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Psychologische Typen

Bernhard v. Guretzky

Version 1.13

Individuation begins and ends


with typology.
Carl Alfred Meier

1. Einführung
Zu Beginn der 1920iger Jahre entstand Jungs Arbeit über Psychologische Typen, in
der er versuchte nachzuweisen, wie die vier Hauptfunktionen des Bewusstseins – die
rationalen Funktionen »Denken« und »Fühlen« und die irrationalen Funktionen
»Empfinden« und »Intuieren« den Lauf der westlichen Philosophie bestimmt haben
(Nagy, 75). Diese "vierfältigen" Symbole treten offenbar immer dann auf, wenn
versucht wird, die Polarität der Welt zu überwinden und eine ganzheitliche
Betrachtungsweise des menschlichen Seins zu benutzen, die nicht nur einzelne
Tatsachen beleuchtet, sondern allgemeine Phänomene betrachtet. Die Vier ist für Jung
ein archetypisches Symbol der Ganzheit, der Ganzheit der Seele. Die Vier symbolisiert
das Ende eines Entwicklungsschrittes, bei dem die Gegensätze wieder einheitlich,
jedoch in differenzierter Einheit gesehen werden. Insofern steht das Vierschema – das
Quaternio, in dem Jung die psychologischen Typen darzustellen pflegte, für die
Ganzheit und Vollständigkeit der menschlichen Entwicklung.

Um diese Ganzheit ging es Jung und deshalb ist die Analytische Psychologie weniger
Therapie als vielmehr das Finden des eigenen Sinnes; das, was er als Prozess der
Individuation bezeichnete. Es geht um die Entwicklung der Persönlichkeit, die nicht
länger mit einer Funktion, einer der vier psychologischen Typen identifiziert ist: Die
Intuition und das Empfinden muss in unserem westlichen Kulturkreis das gleiche
Gewicht erhalten wie das Denken und das Fühlen. Dasselbe gilt für den Ausgleich der
extravertierten Einstellung zugunsten der Introversion (Clarke, 30). Es geht um die
Aufgabe der Identifikation mit dem eigenen Bewusstsein und dem eigenen
Unbewussten, um ein Verweilen auf der »mittleren Ebene« (v. Franz; Hillman, 106).
Aus diesem dem Menschen spezifischen Drang nach Bewusstsein entstanden die
Schulen der Spiritualität. In diesem Sinne ist die Individuation ein spiritueller Prozess,
einer Spiritualität die nicht auf Erkennen eines äußeren Gottes sondern auf
Selbsterkenntnis gründet.

Die Theorie psychologischer Typen oder kurz »Typologie« beschreibt die


repräsentativen – eben »typischen« – Verhaltensweisen des Menschen beim Umgang
mit seiner inneren und äußeren Welt. Dabei werden die vorherrschenden, relativ
konstanten Charakteristika aufgezeigt, ohne dabei eine Wertung abzugeben. Sie sind
so etwas wie ein »Erfassungs- und Verarbeitungsmodus psychischer Gegebenheiten«
(Jacobi, 14), ohne dabei die jeweiligen Inhalte zu berücksichtigen. Jungs Typologie
besteht aus acht Haupttypen, die sich in zwei Funktionstypen aufteilen: die
Einstellungstypen der Extravertierten und Introvertierten. Jede dieser beiden Gruppen
ist wieder unterteilt in vier Untergruppen – die Bewusstseinsfunktionen, die jeweils
durch ihre sog. Hauptfunktion bestimmt werden und zwar die Funktionen des Denkens,
des Fühlens, des Empfindens und des Intuierens. Diese Typologie erlaubt es,
Gemeinsamkeiten wie Unterschiede zwischen Individuen herauszuarbeiten und damit
differenzierte Beschreibungen der Persönlichkeit zu erhalten, deshalb sprach Jung in
diesem Zusammenhang von einer »Tonleiter psychologischer Perspektiven« (Spoto,
73) auf der die hierin erfahrene Persönlichkeit sein Bewusstsein entwickeln kann. Die
Typenlehre war also nie dahingehend intendiert, eine Art von Charakterlehre zu
entwickeln, um Menschen in irgendeiner Form zu klassifizieren – ein Versuch der
aufgrund der Vielfältigkeit menschlichen Verhaltens von vornherein zum Scheitern
verurteilt wäre – sondern vielmehr, um ein Hilfsmittel in die Hand zu bekommen,
»psychologisches Material« zu ordnen und zu erläutern.

Die Typologie ist neben dem kollektiven Unbewussten und den Archetypen eine der
drei Säulen, auf denen die Analytische Psychologie ruht. Für Carl Alfred Meier, dem
ersten Präsidenten des C.G. Instituts, Nachfolger Jungs an der ETH in Zürich und
Herausgeber des Pauli-Jung Briefwechsels war die Typologie und insbesondere die
Theorie der Bewusstseinsfunktionen das grundlegende und am sorgfältigsten
herausgearbeitete Konzept in Jungs Analytischer Psychologie (Meier 1986, 251). Er
schrieb, als er die Monographie (GW 6) in den Händen hielt:

When Jung asked me what it was that had moved me so deeply, I said, I thought that
he had given nothing less than the clearest pattern to simply all of the dynamics of the
human soul. Then he said that this was exactly what he had intended to do. (Meier
1986, 245)

Diesem Urteil mögen heute vergleichsweise wenige noch folgen, obwohl die
Einstellungstypen (»extravertiert«, «introvertiert«) inzwischen in den allgemeinen
Sprachgebrauch eingegangen sind und auch wissenschaftlich anerkannt sind. Ich halte
dies jedoch für ungerechtfertigt und sehe in der Typologie Jungs ein probates Mittel
der persönlichen Entwicklung und nicht nur ein psychologisches Konzept. Der Grund,
warum Jungs psychologische Typenlehre so wenig Anerkennung gefunden hat, liegt
wohl nicht nur in ihrer Komplexität. Jung hat es aus gutem Grund stets vermieden,
eindeutige Definitionen und Beschreibungen für seine Konzepte zu liefern, denn seine
mehrdeutige Sprache soll der Komplexität der Psyche, ihrem Doppelaspekt von
Bewusstem und Unbewusstem gerecht werden. Eindeutige Definitionen, die keinen
Interpretationsspielraum mehr lassen, wären der Natur der Psyche unangemessen.

Psychologische Typologien sind nicht neu. Plato sprach im »Staat« von drei
fundamentalen Typen von Menschen: die, die Weisheit lieben; die, den Sieg lieben und

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die, die den Profit lieben. 500 Jahre später führte Galen, aus Pergamon stammender
Arzt am römischen Kaiserhof, vier Temperamentstypen ein, die auf der »Lehre der vier
Körpersäfte«, wie sie Hippokrates bereits zu Zeiten Platos eingeführt hatte, basieren:
den Choleriker, Melancholiker, Sanguiniker und Phlegmatiker. Dem Choleriker werden
dabei Eigenschaften wie schnell erregt, egozentrisch, hitzköpfig, theatralisch, aktiv
zugeschrieben; dem Melancholiker Eigenschaften wie ängstlich, beunruhigt,
misstrauisch, ernst, gedankenvoll; dem Phlegmatiker Eigenschaften wie vernünftig,
prinzipientreu, beherrscht, beharrlich, standhaft, ruhig und schließlich dem Sanguiniker
Eigenschaften wie gutmütig, gesellig, sorglos, hoffnungsvoll, zufrieden. Galens
Typologie hatte Gültigkeit bis weit in das 19. Jahrhundert hinein, bis sie durch die
Entdeckung des Blutkreislaufs und des Stoffwechsels nicht mehr haltbar war. In den
1920iger Jahren sind von Georges Gurdjieff die sog. Enneagramme als Typologie im
westlichen Kulturraum eingeführt worden, die eine Aufteilung in neun (εννεα = neun)
Typen vorsieht: Typ 1: Perfektionist, Kritiker; Typ 2: Geber, Fürsorger; Typ 3:
Leistungs- und Erfolgsmensch, Schauspieler; Typ 4: Romantiker, Melancholiker; Typ 5:
Beobachter, Denker, Typ 6: Skeptiker, Verteidiger; Typ 7: Optimist, Genießer; Typ 8:
Führer, Beschützer und Typ 9: Friedensstifter, Bewahrer.

Jung betrachtet die Typologie nicht nur als Metapher dafür, wie der Einzelne sich
gegenüber seiner inneren und äußeren Welt verhält, sondern auch als ein Versuch, die
Weltsicht, seine Weltanschauung besser zu verstehen. Sie geben dem Bewusstsein
des Einzelnen eine Zielrichtung, in dem sie beschreiben, wie es auf das eigene
Verhalten und das anderer typischerweise reagiert und Absichten und Wünsche
vorträgt (v. Franz; Hillman, 106). Die Typologie liefert damit eine Beschreibung, wie
Menschen die Welt wahrnehmen und in ihr reagieren. Die Arbeit an den
Psychologischen Typen begann Jung ursprünglich deshalb, um genau
herauszuarbeiten, worin sich seine Position zu Alfred Adler und Sigmund Freud
unterschied. Hier fand er, dass der psychologische Typ das Urteil des Einzelnen
bestimmt aber auch limitiert. Die Typentheorie ist letztendlich Jungs Versuch zu
beschreiben, wie Wissen und Erkenntnis beim Einzelnen zustande kommt und wie
dieses Wissen begründet wird. In diesem Sinne kann man sie als epistemologische
Theorie ansehen, wovon in einem späteren Papier ausführlicher die Rede sein soll.

2. Einstellungsfunktionen
Das Konzept der Introversion und Extraversion stellte Jung bereits 1913 auf dem
Münchner Psychoanalytischen Kongress vor. Dieser Vortrag war der erste zaghafte
Versuch, sich von Freuds Prinzipien abzusetzen, mit dem Erfolg, dass der Meister
nicht nur in Ohnmacht fiel, sondern auch dessen Anhänger dafür sorgten, dass Jungs
Papier nicht auf deutsch veröffentlicht wurde. Erst zwei Jahre später erschien es in
französischer Sprache (Meier 1986, 243).

Für den Extravertierten ist das Objekt a priori interessant und anziehend. Sein Urteil
basiert auf Verhältnissen, die für ihn objektiven Charakter haben. Diese Verhältnisse

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brauchen sich dabei nicht auf konkrete Tatsachen beziehen, sie können auch einen
ideellen Charakter haben, insofern allerdings dass diese Ideen von außen vermittelt
sind (Jung, 1960, §643). Für den Introvertierten dagegen ist die eigene seelische
Gegebenheit, die sich mit der Beschäftigung mit dem Objekt einstellt, der bestimmende
Faktor. Den Objekten – den äußeren Ereignissen – kommt nur dann eine Bedeutung
zu, wenn sie zu Meilensteinen der inneren Entwicklung werden (Aziz, 38). Sind die
Erkenntnis bestimmenden Faktoren aus der äußeren Welt abgeleitet, handelt es sich
also um Extraversion, sind sie aus der inneren Welt abgeleitet, handelt es sich
dagegen um Introversion; ist man mit der äußeren Welt und ihren Objekten befasst, in
dem man etwa mit anderen Menschen kommuniziert, in seinen Handlungen auf andere
bezogen ist, in dem man etwa kocht o. ä., dann handelt man extravertiert; ist man
dagegen in seiner eigenen Vorstellungswelt verhaftet, etwa beim Lesen eines Buches,
beim Durchdenken von Problemen oder beim Analysieren der eigenen Gefühle, so
sind das introvertierte Tätigkeiten. Der Introvertierte erfasst das Objekt durch einen
Abstraktionsprozess, durch einen zwischen "ihm und dem Objekt eingeschalteten
Denkvorgang" (Iselin, 123). Nicht das Objekt steht im Vordergrund sondern die
"archetypische" Idee in Form eines Gedankens, eines Wertes, eines metaphorischen
Bildes oder eines Models der Wirklichkeit, die mit diesem Objekt am engsten
verbunden ist (Beebe, 134). Vor diesem Hintergrund lässt sich Einstein als
introvertierter Wissenschaftler verstehen, denn hat er seine Relativitätstheorien als
geometrische Modelle der Wirklichkeit sich ausgedacht, ohne dafür experimentelle
Hinweise zu haben. Im Falle der allgemeinen Relativitätstheorie folgten diese erst vier
Jahre später. Pauli – ein anderer Introvertierter – erlebte die Bestätigung seiner
Symmetriegesetze nicht mehr, sie wurden erst 40 Jahre nach seiner Formulierung
experimentell bestätigt.

Extraversion wird durch "kulturelle Standards" (Marshall) vermittelt wie Gesetze, Moral,
Erziehung, Bildungsgang, Tradition, Religion oder ästhetisches Empfinden. Die
introvertierte Betrachtung stützt sich auf das Gefühl, ob etwas übereinstimmt mit dem
inneren Gefühl der Gerechtigkeit, der Moral und der Ästhetik, das ja in der Regel von
den normierten, gesellschaftlichen Normen abweicht. Diese Einstellung zum Objekt
lässt sich an folgenden Beispielen illustrieren: der extravertierte Programmierer wird
eher den Programmcode entsprechend ökonomischen Gesichtspunkten schreiben,
während der Introvertierte ihn eher gemäß seinem ästhetischen Empfinden, also
entsprechend seinen inneren Vorstellungen kreieren wird. Bei Mathematikern und
Physikern ist diese Vorgehensweise ebenfalls häufig zu beobachten. Während den
einen nur die Tatsache eines erfolgreichen Beweises interessieren mag, legt der
andere Wert auf »Einfachheit« und »Schönheit« der Beweisführung, ja wird sogar
diese Eigenschaften als inhärenten Gültigkeitsnachweis an sich mit heranführen. Diese
entgegen gesetzte »eigentümliche« Einstellung zum Objekt beschreibt Jung wie folgt:

Der Introvertierte verhält sich dazu abstrahierend; er ist im Grunde immer darauf
bedacht, dem Objekt die Libido zu entziehen, wie wenn er einer Übermacht des

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Objektes vorzubeugen hätte. Der Extravertierte dagegen verhält sich positiv zum
Objekt. Er bejaht dessen Bedeutung in dem Maße, dass er seine subjektive Einstellung
beständig nach dem Objekt orientiert und darauf bezieht. (GW 6, §612)

Wenn sich jemand »abstrahierend« gegenüber einem Objekt verhält, dann weist er
ihm Eigenschaften zu, die für ihn selbst von Bedeutung sind, wie etwa die »Schönheit«
oder »Einfachheit« eines mathematischen Beweises. Er erfreut sich daran und entzieht
dadurch dem Objekt die Aufmerksamkeit, die Libido. Für den Extravertierten dagegen
spielen Nützlichkeitserwägungen die dominante Rolle; das Objekt wird nach
utilitaristischen Gesichtspunkten betrachtet.

Der Extravertierte verlässt sich vorzugsweise auf soziale Beziehungen und seine
inneren Bilder und Muster werden dabei eher vernachlässigt, während für den
Introvertierten diese subjektiven Faktoren Einfluss haben und das soziale Umfeld kaum
von Interesse ist. Hat der Extravertierte "blühende soziale Beziehungen" (Iselin, 124)
so versucht der Introvertierte sich diese durch die »subjektiven Faktoren« – durch
Werte – zu ergattern. Der Eine kann sich dabei auf seinen Lust-Unlustmechanismus
verlassen, während der andere das Machtprinzip einsetzt (Iselin, 124). Es ist für beide
beschwerlich ja bisweilen erschreckend, sich mit den jeweils entgegen gesetzten
Positionen auseinanderzusetzen. Nun ist diese Einstellung dem Objekt gegenüber
keine Entscheidung zwischen entweder extravertiert oder introvertiert. Wichtig ist die
Polarität (Spoto, 37) der beiden Einstellungsweisen, d.h. die unbewusste
Gegenbewegung (v. Franz; Hillman, 7) ist ebenfalls zu berücksichtigen. Dabei geht es
nicht darum, einem Ideal nachzueifern, dem jegliche psychische Energie abhanden
gekommen ist, sondern um das Nichtanerkannte, individuell Wertvolle, das Kuriose
und das Lebendige (Iselin, 126). Auch geht es nicht – und das trifft für die ganze
Typologie zu – um eine Herausstellung der einen oder anderen Funktion: Vorwürfe des
Extravertierten, der Introvertierte sei egozentrisch bzw. des Introvertierten, der
Extravertierte sei anpasserisch sind nichts anderes als Projektionen der eigenen
weniger differenzierten Einstellung (Iselin, 132). Eine krankhafte Übersteigerung der
Extraversion führt umgekehrt zur Hysterie im Falle der Introversion zur Schizophrenie
(Iselin, 137).

Die Funktion, die den Charakter des Zufälligen und Spontanen hat, ist dabei die minder
differenzierte, die zudem infantile und primitive Eigenschaften besitzt. Die höher
differenzierte, ist diejenige Funktion, der die Kontrolle über Bewusstsein und die
Motivation unterstellt ist (GW 6, §641). So ist sich der Introvertierte meist nicht der
unbewussten Extraversion gewahr, mit der er das Objekt mit Energie versorgt und
umgekehrt ist sich der Extravertierte seiner unbewussten Einstellung gegenüber dem
Objekt kaum gewahr und wie er sich dadurch mit psychischer Energie versorgt. Dieser
Doppelcharakter der Einstellungsfunktion tritt im Umgang mit Wissen zutage, muss
doch Information zunächst internalisiert werden, um als Handlungswissen zur
Verfügung zu stehen, auf ein äußeres Objekt also angewendet werden kann. Der

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Lernprozess von Internalisierung und Externalisierung von Wissen wird vom Kreislauf
zwischen Extraversion und Introversion angetrieben.

Extraversion, "das die Welt beobachtende Ich-Bewusstsein", und Introversion, "das


mystische Erlebnis der Einheit (»unus mundus«)" (Dürr, 19), sind komplementäre
Einstellungsfunktionen. Ganz ähnlich beschreibt v. Franz (v. Franz 2009, 17) die
Komplementarität von Extraversion und Introversion: der extravertierte Blick offenbart
die Materie, während der introvertierte Blick das kollektive Unbewusste entschleiern
hilft. Die eine Sicht ist, wie Dürr es ausdrückt, eine "lebensdienliche", eine
"fragmentierende" Einstellung, mit der der Mensch die Welt in ihrer Vielfalt zu begreifen
versucht. Die andere versucht mit einer "mystischen Grundhaltung" zum Wesen der
Dinge vorzudringen. Die extravertierte fragmentierende Einstellung bestimmt die polare
Sicht auf die Außensicht. »Wahr« und »falsch« sind dabei die vorherrschenden
Kriterien mit der man die Welt "deformiert" (Dürr, 20). Die introvertierte mystische
Grundhaltung dagegen umfasst das »sowohl als auch« und öffnet damit zusätzliche
Handlungs- und Erkenntnismöglichkeiten. Diese Aufspaltung der Einstellung
gegenüber der Welt um uns gründet wohl auf dem erkenntnistheoretischen Imperativ,
dass »nichts sei im Verstande, was nicht vorher durch die Sinne wahrgenommen
wurde«, welches nichts anderes als das Motto der durch die griechische Philosophie
geprägten westlichen Extraversion ist (Clarke, 277) und im Zeitalter der Aufklärung zur
Grundlage westlichen Denkens wurde. Hier wurde die Wissenschaft, die damals noch
Alchemie hieß, zu einer rein extravertierten Naturwissenschaft. Demgegenüber ist für
die introvertierte östliche Einstellung der subjektive Faktor der Ausgangspunkt. Das
»östliche« Bewusstsein braucht deshalb keine Typologie im Sinne Jungs im
Gegensatz zur objekt-orientierten »westlichen« Einstellung, der der subjektive Faktor
abhanden gekommen ist:

Introversion wird im Westen als anormal, morbid oder sonst als unzulässig
empfunden. Im Osten dagegen wird unsere zärtlich gehegte Extraversion als
trügerische Begehrlichkeit gewertet. (Clarke, 266)

Die Entwicklung der minder differenzierten Einstellung ist ein wichtiger Schritt auf dem
Weg zur Entwicklung des eigenen Bewusstseins (Spoto, 116). Dies geschieht nicht
dadurch, dass geistige Techniken der minder differenzierten Einstellung wie etwa Yoga
oder Meditation im Falle der höher entwickelten Extraversion auswendig gelernt
werden, sondern indem herauszufinden ist, ob im Unbewussten Kontakt zu solchen
Prinzipien herzustellen ist. Der Extravertierte muss von innen zur Introversion
gelangen, deren Eigenschaften also im Unbewussten suchen und umgekehrt. Genau
aus diesem Grund stand Jung der Übernahme östlicher Lebensweisen im Westen
kritisch gegenüber, weil damit das Mantra der Extraversion »alles Gute ist draußen«
(Clarke, 268) nur wieder bestätigt wird. Die Differenzierung von Extraversion und
Introversion dient also einem gemeinsamen Zweck, nämlich das Bewusstsein dafür zu

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gebrauchen, den Geist über die Materie zu stellen und die »bloße Naturhaftigkeit des
Lebens zu besiegen« (Clarke, 278).

Die beiden Einstellungsfunktionen lassen sich als eine Dimension im


dreidimensionalen »psychischen Raum« (GW 7, §367) versinnbildlichen. Die beiden
anderen Dimensionen bilden die rationalen und irrationalen Bewusstseinsfunktionen
und werden im folgenden Kapitel vorgestellt.
3. Bewusstseinsfunkionen
Jung verstand unter einer psychischen Funktion einen "Erfassungs- und
Verarbeitungsmodus psychischer Gegebenheiten ohne Rücksicht auf ihren jeweiligen
Inhalt" (Jacobi, 14). Hier zeigt sich eine charakteristische Eigenart Jungschen
Denkens, nämlich die strikte Trennung von Funktion und Inhalt, die er 15 Jahre später
auch bei der Formulierung der Theorie der Archetypen beibehalten sollte. Jung
unterschied vier psychologische Funktionen, die des »Denkens«, des »Fühlens«, des
»Empfindens« und des »Intuierens«. Im Falle des Denkens bedeutet die Trennung von
Funktion und Inhalt, dass es nicht entscheidend ist, was man denkt sondern wie man
denkt, wie man mit dem "Verarbeitungsmodus" des Denkens an die Aufnahme und
Verarbeitung der Inhalte herangeht. Diese vier Verarbeitungsmodi sind in jedem
Menschen angelegt, allerdings in unterschiedlicher Ausprägung, die durch Erziehung,
gesellschaftliche Rahmenbedingungen und Herkunft – also genetische Unterschiede –
bestimmt werden. Auf der Stufe der einfachsten Differenzierung und in Anlehnung an
die Umgangssprache gibt es einerseits die Kopfmenschen, die eher rational urteilen
und ihre Entscheidungen gründlich abwägen und andererseits die Gefühlsmenschen,
die aus dem Bauch heraus entscheiden. In einer von Rationalität und Berechenbarkeit
geprägten Welt ist dieser Typus allerdings kaum gefragt und wird sehr schnell auf
Grund von nicht vorhandenen »harten Fakten«, die sich jederzeit reproduzieren lassen
müssen, denunziert. Gefühlsmenschen, insbesondere wenn es sich dabei um Männer
handelt, haben es außerhalb des Kunstbetriebs in der westlichen Welt schwer.

Die Aufklärung im 17. Jahrhundert – im englischen wie französischen Sprachraum


sinnigerweise auch das Zeitalter der »Erleuchtung« genannt – markiert das Ende der
Einheit von Individuum und Welt. Descartes' cogito ergo sum hat den Menschen ein
zweites Mal aus dem Paradies einer einheitlichen Welt vertrieben. Sein Satz
bezeichnet den Beginn der Trennung von Subjekt und Objekt, in dem es das Sein über
das Denken definiert und damit eine Abwertung aller nicht vom »Denken« und
»Empfinden« bestimmten Bewusstseinsfunktionen impliziert. Die Denkfunktion erhöht
Descartes, in dem sie das Ich bestimmt, zur superioren Funktion überhaupt in der Welt
(Spoto, 113). Die uralte alchemistische Idee von der Einheit von Subjekt und Objekt,
von Geist und Materie hat damit ihr vorläufiges Ende gefunden. Der Geist beherrscht
nun die Welt im Sinne des Laplace'schen Determinismus, wo die anderen
Bewusstseinsfunktionen schlicht keine Rolle mehr spielen:

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"Wir müssen den gegenwärtigen Zustand des Universums als die Auswirkung des
vorherigen Zustands betrachten und als die Ursache dessen, was folgen wird. Nehmen
wir eine Intelligenz an, die alle die Kräfte, durch die die Natur bewegt wird, kennen
könnte und, für einen bestimmte Moment, die genauen Zustandsgrößen aller
physikalischen Objekte, aus denen sie besteht; für diese Intelligenz wäre nichts
ungewiss; und die Zukunft und die Vergangenheit läge klar vor ihren Augen." (zitiert
nach: Atmanspacher, 162)

Diese Art des Denkens hat drei Jahrhunderte das westliche Bewusstsein geprägt und
hat selbst, nachdem es durch die Quantentheorie vor 100 Jahren und durch die
Komplexitätstheorie vor etwa 40 Jahren grundsätzlich erschüttert wurde, heute noch
erheblichen Einfluss in Wissenschaft und Philosophie. Einsteins trotzige Forderung
nach einem nichtwürfelnden Gott mag hier für diese archetypisch geprägte
Epistemologie stehen. Jungs Theorie der Bewusstseinsfunktionen, welche das
Individuum wieder mehr in den Fokus zu rücken versucht, kann die westlich geprägte
Idealisierung der Denkfunktion zusammen mit der extravertierten Einstellung und das
damit einhergehende Vorurteil gegen das Unbewusste und das Subjektive korrigieren
helfen.

Mit den vier Bewusstseinsfunktionen und den zwei Einstellungsfunktion lassen sich
differenzierte Persönlichkeitsbeschreibungen durchführen (Spoto, 118). Auf einer
intuitiven Stufe lässt sich »Bewusstsein« beschreiben als das Erkennen des
Individuums der eigenen Persönlichkeit. Für das Funktionieren des Bewusstseins sind
sowohl eine wahrnehmende als auch eine urteilende Funktion notwendig. Empfinden
und Intuieren sind wahrnehmende Funktionen, die auf entgegen gesetzte Weise eine
direkte Erfahrung der inneren wie äußeren Welt vermitteln. Im Vordergrund steht die
Auswahl von Erfahrungen und deren Beurteilung. Hier stehen die Fragen nach dem
"Was ist es?" bzw. nach dem "Woher kommt es?" und "Wohin führt es?" im
Vordergrund. Demgegenüber sind Denken und Fühlen urteilende Funktionen, die
wiederum auf entgegen gesetzte Weise Standards, Werte und Normen bereitstellen,
nach denen die innere wie äußere Welt gedeutet wird. Die eigenen Erfahrungen
werden geprüft und bewertet und aufgrund dieses Prozesses erfolgt die Reaktion. Hier
stehen Fragen nach dem "Was bedeutet es?" bzw. "Was ist es wert?" als treibende
Kraft im Mittelpunkt. Die beurteilenden Prinzipien sind beim Denken mit dem Kopf und
beim Fühlen mit dem Bauch bzw. Herz assoziiert. Einmal wird vielleicht die
Funktionalität einer Struktur einer Sache zum urteilenden Maßstab, beim Fühlen dann
vielleicht die Schönheit oder Eindringlichkeit mit der eine Sache an die Oberfläche tritt.

Als »rational« bezeichnet man einen Menschen, der auf Basis von gesellschaftlich
anerkannten Standards, Werten und Normen beurteilt; als »irrational« jemanden, der
sich nicht aufgrund von messbaren und damit auch auf wiederholbaren Indikatoren
leiten lässt, sondern dessen Sinne, Gefühl und Intuition leitende Prämisse sind.
Denken und Fühlen werden deshalb als rationale Funktionen bezeichnet, weil für beide

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das Urteil »wahr-falsch« Ziel der Erkenntnis ist. Die rationalen Funktionen werden auch
als »beurteilend« – judging bezeichnet. Das Denken versucht die Wirklichkeit in einem
Prozess der Abstraktion zu beschreiben; das Fühlen dagegen versucht die Wirklichkeit
zu beeinflussen und mit ihr in Kontakt zu treten. Ein "rationaler" Mensch reagiert auf
Probleme und sucht nach "besseren" Beschreibungen der Wirklichkeit bzw. "besseren"
Handlungsmöglichkeiten in der Wirklichkeit. Die Differenzierung dieser Funktionen
führt zu fein abgestuften Begriffen von Wahrheit, Gültigkeit, Stimmung oder Schönheit,
wobei diese eher von allgemeiner Art sind als eine konkrete Beschreibung, also eher
Theorie oder Konzept wie etwa eine mathematische Beschreibung physikalischer
Sachverhalte als anschauliche und greifbare Darstellungen.

Empfinden und Intuieren werden als irrationale Funktionen bezeichnet. »Irrational« ist
hier nicht im Sinne von »nicht-rational« sondern im Sinne von »über die Grenzen des
Rationalen hinausgehend« zu verstehen. Die irrationalen Funktionen vermitteln also
ein apriorisches Wissen, was auf rationale Weise nicht zugänglich ist. (Stevens, 265)
Ein "irrationaler" Mensch ist deshalb mehr an intensiven inneren oder äußeren
Erfahrungen oder Wahrnehmungen interessiert, als über diese zu reflektieren, wobei
die irrationalen Funktionen durchaus strukturierend auf Erfahrungen wirken können.
Die irrationalen Funktionen werden deshalb auch als »wahrnehmend« – perceiving
bezeichnet. Die Informationen, auf die sich der irrationale Mensch bei seinen
Entscheidungen und Wahrnehmungen stützt, beziehen sich einmal aus den konkreten
Empfindungen, die aus unseren Sinnen abgeleitet werden oder es werden daraus
verallgemeinerte Handlungs- oder Erkenntnismuster abgeleitet. Dabei wirkt das
Empfinden auf die Elemente der Erfahrungen selbst und die Intuition auf die
Verbindungen dieser Elemente untereinander. Die Intuition vervollständigt das
Gesamtbild, indem es eventuell fehlende Verbindungen herzustellen vermag und
synthetisiert dadurch die einzelnen Teile zu einem Ganzen, während umgekehrt das
Hauptinteresse beim Empfinden in der Analyse der Wahrnehmungsobjekte liegt
(Marshall, 20).

In der Wissenschaft werden die rationalen Funktionen, die erst ein Bild der Realität
vermitteln, dass dann mit der Wirklichkeit überprüft wird, zum Träger des deduktiven
Schließens, während die irrationalen Funktionen, die erst die Fakten geben, nach
denen man sich ein Bild der Realität formt zum Träger einer induktiven
Vorgehensweise. Die Bewusstseinfunktionen bestimmen also gewissermaßen unsere
Logik und ohne sie lässt sich die Art und Weise, wie wir die Welt wahrnehmen – also
unsere Erkenntnistheorie – nicht verstehen. Die rationalen bzw. irrationalen Funktionen
entsprechen dem, was Kant »Tätigkeit« bzw. »Gefühl« genannt hat (Fierz, 62). In der
Umgangssprache bezeichnen wir diese unterschiedliche Art, die Welt wahrzunehmen,
einmal als »logisch«, »zivilisiert« oder »erwachsen« und im anderen Fall als
»mythisch«, »primitiv« oder »kindlich« (Hillman, 118). Rationale bzw. irrationale
Funktionen führen, wenn man so will, zu zwei verschiedenen Realitäten in der Welt.

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Sie sind damit auf eine ähnliche Weise komplementär wie die beiden
Einstellungsfunktionen der Extra- und der Introversion.

Abb. 1: Rationale und irrationale Bewusstseinsfunktionen

Die im Bild dargestellten vier Bewusstseinsfunktionen liefern Schablonen oder Muster


dafür, wie ein Individuum mit seiner Umwelt interagiert. Sie beschreiben damit auf eine
einfache Weise einen Typ von Mensch. Deshalb werden die Bewusstseinsfunktionen
auch unter dem Begriff »Typologie« subsumiert. Der Typologie geht es jedoch nicht
darum, Menschen zu kategorisieren, sondern vielmehr darum einen Apparat zur
methodischen Untersuchung psychischer Erfahrungsmaterialen zur Verfügung zu
stellen, mit dem sich die Psyche des Einzelnen entwickeln lässt. Dieser Begriffsapparat
ermöglicht es einem nicht nur, sich mit der eigenen Persönlichkeit vertraut zu machen
und seine typischen Verhaltsmuster zu verstehen, sondern diese damit auch bewusst
und aktiv zu beeinflussen:
Die Theorie der Typen ist von großer praktischer Wichtigkeit, da es das einzige ist,
das verhindert, gewisse Menschen vollkommen miss zu verstehen. Es gibt einem den
Schlüssel zum Verständnis einer Person, deren spontane Reaktionen einem sonst
unverständlich bleiben. (v. Franz; Hillman, 77)

Jung hat keine wissenschaftliche Begründung für seine Theorie der Typologie geliefert,
sondern stets deren praktischen Wert betont. Ihm ging es um eine heuristische
Hypothese, "mit der man Dinge herausfinden kann" (v. Franz; Hillman, 75f). In den
1960iger Jahren wurde die Jungsche Typologie weiterentwickelt. Hier sind
insbesondere Katherine Briggs und ihre Tochter Isabel Briggs Myers zu nennen (siehe
etwa http://www.personalitypage.com/home.html , http://www.humanmetrics.com/cgi-
win/JTypes2.asp , http://www.teamtechnology.co.uk/mmdi/questionnaire/ oder Spoto), die
die die Funktionen des »Urteilens« (»J«) und "Wahrnehmens« (»P«) anstelle der für
einige verwirrenden Bezeichnungen von »irrational« und »rational« eingeführt haben,

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je nachdem welche als erste eine rationale bzw. irrationale Funktion ist. Auf dieser
Typologie bauen zahlreiche Tests zur Bestimmung des sog. Myers-Briggs-
Typindikators (MBTI) auf, die besonders im englischsprachigen Kulturkreis weit
verbreitet sind.

Der Fühl-Typus schätzt Harmonie und Beziehungen. Vertrauen und Anerkennung sind
die treibende Kraft und er ist geschickt im Meistern zwischenmenschlicher Situationen
und Probleme. Dabei weiß er in den meisten Fällen ziemlich genau, was ihm selbst
und anderen Menschen aus seiner Umgebung gut tut. (Spoto, 44) Man ist im
»Fühlmodus«, wenn man Dinge macht, die man mag aber die nicht unbedingt nützlich
sind. Der Fühltyp hat ein ausgeprägtes Moralbewusstsein, das ihn bisweilen als
blasiert erscheinen lässt und, wird dieses verletzt, er intensiven
Stimmungsschwankungen ausgesetzt ist. Ihre Vorliebe für subjektive Bewertungen
drücken Gefühlstypen durch Sätze aus wie: "Ich mag das", "das hat mir nicht gefallen",
"können Sie nicht verständnisvoller sein" oder "ich möchte mich Ihnen mitteilen".
Typische Berufe von Fühltypen sind Künstler, Musiker, Schriftsteller, Designer, Lehrer,
Psychologen, Sozialarbeiter, Personalberater, Verkäufer oder Politiker.

Für den Denk-Typus sind Objektivität und logisches Schließen die Grundlage seiner
Argumentation, wobei er persönliche Werte und Vorlieben beiseite zu schieben
trachtet. Man ist im »Denkmodus«, wenn man einen Plan entwickelt, um komplexe
Aufgaben durchzuführen oder sich ausführlich über Produkte informiert, die man plant
zu kaufen. Dies bezieht sich jedoch nicht nur auf geistige Dinge, denn Denktypen
können ebenso praktisch und handwerklich veranlagt sein. Sie analysieren das
vorliegende Material und können daraus generelle Prinzipien ableiten. Diese
ausgeprägte Fähigkeit zur Abstraktion lässt sie bisweilen unpersönlich und kritisch, ja
verletzend gegenüber ihren Mitmenschen erscheinen. Da sie gewohnt sind,
Situationen kühl nach ihren Vor- und Nachteilen zu beurteilen, wirken sie aufgrund der
Überzeugungskraft ihrer logisch begründeten Darlegungen oft einschüchternd und
manipulierend auf ihre Umgebung (Spoto, 45). Ihr Moralverhalten basiert auf logischen
Wertmassstäben. Ihr Tun und ihre Aufgaben haben deshalb Priorität; Gesundheit,
Beziehungen oder sonstige persönlichen Interessen treten eher in den Hintergrund.
Auf eigenes Fehlverhalten oder das anderer können sie kleinlich, verletzend oder
feindselig reagieren. Umgekehrt nehmen sie aber Kritik an ihrer Arbeit persönlich.
Typische Berufe von Denktypen sind Handwerker, Ingenieure, Systemanalytiker,
Lehrer und Universitätsprofessoren, Wissenschaftler, Unternehmensberater,
Unternehmer, Rechtsanwälte, Militärführer oder Piloten.

Da für den Empfindungs-Typus die Sinneswahrnehmungen Priorität haben, sind sie an


ihrer Umgebung, so wie sie sich ihnen darstellt, am meisten interessiert. Das lässt sie
zu guten Beobachtern werden; Fakten und Phänomene mit ihren Einzelheiten stehen
für sie im Vordergrund. Sie verfügen über einen ausgeprägten "gesunden
Menschenverstand" und lösen Probleme, im dem sie diese nach Unterschieden und

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Gemeinsamkeiten zu ihren eigenen Erfahrungen zu analysieren versuchen. (Spoto,
46) Man ist typischerweise im »Empfindungsmodus« bei der Weinprobe oder wenn
man sich den Inhalt einer Rede, die man halten will, noch einmal vergegenwärtigt.
Diese durchaus bedächtige Vorgehensweise kann jedoch schnell undifferenziert
werden, nämlich wenn die subjektive Wahrnehmung jegliche objektive Sicht auf die
Realität ausblendet. Der Empfindungstyp neigt also stark zur Projektion, Misstrauen
und Eifersucht sind die Folge, wobei in solchen Fällen ausgeprägte Phantasien oder
mystische Bilder evoziert werden. Empfindungstypen sagen typischer Weise Sätze
wie: "Sei vernünftig", "bleib auf dem Boden der Tatsachen", "alles wird sich bald wieder
einrenken". (Spoto 46) Typische Berufe von Empfindungstypen sind Unternehmer,
Manager, Buchhalter, Sozialarbeiter, Polizisten und Kriminalbeamte, Richter und
Rechtsanwälte, Mediziner, Systemanalytiker, Offiziere oder Designer.

Der intuitive Typus ist direkt mit seinem Unbewussten verbunden, was häufig zu
erratischem und unverständlichem Handeln aus Sicht seiner Umgebung führt. Der
Intuitive betrachtet gern die Dinge aus der Entfernung, um einerseits einen Blick auf
das "große Ganze" zu haben und andererseits sich nicht mit lästigen Details
beschäftigen zu müssen. Er ist daran interessiert, die tiefer liegende Bedeutung von
dem herauszufinden, was Menschen tun oder sagen. Sie neigen eher zu
ungewöhnlichen Perspektiven, was sie dazu befähigt, vielerlei Verbindungen zu
ziehen. Hinter scheinbar einfachen Gegebenheiten visionieren sie häufig abstrakte,
universell gültige Beziehungen. Imagination, Querdenken aber auch Spekulation und
Tagträumereien sind ihr Metier und sie haben dabei ein Faible für die Welt der Mythen
und Symbole (Spoto, 47), weswegen ihre Ideen gern missverstanden und sie als
Traumtänzer abgetan werden. Stoßen sie auf Widerstand oder merken sie, dass ihre
Ideen keinen Anklang finden, fangen sie schnell an, sich zu langweilen und diese fallen
zu lassen. Durchhaltevermögen ist ihre Sache nicht. Typische Berufe von intuitiven
Persönlichkeitstypen sind Universitätsprofessoren und Lehrer, Wissenschaftler,
Ingenieure, Rechtsanwälte, Systemanalytiker, Schauspieler, Offiziere oder Politiker.

Fühlen und Empfinden dürfen nicht verwechselt werden. Ersteres hat nichts mit
Emotionen zu tun, es geht um Beziehungen und deren Bewertungen. Im Letzteren
geht es um Wahrnehmung. Im Französischen wird der Unterschied klar durch die zwei
verschiedenen Begriffe von »sentiment« und »sensation« (Jacobi, 14).

Denken und Fühlen einerseits sowie Empfinden und Intuieren andererseits sind als
komplementäre Funktionen zu verstehen, so wie in der Quantenmechanik
»Geschwindigkeit« und »Weg« oder »Energie« und »Zeit« komplementär sind.
Denken schließt gleichzeitiges Fühlen aus, da es sich nicht durch Kriterien des Gefühls
beeinflussen lassen kann. Das Empfinden wiederum schließt gleichzeitiges Intuieren
aus, weil es sich um die Möglichkeiten kümmert, die über die Sinne wahrgenommen
werden, während beim Intuieren primär über das Unbewusste wahrgenommen wird. In
beiden Fällen drängt die Entwicklung der einen Funktion die andere ins Unbestimmte;

  12  
je ausgeprägter die eine Funktion ist, d.h. je stärker sie das Bewusstsein bestimmt,
desto mehr wird die andere ins Unbewusste gedrückt. Jung nannte die durch das
Bewusstsein bestimmte Funktion »differenziert«, die ins Unbewusste gedrückte
Funktion nannte er entsprechend »undifferenziert«.

Diese Komplementarität führt zur Dichotomie von Denken und Fühlen bzw. von
Empfinden und Intuieren. Diese Dichotomie besteht, wie wir oben bereits gesehen
haben, auch zwischen Extraversion und Introversion. Bewusstseins- und
Einstellungsfunktionen sind also wohldefiniert in dem Sinne, dass es keine gleichzeitig
gültigen Zuweisungen der Funktionen gibt. Man kann sie daher als Achsen eines
Koordinatensystems, bestehend aus den Einstellungsfunktionen, den rationalen sowie
den irrationalen Funktionen, benutzen. Indem die Einstellungsfunktion mit den
Bewusstseinsfunktionen kombiniert wird, werden durch dieses Koordinatensystem
neue Typen eingeführt: es gibt also den extravertierten Denktyp und den introvertierten
Denktyp, usf. Diese acht Typen können in dem dreidimensionalen "psychischen Raum"
eindeutig dargestellt werden:

Abb. 2: Der psychische Raum

Die Bedeutung einer gleichzeitigen Betrachtung der beiden Funktionen mag folgendes
Beispiel erläutern: Eine handwerkliche Tätigkeit hängt überwiegend mit extravertiertem
Empfinden zusammen, denn die Herstellung ist auf ein Objekt bezogen, somit
extravertiert und gleichzeitig erfolgt die Tätigkeit in Isolation. Darstellende Kunst wie
Photographieren, Malen oder Bildhauern hängt dagegen überwiegend mit
introvertiertem Empfinden zusammen. Ähnliches gilt auch für wissenschaftliche
Tätigkeiten, nur spielen hier die Ordnungsprinzipien eine zusätzliche Rolle, die ein
extravertiertes Intuieren erfordern. Allgemein gilt: je komplexer eine Aufgabe ist, desto
mehr gewinnen die anderen Bewusstseins- und Einstellungsmodi an Bedeutung.

  13  
4. Psychische Funktionen
Wie bereits erwähnt besitzt der Mensch anlagemäßig alle vier Bewusstseinsfunktionen,
wobei es allerdings eine dieser Funktionen ist, mit der er sich hauptsächlich in seiner
Umgebung orientiert. Im Laufe des Lebens entwickelt sich diese Funktion immer
stärker und steht damit dem Bewusstsein immer ausgeprägter zur Verfügung.
Gleichzeitig ist es diese Funktion, die seine Wahrnehmung am stärksten beeinflusst.
Sie ist die Brille, durch die er die Welt sieht. Jung bezeichnete diese am meisten
differenzierte Funktion auch als superiore Funktion oder Hauptfunktion. Die
Hauptfunktion gehört völlig zu unserer »lichten, unserer Bewusstseinsseite« (Jacobi,
16f). In der Praxis wird allerdings die Hauptfunktion nie in ihrer Reinform anzutreffen
sein, sondern man wird im Leben Mischtypen wie intuitives Denken oder intuitives
Fühlen etc. vorfinden. Diese der Hauptfunktion nach geordnete und weniger
differenzierte Funktion heißt Hilfsfunktion und ist stets bei einer Typologisierung mit ein
zu beziehen. Sie verleiht dem Menschen eine noch »andere« zusätzliche bewusste
Seite. Aufgrund der Komplementarität der psychischen Funktionen ergibt sich die
Regel, dass im Falle einer rationalen Hauptfunktion die Hilfsfunktion irrational sein
muss und umgekehrt. Entsprechendes gilt für die Einstellungsfunktionen. Damit
erhalten wir sechzehn Persönlichkeitstypen:
1. extravertiertes Denken als superiore Funktion; introvertiertes Empfinden als
Hilfsfunktion
2. Introvertiertes Fühlen als superiore Funktion; extravertierte Intuition als
Hilfsfunktion
3. etc.

Dazu gibt es eine gleiche Anzahl von »Gegen-Persönlichkeitstypen« auf der


unbewussten Seite. Diese sechzehn Gegen-Persönlichkeitstypen sind denen der
bewussten Seite komplementär:

1'. introvertiertes Fühlen als superiore Funktion; extravertierte Intuition als


Hilfsfunktion
2'. extravertiertes Denken als superiore Funktion; introvertiertes Empfinden als
Hilfsfunktion
3'. etc.

Die der superioren entgegen gesetzte Funktion heißt die »inferiore« Funktion; sie ist im
Unbewusstsein verankert und steht unserem bewussten Willen nicht mehr zur
Verfügung. Die Hilfsfunktion der inferioren Funktionen heißt die »tertiäre« Funktion.
Der bewusste Anteil der tertiären Funktion ist nur schwach ausgeprägt. Führt man nun
alle vier Funktionen zusammen, so erhält man sechzehn Typen:

1''. extravertiertes Denken als superiore Funktion; introvertiertes Empfinden als


Hilfsfunktion; extravertierte Intuition als tertiäre Funktion; introvertiertes
Fühlen als inferiore Funktion

  14  
2''. Introvertiertes Fühlen als superiore Funktion; extravertierte Intuition als
Hilfsfunktion; introvertiertes Empfinden als tertiäre Funktion; extravertiertes
Denken als inferiore Funktion
3''. etc

Diese hierarchische Darstellung positioniert die vier Funktionen in Bezug auf das
Bewusstsein: Die superiore als die am meisten differenzierte – bewusste – Funktion
bestimmt vorwiegend Charakter und Persönlichkeit. Die inferiore Funktion als die am
wenigsten bewusste Funktion entzieht sich der Kontrolle der Persönlichkeit am
meisten. Weil undifferenziert und völlig mit dem Unbewussten vermischt, ist ihr
typischerweise ein infantiler, triebhaft-primitiver, Charakter zu eigen. (Jacobi, 22) So
neigen Menschen mit inferiorer Fühlfunktion zur Sentimentalität und die mit inferiorer
Denkfunktion zu Starrsinn und Rechthaberei. Inferiore und tertiäre Funktion agieren
unkontrolliert und unangepasst aus dem Unbewussten heraus und haben uns damit in
der Hand. Sie sind der "blinde Fleck" (Metzner et al.), unbewusst der Person aber
deutlich für andere sichtbar. Beim Mann wird die inferiore Funktion deshalb oft mit der
Anima in Verbindung gebracht, bei der Frau entsprechend mit ihrem Animus (Beebe,
140). Der offensichtliche Mangel, der durch die tertiäre und die inferiore Funktion
hervorgerufen wird, ist für die jeweilige Person charakteristisch. Ihr Wirken macht den
persönlichen Schatten deutlich, den Teil unserer Persönlichkeit, den wir am stärksten
ablehnen.

Da Hilfsfunktion wie tertiäre Funktion noch mehr oder weniger im Bewusstsein


verankert sind, können beide bewusst differenziert werden. Dies ist bei der inferioren
Funktion, die ganz im Unbewussten verankert ist, nur noch auf eine indirekte Weise
möglich. Ihr Einfluss kann nur durch imaginierte Bilder oder Metapher deutlich gemacht
werden oder durch das Wirken ihres direkten Widerpart, der superioren Funktion.
Wenn die superiore Funktion als metaphorisches Licht verstanden werden kann, dann
lässt sich auch die inferiore Funktion als metaphorisches Bild des Schattens indirekt
wahrnehmen (Spoto, 87). Nur in der Komplementarität zur superioren Funktion kann
die inferiore Funktion differenziert werden (Spoto, 160): Beim Typ n zeigt n' die zu
entwickelnde inferiore Funktion an. Während die Differenzierung von Haupt- und
Hilfsfunktion "höchstens" das Bewusstsein schärfen, ist die Arbeit mit den
unbewussten Funktionen immer auch mit einer grundsätzlichen Veränderung der
Person verbunden (Spoto, 162). Die vierte, die inferiore Funktion bildet die Brücke
zwischen Bewusstsein und dem Unbewusstem. Sie stört das Bewusstsein auf eine
unbewusste Art und Weise, was sich beispielsweise oft beim Freudschen Versprecher
oder Affekthandlungen zeigt. Da die inferiore Funktion sich nicht direkt differenzieren
lässt, kann sie sich nur auf diese "negative" Weise zeigen. Deshalb sind die beiden
unbewussten Funktionen wie die Haupt- und Hilfsfunktion zu einer ganzheitlichen
Betrachtungsweise des Psychischen unerlässlich (Jacobi, S. 69). Aus diesem Grund
hat sich Jung bei der Formulierung seiner Typentheorie vom Archetyp der Quaternität,
der Vollständigkeit leiten lassen (Fierz, 63).

  15  
In letzter Zeit sind Ansätze unternommen worden, die inferiore Funktion mehr in den
Fokus der Betrachtung zu rücken und zwar zuungunsten der zweiten – bewussten –
Funktion, der Hilfsfunktion. Dies macht deshalb Sinn, weil über die inferiore Funktion
der Schatten, der unbewusste Teil der Psyche, "unsere 'dunkle Seite', jene Uranlage in
unserer Natur, die man aus moralischen oder ästhetischen Gründen verwirft und nicht
aufkommen lässt, weil sie zu den bewussten Prinzipien im Gegensatz steht" (Jacobi,
166) sichtbar gemacht werden kann, während die Differenzierung der Hilfsfunktion die
bewusste Seite stärkt. Die Bearbeitung der inferioren Funktion ist keine leichte
Aufgabe. Es ist keine Aufgabe der Logik, ihr Wirken sichtbar zu machen. Ohne
Berücksichtigung des persönlichen wie des kulturellen Zusammenhangs wird man
keinen Erfolg haben, ihr auf die Schliche zu kommen (Roth). Jolande Jacobi (28f) sieht
in der Entwicklung der inferioren Funktion sogar eine "ethische Aufgabe". Die
Gegensatzpaare von superiorer und inferiorer Funktion sind (Metzner et. al.):
Denken-Fühlen
Dies ist der klassische Rationalist, der geistigen Werten und der Logik folgt. Die
Unterentwicklung der Fühlfunktion lässt ihn einerseits kalt und emotional
gehemmt erscheinen; anderseits kann das zu unvorhergesehenen heftigen
Gefühlsausbrüchen führen, die er nicht kontrollieren kann. Diese kindlich
wirkenden Gemütsbewegungen können auch dazu führen, dass die sonst so im
Vordergrund stehenden geistigen Werte zu Affekthandlungen missbraucht
werden.

Fühlen-Denken
Dies ist der warmherzige Typ, dessen Denkvermögen oft oberflächlich,
»irrational« und negativ konnotiert erscheint. Sie sind – wenn extravertiert –
mitfühlend, zuversichtlich und generell heiter gestimmt – wenn introvertiert –
melancholisch und grübelnd.

Empfinden-Intuition
Dies ist der phantasielose Realist, der voll und ganz im Hier und Jetzt verankert
sind. Sein Leben ist von Konventionen geprägt, Abenteuer sind ihm ein Graus
und i. A. ist er mit seiner gegenwärtigen Situation zufrieden. Der Antrieb, diese zu
ändern, ist deshalb gering.

Intuition-Empfinden
Dies ist der Träumer, der mit den Dingen des praktischen Lebens auf Kriegsfuss
steht. Seine Visionen sind grenzenlos, mit deren Verwirklichung dagegen hapert
es. An einmal angefangen Dingen verliert er schnell das Interesse. Für andere
Menschen dagegen wirkt er reizvoll und inspirierend. Bei Männern übernehmen
diese Typen bisweilen die Rolle der Muse.

Metzner et. al. sind dieser Idee gefolgt, die inferiore Funktion mehr in den Fokus zu
rücken, haben aber dabei die Komplementarität aufgegeben, so dass es zur
superioren Funktion drei inferiore Funktionen geben kann. Wenn man also die beiden

  16  
Einstellungsfunktionen mitberücksichtigt, kommt man auf 24 psychologische Typen.
Der Nachteil dabei ist, dass das Erkennen und damit das Bearbeiten der inferioren
Funktion als Komplement der superioren Funktion nicht mehr möglich ist. Die
Bearbeitung der inferioren Funktion kann hier nur über einen mühsamen Abgleich von
Verhaltensmustern erfolgen.

Die von Jung und Meier eingeführten Adjektive wie »inferior« bzw. »minderwertig« für
die 4. Funktion sind aus heutiger Sicht unglücklich gewählt, beinhalten sie doch eine
Wertung und beurteilen damit etwas, mit dem man sich tunlichst nicht
auseinanderzusetzen soll. Dies wird aber ihrer Bedeutung in keinerlei Weise gerecht,
denn, wie oben schon erwähnt, spielt sie für die Persönlichkeitsentwicklung, für die
Bearbeitung des persönlichen Unbewussten die entscheidende Rolle. Vor diesem
Hintergrund wäre eine Bezeichnung wie »komplementär zur superioren Funktion« für
die 4. Funktion bzw. »komplementär zur Hilfsfunktion« für die 3. Funktion angemessen.
Die beschreibenden Beiwörter »inferior« und »minderwertig« beziehen sich also auf
die Verbindung der Funktion mit dem Unbewussten.

5. Das Quaternio und die Individuation


In den vorangegangenen Abschnitten ist die Typologie vom Standpunkt der
analytischen Psychologie also des Selbsterkennens beschrieben worden. Dabei wurde
sie als "Erfassungs- und Verarbeitungsmodus psychischer Gegebenheiten" (Jacobi,
14) veranschaulicht. In diesem Abschnitt sollen die tiefer liegenden Muster und deren
Bedeutung beschrieben werden. Die vier Bewusstseinsfunktionen lassen sich ja als
vier Arten verstehen, das Leben zu gestalten (v. Franz; Hillman, 107). Die
Komplementarität der Bewusstseinsfunktionen ergibt, dass diese wohldefiniert sind
und dies führt zu eindeutigen Zuweisungen im "psychischen Raum", d.h. die
psychologischen Typen sind notwendig und hinreichend und definieren so etwas wie
ein "archetypische Modell, Dinge anzuschauen" (v. Franz; Hillman, 75).

Die »Vier« taucht hier also nicht von ungefähr als Metapher für "ein grundlegendes
Prinzip der menschlichen Natur" (v. Franz; Hillman, 107) auf und unterscheidet sich
damit grundlegend von der Trinität von Körper, Geist und Seele bzw. Gott, Christus
und hl. Geist des Christentums. Schon 1902 in seiner Dissertation hat Jung das
Mandala, den viergeteilten Kreis, in sein Denken eingeführt und es liegt nahe, die vier
Typen im Zusammenhang mit dem Symbol des Mandalas zu verstehen (Meier 1986,
257), um die Dynamik der charakterlichen Entwicklung auszudrücken. Der viergeteilte
Kreis ist ein archetypisches Symbol der Ganzheit und Vollständigkeit der
Persönlichkeit und ist dann erreicht, wenn die komplementären Funktionen differenziert
sind, wenn also die superiore und inferiore Funktion als Träger des Bewusstsein bzw.
des Unbewussten miteinander verknüpft sind und in lebendigem Bezug stehen. Für
Jung war die Ausdifferenzierung der Funktionen die "sine qua non des Bewusstseins",
und umgekehrt war das Unbewusste undifferenziert, wobei jede unbewusste Handlung
auf der Basis der Undifferenziertheit abläuft (Aziz, 195).

  17  
Während das Bewusstsein Hilfsfunktion und tertiäre Funktion ausdifferenziert, obliegt
es der inferioren Funktion, den Schatten, das Unbewusste sichtbar zu machen. Der
viergeteilte Kreis – das Quaternio – stünde dann ganz im Licht und man würde von
einer »runden« (Jacobi, 21) Persönlichkeit sprechen. Da das Unbewusste nie
vollständig bewusst gemacht werden kann, bleibt das Streben nach Ganzheit immer
relativ (Jacobi, 159f). Das Quaternio wird so zum Sinnbild einer lebenslangen
Bewusstseinsarbeit. Jung bezeichnete diesen Prozess als Individuation, weil die
Verbindung von Bewusstsein und Unbewussten durch einen gemeinsamen Mittelpunkt
führt, das Selbst; der Weg zum Selbst ist der Weg der Individuation und über die
inferiore Funktion wird dieser psychische Prozess mit der notwendigen Energie
versorgt. In diesem Änderungsprozess spielt das Unbewusste eine aktive und kreative
Rolle (Knox, 177). Die Entwicklung der inferioren Funktion führt also zur Individuation,
wobei die einzelnen psychologischen Typen dabei quasi überwunden werden.

Über die so entwickelten Erfassungs- und Verarbeitungsmodi kommt man zu einem


neuen Verhältnis zwischen Geist und Materie, zu einer neuen Sicht auf die Welt.
Wolfgang Pauli, einer der raren Verfechter quaternären Denkens des 20. Jahrhunderts,
hat diesen Gedanken so ausgedrückt:

Das Ziel der Wissenschaft und des Lebens wird daher letzten Endes der Mensch
bleiben: In ihm ist das ethische Problem des Gut und Böse, in ihm ist Geist und
Materie und seine Ganzheit wird mit dem Symbol der Quaternität bezeichnet. (Meier
1995, 97)

Wenn es letztendlich um das ethische Problem von Gut und Böse, um den Geist in der
Materie geht, dann bringt Pauli damit den Sinn ins Spiel. Jedem Erkenntnisprozess
liegt ein tiefer liegender Sinn zu Grunde. Und die Ganzheit, von der Pauli spricht, ist
die "eigene Verbindung mit dem universellen Sinn" (v. Franz 1988, 316). Wir können
also verstehen, warum für Jung diese Suche nach dem Sinn dasselbe ist wie die
Individuation. In dieser Suche nach dem Sinn steckte für Jung die wahre Bedeutung
nicht nur des eigenen Lebens sondern der Entwicklung der Spezies überhaupt hin zu
einem bewussten Wesen.

Typologisch gesprochen bedeutet das, die inferiore Funktion zu entwickeln und so den
Schritt vom trinitarischen Denken, das von den drei bewussten Funktionen bestimmt
wird aber noch "flächig, intellektuell und deshalb zu Verabsolutierungen neigend" (v.
Franz 1970, 118), zur Quaternität der ganzen Persönlichkeit zu gehen. Dabei muss
man lernen, denjenigen Hinweisen, die kennzeichnend für die inferiore Funktion sind,
in seinem Verhalten wie in seinen Gefühlen und Empfindungen genügend Beachtung
zu schenken. Dies funktioniert nur auf symbolischer Ebene, denn nur durch das
Symbol drückt sich das Unbewusste aus, weshalb die Individuation nicht ohne
Kenntnis der Symbole beschritten werden kann. Nur durch diese Symbole oder
Signale, und nicht wenn man selbst im emotionalen Chaos steckt, gelingt es, mit dem
eigenen Schatten und dem persönlichen Unbewussten in Kontakt zu kommen (Spoto,

  18  
91). Es erfordert eine »doppelsinnige, paradoxe« (v. Franz, 2008, 153), ja vielleicht
eine chaotische Einstellung des Bewusstsein, damit sich das Unbewusste durch die
Symbole manifestieren kann und der Widerstand gegen das Unbewusste minimiert
wird. Solange das Ego als Träger des Bewusstseins noch vom Unbewussten
überschwemmt wird, wird man nicht in der Lage sein, die bislang vernachlässigten
Aspekte der Persönlichkeit, die sich über die inferiore Funktion immer wieder Gehör
verschaffen, zu integrieren und eine neue Sicht auf die Welt einzunehmen.

Der Weg von der »Drei« zur »Vier« – zur abgerundeten Persönlichkeit – besteht dabei
nicht nur in einer intellektuell-begrifflichen Ausdifferenzierung sondern auch in der
Entwicklung der menschlichen Beziehungen. Sozialisation und Individuation mit ihrer
extravertierten Bezogenheit auf das Außen und ihrer introvertierten Einsamkeit werden
damit zu zwei Aspekten des psychischen Entwicklungsprozesses. Typentwicklung und
Egoausprägung gehen Hand in Hand durch die Entwicklung der Einstellungsfunktionen
von Extraversion und Introversion sowie der Bewusstseinsfunktionen Denken, Fühlen,
Empfinden und Intuieren. Die Typologie dient hier als Hilfsmittel eines schrittweisen
Perspektivwechsels, eines »iterativen Reframings«, unser Umfeld zu betrachten. Erst
wenn diese Integration und der damit verbundene Perspektivwechsel gelungen ist, hat
man seine Emotionen und Affekte weitgehend in der Hand und die Unabhängigkeit
eines innerlich freien Menschen erreicht (Jacobi, 185).

Dies ist der Moment, wo man seine Projektionen zurücknimmt, aufhört über die Fehler
Anderer zu reden sondern sie als die seinigen begreift und erkennt, wer man ist und
nicht wer man sein will. Dieser Schritt oder genauer, diese schrittweise Annäherung an
die "Inhalte der psychischen Gesamtheit und der Anerkennung der Wirkung" (Jacobi,
198f) ist, wie sich leicht nachvollziehen lässt, "mit schmerzlichen Einsichten
verbunden" (v. Franz 1970, 122). Dieser Prozess wird von dem der Psyche
innewohnenden Drang nach Ganzheit angetrieben. In diesem Zusammenhang sei
erwähnt, dass Jung nach dem schmerzlich empfundenen Bruch mit Freud und der
anschließenden über Jahre sich hinziehenden Konfrontation mit seinem Unbewussten,
die Idee der Individuation entwickelte.

Neben der Ausdifferenzierung der inferioren Funktion, also der Bewusstwerdung der
eigenen Schattenaspekte gehören noch zwei weitere Punkte zum
Individuationsprozess: die Kenntnis über die eigene gegengeschlechtliche
Komponente Animus bzw. Anima und die Vereinigung des Bewusstseins mit dem
kollektiven Unbewussten. Der letzte Schritt bedeutet eine Erweiterung des
Bewusstseins ohne Aufblähung des Egos und kein Verschmelzen mit einem wie auch
immer gearteten Kollektiv. Das Ego zieht sich vielmehr zugunsten seines Zentrums,
des Selbst, zurück (v. Franz 2009, 152). Deshalb hat Jung die Individuation auch als
"Verselbstung" oder "Selbstverwirklichung" (GW 7, §267) bezeichnet, geht es doch
darum, zum Einzelwesen zu werden, d.h. das eigene Selbst zu verstehen. Er verstand
die Individuation als "ein hohes Ideal, eine Idee vom Besten, das man tun kann" (GW

  19  
7, §373), wobei der Drang zur Individuation im Menschen angelegt zu sein scheint.
Dies zeigen synchronistische Phänomene wie beispielsweise das berühmte Beispiel
des Skarabäus, die einen gewissermaßen auf die Notwendigkeit des
Individuationsprozesses aufmerksam machen und zwar solange, bis dieser Weg
tatsächlich eingeschlagen wird. Synchronistische Phänomene begleiten die
Individuation, ja lösen sie in vielen Fällen aus. Für den Introvertierten, dem die
Außenwelt oft rätselhaft, ja bedrohlich gegenübertritt, weil sie mit seinen inneren
Erfahrungen nicht zusammen zu passen scheint, können synchronistische Ereignisse
als Brücke zwischen eben diesen inneren Erfahrungen und der äußeren Welt,
zwischen Bewusstsein und Unbewussten so etwas wie eine äußere Bestätigung seiner
inneren Erlebnisse sein. Im Gegensatz zum Extravertierten braucht der Introvertierte
eine konkrete äußere Erfahrung, damit er spürt, dass er vollständig ist und dass die
Welt, die er wahrnimmt, ganz ist. (v. Franz 2008, 146) Der Individuationsprozess ist
nicht nur der Weg zur Ganzheit er fordert den Einsatz des Ganzen, "keine billigen
Bedingungen, noch Ersatz, noch Kompromiss" (Clarke, 296). Das Erkennen, was das
Eigene ist, führt damit zwangläufig im Individuationsprozess zu Trennung und
Differenzierung. Jung sprach sogar davon, dass sich das Selbst und das Ego im
Individuationsprozess opfern, in dem sie sich den Begrenzungen der Inkarnationen
unterwerfen (Aziz, 115).

Kehren wir zum Symbol der Ganzheit, dem Quaternio zurück. Wie oben schon
erwähnt, führte Pauli ausdrücklich den Sinn und die Bedeutung wieder in die
Naturbetrachtung ein. Er sah also nicht nur einen Zusammenhang von Ereignissen
durch Wirkung sondern eben auch durch einen inhärenten Sinn, der Ereignisse
miteinander verbindet. Diese Sicht auf die Welt nimmt abermals die alchemistische
Tradition auf mit ihrer Suche nach der Vereinigung der vier Elemente, dem legendären
Stein des Weisen. Diese alchemistischen Symbole stehen natürlich für die
Individuation. Das Gold des Alchemisten war das innere Gold der Erleuchtung und
symbolisierte die Transformation seiner Seele. Pauli war es, der als einer der Ersten
nach drei Jahrhunderten der dem extravertierten Denken ergebenen
Naturwissenschaft der introvertierten Einstellung wieder Raum gab und zwar nicht, weil
er zu lange an Jungs Seite dem alchemistischen Gedankengut ausgesetzt war,
sondern weil ihn die Ergebnisse der neuen Quantentheorie dazu zwangen, das
Geheimnis der inneren Strukturen des Universum in ihm selbst zu suchen (v. Franz
2009, 16).

Für Pauli war die Quantentheorie eine "symbolische Erfassung der Möglichkeiten des
Naturgeschehens, die einen Rahmen bereithält, um auch die irrationale Aktualität des
Einmaligen aufzunehmen" (Meier 1995, 95). Aus diesen Erkenntnissen ist im regen
Austausch zwischen Jung und Pauli das berühmte »Weltbildquaternio« (Meier 1995,
63) entstanden. Im Quaternio, so Paulis Überzeugung, fanden die Akausalität und
Diskontinuität der modernen Physik nicht nur ihren symbolisch begründeten Platz. Ein
quaternäres, ein »zirkuläres« Denken, das sich über das auf Ursache und Wirkung

  20  
beschränkte Vorgehen erhebt, machte für Pauli die Wissenschaft fruchtbarer und half,
ihr ein dem Menschen dienenden Sinn zu geben. Beim zirkulären oder »assoziativen«
Denken erschließt sich die Bedeutung eines Ereignisses also nicht nur aus den
Beziehungen zu vorangegangenen Ereignissen. Erst durch die Betrachtung von
Mustern einer ganzen Gruppe von dazugehörenden Ereignissen, erschließt den Sinn.
Diese Muster und nicht die Kausalkette sind letztendlich der Schlüssel zum
Verständnis. Man kann das auch als synchronistisches Denken bezeichnen. (Aziz,
138f)

Abb. 3: Das Weltbildquaternio

Beim trinitären Vorgehen, wie man es bei Kepler, Descartes, Einstein und überhaupt
beim Großteil heutiger Wissenschaftler beobachten kann, herrschen die rationalen
Bewusstseinsfunktionen vor. Die irrationalen Werte werden hier weitgehend
ausgeschlossen. Das quaternäre Vorgehen eines Kant, Schopenhauer, Bohr oder
eben Pauli umfasst alle vier Funktionen. (Gieser, 194) Dieses Quaternio darf jedoch
nicht zum starren Schema werden, in das alles hineingezwängt wird. Es dient der
Orientierung und es soll Mut machen, dieses Schema letztendlich zugunsten eines
besser passenden zu erweitern.
6. Komplexe
Aus Freuds Idee des Überichs als der Summe der internalisierten gesellschaftlichen
Regeln und Normen, die ins Unbewusste abgedrängt wurden, folgt zwangsläufig der
Begriff des Komplexes. Komplexe sind diejenigen Gefühle, Wahrnehmungen,
Erinnerungen und Wünsche die, weil sie mit den Vorstellungen des sozialen Milieus
nicht vereinbar sind, aus dem Bewusstsein verdrängt werden. Grundlage jedes
Komplexes ist ein Archetyp oder genauer: Komplexe sind aktualisierte Archetypen. Die
Tatsache, dass viele Komplexe von jedermann wiedererkannt werden, deutet darauf
hin, dass sie eine den Menschen gemeinsame Basis haben: die Archetypen. Da der
Kern der Komplexe Archetypen sind, gibt es entsprechend der Struktur des
Unbewussten »sozio-kulturelle Komplexe«, die dem kollektiven Unbewussten der

  21  
Gruppe, der Gesellschaft oder der Kultur entstammen. Davon zu unterscheiden sind
»individuelle Komplexe«, die sich auf die Identität und das Selbstwerterleben beziehen,
also etwa auf das eigene Aussehen. »Beziehungskomplexe« beziehen sich auf
Menschen und Tiere, also etwa den Mutter- oder Spinnenkomplex. Schließlich gibt es
noch »Objektkomplexe«, die sich auf die Erfahrungen mit der Umwelt beziehen, also
etwa den Höhen- oder Flugkomplex.

Der Ursprung des Komplexes ist also häufig ein Trauma oder ein emotionaler Schock,
wodurch ein Stück Psyche eingekapselt oder abgespalten wurde (Jacobi, 55). Diese
Abspaltung führt dazu, Teile des eigenen Wesens abzulehnen, wodurch der Komplex
beginnt, sich wie ein Fremdkörper zu verhalten und anfängt, autonom und unter der
Bewusstseinschwelle zu agieren. Dieser Fremdkörper hat was von einer
eigenständigen Persönlichkeit mit ihren eigenen Bildern und Gefühlen, der sein
"eigenes Ziel verfolgt", dass sich durch Selbstreflexion erkennen lässt (Knox, 90).
Papadopoulos (S. 21) spricht sogar von einer zweiten Psyche, die den bewussten
Absichten zuwiderhandelt:
We are justified in regarding the complex as somewhat a small secondary mind, which
deliberately drives at certain intentions, which are contrary to the conscious intentions
of the individual.

Die Konstellation eines Komplexes bedeutet eine Störung des


Bewusstseinszustandes, der die eigenen Intentionen hemmt oder ganz unmöglich
macht (Knox, 92). Sie beschränken in solchen Momenten die persönliche Freiheit, weil
sie bewusstes Handeln unterlaufen. Sie werden zu einem "Geschwür" und zwar ohne
dass die für das Körpergefühl zuständige psychologische Funktion des Empfindens
davon etwas bemerkt, weshalb sie oft einen obsessiven und posessiven Charakter
annehmen, die sich wie kleine Teufel aufführen. Deshalb sind Komplexe Zeiger auf
Unvereintes und Unassimiliertes und damit unentbehrlich für den
Individuationsprozess.

Komplexe werden erfahren in Fehlleistungen, Missgeschicken, Unfällen,


Affektausbrüchen, Phantasiebildern, peinlichen Versprechern oder körperlichen
Symptomen. Sie sind mehr oder weniger unbewusste psychische Inhalte, die durch
gemeinsame Archetypen miteinander verbunden sind, weshalb man auch davon
spricht, das Archetypen eine »Äquivalenzklasse« eines Komplexes (Saunders; Skar)
bilden. So hat etwa der Mutterkomplex einen entscheidenden Einfluss auf den Anima-
Archetyp und damit auf die Art und Weise, wie ein Mann seine Beziehungen zu Frauen
gestaltet: Ein Mann, dem es nicht gelang, sich in seiner Jugend dem Einfluss der
dominanten Mutter zu entziehen, wird meist ebensolche Frauen als Partner suchen.
Jeder ideologische Fanatismus und jeder überwältigende Affekt stammt aus der
Konstellation eines Archetyps. Werden Komplexe auf der Ebene der Emotionen oder
der Bedeutungen angesprochen, dann wird das gesamte dieser unbewussten
Verknüpfungen aktiviert samt der dazugehörigen Emotionen, den Bezügen zur

  22  
Lebensgeschichte und den daraus resultierenden Erlebnis- und Verhaltensweisen.
Dieser Vorgang verläuft, solange der Komplex unbewusst ist, autonom und stereotyp
ab. Werden Komplexe nicht bewusst gemacht, behalten sie ihre Autonomie, können
zur Identifikation des Individuums mit ihnen führen oder werden projiziert.
7. Typologie und Strukturaufstellungen
Das abschließende Kapitel hat eher spekulativen Charakter. Die hier aufgeführten
Gedanken entspringen eigenen Überlegungen und Erfahrungen und können sich
(noch) nicht auf weitere Quellen stützen. Es geht um die Idee, eine Verbindung
zwischen Komplexen und psychologischen Typen herzustellen und einen Bogen zu
systemischen Strukturaufstellungen zu schlagen. Zunächst jedoch soll der Begriff des
Komplexes im Jung'schen Sinne rekapituliert werden.

Jedem Komplex liegt ein archetypischer Kern zugrunde, der Wahrnehmungen und
Erinnerungen und damit auch die Erwartungen und Emotionen beeinflussen. Jede
aktuelle Erfahrung und jedes sich daraus abgeleitete innere Abbild der Außenwelt wird
durch diese archetypischen Verhaltensmuster interpretiert und dementsprechend
darauf reagiert. Das Vorgehen der Analytischen Psychologie ist nun dadurch
gekennzeichnet, die Wurzeln der Komplexe in ihren archetypischen Bildern zu
externalisieren und so den Selbstheilungsprozess der Psyche in Gang zu setzen
(Knox, 167), wobei die Erlebnisse des Analysanden in der Außenwelt unbewusstes
Material produzieren. Diese Affekte, Traumbilder, Erinnerungen, Projektionen und
Fantasien, die die Beziehung des Analysanden zur Welt beeinflussen, lassen sich
auch durch die inferiore Funktion studieren, bildet sie doch wie der Komplex eine
Brücke zum Unbewussten. Beide – inferiore Funktion wie Komplex – binden also
psychische Energien (Libido), wodurch das Individuum eine Einschränkung seines
Potenzials erfährt. »Den Komplex zu integrieren« bzw. die »inferiore Funktion
auszudifferenzieren«, bedeutet, die Bilder und Fantasien bewusst zu erleben und zu
gestalten. Die Erforschung der Komplexe ist der Königsweg, die via regia, wie Jung
sich diesbezüglich auszudrücken pflegte, zum Unbewussten. Der Empfindungsfunktion
fällt dabei eine wesentliche Aufgabe zu, denn über sie nähert man sich den
symbolischen, den archetypischen Äußerungen der Komplexe (v. Franz; Hillman, 115).

Die Anliegen systemischer Strukturaufstellungen, die über Zeiträume von denselben


Personen aufgestellt werden, scheinen sich grundsätzlich zu ähneln, obwohl sich die
Bilder von Aufstellung zu Aufstellung durchaus unterscheiden können. Deshalb lässt
sich die These aufstellen, dass in Aufstellungen versucht wird, das Wirken von
unbewussten Strukturen symbolhaft darzustellen. Diese Strukturen des kollektiven wie
des individuellen Unbewussten werden von den Archetypen und damit auch von
Komplexen gebildet. Im Schlussbild zeigt sich ja das »mythische« Symbol, das den
Klienten aus der Zwanghaftigkeit seines komplexbehafteten Verhaltens befreien kann.
Die Wirkung der Analytischen Psychologie basiert auf der unbewussten
Kommunikation zwischen Analysand und Analytiker. Diese unbewusste

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Kommunikation besteht natürlich auch zwischen den Repräsentanten in einer
Aufstellung. Deshalb ist das, was der Repräsentant in einer Aufstellung erlebt, nicht
nur das Wirken der eigenen unbewussten Vorstellungen, sondern auch die des
Klienten. Beide sind hier über das kollektive Unbewusste verbunden. In einer
Aufstellung internalisieren die Repräsentanten also das Unbewusste des Klienten. Das
Gleiche gilt für den Individuationsprozess, wo ebenfalls Unbewusstes Anderer
internalisiert wird und es als "fremder aber gleichzeitig auch eigener Teil der Psyche
erfahren wird" (Knox, 126). Die Ausdifferenzierung der inferioren Funktion und
insbesondere der gerade in unserem Kulturkreis eher unterdrückten
Empfindungsfunktion bildet also das therapeutische Hilfsmittel zur
Komplexbewältigung.

Bei der therapeutischen Nachbearbeitung einer Aufstellung ist also Übersetzungsarbeit


notwendig, um von den Reaktionen der Repräsentanten und der Struktur des
Schlussbildes auf die zugrundeliegenden Komplexe schließen zu können. Bei dieser
Übersetzungsarbeit kann nun die Typologie helfen, liefert sie doch Hinweise auf
unentwickelte Bewusstseinsfunktionen. Insbesondere die Entwicklung der
Empfindungsfunktion mag dabei helfen, nicht nur die Strukturen und Beziehungen in
einer Aufstellungen deutlich zu machen, also bei der Extraversion psychischer
Prozesse. Und nichts anderes sind ja Aufstellungen. Sie werden damit zu Stationen
des Individuationsprozesses und Mittel zur Selbsterkenntnis.

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