
persönlichen Überzeugung und dem
eigenen Handeln einen psychischen
Spannungszustand aus.

 . Zugegeben, noch weiß niemand mit


4. a
Sicherheit, warum wir gähnen. Doch
die meisten Forscher glauben: Gähnen
ist ein soziales Signal, dass dazu dient,
die Aktivität verschiedener Individuen
zu koordinieren. Alternative Funktio-
nen etwa zur Temperatur- oder Sauer-
stoffregulierung des Gehirns sind nicht
hinreichend belegt.

 . Als Langzeitpotenzierung bezeichnen


5. a
Forscher eine dauerhafte Verstärkung
der Reizübertragung zwischen zwei
Nervenzellen. Sie kann auftreten, wenn
ein Neuron zahlreiche schnell aufei­
nander folgende Signale empfängt, und
bildet eine wichtige biologische Grund-
lage für Lernvorgänge.


www.gehirn-und-geist.de 7
FRAGEN

6. W
 elches Organ beherbergt laut
Aristoteles die Seele des Menschen?
a) Lunge
b) Herz
c) Gehirn

7. W
 as hilft am nachhaltigsten
gegen Angst vorm Zahnarzt?
a) Verhaltenstherapie
b) Hypnose
c) Beruhigungsmittel

8. W
 as kann darauf hindeuten, dass ein
Kind an Prosopagnosie leidet?
a) Es hält übermäßig an Gewohnheiten
fest und besteht auf das Einhalten
fester Rituale
b) Es hält weniger Blickkontakt zu seinem
Gesprächspartner als andere Kinder
c) Es hat eher Probleme, Gegenstände
richtig zu benennen

8 G&G KOMPAKT
9. W
 orauf beruht der Eindruck sich dre-
hender Kreise in der Illusion auf den
folgenden Seiten (bitte umblättern)?
a) Blinder Fleck
b) Räumliches Sehen
c) Augenbewegungen

10. Wie weit würden alle neuronalen


Leitungsbahnen des Gehirns eines
Erwachsenen reichen, könnte man sie
aneinanderreihen?
a) Von Berlin bis Moskau
b) 2,5-mal um den Globus
c) Von der Erde bis zum Mond


www.gehirn-und-geist.de 9
Bild zu Frage 9

10 G&G KOMPAKT


Fotolia / Mark J. Grenier


www.gehirn-und-geist.de 11
antworten

 . Der griechische Philosoph Aristoteles


6. b
(384 – 322 v. Chr.) glaubte, das Herz sei
der Sitz der immateriellen Seele des
Menschen.

 . Laut klinischen Studien kann eine


7. a
Verhaltenstherapie ungünstige Reak-
tionsmuster, die der Angst vor einer
Zahnbehandlung zu Grunde liegen,
schon nach wenigen Sitzungen dauer-
haft verändern. Hypnose und Beruhi-
gungsmittel sind ebenfalls wirksam,
lindern aber meist nur akute Stress­
symptome.

 . Von einer Prosopagnosie (zu Deutsch:


8. b
»Gesichtsblindheit«) betroffene Kinder
können ihnen bekannte Menschen
schlecht oder gar nicht an deren Ge-
sichtszügen erkennen. Deshalb halten
sie in der Regel weniger Blickkontakt zu
ihrem Gegenüber als andere Altersge-
nossen.

9. c . Der Eindruck der sich drehenden


Kreise beruht auf winzigen Augenbe-
wegungen, so genannten Sakkaden.
Diese Blicksprünge in Kombination mit

12 G&G KOMPAKT


den Farbkontrasten und der Anordnung
der Bildelemente verleiten das visuelle
System dazu, eine vermeintliche Bewe-
gung wahrzunehmen. Wie dies genau
zu Stande kommt, ist bis heute unklar.
Fest steht: Starrt man einen bestimm-
ten Punkt im Bild an, ohne seine Augen
zu bewegen, stoppt die Rotation.

10. b. Die Gesamtlänge der Nervenlei-


tungsbahnen im menschlichen Gehirn
beträgt schätzungsweise 100 Millionen
Meter, was etwa dem 2,5-Fachen des
Erdumfangs entspricht.


www.gehirn-und-geist.de 13
FRAGEN

11. Was tat der Besitzer dieses Gehirns,


während Forscher es im Magnet­
resonanztomografen scannten?
a) Einem Geräusch lauschen
b) Eine Filmsequenz betrachten
c) Kopfrechnen

Anna von Hopffgarten

14 G&G KOMPAKT


12. Wie verändert sich das Gehirn von
Säuglingen in den ersten Monaten
nach der Geburt?
a) Es baut in großer Zahl synaptische
Verbindungen zwischen Neuronen auf
b) Es baut in großer Zahl synaptische
Verbindungen zwischen Neuronen ab
c) Es wächst volumenmäßig an, bei
etwa gleich bleibender Zahl neuronaler
Verknüpfungen

13. Welche Eigenschaft zählt nicht zu den


»Big Five« – den Hauptdimensionen
der menschlichen Persönlichkeit?
a) Empathievermögen
b) Gewissenhaftigkeit
c) Offenheit für Erfahrungen

14. Wie viele Sinne hat der Mensch?


a) Fünf
b) Sechs
c) Zehn

15. Wie viel Prozent aller Zellen im


Gehirn sind Neurone?
a) Zirka 80 Prozent
b) Zirka 40 Prozent
c) Weniger als 10 Prozent


www.gehirn-und-geist.de 15
antworten

11. a. Wenn wir einem Geräusch lauschen,


feuern Neurone des auditiven Kortex
im Schläfenlappen. Das Betrachten
einer Filmsequenz aktiviert hingegen
die Sehrinde im hinteren Bereich des
Schädels, während sich beim Kopfrech-
nen ein weit gespanntes Netzwerk von
Hirnarealen regt, darunter ein Bereich
im Scheitellappen.

12. b. Kurz nach der Geburt weist das


menschliche Gehirn die größte Synap-
sendichte auf. In den ersten Monaten
des Lebens werden nicht benötigte
Verbindungen zwischen Neuronen in
großer Zahl abgebaut.

13. a. Empathievermögen zählt nicht zu


den als »Big Five« bezeichneten, grund-
legenden Persönlichkeitsdimensionen,
anders als Gewissenhaftigkeit, Offen-
heit für Erfahrungen, Neurotizismus,
Verträglichkeit und Extraversion.

14. Ganz eindeutig lässt sich die Frage nicht


beantworten. Streng physikalisch kann
der Mensch lediglich drei Reizarten
wahrnehmen: optische, mechanische

16 G&G KOMPAKT


und chemische. Wenn wir letztere in
Geschmack und Geruch unterteilen,
erhalten wir zusammen mit Sehen,
Hören und Tasten die klassischen fünf
Sinne. Dabei wird jedoch der Gleichge-
wichtssinn im Innenohr unterschlagen,
so dass wir auf sechs kommen. Aller-
dings sitzen in der Haut des Menschen
zahlreiche spezialisierte Sinneszellen,
die auf Berührung, Vibration und Druck,
aber auch auf Temperatur und Schmerz
reagieren. Nicht zu vergessen die so
genannte Propriozeption, die über die
Stellung von Muskulatur und Gelenken
informiert, sowie der viszerale Sinn, also
die Wahrnehmung der inneren Organe.
Damit hätten wir sogar zehn Sinne
beisammen.

15. c. Weniger als zehn Prozent aller Zellen


im Gehirn sind Neurone. Den Großteil
machen die Gliazellen aus, die ein Stütz-
gerüst für die Nervenzellen bilden und
unter anderem für die Immunabwehr
im Zentralnervensystem zuständig sind.


www.gehirn-und-geist.de 17
FRAGEN

16. Rund 20 bis 30 Prozent aller Kinder


und Jugendlichen haben zeitweise
einen oder mehrere Fantasiefreunde,
die nur sie selbst sehen und hören
können. Was haben Wissenschaftler
über Kinder mit imaginären Gefähr-
ten herausgefunden?
a) Sie sind einsam und oft vernachlässigt
b) Sie sind besonders kreativ und sozial
kompetent
c) Sie tragen ein erhöhtes Risiko, später an
Schizophrenie zu erkranken

17. Welche philosophische Position be-


trachtet Gehirn und Geist als unter-
schiedliche Aspekte ein und dersel-
ben Sache?
a) Dualismus
b) Monismus
c) Epiphänomenalismus

18. Wie groß wäre die Fläche des mensch­


lichen Kortex (Großhirnrinde),
wenn man ihn flach ausbreiten
würde?
a) So groß wie ein Esstisch
b) So groß wie ein Pkw-Parkplatz
c) So groß wie ein Fußballfeld

18 G&G KOMPAKT


Gehirn&Geist, nach: Yarbus, A. L.: Eye
movements and vision, 1967

19. Was verbirgt sich hinter diesen Linien?


a) Augenbewegungen eines Probanden
beim Betrachten von Nofretete
b) Zeichnung eines Patienten mit Apraxie
c) Laufstrecke einer Maus mit geschädig-
tem Hippocampus bei der Futtersuche

20. Welches Hirnnetzwerk wird vermehrt


aktiv, wenn sich Probanden auf die ei-
gene Person oder den eigenen Körper
konzentrieren?
a) Das Belohnungssystem
b) Der Schläfenlappen
c) Mediale Kortexareale


www.gehirn-und-geist.de 19
antworten

16. b. »Imaginäre Gefährten« sind ein ver-


breitetes Phänomen: Etwa jedes dritte
Kind hat zeitweise einen oder mehrere
Fantasiefreunde. Einen Hinweis auf
psychische Probleme liefern sie jedoch
nicht, im Gegenteil: Studien legen nahe,
dass ihre Erfinder im Durchschnitt kre-
ativer und sozial kompetenter sind als
ihre Altersgenossen.

17. b. Der Monismus betrachtet geistige


und hirnphysiologische Phänomene
als Aspekte der gleichen »Sache«.
Für Dualisten hingegen stellen beide
grundlegend verschiedene Sphären dar,
und gemäß dem Epiphänomenalismus
bildet Geistiges eine Begleiterschei-
nung neuronaler Vorgänge.

18. a. Das Gehirn eines Erwachsenen wiegt


durchschnittlich etwa 1300 Gramm und
enthält bis zu 100 Milliarden Neurone.
Die tief gefurchte äußere Hirnrinde oder
der Kortex – Sitz aller höheren geistigen
Funktionen – würde ausgebreitet zirka
zwei Quadratmeter bedecken, etwa die
Größe eines Esstischs.

20 G&G KOMPAKT


19. a. Das Bild gibt den Verlauf der Augen-
bewegungen eines Probanden beim Be-
trachten von Nofretete wider. Wenn wir
einen Gegenstand betrachten, springt
unser Blick ständig hin und her. Forscher
bezeichnen diese Augenbewegungen
als Sakkaden.

20. c. Eine Reihe von Arealen an der


Innenseite der beiden Großhirnhälften
werden vermehrt aktiv, wenn der
Betreffende sich auf die eigene Person
oder sein Körperempfinden konzen­
triert. Zu den medialen Kortexarealen
zählen unter anderem der zinguläre
und Teile des präfron­talen Kortex.
transparentezingulärer
SchnittansichtKortex
des Großhirns (grün)
medialer medialer parietaler
präfrontaler Kortex Kortex
Gehirn&Geist / Meganim

orbitofrontaler
Kortex

www.gehirn-und-geist.de  21
FRAGEN

21. Wie hieß der US-amerikanische For-


scher, dessen Entscheidungsexpe-
rimente zeigten, dass unser Gehirn
Handlungen plant, bevor uns der
Impuls dazu bewusst wird?
a) Benjamin Libet
b) Benjamin Franklin
c) Benjamin Britten

22. Ist Lachen gesund?


links, mitte: Public Domain; rechts: Universitätsarchiv Leipzig

a) Ja, es stärkt Körper und Geist


b) Ja, es wirkt aber nur vorbeugend
c) Nein, es erschöpft den Körper

23. Wer sind die drei abgebildeten Herren


(von links nach rechts)?

a) C. G. Jung, William James,


Hermann Ebbinghaus
b) Sigmund Freud, Francis Galton,
William Stern
c) Sigmund Freud, Charles Darwin,
Wilhelm Wundt

22 G&G KOMPAKT


hoch
Häufigkeit

Gehirn&Geist, nach Arthur A. Stone,


Stony Brook University, New York
niedrig
1 5 9 3 7 1 5 9 3 7 1 5 9 3 7 1 5
 – 2 – 2  2  3 – 3  – 4 – 4  4 – 5 – 5 – 6  6  6 – 7 – 7  – 8 – 8
18 22  26 – 30 – 34  38 42  46 – 50  54  58  62 – 66 – 70  74  78 82 

Alter der Befragten

24. Was zeigt diese Kurve?


a) Sorgen im Lebensverlauf
b) Wohlbefinden im Lebensverlauf
c) Suizidrate im Lebensverlauf

25. Wie groß war das Gehirn eines Nean-


dertalers im Vergleich zum heutigen
Menschen?
a) Kleiner
b) Größer
c) Gleich groß

www.gehirn-und-geist.de  23
antworten

21. a. Der Physiologe Benjamin Libet (1916 –


2007) von der University of California
in San Francisco wurde bereits in den
1980er Jahren berühmt für seine Finger-
bewegungsexperimente. Sie bewiesen,
dass neuronale Aktivität eine Handlung
vorbereitet, ehe diese der betreffenden
Person selbst bewusst wird.

22. a. Zahlreiche Belege für positive psy­cho­-


logische und physiologische Wirkun-
gen zeigen: Lachen stärkt Körper und
Geist. Mediziner setzen es deshalb
inzwischen vermehrt zu therapeuti-
schen Zwecken ein.

23. c. Der österreichische Mediziner Sig-


mund Freud (1856 – 1939), Begründer der
Psychoanalyse; der britische Naturfor-
scher Charles Darwin (1809 – 1882), auf
dessen Theorie von der Entstehung der
Arten die heutige Evolutionsbiologie
fußt; und der deutsche Physiologe und
Philosoph Wilhelm Wundt (1832 – 1920),
Leiter des ersten psychologischen
­Labors an der Universität in Leipzig

24 G&G KOMPAKT


24. a. Laut Untersuchungen von Lebens-
laufforschern nimmt die Häufigkeit der
alltäglichen Sorgen und Nöte ab dem
späten Erwachsenenalter statistisch
gesehen ab. Geringere Belastungen
in Beruf und Familie, aber auch ein
stabileres Nervenkostüm und größere
Abgeklärtheit im Umgang mit Gefühlen
dürften hierfür verantwortlich sein.

25. b. Es erscheint überraschend, aber


das Hirnvolumen eines Neandertalers
überragt mit im Schnitt 1625 Kubik-
zentimetern das eines heutigen Homo
sapiens, der es durchschnittlich nur auf
1350 Kubikzentimeter bringt, doch recht
deutlich. Allerdings ist Größe nicht alles.
Der voluminöse Kopf entsprach dem
insgesamt massigen Körperbau des
Neandertalers, der wiederum als evo-
lutionäre Anpassung an die harschen
Bedingungen des eiszeitlichen Klimas
gedeutet wird.


www.gehirn-und-geist.de 25
Der Aufbau deS GEHIRNs und
seine wichtigsten Funktionen
Scheitellappen (Parietal)
sich räumlich orientieren, Dinge
bildhaft vorstellen, tasten

Hinterhaupts-
lappen
(okzipital)
sehen

Kleinhirn (Zerebellum)
Bewegungen koordinieren
Stirnlappen (frontal)
Handlungen planen, entscheiden, sprechen,
Impulse und Gefühle kontrollieren

Schläfenlappen
(Temporal)
hören, Objekte und Gesichter erkennen,
Lernen, Umweltreize bewerten

stammHirn
Wachheit und Erregung steuern,
Fotolia / Vasiliy Yakobchuk

Hunger, Durst und Atmung regulieren


FRAGEN

26. Was entdeckte der britische Natur­


forscher Francis Galton, als er 1878
die Porträts von Kriminellen über­
einanderprojizierte? Das resultierende
Gesicht fanden Probanden …
a) Besonders abstoßend
b) Besonders attraktiv
c) Neutral

27. Welche Probanden fallen auf diese


Illusion nicht herein?
a) Ureinwohner der afrikanischen
Kalahariwüste
b) Amerikanische Studenten
c) Deutsche Arbeiterkinder

28 G&G KOMPAKT


28. Was sind Qualia?
a) Die spezifische Qualität subjektiver
Erfahrungen
b) Die Quellen menschlichen Leidens
c) Analogien zwischen Hirnaktivität und
psychischen Funktionen

29. Welches der folgenden Psycho­


therapieverfahren dient der
­Behandlung der Posttraumatischen
Belastungsstörung?
a) CBASP
b) EMDR
c) DBT

30. Wie veränderte sich laut dem Flynn-


Effekt der durchschnittliche IQ in den
entwickelten Ländern im Verlauf der
letzten 100 Jahren?
a) Er nahm zu
b) Er nahm ab
c) Er blieb gleich


www.gehirn-und-geist.de 29
antworten

26. b. Als Francis Galton (1822 – 1911) auf der


Suche nach den typischen Merkmalen ei­-
nes Verbrechergesichts die Fotos mehre­rer
Krimineller 1878 übereinanderprojizier­­te,
stellte er verblüfft fest: Die erzeugten
Konterfeis entpuppten sich als besonders
attraktiv! Am Computer künstlich
gemittelte Porträts führen zum gleichen
Ergebnis. Evolutionsbiologisch macht
dieser Hang zum Mittelmaß durchaus
Sinn: Ein durchschnittliches Gesicht
verspricht eine gute Durchmischung der
Gene und signalisiert Gesundheit.

27. a. Da sie aus ihrer natürlichen Umwelt


keine geraden Kanten und Ecken ge-
wohnt sind, erwiesen sich Ureinwohner
der afrikanischen Kalahariwüste in
Tests als immun gegenüber der müller-
lyerschen Täuschung. Dabei erscheint
uns die linke vertikale Linie länger als
die rechte.

28. a. Als Qualia (von lateinisch qualis =


beschaffen wie) bezeichnen Neuro-
philosophen die spezifische Qualität
subjektiver Erfahrungen – etwa, wie es
sich »anfühlt«, die Farbe Rot zu sehen.

30 G&G KOMPAKT


29. b. EMDR steht für Eye Movement
Desensitization and Reprocessing – eine
Methode, bei der sich der Patient trau-
matische Erinnerungen ins Gedächtnis
ruft, während er auf einen sich hin- und
herbewegenden Finger blickt. CBASP
(Cognitive Behavioral Analysis System of
Psychotherapy) ist ein Verfahren zur Be-
handlung chronischer Depressionen; die
DBT (Dialektisch-Behaviorale Therapie)
dient der Behandlung von Patienten mit
Borderline-Persönlichkeitsstörung. Bei-
de verbinden Methoden der Verhaltens-
therapie mit anderen Therapieansätzen.

30. a. Der Politologe James R. Flynn be-


schrieb in den 1980er Jahren den heute
nach ihm benannten Effekt. Demnach
stieg der Intelligenzquotient (IQ) über
mehrere Generationen weltweit konti-
nuierlich an. Eine Ursache des Flynn-
Effekts vermuten Psychologen im Mess-
verfahren: So kann die Bilderflut unserer
Zeit dazu führen, dass Kandidaten bei
den in IQ-Tests beliebten Bildaufgaben
immer besser abschneiden.


www.gehirn-und-geist.de 31
FRAGEN
tions. In: Science 323, S. 1183, 2009, Fig. 1;
Abdruck genehmigt von AAAS / CCC
Antonakis, J. et al.: Predicting Elec-

31. Welchem dieser beiden Kandidaten


französischer Parlamentswahlen
trauten selbst Kinder Führungsquali-
täten zu?
a) Dem rechten Kandidaten
b) Dem linken Kandidaten
c) Keinem von beiden

32. Der Wirkstoff Methylphenidat unter


dem Handelsnamen Ritalin wird
zur Therapie der Aufmerksamkeits­
defizit-Hyperaktivitätsstörung ein­
gesetzt. Wir wirkt er?
a) Er hemmt die neuronale Erregung im
prämotorischen Kortex
b) Er begünstigt die Langzeitpotenzierung
in den Basalganglien
c) Er erhöht die Konzentration des Boten-
stoffs Dopamin an den Synapsen

32 G&G KOMPAKT


33. Was trägt Studien zufolge nicht zu
häufigeren Albträumen bei?
a) Genetische Veranlagung
b) Sauerstoffmangel während des Schlafs
c) Psychische Störungen

34. Schizophrenie manifestiert sich


meist zwischen dem 20. und 35.
Lebensjahr. Bei wie vielen Patienten
treten erste psychotische Symptome
bereits vor dem 18. Geburtstag auf?
a) 4 Prozent
b) 12 Prozent
c) 27 Prozent

35. Was spricht am ehesten für eine


»sichere Bindung« zwischen einer
Mutter und ihrem einjährigen Kind?
a) Das Kind weint, wenn die Mutter in
einem Café kurz auf die Toilette geht
b) Wenn das Kind hinfällt, beruhigt es sich
selbst wieder
c) Auf dem Spielplatz hält sich das Kind
immer ganz nahe bei der Mutter auf


www.gehirn-und-geist.de 33
antworten

31. a. Psychologen befragten fast 700


Kinder, welchen der beiden (ihnen
unbekannten) französischen Regional-
politiker sie zu ihrem Kapitän für eine
virtuelle Segeltour ernennen würden.
77 Prozent entschieden sich für Laurent
Hénart (rechtes Foto) – er gewann
tatsächlich bei den Parlamentswahlen
in Frankreich 2002 gegen Jean-Jacques
Denis (links). Mehrere ähnliche Studien
zeigten, dass das Aussehen von Politi-
kern das Wählerverhalten beeinflusst.

32. c. Ritalin erhöht die Konzentration


des Hirnbotenstoffs Dopamin an den
synaptischen Kontaktstellen zwischen
Nervenzellen, indem es die Wieder­
aufnahme des Transmitters in das
präsynaptische Endknöpfchen hemmt.
Einer einflussreichen, aber nicht end­
gültig bestätigten Theorie zufolge
leiden ADHS-Patienten unter einem
Dopaminmangel.

33. b. Menschen mit psychischen Störun­


gen leiden etwas häufiger unter
Albträumen, auch genetische Faktoren
sowie die Persönlichkeit spielen eine

34 G&G KOMPAKT


Rolle. Die Idee, dass nächtlicher Sauer-
stoffmangel zu bösen Träumen führt,
konnte in Studien widerlegt werden.

34. a. Schizophrenie macht sich in den


meis­ten Fällen erstmals im jungen Er­
wachsenenalter bemerkbar. Nur rund
vier Prozent aller Patienten erleben
ihre erste psychotische Phase vor dem
18. Lebensjahr. Mediziner sprechen
dann von early onset (englisch: früher
Beginn).

35. a. 1969 entwickelte die Psychologin


Mary Ainsworth den »Fremde Situation-
Test«, um die Bindungsqualität von
Kleinkindern zu ihrer Bezugsperson zu
prüfen. Verlässt etwa die Mutter den
Raum, beginnt ein sicher gebundenes,
einjähriges Kind in der Regel zu weinen.
Es hat verinnerlicht, dass die Mutter
sein Unbehagen ernst nimmt und dar­
auf reagiert. Kinder, die diese Erfahrung
selten machen, suchen weniger Trost.


www.gehirn-und-geist.de 35
FRAGEN

36. Wie heißt der verbreitetste


Hirnbotenstoff (Neurotransmitter)
im Gehirn des Menschen?
a) Dopamin
b) Serotonin
c) Glutamat

37. Nicht nur Menschen, auch viele Tiere


spielen. Welche Form des Spielens ist
sogar bei Wirbellosen wie Oktopoden
nachgewiesen?
a) Objektspiel mit Gegenständen
b) Soziales Spiel mit Artgenossen
c) Bewegungsspiel, also freies Herum­
tollen

38. An welcher Stelle im Gehirn verortete


der französische Philosoph René
Descartes (1596 – 1650) das Zentrum
des Sehens und damit eine wichtige
Instanz der Seele?
a) Zirbeldrüse
b) Mandelkerne
c) Inselrinde

36 G&G KOMPAKT


39. Per fMRT gelang es Neurowissen-
schaftlern bereits, sich mit Patienten
im Wachkoma zu »unterhalten«. Wel-
che beiden mentalen Vorstellungen
mussten die Patienten dazu zuverläs-
sig hervorrufen können?
a) Tennis spielen versus durch die eigene
Wohnung laufen
b) Schach spielen versus Rechenaufgaben
lösen
c) Musik machen versus durch den Wald
spazieren

40. Was zeigt das Bild auf den nächsten


Seiten (bitte umblättern)?
a) Fluoreszierende Haare eines
Punkmädchens
b) Computeranimation der Nerven­-
bahnen, welche die beiden Hemisphären
verbinden
c) Gefärbte Mikroskopieaufnahme einer
Alge, die neuronale Faserbündel besitzt


www.gehirn-und-geist.de 37
Bild zu Frage 40

38 G&G KOMPAKT


www.gehirn-und-geist.de

Mit frdl. Gen. von Rainer Goebel

39
antworten

36. c. Der verbreitetste Hirnbotenstoff


ist Glutamat. Er wirkt erregnd (»exzita­
torisch«) bei der Signalübertragung
an den Synapsen von Nervenzellen.
Dopamin und Serotonin gelten als die
wichtigsten Transmitter des neuronalen
Belohnungssystems.

37. a. Kraken und andere wirbellose Tiere


sind Einzelgänger, daher spielen sie
nicht mit Artgenossen. Ob sie manch-
mal wild herumtollen, ist schwer zu
sagen. Sicher ist jedoch, dass sie mit
Objekten spielen, zum Beispiel Bau-
klötzchen. Forscher glauben, dies diene
dazu, das unterbeschäftigte Gehirn auf
Trab zu halten, etwa in Gefangenschaft.

38. a. Der französische Philosoph René


Descartes (1596 – 1650) glaubte, in der
Zirbeldrüse würden die Seheindrücke
in innere Bilder übersetzt. Anders als
die Mandelkerne (auch: Amygdalae), die
emotionale Reaktionen vermitteln, und
die an der Körperwahrnehmung betei-
ligte Inselrinde existiert die Zirbeldrüse
nur einfach und nicht paarig (links- und
rechtshemisphärisch) im Gehirn.

40 G&G KOMPAKT


39. a. Ein solches Interview mit einem
Wachkomapatienten gelang 2010 dem
britischen Neurologen Adrian Owen.
Der 22-jährige, vollständig bewusstlos
erscheinende Patient sollte sich vor-
stellen, Tennis zu spielen, um einfache
Fragen mit »Ja« zu beantworten. Dies
aktivierte Hirnareale, die für Bewegung
zuständig sind. Um »Nein« zu sagen,
sollte der Mann in Gedanken durch die
eigene Wohnung gehen, was vor allem
den Gyrus parahippocampalis bean-
spruchte, der fürs räumliche Orientie-
rungsvermögen wichtig ist. Die beiden
Aktivitätsmuster im Gehirn waren per
funktioneller Magnetresonanztomogra-
fie (fMRT) klar voneinander zu unter-
scheiden.

40. b. Die bunten »Schnüre« stellen die


Nerven­bahnen dar, welche die beiden
Hirnhemisphären miteinander ver­
binden. Ihre Orientierung im Gehirn
wurde per Diffusions-Tensor-Bild­
gebung (DTI) gemessen – ein Verfahren,
das die Bewegung von Wassermolekü-
len registriert.


www.gehirn-und-geist.de 41
FRAGEN

41. Wie werden Vertreter zweier Rich-


tungen in der Alzheimerforschung
scherzhaft genannt?
a) Alphatiere und Betablocker
b) Baptisten und Tauisten
c) Monisten und Protisten

42. Wofür kodiert das Gen 5-HTT, dessen


kurze Variante mit einem erhöhten
Depressionsrisiko bei Menschen
einhergeht, die in ihrer Kindheit
misshandelt wurden?
a) Für einen Serotonintransporter in der
Membran von Nervenzellen
b) Für eine Vorstufe der Hirnbotenstoffs
Dopamin
c) Für ein Protein, welches das Entstehen
neuer Nervenzellen fördert

43. Was beherrschte die Schimpansin


Washoe?
a) Lesen
b) Tippen von Kurzmitteilungen
c) Gebärdensprache

42 G&G KOMPAKT


44. Worunter litt der Patient, der
diese Uhr zeichnete?
a) Netzhautablösung
b) Neglect
c) Amnesie

45. Synergetiker versuchen psychothera-


peutische Prozesse mathematisch zu
beschreiben. Wodurch kündigt sich
dabei eine Besserung der Krankheits-
symptome von Patienten an?
a) Sowohl durch wachsende als auch
abneh­mende Schwankungen in der
Symptombelastung
b) Durch geringere Schwankungen in der
Symptombelastung
c) Durch stärkere Schwankungen in der
Symptombelastung


www.gehirn-und-geist.de 43
antworten

41. b. Gemäß der bei der Alzheimer-


demenz auftretenden Eiweißstoffe kris-
tallisierten sich in der Forschung zwei
Lager heraus: Für die Baptisten spielt
das ß-Amyloid-Peptid die entscheiden-
de Rolle in der Krankheitsentstehung,
die Tauisten sehen den Schuldigen
dagegen im Protein Tau. Die Mecha-
nismen der Erkrankung sind bis heute
noch nicht ganz aufgeklärt. Vermutlich
wirken beide Substanzen dabei mit.

42. a. Das Gen 5-HTT enthält die Bauanlei-


tung für ein Serotonintransporterpro-
tein in der Membran von Nervenzellen.
Es kann in einer langen oder kurzen
Variante vorliegen und beeinflusst laut
epigenetischen Studien das Risiko, an
einer Depression zu erkranken.

43. c. In den 1960er Jahren wurde die


Schimpansendame Washoe weltbe-
rühmt, da sie von ihren »Pflegeeltern« –
den Psychologen Allen und Beatrix
Gardner von der University of Nevada
in Reno – die Amerikanische Gebär-
densprache erlernte. Washoe setzte
gelernte Zeichen nicht nur im Alltag

44 G&G KOMPAKT


sinnvoll ein, sie kombinierte sie auch
neu, manchmal sogar zu Drei- und
Vierwortsätzen. Vielen Forschern gilt
der 2007 gestorbene Affe als erstes
nichtmenschliches Wesen, das in einer
hoch entwickelten Sprache kommuni-
zieren konnte.

44. b. Der Patient, der die Uhr zeichnete, litt


unter einem Neglect. Eine Schädigung
seiner rechten Hirnhälfte bewirkte,
dass er die linke Seite seiner Umgebung
nicht vollständig wahrnahm. Deshalb
zeichnete er alle Ziffern der Uhr in deren
rechte Hälfte.

45. c. Einer Abnahme der Beschwerden


gehen starke Schwankungen in der
Symptombelastung voraus: Je ausge-
prägter die Fluktuation, desto größer ist
der endgültige Therapieerfolg. Forscher
erfassen dazu die Schwere einer Krank-
heit per Fragebogen. Aus dem Verlauf
der Testergebnisse berechnen sie die
Stärke der Schwankungen über einen
bestimmten Zeitraum.


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46. Welche Methode verband der Mo-


lekularbiologe Jon Kabat-Zinn 1979
erstmals mit der Schulmedizin?
a) Personalisierte Behandlung auf Basis
eines genetischen Profils
b) Das Verschreiben eines
Placebo-Medikaments für therapie­
resistente Psychiatriepatienten
c) Fernöstliche Meditationstechniken

47. Eine wegweisende Studie zeigte, dass


Träger einer bestimmten Genvariante
nur dann häufiger kriminell werden,
wenn sie in ihrer Kindheit Traumata
wie Misshandlung oder sexuellen
Missbrauch erlitten haben. Um wel-
ches Gen handelt es sich?
a) MAO-A
b) LUO-L
c) NEO-E

48 G&G KOMPAKT


48. Was gilt es beim Stroop-Test zu tun?

ROT BLAU GELB


a) Die Farbwörter laut vorlesen
b) Die Druckfarben der Wörter angeben
c) Ein weiteres Wort ergänzen

49. Welcher berühmte Psychologe


prägte den Begriff des »Bewusstseins-
stroms«?
a) Carl Rogers
b) William James
c) William Stern

50. Anhand der Aktivität welcher Hirn-


struktur lässt sich die Wahrschein-
lichkeit eines Rückfalls bei Drogenab-
hängigen nach Entzug vorhersagen?
a) Anteriores Zingulum
b) Nucleus accumbens
c) Ventrales Striatum


www.gehirn-und-geist.de 49
antworten

46. c. Jon Kabat-Zinn entwickelte aus


fernöstlichen Meditationstechniken
eine Methode zur Stressbewältigung,
genannt Mindfulness-Based Stress
Reduction (MBSR). Dabei soll der
Übende lernen, wohlwollend zu beob-
achten, was gerade in ihm vor sich geht,
um dadurch einen Zustand innerer
Ruhe und Gelassenheit zu erreichen.
Heute wird die Achtsamkeitsmeditation
unter anderem bei der Behandlung von
Ängsten eingesetzt.

47. a. Eine Variante des Gens, das für das


Enzym Monoaminooxydase-A (MAO-A)
kodiert, geht sowohl mit antisozialem
Verhalten als auch mit einem verringer-
ten Volumen der Amygdala und des prä-
frontalen Kortex einher. MAO-A sorgt
im Normalfall dafür, dass die im Gehirn
ausgeschütteten Botenstoffe Serotonin
und Dopamin wieder abgebaut werden.

48. b. Beim Stroop-Test sollen die Proban-


den die Druckfarbe von Wörtern be-
nennen. Wenn es sich um ein Farbwort
handelt und die Druckfarbe nicht mit
ihm übereinstimmt, konkurriert das

50 G&G KOMPAKT


hochautomatisierte Lesen der Wörter
mit der Farbbenennung, so dass die
Aufgabe hohe Konzentration erfordert
und Fehler provoziert. Der Stroop-Effekt
gilt als eines der am gründlichsten
erforschten Phänomene der experimen-
tellen Psychologie.

49. b. Der US-amerikanische Psycho-


loge und Philosoph William James
(1842 – 1910) verwendete diesen Begriff
in seinem Klassiker »The Principles of
Psychology« von 1890. James unter-
schied darin zwischen den sich laufend
ändernden Inhalten des subjektiven
Bewusstseins und dem stabilen Selbst.

50. c. Drogenabhängige reagieren auch


nach einem Entzug neurophysiologisch
oft noch positiv auf entsprechende
Reize. Das äußert sich etwa in erhöh-
ter Aktivierung von Arealen, die zum
Belohnungssystem des Gehirns
zählen – vor allem dem ventralen
Striatum. Wird ein Reiz positiv bewertet,
steigt dessen Aktivität.


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