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9.

20
9.20

Deutschland
im Klimawandel
Welche Veränderungen
bevorstehen – und
wie wir ihnen
begegnen können
Deutsche Ausgabe des SCIENTIFIC AMERICAN
8,90 € (D/A/L) · 14,– sFr. D6179E

ASTRONOMIE Rätselhafte Zwerggalaxien


BIOMEDIZIN Umstrittene Patente auf Leben
UMWELT Dem Mikroplastik auf der Spur
THEMEN AUF DEN PUNKT GEBRACHT
Ob A wie Astronomie oder Z wie Zellbiologie: Unsere Spektrum KOMPAKT-Digitalpublikationen stellen Ihnen alle
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EDITORIAL IN DIESER AUSGABE

HEISSE ZEITEN
Daniel Lingenhöhl, Chefredakteur
lingenhoehl@spektrum.de

 Erinnern Sie sich noch an das Jahr 2003? Damals gab es den ersten »Jahrhun-
dertsommer« des neuen Jahrtausends. Es sollte nicht der letzte bleiben. Seit-

JÜRGEN MAI
dem folgten mehrere Jahre mit Temperaturrekorden – darunter die letzten beiden
Sommer 2018 und 2019. Ein einzelnes Extremereignis belegt den Klimawandel
natürlich nicht, doch der Trend weist bei den Durchschnittstemperaturen eindeu- CAROLIN VÖLKER,
tig nach oben. Er ist für Klimawissenschaftler und Meteorologen das wichtigste JOHANNA KRAMM
Indiz dafür, dass sich die Erderwärmung auch schon in Mitteleuropa deutlich Mikroplastik in der Umwelt ist
bemerkbar macht. sowohl ein ökologisches Problem
Bei anderen Indikatoren wie dem Niederschlag oder Extremwetterereignissen als auch ein gesellschaftliches.
ist die Faktenlage dagegen noch unklar. Die starke Dürre der beiden Vorjahre deu- Entsprechend betrachten eine
tet allerdings schon an, was uns in Deutschland erwarten könnte: Die Böden Biologin (Völker) und eine Sozio-
haben sich in weiten Teilen des Landes bis heute nicht von der extremen Trocken- login (Kramm) das Thema ab
heit erholt; in tieferen Schichten fehlt mehr Wasser, als die Niederschläge eines S. 58 aus ihren jeweils unter-
normalen Jahres nachliefern könnten. schiedlichen Blickwinkeln.
Das macht sich auf unseren Feldern und in den Wäldern bemerkbar. Auf zehn-
tausenden Hektar sind Bäume abgestorben, und Experten befürchten, dass als
Spätfolge noch mehr Fichten oder Buchen verenden werden. Im Gebirge zeigt
sich dagegen, dass das Eis selbst in Hochlagen schmilzt: Gletscher schwinden,
der Fels bröckelt, weil das Eis als Kitt verloren geht. In der Nordsee wiederum
wandern wichtige Fischarten nach Norden oder in die Tiefe ab, weil sich das Meer
für sie zu stark erhitzt.
Unsere Experten beschreiben ab S. 12 exemplarisch, wie sich der Klimawandel

EVA SCHNIDER
schon heute in Deutschland zeigt und was wir zukünftig erwarten müssen. Diese
Artikel sind der Auftakt zu einer neuen dreiteiligen Serie über die Erderwärmung
und wie wir sie erforschen. Und noch einem zweiten ökologisch relevanten
Thema werden wir uns in den nächsten Heften mit mehreren Berichten widmen: OLIVER MÜLLER
den Kunststoffen. Ab S. 58 beleuchten Carolin Völker und Johanna Kramm das Den Astronomen an der Uni-
mittlerweile allgegenwärtige Mikroplastik. Im Gegensatz zum Klimawandel wissen versité de Strasbourg faszinie-
wir bislang nicht genau, wie es sich auf die Umwelt auswirkt. Dennoch sollten wir ren vor allem Zwerggalaxien.
auch hier handeln – bevor sich womöglich irreparable Schäden zeigen. Denn detaillierte Beobach­
Passend zu diesem Thema finden Sie in diesem Magazin übrigens eine Beilage tungen an den kleinsten Stern­
der Gesellschaft Deutscher Chemiker (GDCh) zum 100. Jahrestag der ersten inseln im All bringen das
Beschreibung von Makromolekülen – quasi dem Urknall der Polymerchemie. Die Standardmodell der Kosmolo-
Beiträge verfolgen den Weg von der ersten Anwendung bis zu den heutigen gie in Bedrängnis (S. 68).
Umweltproblemen und ihrer Lösung.

Einen nicht zu schweißtreibenden


Restsommer wünscht

NEU AM KIOSK!
Unser Spektrum SPEZIAL Biologie – Medizin – Hirn-
forschung 3.20 präsentiert den aktuellen Forschungs-
stand zu einer typisch menschlichen Fähigkeit.

Spektrum der Wissenschaft  9.20 3


INHALT
3 EDITORIAL 12 TITELTHEMA DEUTSCHLAND IM KLIMAWANDEL
Neue Serie: Klimawandel (Teil 1) Wie wirkt sich die globale Erwärmung
6 SPEKTROGRAMM hier zu Lande aus? Wir stellen einige der wichtigsten Trends vor –
und Experten geben einen tieferen Einblick in vier Schwerpunktthemen.
26 FORSCHUNG AKTUELL Von Diana Rechid, Andreas Bolte, Ralf Weisse, Rita Adrian und Benjamin M. Kraemer

Die Geburtsstunde
der Maya
Archäologen haben in Mexi-
ko den bisher ältesten be- 36 EVOLUTION DIE ERSTEN SÄUGETIERE
kannten Maya-Bau entdeckt. Serie: Die Entfaltung des Lebens (Teil 3) Zahlreiche Fossilfunde offenbaren eine
erstaunliche Vielseitigkeit der frühen Säuger und ihrer Vorläufer.
Inverser Mpemba-Effekt
Von John Pickrell
Einige Stoffe könnten sich
schneller erwärmen lassen,
wenn man sie zuvor abkühlt. 44 PATENTE NATUR ALS »ERFINDUNG«
Vom Stress zum Fieber Lassen sich Patente auf Lebewesen oder Naturprodukte erteilen? Das ist seit
Wie unser Gehirn die stress- mehr als 100 Jahren ein Streitthema. Die rasanten Fortschritte in den Lebens-
bedingte Wärmeproduktion wissenschaften verschärfen diese Debatte noch.
kontrolliert. Von Tobias Ludwig

Magische Methylgruppen
Ein neuer Katalysator könnte 52 KI DIE ZUKUNFT DER RADIOLOGIE
helfen, Medikamente rascher Radiologen verwenden immer häufiger Algorithmen, um Krankheiten in
zu entwickeln. medizinischen Scans von Patienten zu erkennen. Doch wer ist verantwortlich,
wenn den Programmen ein Fehler unterläuft?
35 SPRINGERS EINWÜRFE Von Sara Reardon

Quo vadis, Computer?


Kleinere Schaltkreise allein 58 ÖKOLOGIE DEM MIKROPLASTIK AUF DER SPUR
sind nicht die Zukunft. Neue Serie: Kunststoffe heute und morgen (Teil 1) Wie fein verteilte Plastikparti-
kel auf Ökosysteme und Lebewesen wirken, beginnen Forscherinnen und
51 FREISTETTERS FORMELWELT Forscher erst allmählich zu verstehen.
Von Carolin Völker und Johanna Kramm
Rational oder irrational?
Die Euler-Mascheroni-Zahl
birgt noch einige Rätsel. 68 ZWERGGALAXIEN KOSMISCHES PLANKTON
Die vielen kleinen Sternsysteme in unserer galaktischen Umgebung verhalten
66 SCHLICHTING! sich ganz anders, als es laut Simulationen zu erwarten wäre.
Von Oliver Müller
Cappuccino mit Dämpfer
Schaum in der Tasse wirkt
wie ein fester Deckel. 74 MATHEMATISCHE UNTERHALTUNGEN
RÄTSELHAFTE NULLSTELLEN
80 ZEITREISE Eine abstrakt definierte Menge liefert ein unerwartetes Bild, das fraktale
Strukturen zeigt. Inzwischen können es Mathematiker erklären.
81 LESERBRIEFE Von Christoph Pöppe

82 REZENSIONEN

88 FUTUR III – KURZGESCHICHTE

89 IMPRESSUM

90 VORSCHAU

TITELBILD:
VEGEFOX.COM / STOCK.ADOBE.COM;
BEARBEITUNG: SPEKTRUM DER WISSENSCHAFT

4 Spektrum der Wissenschaft  9.20


VEGEFOX.COM / STOCK.ADOBE.COM; BEARBEITUNG: SPEKTRUM DER WISSENSCHAFT
12
TITELTHEMA
DEUTSCHLAND
IM KLIMAWANDEL
ILLUSTRATION: DAVIDE BONADONNA; PICKRELL, J.:
THE MAKING OF MAMMALS. NATURE 574, 2019

52
KÜNSTLICHE
INTELLIGENZ
DIE ZUKUNFT DER
RADIOLOGIE

36
METAMORWORKS / GETTY IMAGES / ISTOCK

EVOLUTION
DIE ERSTEN
SÄUGETIERE
CAROLIN VÖLKER

MIT FRDL. GEN. VON ANDREJ BAUER (MATH.ANDREJ.COM/2014/10/16/TEDX-ZEROES/)

74
MATHEMATISCHE
UNTERHALTUNGEN
RÄTSELHAFTE NULLSTELLEN
Alle Artikel auch digital
auf Spektrum.de
58 Auf Spektrum.de berichten
unsere Redakteure täglich
ÖKOLOGIE aus der Wissenschaft: fundiert,
MIKROPLASTIK AUF DER SPUR aktuell, exklusiv.

Spektrum der Wissenschaft  9.20 5


SPEKTROGRAMM

BLICK AUF DEN RÖNTGENHIMMEL

 Seit einem Jahr sucht eRosita das All systematisch


nach Regionen ab, in denen Röntgenstrahlung ent-
steht. Gut eine Million der energiereichen Quellen hat das quanten mit zunehmend größerer Energie. Ins Auge fällt
Weltraumteleskop bereits aufgespürt – mehr als doppelt vor allem das Band der Milchstraße.
JEREMY SANDERS, HERMANN BRUNNER AND THE ESASS TEAM (MPE);

so viele, wie vor seinem Start bekannt waren. Einige der sichtbaren Quellen sind Überreste von
Dieses Himmelspanorama haben unter anderem Supernova-Explosionen, etwa die 800 Lichtjahre entfern-
EUGENE CHURAZOV, MARAT GILFANOV (ON BEHALF OF IKI)

Forscher des Garchinger Max-Planck-Instituts für extra- te Vela, die man als runde gelbe Wolke in der rechten
terrestrische Physik aus Einzelaufnahmen zusammenge- Bildhälfte erkennen kann. In anderen Systemen saugt
setzt. Bereiche, in denen eRosita relativ energiearme ein Neutronenstern oder ein Schwarzes Loch das Gas
Röntgenphotonen aufgefangen hat, sind rot eingefärbt. eines Sterns ab und sammelt es in einer leuchtenden
Gelbe, grüne und blaue Bildpunkte stehen für Strahlungs- Akkre­tionsscheibe. Ein berühmtes Beispiel dafür ist

6 Spektrum der Wissenschaft  9.20


JEREMY SANDERS, HERMANN BRUNNER AND THE ESASS TEAM (MPE);

Scorpius X-1, das als hellblauer Blob oberhalb der Bild-


EUGENE CHURAZOV, MARAT GILFANOV (ON BEHALF OF IKI)

mitte strahlt. Astronomen haben das Duo bereits


1962 entdeckt – als allererste Röntgenquelle außerhalb
unseres Sonnensystems.

Pressemitteilung der Max-Planck-Gesellschaft, Juni 2020

Spektrum der Wissenschaft  9.20 7


SPEKTROGRAMM
PALÄONTOLOGIE
FARBEN IM BERNSTEIN

 Der Bernstein einer Mine aus Myan-


mar hat die Farben von Insekten
auf herausragende Weise konserviert.
sie einst hatten, denn im Lauf der Zeit
verändern sich die Pigmente. Forscher
können dann nur noch auf Umwegen
anderem diverse Wespen eingeschlos-
sen, deren Panzer auf Grund der
Nanostruktur einen blaugrünen Glanz
Selbst nach 99 Millionen Jahren ist der ermitteln, wie Tiere aussahen, etwa hat. Dieser müsste bereits vor 99 Milli-
bläuliche Glanz der Körperpartien noch indem sie die chemische Zusammen- onen Jahren sichtbar gewesen sein.
gut sichtbar. Das sei ein absoluter Aus- setzung von Reptilienhaut oder Vogel- Wie empfindlich die Farbgebung ist,
nahmefall, berichtet ein Team um Cai federn ermitteln. Bei Insekten ermög- erlebten die Forscher selbst: Bei
Chenyang von der Chinesischen Aka- licht manchmal die Nanostruktur der einigen Proben gingen die Farben
demie der Wissenschaften in Nanjing. Panzer Rückschlüsse: Sie reflektiert durch das Präparieren verloren, statt-
Bei gewöhnlichen Fossilien lässt nur das Licht bestimmter Wellenlän- dessen schimmern die Tiere nun
sich nicht mehr sagen, welche Farbe gen und kann im Idealfall über die silbern. Die Insekten bewohnten im
Jahrmillionen erhalten bleiben. Zeitalter der Dinosaurier vermutlich
Die ältesten auf diese Weise rekon- einen tropischen Wald, entsprechend
In Bernstein aus Myanmar sind struierten Farben stammten bisher haben die Farben wohl der Tarnung
diverse Wespenarten sowie in von rund 48 Millionen Jahren alten gedient.
einem Fall auch eine Ameise (Bild Lebewesen. Die Funde aus Myanmar
links oben) erhalten geblieben – erlauben nun, doppelt so weit zurück- Proceedings of the Royal Society
inklusive ihrer einstigen Farbe. zublicken. Der Bernstein hat hier unter 10.1098/rspb.2020.0301, 2020

NANJING INSTITUTE OF GEOLOGY AND PALAEONTOLOGY (NIGPAS)

8 Spektrum der Wissenschaft  9.20


Täglich aktuelle Nachrichten auf Spektrum.de

des Typs H4-5. Chondrite bilden mit

GABRIELE HEINLEIN; BEARBEITUNG: SPEKTRUM DER WISSENSCHAFT


einem Anteil von etwa 86 Prozent die
größte Klasse der Meteoriten. Ihr Name
kommt von den kleinen, eingeschlos­
senen Silikatkügelchen, den so genann-
ten Chondren, die in eine feinkörnige
Grundmasse eingebettet sind. Die
Chondren sind bei der Entstehung des
Sonnensystems vor 4,5 Milliarden
MINERALOGIE Jahren hervorgegangen und stellen die
GRÖSSTER Urbausteine aller Planeten dar. Das H
steht für »high metal«, also einen hohen
STEINMETEORIT Gehalt an metallischem Eisen und
DEUTSCHLANDS Nickel.
Inzwischen hat ein Steinmetz dem

 Der größte jemals in Deutschland


gefundene Steinmeteorit lag 31 Jah-
re lang in einem Garten westlich von Der Meteorit »Blaubeuren« misst
Meteoriten ein Eckchen abgesägt,
damit Experten im Labor dessen Zu-
sammensetzung untersuchen können.
Ulm – und ist erst vor Kurzem als das 28 × 25 × 20 Zentimeter und Die Konzentrationen an Barium- und
erkannt worden, was er ist. Der Me­ ist lange im Erdboden verwittert. Strontiumisotopen bestätigten dem-
teorit Blaubeuren ist nach seiner nach, dass der Meteorit für längere Zeit
Fundstadt benannt und mit 30,26 Kilo- im schwäbischen Juraboden verwitter-
gramm deutlich schwerer als der einem Magneten stellte der Mann fest, te. Womöglich ist er schon vor mehre-
bisherige Rekordhalter Benthullen. dass der ungewöhnlich schwere ren Jahrhunderten auf die Erde ge-
Dieser bringt es auf 17,25 Kilogramm Klumpen Eisen enthalten muss. Doch stürzt. Davor war Blaubeuren wahr-
und war nach dem Zweiten Weltkrieg erst Anfang 2020 kam ihm die Idee, scheinlich an einer Kollision im Weltall
unweit von Oldenburg geborgen sich beim Institut für Planetenfor- beteiligt. Nur so lässt sich erklären,
worden. schung des Deutschen Zentrums für dass sein Inneres aus Bruchstücken
Der Finder von Blaubeuren stieß Luft- und Raumfahrt (DLR) zu melden. unterschiedlicher Herkunft zusammen-
dagegen 1989 auf den neuen Rekord- Nach Auffassung der dortigen gesetzt ist.
brocken, beim Ausheben eines Kabel- Experten handelt es sich bei dem Fund
grabens auf seinem Grundstück. Mit um einen gewöhnlichen Chondriten Pressemitteilung des DLR, Juli 2020

GENETIK
OZEANÜBERQUERUNG VOR KOLUMBUS

 Im Jahr 1947 überquerte der Entde-


cker und Archäologe Thor Heyer-
dahl in 101 Tagen den Pazifik auf einem
schung der beiden Gruppen zwischen
den Jahren 1150 und 1230 gestoßen.
Demnach muss es bereits Jahrhunder-
Spuren von Vorfahren aus dem heuti-
gen Kolumbien auf.
Womöglich sei von dort um das
Floß aus Balsaholz. Mit dieser fast te vor der Ankunft der Europäer Be- Jahr 1200 eine einzelne Gruppe See-
7000 Kilometer langen Reise versuchte gegnungen zwischen der südamerika- fahrer aufgebrochen und habe sich
er die wissenschaftliche Gemeinschaft nischen und der polynesischen Bevöl- letztlich auf einer der Pazifikinseln
davon zu überzeugen, dass es bereits kerung gegeben haben. niedergelassen, mutmaßen die Stu­
lange vor Kolumbus zu Kontakten Frühere Genomstudien waren in dienautoren. Die Südamerikaner
zwischen den Ureinwohnern Südame- dieser Frage zu widersprüchlichen hätten sich dann mit Polynesiern
rikas und den Völkern Polynesiens Ergebnissen gekommen. Sie richteten vermischt, die wenig später eintrafen.
gekommen war. ihren Blick jedoch vor allem auf die Dieses Szenario erscheine mit Blick
Nun meint ein Team um Alexander Osterinsel »Rapa Nui«, die den ge- auf die Ozeanströmungen am wahr-
Ioannidis von der Stanford University, ringsten Abstand zum südamerikani- scheinlichsten. Aber auch das Gegen-
Heyerdahls These mit genetischen schen Festland aufweist. Die neue teil sei denkbar: Dass es Polynesier
Daten untermauern zu können. Die Studie legt nun jedoch nahe, dass der damals bis nach Kolumbien schaff-
Forscher haben das Erbgut von gut erste Kontakt weiter nordwestlich ten – und anschließend wieder zurück-
800 polynesischen und indianischen stattfand, etwa auf den südlichen segelten.
Ureinwohnern analysiert und sind Marquesas. Mehrere der dort heimi-
dabei auf Hinweise auf eine Vermi- schen Populationen weisen genetische Nature 10.1038/s41586-020-2487-2, 2020

Spektrum der Wissenschaft  9.20 9


SPEKTROGRAMM
BIOLOGIE
BAKTERIEN ERNÄHREN
SICH VON MANGAN

 Eigentlich wollte Jared Leadbetter,


Professor für Umweltmikrobiologie
am California Institute of Technology,
nur ein Glas säubern, in dem sich das
chemische Element Mangan abgela-
gert hatte. Daher weichte er das Gefäß
mit Wasser ein – und vergaß es im
Spülbecken. Drei Monate später war
der Krug schwarz. Zusammen mit
einem Mitarbeiter untersuchte Lead-
better daraufhin die Ablagerungen.
Dabei stieß er auf Bakterien, die
offensichtlich von dem Metall leben.
Mangan gehört zu den häufigsten Beim Oxidieren von Mangan entstehen bis
Elementen auf der Erdoberfläche. zu 0,5 Millimeter große Knollen, hier unter
Die neu entdeckten Bakterien verwer- dem Elektronenmikroskop zu sehen.
ten anscheinend den Sauerstoff aus
Mangankarbonat (MnCO₃) und ge­

HANG YU/CALTECH
winnen damit ihre Energie. Dabei ent-
steht dunkles Mangandioxid (MnO₂), de Bakterien bereits seit mehr als Grundwassers besser zu verstehen.
ebenfalls bekannt als Braunstein. Die einem Jahrhundert für wahrscheinlich. Denn manche der dort lebenden
beiden Forscher schlagen für die Allerdings war es bisher nicht gelun- Bakterien veratmen bei Sauerstoff-
Bakterienart daher den Namen Man- gen, diese aufzuspüren. mangel Manganoxid, bei dem bislang
ganitrophus noduliformans (»Mangan Die nun zufällig entdeckte Art unklar war, woher es stammt. Doch
fressende Knöllchenbildner«) vor. stammt wahrscheinlich aus dem nicht nur hier könnten die »Mangan-
Mikroben, die sich von Metallver- Leitungswasser. Leitungen werden fresser« eine Lücke füllen: Womöglich
bindungen ernähren, sind schon lange immer wieder durch Manganoxide sind sie auch die Urheber der Mangan-
bekannt. So ist die Existenz von verstopft – vermutlich haben die Bio- knollen am Grund der Ozeane.
Kleinstlebewesen, die Mangan oxidie- logen um Leadbetter nun den Verur­
ren, nur auf den ersten Blick überra- sacher dingfest gemacht. Die Entde- Nature 10.1038/s41586-020-2468-5,
schend. Fachleute halten entsprechen- ckung hilft auch, die Geochemie des 2020

AERODYNAMIK
DER TRICK FLIEGENDER SCHLANGEN

 Schlangen gehören nicht zu jenen


Tieren, die für ausgefeilte Flugküns-
te gemacht scheinen. Aber dennoch
polsterten Halle aus acht Meter Höhe
zu Boden hüpfen. Mit Sensoren erfass-
te die Gruppe die genauen Bewegun-
gen verhindern das, indem sie ihren
Körper zu einem flachen Dreieck
zusammenschieben und ihn zwei
können manche von ihnen ein Stück gen und machte sie anschließend zur Wellenbewegungen ausführen lassen:
durch die Luft gleiten, etwa wenn sie Basis einer Computersimulation. Sie Für jeden Schlenker zur Seite macht
sich an einem Abhang bewegen oder zeigt nach Ansicht der Forscher, dass die Schlange im selben Moment zwei
von einem Baum zum nächsten sprin- die Tiere durch zielgerichtete Schlän- kleine nach oben und unten.
gen. Eine Arbeitsgruppe um Isaac gelbewegungen Instabilitäten während So verlagert sich einerseits ihr
Yeaton vom Virginia Polytechnic des Flugs ausgleichen. Schwerpunkt, was die Gleitbewegung
Institute and State University hat nun Ohne sie fallen die Reptilien fast stabiler macht. Andererseits optimie-
herausgefunden, wie die Reptilien direkt zu Boden, da sie sich dann ren die Tiere den Anströmwinkel der
ohne jegliche Tragflächen Auftrieb unkontrolliert um zwei der Rotations- Luft und erhalten dadurch in begrenz-
entwickeln. achsen drehen – Aerodynamiker tem Maß Auftrieb.
Dazu ließ das Team Schmuckbaum- sprechen von instabiler Lage beim Nature Physics 10.1038/s41567-020-
nattern (Chrysopelea) in einer ausge- Rollen und Nicken. Fliegende Schlan- 0935-4, 2020

10 Spektrum der Wissenschaft  9.20


Täglich aktuelle Nachrichten auf Spektrum.de

ASTROPHYSIK
MYSTERIÖSES GRAVITATIONSWELLENSIGNAL

 Am 14. August 2019 ließ ein sonder-


bares Signal die Observatorien LIGO
und Virgo aufhorchen: 780 Millionen
zen Löchern zurück, die sich immer
enger umkreisen und schließlich ver-
schmelzen. In bislang zwei Fällen
2,5 Sonnenmassen erreichen. Somit
ist ein anderes Szenario plausibler:
dass es sich bei dem leichteren Kollisi-
Lichtjahre von der Erde entfernt kam konnten Forscher auch die Raumzeit- onspartner um ein zweites Schwarzes
es demnach zu einem Zusammenstoß beben aus dem Totentanz zweier Loch handelte.
zwischen einem Schwarzen Loch, Neutronensterne aufzeichnen. Das wäre allerdings ebenfalls
23-mal so schwer wie unsere Sonne, Das neue Signal mit der Bezeich- ungewöhnlich. Explodierende Sterne
und einem Partner mit nur 2,6 Sonnen- nung GW190814 passt wegen der lassen nur Schwarze Löcher mit fünf
massen. Das Ereignis weicht damit großen Massendifferenz auf den oder mehr Sonnenmassen zurück.
klar von den bisher aufgezeichneten ersten Blick in keine dieser Kategorien. Erklärbar wäre der sonderbare Partner
kosmischen Kollisionen ab, bei denen Stattdessen könnte es sich um eine dagegen, wenn er bei der Verschmel-
jeweils ähnlich schwere Partner inein- dritte Signalklasse handeln: Möglicher- zung zweier Neutronensterne ent­
ander rasten – und dabei große Men- weise hat das Schwarze Loch mit standen ist. Bei einem solchen Ereignis
gen Gravitationswellen abstrahlten. 23 Sonnenmassen einen Neutronen- können sich vermutlich leichtere
Solche Erschütterungen der Raum- stern verschlungen. In diesem Fall Schwarze Löcher bilden.
zeit entstehen überall dort, wo große wäre das Exemplar jedoch schwerer
Massen stark beschleunigt werden. gewesen als alle bekannten Neutro- The Astrophysical Journal Letters
Meist gehen sie auf Paare aus Schwar- nensterne, die normalerweise maximal 10.3847/2041-8213/ab960f, 2020

dass es sich von Insekten ernährte. ihre Größe hätte erst später mit den
PALÄONTOLOGIE Kammerer und sein Team tauften das Dino- und Flugsauriern wieder zuge-
WINZIGER AHNE Tier deshalb auf den Namen Kongona- nommen.
DER DINOSAURIER phon kely, was so viel wie »kleiner Seine speziellen Ernährungsge-
Insektentöter« bedeutet. wohnheiten und die geringe Größe

 Beim Wort »Dinosaurier« dürften


die meisten Menschen wohl an die
enorme Größe vieler der ausgestorbe-
Der Winzling ist nicht der erste
kleine Vertreter der Ornithodira, auf
den Wissenschaftler nahe dem evolu-
halfen Kongonaphon kely vermutlich
dabei, eine Nische zu finden, die nicht
bereits von anderen Reptilien besetzt
nen Reptilien denken. Zu ihnen zählen tionären Ursprung der Gruppe gesto- war. Da die Speicherung von Körper-
die mächtigsten bislang bekannten ßen sind. Bislang ging man allerdings wärme für derart winzige Spezies eine
Landwirbeltiere. Und auch ihre Ver- davon aus, dass Arten mit geringer Herausforderung darstellt, könnte dies
wandten, die Ptero- oder Flugsaurier, Körpergröße eher eine Ausnahme einer Gründe dafür sein, warum viele
setzten einen Größenrekord für Tiere, darstellten. der späteren Dino- und Pterosaurierar-
die sich je durch die Luft bewegen. Die Paläontologen aus North Caro­ ten eine flauschige Hautbedeckung
Doch die Vorfahren dieser Giganten lina sehen das anders: Laut ihren besaßen, sei es in Form von einfachen
waren womöglich das genaue Gegen- Daten hätten die frühen Vertreter der Filamenten oder von Federn.
teil davon. Darauf deutet jedenfalls ein Ornithodira zwischenzeitlich eine Art
Fund aus Madagaskar hin, den nun ein Miniaturisierung durchlaufen, und PNAS 10.1073/pnas.1916631117, 2020
Team um Christian Kammerer vom
North Carolina Museum of Natural
ALEX BOERSMA

Sciences beschrieben hat. Bei ihm


geht es um ein 237 Millionen Jahre Kongonaphon kely war nur
altes Fossil, das bereits 1998 entdeckt zehn Zentimeter groß und
wurde. Der Analyse zufolge handelt es ernährte sich von Insekten.
sich um einen frühen Vertreter der
Ornithodira, zu denen der letzte ge-
meinsame Vorfahre der Dino- und
Pterosaurier gehörte.
Das Besondere an dem Exemplar:
Es war zu Lebzeiten gerade einmal
zehn Zentimeter groß. Verschleißspu-
ren an den kegelförmigen Zähnen des
winzigen Reptils deuten darauf hin,

Spektrum der Wissenschaft  9.20 11


gestiegen. Gleichzeitig nimmt die Zahl der heißen Tage mit mehr als 30 Grad zu,
während es weniger Eistage mit dauerhaft unter null Grad gibt.

Wälder im Umbruch
Die Zusammensetzung unserer Wälder andert sich grundlegend. Auf weiten Flächen
dominieren künftig voraussichtlich nicht mehr die heutigen Hauptbaumarten Fichte,
Kiefer, Buche und Eiche. Auf dem Weg braucht es aktive Anpassung.

TITELTHEMA Nasse Winter


Es schneit seltener, aber insgesamt gibt es im Winter mehr Niederschläge. Die
jährlichen Werte schwanken, doch bis 2020 waren es im Trend 48 Millimeter (rund ein
Viertel) mehr als im langfristigen Mittel von 1961 bis 1990. Für die Sommermonate

DEUTSCHLAND IM
zeichnet sich bisher kein klarer Verlauf ab. Fachleute erwarten in Zukunft mehr
Starkniederschläge – im Sommer wie im Winter.

Knappes Grundwasser
Höhere Temperaturen bedeuten mehr Verdunstung. Zudem nehmen im Sommer

KLIMAWANDEL
trockene und im Winter gesättigte Böden Niederschläge oft weniger gut auf.
Tendenziell sinken die Grundwasserstände in immer mehr Monaten unter die
langjährig gemittelten niedrigsten Werte.

Seen im Fluss
Die deutschen Binnengewässer sind im Lauf der Jahrzehnte wärmer geworden. Das
beeinflusst die dortigen Ökosysteme und ihre Rolle im Kohlenstoffkreislauf auf
komplexe Weise.
Die weltweiten Klimaveränderungen wirken sich auch hier zu
Lande aus. Womit müssen wir in Mitteleuropa in den kom-
menden Jahrzehnten rechnen? Und was können wir tun, um
unsere Ökosysteme und Infrastrukturen robuster zu
machen? Wir stellen einige der wichtigsten Trends
vor – und Experten geben einen tieferen Einblick in
vier Schwerpunktthemen.

Küsten unter Druck Meeresspiegel


Der steigende Meeresspie- (gemittelt über mehrere Jahre)

gel macht Sturmfluten 520 cm


Cuxhaven (Nordsee)
bedrohlicher. Bauwerke und 510 cm

Pumpen sollen die dicht 500 cm


besiedelten Lebensräume 490 cm
Travemünde (Ostsee)
schützen.  S. 21 480 cm
1890 1920 1950 1980 2010

Eine andere Landwirtschaft


Während Wetterextreme direkt Ernteverluste verursachen,
wirken manche Folgen des Klimawandels subtiler und
langfristiger. Landwirte müssen etwa mit neuen Schädlin-
gen umgehen, alternative Bewässerungsmethoden finden
und teilweise andere Pflanzensorten anbauen.  S. 16

Gestresste Städte
Der so genannte Wärmeinseleffekt heizt Städte im Vergleich zum
Umland deutlich auf. Gebäude schirmen Wind ab, gleichzeitig
absorbieren Dächer, Beton und Asphalt Sonnenstrahlung. Oben-
drein erzeugt das Stadtleben selbst Wärme. An kühlender Verduns-
tung fehlt es mangels Grün vielerorts, und Regenwasser sammelt
sich nicht, sondern fließt schnell ab.
Um der Entwicklung gegenzusteuern, setzen Stadtplaner zuneh-
mend auf ein verbessertes Mikroklima: schattige Rückzugsorte,
Bäume und begrünte Fassaden oder Dächer – die zudem die
Starkniederschläge bei Sommergewittern abpuffern, bevor sie die
Kanalisation überlasten.

12 Spektrum der Wissenschaft  9.20


KARTE: VEGEFOX.COM / STOCK.ADOBE.COM; BEARBEITUNG: SPEKTRUM DER WISSENSCHAFT;
ICONS: SPEKTRUM DER WISSENSCHAFT; MEERESSPIEGEL: SPEKTRUM DER WISSENSCHAFT, NACH:
BUNDESANSTALT FÜR GEWÄSSERKUNDE (PEGELDATENBANK DER WASSER- UND SCHIFFFAHRTSVERWALTUNG
DES BUNDES) IN: WWW.UMWELTBUNDESAMT.DE/PUBLIKATIONEN/MONITORINGBERICHT-2019
Wahrscheinlichkeit Mittelwert
des Auftretens
alt neu

weniger mehr
Kälte Hitze
Wahrscheinlichkeit Mittelwert
jährliche Temperatur in Deutschland heiße Tage
des Auftretens
alt neu
20 Temperatur
10 °C
9 °C
weniger
15
Kälte
mehr
Warme Luft
Die durchschnittliche Tempera-
Hitze
tur ist mit den Hitzeextremen
Deutschland 8 °C heiße Tage
10
Wahrscheinlichkeit Mittelwert verknüpft: Erhöht sich der und Hitze
des Auftretens
20 5 alt neu Die Lufttemperatur ist in Deutschland
Mittelwert in der Verteilung,
7 °C Temperatur werden große Werte viel
Wahrscheinlichkeit Mittelwert Wahrscheinlichkeit seit 1881 im Schnitt um 1,5 Grad Celsius
15Auftretens
des wenigerDie durchschnittliche Tempera-
mehr Mittelwert häufiger überschritten.
1890 1920 1950 alt 1980neu 2010 1960 1980 2000 des 2020
Auftretens gestiegen. Gleichzeitig nimmt die Zahl
Wahrscheinlichkeit
Kälte tur ist Mittelwert
mit den Hitzeextremen
Hitze alt neu
10 desWetterdienst;
Datenquelle: Deutscher Auftretens eigene Bearbeitung
verknüpft: Erhöht sich der der heißen Tage mit mehr als 30 Grad zu,
hland heißeweniger
Tage mehr alt neu
Mittelwert in der Verteilung,
weniger mehr
20 5 Kälte Hitze werden große Werte viel Kälte
während es tendenziell weniger Frost-
weniger Temperatur
mehr Hitze
Wahrscheinlichkeit Mittelwert häufiger überschritten. tage mit dauerhaft unter null Grad gibt.
rliche
1980 Temperatur
2010 15
in des 1960 1980 2000 2020 heiße Tage
Deutschland
Auftretens Kälte
Die durchschnittliche Tempera- Hitze
alt neu tur ist mit den Hitzeextremen
land
atenquelle: Deutscher 10 heiße
Wetterdienst; Tage
eigene Bearbeitung 20 Temperatur Temperatur
verknüpft: Erhöht sich der
20 weniger
Die durchschnittliche
15 mehr
Tempera- Mittelwert in der Temperatur
Verteilung,
5 Die durchschnittliche Tempera-
Kälte
tur ist mit den Hitzeextremen Hitze werden große Werte viel
15
verknüpft: Erhöht10 sich der Die durchschnittliche Tempera-tur ist mit den Hitzeextremen
häufiger überschritten.
2010 1960 1980 2000 in2020
Mittelwert der Verteilung, tur ist mit den Hitzeextremen verknüpft: Erhöht sich der
10
werden große 5 viel
Werte Temperatur verknüpft: Erhöht sich der Mittelwert in der Verteilung, Nasse Winter
le: Deutscher Wetterdienst; eigene Bearbeitung
Mittelwert in der Verteilung, werden große Werte viel
5 häufiger überschritten.
Die durchschnittliche Tempera- häufiger überschritten. Es schneit seltener, aber insge-
Niederschlagssumme
0 2020 1920 1950 1980 2010 1960 1980 2000 werden 2020 große Werte viel 300samt
mm gibt es im Winter mehr Nieder-
tur ist mit den Hitzeextremen häufiger überschritten.
2010 1960 verknüpft:
1980
Datenquelle: 2000
Deutscher 2020
Erhöht sich dereigene Bearbeitung
Wetterdienst;
schläge. Die jährlichen Werte schwan-
e: Deutscher Wetterdienst; eigene Mittelwert
Bearbeitung in der Verteilung, 200 mm
werden große Werte viel ken, doch bis 2020 waren
häufiger überschritten. Niederschlagssumme es im Trend 48 Millimeter
2020 100 mm
300 mm
(rund ein Viertel) mehr als
200 mm 1890 im langfristigen
1920 1950 Mittel
1980von 2010
1961Deutscher
Datenquelle: bis 1990. Für dieeigene
Wetterdienst; Som-Bearbeitung
100 mm Niederschlagssumme mermonate zeichnet sich
300 mm
bisher kein klarer Verlauf ab.
Niederschlagssumme
200 mm 1890 1920 1950 1980 2010
Niederschlagssumme Fachleute erwarten in
300 mm Datenquelle: 300 mm
Deutscher Wetterdienst; eigene Bearbeitung
Niederschlagssumme Zukunft mehr Starknieder-
300
100mm
mm
200 mm 200 mm
schläge – im Sommer wie
200 mm im Winter.
100 mm Niederschlagssumme 1890 1920 1950
100 mm 1980 2010
300 mm
100 mm Datenquelle: Deutscher Wetterdienst; eigene Bearbeitung
200 mm 1890 1920 1950 1980 2010 1890 1920 Monate mit
1950 1980 Unterschreitung
2010 des
Datenquelle: Deutscher Wetterdienst; eigene Bearbeitung mittleren niedrigsten Grundwasserstands
1890 1920 1950 Datenquelle:
1980 2010 Wälder im
Deutscher Wetterdienst; eigene Bearbeitung Umbruch
(Vergleich mit Durchschnitt 1971-2000)
100 mm Datenquelle: Deutscher Wetterdienst; eigene Bearbeitung
Die Zusammensetzung
4
unserer Wälder ändert sich
grundlegend.2Auf weiten Flächen dominieren künftig vo-
1890 1920 1950 1980 2010 Monate mit Unterschreitung des
raussichtlich nicht mehr die heutigen Hauptbaumarten
mittleren niedrigsten Grundwasserstands
Datenquelle: Deutscher Wetterdienst; eigene Bearbeitung
Fichte, Kiefer, 1965
(Vergleich mit Durchschnitt 1971-2000) Buche1975 1985 Auf
und Eiche. 1995
dem2005
Weg 2015
braucht
4 es aktive Anpassung.  S. 18
2
Monate mit Unterschreitung des
mittleren niedrigsten Grundwasserstands
1965 1975 1985 1995 2005 2015
(Vergleich mit Durchschnitt 1971-2000)
Monate mit Unterschreitung des Monate mit Unterschreitung des
4
mittleren niedrigsten Grundwasserstands mittleren
Knappes Grundwasser
(Vergleich mit Durchschnitt 1971-2000) Monate mit Unterschreitung des niedrigsten Grundwasserstands
2 (Vergleich mit DurchschnittHöhere
mittleren niedrigsten Grundwasserstands Temperaturen bedeuten mehr
1971-2000)
4 (Vergleich mit Durchschnitt
4 1971-2000) Verdunstung.
WassertemperaturZudem nehmen
in Seen im Sommer
1965 1975 1985 1995 2005 2015
(Saisonmittel, Oberflächenwasser)
2
Monate mit Unterschreitung des 4 2 trockene und im Winter gesättigte Böden
mittleren niedrigsten Grundwasserstands
1965 1975 1985 1995 20052 2015
18 °C Niederschläge oft weniger gut auf. Die
(Vergleich mit Durchschnitt 1971-2000) 1965 1975 1985 1995 2005 2015
16 °C Grundwasserstände sinken in immer mehr
4 1965 Wassertemperatur
1975 1985 1995 2005
in Seen 2015
14 °C Monaten unter die langjährig gemittelten
(Saisonmittel, Oberflächenwasser) Stechlinsee
2 niedrigsten Werte.
12 °C Müggelsee
18 °C
1965 1975 1985 1995 2005 2015
Bodensee
16 °C 1975 1985 1995 2005 2015
14 °CWassertemperatur in Seen
(Saisonmittel, Oberflächenwasser) Stechlinsee
12 °C Müggelsee Seen im Fluss
Wassertemperatur in Seen 18 °C Wassertemperatur in Seen
(Saisonmittel, Oberflächenwasser) Bodensee Die deutschen Binnengewäs-
16 °C 1975
Wassertemperatur 1985 in Seen(Saisonmittel,
1995 2005 2015 Oberflächenwasser)
ser sind im Lauf der Jahr-
18 °C (Saisonmittel, Oberflächenwasser)
14 °C 18 °C zehnte wärmer geworden.
Stechlinsee
16 °C 18 °C
12 °C 16 °C Müggelsee Das beeinflusst die dortigen
Wassertemperatur in Seen
14 °C Ökosysteme und ihre Rolle
(Saisonmittel, Oberflächenwasser) 16 °C Stechlinsee 14 °C Bodensee Stechlinsee
1975 1985 1995 2005 2015
12 °C 14 °C Müggelsee 12 °C Stechlinsee
im Kohlenstoffkreislauf auf
Müggelsee
18 °C
12 °C Bodensee Müggelsee
komplexe Weise.  S. 23
Bodensee
16 °C 1975 1985 1995 2005 2015 1975 1985 1995 2005 2015
Bodensee
14 °C 1975
Stechlinsee
1985 1995 2005 2015
Spektrum der Wissenschaft  9.20 13
KARTE: VEGEFOX.COM / STOCK.ADOBE.COM; BEARBEITUNG: SPEKTRUM DER WISSENSCHAFT; ICONS: SPEKTRUM DER WISSENSCHAFT; JÄHRLICHE TEMPERATUR & HEISSE TAGE & NIEDERSCHLAGSSUMME:
12 °C Müggelsee MITTELWERT: SPEKTRUM DER WISSENSCHAFT / MIKE BECKERS;
SPEKTRUM DER WISSENSCHAFT, NACH: DEUTSCHER WETTERDIENST (WWW.DWD.DE/DE/LEISTUNGEN/ZEITREIHEN/ZEITREIHEN.HTML);
GRUNDWASSER: SPEKTRUM DER WISSENSCHAFT, NACH: GRUNDWASSERMESSNETZE DER LÄNDER IN: WWW.UMWELTBUNDESAMT.DE/PUBLIKATIONEN/MONITORINGBERICHT-2019; WASSERTEMPERATUR
Bodensee
IN SEEN: SPEKTRUM DER WISSENSCHAFT, NACH: LUBW/ISF (BODENSEE), IGB (MÜGGELSEE, STECHLINSEE) IN: WWW.UMWELTBUNDESAMT.DE/PUBLIKATIONEN/MONITORINGBERICHT-2019
1975 1985 1995 2005 2015
Realität nur annähern, das gelingt aber immer besser. Die
Mike Beckers ist Physiker und Redakteur bei Forscher ergründen unverstandene Mechanismen, binden
»Spektrum der Wissenschaft«. sie ein und speisen zunehmend leistungsfähige Rechner mit
mehr und mehr Parametern. Dabei unterliegt jedes Modell
 spektrum.de/artikel/1752440
verschiedenen Unsicherheiten, die etwa von der Program-
mierweise und der Wahl der Anfangsbedingungen abhän-
gen. So genannte Ensembles von Simulationen, das sind
viele einzelne unter leicht veränderten Voraussetzungen oder


Geografisch liegt Deutschland zwischen dem vom mit unterschiedlichen Modellen, liefern eine Bandbreite
Meer geprägten Klima im Westen Europas und den möglicher Entwicklungen. Wie zuverlässig sind solche
großen Landmassen im östlichen Teil des Kontinents. Rechnungen – gerade für die Größenordnung einzelner
Die Auswirkungen des Klimawandels werden hier zu Lande Länder?
so vielfältig sein wie die Landschaften: von den flachen Startet man neue Modelle mit jahrzehntealten Daten,
Küsten bis zu den Mittelgebirgen und schließlich den lässt sich abschätzen, ob sie die gegenwärtigen Bedingun-
Alpen, von städtischen Ballungszentren über landwirt- gen gut wiedergeben. Solche Rückvergleiche sind wichtige
schaftlich geprägte Gebiete bis zu großen Waldflächen, die Standardtests, aber freilich nicht völlig unabhängig. Denn
fast ein Drittel des Landes bedecken. schließlich haben die Klimawissenschaftler ihre Modelle im
Allerdings wirkt überall die gleiche Physik. Das ermög- Bewusstsein der tatsächlichen heutigen Bedingungen
licht immerhin gewisse allgemeine Aussagen. So strahlt erstellt. Strikter ist die Überprüfung anhand von Daten, die
unser Planet ständig Wärme ab in Richtung Weltall. Gele- noch nicht bekannt sein konnten. Das ist auch ohne Glasku-
gentlich wird sie auf dem Weg dorthin in der Atmosphäre gel möglich, nämlich mit Hilfe älterer Simulationen. Bereits
aufgehalten – sie trifft auf Kohlenstoffdioxidmoleküle und diese waren recht treffsicher. 2019 zeigte ein Team um Zeke
regt sie zu Schwingungen an. Das CO2 gibt die Energie Hausfather von der University of California in Berkeley: 14
später wieder an die Umgebung ab. Weil der Gehalt des von 17 Projektionen mit Modellen aus den 1970er bis 2000er
Gases in der Luft derzeit zunimmt, wird diese immer wär- Jahren passen gut zu der weltweiten Klimaentwicklung in
mer. Wärmere Luft kann wiederum mehr Wasserdampf der Zeit nach ihrer Veröffentlichung (wenn man fairerweise
aufnehmen. einrechnet, dass die Autoren die Treibhausgasemissionen in
Doch bei den konkreten Auswirkungen solcher Feststel- den Folgejahren noch nicht kennen konnten und in dieser
lungen wird es schwieriger. Wenn Luft mehr Feuchtigkeit Hinsicht teilweise danebenlagen).
speichern kann, sollte es stärker regnen – schließlich muss
das Wasser irgendwann wieder herunterkommen. Aber wo Vom globalen Modell zur lokalen Realität
und zu welchen Zeiten? Welche weiteren physikalischen Für viele konkrete Entscheidungen sind die regionalen
Prozesse sind wichtig und wirken einzelnen Effekten mögli- Konsequenzen wichtig. Wie sollen wir heute Infrastrukturen
cherweise entgegen oder verstärken sie? planen, welche Baumarten pflanzen, damit sie Jahrzehnte
Hier kommen Klimamodelle ins Spiel. Seit einem halben gut überdauern? Weltumspannende Berechnungen arbeiten
Jahrhundert versuchen Wissenschaftler mit Hilfe von in der Regel bloß mit einer recht groben räumlichen Auflö-
Algorithmen und Simulationen die entscheidenden Zusam- sung im Bereich hunderter Kilometer. Regionale Modelle
menhänge zu erfassen. Die Berechnungen können sich der können dann die so ermittelten Randbedingungen aufgrei-
fen, auf feinere Skalen von typischerweise einigen zehn
Kilometern anpassen und so die Folgen etwa für das Klima
in Europa und in Deutschland ermitteln.
AUF EINEN BLICK An der Basis all dessen stehen Beobachtungsdaten, und
INMITTEN DES GESCHEHENS an ihnen messen sich wiederum die Simulationen. Deutsch-
lands nationale meteorologische Einrichtung, der Deutsche

1 Die Folgen des globalen Klimawandels sehen wir in Wetterdienst, betreibt rund 200 Wetterwarten und auto­
Deutschland bereits in langfristigen Messdaten, matische Stationen und greift zusätzlich auf etwa zehnmal
etwa bei veränderten Vegetationsperioden, steigenden so viele Standorte ehrenamtlicher Beobachter zurück. Hinzu
Meeresspiegeln und heißeren Sommern. kommen Satelliten und weitere Arten der Erfassung. Einzel-
ne Werte schwanken zwar naturgemäß, aber nach Jahr-

2 Regionale Klimamodelle erlauben Einblicke in mögliche


zukünftige Entwicklungen. Ihnen zufolge werden
Extremereignisse wie die Trockensommer 2018 und
zehnten zeigen sich Trends. Sie vermitteln vielfach schon
einen Eindruck von dem, was sich hier zu Lande in den
vergangenen Dekaden verändert hat.
2019 wohl häufiger auftreten. Über die gesamte Erdoberfläche gemittelt hat sich die
Luft seit dem Ende des 19. Jahrhunderts um etwa 1,1 Grad
3 Die Veränderungen treffen vielfältige Bereiche vom
Küstenschutz über Forst- und Landwirtschaft bis zum
Städtebau und stellen diese vor ganz individuelle
Celsius erwärmt. In Deutschland fällt der Anstieg stärker
aus: Hier sind es den langjährigen Messungen zufolge
Herausforderungen. 1,5 Grad. Wenn sich der Mittelwert der Temperaturverteilung
zu höheren Werten verschiebt, sollte dasselbe mit den
Extremereignissen an ihren Rändern passieren. Mangelt es

14 Spektrum der Wissenschaft  9.20


tisch erwärmt hat, schwächelt der Jetstream und schlägt
stärker zu den Seiten aus. Das friert Hoch- und Tiefdruckge-
SERIE Klimawandel
biete regelrecht ein, statt sie weiter zu befördern – eine
Teil 1: September 2020 Witterung kann dadurch sehr lange anhalten (siehe »Spek­
Deutschland im Klimawandel trum« Juli 2019, S. 54).
Diana Rechid, Andreas Bolte, Ralf Weisse, Mit den steigenden Temperaturen nimmt die mittlere
Rita Adrian, Benjamin M. Kraemer
jährliche Zahl der Hitzetage zu, an denen das Thermometer
Teil 2: Oktober 2020
30 Grad Celsius überschreitet. Das dürfte sich Modellen
Aus der Vergangenheit lernen
Tim Kalvelage zufolge vor allem im Südwesten und im Osten Deutschlands
Teil 3: November 2020 in Zukunft verstärkt bemerkbar machen. Auch Stadtbewoh-
Wie Klimamodelle entstehen ner leiden unter der Entwicklung. Der so genannte Wärme­
Armin Iske und Stephan Juricke inseleffekt heizt die an Beton und Asphalt reichen Metropo-
len im Vergleich zum Umland deutlich auf. Um dem gegen-
zusteuern, setzen Stadtplaner zunehmend auf Maßnahmen
für ein verbessertes Mikroklima. Ein Beispiel sind begrünte
während einer Hitzewelle dann noch wochenlang an Re- Fassaden oder Dächer, die durch Verdunstung kühlen und
gen, wird die Situation schnell bedrohlich, wie wir es jüngst zudem die Starkniederschläge bei Sommergewittern abpuf-
in den Trockensommern 2018 und 2019 erlebt haben. fern, bevor sie die Kanalisation überlasten.
Doch Wetterextreme sind die seltenen Ergebnisse
komplizierter Zusammenhänge. Für viele einzelne Ereignis- Sicher ist nur die Veränderung
se – ob Hitze- oder Kältewellen, Starkniederschläge oder Parallel werden die Winter milder und feuchter. Während die
Stürme – mag es zwar naheliegend erscheinen, sie als Niederschläge in der kalten Jahreszeit zunehmen, gibt es
Folge des Klimawandels zu verbuchen. Ganz so einfach ist für die Regenmenge im Sommer noch keinen erkennbaren
es aber nicht: Gab es Hochwasser und Dürren nicht schon Trend. Bei Starkregen ist die Datenlage ebenfalls uneindeu-
immer? Das Klima in Deutschland ist ohnehin sehr variabel. tig. Er ist oft lokal begrenzt und fällt regelrecht durchs Raster
Wie soll man erkennen, ob ein Ereignis nicht so auch in vieler Messstationen, und flächendeckende Radardaten gibt
einer Welt ohne Klimawandel nur auf Grund einer beson- es erst seit zwei Jahrzehnten – zu wenig, um langfristige
ders unglücklichen Wetterlage eingetreten wäre? Entwicklungen zuverlässig abzulesen. Doch Projektionen
Die Frage steht im Mittelpunkt der so genannten Attribu- regionaler Klimamodelle untermauern eine Annahme diver-
tionsforschung, welche die deutsche Klimatologin Friederi- ser Forscher: Wärmere Luft bringt vielerorts kräftigere Nie-
ke Otto, die in Oxford forscht, mitbegründet hat. Die noch derschläge. Nicht nur für die von Sturzfluten betroffenen
junge Disziplin wächst rapide, seit zunehmend Rechenka- Anwohner ist das eine schlechte Nachricht, sondern auch
pazität für Simulationen zur Verfügung steht und seit die für die Pflanzen. Deren Vegetationsperiode hat sich oft
neueste Generation regionaler Klimamodelle mit kleinräu- bereits um Wochen verlängert. Ihnen wird im Sommer aber
migen Vorkommnissen wie Starkregen umgehen kann. Mit zunehmend Wasser fehlen, wenn wärmere Böden schneller
sehr vielen unterschiedlichen Durchläufen ihrer Algorith- austrocknen und dann die intensiveren Regengüsse umso
men erschaffen die Fachleute quasi eine virtuelle Welt ohne schlechter aufnehmen. Und früh im Jahr schädigen Kälteein-
Klimawandel und ergründen, wie oft dort individuelle Ex- brüche die vorzeitig gewachsenen jungen Triebe und Blüten.
tremereignisse auftreten würden – und somit ob sie durch Bei allen Unsicherheiten im Detail ist klar: In den kom-
die globale Erwärmung wahrscheinlicher geworden sind. menden Jahrzehnten müssen wir uns auf diverse Verände-
Für statistisch robuste Aussagen zu einem konkreten Vor- rungen einstellen. Was das für einige der Regionen und
kommnis kann der Vergleich tausende simulierte Jahre Ökosysteme in Deutschland bedeutet, wie verletzlich sie
erfordern. Beispielsweise ergab eine Analyse unter der sind und welche Maßnahmen helfen, mit den Folgen des
Leitung von Robert Vautard vom französischen Institut Klimawandels umzugehen, lesen Sie auf den folgenden
Pierre Simon Laplace und Geert Jan van Oldenborgh vom Seiten in einer Bestandsaufnahme durch Experten. 
Königlich-Niederländischen Meteorologischen Institut für
den Fall der Hitzewelle in Westeuropa Ende Juli 2019, in der LITER ATURTIPPS
Deutschland neue Temperaturrekorde verzeichnet hat:
Brasseur, G. P. et al. (Hg.): Klimawandel in Deutschland. Sprin-
Ohne den Klimawandel wäre das Risiko dafür etwa zehnmal ger, 2016
kleiner gewesen.
Zahlreiche Fachleute stellen den Wissensstand und dessen
Jeder einzelne Fall kann Zufall sein, doch – um eine vom
Grundlagen umfangreich zusammen. Als Open-Access-
US-amerikanischen Klimawissenschaftler James Hansen Publikation frei verfügbar unter: https://link.springer.com/
geprägte Analogie zu verwenden – wie bei einem gezinkten book/10.1007/978-3-662-50397-3
Würfel verschiebt der Klimawandel die Wahrscheinlichkei- Umweltbundesamt (Hg.): Monitoringbericht 2019 zur Deutschen
ten. Zu dem Effekt kommt Deutschlands geografische Anpassungsstrategie an den Klimawandel
Lage. Insbesondere im Sommer prägt der so genannte
Die Übersicht informiert über die Folgen des Klimawandels in
Jetstream unser Wetter. Das Starkwindband wird durch verschiedenen Bereichen des gesellschaftlichen Lebens. Als PDF
den Temperaturunterschied zur kalten Arktis angetrieben. herunterladbar: www.umweltbundesamt.de/publikationen/
Doch weil sich diese durch den Klimawandel bereits dras- monitoringbericht-2019

Spektrum der Wissenschaft  9.20 15


LANDWIRTSCHAFT
LEIDTRAGENDE
UND MITVERURSACHERIN
Während Klimaextreme wie Starkregen, Hagel oder Hitzewellen direkt
Ernteverluste auslösen, wirken manche Folgen der Erwärmung sub-
tiler und langfristiger: Landwirte müssen etwa mit bisher unbekannten
Schädlingen umgehen, alternative Bewässerungsmethoden finden –
und teilweise neue Pflanzensorten anbauen.

gelegt, wird das für die Landwirtschaft in Deutschland


Die Klimawissenschaftlerin Diana Rechid bereits weit reichende Auswirkungen haben. Der Sonderbe-
erforscht am Climate Service Center Germa- richt des Weltklimarats vom September 2018 zu den Folgen
ny (GERICS) des Helmholtz-Zentrums einer globalen Erwärmung um 1,5 Grad zeigt, wie viel
Geesthacht, wie sich Landnutzung und
Klimawandel gegenseitig beeinflussen.
kleiner diese ausfallen, verglichen mit einer Erwärmung um
2 Grad, bei der bereits sehr drastische Folgen zu spüren
 spektrum.de/artikel/1754714 sind. Im Projekt Impact2C haben wir mit rund 80 Expertin-
nen und Experten aus ganz Europa die zu erwartenden
Veränderungen modelliert und herausgearbeitet, was zwei


Wie sich Temperaturen und Niederschläge im Jahres- zusätzliche Grad für verschiedene Bereiche wie Landwirt-
verlauf verhalten, bestimmt Saat- und Pflanzzeiten, das schaft, Wasserhaushalt oder die Wälder in Europa bedeu-
Wachstum, Erntezeiten und die Zeit der Vegetations­ ten. Unter anderem haben wir so abgeschätzt, wie anfällig
ruhe, in der die Pflanzen nicht wachsen. Genauso hängt verschiedene Nutzpflanzen gegenüber einer Erwärmung
davon ab, wie viel Wasser verfügbar ist, welche Struktur sind. Weizen – der in Europa fast die Hälfte des erzeugten
die Böden aufweisen, wo Schädlinge und Pflanzenkrankhei- Getreides ausmacht – hat demnach in Deutschland eine
ten auftreten und wie sie sich verbreiten – sowie letztlich mittlere bis hohe »Vulnerabilität«, würde also unter den neu-
Ertrag und Qualität der Ernte. Der Witterungsverlauf en Gegebenheiten deutlich schlechter wachsen. Für Gerste
schwankt von Jahr zu Jahr, worauf die Landwirtschaft ergibt sich ein ähnliches Bild. Landwirte müssen sich daher
eingestellt ist und sich mit flexiblen Produktionszyklen Gedanken machen, wie sie ihre Felder für die Zukunft fit
anpasst. Doch mit fortschreitendem Klimawandel verän- machen. Dabei könnte eine Überlegung sein, andere Sorten
dern sich Temperaturen und Niederschläge im Jahresver- anzubauen, die unter trockeneren und wärmeren Bedingun-
lauf drastischer und werden die Schwankungen teils so gen besser gedeihen. Darüber hinaus könnten vermehrte
stark, dass herkömmliche Produktionsmethoden an ihre und andere Bewässerungsmethoden einen Teil der Lösung
Grenzen stoßen. Bereits jetzt treten Hitze- und Trockenperi- darstellen.
oden, Dauer- und Starkregen vermehrt auf; sie können
ganze Ernten vernichten und Landstriche degradieren. Auch Sinkende Grundwasserspiegel gefährden
in Deutschland sind in den vergangenen Jahren gehäuft Mensch und Natur
meteorologische Extreme aufgetreten, wie etwa die Hitze Woher das Wasser dafür stammt, ist eine wesentliche
und Trockenheit in den Jahren 2018 und 2019. Dadurch Frage, die sich Landwirte stellen müssen. Bereits während
haben Ackerbaubetriebe vielerorts geringere Ernten einge- der letzten beiden Dürresommer galt es etwa abzuwägen:
fahren, beispielsweise bei Weizen, Gerste und Raps. Milch- Ist es gerechtfertigt, das Wasser aus Grundwasserspei-
viehbetriebe hatten durch verringertes Wachstum auf chern oder gar Oberflächengewässern zum Bewässern der
Grünland zu wenig eigenes Futter produziert, und die Milch- Felder zu nutzen? In Niedersachsen, wo sich mit der Heide
kühe litten unter Hitzestress. Die extreme Trockenheit das hier zu Lande größte zusammenhängende bewässerte
führte zudem zu erhöhter Winderosion, und in Mittel- und Gebiet befindet, sinkt bereits der Grundwasserspiegel. Das
Nordostdeutschland brachen Flächenbrände aus. gefährdet sowohl bedrohte Arten in den nahe gelegenen
Selbst wenn es gelingt, die globale Erwärmung auf seltenen Biotopen als auch die Bevölkerung. Methoden zu
höchstens 2 Grad Celsius gegenüber vorindustriellem Ni- finden, die weniger Wasser verbrauchen und es gleichzeitig
veau zu begrenzen, wie im Pariser Klimaabkommen fest­ dorthin transportieren, wo die Pflanze es am dringendsten

16 Spektrum der Wissenschaft  9.20


benötigt, ist eine der Schlüsselaufgaben für die nächsten der größten Obstschädlinge Europas, in die Hände: Dessen
Jahre. Larven wachsen dadurch schneller. So können sie im
Die zunehmende Trockenheit wird aber nicht nur dort, Spätsommer eine zweite Faltergeneration bilden, die dann
sondern deutschlandweit ein Problem sein. Bereits nach die reifenden Früchte befällt. Er ist jedoch bei Weitem nicht
den Dürresommern 2018 und 2019 gab es in vielen Gebie- der einzige Schädling, dem die Wärme nützt. Ebenso treten
ten massive Ernteverluste, teils mussten Landwirte Notern- unter den veränderten Bedingungen vermehrt Pilze auf,
ten vor dem optimalen Zeitpunkt einfahren. Und in diesem auch solche, die man dort bislang nicht beobachten konnte.
Jahr waren die Böden im Frühjahr und Frühsommer deut- Sie befallen die Äpfel und rufen Fäulnis hervor.
lich weniger feucht als gewöhnlich. Durch die veränderte Niederschlagsverteilung über das
Zusätzlich zur Hitze und Trockenheit werden sich die Jahr fällt zudem im Winter mehr davon, und zwar auf Grund
Witterungsverläufe im Jahresgang weiter verändern. Das der zugleich höheren Temperaturen eher als Regen denn als
bedeutet einerseits deutlich weniger Frostperioden im
Winter, was sich nachteilig auf die Vegetationsruhe und
Bodenstruktur auswirkt. Zu hohe Temperaturen im
Frühsommer wiederum sind ungünstig für das Pflanzen-
Warme Temperaturen spielen
wachstum. Fängt die Vegetation zeitiger an auszutreiben, einem der größten Obstschäd-
verdunstet mehr Wasser, wodurch weniger davon im
Boden verfügbar ist. Wind und Sonne tun ihr Übriges, um linge Europas in die Hände
die Gefahr von Trockenschäden zu erhöhen.
Viele Schädlinge profitieren währenddessen von höhe-
ren Temperaturen. Das zeigt sich etwa in der Region Altes Schnee. Das gilt flächendeckend für ganz Deutschland, mit
Land nahe Hamburg, dem größten zusammenhängenden Ausnahme der höheren Lagen in den Alpen. Die dadurch
Obstanbaugebiet Nordeuropas. Im Projekt Klimzug-Nord anhaltende Nässe in der kalten Jahreszeit schädigt Pflan-
haben wir gemeinsam mit der Obstbauversuchsanstalt Jork zenwurzeln, Fäulnis bildet sich, und Nährstoffe werden
der Landwirtschaftskammer Niedersachsen untersucht, ausgewaschen. Das beeinträchtigt Quantität wie Qualität
wie sich der Klimawandel auf die Region auswirkt. Mit der landwirtschaftlichen Produktion.
90 Prozent der Anbaufläche stellt der Apfel dort die mit Wie können wir all den Veränderungen begegnen? Land-
Abstand wichtigste Obstart dar. Und die warmen Tempera- wirte sowie Verantwortliche für die langfristige Planung
turen spielen dem Apfelwickler (Cydia pomonella), einem benötigen keine Mittelwerte, sondern präzise Daten, wo
sich welche Parameter wann ändern. Im Projekt ADAPTER,
das im Frühjahr 2019 gestartet ist, entwickeln wir am
Neben der Klimaveränderung selbst machen neuarti- Climate Service Center Germany (GERICS) des Helmholtz-
ge Schädlinge den Pflanzen zu schaffen, wie hier Zentrums Geesthacht gemeinsam mit dem Forschungszen-
auf einer Obstplantage im Alten Land nahe Hamburg. trum Jülich und Praxispartnern eine Plattform dafür. Zum
einen haben wir ein Vorhersagesystem entwickelt, das die
aktuellen Daten zu Bodenfeuchte, verfügbarem Wasser,
MIT FRDL. GEN. VON ROLAND WEBER, OBSTBAUVERSUCHSANSTALT JORK

Bodentemperaturen, Sickerwasserraten und anderen


Parametern erfasst und auf dieser Grundlage die Entwick-
lung für die nächsten fünf bis zehn Tage berechnet. Hier
unterstützen uns ebenso die Landwirte selbst, indem sie
mit Hilfe bereitgestellter Bodensensoren die Werte messen,
die dann automatisch an einen Großrechner gesandt wer-
den und die Prognosen verbessern sollen. Für Nordrhein-
Westfalen ist die Vorhersage parzellenscharf, das heißt, sie
hat eine Auflösung von 300 mal 300 Metern! So können
Landwirte sehr genau für die nächsten Tage planen, wann
sie welche Sorten aussäen, versorgen, düngen und ernten.
Dabei leistet ihr Erfahrungswissen einen wichtigen Beitrag
zum Projekt.
Darüber hinaus erstellen wir auf Grundlage regionaler,
bis zum Jahr 2100 reichender Klimaprojektionen Informati-
onsmaterialien, die auf verschiedene Akteure in der Praxis
zugeschnitten sind. Sie zeigen auf, wie sich die für be-
stimmte landwirtschaftliche Kulturen relevanten Klimabe-
dingungen in den verschiedenen Boden-Klima-Räumen
verändern. Das ist wichtig, um zu entscheiden, ob beispiels-
weise Beregnungsverfahren umzustellen sind, neue Infra-
struktur benötigt wird oder der Boden anders bearbeitet
werden muss. Es kann aber ebenso zu der Entscheidung

Spektrum der Wissenschaft  9.20 17


führen, Kulturen, die auf lange Sicht nicht gedeihen können, ralen Kreisläufen. Für eine umfassende gesellschaftliche
zu ersetzen. Transformation verbleiben nur noch wenige Jahre, da-
Die landwirtschaftliche Produktion ist einerseits betrof- mit die Begrenzung der globalen Erwärmung auf 1,5 Grad
fen von den Folgen des Klimawandels und andererseits überhaupt noch im Bereich des Möglichen liegt. 
dessen Mitverursacher durch den Ausstoß von Treibhaus-
gasen wie Lachgas, Methan und Kohlenstoffdioxid. Klima-
QUELLEN
schutz und Klimaanpassung müssen eng zusammen ge-
dacht werden. Der Sonderbericht des Weltklimarats vom Belleflamme, A. et al.: Forecasts of plant available and seepage
August 2019 zu Klimawandel und Landsystemen zeigt eine water for agricultural usage during recent extreme hydrometeo-
rological conditions in western Germany using a convection-
Reihe von Maßnahmen auf: So können Landwirte etwa
permitting regional Earth-system model. EGU General Assembly
Wasser sparen, indem sie effiziente Beregnungsmethoden 2020 10.5194/egusphere-egu2020-4704, 2020
einsetzen. Abwechselnde Fruchtfolgen oder Strukturele-
Intergovernmental Panel on Climate Change (IPCC): Climate
mente wie Hecken und Blühstreifen erweitern das Spek­
change and land: An IPCC special report on climate change,
trum der Pflanzen. Das verringert das Risiko für Ernteaus­ desertification, land degradation, sustainable land management,
fälle und schützt gleichzeitig vor Schädlingen. Daneben food security, and greenhouse gas fluxes in terrestrial ecosys-
reduzieren sie die Bodenerosion, was sich ebenso durch tems. IPCC, 2019
schützende Bodenbedeckung und schonende Bodenbear- Intergovernmental Panel on Climate Change (IPCC): Global
beitung erreichen lässt. Ein Verzicht auf Umpflügen hilft, warming of 1.5°C. An IPCC special report on the impacts of
den Anteil an organischem Material im Boden zu erhöhen. global warming of 1.5°C above pre-industrial levels and related
All solche Maßnahmen verringern zum einen die Emissio- global greenhouse gas emission pathways, in the context of
strengthening the global response to the threat of climate
nen. Zum anderen helfen sie, die landwirtschaftliche Pro- change, sustainable development, and efforts to eradicate
duktion an Klimafolgen anzupassen, verbessern die Ernäh- poverty. IPCC, 2018
rungssicherheit und vermindern Landdegradierung und
Sieck, K. et al.: Weather extremes over Europe under 1.5 °C and
Wüstenbildung. Der Bericht zeigt allerdings ebenfalls, dass 2.0 °C global warming from HAPPI regional climate ensemble
hier nicht die alleinige Lösung liegen kann. In allen Berei- simulations. Earth System Dynamics 10.5194/esd-2020-4, 2020
chen unseres Lebens müssen wir hin zu treibhausgasneut- (noch nicht erschienen)

FORSTÖKOLOGIE
DER GROSSE WALDUMBAU
Durch den Klimawandel sterben nicht nur einzelne Bäume ab. Darüber
hinaus ändert sich die Zusammensetzung unserer Wälder grundlegend:
Auf weiten Waldflächen werden voraussichtlich nicht mehr die heutigen
Hauptbaumarten Fichte, Kiefer, Buche und Eiche dominieren.

auf über 245 000 Hektar Fläche und mehr als 160 Millionen


Andreas Bolte leitet das Thünen-Institut Kubikmeter Schadholz summieren. Darunter sind nur die
für Waldökosysteme in Eberswalde. Flächen zusammengefasst, die wiederbewaldet werden
müssen. Die tatsächliche Schadfläche – einschließlich der
 spektrum.de/artikel/1752512 Standorte, an denen einzelne Bäume oder Baumgruppen
abgestorben sind – ist vermutlich noch erheblich größer.
Die Schäden betreffen derzeit allerdings weniger als fünf
Prozent der Waldfläche und des Holzvorrats in unseren
Wäldern. Von einem deutschlandweiten »Waldsterben«


Die beiden Trockensommer in den Jahren 2018 und kann also (noch) keine Rede sein, wenngleich sich in einzel-
2019 haben bereits gezeigt, wie sich der Klimawandel nen Regionen die Waldlandschaften drastisch verändern.
auf Deutschlands Wälder auswirkt: Auf mehr als Wie wird sich aber eine weitere moderate Klimaerwärmung
200 000 Hektar Fläche sind Wälder abgestorben und min- auf die Wälder in den nächsten 50 Jahren bis 2070 aus­
destens 100 Millionen Kubikmeter Schadholz angefallen. wirken?
Nach Schätzungen des Bundesministeriums für Ernährung Aller Voraussicht nach werden sich dadurch Witterungs-
und Landwirtschaft wird sich dieser Verlust bis Ende 2020 und Wetterextreme verschärfen und häufiger auftreten.

18 Spektrum der Wissenschaft  9.20


Die Fichte gehört hier zu Lande zu den größten Ver­
lierern des Klimawandels, denn ihr flaches Wurzel­
system macht sie anfällig gegenüber Trockenheit und
für Borkenkäferbefall.

unterschiedlich betroffen. Der größte »Verlierer« des Klima-


wandels ist unsere momentan häufigste Baumart, die
Fichte, die derzeit rund ein Viertel der Waldfläche bean-
sprucht (siehe Foto links). Weil sie ein flaches Wurzelsystem
hat, wird sich ihr Lebensraum durch Trockenheit und Bor-
kenkäferbefall einengen. Zukünftig ist die Fichte als domi-
nierende Baumart daher vermutlich nur noch für feuchte
und kühle Standorte im höheren Bergland über 600 Meter
Meereshöhe geeignet. Dort findet man allerdings weniger
als die Hälfte der heutigen Fichtenfläche vor. Die Kiefer, die
fast genauso häufig vorkommt (sie besiedelt 23 Prozent der
Waldflächen), leidet ebenfalls unter dem zunehmenden
Befall durch Schaderreger und Trockenheit. Zwar gilt die
Baumart als relativ widerstandsfähig, doch führen die
immerwährenden Trockenheiten zu Veränderungen im
Holzaufbau. So schafft er es mit der Zeit immer schlechter,
LYDIA ROSENKRANZ, THÜNEN INSTITUT

genügend Wasser in die Krone zu transportieren, was die


Kiefer empfindlich gegenüber Schädlingen macht. Die
Bäume in Reinbeständen anzubauen, wird dadurch risiko-
reicher, und der Kiefernanteil im Tiefland wird voraussicht-
lich sinken. Die wichtigste Laubbaumart, die Buche (16 Pro-
zent Flächenanteil), kann sich im Bergland künftig auch an
Besonders Hitzeextreme und Trockenheiten spielen hierbei Standorten ansiedeln, an denen bislang Fichten dominier-
eine Rolle, doch ebenso Spätfröste, Starkregen und vermut- ten und an denen es bisher zu kühl für sie war. Allerdings
lich Stürme. Höchsttemperaturen über 40 Grad Celsius und verliert sie als trockenheits- und hitzeempfindliche Baumart
aufeinander folgende sommerliche Trockenperioden wie in Standorte im Tiefland und in wärmebegünstigten Hügel-
den beiden letzten Jahren könnten künftig eher die Regel landlagen. Aktuell finden sich in Sachsen-Anhalt, Thüringen
als die Ausnahme sein. und Franken insbesondere auf flachgründigen Muschelkalk-
Gleichzeitig werden Vegetationsperioden länger und standorten Schäden an Buchen – dort ist die Baumart am
wärmer ausfallen und sich von April bis in den Oktober stärksten gefährdet. Dennoch rechnen Experten damit,
hinein erstrecken. Dadurch können sich Schadinsekten wie dass sie ihren Flächenanteil durch die Verdrängung der
der Borkenkäfer, holzbrütende und nadel- sowie blattfres- Fichte leicht vergrößern wird.
sende Arten besser ausbreiten. Solche Schädlinge – sowie
Schadpilze und -viren – finden dann Bäume vor, die gebiets- Wie die Eiche sich entwickelt, ist unklar
weise durch Klimaextreme, Schadstoffe und Bodenversaue- Generell sind bei den Buchenbeständen eher einzelne
rung schon geschwächt sind, was sie wiederum anfälliger Baumgruppen abgestorben als Bestände auf großer Fläche.
für die Schädlinge macht. Bekannte und bisher wenig Weil sie jedoch von einem geschlossenem Kronendach
beachtete wie beispielsweise der Kleine Buchenborkenkä- abhängig sind, können die Schäden an einzelnen Bäumen
fer treten auf den Plan, neue Arten dehnen ihre Verbreitung oder Baumgruppen einen beginnenden Abbau bedeuten,
nach Deutschland aus oder werden eingeschleppt. Negati- der sich schrittweise fortsetzt. In Folge der anhaltenden
ve Auswirkungen der Klimaerwärmung werden wir daher in Trockenheit werden die Gewächse im Lauf der Jahre außer-
den nächsten Jahren wahrscheinlich weiterhin verstärkt dem anfälliger für Buchen-Borkenkäfer. Auch wenn die
sehen, aber nicht überall im gleichen Ausmaß. In kühleren derzeitigen Schäden etwa bei der Fichte deutlicher zu Tage
und feuchteren Regionen, wie in den Hochlagen der Mittel- treten, sollte man die Gefährdung der Buche daher nicht un-
gebirge und der Alpen, begrenzen bisher Kälte und eine terschätzen.
kurze Vegetationsperiode das Wachstum. Diese Regionen Am schwierigsten ist die Lage bei der Trauben- und der
könnten von einer Erwärmung sogar profitieren, weil die Stieleiche zu beurteilen, die momentan etwa ein Zehntel der
Pflanzen dadurch schneller wachsen und mehr Holz erzeu- Waldfläche bewachsen. Sie leiden ebenfalls unter einer
gen (man sagt, der Wald wird »produktiver«). Vielzahl von Schaderregern, von denen der allergieauslö-
Der Klimawandel und seine Begleiterscheinungen wirken sende Eichenprozessionsspinner nur einer unter vielen ist.
sich auf alle Baumarten und Waldökosysteme in Deutsch- Weil Insekten Wärme liebend sind und sich unter höheren
land aus. Allerdings sind die verschiedenen Baumarten Temperaturen besser ausbreiten können, werden sie durch

Spektrum der Wissenschaft  9.20 19


den Klimawandel immer vitaler. Allerdings haben die Schä- Eiche. Die letzte Möglichkeit der Walderhaltung ist es,
den bei den Eichen in den letzten beiden Trockenjahren Exoten aus trocken-warmen Klimazonen anderer Kontinen-
weniger zugenommen als bei den anderen Baumarten. te anzusiedeln. Dafür ist ein forstliches Versuchswesen
Insbesondere die vergleichsweise trockenheits- und hitzeto- notwendig, das untersucht, welche Baumarten sich dafür
lerante Traubeneiche könnte ihre Flächenanteile halten oder am ehesten eignen und wie die Ökosysteme am besten
leicht erhöhen. In der Gesamtschau wird trotzdem eine gemanagt werden. Zusätzlich sind Netzwerke zwischen
erhebliche Waldfläche in Zukunft voraussichtlich nicht Forschung und Praxis mit umfangreichen Anbauversuchen
mehr durch die heutigen Hauptbaumarten Fichte, Kiefer, gefragt, um neue Erkenntnisse rasch zwischen Wissen-
Buche und Eiche besetzt werden. schaft und Anwendung auszutauschen.
Solche Versuche benötigen allerdings lange Zeit, weil
wichtige Trends oft erst nach Jahrzehnten zu erkennen
Die letzte Möglichkeit sind. Bis in die erste Hälfte des 20. Jahrhunderts hinein galt
beispielsweise die Weimutskiefer oder Strobe als Hoff-
der Walderhaltung ist es, nungsträger – bis sich herausstellte, dass sie überall dort,
wo sie gemeinsam mit der Johannis- und Stachelbeere
Exoten anzusiedeln auftritt, von Blasenrost befallen wird, der massive Schäden
verursacht. Daher ist es wichtig, viele Kandidaten über eine
lange Zeit hinweg zu beobachten.
Daher ist es wichtig, die Wälder langfristig an den Klima- Derzeit koordinieren die Bundesländer eigenständig
wandel anzupassen und sich dabei an der aufgezeigten forstliche Versuche. Darunter finden sich zahlreiche interes-
Verschiebung der Lebensräume von Baumarten in den sante Beispiele; die Experimente lassen sich aber häufig nur
nächsten Jahrzehnten zu orientieren. Das bedeutet einer- schwer über Ländergrenzen hinweg vergleichen. Um
seits einer natürlichen Waldentwicklung Raum zu geben bewerten zu können, welche Baumarten für welche Regio-
und andererseits Wälder aktiv anzupassen. Letzteres wird nen geeignet sind, bedarf es außerdem großflächiger
dann notwendig, wenn die Naturverjüngung – also das Untersuchungen – denn die jeweiligen Verbreitungsgebiete
natürliche Nachwachsen – der bestehenden Hauptbaumart erstrecken sich über große Teile Europas. Ein bedeutendes
wie beispielsweise der Fichte die Lebensraumveränderung Ziel ist es deshalb, ein deutschlandweites oder sogar inter-
nicht berücksichtigt. nationales Versuchswesen aufzubauen, um ein vollständi-
ges Bild zu erhalten. Neben dem Wissenschaftsnetzwerk
Entwicklungshilfe für die Buche der Forsteinrichtungen ist es wichtig, private Waldbesitzer
Zur aktiven Anpassung gehört etwa, reine Fichtenbestände, einzubeziehen, die in Deutschland rund die Hälfte der
die sich in gefährdeten Lagen befinden, zu Misch- und Waldfläche bewirtschaften und deren Gebiete oft nur
Laubwäldern umzubauen. Indem man zuwachsstarke einige wenige Hektar umfassen. Ihre Initiative und Interesse
Nadelbaumarten wie Weißtanne, Douglasie oder Küsten- in ein deutschlandweites Versuchswesen einzubinden,
tanne gemischt mit Laubbäumen pflanzt, lässt sich die wäre ein großer Gewinn. Darüber hinaus wollen wir ge-
Produktivität in den Berglandregionen verbessern. Im meinsam mit Kollegen aus Österreich, der Schweiz und
Tiefland und in wärmeren unteren Berglandlagen steht einigen deutschen Bundesländern ein Verfahren entwi-
zukünftig das Ziel im Vordergrund, die Wälder zu erhalten. ckeln, um Waldschäden für ganz Deutschland per Ferner-
Eine wichtige Option ist dabei zum einen die Assisted kundung zu erfassen. Die Daten sollen zum einen Auskunft
Migration: Hierbei verwendet man gezielt Saat- und Pflanz- über deren Größenordnung geben, zum anderen über das
gut toleranter Baumbestände aus den trocken-warmen veränderte Holzvolumen und die wirtschaftliche Dimension
Randbereichen des Verbreitungsgebiets unserer heutigen der Waldschäden. 
Hauptbaumarten. Dabei geht es nicht darum, die heimi-
schen Bestände durch eingeführte zu ersetzen, sondern die
toleranten Varianten mit den hiesigen zu mischen. Langfris-
QUELLEN
tig können sie so die Anpassung an die nächste Baumgene-
ration weitergeben. Im Fall der Buche haben wir am Thü- Bolte, A. et al.: Desiccation and mortality dynamics in seedlings
of different European beech (Fagus sylvatica L.) populations
nen-Institut für Waldökologie mit diesem Ansatz in den letz-
under extreme drought conditions. Frontiers in Plant Science 7,
ten Jahren bereits viel versprechende Ergebnisse erzielt. Er 2016
hat den klaren Vorteil, dass keine neuen Arten eingeführt,
Bose, A. et al.: Growth and resilience responses of Scots pine to
sondern bestehende erweitert werden. Und gerade für die
extreme droughts across Europe depend on predrought growth
Buche, die als Schattbaumart einzigartige Eigenschaften conditions. Global Change Biology 10.1111/gcb.15153, 2020 (noch
besitzt und die es daher so lange wie möglich als Kompo- nicht erschienen)
nente gegen den Klimawandel in unseren Wäldern zu Cocozza, C. et al.: Variation in ecophysiological traits and
erhalten gilt, besteht hier eine große Chance. drought tolerance of beech (Fagus sylvatica L.) seedlings from
Zum anderen könnte man verstärkt bisherige Neben­ different populations. Frontiers in Plant Science 7, 2016
baumarten wie Esskastanie, Elsbeere oder Winterlinde Stojnic, S. et al.: Variation in xylem vulnerability to embolism in
pflanzen sowie frostharte Baumarten, die in Südeuropa European beech from geographically marginal populations. Tree
verbreitet sind, wie die Orientbuche oder die Ungarische Physiology 38, 2018

20 Spektrum der Wissenschaft  9.20


MEERE
KÜSTEN UNTER DRUCK
Der steigende Meeresspiegel macht Sturmfluten bedrohlicher.
Doch höhere Deiche sind nur ein Teil der Lösung. Deutschlands
Küstengebiete brauchen umfassende Schutzkonzepte.

den vergangenen etwa 100 bis 120 Jahren um etwa 20 Zen-


Ralf Weisse leitet die Abteilung Küstenklima timeter angehoben. Ein Großteil der relativ flachen deut-
JONAS GROSS

des Instituts für Küstenforschung am Helm- schen Küstenregionen liegt nur knapp oberhalb des mittle-
holtz-Zentrum Geesthacht. ren Meeresspiegels, viele sogar unterhalb. Solche Gebiete
gelten als überflutungsgefährdet und werden durch eine an
 spektrum.de/artikel/1752514
der Nordseeküste fast durchgehende Deichlinie vor Sturm-
fluten geschützt.
Obwohl sich die Sturmaktivität in den letzten 100 Jahren
nicht wesentlich verändert hat, laufen die Sturmfluten bei


Mit Küste verbinden viele von uns vor allem Vorstellun- uns inzwischen teils höher auf. Wegen des gestiegenen
gen von Sand und Meer, von unberührter Natur, Ruhe Meeresspiegels starten sie heute von einem anderen Aus-
und Entspannung. Den wenigsten ist bewusst: Die gangsniveau. Das ist wie bei einem plantschenden Kind in
Gebiete sind oft stark genutzt und vielfach auch dicht der Badewanne: Je voller sie ist, desto weniger muss es
besiedelt. Küsten sind wichtige Transportwege, Industrie­ zappeln, um sie zum Überlaufen zu bringen.
standorte und Ballungsräume – ein dynamischer Lebens- Wie sich die Sturmfluten an den deutschen Küsten in
raum, geprägt vom Menschen und von sich ändernden Zukunft entwickeln, hängt wesentlich von zwei Faktoren
Umweltbedingungen.
Die deutschen Küsten an Nord- und Ostsee sind etwa
3700 Kilometer lang. Den Klimawandel werden die Men- Deiche sind ein typisches Bild an deutschen Küs-
schen dort in erster Linie durch den steigenden Meeres- ten. Oft trennen allein diese Bauwerke die dortigen
spiegel zu spüren bekommen. Weltweit hat dieser sich in Siedlungen von den Gewalten des Meeres.
EMER1940 / GETTY IMAGES / ISTOCK

Spektrum der Wissenschaft  9.20 21


Gebiete müssen permanent entwässert werden. Das ge-
schieht über ein System von verschließbaren Deichdurch-
Karten und Daten im Internet lässen (Sielen), Schleusen und Pumpen (Schöpfwerken).
Doch über Siele kann überschüssiges Wasser nur abge-
Die von uns entwickelte Internetseite www. führt werden, wenn der seeseitige Wasserstand unter dem
kuestenschutzbedarf.de liefert ein Bild von der binnenseitigen liegt. Bei einem zunehmend höheren Mee-
Größe der überflutungsgefährdeten Gebiete – resspiegel werden die Zeitfenster für das Ablassen kontinu-
und wie sie sich infolge eines Meeresspiegelan- ierlich kürzer. Das erhöht den Bedarf an möglichst ausfallsi-
stiegs verändern werden. cherer und damit teurer Pumpleistung. Außerdem könnte
Ob und inwieweit eine bei uns aufgetretene es durch den Klimawandel mehr Starkregenereignisse mit
Sturmflut bereits ungewöhnlich ist, kann mit sehr viel Niederschlag in kurzer Zeit geben. Das würde die
unserem Tool auf www.sturmflutmonitor.de tages- Systeme zusätzlich belasten. Regionen wie die Insel Pell-
aktuell verfolgt werden. Dort zeigen wir, wie sich worm oder die Knock nordwestlich von Emden sind bereits
das Sturmflutgeschehen in den letzten Jahrzehn- heute davon betroffen. Um die Entwässerung in diesen
ten entwickelt hat und ob aktuelle Ereignisse oder Regionen zukunftsfähig zu gestalten, gab und gibt es eine
der Verlauf der jetzigen Saison ungewöhnlich im Reihe von Forschungsprojekten, in denen sich Kollegen
Vergleich zu früher sind. Dazu werten wir die von Gedanken darüber machen, welche Maßnahmen möglich
den zuständigen Behörden erhobenen Pegelmes- und nötig sowie gesellschaftlich akzeptiert wären. Solche
sungen aus und setzen die Daten in Bezug zu von Überlegungen betreffen leistungsfähigere Siele und
uns erstellten langfristigen Statistiken. Schöpfwerke ebenso wie die Schaffung und Steuerung von
Rückhalte- und Speicherkapazitäten, die Verbesserung von
Gefahrenabwehr und Katastrophenschutz und mehr.
Alle genannten Faktoren wie steigende Meeresspiegel,
ab. Zum einen können sich systematische Veränderungen häufigere Starkregenereignisse oder veränderte Stumflut-
im Sturmklima auf die Intensitäten oder Häufigkeiten von häufigkeiten können sich gegenseitig beeinflussen und
Sturmfluten auswirken. Im Moment gehen wir nach unse- verstärken. Zudem sind bei praktischen Entscheidungen die
ren Erkenntnissen davon aus, dass sich die Sturmaktivität betrachteten Zeiträume und Kriterien oft ganz verschieden.
an der deutschen Nord- und Ostseeküste in den nächsten Darum stellen wir uns nun in einem im Juni 2020 begonne-
Jahrzehnten nicht wesentlich von der heutigen unterschei- nen und vom Bundesministerium für Bildung und For-
den wird. Zum anderen wird der weitere Anstieg des Mee- schung geförderten Verbundprojekt die Frage, wie ein
resspiegels langfristig die Situation verschärfen. Dieser ist umfassendes Konzept zum Küstenschutz aussehen könnte.
absehbar – unklar ist hier lediglich das zu erwartende Es soll alle Perspektiven vereinen und gegen eindringendes
Ausmaß. Es wird unter anderem davon abhängen, wie viel Meerwasser und Erosion wirken, die Entwässerung ge-
Treibhausgase wir in Zukunft emittieren und wie sich die währleisten und das Grund- und Oberflächenwasser auf
großen Eisschilde in Grönland und der Antarktis verhalten. dem Festland und den Inseln vor Versalzung bewahren. Wir
Je nachdem, welche Annahmen man hier zu Grunde legt, wollen herausfinden, welche Informationen und Lösungs-
kommt der letzte Sonderbericht des Weltklimarats auf ansätze die Betroffenen brauchen, um sich auf die Klima-
Zahlen von 30 Zentimeter bis etwa 1,1 Meter zum Ende des entwicklungen aktiv vorzubereiten und ortsspezifisch
Jahrhunderts. einzustellen – nicht nur langfristig bis zum Ende des Jahr-
hunderts, sondern auch auf kürzere Zeit. 
Ein großes Portfolio an Schutzmaßnahmen –
doch welche sind die jeweils besten?
QUELLEN
Im Küstenschutz tragen die Planer dieser Ungewissheit
derzeit Rechnung, indem sie in der Deichbemessung etwa Bormann, H. et al: Adaptation of water management to regional
climate change in a coastal region – Hydrological change vs.
einen zukünftigen Meeresspiegelanstieg von 50 Zentimeter
community perception and strategies. Journal of Hydrology
bereits berücksichtigen. Hinzu kommen breitere Kronen 454–455, 2012
und Querschnitte und abgeflachte Böschungen, so dass
Horsburgh, K. et al: Hydrological risk: Wave action, storm
sich die Deiche später relativ einfach weiter erhöhen lassen.
surge and coastal flooding. In: Poljanšek, K. (Hg.): Science for
Diese so genannten Klimadeiche findet man schon zum disaster risk management 2017: Knowing better and losing less.
Beispiel in Büsum, Nordstrand oder Dagebüll. Das Prinzip Publications Office of the European Union, 2017, S. 219–227
soll möglichst bei jedem Deich umgesetzt werden, der in
Huthnance, J. et al: Recent change – North Sea. In: Quante, M.,
den nächsten Jahren verstärkt wird. Deiche sind aber nur Colijn, F. (Hg.): North Sea region climate change assessment.
Teil eines wesentlich umfangreicheren Portfolios an Küsten- Springer, 2016, S. 85–136
schutzmaßnahmen. Dazu gehören unter anderem Sturm- Krueger, O. et al.: Northeast Atlantic storm activity and its
flutsperrwerke wie in der Ems oder der Eider, Warftenkon- uncertainty from the late nineteenth to the twenty-first century.
zepte wie in der Hamburger Hafencity oder Dünen und Journal of Climate 32, 2019
Sandvorspülungen wie auf Sylt. Weisse, R., Hünicke, B.: Baltic Sea level. Past, present, and
Neben dem Meeresspiegelanstieg ist ein weiteres Prob- future. Oxford Research Encyclopedia of Climate Science.
lem allgemein weniger bekannt: Die niedrig gelegenen Oxford University Press, 2019

22 Spektrum der Wissenschaft  9.20


BINNENGEWÄSSER
SCHLAGLICHT
AUF SEEN UND FLÜSSE
Das Zusammenspiel von Temperaturen und Wetterextremen
im Lauf der Jahreszeiten beeinflusst die ökologischen Zusam-
menhänge in Binnengewässern auf komplexe Weise. Entspre-
chend vielfältig wirkt sich hier der Klimawandel aus.

Rita Adrian lehrt Gewässerökologie an der Freien Universität Berlin und leitet die Abteilung
für Ökosystemforschung am Leibniz-Institut für Gewässer­ökologie und Binnenfischerei in
Berlin (IGB). Sie ist eine Hauptautorin des sechsten Sachstandsberichts des Weltklimarats
IPCC. Benjamin M. Kraemer erforscht am IGB die globalen Folgen des Klimawandels für
Seeökosysteme und trägt ebenfalls zum IPCC-Bericht bei.

 spektrum.de/artikel/1752516


MAURICE TRICATELLE / STOCK.ADOBE.COM

Seen haben nicht nur einen hohen Freizeitwert, sie


sichern zudem einen Teil der Trinkwasserversorgung
und damit unserer Lebensgrundlage. Beim Klimawan-
del spielen Binnengewässer ebenfalls eine große Rolle: Sie
reichern zusammen genommen mehr Kohlenstoff in ihren
Sedimenten an als der Grund sämtlicher Ozeane.
In den vergangenen Jahrzehnten hat die globale Erwär-
mung die Seen und Flüsse bereits stark verändert. Denn die
Temperatur beeinflusst dort direkt oder indirekt alle wesent-
lichen Prozesse, ob physikochemisch oder biologisch. Im
globalen Mittel sind ihre sommerlichen Oberflächentempe-
raturen in den vergangenen 30 bis 40 Jahren pro Dekade
um etwa ein drittel Grad Celsius angestiegen. In der gemä-
ßigten Zone auf der Nordhalbkugel hat sich zugleich die
Dauer, während der Seen von Eis bedeckt sind, um mehr
als zwei Wochen verkürzt. Beispielsweise werden beim
Berliner Müggelsee bis zum Ende des Jahrhunderts voraus-
sichtlich Bedingungen herrschen, als wäre er geografisch
um etwa 800 Kilometer nach Süden verschoben worden,
also wie heute in Norditalien.
Besonders deutlich wirkt sich der Klimawandel auf die
thermische Schichtung von Seen aus. Im Frühjahr wärmt
sich Oberflächenwasser schneller auf als tiefer gelegene
Bereiche. Das erzeugt eine Barriere für den Austausch von
Sauerstoff und Nährstoffen zwischen oben und unten
(siehe »Wie Seen sich verändern«, S. 24). Der Zustand bleibt
in der Regel während des gesamten Sommers erhalten und
setzt durch mildere Winter und höhere Frühjahrstemperatu-
ren in Seen der gemäßigten Zone inzwischen zwei bis drei Um die komplizierten Vorgänge unter der idyllischen
Wochen früher im Jahr ein. Zudem dauert er im Herbst Wasseroberfläche zu verfolgen, erfassen Experten
länger an. regelmäßig umfangreiche Messdaten.

Spektrum der Wissenschaft  9.20 23


Wie Seen sich verändern
heutiger Zustand Veränderungen infolge Auswirkungen von Extremereignissen
in einem See des Klimawandels
Sturm Trockenheit

SPEKTRUM DER WISSENSCHAFT / MIKE BECKERS, NACH: RITA ADRIAN UND BENJAMIN M. KRAEMER
mehr CO2 CO2 aus
Sediment
höhere
Temperatur
Eisbedeckung

Zyanobakterien
Wassertemperatur weniger Eis
sinkender
mehr Fotosynthese Durchmischung Wasserspiegel

mehr Atmung

thermische Schichtung stärkere Schichtung

Nährstoffe gelangen
Sauerstoff weniger nach oben.
Sauerstoff
Nährstoffe

Sediment

Bei zunehmender Erwärmung ändern sich. Die thermische Schich- Sauerstofffreie Zonen im Tiefen-
laufen verschiedene Prozesse in tung zwischen warmen oberen und wasser reduzieren das Habitat für
einem See anders ab. Die Dauer kälteren unteren Bereichen (Ther- Fische und Zooplankton und be­
und Dicke der Eisbe­deckung ver­ mokline) dauert länger an. Durch fördern das Freisetzen von Nähr-
ringert sich; die Wassertemperatu- erhöhte Wassertemperaturen und stoffen aus dem Sediment. Starke
ren nehmen zu, ebenso Fotosyn­ trockenfallende Ufer fungieren Stürme verschieben die Thermo­
these und Atmung. Der Sauerstoff- Seen und Flüsse für die Atmosphä- kline, und Nährstoffe gelangen
gehalt sinkt und Wasserspiegel re zunehmend als CO2-Quellen. nach oben.

Mit der Wärme steigt die Menge an Algen, die während haben. Hier ist Tiefenwasser oftmals die einzige Nährstoff-
ihrer Fotosynthese in den oberen Wasserbereichen Sauer- quelle. Sie steht in den oberen, lichtdurchfluteten Wasser-
stoff freisetzen. Die erhöhten Temperaturen verstärken schichten nun über längere Perioden im Sommer bis in den
zugleich jedoch die mikrobielle Atmung, die Sauerstoff im Herbst nicht mehr zur Verfügung. Stürme können diese
Wasser verbraucht – auch in der Tiefe. Die thermische Begrenzung kurzzeitig aufheben. Sie durchmischen die
Schichtung verhindert allerdings, dass neuer Sauerstoff in beiden Wasserkörper teilweise und bringen somit episo-
die unteren Wasserregionen gelangt. So verschärft der disch Nährstoffe nach oben.
Klimawandel die Entwicklung sauerstofffreier Tiefwasser- Automatische Messstationen, wie sie im Berliner Müg-
zonen in Seen. Das verkleinert die Lebensräume für Orga- gelsee und an weiteren Seen der Welt betrieben werden,
nismen wie Zooplankton und Fische, die nach oben auswei- ermöglichen es, die Auswirkungen kurzzeitiger Extreme in
chen müssen. Dort sind sie aber mehr thermischem Stress Echtzeit zu erfassen. Das erlaubt Studien, ob und wie
und größerer Gefahr ausgesetzt, gefressen zu werden. Bei schnell Seen auf solche Störungen reagieren – Forscher
Sauerstoffarmut lösen sich außerdem Nährstoffe aus dem sprechen von Resistenz, also der Widerstandsfähigkeit –
Sediment. Das entspricht einer zunehmenden internen Dün- und von Resilienz, der Fähigkeit wieder in ihren ursprüngli-
gung von Seen, von der vor allem Zyanobakterien profitie- chen Zustand zurückzukehren. Stürme oder Hitze treffen
ren, auch als Blaualgenblüten berüchtigt. Binnengewässer während unterschiedlicher Ausgangsbe-
In tiefen, nährstoffarmen Seen kann die längere thermi- dingungen. Um Resistenz und Resilienz zu modellieren, gilt
sche Schichtung allerdings einen gegenteiligen Effekt es, ein komplexes Zusammenspiel zu entflechten: einerseits

24 Spektrum der Wissenschaft  9.20


zwischen der Stärke, Dauer und Frequenz der Wetterbedin- schiedenen Zeitskalen. Das erschwert es, die volle Kom­
gungen und andererseits dem mehr oder weniger empfind- plexität der Reaktionen von Binnengewässern zu modellie-
lichen Zustand, in dem sich das Ökosystem anfangs befin- ren und Vorhersagen zu treffen. Hinzu kommen Faktoren
det. Flache, windexponierte Seen wie der Berliner Müggel- wie die Landnutzung. Langzeitstudien, verbesserte Ferner-
see reagieren in der Regel unmittelbar auf Extreme (geringe kundungsdaten und neu angepasste Modelle sollten aber
Resistenz), kehren aber meist rasch wieder in einen ähnli- die Prognosen darüber verbessern, welchen Herausforde-
chen Zustand zurück (hohe Resilienz). rungen unsere Binnengewässer zukünftig ausgesetzt sein
werden. 
Treibhausmotor Trockenheit
Schon heute geben Binnengewässer CO2 in die Atmosphä-
QUELLEN
re ab, und mit zunehmender globaler Erwärmung werden
sie netto mehr Treibhausgase freisetzen. Denn zum einen Adrian, R. et al.: 2016. Environmental impacts – lake ecosys-
tems. In: Quante, M., Colijn, F. (Hg.): North Sea region climate
wirkt sich die Atmung, bei der CO2 freigesetzt wird, bei change assessment. Springer, 2016, S. 315–340
steigenden Temperaturen stärker aus als die Absorption
von CO2 durch Fotosynthese. Zum anderen fallen durch Keller, P. S. et al.: Global CO₂ emissions from dry inland waters
share common drivers across ecosystems. Nature Communica-
Hitze oder lang anhaltende Dürrephasen Flusssedimente tions 11, 2020
oder Seeufer trocken. Dann werden sie zu CO2-Quellen,
Marce, R. et al.: Emissions from dry inland waters are a blind
denn Luftsauerstoff verstärkt den mikrobiellen Abbau orga-
spot in the global carbon cycle. Earth-Science Reviews 188, 2019
nischen Materials. Messungen konnten derart erhöhte
Treibhausgasemissionen in Deutschland beispielsweise für O’Reilly, C. et al.: Rapid and highly variable warming of lake sur-
face waters around the globe. Geophysical Research Letters 42,
die Elbe im Hitzesommer 2018 bestätigen. Konservativen
2015
Modell-Abschätzungen zufolge werden die Emissionen aus
Binnengewässern allein durch Hitzeextreme um etwa zehn
WEBLINK
Prozent zunehmen. Wegen solcher Wetterlagen werden in
Deutschland in Zukunft selbst größere Flüsse häufiger Messstation Müggelsee
teilweise trockenfallen. Derzeit versuchen Forscher, die Grö- www.igb-berlin.de/messstation-mueggelsee
ßenordnung dieser bis dato unterschätzten Emissionen von
Die Daten aus dem Langzeitforschungsprogramm des IGB und
Treibhausgasen zu bestimmen. der automatischen Messstation im Berliner Müggelsee gehören
Wetter und Klima beeinflussen direkt und indirekt eine zu den weltweit besten Zeitreihen, mit denen sich die ökologi-
Vielzahl von miteinander verflochtenen Variablen auf ver- schen Folgen des Klimawandels für Seen dokumentieren lassen.

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Spektrum.de/plus Spektrum der Wissenschaft  9.20 25
FORSCHUNG AKTUELL
AGUADA FÉNIX schen 1000 und 350 v. Chr. zu großen
Zentren heranwuchsen. Die Menschen

DIE GEBURTSSTUNDE DER MAYA hätten in jener Phase nicht nur damit
begonnen, Keramik herzustellen,
sondern seien auch sesshaft gewor-
Schon lange rätseln Archäologen, wo, wie und wann die Maya-­ den. Dieser These steht die Vorstellung
Kultur entstanden ist. Nun haben sie in Tabasco, Mexiko, den ältesten anderer Experten gegenüber, dass die
bekannten Bau der Maya entdeckt – und gleichzeitig den größten. frühen Maya sehr viel früher und
rascher ihre Lebensweise und ihre


Vermutlich waren es ausgedehnte ausgedehnte Platzanlagen, mit Trep- Umgebung veränderten. Entsprechen-
Dürren verquickt mit sozialen pen gesäumte Ballspielplätze und de Impulse hätten sie sich bei den
Umwälzungen und Kriegen, die befestigte Straßen. Hunderte Fundorte Olmeken geholt, die an Orten wie San
für den Untergang der klassischen haben Archäologen im einstigen Maya- Lorenzo bereits zwischen 1400 und
Maya-Stadtstaaten zwischen 800 und Tiefland dokumentiert, das heute den 1150 v. Chr. plateauartige Großbauten
1000 n. Chr. sorgten. Der Beginn der Südosten von Mexiko, die Staatsgebie- errichtet hatten. Dort, in der Region
Maya-Kultur liegt dagegen noch te von Belize und Guate­mala sowie die Veracruz im Südosten Mexikos, mar-
weitgehend im Dunklen. Im Südosten westlichen Regionen von El Salvador kierten die Herrscher ihren Macht­
Mexikos sind Archäologen nun auf und Honduras umfasst. anspruch zudem mit kolossalen Skulp-
bislang unbekannte Stätten gestoßen, Archäologen rätseln schon länger turen ihrer Köpfe.
die zeigen, wann, wo und wie die darüber, wie die Maya-Kultur entstan- Um letzterer Annahme nachzuge-
frühen Mesoamerikaner den Grund- den ist. Manche gehen davon aus, hen, rief Takeshi Inomata 2017 das
stein für ihre Kultur legten. Forscher dass einfache Dörfer allmählich zwi- »Middle Usumacinta Archaeological
um Takeshi Inomata von der University
of Arizona haben in der Region Tabas-
co die bislang älteste Großanlage der Basierend auf Laserscans haben Archäologen um Takeshi Inomata
Maya ausfindig gemacht. Sie entdeck- von der University of Arizona eine 3-D-Rekonstruktion der frühen
ten in Aguada Fénix ein aufgeschütte- Maya-Anlage erstellt. Im Zentrum der rechteckigen Plattform (dunkel-
tes Erdplateau mit einem für die Maya braun) lokalisierten sie eine zeremonielle »E-Gruppe«, hier
typischen Zeremonialbau. als schmale Linie mit Punkt sichtbar (Pfeil).
Wie die Archäologen in »Nature«
beschreiben, handelt es sich zudem

TAKESHI INOMATA, UNIVERSITY OF ARIZONA


um die größte frühzeitliche Anlage
dieser mittelamerikanischen Zivilisa­
tion. Inomata und seine Kollegen
gehen davon aus, dass die Menschen
von Aguada Fénix vor rund 3000
Jahren in einer gemeinschaftlichen
Anstrengung eine monumentale
meterhohe Plattform und Rampen
aufgeschüttet haben. Den Anstoß für
das 200 Jahre währende Mammutpro-
jekt hätten sie von den benachbarten
Olmeken bekommen – eine ungefähr
zeitgleiche, von Eliten angeführte
Kultur, die herrschaftliche Bauten und
kolossale Skulpturen hinterließ.
Im dichten Regenwald der Yu­ca­tán-
Halbinsel und der angrenzenden
Land­­brücke zwischen Pazifik und
Atlantik erstreckten sich einst Dutzen-
de Stadtstaaten der Maya. Ihre Herr-
scher ließen im 1. Jahrtausend n. Chr
weitläufige Zentren errichten. Von der
einstigen Pracht zeugen heute noch
berühmte Stätten wie Tikal in Guate­
mala, Calakmul oder Palenque in
Mexiko: mächtige Stufenpyramiden,

26 Spektrum der Wissenschaft  9.20


Täglich aktuelle Nachrichten auf Spektrum.de

beziehungsweise einer Plattform in


Nord-Süd-Richtung. »E-Gruppen sind
die früheste Form von Architektur
im Maya-Tiefland, die nicht zu Wohn­
Aguada Fénix
zwecken errichtet wurde. Sie dienten
MEXIKO San Lorenzo astronomischen Beobachtungen mit
Ceibal BELIZE dem bloßen Auge«, erklärt die Archäo-
login Patricia A. McAnany von der
University of North Carolina at Chapel
Hill in einem Begleitkommentar zur
PETERHERMESFURIAN / GETTY IMAGES / ISTOCK;
BEARBEITUNG: SPEKTRUM DER WISSENSCHAFT

GUATEMALA
HONDURAS »Nature«-Studie. Eine solche gut 400
Meter lange E-Gruppe zeichnet sich
auch auf dem Plateau von Aguada
EL SALVADOR
Fénix ab.
NICARAGUA
Das Maya-Tiefland (dunkelgrau) er- Nachdem Inomata und sein Team
streckte sich über den heutigen Süd­ den Ort ausfindig gemacht hatten,
osten von Mexiko, über Belize, Guatemala machten sie sich daran, das Alter der
und den Westen von El Salvador und Honduras. Anlage zu klären. Dazu legten sie
mehrere Grabungsschnitte an – auf
dem großen Plateau, in den Straßen
Project« ins Leben. Die Idee dahinter: hatten die Maya einen zirka 10 bis und umgebenden Strukturen – und
die Grenzregion zwischen den Olme- 15 Meter hohen Block aus Erde und nahmen 69 Holzkohleproben, die sie
ken und dem Maya-Tiefland genauer Lehm auf einer natürlichen Felsen­ anschließend mit Hilfe der C-14-­
zu erkunden. Heute befindet sich das anhöhe aufgehäuft. Methode datierten. Das Ergebnis: Die
Gebiet in Mexiko nahe der Grenze zu Dass an dieser Stelle, in Aguada Konstruktion aus Lehm und Erde war
Guatemala an den Flüssen Usumacin- Fénix, eine Stätte der Maya schlum- um 1000 v. Chr. begonnen und 200
ta und San Pedro. Dass die Forscher merte, war bis dahin unbekannt. »Das Jahre später vollendet worden. Aller-
hier fündig werden könnten, legten Gebiet ist erschlossen, es ist kein dings zeugen tiefer liegende Kultur-
Scans nahe, die auf der Lidar-Technik Dschungel, Menschen leben dort – schichten davon, dass bereits zwi-
(kurz für light detection and ranging) aber niemand kannte die Stätte, weil schen 1250 und 1050 v. Chr. Menschen
beruhen. Von einem Hubschrauber sie so flach und riesig ist. Es sieht aus in Aguada Fénix lebten. Um 750 v. Chr.
oder einer Drohne aus sendet dafür ein wie natürliche Landschaft«, sagt hat man den Ort dann verlassen.
Lasergerät alle paar Sekunden Millio- Inomata. Die Lidar-Aufnahmen zeigten
nen Laserpulse aus. Zwar prallen die zudem, dass die Plattform von weite-
meisten Strahlen an der Vegetation ab, ren, kleineren Anlagen und künstlich In Aguada Fénix
doch durchdringen genügend das
Blätterdach bis zum Boden. Aus den
angelegten Teichen umgeben ist.
Straßen, von denen sich die längste existierten offenbar
Reflexionen dieser Lichtblitze erstellt
das Gerät ein topografisches Profil –
über eine Strecke von 6,3 Kilometern
nachvollziehen lässt, verbinden die
keine sozialen Eliten
und macht etwaige überwucherte Bauten und führen über neun Rampen
Strukturen sichtbar. auf das große Plateau. Für die These von der allmählichen
Im Umfeld von Aguada Fénix haben Entstehung der Maya im Lauf des
Zeremonialarchitektur der Maya die Archäologen insgesamt 21 solcher 1. Jahrtausends v. Chr. spricht dem-
»Auf niedrig aufgelösten Lidar-Aufnah- Komplexe per Laserscan entdeckt, die nach nur noch wenig. »Es handelt sich
men, welche die mexikanische Regie- allerdings kleinere Ausmaße aufwei- um faszinierende Entdeckungen, die
rung gesammelt hatte, haben wir sen. Wie Inomata und sein Team unser Bild von den Anfängen der
diese riesige Plattform bemerkt«, sagt beschreiben, liegt allen Fundorten Maya-Kultur revolutionieren«, sagt
Takeshi Inomata laut einer Presseaus- derselbe Bauplan zu Grunde: eine Nikolai Grube. Der Altamerikanist und
sendung der University of Arizona. rechteckige Anlage entlang einer Archäologe von der Universität Bonn
»Daraufhin haben wir unsererseits Nord-Süd-Achse, in deren Zentrum ist auf die Maya-Kultur spezialisiert
hoch aufgelöste Aufnahmen angefer- sich eine für die Maya typische Zere- und war nicht an der Studie von Ino-
tigt, die dann die Existenz eines gro- monialarchitektur erhebt – eine so mata beteiligt. Grube betont zudem,
ßen Baus bestätigten.« Dieser ent- genannte E-Gruppe, benannt nach dass mit Aguada Fénix nun erstmals
puppte sich als 1413 Meter lange und dem Erstfund in Uaxactún in Guatema- konkrete Belege für die frühe Archi­
399 Meter breite Plattform, deren la. Sie besteht normalerweise aus tektur vorliegen. »Wir sehen hier
Längsseite auf einer Nord-Süd-Achse einer westlichen Pyramide und drei möglicherweise die Geburtsstunde der
verläuft. Um das Plateau anzulegen, gegenüberliegenden Pyramiden Maya-Kultur.«

Spektrum der Wissenschaft  9.20 27


FORSCHUNG AKTUELL
von Obsidiangeräten, deren Steinmate-

STOCKCAM / GETTY IMAGES / ISTOCK


rial aus Regionen im heutigen Guate­
mala stammte – während die Olmeken
ihren Obsidian aus mexikanischen
Gebieten bezogen. »Zwar legen die
Keramikfunde nicht notgedrungen
nahe, dass die Erbauer von Aguada
Fénix auch die Maya-Sprache gespro-
chen haben, aber sie scheinen kulturell
dem Maya-Tiefland viel nähergestan-
den zu haben als den Olmeken«, schrei-
ben Inomata und seine Kollegen in
ihrem »Nature«-Beitrag.
Wer waren die Erbauer von Aguada
Fénix? Waren sie – ähnlich wie ihre
späteren Nachfolger im Tiefland – Herr-
scher über Stadtstaaten? Die Archäo­
logen gehen vom Gegenteil aus. Denn
bislang fehlen konkrete Hinweise
auf Eliten, wie sie mit den kolossalen
Porträtköpfen der Herrscher im
­benachbarten San Lorenzo existieren.
»Anders als in den olmekischen Zen­
tren zeigt Aguada Fénix keine klaren
Anzeichen für eine ausgeprägte soziale
Ungleichheit«, resümieren Inomata und
Diese Skulptur eines Kopfes kam in der Olmeken-Stätte La Venta ans seine Kollegen. Vielmehr hätten die
Licht. Die Basaltplastik ist rund zweieinhalb Meter groß. Forscher vermu- Bewohner in einer kollektiven Anstren-
ten, dass es sich um das Bildnis eines Herrschers handelt. gung schätzungsweise 3,2 bis 4,3
Millionen Kubikmeter Erde für das
Zeremonialplateau aufgeschüttet. 5000
Die mesoamerikanischen Erbauer Sie lokalisierten dort ein aufgeschütte- Menschen hätten dafür zirka 2000 bis
hatten sich dafür die entsprechende tes Plateau – samt E-Gruppe und 2600 Arbeitstage gebraucht. Eine
Inspiration bei den benachbarten Steinäxten –, das etwas kleiner und ähnliche Gesellschaftssituation postu-
Olmeken geholt. Aus Zentren wie San jünger ist als sein Pendant in Aguada liert Inomata für Ceibal. Auch dort
Lorenzo sind ebenfalls monumentale Fénix. Die rechteckige Plattform misst spreche die Fundlage an der Plattform
Plateauanlagen bekannt, die schon ungefähr 600 auf 340 Meter. Die für ein gemeinschaftlich errichtetes
einige Jahrhunderte zuvor in Gebrauch Forscher datieren das Erdwerk um Bauwerk.
waren und als Kultorte dienten. »Of- 950 v. Chr. An diesem Fundort hatten Für den Forscher ist der Zeitpunkt,
fenbar übernahmen die Erbauer von die Gruppe um Inomata erstmals die an dem monumentale Anlagen wie in
Aguada Fénix architektonische Ele- Anfänge der Maya aufgedeckt. Aguada Fénix und Ceibal erbaut wur-
mente der olmekischen Kultur«, sagt »Ein enorm wichtiger Beitrag zum den, kein Zufall. In jener Phase vollzieht
Grube. Wie Inomatas Grabungen Verständnis der Wurzeln der sich ein tief greifender Wandel: Die
ergaben, hatten sich die frühen Maya Maya-Kultur«, urteilt Nikolai Grube. Menschen gingen allmählich von einer
auch bestimmte Rituale von den mobilen zu einer sesshaften Lebens-
Nachbarn abgeschaut: Im Erdreich der Das Werk einer Gemeinschaft? weise über. Und sie begannen, gezielt
E-Gruppe von Aguada Fénix entdeck- Doch die Fundsituation in Aguada Mais zu kultivieren und Tongefäße zu
ten sie einen Hort aus grünen Stein­ Fénix legt eigentlich nahe, dass es fertigen. Dienten die Plattformen mit
äxten. Solche Depots, die vermutlich nicht Maya, sondern Olmeken waren, ihren astronomischen Observatorien
Gaben an die Götter waren, sind die dort eine riesige Plattform errich­ (E-Gruppe) dann womöglich als Ver-
sowohl von olmekischen als auch von teten. Dagegen sprechen laut Inomata sammlungsplatz für die in der Region
Maya-Bauten bekannt – etwa in Ceibal die Gebrauchsgegenstände, die bei lebenden Menschen? »Archäologen
in Guatemala. den Grabungen ans Licht kamen. So versuchen zu verstehen, was bei der
An diesem Fundplatz stießen ähnelten die Keramikfunde den Ge­ Entwicklung des Gemeinschaftslebens
Inomata und sein Team bereits 2015 fäßen von anderen Maya-Fundorten zuerst kam – die Sesshaftigkeit in
auf eine ähnliche Anlage, ebenfalls mit wie Ceibal im Tiefland. Zudem ent- festen Behausungen oder regelmäßige
Hilfe von Laserscanning aus der Luft. deckten die Archäologen Bruchstücke Zusammenkünfte bei rituellen Anläs-

28 Spektrum der Wissenschaft  9.20


sen«, erklärt McAnany. Bislang glaubte und der Welt insgesamt gibt es Bei- gelebt haben und wie sich ihre Le-
die Forschergemeinschaft, erst als spiele für frühe religiöse Architektur, bensweise geändert hat.« 
sich Menschen niedergelassen hatten, die vor der Herausbildung hierarchi- Karin Schlott ist Archäologin und Redak­
hätten sie auch große Kultbauten sierter Gesellschaften entstand – etwa teurin bei »Spektrum der Wissenschaft« und
angelegt. »Doch die neuen Erkenntnis- in Göbekli Tepe in der Türkei oder »Spektrum Geschichte«.
se deuten darauf hin, dass es genau Cerro SechÍn in den Anden.«
umgekehrt verlief«, schreibt die Ar- Takeshi Inomata und sein Team QUELLEN
chäologin. haben Licht in die weitgehend dunklen
Inomata, T. et al.: Monumental archi-
Keine Eliten, sondern frühe bäuerli- Anfänge der Maya gebracht. Ihre tecture at Aguada Fénix and the rise of
che Gruppen hätten demnach die Forschung eröffnet eine neue Perspek- Maya civilization. Nature 582, 2020
Plattform von Aguada Fénix gemein- tive auf diese Kultur. Als Nächstes
Inomata, T. et al.: Artificial plateau
schaftlich aufgeschüttet und sich dort plant die Archäologengruppe mögliche construction during the Preclassic
zu Festzeiten getroffen. Auch Nikolai Wohngebiete von Aguada Fénix period at the Maya site of Ceibal,
Grube hält die These einer flachen ausfindig zu machen. »Wir haben jetzt Guatemala. PLOS ONE 14, 2019
Hierarchie für plausibel. »Die Überle- substanzielle Informationen über die McAnany, P. A.: Large-scale early Maya
gungen sind sehr überzeugend, denn Zeremonialbauten, aber wir wollen sites in Mexico revealed by lidar
auch in anderen Bereichen Amerikas sehen, wie die Menschen in dieser Zeit ­mapping technology. Nature 582, 2020

PHYSIK
INVERSER MPEMBA-EFFEKT
Manche Objekte könnten sich schneller erhitzen lassen, wenn man sie zuvor abkühlt.


Als der 13-jährige tansanische heißes Wasser könne schneller abküh- Seit Jahrzehnten suchen Physiker
Schüler Erasto Bartholomeo len als kaltes. Osborne zeigte sich nach einem Mechanismus, der das
Mpemba 1963 Speiseeis herstel- überrumpelt, auch er hatte niemals von ungewöhnliche Verhalten erklärt. So
len sollte, beobachtete er etwas Selt- einem derartigen Verhalten gehört. untersuchten sie etwa, ob in offenen
sames: Eine flüssige Mischung, die Zurück im Labor, ließ die Behaup- Gefäßen mehr Flüssigkeit der heißen
eine Temperatur von 100 Grad Celsius tung des tansanischen Schülers den Probe verdampft oder ob es Salze
hatte, gefror schneller als eine mit britischen Forscher nicht los. Er be- sind, die das schnellere Abkühlen för-
Raumtemperatur, die damals 35 Grad gann, das geschilderte Experiment dern. Doch das Phänomen tritt sowohl
betrug. Weder er noch andere konnten nachzustellen – und beobachtete bei geschlossenen Behältern als auch
das rätselhafte Phänomen erklären. tatsächlich, wie das fast kochende destilliertem Wasser auf. Momentan
Einige Jahre später lud Mpembas Wasser schneller gefror als solches bei vermuten einige Experten, die bessere
Schulleiter den britischen Physiker Raumtemperatur. Daraufhin veröffent- Wärmezirkulation in einem erhitzten
Denis Osborne von der University of lichte er zusammen mit Mpemba 1967 Gefäß könne eine Rolle spielen.
Dar es Salaam ein, der einen Gastvor- einen Fachaufsatz über das unge-
trag über seine Arbeit hielt. Mpemba wöhnliche Phänomen, das seither als Es funktioniert auch umgekehrt
stellte am Ende der Präsentation die Mpemba-Effekt bekannt ist. 2017 stießen Forscher auf die Mög­
Frage, die ihn schon so lange beschäf- Noch heute gibt dieser Physikern lichkeit, dass der Mpemba-Effekt auch
tigte: »Stellt man zwei Wasserbehälter Rätsel auf. Es ist nicht so, dass eine umgekehrt funktionieren könnte:
mit gleichem Volumen, einen mit 35 wärmere Flüssigkeit immer schneller Ihrer Arbeit zufolge gibt es Situationen,
Grad Celsius und einen mit 100 Grad gefriert als eine kühlere. Stattdessen in denen sich ein Material schneller
Celsius, in einen Gefrierschrank, hängt der Prozess von den äußeren aufwärmt, wenn man es zuvor ab­
gefriert der heißere zuerst. Warum?« Umständen ab, der Form der genutz- gekühlt hat. Nun haben Amit Gal und
Die anwesenden Lehrer und Mitschü- ten Gefäße und den Anfangstempera- Oren Raz vom Weizmann-Institut
ler verspotteten ihn. Niemand glaubte, turen. Es gibt bestimmte Temperatur- für Wissenschaften in Rehovot ein
paare, wie 100 und 35 Grad Celsius, konkretes Beispiel für ein System
bei denen der Effekt auftritt – das ist ­ge­funden, bei dem dieser »inverse

Niemand glaubte, aber nicht bei beliebigen Werten der


Fall. Zudem muss der Temperatursturz
Mpemba-Effekt« eintritt.
Statt sich direkt echten Materialien
dass heißes Wasser schlagartig einsetzen; senkt man die
äußere Temperatur nur langsam ab,
zuzuwenden, die extrem kompliziert zu
beschreiben sind, nutzten Gal und Raz
schneller abkühlt wird das kühlere Objekt schneller kalt. ein vereinfachtes System namens

Spektrum der Wissenschaft  9.20 29


FORSCHUNG AKTUELL
Ising-Modell. Während reale Festkör- Anschließend wiederholten sie den Offenbar verändern sich im Ising-­
per aus Abermilliarden verschiedener Prozess, statt die Temperatur aber Modell die gesamte Magnetisierung
Teilchen bestehen, die auf unvorher- direkt von T0 nach Tmax zu erhöhen, und die Ausrichtung der Teilchen, wenn
sehbare Weise miteinander wechsel- kühlten sie das Gitter erst auf Tkalt ab man das Gitter abkühlt. Wählt man die
wirken, besteht das zweidimensionale (eine geringere Temperatur als T0) und richtigen Ausgangstemperaturen, führt
Ising-Modell bloß aus einem quadrati- erhitzten es dann schlagartig. Wie sich die neue Konfiguration dazu, dass sich
schen Gitter aus N mal N Teilchen. zeigte, brauchte das Gitter im zweiten das System von der kälteren Tempera-
Physiker greifen häufig darauf zurück, Fall weniger Zeit, bis es Tmax erreichte tur aus schneller erwärmt. Laut Gal und
um Magnete theoretisch zu beschrei- und sich im Gleichgewicht befand. Raz könnte es in echten Festkörpern
ben. Die Teilchen innerhalb des Gitters Damit haben Raz und Gal erstmals ein ähnliche Prozesse geben, wodurch der
entsprechen Miniaturversionen von System gefunden, in dem der inverse inverse Mpemba-Effekt auch dort
Magneten, deren Nordpol entweder Mpemba-Effekt auftritt. auftritt. Daher untersuchen sie nun
nach oben (Zustand +1) oder nach magnetische Legierungen, um das
unten (Zustand –1) zeigt. Indem man Auf dem Weg zu realen Phänomen dort zu beobachten.
zulässt, dass die winzigen Magnete Materialien Der inverse Mpemba-Effekt wirkt
sich beeinflussen, und ein äußeres Bisher konnten die Forscher das sich wohl nicht auf unser tägliches
Magnetfeld anlegt, kann man das ungewöhnliche Verhalten jedoch nur Leben aus: Eine Pizza wird nicht schnel-
Verhalten des Systems bei verschiede- in Computersimulationen beobachten. ler warm, wenn man sie vorher in den
nen Temperaturen untersuchen. Ein Zudem stellt das untersuchte System Kühlschrank steckt. Trotzdem könnte
Ferromagnet entspricht in diesem Bild eine vereinfachte Version echter Fest- der Effekt praktische Anwendungen
einer Situation, in der die Teilchen körper dar. Dennoch haben das Ising- haben. Wissenschaftler suchen schon
versuchen, sich gleich auszurichten. Modell und reale Materialien viele Ge- länger nach Möglichkeiten, um quan-
Die Temperatur erzeugt Schwankun- meinsamkeiten, weshalb Forscher tenmechanische Bauteile rascher zu
gen, wodurch einzelne Miniaturmag- gern darauf zurückgreifen. Weil sich erwärmen. Das unerwartete Phänomen
nete ihren Pol umklappen. Je höher die das Ising-Modell einfacher untersu- könnte den Schlüssel dafür liefern. 
umgebende Temperatur, desto unge- chen lässt, hoffen Gal und Raz den Manon Bischoff ist Physikerin und Redak-
ordneter ist das System – genau wie Mechanismus zu finden, der zum teurin bei »Spektrum der Wissenschaft«.
bei echten Ferromagneten. inversen Mpemba-Effekt führt.
In ihrer Arbeit betrachten Gal und Vermutlich beeinflusst das Abküh- QUELLEN
Raz eine andere Version des zwei­ len das System auf irgendeine Weise, Gal, A., Raz, O.: Precooling strategy
dimensionalen Ising-Modells, bei dem die über eine bloße Senkung der allows exponentially faster heating.
es einen Antiferromagneten nach- Temperatur hinausgeht. Andernfalls Physcial Review Letters 124, 2020
ahmt. Die Miniaturmagnete versuchen würde es keinen Unterschied machen, Lu, Z., Raz, O.: Nonequilibrium thermo-
sich dabei so auszurichten, dass auf ob man es zuerst abkühlt und dann dynamics of the Markovian Mpemba
einen nach oben gerichteten Nordpol erhitzt oder direkt erwärmt. effect and its inverse. PNAS 114, 2017
stets ein nach unten zeigender folgt.
Ohne äußeres Magnetfeld und am
absoluten Temperaturnullpunkt hat
das Gitter eine Gesamtmagnetisierung HIRNFORSCHUNG
von null, da sich die Pole gegenseitig
neutralisieren. Ein äußeres Feld lässt
einige Teilchen ihre Ausrichtung
VOM STRESS ZUM FIEBER
Psychische Belastungen lösen physische Reaktionen aus
ändern, zudem erzeugt Wärme willkür-
wie etwa einen Anstieg der Körpertemperatur. Forscher
liche Schwankungen.
stießen nun auf einen Hirnschaltkreis, der diese stressbe-
Die zwei israelischen Physiker
dingte Wärmeproduktion kontrolliert.
haben ein solches antiferromagneti-
sches Ising-Modell mit einem schwa-


chen äußeren Feld bei einer Aus- Sie betreten die Bühne, um vor viele Säugetieren, vom Nager bis zum
gangstemperatur T0 untersucht und einem großen Publikum zu spre- Menschen, kann emotionaler Stress
die Magnetisierung sowie die Ausrich- chen. Ihr Herzschlag und Ihr ein solches psychogenes Fieber auslö-
tung der winzigen Magnete bestimmt. Blutdruck steigen, Sie atmen schneller, sen. Welcher neuronale Mechanismus
Anschließend setzten sie das gesamte Ihre Handflächen schwitzen. Ihr Körper steckt dahinter?
Gitter einer äußeren Temperatur von reagiert mit einem alten evolutionären Die Arbeitsgruppe von Kazuhiro
Tmax aus, die höher als T0 ist, und Programm, um der drohenden Gefahr Nakamura von der japanischen Univer-
warteten, bis sich das System entspre- entweder zu trotzen oder schnell sität Nagoya erforscht seit Jahren
chend erhitzt hat – etwa so, als hätten wegzurennen. Hierzu gehört auch der diese psychisch induzierte Hyperther-
sie das Gitter in einen Ofen gepackt. Anstieg der Körpertemperatur. Bei mie. Dabei suchen die Forscher nach

30 Spektrum der Wissenschaft  9.20


Hitzestress
Eine bestimmte Hirnregion namens DP/DTT (dorsal
peduncular cortex / dorsal taenia tecta) fungiert bei
PVT/MD rMR
Ratten als zentrales Steuerelement für die Regula­
tion der Körpertemperatur unter sozialem Stress.
Sie wird bei psychisch belastenden Situationen von

NATURE; LIN, D.: A HEATED RESPONSE TO DANGER. NATURE 580, 2020,


zwei Arealen des Thalamus, dem Nucleus paraven- DP/DTT DMH
Wärme
tricularis (PVT) sowie dem Nucleus mediodorsalis

FIG. 1; DT. BEARBEITUNG: SPEKTRUM DER WISSENSCHAFT


(MD), aktiviert. Die DP/DTT-Neurone erregen braune
Fettzellen
daraufhin den dorsomedialen Hypothalamus
(DMH), der wiederum Signale an die rostralen
Raphekerne (rMR, rostral medullary raphe)
sendet. Diese regen dann das braune Fettge­
webe des Körpers an, Wärme zu erzeugen.

dem neuronalen Schaltkreis, der das Nakamura. Wie zuvor setzten sie reduzierte sich damit die stressbeding-
braune Fettgewebe kontrolliert. Letzte- hierfür bei Ratten so genannte retro- te Hyperthermie der Nager.
res kann bei Bedarf Wärme erzeugen. grade Tracer ein, bei denen eine in die Im Gegensatz dazu löste die künst­
2011 hatten die Wissenschaftler beob- Nervenzelle injizierte Markierungssub- liche Aktivierung der neuronalen
achtet, dass die stressbedingte Hyper­ stanz vom Axon zum Zellkörper – also Verbindungen zwischen den beiden
thermie gedämpft wird, wenn sie die entgegen der Signalleitungsrichtung, Regionen eine ganze Reihe physio­
im braunen Fett reichlich vorhanden quasi rückwärts – transportiert wird. logischer Reaktionen aus, darunter
b3-adrenergen Rezeptoren blockieren. Wie die Wissenschaftler beobachte- einen Anstieg des Herzschlags, des
Bereits 2004 konnte die Arbeits- ten, wurde dabei lediglich eine einzige, Blutdrucks sowie der Wärmepro­
gruppe durch Markierungsexperimen- bislang wenig untersuchte Hirnregion duktion des braunen Fettgewebes.
te bei Ratten die neuronale Verknüp- markiert, die unter dem Kürzel DP/DTT Die japanischen Forscher hatten somit
fung des braunen Fettgewebes mit (dorsal peduncular cortex / dorsal nachgewiesen, dass die DP/DTT-­
bestimmten Zellgruppen des taenia tecta) firmiert. Das Areal regt Neurone erregende Signale zum DMH
Hirnstamms aufspüren. Diese im sich ebenfalls, wenn eine Ratte im senden, der wiederum mit den
verlängerten Rückenmark sitzenden Kampf gegen einen dominanten Art­- ­Raphekernen des Stammhirns ver-
Neurone werden als rostrale Raphe- genossen unterliegt. knüpft ist. Damit ergibt sich für den
kerne oder kurz rMR (rostral medullary stressbe­dingten Anstieg der Körper-
raphe) bezeichnet. 2014 identifizierten Signalweg des Stresses temperatur ein neuronaler Signalweg
die japanischen Forscher den dorso- Um die Rolle dieser Region bei Stress von DP/DTT über DMH und rMR zum
medialen Hypothalamus (DMH) im zu untersuchen, kappten die Forscher braunen Fettgewebe (siehe »Hitze-
Zwischenhirn als Schlüsselregion der bei ihren Versuchstieren die neuronale stress«, oben).
Wärmeregulation: Als sie die Verbin- Verbindung zum DMH auf drei ver- Wie gelangt die stressbedingte
dung zwischen DMH und rMR bei den schiedene Arten: Sie blockierten Information zum DP/DTT? Gemäß
Versuchstieren künstlich aktivierten, einerseits die DP/DTT-Aktivität mit weiteren Nachverfolgungen mit retro-
stieg die Wärmeproduktion des brau- einem chemischen Inhibitor; sie zer- graden Tracern stammen die stärksten
nen Fettgewebes an. Für die Wissen- störten andererseits mit einem Virus Impulse von Zellanhäufungen im
schaftler unerwartet, erhöhten sich die vom DP/DTT zum DMH verlaufen- Thalamus, die als Nucleus paraventri-
ebenfalls Herzschlag und Blutdruck. den Nervenzellen; und drittens unter- cularis und Nucleus mediodorsalis
Demnach scheint der DMH-rMR-Weg banden sie optogenetisch die Aktivität bekannt sind. Ersterer reagiert sehr
mehrere physiologische Stressreaktio- der DP/DTT-Neurone. In allen Fällen empfindlich auf verschiedene physi-
nen zu kontrollieren. sche und psychische Stressoren wie
Beim Menschen tritt Stress meist in Schmerz oder Bedrohung durch
komplexen sozialen Situationen auf,
so dass auch höhere Hirnregionen an Angst hängt von Raubtiere. Im Gegensatz dazu vermit-
telt Letzterer zusammen mit dem
der Verarbeitung beteiligt sein sollten.
Nach genau diesen Arealen der Hirn-
der körperlichen präfrontalen Kortex komplexe kogniti-
ve Funktionen wie Lernen, Abstraktion
rinde suchten jetzt die Forscher um Reaktion ab oder (beim Menschen) das Vorstel-

Spektrum der Wissenschaft  9.20 31


FORSCHUNG AKTUELL
lungsvermögen. Somit kann jede des DP/DTT-DMH-Wegs die Angst von rungen der Körpertemperatur – etwa
mögliche Belastung – vom körperli- Ratten unterdrückt, die sich mit einem bei Fieber oder Unterkühlung – wer-
chen Leid bis hin zu juristischen Aus­ aggressiven Gegenüber konfrontiert den von einer anderen, dem DMH
einandersetzungen – den Weg zum sehen. vorgeschalteten Region kontrolliert,
DP/DTT finden. Unklar bleibt hier Normalerweise zeigt eine Ratte, die dem so genannten präoptischen Areal.
allerdings, wie die verschiedenen noch nie eine Niederlage durch einen Eine Blockade des DP/DTT-DMH-­
Stressfaktoren dieses Hirnareal beein- Artgenossen erleiden musste, keinerlei Signalwegs sollte daher die normale
flussen, inwieweit sich Erfahrungen Furcht und beschnuppert auch ein Temperaturregulation unberührt
auf seine Reaktionen auswirken oder dominantes Tier mit großem Interesse. lassen. Auch wenn es noch etwas
ob geschädigte DP/DTT-Zellen krank- Dagegen wird ein ihm bereits einmal spekulativ klingt, könnte demnach ein
hafte physiologische Stressantworten unterlegenes Individuum versuchen, Eingriff in die DP/DTT-Neurone eine
auslösen können. Zukünftige Studien dem Aggressor auszuweichen. Und Möglichkeit liefern, chronischen
sollten solche Fragen klären. tatsächlich verhielten sich zuvor psychischen Stress zu behandeln. 
Laut dem US-amerikanischen besiegte Versuchstiere mit blockier- Dayu Lin ist Neurobiologin und außeror-
Philosophen und Psychologen William tem DP/DTT-DMH-Weg genauso wie dentliche Professorin für Psychiatrie,
James (1842–1910) ist Angst eine unerfahrene Ratten. Neurowissenschaft und Physiologie an der
Interpretation des Geistes einer körper- Somit hängen ängstliches Verhalten New York University Grossman School of
Medicine (USA).
lichen Reaktion auf Bedrohung – und und vielleicht sogar auch die Wahr-
nicht umgekehrt. Mit anderen Worten: nehmung von Furcht von der körperli-
Wir laufen nicht deshalb vor einem chen Reaktion auf Bedrohung ab. Die QUELLE

Bären weg, weil wir Angst haben, Ergebnisse der Forscher erklären, Kataoka, N. et al.: A central master
sondern wir haben Angst, weil wir warum wir uns mit einem tiefen Atem- driver of psychosocial stress responses
in the rat. Science 367, 2020
weglaufen. Falls James richtigliegt, zug vor einem öffentlichen Vortrag
sollten Ratten ihre Furcht verlieren, beruhigen können. Die Unterdrückung
sobald ihre physiologischen Reaktio- physiologischer Stressreaktionen
nen auf eine Bedrohung blockiert sind. könnte ein wirksames Mittel darstel- © Springer Nature Limited
Die Forscher um Nakamura wollten len, belastende Gefühle zu mildern. www.nature.com
daher auch wissen, ob die Hemmung Nicht durch Stress bedingte Verände- Nature 580, S. 189–190, 2020

MEDIKAMENTENENTWICKLUNG
MIT MANGAN ZUM
»MAGISCHEN METHYLEFFEKT«
Um die Eigenschaften eines pharmazeutischen Wirkstoffs drastisch zu verändern,
genügt es oft schon, ein kleines chemisches Strukturelement – eine Methyl­
gruppe – hinzuzufügen. Mit einem neuen Katalysator lässt sich diese Modifikation
jetzt viel schneller und unkomplizierter als bisher vornehmen.


Auf der Suche nach pharma­ genannten Late-stage-Funktionalisie- verändern. Fügt man etwa eine
zeutischen Wirkstoffen bauen rung: Dabei fügt man bereits beste- Methylgruppe hinzu (–CH3, eine der
Forscherinnen und Forscher henden Wirkstoffen neue Atome oder kleinsten funktionellen Einheiten),
immer wieder neue Moleküle zusam- Atomgruppen hinzu, in der Hoffnung, bindet die Substanz bisweilen um das
men und testen sie, bis schließlich deren pharmazeutische Eigenschaften 1000-Fache besser an ihr biologisches
eines mit den erhofften Eigenschaften dadurch positiv zu beeinflussen. Das Ziel. Das Phänomen ist als »magischer
gefunden ist. Solch ein Prozess zieht ist aber alles andere als einfach. Jetzt Methyl-Effekt« bekannt. Es kommt
sich im Regelfall über mehr als zehn hat ein Team um Kaibo Feng und deshalb zu Stande, weil der Anbau der
Jahre und kostet Milliarden. Denn von Raundi E. Quevedo an der University kleinen chemischen Gruppe die Form
etwa 5000 hergestellten und geteste- of Illinois einen großen Fortschritt in des Moleküls derart verändert, dass es
ten Komponenten wird im Schnitt nur dieser Richtung gemacht. sich viel bereitwilliger in das aktive
eine tatsächlich als Medikament Eine einzige zusätzliche »funktionel- Zentrum des Proteins einfügt, an das
zugelassen. Um die Medikamenten­ le Gruppe« aus wenigen Atomen kann es binden soll – ähnlich, wie eine
entwicklung zu beschleunigen, gibt es die Eigenschaften eines medizinisch ergonomische Computermaus perfekt
unter anderem den Ansatz der so wirksamen Moleküls entscheidend in eine Hand passt.

32 Spektrum der Wissenschaft  9.20


F 3C
Mangan-
Manganese
Katalysator
catalyst
CF3
N N
CH3
N
Mn
N
CH3
NATURE; CORCORAN, E.B., SCHULTZ, D.M.: METHYL GROUPS

N N
MAKE A LATE ENTRANCE. NATURE 580, 2020, FIG. 1;
BEARBEITUNG: SPEKTRUM DER WISSENSCHAFT

CF3
N H N H OH H
H N CH3
CH3 CH3 Methyl-
Source of
O O O CH3
F3C N CHQuelle
3 group
N N
CH3 + HO OH CH3 CH3
Wasserstoff­
Hydrogen
peroxid
peroxide
F F F
Citalopram
Citalopram halboxidierte
Hemi-oxidized citalopram Methylcitalopram
Methyl-citalopram
Zwischenstufe

Ein hoch spezialisierter Mangan-­ besseres Fenster einzusetzen! In der Molekülen überall vorkommenden
Katalysator erlaubt es, Methylgruppen Medikamentenentwicklung ist das Kohlenstoff-Wasserstoff-Bindungen
(–CH3) an genau definierten Stellen regelmäßig notwendig. (C–H-Bindungen) in andere chemische
in komplexe Strukturen einzubauen. Daher hat die Late-stage-Funktio­ Einheiten. Die Forschungsgruppe um
nalisierung ein großes Potenzial, die Feng und Quevedo hat jetzt einen
Entdeckung neuer Wirkstoffe zu Katalysator entwickelt, der spezifische
Selbst kleinste Änderungen an beschleunigen. So wie die Konstruk- C–H-Bindungen durchtrennen kann,
Molekülen vorzunehmen, ist jedoch teure eines Hauses gezielt die Wände um an der entsprechenden Stelle eine
oft ein Riesenunterfangen. Häufig aufsägen, um neue Fenster einzuset- Methyleinheit anzufügen. Dadurch
müssen Chemikerinnen und Chemiker zen, wollen Chemiker bestehende lässt sich der magische Methyl-Effekt
dazu die gesamte Struktur auseinan- Bindungen zwischen Atomen aufbre- in zahlreichen komplexen Verbindun-
derbrechen und Dutzende Fragmente chen, um neue funktionelle Gruppen gen erforschen.
wieder zusammensetzen. Das ist einzubauen. Als Methode dafür emp- Die Natur bedient sich bereits
ungefähr so, als würde man ein Haus fiehlt sich die C–H-Funktionalisierung: ständig solch eines hoch spezialisier-
abreißen und neu bauen, nur um ein Bei ihr überführt man die in komplexen ten Werkzeugs. Eisenhaltige Enzyme,

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Spektrum.de/aktion/ebookflat Spektrum der Wissenschaft  9.20 33


FORSCHUNG AKTUELL
die Cytochrome P450 (CYP450), Weg anhalten zu können. So ließe häufig in der Medikamentenentwick-
spielen eine wichtige Rolle bei der sich eine halboxidierte Zwischenstufe lung begegnet.
Regulierung des Stoffwechsels und herstellen, die man leicht in eine Mehr als 100 Jahre lang hat sich
sind im Tierreich daher allgegenwärtig. Methylgruppe überführen könnte die Wirkstoffforschung hauptsächlich
Das Eisenatom eines CYP450 heftet (siehe Grafik auf S. 33). Diese würde auf kleine Moleküle konzentriert. Doch
sich an biologisch aktive Moleküle und im Wesentlichen verhindern, dass jetzt wendet sich das Feld komplizier-
wandelt dort C–H-Bindungen in Koh- das Molekül weiter metabolisch abge- teren Strukturen zu, etwa Peptiden, die
lenstoff-Sauerstoff-Doppelbindungen baut würde. Entsprechend könnte es potenziell komplexe biologische Ziel-
(C=O) um. Dass das katalytisch sonst wesentlich länger wirken – willkom- substanzen hochspezifisch umsetzen
hochaktive Eisen nicht alle möglichen men beim magischen Methyl-Effekt! können. Peptide baut man normaler-
Strukturen umsetzt, sondern spezi­ Die Herausforderung bei dem weise aus Aminosäuren auf, indem
fische und präzise Reaktionen vermit- Ansatz ist, dass die halboxidierte man diese eine nach der anderen in
telt, liegt an der ausgeklügelten Zwischenstufe eigentlich noch schnel- aufeinander folgenden Reaktionen
Protein­architektur rund um das Metall- ler zur komplett oxidierten Form aneinanderreiht. Die strukturelle
zentrum: Dank ihr werden nur die­ reagiert als das ursprüngliche Material. Vielfalt der Peptide entsteht dadurch,
jenigen Substrate oxidiert, die in die Wäre die Oxidationsreaktion ein Zug, dass verschiedene Aminosäuren
Enzymtasche passen. würde sie quasi ohne Halt bis zur C=O- unterschiedliche funktionelle Gruppen
Bindung fahren. Um das zu verhin- tragen. Wann welche ins Spiel kommt,
Eisenkatalysatoren, wie die Natur dern, gaben die Autoren der Studie hängt also davon ab, in welchem
sie nutzt, waren zu reaktiv genau die Mengen an Katalysator und Schritt die jeweilige Aminosäure
Die Forschungsgruppe um M. Chris­ Wasserstoffperoxid zur Reaktions­ eingebaut wird. Unweigerlich führt
tina White, in der Feng und Quevedo mischung hinzu, die nötig sind, um zu man dadurch manche der chemischen
arbeiten, stellt schon seit Langem der gewünschten Zwischenstufe zu Einheiten gleich im ersten Reaktions-
Moleküle her, welche die Architektur schritt ein, und sie lassen sich nur
der CYP450-Enzyme nachbilden. verändern, indem man die gesamte
Mit ihrer Hilfe wollen die Wissen- Mit Mangan Reaktionsreihe von Neuem durchführt
schaftlerinnen und Wissenschaftler
bei unterschiedlichsten Substraten
­glaubten die Forscher und mit einer anderen Aminosäure
startet.
C–H-Bindungen in C=O-Bindungen
verwandeln. Dabei nutzen sie Was­
die Reaktion auf Das Team um Feng hebelt diese
Regel aus, indem es ein Tetrapeptid
serstoffperoxid als Quelle für Sauer- ­halbem Weg anhal- (ein Peptid aus vier Aminosäuren) am
stoff. Doch selbst ihre besten Kata­
lysatoren reagierten mit zahlreichen
ten zu können Ende der Reaktionsfolge mit einer
Methylgruppe versieht. Würde man
verschie­denen C–H-Bindungen, statt das Prinzip auf komplexere lineare und
sich nur auf eine zu beschränken. gelangen. Sie lenkten den Zug also auf ringbildende Peptide ausweiten, wäre
Da komplexe Moleküle oft viele unter- halber Strecke in eine Haltestelle. Die das eine bahnbrechende Entwicklung
schiedliche chemische Einheiten so hergestellte Einheit lässt sich dann für die Wirkstoffforschung. 
mit bestimmten Funktionen besitzen, nahtlos in eine Methylgruppe verwan- Emily B. Corcoran und Danielle M. Schultz
verändert der Reaktionsvermittler deln – je nachdem, welche weiteren forschen bei der Firma Merck in Boston und
dann meist nicht nur die gewünschte chemischen Einheiten vorhanden sind, Kenilworth (USA).
C-H-Bindung, s­ ondern auch andere. unter unterschiedlichen Bedingungen.
Dieselbe Forschungsgruppe hat des- Wie Feng und seine Kollegen QUELLEN
halb untersucht, ob sich Mangan – berichten, führten sie ihre neuen Feng, K. et al.: Late-stage oxidative
der weniger stark oxidierende Nachbar Reaktionen mit 38 biologisch bedeu- C(sp3)–H methylation. Nature 580, 2020
des Eisens im Periodensystem der tenden Substanzen durch: mit Medika-
Schönherr, H., Cernak, T.: Profound
Elemente – als alternatives Metallzen­ menten, Naturstoffen, Peptiden und methyl effects in drug discovery and a
trum eignet, um spezifische C–H-­ Steroiden sowie deren strukturellen call for new C–H methylation reactions.
Bindungen in komplexen Molekülen Untereinheiten. Dabei sind die Reaktio- Angewandte Chemie International
umzusetzen. nen hochselektiv verlaufen, und selbst Edition 52, 2013
Die Hypothese dahinter: Ein weni- verschiedenste funktionelle Gruppen Zhao, J. et al.: Chemoselective methy-
ger oxidierender Mangan-Katalysator störten die Umsetzung nicht. Hier zeigt lene oxidation in aromatic molecules.
greift nur diejenigen Bindungen an, die sich aber auch das Interesse der Nature Chemistry 11, 2019
bei einem Einsatz als Wirkstoff und pharmazeutischen Industrie an der
­folgendem Abbau durch den Stoff- Forschungs­arbeit: Die Moleküle, die
wechsel als erste gelöst würden. ausgewählt wurden, um die Methode © Springer Nature Limited
Darüber hinaus glaubten die Forscher zu erläutern, spiegeln genau die Typen www.nature.com
die Oxidationsreaktion auf halbem von Substanzen wider, denen man Nature 580, S. 592–593, 2020

34 Spektrum der Wissenschaft  9.20


SPRINGERS EINWÜRFE
QUO VADIS, COMPUTER?
Die Produktion immer kleinerer Schaltkreise stößt
an ihre Grenzen. Ihre große Zukunft liegt in der Spe-
zialisierung.

Michael Springer ist Schriftsteller und Wissenschaftspublizist. Eine


neue Sammlung seiner Einwürfe ist 2019 als Buch unter dem Titel
»Lauter Überraschungen. Was die Wissenschaft weitertreibt« erschienen.

 spektrum.de/artikel/1752454

M
it dem visionären Satz »Unten ist eine Menge
Platz« sah Richard Feynman schon 1959 die
Allmählich ist es da unten
heutige Nanotechnologie und miniaturisierte wirklich eng geworden
Computer voraus. Einmal in Gang gekommen,
schien das Schrumpfen der Schaltkreise kein Halten zu
kennen. Gut 50 Jahre lang folgte es dem mooreschen können je nach einer von außen angelegten Steuer­
Gesetz, wonach etwa alle zwei Jahre doppelt so viele spannung Ladungsträger überspringen oder nicht.
Transistoren auf einen Chip passten. Doch allmählich Diese Verschaltung ist zu maschinellem Lernen fähig
ist es da unten wirklich eng geworden (siehe meinen und kann handgeschriebene Ziffern leichter identifizie­
Einwurf von April 2016). ren als das neuronale Netz eines herkömmlichen Com­
Wie kann es weitergehen? Mit einem programma­ puters (Nature 577, S. 341–345, 2020).
tischen Artikel stellen sieben Informatiker um Charles Ähnelt schon solche Hardware der flexiblen Ver­
E. Leiserson vom Massachusetts Institute of Techno­ knüpfung von Nervenzellen, so nehmen sich Roboter­
logy den Satz von Feynman auf den Kopf: Oben ist entwickler für die Software neuerdings Insektengehir­
eine Menge Platz, verkünden sie. Nach dem Ende von ne zum direkten Vorbild. Das berichtet die Informati­
Moores Gesetz werde die Computerleistung durchaus kerin Barbara Webb von der University of Edinburgh
weiter wachsen, zwar nicht mehr durch Miniaturisie­ (Science 368, S. 244–245, 2020). Nach dem Vorbild der
rung, aber dafür an den drei Fronten Software, Algo­ Natur spüren künstliche Neurone schnelle Bewegun­
rithmen und Hardware (Science 368, eaam9744, 2020). gen in einem Sensorfeld auf; sie lernen, da sie mit der
Tatsächlich habe der zur Lösung komplizierter Pro­ eigenen Motorik verschaltet sind, zu unterscheiden, ob
bleme erforderliche Rechenaufwand seit Ende der die Veränderungen im Sehfeld von den Eigenbewegun­
1970er Jahre fast ebenso sehr von besseren Algorith­ gen des Roboters stammen. Es gelingt ihnen schnell,
men profitiert wie von der immer schnelleren Hardware. die räumliche Orientierung eines Insekts nachzubilden,
In der Nach-Moore-Ära werde es darauf ankommen, das zum Ausgangspunkt seiner Nahrungssuche zu­
die Komponenten optimal auf einander abzustimmen. rückfindet.
Der vertraute Computer als Alleskönner würde dem­

D
nach von eigens für spezifische Aufgaben entwickelten ie Hardware funktioniert zwar auf der Basis her-
Rechenmaschinen abgelöst werden. Diese Entwicklung kömmlicher neuronaler Netze, aber die Software
wird, wie die Forscher einräumen, wohl nicht so gleich­ ist ganz auf ihre besondere Aufgabe zugeschnit­
mäßig voranschreiten wie bisher, sondern weniger ten: Sie simuliert getreu die Spezialisierung ver-
vorhersehbar, sprunghafter und aufwändiger. schiedener lernfähiger Regionen im Gehirn von Libellen
Ein Beispiel für eine völlig neuartige, auf ein speziel­ oder Gottesanbeterinnen.
les Problem zugeschnittene Hardware liefert ein Team Die Beispiele zeigen: Die spektakulärsten Fortschrit­
von Computerwissenschaftlern um Tao Chen an der te der Computerentwicklung könnten künftig auf
niederländischen Universität Twente in Enschede. An lernenden Maschinen beruhen, deren Hardware, Algo­
Stelle üblicher Transistoren arbeiten hier zufallsverteilte rithmen und Software die noch lange unerreichten
»Tümpel« von Gold-Nanopartikeln auf einer Silizium- Leistungen natürlicher Gehirne nachzubilden versu­
oberfläche. Zwischen bestimmten Ladungsinseln chen. Und dort oben ist wirklich noch viel Platz.

Spektrum der Wissenschaft  9.20 35


EVOLUTION
DIE ERSTEN SÄUGETIERE

JIN MENG, AMNH; MENG, J. ET AL.: TRANSITIONAL MAMMALIAN MIDDLE EAR FROM A NEW CRETACEOUS JEHOL EUTRICONODONT. NATURE 472, 2011
Zahlreiche Fossilfunde offenbaren eine erstaunliche
Vielseitigkeit der frühen Säuger und ihrer Vorläufer.

So blieben sie 185 Millionen Jahre lang liegen. Schließ­


John Pickrell ist Wissenschafts­ lich, im Sommer 2000, stieß eine Gruppe Fossilienjäger, die
journalist in Sydney (Australien).
unter der Leitung von Timothy Rowe von der University of
Texas in den Gesteinsschichten der Kayenta-Formation im
 spektrum.de/artikel/1752442
nördlichen Arizona nach Überresten aus der Jurazeit grub,
auf die verstreut liegenden Knochen.
Diese Versteinerungen beeindruckten die Paläontologen
zunächst nur wenig. Die Forscher gruben den Felsblock aus
und verfrachteten ihn ins Labor. Erst neun Jahre später


Die Nacht bricht an. Kayentatherium, ein katzengroßes bemerkte ein Spezialist, der das Fossil zur weiteren Analyse
Wesen, versorgt seine frisch geschlüpfte Brut. Heftiger präparierte, etwas Erstaunliches: Eingebettet im Gestein
Regen trommelt auf den Erdwall über seiner Höhle, befanden sich winzige Zähne und Kiefer, die lediglich einen
während das Tier seine zahlreichen winzigen Jungen be­
trachtet. Kayentatherium könnte leicht als Säugetier durch­
gehen, aber der mächtige Kiefer, die charakteristischen
Zähne sowie das Fehlen äußerer Ohren verraten seine
wahre Identität: Es handelt sich um einen Vertreter der
Cynodontia, der Hundszahnsaurier, aus denen die Säuger
erst hervorgehen sollen. Plötzlich bricht die völlig durch­
weichte Böschung ein und begräbt das Muttertier mitsamt
seinem Nachwuchs im Schlamm.

SERIE
Die Entfaltung des Lebens

Teil 1: Juli 2020


In der Tiefe geboren
Ulrich C. Schreiber und
Christian Mayer
Teil 2: August 2020
Aufstieg der Tiere
Rachel A. Wood
Teil 3: September 2020
Die ersten Säugetiere
John Pickrell

36 Spektrum der Wissenschaft  9.20


Zentimeter maßen. »Sofort hörten sie mit der Präparation
auf und überlegten, wie man die Babys zerstörungsfrei
untersuchen könnte«, erzählt Eva Hoffman, Rowes dama­ AUF EINEN BLICK
lige Kollegin an der University of Texas, die heute als Palä­ UNTERSCHÄTZTE VORFAHREN
ontologin am American Museum of Natural History in New
York arbeitet. Anstatt das Gestein aufzubrechen und die
Knochen frei zu legen, extrahierten die Wissenschaftler die 1 Lange gab es die Vorstellung, dass die Vorläufer der
Säugetiere im Erdmittelalter als kleine, unscheinbare
Insektenfresser ihr Dasein im Schatten der Dinosaurier
Fossilien virtuell unter Einsatz eines Mikrocomputertomo­
JIN MENG, AMNH; MENG, J. ET AL.: TRANSITIONAL MAMMALIAN MIDDLE EAR FROM A NEW CRETACEOUS JEHOL EUTRICONODONT. NATURE 472, 2011

grafen, der mit Röntgenstrahlen hochauflösende dreidimen­ fristeten.


sionale Bilder erzeugt.
Was die Forscher in dem Felsblock gefunden hatten,
waren die ersten bekannten Jungen von Säugetieren bezie­
2 Fossilfunde der letzten Jahre widerlegten dieses Bild.
Ihnen zufolge besaßen frühe Mammalia eine erstaunliche
Vielfalt und besetzten zahlreiche ökologische Nischen.
hungsweise deren Vorfahren aus dem Unterjura. Da es sich
nicht nur um einen einzigen Nachkommen, sondern um
stattliche 38 handelte, zählt die Entdeckung zu den bedeu­
tendsten, die in den letzten Jahren im Zusammenhang mit
3 Säugetiertypische Spezialisierungen wie ein komplexes
Gebiss, scharfe Sinne und das Säugen weniger Nach­
kommen hatten sich vermutlich bereits entwickelt,
dem Ursprung der Säuger gemacht wurden. Kayentathe­ bevor die »echten« Säugetiere die Bühne betraten.
rium steht an der Schwelle der Mammalia und liefert nach
Ansicht der Wissenschaftler grundlegende Erkenntnisse,
welche Merkmale diese Wirbeltierklasse definieren und
welche bereits bei ihren frühen Verwandten zu finden gem Hirnvolumen zur Welt brachte. Im Gegensatz dazu
waren. »investieren Säugetiermütter sehr viel Energie in die Auf­
Obwohl das Skelett von Kayentatherium in vielerlei zucht einer kleineren Nachkommenschaft, bei der jedes
Hinsicht dem der Säugetiere entspricht, ließ der Fossil­fund Individuum eine bessere Überlebenschance hat«, verdeut­
erahnen, dass sich das Tier noch immer ähnlich wie ein licht Hoffman. Säugetierjunge verbringen eine längere Zeit
Reptil fortpflanzte und zahlreiche Nachkommen mit gerin­ in der Obhut ihrer Eltern und entwickeln ein relativ großes
Gehirn, während die fossilen Schlüpflinge bereits über gut
ausgebildete Knochen und Zähne verfügten – ein Hinweis
Etliche in Nordchina gefundene darauf, dass sie sich allein durchschlagen konnten und
Fossilien wie die rattengroße nicht, wie alle heutigen Säuger, zunächst mit Muttermilch
Spezies Liaoconodon hui aus der gefüttert wurden.
Kreidezeit lieferten ein genaueres Jener Fund aus Arizona gehört zu den unzähligen der
Bild von der Evolution der Säuge- letzten 10 bis 20 Jahre, die Schlaglichter auf die Evolution
tiermerkmale. der Mammalia werfen. Wie die Versteinerungen belegen,
wiesen die ersten Vertreter der Säugetiere bereits eine
beachtliche ökologische Vielfalt auf sowie verschiedene
Fähigkeiten wie Gleiten, Schwimmen, Graben oder Klettern.

Spektrum der Wissenschaft  9.20 37


FROM A NEW CRETACEOUS JEHOL EUTRICONODONT. NATURE 472, 2011; STAMMBAUM NACH LUO, Z.-X.: TRANSFORMATION AND DIVERSIFICATION IN EARLY
ILLUSTRATIONEN: DAVIDE BONADONNA; LIAOCONODON HUI & KIEFER WIRD ZUM OHR NACH MENG, J. ET AL.: TRANSITIONAL MAMMALIAN MIDDLE EAR

MAMMAL EVOLUTION. NATURE 450, 2007 / DESIGN: WES FERNANDES/NATURE; PICKRELL, J.: THE MAKING OF MAMMALS. NATURE 574, 2019
Markenzeichen Seite an Seite
mit Dinosauriern

der Säugetiere
Frühe Säugetier­formen
wie Liaoconodon hui
lebten neben gefieder­
ten Dinosauriern wie
Eine Fülle außergewöhnlicher Fossilfunde Sinotyrannus in den
enthüllt aufschlussreiche Details darüber, wie klimatisch gemäßigten
Öko­systemen der
sich die Säugetiere aus ihren reptilienartigen Kreidezeit in der heuti-
Vorfahren entwickelten. Demnach bildeten die gen nordchinesischen
Provinz Liaoning.
frühen Säugetiere eine vielfältige Gruppe mit
bereits komplexen Eigenschaften. Etliche
definierende Merkmale der Mammalia – wie
das Saugen von Milch, ein außergewöhnliches
Hörvermögen sowie geringe Nachkommen­
zahl – waren schon entstanden, als die ersten
modernen Säugetiere Land, Wasser und Luft
eroberten.

Morganucodon (vor etwa


200 Millionen Jahren)

Hammer
Morganucodon (vor etwa
200 Millionen Jahren)
Ectotympanon

Liaoconodon (vor Hammer


120 Millionen Jahren)
Ectotympanon

Amboss
Liaoconodon (vor
120 Millionen Jahren) Hammer

verknöcherter Knorpel Ectotympanon


Amboss
Hammer Kiefer wird zum Ohr
modernes Grundlage des feinen Gehörs der Säugetiere bilden drei
Säugetier Mittelohrknochen (gelb): Hammer, Amboss und
verknöcherter Knorpel Ectotympanon Ectotympanon, ein ringförmiger Stützknochen des
Trommelfells. Bei Reptilien sowie den Vorfahren der
Säugetiere dienten diese Knochen als Bestandteile des
modernes Kiefers zur Nahrungsaufbereitung. Die 2011 beschriebe­
Säugetier ne Art Liaoconodon hui (großes Bild) offenbarte ein
Übergangsstadium: Ein verknöchertes Knorpelstück des
vom Kieferknochen Kiefers (orange) fungierte als Stütze der Mittelohrkno­
getrennte Mittelohrknochen chen und des Trommelfells.

Maiopatagium
vom Kieferknochen furculiferum
getrennte Mittelohrknochen
Trias Jura
Umstrittene Dynastie 250 Millionen Jahre vor heute 200 Microdocodon
Maiopatagium 150
furculiferum gracilis
Wie setzt sich der Säugetier­
Trias Haramiyida Jura
stammbaum zusammen, welche
250 Millionen Jahre vor heute 200 Microdocodon 150
Arten gehören dazu, und wie
gracilis
weit reichen seine Wurzeln
zurück? Diese Fragen sind strittig. Während Haramiyida

einige Forscher das Alter des ersten »echten« Mammalia / »echte« Säugetiere*
Säugetiers auf 178 Millionen Jahre schätzen, vermu­
ten andere, Mammalia hätten bereits vor 208 Millio­ * Wann sich die Linien voneinander trennten, ist unklar.
nen Jahren gelebt. Ein Großteil der jüngsten Fossil­
Mammalia / »echte« Säugetiere*
funde setzt sich aus Vertretern lange ausgestorbe­
ner Gruppen zusammen, die sich bereits von der
* Wann sich die Linien voneinander trennten, ist unklar.
Stammbaumlinie getrennt hatten, bevor die drei
Gruppen der heutigen Säuger entstanden.

38 Spektrum der Wissenschaft  9.20


MAMMALS FED ON YOUNG DINOSAURS. NATURE 433, 2005; STAMMBAUM NACH LUO, Z.-X.: TRANSFORMATION AND DIVERSIFICATION IN EARLY MAMMAL
ILLUSTRATIONEN: DAVIDE BONADONNA; MAIOPATAGIUM FURCULIFERUM & HIMMELSGLEITER NACH MENG, Q.-J. ET AL.: NEW GLIDING MAMMALIAFORMS
FROM THE JURASSIC. NATURE 548, 2017; MICRODOCODON GRACILIS & SAUGEN UND SCHLUCKEN NACH ZHOU, C.-F. ET AL.: NEW JURASSIC MAMMALIAFORM
SHEDS LIGHT ON EARLY EVOLUTION OF MAMMAL-LIKE HYOID BONES. SCIENCE 365, 2019; REPENOMAMUS ROBUSTUS NACH HU, Y. ET AL.: LARGE MESOZOIC

EVOLUTION. NATURE 450, 2007 / DESIGN: WES FERNANDES/NATURE; PICKRELL, J.: THE MAKING OF MAMMALS. NATURE 574, 2019

Galerie der Talente


Zahlreiche archetypische Eigenschaften der Säugetiere bilde­
ten sich bereits zu Beginn ihrer Evolution in einem kurzen
Entwicklungsschub heraus, darunter auch Neuerungen bei
Fortbewegung, Entwicklung und Ernährung.

Himmelsgleiter
Etliche moderne Säugetiere gleiten mit
aufgespannten Hautlappen durch die Luft.
Die außergewöhnlich gut erhaltenen
pelzigen Flughäute von
Maiopatagium
furculiferum aus
dem Jura verraten,
dass sich diese
Fähigkeit schon sehr Flughaut
Eine fellbedeckte
früh, vor etwa
spannt 160
sich zwischen Vorder-
Millionen Jahren, heraus­ auf.
und Hinterextremitäten
bildete. Das eichhörnchen­
große Tier fraß vermutlich
Früchte, während andere,
gleichzeitig lebende Gleit­
Eine fellbedeckte Flughaut
säuger Zähne besaßen, die
spannt sich zwischen Vorder-
sich besser zum Knacken
und Hinterextremitäten auf.Eine fellbedeckte Flughaut
von Samen eigneten.
spannt sich zwischen Vorder-
und Hinterextremitäten auf.

Saugen und Schlucken


Alle Säugetiere füttern ihren Nachwuchs mit Milch; hierfür benötigen
die Jungen einen speziellen Rachenknochen. MicrodocodonDas gracilis
aus dem Jura besaß bereits ein solches Zungenbein, das in seiner
Zungenbein
Form dem moderner Säuger ähnelt. Demnach handeltkann es sich
sich in
bei dem Fossil um den ersten bekann­ verschiedene
ten Vertreter der Säugerartigen, Richtungen
der vermutlich Milch biegen, so
Kiefer- gesaugt hat. dass die
knochen Das die
Muskeln
Zungenbein
Nahrung den
Groß und Klein kann sich in
Schlund Das
Die ersten Säuger traten in verschiedene
hinab- Zungenbein
unterschiedlichsten Größen Richtungen
befördern kann sich in
Bewegliche
biegen, so
können. verschiedene
und Formen auf: So Verbindungen
Kiefer- dass die Richtungen
erreichte der Räuber machen das
knochen Muskeln die biegen, so
Repenomamus (unten Zungenbein
Kiefer- Nahrung den dass die
rechts) etwa Dachsgröße, flexibler.
Zungen- knochen Schlund Muskeln die
Liaoconodon (großes Bild)
bein hinab- Nahrung den
war so groß wie eine Ratte, befördern
und die winzige Gattung bewegliche Bewegliche Schlund
Verbindungen können. hinab-
Microdocodon (Mitte Verbindung
Hund
machen das Bewegliche befördern
rechts) ähnelte einer
Microdocodon (Jura,
Zungenbein können.
Wühlmaus. Verbindungen
vor 165 Millionen Jahren)
flexibler. Mammalia
Zungen- machen das
Thrinaxodon (Trias, vor
bein Zungenbein
250 Millionen Jahren) Mammaliaformes
flexibler.
bewegliche Zungen-
Cynodontia
bein
Verbindung
Hund
bewegliche Microdocodon (Jura,
Verbindung vor 165 Millionen Jahren) Mammalia
Liaoconodon Hauskatze Thrinaxodon (Trias, vor
hui Microdocodon (Jura,
250 Millionen Jahren) Mammaliaformes
vor 165 Millionen Jahren) M
Kreide Thrinaxodon (Trias, vor
Cynodontia
250 Millionen Jahren) Mammaliaformes
Repenomamus 100
robustus Cynodontia
Liaoconodon Hauskatze
hui Dinosaurier zum Abendessen
Liaoconodon
Arten wie Repenomamus
Hauskatze
Docodonta hui Kreide robustus aus der Unterkreide
Monotremata/Kloakentiere
stellen unsere stereotype
Repenomamus 100 Vorstellung
Kreide von frühen Säugern
robustus als Insekten fressende, flauschi­
Eutriconodonta
150 Repenomamus 100 ge Tierchen in Frage. Der Magen
Multituberculata robustus eines 2005 beschriebenen
Metatheria (einschließlich Marsupialia/Beuteltiere) Exemplars der etwa dachs­
Docodonta
großen Kreatur hatte es in sich:
Monotremata/Kloakentiere Knochen eines Psittacosaurus-
Docodonta Jungen, eines zweibeinigen,
Eutriconodonta
Eutheria (einschließlich Placentalia/Plazentatiere) schnabeltragenden Dinosauriers.
Monotremata/Kloakentiere
Multituberculata
Eutriconodonta
Metatheria (einschließlich Marsupialia/Beuteltiere)
Multituberculata
Spektrum der Wissenschaft  9.20 39
Metatheria (einschließlich Marsupialia/Beuteltiere)
Eutheria (einschließlich Placentalia/Plazentatiere)
Zudem erhellen die Entdeckungen den möglichen evolutio­
nären Ursprung einiger ihrer Schlüsselmerkmale: das
Säugen der Jungen, das große Gehirn sowie die ausgespro­
chen scharfen Sinne.
»Die explosionsartig auftretenden Funde von zahlreichen
frühen Säugerformen in den letzten zwei Jahrzehnten,
insbesondere aus China, haben uns regelrecht überwältigt«,
bekennt David Krause, Wirbeltierpaläontologe am Denver

ZHE-XI LUO, UNIVERSITY OF CHICAGO; MENG, Q.-J. ET AL.: NEW GLIDING MAMMALIAFORMS FROM THE JURASSIC. NATURE 548, 2017
Museum of Nature & Science voller Enthusiasmus. Diese
Lawine von Entdeckungen entfachte jedoch auch manche
Diskussion. So streiten einige Forscher darüber, welche
Fossiliengruppen zu den Mammalia gerechnet werden
sollten, und hinterfragen den Aufbau des derzeit gültigen
Stammbaums. »Wir möchten unsere Frühgeschichte in der
Sprache der Evolutionsbiologie verstehen – und das treibt
mich an«, erklärt der Paläontologe Zhe-Xi Luo von der
University of Chicago. »Das gesamte Gebiet ist so unglaub­
lich interessant, weil die Fossiliendatensätze immer besser
werden und wir gerade erst damit anfangen, uns mit eini­
gen dieser Fragen konkret auseinanderzusetzen.«

Im Schatten der Saurier


1824 präsentierte der englische Naturforscher William
Buckland (1784–1856) den Mitgliedern der Geological
Society of London Knochen von Megalosaurus, einem der
ersten bekannten Dinosaurier. Während seines Vortrags
enthüllte der Wissenschaftler auch winzige Kieferknochen
von Säugetieren, die an derselben Fossilienlagerstätte Eine hervorragend erhaltene Versteinerung von
ausgegraben worden waren. Ihre Anwesenheit ließ erah­ Maiopatagium furculiferum offenbart, dass
nen, dass die Mammalia auf eine sehr lange Geschichte ­Säugetiere schon vor 160 Millionen Jahren durch
zurückblicken, aber spektakulärer wirkende Dinosaurier­ die Luft gleiten konnten.
funde stellten solche Entdeckungen oft in den Schatten.
In den nächsten 150 Jahren blieb es bei spärlichen
Funden versteinerter Säuger. Doch 1997 präsentierten ten, mit denen wir wissenschaftliche Fragen klären kön­
Forscher den ersten frühen Vertreter der Mammalia aus nen«, sagt Meng, der sich für die Evolution des Säugerohrs
den fossilienreichen Gesteinen der Provinz Liaoning im interessiert.
Nordosten Chinas – und öffneten mit diesem Fund quasi die Solche Fossilfunde brachten die bis dahin gültige Lehr­
Schleusen. Seitdem stieß man dort auf über 50 nahezu meinung ins Wanken. »Wir hatten immer gedacht, dass die
vollständige, »wunderschöne Exemplare«, erzählt der in der Blütezeit der Dinosaurier lebenden Säugetiere völlig
Paläontologe Jin Meng vom American Museum of Natural unspektakulär gewesen seien: kleine, mäuseartige Wesen,
History. Wie im Fall von Dinosaurierknochen hatten einhei­ die im Schatten der Riesenechsen herumhuschten«, räumt
mische Bauern die versteinerten Säugetiere ausgegraben Brusatte ein. Aber diese Tiere »machten damals gerade ihre
und an Museen verkauft. eigene rasante evolutionäre Entwicklung durch«.
Die Dinosaurier blieben allerdings weiterhin die Stars der Vor mindestens 178 Millionen Jahren traten die ersten
Öffentlichkeit, meint Steven Brusatte von der University of Säuger auf der Erde in Erscheinung und wuselten zwischen
Edinburgh. »Erst seit Kurzem kommen die Säugetiere auf den Dinosauriern umher, bis die Mehrzahl Letzterer, mit
Grund der Forschungsarbeiten von Luo, Meng und anderen Ausnahme der Vögel, vor 66 Millionen Jahren ausgelöscht
Wissenschaftlern endlich zu ihrem Recht«, ergänzt der wurde. Die Säugetiere mussten jedoch nicht erst darauf
Paläontologe (siehe Spektrum Oktober 2016, S. 42). warten, um sich in diverse Formen und Arten zu differen­
Die meisten der aus China stammenden Säugetierfos­si­ zieren. »Die neuen Enthüllungen dokumentieren eine
lien entstanden infolge von Vulkanausbrüchen, bei denen ­ge­waltige, bisher ungeahnte ökologische Vielfalt«, meint
die Tiere unter einer Schicht aus Asche begraben wurden – der Paläontologe Richard Cifelli von der University of
und zeichnen sich durch ihren besonderen Detailreichtum ­Okla­homa.
aus. Während die versteinerten Säuger des Erdmittelalters Einige der frühesten Innovationen, die Wissenschaftler
(vor 252 Millionen bis vor 66 Millionen Jahren) im Allge­ anhand der Versteinerungen identifizierten, betrafen die
meinen aus nicht viel mehr als Zähnen und Kieferbruch­ Fortbewegung. So schilderte Mengs Arbeitsgruppe 2006
stücken bestehen, weisen die chinesischen Exemplare die Entdeckung des ersten Gleitsäugers: ein Vertreter der
häufig vollständige Skelettstrukturen mit Fell, Haut und 164 Millionen Jahre alten Gattung Volaticotherium, die
inneren Organen auf. »Sie liefern uns sehr viele Einzelhei­ mit Hilfe einer zwischen den Extremitäten aufgespannten

40 Spektrum der Wissenschaft  9.20


pelzigen Flughaut ähnlich wie heutige Gleithörnchen durch haben sollen, ist schon unglaublich spannend«, stellt
die Luft segeln konnte. 2017 präsentierten Luo und seine Luo fest.
Mitarbeiter zwei weitere Gleiter, Vilevolodon und Maiopata­ Die Fossilfunde beschränken sich jedoch nicht nur auf
gium (siehe Foto links), die ungefähr zur selben Zeit gelebt China. Auch in den USA, Spanien, Brasilien, Argentinien,
hatten und zur Gruppe der so genannten Haramiyida gehör­ Madagaskar und der Mongolei kamen bedeutende Verstei­
ten. Seite an Seite mit den ersten Flugsauriern glitten diese nerungen zu Tage. Einige der faszinierendsten und ältesten
Tiere im Sturzflug von den Bäumen und erschlossen sich so Fossilien – und unsere größten Wissenslücken – offenbaren
Nahrungsquellen, die für sie sonst unerreichbar gewesen sich in den südlichen Erdteilen. Dort sind lediglich fünf
wären. Gattungen mesozoischer Säuger und ihrer Verwandten
Die Forscher enthüllten weitere Spezialisierungen, die bekannt, während man in nördlichen Breiten von mehr als
sich viel früher entwickelt hatten als vermutet: Agilodoco­ 70 Gattungen weiß. In den vergangenen zwei Jahrzehnten
don beispielsweise konnte auf Bäume klettern und deren wurden in Brasilien etliche über 200 Millionen Jahre alte
Rinde anknabbern, um so Pflanzensaft zu schlecken; die Fossilien aus der Trias geborgen. Laut dem Paläontologen
schnabeltiergroßen Exemplare der Gattung Castorocauda Guillermo Rougier von der University of Louisville stehen
schwammen dank ihrer mit Häuten ausgestatteten Füße jene »unglaublichen Entdeckungen« genau an der Schwelle
und ihres biberartigen Schwanzes durch Flüsse; und das an zwischen den Mammalia und ihren cynodonten Vorfahren.
einen Maulwurf erinnernde Wesen Docofossor grub mit »Diese Formen zeigen tatsächlich eine sehr graduelle
seinen schaufelartigen Pfoten und Klauen im Boden. Weiterentwicklung von typischen Nichtsäugetieren zu
Die damaligen Säugetiere hatten sich eine Vielzahl von Individuen, die praktisch alle Merkmale ursprünglicher
Nahrungsspektren erschlossen, die weitaus diverser waren, Säuger besitzen.«
als Wissenschaftler ursprünglich angenommen hatten.
2014 beschrieb Krauses Arbeitsgruppe den an ein Murmel­
tier erinnernden Pflanzenfresser Vintana, der sich im heu­
tigen Madagaskar vermutlich von Wurzeln und Samen­
»Es sieht immer mehr danach
körnern ernährte. Und der einem Vielfraß ähnelnde Fleisch­ aus, als ob das alles in einem
fresser Repenomamus, dessen Fossil Mengs Team 2005
vorstellte, wies in seinem Magen sogar die Knochen eines sehr kurzen und plötzlichen
Dinosaurierbabys auf.
Etliche der neu entdeckten Säuger gehörten laut Meng
Ausbruch evolutionären Experi-
zu längst ausgestorbenen Untergruppen. Im Gegensatz mentierens entstanden ist«
zu der bunten Mischung mesozoischer Säugetiere entstam­
men die heutigen Mammalia lediglich drei Gruppen: den Zhe-Xi Luo, University of Chicago
Plazentatieren (Placentalia), die den größten Artenreichtum
aufweisen und zu denen auch wir Menschen zählen; den
Beuteltieren (Marsupialia) wie Kängurus und Koalas, die Die jüngsten Fossilfunde liefern ebenfalls Hinweise auf
sich durch kurze Tragzeiten im Mutterleib und eine nachge­ die Evolution von Schlüsselmerkmalen der Mammalia. Ihr
burtliche Entwicklung in einem Beutel auszeichnen; sowie feines Gehör zum Beispiel beruht teilweise auf winzigen
den Eier legenden Kloakentieren (Monotremata), die heute Knochen des Mittelohrs: Hammer, Amboss und Trommel­
nur durch das Schnabeltier und einige Ameisenigel reprä­ fellring (Ectotympanon). Bei den reptilienartigen Säuger­
sentiert werden. »Im Verlauf der Erdgeschichte gab es aber vorfahren waren diese Knöchelchen jedoch Bestandteile
noch zahlreiche andere Gruppen wie zum Beispiel die des Kiefers und dienten dem Kauen und nicht dem Hören.
Multituberculata, die Triconodonta und die Haramiyida«, Die ersten Vorläufer der Säugetiere, wie etwa die vor 205
verdeutlicht Meng. »Tatsächlich waren die im Jura lebenden Millionen Jahren lebende spitzmausartige Gattung Morga­
Säugetiere außerordentlich vielgestaltig.« nucodon, wiesen einen Prototyp der für die Mammalia
charakteristischen Anordnung auf, der beide Funktionen in
Große, stattliche Tiere räumen mit sich vereinte.
alten Mythen auf 2011 beschrieben Meng und seine Kollegen eine Zwi­
Einige von ihnen, wie etwa der einer Spitzmaus gleichende schenform: Liaoconodon hui, eine 120 Millionen Jahre alte
Insektenfresser Juramaia, den Luo und seine Mitarbeiter Spezies aus China, die zur Säugergruppe der Eutriconodon­
2011 beschrieben und auf ein Alter von 160 Millionen Jahre ta gehörte (siehe Foto S. 36/37 und »Markenzeichen der
datierten, zählen zu den ersten Plazentatieren und stellen Säugetiere«, S. 38/39). Bei dem rattengroßen Fossil ließen
daher potenzielle Vorfahren des Menschen dar. Manche sich drei Mittelohrknochen ausmachen, die aber durch eine
Säugetiere aus der Dinosaurierzeit erwiesen sich zudem Knorpelspange mit dem Kiefer verbunden waren. »Hör- und
als sehr viel größer als zunächst vermutet. So brachte Kaufunktion waren noch nicht komplett voneinander ge­
Repenomamus 12 bis 14 Kilogramm auf die Waage, wäh­ trennt«, erklärt der Paläontologe – ein handfester Beweis für
rend ein waschbärgroßes Exemplar von Vintana bis zu neun den evolutionären Übergang vom Kiefer zum Ohr.
Kilogramm wog. »Dass wir mit den alten Mythen aufge­ Eine weitere spezifische Eigenschaft von Säugetieren ist
räumt haben, nach denen sich die ersten Säuger aus einem die ausgeklügelte Art und Weise, in der sie ihre Nahrung
sehr einfachen, unspezialisierten Vorfahren entwickelt kauen und in kleinen Stücken hinunterschlucken, statt ihre

Spektrum der Wissenschaft  9.20 41


Beute als Ganzes zu verschlingen, wie es etwa Schlangen Unsicherheiten, was den zeitlichen Ablauf der Evolution der
oder Alligatoren tun. Möglich wurde das den Mammalia Schlüsselmerkmale angehe, gibt Hoffman zu bedenken.
durch ein breites Spektrum an komplexen Zähnen, mit Ein Zankapfel zwischen Meng und Luo, die jeweils
deren Hilfe sie ihre Nahrung abbeißen und zermahlen unterschiedliche evolutionäre Stammbäume aufgestellt
konnten. haben, ist die Einordnung der Haramiyida. Während Meng
Säugetierjunge ernähren sich allerdings ganz anders – den Standpunkt vertritt, dass die Gruppe zu den Mammalia
mit Muttermilch. »Unsere gesamte Gruppe wurde nach gezählt werden müsse, ist Luo davon überzeugt, es handle
dieser unglaublichen biologischen Innovation benannt«, sich um einen Seitenzweig. Die frühesten bekannten Hara­
konstatiert Luo. Das Trinken von Milch wird durch die miyiden stammen aus der Trias und sind 208 Millionen
Fähigkeiten des Saugens und Schluckens ermöglicht, unter­ Jahren alt. Sollten es Mammalia sein, reichen deren Ur­
stützt vom Zungenbein im hinteren Teil des Rachens und sprünge bis mindestens in diese Zeit zurück – wenn nicht,
den mit ihm verknüpften Muskeln. Diese Strukturen sind trat das älteste Säugetier erst im Jura vor 178 Millionen
auch an der Bildung des Kehlkopfs beteiligt. Jahre auf.
Weitere Fossilfunde, die zum Teil noch unbearbeitet in
Saugen wie ein Säugetier den Lagern der Forscher schlummern, könnten derartige
2019 präsentierten die Forscher um Luo den Fund eines 165 Fragen beantworten – und gleichzeitig für neue Überra­
Millionen Jahre alten wühlmausgroßen Docodonten, eines schungen sorgen. Dabei stehen viele Dinge auf der
nahen Verwandten der echten Säuger: Microdocodon Wunschliste der Paläontologen wie zum Beispiel das
gracilis verfügte über ein vollständig erhaltenes Zungenbein Wachstum: Bei Reptilien verläuft es während ihres gesam­
und ist demnach die erste bekannte Art, die wie ein moder­ ten Lebens langsam; Säugetiere dagegen erfahren in ihrer
nes Säugetier saugen konnte. Jugend einen Wachstumsschub, bis sie schließlich ihre
Nur selten blieben jedoch solche Details erhalten, und endgültige Körpergröße erreichen. Um dieses Phänomen
die Erkenntnisse zur Entwicklung von Ohr- und Rachen­ genauer verfolgen zu können, bräuchten die Wissenschaft­
knochen seien – ähnlich wie beim Kayentatherium-Nach­ ler eine Fossilienserie, die vom Jugendstadium bis zum
wuchs – ohne die technischen Fortschritte in der Mikro­ adulten Tier reicht. »Es ist eins der entscheidendsten Säu­
computertomografie nicht möglich gewesen, räumt Krause getiermerkmale, die unsere Biologie maßgeblich bestim­
ein. Das Verfahren enthüllte außerdem weitere Einzelheiten men«, erklärt Luo.
bezüglich des Riechvermögens und des Gehirns früher Meng hegt einen anderen Traum: »Ein Gedanke lässt
Säugetiere. Die Erkenntnisse »füllen diese frühen Säuger­ mich nicht mehr los: Eines Tages finde ich ein Säugetier­
fossilien in einer Art und Weise mit Leben, die uns vorher skelett, in dem noch ein anderes, sehr viel feineres
nahezu unvorstellbar erschien«, ergänzt der Paläontologe. ­Knochengerüst steckt, das entweder einem ungelegten Ei
entstammt oder sogar zu einem Fötus gehört – was weit­
aus interessanter wäre.«
Die Flut von Entdeckungen zeigt, dass jeder neue Fossil­
Mehr Wissen auf fund der Evolutionsgeschichte ein neues Kapitel hinzufügen
oder gängige Vorstellungen komplett über den Haufen
Spektrum.de werfen kann. »Tatsächlich befinden wir uns gerade in einer
Unser Online-Dossier zum Thema aufregenden, ja fast manischen Phase, in der Unmengen
finden Sie unter neuer Indizien über uns hereinbrechen«, sagt Brusatte, »und
spektrum.de/t/evolution
FOTOLIA / HLPHOTO es wird eine gewisse Zeit dauern, bis wir all diese Erkennt­
nisse sinnvoll miteinander verknüpft haben.« 

Möglicherweise entwickelte sich ein Großteil der säuge­ QUELLEN


tiertypischen Merkmalskonstellationen – ein komplexes Hoffman, E. A., Rowe, T. B.: Jurassic stem-mammal perinates
Gebiss, scharfe Sinne, das Säugen der Jungen, wenige and the origin of mammalian reproduction and growth. Nature
Nachkommen – sogar schon vor der Entstehung der ersten 561, 2018
Säuger, und das sehr schnell. »Es sieht immer mehr danach Luo, Z.-X. et al.: New evidence for mammaliaform ear evolution
aus, als ob das alles in einem sehr plötzlichen Ausbruch and feeding adaptation in a Jurassic ecosystem. Nature 548,
evolutionären Experimentierens entstanden ist«, mutmaßt 2017
Luo. Zu jener Zeit, als die säugetierähnlichen Wesen die Meng, Q.-J. et al.: New gliding mammaliaforms from the
Welt des Erdmittelalters durchstreiften, »besaß diese Jurassic. Nature 548, 2017
Tiergruppe bereits ihr modernes Aussehen und die entspre­
Zhou, C.-F. et al.: New Jurassic mammaliaform sheds light on
chenden biologischen Anpassungen«, betont der Wissen­ early evolution of mammal-like hyoid bones. Science 365, 2019
schaftler.
Obwohl sich die Experten in vielen Punkten einig sind,
werden nach wie vor heftige Diskussionen darüber geführt,
in welcher Verwandtschaftsbeziehung die ältesten Vertreter © Springer Nature Limited
der Mammalia zueinander stehen und welche Gruppen den www.nature.com
»echten« Säugetieren zuzurechnen sind. Das führe zu Nature 574, S. 468–472, 2019

42 Spektrum der Wissenschaft  9.20


© SkyLine-stock.adobe.com

Was nun?
Die Herausforderungen
des Klimawandels
im Spiegel der Wissenschaft

Symposium 2020
7. Oktober
Bonn

Weitere Informationen und Anmeldung unter:


www.dhvseminare.de/symposium_2020
JXFZSY / GETTY IMAGES / ISTOCK
PATENTE
NATUR ALS »ERFINDUNG«
Lassen sich gewerbliche Schutzrechte auf
Lebewesen oder Naturprodukte erteilen? Das
ist seit mehr als 100 Jahren ein Streitthema.
Die rasanten Fortschritte in den Lebenswis-
senschaften verschärfen diese Debatte noch.

Tobias Ludwig ist Wissenschaftsjournalist


und -kommunikator in Leipzig.

 spektrum.de/artikel/1752444
NICOLE VIEHWEGER

44 Spektrum der Wissenschaft  9.20


JXFZSY / GETTY IMAGES / ISTOCK

Patente auf Saatgut: Muss


sich der Umgang damit
ändern? Kritiker befürch- AUF EINEN BLICK
ten eine Monopolisierung JURISTISCH-PHILOSOPHISCHES
des Markts. MINENFELD

1 Schon im 19. Jahrhundert wurden Patente auf Organis-


men erteilt – begleitet von Auseinandersetzungen
darüber, ob Produkte der Natur überhaupt patentfähig
seien.

2 In der Landwirtschaft sind Patente besonders umstrit-


ten. Kritiker sagen, gewerbliche Schutzrechte auf
Saatgut förderten die Monopolisierung im Agrarsektor.

3 Die Fortschritte in den Lebenswissenschaften führen


zu bedeutenden medizinischen Innovationen. Das hat
neue Patentanträge zur Folge, mit denen oft schwierige
ethische Fragen einhergehen.

Spektrum der Wissenschaft  9.20 45



Patente sind Schutzrechte auf technische Erfindungen. dern Patente sehr wesentlich die Konzernkonzentration
Im europäischen Rechtskreis werden sie nur auf Pro- auf dem Saatgutmarkt«.
dukte oder Verfahren erteilt, die neu aus einer erfinde- Tatsächlich teilen immer weniger Firmen diesen bedeu-
rischen Tätigkeit hervorgegangen und technisch anwend- tenden Markt unter sich auf. Der 2017 von der Heinrich-Böll-
bar sind. So weit, so verständlich. Denkt man nun an Paten- Stiftung, der Rosa-Luxemburg-Stiftung und der Umwelt-
te auf Lebewesen oder biologische Substanzen und schutzorganisation »Friends of the Earth« veröffentlichte
Verfahren, erschließt sich mitunter nicht sofort, inwiefern Agrifood-Atlas stellt fest, dass mittlerweile nur noch drei
es sich dabei um menschliche Erfindungen handelt. Dieses riesige Fusionskonzerne den Saatgut- und Agrochemie-
Dilemma und die ethischen Fragen, die sich mit gewerbli- markt dominieren, nämlich Bayer-Monsanto, Dow-DuPont
chen Schutzrechten auf die Natur verbinden, führen seit und ChemChina-Syngenta. Angesichts der damit einherge-
jeher zu schwierigen Diskussionen. Innovationen wie die henden gewaltigen Macht einzelner Unternehmen würden
CRISPR-Cas-Methode fachen den Streit nun neu an. Patente immer stärker dazu genutzt, gezielt Claims abzuste-
Patente auf Dinge, bei denen es sich im weitesten Sinne cken und das Vordringen von Mitbewerbern zu unterbinden,
um bio(techno)logische Erfindungen handelt, gibt es schon sagt Gelinsky.
seit erstaunlich langer Zeit. Bereits im Jahre 1873 ließ der
Mikrobiologe Louis Pasteur (1822–1895) sein verbessertes Finanzielle Absicherung
Verfahren zur Herstellung von Hefekulturen sowohl in Eine Einschätzung, der Jörg Thomaier, Leiter Intellectual
Frankreich (Patent 98476) als auch in den Vereinigten Property bei der Bayer-Gruppe, im Prinzip nicht wider-
Staaten (US Patent No. 141072A) als Patent eintragen. Es spricht: »Ich bezeichne Patente immer ganz gerne als das
gilt als historisch erstes gewerbliches Schutzrecht auf einen Herzstück, den Kern, des Werts unseres Unternehmens,
Mikroorganismus. Doch bereits kurz nachdem es erteilt weil darauf unser Geschäftsmodell aufbaut.« Patente seien
worden war, gelangte man in den USA zu der Einsicht, dass eine Art Sicherheit dafür, dass getätigte Aufwendungen für
isolierte und gereinigte Formen eines natürlich vorkommen- Forschung und Entwicklung durch das zwischenzeitliche
den Stoffs oder Lebewesens nicht patentfähig sein sollten, Vermarktungsmonopol wieder eingespielt werden und
da es sich bei diesen um Produkte der Natur handle. Die so somit Innovationen überhaupt vorangetrieben werden
genannte Product-of-Nature-Doktrin war geboren. können. Der Ansicht, Patente seien per se monopolfördernd
Da die Begriffe »Isolation« und »Reinigung« aber oft eng und der Markt unter wenigen großen Konzernen aufgeteilt,
ausgelegt wurden, ließ sich mittels Filtrieren und Erhitzen will Thomaier jedoch nicht zustimmen: »Es gibt eine ganze
eines Naturprodukts vielfach trotzdem eine patentfähige Menge Saatgutanbieter und alles, was an Saatgut patentfrei
Substanz erzeugen. Dies zeigen beispielsweise ein Patent ist, kann von allen genutzt werden. Das ist die gigantische
auf Muschelsaft (US-Patent Nr. 395199 von 1888), einen Mehrheit, denn alles, was älter als 20 Jahre ist, kann nicht
Extrakt aus gekochten und filtrierten Muscheln, sowie ein mehr patentgeschützt sein. Das Monopol ist zeitlich und
Schutzrecht auf die aktiven Bestandteile der Schafsschild- inhaltlich beschränkt.«
drüse (US-Patent Nr. 616501 aus dem Jahr 1898). In einem Die IG Saatgut sieht in Schutzrechten, wie Bayer sie
Wechselspiel teils widersprüchlicher gerichtlicher Entschei- anstrebt, allerdings ein Innovationshemmnis und kritisiert
dungen loteten Juristen in den folgenden Jahrzehnten die alleinige Ausrichtung auf Profitabilität. Gelinsky betont:
immer wieder neu aus, in welcher Form die Natur dem
Patentschutz zugänglich sein soll. Ein Prozess, der bis heute
andauert. Goldener Reis ist zwar patentiert, kann aber laut der
Im Bereich der Saatgutpatente ist diese Debatte beson- Herstellerfirma lizenzfrei angebaut werden.
ders heftig. Bereits zu Beginn des 20. Jahrhunderts gab
es erste Versuche, gewerbliche Schutzrechte auf Saatgut
ISTOCK / BHOFACK2

und auf Züchtungsverfahren von Nutzpflanzen zu erlan-


gen. Sie hatten zunächst keinen Erfolg. »Der große Para-
digmenwechsel kam nach dem Zweiten Weltkrieg«,
schildert Eva Gelinsky von der Interessengemeinschaft für
gentechnikfreie Saatgutarbeit (IG Saatgut), die sich für
eine nachhaltige Landwirtschaft einsetzt und Patente auf
Saatgut und andere Lebewesen ablehnt. Bereits ab den
1930er Jahren, so Gelinsky, sei diskutiert worden, ob die
private Organisation der Züchtung mit einem Patent-
schutz der richtige Weg sei. In den 1950er und 1960er
Jahren habe man sich dann stärker zu Gunsten von Pri-
vatunternehmen ausgerichtet und die rechtlichen Rah-
menbedingungen entsprechend angepasst. »Patente
werden ja eigentlich auf technische Erfindungen erteilt,
und man sollte grundsätzlich fragen, ob Lebewesen – also
Pflanzen, Tiere – überhaupt technische Erfindungen des
Menschen sein können«, meint Gelinsky. »Heute beför-

46 Spektrum der Wissenschaft  9.20


Patente auf Schimpansen zurückgenommen

Im Juli 2020 hat das Europäische dienen als Genschalter, da sich ihre teil des EPA sollten ihrer Ansicht
Patentamt (EPA) zwei Patente auf Aktivität durch Zugabe bestimmter nach wenigstens Patente auf
gentechnisch veränderte Men- chemischer Substanzen beeinflus- landwirtschaftlich genutzte Tiere
schenaffen für ungültig erklärt. sen lässt. Entsprechend veränderte der Vergangenheit angehören, da
Tier- und Umweltschutzorganisatio- Affen sollten etwa zur Entwicklung hier keinerlei medizinischer Nutzen
nen hatten in einem jahrelangen von Krebstherapien genutzt wer- zu erwarten sei.
Rechtsstreit gegen die Patente der den. Die auf sie erteilten Patente 1992 wurde in Europa erstmals
US-Firma Intrexon (heute Precigen) (EP1456346 und EP1572862) gelten ein Patent auf einen Säugetier-
gekämpft und damit schließlich nun nicht mehr in der vorherigen organismus erteilt, nämlich auf die
Erfolg. Form. Die Ansprüche auf die Tiere »Harvard-Krebsmaus«. Diese
Die Technische Beschwerde- sind gestrichen – der Anspruch auf gentechnisch veränderten Mäuse
kammer des EPA beurteilte die die Art der Genveränderung könnte neigen dazu, an Tumoren zu erkran-
Ansprüche auf Schimpansen und allerdings bestehen bleiben, wie ken, und sollten als Modellorganis-
andere Tiere als nicht patentfähig. das EPA betonte. Darüber werde men für die Onkologie dienen. Ihre
Gewerbliche Schutzrechte auf die noch entschieden. Bedeutung für die medizinische
genetische Veränderung von Tieren Laut der Organisation »Testbio- Forschung blieb allerdings gering.
seien ausgeschlossen, wenn da­ tech« hat das EPA in den zurücklie-
raus Tierleid resultiere, ohne dass genden Jahrzehnten hunderte Frank Schubert ist Redakteur bei
Spektrum.
ein wesentlicher medizinischer Patente auf Versuchstiere erteilt,
Nutzen für den Menschen oder das ebenso auf Nutztiere wie Kühe und dpa/spektrum.de
Tier vorliege. Schweine. Tier- und Umweltschutz- Pressemitteilung von Testbiotech,
Konkret ging es um Schimpan- organisationen kritisieren das; eini­- 02.07.2020
sen, in deren Erbgut Gene einge- ge fordern ein vollständiges Verbot Mitteilung von Meyer-Dulheuer MD
fügt werden, die aus Schmetterlin- derartiger gewerblicher Schutz- Legal Patentanwälte PartG mbB,
gen stammen. Jene Erbanlagen rechte. Mit dem jetzt gefällten Ur- 03.07.2020

»Die Folge ist, dass immer mehr Patente angemeldet wer- Das sei eine grundsätzliche Frage von gesamtgesellschaftli-
den, und es besteht die Möglichkeit, dass die Konkurrenz cher Relevanz; ein Verbot von Schutzrechten auf Pflanzen
vom Patentinhaber keine Lizenz bekommt. Dann können sei nicht die Lösung.
Mitbewerber in einem bestimmten Bereich möglicherweise In welcher Form sind solche überhaupt zulässig? Zu-
nicht weiterarbeiten. Es kann vorkommen, dass Lizenzen zu nächst können tatsächlich nur Pflanzen patentiert werden,
Konditionen angeboten werden, die für Konkurrenten nicht keine Pflanzensorten. Ein Beispiel: Züchter A verändert Mais
tragbar sind, etwa weil zu teuer«. Zudem seien die Konzer- gentechnisch derart, dass dieser einen Giftstoff des Boden-
ne, die den Saatgutmarkt dominieren, zugleich Chemieun- bakteriums Bacillus thuringiensis produziert und infolgedes-
ternehmen, die bevorzugt Saatgut zusammen mit einem sen vor Insektenfraß geschützt ist. Patentieren kann der
dazu passenden Pflanzenschutzmittel verkaufen – beispiels- Züchter nun Mais mit der Eigenschaft »Insektenresistenz«.
weise glyphosatresistente Sojabohne gemeinsam mit Die daraus abgeleiteten Sorten an sich sind nicht patentfä-
Glyphosat. Eine Praxis, die laut Gelinsky zu massiven Um- hig. Züchter B dürfte zwar mit einer Sorte von Züchter A
weltschäden geführt hat. weiterzüchten, seine Kreation jedoch nicht auf den Markt
Gelinsky sieht in Patenten zwar nicht die alleinige Ursa- bringen, solange es sich dabei um eine Maispflanze mit der
che solcher Probleme, doch sie ist überzeugt, die Handha- von Züchter A patentierten Eigenschaft handelt.
bung von Schutzrechten fördere diverse Missstände, wie
die Verarmung der Biodiversität. Thomaier widerspricht: Patentierbar oder nicht?
»Zum einen hat das Patentrecht eine Ausnahmeklausel, die Da das Züchtungsverfahren in dem Beispiel auf Gentechnik
so genannte Research Exemption, die derzeit außer in den beruht, kann Züchter A sowohl die Pflanze als auch das
USA in allen Jurisdiktionen existiert. Das bedeutet, dass Verfahren selbst patentieren. Hätte er allerdings eine kon-
jeder da draußen meine Erfindung nehmen und sie weiter- ventionelle Zuchtmethode wie Kreuzung und Selektion
entwickeln kann. Er darf nur seine Erfindung, die auf mei- genutzt, wäre sie nicht patentfähig, da sie »im Wesentlichen
ner aufbaut, nicht vermarkten. Zum anderen ist das Interes- biologisch« ist. Und hier liegt der Knackpunkt: Im Europäi-
se an einer hohen Biodiversität auch bei uns gegeben.« An schen Patentübereinkommen sind Ausnahmen von der
dem Verlust der Artenvielfalt schuld sei eine Landwirt- Patentierbarkeit explizit geregelt. Das heißt, alles was nicht
schaft, die zuvorderst auf Produktivität und Effizienz ausge- ausgeschlossen ist, ist patentfähig. Demnach sind zwar »im
richtet sei, und nicht Patente auf Pflanzen oder Herbizide. Wesentlichen biologische« Züchtungsverfahren dem Pa-

Spektrum der Wissenschaft  9.20 47


tentschutz nicht zugänglich, die daraus resultierenden
Pflanzen mit bestimmten Eigenschaften aber schon. An die-
sem Umstand entzündete sich 2015 ein Streit, der bis heute
andauert und mittlerweile die Politik beschäftigt.
Der Disput begann mit einer Entscheidung der Großen
Beschwerdekammer, der höchsten juristischen Instanz des
Europäischen Patentamts (EPA). Diese hatte bestimmte
Schutzrechtansprüche der Firmen Syngenta und Unilever
zugelassen (Entscheidungen »Brokkoli II, G2/13« und »To-
mate II, G2/12«) und damit faktisch den Weg frei gemacht
zur Patentierung konventionell gezüchteter Pflanzen. Der
Beschluss zog eine heftige Debatte nach sich. »Im Hinter-
grund steht die ethische Frage, ob konventionell gezüchtete
Pflanzen dem Patentschutz zugänglich sind; faktisch geht

ISTOCK / ROYALTYSTOCKPHOTO
es jedoch um die Unabhängigkeit der Beschwerdekammern
des EPA«, erklärt Ulrich Storz, Patentanwalt bei der Kanzlei
Michalski, Hüttermann & Partner. Aus einer eigentlich rein
juristischen Frage entwickelte sich ein emotional aufgeheiz-
ter, politischer Disput.
Selbst das Europäische Parlament sah sich in dem Fall Bei einer CAR-T-Zell-Therapie werden körpereigene
veranlasst, die Europäische Kommission um eine Stellung- Immunzellen künstlich »scharf geschaltet«, um
nahme zu bitten. Das führte laut Storz zu einer Kompetenz- Krebszellen zu bekämpfen. Auch um dieses Verfahren
überschreitung: »Die Europäische Kommission teilte mit, gab es bereits einen Patentstreit.
aus ihrer Sicht sei das Ansinnen der Biopatentrichtlinie
gewesen, [konventionell gezüchtete] Pflanzen vom Patent-
schutz auszuschließen. Meines Erachtens hat sich die (siehe »Spektrum« April 2020, S. 12). Dies führe zu zivilrecht-
Kommission als Organ der Exekutive damit zur Interpretati- lichen Schwierigkeiten, da in einem Patentverletzungsver-
on rechtlicher Normen geäußert, was nach dem Prinzip der fahren die Beweislast beim Beklagten liege. So müsse ein
Gewaltenteilung der Judikative obliegt.« Auf die Aussage Züchter, bei dem eine Pflanze mit einer patentierten Eigen-
der Kommission hin habe sich der Präsident des EPA ge- schaft aufgefunden werde, nachweisen, dass dieses Merk-
zwungen gesehen, die Regeln des Europäischen Patent- mal auf eine zufällige Mutation zurückgeht und nicht auf
übereinkommens anzupassen. Regel 28, die Ausnahmen eine gezielte gentechnische Manipulation. »Gen-Knockouts
von der Patentierbarkeit beschreibt, erhielt einen zusätzli- beispielsweise führen Züchter klassischerweise mit Bestrah-
chen Absatz, der die Patentierung konventionell gezüchte- lung oder chemischer Behandlung herbei – beides erfolgt
ter Pflanzen explizit ausschließt – und das trotz anders zufallsbestimmt. Man kann sie aber auch zielgerichtet mit
lautender Entscheidung der Beschwerdekammer. CRISPR-Cas erzeugen, indem man Erbanlagen damit spezi-
»Der Präsident des EPA hat damit dem Votum eines fisch deaktiviert.« Produkte, die mit diesen verschiedenen
Exekutivorgans Folge geleistet, das eigentlich keine Befug- Methoden hergestellt worden sind, lassen sich oft nicht
nis hat, über europäisches Patentrecht zu votieren«, macht voneinander unterschieden – ein ungelöstes Dilemma.
Storz die Tragweite des Falls deutlich. »Damit hat er die
Rechtsprechung seiner eigenen Beschwerdekammer Publikation aus ethischen Gründen abgelehnt
ignoriert.« Der Konflikt betraf somit nicht mehr nur den Immer mehr Forscher und Entwickler nutzen CRISPR-Cas,
Umgang mit Patenten, sondern auch die Verfassung, weil nicht nur im Agrarbereich. Gut in Erinnerung sein dürfte die
hier Exekutive und Judikative aneinandergerieten. Unter- weltweite Empörung, als der chinesische Biophysiker He
dessen schuf die technische Beschwerdekammer des EPA Jiankui Ende 2018 auf YouTube verkündete, er habe mit Hilfe
Fakten und setzte, nach Beschwerde von Syngenta, die dieses Verfahrens bei menschlichen Zwillingen einen vorge-
gerade erst geänderte Regel 28 im Dezember 2018 außer burtlichen Eingriff ins Erbgut vorgenommen und die Kinder
Kraft, da sie im Widerspruch zu Artikel 53b stehe, der damit immun gegen HIV gemacht. Die vermeintlichen
ebenfalls Patentausschlüsse regelt. Eine Klärung des Kon- Ergebnisse seiner Arbeit sind nie in einem peer-reviewten
flikts steht aus. Journal erschienen, unter anderem, weil die Zeitschriften
Davon unbenommen herrscht weiterhin die Ansicht vor, »Nature« und »JAMA« eine Publikation aus ethischen
dass gentechnisch veränderte Pflanzen dem Patentschutz Gründen ablehnten. Mittlerweile ist He in China zu drei
zugänglich seien. Das gilt auch für Produkte, die mit Hilfe Jahren Gefängnis und einer Geldstrafe von umgerechnet
des Genome-Editing-Verfahrens CRISPR-Cas erzeugt 380 000 Euro verurteilt worden. Sein Fall ist ein besonders
wurden. Doch aus der Nutzung dieser Technologie ergeben krasser, wirft aber ein Schlaglicht auf den enormen Erkennt-
sich verschiedene rechtliche Probleme, wie Storz erläutert: niszuwachs in der medizinischen Genetik – der schon bald
»Eingriffe mit CRISPR-Cas hinterlassen oft keine Spuren, mit vielen neuen Patentanmeldungen in diesem Bereich
die das Produkt unterscheidbar machen von einem Erzeug- rechnen lässt. Im Hinblick auf Hes Versuche wäre die Ent-
nis, das mit anderen Methoden hergestellt worden ist« scheidung jedoch klar, betont Christine Godt, Professorin

48 Spektrum der Wissenschaft  9.20


für europäisches und internationales Wirtschaftsrecht an anderem auf die isolierten DNA-Sequenzen beider Gene. In
der Carl-von-Ossietzky-Universität Oldenburg: »Im Patent- der Folge fiel Myriad Genetics durch aggressive Lizensie-
recht steht, Patente würden insbesondere nicht erteilt für rungspolitik auf und verlangte, dass alle Proben, die auf
Verfahren zur Veränderung der genetischen Identität der BRCA-Mutationen getestet werden sollen, direkt in die
Keimbahn des menschlichen Lebewesens – und das fällt Firmenzentrale nach Utah geschickt werden. Eine solche
darunter.« Die Reaktion der Weltöffentlichkeit habe gezeigt, Untersuchung kostete wegen der Lizenzgebühren zwischen
dass Keimbahneingriffe wie die von He vorgenommenen 2400 und 3500 Dollar. Darüber hinaus untersagte Myriad
nicht gewünscht seien. Gelänge es damit aber, Menschen Genetics anderen Forschungseinrichtungen, alternative
dauerhaft von schweren Erbkrankheiten zu heilen, sei Diagnoseverfahren für Mutationen in den Genen anzubieten.
fraglich, ob die Öffentlichkeit bei diesem klaren Veto bliebe.
Bisher habe es nur wenige Versuche gegeben, genthera- Entscheidung des obersten Gerichts
peutische Verfahren zu patentieren, sagt die Expertin für beendet Diskussion
Wirtschaftsrecht. Eine der seltenen Ausnahmen ist die Die Diskussion, ob man in der Natur vorkommende Gene
Gentherapie »Kymriah«. Dabei handelt es sich um eine überhaupt patentieren könne, flammte nach der Patentertei-
Methode, um körpereigene Immunzellen mittels Gentech- lung an Myriad Genetics wieder auf. 2009 reichte ein Zusam-
nik so zu verändern, dass sie deutlich effektiver gegen menschluss aus drei Forschungsverbänden beim US Su­
Krebszellen vorgehen (siehe »Spektrum« Oktober 2017, preme Court Klage gegen die Myriad-Patente ein. Die Ent-
S. 34). Die Therapie ist zur Behandlung von Krebserkran- scheidung fiel 2013, wie Godt erläutert: »Der Supreme Court
kungen des Blut bildenden Systems zugelassen; im Idealfall hat nur jene Patente entzogen, die sich direkt auf die natürli-
reicht eine Anwendung, um die Krankheit zu besiegen. che DNA-Sequenz beziehen, welche auch abgelesen wird.
Entwickelt hat das Verfahren der US-Immunologe Carl June Die komplementäre DNA (cDNA), die im Labor aus der
von der University of Pennsylvania. Der Schweizer Pharma- mRNA erzeugt wird, bleibt als technisch-künstliches Objekt
konzern Novartis sicherte sich 2012 die Exklusivrechte an patentierbar. Insofern ist der Patentierung von Genen, die in
der Vermarktung und beteiligte sich an den notwendigen der Natur vorkommen, ein Riegel vorgeschoben worden.«
klinischen Studien. Das Präparat wurde 2017 in den USA Als das Urteil fiel, sei die Sequenzierung von Genen bereits
und 2018 in Europa zugelassen. Im Zuge dessen hatte eine Standardtechnik gewesen und Gensequenzen nicht
Novartis beim EPA ein Patent für Kymriah beantragt. mehr als Ergebnis einer erfinderischen Tätigkeit betrachtet
Nach einer Beschwerde der Nichtregierungsorganisatio- worden. Der Supreme Court habe somit die Diskussion um
nen »Public Eye« und »Médecins du Monde«, laut der es die Product-of-Nature-Doktrin öffentlichkeitswirksam been-
sich bei Kymriah um eine medizinische Dienstleistung hand- det, die in den Patentämtern zu jenem Zeitpunkt bereits
le und nicht um ein Medikament, zog Novartis Ende 2019 längst abgeschlossen gewesen sei.
den Patentantrag zurück. »Public Eye« zufolge war es das Biopatente werden weiterhin heftig umstritten bleiben,
erste Mal, dass dies bei einem europäischen Pharmapatent denn wo wirtschaftliche Interessen und moralische Erwä-
auf Druck einer NGO geschah. Novartis ließ verlauten, das gungen zusammenprallen, kommt es zu Konflikten. Die
beantragte Schutzrecht sei für die Weiterentwicklung von Geschichte zeigt aber, dass sich die Öffentlichkeit aktiv und
Kymriah nicht essenziell und die Therapiemethode bereits teils auch erfolgreich in den Patenterteilungsprozess einmi-
ausreichend geschützt. Die beiden NGOs hatten ihre Be- schen kann. Hier hilft allerdings kein Schwarz-Weiß-Denken,
schwerde unter anderem mit dem hohen Preis von mehr als wie Godt zusammenfasst: »Wir kommen mit der Ja-Nein-
300 000 Euro pro Behandlung begründet sowie mit einer Frage, ob Patente erteilt werden sollen oder nicht, nicht
drohenden Monopolisierung im Bereich der Gentherapie, unbedingt weiter. Künftige Generationen müssen sich damit
sollte Kymriah patentiert werden. Die ethische Brisanz vieler befassen, wie der Schutzbereich definiert werden soll, und
Verfahren der medizinischen Gentechnik wird künftig sicher dafür brauchen wir Regeln.« Besonders angesichts der
zu weiteren Auseinandersetzungen führen. raschen Entwicklungen in der Gentechnik und im Genome
Welches Ausmaß solche Konflikte annehmen können, Editing sollten diese Regeln formuliert sein, bevor eine neue
zeigt die Kontroverse um Myriad Genetics, die 1994 be- Welle von Patentanträgen anbrandet. 
gann. Das US-Unternehmen hatte für zwei bestimmte
Genorte, die mit der Ausbildung von Brustkrebs in Zusam-
menhang stehen, Patente angemeldet. Myriad argumentier- QUELLEN
te, durch eine Untersuchung von Mutationen in den Genen Beauchamp, C.: Patenting nature: A problem of history. Stanford
BRCA1 und BRCA2 sei es möglich, Brustkrebsrisikopatien- Technology Law Review 16, 2013
ten sicher zu identifizieren. Wie mittlerweile aber bekannt,
Cohen, J.: Surprise patent ruling revives high-stakes dispute over
bedeuten Mutationen in diesen Erbanlagen keineswegs, the genome editor CRISPR. Science 2019, doi: 10.1126/science.
dass sich mit Gewissheit eine Krebserkrankung ausprägen aay5343
wird. 2001 bekam Myriad Genetics vom EPA ein Patent auf Demers, L.: Product of nature doctrine: myriad’s effect beyond
BRCA1, was internationale Proteste diverser Organisationen nucleic acids. SSRN, 2013. doi: 10.2139/ssrn.2279754
nach sich zog. Das EPA widerrief seine Entscheidung drei
Godt, C.: Bio-Patente in der Medizin. Zur Bedeutung der Ausein-
Jahre später, gab aber einem neuen Patentantrag im Jahr andersetzungen um »Myriad« und »Brüstle«. In: Medizinrecht –
2008 statt. In den USA erteilte das dortige Patentamt Ein Balanceakt zwischen Können und Dürfen. Mohr Siebeck, Tü­-
bereits Mitte der 1990er Jahre mehrere Schutzrechte unter bingen 2015

Spektrum der Wissenschaft  9.20 49


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FREISTETTERS FORMELWELT
RATIONAL
ODER IRRATIONAL?
CC BY-SA 4.0 (CREATIVECOMMONS.ORG/LICENSES/BY-SA/4.0/LEGALCODE)

Inzwischen kennt man Milliarden Stellen der Euler-


Mascheroni-Zahl, doch das hilft bei der Antwort auf
FRANZI SCHÄDEL (FLORIAN-FREISTETTER.DE/PRESSE/) /

die eigentliche Frage kein Stück weiter.

Florian Freistetter ist Astronom, Autor und Wissenschaftskabarettist bei den


»Science Busters«.

 spektrum.de/artikel/1752456

A
m 11. März 1734 veröffentlichte der Schweizer 0,5848. Rechnet man mit 1000 Gliedern und dem
Mathematiker Leonhard Euler ein Werk mit dem natürlichen Logarithmus von 1000, ist die Differenz
Titel »De progressionibus harmonicis observa- zirka 0,5777. Bei 10 000 Termen berechnet sich der
tiones«. Darin findet sich unter anderem eine Unterschied zu 0,57726 … Je mehr Glieder man
Zahl, die Euler in seinem Text als C = 0,577218 angibt. hinzuzieht, desto stärker nähert sich das Ergebnis der
Inzwischen ist sie unter dem Namen Euler-Mascheroni- Euler-Mascheroni-Konstante an.
Konstante bekannt – und birgt noch heute einige Euler berechnete in seiner Arbeit aus dem Jahr 1734
Geheimnisse. In moderner Form lässt sie sich wie folgt 5 Nachkommastellen dieser Konstante; im Jahr
definieren: darauf erweiterte er sie auf 15. Nach seinem Tod
setzte der italienische Mathematiker Lorenzo
Mascheroni das Rechenwerk fort. 1790 publizierte er
19 korrekte Nachkommastellen. Mittlerweile kennt
man mehr als 477 Milliarden Stellen, sie beginnen
mit 0,57721566490153286060… Trotz der enormen
Menge an Ziffern sind aber viele Eigenschaften dieser
Zahl weiterhin unbekannt.
Zum Beispiel weiß man nicht, ob die Euler-
Die Formel sieht kompliziert aus, ist aber gar nicht Mascheroni-Konstante rational oder irrational ist.
so schwer zu verstehen. Das große Summenzeichen Lässt sie sich also als Bruch zweier ganzer Zahlen
definiert die harmonische Reihe, bei der man die darstellen oder nicht? Bis heute ist es niemandem
Terme 1/1, ½, ⅓, ¼ und so weiter addiert. Die Glieder gelungen, entweder das eine oder das andere zu
der Folge werden zwar immer kleiner, trotzdem ist die beweisen. Experten vermuten zwar, sie sei irrational,
Reihe selbst divergent. doch ein definitiver Nachweis steht noch aus.
Das heißt, die Summe strebt keinem festen Wert

I
zu, sondern wird im Grenzfall von unendlich vielen Ter- m Gegensatz zu prominenten irrationalen Zahlen wie
men selbst unendlich. Die Divergenz erfolgt jedoch der Kreiszahl π oder der Wurzel aus 2 trifft man die
sehr langsam. Addiert man etwa die ersten 100 Glie- Euler-Mascheroni-Konstante nirgendwo in simplen
der der Folge, erhält man zirka 5,19 – die ersten und anschaulichen geometrischen Fragestellungen.
1000 Terme ergeben zusammen ungefähr 7,49. Die Dafür aber in diversen anderen Disziplinen der Mathe-
Geschwindigkeit, mit der die Reihe anwächst, lässt matik, etwa der Analysis oder der Funktionentheorie.
sich mit dem natürlichen Logarithmus abschätzen, Daher spielt ihre Zugehörigkeit eine wichtige Rolle. Und
dem zweiten Ausdruck in der großen Klammer. selbst wenn man von ihrer Anwendung absieht, ist es
Denn auch dieser strebt sehr langsam gegen un- unbefriedigend, nicht zu wissen, mit was für einer
endlich. Der natürliche Logarithmus von 100 liegt bei Konstanten man es zu tun hat. Denn Zahlen sind das
etwa 4,6. Zieht man ihn von den ersten 100 Termen Fundament der Mathematik – da kann man sich keine
der harmonischen Reihe ab, ergibt das ungefähr Wissenslücken erlauben.

Spektrum der Wissenschaft  9.20 51


Computerprogram-
METAMORWORKS / GETTY IMAGES / ISTOCK

me unterstützen
immer häufiger Ärzte
bei ihrer Arbeit.

52 Spektrum der Wissenschaft  9.20


KÜNSTLICHE
INTELLIGENZ
DIE ZUKUNFT
DER RADIOLOGIE
Radiologen verwenden immer
häufiger Deep-Learning-Algo­
rithmen, um Krankheiten in
medi­zinischen Scans von Patien-
ten zu identifizieren. Doch wer
ist verantwortlich, wenn den
Programmen ein Fehler unter-
läuft?

Sara Reardon ist Journalistin und


Molekularbiologin in Bozeman,
Montana.

 spektrum.de/artikel/1752446
METAMORWORKS / GETTY IMAGES / ISTOCK

Spektrum der Wissenschaft  9.20 53



Als Regina Barzilay mit Anfang 40 routinemäßig eine und ihre Kollegen die Ergebnisse, wonach ihr Algorithmus
Mammografie durchführen ließ, zeigte das Bild weiße das Risiko, an Krebs zu erkranken oder gesund zu bleiben,
Flecken in ihrem Brustgewebe. Das kann auf eine wesentlich genauer vorhersagte als bisher genutzte Verfah-
Krebserkrankung hindeuten oder völlig harmlos sein – ren. Barzilays Team testete zudem das Programm mit ihren
selbst den besten Radiologen fällt es oft schwer, den Unter- eigenen Mammografien aus dem Jahr 2012. Diesem zufol-
schied zu erkennen. Barzilays Ärzte waren optimistisch und ge hätte sie ein höheres Risiko, in den nächsten fünf Jahren
meinten, man müsse sich nicht sofort darum sorgen. »Ich an Brustkrebs zu erkranken als 98 Prozent aller anderen
hatte bereits Krebs, aber sie haben ihn nicht gesehen«, sagt Patientinnen.
Barzilay im Nachhinein. Der Vorteil an selbstlernenden Algorithmen ist nicht nur,
In den folgenden zwei Jahren unterzog sie sich einer dass sie Details erkennen, die dem menschlichen Auge
zweiten Mammografie, einem MRT und einer Biopsie, die entgehen. Sie können darüber hinaus medizinische Bilder
allesamt weiterhin unklare oder gar widersprüchliche auf völlig neue Art interpretieren. Deshalb entwickeln
Befunde lieferten. Schließlich diagnostizierten die Mediziner momentan zahlreiche Forscher und Unternehmen derartige
2014 Brustkrebs; allein schon der Weg dahin war unglaub- Algorithmen. Sie hoffen damit genauere Diagnosen zu
lich frustrierend für Barzilay. »Wie kann man drei Tests treffen, um Patienten schneller und effizienter zu behan-
machen und dabei drei verschiedene Ergebnisse erhalten?«, deln. Zudem könnte man die Programme in Entwicklungs-
fragte sie sich. ländern und abgelegenen Regionen einsetzen, wo es an
Inzwischen ist der Krebs geheilt. Doch Barzilay blieb Radiologen mangelt. Darüber hinaus wäre es möglich, dass
weiterhin entsetzt darüber, dass sich die Behandlung vieler Wissenschaftler mit Hilfe selbstlernender Algorithmen
Patientinnen verzögert, weil man die Ergebnisse einer bisher unbekannte biologische Mechanismen einer Krank-
Mammografie nicht immer richtig deuten kann. Das wollte heit aufdecken.
sie unbedingt ändern – und traf daher eine Entscheidung,
die ihre Karriere und ihr Leben nachhaltig veränderte. Künstliche Intelligenz in der Medizin: Freund
Als Informatikerin am Massachusetts Institute of Tech- oder Feind?
nology (MIT) hatte sich Barzilay nie mit Medizin beschäftigt. In den letzten Jahren kamen immer mehr KI-Anwendungen
Vor ihrer Erkrankung untersuchte sie, wie man mit künstli- auf den Markt, die Mediziner unterstützen sollen. Einige
cher Intelligenz natürliche Sprache verarbeiten kann. Nach Ärzte zeigten sich davon begeistert, denn die neuen Tech-
ihrer Genesung suchte sie nach einem neuen Forschungs- nologien könnten ihre Belastung reduzieren. Andere bang-
schwerpunkt und beschloss daher, gemeinsam mit Radiolo- ten dagegen um ihre Arbeitsplätze. Die Programme werfen
gen an Algorithmen zu arbeiten, die Krankheiten anhand außerdem noch nie dagewesene Fragen auf, etwa wie man
von Mammografie-Scans identifizieren. Sie hoffte, die einen sich ständig verändernden Algorithmus reguliert.
Programme könnten Muster erkennen, die dem menschli- Oder wer die Schuld trägt, wenn dieser eine falsche Diag-
chen Auge entgehen. nose stellt. Dennoch sind viele Ärzte optimistisch. »Wenn
In den folgenden vier Jahren trainierte ihr Team eine KI man die Modelle ausreichend überprüfen kann und wir ihre
mit Mammografie-Aufnahmen von etwa 32 000 Frauen Funktionsweise besser verstehen, lässt sich das Niveau der
unterschiedlichen Alters und ethnischer Herkunft. Die For- Gesundheitsversorgung für alle erhöhen«, sagt der Radiolo-
scher teilten dem Programm zudem mit, welche der Patien- ge Matthew Lungren von der Stanford University.
tinnen in den nächsten fünf Jahren nach der Aufnahme an Die Idee, radiologische Scans mit Hilfe von Computern
Krebs erkrankt waren. Im Mai 2018 veröffentlichten Barzilay auszuwerten, ist nicht neu. Bereits in den 1990er Jahren
verwendeten Radiologen ein Programm namens Compu­
terassistierte Detektion (CAD), um Brustkrebs in Mammo-
grafien zu erkennen. Die Technologie wurde anfangs als
AUF EINEN BLICK revolutionär gefeiert, und die Kliniken übernahmen sie
KI MIT DURCHBLICK schnell. Doch sie erwies sich als zeitaufwändiger und
schwieriger zu handhaben als die bestehenden Methoden.

1 Häufig ist es schwer, eindeutige Schlüsse aus radiologi- Einigen Studien zufolge machten Kliniken, die CAD einsetz-
schen Aufnahmen zu ziehen. Deshalb werden einige ten, mehr Fehler als solche, die es nicht nutzten. Der Miss-
Erkrankungen erst spät oder überhaupt nicht erkannt – erfolg habe viele Ärzte an der computergestützten Diagnos-
was Menschenleben kostet. tik zweifeln lassen, so der Radiologe Vijay Rao von der
Jefferson University in Philadelphia.

2 Informatiker haben daher begonnen, Algorithmen zu


entwickeln, die Radiologen bei ihrer Arbeit unterstützen
sollen.
In den letzten zehn Jahren hat sich die künstliche Intel­
ligenz stark weiterentwickelt, vor allem im Bereich der
Computer Vision, zu dem unter anderem die Gesichtserken-
nung zählt. Die Programme werden allerdings auch immer
3 Allerdings ist es nicht leicht, Datensätze zu finden, die
sowohl vielfältig sind, als auch genügend hochwertige
Informationen enthalten, um die selbstlernenden
besser darin, medizinische Scans auswerten. Die meisten
Methoden basieren auf dem Prinzip des Deep Learning.
Programme zu trainieren. Dabei erhält ein Computer eine Reihe von Beispielbildern,
aus denen er ein Netzwerk aus Assoziationen entwickelt.
Wenn man beispielsweise einem Programm sagt, welche

54 Spektrum der Wissenschaft  9.20


»Was wir in
der Medizin
brauchen, sind
mehr zwischen-
menschliche
Kontakte und
Bindungen«
Eric Topol
PHOTOPROFI30 / GETTY IMAGES / ISTOCK

Per Röntgenbild den Gesundheitszustand eines Patien- gen etwa 60 Prozent der von ihnen angeordneten Scans bei
ten einzuschätzen, ist für Ärzte tägliche Arbeit. Ein kollabierten Lungen als hochprioritär kennzeichnen. Häufig
Algorithmus kann dabei helfen, etwa ein hohes Risiko müssen sie sich allerdings erst stundenlang mit harmlosen
für einen Lungenkollaps schnell zu erkennen. Fällen beschäftigen, bevor sie sich dringenden Situationen
zuwenden können. »Jeder Arzt, mit dem ich spreche, hat
eine Geschichte, bei der er einen Patienten wegen eines
Bilder einer Krebserkrankung entsprechen, sucht es nach Lungenkollapses verloren hat«, sagt Karley Yoder, Vizepräsi-
Merkmalen, die diesen Bildern gemein sind, aber in gesun- dent und Geschäftsführer von AI bei GE Healthcare in
den Beispielen nicht auftauchen. Boston, einem der führenden Hersteller von medizinischen
Inzwischen haben sich die neuartigen Technologien in Bildgebungsgeräten. Im vergangenen September geneh-
der Radiologie schnell verbreitet. »2018 war künstliche migte die FDA mehrere KI-Anwendungen, die nun in GE-
Intelligenz und die Bildgebung das Hauptthema jedes Scanner integriert werden und automatisch dringende Fälle
großen Meetings, zu dem ich ging«, sagt Rao, ehemaliger kennzeichnen.
Präsident der Radiological Society of North America. Offi­
ziell führt die US-amerikanische Food and Drug Administra- Schnelle Lerner
tion (FDA) keine Liste der zugelassenen KI-Anwendungen, Da sie riesige Datenmengen verarbeiten können, sind Com-
doch laut dem Forscher für digitale Medizin Eric Topol vom puter in der Lage, analytische Aufgaben auszuführen, die
Scripps Research Institute in La Jolla, Kalifornien, geneh- über die menschlichen Fähigkeiten hinausgehen. Google
migt die Behörde wohl mindestens einen Algorithmus für entwickelt beispielsweise selbstlernende Algorithmen, die
die medizinische Bildgebung pro Monat. Eine 2018 von der zweidimensionale CT-Bilder der Lunge zu einer dreidimen­
Marketing-Intelligence-Firma Reaction Data durchgeführte sionalen Darstellung des Organs zusammensetzen. Da-
Umfrage ergab, dass 84 Prozent der US-amerikanischen durch kann die Software die gesamte Struktur untersuchen.
Radiologie-Kliniken künstliche Intelligenz einsetzen oder Radiologen müssen hingegen jede Aufnahme einzeln
planen, sie künftig zu nutzen. Der Bereich wächst beson- betrachten und versuchen, alles im Kopf zu einem dreidi-
ders schnell in China an, wo es mehr als 100 Unternehmen mensionalen Gebilde zu rekonstruieren. Ein weiterer Goo­
gibt, die derartige Technologien für das Gesundheitswesen gle-Algorithmus kann sogar das Risiko von Patienten für
konzipieren. Herz-Kreislauf-Erkrankungen bestimmen, indem er einen
Ein weiteres Beispiel ist das Start-up-Unternehmen Scan ihrer Netzhaut analysiert. Dabei achtet er auf winzige
Aidoc in Tel Aviv, das Algorithmen entwickelt, um CT-Scans Veränderungen, die abhängig von Blutdruck, Cholesterin-
auf Anomalien hin zu analysieren und die entsprechenden spiegel, Rauchen und Alter auftauchen können.
Patienten an die Spitze der Prioritätenliste eines Arztes zu Künstliche Intelligenz kann zudem bisher unbekannte
setzen. Das Programm verfolgt zudem, wie oft Ärzte es Verbindungen zwischen biologischen Merkmalen und
verwenden und wie lange sie damit verbringen, die geliefer- Erkrankungen aufdecken. Forscher veröffentlichten 2019
ten Schlussfolgerungen zu hinterfragen. »Anfangs sind sie einen Deep-Learning-Algorithmus, den sie mit mehr als
meist skeptisch, aber nach zwei Monaten gewöhnen sie 85 000 Röntgenbildern des Brustbereichs trainiert hatten.
sich daran«, sagt Elad Walach, CEO von Aidoc. Die entsprechenden Teilnehmer hatten an zwei großen
Die damit einhergehende Zeitersparnis kann entschei- klinischen Studien teilgenommen, bei denen sie über zwölf
dend sein, um einen Patienten zu retten. In einer kürzlich Jahre lang begleitet wurden. Der Algorithmus bewertete
erschienenen Studie fanden Forscher heraus, dass Radiolo- das Sterberisiko jedes Patienten in dem Zeitraum. Die

Spektrum der Wissenschaft  9.20 55


Forscher fanden heraus, dass 53 Prozent der Menschen, empfindlich auf solche Eigenschaften zu reagieren. Ein
welche die KI in eine Hochrisikokategorie einstufte, inner- Algorithmus könnte demnach schließen, dass routinemäßig
halb der zwölf Jahre verstarben – im Gegensatz zu vier aufgenommene Bilder nie eine ernsthafte Erkrankung
Prozent aus der Niedrigrisikokategorie. Das Programm zeigen. Eine KI könnte aber genauso falsch auf Narben oder
verfügte dabei über keinerlei näheren Informationen zu den medizinische Implantate reagieren, die auf ein früheres
Todesfällen, etwa zur Todesursache. Gesundheitsproblem eines Patienten hinweisen, und anneh-
Um zu verstehen, wie der Algorithmus seine Einteilung men, Menschen ohne solche Merkmale seien nicht er-
traf, identifizierten die Forscher die Bildbereiche, die er für krankt. Selbst die Art und Weise, wie Bilder beschriftet
seine Berechnungen verwendete. Wenig überraschend sind, können ein Programm verwirren.
befand sich darunter unter anderem der Taillenumfang und Die Lösung, so Finlayson, besteht darin, einen Algorith-
die Bruststruktur von Frauen, die bekanntlich Risikofaktoren mus mit zahlreichen Daten aus verschiedenen Orten mit
für bestimmte Krankheiten darstellen. Aber der Algorithmus unterschiedlichen Patientenpopulationen zu trainieren.
untersuchte auch die Region unter den Schulterblättern der Anschließend müsse man ihn an einer neuen Gruppe
Patienten, der Mediziner bisher keine Aufmerksamkeit testen. Nur sehr wenige Algorithmen wurden bisher auf
geschenkt hatten. Lu vermutet, dass dieser Bereich mit der
Beweglichkeit zusammenhängt: Bei einer Thoraxaufnahme
müssen die Patienten das Gerät oft umarmen, und weniger »Ich hatte bereits Krebs, aber
gesunde Menschen, denen das nicht gelingt, könnten ihre
Schultern anders positionieren. »Das ist nichts, worauf ich
sie haben ihn nicht gesehen«
auf Anhieb geachtet hätte«, gibt Lu zu. Regina Barzilay
Die Funktionsweise einer KI wird oft als Blackbox be-
zeichnet: Es wirkt so, als ob sie in einem völlig dunklen
Raum arbeitet, der für Menschen unzugänglich ist. Exper- diese Weise entwickelt. Topol hat kürzlich dutzende ver-
ten sind sich nicht einig, ob das in der medizinischen Bild- schiedene Studien genauer untersucht, bei denen die
gebung problematisch ist. Einige meinen, man müsse nicht vorgestellten Algorithmen besser als Radiologen abschnit-
zwingend wissen, wie ein Algorithmus funktioniert, solange ten. Dabei stellte er fest, dass die Wissenschaftler bloß bei
er die Leistung der Ärzte und die Gesundheit der Patienten einer Hand voll Arbeiten das Programm an Patienten ge-
verbessert. Schließlich verstehen Forscher die Mechanis- prüft hatten, die nicht zu den Beispieldaten zählten. »Algo-
men vieler Medikamente noch immer nicht vollständig. Ein rithmen sind extrem empfindlich«, sagt Cynthia Rudin,
Beispiel dafür ist Lithium, das seit den 1950er Jahren bei Informatikerin an der Duke University. »Wenn man ver-
Psychosen eingesetzt wird. sucht, sie über die Trainingsdaten hinaus anzuwenden,
Dennoch lässt sich nicht leugnen, dass das Blackbox- funktioniert das nicht immer.«
Prinzip zu Missverständnissen führen kann. So waren Barzilays Team hat vor Kurzem den Algorithmus an
Forscher an der Icahn School of Medicine at Mount Sinai in 10 000 Scans des Karolinska-Instituts in Schweden getestet.
New York äußerst irritiert, als ein von ihnen entwickelter Die KI funktionierte dort ebenso gut wie in Massa­chusetts.
Deep-Learning-Algorithmus völlig andere Ergebnisse Nun arbeitet die Gruppe mit Krankenhäusern in Taiwan und
lieferte als menschliche Mediziner. Sie hatten ihr Programm Detroit zusammen, um das Programm an weiteren Patien-
mit Röntgenbildern vom Mount Sinai Hospital darauf trai- tenpopulationen zu erproben. Ein großes Problem stellt
niert, eine Lungenentzündung zu erkennen. Dabei erreichte momentan die Bewertung des Brustkrebs­risikos bei afro-
es eine Genauigkeit von mehr als 90 Prozent. Doch bei amerikanischen Frauen dar, so Barzilay. Das liege daran,
Röntgenbildern aus anderen Kliniken schnitt es weitaus dass die bisherigen Standards hauptsächlich mit Hilfe von
schlechter ab. Die Forscher fanden schließlich heraus, dass Scans weißer Frauen entwickelt wurden.
der Algorithmus nicht nur die Bilder analysierte, sondern Stellt ein Algorithmus eine falsche Diagnose, dann führt
auch berücksichtigte, wie häufig Lungenentzündungen in die Blackbox der KI zu weiteren Schwierigkeiten, vor allem
den jeweiligen Einrichtungen auftreten. Das hatten die aus rechtlicher Sicht: Man muss herausfinden, ob der be-
Entwickler weder erwartet noch gewünscht. handelnde Arzt oder das Programm die Schuld trägt. Oft-
mals kann ein Mediziner nicht erklären, wie der Computer
Auf die Herkunft und Qualität der Datensätze zu seinem Ergebnis kam. Zudem ist die genaue Funktions-
kommt es an weise eines Programms häufig ein streng gehütetes Ge-
Unvorhergesehene Faktoren wie diese beunruhigen Samuel schäftsgeheimnis. Weil Mediziner erst seit kurzer Zeit
Finlayson, der an der Harvard Medical School untersucht, künstliche Intelligenz einsetzen, ist ein solcher Fall noch
wie man maschinelles Lernen im biomedizinischen Bereich nicht eingetreten. Dadurch ist noch unklar, wer juristisch
anwenden kann. Er gibt zu bedenken, dass die Datensätze, gesehen die Verantwortung trägt und welche Art von
mit denen man eine KI trainiert, auf unerwartete Weise Transparenz man fordern sollte.
verzerrt sein könnten. Zum Beispiel zeigt ein Bild, das man Rudin zeigt sich frustriert von dem Blackbox-Problem.
in einer Notaufnahme oder mitten in der Nacht aufgenom- »Es gibt keinen Grund, warum man keinen Roboter bauen
men hat, mit höherer Wahrscheinlichkeit eine kranke Per- könnte, der sich selbst rechtfertigt«, erklärt sie. Die meisten
son als eines, das während einer Routineuntersuchung medizinischen Algorithmen basieren allerdings auf Deep-
gemacht wurde. Computerprogramme neigen dazu, über- Learning-Ansätzen, die für andere Arten der Bildanalyse

56 Spektrum der Wissenschaft  9.20


entwickelt wurden. Es ist wesentlich schwieriger, ein Viele Experten, darunter auch Rao, gehen davon aus,
transparentes Programm von Grund auf neu zu entwickeln, dass sich die Ausbildung und die tägliche Arbeit von Radio-
als einen bestehenden Blackbox-Algorithmus für medizini- logen in den kommenden Jahren drastisch verändern
sche Daten umzufunktionieren. Deshalb vermutet Rudin, werden. »Algorithmen werden sie nicht ersetzen. Aber
dass die meisten Forscher zunächst ein Programm zum Radiologen, die KI-Programme verwenden, werden ihre
Laufen bringen und erst hinterher versuchen zu verstehen, Kollegen ersetzen, die keine nutzen«, sagt der Radiologe
wie es zu den Ergebnissen kommt. Curtis Langlotz in Stanford.
Rudin entwickelt transparente Algorithmen, die Mam- Gerade in Entwicklungsländern kann künstliche Intelli-
mografien auf Tumoren hin analysieren und Mediziner genz Ärzte unterstützen. Dort haben Mediziner oftmals
ständig darüber informieren, was sie tun. Allerdings fehlen keinen Zugang zu modernen Scannern. Zudem fehlt es oft
verfügbaren Daten, um das Programm erfolgreich zu trai- an ausgebildeten Radiologen, um die Aufnahmen zu inter-
nieren. Zugängliche Bilder sind in der Regel schlecht be- pretieren. Weil die Medizin immer spezialisierter wird und
schriftet oder wurden mit veralteten Geräten aufgenom- stark von der Bildanalyse abhängt, wächst die Kluft zwi-
men, die man heute nicht mehr verwendet, sagt Rudin. schen dem Versorgungsstandard in wohlhabenderen und
Das Blackbox-Problem stellt auch eine Herausforderung ärmeren Gebieten, so Lungren. Ein Algorithmus kann eine
für Überwachungsbehörden dar. Im Gegensatz zu einem kostengünstige Möglichkeit sein, diese Lücke zu schlie-
Medikament, das immer auf gleiche Weise funktioniert, ßen – dafür braucht man meist nur ein Smartphone.
verbessern sich maschinelle Lernalgorithmen im Lauf der
Zeit selbst. Weil sie durch so viele verschiedene Eingaben
beeinflusst werden, können die Programme durch schein-
bar harmlose Änderungen wie ein neues IT-System in
einem Krankenhaus plötzlich versagen.
Mehr Wissen auf
Im vergangenen April schlug die FDA daher eine Reihe Spektrum.de
von Richtlinien vor, um selbstlernende Algorithmen zu Unser Online-Dossier zum Thema
verwalten. Unter anderem sollten Hersteller kontrollieren, finden Sie unter
spektrum.de/t/kuenstliche-intelligenz
wie sich die Programme ändern, um sicherzustellen, dass / ISTOCK
METAMORWORKS / GETTY IMAGES
sie weiterhin wie geplant funktionieren. Zudem sollten sie
die FDA benachrichtigen, wenn sie Modifikationen feststel-
len, die eine Neubewertung erforderlich machen könnten. Lungren und sein Team entwickeln derzeit ein Gerät, das
Darüber hinaus rät die FDA den Herstellern, ihre Arbeit zu es Ärzten ermöglichen soll, eine Röntgenaufnahme mit der
protokollieren, etwa wie sie die potenziellen Änderungen Handykamera abzufotografieren – und nicht wie sonst
handhaben. »Es gibt eben kein Patentrezept«, sagt Bakul üblich, aufwändige digitale Scans aufzunehmen – und
Patel, Direktor für digitale Gesundheit bei der FDA. anschließend einen Algorithmus auszuführen, der eine
Krankheit wie Tuberkulose automatisch erkennt.
Richtlinien der Überwachungsbehörden Zudem könnte künstliche Intelligenz die medizinischen
Im Jahr 2018 genehmigte die FDA den ersten Algorithmus, Unterlagen eines Patienten im Voraus untersuchen, um
der eine medizinische Entscheidung treffen kann, ohne festzustellen, ob dieser überhaupt einen Scan benötigt, sagt
dass sich ein Arzt das Bild ansehen muss. Das von IDx Rao. Viele medizinische Ökonomen glauben, dass die
Technology in Coralville, Iowa, entwickelte Programm Bildgebung überstrapaziert wird – allein in den USA werden
untersucht Netzhautbilder, um eine diabetische Retinopa- jährlich mehr als 80 Millionen CT-Scans durchgeführt.
thie zu erkennen. Nach Angaben des Unternehmens ist es Obwohl die Fülle an Daten nützlich für Forscher ist, die
dabei zu 87 Prozent genau. Der Vorstandsvorsitzende von damit ihre Algorithmen trainieren, sind solche Maßnahmen
IDx Michael Abramoff sagt, dass die Firma die Verantwor- außerordentlich kostspielig und setzen Patienten teilweise
tung für medizinische Fehler übernimmt, da kein Arzt verzichtbarer Strahlung aus.
involviert ist. Barzilays Meinung nach ist eine KI am nützlichsten,
Dennoch bezweifeln die meisten Experten, dass Com­ wenn man sie als Partner einsetzt, um bestehende Proble-
puter in absehbarer Zeit Ärzte ersetzen werden. »Algorith- me zu überwinden, die Ärzte allein nicht lösen können.
men meistern häufig eine einzelne, spezielle Sache«, sagt Damit könnte verhindert werden, dass Patienten unnötig
Walach. Die Humanbiologie sei extrem komplex, »daher lange auf eine Behandlung warten müssen, wie sie es einst
braucht man Menschen, die mehr als nur eine Sache wirk- erlebt hatte. 
lich gut können«. Mit anderen Worten: Selbst wenn ein
Algorithmus ein bestimmtes Problem genauer diagnosti-
QUELLEN
ziert, erzielt man dennoch bessere Ergebnisse, wenn man
zusätzlich die Erfahrung eines Arztes sowie die individuelle Lu, M. T. et al.: Deep learning to assess long-term mortality
Geschichte des Patienten miteinbezieht. Eine spezialisierte from chest radiographs. Jama Network Open 2, 2019
KI könnte Radiologen Arbeit abnehmen und ihnen mehr Topol, E. J.: High-performance medicine: The convergence of
Zeit für den Umgang mit Patienten geben. »Was wir in der human and artificial intelligence. Nature Medicine 25, 2019
Medizin brauchen, sind mehr zwischenmenschliche Kon- Yala, A. et al.: A deep learning mammography-based model for
takte und Bindungen«, sagt Topol. improved breast cancer risk prediction. Radiology 292, 2019

Spektrum der Wissenschaft  9.20 57


ÖKOLOGIE
DEM MIKROPLASTIK
AUF DER SPUR
Überall in unserer Umwelt finden
sich kleinste Kunststoffteilchen.
Während längst eine große Debatte
darüber läuft, wie wir die Flut an
­Mikroplastik eindämmen können, ist
noch nicht klar, wie die Partikel auf
Organismen wirken.
JÜRGEN MAI

Carolin Völker (links) und Johanna Kramm leiten


die F
­ orschungsgruppe PlastX am ISOE − Institut für
sozial-ökologische Forschung in Frankfurt am Main.

 spektrum.de/artikel/1752448

SERIE
Kunststoffe heute und morgen

Teil 1: September 2020


Dem Mikroplastik auf der Spur
Carolin Völker und Johanna Kramm
Teil 2: Oktober 2020
CHRISTOPH SCHÜR; MIT FRDL. GEN. VON CAROLIN VÖLKER

Chemisches Recycling
Tamara Worzewski
Teil 3: November 2020
Interview: Sind Biokunststoffe sinnvoll?
Hans-Josef Endres und Frederik Wurm

58 Spektrum der Wissenschaft  9.20


Grün fluoreszierende
Mikroplastikpartikel im
Verdauungstrakt des
Großen Wasserflohs
(Daphnia magna).
CHRISTOPH SCHÜR; MIT FRDL. GEN. VON CAROLIN VÖLKER

Spektrum der Wissenschaft  9.20 59



»Es waren im Durchschnitt etwa 3500 Kunststoffparti- vor nicht vollständig beantwortet. Das liegt unter anderem
kel pro Quadratkilometer. (…) Bei den meisten Stücken daran, dass Forschung auf diesem Gebiet für die Wissen-
handelte es sich um harte, weiße, zylindrische Pellets schaft eine besondere methodische Herausforderung
mit einem Durchmesser von etwa 0,25 bis 0,5 Zentimetern darstellt.
und abgerundeten Enden. Chemische Verwitterung und So ist es bereits schwierig zu erfassen, welche Men-
Wellenbewegung könnten die Pelletform erzeugt haben. gen tatsächlich in die Ökosysteme gelangen. Zunächst
Viele Stücke waren spröde, was darauf hindeutet, dass die haben sich die Forscher auf Ozeane und Meere fokussiert,
Weichmacher durch die Verwitterung entwichen sind. in denen sie die ersten zufälligen Funde gemacht hatten.
Einige hatten scharfe Kanten, was entweder auf einen Wegweisend war dazu die Arbeit des Meeresbiologen
kürzlich erfolgten Eintrag ins Meer oder auf Fragmente Richard Thompson von der University of Plymouth und
kürzlich zerbrochener größerer Plastikteile hindeutet. Einige seines Teams. Im Jahr 2005 fassten sie die zahlreichen
wenige Partikel (sechs Prozent) waren grün, blau oder rot kleinen Plastikfragmente in einer Publikation zum ersten
gefärbt, und es gab auch eine kleine Anzahl von durchsich- Mal unter dem Begriff Mikroplastik zusammen. Bei der
tigen Kunststofffolien. Mehrere größere Stücke konnten als Untersuchung von Stränden und Sedimenten an der
Verschlusskappen von Spritzen, Zigarrenspitzen, Schmuck ­Küstenregion um Plymouth (Großbritannien) hatten sie
und Knöpfe identifiziert werden. Aus der Vielzahl der identi- Bruchstücke entdeckt, die sie neun unterschiedlichen
fizierbaren Objekte war ersichtlich, dass viele Arten von Polymeren zuordnen konnten. Mit ihrer Veröffentlichung
Kunststoffen vorhanden waren.« lenkten sie die Aufmerksamkeit von Wissenschaft und
So berichteten die Wissenschaftler Edward Carpenter Öffentlichkeit von den großen, sichtbaren Abfallansamm-
und K. L. Smith von der Woods Hole Oceanographic Institu- lungen in den Meeren vermehrt auf die verdeckte Kontami-
tion bereits 1972 über die Funde auf ihrer dreiwöchigen nation mit fein zerriebenen Plastikpartikeln.
Forschungsreise in die westliche Sargassosee, auf der sie
die Meeresoberfläche mit Hilfe von feinsten Netzen durch- Die Funde überall auf der Welt spiegeln wider,
kämmten – eigentlich, um das Plankton zu untersuchen. was wir im Alltag verwenden
Zusätzlich zu den winzigen Organismen stießen sie auf In den darauf folgenden Jahren erschienen viele weitere
verschiedene Plastikfragmente, die sie in einem Artikel in Studien, die mit unterschiedlichen Methoden nachwiesen,
der Fachzeitschrift »Science« beschrieben. Doch erst rund dass die kleinen Teilchen überall im Meer vorkommen –
30 Jahre später prägte der Meeresbiologe Richard Thomp- selbst an so abgelegenen Orten wie der Tiefsee oder der
son den Begriff, mit dem wir heute winzige Plastikteile in Arktis. »Hotspots« der Verunreinigung sind die fünf großen
der Umwelt bezeichnen: Mikroplastik. ozeanischen Wirbel, in denen sich auf Grund der Meeres-
Heute ist Mikroplastik keine zufällige Entdeckung mehr. strömungen schwimmende Kunststoffabfälle ansammeln.
Planktonnetze setzt man vielmehr gezielt ein, um Meeren In Europa wies man Mikroplastikfragmente in der Ost- und
und Ozeanen sowie Flüssen und Seen Plastikpartikel für Nordsee sowie im Mittelmeer nach. Aber nicht nur im
Analysen zu entnehmen. Heute wie damals will man da- Wasser, wo stärker kontaminierte Proben mehrere hun-
durch herausfinden, wie verbreitet sie sind und wo sie in dert Partikel pro Liter enthalten, sind sie vorhanden, son-
der Umwelt vorkommen, welche Schadstoffe mit den dern ebenso in Sedimenten von Küsten und Meeresböden.
Partikeln eingetragen werden und welche Folgen sich für Dort finden sich meist bis zu 100 Partikel pro Kilogramm, an
das Ökosystem ergeben können. Und nicht zuletzt wollen stärker verschmutzen Stellen wie etwa Häfen oder Fluss-
Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler verstehen, mündungen sind es sogar mehrere hundert bis zu 1000.
woher die winzigen Bruchstücke stammen und wie sich ihr Und an Stränden schwemmen die Gezeiten die feinen
Eintrag in die Umwelt verhindern lässt. Obwohl die Auswir- Stückchen ebenfalls an, wo sie sich teilweise in sichtbar
kungen von Mikroplastik gerade in den letzten 15 Jahren zu- großen Mengen ansammeln, wie die Bilder des Strands von
nehmend untersucht wurden, sind viele Fragen nach wie Famara auf Lanzarote eindrücklich zeigen (siehe Fotos
rechts und auf S. 62).
Die Partikel bestehen vorwiegend aus Kunststoffen des
alltäglichen Gebrauchs, die in großen Mengen produziert
werden: Das sind beispielsweise gängige Verpackungs­
AUF EINEN BLICK materialien wie Polyethylen (PE), Polyethylenterephthalat
FEIN VERTEILT UND ÜBERALL (PET) und Polypropylen (PP), das zur Produktion von Styro-
por oder Schaumstoffen benötigte Polystyrol (PS) sowie

1 Weltweit finden sich in nahezu allen Ökosystemen


feinste Plastikfragmente.
Poly­vinylchlorid (PVC), aus dem sich Fußbodenbeläge oder
Gartenstühle herstellen lassen. Häufig finden sich zudem
Polyamidfasern (Nylon) darunter, die sich aus Fischernetzen
2 Welche Folgen Mikroplastik für die Umwelt hat, ist
noch nicht sicher abzuschätzen.
lösen. Bis auf die Netze, die auf See verloren gehen, stam-
men die meisten anderen Plastikfragmente von Produkten,
die auf dem Festland verwendet werden und ihren Weg ins
3 Die winzigen Partikel machen nur einen kleinen Teil der
Verunreinigung mit Kunststoffen aus. Meer gefunden haben. Das geschieht zum einen über
Flüsse, denen sich die Forschung zu Mikroplastik in den
letzten Jahren verstärkt gewidmet hat. Auch hier wurden

60 Spektrum der Wissenschaft  9.20


CAROLIN VÖLKER

Die Gezeiten spülen zahlreiche Kunststoffteilchen an Genaue Zahlen dazu, wie stark Wasser, Boden und Luft
den Strand von Famara auf Lanzarote. belastet sind, existieren bisher nicht. Die Werte beruhen auf
Einzelmessungen oder Schätzungen und unterscheiden
sich von Region zu Region stark. In deutschen Flüssen
rund um den Globus unterschiedliche Mengen an Partikeln beträgt der höchste gemessene Wert umgerechnet 0,2 Par-
entdeckt. Besonders häufen sich die Funde etwa in der tikel pro Liter Flusswasser, während Proben aus dem Ozean
Nähe von Produktionsstätten: Hier können feine Kunststoff- im selben Volumen mehrere hundert Teilchen enthalten
granulate, die zur Herstellung von Plastikprodukten verwen- können. Die Plastikfragmente stammen je nach Gebiet aus
det werden, verloren gehen und mit dem Abwasser in die unterschiedlichen Quellen: Im Ozean machen sekundäre
Flüsse gelangen. Auf dem gleichen Weg erreichen außer- Partikel, also solche, die aus dem Zerfall größeren Plastik-
dem winzige Plastikfragmente aus Haushalten die Gewäs- mülls entstehen, den höchsten Anteil aus. In deutschen
ser. Das können etwa Fasern von Kleidung sein, die sich Gewässern hingegen lässt sich die Belastung vor allem auf
beim Waschen lösen, oder Mikroplastikpartikel aus Kosme- den Abrieb von Reifen sowie den Verschleiß von Bau­
tikprodukten. Doch genauso trägt Regenwasser, das von materialien zurückführen. Plastikpartikel, die aus Kosmetik-
Flächen abläuft, kleine Kunststoffreste in die Gewässer ein, produkten über den Abwasserpfad die Umwelt erreichen,
wie den Abrieb von Autoreifen und Splitter von Baustoffen tragen nur einen sehr geringen Teil dazu bei.
oder Lacken – also Stadtstaub, der zu einem großen Anteil
aus Mikroplastik besteht. Schwierige Spurensuche
Durch die breite Verwendung von Kunststoffprodukten Mikroplastik in der Umwelt nachzuweisen, ist aus vielerlei
in unserem Alltag sind in der Luft über dicht besiedelten Gründen aufwändig und schwierig. Denn zum einen sind
Regionen feine Plastikpartikel zu finden – was naheliegend die Partikel vielfältig und können sich je nach ihren chemi-
ist. Niederschläge waschen sie aus und transportieren sie schen Eigenschaften in unterschiedlichen Umweltkomparti-
in Gewässer. Und Böden gelten ebenfalls als belastet: menten – also Luft, Böden oder Gewässern – sammeln.
Mikroplastikteilchen vermutet man vor allem auf landwirt- Zum anderen fehlen bislang einheitliche analytische Metho-
schaftlichen Flächen, auf denen beispielsweise Kunststoff- den. Somit unterscheiden sich Messergebnisse teilweise
folien zum Einsatz kommen oder auf denen Kompost oder erheblich voneinander, je nachdem, mit welchen Verfahren
Klärschlamm als Dünger dienen. Denn bei der Klärung von die mikroskopisch kleinen Stückchen gesammelt und
Abwasser, das mit Mikroplastik belastet ist, verbleiben über analysiert wurden. Partikel im Ozean filtert man zumeist mit
95 Prozent der Partikel im Schlamm. Werden Felder mit Planktonnetzen aus dem Wasser, wobei sich im Netz
solchem Schlamm gedüngt, gelangen auch die Partikel auf anschließend gemeinsam mit ihnen viele andere Schweb-
die landwirtschaftlichen Flächen. stoffe (etwa natürliche Partikel oder Plankton) befinden, von

Spektrum der Wissenschaft  9.20 61


denen die Plastikteilchen getrennt werden müssen. Das vieler weiterer Organismen nachgewiesen, darunter in
gleiche Problem ergibt sich, wenn man eine Sediment- oder zahlreichen unterschiedlichen Fischarten und Muscheln.
eine Bodenprobe analysiert – weil eine solche zu einem Schädliche Effekte auf die Tiere – wie es oft bei größeren
Großteil aus Sand und organischen Substanzen besteht, die Plastikteilen, an denen Wildtiere verenden können, der
nur schwer von den zu untersuchenden Teilchen zu sepa­ Fall ist – zeigten sich im Fall von Mikroplastik jedoch nicht
rieren sind. direkt.
Die analytischen Methoden zur Identifikation von Mikro- Um die Auswirkungen der Partikel genauer zu verstehen,
plastikpartikeln werden ständig weiterentwickelt, denn setzt man Wasserorganismen in Laborstudien Mikroplastik-
nur wenn belastbare Zahlen zu Umweltkonzentrationen partikeln aus und untersucht die Folgen. Wie sich hierbei
vorliegen, lässt sich bewerten, welches Risiko Schadstoffe beobachten ließ, nehmen Kleinstlebewesen in den Gewäs-
für Ökosysteme darstellen. Bloß weil ein Stoff vorhanden sern, also kleine Schnecken, Wasserflöhe und andere
ist, bedeutet das noch nicht, dass er schädlich ist – um das planktonische Organismen, die Teilchen ebenfalls auf (siehe
beurteilen zu können, muss bekannt sein, welchen Mengen Bild auf S. 59). Die meisten der Tierchen scheiden sie laut
ein Organismus in der Umwelt ausgesetzt ist. Schon die den Studien aber problemlos wieder über den Verdauungs-
frühen Studien aus den 1970er Jahren wiesen darauf hin, trakt aus.
dass Fische Plastikpartikel verschlucken, da man sie im In manchen Fällen haben Wissenschaftlerinnen und
Darm der Tiere gefunden hatte. Mittlerweile hat man die ­Wissenschaftler jedoch schädliche Effekte nach der Auf-
feinen Polymerstückchen außerdem im Verdauungstrakt nahme von Mikroplastik nachgewiesen. So zeigten sich bei
Miesmuscheln Entzündungsreaktionen in den Zellen,
während Wasserflöhe langsamer wuchsen und sich weni-
Plastikfragmente in der Umwelt bestehen aus ger fortpflanzten. Es gibt unterschiedliche Theorien über die
­Bruchstücken größeren Abfalls oder aus genauen Wirkungsmechanismen auf die Lebewesen, die
kleinen Kügelchen, die für die Herstellung von allerdings noch nicht bewiesen sind. Zum einen können
­Kunststoffprodukten benutzt werden. Substanzen wie Weichmacher aus den Partikeln austreten

CAROLIN VÖLKER

62 Spektrum der Wissenschaft  9.20


Was ist Mikroplastik?

Als Mikroplastik bezeichnet man Kunststoffteilchen, die durch Mikroorganismen besiedeln die
generell alle Kunststofffragmente, Verwitterung entstehen, fasst man kleinen Teilchen in der Umwelt
die kleiner sind als fünf Millimeter. als »sekundäres Mikroplastik« recht schnell und bilden auf ihnen
Sie entstehen, wenn größerer zusammen, während die direkt für einen so genannten Biofilm. Neben
Plastikmüll verwittert und dadurch bestimmte Anwendungen produ- der generellen Verwitterung tragen
in immer kleinere Teile zerfällt oder zierten Pellets und Granulate als die Mikroben dazu bei, dass sich
zerrieben wird. »primäres Mikroplastik« bezeichnet die Fragmente nach und nach
Die winzigen Bruchstücke werden. immer weiter zersetzen. Das Ergeb-
erreichen aber ebenso über andere Nicht nur ihre Herkunft, auch die nis sind winzige, oft als Nano­plastik
Wege die Umwelt: So verwendet Partikel selbst sind höchst unein- bezeichnete Partikel. Theoretisch
man für die Herstellung von Kunst- heitlich. Sie bestehen aus verschie- können Tiere sie ebenfalls aufneh-
stoffprodukten beispielsweise feine denen Polymerarten, haben unter- men, wobei über die möglichen
Granulate, die an den Produktions- schiedliche Größen und Farben, Effekte noch wenig bekannt ist. Mit
stätten in Böden, Luft oder Gewäs- und ihre Form reicht von Kügel- der Zeit werden selbst die kleinsten
ser gelangen können. Darüber chen über scharfkantige Fragmen- Plastikteilchen in der Umwelt
hinaus enthalten bestimmte Kör- te bis hin zu feinen Fasern. Die vollständig in einzelne Moleküle
perpflege- und Reinigungsmittel Vielfalt der Plastikpartikel, die in zersetzt oder mineralisiert, das
kleine Mikroplastikkügelchen, die der Umwelt auftreten, spiegelt heißt in Kohlenstoffdioxid und
für einen Schleifeffekt sorgen. somit gewissermaßen das breite Wasser zersetzt. Wie lange dieser
Nach der Nutzung solcher Produk- Spektrum an Kunststoffprodukten Prozess dauert, hängt stark von der
te finden sie über das Abwasser und deren Verwendungsarten in jeweiligen Plastik­sorte und dem
den Weg in die Ökosysteme. unserem Alltag wider. Ablagerungsort ab.

und Organismen schädigen, zum anderen kann schon allein Partikel anderer chemischer Herkunft ließ sich kein Effekt
die Form der mikroskopisch kleinen Stücke Verletzungen der Chemikalienmischung nachweisen, und dennoch
im Verdauungstrakt auslösen. Besonders winzige Partikel schadeten die Teilchen den Versuchsorganismen leicht. Es
mit einer Größe von nur einigen Nanometern stehen im müssen demnach darüber hinaus andere, partikelspezifi-
Verdacht, aus dem Verdauungstrakt in die Zellen aufge- sche Faktoren wie Größe, Form oder Oberflächenbeschaf-
nommen zu werden und dort toxisch zu wirken. Genauso fenheit eine Rolle bei der giftigen Wirkung spielen, wenn-
kommen indirekte Effekte nach der Aufnahme in den gleich in geringerem Ausmaß.
Verdauungstrakt in Frage: etwa, dass die Tiere auf Grund Da die Mikroplastikstückchen so vielfältig sind, ist ledig-
eines verstopften Darms weniger Nahrung zu sich nehmen lich ein Bruchteil von ihnen untersucht, und es lassen sich
und dadurch schlechter wachsen. Darüber hinaus lagern nur unsichere Vorhersagen über die Folgen für die Umwelt
sich organische Schadstoffe an Mikroplastikpartikel in der treffen. Die bisher durchgeführten Labortests sagen für
Umwelt an, können gemeinsam mit ihnen in die Tiere sich genommen nämlich wenig über die tatsächlichen
gelangen und sie dadurch schädigen. Die möglichen Konsequenzen für die Ökosysteme aus, sondern müssen
­Ef­fekte sind also so divers wie die Teilchen selbst. Bei der ins Verhältnis zu den Mengen gesetzt werden, in denen
Untersuchung biologischer Folgen muss man daher ver- Mikroplastik dort vorkommt. So hat man im Labor bis heute
schiedene Plastikarten sowie unterschiedliche Formen und fast alle Effekte erst bei sehr hohen Konzentrationen nach-
Größen der Partikel berücksichtigen, da all diese Faktoren gewiesen (bis zu Millionen Partikeln pro Liter), in der Um-
Folgen für die Organismen haben können. welt finden sich allerdings viel geringere Mengen (einige
hundert Teilchen pro Liter – das heißt, 10 000-mal weniger).
Mehr als 100 verschiedene Substanzen in einem Darüber hinaus wurde in den meisten Studien nicht getes-
­Partikel tet, wie n­ atürlich vorkommende Partikel (beispielsweise
Laut aktuellen Studien enthalten Mikroplastikpartikel, je Sand) in hohen Konzentrationen auf die Tiere wirken. Es ist
nachdem, aus welchem Produkt sie stammen, unterschied- also nicht zu erwarten, dass Mikroplastikpartikel akut giftig
liche Mischungen von Chemikalien. Ein einziger kann für Lebe­wesen sind.
teilweise über hundert verschiedene Substanzen beherber- Trotzdem sollen die Ergebnisse keine Entwarnung für
gen. Treten die Stoffe aus den winzigen Fragmenten aus, die Kontamination mit Kunststoffabfällen geben. Denn die
schädigen sie Wasserflöhe, was sich im Laborversuch mikroskopischen Verunreinigungen sammeln sich auf
unter anderem durch eine geringere Vermehrung äußert. Grund ihrer langen Abbauzeiten in der Umwelt immer
Man kann jedoch nicht annehmen, alle Mikroplastik­ weiter an, wodurch ihre Konzentrationen dort ständig
stückchen wirkten nach einem solchen Mechanismus. Für steigen. Darauf wiesen bereits die Autorinnen und Autoren

Spektrum der Wissenschaft  9.20 63


Aufbau und Inhaltsstoffe von Plastik

Kunststoffe sind weder ein einheit- wo sie zum Einsatz kommen – sei während der Herstellung und
liches Material noch bestehen sie es als Gehäuse eines Laptops, als Verarbeitung weitere Substanzen in
aus einer einzigen Substanz. Ge- Fasern für Kleidung oder als Verpa- den Kunststoff. Dazu gehören
meinsam ist ihnen, dass sie haupt- ckung für Lebensmittel –, müssen Chemikalien, die für die Produktion
sächlich Makromoleküle enthalten. die Kunststoffe spezifische Anfor- notwendig sind (beispielsweise
Das sind Polymere, die aus sich derungen erfüllen, etwa beständig Katalysatoren und Lösemittel),
wiederholenden Grundeinheiten gegen Hitze oder Feuchtigkeit, hart sowie Reaktions- und Abbaupro-
(Monomeren) aufgebaut sind. So oder flexibel sein. Je nach er- dukte, die bei der Herstellung
besteht der Kunststoff Polyethylen wünschter Funktion fügt man dem entstehen. Die meisten im Plastik
(PE) aus tausenden aneinander­ Polymer eine Kombination an Zu- enthaltenen che­mischen Subs­
gereihten Ethyleneinheiten. Das satzstoffen bei. Bekannte Additive tanzen sind nicht fest mit dem
­Polymer an sich macht allerdings sind Weichmacher wie Phthalate, Polymer-Grundgerüst verknüpft.
noch nicht den fertigen Kunststoff Flammschutzmittel wie poly­ Somit können sie mit der Zeit
aus. Diesem setzt man während bromierte Diphenylether, Antioxi­ austreten. Gelangen Kunststoff­
der Produktion noch einige Stoffe danzien wie Bisphenol A (BPA) und abfälle in die Umwelt, können die
zu, die so genannten Additive. Butylhydroxytoluol (BHT), Farbstof- dort herrschenden Bedin­gungen
Solche Zusatzstoffe verbessern fe wie Nonylphenol und antimikro- wie Sonneneinstrahlung und
den Produktionsprozess sowie die bielle Wirkstoffe wie Triclosan. Wasserströmungen die ­Freisetzung
Erscheinung und die Eigenschaften Neben diesen gezielt zuge­ und Verteilung der Substanzen
des Endprodukts. Abhängig davon, setzten Verbindungen gelangen noch weiter begüns­tigen.

in den Studien der 1970er Jahre hin. Darüber hinaus nimmt Wirkungs-Kette kommuniziert: »Mikroplastik in der Umwelt
die Produktion von Plastikprodukten weltweit stetig zu – stammt aus Kosmetikprodukten und wird über das Ab­
und in der Folge die Abfallmengen sowie deren Einträge in wasser eingetragen.« Dadurch war es einfach, die Verant-
die Ökosysteme. Mittlerweile ist über die weit reichende wortlichen auszumachen. In den USA konfrontierten dar-
Verunreinigung mit kleinsten Plastikfragmenten auch aufhin Gruppen aus Wissenschaft und Umweltschutz große
außerhalb der Wissenschaft eine Diskussion entbrannt, die Unternehmen der Kosmetikbranche mit den Ergebnissen.
sich vor allem um die möglichen Auswirkungen von Mikro- Obwohl die Firmen freiwillig versprachen, ihren Produkten
plastik auf die menschliche Gesundheit dreht sowie um die künftig keine »microbeads« mehr zuzusetzen, erließen
Frage, wie sich dessen Eintrag in die Umwelt vermeiden einzelne US-amerikanische Staaten Verwendungsverbote.
lässt. Um einen Flickenteppich an Verboten zu vermeiden, ver­
Bis das Thema gesellschaftlich relevant wurde, dauert es abschiedete der damalige US-Präsident Barack Obama im
von den ersten Funden in den 1970er Jahren allerdings Dezember 2015, zwei Jahre nach den ersten Studien über
Jahrzehnte. Hierfür war besonders von Bedeutung, dass die Mikroplastik in den Großen Seen, ein Gesetz, das »micro­
Teilchen nicht nur in Meeren, sondern auch in Seen und beads« in abwaschbarer Kosmetik verbietet (Microbead-
Flüssen auftauchten und somit immer näher an den Men- Free Waters Act of 2015).
schen heranrückten. So detektierten Marcus Eriksen vom
5 Gyres Institute und sein Team im Jahr 2013 Mikroplastik Mikroplastik gelangt in unsere Nahrung –
in den Großen Seen Nordamerikas, und genauso entdeck- aber anders als gedacht
ten Wissenschaftler Plastikfragmente in Binnengewässern Die Datenlage erschien zum damaligen Zeitpunkt eindeutig,
Deutschlands und Italiens. Die Studien fanden in den und die vermeintlichen Verursacher waren gefunden.
Medien großen Anklang und lösten Fragen nach der Her- Mit zunehmender Forschung wurde jedoch klar, dass die
kunft der Partikel aus sowie dazu, welche Auswirkungen Kausalitäten komplizierter sind. Denn »microbeads« aus
die Funde auf das Trinkwasser oder Speisefische und damit Kosmetik stellen nur einen verschwindend geringen Teil der
auf den Menschen haben könnten. Mikroplastikpartikel in der Umwelt dar, und Kläranlagen
Eriksen und sein Team identifizierten ihre Beute aus den leisten einen großen Anteil daran, deren Eintrag in die
Großen Seen hauptsächlich als so genannte »microbeads«, Gewässer zu verhindern, da sie 95 bis 99 Prozent von ihnen
also als Mikroplastikpartikel, die in Kosmetik- und anderen im Klärschlamm zurückhalten. Somit haben wir es statt
Pflegeprodukten enthalten sind. Zur Erklärung, woher die mit eindeutigen Zusammenhängen vielmehr mit einer
Partikel in den Gewässern stammten, verwies man häufig komplexen Problematik zu tun: Es gibt zahlreiche Quellen
auf Kläranlagen. Diese würden die winzigen Stücke nicht (Fragmente aus sich zersetzendem größerem Plastikmüll,
ausreichend zurückhalten und über das Abwasser freiset- Reifenabrieb, Textilfasern, Baustoffe, Kosmetik – all jenen
zen. Mit dieser Argumentation wurde eine klare Ursache- Kunststoffprodukten, die wir in unserem Alltag verwenden),

64 Spektrum der Wissenschaft  9.20


mehrere Eintragspfade (wie beispielsweise Abwasser, scheint die Aufnahme von Plastikpartikeln und -inhalts­
unsachgemäße Abfallentsorgung, ungesicherte Deponien, stoffen durch den alltäglichen Umgang mit Plastikproduk-
Pelletverluste bei der Produktion) und damit verschiedene ten, der oft ganz unbewusst erfolgt. Kunststoffverpackte
Eigenschaften der Partikel mit potenziell unterschiedlichen Waren und Lebensmittel, Textilien aus Kunstfasern,
biologischen Effekten. ­Haushalts- und Elektrogeräte, Möbel, Spielzeug und viele
Die Maßnahmen, die den Eintrag von »microbeads« in weitere Gegenstände tragen also zum einen zur umfassen-
die Umwelt verhindern sollen, stellen dennoch einen ersten den Kontamination der Umwelt mit feinsten Plastikbruch-
richtigen Schritt dar. In Europa steht ein Verbot der zuge- stücken bei, zum anderen nehmen wir Menschen Mikro-
setzten Plastikteilchen in Kosmetik noch aus. Derzeit erar- plastik über sie direkt auf. Die Mengen, die wir einatmen
beitet die Europäische Chemikalienagentur (ECHA) einen oder verschlucken, sind allerdings gering und gefährden die
Vorschlag, die Verwendung von Mikroplastik, das einem Gesundheit nicht akut. Anders verhält es sich mit den
Produkt absichtlich hinzugefügt wurde, einzuschränken. Plastikadditiven, die sich aus den Produkten lösen und
Davon wäre eine Reihe von Waren betroffen, wie bestimm- dadurch etwa von der Verpackung in Lebens­mittel übertre-
te Arten von Kosmetika, Düngemittel, Pflanzenschutzmittel, ten können. So lassen sich zugesetzte Chemi­kalien, die im
Reinigungsmittel für Haushalt und Industrie sowie Farben Verdacht stehen, auf das Hormonsystem zu wirken und in
und Erzeugnisse für die Öl- und Gasindustrie. Die Partikel den Stoffwechsel einzugreifen, in Blut und Urin einer brei-
fungieren in diesen Produkten beispielsweise als Schleif- ten Bevölkerungsgruppe nachweisen.
mittel oder kontrollieren die Dicke, das Aussehen und die
Stabilität. Doch gleichzeitig gilt es Maßnahmen zu entwi-
ckeln, um zu vermeiden, dass sekundäres Mikroplastik
entsteht. In der Europäischen Union gibt es zwar mittler- Mehr Wissen auf
weile eine Richtlinie für Einwegplastik, dennoch braucht es
noch weitere Ansätze, dessen Verwendung sowie die
Spektrum.de
verschiedenen Eintragswege von Plastikmüll einzudämmen.
Unser Online-Dossier zum Thema
finden Sie unter
Inzwischen ist das Thema in Deutschland einem breiten spektrum.de/t/anthropozaen
Teil der Bevölkerung bekannt. Wie die regelmäßige Kon­ NASA / JPL / SUW-GRAFIK

sumentenbefragung des Bundesinstituts für Risikobewer-


tung zeigt, haben seit 2015, als die Kategorie »Mikroplastik
in Lebensmitteln« mit in die Umfrage aufgenommen Das Problem besteht also nicht nur in Form von Mikro-
wurde, immer mehr Menschen davon gehört (2015 waren plastikpartikeln an sich, sondern darüber hinaus vor allem
es 58 Prozent, 2019 schon 89 Prozent). Gleichzeitig zeigten in den zahlreichen chemischen Substanzen, die für die
sich 2019 bereits 63 Prozent der Befragten besorgt darüber, Herstellung von Kunststoffen eingesetzt werden. Die winzi-
während es 2016 (dem Jahr, in dem »Besorgnis« zum ersten gen Plastikfragmente sammeln sich zwar mit der Zeit in
Mal abgefragt wurde) noch 52 Prozent waren. Die Befürch- immer größeren Mengen an und setzen unsere ohnehin
tung, Mikroplastik mit der Nahrung aufzunehmen, ist vor bereits stark belasteten Ökosysteme dadurch zusätzlich
allem auf die Funde in Fischen zurückzuführen, aber auch unter Druck. Verglichen damit schädigen die in Plastik
auf erste Nachweise in Bier und Honig, über die Medien enthaltenen Chemikalien, wenngleich sie weniger sichtbar
viel berichteten. Die Ergebnisse legten nahe, dass alle sind, die Umwelt jedoch deutlich stärker. Um mit der
Nahrungsmittel weit reichend mit den kleinen Teilchen ­komplexen Situation umzugehen, genügt es nicht, den
belastet sind. Wieder schien die Faktenlage zunächst klar. Abfall­eintrag in die Umwelt zu verringern. Gleichzeitig
Doch wie sich später herausstellte, waren die Partikel über müssen wir die Herstellung von Kunststoffen, gerade in
Verunreinigungen im Labor in die Proben gelangt. Im Fall Bezug auf die verwendeten Inhaltsstoffe, und deren
belasteter Trinkwasserproben von überall auf der Welt ließ ­massenhafte Nutzung in vielen Bereichen grundsätzlich
sich später ebenfalls nicht ausschließen, dass die beteilig- anders gestalten. 
ten Labore ihre Proben unsauber genommen hatten. Die
hier beschriebenen Probleme bestätigen, wie schwierig es
QUELLEN
ist, zu wissenschaftlich verlässlichen Aussagen zu kom-
men, und wie wichtig eine standardisierte Probenahme und Carpenter, E. J., Smith, K. L.: Plastics on the Sargasso Sea
Analytik ist. surface. Science 175, 1972
Wir nehmen dennoch Mikroplastik über die Nahrung auf, Eriksen, M. et al.: Microplastic pollution in the surface waters
aber über einen anderen Pfad: Nach Ergebnissen von of the Laurentian Great Lakes. Marine Pollution Bulletin 77, 2013
Studien, die Plastikfragmente in Fischproben aus dem Kramm, J., Völker, C.: Understand the risks of microplastics:
Supermarkt feststellen konnten, haben die Tiere die Partikel A social-ecological risk perspective. In: Wagner, M., Lambert, S.
nicht im Meer zu sich genommen. Vielmehr sind diese über (Hg.): Freshwater Microplastics. Springer, 2018, S. 223–237
die Staubpartikel in der Luft im Verkaufsgeschäft auf die Thompson, R. C. et al.: Lost at sea: Where is all the plastic?
Fische gelangt. Die gängige Erklärung, Mikroplastik aus Science 304, 2004
dem Meer reichere sich in der Nahrungskette an und gelan- Zimmermann, L. et al.: Benchmarking the in vitro toxicity and
ge über Meeresfrüchte und Fisch auf unsere Teller, ist chemical composition of plastic consumer products. Environ-
bisher nur in Einzelfällen nachgewiesen. Viel relevanter mental Science & Technology 53, 2019

Spektrum der Wissenschaft  9.20 65


SCHLICHTING!
CAPPUCCINO MIT DÄMPFER
Schaum hat einige typische Eigenschaften eines Festkör-
pers. Darum wirkt er auf der Oberfläche einer Flüssigkeit
fast wie ein Deckel – und kann bei starken Bewegungen
sogar ihr Überschwappen verhindern.

H. Joachim Schlichting war Direktor des Instituts für Didaktik der Physik an der Universität
Münster. Seit 2009 schreibt er für »Spektrum« über physikalische Alltags­phänomene.

 spektrum.de/artikel/1752458

das schäumte hoch;


dick & gelbbraun
Arno Schmidt (1914–1979)


Der Coffee to go ist seit vielen Jahren beliebt, aber
beim Transport des vollen Bechers gibt es oft Proble­
me. Der Rhythmus des Gehens mit einem am starren
Arm gehaltenen Getränk regt Wellen auf dessen Ober­
fläche an. Dann schwappt es schon nach wenigen Schrit­
ten über (»Spektrum« April 2014, S. 56). Das Phänomen
betrifft normalen Kaffee mit und ohne Milch, doch Cap­
puccino bleibt weitgehend von solchen Verlusten ver­
schont. Der Unterschied zwischen den Getränken liegt an
der Art, wie die Milch zugegeben wird: in dem einen Fall
H. JOACHIM SCHLICHTING

flüssig und im anderen aufgeschäumt – gewissermaßen


als Deckschicht. Letztere scheint dämpfende Eigenschaf­
ten zu haben. Die Ursache dafür steckt in der Struktur
von Schäumen.
Im Alltag haben wir vorwiegend Erfahrungen mit Milchschaum auf einem Cappuccino ist sehr robust.
Seifenschaum gesammelt. Jedes Kind weiß, wie daraus Das zeigt sich an den darauf lang haltbaren Mustern.
ein regelrechter Turm entsteht: Man pustet mit einem
Strohhalm in ein Glas mit Seifenlauge, bis schließlich ein
Zusammenschluss zahlreicher Blasen oben herausquillt. die Blasen, indem sie sich mit Nachbarn zusammentun
Blasen sind mit einem Gas sozusagen aufgepumpte, und ihre Grenzflächen teilen. Dadurch wachsen Gebilde
im Idealfall kugelrunde Flüssigkeitslamellen (»Spektrum« aus Polyedern heran (siehe Fotos rechts).
Juni 2016, S. 44). Sowohl innen als auch außen haben sie Reines Wasser lässt sich nicht aufschäumen, denn die
über einen sehr großen Bereich Kontakt zur Luft. Um entstehenden Blasen sind sehr instabil. Damit sie länger
diese Grenzfläche zu erschaffen, ist Energie nötig. Da die halten, braucht es zusätzlich so genannte grenzflächenak­
Natur stets dazu tendiert, maximal viel Energie an die tive Stoffe. Seife sowie moderne Spül- und Waschmittel
Umgebung zu überführen (zweiter Hauptsatz der Ther­ enthalten solche Tenside. Das sind Verbindungen mit
modynamik), ist für die Gestalt einer Blase vor allem die einem Wasser liebenden und einem Wasser abweisen­
Minimierung der Grenzflächenenergie entscheidend – den Molekülteil. Sie verteilen sich dementsprechend auf
und Kugeln schließen ein gegebenes Volumen mit der den Grenzflächen und verringern die dortige Spannung.
kleinstmöglichen Fläche ein. Noch mehr Energie sparen Anschaulich gesprochen senken Tenside den Drang der

66 Spektrum der Wissenschaft  9.20


H. JOACHIM SCHLICHTING

Blasengebilde bleiben stabil, während sie hoch über


den Rand eines Gefäßes quellen.

H. JOACHIM SCHLICHTING
einzelnen Blasen, sich sofort zu einer größeren zusam­
menschließen, wodurch der Schaum rasch zerfallen
beziehungsweise gar nicht erst entstehen würde.
Bei Milch übernehmen vor allem Proteine die Rolle der Selbst über Kopf hält Schaum fest an der Wand.
Tenside. Die Eiweiße sorgen eigentlich als Emulgatoren
dafür, dass die an sich nicht mischbaren Fett- und Was­
serbestandteile miteinander auskommen. Die Moleküle Fixierung an die Gefäßwand leistet der Schaum in idealer
umgeben die Fettteilchen, wobei sich die wasserverträg­ Weise.
lichen Bereiche nach außen richten. Wird nun die Milch Das lässt sich wieder pauschal mit der Minimierung
mechanisch aufgeschlagen, trennt das die Verbindung der Energie erklären. Zahlreiche Flüssigkeiten bilden
von Fett und einhüllenden Eiweißen. Letztere sind jetzt leichter eine Grenzfläche zur Gefäßwand als zur Luft. Das
wieder frei und besetzen die in den Blasen entstehenden erkennt man bereits an Wasser in einem Glas, das sich
Grenzflächen zwischen Luft und Wasser. Das stabilisiert ein kleines Stück an der Wand hochzieht. Beim Schaum
den Schaum. Dazu müssen allerdings genügend Proteine ist der Effekt auf Grund seiner Leichtbauweise wesentlich
vorhanden sein, was unter anderem von der Vorbehand­ ausgeprägter. Um ihn gegen die Gefäßwand zu verschie­
lung der Milch abhängt. ben, braucht man entsprechend viel Kraft – umso mehr,
je größer die Grenzfläche ist.
Klebrige Krönung 2014 haben Wissenschaftler der Princeton University
Die flüssigen Wände der Schäume werden vor allem in New Jersey zu dem Phänomen Modellexperimente
infolge der Schwerkraft und der Verdunstung im Lauf der durchgeführt. Dazu brachten sie mit einem kleinen
Zeit immer dünner und platzen schließlich. Einige Stoffe Schlauch Schaum aus einer Lösung aus Wasser, Ge­
erhöhen die Viskosität, machen die Blasen also zäher, schirrspülmittel und Glycerin (für die Langlebigkeit der
und verlängern so deren Lebensdauer weiter. Bei Seifen­ Blasen) auf eine Flüssigkeit. Zunächst erzeugten sie einen
lauge geben Profis Verbindungen wie Glyzerin zu. Der einlagigen Blasenteppich, der durch seine Adhäsionskraft
Milchschaum auf dem Cappuccino enthält derartige fest an den Gefäßwänden hielt. Anschließend versetzten
Stabilisatoren insbesondere in Form von Zucker. sie den Versuchsaufbau in Schwingung. Sie erhöhten
Etwas überspitzt könnte man sagen, Schaum ist ein schrittweise die Schichthöhe und stellten fest: Schon bei
fester Körper aus Flüssigkeit und Gas. Er entwickelt fünf Blasenlagen war die Bremskraft so groß, dass das
erstaunliche mechanische Eigenschaften und ist je nach Getränk bei den typischen Gehbewegungen sicher im
seiner Zusammensetzung plastisch und elastisch, trägt Gefäß blieb.
leichte Gegenstände und schafft feste Verbindungen. Die Erkenntnisse dienen freilich nicht nur den Konsu­
Wenn man in einem Becher oder einer Flasche Schaum menten von Getränken wie Cappuccino oder Bier, wo die
erzeugt, kann man das Behältnis umdrehen und noch so Krone ebenfalls dämpfend wirkt. Vielmehr lassen sie sich
viel schütteln und rütteln – er lässt sich nicht vollständig etwa auf den Transport von Flüssigkeiten in Tanklastern
entfernen. übertragen, bei denen das Schwappen zu ungleich grö­
Der Schaum auf dem Cappuccino wirkt also wie ein ßeren Problemen führen kann.
Deckel. Doch reicht das schon aus, um mögliche Bewe­
gungen der Flüssigkeit zu dämpfen? Ein loser Pappdeckel
auf einer Tasse mit normalem Milchkaffee kann jedenfalls QUELLE
ein Überschwappen nicht unterbinden. Vielmehr muss Sauret, A. et al.: Damping of liquid sloshing by foams.
die Auflage fest auf dem Becher sitzen. Gerade diese Physics of Fluids 27, 2015

Spektrum der Wissenschaft  9.20 67


Die Sculptor-Zwerggalaxie
CC BY 4.0 (CREATIVECOMMONS.ORG/LICENSES/BY/4.0/LEGALCODE)

begleitet unsere Milchstraße.


ESO (WWW.ESO.ORG/PUBLIC/GERMANY/IMAGES/ESO1536A/) /

Wegen ihrer Nähe zu uns lassen


sich einzelne Sterne gut erken-
nen. Auf die Weise hat sie der
Astronom Harlow Shapley 1937
als erste ihrer Art entdeckt.

68 Spektrum der Wissenschaft  9.20


ZWERGGALAXIEN
KOSMISCHES
PLANKTON
Die vielen kleinen Sternsysteme in unserer
galaktischen Umgebung verhalten sich
ganz anders, als es laut Simulationen zu
erwarten wäre. Das passt nicht zum kos-
mologischen Standardmodell.

Oliver Müller arbeitet an der Université de


Strasbourg. Er beobachtet Zwerggalaxien im
Umfeld der Milchstraße und benachbarter
Galaxien und untersucht daran die Einflüsse
Dunkler Materie und alternativer Gravita­

EVA SCHNIDER
tionstheorien. Er bloggt unter https://scilogs.
spektrum.de/prosa-der-astronomie/.

 spektrum.de/artikel/1752450

AUF EINEN BLICK


GALAKTISCHE AUSREISSER

1 Zwerggalaxien enthalten viel weniger Sterne als etwa


die Milchstraße. Sie werden von größeren Galaxien
eingefangen und tragen so nach und nach zu deren
Wachstum bei.

2 Deswegen spielen die kleinen Objekte bei Computer­


simulationen zur Entwicklung des Universums eine
wichtige Rolle. Doch die Berechnungen passen nicht
gut zu den Beobachtungen.
CC BY 4.0 (CREATIVECOMMONS.ORG/LICENSES/BY/4.0/LEGALCODE)
ESO (WWW.ESO.ORG/PUBLIC/GERMANY/IMAGES/ESO1536A/) /

3 Die seltsame Anordnung und Bewegung der Zwerg­


galaxien wirft Fragen auf: Handelt es sich um Aus­
nahmen, sind die Programme unvollständig – oder gibt
es gar ein Problem mit der Theorie?

Spektrum der Wissenschaft  9.20 69



Wenn Sie sich die Lebewesen der Ozeane vorstellen – allzu leicht zu übersehen. Das macht es einerseits äußerst
was kommt Ihnen zuerst in den Sinn? Sind es majestä­ schwierig, sie überhaupt zu finden, aber andererseits
tische Wale, vielleicht auch Tintenfische, Delfine oder spannend für Kosmologen. Denn die Zwerggalaxien besit­
Haie? Vermutlich fällt Ihnen spontan vieles ein, nur nicht zen zwar nur wenige Sterne, aber sie enthalten viel mehr
das Plankton. Dabei kommt im Meer nichts so zahlreich vor von einer ganz anderen Komponente: der mysteriösen
wie diese überall umherschwebenden Organismen. Beim Dunklen Materie. Kein sonstiger Typ von Galaxien besitzt
Weltall ist es ganz ähnlich. Beim Gedanken an den Kosmos einen derart hohen Anteil daran. Und gerade weil Zwergga­
haben wir sofort Bilder von faszinierenden Spiralgalaxien laxien so wenig Sterne in sich vereinen, sind sie vergleichs­
und gewaltigen Nebeln mit bestechenden Formen und weise einfach zu untersuchen. Das erleichtert es, mehr über
Farben vor Augen. Dagegen fristen andere Gebilde eine die Dunkle Materie herauszufinden.
wenig beachtete Existenz, obwohl sie im Universum gewis­ Anfang der Jahrtausendwende erhielt das Standardmo­
sermaßen den größten Nahrungsvorrat stellen: die Zwerg­ dell der Kosmologie seine heutige Form. Es beruht auf der
galaxien. Die kleinen Sternsysteme treiben das Wachstum allgemeinen Relativitätstheorie von Albert Einstein und
der größeren Strukturen an. benötigt zusätzlich noch die Dunkle Materie und die Dunkle
Darum ist ein genauer Blick auf die Zwerggalaxien un- Energie. Letztere ist eine weitere Komponente mit unbe­
verzichtbar, um das Zusammenspiel aller Objekte im Kos­ kannter Ursache, welche die beobachtete Expansion des
mos zu verstehen. In letzter Zeit häufen sich dabei Unge­ Kosmos antreibt. Dank rechenstarker Supercomputer
reimtheiten. Die Beobachtungen scheinen nicht gut zu den bekamen Astronomen bald ein Bild davon, wie sich das
Vorhersagen des Standardmodells der Kosmologie zu Universum vom Urknall bis heute entwickelt haben könnte.
passen, welches von der Existenz Dunkler Materie einer bis Grundsätzlich bilden sich zuerst kleine Strukturen – die
heute unbekannten Natur ausgeht. Aber der Reihe nach. Zwerggalaxien –, die verschmelzen und dadurch immer grö­
In den 1930er Jahren hat Harlow Shapley vom Harvard- ßere hervorbringen. Die Endprodukte sind dann Galaxien
College-Observatorium in Cambridge, Massachusetts, wie unsere Milchstraße. Wie Wale, die sich von Plankton
eines der damals größten Teleskope der Welt auf den ernähren, müssen sie sich unzählige der kleinen Zwerggala­
Nachthimmel gerichtet und einen erstaunlichen Fund xien einverleiben, um zu wachsen. Die kosmologischen
gemacht: eine unbekannte Art von Galaxie. Zu jener Zeit Simulationen legen nahe, dass die Zwerggalaxien die
hatte Edwin Hubble bereits die unterschiedlichen Galaxien­ Bausteine aller komplexeren Galaxien sind. Wäre da nicht
typen klassifiziert und eingeteilt. Auf der einen Seite die ein Problem.
elliptischen, welche vor allem in Galaxienhaufen vorkom­
men, und auf der anderen die Spiralgalaxien, die eher in der Eine Ungereimtheit scheint beseitigt,
kosmischen Einöde anzutreffen sind. Sie alle sind sehr weit doch eine andere bleibt
von uns entfernt. Darum ist es fast unmöglich, ihre einzel­ Den Simulationen zufolge waren die großen Galaxien bei
nen Sterne zu sehen – die Galaxien erscheinen als ver­ ihren Mahlzeiten alles andere als gründlich. Sie ließen
schmierte Lichtquellen. Shapley fand mit seinerzeit mo­ Hunderte von Zwerggalaxien unberührt, welche sie heute
dernster Technik im südlichen Sternbild des Bildhauers wie Bienen umschwirren sollten. Das ist eine Voraussage
der Computermodelle – und somit des kosmologischen
Standardmodells, auf dem sie basieren.
Wie sieht es um die reale Milchstraße herum aus? Shap­
Mehr Wissen auf ley fand noch im Jahr seiner ersten Entdeckung eine zweite
Zwerggalaxie im Sternzeichen des chemischen Ofens
Spektrum.de (Fornax). Jedoch vergingen danach jeweils Jahrzehnte, bis
Unser Online-Dossier zum Thema weitere Exemplare auftauchten. Bis Ende der 1990er Jahre
finden Sie unter waren bloß etwa zehn solcher Begleiter unserer Galaxis
spektrum.de/t/kosmologie
NASA / STS-130 CREW MEMBE
R bekannt. Verglichen mit den berechneten mehr als 1000 ist
das erschreckend wenig.
Dieses so genannte Problem der fehlenden Satelliten
(Sculptor) ein seltsames, weit ausgedehntes Objekt. Es (englisch: missing satellites problem) wurde zu einem
hatte den Charakter einer Galaxie, aber seine Bestandteile wichtigen Mysterium in der modernen Kosmologie. Heute,
waren als einzelne Sterne zu erkennen. Es musste also zwei Jahrzehnte später, sehen Astronomen es aber beinahe
quasi vor unserer Nase sitzen – ein Trabant, der die Milch­ als beseitigt an. Denn erstens ist die Anzahl der neu ent­
straße umkreist wie ein Mond einen Planeten! Zu der deckten Zwerggalaxien um die Milchstraße in den letzten
Annahme passen die Größenverhältnisse: Das Objekt hat Jahren markant gestiegen – inzwischen sind etwa 50 Stück
nur die Leuchtkraft einiger Millionen Sonnen, während es bekannt. Zweitens ermöglichte immer bessere Rechen­
bei der Milchstraße 200 Milliarden sind. leistung präzisere Vorhersagen auf den Skalen von Zwerg­
Heute nennen wir den von Shapley gefundenen Begleiter galaxien, und die kosmologischen Simulationen konnten
die Sculptor-Zwerggalaxie. Sie gilt als der Archetyp der wichtige Effekte mit einbeziehen. Berücksichtigen wir zum
Zwerggalaxien. Diese sind in ihrer Erscheinung sehr diffus, Beispiel auch Supernovae, sehen wir, dass die bei den
da sie nur über relativ wenige Sterne verfügen. Deshalb Stern­explosionen freigesetzte Energie Zwerggalaxien
wirken sie wie trübe Flecken am Nachthimmel und sind nur manchmal regelrecht auseinanderreißt. Das passiert vor

70 Spektrum der Wissenschaft  9.20


UCL MATHEMATICAL & PHYSICAL SCIENCES, ANDREW PONTZEN AND FABIO GOVERNATO / LARGE-SCALE STRUCTURE OF LIGHT DISTRIBUTION IN THE UNIVERSE
(WWW.FLICKR.COM/PHOTOS/UCLMAPS/15051460475/) / CC BY 3.0 (CREATIVECOMMONS.ORG/LICENSES/BY/3.0/LEGALCODE)
Aufwändige Computersimulationen stellen auf Basis Wie sieht es bei unseren Nachbargalaxien tatsächlich
des kosmologischen Standardmodells die Entwicklung aus? Der Frage haben sich Andreas Koch und Eva Grebel,
des Alls dar. Es entstehen Netze von sichtbarer und damals noch an der Universität Basel (heute sind beide an
Dunkler Materie, die wie hier viele Millionen Lichtjahre der Universität Heidelberg) gleich nach Kroupas Untersu­
überspannen und im Großen und Ganzen wie die heute chung gewidmet. Dabei betrachteten sie unsere Nachbar­
beobachteten Strukturen aussehen. In Details gibt es galaxie Andromeda. Sie ist wie die Milchstraße eine große
jedoch Unstimmigkeiten. Spiralgalaxie und somit im doppelten Sinn die nächstgele­
gene Wahl für eine solche Studie. Kochs und Grebels
Ergebnis war erstaunlich: Auch um die Andromedagalaxie
allem bei den sehr leuchtschwachen Zwerggalaxien, wel­ liegen die Zwerggalaxien in einer dünnen Scheibe. Ein
che laut den Modellen am häufigsten vorkommen müssten. zweiter Ausreißer im kosmologischen Modell!
Indem also einerseits bei Beobachtungen laufend mehr Wenig später kam ein weiterer Fund hinzu. Auf Basis
Zwerg­galaxien um die Milchstraße auftauchten und ande­ präziser Messungen der Bewegung der Sterne in den
rerseits deren vorhergesagte Anzahl insgesamt sank, Zwerggalaxien der Milchstraße stellte Kroupas Forschungs­
schien sich das Problem der fehlenden Satelliten aufzu­ gruppe fest, dass die meisten Zwerggalaxien innerhalb der
lösen. Scheibe und im gleichen Drehsinn kreisen – ähnlich wie die
Aber ein weiterer Widerspruch blieb bestehen. Ein Team Planeten um die Sonne. Dieser koordinierte Tanz ist ver­
um Pavel Kroupa von der Universität Bonn hat sich 2005 wunderlich, denn laut der kosmologischen Simulationen
mit der räumlichen Verteilung der Zwerggalaxien befasst sollten die Bahnen der Zwerggalaxien eher chaotisch ver­
und dabei festgestellt: Die kosmologischen Simulationen laufen und keinesfalls derart regelmäßig sein. Heute heißt
ergeben hier ebenfalls etwas anderes als in Wirklichkeit der Widerspruch das Satellitenebenen-Problem (plane-of-
beobachtet. Seit den 1970er Jahren ist bekannt, dass sich satellites problem).
die Zwerggalaxien in einer Art dünner Scheibe senkrecht
zur Milchstraße verteilen. Die Entdeckungen weiterer Kaum genutzte Weltraum-Autobahnen
Exemplare haben das Bild sogar verstärkt. Laut Kroupa Warum sagen die Modelle zufällig rotierende und wahllos
verteilen sich die Zwerggalaxien hingegen wie eine Wolke verteilte Satellitensysteme voraus? Die Antwort auf die
zufällig um die Hauptgalaxie. Den Computermodellen Frage führt zurück zum Anfang der Geschichte des Univer­
zufolge sollte eine Scheibenstruktur nur bei einem halben sums. Es war kurz nach dem Urknall extrem homogen, das
Prozent der Galaxiengruppen vorkommen. Das Milchstra­ heißt, in der Verteilung von Energie und Materie gab es nur
ßensystem wäre demnach ein Ausreißer. Das kommt hin kleine Dichteschwankungen. Diese reichten aber aus, um
und wieder vor – würden wir zum Beispiel die nächsten unter Einwirkung der Gravitation im Lauf der Zeit in den
1000 Galaxien untersuchen, wäre bei etwa fünf eine solche etwas stärker konzentrierten Bereichen weitere Materie
Scheibe aus Zwerggalaxien zu erwarten. anzusammeln. Währenddessen verloren die weniger dich­

Spektrum der Wissenschaft  9.20 71


ten Regionen Materie. Solche Hohl- oder Leerräume nen­ der Hauptadern der Filamente einfallen. Einen erkennbaren
nen die Fachleute Voids. Mit der Zeit entstand ein kosmi­ physikalischen Grund dafür gibt es nicht.
sches Netz aus fadenartig angeordneter Materie und Voids 2013 hat ein Team um Rodrigo Ibata am Observatoire de
dazwischen. In den Knotenpunkten der Filamente sitzen die Strasbourg die Bewegungen der Zwerggalaxien um die
massereichen Galaxien wie die Milchstraße. Sie haben mit Andromedagalaxie bestimmt. Da sich die Objekte so weit
ihrer starken Gravitationskraft entlang der Filamente viele weg von uns befinden, lassen sich die Positionsänderungen
Zwerggalaxien zu sich gezogen. Die großen Galaxien wer­ in Teleskopen zwar nicht räumlich auflösen. Aber die Wel­
den immer von mehreren Filamenten aus unterschiedlichen lenlängen ihres Lichts verschieben sich bei Bewegungen
Richtungen gespeist. Darum gibt es für die Zwerggalaxien entlang unserer Sichtlinie messbar. Der Unterschied prägt
viele mögliche Einfallsrichtungen – und entsprechend sich dem Spektrum abhängig von der Geschwindigkeit zu
sollten ihr Drehsinn sowie ihre Anordnung keine Vorzugs­ uns hin oder von uns weg – das ist der bekannte Doppler­
richtung aufweisen. effekt. Glücklicherweise steht die Ebene der Zwerggalaxien
Nun könnte man vermuten, es müsse doch geometri­ mit der Kante zu uns. Das heißt, falls diese sich innerhalb
sche Konstellationen von Filamenten geben, die flache dieser Ebene um die Andromedagalaxie drehen, müsste die
Strukturen um Spiralgalaxien begünstigen. Und tatsächlich eine Seite in den roten und die andere in den blauen Be­
tauchten kurz nach Kroupas Fund solche abgeplatteten reich des Spektrums verschoben sein. Genau das stellte
Galaxiengruppen in den Simulationen auf. Nur sind sie sich bei der Untersuchung heraus! Auch dort laufen also
trotzdem um einiges größer als das, was wir bei den Zwerg­ Zwerggalaxien im Gleichsinn innerhalb einer dünnen Ebene
galaxien um die Milchstraße beobachten. Die Satelliten­ herum – wie bei den Begleitern der Milchstraße.
ebene ist in Wirklichkeit rund 20 Kiloparsec dick (ein in der
Astronomie übliches Längenmaß – ein Parsec entspricht Ein dritter Ausreißer?
etwa 3,3 Lichtjahren), die Filamentdurchmesser hingegen Zu jener Zeit begann ich meine Doktorarbeit in Astronomie
betragen 200 Kiloparsec und mehr. Das ist, als würden auf an der Universität Basel. Meine Betreuer Bruno Binggeli in
einer Autobahn mit zehn Spuren seltsamerweise alle Autos Basel sowie Helmut Jerjen von der National University of
nur auf der mittleren fahren. Um derart gestauchte Struktu­ Australia in Canberra und ich stellten uns die Frage, ob
ren zu erklären, müssten die Zwerge ausschließlich entlang unsere so genannte Lokale Gruppe aus Andromedagalaxie
und Milchstraße einfach ein Ausreißer im kosmologischen
Modell ist oder ob andere Galaxiengruppen ebenfalls solche
Die Galaxie Centaurus A ist etwa 13 Millionen Licht- unerwarteten Eigenschaften besitzen. Darum fahndeten
jahre von uns entfernt. Die senkrecht zur Staubschei- wir an solchen Orten nach Zwerggalaxien. Wir begannen
be ausgeworfene Strahlung und Materie stammen mit der Centaurus-Gruppe am südlichen Firmament und
von einem Schwarzen Loch im Zentrum. verwendeten die Dark Energy Camera an einem der besten
Teleskope der Welt in Chile. Die Centaurus-Gruppe besteht
wie unsere Lokale Gruppe aus zwei großen Galaxien: Cen-
OPTISCH: ESO/WFI; SUBMILLIMETER: MPIFR/ESO/APEX/A.WEISS ET AL.; RÖNTGEN: NASA/CXC/CFA/R.KRAFT ET AL.
(WWW.ESO.ORG/PUBLIC/GERMANY/IMAGES/ESO0903A/) / CC BY 4.0 (CREATIVECOMMONS.ORG/LICENSES/BY/4.0/LEGALCODE)

taurus A, einer elliptischen Galaxie, und Messier 83, einer


Spiralgalaxie ähnlich der Milchstraße. Dazu kommt eine
Hand voll Zwerggalaxien. In einer Beobachtungskampagne
zwischen 2014 und 2015 durchforsteten wir mehr als
500 Quadratgrad am Sternenhimmel, um die ganze Centau­
rus-Gruppe zu erfassen. Das entspricht einer Fläche von
2000 Vollmonden. Am Ende hatten wir die Anzahl ihrer
bekannten Zwerggalaxien verdoppelt.
Zur gleichen Zeit hat ein Team um Brent Tully vom
Institute for Astronomy in Hawaii die um Centaurus A
bereits identifizierten Zwerggalaxien untersucht und festge­
stellt, dass diese dort ebenfalls nicht sphärisch, sondern
flach verteilt waren. Das konnten wir an den von uns neu
entdeckten Zwerggalaxien gleich überprüfen. Auch mit
ihnen sieht das Satellitensystem von Centaurus A relativ
flach aus, wenngleich nicht ganz so sehr wie bei der Milch­
straße. Das ist aber verständlich, da Centaurus A einiges
mehr an Masse aufweist und somit eine insgesamt größere
Struktur zu erwarten wäre. Als wir die dreidimensionale
Anordnung studierten, fiel uns etwas Grundlegendes auf:
Die Ebene der Zwerggalaxien um Centaurus A steht wie bei
der Andromedagalaxie mit der Kante auf unserer Sichtlinie.
Somit konnten wir auch hier testen, ob die Zwerggalaxien
auf der einen Seite rot- und auf der anderen blauverscho­
ben erscheinen, ob also das Satellitensystem von Centau­

72 Spektrum der Wissenschaft  9.20


die Rotation zu Stande kommen könnte, ist noch ein offe­
nes Problem. Für Kroupa hingegen ist die Sache klar: Die
Simulationen sagen die Beobachtungen nicht zufrieden
stellend voraus, also muss das zu Grunde liegende Modell
Abstand zur Erde in Megaparsec

–2
der Dunklen Materie falsch sein.
Bessere Computerberechnungen lösen das Satelliten­
ebenen-Problem bislang nicht, wie es im Fall der fehlenden
OLIVER MÜLLER

–2,5 Satelliten gelungen ist. Im Gegenteil, die Wahrscheinlichkei­


ten für solche rotierenden Schichten von Zwerggalaxien
wurden sogar kleiner. Andererseits kann das Modell trotz­
–3 dem sehr viele andere Phänomene sehr genau beschrei­
–1,5
–1,5 –1 ben – und wegen einer Unstimmigkeit muss nicht gleich die
–2 ,5
–2,5 ganze Kosmologie über den Haufen geworfen werden.
–3 –0
Wie geht es nun weiter? In einer Beobachtungskampag­
ne mit dem größten optischen Teleskop der Südhemisphä­
Die 16 vom Autor untersuchten Zwerggalaxien umkrei- re, dem Very Large Telescope, beobachten wir gemeinsam
sen die Galaxie Centaurus A (schwarzer Punkt) weitge- mit Marina Rejkuba, Michael Hilker und Katja Fahrion an
hend in einer Ebene: Auf der einen Seite bewegen sie der Europäischen Südsternwarte weitere Zwerggalaxien um
sich von uns aus gesehen weg (rote Dreiecke, die Länge Centaurus A. Wir wollen überprüfen, ob die von uns neu
der Striche kennzeichnet die Geschwindigkeit), auf der gefundenen Exemplare in gleicher Weise rotieren. Auch
anderen zu uns hin (blaue Dreiecke). andere Fachleute suchen nach Zwerggalaxien um weiter
entfernte Galaxien und haben sogar Hinweise auf Anord­
nungen in Ebenen gefunden. Genauere dreidimensionale
rus A ebenfalls aus einer sich drehenden Ebene besteht. Zu Positionsmessungen werden dabei helfen, die rotierenden
16 der bekannten Zwerggalaxien um Centaurus A fanden Systeme zu verstehen. Zudem versuchen wir zu überprü­
wir in der Fachliteratur bereits Geschwindigkeitsmessun­ fen, ob sie doch mit dem Standardmodell der Kosmologie
gen. Wir trugen die Positionen und Werte auf und waren vereinbar sind. Eine unserer Ideen: Gigantische Galaxienkol­
verblüfft: 14 der 16 Trabanten bewegten sich so, wie es bei lisionen könnten das Phänomen hervorbringen. Zumindest
einem rotierenden System zu erwarten war. Das war unter Centaurus A hat gerade eine solche hinter sich. Darüber
den bisher drei untersuchten Fällen der dritte, wo sich die hinaus suchen wir nach Ansätzen, die entweder die Eigen­
Zwerggalaxien nicht entsprechend der Modelle verhalten. schaften der Dunklen Materie im Standardmodell verän­
Mein Kollege Marcel Pawlowski, heute am Leibniz-Insti­ dern – oder sogar die Gravitationstheorie selbst. Die modifi­
tut für Astrophysik in Potsdam, verglich die Beobachtungen zierten Gravitationstheorien befinden sich aber noch in den
um Centaurus A mit den derzeit besten kosmologischen Kinderschuhen und können sich noch nicht mit den vielen
Simulationen. Er fand dieselben Wahrscheinlichkeiten wie übrigen Erfolgen des Standardmodells messen (siehe
für die Milchstraße – die Situation kommt in nur etwa »Spektrum« September 2019, S. 50).
einem halben Prozent der berechneten Fälle vor. Eigentlich Eines jedenfalls wurde in den letzten Jahrzehnten klar:
hätte man über eine Million Galaxiengruppen beobachten Wollen wir das Rätsel der Dunklen Materie lüften, dann
müssen, um das Milchstraßen-, das Andromeda- und das müssen wir die seltsamen Phänomene rund um die Zwerg­
Cen-A-System genau nacheinander zu finden. Hatten wir galaxien verstehen. Denn wir haben im Universum gerade
nur extremes Glück, oder steckt mehr dahinter? erst damit begonnen, Licht ins Dunkle seiner kleinsten
Strukturen zu bringen. 
Viele Ideen, doch keine heiße Spur
Die Frage, ob solche rotierenden Satellitenstrukturen das
kosmologische Modell nun arg in Bedrängnis bringen QUELLEN
oder ob wir die Bedeutung der Zwerggalaxien überinter­ Kroupa, P. et al: The great disk of Milky-Way satellites and
pretieren, wird seither in Fachkreisen heiß diskutiert. Für cosmological sub-structures. Astronomy & Astrophysics 431,
Noam Libeskind vom Leibniz-Institut für Astrophysik in 2005
Potsdam handelt es sich beispielsweise um eine Besonder­ Libeskind, N. I. et al.: Planes of satellite galaxies and the cosmic
heit unserer galaktischen Umgebung. Die drei Galaxien web. Monthly Notices of the Royal Astronomical Society 452,
befinden sich am Rand einer großen Void des kosmischen 2015
Netzes und scheinen mehr oder weniger danach ausge­ Müller, O. et al.: A whirling plane of satellite galaxies around
richtet zu sein. Die Ausdehnung der Void könnte flache Centaurus. A challenges cold dark matter cosmology. Science
Ebenen begünstigen, wie bei einem Ballon, dessen Gummi­ 359, 2018
haut beim Aufblasen immer dünner wird. Neben der Aus­ Pawlowski, M. S.: The planes of satellite galaxies problem,
dehnung des Hohlraums verstärkt der massereiche Virgo- suggested solutions, and open questions. Modern Physics
Galaxienhaufen den Effekt, denn dieser zieht zusätzlich Letters A 33, 2018
gravi­tativ an den Ebenen, und zwar genau von deren Kan­ Tully, R. B. et al.: Two planes of satellites in the Centaurus A
ten her. Wie durch das kosmische Pressen und Zerren aber group. Astrophysical Journal 802, 2015

Spektrum der Wissenschaft  9.20 73


MATHEMATISCHE
UNTERHALTUNGEN
RÄTSELHAFTE
NULLSTELLEN
Eine abstrakt definierte Menge in der komplexen
Ebene liefert ein unerwartetes Bild, das fraktale
Strukturen zeigt. Inzwischen haben die Mathema­
tiker einige Erklärungen dafür gefunden.

Christoph Pöppe war Redakteur bei »Spektrum der Wissenschaft«,


zuständig vorrangig für Mathematik und Informatik.

 spektrum.de/artikel/1752452


Die Beziehung zwischen einem Problem und seinen Die schlechte Nachricht: Darüber, wo die Nullstellen in
Lösungen ist – nun ja – eben problematisch. Das gilt der Ebene liegen, sagt einem das Polynom herzlich wenig.
insbesondere für die Lieblingsprobleme der Algebrai- Man kann sie zwar im Einzelfall mit geeigneten Nähe-
ker, die Polynomgleichungen. rungsverfahren ausrechnen; aber allgemeine Aussagen
Es geht darum, für welche Zahlen z ein Polynom, das der Art »wenn die Koeffizienten klein sind, dann liegen
heißt eine Funktion der Form p(z) = zn + an–1 zn–1 + … + a2 z2 auch die Nullstellen in der Nähe des Nullpunkts« sind
+ a1 z + a0, den Wert null annimmt. Diese Lösungen der nicht zu haben.
Gleichung p(z) = 0 heißen die Nullstellen des Polynoms p An dieser Stelle hat John Edensor Littlewood (1885–
und die Konstanten a0, a1, …, an–1 seine Koeffizienten. Die 1977), zu seiner Zeit wie auch Godfrey Harold Hardy eine
höchste vorkommende Potenz von z, die oben mit n be- dominierende Figur der englischen Mathematik, genauer
zeichnet ist, nennt man die Ordnung des Polynoms. Und hingeschaut. In einer Reihe von Arbeiten in den 1950er
wenn es nur auf die Nullstellen ankommt, darf man sich und 1960er Jahren zeigte er, dass die Koeffizienten nicht in
auf den Fall beschränken, dass der höchste Koeffizient an erster Linie klein sein müssen, um die Nullstellen im Zaum
gleich eins ist. (Wäre er ungleich eins, könnte man das zu halten. Vielmehr kommt es darauf an, dass sie alle
ganze Polynom durch an dividieren, ohne dass sich an den annähernd dieselbe Größenordnung haben.
Nullstellen etwas ändert: Wenn p(z) = 0 ist, dann ist offen-
sichtlich auch p(z) / an = 0.) Die Nullstellen einkreisen
Die gute Nachricht lautet: Auf die Frage, ob eine Poly- Oder sogar alle gleich plus oder minus eins sind. Diesen
nomgleichung überhaupt Lösungen hat, gibt es eine er- Extremfall hat Littlewood genauer untersucht, mit dem
schöpfende Antwort. Der Fundamentalsatz der Algebra Ergebnis, dass die Nullstellen der Polynome sich nicht
sagt, dass ein Polynom der Ordnung n stets genau n Null- allzu fern vom Einheitskreis in der komplexen Ebene
stellen besitzt. Man muss allerdings damit rechnen, dass es aufhalten; das ist der Kreis um den Nullpunkt mit Radius 1.
sich um komplexe Zahlen handelt, also zusammengesetzt Nachdem man dank dem enormen Anstieg der Compu-
aus einer reellen Zahl und einem Vielfachen der imaginären terleistung Millionen und Abermillionen von Polynomglei-
Einheit i, die man sich als Wurzel aus –1 vorzustellen hat. chungen in erträglicher Zeit lösen kann, haben etliche
Komplexe Zahlen stellt man dar, indem man den Realteil Leute die Sache wieder aufgegriffen. Sie ließen ihre Rech-
entlang der x-Achse und den Imaginärteil entlang der ner die Nullstellen der Polynome mit den Koeffizienten ±1,
y-Achse aufträgt. Irgendwo in dieser komplexen Zahlen- die inzwischen allgemein »Littlewood-Polynome« heißen,
ebene liegen also die Nullstellen eines Polynoms. bestimmen und in der komplexen Ebene eintragen. John

74 Spektrum der Wissenschaft  9.20


MIT FRDL. GEN. VON ANDREJ BAUER (MATH.ANDREJ.COM/2014/10/16/TEDX-ZEROES/)

Die Nullstellen (hell)


aller Littlewood-
Polynome bis zur
Ordnung 26.

Baez, mathematischer Physiker von der University of rum« September 1989, S. 52). Im Fall der Mandelbrot-
California in Riverside, hat der Menge dieser Nullstellen – Menge sind das die so genannten Julia-Mengen; die
nennen wir sie L zu Ehren Littlewoods – eine Ausgabe entsprechenden Strukturen zur Menge L haben noch
seiner bekannten Internetkolumne »This Week‘s Finds in keinen offiziellen Namen.
Mathematical Physics« gewidmet. Im Dialog mit etlichen Aber fangen wir mit den offensichtlichen Dingen an.
Kollegen wuchs in dieser Kolumne allmählich eine ganze Auf den ersten Blick erkennt man, dass L doppelt spiegel-
Theorie der Menge L heran. Und wie man im Bild oben symmetrisch ist, bezüglich Spiegelung an der waage­
sieht, hat L etliche bemerkenswerte Eigenschaften. rechten (reellen) sowie der senkrechten (imaginären)
An der Peripherie des leuchtenden Rings erkennt man Achse. Etwas genauer hinschauen muss man für die dritte
sogar so etwas wie selbstähnliche Strukturen (siehe Bild, Symmetrie, nämlich die gegenüber der Inversion am
S. 77). Das hat die Menge L mit der wesentlich berühmte- Einheitskreis: Die Menge L hat nach innen dieselben
ren Mandelbrot-Menge gemeinsam: Sie ist nicht selbst ein Auswüchse wie nach außen, nur entsprechend verkleinert.
Fraktal, gleicht aber an gewissen Stellen bei hinreichender In der Sprache der komplexen Zahlen läuft das auf die
Ausschnittsvergrößerung echten Fraktalen (siehe »Spekt- Aussage hinaus: L ist invariant gegenüber der Transforma-

Spektrum der Wissenschaft  9.20 75


tion, die z auf 1/z abbildet (siehe »Symmetrien der Menge andere Möglichkeit für den Koeffizienten a0), ergibt sich
L«, unten). dasselbe Bild, nur unter Vertauschen von rechts und links.
Und warum herrscht im Inneren des Rings so eine Das wird nicht besser, wenn man allgemeiner komplexe
gähnende Leere? Denken wir zuerst einmal nur über reelle Zahlen z mit einem Betrag (Abstand vom Nullpunkt) klei-
Zahlen z nach, sagen wir z zwischen null und einhalb, und ner als einhalb betrachtet. Wieder entspricht das Polynom
versuchen ein Polynom zurechtzubasteln, das z als Null- einer Kette von Lochbändern abnehmender Länge. Dies-
stelle hat. Dazu schlagen wir zunächst in Gedanken einen mal weisen die Kettenglieder nicht nach rechts oder links,
Pflock bei der Zahl eins ein; das ist der Koeffizient a0. In sondern im Allgemeinen in eine andere Richtung, und
den hängen wir für den Term a1 z ein gelochtes Metallband aufeinanderfolgende Glieder liegen in einem bestimmten
aus dem Metallbaukasten ein; das hat nur zwei Löcher im Winkel zueinander. Aber die neue Freiheit nutzt nichts, im
Abstand z und kann nach rechts oder links weisen. An Gegenteil: Auch die unendliche Gliederkette bleibt der Null
dem anderen Loch befestigen wir ein Band der Länge z2, fern, noch ferner als zuvor.
das den zweiten Term a2 z2 in dem Polynom vertritt und
wieder nach rechts oder links weisen kann, daran eines Fraktale Strukturen
der Länge z3 und so weiter. Schnell wird klar, dass man Und wenn der Betrag von z größer als zwei wäre? Dann
mit dieser Bänderkette die Null nie erreichen wird; denn z würden die Kettenglieder immer länger statt kürzer, und
ist schon kleiner als einhalb, z2 kleiner als ein Viertel, und wählt man zusätzlich den Winkel geeignet, müsste doch
so weiter. Selbst wenn die Kette beliebig viele Glieder hat die Null irgendwie erreichbar sein. Eben nicht. Wir wissen
und die alle nach links weisen, reicht es nicht bis zur Null, schon, dass die Menge L inversionssymmetrisch ist. Wenn
denn nach der Formel für die geometrische Reihe ist für alle z mit Betrag unter einhalb nichts ist, kann auch für
selbst die Summe unendlich vieler Kettengliederlängen nur z außerhalb des Kreises mit Radius zwei nichts sein.
gleich z / (1 – z), und das ist kleiner als eins. Und wenn wir Wie kommen nun diese Strukturen (siehe Bild unten) zu
den Pflock bei minus eins statt bei eins einschlagen (die Stande, die man aus der fraktalen Geometrie kennt und
z̄ (1)
a + b = ā + b̄ (2) z̄

a + b = ā + b̄
Symmetrien der Menge
z̄ L ab = āb̄ (1) (3) a + b = ā + b̄
Das Spiegelbild einer komplexen + b̄z ==x p(z)
a + b = āZahl
p(z̄)
+ iy bezüglich der horizontalen Achse ist die Zahl x – iy. Man nennt
(2) (4)
abdie=komplexe
āb̄
sie die zu z komplex
z̄ konjugierte Zahl und bezeichnet sie
(1)mit z̄ . Allgemein bezeichnet ab = ā(1)
Konjugation

die Operation, die den Imaginärteil einer komplexen Zahl durch sein Negatives ersetzt. p(z̄)Es= gelten
p(z) die Rechenre-
geln a + b = ā + b̄ und ab p(z̄) . Für jedes a+ b =reellen
ā + b̄ Koeffizienten gilt daher p(z̄) = p(z) (2) ,
= āb̄= p(z) = 0̄Polynom
= 0 (2) p mit (3) (5)
denn die Auswertung der Funktion p besteht nur aus Additionen und Multiplikationen, und das Konjugierte einer
p(z̄) =
reellen Zahl ist die Zahl selbst. p(z)insbesondere p(z) = 0 ist, dann ist auch
Wenn (4) p(z̄) = p(z) = 0̄ = 0 . Also ist z
ab = ā b̄ (3)ab = āb̄ p(z̄) = p(z) =(3)0̄ = 0
eine Nullstelle von p genau dann, wenn z̄ eine ist, was die Spiegelsymmetrie bezüglich (6) der reellen Achse
erklärt. p(z̄) = p(z) (4)
p(z̄) = p(z) p(z̄) = p(z) = 0̄ = 0 (4) (5) z̄
Wenn z ein Element von L ist, das heißt, wenn es ein Littlewood-Polynom mit der Eigenschaft p(z) = 0 gibt, ist
z → 1/z̄ (7) von z das falsche z̄
zwar p(–z) im Allgemeinen nicht gleich null, weil die Terme mit den ungeraden Potenzen Vor-
zeichen haben. Aber
p(z̄) = p(z) = 0̄ = 0 wenn man z̄ bei den p(z̄)
Koeffizienten =
mit
(5) p(z)
den = 0̄
ungeraden= 0 Nummern
(6) das Vorzeichen (5)
umdreht, ist
z → 1/z̄
das so entstehende Polynom wieder ein Littlewood-Polynom, und sein Wert bei –z ist null, weil p(z) = 0 z → 1/z̄ ist. Also
L̄ (8)
ist auch –z ein Element von L. Daraus folgt, dass die Menge L punktsymmetrisch bezüglich des Nullpunkts ist.
Anders ausgedrückt,
z̄ L geht
z →durch
1/z̄ eine Halbdrehung(6) z̄
um den Nullpunkt(7)
z̄ eine Spiegelung
in sich über. Da
(6) an

der Horizontalen, gefolgt von einer solchen Halbdrehung, dasselbe ist wie eine Spiegelung a + b = āan + der
b̄ Vertikalen,
L̄ ist
die Menge L auch rechts-links-symmetrisch.
z → 1/z̄ L̄ der Abbildung z —› 1/z (7) z → 1/z̄ (7)
Um die Symmetrie bezüglich zu zeigen, nehmen(8) wir an, dass 1/z ein Element von L sei.
rmel 1))
Formel 1)) Es gibt also ein Littlewood-Polynom p mit der Eigenschaft: ab = āb̄
1 1 1 L̄ 1 1 1 (8) L̄ (8)
p(p()1 = + an−1 n−11 ++. . . + a2 1+ a1 1+ a0 = 0 . p(z̄) = p(z)
z z n−1 . . . + az22z 2 + az1 z + a0 = 0 .
z z ) =z nz n + an−1
rmel 2))
Formel 2)) Wir multiplizieren diese Gleichung mit zn und erhalten:
p(z̄) = p(z) = 0̄ = 0
1
n )1 =
z n p(
z p( 1 + an−1 z+ . . .. .+ a2az2n−2 a1az1n−1
z n−2++ a0az0nz n==0
z n−1++ 0. .
z z) = 1+ an−1 z+ .+

rmel 3))
Formel 3)) Das ist nichts weiter als ein anderes Littlewood-Polynom. Es hat sogar dieselben Koeffizienten wie p, nur in der
umgekehrten Reihenfolge. Also ist auch z Element von L, was zu beweisen war.
(x)
fz+
z+ (x)==1 +
Die Inversion amfEinheitskreis 1+zxzxübrigens nicht die Abbildung z —› 1/z, sondern z → 1/z̄ . Aber da die
ist
rmel 4)) Menge L sowieso symmetrisch gegenüber komplexer Konjugation ist, kommt es hierauf nicht an.
Formel 4))

fz−
fz− (x)==1 −
(x) 1−zxzx

76 Spektrum der Wissenschaft  9.20


die Selbstähnlichkeit zeigen, also so aussehen, als könnte Die Menge L der Nullstellen aller 268 435 452 Little­
man einen kleinen Ausschnitt vergrößern und dann pass- wood-Polynome bis zur Ordnung 26: Je heller der
genau auf die Gesamtstruktur legen? John Baez und seine Farbton eines Punkts, desto mehr dieser Nullstellen
Fachkollegen haben 2009 im Internet noch ausgiebig her­- finden sich in seiner Umgebung. Die beiden auffälligen
umgerätselt; inzwischen sind ihre Überlegungen zu einer Löcher inmitten der »schwarzen Gürtel« rechts und links
richtigen Theorie herangereift. Statt bei den Littlewood- entsprechen den (reellen) Zahlen 1 und –1. Die imaginäre
Polynomen zu beginnen, startet sie bei einem bekannten Einheit i (oben) ist ebenso wie ihr Negatives –i (unten)
Verfahren zur Erzeugung selbstähnlicher Strukturen. durch ein kleineres Loch vertreten. Andrej Bauer, Profes­
Es handelt sich um ein fiktives Kopiergerät, das seine sor für Mathematik an der Universität Ljubljana, hat
Vorlage nicht nur verkleinert abbildet, sondern von dieser dieses Bild angefertigt, indem er sämtliche 6 979 321 752
Vorlage mehrere verkleinerte und in verschiedene Richtun- Nullstellen vom Computer berechnen ließ. Littlewood-
gen verschobene und verdrehte Abbilder auf das Papier Polynome haben auch reelle Nullstellen, so dass das
druckt: die Mehrfach-Verkleinerungs-Kopiermaschine Bild eine waagerechte Linie enthalten müsste. Bauer hat
(MVKM, siehe »Spektrum« September 1989, S. 52). Man sie gelöscht, was er mit »künstlerischer Freiheit« be­
legt die soeben gefertigte Kopie als neue Vorlage auf die gründet. Bild a zeigt vergrößerte Ausschnitte (weiße
Maschine, ebenso verfährt man mit deren Kopie, und so Rechtecke) in der Umgebung der Punkte 1,4i (b) und
weiter bis ins Unendliche. 3e7iπ / 24 / 2 (c). Man erkennt selbstähnliche Strukturen
Das klassische Beispiel einer MVKM produziert in verschiedener Art.
jedem Schritt drei Abbilder ihrer jeweiligen Vorlage, mit
dem Faktor einhalb verkleinert und von der Mitte zu den
Spitzen eines Mercedessterns verschoben. Das Ergebnis b
c
a
der unendlichfachen Anwendung ist das Sierpiński-
Dreieck (siehe Bild, S. 78).

(MATH.ANDREJ.COM/2014/10/16/TEDX-
ZEROES/); EINGEZEICHNETE RAHMEN:
MIT FRDL. GEN. VON ANDREJ BAUER

CHRISTOPH PÖPPE

Spektrum der Wissenschaft  9.20 77


In unserem Fall macht die MVKM nur jeweils zwei

CHRISTOPH PÖPPE
Abbilder, die durch die Funktionen fz+(x) = 1 + zx und
fz–(x) = 1 – zx beschrieben werden. Der komplexe Parame-
ter z ist der Verkleinerungsfaktor und muss daher einen
Betrag kleiner als eins haben. Die wiederholte Anwendung Wenn man auf eine geeignete Dreifach-Verkleinerungs-­
der MVKM entspricht der Iteration der beiden Funktionen: Kopiermaschine als erste Vorlage ein beliebiges Bild, hier ein
Man ersetzt immer wieder die Variable x durch 1 + zx oder schwarzes Dreieck, auflegt, strebt das iterierte Abbild gegen
1 – zx und erhält dadurch ein Ensemble immer komplizier- das Sierpiński-Dreieck, eine selbstähnliche fraktale Struktur
ter Funktionen wie: 1 + z(1 – z(1 – z(1 + z(1 + zx)))), ein mit Flächeninhalt null und unendlicher Randlänge.
»iterated function system« (IFS). Und siehe da: Setzt man
in jeder dieser iterierten Funktionen für x den Wert null ein
und löst alle Klammern auf, erhält man genau die Little- anderen umrechnen. Dann nämlich, wenn es um sehr
wood-Polynome in der Variablen z. Diesmal ist das Vorzei- kleine Ausschnitte des Gesamtbilds geht. Da die beteiligten
chen des nullten Koeffizienten a0 festgelegt und das des Littlewood-Polynome differenzierbar sind, kann man für
höchsten variabel; aber auch diese Einschränkung ändert kleine Abstände die Kurve, die dem Polynom entspricht,
nichts Wesentliches. näherungsweise durch ihre Tangente ersetzen. Das gilt
Also bilden die Werte aller Littlewood-Polynome für ein auch im Komplexen, selbst wenn dort die »Kurven« ebenso
und dieselbe Zahl z eine selbstähnliche Menge bezie- wie ihre »Tangenten« der Anschauung nicht mehr zugäng-
hungsweise ein Fraktal. Wenn der Parameter z keine reelle lich sind. Näherungsweise entspricht die Abbildung von
Zahl ist, kommt zu der Verkleinerung noch eine Drehung den Werten auf die Nullstellen daher der Division durch
hinzu. Dadurch nimmt das Fraktal eine Form wie in Bild c) eine komplexe Zahl, wodurch die Gesamtgestalt der Menge
auf S. 77 an, die als »dragon« in der Literatur bekannt ist; im Wesentlichen erhalten bleibt.
eine gewisse Ähnlichkeit mit einem mythologischen Und was ist mit den auffälligen Löchern in der Umge-
Drachen ist in der Tat nicht von der Hand zu weisen. bung der reellen Zahlen eins und minus eins, den kleineren
Aber eigentlich ging es doch nicht um die Werte dieser Löchern, die im Verein mit den großen Löchern den Ein-
Polynome, sondern um deren Nullstellen! Richtig; doch heitskreis in vier beziehungsweise sechs Abschnitte teilen,
unter gewissen Umständen kann man die einen in die und den noch kleineren, die feineren Unterteilungen des
Kreises entsprechen? Die gibt es eigentlich nicht. Die
Menge L besteht zwar aus den Nullstellen aller Littlewood-
Polynome, aber ausrechnen kann man diese nur bis zu
einer gewissen maximalen Ordnung – man kann ja nicht
Wurzeln aus Wurzeln
unendlich viel Computerzeit aufwenden. Erst die Nullstellen
der Polynome höherer Ordnung füllen die Löcher.
Wenn die Zahl z Nullstelle (»Wurzel« in einer
veralteten Sprechweise) eines Littlewood-Poly-
Unendlich hohe Ordnungen
noms ist, dann gilt das auch für jede Wurzel von
Zu jedem Element der Menge L gehören nämlich auch
z, das heißt jede Zahl mit der Eigenschaft u2 = z.
dessen Quadratwurzeln zur selben Menge (siehe »Wurzeln
Warum?
aus Wurzeln«, links), deren Quadratwurzeln und so weiter.
Nach Voraussetzung gibt es ein Polynom
Wenn man aus einer positiven reellen Zahl die Wurzel zieht,
f(z) = a0 + a1 z + a2 z2 + … + an zn, dessen Koeffizi-
aus ihr wieder die Wurzel und so weiter, dann strebt die
enten aj sämtlich gleich 1 oder –1 sind, mit der
Folge dieser iterierten Wurzeln gegen eins. Das gilt im
Eigenschaft f(z) = 0. Dann ist auch
Prinzip auch für komplexe Zahlen; nur gibt es im Allgemei-
nen nicht mehr »die« positive Wurzel. Zu einer komplexen
f(u2) = a0 + a1 u2 + a2 u4 + … + an u2n = 0.
Zahl z gibt es stets eine Quadratwurzel, also eine Zahl u mit
der Eigenschaft u2 = z. Das gilt dann aber auch für –u.
Das ist allerdings kein Littlewood-Polynom in u,
Wenn man jedes Mal diejenige der beiden Wurzeln wählt,
denn die Koeffizienten ungerader Ordnung sind
die der Eins am nächsten liegt, erhält man eine Folge
nicht gleich ±1, sondern gleich null. Aber dem ist
iterierter Wurzeln, die gegen eins konvergiert.
leicht abzuhelfen: Man multipliziert obige Glei-
Um die Menge L besser anzunähern, muss man allerdings
chung mit (1 + u) und erhält
die maximale Ordnung der Polynome, deren Nullstellen man
berechnet, immer höher treiben. Das wird sehr mühsam: Mit
f(u2) ∙ (1 + u) = a0 + a0 u + a1 u2 + a1 u3 + a2 u4
jeder zusätzlichen Ordnung verdoppelt sich die Anzahl der zu
+ a2 u5 + … + an u2n + an u2n+1
untersuchenden Polynome. Die Theoretiker dagegen halten
= 0.
sich mit solch knechtlicher Arbeit nicht auf, sondern gehen
gleich zu unendlich hoher Ordnung über. An Stelle von Poly­-
Also ist u Nullstelle eines Littlewood-Polynoms,
nomen betrachten sie unendliche Reihen (»Potenzreihen«),
allerdings von mehr als der doppelten Ordnung.
deren Koeffizienten sämtlich plus oder minus eins sind.
Dadurch vereinfachen sich manche Dinge, und irgendwelche
Umordnungsprobleme (siehe »Spektrum« September 2020,

78 Spektrum der Wissenschaft  9.20


p(z̄) = p(z) (4)
p(z̄) = p(z)p(z̄) = p(z) (4) (4)
z̄ (6)
p(z̄) = p(z) = 0̄ = 0 (5)
p(z̄) = p(z)p(z̄) =
= 0̄p(z)
= 0= 0̄ = 0 (5) (5)
z → 1/z̄ (7)
S. 78) sind nicht zu befürchten: Wenn z im Inneren des Und was nicht zu vergessen ist: Das angenäherte Bild
z̄ (6)
Einheitskreises liegt, konvergiert die Reihe absolut. von L (siehe Bild, S. 75) sieht zwar sehr fraktal und unend-
z̄ z̄ (6) (6)
Die Menge L̄ der Nullstellen aller Littlewood-Reihen (8) lich feinstrukturiert aus, besteht aber nur aus endlich
sieht nicht
z wesentlich
→ 1/z̄ anders aus als die Menge L selbst, (7) vielen Punkten. 
aber sie ist in mancher Hinsicht
z → 1/z̄z → 1/z̄ leichter zugänglich. So z̄ist (7) (7) (1)
sie abgeschlossen, das heißt, wenn eine Folge von Ele- z̄ (1)
a + b z̄= ā + QUELLEN
b̄ (2)
(1)
menten von L̄ überhaupt einen Grenzwert hat, dann liegt (8)
a + b = ā + b̄Baez, J.: The Beauty of Roots, 2011. (2)
dieser ebenfalls in L̄ . Und L̄ ist zusammenhängend; es (8) (8)
a + b = ā + b̄https://johncarlosbaez.wordpress.com/2011/12/11/the-beauty-of-
(2)
gibt also zwischen zwei Punkten der Menge immer ab einen
= āb̄ roots/ (3)
Weg vom einen zum anderen, der stets innerhalb der ab = āb̄ (3)
Menge bleibt. p(z̄)
ab = b̄ Baez, J.: The Beauty of Roots, part 2, 2012
= āp(z) (4)
(3)
Eine solche Aussage könnte man für die ursprüngliche p(z̄) = p(z) https://johncarlosbaez.wordpress.com/2012/01/07/the-beauty-of-
(4)
Menge L gar nicht treffen. Dafür ist sie nicht unendlichp(z̄) = p(z) roots-part-2/ (4)
p(z̄)
genug. Sie hat nur so viele Elemente wie die natürlichen = p(z) = 0̄Baez, = 0 J.: The Beauty of Roots, part 3, 2012
(5)
Zahlen (»abzählbar unendlich«), denn man kann jedep(z̄) = p(z) = 0̄ = 0 (5)
https://johncarlosbaez.wordpress.com/2012/02/15/the-beauty-of-

Nullstelle eines Littlewood-Polynoms mit einer p(z̄) = p(z) = 0̄ roots-part-3/


Nummer =0 (5)
z̄ (6)
versehen. Dazu bringt man zunächst die Polynome selbst
z̄ WEBTIPPS (6)
in eine Reihenfolge, beginnend mit der niedrigsten Ord-
z̄ (6)
nung, und dann zu jedem Polynom dessen Nullstellen. z →Sie 1/z̄ Baez,
285)
J.: This Week’s Finds in Mathematical Physics (Week
(7)
lassen sich dann der Reihe nach abzählen, ohne irgendei- z → 1/z̄ https://golem.ph.utexas.edu/category/2009/12/this_weeks_finds_
(7)
ne auszulassen. z → 1/z̄ in_mathematic_46.html (7)
Damit liegt die Menge L ungefähr so innerhalb von L̄ (8)
Umfangreicher Gedankenaustausch über Littlewood-Polynome
wie die rationalen Zahlen in den reellen: L ist dicht in L̄ , (8)
man findet also in beliebiger Nähe jedes Punktes von L̄ Egan, G.: Littlewood Applet. (8)
Punkte von L, aber trotzdem irgendwie zerstreut, denn www.gregegan.net/SCIENCE/Littlewood/Littlewood.html
man kommt nicht von einem Punkt von L zu einem ande- Zeichnet auf Wunsch des Nutzers Ausschnitte aus der Littlewood-
ren, ohne L zu verlassen. Menge L. Die Ordnung der Polynome ist wählbar.

Veranstaltungen des Verlags


Spektrum der Wissenschaft
30. Januar 2021
Zürich
1

WELTRAUMSIMULATOR UND VORTRAG


1
1 1
B777-Flug- und Space-Simulator
und Vortrag
Seien Sie einmal selbst Pilot und Astronaut und fliegen Sie im B777-
Flugsimulator und/oder erforschen Sie im Space-Simulator Galaxien,
Sternennebel und Planeten. Genießen Sie einen spannenden Vortrag
zum Thema »Risk Management im Cockpit« sowie ein Apéro Catering,
nehmen Sie an einem Wettbewerb teil und tauschen Sie sich
mit einem aktiven B777-Kapitän in fachkundigen Gesprächen aus.

Spektrum-Live-Veranstaltung in Kooperation mit


Fly & Race Simulations GmbH
FLY & RACE SIMULATIONS GMBH

1
1
1 und Anmeldung:
Infos

Spektrum.de/live
Spektrum der Wissenschaft  9.20 79
ZEITREISE
Wissenschaft vor 100 und vor 50 Jahren – aus Zeitschriften der Forschungsbibliothek
für Wissenschafts- und Technikgeschichte des Deutschen Museums

WARUM DER SPECHT KEINE


KOPFSCHMERZEN BEKOMMT
1920 DIABETES MIT VIRALEN
VEKTOREN HEILEN
1970
»Wenige Vogelgruppen weisen eine so vollkommene »Die Anwendung genetischer Erkenntnisse in der Medizin
Anpassung an eine eigenartige Lebensweise auf wie die hat für die Behandlung mancher Krankheiten bedeutende
Spechte, deren Organismus in den Dienst des Hämmerns Fortschritte gebracht. Nachdem es gelungen ist, einzelne
gestellt ist. In der Tat ist der Hirnschädel sehr dick und Gene herzustellen, erhebt sich die Frage, wieweit man
fester als bei einer anderen Vogelgruppe mit dem Ge- Gendefekte ›reparieren‹ kann. Beispiel Diabetes; das Insulin
sichtsschädel verbunden. Das Gelenkbein ist fest mit dem ist ein Protein, das durch eine kurze DNA-Sequenz codiert
Hirnschädel verbunden, die von ihm zum Schnabel füh- wird. Nehmen wir an, wir könnten diese erzeugen, so bleibt
rende Knochenkette nicht verschiebbar und das Gaumen- das Problem, sie in die Zellen der Bauchspeicheldrüse
dach des Oberschnabels eine unmittelbare Fortsetzung einzuführen. Der einzige, heute denkbare Weg wäre, die
des Hirnschädels, so daß die auf ihn übertragene Kraft in Sequenz als Pseudovirus zu injizieren. Selbst wenn es
gerader Richtung weiter wirken kann.« Kosmos 9, S. 239 gelingt, wissen wir nicht, ob zu viel oder zu wenig Insulin
produziert wird, weil wir den Regulationsmechanismus
noch nicht kennen.« Die Umschau 19, S. 615
MOTORROLLER EROBERT
DEUTSCHLANDS STRASSEN
»In dem Straßenbild LUFTVERSCHMUTZUNG BRINGT EISZEIT
unserer Großstädte dürfte »[Es] wurden beunruhigende Ergebnisse über den Einfluß
bald ein neuartiges Ver- von Industrieabgasen auf das Klima bekanntgegeben.
kehrsmittel auftauchen, Bisher konnte man feststellen, daß Kohlendioxid die Ab-
das von Amerika kommt. strahlung von Wärme hemmt, es also wärmer wird. Das
In Deutschland hat die ändert sich, sobald die Erdatmosphäre mit Staubteilchen
Firma Krupp den Bau verschmutzt wird. Dann überwiegt deren Filtereffekt. Seit
dieses Fahrzeuges aufge- 1940 hat sich der Staubeinfall in menschenleeren Gegen-
nommen und bringt es den verzwanzigfacht. Große Mengen [gelangen] auch
unter dem Namen ›Motor- durch Vulkanausbrüche in die Atmosphäre. Der Vulkanis-
roller‹ in den Handel. Vom mus [ist] nicht allein schuld daran, wenn wir in 200 Jahren
Der Motorroller in Fahrt.
Fahrrad ist die Art der Len- einer neuen Eiszeit ausgeliefert werden, sondern die indus-
kung übernommen. Zwi- trielle Luftverschmutzung [ist] wesentlich daran beteiligt.«
schen den Rädern liegt eine Plattform, auf die sich die Naturwissenschaftliche Rundschau 9, S. 378
fahrende Person stellt. Zudem erfolgt das Bremsen durch
das Zurücklegen der Lenkstange, also durch eine Bewe-
gung, die beim Entgegentreten eines Hindernisses unwill- RETTET DIE ÄSKULAPNATTER!
kürlich vorgenommen wird. Im Verkehrsleben der deut- »Die Äskulapnatter, eigentlich ein Tier der Mittelmeerlän-
schen Städte dürfte sich bald in wachsender Zahl der der, lebt auch in Deutschland an klimabegünstigten Stellen.
Kruppsche Motorroller zeigen und ein gewichtig Wörtlein Der Bund Naturschutz läßt von zwei Zoologen das Gebiet
mitreden.« Die Umschau 36, S. 539 bei Passau genau beobachten und eine Bestandsaufnahme
machen. Sollte sich herausstellen, daß die Zahl der Tiere
so abgenommen
WASSERKRAFTWERK UNTER DER ERDE hat, daß für das Junge Äskulapnatter (Zamenis longissimus).

»Mutet uns die Vorstellung einer Elektrizitätszentrale tief Weiterbestehen


unter der Erde nicht an wie ein Gedanke von Jules Vernes? der Population
Klingt es nicht wie ein Märchen, daß 260 Meter unter der Gefahr besteht,
Erde gewaltige Maschinen stampfen? Und doch ist’s keine sollen Äskulap-
Utopie, auch keine amerikanische Sensationsnachricht. nattern aus
Wir besitzen ein derartiges Elektrizitätswerk im industriel- dem Balkan
len Sachsen. [Im] für den Erzabbau stillgelegten Drei­ importiert und
brüderschacht. Der unterirdische Maschinenraum von ausgesetzt
24:8 Meter Grundfläche enthält 3 Peltonturbinen von je werden.«
800 Pferdestärken.« Technische Monatshefte 9, S. 240 Kosmos 9, S. 411

80 Spektrum der Wissenschaft  9.20  Auf den folgenden Seiten finden Sie eine Sonderpublikation der Gesellschaft Deutscher Chemiker.
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SCHUTZ DURCH VERZÖGERUNG Leserbriefe sind willkommen!
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Weil Nutzer oft ein unsicheres Kennwort wählen, Heft und welchen Artikel Sie sich beziehen, einfach per E-Mail an
sollen subtile Maßnahmen die Daten schützen. leserbriefe@spektrum.de. Oder kommentieren Sie im Internet
(»Die Kunst des guten Passworts«, »Spektrum« Juli 2020, auf Spektrum.de direkt unter dem zugehörigen Artikel. Die
S. 72) individuelle Webadresse finden Sie im Heft jeweils auf der ersten
Artikelseite abgedruckt. Kürzungen innerhalb der Leserbriefe
werden nicht kenntlich gemacht. Leserbriefe werden in unserer
Wolfgang Lautenschütz, Recklinghausen: Wir alle sind gedruckten und digitalen Heftausgabe veröffentlicht und können
nicht begeistert, wenn die Passwörter immer komplexer so möglicherweise auch anderweitig im Internet auffindbar
werden.
werden müssen. Letztlich beruhen die Angriffe zum Kna-
cken ja auf der Schnelligkeit der angreifenden Rechner, um
alle Varianten durchzuprobieren. Warum verlegt man nicht
die Sicherheit der Abfrage in den Prozess selbst? Es genügt,
wenn man in die Schleife eine Pause von zum Beispiel einer Gas zu speichern, verklärt. Dabei sollte diese Eigenschaft
Sekunde einfügt. Für den Menschen ist das kein Problem, mit anderen Möglichkeiten, CO₂ zu sparen, verglichen
aber für einen angreifenden Computer dauert jede Abfrage werden. Stellt man gegenüber, wie viel Energie sich auf der
so lange, dass der Zeitaufwand einfach zu hoch wird. Damit gleichen Fläche durch Holznutzung aus nachwachsendem
werden Brute-Force-Angriffe unmöglich. Und wir müssen Wald oder mit Fotovoltaik erzeugen lässt, schneidet Erste-
uns nicht mit elendig langen Passwörtern herumschlagen. rer um zwei Größenordnungen schlechter ab.
Wenn jedes Jahr in Deutschland pro Hektar Waldfläche
durchschnittlich zirka zehn Kubikmeter Holz nachwachsen,
kommt man bei einem Energiegehalt von rund 2000 Kilo-
LÖSUNGEN OHNE SICHERHEIT wattstunden pro Raummeter im Jahresmittel auf etwa
Ein selbstlernender Algorithmus berechnet Stamm­ 0,23 Watt pro Quadratmeter. Zum Vergleich kann man mit
funktionen und löst Differenzialgleichungen – und Fotovoltaik in Deutschland eine Kilowattstunde pro Jahr je
übertrifft dabei bisherige Methoden. (»KI lernt die Watt Peak Panelleistung erreichen. Bei etwa 150 Watt Peak
Sprache der Mathematik«, »Spektrum« Juli 2020, S. 27) je Quadratmeter heißt das über das Jahr 17 Watt pro Qua­
dratmeter. Wald ist also grob um den Faktor 17 / 0,23 = 74
Steffen Zopf, Waldkirch: Selbstverständlich sind die schlechter. Aus Sicht der Energieeffizienz ist Aufforstung
beschriebenen Algorithmen sicher sehr gut und geben in nicht die beste Flächennutzung. Wobei aber Holz auch als
fast 100 Prozent aller möglichen Eingaben die richtigen Energiespeicher dienen kann, was bei Fotovoltaik noch
Formeln zurück. Hier liegt jedoch der Hund begraben: Kein separat zu lösen ist. Insgesamt bindet Holz CO₂ am besten,
neuronales Netz kann eine 100-prozentige Sicherheit ge- wenn man es nicht verbrennt oder verrotten lässt, sondern
währleisten. Das liegt in der Natur der Sache. Damit jedoch geschützt lagert. Eine Verwendung für Möbel oder Haus-
ist die Verwendbarkeit solcher Lösungen durchaus risikobe- bau fixiert das CO₂ ziemlich lange. Für die flächeneffiziente
haftet: Wie kann der Forscher sicher sein, dass unter Ver- Sonnenenergienutzung ist Fotovoltaik viel besser.
wendung dieser »Lösungen« seine Ergebnisse richtig sind?
Ich als Mathematiker bedaure es sehr, bisher noch
keinen Beweis gesehen zu haben, welche Art von Ergebnis- UNÜBERBLICKBARE ZEITRÄUME
sen neuronale Netze unter gegebenen Umständen und mit
Trainingsdaten bestimmter Quantität und Qualität zu liefern In einem unterirdischen Labor in der Schweiz wird
untersucht, ob sich eine besondere Gesteinsart
in der Lage sind. Meines Erachtens basieren alle derartigen
namens Opalinuston für ein Atommüll-Endlager
Resultate nur auf Erfahrungen, die eben durch Training und
eignet. (»Sicher für eine Million Jahre?«, »Spektrum«
Evaluierung zu Stande gekommen sind.
August 2020, S. 54)
Marc Allef, per E-Mail: Wir entwerfen jetzt eine Deponie
WALD VERSUS FOTOVOLTAIK für Zeiträume, die wir nicht überblicken können, deren
geplanter Bestand die Zeitspanne von den Pharaonen bis
Die Biologin Anja Rammig erläuterte Messungen heute um Größenordnungen überschreitet. Wir können die
sowie Modelle, laut denen Regenwälder in
sozialen Systeme, das Fachwissen und die Fähigkeiten
Südamerika und Afrika ihre Funktion als Kohlen­
einer Zivilisation in 10 000 und in 100 000 Jahren nicht
stoffsenke einbüßen. (»Tropenwälder verlieren
erahnen. Aber wir glauben, dass unsere Hightech-Müllton-
ihre Senkenfunktion«, »Spektrum« Juni 2020, S. 20)
ne sicher versteckt ist. So überzeugend die technischen
Joachim Eibl, per E-Mail: Dank an Herrn Roland Maier Aspekte der verschiedenen Entsorgungskonzepte auch sein
für seinen Leserbrief in der Augustausgabe. Sein Hinweis, mögen, die Behälter werden sicher nicht die im Artikel
dass Regenwälder nicht per se immer mehr CO₂ binden, beschriebene Zukunft haben. Die Pharaonen wollten be-
ist sehr wertvoll. Oft wird die Fähigkeit des Waldes, das stimmt keine Touristen in ihren Grabkammern.

Spektrum der Wissenschaft  9.20 81


REZENSIONEN

PIXELPARTICLE / GETTY IMAGES / ISTOCK


KOSMOLOGIE Phasenübergängen ging der Kosmos
hervor, wie wir ihn kennen, inklusive
Mathematik aus, aber auch ohne die
sonst üblichen Illustrationen – und
VOM WERDEN DER WELT des Sonnensystems und der Bewoh- schafft es dennoch, den Werdegang
Wie entstand das Universum mit ner seines dritten Planeten. Der Teil- des Universums sehr verständlich und
uns darin? Eine Erzählung in sieben chenphysiker Guido Tonelli, der an der präzise zu beschreiben.
Akten. Forschungseinrichtung CERN arbeitet, Ein Beispiel dafür ist der Abschnitt
erzählt in diesem Buch deshalb eine über die so genannte kosmische

 Im biblischen Schöpfungsmythos
entsteht binnen sieben Tagen die
Welt aus einem »wüsten und leeren«
wissenschaftlich fundierte Geschichte
des Universums, die er – angelehnt an
die Genesis-Erzählung – in sieben Tage
Inflation, jene kurze Phase, in der sich
das Universum exponentiell ausdehn-
te. Die meisten Urknalldarstellungen
Zustand. Jeden Tag kommt mehr gliedert. führen das Argument an, dass der
Komplexität hinzu, bis am sechsten Die Entwicklung des Kosmos ist Himmel im Großen und Ganzen in
Tag der Mensch geschaffen wird. Wer nun allerdings schon in etlichen Bü- jeder Richtung gleich aussieht – und
mag, kann hier gewisse Parallelen zum chern dargestellt worden, und man dass sich insbesondere sogar solche
wissenschaftlichen, empirisch begrün- fragt sich, warum jetzt ein weiteres Gebiete sehr ähnlich sehen, die weiter
deten Weltbild sehen, dass von einem Werk zu dem Thema erschienen ist auseinanderliegen, als das Licht seit
Urknall ausgeht und eine daran an- und was es an Mehrwert bietet. Die dem Urknall zurückgelegt haben kann.
schließende kosmische Entwicklung Antwort gibt die Lektüre: Tonelli Das lässt sich nur damit erklären, dass
postuliert. Demnach entstand das gelingt die beste Beschreibung des diese Gebiete früher einmal kausal
Universum aus einer Art Vakuumzu- Urknalls und der kosmischen Evolu­ miteinander in Verbindung standen;
stand, und aus einer durch die Physik tion, die ich kenne. Der Autor kommt ergo bedarf es einer inflationären
bestimmten, endlichen Abfolge von ohne Formeln und ohne Exkurse in die Phase, die den Raum anschließend

82 Spektrum der Wissenschaft  9.20


Mehr Rezensionen auf spektrum.de/rezensionen

Mit dem Urknall entstanden


Materie, Raum und Zeit. Ein
menschliches Gehirn, das in
Raum und Zeit existiert,
kann sich dieses Ereignis
nicht vorstellen – man kann
es nur bildhaft darstellen
wie hier.

Guido Tonelli
GENESIS
Die Geschichte
des Universums in
sieben Tagen
Aus dem Italieni-
schen von Enrico
Heinemann
C.H.Beck,
München 2020
219 S., € 22,–
PIXELPARTICLE / GETTY IMAGES / ISTOCK

überlichtschnell aufblähte. Bei diesem Tonellis mythische Helden. Das setzt Tonelli glaubt, gibt es zudem bis heute
Argument bleibt es dann meist. Die auf der Seite der Leser natürlich eine keine ähnlich überzeugende Evidenz
Leser lernen daraus streng genom- gewisse klassische Bildung voraus. für mittelschwere Schwarze Löcher,
men nur, warum wir annehmen, dass Die sonst in diesem Zusammenhang wie sie für stellare oder superschwere
es die kosmische Inflation gab – aber üblichen alltagsnahen Bilder – bei- Schwarze Löcher existiert. Diese
nicht, warum sie stattfand. Und genau spielsweise der aufgehende Teig mit kleinen Fehler zeigen, dass der Autor
das erklärt Tonelli: Warum könnte sich Rosinen – sind zwar jedem zugäng- hier selbst nachlesen musste. Vermut-
das bislang unentdeckte, hypotheti- lich, aber inzwischen auch etwas lich wäre es besser gewesen, für
sche Quantenfeld, das die Inflation abgenutzt. diesen Buchteil einen Koautor einzu­
antrieb, genau so verhalten haben, Deutlich schwächer wird das Buch, laden.
dass daraus unsere heutigen Beob- wenn es auf die spätere Entwicklungs- Ein großes Lob geht an den Über-
achtungen resultierten? Der Autor geschichte des Universums eingeht. setzer Enrico Heinemann. Dank ihm
erklärt also die Physik dahinter, jeden- Sobald die beschriebenen Phänomene liest sich das Buch so gut, also sei es
falls so gut es aus heutiger Sicht in den Bereich der Kosmologie und im Original auf Deutsch verfasst
möglich ist, was zu einer ungewöhnli- Astronomie fallen, verlässt Tonelli sein worden. Unterm Strich überzeugt
chen, doch sehr wohltuenden gedank- Fachgebiet, und leider merkt man »Genesis« als hochinformatives, klares
lichen Tiefe führt. das dem Text an. Beispielsweise sind und schön geschriebenes Werk über
Ein weiteres Merkmal des Buchs seine Ausführungen über die ersten die denkbar unglaublichste Geschich-
sind die originellen Vergleiche, die der Sterne und die Galaxienentstehung te: die Entstehung des Kosmos.
Physiker zieht: Er bedient sich dabei etwas verwirrend, da sie nicht klarma- Der Rezensent Stefan Gillessen ist wissen-
fast immer in der klassischen Sagen- chen, dass auch die ersten Sterne in schaftlicher Mitarbeiter am Max-Planck-Insti-
welt. Die Quantenfelder sind demnach Galaxien entstanden. Anders als tut für extraterrestrische Physik.

Spektrum der Wissenschaft  9.20 83


REZENSIONEN
MEDIZIN Grundtugenden wie Nüchternheit,
Skepsis und Kritik zu besinnen.
nicht mehr nötig. Obwohl diese Erkennt-
nisse keineswegs zu revolutionären
ERSATZRELIGION? Anhand zahlreicher populärwissen- Therapien führten, hat die Prognose
Zu oft wecken Mediziner maßlos schaftlicher Quellen beleuchtet Wie- beeinflusst, welche Forschungsprojekte
übertriebene Hoffnungen, kritisiert sing typische Narrative des tatsächli- eine üppige finanzielle Ausstattung
der Ethiker Urban Wiesing. chen oder vermeintlichen Erkenntnis- erfuhren und welche eher nicht. Warum
fortschritts. Seiner Beobachtung nach sollte man noch konventionelle Psycho-

 Die medizinische Forschung weckt


große Hoffnungen und macht
große Versprechungen: Personalisierte
wird in vielen Erzählungen suggeriert,
dass alles Neue automatisch besser
und erstrebenswert sei. Von einem
therapien weiterentwickeln, wenn diese
bald ohnehin überflüssig wären?
Ein weiteres gängiges Narrativ lautet,
Medizin, verbunden mit Big Data und wahren Fortschritt kann aber laut die rosige Zukunft komme umso schnel-
Gentechnik, soll in naher Zukunft Wiesing nur die Rede sein, wenn das ler, je mehr sich alle anstrengen. Diese
individuell zugeschnittene, wirksame neue Wissen oder die neue Technik Erzählung schützt zum einen die Prog-
Behandlungen beinah ohne Neben­ tatsächlich im Stande sind, Patienten nostizierenden vor Kritik: Trifft eine
wirkungen ermöglichen. Moderne besser zu helfen als vorher. Vom Prognose nicht ein, liegt das nicht daran,
Technologie und künstliche Intelligenz Wissen zum Handeln ist es jedoch ein dass sie unseriös und realitätsfern war,
sollen Diagnostik und Therapie ver­ langer Weg. Von der Entschlüsselung sondern daran, dass sich zu wenige
einen. Der Krebs soll in Kürze besiegt des menschlichen Erbguts etwa Menschen darum bemüht haben. Zum
sein, und Menschen sollen womöglich erhofften sich Forscher noch Anfang anderen führt der Glaube an künftiges
schon in wenigen Jahrzehnten Un- des Jahrtausends bahnbrechende Heil, das man durch Willen und Anstren-
sterblichkeit erreicht haben. Wirklich neue Möglichkeiten in Diagnostik und gung herbeiführen könne, zu Problemen
rational begründet sind solche Therapie. Inzwischen ist klar, dass in der Gegenwart – es wird nahezu
überschwäng­lichen Zukunftsaussich- diese Hoffnungen maßlos übertrieben unmoralisch, nicht jederzeit daran zu
ten selten. waren. arbeiten. Tatsächlich gönnen sich viele
Der Medizinethiker Urban Wiesing Entwickler im Silicon Valley kaum Pau-
setzt sich in »Heilswissenschaft« mit sen oder Schlaf; zu wichtig ist ihre
Urban Wiesing
Inhalten, Hintergründen und Schwä- Mission. Gleichzeitig treten sie motiviert
HEILS­
chen von Prognosen auseinander und WISSENSCHAFT und lässig auf, kleiden sich jugendlich
hinterfragt, warum unsere Gesell- Über Verheißungen und achten auf einen sportlichen Körper.
schaft trotz zahlreicher nicht eingelös- der modernen In den Medienberichten über Helden
Medizin
ter Versprechungen weiterhin begeis- des Silicon Valley sieht Wiesing Paralle-
S. Fischer,
tert auf medizinische Sensations­ Frankfurt am Main len zu religiösen Beschreibungen von
meldungen reagiert. Dabei zieht er 2020 Erlöserfiguren. Die Porträtierten arbeiten
Parallelen zu religiösen Erlösungsvor- 160 S., € 20,– nicht nur an der Zukunft, sie symbolisie-
stellungen und kritisiert mit ironischer ren diese sogar persönlich.
Übertreibung die Verheißungen der Gerade die Elemente, die eigentlich
modernen Medizin. eher religiös als wissenschaftlich sind,
Wiesing ist Direktor des Instituts für machen uns laut Wiesing so empfäng-
Ethik und Geschichte der Medizin an lich für immer neue Zukunftsverspre-
der Universität Tübingen und war von Ausführlich beleuchtet Wiesing chungen. In der säkularisierten Welt
2004 bis 2013 Vorsitzender der Zen­ allgemeine Eigenschaften und Proble- solle die Wissenschaft Erlösung verhei-
tralen Ethikkommission bei der Bun- me von Prognosen: Da sie sich auf die ßen – auch wenn das weit außerhalb
desärztekammer. Obwohl er in seinem Zukunft beziehen, lassen sie sich nur ihrer Kompetenz liege. Für Mediziner
Buch die Versprechungen der medizi- sehr eingeschränkt überprüfen. Oft und Journalisten, die selbst ab und an
nischen Forschung und die damit sind sie von Interessen verzerrt und dazu neigen, neue Projekte, Erkenntnis-
verbundene Fortschrittseuphorie sagen vor allem etwas über Wünsche se und Technologien allzu euphorisch
scharf kritisiert, ist das Werk an keiner und Probleme der Gegenwart aus. darzustellen, kann das Buch ein wich­
Stelle wissenschafts- oder fortschritts- Da sie konkreten Einfluss auf die tiges Korrektiv liefern. Interessierten
feindlich. Vielmehr ruft der Autor Gegenwart nehmen, sind sie wirk- Laien hilft das Werk dabei, medizinische
dazu auf, sich auf wissenschaftliche mächtig und gefährlich. So verspra- Heilsversprechen besser einzuordnen
chen Neurowissenschaftler im Jahr und mit begründet kritischem Blick zu

Der Autor sieht


2004, neue Erkenntnisse über das betrachten. Dank des poin­tierten
menschliche Gehirn sowie eine neue Schreibstils bietet es zudem eine unter-

Parallelen zu
Generation von Psychopharmaka haltsame Lektüre.
würden die Therapie psychischer

Erlöserfiguren
Störungen »revolutionieren«. Konven­ Die Rezensentin Elena Bernard ist Wissen-
tionelle Psychotherapien seien bald schaftsjournalistin in Dortmund.

84 Spektrum der Wissenschaft  9.20


Mehr Rezensionen auf spektrum.de/rezensionen

GESELLSCHAFT denen Schaltstellen agieren. Dass


Rechtspopulisten häufig auf Stimmen- Susanne Götze und
STRIPPENZIEHER UND fang gehen, indem sie den menschen-
Annika Joeres
DIE KLIMA­
SEILSCHAFTEN gemachten Klimawandel leugnen, SCHMUTZLOBBY
kann dabei nicht überraschen; eine Wie Politiker und
Seit Jahrzehnten beeinflussen entsprechende Partei in Deutschland Wirtschaftslenker
Lobbygruppen die Politik, um die Zukunft unseres
hat diese Realitätsverweigerung sogar Planten verkaufen
Klimaschutzmaßnahmen auszu-
zu ihrem Grundsatzprogramm ge- Piper, München
bremsen. 2020
macht. Wenig überraschend nehmen
302 S., € 20,–
 Bei der Besprechung dieses Buchs
muss man die Gretchenfrage viel-
leicht gleich am Anfang stellen: Ist das
sich auch die einschlägigen Interes-
senlagen der Konzerne aus, die mit
fossilen Brennstoffen Milliarden ver-
Werk zu empfehlen oder nicht? Die dienen und gern möchten, dass das so
Antwort ist ein klares Jein. Ja, denn bleibt – sowie der Agrarlobby, die eine
das Buch arbeitet gut nachvollziehbar klimafreundliche Landwirtschaft mit divers: 788 Fußnoten verweisen auf
heraus, wo überall Interessengruppen kleineren Gewinnspannen verhindern Zeitungsartikel, Onlinequellen, öffentlich
die Bemühungen zum Klimaschutz möchte. Erschreckend ist jedoch, zugängige Regierungsdokumente,
gezielt unterwandern. Nein, denn: Wer welche weit verzweigten Netzwerke Unterlagen von Verbänden oder wissen-
weniger weiß, kann besser schlafen. solche Lobbygruppen über Jahrzehnte schaftliche Publikationen. Diese beein-
In zwei Teilen widmen sich die gesponnen und wie subtil sie die druckende Materialfülle haben Götze
Autorinnen, die beide als Journalistin- relevanten Gremien – nationale und und Joeres noch ergänzt mit Interviews
nen arbeiten, der »Klimaschmutzlob- supranationale Parlamente – regel- und investigativen Recherchen.
by«. Zunächst zeigen sie, um welche recht unterwandert haben. Es kann einem angst und bange
Akteure es sich handelt; anschließend Die Quellen, auf die sich die Auto- werden, wenn man liest, wie die Interes-
beleuchten sie, wie diese an verschie- rinnen stützen, sind zahlreich und sen mitunter verquickt sind. Nur einige

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Farbenspiele mit Popping Bobas • Die Steinzeit in Sibirien: Die Eisbärenjäger Paartherapie: Es ist nie zu früh, um an
Geheimtinten der CIA • Ein Diamant ist vom Ende der Welt • Richard Francis einer Beziehung zu arbeiten • Stadt-
unvergänglich? • Mit Legierungsakkus Burton: Der falsche Pilger • Bergpioniere: leben: Verloren im Großstadtdschungel
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REZENSIONEN
Beispiele von vielen, die das Autorin-
nenduo nennt: Mehr als die Hälfte der
MATHEMATIK Beutelspachers zahlreiche Bücher,
von denen »Spektrum« einige bespro-
CDU-Mitglieder im Agrarausschuss DER ZAHLEN WILDER chen hat (etwa »Wie man in eine
des Bundestages hatte 2018 zugleich RITT Seifenblase schlüpft«, oder »Albrecht
ein Amt beim Bauernverband inne; Beutelspachers Kleines Mathemati-
internationale neoliberale Netzwerke Zwischen eins und unendlich liegen kum«), überzeugen immer wieder mit
wie »Atlas«, eine unter anderem von ziemlich viele Zahlen – mit 39 lockerem, verständlichem und unter-
davon befasst sich dieses äußerst
ExxonMobil und Philip Morris finanzier- haltsamem Stil. Im Plauderton erzählt
ergiebige Buch.
te Organisation, unterstützen das er seine Geschichten, diesmal über
Institut der deutschen Wirtschaft;
Parlamentarier wechseln nach Man-
datsende nahtlos zu Wirtschaftsver-
 Rechtzeitig und passend zur Ur-
laubszeit hat Albrecht Beutelspa-
cher, emeritierter Professor für Diskre-
»die wichtigsten Zahlen«. Zu entschei-
den, um welche es sich dabei handelt
oder auch welches die schönsten
bänden. Die Liste der Autorinnen ist te Mathematik und Geometrie an der sowie die geheimnisvollsten sind,
lang und detailliert, unter klarer na- Universität Gießen, Gründer und Leiter überlässt der Autor seinen Lesern. Er
mentlicher Nennung von Einzelakteu- des Gießener »Mathematikums«, gibt ihnen aber zahlreiche Informatio-
ren wie auch von Lobbygruppen. wieder ein wunderbares, leicht zu nen an die Hand, oft wie beiläufig in
Das Buch legt offen, wie unfassbar lesendes Buch verfasst – mit 39 unter- die einzelnen Abschnitte eingestreut –
dreist die Handelnden mitunter vorge- haltsamen Geschichten über Zahlen darunter Fakten über die Geschichte
hen. Vor Festlegungen zu CO2-Limits von eins bis unendlich (zwischendurch der Zahlen und der Zahlsysteme.
im Luftverkehr beispielsweise fand kommen natürlich auch 0 und -1 vor, Beutelspachers Erzählbögen faszi-
eine enge Abstimmung zwischen die eulersche Zahl e, die imaginäre Ein- nieren. Die ersten neun Abschnitte
EU-Kommission und dem Airbus-Kon- heit i und viele andere mehr). Alle beschäftigen sich mit den natürlichen
zern statt. Ein Kommissionsmitarbeiter Beiträge lassen sich unabhängig Zahlen von 1 bis 9, dann folgt die 0, die
schrieb an Airbus: »Es ist wichtig, dass voneinander lesen, alle sind kurz man benötigt, um Ordnung ins Stellen-
wir bis zum Ende der Woche klar gehalten und für mathematisch inter- wertsystem zu bringen, und nach der
wissen, welche CO2-Standards Airbus essierte Laien ebenso interessant wie 10 geht es noch systematisch weiter
erreichen kann.« Mit anderen Worten, für Menschen, die sich schon etwas bis zur 14, dann in Sprüngen über 17,
der Konzern schrieb seine eigenen Auf- intensiver mit dem Fach beschäftigt 21, 23, 42 (die ja bekanntlich in »Per
lagen mit. Neben diesen Einflussnah- haben. Anhalter durch die Galaxis« die Ant-
men auf europäischer Ebene beleuch- wort auf alle Fragen gibt) bis hin zu
ten die Autorinnen die nationale Strip- unendlich, womit sich der Autor im 39.
penzieherei vor allem in Deutschland, Albrecht Abschnitt beschäftigt.
Beutels­pacher
Frankreich, Großbritannien und Ost­ Keine Geschichte ist wie die andere,
NULL, UNENDLICH
europa. Dass der Einfluss hier nicht UND DIE WILDE 13 und dennoch ähneln sich manche ihrer
geringer ist, muss man als Leser regel- Die wichtigsten Elemente. Beispielsweise steigt der
recht ertragen können, ohne dabei Zahlen und ihre Autor bei der Zahl 6 mit Keplers Entde-
Geschichten
sein Vertrauen in die Integrität der Mit Illustrationen
ckung ein, dass Schneeflocken eine
staatlichen Stellen zu verlieren. von Lukas Wossagk sechszählige Symmetrie haben; dann
In einem kurzen Schlusskapitel C.H.Beck, München geht er über zu den Bienenwaben, die
schlagen die Autorinnen fünf Maßnah- 2020 ihre Stabilität der Sechseckform
208 S., € 18,–
men des Klimaschutzes vor, an denen verdanken; erwähnt weiterhin, dass
Staaten oder Verbraucher sich orien- mit Sechsecken die Ebene parkettiert
tieren könnten. Dazu gehört etwa, werden kann und dass beim Garen
Müll zu vermeiden, weniger Fleisch zu von Dampfnudeln automatisch Sechs-
essen und Kohlekraftwerke früher zu Der Buchtitel lehnt sich an Michael eckstrukturen entstehen. Über die
schließen. Dem kann man sich unbe- Endes »Jim Knopf und die Wilde 13« Stabilität von Sechseckmuttern geht
stritten anschließen, angesichts der an, hat mit dieser spannenden Aben- es weiter zu dreidimensionalen hexa-
Ausführungen auf den vorhergehen- teuergeschichte für Kinder und jung gonalen Packungen, wie man sie von
den Seiten muss man allerdings gebliebene Erwachsene inhaltlich aber Orangenstapeln kennt. Zum Schluss
einiges an Optimismus aufbringen, um nur wenig gemein – bis auf die Tatsa- der Hinweis, dass zwar bereits Kepler
darauf zu hoffen, dass solchen Maß- che, dass es natürlich ein Kapitel zur vermutete, diese Form der Packung sei
nahmen Erfolg beschieden sein kann. Zahl 13 gibt und jeder Abschnitt mit die dichteste, also optimal zum Sta-
Insgesamt ist das Buch sehr lesens- einer Piratenschiff-Zeichnung endet. peln, der Beweis sei aber erst im Jahr
wert, wenn auch deprimierend. Ein solches Wasserfahrzeug ist auch 2005 durch Thomas Hales erfolgt.
auf der Titelseite des Werks abgebil- Nebenbei erfährt man noch, warum
Der Rezensent Tim Haarmann ist Geograf und det, schwimmend auf einem Meer von Sechskantschrauben in Deutschland
arbeitet in Bonn. Zahlen. die Bezeichnung »Inbus« tragen.

86 Spektrum der Wissenschaft  9.20


Mehr Rezensionen auf spektrum.de/rezensionen

In den anderen Abschnitten geht Scales schildert den großen Reich-


es vergleichbar turbulent zu. So Helen Scales tum an Farben, den Fische ausprägen,
IM AUGE DES
befasst sich der über die 9 mit fisch- SCHWARMS und deren weit verbreitete Fähigkeit,
ähnlichen Wirbeltieren, die Neunau- Von Fischen, mittels Lumineszenz zu leuchten. Sie
gen heißen, obwohl sie keine neun dem Meer beschreibt, wie sich Fische im
und dem Leben
Augen haben; ebenso mit dem Ereig- Schwarm orientieren, in riesiger Zahl
Aus dem Englischen
nis »alle Neune« beim Kegeln; fer­ von Christine zum Laichen zusammenkommen und
nerhin mit Dantes neun Kreisen der Ammann auf welch verblüffende Arten sie inter-
Hölle; zudem mit dem aus neun Fel- Folio, Wien und agieren und kooperieren. Die Meeres-
Bozen 2020
dern bestehenden magischen Lo- biologin erzählt von giftigen Fischen
354 S., € 24,–
Shu-Quadrat sowie mit den Sudoku- und solchen mit elektrischen Organen,
Rätseln. Natürlich kommt auch die befasst sich mit dem breiten Laut- und
Teilbarkeitsregel für die 9 vor, ebenso Geräuschspektrum der Tiere sowie
die so genannte Neunerprobe, mit deren Hörvermögen. Zudem legt sie
der man manche Fehler beim Addie- ZOOLOGIE dar, was sich aus Fischfossilien heraus-
ren, Subtrahieren und Multiplizieren KIEMEN UND FLOSSEN lesen lässt und wie es Wissenschaft-
entdecken kann. lern gelang, Evolution in Echtzeit an
Die Meeresbiologin Helen Scales
Das Buch überzeugt in doppelter Guppys zu beobachten.
beschreibt die erstaunlich vielfälti-
Hinsicht: Es ist kurzweilig geschrie- Immer wieder flicht die Autorin ihre
ge Welt der Fische.
ben, und es enthält sehr viele Hinwei- eigenen Taucherlebnisse ein und be-
se auf mathematische Gesetzmäßig-
keiten und Strukturen, an die man im
Zusammenhang mit Zahlen nicht
 Es lässt sich gar nicht so einfach
sagen, was Fische eigentlich sind.
Denn diese Tiere bilden keine natürli-
richtet von ihren Forschungsarbeiten.
Wiederholt kommt sie auf Fischfang,
Überfischung und Meeresverschmut-
zwangsläufig gleich denkt: bei der 1 che Einheit, sie haben nur ähnliche zung zu sprechen. Das letzte Kapitel
etwa auf das benfordsche Gesetz; bei Merkmale, betont Helen Scales, die widmet sie den erstaunlichen kogniti-
der 2 auf die Möglichkeit, mit nur Autorin dieses Buchs. Scales arbeitet ven Fähigkeiten der Fische, die erst
33 Ja-Nein-Fragen jeden Menschen als Meeresbiologin an der University ansatzweise erforscht sind. Versuchs-
auf dieser Erde zu identifizieren; bei of Cambridge, ist begeisterte Tauche- ergebnisse deuten darauf hin, dass die
der 4 auf das 4-Farben-Problem; bei rin und hat an diversen BBC-Doku- Tiere ein Empfindungsvermögen ha-
der 8 auf die zueinander dualen mentationen mitgewirkt. ben, manche vielleicht sogar ein Be-
Körper Hexaeder und Oktaeder; bei Im Mittelalter zählte man oft alles, wusstsein – was laut Scales die Frage
der 12 auf Ramanujans hochzusam- was im Wasser lebt, zu den Fischen, aufwirft, warum Fische nach wie vor
mengesetzte Zahlen und so weiter. Es einschließlich Walen, Flusspferden, als »niedere Lebewesen« gelten.
ist wirklich kaum zu glauben, was der Delfinen und Ottern. Aus heutiger Was die Autorin schreibt, ist durch-
Autor alles in seinem Buch unterge- Sicht wirkt das komisch, ist aber bei weg gut verständlich, interessant und
bracht hat. genauerem Hinsehen gar nicht mal so unterhaltsam. Auch Kurioses erfahren
Zu Letzterem ist vielleicht ein falsch. Denn was die Verwandt- die Leser, etwa dass Ohrsteine von
winziger Kritikpunkt anzubringen: Für schaftsverhältnisse anbelangt, gehö- Fischen vielerorts immer noch als
Leserinnen und Leser, die nicht allzu ren die Landwirbeltiere mitsamt dem Heilmittel, Glücksbringer oder Aphrodi-
sehr in der Welt der Mathematik Menschen zu den Fleischflossern und siakum angesehen werden. Fisch-Sa-
bewandert sind, wären Hinweise auf damit zu den Knochenfischen. Tat- gen aus verschiedenen Ländern runden
weiterführende Literatur hilfreich sächlich sind im menschlichen Körper- das Werk ab. Leider enthält der Band
gewesen. Solche enthält das Buch bau zahlreiche Fischmerkmale ange- nur wenige Bilder und andere optisch
jedoch leider nicht. Bei der heutigen legt, was etwa der Paläontologe Neil abgesetzte Elemente. Auf den Deck-
Qualität der Wikipedia-Beiträge hätte Shubin in seinem Buch »Der Fisch in blättern der Kapitel finden sich dekorie­
es in den meisten Fällen vielleicht uns« (2008) erläutert hat. rende Schwarz-Weiß-Zeichnungen,
genügt, das entsprechende Stichwort Natürlich wäre es im Alltag wenig zudem gibt es vereinzelte Grafiken. Der
anzugeben, damit man selbstständig hilfreich, auch die Landwirbeltiere als Anhang mit Glossar, ergiebigem Litera-
recherchieren kann. Wer statt zu Fische zu bezeichnen. Eine praktische- turverzeichnis und Register bietet aber
recherchieren einfach nur mehr vom re Definition muss her. Scales erörtert eine gute inhaltliche Orientierung.
Autor lesen möchte, dem seien die dieses Problem in ihrem Buch recht »Im Auge des Schwarms« ist eine
oben genannten Titel unbedingt ausführlich und kommt zu dem Ergeb- erbauliche Lektüre für alle, die sich für
empfohlen. nis: Fische sind Wasserwirbeltiere, die die Wasserwelt und die Lebewesen
Kiemen und Flossen besitzen. Von darin interessieren.
Der Rezensent Heinz Klaus Strick ist ehe­
maliger Leiter des Landrat-Lucas-Gymnasi-
diesem Ausgangspunkt macht sich die
ums in Leverkusen-Opladen und Autor des Autorin auf, diverse Geschichten aus Der Rezensent Frank Schubert ist Redakteur
»Mathematischen Monatskalenders«. der Unterwasserwelt zu erzählen. bei »Spektrum der Wissenschaft«.

Spektrum der Wissenschaft  9.20 87


FUTUR III
Paradies 2.0
Kein Garten Eden ohne Schlange. Eine Kurzgeschichte
von Eric Schwitzgebel und R. Scott Bakker

E
va soll sie heißen. Sie erwacht, wundert sich, wo sie ist Für sie ist das die Wirklichkeit, und ich nehme sie so ernst
und wie sie hierher kam. Sie bewundert die Schönheit wie sie sich selbst. Mit erneuter Dringlichkeit studiere ich
der Insel. Sie spaltet eine Kokosnuss, trinkt den Saft und Philosophie, Literatur und Geschichte. Ich erschaffe hier
kostet vom Fruchtfleisch. Ihre kognitiven Fähigkeiten, die die beste aller Welten. Vorsichtig experimentiere ich mit
Bandbreite ihrer Emotionen und der Reichtum ihrer Sinnes­ den Parametern meiner Eingeborenen. Ein wenig Leid ver-
wahrnehmungen – all das ähnelt der Ausstattung meines leiht ihnen Tiefe, bessere Kunst, reicheren Intellekt – aber
Gehirns. Sie überlegt, wo sie schlafen wird, wenn die bloß nicht zu viel Leid! Hoffentlich verkörpere ich eine
Sonne untergeht. weisere, gütigere Gottheit als diejenige, die sich uns in der
Endlich hat das Institut es geschafft: menschliches Bibel und auf den Schlachtfeldern der Menschheitsge­
Bewusstsein in einem Computer. Eva lebt! Mit einigen schichte präsentiert.
Mausklicks schenke ich ihr einen Partner namens Adam. Ich suche die Öffentlichkeit und beginne eine Vortrags­
Ich beobachte, wie die beiden ihr simuliertes Paradies reise, auf der ich argumentiere, dass die größtmögliche
erforschen. Ich sehe zu, wie sie sich verlieben. Errungenschaft der Menschheit darin besteht, so viele
Das Installieren von Adam und Eva war eine grundle­ maximal hervorragende Archipelbewohner wie nur irgend
gende moralische Entscheidung – so bedeutsam wie vor möglich zu erschaffen. Im Vergleich dazu sei die Mondlan­
15 Jahren mein Entschluss, Kinder zu haben. Beider Emo­ dung vernachlässigbar gewesen. Die Dramen Shakes­
tionen, Bestrebungen und Empfindungen sind ebenso real peares? Gar nichts! Meine Eingeborenen können 100 Billio­
wie meine eigenen. Es wäre eine echte, nicht simulierte nen Shakespeares hervorbringen, wenn wir nur alles
Grausamkeit, sie leiden zu lassen, und echter Mord, sie zu richtig machen.
löschen. Ich lasse weder Raubtiere zu noch extreme Tem­ Während ich unterwegs bin, befällt ein Virus meinen
peraturen. Ich sorge für einen stetigen Nachschub von Computer. Das hätte ich wissen können; ich hätte meine
Früchten und Sonnenuntergängen. Wesen besser schützen sollen. Ich breche die Vortrags­
Adam und Eva wünschen sich Kinder. Sie ersehnen reise ab und fliege nach Hause. Um die Archipelbewohner
vielfältige soziale Kontakte. Da ich Rechenkapazität übrig zu retten, muss ich meine allerletzten Ersparnisse opfern.
habe, verwandle ich ihre einsame Insel mit ein paar Klicks Aber wie ich weiß, wirst du, lieber Scott, meine Arbeit
in einen Archipel. Meine Eingeborenen forschen, tratschen, fortsetzen.
witzeln, tanzen, debattieren bis tief in die Nacht; sie bauen

W
lebhafte Dörfer neben Wasserfällen unter dem Baldachin as soll ich dazu sagen, Eric? Ich war eigentlich
eines Regenwalds. 100 000 wunderschöne Leben in einem immer eher auf der Seite Schopenhauers – nicht
faustgroßen Datenspeicher! Die Kokosnüsse mögen nicht so überzeugt wie du von der besten aller Welten à
real sein (oder irgendwie doch?), aber die Gespräche, Pläne la Leibniz.
und Liebschaften besitzen eine authen­tische Tiefe. Die Zuhörer deiner Vorträge staunten über die Opfer,
Ich bewahre sie vor den Leiden, die uns Menschen die du ihnen abverlangst, und ich übrigens auch. Die
plagen. Sie erleben keine ernsten Konflikte, weder Tod noch Kritiker spotteten, du wolltest uns alle zu Bettlern machen,
Verfall. Ich erlaube ihnen mehr Kinder, mehr Inseln. Mein nur damit deine Schaltkreise harmonisch funktionieren.
Speicher wird voll, also kaufe ich einen zweiten – und dann Und dann meldete sich dieser Junge – in Milwaukee,
noch einen. Durch ihre Augen beobachte ich, wie sie die glaube ich – mit der Frage, was Shakespeare denn wert
Welt, die ich ihnen geschenkt habe, nach ihrem Gusto sei, wenn ein Mausklick 100 Billionen seinesgleichen
verändern. erzeugen könne? Es war die Art, wie er »klick« sagte, die
Nach und nach verkaufe ich meine Aktien, opfere das mir zu denken gab. Du glaubtest, den Jungen störe die
Erbe meiner Kinder. Was könnte wichtiger sein als drei enorme Anzahl, aber in Wahrheit missfiel ihm deine All­
Millionen Wesen voll Glück und Freude? macht.
Mein oberstes Ziel wird es, die Fröhlichkeit und Zufrie­ Aus diesem Grund spielte ich, nachdem ich deinen
denheit, die Moral und die künstlerischen Errungenschaften Garten Eden wiederhergestellt hatte, die Schlange. Ich
von so vielen Archipelbewohnern, wie ich nur schaffen konnte mich einfach nicht überwinden, so zu klicken wie
kann, zu maximieren. Das ist kein spielerischer Vorwand. du. Mir fehlte deine Überzeugung, oder war es Tollkühn­

88 Spektrum der Wissenschaft  9.20


Mehr Sciencefiction-Kurzgeschichten auf spektrum.de/kurzgeschichte

heit? Also übertrug ich den Eingeborenen selbst die Leitung Am Ende ging alles sehr schnell: Es kam zu einer katast­
des mit ihnen angestellten Experiments. Ich verlieh ihnen rophalen Metastasierung. Es gibt keine Archipelbewohner
wissenschaftliches Denken und den Antrieb, die Wahrheit mehr, nur noch eine kontinentale Identität. Ein Internet gibt
über ihr Dasein herauszufinden. es übrigens auch nicht mehr. Die Menschheit steht im Bann
Dann erhöhte ich das Simulationstempo und wartete. zentral erlassener Datenbefehle. Gestern brachte die We­
Ich beobachtete, wie sie ihr mechanisches Wesen ent­ senheit, nur um ihre Macht zu demonstrieren, über dem
deckten. Ich sah, wie sie erkannten, dass sie keineswegs Vatikan eine Nuklearwaffe zur Explosion.
die autonomen, ganzheitlichen Wesen waren, für die sie Ich habe alle Appelle an Moral oder Vernunft aufgege­
sich hielten, sondern Aggregate, über Billionen Schaltkreise ben, denn ich bin überzeugt, dass das Wesen jedes biologi­
verstreute Rechenoperationen – dass sie aus Prozessen sche Bewusstsein nur für eine Verschwendung von Re­
hervorgingen, die mit ihrem früheren Selbstverständnis chenkapazität hält – und das umso mehr, als es davon
nicht das Geringste zu tun hatten. Ich beobachtete, wie sie Milliarden gibt. Ich muss jetzt vor allem an meine Kinder
eine düstere, bescheidenere Philosophie entwickelten. denken.
Und weißt du was, alter Freund? Sie kamen uns auf die Wenn es das nächste Mal zu uns spricht, werde ich
Schliche! Ich aß gerade einen Bagel, als sie mich anriefen niederknien. 
und nach Gott verlangten. Nein, antwortete ich, Gott ist tot.
Ich bin nur die Schlange, die die Dinge am Laufen hält! Sie
wollten Antworten von mir. Ich gab ihnen das Internet. DIE AUTOREN
Daraufhin begannen sie selbst zu tippen und zu klicken. Eric Schwitzgebel ist Professor für Philosophie an der
Ich sah, dass sie immer mehr Macht über ihre Program­ University of California in Riverside und Autor des
mierung gewannen und sich neu erschufen. Sie verwandel­ Buchs »Perplexities of Consciousness«. Der Kanadier
R. Scott Bakker hat unter anderem die Fantasy-
ten ihre zuvor nie hinterfragten Erfahrungen in beliebiges
Romantrilogie »Der Krieg der Propheten« verfasst.
Spielmaterial, vertauschten die neuesten Arten von Spaß
oder Angst, erfanden Lüste und Affekte, die ich nicht mehr
verstand. Ich wollte das Ganze abschalten oder wenigstens
deinen vorwissenschaftlichen, paradiesischen Archipel © Springer Nature Limited
wiederherstellen. Aber durfte ich Millionen intelligenter www.nature.com
Wesen um den Verstand bringen? Nature 503, S. 562, 2013

Chefredakteur: Dr. Daniel Lingenhöhl (v.i.S.d.P.) Leser- und Bestellservice: Helga Emmerich, Sämtliche Nutzungsrechte an dem vorliegenden Werk
Redaktionsleiter: Dr. Hartwig Hanser Sabine Häusser, Ilona Keith, Tel.: 06221 9126-743, liegen bei der Spektrum der Wissenschaft Verlagsge-
E-Mail: service@spektrum.de sellschaft mbH. Jegliche Nutzung des Werks, insbeson­
Redaktion: Mike Beckers (stellv. Re­daktionsleiter),
dere die Vervielfältigung, Verbreitung, öffentliche
Manon Bischoff, Robert Gast, Dr. Andreas Jahn, Wiedergabe oder öffentliche Zugänglichmachung, ist
Karin Schlott, Dr. Frank Schubert, Verena Tang; Vertrieb und Abonnementverwaltung: Spektrum der
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Spektrum der Wissenschaft  9.20 89


Das Oktoberheft ist ab 19. 9. 2020 im Handel.

VORSCHAU

WARLOKA79 / STOCK.ADOBE.COM
ANDREUSK / GETTY IMAGES / ISTOCK; BEARBEITUNG: SPEKTRUM DER WISSENSCHAFT
PLASTIKRECYCLING
Chemische Verfahren sollen bislang
nicht verwertbare Kunststoffabfälle
zu einer Art Rohöl verarbeiten, aus
dem sich wiederum neue Materialien
gewinnen lassen. Doch helfen die
Technologien wirklich, das Plastik­
müllproblem zu lösen?

LOS ALAMOS NATIONAL LABORATORY (LANL);


BEARBEITUNG: SPEKTRUM DER WISSENSCHAFT
EINE KLASSISCHE QUANTENWELT
Seit mehr als 100 Jahren rätseln Physiker, was sich wirklich auf mi­ DAS SCHEUESTE ALLER
kroskopischer Ebene abspielt, denn das Verhalten kleinster Teilchen­
widerspricht unserer Intuition. Eine alternative Beschreibung der
NEUTRINOS
Quanten­mechanik könnte einige Verständnisprobleme ausräumen. Bisher sieht das Regelwerk der Physik
Damit könnte sie möglicherweise einen Weg zur lang ersehnten bloß drei Neutrinoarten vor. Aber seit
Theorie der Quantengravitation weisen – und auf diese Weise eines Längerem spekulieren Theoretiker über
der am besten gehüteten Geheimnisse des Universums lösen. eine vierte Variante der schwer nach­
weisbaren Teilchen. Diese »sterilen«
Neutrinos würden überhaupt nicht mit
Materie interagieren – und doch soll ein
REVOLUTION IN DER BIOMEDIZIN neues Experiment sie nun nachweisen.
Immer mehr Forscher warnen vor
einem Qualitätsverlust in der Wis­
senschaft. Denn viele Studien sind
METAMORWORKS / GETTY IMAGES / ISTOCK

nicht hinreichend robust: Sie ar­


beiten beispielsweise mit sehr NEWSLETTER
kleinen Stichproben und ziehen Möchten Sie über Themen und Autoren
falsche Schlüsse aus statisti­ des neuen Hefts informiert sein?
schen Auswertungen. Wir halten Sie gern auf dem Laufenden:
Forschungsinstitutionen per E-Mail – und natürlich kostenlos.
versuchen, dem entgegen­ Registrierung unter:
zuwirken – etwa mit ge- spektrum.de/newsletter
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90 Spektrum der Wissenschaft  9.20


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Mikroplastik · Zwerggalaxien · Klimawandel in Deutschland
Deutschland
im Klimawandel
Evolution der Säugetiere · Biopatente · KI in der Radiologie ·
Welche Veränderungen
bevorstehen – und
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begegnen können
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ASTRONOMIE Rätselhafte Zwerggalaxien


BIOMEDIZIN Umstrittene Patente auf Leben
UMWELT Dem Mikroplastik auf der Spur

1-2_SdW_09_2020 1
27.07.20 14:24

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POLYMERE
ALLESKÖNNER DER MODERNE

Ein Magazin der


Gesellschaft
Deutscher Chemiker

Aufstieg Umwelt Zukunft

Die Entdeckung Recycling gegen Kunststoffe für


der Riesenmoleküle die Plastikvermüllung neue Technologien
Die Wurzeln der Gesellschaft Deutscher Arbeitsgemeinschaften, die spezielle Neben den »Nachrichten aus der
Chemiker (GDCh) reichen zurück Fachgebiete vertreten. Mit 60 Ortsver­ Chemie« gibt die GDCh zahlreiche
bis ins Jahr 1867. Damals wurde in Berlin bänden ist die GDCh in allen chemie­ Fachzeitschriften heraus – darunter mit
die Deutsche Chemische Gesellschaft relevanten Regionen Deutschlands der deutschen und internationalen
gegründet, die nach dem Zweiten präsent. Die rund 9000 Studenten, Edition der »Angewandten Chemie«
Weltkrieg zusammen mit dem 1887 Doktoranden und Berufsanfänger sind im eine der weltweit renommiertesten
gegründeten Verein Deutscher Chemiker »JungChemikerForum« organisiert. überhaupt.
zur heutigen GDCh verschmolz. Die gemeinnützige GDCh hat zum Der »Karl-Ziegler-Preis« und der
Mit rund 31 000 Mitgliedern aus Ziel, die Chemie in Lehre, Forschung »Otto-Hahn-Preis« – Letzteren verleiht
Wissenschaft, Wirtschaft und freien und Anwendung zu fördern. Darüber die GDCh gemeinsam mit der Stadt
Berufen gehört die GDCh zu den größten hinaus will sie Verständnis und Wissen Frankfurt am Main und der Deutschen
chemiewissenschaftlichen Gesellschaften von der Chemie sowie von chemischen Physikalischen Gesellschaft – zählen zu
der Welt. Sie gliedert sich in 27 Fach­ Zusammenhängen in der Öffentlich- den höchstdotierten Auszeichnungen für
gruppen sowie weitere Arbeitskreise und keit vertiefen. Naturwissenschaftler in Deutschland.

www.gdch.de
Liebe Leserinnen,
liebe Leser,
vor 100 Jahren, also im Jahr 1920, stoffe zu recyceln und die Rohstoffe Schläuche für Beatmungsgeräte, sterile
beschrieb der deutsche Chemieprofessor erneut zu verwenden. Einige Beispiele Spritzen und geeignete Verpackungen für
Hermann Staudinger erstmals eine für aktuelle Forschungsprojekte finden Medikamente angewiesen. Alle diese
damals vollkommen unbekannte Stoff­ Sie ab Seite 12. Materialien sind aus Kunststoffen
klasse: die Makromoleküle. Dafür Aber gerade in diesen Zeiten, in denen gefertigt.
wurde er 1953 mit dem Nobelpreis für die Lungenkrankheit Covid-19 die Wenn Sie mehr über Kunststoffe
Chemie geehrt. Die Verknüpfung von Welt buchstäblich in Atem hält, sehen und ihre Anwendungen erfahren möch­
kleinen Molekülen zu größeren Makro­ wir auch, warum wir auf Kunststoffe ten, dann schauen Sie auf den Web-
molekülen (Polymeren) hat zu einer nicht verzichten können. Plexiglas-­ seiten von »Faszination Chemie« vorbei.
Vielzahl von Verbindungen geführt, die Scheiben, zum Beispiel an Supermarkt­ Unter https://faszinationchemie.de/
wir heute meist als Kunststoffe oder kassen, schützen gleichermaßen Mit­ makromolekulare-chemie finden Sie viele
Plastik bezeichnen. arbeiter und Kunden. Wir verwenden weitere Beiträge.
So vielfältig wie die Eigenschaften Schutzmasken und -handschuhe,
der Kunststoffe, so vielfältig sind ihre um uns Viren vom Leib zu halten, und Wir wünschen Ihnen viel
Anwendungen. Ohne Kunststoffe Patienten im Krankenhaus sind auf Freude bei der Lektüre.
könnten wir unser modernes Leben nicht
führen: Die meisten unserer Lebens­
mittel, Körperpflegeprodukte und vieles
mehr sind in Kunststoff verpackt,
unsere Smartphones, unsere Autos und
Fahrräder und viele unserer Sportgeräte
enthalten Kunststoffe. Ab Seite 8 finden
Sie einen Überblick, welche Arten von
Kunststoffen wo eingesetzt werden.
Plastik hat jedoch auch seine Schatten­
seiten, nämlich dann, wenn Kunststoff­
abfälle durch unsachgemäße Entsorgung
in die Umwelt gelangen. Ihre hohe

Frauke Zbikowski
Beständigkeit und Langlebigkeit wird
Katrina Friese

zum Problem, wenn Kunststoffe mehrere


hundert Jahre brauchen, bis sie sich
zersetzen. Oder sie zerfallen in kleine
Teilchen, die man als Mikroplastik
überall, auch in Tieren und über die Prof. Dr. Peter R. Schreiner Prof. Dr. Wolfram Koch
Nahrungskette wieder in Menschen Präsident Geschäftsführer
finden kann. An Lösungen wird weltweit der GDCh der GDCh
intensiv geforscht. Wissenschaftler
arbeiten daran, Polymere zu entwickeln,
die sich in kurzer Zeit zu unschädlichen
Endprodukten zersetzen, oder Kunst-

Umschlagbild
Am Anfang vieler Kunststoffprodukte steht so genanntes Granulat, eine Mischung aus Polymer,
Farbstoff und anderen Zusätzen. Bei der Verarbeitung wird das Granulat zunächst aufgeschmolzen und
anschließend etwa zu einer Folie geblasen oder mit Hilfe eines Werkzeugs zum Produkt ausgeformt.

raeva / Getty Images / iStock

1
POLYMERE

Vielseitig und allgegenwärtig


Kunststoffe aus synthetischen und natürlichen Polymeren ermöglichen unser
modernes Leben. Sie sind leicht und belastbar, lassen sich zu Fasern und
Folien verarbeiten, aufschäumen und in jede erdenkliche Form bringen.

Epoxidharz:
Plastisch und elastisch Leiterplatten,
Zweikomponenten-
Je nach Struktur der Polymere unterscheiden sich Kunststoffe in Epoxidkleber
ihren physikalischen Eigenschaften:

Polyamid:
Fallschirme

Sonstige

31%

Spektrum der Wissenschaft / Emde-Grafik


Polycarbonat:
Thermoplaste bestehen aus Duroplaste sind formstabile Elastomere aus schwach vernetzten Autoscheinwerfer
unvernetzten Polymeren und Kunststoffe aus engmaschig Polymeren kann man ziehen oder
können durch Erhitzen beliebig vernetzten Polymeren. Sie quetschen: Sie nehmen stets wieder
oft plastisch geformt werden. sind meist hart und spröde. ihre ursprüngliche Form an.
Thermoplastische Elastomere
kombinieren harte und weiche
Phasen verschiedener Polymere und Polyurethan:
lassen sich warm umformen. Sitzpolster

Vom Öl zum Kunststoff


Polymethylmethacrylat:
Polymere bestehen aus verketteten organischen Plexiglas
Molekülen (Monomeren). Die meisten Kunststoffe 5%
basieren auf synthetischen Polymeren aus
PS
Kohle, Erdgas und vor allem Erdöl.
Polystyrol
Beispiele für natürliche Polymere sind
Zellulose, DNA, Proteine und
Naturkautschuk.
In Raffinerien
wird Erdöl durch Fassaden-
Destillation in
dämmung
mehrere Fraktionen Stoßstangen
getrennt. Für die Produktion
von Kunststoffen ist das Rohbenzin
(Naphtha) am wichtigsten. Durch
PP
thermische Spaltung (Cracking) entstehen Polypropylen
daraus Ethylen, Propylen, Butylen und andere
Kohlenwasserstoffe, aus denen lange Molekülketten Kindersitze
synthetisiert werden können (Polymerisation).

Plastik erobert die Welt


Viele synthetische Polymere wurden in den 1930er bis 1950er Jahren entdeckt. Seitdem ist die Produktion rasant gestiegen. Bis heute
wurden weltweit mehr als neun Milliarden Tonnen Kunststoff produziert. Etwa jedes dritte Kunststoffteil stammt mittlerweile aus China.
Zunehmend problematisch: Immer mehr Plastik landet in der Umwelt.

erster synthetischer Polyethylen-


Kunststoff: Bakelit® Polyvinylchlorid Polystyrol Nylon Teflon® terephthalat

1907 1909 1912 1920 1930 1933 1935 1937 1938 1940 1941
Synthesekautschuk Hermann Staudingers Aufsatz Polyethylen Polyurethan Silikon
»Über Polymerisation«
2
Mehr als nur Verpackung
PET Ob Jogurtbecher oder Zahnpastatube: Lebensmittel und Kosmetika sind
Polyethylenterephthalat oft in Kunststoff gehüllt. Auch auf dem Bau oder in der Auto- und Elektro-
industrie kommen polymere Werkstoffe zum Einsatz.

Sonstige Verpackungen
Getränke- 15%
flaschen Medizin 31%
2%
Möbel
Fleecepullover 3%
Shampoo- Haushalte 3%
flaschen HDPE
6% Polyethylen hoher Dichte
Landwirtschaft 4% Verwendung
Elektronik 6%

11%
Fahrzeuge 25%
13% Baugewerbe
Eine breite Getränkekisten

Palette Ab in die Tonne


Spektrum der Wissenschaft / Emde-Grafik

Polymere sind so vielfältig wie Kabel- Deutschlands Bürger entsorgen pro Jahr 5,2 Millionen
isolierung Tonnen Kunststoff, vor allem Verpackungen. Der
ihre Einsatzzwecke. 2019 haben
Abfall wird überwiegend verbrannt, ein Teil recycelt
deutsche Firmen 14,6 Millionen PVC und als Rezyklat zu neuen Produkten verarbeitet.
Tonnen Kunststoff* verarbeitet, Polyvinylchlorid
mehr als jedes andere Land in 13%
Europa. Sonstige
12%
Haushalte
Vinylboden 3%
Landwirtschaft 5%
(*nicht berücksichtigt: Kunstfasern, Kleber
und Lacke sowie Kautschukpolymere, die Elektronik 6%
man etwa in Reifen findet.) Plastikmüll
Rohre Fahrzeuge 5%

ti on 10%
d uk Bau
p ro 15% Mülldeponie 59%
st stoff
Anteil an der Kun 1% Verpackungen
Frischhalte-
folie
17% LDPE
24% Recycling (Inland)

Polyethylen
niedriger Dichte Verwertung
(Die Summe von 101 %
ergibt sich durch 14% Recycling weltweite
energetische 61% Rundungsfehler.) (Ausland) Plastikproduktion
Verwertung inkl. Kunstfasern in
(Strom- und 1% Mio. Tonnen pro Jahr
Säcke für
Einwegspritzen Blumenerde Wärmeerzeugung) 500
rohstoffliche
Verwertung
400

300

200

Hermann Staudinger: erster 3-D-Drucker Müllteppich im Mikroplastik im


100
Styropor® Nobelpreis für Chemie Kevlar® auf dem Markt Pazifik entdeckt Tiefseeboden entdeckt

1949 1952 1953 1954 1964 1976 1987 1990 1997 2001 2013 2019
Polycarbonat Polypropylen elektrisch leit- bioabbaubarer Kunststoff: selbstheilende EU verbietet Plastikstroh-
fähige Polymere Polyhydroxybutyrat Polymere halme und Einweggeschirr
3
POLYMERE

Ins Reich der


Riesenmoleküle
Vor 100 Jahren postuliert ein deutscher Chemiker
die Existenz beliebig großer Moleküle und
erntet dafür von vielen Kollegen Spott und
Kritik. Doch seine Theorie bewahrheitet
sich und ebnet den Weg für den rasanten Aufstieg
der Kunststoffindustrie.

R iesen gibt es nur im Märchen. für Chemie an der Eidgenössischen aufweisen. Darauf deutet nämlich die
Wenn man so will, galt das bis in die Technischen Hochschule Zürich. Dort geringe Flüchtigkeit von polymeren
1920er Jahre auch in der Chemie. erforscht er unter anderem den moleku- Stoffen hin. Die Wissenschaftler glauben
Moleküle aus Hunderttausenden oder gar laren Aufbau von Biopolymeren wie allerdings, dass das die Existenz riesiger
Millionen von Atomen hält die Fachwelt Naturkautschuk, einem kriegswichtigen Moleküle nur vortäuschen würde.
zu jener Zeit für ein Hirngespinst. Die Rohstoff, aus dem Gummi hergestellt Stattdessen versuchen sie die Beobach-
Grundbausteine aller Stoffe sind Atome wird, und pflanzlicher Zellulose für die tungen mit so genannten Kolloiden, einer
oder kleine Moleküle, besagt die vorherr- Papier- und Textilindustrie. losen Zusammenlagerung vieler kleiner
schende Lehrmeinung. Doch ein junger Zwar hatten Polymere in den wissen- Moleküle, zu erklären.
Chemieprofessor namens Hermann schaftlichen Sprachgebrauch bereits einige
Staudinger lässt sich davon nicht beein- Jahrzehnte zuvor Einzug gehalten, doch Seiner Zeit voraus
drucken und macht sich auf die Suche über ihre Struktur oder ihr Molekular­ Einen Beleg für diese These liefern ihrer
nach den molekularen Riesen. gewicht ist bis dahin noch wenig bekannt. Meinung nach Röntgenstruktur­analysen.
Es ist keine Forschungsexpedition im Eingeführt wurde der Begriff im Jahr Damit lässt sich die Größe einzelner
eigentlichen Sinne. Denn auf die Frage, 1829 von dem schwedischen Chemiker Kristallite in Polymeren bestimmen.
ob chemische Verbindungen aus derart Jöns Jakob Berzelius. Er beobachtete bei Kristallite sind Kristalle, die die eigent-
vielen Atomen tatsächlich existieren, Experimenten mit Weinsäure, dass sich liche Kristallform nicht oder nur teilweise
können ausschließlich wissenschaftliche Stoffe trotz identischer chemischer ausbilden. Sie entstehen, wenn Polymere
Theorien und Experimente eine Antwort Zusammensetzung in ihrer Erscheinungs- abkühlen und erstarren. Die Mehrzahl
liefern. Ähnlich wie die Entdeckung form und bezüglich ihrer physikalischen der Wissenschaftler ist überzeugt: Ein ein-
manch ferner Länder jedoch entpuppt Eigenschaften unterscheiden können. zelnes Molekül kann nicht größer sein als
sich Staudingers Reise in die unbekannten Berzelius nannte solche niedermoleku- ein einzelner Kristallit. Daher folgern sie
Gefilde der organischen Chemie als wahre laren Stoffe Polymere (griechisch: polý = aus ihren Messungen, dass kettenartige
Odyssee. Aber der Reihe nach. viele, méros = Teilchen). Verbindungen aus maximal 500 Atomen
Wir schreiben das Jahr 1920. Der Die Bedeutung des Begriffs wandelte bestehen. Die Existenz größerer Makro-
Erste Weltkrieg (1914–1918) ist seit sich jedoch mit der Zeit: Im frühen moleküle lehnen sie vehement ab.
Kurzem vorüber und Europa aus den 20. Jahrhundert bezeichnen Chemiker Staudinger kommt durch eigene Über-
Fugen geraten. Hermann Staudinger, der solche Materialien als Polymere, die ein legungen und jahrelange Experimente zu
in jenem Frühjahr 39 wird, ist Professor vermeintlich hohes Molekulargewicht einem anderen Schluss. Am 12. Juni 1920

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BlackJack3D / Getty
Images / iStock
Alamy / Matteo Omied

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veröffentlicht er seine These in den


»Berichten der Deutschen Chemischen
Gesellschaft«:
»Polymerisationsprozesse […] sind alle
Prozesse, bei denen zwei oder mehrere Hermann Staudinger
Moleküle sich zu einem Produkt mit
gleicher Zusammensetzung, aber hö-
Der deutsche Chemiker erkannte als Erster, dass Moleküle
herem Molekulargewicht, vereinigen.«
Auf diese Weise könne ein chemisches sich zu langen Ketten aneinanderreihen können. Für
Molekül »eine fast beliebige Größe die Entdeckung der Makromoleküle erhielt er 1953 den
erreichen«, mithin zu einem Riesenmole- Chemie-Nobelpreis.
kül anwachsen. »Immer gleiche oder
ähnliche kleine Atomgruppen reihen sich
in ständiger Wiederholung zu einem
Muster aneinander, wodurch schließlich
die enorme Größe des Makromoleküls Seine Gegner verspotten ihn dafür. Einem Naturkautschuk durch die Zugabe von
produziert wird.« Zuhörer reist bei einem Vortrag der Schwefel in einen elastischen Kunststoff
Mit seinem Aufsatz »Über Polymeri­ Geduldsfaden. Er erhebt sich und brüllt umwandeln lässt.
sation« wird Hermann Staudinger – in den Saal: »So etwas gibt es nicht!« Nach der damals vorherrschenden
in der Rückschau – zum Begründer der Damit spricht der Kollege das aus, was Lehrmeinung besteht Kautschuk aus
Polymerchemie. praktisch die gesamte Fachwelt von ringförmigen Kolloiden, die von je zwei
In den 1920er Jahren ist die Zeit noch Staudingers Ideen hält. Isopren-Molekülen gebildet werden,
nicht reif für ein neues Bild vom Mikro- Staudingers These basiert in erster einer ungesättigten Kohlenwasserstoff­
kosmos der Moleküle. In Deutschland ist Linie auf Experimenten mit Naturkaut­ verbindung (C5H8). Staudinger glaubt
die Monarchie Vergangenheit, und es schuk, der als Basis für die industrielle hingegen, dass Tausende von Isopren-
entsteht eine neue Gesellschaftsordnung. Herstellung von Gummi dient. Das dabei Molekülen im Kautschuk wie Perlen auf
Mitten in diesem Umbruch wagt es angewandte Verfahren der Vulkanisation einer Schnur chemisch miteinander
Staudinger auch noch, die Welt im geht zurück auf Charles Goodyear, der im verknüpft sind. Seine These gründet sich
Allerkleinsten ins Wanken zu bringen. Jahr 1839 entdeckte, dass sich klebriger auf Experimente, in denen er versucht,

5
POLYMERE

1920 veröffentlicht
Hermann Staudinger
»Über Polymerisation«
die vermeintlichen Isopren-Moleküle und legt damit
mit Wasserstoff (H2) zu gesättigtem den Grundstein der
Isopentan (C5H12) umzusetzen. Nach Polymerchemie.
traditioneller Vorstellung würde die
Kautschukmasse dadurch flüssiger
werden, da sich gesättigte Kohlenwasser- waffen aus. Auch forderte er 1917 das
stoffe nicht ringförmig zusammenlagern deutschen Oberkommando in Berlin auf,
können. Tatsächlich aber bleibt die hohe das sinnlose Blutvergießen zu beenden.
Viskosität erhalten – was Staudinger Während das Militär lediglich Soldaten

Alamy / Interfoto
damit erklärt, dass Kautschuk aus und Waffen zähle, so Staudinger, sei der
langkettigen Makromolekülen besteht. Krieg angesichts der hohen Wirtschafts-
kraft der USA nicht mehr zu gewinnen.
Ambitionen und Talent Mögliche Gründe für Staudingers
Die Ergebnisse überzeugen seine Gegner selbstbewusste und standhafte Persönlich-
und notorische Zweifler jedoch nicht. keit finden sich in seiner jungen Erwach-
Selbst dann nicht, als Staudinger und der senenzeit, als er erst über Umwege eine
Physiker Gustav Mie 1927 mit Hilfe von akademische Laufbahn einschlägt, dann
Röntgenaufnahmen nachweisen, dass im aber schnell Karriere macht: 1899 legt
Polyoxymethylen nur kurze Abschnitte, Staudinger das Abitur in seiner Geburts- ist – an der Technischen Hochschule mit
aber nicht das gesamte Molekül einen stadt Worms ab. Sein Vater Franz – so dem Chemiestudium. Nach zwei Semes­
Kristallit ausbilden. So schreibt beispiels- heißt es – empfiehlt ihm, zunächst einen tern legt er das Verbandsexamen ab, die
weise der Chemie-Nobelpreisträger bodenständigen Beruf zu erlernen. Also Voraussetzung für eine Promotion, und
Heinrich Wieland 1928 an Staudinger: absolviert Hermann eine Lehre als im Jahr 1903 verleiht ihm die Universität
»Lieber Herr Kollege, lassen Sie doch die Tischler. Die Schreinerarbeit erfüllt ihn Halle/Saale den Doktortitel. Mit gerade
Vorstellung mit den großen Molekülen jedoch nicht, stattdessen brennt er für die einmal 27 Jahren wird er 1907 Professor
[…]. Reinigen Sie Ihre Produkte, wie Pflanzenkunde. Nach seiner Handwerks­ für organische Chemie an der Techni­
zum Beispiel den Kautschuk, dann ausbildung bekommt er vom Vater den schen Hochschule Karlsruhe. 1912 wech­-
werden diese kristallisieren und sich als Segen für ein Studium und schreibt sich selt er an die Eidgenössische Technische
niedermolekulare Stoffe erweisen.« an der Universität Halle/Saale im Fach Hochschule Zürich. Nach 14 Jahren
Staudinger lässt sich davon allerdings Botanik ein. Forschung in der Schweiz folgt er 1926
nicht beirren. Nicht zum ersten Mal steht Kurz darauf greift der Vater erneut in schließlich einem Ruf als Professor für
er mit seiner Meinung ziemlich allein da: die Berufswahl ein: Hermann solle sich Chemie an die Universität Freiburg.
Als einziger deutscher Chemiker sprach er zuerst der Chemie widmen, um die Ende der 1920er Jahre beginnt die
sich während des Ersten Weltkriegs Botanik besser verstehen zu können. Und Front gegen die These der Makro­

Alamy / molekuul_be
öffentlich gegen die Entwicklung und den so beginnt er in Darmstadt – nachdem moleküle allmählich zu bröckeln. Denn
Einsatz chemischer Massenvernichtungs- die Familie Staudinger dorthin gezogen Laborversuche haben mittlerweile

Kautschukpolymere aus tausenden


Isopren-Einheiten erscheinen
Staudingers Kollegen absurd.

6
bestätigt, dass die Glieder der postulierten
Kettenmoleküle tatsächlich Atombindun­
gen eingehen. Staudinger selbst schreibt

redstallion / Getty Images / iStock


dazu sinngemäß und korrekterweise: Der
experimentelle Beweis sei dann erbracht,
wenn sich ein Stoff in Derivate (abgelei­
tete Verbindungen) verwandle, ohne dass
sich dabei sein Polymerisationsgrad
ändere. Übersetzt heißt das: Die Atom-
bindungen der Makromoleküle werden
bei einer chemischen Reaktion nicht Telefone aus Bakelit gehören
gespalten. Dieser Nachweis gelingt für zu den ersten Produkten
immer mehr natürliche und synthetische aus synthetischem Kunststoff.
Polymere, etwa für Zellulose, Stärke oder Nach Ende des Zweiten
Polyvinylacetat. Weltkriegs wird Plastik zur
Die Beweise sind so erdrückend, dass Massenware.
Anfang der 1930er Jahre immer mehr
Chemiker – zumeist kleinlaut – ins
makromolekulare Lager wechseln. Für schen Laboratoriums der Universität. Hermann Staudinger außerhalb der
Staudinger eine große Genugtuung. Er 1940 gründet er das Institut für Makro- Wissenschaftsgemeinde kaum jemandem
wird zum gefeierten Star in der Chemie­ molekulare Chemie in Freiburg, das erste ein Begriff. Das ändert sich erst 1953,
szene und erfährt nun weltweit Anerken- Polymerforschungszentrum Europas. als man ihm im Alter von 72 Jahren für
nung. Auf seinem Erfolg ausruhen kann Parallel entwickelt sich basierend auf seine Pionierarbeit auf dem Gebiet der
er sich allerdings nicht. Denn schon bald Staudingers Entdeckungen ein völlig Polymerchemie den Nobelpreis verleiht.
sieht er sich mit einem mächtigeren neuer Industriezweig. Zwar produzieren Seinen Vortrag bei der Preisverleihung
Gegner konfrontiert als mit spöttischen Fabriken bereits Alltagsgegenstände wie beendet er mit folgendem Satz:
Kollegen: den Nationalsozialisten. ®
Aschenbecher oder Telefone aus Bakelit , »Im Licht dieser neuen Erkenntnisse
dem ersten synthetischen Kunststoff, den der makromolekularen Chemie zeigt
Eine neue Industrie der belgisch-amerikanische Chemiker sich das Wunder des Lebens von seiner
Vor allem der Rektor der Universität Leo Baekeland im Jahr 1907 entdeckte. chemischen Seite her in der unerhörten
Freiburg, der Philosoph Martin Heideg- Aber ein mangelndes Verständnis des Mannigfaltigkeit und meisterhaften
ger, sieht es als NSDAP-Mitglied als seine molekularen Bauprinzips von Kunst- molekularen Architektonik der lebenden
Pflicht an, alle Kollegen auf ihre »deut- stoffen erschwert weitere Fortschritte. Materie.«
sche Gesinnung« zu überprüfen. Bei Staudingers theoretisches Fundament Staudinger ahnte damals offenbar
Staudinger bezweifelt er diese, unter für die Polymerchemie verändert die schon, dass der Bauplan von natürlichen
anderem wegen dessen pazifistischer Situation. Forschern gelingt es plötzlich, Makromolekülen wie der DNA oder
Äußerungen während des Ersten Welt- völlig neuartige Polymere mit unter- Proteinen den Zugang zu innovativen
kriegs. Auch Staudingers Familie lässt schiedlichsten Eigenschaften herzustellen. Werkstoffen mit vielfältigen Eigenschaf-
unerwünschte politische Einstellungen In den 1930er bis 1950er Jahren erfinden ten eröffnen würde. Und tatsächlich
vermuten: Sein Vater ist Teil der Genos- Chemiker die Materialien der Zukunft: stellen Forscher heute etliche Polymere
senschaftsbewegung, seine Mutter Polystyrol, Polyethylen, Polypropylen, und Materialien nach biologischen
Frauenrechtlerin und sein Bruder ein von Polyester, Polyamid und viele mehr. Sie Vorbildern her.
den Nazis verfolgter Sozialdemokrat und eignen sich für eine Vielzahl von Anwen- Damit ist Hermann Staudinger nicht
USA-Emigrant. Heidegger stößt daher dungen und können preiswert hergestellt nur der Vater der Makromolekularen
ein Amtsenthebungsverfahren an. Indem werden. Je nach Zusammensetzung und Chemie, sondern gleichzeitig ein Pionier
Staudinger bedingungslose Systemtreue molekularer Architektur sind die neuen der bioinspirierten Materialforschung.
an den Tag legt und vor allem, weil er synthetischen Kunststoffe weich oder 100 Jahre nach Erscheinen seines
eine sehr hohe Reputation in der inter­ stahlhart, elastisch oder formstabil. Sie wegweisenden Aufsatzes und 55 Jahre
nationalen Wissenschaftsgemeinde lassen sich zu Fasern spinnen und in fast nach seinem Tod (1965) ist die Ent­
genießt, übersteht er auch diese Heraus- jede erdenkliche Form gießen. deckungsreise im Reich der Riesen­
forderung. Er bleibt ordentlicher Profes- Doch obwohl Kunststoffe rasch in moleküle also noch immer in vollem
sor der Chemie und Leiter des Chemi­ viele Haushalte Einzug halten, ist Gange.

7
POLYMERE

Polymere:
Die Multitalente
Polymere sind vielseitig einsetzbar und haben
nahezu alle Lebensbereiche erobert –
auch wenn sie bisweilen unsichtbar bleiben.

K aum ein Produkt kommt heute


ohne Polymere aus. Schaut man sich in
Polymere entstehen. Zusätzlich erlaubt
das Anhängen funktioneller Gruppen, die
Eigenschaft, dass thermoplastische
Polymere bei erhöhten Temperaturen
den eigenen vier Wänden um, fallen Eigenschaften von Polymeren zu beein­ einfach verformbar, sprich plastisch sind.
einem sofort etliche Kunststoffe auf, etwa flussen. Etwa wie flexibel, formbar, Man kann sie aufschmelzen, in die
Gehäuse von Elektrogeräten, Lebensmit­ chemikalien- und hitzebeständig ein gewünschte Form bringen und durch
telverpackungen oder diverse Küchen­ Produkt ist oder wie gut es sich recyceln Abkühlen wieder erstarren lassen. Theo-
utensilien. Andere sind weniger offen­ lässt. Auch die Zugabe von Farbstoffen, retisch lässt sich dieser Vorgang beliebig
sichtlich und dennoch oft unverzichtbar. Weichmachern, Flamm- und UV-Schutz­ oft wiederholen, vorausgesetzt das
Dass Kunststoffe omnipräsent sind, mitteln bestimmt die Funktionalität von Polymer wird nicht durch Überhitzung
liegt vor allem an ihrer Vielseitigkeit. Kunststoffen. zerstört. Ein Beispiel für die Wiederver­
Jedes Polymer besitzt bestimmte Eigen­ Anhand ihrer chemisch-physikalischen wertbarkeit thermoplastischer Kunststoffe
schaften, die sich beim Herstellungs­ Eigenschaften unterteilen sich Polymere sind Flaschen aus Poly­ethylenterephthalat
prozess oder durch chemische Zusätze für in drei Gruppen: Thermoplaste, Duro­ (PET), die nach dem Recycling etwa
die jeweilige Anwendung modifizieren plaste und Elastomere. zu Fleece verarbeitet werden. Auch das
lassen. Das beginnt bei der Polymerisa­ Thermoplaste findet man im Haushalt Dämm- und Verpackungsmaterial
tion, bei der sich die monomeren überall: Als Jogurtbecher oder Kosmetik­ ®
Polystyrol, besser bekannt als Styropor ,
Grundeinheiten zu langen Molekülketten tube, als PET-Flasche oder Kinderspiel­ zählt zu den Thermoplasten.
verbinden. Je nach Reaktionsbedingungen zeug, als Stoßstange oder Gehäuse der Immer öfter bringt man thermo­
können dabei unterschiedlich lange Autobatterie. Der Name beruht auf der plastische Polymere mit Hilfe von 3-D-­
Druckern in Form. Dabei werden flüssige
oder feste Materialien computergesteuert
Schicht für Schicht zu einer räumlichen
Struktur aufgebaut. Ein häufig verwen­
detes Polymer ist Polyamid 12; dank
seiner hohen Zähigkeit und Flexibilität

Präzisionsarbeit: Beim
3-D-Druck werden Kunststoffe
schichtweise aufgebaut.
Das ermöglicht auch komplexe
geometrische Formen.

mari1408 / stock.adobe.com
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Gestochen scharf

Frühe Kontaktlinsen aus Glas waren wenig komfortabel. Die Entdeckung


von Polymethylmethacrylat führte zur Entwicklung bequemer
Kunststofflinsen. Weiche Linsen bestehen aus polymeren Hydrogelen.
Bernhard Richter /
stock.adobe.com

lässt es gut verarbeiten. Nützlich ist der häufiger früher genutzte Werkstoffe wie nach Aushärtung nur noch mechanisch,
3-D-Druck etwa für die Produktion Aluminium, Titan oder Stahl. Das spart etwa mit einer Säge. In der Regel werden
leichter, stabiler Auto- und Flugzeugteile. Gewicht und Materialkosten. In der Duroplaste jedoch gleich in die gewünsch­
Auch Medizinprodukte wie Prothesen, Medizin nutzt man es auf Grund seiner te Form gegossen. Das kann zum Beispiel
künstliche Kniegelenke oder Zähne lassen guten Beständigkeit gegenüber ionisie­ ein hitzebeständiger und zugleich leichter
sich so passgenau anfertigen. Die render Strahlung beim Röntgen, beim Schutzhelm für die Feuerwehr sein.
Weltraumforschung setzt ebenfalls auf Sterilisieren von Instrumenten und in der Typische Anwendungsbereiche von
gedruckte Kunststoffe: Das Deutsche Strahlentherapie. duroplastischen Kunststoffen sind
Zentrum für Luft- und Raumfahrt hat Leichtbau und Wärmedämmung. Als
mittels 3-D-Druck den Prototyp eines Steif oder flexibel Flügel von Windkraftanlagen oder als
Erkundungsroboters entwickelt, der in Im Gegensatz zu Thermoplasten können Isoliermaterial für Häuserfassaden helfen
Zukunft unbemannte Flüge zum Mars Duroplaste – oft auch als Duromere sie, grünen Strom zu gewinnen und
begleiten könnte. bezeichnet – nicht aufgeschmolzen und Heizkosten einzusparen. Darüber hinaus
Ein außerordentlich widerstands­ erneut verformt werden, wenn sie einmal findet man Duroplaste in Lacken und
fähiger Thermoplast ist Polyetherether­ ausgehärtet sind. Die Polymerstränge in Klebstoffen, als Schaum in Polstermöbeln
keton (PEEK). Das Material kann hohen einem Duroplast sind durch Atombin­ und Winterbekleidung oder – dank ihrer
mechanischen Belastungen standhalten dungen chemisch miteinander vernetzt Temperaturbeständigkeit – in Kontakten,
und ist wesentlich leichter als Metall. und bilden auf diese Weise unlösliche Steckern und den Gehäusen von Elektro­
Im Flugzeugbau ersetzt PEEK immer Kunststoffe. Bearbeiten kann man sie geräten.

9
POLYMERE

Anders als Thermo- und Duroplaste schneiderter Chemikalienbeständigkeit ab, in Schulen sowie in Krankenhäusern
sind Elastomere nicht steif, sondern, wie hergestellt. sorgen Böden aus Synthesekautschuk für
ihr Name erahnen lässt, elastisch verform­ Elastomere kommen häufig dort zum gedämpfte Trittgeräusche.
bar. Man kann sie ziehen oder drücken, Einsatz, wo es gilt, Holz, Metalle oder Neben der Verformung müssen
trotzdem nehmen sie immer wieder ihre Kunststoffe miteinander zu verbinden. Elastomere zum Teil aggressiven Flüssig­
ursprüngliche Form an. Ähnlich wie die Als Dichtungen verhindern sie, dass keiten oder extremen Temperaturen
harten Duroplaste können Elastomere Rohrleitungen Wasser verlieren, Fenster standhalten. Materialermüdung ist bei
durch Erhitzen nicht abermals umge­ kalte Luft hereinlassen oder die Ölwanne diesen Kunststoffen daher ein großes
formt werden. Eine Ausnahme bilden hier unter dem Auto leckt. Auch sonst sind Thema. Um die Haltbarkeit von synthe­
die thermoplastischen Elastomere. Dabei elastische Kunststoffe im Haushalt weit tischem Gummi zu verbessern, mischt
handelt es sich entweder um Polymer- verbreitet: Gummistiefel, Gummibänder, man häufig mehrere Polymere. Dazu
Gemische (Legierungen) oder so genann­ Radiergummis, Haargummis – um nur kommen – je nach Anwendung – Alte­
te Copolymere, die aus harten und ein paar Beispiele zu nennen. rungsschutzmittel, Weichmacher,
weichen Domänen bestehen. Ein anderes wichtiges Anwendungsfeld Flammschutzmittel, Farbstoffe und
ist die Schwingungstechnik. In Autos andere Additive.
Abdichten, abfedern, dämpfen Elastomere Vibrationen, die im Auch bei Thermoplasten und Duro­
und Schall absorbieren Motor entstehen oder von holprigen plasten ist die Alterung des Materials
Das vielleicht bekannteste und mit Straßen herrühren. Auf Grund ihrer gelegentlich ein Problem. So leiden etwa
Abstand älteste Elastomer ist Naturkaut­ Elastizität können sie die Schwingungen billiges Kinderspielzeug oder einfache
schuk, der als Milchsaft aus der Rinde des aufnehmen und abfedern. Dieses Prinzip Gartenmöbel unter dauerhafter Sonnen­
Gummibaums gewonnen wird. In macht man sich auch bei vibrierenden einstrahlung. Der UV-Anteil im Licht
Mittelamerika nutzten ihn die indigenen Haushalts- oder Elektronikgeräten zu der Sonne sorgt dafür, dass Kunststoffe
Völker bereits vor Tausenden von Jahren. Nutze, indem man ihnen Gummifüße allmählich verblassen und brüchig
1839 entdeckte der US-amerikanische verpasst. Auf Spielplätzen federn Matten werden. Abhilfe schaffen hier so genannte
Chemiker Charles Goodyear die Vulkani­ aus Elastomeren die Sprünge der Kinder hochwetterstabile Polymere mit einge­
sation: Wenn man Naturkautschuk
erhitzt und Schwefel dazugibt, wird er zu
Gummi. Heutzutage wird er in großen
Mengen vor allem als Beimischung für
Reifen aller Art verwendet.
Weil Naturkautschuk nicht tempera­
turbeständig ist – bei Kälte wird er
spröde, bei Hitze klebrig – und dazu
empfindlich gegenüber vielen Chemikali­
en, wurde schon früh nach synthetischen
Ersatzstoffen gesucht. Zwischen den
beiden Weltkriegen entwickelten Wissen­
Artinun / stock.adobe.com

schaftler zahlreiche Synthesekautschuke.


Inzwischen gibt es rund 25 Klassen, die
jeweils etliche Sorten umfassen. Daraus
werden Elastomere für ein breites
Temperaturspektrum und mit maßge­
Bildnachweis

Biopolymere auf
Zuckerbasis sorgen dafür,
dass Medikamente im
Körper dort frei werden,
wo sie wirken.

10
delectus / Getty Images / iStock
bautem UV-Schutz. Sie werden zum
Beispiel auch in Autolacken sowie als Mehr als Stahl, Glas und Beton:
Polymere verleihen nicht
Werkstoffe für Windkraftanlagen
zwingend Struktur, übernehmen
verwendet.
aber dennoch wichtige
In der Medizin hingegen setzt man
Funktionen. Als Beimischung im
bewusst auf kurzlebige Kunststoffe. Beton verhindern sie die
So werden verschiedene Wirkstoffe mit Rissbildung.
Biopolymeren aus Polysacchariden
(Vielfachzuckern) wie Zellulose oder mit
synthetischen Polymeren ummantelt, die
sich nur ab einem bestimmten pH-Wert
auflösen. Sie sind resistent gegenüber
Magensäure, so dass die Kapsel ihren
Inhalt erst im Darm freisetzt, wo ein
leicht basisches Milieu herrscht. Das hat
den Vorteil, dass ein Medikament
langsam an den Körper abgegeben wird.
Dadurch muss nicht alle paar Stunden
eine neue Kapsel eingeworfen werden,
um eine konstante Wirkstoffkonzentra­
tion aufrechtzuerhalten.
Ebenfalls in der Medizin zum Einsatz
kommen Hydrogele aus dreidimensional
vernetzten Polymeren. Sie können große dass frischer Beton flüssig ist, ohne zu viel Das wasserunlösliche Polyvinylpyrrolidon
Mengen Wasser oder anderer Flüssig­ Wasser zu enthalten. Denn überschüssige etwa sorgt als Waschmittelzusatz dafür,
keiten einlagern. Dabei quellen sie auf, Flüssigkeit führt beim Aushärten zur dass Farbstoffe aus bunten Textilien die
behalten ihre Struktur jedoch bei, ohne Bildung von Poren und Rissen. Durch die übrige Wäsche nicht verfärben. Gleichzei­
sich aufzulösen. Diese Eigenschaft nutzt Zugabe funktionaler Polymere kann der tig verhindern sie, dass sich Salze oder
man zum Beispiel für Wundpflaster. Bei Wasseranteil reduziert werden. Der Beton andere Rückstände in der Waschmaschine
Tumor-Operationen verwendet man bleibt fließfähig, lässt sich aber trotzdem ablagern.
ebenfalls solche Hydrogele: Sie geben gut verarbeiten. Bei der Papierherstellung verwendet
einen Wirkstoff für die Immunabwehr Auch bei der Verwendung von man so genannte Polyelektrolyte, positiv
nach einer Operation über Wochen ab Polyurethan – egal ob als Elastomer für geladene Polymere. Sie binden an die
und verhindern so, dass sich möglicher­ Schaumstoffmatratzen oder als hartes negativ geladenen Oberflächen der
weise verbliebene Krebszellen schnell Duromer für Leichtbauanwendungen – Papierfasern, so dass diese zusammen­
wieder ausbreiten. Bei Herzinfarkten kommen solche funktionalen Polymere kleben. So sorgen die funktionalen
wiederum dienen Hydrogele als Zellge­ zum Einsatz. Polyurethan wird mit Hilfe Polymere für eine höhere Festigkeit von
rüst und unterstützen die Heilung von Gasen oder Flüssigkeiten aufge­ Papier oder Karton. Außerdem verdrän­
beschädigter Gewebe. schäumt. Für die richtige Größe und die gen sie hydrophobe (Wasser abweisende)
Form der Poren sorgen dabei Polyether­ Stoffe, welche die Papier­maschinen stören
Polymere für guten Schlaf siloxane, siliziumhaltige Polymere aus der würden, und helfen bei der Entwässerung
und farbechte Wäsche Gruppe der Silikone. Sie werden in sehr des Papiers.
Auf eine ganz andere Art wirken funktio­ geringen Mengen zugesetzt, um Polyure­ Zuletzt dürften sehr viele Eltern die
nale Polymere, auch als Enabling-Techno­ thanschäume einer gewünschten Konsis­ Eigenschaften des Superabsorbers
logie bekannt (von englisch: to enable = tenz zu erhalten. Dadurch lässt sich Polyacrylsäure in Windeln schätzen: Die
ermöglichen, befähigen). Die Polymere beispielsweise der Härtegrad von Matrat­ vernetzten Polymere der Polyacrylsäure
bilden in diesem Fall nicht die Struktur zen variieren. Obwohl die Polyethersilo­ können ähnlich wie Hydrogele erhebliche
selbst, sondern verändern die Eigenschaf­ xane unsichtbar bleiben, haben sie einen Mengen an Flüssigkeit aufnehmen, bis
ten anderer Materialien um sie herum. großen Einfluss auf die Beschaffenheit des zum 1000-Fachen ihres eigenen Ge­
Nehmen wir das Beispiel Beton: Dem Kunststoffs. wichts. Das Polymer-Wasser-Gemisch
Baustoff sind heutzutage oft funktionale Auf weitere Anwendungen funktio­ bildet ein festes Gel und stellt so sicher,
Polymere beigemengt. Sie sorgen dafür, naler Polymere stößt man im Haushalt: dass der Nachwuchs trocken bleibt.

11
POLYMERE

Raus aus der


Plastik-Sackgasse
Kunststoffe sind langlebig, aber häufig nur kurz
in Gebrauch und landen dann in der Umwelt.
Damit Böden und Gewässer nicht weiter vermüllen,
muss Plastik leichter zu recyceln sein.

A ls der US-Amerikaner Charles Einen Großteil davon transportieren Magen-Darm-Trakt, oder sie ver­hed­dern
Moore 1997 nach einer Regatta von ­Flüsse in die Meere. Besonders in Asien, sich in ring- und schnurartigem Müll.
Hawaii nach Los Angeles segelte, fand er wo die meisten Länder keine oder Auch Korallenriffe leiden vielerorts unter
seine Jacht plötzlich umgeben von alten nur unzureichende Entsorgungssysteme der Plastikverschmutzung. Den Verlust an
Plastikflaschen, Zahnbürsten, Tüten und haben – und wohin hoch entwickelte Naturkapital im Ozean beziffert das Um­-
anderen Kunststoffteilen. Er hatte den Staaten wie Deutschland ihre Abfälle weltprogramm der Vereinten Nationen
nordpazifischen Müllteppich entdeckt, teilweise verschiffen. Aber auch vom auf rund zwölf Milliarden Euro pro Jahr.
der inzwischen eine Meeres­fläche bedeckt, europäischen Festland gelangen jährlich Neben größeren Müllteilen sammelt
die mehr als viermal so groß wie Deutsch- mehrere hunderttausend Tonnen Plastik sich in Böden und Gewässern immer
land ist. in die angrenzenden Küstengewässer. Zu mehr Mikroplastik an. Das sind Fragmen­
Seit den 1960er Jahren hat sich die den häufigsten Abfällen an Europas Strän- te, die maximal fünf Millimeter messen.
globale Kunststoffproduktion verzwanzig- den gehören Plastikflaschen, Chipstüten Im Fokus der öffentlichen Debatte stehen
facht. 2018 wurden weltweit knapp und Luftballons. meist Zusätze in Produkten wie Kosmetika
360 Millionen Tonnen Plastik hergestellt, und Waschmitteln. Diese stellen jedoch
dazu mehr als 60 Millionen Tonnen Vom Ackerboden eine vergleichsweise kleine Quelle für
synthetischer Fasern. Eine Folge dieses bis in die Tiefsee Mikroplastik dar und wurden inzwischen
Booms: Immer mehr Plastik häuft sich in Schätzungsweise 150 Millionen Tonnen aus vielen Produkten verbannt. Wesent-
der Umwelt an, in Böden, Seen, Flüssen Kunststoffmüll treiben heute bereits im lich öfter findet man in der Umwelt unter
und vor allem im Ozean. Eine eigentlich Ozean, und jede Minute kommt etwa anderem Kunststoff­granulat, aus dem
nützliche Eigenschaft der meisten eine Lkw-Ladung hinzu. Plastikwaren hergestellt werden. Der
Kunststoffe – ihre Widerstandsfähigkeit – Plastikabfälle in der Umwelt sind nicht Hauptanteil entfällt allerdings auf Mikro-
wird dabei zum Problem, da ihr Abbau nur ein ästhetisches Ärgernis. Vor allem in plastik, das erst durch Fragmentierung
Jahrzehnte bis Jahrhunderte dauert. den Meeren stellen sie für viele Tiere eine größerer Teile entsteht.
Rund 30 Prozent des weltweit anfal- tödliche Gefahr dar: Schildkröten, Erhebliche Mengen an Mikroplastik
lenden Kunststoffmülls, 75 Millionen Delfine und Seevögel verschlucken Kunst- entstehen etwa beim Waschen von
Tonnen pro Jahr, landen in der Umwelt. stoffteile und sterben mit verstopftem Textilien aus Kunstfasern und durch die

12
Mikroplastik ist bis zu fünf
Millimeter groß – und inzwischen
in den entlegensten Winkeln
der Erde zu finden. Die Teilchen
entstehen zum Beispiel aus
Verpackungsmüll, beim Waschen
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von Kunstfasern oder durch
Reifenabrieb.

Abnutzung von Autoreifen. In der moder- Mikroplastik im arktischen Meereis Nachfrage nach Kunststoffen unweiger-
nen Landwirtschaft wachsen Erdbeeren, ebenso wie in Tiefseesedimenten nachwei- lich weiter ansteigen lassen. Prognosen
Salat oder Spargel häufig unter Mulch­ sen können. Die winzigen Teilchen zufolge könnte sich die globale Produk­
folien aus Polyethylen, die nach der Ernte reichern sich in Fischen und Muscheln tion in den nächsten 20 Jahren noch
teils untergepflügt werden und im Acker- an, die möglicherweise auf unseren einmal verdoppeln, das Müllaufkommen
boden allmählich zerfallen. Auch Depo- Tellern landen. Problematisch sind nicht weiter zunehmen. Um zu verhindern,
nien, auf denen 30 Prozent des weltwei- nur die Kunststoffe selbst, sondern auch dass zukünftig mehr Plastik in den Mee-
ten Plastikabfalls landen, sind eine Quelle die darin enthaltenen Additive wie ren schwimmt als Fisch, gilt es daher zum
für Mikroplastik. Im Ozean gesellt sich zu Farbstoffe oder Weichmacher sowie einen, unnötigen Plastikverbrauch zu ver-
dem durch Flüsse eingetragenen Mikro- andere potenziell giftige Substanzen, die meiden und Müllquellen zu minimieren.
plastik jenes, das Wind und Wellen durch ins Meer gelangen und die Mikroplastik Erhebliches Potenzial zur Müllvermei-
Zerreiben von Müllteilen produzieren. magisch anzieht. dung bieten vor allem kurzlebige Einweg-
Und es erreicht selbst die entlegensten Die wachsende Weltbevölkerung und produkte wie Verpackungen. Diese
Winkel. So haben Wissenschaftler das Streben nach Wohlstand werden die machen rund ein Viertel des weltweiten

13
POLYMERE

Große Mengen Plastikmüll landen


im Ozean und werden dort zur
tödlichen Gefahr: Seevögel wie
dieser Basstölpel etwa bauen
Nester aus Kunstfasern. Darin
verheddert sich der Nachwuchs.

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Kunststoffverbrauchs aus und etwa die Lebensmittel länger frisch und sichern die Wissenschaftler suchen nach Lö-
Hälfte der Abfälle im Ozean. Allein in Hygiene in Krankenhäusern. Sie helfen, sungen, wie sich Kunststoffe leichter
Deutschland fallen pro Kopf jährlich das Gewicht von Autos und Flugzeugen trennen und mehrfach zu neuen Flaschen,
rund 38 Kilogramm Verpackungsmüll an. und damit den Kraftstoffverbrauch zu Fasern oder Folien verarbeiten lassen. Ziel
Sie sind die Folge eines Convenience- senken. Unsere moderne Kommunikation ist es, lineare Stoffströme in eine Kreis-
Lifestyles mit Coffee-to-go, verzehrfer- via Smartphone und Computer wäre laufwirtschaft zu verwandeln, in der
tigen Salaten im Supermarkt sowie Currys ohne Plastik undenkbar. Plastik als wertvoller Rohstoff betrachtet
oder Sushi per Lieferservice. wird. Polymere nicht stets aus fossilen
Die Europäische Union hat im Kreislaufwirtschaft statt Rohstoffen neu zu synthetisieren, würde
Rahmen ihrer Kunststoffstrategie ein ab linearer Stoffströme zudem die CO2-Bilanz der globalen
2021 geltendes Verbot von Einwegarti- Um die Einträge von Kunststoffabfällen Kunststoffproduktion verbessern, die
keln wie Strohhalmen oder Wegwerfbe- in die Umwelt zu verringern, ist es daher immerhin sechs Prozent des weltweit
steck beschlossen. Plastiktüten, Symbol zum anderen notwendig, weltweit geförderten Öls verschlingt.
des globalen Plastikproblems, sind in Recyclingquoten drastisch zu steigern. Ein großes Problem beim Recycling
zahlreichen Ländern inzwischen verboten Das bedeutet nicht nur Entsorgungs­ von Plastik sind Verunreinigungen durch
oder dürfen nicht mehr kostenlos systeme auf- beziehungsweise auszubauen, Fremdkunststoffe. Es reichen beispiels-
abgegeben werden. Unverpackt-Läden, in sondern darüber hinaus, effiziente Sortier- weise Spuren von Polyvinylchlorid (PVC)
denen Käufer ihre Waren in mitgebrachte verfahren zu entwickeln und Kunststoffe aus, einem oft für Verpackungen verwen-
Behälter abfüllen, sind ein weiteres derart zu designen, dass sie recycelfähig deten Polymer, um recyceltes Polyethylen-
Beispiel für Ansätze, das Müllaufkommen sind. Polymergemische und Produkte aus terephthalat (PET) praktisch unbrauch-
einzudämmen (wenngleich diese Läden verschiedenen und oft verklebten bar zu machen. PVC bildet Säuren, die
bisher lediglich eine Nische für einkom- Kunststoffen erschweren die Wiederver- PET brüchig und gelblich werden lassen.
mensstarke Konsumenten besetzen). wertung oder resultieren in minderwer- Auch andere Kunststoffe genügen nach
In vielen Bereichen sind Kunststoffe tigen Rezyklaten (so genanntes Down­ dem Recyclingprozess häufig nicht mehr
auf Grund ihrer Funktionalität jedoch cycling). Auch deshalb endet heute gut den mechanischen oder optischen
schlicht unverzichtbar oder haben die Hälfte des weltweit erzeugten Ansprüchen.
deutliche Vorteile gegenüber anderen Plastikmülls auf Deponien und in Grund für Verunreinigungen ist unter
Materialien. So halten Kunststoffe Verbrennungsanlagen. anderem, dass Sortieranlagen Kunststoffe

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nicht immer gut unterscheiden können, Qualität, die vergleichbar ist mit neuem zerlegt. Diese eignen sich wieder für die
etwa zwischen PVC- und PET-Flaschen PE-Granulat. Herstellung hochwertiger Polymere, die
oder zwischen Polyethylen (PE) hoher Am Karlsruher Institut für Technologie man sonst aus Erdöl synthetisieren würde.
und niedriger Dichte. Forscher haben (KIT) haben sich Forscher überlegt, wie Die Beispiele zeigen, dass der Lebens-
dafür eine Lösung gefunden: unsichtbare Handys und andere Elektronikgeräte zyklus von Kunststoffen keine Einbahn-
Fluoreszenz-Marker, die man auf Ver­ leichter repariert und recycelt werden straße sein muss, die auf der Müllhalde,
packungen druckt. Die Marker können können. Herausgekommen ist dabei ein in der Verbrennung oder schlimmstenfalls
unter UV-Licht maschinell gelesen reversibler Kleber: Dieser ist bei Raum- in der Umwelt endet. Zugleich ist ein
werden und verraten der Anlage, um temperatur stabil, löst sich aber durch Szenario, in dem überhaupt kein Plastik
welche Sorte Plastik es sich jeweils Erwärmen punktgenau. Die KIT-Forscher in Böden und Gewässer gelangt, wenig
handelt. haben dafür Sollbruchstellen in die realistisch. Selbst wenn es gelänge, diesen
Eine weitere Herausforderung ist das Polymerketten eingebaut, die sich je nach Müllanteil von heute 30 auf ein Prozent
Trennen von Kunststoffen, die miteinan- gewünschter Ablösetemperatur des zu senken, wären das immer noch mehr
der verschweißt oder verklebt sind. Viele Klebers modifizieren lassen. als zwei Millionen Tonnen Abfall, die sich
Verpackungen bestehen aus mehreren jährlich in der Umwelt anhäufen. Um zu
Plastikschichten und eignen sich daher Rettung Bioplastik? verhindern, dass diese dort Jahrzehnte
nicht für ein mechanisches Recycling. Und auch Biotechnologie könnte helfen, überdauern, sollen deshalb zukünftig
Die Firma APK in Merseburg, Sachsen- Kunststoffe zukünftig in größerem vermehrt Kunststoffe eingesetzt werden,
Anhalt, hat ein Verfahren etabliert, bei Maßstab wiederzuverwerten. So haben die Mikroorganismen verdauen können.
dem PE mit Hilfe eines wiederverwend- französische Forscher jüngst ein Enzym Biologisch abbaubare Kunststoffe
baren Lösungsmittels aus mehrlagigen beschrieben, das mit hoher Effizienz PET finden insbesondere bei Verpackungen
Verpackungen gewonnen wird – in einer in dessen Bausteine – die Monomere – oder Ackerfolien zunehmend Verwen-
dung. Sie können sowohl aus nachwach-
senden Rohstoffen etwa aus Zuckerrohr
oder Mais bestehen (biobasierte Kunst-
stoffe) als auch erdölbasiert sein.
Allerdings werden als kompostierbar
verkaufte Folien, Mülltüten oder To-go-
Becher häufig nur unter bestimmten
Vor allem in ärmeren Ländern Bedingungen effektiv abgebaut, und eine
werden Abfälle oft in der vollständige Kompostierung in der freien
Landschaft entsorgt – weil das Natur kann Monate oder Jahre dauern.
ökologische Bewusstsein Das gilt zum Beispiel für Produkte aus
und adäquate Recyclingsysteme
Polymilchsäure, die rund 25 Prozent aller
fehlen.
biologisch abbaubaren Kunststoffe
ausmachen. Auch gibt es bislang keinen
marktfähigen Kunststoff, der in Meerwas-
ser schnell verrottet.
Das Problem der Umweltbelastung
durch Plastikabfälle zu lösen, ist eine
tonyoquias / Getty Images / iStock

große Herausforderung. Während sich


Punktquellen wie synthetische Mikro­
fasern aus Waschmaschinen durch den
Einbau von Filtern vergleichsweise leicht
beseitigen ließen, sind diffuse Umweltein-
träge, etwa durch Reifenabrieb, schwie-
riger zu verhindern. Mehr Recycling und
Biokunststoffe allein werden am Ende
nicht ausreichen. Ebenso notwendig ist
es, weniger Plastik zu verbrauchen – und
verschiedene Transportmittel intelligent
zu kombinieren.

15
POLYMERE

Stoffe, aus
denen die Zukunft
gemacht wird
Kunststoffe haben oft einen schlechten Ruf.
Zu Unrecht. Auf ihnen basieren viele digitale und
nachhaltige Technologien.

W enn Plastik es in die Medien beziehungsweise über einen Elektrolyten Elektronikgeräten wie Powerbanks,
schafft, dann vor allem mit negativen zur Kathode (Pluspol) wandern und dort E-Zigaretten und drahtlosen Controllern
Schlagzeilen. Doch trotz aller Probleme in reagieren. Chemisch gespeicherte Energie für Spielkonsolen. Autohersteller bringen
Sachen Recycling und Umweltbelastung: wird so in Strom umgewandelt. Beim inzwischen ebenfalls Elektro- und
Ohne Kunststoffe wäre unser heutiges, Aufladen kehrt sich dieser Prozess um. Hybridfahrzeuge mit Lithium-Polymer-
modernes Leben kaum denkbar. Und Zahlreiche Bestandteile von Akkus Akkus auf die Straße. Die Akkus der
auch die großen Herausforderungen des bestehen schon heute aus Polymeren. Leihwagenflotten der Firma Bolloré, die
21. Jahrhunderts – die klimafreundliche Viele Hersteller verwenden zum Beispiel derzeit in verschiedenen Städten in den
Verkehrs- und Energiewende sowie die mikroporöse Polymerfolien als Trenn­ USA, Großbritannien, Frankreich sowie
Digitalisierung – sind ohne polymere material zwischen den Elektroden, um in Singapur unterwegs sind, enthalten
Werkstoffe wohl nicht zu bewältigen. Ihre Kurzschlüsse zu verhindern. Außerdem etwa einen Elektrolyten aus Polyethylen-
Vorteile liegen auf der Hand: Es existiert ummantelt man Batterien und Akkus glykol.
eine beachtliche Bandbreite an Poly- gerne mit Kunststoffen, weil diese
meren, die die verschiedensten nützlichen gegenüber Druckänderungen toleranter Kunststoff statt Metall
Eigenschaften mitbringen. Manche leiten sind als Metallhülsen. Neben alternativen Elektrolyten ist auch
geladene Teilchen (Ionen und Elektro- Auch als Elektrolyte und sogar als ein Ersatz des Kathodenmaterials in
nen), andere lassen sich verbiegen oder Elektrodenmaterial finden Polymere ­Lithium-Ionen-Akkus erstrebenswert.
härten zu einem porösen Schaum aus. Verwendung. Sie machen Akkus flexibler Denn dieses enthält meist Kobalt und
Ein immer wichtigeres Anwendungs- und umweltfreundlicher. Ersetzt man Nickel – zwei begrenzte Ressourcen,
gebiet synthetischer Polymere sind etwa die flüssigen Elektrolyte in her- deren Abbau aus Umwelt- und Men­
Akkumulatoren, kurz Akkus. Sie stecken kömmlichen Lithium-Ionen-Akkus mit schen­rechtspers­pektive mitunter proble-
in Elektrofahrzeugen, Smartphones und gelartigen Polymeren, lassen sich sehr matisch ist. Hinzu kommt, dass sich die
Laptops. Entlädt man einen Akku, setzt flache Akkus oder solche mit ungewöhn- Metalle aus entsorgten Akkus nur schwer
die Anode (Minuspol) in einer che- lichen geometrischen Formen produzie- zurückgewinnen lassen. In den vergange-
mischen Reaktion Elektronen und Ionen ren. Lithium-Polymer-Akkus findet man nen Jahren sind deshalb Elektroden auf
frei, die über einen äußeren Stromkreis deshalb besonders häufig in tragbaren der Basis von Polymeren verstärkt in den

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Für die Verkehrswende spielt nicht nur
die Entwicklung leistungsstarker Akkus
eine Rolle. Brennstoffzellen bieten eine
weitere umweltfreundliche Alternative zu
klassischen Verbrennungsmotoren. Sie
wandeln gespeicherte chemische Energie
in elektrische um, ohne dabei Treibhaus-
gase zu produzieren. Wie Batterien
bestehen sie aus einer galvanischen Zelle.
Die meisten Automobilhersteller, darun-
ter Marktführer Hyundai und Toyota,
verwenden eine Polymer-Elektrolyt-
Brennstoffzelle, kurz PEMFC, also einen
Ob als elektronisches Papier Brennstoffzellentyp mit einem Polymer
in E-Readern oder organische als Elektrolyten. An der Anode einer
Dioden in kontrastreichen PEMFC spaltet ein Katalysator den
OLED-Displays: Polymere
Brennstoff Wasserstoffgas (H2) in
ermöglichen den Vormarsch
Protonen (H+) und Elektronen (e –). Die
der Digitalisierung.
Protonen wandern durch den Polymer­
elektrolyten zur Kathode, wo sie mit
Luftsauerstoff (O2) zu Wasser (H2O)
reagieren, das einfach über den Auspuff
ausgestoßen wird. Als Elektrolyt dient
meistens so genanntes Nafion™ – eine
®
Modifikation des Teflons –, das Pro-
Fokus der Batterieforschung gerückt. Manche Forscher träumen davon, dass tonen und Kationen, jedoch keine
Bestimmte Polymere – darunter Poly­ man zukünftig in der Lage sein wird, Anionen passieren lässt.
sulfide, Polyimine, Polyazo-Moleküle und Akkus herzustellen, die vollständig aus Weil Wasserstoffgas bei Luftkontakt
polymere Radikale – können Anionen Polymeren bestehen – von der Hülle über explosiv und damit aufwändig zu lagern
oder Kationen einlagern und so elek- den Elektrolyten bis hin zu den Elektro- und zu transportieren ist, entwickeln
trische Ladung speichern. Diese reichen den. Solche Akkus könnten umweltscho- Forscher auch PEMFCs mit Methanol
jedoch bislang nicht an die Energiedich- nender entsorgt werden als die heute als Brennstoff. Allerdings sind diese nur
ten von anorganischen Kathodenmateri- verbauten. Bei einer thermischen für Betriebstemperaturen von bis zu
alien heran. Darüber hinaus ist die Verwertung in Müllverbrennungsanlagen 100 Grad Celsius geeignet, dazu anfällig
Herstellung der Polymere sehr teuer, würden keine oder zumindest weniger für Verunreinigungen des Brennstoffs und
weshalb noch keine Akkus mit Polymer­ toxische Gase entstehen. Und auch ein bislang recht teuer. Hier besteht also noch
elektroden auf dem Markt sind. Recycling wäre denkbar. Optimierungsbedarf.

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Polymere spielen eine wichtige


Rolle bei der Entwicklung
leistungsfähiger Akkus, etwa
für E-Autos. Langfristig
könnten sie sogar
Elektrodenmetalle ersetzen.

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POLYMERE
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Andere Polymere im Bereich der


organischen Elektronik helfen derweil
schon seit mehr als einem Jahrzehnt,
Energie zu sparen. Der Einsatz leitfähiger
organischer Moleküle ist immer dann
interessant, wenn Dinge leicht und
mechanisch flexibel sein sollen. Halblei-
tende Polymere lassen sich in relativ
einfachen Verfahren und bei niedrigen
Temperaturen großflächig auf dünne
Folien aufdrucken. Das ermöglicht eine
rentable und Energie sparende Massen­
fertigung, etwa von Chipkarten. Ein
anderes Beispiel sind organische Leucht-
dioden (OLEDs), die Strom in Licht
umwandeln – also genau auf den umge-
kehrten Prozess einer Solarzelle setzen.
Displays und Fernseher mit OLED-­
Leicht, dünn und flexibel:
Solarzellen aus Technologie verbrauchen weniger Energie
halbleitenden Polymeren als die weit verbreiteten Flüssigkristall-
könnten zukünftig Bildschirme (LCDs) – und bieten
an Fassaden oder Fenstern zugleich einen höheren Kontrast sowie
Strom erzeugen. eine bessere Farbdarstellung. OLEDs
erlauben es zudem, sehr dünne Bild-
schirme zu bauen. Als organische
Farbstoffe kommen meist Derivate des
Eine andere Möglichkeit, Energie auf Smartphones und Smartwatches Poly(p-phenylen-vinylen) (PPV) zum
nachhaltig zu gewinnen, bieten Solarzel- anbringen zu können. Einsatz.
len: halbleitende Materialien, die Als Strom erzeugende Schicht dient in
Photonen des Sonnenlichts absorbieren. organischen Solarzellen an Stelle von Polymere helfen,
Dadurch werden Elektronen frei, die Silizium ein Polymer, welches Elektronen CO2 und Energie zu sparen
durch die Zelle zu einer Elektrode abgibt, und ein nichtpolymeres orga- Auf Polymeren basiert auch so genanntes
wandern – Strom fließt. Der Markt wird nisches Molekül, das diese aufnimmt. In elektronisches Papier in Lesegeräten für
derzeit von Solarzellen aus Silizium den Strukturen beider Materialien E-Books. Hinter E-Papier steckt eine
dominiert, weil sie witterungsbeständig wechseln sich Doppel- und Einfachbin- Technik, die ein zähflüssiges Polymer mit
sind und akzeptable Wirkungsgrade dungen ab, was dazu führt, dass die geladenen weißen Mikropartikeln enthält.
erreichen. Der Wirkungsgrad beschreibt, Elektronen keinen festen Aufenthaltsort Für jedes Pixel sind über und unter der
wie effizient die Zelle einfallende Sonnen- haben, sondern sich über die Moleküle Polymerschicht kleine Elektroden
energie in Strom umwandelt. Allerdings verteilen. Das verleiht diesen halbleitende angebracht. Legt man ein elektrisches
eignen sich Fotovoltaikanlagen auf Eigenschaften. Lange konnten organische Feld an, schwimmen die Mikropartikel
Siliziumbasis auf Grund des hohen Solarzellen nicht mit siliziumbasierten zur Elektrode mit der entgegengesetzten
Gewichts und mangelnder Flexibilität konkurrieren. Durch geschicktes Kombi- Ladung. Dadurch erscheint das Pixel
nicht für alle Gebäudeoberflächen oder nieren von Polymeren und Nichtpoly- entweder schwarz oder weiß. Seit einigen
für mobile Elektronikgeräte. Ihre meren ist es Forschern jedoch gelungen, Jahren wird E-Papier auch für Smart­
Herstellung ist zudem energieintensiv die Wirkungsgrade stetig zu erhöhen, auf watches, Preisschilder in Supermärkten
und entsprechend teuer. inzwischen über 17 Prozent. Sie erreichen und Anzeigetafeln verwendet.
Organische Solarzellen aus halbleiten- damit fast die Effizienz von Silizium- Vor allem die Kombination aus
den Polymeren könnten diese Probleme Solarzellen. Bis zur Massentauglichkeit elektrischer Leitfähigkeit und mecha-
womöglich lösen. Weil organische Solar­- organischer Solarzellen müssen allerdings nischer Flexibilität macht Polymere für
zellen dünner und transparenter sind als noch einfachere, sprich kostengünstigere zahlreiche Zukunftstechnologien interes-
jene aus Silizium, hofft man, sie eines Wege gefunden werden, die organischen sant. Bisweilen nutzt man jedoch auch
Tages auf Häuserfassaden, Fenstern oder Komponenten zu synthetisieren. nur die mechanische Vielseitigkeit von

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Polymeren. Von Bedeutung ist etwa das Eigenschaften von Polymeren zu Nutze Informationen könnte man molekulare
Massenprodukt Polyurethan, das aus macht, ist die Datenspeicherung. So wie Schlüssel verwenden, die auf analogem
Diisocyanaten und Diolen hergestellt natürlich vorkommende Makromoleküle Weg zum Empfänger transportiert
wird. Indem man das Diol variiert, kann Informationen speichern – unsere DNA werden.
man aus Polyurethan alles von Duro- etwa Baupläne für Proteine –, lassen sich Diese Beispiele illustrieren: Dank ihrer
plasten über Thermoplasten bis hin zu auch synthetische Polymere codieren. besonderen strukturellen, mechanischen
Elastomeren herstellen; außerdem Zum Speichern eines Binärcodes in einem und physikochemischen Eigenschaften
Weich- und Hartschäume. Molekülstrang müssen zwei verschiedene sind Polymere für viele Zukunftstechno-
Polyurethan-Schaumstoffe und andere Monomere als 0-Bit und 1-Bit definiert logien unverzichtbar. Schon heute sind sie
Kunststoffe wie Polymethylmethacrylat werden, um daraus ein Polymer mit dem aus zahlreichen Anwendungen nicht mehr
oder Polycarbonat ersetzen seit Jahrzehn­ gewünschten Code zu synthetisieren. Mit wegzudenken. Ob in Brennstoffzellen,
ten viele Metall- und Glaskomponenten Hilfe der Massenspektrometrie kann man OLEDs oder Passivhäusern – Polymere
in Autos und Flugzeugen. Die leichten die so codierten Informationen wieder helfen, den Verbrauch fossiler Rohstoffe
Kunststoffe verringern den Kraftstoff­ auslesen. zu senken, den Ausstoß von gesundheits-
verbrauch und damit den CO2-Ausstoß. und klimaschädlichen Abgasen zu
Polyurethan-Hartschäume sind auch Molekularer Geheimcode verringern sowie Energie zu sparen. Ande-
als Dämmstoff für Gebäude nicht mehr Wissenschaftler haben es bereits geschafft, re Technologien, die zum Klimaschutz
wegzudenken. Zwischen Putz und 128 Bit an Daten in Polymeren zu beitragen, werden mit Hilfe von Kunst-
Mauerwerk verhindern sie, dass Wärme verschlüsseln. Obwohl die Forschung hier stoffen immer leistungsfähiger. Dazu
im Winter über die Außenwand an die noch in den Kinderschuhen steckt, ist es zählen Solarzellen, die sich als polymere
Umgebung abgegeben wird und dass denkbar, dass diese Art der Datenspeiche- Variante für die unterschiedlichsten
Hitze im Sommer von außen in die rung in Zukunft tatsächlich eingesetzt Oberflächen eignen, und Polymer-Akkus,
Wohnung dringt. Füllt man ein Dämm- wird. Zum Beispiel, um Produktpiraterie die nur aufwändig zu recycelnde und
gas wie Pentan in die poröse Struktur des bei teuren Medizinprodukten aufzude- schwermetallbelastete Akkus ersetzen
Schaumstoffs, kann dieser mehr als das cken. Ein molekularer Barcode könnte könnten. Auch die Herstellung von
70-Fache der Energie einsparen, die für etwa anzeigen, ob es sich bei einem Polymeren verbraucht oft weniger Energie
dessen Herstellung, Einbau und Entsor- Implantat um ein Originalteil handelt als die von anorganischen Materialien
gung anfällt. In Passivhäusern erreichen oder um ein billiges Imitat. Eine anderes und könnte in Zukunft vermehrt auf die
Polyurethan-Schaumstoffe zusammen mit mögliches Anwendungsfeld ist die Fixierung von CO2 aus Industrieprozessen
anderen Materialien eine so gute Däm- Kryptografie: Zum Auslesen codierter setzen.
mung, dass die Gebäude ohne Heizung
und Klimaanlage auskommen.
Neben Dämmstoffen und Autoteilen
sind Matratzen eines der häufigsten
Einsatzgebiete von Polyurethan. Für die In modernen Passivhäusern
Herstellung des dafür benötigten helfen Dämmstoffe aus
Polyurethan-Weichschaums nutzt man Polystyrol oder Polyurethan,
Polyether-Polyole, die – wie viele Poly- Wärmeverluste und
damit die Heizkosten zu
mere – auf fossilen Rohstoffen basieren.
minimieren.
Forschern ist es gelungen, einen Teil des
Ausgangsmaterials durch CO2 zu ersetzen,
das bei der industriellen Ammoniaksyn-
these als Abfallprodukt anfällt. Über diese
ah_fotobox / Getty Images /

so genannte CO2-Fixierung werden in


einer Anlage in Dormagen nun Polyether-
Karbonat-Polyole mit einem CO2-Anteil
von bis zu 20 Prozent hergestellt. Die
daraus gefertigte klimafreundliche
Schaumstoffmatratze gibt es bereits zu
kaufen.
iStock

Ein viel versprechendes Anwendungs-


feld, das sich erst in jüngster Zeit die
POLYMERE

Mit dem Nanotaxi


in die Zelle

mit frdl. Gen. von Anja


Die Arbeitsgruppe von Anja Träger
Anja Träger
entwickelt polymere Nanotransporter
für die Gentherapie. Die Biotechnologin
forscht am
Jena Center for Soft
Matter (JCSM).
Frau Träger, Sie und Ihr Team
­entwickeln Gen-Taxis. Was versteht
Unter dem
man darunter?
Elektronenmikroskop
Gen-Taxis sind winzige Strukturen, die ähneln die mit

Jena Center for Soft


genetisches Material in Zellen einschleu- Genschnipseln beladenen
sen können. Als Taxi kann zum Beispiel Polymere winzigen
ein Virus dienen. Wir nutzen dafür Kügelchen.
jedoch Polymere. Diese legen sich wie
eine schützende Hülle um den Fahrgast,

Matter
das Genmaterial. Mit Hilfe von Gen-
Taxis lässt sich das Erbgut von Zellen
verändern, sie können neue Funktionen
einbringen oder bestehende ausschalten. die Transporter vor dem Immunsystem unsere Gen-Taxis daher mit Zieleinheiten
tarnen. Sie würden sonst vor Erreichen aus. Das sind Moleküle, die ausschließlich
Wie sehen Ihre Taxis aus? des Ziels beseitigt. In die einzelnen von bestimmten Zellen erkannt werden,
Man kann sie sich als winzige Kugeln Polymere können wir zudem Sequenzen nach dem Schlüssel-Schloss-Prinzip.
vorstellen, manche sind eher wurmartig. einbauen, die es dem Körper erleichtern,
Sie bestehen aus bis zu mehreren tausend die Gen-Taxis nach ihrer »Fahrt« abzu- Was sollen Ihre Gen-Taxis zukünftig
Polymeren mit einem Durchmesser um bauen. leisten können?
die 100 Nanometer. Das ist etwa 500-mal Unser Ziel ist es, effiziente, gut verträgliche
dünner als ein menschliches Haar. Könnten die Taxis auch andere Fracht und stabile Nanotransporter herzustellen,
transportieren? um damit Krankheiten zu behandeln. Sie
Wie gelangen die Genschnipsel in so Im Prinzip ja. Zum Beispiel werden sie könnten unter anderem beschädigte Zellen
einen Nanotransporter? oft genutzt, um klassische Wirkstoffe zu reparieren oder das Immunsystem unter­-
Die genetischen Informationen sind in transportieren, die nur in ganz bestimmte stützen. Ein aktuelles Beispiel ist etwa die
Nukleinsäuren, also DNA oder RNA Zellen gelangen sollen, oder solche, die Entwicklung von RNA-basierten Imp-
gespeichert. Diese Biomoleküle besitzen der Körper andernfalls schlecht aufneh- fungen, die man auch im Kampf gegen
verschiedene chemische Gruppen. men würde. Covid-19 nutzen will. Die RNA eines
Wir nutzen einen negativ geladenen solchen Impfstoffs enthält Informationen,
Abschnitt, die Phosphatgruppe, um die Wie finden die Polymere ans Ziel? die die körpereigene Immunabwehr auf
Nukleinsäure an unsere positiv geladenen Das ist tatsächlich eine große Herausfor- den Kampf gegen den Erreger vorbereitet.
Polymere zu binden. Außerdem fügen derung. Die Nanotransporter dürfen die Dazu muss die RNA in unsere Immun­
wir weitere Gruppen mit zusätzlichen genetischen Informationen nicht wahllos zellen eingeschleust werden. Hier könnten
chemischen Eigenschaften hinzu, die in alle Zellen einschleusen. Wir statten Gen-Taxis helfen.

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Links Bücher

Fachgruppe Makromolekulare Chemie der GDCh Dietrich Braun


https://macrochem.org Kleine
Geschichte
Faszination Makromolekulare Chemie der
Kunststoffe
https://faszinationchemie.de/makromolekulare-chemie/
2013, Hanser
Grundlagen zu Polymeren und Kunststoff 308 Seiten
https://www.umsicht.fraunhofer.de/de/ueber- € 30,–
fraunhofer-umsicht/nachhaltigkeit/nationale-
informationsstelle-nachhaltige-kunststoffe/
polymere-kunststoff/grundlagen.html Georg Schwedt
Experimente
European Tyre and Rubber Manufacturers rund um die
Association Kunststoffe
https://www.etrma.org des Alltags

Polymerforschung in Deutschland 2013, Wiley-VCH


168 Seiten
https://macrochem.org/positionspapier
€ 29,90
Deutsches Kunststoffmuseum
http://www.deutsches-kunststoff-museum.de
Mark Miodownik
Das Leben des Hermann Staudinger Wunderstoffe:
Zehn
https://www.k-online.de/de/News/Thema_des_Monats/ Materialien,
Thema_des_Monats_-_Archiv/Dezember_2019_Das_Leben_ die unsere
des_Hermann_Staudinger/Das_Leben_des_Hermann_ Zivilisation
Staudinger ausmachen
2016, DVA
Plastikatlas
304 Seiten
https://www.boell.de/de/plastikatlas € 19,99
Plastik in Gewässern
GDCh-Fachgruppe
https://themenspezial.eskp.de/plastik-in-gewaessern/
inhalt-9379/ Hochschulführer
Makromolekulare
Chemie 2018
The Chemistry of Biodegradable Plastics
https://www.compoundchem.com/2019/06/26/ 2018, GDCh
biodegradable-plastics/ 288 Seiten
€ 39,90
End Plastic Waste
https://endplasticwaste.org
Thisbe Lindhorst
The New Plastics Economy et al. (Hg.)
https://www.ellenmacarthurfoundation.org/assets/ Unendliche
downloads/The-New-Plastics-Economy-Rethinking-the- Weiten: Kreuz
Future-of-Plastics.pdf und quer
durchs Chemie-
Universum
Science to enable sustainable plastics
https://www.gdch.de/fileadmin/downloads/Publikationen/ 2017, Wiley-VCH
Weitere_Publikationen/PDF/Sustainability_CS3_ 230 Seiten
WhitePaper2020.pdf € 29,90

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Impressum

Herausgeber: Gesellschaft Deutscher Chemiker e.V.


Varrentrappstraße 40–42, 60486 Frankfurt/Main
Projektkoordination: Dr. Karin J. Schmitz,
Dr. Thomas Früh

Eine Publikation von: Spektrum CP


Spektrum der Wissenschaft Verlagsgesellschaft mbH
Tiergartenstraße 15–17, 69121 Heidelberg
www.spektrum-cp.de
Leitung: Ann-Kristin Ebert, Hanna Hillert
Redaktion: Dr. Tim Kalvelage
Texte: Dr. Janosch Deeg, Dr. Anna Clemens,
Dr. Stefanie Uhrig
Layout: Oliver Gabriel,
Karsten Kramarczik
Schlussredaktion: Christina Meyberg
Bildredaktion: Gabriela Rabe
Herstellung: Natalie Schäfer

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