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4.

20
4.20

Grüne
Gentechnik
Chance oder Gefahr?
Deutsche Ausgabe des SCIENTIFIC AMERICAN
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FLÄCHENBRÄNDE So entstehen tödliche Feuertornados


QUANTENPHYSIK Überraschung im Dreifachspalt
HIRNIMPLANTATE Hoffnung für Querschnittsgelähmte
T H E M E N AU F D E N P U N K T G E B R AC HT
Ob A wie Astronomie oder Z wie Zellbiologie: Unsere Spektrum KOMPAKT-Digitalpublikationen stellen Ihnen alle
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EDITORIAL IN DIESER AUSGABE

REVOLUTION
MIT HINDERNISSEN
Hartwig Hanser, Redaktionsleiter
hanser@spektrum.de

SETH HANSEN FÜR CALTECH​


 Als ich Anfang der 1990er Jahre meine Diplomarbeit in einem Labor für Pflan-
zengenetik des Friedrich Miescher Instituts in Basel anfertigte, begannen
bereits erste gentechnisch veränderte Nutzpflanzen für heiße Diskussionen zu
sorgen. Der betreuende Professor an der ETH Zürich, Ingo Potrykus, startete zu
der Zeit auch das Projekt, einen »goldenen« Reis mit stark erhöhtem Gehalt an RICHARD ANDERSEN
Provitamin A (Betacarotin) herzustellen. Denn in zahlreichen Ländern mit Reis als Der Neurowissenschaftler pflanzt
überwiegendem Grundnahrungsmittel mangelt es an dem unter anderem fürs Hirnimplantate bei Querschnitts-
Sehen und Immunsystem wichtigen Molekül. Laut Schätzungen der WHO erblin- gelähmten ein, so dass diese nur
den weltweit jedes Jahr bis zu eine halbe Million Kinder wegen eines Provitamin- durch ihren Willen einen Roboter-
A-­Defizits, und etwa die Hälfte von ihnen stirbt innerhalb des nächsten Jahrs! arm bewegen können (S. 36).
Inzwischen haben Forscher tatsächlich Reissorten geschaffen, die einen Groß-
teil des Tagesbedarfs an dem Provitamin decken könnten – wenn sie nur zugelas-
sen wären. Jedoch haben hohe regulatorische Hürden sowie starker Widerstand
von Gentechnikgegnern, allen voran Greenpeace, das bislang verhindert. Erst in
jüngster Zeit scheint sich ein Durchbruch abzuzeichnen. Nachdem 2016 mehr als
100 Nobelpreisträger die Blockadehaltung der Anti-Gentechnik-Aktivisten in einem
offenen Brief kritisierten, wurde der goldene Reis 2017 in Australien und Neusee-
land sowie 2018 in den USA und Kanada als gesundheitlich unbedenkliches Nah-
rungsmittel zugelassen, auch wenn die Genehmigung ihres Anbaus weiterhin
aussteht. Im Dezember 2019 folgten die Philippinen als erstes Land, in dem Reis URBASI SINHA
die zentrale Rolle für Landwirtschaft und Ernährung spielt. Bei Präzisionsexperimenten mit
Beim goldenen Reis handelt es sich noch um ein mit herkömmlichen gentech- Lichtteilchen spürt die Quanten-
nischen Methoden hergestelltes Gewächs, das Erbgut aus fremden Arten enthält. physikerin fundamentalen Zu­
Doch die Wissenschaft ist hier inzwischen einen wichtigen Schritt weiter, wie sammenhängen nach. Dabei hilft
Frank Kempken von der Universität Kiel ab S. 12 beschreibt. Die heutigen Möglich- ihr die moderne Variante eines
keiten zum zielgenauen Genome Editing erlauben es, gewünschte Eigenschaften altbekannten Versuchs (S. 62).
in Pflanzen einzubringen, ohne dass man dem Erbgut hinterher den Eingriff an-
sieht. Das Ergebnis hätte also auch durch natürliche Mutation oder konventionelle
Züchtung entstanden sein können und lässt sich daher nicht von normalen Sorten
unterscheiden. Dennoch ist diese neue Form Grüner Gentechnik nicht unumstrit-
ten, wie unser Streitgespräch ab S. 21 aufzeigt. Im Juli 2018 beschloss der Europä-
ische Gerichtshof sogar, solche Pflanzen unter das Gentechnikgesetz mit all
JOANNA FRESLOV

seinen Barrieren zu stellen, was unter Forschern viel Kritik hervorrief. Hoffentlich
setzt sich hier bald die Einsicht durch, übers Ziel hinausgeschossen zu sein.

Herzlich Ihr BRUNO DAVID


Der australische Archäologe er-
forscht seit drei Jahrzehnten die
Bilderwelt der Aborigines. Er
erklärt ab S. 74, wie seine Zunft
mit Kamera und Computer die
Physik Mathematik Technik
1.20
SPEZIAL Rätsel um jahrtausendealte
SPEZIAL Physik Mathematik Technik

Felskunst löst.
Erde im Wandel NEU AM KIOSK!
Geophysik mit
menschlicher Einmischung
Unser Spektrum SPEZIAL Physik – Mathematik – Technik
1.20 betrachtet die Erde – von ihrer frühen Geschichte
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in der Tiefe

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bis zu aktuellen Veränderungen in der Arktis.
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Spektrum der Wissenschaft  4.20 3


INHALT
3 EDITORIAL 12 GENTECHNIK DIE NEUE GRÜNE REVOLUTION
Neue Verfahren wie CRISPR-Cas beleben die Pflanzenzucht – und
6 SPEKTROGRAMM stoßen auf alte Vorbehalte.
Von Frank Kempken
26 FORSCHUNG AKTUELL
Ordnung messen! 21 STREITGESPRÄCH
Mit Geometrie zu neuen »ES GEHT UM NACHHALTIGE LANDWIRTSCHAFT«
mathematischen Konzepten.
Die Biologen Detlef Weigel und Christof Potthof debattieren Pro und Kontra
Rekordausbruch der Grünen Gentechnik.
im Gammalicht
Forscher entschlüsseln eine
kosmische Explosion.
Serie: Das menschliche Gehirn (Teil 3)
Künstliche Intelligenz sagt
Reaktionen voraus
Eine treffsichere Prognose 36 HIRNIMPLANTATE DIE INTENTIONSMASCHINE
der Endprodukte chemischer Neuroprothesen sollen Querschnittsgelähmten wieder zu selbstständigen
Umsetzungen. Bewegungen verhelfen.
Von Richard Andersen

35 SPRINGERS EINWÜRFE
Erkenntnistheorie 43 NEUROETHIK DER FREIE WILLE UND DIE ALGORITHMEN
der Hummel Techniken wie die tiefe Hirnstimulation oder Gehirn-Computer-Schnittstellen
Eine Vernetzung von Sinnen greifen direkt in das Denkorgan ein. Das weckt ethische Bedenken.
verblüfft Biologen. Von Liam Drew

60 SCHLICHTING!
Bienen und Blumen 48 CHEMISCHE UNTERHALTUNGEN WIE FARBEN ENTSTEHEN
unter Spannung Experimente mit Leuchtfarben ergeben spektakuläre Effekte.
Fluginsekten nutzen das Von Matthias Ducci und Marco Oetken
elektrische Feld von Blüten.

52 BRANDKATASTROPHEN TÖDLICHE FEUERSÄULEN


73 FREISTETTERS FORMELWELT
Lange galten Feuertornados als Mythos. Jetzt arbeiten Wissenschaftler
Funktion ein, Funktion aus daran, die zerstörerischen Phänomene vorherzusagen.
Unspektakulär, aber nützlich: Von Jason M. Forthofer
die Heaviside-Funktion.

83 ZEITREISE
62 QUANTENPHYSIK ZUWACHS FÜR DEN DOPPELSPALT
Versuche mit einem Dreifachspalt offenbaren subtile Quanteneffekte.
Von Urbasi Sinha
88 REZENSIONEN

93 IMPRESSUM 68 KÜNSTLICHE INTELLIGENZ


GETRENNT MARSCHIEREN, VEREINT SCHLAGEN
94 LESERBRIEFE KI-Algorithmen nach dem Vorbild der biologischen Evolution.
Von Matthew Hutson
96 FUTUR III – KURZGESCHICHTE
74 ARCHÄOLOGIE DIE FELSKUNST DER ABORIGINES
98 VORSCHAU
Uranisotope, Mikrograbung, Falschfarben – Archäologen haben einige
raffinierte Methoden entwickelt, um uralte Felsbilder zu erforschen.
Von Bruno David

84 WISSENSCHAFTSPHILOSOPHIE VERSUCH UND IRRTUM


Serie: Grundbegriffe der Wissenschaft (Teil 3) Wie zuverlässig ist die Empirie?
TITELBILD:
MOPIC / STOCK.ADOBE.COM; Von Alexander Mäder
BEARBEITUNG: SPEKTRUM DER WISSENSCHAFT

4 Spektrum der Wissenschaft  4.20


12

MOPIC / STOCK.ADOBE.COM
TITELTHEMA
DIE NEUE GRÜNE REVOLUTION
MARK ROSS STUDIO / SCIENTIFIC AMERICAN APRIL 2019

52
BRANDKATASTROPHEN
TÖDLICHE
FEUERSÄULEN

36
HIRNIMPLANTATE
FOTO: SPENCER LOWELL

DIE INTENTIONSMASCHINE
INSTITUTE FOR QUANTUM COMPUTING (IQC), UNIVERSITY OF WATERLOO

JEAN-JACQUES DELANNOY; AUS DAVID, B.: CAVE ART. THAMES & HUDSON, 2017

QUANTEN-
PHYSIK 62 74
ZUWACHS FÜR ARCHÄOLOGIE
DEN DOPPEL- DIE FELSKUNST
SPALT DER ABORIGINES
Alle Artikel auch digital
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Spektrum der Wissenschaft  4.20 5


SPEKTROGRAMM

TRANSPARENTES ORGAN

 Seit einiger Zeit können Wissen-


schaftler Organe durchleuchten und
so deren Aufbau Zelle für Zelle doku-
Als Hindernis hatte sich dabei
bislang die steife Struktur menschli-
cher Eingeweide erwiesen. Sie
Anschließend entwickelte das
Team noch ein eigens für den Zweck
angepasstes Laser-Scanning-­
mentieren. Bisher funktioniert dieses resultiert aus unlöslichen Molekülen Mikroskop und dazu eine entspre-
»Tissue Clearing« nur bei Mäusen wie Kollagen. Bei Mäusen helfen chende Software, die viele Millionen
(siehe »Spektrum« Januar 2019, S. 6). gewöhnliche Detergenzien, die von Zellen dreidimensional darstellt.
Wissenschaftler des Helmholtz-Zent- Organe durchsichtig zu machen. Für Solche Organkarten könnten künftig
rums, der LMU und der TU in Mün- den Menschen haben die Forscher als Vorlage dienen, um Organe
HELMHOLTZ ZENTRUM MÜNCHEN / ERTÜRK LAB

chen haben die Technik nun weiterent- nun einen Stoff namens CHAPS künstlich herzustellen, die dann als
wickelt und damit erstmals auch die verwendet, durch den Reinigungs- Ersatzorgane zur Transplantation
Niere eines Menschen dargestellt, die mittel tiefer als bisher in das Gewebe bereitstünden.
hier als grün-rosa Masse zu sehen ist. eindringen. Cell 10.1016/j.cell.2020.01.030, 2020

6 Spektrum der Wissenschaft  4.20


HELMHOLTZ ZENTRUM MÜNCHEN / ERTÜRK LAB

7Spektrum der Wissenschaft  4.20


SPEKTROGRAMM
ASTRONOMIE
LAUNISCHER ROTER RIESE

 Beteigeuze bildet die linke »Schul-


ter« des Sternbilds Orion, das von
Mitteleuropa aus in den Wintermo­
naten gut sichtbar ist. Doch in den
vergangenen Monaten stimmte etwas
nicht mit ihm: Der Rote Riese erschien
wesentlich dunkler als gewöhnlich.
Im Februar 2020 erreichte er nur noch
ein Drittel seiner sonst üblichen
Januar 2019 Dezember 2019
Leuchtkraft.
Wissenschaftler und Medien s­ pe-

ESO/M. MONTARGÈS ET AL. (WWW.ESO.ORG/PUBLIC/GERMANY/IMAGES/ESO2003C/) /


CC BY 4.0 (CREATIVECOMMONS.ORG/LICENSES/BY/4.0/LEGALCODE)
­kulierten deshalb darüber, dass Betei- Der Rote Riese Beteigeuze schwächelt seit Monaten, wie
geuze bald in einer Supernova explo- ­ ufnahmen des Very Large Telescope zeigen.
A
dieren könnte. Im Vorfeld solch eines
Ereig­nisses werden Rote Riesen für
­gewöhnlich dunkler. Dass Betei­geuze Hälfte von Beteigeuze stark abgedun- Generell unterscheidet sich der
in den nächsten Jahren explodiert, gilt kelt. Im Januar 2019 zeigte sich der 700 Lichtjahre entfernte Beteigeuze
jedoch als unwahrscheinlich. Denn Stern hingegen noch als einheitliche deutlich von unserer Sonne. Er hat ein
auch natürliche Schwankungen verän- Scheibe. Erklären ließe sich die Verän- milliardenfach größeres Volumen; in
dern die Helligkeit des Riesen. Mögli- derung, wenn Beteigeuze einen Mate- unserem Sonnensystem würde er fast
cherweise fielen sie zuletzt einfach rieauswurf ins All geschleudert hat, bis zur Bahn des Jupiters reichen.
besonders stark aus. In diesem Fall der einen Teil der Strahlung abfängt, Da er aber nur 20-mal so viel Masse
könnte der Stern noch zehntausende meinen die Forscher der Europäischen wie die Sonne hat, ist das heiße Gas
Jahre strahlen. Südsternwarte ESO. Daneben könnte sehr viel dünner verteilt. Entsprechend
Für dieses Szenario spricht unter die Sternoberfläche in manchen leicht lassen sich seine äußeren
anderem eine Aufnahme des Very Regionen stark abgekühlt sein, was Schichten verformen.
Large Telescope in Chile aus dem man ebenfalls von Zeit zu Zeit erwar-
Dezember 2019. Auf ihr ist die eine ten würde. Pressemitteilung der ESO, Februar 2020

PHYSIK
DIE PERFEKTE SEIFENBLASE

 Wer eine perfekte Seifenblase


schaffen will, braucht mehr als
Wasser und Seife. Enthusiasten wis-
von der Emory University im US-Bun-
desstaat Atlanta haben dazu verschie-
dene Mixturen mit einer Art Seilschlin-
ineinander verhaken, was die Seifen-
blasen elastischer macht.
Die besten Ergebnisse erhält man
sen das schon länger und tauschen ge aufgezogen und die wenigen den Forschern zufolge, wenn man
sich diesbezüglich mit Hilfe eines Mikrometer dünnen Seifenwände zwei bis drei Gramm Guaran mit
Online-Wikis aus. Unter anderem anschließend mit einem Infrarotlaser 50 Millilitern Alkohol mixt und die
schwören sie auf den Lebensmittel­ vermessen. Brühe anschließend zehn Minuten
zusatzstoff Guaran (E 412). Fügt man Demnach sind es tatsächlich Stoffe lang in einem Liter Wasser verrührt.
ihn Seifenwasser in der richtigen wie E 412 oder auch das Polymer Anschließend fügt man zwei Gramm
Konzentration hinzu, lassen sich mit Polyethylenoxid, die gigantische Backpulver hinzu und ergänzt rührend
dem Mix riesige Blasen erschaffen. Seifenblasen ermöglichen. In Wasser noch 50 Milliliter eines speziellen
Der aktuelle Rekordhalter kam bei- gelöst, bilden sie lange Ketten aus Spülmittels – die Wissenschaftler
spielsweise auf ein Volumen von Vielfachzuckern, die sich auf der empfehlen hierfür die in den USA
96 Kubikmeter und hätte damit sogar Oberfläche miteinander vernetzen und erhältliche Marke Dawn Professional.
einem Kleintransporter Platz geboten. diese dadurch stabilisieren. Laut den Eine genaue Anleitung hat die Emory
Ein Forscherteam um Justin C. Tests erhält man die besten Resultate, University auf ihrer Homepage ver-
Burton hat sich nun auf die Suche wenn man mehrere Polymergrößen öffentlicht.
nach den physikalischen Hinter­ mischt. Die Moleküle können sich Physical Review Fluids 10.1103/PhysRev-
gründen gemacht. Die Fluiddynamiker dann auf vielfältige Art und Weise Fluids.5.013304, 2020

8 Spektrum der Wissenschaft  4.20


Täglich aktuelle Nachrichten auf Spektrum.de

PALÄONTOLOGIE
SCHLEIMPILZ IN BERNSTEIN

 Stolze 100 Millionen Jahre hat ein


Schleimpilz auf dem Buckel, des-
sen Fruchtkörper ein Team um Jouko
Rikkinen von der Universität Helsinki
in Bernstein aus Myanmar entdeckt
hat. Das macht ihn zum mit Abstand
ältesten gefundenen Fossil aus der
Gruppe der Myxomyceten, so der
wissenschaftliche Name der Echten
Schleimpilze. Zuvor waren Paläontolo-
gen lediglich auf zwei Fossilbelege
von Fruchtkörpern gestoßen, die
zwischen 35 und 40 Millionen Jahre
alt sind.
Dass es lediglich wenige derartige
Überbleibsel von Pilzen gibt, liegt vor
allem an deren Kurzlebigkeit: Den
größten Teil ihrer Zeit verbringen die
Organismen als einzelne bewegliche
Zellen, die sich im Boden oder in
verrottetem Holz verstecken und dort
in einer Art Winterschlaf Jahre über-
dauern können. Nur manchmal fügen
sie sich zu Fortpflanzungszwecken
zu ausgedehnten Fruchtkörpern
zusammen.
Offenbar ist es einer Verkettung
von Zufällen zu verdanken, dass die
rund 2,5 Millimeter großen Exemplare
aus Myanmar Jahr­millionen überdau-
ern konnten. Die fragilen Fruchtkörper
wurden höchstwahrscheinlich von
einer Eidechse von einer Baumrinde
gerissen und schließlich zusammen
mit dem Reptil in Harz eingeschlos-
sen, vermuten die Paläontologen. Ein
Beleg für diese Theorie ist ein Bein der
Eidechse, das die Wissenschaftler
ebenfalls im Bernstein gefunden
haben.
Insgesamt seien die Fruchtkörper
des Fossils nicht von denen der bis
heute verbreiteten Schleimpilzgattung
ALEXANDER SCHMIDT, UNIVERSITÄT GÖTTINGEN UND SCIENTIFIC REPORTS

Stemonitis zu unterscheiden, so die


Forscher. Das deute darauf hin, dass
die Strategie der Myxomyceten, den
Großteil ihres Lebens als einzelne Ein 100 Millionen
Zellen zu verbringen, evolutionär sehr Jahre alter Schleim-
erfolgreich war, weshalb sich die pilz-Fruchtkörper
Organismen nicht verändern mussten. ist in Bernstein
erhalten geblieben.
Scientific Reports 10.1038/s41598-019-
55622-9, 2020

Spektrum der Wissenschaft  4.20 9


SPEKTROGRAMM
BIOLOGIE umherbewegen. Die kurze Antwort: aufwändig sind. Die ungarischen
sparsam. Sehr sparsam. Zoologen haben daher zwischen 2010
DAS LEBEN DER Der europäische Grottenolm (Pro- und 2018 insgesamt 19 Olme in der
GROTTENOLME teus anguinus) gilt als gut untersucht: Vruljak-1-Höhle in Bosnien-Herzegowi-
Der dauerhaft in kühlen, stockdunklen na mit Pigmentinjektionen markiert,

 Wer sich für die versteckt lebenden


Grottenolme interessiert, muss Zeit
und Geduld mitbringen, wie Wissen-
Unterwasserhöhlen vorkommende
Schwanzlurch zählt zu den langlebigs-
ten Amphibien. Er pflanzt sich nur
um einzelne Tiere später sicher identi-
fizieren zu können. Dann dokumentier-
ten sie bei regelmäßigen Tauchgän-
schaftler um Gergely Balázs von der selten fort und pflegt einen gemächli- gen, wo sich die Individuen aufhielten.
Eötvös-Loránd-Universität in Budapest chen Lebenswandel. Dies ließ sich Dabei zeigte sich: Die meisten Olme
jetzt festgestellt haben. Jahrelang bisher aber fast ausschließlich in Zoos, bewegten sich teils auch über Jahre
hatte das Team beobachtet, wie sich Forschungseinrichtungen und Aquari- hinweg bloß wenige Meter. Sie er-
die bleichen, räuberischen Amphibien en beobachten. Experimente in freier reichten so insgesamt eine theoreti-
in ihrem natürlichen Lebensraum Wildbahn sind dagegen rar, da sie sehr sche Durchschnittsgeschwindigkeit
von lediglich fünf Metern pro Jahr.
Ein besonders aktiver Zeitgenosse
Grottenolme leben in brachte es auf 38 Meter in 230 Tagen –
Unterwasserhöhlen – und der Faulpelz der Gruppe fand sich
bewegen sich dort nicht viel. dagegen sieben Jahre lang immer an
derselben Stelle. Die trägen Räuber
versuchen in ihrem dunklen Jagdre-
vier, in dem es kaum Beute wie Klein-
krebse gibt, vor allem Energie zu
sparen, vermuten die Biologen. Die
Grottenolme rühren sich daher wohl

PIRANKA / GETTY IMAGES / ISTOCK


nur dann, wenn es unbedingt sein
muss. So schaffen sie es, jahrelang
ohne Nahrung auszukommen.
Journal of Zoology, 10.1111/jzo.12760,
2020

TECHNIK der neuen Flügel könnte ein solches


Fluggerät dagegen bis zu drei Stunden
Der Trick mit dem kontrollierten
Strömungsabriss verhindere aber die
NEUE FLÜGEL FÜR lang fliegen, zumindest im Idealfall. Störanfälligkeit, stellten die Wissen-
MINIDROHNEN Unter realistischen Bedingungen sinke schaftler fest. Konkret sorgt die spitze
die Flugdauer auf immer noch beacht- Vorderkante der Tragfläche dafür, dass

 Ein Wissenschaftlerteam hat Trag-


flächen designt, mit denen jedes
normale Passagierflugzeug wie ein
liche anderthalb Stunden oder mehr,
schätzt die Gruppe auf Basis ihrer
Windkanalversuche.
in der vorderen Hälfte Turbulenzen
auftreten. Diese scheinen das Flugzeug
unempfindlicher gegenüber den zufälli-
Stein am Boden bliebe. Statt den Den Aufbau der Tragflächen haben gen Böen zu machen. Am hinteren Ende
Luftstrom möglichst sanft und unter- sie sich von der Natur abgeschaut. der Tragfläche brachten die Wissen-
brechungsfrei über die Oberfläche zu Insekten und andere kleine Flieger schaftler eine abgerundete Schiene
führen, lassen sie ihn schon an der hätten sie dazu inspiriert, die aerody- ähnlich einer Landeklappe an. Sie fängt
spitzen Flügelvorderkante abreißen. namischen Gesetze, die im Großen den verwirbelten Luftstrom wieder ein
Erstaunlicherweise, so berichtet das gelten, außer Acht zu lassen. Denn im und sorgt so für Auftrieb.
Team um Matteo Di Luca von der kompakten Maßstab würden ganz Science Robotics 10.1126/scirobotics.
Brown University in Providence, kann andere Einflüsse auf ein Fluggerät aay8533, 2020
dies am Ende zu einem energieeffizi- wirken. Sie würden beispielsweise
enteren und stabileren Flug führen. beständig von Böen umhergeworfen,
Das funktioniert allerdings nur bei die einem üblichen Flugzeug
BREUER LAB/BROWN UNIVERSITY

Tragflächen, die deutlich unter einem nichts ausmachen.


Meter groß sind, also bei so genann- abgerundete
ten Mikro-UAVs oder Mikrodrohnen. Schiene
Aktuelle Batterien halten die wenige Wenn kleine Tragflächen in
Gramm schweren Flieger für ungefähr Flugrichtung spitz zulaufen,
eine halbe Stunde in der Luft. Dank sorgt das für mehr Stabilität.

10 Spektrum der Wissenschaft  4.20


spitze
Kante
Täglich aktuelle Nachrichten auf Spektrum.de

WELTRAUM
ASTRONOMEN WARNEN
VOR STARLINK-
SATELLITEN

 Das »Starlink«-Projekt von Elon


Musk soll den Globus mit preiswer-
tem Breitband-Internet versorgen.
Dazu will der Space-X-Gründer bis
2027 mindestens 12 000 Kleinsatelli-
ten im Erdorbit platzieren. Mehrere

NSF’S NATIONAL OPTICAL-INFRARED ASTRONOMY RESEARCH LABORATORY/CTIO/AURA/DELVE


Hundert von ihnen sind bereits im
All unterwegs. Nach ihrem Start
waren die aus je 60 Einheiten beste-
henden Gruppen wiederholt als helle
Perlenketten am Himmel zu sehen,
da sie teils auch bei Nacht das Licht
der Sonne reflektieren.
Bisher gibt es keine international Auf Bildern mit langer Belichtungs-
akzeptierten Regeln für die Helligkeit zeit erscheinen Starlink-Satelliten
von Objekten im Erdorbit. Experten als Striche, wie diese Aufnahme des
befürchten daher, dass sich der Blanco-4-Meter-Teleskops zeigt.
Sternenhimmel durch »Megakon­
stellationen« wie Starlink grundle-
gend verändern könnte. Die Interna­ 1000 Satelliten sichtbar, 160 würden wie das derzeit im Bau befindliche
tionale Astronomische Union (IAU) sich dabei mehr als 30 Grad oberhalb Vera Rubin Observatory (ehemals
jedenfalls hält die Pläne, wie sie des Horizonts bewegen. Ob alle von ­Large Synoptic Survey Telescope). Bis
neben SpaceX auch andere Firmen ihnen mit bloßem Auge zu sehen sein zu 30 Prozent seiner Aufnahmen
verfolgen, für »Besorgnis erregend«, werden, ist allerdings noch unklar. könnten durch die Satelliten gestört
wie sie in einer aktuellen Stellung­ SpaceX experimentiert momentan werden, fürchten die IAU-Wissen-
nahme mitteilt. mit einer dunklen Beschichtung, schaftler. Unklar sind weiterhin die
In Simulationen haben die Astro­ die möglicherweise weniger Sonnen- Auswirkungen im Radiowellenlän-
nomen untersucht, wie sich rund licht zurückwirft. Dennoch könnten gen-Bereich. Wegen der Funksignale
25 000 Satelliten auswirken würden, die Satelliten moderne Großteleskope der Satelliten erwarten Fachleute hier
die, wie bei Starlink vorgesehen, ein stören. Betroffen werden vor allem ebenfalls Einschränkungen.
engmaschiges Netz bilden. In diesem Instrumente sein, die größere Aus- Pressemitteilung der IAU, Februar
Fall wären nachts jederzeit etwa schnitte des Himmels beobachten, 2020

UMWELT
ZYANOBAKTERIEN ALS ÜBERRASCHENDE METHANQUELLE

 Wissenschaftler um Mina Bižić vom


Leibniz-Institut für Gewässerökolo-
gie und Binnenfischerei in Stechlin
Seit Langem rätseln Forscher
darüber, woher das Methan stammt,
das aus den Ozeanen entweicht.
Methankreislauf besser zu verstehen
und genauere Klimaprognosen aufzu-
stellen.
bringen eine unerwartete Quelle für Normalerweise entsteht CH4, das etwa Denn wenn mehr Meeresgebiete
Methan ins Gespräch: Zyanobakterien. 30-mal stärker als Kohlenstoffdioxid überdüngt sind und die Wassertempe-
Auch diese Einzeller, die nahezu über- zur Erderwärmung beiträgt, wenn ratur durch den Klimawandel steigt,
all vorkommen, scheinen das klima- bestimmte Mikroorganismen beispiels- verbessern sich die Lebensbedingun-
wirksame Gas zu produzieren. Das weise Faulschlamm am Grund eines gen für Zyanobakterien. Dadurch
haben die Forscher mit Hilfe aufwändi- Sees zersetzen. In den sauerstoffrei- sollte sich auch ihr Methanausstoß
ger Laborexperimente nachgewiesen. chen oberen Wasserschichten herr- erhöhen, was dann wiederum den
Vermutlich entsteht das Methan schen dafür allerdings die falschen weltweiten Temperaturanstieg voran-
während der Fotosynthese der Zyano- Bedingungen. treiben könnte.
bakterien. Wie genau die Bakterien es Die Entdeckung von Bižić und ihren Science Advances 10.1126/sciadv.
herstellen, ist jedoch noch offen. Kollegen könnte helfen, den irdischen aax5343, 2020

Spektrum der Wissenschaft  4.20 11


GENTECHNIK
DIE NEUE GRÜNE
REVOLUTION
Seit rund 40 Jahren gibt
es gentechnische Metho­
den, um das Erbgut von
Pflanzen zu verändern.
Neue Verfahren kombinie­
ren Präzision, Spezifität
und niedrige Kosten auf
bisher unerreichte Weise.
Doch die Diskussion um
die Anwendungssicher­
heit hält an.

Frank Kempken
arbeitet als Profes-
sor am Botani-
schen Institut der
Christian-Alb-
rechts-Universität
zu Kiel.

 spektrum.de/artikel/1706904

MOPIC / STOCK.ADOBE.COM

12 Spektrum der Wissenschaft  4.20


Pflanzenzüchter greifen seit Jahr­
tausenden in das Erbgut der Nutzge­
wächse ein – etwa durch Kreuzen
von Arten, Unterarten oder Sorten, bei
dem das Genom mitunter komplett
umarrangiert wird. Neue Methoden
wie das Genome Editing ver-
sprechen sehr viel mehr Präzision.

AUF EINEN BLICK


VON TRANSGEN ZU GENOMEDITIERT

1 Seit den 1970er Jahren verändern Molekularbiologen


das Erbgut von Pflanzen – anfangs per Einfügen
von Fremdgenen, heute oft mittels gezielten Verän-
derns einzelner Nukleotide.

2 Damit lassen sich etwa herbizid- oder insekten­resis-


tente, trockentolerante oder ertragreichere Kultur­ge-
wächse schaffen.

3 Die weltweite Anbaufläche für solche Pflanzen ist


auf rund 200 Millionen Hektar gewachsen. Nach wie
vor gibt es aber Bedenken hinsichtlich deren Anwen-
dungssicherheit – vor allem in Europa.
MOPIC / STOCK.ADOBE.COM

Spektrum der Wissenschaft  4.20 13



Am 14. Mai 1990 begann in Köln das erste Freiset-
zungsexperiment mit gentechnisch veränderten Pflan-

ISAAA.ORG/RESOURCES/PUBLICATIONS/BRIEFS/54/
zen in Deutschland. Unter der Leitung des damaligen
Direktors des Max-Planck-Instituts (MPI) für Züchtungs­

SPEKTRUM DER WISSENSCHAFT, NACH:


forschung, Heinz Saedler, war in das Erbgut von etwa
60 000 Petunienpflanzen ein zusätzliches Gen eingebaut
worden. Der Erbfaktor stammte aus Maispflanzen und ent-
hielt die Bauanleitung eines Enzyms, das die weißen Blüten
der Petunien in lachsrote verwandelte.
15 14 10 3
Man hoffte damals, Petunien zu finden, bei denen die Baumwolle Mais Soja Raps
Erbanlage für die lachsrote Blütenfärbung durch ein sprin-
gendes Gen zerstört worden war. Da dies ein seltener Gentechnisch veränderte Baumwolle wird in
Vorgang ist, schien die gentechnische Veränderung zehn- 15 Ländern angebaut, gentechnisch veränderter
tausender Pflanzen nötig, um am Ende einige wenige Mais in 14. Bei genverändertem Soja und Raps
Individuen zu bekommen, die weiß-lachsrot gesprenkelte sind es zehn beziehungsweise drei Staaten.
Blütenblätter tragen würden. Die MPI-Forscher veränderten
das Genom der Petunien mit Hilfe des Bakteriums Agrobac-
terium tumefaciens – eine Methode, die etwa zehn Jahre der über epigenetische Mechanismen zu einer veränderten
zuvor am gleichen Institut entwickelt worden war. Genaktivität geführt hatte. Zum anderen werteten Kritiker
Überraschenderweise zeigten nach Abschluss des Ex­- das Experiment als Beleg dafür, dass die Gentechnik mit
periments rund 60 Prozent der Blüten eine weiß-rote Spren- vermeintlich unberechenbaren Risiken einhergehe.
kelung. Dieser völlig unerwartete Befund hatte zwei ganz Seit dieser Zeit hat sich die pflanzliche Gentechnik in
unterschiedliche Konsequenzen. Zum einen stieß er eine verschiedenen Ländern in sehr unterschiedliche Richtungen
neue Disziplin an, die pflanzliche Epigenetik. Denn wie sich entwickelt. Während in Deutschland und weiten Teilen der
später herausstellte, war die große Zahl gesprenkelter EU die Skepsis überwog und der Anbau gentechnisch ver­-
Blüten das Ergebnis eines trockenen und heißen Sommers, änderter Pflanzen weitgehend untersagt wurde – mit Aus-
nahme Spaniens –, ist auf den beiden amerikanischen
Teilkontinenten die Anbaufläche für gentechnisch veränder-
te Pflanzen (GV-Pflanzen) auf nunmehr etwa 180 Millionen
Glossar Hektar gewachsen.

Aminosäure: chemische Verbindung mit einer Aus der Mikrobe ins Gewächs
stickstoffhaltigen Aminogruppe und einer Kar- Um fremde Gene in das Erbgut von Pflanzen einzuschleu-
bonsäuregruppe mit Kohlenstoff, Sauerstoff und sen, stehen mittlerweile diverse Methoden zur Verfügung.
Wasserstoff. Aminosäuren sind die Bausteine Bereits in den 1970er Jahren hat ein Team um Jeff Schell
der Proteine. vom MPI für Züchtungsforschung erkannt: Das Bakterium
Agrobacterium tumefaciens erzeugt Tumoren bei Pflanzen
Bt-Pflanzen: Gewächse, die infolge eines gen- und fügt dabei einen kleinen Teil seiner Erbsubstanz dauer-
technischen Eingriffs Gifte des Bodenbakteriums haft in die pflanzlichen Chromosomen ein. Den Kölner
Bacillus thuringiensis herstellen. Das macht sie Wissenschaftlern gelang es, aus der bakteriellen DNA be­-
gegenüber bestimmten Insektenarten resistent. stimmte Bereiche zu entfernen und gegen Fremdgene
auszutauschen. Werden Pflanzen mit entsprechend verän-
Endonuklease: Enzym, das eine Nukleinsäure derten Bakterienstämmen infiziert, kommen die Fremd­gene
wie die DNA an einer vorgegebenen Stelle in ihr Erbgut und verändern die Eigenschaften der Gewäch-
zerschneidet. se. Anfangs war diese gentechnische Methode auf zwei-
keimblättrige Pflanzen beschränkt, lässt sich mittlerweile
Nukleotide: Grundbausteine des menschlichen aber auf fast alle Pflanzen, Pilze und sogar tierische Zellen
Erbmoleküls DNA. Ein Nukleotid besteht aus anwenden.
einem Basen-, einem Zucker- und einem Phos- Ein anderes Verfahren ist der »biolistische Gentransfer«.
phatrest. Viele aneinandergekettete Nukleotide Hier bringen Forscher die gewünschte Fremd-DNA auf
bilden zusammen den DNA-Strang. In ihrer kleine Partikel auf und schießen diese mit einer Art Kanone
Reihenfolge ist unter anderem die Bauanleitung in die Zielzellen ein. Weil die Partikel sehr klein sind, bleiben
von Proteinen verschlüsselt. die Empfängerzellen dabei weitgehend intakt. Mit jenem
Ansatz ist es möglich, fast jede Pflanze gentechnisch zu
Transgene Organismen: Lebewesen, in deren verändern. Manche Spezies erholen sich allerdings nicht
Erbgut die Gene einer anderen Spezies einge- schnell genug, um den Eingriff unbeschadet zu überstehen.
führt worden sind. Mit solchen Methoden lassen sich Gene etwa aus Bakte-
rien oder Tieren erfolgreich in Pflanzen übertragen. Hierbei
setzen viele Forscher das Prinzip der »substanziellen Äqui-

14 Spektrum der Wissenschaft  4.20


valenz« voraus, wonach das Hinzufügen eines Gens nur Einfügen eines Gens erreichen, das für eine bestimmte
Auswirkungen auf den Zielorganismus hat, die sich aus der Variante des Enzyms EPSPS (5-Enolpyruvylshikimat-3-phos-
Art des übertragenen Erbfaktors ergeben. Das Prinzip ist phat-Synthase) codiert. Glyphosat greift die pflanzliche
umstritten; mit Hilfe der Analyse vollständiger Genome und Variante dieses Enzyms an und schaltet sie aus, woraufhin
Transkriptome (Gesamtheit aller Boten-RNAs eines Organis- die Gewächse keine aromatischen Aminosäuren mehr
mus) haben es Wissenschaftler um Karl-Heinz Kogel von bilden können und absterben. Bakterielle EPSPS-Varianten
der Justus-Liebig-Universität Gießen aber beispielsweise hingegen sind immun gegen das Herbizid und machen
bei Gerste überprüft. Dabei kam im Jahr 2010 heraus, dass auch Kulturpflanzen resistent dagegen.
sich zwei gentechnisch veränderte Gerstensorten jeweils Vor schädlichen Insekten wiederum lassen sich Pflanzen
kaum von ihren konventionell gezüchteten Vorgängersorten schützen, indem Forscher die Gene für Giftstoffe des
unterschieden – zwischen den konventionell gezüchteten Bodenbakteriums Bacillus thuringiensis in die Gewächse
Varietäten jedoch erhebliche Unterschiede bestanden, die einschleusen. Diese Toxine wirken sehr spezifisch und
die Regulation von mehr als 1600 Genen betrafen. Konventi- töten jeweils nur bestimmte Insektengruppen ab; für
onelle Züchtung verändert Pflanzen somit viel stärker als Menschen und andere Tiere sind sie nach derzeitigem
das Einführen einzelner fremder Gene. Kenntnisstand ungefährlich. Pflanzen mit solchen gentech-
Eine der ersten gentechnischen Veränderungen bei nisch entsprechend hinzugefügten Erbanlagen bekommen
Kulturpflanzen, die wirtschaftliche Bedeutung hatten, war den Namenszusatz »Bt« – etwa beim Bt-Mais oder der
die Resistenz gegenüber Unkrautbekämpfungsmitteln, so Bt-Baumwolle.
genannten Herbiziden. Eine Unempfindlichkeit gegenüber Auch haben Wissenschaftler verschiedene Gene aus der
dem Herbizid Glyphosat beispielsweise lässt sich durch Narzisse auf Reispflanzen übertragen, die infolgedessen

Der lange Weg der Gentechnik


In den 1950er und vor allem den in Proteinen verbaut werden – das me, die DNA-Moleküle an definier-
1960er Jahren haben Wissenschaft- sind, je nach Spezies, rund 20. Es ten Stellen zerschneiden. DNA-Stü-
ler wesentliche molekulargeneti- gibt somit deutlich mehr Kodons als cke, die durch Einwirken einer
sche Voraussetzungen geschaffen, Aminosäuren, weshalb oft mehrere solchen Endonuklease entstehen,
um die ersten gentechnisch verän- von ihnen für ein und dieselbe lassen sich anschließend mit Hilfe
derten Lebewesen zu erzeugen. Aminosäure stehen. eines weiteren Enzyms namens
Dazu gehörte maßgeblich die Dieser genetische Code ist Ligase in neuer Anordnung zusam-
Entschlüsselung des genetischen universell, wird also von allen menfügen. So entstanden die
Codes in den 1960er Jahren. Es Lebewesen genutzt. Für die Gen- ersten biotechnologisch hergestell-
zeigte sich, dass alle Organismen technik ist das überaus bedeutsam, ten DNA-Moleküle.
den gleichen Code benutzen: Die denn es erlaubt einerseits, Gene Anfang der 1970er Jahre gelang
Protein­fabriken der Zellen inter­ von einer Art auf eine andere zu es Forschern erstmals, gentech-
pretieren die Abfolge der DNA-Bau- übertragen, etwa von Bakterien auf nisch veränderte Bakterien zu
steine, der Nukleotide, als Bauanlei- Pflanzen. Andererseits erfordert es schaffen, indem sie natürlich vor-
tung zum Herstellen von Proteinen. bei gentechnischen Eingriffen eine kommende ringförmige DNA-Mole-
Gruppen von je drei aufeinanderfol- gewisse Anpassung der Kodons, küle (Plasmide) aus dem Bakterium
genden Nukleotiden, so genannte denn wenn mehrere von ihnen für Escherichia coli in Genfähren um-
Kodons, zeigen dem Zellapparat da- ein und dieselbe Aminosäure wandelten, mit deren Hilfe sich
bei an, welche Aminosäure jeweils stehen, nutzen manche Spezies nur Erbanlagen in die Empfängerzellen
einzubauen ist. Da es insgesamt eine bestimmte Auswahl davon, schleusen ließen. Nur wenige Jahre
vier Nukleotide gibt und je drei da- während andere Arten eine davon später glückte es, die ersten gen-
von ein Kodon bilden, lassen sich abweichende Auswahl bevorzugen. technisch veränderten Bäckerhefen
43 = 64 verschiedene Kodons bil- Für gentechnische Eingriffe war zu erzeugen. Heute gehören solche
den. Drei davon dienen als Stopp­ es weiterhin notwendig, die DNA in Vorgänge zur Laborroutine und sind
signale, um dem Zellapparat das definierte Stücke mit zueinander aus der biowissenschaftlichen und
Ende einer Aminosäurekette anzu- passenden Enden zu zerlegen, um medizinischen Grundlagenfor-
zeigen; ein weiteres markiert den diese neu miteinander kombinieren schung nicht mehr wegzudenken.
Beginn einer solchen Kette und und in andere Organismen übertra- Der Fortschritt in den Lebenswis-
steht für die Aminosäure Methionin. gen zu können. Wissenschaftler senschaften der zurückliegenden
Die verbleibenden 60 Kodons nutzt entdeckten hierfür, ebenfalls in den Jahrzehnte wäre ohne gentech-
die Zelle als Codes für die unter- 1960er Jahren, die so genannten nisch veränderte Organismen nicht
schiedlichen Aminosäurearten, die Restriktionsendonukleasen – Enzy- denkbar gewesen.

Spektrum der Wissenschaft  4.20 15


vermehrt den Naturfarbstoff Beta-Carotin bilden. Weil die Klimawandel von großer Bedeutung, denn es steht zu
Reiskörner somit eine goldene Färbung erhalten, spricht erwarten, dass Dürreperioden künftig häufiger werden und
man vom »goldenen Reis«. Dieser könnte möglicherweise zugleich mehr Menschen zu ernähren sind.
helfen, die Folgen der in Entwicklungs- und Schwellen­ Unter den gentechnisch veränderten Kulturpflanzen
ländern weit verbreiteten Vitamin-A-Mangelernährung zu haben solche, die gegenüber Herbiziden oder Insekten
bekämpfen, und auf diese Weise jährlich vielen tausend resistent sind, bislang die mit Abstand größte Relevanz für
Menschen das Leben und die Gesundheit retten – so jeden- die Landwirtschaft. Allerdings helfen sie nicht so sehr
falls die Hoffnung. dabei, Ernteerträge zu steigern, sondern ermöglichen es
vielmehr, Ernteverluste zu begrenzen. Gewächse hingegen,
Vor Trockenheit gefeit die optimierte Inhaltsstoffe aufweisen, Trockenheit aushal-
Viele Anbaugebiete, vor allem in Afrika und Teilen Asiens, ten oder höhere Erträge liefern, könnten in Zukunft einen
liefern auf Grund häufiger Trockenheitsphasen nur geringe wesentlichen Beitrag zur Welternährung leisten. Freilich
Ernteerträge. Ein wichtiges Ziel der Grünen Gentechnik sollte man von ihnen keine Wunder erwarten. Ein unbe-
lautet daher, Kulturpflanzen zu schaffen, die eine starke grenztes Bevölkerungswachstum vermag auch die Grüne
Trockenheitstoleranz bei gleichzeitig hohen Erträgen auf- Gentechnik nicht aufzufangen. Zudem resultieren Hungers-
weisen. Derartige Züchtungen sind im Hinblick auf die nöte bei Weitem nicht nur aus Umweltkatastrophen oder
weiterhin wachsende Menschheit und den fortschreitenden Mangelernten, sondern haben sehr oft politische Gründe,

Modernes Genome Editing und konventionelle Pflanzenzucht: Ein Vergleich


Genome Editing erlaubt das geziel- Mutagenese (darunter etwa rechtliche Bewertungen gelten.
te Verändern, Entfernen oder CRISPR-Cas) rechtlich unter das Deren Behörden haben entschie-
Einfügen weniger Nukleotide eines Gentechnikgesetz fallen. Das den, Pflanzen zu deregulieren, die
DNA-Strangs. Die konventionelle bedeutet: Pflanzen, deren Erbgut keine artfremde DNA enthalten.
Pflanzenzucht geht hingegen damit verändert wurde, müssen Hinsichtlich des Anbaus und der
anders vor: Hier setzen die Züchter den gleichen strengen Regeln der Vermarktung solcher Gewächse
bestimmte Chemikalien oder ioni- Zulassung, Kennzeichnung und gibt es dort also keine besonderen
sierende Strahlen ein, um Mutatio- Sicherheitsbewertung genügen Vorschriften. So wird in den USA
nen in den Gewächsen zu erzeu- wie gentechnisch modifizierte seit Kurzem eine neue Sojabohnen-
gen. Damit verändern sie das Organismen. Das stößt bei vielen sorte namens »Calyxt™ High
pflanzliche Erbgut an vielen, zufäl- Wissenschaftlern auf Unverständ- Oleic Soybean« angebaut, die
lig verteilten Orten. Aus einer sehr nis, denn hiermit wird ein und Forscher mittels Genome Editing
großen Zahl von Pflanzen, die mit dieselbe Mutation rechtlich unter- entwickelt haben. Sie darf in den
solchen Verfahren behandelt wer- schiedlich bewertet – je nachdem, USA als gentechnikfrei beworben
den, sucht man dann jene heraus, ob sie zufällig oder gezielt entstan- werden, gilt in der EU nach gelten-
die zufällig so mutiert sind, dass den ist. Noch mehr Verwunderung der Rechtsprechung aber als
sie die gewünschten Eigenschaf- rief hervor, dass der EuGH konven- gentechnisch verändert – obwohl
ten aufweisen. Das erfordert ei- tionell gezüchtete Pflanzen, deren es keine Möglichkeit gibt, im Labor
nerseits einen erheblichen Arbeits- Erbgut mit ionisierenden Strahlen nachzuweisen, dass sie genom­
aufwand; andererseits sind wegen oder Chemikalien verändert wird, editiert ist.
der ungezielten, unspezifischen von diesen strengen Regeln aus- Angesichts dessen, dass sich
Veränderungen im Erbgut nie nur nimmt. Jene klassischen Mutage- natürlich eintretende Mutationen
die jeweils erwünschten Mutatio- nese-Verfahren, hieß es, gälten als nicht von solchen unterscheiden
nen entstanden, sondern immer sicher. lassen, die per Genome Editing
auch ungewollte, die sich unter Das EuGH-Urteil macht es in erzeugt wurden, ist es in der Praxis
Umständen schädlich auswirken. Europa praktisch unmöglich, unmöglich, genomeditierte Pflan-
Sie müssen gegebenenfalls in Genom-Editing zur Präzisionszüch- zen genauso zu kontrollieren wie
einem langwierigen Prozedere tung einzusetzen – der damit gentechnisch veränderte, trans­
wieder herausgekreuzt werden. verbundene regulative Aufwand ist gene Sorten. Eine rechtliche Neu-
Vor diesem Hintergrund er- einfach zu groß. Das stellt einen bewertung in der EU, basierend
staunt das Urteil, das der Europä­ Ausnahmefall dar, da in anderen auf angepassten Richtlinien und
ische Gerichtshof (EuGH) am Ländern, allen voran den Hauptan- Gesetzen für gentechnisch verän-
25. Juli 2018 fällte. Der EuGH bauländern für genetisch veränder- derte Pflanzen, erscheint somit
entschied an jenem Tag, dass die te Pflanzen wie Amerika und dringend nötig.
neueren Methoden der gezielten Australien, grundsätzlich andere Frank Kempken

16 Spektrum der Wissenschaft  4.20


die sich mit verbesserten Pflanzensorten nicht abstellen
oder kompensieren lassen.
Die kommerzielle Nutzung gentechnisch veränderter (Grüne) Gentechnik
beziehungsweise transgener Pflanzen begann 1996. Seither in Deutschland
nimmt die weltweite Anbaufläche praktisch jedes Jahr
weiter zu. 2018 stieg die Gesamtfläche abermals auf nun- Das Verhältnis der Deutschen zur Gentechnik ist
mehr fast 192 Millionen Hektar. Nach Angaben der Agro­ ambivalent. Zeitweilig gab es hier zu Lande einen
biotech-Organisation ISAAA entfallen 95 Prozent des Anbau gentechnisch veränderter Pflanzen, insbe-
Anbaus auf fünf Länder: USA, Brasilien, Argentinien, Kana- sondere in Ost- und Süddeutschland. Es handelte
da und Indien. Die größte Bedeutung in diesem Bereich sich um die Maissorte MON810, angepflanzt ab
haben nach wie vor transgene Sojabohnen (96 Millionen dem Jahr 2005 auf einer Fläche von zirka 3600 Hek-
Hektar Anbaufläche, 78 Prozent der Welternte dieser Pflan- tar. MON810 ist ein Bt-Mais, der ein Bakteriengift
zenart), transgener Mais (59 Millionen Hektar, 30 Prozent ausprägt und infolgedessen resistent gegenüber
der Welternte), transgene Baumwolle (zirka 25 Millionen dem Maiszünsler ist, einem Kleinschmetterling,
Hektar, 76 Prozent der Welternte) und transgener Raps der zu den bedeutendsten Schädlingen dieser
(rund 10 Millionen Hektar, 29 Prozent der Welternte). Alle Nutzpflanze gehört. Im Jahr 2009 wurde der
anderen genveränderten Pflanzen wie Kartoffel, Papaya Anbau von MON810 mit Verweis auf Sicherheits-
oder Zuckerrübe spielen weiterhin eine untergeordnete bedenken untersagt.
Rolle. Erwähnenswert ist, dass mittlerweile auch Millionen Seither dürfen in Deutschland keine gentech-
Kleinbauern weltweit gentechnisch veränderte Pflanzen nisch veränderten Pflanzen mehr angebaut wer-
anbauen – es handelt sich also längst nicht mehr um eine den. Gleichwohl führt die EU im großen Umfang
alleinige Domäne der großen Agrokonzerne. gentechnisch veränderte Futtermittel ein, allen
Seit die Gentechnik in den 1970er Jahren eingeführt voran rund 35 Millionen Tonnen GV-Soja jährlich,
wurde, gibt es Diskussionen über ihre Anwendungssicher- die unter anderem in Deutschland verfüttert
heit. Während gentechnisch produzierte Medikamente, werden. Damit erzeugtes Fleisch, Eier und Milch-
Enzyme und Nahrungszusatzstoffe inzwischen weithin produkte sind Bestandteil unserer täglichen
akzeptiert zu sein scheinen (siehe Kasten rechts), ist der Nahrung und werden nicht gekennzeichnet.
Anbau gentechnisch veränderter Pflanzen ein Konfliktthe- Auch Nahrungszusatzstoffe wie Aminosäuren
ma geblieben, das die öffentlichen Debatten beherrscht und Vitamine stammen häufig aus gentechnischer
und immer wieder durch spektakuläre Pressebeiträge Produktion, weil dies kostengünstiger und oft
angeheizt wird. Dazu gehörten Berichte über angeblich umweltfreundlicher ist. Als Beispiele lassen sich
Glutamat, Cystein, Aspartam, Inosinsäure, Zitro-
nensäure, Vitamin B2 oder Vitamin B12 nennen.
Unter den gentechnisch veränderten Pflanzen hat Soja Verbraucher in der EU können nicht erkennen, ob
die mit Abstand größte Bedeutung. Es folgen Mais, solche Zusatzstoffe in einem Nahrungsmittel
Baumwolle und Raps (dargestellt ist der Anteil an der enthalten sind, da es diesbezüglich keine Kenn-
weltweiten Anbaufläche). zeichnungspflicht gibt.
Darüber hinaus waren im Oktober 2019 in
Deutschland 278 Arzneimittel mit 228 verschiede-
andere
nen gentechnisch produzierten Wirkstoffen
Raps 1% zugelassen. Hinzu kommen gentechnisch verän-
5,3%
derte Enzyme in Waschmitteln oder die gen­
technisch veränderte Baumwolle in Textilien. All
dies führt dazu, dass Menschen in Deutschland
praktisch täglich gentechnisch veränderte Pro-
dukte konsumieren – in der Regel, ohne sich
Baumwolle dessen bewusst zu sein. Im Kontrast dazu erge-
13%
ISAAA.ORG/RESOURCES/PUBLICATIONS/BRIEFS/54/

ben Meinungsumfragen seit vielen Jahren im-


SPEKTRUM DER WISSENSCHAFT, NACH:

mer wieder, dass die Mehrheit der Bevölkerung


Soja eine ablehnende Haltung hinsichtlich der Gen-
50% technik hat.
Mais Viele Umweltverbände positionieren sich
30,7% kritisch gegenüber dieser Technologie, während
große Forschungsinstitutionen wie die Max-
Planck-Gesellschaft, die Deutsche Forschungsge-
meinschaft oder die Leibnitz-Gemeinschaft eine
eher befürwortende Haltung einnehmen.

Spektrum der Wissenschaft  4.20 17


KARTE: CHOKKICX / GETTY IMAGES / ISTOCK; BEARBEITUNG: SPEKTRUM DER
WISSENSCHAFT, NACH: ISAAA.ORG/RESOURCES/PUBLICATIONS/BRIEFS/54/
giftige Gentechnikkartoffeln, über die vermeintlichen Aus- Weltweit 70 Länder nutzen gentechnisch veränderte
wirkungen von Bt-Mais auf Monarchfalter, über häufigere Pflanzen. Manche Staaten bauen solche Gewächse
Krebserkrankungen bei Ratten oder gesteigerte Selbst­ selbst an und importieren sie auch (dunkelblau), ande­-
mord­raten bei indischen Bauern. All diese – und noch viele re importieren sie lediglich (hellblau).
weitere – Schreckensmeldungen wurden widerlegt.
Die Suche nach »Genetically modified organisms AND
cancer« liefert bei Google weit über 10 Millionen Treffer. Ein hat der Anbau von Bt-Pflanzen dazu geführt, dass die
erstaunliches Ergebnis angesichts dessen, dass es keinen Bauern erheblich weniger giftige Insektizide ausbrachten,
einzigen belastbaren Beleg für einen Zusammenhang denn die Gewächse sind dank des selbstproduzierten
zwischen Krebs und gentechnisch veränderten Nahrungs- Bakterientoxins weniger anfällig gegenüber Insektenbefall.
mitteln gibt. In einer Metastudie aus dem Jahr 2014 analy- Bt-Mais enthält zudem nachweislich verminderte Mengen
sierten Forscher um Alessandro Nicolia von der University von Fumonisin (ein Schimmelpilzgift), und goldener Reis –
of Perugia 1783 Einzelstudien und fanden keine Hinweise würde er zum Anbau zugelassen – könnte auf Grund seines
auf eine gesundheitliche Gefährdung, die sich mit gentech- Betacarotingehalts vermutlich dabei helfen, Leben und
nisch veränderten Pflanzen verbindet. Die Risikobewertung Gesundheit von Millionen Menschen, speziell Kindern, zu
gentechnisch veränderter Nutzpflanzen ist ein intensiv erhalten. Schon diese paar Beispiele demonstrieren das
beforschtes Gebiet – Ende 2019 beispielsweise hat ein Team enorme Potenzial gentechnisch veränderter Pflanzen. Nicht
um Paula Giraldo von der University of Melbourne darge- umsonst setzen zahllose Landwirte in den Industrie-,
legt, wie dabei zwischen Nahrungs- und Futtermitteln zu Schwellen- und Entwicklungsländern auf den Anbau sol-
differenzieren ist. cher Gewächse.
Während die zumeist hypothetischen Risiken der Gen- Derzeit spielt sich in der Grünen Gentechnik geradezu
technik einen breiten Raum in der öffentlichen Debatte eine Revolution ab. Die in den 1970er und frühen 1980er
einnehmen, kommen ihre Vorteile kaum zur Sprache. So Jahren entwickelten Methoden der Gentechnik beruhen
(WWW.JULIUS-KUEHN.DE/EX_ANWENDUNG/DOWNLOADFATPDF.PHP?FILE=2017_0241.PDF) /

Kurze Nukleotidketten (Oligonukleo­ Oligonukleotid


PLASCHIL, S.: ZWEITES SYMPOSIUM ZIERPFLANZENZÜCHTUNG IN QUEDLINBURG,

CC BY-SA 4.0 (CREATIVECOMMONS.ORG/LICENSES/BY-SA/4.0/LEGALCODE);

tide) lassen sich so herstellen, dass


13.-14. MÄRZ 2017 - PROCEEDINGS. JULIUS-KÜHN-ARCHIV 457, S. 37

sie zu einem bestimmten Ziel-


BEARBEITUNG: SPEKTRUM DER WISSENSCHAFT

gen passen, sich aber in wenigen Fehlpaarung

Nukleotiden von diesem unterschei­


den. Lagern sie sich ans Gen an,
tritt im Bereich dieser Nukleotide
Zielgen
eine Fehlpaarung auf. Das akti-
viert DNA-Reparaturmechanismen,
die das Oligonukleotid als Vor-
lage nutzen und dessen Sequenz ins
Zielgen übertragen. verändertes Gen

18 Spektrum der Wissenschaft  4.20


darauf, vollständige und oft artfremde Gene zu übertrag- Mikroben von Viren attackiert werden, legen sie Bruchstü-
en – etwa von Bakterien oder Tieren auf Pflanzen. Derartige cke aus deren Erbgut in ihrer eigenen DNA ab. Damit
Veränderungen lassen sich im Labor vergleichsweise können sie die Viren später rasch bekämpfen, sollten diese
einfach nachweisen, was es ermöglicht, Lebens- und erneut angreifen. Die Mikroben schreiben dazu das virale
Futtermittel unkompliziert auf gentechnisch veränderte Erbgutfragment in ein kurzes RNA-Stück um, das eine
Bestandteile zu untersuchen. Weil es insbesondere in zelluläre Endonuklease zu einer eindringenden Viren-DNA
Deutschland, aber auch in vielen weiteren EU-Ländern oder -RNA passender Sequenz hinleitet. Die Endonuklease
starke Vorbehalte und hohe regulatorische Hürden gegen- zerschneidet das virale Molekül sodann und macht es
über solchen Produkten gibt, versuchen Forscher schon unschädlich.
seit Längerem, offensichtliche gentechnische Eingriffe Jener Mechanismus lässt sich nutzen, um Gene an
durch andere Methoden zu ersetzen. Ein alternatives Ver- beliebigen, genau vorgegebenen Stellen zu schneiden.
fahren besteht darin, einzelne Gene in einem komplexen Besonders häufig setzen die Forscher hierfür das so ge-
Genom zu verändern; Fachleute sprechen von Genome nannte CRISPR-Cas9-System ein. Dieses spürt die Zielse-
Editing. quenz auf der zu verändernden DNA auf, indem es mit
einem 20 Nukleotide langen RNA-Stück (der so genannten
Von der Nukleotidkette kopiert Leit-RNA) daran koppelt. Das Ganze ist hochspezifisch, denn
Hierfür eignen sich verschiedene Methoden, unter anderem für die 20-stellige RNA-Sequenz findet sich auf der Ziel-DNA
der Einsatz kurzer Nukleotidketten, so genannter Oligonuk- statistisch gesehen nur eine passende Bindestelle auf
leotide. Diese werden im Labor hergestellt und so ausge- tausend Milliarden Nukleotide. Zum Vergleich: Das Genom
wählt, dass sie zu einem bestimmten Bereich auf der DNA des Menschen umfasst etwa 3,27 Milliarden Nukleotide.
des Zielorganismus passen, wobei sie sich in wenigen Nachdem sich der CRISPR-Cas9-Komplex an die Ziel-DNA
Nukleotiden von ihm unterscheiden. Bindet sich das Oligo- geheftet hat, zerschneidet er sie und erzeugt einen Doppel-
nukleotid nun an die Zielsequenz im Erbgut des Empfänger- strangbruch, den die zelleigenen Reparatursysteme an-
organismus, tritt eine Fehlpaarung an jener Stelle auf, wo schließend flicken. Dabei machen sie, wie bereits beschrie-
die Sequenzen des Oligonukleotids und der Ziel-DNA ben, hin und wieder Fehler, die das betroffene Gen inaktivie-
voneinander abweichen. Das ruft zelleigene DNA-Repara- ren. Dies erlaubt es, einzelne Gene gezielt auszuschalten.
turmechanismen auf den Plan, die das eingeführte Oligo­ Der erhebliche Vorteil des CRISPR-Cas-Systems gegen-
nukleotid als Vorlage nutzen und dessen Sequenz in die über anderen Genom-Editing-Methoden besteht darin,
Ziel-DNA übertragen. Das Oligonukleotid selbst wird dabei dass es nur eine einzige Sorte von Endonuklease benötigt,
nicht ins Empfängergenom eingebaut. Mit dieser Technik
gelingt es, Gene punktuell zu verändern und somit auch die
von ihnen codierten Proteine. Forscher haben damit unter Das Genome-Editing-Verfahren CRISPR-Cas hat in
anderem eine herbizidresistente Rapssorte erzeugt. der (Grünen) Gentechnik eine Revolution angesto­
Ein weiteres Verfahren besteht darin, künstliche Proteine ßen. Es basiert auf einem natürlichen Mechanismus,
zu erschaffen, die nur an ganz bestimmte DNA-Bereiche an- mit dem sich Bakterien gegen Viren verteidigen.
docken. Kombiniert man sie mit so
genannten Endonukleasen, wird es
möglich, die DNA an genau vorgege- IMMUNISIERUNG IMMUNITÄT
benen Stellen zu schneiden, so dass
es dort zu einem Doppelstrangbruch Virus Bakterien-
kommt. Dann treten rasch zelluläre zellwand
Reparatursysteme in Aktion und

NUTZUNG GENEHMIGT VON SPRINGER NATURE / CCC; BEARBEITUNG: SPEKTRUM DER WISSENSCHAFT
flicken den Schaden. Allerdings
NIK SPENCER/NATURE; LEDFORD, H.: CRISPR'S MYSTERIES. NATURE 541, 2017;
machen sie dabei oft Fehler, indem
Der zelluläre Ablese-
sie einige Nukleotide entfernen oder apparat setzt die Spacer
hinzufügen. Das schaltet die betrof- Spacer- in RNA-Moleküle um.
fenen Gene aus oder verleiht ihnen sequenz Diese leiten Cas-Proteine
Spacer- (Endonukleasen) zu ein-
eine neue Funktion. Der Aufwand ist sequenzen dringender DNA oder
aber groß, denn für jede zu ändernde sind oft Teile RNA passender Sequenz
Leit-RNA
aus dem Erbgut hin. Die Proteine zer-
Erbanlage müssen die Forscher ein eindringender Viren. schneiden dann das
maßgeschneidertes Bindeprotein Sie werden von palindromische palindromische
fremde Erbgut.
Cas-Proteinen ins Wiederholung Wiederholung
herstellen. Daher fand die Methode (»Repeat«) (»Repeat«) Cas /
Bakteriengenom RNA-Komplex
nur begrenzte Verbreitung. eingefügt.
Der Durchbruch im Genom- Spacer
Editing kam mit dem CRISPR-Cas-
Verfahren (siehe »Spektrum« Okto- bakterielles 1 2 3 4
ber 2017, S. 50). Es basiert auf einem Chromosom
Cas-Gene
natürlichen Immunmechanismus von Spacer
Bakterien und Archaeen. Wenn diese CRISPR

Spektrum der Wissenschaft  4.20 19


17 Millionen Landwirte ben (Meristemen) auftreten, ist die tatsächliche Mutations-
rate der Gewächse mit ihren etlichen Milliarden Zellen noch

in 26 Ländern bauen
viel höher anzusetzen.
Mutationen sind somit allgegenwärtig und bilden ein
ausgeprägtes Grundrauschen, von dem sich das Ergebnis

gentechnisch veränderte einer Genom-Editierung mit ihren wenigen veränderten


Nukleotiden unmöglich abheben lässt – selbst wenn man

Pflanzen auf 192 Mil­ das komplette Erbgut der jeweils betroffenen Pflanze
entziffert und analysiert. Man kann bei solchen Untersu-

lionen Hektar Fläche an


chungen lediglich feststellen, ob eine bestimmte Nukleotid-
sequenz vorhanden ist, die infolge einer Genomeditierung
zu erwarten wäre. Ob diese Sequenz aber tatsächlich
gezielt oder durch zufällige, natürliche Mutationen entstan-
den ist, lässt sich nicht beantworten.
die nicht von der Zielsequenz abhängt. Zur spezifischen In aktuellen Debatten geht es häufig um die Risiken
Bindung an das jeweils gewünschte Zielgen ist es lediglich ungewollter Mutationen infolge eines Genome Editings, so
nötig, die 20 Nukleotide lange Leit-RNA entsprechend genannter Off-Target-Effekte. Eine neuere Metastudie von
anzupassen. Das macht die Methode kostengünstig und Wissenschaftlern um Dominik Modrzejewski vom Julius-
erlaubt zudem, mehrere Leit-RNAs gleichzeitig einzusetzen Kühn-Institut in Quedlinburg kam zu dem Schluss, dass
und somit mehrere Gene auf einen Schlag zu verändern. solche Off-Target-Effekte offenbar selten auftreten, bei den
Forscher haben mit CRISPR-Cas bereits das Erbgut einschlägigen Untersuchungen aber große Unterschiede im
diverser Nutzpflanzen verändert, darunter von Tomaten, Studiendesign existieren. Es bestehe hierzu weiterer For-
Sojabohnen, Zitrusfrüchten, Mais, Reis, Weizen und Kartof- schungsbedarf, hieß es im Fazit der Arbeit.
feln. Damit wurde es unter anderem möglich, die Gewäch- Für die nähere Zukunft ist nicht zu erwarten, dass sich
se resistent gegenüber verschiedenen Erkrankungen zu die geringe Akzeptanz gentechnischer Verfahren in Europa
machen. deutlich verändern wird. Dies gilt ebenso für die rechtliche
Während gentechnische Eingriffe, bei denen vollständi- Einstufung des Genome Editings als streng zu regulieren-
ge und oft artfremde Gene übertragen werden, vergleichs- des Verfahren. Damit wird die Nutzung genomeditierender
weise einfach nachzuweisen sind, trifft das auf Genome- Eingriffe in Europa nur sehr eingeschränkt möglich sein,
Editing-Verfahren häufig nicht zu. Denn diese setzen nicht während sie in Amerika, Australien und China bereits jetzt
in großem Umfang erfolgen. Für die Pflanzenbiotechnologie
in Europa angesichts erheblicher klimatischer und demo-
grafischer Veränderungen, die zu erwarten sind, ist das
Mehr Wissen auf nicht unbedingt eine optimale Voraussetzung. 

Spektrum.de QUELLEN
Unser Online-Dossier zum Thema
finden Sie unter Eom, J. S. et al.: Diagnostic kit for rice blight resistance. Nature
spektrum.de/t/gruene-gentechnik Biotechnology 37, 2019
GERNOT KRAUTBERGER / FOTOLIA Giraldo, P. A. et al.: Safety assessment of genetically modified
feed: Is there any difference from food? Frontiers in Plant
Science 10:1592, 2019
voraus, fremde DNA-Sequenzen in den Ziel­organismus
ISAAA. 2018. Global Status of Commercialized Biotech/GM
einzuschleusen. Die Proteine, RNA-Stücke beziehungswei- Crops in 2018: Biotech crops continue to help meet the chal­
se Oligonukleotide, die zum Editieren des Erbguts erforder- lenges of increased population and climate change. ISAAA
lich sind, lassen sich direkt in den Zielorganismus einbrin- Brief 54. ISAAA: Ithaca, New York
gen und werden nach dem Eingriff dort wieder abgebaut. Modrzejewski, D., et al.: What is the available evidence for the
Es ist anschließend somit keine Fremd-DNA im veränder- range of applications of genome-editing as a new tool for plant
ten Organismus nachweisbar. Er trägt lediglich einzelne trait modification and the potential occurrence of associated off-
veränderte Nukleotide in seinem Erbgut, die ebenso gut target effects: a systematic map. Environmental Evidence  8, 2019
durch zufällige und spontane Mutation entstanden sein Weng, M.-L. et al.: Fine-grained analysis of spontaneous
könnten. mutation spectrum and frequency in Arabidopsis thaliana.
Spontane Zufallsmutationen ereignen sich keineswegs Genetics 211, 2019
selten. Forscher um Mao-Lun Weng von der South Dakota
State University haben im Jahr 2019 an der Modellpflanze LITER ATURTIPP
Arabidopsis thaliana die Mutationslast nach 25 Generatio- Kempken, F.: Gentechnik bei Pflanzen – Chancen und Risiken
nen ermittelt, basierend auf der vollständigen Entzifferung (5. Auflage). Springer-Spektrum, Berlin 2020
der Pflanzengenome. Dabei fanden sie fast 1700 Einzelnuk- Das Buch stellt die Chancen und Risiken pflanzlicher Gentechnik
leotid-Mutationen. Da bei Pflanzen nur solche Genverände- dar und behandelt einschlägige Methoden, Anwendungsbeispie-
rungen vererbt werden, die in bestimmten Bildungsgewe- le, Freisetzungsversuche und die Kommerzialisierung.

20 Spektrum der Wissenschaft  4.20


STREITGESPRÄCH
»ES GEHT UM NACHHALTIGE
LANDWIRTSCHAFT«
Was spricht für die Grüne Gentechnik, was dagegen? Eine Debatte mit
Detlef Weigel, Professor am Max-Planck-Institut für Entwicklungsbiologie,
und Christof Potthof, Biologe beim Gen-ethischen Netzwerk.

 spektrum.de/artikel/1706906

Herr Potthof, warum stehen Sie der Grünen »Tomate oder Tomate mit Extra-Gen«, dann ist es doch
­Gentechnik kritisch gegenüber? normal, dass sie sich für das Erste entscheiden. Fragt man
Potthof: Rund um den Anbau gentechnisch veränderter aber »Möchten Sie eine gentechnisch veränderte, unge-
Pflanzen gibt es bis heute verschiedene ungeklärte Fragen. spritzte Tomate – oder eine gentechnikfreie, die 20-mal mit
Sie betreffen die Ökologie, die Nahrungsmittelsicherheit, Chemikalien besprüht wurde?«, sieht die Sache schon
den Verbraucherschutz, die Sozioökonomie, zum Beispiel wieder anders aus.
den Patentschutz, und reichen bis hinein in die Kapitalis-
muskritik. Laien empfinden Gentechnik als unnatürlich.
Dabei verändert die herkömmliche Pflanzenzucht
Gab es in Ihrer Vergangenheit einen konkreten das Erbgut viel stärker: Beim Kreuzen werden
Punkt, an dem Sie zum Schluss gekommen sind, ganze Genome neu arrangiert; konventionelle
der Grünen Gentechnik gegenüber kritisch einge- Mutagenese mit ionisierenden Strahlen oder Che-
stellt sein zu müssen? mikalien erzeugt massenweise Zufallsmutationen.
Potthof: Bis vor gut zehn Jahren wurde die gentechnisch Sind die Risiken herkömmlicher Zucht eigentlich
veränderte Maissorte MON810 in Deutschland angebaut. nicht größer als die der Gentechnik?
Dieser so genannte Bt-Mais bildet ein Protein aus, das für Potthof: Die konventionellen Züchtungsarten werden wir in
Insekten giftig ist und mit Pollen hinweggetragen wird. Es jedem Fall weiterhin brauchen und somit auch ihre mögli-
beeinflusst die Umwelt über den Acker hinaus. Wie will chen Gefahren einkalkulieren müssen. Der Europäische
man das regulieren? Das war für mich eine interessante Gerichtshof hat betont, bei der Mutagenese mit Chemikali-
Frage. Im Gen-ethischen Netzwerk stellten wir dazu Infor- en und Strahlung werde angenommen, sie sei sicher. Diese
mationen bereit, um möglichst vielen Menschen die Debat- Annahme gilt schon seit Jahrzehnten.
te zu ermöglichen. Wir organisierten Veranstaltungen und
wurden zu Diskussionsveranstaltungen eingeladen. Und wir Können Sie das nachvollziehen?
haben Bürgerinitiativen unterstützt. An dieser Schnittstelle Potthof: Ja. Denn ich sehe keinen Anhaltspunkt, konventio-
sehen wir uns immer noch. nell gezüchtete Pflanzen für unsicher zu halten. Mutations-
züchtungen werden seit den 1950er Jahren verstärkt ange-
Herr Weigel, können Sie verstehen, dass große wendet, und seitdem ist nichts Schlimmes passiert. Die
Teile der Bevölkerung die Grüne Gentechnik ab- offensichtlich nicht gut entwickelten Pflanzen werden
lehnen, wie Umfragen ergeben haben? aussortiert, und aus dem Rest züchtet man durch Rück-
Weigel: Auf jeden Fall. Ich habe schon als Jugendlicher und Weiterkreuzung konkrete Linien. Zwischen dem Be-
in den 1970er Jahren hautnah den Streit um die Lagerung strahlen oder der chemischen Behandlung und der kom-
von Atommüll mitbekommen und kann mich noch an merziellen Nutzung liegen oft fünf bis zehn Generationen.
die sehr unkritischen und technikgläubigen Positionen der
damaligen Atomenergiebefürworter erinnern. Vieles Aber entstehen bei der ungezielten Mutagenese
von dem, was seinerzeit versprochen wurde, trat nicht ein, nicht zahlreiche Zufallsmutationen, die sich im
und manche mögen das nun bei der Grünen Gentechnik Phänotyp gar nicht bemerkbar machen, deshalb
ebenfalls befürchten. Allerdings weiß auch jeder: Das nicht herausgekreuzt werden und somit am Ende
Ergebnis von Umfragen richtet sich danach, wie die Fragen auch in der kommerziell genutzten Pflanze vorhan-
formuliert werden. Stellt man die Menschen vor die Wahl den sind?

Spektrum der Wissenschaft  4.20 21


Detlef Weigel Christof Potthof
ist Biologe und Direktor ist Biologe und arbei-

MIT FRDL. GEN. VON CHRISTOF POTTHOF


am Max-Planck-Institut tet seit 2002 beim

MIT FRDL. GEN. VON DETLEF WEIGEL


für Entwicklungsbio­ Gen-ethischen Netz-
logie in Tübingen. Er werk e. V. im Bereich
erforscht, wie Pflanzen Landwirtschaft und
sich an die Umwelt Lebensmittel. Er be-
anpassen, und setzt fasst sich dort mit
dabei auch Methoden Agrar-Gentechnik und
der Gentechnik ein. Weigel ist ein den Konzernen, die auf diesem
Pionier bei der Untersuchung geneti- Gebiet aktiv sind. Sein aktueller
scher Variationen von Wild- und Schwerpunkt ist die neue Gentechnik­
Kulturpflanzen. mit Verfahren wie CRISPR-Cas.

Potthof: Natürlich. Doch die Mutagenese entspricht im sche Varianten miteinander mischt und dabei etwas er-
Grunde einer intensiveren Form äußerer Einflüsse, mit zeugt, was vorher nicht vorhanden war. Man kann nur
denen Pflanzen ohnehin konfrontiert sind. Es gibt eine schlecht vorhersagen, was dabei passiert.
natürliche radioaktive Hintergrundstrahlung, die in man- Potthof: Aber mit der Gentechnik haben wir bislang weni-
chen Regionen stärker, in anderen geringer ausfällt. Die ger Erfahrung als mit konventionellen Nutzpflanzen. Daher
Sonne sorgt für eine UV-Belastung, die sich mutagen halte ich es für sinnvoll, dass entsprechend manipulierte
auswirkt. Und es gibt chemische Einflüsse in der Umwelt. Organismen speziell behandelt und gekennzeichnet
Pflanzen und andere Organismen können damit in gewisser werden.
Weise umgehen. Sie haben Mechanismen entwickelt, um
ihre DNA zu schützen. Gentechnisch veränderte Pflanzen oder Futtermittel
werden in vielen Ländern schon seit sehr langer
Das moderne Genome Editing, beispielsweise mit Zeit eingesetzt, ohne dass negative gesundheitliche
CRISPR-Cas, funktioniert aber doch viel zielgerich- Folgen aufgefallen wären.
teter als die herkömmliche Mutagenese. Potthof: Dass gentechnisch veränderte Pflanzen tatsäch-
Potthof: Auf den ersten Blick sieht dies vielleicht so aus. lich als Lebensmittel für den Menschen genutzt werden,
Doch auch bei diesen Methoden können die Eingriffe in die kommt bisher extrem selten vor: in den USA – in Südafrika
DNA erheblich sein. Im Moment können wir zu Sicher- mit Abstrichen –, aber dann hört es auch schon auf.
heitsaspekten nur bedingt Aussagen treffen. Wir plädieren Weigel: Milliarden Tiere erhalten seit Jahrzehnten gen-
nicht für ihr Verbot. Es geht uns darum, ob und wie diese technisch veränderte Futtermittel. Es existieren keine
Produkte reguliert werden sollen. Meiner Meinung nach Hinweise, dass darunter ihre Gesundheit gelitten hätte.
sollen sie nach dem Gentechnikrecht der EU reguliert Ansonsten hätte dies in epidemiologischen Untersuchun-
werden. So können wir uns die einschlägigen Dokumente gen längst auffallen müssen. Es gibt bis jetzt keinerlei
anschauen, die bei den Behörden eingehen, und in zehn Beweise dafür, dass von gentechnisch veränderten Pflan-
Jahren vielleicht sehen, was passiert ist und ob unsere zen für Mensch oder Tier direkte gesundheitliche Gefahren
Bedenken überflüssig waren. Aber zum jetzigen Zeitpunkt ausgehen.
ist die angebliche Präzision der nur wenige Jahre alten Potthof: Es finden sich immer wieder Fütterungsstudien, in
CRISPR-Cas-Technologie lediglich eine Annahme. denen negative Effekte auftraten. Zudem gab es wiederholt
Weigel: Diese Debatte geht von Anfang an in die falsche methodisch unsaubere Unbedenklichkeitserklärungen,
Richtung. Es wird vollkommen unterschätzt, wie »gefähr- etwa Sicherheitsüberprüfungen an Hühnern, von denen auf
lich« normale Pflanzen sind. Wenn wir dieselben Maßstäbe den Menschen geschlossen wurde. Es liegen vielleicht
anlegen würden wie an synthetische Pestizide, dürften wir keine Beweise, doch deutliche Hinweise auf Gesundheits­
kaum noch etwas essen. Apfelkerne enthalten Zyanide, in gefahren vor.
Pfeffer findet sich der Gefahrstoff Capsaicin, rohe Bohnen
enthalten giftiges Phasin, in grünen Kartoffeln bildet sich Laut einer viel zitierten Metastudie, die mehr als
schädliches Solanin, bitter schmeckende Zucchini enthalten 1700 Publikationen einschloss (Nicolia et al. 2014,
toxische Cucurbitacine. Hätte Monsanto diese Lebensmit- Anm. der Red.), geht die Nutzung von GV-Pflanzen
tel, die wir täglich zu uns nehmen, erfunden, würde man nicht mit erhöhten Sicherheitsrisiken einher.
längst nach einem Verbot rufen. Pflanzen bilden Toxine aus, Potthof: Sehen Sie sich bitte die dort zitierten Artikel an.
weil sie nicht gefressen werden wollen. Und vor diesem Dann werden Sie feststellen, dass sich darunter viele
Hintergrund ist selbst die normale Pflanzenzucht nicht Meinungs­artikel befinden oder Arbeiten, die überhaupt
unbedenklich. Im Gegenteil: Sie ist sogar deutlich gefährli- nicht geeignet sind, Aussagen über Lebensmittel- und
cher als Gentechnik oder Genome Editing, weil man geneti- Umweltsicherheit zu treffen.

22 Spektrum der Wissenschaft  4.20


Weigel: Von Seiten der Gentechnikkritiker werden viele dernden Umwelt mitzuhalten; und Lebensmittel dürften
Un- und Halbwahrheiten verbreitet, etwa vom französi- teurer werden. Sind uns die potenziellen Gefahren wichtiger
schen Molekularbiologen Gilles-Eric Séralini. Ich habe ihn als die Möglichkeiten, die wir uns nehmen, wenn wir Tech-
angeschrieben und um die Rohdaten seiner – mittlerweile nologie nicht anwenden? Dann können wir das als Gesell-
zurückgezogenen – Studie von 2012 gebeten, laut der ein schaft natürlich so entscheiden. Die Wissenschaft sollte
gentechnisch veränderter Mais beziehungsweise das immer nur Empfehlungen aussprechen.
Herbizid Glyphosat angeblich Tumoren bei Ratten hervorru-
fen. Die Daten hat er mir verweigert. Und das zeigt mir, Brauchen wir Grüne Gentechnik, um künftig Schritt
dass der Mann ein Scharlatan ist. zu halten mit den Umweltveränderungen, die etwa
im Zuge des Klimawandels auf uns zukommen?
Umgekehrt heißt es, dass »goldener Reis«, der von Potthof: Es geht eher darum, landwirtschaftliche Systeme
Wissenschaftlern entwickelt und patentfrei zur stabil und klimaresilient zu machen. Im Zusammenhang
Verfügung gestellt wird, auf Grund seines Provita- mit dem Klimawandel wird schon seit vielen Jahren der Ruf
min-A-Gehalts möglicherweise die Gesundheit von nach trockentoleranten Sorten laut. Dabei wissen wir im
Millionen Menschen erhalten helfen könnte. Den- Moment noch gar nicht genau, was uns der Klimawandel
noch wird er abgelehnt. Warum? abverlangen wird: Mehren sich Wetter­extreme, oder wird
Potthof: Es ist zweifelhaft, ob dieser Reis als technisch es bei uns tatsächlich trockener? Und deshalb ist es schwie-
funktionierende Nutzpflanze tatsächlich existiert. Eine rig, auf der Ebene der Pflanzenzüchtung so vehement
entsprechende Publikation musste zurückgezogen werden, anzusetzen. Unlängst ist in Südafrika die bislang einzige
weil die Untersuchung an Kindern erfolgte, deren Eltern Sorte, die wirklich ernsthaft per Gentechnik auf Trockento-
nicht richtig über die Pflanzen informiert wurden; die be­ leranz hin verändert wurde, krachend durch das Zulas-
teiligten Forscher wurden deshalb von anderen wissen- sungsverfahren gefallen – weil Monsanto diese Trockentole-
schaftlichen Tätigkeiten eine Zeit lang ausgeschlossen. Eine ranz nicht nachweisen konnte. Insgesamt ist auf dem
andere zeigte zuletzt, dass das darin enthaltene Provita- Gebiet praktisch kein Fortschritt erkennbar.
min A nicht stabil ist. Es gibt Schwierigkeiten, gesichert
nachzuweisen, dass dieser Reis von Nutzen ist. Wie viel
muss man angesichts der geringen Vitaminkonzentration
essen? Als der Reis erfunden wurde, gab es Berechnungen, »Bt-Pflanzen führen
zu starker Resistenz-
nach denen der Verzehr von mehreren Kilo Reis täglich
erforderlich ist.
Weigel: Das ist äußerst irreführend, weil dabei behauptet
wurde, die gesamte empfohlene Tagesdosis an Vitamin A
müsse aus dem Reis kommen. Schon ein Bruchteil dieser bildung bei Insekten«
Dosis reicht nämlich aus, um ein Erblinden durch Vitamin-
 Christof Potthof
A-Mangel zu vermeiden. Ich finde es menschenverachtend,
dass der goldene Reis noch nicht auf dem Markt ist. Genau-
so wie es menschenverachtend ist, dass die Aktivistin Weigel: Dass sich das Klima beschleunigt verändert,
Vandana Shiva sagt, die insektenresistente Auberginen­ wissen wir, und ich höre von Züchtern, dass wir dann auch
sorte Bt Brinjal dürfe in Indien nicht auf den Markt kom- schneller in der Entwicklung neuer Sorten sein müssen.
men. Der Einsatz von Bt Brinjal führt erwiesenermaßen Trockentoleranz ist aber in der Tat eines der schwierigsten
dazu, dass viel weniger Pestizide eingesetzt werden, wes- Merkmale, weil so viele Eigenschaften daran beteiligt sind.
halb sich Kleinbauern viel seltener damit vergiften. Aber Das durch Genome Editing zu verändern, wird kompliziert.
darüber können wir vermutlich endlos streiten. Produktiver Einfacher ist es beispielsweise, Sorten zu entwickeln, die
fände ich es, darüber zu debattieren, welche ökologischen früher blühen.
Auswirkungen gentechnisch veränderte Pflanzen haben Ich finde auch, dass es viel wichtiger ist, eine nachhaltige
könnten – zum Beispiel, wenn aus GV-Raps Herbizidresis- Landwirtschaft auf die Beine zu stellen. Wir sollten dazu
tenzen freigesetzt werden. Das ist zu wenig untersucht möglichst viel Chemie durch Genetik ersetzen. Bt-Pflanzen
worden, meine ich. etwa reduzieren den Einsatz synthetischer Pestizide auf dem
Acker, weil diese Pflanzen viel seltener besprüht werden
Müssen Züchtungen schärfer auf diesen Aspekt hin müssen.
geprüft werden? Potthof: Allerdings wird das Insektengift in Bt-Pflanzen
Weigel: Möglicherweise ja. Allerdings müssten wir dann kontinuierlich exprimiert, und das führt zu einer sehr star-
überall die gleichen Maßstäbe anlegen. Manche Kollegen ken Resistenzbildung bei den Insekten. Den Einsatz von
möchten, dass jede neue und damit auch konventionell Sprühmitteln hingegen kann man davon abhängig machen,
erzeugte Züchtungen auf ökologische und gesundheitliche ob tatsächlich Schädlingsbefall vorliegt. Das hat durchaus
Gefahren hin überprüft werden. Dann sollten wir jedoch Vorteile. Zudem bleibt das Bt-Toxin von gentechnisch
den Menschen reinen Wein einschenken und eingestehen: veränderten Pflanzen nicht einfach in den Gewächsen: Es
Neue Sorten auf den Markt zu bringen, wird viel länger dau- geht weiter in die Futtermittelproduktion und in die Um-
ern; es wird schwieriger werden, mit einer sich rasch verän- welt. Diese Folgen gehören in eine Risikobewertung und

Spektrum der Wissenschaft  4.20 23


müssen in der Regulierung aufgefangen werden. Denn die
Bt-Toxin-Menge, die die Pflanzen eines Bt-Mais-Felds übers »Herkömmliche Pflan-
zenzucht ist gefährli-
Jahr hinweg produzieren, beträgt ein Vielfaches der Menge,
die Bauern üblicherweise spritzen.
Weigel: Im Gegensatz zu synthetischen Pestiziden ist
Bt-Toxin ein Gift, das zielgenau nur auf Insekten wirkt. Dass
die Resistenzbildung zur Sorge Anlass gibt, stimmt aber cher als Gentechnik«
natürlich. Das ist jedoch ein generelles Problem, nicht bloß
 Detlef Weigel
bei Bt-Toxin, sondern auch bei konventionellen Pestiziden.

Wissenschaftler, die an der Grünen Gentechnik Eine häufige Kritik an der Grünen Gentechnik lautet,
arbeiten, beklagen eine starke Verschlechterung deren Patente seien in der Hand weniger multinatio-
des Forschungsumfelds in Deutschland und Euro- naler Konzerne. Denn GV-Pflanzen zu entwickeln
pa. Sie hätten beispielsweise keine Möglichkeit und durch die Zulassung zu bringen, ist mit hohen
mehr, Pflanzen im Freiland zu testen. Stimmt das? Kosten und großem Zeitaufwand verbunden. Könn-
Weigel: Bei meiner eigenen Forschung kann ich schon von te das Genome Editing mit CRISPR-Cas, das relativ
einer Behinderung sprechen. Ich möchte ökologische schnelle und kostengünstige Erbgutveränderungen
Interaktionen in der Natur verstehen und dazu Genetik ein­- erlaubt, dieser Monopolisierung entgegenwirken?
setzen, einzelne Gene ausschalten und diese Pflanzen Weigel: Die ursprünglichen Patente für die Technologie
draußen testen. Das kann ich in Deutschland nicht. Es ist liegen nicht bei Konzernen, sondern bei akademischen
zwar auf dem Papier erlaubt, doch der Aufwand ist der­ Einrichtungen. Diese verlangen sehr viel Geld dafür, was ich
maßen groß, dass er de facto einem Verbot gleichkommt. überaus kritisch sehe. Daher geht die Frage an die Politik:
Um die erforderlichen Dokumente für einen Freilandver- Muss man bestimmte grundlegende Patente und Erfindun-
such mit einer genomeditierten Pflanze zusammenzutra- gen nicht allen zugänglich machen? In der Medizin ist das
gen, braucht eine promovierte Person etwa ein Jahr. Das ist so. Sollte es nicht ebenso im Bereich der Züchtung gelten?
ein Standortnachteil und wird uns in Deutschland und Ebenso meine ich: Derjenige, der sagt, mit CRISPR-Cas
Europa wissenschaftlich schaden. herbeigeführte genetische Veränderungen seien spontanen
Potthof: Na ja! Wir hören immer von Firmen, sie würden Mutationen gleichzusetzen, darf auch keinen Patentschutz
weggehen und ihre gentechnikrelevanten, pflanzenbiologi- für CRISPR-editierte Sorten verlangen. Wir haben in Europa
schen Aktivitäten in die USA verlagern. Die BASF hat um den Sortenschutz, und ich finde, dass dieser reichen muss.
das Jahr 2012 diesen Schritt tatsächlich vollzogen und ihre Potthof: Es gab verschiedene Initiativen, auch innerhalb der
Pflanzenbiotechnologie in die Staaten verlegt – inklusive der Wissenschaft, die versucht haben, dem Patentwesen in
wissenschaftlichen Arbeitsplätze in dreistelliger Anzahl. Bezug auf die Methoden zu Leibe zu rücken. Soweit ich
Doch drei, vier Jahre später hat das Unternehmen seine weiß, ist das alles bisher grandios gescheitert, weil die
Pflanzenbiotechnologie global um die Hälfte reduziert. Wissenschaft keinen Konsens findet. Deshalb gründet man
Offensichtlich war nichts von dem eingetreten, was sich die lieber mit Unterstützung der Wissenschaftsorganisationen
BASF von dem freundlichen Regulierungsumfeld verspro- und ihrer Patentagenturen Start-ups, um sich unternehme-
chen hatte. Darüber wird aber kaum geredet. Später kaufte risch zu betätigen und nach einigen erfolgreichen Jahren
die Firma ein umfangreiches Portfolio von Bayer – etablierte von großen Firmen übernommen zu werden. Dann landet
Technologien rund um glufosinatresistente Pflanzen. Natür- das früher oder später doch bei den mächtigen Konzernen,
lich lässt sich mit herbizidtoleranter Soja viel Geld verdienen einschließlich der Patente für Genome Editing. CRISPR-Cas
in Nord- und Südamerika. Doch ist das auch ein nachhalti- wird sich niemals als das gentechnische Werkzeug des
ges Landwirtschaftskonzept für uns? Wohl eher nicht. kleinen Mannes etablieren. Der Zug ist lange abgefahren –
Weigel: Herr Potthof, wo gibt es denn mehr Probleme mit und daran hat die Wissenschaft ihren Anteil.
herbizidtoleranten Unkräutern, in Europa oder in Nordame-
rika? In Europa! Und warum? Weil hier das Land teurer und Ungeachtet ihrer strengen Gentechnikauflagen
die Landwirtschaft intensiver ist; es werden mehr Hilfsmit- führt die EU jährlich etwa 35 Millionen Tonnen
tel eingesetzt und mehr Herbizide verspritzt. Und deshalb gentechnisch veränderte Futtermittel ein, insbeson-
treten bei uns mehr Probleme mit Toleranzbildung bei dere Soja. Von den damit erzeugten tierischen
Unkräutern auf, auch ohne den weit verbreiteten Einsatz Produkten ernähren wir uns täglich. Wie passt das
von herbizidresistenten Nutzpflanzen. Die Diskussion geht zusammen?
einfach am Thema vorbei. Und das gilt ebenso im Hinblick Potthof: Im Laden sieht man normalerweise nicht, dass
auf Genome Editing: Momentan nutzen die großen Firmen Produkte von Tieren stammen, die gentechnisch ver­
es, um genetische Veränderungen zu finden, die einen ändertes Futter erhalten haben. Die Nutztierwirtschaft in
positiven Effekt haben. Aber weil sie wissen, dass sie die Deutschland und Europa hat sich sehr stark abhängig
Genomeditierung nicht einsetzen können, behandeln sie gemacht von Soja. Einer der Gründe dafür war die BSE-­
die Pflanzen hinterher mit klassischer Mutagenese – Strah- Krise, wegen der das Verfüttern tierischer Proteine etwa
len und Chemikalien –, um genau dieselbe Veränderung an Rinder verboten wurde. Sobald Kunden im Laden die
wieder zu finden. Und das kommt dann auf den Markt. Möglichkeit haben, als gentechnikfrei gekennzeichnete

24 Spektrum der Wissenschaft  4.20


tierische Produkte zu kaufen, tun sie das. Das gilt – zum Potthof: Was sollte ich gegen eine gute gentechnisch
Beispiel – für Deutschland, aber ebenso für die USA. veränderte Pflanze, die mehr Ertrag bringt, trockentolerant
Wir sind im Moment an einem Punkt, wo fünf verschie- ist, keine Herbizid- und Pestizidbehandlung braucht, denn
dene Herbizidtoleranzen in eine Sojapflanze eingeführt bitteschön einzuwenden haben? Aber bislang sehe ich das
worden sind. Das würde man mit konventioneller Züchtung nicht. Ich habe mir hunderte Dossiers von gentechnisch
nie hinbekommen, das geht nur mit Gentechnik. Die Gen- veränderten Pflanzen angeschaut und verfolgt, welche
technik stellt uns diese Art von Pflanzen bereit, was zur Gewächse tatsächlich den Sprung auf den Markt geschafft
Folge hat, dass man fünf verschiedene Herbizide als Tankmi- haben. Bis jetzt fällt das alles sehr dürftig und vage aus.
schung auf Abermillionen Hektar Anbaufläche ausbringt. Wenn jetzt manche so tun, als würde sich mit Genome
Hinsichtlich der Risikobewertung ist das ein absolutes Editing plötzlich alles ändern, macht mich das skeptisch.
Desaster, weil man Kreuzwirkungen erhält, Cocktaileffekte Ich warte lieber die konkreten Ergebnisse ab, statt auf die
und so weiter. Versprechungen zu vertrauen.

Ist das nicht generell ein Problem modernen Herr Weigel, ist die Wissenschaft mitschuldig am
­Wirtschaftens und des Konsumentenverhaltens? schlechten Ruf der Grünen Gentechnik, speziell in
Weigel: Es gibt nichts umsonst. Wenn wir Sorten nutzen, Deutschland?
die weniger ertragreich sind, dann brauchen wir mehr Weigel: Absolut, ja. Wir können auf Gentechnik verzichten.
landwirtschaftliche Nutzfläche und können beispielsweise Doch das bedeutet dann mehr Landverbrauch – was sich
weniger Wälder erhalten. Das Soja-Problem ist nicht nur allerdings wiederum durch geringeren Fleischkonsum
eines der Gentechnik; es geht hier um viel grundlegendere kompensieren ließe. Das Thema ist also komplex und muss
Dinge, bei denen wir als Gesellschaft entscheiden müssen, dementsprechend so kommuniziert werden. Einfach nur
was wir wollen. Wollen wir billiges Fleisch oder nicht? zu suggerieren, ohne Grüne Gentechnik würde die Welt
Genügen unsere Tierschutz- und Arbeitsschutzgesetze? verhungern, was manche Kollegen zumindest in der Ver-
Muss Deutschland das drittgrößte landwirtschaftliche gangenheit leider getan haben, ist und bleibt kontrapro­
Exportland der Welt sein? duktiv. 

Herr Potthof, unter welchen Bedingungen wäre die Das Gespräch führten die »Spektrum«-Redakteure
Nutzung Grüner Gentechnik für Sie in Ordnung? Daniel Lingenhöhl und Frank Schubert.

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Spektrum der Wissenschaft  4.20 25
FORSCHUNG AKTUELL
GEOMETRIE 
Stellen Sie sich vor, es liegen zwei festlegen, ob ein Objekt »scherenkon­
Vielecke (Polygone) aus Papier vor gruent« zu einem anderen ist. 

ORDNUNG Ihnen. Ist es möglich, das erste so


zu zerschneiden und neu zusammen­
Tatsächlich gibt es für das obige
Beispiel zweidimensionaler Polygone

MESSEN!
zusetzen, dass die zweite Form dabei ein erstaunlich einfaches Kriterium:
herauskommt? Was wie eine typische Solche Objekte sind scherenkongru­
Knobelaufgabe für Rätselliebhaber ent, wenn sie den gleichen Flächen­
Als Mathematiker geometri- klingt, beschäftigt Mathematiker nun inhalt haben. Diese Erkenntnis eröffne­
sche Figuren sortierten, stie- schon seit Tausenden von Jahren.  te sofort neue Fragen. Wie verhält es
ßen sie auf eine Verbindung zu Denn so einfach die Frage auch sich mit höherdimensionalen Figuren,
einem völlig anderen Bereich. anmutet, geben sich Forscher nicht etwa einem Tetraeder? Und was
Damit könnten sie sich dem damit zufrieden, eine Schere in die passiert, wenn man die zweidimensio­
Ziel, algebraische Gleichungen Hand zu nehmen und herumzuprobie­ nalen Polygone, dreidimensionalen
nach ihren Grundbausteinen zu ren. Stattdessen suchen sie nach Polyeder oder höherdimensionalen
ordnen, endlich nähern. Merkmalen, die im Vorfeld eindeutig Polytope in gekrümmten Geometrien
betrachtet, in denen ihre Seiten nicht
mehr geraden Linien entsprechen,
sondern Geodäten, ähnlich den Län­
Scherenkongruenz in vielen Dimensionen gengraden der Erdkugel? 
Schnell stellten Mathematiker fest,
Mathematiker wollen herausfinden, welche Polytope sich ineinander dass die Frage nach der Scherenkon­
zerschneiden lassen. Sie hoffen, dass die Merkmale, die scheren­ gruenz in solchen Fällen wesentlich
kongruente Figuren identifizieren, ihnen dabei helfen, algebraische komplizierter ausfällt. Trotz jahrhun­
Gleichungen besser zu verstehen. dertelanger Bemühungen konnten sie
keine Merkmale identifizieren, die
eindeutig festlegen, ob sich Polytope
zweidimensionale ineinander zerlegen lassen.
Vielecke
Die Objekte sind
scherenkongruent, Zwei eindeutige Kriterien
wenn sie den gleichen Doch im Herbst 2019 machten zwei
Flächeninhalt haben.
Polygon 1 zerschneiden und Polygon 2 Mathematiker bedeutende Fortschrit­
neu zusammensetzen
te. In ihrer kürzlich veröffentlichten
dreidimensionale Polyeder Arbeit konnten Jonathan Campbell
Höherdimensionale Figuren sind scherenkongruent, wenn sie das von der Duke University und Inna
gleiche Volumen und die gleiche Dehn-Invariante besitzen. Letztere
hängt von den Innenwinkeln und Kantenlängen des Polytops ab. Zakharevich von der Cornell University
beweisen, dass zwei grundlegende
Eigenschaften von Polytopen ausrei­
Kantenlänge

Diese zwei chen, um zu beurteilen, ob sie sche­


Poly­eder sind
nicht scheren­
renkongruent sind – vorausgesetzt
kongruent: Sie eine andere mathematische Vermu­
haben zwar das tung ist richtig. Dabei könnten ihre
Innenwinkel gleiche Volumen,
weichen aber Erkenntnisse neue Wege aufzeigen,
in ihrer Dehn- um die Scherenkongruenz mit einem
Würfel regelmäßiges Tetraeder Inva­riante
der kompliziertesten Bereiche der
LUCY READING-IKKANDA / QUANTA MAGAZINE; BEARBEITUNG: SPEKTRUM DER WISSENSCHAFT

Volumen: 1 Volumen: 1 voneinander ab.


Dehn-Invariante: 0 Dehn-Invariante: nicht 0 Mathematik zu verbinden, den alge­
braischen Gleichungen.
Dass zwei Polygone scherenkon­
Von Polytopen zu gruent sind, wenn sie den gleichen
algebraischen Gleichungen Untergraph für Flächeninhalt haben, erkannte Euklid
den Nordpol
So wie man Polytope zerschneiden
z=1 bereits vor über 2000 Jahren. Viele
kann, lassen sich auch Graphen
algebraischer Gleichungen in Mathematiker gingen daraufhin davon
kleinere Untergraphen zerlegen. Untergraph für aus, dass man auch Polyeder oder
Mathematiker suchen nach einem den Äquator
Analogon der Dehn-Invariante, das x2 + y2 = 1 höherdimensionale Objekte mit glei­
angibt, wann sich zwei Gleichungen Gleichung für chem Volumen auf ähnliche Weise
aus den gleichen Grundbausteinen die Kugeloberfläche: ineinander zerlegen kann.
zusammensetzen. x2 + y2 + z2 = 1
Doch David Hilbert erkannte um
1900, dass das Problem nicht so

26 Spektrum der Wissenschaft  4.20


Täglich aktuelle Nachrichten auf Spektrum.de

Sie zerschneiden eine


Figur in kleinere Bestand-
teile und setzen sie zu
einer neuen zusammen.
Wie lässt sich ermitteln,
wann zwei Formen derart
»scherenkongruent« sind?
PAUL-DANIEL FLOREA / GETTY IMAGES / ISTOCK

Dehn ging in seiner Arbeit sogar


noch weiter. Er bewies nicht nur, dass
es mehr als das Volumen braucht, um
scherenkongruente Objekte in drei
Dimensionen zu identifizieren, sondern
er führte eine neue Größe namens
Dehn-Invariante ein. Er konnte bele­
gen, dass alle scherenkongruenten
dreidimensionalen Polyeder sowohl
einfach ist, wie es scheint. In diesem das gleiche Volumen als auch die
Jahr hielt er seine berühmte Rede auf gleiche Dehn-Invariante haben.
dem Internationalen Mathematiker­
kongress in Paris, in der er 23 offene Eine neue Invariante Volumens zwangsläufig ineinander
Probleme vorstellte, denen man sich in Um den neuen Parameter zu berech­ zerlegen lassen. Erst nach mehr als
den nächsten 100 Jahren widmen nen, muss man die Innenwinkel zwi­ 60 Jahren, 1965, konnte Jean-Pierre
sollte. Hilberts drittes Problem hing schen den Flächen eines Polyeders Sydler schließlich diesen Nachweis
mit der Scherenkongruenz zusammen. bestimmen. In einem Würfel treffen führen. Kurze Zeit später bewies Børge
Er vermutete, dass das Volumen allein alle Flächen unter einem Winkel von Jessen, dass die vierdimensionalen
nicht ausreicht, um zu beurteilen, ob 90 Grad aufeinander. Kompliziertere Versionen von Volumen und Dehn-In­
dreidimensionale Polyeder scheren­ Objekte haben jedoch meist unter­ varianten auch die Scherenkongruenz
kongruent sind – und forderte seine schiedliche Innenwinkel, die nicht alle vierdimensionaler Polytope eindeutig
Kollegen heraus, ein entsprechendes im gleichen Maß zur Form des Poly­ bestimmen.
Beispiel zu finden, das seinen Stand­ eders beitragen. Die Winkel zwischen Daraufhin widmeten sich Mathema­
punkt beweise. längeren Kanten beeinflussen die Figur tiker der allgemeinen Fragestellung, ob
Nicht einmal ein Jahr später stellte stärker als solche entlang kürzerer Volumen und Dehn-Invariante ausrei­
ein Student von Hilbert, Max Dehn, Kanten. Daher führte Dehn für die chen, um die Scherenkongruenz in
zwei entsprechende Polyeder vor. Innenwinkel Gewichtungen ein, die jeder Dimension und Geometrie fest­
»Einige Kollegen spekulieren, dass von den dazugehörigen Kantenlängen zulegen. Besonders interessant er­
Hilbert dieses Problem nur in seine abhängen. Er konstruierte aus diesen schienen dabei Polytope, die in sphä­
Liste aufnahm, weil sein Student es Größen eine komplizierte Formel, rischen oder hyperbolischen Geome­
bereits gelöst hatte«, sagt Zakhare­ welche die Dehn-Invariante eines trien auftauchen, deren Seiten also
vich. Unabhängig davon, ob das Polyeders liefert. Kreisbögen, Hyperbeln oder anderen
zutrifft oder nicht: Dehns Ergebnis Damit konnte er zeigen, dass alle Kurven entsprechen.
wälzte die bisherige geometrische dreidimensionalen scherenkongruen­ Ende des 20. Jahrhunderts veröf­
Vorstellung vieler Mathematiker um. ten Polyeder das gleiche Volumen fentlichte der sowjetisch-US-amerika­
Er zeigte, dass ein Tetraeder nicht haben und zudem dehninvariant sind, nische Mathematiker Alexander Gon­
scherenkongruent zu einem Würfel das heißt die gleiche Dehn-Invariante charov, der heute an der Yale Uni­
gleichen Volumens ist. Egal, wie man besitzen. Allerdings gelang es ihm versity arbeitet, eine Vermutung, die
Ersteren zerschneidet, man wird nie in nicht, die umgekehrte Richtung der das Problem ein für alle Mal lösen
der Lage sein, ihn als Würfel wieder Aussage zu beweisen: nämlich dass sollte – und die Scherenkongruenz
zusammenzusetzen.  sich dehninvariante Polyeder gleichen dabei überraschenderweise mit einem

Spektrum der Wissenschaft  4.20 27


FORSCHUNG AKTUELL
völlig anderen Bereich der Mathematik zerlegen – so, wie man Polytope zer- aus geometrischen Zusammenhän­
verband. schneiden und neu zusammensetzen gen zu ergeben, ließe es sich durch
In der Mathematik verhält es sich kann. Für x2 + y2 + z2 = 1 bilden die eine ähnliche Berechnung mit Moti­
wie in der Natur, so Inna Zakharevich: Lösungen zum Beispiel die Oberfläche ven bestimmen.
»Man sieht im Wald einen Ring aus einer Kugel. Diese lässt sich wiederum Algebraische Gleichungen tauchen
Pilzen und fragt sich, warum sie genau in kleinere Bestandteile aufteilen, die in den verschiedensten mathemati­
so gewachsen sind. Um den Grund zu jeweils anderen Gleichungen entspre­ schen Disziplinen auf und zählen
erfahren, muss man graben: Dann chen. Die Kugeloberfläche enthält daher zu den bedeutendsten Objekten
erkennt man, dass sich unter der Erde etwa einen Kreis, den Äquator, der des Fachs. Auch wenn sie auf den
in Wirklichkeit nur ein Pilz befindet.« x2 + y2 = 1 löst. Andererseits kann man ersten Blick einfach anmuten, bergen
auch einen einzelnen Punkt wie den sie doch etliche Geheimnisse. Des­
Nordpol der Kugel betrachten, welcher halb erscheint die von Goncharov
Man kann auch alge- die Gleichung z = 1 darstellt.  vermutete Verbindung zu Polytopen
Indem man solche Untergraphen extrem verlockend: Einige komplizier­
braische Gleichun- untersucht, lässt sich einiges über die te algebraische Fragestellungen

gen in ihre Bestand- Eigenschaften der zu Grunde liegen­


den Struktur erfahren. Seit mehr als
könnte man dadurch in das einfacher
zu handhabende Reich der Geometrie
teile zerlegen! 50 Jahren arbeiten Mathematiker an
einer Theorie, die algebraische Glei­
verfrachten und dort lösen.

chungen auf diese Weise beschreibt. Was haben geometrische Formen


Goncharov vermutete, dass es in Sie gehen dabei davon aus, dass und Gleichungen gemeinsam?
der Mathematik eine ähnliche ver­ solche Gleichungen aus Grundbau­ Doch die Verbindung zwischen den
steckte Struktur gibt, die viele schein­ steinen, so genannten Motiven beste­ zwei Gebieten kann nur existieren,
bar verschiedenen Gebiete miteinan­ hen, ganz ähnlich wie Materie aus wenn die Dehn-Invariante tatsächlich
der verbindet. In einer Reihe von Hypo­ Atomen aufgebaut ist. Formen in scherenkongruente Grup­
thesen versuchte er 1996 meh­rere ma- Eine Kugel setzt sich zum Beispiel pen sortiert. Für drei- und vierdimen­
thematische Phänomene zu erklären, aus Kreisen, Punkten und Ebenen sionale Polytope trifft das zu, aber es
darunter auch die Scherenkongruenz.  zusammen. Indem man die Werkzeu­ könnte sein, dass einige höherdimen­
ge der Analysis auf die Elemente sionale dehninvariante Objekte glei­
Ein universelles mathematisches anwendet, stellt man fest, dass auch chen Volumens nicht scherenkongru­
Konzept diese wieder kleinere Bausteine ent­ ent sind. 
Eine der Annahmen besagt, dass das halten. Man kann die Zerlegung immer Seither versuchen Mathematiker zu
Volumen und die Dehn-Invariante aus- weiter fortführen, bis man schließlich beweisen, dass dieser Fall nicht
reichen, um in jeder Dimension und auf Motive trifft, die vermuteten eintreten kann. So auch Campbell und
geometrischen Umgebung zu bestim­ Grundbausteine algebraischer Glei­ Zakharevich, die im Juni 2018 drei
men, ob Polytope scherenkongruent chungen. Wochen lang am Institute for Advan­
sind. Goncharovs Vermutungen gehen Das Ziel lautet demnach, algebrai­ ced Study in Princeton, New Jersey,
noch viel weiter. Ihm zufolge ist die sche Gleichungen nach ihren Motiven zusammenarbeiteten. Das Problem
Scherenkongruenz ein universelles zu klassifizieren, also eine Art Perio­ der Scherenkongruenz und Goncha­
Konzept, das sich nicht bloß auf Po­ densystem zu schaffen, um einen rovs Vermutungen hatten beide
lytope anwenden lässt, sondern eben­ systematischeren Überblick zu erhal­ Forscher schon lange fasziniert.
falls für Graphen gilt, die Lösungen ten. Doch diese Aufgabe erweist sich Zakharevich ging aber davon aus,
algebraischer Gleichungen entspre­ als extrem schwierig und blieb bisher dass diese Mammutaufgabe niemals
chen, etwa x2 + y2 + z2 = 1. Das heißt, unvollendet.  in so kurzer Zeit zu bewältigen sei.
dass auch algebraische Gleichungen Goncharov vermutete in seiner 1996 Campbell wollte es trotzdem versu­
Merkmale besitzen, die sie nach ihren erschienenen Arbeit, dass die Eintei­ chen, und es gelang ihm schnell,
Grundbausteinen klassifizieren. lung von Polytopen in scherenkon- seine Kollegin zu überreden. 
Das war eine riesige Überraschung, gruente Typen und das Kategorisieren In der dabei entstandenen Arbeit
denn auf den ersten Blick haben beide algebraischer Gleichungen nach präsentierten die zwei Forscher ein
Gebiete nichts miteinander zu tun. Es Motiven zwei Seiten der gleichen Gedankenexperiment: Man stelle sich
wirkte etwa so, als ob das gleiche Prin­ Medaille sind. Wenn man es demnach ein Hotel mit extrem vielen Zimmern
zip, mit dem man Tiere in verschiede­ schafft, die eine Aufgabe zu bewälti­ vor. Dann platziert man alle scheren­
ne Taxonomien einordnet, es irgend­ gen, kann man damit ebenso das kongruenten Polytope im selben
wie erlauben würde, chemische Ele- andere Problem lösen. Dazu müsse es Raum. In Wirklichkeit weiß man nicht
mente zu kategorisieren.  in der Welt der algebraischen Glei­ genau, wie sich scherenkongruente
Tatsächlich lassen sich die Lösun­ chungen ein Analogon zur Dehn-Inva­ Objekte identifizieren lassen – das ist
gen einer polynomialen Gleichung riante geben, so Goncharov. Statt sich schließlich der Kern des Problems.

28 Spektrum der Wissenschaft  4.20


»Wir tun aber so, als gäbe es eine in den 1990er Jahren vermutet, doch Beilinson-Vermutungen zu beweisen,
allwissende Gestalt, die eine solche erst Campbell und Zakharevich konn­ lösen sie gleichzeitig das Problem der
Einordnung vornehmen kann«, erklärt ten diese in ihrer Arbeit beweisen – je­ Scherenkongruenz. 
Zakharevich. doch nur unter einem Vorbehalt. Das
Kevin Hartnett ist Wissenschaftsjournalist.
Nachdem die Sortierung vorgenom­ Ergebnis ihrer Arbeit hängt von einer
Er lebt in Columbia (South Carolina).
men ist, kann man überprüfen, ob alle anderen, noch unbewiesenen Hypo­
Polytope eines Raums das gleiche Vo- these ab. Diese hat mit einer der so ge­
QUELLEN
lumen und die gleiche Dehn-Invariante nannten Beilinson-Vermutungen zu
haben. Zudem muss man sicherstel­ tun, die beschreibt, wann gewisse Campbell, J., Zakharevich, I.: Hilbert’s
third problem modulo torsion and a con-
len, dass jedes dehninvariante Objekt Terme einer bestimmten Gleichung
jecture of Goncharov. arXiv 1910.07112,
mit gleichem Volumen auch wirklich null sind. 2019
im richtigen Raum gelandet ist. Das Der Aufsatz von Campbell und
Goncharov, A.: Volumes of hyperbolic
Ziel des Gedankenexperiments besteht Zakharevich genügt also leider noch
manifolds and mixed Tate motives.
darin, eine perfekte Eins-zu-eins-Über­ nicht, um die zwei Vermutungen von arXiv alg-geom/9601021, 1996
einstimmung zwischen scherenkon­ Goncharov zu beweisen: Dass
gruenten Polytopen und dehninvarian­ Dehn-Invariante und Volumen als Von »Spektrum der Wissenschaft« übersetz­
ten Polytopen gleichen Volumens zu charakteristische Größen ausreichen, te und bearbeitete Fassung des Artikels
finden. Kann man beweisen, dass eine um scherenkongruente Polytope zu »Mathematicians Cut Apart Shapes to Find
solche Abbildung zwischen beiden klassifizieren und dass sich auch Pieces of Equations« aus »Quanta Magazi­
ne«, einem inhaltlich unabhängigen Magazin
Gruppen existiert, dann genügen algebraische Gleichungen durch ein
der Simons Foundation, die sich die Verbrei­
Volumen und Dehn-Invariante tatsäch­ Analogon der Dehn-Invariante gemäß tung von Forschungsergebnissen aus
lich, um scherenkongruente Polytope ihrer Motive einordnen lassen. Doch Mathematik und den Naturwissenschaften
zu identifizieren. nun haben Mathematiker einen neuen zum Ziel gesetzt hat.
Goncharov hatte eine solche Anhaltspunkt, um die Aufgabe anzu­
Eins-zu-eins-Übereinstimmung bereits gehen: Wenn es ihnen gelingt, die

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FORSCHUNG AKTUELL
ASTROPHYSIK
REKORDEXPLOSION LÜFTET
GEHEIMNIS DER GAMMABLITZE
Wie entsteht die besonders energiereiche Strahlung von kosmi-
schen Strahlenausbrüchen? Nun gibt es eine Antwort.


Gammablitze setzen binnen einer gewaltigen Explosionen. Denn ihre servatorien am Erdboden konnten den
Sekunde so viel Energie frei wie Energie wird nicht gleichmäßig, son­ Punkt am Firmament ins Visier neh­
unsere Sonne während ihrer dern eng gebündelt in Form zweier men. Eine besondere Rolle fiel dabei
gesamten rund zehn Milliarden Jahre gegenläufiger Strahlungsbündel einem Teleskopduo namens MAGIC
währenden Existenz. Die Strahlung abgegeben. Nur wenn ein solcher Jet zu, das auf der Kanarischen Insel La
hat dabei eine viel kürzere Wellenlänge in Richtung Erde zeigt, kriegen wir Palma steht. Die Major Atmospheric
als sichtbares Licht – entsprechend etwas von dem Ausbruch mit. Gamma-Ray Imaging Cherenkov
trägt ein Quant Gammastrahlung So war es am 14. Januar 2019. Im Telescopes sind auf besonders ener­
deutlich mehr Energie als ein gewöhn­ südlichen Sternbild Fornax leuchtete giereiche Gammastrahlung speziali­
liches Lichtteilchen. plötzlich eine neue Quelle im Gamma­ siert, die billionenfach energiereicher
Ein Teil der extremen Ereignisse licht auf; um 21:57:03 Uhr mitteleuro­ ist als das für Menschen sichtbare
geht auf kollidierende Neutronenster­ päischer Zeit schlugen die NASA-Sa­ Licht. Experten sprechen vom Tera­
ne zurück (siehe »Spektrum« Januar telliten Swift und Fermi Alarm. Zwar elektronvolt-Bereich (TeV), in den
2018, S. 58). Hierbei flackert die Quelle war der Blitz, den sie aufgespürt Strahlung mit einer Energie von rund
nur für ein oder zwei Sekunden am hatten, nach weniger als einer Minute einer Billion Elektronvolt fällt.
Nachthimmel auf. Dauern die Explo­ wieder verblasst. Doch manchmal
sionen hingegen mehr als ein paar folgt auf ihn weniger helle Strahlung, Strahlung von einem extremen Ort
Sekunden, steckt vermutlich der die sich über einen weiten Wellenlän­ Sie entsteht in erster Linie an extre­
Kollaps besonders großer Sterne genbereich des elektromagnetischen men Orten, an denen Teilchen auf
dahinter. Spektrums erstreckt. Dieses Nach­ gewaltige Geschwindigkeiten be­
Nun haben Forscher entschlüsselt, leuchten kann Minuten, Stunden oder schleunigt werden. Beispiele sind die
wie die Strahlung dieser »langen« Tage sichtbar bleiben. Überreste von Supernova-Explosionen
Gammastrahlenausbrüche überhaupt So war es auch bei GRB190114C. und die Kernregion mancher Galaxien,
entsteht – seit 15 Jahren eine der Insgesamt sechs Satelliten und 15 Ob­ in denen Schwarze Löcher Materie
offenen Fragen der Astrophysik. wild umherschleudern.
Offenbar spielt dabei ein bislang Eigentlich müssten auch Gam­
vernachlässigter physikalischer Pro­ Wenn ein Riesenstern kolla- mastrahlenausbrüche TeV-Strahlung
zess eine Schlüsselrolle. Er kann biert, feuert er zwei Strahlen- freisetzen. Bisher hatten irdische In-
Lichtteilchen auf Rekordenergien bündel ins All (Illustration). strumente bei den Ereignissen jedoch
beschleunigen, wie die Wissenschaft­ Diese Gammablitze erreichen nur Gammastrahlung mit einer Energie
ler um Razmik Mirzoyan vom Münch­ manchmal die Erde. von wenigen Milliarden Elek­tronvolt
ner Max-Planck-Institut für Physik
berichten.
ICRR UTOKYO/NAHO WAKABAYASHI

Die Strahlungsausbrüche, im Engli­


schen »gamma-ray bursts« (GRB)
genannt, wurden in den 1960er Jahren
von Satelliten entdeckt, die eigentlich
sowjetische Atombombentests auf­
spüren sollten. Heute registrieren
Forschungssatelliten die Ereignisse
beinahe täglich. Die Ausbrüche setzen
so viel Strahlung frei, dass spezielle
Messinstrumente sie auch aus Milliar­
den Lichtjahren Entfernung noch klar
nachweisen können.
Vermutlich entdeckt die Mensch­
heit aber nur einen kleinen Teil der

30 Spektrum der Wissenschaft  4.20


SERGI LUQUE/ESPAI ASTRONOMIC

Die beiden MAGIC-Teleskope auf in GRBs überhaupt entsteht. Bisher besondere Form des Spektrums. Die
La Palma können extrem energierei- gab es lediglich Belege für einen ein- Beobachtungen von GRB190114C
che Strahlung aus dem Weltall zigen physikalischen Prozess: Dem­ durch viele verschiedene Teleskope
nachweisen. nach entstehen Gammaquanten, wenn und die Sichtung der TeV-Strahlung
sich freie Elektronen auf gekrümmten mit MAGIC liefern nun aber den ein­
Bahnen durch Magnetfelder bewegen. deutigen Beleg: Der SSC-Prozess spielt
aufgefangen, Forscher sprechen von Diese Synchrotronstrahlung wurde eine entscheidende Rolle beim
Gigaelektronvolt- oder GeV-Strahlung. zuerst an kreisrunden Teilchenbe­ GRB-Nachleuchten.
Weder MAGIC noch ein anderes schleunigern entdeckt, mittlerweile ist Die Forscher sind sich auch deshalb
Teleskop war hingegen im obersten sie eine Art Allzweckwaffe zur Erklä­ sicher, weil ein anderer Gammablitz
Bereich der Energieskala fündig ge­ rung energiereicher Strahlung aus ebenfalls auf den SSC-Prozess hindeu­
worden – bis zum 14. Januar 2019. Da dem All – schließlich kommen Mag­ tet. Dieser GRB180720B war ein halbes
spürten die beiden Teleskope eindeu­ netfelder und geladene Teilchen dort Jahr zuvor, am 20. Juli 2018, im Stern­
tige Spuren von Lichtteilchen mit in vielen Regionen vor. bild Fische aufgeflammt. Hier war es
Energien zwischen 0,1 und 1 TeV auf. Doch bei rund 100 GeV liegt eine nicht MAGIC, sondern ein vergleichba­
Zu verdanken hatten die Forscher natürliche Grenze für Synchrotron­ res Projekt in Namibia, das auf den
dies der Konstruktionsweise von strahlung. Elektronen können sich Alarm reagierte.
MAGIC: Die beiden Teleskope können schlicht nicht schnell genug bewegen, Anders als ihre Kollegen auf La
trotz eines Gewichts von jeweils um Lichtteilchen mit noch höherer Palma konnten die Forscher von
64 Tonnen in kürzester Zeit auf neue Energie zu produzieren. Schwerere H.E.S.S. (High Energy Stereoscopic
Himmelsobjekte schwenken. So Partikel wie die Atomkerne des Was­ System) ihre fünf Teleskope jedoch
hatten die Forscher GRB190114C serstoffs erreichen zwar höhere Ener­ erst zehn Stunden nach dem Alarm auf
bereits 27 Sekunden nach dem ersten gien, erzeugen aber zu wenig Synchro­ die Quelle richten. Das Nachglühen
Alarm im Blick und konnten die Quelle tronstrahlung. Eine Alternative bietet war zu diesem Zeitpunkt bereits stark
20 Minuten lang beobachten. ein physikalischer Prozess, bei dem verblasst. Aber zur Überraschung der
Der Nachweis der Strahlung erfolg­ Elektronen den Lichtteilchen aus der Forscher registrierte das Team um
te dabei über einen Umweg: Kein Synchrotronstrahlung einen zusätzli­ Edna Ruiz-Velasco vom Max-Planck-In­
Gammaquant schafft es bis zum chen Kick geben, wodurch Letztere stitut für Kernphysik in Heidelberg
Erdboden, da die Strahlungsteilchen auf TeV-Energien kommen können. trotzdem einige TeV-Gammaphotonen,
von Luftmolekülen absorbiert werden. deren Energie über der kritischen
Deshalb verwendet MAGIC die Atmo­ Ein Kick für das Licht Schwelle für den SSC-Prozess lag.
sphäre selbst als Detektor. Seine Hinweise darauf, ob dieser Synchro­ Sehr wahrscheinlich handelt es sich
Kameras registrieren ultrakurze Licht­ tron-Selbst-Compton-Mechanismus bei den von MAGIC und H.E.S.S.
blitze, die entstehen, wenn ein Gam­ (SSC) bei GRBs eine Rolle spielt, kann aufgefangenen Blitzen nicht um Einzel­
maquant bei der Absorption eine vor allem das Energiespektrum liefern, fälle. Doch auch wenn alle Strahlen­
Lawine geladener Teilchen lostritt. mit dem Astrophysiker die Häufigkeit ausbrüche TeV-Licht freisetzen, müs­
Diese Tscherenkow-Lichtblitze sind von Strahlung mit verschiedenen sen mehrere günstige Umstände
extrem schwach und währen nur Energien darstellen. Laut SSC-Modell zusammenkommen, damit man sie mit
Sekundenbruchteile, zu kurz für das müsste das Spektrum beim Nach­ den heutigen Geräten nachweisen
menschliche Auge. Aber die MAGIC-­ leuchten eines GRB die Form eines kann. So muss das Teleskop im ent­
Teleskope können sie nach­weisen – Doppelhöckers aufweisen. Es sollte scheidenden Moment bei einem klaren
und letztlich die Eigenschaften des also neben vielen eher energiearmen und dunklen Himmel an die richtige
Gammastrahlungsteilchens rekon­ Gammaphotonen aus der Synchro­ Stelle blicken.
struieren. tronstrahlung auch jede Menge vom Der Blitz muss außerdem verhält­
Im Fall von GRB190114C klappte das SSC-Prozess angeschubste TeV-Licht­ nismäßig hell sein und genügend
ausgezeichnet. Doch der Fund wirft teilchen geben. In der Vergangenheit TeV-Photonen zur Erde schicken, denn
die Frage auf, wie genau die Strahlung gab es bereits Hinweise auf diese die Empfindlichkeit der Instrumente ist

Spektrum der Wissenschaft  4.20 31


FORSCHUNG AKTUELL
begrenzt. Und schließlich muss sich strahlung, der das Gammalicht im All trum« November 2019, S. 12). Statt
die Explosion vergleichsweise nah an abschwächt – und zwar umso mehr, je nur zwei werden hier dann dutzende
der Erde ereignen. Das war vor allem energiereicher die Strahlung ist. spezielle Teleskope in den Nachthim­
bei dem von MAGIC beobachteten Das erklärt, warum die Bestätigung mel schauen. 
GRB190114C der Fall. Er zählt zu den des theoretisch schon lange vermute­
Jan Hattenbach ist Physiker und Wissen­
50 am nächsten gelegenen GRBs, ten SSC-Prozesses bis jetzt gedauert
schaftsjournalist auf La Palma.
obwohl sein Licht rund 4,5 Milliarden hat. Doch bald könnten vergleichbare
Jahre zu uns unterwegs war und damit Beobachtungen Alltag werden: In QUELLEN
aus einer Zeit stammte, als das Son­ unmittelbarer Nachbarschaft zu den Abdalla, H. et al.: A very-high-energy
nensystem gerade im Entstehen beiden MAGIC-Teleskopen auf La component deep in the -ray burst
begriffen war. Wäre die Distanz größer Palma entsteht derzeit der nördliche afterglow. Nature 575, 2019
gewesen, hätte MAGIC wohl wie in so Standort des Cherenkov Telescope MAGIC Collaboration: Observation of
vielen Fällen zuvor nichts gesehen. Arrays (CTA), des TeV-Observatoriums inverse Compton emission from a long
Schuld ist ein »Nebel« aus Infrarot­ der nächsten Generation (siehe »Spek­ -ray burst. Nature 575, 2019

CHEMIE
REAKTIONSVORHERSAGE MIT KI
Erstmals sagt eine künstliche Intelligenz nur anhand der 2-D-Struktur von
Molekülen das genaue Ergebnis einer chemischen Reaktion voraus.


Was kommt heraus, wenn Mole­ den, muss eine passende Andockstelle bei einfachen Ausgangssubstanzen
kül A mit Molekül B reagiert? Bei beim Partner vorliegen. Und wenn angekommen ist. Mit diesen als Start­
einfachen Stoffen genügt man­ zwei komplexe Moleküle miteinander punkt wird das Molekül Schritt für
chen Chemikern ein Blick auf die in Kontakt kommen, von denen jedes Schritt mittels bereits bekannter Reak­
zweidimensionale Skizze der beteilig­ verschiedenste Atomgruppen trägt, tionen zusammengebaut. Seglers
ten Partner, und die Antwort ist klar. gibt es noch viel mehr Kombinations­ System hat fast 12,5 Millionen Reaktio­
Je komplizierter die Strukturen aber möglichkeiten. Dazu kommt, dass sich nen gelernt und ermittelt mit diesen
werden, desto vielfältiger sind die die Reaktionsvorliebe mit den Bedin­ Informationen passende Retrosynthe­
Möglichkeiten, miteinander zu reagie­ gungen ändert: In saurer Umgebung sen – innerhalb von Minuten. Der
ren, so dass die Vorhersage schwieri­ beispielsweise kann sich ein Molekül Chemiker vergleicht sein Programm in
ger wird. Hinzu kommen unzählige möglicherweise ganz anders verhalten Vorträgen gern mit einem Navigations­
Parameter, die den Ausgang ebenfalls als im Alkalischen. gerät, das einen zuverlässig ans Ziel
beeinflussen, wie etwa das verwende­ führt. Mit Karten zu navigieren, sei zwar
te Lösungsmittel, Katalysatoren, weite­ Retrosynthese: Vom Ziel zum Start möglich, aber lange nicht so bequem.
re zugesetzte Stoffe, der pH-Wert, die In den letzten Jahren hat die automati­ Diese Systeme lernen Muster –
Temperatur, Reaktionsdauer und vieles sche Reaktionsvorhersage zahlreiche wenn eine bestimmte Atomgruppe
mehr. Eine Reaktionsvorhersage zu Fortschritte gemacht. So hat die Firma vorhanden ist, kann sie auf gewisse
machen, wird daher schnell recht IBM 2018 ein intelligentes System Weise reagieren. Sie betrachten aber
unübersichtlich. Ganz zu schweigen veröffentlicht, das basierend auf der nur Einsatzstoffe und Endprodukte,
von einer Abschätzung, zu welchem zweidimensionalen Struktur der betei­ ohne zusätzliche Faktoren wie etwa das
Anteil sich der gewünschte Stoff wohl ligten Stoffe das wahrscheinlichste Lösungsmittel oder den Katalysator zu
bilden wird und in welchem Verhältnis Produkt voraussagt. Den umgekehrten berücksichtigen. Daher können die
die verschiedenen Produkte zueinan­ Weg geht eine künstliche Intelligenz Systeme eines noch nicht: Reaktionen
der entstehen. (KI), die eine Gruppe um Marwin quantitativ vorhersagen, also angeben,
Für Computermodelle ist der ge­ Segler, heute bei einem Start-up in wie viel des gewünschten Produkts
naue Ausgang einer Reaktion ebenfalls Großbritannien, 2018 entwickelt hat: sich bildet (die Ausbeute) und in wel­
relativ schwer vorherzusagen. Selbst Sie schlägt ausgehend von einer chem Mengenverhältnis es zu eventuel­
ein recht einfaches organisches Mole­ Zielsubstanz verschiedene Routen vor, len Nebenprodukten entsteht (die
kül kann an verschiedenen Stellen auf um diese herzustellen. Retrosynthese Selektivität). Man erfährt durch sie also
unterschiedliche Weise reagieren. Wo nennen Fachleute diese Vorgehens­ nichts darüber, ob die Mischung, die
die Reaktion stattfindet, hängt wieder­ weise, bei der man das gewünschte man durch eine Reaktion erhält, zu
um teils vom Reaktionspartner ab – Molekül so lange gedanklich in immer 99 Prozent das Zielmolekül enthält oder
denn damit die Stoffe zusammenfin­ kleinere Bestandteile zerlegt, bis man vielleicht zur Hälfte unbrauchbar ist.

32 Spektrum der Wissenschaft  4.20


Ebenso wenig kann man mit Hilfe der Zu wissen, welches dieser Enantiome­ nieren, ist im Vorfeld eine Menge
Systeme abschätzen, wie sich Ausbeu­ re sich bildet, ist wichtig, denn oft hat Rechenaufwand nötig. Statt die Struk­
te und Selektivität ändern, wenn man nur eine Form die gewünschten Eigen­ turformeln der beteiligten Stoffe füttert
Lösungsmittel, Katalysatoren oder schaften. man ihnen nämlich Daten zu verschie­
andere Faktoren variiert – Informatio­ denen physikalischen Eigenschaften,
nen, die entscheidend sind, wenn man Wer Prognosen will, muss rechnen die das Reaktionsverhalten bestimmen:
etwa die optimalen Bedingungen für So sind medizinische Wirkstoffe in der elektronische Parameter und Angaben
eine Reaktion sucht. »falschen« Spiegelvariante häufig zur Geometrie der Moleküle, die vorab
Um darüber etwas herauszufinden, unwirksam oder haben sogar schlim­ aufwändig aus deren dreidimensionaler
muss man einen anderen Weg gehen, me Effekte. Eine Gruppe um Scott E. Struktur kalkuliert werden. Die quan­
der allerdings recht aufwändig ist. Eine Denmark von der University of Illinois tenmechanischen Berechnungen
Forschergruppe um Abigail Doyle von schuf Anfang 2019 die erste KI, die dauern umso länger, je größer und
der Princeton University in den USA Enantioselektivitäten verschiedener komplexer die untersuchten Moleküle
ermittelte 2018 mit Hilfe maschinellen Katalysatoren vorhersagt und angibt, sind. Reid und Sigman etwa erstellten
Lernens, wie sich die Ausbeute einer in welchem Verhältnis die spiegelbildli­ für ihre KI einen Trainingssatz mit
speziellen Reaktion (einer Buchwald- chen Produktvarianten entstehen. 367 einzelnen Reaktionen. Für jede
Hartwig-Aminierung) verändert, wenn Allerdings funktionierte die Prognose davon mussten sie mehrere Berechnun­
man unterschiedliche Zusatzstoffe nur für einen speziellen Reaktionstyp. gen durchführen, um alle beteiligten
hinzugibt. Im nächsten Jahr, 2019, Einige Monate später veröffentlichten Komponenten inklusive der jeweiligen
wurden kurz hintereinander zwei Jolene P. Reid und Matthew S. Sigman Varianten der Gestalt (der so genannten
intelligente Systeme vorgestellt, die von der University of Utah das erste Konformation) zu beschreiben.
die so genannte Enantioselektivität Modell, das dank eines Tricks in der Jetzt hat eine Gruppe um Frank
von Reaktionen berechnen. Viele Lage ist, die Vorhersage auf ein relativ Glorius von der Universität Münster
Stoffe kommen in spiegelbildlichen breites Spektrum an Reaktionen zu jedoch einen Weg gefunden, diesen
Varianten vor, die miteinander nicht zur übertragen – ein großer Fortschritt. Schritt zu umgehen. Wenn Menschen
Deckung gebracht werden können – Die so arbeitenden KI haben jedoch anhand der zweidimensionalen Mole­
wie eine linke und eine rechte Hand. denselben Haken: Damit sie funktio­ külstruktur auf Eigenschaften wie die

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Reaktivität schließen können, dann und an jedem Atom gedanklich spal­ chemische Fragestellungen übertragbar
müsse dies mit den richtigen Informa­ ten, so dass man viele Molekülfrag­ sei, so die Autoren der Studie. Und
tionen doch auch für eine KI möglich mente erhält, die jeweils einen eigenen sie benötigten dazu nur einen Bruchteil
sein, so die Hypothese der Chemiker. Fingerprint besitzen. Die Kombination der Rechenleistung, weil das aufwän­
Und tatsächlich haben sie die erste aller dieser Informationsstränge ergibt dige Kalkulieren von Daten im Vorfeld
künstliche Intelligenz geschaffen, die den gesamten Fingerprint. Andere wegfiel.
allein auf Grund der zweidimensiona­ Methoden betrachten beispielsweise Wie würde die Rechenmaschine aber
len Strukturformeln – Fachleute spre­ die jeweils nächsten Nachbarn eines abschneiden, wenn sie mit einem realen
chen von Lewis-Formeln – angibt, wie Atoms innerhalb eines gewissen Problem aus dem Labor konfrontiert
hoch die Ausbeute am gewünschten Abstands. würde statt mit Daten, die auf maschi­
Produkt ausfällt und wie sich die Enan- nelles Lernen zugeschnitten waren? Für
tiomere verteilen. Ihre Vorhersage sei Wer bin ich, und wenn ja, wie viele? diesen Praxistest zogen die Münstera­
ebenso genau wie die Abschätzung Für das Reaktionsverhalten sind aber ner Informationen aus einem Experi­
mittels aufwändiger 3-D-Daten, schrei­ viele verschiedene Parameter wich­ ment heran, bei dem eine Arbeitsgrup­
ben die Forscher in ihrer Veröffentli­ tig – nicht nur das Vorhandensein einer pe die besten Reaktionsbedingungen
chung, die frei über den Preview-Ser­ bestimmten chemischen Gruppe, und den geeignetsten Katalysator für
ver ChemRxiv zugänglich ist. Und sie sondern ebenso ihr Platz im Molekül eine bestimmte Umwandlung gesucht
ist, anders als die bisherigen Systeme, oder ihre direkten Nachbarn. Weil jede hatte – eine klassische Fragestellung im
auf ein breites Spektrum chemischer Methode immer nur einen Teil dieser Labor, bei der viele Variablen im Spiel
Umwandlungen anwendbar. Informationen enthält, nutzten die sind. In einem so genannten High‑­
Der Maschine die nötigen Kompe­ Chemiker der Universität Münster für throughput‑Screening hatten Chemiker
tenzen beizubringen, war nicht trivial. jeden Stoff eine Kombination aus insgesamt 1536 Reaktionen in winzigem
Zunächst übersetzten die Chemiker die 24 unterschiedlichen Fingerprints, um Maßstab durchgeführt und per Flüssig­
Strukturformeln in eine Sprache, die die Moleküle so allumfassend wie keitschromatografie den Umsatz jedes
das lernende System versteht: eine möglich zu beschreiben. Experiments bestimmt. Von den 16 ge­
Schreibweise für Moleküle, die in der Damit hofften sie, möglichst viele testeten Katalysatoren nutzten die
Computerchemie seit Langem exis­ unterschiedliche Stoffe miteinander Münsteraner 12, um ihre KI zu trainie­
tiert. Daraus generierten sie verschie­ vergleichen zu können. Zunächst ren. Auf dieser Basis sagte sie die
dene so genannte Fingerprints für ließen sie ihre KI daher grundlegende Umsetzungsraten für die verbleibenden
jedes Molekül, einen binären Code, der Eigenschaften von 2900 Chemikalien vier ihr unbekannten Katalysatoren
strukturelle Informationen über die vorhersagen, die sich strukturell stark korrekt voraus.
Substanz enthält (aus dem man aber unterschieden. Konkret sollte das »Ich freue mich auf eine Zukunft, in
nicht mehr ohne Weiteres auf die System abschätzen, wie groß die der das mühsame Ausprobieren im
Energie ist, die die Elektronen inner­ Labor entfällt und Chemikerinnen und
halb eines Moleküls aufbringen müs­ Chemiker nur noch erfolgreiche Reakti­
Die Vorhersage ist sen, um in jenen angeregten Zustand onen durchführen«, schrieb der schwe­

ebenso genau wie die zu springen, den sie für die Reaktion
benötigen. Vergleichbare quantenme­
dische Chemiker Per-Ola Norrby 2019
im Fachmagazin »Nature«. Bis dahin
mittels 3-D-Daten chanisch ermittelte Werte für diese
Energien, wiederum aus den Arbeiten
wird es vermutlich noch eine Weile
dauern, doch die nächsten Überra­
von Doyle und Denmark, speisten die schungen auf dem noch neuen For­
Struktur selbst schließen kann). Es gibt Chemiker für 70 Prozent der Moleküle schungsfeld werden bestimmt nicht
zahlreiche Möglichkeiten, solche als Trainingsdaten in das System ein. lang auf sich warten lassen. 
molekularen Fingerprints zu erstellen: Mit diesem Datensatz lernte die KI, die Verena Tang ist Chemikerin und Redakteurin
So kann man das Molekül beispiels­ gesuchten Energien für die unbekann­ bei »Spektrum der Wissenschaft«.
weise danach klassifizieren, ob es eine ten Stoffe korrekt zu berechnen.
Reihe vorab definierter struktureller Anhand derselben Moleküle, wie QUELLEN
Merkmale trägt. Ist ein Merkmal sie die Gruppen um Doyle und Den­
Ahneman, D. T. et al.: Predicting reaction
vorhanden, etwa eine OH-Gruppe, mark verwendet hatten, testeten die performance in C–N cross-coupling using
codiert das System das mit 1, ist es Wissenschaftler daraufhin die Fähig­ machine learning. Science 360, 2018
nicht vorhanden, steht an dieser Stelle keit ihrer KI zur quantitativen Progno­
Reid, J. P., Sigman, M. S.: Holistic predic-
eine 0. So erhält man einen Zahlen­ se. Und tatsächlich schnitt das neu tion of enantioselectivity in asymmetric
code, dessen Länge von der Anzahl entworfene System sowohl in puncto catalysis. Nature 571, 2019
der getesteten funktionellen Gruppen Ausbeute als auch hinsichtlich Selekti­
Sandtfort, F. et al: A structure-based
abhängt. vität besser ab als das jeweilige Ver­ platform for predicting chemical reacti­
Ebenso kann man ein Molekül gleichssystem. Dieses Ergebnis zeige, vity. ChemRxiv, 2019 10.26434/chemr­
entlang seiner Bindungen »ablaufen« dass ihr Ansatz auf verschiedene xiv.9981488.v1

34 Spektrum der Wissenschaft  4.20


SPRINGERS EINWÜRFE
ERKENNTNISTHEORIE
DER HUMMEL
Das schwerfällig anmutende Fluginsekt verfügt
über eine Fähigkeit, die man bisher nur bei Wirbel-
tieren vermutet hat: Sinneskanäle zu verknüpfen.

Michael Springer ist Schriftsteller und Wissenschaftspublizist. Eine


neue Sammlung seiner Einwürfe ist 2019 als Buch unter dem Titel
»Lauter Überraschungen. Was die Wissenschaft weitertreibt« erschienen.

 spektrum.de/artikel/1706908

W
ir haben kein Problem damit, einen Gegen- Bruchteil der Neurone eines Wirbeltierhirns verfügt,
stand, dessen Aussehen wir kennen, mit interne Repräsentationen eines Gegenstands schaffen
Hilfe des Tastsinns zu identifizieren. Blind- kann. In einem Kommentar spekulieren die Zoologen
lings stöbern wir in unserer Tasche den Gerhard von der Emde von der Universität Bonn und
richtigen Schlüssel auf. Die Fähigkeit der »multimoda- Theresa Burt de Pereira von der University of Oxford
len Objekterkennung« ist nicht nur dem Menschen über zwei Möglichkeiten: Entweder erzeugt das
eigen. Das erkenntnisfördernde Zusammenwirken von Hummel­hirn aus relativ wenigen Sinnesdaten wirklich
Seh- und Tastsinn wurde auch schon bei Affen und gleich eine mentale Gestalt von Würfel und Kugel, wie
Ratten nachgewiesen. Als Voraussetzung dafür galt man das bisher nur höheren Wirbeltieren zugetraut
bisher ein komplex ausdifferenziertes Gehirn, das hat, oder der kreuzmodale Transfer zwischen Tast- und
mentale Bilder des gesuchten Objekts zu generieren Sehsinn findet nur von Fall zu Fall auf einer niederen
vermag. Ebene von Nervenverbindungen statt. Für Letzteres
Doch jetzt kam ein Team um die Biologin Cwyn spricht der eher geringe Organisationsgrad der
Solvi von der Queen Mary University of London auf die Hummel­neurone. Dennoch, irgendeine Repräsentation
Idee, Hummeln darauf zu testen, ob auch ihr winziges von Objekteigenschaften muss es geben (Science 367,
Gehirn im Stande sei, Gegenstände multimodal zu S. 850–851, 2020).
repräsentieren. Die neuronalen Verschaltungen der

E
Tiere waren in der Vergangenheit mehrfach für Über­ in spannender Nebenaspekt solcher Überlegun-
raschungen gut, etwa hinsichtlich ihrer Wahrnehmung gen ist, dass Hirnforscher das Gewahrwerden
elektrischer Felder von Blüten (siehe Artikel S. 60). mentaler Bilder von Objekten üblicherweise für
Solvi brachte zwei Gruppen der Insekten nun mit Hilfe eine mehr oder weniger mit Bewusstsein asso­
belohnenden Zuckerwassers bei, kleine Würfel von ziierte Leistung halten. Heißt das, man muss der
gleich großen Kügelchen zu unterscheiden. Nun der Hummel einen wenn auch noch so geringen Grad von
Clou: Die eine Gruppe musste in absoluter Dunkelheit Innenleben zubilligen?
nur mit Hilfe des Tastsinns zurechtkommen, die andere Die Antwort auf die Frage hängt sehr davon ab, was
durfte die Objekte hingegen sehen, aber nicht berüh- man unter Bewusstsein verstehen will. Letztlich kann
ren (Science 367, S. 910–912, 2020). ich auf das Befinden eines anderen nur über dessen
Tatsächlich konnten die Hummeln danach von Verhalten schließen, und je näher mir ein Organismus
ihrem rein haptisch beziehungsweise rein visuell in der Evolutionsgeschichte steht, desto eher bin ich
erworbenen Wissen über den süßen Unterscheid bereit, ihm ein halbwegs verwandtes Wesen zuzuge-
zwischen Kugel und Würfel auch in der jeweils ande- stehen. Der treue Augenaufschlag eines Hundes kann
ren Sinnesmodalität profitieren. Das mit dem Tastsinn seinen Halter fast menschlich anmuten.
Erlernte übertrug sich auf später bloß optisch darge­ Sich in das Leben einer Hummel einzufühlen, fällt
botene Objekte, und umgekehrt. Das heißt, den Tieren uns hingegen schwer, denn die Bewegungen von
gelingt es irgendwie, von den jeweiligen Eindrücken zu Insekten wirken so programmiert und mechanisch, als
abstrahieren und diese zu einem multimodalen Bild wären sie kleine Roboter – und schon landen wir bei
von »kugelig« versus »würfelig« zu vereinen. Die der Kontroverse, ob es jemals maschinelles Bewusst-
Forscher rätseln nun, wie ein Insekt, das nur über den sein geben kann.

Spektrum der Wissenschaft  4.20 35


HIRNIMPLANTATE
DIE INTENTIONSMASCHINE
Querschnittsgelähmten wieder zu selbstständigen
Bewegungen verhelfen – das sollen Neuroprothesen
ermöglichen. Eine neue Generation von Gehirn-Computer-
Schnittstellen könnte den Durchbruch bringen.

Richard Andersen ist Physiologe und Professor für Neurowissenschaften sowie Direktor
des Tianqiao and Chrissy Chen Brain-Machine Interface Center am California Institute of
Technology in Pasadena (USA). Seine Arbeitsgruppe forscht über die neuronalen Grundlagen
SETH HANSEN FÜR CALTECH

der Sinneswahrnehmungen sowie der Motorik und entwickelt neuronale Prothesen.

 spektrum.de/artikel/1706910


Wenn ich es sehe, bekomme ich jedes Mal eine Gänse- lich einfache, in Wirklichkeit aber hochkomplexe Aufgabe
haut: Ein gelähmter Proband steuert vom Rollstuhl aus bewältigte.
einen Computer oder einen Roboterarm ausschließlich Wie lässt sich eine mechanische Prothese per Gedanken-
kraft seiner Gedanken – ermöglicht durch eine Schnittstelle kraft steuern? Tag für Tag bewegen wir unsere Gliedmaßen,
zwischen Mensch und Maschine, kurz BCI (brain-computer ohne darüber nachzudenken. Das sollte genauso problemlos
interface) oder BMI (brain-machine interface) genannt. mit künstlichen Prothesen möglich sein. Schon seit Jahr-
Im Jahr 2013 saß Erik Sorto, der seit seinem 21. Lebens- zehnten versuchen daher Neurowissenschaftler, die Hirnsig-
jahr wegen einer Schussverletzung vollständig gelähmt ist, nale zu entschlüsseln, mit denen wir Bewegungen initiieren
in meinem Labor und konnte zum ersten Mal seit zehn und Objekte ergreifen – lange nur mit mäßigem Erfolg.
Jahren wieder selbstständig ein Bier trinken. Ein Jahr zuvor Inzwischen haben wir bessere Methoden entwickelt, um die
hatten wir ihm Elektroden in seine Hirnrinde implantiert, um Kakophonie elektrischer Aktivitäten anzuzapfen, die während
die Bewegungssignale des Gehirns zu registrieren und an der Kommunikation unserer fast 100 Milliarden Hirnzellen
einen elektromechanischen Arm weiterzuleiten. Dieser entsteht. Eine neue Generation von BCIs verspricht nun, dem
ergriff die Bierdose und führte sie an Sortos Lippen. Faszi- Ziel einer effektiven Kommunikation zwischen Mensch und
niert beobachteten wir, wie unser Proband diese vermeint- Maschine näherzukommen.
Es gibt zwei Hauptklassen solcher Schnittstellen. Bei der
einen überträgt ein einspeisendes Gerät ein externes Signal
mittels Elektrostimulation an ein neuronales Netzwerk im
SERIE
Gehirn. Diese Technik wird schon erfolgreich angewendet.
Das menschliche Gehirn So stimuliert ein Cochleaimplantat den Hörnerv bei einem
Teil 1: Februar 2020 Schwerhörigen, und eine tiefe Hirnstimulation der Basalgan-
Was ist Bewusstsein? glien mildert motorische Störungen wie das Zittern bei
Christof Koch einem Parkinsonpatienten. Geräte zur Stimulation der Netz-
Unsere inneren Universen haut für Blinde werden derzeit klinisch getestet.
Anil K. Seth Auslesende BCIs, die neuronale Aktivitäten aufzeichnen,
Teil 2: März 2020 befinden sich dagegen noch im Entwicklungsstadium. Recht
Das Netzwerk des Geistes grobkörnige Verfahren hierzu gibt es bereits: Ein Elektroenze-
Max Bertolero und Danielle S. Bassett phalogramm (EEG) misst die durchschnitt­liche Aktivität des
Ein Schaltplan fürs Gehirn Hirngewebes in einer Distanz von einigen Zentimetern. Dabei
Sarah DeWeerdt
registriert es allerdings lediglich die aufsummierten Signale
Teil 3: April 2020 von vielen Millionen Neuronen und nicht etwa die einzelner
Die Intentionsmaschine Hirnzellen in einem bestimmten Netzwerk. Die funktionelle
Richard Andersen
Magnetresonanztomografie (fMRT) erlaubt indirekte Mes-
Der freie Wille und die Algorithmen sungen, indem sie den verstärkten Blutfluss in einer neuro-
Liam Drew
nal aktiven Region erfasst. Sie kann zwar kleinere Zonen
abbilden als das EEG, besitzt jedoch immer noch eine ziem-

36 Spektrum der Wissenschaft  4.20


Eine Gehirn-Computer-
Schnittstelle kann Signale
aus dem Gehirn empfan-
gen oder auch zu ihm
senden. Solche Hirn­
implantate könnten für
Querschnittsgelähmte
SCIENTIFIC AMERICAN APRIL 2019

hoffnungsvoll sein.
MARK ROSS STUDIO /

Spektrum der Wissenschaft  4.20 37


lich geringe Auflösung. Zudem reagiert die Durchblutung zu steuern. Bis sich neuronal gesteuerte Prothesen so ein-
recht träge, so dass die fMRT rasche Veränderungen der fach implantieren lassen wie heute ein Herzschrittmacher,
Hirnaktivität nicht erkennen kann. liegt noch ein steiniger Weg vor uns. Mein Team verfolgt den
Um diese Einschränkungen zu überwinden, versuchen Ansatz, statt vom motorischen Kortex Signale der neurona-
Forscher, einzelne Zellen oder wenigstens eine Gruppe von len Assoziationsareale abzuleiten. Wir hoffen, dass wir damit
Neuronen zu erfassen. In den letzten Jahren gelangen die Bewegungsabsichten des Patienten schneller und präzi-
solche Aufzeichnungen mit Implantaten aus feinsten raster- ser bestimmen können.
artig angeordneten Elektroden. Bei den derzeit verwende-
ten Arrays handelt es sich um 4 mal 4 Millimeter große Nach gelungener Implantation folgten
Plättchen mit 100 Elektroden, die jeweils 1 bis 1,5 Millimeter »zwei Wochen des Schreckens«
lang sind. Ein solches nagelbrettartiges Bauelement kann Dabei konzentrieren wir uns auf den posterioren Parietalkor-
die Aktivitäten von 100 bis 200 Neuronen aufzeichnen. tex (PPC) im hinteren Scheitellappen, wo sich die Intention
Die von den Elektroden erfassten Messdaten fließen zu zur Einleitung einer Bewegung herausbildet (siehe »Mit
einem Decoder, der mit mathematischen Algorithmen das Gedankenkraft«, S. 40/41). Bei Experimenten mit Affen stie-
Entladungsmuster in ein Signal übersetzt, das eine be- ßen wir auf einen Bereich des PPC, den so genannten latera-
stimmte Aktion wie eine Roboterarmbewegung oder einen len intraparietalen Kortex, der Augenbewegungen kontrol-
Computerbefehl auslöst. Solche auslesenden BCIs könnten liert. Signale für die Gliedmaßen werden dagegen von ande-
in Zukunft Patienten helfen, deren Mobilität durch Rücken- ren Regionen des PPC verarbeitet. So initiiert das anteriore
marksverletzungen oder Krankheiten eingeschränkt ist. intraparietale Areal Greifbewegungen, wie das Team von
Unser Team konzentriert sich auf tetraplegische Patien- Hideo Sakata von der Nihon-Universität in Tokio bereits Ende
ten, die auf Grund von Verletzungen des oberen Rücken- der 1990er Jahre herausfand.
marks weder Arme noch Beine bewegen können. Dafür Der PPC ist aus mehreren Gründen für die Steuerung
brauchen wir die Signale aus ihrem Kortex – jener etwa drei eines Roboterarms oder Computercursors besonders geeig-
Millimeter dicken Oberflächenschicht der beiden Hirnhälf- net: Im Gegensatz zum motorischen Kortex einer Hirnhälfte,
ten, die ausgebreitet jeweils eine Fläche von ungefähr der jeweils nur die gegenüberliegende Extremität aktiviert,
800 Quadratzentimetern bedecken würde. kontrolliert der PPC beide Arme. Außerdem wird hier das Ziel
Ein BCI kann mit unterschiedlichen Bereichen der Hirn- der Bewegung angepeilt. Wenn etwa ein Affe nach einem
rinde interagieren. Nach derzeitigen Forschungsstand Objekt greifen soll, schaltet sich der PPC sofort ein und
kennen wir mittlerweile mehr als 180 Areale, die spezifische lokalisiert es. Der motorische Kortex hingegen kontrolliert
Hirnfunktionen steuern. Zu nennen wären hier die primären den Verlauf der Greifbewegung. Kennt man das Ziel einer
Regionen, die Sinnesreize vom Auge, vom Ohr oder von beabsichtigten motorischen Handlung, vermag ein BCI, sie
den Drucksensoren der Haut verarbeiten. Auch die darunter binnen weniger hundert Millisekunden zu entschlüsseln. Bei
liegenden, dicht vernetzten Bereiche des Assoziationskor- aufgezeichneten Signalen aus dem motorischen Kortex kann
tex, die auf Sprache, Objekterkennung, Emotion oder exe- es dagegen mehr als eine Sekunde dauern, um daraus die
kutive Kontrolle spezialisiert sind, können von den Geräten beabsichtigte Bewegung zu errechnen.
gezielt angesteuert werden. Gewappnet mit diesen Erkenntnissen setzten wir uns kurz
Einige Forscherteams haben damit begonnen, Hirnsig­ vor der Jahrtausendwende das Ziel, einem Menschen ein
nale bei gelähmten Patienten aufzuzeichnen, um unter BCI-Implantat in den PPC einzupflanzen. Zunächst implan-
kontrollierten Laborbedingungen eine motorische Prothese tierten wir die Elektrodenarrays bei Affen, die dann lernten,
damit einen Computercursor oder einen künstlichen Arm zu
steuern. Etwa 15 Jahre vergingen, bis schließlich unser Team
aus Wissenschaftlern, Ärzten und Rehabilitationsexperten
AUF EINEN BLICK des California Institute of Technology, der University of
KOMMUNIKATION ZWISCHEN Southern California, der University of California in Los Ange-
MENSCH UND MASCHINE les sowie den Rehabilitationskliniken Rancho Los Amigos
und Casa Colina von der Food and Drug Administration

1 Gehirn-Computer-Schnittstellen sollen eine Kommu­


nikation des Menschen mit einem Computer ermög­
lichen.
sowie den Ethikkommissionen grünes Licht für einen ersten
Test an Menschen erhielt.
Probanden eines solchen Projekts sind wahre Pioniere.
Denn dass sie selbst davon direkt profitieren, ist keineswegs

2 Ein solches Hirnimplantat erlaubt, motorische Befehle


eines Querschnittsgelähmten etwa durch einen Robo-
terarm umsetzen zu lassen.
sicher. Vielmehr helfen sie, eine Technik zu entwickeln, die
anderen zugutekommen kann, sobald die Alltagstauglichkeit
bewiesen ist. Am 17. April 2013 war es endlich so weit: Die
Neurochirurgen Charles Liu und Brian Lee implantierten
3 Statt in den motorischen Kortex eines Patienten im-
plantiert die Arbeitsgruppe des Autors die Schnittstelle
in ein Hirnareal, in dem die Intention zur Bewegung
unserem ersten Patienten Erik Sorto ein BCI. Die Operation
verlief einwandfrei – dann begann das lange Warten.
entsteht. Meine Kollegen von der NASA, die den Mars-Rover zu
unserem Nachbarplaneten schickten, sprechen von den
»sieben Minuten des Schreckens« für den Zeitraum vom

38 Spektrum der Wissenschaft  4.20


Gehirn mit maschineller Bildverarbeitung und intelligenter
Robotertechnik für die Bewegungssteuerung nutzbar zu
machen. Dabei verrechnet der Algorithmus Videoaufzeich-
nungen mit den Intentionssignalen, um den Roboterarm in
Bewegung zu setzen.
Wir hatten Sorto zu Beginn der Studie gefragt, was er mit
dem Roboterarm am liebsten machen würde. Seine Ant-
wort: ohne fremde Hilfe ein Bier trinken. Unter dem Jubel
aller Anwesenden schaffte er dieses Kunststück nach etwa
einem Jahr.
Sorto ist nicht unser einziger Patient. Seit fünf Jahren
nimmt Nancy Smith an unseren Studien teil. Die ehemalige
Computergrafikerin, die in ihrer Freizeit Klavier gespielt
hatte, ist durch einen Autounfall vor etwa zehn Jahren an
allen vier Gliedmaßen gelähmt. In ihrem PPC stießen wir auf
eine detaillierte Repräsentation der Finger beider Hände.
Mittels virtueller Realität lernte Smith, die zehn Finger der

LANCE HAYASHIDA UND CALIFORNIA INSTITUTE OF TECHNOLOGY


auf einem Bildschirm erscheinenden Avatar-Hände einzeln
zu bewegen. Sie konnte sogar mit den fünf virtuellen Fingern
einer Hand einfache Melodien auf einer computergenerier-
ten Klaviertastatur spielen.
Die Arbeit mit unseren Patienten erwies sich für uns als
äußerst spannend und lehrreich. Die Menge an Information,
die sich aus der Aktivität von wenigen hundert Neuronen
ziehen ließ, war überwältigend. Wir konnten eine Reihe von
kognitiven Aktivitäten decodieren, darunter mentale Strate-
Erik Sorto (rechts) ist querschnittsgelähmt. Dank gieplanung, Verarbeitung visueller Reize, verbale Manifesta-
eines von Richard Andersen (links) entwickelten tionen von Aktionen wie Greifen oder Drücken, Fingerbewe-
Hirnimplantats kann er kraft seiner Gedanken mit gungen oder mathematische Berechnungen. Zu unserer
einem Roboterarm einen Becher greifen. Überraschung genügte die Implantation von einigen winzi-
gen Elektrodenarrays, um vieles zu entschlüsseln, was eine
Person vorhatte.
Eindringen in die Marsatmosphäre bis zur Landung. Für
mich standen zwei Wochen äußerster Anspannung bevor, Der PPC als visuelles Kontrollzentrum
bis der Bereich um das Implantat vollständig verheilt war. Vor der Frage, wie viel Information sich aus den Aktivitäten
Wird es funktionieren? Trotz der viel versprechend ausgefal- eines kleinen Hirnareals ableiten lässt, stand ich bereits zu
lenen Tierversuche betraten wir mit der Implantation eines Beginn meiner wissenschaftlichen Laufbahn: Als Postdoc
BCI in den menschlichen PPC Neuland. Niemand hatte je bei Vernon Mountcastle (1918–2015) an der Johns Hopkins
versucht, dort Signale abzuleiten. University untersuchte ich, wie der PPC von Affen den
Schon am ersten Testtag detektieren wir neuronale visuellen Raum repräsentiert. Das Auge funktioniert im
Aktivitäten, und gegen Ende der Woche erfassten wir Prinzip wie eine Kamera, wobei die lichtempfindliche Netz-
genug Signale, um auszuprobieren, ob Sorto einen Roboter- haut die jeweilige Position der visuellen Reize signalisiert.
arm über das Implantat steuern konnte. Einige Neurone Das im Gehirn repräsentierte Bild wird als retinotope Karte
veränderten ihre Aktivität, sobald unser Proband sich bezeichnet.
vorstellte, er drehe seine Hand. Seine erste Aufgabe be- In einem wesentlichen Punkt unterscheidet sich jedoch
stand darin, die Roboterhand in verschiedene Richtungen unser visuelles System grundsätzlich von einer Kamera:
zu wenden, um einem Doktoranden die Hand zu schütteln. Wenn sich Letztere bewegt, verschiebt sich ebenfalls das
Sorto war genauso begeistert wie wir: Zum ersten Mal seit aufgenommene Bild. Dagegen erscheint uns die Umgebung
seiner Rückenmarksverletzung konnte er mit der Welt aktiv stets ortsfest. Das Gehirn muss also das von der Netzhaut
interagieren – über einen Roboter. gelieferte Bild derart umwandeln, dass die Welt nicht so
Wir werden oft gefragt, ob es lange dauert, bis ein wirkt, als schwenke eine Filmkamera durch die Szene.
Mensch ein BCI bedienen kann. Tatsächlich funktionierte Hier kommt der PPC ins Spiel. Er stellt ein Rechenzentrum
die Technik mehr oder weniger sofort. Den Roboterarm zu für die hochintegrierte visuelle Darstellung des Raums dar.
steuern, erwies sich für Sorto als intuitiv und erstaunlich Um zielsicher nach einem Objekt zu greifen, muss das Ge-
einfach. Indem er sich verschiedene Bewegungsabläufe hirn berücksichtigen, in welche Richtung die Augen gerade
vorstellte, konnte er seine Hirnzellen quasi nach Belieben blicken. Schädigungen des PPC führen dazu, dass der Zu-
ein- und ausschalten. griff unsicher wird. In Mountcastles Labor identifizierten wir
Gemeinsam mit Forschern von der Johns Hopkins einzelne PPC-Neurone, die einen Ausschnitt einer Szene
University gelang es uns, die Intentionssignale aus Sortos registrieren. Dieselben Zellen liefern auch Informationen zur

Spektrum der Wissenschaft  4.20 39


Position der Augen. Beide Signale interagieren, indem sie die
visuelle Reaktion mit der Ausrichtung der Augen verrechnen –
das resultierende Produkt wird als Gain Field bezeichnet. Mit Gedankenkraft
Das Problem der mentalen Repräsentation des Raums
verfolgte ich als Dozent am Salk Institute weiter. Gemeinsam Seit über 15 Jahren entwickeln Neurowissen-
mit dem Neurowissenschaftler David Zipser von der University schaftler Gehirn-Computer-Schnittstellen
of California in San Diego beschrieb ich 1988 ein Computer­ (brain-computer interface, BCIs), die Hirnsig­
modell eines neuronalen Netzwerks, das retinotope Positions- nale in Computerbefehle umwandeln, um
informationen mit der Blickrichtung verrechnet und damit damit einen Cursor oder einen Roboter zu
gegenüber Augenbewegungen unabhängige Karten des bewegen. Die Übersetzung elektrischer Erre-
Raums erstellt. Während des Trainings der neuronalen Netze gung von Neuronen hat sich jedoch als hoch-
entwickelten ihre mittleren Schichten Gain Fields, wie es bei komplex erwiesen.
den PPC-Experimenten der Fall war. Indem sie Daten zu visuel- Etliche Forscher versuchen, Signale aus
len Reizen und der Augenposition in einer einzigen Zelle ver- dem motorischen Kortex eines Patienten
rechnen, können bereits neun Zellen das gesamte Gesichtsfeld abzugreifen, da dieses Hirnareal Bewegungen
repräsentieren. kontrolliert. Die Arbeitsgruppe des Autors
Das Konzept der gemischten Repräsentation – Populationen implantiert dagegen Elektroden in den poste­
von Neuronen sprechen auf verschiedene Variablen an – findet rioren Parietalkortex (PPC) im hinteren Scheitel-
inzwischen vermehrt Beachtung. So zeigen Signalaufzeichnun- lappen. Hier entsteht die bewusste Absicht,
gen vom präfrontalen Kortex, dass dortige Neurone unter- eine Extremität zu bewegen. Signale aus dem
schiedliche Gedächtnisleistungen mit verschiedenen visuellen Hirnbereich zu nutzen, der an der Spitze der
Objekten verrechnen. kognitiven Befehlskette steht, scheint eine
schnellere und präzisere Steuerung von Robo-
Die Semantik der Bewegung aus terprothesen zu ermöglichen.
partiell gemischten Repräsentationen
Diese Erkenntnisse könnten erhellen, was im PPC geschieht.
Wir bemerkten das, als wir Nancy Smith baten, mit Hilfe ihres
Avatars auf dem Computerbildschirm acht verschiedene Ent-
scheidungen zu fällen. Eine bestand darin, sich eine Aktion nur
vorzustellen oder sie tatsächlich zu probieren. Eine andere
erforderte, nach links oder nach rechts zu greifen; eine dritte,
die Hand zu bewegen oder mit den Schultern zu zucken. Wie

AXS BIOMEDICAL ANIMATION STUDIO / SCIENTIFIC AMERICAN APRIL 2019


wir dabei beobachteten, vermischten die Hirnzellen des PPC
diese Variablenpaare zu einem spezifischen Muster, das ganz
anders aussah als die eher zufälligen Interaktionen, die bei
Tierversuchen auftraten.
Die Neuronengruppen, die bei der Steuerung der beiden
Körperhälften mitwirken, überlappen sich teilweise. Wenn zum
Beispiel eine Hirnzelle feuert, um eine Bewegung der linken
Hand zu initiieren, tut sie das mit hoher Wahrscheinlichkeit
auch bei einer versuchten Bewegung der rechten Hand. Dage-
gen agieren die Neurone, die Bewegungen der Schulter und
der Hand steuern, eher unabhängig voneinander. Diese Form
der Repräsentation bezeichnen wir als partiell gemischte
Selektivität.
Solche partiell gemischten Repräsentationen bilden offenbar
eine Art Semantik der Bewegung: Ein Neuron, das auf Video-
aufnahmen einer Person reagiert, die ein Objekt ergreift, regt
sich wahrscheinlich auch, wenn der Proband lediglich das
Wort »greifen« liest. Davon separiert sind Zellen, die auf andere
Aktionen wie »drücken« ansprechen. Im Allgemeinen scheint
die partiell gemischte Codierung ähnliche Rechenoperationen
zusammenzufassen (Bewegung der rechten oder der linken
Hand) und diese von denjenigen abzusetzen, die bei der anste-
henden neuronalen Verarbeitung stören könnten (Bewegung
der Schulter oder der Hand).
Gemischte sowie partiell gemischte Codierung ließen sich in
bestimmten Teilen des Assoziationskortex nachweisen. Künfti-
ge Studien sollten zeigen, ob sie auch in anderen Hirn­arealen

40 Spektrum der Wissenschaft  4.20


Die von Richard Andersen und
seinen Kollegen entwickelten BCIs
funktionieren in zwei Richtungen:
Ein auslesendes Gerät empfängt
Hirnsignale über die Absicht, eine
Bewegung durchzuführen, und
ELEKTRODEN- 3 schickt sie über einen Computer
ARRAY prämotorische an einen Roboterarm. Dieser führt
Ein Implantat aus Areale die Bewegung aus, so dass der
rasterartig ange- 2
ordneten Elektro- gelähmte Patient ein Glas greifen
den erfasst die INTENTION primärer kann (1–6). Ein einspeisendes BCI
Bewegungs- Der PPC formt die Bewegungs- motorischer sendet Informationen über Berüh-
absicht aus intention, die dann an den prämo- Kortex rungen sowie der Position der
neuronalen torischen und den motorischen Kortex (Handareal) künstlichen Extremität zum soma-
Aktivitäten übermittelt wird. Bei Patienten mit
im PPC.
tosensorischen Kortex. Die da-
Rückenmarksverletzungen ist die
Verbindung des motorischen Kortex zu
durch ausgelösten Empfindungen
den Muskeln unterhalb der Verletzung des Patienten erlauben eine Fein-
unterbrochen. justierung der Bewegung (6–9).
Geplant ist, beide Geräte in einem
anfassen
vollständig bidirektional arbeiten-
zugreifen den BCI zu integrieren.
Sakkaden (rasche
Augenbewegungen)

C
PP

1
primärer
EINGEHENDE somatosensorischer
SIGNALE Kortex (Handareal)
Signale aus sensorischen
Arealen und dem Gedächtnis
laufen im posterioren
Parietalkortex (PPC) episodisches ELEKTRODEN- 9
zusammen. Gedächtnis ARRAY
primärer
visueller Die elektrische Stimulation des
Kortex somatosensorischen Kortex ruft
AXS BIOMEDICAL ANIMATION STUDIO / SCIENTIFIC AMERICAN APRIL 2019

Empfindungen hervor, die


Berührungen und die räumliche
Position der Roboterhand
signalisieren.

4 PROZESSOR
Ein Computer
decodiert rasch die STEUERUNGS- 5 8 STIMULATOR
Intentionssignale und RECHNER Der Stimulator
formuliert die Befehle Die Befehle können erzeugt schwache
für den Roboterarm. mit Videosignalen elektrische Ströme
oder Daten zur 7 STEUERUNGS- in den Elektroden
Augenbewegung RECHNER des Stimulations-
verrechnet werden, Sensoren auf der arrays.
um die Präzision Roboterhand
der Bewegung zu erfassen Position
steigern. und Berührung
und senden die
Daten an einen
Stimulator.

6
AKTION
Die elektronisch weiter-
verarbeiteten Hirnsignale
veranlassen die Prothese, ein
Glas zu greifen, es an die
Lippen zu führen und es dort
ruhig zu halten, so dass der
Proband einen Schluck trinken
kann.

Spektrum der Wissenschaft  4.20 41


vorkommen – etwa in denen für Sprache, Objekt­erkennung ten, hirngesteuerten Roboterhänden durch eine solche so-
oder Handlungskontrolle. Darüber hinaus möchten wir matosensorische Rückmeldung steigern lässt. Außerdem
wissen, ob die primären sensorischen oder motorischen möchten wir gern wissen, ob bei den Probanden ein »Embo-
Kortexareale ähnliche partiell gemischte Codierungsstruk­ diment« einsetzt – also das Gefühl, das künstliche Glied sei
turen nutzen. Teil des eigenen Körpers.
Anstehende Forschungen sollten zudem klären, inwie- Eine weitere Herausforderung besteht darin, leistungsfähi-
fern das Erlernen neuer Fähigkeiten die Leistungsfähigkeit gere Elektroden zu entwickeln. Unsere Implantate funktionie-
von Probanden mit Neuroprothesen beeinflusst. Sollten ren meist über einen Zeitraum von fünf Jahren. Bei zukünf­
Lernprozesse sich quasi von selbst einstellen, könnte im tigen Geräten sollten idealerweise die Lebensdauer sowie die
Prinzip jeglicher Bereich des Gehirns mit einem BCI ver- Anzahl der angezapften Neurone weiter ansteigen. Wichtig
sorgt und dann auf passende Aufgaben trainiert werden. wäre auch, die feinen Elektrodenfortsätze noch zu verlän-
Ein Implantat im primären visuellen Kortex könnte dann gern, um Areale zu erreichen, die tiefer in den Hirnfurchen
nach einer entsprechenden Trainingsphase auch nichtvisu- liegen.
elle Aufgaben steuern. Andernfalls ließen sich Implantate Flexible Eletroden, die leichte Bewegungen des Gehirns
etwa in motorischen Arealen ausschließlich auf motorische etwa beim Atmen oder bei Blutdruckschwankungen nach-
Aufgaben trainieren. Erste Studienergebnisse deuten darauf vollziehen, sollten stabilere Signalaufzeichnungen ermögli-
hin, dass ein BCI tatsächlich in dem Hirnareal eingepflanzt chen. Bei den jetzigen steifen Elektroden muss der Decoder
werden muss, das für die gewünschte kognitive Aktivität immer wieder neu eingestellt werden, da sich ihre Position
zuständig ist. jeden Tag leicht verschiebt – schließlich wollen die Forscher
die Aktivität derselben Hirnzellen über Wochen oder Monate
Ohne sensorische Rückkopplung sind erfassen.
flüssige Bewegungen kaum möglich Künftige Implantate sollten möglichst klein sein, mit
Ein BCI muss allerdings mehr können, als nur Hirnsignale zu geringer elektrischer Leistung arbeiten, um eine Erwärmung
empfangen und zu verarbeiten – es muss auch eine Rück- des Gehirns zu vermeiden, sowie drahtlos kommunizieren, so
meldung von einer Prothese zum Gehirn leiten. Wenn wir dass wir keine Kabel mehr brauchen, die externe Gerätschaf-
den Arm ausstrecken, um ein Objekt zu greifen, hilft die ten mit dem Gehirn verbinden. Bislang müssen alle Arrays
visuelle Rückkopplung, die Hand genauer zum Ziel zu chirurgisch ins Gehirn verpflanzt werden. Doch eines Tages
führen. Die Positionierung der Hand hängt ebenfalls von der gibt es hoffentlich Geräte, die neuronale Signale mit gleicher
Form des zu greifenden Objekts ab. Wenn wir beim Zu­ Präzision von außen durch die Schädeldecke senden und
greifen keine Tastsignale spüren, wird das Vorhaben meist empfangen.
scheitern. BCIs sind primär für Menschen mit schweren Lähmungen
Diese sensorischer Rückkopplung ist gerade für unsere gedacht. Doch Sciencefiction-Autoren spekulieren bereits
Patienten mit Rückenmarksverletzungen entscheidend. Sie darüber, diese Technik einzusetzen, etwa um schneller laufen
sind nicht nur gelähmt, sondern nehmen auch keine takti- oder höher springen zu können, als es für einen Menschen
len Reize oder Signale zur Position ihrer Gliedmaßen war, möglich ist. Eine solche körperliche Verbesserung lässt sich
was für flüssige Bewegungen unabdingbar ist. Eine ideale aber nur erreichen, wenn einzelne Neurone ohne invasiv
Neuroprothese muss diese ausgefallenen Funktionen über implantierte Arrays zielsicher erfasst werden können.
bidirektionale Signale kompensieren: Einerseits gilt es, die Grundlagenforschung wie diese ist nötig für Erkenntnisse,
Intention des Probanden zu übermitteln, andererseits aber die wiederum Voraussetzungen für innovative Therapien
auch, Daten zu Berührung und Position aus den Sensoren darstellen. Erst wenn eine Entdeckung in eine praktische
am Roboterarm zu verarbeiten. Anwendung mündet, hat ein solches Forschungsprojekt
Dieser Herausforderung stellte sich 2016 das Team um seine eigentliche Bestimmung gefunden. Für den Wissen-
Robert Gaunt von der University of Pittsburgh, indem es schaftler bleibt die Genugtuung, sich mit einem gelähmten
einem tetraplegischen Patienten Mikroelektroden-Arrays in Patienten zu freuen, der über einen hirngesteuerten Roboter-
den somatosensorischen Kortex implantierte – also jenen arm selbstständig mit der Außenwelt interagiert. 
Hirnbereich, der sensorische Signale aus den Gliedmaßen
verarbeitet. Als die Forscher winzige elektrische Impulse
durch die Mikroelektroden sendeten, spürte der Proband
tatsächlich etwas an seiner Handfläche. QUELLEN
Ähnliche Implantate setzten wir im Armareal des soma- Aflalo, T. et al.: Decoding motor imagery from the posterior
tosensorischen Kortex ein. Zu unserer großen Freude nahm parietal cortex of a tetraplegic human. Science 348, 2015
unser Proband F. G. Reize wahr wie Quetschen, Klopfen Armonta Salas, M. et al.: Proprioceptive and cutaneous sensa-
oder Vibrationen auf der Haut, die er als natürlich empfand. tions in humans elicited by intracortical microstimulation. eLife 7,
Er spürte ebenfalls, dass sich sein Arm bewegte, was als e32904, 2018
Pro­priozeption bekannt ist. Diese Experimente beweisen, Flesher, S. N. et al.: Intracortical microstimulation of human
dass Patienten, die jegliche Wahrnehmung in ihren Glied- somatosensory cortex. Science Translational Medicine 8,
maßen verloren haben, diese ersatzweise durch einspeisen- 361ra141, 2016
de BCIs wiedererlangen könnten. Der nächste Schritt wäre Hochberg, L. R. et al.: Reach and grasp by people with tetraple-
zu prüfen, ob sich die Geschicklichkeit von sensorbestück- gia using a neutrally controlled robotic arm. Nature 485, 2012

42 Spektrum der Wissenschaft  4.20


NEUROETHIK
DER FREIE
WILLE UND DIE
ALGORITHMEN
Schon seit Jahrzehnten profitieren
Patienten von Techniken, die ins
Gehirn eingreifen. Mit zunehmender
Komplexität wachsen aber auch die
ethischen Vorbehalte.

Liam Drew ist Neurobiologe und Ein Forscher trägt den BCI-Helm
Wissenschaftsjournalist in London Brain Invader, der Hirnsignale mit
(Großbritannien).
Elektroden erfasst, um Symbole auf
einem Computerbildschirm auszu-
 spektrum.de/artikel/1706912
wählen. Das Foto wurde am 20. No­
GETTY IMAGES / AFP / JEAN-PIERRE CLATOT

vember 2017 im ­GIPSA-Labor des


CNRS in Grenoble aufgenommen.

Spektrum der Wissenschaft  4.20 43



»Es wird ein Teil von dir«, beschreibt »Patientin 6« das Neuroethiker beobachten solche Entwicklungen sehr
Gerät, das ihr Leben nach einer 45-jährigen Leidensge- genau. Ziel ihrer sich seit rund 15 Jahren entwickelnden
schichte mit schwerer Epilepsie veränderte. Implantier- Disziplin ist, dass Techniken, die das Gehirn direkt beeinflus-
te Hirnelektroden senden Signale an ein Handgerät, sobald sen, ethisch vertretbar bleiben. »Wir wollen kein Wachhund
Anzeichen für einen bevorstehenden epileptischen Anfall der Neurowissenschaften sein oder vorschreiben, wie sich
auftauchen. Ein Warnton erinnert nun die Patientin daran, die Neurotechnologie entwickeln sollte«, betont der Neuro­
den drohenden Anfall mit Medikamenten zu unterdrücken. ethiker Marcello Ienca von der Eidgenössischen Technischen
»Man wächst da langsam rein und gewöhnt sich so sehr Hochschule Zürich. Vielmehr fordern die Neuroethiker, dass
daran, dass es irgendwann alltäglich wird«, erzählt sie dem ethische Überlegungen bereits bei den ersten Entwürfen
Neuroethiker Frederic Gilbert von der australischen Univer- sowie den verschiedenen Entwicklungsstadien dieser Tech-
sity of Tasmania, der sich mit Gehirn-Computer-Schnittstel- nologien einfließen, um so deren Nutzen zu steigern und
len (brain-computer interface, BCI) befasst. »Es wurde ich«, mögliche Risiken zu erkennen und einzudämmen – sei es für
fügt sie hinzu. den Einzelnen oder für die Gesellschaft als Ganzes.
2019 hatten Gilbert und seine Kollegen sechs Teilnehmer Bereits jetzt zeichnet sich ab, dass die Verschmelzung
einer ersten klinischen Studie mit prädiktiven BCIs befragt, digitaler Techniken mit dem menschlichen Gehirn weit
um herauszufinden, inwiefern ein die Hirnaktivität über­ reichende Folgen nach sich ziehen kann – nicht zuletzt für
wachender Computer seinen Träger psychisch beeinflusst. den freien Willen, also die Fähigkeit, sich gemäß eigener
Die extremste Erfahrung machte Patientin 6: Gilbert be- Entscheidungen zu verhalten. Auch wenn der Fokus der
zeichnet die Beziehung zu ihrem BCI als Radikalsymbiose. Neuroethiker auf der medizinischen Praxis liegt, mischen sie
Unter Symbiose verstehen Ökologen eine enge Koexis- sich ebenfalls in die Debatten über die Entwicklung kommer-
tenz zweier Arten zum Vorteil beider. Im Zusammenhang zieller Neurotechnologien ein.
mit den fortschreitenden technischen Möglichkeiten, das In den späten 1980er Jahren setzten französische Wissen-
menschliche Gehirn direkt mit Computern zu verbinden, schaftler Elektroden in das Gehirn von Parkinsonpatienten im
beschreibt der Begriff nun ebenfalls die potenzielle Bezie- fortgeschrittenen Stadium ein. Elektrische Ströme in den
hung zwischen Mensch und Maschine. mutmaßlich für das Zittern verantwortlichen Hirnarealen soll-
Schnittstellen lassen sich unterteilen in solche, die das ten dort die neuronale Aktivität unterdrücken. Diese tiefe
Gehirn »lesen«, die also die Hirnaktivität aufzeichnen und Hirnstimulation (THS) konnte enorm effektiv sein: Heftige
deren Bedeutung entschlüsseln, und jene, die in das Gehirn und kräftezehrende Zitteranfälle ließen augenblicklich nach,
»schreiben«, um die Aktivität bestimmter Regionen zu sobald die Elektroden angeschaltet wurden.
manipulieren und damit deren Funktion zu beeinflussen. So
entwickeln Wissenschaftler der Social-Media-Plattform »Wie viel davon stammt von meinem
Facebook Gehirn-Lese-Techniken für Kopfhörer, welche die eigenen Denken?«
Hirnaktivität der Anwender in Text umwandeln sollen. 1997 genehmigte die US-amerikanische Food and Drug Ad-
Neurotechnologiefirmen wie Kernel in Los Angeles oder ministration (FDA) den THS-Einsatz für Parkinsonpatienten.
das von Elon Musk gegründete Unternehmen Neuralink in Seitdem wird die Methode ebenfalls bei anderen Erkrankun-
San Francisco spekulieren sogar auf bidirektionale Verbin- gen erprobt: THS ist mittlerweile zur Therapie von Zwangs-
dungen, bei denen der Computer sowohl auf die Hirnak­ störungen und Epilepsie zugelassen und wird für psychische
tivität des Menschen reagiert als auch Informationen in den Störungen wie Depression oder Magersucht getestet.
neuronalen Kreislauf einspeist. Die Methode zielt direkt auf das Organ, aus dem unser
Identitätsempfinden entspringt, und lässt daher Befürchtun-
gen aufkeimen, die für andere Therapieansätze nicht gelten.
»Es stellen sich Fragen über unsere Autonomie, weil sie
AUF EINEN BLICK direkt das Gehirn beeinflusst«, erklärt die Neuroethikerin
ETHISCHE PROBLEME Hannah Maslen von der University of Oxford.
BEI HIRNIMPLANTATEN Es gibt Parkinsonpatienten, die nach einer THS-Behand-
lung unter einem gesteigerten Sexualtrieb oder Problemen

1 Techniken wie die tiefe Hirnstimulation oder Gehirn-


Computer-Schnittstellen werden immer bedeutender
und haben bereits etlichen Patienten geholfen.
mit ihrer Impulskontrolle litten. Ein Schmerzpatient wurde
zutiefst apathisch. »THS ist höchst wirkungsvoll«, sagt
Gilbert, »bis hin zu dem Punkt, an dem sie die Selbstwahr-
nehmung des Patienten verzerrt.« Bei anderen, die wegen

2 Die Systeme greifen direkt in das menschliche Denk­


organ ein. Somit stellt sich die Frage, inwieweit der
Einsatz ethisch vertretbar ist.
Depressionen oder Zwangsstörungen mit THS behandelt
worden waren, wandelte sich das Empfinden für den freien
Willen. »Du fragst dich, wie viel noch von dir übrig bleibt«,
erzählte eine Betroffene. »Wie viel davon stammt von mei-
3 Bei manchen Systemen nehmen KI-Algorithmen
menschliche Entscheidungen ab. Dadurch wird die
subjektive Urheberschaft des Handelns fraglich.
nem eigenen Denken? Wie würde ich mich verhalten, wenn
ich das Stimulationssystem nicht hätte? Man fühlt sich
irgendwie künstlich.«
Erst nach und nach erkennen Neuroethiker die Tragweite
der Therapie. »Einige Nebenwirkungen wie Persönlichkeits-

44 Spektrum der Wissenschaft  4.20


ZEPHYR / SCIENCE PHOTO LIBRARY
Bei der tiefen Hirnstimulation werden Elektroden in das Einklang stehen. Sie und andere Wissenschaftler wollen
Gehirn von Parkinsonpatienten implantiert. Dort unter- genauere Einverständniserklärungen für die THS-Behand-
drücken sie das krankhafte Zittern. lung entwerfen, die ausführliche Beratungen einschließen,
bei denen alle möglichen Folgen und Nebenwirkungen
umfassend erklärt werden.
veränderungen sind problematischer als andere«, meint Es ist äußerst beeindruckend, einem Querschnittsgelähm-
Maslen. Wichtig ist, ob der Patient nach der Stimulation ten zuzusehen, wie er mit einem Roboterarm, den er über
erkennen kann, wie er sich verändert hat. So beschreibt ein auslesendes BCI steuert, ein Wasserglas zum Mund führt
Gilbert einen THS-Patienten, der spielsüchtig wurde und (siehe Artikel S. 36). Diese sich rasch entwickelnde Technik
hemmungslos die Ersparnisse seiner Familie verzockte. Erst beruht auf Elektrodenarrays, die an oder in einer für Planung
als die Stimulation ausgeschaltet wurde, konnte er nach- und Ausführung von Bewegungen zuständigen Hirn­region
vollziehen, wie problematisch sein Verhalten war. implantiert werden. Während der Proband sich beispielswei-
Solche Fälle wecken ernsthafte Befürchtungen, inwie- se vorstellt, seine Hand zu bewegen, wird seine Hirnaktivität
weit die Technik die Urteilsfähigkeit beeinflusst. Sollte ein aufgezeichnet, um daraus Befehle für den Roboterarm zu
Familienmitglied oder ein Arzt sein Veto einlegen können, generieren.
wenn ein THS-Patient die Weiterbehandlung wünscht? Ließen sich diese neuronalen Signale vom Grundrauschen
Wenn jemand anderes als der Patient die Therapie gegen unterscheiden und eindeutig dem Willen der Person zuord-
dessen Willen abbrechen kann, impliziert das, dass die nen, wären die ethischen Probleme überschaubar. Das ist
Methode die Fähigkeit einschränkt, Entscheidungen für sich aber nicht der Fall. Die neuronalen Korrelate geistiger Pro-
selbst zu treffen. Daraus folgt, dass die Gedanken, die nur zesse sind wenig verstanden, so dass die Hirnsignale durch
auftreten, solange ein elektrischer Strom die Hirnaktivität künstliche Intelligenz (KI) verarbeitet werden müssen.
beeinflusst, nicht dem authentischen Selbst entspringen. Wie der Neurologe Philipp Kellmeyer von der Universität
Besonders schwierig werden solch Dilemmata, wenn die Freiburg meint, habe der Einsatz von KI und Algorithmen des
Therapie explizit auf Verhaltensänderungen zielt wie etwa maschinellen Lernens zur Entschlüsselung neuronaler Akti­
bei Magersucht. »Wenn ein Patient vor einer THS sagt: ›Ich vität das gesamte Feld auf den Kopf gestellt. Er verweist auf
bin jemand, dem Schlanksein über alles geht‹, und man ihn eine 2019 veröffentlichte Studie, bei der eine solche Soft-
dann stimuliert, so dass sich sein Verhalten oder seine ware die Hirnaktivität von stummen Epilepsiepatienten
Einstellung ändert«, erklärt Maslen, »dann müssen wir interpretierte, um daraus synthetische Sprachlaute zu er­
wissen, ob diese Veränderungen vom Patienten wirklich zeugen. »Vor zwei oder drei Jahren«, sagt er, »hätten wir
gewollt sind.« gedacht, dass sei entweder unmöglich oder werde noch
Ihrer Ansicht nach »leuchtet es absolut ein, dass ein 20 Jahre dauern.«
Patient die durch THS ausgelösten Veränderungen be- Allerdings brächten KI-Werkzeuge auch ethische Proble-
grüßt«, sofern diese mit den therapeutischen Zielen in me mit sich, mit denen etwa Aufsichtsbehörden bislang

Spektrum der Wissenschaft  4.20 45


wenig Erfahrung hätten. Software zum maschinellen Ler- tigen geschlossenen Regelkreis hat die FDA bereits 2013 zur
nen beruht auf einer Datenanalyse, die schwer zu durch- Behandlung von Epilepsie zugelassen; ähnliche Systeme zur
schauen ist. Dadurch steht ein unbekannter und kaum Parkinsontherapie werden klinisch getestet.
nachvollziehbarer Prozess zwischen den Gedanken einer Problematisch dabei ist: Handelt eine Person nach Einfüh-
Person und der Technik, die in ihrem Auftrag handelt. rung eines entscheidungstreffenden Geräts in ihrem Gehirn –
Prothesen funktionieren besser, wenn BCI-Geräte versu- eventuell verknüpft mit einer autonom agierenden KI-Soft-
chen vorherzusagen, was der Patient als Nächstes tun will. ware – noch selbstbestimmt? Bei Geräten, die für Diabetiker
Die Vorteile hierfür leuchten ein: Bei scheinbar simplen, in den Blutzuckerspiegel und die Insulingabe kontrollieren, ist
Wirklichkeit aber hochkomplexen Handlungen wie dem diese automatische Entscheidungsfindung unumstritten. Bei
Griff zur Kaffeetasse stellt das Gehirn unbewusst viele Interventionen im Gehirn sieht die Sache jedoch anders aus.
Berechnungen an. Prothesen, die mit Hilfe von Sensoren Beispielsweise könnte eine Person, die mit einem geschlos-
zusammenhängende Bewegungen autonom durchführen, senen Regelkreissystem eine affektive Störung behandelt,
erleichtern dem Anwender erheblich, damit umzugehen. unfähig werden, jegliche negative Emotion zu empfinden,
Das bedeutet aber auch, dass vieles von dem, was ein auch wenn dies wie etwa bei einer Beerdigung völlig normal
Roboterarm tut, nicht wirklich vom Patienten stammt. wäre. »Wenn ein Gerät sich ständig in dein Denken oder
Derartige prädiktive Eigenschaften bergen weitere deine Entscheidungsfindung einmischt«, sagt Gilbert, »kann
Probleme, die jeder Handynutzer kennt. Die automatische es dich als frei handelnder Mensch einschränken.«
Texterkennung der Mobiltelefone ist oft hilfreich und spart Das Epilepsie-BCI, das die von Gilbert interviewten An-
Zeit – wer aber unbeabsichtigt schon einmal eine Nachricht wender benutzten, überließ ihnen die Kontrolle, indem sie
mit falscher Autokorrektur gesendet hat, weiß, dass hier vor anstehenden Anfällen warnte. Ihnen blieb so die Ent-
mitunter etwas schiefgehen kann. scheidung, ob sie Medikamente nehmen wollten oder nicht.
Dennoch avancierte das Gerät für fünf der sechs Patienten
»Es entsteht der merkwürdige Zustand zum hauptsächlichen Entscheidungsträger in ihrem Leben.
eines Hybridwillens« Nur einer der sechs ignorierte es meist. Patientin 6 akzeptier-
Solche Algorithmen lernen aus früheren Daten und nehmen te ihr Gerät vollständig als integralen Bestandteil ihres neuen
dem Anwender – basierend auf seinen Handlungen in der Selbst. Drei Anwender verließen sich bereitwillig darauf,
Vergangenheit – Entscheidungen ab. Wenn aber ein Algo- ohne dadurch das Gefühl zu bekommen, ihr Selbstempfin-
rithmus beständig das nächste Wort oder die nächste den hätte sich grundlegend verändert. Ein weiterer Proband
Aktion vorschlägt und der Mensch lediglich diesen Vor- verfiel allerdings in Depressionen und berichtete, das BCI
schlag akzeptiert, wird die Autorenschaft der Nachricht »gab mir das Gefühl, keine Kontrolle mehr zu haben«.
oder des Handelns fraglich. »Irgendwann entsteht dieser »Die Entscheidung liegt letztlich bei einem selbst«, meint
merkwürdige Zustand eines gemeinsamen oder Hybrid­ Gilbert. »Aber in dem Moment, in dem man merkt, dass das
willens«, erklärt Kellmeyer. Ein Teil der Entscheidung Gerät in bestimmten Situationen effektiver ist als man selbst,
stammt vom Anwender und ein anderer von der Maschine. achtet man nicht mehr auf die eigene Einschätzung. Man
»Damit haben wir ein Problem: eine Verantwortungslücke.« verlässt sich auf das Gerät.«
Hannah Maslen befasst sich damit im Rahmen des Das Ziel der Neuroethiker – Maximierung der Vorteile und
EU-Projekts BrainCom, das Sprachgeneratoren entwickelt. Minimierung der Risiken – ist schon lange in die medizini-
Solche Systeme sollen hörbar machen, was die Person sche Praxis eingebettet. Die Entwicklung kommerzieller
sagen möchte. Um Fehlern vorzubeugen, kann man dem Techniken für Verbraucher läuft im Gegensatz dazu meist
Anwender die Möglichkeit geben, jedes einzelne Wort verborgen ab und unterliegt kaum einer Kontrolle. So erfor-
freizugeben. Doch eine ständige Rückmeldung von Sprach- schen Technologieunternehmen bereits die Realisierbarkeit
fragmenten würde das Ganze wohl zu einem mühsamen von BCI-Geräten für den Massenmarkt. Marcello Ienca sieht
Geschäft machen. hier einen wichtigen Moment gekommen: »Wenn sich eine
Solche Rückversicherungen wären allerdings besonders Methode noch im Anfangsstadium befindet, sind die Ergeb-
wichtig, wenn die Geräte nur schwer zwischen der neuro- nisse sehr schwer vorhersehbar. Ist sie jedoch hinsichtlich
nalen Aktivität fürs Sprechen und der fürs Denken unter- Marktgröße oder -öffnung ausgereift, kann sie schon zu sehr
scheiden können. Unsere Gesellschaft fordert zu Recht etabliert sein, um noch eingreifen zu können.« Seiner Ansicht
grundlegende Grenzen zwischen privaten Gedanken und nach wissen wir inzwischen genug, um sachkundig zu
äußerem Verhalten. handeln, bevor es zu einer verbreiteten Anwendung von
Die Symptome vieler Hirnerkrankungen tauchen unvor- Neurotechnologien kommt.
hersehbar auf. Deshalb kommen zunehmend Methoden zur Ein Problem liegt laut Ienca in der Privatsphäre. »Informa-
Hirnüberwachung zum Einsatz. Solche Aufzeichnungselekt- tionen aus dem Gehirn sind wahrscheinlich die intimsten und
roden – wie etwa bei Patientin 6 – verfolgen die Hirnaktivi- privatesten Daten überhaupt«, betont er. Digital aufgezeich-
tät, um zu erkennen, wann Symptome auftreten oder kurz nete neuronale Daten könnten von Hackern gestohlen oder
bevorstehen. Doch statt lediglich dem Anwender einen von Firmen, denen die Nutzer Zugang hierzu gewährt haben,
Hinweis zu geben, senden manche autonom einen Befehl unangemessen verwendet werden. Ienca betont, wegen der
an eine Stimulationselektrode. Diese unterdrückt die rele- Bedenken von Neuroethikern hätten die Entwickler sich mit
vante Hirn­aktivität, sobald sich ein epileptischer Anfall oder der Sicherheit ihrer Geräte befassen müssen, um die Daten
bei Parkinsonpatienten ein Tremor abzeichnet. Einen derar- ihrer Nutzer besser zu schützen, und könnten nicht mehr den

46 Spektrum der Wissenschaft  4.20


Zugang zu Social-Media-Profilen und anderen Quellen geistiger Fähigkeiten durch nichtinvasive Hirnstimulation
persönlicher Daten als Voraussetzung für die Gerätenut- seinen Preis hätte, weil dadurch an anderer Stelle kognitive
zung fordern. Dennoch bleibt der Datenschutz für Verbrau- Defizite aufträten.
cher auf Grund der sich immer schneller entwickelnden Frederic Gilberts Forschungen zu den psychischen Aus-
Neurotechnologien eine Herausforderung. wirkungen von BCI-Geräten verdeutlicht, was auf dem Spiel
steht, wenn Unternehmen Methoden entwickeln, die das
»Ich habe mich selbst verloren« Leben von Personen grundlegend verändern können. Da die
Privatsphäre und freier Wille gehören zu den Hauptthemen Firma, die Patientin 6 das BCI ins Gehirn implantiert hatte,
in den Empfehlungen, die von verschiedenen Arbeitsgrup- in Konkurs ging, musste es entfernt werden. »Sie weigerte
pen wie auch von groß angelegten Neuroforschungspro­ sich und zögerte es so lange wie möglich hinaus«, erzählt
jekten herausgegeben werden. Dennoch bleibe viel zu tun, Gilbert. Weinend sagte sie nach der Entfernung des Geräts
meint Philipp Kellmeyer. »Die Grundannahmen der her- zu Gilbert: »Ich habe mich selbst verloren.«
kömmlichen Ethik, die sich auf Autonomie, Gerechtigkeit »Es war mehr als ein Gerät«, sagt Gilbert. »Die Firma
und damit zusammenhängenden Konzepten stützen, wird besaß die Existenz dieser neuen Person.« 
nicht ausreichen«, sagt er. »Wir brauchen auch eine Ethik
und Philosophie der human-technischen Interaktionen.« QUELLEN
Viele Neuroethiker halten auf Grund der Möglichkeit, das Gilbert, F. et al.: Embodiment and estrangement: results from a
Gehirn direkt zu manipulieren, eine Überarbeitung der first-in-human »intelligent BCI« Trial. Science and Engineering
grundlegenden Menschenrechte für nötig. Ethics 25, 2019
Hannah Maslen berät die Europäische Kommission über Klein, E. et al.: Brain-computer interface-based control of
Richtlinien zu frei verkäuflichen, nichtinvasiven Geräten, closed-loop brain stimulation: attitudes and ethical considera-
die das Gehirn verändern. Derzeit gelten hierfür nur lasche tions. Brain-Computer Interfaces 3, 2016
Sicherheitsbestimmungen. Die Apparate mögen zwar
harmlos aussehen, leiten jedoch elektrische Ströme durch
die Schädeldecke, um die Hirnaktivität zu verändern. Laut
Maslen könnten sie Verbrennungen, Kopfschmerzen und © Springer Nature Limited
Sehstörungen auslösen. Sie nennt ebenfalls klinische www.nature.com
Studien, wonach die mögliche Verbesserung bestimmter Nature 571, S. S19–S21, 2019

Veranstaltungen des Verlags


Spektrum der Wissenschaft

Samstag,
2. Mai 2020
Zürich
B777-Flug- und Space-Simulator
und Vortrag
Seien Sie einmal selbst Pilot und Astronaut: Fliegen Sie im B777-
Flugsimulator, und/oder erforschen Sie im Space-Simulator Galaxien,
Sternennebel und Planeten. Genießen Sie einen spannenden Vortrag
zum Thema »Risk Management im Cockpit« sowie ein Apéro-Cate-
ring, nehmen Sie an einem Wettbewerb teil und tauschen Sie sich
mit einem aktiven B777-Kapitän in fachkundigen Gesprächen aus.

Spektrum LIVE-Veranstaltung in Kooperation mit


Fly & Race Simulations GmbH
FLY & RACE SIMULATIONS GMBH

Infos und Anmeldung:


Spektrum.de/live Spektrum der Wissenschaft  4.20 47
CHEMISCHE UNTERHALTUNGEN
WIE FARBEN ENTSTEHEN
Die Welt ist für uns Menschen bunt. Doch wie kommen Farben zu
Stande? Hier stellen wir überraschende Experimente zu Farbmischun-
gen vor, die teils auch zu Hause durchgeführt werden können.

Matthias Ducci (links) ist Professor für Chemie und ihre Didaktik am
Institut für Chemie an der Pädagogischen Hochschule Karlsruhe.
Marco Oetken ist Abteilungsleiter und Lehrstuhlinhaber in der Abtei-
lung Chemie der ­Pädagogischen Hochschule Freiburg.

 spektrum.de/artikel/1706916


Wenn Kinder das erste Mal einen Wasserfarbkasten das Wasser abgeben, liegen so viele deprotonierte Pyranin-
vor sich haben, wissen sie noch nicht, was beim Zu- teilchen vor, dass das menschliche Auge die gelbe Farbe
sammengeben der unterschiedlichen Farben heraus- wahrnehmen kann. In Ethanol erhält man eine farblose
kommt. Das erste Experiment ist daher für kleine Beob- Lösung, da Ethanol weit weniger dazu neigt, Protonen
achter vielleicht spannender als für Erwachsene: Mischen aufzunehmen als Wasser, und das Gleichgewicht somit
Sie die gelbe und blaue Farbe eines Wasserfarbkastens. nahezu vollständig auf der linken (farblosen) Seite liegt.
Dass man Grün erhält, dürfte kaum jemanden überra-
schen. SO3– SO3–
Etwas aufwändiger – und weniger vorhersehbar – ist 3 Na+ 3 Na+

das zweite Experiment. Man benötigt:


- rote Tinte der Firma Lamy –O S –O S
3 –H+ 3
- einen gelben Textmarker (Herlitz, Pelikan oder Faber-Cas- SO3– SO3–
+H+
tell, da diese den Fluoreszenzfarbstoff Pyranin enthalten)
- Brennspiritus (Ethanol) farblos gelb
- zwei Glasgefäße, die mehr als zehn Milliliter fassen OH O–

(beispielsweise 0,2-cl-Schnaps- oder Rollrandgläser)


- einen zwei mal acht Zentimeter großen Streifen einer Die Ionen des Pyraninmoleküls liegen in Lösungen sowohl
mit OH-Gruppe (links; farblos) als auch deprotoniert mit
Kunststofffolie, etwa farblose, dünne Verpackungsfolie O–-Gruppe (rechts; gelb) vor. Je nach Tendenz des Lösungs­
- eine Tropfpipette. mittels, Protonen aufzunehmen, liegt das Gleichgewicht eher
Mit einem geeigneten Messgefäß füllt man in beide auf der linken oder auf der rechten Seite.

Gläschen je zehn Milliliter Brennspiritus. Der Folienstreifen


wird auf einer Fläche von drei mal zwei Zentimetern mit Zu den zehn Millilitern Ethanol im zweiten Schnapsglas gibt
dem gelben Textmarker bemalt und in eines der Gläschen man nun einen Tropfen roter Lamy-Tinte. Dadurch färbt sich
getaucht. Anschließend nimmt man ihn heraus, trocknet die Lösung sehr schwach rot und fluoresziert ganz leicht
ihn mit einem Haushaltstuch und wiederholt den gesam- gelb. Denn die Tinte enthält den Farbstoff Eosin Y.
ten Prozess noch zweimal mit derselben Lösung. Auf diese
Weise löst sich der Farbstoff im Brennspiritus. Sehen wird Br Br
man davon zunächst nichts, denn die entstandene Lösung –O O O
bleibt farblos. Der Grund dafür sind die besonderen Eigen-
schaften des Pyranins, das in Lösung ein Gleichgewicht
Br Br
zwischen einer protonierten, farblosen sowie einer depro-
COO –
tonierten, gelben Form ausbildet (Strukturformeln rechts
2 Na+
oben). In neutraler, wässriger Umgebung liegt das Gleich-
gewicht so weit auf der rechten Seite der Gleichung, dass
eine Pyraninlösung gelb erscheint: Weil die Pyraninmole-
külionen ein Proton (H+) ihrer OH-Gruppe bereitwillig an Der Farbstoff Eosin Y ist in einigen roten Tinten enthalten.

48 Spektrum der Wissenschaft  4.20


In Ethanol gelöstes Pyranin (links) fluoresziert
unter UV-Licht (Wellenlänge 365 nm) blau,
Eosin Y (rechts) zeigt dabei gelbe Fluoreszenz.
MATTHIAS DUCCI

Die hergestellten Lösungen bieten unter UV-Licht


(Wellenlänge 365 nm) ein beeindruckendes Bild, da die
Pyraninlösung intensiv blau und die Eosin-Y-Lösung gelb
fluoresziert (siehe Bild oben).
Wie schon die gelbe und blaue Wasserfarbe sollen nun
die gelbe und die blaue Lösung in einem weiteren Gefäß
unter UV-Licht zusammengemischt werden. Wir haben Blau und Gelb gibt ... nicht Grün! Die
viele Studenten und Schüler zuvor befragt, was sie erwar- Mischung der beiden fluoreszierenden

MATTHIAS DUCCI
ten würden. Die überwältigende Mehrheit hat darauf Lösungen leuchtet unter UV-Licht weiß.
getippt, dass man eine grün fluoreszierende Lösung erhal-
ten würde. Hand aufs Herz, was erwarten Sie? Tatsächlich
fluoresziert das Gemisch aus beiden Lösungen in weißem
Farbton (siehe Bild rechts). Wasserfarben kennen. Bei der subtraktiven Farbmischung
Die falsche Erwartung der Schüler und Studenten ist wird ein Teil des Lichts durch Farbfilter ausgeblendet oder
damit zu erklären, dass sie das Prinzip der subtraktiven durch Pigmente absorbiert und dadurch vom ursprünglich
Farbmischung auf das vorliegende Experiment angewen- vorhandenen Licht subtrahiert. Das restliche Licht bildet
det haben. Dieses Prinzip haben sie nämlich fest verinner- eine Mischfarbe. Somit tritt die subtraktive Farbmischung
licht, da sie es – wenn auch nicht unter dieser Bezeich- immer dann auf, wenn Körper, die nicht selbst leuchten,
nung – spätestens seit der Grundschule vom Mischen der einen Farbeindruck hervorrufen. Schon die drei Grundfar-
ben Zyan, Magenta und Gelb reichen aus, um alle erdenk-
lichen Farben zu mischen (siehe Bild unten links).
Im Gegensatz dazu ergibt sich bei dem Experiment mit
den fluoreszierenden Lösungen eine additive Farbmi-
schung. Sie liegt immer dann vor, wenn farbiges Licht aus
verschiedenen Lichtquellen zusammentrifft. Hierbei hängt
der resultierende Farbeindruck von den Ausgangsfarben
und deren Intensität ab. Die drei Grundfarben sind dabei
Rot, Grün und Blauviolett (RGB). Nach internationaler
Norm handelt es sich um monochromatisches Licht der
Wellenlängen 700 Nanometer (nm) (Rot), 546 nm (Grün)
und 435 nm (Blauviolett). Werden diese in geeigneter
Das Prinzip der Additive Farbmischung der Helligkeit addiert, sieht man Weiß (Bild links). Eine Mi-
subtraktiven Farbmi- Grundfarben Rot, Grün und
schung aus den Blauviolett. Der Hintergrund schung aus Grün und Rot ergibt Gelb, aus Grün und
drei Grundfarben Zyan, symbolisiert die Empfindung Blauviolett entsteht Zyan, und mit Blauviolett und Rot
MATTHIAS DUCCI

Magenta und Gelb. Schwarz (kein Licht). erhält man Magenta. Andere (Misch-)Farben kann man
erzeugen, indem man die Lichtintensitäten verändert.

Spektrum der Wissenschaft  4.20 49


Doch auch schon sehr nahe beieinanderliegende Licht-

MATTHIAS DUCCI
quellen unterschiedlicher Farbe bewirken eine additive
Farbmischung, da das menschliche Auge sie als Einheit
und nicht einzeln wahrnimmt. Nach diesem Prinzip funkti-
onieren die auf dem RGB-Raum basierenden Farbwieder-
gabeverfahren vieler Bildschirme, wie etwa des Displays
von Smartphones, des Computermonitors oder des Bild-
schirms von Fernsehgeräten (Bild unten). Bei der LCD-
Technologie (LCD steht für Liquid Crystal Display, also
Flüssigkristalldisplay) besteht jeder Pixel aus drei Sub­
pixeln mit den Grundfarben Rot, Grün und Blau, die unab-
hängig voneinander angesteuert werden können.
Bereits eine historische Stilrichtung der Malerei, der so
genannte Pointillismus, nutzte das Prinzip der additiven
Farbmischung. Er gilt als Weiterführung des Impressionis-
mus und hatte seine Blütezeit von 1889 bis 1910. Das
charakteristische Merkmal dieser Stilrichtung ist ihre
Maltechnik, die der Künstler Georges Seurat (1859–1891)
geprägt hat. Er beschäftigte sich in den 1880er Jahren
intensiv mit den neuen Erkenntnissen zur Farbenlehre und
studierte auch die Arbeiten von Maxwell zur Farbwahrneh-
mung und zur additiven Farbmischung. Darauf aufbauend
entwickelte er die Maltechnik, bei der das gesamte Bild
Mit Hilfe von drei LED-Strahlern lässt sich das Prinzip aus kleinen, regelmäßigen Farbtupfern möglichst weniger
der additiven Farbmischung anschaulich demonstrieren. verschiedener Farben besteht. Auf diese Weise erlangt der
Betrachter erst in einer gewissen Entfernung einen
Gesamt(farb)eindruck, da optische Verschmelzung und
Grundsätzlich ist das Farbsehen beim Menschen eine additive Farbmischung dann die Formen und Gestalten
additive Farbmischung. So befinden sich in der Retina drei erkennen lassen. Das wegweisende Werk dieser Kunst-
Zapfentypen: richtung war Seurats Bild »Ein Sonntagnachmittag auf der
»Blau«-Rezeptoren oder Kurzwellen (KW)-Sensoren, Insel La Grande Jatte«, das er von 1884 bis 1886 schuf. Es
»Grün«-Rezeptoren oder Mittelwellen (MW)-Sensoren und ist heute im Art Institute of Chicago ausgestellt.
»Rot«-Rezeptoren oder Langwellen (LW)-Sensoren. Auch eine rasch alternierende Folge farbiger Flächen
Je nach einfallendem Licht werden sie unterschiedlich kann einen einheitlichen Farbeindruck erzeugen. Am
stark erregt, und erst im Gehirn entsteht der Farbeindruck
(physiologische Farbmischung). Dieses Prinzip des Drei­
farbensehens sagte bereits der Physiker und Arzt Thomas Die Makroaufnahme eines Computerbild-
Young (1773–1829) in seiner trichromatischen Theorie schirms zeigt die eng beieinanderliegenden
vorher, die John Dalton (1766-1844), James Clerk Maxwell Subpixel aus Rot, Grün und Blauviolett.
(1831–1879) sowie Hermann von Helmholtz (1821–1894)

TILMAN BINZ, MIT FRDL. GEN. VON MATTHIAS DUCCI


weiterentwickelten. Genaue wissenschaftliche Untersu-
chungen haben die Theorie inzwischen weitgehend bestä-
tigt, auch wenn die Absorptionsmaxima der Rezeptoren
leicht verschoben liegen und den (Schulbuch-)Bezeich­
nungen Blau, Grün und Rot eigentlich nicht entsprechen
(420 nm beim Kurzwellensensor, 535 nm beim Mittelwel-
lensensor und 565 nm beim Langwellensensor; das Maxi-
mum des Rotrezeptors liegt damit im gelben Bereich).
Die additive Farbmischung lässt sich mit einem klassi-
schen Experiment demonstrieren, bei dem man eine
Leinwand gleichzeitig mit unterschiedlich farbigen Licht-
quellen beleuchtet. Dazu eignen sich etwa Experimentier-
lampen, die je mit einem roten, grünen und blauen Farbfil-
ter und geeigneter Blende ausgestattet sind. Idealerweise
ist jede Lampe mit einem eigenen regelbaren Netzgerät
verbunden, so dass sich die Farbintensitäten über die
angelegte Spannung variieren lassen, um ein möglichst
breites Spektrum an Mischfarben zu erhalten. Alternativ
eignen sich einfache LED-Strahler (Bild oben).

50 Spektrum der Wissenschaft  4.20


–O O O CH3

O O N

2 Na+ COO – CH3


N

Die Strukturformeln von Uranin (links) und Nilrot (rechts)

Diese Lösungen kann man nun entsprechend den in der


folgenden Tabelle angegebenen Verhältnissen zusammen-
mischen, um verschiedene Farben zu erzeugen. Wer es
nicht abwarten kann: Das Ergebnis der Versuche ist im Bild
links zu sehen.

Volumen Volumen Volumen Fluoreszenzfarbe des


Pyranin- Uranin- Nilrot- Gemischs unter
Die additive Farbmischung mit fluoreszierenden Lösun- lösung lösung lösung UV-Licht (l = 365 nm)
gen (unter UV-Licht der Wellenlänge 365 nm). In
1 ml 1 ml Zyan
den Ecken des gedachten Dreiecks befinden sich die
2 ml etwa 10 Tropfen Magenta
drei Grundfarben, auf den Seitenmitten das jeweilige
Gemisch der benachbarten Grundfarben und in 2 ml etwa 15 Tropfen Gelb

der Mitte eine Lösung aus allen drei Grundfarben. 1 ml 1 ml etwa 6 Tropfen Weiß
MATTHIAS DUCCI

Volumenanteile beim Mischen der Lösungen

besten sieht man das an einem Farbkreisel. Hierzu teilt Natürlich wäre es wünschenswert, könnte man auf den
man die Drehscheibe aus weißer Pappe in Sektoren auf brennbaren Spiritus verzichten – vor allem, wenn man die
und malt sie abwechselnd mit grüner und roter Farbe Experimente in der Schule oder zu Hause durchführen
aus. Da das menschliche Auge die zeitliche Abfolge der möchte. Gleiches gilt für die Verwendung der vergleichswei-
einzelnen Flächen beim Drehen des Kreisels nicht mehr se teuren Laborchemikalie Nilrot. Beides ist (mit geringen
auflösen kann, erscheint der Kreisel gelb. Technische Abstrichen) möglich, indem man statt Alkohol wässrige
Anwendung findet dieses Prinzip bei DLP-Beamern (DLP Lösungen benutzt und an Stelle von Nilrot eine Lösung aus
steht für Digital Light Processing, also digitale Lichtverar- dem Farbstoff des orangefarbenen Stabilo-Textmarkers
beitung). Mit Hilfe eines sich schnell drehenden Farbrads »Luminator XT«. Allerdings fluoresziert diese orange statt rot.
vor einer weißen Lichtquelle sowie beweglichen Spiegeln Als grün fluoreszierende Komponente eignet sich eine wäss-
projizieren sie unterschiedlich farbige Bilder in hoher rige Pyraninlösung, wieder aus dem Herlitz-Textmarker.
Frequenz. Die beiden Textmarkerlösungen werden analog zur
Die Überlagerung der Grundfarben gemäß der additiven ethanolischen Pyraninlösung hergestellt, mit dem Unter-
Farbmischung lässt sich auch mit fluoreszierenden Lösun- schied, dass kein Brennspiritus, sondern jeweils zehn
gen demonstrieren. Hierzu benötigt man neben einer blau Milliliter Wasser verwendet werden. Für die dritte Farbe
fluoreszierenden Pyraninlösung, die wie oben beschrieben wird ein­fach ein dünner Kastanienzweig mit der Schnittflä-
mit gelben Textmarkern hergestellt werden kann, noch che in zehn Milliliter Wasser gerührt. Nach wenigen Sekun-
grün sowie rot fluoreszierende Flüssigkeiten. Die grün den erhält man so eine blau fluoreszierende Aesculinlösung
fluoreszierende Lösung ist wieder mit einem Alltagspro- (siehe Spektrum der Wissenschaft 10/2019, S. 62-65). Um
dukt zu erzeugen: So enthalten Badeperlen der Firma die Mischfarben zu erzeugen, gießt man etwa gleiche
Kneipp (Produktname: »Badeperlen stressfrei«) den Farb- Volumenteile der Lösungen zusammen. 
stoff Uranin. Um eine entsprechende Lösung zu erhalten,
überschichtet man ein halbes Gramm der Badeperlen mit QUELLEN
zehn Millilitern Brennspiritus, rührt das Ganze kurz um und Ducci, M.: »Gelb und Blau ergibt … Weiß!« – Experimente zur
kippt die überstehende Lösung, nachdem sich die Perlen additiven Farbmischung mit Fluoreszenzfarbstoffen. CHEMKON
gesetzt haben, vorsichtig ab (dekantieren). Der in den 26, 2019
Badeperlen ebenfalls enthaltene Azofarbstoff Cochenil- Müller, W., Frings, S.: Tier- und Humanphysiologie. 4. Auflage,
lerot A löst sich innerhalb dieser knappen Zeit nur in sehr Springer, 2009
geringer Menge und stört bei den Mischversuchen nicht. Wöhrle, D. et al.: Photochemie. Wiley-VCH, 1998
Bei der rot fluoreszierenden Lösung muss mit Nilrot auf
einen Farbstoff zurückgegriffen werden, der nur im Chemi- LITERATURTIPP
kalienhandel erhältlich ist. Schon ein Milligramm Nilrot in Ducci, M., Oetken, M.: Fluoreszierende Farbspiele. Spektrum
50 Milliliter Brennspiritus ergibt unter UV-Licht eine spek- der Wissenschaft 3/2018, S. 56–59
takuläre rote Fluoreszenz. Mit Textmarkern der Funktionsweise der Fluoreszenz auf der Spur

Spektrum der Wissenschaft  4.20 51


BRAND-
KATASTROPHEN
TÖDLICHE
FEUERSÄULEN
Feuertornados sind zwar sehr
­selten, aber extrem zerstörerisch
und praktisch nicht vorherzu­
sagen. Um die Phänomene besser
zu verstehen, bilden Forscher sie
im Labor nach und analysieren
die wenigen bekannten Fälle.
­Vielleicht können sie eines Tages
rechtzeitig vor ihnen warnen.

Jason M. Forthofer bekämpft


als Feuerwehrmann seit mehr als
20 Jahren Großbrände. Am Fire
Sciences Laboratory in Missoula
in Montana versucht er, deren
Verhalten und Ausbreitung besser
zu verstehen.

 spektrum.de/artikel/1706918

Bei einem Laborversuch am


­Missoula Fire Sciences Laboratory
bildet sich ein Feuerwirbel durch
rotierende Luftmassen, die in eine
Pfanne mit brennendem Alkohol
strömen.
FOTO: SPENCER LOWELL

52 Spektrum der Wissenschaft  4.20



Als wir zur Landung auf Medford im US-Bundesstaat Verbindung stehen, echte Feuertornados sind. Nach dieser
Oregon ansetzten, wurden wir plötzlich von einer Definition wäre bislang nur ein einziger dokumentiert
Rauchdecke eingehüllt, die den Südwesten Oregons worden, und zwar 2003 bei einer Feuersbrunst in der Nähe
und den Norden Kaliforniens bedeckte. Es war Ende Juli der australischen Hauptstadt Canberra. Er hinterließ eine
2018, und überall in der Region wüteten große Brände. Ich mehr als 20 Kilometer lange Schneise der Verwüstung.
war unterwegs, um mit einem Team des California Depart­ Solch eine restriktive Einordnung war in meinen Augen
ment of Forestry and Fire Protection einen tödlichen Unfall wenig nützlich für Feuerwehrleute. Daher hatten mein
zu untersuchen, der sich zwei Tage vorher ereignet hatte. Kollege Bret Butler und ich ausgehend von der allgemeine­
»Ein Feuerwehrmann ist in einem Feuertornado ums Leben ren Definition, dass ein Feuertornado ein Feuerwirbel mit
gekommen«, berichtete mir der Gruppenleiter am Telefon – tornadoähnlichen Windgeschwindigkeiten ist, sämtliche
eine Nachricht, die mir einen eisigen Schauer über den Dokumentationen zusammengesucht, die wir finden konn­
Rücken jagte. ten. Auf dieser Grundlage hatten wir Empfehlungen für
Vielleicht hatte ich mehr als jeder andere geahnt, dass Trainings und Kurse erstellt. Und nun fuhr ich also in Rich­
dies eines Tages passieren würde. Etwa zehn Jahre zuvor tung der Ortschaft Redding in Kalifornien, um zu untersu­
hatte ich zum ersten Mal den Blick auf die Verwüstungen chen, warum ein Feuerwehrmann in einem Feuertornado
eines Feuertornados geworfen. Aus dem als »Indians Fire« ums Leben gekommen war.
bekannten Flächenbrand in Kalifornien hatte sich ein sol­
cher mit einem Durchmesser von fast 300 Metern gelöst Ein Tornado mit Temperaturen bis zu
und war über eine Gruppe von Feuerwehrleuten hinweg­ 1500 Grad Celsius
gefegt. Gegen den starken Wind anzurennen sei gewesen, Die Stelle, an der der Tornado gewütet hatte, sah aus wie
wie durch brusthohes Wasser zu waten, sagte mir einer der ein Schlachtfeld. Weder der berühmte Tornadoforscher
Überlebenden. Die Männer hatten das Glück, dass sie zu Joshua Wurman, der mich begleitete, noch ich hatten
dem Zeitpunkt auf einer asphaltierten Straße standen; jemals etwas Vergleichbares gesehen. Ganze Häuserblocks
hätten sie sich wenige Meter weiter inmitten von Gras und waren dem Erdboden gleich, allein die Fundamente waren
Bäumen befunden, wären sie alle tot. Als ich an der Stelle übrig. Dachbedeckungen und anderer Schutt lagen kreuz
ankam, lagen überall riesige Eichenäste herum, und der und quer herum. Bäume waren entwurzelt oder abgebro­
Boden war mit Steinen übersät. chen und durch herumfliegende Sand- und Steinpartikel
Der Vorfall hinterließ einen bleibenden Eindruck bei mir, entrindet. Drei etwa 30 Meter hohe Hochspannungsmasten
und ich war tief beunruhigt. Die Geschichte war knapp aus Metallgitter waren umgefegt worden, einer von ihnen
ausgegangen. Viele von uns hatten bereits Feuerwirbel war über 300 Meter weit durch die Luft geflogen. Ein zwölf
gesehen – sich drehende Feuersäulen, etwa so groß wie Meter langer Seefrachtcontainer war völlig zerfetzt, und um
Staubhosen. Sie gelten nicht als sonderlich gefährlich. umgeknickte Strommasten wickelte sich ein Stahlrohr.
Feuertornados hingegen vereinen die zerstörerische Kraft Wir schätzten, dass der Wind Geschwindigkeiten von
der Flammen mit der Windstärke echter Tornados. Sie rund 265 Stundenkilometern erreicht haben könnte, das
treten so selten auf, dass sie lange eher als Mythos galten. entspricht etwa einem Tornado der Stufe 3 auf der »verbes­
Ich bin seit 1996 aktiver Feuerwehrmann und forsche seit serten Fujita-Skala« (der stärkste jemals aufgezeichnete
acht Jahren zum Verhalten von Feuer, und selbst ich hatte Tornado erreichte Stufe 5). In Kalifornien waren bis dahin
bis dahin bloß von einem Fall aus der Erzählung eines nur zwei reguläre Tornados dieser Kategorie aufgetreten.
ehemaligen Feuerwehrmanns gehört. Die brennenden Gase im Innern der Feuersäule könnten
Zurück am Fire Sciences Laboratory (Labor für Feuer­ nach unseren Berechnungen Spitzentemperaturen von fast
forschung) in Missoula im Bundesstaat Montana, hatte ich 1500 Grad Celsius erreicht haben. Der Feuertornado hatte
mich damals direkt auf die Suche nach Literatur zu dem
Thema begeben. Ich fand einige unterschiedlich alte Berich­
te über Feuertornados weltweit, die meisten davon eher
vage. Die Informationen waren so spärlich, dass die Fach­ AUF EINEN BLICK
welt nicht einmal eine einheitliche Definition für das Phäno­ FEUERTORNADOS AUF DER SPUR
men hatte. Bei massiven Waldbränden können sich in
großer Höhe beispielsweise so genannte Pyrocumulonim­
buswolken (pyroCb-Wolken, siehe »Gefährliche Feuerwol­ 1 Feuertornados sind kilometerhohe brennende Säulen
mit Windstärken, wie sie bei echten Tornados herr­
schen. Sie können etwa bei Großbränden entstehen.
ken«, S. 54) bilden. Das war auch bei den verheerenden
Buschbränden der Fall, die bis Anfang 2020 Australien in
Atem hielten: Die Feuer erzeugen dadurch quasi ihr eigenes
Wetter. Dabei handelt es sich um eisbedeckte Gewitterwol­ 2 Dank Laborversuchen versteht man heute grund­
sätzlich, wie sich die Phänomene bilden. Trotzdem
sind sie bislang unmöglich vorherzusagen.
ken, die entstehen, wenn die durch das Feuer freigesetzte
Feuchtigkeit kondensiert. Das Wasser stammt von den
verbrennenden Pflanzen, aus der Atmosphäre und entsteht
außerdem als Nebenprodukt bei der Verbrennung selbst.
3 Um das zu ändern, analysieren Forscher und
­Feuerwehrleute vergangene Ereignisse und stellen
Feuersäulen im Labor nach.
Einige Wissenschaftler waren der Ansicht, dass ausschließ­
lich solche brennenden Wirbel, die mit pyroCb-Wolken in

Spektrum der Wissenschaft  4.20 53


an seiner Basis einen Durchmesser von mehr als 300 Me­ Die Scheiben der zwei Feuerwehrfahrzeuge, die zu
tern und reichte Radarmessungen zufolge etwa 4800 Meter diesem Zeitpunkt die Straße herunterfuhren, wurden her­
in die Höhe. Mindestens 40 Minuten lang wütete er, beweg­ ausgeschleudert und von Trümmerteilen zerschmettert.
te sich dabei langsam über den Boden und hinterließ eine Seltsamerweise wurde der eine Wagen hauptsächlich auf
rund eineinhalb Kilometer lange Spur der Zerstörung. der Fahrerseite beschädigt, der andere auf der Beifahrersei­
Wir befragten Augenzeugen und sammelten Videomate­ te – obwohl sie im Abstand von weniger als 50 Metern in
rial, in der Hoffnung, aus dem Ereignis lernen zu können. dieselbe Richtung fuhren. Auch daran sieht man, dass die
Der Feuertornado bildete sich am Abend des 26. Juli 2018 Luftmassen rotieren.
während eines Großfeuers nördlich von Redding, das sich
zu diesem Zeitpunkt bereits über 11 640 Hektar erstreckte Wann können Brände die verheerenden Feuertornados
(der Brand wütete bis Ende August und ist unter dem erzeugen?
Namen »Carr Fire« als siebtgrößter kalifornischer Wald­ Was lässt sich aus einem derartigen Ereignis lernen? Kön­
brand bekannt). Das Feuer war so heftig und riesig, dass es nen wir vorhersagen, wo und wann ein Feuertornado
pyroCb-Wolken in etwa fünf Kilometer Höhe hervorrief. auftreten wird, und Bewohner und Feuerwehrleute evakuie­
Gegen 17.30 Uhr rasten die Flammen plötzlich gen Osten ren? Wie entsteht das Phänomen überhaupt? Um diese
und töteten den Bulldozerfahrer Don Smith sowie einen Fragen zu beantworten, hilft zuerst einmal ein Blick in die
Bewohner in seinem Haus. Als sich das Feuer dem Stadt­ Geschichte. 1871 wurde eine Stadt in Wisconsin verwüstet,
rand näherte, lösten sich einige Feuerwirbel und schleuder­ der riesigen Menge an umhergeworfenem Schutt nach zu
ten glühende Asche mehr als eineinhalb Kilometer vor die urteilen höchstwahrscheinlich durch einen Feuertornado.
Feuerwand und über den Fluss Sacramento. Dies setzte 1964 brachte das »Polo Fire« in Kalifornien einen solchen
mehrere kleinere, isolierte Brände in der Nähe zweier Wohn- hervor, der vier Menschen verletzte und Verwüstungen mit
gebiete am Ende einer Sackgasse in Gang. Es entwickelten sich brachte. Einer der verheerendsten bildete sich 1943
sich chaotische Szenen, als Feuerwehrleute versuchten, die während des Bombenangriffs der Alliierten auf Hamburg:
Bewohner zu evakuieren, während ihnen der Fluchtweg Der aus dem Bombardement resultierende Feuersturm
abgeschnitten wurde. Die Menschen rannten um ihr Leben. brachte einen gigantischen Feuertornado hervor, der laut
Als Jeremy Stoke, ein Feuerwehrmann aus Redding, dem Geografen Charles Ebert drei Kilometer im Durchmes­
gegen 19.30 Uhr dort ankam, formierte sich der Feuer­ ser betrug und sich fünf Kilometer hoch erstreckte. Mehr
tornado über der Straße und kesselte Bewohner sowie als 40 000 Zivilisten starben in dem Großfeuer.
Einsatzkräfte ein. Offensichtlich erwischte er Stoke auf der Noch weiter in der Vergangenheit, 1923, löste in Tokio
Straße. Dieser setzte noch einen Notruf ab, bevor die ein größeres Erdbeben einen Brand aus. Während sich
starken Winde seinen Truck mehrmals umdrehten, so dass dieser von Haus zu Haus ausbreitete, retteten sich die
er hunderte Meter entfernt an einen Baum liegen blieb. Anwohner auf eine offene Fläche zwischen den Gebäuden.
Stunden später wurde Stoke tot aufgefunden, seinen Ver­ Über diesem Platz bildete sich ein großer Feuertornado
letzungen erlegen. und tötete innerhalb einer Viertelstunde schätzungsweise
38 000 Menschen. Mehr als 50 Jahre lang erklärte man
dieses schreckliche Ereignis damit, dass zufällig zur
­gleichen Zeit und am selben Ort ein regulärer Tornado
Gefährliche Feuerwolken entstand. Doch in den 1980er und 1990er Jahren bauten
die Ingenieure Seiji Soma und Kozo Saito, der heute an
Bei Flächenbränden können Pyrocumulonimbus­ der University of Kentucky forscht, mit Hilfe historischer
wolken, kurz pyroCb-Wolken, entstehen. Sie Aufzeichnungen ein Modell des Feuers in kleinem Maß-
reichen oft viele Kilometer hoch und sind extrem stab nach, das dessen Geometrie und die Umgebungs­
gefährlich, weil sie weitere Brände entfachen winde detailgetreu wiedergab. Ihr Laborfeuer erzeugte von
können. Daher nennt man sie auch »Flammageni­ selbst einen Feuerwirbel. Das sprach dafür, dass auch der
tus«. Sie bilden sich, wenn Großbrände große echte Feuertornado durch den Brand selbst verursacht
Mengen an Feuchtigkeit freisetzen, die dann durch wurde.
die Hitze in die Höhe gerissen werden. Laut Feuer­ Diese Arbeiten basierten auf bahnbrechenden Labor­
wehrleuten sind Brände, die durch Flammagenitus- versuchen, die zwei Jahrzehnte vorher gemacht worden
Wolken angefacht werden, nicht mehr kontrollier­ waren. George Barym und Robert Martin erzeugten damals
bar. Bei den australischen Buschbränden, die in ihrem Labor an der US Forest Service Southern Research
Anfang 2020 wüteten, machten sie die Arbeit der Station kleine rotierende Feuer. Ihr Versuchsaufbau bestand
Einsatzkräfte immer wieder sehr gefährlich. Künf­ aus einer runden Schüssel mit brennendem Alkohol, die von
tig könnten wir pyroCb-Wolken häufiger antreffen: kreisförmig aufgebauten Wänden mit vertikalen Schlitzen
Wissenschaftler warnten 2019, dass durch den umgeben war. Durch die Schlitze wurde Luft rotierend in
Klimawandel regional verstärkt atmosphärische das Feuer gesogen. Die maßgebliche Erkenntnis der beiden
Bedingungen auftreten könnten, die ihre Entste­ Wissenschaftler: In dem daraus entstehenden Feuerwirbel
hung begünstigen. verbrannte die Flüssigkeit bis zu dreimal schneller und setzte
damit auch seine Energie dreimal so rasch frei wie in einem
nicht rotierenden Feuer. Vermutlich beschleunigte der Wir­-

54 Spektrum der Wissenschaft  4.20


Bei diesem Laborversuch sind drei
brennende Planken so angeordnet, dass
Luft in ihre Mitte strömt. Dort bündelt
ein Brandherd die wirbelnden Luftmas­
sen zu einer Säule aus Feuer. Solche
Konstellationen können auch bei echten
Bränden entstehen.

FOTO: SPENCER LOWELL


bel die Verbrennung, indem er die Flammen nach unten in kann sich der Wirbel noch um eine horizontale Achse
Richtung der Alkoholoberfläche drückte und diese damit drehen, doch sobald die Luft in die Brandfahne gesogen
aufheizte. Weitere Forschung hat gezeigt, dass solche sich wird, bewirkt der heiße, aufsteigende Strom, dass sich die
drehenden Feuer ihre Energie sogar bis zu siebenmal Achse aufrichtet. Zweitens heizt sich die Luft, die zunächst
schneller freisetzen können als gewöhnliche. Etwas Ähn­ langsam vom Boden aus in die Höhe steigt, beim Verbren­
liches geschieht, wenn sich bei Waldbränden Feuerwirbel nen der in ihr enthaltenen Gase auf. Der Luftdruck rund um
und Feuertornados bilden: Ein erhitztes Stück Holz setzt den Wirbel zwingt die heiße, leichte Luft im Kern des
Hunderte verschiedener brennbarer Gase frei, die sich Wirbels nach oben. Die immer schneller hochströmende
entzünden. Wenn die starken horizontalen, rotierenden Luft in der Brandfahne streckt den Feuertornado oder
Winde im Feuertornado die Flammen nach unten in die Feuerwirbel vertikal entlang seiner Achse, so dass er in die
Vegetation drücken, brennt diese noch intensiver. Höhe wächst und gleichzeitig dünner wird – so, wie man
1976 stellten Howard Emmons und Shuh-Jing Ying an aus einer Kugel Teig eine lange Schlange formt. Durch den
der Harvard University rings um ein stationäres Laborfeuer verkleinerten Durchmesser rotiert die Luft immer schneller,
ein zylindrisches Drahtgeflecht auf, das sich mit verschiede­ um ihren Drehimpuls beizubehalten. Diesen Effekt kann
nen Geschwindigkeiten drehen konnte, um der hineinströ­ man auch beobachten, wenn Eiskunstläufer bei einer
menden Luft eine Rotation zu verleihen. Die Wissenschaft­ Pirouette ihre Arme anlegen.
ler maßen die Windgeschwindigkeit sowie die Temperatur­ Während sich ein Feuerwirbel oder Feuertornado über
verteilung im so erzeugten Feuer und erhielten dadurch eine brennende Fläche hinwegbewegt, streckt er sich bis in
einen Einblick in sein Innenleben. Sie fanden heraus, dass eine beträchtliche Höhe und dreht sich schnell um eine
neben dem Feuer selbst eine Quelle für Rotation sowie ein schmale Achse. Trifft er hingegen auf ein Gebiet, das kein
verstärkender Mechanismus vonnöten sind, um einen brennbares Material bietet, wird er breiter und langsamer,
solchen Wirbel zu erzeugen. bis nur noch ein diffuser Rauchzylinder übrig ist. Manchmal
Ein Feuertornado besitzt im Grunde dieselben Strö­ ist das rotierende Objekt so breit und langsam, dass Feuer­
mungseigenschaften. In der Atmosphäre bilden sich oft
zahlreiche Wirbel – durch den Wind, der um Berge weht
oder über den Boden zieht, oder durch Schwan­kungen von
Dichte und Druck. Das Feuer selbst erfüllt zwei weitere
wichtige Funktionen: Es bündelt die Rota­tion und erhält sie Mehr Wissen auf
zudem aufrecht, so dass sich schließlich eine schmale Spektrum.de
Luftsäule um eine vertikale Achse dreht.
Unser Online-Dossier zum Thema
Die aus dem Feuer aufsteigende heiße Luft sorgt erstens finden Sie unter
dafür, dass weitere Luft in die Basis des Feuers gesogen spektrum.de/t/feueroekologie GILITUKHA / STOCK.ADOBE.COM
wird, um die aufsteigende zu ersetzen. So zieht das Feuer
wirbelnde Luftmassen aus der Umgebung an. Anfangs

Spektrum der Wissenschaft  4.20 55


Unberechenbare Ungetüme
Feuertornados sind rotierende Säulen aus Feuer und Rauch, die ähnliche Windgeschwindigkeiten auf­
weisen wie echte Tornados. Sie sind selten, aber extrem zerstörerisch und bemerkenswert langlebig.
Dass sie sich aus dem Hauptfeuer lösen können, macht sie besonders gefährlich. Indem sie Trümmer wie
etwa brennende Holzscheite einsaugen und hoch oben wieder herausschleudern, entfachen sie an
vorher nicht absehbaren Orten neue Brände. Obwohl man die Physik der Feuertornados heute recht gut
versteht, ist es nach wie vor schwierig vorherzusagen, wo und wann sich einer bildet.

Der Feuertornado
aus dem »Carr Fire«
Am 26. Juli 2018 brachte die
als »Carr Fire« bekannte
Feuersbrunst nordwestlich der
kalifornischen Stadt Redding einen
Feuertornado hervor, der vier Men­
schen tötete und zahlreiche weitere
verletzte. Damit solch ein Phänomen
überhaupt entstehen kann, müssen neben
dem Feuer selbst rotierende Luftmassen vorlie­
BRYAN CHRISTIE DESIGN / SCIENTIFIC AMERICAN DEZEMBER 2019

gen. In diesem Fall wurden diese vermutlich von


kalten Winden erzeugt, die vom Pazifik her über die
Berge hinein ins Sacramento-Tal wehten. Die schnell
strömende Luft traf dort auf sich langsam bewegende
Luftmassen, wodurch sich eine brechende Welle sowie
Turbulenzen ausbildeten – ähnlich, wie wenn Wasser den
Überlauf eines Staudamms hinunterschießt und unten auf ruhen­
des Wasser trifft. Laut dem Autor brachte diese rotierende Luftmasse
zahlreiche Feuerwirbel in der Größe von Staubhosen hervor und gene­
rierte letztendlich den tödlichen Feuertornado.

56 Spektrum der Wissenschaft  4.20


Unter Laborbedingungen
Künstlich erzeugte kleine brennende
Wirbel erlauben Einblicke in die Physik
der Feuertornados. Die so hervor­
gerufenen rotierenden Feuer verzehren
einen Brennstoff einige Male schneller
als gewöhnliche. Außerdem verlieren sie
sehr wenig Energie und sind dadurch
ausgesprochen stabil.

Ein Tornado nimmt Fahrt auf


Die Rotation der Luft, die sich in einem
Feuertornado sammelt, kann von verschie­
denen Quellen stammen, beispielsweise von
Windströmungen in Bodennähe. So bilden
sich zunächst Wirbel, die sich um eine
horizontale Achse drehen. Doch weil die
heiße Luft, die die Feuersbrunst erzeugt,
nach oben strömt, richtet sich die Achse des
Wirbels auf. Die brennenden Gase in der
Rauchfahne erhitzen die Luft weiter, so dass
sie nach oben hin beschleunigt. So streckt
sich der kleine Wirbel zu einer langen,
dünnen Röhre. Beim Dünnerwerden dreht
sich diese immer schneller um sich selbst,
ähnlich wie ein Eiskunstläufer, der bei einer
Pirouette die Arme anlegt. Auf diese Weise
entsteht schließlich eine große, schnell
rotierende Feuersäule.
BRYAN CHRISTIE DESIGN / SCIENTIFIC AMERICAN DEZEMBER 2019

Spektrum der Wissenschaft  4.20 57


wann sie auftreten. Klar ist lediglich, dass eine starke Quelle
für Rotation vorhanden sein muss.
Aus Fallstudien wissen wir etwa, dass sich Feuertorna­
dos am wahrscheinlichsten an der windabgewandten Seite
(der Lee-Seite) eines Bergs bilden. Wenn Wind um einen
Berg weht, entstehen auf dieser Bergseite Luftverwirbelun­
gen – ähnlich, wie wenn Wasser um einen großen Stein in
einem Fluss fließt. Ein Feuer auf der Lee-Seite kann diese
Rotation bündeln und zu einem Feuertornado anwachsen
lassen. Doch tatsächlich ist die Sache komplizierter: Denn
Feuerwirbel können auch in ebenem Gelände und bei
ruhiger Luft entstehen. So wurde ein großer Feuerwirbel in
Kansas vermutlich durch eine Kaltfront verursacht, die mit
warmer Umgebungsluft zusammenstieß, als sie über ein
Das »Corona Fire« erzeugte im Feuer auf einem Feld zog. Und 2007 zeigten Rui Zhou und
November 2008 in Kalifornien Zi-Niu Wu von der Tsinghua-Universität in Peking, dass

GETTY IMAGES / DAVID MCNEW


einen brennenden Wirbel –­mög­ mehrere gleichzeitig brennende Feuer sogar von sich aus
licherweise einen Feuertornado. rotierende Luftmassen erzeugen können (Foto S. 55). Denn
befinden sich die Brandherde in bestimmten Anordnungen
zueinander, entstehen zwischen ihnen bodennahe Luftströ­
me. Solche Konstellationen können sich beispielsweise bei
wehrleute es nicht einmal als solches erkennen. In welche einem Feuer ergeben, das glühende Asche versprüht und
Richtung sich der Wirbel bewegt, hängt von den Umge­ dadurch ringsherum weitere Brände entfacht.
bungswinden und der Beschaffenheit der Landschaft ab;
wie genau, ist bis heute nicht verstanden. Verheerende Wetterlage
Emmons und Ying fanden auch heraus, dass Feuerwir­ Wo also kam die Rotationsenergie her, die den tödlichen
bel ihre Rotationsenergie sehr effizient aufrechterhalten, Feuertornado während des »Carr Fire« hervorgebracht hat?
was sie (leider) relativ langlebig macht. Der anfangs be­ Betrachtet man die zahlreichen Feuerwirbel, die in der
schriebene Feuertornado aus dem »Indians Fire« beispiels­ Gegend bereits existierten, dann war die Luft sicherlich
weise wütete eine ganze Stunde lang. Während sich ein ungewöhnlich stark verwirbelt. Natalie Wagenbrenner, eine
Feuertornado aufbaut, verstärken sich zwei entgegenge­ Kollegin am Missoula Fire Sciences Laboratory, stellte mit
setzte Kräfte: einerseits die Zentrifugalkraft, die rotierende Hilfe spezieller Computersimulationen das Wetter nach, das
Luft aus dem Wirbel zieht, und andererseits ein Unterdruck an dem Tag herrschte. Ihre Analysen zeigen, dass kühle,
im Kern des Wirbels, der sie nach innen zieht. Weil beide dichte Luft vom Pazifik aus nach Osten und über eine
Kräfte im Gleichgewicht stehen, bewegt sich die Luft kaum Gebirgskette westlich von Redding gedrückt wurde. Diese
in radialer Richtung, und die Feuersäule verliert wenig kühle Luft war sehr viel schwerer als die heiße Luft im
Energie durch Verwirbelung. Nicht rotierende Feuer tau­ Sacramento-Tal: Der Flug­hafen von Redding zeichnete an
schen etwa zehnmal so viel Energie mit der umgebenden jenem Tag Rekordtemperaturen von bis zu 45 Grad Celsius
Atmosphäre aus. Durch diesen Effekt reichen die rotieren­ auf. Durch die Schwerkraft beschleunigte die kalte Luft auf
den Feuer höher und haben einen geringeren Durchmesser, ihrem Weg hinab ins Tal, ähnlich wie herabfließendes
denn da praktisch nur an der Basis Luft eingesaugt wird, Wasser. Seltsamerweise kamen die starken Oberflächen­
steht weniger Sauerstoff für die Verbrennung zur Verfü­ winde abrupt zu einem Halt – genau dort, wo sich der
gung. Einige der brennbaren Gase steigen also erst hoch in Feuertornado bildete.
der Feuersäule auf, bis sie auf genügend Sauerstoff treffen Es dauerte eine Weile, bis ich begriff, was dann mit dem
und in Flammen aufgehen. Wind passierte: ungefähr das, was man an einem Stau­
Ebenso gefährlich ist, dass die hoch aufragende Säule damm beobachten kann, wenn das Wasser aus dem obe­
aus heißen Gasen einen Unterdruck am Fuß des Wirbels ren Reservoir nach unten fällt. An der Stelle, an der das
erzeugt. Die resultierenden bodennahen Luftströme ver­ schnell fließende Wasser auf das untere Becken trifft,
langsamen die Drehung, und die Zentrifugalkraft, die die springt Wasser von der Oberfläche wieder nach oben, und
Luft nach außen zwingt, nimmt ab. Weil aber die nach eine sich brechende Welle bildet sich. In diesem Bereich
innen gerichtete Kraft durch den Luftdruck gleich bleibt, treten intensive Strudelbewegungen auf. Wechselsprung
wird der Wind in Bodennähe in den Feuertornado gesogen. nennt man solch ein Phänomen in der Physik: Das Wasser
Wie ein gigantischer Staubsauger zieht dieser Luft und oft geht abrupt von einem Zustand sehr schnellen Fließens
auch brennende Trümmer in seine Basis hinein, schleudert (»Schießen«) in langsames Fließen über.
sie mit extremen Geschwindigkeiten senkrecht in die Höhe Auf quasi die gleiche Art und Weise traf die kalte, dichte
und spuckt sie oben wieder aus, so dass sie in völlig unvor­ Luft, die den Hang hinunterraste, auf das langsame Reser­
hersagbarer Weise neue Brände entfachen. voir warmer Luft im Tal. Das rief höchstwahrscheinlich die
Obwohl wir all das über die Physik der Feuertornados starke Rotation hervor, die den Feuertornado entstehen ließ
wissen, können wir immer noch nicht voraussagen, wo und (siehe »Unberechenbare Ungetüme«, S. 56/57). Gleichzeitig

58 Spektrum der Wissenschaft  4.20


Feuermodellierung und Vorhersage
Im Jahr 1972 entwickelte der notwendig ist, in einem von Feuer In der Praxis
US-amerikanische Feuerforscher bedrohten Gebiet gezielt Flächen Bei riesigen Flächenbränden, etwa
Richard Rothermel erstmals ein abzubrennen oder mit anderen in den USA, beschäftigen sich je
mathematisches Modell, um zu Mitteln die Vegetation auszudün­ nach Ausmaß ganze Teams allein
berechnen, wie sich ein Feuer unter nen. Um Aussagen über bereits mit der Vorhersage zum Einsatz­
verschiedenen Bedingungen aus­ lodernde Waldbrände zu machen, verlauf. Dazu gehört, wohin sich ein
breitet. Die Grundlage dafür sind sei sein Modell zu ungenau, da man Brand in welchem Zeitraum als
Beschreibungen, wie sich unter­ noch zu wenig über das tatsächli­ Nächstes ausbreiten und wo er am
schiedliche Materialien beim Ver­ che Verhalten der unterschiedlichen intensivsten verlaufen wird. Anhand
brennen verhalten. Anhand gemes­ Materialien wisse. der Daten entscheiden die Einsatz­
sener Daten wie beispielsweise Präziser kann man die Ausbrei­ kräfte beispielsweise, auf welche
Windrichtung und -geschwindigkeit tung eines Feuers mit Hilfe numeri­ Gebiete sie sich konzentrieren,
lässt sich damit abschätzen, wohin scher Strömungssimulationen (kurz wenn sie versuchen, das Feuer
sich ein Feuer wie schnell ausbrei­ CFD für »computational fluid dyna­ einzudämmen.
ten und wie sich seine Intensität mics«) vorhersagen. Diese Berech­ Waldbrände in Deutschland
verändern wird. nungen benötigen aber Tage und treten bislang in viel kleinerem
Im Lauf der Zeit wurde das sind daher nicht schnell genug, um Maßstab und auch in geringerer
Modell mit zahlreichen Ergänzun­ bei akuten Waldbränden zu helfen. Intensität auf. Die deutschen Feuer­
gen versehen, die mathematischen Die Wissenschaftler um Jason wehren arbeiten laut Ulrich Cimoli­
Grundlagen bilden jedoch immer Forthofer am Missoula Fire Lab no, dem Vorsitzenden des Arbeits­
noch die Basis für zahlreiche Pro­ arbeiten an einem neuen Pro­ kreises Waldbrand im Deutschen
gramme, die den Verlauf von Wald­ gramm, das zuverlässige Vorhersa­ Feuerwehrverband, normalerweise
bränden vorhersagen. Weil sie stark gen liefern soll. Dazu wollen sie die nicht mit Simulationssoftware in
vereinfacht sind, können die Be­ zahlreichen physikalischen Prozes­ diesem Bereich. Spezialisierte
rechnungen zwar schnell erfolgen, se, die bei einem Brand eine Rolle Experten wenden allerdings teils
allerdings geben sie nur grobe spielen, zunächst richtig verstehen das so genannte Campbell Predic­
Trends wieder. Ursprünglich war es und sie dann in einem Modell tion System (CPS) an, ein Vorher­
auch nicht die Absicht des Modells, verankern. Zum einen erwarten sie sagemodell, das auf Erfahrungs­
das Verhalten bestehender Brände dadurch bessere Ergebnisse. Zum werten basiert. Dabei werden etwa
vorherzusagen, wie Rothermel anderen hoffen sie, dass eine neue Vegetation, Temperatur, Windrich­
schrieb: Sein Werkzeug sei haupt­ Software, die auf einem grundle­ tung, Hangneigung und andere
sächlich ein Planungstool. Mit ihm genden Verständnis der beteiligten Faktoren berücksichtigt, um einzu­
könnten Verantwortliche etwa Prozesse beruht, auf große Akzep­ schätzen, wie sich der Brand aus­
einschätzen, ob es sinnvoll oder gar tanz bei den Einsatzkräften stößt. breitet.

türmten sich Pyrocumulonimbuswolken bis in elf Kilometer Forthofer, J. M., Goodrick, S. L.: Vortices and wildland fire. In:
Höhe am Himmel auf. Neil P. Lareau von der University of Werth, P. A. et al.: Synthesis of knowledge of extreme fire
behavior: Volume 1 for fire managers. USDA, 2011, S. 89–105
Nevada und seine Kollegen vermuteten 2018, dass der
Feuertornado erst durch die Feuerwolken zu seiner enor­ Lareau, N. P. et al.: The Carr Fire vortex: A case of pyrotornado­
men Größe heranwuchs. genesis? Geophysical Research Letters 45, 2018
Möglicherweise können wir in Zukunft noch weitere Soma, S., Saito, K.: Reconstruction of fire whirls using scale
dieser Phänomene so genau untersuchen und durch unsere models. Combustion and Flame 86, 1991
Erkenntnisse dazu beitragen, solche Tragödien zu verhin­
dern. Ich bin zuversichtlich, dass wir zusammen mit verbes­ WEBLINKS
serten Wettervorhersagen und höherer Rechenleistung (sie­ www.spektrum.de/news/1695552
he »Feuermodellierung und Vorhersage«, oben) bald in der
Die Brände in Australien und ihre Auswirkungen auf die Tier-
Lage sein werden, rechtzeitig vor ihnen zu warnen und und Pflanzenwelt
Leben zu retten. 
https://tinyurl.com/firelabtour

QUELLEN Eine virtuelle Tour durch das Missoula Fire Sciences Laboratory

Dowdy, A. J. et al.: Future changes in extreme weather and https://www.firelab.org/project/fire-whirl-research


pyroconvection risk factors for Australian wildfires. Scientific Mehr zur Feuertornado-Forschung einschließlich Trainingsvideo
Reports 9, 2019 mit Jason M. Forthofer

Spektrum der Wissenschaft  4.20 59


SCHLICHTING!
BIENEN UND BLUMEN
UNTER SPANNUNG
Fliegende Insekten wie Hummeln sind elektrisch leicht
positiv geladen, viele Blüten hingegen negativ. Mit
ihrem Pelz können die Tiere die Felder wahrnehmen –
und so abschätzen, wie viel Nektar noch zu holen ist.

H. Joachim Schlichting war Direktor des Instituts für Didaktik der Physik an der Universität
Münster. Seit 2009 schreibt er für »Spektrum« über physikalische Alltags­phänomene.

 spektrum.de/artikel/1706922

Es flüstern und sprechen die Blumen ten wie die häufig vorkommende Dunkle Erdhummel
Heinrich Heine (1797–1856) (Bombus terrestris) elektrisch positiv geladen, weil es
während ihres Flugs zu Reibungseffekten kommt. Dieses
Phänomen der so genannten Triboelektrizität hat wohl


Wer über Blumen schwirrende Insekten beobachtet, jeder schon am eigenen Leib erfahren, etwa bei einem
fragt sich vielleicht: Sind die Kraft raubenden Anflü- metallenen Türgriff, den man nach einem Gang über
ge nicht zum großen Teil vergeblich, weil sich bereits einen Teppich aus Kunststoff­fasern anfasst.
andere kurz vorher am Nektar bedient haben? Die präch- Wenn eine Hummel auf einer Blüte landet, tauschen
tigen Farben und Strukturen der Blüten ändern sich beide ihre Ladungen aus. Dabei bleibt auch Pollen am
schließlich nicht, ebenso wenig ihr betörender Duft. Doch Pelz haften (siehe Foto rechts), ähnlich wie Styroporkü-
es gibt weitere, für uns Menschen unmerkliche Hinweise, gelchen an einer elektrostatisch geladenen Oberfläche.
ob sich ein Besuch lohnt. Das verändert für einige Zeit die Struktur des elektrischen
Viele Blüten tragen eine leicht negative elektrische Felds der Blüte. Forscher um den britischen Biologen
Ladung. Das liegt am ständigen Spannungsunterschied Daniel Robert von der University of Bristol haben ent-
zwischen Himmel und Erdoberfläche. Die geerdete deckt: Hummeln nehmen die Felder wahr – und die damit
Blume reicht die negative Ladung des Bodens gewisser- verbundenen Informationen über den Status der Bestäu-
maßen in die Höhe weiter. Dagegen sind manche Insek- bung. Bei eingehenderen Untersuchungen fanden sie
heraus, dass das Insekt so tatsächlich beurteilt, welche
Blüte einen Besuch besonders lohnt.
Dazu boten die Forscher den Hummeln leicht elekt-
risch geladene Kunstblüten mit Zuckersaft sowie ungela-
dene mit einer bitteren Flüssigkeit an. Sonst waren die

Äquipotenziallinien

Beim Fliegen häufen Reibungseffekte auf dem


Körper der Insekten positive Ladungen an. Blumen
SPEKTRUM DER WISSENSCHAFT / MIKE BECKERS

tragen negative – wie der Erdboden. Der Potenzial-


unterschied sinkt für einige Zeit, wenn andere
Hummeln gerade eine Blüte besucht und entladen
haben. Die Tiere erkennen mit ihren Härchen
geladene Blüten entladene Blüte
das entstehende elektrische Feld und so die am
besten gefüllten Nektarquellen.

60 Spektrum der Wissenschaft  4.20


Bei dem Besuch an Blüten
lassen elektrostatische

H. JOACHIM SCHLICHTING
Effekte Pollen auf den Pelz
der Hummel übergehen.

Futterstellen zum Verwechseln gleich. Wenn nun die die Körperhaare auf, wenn man etwa einen durch Rei-
Hummeln darauf losgelassen wurden, gewöhnten sie bung aufgeladenen Luftballon in die Nähe bringt. Das
sich sehr schnell daran. Sie wussten die elektrische wiederum regt unsere empfindlichen Hautnerven an und
Information zu nutzen und besuchten bald bevorzugt die vermittelt ein typisches, kribbelndes Gefühl.
geladenen, süßen Ziele. Als die Wissenschaftler die Vielleicht ist es bei Hummeln ähnlich, und ihre zahlrei-
verschiedenen Kunstblüten anschließend sämtlich la- chen Härchen dienen nicht nur der Wärmisolation, son-
dungsfrei hielten, flogen die Insekten sie wahllos an. dern ebenso zur Detektion von Feldern. Um dem nachzu-
Offenbar verstehen die Hummeln die in den elektrischen gehen, registrierten die Forscher mit Hilfe von Laserstrah-
Feldern codierte Information. len, wie die feinen Körperhaare und die Antennen der
Tiere jeweils auf elektrische Einwirkungen reagieren.
Fräulein Hummels Gespür für Feldstärke Gleichzeitig zeichneten sie die zugehörigen Nervensignale
Echte Blüten haben unterschiedliche Geometrien, mit auf. Sie stellten fest: Sowohl die Haare als auch die Fühler
denen sie verschiedene elektrische Strukturen erzeugen. werden wie steife Stäbe ausgelenkt, also ohne nennens-
Da liegt die Frage nahe, ob Hummeln nicht nur pauschal werte Biegungen. An der Basis registrieren mechanosen-
zwischen geladenen und ungeladenen Blumen unter- sorische Neurone die Bewegungen und leiten entspre-
scheiden, sondern außerdem den Verlauf der Felder er­- chende Signale weiter.
fassen können. Um das herauszufinden, haben die For- Alles in allem sind die Härchen demnach gute Senso-
scher Kunstblüten mit etwa der gleichen Spannung ge- ren. Unter Insekten und Spinnen ist die Nutzung von
laden. Bei den mit Nahrung präparierten wies das elektri- Borsten und Haaren als Sinnesorgane weit verbreitet,
sche Feld aber eine konzentrische Form mit nach außen etwa um Schwingungen oder die Position der Gliedma-
hin abnehmender Feldstärke auf. Demgegenüber war es ßen zu erfassen. Ein Gespür für elektrische Felder ist
bei den Blüten ohne Nahrung konstant stark. Die Hum- daher bei ihnen wahrscheinlich ebenfalls gang und gäbe
meln lernten die Muster sehr schnell zu unterscheiden. und dürfte viele Aspekte der Kommunikation von Tier-
Elektrische Felder ergänzen also sinnvoll die Informa­ und Pflanzenwelt betreffen.
tionen durch Farben, Gestalt und Geruch. Doch mit
welchen Sinnesorganen erkennen die Hummeln über-
haupt die zusätzlichen Muster? Auf der Suche nach einer QUELLEN
Antwort richteten die Biologen ihre Aufmerksamkeit auf Clarke, D. J., Whitney, H. M. et al.: Detection and learning of
die Haare und Fühler. Ausgangspunkt war die Feststel- floral electric fields by bumblebees. Science 340, 2013
lung, dass die feinen Strukturen des Pelzes und die Sutton, G. P., Clarke, D. et al.: Mechanosensory hairs in
Antennen vibrieren, sobald sie in ein elektrisches Feld bumble­bees (Bombus terrestris) detect weak electric fields.
geraten. Auch das kennen wir: Bei Menschen stellen sich PNAS 113, 2016

Spektrum der Wissenschaft  4.20 61


QUANTENPHYSIK
ZUWACHS
FÜR DEN
DOPPELSPALT
Experimente mit einem Drei­
fachspalt statt der klassischen
Variante mit zwei Schlitzen
offenbaren subtile und meist
übersehene Aspekte der
Quantenmechanik.

Urbasi Sinha ist Physikerin am Raman


Research Institute im indischen Bangalore
sowie Mitglied des kanadischen Institute
for Quantum Computing an der University
of Waterloo in Ontario und des Center for
Quantum Information and Quantum
Control an der University of Toronto.

 spektrum.de/artikel/1706914

INSTITUTE FOR QUANTUM COMPUTING


(IQC), UNIVERSITY OF WATERLOO

62 Spektrum der Wissenschaft  4.20


Laufen Lichtteilchen
durch mehr als zwei Spalte,
lässt sich an den
Interferenz­mustern die
Wirkung oft unbe­
rücksichtigter Effekte
ablesen.

AUF EINEN BLICK


ÜBERLAGERUNG 3.0

1 Beim klassischen Doppelspaltexperiment verhalten sich


Teilchen unter Umständen wie Wellen: Die Objekte
können viele Pfade gleichzeitig nehmen und dabei mit
sich selbst wechselwirken.

2 Wenn Physiker solche Überlagerungen berechnen, ver­-


nachlässigen sie sehr unwahrscheinliche Wege. Doch
manchmal ist deren Einfluss messbar. Das zeigt ein Ver­-
such mit drei statt zwei Schlitzen.

3 Auf dem Prinzip des Dreifachspalts könnten zudem


dreidimensionale Recheneinheiten für Quantencompu-
ter basieren – mit einigen potenziellen Vorteilen.
INSTITUTE FOR QUANTUM COMPUTING
(IQC), UNIVERSITY OF WATERLOO

Spektrum der Wissenschaft  4.20 63



Der Physik-Nobelpreisträger Richard Feynman hielt
große Stücke auf das Doppelspaltexperiment: Diesem

NICK BOCKELMAN ILLUSTRATION / SCIENTIFIC AMERICAN JANUAR 2020


wohne »das ganze Geheimnis der Quantenmechanik« Aus zwei mach drei
inne. Bei dem von dem britischen Universalgelehrten
Thomas Young erstmals 1801 vorgeschlagenen Versuch Das berühmte Doppelspaltexperiment illust-
trifft Licht auf eine Wand mit zwei Schlitzen. Dahinter fällt riert zentrale Prinzipien der Quantenmechanik:
es auf einen Schirm und erzeugt ein Interferenzmuster, das die Welle-Teilchen-Dualität, laut der sich
heißt abwechselnd helle und dunkle Streifen. So ein Bild Materie und Licht sowohl wie Wellen als auch
kann nur entstehen, wenn sich Schwingungen gegenseitig wie Teilchen verhalten können, sowie das
verstärken oder auslöschen. Youngs Experiment schien zu Konzept der Überlagerung, bei der ein Objekt
beweisen, dass Licht eine Welle und kein Teilchen ist. in mehreren Zuständen gleichzeitig sein kann.
Doch das ist nur die halbe Geschichte. Ein Jahrhundert Neuerdings gestatten Varianten mit einer
später wurde klar, dass elektromagnetische Strahlung trotz zusätzlichen Öffnung Einblicke in subtile,
ihres Wellencharakters in kleinen Portionen übertragen bisher vernachlässigte Effekte.
wird. Dafür sind Photonen verantwortlich, also Teilchen.
Physikern gelang es schließlich, diese einzeln auf einen
Doppelspalt zu schicken. Aber auch in dem Fall entsteht Interferenz
nach und nach ein Muster, als hätten die Photonen mit sich Objekte, die auf die Spalte treffen, breiten sich dahin-
selbst interferiert. Noch merkwürdiger wird es, sobald man ter wie Wellen aus. Diese überlagern sich und er-
scheinen als helle Flecken, wo sich auf dem Detektor
mit einem Detektor feststellt, welchen Weg jedes einzelne zwei Berge oder Täler treffen. Wenn Berg und Tal sich
durchläuft. Dann verschwindet das Muster, und man erhält auslöschen, erzeugt die Interferenz dunkle Stellen.
zwei Linien auf dem Bildschirm. Das wäre wiederum von
Teilchen zu erwarten und nicht von Wellen – als ob der Akt
Doppelspalt
der Messung die Natur des Lichts verändert hätte. (Draufsicht)
Licht
Ein altes Experiment mit immer neuen Einsichten
Weil der Versuch einerseits prinzipiell so einfach aufgebaut
ist, andererseits aber die grundlegenden Paradoxien der
Quantenmechanik offenbart, ist er wohl einer der faszinie- Berg Tal

rendsten Zugänge zur Quantenwelt überhaupt. Er wurde


konstruktive
viele Male in zahllosen Abwandlungen durchgeführt, so- Interferenz
wohl mit diversen Objekten aus dem Mikrokosmos als auch
mit Strahlung (siehe »Kein Ausweg aus der Unwirklichkeit«,
»Spektrum« Dezember 2018, S. 12). Er zeigt: Licht und
Materie sind gleichermaßen Teilchen und Welle. Das Phä- destruktive
Interferenz
nomen heißt Welle-Teilchen-Dualismus. Der Doppelspalt
demonstriert außerdem das Überlagerungsprinzip der
Quantenmechanik: Teilchen können gewissermaßen gleich-
zeitig in mehreren Zuständen und sogar Orten existieren.
Denn damit es zu Interferenzen kommt, darf etwas nicht
entweder durch den einen oder den anderen Spalt wan-
dern, vielmehr muss es irgendwie beide durchqueren. pelspaltexperiment die Wellengleichungen ermitteln, ma-
Überraschenderweise haben die Physiker im Lauf der chen sie es sich etwas zu einfach.
Jahrzehnte trotz zahlloser Varianten des Experiments seine Bei der klassischen Variante mit den beiden Spalten A
Tiefen immer noch nicht ausgelotet. 2018 hat mein Team im und B sind für ein Teilchen die Lösungen der Wellenglei-
indischen Raman Research Institute in Bangalore Experi- chung A bei geöffnetem Spalt A und B bei geöffnetem
mente im Energiebereich von Mikrowellen durchgeführt. Spalt B. Wenn A und B gemeinsam durchlässig sind, ist es
Als Besonderheit verwendeten wir drei statt zwei Spalte. in Lehrbüchern üblich, die Lösung A + B zu nennen. Das
Das ist eine scheinbar einfache Veränderung, aber sie hat ist aber eigentlich eine unvollständige Anwendung des
tief greifende Konsequenzen. Unsere Versuche am Drei- Überlagerungsprinzips. Denn obwohl es in den meisten
fachspalt haben zu einem besseren theoretischen Verständ- Fällen gut genug funktioniert, beschreibt die Kombination
nis dazu beigetragen, wie das Überlagerungsprinzip unter getrennter Öffnungen streng genommen nicht exakt diesel-
solchen Umständen funktioniert. be Situation wie zwei gleichzeitig geöffnete Spalte. Schließ-
Mathematisch sind die Vorgänge durch eine Wellenglei- lich kann im letzteren Fall ein Teilchen in gewisser Weise
chung beschreibbar, deren Lösungen mit dem griechischen durch beide hindurchgehen, und eine einfache Addition der
Buchstaben Psi ( ) bezeichnet werden. Mit ihr lässt sich die beiden Lösungen kann nicht alle dabei denkbaren Pfade
Wahrscheinlichkeit berechnen, mit der wir bei einer Mes- erfassen.
sung das Teilchen in einem bestimmten Zustand auffinden. Wissenschaftler haben schon früher angemerkt, dass
Das Fazit unseres Experiments: Wenn Physiker beim Dop- ein Korrekturterm notwendig sein könnte, um die Gleichun-

64 Spektrum der Wissenschaft  4.20


Interferenzmuster Spalte
NICK BOCKELMAN ILLUSTRATION / SCIENTIFIC AMERICAN JANUAR 2020

einfallendes (Draufsicht) Interferenz-


Licht muster
Detektor

Position
Doppelspalt

Strahlungsquelle

niedrig hoch
Intensität

Dreifachspalt

Doppel- und Dreifachspalt


Bei drei statt zwei Spalten ändert sich das Inter­
ferenzmuster. Genauere Untersuchungen haben
gezeigt, dass ein Faktor, den Wissenschaftler
bisher oft als vernachlässigbar eingestuft haben,
manchmal messbare Auswirkungen hat.

gen genauer zu machen. Die Größe wird Sorkin-Parameter Berechnungen hatten gezeigt: Der Einfluss des Sorkin-Para-
genannt, nach dem US-Physiker Rafael Sorkin, der sie 1994 meters sollte bei höheren Wellenlängen deutlich steigen
vorhergesagt hat. Die meisten Forscher vermuten jedoch, und messbar werden.
der Term wäre vernachlässigbar klein. Und in der Tat kann Wir errichteten das Labor in einem Zelt in einem Mais-
der Effekt nicht allzu ausgeprägt sein, sonst wäre er bereits feld im indischen Bundesstaat Karnataka. Das klingt für ein
viel eher beobachtet worden. Aber unser Experiment am Präzisionsexperiment befremdlich, aber die Pflanzen absor-
Dreifachspalt hat bewiesen, dass der Parameter reale bierten gestreute Mikrowellen aus der Umgebung, die
Auswirkungen hat, die nicht immer ignoriert werden kön- unsere Messungen beeinflusst hätten. Es gab keine Wände
nen. Die Verwendung von drei oder mehr Öffnungen macht und kaum Geräte in der Nähe, welche die Strahlung re­
es praktisch einfacher, den Korrekturterm zu identifizieren, flektierten. Außerdem hatte der isolierte Standort einen
als im Fall des Doppelspalts. schlechten Mobilfunkempfang und somit weniger poten-
zielle Störungen. Alle Voraussetzungen waren günstig, um
Hightech im Maisfeld Effekte des Sorkin-Parameters zu registrieren.
Seit mehr als einem Jahrzehnt arbeite ich an Experimenten Unser Aufbau benutzte zwei spezielle Antennen, so
mit einem Dreifachspalt. 2010 haben wir an der University genannte Hornstrahler, um Mikrowellenphotonen auszu-
of Waterloo zusammen mit Kollegen von der Universität senden und zu detektieren. Dazwischen befand sich eine
Innsbruck und der Technischen Universität Troyes Versuche große Platte mit drei je zehn Zentimeter breiten Spalten.
mit Infrarotlicht durchgeführt und die Ergebnisse im Fach- Der Detektor war auf einer Schiene untergebracht, die wir
magazin »Science« veröffentlicht. Da konnten wir noch bewegen konnten, um die Interferenzmuster abhängig von
keine Abweichung von der üblichen Deutung der Aufent- der Position zu bestimmen. Die von uns gemessene Überla-
haltswahrscheinlichkeiten feststellen. Daraufhin haben wir gerung stimmte tatsächlich nicht mit der ungefähren Lö-
2014 Experimente mit Mikrowellen begonnen. Denn unsere sung der Wellengleichung A + B überein – vielmehr mit

Spektrum der Wissenschaft  4.20 65


jener Variante, die einen Sorkin-Parameter ungleich null die über große Flächen auf der Erde verteilt sind. Dabei
enthielt. Wir wollten sichergehen, dass der von uns ermit- werden die von den verschiedenen Antennen empfangenen
telte Korrekturterm nicht die Konsequenz irgendeines Daten miteinander verrechnet. Jetzt ist klar, dass sich der
systematischen Fehlers aus unserem Experiment war, den Sorkin-Parameter nicht immer vernachlässigen lässt. Viel-
wir nicht verstanden hatten, sondern tatsächlich das, leicht hilft das auf dem Weg zu besseren Modellen für diese
wonach wir gesucht hatten. Darum legten wir den Spalten Beobachtungen.
gewissermaßen Scheuklappen an: Wir blockierten die Der Dreifachspalt ist aber auch in ganz anderer Hinsicht
Bereiche zwischen ihnen durch verschieden dicke Material- praktisch interessant. Sein Prinzip verdeutlicht neue Ansät-
schichten und hinderten so die Photonen daran, von einem ze für das stark wachsende Feld der Quantencomputer.
Spalt zum anderen zu wandern. Der Wert des Sorkin-Para- Solche Rechner basieren auf quantenmechanischen Verfah-
meters änderte sich mit der Dicke der Sperre. Das zeigte, ren und können bestimmte Berechnungen vereinfachen, die
dass er wirklich ein Maß für die Interaktionen zwischen den bisher unmöglich oder überaus aufwändig waren. Eine der
Spalten ist. zentralen Herausforderungen auf dem Weg zu tatsächlich
Ganz offenbar ist der Korrekturterm real und nicht immer nützlichen Quantencomputern ist eine möglichst große
vernachlässigbar. Die im Juni 2018 veröffentlichten Ergeb- Anzahl von Speichereinheiten, der so genannten Qubits.
nisse verändern unser Verständnis fundamentaler physikali- Dabei besteht immer die Gefahr, deren empfindliche Über-
scher Vorgänge. Die Zusammenhänge könnten sich bei- lagerung zu zerstören.
A Erst sie erlaubt überhaupt die kom-
spielsweise auf Untersuchungen in der Astronomie auswir- plexen Berechnungen.
B
ken, etwa von Radiostrahlung aus dem jungen Universum Während der Großteil der Quanteninformatiker und
(siehe »Blick ins dunkle Zeitalter«, »Spektrum« Februar 2020, Ingenieure daran arbeitet,
C die Menge der Qubits in einem
S. 72). Für besonders genaue Messungen setzen die Wis- System zu erhöhen, untersucht unser Team eine alternative,
senschaftler auf virtuell verbundene Einzelobservatorien, weniger gut erforschte Herangehensweise: höherdimensio-

Qutrits für neue Quantenrechnen mit Qutrits


Quantencomputer Bei einem Quantencomputer mit Qutrits statt Qubits wären mit der gleichen
Anzahl Speichereinheiten mehr Zustände möglich. Wenn man weniger
verschiedene Teilchen quantenmechanisch miteinander verbinden muss,
Die Speichereinheiten her- bleibt der Rechner stabiler gegenüber Störungen von außen.
kömmlicher Quantencomputer
bestehen meist aus Qubits mit
zwei möglichen Basiszustän-
den. Algorithmen auf Grundla-
ge von drei oder mehr Basiszu-
ständen bieten theoretisch
Vorteile, sind praktisch aber
schwieriger zu handhaben.

Drei Orte für ein Lichtteilchen


Wenn ein Photon auf einen Dreifachspalt Bit Qubit Qutrit
trifft, durchquert es jeden Schlitz mit der Ein klassisches Ein Qubit besitzt Ein Qutrit hat drei
gleichen Wahrscheinlichkeit. Im Zustand der Computerbit hat zwar ebenfalls zwei Basiszustände,
Überlagerung aller drei Positionen könnte zwei Zustände, Basiszustände, n Qutrits können
das Lichtteilchen als Speichereinheit mit drei entweder »an« oder jedoch kann es sich also in 3n Zustän-
Basiszuständen fungieren. »aus« wie bei ei- in einer Überlage- den auftreten. Be-
nem Lichtschalter. rung beider befin- reits zwei Qutrits
Zwei Bits erlauben den. n Qubits sind mit 32 = 9
vier mögliche Ein- ermöglichen 2n Möglichkeiten
stellungen. Zustände, zwei zwei, ja sogar
Photon Qubits also vier – je- drei Qubits über-
doch gleichzeitig. legen.
Über-
A lagerung
aller drei
B möglichen
Orte
C
Dreifachspalt
(Draufsicht)

NICK BOCKELMAN ILLUSTRATION / SCIENTIFIC AMERICAN JANUAR 2020

66 Spektrum der Wissenschaft  4.20


nale »Qudits«. Das sind im Gegensatz zu den Qubits Re-
cheneinheiten mit mehr als zwei messbaren Zuständen. Mit
Hilfe des Dreifachspalts können wir dreidimensionale Mehr Wissen auf
Qudits erzeugen, so genannte Qutrits. Spektrum.de
Ein traditionelles Computerbit kann entweder »an« oder
Unser Online-Dossier zum Thema
»aus« sein, so wie ein Lichtschalter (siehe Grafik links). Im finden Sie unter
Binärcode entspricht das einem Wert von 1 beziehungswei- spektrum.de/t/quantenphysik
se 0. In der Quantenwelt ist ein Schalter jedoch manchmal PETER JURIK / STOCK.ADOBE.C
OM

an und aus zugleich, mit einer gewissen Wahrscheinlichkeit


für jeden der beiden Zustände. Für die Leistungsfähigkeit
eines Quantencomputers ist diese Möglichkeit der Überla- Forschungsrichtung wesentlich jünger als die Arbeit mit
gerung entscheidend. Ein reguläres Qubit hat zwei solcher Qubits, entsprechend gibt es noch nicht so viele Algorith-
Basiszustände. Bei n Qubits hat man Zugang zu 2n mögli- men und Werkzeuge.
chen Kombinationen, bei zwei also 22 = 4. Während bei Wie kommen wir zum Beispiel vom Konzept des Drei-
n klassischen Bits nur einer der 2n Zustände real ist, nutzen fachspalts zu einem echten Qutrit? Zunächst müssen wir
ausgeklügelte Quantenalgorithmen bei Berechnungen den einzelne Photonen erzeugen. Dazu verwenden wir in
gesamten Überlagerungszustand und führen bestimmte unserer Arbeitsgruppe den Strahl eines starken Lasers, den
Operationen im Prinzip exponentiell schneller aus. wir auf ein spezielles Kristallmaterial richten. Unter be-
Doch dafür sind viele Qubits nötig. Laut Quanteninfor- stimmten Bedingungen spaltet sich in einem Prozess, der
matikern können die Programme ihre Vorteile ab etwa parametrische Fluoreszenz genannt wird, eines von etwa
50 nutzbaren Qubits, also 250 möglichen Zuständen aus- einer Milliarde Photonen in ein Paar von Lichtteilchen
spielen. Mehr Qubits erhöhen das Risiko, dass das Gesamt- niedrigerer Energie auf. Das eine registrieren wir mit einem
system mit der Umgebung wechselwirkt und die Überlage- Detektor, und das zweite Photon können wir für Experi-
rung in unnütze klassische Bits kollabiert. Es wird also mit mente nutzen.
steigender Zahl von Qubits immer schwieriger, den Quan- Unser Team hat die Eigenschaften des anfänglichen
tenzustand lange aufrechtzuerhalten. Photons hoher Energie gezielt verändert, damit sich dessen
Hier kommt der alternative Ansatz ins Spiel: Anstatt zu Eigenschaften auf die beiden daraus erzeugten Photonen
versuchen, mehr zweidimensionale Qubits zu verschalten, übertragen. Das Ursprungsphoton trifft auf drei Spalte und
könnte man die Anzahl der Basiszustände jedes einzelnen verteilt sich daraufhin auf bekannte Weise. Die Tochter­
Quantenbits vergrößern. Um zu sehen, warum das eben- photonen erben dann das räumliche Profil. Schließlich
falls mehr Rechenleistung bringt, helfen die Antworten auf erhalten wir eine Überlagerung, deren drei Basiszustände
zwei Fragen: Erstens, was ist 23? Natürlich ist 2 × 2 × 2 = 8. den drei Spalten entsprechen.
Und zweitens, was ist 32? Die Antwort lautet 3 × 3 = 9. Dennoch ist das derart geschaffene Qutrit weit entfernt
Würden wir also statt drei Qubits zwei Qutrits – dreidimen- von dem, was für einen funktionierenden Quantencomputer
sionale Quantenbits – verwenden, hätten wir eine ähnliche nötig wäre. Wir müssten nicht nur zahlreiche Qutrits erzeu-
Anzahl möglicher Zustände. Mehr Basiszustände bringen gen, sondern diese außerdem in eine Rechnerarchitektur
uns mit weniger Speichereinheiten zum gleichen Ziel. mit einem so genannten Quantengatter einspeisen, in dem
erst Berechnungen mit den Qutrits möglich werden. Das
Unerschlossene Pfade in höhere Dimensionen sind die Schwerpunkte der aktuellen Bemühungen meines
des Quantenrechnens Teams. Wir müssen hierzu besondere optische Elemente
Quanteninformatiker haben darüber hinaus theoretisch entwerfen, die für die Manipulationen benötigt werden, und
bewiesen, dass höherdimensionale Qudits Vorteile bei wollen dann alles zusammen zu einem handhabbaren
einem wichtigen potenziellen Einsatzgebiet für Quanten- Rechner miniaturisieren.
computer bieten, nämlich abhörsicherer Kommunikation. Der Dreifachspalt kann also sowohl auf einer fundamen-
Dabei erstellen zwei Parteien einen gemeinsamen gehei- talen als auch auf einer nutzbaren Ebene viel Neues zur
men Schlüssel, den nur sie zum Decodieren von Nachrich- Quantenmechanik beitragen. Indem wir einem der berühm-
ten verwenden können. Eine größere Anzahl von Basiszu- testen aller physikalischen Experimente eine kleine Erweite-
ständen kann einen Schlüssel hervorbringen, der bestimm- rung verpassen, gewinnen wir spannende Erkenntnisse und
ten Arten von Angriffen gegenüber leichter widersteht. Möglichkeiten. 
Zusätzliche Stärken könnten Qudits bei der Erzeugung
echter Zufallszahlen ausspielen – eine weitere erhoffte
Anwendung von Quantencomputern. QUELLEN
Allerdings haben Qudits ebenso einige Nachteile. Zu- Rengaraj, G. et al.: Measuring the deviation from the super­
nächst braucht man stabile physikalische Systeme, in position principle in interference experiments. New Journal of
denen sämtliche Basiszustände gleichermaßen gut zu Physics 20, 2018
erreichen sind. Die sind schwierig zu finden. Wenn ein Sawant, R. et al.: Nonclassical paths in quantum interference
Qudit dazu tendiert, in seinen niedrigsten Energiezustand experiments. Physical Review Letters 113, 2014
überzugehen, pflanzt sich das Ungleichgewicht in alle Sinha, U. et al.: Ruling out multi-order interference in quantum
weiteren Berechnungen fort. Außerdem ist die ganze mechanics. Science 329, 2010

Spektrum der Wissenschaft  4.20 67


KÜNSTLICHE
INTELLIGENZ
GETRENNT MARSCHIEREN,
VEREINT SCHLAGEN
Von der biologischen Evolution inspiriert,
machen Informatiker große Fortschritte im
Bereich der künstlichen Intelligenz. Dabei
stellt es sich als hilfreich heraus, sich nicht
auf ein einziges bestimmtes Ziel zu verstei-
fen, sondern Algorithmen eine vielfältige und
freie Entwicklung zu ermöglichen.

Manchmal findet man die besten


Lösungen, indem man viele
verschiedene – und unter Um-
SWILLKLITCH / GETTY IMAGES / ISTOCK

ständen abwegige – Ideen


verfolgt.

68 Spektrum der Wissenschaft  4.20


Evolutionäre Algorithmen gibt es schon lange. Eigentlich
Matthew Hutson ist Wissenschaftsjournalist nutzen Forscher sie, um spezifische Probleme zu lösen.
in New York. Dabei wählt man in jedem Schritt – auch Generation ge-
nannt – die Lösungen aus, die am besten zu einem bestimm-
 spektrum.de/artikel/1706920
ten Ziel passen. Das geht so lange weiter, bis man beim
gewünschten Ergebnis landet. 
Das Trittsteinprinzip von Stanley führt über gewöhnliche
evolutionäre Programme hinaus. Statt nur die besten Netz-
werke weiterzuentwickeln, sucht man solche heraus, die


Gemeinsam mit seinen Studenten entwickelte der trotz einer unterschiedlichen Struktur ähnliche Ergebnisse
Informatiker Kenneth Stanley von der University of liefern. Wenn also zwei völlig verschiedene neuronale Netze
Central Florida 2007 eine Website namens Picbreeder. ein Bild gleich klassifizieren, behält man beide. 
Sie zeigt 15 ähnliche Bilder an, die aus geometrischen Wie die biologische Evolution verfolgt das Trittsteinprinzip
Formen oder wirbelnden Mustern bestehen und gelegent- kein übergeordnetes Ziel. Dadurch können Mechanismen,
lich wie echte Objekte wirken, etwa ein Schmetterling oder die aus einer gewissen Eigenschaft heraus entstehen, in den
ein Gesicht. Die Nutzer werden gebeten, ein Bild auszuwäh- nachfolgenden Generationen für etwas völlig anderes ge-
len. Daraufhin generiert ein Algorithmus einen neuen Satz nutzt werden. Zum Beispiel gehen Biologen davon aus, dass
von Bildern – und zwar Variationen des ausgewählten.  Federn ursprünglich dazu dienten, ein Tier gegen Kälte zu
Während Stanley mit dieser Website herumspielte, fiel isolieren, und Vögeln erst später das Fliegen ermöglichten.
ihm ein Motiv auf, das ihn an einen Außerirdischen erinner-
te. Er klickte die alienähnlichen Bilder wiederholt an und Die Natur als Vorbild
beobachtete dabei, wie die Augen immer tiefer wanderten, Weil die menschliche Intelligenz aus einem evolutionären
bis sie plötzlich den Rädern eines Rennwagens glichen. Prozess entstand, ist dieser Ansatz für Informatiker beson-
Das brachte ihn auf einen Gedanken, der seine Forschung ders reizvoll. Viele träumen davon, ein digitales System zu
entscheidend prägen sollte: Wenn er statt eines Außerir­ entwickeln, das ebenfalls eine Art menschenähnlicher
dischen von Anfang an versucht hätte, ein Auto zu generie- Intelligenz besitzt. Einige Forscher, darunter Stanley, sind
ren, wäre er vielleicht nie bei diesem Ergebnis gelandet.  der Meinung, dass man die Mechanismen der Natur nachah-
Als er andere interessante Bilder von Picbreeder unter- men muss, um Algorithmen zu schaffen, die so erfolgreich
suchte, stellte er fest, dass sich die meisten aus einem durch die physische und soziale Welt manövrieren, wie
völlig anderen Ansatz heraus entwickelt hatten. Diese Menschen es tun. Statt Computern starre Verhaltensregeln
Erkenntnis führte zum »Trittsteinprinzip«, das es Computern aufzuerlegen, lässt Stanley daher eine ganze Sammlung von
ermöglicht, wie die biologische Evolution zahlreiche kreati- Lösungen zu, auch wenn einige abwegig erscheinen. So
ve Lösungsstrategien zu entwickeln. lassen sich manchmal bessere Ergebnisse erzielen, als wenn
Stanley ist ein Pionier auf einem Gebiet der künstlichen man das Ziel direkt angesteuert hätte.
Intelligenz, das Informatiker als Neuroevolution bezeichnen. Stanley und sein damaliger Student Joel Lehman testeten
Dabei nutzt man Algorithmen, um neuronale Netze zu 2011 dieses Prinzip der »Neuheitssuche« an virtuellen Robo-
entwerfen. Diese bestehen aus einzelnen Recheneinheiten, tern, die in einem Labyrinth gefangen sind. Evolutionäre
so genannten Neuronen, die in Schichten miteinander Algorithmen sollten sie daraus befreien. Zunächst gingen
verbunden sind. Die Verbindungen enthalten Gewichtun- die beiden Forscher klassisch vor: Sie entwickelten Program-
gen, welche die Ausgabe einer Neuronenschicht entspre- me weiter, die die Roboter möglichst nah an den Ausgang
chend mehr oder weniger stark an die nächste Schicht
weiterleiten. Beispielsweise kann man dem Programm
Pixelwerte eines Bilds übergeben, die es Schicht um
Schicht verarbeitet und dabei zunehmend abstrakte Infor-
mationen über den Inhalt des Bilds extrahiert. Die letzte
AUF EINEN BLICK
Ebene liefert dann das Ergebnis, beispielsweise eine Be- ÜBER UMWEGE ZUM ZIEL
zeichnung oder ein Muster. 
Darauf basiert auch Picbreeder: Jedes Bild entsteht
durch jeweils ein Programm, das einem neuronalen Netz-
1 Um ihre Algorithmen weiter zu verbessern, lassen sich
Informatiker von biologischen Prozessen inspirieren.

werk ähnelt. Dabei startet man, wie in der Neuroevolution


üblich, mit zufälligen Gewichtungen zwischen den Neuro-
nenschichten. Das Netzwerk spuckt daher zunächst willkür-
2 Dabei halten sie nicht starr an einem Ziel fest, sondern
berücksichtigen auch abwegige Lösungen. Diese Viel-
falt führt zu unerwarteten Ergebnissen in der Robotik
liche Ergebnisse aus. Aus diesem Zustand entwickelt man und im Beherrschen komplexer Videospiele.
anschließend weitere zufällige neuronale Netze mit leicht
unterschiedlichen Gewichtungen und bewertet deren
Fähigkeiten; bei Picbreeder erledigt das ein Nutzer, der sein 3 Einige Forscher hoffen, durch solche Ansätze grundle-
gende Prinzipien von Intelligenz zu verstehen, die in
biologischen Systemen entstehen.
Lieblingsbild auswählt, wodurch 15 neue generiert werden.
Nach und nach entsteht dadurch ein Programm, das eine
Aufgabe zuverlässig bewältigt. 

Spektrum der Wissenschaft  4.20 69


brachten. Bloß in 3 von 40 Durchläufen war diese Methode
erfolgreich. Anschließend stützten sich Stanley und Leh-
man auf die Neuheitssuche, die komplett ignoriert, wo
genau sich ein Roboter befindet. In diesem Szenario fand
der Algorithmus in 39 Fällen einen Ausweg. Der Grund
dafür ist, dass die Roboter durch diesen Ansatz nicht in
eine Sackgasse geraten. Anstatt schnurstracks auf den
Ausgang zuzugehen und mit dem Kopf gegen die Wand
zu rennen, erkundeten sie unbekanntes Terrain, arbeiteten
Umwege heraus und fanden schließlich zufällig eine
Lösung. 
Kurz darauf entwickelte Stanley seinen Ansatz weiter,

PICBREEDER.ORG
um ihn besser auf spezifische Probleme zuzuschneiden.
Wieder ließ er sich dabei von der Natur inspirieren. Zu­
sammen mit Lehman schuf er ein System, bei dem Algo-
rithmen nur dann miteinander konkurrieren, wenn sie sich Das einem Sportwagen ähnelnde Bild (rechts) entsteht
ähneln. So wie sich Würmer nicht mit Walen messen, aus einer Abbildung, die an einen Außer­irdischen
enthält ihr System separate Bereiche, in denen sich zahl­ erinnert (links). Die Zufallsentdeckung führte Informati-
reiche viel versprechende Ansätze entwickeln können. ker zum so genannten Trittsteinprinzip.
Mit dieser Methode lassen sich inzwischen erfolgreich
Bilder verarbeiten. Zudem konnte ein sechsbeiniger Roboter
wie ein lebendes Tier lernen, seinen Gang anzupassen, In den letzten Jahren konnten Informatiker nun eine Reihe
nachdem es eine Gliedmaße verloren hatte. Anstatt direkt Herausforderungen bewältigen, indem sie evolutionäre
die Gesamtlösung anzusteuern, bleiben so etliche Varianten Algorithmen und das Trittsteinprinzip nutzten. Ein Beispiel
erhalten, von denen jede den bestmöglichen Algorithmus dafür ist das Spiel Montezuma’s Revenge, in dem Panama
enthalten könnte. Dieser könnte auch aus einer Linie stam- Joe durch ein unterirdisches Labyrinth von Raum zu Raum
men, die zwischen den Nischen gewechselt ist. wandert, Schlüssel sammelt, um Türen zu öffnen, und gleich-
zeitig Feinde oder Hindernisse wie Schlangen oder Feuerstel-
Verschiedene Wege führen zum besten Ziel len umgeht. Obwohl das 1984 entwickelte Spiel recht einfach
Lange Zeit lebte die Neuroevolution im Schatten anderer gehalten ist, stellt es Algorithmen, die auf verstärkendem
KI-Formen, weil sie sehr rechenaufwändig sein kann. Lernen basieren, vor große Probleme. Denn man muss viele
Während sich ein gewöhnlicher Algorithmus des maschi- Aktionen tätigen, die sich erst viel später auszahlen und den
nellen Lernens allmählich immer weiter verbessert, kann Score nicht unmittelbar verbessern. 
die Leistung des Netzwerks bei der Neuroevolution zu- Daher entwickelten Stanley und Lehman zusammen mit
erst abnehmen, weil sich die Gewichtungen zwischen den Jeff Clune, Joost Huizinga und Adrien Ecoffet, alle bei Uber
Neuronenschichten zufällig ändern. AI Labs, 2018 ein neuartiges Programm, das Panama Joe
Doch auch andere Methoden haben Schwachstellen. zufällig Aktionen ausführen lässt. Sobald er einen neuen Ort
In den vergangenen fünf Jahren ist die Forschung in ver- mit anderen Objekten betritt, speichert das Programm die
schiedenen Bereichen der KI geradezu explodiert, unter Maßnahmen, die den Held dorthin brachten. Wenn es später
anderem im verstärkenden Lernen. Bei diesem Ansatz einen schnelleren Weg zu diesem Zustand findet, über-
interagiert ein Algorithmus direkt mit seiner Umgebung, schreibt der Algorithmus die Information. Während des
beispielsweise indem ein Roboter durch einen Raum navi- Trainings wählt Panama Joe einen der gespeicherten Zustän-
giert oder ein Computer an einem Spiel teilnimmt. Dabei de aus, erkundet dann ohne konkreten Plan die Gegend und
lernt das Programm durch Ausprobieren, welches Verhalten fügt seinem Gedächtnis neue Informationen hinzu.
zu den gewünschten Ergebnissen führt. Durch verstärken- Einer der Zustände wird letztlich dem Gewinnen des Spiels
des Lernen gelang es zum Beispiel DeepMind 2017, ein entsprechen. Der Algorithmus kommt dabei ohne Belohnung
Programm zu entwickeln, das die weltbesten Go-Spieler für das Sammeln von Schlüsseln oder dem Besiegen von
besiegt – eine Leistung, von der Experten dachten, dass sie Gegnern aus. Damit gelang es den Forschern erstmals, den
noch Jahre oder Jahrzehnte entfernt sei. menschlichen Weltrekord für das Spiel zu schlagen.
Das verstärkende Lernen mündet aber häufig in eine Mit der gleichen Methode übertraf im selben Jahr ein
Sackgasse. Erhält ein Algorithmus zu selten Feedback, Computer menschliche Experten bei Pitfall. Bei diesem Spiel
kann er sein Ziel nicht erreichen. Belohnt man ihn dagegen sucht Pitfall Harry in einem Dschungel nach Schätzen und
zu häufig, beispielsweise für kurzfristige Gewinne, die den muss gegen Krokodile und Treibsand ankommen. Das war
Fortschritt auf lange Sicht aber behindern, kommen die eine Sensation, denn bis dahin gelang es keiner anderen KI,
Programme ebenso wenig weiter. Deshalb eignet sich das auch nur eine Punktzahl über null zu erreichen.
verstärkende Lernen nur für bestimmte Spiele mit häufigen Inzwischen nutzt auch das Team von DeepMind evolutio-
Punktevergaben und klaren Zielen, etwa Space Invaders näre Algorithmen. Im Januar 2019 präsentierte es die Soft-
oder Pong, während es bei anderen Spielen immer noch ware AlphaStar, die viele Spitzenprofis bei StarCraft II be-
deutlich schlechter als ein Mensch abschneidet. siegt. In diesem komplexen Videospiel kontrollieren zwei

70 Spektrum der Wissenschaft  4.20


ierten sie mehrere virtuelle zweibeinige Roboter, die lernen
sollten, durch verschiedene Landschaften mit Hindernissen
wie Hügeln, Gräben oder Baumstümpfen zu navigieren. 
Auf flachem Gelände fand ein Roboter beispielsweise die
Lösung, sich auf den Knien fortzubewegen. Als POET die
Ebene aber zufällig in eine Landschaft mit kurzen Baum-
stümpfen umwandelte, musste der Roboter lernen, aufrecht
zu gehen. Als er dann wieder in das flache Gelände versetzt
wurde, bewegte er sich dadurch viel schneller. Ein indirekter
Weg erlaubte es ihm, sich zu verbessern, indem er erlernte
Fähigkeiten auf eine andere Situation übertrug.
Lässt man POET neue Herausforderungen für sich selbst

PICBREEDER.ORG
entwickeln und lösen, könnten daraus sogar neue Kunstfor-
men oder wissenschaftliche Entdeckungen hervorgehen.
Stanleys Traum ist es, Programme zu entwickeln, die wie die
Gegner Armeen und bauen Kolonien, um eine digitale Evolution noch nach einer Milliarde Jahren Interessantes
Landschaft zu erobern. Pro Sekunde fallen dabei etliche bewirken. »Sehorgane, Fotosynthese, Intelligenz – das alles
Handlungen und Entscheidungen an, die unterschiedlichste entstand durch einen einzigen Algorithmus«, sagt Stanley. 
Folgen haben können. Um möglichst vielfältige Spielstrate- Auch Clune glaubt, dass Programme wie POET, die
gien zu entwickeln, kreierte AlphaStar mehrere virtuelle sowohl neuronale Netze weiterentwickeln als auch deren
Agenten, die gegeneinander antreten und voneinander Umgebung, zu einer mit Menschen vergleichbaren Intelli-
lernen. Als das Computerprogramm zwei menschliche genz führen könnten – womöglich über Wege, die wir nie
Profis mit jeweils fünf Spielen zu null schlug, kombinierte es erwartet hätten. »Jahrzehntelange Forschung hat uns ge-
die Strategien von fünf verschiedenen Agenten. Dieses lehrt, dass Algorithmen uns ständig überraschen und über-
Beispiel verdeutlicht eines der bedeutendsten Vorteile listen«, sagt Clune. »Daher ist es anmaßend, zu denken, dass
evolutionärer Algorithmen: Sie behalten unterschiedlichste wir das Ergebnis der Prozesse absehen können, zumal sie
Lösungsstrategien bei. Ende Oktober 2019 gaben die Deep- immer leistungsfähiger werden.«
Mind-Forscher bekannt, dass AlphaStar auf einer beliebten Ironischerweise ähnelt die Geschichte, wie Stanley seine
Gaming-Plattform zu den Top 0,2 Prozent der aktiven große Entdeckung machte, dem Trittsteinprinzip selbst: Als
StarCraft II-Spieler gehört und damit als erste KI die oberste er bei der National Science Foundation seinen Förderantrag
Stufe eines beliebten E-Sports erreicht hat. zu Picbreeder vorlegte, lehnte diese ihn ab, weil das Ziel
nicht klar genug zu erkennen sei. Inzwischen hat das Projekt
Fehlende Kreativität zu zahlreichen Veröffentlichungen, Vorträgen, einem Buch
DeepMind wendet sich nun von vielfältigen Lösungen ab und einem Start-up geführt – Geometric Intelligence, das
und versucht stattdessen mit dem Trittsteinprinzip ein von Uber gekauft wurde und den Kern der Uber AI Labs
einzelnes Ergebnis zu optimieren, indem es verschiedene bildet. »Es ist wirklich verrückt«, bemerkt Stanley, »dass mei-
Wege ergründet. In Zusammenarbeit mit Waymo, dem ne Erfahrungen im Grunde genommen die gleichen sind wie
autonomen Fahrzeugprojekt von Alphabet, entwickelte das die algorithmische Einsicht, die mich hierher gebracht hat.« 
Team Algorithmen, die Fußgänger identifizieren sollen. 
Solche Programme sind in den letzten Jahren immer QUELLEN
beliebter geworden. Allerdings ist die Kreativität aller bisher
Clune, J.: AI-GAs: AI-generating algorithms, an alternate paradigm
diskutierten Ansätze begrenzt. AlphaStar kann sich immer for producing general artificial intelligence. arXiv 1905.10985, 2019
nur neue StarCraft-II-Strategien ausdenken, doch nichts
Ecoffet, A. et al.: Go-explore: a new approach for hard-exploration
darüber hinaus. Man findet immer nur Neuerungen inner-
problems. arXiv 1901.10995, 2019
halb eines Bereichs – sei es der Ausweg aus einem Laby-
rinth oder das Gehen mit einem Roboter. Lehman, J., Stanley, K. O.: Abandoning objectives: evolution through
the search for novelty alone. Evolutionary Computation 19, 2011
Die biologische Evolution bringt hingegen endlose
Innovationen hervor. Es gibt so unterschiedliche Lebewe- Mouret, J. B., Clune, J.: Illuminating search spaces by mapping
sen wie Bakterien, Seetang, Vögel oder Menschen. Das elites. arXiv 1504.04909, 2015
liegt daran, dass nicht bloß Lösungen eine Entwicklung Vinyals, O. et al.: Grandmaster level in StarCraft II using multi-agent
durchlaufen, sondern auch die dazugehörigen Probleme. reinforcement learning. Nature 575, 2019
Eine Giraffe ist etwa die Antwort auf einen hohen Baum.
Beim Menschen ist das ähnlich: Wir schaffen uns selbst Von »Spektrum der Wissenschaft« übersetzte und bearbeitete
Fassung des Artikels »Computers Evolve a New Path Toward Human
Herausforderungen – wie die, einen Astronauten auf den
Intelligence« aus »Quanta Magazine«, einem inhaltlich unabhängi-
Mond zu schicken – und lösen sie dann. gen Magazin der Simons Foundation, die sich die Verbreitung von
Um dieses wechselseitige Prinzip in die Informatik zu Forschungsergebnissen aus Mathematik und den Naturwissen-
übertragen, entwickelten Stanley, Clune, Lehman und ein schaften zum Ziel gesetzt hat.
weiterer Uber-Kollege Rui Wang Anfang 2019 den POET-­
Algorithmus (Paired Open-Ended Trailblazer). Dazu konstru-

Spektrum der Wissenschaft  4.20 71


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FUNKTION EIN, FUNKTION AUS
CC BY-SA 4.0 (CREATIVECOMMONS.ORG/LICENSES/BY-SA/4.0/LEGALCODE)

Sie gehört zu den unspektakulärsten Gleichungen


der Mathematik. Dennoch ist die so genannte
FRANZI SCHÄDEL (FLORIAN-FREISTETTER.DE/PRESSE/) /

Heaviside-Funktion vor allem in der Praxis nützlich –


was ihrem Erfinder sehr wichtig war.

Florian Freistetter ist Astronom, Autor und Wissenschaftskabarettist bei den


»Science Busters«.

 spektrum.de/artikel/1706928

I
m Jahr 1865 veröffentlichte der schottische Physiker beeinträchtigte sein Gehör, wodurch es ihm schwerfiel,
James Clerk Maxwell seine berühmten Maxwell-Glei- mit seinen Altersgenossen zu interagieren. Trotz guter
chungen, die zu den elegantesten Formeln der Physik Leistungen in der Schule verließ er sie mit 16 Jahren
gezählt werden. Sie beschreiben elektromagnetische und ging nach Dänemark, wo er als Telegrafist arbeite-
Phänomene, unter anderem die Ausbreitung elektro- te. Im Rahmen seiner Tätigkeit stieß er auf das Werk
magnetischer Wellen. In Wirklichkeit verdanken die von Maxwell, lernte es im Selbststudium verstehen und
Gleichungen ihre kompakte und ästhetische Form aber begann eigene mathematische Methoden zu entwi-
gar nicht Maxwell selbst, sondern einem weitaus ckeln, durch die er seine Gedanken über den Elektro-
weniger bekannten Wissenschaftler, nach dem folgen- magnetismus formulierte.
de Funktion benannt ist: Dabei ging es ihm vor allem um praktische Anwend-
barkeit; mit der formalen Exaktheit der Disziplin konnte
er wenig anfangen. Wenn etwas für ihn offensichtlich
war, sah er keinen Grund, das auch noch formal zu
beweisen. Um schwierige Differenzialgleichungen zu
lösen, führte er zum Beispiel die Operatorenrechnung
ein, bei der er das Differenzieren einfach durch die
Multiplikation mit einem Operator ersetzte und die
Integration durch eine entsprechende Division. Ob
Im Vergleich zur enormen Vielfalt der Phänomene, diese Methode mathematisch korrekt war, kümmerte
welche die Maxwell-Gleichungen beschreiben, wirkt Heaviside nicht – das bewiesen später andere.
diese Heaviside-Funktion fast schon enttäuschend.

D
Sie kann nur zwei Werte annehmen, null oder eins. er englische Wissenschaftler vereinfachte zudem
Auch ihr Graph ist nicht wirklich beeindruckend: Bis wie erwähnt Maxwells Gleichungen und war
x = 0 liegt er auf der x-Achse, danach springt er auf den maßgeblich an der Einführung von Vektoren und
Funktionswert 1 und verläuft von dort aus ebenso der Vektoranalysis beteiligt. Er ließ das Koaxial­
gerade weiter bis ins Unendliche. kabel patentieren, fand Methoden, um telegrafische
Das klingt fast zu einfach, um eine eigene Definition Nachrichten besser zu übertragen, leistete wichtige
zu rechtfertigen. Die Heaviside-Funktion erweist sich Vorarbeiten zur speziellen Relativitätstheorie und sagte
aber als extrem praktisch – unter anderem in der Nach- voraus, dass die Erde von einer Schicht umgeben ist,
richtentechnik, wo sie wie ein mathematischer Filter die kurzwellige Radiosignale reflektiert. Für den Nach-
wirkt. Man kann eine Gleichung mit der Heaviside- weis dieser Ionosphäre erhielt der Forscher Edward
Funktion multiplizieren, und das Ergebnis stimmt für Appleton 1947 den Nobelpreis für Physik.
x > 0 mit der ursprünglichen Form überein, ist für Heaviside galt als Exzentriker: Die letzten Jahre bis
negative Werte jedoch gleich null. Die Heaviside-Funk- zu seinem Tod 1925 verbrachte er in einem Haus,
tion schaltet ein Signal also gewissermaßen ein oder dessen Möblierung angeblich ausschließlich aus Gra-
aus. Und das natürlich nicht nur für x = 0, sondern für nitblöcken bestand. Bekannt wurde sein Name übri-
beliebige andere Werte. gens auch außerhalb der Mathematik. Der Dichter T. S.
Urheber der Gleichung ist der 1850 in London gebo- Eliot verewigte ihn im Titel seines Gedichts »The Jour-
rene Mathematiker und Physiker Oliver Heaviside. Er ney to the Heaviside Layer«, dessen Vertonung seit
hatte keine leichte Kindheit. Eine Scharlacherkrankung 1981 Teil des berühmten Musicals »Cats« ist.

Spektrum der Wissenschaft  4.20 73


ARCHÄOLOGIE
DIE FELSKUNST
DER ABORIGINES
Jahrtausendelang bemalten Menschen in
Nordaustralien die Decke eines Felsüber-
hangs. Mit naturwissenschaftlichen Metho-
den entlocken Archäologen den Malereien
nun ihre Geheimnisse.
JEAN-JACQUES DELANNOY; AUS DAVID, B.: CAVE ART. THAMES & HUDSON, 2017; MIT FRDL. GEN. VON BRUNO DAVID

74 Spektrum der Wissenschaft  4.20


Bruno David ist Professor für Archäolo­

JOANNA FRESLOV
gie am Monash Indigenous Studies
Centre der Monash University in Mel­
bourne und wissenschaftlicher Leiter
am Exzellenzzentrum für die Biodiver­
sität und das Kulturerbe Australiens
am Australian Research Council.

 spektrum.de/artikel/1706926

Über 1300 Bilder prangen an der


Felsdecke von Nawarla Gabarnmang
in Nordaustralien. Menschen deko-
rierten die höhlen­artige Stätte schon
vor mehr als 28 000 Jahren.

SPEKTRUM DER WISSENSCHAFT / EMDE-GRAFIK

INDONESIEN
JEAN-JACQUES DELANNOY; AUS DAVID, B.: CAVE ART. THAMES & HUDSON, 2017; MIT FRDL. GEN. VON BRUNO DAVID

Nawarla
Gabarnmang

ARNHEMLAND

AUSTRALIEN
AUSTRALIEN

Spektrum der Wissenschaft  4.20 75


heit geraten, bis er Whear aus der Luft auffiel. Die Jawoyn
tauften die Stätte »Nawarla Gabarnmang«, was so viel
AUF EINEN BLICK bedeutet wie »Ort des Felsenlochs«. Der Kulturverband der
FELSMALEREI IN FALSCHFARBEN Jawoyn, der die Stammesgeschichte und die heiligen
Stätten der Vorfahren erforscht, entschied sich, die Malerei­

1 Archäologen haben diverse Methoden entwickelt, um


verblichene Felskunst wieder sichtbar zu machen.
Besonders hilfreich sind Bildbearbeitungsprogramme.
en in Nawarla Gabarnmang umfassend untersuchen zu
lassen. Und für diese Aufgabe hatten die Jawoyn meine
Kollegen und mich nach Arnhemland eingeladen.
Für Höhlen- und Felsbilder sowie für jede Art von Kunst

2 Oft malten Menschen über Jahrtausende hinweg ein


Felsbild über das andere wie in Nawarla Gabarnmang
im Norden Australiens. Die genaue Abfolge dröseln die
gilt: Die Darstellungen stammen von Menschen, die durch
ihre Kultur und ihr Umfeld geprägt sind. Diese Prägung
fließt in die Kunst ein. Für Angehörige derselben Kultur ist
Forscher am Computer mit spezieller Software auf.
es daher ein Leichtes, das Dargestellte zu verstehen – für
Archäologen hingegen auf den ersten Blick nicht. Deshalb
3 Das Alter von Höhlen- und Felsmalereien bestimmen
Archäologen vor allem mit der Radiokarbon- und der
Uran-Thorium-Methode.
versuchen sie möglichst viele Informationen über den
einstigen Kontext der Kunstwerke zu sammeln – sie bestim­
men das Alter oder rekonstruieren den Ursprungszustand.
Doch mit welchen Methoden gelingt das? Wie entlocken
Forscher der alten Höhlen- und Felskunst ihre Geheiminis­
se? Dafür müssen sie die Malereien zunächst einmal doku­


Nordaustralien, Anfang Juli 2006. Ray Whear war mentieren.
wieder in den Lüften. Er und der Hubschrauberpilot
schwebten auf einem weiteren routinemäßigen Beob­ 1391 Bilder in mehr als 40 Schichten
achtungsflug über das Arnhemland, den Blick stets auf Manche Forscher erstellen für diesen Zweck Kataloge mit
die Landschaft gerichtet. Und an diesem Morgen stach Bildmotiven und haken dann jene ab, die sie an den Fels­
dem Umweltreferent vom Kulturverband der indigenen wänden eines Fundorts vorfinden. Andere übertragen die
Jawoyn tatsächlich etwas ins Auge: ein ungewöhnlich Darstellungen auf Millimeterpapier, um sie anschließend in
großer Schatten. Whear war neugierig. Er bat den Piloten, einem brauchbaren Maßstab abzubilden. Die meisten
die Stelle im Aboriginesgebiet anzufliegen, damit sich die Archäologen machen haufenweise Fotos von den Fels­
beiden den Ort genauer ansehen können. Sie landeten, zeichnungen und bereiten die Aufnahmen digital auf. Und

JEAN-JACQUES DELANNOY; AUS DAVID, B.: CAVE ART. THAMES & HUDSON, 2017; MIT FRDL. GEN. VON BRUNO DAVID
marschierten noch ein kurzes Stück zu Fuß und erreichten einige von ihnen konvertieren sie mit Hilfe der Fotogramme­
einen großen Felsüberhang. Als sie hineingingen, fanden trie noch vor Ort in dreidimensionale Modelle am Compu­
sie sich in einer prächtigen Bilderwelt wieder, in der hun­ ter. Den meisten Aufwand bereitet es, einen hoch aufgelös­
derte Malereien an der Decke prangten. ten digitalen 3-D-Scan von Fundort und Felskunst anzufer­
Die Felsenhalle, die Whear entdeckt hatte, liegt auf dem tigen. Doch solche per Laser aufgezeichneten Modelle
Gebiet des Buyhmi-Klans im Land der Jawoyn-Aborigines. liefern nicht nur die detailliertesten Informationen, sie
Wie sich bald herausstellte, erinnerte sich einer der Ältes­ lassen sich auch äußerst gewinnbringend auswerten. All
ten des Klans, als Kind vor über 70 Jahren mit seinem Vater diese Methoden schließen sich nicht gegenseitig aus. Viele
dort gecampt zu haben. Seither war der Ort in Vergessen­ Archäologen wenden mehrere davon an und kombinieren
dann die Ergebnisse. Wie das genau funktioniert, lässt sich
an unserer Arbeit in Nawarla Gabarnmang zeigen.
Die Felsenhalle von Nawarla Gabarnmang im hoch auf- Die höhlenartige Stätte liegt auf einer erhöhten Stelle
gelösten 3-D-Modell: Archäologen nutzen solche über dem Hochplateau von Arnhemland. Der dekorierte
Laserscans, um die Felsbilder und ihre Positionen auf Bereich misst ungefähr 32 auf 23 Meter. Mehr als 50 natür­
einen Blick erfassen zu können. liche Steinpfeiler stützen das zwei Meter hohe Felsdach.

76 Spektrum der Wissenschaft  4.20


Absprung aus dem Kohlenstoffkreislauf
Die wohl wichtigste archäologische geschieht in einem gleich bleiben­ sind. Weil bekannt ist, wie viel 12C,
Methode zur Altersbestimmung ist den Tempo: Die Hälfte des 14C ist 13
C und 14C in der Natur vorkommt,
die 14C-Datierung. Das auch Radio­ nach 5730 Jahren plus minus 40 lässt sich aus dem Verhältnis des
14
karbonmethode genannte Verfah­ Jahre zerfallen. Dieser Zeitraum ist C zu den beiden anderen Kohlen­
ren basiert darauf, dass radioaktive die Halbwertszeit. Und die Zerfalls­ stoffisotopen der Zeitpunkt errech­
Kohlenstoffatome nach einer be- rate bildet die Grundlage für eine nen, an dem ein Organismus
stimmten Zeit zerfallen. Es gibt drei verlässliche Altersbestimmung. gestorben ist. Wenn in einem
bekannte Arten von Kohlenstoffa­ Pflanzen nehmen zeit ihres Tierknochen oder einem Stück
tomen (Isotope) in der Natur: 12C, Lebens Kohlenstoffisotope durch Holzkohle vom 14C genau noch die
13
C und 14C. Die hochgestellte Zahl die Fotosynthese auf. Über die Hälfte verblieben ist, dann ist klar:
entspricht der Gesamtzahl der Nahrungskette gelangen die Koh­ In einer Zeitspanne von vor 5770
Neutronen und Protonen im Atom­ lenstoffatome auch in Menschen bis 5690 Jahren ist das Tier gestor­
kern. Für eine Radiokarbondatie­ und Tiere, wo sie in Knochen und ben oder der Baum gefällt worden.
rung ist das Isotop 14C ent­ Zähnen eingelagert werden. Stirbt Wenn nur noch ein Viertel übrig ist,
scheidend. Es entsteht fortlaufend ein Organismus, hört er auf Kohlen­ dann ist die Probe zwischen 11 540
aus dem stabilen Stickstoff 14N in stoffisotope anzusammeln. Ab und 11 380 Jahren alt und so fort.
den oberen Schichten der Erdatmo­ diesem Zeitpunkt verringert sich Die Radiokarbondatierung funktio­
sphäre – und zwar durch den das eingelagerte 14C allmählich niert jedoch nur bis zu einem Alter
Einfluss der kosmischen Strahlung. durch den Zerfall zu 14N. Die Men­ von ungefähr 55 000 Jahren. Nach
14
C ist radioaktiv, das heißt, das ge an 12C und 13C bleibt jedoch dieser Zeit ist die Menge an 14C zu
Atom ist instabil und wandelt sich gleich, da diese Kohlenstoffisotope gering, um sie verlässlich messen
allmählich wieder zu 14N um. Das nicht radioaktiv, sondern stabil zu können.

Aus der Decke sind zahlreiche plattenförmige Stücke her­ Aus unseren Grabungen wussten wir, dass sich die
JEAN-JACQUES DELANNOY; AUS DAVID, B.: CAVE ART. THAMES & HUDSON, 2017; MIT FRDL. GEN. VON BRUNO DAVID

ausgebrochen und zu Boden gefallen. Auf dieser holprigen Vorfahren der Aborigines erstmals vor rund 50 000 Jahren
Decke prangen insgesamt 1391 Bilder. Einige weitere hun­ in Nawarla Gabarnmang aufgehalten hatten. Sie nutzten
dert bedecken die Pfeiler. Nawarla Gabarnmang ist damit anfangs aber nur die Eingangsbereiche, weil im Inneren
eine der am dichtesten dekorierten Stätten der Aborigines dicht an dicht Pfeiler standen. Irgendwann nach der Zeit vor
in Australien. 35 000 Jahren, womöglich auch erst vor 23 000 Jahren –
Anfangs gestaltete es sich schwierig, die Felsbilder zu der genaue Zeitpunkt ist noch nicht sicher – begann man
dokumentieren. Aus zwei Gründen: Sie wurden immer damit Felsstützen einzureißen, um Platz zu schaffen. Das
wieder übermalt – bisweilen liegen mehr als 40 Schichten haben wir aus solchen Pfeilern geschlossen, die halb zer­
übereinander. Außerdem konnten wir die verschiedenen schlagen stehen geblieben sind. Von diesen Arbeiten
Nutzungsphasen des Höhlenraums nicht ohne Weiteres zeugen zudem unzählige Steinabschläge neben den Pfeilern
bestimmen, da offenbar über viele Jahrtausende hinweg sowie Felsstücke im Eingangsbereich. Wir vermuten, dass
immer wieder Teile der Decke heruntergestürzt waren und die damaligen Besucher die Brocken aus dem Höhlenraum
die neu entstandenen Flächen bemalt wurden. Wir mussten dorthin geschafft hatten.
also zunächst die Entstehungsgeschichte des Höhlenraums Die Abrissarbeiten blieben nicht ohne Folgen: An den
rekonstruieren, um die Abfolge der Malereien zu klären. Stellen, an denen Pfeiler entfernt wurden, lösten sich Ge-

Spektrum der Wissenschaft  4.20 77


steinsschichten von der Decke – und gaben neue Flächen
für Malereien frei. Der Innenraum von Nawarla Gabarn-
mang hatte sich also immerfort verändert. Viele Felsbilder
befanden sich nicht mehr an ihrem ursprünglichen Ort. Wir
entdeckten an der Decke und den Pfeilern auch einige
Bruchstellen, an denen noch Reste von Malereien hafteten.
Teile derselben Bilder fanden wir auf umherliegenden
Steinfragmenten. Bei unseren Grabungen legten wir ein
solches Bruchstück in einer gut datierten Fundschicht frei.
Das Alter: ungefähr 28 000 Jahre. Es ist das älteste Datum,
das wir bisher für eine Malerei haben. Spätestens zu jener
Zeit müssen die Menschen begonnen haben, das Innere
des Felsüberhangs zu bemalen. Meine Kollegen und ich
AUS DAVID, B.: CAVE ART. THAMES & HUDSON, 2017; MIT FRDL. GEN. VON BRUNO DAVID
sind aber überzeugt davon, dass Nawarla Gabarnmang
schon vor Zehntausenden von Jahren mit Bildern verziert
wurde. In noch älteren Grabungsschichten entdeckten wir
Ockerstücke, die man wie Malstifte verwendet hatte. Nur
wo an welcher Felswand, das wissen wir noch nicht.

Der Zahn der Zeit und das Wetzen der Tiere


Als Nächstes wollten wir herausfinden, wie genau die Men-
schen den Höhlenraum über die Jahrtausende verändert
hatten. Dafür nutzten wir die bereits erwähnte 3-D-Laser­
scantechnik. Der Geomorphologe Jean-Jacques Delannoy
und der digitale Vermessungsexperte Benjamin Sadier –
beide lehren an der Université Savoie Mont Blanc – erstell­
ten ein hoch aufgelöstes 3-D-Modell des Felsüberhangs
samt der Malereien. Mit Hilfe der Scans konnten wir die
Bilder einzeln, aber auch im Kontext mit allen anderen un-
tersuchen – und sie in eine grobe zeitliche Abfolge bringen.
Dabei zeigte sich, dass Nawarla Gabarnmang ab einem
bestimmten Zeitpunkt kein natürliches Höhlengebilde mehr Verblasste Felsbilder wie diese auf Moa Island rekons­
war, in dem Menschen einst die Wände bemalten. Der Ort truieren Archäologen am Computer. Dazu übersteuern
glich mehr einem Gebäude oder einem Monument, das sie die Farbwerte in einem Digitalfoto der Felswand.
die Besucher immer wieder umbauten und als Leinwand für
ihre Kunst nutzten. Diese Vorstellung entspricht nicht
unbedingt der gängigen Sicht auf die Kultur und die Stätten Die ersten Programme zur digitalen Bildverbesserung
der Aborigines. Viel zu oft übersehen wir aber, dass der waren bereits in den 1960er Jahren im Einsatz. Sie dienten
Mensch – in Nawarla Gabarnmang wie auf der ganzen dazu, auf den Aufnahmen von Spionagesatelliten oder
Welt – seine Umwelt stets durch Kunst und Architektur Sonden des Ranger-Raumfahrtprogramms Details deutli­
gestaltet. Einziger Unterschied: Der Gestaltungswille nimmt cher herauszuarbeiten. Seit den 1980er Jahren entwickelten
je nach Kultur verschiedene Formen und Farben an. Experten diese Technologien für die Felskunstforschung
Wer Felsbilder erforscht, stößt auf dieselben Probleme weiter. Inzwischen verwenden Archäologen standardmäßig
wie alle Archäologen: Kunstwerke zerfallen mit der Zeit. spezialisierte Software, um Digitalfotos von Felsbildern
Und die Ursachen sind vielfältig. Die Farbe bröckelt allmäh­ aufzubereiten.
lich ab; die Felsoberflächen verwittern; Algen, Pilze oder Wenn Malereien verblassen, bedeutet das nichts ande­
Flechten wachsen über die Malereien; Insekten bauen ihre res, als dass sich deren Farbwerte und die des Untergrunds
Nester auf die Wände; oder umherstreifende Tiere wetzen immer mehr angleichen – sie werden grau. Irgendwann
ihr Fell an den bemalten Felsflächen. Auch Wasser kann verschwinden die Unterschiede ganz, und der Kontrast ist
Schaden anrichten, ebenso Besucher, die Graffiti hinterlas­ aufgehoben. Bei der digitalen Bildverbesserung geht es nun
sen. Zudem lagern sich auf dem Gestein mit der Zeit dünne darum, auf einem Foto die noch erkennbaren Unterschiede
Schichten aus Staub und Schmutz ab, die sich zu einer zwischen der Hintergrundfarbe des Felsens und der Vorder­
mineralischen Kruste verfestigen. All das beeinträchtigt den grundfarbe der Darstellung deutlicher hervorzuheben. Dazu
Erhaltungszustand einer Felskunst – so sehr, dass an man­ wird zunächst die Hintergrundfarbe verstärkt, indem man
chen Fundplätzen fast die Hälfte bis zur Unkenntlichkeit ver­ die grauen oder braunen Pixel nachkoloriert. Dann erhöht
blasst ist. Die ältesten Bilder sind oft schon vollständig man die Intensität der Rottöne. Dadurch werden alle Stellen
vergangen. Inzwischen gibt es aber neue computerbasierte klarer erkennbar, die mit roter Farbe bedeckt sind und nicht
Techniken, dank derer wir viele verblichene Kunstwerke zum Felsgrund gehören. Das betont zugleich alle bemalten
wieder sichtbar machen können. Flächen und verbessert den Kontrast aller farbigen Pixel.

78 Spektrum der Wissenschaft  4.20


Ein Beispiel: 2001 nahm ich an einem archäologischen In Nawarla Gabarnmang haben Menschen über Jahrtausen-
Projekt auf der abgelegenen Moa Island teil. Die Insel liegt de hinweg ein Bild über das andere gemalt. Um die Reihen-
in der Torres-Straße, einer Meerenge auf halbem Weg folge der Darstellungen nachzuvollziehen, zerlegen Forscher
zwischen der Nordspitze Australiens und Neu-Guinea im am Computer die Malereien in einzelne Schichten.
Westpazifik. Die lokale Gemeinschaft der indigenen Mual­
gal aus dem Küstendorf Kubin hatte unser Archäologen­
team gebeten, auf der gesamten Insel Kulturstätten zu
dokumentieren. Es wusste jedoch keiner mehr, ob und wo
es einst Felsbilder gab, geschweige denn wie sie ausgese­
hen hatten.
hicht
te Sc
Die Rettung in Farbe jüngs
Der Älteste der Mualgal, John Manas, seine Tochter und
ein weiteres Gemeindemitglied führten unser Team, die
beiden Archäologen Ian McNiven und Joe Crouch von der
Monash University in Melbourne und mich, zu einem viel
versprechenden Ort namens Uma. An der Stelle entsprin­
gen zwei Quellen, und es befindet sich dort ein Steinhau­

BARBARA AULICINO / AMERICAN SCIENTIST JULI 2019


fen, der das Grab eines Mannes markiert. Er war an dieser
Stelle in den 1870er Jahren von Kopfjägern der Nachbarin­
ROBERT GUNN; AUS DAVID, B.: CAVE ART. THAMES & HUDSON, 2017; MIT FRDL. GEN. VON BRUNO DAVID

sel Badu getötet worden. Die Mualgal gedenken diesem


Vorfall bis heute – weniger, weil der Mann dort starb,
sondern weil sein junger Sohn Goba der kriegerischen
Gruppe entkam. Der Vater hatte Goba nämlich davon
überzeugt, sich auf einem Baum zu verstecken.
Rund 100 Meter von Uma entfernt, erhebt sich ein fla­
cher Hügel, auf dem ein großer Granitbrocken liegt. Die
Mualgal nennen den Felsen Turao Kula. »Tura« bedeutet
»erspähen«, »ao« kennzeichnet die Vergangenheitsform
und »kula« heißt »Fels«. Die Bewohner von Moa Island
bestiegen den Brocken, um ihn als natürlichen Aussichts­
posten zu nutzen. Am Fuß des Felsens, unterhalb des
Überhangs, fanden wir zahlreiche Steingeräte, Schalen von hicht
te Sc
ältes

Spektrum der Wissenschaft  4.20 79


Meeresmuscheln, Knochen, abgeriebene Ockerstücke, zu anderen Funden. Es geht also darum, festzustellen, wel-
Holzkohle sowie Glas und Metall aus jüngerer Zeit. Auf der ches Bild ist jünger, welches älter. Die absolute Chronologie
Felsober­fläche selbst stach uns dann etwas Ungewöhnli­ hingegen betrifft das tatsächliche Alter in Jahreszahlen.
ches ins Auge: Wir entdeckten blasse Spuren roter Farbe – Zur Bestimmung des relativen Alters kombinieren wir
leider zu ver­blichen, um genaue Formen zu erkennen. verschiedene Beobachtungen: Zum Beispiel sind stark
Wir machten Digitalfotos von den Farbspuren und verwitterte oder abgeriebene Felsoberflächen in der Regel
übertrugen sie auf unseren Laptop. Dann passten wir die »sehr alt«. Weitere Anhaltspunkte liefern Rinnsale, die sich
Helligkeit und den Kontrast der Fotos an, um die Farbunter­ im Lauf der Zeit über die Steinfläche gebahnt haben. Oder
schiede deutlicher herauszuarbeiten. Nach jeder Einstellung das Gestein hat Risse, die von Erdbeben herrühren. Ziehen
prüften wir das Ergebnis, bis wir das beste Resultat hatten, sich die Bruchstellen auch durch die Malerei, muss sie vor
das den schärfsten Kontrast zwischen dem Felsgrund und dem Beben entstanden sein.
den Malereien lieferte. Am Ende kristallisierte sich aus einer Die relative Chronologie beruht in unseren Forschungen
grauen Fläche mit wenigen Rotstichen das klare Bild eines vor allem auf der Abfolge der Bilder. Eine Darstellung, die
Menschen heraus, der auf einen Baum klettert – wie in der an irgendeiner Stelle von einer anderen überdeckt wird,
Erzählung über Goba, der sich 150 Jahre zuvor in einen muss älter sein als die darüber. Daraus lässt sich freilich
Wipfel gerettet hatte. nicht ablesen, wie viel älter. Das darüber liegende Bild
Mit Hilfe digitaler Tricks konnten wir das Bild einer könnte kurz danach geschaffen worden sein, also vom
Begebenheit wiederherstellen, die bis heute im kollektiven selben Künstler zur selben Zeit. Ebenso ist es möglich, dass
Gedächtnis der Mualgal fortlebt. Vielmehr noch – die Ge­ mehrere Jahrtausende zwischen beiden liegen.
meinschaft der Mualgal nahm unsere Entdeckung zum Bevor wir uns damit, also der absoluten Chronologie in
Anlass, ein Jahr später ein Fest auszurichten, das inzwi­ Nawarla Gabarnmang beschäftigen konnten, mussten wir
schen jedes Jahr in Uma stattfindet. Ein wichtiger Teil der erst die genaue Reihenfolge der Malereien klären. Das
Feierlichkeiten dreht sich um die Geschichte von Goba und klingt einfacher, als es ist. Eine grobe Vorstellung hatten wir
die wiederentdeckten Felsbilder auf dem Turao Kula. Die bereits durch das anfangs erwähnte hoch aufgelöste 3-D-
alte Darstellung erfüllt damit einen ganz aktuellen Zweck Modell gewonnen. Nun wollten wir die exakte Sequenz
für die Mualgal und die Pflege ihrer Gemeinschaft. aufschlüsseln.
Felskunst wieder sichtbar zu machen, ist lediglich ein As­ Dafür fotografierte mein Teamkollege Robert Gunn von
pekt unserer Forschungen – ein anderer ist die Datierung. der Monash University zunächst alle bemalten Oberflächen
Dazu muss man zwei Arten der Chronologie unterscheiden: und bearbeitete die Bilder digital mit DStretch. Dieses
die relative und die absolute. Als relative Chronologie be- Programm wurde speziell für Fels- und Höhlenkunst entwi­
zeichnen Archäologen die Zeitstellung eines Felsbilds oder ckelt. Durch die Bearbeitung konnte Gunn sowohl die
eines jeden anderen archäologischen Objekts im Verhältnis einzelnen Bilder voneinander trennen als auch ihre Reihen­

Die atomare Uhr der Uranisotope

Im vergangenen Jahrzehnt haben sondern der Neandertaler musste andere Produkte zu zerfallen. Über
Archäologen einige spektakuläre sie demnach gefertigt haben. Und Zwischenstufen wird aus ihm das
Neudatierungen vorgelegt: 2012 2019 veröffentlichten Wissenschaft­ Uranisotop 234U, das eine Halb­
erwies sich ein roter Punkt in der ler eine gemalte Jagdszene aus wertszeit von zirka 246 000 Jahren
spanischen Höhle El Castillo als einer Höhle auf Sulawesi. Das Alter hat. Daraus entsteht wiederum das
40 800 Jahre alt – die bis dahin beträgt fast 44 000 Jahre, made by radioaktive Thorium 230Th, mit einer
früheste bekannte Höhlenmalerei Homo sapiens. Halbwertszeit von ungefähr 76 000
der Welt. 2014 bestimmten For­ All diese Datierungen haben Jahren. Anders als 238U ist 230Th
scher dann den Handumriss in einer eines gemeinsam: Sie sind mit Hilfe nicht wasserlöslich, kann sich also
Höhle auf der indonesischen Insel der Uran-Thorium-Methode erstellt nicht schon mit dem kalkhaltigen
Sulawesi auf ein Alter von 40 000 worden. Die beruht auf der Zerfalls­ Wasser auf den Höhlenwänden
Jahren. 2018 stellte sich heraus: kette des radioaktiven Uranisotops abgesetzt haben. In Proben der
238
Eine Höhlenmalerei auf Borneo ist U, das natürlich vorkommt. Rinnt Kalkablagerungen lässt sich nun
ebenso alt. Im selben Jahr erklärten Wasser über die bemalten Wände das Mengenverhältnis zwischen
Experten, dass Striche, Punkte und einer Höhle, lagert sich im Lauf der den Uranisotopen und dem Thori­
Handumrisse an den Wänden von Zeit Kalk auf dem Bild ab, genauer um messen und so berechnen,
drei spanischen Höhlen aus der Zeit gesagt Kalziumkarbonat. Dabei wann die Kalkkruste entstand.
von vor 64 800 bis 66 700 Jahren wird auch 238U in den Kalk eingela­ Damit sind Datierungen bis zu einem
stammen. Nicht Homo sapiens, gert. Das Uranisotop beginnt nun in Alter von 500 000 Jahren möglich.

80 Spektrum der Wissenschaft  4.20


Bei Grabungen legen Archäologen meist

BARBARA AULICINO / AMERICAN SCIENTIST JULI 2019


1
1
mehrere Kulturschichten (hier im Profil) frei, 4
2 2 5
die aber oft nicht sauber getrennt aufeinan- 6
3 8
der folgen (a), sondern jüngere Schichten 9
3 7
oder Gruben durchschneiden ältere Lagen
12
(b). Um die zeitliche Abfolge zu klären, 14 10
13
4 11
nutzen Forscher die Harris-Matrix. Die
Schichten werden dazu in einem Schema als
Ziffern in eine zeitliche Abfolge gebracht.
Dieselbe Methode wenden Archäologen für a 1 b 1
übereinander gemalte Felsbilder an.
2
2 4

3
folge aufdröseln. Dazu kennzeichnete er am Computer 3 5

jedes Motiv und löste die Bilder dann Schicht für Schicht 4
voneinander. An der aufgegliederten Abfolge konnten wir 6 8

gleich einige wichtige Beobachtungen machen – nämlich,


9
wie sich der Malstil über die Zeiten wandelte.
Etwa im Fall der so genannten Röntgenbilder: Bei dieser mit der sich das zeitliche
10 12
Art der Darstellung bildeten die Künstler das Innere eines Verhältnis der Bilder zuein­
Lebewesens ab, also auch das Skelett und die Muskeln. ander klären ließ: die Harris- 7 11 13
Bisher gingen Archäologen davon aus, dass die Röntgenbil­ Matrix. Mit dieser Methode
der in diese Region bis zu 3000 Jahre alt sind, obwohl bis bringen Archäologen die
14
dahin von keinem eine absolute Datierung vorlag. Ihr tat­ Schichten einer Grabung in eine
sächliches Alter war also unbekannt. Gunn stellte nun in relativ-chronologische Abfolge.
Nawarla Gabarnmang fest, dass sich sämtliche Röntgenbil­ Dazu gilt: Je tiefer Schichten liegen, desto älter sind sie.
der in den obersten Schichten befinden. Daraus folgerten Aber in der Praxis liegen sie nicht immer sauber getrennt
wir, dass die Röntgenbildkunst in Nawarla Gabarnmang eine auf der anderen. Sie überlappen sich, und Gruben oder
relativ jung sein muss. Doch wie jung genau? Es galt, das Pfostenlöcher, die vielleicht noch mit älterem Erdmaterial
genaue Alter der Malschichten festzustellen. gefüllt sind, durchschneiden sie. Um nachzuvollziehen,
wann welche Erdlage entstand oder wann welche Grube
Die australische Geschichte vom Pferd ausgehoben wurde, zeichnen Archäologen ein Schema auf.
Wir suchten dafür nach Schichten, die genügend organi­ Sie nummerieren die Schichten und ordnen dann die Ziffern
sches Material für eine 14C-Datierung enthielten (siehe »Ab- nach bestimmten Kriterien an. Jüngeres liegt über Älterem,
sprung aus dem Kohlenstoffkreislauf«, S. 77) oder andere Gleichzeitiges nebeneinander, und Linien zwischen den
Hinweise für eine absolute Datierung lieferten. Auf einigen Ziffern verbildlichen diese Verhältnisse (siehe Bild oben).
Malereien, die unter den Röntgenbildern lagen, wurden wir Gunn ging für die Felsbilder nach demselben Prinzip
fündig. Die Künstler hatten als Gestaltungselement Bienen­ vor – auch wenn sie sehr viel dünner als die Kulturschichten
wachs aufgedrückt. Von den Wachsteilen nahmen wir fünf einer Grabung sind. Sie liegen aber in ähnlicher Weise
Proben und ließen sie mit Hilfe der Radiokarbonmethode übereinander oder überlappen sich. Es wäre unmöglich
datieren. Das Ergebnis: Sie stammen aus der Zeit der gewesen, sie mit bloßem Auge auseinanderzuhalten. Dafür
letzten 400 Jahre. Darüber hinaus entdeckten wir an einer war die Abfolge viel zu komplex. Kurzum – mit Hilfe der
Stelle die Darstellung eines Pferds. In diesem Teil Australi­ Harris-Matrix konnte Gunn die Malereien in eine andere
ens gab es das Reittier erst seit 1845. In jenem Jahr hatte Darstellungsweise übertragen und so ihre relativ-chronolo­
der Forschungsreisende Ludwig Leichhardt die Gegend zu gische Sequenz aufzeichnen.
Pferd besucht. Das heißt, alle Bilder über dem Pferd müs­ Einen sehr kleinen Teil der dekorierten Felsenhalle, die
sen jünger als 1845 sein. Die Schichten mit Bienenwachs Röntgenbilder, hatten wir datiert. Wir wollten aber auch
liegen unter der Röntgenmalerei, die dann nicht älter als vom Rest wissen, wann er entstanden ist. Hierfür nutzten
400 Jahre sein kann. Sowohl über als auch unter dem wir ebenfalls die Radiokarbontechnik. Sie ist für die Erfor­
Pferdemotiv befinden sich Röntgenbilder, die meisten schung von Fels- und Höhlenmalereien besonders gut
liegen aber darüber. Diese Art der Malerei geht in Nawarla geeignet, da viele Bilder organischen Kohlenstoff enthalten,
Gabarnmang also nicht wie zuvor angenommen 3000 Jahre etwa in Form von Holzkohle oder Bienenwachs. Die Metho­
zurück, sondern höchstens 400 Jahre und vielleicht sogar de basiert auf folgendem Prinzip: Alle Organismen reichern
nur bis zur Ankunft berittener Europäer im Jahr 1845. Zeit ihres Lebens das radioaktive Kohlenstoffisotop 14C an.
In Nawarla Gabarnmang liegen hunderte Felsbilder Sterben sie, zerfällt das angehäufte 14C gemäß einer be­
übereinander. Hinzu kommt, dass die Darstellungen auf kannten Rate (siehe »Absprung aus dem Kohlenstoffkreis­
einer unebenen Decke verteilt sind. Das machte es nahezu lauf«, S. 77). Der so bestimmte Zeitpunkt des »Todes« muss
unmöglich, das Kunstkonvolut Bild für Bild zu untersuchen. jedoch nicht mit dem Entstehungsdatum einer Malerei
Gunn nutzte deshalb eine weitere archäologische Methode, übereinstimmen. Normalerweise gehen Archäologen zwar

Spektrum der Wissenschaft  4.20 81


a b

AUS DAVID, B.: CAVE ART. THAMES & HUDSON, 2017; MIT FRDL. GEN. VON BRUNO DAVID
a b

0 2
20 Zentimeter

Auch herausgehämmerte Motive wie diese Tierspu- ausgehämmerte Vertiefungen oder Rillen, die man mit
ren lassen sich datieren. Dazu lösen Archäologen einem harten Steinbrocken aus dem Sandstein geschabt
aus der feinen Kalkkruste, die das Relief überzieht, hatte. Solche Ritzungen stellen die Spuren von Kängurus
organische Stoffe für eine 14C-Bestimmung. und Wallabys dar. Watchman fiel nun auf, dass sich über
die gesamte Felswand eine mikroskopisch dünne Schicht
mineralischer Ablagerungen gebildet hatte. Sie bedeckte
genau davon aus – dass die beiden Ereignisse, der Tod des sowohl die Tierspuren als auch die unberührte Felsoberflä­
Organismus und der Malprozess, zeitlich nicht weit ausein­ che daneben. Watchman nahm mit einem Skalpell Proben
anderliegen. Es kann aber sein, dass die Zeichnungen mit von der Mineralschicht – an den eingetieften Stellen und
einem Stück Holzkohle gefertigt wurden, das schon lange dem umgebenden Fels. Anschließend betrachtete er die
herumgelegen hat. Proben im Mikroskop, genauer gesagt den Profilschnitt der
Das gleiche Problem bereitet der so genannte Altholz­ Mineralkruste, und dokumentierte deren Schichtenabfolge.
effekt. Was hat es damit auf sich? Im Kern eines Baum­ Er führte quasi eine Mikrograbung durch. Sein Ergebnis:
stamms oder eines Asts liegt das älteste, bereits tote Holz. Im Lauf der Zeit hatten sich Salz, Staub und Asche von
Der lebende Baum steckt in den äußeren Schichten, die Buschbränden auf der Steinwand abgelagert. Zwischen
näher an der Rinde liegen. Wird nun ein sehr alter Baum den Mikroschichten entdeckte Watchman aber auch
verbrannt, dann ist die Holzkohle aus dem toten Kernholz so weiße, rote und gelbe Pigmente – Spuren einer einstigen
alt wie der gesamte Baum. Der Zeitpunkt, als der Baum Bemalung. Einige der mineralischen Schichten enthielten
gefällt oder gar verbrannt wurde, lässt sich daraus jedoch zudem das Kalziumoxalat Whewellit, ein Mineralsalz
nicht ermitteln. Diese Daten würde allerdings ein Stück organischen Ursprungs, das genug Kohlenstoff für eine
Kohle liefern, das aus den äußeren Holzschichten stammt. Radiokarbondatierung hergibt. Mit Hilfe des Whewellits
In Nawarla Gabarnmang wie auch an Hunderten anderer bestimmte Watchman das Alter der Schichten. Die Analy­
Fundstätten auf der ganzen Welt haben Archäologen das se ergab, dass die Tierspuren vor ungefähr 3400 Jahren
Alter von Malereien und Zeichnungen durch die 14C-Datie­ herausgehämmert worden waren. Watchman hatte also
rung bestimmen können. Doch in manchen Höhlen hinter­ gezeigt, dass sich Ritzungen und Gravuren mit viel Akribie
ließen die Menschen keine Darstellungen aus Farbe oder datieren lassen.
Kohle an der Wand, sondern Ritzungen und Gravuren. Wie Wenn das Alter einer Felskunst bekannt ist, dann geht
soll man das Alter von Bildern bestimmen, die durch das es in einem nächsten Schritt darum, die Bedeutung der
Entfernen von Felsmaterial entstanden? Lange Zeit schien Darstellungen selbst zu entschlüsseln. Aber das ist eine
es keine Lösung für dieses Problem zu geben – bis der ganz andere Geschichte. 
Geochemiker Alan Watchman von der Flinders University in
Adelaide eine geniale Idee hatte. Von »Spektrum der Wissenschaft« übersetzte und bearbeitete
An der Traumstätte Wardaman im nordaustralischen Fassung eines Auszugs aus dem Buch »Cave Art« von Bruno
Yiwarlarlay gibt es zahlreiche Ritzbilder. Zum Beispiel her- David. Thames & Hudson Ltd., 2017.

82 Spektrum der Wissenschaft  4.20


ZEITREISE
Wissenschaft vor 100 und vor 50 Jahren – aus Zeitschriften der Forschungsbibliothek
für Wissenschafts- und Technikgeschichte des Deutschen Museums

DIE URMUTTER ALLER


SCHWÄBISCHEN »KÄPSELE«
1920 KÜNSTLICHER HERZSCHLAG
LÄSST BABYS SCHLUMMERN
1970
»Der Frankfurter Forscher H. W. Rath ist bei seinen genea­ »Schreiende Säuglinge bringen nicht nur sich selbst um
logischen Studien in Schwaben auf eine Tatsache gestoßen, den notwendigen Schlaf, sondern auch ihre Eltern. Da man
die für unsere Kenntnis geistiger Zusammenhänge in ihnen noch keine Schlafmittel verabreichen kann, hat die
Deutschland höchste Bedeutung gewinnen dürfte. In der Erfindung des Schweden Erling Petrusson alle Aussicht, zu
Tochter eines Tübinger Professors, Georg Burckhardt (1539– einem Verkaufsschlager zu werden. Den Kindern wird über
1607), Regina geheißen, fand er die leibliche Stammutter ein Tonbandgerät, das man in die Wiege oder eine Puppe
fast aller großen Schwaben, Dichter, Denker und Philoso- einbauen kann, der Herzschlag einer schlafenden Mutter
phen seit dem 18. Jahrhundert. Unter den Nachkommen übertragen. Wie sich gezeigt hat, wirkt sein Rhythmus auf
finden sich die Lyriker Hölderlin, Uhland und Mörike, die die Kinder so beruhigend, dass sie innerhalb kurzer Zeit
Philosophen Schelling und Hegel, die Märchenerzähler einschlafen.« Neuheiten und Erfindungen 398, S. 60
[Wilhelm] Hauff, [Gustav] Schwab und Ottilie Wildermuth,
ferner Friedrich Theodor Vischer.« Die Umschau 17, S. 310
SCHON MITTEN IM KLIMAWANDEL?
»Ein milderes Klima auf der Erde sagt Prof. Bert Bolin
EINE WIEGE FÜRS AUTO von der Stockholmer Universität voraus. Seine Angaben
»Nach der Lage der lebenswichtigen Teile eines Kraftwa- stützen sich darauf, daß die durchschnittliche Tempera-
gens ist es häufig bei Reparaturen notwendig, an der tur in bestimmten Gegenden der Erde um mehrere Grade
Unterseite zu arbeiten. Das ist schwierig, nicht nur wegen gestiegen ist. Seiner Meinung nach sei dieser Anstieg
der Lage des Arbeiters, durch den Menschen verursacht worden. Jährlich werden
sondern auch wegen der mehr als 10 Millionen Tonnen Kohlendioxid durch Ver-
unzureichenden Beleuchtung. brennen von Kohle und Öl produziert. Die Kohlendioxid-
In Werkstätten hilft man sich schicht würde eine Wärmeabstrahlung von der Erde
so, daß man den Wagen über verringern. Die Beobachtungen sind in den Polargebieten
eine Grube fahren läßt, in der gemacht worden, wo die Dicke des Packeises deutlich
der Mann stehend arbeiten abgenommen habe.« Naturwissenschaftliche Rundschau 4, S. 163
kann. Ein anderes Verfahren
schlägt L. C. Nicoson in
Ale­xandria (Ind.) ein, der den
BESSER LERNEN MIT LÄRM
Wagen in eine wiegenartige »Stört Lärm das Erinnerungsvermögen wirklich nachhal-
So wird
Kippvorrichtung fährt, mit tig? Zur Beantwortung dieser Frage ließ P. D. McLean am
das Auto deren Hilfe er beliebig weit Institut für Psychologie der Universität London zwei
gekippt. umgelegt werden kann.« Die Gruppen von Studenten unter Ruhe und unter Lärmein-
Umschau 13, S. 253 wirkung lernen. Dabei ergab sich zwar die bekannte Tat-
sache, daß die ›Lärm-Gruppe‹ schlechter lernt; das Er-
innerungsvermögen am anderen Tag aber übertraf die
ATOMENERGIE: GEFÄHRLICH SAUBER Leistung der ›Ruhe-Gruppe‹. Lärm scheint zu einer
»Der Naturforscher Sir Oliver Lodge hielt einen bedeutsa- erhöhten Gehirnaktivität anzuregen.« Kosmos 4, S. *137
men Vortrag. Tatsache sei, daß im Inneren der Stoffe eine
gewaltige bisher unzugängliche Energiequelle liege. Die
Atomenergie ist imstande, die Industrie ungeheuer zu
GLETSCHER TAUEN LEICHTER MIT RUSS
heben. Da würde es keinen Rauch mehr geben und keinen »Die Staatliche Elektrizitätsgesellschaft in Chile hat [erkun-
Schmutz, denn die neue Energie werde etwas Reines sein. det], ob das Abtauen von Gletschern mit Ofenruß wirtschaft-
Es werde vielleicht hie und da Explosionen geben, aber im lich ist. [Es] soll dazu dienen, eine Steigerung der Schmelz-
allgemeinen würden die Bedingungen günstige sein. wassermengen für den Verbrauch zu erreichen. Dabei wur-
[Lodge] hoffe, daß die Menschheit bis zu der erfolgten den 4 Flugzeuge eingesetzt, um einen Teil des Coton-Glet-
Entdeckung genügend Verstand angenommen haben schers in den Anden mit einer Rußlandung zu bewerfen.
werde, um von der Entdeckung den richtigen Gebrauch zu [Es] zeigte sich, daß das Schmelztempo verdreifacht werden
machen. Andernfalls werde [sie] die ganze Erde unsicher konnte. [So] wurden pro km2 bereits 10 000 m3 Schmelz­
und unbewohnbar machen.« Prometheus 1588, S. 215 wasser mehr erzeugt.« Naturwissenschaftliche Rundschau 4, S. 163

Spektrum der Wissenschaft  4.20 83


84
Spektrum der Wissenschaft  4.20
STEFANIKOLIC / GETTY IMAGES / ISTOCK
WISSENSCHAFTSPHILOSOPHIE
VERSUCH UND IRRTUM
Um Theorien zu überprüfen, sind Experimente
unerlässlich. Doch wie zuverlässig ist eigentlich
die empirische Basis der Wissenschaft?

Die Wissenschaftshistoriker Lorraine Daston und Peter


Alexander Mäder ist promovierter Galison beschreiben den Fall des britischen Physikers Arthur
Philosoph, arbeitet als Wissenschafts­
Worthington, der sich Ende des 19. Jahrhunderts mit Flüs­
journalist und lehrt an der Hochschule
der Medien in Stuttgart. sigkeiten befasste. Worthington ließ Quecksilber oder Milch
in Wasser tropfen und dokumentierte die Spritzer, so gut er
 spektrum.de/artikel/1706924 konnte. Er nutze einen Blitz im abgedunkelten Labor, um mit
seinem Auge Momentaufnahmen zu erfassen, die er auf­
zeichnete und später zu einer Art Daumenkino zusammen­
fügte. Dann kam die Fotografie. Worthington erweiterte


Präzise Beobachtungen sind sowohl Ausgangspunkt seinen erprobten Aufbau um die neue Technik, und die
als auch Ziel vieler Forschungsprojekte. Im 19. Jahr­ damit angefertigten Bilder zeigten weniger regelmäßige und
hundert fiel zum Beispiel auf, dass der Planet Uranus symmetrische Spritzer, als er über viele Jahre hinweg mit
nicht perfekt nach den newtonschen Gesetzen um die geschultem Blick gezeichnet hatte. Der Physiker war scho­
Sonne kreist. Daraufhin entwickelten die Astronomen und ckiert. Er wollte sich fortan nur noch auf die »objektiven«
Mathematiker John Couch Adams und Urbain Le Verrier Darstellungen der Fotografie verlassen.
unabhängig voneinander eine Erklärung: Die Bahn des
Uranus wird von einem neuen Planeten gestört, der noch Unsicherheitsfaktor Mensch
weiter von der Sonne entfernt ist. Sie berechneten sogar Heute ist es selbstverständlich, menschliche Einflüsse
die Bahn des unbekannten Objekts und machten ihre möglichst auszuklammern, denn auch Wissenschaftler
Theorie damit leicht überprüfbar. Wenn sie Recht behalten sehen zuweilen nur, was sie sehen wollen. Es gilt als Aus­
sollten, müsste sich der Planet finden lassen. weis von Objektivität, wenn eine Theorie nicht auf persönli­
So war es. Nach kurzer Suche meldete der Astronom chen Beobachtungen fußt, sondern von unabhängiger Seite
Johann Galle 1846 an Le Verrier: »Der Planet, dessen Positi­ überprüfbar ist. Das stellt sich allerdings als mühsames
on Sie errechnet haben, existiert tatsächlich.« Die Himmels­ Geschäft heraus. Seit einigen Jahren diskutieren Experten
mechanik Newtons war also nicht falsch, wie man wegen über eine so genannte Replikationskrise und die Zuverlässig­
Uranus’ Bahnanomalien hätte vermuten können, sondern keit von Ergebnissen in verschiedenen Fächern. Internatio­
wurde mit der Entdeckung des Neptuns vielmehr eindrück­ nale Forscher haben sich etwa in der »Open Science Colla­
lich bestätigt (eine Anomalie bei Merkur konnte sie später boration« zusammengetan, um wichtige Experimente aus
hingegen nicht erklären – das gelang erst Albert Einstein, der Biomedizin und der Psychologie systematisch zu wieder­
siehe Teil 2 der Serie). Der Philosoph Karl Popper sah darin
später ein Paradebeispiel dafür, wie Wissenschaft funktio­
nieren sollte: Forscher stellen mutig präzise Theorien auf
SERIE
und unterziehen sie einer strengen Prüfung.
Grundbegriffe der Wissenschaft
Doch ein solcher Test, der über Wohl und Wehe einer
Alexander Mäder
Theorie entscheidet, ein »experimentum crucis«, ist selten.
Unter anderem deshalb, weil die Beobachtung selbst oft
nicht über jeden Zweifel erhaben ist. Auch sie lässt sich Teil 1: Februar 2020
Wie universell sind Naturgesetze?
kritisch prüfen – und muss manchmal revidiert werden.
Teil 2: März 2020
Gute Theorien, schlechte Theorien
Auf dem Weg zu mehr Klarheit brauchen Forscher Teil 3: April 2020
möglichst genaue Daten. Kleine Fehler summieren Versuch und Irrtum
sich schnell zu großen, selbst wenn man die am
besten geeignete Messmethode wählt.

Spektrum der Wissenschaft  4.20 85


Neptun ging zum Beispiel stillschweigend die Annahme ein,
dass man auch diesen Himmelskörper anhand des von ihm
AUF EINEN BLICK zurückgeworfenen Sonnenlichts mit einem Teleskop sehen
DURCHKOMMEN IM DATENDICKICHT könne. Wäre Neptun nicht aufgetaucht, hätte nicht automa­
tisch die Annahme von Adams und Le Verrier falsch sein
müssen – sondern ebenso das Reflexionsvermögen des Pla­
1 Eigentlich sollten Beobachtungen Auskunft darüber
geben, ob eine Hypothese stimmt. Doch oft liefern
Tests unklare oder widersprüchliche Antworten.
neten schuld sein können.
Der Franzose Pierre Duhem hat diesen Aspekt 1908 in
der deutschen Übersetzung seines Buchs »Ziel und Struktur

2 Das liegt unter anderem daran, dass Messungen mit


Hilfe von Instrumenten entstehen, deren Funktions­
weise wiederum auf Annahmen basiert. Diese können
der physikalischen Theorien« betont: »All dies zusammen­
gefaßt ergibt sich, daß der Physiker niemals eine isolierte
Hypothese, sondern immer nur eine ganze Gruppe von
sich als falsch herausstellen. Hypothesen der Kontrolle des Experiments unterwerfen
kann.« Philosophen sagen heute, die Wahl einer Theorie sei

3 Selbst wenn die erhobenen Daten an sich unumstritten


sind, gibt es häufig ein weiteres Problem, wenn sie sich
nicht eindeutig interpretieren lassen.
empirisch nicht vollständig festgelegt, sie sei »unterbe­
stimmt«. Duhem fand eine schöne Metapher: »Die Physik
ist keine Maschine, die sich demontieren läßt.« Man könne
ihre Bauteile nicht einzeln prüfen und nur die besten zum
physikalischen Gedankengebäude zusammensetzen, son­
dern man müsse das System als Ganzes nehmen.
holen. Ein erster, groß angelegter Versuch, die Resultate Neben den möglichen Fehlern bei einer Messung gibt
von 100 in einflussreichen Journalen veröffentlichten psy­ es einen zweiten Grund, warum es mitunter schwer sein
chologischen Studien zu reproduzieren, konnte 2015 nur kann, über die Falsifikation oder Bestätigung einer Theorie
etwa 40 Prozent der Originalschlussfolgerungen bestätigen. zu urteilen: Die Ergebnisse lassen sich nicht eindeutig
Solche Überprüfungen waren bisher selten, weil der interpretieren.
Wettbewerb unter Wissenschaftlern nicht gerade dazu Einen berühmten Test führte der schottische Schiffsarzt
motiviert, die Ergebnisse von Kollegen nachzuvollziehen. James Lind auf der HMS Salisbury durch. Wie er sechs
Forscher sind vielmehr darauf aus, der Fachwelt etwas ­Jahre später in einer Abhandlung berichtete, untersuchte er
Neues zu präsentieren. Für eine Studie, die bereits Bekann­ im Mai 1747 die Wirkung von sechs Skorbut-Therapien an
tes bloß bekräftigt, finden sie nur schwer eine Publikations­ jeweils zwei erkrankten Matrosen. Nur bei einer Versuchs­
möglichkeit. Doch nun bringen Replikationsstudien frischen gruppe schlug die Behandlung schon nach wenigen Tagen
Wind in die Wissenschaft und werfen interessante Fragen an, dort aber sehr deutlich. Die beiden Matrosen, die jeden
auf: Sind manche älteren Studien damit widerlegt, oder Tag zwei Orangen und eine Zitrone essen mussten, erholten
liegt das Problem bei den Wiederholungen? Und wenn sich rasch. Die anderen, die zum Beispiel Apfelwein, Essig
beide Untersuchungen sauber durchgeführt wurden – weist oder Salzwasser erhalten hatten, blieben krank. Allerdings
das auf einen bisher unbeachteten Faktor hin, der den meinte Lind zu beobachten, dass auch der Apfelwein ein
Unterschied erklären kann? wenig helfe.
Wenn es zum Konflikt zwischen zwei Experimenten
kommt, lohnt es sich, die Instrumente genauer anzuschau­ Von sauren Zitrusfrüchten
en. Selbst Kameras bilden die Realität nicht eins zu eins ab. und süßer Schokolade
Ihre Linsen verzerren, Farben werden anders wiedergege­ Linds Prinzip ist in der Medizin heute selbstverständlich.
ben. Forscher erheben Daten heute mit komplexen Geräten Um die Wirkung einer Therapie abzuschätzen, wird sie mit
und sind auf korrekt arbeitende Technik angewiesen. Wenn der Wirkung einer anderen verglichen – diese kann sogar
dabei etwas schiefgeht, kommt es zu verwirrenden Situa­ einfach aus Nichtstun und Abwarten bestehen. In einem
tionen wie jener im Jahr 2011, als eine kuriose Messung der typischen Experiment erhalten die Probanden entweder das
Fluggeschwindigkeit von Neutrinos bekannt wurde. Die zu testende Medikament oder ein Placebo. Der neue Stoff
Teilchen waren auf der Strecke vom Beschleunigerring LHC gilt nur dann als wirksam, wenn es den damit behandelten
bei Genf ins italienische Gran-Sasso-Massiv etwas schnel­ Patienten besser geht als denen, die lediglich das Schein­
ler als das Licht, was Albert Einstein zufolge physikalisch medikament erhalten haben. Denn auch in deren Gruppe
verboten ist. Das sorgte für einigen öffentlichen Wirbel und fühlen sich üblicherweise einige am Ende des Versuchs
Spekulationen um »neue Physik«. Erst nach längerer Suche besser, vermutlich auf Grund der ärztlichen Untersuchung
wurde ein nicht richtig eingestecktes Glasfaserkabel als oder anderer psychologischer oder sozialer Faktoren.
Fehler ausgemacht. Es hatte das Zeitsignal verfälscht. Doch mit einem Experiment wie dem von James Lind ist
Aus Sicht eines Logikers lässt sich das Problem so die wissenschaftliche Neugier in aller Regel nicht befriedigt.
beschreiben: Wenn man eine Theorie prüfen will und dafür Die Mediziner des 18. Jahrhunderts wussten nichts vom
eine Hypothese zur näheren Untersuchung ableitet, dann Vitamin C, das in Zitrusfrüchten enthalten ist und dessen
braucht man dazu in aller Regel eine Zusatztheorie über das Mangel Skorbut hervorruft. Viele glaubten damals, die
Funktionieren des Messgeräts. Nur aus der Verbindung Säure helfe. Zwar hatte der Essig in Linds Experiment
beider ergibt sich der Test. In die Suche nach dem Planeten nichts bewirkt, bloß reicht das schon aus, um die Theorie

86 Spektrum der Wissenschaft  4.20


Big Data in Genetik und Astronomie
Maschinen können große Mengen Computer keine klare Antwort halten, erkennen die Maschinen
von Informationen analysieren und findet. falsche Muster.
darin Muster identifizieren. Das In der Genetik sind Maschinen Forscher müssen sich überdies
bringt mittlerweile ganz unter­ wiederum im Vorteil, wenn es an den Gedanken gewöhnen, dass
schiedliche Fachgebiete zur neuen darum geht, bestimmte Krankheits­ sie nicht alles verstehen können,
datengetriebenen Wissenschaft symptome mit Veränderungen im was ihnen die Algorithmen anbie­
zusammen. Erbgut zu verknüpfen, um etwa die ten. Manche Zusammenhänge sind
In der Astronomie klassifizieren Ursachen seltener Erkrankungen zu für den menschlichen Geist zu
Computer beispielsweise Radio­ ermitteln. Solche medizinischen komplex, andere ergeben nach
galaxien automatisch nach ihrer Datenbanken wachsen heute unseren Maßstäben keinen Sinn.
Form. Für eine manuelle Unter­ schnell, da die Entzifferung der Und die statistischen Zusammen­
scheidung hat das Citizen-Science- kompletten DNA einer Person nur hänge allein sind noch keine Theo­
Projekt »Radio Galaxy Zoo« bisher noch rund 1000 Euro kostet. In rie, die einen Mechanismus be­
die Unterstützung von Freiwilli- Deutschland werden diese genom­ schreibt.
gen gesucht. Sobald die Algorith­ weiten Assoziationsstudien mit Wissenschaftsphilosophen
men zuverlässig genug arbeiten, Argwohn betrachtet – auch weil die diskutieren bereits darüber, wie gut
könnten sie große Datenbanken in Interpretation als schwierig gilt. Forscher Daten in Zukunft noch
kurzer Zeit durchforsten. Experten In allen Fällen hängt die Leistung durchschauen müssen, bevor sie
würden sich dann auf die Sonder­ der Computer von der Qualität der eine neue Theorie als bestätigt
fälle konzentrieren, für die der Daten ab. Wenn diese Fehler ent­ akzeptieren.

zu den Akten zu legen? Es dauerte noch einige Jahrzehnte, kung dunkler Schokolade auf Gewicht und BMI untersucht
bis sich in der Royal Navy die Einsicht durchsetzte, dass wurde. Nimmt man alle zusammen – solche statistischen
Zitrusfrüchte Skorbut vorbeugen. Wie schwer muss es sein, Auswertungen werden Metaanalysen genannt –, dann ist
Fragen zu klären, wo die Evidenz weniger eindeutig ist? kein Effekt zu erkennen. Am Ende ihres Artikels verweisen
Das verdeutlicht das Beispiel dunkler Schokolade in der die Forscher auf den hohen Energiegehalt der Schokolade
modernen Ernährungsmedizin. Immer wieder wurde unter­ und warnen: »Eine hohe Dosis über einen längeren Zeit­
sucht, ob ihre Inhaltsstoffe gesund sind. 2008 zum Beispiel raum sollte mit Vorsicht betrachtet werden.«
hat eine Gruppe US-Forscher 50 Probanden sechs Wochen Die Annahme, Schokolade mache schlank, ist zwar
lang jeden Tag einen Schokoriegel oder ein Glas Kakao mutig und prinzipiell überprüfbar. Nur die Tests sind nicht
gegeben, 50 anderen entsprechende Imitate, die eigens so aussagekräftig, wie man sich das wünschen würde. Ist
hergestellt wurden. Zwar erkannte die Hälfte der Versuchs­ die Theorie damit falsifiziert? Karl Popper, übrigens ein
personen den Schwindel, doch schlimmer war, dass die großer Freund von Schokolade, würde vermutlich davon
Forscher überhaupt keinen Effekt fanden, weder psychisch abraten, dieser Frage weiterhin so viel Gewicht beizumes­
noch physiologisch. Vermutlich waren sechs Wochen zu sen. Wenn der Nutzen so schwer nachzuweisen ist und
kurz und ein Schokoriegel am Tag zu wenig, vermuteten sie. eine Theorie darüber fehlt, wie die Süßigkeit im Körper
In eine andere Richtung weist eine Erhebung der Medizi­ genau wirkt, lohnt sich das nicht wirklich. 
nerin Beatrice Golomb, die 2012 in den Daten von 1000 Pro­
banden Überraschendes entdeckte. Wer bei der Befragung
zu seinen Ernährungsgewohnheiten angegeben hatte, QUELLEN
regelmäßig Schokolade zu essen, hatte einen niedrigeren Baron, J. H.: Sailors’ scurvy before and after James Lind – a
Body-Mass-Index (BMI) als diejenigen, die auf Schokolade reassessment. Nutrition Reviews 67, 2009
verzichteten. Die Schlussfolgerung liegt nahe, Schokolade Daston, L., Galison, P.: Objektivität. Suhrkamp, 2007
mache schlank. Aber in ihrem Bericht weist Golomb selbst
Duhem, P.: Ziel und Struktur der physikalischen Theorien. J. A.
auf die Schwierigkeit der Interpretation hin. Sie hat nur Barth, 1908
einen statistischen Zusammenhang gefunden, eine Korrela­
Open Science Collaboration: Estimating the reproducibility of
tion von zwei Variablen. Damit ist die Kausalität aber noch
psychological science. Science 349, 2015
nicht klar. Macht Schokolade tatsächlich schlank, oder
greifen schlanke Menschen häufiger zu Süßem?
WEBLINK
In solchen Themengebieten sammeln sich im Lauf der
Jahre typischerweise unterschiedliche Ergebnisse. 2018 hat https://plato.stanford.edu
ein iranisches Forscherteam die Fachdatenbanken durch­ Das Online-Lexikon gibt zum Thema »underdetermination of
forstet und 35 Experimente gefunden, in denen die Wir­ scientific theories« einen ausführlichen Überblick.

Spektrum der Wissenschaft  4.20 87


REZENSIONEN
ENTOMOLOGIE  Schmetterlinge, »Gaukler der Lüf-
te«, wer mag sie nicht? Seit etwa
Künstler und Illustrator Johann
Brandstetter widmet sich gemeinsam
GAUKLER DER LÜFTE 200 Millionen Jahren gibt es sie, seit mit der Biologin Elke Zippel der Aufga-
160 000 Schmetterlingsarten sind Jahrtausenden stehen sie als Symbol be, »den gesamten Mikrokosmos um
bekannt. Dieses Buch vermittelt für die Wandlungen von Geist und den Schmetterling« auszuleuchten – in
eine Ahnung davon, welch unter- Seele. Doch viele Facetten ihres all seiner Schönheit. Dabei gelingt es
schiedliche Überlebensstrategien Lebens sind weithin unbekannt. Der ihnen, die Leser neugierig zu machen
sie entwickelt haben. auf Schmetterlinge spezialisierte und zu begeistern.
JOHANN BRANDSTETTER; AUS BRANDSTETTER, J., ZIPPEL, E.: WIE SCHMETTERLINGE LEBEN; MIT FRDL. GEN. DES HAUPT VERLAGS

88 Spektrum der Wissenschaft  4.20


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Die Vielfalt an Schmetterlingen ist Etliche Spezies sind auf bestimmte schiedlicher Biofaktoren und nur unter
riesengroß, das Spektrum ihrer spezi- Nahrungsquellen spezialisiert oder der Voraussetzung, dass bestimmte,
ellen Bedürfnisse und Anpassungen haben spezifische Lebenszyklen und komplexe Parameter zusammenpas-
überwältigend breit. Jede Art weist Metamorphosen entwickelt, bis hin zu sen, überleben. Das macht effektiven
Besonderheiten auf, die ihr Überleben ausgeklügelten Strategien der Feind- Schmetterlingsschutz zu einer komple-
sichert – gleich ob tagaktive Tiere oder abwehr, Tarnung und Täuschung. xen und anspruchsvollen Aufgabe«,
Nachtfalter, von denen es rund zehn- »Jede Schmetterlingsart kann nur im schreiben Brandstetter und Zippel.
mal so viele gibt wie von den Ersteren. fein justierten Zusammenspiel unter- Von den rund 160 000 bisher be-
kannten Schmetterlingsarten beschrei-
ben die Autoren zirka 50 mit ihren
markantesten Vertretern. Im Register
listen sie mehr als 600 Spezies und
deren wichtigste Nahrungspflanzen
auf. Detailreiche Illustrationen begleiten
die Texte, grafisch separierte Einschübe
zu Themen wie Wiederansiedlungsver-
suche, Schmetterlingsfarmen oder
Symbiosen bieten ergänzende Informa-
tionen. Große Bildseiten bringen eine
künstlerische Note hinein.

Johann Brand­
stetter, Elke Zippel
WIE SCHMET-
TERLINGE LEBEN
Wundersame
Verwandlungen,
raffinierte
Täuschungen und
prächtige
Farbenspiele
Haupt, Bern 2019
224 S., € 34,–

Die Autoren erörtern Überlebens-


stra­tegien von Schmetterlingsarten
in unterschiedlichen Lebensräumen,
darunter Magerrasen, Feuchtwiesen,
Hochgebirge, Auwald, Tundra und
tropische Regenwälder. Die Leser
erfahren von Besonderheiten wie dem
JOHANN BRANDSTETTER; AUS BRANDSTETTER, J., ZIPPEL, E.: WIE SCHMETTERLINGE LEBEN; MIT FRDL. GEN. DES HAUPT VERLAGS

Gestank der Schillerfalter oder der


Abwehr von Fressfeinden durch körper-
eigene, giftige Blausäureverbindungen
bei der Falterart Blutströpfchen (Zygae-
na filipendulae). Zahlreiche Pflanzenar-
ten, etwa Passionsblumen, vermeiden
es, gefressen zu werden, indem sie
Giftstoffe produzieren, die wiederum
darauf spezialisierte Raupen – unter
anderem des Helikonienfalters – auf-
nehmen und zum Selbstschutz verwen-
den. Andere Schmetterlingsarten wie

Schmetterlinge besiedeln diverse


Ökosysteme – darunter Waldhabitate
wie das hier dargestellte.

Spektrum der Wissenschaft  4.20 89


REZENSIONEN
die aus der Familie der Ritterfalter auf fachlich hohem Niveau spannend verdrehungen von Irrtümern unter-
(Papilionidae) nutzen Warntrachten zu informieren und dabei Laien nicht scheiden«. Irrtümer geschehen
und Mimikry(Täuschungs)-Strategien, zu überfordern. demnach »nicht absichtlich, sie
um sich ohne eigene Giftstoffe zu Der Rezensent Gerfried Pongratz ist pro­ unterlaufen uns«.
schützen. movierter Phytopathologe in Osterwitz bei Die Analyse des Autors gilt Fragen
Der umfangreichste Abschnitt des Deutschlandsberg (Österreich). wie der, ob die »Fehlbarkeit ihren
Buchs »Die Vielfalt der Schmetterlin- Grund in der menschlichen Natur hat
ge« vermittelt Wissen zu einzelnen oder anderswo« und wie der Fallibilis-
Familien mit deren Lebensweisen,
Lebensbedingungen, morphologi-
PHILOSOPHIE mus (die erkenntnistheoretische
Überzeugung, dass Irrtümer immer
schen und biologischen Anpassungen. IRREN IST MENSCHLICH möglich sind und es keine absolute
So leben bei den Wurzel- und Holz- Philosoph Geert Keil durchleuchtet Gewissheit gibt) mit einer bestimm-
bohrern die Raupen in Symbiose mit die menschliche Fehlbarkeit – und ten Wahrheitsauffassung zusammen-
Bakterien und Pilzen. Die Raupen der plädiert für Demut sowie Beschei- hängt. Das Buch hinterfragt, was den
Seerosenzünsler (Elophila nymphaeata) denheit. Fallibilisten vom Skeptiker unterschei-
wiederum überdauern unter Wasser; det, warum wir selbst dann »irrtums-
die Glasflügler (Sesiidae) »geben vor«,
Hornissen zu sein; die Weibchen der
Echten Sackträger (Psychidae) besit-
 Wer hat noch nie sein Smartphone
gesucht und obwohl er sicher zu
sein glaubte, wo es sich befinden
anfällig (sind), wenn wir uns aufrichtig
und mit größter Sorgfalt bemühen,
etwas herauszubekommen« und wie
zen keine Flügel; die Wanderfalter müsse, es schließlich erst nach einem »das Erste Vatikanische Konzil zu der
überwinden riesige Distanzen. Anruf über das Festnetz anhand des Auffassung gelangen (konnte), dass
Zudem behandeln Brandstetter und Klingelns lokalisiert? Wir irren täglich, genau ein Unfehlbarer unter uns
Zippel die Grundlagen der zoologi- vielfach, unabsichtlich, gedankenlos, wandelt«.
schen Systematik mit ihrem »babyloni- zufällig, und dennoch wissen wir eine
schen Namenswirrwarr«. Nicht nur Menge von den Dingen, die uns umge-
regional übliche Bezeichnungen,
sondern auch wissenschaftliche
ben. »Wir sind offenbar Wesen, die
nicht immer aus eigener Kraft sicher-
Fehlbar, so der Autor,
Namen unterliegen, bedingt durch stellen können, dass etwas, was wir sind nicht Theorien,
neue Untersuchungsmethoden, einem
starken Wandel. Ein weiteres Thema
mit Gründen für wahr halten, auch
wahr ist«, schreibt der Philosoph Geert Aussagen oder Me-
ist das dramatische Artensterben bei
den Schmetterlingen durch Vernich-
Keil in diesem Buch.
Keil, Professor für Philosophische
thoden, fehlbar ist nur
tung von Lebensräumen, Lichtver- Anthropologie an der Humboldt-Uni- der Mensch
schmutzung, Mangelbeweidung, versität zu Berlin und seit September
Trockenlegung von Feuchtwiesen, 2018 Präsident der Gesellschaft für
Pestizideinsatz et cetera. In diesem Analytische Philosophie, geht in dem Keil erzählt vom Fallibilismus,
Zusammenhang weisen die Autoren gerade einmal 96 Seiten dicken Werk indem er dessen Wortgeschichte
auf die positive Rolle von Schmetter- unseren Irrtümern nach. Er durch- folgt. So war noch im 19. Jahrhundert
lingen als Bestäuber und Seidelieferan- leuchtet die menschliche Fehlbarkeit, Fehlbarkeit mit moralischer Bedeu-
ten hin sowie auf die Bedeutung der indem er Begriffe genau analysiert, die tung aufgeladen (geirrt = sündig =
Raupen als Nahrungsquelle für Vögel, wir verwenden. Es geht ihm nicht um moralisch verfehlt). Den Begriff
Fledermäuse, Geckos und Eidechsen Lügen oder absichtliche Täuschungen, Fallibilismus führte der Philosoph
sowie Wirbellose wie Fangschrecken sondern darum, »worin genau sich Charles Sanders Peirce (1839–1914)
und Schlupfwespen. Schmetterlings- Lügen, Täuschungen und Tatsachen- ein; heute ist er vor allem nach Karl
farmen und Wiederansiedlungsversu- Poppers (1902–1994) Werk »Logik der
che unterstützen die Arterhaltung, Forschung« in den Naturwissenschaf-
Geert Keil
genügen allein jedoch nicht, wie aus ten Standard: Eine Theorie gilt grund-
WENN ICH MICH
dem Werk hervorgeht. NICHT IRRE sätzlich als vorläufig und ist immer
»Wie Schmetterlinge leben« bietet Ein Versuch über wieder zu prüfen, bis eine bessere
umfassende und ästhetisch schön die menschliche gefunden ist.
Fehlbarkeit
aufbereitete Informationen zur Syste- Fehlbar, so der Autor, sind nicht
Reclam, Ditzingen
matik, Biologie und Morphologie, zu 2019 Theorien, Aussagen, Behauptungen
den Ansprüchen, Symbiosen, Lebens- 96 S., € 6,– oder Methoden, fehlbar ist nur der
bedingungen und Schutzmaßnahmen Mensch: »Menschen sind in allen
der Schmetterlingskunde. Die Leiden- ihren Erkenntnisbemühungen fehlba-
schaft der Autoren fürs Thema ist re Wesen (…) Menschen besitzen
spürbar. Dem Buch gelingt der Spagat, keine wahrheitsgarantierenden

90 Spektrum der Wissenschaft  4.20


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Rechtfertigungen.« Keil weist die leicht und sehr gut verständlich ge- ten verschwinden, die Korallenriffe
epistemische Wahrheitsauffassung schrieben, sollte aber sorgfältig und vor Brasiliens Küste vor Ölbohrungen
zurück, der zufolge eine Aussage wahr genau gelesen werden, um den größ- schützen sollten. Inselstaaten wie
ist, die unter idealen Bedingungen ten Gewinn daraus zu ziehen. Palau versuchen verzweifelt, mit
gerechtfertigterweise für wahr gehal- Der Rezensent Josef König ist Germanist einem einzigen Schiff ihre Fanggrün-
ten wird. Stattdessen bevorzugt er und Philosoph, ehemaliger Leiter der de vor Überfischung zu schützen;
eine realistische Wahrheitsauffassung, Pressestelle der Ruhr-Universität Bochum Kreuzfahrtschiffe lassen tonnenweise
in der Wahrheit und Fürwahrhalten und hat den Informationsdienst Wissen­ ölhaltige Abwässer ins Meer ab.
schaft mitbegründet.
auseinanderfallen. »Wahr zu sein ist Als Augenzeuge schildert Urbina
überhaupt kein Wesen, das etwas tun diesen Kampf auf dem Meer, von
könnte, sondern eine Eigenschaft von dem wir in den wohlhabenden west-
Aussagen.« Verschiedene Aussagen Ian Urbina lichen Ländern meist nichts mitbe-
scheiden als »nicht wahrheitsfähig« OUTLAW OCEAN kommen, aus erster Hand. Die Arbeit
aus seiner Analyse aus: Geschmacks- Die gesetzlose See auf See, schildert er immer wieder,
und moralische Urteile, Aussagen Ein Augenzeugen­ mündet oft in Sklaverei und Sadis-
bericht
über Zukünftiges, politische Überzeu- Topicus, Luxem­
mus. Über mehr als vier Jahre hin-
gungen, perspektivenabhängige burg 2020 weg war er an Bord diverser Kontroll-
Urteile sowie Glaubenssätze. Mit 558 S., € 19,99 oder Fischereiboote und sah Seeleu-
ihnen befasst er sich nicht weiter, te, die fast noch Kinder waren und
sondern nur mit Aussagen, die prinzi- unter schwersten Bedingungen
piell fehlbar sind, also »nicht gegen arbeiteten. Ein kambodschanischer
Irrtümer gefeit«. Junge zeigte ihm nicht ohne Stolz
Anders ausgedrückt lautet Keils seine Hand, an der zwei Finger
These: »Wahrheit ist nicht das, was wir
sicher treffen, wenn wir gut begründe-
GESELLSCHAFT fehlten – abgerissen von einem Netz,
das sich in einer Drehkurbel verfan-
te Überzeugungen haben, sondern KRIEG AUF HOHER SEE gen hatte. Andere hatten sich aus
das, was wir verfehlen können, ob- Der Kampf um die schwindenden der Not heraus tiefe Schnittwunden
wohl wir gut begründete Überzeugun- Fischgründe wird mittlerweile selbst zusammengenäht, die dauer-
gen haben.« Anhand einleuchtender bewaffnet ausgetragen. Dieses haft entzündet blieben. Denn der
Beispiele plädiert er für Demut ange- Buch berichtet darüber aus erster Kapitän hatte zwar aufputschende
sichts menschlicher Fehlbarkeit. Sehr Hand. Amphetamine verteilt, aber keine
anschaulich demonstriert er das am Antibiotika. Urbina berichtet zudem
Fall des »Heilbronner Phantoms«, als
Polizei, Staatsanwaltschaft und Lan-
deskriminalamt zwischen 1993 und
 Als Ende 2019 nicht weniger als
63 chinesische Fischereiboote vor
Indonesiens Küsten der Natuna-Inseln
von Menschenhandel, Auspeitschen
und Zwangsarbeit.
Vor Gericht und auf hoher See sei
2009 zahlreiche Verbrechen unter- auf Fang gingen, wurden sie von man in Gottes Hand, lautet ein
suchten, bei denen stets übereinstim- schwer bewaffneten Schiffen der Sprichwort. Doch wo an Land die
mende DNA-Proben auftauchten. Küstenwache eskortiert. Indonesien Richter nach Gesetz Recht sprechen,
Trotz aller Sorgfalt übersahen sie einen antwortete darauf mit dem Überflug herrscht auf hoher See Willkür, wie
blinden Fleck am Anfang der Indizien- von vier Kampfjets. Es war ein Zeichen der Autor zeigt. So zitiert er einen
kette: Alle DNA-Proben stammten von dafür, dass um die schwindenden UN-Bericht, in dem 29 Seefahrer
der Mitarbeiterin eines Verpackungs- Fischgründe mit zunehmend harten bezeugten, dass Kapitäne oder
betriebs, von dem die Ermittler ihre Bandagen gekämpft wird. Die frühere Offiziere ungestraft Arbeiter getötet
Abstrichbestecke bezogen. Die Frau indonesische Fischereiministerin Susi hatten.
hatte vorschriftswidrig keine Hand- Pudjiastuti hatte schon 2014 begon- Das Buch befasst sich auch mit
schuhe getragen und beim Verpacken nen, die illegale Fischerei radikal zu dem Walfang. Die Leser erfahren
die für die Spurensicherung verwende- bekämpfen. Sie ließ Fangschiffe dazu etwa, dass Japan 2017 die Verhinde-
ten Wattestäbchen mit ihrer DNA oft zur Abschreckung sprengen oder rung des Walfangs im Antiterroris-
verunreinigt. versenken.
Keils Buch ist uneingeschränkt allen Es herrscht Krieg auf dem Meer,
zu empfehlen, die sich mit der Natur stellt der Journalist und Anthropologe
menschlicher Fehlbarkeit befassen Ian Urbina in diesem Buch fest. Er Die illegale Fischerei
wollen. Es ist beileibe kein philosophi-
sches Fachbuch, obwohl darin »einige
bereist für die »New York Times« die
Meere und berichtet über schäbige
ist ein gewinnträchti-
erkenntnistheoretische Überlegungen
eingeschmuggelt (sind), die zu gelehr-
Machenschaften in der Fischereibran-
che, auch über den illegalen Fang
ger und übermächtiger
tem Streit einladen«. Das Werk ist hinausgehende – wenn etwa Gutach- Markt
Spektrum der Wissenschaft  4.20 91
REZENSIONEN
musgesetz unter Strafe stellte. Japani-
sche Walfangschiffe sind inzwischen
ARCHÄOLOGIE europäische Geschichte mit vermut-
lich 800 000 Jahre alten fossilen
militärisch so hoch aufgerüstet, dass MAMMUTWERK ÜBER Fußspuren an der Themsemündung
Meeresschutzorganisationen wie die DIE KULTURGESCHICHTE beginnen. Diese Abdrücke markieren
Sea Shepherd den Kampf gegen sie derzeit die ältesten Zeugnisse
aufgegeben haben: Sie manövrieren EUROPAS menschlicher Besiedlung auf dem
ihre Schiffe nicht mehr wie früher Archäologen rekonstruieren euro- alten Kontinent. Von hier aus durch-
zwischen die zu schützende Wale und päische Kulturgeschichte anhand streifen die Autoren in diversen
die »Schlachthausschiffe«. aktueller Forschungsergebnisse Abschnitten die klassischen Epochen
Urbina geht überdies der Frage und berichten über den Stand ihrer von Stein- über Eisenzeit, Antike und
nach, ob nicht auch die Meeresakti- Wissenschaft. Mittelalter bis ins 20. Jahrhundert.
visten außerhalb des Gesetzes agie- Trotz chronologischer Anordnung der
ren. Und zitiert einen Kapitän der Sea
Shepherd, wonach die Schutzorgani-
sationen ihre Autorität aus der UN-
 Mehr als 550 Seiten dick, aufge-
schlagen über einen halben Meter
breit und rund zweieinhalb Kilogramm
einzelnen Kapitel konzentrieren sie
sich auf übergreifende »Fragen der
Mobilität, Innovation, Widerstandsfä-
Weltcharta für die Natur beziehen. schwer: Handlich ist dieses archäolo- higkeit und der langzeitlichen sozialen
Diese fordert unter anderem NGOs gische Überblickswerk ganz sicher Prozesse«, wie die Herausgeber im
auf, beim Schutz der Natur in jenen nicht. Zum Glück, denn anders wäre Vorwort schreiben. Der Fokus liegt
Bereichen zu helfen, die von nationa- den Herausgeberinnen und Herausge- dabei vor allem auf dem mitteleuro-
ler Rechtsprechung nicht erfasst bern vermutlich kein so umfassender päischen Raum.
werden. Das Behindern illegaler Überblick gelungen, der den aktuellen Anhand aktueller archäologischer
Fischer und das Konfiszieren von Stand archäologischer Forschung in Befunde gewährt das Buch einen
deren Netzen, argumentieren Anwälte Europa wiedergibt. Im Gegensatz zu Einblick in verschiedene gesellschaft-
für Seerecht, seien im Vergleich zur anderen Prachtbänden, die häufig mit liche Bereiche der jeweiligen Epo-
illegalen Fischerei ersichtlich ein aufwändigen Fotografien glänzen, chen, etwa in das Alltagsleben der
»geringeres Ärgernis«. inhaltlich aber kaum mehr als lexikon- Germanen oder die Bedeutung und
Ein Beispiel für einen solchen den Niedergang mittelalterlicher
Vorgang ist die Verfolgung der »Thun- Eszter Bánffy, Burgen. Die Beiträge vereinen be-
der«. Aktivisten der Sea Shepherd Kerstin P. Hofmann, kanntes Wissen mit neuen For-
Philipp von Rummel
hatten den von Interpol gesuchten (Hg.) schungsergebnissen. Sie erlauben es
Fischtrawler 2014 aufgespürt. Sie SPUREN DES den Lesern, Archäologen bei der
beschlagnahmten 72 Kilometer lange MENSCHEN Arbeit zuzuschauen, und erklären, mit
illegale Netze, während der Kapitän 800 000 Jahre welchen modernen Mitteln heute
Geschichte in
der »Thunder« sein Schiff selbst Europa gearbeitet wird. Drohnen beispiels-
versenkte. WBG Theiss, weise ergänzen Feldbegehungen,
Allerdings können solche Erfolge Darmstadt 2019 Pollenanalysen veranschaulichen die
nicht darüber hinwegtäuschen, dass 552 S., € 50,–; frühere Flora, DNA-Untersuchungen
ab 1. 4. 2020 € 70,–
die illegale Fischerei ein gewinnträch- haben die Erforschung der Ur- und
tiger und übermächtiger Markt und Frühgeschichte nahezu revolutioniert.
daher äußerst schwer einzudämmen artige Beschreibungen bieten, über- Hervorragende Fotos, Kartenmaterial
ist. Der Kampf gegen die schwim- zeugt dieses Buch durch anspruchs- und wirkungsvolle Illustrationen
menden Waffenkammern sei kaum volle populärwissenschaftliche Beiträ- begleiten die Texte und machen den
zu gewinnen, resümiert Urbina. Und ge, die den aktuellen Forschungsstand Stoff anschaulich. Außerdem ist ein
so fragt er, inwiefern jede(r) Einzelne detailreich und sehr gut zugänglich Orts- und Fundplatzregister angefügt.
von uns etwas tun kann, um zu vermitteln. Der heimliche Star des Wissenschaftliche Modernität
helfen. Als Anregung hierfür stellt er Werks ist dabei die Archäologie selbst. drückt sich nicht nur in neuer Technik
am Ende seines lesenswerten Werks Das überrascht nicht, denn die Her- aus, sondern auch im Überprüfen
verschiedene Organisationen vor, die ausgeber sind vom Deutschen Archäo- etablierter Denkansätze. Die Archäo-
für den Schutz von Seeleuten arbei- logischen Institut und sämtliche Auto- logen Knut Rassmann und Franz
ten, sich für eine transparente Le- ren ausgewiesene Experten auf ihrem Schopper zum Beispiel stellen in
bensmittelkontrolle einsetzen oder Gebiet. Leider verzichtet das Buch auf ihrem Kapitel »Bronzezeit – Histori-
gegen die Verbrechen auf See kämp- ein Autorenverzeichnis, das den Prota- sche Epoche oder Fiktion?« die
fen – und die man als Privatperson gonisten mehr Sichtbarkeit verliehen klassische Zeiteinteilung in Frage und
unterstützen kann. hätte. begründen das durch Vergleiche mit
Ihren Anspruch auf Vollständigkeit anderen Weltregionen, in denen die
Die Rezensentin Katja Maria Engel ist unterstreichen die Autoren schon aufkommende Bronzemetallurgie
Wissenschaftsjournalistin in Dortmund. dadurch, dass sie ihre Reise durch die einen geringen oder gar keinen

92 Spektrum der Wissenschaft  4.20


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Der Gebrauch von Metallkessel und Fibeln etwa veran-


schaulichen kulturelle Netzwerke in
zurück und gehen auf deren ideologi-
schen Instrumentalisierung zur Zeit
Bronze ging in Europa Skandinavien und anderen nördlichen
Siedlungsgebieten während der Bron-
des Nationalsozialismus ein. An
anderer Stelle befassen sie sich mit
mit weit reichenden zezeit. Archäologische Untersuchun- dem methodischen Fortschritt, bei

Umbrüchen einher gen auf dem Gräberfeld von Szólád


wiederum verraten etwas über die
dem inzwischen immer häufiger
modernste Technik im Mittelpunkt
Besiedlung der heute ungarischen steht. Den Schluss bildet eine Be-
Einfluss hatte. Gut nachvollziehbar Region während der so genannten trachtung darüber, welche gesell-
erklären sie, wie das Metall in Europa Völkerwanderungszeit. Die mongoli- schaftliche Bedeutung und Funktion
als »treibende Kraft« neue Siedlungs- sche Hauptstadt Karakorum schließ- die Archäologie hat. Die Autoren
räume erschloss, neue Statussymbole lich erlaubt Aussagen darüber, welche betonen hier zwar die starke Präsenz
und Waffen – verbunden mit neuen politische Relevanz die Städte wäh- in den Medien, warnen aber vor
Hierarchien und Konflikten – hervor- rend des Mittelalters besaßen. Anhand Stereotypisierung, »Dramatisierung
brachte und ein überregionales Han- verschiedener Beispiele, darunter die und Emotionalisierung« der Wissen-
dels- und Kommunikationsnetz ermög- archäologisch erschlossenen Hinter- schaft sowie vor dem Reduzieren
lichte. Dies alles, so geht aus dem lassenschaften von Jamestown (der allein auf die Grabungstätigkeit. So
Band hervor, rechtfertigt einen eige- ersten ständigen Siedlung europäi- hat die »Archäologie der Moderne« –
nen Anstrich der europäischen Ge- scher Einwanderer auf nordamerikani- im Buch unter anderem durch die
schichte. schem Boden), bildet das Buch ebenso Erforschung früherer Konzentrations-
In die Kapitel eingestreut finden die Verbindung Europas zu anderen lager repräsentiert – einen starken Ge-
sich immer wieder »Fenster zur Welt«: Teilen der Welt ab. genwartsbezug im Sinn einer Erinne-
jeweils eine Doppelseite mit einer Besonders bereichernd ist das rungskultur. Denkmalpflege, Muse-
Seite Text und einer Seite Bildmaterial Werk in seinen selbstreflektierenden umsarbeit und Bücher wie dieses
zu einem bestimmten Thema. Die Abschnitten, welche die chronologi- leisten dazu einen wichtigen Beitrag.
Autoren bringen den Lesern darin sche Erzählung einrahmen. Darin
einzelne Artefakte, Ausgrabungsstät- blicken die Archäologen unter ande- Der Rezensent Sebastian Hollstein ist
ten oder größere Regionen näher. rem auf die Geschichte ihrer Disziplin Wissenschaftsjournalist in Jena.

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Spektrum der Wissenschaft  4.20 93


LESERBRIEFE
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Der Neurowissenschaftler Christof Koch stellte Theo­ auf Spektrum.de direkt unter dem zugehörigen Artikel. Die
rien dazu vor, wie Bewusstsein im Gehirn entsteht. individuelle Webadresse finden Sie im Heft jeweils auf der ersten
(»Was ist Bewusstsein?«, »Spektrum« Februar 2020, S. 12) Artikelseite abgedruckt. Kürzungen innerhalb der Leserbriefe
werden nicht kenntlich gemacht. Leserbriefe werden in unserer
gedruckten und digitalen Heftausgabe veröffentlicht und können
Alexander Braidt, München: Was der Autor im ersten Satz so möglicherweise auch anderweitig im Internet auffindbar
werden.
blumig beschreibt (»Unser Bewusstsein setzt sich aus dem
zusammen, was wir erleben: einer Melodie, die sich im
Kopf festgesetzt hat; dem süßen Geschmack von Schokola­
denmousse, ...«), bleiben nichts als gewöhnliche Wahrneh­
mungen, wie sie auch niedere Tiere machen. Und so geht
es den ganzen Artikel hindurch fort. Alles, was Koch daher Arno Ros, Tangerhütte: Die neurowissenschaftliche For­
in der Folge zum Sitz und zur Messbarkeit des Bewusst­ schung der letzten Jahrzehnte hat, wie selbst ein so knapp
seins ausführt, ist für die Katz, weil er zwei radikal verschie­ gehaltener Artikel belegt, eine beeindruckende Fülle von
dene Phänomene nicht analytisch auseinanderhält. Korrelationen zwischen Bewusstseinszuständen von Men­
Dabei legt ihm sein eigener Sprachgebrauch das Ei des schen und Abläufen im Gehirn aufgedeckt. Koch meint,
Kolumbus in die Feder, wenn er unter anderem formuliert: diese inneren Zusammenhänge seien zumindest gegenwär­
»Da das Entstehen bewusster Wahrnehmungen Zeit tig noch so undurchschaubar, dass sie als das »große Rätsel
braucht, gehen die meisten Experten unserer Existenz« hingenommen werden
davon aus, dass Rückkopplungen daran müssten. Aber die Auffassung ist zu
MONSITJ /
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beteiligt sein müssen.« Wir sprechen von resignativ und die Folge einer irrigen
bewusstem Wahrnehmen, weil wir alle Vorannahme hinsichtlich der Art der
erlebt haben, dass wir (übrigens gleich­ Beziehung zwischen Bewusstseinsphäno­
zeitig) ebenso unbewusst wahrnehmen. menen und Hirnaktivitäten. Für Koch
Dann kann Wahrnehmung nicht gleich handelt es sich hier um zwei im Prinzip
Bewusstsein sein. Das viel beschworene unabhängig vorkommende Gegenstands­
Rätsel muss also in einem bloßen, aber klassen, von denen die eine die andere in
sehr speziellen, neuronalen Modus beste­ einer bis heute unverstandenen Weise
hen, in dem wir alle möglichen kognitiven erzeugt. Doch in Wirklichkeit liegen keine
Leistungen erbringen können – nicht kausalen Beziehungen vor, sondern solche
müssen, denn wir bleiben auch ohne jede zwischen einem Ganzen und seinen Teilen:
Kognition bewusst (nicht etwa bloß Bestimmte Aktivitäten im Gehirn eines
wach). Anders gesagt: Wahrnehmungen Die Funktionsweise unseres Menschen sind Teile dessen, was ge­
sind die längst erklärbaren Kognitions­ Gehirns gehört zu den größten schieht, wenn jemand etwas empfindet,
inhalte, rätselhaft ist offenbar die prozes­ Rätseln der Biologie. wahrnimmt oder überlegt. Niemand
suale, neuronale Form. Hätte Koch das würde behaupten, die Umdrehungen einer
bedacht, hätten er und seine Fachkollegen Nabe erzeugten die Bewegungen des
darangehen können, diesen einzigartigen, ganz allgemeinen ganzen Rads. Das eine bringt das andere mit sich.
Zustand des menschlichen Gehirns zu analysieren. Die Folgen einer solchen revidierten Interpretation rei­
chen weit. Ein Beispiel dafür lässt sich dem Blick auf zwei
Adrian Venetz, Sarnen: Im durchaus interessanten Artikel folgenreiche Phasen in der Evolution des Menschen entneh­
fehlt leider eine klare Eingrenzung des Begriffs Bewusst­ men: dem Entstehen der Fähigkeit erstens zum Vollzug
sein. Der Autor nennt Beispiele, etwa einen »pochenden intelligenten Verhaltens und zweitens, sich in seinen Hand­
Zahnschmerz« oder die »Gewissheit, dass all diese Gefühle lungen an Regeln zu orientieren. Wir wissen nicht, wann
einmal enden werden«. Dies sind aber meines Erachtens Menschen (oder deren Vorläufer) erstmals die Fähigkeiten
zwei völlig unterschiedliche Dinge. Einen Schmerz wahr­ erwarben. Aber beide Geschehen erlauben es, vom Entste­
nehmen kann auch eine Ratte. Über die eigene Vergänglich­ hen von Bewusstseinsphänomenen zu sprechen, die kom­
keit sinnieren kann sie jedoch nicht. Definieren wir Be­ plexer sind als die, welche sich einfacheren Lebewesen
wusstsein schlicht als Gegenbegriff zur Bewusstlosigkeit, zuschreiben lassen. Überdies müssen beide Phasen mit
stößt man in der Neurowissenschaft gewiss auf befriedi­ einschneidenden Veränderungen in den neuronalen Teilakti­
gende Antworten. Schließt der Begriff allerdings das vitäten intelligenten beziehungsweise regelorientierten
Selbstbewusstsein mit ein, wird man um einen interdis­zi­ Verhaltens einhergegangen sein. Wenn es gelingt, diesen
plinären Ansatz nicht herumkommen und vor allem in der auf die Spur zu kommen, ist ein wichtiger Schritt zur Klärung
Sprachphilosophie einen fruchtbaren Boden finden. des Rätsels unserer Existenz getan.

94 Spektrum der Wissenschaft  4.20


AUSSCHREIBUNG 2020

Der Preis wurde von der Verlagsgruppe von Holtzbrinck Die Auswahl erfolgt jährlich durch eine hochkarätige
1995 anlässlich des 150-jährigen Jubiläums von Scientific Jury. Eine Shortlist mit den Nominierten wird vor der
American, einer der ältesten Wissenschaftszeitschriften der Bekanntgabe der Preisträgerinnen und Preisträger
Welt, ins Leben gerufen. auf der Webpage veröffentlicht. Der Rechtsweg ist
ausgeschlossen.
Teilnahmeberechtigt sind alle in deutschsprachigen Medien
veröffentlichenden Journalistinnen und Journalisten.
Die Mitglieder der Jury sind:
Die eingereichten Arbeiten sollen allgemeinverständlich
sein und zur Popularisierung von Wissenschaft und DR. STEFAN VON HOLTZBRINCK (VORSITZ)
Forschung, insbesondere in den Bereichen Naturwissen- Vorsitzender der Geschäftsführung,
schaften, Technologie und Medizin, beitragen. Holtzbrinck Publishing Group
Entscheidend ist die originelle journalistische Bearbeitung
PROF. DR. DR. ANDREAS BARNER
aktueller wissenschaftlicher Themen.
Mitglied des Gesellschafterausschusses,
Es wird jeweils ein Preis in der Kategorie Text (Wort- Boehringer Ingelheim
beiträge Print und Online) und ein Preis in der Kategorie
PROF. DR. KATJA BECKER
Elektronische Medien (TV, Hörfunk und Multimedia)
Präsidentin, Deutsche Forschungsgemeinschaft e.V.
sowie ein Nachwuchspreis (Jahrgang 1991 oder jünger)
vergeben. ULRICH BLUMENTHAL
Redakteur „Forschung aktuell“, Deutschlandfunk
Der Preis in den Kategorien Text und Elektronische
Medien ist mit je 10.000 Euro dotiert. Der Nachwuchs- PROF. DR. ANTJE BOËTIUS
preis ist mit 5.000 Euro dotiert. Bewerben Sie sich bis Direktorin, Alfred-Wegener-Institut,
zum 1. April 2020 mit 3 Beiträgen (Text) bzw. 2 – 3 Helmholtz-Zentrum für Polar- und Meeresforschung (AWI)
Beiträgen (Elektronische Medien) aus den letzten zwei
PROF. DR. MARTINA BROCKMEIER
Jahren und einem Kurzlebenslauf.
ehemalige Vorsitzende, Wissenschaftsrat
Die detaillierten Teilnahmebedingungen erhalten Sie unter
PROF. DR.-ING. MATTHIAS KLEINER
www.vf-holtzbrinck.de/gvhpreis.
Präsident, Leibniz-Gemeinschaft e.V.

PROF. DR. CARSTEN KÖNNEKER


KONTAKT Geschäftsführer, Klaus Tschira Stiftung gGmbH

Veranstaltungsforum JOACHIM MÜLLER-JUNG


Holtzbrinck Publishing Group Leiter des Ressorts Natur und Wissenschaft,
Frankfurter Allgemeine Zeitung
Torstraße 42, 10119 Berlin
ANDREAS SENTKER
Telefon +49/30/27 87 18 20
Geschäftsführender Redakteur und Leiter Redaktion Wissen,
Telefax +49/30/27 87 18 18
DIE ZEIT
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RANGA YOGESHWAR
www.vf-holtzbrinck.de
Publizist und Moderator ARD-Sendungen
FUTUR III
Bleib bei mir
hinterher. Dass sie ihm ins Schlafzimmer folgte, liegt lange
zurück. Sie weiß, dass er nicht will, dass sie ihm folgt,
doch heute Abend muss es sein, um ihm zu sagen, was
sie seit Wochen beschäftigt und wozu sie sich entschlos-
Ein Leben zwischen den Welten. sen hat.
Also folgt sie ihm lautlos. Als sie im Schlafzimmer
Eine Kurzgeschichte von Oliver Koch
erscheint, erschrickt er. Er dreht ihr den Rücken zu, als er
sich das Hemd auszieht. Seine nackte Haut blitzt auf. Es ist
lange her, dass sie sie gesehen, sie gespürt hat. Mike beeilt

M
ike kommt nach Hause und tut so, als gäbe es sie sich, ein Shirt überzuziehen.
nicht. In gewisser Weise hat er auch Recht, das hat »Nicht«, sagt sie. Mike erstarrt und wagt nicht, sich ihr
Lea inzwischen eingesehen. Sie sieht ihm zu, und es zuzuwenden.
ist alles so vertraut: sein leicht abwesender Blick. Das »Es ist so lange her«, sagt sie. »Lass dich wenigstens
Ablegen der Tasche. Das Abstreifen der Schuhe. Das ansehen.«
Schlurfen durch den Flur. »Oh Lea«, presst er heraus und dreht sich zu ihr um.
Lea liebt es, Mike beim Heimkommen zuzusehen. In »Ich weiß. Bitte.«
solchen Momenten ist er ganz bei sich, in seinen Gedanken. Er tritt näher. »Ach Lea.«
Lea findet diese Augenblicke magisch, weil sie hier Mike »Ich sehe dich doch kaum.«
sieht, wie er wirklich ist. Auf seiner Stirn zeichnet sich eine Lea erkennt in seinem Gesicht alle Facetten seines
Sorgenfalte ab, und seine Augen haben dieses Traurige, in Schmerzes, der ihm keine Ruhe mehr lässt und von dem
das sie sich bereits beim ersten Treffen verliebt hat. Und sie weiß, dass er daran zerbrechen wird. Er bemüht sich, er
das sie noch liebt. So glühend wie immer. kommt jeden Tag nach Hause, obwohl sie sagt, er solle
Wenn sie ihn früher beim Heimkommen begrüßte und ruhig ausgehen, sich mit Freunden treffen, Freunde einla-
ihm einen Kuss gab, war es stets, als küsse sie fleischge- den wie früher. Doch die Freunde bleiben mittlerweile fern,
wordene Gedanken, weich, warm, anschmiegsam. Immer nachdem sie anfangs gegen ihre Beklemmung angelächelt
war da eine Sorge, immer hat ihn etwas beschäftigt. Es hat und zu viel getrunken haben.
ihn so verletzlich gemacht. Für Melancholie hatte sie immer Er tritt an sie heran und versucht ein Lächeln, aber sie
eine Schwäche. Lea hat sich angewöhnt, ihm diese Zeit für kann Tränen sehen. Er zieht das Shirt aus und zeigt sich ihr.
sich zu lassen und so zu tun, als sei sie gar nicht da. Sie Auf seiner Haut schimmert das Licht. Er sieht so gut aus,
vermisst die Nähe, die Wärme, das Gefühl, beieinanderzu- der Körper ist so schön. Sie hebt die Hand, doch sie kann
liegen. ihn nicht erreichen. Er streckt seine Hand nach ihr aus.
Auf Socken geht Mike in die Küche und leert ein Glas, Und fühlt nichts als Fensterglas. Denn darin lebt sie. Seit
gedankenverloren, ihr den Rücken zugekehrt. Sie möchte ihr Körper nicht zu retten war und sie eine Eve ist: Körper-
nicht in der Mitte stehen, will nicht aufdringlich sein, und so los hängt sie in dieser Wohnung fest, erscheint als geister-
bleibt sie am Rahmen zurück. Dann dreht er sich lautlos um hafte Projektion in einem Fensterrahmen, den sie durch
und blickt zu ihr herüber. »Hallo Lea«, sagt er, Schwere in den Raum fahren kann und durch den das Licht des Tages
der Stimme. Er versucht, sie anzusehen. fällt. Als Person ist sie erhalten geblieben, lebt ihr Leben
»Hallo Mike«, antwortet sie. »Wie war dein Tag?« weiter, zwischen den Scheiben.
»Wie immer.« Mike beginnt zu weinen. »Oh Gott, Lea.« Sie weiß, dass
Natürlich weiß sie bereits, wie sein Tag war. Sie tau- er sie vermisst, wie sie einst war. Ihre Nähe, ihre Wärme,
schen sich mehrmals täglich aus. Dabei kommt er ins Re- sie spüren zu können.
den, schaut sie über sein Device an, lächelt, ist witzig, dann

B
ist es so wie früher, so vertraut. Und Mike ist völlig normal, eiden schien es eine gute Idee. Diese neue Technolo-
als sei da nichts zwischen ihnen. Lea blickt ihn an und be- gie sei besser als ihr Tod, meinten sie und sagten
merkt wie jeden Abend, wie unwohl er sich fühlt, ihr »unsere Chance«, als sie noch nicht wissen konnten,
gegenüberzustehen. »Ich geh mich mal umziehen«, sagt er was es bedeutete, eine Eve zu werden. »Bleib bei mir«, hat
leise. er sie angefleht, als ihr Körper zerfiel, und hat ihr in den
Sie fragt sich, ob sein Leid größer ist als ihres, in dem sie schönsten Farben ausgemalt, wie ihr Leben weiterginge,
den ganzen Tag hier eingesperrt ist. Das ist kein Leben, weil ihr Geist, ihre Person erhalten bliebe und sie weiterle-
auch wenn »du tun kannst, was immer du willst«, wie Mike, ben könne. Sein »Bleib bei mir« übertönte ihre Sorgen vor
die Ärzte und die Freunde ihr das Ganze zu Beginn einem Leben als digitales Bewusstsein, als neue Art von
schmackhaft machten. Um sie zu überzeugen, am Leben zu Mensch. Eines Tages werde man auch reisen können, die
bleiben, trotz allem. eigenen Wände verlassen und überall sein, hieß es damals.
Endlich Zeit zu haben, all die Dinge zu lesen und für all Dann wäre es doch fast wie früher, sagte Mike.
ihre Magazine Artikel zu verfassen, Bücher zu schreiben, Seit Monaten nun schaut sie tagaus, tagein aus diesen
anderen Mut zu machen, die so sind wie sie. Sie hat auf Fenstern, die sie nicht verlassen kann, hinunter auf die
diesem Gebiet Karriere gemacht. Doch nun blickt sie Mike Straße, auf denen Menschen durch ihr Leben gehen. Sie

96 Spektrum der Wissenschaft  4.20


Mehr Sciencefiction-Kurzgeschichten auf spektrum.de/kurzgeschichte

Sie möchte den »Du doch auch.«


Es ist, als habe sie ihn geohrfeigt.
»Wir müssen reden«, sagt sie schließlich. »So geht das
Regen riechen und nicht mehr weiter. Für uns beide.«
Sie kennt ihn gut genug, dass sie weiß, dass er es

die Sonne auf genauso sieht. Er wagt nicht, etwas zu sagen. Für ihn zu
sprechen, fiele leicht, aber es wäre ungerecht. »Ich muss

ihrer Haut spüren


hier raus, Mike.«
Er breitet die Arme aus, will etwas sagen, bricht ab.
»Ich brauche Gesellschaft. Ich werde hier verrückt.«
Er blickt sie an. Zum ersten Mal seit langer Zeit sieht er
sie an, als stünde ihr Körper vor ihm. »Was möchtest du
hört die Schritte und Motoren, folgt den Gängen und den denn?«
Fahrten bis zu jenen Ecken, hinter denen sie alsbald ver- »Es gibt Gemeinschaften von Menschen, die so sind
schwinden. Sie kennt die Gegend, durch die sie gehen, wie ich. Lauter Eves und Adams. Du könntest einfach
durch die sie fahren, aber den gleichen Raum kann sie nicht mitkommen und dort mit uns leben, deine Arbeit tun, der
teilen. Sie blickt hinab und möchte springen, den Regen Mensch bleiben, der du bist und bei mir bleiben.«
riechen, den sie fallen hört, und möchte spüren, wie die Er blickt zu Boden, wo alles nun in Trümmern liegt: sein
Sonne auf ihr brennt. Job, seine Wohnung, all das, was er für sein Leben hält,
Mike streichelt sanft das Fenster, wo sich ihre Schulter all die Gründe, aus denen Lea eine Eve wurde.
abzeichnet, und Lea hat ein schlechtes Gewissen. Wenn er Sie holt tief Luft, sie spürt es, als wäre es real. »Du
weg ist, ist die Illusion perfekt. Er findet Halt darin, sich kannst mich gehen lassen, aber ich hoffe, du bleibst bei
vorzustellen, sie sei daheim oder in der Stadt unterwegs, mir. Du kannst aber auch ein Adam werden. Dann bist du
und er müsse nur nach Hause kommen, um sie zu um­ wie ich, und es gibt keine Grenzen mehr.«
armen. Da ist es gesagt. Es ging erstaunlich leicht. Nun steht
die Zukunft im Raum, gleißend hell. Es gibt nur Weiterge-

D
och heute muss etwas passieren. Sie hält ihre Hand so, hen oder Zurückweichen. Wochenlang hat sie sich diesen
dass es aussieht, als würde sie seine berühren und Moment ausgemalt und sich überlegt, wie es werden
blickt hinüber zum Bett. Noch immer bezieht er es für würde. Und wie sie mit den Konsequenzen umgeht. Die
zwei Personen. Häufig, wenn er schläft, erscheint sie im Zukunft steht im Raum und hält die Welt in einer Gegen-
Fenster, schaut ihm beim Schlafen zu und stellt sich vor, wart, die nie vorüberzieht. So sehr im Jetzt hat sie sich
neben ihm zu liegen. Es sind endlose Stunden, aber ist es noch nie gefühlt. Ihr Mund ist trocken. Die Wahrnehmung
ihr wichtig, wenigstens nachts an seiner Seite zu sein. verengt sich zu einem Hoffen.
Wenn er schläft und sie bei ihm ist, ist die Welt normal. Sie Sie spürt, dass nun ihr Herz rasen müsste. Sie sieht
tut einfach so, als sei sie bloß aufgewacht, und liest oder Mike, umtost von tausend Ängsten und Fragen. Als die
schaut Serien an. Momente sich dehnen, sagt sie: »Bleib bei mir. Ob du nun
Er streicht die Konturen ihrer Schulter ab, und die Wär- einfach nur mit mir umziehst und mit mir kommst, oder
me, die er spürt, kommt von der Sonne, die das Glas erhitzt. ob du ganz zum Adam wirst, ist mir nicht so wichtig. Ich
Sie stellt sich vor, seine Hand zu berühren, seine Haut zu will nur nicht mehr so einsam sein wie jetzt. Und bitte
riechen. Sein Verlangen zu spüren. Ihr eigenes Verlangen. bleib bei mir. Das würde ich mir wünschen.«
Alles ist nur noch Erinnern: zu essen, zu trinken, einen Stuhl Mit gesenktem Kopf fragt er: »Und all das hier?«
unter sich zu haben, die Beine auszustrecken, barfuß durch »Das ist nichts. Glaub mir, das ist gar nichts.«
die Wohnung zu gehen. Mitzumachen, statt nur zuzusehen. In jedem Szenario, das sie sich vorgestellt hat, weinte
Dann streift sie ihr Kleid ab. Mike erschrickt, als er sie sie. Doch nun weint sie nicht. Sein Nicken ist kurz, aber
nackt im Fenster sieht. Sie sieht ihm dabei zu, wie er ver- bestimmt. Sie hat es so sehr gehofft. »Und wie soll das
sucht, Herr über seine Emotion zu werden. Sie weiß, wie weitergehen?«, fragt er, ohne aufzublicken.
erniedrigend es für ihn sein muss, eine nackte Illusion zu Das Wie ist ihr egal. Hauptsache, er bleibt bei ihr. Sie
begehren. Sie hat stets vermieden, diesen Schritt zu gehen, spürt das Gefühl, vor Freude zu weinen. 
doch heute muss es sein. Sie spürt, wie ihr Magen sich
verdreht, obwohl sie keinen hat, sie spürt ihre Hände feucht
werden, obwohl es keine gibt, sie schluckt und spürt es tief
DER AUTOR
im körperlosen Rachen.
Am meisten aber nagt an ihr, dass Mike es nicht erträgt, Oliver Koch lebt in Karlsruhe und schreibt Science-
sie so zu sehen. Wie sehr er sich bemüht, nicht fortzulau- fiction sowie Gegenwartsliteratur. Seine Kurzge-
schichten erschienen in mehreren Anthologien, auf
fen. »Tut mir leid, Mike«, sagt sie schließlich. TOR-online.de wie auch auf seinem Blog www.
»Wofür entschuldigst du dich denn?«, schluchzt er. »Du oliverkoch.net. 2020 wird er Romane als Selfpublisher
bist doch da drin und kannst nicht raus.« veröffentlichen. Koch bloggt und arbeitet als Texter.

Spektrum der Wissenschaft  4.20 97


Das Maiheft ist ab 18. 4. 2020 im Handel.

VORSCHAU

NASA LANGLEY RESEARCH CENTER (COMMONS.WIKIMEDIA.ORG/


WIKI/FILE:AIRPLANE_VORTEX.JPG) / PUBLIC DOMAIN
GALAXIEN: ESA/HUBBLE & NASA, RELICS (WWW.SPACETELESCOPE.ORG/IMAGES/POTW1833A/) / CC BY 4.0 (CREATIVECOMMONS.ORG/LICENSES/BY/4.0/LEGALCODE);
SCHEIBE: LHG / STOCK.ADOBE.COM; BEARBEITUNG: SPEKTRUM DER WISSENSCHAFT
DAS GEHEIMNIS
DES FLIEGENS
Auf streng mathematischer Ebene ist
zwar klar, warum Flugzeuge in der Luft
bleiben. Doch die üblichen populären
Darstellungen haben Schwächen. Bis
heute fehlt es an einem gleichermaßen
anschaulichen wie korrekten Modell.

PATRICK SCHMIDT
STREIT UM DAS BESCHLEUNIGTE UNIVERSUM
Seit 20 Jahren gehört die Dunkle Energie zu den Grundpfeilern unseres
kosmologischen Weltbilds. Sie soll dem Raum zwischen den Sternen
entspringen und das All immer schneller expandieren lassen. Doch nun PECH FÜR DIE NEANDERTALER
stellen mehrere Forschungsarbeiten das Konzept in Frage. Geht das Lange waren Anthropologen davon
Phänomen bloß auf eine einseitige Auslegung von Messdaten zurück? überzeugt, dass der Neandertaler dem
Oder haben die Kritiker selbst einen Fehler gemacht? Homo sapiens kognitiv und technisch
unterlegen war. Inzwischen hat sich das
Bild gründlich gewandelt. War der
Neandertaler vielleicht sogar fortschritt-
licher – etwa bei der Herstellung des
RÖNTGEN-REVOLUTION
W.C. RÖNTGEN: HAND DES ANATOMEN GEHEIMRATH
VON KÖLLIKER IN WÜRZBURG, 23. JAN. 1896

Kunststoffs Birkenpech? Forscher


Vor 125 Jahren entdeckte der haben das nun experimentell geprüft.
Würzburger Physiker Wilhelm
Conrad Röntgen die nach ihm
benannte Strahlung. Heute ist sie
ein wichtiger Bestandteil etli- NEWSLETTER
cher Disziplinen, von der Medizin Möchten Sie über Themen und Autoren
bis zur Astrophysik. In einer des neuen Hefts informiert sein?
neuen Serie erzählt »Spektrum« Wir halten Sie gern auf dem Laufenden:
die Geschichte der Röntgen- per E-Mail – und natürlich kostenlos.
strahlung – und stellt wichtige Registrierung unter:
Anwendungen vor. spektrum.de/newsletter

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