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Psychologie. Hirnforschung. Medizin.

Nr. 04/2016 € 7,90 · 15,40 sFr. · www.gehirn-und-geist.de

Gehirn&Geist
Coming
out
Warum sich
Mut lohnt

Erziehung
So entwickeln
Kinder eigene Werte

Neuro-Profil
Das Gehirn jedes
Menschen ist einzigartig

Beruhigungsmittel
Die unerkannten Gefahren
von Schlaftabletten

Tagträumen
D5 75 2 5

Im Ruhemodus bringt das


Gehirn kreative Ideen hervor
DIE WOCHE DAS WÖCHENTLICHE WISSENSCHAFTSMAGAZIN

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editorial

Mit beiden Beinen Expertinnen und experten


i n d i e s e r Au s g a b e

in den Wolken
A
ls Kinder verbrachten meine Freundinnen und ich manchmal
ein ganzes Wochenende mit Tagträumen: Die Kornfelder
waren Meere und die Bäume Schiffe, und wir kletterten hoch
hinauf in die Masten, um die Welt zu erobern.
Lassen wir heute in einer Kaffeepause den Gedanken freien Lauf,
so bleiben sie oft mit einem Bein im Alltag kleben. Was mache ich
Schönes, wenn das laufende Projekt endlich durch ist? Ein ganzer Melanie Caroline Steffens erforscht
Monat am Meer wäre toll. Aber kann ich mir das leisten? seit rund 20 Jahren die Lebenswege
Für ausgiebige Expeditionen fehlen uns von Lesben und Schwulen. Weshalb es sich
meist der Mut und die Muße. Aber auch wenn in vielen Fällen lohnt, zur eigenen Homo-
unsere Fantasie heute weniger weit hinaus oder Bisexualität zu stehen, ­schildert die
Sozialpsychologin von der Universität
segelt als einst in Kindertagen: Den Boden der Koblenz-Landau ab S. 26.
Tatsachen für ein paar Minuten zu verlassen,
beflügelt den Geist. Denn das scheinbar
unproduktive Umherschweifen bringt kreative
Ideen hervor! Wie das geschieht und welche
Bahnen unsere Hirnaktivität dabei zieht,
schildert »Gehirn&Geist«-Redakteur Steve
Christiane Gelitz Ayan ab S. 12. Im zweiten Teil der Titelge-
Redaktionsleiterin schichte ermuntert uns der Neurophilosoph
gelitz@spektrum.de Felipe de Brigard von der Duke University in
Durham (USA) sogar dazu, vergangene Ereig-
nisse gedanklich »umzuschreiben«. Alternative Szenarien zu ersinnen Mark Vollrath von der Technischen
Universität Braunschweig gibt ab
helfe, den seelischen Ballast der Vergangenheit hinter sich zu lassen.
S. 40 einen Überblick über seine Diszi-
plin. Als Verkehrspsychologe beschäftigt

D
er ungebundene Geist ist noch ein weiteres Mal Thema dieser er sich mit der Frage, warum es immer
Ausgabe. Ab S. 34 erläutert der Psychologe Adam Grant, wie wieder zu tödlichen Fehlern im Straßen-
Eltern ihre Kinder dazu erziehen können, eigene Werte zu verkehr kommt.
entwickeln. Der junge Professor von der Wharton Business School
berät viele namhafte Organisationen und fordert in seinem Buch
»Nonkonformisten« dazu auf, sich von Konventionen frei zu machen.
Wir veröffentlichen einen exklusiven Auszug.
Auch aus biologischer Sicht beleuchten wir das Thema Individuali-
tät. Der Journalist Christian Wolf nimmt dazu ab S. 48 jene neurona­len
Schaltkreise unter die Lupe, in denen unser Denken für gewöhnlich
abläuft. Hirnforscher suchen normalerweise nach Netzwerken, die bei
jedem von uns in gleicher Weise aktiv sind, doch hier ergründen sie,
wie sehr sich die Netzwerke von Mensch zu Mensch unterscheiden.
Wenn Sie diese Zeilen lesen, dann spielt in Ihrem Kopf also ein Rüdiger Holzbach leitet die Abteilung
Suchtmedizin der LWL-Kliniken Warstein
ganz einzigartiges neuronales Orchester. Vielleicht knüpfen Sie krea-
und Lippstadt. Ab S. 66 erklärt er, wie
tive Verbindungen, die noch nie zuvor jemand erdacht hat! Lassen Sie sich Schlafmittel­abhängige zum Entzug
die Redaktion daran teilhaben, indem Sie uns Rückmeldung geben – motivieren lassen. Ein wichtiger Ansatz-
einfach an: gelitz@spektrum.de . punkt: Betroffene für die Nebenwirkungen
Beflügelnde Tagträume wünscht Ihnen sensibilisieren.

Gehirn&Geist 3 0 4 _ 2 0 1 6
in dieser ausgabe

links: iStock / diego_cervo;


Mitte: iStock / Marchenko Yevhen [M];
rechts: Getty Images / gizos
Psychologie Hirnforschung Medizin

Versteckspiel Fingerabdruck Riskante


mit Folgen des Gehirns­ kleine Helfer
26 Aus Angst vor Diskrimi­
nierung verbergen manche
Menschen ihre Homosexualität.
48 Forscher sind heute in der
Lage, per Hirnscan »neuro­
nale Profile« zu erstellen. Diese ver-
66 Beruhigungsmittel können
gravierende Nebenwirkun­
gen hervorrufen, die oft unerkannt
Das hat oft negativere Konsequen­ raten nicht nur die Identität eines bleiben. Daher lohnt sich der Ent-
zen als ein Comingout. Menschen, sondern auch manches zug von Schlaftabletten – auch bei
Von Melanie Caroline Steffens über seine Intelligenz. alten Menschen.
Von Christian Wolf Von Rüdiger Holzbach
32 N  achgefragt
Woran forschen Sie
DIE G E HIR N & G E IST-I NFO GR A FI K
54 Die Gehirn&Geist-­ 74 Gute Frage
gerade, Frau Wald- Infografik Warum nehmen viele
volution des Gehirns Fuhrmann? Evolution des Gehirns ehemalige Raucher an
Während sich der Hirnstamm im Verlauf der Evolution relativ
wenig veränderte, erfuhr insbesondere das Endhirn große Finnwal
Umbaumaßnahmen. Der Großhirnrinde verdanken die Säugetiere

Melanie Wald-Fuhrmann
Millionen Jahre brauchte die Natur, um die anfangs sehr einfachen unter­ Wie hat sich das einfache Nerven­
komplexere Fähigkeiten, wie eine ausgeprägte Lernbereitschaft.
Damit der expandierende Kortex noch in den Schädel passte,
Gewicht zu?
faltete er sich immer mehr auf.
sucht, was die
steme in der Tierwelt zum komplexen menschlichen Gehirn
Vorliebe
ckeln. Dieses ist aus jenen Bausteinen zusammengesetzt, die schon
für eine system primitiver Urtiere zum Die Mechanismen, die hinter den
primitiven Lebewesen zu finden bestimmte Musikrichtung über uns
sind. Ein Stammbaum.
komplexenHund
menschlichen Gehirn zusätzlichen Kilos stecken, erläutert
verrät.
Text: Anna von Hopffgarten / Grafik: Martin Müller
entwickelt? Ein Stammbaum. Anil Batra, Professor für Sucht­
medizin und Suchtforschung, der
34 Den Freigeist wecken Bei niederen Wirbeltieren ist selbst seit 20 Jahren »rauchfrei« ist.
der obere Teil des Mittelhirns

Brav oder aufmüpfig? Die Persön­ (Tectum) das wichtigste sensorische


Integrationszentrum. Erst bei

74 Serie »Alzheimer«, Teil 2


Goldfisch
lichkeit eines Kindes hängt zwar
Vögeln und Säugetieren übernimmt
das Endhirn diese Funktion.
Höhere

davon ab, ob es das Erstgeborene


Säugetiere
Schimpanse Das Vergessen
Mensch

oder Nesthäkchen ist. Doch aus der Tiefe


Eltern können un­Stör
konventionelles Die Alzheimerkrankheit beginnt
Denken auch gezielt fördern. schleichend, Jahrzehnte bevor
MARTIN MÜLLER

Echte Knochenfische Knorpelschmelzschupper

Von Adam Grant Ursäuger


Schnabeltier
Schuppenechsen
Python
sich erste Symptome
Taube bemerkbar
Forelle
machen­. Neue Befunde zeigen:
40 Risiko Mensch 56 Mit den Augen Die Zerstörung des Gehirns wur­
Viele Vögel besitzen ein ausgeprägtes Kleinhirn,

Neun von zehn Autounfällen eines Vogels


Synapsiden Diapsiden
zelt tief im Hirnstamm.
das ihnen das präzise Navigieren in der Luft
ermöglicht. Das ebenfalls große Endhirn verleiht
Krokodile Vögel ihnen eine vergleichsweise hohe Intelligenz.

gehen auf menschliches Versagen Auch Tiere fallen auf optische Von Udo Rüb
Alligator
zurück. Verkehrspsychologen
Seekatze Täuschungen herein. Ob Mensch, Papagei

­erforschen, was unsere Fahrweise


Plattenkiemer Holocephali
Guppy oder Huhn: Die Sehsysteme
Schildkröten
Bei Reptilien erweiterte

lassen sich leicht austricksen.


sich das Endhirn bereits um
sicherer macht. einen rudimentären Kortex.
Knochenfische
Neunauge Von Mark Vollrath Von Katrin Weigmann
Amphibien Legende

Riechkolben Kleinhirn
Laubfrosch Schildkröte
Knorpelfische Endhirn Nerven, Hypophyse
h-
Neunaugen
Mittelhirn übrige Teile
hr
ste Bei allen äußerlichen Unterschieden folgen
alle Wirbeltiergehirne dem gleichen Bauplan:
Lanzettfischchen Der Hirnstamm inklusive Mittelhirn steuert lebens-
QUELLE erhaltende Funktionen wie Atmung und Herz-
Schädellose Nieuwenhuys, R. et al.: The Central Nervous System of Vertebrates. schlag, das Kleinhirn koordiniert unter anderem
Wirbeltiere
Springer, Heidelberg 1998 Bewegungen und das Endhirn dient komplexeren
Aufgaben, wie Entscheiden und Planen.

Chordatiere
GEHIRN&GEIST 54 0 4 _ 2 0 1 6
Gehirn&Geist 4 04_2016GEHIRN&GEIST 55 0 4 _ 2 0 1 6 Die abgebildeten Gehirne sind nicht maßstabsgetreu.
Editorial  3
Mit beiden Beinen
in den Wolken
Geistesblitze u. a. mit diesen
Themen: Stimme und Stim-
mung / Knotenpunkte der Hirn­
aktivität / Nachteile des
Schnelllesens / Ähnlichkeiten
zwischen Freunden / Der freie
Wille wird rehabilitiert6
Blickfang
Wie das Blut durch die
Adern läuft11
Impressum21
Leserbriefe  24
Kopfnuss47
Tipps & Termine 62
Webtipps 65
Bücher und mehr u. a. mit:
Ulrich Sachsse: Proxy / Miriam
Kalliwoda: Der Gefühlsprofiler /
Jens Förster: Was das Haben mit
dem Sein macht / Jens Berg­
photocase / audiographer

mann: Der Tanz ums Ich83


Vorschau89

Frank Eidel; mit frdl. Gen. von


Titelthema: Tagträumen
Eckart von Hirschhausen

Flieg, Gedanke, flieg!


12 Was tun wir, wenn wir nichts tun? Meist lautet die Antwort:
tagträumen! Wie und warum wir die Gedanken schweifen lassen,
ergründen heute Psychologen und Hirnforscher. Und sie ziehen er­
Hirschhausens Hirnschmalz
Das rote Tuch fürs Gehirn90
staunliche Schlüsse: Tagträume erleichtern kreatives Assoziieren und
helfen uns, originelle Ideen zu entwickeln.
Von Steve Ayan

18 Was wäre wenn?


Hätte, wäre, könnte – hinter diesen Worten verbergen sich keine nutz­
losen Gedankenspiele. Denn indem wir uns ausmalen, wie die Vergan­
genheit anders hätte verlaufen können, planen wir bereits die Zukunft.
Von Felipe de Brigard
Gehirn&Geist
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Titelbild:
Photocase /
una_knipsolina

Gehirn&Geist 5 04_2016
geistesblitze
photocase / pollography

Emotionen
Gefühlt wie gehört

O
b wir gerade fröhlich oder wütend sind, personen dazu, ihre Gefühlslage im Schnitt etwas
sieht man uns in aller Regel nicht nur an – positiver zu bewerten, als sie das noch vor der Lese­
man merkt es auch am Klang unserer aufgabe getan hatten. Messungen der Hautleitfähigkeit
Stimme. Dieser wirkt aber auch auf unsere Gefühlswelt bestätigten den subjektiven Eindruck, dass die Laune
zurück, wie ein raffiniertes Experiment nun zeigt. Ein gestiegen war.
Team um den Pariser Emotionsforscher Jean-Julien Nach Meinung von Aucouturier und seinen
Aucouturier bat mehrere Probanden, einen Text laut Kollegen entkräften die Ergebnisse damit nicht nur
vorzulesen, während sie sich selbst nur über einen eine gängige Theorie, der zufolge wir unsere Stimme
Kopfhörer hörten. Der Versuchsaufbau erlaubte es den ständig darauf prüfen, ob sie auch die richtigen
Wissenschaftlern, heimlich die Stimme mancher Gefühle transportiert. Sie deuten im Gegenteil sogar
Teilnehmer so zu modulieren, dass sie etwas glückli- darauf hin, dass wir unbewusst vielleicht auch unseren
cher, trauriger oder ängstlicher klang. eigenen Gemütszustand in ähnlicher Weise beurteilen
Diese subtile Manipulation entging der Mehrheit wie den von anderen Menschen – nämlich zum
aller Probanden, doch sie passten ihren Gemüts­ Beispiel, indem wir uns selbst beim Reden zuhören.
zustand am Ende an ihre veränderte Stimmlage an: (mg)
So veranlasste die fröhliche Stimmfärbung die Test­ Proc. Natl. Acad. Sci. USA 10.1073/pnas.1506552113, 2016

Gehirn&Geist 6 04_2016
Sprache
Plaques (rot)
Feiner Unterschied wirken sich
besonders

W
ie wir über Menschen mit psychischen schädlich
Erkrankungen sprechen, kann unsere außerhalb

Andreas Woerner, MPI für Biochemie


Einstellung gegenüber den Betroffenen des Zellkerns
beeinflussen. Darauf deutet eine Umfrage von Darcy (blau) aus.
Haag Granello und Todd A. Gibbs von der Ohio State
University unter 700 Probanden hin.
Alle Versuchspersonen erhielten einen identischen
Fragebogen – mit einem Unterschied: Während bei
der einen Hälfte stets von ihren Einstellungen gegen-
über »psychisch Kranken« (im englischen Original:
»the mentally ill«) die Rede war, tauchte bei den Neurodegenerative Erkrankungen
anderen durchgängig die Formulierung »Menschen
mit psychischen Erkrankungen« (»people with Schwachstelle Plasma
mental illness«) auf. Außerdem versahen die Forscher

T
alle Fragebögen vorab mit derselben Definition: »Der ypisch für neurodegenerative Krankheiten wie
Begriff ›psychisch Kranke‹ (respektive ›Menschen mit Alzheimer, Parkinson oder Huntington sind
psychischen Erkrankungen‹) bezieht sich in diesem Proteinverklumpungen, die sich im Inneren
Fall auf Personen, die auf Grund einer psychischen der Nervenzellen im Gehirn anlagern und dazu
Störung behandelt werden müssen, aber in der Lage beitragen, dass diese zu Grunde gehen. Das tun sie
sind, ein eigenständiges Leben außerhalb eines aber offenbar vor allem dann, wenn sich die Plaques
Krankenhauses zu führen.« im Zellplasma ansammeln und nicht im Kern selbst.
Wurden die Versuchspersonen gebeten, sich zu Das fanden Forscher vom Max-Planck-Institut für
»psychisch Kranken« zu positionieren, stimmten sie Biochemie in Martinsried und der Ruhr-Universität
eher der Aussage zu, die Betroffenen sollten ähnlich Bochum heraus, als sie in Zellversuchen das Verhal-
kontrolliert und bestraft werden wie kleine Kinder – ten des für die Huntingtonkrankheit verantwortli-
oder vom Rest der Bevölkerung isoliert werden. chen Proteins Huntingtin und das eines künstlich
Solche Begriffe zu meiden, könnte demnach vielleicht erzeugten Proteins genauer unter die Lupe nahmen.
dazu beitragen, der Stigmatisierung von Menschen Beide neigen dazu, große Klumpen und zugleich im
mit psychischen Erkrankungen entgegenzuwirken, Zellplasma auch schädlichere Aggregate zu bilden.
glauben die Forscher. Warum Formulierungen wie Damit stören sie den Transport von RNA und richtig
»psychisch Kranke« unser Bild der betreffenden gefalteten Proteinen zwischen Zellkern und -plasma,
Personen beeinflussen, wissen sie nicht. Es sei aber so dass keine lebenswichtigen Proteine mehr herge-
denkbar, dass viele bei dem Begriff automatisch an stellt werden können und die Zelle abstirbt.
die besonders schweren Fälle denken, die häufig mit Warum die Proteinansammlungen im Zellkern
Gewalttätigkeit assoziiert werden. Zudem reduziere weniger Schaden anrichten, wissen die Forscher noch
der Begriff die Betroffenen sprachlich ausschließlich nicht. Möglicherweise sei dafür das Kernprotein
auf ihre Erkrankung. (dz) NPM1 verantwortlich, das die Zellen schützt. (dz)
J. Couns. Dev. 94, S. 31–40, 2016 Science 351, S. 173–176, 2016

Das komplexe Brettspiel Go ist schwieriger als


Schach. Eine neue künstliche ­Intelligenz be-
iStock / Gannet77

herrscht es jetzt besser als der Mensch: »AlphaGo«


schlug den Europameister Fan Hui mit 5 zu 0.
Nature 529, S. 484–489, 2016

Gehirn&Geist 7 04_2016
Lesen
photocase / saralee

Noch mal ganz langsam …

B
ücher, E-Mails oder Arbeitsunterlagen
im Turbogang lesen und trotzdem alles bis
ins kleinste Detail verstehen? Das klingt
verlockend, funktioniert aber nicht – auch wenn
­Schnelllese-Trainingsprogramme das gerne verspre-
chen. In einer Übersichtsarbeit nahmen Wissen-
schaftler um Elizabeth Schotter von der University of
California in San Diego zahlreiche Studien unter die
Lupe, die sich in den vergangenen Jahrzehnten mit
dem Thema Lesen befassten. Dabei kamen sie zu dem
Schluss, dass Lesen im Eilverfahren in den aller­
meisten Fällen zu Lasten des Textverständnisses geht.
Geübte Leser erfassen bereits unter normalen
Bedingungen zwischen 200 und 400 Wörtern pro
Minute. Wer diesen Output mit speziellen Techniken
noch einmal um das Doppelte bis Dreifache steigert,
bekommt im Zweifelsfall auch nur ein Drittel oder die
Hälfte vom Inhalt mit.
Das sei etwa bei Programmen der Fall, bei denen
Freundschaft die einzelnen Wörter blitzschnell hintereinander
genau im Zentrum eines Bildschirms eingeblendet
Gemeinsamkeiten werden, schreiben die Forscher. Der Hintergedanke

schweißen zusammen sei in aller Regel, die vermeintlich Zeit raubenden


Augenbewegungen beim Lesen auf ein Minimum zu
reduzieren. Tatsächlich machen diese aber nur zehn

K
önnen Sie sich noch erinnern, wer in der Prozent der Zeit aus, die wir über einer einzelnen
7. Klasse Ihr bester Freund war? Wenn nicht, Seite brüten, so Schotter und Kollegen. Dafür fehlt
könnte das daran liegen, dass Freundschaften uns die Möglichkeit, noch einmal zu Sätzen zurück-
in diesem Alter oftmals kurzlebig sind. Welche zuspringen, die wir nicht verstanden haben.
Freunde uns erhalten bleiben, hängt vor allem davon Für das Textverständnis sind Wort­erkennung
ab, wie ähnlich wir ihnen sind. Das zeigt eine Studie und Satzverständnis ohnehin wichtiger als unsere
des Psychologen Brett Laursen von der Florida visuellen Fähigkeiten, glauben die Wissenschaftler.
Atlantic University. Die beste Methode, Lesefähigkeiten zu trainieren,
Er begleitete 573 Freundespaare von der 7. bis sei demnach, sie schlicht und einfach besonders
zur 12. Klasse – oder bis die Freundschaft vorzeitig häufig anzuwenden und am besten eine Vielzahl
endete. Dabei kristallisierten sich drei Merkmale verschiedenster Texte zu lesen – in welchem Tempo
heraus, anhand derer sich vorhersagen ließ, ob die auch immer. (dz)
Jugendlichen länger als ein Jahr Freunde bleiben Psychol. Sci. Public Interest 17, S. 4–34, 2016
würden: Beliebtheit, Aggressivität und schulischer
Erfolg. Je mehr sie sich darin ähnelten, desto dauer-
photocase / cameraspiel

hafter die Verbindung.


Freundschaften zwischen Jungen und Mädchen
hielten dabei grundsätzlich weniger lang. Gemäß
Laursen sind sie unter anderem wegen des Drucks,
den andere Freunde ausüben, häufig zum Scheitern
verurteilt. Wer mit einem Vertreter des anderen
Geschlechts befreundet sei, habe entsprechend oft
einen weniger großen Bekanntenkreis, und das
belaste die Beziehung. (mk)
Psychol. Sci. 10.1177/0956797615588751, 2015

Gehirn&Geist 8 04_2016
geistesblitze
WENN DER SCHUH
EINMAL KLEMMT:
Spektrum

iStock / bowie15
RATGEBER
In unserer Digtialreihe Spektrum
RATGEBER finden Sie wichtige Tipps
zu Themen, die unseren Alltag
betreffen – ob beruflich oder privat.
Wer eine Verschwörung 100 Jahre
geheim halten möchte, sollte weni- AL S PD F
ger als 125 Personen ins Vertrauen ZU M
D O W N LO AD
ziehen. Dann ist die Chance groß,
dass alle Mitwisser dichthalten.
PLoS One 11, e0147905, 2016

Neuronale Netzwerke
Lokale Knotenpunkte Ratgeber »Beruf und Karriere« (€ 4,99)

I
nnerhalb der einzelnen Regionen unserer Groß-
hirnrinde werden Informationen offenbar über
bestimmte neuronale Knotenpunkte weiterge-
reicht. Das berichtet ein Team um Sunny Nigam von
der Indiana University. Die Forscher zeichneten in
Tier- und Zellversuchen die elektrische Aktivität von
bis zu 500 Nervenzellen im somatosensorischen
Kortex von Mäusen auf. Diese Hirnregion ist vor
allem für die haptische Wahrnehmung zuständig.
Anhand von hochauflösenden Bildgebungsverfahren
und aufwändigen Computersimulationen entdeckte
das Team schließlich, dass etwa 70 Prozent der
Signale innerhalb des Areals nur etwa 20 Prozent der Ratgeber »Stress« (€ 4,99)
Neurone passieren.
»Solche Subnetzwerke spielen möglicherweise eine
zentrale Rolle bei Kommunikations-, Erinnerungs-
und Lernvorgängen«, so Nigam. Die Befunde würden
zudem zeigen, dass das Gehirn offenbar an allererster
Stelle auf Leistungsfähigkeit setzt. Das macht es
gleichzeitig aber störanfälliger, da eine Schädigung
einzelner, besonders zentraler Nervenzellen das ganze
System lahmlegen kann.
Dass die Kommunikation zwischen verschiedenen
Kortex­arealen ebenfalls über solche Informations­
knotenpunkte stattfindet, ist schon länger bekannt.
Anderen Studien zufolge gilt das nicht nur für Mäuse, Ratgeber »Liebe und Freundschaft« (€ 4,99)
sondern auch für andere Säugetiere einschließlich des
Menschen. (dz)
J. Neurosci. 36, S. 670–684, 2016 Bestellmöglichkeit und weitere Ausgaben:

Telefon: 06221 9126-743


www.spektrum.de/ratgeber
Gehirn&Geist 9 04_2016 Fax: 06221 9126-751 | E-Mail: service@spektrum.de
geistesblitze

Anzug und Kostüm lassen einen nicht nur seriöser wirken,


sondern helfen auch den grauen Zellen auf die Sprünge.
iStock / stocksnapper

Sind wir im Business-Outfit statt in Freizeitkleidung


unterwegs, fällt uns offenbar abstraktes Denken leichter.
Soc. Psychol. Person. Sci. 6, S. 661–668, 2015

Neurophilosophie
Freier als gedacht

D
en freien Willen wollten schon so einige unkontrollierbar unterworfen. Dies bedeutet, dass die
Hirnforscher rehabilitieren. Nun ist es auch Freiheit menschlicher Willensentscheidungen wesent-
Wissenschaftlern der Technischen Universität lich weniger eingeschränkt ist als bisher gedacht«,
und der Charité in Berlin gelungen, dem neuronalen schlussfolgert Studienautor John-Dylan Haynes vom
Determinismus ein Schnippchen zu schlagen. Die Bernstein Center for Computational Neuroscience der
Forscher knüpften an das berühmte Experiment des Charité.
Physiologen Benjamin Libet an, der in den 1980er Die Forscher stießen allerdings auch auf einen
Jahren die Hirnwellen seiner Probanden aufzeichnete, »point of no return«: Blendete der Computer das
während diese einfache Bewegungsentscheidungen Stoppsignal weniger als 200 Millisekunden vor den
trafen. Dabei entdeckte er, dass sich bereits Sekunden- ersten Muskelzuckungen der Versuchsteilnehmer
bruchteile vor dem bewussten Entschluss ein so ein, waren sie nicht mehr in der Lage, die Bewegung
genanntes Bereitschaftspotenzial in den Hirnwellen komplett zurückzuhalten. (dz)
abzeichnet. Viele sahen dies als Beweis dafür an, dass Proc. Natl. Acad. Sci. USA 113, S. 1080–1085, 2015
der freie Wille letztlich nur eine Illusion ist und wir
tatsächlich von unbewussten Hirnprozessen gesteuert
werden – eine These, die in der Fachwelt bis heute
kontrovers diskutiert wird.
Die Berliner Wissenschaftler ließen ihre Versuchs-
teilnehmer nun in einem ähnlichen Experiment
gegen einen Computer antreten. Dieser las ihre
Hirnwellen ebenfalls mittels Elektroenzephalografie
(EEG) aus und versuchte, sie in einem Spiel zu
überlisten. Dabei bekamen die Probanden Punkte,
wenn sie mit ihrem Fuß ein Pedal am Boden bedien-
ten, während ein grünes Signal auf einem Bildschirm
aufleuchtete. Sobald der Computer allerdings das
Bereitschaftspotenzial der Teilnehmer registrierte, ließ
er das Signal eine Sekunde lang auf Rot umspringen.
Traten die Versuchspersonen nun auf das Pedal,
Carsten Bogler, Charité Berlin

verloren sie Punkte. Würden sie unter diesen Bedin-


gungen in der Lage sein, ihre Bewegung kurzfristig zu
stoppen?
Tatsächlich: In vielen Fällen gelang es den Teil­
nehmern auch noch, nachdem der Computer bereits
das Bereitschaftspotenzial aus ihren Hirnwellen
herausgelesen hatte, den Tritt aufs Pedal abzubrechen. Im Experiment las ein Computer die Hirnwellen der
»Die Probanden sind den frühen Hirnwellen nicht Teilnehmer per EEG aus.

Gehirn&Geist 10 0 4 _ 2 0 1 6
Blickfang

ESPCI / INSERM / CNRS

Wie das Blut durch die Adern läuft


Mediziner untersuchen winzige Kapillaren tief im Verteilung des Kontrast- jeweils für unterschied­
den Verlauf und den Gewebe sichtbar. Die mittels dar – je heller und liche Fließrichtungen
Zustand von Blutgefäßen Wissenschaftler spritzten größer eine Stelle, desto stehen. Sollte die Technik
in der Regel mittels dazu in die Blutbahnen mehr Mikrobläschen am Menschen zum
Ultraschall. Bislang ließen von Ratten mit Gas befinden sich an diesem Einsatz kommen, wird sie
sich mit dem Verfahren gefüllte Mikrobläschen, Ort und umso dicker allerdings nicht, wie bei
jedoch nur große Gefäße die Ultraschallwellen muss das Blutgefäß dort der Ratte, das gesamte
an der Oberfläche von besonders gut reflektie- sein. Rechts sind die Denkorgan auf einmal
Organen darstellen. Der ren. Mit Hilfe von 500 unterschiedlichen Fließ- durchleuchten können:
Forschergruppe um Ultraschalleinzelaufnah- geschwindigkeiten Dafür haben wir einfach
Claudia Errico vom Pari- men pro Sekunde erkennbar. Grüne Stellen zu viel Gehirnschmalz.
ser Institut Langevin ge- verfolgten sie nun die kennzeichnen Blut, das (mtk)
lang es jetzt, die Technik Bewegung der Bläschen stillsteht; eine zunehmen-
weiterzuentwickeln: nach. So entstand dieses de Rot- oder Blaufärbung Errico, C. et al.: Ultrafast Ultra-
Ultrafast Ultrasound Bild eines kompletten entspricht einer steigen- sound Localization Microscopy
for Deep Super-Resolution
Localization Microscopy Rattengehirns: Die linke den Fließgeschwindigkeit, Vascular Imaging. In: Nature 527,
(uULM) macht auch rote Seite stellt die wobei Rot und Blau S. 499–502, 2015

Gehirn&Geist 11 0 4 _ 2 0 1 6
titelthema
photocase / audiographer

Gehirn&Geist 12 0 4 _ 2 0 1 6
Tagträumen Das Gehirn ruht nie – zum Glück:
Denn wenn die Gedanken schweifen, beschert uns
das überraschende Einsichten.

Flieg, Gedanke,
flieg!
V o n S t e v e Aya n

photocase / audiographer

Gehirn&Geist 13 0 4 _ 2 0 1 6
Auf einen Blick: Abschweifen lohnt sich

1 2 3
Psychologen schätzen, dass wir Das Gehirn aktiviert dabei ein Neuen Studien zufolge be-
rund 50 Prozent unserer Wach­ Netzwerk von Arealen, das als reitet das Tagträumen in
zeit in einem Zustand des »default mode network« vielen ­Fällen ­kreativen Ideen
Tagträumens zubringen, in dem die (DMN) oder Ruhemodusnetzwerk den Boden und ermöglicht uns
Gedanken umherschweifen. bezeichnet wird. mentale Reisen.

B
eginnen wir mit einem Experiment. Es ist chen sehr viele Messdaten während und zwischen den
ganz einfach: Schließen Sie bitte für einen eigentlichen Aufgabenblöcken auf. Wiederholt man die
Moment die Augen und versuchen Sie Prozedur oft genug, mittelt sich das Rauschen heraus, so
einmal, an gar nichts weiter zu denken! das Kalkül.
Na los, worauf warten Sie? Im Zuge solcher Auswertungen stießen Forscher
… Und? … Ende der 1990er Jahre auf ein sonderbares Phänomen:
Lassen Sie mich raten: Die Sache ging schief. An gar Selbst das unbeschäftigte Gehirn zeigt ein stabiles Akti­
nichts zu denken, ist nämlich viel schwieriger, als es vitätsmuster. Als einer der Ersten berichtete davon 2001
klingt. Wir sind von Natur aus miserabel darin. Ständig der Radiologe Marcus Raichle von der Washington Uni­
geistert uns irgendetwas im Kopf herum, auch wenn wir versity in St. Louis (USA) in einem Aufsehen erregen­
uns dessen im betreffenden Moment nicht unbedingt den Fachartikel. Wer untätig in der Röhre des Tomo­
bewusst sind. grafen liegt, aktiviert demnach ein spezifisches Netz­
Ups, du musst dringend noch die E-Mail dieses bri- werk von Hirnarealen, das prompt wieder verstummt,
tischen Tagtraum-Forschers beantworten – Smallwood sobald der Test weitergeht (siehe auch Gehirn&Geist
heißt der Mann, »kleiner Wald«. Wie du am letzten Sonn- 9/2010, S. 60).
tag durch den verschneiten Stadtwald gejoggt bist, da war Raichle taufte dieses Ensemble von Kortexregionen
alles so wunderbar still und weiß. Durch den Milchwald, auf den Namen »default mode network« (DMN) – zu
ach nein, Unter dem Milchwald – das Hörspiel von Dylan Deutsch: Basis- oder Ruhemodusnetzwerk. Es umfasst
Thomas lief letztens im Radio. Du wolltest es noch einmal Teile des präfrontalen Kortex, den posterioren zingu­
nachlesen, aber man kommt ja zu nichts … lären Kortex, den mittleren Schläfenlappen (medialer
Und so weiter und so fort spinne ich den endlosen temporaler Kortex) sowie den Precuneus im oberen Teil
Faden meiner Assoziationen – und Sie Ihren. Der des Scheitellappens (superiorer parietaler Kortex; siehe
Grund dafür ist einfach: Unser Gehirn ruht nie, nicht »Was Ihr Gehirn tut, wenn Sie nichts tun«, rechts).
einmal nachts, wenn wir schlafen, denn ein Gehirn
kennt keine Pausenfunktion. Entweder es assoziiert – Ruhe im Kopf? Unmöglich!
oder es ist tot. Dazwischen gibt es nichts. Jonathan Smallwood von der University of York (Eng­
Für die Arbeit von Neurowissenschaftlern hat das land) hält den Ausdruck »Ruhemodus« allerdings für
eine wichtige Konsequenz: Es gibt nämlich keine Null­ irreführend. Die Aktivität des DMN zeige gerade keine
linie, keinen Ruhezustand, an dem sich jene Aktivität Ruhe an, sondern den freien Fluss der Erinnerungen,
im Kopf messen ließe, die von einer gerade zu bewäl­ Vorstellungen, Pläne und Ideen. »Die Funktion des ›de­
tigenden geistigen Aufgabe ausgelöst wird. Um den fault mode‹ ist nicht Nichtstun, sondern die Gedanken
neuronalen Mehraufwand, sei es beim Wahrnehmen, schweifen zu lassen«, erklärt Smallwood. Er zählt zu der
beim Denken oder beim Entscheiden, dingfest zu ma­ wachsenden Gemeinde von Psychologen und Neuro­
chen, präsentiert man Probanden im Hirnscanner be­ wissenschaftlern, die das Wie und Warum des Tagträu­
stimmte Reize. Meist dient das entspannte Betrachten mens erkunden.
des Fixa­tionskreuzes auf einem Bildschirm in den Pau­ Dass es von Forschern lange Zeit so gut wie unbeach­
sen dazwischen als »Kontrolle«. Das hierbei zu ver­ tet blieb, hat viel damit zu tun, dass es sich so schwer
zeichnende neuronale Feuern wird anschließend von
der reizabhängigen Aktivität subtrahiert. Und was tut
ein Proband, der gerade nichts zu tun hat? Logisch: Er
schweift mit seinen Gedanken ab! u n s e r au to r
Wie lange soll ich das blöde Kreuz noch anstarren?
Steve Ayan ist Psychologe und »Gehirn&
Hier riecht es irgendwie komisch. Ach, ich muss auf dem Geist«-Redakteur in Elternzeit. Beim
Heimweg unbedingt noch Brot kaufen! Um dieses Stör­ Tagträumen ertappt er sich neuerdings
feuer der Erinnerungen und Einfälle herausrechnen zu am ehesten, wenn er seine drei Monate
können, zeichnen Hirnforscher bei ihren Laborversu­ alte Tochter im Arm wiegt.

Gehirn&Geist 14 0 4 _ 2 0 1 6
titelthema / tagt r äumen

Was Ihr Gehirn tut,


wenn Sie nichts tun
rechte Großhirnhälfte
Innenansicht posteriorer zingulärer
Kortex (PCC)

superiorer parietaler
Kortex (Precuneus)

medialer präfrontaler
Kortex (mPFC)

Ein Netzwerk aus vier neuronalen


Schaltstellen wird beim Tagträumen
vermehrt aktiv. Forscher bezeichnen
es als »default mode network« (DMN).
Der Grad der Vernetzung zwi­schen
diesen weiträumig im Gehirn ­verteilten
­Arealen beeinflusst unter anderem, wie linke Großhirnhälfte
kreativ eine Person ist, wie leicht sie Außenansicht
sich der eigenen Gedanken bewusst wird
medialer temporaler
(Metakognition) und wie gut sie die Kortex

Yousun Koh
Perspektive anderer einnehmen kann.

kontrollieren lässt. Ob und wohin die Gedanken von dann auf Wanderschaft, wenn es nichts Besseres zu tun
Probanden driften, lässt sich experimentell weder steu­ gibt und wir keine Aufgabe erledigen, die besondere
ern noch exakt überprüfen. Theoretisch könnten die Aufmerksamkeit erfordert.
Betreffenden zwar von sich aus kundtun, wann sie men­ Das können durchaus auch Momente vollkommener
tal abschweifen – in der Praxis klappt das allerdings Muße sein, allerdings füllen wir diese meist rasch mit
kaum: Wir bemerken es so gut wie nie, wenn wir tag­ zielgerichtetem Tun und fangen etwa an, den nächsten
träumen; erst im Nachhinein werden wir uns dessen Urlaub zu planen oder uns über das Abendessen Ge­
­bewusst. danken zu machen. Noch häufiger kommen wir bei rou­
Dieser auffällige Mangel an Metakognition (von grie­ tinemäßigen, monotonen Tätigkeiten wie Joggen, Bü­
chisch: meta = über und lateinisch: cognoscere = er­ geln oder Autofahren ins Tagträumen. Sind wir mit et­
kennen) hat höchstwahrscheinlich neuroanatomische was beschäftigt, was nicht unsere volle Konzentration
Gründe, wie Smallwood mit seinem Kollegen Jonathan erfordert, etwa weil wir die jeweilige Tätigkeit automati­
Schooler von der University of California in Santa Bar­ siert haben, so können wir uns leicht von den äußeren
bara in einem Übersichtsartikel 2015 darlegte. Dieselben Reizen lösen und uns jenen Gedanken und Gefühlen
Hirnareale, die uns darüber zu reflektieren erlauben, zuwenden, die uns spontan durch den Kopf gehen.
was wir gerade mental treiben, sind auch Teil des DMN. ­Forscher prägten dafür das Akronym SIT für »stimulus-­
Werden sie vom Tagträumen in Beschlag genommen, independent thought« (reizunabhängiges Denken). Viel
bleibt für das Selbst-Monitoring, das »Denken über das deutet darauf hin, dass die Aktivität des DMN das neu­
Denken«, wohl einfach nicht genug Kapazität. ronale Substrat dieses Zustands darstellt.
So langweilten zum Beispiel Forscher um Kalina
Je langweiliger der Test, Christoff von der University of British Columbia in
desto eher tagträumen die Teilnehmer Vancouver (Kanada) ihre Probanden im Hirnscanner
Notgedrungen ergründen Tagtraumforscher die Terra beinah zu Tode: Die Teilnehmer sollten jede Zahl, die
incognita des schweifenden Geistes nicht viel anders als auf einem Bildschirm erschien, mit einem Tastendruck
Geologen die Zusammensetzung einer Gesteinsforma­ quittieren, außer wenn es sich um eine 3 handelte.
tion: Sie ziehen Gedankenproben (»mind probing« ­»Woran denken Sie gerade?«, wurden die Probanden
heißt das in der Fachsprache) – und zwar bevorzugt währenddessen immer wieder gefragt. Wie zu erwarten
beim Bearbeiten von außergewöhnlich drögen Testauf­ unterliefen ihnen bei dem Reaktionstest deutlich mehr
gaben. Schließlich gehen unsere Gedanken vor allem Patzer, wenn man sie soeben beim Tagträumen ertappt

Gehirn&Geist 15 0 4 _ 2 0 1 6
Träumst du noch – Pläne zu schmieden (siehe auch den zweiten Artikel
zum Titelthema ab S. 18). Smallwood ist überzeugt:
oder grübelst du schon? »Im Zustand des Tagträumens stimmen wir das Ich auf
Die Grenze zwischen Tagträumen und Grübeln ist die Anforderungen der Umwelt ab, und unser Gehirn
schwer zu ziehen. Beides unterläuft uns meist unbe- simuliert, was alles passieren könnte.«
merkt und lässt sich auch durch bewusste Vorsätze Das ist für die alltägliche Lebensplanung ebenso hilf­
(»Ich will nicht mehr so viel grübeln!«) kaum ver- reich wie im sozialen Miteinander, etwa wenn wir uns
hindern. Doch während sich Tagträumer von einer in andere hineinversetzen und ihre Absichten lesen.
Assoziation zur nächsten hangeln, bleiben Grübler Wie Neurowissenschaftler um Robert Spunt vom Cali­
meist bei einem in der Regel negativen Gedanken fornia Institute of Technology in Los Angeles 2015 be­
stehen und versuchen diesen geradezu zwanghaft richteten, feuern DMN-Areale auch dann vermehrt,
»auszugrübeln«. wenn wir abzuschätzen versuchen, was unsere Mitmen­
Das ständige Umkreisen vermeintlicher Fehler schen im Schilde führen.
oder persönlicher Defizite ist ein häufiges Kennzei- Randy Buckner und Daniel Carroll von der Harvard
chen, in milderer Ausprägung auch ein Risikofaktor University waren bereits 2008 in einer Übersichtsarbeit
für depressive Störungen. Das können Neuropsy- zu dem Schluss gekommen, dass das DMN zu weiten
chologen heute bereits gut anhand der Hirnaktivität Teilen identisch sei mit jenen Hirnbereichen, die uns
nachvollziehen: Konzentrieren sich depressive mentale Projektionen ermöglichen. So bezeichnen Psy­
Menschen auf eine bestimmte Testaufgabe, dämpfen chologen Gedankenreisen, bei denen wir uns zukünf­
sie das »default mode network« (DMN) in ihrem tige Ereignisse ausmalen oder uns an einen anderen Ort
Gehirn nicht so stark wie gesunde Kontrollproban- imaginieren. Wem das besonders leichtfällt, dessen
den. Forscher deuten dies als ein Indiz für die er- dorsomedialer präfrontaler Kortex (dmPFC) – ein
­
höhte Selbstfokussierung von Depressiven: Sie sind Kern­bestandteil des DMN – ist im Schnitt größer als der
auch dann mit sich selbst beschäftigt, wenn es von weniger fantasiebegabten Testkandidaten.
eigentlich um etwas anderes geht. Dazu passen Befunde, die auf eine kreativitätsför­
Proc. Nat. Acad. of Sci. USA 106, S. 1942–1947, 2009; dernde Wirkung des Tagträumens hinweisen. Nieder­
Psychos. Med. 74, S. 904–911, 2012 ländische Psychologen um Ap Dijksterhuis von der
Universität in Amsterdam fanden 2013 heraus, dass
Menschen, denen viele alternative Verwendungen für
einen beliebigen Gegenstand wie etwa einen Ziegelstein
hatte. Wer vorübergehend nicht bei der Sache ist, macht oder einen Radiergummi einfallen, mehr graue Sub­
eher Fehler. Wie viele Unfälle im Straßenverkehr wohl stanz und engere Verknüpfungen zwischen DMN-Are­
passieren, weil Menschen am Steuer in diesen Zustand alen aufweisen.
verfallen?
Die Psychologen Matthew Killingsworth und Daniel Neuronale Konnektivität für mehr
Gilbert von der Harvard University eruierten im Jahr ­Einfallsreichtum
2010 mittels »mind probing« per SMS-Nachrichten, Eine amerikanisch-österreichische Forschergruppe um
dass wir schätzungsweise die Hälfte unserer wachen Roger Beaty bestätigte 2014: Experten im divergenten
Zeit tagträumen. Dabei spielen wir, ähnlich wie im Denken – Versuchspersonen also, die auf Fragen wie
Nachtschlaf, häufig emotionale Szenarien durch: Vor »Was kann man mit einer Getränkedose anfangen?«
allem Wut, Angst oder Scham seien oft Gegenstand sol­ oder »Was macht alles Lärm?« vor Antworten spru-
cher gedanklichen Abschweifungen. Warum hat er das deln – zeigen eine größere funktionelle Konnektivität
getan? Wieso habe ich mich nur so dumm angestellt? Laut zwischen dem präfrontalen Kortex und anderen Teilen
Killingsworth und Gilbert drücke Tagträumen daher des DMN als weniger einfallsreiche Zeit­genossen. Je en­
auf die Stimmung. Doch ist ein schweifender Geist ger diese Hirnbereiche miteinander vernetzt sind, desto
zwangsläufig unglücklicher als ein fokussierter, wie die reger der Informationsaustausch. Und das wiederum
beiden Forscher vermuteten? lässt offenbar die Ideen sprudeln.
Das Unbehagen, welches das Tagträumen auslöst, Doch eine statistische Korrelation zwischen Hirnar­
rühre mindestens zum Teil daher, dass man es heutzu­ chitektur und kreativer Ader könnte ebenso auf a­ ndere,
tage allgemein für Zeitverschwendung hält, glaubt Jona­ dritte Faktoren zurückgehen. Vielleicht fördern zum
than Smallwood. Nicht selten ärgern sich Tagträumer Beispiel bestimmte Gene sowohl die Vernetzung als
darüber, dass sie schon wieder »nichts Vernünftiges« auch die Schöpferkraft, ohne dass dies zwingend viel
mit sich angefangen hätten. Dabei unterschätzen wir mit­einander zu tun hat? Die nächste Stufe in der Kunst
laut dem Forscher, wie wertvoll solche mentalen Aus­ der experimentellen Beweisführung sind deshalb kon­
zeiten tatsächlich sind: Sie bieten Gelegenheit, neue trollierte Vorher-nachher-Tests, so genannte Interven­
Ideen durchzuspielen, Erinnerungen zu festigen und tionsstudien.

Gehirn&Geist 16 0 4 _ 2 0 1 6
titelthema / tagt r äumen

Dass es tatsächlich den Einfallsreichtum fördert, M e h r W i s s e n au f


wenn man die Gedanken schweifen lässt, ist neuerdings » S p e k t ru m . d e «
ebenfalls gut belegt. So zeigte ein Team um Benjamin Weitere Artikel über Kreativität
Baird in Schoolers Labor in Santa Barbara, dass Proban­ und Gehirn finden Sie auf unserer
den bereits von einem kurzen Ideen-­Crashkurs profi­ Themenseite im Internet:
tierten – vorausgesetzt sie bekommen danach Gelegen­ www.spektrum.de/
heit zum Tagträumen! t/kreativitaet
Bei dem beliebten »Ziegelsteintest« gilt es für die fotolia / Federico Caputo

Probanden, sich binnen zwei Minuten so viele originelle


Verwendungen für Gegenstände wie etwa ein solches und inneren Fantasiereisen flexibel hin und her zu
Stück Mauerwerk einfallen zu lassen wie möglich. Als wechseln. Dass sich dieses Talent schon mit einfachen
man die Prozedur nach einer 15-minütigen Unterbre­ Mitteln ­fördern lässt, belegte unter anderem eine bild­
chung wiederholte, schnitten diejenigen Probanden gebende Studie chinesischer Psychologen um Dongtao
deutlich besser ab, die in der Pause einen simplen Reak­ Wei von 2014: Ein wenige Minuten dauerndes Kreati­
tionstest absolviert hatten. Dieser war bewusst so ein­ vitätstraining verstärkte den Signalaustausch innerhalb
fach gehalten, dass er zum Tagträumen geradezu einlud. des DMN, dem Tagtraum-Netzwerk des Gehirns.
Wer dagegen nur verschnaufen durfte oder aber eine Natürlich können wir nicht immer nur kreativ sein.
anspruchsvolle Gedächtnisaufgabe erledigen musste, Um unseren Alltag zu bewältigen, sind wir auf eine
pro­fitierte von der Pause nicht. Vielzahl von Routinen angewiesen; wir sind mentale
Wiederkäuer und wälzen oft immer wieder die gleichen
Das Geheimnis der Inkubation Gedanken, besonders wenn wir gestresst sind (siehe
Die Erklärung der Forscher: Beim kreativen Prob­lem­ »Träumst du noch – oder grübelst du schon?«, links).
lösen kommt es maßgeblich auf die Inkubation an. Egal Um über den Tellerrand des Gewohnten hinauszubli­
worin die Herausforderung besteht, wir müssen irgend­ cken, sollten wir Gelegenheiten zum Müßiggang und
wann einmal an den Punkt kommen, wo wir von dem Tagträumen zulassen, statt sie zu meiden. Das scheint
real gegebenen Gegenstand oder der jeweiligen Frage für viele Zeitgenossen jedoch leichter gesagt als getan.
Abstand nehmen und die Sache in uns arbeiten lassen. Der US-Psychologe Timothy Wilson wollte in einem
Dieses Loslösen vom konkret Wahrnehmbaren (auch Experiment von 2014 herausfinden, was Probanden be­
»perceptual decoupling« genannt) vollbringen wir of­ reit sind zu tun, um dem Nichtstun zu entfliehen. Er bat
fenbar genau dann, wenn wir tagträumen. Das ist laut Freiwillige, allein in einem leeren Raum zu warten; das
vielen Forschern auch der Grund, weshalb es sich trotz Einzige, was es dort gab, war – ein Elektroschocker.
aller Nachteile, die ein flüchtiger Geist mit sich bringt, Nach 15 Minuten hatten sich rund zwei Drittel der Män­
unterm Strich bewährt hat. Wir sind dann zwar kurzzei­ ner und ein Viertel der Frauen damit selbst Stromschlä­
tig nicht mehr zum konzentrierten, exakten Arbeiten ge zugefügt! Und das, obwohl sie diese bei einem Test­
fähig, produzieren aber dringend benötigte neue Sicht­ lauf zuvor als unangenehm bis schmerzhaft bewertet
weisen. hatten. Lieber leiden als dumm herumsitzen? Vielleicht
Somit scheint zumindest ein Erfolgsrezept für krea­ täten wir besser daran, Langweile auch einmal auszu­
tive Geister darin zu bestehen, zwischen äußeren Reizen halten. Denn sie hält so manche Überraschung parat.H

Q U ELLEN

Baird, B. et al.: Inspired by Distraction: Mind Wandering Facilitates Creative Incubation.


In: Psychological Science 23, S. 1117–1122, 2012
Christoff, K. et al.: Experience Sampling during fMRI Reveals Default Network and Executive System Contributions to Mind
Wandering. In: Proceedings of the National Academy of Sciences of the USA 106, S. 8719–8724, 2009
Killingsworth, M. A., Gilbert, D. T.: A Wandering Mind is an Unhappy Mind. In: Science 330, S. 932, 2010
Kühn, S. et al.: The Importance of the Default Mode Network in Creativity – a Structural MRI Study.
In: The Journal of Creative Behavior 48, S. 152–163, 2014
Mason, M. F. et al.: Wandering Minds: The Default Network and Stimulus-Independent Thought.
In: Science 315, S. 393–395, 2007
Smallwood, J., Schooler, J. W.: The Science of Mind Wandering: Empirically Navigating the Stream of Consciousness.
In: Annual Review of Psychology 66, S. 487–518, 2015
Wilson, T. et al.: Just Think: The Challenges of the Disengaged Mind. In: Science 345, S. 75–77, 2014
Weitere Quellen im Internet: www.spektrum.de/artikel/1396981

Gehirn&Geist 17 0 4 _ 2 0 1 6
titelthema

Kontrafaktisches Denken Indem wir uns ausmalen,


wie die Vergangenheit anders hätte verlaufen können, planen wir
­bereits die Zukunft.

Was wäre wenn? Von Felipe de Brigard

U
m ein Haar hätte Bertrand seine Frau zum Klub gefahren wäre oder wenn der Bus am nächs­
Laura nie kennen gelernt. Er war da- ten Tag pünktlich gekommen wäre oder wenn die Am­
mals auf Geschäftsreise in einer ande­ pel nicht auf Rot gesprungen und Laura einfach an ihm
ren Stadt, und ein Freund, der zufällig vorbeigefahren wäre. Hätten sie sich trotzdem getrof­
zur gleichen Zeit dort war, lud ihn fen? Oder wäre er heute mit einer anderen verheiratet?
ein, abends in einen Klub mitzukom­ Jeder von uns kennt den Hang, vergangene Ereig­
men. In letzter Minute sagte Bertrand zu. Er kam zu nisse im Geist noch einmal durchzuspielen und dabei
spät zur Verabredung und musste in der Eiseskälte manche Details abzuwandeln. Dieses fiktive »Was wäre
draußen am Eingang anstehen. Neben ihm wartete eine wenn?« – auch kontrafaktisches Denken genannt – lässt
Gruppe junger Leute auf ein Taxi, darunter Laura. uns über Dinge nachdenken, die eben gerade nicht pas­
Bertrand und sie nahmen die Hände vor den Mund siert sind. Wir tauchen so oft und mühelos in solche Al­
und pusteten hinein. »Brr, kalt!«, sagten sie unisono – ternativszenarien ein, dass sie einen beträchtlichen Teil
und lachten. Sie unterhielten sich kurz, dann kam das unserer Gedankenwelt ausmachen. Wie und warum das
Taxi, und Laura verschwand. Sie ging Bertrand nicht so ist, untersuchen heute zahlreiche Psychologen.
mehr aus dem Kopf. Der Kognitionsforscher Douglas R. Hofstadter for­
Am nächsten Tag wartete er an einer Bushaltestelle, mulierte bereits Ende der 1980er Jahre die These, dass
als direkt vor ihm ein Fahrrad an der roten Ampel unsere gedanklichen Szenarien so etwas wie Sollbruch­
hielt – darauf saß Laura. Sie erkannte ihn sofort. Sie stellen besitzen: Wenn wir uns vorstellen, wie eine Sache
tauschten ihre Telefonnummern aus, zwei Jahre später anders hätte verlaufen können, setzen wir bei außerge­
heirateten sie. wöhnlichen Aspekten an. So tendieren wir eher dazu,
Wenn sich Bertrand diese Geschichte vergegenwär­ sporadische Ereignisse abzuwandeln – etwa wenn wir
tigt, drängt sich ihm unweigerlich der Gedanke auf, was einmal einen anderen Weg zur Arbeit wählten als ge­
wohl passiert wäre, wenn sein Freund nicht in der glei­ wöhnlich. Regelmäßiges Tun, wie etwa zur üblichen
chen Stadt gewesen wäre oder wenn er selbst früher Zeit das Büro zu verlassen, lädt dagegen kaum zur Vari­
ation ein.
Der Psychologe und Nobelpreisträger Daniel Kahne­
man von der Princeton University bestätigte dies ge­
Unser Experte meinsam mit Amos Tversky und Dale Miller in einer
Reihe bahnbrechender Studien. Die Forscher gaben
Felipe de Brigard ist Assistenzprofessor
Versuchspersonen zum Beispiel die tragische Geschich­
für Philosophie an der Duke University
in Durham (USA). Gemeinsam mit
te eines Teenagers zu lesen, der im Drogenrausch einen
Neuro­psychologen erforscht er dort, wie Autounfall verursachte, bei dem ein anderer ums Leben
die Vorstellungskraft unsere Gefühle kam. Die Forscher baten ihre Probanden, die Geschich­
und Zukunftspläne beeinflusst. te so zu verändern, dass es nicht zu dem Unfall kommt.

Gehirn&Geist 18 0 4 _ 2 0 1 6
Getty Images / Cultura RM Exclusive / Seb Oliver

»Letzte Woche war ich noch bei ihr –


wäre ich doch länger geblieben …«

Gehirn&Geist 19 0 4 _ 2 0 1 6
Auf einen Blick: Der Reiz des Fiktiven

1 2 3
Wir stellen uns im Geist Solche fiktiven Szenarien Sich an vergangene Gescheh­
häufig alternative Verläufe für durchzuspielen, löst in der nisse in immer wieder neuen
bestimmte Begebenheiten Regel auch Gefühle wie Reue Varianten zu erinnern,
aus unserem Leben vor. Psycholo­ über einen begangenen Fehler mildert die Last des Geschehenen
gen sprechen hierbei von kontra­ oder Erleichterung angesichts der und hilft uns so, den Blick nach
faktischem Denken. Gunst des Zufalls aus. vorn zu richten.

Wie sich zeigte, setzten die Befragten dabei bevor­ In einer Studie der Psychologen Neal Roese von der
zugt auf beiläufige Ereignisse, wie die Entscheidung des Northwestern University (USA) und James Olson von
Jugendlichen, gerade diese statt einer anderen Route der University of Western Ontario (Kanada) sollten
einzuschlagen. Nach dem Motto: Da hätte nicht viel Probanden komplizierte Anagramme lösen. Die meis­
­gefehlt, und der Unfall wäre nicht passiert. Außerdem ten blieben dabei erfolglos. Nun baten die Forscher die
wandeln wir bei Alternativszenarien mit größerer Hälfte der Testpersonen zu überlegen, was sie anders
Wahrscheinlichkeit real vollzogene Handlungen ab als hätten machen können. Als man die Teilnehmer an­
verpasste Chancen. In unserem Wunschdenken ver­ schließend mit ähnlichen Buchstabenrätseln konfron­
ändern wir eher konkrete Ursachen als bloße Begleit­ tierte, schnitten diejenigen deutlich besser ab, die über
umstände, eher kontrollierbare Faktoren als Zufälle, eine andere Lösungsstrategie nachgedacht hatten.
eher jüngere als länger zurückliegende Ereignisse und Allerdings liegt der Mehrwert des kontrafaktischen
eher moralisch inakzeptables Tun als gut gemeintes. Denkens häufig nicht auf kognitivem, sondern auf emo­
Auf Grundlage solcher Befunde entwickelten Kahne­ tionalem Gebiet: Die Empfindungen, die es auslöst,
man und Miller 1986 ihre so genannte Normtheorie. können motivierend wirken. Zum Beispiel dürfte sich
Demnach leiten wir aus unseren Erfahrungen be­ jemand, der sich ausmalt, was nötig gewesen wäre, um
stimmte Schablonen oder »Normen« ab, die wir auf ge­ eine Prüfung doch zu bestehen, beim nächsten Mal
dachte Parallelwirklichkeiten anwenden. Zum Beispiel: mehr ins Zeug legen. Ohne das Gefühl der Reue würde
Weil es uns im Alltag eher einmal passiert, dass wir zu er sich so viel Mühe vielleicht nicht geben.
früh oder zu spät irgendwo ankommen, als dass wir uns Dass sich dieser Effekt auch ungünstig auswirken
an den völlig falschen Ort verirren, können wir uns kann, zeigt der Fall von Kim Stroka, einer ehemaligen
auch leichter vorstellen, Bertrand habe Laura verpasst, Flugbegleiterin bei United Airlines. Sie war am 11. Sep­
weil er früher zum Klub kam und geradewegs hinein­ tember 2001 für Flug 93 eingeteilt, hatte am Tag zuvor
spazierte, als beispielsweise, weil er die Adresse ver­ jedoch ihre Schicht mit einer Kollegin getauscht –
wechselte. Es gibt demnach gewisse Regeln, wonach was sie vor dem sicheren Tod bei dem Absturz in Penn­
sich Menschen fiktive Szenarien ausmalen; die Fantasie syl­vania bewahrte. Später quälten sie dann schwere
unterliegt ähnlich wie das schlussfolgernde Denken ei­ ­Ge­wissensbisse, sie ließ sich wegen Posttraumatischer
ner gewissen Logik. Belas­tungsstörung (PTBS) behandeln. Strokas negatives
kontrafaktisches Denken beeinträchtigte sie massiv.
Hätte, wäre, könnte … Erstaunlicherweise entwerfen wir häufig auch dann
Doch welche Funktion erfüllt das kontrafaktische Den­ Alternativszenarien im Kopf, wenn wir genau wissen,
ken? Psychologen vermuteten schon früh, dass es uns dass ein Ereignis nie wieder eintreten wird. Peter, ein
dabei hilft, mit dem Vergangenen abzuschließen und Freund von mir, hatte eines Tages einen heftigen Streit
uns für die Zukunft zu rüsten. Nicht umsonst greifen mit seinem Vater. Dieser stürmte davon, stieg in sein
wir bevorzugt darauf zurück, wenn wir an einem ge­ Auto und fuhr los. Er starb kurz darauf an einer viel
steckten Ziel wie einer Prüfung oder einem Diätplan ­befahrenen Kreuzung, wo er eine rote Ampel übersah
scheiterten. »Wäre ich gestern früher schlafen gegan­ und in einen Lastwagen raste. Peter fragt sich bis heute
gen, hätte ich den Test bestimmt nicht vermasselt.« Po­ immer wieder, was passiert wäre, wenn er seinen Vater
sitives kontrafaktisches Denken, bei dem wir eine bes­ nicht so verärgert hätte oder wenn er ihn daran gehin­
sere Alternative ersinnen, löst tendenziell Gefühle der dert hätte, wütend davonzufahren. Zwar kann Peter
Reue aus. Sich dagegen den negativen Verlauf von Er­ nichts mehr daran ändern und muss den Verlust seines
eignissen auszumalen (»Wenn ich bei diese Aufgabe Vaters hinnehmen, dennoch macht er sich bittere Vor­
­gepatzt hätte, wäre ich durchgefallen«), geht eher mit würfe.
Erleichterung einher. So oder so, sich andere Möglich­ Doch in aller Regel gebrauchen wir kontrafaktisches
keiten vor Augen zu führen, kann uns künftig in ähn­ Denken nicht nur dazu, uns auf die Zukunft vorzuberei­
lichen Situationen einen Vorsprung verschaffen. ten – es hilft auch dabei, das Vergangene zu verarbeiten.

Gehirn&Geist 20 0 4 _ 2 0 1 6
titelthema / Kontr afa k tisches Den k en

Wie die Gedächtnisforschung zeigt, bleiben Erinnerun­


gen, die wir einmal gefestigt haben, nicht unverändert
bestehen. Jedes Mal, wenn wir sie abrufen, modifizieren Gehirn&Geist
wir sie leicht. Kontrafaktische Gedanken spielen dabei
vermutlich eine Hauptrolle: Indem wir uns alternative Chefredakteur: Prof. Dr. phil. Dipl.-Phys. Carsten Könneker M. A.
(verantwortlich)
Versionen eines Ereignisses vorstellen, wird die ur­ Artdirector: Karsten Kramarczik
Redaktionsleitung: Dipl.-Psych. Christiane Gelitz
sprüngliche Erinnerung »bearbeitet«. Redaktion: Dr. Katja Gaschler (Ressortleitung Hirnforschung,
Koordination Sonderhefte), Dr. Anna von Hopffgarten,
Dr. Andreas Jahn (Ressortleitung Medizin), Dipl.-Psych. Liesa Klotzbücher
(komm. Ressortleitung Psychologie)
Plausible Szenarien ähneln Erinnerungen Freie Mitarbeit: Dr. Janosch Deeg, Dipl.-Theol. Rabea Rentschler,
Dr. Joachim Retzbach, Dr. Frank Schubert, B. A. Wiss.-Journ. Daniela
Gemeinsam mit Karl Szpunar, heute an der University Zeibig
Assistentin des Chefredakteurs, Redaktionsassistenz: Hanna Hillert
of Illinois in Chicago, und Daniel Schacter von der Har­ Schlussredaktion: Christina Meyberg (Ltg.), Sigrid Spies, Katharina Werle
Bildredaktion: Alice Krüßmann (Ltg.), Anke Lingg, Gabriela Rabe
vard University prüfte ich die Annahme, dass sich Er­ Layout: Karsten Kramarczik, Sibylle Franz, Oliver Gabriel,
innerungen mit Hilfe der Vorstellungskraft verändern Anke Heinzelmann, Claus Schäfer, Natalie Schäfer

lassen. Wir baten Probanden beispielsweise, kontrafak­ Wissenschaftlicher Beirat: Prof. Dr. Manfred Cierpka, Institut für
Psychosomatische Kooperationsforschung und Familientherapie,
tische Szenarien zu persönlichen Lebensereignissen zu Universität Heidelberg; Prof. Dr. Angela D. Friederici, Max-Planck-Institut
für Kognitions- und Neurowissenschaften, Leipzig; Prof. Dr. Jürgen
entwerfen, während wir ihre Hirnaktivität per funktio­ Margraf, Arbeitseinheit für klinische Psychologie und Psychotherapie,
Ruhr-Universität Bochum; Prof. Dr. Michael Pauen, Institut für
neller Magnetresonanztomografie (fMRT) aufzeichne­ Philosophie der Humboldt-Universität zu Berlin; Prof. Dr. Frank Rösler,
Institut für Psychologie, Universität Hamburg; Prof. Dr. Gerhard Roth,
ten. Manche der dabei generierten Ideen waren durch­ Institut für Hirnforschung, Universität Bremen; Prof. Dr. Henning Scheich,
Leibniz-Institut für Neurobiologie, Magdeburg; Prof. Dr. Wolf Singer, ­
aus plausibel (»Ich hätte eine Bewerbung besser vorbe­ Max-Planck-Institut für Hirnforschung, Frankfurt am Main;
Prof. Dr. Elsbeth Stern, Institut für Lehr- und Lernforschung, ETH Zürich
reiten und dadurch den gewünschten Job bekommen
Übersetzung: Hanna Hillert
können«), andere dagegen eher abwegig (»Ich hätte im Herstellung: Natalie Schäfer
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Lotto gewinnen können und wäre heute Millionär«). E-Mail: service@spektrum.de
Wie wir feststellten, ging das Vergegenwärtigen plausib­ Einzelverkauf: Anke Walter (Ltg.), Tel.: 06221 9126-744
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ler Alternativen mit ganz ähnlicher Hirnaktivität einher Postfach 10 48 40, 69038 Heidelberg,
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wie reale Erinnerungen; unglaubhafte Fantasien dage­ Fax: 06221 9126-751, Amtsgericht Mannheim, HRB 338114
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gen wiesen diese Parallele in der neuronalen Verarbei­ Tel.: 06221 9126-712, Fax: 06221 9126-779, E-Mail:
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tung nicht auf.
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Das brachte uns auf eine Idee: Eine gute Methode,
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wir fest: Die Wiederholung machte die a­ lternativen Ver­ Form berechtigt die Spektrum der Wissenschaft Verlagsgesellschaft mbH
zum Schadensersatz gegen den oder die jeweiligen Nutzer. Für
sionen subjektiv nicht etwa plausibler, sondern ließ sie unaufgefordert eingesandte Manuskripte und Bücher übernimmt die
Redaktion keine Haftung; sie behält sich vor, Leserbriefe zu kürzen.
weniger überzeugend erscheinen als solche, die nur ein­ Bildnachweise: Wir haben uns bemüht, sämtliche Rechteinhaber von
mal imaginiert worden waren. ­Abbildungen zu ermitteln. Sollte dem Verlag gegenüber dennoch der
Nachweis der Rechtsinhaberschaft geführt werden, wird das branchen-
Die Erinnerung an Vergangenes gehorcht offenbar übliche Honorar nachträglich gezahlt.

anderen Regeln als der Blick in die Zukunft: Das wie­ ISSN 1618-8519

Gehirn&Geist 21 0 4 _ 2 0 1 6
titelthema / Kontr afa k tisches Den k en

derholte Imaginieren alternativer Verläufe dämpft die In einem Folgeexperiment sollten sie entweder ­fiktive
Reue, und wir können besser mit dem Geschehenen ab­ Szenarien durchspielen oder sich exakt so an die Ereig­
schließen. nisse erinnern, wie sie passiert waren. Wieder verlieh
Allerdings funktioniert das längst nicht bei jedem, die Fantasie dem jeweiligen Umstand eine größere,
wie Peters Beispiel zeigt. Menschen mit Depressionen schicksalhafte Bedeutung.
zeigen oft einen starken Hang, sich immer und immer Sich auf kontrafaktische Gedanken über die Ver­
wieder dieselbe Alternative zu einem vergangenen oder gangenheit einzulassen, wirkt sich offenbar je nach
zukünftigen Ereignis auszumalen. Laut verschiedenen den Rahmenbedingungen verschieden aus. Einen ent­
Studien stellt dies sogar eines der hartnäckigsten Sym­ scheidenden Faktor könnte hierbei die emotionale
ptome der Störungen dar. Die Betroffenen sind am Ende Bewertung darstellen, wie ich zusammen mit den
­
oft gar nicht mehr in der Lage, die ungewollten Gedan­ Gedächtnisforschern Peggy St Jacques und Daniel
­
ken abzustellen, und können kein normales Leben mehr Schacter in Experimenten im Jahr 2015 beobachtete.
führen. Wir fragten uns, was geschieht, wenn man eine Erin­
nerung reaktiviert, während man sich mögliche Alter­
Imagination auf der Therapiecouch nativen dazu vorstellt. Unsere Ergebnisse sind zwar
Das kontrafaktische Denken ist somit auch für die Psy­ noch vorläufig, doch sie deuten auf einen spannenden
chotherapie von großer Bedeutung. Forscher um den Punkt hin: Normalerweise wird die Intensität einer
Psychiater Richard Lane von der University of Arizona Emotion schwächer, je öfter man die entsprechende Er­
in Tucson argumentierten in einem Fachartikel von innerung abruft. Negatives erscheint allmählich nicht
2015 sogar, dass die Behandlung vieler seelischer Leiden mehr so niederschmetternd, umgekehrt verliert aber
umso besser gelinge, je mehr man die Vorstellungskraft auch Positives an Glanz.
des Patienten dafür einsetzt, die Macht der schlimmen Spielt man beim Erinnern hingegen andere Versio­
Erinnerungen zu brechen: Therapeuten helfen ihren Pa­ nen des jeweiligen Ereignisses durch, bleibt die emotio­
tienten dabei, einen imaginären Kontext zu erschaffen, nale Intensität eher erhalten. Schlimme Erinnerungen
in dem sich die emotionale Bewertung früherer Erleb­ lösen dann weiterhin schlechte Gefühle aus und posi­
nisse verändern und so die Last der Vergangenheit ab­ tive bereiten nach wie vor Freude. Um daraus praktische
mildern lässt. Schlüsse für die Psychotherapie ziehen zu können, müs­
Doch diese These ist nicht unumstritten: Der Psy­ sen wir das Zusammenspiel zwischen Imaginieren,
chologe Adam Galinsky, heute an der Columbia Uni­ Fühlen und Erinnern aber noch genauer untersuchen.
versity, und Laura Kray von der University of California An die Umstände, unter denen er Laura einst kennen
in Berkeley glauben ganz im Gegenteil, dass kontra­ lernte, denkt Bertrand fast immer im Beisein von ande­
faktisches Denken die Bedeutung des Vergangenen ren – zusammen mit seiner Frau, mit der Familie oder
­steigert. Um das zu überprüfen, baten sie Probanden in mit Freunden. Je mehr sich Bertrand und Laura dabei
einer Studie von 2010, einen kurzen Essay über ein be­ vergewissern, welchem großen Glück sie ihr Zusam­
deutsames Lebensereignis zu schreiben (zum Beispiel mentreffen verdanken, desto mehr glauben sie, dass es
darüber, wie sie die Zusage für einen Studienplatz Schicksal war. Sich auszumalen, wie leicht eine Ge­
­erhielten). Anschließend sollte sich die eine Hälfte der schichte hätte anders ausgehen können, erhält die Ge­
Teilnehmer mögliche Alternativen vor Augen führen – fühle, die wir damit verbinden. So gibt es wohl gleich
etwa dass sie ein ganz anderes Studium oder eine Aus­ mehrere gute Gründe dafür, warum unsere Gedanken
bildung absolviert hätten. Anschließend hielten diese so schnell ins »Was wäre wenn« abschweifen: Es hilft
Probanden das reale Ereignis für wichtiger als diejeni­ uns je nach Bedarf, die Zukunft zu planen oder mit der
gen, die sich keine kontrafaktischen Simulationen aus­ Vergangenheit abzuschließen, und hält jene Gefühle
gedacht hatten. wach, die wir bewahren wollen. H

Q U ELLEN

De Brigard, F. et al.: Coming to Grips with the Past: Effect of Repeated Simulation on the
Perceived Plausibility of Episodic Counterfactual Thoughts. In: Psychological Science 24, S. 1329–1334, 2013
Byrne, R. M. J.: The Rational Imagination: How People Create Alternatives to Reality. MIT Press, Cambridge 2005
Lane, R. D. et al.: Memory Reconsolidation, Emotional Arousal, and the Process of Change in Psychotherapy:
New Insights from Brain Science. In: Behavioral and Brain Sciences 38, e1, 2015
Schacter, D. et al.: Episodic Future Thinking and Episodic Counterfactual Thinking: Intersections between
Memory and Decisions. In: Neurobiology of Learning and Memory 117, S. 14–21, 2015
Weitere Quellen im Internet: www. spektrum.de/artikel/1397026

Gehirn&Geist 22 0 4 _ 2 0 1 6
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Leserbriefe

Quotenfalle Vorteile des Übergewichts


Geschlechterstereotype verbauen Frauen häufig den Weg Die Soziologin und Wissenschaftsjournalistin Melanie
an die Spitze großer Unternehmen. Doch auch eine Quo- Nees erklärte, wie wir genug Selbstkontrolle auf-
te kann nur begrenzt Abhilfe schaffen, schrieb die Wissen- bringen können, um uns gesünder zu ernähren (»Die
schaftsjournalistin und Psychologin Liesa Klotzbücher Besser-Esser«, Heft 2/2016, S. 12).
(»Weiblich, fähig, ungeeignet«, Heft 2/2016, S. 30).
Rolf Bolliger, Zofingen (Schweiz): Beim Lesen des
Charlotte Helzle, Aalen: Der Artikel ist ausgezeichnet Artikels wurde ich traurig. Wieder werden die Er-
geschrieben. Trotzdem ist die Autorin mitten in die kenntnisse von Professor Dr. Achim Peters und meine
Quotenfalle getappt. eigenen Erfahrungen ignoriert. Wieder wird geschrie-
Interessanterweise werden Quoten nur dann als ben, dass Abnehmen Kopfsache sei. Wieder werden
negativ dargestellt, wenn sie Frauen betreffen. Im logische Zusammenhänge einfach ignoriert.
öffentlichen Bereich und in den Konzernen werden Die Menschen werden immer dicker. Gleichzeitig
jede Menge Stellen nach Quoten besetzt. Die Berück- lese ich aber auch immer wieder in den Medien, dass
sichtigung von Bevölkerungsgruppen, Regionen und die Menschen immer gesünder älter werden. Ich kann
Parteien ist in den Parlamenten und Verwaltungen daraus nur eine Schlussfolgerung ziehen: Dicke werden
Standard und wird positiv betrachtet. Aufsichtsräte von gesünder älter. Genau diesen Zusammenhang haben
Unternehmen müssen sorgfältig austariert die unter- Professor Peters und sein Team untersucht und
schiedlichen Standorte und Unternehmensbereiche bestätigt (Selfish Brain Theory). Parallel dazu konnte
repräsentieren. Niemand käme auf die Idee, den unter- ich im Rahmen meiner langjährigen Tätigkeit auf einer
schiedlichen Vertretern mangelnde Qualifikation interdisziplinären Notfallstation feststellen, dass etwa
vorzuwerfen. Können Sie sich den Aufsichtsrat von schlanke Menschen überdurchschnittlich oft Herzin-
Daimler ohne Vertreter aus Stuttgart vorstellen? Oder farkte erleiden, was Peters’ Untersuchungsergebnisse
die europäische Regierung ohne Vertreter aus Luxem- bestätigt. Dicke Menschen leiden unterdurchschnittlich
burg? Quoten sind dazu da, die Gruppen, für die ein oft an Herzinfarkt, Schlaganfällen und Arteriosklerose.
Gremium arbeitet, angemessen zu repräsentieren. Jeder Daraus wird jedoch nicht gelernt. Man hält am alten
hält es für selbstverständlich, dass man in diese Paradigma fest, weil Peters’ Erkenntnisse den eigenen
Gremien qualifizierte Personen sendet – außer, wenn Überzeugungen widersprechen. Es stimmt wohl: Es ist
es sich um Frauen handelt! Wir stellen immerhin die leichter, ein Atom zu spalten als eine Überzeugung.
größte Bevölkerungsgruppe, und wir sollen alle
unfähig sein?
Ich halte es für extrem schädlich, wenn sich Frauen
durch diese doppelzüngige Interpretation der Quote
einschüchtern lassen. Solange es nicht selbstverständ-
lich ist, dass Frauen entsprechend ihrer Leistung und Schreiben
sie uns!
ihrer Bedeutung in Gremien vertreten sind, ist die
Frauenquote ein absolut akzeptables und ehrenwertes
Wir freuen uns
Mittel, um dieses Ziel zu erreichen. Hier muss noch
auf Ihre Meinung.
einiges an Öffentlichkeits­arbeit geleistet werden. Gefällt Ihnen die aktuelle Ausgabe von »Gehirn&Geist«?
Wie finden Sie die Themenauswahl, Umsetzung und
Gestaltung? Haben Sie weitere Anregungen?
Schreiben Sie bitte mit Ihrer vollständigen
Zuletzt erschienen: Adresse per E-Mail an: gehirn-und-geist@spektrum.de
oder per Post an:
Gehirn&Geist
Hanna Hillert
Postfach 10 48 40
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G EH IRN& G EIS T 49 11_2015


Psycholo gie

Versteckspiel
mit Folgen
Von Melanie Caroline Steffens
iStock / diego_cervo

Comingout Noch immer verbergen Menschen ihre Homosexualität aus


Angst vor Anfeindungen. Doch es lohnt sich, offen damit umzugehen.

Gehirn&Geist 26 0 4 _ 2 0 1 6
Psycholo gie

Auf einen Blick:


Warum sich Mut auszahlt

1
Homosexuelle Jobsuchende haben in manchen
Teilen Deutschlands tatsächlich schlechtere
­Chancen, zu einem Vorstellungsgespräch eingela­
den zu werden.

2
Wer seine sexuelle Orientierung verheimlicht,
schützt sich zwar vor Diskriminierung. Er
fühlt sich dadurch aber eher angespannt oder
unsicher und grübelt mehr. Das kann die Arbeits­
leistung beeinträchtigen.

3
Die negativen Folgen des Versteckspiels sind
iStock / diego_cervo

oft größer als die tatsächliche Benachteiligung.


­Außerdem führt ein Comingout dazu, dass
­Menschen im eigenen Umfeld etwaige Vorurteile
überdenken.

Gehirn&Geist 27 0 4 _ 2 0 1 6
W
olfgang ist ein erfolgreicher sexuelle Orientierung verbergen. Zudem sind Men­
­ anager in einer mittelstän­
M schen, die Diskriminierung erlebt haben, möglicher­
dischen Firma in Süddeutsch­ weise motivierter, bei einer entsprechenden Studie mit­
land. Wenn seine Kollegen Ur­ zumachen.
laubspläne austauschen oder Im Gegensatz zu Wolfgang geht Johanna offen mit
von ­ ihren Wochenenden be­ ­ihrer Homosexualität um. Während ihres Studiums hat
richten, zieht er sich zurück. Wer weiß, wie sie reagieren sie sich ehrenamtlich engagiert und für das Lesben-
würden, wenn er nicht von Frau und Kindern, sondern und Schwulenreferat der Universität Kassel Vorträge
von seinem langjährigen Partner erzählen würde. Des­ organisiert, seine Finanzen verwaltet und es in ver­
wegen vermeidet er es, sich bei der Arbeit über Privates schiedenen Gremien vertreten. Das erwähnt sie auch in
zu unterhalten. Doch langsam entsteht so bei den Kolle­ ihrem Lebenslauf, als sie sich um ihren ersten Job be­
gen der Eindruck, er sei ein Sonderling, und er wird gar wirbt – genau wie ihre Freundinnen, die in anderen Be­
nicht mehr gefragt, wenn das Team nach der Arbeit ge­ reichen a­ ktiv waren. Nach den ersten 20 Bewerbungen
meinsam etwas unternimmt. hat Johanna jedoch noch immer keine Einladung zu
Ist Wolfgangs Angst, die Kollegen würden n ­ egativ einem Vorstellungsgespräch erhalten oder überhaupt
auf seine Homosexualität reagieren, berechtigt? In einer von einem der Unternehmen gehört. Da kommen ihr
2009 veröffentlichten Studie fragten wir Schwule, Les­ Zweifel. Sie löscht die Angabe aus ihrem Lebenslauf und
ben und Bisexuelle im Rahmen von telefonischen Inter­ verschickt weitere zehn Bewerbungen. Wenig später
views des Meinungsforschungsinstituts TNS Emnid, wird sie zu drei Gesprächen eingeladen.
ob sie schon einmal auf Grund ihrer sexuellen Orien­ Vielleicht ist das einfach nur Zufall. Johanna fühlt
tierung diskriminiert worden seien. Um Antworten von sich jedoch diskriminiert. Dass Homosexuelle bei der
600 homo- und bisexuellen Personen zu erhalten, muss­ Auswahl von Mitarbeitern nicht selten benachteiligt
ten wir mehr als 50 000 Telefonnummern wählen. Zum werden, zeigen Experimente, in denen Wissenschaftler
einen liegt das an der relativ kleinen Zahl von Homo- identische Bewerbungsunterlagen versenden, die an­
und Bisexuellen in der Bevölkerung, zum anderen ge­ gebliche sexuelle Orientierung jedoch variieren. Sie ver­
ben diese am Telefon nicht unbedingt ihre sexuelle Ori­ schicken auf diese Weise Hunderte von Bewerbungen
entierung preis. Das Ergebnis: Jeder zweite Schwule und halten fest, wie viele positive Rückmeldungen die
und jede vierte Lesbe berichteten von Beleidigungen im Anwärter je nach ihrer sexuellen Orientierung erhalten.
Alltag. Jeder fünfte Schwule war sogar schon einmal we­ Das Ausmaß an Diskriminierung hängt dabei stark
gen seiner sexuellen Orientierung bedroht oder ange­ vom sozialen und kulturellen Umfeld der Befragten
griffen worden, und im Berufsleben hatte schon jeder und der dort vorherrschenden Einstellung gegenüber
siebte Ausgrenzung und jeder achte Beleidigungen er­ Homosexualität ab. In Griechenland, Österreich und
lebt (siehe »Arten der Anfeindung«, rechts). den amerikanischen Südstaaten müssen Lesben und

Ein unterschätztes Problem?


Bei solchen Befragungen fällt auf, dass Schwule in der Arten der Anfeindung
Regel über mehr Beleidigungen, Angriffe und Ausgren­
zungen berichten als Lesben oder Bisexuelle. Doch die Lesben
Gehirn&Geist, nach: M.C. Steffens und C. Wagner, 2009
55

Interpretation solcher Ergebnisse ist nicht ganz einfach: Schwule


Erstens kann man nicht ausschließen, dass Bisexuelle bisexuelle Frauen
und Lesben ihre sexuelle Orientierung häufiger ver­ bisexuelle Männer
heimlichen als Schwule – und damit auch weniger Dis­
kriminierung erfahren. Darauf weist etwa eine Unter­
26

suchung von 2010 hin. Zweitens ist oft nicht eindeutig


21

feststellbar, ob jemand tatsächlich diskriminiert wurde


16

16

oder nicht. Schließlich kann niemand mit Sicherheit sa­


14
12

11
10

gen, ob er schon wegen seiner sexuellen Orientierung


8

8
5

nicht befördert wurde. Allerdings unterschätzen die


4

2
1
1

meisten Menschen eher, wie häufig sie Opfer von Dis­ Ausgrenzung Beleidigung Beleidigung Bedrohung Angriff
kriminierung werden. Vermutlich aus Selbstschutz, bei der Arbeit im Alltag
denn ausgegrenzt zu werden macht hilflos und unter­
erlebte Diskriminierung (in Prozent)
gräbt das Selbstbewusstsein.
Das größte Problem derartiger Befragungen ist aber Viele Homosexuelle sind in ihrer Freizeit oder bei der
die Stichprobe: Forscher können kaum sicherstellen, Arbeit schon von anderen ausgeschlossen oder gede­
dass alle Homosexuellen dieselben Chancen hatten, mütigt worden. Von Bedrohung und Gewalt berichten
­daran teilzunehmen – insbesondere nicht jene, die ihre vor allem bisexuelle Männer und Schwule.

Gehirn&Geist 28 0 4 _ 2 0 1 6
Psycholo gie / C omingou t

»Meine jeweiligen
­Vorgesetzten und
mein enges Umfeld ­haben
­immer Bescheid g­ ewusst.
Ich wollte nicht mit
einer Lüge durchs Leben
laufen«

Getty Images / Marc Pfitzenreuter


Anne Will, Fernsehjournalistin
und Moderatorin, gegenüber der
»Süddeutschen Zeitung«

Schwule zum Beispiel deutlich mehr Bewerbungen Mein Team und ich untersuchen die Diskriminie­
schreiben, um zu Vorstellungsgesprächen eingeladen zu rung von Homosexuellen nicht, indem wir Bewerbun­
werden, als gleich qualifizierte Heterosexuelle. In ame­ gen verschicken. Stattdessen bitten wir die Probanden
ri­kani­schen Großstädten ist das nicht der Fall. Auch im Labor oder online, sich anhand einer Bewerbungs­
­innerhalb Deutschlands zeigen sich Unterschiede: In mappe ein Bild von einer Person zu machen und sie ein­
München melden sich Arbeitgeber laut einer 2015 ver­ zuschätzen. Wir fragen die Teilnehmer etwa, ob sie mit
öffentlichten Studie seltener bei lesbischen Bewerbe­ ­ der neuen Kollegin ein wichtiges Projekt übernehmen
rinnen als bei ­heterosexuellen. So mussten erstere im würden. Solche Entscheidungen fällen Menschen oft
Schnitt drei Bewerbungen schreiben, um eine Rückmel­ nicht nur anhand der Qualifikation, sondern eben auch
dung zu erhalten, heterosexuelle Frauen lediglich zwei. auf Grund von Gruppenzugehörigkeiten.
In Berlin wurden Lesben bei der Jobsuche jedoch nicht Bei derartigen Experimenten ist es nicht leicht, die
diskriminiert. Im Gegenteil: Lesbische wurden gegen­ Bewerbungsunterlagen so zu gestalten, dass die sexuelle
über verheirateten heterosexuellen Kandidatinnen Orientierung klar zu erkennen ist. Johannas Engage­
deut­­lich häufiger kontaktiert. Warum? ment für das Lesben- und Schwulenreferat könnte auch
infolge von Vorbehalten potenzieller Arbeitgeber ge­
Vor- und Nachteile bei der Jobsuche genüber Aktivisten nicht gut ­ankommen. Forscher be­
Für welchen Bewerber sich ein Personalchef entschei­ rücksichtigen das, indem sie fiktiven heterosexuellen
det, hängt stark von den Vorurteilen ab, die er gegen­ Bewerbern vergleichbaren Aktivismus in den Lebens­
über dessen sozialer Gruppe hegt. Wie Studien zeigen, lauf schreiben, etwa für den linken Studentenbund.
sprechen Probanden verheirateten Hetero­ sexuellen Auch die Angabe des Familienstands als Hinweis auf die
etwa automatisch eine traditionellere Rolle zu, gemäß sexuelle Orientierung hat Nachteile: Zum einen werden
der sich die Frau um Haushalt und Erziehung, der verheiratete Frauen bei der Karriere ebenfalls benach­
Mann um das Einkommen kümmert. Zahlreiche Expe­ teiligt. Zum anderen schließt nicht jeder aus der Anga­
rimente weisen darauf hin, dass heterosexuelle Mütter be »in registrierter Partnerschaft lebend«, dass es sich
im Beruf diskriminiert werden, indem Personen ihnen hier zu Lande um eine gleichgeschlechtliche Partner­
weniger Arbeitsengagement, Karrierewillen und Kom­ schaft handeln muss.
petenz zubilligen als Vätern sowie kinderlosen Frauen
und Männern. Ist eine Mutter jedoch angeblich lesbisch,
trifft sie die so genannte »Mutterschafts­strafe« offenbar Unsere Expertin
nicht: Wie meine Arbeitsgruppe an der Universität Ko­
blenz-Landau 2015 zeigte, gehen Urteilende nicht von Melanie Caroline Steffens ist Professorin
für Sozial- und Wirtschaftspsychologie an
traditionellen Geschlechterrollen aus, wenn eine Frau der Universität Koblenz-Landau. Sie
angibt, in einer Partnerschaft mit einer anderen Frau zu forscht seit rund 20 Jahren zur Diskrimi­
leben. Das schützt Lesben vor jenen Stereotypen, die nierung von Minderheiten, insbesondere
hetero­sexuelle Frauen im Berufsleben erfahren. von Lesben und Schwulen.

Gehirn&Geist 29 0 4 _ 2 0 1 6
Wie Kollegen und Vorgesetzte homo- und
bisexuellen Mitarbeitern helfen können
 ffen nach einem Partner oder einer Partnerin
→O → Als Arbeitgeber überprüfen, ob Regeln oder Abläufe
fragen, statt gedankenlos davon auszugehen, das die Angehörigen sexueller Minderheiten unbeab-
Gegenüber sei heterosexuell, und sich nach Ehe- sichtigt benachteiligen. Vielleicht gelten bestimmte
frau beziehungsweise Ehemann zu erkundigen. Vergünstigungen wie Sondertarife im Fitnessstudio
der Firma nur für Ehepartner.
→ Nicht voraussetzen, dass Schwule und Lesben in
jeder Hinsicht typisch für ihre soziale Gruppe → Wissen stärkt meist die Toleranz. Rollenspiele
sind – genauso wenig wie Heterosexuelle. Es ist gut können dabei gute Dienste leisten
möglich, dass der schwule Kollege weder tanzen (siehe »Mehr als ein Spiel: Die A-Karte«, unten).
noch kochen kann und sich stattdessen für Fußball
begeistert.

Mehr als ein Spiel: Die A-Karte


Aus Angst vor negativen Folgen verschweigen viele Aufgabe für Person B:
Lesben und Schwule ihre sexuelle Orientierung am »Versuchen Sie, Ihr Gegenüber möglichst gut
Arbeitsplatz. Das folgende Spiel kann Heterosexuellen kennen zu lernen, indem Sie seine ganz persönlichen
die Schwierigkeiten und Folgen einer solchen Ver- Lebensumstände in Erfahrung bringen!«
heimlichung aufzeigen. Es eignet sich auch für Semi-
nare und Fortbildungen. Zwei einander unbekannte Anschließend diskutieren die Spieler in größerer
Personen unterhalten sich zehn Minuten. Keiner weiß Gruppe: Wie haben sie sich gefühlt? War es ein
von der Aufgabe des anderen. »normales« Gespräch? War ihnen ihr Gegenüber
sympathisch? Würden sie die Person gerne
Vorgestellte Situation: näher kennen lernen? Danach werden beide
»Sie befinden sich auf einem Betriebsfest und Aufgaben offengelegt.
kommen mit einem neuen Kollegen ins Gespräch.«

Aufgabe für Person A:


»Versuchen Sie während der Unterhaltung, Kostenloses Arbeitsmaterial des Lesben- und
alles zu vermeiden, was Hinweise auf Ihre sexuelle ­Schwulenverbands unter www.bildung-beratung.lsvd.
Identität geben könnte!« de/texte/Uebung%20Betriebsfest.pdf

Daher bitten wir Teilnehmer derzeit darum, zu­ spiel mitunter auch die Arbeitsleistung, weil es von der
nächst eine Bewerbungsmappe und dann das Profil der eigentlichen Aufgabe ablenkt. Darüber hinaus kann die
Person in einem sozialen Netzwerk anzuschauen. Die­ Furcht vor Diskriminierung körperlich und psychisch
ses gestalten wir so, dass die sexuelle Orientierung klar belas­ten, etwa das Selbstwertgefühl schmälern.
ersichtlich ist, etwa durch ein Bild mit Partner oder
durch den Beziehungsstatus. Bilanz der Heimlichkeiten
Ist es nun sinnvoll, wie Johanna offen und ehrlich mit Dass Stress langfristig krank macht, ist unumstritten.
seiner Homosexualität umzugehen oder sie wie Wolf­ Soziale Unterstützung kann diesen Effekt jedoch abfe­
gang lieber zu verbergen? Schließlich vermeidet er so dern. Wenn jemand zum Beispiel einen anspruchs­
erfolgreich, ausgegrenzt oder benachteiligt zu werden. vollen Job hat, der ihn oft unter Zeitdruck setzt, jedoch
Dennoch ist die Strategie, seine sexuelle Orientierung auch einen Partner, der ihn unterstützt, und verständ­
zu verheimlichen, nur auf den ersten Blick Erfolg ver­ nisvolle Freunde, schadet der Stress seltener seiner Ge­
sprechend. Es erzeugt Stress und kostet Kraft, dauernd sundheit. Gehört man einer gesellschaftlichen Minder­
darauf zu achten, bloß nichts von sich preiszugeben und heit an, so kommt zu dem gewöhnlichen Stress, den die
kein Wissen oder Verhalten zu zeigen, das die sexuelle meisten von uns gelegentlich erleben, eine zweite Form
Orientierung verraten könnte. Da Menschen einen er­ hinzu: Minderheitenstress. Dieser entsteht zum einen
heblichen Teil ihrer Zeit bei der Arbeit verbringen, be­ durch Beleidigungen und Bedrohungen, so genannte
einflusst die Stimmung dort das Wohlbefinden ganz distale Stressoren. Zum anderen kommen subtilere, so
entscheidend. Außerdem beeinträchtigt das Versteck­ genannte proximale Auslöser hinzu: Auch wenn je­

Gehirn&Geist 30 0 4 _ 2 0 1 6
Psycholo gie / C omingou t

mand keine tatsächliche Diskriminierung erlebt, belas­


tet es ihn, wenn er seine sexuelle Orientierung verheim­
licht, sich ihrer schämt oder Angst hat, deswegen zu­
rückgewiesen zu werden. Der Betroffene beginnt zu
grübeln und fühlt sich hilflos. Weil er sich immer mehr
zurückzieht, können Freunde und Familie ihn nicht
mehr so gut unterstützen. Wie internationale Studien
zeigen, berichten Mitglieder einer sexuellen Minderheit
auch von mehr Kopf- und Rückenschmerzen, Schlaf­
problemen und Substanzmissbrauch. Die eigene Homo-
oder Bisexualität zu verbergen, scheint das Auftreten
solcher Symptome noch zu begünstigen.
Auf der Weihnachtsfeier der Firma hat Wolfgang
­gegenüber seiner Lieblingskollegin angedeutet, dass er
schwul ist. Im neuen Jahr hingen an vielen Büros kleine
Regenbogenaufkleber – und nach Beendigung eines
Projekts wurde er nach langer Zeit wieder zu einer Feier
eingeladen. Inzwischen geht er regelmäßig mit einigen
Kolleginnen ins Fitnessstudio und ist Mitglied der fir­
meninternen Doppelkopfrunde. Er schüttelt selbst den
Kopf, wenn er an sein langes Versteckspiel denkt.
Drei von vier Homosexuellen berichten, sie hätten
Angst gehabt, nach ihrem Comingout ­aus­gegrenzt zu
werden. Aber Forschungsergebnisse weisen darauf hin,
dass Verheimlichung und Furcht vor Diskriminierung
oft negativere Konsequenzen haben als ein Comingout.
Es geht Homo- und Bisexuellen besser, wenn sie offen
mit ihrer Veranlagung umgehen. So sind sie etwa an ih­
rem Arbeitsplatz zufriedener. Wie wir außerdem 2010
»Ich habe schon in meiner
zeigten, reagieren 70 Prozent der Geschwister positiv aktiven Zeit in Wolfsburg
auf die Enthüllung, nur 3 Prozent negativ. Auch rund
60 Prozent der Eltern gehen wohlwollend mit dem darüber nachgedacht,
­Comingout eines Kindes um, lediglich 9 Prozent verhal­
ten sich ablehnend. Und in einer Befragung von mehr
mich zu outen. Aber alle
als 300 schwulen Jugendlichen durch die Universität
Basel gaben etwa zwei Drittel an, ihr ­Comingout sei bes­
haben gesagt: Mach das
ser verlaufen als befürchtet. Nur für acht Prozent verlief nicht! Eine große Welle
es schlechter als gedacht.
Ebenso revidieren gemäß der gut belegten »Kontakt- wird über dir zusammen-
Hypothese« selbst konservative Menschen ihre Mei­
nung über Homosexuelle häufig, wenn sich eine Person
brechen«
outet, die sie schätzen und lieben. Daher lohnt es sich, Thomas Hitzlsperger, ehemaliger
Mut zu haben. Das beste Mittel gegen Vorurteile ist deutscher Fußballprofi, gegenüber
nach wie vor: miteinander reden.  H dem britischen »The Guardian«

Q UELLEN

Niedlich, C. et al.: Ironic Effects of Sexual Minority Group Membership: Are Lesbians less Susceptible to Invoking Negative
Female Stereotypes than Heterosexual Women? In: Archives of Sexual Behavior 44, S. 1439–1447, 2015
Steffens, M. C. et al.: Discrimination at Work on the Basis of Sexual Orientation: Evidence from Germany.
In: Köllen, T. (Hg.): Sexual Orientation and Transgender Issues in Organizations – Global Perspectives on LGBT Workforce Diversity.
Springer, Heidelberg (in Vorbereitung)
Steffens, M. C., Wagner, C.: Diskriminierung von Lesben, Schwulen und Bisexuellen. In: Beelmann, A., Jonas, K. J. (Hg.):
­ iskriminierung und Toleranz: Psychologische Grundlagen und Anwendungsperspektiven. VS, Wiesbaden 2009, S. 241–262
D
Weitere Quellen im Internet: www.spektrum.de/artikel/1397584

Gehirn&Geist 31 0 4 _ 2 0 1 6
Nachgefragt

Woran forschen Sie gerade,


Frau Wald-Fuhrmann?
Melanie Wald-Fuhrmann möchte wissen, warum manche
Menschen gern Haydn hören, andere hingegen
Helene Fischer – und was diese Vorlieben über uns verraten.

mit frdl. Gen. von Melanie Wald-Fuhrmann, MPI für empirische Ästhetik

M e l a n i e Wa l d - F u h r m a nn

ist Professorin für Musikwissenschaft sowie Direktorin der Musik-Abteilung am Max-Planck-Institut


für empirische Ästhetik in Frankfurt am Main.
www.aesthetics.mpg.de
Für zwei aktuelle Studien werden Teilnehmer gesucht:
ww2.unipark.de/uc/Musikgeschmack/
ww2.unipark.de/uc/Muge/Schluesselerlebnisse/

Gehirn&Geist 32 0 4 _ 2 0 1 6
Woran forschen Sie gerade? Bestimmen Einkommen und Bildungsstand, welche
Am Musikgeschmack: Musik berührt uns im Inners­ten, Musik wir hören?
aber jeden eine andere Art. Warum das so ist, ob das in Nur indirekt, weil Einkommen und Bildung wichtige
der Musik angelegt ist oder von uns in sie hineingelegt Komponenten des sozialen Status sind und sich die ver-
wird, möchte ich besser verstehen. schiedenen gesellschaftlichen Gruppen nicht zuletzt
durch ihren Musikgeschmack bewusst voneinander ab-
Wie gehen Sie das an? grenzen. Ein Klassik-Fan findet Schlager-Fans so blöd
Wir kombinieren verschiedene Methoden und For- wie diese ihn. Ein vorläufiges Ergebnis unserer Studie
schungsansätze: Zunächst haben wir in CD-Geschäften, mag da überraschen: Jeder vierte Klassikliebhaber mag
Musikzeitschriften, Onlineforen und -partnerbörsen re- auch Heavy Metal.
cherchiert und die aktuell in Deutschland gängigen mu-
sikalischen »Schubladen« ermittelt, etwa Techno, Blues Was beeinflusst unsere Vorlieben sonst?
und Klassik. Auf Basis dieser Kategorien entwickelten Forscher können den Musikgeschmack eines Menschen
wir eine detaillierte Erhebung. Darin fragen wir nach bislang weder soziologisch noch psychologisch voll-
Lieblingsstilen, nach Einstellungen und Verhalten wie ständig erklären. Wir würden hier gerne einen Schritt
Konzertbesuchen, aber auch nach der Persönlichkeit, weiterkommen und nehmen individuelle Aspekte unter
dem familiären Hintergrund, dem sozialen Status sowie die Lupe. Beispielsweise fragen wir Menschen nach mu-
nach individuellen Erfahrungen mit Musik. sikalischen Schlüsselerlebnissen. Darunter verstehen
wir Begegnungen mit bislang unbekannter Musik, die
Wie erforscht man, was genau an Musik gefällt? jemanden so faszinieren, dass diese Musik fortan eine
Beispielsweise anhand von ästhetischen Urteilskatego- Rolle in seinem Leben spielt – völlig unabhängig von
rien. Bevorzugt jemand Einfachheit oder Komplexität, der musikalischen Sozialisation.
Vertrautheit oder Originalität? Und wie entwickelt sich
der Musikgeschmack? Damit verbunden ist eine Frage, Hatten Sie solch ein Schlüsselerlebnis?
die schon Platon gestellt hat: Verändert uns die Musik, Ich wuchs mit klassischer Musik auf und lehnte Volks-
die wir hören? Forschung dazu gibt es bislang kaum. musik ab. Bis mich eine CD mit neuer Schweizer Volks-
musik, die mir Züricher Studenten zum Abschied
Was verrät der Musikgeschmack über eine Person? schenkten, auf den Geschmack brachte. In unseren Er-
Er sagt viel aus über die Herkunft, den Bildungsgrad hebungen zeichnet sich ab, dass sich solche Erlebnisse
und die Zugehörigkeit zu bestimmten sozialen Grup- besonders häufig auf Konzerten, Festivals oder beim ei-
pen. Dennoch kann man aus musikalischen Vorlieben genen Musizieren ereignen. Jeder fünfte bislang Be-
keine stereotypen Schlüsse ziehen. fragte kann sich an so etwas erinnern. Als Nächstes
würden wir gerne herausfinden, warum genau be-
Hängen sie nicht trotzdem mit dem Charakter stimmte Menschen und Musikstile jeweils zusammen-
zusammen? passen, was also für diese Faszination verantwortlich ist.
Psychologen versuchten immer wieder Persönlichkeits-
merkmale wie Offenheit für neue Erfahrungen, Nei- Wird Musik heute anders konsumiert?
gung zu aggressivem Verhalten oder Suizidalität mit Definitiv. Der Einfluss der Musik, mit der wir soziali-
der Vorliebe für bestimmte Musikrichtungen in Ver­ siert wurden, nimmt ab. Dank Streaming-Diensten
bindung zu bringen. Mich überzeugen diese Versuche können wir viel individueller auswählen. Außerdem
bislang nicht, denn der Musikgeschmack ist vor allem verbringen Menschen heute mehr Zeit mit Musikhören.
ein Ergebnis der Sozialisierung: Eine Jazzhörerin ist Sie begleitet uns öfter im Alltag, etwa beim Zugfahren
nicht per se offener, sondern zuallererst Kind (oder oder Kochen.  H
Freundin) von Jazz-Liebhabern. Was genau am Jazz sie
aber mag – ob Big-Band-Musik oder Free Jazz –, könnte Das Interview führte »Gehirn&Geist«-Mitarbeiterin
durchaus mit ihrer Persönlichkeit in Verbindung stehen. Rabea Rentschler.

18 Haupt- und 165 Unterstile von Musik unterscheiden


die Forscher am MPI für empirische Ästhetik in ihrer Studie.
42 Prozent der befragten Klassik-Fans hassen Schlager,
doch jeder vierte von ihnen mag auch Heavy Metal.
Nur rund 20 Prozent der Erwachsenen
erinnern sich an ein musikalisches Schlüsselerlebnis.

Gehirn&Geist 33 0 4 _ 2 0 1 6
psycholo gie

Den Freigeist
wecken
Persönlichkeit Nesthäkchen rebellieren eher gegen soziale Normen
und Regeln als Erstgeborene. Doch auch angepassten
Kindern können Eltern beibringen, unkonventionell zu denken.

V o n A dam G r a n t

Dieser Artikel ist ein leicht reihe auf den beruflichen Erfolg genauer unter die Lupe.
gekürzter Auszug aus: Sie verfolgten mehrere Jahrzehnte lang das Schicksal
»Nonkonformisten: Warum
von mehr als 4000 Menschen in elf europäischen Län-
Originalität die Welt bewegt«
von Adam Grant. Das Buch dern. Die Erstgeborenen, so fanden sie heraus, hatten
erschien am 2. März 2016 im bei Eintritt ins Berufsleben ein um 14 Prozent höheres
Droemer Verlag. Gehalt als die Spätergeborenen. Sie profitierten von
einem höheren Bildungsstand und damit verbunden
von höheren Löhnen.
Doch dieser anfängliche Karrierevorteil schmilzt
nach dem 30. Lebensjahr dahin. Die Spätergeborenen
erzielen auf lange Sicht ein höheres Einkommen, weil
sie eine größere Bereitschaft zeigen, in besser bezahlte
Jobs zu wechseln. »Erstgeborene sind risikoscheuer als
Spätergeborene«, schreiben die Wirtschaftswissen-
schaftler. Spätergeborene trinken und rauchen mehr,

Ü
sorgen weniger für ihre Rente vor und schließen sel-
ber Jahre wurden die Experten nicht tener Lebensversicherungen ab.
müde zu betonen, welche Vorteile die Die wissenschaftliche Beschäftigung mit der Bedeu-
Erstgeborenen haben: Das älteste tung der Stellung in der Geschwisterreihe gewinnt im-
Kind in der Familie ist typischerweise mer mehr Anerkennung. Das war nicht immer so, und
auf Erfolg programmiert; es profitiert der Ansatz ist bis heute umstritten. Der Platz in der Ge-
von der ungeteilten Aufmerksamkeit, schwisterfolge legt nicht fest, wer man ist; er erlaubt le-
Zeit und Energie seiner Eltern, die es verhätscheln. diglich Aussagen über die Wahrscheinlichkeit, dass man
Nachweislich haben Erstgeborene eine höhere Chance, sich in einer bestimmten Weise entwickelt. Auch viele
mit einem Nobelpreis für Naturwissenschaften ausge- andere Faktoren spielen eine Rolle, und die Forschungs-
zeichnet und in den US-Kongress gewählt zu werden. ergebnisse sind zwangsläufig unscharf: Es lassen sich kei-
In einer kürzlich veröffentlichten Studie nahmen die ne randomisierten, kontrollierten Experimente durch­
Wirtschaftswissenschaftler Marco Bertoni und Giorgio führen; viele Studien begnügen sich damit, Geschwister
Brunello den Einfluss der Stellung in der Geschwister- aus verschiedenen Familien zu untersuchen, obwohl ein

Gehirn&Geist 34 0 4 _ 2 0 1 6
direkterer Vergleich innerhalb der Familie sinnvoller
wäre; und es gibt keine einheitlichen Standards, wie man
Auf einen Blick:
Halb- und Stiefgeschwister, adoptierte Geschwister, ver- Gegen den Strom
storbene Geschwister und Cousins und Cousinen, die im

1
selben Haushalt aufwachsen, einbeziehen soll. Experten Erstgeborene orientieren sich stärker an gesell­
in Fragen der Stellung in der Geschwisterreihe sind sich schaftlichen Konventionen als Letztgeborene. Die
nach wie vor in vielen Punkten uneins. Ältesten neigen dazu, den Status quo erhalten
In einer der Studien bewerteten die Teilnehmer sich zu wollen; Nesthäkchen hingegen fordern ihn heraus.
selbst und ihre Geschwister in den Kategorien schulische

2
Leistung und Neigung zur Rebellion. Erstgeborene hat- Eltern können nonkonformes Denken und Risiko-
ten mit 2,3-mal höherer Wahrscheinlichkeit eine hohe bereitschaft bei ihren Kindern fördern, indem
akademische Leistungsbilanz. Und mit doppelt so hoher sie ihnen viele Freiheiten einräumen, Sicherheit
Wahrscheinlichkeit waren die jüngsten Geschwister und geben und sie dazu ermutigen, ein eigenes, individuelles
nicht die Erstgeborenen die Rebellen. Gefragt nach Bei- ­Wertesystem zu entwickeln.
spielen für extrem rebellisches oder unkonventionelles

3
Verhalten in ihrem Leben, hatten die Spätergeborenen Destruktiven Formen der Rebellion können Eltern
nicht nur über mehr, sondern auch über extremere Fälle vorbeugen, indem sie ihre Gebote und Verbote
von unkonventionellem Verhalten zu berichten. begründen und den Nachwuchs für seinen guten
Hunderte von Studien weisen in dieselbe Richtung: Charakter loben.
Während die Erstgeborenen tendenziell dominanter,
pflichtbewusster und ehrgeiziger sind, zeigen die Spä-
tergeborenen mehr Risikobereitschaft und Aufgeschlos-
senheit gegenüber neuen Ideen. Erstgeborene tendieren nicht ähnlicher als zwei Menschen, die man zufällig auf
dazu, den Status quo zu verteidigen, die Spätergebore- der Straße trifft.« Das gilt auch hinsichtlich der Origina-
nen dazu, ihn herauszufordern. lität. Als Erwachsene ähneln adoptierte Geschwister ei-
Es gibt im Wesentlichen zwei Erklärungsmodelle für nander in Nonkonformität und Risikobereitschaft auch
die höhere Risikobereitschaft der Spätergeborenen. Das dann überhaupt nicht, wenn sie von denselben Eltern
eine konzentriert sich darauf, wie Geschwister unter­ großgezogen wurden.
einander ihre Rivalitäten regeln, das andere darauf, dass Die Theorie der Nischenwahl kann uns helfen, dieses
Eltern ihre jüngeren Kinder anders erziehen. Auf die Rätsel zu lösen. Sie hat ihre Wurzeln im Werk von Al-
Geschwisterreihenfolge hat man sicherlich keinen Ein- fred Adler, der die Ansicht vertrat, Sigmund Freud habe
fluss, wohl aber darauf, wie sie sich auswirkt. den Einfluss der Eltern überbetont und zu wenig auf
den Beitrag geschaut, den die Geschwister zur Persön-
Warum aus kleinen Nesthäkchen lichkeitsentwicklung leisten. Adler zufolge identifizie-
eher große Comedians werden ren sich Erstgeborene, die ihr Leben als Einzelkinder
Die Untersuchung einer Vielzahl von Geschwistern ent- beginnen, anfangs mit den Eltern. Wenn ein weiteres
hüllt eine verblüffende Tatsache: Die größten Persön- Geschwister zur Welt kommt, riskieren die Erstgebore-
lichkeitsunterschiede ergeben sich innerhalb einer Fa- nen, »entthront« zu werden, und reagieren darauf, in-
milie, nicht im Vergleich zwischen Familien. Eineiige dem sie ihre Eltern nachahmen: Sie setzen deren Regeln
Zwillinge, die in derselben Familie aufgewachsen sind, und Autorität gegenüber ihren jüngeren Geschwistern
sind einander nicht ähnlicher als eineiige Zwillinge, die durch, was diese zur Rebellion veranlasst. Da es für die
bei der Geburt getrennt wurden und in verschiedenen jüngeren schwierig ist, geistig und körperlich mit ihren
Familien aufwuchsen. »Dasselbe lässt sich von norma- älteren Geschwistern mitzuhalten, suchen sie sich ein
len Geschwistern sagen – sie sind einander nicht ähn- anderes Feld. »Die Nische dessen, der durch Verantwor-
licher, egal, ob sie gemeinsam oder getrennt aufwach- tung und Erfolg glänzt, wird mit hoher Wahrscheinlich-
sen«, fasst es der Harvard-Psychologe Steven Pinker zu- keit vom ältesten Kind besetzt«, schreibt der Psychologe
sammen. »Und adoptierte Geschwister sind einander Frank J. Sulloway von der University of California in

d e r Au to r

Adam Grant ist Organisationspsychologe und Professor für Management an der renommierten Wharton
Business School der University of Pennsylvania in Philadelphia. Der 34-Jährige arbeitete schon als
George Lange

Berater unter anderem für Google, Goldmann Sachs und die Vereinten Nationen. In seinem neuen Buch
schildert er, wie Nonkonformisten der Wirtschaft neue Impulse geben und wie sie ihre Eigenheiten dort
am besten einsetzen.

Gehirn&Geist 35 0 4 _ 2 0 1 6
Berkeley. »Ist diese Nische einmal vergeben, wird es für
das jüngere Kind schwer, erfolgreich um diesen Platz zu
konkurrieren.«
Dies hängt natürlich vom Altersunterschied zwi-
schen den Geschwistern ab. Wenn zwei Kinder nur ein
Jahr auseinander sind, ist das jüngere Kind manchmal
schlau oder stark genug, um sich durchzusetzen; sind
die Kinder sieben Jahre auseinander, dann steht die Ni-
sche auch dem jüngeren Kind wieder offen, ohne dass es
direkt um sie konkurrieren muss. Im Baseball ist die
Wahrscheinlichkeit, dass zwei Brüder auf verschiedenen
Positionen spielen, größer, wenn der Altersunterschied

Picture Alliance / HJS-Sportfotos


zwischen zwei und fünf Jahren beträgt, als wenn er we-
niger als zwei Jahre oder mehr als fünf Jahre groß ist.
Neugierig geworden, ob sich die Nischenwahl auch in
anderen Familien beobachten ließ, wandte ich mich der
Welt der Comedy-Show zu, zu deren Wesen die Rebelli-
on gehört. Da die konventionelleren Karrieren bereits
von den älteren Geschwistern besetzt sind, liegt es für
die jüngeren näher, es mit Humor zu versuchen, statt da- Protest gegen die Tradition
rum zu kämpfen, klüger und stärker zu sein. Sind große
Comedians also eher Letzt- als Erstgeborene? Bei ihm verbinden sich Ehrgeiz und Erfolg mit dem
Um das herauszufinden, habe ich mir die von Co­ Image eines Rebellen: Andre Agassi, der erste
medy Central im Jahr 2004 erstellte Liste der 100 besten männliche Tennisspieler, der alle vier Grand-Slam-
Stand-up-Comedians aller Zeiten angesehen. Sie ist ein Turniere und eine Goldmedaille im Einzel bei den
Who’s who origineller Komiker, die mit rebellischem Olympischen Spielen gewann. Der große Traum
Geist gesellschaftliche Normen und politische Ideolo- seines Vaters war es, einen Tennischampion heran-
gien aufs Korn nahmen und nehmen. Zu ihnen zählen zuziehen. Er setzte das Kind unter enormen Druck,
unter anderem Woody Allen, Jay Leno, Eddie Murphy zwang ihn täglich zu stundenlangem Training und
und Jon Stewart. Rein statistisch gesehen sollten die Erst- verbot ihm, sich in anderen Sportarten zu versu-
und Letztgeborenen auf dieser Liste gleich stark vertre- chen. Andre rebellierte, indem er viele ungeschrie-
ten sein. Doch von den 100 Spitzenkomikern waren fast bene Regeln des Spiels missachtete. So legte er sich
die Hälfte Letztgeborene und nur jeder fünfte Erstgebo- mal einen Irokesenschnitt, mal einen Vokuhila zu
rener. Comedians mit Geschwistern hatten eine 80 Pro- und betrat den Tennisplatz in Jeans-Shorts statt im
zent höhere Wahrscheinlichkeit, das letztgeborene Kind traditionellen Weiß. Seine Geschichte lehrt uns,
zu sein, als eine Zufallsverteilung es erwarten ließe. dass es zwei unterschiedliche Wege für Eltern gibt,
Wer ältere Geschwister als Ersatzeltern oder Vorbil­ Rebellen großzuziehen: Kindern Freiheit und
der hat, muss nicht so viele Regeln befolgen. Er oder sie Schutz zu geben oder ihre Freiheit erheblich einzu-
wird weniger bestraft und kann sich dazu noch in dem schränken.
sicheren Gefühl wiegen, von allen beschützt zu werden.
Solche Kinder gehen dann auch früher Risiken ein: Statt
den stets bedächtigen und vorsichtigen Erwachsenen
nachzueifern, überlassen sie sich unbekümmert der Geschwisterreihe zu Rebellen machen – die jüngsten
Führung anderer Kinder. Doch auch wenn die Eltern- sind vielleicht einfach nur diejenigen, bei denen er am
rolle nicht an andere Kinder delegiert wird, tendieren häufigsten angewandt wird. Sulloway kam zu dem inte-
Eltern dazu, gegenüber ihren Erstgeborenen viel stren- ressanten Ergebnis, dass Aussagen über die spätere Ent-
ger zu sein als gegenüber deren jüngeren Geschwistern. wicklung von Einzelkindern viel schwieriger zu treffen
Eltern werden mit zunehmender Erziehungserfahrung sind als solche über Kinder mit Geschwistern. Einzel-
entspannter, zudem bleiben den Jüngeren viele häusli­ kinder wachsen wie Erstgeborene in einer Erwachse-
che Verpflichtungen erspart, die schon von den Älteren nenwelt auf und identifizieren sich mit Erwachsenen.
erledigt werden. Und wie Letztgeborene leben sie in einer behüteten
Die Risikofreude vieler origineller Menschen lässt Welt, was »ihnen mehr Freiheit lässt, sich zu Radikalen
sich durch die ungewöhnliche Selbstständigkeit bei zu entwickeln«.
gleichzeitigem Behütetsein erklären, die sie als die Mich interessierte, welche Faktoren dafür verantwort­
Jüngsten in ihren Familien erfuhren. Ein solcher Erzie- lich sind, dass Kinder ihre Freiheit dazu nutzen, ehrbare
hungsstil kann jedoch Kinder in jeder Stellung in der Bürger oder Kriminelle zu werden, im Leben Initiative

Gehirn&Geist 36 0 4 _ 2 0 1 6
psycholo gie / Persön lichkeit

zu zeigen oder sich treiben zu lassen, Kreativität oder konkrete Verhaltensregeln in den Vordergrund zu stel-
Destruktivität zu entfalten. Mit der Beantwortung die- len«, schreibt die Harvard-Psychologin Teresa Amabile.
ser Fragen haben sich der Soziologe Samuel Oliner und Wenn Eltern in der Kindererziehung bestimmte Re-
seine Ehefrau, die Erziehungswissenschaftlerin Pearl geln etablieren, kommt es entscheidend darauf an, wie
Oliner, ein Leben lang beschäftigt. Mit ihren Untersu- sie begründet werden. Die aktuelle Forschung belegt,
chungen über Nichtjuden, die ihr Leben riskierten, um dass Teenager sich Regeln vor allem dann widersetzen,
Juden vor dem Holocaust zu retten, leisteten sie wenn sie ihnen mit viel Kontrolle aufgezwungen wer-
­Pionierarbeit. Sie verglichen diese heldenhaften Zeit­ den, wenn man mit ihnen schimpft und Strafen an-
genossen mit Menschen, die in derselben Umgebung droht. Wenn Mütter zwar die Einhaltung vieler Regeln
lebten, aber den Juden nicht halfen. Die Retter und jene, fordern, aber klare Gründe dafür angeben, warum sie
die passiv zusahen, waren in vielerlei Hinsicht vergleich- wichtig sind, werden diese Regeln von Teenagern viel
bar: Bildungsgrad, Beruf, Wohnsituation, politische und seltener gebrochen, weil sie verinnerlicht werden.
religiöse Ansichten. Sie waren in ihrer Jugend gleicher- Der Berkeley-Psychologe Donald MacKinnon fragte
maßen rebellisch gewesen: Die Retter waren genauso oft Experten nach den kreativsten Architekten Amerikas
wie die passiven Zuschauer von ihren Eltern bestraft und verglich sie mit einer Gruppe hoch qualifizierter,
worden, wenn sie nicht gehorchten, wenn sie stahlen, aber nicht durch Originalität glänzender Berufsgenos-
logen, mogelten oder sich aggressiv verhielten. Der Un- sen. Ein Unterschied war, dass die in der kreativen Grup-
terschied lag darin, wie ihre Eltern schlechtes Beneh- pe von ihren Eltern Erklärungen erhielten. Die Eltern
men bestraften und gutes Benehmen unterstützten. legten ihnen ihre Verhaltensgrundsätze dar und erklär-
ten ihnen die Gründe für eine Bestrafung unter Hinweis
Wieso Begründungen Wunder wirken auf das, was sie für richtig und falsch hielten. Dabei be-
Eltern fordern von ihren Kindern im Alter zwischen zogen sie sich auf Werte wie Moral, Integrität, Respekt,
zwei und zehn Jahren alle sechs bis neun Minuten Neugier und Beharrungsvermögen. Stets lag »die Be­
eine Verhaltensänderung, das belegen Untersuchungen. tonung auf der Entwicklung eines eigenen ethischen
Der Psychologe Martin Hoffman errechnete, dass dies Regelwerks«, schrieb MacKinnon. Die Hauptsache war,
­»ungefähr 50 Disziplinierungsmaßnahmen pro Tag er- dass Kinder, die hochkreative Architekten wurden, die
gibt, aufs Jahr betrachtet mehr als 15 000!« Wenn die Freiheit erhielten, sich ihre eigenen Werte zu wählen.
Holocaust-Retter von ihrer Kindheit erzählten, erin- Begründungen sind ein zweischneidiges Schwert: Sie
nerten sie sich vor allem an eine bestimmte Form der führen einerseits dazu, dass Regeln besser befolgt wer-
Disziplinierung durch ihre Eltern. »Begründung ist das den, fördern aber auch das Rebellentum. Wenn Eltern
Wort, das die meisten Retter bevorzugten«, berichten ihren Kindern moralische Prinzipien erläutern, ermuti-
Samuel und Pearl Oliner: Der größte Unterschied bei gen sie sie, Regeln, die im Einklang mit wichtigen Wert-
den Eltern der Retter war, dass sie auf Begründungen, vorstellungen stehen, zu folgen, und Regeln, die solchen
Erklärungen und Vorschläge setzten, wenn es galt, ei- Wertvorstellungen widersprechen, in Frage zu stellen.
nen Missstand zu beheben, also auf die Kraft der Über- Gute Erklärungen befähigen Kinder, ein eigenes ethi-
zeugung und auf Ratschläge. Ein gefordertes Verhalten sches Regelwerk zu entwickeln, das nicht selten den
zu begründen, übermittelt eine Botschaft des Respekts. ­gesellschaftlichen Erwartungen entspricht. Kinder ver-
Sie ist Ausdruck der Gewissheit, dass sich die Kinder trauen eher auf ihren inneren Wertekompass als auf
nicht unangemessen verhalten hätten, wenn sie es bes- ­ihnen von außen auferlegte Regeln.
ser gewusst oder besser verstanden hätten. Sie ist ein
Zeichen der Wertschätzung für das Gegenüber; ein
­Signal, dass man an die Fähigkeit des Kindes glaubt, zu
verstehen, sich zu entwickeln und sich zu bessern. Die Sandwich-Kinder
Während die Eltern der passiven Holocaust-Zu-
schauer nur in sechs Prozent ihrer Disziplinierungs- Wenig erforscht sind Kinder in mittlerer Stellung;
maßnahmen auf Erklärungen zurückgriffen, taten das der Grund dafür liegt darin, dass die Definition
die Eltern der Retter zu 21 Prozent. Diese rationale Auf- dessen, wer als mittleres Kind zu gelten hat, um-
fassung von Erziehung ist auch typisch für die Eltern stritten ist, während Erst- und Letzt­geborene klar
von Teenagern, die nicht auf Abwege geraten, und für definiert sind. Der Psychologe Frank J. Sulloway
originelle Menschen, die in ihrem Berufsleben her- stellte fest, dass die mittleren Kinder eher diploma-
kömmliche Verhaltensweisen hinterfragen. Eine Studie tisch sind. Eingekeilt zwischen einem dominanten
ergab, dass Eltern von normalen Kindern im Schnitt Erstgeborenen und kleineren Ge­schwis­tern, die sie
sechs Regeln aufstellen, üblicherweise für Dinge wie selbst nicht dominieren können, weil Eltern und
Hausaufgabenmachen und Schlafenszeit. Die Eltern ältere Geschwister dies ver­hindern, erlernen sie die
hochkreativer Kinder verhängen im Schnitt weniger als Kunst des Verhandelns, der Über­redung und des
eine Regel und tendieren dazu, »moralische Werte statt Bündnisschmiedens.

Gehirn&Geist 37 0 4 _ 2 0 1 6
psycholo gie / Persönlichkeit

Regeln begründen – aber altersgemäß Moralische Standards werden auch durch das ge-
formt, was Eltern sagen, nachdem die Kinder etwas
Für eine gesunde Entwicklung müssen Kinder richtig gemacht haben. Wie haben Sie das letzte Mal
­lernen, wie sich ihr Verhalten auf andere auswirkt. ­reagiert, als Sie erlebten, dass ein Kind etwas Gutes
Eltern können hier unterstützen, indem sie alters­ machte? Ich wette, Sie haben die Aktion gelobt, nicht
gemäß kommentieren: Bei sehr kleinen Kindern das Kind: »Das war wirklich nett, richtig super.« Indem
genügt es, wenn die Eltern erläutern, welche erkenn- Sie das Verhalten loben, verstärken Sie es; so lernt das
baren negativen Folgen ihre Handlungen haben. Kind, es zu wiederholen.
»Wenn du ihn schubst, dann fällt er hin und fängt an So einfach ist das aber nicht, lehrt uns ein Experi-
zu weinen« oder »Wenn du Schnee auf ihren Weg ment der Psychologin Joan Grusec. In dem Experiment
wirfst, müssen sie alles wieder sauber machen«. Sind teilten einige Kinder Murmeln mit Gleichaltrigen. Eine
die Kinder größer, können die Eltern ihnen auch die zufällig ausgewählte Gruppe wurde für ihr Verhalten
Folgen ihres Tuns für die Gefühle anderer erläutern. gelobt: »Das ist schön, dass du diesen armen Kindern
»Du hast Mary weh getan. Jetzt ist sie traurig, weil du ein paar von deinen Murmeln geschenkt hast. Das war
ihr ihre Puppe weggenommen hast« oder »Er ist sehr nett und hilfsbereit.« Andere erhielten ein Lob
traurig, weil du ihn nicht mit deinen Sachen spielen ihres Charakters: »Du bist also jemand, der anderen
lässt. Du wärst auch traurig, wenn er alles für sich hilft, wo immer es geht. Ja, du bist eine sehr nette und
behalten würde.« Später können die Eltern die Auf- hilfsbereite Person.« Die Kinder, deren Charakter gelobt
merksamkeit auf komplexere Gefühle lenken: »Sie worden war, verhielten sich in der Folge großzügiger.
ärgert sich, weil sie stolz auf ihren Turm war und du Zwei Wochen später waren 45 Prozent von ihnen bereit,
ihn kaputt gemacht hast« oder »Sei doch bitte nicht Bastelsachen an Kinder in einem Krankenhaus zu ver-
so laut, damit er in Ruhe schlafen kann. Dann fühlt schenken, um ihnen eine Freude zu machen, verglichen
er sich besser, wenn er aufwacht.« mit nur zehn Prozent der Kinder, die lediglich Beifall
für ihr Verhalten bekommen hatten.
Wenn unser Charakter gelobt wird, internalisieren
wir das als Teil unserer Identität. Statt uns als jemand zu
Es gibt eine Art von Erklärungen, die die Durchset- sehen, der vereinzelt moralisch handelt, entwickeln wir
zung von Disziplin besonders gut fördert. Samuel und ein Bild von uns selbst als moralischer Person. Gerade
Pearl Oliner stellten fest, dass die Eltern der Holocaust- in der kritischen Phase, wenn Kinder beginnen, eine
Retter ihren Kindern als Richtlinien vor allem »Erklä- Identität auszuprägen, hat das Lob ihres Charakters ei-
rungen gaben, warum ein bestimmtes Verhalten nicht nen besonders starken Effekt. Eine Studie hat gezeigt,
in Ordnung ist, und dabei häufig auf die Folgen hinwie- dass auf diese Weise moralisches Handeln bei Acht­
sen, die dieses Verhalten für andere hatte«. Während die jährigen, jedoch nicht bei Fünf- und Zehnjährigen ge-
Eltern derer, die dem Holocaust tatenlos zuschauten, fördert wird. Die Zehnjährigen hatten wahrscheinlich
die Einhaltung der Regeln um der Regeln willen forder­ schon ein verfestigtes Selbstbild, das durch einen einzel-
ten, wurden die Retter ermutigt, die Folgen ihres Tuns nen Kommentar nicht zu beeinflussen war, und die
für andere zu bedenken. Fünfjährigen waren noch zu klein, als dass ein isoliertes
Lob einen deutlichen Einfluss auf sie gehabt hätte. Cha-
Weshalb es gut ist, den Charakter zu loben rakterlob hinterlässt einen bleibenden Eindruck nur in
Nehmen wir an, Eltern wollen die Originalität ihrer der Phase, in der sich die Identität herausbildet.
Kinder fördern. Was benötigen sie, um zugleich den Aber selbst bei sehr kleinen Kindern kann der Appell
Sinn ihrer Sprösslinge für Gut und Böse zu fördern? Ein an den Charakter kurzfristig Wirkung zeigen. In einer
Wertebewusstsein entsteht nicht schon dadurch, dass Reihe von Experimenten hat der Psychologe Chris
Eltern auf Fehlverhalten ihrer Kinder reagieren. In der ­Bryan gezeigt, dass Kinder im Alter zwischen drei und
Studie der Oliners gaben die Holocaust-Retter dreimal sechs Jahren mit 22 bis 29 Prozent höherer Wahrschein-
so häufig wie die unbeteiligten Zuschauer an, dass ihre lichkeit bereit waren, ihre Spielsachen und Stifte aufzu-
Eltern ihnen moralische Werte vermittelt hätten, die für räumen, wenn man sie bat, Helfer zu sein, statt einfach
alle Menschen gelten sollten. »Meine Eltern lehrten zu helfen. Auch wenn ihr Charakter noch lange nicht
mich Respekt für alle Menschen«, war eine häufige Aus- gefestigt war, wollten sie sich eine Identität verdienen.
sage der Retter. Auch die passiven Zuschauer verfügten Wenn man Kindern die Auswirkungen ihres Han-
über moralische Werte, sie verknüpften sie jedoch mit delns auf andere erklärt und betont, dass die richtigen
konkreten Verhaltensweisen und bezogen sie nur auf moralischen Entscheidungen von gutem Charakter zeu-
die Mitglieder der eigenen Gruppe: Pass in der Schule gen, kann man ihnen ziemlich viel Freiraum gewähren.
gut auf, streite dich nicht mit deinen Kameraden, sei Das erhöht die Wahrscheinlichkeit, dass sie später ihre
nett zu den Nachbarn, ehrlich zu deinen Freunden und Impulse in moralischem oder kreativem und nicht in
halte zu deiner Familie. kriminellem Handeln ausleben.  H

Gehirn&Geist 38 0 4 _ 2 0 1 6
Mensch
Gesellschaft &
NEU NEU NEU

Angela Caughey Cersten Jacob Hans-Günter Weeß

Das Demenz-Buch Von Prüfungsangst zu Die schlaflose Gesellschaft


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Die Pflege eines demenzkranken Angehörigen Dieses Buch erläutert, wie unsere 24-Stunden-
Dieses Buch bietet nachweislich effiziente
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Psycholo gie

Serie Praktische Psychologie Verkehrspsychologen


­begutachten Fahrer und erforschen die Ursachen von Unfällen –
mit überraschenden Erkenntnissen.

Risiko Mensch
Vo n M a r k Vo l l r at h

D
er Chef des Elektroautoherstellers Tesla, ten Ziele von Verkehrspsychologen. Tatsächlich ist der
Elon Musk, ist nie um eine kühne These Mensch derzeit die wesentliche Unfallursache: Bei neun
verlegen. Im Januar 2016 prophezeite er, von zehn Crashs ist der Fahrzeuglenker verantwortlich.
dass Lenkräder schon 2030 zur Sonder- Er fährt zu schnell, übersieht andere Verkehrsteilneh-
ausstattung von Autos gehören werden, mer oder versucht, vor einer Kurve noch schnell zu
für die man extra bezahlen müsse. Serienmäßig brau- überholen. Gegenwärtig ist also eine der wichtigs­ten
che man das Steuer nicht mehr, da alle Fahrzeuge bis Aufgaben von Verkehrspsychologen, zu erforschen, wie
dahin ihre Insassen völlig autonom befördern würden. solche Fehler zu Stande kommen. Dazu ergründen sie
Ob die technische Entwicklung tatsächlich so rasant das Erleben und Verhalten von Autofahrern, Fußgän-
voranschreiten wird, wie Musk voraussagt, ist zweifel- gern und Radfahrern, beurteilen die persönliche Fahr-
haft. Und auch eine weitere Behauptung des umtrie- eignung von Menschen, die wiederholt auffällig werden,
bigen Unternehmers verdient einen genaueren Blick. und analysieren potenziell gefährliche Situationen.
Der Tesla-Chef geht nämlich – wie viele andere – davon Aber wie lassen sich die Ursachen von Verkehrs­
aus, dass selbstfahrende Autos zu mehr Sicherheit auf unfällen überhaupt wissenschaftlich untersuchen? Bei
den Straßen führen. Doch kann Technik tatsächlich so genannten In-Depth-Analysen etwa befragen die
besser sein als der Mensch? Beim Schachspiel mit sei- Forscher nach dem Unfall die Beteiligten detailliert und
nen klaren Regeln schlägt der Computer inzwischen werten die Unfallsituation genau aus. Dabei greifen sie
selbst den Großmeister. Aber im chaotischen Straßen- auch auf ausführliche Protokolle der Polizei zurück. Der
verkehr? Aufwand ist relativ groß, da jeder Unfall anders abläuft.
Zu herauszufinden, wie man die Beförderung siche­ Trotzdem lassen sich auf diese Weise Typen von Crashs
rer und das Fahren zu einem angenehmeren Erlebnis ausmachen, bei denen unterschiedliche Ursachen zum
für alle Beteiligten machen könnte, ist eines der erklär- Tragen kommen.

1910 3 1917 1925


Der erste Gründung psycho­ Handbuch
­Fahreignungstest technischer Laboratorien ­Verkehrspsychologie
Der deutsche für Eisenbahnfahrer Fritz Giese veröffentlicht
Psychologe Hugo Die Institute in Dresden das erste Handbuch zur
Münsterberg ent­ und Berlin waren welt- Verkehrspsychologie.
Postkarte, 1915 / public domain

wickelt in den weit die ersten Unter­ Sein Schwerpunkt liegt


USA einen Berufs­ suchungsstellen für die auf der Eignungs­
eignungstest für Fahreignung von prüfung von Fahrern.
angehende Straßen- ­Lokomotivführern.
bahnfahrer.

Gehirn&Geist 40 0 4 _ 2 0 1 6
Meine Arbeitsgruppe an der TU Braunschweig un-
tersuchte zum Beispiel sämtliche Unfälle in Braun-
schweig aus dem Jahr 2002. Dabei zeigte sich, dass drei
Typen von Vorkommnissen für mehr als zwei Drittel
­aller schweren Unfälle verantwortlich waren. In etwa
35 Prozent der Fälle wurden Vorfahrtsregeln missachtet,
häufig an Kreuzungen. Jeweils etwa 20 Prozent waren
zum einen Auffahrunfälle, zum anderen solche, bei de-
nen die Autos ohne Beteiligung anderer von der Straße
abkamen.
Welche menschlichen Fehler stecken dahinter? Bei
Zusammenstößen mit Vorfahrtsberechtigten fanden
wir überwiegend Aussagen wie »Ich habe den anderen
einfach nicht gesehen« – psychologisch gesprochen
liegt das Defizit also im Bereich der Wahrnehmung und
Aufmerksamkeit. Bei Auffahrunfällen dagegen berich-
teten die Fahrerinnen und Fahrer eher von Fehlent-
scheidungen auf Grund falscher Erwartungen: Sie hat-
ten meist nicht damit gerechnet, dass ihr Vordermann
so plötzlich bremsen könnte, und waren zu dicht aufge-
fahren. Bei den Unfällen ohne Beteiligung anderer Ver-
kehrsteilnehmer spielten kognitive Fehleinschätzungen
ebenfalls eine große Rolle. Die Befragten waren gemes-
sen am Streckenverlauf oder dem Zustand der Fahr-
bahn zu schnell unterwegs. Aber auch hier waren sie oft
unaufmerksam oder abgelenkt.
Studien wie diese können dabei helfen, besonders
brenzlige Verkehrssituationen zu identifizieren – häufig
ist etwa das Rechtsabbiegen an Kreuzungen gefährlich.
Doch die Betroffenen können oft nur schlecht über die
Situation direkt vor einem Crash Auskunft geben. Meis­
tens geht alles zu schnell. Zudem stellen Unfälle manch-
iStock / Highwaystarz-Photography

mal ein traumatisches Erlebnis dar, was die Erinnerung


an die genauen Umstände blockieren kann. Außerdem
steht zu befürchten, dass die Befragten manche Details
lieber verschweigen. Nur äußerst selten berichten Un-
fallteilnehmer: »Ich war abgelenkt, weil ich gerade eine
SMS gelesen habe.« An dieser Stelle kommen »Natura-
listic Driving«-­Studien ins Spiel.

ab 1945 3 1960–1970
Neubeginn mit Anstieg der Unfalltoten
­Fahreignungstests im Verkehr
Nach dem Zweiten 1950 gab es in Deutschland
Weltkrieg besteht 7408 Unfalltote,
die Aufgabe von 1960 waren es 14 406,
Corbis / H. Armstrong Roberts

Verkehrspsychologen 1970 bereits 19 193.


hauptsächlich darin, Dieser Anstieg führt zur
die Fahreignung von ­Entwicklung der ersten
»kriegsbeschädigten« psychologisch fundierten
Kraftfahrern zu Kurse für auffällige
untersuchen. ­Kraftfahrer.

Gehirn&Geist 41 0 4 _ 2 0 1 6
Dabei rüsten Verkehrspsychologen die ­Autos ihrer dass die Fahrer vor den tatsächlichen oder Beinahe-
Probanden mit Kameras aus und zeichnen über einen Crashs in der Tat viel häufiger damit beschäftigt waren,
bestimmten Zeitraum sämtliche Fahrten auf. Zusätzlich Textbotschaften zu lesen oder zu schreiben, als bei den
erfassen Sensoren Daten wie die Geschwindigkeit des unproblematischen Fahrten. Mal schnell eine SMS oder
Fahrzeugs, seine genaue Position und den Abstand zu WhatsApp-Nachricht zu tippen oder auch nur einen
anderen Verkehrsteilnehmern. Das größte Forschungs- Blick darauf zu werfen, führt demnach zu einem fast
programm dieser Art war das zweite Strategic Highway sechsfach erhöhten Unfallrisiko ­(siehe »Was lenkt am
Research Program (SHRP2), das von 2006 bis 2015 in meisten ab?«, rechts).
den USA lief. In seinem Rahmen a­ nalysierte eine Ar-
beitsgruppe um Trent Victor, Fahr­sicherheitsforscher Unerwarteter Tunnelblick-Effekt
bei Volvo und Professor an der Technischen Hochschu- Interessant war das Ergebnis fürs Telefonieren: Es
le Chalmers in Göteborg, 46 Auffahrunfälle und 211 scheint das Risiko für einen Auffahrunfall sogar zu sen-
Beinahe-Auffahrunfälle. Um herauszufinden, wie wich- ken, und zwar auf gerade einmal ein Zehntel! Dieser
tig das Verhalten unmittelbar vor einer Kolli­sion ist, überraschende Befund, der in mehreren Studien repli-
suchten die Wissenschaftler für jedes dieser Ereignisse ziert werden konnte, hat vermutlich zwei Gründe: Wer
eine vergleichbare, unfallfreie Fahrt desselben Proban- telefoniert, fährt üblicherweise etwas langsamer und
den und werteten diese ebenfalls aus. Dabei zeigte sich, hält mehr Abstand. So bleibt mehr Zeit, um im Notfall
zu bremsen. Hinzu kommt, dass man beim Telefonie-
ren meist mit »Tunnelblick« direkt nach vorne schaut,
also dorthin, wo bei einem Auffahrunfall Gefahr lauert.
Auf einen Blick: Das bedeutet aber auch: Wenn der Fahrer beim Links-
Detektive der Straße abbiegen plaudernd nach vorne blickt und sich deshalb
vor allem auf den Gegenverkehr konzentriert, könnte er

1
Neben der Begutachtung der Fahrtauglichkeit seitlich auftauchende Fuß­gänger eher übersehen. Ent-
von Menschen interessieren sich Verkehrs­ sprechende Auswertungen solcher Situationen fehlen
psychologen vor allem dafür, wie Unfälle zu bislang jedoch noch.
Stan­de kommen und wie sie sich vermeiden lassen. »Naturalistic Driving«-Studien liefern also detaillier­
te Informationen über die Zeit direkt vor Unfällen. Al-

2
Am genauesten können brenzlige Situa­tionen lerdings sind auch diese Untersuchungen sehr aufwän-
sowie passende Gegenmaßnahmen im dig. Schließlich muss man die relevanten Situationen in
­Fahrsimulator untersucht werden. »Natura- dem riesigen Datenmaterial erst einmal finden. Das
listic Driving«-Studien dagegen zeigen auf, wie gleicht unter anderem deshalb oft einer Suche nach der
sich Fahrer im echten Straßenverkehr verhalten. Nadel im Heuhaufen, weil der Straßenverkehr glück­
licherweise immer sicherer wird. 2014 registrierte die

3
So genannte Fahrerassis­tenzsysteme sollen ­Polizei in Deutschland 2,4 Millionen Unfälle. In diesem
den Einfluss menschlicher Fehler bei Unfällen Zeitraum legten die Deutschen ungefähr 735 Milliarden
minimieren. Für Verkehrs­psychologen wird Kilometer mit dem Pkw zurück. Im Durchschnitt kann
daher die Untersuchung von Mensch-Maschine- ein Autofahrer also 300 000 Kilometer weit fahren, be-
Interaktionen immer wichtiger. vor ein Unfall passiert. Zählt man nur die schweren

1986 3 1992–1994 1995


iStock / BanksPhotos

Prometheus – die Der Deutsche ­ Erste Professur für


Zukunft der Fahrer­ Roadside Survey ­Verkehrspsychologie
assistenzsysteme Die Untersuchung von Die TU Dresden beruft
Im Projekt Prometheus knapp 10 000 Personen Bernhard Schlag auf
(1986–1994) entwickeln ­liefert erstmals in die erste Professur für
Psychologen Visionen Deutschland eine reprä- Verkehrspsychologie in
für intelligente Fahrer- sentative ­Schätzung dazu, Deutschland. Der Lehr-
assistenzsysteme bis wie viele Autofahrer stuhl bildet Studierende
hin zum automatischen alko­holisiert unterwegs der Psychologie, Verkehrs-
Fahren. sind. wirtschaft und des Ver-
kehrsingenieurwesens aus.

Gehirn&Geist 42 0 4 _ 2 0 1 6
Psycholo gie / VerkehrspSYCHOlo gie

Unser Experte ­ ebrastreifen, dürfte sich ein größerer Teil der Auf-
Z
Mark Vollrath ist Psychologe und Profes- merksamkeit nach rechts verlagern. Parkt nun direkt
sor für Ingenieur- und Verkehrspsycholo- nach dem Einbiegen in die Hauptstraße dort ein Auto
gie an der Technischen Universität aus, wird der Fahrer dies im ersten Fall eher zu spät er-
Braunschweig. Zuvor leitete er die Abtei- kennen. Die Untersuchung im Fahrsimulator bestätigte
lung »Human Factors« beim Deutschen das: In der Situation ohne Zebrastreifen verur­sachten
Zentrum für Luft- und Raumfahrt e. V. 70 Prozent der Probanden einen Unfall, mit dagegen
(DLR) in Braunschweig. Privat fährt er
nur etwa 20 Prozent.
am liebsten Fahrrad und läuft – auch
längere Strecken bis hin zum Marathon. Im virtuellen Verkehr können Wissenschaftler also
Er wünscht sich eher bessere Zugverbin- sehr genau untersuchen, wie Unfälle entstehen, und
dungen als autonom fahrende Autos. mögliche Gegenmaßnahmen entwickeln. In diesem
Fall wäre es eine Möglichkeit, dass sie die Kreuzung op-
tisch anders gestalten oder die Wirkung eines Warn­
systems im Fahrzeug testen. Natürlich müssten sie
­Unfälle mit Toten und Verletzten, so sind es sogar fast ­anschließend noch überprüfen, ob sich die Mittel im re-
2 Millionen Kilometer. Daher müssen Wissenschaftler alen Verkehr b ­ ewähren. Kreisel sind beispielsweise eine
eine enorme Zahl von Fahrern und Fahrten beobachten, Variante, um Kreuzungen zu vereinfachen – man fährt
um überhaupt eine hinreichend große Zahl von Unfäl- automatisch langsamer und muss nur auf Fahrzeuge
len auswerten zu können. von links achten.
Nicht zuletzt deshalb gelten Experimente im Fahrsi-
mulator vielen Ver­kehrs­psychologen als die beste Mög-
lichkeit, um Hypothesen über mögliche Unfallursachen
zu testen. Für eine besonders heikle Situation, das
Was lenkt am meisten ab?
Rechtsabbiegen, konnte Julia Werneke aus meiner Ar-
5,6
beitsgruppe zeigen, dass dabei allgemeine Mechanis-
men der Aufmerksamkeitssteuerung über die Sicher- 5,0

Gehirn&Geist, nach: Mark Vollrath


heit des Fahrers und seiner Passagiere entscheiden. 4,0
Prinzipiell richten Menschen ihr Augenmerk nämlich
Unfallrisiko

dorthin, wo sie wichtige Informationen erwarten oder 3,0


2,3
sich häufig etwas ver­ändert. 2,0 1,7
In ihrer Studie sollten die Teilnehmer von einer klei-
neren Straße nach rechts auf eine Hauptverkehrsstraße 1,0
0,1
einbiegen. Dabei kann zum Beispiel ein Auto, das auf
der Hauptstraße gerade ausparkt, leicht übersehen wer- Nachrichten telefo- Apps Radio
den. In einer solchen Situation werden viele ihre Auf- lesen nieren benutzen hören
merksamkeit vor allem dann nach links orientieren,
wenn von dort viel Verkehr kommt und sich rechts Das Risiko für Auffahrunfälle steigt beim Nach­
nicht viel tut. Käme dagegen von links wenig Verkehr richtenlesen drastisch – Telefonieren dagegen senkt es
und befänden sich rechts noch Fußgänger an einem (1,0 bezeichnet das Risiko ohne Ablenkung).

2000 3 2007
des Innern

Gründung der Fachgruppe Keine Chance für MPU-Muffel


Verkehrspsychologie Die dritte europäische Führerschein-
BRD, Bundesministerium

Die Deutsche Gesellschaft Richtlinie tritt in Kraft und beendet


für Psychologie, die den so genannten »Führerschein­
Vereinigung der in For- tourismus«. Zuvor konnten deutsche
schung und Lehre tätigen Autofahrer, die den Führerschein
Psychologinnen und entzogen bekommen hatten, in einem
Psychologen, gründet die anderen EU-Land einen neuen er-
Fachgruppe Verkehrs­ werben – und damit die Medizinisch-
psychologie. Ende 2015 Psychologische Untersuchung in
hat sie 120 Mitglieder. Deutschland umgehen.

Gehirn&Geist 43 0 4 _ 2 0 1 6
Verkehrspsychologie als Profession
Der Beruf des Verkehrspsycholo­ tung darf nur von einer Person psychologe Verkehrspsychologie«.
gen ist im Straßenverkehrsgesetz durchgeführt werden, die hierfür Die dafür nötigen Kompetenzen
verankert. Dort sind allerdings nur amtlich anerkannt ist.« vermitteln einige Universitäten
bestimmte Tätigkeiten angespro­ Diese Anerkennung erfolgt bereits im Masterstudium, etwa in
chen. In § 4 StVG, Abs. 9, heißt es: durch den Berufsverband Deut­ Braunschweig, Dresden oder
»In der verkehrspsychologischen scher Psychologinnen und Psycho­ Chemnitz.
Beratung soll der Fahrerlaubnis­ logen (BDP). Die dazu nötigen Wie viele Verkehrspsychologen
inhaber veranlasst werden, Mängel Aus- und Fortbildungen können es insgesamt gibt, ist allerdings
in seiner Einstellung zum Straßen­ erst nach einem abgeschlossenen schwer abzuschätzen, denn Unter­
verkehr und im verkehrssicheren Masterstudium in Psychologie nehmen, die Psychologen in For­
Verhalten zu erkennen, und die absolviert werden. Bundesweit schung und Entwicklung einsetzen,
Bereitschaft entwickeln, diese führen rund 600 Psychologinnen verwenden diese Bezeichnung nur
Mängel abzubauen. … Die Bera­ und Psychologen den Titel »Fach­ selten.

Das Ziel, die Sicherheit auf den Straßen zu erhöhen, Die Aufgabe des Verkehrspsychologen besteht in die-
verfolgen auch niedergelassene Verkehrspsychologen. sem Fall darin, seinen Klienten bei der Auswahl einer
Sie dürften die in der Öffentlichkeit bekanntesten Ver- geeigneten Therapie zu unterstützen.
treter ihrer Zunft sein, vor allem dank der berüchtigten Auch andere Eigenschaften des Fahrers wie sein Alter
Medizinisch-Psychologischen Untersuchung (MPU). spielen für die Sicherheit eine Rolle. Junge Fahranfänger
Deren Zweck ist es, die Fahreignung zu begutachten produzieren in Relation zu anderen Gruppen am häu-
und, falls nötig, über entsprechende Kurse wiederher- figsten Unfälle. Die Frage ist also, wie sich jugend­liche
zustellen. Risikofreudigkeit und mangelndes Gefahrenbewusst-
Der Begriff »Fahreignung« zeigt bereits, dass hier die sein überwinden lassen. Bewährt hat sich etwa das be-
Ursachen für Unfälle weniger in der aktuellen Verkehrs- gleitete Fahren ab 17 Jahren. Wenn die Eltern daneben-
situation gesucht werden, sondern mehr in überdauern­ sitzen, verhalten sich die Fahranfänger rücksichtsvoller
den Eigenschaften und Verhaltensweisen des Fahrers. und lernen so ganz unbewusst einen besseren Fahrstil.
Das kann beispielsweise ein übermäßiges Bedürfnis Trainings, die jungen Menschen die Grenzen der eige-
nach Stimulation sein, wie es im Persönlichkeitsmerk­­ nen Fahrkünste vor Augen führen, können ebenfalls
mal »Sensation Seeking« beschrieben wird. Die stete hilfreich sein.
Suche nach einem Kick kann dazu führen, dass man Anders ist es bei einer zweiten Risikogruppe: den
häufig zu schnell fährt. In der verkehrspsychologischen ­Senioren, vor allem denjenigen ab 75 Jahren. Auch sie
Therapie sollen diese Personen lernen, ihren Impuls haben ein deutlich erhöhtes Unfallrisiko. Es liegt nahe,
beim Autofahren zu kontrollieren. Wenn Alkohol und dafür altersbedingte Einbußen in der Wahrnehmung,
Drogen im Spiel sind, geht es oft um die Frage, ob eine der Aufmerksamkeit und der Reaktionsfähigkeit ver-
Abhängigkeit vorliegt – denn dann ist der Betroffene antwortlich zu machen. Entsprechende Defizite sind im
meist nicht in der Lage, Trinken und Fahren zu trennen. Labor auch gut nachweisbar. Allerdings kann bislang

2015 3 2050
Image-Knick fürs Kraftfahrzeug Automatisches Fahren
Das eigene Auto verliert an Attrak- Fahrzeughersteller ver-
tivität: In Deutschland und vielen sprechen, dass bis 2050
anderen Industriestaaten machen viele Fahrzeuge serien­
immer weniger junge Menschen mäßig in der Lage sein
den Führerschein. Alternativen wie werden, zumindest Teil-
iStock / franckreporter

Carsharing oder der besser ausge- strecken autonom zu


baute Nahverkehr führen dazu, dass fahren. Die Bedeutung
auch der Anteil der Fahranfänger, der persönlichen Fahr­
die ein eigenes Fahrzeug besitzen, eignung wird damit
sinkt. geringer.

Gehirn&Geist 44 0 4 _ 2 0 1 6
Psycholo gie / VerkehrspSYCHOlo gie

niemand vorhersagen, bei wem solche nachlassenden Unfallrisiko nach Trinkertyp


Fähigkeiten mit großer Wahrscheinlichkeit zu Unfällen
führen. Denn viele ältere Fahrer sind dank ihrer enor­
men Fahrpraxis in der Lage, vorhandene Nachteile zu

Anstieg der Kollisionswahrscheinlichkeit


kompensieren. harte
starke Trinker
Zudem sind ältere Fahrer mit Vorliebe in der Stadt Trinker
unterwegs, wo auf kurzen ­Wegen viele komplexe Situa-
tionen auftreten. Jüngere Fahrer dagegen legen häufig

Gehirn&Geist, nach: Mark Vollrath


Konsumtrinker
längere Strecken auf Autobahnen und Landstraßen zu-
rück; hier ist die Unfallwahrscheinlichkeit – bezogen
auf die Weglänge – deutlich kleiner als in der Stadt. So
fuhren nach einer repräsentativen Studie zur Mobilität
in Deutschland (MID) Menschen im Alter zwischen
30 und 40 Jahren pro Tag im Schnitt 53 Kilometer, Per-
sonen ab 75 Jahren dagegen nur 16 Kilometer. Bei den
älteren Verkehrsteilnehmern geht es deshalb nicht so

2,2
0,2

0,4

0,6

0,8

1,0

1,2

1,4

1,6

1,8

2,0
0
sehr um die Frage, wer von ihnen noch fahrtüchtig ist,
sondern darum, wie sie bei Fahrten innerhalb von Ort- Blutalkoholkonzentration in Promille
schaften unterstützt werden können, etwa durch eine
entsprechende Verkehrsführung und durch technische
Hilfen im Fahrzeug. Bei der Berechnung des Unfallrisikos unter Alkohol­
einfluss zeigen sich Sprünge (orange Kurve). Offenbar
Einer von 200 Fahrern hat mehr als 0,8 Promille beeinträchtigt der gleiche Alkoholpegel je nach Trinker­
Kompliziert wird es nun, wenn die persönlichen Eigen- typ die Fahrsicherheit unterschiedlich.
schaften und Kompetenzen des Fahrers mit seinem
a­ ktuellen Zustand zusammenwirken. Das zeigt das Bei-
spiel Alkohol: Welche Rolle spielt die Droge hier zu bereits ab etwa 0,5 Promille beginnt es anzusteigen. Bei
Lande im Straßenverkehr, und wie gefährlich ist Trun- stärkerer Alkoholisierung ist diese Gruppe aber nicht
kenheit am Steuer wirklich? Diese Fragen beantwortete mehr im Verkehr zu finden. Mit solchen Pegeln fahren
der Verkehrspsychologe Hans-Peter Krüger aus Würz- nur »starke Trinker«, die vermutlich regelmäßig zu viel
burg im »Deutschen Roadside Survey«. Zwischen 1992 Alkohol konsumieren. Für sie findet sich ein zweites
und 1994 hielten Krüger und sein Team zusammen mit Maximum des Unfallrisikos bei rund 1,6 Promille.
der Polizei in Unterfranken knapp 10 000 Autofahrer an, Schließlich gibt es noch die »harten Trinker«, die ver-
befragten sie und baten sie um eine Atemalkoholprobe. mutlich alkoholabhängig sind und ihr maximales Un-
Damit konnten die Forscher erstmals die Häufigkeit fallrisiko erst bei mehr als 2 Promille erreichen. Bislang
von Fahrten unter Alkoholeinfluss schätzen. Gleichzei- handelt es sich bei diesem Zusammenhang zwischen
tig waren die Polizeibeamten dazu angehalten, bei der den Trinkergruppen und dem Unfallrisiko allerdings
Aufnahme von Unfällen die Fahrer ebenfalls standard- nur um eine Vermutung. Sie erklärt zwar die gefunde­
mäßig pus­ten zu lassen – auch wenn kein Verdacht auf nen Daten gut, muss aber in zukünftigen Studien über-
eine Alkoholisierung vorlag. prüft werden.
Demnach war rund einer von 200 Autofahrern mit Die Ergebnisse des Roadside Survey trugen dazu
einem Alkoholpegel von mehr als 0,8 Promille unter- bei, dass die Promillegrenze im Jahr 2001 von 0,8 auf
wegs. Durch den Vergleich der gemessenen Blutalko- 0,5 Promille gesenkt wurde. Jedoch macht die Überle-
holwerte bei normalen Fahrten und bei Unfällen lässt gung zu den unterschiedlichen Trinkertypen auch deut-
sich berechnen, wie stark Alkohol das Crash-Risiko er- lich, dass solche gesetzlichen Maßnahmen vermutlich
höht (siehe »Unfallrisiko nach Trinkertyp«, oben). Die nur bei einem Teil der Fahrer wirkungsvoll sind, näm-
Wahrscheinlichkeit einer Kollision steigt wie erwartet lich bei jenen, die überhaupt dazu in der Lage sind, ih-
mit zunehmender Trunkenheit deutlich an, bei 1,6 Pro- ren Alkoholkonsum zu kontrollieren – was bei den
mille etwa ist sie 70-mal so hoch wie bei nüchternem starken und harten Trinkern zu bezweifeln ist. Entspre-
Fahren. chend sind etwa 15 Prozent der Personen, die sich bei
Allerdings erkennt man interessante Sprünge in die- den Medizinisch-Psychologischen Untersuchungen we-
ser Kurve. Denkbar ist, dass diese durch unterschied- gen Trunkenheit am Steuer einfinden, zum wiederhol-
liche Teilgruppen zu Stande kommen. Konsumtrinker, ten Mal auffällig geworden. Das weist auf eine Sucht-
die vor allem in Gesellschaft und eher mäßig zechen, er- problematik hin. Weitere Analysen zeigten, dass vor
reichen nur selten einen Pegel über 0,8 Promille. Wenn allem junge Fahrer bereits bei sehr geringer Alkoholi-
sie dies tun, ist ihr Unfallrisiko jedoch stark erhöht – sierung ein deutlich erhöhtes Unfallrisiko haben. Diese

Gehirn&Geist 45 0 4 _ 2 0 1 6
Psycholo gie / VerkehrspSYCHOlo gie

Erkenntnis beeinflusste 2007 die Entscheidung, für Die Gehirn&Geist-Serie


Fahranfänger und Jugendliche unter 21 Jahren die Null- »Praktische Psychologie«
Promille-Grenze einzuführen.
Sowohl das Fahren unter Alkoholeinfluss als auch Ei- Diese Reihe gibt einen Überblick über die wichtigsten
genschaften wie Impulsivität sind riskant, weil die Fah- Anwendungsfelder der Psychologie, präsentiert von
rer in diesen Fällen leicht vom Verkehr überfordert sind. Experten des Fachs. In Heft 3/2016 stellten wir die
Ein anderes großes Problem dagegen ist Unterforde- Pädagogische Psychologie vor. In Ausgabe 5/2016 führt
rung. Auf monotonen, langen Strecken ermüdet man Sven Barnow von der Universität Heidelberg in die
schneller oder droht gar einzuschlafen. In amerikani­ Klinische Psychologie ein.
schen und australischen Studien sind rund 20 Prozent
aller Unfälle durch Müdigkeit bedingt.
Langeweile am Steuer ist auch eine wesentliche Ursa- den Menschen unterstützen, aber nicht nerven? Und
che dafür, dass sich Fahrer mit anderen Dingen beschäf- wie steht es um das eingangs angesprochene Unfall­
tigen, insbesondere dem Handy. Eine Untersuchung in risiko, wenn Fahrzeuge das Fahren künftig gleich selbst
Braunschweig zeigte 2015, dass von 2000 zufällig beob­ übernehmen? Bestimmt würde der Bordcomputer viele
achteten Autofahrern im Berufsverkehr sechs Prozent Fehler des Fahrers vermeiden. Aber können Algorith-
beim Fahren mit dem Smartphone beschäftigt waren. men tatsächlich so sicher durch den komplexen Verkehr
Etwa zwei Prozent telefonierten, ungefähr doppelt so navigieren wie Menschen – also nur alle 300 000 Kilo-
viele nutzten das Telefon anderweitig, lasen also Nach- meter einen Unfall verursachen? Und verliert man
richten oder benutzten Apps. Verkehrspsychologen ver- dann nicht erst recht seine Fahrkompetenz? Entstehen
suchen daher herauszufinden, wie sich eine Unterforde- vielleicht ganz neue Risikosituationen, wenn computer-
rung von Fahrern vermeiden lässt und wie man ablen- gesteuerte Autos auf menschliche Fahrer treffen? Die
kende Tätigkeiten weniger attraktiv machen könnte. Versprechungen vieler Automobilhersteller sind daher
Hierzu gibt es bereits technische Hilfsmittel: Mit Vi- durchaus skeptisch zu betrachten.
deoaufnahmen und einer Analyse des Fahrverhaltens
können Autos frühzeitig erkennen, wenn der Fahrzeug- Die Technik gewinnt an Bedeutung
lenker müde oder unaufmerksam wird. Nur, was fängt Technische Weiterentwicklungen schaffen nicht nur
man mit dieser Information an? Es gibt schon Modelle, neue wissenschaftliche Fragestellungen, sondern ver­
die Warnhinweise senden, wenn der Bordcom­ puter ändern auch die Aufgaben praktisch tätiger Verkehrs­
eine verdächtige Fahrweise registriert. Im Display er- psychologen. Statt Eigenschaften der Fahrer und ihrer
scheinen dann beispielsweise eine Kaffeetasse und die Leis­
tungsfähigkeit wird in Zukunft die Gestaltung
Bitte, eine Pause einzulegen. Fahrer, deren Schlinger- der Verkehrsumwelt und der Fahrzeugsysteme immer
kurs eher auf eine Ablenkung durch das Smartphone ­wichtiger. Psychologen sind deshalb zunehmend in der
hindeutet, erhalten die Aufforderung, sich doch stärker Industrie tätig und sorgen in den Forschungs- und Ent-
auf die Straße zu konzentrieren. wicklungsabteilungen dafür, dass menschliche Anfor-
Allerdings finden die meisten Menschen solche War- derungen frühzeitig bei Innovatio­ nen berücksichtigt
nungen sehr lästig – sie ignorieren sie oder schalten sie werden.
gleich ganz ab. Assistenzsysteme, die bei Fehlern ein- Schließlich beschränkt sich die Verkehrspsychologie
greifen, etwa wenn der Wagen von der Spur ab­kommt nicht nur auf das Auto. Verkehrsmittel wie das gute alte
oder zu wenig Abstand hat, sind zwar ebenfalls wir- Fahrrad und sein moderner Verwandter, das E-Bike, ge-
kungsvoll, werden aber von vielen derzeit noch als stö- winnen vor allem in den Städten an Bedeutung. Und
rend empfunden. Auch das ist eine ungelöste Frage neben dem Individualverkehr ist das Knowhow von
beim automatisierten Fahren: Wie kann man Mensch- Psychologen auch für andere Verkehrsarten interessant:
Computer-Interaktionen im Cockpit so gestalten, dass Beim Lenken von Flugzeugen, Schiffen und sogar
sie den Fahrer nicht ablenken? Wann und auf welche Raumfahrzeugen spielen menschliche Faktoren derzeit
Weise sollten Assistenzsysteme eingreifen, so dass sie noch eine ebenso große Rolle wie auf der Straße. H

Q U ELLEN

Vollrath, M.: Welche Fehler führen zu Unfällen? In: Zeitschrift für Verkehrssicherheit 56, S. 31–36, 2010
Vollrath, M., Krems, J.: Verkehrspsychologie: Ein Lehrbuch für Psychologen, Ingenieure und Informatiker.
Kohlhammer, Stuttgart 2011
Werneke, J., Vollrath, M.: What Does the Driver Look at? The Influence of Intersection Characteristics on Attention Allocation
and Driving Behavior. In: Accident Analysis and Prevention 45, S. 610–619, 2012

Weitere Quellen im Internet: www.spektrum.de/artikel/1399919

Gehirn&Geist 46 0 4 _ 2 0 1 6
Kopfnuss

Hätten Sie’s gewusst? Die Antworten auf die folgenden Fragen finden Sie in
dieser Ausgabe von »Gehirn&Geist«. Wenn Sie an unserem Gewinnspiel
teilnehmen möchten, schicken Sie die Lösungen bitte mit dem Betreff »April«
per E-Mail an: kopfnuss@spektrum.de

1. Wie viel Prozent unserer Wachzeit verbringen Unter allen richtigen Einsendungen
wir laut einer Studie der Harvard University mit verlosen wir drei Exemplare von:
Tagträumen?
a) etwa 20 Prozent Henning Beck, Sofia Anastasia­
b) ungefähr 50 Prozent dou, Christopher Meyer zu
c) z irka 80 Prozent Reckendorf

2. Wie reagieren Familienmitglieder von Homo­ FASZINIERENDES GEHIRN


sexuellen auf ein Comingout? Eine bebilderte Reise
a) Knapp 10 Prozent der Eltern reagieren negativ. in die Welt der Nervenzellen
b) Rund 35 Prozent der Eltern reagieren positiv. Springer Spektrum, Berlin und
c) 20 Prozent der Geschwister reagieren negativ. Heidelberg 2016, 300 S., € 29,99

3. Wie verändert sich das Risiko, einen Auffahr­


unfall zu verursachen, wenn der Fahrer telefoniert? Einsendeschluss ist der 15. 04. 2016. Die Auflösung
a) Es steigt auf das Zehnfache. finden Sie in Gehirn&Geist 6/2016. Zusätzlich nimmt
b) Es bleibt gleich. jede richtige Einsendung an der Weihnachtsverlosung
c) Es sinkt auf ein Zehntel. eines Jahresabonnements für 2017 teil.
Name und Wohnort der Gewinner werden an
4. Mit welcher Methode untersuchen Hirnforscher dieser Stelle veröffentlicht. Ihre persönlichen Daten
die funktionelle Konnektivität im Gehirn? werden nicht an Dritte weitergegeben. Eine Baraus­
a) Sie bestimmen mittels struktureller Magnetreso­ zahlung der Preise ist nicht möglich. Der Rechtsweg
nanztomografie, wie Hirnareale verknüpft sind. ist ausgeschlossen.
b) Sie rekonstruieren per Diffusionsbildgebung den
Verlauf größerer Nervenbahnen.
c) Sie ermitteln anhand der Magnetresonanztomo­
grafie, wie die Aktivität von Hirnarealen zeitlich
zusammenhängt.

5. Welchen optischen Trick wendet ein Lauben­ Auflösung der Kopfnuss 2/2016: 1c, 2b, 3a, 4a, 5b
vogelmännchen an, um Weibchen zu beeindrucken? Je ein Exemplar von »Was kostet ein Lächeln?« von
a) Es steckt Steine ins Gefieder, um kräftig zu wirken. Ulrich Schnabel geht an: Gabriele Mauthner
b) Es ordnet Steine so an, dass es größer erscheint. (Wien), Achim Völker (Hamburg), Tatjana Winter
c) Es hält Steine im Schnabel, damit es älter wirkt. (Nordhorn)

Testen Sie Ihr Wissen rund um Gehirn&Geist!


Auf unserer Onlineseite finden Sie die Kopfnüsse vergangener Ausgaben.
www.spektrum.de/quiz/psychologie-hirnforschung/

Gehirn&Geist 47 0 4 _ 2 0 1 6
hirnforschung

iStock / Marchenko Yevhen [M]

u n s e r Au to r

Christian Wolf ist promovierter Philosoph


und Wissenschaftsjournalist in Berlin. Er
fürchtet, sein Konnektom könnte sich beim
Schreiben des Artikels verknotet haben.

Gehirn&Geist 48 0 4 _ 2 0 1 6
Funktionelle Konnektivität Jedes Gehirn arbeitet mehr
oder weniger gleich? Keineswegs, sagen Wissenschaftler
von der Yale ­University. Ihre Studie bereitet den Weg für eine
­Hirnforschung, die sich ganz am Individuum orientiert.

Der Fingerabdruck
des Gehirns
V o n c h r i s t i a n w o lf

K
örperlich gesehen verbinden wir mit Auf einen Blick:
der Individualität einer Person vor
allem das Gesicht. Der Schwung der Persönlich verbunden
Lippen, die Form der Nase, Farbe und

1
Stellung der Augen tragen zu den per­ Forscher erfassen mittels funktioneller Magnet­
sönlichen Zügen bei und ermöglichen resonanztomografie (fMRT), welche Hirn-
es uns im Allgemeinen, jemanden wiederzuerkennen. areale im Gehirn synchron arbeiten. Auf diese
Auch der Fingerabdruck und die DNA sind unverwech­ Weise erstellen sie ein individuelles Netzwerkprofil.
selbar, was sich nicht zuletzt Kriminaltechniker zu

2
Nutze machen. Aber wie passt das menschliche Gehirn Anhand des Profils lässt sich nicht nur der
in diese illustre Reihe: Wie groß sind hier die Unter­ einzelne Mensch wiedererkennen. Es liefert
schiede zwischen den Individuen? auch Hinweise auf die kognitiven Fähig-
Seit Jahrzehnten fahnden Forscher nach Hirnaktivi­ keiten der Person, etwa auf ihre fluide Intelligenz.
tätsmustern, die bei allen Probanden einer Stichprobe

3
gemeinsam auftreten. Doch das ist oft gar nicht so ein­ Bisher mittelten viele fMRT-Studien Mess­
fach – die Aktivitäten unterscheiden sich, obwohl die unterschiede zwischen den Probanden
Personen genau dieselbe Aufgabe lösen. Woran liegt einer Stichprobe einfach heraus. In Zukunft
das? Sind die einzelnen Hirnareale etwa bei allen Men­ werden Hirnforscher vermutlich stärker auf
schen unterschiedlich verknüpft und arbeiten bei jedem ­individuelle Unterschiede achten.

Gehirn&Geist 49 0 4 _ 2 0 1 6
auf ganz einzigartige Weise zusammen? Genau dieser The Human
Frage wollten Emily Finn und ihre Kollegen von der Connectome Project –
Yale University in New Haven auf den Grund gehen.
Für ihre 2015 veröffentlichte Studie griff das Team auf
ein Steckbrief
Daten des amerikanischen Human Connectome Project Herkunft
(HCP) zurück. Das ambitionierte Großprojekt will ei­ geboren 2009 in Bethesda, Maryland, als geistiges
nen Schaltplan des menschlichen Gehirns mit all seinen Kind der National Institutes of Health (NIH) im
Verknüpfungen liefern (siehe »The Human Connec­ Rahmen ihrer Mission »Blueprint for Neuro­science
tome Project – ein Steckbrief«, rechts). Im Rahmen des Research« zur Erforschung des Gehirns
HCP hatten Forscher 126 Probanden an zwei aufein­an­
der folgenden Tagen zu einer funktionellen Magnet­ Wegbegleiter
reso­nanztomografie (fMRT) in den Scanner gebeten. Forscherteams unter anderem an der University
Zweimal widmeten sich die Freiwilligen dabei keiner of Washington, der University of Minnesota und der
konkreten Aufgabe, sondern ließen lediglich ihre Ge­ ­University of Oxford
danken schweifen. Während vier weiterer Messungen
mussten sie zum Beispiel ihr Arbeitsgedächtnis bemü­ Karriereziele
hen, Sprachaufgaben lösen, Gesichtsausdrücke bewer­ Die Kartierung des menschlichen Konnektoms –
ten oder mit den Zehen wackeln. Bei der Auswertung also der Gesamtheit aller Nervenverbindungen
der fMRT-Daten legte Finns Team eine »Gehirnkarte« zwi­schen einzelnen Hirnarealen – sowie die Erfor­
zu Grunde, welche die Denkzentrale mathematisch als schung des Zu­sammenhangs zwischen Konnektom,
Netzwerk beschreibt und in knapp 270 Parzellen unter­ Verhalten und genetischen Anlagen
teilt (siehe »Netzwerke im Kopf«, S. 51).
Bei den Verbindungen zwischen diesen Parzellen Sponsor
geht es nicht um die anatomische Verknüpfung der Are­ Die NIH unterstützen das Vorhaben mit rund
ale. Sie wird in anderen Projekten des HCP per Diffu­ 40 Millionen Dollar.
sionsbildgebung untersucht. Vielmehr interessiert hier
die »funktionelle Konnektivität«: wie sehr die Aktivitäts­ Lebenslauf
niveaus der einzelnen Hirngebiete während der Mes­ Die Untersuchungen fanden von 2010 bis 2015 an
sung zeitlich miteinander gekoppelt sind. Für jedes mehr als 1200 gesunden Versuchspersonen statt,
mögliche Paar berechnet das Team bei allen 126 Pro­ darunter zahlreiche Familien. Ab 2012 wurden die
banden, wie gut diese aufeinander abgestimmt sind, ersten Daten der weltweiten Forschergemeinde
wie perfekt also ihre Tätigkeit im Gleichtakt an- und ab­ zu­gänglich gemacht.
schwillt. Das ist ein bisschen so, als beurteile man, wie
gut zwei Musiker synchron zusammenspielen. Je besser, Methodische Expertise
desto enger ist die Verknüpfung (mathematisch: Kante) Diffusionsbildgebung zur Untersuchung der­
zweier Parzellen (»Knoten«) des Netzwerks. ­strukturellen Konnektivität (siehe Bild unten), struk­
turelle und funktionelle Magnetresonanztomografie
Wie einzigartig sind Netzwerkprofile? (in Ruhe und aufgabenbezogen), Magnetenze­
Nach Auswertung aller Scans hatten die Wissenschaftler phalografie, Genomanalysen, Untersuchung von
für jeden Teilnehmer sechs Konnektivitätsprofile er­ Zwillings- oder Geschwisterpaaren, Tests unter
stellt, jeweils eines für jede einzelne Messung im Hirn­ anderem zu Selbstregulation, Entscheidungsverhal­
scanner an den beiden Tagen. Die Profile beschreiben ten, fluider Intelligenz und Emotionsverarbeitung
nicht nur, welche Verbindungen bestehen, sondern
auch, wie stark diese sind. Die spannende Frage lautete: Eine ausführliche und aktuelle
Würden sich bei jedem der 126 Probanden einzigartige Beschreibung finden Sie unter:
Netzwerkprofile herauskristallisieren, die ähnlich wie http://humanconnectome.org/
ein Fingerabdruck eindeutig die Identität ihres Besit­
zers enthüllten?
Um das zu beantworten, nahmen die Forscher zum
Beispiel das Profil eines Probanden aus der ersten Ruhe­
bedingung am ersten Tag zur Hand und alle 126 Profile,
Human Connectome Project

die aus den Messungen während der motorischen Auf­


gabe am zweiten Tag stammten. Dann ließen sie den
Computer berechnen, welches davon am besten zum
Ausgangsprofil passte. Erst anschließend wurde das Ge­
heimnis um die Identität der ersten Aufnahme gelüftet.

Gehirn&Geist 50 0 4 _ 2 0 1 6
Hirnforschung / F un k tione ll e Konne ktivität

Finn, E.S. et al.: Functional connectome fingerprinting: identifying


Netzwerke im Kopf
1: medial-frontales Netzwerk 5: motorisches Netzwerk
individuals using patterns of brain connectivity. In: Nature
Neuroscience 18, S. 1664-1671, 2015, fig. 1c

2: frontoparietales Netzwerk 6: primäres visuelles Netzwerk

3: Netzwerk im Ruhemodus 7: sekundäres visuelles Netzwerk

4: Netzwerk von subkortikalen Arealen und Kleinhirn 8: Netzwerk visueller Assoziationsareale

Um die fMRT-Daten aus dem von der Yale University 2013 aus deren Aktivität zeitlich stärker
Human Connectome Project den fMRT-Daten von 79 gesunden korreliert, zu acht Teilnetzwerken.
bestmöglich auszuwerten, haben Probanden, wie gut die Aktivität Diese entsprechen oft jenen Netz­
Forscher ausgefeilte Analysemetho­ nebeneinander­liegender Voxel werken, die bekanntermaßen mit
den entwickelt. So betrachtet die (dreidimensionaler Bildpunkte) der bestimmten sensorischen, moto­
»Graphemtheorie« das Gehirn Scans zeitlich aufeinander abge­ rischen oder kognitiven Aufgaben
mathematisch als Netzwerk mit stimmt ist. Sehr eng ge­koppelte betraut sind.
Knoten und deren Verbindungen Voxel fassten sie zu einer Parzelle
Shen, X. et al.: Groupwise Whole-Brain
(mathematisch: Kanten). Um die als Knoten zusammen. Mit dem­ Parcellation from Resting-State fMRI
Knoten zu definieren, berechneten selben Algorithmus gruppierte das Data for Network Node Identification. In:
Wissenschaftler um Xilin Shen Team um Emily Finn Parzellen, Neuroimage 82, S. 403–415, 2013

Die Trefferquote reichte von 54 bis 87 Prozent, je


nachdem aus welchen Messungen die verglichenen Pro­ K u r z e r kl ä r t :
file hervorgegangen waren. So fiel die Zuordnung von
zwei Aufnahmen derselben Person während des Nichts­ Fl u i d e
tuns am ersten und zweiten Tag am leichtesten: Hier I n t e ll i g e n z
konnten Finn und ihre Kollegen 110 der 126 Profile rich­ beschreibt die Fähigkeit, logisch zu denken und
tig identifizieren. Mit einem weiteren Kniff aber ließ Probleme zu lösen. Die Aufgaben in den Intelligenz­
sich in diesem Fall die Erfolgsquote sogar auf 99 Pro­ tests sind dabei so konzipiert, dass zu ihrer Bearbei­
zent steigern. Dazu betrachteten die Forscher nicht die tung kein Vorwissen nötig ist.
Gesamtprofile inklusive aller Knoten, sondern nur eine
bestimmte Auswahl von denen, die bereits enger mitei­ S t r u k t u r e ll e
nander verbunden sind. K o n n e k t i v i tät
Die besten Resultate lieferten zwei Teilnetzwerke bezeichnet die anatomische Verknüpfung von Hirn­
mit diversen Arealen in Stirn-, Schläfen- und Scheitel­ arealen. Die Diffusionsbildgebung ermög­licht eine
lappen, die bekanntermaßen mit komplexen Aufgaben direkte Untersuchung der weißen Substanz. Aus den
wie Aufmerksamkeit, Gedächtnis und Sprache betraut Daten lässt sich der Verlauf größerer Nervenbahnen
sind ­(siehe »Netzwerke im Kopf«, oben, medial-fronta­ rekonstruieren.
les und frontoparietales Netzwerk). Das Ergebnis fügt
sich somit gut in bereits bestehende Erkenntnisse ein. F u n k t i o n e ll e
Schon 2013 hatten Wissenschaftler um Sophia Müller K o n n e k t i v i tät
von der Ludwig-Maximilians-Universität München Funktionelle Messungen im Magnetresonanz­
ver­­mutet, dass solche Hirnregio­nen in Sachen funktio­ tomografen (fMRT) geben Aufschluss darüber, in
neller Verknüpfung persönlichere Züge aufweisen, die welchen Hirnarealen die Aktivität zeitlich eng
eine relativ späte Errungenschaft der Evolution dar­ korreliert. Dies deutet auf ihre Zusammenarbeit hin.

Gehirn&Geist 51 0 4 _ 2 0 1 6
Wird man die Probanden im Scanner jedes Mal etwas anderes ta­
ten. Drittens belegten sie, dass diese persönlichen Neu­
roprofile zudem etwas über die geistigen Fähigkeiten
Menschen eines verraten.
Die Finn-Studie ist nicht die einzige ihrer Art. Auch
Tages statt über ein Team um den Neurowissenschaftler Oscar Miran­
da-Dominguez an der Oregon Health & Science Uni­
Fingerabdrücke versity in Portland (USA) hatte sich bei einer kleinen
Stichprobe und einer anderen Analysemethode erfolg­
per Hirnscan reich an einer persönlichen Identifizierung per Hirn­
scan versucht.

identifizieren? Wird man Menschen also eines Tages statt über Fin­
gerabdrücke per Hirnscan identifizieren? Wohl kaum.
Der Blick ins Gehirn ist eine ziemlich aufwändige Ange­
legenheit. Ein Porträtfoto, ein Fingerabdruck und selbst
eine DNA-Probe lassen sich wesentlich unkomplizier-
ter analysieren. Außerdem hatten die Hirnforscher
­Aufnahmen miteinander ver­glichen, zwischen denen
höchs­tens ein paar Tage lagen. Entsprechende Studien
mit jüngeren und älteren Versuchspersonen legen aber
stellen. Es sind auch genau die Bereiche, die sich beim nahe, dass sich das Profil im Lauf des Lebens verändert.
Menschen in der Reifung vom Kind zum Erwachsenen
am meisten Zeit lassen. Sie ­unterliegen damit am längs­ Unter den Labortisch gefallen
ten der Prägung durch die Umwelt. Finns Team ging es allerdings nicht in erster Linie da­
Emily Finn und ihre Mitarbeiter machten aber noch rum, Individuen anhand ihrer charakteristischen Hirn­
eine weitere, durchaus brisante Entdeckung: Der neuro­ muster zu identifizieren. Die Suche nach persönlichen
nale »Fingerabdruck« erlaubte ihnen auch Rückschlüs­ Neuroprofilen hatte einen anderen Zweck: Für gewöhn­
se auf die kognitive Leistungsfähigkeit der Versuchsper­ lich werden individuelle Unterschiede zwischen Ver­
son, nämlich auf ihre »fluide Intelligenz« (siehe »Kurz suchspersonen in neurowissenschaftlichen ­Studien
erklärt«, S. 51)! ­statistisch herausgemittelt und fallen damit unter den
Die tatsächlichen IQ-Werte der Probanden lagen be­ Labortisch. Das hat unter anderem messtechnische
reits vor, denn ein Test der fluiden Intelligenz gehörte Gründe. Bildgebende Verfahren wie die fMRT produ­
für die Teilnehmer am Human Connectome Project zieren viel »Rauschen«. So wird das fMRT-Signal von
zum Standardprogramm. Die Forscher nahmen nun
wieder alle Konnektivitätsdaten zur Hand, nur jene des
einzuschätzenden Probanden ließen sie außen vor. Gut kombiniert
Dann identifizierten sie alle Verbindungen, die statis­
tisch gesehen die Höhe der fluiden Intelligenz beein­ Die Identifizierungsraten unterschieden sich,
flussen, und modellierten den Zusammenhang zwi­ je nachdem aus welchen Messungen die ver­
schen den Verbindungsstärken und dem IQ-Wert. Mit glichenen Profile stammten. Aber selbst wenn
ihrem Modell sagten sie dann die fluide Intelligenz des eine Person an Tag 1 im Scanner motorisch
Probanden vorher. Ergebnis: Bei einigen Teilnehmern und an Tag 2 sprachlich gefordert war, gelang
überschätzten, bei anderen unterschätzten die Wissen­ die Zuordnung noch in 64 Prozent der Fälle.
schaftler die Intelligenz zwar um mehrere Punkte, den­
noch kamen sie den wahren Werten insgesamt so nahe, Tag 1 Identifizierungs- Tag 2
dass man tatsächlich von einem Vorhersageeffekt spre­ Profil (Netzwerk rate Profil (Netzwerk
chen kann. 1 und 2) aus 1 und 2) aus
connectome fingerprinting: identifying individuals
using patterns of brain connectivity. In: Nature
Gehirn&Geist, nach: Finn, E.S. et al.: Functional

Damit gelang den Forschern um Finn also dreierlei: 99 %


Neuroscience 18, S. 1664-1671, 2015, fig. 1a

Ruhebedingung Ruhebedingung
Sie konnten erstens Hinweise bestätigen, dass jeder 85
Mensch über ein höchst charakteristisches funktio­ %
nelles Verknüpfungsprofil verfügt, und zwar in weiten 90 %
Teilen des Gehirns (siehe »Verbindungsprofile ermögli­ Arbeitsgedächtnis Sprachaufgabe
chen Identifizierung«, S. 53). Zweitens präsentierten sie %
64
eine Methode, mit der sich die individuellen Profile
über verschiedene Messungen hinweg vergleichen und motorische Aufgabe emotionale Aufgabe
zuverlässig wiedererkennen lassen, selbst dann, wenn 79 %

Gehirn&Geist 52 0 4 _ 2 0 1 6
Hirnforschung / F un k tione ll e Konne ktivität

Verbindungsprofile ermöglichen Identifizierung

präfrontaler Kortex
Finn, E.S. et al.: Functional connectome fingerprinting: identifying
individuals using patterns of brain connectivity. In: Nature

motorischer Kortex
parietaler Kortex
Neuroscience 18, S. 1664-1671, 2015, fig. 3a

temporaler Kortex
okzipitaler Kortex
Insula
limbisches System
Kleinhirn
subkortikale Areale
Hirnstamm
linke Hirnhälfte rechte Hirnhälfte linke Hirnhälfte rechte Hirnhälfte

In den beiden Diagrammen sind zur Identifizierung einer Person scheiden sich wenig zwischen den
die 268 Hirnparzellen (Knoten) im beitragen. Sie verbinden besonders Individuen. Dies trifft auf viele
inneren Ring markiert. Rot einge­ häufig Parzellen im präfrontalen Verknüpfungen in den primären
zeichnet (links) sind funktionelle und parietalen Kortex. Die blau visuellen Netzwerken im okzipi­
Verknüpfungen, die sehr individu­ eingezeichneten Verbindungen im talen Kortex oder innerhalb des
ell ausgeprägt sind und erheblich ­rechten Diagramm dagegen unter­ Kleinhirns zu.

etlichen Störfaktoren beeinflusst, zum Beispiel unge­ einen universellen Schaltplan zu finden – den es aber,
wollten Kopfbewegungen der Freiwilligen. trotz vieler Gemeinsamkeiten, offenbar nicht gibt.
Nur ein Teil der gemessenen Signale bezieht sich auf Ihre neue Auswertungsmethode könnte nach An­
jene Hirnaktivität, für die sich die Forscher interes­ sicht der Wissenschaftler um Emily Finn den Grund­
sieren. Im Grunde ermittelt man aus den Daten der ein­ stein dafür legen, jenseits von Aussagen über Gruppen
zelnen Versuchspersonen den Durchschnitt und hofft mehr Erkenntnisse über das Gehirn einzelner Men­
so, nur die relevanten Informationen zu behalten. Eine schen zu gewinnen. Dabei gilt es zu untersuchen, wie
Studie vergleicht beispielsweise Patienten mit gesunden das individuelle neuronale Konnektivitätsprofil einer
Probanden und versucht Hirnaktivitätsmuster zu fin­ Person mit ihrem gesunden oder krankhaft verän­
den, die allein die Erkrankten gemeinsam haben. Diese derten Verhalten in Verbindung steht. Und schließlich,
Vorgehensweise berücksichtigt nicht, dass die Hirn­ so hoffen die Forscher, könnte der neuronale Finger­
aktivität in jeder Gruppe in sich schon sehr heterogen abdruck eines Tages dafür eingesetzt werden, Therapien
ist. Auch in der frühen Phase des Human Connectome für den Menschen ganz auf das individuelle Gehirn zu­
Project waren die meisten Studien darauf aus­gelegt, den zuschneiden. H

Q UE L L EN

Finn, E. S. et al.: Functional Connectome Fingerprinting: Identifying Individuals


Using Patterns of Brain Connectivity. In: Nature Neuroscience 18, S. 1664–1671, 2015
Meunier, D. et al.: Age-Related Changes in Modular Organization of Human Brain
Functional Networks. In: Neuroimage 44, S. 715–723, 2009
Miranda-Dominguez, O. et al.: Connectotyping: Model Based Fingerprinting of the Functional
Connectome. In: PLoS One 9, e111048, 2014
Mueller, S. et al.: Individual Variability in Functional Connectivity Architecture
of the Human Brain. In: Neuron 77, S. 586–595, 2013

Gehirn&Geist 53 0 4 _ 2 0 1 6
Die Gehirn&Geist- I nfo g r afik

Die Evolution des Gehirns


Ungefähr 500 Millionen Jahre brauchte die Natur, um die anfangs sehr einfachen
Nervensysteme in der Tierwelt bis zum komplexen menschlichen Gehirn
weiterzuentwickeln. Dieses ist aus jenen Bausteinen zusammengesetzt, die schon
bei primitiven Lebewesen zu finden sind. Ein Stammbaum.
Text: Anna von Hopffgarten / Grafik: Martin Müller

Bei niederen Wirbeltieren ist das


Mittelhirndach (Tectum) das wichtigste
sensorische Integrationszentrum. Erst
bei Vögeln und Säugetieren übernimmt
Goldfisch das Endhirn diese Funktion.

Tapirfisch

Der Tapirfisch nutzt Stör


Strom, um sich
zu orientieren. Sein
riesiges Kleinhirn Echte Knochenfische Knorpelschmelzschupper
verarbeitet die
Signale von den
Elektrorezeptoren. Forelle

Sandbankhai

Seekatze

Plattenkiemer Holocephali

Knochenfische
Neunauge

Das primitivste Chordatier, das


Lanzettfischchen, hat noch kein Knorpelfische
Gehirn. Sein Zentral­nervensystem
Neunaugen
besteht aus einem Neuralrohr,
das in einem winzigen Hirnbläschen
mündet. Die älteste Bauart
der Wirbeltiergehirne weisen
Neunaugen auf. Lanzettfischchen
Schädellose
Wirbeltiere

Chordatiere
G eh i r n & G e i st 54 04_2016
Während sich der Hirnstamm im Verlauf der Evolution relativ
wenig veränderte, erfuhr insbesondere das Endhirn massive Finnwal
Umbaumaßnahmen. Der Großhirnrinde verdanken die Säugetiere
komplexere Fähigkeiten wie eine ausgeprägte Lernbereitschaft.
Damit der expandierende Kortex noch in den Schädel passte,
faltete er sich immer mehr zusammen.

Hund

Höhere
Säugetiere Mensch
Schimpanse
Martin Müller

Schnabeltier Python
Taube
Ursäuger Schuppenechsen

Viele Vögel besitzen ein ausgeprägtes Kleinhirn,


das ihnen das präzise Navigieren in der Luft er-
möglicht. Das ebenfalls relativ große Endhirn ver-
Synapsiden Diapsiden
Krokodile Vögel leiht ihnen eine vergleichsweise hohe Intelligenz.

Alligator
Papagei

Schildkröten
Bei Reptilien erweiterte
sich das Endhirn bereits um
einen rudimentären Kortex.

Amphibien
Legende

Laubfrosch Schildkröte Riechkolben Kleinhirn

Endhirn Nerven, Hypophyse

Mittelhirndach /
übrige Teile
Tectum
Bei allen äußerlichen Unterschieden folgen
sämtliche Wirbeltiergehirne dem gleichen Bauplan:
QUELLE Der Hirnstamm inklusive Mittelhirn steuert lebens-
Nieuwenhuys, R. et al.: The Central Nervous System of Vertebrates. erhaltende Funktionen wie Atmung und Herz-
Springer, Heidelberg 1998 schlag, das Kleinhirn koordiniert unter anderem
Bewegungen, und das Endhirn dient komplexeren
Aufgaben wie Entscheiden und Planen.

G eh i r n & G e i st 55 0 4 _ 2 0 1 6 Die abgebildeten Gehirne sind nicht maßstabsgetreu.


Ein Laubenvogelmännchen
wartet auf Damenbesuch.
Mit geschickt vor seiner
Behausung arrangierten
Preziosen macht es sich
optisch größer.

iStock / Marie Holding

Gehirn&Geist 56 0 4 _ 2 0 1 6
hirnforschung

Auch Tiere fallen auf optische Täuschungen


Illusionen
herein. Ob Mensch, Guppy oder Huhn: Die Sehsysteme lassen
sich leicht austricksen.

Mit den Augen


eines Vogels V o n K a t r i n W e i gma n n

E
in endlos langer Gang und an seinem Stärke. Die Retina empfängt ein zweidimensionales,
Ende eine riesige Statue – so nimmt ein verzogenes Bild, aus dem es in Sekundenbruchteilen ein
Tourist die mit Säulen geschmückte Gale­ dreidimensionales Abbild der Umwelt errechnen muss.
rie im Innenhof des römischen Palazzo »Unser Gehirn macht jede Menge Annahmen, um diese
Spada wahr. Doch er täuscht sich. Dieses Probleme schnell zu lösen«, erklärt der Kognitions­
Meisterwerk des Architekten Francesco forscher Alexander Maier von der Vanderbilt University
Borromini (1599–1667) gilt als faszinierendes Parade­ in Nashville (USA). Wir interpretieren, was wir vor uns
beispiel für die perspektivische Bauweise des Barock. sehen. Das Gehirn bezieht die Umgebung der Objekte
Eine Reihe von Tricks ziehen den nur neun Meter lan­ mit ein, ergänzt fehlende Linien und nimmt Dinge als
gen Korridor optisch in die Länge und lassen die Stand­ Einheit wahr, die sich parallel bewegen. Und manchmal
figur übergroß erscheinen: Borromini hat nach hinten führt einer dieser Interpretationsmechanismen in die
hin den Gang schmaler und die Säulen kleiner angelegt, Irre – wie bei der Kolonnade des Palazzo Spada.
den Boden angehoben sowie die Decke abgesenkt. Um das Deutungsvermögen des Gehirns zu unter­
Was aber kaum ein Besucher, der die Genialität des suchen, nutzen Wissenschaftler gerne solche optischen
Erbauers bewundert, ahnt: Vögel können das auch. Lau­ Täuschungen. Der italienische Psychologe Gaetano
benvogelmännchen der Art Ptilonorhynchus nuchalis ­Kanizsa (1913–1993) schuf Kanten, wo keine sind. Nur
arrangieren Objekte vor ihrer Laube so, dass eine ganz die Ecken eines Dreiecks oder Vierecks sind abgebildet,
ähnliche perspektivische Täuschung entsteht: Kleine den Rest ergänzen wir automatisch. Vermutlich neh­
Steine kommen an den Eingang, größere werden weiter men wir implizit an, dass die Figur im Vordergrund
entfernt platziert, wie 2010 ein Team um John Endler liegt und andere Objekte verdeckt. »Es ist wie Halluzi­
von der Deakin University im australischen Geelong nieren ohne Drogen«, meint Maier.
beobachtete. So wirkt das vor seinem Balzplatz stehende
Männchen für ein herannahendes Weibchen beeindru­
ckend groß. Das ist in doppelter Hinsicht erstaunlich. U n s e r e Au to r i n
Zum einen sagt es etwas darüber aus, zu welch komple­
xem Verhalten Vögel in der Lage sind. Es zeigt aber Katrin Weigmann ist promovierte Biolo­
gin und Wissenschaftsjournalistin in
auch, dass sie, genau wie wir Menschen, auf optische Oldenburg. Ein Video, das die Reaktion
Täu­schun­gen hereinfallen. einer Katze auf die »Rotating Snakes«
Dass wir diesen Illusionen erliegen, ist keinesfalls ein zeigt, brachte sie auf das Thema (siehe
Manko des Gehirns, sondern vielmehr Ausdruck seiner www.spektrum.de/artikel/1396378).

Gehirn&Geist 57 0 4 _ 2 0 1 6
Auf einen Blick: Alexander Maier möchte erkunden, welche neurona­
len Schaltkreise im Gehirn von Affen hinter opti­schen
Tierische Illusionen Illusionen wie Kanizsa-Figuren stecken. »Obwohl die
ältesten Arbeiten hierzu schon 20 Jahre zurückliegen,

1
Optische Täuschungen treten auf, weil das wissen wir das immer noch nicht genau«, räumt er ein.
Sehsystem des Gehirns einen visuellen Frühere Studien zeigten, dass Zellen in V1 und V2 auf
­Eindruck interpretiert und dabei Deutungs­ vermeintliche Konturen ansprechen, aber vermutlich
fehler macht. geht es nicht ohne Hilfe von oben – etwa von V4.
Tatsächlich regen sich V4-Hirnzellen von Rhesus­affen

2
Tiere fallen ebenfalls auf optische Illusionen (Macaca mulatta) beim Anblick von Kanizsa-­Figuren,
herein, obwohl ihre Gehirne anders aufge­ wie Maier zusammen mit Kollegen um David Leopold
baut sind als das menschliche. Die Fähigkeit, vom National Institute of Mental Health in ­Bethesda
Sinneseindrücke sinnvoll zu deuten, ist demnach 2013 entdeckte. Die Forscher vermuten daher, dass diese
in der Evolution mehrfach entstanden. Zellen bei der Täuschung eine zentrale Rolle spielen.
»Um die Illusion wahrnehmen zu können, müssen ver­

3
Die Reaktion auf optische Täuschungen schiedene Bereiche des Gesichtsfelds integriert werden –
variiert von Art zu Art sowie, zumindest bei alle Pacman-Symbole an den Ecken müssen also von
uns Menschen, von Individuum zu Indi­ einem Neuron verrechnet werden«, erklärt Maier. »Das
viduum. Außerdem hängt sie von äußeren Bedin­ können Zellen in V4, nicht jedoch in V1 oder V2.«
gungen ab. Aber damit nicht genug – auch V4 erhält möglicher­
weise noch Input von oben, wie die Forscher aus einer
weiteren Beobachtung schlossen: Immer wenn V4-Zel­
len auf illusorische Konturen reagierten, sendeten sie
Eine Reihe von geometrischen Figuren führt unsere rhythmische Impulse in einer Frequenz von etwa fünf
Größenwahrnehmung aufs Glatteis. Die Ponzo-Illusion Hertz. »Wir waren begeistert, als wir das sahen, denn
etwa, benannt nach dem italienischen Psychologen Ma­ dies ist eine typische Signatur der nächsthöheren Ver­
rio Ponzo (1882–1960), zeigt zwei Linien gleicher Länge schaltungsebene, des inferotemporalen Kortex«, sagt
zwischen zwei aufeinander zulaufenden Geraden. Das Maier. Bei Kanizsa-Illusionen arbeiten also verschie­
Gehirn interpretiert das als perspektivische Darstellung dene, auch höhere Ebenen des visuellen Systems Hand
und sieht die vermeintlich weiter hinten gelegene Linie in Hand.
als größer an. Auf einem ähnlichen Prinzip beruht die
von Hermann Ebbinghaus (1850–1909) ersonnene Täu­ Gefoppte Fische
schung: Ein von großen Figuren umgebener Kreis wirkt Kann demnach nur ein Primatengehirn mit seiner enor­
kleiner, als er in Wirklichkeit ist. Wir vergleichen Ob­ men Rechenleistung einer optischen Illusion erliegen?
jekte automatisch mit anderen Bildelementen. Nein, auch kleine Fische lassen sich täuschen, wie
Lange Zeit wurden optische Täuschungen nur bei ­Va­leria Anna Sovrano von der Universität Trient und
Menschen untersucht. Nun aber widmen sich Wahr­ ­Angelo Bisazza von der Universität Padua 2009 beob­
nehmungsforscher zunehmend der Frage, was Tiere in achteten. Die italienischen Forscher hatten Banderolen­
solchen Bildern sehen. Sie versuchen, Affen, Pferde, Vö­ kärpflinge (Xenotoca eiseni) in ein Becken gesetzt, in
gel, Fische oder auch Hummeln in die Irre zu führen. dem zwei Öffnungen zu einem größeren Aquarium mit
Und es gelingt ihnen erstaunlich gut. Aber warum, Futter und Artgenossen lockten. Einer der beiden Aus­
wenn sich doch die Gehirne der Tiere so sehr unter­ gänge aber war blockiert. In Vorexperimenten hatten
scheiden? Welche Rolle spielt die Täuschungsfähigkeit die Fische gelernt, anhand von Dreiecken oder Quadra­
in der Evolution? ten den richtigen Weg zu finden. Das funktionierte
Die hierarchisch organisierte Sehrinde des Men­ ebenfalls, wenn die Figuren nicht aus wirklichen, son­
schen wie auch die aller Säugetiere verarbeitet visuelle dern aus illusorischen Kanten bestanden.
Informationen schrittweise. Nervenzellen der ersten Banderolenkärpflinge stehen mit dieser Fähigkeit
Verschaltungsebene, auch primärer visueller Kortex nicht allein. Auch Eulen und Katzen, ja selbst Knorpel­
oder schlicht V1 genannt, reagieren auf einfache Reize fische wie der Graue Baumbushai (Chiloscyllium grise-
wie Konturen oder Kanten, die sich in eine bestimmte um) erkennen Kanisza-Figuren, wie Bonner Forscher
Richtung bewegen. Von hier gelangen Signale in über­ um Theodora Fuss 2014 bewiesen. Haie gehören zu den
geordnete Hirnareale, in denen Neurone zunehmend entwicklungsgeschichtlich ältesten Wirbeltieren – hier
komplexere Reize verarbeiten; Region V4 des Men­ schlummert also ein uraltes Erbe.
schen kodiert beispielsweise geometrische Formen. Allerdings besitzen nur Säugetiere eine echte Groß­
Und die nächste Verschaltungsebene, der inferotempo­ hirnrinde. »Das Gehirn von Vögeln und Fischen ist mit
rale Kortex, analysiert Gesichter. unserem gar nicht zu vergleichen«, erklärt Maier. »Den­

Gehirn&Geist 58 0 4 _ 2 0 1 6
hirnforschung / illusionen
Cmglee, nach: Kitaoka Akiyoshi / CC-by-SA-3.0 (creativecommons.org/licenses/by-sa/3.0/de/legalcode)

Die »Rotating Snakes« (oben) täuschen eine


Bewegung vor. Bei einer Kanizsa-Figur (unten
links) sehen wir ein Dreieck, das es nicht gibt.
Und die beiden grünen Kreise in der Ebbinghaus-
Illusion (rechts) sind identisch, auch wenn
es uns nicht so scheint. Auf solche optischen ­
Täuschungen fallen sogar Fische herein.
Gehirn&Geist, nach: Hermann Ebbinghaus
Gehirn&Geist, nach: Gaetano Kanizsa

Gehirn&Geist 59 0 4 _ 2 0 1 6
Taube: iStock / rusm; Huhn: iStock / Debbi Smirnoff; Guppy: fotolia / Eric Isselée;
Zebrabärbling: iStock / Mirko Rosenau; wRhesusaffe: iStock / nanonoum
Auch sie sind vor Illusionen nicht gefeit: Tauben und
Haushühner, Guppys und Zebrabärblinge sowie Rhesusaffen
erliegen wie der Mensch optischen Täuschungen.

noch scheint es auf abstrakter Ebene ganz stark dem nach blendeten die Wissenschaftler dann die äußeren
Kortex von Primaten zu ähneln.« Auf »abstrakter Ebe­ Kreise einer Ebbinghaus-Illusion ein – mit überraschen­
ne« heißt, dass es sich nicht um dieselben anatomischen dem Ergebnis, wie Arbeitsgruppenleiter Kazuo Fujita
Strukturen handelt. »Fähigkeiten, die in verschiedenen erzählt: »Unsere Studien zeigen, dass diese beiden Spe­
anatomischen Strukturen implementiert sind, basieren zies die Ebbinghaus-Illusion in umgekehrter Richtung
auf einer funktionellen Ebene dann doch auf ähnlichen wahrnehmen.« Für sie erscheint der Kreis kleiner, wenn
Algorithmen«, so Maier. Die Fähigkeit, Konturen auto­ er von kleinen Kreisen umgeben ist, und umgekehrt.
matisch zu ergänzen, ist für das Überleben so wichtig,
dass sie in der Evolution mehrmals entstand. Steht ein Die globale Sicht der Dinge
Raubtier hinter einem Baum oder versteckt sich die Die Erklärung: Im Gegensatz zu Tauben und Hühnern
Beute in einer Wiese, so sind ihre Konturen zum Teil wirken bei Menschen so genannte Kontrasteffekte:
verdeckt. Sie dennoch schnell zu erkennen, funktioniert Wenn ein Betrachter verschiedene Objekte gleichzeitig
offensichtlich auch ohne Kortex. verarbeitet, verstärkt sich der empfundene Größen­
Merkwürdigerweise scheinen jedoch manche Vögel unterschied – Kreise scheinen kleiner, wenn sie von
geometrische Täuschungen etwas anders zu erleben als gro­ßen umgeben sind. Diese Fähigkeit ist Ausdruck
wir Menschen. Deutlich zeigt sich dies bei der Ebbing­ eines »globalen Verarbeitungsstils«, wie Wissenschaft­
haus-Illusion: Ein mittlerer Kreis wirkt für uns kleiner, ler es nennen. Kontrasteffekte treten nur auf, wenn das
wenn er von größeren umgeben ist. Gehirn verschiedene Bildelemente, die einen gewissen
Japanische Forscher um Noriyuki Nakamura von Abstand zueinander haben, gleichzeitig prozessiert. Un­
der Universität Kyoto brachten nun Tauben (Columbia ser Sehsystem tut dies – das von Hühnern und Tauben
livia) und Hühnern (Gallus gallus domesticus) bei, die anscheinend kaum. Sie konzentrieren sich mehr auf das
Größe von Kreisen zu unterscheiden. Pickten sie auf Lokale, so dass sie auf übergeordnete Kontrasteffekte
den richtigen, wurden sie mit Futter belohnt. Nach und nicht ansprechen.

Gehirn&Geist 60 0 4 _ 2 0 1 6
hirnforschung / illusionen

Braucht man also einen menschlichen Kortex, um erklärt Sovrano. »Vor allem ›schwächere‹ Illusionen
die Welt global zu sehen? Eine Weile galt diese Hypo­ werden nicht von allen gut wahrgenommen. Die Ebbin­
these, doch inzwischen spricht einiges dagegen. 2015 ghaus-Illusion gilt jedoch als ziemlich robust.«
steckten Sovrano und ihre Kollegen abermals Bandero­ Betrachten Sie beispielsweise das Bild auf S. 59 oben!
lenkärpflinge in das Becken mit den zwei Ausgängen – Sehen Sie rotierende Kreise? Dann gehören Sie zur
diesmal sollten sich die Fische an der Größe von Krei­ Mehrheit der Bevölkerung – doch längst nicht alle Men­
sen orientierten, um hinauszugelangen. Konfrontiert schen lassen sich von den »Rotating Snakes« (den »ro­
mit einer Ebbinghaus-Illusion, zeigten sich die Tiere er­ tierenden Schlangen«) irritieren. Fische wie Zebrabärb­
staunlich menschlich: Sie hielten den inneren Kreis für linge (Danio rerio) und Guppys (Poecilia reticulata) er­
kleiner, wenn er von großen Figuren umgeben war. Also lie­gen übrigens ebenfalls dieser Bewegungs­täuschung,
reagieren auch Fische auf Kontraste – ganz ohne Kortex. wiesen italieni­sche Forscher um Simone Gori 2014 nach.
Bleibt somit Hühnern und Tauben die globale Sicht
vollkommen vorenthalten? Nicht ganz! Die Vögel ver­ Wie ist es, ein Huhn zu sein?
bringen zwar viel Zeit damit, nach Körnern zu picken, Auch auf Kanizsa-Figuren fallen nicht alle Menschen
und fokussieren dabei auf den Nahbereich. »Wir glau­ gleichermaßen herein. Bei Kleinkindern funktioniert
ben, dass ihnen eine lokal orientierte Sehweise hilft, die Illusion nicht – die Empfindlichkeit gegenüber sol­
Futter zu finden«, erklärt Kazuo Fujita. Bei anderen chen Täuschungen entwickelt sich erst mit vier bis sie­
Aufgaben brechen sie jedoch durchaus aus ihrem »loka­ ben Jahren, wie Wissenschaftler um Lynne Kiorpes von
len Käfig« aus, denn auch sie reagieren auf Ebbinghaus- der New York University 2015 feststellten.
Illusionen mitunter wie Menschen, d ­emonstrierten Wie sehen Tiere die Welt? Wir wissen es nicht, denn
­Orsola Rosa Salva von der Universität Trient und ihre wir können uns nicht in sie hineinversetzen. Es bleibt
Kollegen 2013 bei Hühnerküken. Diesmal sollten die unvorstellbar, wie es ist, durch die Augen eines Huhns
Tiere nicht wie in den Experimenten der ja­pa­ni­schen oder eines Fisches zu blicken. Optische Illusionen hel­
Arbeitsgruppe nach den Figuren picken, sondern sie fen jedoch, uns ihre Erfahrungswelt näherzubringen.
aus einer selbst ge­wählten Entfernung betrachten. Die­ Sie geben außerdem Hinweise darauf, wie das visuelle
ser Versuchsaufbau führte dazu, dass die Küken das Bild System in der Evolution entstanden ist und wie es sich
als Ganzes wahrnahmen und für Kontrasteffekte emp­ an bestimmte Gegebenheiten angepasst hat.
fänglich waren. Noch steht die Forschung über optische Täuschun­
Es bleibt also kompliziert. Ebbinghaus-Figuren wer­ gen bei Tieren erst am Anfang, aber sie hat schon ei­
den nicht nur von verschiedenen Tieren unterschiedlich niges zu Tage gebracht: Wahrnehmungsfähigkeiten, die
gesehen; die Wahrnehmung hängt auch noch davon ab, man einst der komplexen neuronalen Verschaltung des
was das Tier gerade tut. Kontrasteffekte treten nur auf, menschlichen Kortex zugeschrieben hat, finden sich
wenn das Gehirn die Figur als Ganzes verarbeitet. Bei nicht nur bei anderen Säugern, sondern auch bei Vögeln
Menschen mit ihrem eher globalen Verarbeitungsstil und Fischen. Das bedeutet nicht, dass jedes Tier die
trifft das in der Regel zu, bei Hühnern oder Tauben nur Umwelt gleich wahrnimmt – es gibt durchaus Unter­
manchmal. schiede, je nach ökologischer Nische, nach Aufgabe und
Doch nicht nur verschiedene Tierarten registrieren sogar nach individuellen Vorlieben. Zu untersuchen,
optische Täuschungen unterschiedlich, sondern auch woher diese Unterschiede bei Tieren rühren, kann letzt­
menschliche Individuen. »Manche Menschen reagieren lich dabei helfen, das visuelle System des Menschen bes­
stärker oder unmittelbarer auf Illusionen als andere«, ser zu verstehen.  H

Quellen

Cox, M. A. et al.: Receptive Field Focus of Visual Area V4 Neurons Determines Responses to Illusory Surfaces.
In: Proceedings of the National Academy of Sciences of the USA 110, S. 17095–17100, 2013
Nakamura, N. et al.: A Reversed Ebbinghaus-Titchener Illusion in Bantams
(Gallus gallus domesticus). In: Animal Cognition 17, S. 471–481, 2014
Rosa Salva, O. et al.: Perception of the Ebbinghaus Illusion in Four-Day-Old Domestic Chicks
(Gallus gallus). In: Animal Cognition 16, S. 895–906, 2013
Sovrano, V. A., Bisazza, A.: Perception of Subjective Contours in Fish.
In: Perception 38, S. 579–590, 2009
Sovrano, V. A. et al.: The Ebbinghaus Illusion in a Fish (Xenotoca eiseni).
In: Animal Cognition 18, S. 533–542, 2015
Weitere Quellen im Internet: www.spektrum.de/artikel/1396378

Gehirn&Geist 61 0 4 _ 2 0 1 6
TIPPS & TERMINE

tipp
des monats

photocase / Judywie
Wie das Riechen unser Leben beeinflusst
Donnerstag, 17. März
Planet Wissen, Wissenschaftsmagazin, SWR, 13.15 Uhr
Düfte prägen unsere Erinnerungen und unsere Ge- Rezeptoren für Geruchsstoffe nicht nur in der Riech-
fühle, ja sie beeinflussen sogar die Partnerwahl. Auch schleimhaut der Nasenhöhlen, sondern auch in ande-
den Geschmack von Speisen könnten wir ohne un- ren Zellen des Körpers. Der renommierte Bochumer
seren Geruchssinn nicht würdigen. Doch wie funktio- Geruchs­forscher Hanns Hatt sieht darin große Chan-
niert dieser Sinn überhaupt? Offenbar finden sich cen für die Medizin: Er möchte mit Gerüchen heilen.

TV Gut gegen Böse Andy Newberg, Begrün- dass Schulkinder einen


Mysterien des Weltalls, der des Wissenschafts- Säugling im Klassenzim-
Sonntag, 13. März Dokumentation, zweigs »Neurotheologie«, mer beobachten und
Wer sind wir wirklich? ZDFinfo, 23.45 Uhr untersucht die Hirnströ- lernen, seine Gefühle zu
Mysterien des Weltalls, Die Neurowissenschaftler me von Gläubigen und erkennen. Der Neurologe
Dokumentation, David Eagleman und Atheisten. Seine erstaun- und Psychologe Claus
ZDFinfo, 21.30 Uhr Steven LaConte arbeiten liche Entdeckung: Sie Lamm aus Wien begleite-
Die Persönlichkeit eines an einer Methode, die unterscheiden sich enorm. te das Team.
Menschen durchläuft dabei helfen könnte,
von der Kindheit bis ins negative Verhaltens­ Mittwoch, 16. März Donnerstag, 17. März
hohe Alter viele Phasen – impulse durch die Empathie ist lernbar Wer sind wir?
und dennoch bleiben wir Beob­achtung der eigenen Gefühlswelten Teil IV, Die Großen Fragen der
stets ein und dieselbe Hirnströme auszuschal- Dokumentation, 3sat, Wissenschaft, Dokumenta­
Person. In dieser Folge ten. Können derartige 11.15 Uhr tion, Geo Television,
der Dokumenta­tions- Therapien das Böse im Wie entstehen Mitleid, 22.10 Uhr
reihe »Mysterien des Menschen besiegen? Mitgefühl und Empathie? Elektrische Ströme oder
Weltalls« will Morgan Das Fernsehteam reiste ätherische Gedanken?
Freeman anhand neuro- Montag, 14. März nach Bremen, um das Seit dem 17. Jahrhundert
wissenschaftlicher Ist Gott eine Erfindung? Schulprogramm »Roots versuchen Wissenschaft-
Erkenntnisse den Kern Mysterien des Weltalls, of Empathy« (Wurzeln ler verschiedenster
der menschlichen Dokumentation, der Empathie) kennen zu Disziplinen, unseren
Identität ergründen. ZDFinfo, 1.15 Uhr lernen. Es basiert darauf, Geist zu verstehen.

Gehirn&Geist 62 0 4 _ 2 0 1 6
Freitag, 18. März Freitag, 25. März
Superhirn Was ist Bewusstsein,
im Federkleid und wie können wir es
Abenteuer Erde, ergründen?
­Dokumentation, WDR, Xenius, Wissenschafts­
14.30 Uhr magazin, arte, 8.25 Uhr
Die Kea-Papageien in den Die Moderatoren besu-
Neuseeländischen Alpen chen Professor Steven
sind verblüffend zutrau- Laureys an der Uniklinik
lich, neugierig und wahre im belgischen Lüttich.
Meister darin, neue Dort legen sie sich in den
Futterquellen zu erschlie- Kernspintomografen,
ßen. In den Nebelwäldern um am eigenen Leib zu
Neukaledoniens dagegen erleben, wie die Entste-
leben Krähen, die den hung von Bewusstsein
Umgang mit Werkzeug erforscht wird.
beherrschen. Wie
intelligent sind die beiden Mittwoch, 30. März
Vogelarten wirklich? Ich bin
Dokumentarfilm, arte,
Samstag, 19. März 22.45 Uhr
Kopfkino – Wer führt In einem neurologischen
Regie beim Klartraum? Reha-Zentrum tasten sich DIE SPEKTRUM-
Xenius, Wissenschafts­ Patienten nach einem
magazin, arte, 7.25 Uhr Schlaganfall vorsichtig SCHREIBWERKSTATT
Im Klartraum über- zurück ins Leben. Häufig
nimmt der Schlafende die erschüttert diese Erkran- Möchten Sie mehr darüber erfahren, wie
Regie und bestimmt, kung die eigene Identität ein wissenschaftlicher Verlag arbeitet,
was als Nächstes passiert. grundlegend – und und die Grundregeln fachjournalistischen
Schreibens erlernen?
Die Forschung zeigt: manchmal auch die
Dabei sind dieselben Beziehung zum Partner. Dann profitieren Sie als Teilnehmer des
Gehirn­areale aktiv wie Filmemacher Emmanuel Spektrum-Workshop »Wissenschaftsjournalismus«
im Wachzustand. Die Finkiel, der selbst auch vom Praxiswissen unserer Redakteure.
Psychologin Ursula Voss einen Schlaganfall erlitten
erklärt den Unterschied hat, begleitet drei Patien­- Ort: Heidelberg
zwischen normalem ten auf der Suche nach Spektrum-Workshop »Wissenschafts-
Träumen und Klar­ ihrem verlorenen Ich. journalismus«; Preis: € 139,– pro Person;
träumen. Sonderpreis für Abonnenten: € 129,–

Donnerstag, 24. März Radio


Bewusst träumen
Scobel, Expertengespräch, Montag, 14. März
3sat, 21 Uhr Toben macht schlau
Klarträumern gelingt es, Kulturtermin,
ihre Träume zu verän- rbb kulturradio, 19.04 Uhr
dern. Dies scheint mit Wie wichtig ist Bewegung Hier QR-Code
der Fähigkeit zur Meta­ für die kindliche Hirn­ per Smartphone
kognition einherzugehen, entwicklung? Begreifen scannen!
also dem Vermögen, kommt von Greifen; über
über das eigene Denken die Bewegung im Raum
nachzudenken. Gert erschließen sich Kinder
Scobel will von seinen die Welt. Aber bietet Weitere Informationen und
Gästen wissen, ob und unser Alltag in Städten Anmeldemöglichkeit:
wie wir das Klarträumen und Schulen dafür noch
erlernen können. genügend Gelegenheit?
Telefon: 06221 9126-743
spektrum.de/schreibwerkstatt
Fax: 06221 9126-751
Gehirn&Geist 63 0 4 _ 2 0 1 6 E-Mail: service@spektrum.de
TIPPS & TERMINE

Veranstaltungen
5.–8. Mai 2016, Stuttgart Behandlung und Begleitung von Grünberger Str. 14, 10243 Berlin,
Jahrestagung der Deutschen Grenzerfahrungen im Dasein Tel.: +49 30 740782-84,
Psychoanalytischen Gesell- Ort: Messe Freiburg, Europaplatz 1, E-Mail:
schaft (DPG) 79108 Freiburg im Breisgau info@dvg-gestalt.de
heimatlos / Verlust und Traumati- Kontakt: GLE-International, www.dvg-tagung2016.de
sierung – Sehnsucht und Hoffnung Eduard-Sueß-Gasse 10,
Ort: Maritim Hotel, Seidenstraße A-1150 Wien, Tel.: +43 1 9859566, 17.–20. Mai 2016, Hamburg
34, 70174 Stuttgart E-Mail: gle@existenzanalyse.org 21. Suchttherapietage
Kontakt: Deutsche Psycho­ www.existenzanalyse.org/ in Hamburg
analytische Gesellschaft (DPG), Der-Kongress.403.0.html Diagnose – Hilfe oder Etikett?
Goerzallee 5, 12207 Berlin, Ort: Universität Hamburg, Von-
Tel.: +49 30 8431-6152; E-Mail: 6.–8. Mai 2016, Pforzheim Melle-Park 8, 20146 Hamburg
geschaeftsstelle@dpg-psa.de Jahrestagung der Deutschen Kontakt: Kongressbüro der
www.dpg-psa.de/DPG-Veranstal Vereinigung für Gestalttherapie Suchttherapietage, Zentrum für
tungen/dpg-jahrestagung-2016- (DVG) Interdisziplinäre Suchtforschung,
in-stuttgart-162.html Gestalttherapie – Gesundheit Universitätsklinikum Hamburg-
und Lebensqualität in Zeiten des Eppendorf, Klinik für Psychiatrie
6.–8. Mai 2016, Freiburg Wandels und Psychotherapie, Martinistraße
Internationaler Kongress der Ort: Kulturhaus Osterfeld e. V., 52, 20246 Hamburg, Tel.:
Gesellschaft für Logotherapie Osterfeldstr. 12, 75172 Pforzheim +49 40 7410-54203, E-Mail:
und Existenzanalyse (GLE) Kontakt: Deutsche Vereinigung für kontakt@suchttherapietage.de
Grenze – Ende und Wende. Gestalttherapie (DVG) e. V., www.suchttherapietage.de

Mittwoch, 16. März halbseitige Lähmung, der Jugendpsychiater schen weltweit in Museen
Psychotherapie und die sie zunächst daran Michael Schulte-­ vertreten.
Kommunikation hindert, normal zu gehen Markwort. Er warnt vor
radioWissen am oder aufrecht zu stehen. zu viel Erziehungsehrgeiz Donnerstag, 24. März
Nachmittag, Bayern2, Doch ihre Mutter gibt und schildert Fälle Wenn die Welt
15.05 Uhr nicht auf: Sie entwickelt aus seiner Praxis. Sein ­zusammenbricht
Fritz und Laura Perls ein Gerät, das Dindia Rat an Eltern: Sie sollen Zeitfragen, Feature,
begründeten die Gestalt- anzeigt, wenn sie mehr Vertrauen darin Deutschlandradio Kultur,
therapie. Sie suchten schief steht oder läuft. haben, in der Erziehung 19.30 Uhr
nach neuen Wegen, ­Gemeinsam mit Medizin- eigene Wege zu be­ Im Rahmen des EU-­
traumatisierten Patienten technikern der TU Berlin schreiten. Forschungsprojekts
zu helfen. Paul Watzla- haben Mutter und »PsyCris« untersuchen
wick wollte den Men- Tochter die Erfindung Samstag, 19. März Wissenschaftler, welche
schen in dessen gegen­ mittlerweile zur Serien- Kunst und Irrsinn psychosoziale Unterstüt-
wärtigen Interaktionen reife gebracht. Mit Hilfe Gesichter Europas, zung nach Katastrophen
unterstützen. Eine des Geräts – und dank Deutschlandfunk, nötig ist – und wie diese
Gegenüberstellung der ausdauernder Physio­ 11.05 Uhr auch langfristig organi-
beiden kommunikations- therapie – kann Dindia Im »Haus der Künstler« siert werden muss.
orientierten Therapie­ mittlerweile sogar im österreichischen
ansätze. stundenlang wandern. Gugging leben zwölf Kurzfristige Programmän­
Menschen, die therapeu- derungen sind möglich.
Remember Motion Freitag, 18. März tisch betreut werden. Es Zum Zeitpunkt der Druck­
Device In der Optimierungs- beherbergt außerdem legung lagen uns keine
Dimensionen – falle eine Galerie, ein offenes späteren Sendetermine vor.
die Welt der Wissenschaft, SWR2 Tandem, SWR2, Atelier und ein Museum. Diese können Sie ab dem
Ö1, 19.05 Uhr 10.05 Uhr Einige der Gugginger 8. 4. 2016 aus der neuesten
Dindia erleidet schon im »Eltern sind heute häufig Künstler wie Johann Ausgabe kostenlos abrufen
Mutterleib einen Schlag- wie Trainer von Hoch­ Hauser und Oswald unter: www.spektrum.de/
anfall. Die Folge: eine leistungssportlern«, sagt Tschirtner sind inzwi- magazin/gehirn-und-geist/

Gehirn&Geist 64 0 4 _ 2 0 1 6
WebTIPPS aus der Redaktion

Ein Ort zum


Abschiednehmen
Anna von Hopffgarten über
www.kindertrauerland.org

Einen geliebten Menschen zu


verlieren, bedeutet meist einen
tiefen Einschnitt im Leben. Insbe­
sondere Kinder und Jugendliche
Entspannte Atmosphäre: können ihre Gefühle oft nicht Abkehr vom Materialismus:
ein Podcast über Neurowissenschaft einordnen und fühlen sich mitunter Martine Nida-Rümelin kommentiert
und die Menschen dahinter. sogar verantwortlich für den Tod die Natur der Individualität.
des Angehörigen. Im »Kinder­
trauerland« finden sie Hilfe. Die
Hirnforschung im Website ist ein Projekt der Hilfs­ Eine neue Kategorie
Plauderton organisation »Trauerland«, das des Seins
fortlaufend von Psychologen und
Joachim Retzbach über Pädagogen betreut wird. Bernhard Fleischer über
http://brainpodcast.com Gemeinsam mit einem virtuellen https://lecture2go.uni-hamburg.de/
Gefährten, der zu Beginn einen veranstaltungen/-/v/12111
Wer gerne Podcasts hört, kennt eigens ausgewählten Gesichtsaus­
vermutlich längst den »Braincast« druck erhält, navigieren die Kinder Wir sind identisch mit unseren
von Arvid Leyh (www.scilogs.de/ durch eine interaktive Landschaft. Körpern, also nichts anderes als
braincast). Zu den hier zu Lande In neun Stationen erhalten sie Ansammlungen und Wechsel­
weniger bekannten, englisch­ zahlreiche Informationen und wirkungen komplex organisierter
sprachigen Angeboten zählt die Mitmachangebote zum Thema. So Materie – so lautet jedenfalls der
Sendung »Brain Matters«. In den können sie beispielsweise eigene Konsens unter Neurophilosophen.
rund 45-minütigen Episoden, Gedanken an einem Trauerbaum Doch lassen sich damit auch Be­
produziert von Doktoranden der hinterlassen und außerdem lesen, wusstsein und Individualität emp­
University of Texas in Austin, was Gleichgesinnte beschäftigt. Es findender Wesen erklären?
herrscht entspannte Campusradio- werden diverse Todesarten erläutert Nein, erklärt die deutsche Philo­
Atmosphäre. Die Moderatoren und verschiedene Emotionen in sophin Martine Nida-Rümelin.
erlauben sich zu Beginn ein paar einer Art Gefühlsbarometer erklärt. Indem sich der Mainstream seit
Blödeleien und nehmen sich an­ Videos, Spiele und ein Wissensquiz Jahren erfolglos an dieser Frage
schließend viel Zeit, jeweils einen lockern die ohnehin schon sehr abarbeite, sei er in eine Sackgasse
Hirnforscher ausführlich zu freundlich gestaltete Seite zusätzlich geraten, aus der er sich nur durch
seiner Arbeit und seinem Werde­ auf. Auf einfühlsame Weise ­lernen eine Abkehr vom vorherrschenden
gang zu interviewen. die Kinder so den Umgang mit den Materialismus befreien könne. Im
Das ist auch das Besondere an schwierigen Themen ­Trauer, Ab­ Rahmen einer Veranstaltungsreihe
diesem Format: Die Gesprächs- schied und Tod. der Universität Hamburg entfaltet
partner referieren nicht nur die sie die originelle Position des
Ergebnisse ihrer Forschung, son­ »emergentistischen Dualismus«:
dern plaudern zudem ausführlich Demnach ist Bewusstsein zwar ein
über ihren persönlichen Karriere­ Produkt der Natur, allerdings von
weg und die Entwicklung ihres einer grundsätzlich anderen Kate­
Forschungsgebiets. Dadurch erfährt gorie des Seins. Nida-Rümelin
der Hörer eine Menge darüber, wie schwimmt damit gegen den Strom
die Wissenschaft (zumindest die des vorherrschenden materialis­
US-amerikanische Neurowissen­ tischen Eigenschaftsdualismus. Sie
schaft) funktioniert – und welche widerspricht entschieden dem
Rolle der Zufall, die Persönlichkeit Verdacht, dass Nichtmaterialismus
der Forscher und der Einfluss von Sensibel und freundlich: Eine virtuelle zwangsläufig religiös motiviert oder
Mentoren dabei spielen. Welt hilft Kindern beim Trauern. wissenschaftsfeindlich sein müsse.

Gehirn&Geist 65 0 4 _ 2 0 1 6
Medizin

Medikamentensucht Schlaftabletten können ernsthaft krank


­machen. Da viele Nebenwirkungen jedoch typischen
­Demenzsymptomen ähneln, bleibt das Problem oft unerkannt,
warnt der Suchtexperte Rüdiger Holzbach.

Riskante
kleine Helfer
Von Rüdiger Holzbach
Getty Images / gizos

Gehirn&Geist 66 0 4 _ 2 0 1 6
Auf einen Blick: Sucht auf Rezept

1 2 3
Beruhigungsmittel aus der Die Mittel machen nicht nur Der Entzug gelingt am leich-
Gruppe der Benzodiazepine abhängig, sie haben auch testen, wenn sich die Betrof-
und Z-Drugs können Men- starke Nebenwirkungen: Erst fenen über die unerwünschten
Getty Images / gizos

schen in psychischen Krisen kehrt sich ihre Wirkung um, und Begleiterscheinungen bewusst
schnell und effizient helfen. Doch später verursachen sie gravierende werden. Dann sollte die Dosis sehr
häufig werden sie zu lange einge- kognitive Probleme, die oft mit langsam über einen längeren
nommen. Demenz verwechselt werden. Zeitraum verringert werden.

Gehirn&Geist 67 0 4 _ 2 0 1 6
Medizin / Medika mentensucht

D
ienstagabend in der Medikamenten- chen an; dann verlieren die Medikamente ihre Wirkung.
sprechstunde der LWL-Klinik Lipp- Wenn bis dahin nicht andere Maßnahmen wie bei-
stadt: Mathilda S.* sitzt mir gegen- spielsweise eine Psychotherapie greifen, verschreiben
über, eine 74-Jährige, die seit knapp Ärzte die Mittel oft immer weiter.
drei Monaten unsere Einrichtung be- Aus einer Untersuchung im Auftrag des Gesund-
sucht. Sie kommt alle zwei bis drei heitsministeriums von 2013 wissen wir, dass nur rund
Wochen, immer begleitet von ihrem etwas älteren Ehe- drei Viertel aller mit Benzodiazepinen und Z-Drugs be-
mann. Heute werden wir uns das letzte Mal sehen, denn handelten Patienten die Mittel entsprechend der Leit­
der Entzug von ihrer »geliebten« Schlaftablette ist abge- linien kurzzeitig erhalten, also maximal acht ­Wochen.
schlossen. Knapp eine Million Deutsche nehmen die Tabletten zu
Anfangs kam sie auf Drängen ihres Mannes, dem lange ein – insbesondere Frauen und ältere Menschen
aufgefallen war, dass sie zunehmend vergesslich und an- wie Mathilda S. Ihr Arzt stellte ihr großzügig ein Rezept
triebslos wurde, sich kaum noch etwas zutraute. Ein Be- nach dem anderen aus.
richt im Fernsehen brachte ihn auf die Idee, dieser Wan- Was genau geschieht in einem solchen Fall? Da die
del könne mit den Schlaftabletten zusammenhängen, Mittel eine lange Halbwertszeit haben, also teils mehre-
die sie schon seit vielen Jahren einnahm. Er fand es be- re Tage im Körper verbleiben, zirkuliert bei täglicher
ängstigend, wie das Mittel den Charakter seiner Frau Einnahme immer mehr davon im Blut. Wer beispiels-
veränderte, und meldete sie schließlich hier an. weise jeden Tag 20 Milligramm Diazepam – auch als
Begonnen hat es bei Mathilda S. wie bei vielen an­ Valium bekannt – einnimmt, hat nach zwei Wochen
deren auch. Sie beschreibt sich selbst als »schon immer etwa 150 Milligramm des Wirkstoffs im Körper. Das Ge-
etwas labil«. Als vor 25 Jahren ihr einziges Kind an hirn gewöhnt sich schnell an die hohen Konzentratio­
Krebs erkrankte, konnte sie abends schlecht einschlafen. nen und fordert mehr davon.
Ihr Hausarzt verordnete Bromazanil – ein Beruhigungs­
mittel aus der Gruppe der Benzodiazepine. Anfangs Schlafhelfer mit Nebenwirkungen
brach sie die längliche Tablette noch sorgfältig durch Was jedoch kaum jemand weiß: Valium und Co. haben
und nahm nur ab und zu ein Viertel. Doch als es ihrem zum Teil gravierende Nebenwirkungen. Während mei-
Sohn unter der Chemotherapie schlechter ging, stei­ ner Arbeit an der Universitätsklinik Hamburg und den
gerte sie die Dosis auf ein bis eineinhalb Tabletten. Als LWL-Kliniken Warstein und Lippstadt begleitete ich
sich dann noch die Schwiegertochter von ihrem Sohn unzählige Patienten, die sich durch die Schlafmittel psy-
trennte, nahm sie manchmal auch zwei oder drei Ta- chisch stark veränderten. Auf Grundlage dieser Beob­
bletten ein. Sogar tagsüber griff sie gelegentlich zu dem achtungen und den Ergebnissen verschiedener Studien
Medikament, etwa wenn sie sich nicht gut fühlte, zu entwickelte ich 2014 ein Modell der unerwünschten Be-
sehr grübelte oder ihr schlicht die Kraft für den Alltag gleiterscheinungen, das fünf Stadien umfasst. Mit stei-
fehlte. gender Dosis durchlaufen die Patienten unterschied-
Mathilda S. ist kein Einzelfall. Allein in Deutschland liche Phasen des psychischen Wandels.
gibt es laut der Deutschen Hauptstelle für Suchtfragen Wer nur sehr geringe Mengen der Schlafmittel ein-
zwischen 1,4 und 1,9 Millionen Medikamentenabhän- nimmt – weniger als eine Tablette à 10 Milligramm Di-
gige, wobei die meisten davon zu Benzodiazepinen grei- azepam pro Tag –, kann Glück haben und keinerlei Ne-
fen. Auch die eng damit verwandten Z-Drugs oder benwirkungen verspüren. Wir nennen diesen Zustand
Non-Benzodiazepine haben ein hohes Abhängigkeits­ Prodromalphase. Sobald aber die Dosis auf ein bis zwei
potenzial, obwohl sie vergleichsweise schnell vom Kör- Tabletten pro Tag steigt, entfalten sie nach einer Weile
per abgebaut werden. Warum verfallen so viele Men- den gegenteiligen Effekt, weshalb dieses Stadium auch
schen diesen Stoffen? Wirkumkehrphase heißt.
Die Mittel können Menschen in schweren Krisen Der Grund: Der Körper gewöhnt sich sehr rasch, in-
schnell helfen. Indikationen zur Verschreibung von nerhalb von zwei bis sechs Wochen, an die Einnahme.
Benzodiazepinen sind etwa Angst, Panik und Schlafstö- Im Gehirn wird die beruhigende und dämpfende Wir-
rungen. Jedoch hält der positive Effekt nur wenige Wo- kung der Substanzen, vermittelt über den hemmenden
* Name von der Redaktion geändert

unser experte

Rüdiger Holzbach ist Chefarzt der Abteilung Suchtmedizin an den LWL-Kliniken


Warstein und Lippstadt. Während seines Studiums und der ersten Berufsjahre an der
Ludwig-Maximilians-­Universität München kam er in Kontakt mit Medikamenten-
abhängigen. Sie wurden Hauptgegenstand seiner Forschung, die er an der Universität
Hamburg und schließlich in ­Lippstadt weiterführte.

Gehirn&Geist 68 0 4 _ 2 0 1 6
Wie sich Diazepam im Körper anreichert

Gehirn&Geist, nach Holzbach, R.: Der Benzodiazepinentzug und dessen Behandlung.


20 mg 20 mg 20 mg
20 mg
20 mg
20 mg
20 mg
20 mg

20 mg

20 mg

In: Suchttherapie 7, S. 97–106, 2006, fig. 1


20 mg

20 mg 10 10
10 10
10
10
20 mg 10
10

1. Tag 2. Tag 3. Tag 4. Tag 5. Tag 6. Tag 7. Tag 8. Tag 9. Tag 10. Tag 11. Tag 12. Tag 13. Tag

Wer täglich zwei Tabletten à 10 Milligramm Diazepam einnimmt, hat nach zwei Wochen etwa
150 Milligramm des Wirkstoffs im Blut. Der Grund: Das Mittel besitzt eine sehr lange Halbwertszeit.
Nach etwa sechs Tagen ist erst die Hälfte der eingenommenen Menge abgebaut.

Botenstoff γ-Aminobuttersäure (GABA), durch andere dende Energie fielen ihr selbst jedoch nicht auf. Solche
Neurotransmittersysteme ausgeglichen. Ein einfaches Dinge registrieren eher andere – in Mathildas Fall ihr
Bild verdeutlicht das: Die Medikamente wirken wie ein Mann –, da sie sich schleichend entwickeln und die Be-
Fuß auf der Bremse, der Körper steuert jedoch über das troffenen sich daran gewöhnen.
Gaspedal dagegen. Das macht er umso stärker, je länger
der Fuß bremst – also je länger die Medikamente wir- Tabletten auf dem Schwarzmarkt
ken. Irgendwann gibt der Körper mehr Gas, als die Ta- Das vierte Stadium der Nebenwirkungen, die Suchtpha-
bletten bremsen. se, erreicht nur ein kleiner Teil der Langzeitanwender.
Die teils paradoxen Folgen sind Unruhe, Stimmungs- Denn die dafür benötigte Menge an Benzodiazepinen
schwankungen, Ängstlichkeit sowie Schlafstörungen, und Z-Drugs – drei bis sechs Tabletten pro Tag – ver-
manchmal auch Missempfindungen und eine Über- schreibt in der Regel kein einzelner Arzt. Die Betrof-
empfindlichkeit gegenüber Sinnesreizen. Betroffene fenen brauchen weitere Quellen, entweder noch andere
glauben oft, die Mittel würden nicht mehr wirken, und Mediziner oder illegale Beschaffungswege wie den
setzen sie abrupt ab. Doch was passiert nun? Der Kör- Schwarzmarkt oder bestimmte Internetapotheken, die
per steht immer noch auf dem Gaspedal, aber der die Rezeptpflicht missachten. Manche Abhängige über-
Brems­effekt ist weg. Die Patienten sind folglich völlig reden sogar ihre Angehörigen, sich das Medikament
überdreht und können gar nicht mehr schlafen. Also ebenfalls verschreiben zu lassen. Erst in dieser Phase er-
nehmen sie die Pillen weiter. Das eigentliche Problem, füllen die Patienten die klassischen Kriterien für Sucht.
die einsetzenden Entzugserscheinungen, erkennen sie Dazu zählt unter anderem der starke Wunsch, das Mit-
meist nicht. tel zu konsumieren, eine verminderte Kontrollfähigkeit
Oft steigern die Betroffenen die Dosis über viele Jah- und die zunehmende Vernachlässigung anderer Inte-
re hinweg in ganz kleinen Schritten. So nehmen sie ir- ressen zu Gunsten der Einnahme und Beschaffung des
gendwann eine viertel Tablette mehr und dann noch Medikaments.
eine und so weiter, bis sie – etwa bei zwei bis drei Tablet- Verlieren die Betroffenen völlig die Kontrolle über
ten pro Tag – die so genannte Apathiephase erreichen: die eingenommene Menge an Schlafmitteln, haben sie
Sie werden antriebslos und vergesslich, können sich das fünfte Stadium, die Intoxikationsphase, erreicht. Ihr
nicht mehr konzentrieren und flachen emotional im- Tag-Nacht-Rhythmus ist meist komplett aufgehoben,
mer mehr ab. Angehörige und Ärzte verwechseln diese sie nicken ständig ein, können aber nicht längere Zeit
Symptome oft mit unspezifischen Alterserscheinungen, am Stück schlafen. In der Regel geschieht das ab einer
depressiven Störungen oder sogar Demenz. Dosis von mehr als sechs Tabletten pro Tag.
Auch Mathilda S. bemerkte, wie ihr Gedächtnis nach­ Solche massiven Nebenwirkungen sind natürlich
ließ. Die emotionale Abstumpfung und die schwin- nicht mehr zu übersehen und werden auch von den Pa-

Gehirn&Geist 69 0 4 _ 2 0 1 6
tienten mit dem Medikament in Verbindung gebracht. ist es schwer, Medikamentenabhängige davon zu über-
Doch wie lassen sich Menschen in den ersten drei Pha- zeugen, sich behandeln zu lassen.
sen für die Symptome sensibilisieren und zu einem Ent- Inzwischen vermeide ich den negativ besetzten Be-
zug motivieren? Leider wird den Langzeitnutzern von griff »Sucht« und erkläre den Patienten stattdessen,
Schlaf- und Beruhigungsmitteln allzu oft der Stempel dass ihre Beschwerden Nebenwirkungen des Medika-
»Medikamentenabhängige« aufgedrückt. ments sein könnten. So entsteht ein gemeinsames
Wissenschaftler haben sogar den Begriff der »Nied- Krankheitskonzept, das die Grundlage für eine Thera-
rigdosis-Abhängigkeit« eingeführt, da viele Betroffene pie bilden kann. Auf diese Weise lassen sie sich leichter
die Kriterien einer voll ausgebildeten Abhängigkeit motivieren.
nicht erfüllen, beim Absetzen der Medikamente aber Betroffene können ganz einfach selbst überprüfen,
Entzugserscheinungen entwickeln. Früher fragten mich ob sie unter Nebenwirkungen leiden: mit dem so ge-
Patienten, wenn ich sie über ihre Niedrigdosis-Abhän- nannten Lippstädter »Benzo-Check«, einem Kurztest,
gigkeit aufklärte, was daran so schlimm sei. Dazu fiel den ich mit meinen Kollegen von den LWL-Kliniken
mir, genau wie meinen Kollegen, wenig ein, was sie zu Warstein und Lippstadt entwickelt habe (siehe »Der
einem Entzug motiviert hätte. Viele verheimlichen ihr Lippstädter ›Benzo-Check‹«, unten). Er lässt sich auch
Problem auch aus Angst vor Stigmatisierung. Deshalb im Internet unter www.lwl-kurzlink.de/benzo-check

Der Lippstädter »Benzo-Check«


Die meisten Menschen vertragen Benzodiazepine und Z-Drugs zu Beginn einer Behandlung
gut. Mit einer Einnahmedauer von mehr als acht Wochen wächst jedoch das Risiko für
­Nebenwirkungen. Dieser Test hilft einzuschätzen, ob und wie sehr sie bereits ausgeprägt sind.

Die nachfolgenden Fragen beziehen sich auf Symp­ Leiden Sie unter Schlafstörungen?
tome, die sich während der Einnahme verstärkt n überhaupt nicht .................................... Punkte
0
haben oder neu aufgetreten sind. Dabei spielt es keine n ein wenig ............................................... 1 Punkte
Rolle, ob sie durch eine Erkrankung hervorgerufen n ziemlich ................................................. 2 Punkte
werden. Kreuzen Sie die für Sie zutreffende Antwort an n stark ....................................................... 3 Punkte
und zählen Sie am Ende die Punktzahl zusammen. n sehr stark ............................................... 4 Punkte

Haben Sie Ängste?


Erleben Sie eine Abschwächung Ihrer Gefühle n überhaupt nicht .................................... Punkte
0
bis hin zu einer depressiven Verstimmung? n ein wenig ............................................... 1 Punkte
n überhaupt nicht .................................... 0 Punkte n ziemlich ................................................. 2 Punkte
n ein wenig ............................................... 1 Punkte n stark ....................................................... 3 Punkte
n ziemlich ................................................. 2 Punkte n sehr stark................................................ 4 Punkte
n stark ....................................................... 3 Punkte
n sehr stark ............................................... 4 Punkte Schwanken Ihre Gefühle innerhalb eines Tages
deutlich?
Ist Ihre Konzentrations- und/oder Merkfähigkeit n überhaupt nicht ................................... .0 Punkte
gestört? n ein wenig ............................................. . 1 Punkte
n überhaupt nicht .................................... 0 Punkte n ziemlich ............................................... . 2 Punkte
n ein wenig ............................................... 1 Punkte n stark .................................................... .. 3 Punkte
n ziemlich ................................................. 2 Punkte n sehr stark ............................................ .. 4 Punkte
n stark ....................................................... 3 Punkte
n sehr stark ............................................... 4 Punkte Reagieren Sie überempfindlich auf Sinnesreize?
Blendet z. B. Licht, werden Geräusche rasch
Fehlt Ihnen körperliche Energie? als Lärm empfunden?
n überhaupt nicht .................................... 0 Punkte n überhaupt nicht .................................... 0 Punkte
n ein wenig ............................................... 1 Punkte n ein wenig ............................................... 1 Punkte
n ziemlich ................................................. 2 Punkte n ziemlich ................................................. 2 Punkte
n stark ....................................................... 3 Punkte n stark ....................................................... 3 Punkte
n sehr stark ............................................... 4 Punkte n sehr stark ............................................... 4 Punkte

Gehirn&Geist 70 0 4 _ 2 0 1 6
Medizin / Medika mentensucht

herunterladen. Natürlich ersetzt ein solcher Test kein unserer Klinik bewährt, die reduzierte Dosis über meh-
Arztgespräch. Aber er kann die Entscheidung erleich- rere Gaben pro Tag zu verteilen. So schwankt der Wirk-
tern, sich an einen Spezialisten zu wenden. stoffspiegel nicht so sehr, und die Patienten haben kaum
Entzugserscheinungen.
Herzrasen durch schnelles Absetzen Ein häufiger Fehler ist es, das Mittel während der
Früher begann ein Benzodiazepinentzug üblicherweise Therapie nur einmal täglich zu geben. Die Konzentra­
mit dem schlagartigen Absetzen des Medikaments. In- tion im Blut steigt erst einmal stark an, sinkt dann aber
zwischen wissen wir, dass dieses Vorgehen ein gefähr- in den folgenden 24 Stunden unter den Schwellenwert,
liches Entzugsdelir auslösen kann, das sich unter ande- ab dem Entzugserscheinungen auftreten. Die Folge: Die
rem durch Bewusstseinsstörungen, Zittern und Herz­ Patienten fühlen sich so unwohl, dass sie die Behand-
rasen äußert. Auch epileptische Anfälle sind möglich. lung vorzeitig abbrechen. Das könnte auch einer der
Deshalb empfehlen wir, die Medikamente schrittweise Gründe dafür sein, warum der Entzug von Benzo­
abzusetzen. diazepinen und Z-Drugs allgemein als schwierig und
Es gibt zahlreiche Varianten, wie die Dosis reduziert sehr langwierig gilt.
werden kann. Weil es an entsprechenden Studien fehlt, Es ist außerdem entscheidend, welcher Wirkstoff bei
existiert zurzeit keine Leitlinie. Es hat sich allerdings in der Entwöhnung verwendet wird. Am besten eignen

Nehmen Sie das Medikament aus anderen als Sind Sie auf das Medikament fixiert (verlassen Sie
den ursprünglichen Gründen und Anlässen z. B. das Haus nicht mehr »ohne«), und/oder
ein (z. B. das Schlafmedikament tagsüber, wenn stehen Sie einer Reduktion oder dem Absetzen des
Sie gar nicht schlafen wollen)? Medi­kaments skeptisch gegenüber?
n nie .......................................................... 0 Punkte n überhaupt nicht .................................... 0 Punkte
n selten ...................................................... 1 Punkte n ein wenig ............................................... 1 Punkte
n manchmal ............................................. 2 Punkte n ziemlich ................................................. 2 Punkte
n oft ........................................................... 3 Punkte n stark ....................................................... 3 Punkte
n sehr oft ................................................... 4 Punkte n sehr stark ............................................... 4 Punkte

Stolpern Sie ohne ersichtlichen Grund, oder Auswertung


sind Sie gar gestürzt? 0 bis 12 Punkte
n nie .......................................................... 0 Punkte Sie zeigen noch keine sicheren, typischen Folgeer­
n selten ...................................................... 1 Punkte scheinungen. Sie sollten die Gefahren der Langzeitein­
n manchmal ............................................. 2 Punkte nahme (das sind die in den Fragen angesprochenen
n oft ........................................................... 3 Punkte Veränderungen) aber kennen und sich über alternative
n sehr oft ................................................... 4 Punkte Behandlungen informieren. Entscheiden Sie dann mit
Ihrem Arzt, wie weiter vorzugehen ist.
Nutzen Sie zusätzliche Quellen zur Beschaffung des
Medikaments (z. B. andere Ärzte, Internet), und/oder 13 bis 24 Punkte
meiden Sie das Thema Medikamenteneinnahme, und/ Die Summe der Veränderungen kommt wahrschein­
oder nehmen Sie das Mittel heimlich ein, und/oder lich von der Einnahme der Benzodiazepine bezie­
bagatellisieren Sie die eingenommene Menge? hungsweise Non-Benzodiazepine. Die Präparate weiter
n nie .......................................................... 0 Punkte einzunehmen, ist problematisch, die Weiterverschrei­
n selten ...................................................... 1 Punkte bung sollte auf jeden Fall befristet werden. Setzen Sie
n manchmal ............................................. 2 Punkte die Medikamente jedoch nicht allein und niemals
n oft ........................................................... 3 Punkte schlagartig ab. Sprechen Sie unbedingt mit Ihrem Arzt.
n sehr oft ................................................... 4 Punkte
25 und mehr Punkte
Haben Sie die Dosis gesteigert, weil die Wirksamkeit Die Veränderungen kommen mit hoher Wahrschein­
des Medikaments nachgelassen hat? lichkeit von der Langzeiteinnahme der Benzo­diazepine
n überhaupt nicht .................................... 0 Punkte oder Non-Benzodiazepine. Ein ambulanter oder
n ein wenig ............................................... 1 Punkte stationärer Entzug ist Ihnen dringend anzuraten.
n ziemlich ................................................. 2 Punkte Sprechen Sie bitte mit Ihrem Arzt. Auch hier gilt:
n stark ....................................................... 3 Punkte Setzen Sie die Medikamente nicht allein und niemals
n sehr stark ............................................... 4 Punkte schlagartig ab.

Gehirn&Geist 71 4 _ 2 0 1 6
Medizin / Medika mentensucht

Schlafmittel auf Privatrezept Auch bei Mathilda S. hat der Entzug gut geklappt.
Wir gaben ihr ein Benzodiazepin in Tropfenform. So
Die Verordnung von Benzodiazepinen und Z-Drugs konnten wir die Dosis ganz langsam reduzieren. Auf ih-
erreichte in den 1980er Jahren ihren Höhepunkt; ren Wunsch hin nahm ihr Mann die Flasche in Verwah-
seitdem nimmt die Zahl der verschriebenen Packun­ rung und gab ihr viermal täglich eine Portion. So kam
gen kontinuierlich ab. Doch die Arbeitsgruppe um sie gar nicht erst in Versuchung, wenn es ihr schlecht
Falk Hoffmann und Gerd ­Glaeske von der Universi­ ging oder sie nicht schlafen konnte.
tät Bremen stellte 2014 fest: Immer mehr gesetzlich Tatsächlich hatte sie anfangs wieder Probleme mit
Krankenversicherte erhalten Schlaf- und Beruhi­ dem Einschlafen. Bei unseren regelmäßigen Sitzungen
gungsmittel auf Privatrezept. So verringerte sich die fanden wir aber rasch die Ursache dafür: Sie schaute
Zahl der Verschreibungen für gesetzlich Versicherte beim Einschlafen immer wieder auf den Wecker, um zu
zwischen 1993 und 2012 um 8,4 Millionen – von kontrollieren, wie lange sie schon wach lag. Mit jedem
13,3 auf 4,9 Millionen. Betrachtet man jedoch alle Blick ärgerte sie sich mehr, ihr Körper setzte das Stress-
Verkäufe, auch die auf Privatrezept, reduzierte hormon Adrenalin frei, was das Einschlafen zusätzlich
sich die Zahl nur um 5 Millionen – von 14,9 auf erschwerte – ein typischer Teufelskreis bei Schlafstö-
9,9 Millionen. Laut der Deutschen Gesellschaft für rungen.
Psychiatrie, Psycho­therapie und Nervenheilkunde Ich klärte sie darüber auf, dass auch gesunde Men-
weist dies »auf einen Missbrauch hin, der durch schen pro Nacht bis zu 20-mal aufwachen, und empfahl
eine solche Verordnungsweise weniger transparent ihr, die Uhr nachts aus ihrem Blickfeld zu verbannen.
und nachvollziehbar gemacht werden solle«. Mit Hilfe weiterer so genannter »schlafhygienischer
Hoffmann, F., Glaeske, G.: Benzodiazepin- ­Regeln« wie regelmäßigen Aufsteh- und Zu-Bett-geh-
hypnotika, Zolpidem und Zopiclon auf Privatrezept. Zeiten und dem Verzicht auf Nickerchen am Tag (siehe
In: Der Nervenarzt 85, S. 1402–1409, 2014 auch Gehirn&Geist 11/2011, S. 50) besserte sich ihr
Schlaf allmählich.
Die Neurologin Sigrid Poser und ihr Mann, der Psy-
sich Benzodiazepine mit einer mittleren Halbwertszeit chiater und Pharmakologe Wolfgang Poser, erkannten
wie Oxazepam oder Clonazepam. Mittel, die zu lang- bereits in den 1990er Jahren, dass die Tablettensucht
sam abgebaut werden, reichern sich im Körper an, so von allen Suchterkrankungen die günstigste Prognose
dass die Wirkung wieder zunimmt. Eine sehr kurze hat. Gerade bei älteren Menschen wie Mathilda S. sind
Halbwertszeit führt wiederum zu starken Konzentra­ nach dem Entzug neben der schlafhygienischen Bera-
tionsschwankungen im Blut und damit zu Entzugs­ tung keine weiteren Maßnahmen nötig. Oft ist es auch
erscheinungen. ratsam, eine vorbestehende Angststörung oder Depres-
Mit unserem Programm, bei dem wir den Wirkstoff- sion parallel zum Entzug zu behandeln – etwa durch die
spiegel möglichst konstant halten, gelingt uns der Ent- Kombination von Antidepressiva und Psychotherapie.
zug bei Patienten in stationärer Behandlung in der Re- Als die Schlafmittel langsam aus ihrem Körper ver-
gel innerhalb von drei bis sechs Wochen und ambulant schwanden, merkte Mathilda S., wie sehr die Medika-
in etwa drei Monaten. In einer Studie von 2014 haben mente sie verändert hatten. War sie vor dem Entzug
wir den Erfolg unseres Programms an rund 100 Patien­ permanent überfordert und saß nur noch auf dem Sofa,
ten getestet. Ergebnis: 85 Prozent hielten bis zum Ende plante sie nun mit ihrem Mann eine Reise mit dem
der Behandlung durch, und 63 Prozent davon waren Wohnmobil – und vergaß auch nichts beim Packen, als
nach sechs Monaten immer noch abstinent. es schließlich losging. H

Q UE L L EN

Eckert-Lill, C. et al.: Benzodiazepin-Entzug – Betreuung durch Apotheker und Hausarzt.


In: Pharmazeutische Zeitung 21, S. 26–35, 2014
Holzbach, R. et al.: Zusammenhang zwischen Verschreibungsverhalten
der Ärzte und Medikamentenabhängigkeit ihrer Patienten.
In: Bundesgesundheitsblatt 53, S. 319–325, 2010
Jahnsen, K. et al.: Probleme bei der Dauertherapie mit Benzodiazepinen und verwandten Substanzen.
In: Deutsches Ärzteblatt International 112, S. 1–7, 2015
Verthein, U. et al.: Langzeitverschreibung von
Benzodiazepinen und Non-Benzodiazepinen – eine prospektive Analyse über 12 Monate.
In: Gesundheitswesen 75, S. 430–437, 2013
Weitere Quellen im Internet: www.spektrum.de/artikel/1398756

Gehirn&Geist 72 0 4 _ 2 0 1 6
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titelthema

räumen Das Gehirn ruht nie – zum Glück:


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das überraschende

Gehirn&Geist 04/2016
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Gu te Frage

Warum nehmen
viele ehemalige Raucher
an Gewicht zu?

iStock / tolokonov

Haben auch Sie eine Frage an unsere Experten? Dann schreiben Sie mit dem Betreff »Gute Frage« an:
gehirn-und-geist@spektrum.de

Gehirn&Geist 74 04_2016
Unser Experte
k e n n t d i e A n t w o r t.

Anil Batra ist Professor an der Universität Tübingen und leitet dort die Sektion für
Sucht­medizin und Suchtforschung. Seit mehr als 20 Jahren ist er selbst »rauchfrei«,
brauchte dafür allerdings mehrere Anläufe. Er hofft, dass die Kosten einer Raucher-
entwöhnung in Zukunft von den Krankenkassen übernommen werden.

W
er mit dem Rauchen aufhören möchte, steht Essen zügeln, wenn sie nicht zunehmen wollen: Erst
vor einer großen Herausforderung, und sie nach zwei Jahren Nikotinabstinenz pendeln sich sowohl
ist nicht gerade leichter zu bewältigen, wenn Grundumsatz als auch Dopaminhaushalt wieder auf
man mit zusätzlichen Kilos rechnen muss. Schon 1982 dem Ausgangs­niveau ein.
berichteten Wissenschaftler nach Auswertung der da­ Wie heftig sich der Nikotinentzug auswirkt, hängt
maligen Fachliteratur, dass Menschen, die mit dem ­unter anderem vom Ausmaß des Tabakkonsums ab:
Rauchen aufhören, ein Jahr danach im Schnitt drei Wer mehr raucht und damit stärker abhängig ist, wird
bis fünf Kilogramm mehr auf die Waage bringen. Die nach dem Rauchstopp unruhiger und versucht dies mit
promovierte ­ Medizinerin Claudia Filozof, Diabetes­ einem h ­öheren Nahrungsmittelkonsum zu kompen­
expertin und heute in der Pharmaindustrie tätig, stellte sieren. Das ergab beispielsweise eine Studie des Epide­
in einem Forschungsüberblick fest, dass zwar die meis­
ten Menschen nach einem Rauchstopp nicht mehr als
diese drei bis fünf Kilo zunehmen. Doch 13 Prozent le­
gen sogar mehr als elf Kilo zu. Ehemalige Raucher
Dafür gibt es im Wesentlichen zwei Ursachen. Zum
einen führt Rauchen zu einem höheren Grundumsatz benötigen weniger
unseres Körpers, sprich: Er verbraucht mehr Kalorien.
Laut ­Filozof benötigen Nichtraucher zwischen 4 und ­Kalorien als Raucher,
16 Prozent weniger Kalorien als Raucher. Hört man also
mit dem Rauchen auf, isst aber weiter wie bisher, legt nehmen aber täglich
man automatisch an Gewicht zu.
Zum anderen nehmen Betroffene nach dem Rauch­
stopp täglich 100 bis 300 Kalorien mehr zu sich als zu­
100 bis 300 Kalorien
vor. Das liegt vor allem daran, dass Nikotin den Appetit
hemmt und vermehrt den Hirnbotenstoff Dopamin
mehr zu sich als zuvor
freisetzt, der das neuronale Belohnungs­system ankur­
belt. Fällt die Nikotinzufuhr weg, sucht der Körper nach miologen ­David F. Williamson und seiner Kollegen
einem Ersatz, um die Dopamin­ausschüttung wieder an­ vom Federal Center for Disease Control in Atlanta mit
zuregen – etwa fett- und kohlehydrathaltige Nahrung –, über 2600 Probanden. Dabei zeigte sich, dass diejeni­
und so greift man öfter zu Süßigkeiten. Filozof zufolge gen, die mehr als 15-mal am Tag zum Glimmstängel
nahmen die Probanden in den einschlägigen Untersu­ griffen, besonders betroffen waren. Außerdem legen
chungen 48 Tage nachdem sie mit dem Rauchen aufge­ höher gebildete Menschen und jene, die sich schon in
hört hatten, durchschnittlich 227 Kalorien mehr zu sich, ihrer Ausbildung mit Gesundheitsthemen beschäftigt
und nach 60 Tagen waren es immer noch 122. Langfris­ haben, nicht so viel zu.
tig ­gesehen legen die Exraucher in den ersten beiden Filozof stellte überdies fest, dass vor allem Frauen aus
Monaten nach dem Stopp am stärksten zu. Gewichtsgründen dazu neigen, nicht mit dem Rauchen
Gemäß Filozofs Berechnungen leistet das ausgiebi­ aufzuhören, oder deswegen damit anfangen. Wer sich
gere Schlemmen einen etwas größeren Beitrag zur Ge­ ertappt fühlt, dem sei gesagt: Die gesundheitlichen Fol­
wichtszunahme als der verringerte Grundumsatz. Auf­ gen des Rauchens sind weit gravierender als die des
hörwillige Raucher müssen sich eine ganze Weile beim Übergewichts.  H

Q UE L L E n

Filozof, C. et al.: Smoking Cessation and Weight Gain. In: Obesity Reviews 5, S. 95–103, 2004
Williamson, D. F. et al.: Smoking Cessation and Severity of Weight Gain in a National Cohort.
In: The New England Journal of Medicine 324, S. 739–745, 1991
Weitere Quellen im Internet: www.spektrum.de/artikel/1396572

Gehirn&Geist 75 04_2016
Medizin

Morbus Alzheimer Unser Autor hat ein neues Modell der


­ lzheimerkrankheit entwickelt. Demnach entsteht die Demenz
A
schon bei jungen Menschen unbemerkt im Hirnstamm.

Das Vergessen
aus der Tiefe
Von Ud o Rüb

F
ür die schleichend beginnende und chro- kung beginnt bereits im jungen Erwachsenen­alter –
nisch fortschreitende Alzheimerdemenz davon sind inzwischen die meisten Wissenschaftler
­
galten bislang drei Annahmen als gesichert: überzeugt. 2. Der Zerfall des Gehirns geht nicht von der
1. Die Krankheit betrifft lediglich alte Men- Großhirnrinde aus. Unsere Forschung in Frankfurt
schen. 2. Nur das Großhirn wird dabei zeigt vielmehr, dass erste krankhafte Veränderungen im
­zerstört. 3. Die fatalen Abbauprozesse fin- tiefer liegenden und evolutionär älteren Hirnstamm
den im Gehirn an unvorhersehbaren Stellen statt. Oder auftreten. 3. Von hier aus breiten sie sich nicht diffus,
kurz: Morbus Alzheimer ist eine diffuse Abbauerkran- sondern vorhersagbar im Gehirn aus.
kung des alternden Gehirns. Hinter mehr als 65 Prozent aller Demenzen steckt die
Diesem Konzept möchte ich hier ein neues ­Modell Alzheimerkrankheit. Weltweit leiden fast 30 Millionen
der Alzheimerkrankheit entgegenstellen: 1. Die Erkran- und in Deutschland etwa anderthalb Millionen Men-
schen an dieser bislang nicht behandelbaren Erkran-
kung. Sie belastet nicht nur die betroffenen Patienten
und ihre Familien schwer, sondern stellt auch noch
Die Gehirn&Geist-Serie 100 Jahre nach ihrer Entdeckung durch den deutschen
Psychiater und Neuropathologen Alois Alzheimer
»Alzheimer« im Überblick: (1864–1915) eine gewaltige volkswirtschaftliche und eine
Teil 1: Besser leben mit Demenz / Infografik: Das optimale der größten wissenschaftlichen Herausforderungen der
Zuhause für Demenzkranke / Lieder gegen das Medizin dar.
Vergessen / Interview: Versorgung in Deutschland Schätzungen zufolge beginnt die Krankheit schon
(Gehirn&Geist 3/2016) 30 bis 40 Jahre, bevor erste Störungen des Denk- und
Teil 2: Das Vergessen aus der Tiefe (in diesem Heft) Erinnerungsvermögens offensichtlich zu Tage treten.
Teil 3: Die Suche nach Alzheimermedikamenten Nach einer symptomfreien präklinischen Phase schließt
(Gehirn&Geist 5/2016) sich die ebenfalls meist unbemerkte Prodromalphase

Gehirn&Geist 76 0 4 _ 2 0 1 6
Ag. Focus / Science Photo Library / Alfred Pasieka

Im Spätstadium der Alzheimer­


krankheit hat das Hirngewebe eines
Betroffenen (links) im Vergleich zu
dem eines Gesunden (rechts) bereits
deutlich an Substanz ver­loren.

Auf einen Blick: Wurzeln im Hirnstamm

1 2 3
Morbus Alzheimer galt lange Der anatomische Ursprung Die Ausbreitung beruht
als diffuse Abbau­erkrankung der Krankheit scheint nach ­vermutlich auf Mechanismen,
des alternden Gehirns. Die neuen Studien des Autors wie sie von Prionenerkran-
krankhaften Hirnveränderungen im Hirnstamm zu liegen. Von dort kungen wie der Creutzfeldt-Jakob-
können jedoch schon bei jungen breiten sich die pathologischen Krankheit bekannt sind.
Erwachsenen auftreten – Jahr- Veränderungen entlang von
zehnte bevor sich erste Symptome ­Nervenfaserbahnen im ganzen
zeigen. Gehirn aus.

Gehirn&Geist 77 0 4 _ 2 0 1 6
unser experte

Udo Rüb ist Mediziner und Professor an der Dr. Senckenbergischen Anatomie der Goethe-­Universität
Frankfurt am Main. Am Dr. Senckenbergischen Chronomedizinischen Institut leitet er die Arbeits-
gruppe »Alter und Neurodegeneration«. Sie erforscht mittels anatomischer Hirnstudien neurodegene-
rative Erkrankungen wie die Alzheimer-, die Parkinson- und die Huntingtonkrankheit.

an, bei der aber schon erste Symptome auftreten kön- während die Tau-Fibrillen vermutlich maßgeblich zum
nen: Die Betroffenen zeigen leichte kognitive Einbußen Absterben der Nervenzellen beitragen (siehe »Störung
und fühlen sich depressiv; Sprache, Schlaf-wach-Rhyth- im Betriebsablauf der Hirnzelle«, rechts).
mus, Augenbewegungen, vegetative Funktionen wie das Bisher konnte zwar niemand direkt beweisen, dass
Herz-Kreislauf-System sowie die Schmerzverarbeitung von Tau-Ablagerungen befallene Neurone tatsächlich
sind beeinträchtigt. Hausärzte deuten diese Warnzei- schneller zu Grunde gehen. Unverkennbar bleibt aller-
chen oft jedoch nicht richtig. Diagnose und Therapie dings der massenhafte Befall mit Tau-Bündeln, von dem
setzen daher gewöhnlich viel zu spät ein, so dass der im späten Stadium der Erkrankung in bestimmten
lange Zeitraum der präklinischen sowie der Prodromal- Hirnregionen wie dem Hippocampus nahezu jedes
phase vollkommen ungenutzt bleibt. Neuron betroffen ist. Dann tauchen auch außerhalb der
Zellen fadenförmige Gebilde auf, die treffend als »tomb-
Massenhafter Untergang von Hirnzellen stone tangles« (Grabsteinbündel) bezeichnet werden
Erst im späten Alter entwickelt sich die klinische Phase (siehe Bilder S. 80). Nach Auffassung der meisten Alzhei­
der Alzheimerkrankheit schleichend aus der Prodromal­ merforscher stellen sie die faserigen Überreste der Tau-
phase mit ihren uncharakteristischen Symptomen. Jetzt Bündel von bereits abgestorbenen Nervenzellen dar.
manifestieren sich weitere Beeinträchtigungen wie Be- Die Tau-Verklumpungen wie auch die β-Amyloid-
wegungsstörungen, Teilnahmslosigkeit, Aggressivität, Plaques breiten sich nun eben nicht wie lange vermutet
Angstzustände oder Wahn. Zusammen mit dem rapi- zufällig und diffus im Gehirn aus. Im Gegenteil. Viel-
den Gedächtnisschwund führen sie früher oder später mehr befallen sie nur bestimmte Hirnregionen und
zu einem Verlust der Orientierung, des Urteilsvermö- ­entwickeln sich bei allen Patienten in derselben Reihen-
gens und schließlich der gesamten Persönlichkeit. Die folge. Das führt dazu, dass das Verteilungsmuster der
schwer beeinträchtigten Patienten müssen umfassend Tau-Ablagerungen im Endstadium der Krankheit bei
gepflegt werden und sterben nach einer Lei­denszeit von allen Betroffenen nahezu identisch ist.
etwa zehn Jahren zumeist an den Folgen einer Lungen- Schon 1991 hat das Forscherehepaar Eva und Heiko
entzündung, die etwa durch Verschlucken beim Essen Braak von der Goethe-Universität Frankfurt die Aus-
oder Trinken verursacht wird. breitung der Tau-Ablagerungen in der Großhirnrinde
Typisch für die Alzheimerkrankheit ist der massen- in einem Stadienmodell beschrieben (siehe »Die Braak-
hafte Untergang von Nervenzellen in bestimmten Stadien«, S. 81). Demnach erscheinen in der präklini­
­wichtigen Hirnregionen. Bereits Alois Alzheimer fielen schen Phase (Stadien I und II) die ersten krankhaften
die Proteinverklumpungen inner- und außerhalb von Veränderungen in den entorhinalen und transento­
­Neuronen auf, die er postmortal in angefärbten Hirn- rhinalen Arealen, stammesgeschichtlich alten Regionen
schnitten der ersten Alzheimerpatientin Auguste D. des Großhirns. Von hier aus breiten sie sich in der Pro-
­beobachtete und 1907 beschrieb (siehe Gehirn&Geist dromalphase (Stadien III und IV) in Richtung des be-
6/2014, S. 72). Wie wir heute wissen, stammen die Abla- nachbarten Hippocampus aus – der zentralen Schalt-
gerungen in den Neuronen von Aggregaten des krank- stelle unseres Gedächtnisses. In der klinischen Phase
haft veränderten Tau-Proteins, während sich die Klum- der Alzheimerkrankheit (Stadien V und VI) gelangen
pen außerhalb der Zellen aus unlöslichen Bestandteilen
der Eiweißverbindung β-Amyloid zusammensetzen M e h r W i s s e n au f
­(siehe »Kurz erklärt«, S. 80). » S p e k t r um . d e «
Die intraneuronalen Tau-Fibrillen und die extraneu-
ronalen β-Amyloid-Plaques spiegeln somit zwei Seiten Weitere Forschung zu neurodegenerativen
Krankheiten schildert das »Gehirn&Geist«-
derselben Medaille wider. Da jedoch die Tau-Ablage- Dossier 2/2014 Was heilt das Gehirn?:
rungen in den meisten Hirnregionen, die vom Zerfall
www.spektrum.de/artikel/1210101
betroffen sind, schon geraume Zeit vor den ersten
­Spuren der β-Amyloid-Plaques erscheinen, gehen wir Mehr zu Alzheimer und Demenz finden Sie
davon aus, dass Letzteren nur eine untergeordnete Be­ auf unserer Themenseite:
deutung bei der Entstehung der Krankheit zukommt, www.spektrum.de/t/alzheimer

Gehirn&Geist 78 0 4 _ 2 0 1 6
Medizin / Morbu s alzh eimer

Störung im Betriebsablauf der Hirnzelle


gesunder Zustand krankhafter Zustand

Neuron Viele Phosphatgruppen binden an die Tau-Proteine.


Synapse Dadurch lösen sich diese vom Mikrotubulus, was ihn
destabilisiert.
Zellkern
Mikrotubuli
Yousun Koh, nach Udo Rüb

Axon
-Tubulin

Die Transportprozesse im Axon -Tubulin


der Hirnzelle sind gestört.
Tau bindet an jeden neuronalen Mikrotubulus
und stabilisiert diesen.
verklumpte
Tau Phosphatgruppe Tau-Proteine
Die Tau-Proteine verklumpen.

Das Tau-Protein spielt eine zentrale transportieren Abfälle zurück ins Transportwege innerhalb des
Rolle für die Transportprozesse Innere, wo sie entsorgt werden. Axons unterbrochen.
in einer Nervenzelle: Es stabilisiert In den Hirnzellen von Und noch ein weiterer Effekt
die so genannten Mikrotubuli Alzheimerpatienten funktioniert ist typisch für die Alzheimer-
von außen. Das sind zu Röhren die Stabilisierung der Mikrotubuli erkrankung: Durch die
geformte, sehr große Multi- durch das Tau-Protein nicht mehr. zusätzlichen Phosphatgruppen
Protein-Komplexe, die innerhalb Denn aus noch unbekannten wird das Tau-Protein unlöslich,
der Axone liegen. Durch sie Gründen lagern sich ungewöhnlich es verklumpt in den Nerven-
hindurch gelangen Nährstoffe viele Phosphatgruppen an das zellen. Diese Veränderungen
vom Zellkörper durch das Axon Tau an. Es kann dann nicht mehr führen zur Bildung jener neuro-
bis zu den weitesten Ausläufern an die Mikrotubuli binden, so dass fibrillären Bündel, die schon
der Zelle. Andere Mikrotubuli diese zerfallen. Dann sind die Alois Alzheimer entdeckte.

die schädlichen Proteinklumpen auch in stammesge- Bereits vor 15 Jahren entdeckte unsere Arbeitsgruppe,
schichtlich jüngere Areale der Großhirnrinde, bis sie dass die Hirnschnitte von Alzheimerpatienten, die im
schließlich nahezu alle Bereiche des Großhirns erfassen frühen, präklinischen Stadium der Erkrankung gestor-
und zu einer schweren Demenz führen. ben waren, subkortikale Zytoskelettveränderungen auf-
Die erheblichen Zytoskelettveränderungen und Ner- wiesen. Wir bezweifelten daher schon damals, dass sie,
venzellverluste in der Großhirnrinde verursachen zwei- wie das braaksche Stadienmodell postuliert, ein Sekun-
fellos die massiven Störungen im Denken und Erinnern därphänomen seien.
der Betroffenen. Deshalb hielten schon Alois Alzheimer
sowie die meisten Wissenschaftler noch viele Jahrzehnte Durchbruch nach 15 Jahren
nach ihm die Alzheimerkrankheit für ein Leiden, das 2015 konnten wir schließlich mit hirnanatomischen
ausschließlich das Großhirn betrifft. Auch das Stadien- ­Untersuchungen nachweisen, dass subkortikale Tau-
modell des Ehepaars Braak deutet krankhafte Verän­ Ablagerungen regelmäßig in weiten Bereichen des ba-
derungen in subkortikalen, also tiefer liegenden Hirn- salen Vorderhirns, der Amygdala, des Hypothalamus,
bereichen wie im Thalamus und im Hirnstamm als des Thalamus sowie des Hirnstamms auftreten. In zwei
­Sekundärphänomen, das durch die Zerstörungen in der Kerngebieten des Hirnstamms scheinen die schädlichen
Großhirnrinde verursacht wird. Tau-Verklumpungen zu beginnen: in den Raphekernen

Gehirn&Geist 79 0 4 _ 2 0 1 6
Ku r z e r k l ä r t : F a t a l e P r o t e i n e

Zwei krankhaft veränderte Eiweißverbindungen treten Ob das β-Amyloid oder das Tau-Protein für den
typischerweise im Gehirn von Alzheimerpatienten auf: Verlauf der Krankheit die wichtigere Rolle spielt, ist
Das Peptid β-Amyloid wird von bestimmten Enzymen umstritten. Wissenschaftler, die im β-Amyloid-Peptid
aus einem in der Zellmembran der Neurone sitzenden das entscheidende Übel sehen, werden scherzhaft
Vorläuferprotein herausgeschnitten und verklumpt »Baptisten« genannt. »Tauisten« – zu denen auch
außerhalb der Zellen zu Plaques. Das Protein Tau sitzt unser Autor zählt – setzen dagegen eher auf das Tau-
in den Leitungssträngen der Nervenzellen, den Axo- Protein.
nen, und stabilisiert normalerweise die Mikrotubuli –
Zytoskelettbestandteile, die den Transport von Sub- Prionen sind fehlgefaltete Proteine, die sich selbst ver­-
stanzen gewährleisten. Bei Alzheimerpatienten löst es vielfältigen und das Nervensystem zerstören. Zu den
sich von den Mikrotubuli und verklumpt innerhalb der wichtigsten Prionenerkrankungen zählen die Creutz-
Nervenzelle. Das Zytoskelett bricht dadurch zusammen feldt-Jakob-Krankheit beim Menschen oder die bovine
(siehe »Störung im Betriebsablauf der Hirnzelle«, S. 79). spongiforme Enzephalopathie (BSE) beim Rind. aj

sowie im Locus coeruleus. Beide beeinflussen die Stim- Der Locus coeruleus und die Raphekerne sind ana­
mung und sind an der Steuerung des Schlaf-wach- tomisch über Fasern mit den entorhinalen und trans­
Rhythmus sowie der Augenmuskulatur beteiligt. entorhinalen Regionen der Großhirnrinde verbunden.
Schon bei jungen Erwachsenen wurden einige die- Der bei allen Alzheimerpatienten gleich ablaufende
ser Hirnstammkerne von den krankhaften Zerstö- Prozess der zunehmenden Zerstörung des Gehirns ist
rungen heimgesucht – lange noch bevor sich erste Tau- unserer Auffassung nach kein Zufall. Offensichtlich
Ablagerungen in den transentorhinalen und ento­ hat die Krankheit ihren Ursprung im Hirnstamm und
rhinalen Regionen der Großhirnrinde abzeichnen, also steigt von dort aus entlang von Fasern zum Großhirn
quasi im Braak-Stadium 0 (siehe Bilder S. 82). Im Ver- auf ­(siehe »Das neue Modell der Alzheimerkrankheit«,
lauf der Stadien III bis VI nahmen diese Zellschädi- rechts unten).
gungen dann kontinuierlich an Schwere zu. Diese frü-
hen Zytoskelettveränderungen im Hirnstamm dürften Ein neues Bild der Erkrankung
somit schlüssig erklären, weshalb Alzheimerpatienten Auch die später betroffenen Hirnareale sowie das finale
schon in der Prodromalphase mitunter schlechter schla- Verteilungsmuster der Tau-Ablagerungen spiegeln die
fen, Depressionen entwickeln, unter Herz-Kreislauf- anatomischen Verknüpfungen wider. Deshalb sind nur
Störungen leiden, ein verringertes Schmerzempfinden bestimmte Hirnregionen von dem Krankheitsprozess
verspüren oder ihre Augen nicht mehr richtig bewegen betroffen, während unmittelbar benachbarte Areale
können. ausgespart bleiben. Die Annahme, Morbus Alzheimer

Tau-Fibrillen in Hippocampus
Hirnschnitte offenbaren unter dem Mikroskop
massive Ansammlungen von Tau-Fibrillen in den
150 μm Neuronen des Ammonshorns im Hippocampus
Ammonshorn
eines Alzheimerpatienten im Braak-Stadium V.
»tombstone Nahezu jede Zelle ist befallen (oben). Die Vergrö-
tangle« ßerungen unten zeigen die typisch flammenförmig
mit frdl. Gen. von Udo Rüb

gewundenen Tau-Bündel innerhalb der Zellen


(links) sowie die extraneuronalen »tombstone
tangles«, die faserigen Überreste neurofibrillärer
50 μm Tau-Bündel 50 μm Bündel von bereits abgestorbenen Nervenzellen
(rechts).

Gehirn&Geist 80 0 4 _ 2 0 1 6
Medizin / Morbu s alzh eimer

Die Braak-Stadien
Das Frankfurter Forscherehepaar Eva und
Heiko Braak definierte 1991 sechs Stadien, Stadium I
und II
mit denen sich die Tau-Ablagerungen typi-

Yousun Koh, nach Rüb, U. et al.: The evolution of Alzheimer‘s disease-related cytoskeletal pathology
in the human raphe nuclei. In: Neuropathology and Applied Neurobiology 26, S. 553–567, 2000, fig. 1
scherweise im Großhirn von Alzheimer­
patienten ausbreiten. In der präklinischen
Phase (Stadium I und II), die bereits 30 bis
40 Jahre vor der Diagnose »Alzheimer«
beginnen kann, treten die ersten Verände-
rungen in Nervenzellen der transentorhi-
nalen und entorhinalen Regionen der Groß-
hirnrinde auf (grau). In Stadium III und IV, Stadium III
und IV
der Prodromalphase, haben die krankhaften
Zytoskelettveränderungen in den zuerst
betroffenen Regionen deutlich an Schwere
zugenommen (dunkelblau) und sich auch
auf den Hippocampus (hellblau) sowie
weitere Felder der Großhirnrinde ausgebrei-
tet (grau). In der klinischen Phase (Stadium
V und VI) sind die stammesgeschichtlich Stadium V
alten Regionen der Großhirnrinde massiv und VI
betroffen (dunkelblau) – die Krankheit hat
sich inzwischen im gesamten Gehirn ver­
breitet (dunkel- und hellgrau).
Acta Neuropathol. 82, S. 239–259, 1991

Das neue Modell


der Alzheimerkrankheit
Hippocampus
Die Zytoskelettveränderungen von Morbus

Yousun Koh, nach Rüb, U. et al.: The evolution of Alzheimer‘s disease-related cytoskeletal pathology
in the human raphe nuclei. In: Neuropathology and Applied Neurobiology 26, S. 553–567, 2000, fig. 2
Alz­heimer breiten sich in wohlgeordneter
Weise entlang anatomischer Bahnen im transento­
rhinale Region
Gehirn aus. Jahrzehntelang galten die trans­
entorhinale und die entorhinale Region
sowie der Hippo­campus im Großhirn als entorhinale
Ursprung der Krankheit (oben). Dieses Region
Konzept muss womöglich revidiert werden: herkömmliches Modell
Offenbar entwickeln sich die allerersten
Tau-Ablagerungen im Hirnstamm, vor allem
in den dorsalen Raphekernen sowie im
Locus coeruleus. Von hier aus steigen die
krankhaften Veränderungen entlang von
Fasern zur Großhirnrinde auf (unten).

dorsale
­Raphekerne

Locus
­coeruleus
neues Modell

Gehirn&Geist 81 0 4 _ 2 0 1 6
Medizin / Morbu s alzheimer

A vierter 350 μm B 350 μm Ablagerungen vor


Hirnventrikel den ersten Symptomen
Bei Alzheimerpatienten mit voll ausgeprägter Demenz
in der klinischen Phase (Braak-Stadium V) sind fast
Stadium V Stadium V alle Nervenzellen der dorsalen Raphekerne (A) sowie
dorsale ­Raphekerne Locus c­ oeruleus des Locus coeruleus (B) von den Zytoskelettverände-
rungen betroffen (Pfeile). Die beiden Hirnstammkerne
C 50 μm D 50 μm
liegen sehr nahe am vierten Hirnventrikel – mögli-
cherweise steckt in diesen mit Liquor gefüllten Hohl-
mit frdl. Gen. von Udo Rüb

räumen der Ursprungsort der Krankheit. Bereits bei


symptomfreien jungen Erwachsenen (Braak-Stadium
0) gibt es in den Raphekernen (C) sowie im Locus
Stadium 0 Stadium 0
coeruleus (D) erste Tau-Ablagerungen (Pfeile).
dorsale ­Raphekerne Locus ­coeruleus

sei eine diffuse Hirnerkrankung, muss daher unserer erklärt«, S. 80, und Gehirn&Geist 1-2/2008, S. 30): Die
Auffassung nach verworfen werden. Es handelt sich 1982 von dem US-amerikanischen Neurologen Stanley
vielmehr um eine »Konnektivitätserkrankung« des Prusiner von der University of California in San Fran-
menschlichen Gehirns, die sich gezielt entlang anato- cisco postulierten Prionen falten andere Proteine im
mischer Nervenverbindungen, also »transneuronal« Gehirn derart um, dass diese wiederum neue Prionen
ausbreitet. Die initialen Veränderungen im Hirnstamm erzeugen – eine fatale Kettenreaktion, für deren Entde-
wirken demnach wie der Fall des ersten Dominosteins ckung Prusiner 1997 mit dem Medizinnobelpreis geehrt
in einer Reihe, der unaufhaltsam den Sturz der nachfol- wurde.
genden Steine auslöst. Viele Wissenschaftler gehen heute davon aus, dass
Morbus Alzheimer, genauso wie die Parkinsonkrank-
Morbus Alzheimer – eine Prionenerkrankung? heit und andere neurodegenerative Leiden, zu den
Doch ob die Erkrankung tatsächlich im Hirnstamm prion­artigen Erkrankungen des menschlichen Gehirns
­ihren Ausgang nimmt – und weshalb –, ist noch unklar. zählt. Das bedeutet allerdings nicht, dass die Alzheimer-
Allerdings ist kaum zu übersehen, dass jene Hirn­ krankheit wie klassische Prionenerkrankungen von
stamm­kerne, die von den ersten krankhaften Tau-Ab­la­ Mensch zu Mensch übertragbar ist; es breiten sich le-
gerun­gen befallen werden, nahe den mit Hirnflüssigkeit diglich die schädlichen Proteine im Gehirn der Betrof-
gefüllten Ventrikeln des Gehirns liegen. Möglicherweise fenen von befallenen auf gesunde Nervenzellen aus.
gelangt aus diesem Liquor ein bislang unbekannter Aus- Die lange Dauer dieses Prozesses, der bereits Jahr-
löser in den Hirnstamm und stößt so den unerbittlich zehnte vor der Diagnose beginnen kann, verlangt ein
fortschreitenden Krankheitsprozess an. Umdenken in der Therapie: Bisherige Behandlungs­
Welche molekularen Mechanismen stecken hinter versuche, die erst im Stadium der voll ausgeprägten
der vorhersagbaren Ausbreitung? Die Frage kann noch ­Demenz einsetzen, sind zwangsläufig zum Scheitern
nicht abschließend beantwortet werden. Tierexperimen­ verurteilt. Ließe sich dagegen die vom Hirnstamm aus-
telle Studien weisen jedoch darauf hin, dass der Krank­ gehende transneuronale Ausbreitung frühzeitig unter-
heitsverlauf auf sich selbst vervielfältigenden Prozessen brechen, könnte das die Alzheimerdemenz im Keim er-
beruht, wie wir sie von Prionenerkrankungen wie sticken – noch bevor sich die fatalen Schäden im Gehirn
der Creutzfeldt-Jakob-Krankheit kennen (siehe »Kurz großräumig ausbreiten. H

Q U ELLEN

Ballard, C. et al.: Alzheimer’s Disease. In: The Lancet 377, S. 1019–1031, 2011
Braak, H., Del Tredici, K.: Neuroanatomy and Pathology of Sporadic Alzheimer’s Disease.
Springer, Heidelberg 2015
Rüb, U. et al.: The Evolution of Alzheimer’s Disease-Related Cytoskeletal Pathology in the Human Raphe Nuclei.
In: Neuropathology and Applied Neurobiology 26, S. 553–567, 2000
Stratmann, K. et al.: Precortical Phases of Alzheimer’s Disease (AD)-Related Tau Cytoskeletal Pathology.
In: Brain Pathology 10.1111/bpa.12289, 2015
Weitere Quellen im Internet: www.spektrum.de/artikel/1397176

Gehirn&Geist 82 0 4 _ 2 0 1 6
Bücher und mehr

CNRS / Inserm, Palaiseau); Karine Loulier, Jean Livet (Institut de la Vision, UPMC / CNRS / Inserm, Paris)
Pierre Mahou, Emmanuel Beaurepaire (Laboratory for optics and biosciences, Ecole Polytechnique /
Nervenzellen in der Großhirnrinde. Die Zell-
körper (bunt) haben zahlreiche Fortsätze
in Richtung Schädeldecke (im Bild nach oben).

Bebilderte Rundreise Ein kleiner methodischer Exkurs vermittelt Laien,


durchs Gehirn mit welchen Werkzeugen Hirnforscher heute arbeiten.
Zum Schluss widmen sich die Autoren den derzeitigen
Auf Entdeckungstour im Nervensystem
Grenzen der Erkenntnis – von Bewusstsein bis freier

W
ie wird aus chemischen Botenstoffen eine Wille –, was das Werk gelungen abrundet.
Bewegung? Wie entsteht unser Bewusstsein? Als vorgebildete(r) Leser(in) wünscht man sich zu
Warum erinnern wir uns an eine Telefon- manchem Bild weitere Informationen, etwa bezüglich
nummer, nicht aber an unseren ersten Geburtstag? der sichtbar gemachten Proteine. Doch ihre Funktion,
Unser Gehirn fasziniert und gibt jede Menge Rätsel auf. den Buchinhalt zu veranschaulichen, erfüllen die
Die Neurobiologen Henning Beck, Sofia Anastasia- Bilder. Die Texte ähneln nicht zufällig einem »Science
dou und Christopher Meyer zu Reckendorf nehmen Slam«, einem pointierten Vortrag, in dem Forscher
den Leser mit auf eine Entdeckungsreise ins Nerven- ihre Projekte vorstellen: Beck wurde in dieser Disziplin
system. Auf jeder Doppelseite erläutern sie ein Thema, 2012 deutscher Meister. Die Sprache ist entsprechend
von Großhirn über Kreativität bis hin zur synaptischen bildhaft – so erfahren wir, ein Zellkern sei »1000-mal
Übertragung. Der Text ist durchweg leicht verständlich kleiner als ein Smartie«. Obwohl dieser Duktus etwas
und üppig, oft großformatig bebildert. gewöhnungsbedürftig ist, fördert er das Verständnis.
Ausgehend vom Nervensystem als ganzem zoomt Das Buch führt gekonnt in die Neurobiologie ein und
das Buch nach und nach an seine einzelnen anatomi- lässt sich allen Interessierten empfehlen.
schen, funktionellen und (sub)zellulären Bestandteile Meike Gratz ist Biologin und Wissenschaftsjournalistin in Darmstadt.
heran. Die Autoren erklären, welche Hirnareale und
Faserbündel es gibt, wie Neurone funktionieren und

tipp
wie Sinneseindrücke, Bewegungen, Erinnerungen und
Lernvorgänge zu Stande kommen.
Auch Erkrankungen wie multiple Sklerose oder des monats
Epilepsie sind ein Thema, ebenso Verletzungen. Die HHHHH
Autoren beschreiben, was geschieht, wenn einzelne
Henning Beck, Sofia Anastasiadou,
Hirnregionen ihre Funktion nicht mehr ausüben, und Christopher Meyer zu Reckendorf
zu welchem Krankheitsbild dies führt. Bei Morbus
Parkinson beispielsweise verkümmern Dopamin pro- Faszinierendes Gehirn
duzierende Neurone der Substantia nigra im Mittel- Eine bebilderte Reise in die Welt
hirn. Der daraus resultierende Dopaminmangel stört der Nervenzellen
die Motorik. Verlangsamte Bewegungen, Muskelzittern Springer Spektrum, Berlin und Heidel-
und -starre und instabile Körperhaltung sind die Folge. berg 2016, 300 S., € 29,99

Gehirn&Geist 83 0 4 _ 2 0 1 6
Kindern schwanger ist, schluckt sie diverse unnötige
Medikamente, um den Ungeborenen zu schaden.
HHHHH Im weiteren Verlauf des Bands kommentieren
Ulrich Sachsse (Hg.) Experten verschiedener Fachrichtungen den Fall: ein
Medizinethiker, zwei Psychotherapeuten, eine
Proxy – Juristin und ein Kinderarzt. Jeder beleuchtet »Proxys«
dunkle Seite der Mütterlichkeit Taten vor dem Hintergrund seiner Profession. Alle
Schattauer, Stuttgart 2015, 152 S., sind sich einig darin, dass man sich bei der Auseinan-
€ 24,99 dersetzung mit solchen Fällen nicht von seinen
Emotionen leiten lassen darf. Als Leser(in) ist man
Quälende Liebe hin- und hergerissen zwischen der relativierenden
Wenn Mütter ihren Kindern schaden Einsicht, dass »Proxy« selbst eine traumatisierende
Kindheit durchleben musste, und der Abscheu

N
ormalerweise haben Eltern das Bedürfnis, angesichts der Qualen, die sie ihren drei Töchtern
ihre Kinder zu beschützen und dafür zu bereitet hat.
sorgen, dass es ihnen gut geht. Nicht so beim Das Buch vermittelt anfangs den Eindruck, die
»Münchhausen-by-Proxy-Syndrom«. Die Erkrankten ungewöhnliche Erkrankung würde nur bei Müttern
empfinden zwar Zuneigung zu ihrem Nachwuchs, auftreten. Erst gegen Ende erfährt man, dass auch
schaden diesem aber mit voller Absicht, um noch mehr Väter betroffen sind – wenngleich seltener. Schade ist,
»gebraucht« zu werden. dass lediglich tiefenpsychologisch orientierte Psycho-
Der Psychotherapeut Ulrich Sachsse schildert im therapeuten zu Wort kommen. So präsentiert das Buch
vorliegenden Buch die Geschichte einer Erkrankten, sicherlich nur einen kleinen Ausschnitt der möglichen
die er »Frau Proxy« nennt. Die Mutter macht ihre Interpretations- und Erklärungsansätze. Dennoch
eigenen Kinder krank, um anschließend als Retterin in erläutert es eine ebenso sonderbare wie befremdliche
der Not aufzutreten. Ihre älteste Tochter vergiftet sie Störung, die vielen kaum bekannt sein dürfte.
mehrmals, und während sie mit ihren beiden jüngeren Marie-Theresa Kaufmann studiert Psychologie in Würzburg.

Gehirn&Geist-Bestseller
Die aktuellen Spitzentitel aus den Bereichen
Psychologie, Hirnforschung ­und Gesellschaft 6 Christina Berndt
Resilienz – Das Geheimnis der psychischen
Widerstandskraft

1 OLIVER SACKS
Dankbarkeit
dtv, München 2015, 278 S., € 9,90

Rowohlt, Reinbek 2015, 64 S., € 8,–


7 Marshall B. Rosenberg
Gewaltfreie Kommunikation – Eine Sprache des

2 JAN BECKER
Du kannst schaffen, was du willst – Die Kunst
der Selbsthypnose
Lebens
Junfermann, Paderborn 2014, 240 S., € 23,90

Piper, München, Berlin 2015, 336 S., € 14,99


8 Cecile Landau, Scarlett O’Hara (Hg.)
Das Psychologie-Buch: Wichtige Theorien

3 JOHANNES HInrich VON BORSTEL


Herzrasen kann man nicht mähen
Ullstein, Berlin 2015, 304 S., € 16,99
einfach erklärt
Dorling Kindersley, München 2012, 352 S., € 24,95

4 THORSTEN HAVENER
Ohne Worte – Was andere über dich denken
9 JENS HOFFMANN
Menschen entschlüsseln
mvg, München 2016, 208 S., € 16,99
Rowohlt, Reinbek 2014, 268 S., € 14,99

5 Daniel Kahneman
Thinking, Fast and Slow
10 Markus Gabriel
Ich ist nicht Gehirn
Ullstein, Berlin 2015, 349 S., € 18,–
Penguin, London 2012, 512 S., € 14,50

Nach Verkaufszahlen von media control gelistet (Zeitraum: 13. 1.–10. 2. 2016)

Gehirn&Geist 84 0 4 _ 2 0 1 6
Bücher und mehr

HHHHH
Miriam Kalliwoda Kriminalistische Metaphern wie Tatort, Zeugen
oder Täter dienen Kalliwoda als Hilfsmittel, um die
Der Gefühlsprofiler Verständlichkeit zu verbessern – allerdings wiederholt
Wie wir im Chaos unserer sie sich hier häufig. Zudem sind die Fragen, mit denen
­Emotionen aufräumen sie die Leser zur Selbstreflexion anregen möchte, oft
Goldmann, München 2015, 224 S., sehr allgemein gehalten. Sie erscheinen mitunter
€ 8,99 oberflächlich und wenig konkret.
Dennoch kann das Buch helfen, sich intensiver mit
dem eigenen Gefühlshaushalt auseinanderzusetzen
Kreuzverhör mit sich selbst und mehr Selbstakzeptanz sowie emotionale Stabilität
Ein forensischer Blick auf Gefühle zu erlangen. Wer praktische Anregungen für die
Erkundung seines Innenlebens sucht, dem lässt sich

W
er wollte nicht manchmal Ordnung ins dieser Ratgeber empfehlen.
Chaos seiner Gefühle bringen? Die Autorin Rainer Müller ist Psychologe und Journalist in Hamburg. Er betreibt
Miriam Kalliwoda möchte dabei helfen. den Blog www.psyche-und-arbeit.de.
Das Besondere an ihrem Buch ist die Perspektive einer
Kriminaloberkommissarin, die sich zur psychologi-
schen Beraterin weiterbildete.
Auch wenn Kalliwoda ihre Ratschläge eher aus
persönlichen Erfahrungen schöpft denn aus der HHHHH
Forschungsliteratur, decken sich ihre Aussagen doch
Jens Förster
weitgehend mit denen verbreiteter Therapieansätze,
wonach unsere Emotionen, Denk- und Verhaltensmus- Was das Haben
ter auf bestimmte Weise zusammenhängen. Vor allem mit dem Sein macht
auf die Prämissen der rational-emotiven Verhaltens­ Die neue Psychologie
therapie, die der US-Psychologe Albert Ellis (1913– von Konsum und Verzicht
2007) entwickelte, nimmt die Autorin wiederholt Pattloch, München 2015, 333 S., € 19,99
Bezug. Demnach sind es nicht die Dinge selbst, die uns
glücklich oder unglücklich machen, sondern die Art,
wie wir sie bewerten – abhängig von innewohnenden Vom Lockruf der Dinge
Überzeugungen, die bewusst oder auch unbewusst sein Eine psychologische Deutung unseres
können. Kaufverhaltens
Die Autorin schlägt die Methode des »sokratischen

E
Dialogs« vor, mit dessen Hilfe man eigene Überzeu- rich Fromms Weltbestseller »Haben oder Sein«
gungen und Lebenshaltungen kritisch hinterfragen prägte in den 1970er Jahren eine ganze Genera­
könne. Dabei lässt sie ihren beruflichen Hintergrund tion. Fromms kluge Analyse zweier menschli-
einfließen. Es gehe darum, schreibt sie, sich einen cher Existenzweisen, die in seinen Augen gegensätzlich
fiktiven »Ermittler« zu erschaffen und diesen bei der waren, beeindruckt auch rund 40 Jahre später noch.
Selbsterkundung zu Rate zu ziehen. Ihre eigene Doch die psychologische Forschung hat sich weiterent-
Ermittlerin, Mimi genannt, lässt die Autorin gedank- wickelt. Manches, was zu Zeiten des berühmten
lich mit einer Achterbahn durch das Innere fahren. Psychoanalytikers und Sozialpsychologen en vogue
Dieses Vorgehen erinnert an das Modell des »inneren war, gilt heute als widerlegt.
Teams« des Kommunikationswissenschaftlers Friede- An dieser Stelle setzt der Sozialpsychologe Jens
mann Schulz von Thun. Förster an. In seinem neuen Buch »Was das Haben mit
Ähnlich wie bei Thuns Ansatz treten auch bei dem Sein macht« versucht er, das Thema aus heutiger
Kalliwoda verschiedene Facetten der Persönlichkeit Sicht zu beleuchten. Im Gegensatz zu Fromm, der
in Dialog. Wenn man dies mit achtsamkeitsbasierten scharf die kapitalistisch motivierte Konsumgesellschaft
Verfahren und einem Augenmerk auf körperliche kritisierte, möchte Förster eine materialistische
Prozesse beobachte, so die Autorin, könne man den Einstellung nicht grundsätzlich verteufeln. Sehr wohl
persönlichen Gefühlshaushalt bilanzieren. In ihrem aber verweist er auf die fatalen Folgen für Menschheit
Buch entwickelt sie einen Ansatz, wie man dabei und Erde, die aus übermäßigem Konsum resultieren.
systematisch vorgehen kann. Also stellt er motivationspsychologische Überlegungen

Gehirn&Geist 85 0 4 _ 2 0 1 6
über unser Kaufverhalten an und widmet sich dabei Wie schon in seinem Vorgängerwerk »Unser
den Übergängen vom gesunden Konsum zur Kauf- Autopilot« erzählt der Autor das alles im beschwingten
sucht, vom belebenden Verzicht zum Sparzwang. Plauderton. Förster unterhält seine Leser mit zahlrei-
Förster erläutert scheinbar geläufige Begriffe und chen Alltagsbeispielen, Anekdoten und persönlichen
prüft sie auf Bedeutung und Nutzen: »horten«, »sam- Schilderungen, und das an vielen Stellen durchaus
meln«, »raffen«,»teilen«, »tauschen« und »spenden«. erhellend. Allerdings wäre das Buch ohne sie vermut-
Anhand dessen entwickelt er eine Theorie von Haben lich mit der halben Seitenzahl ausgekommen.
und Sein. Aus den Zielen dieser beiden Existenzweisen Schwierig wird es, wenn der Autor die zentralen
sowie aus den Mitteln, um jene Ziele zu erreichen, Begriffe »Haben« und »Sein« einzugrenzen sucht. Er
resultieren vier verschiedene Persönlichkeitstypen. gibt die frommschen Definitionen mitunter ungenau

Das Gehirn&Geist-Schaufenster
Weitere Neuerscheinungen

Hirnforschung und Philosophie Mariella Matthäus, Andreas Stein:


Psychoedukation und Psychotherapie für Jugend­
Rainer Bösel: Wie das Gehirn »Wirklichkeit«
liche und junge Erwachsene mit ADHS Ein Manual
konstruiert Zur Neuropsychologie des Kohlhammer, Stuttgart 2016, 133 S., € 39,–
realistischen, fiktionalen und metaphysischen
Denkens Kneginja Richter, Johanna Myllymäki-Neuhoff,
Kohlhammer, Stuttgart 2016, 192 S., € 34,– Günter Niklewski: Schlafschulung für Ältere
in der Gruppe Ein Manual zur Behandlung von
Thomas Görnitz, Brigitte Görnitz: Von der Quanten-
Schlafstörungen bei Menschen über 60
physik zum Bewusstsein Kosmos, Geist und Materie Mabuse, Frankfurt am Main 2016, 144 S., € 24,95
Springer, Berlin und Heidelberg 2016, 488 S., € 39,99

Michael Madeja, Joachim Müller-Jung (Hg.): Kinder und Familie


­Hirnforschung – was kann sie wirklich? Erfolge, Klaudia Schultheis, Agnes Pfrang, Petra Hiebl:
Möglichkeiten und Grenzen ­Pädagogische Kinderforschung Lernen, Erziehen und
C.H.Beck, München 2016, 240 S., € 19,95
Unterrichten aus der Perspektive der Kinder
Mario Markus: Das nackte Gehirn Kohlhammer, Stuttgart 2016, 220 S., € 34,–
Wie Neurotechnik unser Leben revolutioniert Ingrid Löbner: Gelassene Eltern – Glückliche Kinder
Konrad Theiss, Stuttgart 2016, 224 S., € 24,95
Mit mehr Leichtigkeit und Entspanntheit durch die
ersten sechs Lebensjahre
Psychologie und Gesellschaft
Fischer & Gann, Munderfing 2016, 270 S., € 19,99
Ann Helena Neudek: Kinderseelenallein Die Narben
meiner Kindheit und wie ich ins Leben fand Ratgeber und Lebenshilfe
Patmos, Mannheim 2016, 200 S., € 19,99
Christian Firus: Wieder Land sehen – Selbsthilfe bei
Uli Reiter: Form und Funktion des Krankhaften Depressionen
Pathologie als Modalmedium Fischer & Gann, Munderfing 2016, 160 S., € 12,99
Psychosozial, Gießen 2016, 230 S., € 29,90
Heidi Neumann-Wirsig (Hg.):
Susanne Meyer: Die Kunst, stilvoll älter zu werden Lösungsorientierte Supervisions-Tools
Erfahrungen aus der Vintage-Zone! Renommierte Supervisorinnen und Supervisoren
Berlin Verlag, Berlin 2016, 224 S., € 20,– beschreiben 50 lösungsorientierte, systemische
und hypnosystemische Tools für die Supervision
Medizin und Psychotherapie managerSeminare, Bonn 2016, 350 S., € 49,90

Gabriele Eßing: Praxis der Neuropsychotherapie Marlies Pörtner: Geschenkte Jahre


Wie die Psyche das Gehirn formt Glücksmomente und Herausforderungen ab 80
Deutscher Psychologen Verlag, Bonn 2015, 196 S., € 21,– Klett-Cotta, Stuttgart 2016, 178 S., € 18,95

Gehirn&Geist 86 0 4 _ 2 0 1 6
Bücher und mehr

und missverständlich wieder und bemüht sich kaum Bei dieser ihrer Lieblingsbeschäftigung hätten die
darum, sie zu hinterfragen. Für Fromm waren Haben Seelenkundler in den zurückliegenden 100 Jahren jede
und Sein zwei Wege zu leben. Förster dagegen verbin- Menge hochfliegender, aber falscher Theorien hervor-
det mit einer Haben-Orientierung in erster Linie Geld, gebracht, schreibt Bergmann – von der Psychoanalyse
sprich »etwas kaufen wollen«. Tätigkeiten wie Lesen bis zum Behavorismus. Der Autor teilt ordentlich aus.
oder Reden wiederum assoziiert er mit »Sein«, dabei Er hält den Fachvertretern grundsätzlich vor, sie
auf Fromm verweisend. Diesem zufolge können aber könnten, anders als sie behaupteten, den Menschen
auch Tätigkeiten wie das Lesen im Modus des Habens keineswegs erklären; sie kämen seinem Wesen nicht
stattfinden – nämlich dann, wenn wir ein Buch einmal nahe. Vielmehr würden sie aus einem Gefühl
»fertigkriegen« wollen und dabei weder Freude noch der Minderwertigkeit heraus dem Ideal der harten
inneres Tätigsein spüren. Naturwissenschaften nacheifern, das sich mit ihrem
Fromms berühmtes Werk thematisierte alle Gegenstand, menschlichem Denken und Fühlen, nicht
Bereiche des Daseins und warnte davor, das »Haben« vertrage. Oder aber sie verfolgten von vornherein
könne sich auf alle Lebensbereiche übertragen, indem kommerzielle Interessen.
wir mit dieser Einstellung etwa lieben und unsere Er legt die Messlatte freilich hoch. Obwohl man es
Partner aussuchen. Förster reißt das kurz an, geht aber Medizinern etwa kaum vorwerfen würde, nicht exakt
nicht weiter darauf ein und erschafft sodann seine berechnen zu können, ob jemand an Krebs erkrankt,
eigenen, stark vereinfachten Definitionen. Hierbei scheint er solche Treffsicherheit von der Psychologie zu
fokussiert er auf das menschliche Konsumverhalten. fordern. Dass diese eine statistische Wissenschaft ist,
Es könnte ein Gewinn sein, Fromms Analyse von die für den Einzelfall nur Wahrscheinlichkeitsaussagen
»moralischer Keule« und politischer Gesinnung zu liefert, übersieht er geflissentlich.
befreien und das Thema psychologisch unvoreinge- Doch Bergmanns Unbehagen reicht noch tiefer. Er
nommen zu untersuchen. Falls Förster dies vorhatte, beklagt jene »Übergriffigkeit«, wonach Psychologen
hat er sein Ziel verfehlt – trotz kluger Gedanken. uns gern Dinge andichten würden, die zutreffen
Miriam Berger ist Psychologin und Journalistin in Köln. könnten oder auch nicht. Man solle sich öffnen und
permanent seine Gefühle mitteilen, man solle an
seinen Kompetenzen arbeiten sowie die persönliche
Resilienz steigern. Dass solche Empfehlungen heute
wie ein Mantra gehandhabt würden, lastet der Autor
der florierenden Psychobranche an – und vieles mehr.
Seine Kritik hat zwei große Schwächen. Erstens
HHHHH greift Bergmann in die Mottenkiste der Psychologie­
Jens Bergmann geschichte, indem er etwa vorführt, wie fragwürdig
der Rohrschachtest ist und wie wenig Substanz
Der Tanz ums Ich
inflationär gebrauchte Begriffe wie »Traumatisierung«
Über Risiken und Neben­ haben. Dabei zeichnet er stellenweise ein Bild der
wirkungen der Psychologie Psychologie, wie sie vor Jahrzehnten aussah. Zweitens
Pantheon, München 2016, 240 S., wirft er der Disziplin einen Wildwuchs an unbelegten
€ 14,99
Behauptungen vor, verwirft jedoch zugleich das streng
experimentelle Vorgehen. Gerade dieses kann den
Seelenmythen Seelenmythen aber Einhalt gebieten. So fragt man sich
Eine durchwachsene Abrechnung als Leser zunehmend, was die Alternative zu einer –
mit der Psychobranche laut Autor – reduktionistischen und teils esoterischen
Psychologie sein soll. Eine Frage, die unbeantwortet

D
er Mensch sucht nach Erklärungen, auch für bleibt.
Dinge, die sich kaum erklären lassen. Mensch- Man machte es sich dennoch zu einfach, täte man
liches Verhalten zum Beispiel. Worauf es Bergmanns Argumente als dumpfe Vorurteile oder als
gründet, liegt nach heutigem Konsens vor allem in der Ignoranz ab. Trotz aller Schwächen ist sein Buch ein
Psyche des Einzelnen verborgen, meint der Journalist Gewinn. Es lehrt, sich der Gefahren des Psychologisie-
und studierte Psychologe Jens Bergmann. Und darüber, rens bewusst zu werden und Unterstellungen aus der
was in den Tiefen des Ich rumore, lasse sich bestens Psychoecke mit Skepsis zu begegnen.
spekulieren. Steve Ayan ist Psychologe und Redakteur bei »Gehirn&Geist«.

Gehirn&Geist 87 0 4 _ 2 0 1 6
Das Rechercheportal für
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AcademiaNet ist ein einzigartiger Service für Entschei-


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Vorschau

Gehirn&Geist 5/2016 erscheint am 8. April

Scanner an
Bodenstation!
Die Gehirnfunktionen bei
Kindern zu erforschen, ist
eine knifflige Angelegen­
heit. Damit ihre jüngsten
Probanden überhaupt in
den Magnetresonanztomo­
grafen klettern, müssen
die Wissenschaftler Spiel,
Spaß und Abenteuer
bieten. Unser Autor beglei-
tet den sechsjährigen
Neo bei seiner Reise in
der »Raketenröhre«.

Warum
schlafen wir?
Über die Bedeutung des
photocase / germanbrina

Schlafs rätseln Wissen­


schaftler seit Jahrhunder­
ten. Doch jetzt mehren
sich die Entdeckungen
dazu, auf welchen Wegen
der allnächtliche Blackout
Die Geheimnisse der weiblichen Lust Gesundheit, Psyche und
kognitive Leistungsfähig­
Frauen gelten gemeinhin als das lustlosere Geschlecht. Was ist dran an dem keit beeinflusst. Der
Vorurteil? Wie verändert sich das Verlangen im Verlauf einer Partnerschaft, renommierte Schlaffor­
und wie lässt es sich steigern? Die Sexualforscherin und Psychotherapeutin scher Robert Stickgold
Kirsten von Sydow von der Pädagogischen Hochschule Berlin sagt: Lust ist von der Harvard Medical
ein Potenzial, das in uns allen angelegt ist – und das wir wecken können. School gibt einen Über­
blick über den aktuellen
Stand der Forschung.

Brennpunkt Hass
Noch nie in der Geschichte der
Bundesrepublik haben so viele Newsletter
Menschen ihrem Hass auf Minder­ Lassen Sie sich jeden
heiten und politisch Andersden­ Monat über Themen
kende öffentlich freien Lauf gelassen. und Autoren des neuen
Besonders ungefiltert erscheinen die Hefts informieren! Wir
Tiraden in den sozialen Netzwerken, halten Sie gern per E-Mail
photocase / pollography

oft nicht einmal mit Pseudonym. auf dem Laufenden –


Psychologen fragen: Was steckt natürlich kostenlos.
hinter solchen Ressentiments? Und Registrierung unter:
fördert das Internet womöglich www.spektrum.de/
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Gehirn&Geist 89 0 4 _ 2 0 1 6
hirschhausens hirnschmalz
Frank Eidel; mit frdl. Gen. von Eckart von Hirschhausen

Psychotest:
Energydrinks mit
Wozu brauchen Sie persönlich
Hochprozentigem?
können.
A) Um mit Frauen flirten zu
llen.
B) Um mit Fahne fahren zu wo
einzuschlafen.
C) Um mit einem Puls von 180
terbekäme.
D) Weil ich beides allein nie run

Das rote Tuch fürs Gehirn


D r . E c k a rt vo n H i r s c h hau s e n Höhenflügen verspricht das Gesöff in der Praxis eher
ist Mediziner, Moderator und derzeit mit seinem Bühnen­
Abstürze. Normalerweise wird man müde, wenn man
programm »Wunderheiler« auf Tour. Er bekommt live zu viel getrunken hat. So müde, dass die Alkoholauf­
von seinem Publikum mehr Energie zurück, als je in eine nahme im Schlaf ein natürliches Ende findet – wo auch
Dose passen würde. immer. Wird dies durch dosenweise Überdosen Wach­
macher verhindert, gaukelt einem das Hirn weiter Be­
wusstsein vor. Diesem fällt dann nichts Besseres ein, als

M anchmal frage ich mich, was unser Hirn eigent­


lich über uns denken muss. Da redet Homo sapi­
ens tagsüber schlaues Zeug und schießt sich nachts mit
noch mehr zu trinken. Als Nebenwirkung steigt die
Chance auf Prügeleien, riskante Experimente mit Sex
und Drogen, Verletzungen. Und ist die Nacht vorüber,
»Wodka Red Bull« ab. Vorher wartet man auf Erleuch­ bleibt offenbar eine Verdunklungsgefahr für die Seele:
tung, aber sobald es dunkel wird, beeilt man sich, noch Suizide bei Soldaten korrelieren mit dem Konsum von
die letzten kleinen Lichter in der Birne zu dimmen. Die­ Energydrinks, insbesondere in Kombination mit Alko­
se Kombination war mir immer ein Rätsel: Alkohol und hol. Epileptische Anfälle und einzelne unerklärte To­
Koffein. Morgens Kaffee versteh ich. Jedenfalls besser desfälle durch Herzversagen haben in einigen Ländern
als Alkohol vor dem Frühstück. Aber was ist denn bitte Warnhinweise und vorübergehende Verbote gezeitigt.
die Botschaft an unser zentrales Nervensystem, wenn Aber derzeit bekommt jeder Energydrinks, überall.
man beides mischt? Soll es geweckt oder gedämpft wer­ Der Glaube an eine mentale und physische Leis­
den? Soll der Verstand sich schärfen und die Sicht ver­ tungs­steigerung hält sich hartnäckig, obwohl diese nie
schwimmen – oder umgekehrt? schlüssig belegt wurde. Viel besser nachgewiesen ist da­
Der Ernährungsbeauftragte der Weltgesundheitsorga­ gegen, dass regelmäßiger Schlaf die Leistungsfähigkeit
nisation für Europa, João Breda, hat viel Energie aufge­ hebt. Klingt langweilig, aber je älter ich werde, desto
bracht, um das wenige gesicherte Wissen über Energy­ weniger verspüre ich das Bedürfnis, mich ständig künst­
drinks zu sammeln. Er fand, dass länderübergreifend lich wach zu halten, damit ich ja nichts Wichtiges ver­
zwei von drei Teenagern das Zeug konsumieren, bei passe. Um seine Träume zu verwirklichen, muss man
den unter Zehnjährigen fast jeder fünfte. Als ich klein aufwachen, stimmt. Aber um erst mal welche zu haben,
war, gab es das alles gar nicht. Wir mussten uns noch lohnt eine Mütze Nachtruhe. Anschließend Kaffee,
mit Mars-Riegeln mobil machen und Energie zurück­ noch einen nach der Siesta und abends ein entspanntes
holen, die wir nie verbraucht hatten. 1987 erst schwapp­ Gläschen Wein oder Whiskey. Ohne Koffein und Stier­
te die süße Soße über Österreich nach Deutschland. Der galle. Na ja: Das Schlimmste, was man der Jugend vor­
ominöse Inhaltsstoff »Taurin« klang nach Mythos, werfen kann, ist, dass man nicht mehr dazugehört. H
Männlichkeit und Stierhoden, dabei ist es eigentlich ein
Gallenabbauprodukt mit unklarer Wirkung.
Die Mischung mit Hochprozentigem, günstig und Q UELLE
gaumengängig für Mann und Frau, erhielt so vernied­ Breda, J. J. et al.: Energy Drink Consumption in Europe: ­A
lichende Bezeichnungen wie »Flügerl«, »Gummibärli« Review of the Risks, Adverse Health Effects, and Policy Options
oder »Flying Hirsch« (immerhin ein guter Name). Statt to Respond. In: Frontiers in Public Health 2, 134, 2014

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Der Preis wurde anlässlich des 150-jährigen Jubiläums Die Auswahl der Preisträger erfolgt jährlich durch eine
von Scientific American, einer der ältesten Wissenschafts- hochkarätige Jury. Der Rechtsweg ist ausgeschlossen.
zeitschriften der Welt, von der Verlagsgruppe Georg von
Holtzbrinck 1995 ins Leben gerufen. Die Mitglieder der Jury sind:

Teilnahmeberechtigt sind alle deutschsprachigen oder in DR. STEFAN VON HOLTZBRINCK (VORSITZ)
deutschsprachigen Medien veröffentlichenden Journalis- Vorsitzender der Geschäftsführung,
tinnen und Journalisten. Die eingereichten Arbeiten sollen Holtzbrinck Publishing Group
allgemein verständlich sein und zur Popularisierung von
Wissenschaft und Forschung, insbesondere aus den PROF. DR. DR. ANDREAS BARNER
Bereichen Naturwissenschaft, Technologie und Medizin, Sprecher der Unternehmensleitung,
beitragen. Entscheidend ist die originelle journalistische Boehringer Ingelheim GmbH
Bearbeitung aktueller wissenschaftlicher Themen.
ULRICH BLUMENTHAL
Es wird jeweils ein Preis in der Kategorie Print und ein Redaktionsleiter „Forschung aktuell“,
Deutschlandfunk
Preis in der Kategorie elektronische Medien sowie ein
Nachwuchspreis für Bewerber, die Jahrgang 1987 oder UTA-MICAELA DÜRIG
jünger sind, vergeben. Der Preis in den Kategorien Print Geschäftsführerin, Robert Bosch Stiftung GmbH
und elektronische Medien ist mit je 5.000 Euro dotiert.
Der Nachwuchspreis ist mit 2.500 Euro dotiert. PROF. DR.-ING. MATTHIAS KLEINER
Präsident, Wissenschaftsgemeinschaft
Die detaillierten Teilnahmebedingungen erhalten Sie Gottfried Wilhelm Leibniz e. V.
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PROF. DR. CARSTEN KÖNNEKER
Bewerben Sie sich bis zum 1. April 2016 mit 3 Beiträgen Chefredakteur, Spektrum der Wissenschaft
(Print) bzw. 2 – 3 Beiträgen (Elektronische Medien) aus
den letzten zwei Jahren und einem Kurzlebenslauf. JOACHIM MÜLLER-JUNG
Leiter des Ressorts Natur und Wissenschaft,
Frankfurter Allgemeine Zeitung
KONTAKT
ANDREAS SENTKER
Veranstaltungsforum Ressortleiter Wissen, DIE ZEIT und
Holtzbrinck Publishing Group Herausgeber, ZEIT Wissen

Taubenstraße 23, 10117 Berlin PROF. DR. PETER STROHSCHNEIDER


Präsident, Deutsche Forschungsgemeinschaft e.V.
Telefon +49/30/27 87 18 20
Telefax +49/30/27 87 18 18 RANGA YOGESHWAR
Moderator der ARD-Sendungen „Quarks & Co“,
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