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3. 22

Galaktische
Kollisionen
und die Zukunft
unserer Milchstraße
Deutsche Ausgabe des SCIENTIFIC AMERICAN
8,90 € (D/A/L) · 14,– sFr. D6179E

MEDIZIN Aufstieg der RNA-Impfstoffe


ENERGIE Wettrennen zur Kernfusion
ANTHROPOLOGIE Verwendeten die Neandertaler Zahlen?
AUSSCHREIBUNG 2022

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bis zum 4. April 2022

Der Georg von Holtzbrinck Preis zeichnet herausragende


Beiträge auf dem Gebiet des Wissenschaftsjournalismus aus.
Entscheidend ist die originelle journalistische Bearbeitung
aktueller wissenschaftlicher Themen.

Der Preis wurde 1995 von der Verlagsgruppe Georg von Holtzbrinck
anlässlich des 150-jährigen Bestehens der Zeitschrift „Scientific
American“, einer der ältesten Wissenschaftszeitschriften der Welt,
ins Leben gerufen.

Es wird ein Preis in der Kategorie Text, ein Preis in der Kategorie
Elektronische Medien und ein Preis in der Kategorie Nachwuchs
vergeben.

Die Preise in den Kategorien Text und Elektronische Medien sind


mit jeweils 10.000 EUR dotiert. Der Nachwuchspreis ist mit
5.000 EUR dotiert.

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EDITORIAL IN DIESER AUSGABE

EWIGE FEUER
Daniel Lingenhöhl, Chefredakteur
lingenhoehl@spektrum.de

 Haben Sie schon einmal von untoten Feuern gehört? Das sind Brände, die
vermeintlich gelöscht sind, aber unter der Oberfläche weiterschwelen,
bevor sie unter günstigen Bedingungen wieder ausbrechen und erneut riesige
Flächen verzehren können. Sie breiten sich mittlerweile zunehmend in den AARON S. EVANS,
arktischen und subarktischen Gefilden unserer Erde aus. LEE ARMUS
Ab S. 50 schildern Randi Jandt und Alsion York, wie diese Zombiefeuer Die dramatischen Vorgänge bei
Alaska verändern und Teil einer gefährlichen Kaskade sind: Der Klimawandel Galaxienkollisionen spielen sich
erwärmt die Region und trocknet die Torfschichten aus, so dass diese leichter oft im Verborgenen ab. Die
brennen. Die Winter werden kürzer und schneeärmer, was die Glutnester im US-Astronomen berichten ab
Untergrund zu wenig eindämmt und neuerliche Feuer im folgenden Frühling S. 12 von ihrem Versuch, den
erleichtert. Gleichzeitig zerstören die Brände den Permafrost; Böden sacken Phänomenen nachzuspüren.
ab, und Treibhausgase gelangen verstärkt in die Atmosphäre, die wiederum
die Erderwärmung antreiben.
Einige Wissenschaftler meinen sogar, dass wir uns im Pyrozän befinden,
dem Zeitalter des Feuers: Wegen uns Menschen brenne es häufiger, inten­
siver und auch in Ökosystemen, die von Natur aus eigentlich nicht gefährdet
sind, wie tropische Regenwälder oder nordische Moore. Tatsächlich ist die
Lage etwas komplexer. Die Gesamtzahl der Wald- oder Buschbrände ist in
den letzten Jahrzehnten weltweit zurückgegangen, weil Steppen oder Savan­
nen in Ackerflächen umgewandelt wurden und sich Feuer dank moderner
Technik effektiver bekämpfen lassen. JASON ULRICH,
Auf der anderen Seite vernichten Buschbrände heute riesige Flächen DAVID M. HOLTZMAN
nahezu ungebremst, wenn sie außer Kontrolle geraten, weil der Mensch das Die beiden US-amerikani­
natürliche Feuerregime zerstört hat. Das vermehrt angesammelte Material schen Neurologen stellen ab
lässt sie heißer und intensiver brennen. Die katastrophalen Folgen konnten S. 44 einen bisher vernachläs­
wir 2019/20 etwa in Australien, Kalifornien oder Südamerika sehen, wo Millio­ sigten, aber wichtigen Aspekt
nen Hektar Wald in wenigen Wochen zerstört wurden. Selbst Feuchtgebiete der Alzheimerkrankheit vor.
wie das Pantanal sind inzwischen nicht mehr sicher, weil außergewöhnliche
Dürren sie austrocknen, während gleichzeitig Menschen mit dem Zündholz
roden wollen.
In Alaska hofft man nun darauf, dass sich die Natur selbst hilft, etwa
indem sich durch den Klimawandel weniger feueranfällige Laub- statt der
Nadel­bäume ansiedeln. Noch ist das aber eine riskante Rechnung mit zu
vielen Unbekannten.

Abwartend grüßt
RANDI JANDT,
ALISON YORK
Seit vielen Jahren untersu­
chen die beiden Feuerökolo­
ginnen Brände in der Arktis.
Warum manch erloschen
geglaubtes Feuer nach dem
NEU AM KIOSK! Winter wieder aufflammt,
Spektrum SPEZIAL Biologie – Medizin – Hirnforschung schreiben sie ab S. 50.
1.22 liefert umfassende Hintergründe und Informatio­
nen zu einem Thema, das nun schon seit zwei
Jahren im Zentrum unserer Aufmerksamkeit steht.

Spektrum der Wissenschaft  3.22 3


INHALT
3 EDITORIAL 12 KOSMOLOGIE WENN GALAXIEN KOLLIDIEREN
Zusammenstöße von Gas und Staub im All haben dramatische Folgen.
6 SPEKTROGRAMM Von Aaron S. Evans und Lee Armus

20 FORSCHUNG AKTUELL
Der Energiezufuhr beraubt
Krebszellen stehlen Immun- 28 MEDIZIN DER VERSCHLUNGENE WEG ZUM RNA-IMPFSTOFF
zellen die Mitochondrien. Die Geschichte der RNA-Vakzine illustriert eindrücklich, wie hürdenreich
Forschung ist – und wie sehr sie auf Teamarbeit beruht.
Mysteriöse Neutrinos
Von Elie Dolgin
Modelle sind fehleranfälliger
als gedacht.
Den Zufall bezwingen
38 AUTOIMMUNKRANKHEITEN RISIKOFAKTOR: WEIBLICH
Serie: Der Feind im eigenen Körper (Teil 2) Mehr als drei Viertel der von
Hochdimensionale Graphen
helfen beim Codieren. Autoimmunerkrankungen Betroffenen sind Frauen. Woran liegt das?
Von Melinda Wenner Moyer

27 SPRINGERS EINWÜRFE
Freundliche Maschinen 44 DEMENZ VOM HELFER ZUM VERRÄTER
Die Akzeptanz ungewohnter Spezielle Immunzellen im Gehirn, die Mikroglia, spielen eine wichtige Rolle
Technik braucht Vorarbeit. bei der Entstehung der Alzheimerkrankheit. Das liefert neue Ansatzpunkte
für die Therapie.
Von Jason Ulrich und David M. Holtzman
58 ZEITREISE

59 FREISTETTERS FORMELWELT 50 TORFBRÄNDE ZOMBIEFEUER AUF DEM VORMARSCH


Die Mathematik der Im hohen Norden können vermeintlich erloschene Brände nach Monaten
­Ungleichheit wieder zum Leben erwachen. Heiße, trockene Sommer und eine Beson-
Eine Lösung ist leider nicht derheit des arktischen Bodens begünstigen das Phänomen.
Von Randi Jandt und Alison York
in Sicht.

72 SCHLICHTING! 60 ENERGIETECHNIK
Fingerschnippen mit WETTLAUF ZUM ERSTEN FUSIONSREAKTOR
Knalleffekt Milliardeninvestitionen sollen die Kernfusion kommerziell nutzbar machen.
Der Daumen ermöglicht Der Optimismus in der Branche ist groß, die Herausforderungen sind das
erstaunlich laute Töne. allerdings ebenfalls.
Von Philip Ball

92 REZENSIONEN
74 GEOMETRIE MATHEMATIK MIT FLIESEN UND BAUKLÖTZEN
96 FUTUR III – KURZGESCHICHTE Welche Möglichkeiten gibt es, einen Raum zu kacheln? An diese Frage
angelehnt, blieb eine Vermutung 90 Jahre lang unbeantwortet – bis sich
97 IMPRESSUM ein Computer ihrer annahm.
Von Kevin Hartnett

98 VORSCHAU
80 MATHEMATISCHE UNTERHALTUNGEN ECKIGE WELLEN
In der Natur können sich schwingende Medien zu rationalen Zeitpunkten
völlig anders verhalten als zu irrationalen.
Von Christoph Pöppe

86 ARCHÄOLOGIE DER URSPRUNG DES ZÄHLENS


Faszinierende Funde lassen vermuten: Schon die Neandertaler rechneten
mit Zahlen und legten sich dafür »Merkzettel« in Form von Knochen an.
Von Colin Barras
TITELBILD:
ESA/HUBBLE & NASA (ESAHUBBLE.ORG/IMAGES/
POTW1345A/) / CC BY 4.0 (CREATIVECOMMONS.
ORG/LICENSES/BY/4.0/LEGALCODE);
BEARBEITUNG: SPEKTRUM DER WISSENSCHAFT

4 Spektrum der Wissenschaft  3.22


RON MILLER / SCIENTIFIC AMERICAN DEZEMBER 2021
12
TITELTHEMA
WENN GALAXIEN KOLLIDIEREN
LIBRE DE DROIT / GETTY IMAGES / ISTOCK;
BEARBEITUNG: SPEKTRUM DER WISSENSCHAFT

28
ALAMY / DESIGN PICS INC. / DARYL PEDERSON

MEDIZIN
50
DER VERSCHLUNGENE WEG TORFBRÄNDE
ZUM RNA-IMPFSTOFF ZOMBIEFEUER AUF DEM VORMARSCH
ALAMY / PICTURE ALLIANCE / DPA / STEFAN SAUER

TIGGER11TH / GETTY IMAGES / ISTOCK; BEARBEITUNG: SPEKTRUM DER WISSENSCHAFT

Alle Artikel auch digital


60 74 auf Spektrum.de
Auf Spektrum.de berichten
ENERGIETECHNIK GEOMETRIE unsere Redakteure täglich
WETTLAUF ZUM MATHEMATIK MIT aus der Wissenschaft: fundiert,
ERSTEN FUSIONSREAKTOR FLIESEN UND BAUKLÖTZEN aktuell, exklusiv.

Spektrum der Wissenschaft  3.22 5


6
Spektrum der Wissenschaft  3.22
SPEKTROGRAMM

ESO/TH. STANKE & ESO/J. EMERSON/VISTA


(WWW.ESO.ORG/PUBLIC/GERMANY/IMAGES/ESO2201A/) /
CC BY 4.0 (CREATIVECOMMONS.ORG/LICENSES/BY/4.0/LEGALCODE)
Struktur von uns, wobei die rot einge-
färbten Bereiche schneller zurückwei-
chen als die gelben. Das dunkle Bild
mennebel und rechts daneben den im Hintergrund ist ein Infrarotfoto
Reflexions- und Emissionsnebel NGC desselben Gebiets, das die dortigen
2023, von der Erde aus betrachtet eine Objekte in anderen Farben darstellt als
der leuchtstärksten Quellen angereg- die APEX-Abbildung.
EIN NEBEL ten molekularen Wasserstoffs. Astro- Im Flammennebel und seiner
WIE IN FLAMMEN nominnen und Astronomen der Euro- Umgebung entstehen zahlreiche neue
CC BY 4.0 (CREATIVECOMMONS.ORG/LICENSES/BY/4.0/LEGALCODE)

päischen Südsternwarte haben die Sterne und Planeten. In kosmischen


(WWW.ESO.ORG/PUBLIC/GERMANY/IMAGES/ESO2201A/) /

 Im Sternbild Orion scheint es zu


lodern – aber die Gaswolken dort
Himmelsregion mit Hilfe des Radio­
teleskops APEX (Atacama Pathfinder
Maßstäben betrachtet handelt es sich
um eine stellare Kinderstube in unse-
ESO/TH. STANKE & ESO/J. EMERSON/VISTA

brennen ganz sicher nicht. Das Bild im Experiment) abgebildet. Die Farben rer unmittelbaren Nachbarschaft.
schräg stehenden Rechteck zeigt den zeigen, wie schnell sich das Gas Astronomy & Astrophysics 10.1051/
etwa 1500 Lichtjahre entfernten Flam- bewegt. Als Ganzes entfernt sich die 0004-6361/201937034, 2022

Spektrum der Wissenschaft  3.22 7


SPEKTROGRAMM
PALÄOBIOLOGIE ein Sandsteinfelsen von einer Klippe wo es unter Sedimenten verschwand
in der englischen Grafschaft Nor­ und später fossilisierte. Die Forscher
KOLOSS AUS DEM thum­berland abbrach und auf den nehmen an, dass der zugehörige
KARBON Strand stürzte. Er zerbrach so perfekt, Gliederfüßer zu dem Zeitpunkt nicht

 Forscher haben die Überreste des


größten bislang bekannten Glieder-
füßers entdeckt. Es handelt sich um
dass er das Fossil unzerstört frei gab.
Einer der beteiligten Forscher fand es
bei einem Spaziergang. Vier Men-
gestorben war, sondern sich gehäutet
hatte und sein Exoskelett versteinerte.
Bislang kennt man nur zwei weitere
das fossile Segment eines Lebewe- schen waren nötig, um es für die Arthropleura-Fossilien. Beide sind in
sens, das einem gigantischen Tau- Untersuchung abzutransportieren. Deutschland aufgetaucht und deutlich
sendfüßer ähnelte. Das Tier aus der Im Labor identifizierten Davies und kleiner. Der neue Fund wirft die Frage
Gattung Arthropleura dürfte bis zu 2,7 seine Gruppe es als Überreste eines auf, wie die Tiere so groß werden
Meter lang und 50 Kilogramm schwer Gliederfüßers, der vor 326 Millionen konnten. Nach gängigen Annahmen
gewesen sein, berichten der Geologe Jahren lebte, also im Karbon. Zu jener existierten die gewaltigsten Wirbello-
Neil Davies von der University of Zeit lag das Gebiet in Äquatornähe. sen zu jener Zeit, als der atmosphäri-
Cambridge und sein Team. Hinsicht- Viele der damaligen Wirbellosen und sche Sauerstoffgehalt am höchsten
lich der Körpermaße übertrifft es frühen Amphibien hielten sich in war. Doch der Arthropleura-Gigant
selbst die prähistorischen Seeskorpio- Gewässernähe auf, fraßen Pflanzen lebte vorher. Zudem benötigte er wohl
ne, die bislang die größten bekannten oder gingen auf die Jagd. Auch das eine sehr gehaltvolle Nahrung. Ver-
Gliederfüßer darstellten. Zu Tage kam jetzt gefundene Arthropleura-Seg- mutlich fraß er Pflanzenmaterial,
die Versteinerung im Jahr 2018, als ment endete einst in einem Flussarm, vielleicht jagte er auch.
Die Gattung Arthropleura existierte
rund 40 Millionen Jahre lang, bevor sie
50 Zentimeter aus unbekannten Gründen im Perm

NEIL DAVIES, UNIVERSITY OF CAMBRIDGE


ausstarb. Möglicherweise fiel sie
einem Klimawandel zum Opfer oder
musste den neu aufkommenden
Reptilien weichen. Ihre Verwandten,
die Tausendfüßer, haben bis heute
überlebt.
URZEITRIESE Das neu entdeckte Arthropleura- Journal of the Geological Society 10.1144/
Exemplar (unten: Fossil, oben: Rekonstruktion). jgs2021-115, 2021

NEIL DAVIES, UNIVERSITY OF CAMBRIDGE

8 Spektrum der Wissenschaft  3.22


MEDIZIN
PATIENT ERHÄLT
SCHWEINEHERZ

UNIVERSITY OF MARYLAND MEDICAL CENTER (UMMC)


 Ein Ärzteteam in den USA hat
nach eigenen Angaben erstmals
einem menschlichen Patienten ein
gentechnisch verändertes Schweine­ PIONIERTAT Ärzte haben einem
herz eingesetzt. Das Organ wurde am Todkranken ein Schweineherz eingesetzt.
7. Januar 2022 einem 57-Jährigen mit
lebensgefährlichem Herzleiden in einer
Klinik in Baltimore (Maryland) trans- erleichtern sollen, das eingepflanzte helfen zu können. Jedes Jahr sterben
plantiert, wie das Krankenhaus mitteil- Organ zu akzeptieren. dort mehr als 6000 Patienten, während
te. Die Operation dauerte US-Medien Für den Patienten sei das Schweine­ sie auf ein Organ warten. In Deutsch-
zufolge acht Stunden, das eingesetzte herz die einzige Option gewesen, da er land befinden sich derzeit mehr als
Herz habe die Arbeit aufgenommen, für die Transplantation eines menschli- 9000 Menschen auf einer entspre-
dem Patienten gehe es gut. chen Herzens nicht geeignet gewesen chenden Warteliste; dem gegenüber
Zuvor hatten Forscherinnen und sei, heißt es aus der Klinik. Er stand standen im Jahr 2020 bundesweit nur
Forscher bei dem Spenderschwein folglich vor der Wahl, sich entweder 913 Organspenderinnen und -spender.
drei Gene ausgeschaltet, die norma- dem Experiment zu unterziehen oder Ob genmodifizierte Tierorgane den
lerweise für eine schnelle Abwehrre- zu sterben. Die US-Arzneimittelbehör- Ausweg aus diesem Dilemma weisen,
aktion des menschlichen Organismus de FDA erteilte eine Notfallgenehmi- bleibt abzuwarten. Auch bei dem
gegen fremde Körperbestandteile gung für den Eingriff. Das ist möglich, Patienten aus Maryland wird erst die
sorgen. Eine weitere Erbanlage legten wenn der Betroffene keine andere Zeit zeigen, ob sein Organismus sich
sie lahm, um das Wachstum des Chance mehr auf Rettung hat. langfristig mit dem Schweineherz
Herzgewebes einzudämmen. Weiter- In den USA sind – wie anderswo arrangiert.
hin fügten sie sechs menschliche auch – nicht genügend Spenderorgane dpa / Pressemitteilung der University of
Gene hinzu, die es dem Immunsystem verfügbar, um jedem, der eins braucht, ­Maryland vom 10. Januar 2022

PHYSIK
DEN DREIFACHEN LEIDENFROST GETANZT

 Der »Leidenfrost-Effekt« sorgt


dafür, dass Flüssigkeitstropfen auf
heißen Oberflächen umherrasen: Die
Verantwortlich sind die unter-
schiedlichen Siedetemperaturen der
Flüssigkeiten. Bei einer Kollision
samer verdampfenden. Polare Subs-
tanzen wie Ethanol und Wasser verei-
nen sich nun problemlos. Ein polarer
Unterseite des Tropfens verdampft, zweier Tropfen trifft eine wärmere und ein unpolarer Stoff dagegen
was ihn auf einem reibungsarmen Oberfläche (Wasser) auf eine kühlere bilden Emulsionen, die – je nach
Gaskissen schweben lässt. Dazu muss (Ethanol). Das wirkt sich genauso aus Temperatur – ein Multiphasensystem
die Temperatur des Untergrunds wie der Kontakt zum heißen Unter- aus gasförmigen und flüssigen Be-
deutlich über der Siedetemperatur der grund: Es entsteht eine reibungsarme standteilen darstellen. Ist eine der
Flüssigkeit liegen. Ein Team um Felipe Gasschicht an der Grenze. Die Berüh- beteiligten Substanzen sehr flüchtig,
Pacheco-Vázquez von der Benemérita rungen beider Flüssigkeiten unterein- kann es die Emulsion explosiv ausein-
Universidad Autónoma de Puebla ander sowie jeweils mit der Heizplatte anderreißen, berichten die Wissen-
(Mexiko) beschreibt nun einen dreifa- ergeben somit einen dreifachen schaftler.
chen Leidenfrost-Effekt. Der tritt auf, Leidenfrost-Effekt. Derlei Forschung soll helfen, Vor-
sobald Tropfen verschiedener Flüssig- Freilich dauert die wilde Fahrt nicht gänge beim Erhitzen und Mischen von
keiten herumflitzen und in Kontakt ewig. Sobald die schneller verdamp- Substanzen besser zu verstehen, die
kommen. Stoßen etwa Ethanol- und fende Flüssigkeit nur noch aus sehr bei diversen chemischen Reaktionen
Wassertropfen auf einer 250 Grad kleinen Tröpfchen besteht, deren eine Rolle spielen. Beispielsweise ist
Celsius warmen Heizplatte zusammen, Abmessungen der so genannten noch nicht völlig geklärt, warum der
mischen sie sich nicht, sondern prallen Kapillarlänge nahekommen (einem Leidenfrost-Effekt manche Reaktionen
voneinander ab, wie die Forscher Faktor, der Schwerkraft und Oberflä- beschleunigt.
melden. Und das, obwohl sich Alkohol chenspannung in Beziehung setzt), Physical Review Letters 10.1103/
üblicherweise gut in Wasser löst. vermischt sie sich doch mit der lang- PhysRevLett.127.204501, 2021

Spektrum der Wissenschaft  3.22 9


SPEKTROGRAMM

SALEEM, S.N., HAWASS, Z.: DIGITAL UNWRAPPING OF


ARCHÄOLOGIE

THE MUMMY OF KING AMENHOTEP I (1525–1504 BC)


Die Einbalsamierer hatten weder Herz

SAHAR N. SALEEM / ZAHI HAWASS; PRESSEBILD ZU

USING CT. FONTIERS IN MEDICINE 8, 2021, FIG. 2


noch Gehirn entfernt, aber die Einge-
PHARAO-MUMIE weide entnommen und die Bauchhöh-
UNTER DER LUPE le danach mit Leinen ausgestopft. Auf
und im Körper sowie zwischen den
Leinenbinden entdeckten die Forscher

 Die Mumie von Pharao Amenophis I.


(Regierungszeit 1525–1504 v. Chr.)
ist seit rund 3000 Jahren nicht aus den
30 Amulette, die den Leichnam ma-
gisch schützen sollten. Um die Taille
liegt ein Gürtel aus Goldperlen. DURCHLEUCHTET CT-Untersuchun-
Leinenbinden gewickelt worden und Die Mumie weist mehrere Defekte gen machen den Schädel im Inneren
damit wohl eine Ausnahme unter den auf, die noch im Altertum behoben der Mumienmaske sichtbar.
ägyptischen Königsmumien. Gleich- worden sind. So war der Kopf abge-
wohl wurde sie einst von Grabräubern trennt und mit einer harzgetränkten
geplündert – und anschließend wieder Binde wieder befestigt worden. Der Grabräuber hatten noch in altägyp-
zusammengeflickt. Sahar Saleem von linke Arm ist abgebrochen; spätere tischer Zeit die Ruhestätten im Tal der
der Universität Kairo und der ehemali- Restauratoren haben ihn neben den Könige beraubt. Dabei rissen sie die
ge ägyptische Antikenminister Zahi Oberkörper gelegt und mit Binden einbalsamierten Körper auf der Suche
Hawass haben den Leichnam jetzt per fixiert. Aus der noch weitgehend nach Amuletten auseinander. Wie
Computertomografie durchleuchtet originalen Lage der rechten Extremität Inschriften auf den Särgen verraten,
und dabei einige bereits im Altertum schließen die Forscher, dass die Arme ließen Priester im 11. Jahrhundert
restaurierte Schäden entdeckt. einst über Kreuz auf dem Oberkörper v. Chr. die Königsmumien einsammeln,
Wie die CT-Scans zeigten, starb der lagen. Der rechte Fuß ist ebenfalls restaurieren und in ein Grab der nahe
Pharao im Alter von etwa 35 Jahren beschädigt worden; jemand hat ihn gelegenen Nekropole Deir el-Bahari
ohne erkennbare Erkrankungen. Er war mit einem Holzbrett gestützt, beides umbetten.
1,69 Meter groß und beschnitten. Die umwickelt und das Brett mit den Frontiers in Medicine 10.3389/
Todesursache ließ sich nicht ermitteln. Bandagen vernagelt. fmed.2021.778498, 2021

EVOLUTION
URAHN ALLER LEBEWESEN ERNÄHRTE SICH VON WASSERSTOFF

 Alle heutigen Lebewesen stammen


wahrscheinlich von einem gemein-
samen Vorfahren ab, der vor mindes-
die so etwas wie den Basisstoffwech-
sel heutiger Zellen darstellen. Sie
funktionieren bei allen Mikroben
Phosphate. Solche Bedingungen sind in
hydrothermalen Tiefseequellen erfüllt
oder auch in wassergefüllten Spalten
tens 3,5 Milliarden Jahren lebte. Dieser weitgehend gleich und liefern Grund- der Erdkruste. Diese Orte sehen Fach-
hypothetische Ahn namens LUCA (last bestandteile der Zelle wie Aminosäu- leute als mögliche Stätten der Entste-
universal common ancestor) war ren, Nukleotide und Vitamine. Experi- hung des Lebens an.
vermutlich ein zellähnliches Gebilde mentelle Daten und theoretische »Bei genügend starker Hitze, hinrei-
mit rudimentärem Stoffwechsel. Er Überlegungen deuten darauf hin, dass chend hohem pH-Wert und ausreichend
kann noch nicht den komplexen Mole- sich diese Reaktionen seit Beginn des Stoffnachschub tendierte das System
külapparat besessen haben, über den Lebens nicht wesentlich verändert der Basis-Stoffwechselreaktionen dazu,
heutige Zellen verfügen – was die haben und bereits in LUCA stattge- sich selbst aufrechtzuerhalten, ohne
Frage aufwirft, ob die ersten zellulären funden haben könnten. dass Proteine oder Enzyme daran
Stoffwechselreaktionen spontan In Laborversuchen und Computer- mitwirkten«, sagt Wimmer. LUCAs
abliefen oder auf Energiezufuhr von simulationen testete das Team für Metabolismus konnte sich demnach
außen angewiesen waren. Ein Team verschiedene Umweltbedingungen, unter den richtigen Bedingungen spon-
um Jessica Wimmer von der Heinrich- welche Energiebilanz die Basisreaktio- tan entfalten. Eine zusätzliche Energie-
Heine-Universität Düsseldorf ist dem nen haben. Dabei stellte sich heraus: zufuhr durch elektrische Entladungen,
nachgegangen und kommt zum Fast alle laufen freiwillig und Energie UV-Licht, Vulkanausbrüche oder Meteo-
Schluss: LUCA bezog seine Energie liefernd ab, wenn die Temperatur rund riteneinschläge war nicht erforderlich.
maßgeblich aus Wasserstoff und 90 Grad Celsius beträgt, der pH-Wert Angetrieben worden sei der Ur-Metabo-
betrieb damit einen selbstständigen des umgebenden Wassers zwischen lismus letztlich von Wasserstoff, wie
Metabolismus, der keine externen 7 und 10 liegt und bestimmte Aus- der Evolutionsbiologe William Martin
Energiequellen benötigte. gangsstoffe vorhanden sind – nämlich betont, der das Team leitet.
Wimmer und ihre Kollegen identifi- Wasserstoff, Kohlenstoffdioxid, Frontiers in Microbiology 10.3389/
zierten 402 biochemische Reaktionen, Ammoniak, Schwefelwasserstoff und fmicb.2021.793664, 2021

10 Spektrum der Wissenschaft  3.22


Täglich aktuelle Nachrichten auf Spektrum.de

GEOWISSENSCHAFTEN
VULKANISCHE HOTSPOTS SIND KÜHLER ALS GEDACHT

 Riesige Ansammlungen geschmol-


zenen Gesteins speisen isolierte
Vulkane auf Hawaii, Island oder auch
sich darüberliegende Vulkane speisen.
Die Arbeitsgruppe um Bao hat die
Geschwindigkeit seismischer Wellen
sprechen ebenfalls dafür. Die heißeren
dieser Gebilde haben im Schnitt einen
höheren Helium-3-Anteil, was für seit
den Yellowstone-Supervulkan. Doch im Mantel unterhalb des Hotspot-­ Jahrmilliarden kaum verändertes
wie sich nun herausstellte, weisen sie Materials gemessen und daraus die Material aus großen Tiefen spricht.
oft überraschend niedrige Temperatu- dortige Temperatur berechnet, aus der Die Heliumsignatur kühlerer Hotspots
ren auf. Das stellt eine 50 Jahre alte sich wiederum schließen lässt, wie weicht davon ab und ist näher an
Hypothese über ihren Ursprung in heiß der Hotspot selbst ist. Um schnell jener der Mittelozeanischen Rücken.
Frage. Wie eine Arbeitsgruppe um genug aus großen Tiefen aufzusteigen, Eine mögliche Erklärung dafür lautet,
Xiyuan Bao von der University of muss die Schmelze mindestens 100 dass nur die heißesten Hotspots ihren
California in Los Angeles nach seismi- bis 300 Grad Celsius heißer sein als die Ursprung an der Kern-Mantel-Grenze
schen Messungen berichtete, ist der Mittelozeanischen Rücken. haben. Die anderen könnten in gerin-
ungefähr jeder zweite Hotspot nicht Das ist aber nur bei 45 Prozent der geren Tiefen durch lokale Konvektion
heiß genug, um mittels Auftrieb aus Hotspots der Fall – wenn überhaupt. entstehen.
dem tiefen Erdmantel aufzusteigen. Laut dem Team reicht die bisherige Denkbar scheint nach Ansicht der
Damit ist unklar, ob sie tatsächlich Theorie über den Ursprung von Hot- Forscher ebenso, dass klassische
von der Grenze zwischen Erdkern und spots deshalb nicht aus, um Vulkane Hotspots auf dem Weg nach oben
Mantel ausgehen wie üblicherweise jenseits der Plattengrenzen zu erklä- manchmal »stecken bleiben« und
angenommen. ren. Womöglich speise sich ein Teil abkühlen oder die vermeintlich kühlen
Ein Hotspot besteht aus einem der Hotspots aus ganz anderen Quel- unter ihnen klein sind und ihre Tem­
Kanal, durch den Material aus großer len als gedacht. peratur deswegen unterschätzt wird.
Tiefe aufsteigt. Es bildet unter der Befunde zur Zusammensetzung des Science 10.1126/science.abj8944,
Erdkruste eine pilzartige Blase, aus der Heliums in den Hotspot-Vulkanen 2022

RAUMFAHRT Mutterstern. Allerdings besitzt dieser


keine feste Oberfläche. Die Bestand­
sich dem Zentralgestirn auf 6,16
Millionen Kilometer nähern. Geschützt
ERSTMALS DIE teile seiner Atmosphäre werden von von einem fast zwölf Zentimeter
SONNE BERÜHRT Schwerkraft und magnetischen Ein- dicken Panzer aus Kohlenstofffaser
flüssen festgehalten, von Hitze und hält das Fluggerät, das eine Masse
Strahlung hingegen weggedrückt. Ab von zirka 680 Kilogramm besitzt und

 Die NASA-Raumsonde »Parker


Solar Probe« ist durch die äußere
Atmosphäre der Sonne geflogen und
einer bestimmten Entfernung zum
Sonnenmittelpunkt sind Gravitation
und Magnetfelder nicht mehr stark
die Größe eines Kleinwagens hat,
extreme Hitze und Strahlung aus.
Die NASA verspricht sich von der
hat damit laut der Behörde als erstes genug, um das Entkommen des Mate- bis 2025 angesetzten Mission unter
Raumschiff unseren Mutterstern rials zu verhindern – es wird zu Son- anderem Erkenntnisse darüber, warum
berührt. Die Passage habe wenige nenwind, der ins All entschwindet. Die die Sonnenkorona um ein Vielfaches
NASA/JOHNS HOPKINS APL/STEVE GRIBBEN
Stunden gedauert und bereits am Grenze, ab der das geschieht, heißt heißer ist als die Oberfläche – und was
28. April 2021 stattgefunden. Die Alfvén-Oberfläche und markiert das sich daraus hinsichtlich der Funktions-
Raumsonde habe dabei Partikel und äußere Ende der Sonnenatmosphäre. weise von Sternen ableiten lässt.
Magnetfelder untersucht. Erste Ergeb- Bei ihrem Vorbeiflug im vergangenen Pressemitteilung der NASA vom
nisse des Vorbeiflugs hat das Missi- April passierte Parker Solar Probe 14. Dezember 2021
onsteam in der Fachzeitschrift »Physi- mehrfach diese Grenze, die sich nicht
cal Review Letters« publiziert. kugelförmig um die Sonne erstreckt,
Parker Solar Probe umrundet unser sondern zahlreiche Ausbuchtungen HEISSER RITT »Parker Solar Probe«
Zentralgestirn auf elliptischen Bahnen aufweist. über der Sonne (Illustration).
und wird sich ihm in den kommenden Bereits wenige Monate nach ihrem
Jahren weiter annähern. Bei ihrem Start im August 2018 war die Raum-
bislang letzten dichtesten Vorbeiflug sonde so nahe an die Sonne herange-
(»Perihel«) am 21. November 2021 kommen wie kein anderes Raumschiff
befand sich die Raumsonde rund zuvor: auf 42,7 Millionen Kilometer.
8,5 Millionen Kilometer über unserem Bis zum Ende ihrer Mission wird sie

Spektrum der Wissenschaft  3.22 11


12
Spektrum der Wissenschaft  3.22
RON MILLER / SCIENTIFIC AMERICAN DEZEMBER 2021
KOSMOLOGIE
WENN GALAXIEN
KOLLIDIEREN
Im Kosmos stoßen immer wieder
Galaxien zusammen – mit dramatischen
Folgen. Neue Erkenntnisse über solche
Vorgänge enthüllen, was sich in einigen
Milliarden Jahren auch zwischen
unserer Milchstraße und ihrem nächsten
großen Nachbarn abspielen wird.

Aaron S. Evans (links) ist Astronomie­professor


an der University of Virginia in Charlottesville.
Lee Armus arbeitet am California Institute of
Technology in Pasadena.

 spektrum.de/artikel/1974532

MÖGLICHE ZUKUNFT Die Illustra­


tion zeigt, wie das sich vereinigende
Milchstraßen-Andromeda-System
aus einiger Entfernung aussehen
könnte. Im Vordergrund ist Pluto zu
erkennen, der gemeinsam mit
der zum Roten Riesen aufgeblähten
Sonne weit aus der Ebene der
Galaxis geschleudert wurde.
RON MILLER / SCIENTIFIC AMERICAN DEZEMBER 2021

Spektrum der Wissenschaft  3.22 13



In etwa fünf Milliarden Jahren
wird unsere Umgebung im All
ganz anders aussehen. Nicht Milchstraße
nur bläht sich die Sonne zu einem
Roten Riesen auf, dessen feurige
Hülle sich bis zur Erdumlaufbahn
erstreckt. Darüber hinaus erfährt
die gesamte Milchstraße einen
dramatischen Wandel, denn sie
Andromedagalaxie
kollidiert dann mit dem nächsten
großen Nachbarn, der Andromeda-
galaxie. Wenn die Gravitation die
beiden Gebilde unabwendbar
zusammenbringt, werden ihre
Bestandteile durch Begegnungen
mit anderen Objekten aus ihren
gewohnten Bahnen gerissen und 3,750 Milliarden Jahre in der Zukunft 3,875 Milliarden Jahre
neu gemischt. Leuchtende Sterne
schießen als spektakuläre Schweife

NASA, ESA; VISUALIZATION: FRANK SUMMERS (STSCI); SIMULATION: GURTINA


BESLA (COLUMBIA UNIVERSITY), ROELAND VAN DER MAREL (STSCI)
weit ins All, und Gas und Staub sammeln sich in den sich viel häufiger vorkam – nicht wirklich um eine Kollision,
einander nähernden galaktischen Zentren. Von den impo- zumindest nicht im eigentlichen Wortsinn. Galaxien beste-
santen Spiralstrukturen, die während fast drei Viertel der hen größtenteils aus nichts. Die rund 300 Milliarden Sterne
Existenz des Universums den Charakter der beiden Galaxi- in der Milchstraße sind im Durchschnitt fast fünf Lichtjahre
en geprägt haben, bleibt immer weniger übrig. voneinander entfernt. Die mittlere Konzentration von Gas
Schließlich verschmelzen die Kernbereiche der Galaxien. im interstellaren Raum ist etwa 100 Billiarden Mal geringer
Das nach innen strömende und von der Gravitation kompri- als die Dichte der irdischen Luft auf Meereshöhe. Obwohl
mierte Gas lässt die Rate der Sternentstehung regelrecht eine Verschmelzung von Galaxien das Aussehen der beiden
explodieren, auf das mehr als 100-Fache im Vergleich zur Partner auf großen Skalen grundlegend verändert und
Menge an Sternen, die sich regelmäßig neu bilden. All die immense Energiemengen umgesetzt werden, bewegen
Materie füttert außerdem die supermassereichen Schwar- sich die meisten Sterne während des Ereignisses relativ
zen Löcher, die sich in den Mittelpunkten der ursprüngli- unbeeindruckt aneinander vorbei.
chen Galaxien befanden. Sie wachsen und beschwören
dabei einen Sturm energiereicher Teilchen herauf, der das Mit neuen Methoden zu ungeahnter Formenvielfalt
Licht aller Sterne überstrahlt. Zuletzt nähern auch sie sich Nichtsdestoweniger sind die bei alledem ablaufenden
auf immer engeren Bahnen einander an und vereinigen sich Prozesse aus astronomischer Sicht faszinierend und be-
letztendlich. deutsam. Genaue Untersuchungen gestatten uns nicht nur
Trotz des ganzen Spektakels handelt es sich bei dem einen Ausblick auf die ferne Zukunft unserer Galaxis, son-
Prozess – der heute bereits in ähnlicher Weise überall um dern sie helfen uns darüber hinaus dabei, die Geschichte
uns herum abläuft und in der Frühzeit des Universums noch des gesamten Alls besser zu verstehen. Im jüngeren und
dichteren Kosmos kollidierten Galaxien ständig. Simulatio-
nen deuten darauf hin, dass die Milchstraße in den letzten
zehn Milliarden Jahren bis zu fünf größere Verschmelzun-
AUF EINEN BLICK gen durchgemacht hat, bevor sie zu der Spiralgalaxie
TANZ VON MILLIARDEN STERNEN wurde, die sie heute ist.
Lange fehlten die technischen Möglichkeiten zur sorgfäl-

1 Galaxien bewegen sich in alle Richtungen durch das tigen Messung und Modellierung der Vorgänge. Der Gutteil
Universum. Treffen zwei aufeinander, vereinigen sie des Geschehens ist nämlich hinter dicken Staubwolken
sich langsam durch die Anziehung der Schwerkraft. verborgen, die bei sichtbaren Wellenlängen selbst mit den
leistungsfähigsten Teleskopen nur schwer zu durchdringen

2 Verwirbeltes Material befeuert die Sternentstehung,


und Schwarze Löcher verschmelzen. Beides erzeugt
intensive Strahlung. Viele Vorgänge sind hinter Staub
sind. Dank neuer Instrumente an bestehenden und geplan-
ten Observatorien lassen sich einige Fragen nun aber
zunehmend besser beantworten, etwa jene, wie Sterne
verborgen und nur mit Spezialteleskopen erkennbar. während des Chaos einer galaktischen Kollision geboren
werden oder wie die Strahlung der wachsenden und sich
3 Solche Untersuchungen verraten auch etwas über die
Zukunft der Milchstraße, die in einigen Milliarden
Jahren mit der benachbarten Andromedagalaxie zu-
schließlich vereinigenden zentralen Schwarzen Löcher die
Umgebung beeinflusst.
sammenstoßen wird. Wir wissen erst seit rund einem Jahrhundert überhaupt
von der Existenz von Galaxien außerhalb unserer eigenen.
Seinerzeit hat der US-Astronom Edwin Hubble herausge-

14 Spektrum der Wissenschaft  3.22


Andromedagalaxie

Milchstraße

4,000 Milliarden Jahre 4,125 Milliarden Jahre 4,250 Milliarden Jahre


NASA, ESA; VISUALIZATION: FRANK SUMMERS (STSCI); SIMULATION: GURTINA
BESLA (COLUMBIA UNIVERSITY), ROELAND VAN DER MAREL (STSCI)

funden, dass viele der damals als Nebel bezeichneten


Chronologie zukünftiger
leuchtenden Flecken am Himmel keine Objekte innerhalb
der Milchstraße sind, sondern unabhängige »Welteninseln« Zusammenstöße
darstellen. Er nannte sie extragalaktische Nebel und teilte
sie in drei Kategorien ein: solche mit kugelartiger oder Unsere Milchstraße und die benachbarte Andro-
elliptischer Form (die elliptischen Galaxien), flache Scheiben medagalaxie bewegen sich wegen der wechsel-
mit einer Aufwölbung in der Mitte (»Bulge«) und Spiral­ seitigen Massenanziehung langsam aufeinander
armen, die gelegentlich an einem längeren zentralen Balken zu. In einigen Milliarden Jahren werden sie ver-
ansetzen (die Spiralgalaxien, zu der die Milchstraße gehört) schmelzen. Obwohl jede der Galaxien hunderte
sowie unregelmäßig geformte Exemplare (die irregulären Milliarden von Himmelskörpern enthält, überste-
Galaxien). hen die allermeisten den Vorgang unbeschadet,
Bei einem Teil der irregulären Galaxien handelt es sich weil die einzelnen Abstände enorm groß sind.
tatsächlich um stark verzerrte Paare oder kleine Gruppen Allerdings verlieren die Sterne ihre gewohnten
von Galaxien. In den Jahren nach Hubbles Entdeckung Umlaufbahnen und gelangen an völlig andere
untersuchten Pioniere wie Boris Woronzow-Weljaminow Orte. Die Sequenz von Bildern stammt aus einer
von der Universität Moskau, Fritz Zwicky vom California Computersimulation und geht von der mit dem
Institute of Technology und Halton Arp von den Mount Hubble-Weltraumteleskop gemessenen Bewe-
Wilson und Palomar Observatories solche zusammenhän- gung der Andromedagalaxie aus. Nach einigem
genden Galaxien im Detail. 1966 veröffentlichte Bilder Hin und Her wird das Ergebnis eine einzige ellipti-
zeigen verzerrte Formen, die mit dem heutigen Wissen sche Galaxie ohne Spiralarme sein.
deutlich als typische Resultate von Verschmelzungen zu
erkennen sind. In den 1970er Jahren modellierten die Brü-
der Juri und Alar Toomre in den USA mit Hilfe von Compu-
tern die Wechselwirkungen zwischen Scheibengalaxien. Galaxienverschmelzungen. Der Satellit erfasste die Wellen-
Trotz der wegen begrenzter Rechenleistung nötigen Verein- längen der Wärmestrahlung von interstellarem Staub, der
fachungen reproduzierten sie die beobachteten Formen fast immer auf eine Kinderstube für Sterne hindeutet. Diese
mehrerer irregulärer Galaxien, im Speziellen lange Schweife werden in normalen Galaxien aus Ansammlungen von
von Sternen, die weit weggeschleudert werden. Diese und molekularem Wasserstoffgas und Staub geboren. Letzterer
andere frühe Simulationen konnten die ungewöhnlichen, setzt sich aus schwereren Elementen wie Kohlenstoff und
manchmal spektakulären Merkmale allein durch das Wir- Sauerstoff zusammen, die im Inneren der Sterne durch
ken der Gravitation erklären. Mit immer leistungsfähigeren Kernfusion entstehen und im Zuge der stellaren Entwick-
Computern und ausgefeilteren Modellen ließen sich die lung ausgestoßen werden. In kollidierenden Galaxien laufen
Vielfalt der Wechselwirkungen zwischen Galaxien und die die entsprechenden Prozesse auf Hochtouren. Die Ver-
physikalischen Auswirkungen zunehmend genauer nach- schmelzung presst das weit verstreute Baumaterial in
vollziehen. einigen Regionen regelrecht ineinander, was Wellen der
1983 startete der Infrarotsatellit IRAS. Er erstellte die Sternentstehung auslöst, so genannte Starbursts (siehe
erste Karte des gesamten Himmels im besonders langwelli- »Spektrum« Juni 2021, S. 60). Letztere produzieren wieder-
gen Bereich des Infrarotlichts. Das war ein Meilenstein für um zusätzliche schwere Elemente und Staub.
die Erforschung derjenigen Teile des Universums, die hinter Obwohl junge und massereiche Sterne den größten Teil
Staubwolken verborgen sind. Dazu gehören vor allem die ihrer Energie im ultravioletten Wellenlängenbereich abge-

Spektrum der Wissenschaft  3.22 15


Andromeda-
galaxie

Milchstraße

4,375 Milliarden Jahre 4,500 Milliarden Jahre 4,625 Milliarden Jahre

NASA, ESA; VISUALIZATION: FRANK SUMMERS


(STSCI); SIMULATION: GURTINA BESLA (COLUMBIA
UNIVERSITY), ROELAND VAN DER MAREL (STSCI)
ben, gelangt nur wenig davon zur Erde. Die Staubpartikel in werden von supermassereichen Schwarzen Löchern ange-
der Umgebung absorbieren das kurzwellige Licht und strah- trieben. Laut der Hypothese sind ULIRGs gewissermaßen
len die Leistung im langwelligen Infraroten wieder ab. eine Vorstufe von Quasaren. Die Idee basierte auf der
Teleskope mit dafür empfindlichen Detektoren lassen uns Erkenntnis, dass Galaxien mit aktiven Schwarzen Löchern
daher gewissermaßen durch den Schleier blicken und die im Zentrum oft verzerrt aussehen, was auf eine vergangene
frühesten Stadien der Sternentstehung und das Wachstum Kollision hinweisen könnte.
supermassereicher Schwarzer Löcher untersuchen. Der Gedanke von einer Verwandtschaft zwischen leucht-
Mit IRAS gelang die Entdeckung vieler solcher stellarer kräftigen Infrarotgalaxien und Quasaren lieferte ein über-
Kinderstuben in der Milchstraße und in tausenden weiteren prüfbares Modell, das zu weiteren Nachforschungen anreg-
Galaxien. Das verbesserte unser Verständnis von Kollisio- te. Theorien können nun besser den enormen Einfluss

CHARLOTTESVILLE/NRAO/STONY BROOK UNIVERSITY), K. NOLL (STSCI),


NASA, ESA, THE HUBBLE HERITAGE TEAM (STSCI/AURA)-ESA/HUBBLE

CC BY 4.0 (CREATIVECOMMONS.ORG/LICENSES/BY/4.0/LEGALCODE)
J. WESTPHAL (CALTECH) (ESAHUBBLE.ORG/IMAGES/HEIC0810AA/) /
nen in zweierlei Hinsicht erheblich. Erstens ermöglichte erfassen, den Zusammenstöße auf die Entwicklung von

COLLABORATION AND A. EVANS (UNIVERSITY OF VIRGINIA,


IRAS genaue Messungen der bei den Vorgängen freigesetz- Galaxien insgesamt hatten. Die Rolle von Kollisionen für die
ten Energie und zeigte, dass verschmelzende Galaxien zu
den leuchtkräftigsten Objekten im Weltall gehören. Zwei-
tens machte IRAS die Prozesse anhand ihrer Infrarot­ WECHSELWIRKENDE GALAXIEN Diese Zusam­
emission bis in große Entfernungen sichtbar und gestattete menstellung verschiedener Aufnahmen des
damit die erste präzise Zählung von Galaxienkollisionen ­Weltraumteleskops Hubble zeigt die Formenvielfalt
über ausgedehnte kosmische Zeitskalen. Das Licht einiger bei kosmischen Aufeinandertreffen.
der Ereignisse begann sich zu verbreiten, als das Universum
gerade einmal ein Fünftel seines heutigen Alters hatte. Bei
manchen Galaxienzusammenschlüssen entfallen mehr als
90 Prozent der nach außen abgestrahlten Leistung auf den
Bereich des sehr langwelligen Infraroten. Optischen Teles-
kopen bleibt die wahre Natur der Vorgänge völlig ver­
borgen.

Die Strahlkraft von Milliarden Sonnen


IRAS enthüllte eine Klasse von Galaxien, die als leuchtkräfti-
ge Infrarotgalaxien bezeichnet werden (luminous infrared
galaxies, kurz LIRGs). Dabei handelt es sich häufig um
Verschmelzungen. Die Objekte scheinen im Infrarotbereich
besonders intensiv und geben hier etwa das Leistungs­
äquivalent von 100 Milliarden Sonnen ab. Noch seltener und
spektakulärer sind ultraleuchtkräftige Infrarotgalaxien
(ULIRGs), die zehnmal mehr Infrarotenergie produzieren,
also die Leuchtkraft von einer Billion Sonnen haben.
In den späten 1980er Jahren stellten Astronomen eine
Verbindung zwischen den Kernen kollidierender Galaxien zu
einer anderen Klasse von Himmelskörpern her, den Quasa-
ren. Diese sind die hellsten Objekte im Universum und

16 Spektrum der Wissenschaft  3.22


4,750 Milliarden Jahre 4,875 Milliarden Jahre 5,000 Milliarden Jahre
NASA, ESA; VISUALIZATION: FRANK SUMMERS
(STSCI); SIMULATION: GURTINA BESLA (COLUMBIA
UNIVERSITY), ROELAND VAN DER MAREL (STSCI)

kosmische Energiebilanz ist kaum zu überschätzen. Mehr einer Entfernung von 1,3 Milliarden Lichtjahren. Unser
als die Hälfte der Strahlung, die Sterne in der Geschichte Team nutzt außerdem zahlreiche weitere Teleskope. Dazu
des Universums jemals erzeugt haben, wurde durch Staub gehören bodengebundene wie das Very Large Array (VLA)
in Infrarotlicht umgewandelt. in New Mexico, das Fünf-Meter-Teleskop Hale am Mount
2004 haben wir gemeinsam mit vielen weiteren Kolle­ Palomar in Kalifornien, die beiden zehn Meter großen
ginnen und Kollegen den Great Observatories All-Sky LIRG Keck-Teleskope auf Hawaii und das Atacama Large Millime-
Survey (GOALS) ins Leben gerufen. Die Beobachtungs­ ter/submillimeter Array (ALMA) in Chile. Wir verwenden
kampagne trägt Bilder und spektrometrische Daten kollidie- darüber hinaus Daten des von 2009 bis 2013 betriebenen
render Galaxien von den drei Weltraumteleskopen Spitzer, europäischen Herschel-Infrarotsatelliten und des NASA-
Hubble und Chandra zusammen. Der bis 2020 betriebene Röntgenteleskops NuSTAR, das sehr energiereiche Strah-
J. WESTPHAL (CALTECH) (ESAHUBBLE.ORG/IMAGES/HEIC0810AA/) / CC
CHARLOTTESVILLE/NRAO/STONY BROOK UNIVERSITY), K. NOLL (STSCI),
NASA, ESA, THE HUBBLE HERITAGE TEAM (STSCI/AURA)-ESA/HUBBLE

Satellit Spitzer fotografierte das Infrarote, Hubble erstellt lung einfängt.


BY 4.0 (CREATIVECOMMONS.ORG/LICENSES/BY/4.0/LEGALCODE)
COLLABORATION AND A. EVANS (UNIVERSITY OF VIRGINIA,

Aufnahmen rund um den optischen Wellenlängenbereich, GOALS hat unser Wissen über Galaxienkollisionen be-
und Chandra ist für Röntgenstrahlung empfindlich. reits erheblich erweitert. Lange war beispielsweise un­
Gemeinsam bieten alle Instrumente also einen breit geklärt, was mehr zum ausgesandten Licht beiträgt: junge
gefächerten Blick auf die Vorgänge während Galaxienkolli- Sterne oder aktive Schwarze Löcher. Für eine Antwort
sionen. Die GOALS-Sammlung umfasst die hellsten der muss man die jeweiligen Anteile zu verschiedenen Zeit-
leuchtkräftigen Infrarotgalaxien in unserer kosmischen punkten während einer Verschmelzung unterscheiden.
Umgebung. Das sind mehr als 200 solcher Objekte bis zu Hierfür bietet es sich an zu untersuchen, wie viel Energie
die beiden Arten von Objekten bei den unterschiedlichen
Wellenlängen freisetzen. Sterne sind in der Hinsicht recht
einfache thermische Strahlungsquellen. Das Maximum
ihrer Emission liegt bei einer bestimmten Wellenlänge, die
von ihrer Temperatur abhängt, und bei kürzeren und län­
geren Wellenlängen fällt die abgegebene Energiemenge
sehr schnell ab. Im Gegensatz dazu ist die Energie in der
ausgedehnten und wirbelnden Akkretionsscheibe, die ein
Schwarzes Loch mit Materie versorgt, viel breiter verteilt.
Die Hitze nimmt in Richtung des Ereignishorizonts des
Schwarzen Lochs allmählich zu und ist über einen weiten
Wellenlängenbereich verschmiert. Es gibt einen viel größe-
ren Anteil an besonders energiereicher Strahlung, die
überdies Elektronen aus den Elementen im umgebenden
Gas schlagen kann. Wenn man die Signale dergestalt
ionisierter Atome im Emissionsspektrum einer Galaxie
findet, ist das ein eindeutiges Indiz dafür, dass sich im
Zentrum ein supermassereiches Schwarzes Loch befindet,
das von einer Akkretionsscheibe gespeist wird.
Der Auswertung von GOALS zufolge sind über die
gesamte Population der leuchtkräftigen Infrarotgalaxien
hinweg Starbursts eine wichtigere Energiequelle als

Spektrum der Wissenschaft  3.22 17


5,125 Milliarden Jahre 5,250 Milliarden Jahre 5,375 Milliarden Jahre

NASA, ESA; VISUALIZATION: FRANK SUMMERS (STSCI); SIMULATION: GURTINA


BESLA (COLUMBIA UNIVERSITY), ROELAND VAN DER MAREL (STSCI)
Schwarze Löcher. Etwa ein Fünftel aller analysierten Katalogisierung). Bei genauen Untersuchungen des mole-
LIRGs scheinen aktive supermassereiche Schwarze Löcher kularen Gases im Zentrum mit ALMA hat sich gezeigt, dass
zu beherbergen, aber selbst in jenen Galaxien verursachen seine Menge dem Gasmaterial mehrerer Milchstraßen
Sterne einen beträchtlichen Anteil der abgegebenen entspricht. Überdies beschränkt es sich auf eine Region mit
­Energie. Möglicherweise übersehen wir dabei allerdings einem Durchmesser von nicht mehr als 3000 Lichtjahren,
Schwarze Löcher, die so tief unter Staub begraben sind, was um den Faktor 20 kleiner ist als die Ausdehnung der
dass sie selbst im Infraroten nicht zu erkennen sind. Gasscheibe unserer Galaxis.
­Tendenziell sehen wir Schwarze Löcher eher in den späten Galaxienzusammenschlüsse sind also gewaltige Stern­
Stadien einer galaktischen Verschmelzung aufleuchten, fabriken. Doch die entstehenden Sterne haben mitunter
was nahelegt, dass ihr Wachstum hinter der Sternentste- eine überraschend kurze Lebensdauer. Anhand von Daten
hung zurückbleibt. So hätten Starbursts schlicht mehr Zeit, des Hubble-Weltraumteleskops ließ sich ein dramatischer
zur gesamten Energieabstrahlung beizutragen. Es ist Abfall der Anzahl der Sternhaufen in Abhängigkeit von
­Gegenstand zahlreicher aktueller Forschungsarbeiten, die deren Alter feststellen. Das lässt sich damit erklären, dass
genauen Zeitskalen herauszufinden, auf denen Sterne viele Sterne schon kurz nach ihrer Geburt wieder auseinan-
hervorgehen und die zentralen supermassereichen Schwar- dergerissen werden, entweder von den Gezeitenkräften
zen Löcher größer werden. Das könnte helfen, ein Rätsel zu der Gravitation oder von der Wucht benachbarter Stern­
lösen, das sich im Lauf der letzten zwei Jahrzehnte als sehr explosionen.
hartnäckig herausgestellt hat: Bei Galaxien beträgt das
Verhältnis der Masse des zentralen Schwarzen Lochs zur Die kräftigsten Stürme des Universums
Masse der Sterne im Bulge relativ einheitlich grob 1 zu 1000. Nicht nur der Gasvorrat in den Sternhaufen wird auf diese
Die genauen Ursachen dafür sind unklar. Weise weggefegt. Sogar die ganze galaktische Verschmel-
Weitere jüngste Erkenntnisse stammen aus der Ver­ zung kann durch ausgestoßene Energie von Supernovae
messung des Gases, das die massereichsten Sterne und den Schwarzen Löchern im Zentrum ausgebremst
in kollidierenden Galaxien erhitzen. Der Großteil der neu werden und sich tief greifend verändern. Es kommt zu
gebildeten Sterne in LIRGs konzentriert sich auf extrem regelrechten Stürmen ionisierten Gases aus den kollidieren-
kompakte Starburst-Regionen. Diese Gebiete weisen Stern- den Galaxien heraus. Erste Belege für solche Vorgänge gab
entstehungsraten und Gasdichten auf, die um mindestens es in den frühen 1990er Jahren bei einigen LIRGs und
das Zehnfache höher sind als in normalen Galaxien. Zu ULIRGs. Anschließenden Untersuchungen zufolge kommen
Beginn des Verschmelzungsprozesses befinden sich die derlei »Superwinde« häufig vor, und die schnellsten von
aktivsten Sternentstehungsgebiete in der Regel in den ihnen können sogar der Anziehung der Galaxien dauerhaft
Außenbereichen der LIRGs. Im weiteren Verlauf verlagern entkommen und Materie in den intergalaktischen Raum
sich die Starbursts jedoch in Richtung der verschmelzenden schleudern.
Kerne, da Gas aus den Spiralarmen ins Zentrum stürzt. Galaktische Superwinde können sowohl heißes als auch
Interessanterweise steigt bei ausgesprochen heftigen kaltes atomares und molekulares Gas enthalten, und zwar
Kollisionen die Menge an molekularem Gas gegen Ende so in enormen Mengen. Die Ströme erstrecken sich oft über
stark an, dass der ganze Zentralbereich einer gigantischen 10 000 Lichtjahre und führen manchmal mehr Material mit
Molekülwolke ähnelt. Ein Paradebeispiel für das Phänomen sich, als gleichzeitig in den Kernen zu Sternen wird. Das
ist die mit einem Abstand von 250 Millionen Lichtjahren entzieht der Galaxie den Baustoff für die weitere Sternbil-
nächstgelegene ultraleuchtkräftige Infrarotgalaxie Arp 220 dung. Zudem transportieren die Winde schwerere Elemen-
(der Name stammt aus der von Halton Arp angefertigten te und Staub. In fast allen Fällen scheinen sie in der Nähe

18 Spektrum der Wissenschaft  3.22


5,500 Milliarden Jahre 5,625 Milliarden Jahre 5,750 Milliarden Jahre
NASA, ESA; VISUALIZATION: FRANK SUMMERS (STSCI); SIMULATION: GURTINA
BESLA (COLUMBIA UNIVERSITY), ROELAND VAN DER MAREL (STSCI)

des Zentrums zu entstehen, angetrieben durch die kombi- über die Sternentstehung in den staubigen Kernen von
nierte Wirkung von Supernovae, Strahlungsdruck und stark LIRGs herauszufinden, die mit optischen Wellenlängen
gebündelten Gasströmen (»Jets«) aus dem Schwarzen nicht zu untersuchen ist.
Loch. Die Superwinde spielen für den Lebenszyklus von Außerdem gibt es Pläne, das aus 27 Schüsseln beste-
Galaxien vermutlich eine wichtige Rolle und hängen ursäch- hende Very Large Array in New Mexico bis Anfang der
lich wohl mit den gleichen Rückkopplungsmechanismen 2030er Jahre zu einem Radioteleskop der nächsten Gene-
zusammen, die auch die Sternentstehung im Zentrum ration aufzurüsten, das insgesamt 263 Antennen für
begrenzen. Wellenlängen im Radio- und Millimeterbereich besitzt. Es
Viele Detailfragen über die Prozesse während Galaxien- könnte daraufhin Sternentstehungsgebiete, aktive
kollisionen dürfte das James-Webb-Weltraumteleskop ­Schwarze Löcher und das Licht von explodierenden Ster-
(JWST) demnächst klären. Der Infrarotsatellit mit einem nen mit zehnfach besserer Empfindlichkeit und Auflösung
Spiegeldurchmesser von 6,5 Metern soll nach seinem erfassen.
erfolgreichen Start am 25. Dezember 2021 der wissen- Solche eingehenderen Beobachtungen werden in
schaftliche Nachfolger von IRAS und Spitzer werden. Das Kombination mit immer leistungsfähigeren Computersimu-
JWST wird mindestens 50-mal empfindlicher sein und eine lationen in den kommenden Jahren viel mehr über die
fast zehnmal höhere räumliche Auflösung bieten als Spitzer astrophysikalischen Vorgänge bei der Verschmelzung von
und entsprechend schärfere Bilder von Galaxien im nahen Galaxien verraten, sowohl in unserer kosmischen Nachbar-
und mittleren Wellenlängenbereich des Infraroten liefern. schaft als auch im frühen Universum. Gravitations­
Außerdem wird der Satellit dank eingebauter Spektrometer wellendetektoren werden ebenfalls dazu beitragen, indem
das Licht aus Sternentstehungsgebieten und der Umge- sie die charakteristischen Signaturen sich vereinigender
bung der Akkretionsscheiben supermassereicher Schwarze supermassereicher Schwarzer Löcher bis in die entlegens-
Löcher genauestens vermessen können. ten Bereiche des Kosmos nachweisbar machen. Ein stän-
Unser GOALS-Team erhält bereits in den ersten Monaten dig wachsendes und immer detailreicheres Verzeichnis der
nach der Inbetriebnahme des JWST die Chance zur Beob- Phänomene wird uns nicht zuletzt das Schicksal besser
achtung vier nahe gelegener leuchtkräftiger Infrarotgalaxi- verstehen lassen, das unserer Milchstraße in ferner Zu-
en. Andere Arbeitsgruppen werden mit dem Observatorium kunft bevorsteht. 
beispielsweise weit entfernte Quasare anvisieren und die
Tiefen des Alls nach den ersten Galaxien durchsuchen. Die
Objekte, die wir für GOALS so früh in den Blick nehmen, QUELLEN
sind bereits für intensive Starbursts und aktive Schwarze Hayward, C. C., Hopkins, P. F.: How stellar feedback simulta-
Löcher in ihrem Zentrum bekannt. Sie befinden sich in den neously regulates star formation and drives outflows. MNRAS
typischen Wirren einer Kollision und verlieren Gas durch 465, 2017
Winde. Diese Galaxien werden uns als wertvolle Studien­ Larson, K. L. et al.: Star-forming clumps in local luminous
objekte dienen und uns hoffentlich besser verstehen lassen, infrared galaxies. The Astrophysical Journal 888, 2020
wie all die Prozesse schon im frühen Universum begonnen Linden, S. et al.: Massive star cluster formation and destruc-
haben. Jenseits der allerersten Beobachtungspläne wurden tion in luminous infrared galaxies in GOALS II: An ACS/WFC3
für spätere Betriebsphasen des Teleskops mehrere andere survey of nearby LIRGs. ArXiv, 2110.03638, 2021
Projekte ausgewählt, die sich etwa mit den Rückkopplungs- U, V. et al.: Keck OSIRIS AO LIRG analysis (KOALA): Feedback
mechanismen zwischen jungen Sternhaufen und aktiven in the nuclei of luminous infrared galaxies. The Astrophysical
Schwarzen Löchern beschäftigen oder versuchen, mehr Journal 871, 2019

Spektrum der Wissenschaft  3.22 19


FORSCHUNG AKTUELL
KREBSMEDIZIN
TUMOREN ZAPFEN DIE KRAFTWERKE
DES IMMUNSYSTEMS AN

SAHA, T. ET AL.: INTERCELLULAR NANOTUBES MEDIATE MITOCHONDRIAL TRAFFICKING BETWEEN CANCER AND IMMUNE CELLS. NATURE NANOTECHNOLOGY, 2021
Krebszellen nutzen viele Möglichkeiten, um die Körperabwehr zu überlisten. Eine
neue Studie zeigt: Sie stehlen den Immunzellen sogar die Energieversorgung.


Krebszellen überlisten die Körper­ schen. Beim Tumormaterial handelte mikroskop untersuchten, zeigte sich,
abwehr, indem sie dem Immun­ es sich größtenteils um Zelllinien, dass die Krebszellen feine tentakel­
system die Energie entziehen und die in der biomedizinischen For­ ähnliche Fortsätze ausstrecken, mit
für sich selbst nutzen. Das gelingt schung als etablierte Modellsysteme denen sie die Immunzellen berühren.
ihnen mit Hilfe winziger »Tentakel«, dienen und ursprünglich aus Wuche­ Diese Mini-Fangarme, auch »Nano­
mit denen sie die Immunzellen buch­ rungen des Brustdrüsengewebes, tubes« genannt, sind meist dünner
stäblich auspumpen. Über diesen der Lunge und der Haut stammen. als ein Mikrometer (millionstel Meter)
Mechanismus berichtet ein Team um Die Immunzellen – natürliche Killer­ und können bis zu 100 Mikrometer
den Mediziner Shiladitya Sengupta zellen sowie T-Lymphozyten – hatten lang werden. Mit den Tentakeln
von der Harvard Medical School. eine davon unabhängige Herkunft: saugen die Krebszellen komplette
Die Forscherinnen und Forscher Das Team entnahm sie anderen Mitochondrien aus den Immunzellen
experimentierten mit Laborkulturen, Tieren als denen, von denen das und nehmen sie in sich auf. Das
in denen Krebs- zusammen mit Tumormaterial kam. fanden die Forscher mittels eines
Immunzellen wuchsen. Dabei nutzten Als die Wissenschaftler die Zell­ Farbstoffs namens »MitoTracker
sie Zellen aus Mäusen und Men­ kulturen mit einem Rasterelektronen­ Green« heraus, der grün fluoresziert

T-Zelle

Nanotube

Nanotube

T-Zelle

Krebszelle
4 Mikrometer

20 Spektrum der Wissenschaft  3.22


und sich fest an Proteine in den Tumorzellen unter die Haut und stellte wurde (bei gleich bleibender Inhibi­
Mitochondrien bindet. fest: Acht Tage später hatten die tor-Menge). Nach Angaben der
Mitochondrien sind Organellen, Krankheitserreger Mitochondrien in Forscher vertrugen die Mäuse die
die ihre Wirtszellen mit energie­ sich aufgenommen, die aus Immun­ Behandlung gut, auch bei den hohen
reichen Molekülen versorgen und zellen der Tiere stammten. Hinderte Dosierungen.
deshalb als »Kraftwerke der Zelle« das Forscherteam die Krebszellen mit Sengupta und sein Team hoffen,
gelten. Die Krebszellen haben einen Hilfe der Chemikalie L-778123 daran, dass sich aus diesen Erkenntnissen
handfesten Nutzen davon, sie zu tentakelähnliche Fortsätze auszubil­ ein neuer Ansatz für die klinische
stehlen, wie das Team nachwies: den, dann kam es deutlich seltener Krebstherapie entwickeln lässt.
Erstens schwächen sie damit die zum Mitochondrien-Klau – und die »Unsere Beobachtungen deuten
­Körperabwehr, zweitens stärken sie Tumoren, die in den Mäusen heran­ darauf hin: Hindert man Tumorzellen
ihre eigene Energieversorgung wuchsen, fielen merklich kleiner aus. daran, diese tentakelähnlichen
und gedeihen besser. So ergaben L-778123 schränkt die Fähigkeit von ­Fortsätze auszubilden, und kombi­
die Versuche der Forscher, dass Zellen ein, ihr Zytoskelett umzubauen, niert das mit bereits existierenden
die Tumorzellen nach dem Mito­ und erschwert es ihnen damit, ihre Krebs­immuntherapien, könnte das
chondrien-Diebstahl mehr Sauerstoff Gestalt zu ändern. die Behandlungsergebnisse verbes­
pro Zeiteinheit verwerteten und ein sern«, sagt der Mediziner Tanmoy
deutlich gesteigertes Wachstum an Die Hemmung der Hemmung Saha, einer der beteiligten Wissen­
den Tag legten. Die beraubten Es ist schon lange bekannt, dass sich schaftler.
­Immunzellen dagegen zeigten eine Krebszellen der Körperabwehr auf Der Tumorexperte Alpaslan
verminderte Atmungs­aktivität und diverse Weise entziehen. Häufig tun ­Tasdogan von der Universität Duis­
starben zum Teil ab. sie das, indem sie so genannte Im­ burg-Essen, der an der Studie
Nicht nur unter Kulturbedingungen, muncheckpoints betätigen – das sind nicht mitwirkte, schätzt sie als einen
sondern auch im lebenden Organis­ Rezeptormoleküle auf Immunzellen, wichtigen Beitrag ein: Nicht alle
mus eignen sich Krebszellen die die die Abwehrreaktion regulieren. Immunzellen, die in einen Tumor
Energielieferanten der Körperabwehr Krebszellen stellen oft Moleküle her, eindringen, würden überleben,
an, wie Sengupta und seine Kollegen die passgenau an diese Checkpoints sondern nur jene, die hinsichtlich
nachwiesen. Das Team spritzte Ver­ koppeln und dadurch die Immunreak­ des Stoffwechsels an die Tumor­
suchsmäusen verschiedene Arten von tion dämpfen. Mediziner versuchen umgebung adaptiert seien. Indem die
das zu vermeiden, indem sie Substan­ Krebszellen diesen die Mitochondrien
zen namens Immuncheckpoint-Inhibi­ stehlen, könnten sie sich selbst
toren verabreichen (siehe Spektrum anpassen und optimieren. Das zu
Krebszell-Tentakel 8/2014, S. 30). Diese Stoffe sollen die
Krebszellen daran hindern, die körper­
verhindern, indem man die Tentakel­
bildung der Krebszellen unterbindet,
in Aktion eigene Abwehr auszuschalten. Leider hält Tasdogan für einen viel verspre­
wirken sie nicht bei allen Patienten chenden Ansatz. »Allerdings fehlt es
Ein tentakelähnlicher Fortsatz, gleich gut, weshalb Forscherinnen hierfür noch an einer Substanz, die
auch als »Nanotube« bezeichnet, und Forscher nach weiteren Metho­ hinreichend spezifisch wirkt – worauf
­erstreckt sich von einer Krebs- den suchen, um Tumoren von einer die Autoren der Studie selbst hinwei­
zu einer Immunzelle (links im Bild, Manipulation des Immunsystems sen«, betont der Mediziner. 
elektronenmikroskopische Auf­ abzuhalten. Frank Schubert ist promovierter Bio­
nahme). Durch solche Schläuche In diesem Sinne versuchte die physiker und Redakteur bei »Spektrum
hindurch rauben Krebszellen die Arbeitsgruppe um Shiladitya Sengup­ der Wissenschaft«.
Mitochondrien von Immun­zellen. ta, ihre neuen Erkenntnisse therapeu­
Grün leuchtende Fluoreszenz­ tisch zu nutzen. Dazu experimentierte
QUELLEN
farbstoffe machen sichtbar, wie sie mit Mäusen, die dazu neigen,
die Mitochondrien durch die Brustkrebs zu entwickeln. Die Tiere Kulkarni, A. et al.: A designer self-­
Fortsätze wandern (rechts im bekamen entweder die Chemikalie assembled supramolecule amplifies
macrophage immune responses
Bild, lichtmikroskopische Aufnah­ L-778123 oder einen Immuncheck­
against aggressive cancer. Nature
me). Dass es sich hierbei tat­ point-Inhibitor oder beide zusammen Biomedical Engineering 2, 2018
sächlich um die »Kraftwerke der in unterschiedlicher Dosierung. Es
Saha, T. et al.: Intercellular nanotubes
Zelle« handelt, beweist ein zwei­ zeigte sich: Die kombinierte Behand­ mediate mitochondrial trafficking
ter Fluoreszenzmarker, der blau lung schränkte das Tumorwachstum between cancer and immune cells.
leuchtet und die Mitochondrien- stärker ein als die alleinige Gabe von Nature Nanotechnology 17, 2022
DNA anfärbt. L-778123 beziehungsweise des Inhibi­ Wei, S. C. et al.: Fundamental mecha­
tors. Und dieser Effekt war umso nisms of immune checkpoint blockade
größer, je mehr L-778123 verabreicht therapy. Cancer Discovery 8, 2018

Spektrum der Wissenschaft  3.22 21


FORSCHUNG AKTUELL
TEILCHENPHYSIK
NEUTRINOS SIND NOCH
MYSTERIÖSER ALS GEDACHT
Bisherige Modelle zum Auswerten von Experimenten mit Neutrinos sind überraschend fehlerhaft.
Das zeigte sich nun bei einer Überprüfung der Berechnungen mittels Elektronen.


Unter den bekannten Elementar­ den Teilchen möglich. Genauere einem zweiten, wesentlich weiter
teilchen sind Neutrinos am Vermessungen der Neutrinooszillation entfernten Instrument fest, wie viele an
schwierigsten zu beobachten, könnten Hinweise auf lang gesuchte dieser Stelle noch übrig bleiben (siehe
denn die allermeisten von ihnen durch­ Erweiterungen des Standardmodells »Neutrinooszillation«). Wenn es weni­
dringen jedwede Materie spurlos. geben. Deswegen sollen mehrere ger sind, als durch die normale Auffä­
Extrem selten trifft ein Exemplar auf laufende und geplante Experimente cherung und Verdünnung des Strahls
einen Atomkern und erzeugt bei dem präzisere Daten dazu liefern, wie zu erwarten wäre, muss sich der Rest
Zusammenstoß andere Teilchen. Aus schnell sich ein Neutrino eines Typs in auf der Reise in eine andere Sorte
diesen lassen sich dann indirekt Rück­ das eines anderen umwandelt. umgewandelt haben.
schlüsse auf die ursprünglichen Eigen­ Eine bewährte Strategie dafür ist es,
schaften des unsichtbaren Neutrinos an einem Ort sehr viele Neutrinos Kompliziertes Fährtenlesen
ziehen. Nun deutet jedoch eine Unter­ herzustellen, etwa als Nebenprodukt Wie stark ein Neutrino zwischen ver­
suchung darauf hin, dass das nicht so der Reaktionen in Kernkraftwerken, schiedenen Zuständen oszilliert, hängt
gut funktioniert wie gedacht. und an anderen Stellen auf der Erde von der zurückgelegten Entfernung
Neutrinos gelten als Schlüssel einige davon in Detektoren einzufan­ sowie von seiner Energie ab. Erstere
dafür, Schwächen im so genannten gen. Diese enthalten typischerweise lässt sich leicht messen, Letztere
Standardmodell der Teilchenphysik große Mengen hochreiner Stoffe, bei hingegen nur indirekt bestimmen. Dazu
aufzuspüren. Denn laut jenem dürften denen der gelegentliche Aufprall eines braucht man Modelle über die Wech­
die Objekte theoretisch gar keine Neutrinos auf einen Atomkern einen selwirkung mit einem Atomkern, die
Masse haben. Allerdings ist genau das charakteristischen Lichtblitz oder Art der Teilchen, die dabei entstehen,
zahlreichen Experimenten zufolge aus ähnliche Signale auslöst. Solch ein und die Richtungen, in die sie fliegen.
den letzten Jahrzehnten trotzdem der Labor kann man beispielsweise in der Das ausgeklügelte Formelwerk hilft,
Fall: Die drei bekannten Arten von Nähe eines Atomreaktors bauen und die Signale in den Detektoren zu inter­
Neutrinos wandeln sich ineinander messen, wie viele Neutrinos der dort pretieren und auf die Energie des
um, und derlei quantenmechanische erzeugten Art hindurchlaufen. In auslösenden Neutrinos zu schließen.
»Oszillationen« sind nur Masse tragen­ gleicher Richtung stellt man dann mit Doch es ist praktisch schwer überprüf­

Neutrinooszillation L
Detektor 1 Detektor 2
Neutrinos kommen in drei Arten vor und Neutrino-
quelle
können sich ineinander umwandeln.
Wenn eine Quelle Teilchen einer be­
stimmten Sorte erzeugt (etwa ein Kern­
reaktor oder ein spezialisierter Beschleuniger),
schwankt die Wahrscheinlichkeit, sie auf ihrem
Weg weiterhin in diesem Zustand anzutreffen –
je nachdem, welche Strecke L die Neutrinos zurück­
Wahrscheinlichkeit

SPEKTRUM DER WISSENSCHAFT / MIKE ZEITZ

legen und welche Energie sie haben. So misst ein


Detektor unmittelbar beim Entstehungsort eine
andere Zusammensetzung des Strahls als ein zwei­
tes, typischerweise hunderte oder tausende Kilome­
ter entfernt installiertes Gerät. L Strecke

22 Spektrum der Wissenschaft  3.22


bar, wie gut die Modelle für ein be­ aber deutlich leichter kontrollierbare Korrekturen für die unterschiedliche
stimmtes Experiment überhaupt und reichlich verfügbare Teilchen Stärke der Wechselwirkungen.
funktionieren. Schließlich lassen sich benutzt. Den Gedanken hat eine Falls das Modell für die Neutrinos
nicht einfach Neutrinostrahlen mit Gruppe um die US-Teilchenphysikerin­ also deren Ursprungsenergien richtig
bekannter Energie erzeugen, um daran nen Afroditi Papadopoulou und Maria­ ermittelt, sollte es nach entsprechend
die Apparaturen zu kalibrieren und na Khachatryan ausgearbeitet und sorgfältigen Umrechnungen auch für
dann zu schauen, wie exakt die Vor­ geschickt umgesetzt. Im November Elektronen passende Werte liefern. Die
hersagen der Computerprogramme für 2021 berichtete das Team, wie es statt Forscherinnen nahmen sich die Daten
genau diese Energie zutreffen. Viel­ der kaum fassbaren Neutrinos die eines Experiments vor, bei dem am
mehr entstehen Neutrinos etwa wäh­ altbekannten Elektronen zum Über­ Jefferson Lab im US-Bundesstaat
rend der Kernzerfälle in einem Atom­ prüfen der Modelle heranzog. Trotz Virginia systematisch Elektronenstrah­
kraftwerk auf fundamental zufällige aller Unterschiede – Elektronen sind len verschiedener Energien auf Atom­
Weise. Hieraus geht ein breites Spekt­ geladen und wesentlich schwerer – kerne geschossen und die dabei entste­
rum an Energien hervor. sind beide Teilchenarten miteinander henden Teilchen umfassend vermessen
Unter den speziellen Bedingungen verwandt, und Papadopoulou und wurden. Hier waren Helium-, Kohlen­
jedes Versuchsaufbaus müssen die Khachatryan konnten die erwartbaren stoff- und Eisenkerne von Interesse, die
zahlreichen unbestimmten theoreti­ Interaktionen von Neutrino- auf Elek­ mit den Zielobjekten in Neutrinodetek­
schen Parameter angepasst werden, tronenstrahlen umrechnen. toren vergleichbar sind. Auch die
bis die Ergebnisse in sich schlüssig Denn die eigentlichen Schwierigkei­ gewählten Elektronenenergien entspre­
erscheinen. Dort lauern viele Fehler­ ten beim Anwenden der Formeln chen denen typischer Neutrinoexperi­
quellen, die für Unsicherheiten bei der stecken im Verhalten der Bestandteile mente. Außerdem beschränkten die
Interpretation der Daten sorgen. des getroffenen Atomkerns. Doch Physikerinnen ihre Analyse auf einfach
Es wäre praktisch, wenn man die dieses ist in beiden Fällen mathema­ zu interpretierende Ereignisse, um
Grenzen der gängigen Modelle auslo­ tisch ähnlich, egal, mit welchem mögliche Fehlerquellen zu reduzieren.
ten könnte, indem man dafür als Mitglied der Teilchenfamilie die Kerne Trotz des beträchtlichen Aufwands
Alternative zu Neutrinos vergleichbare, beschossen wurden, abgesehen von war die Bilanz ernüchternd: Die Model­

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Spektrum der Wissenschaft  3.22 23


FORSCHUNG AKTUELL
le schnitten sehr schlecht dabei ab, chen der Diskrepanz gilt es nun zu Auswertung zu beseitigen. Sonst
innerhalb eines Toleranzkorridors von ergründen, damit die Modelle zuverläs­ verschwindet die eigentlich angestrebte
fünf Prozent die korrekten Energien siger werden. Das sei gerade jetzt Präzision unter dicken Fehlerbalken und
der Elektronenstrahlen zu liefern. Das wichtig, betont das Team mit Blick auf lässt unnötig vieles von den ohnehin
gelang insgesamt bei weniger der geplante Untersuchungskampagnen mysteriösen Neutrinos im Dunklen. 
Hälfte der Ereignisse, bei den Kohlen­ mit diversen im Bau befindlichen Mike Zeitz ist Physiker und Redakteur bei
stoffkernen nur in etwa einem Drittel Großanlagen: »Nun, da wir in eine Ära »Spektrum«.
aller Fälle, beim Eisen nicht einmal zu der Präzisionsmessungen an Neutrinos
einem Viertel. eintreten, wird es entscheidend sein,
Das theoretische Verständnis von die Modelle ebenso genau und zuver­ QUELLE
den Wechselwirkungen der Neutrinos lässig zu machen.« Denn je besser die
Khachatryan, M. et al.: Electron-beam
ist offenbar selbst in jenen Bereichen Rohdaten von zukünftigen Detektoren energy reconstruction for neutrino
ausbaufähig, die bislang recht gut werden, desto wichtiger ist es, Unge­ oscillation measurements. Nature 599,
erfasst schienen. Die genauen Ursa­ nauigkeiten in den Modellen zu deren 2021

INFORMATIONSTHEORIE
DEN ZUFALL BEZWINGEN
Dank hochdimensionaler Graphen ist es einem
Forscherteam gelungen, einen lang gesuchten
Code zu entwickeln. Dieser gibt sofort preis,
ob eine Nachricht bei der Übertragung durch

SAMUEL VELASCO / QUANTA MAGAZINE; BEARBEITUNG: SPEKTRUM DER WISSENSCHAFT


Rauschen beschädigt wurde.


Angenommen, Sie möchten eine hat die Informatikerin Irit
Nachricht übermitteln. Sie wan­ Dinur vom Weizmann
deln dafür jedes Zeichen in eine Institute of Science zusam­
Folge von Bits um, die Sie in Form men mit den vier Mathema­
eines Signals über Kupferleitungen, tikern Shai Evra, Ron Livne,
Glasfaser oder Luft versenden. Doch Alex Lubotzky und Shahar Mozes,
egal wie sehr Sie sich bemühen, wird alle von der Hebräischen Universität
der Code, der auf der anderen Seite Jerusalem, in einer noch nicht begut­
ankommt, nicht exakt mit den ur­ achteten Arbeit erstmals einen sol­ Ein Sinnbild
sprünglichen Daten übereinstimmen. chen Test gefunden. Mit ihrer Metho­ des Zufalls
Durch Rauschen entstehen bei der de verwandelt man eine Nachricht in
Übermittlung zwangsweise Fehler. ein Objekt, das seinen Zustand be­ Expander-Graphen entste­
In den 1940er Jahren haben sich zeugt. Jede Verfälschung wird durch hen, wenn man die Punkte
Fachleute erstmals mit diesem Prob­ einfache Prüfungen sichtbar. eines Netzwerks willkürlich
lem auseinandergesetzt. Fünf Jahr­ Frühere Codierungsmethoden miteinander verbindet. Diese
zehnte später kamen sie auf eine stützten sich meist auf Zufälligkeit. Bei Eigenschaft macht sie zu
interessante Idee: Sie suchten nach der lokalen Testbarkeit konnte der geeigneten Objekten, um auf
einer Codierung, aus der sich sofort Zufall aber nicht helfen, stattdessen Zufälligkeit basierende Codes
klar erkennen lässt, ob eine Nachricht brauchte man eine völlig neue Art von zu erzeugen.
verändert wurde – ohne dass der Graph. »Es ist eines der bemerkens­
Zwei grundlegende Eigenschaften
Empfänger sie vollständig lesen muss. wertesten Phänomene, von denen ich von Expandern
Diese Eigenschaft nennen sie »lokale in der Mathematik oder Informatik
Dünnheit
Testbarkeit«, denn man sollte die weiß«, so Tom Gur von der University
Jeder Punkt hat nur wenige direkte
Unversehrtheit an nur wenigen Stellen of Warwick. »Es ist der heilige Gral Nachbarn.
extrem schnell prüfen können. eines ganzen Fachgebiets.« Verbundenheit
In den folgenden 30 Jahren gab es Rauschen ist in der Kommunikation Die Punkte sind gut verbunden, es
zwar erhebliche Fortschritte auf dem allgegenwärtig. Um es systematisch gibt keine Engpässe.
Gebiet, aber die Bemühungen blieben zu analysieren, stellt man Informatio­
erfolglos – bis jetzt. Im November 2021 nen als eine Folge von Bits (Einsen

24 Spektrum der Wissenschaft  3.22


und Nullen) dar. Das Rauschen ent­ 1990 entstand schließlich die Idee
spricht dann einer zufälligen Störung, der lokalen Testbarkeit. Dabei ging es
die bestimmte Folgenglieder umkehrt. nicht mehr primär darum, mit Rau­ Einen Graph
Es gibt viele Arten, damit umzugehen. schen umzugehen, sondern darum,
codieren

SAMUEL VELASCO / QUANTA MAGAZINE; BEARBEITUNG: SPEKTRUM DER WISSENSCHAFT


Wenn man etwa die kurze Nachricht überhaupt herauszufinden, ob eine
»01« versenden möchte, kann man Nachricht verfälscht wurde. In man­
Redundanz schaffen, indem man jedes chen Anwendungen ist es notwendig ungerade
Bit dreimal wiederholt: 000111. Wird (etwa wenn man ein Passwort aus­
das zweite und sechste Bit beschädigt, tauscht oder Daten auf einem Server
wandelt sich der Code zu 010110. Ein liegen), zu überprüfen, ob ein Code­
Empfänger kann die Fehler aber korri­ wort beschädigt ist, bevor man es
gieren, wenn er jeweils die Mehrheit vollständig entschlüsselt. Allerdings gerade

der Bits in den Dreierblöcken als erwies es sich als schwierig, lokale
eigentliche Ziffer versteht. Testbarkeit umzusetzen. Um zu prüfen, ob ein Wort
Eine solche Änderung einer Folge Um das zu verstehen, kann man fehlerbehaftet ist, kann man
ist eine Art der Codierung. Da sie in sich eine Nachricht als Graphen vor­ Belege einfügen: Diese addie­
dem Fall eine Fehlerkorrektur enthält, stellen. Diese bestehen aus einer ren gewisse Bits auf und neh­
nennt man derartige Varianten fehler­ Sammlung von Punkten, auch Knoten men den Wert 0 an, falls die
korrigierende Codes. Nicht alle Ver­ genannt, die durch Kanten verbunden Summe gerade ist, und andern­
fahren dieser Art sind nützlich. Um gut sind. Dass sich Codes derart darstellen falls 1. Solche »Paritätsbits«
zu funktionieren, müssen sie mehrere lassen, erkannte Richard Hamming verbindet man durch Kanten
Bedingungen erfüllen. Die Wörter zwei Jahre nach Shannons Arbeit. mit jenen Punkten, die den
dürfen sich nicht zu sehr ähneln: Seine Idee war, jede Nachricht mit summierten Bits entsprechen.
Existieren 0000 und 0001, braucht es einer Reihe von Belegen zu versehen,
nur eine Bitänderung an Rauschen, um die der Summe bestimmter Bits ent­
sie zu verwechseln. Außerdem sollten spricht. Ist das Ergebnis gerade, hat
Codewörter nicht zu lang sein, denn der Beleg den Wert null und sonst jeder Knoten ist mit relativ wenigen
obwohl sie dann robuster sind, verlän­ eins, man spricht von einem »Paritäts­ weiteren verbunden. Zugleich sind sie
gert sich die Sendezeit. bit«, den man an bestimmte Stellen in hochzusammenhängend, was bedeu­
Diese zwei Eigenschaften bezeich­ Codewörter einfügt. Ein Empfänger tet, dass es keine Knoten-Engpässe
net man als Abstand und Rate. Ein kann erkennen, ob ein Wort Fehler gibt, durch die nur wenige Kanten
guter Code sollte sowohl einen großen enthält, indem er Summen nachrech­ führen. Jeder Punkt ist also gut mit
Abstand (Unterschied zwischen einzel­ net und mit den Belegen vergleicht. anderen vernetzt – trotz der geringen
nen Wörtern) als auch eine hohe Rate Aus einem solchen Hamming-Code Anzahl an Kanten. Diese Eigenschaft
(Abfolge bei der Übertragung echter lässt sich ein »paarer« Graph erzeugen, machte sie zu idealen Kandidaten für
Informationen) aufweisen. Schon 1948 der zwei Mengen von Punkten mitein­ lokale Testbarkeit. Wählt man die
konnte der renommierte Mathematiker ander verbindet. Man beginnt mit Verbindungen zwischen Knoten zufällig
Claude Shannon beweisen, dass jeder einem bestimmten Codewort: Links aus, entsteht unweigerlich ein Expan­
Code, dessen Wörter zufällig ausge­ stehen untereinander die Knoten, die der-Graph. Damit sind sie eine Quelle
wählt werden, einen nahezu optimalen den Bits des Worts entsprechen. Diese unverfälschten Zufalls, was sie zu
Kompromiss zwischen den beiden ordnet man den »Paritätsknoten« natürlichen Bausteinen für die von
Merkmalen aufweist. Eine völlig zufälli­ rechts zu, also den Belegen. Man Shannon erwähnten Codes mit optima­
ge Auswahl würde jedoch zu einem verbindet die Belege mit den zugehöri­ ler Rate und optimalem Abstand macht.
unvorhersehbaren Wörterbuch führen, gen Bits, die in der Summe auftau­ Sipser und Spielman fanden heraus,
das extrem schwer zu überblicken chen. Dadurch entsteht ein paarer wie man aus einem paaren Expan­
wäre. Es gibt also geeignete Codes, Graph (siehe »Einen Graph codieren«). der-Graphen einen Code gewinnen
aber keine gut funktionierende Metho­ 1996 nutzten Michael Sipser und kann. Sie erzeugten ein solches Netz­
de, um sie zu erstellen. Daniel Spielman die Methode, um werk, also zwei Reihen von Punkten,
Daher arbeiteten Informatikerinnen einen Code aus einem so genannten die sie willkürlich miteinander verban­
und Informatiker die nächsten 40 Jah­ Expander-Graphen zu gewinnen. Ihr den. Die Knoten auf der linken Seite
re daran, Ansätze für die Anordnung Ergebnis bot zwar keine lokale Testbar­ entsprachen dabei kurzen Wörtern aus
von Bits zu finden, die nicht zufällig keit, diente aber als Grundlage für die Hamming-Codes, und rechts befanden
waren. Ihre Ergebnisse wurden in den neueste Arbeit. sich die Belege. Die neuen und länge­
späten 1980er Jahren in allen mögli­ Expander-Graphen zeichnen sich ren Codewörter für Expander-Codes
chen Bereichen zur Fehlerkorrektur durch zwei Eigenschaften aus, die auf erhielten sie, indem sie alle Kanten
angewandt, von CDs bis hin zu Satelli­ den ersten Blick widersprüchlich (denen man ebenfalls Werte wie null
tenübertragungen. erscheinen. Sie sind dünn, das heißt, und eins zuweisen kann), die zu einem

Spektrum der Wissenschaft  3.22 25


FORSCHUNG AKTUELL
Paritätsknoten führen, zusammenfüg­ sind keine bloßen Linien, sondern Qua­ verzweigen sich von jeder Kante aus
ten. Allerdings ist das Ergebnis nicht drate oder Würfel. bis ins Unendliche weiter. Entschei­
lokal testbar. Angenommen, man hat Garlands Graphen besitzen Eigen­ dend ist, dass der komplizierte Graph
ein Codewort aus einem Expander- schaften, die für lokale Testbarkeit ähnliche Eigenschaften wie ein Ex­
Code und entfernt eine Kante zwi­ ideal erscheinen. Anders als ihre pander besitzt, aber strukturierter ist.
schen einem Beleg und einem Bit (was niedrigdimensionalen Varianten Denn: »Was ist das Gegenteil von
der Änderung eines Bits im eigentli­ braucht man keinen Zufall, um sie zu Zufälligkeit? Es ist Struktur«, sagt Evra.
chen Codewort gleichkommt). Der erzeugen. Zudem sind die Knoten so Wie führt dieser Graph zu einem
modifizierte Graph würde dann zu miteinander verbunden, dass sich ihre lokal testbaren Code? Dazu muss man
mehr gültigen Wörtern führen, da es lokalen Merkmale kaum von ihrem sich an gewöhnliche Expander-Gra­
eine Bedingung weniger zu erfüllen globalen Aussehen unterscheiden phen zurückerinnern. Ist darin ein Bit
gibt. Für jemanden, der mit dem lassen. »Wenn man an einem Teil des (eine Kante) fehlerhaft, dann lässt sich
ursprünglichen Code arbeitet, würden Objekts eine winzige Modifikation der Fehler nur durch Überprüfung der
die neuen Wörter die Belege an allen vornimmt, ändert sich alles«, so Gur. Belege an den unmittelbar benachbar­
Knoten bestätigen – mit Ausnahme Lubotzky und Dinur versuchten, auf ten Knoten feststellen. Ist in einem
des einen, an dem die Kante gelöscht Grundlage von Garlands Arbeit einen Links-rechts-Cayley-Komplex ein Bit
wurde. Man muss also erst viele Code zu erzeugen, der die c3-Vermu­ (ein Quadrat) beschädigt, kann man
Stellen auf Fehler prüfen, bevor die tung lösen könnte. Evra, Livne und das von mehreren Punkten aus erken­
Unstimmigkeit auffällt, weshalb sich Mozes, Experten für bestimmte Eigen­ nen, einschließlich einiger, die nicht
Expander-Graphen nicht dazu eignen, schaften hochdimensionaler Expander- einmal direkt miteinander verbunden
lokale Testbarkeit umzusetzen. Graphen, schlossen sich dem Team sind. Somit kann ein Test an einem
Das Problem liegt in der Zufälligkeit an. Doch 2020 steckten sie fest. Denn Knoten Informationen über Fehler an
der Netzwerke. Deshalb suchten die von Garland erdachten Objekte weit entfernten Orten offenbaren.
Fachleute nach einem Weg, diese zu sind extrem kompliziert. Im folgenden Der Code ist damit nicht nur lokal
umgehen. In den 2000er Jahren fand Jahr bemerkten sie allerdings, dass testbar, sondern behält die Rate, den
man bereits einige Beispiele für lokale man auch ohne hochdimensionale Abstand und andere Eigenschaften
testbare Codes, allerdings auf Kosten Expander auskommt. bei – selbst wenn die Codewörter
anderer Eigenschaften wie Rate und wachsen. Somit ist die c3-Vermutung
Abstand. Je größer eine Nachricht Ein raffiniertes Gewirr unendlicher bestätigt. Praktische und theoretische
wurde, desto mehr wuchsen die Verzweigungen Anwendungen sollten bald folgen:
Codewörter oder umso mehr glichen Nun haben die Autoren gezeigt, wie Verschiedene Formen von lokal testba­
sie sich. In einer Welt, in der riesige man die Graphen zu einem neuen ren Codes sind bereits im dezentralen
Datenmengen versendet und gespei­ Netzwerk zusammensetzen kann, der Finanzwesen im Einsatz, wo die jetzt
chert werden, ist das ein Manko. zu einem optimalen, lokal testbaren optimierte Version noch bessere
Die Existenz eines lokal testbaren Code führt. Sie nennen ihr Ergebnis Umsetzungen ermöglichen wird. 
Codes mit optimaler Rate und Entfer­ einen »Links-rechts-Cayley-Komplex«. Mordechai Rorvig ist Journalist, unter
nung, die sich mit der Nachrichten­ Wie in Garlands Arbeit sind dessen anderem bei »New Scientist« und »Quanta«.
größe nicht verändern, wurde als Bausteine keine eindimensionalen
c3-Vermutung bekannt. Die früheren Kanten, sondern Quadrate. Jedes QUELLEN
Erfolge ließen hoffen, man sei einer Informationsbit eines Codeworts wird
Dinur, I. et al.: Locally testable codes
Lösung nah. Doch der Fortschritt einem Quadrat zugeordnet, und die with constant rate, distance, and
verlangsamte sich, und schließlich Quittungen entsprechen den dazuge­ locality. ArXiv 2111.04808, 2021
befürchteten einige, die Hypothese hörigen Ecken und Kanten. Die Knoten
Tanner, R.: A recursive approach to low
könne sich als falsch erweisen. legen also die Werte der Bits fest, die complexity codes. IEEE Transactions on
Ein erster Durchbruch erfolgte 2017, man damit verbinden kann. Information Theory 27, 1981
als Dinur und Lubotzky bei einem Um ein Gefühl dafür zu bekommen,
einjährigen Forschungsprogramm am wie ein solcher Graph aussieht, kann
Israel Institute for Advanced Studies man sich vorstellen, auf einer einzel­ Von »Spektrum der Wissenschaft« übersetz­
zusammenarbeiteten und auf ein nen Kante zu stehen. Jede davon ist te und bearbeitete Fassung des Artikels
»Researchers Defeat Randomness to Create
Ergebnis des Mathematikers Howard mit einer festgelegten Anzahl von
Ideal Code« aus »Quanta Magazine«, einem
Garland aus dem Jahr 1973 stießen. Quadraten verbunden. Von diesem inhaltlich unabhängigen Magazin der
Während gewöhnliche Expander-­ Standpunkt aus wirkt es, als schaue Simons Foundation, die sich die Verbreitung
Graphen aus eindimensionalen Struk­ man aus dem Rücken einer Broschüre von Forschungsergebnissen aus Mathema­
turen bestehen, hatte Garland damals heraus. Befände man sich auf einer tik und den Naturwissenschaften zum Ziel
gesetzt hat.
ein Objekt erdacht, das sich als hoch­ anderen der vier möglichen Kanten
dimensionaler Expander-Graph inter­ eines Quadrats, hätte man einen
pretieren lässt. Dessen Verbindungen vergleichbaren Blick. Die Broschüren

26 Spektrum der Wissenschaft  3.22


SPRINGERS EINWÜRFE
FREUNDLICHE MASCHINEN
Neu eingeführtes Gerät wird nicht automatisch
überall freudig aufgenommen. Die Akzeptanz unge-
wohnter Technik will klug vorbereitet sein.

Michael Springer ist Schriftsteller und Wissenschaftspublizist. Eine Sammlung


seiner Einwürfe ist 2019 als Buch unter dem Titel »Lauter Überraschungen. Was
die Wissenschaft weitertreibt« erschienen.

 spektrum.de/artikel/1974535

O
b ich mir die Zähne mechanisch oder elektrisch chungen als Testpersonen meist Studenten oder
putze, betrachte ich als reine Geschmacks­sache. Firmenangestellte heranzieht. Daraus resultiert der
In einem selbstfahrenden Auto wäre mir aller­ Irrtum, ein Apparat der nächsten Generation würde
dings mulmiger als in einem herkömmlichen. ausnahmslos gut situierten Kunden und gebildeten
Und angesichts einer unbekannten Internetseite Nutzern begegnen.
schwanke ich unsicher zwischen Neugier und Furcht Wozu das führen kann, illustrierte 2016 der Spiel­
vor Datenklau. film »I, Daniel Drake« von Ken Loach. Ein älterer Brite
Längst agieren wir in enger Symbiose mit techni­ auf Jobsuche kommt mit dem volldigitalisierten Ar­
schen Apparaten. Dieses Zusammenleben ist nicht beitsamt überhaupt nicht zurecht. Als ihm jemand rät,
reibungslos; es weckt gemischte Gefühle. Am wohls­ doch einfach das richtige Symbol anzuklicken, presst
ten ist uns, wenn wir das Gerät ganz und gar »beherr­ er die Maus gegen den Bildschirm.
schen«, es routiniert gebrauchen können, als wäre es Im Fall der Gesichtserkennung per Video führt die
ein passives Werkzeug. ethnisch exklusive Auswahl des Testpersonals zum
Doch oft besitzt das Instrument ein Eigenleben. Wir »algorithmischen Vorurteil«: Der Algorithmus identifi­
lassen uns auf ärztlichen Rat in eine laute Röhre ziert zwar Weiße ganz ausgezeichnet, irrt sich aber
schieben, die medizinische Daten über unser Körper­ öfters bei Schwarzen und Asiaten. Übrigens gilt das
inneres sammelt. Das geschieht immerhin aus freien auch umgekehrt. Eine in China oder Südkorea entwi­
Stücken. Wir nehmen mehr oder weniger unwillig hin, ckelte Videoüberwachung liegt bei weißen Gesichtern
dass Videokameras unser Wohlverhalten im öffentli­ häufiger falsch. Das ist die digitale Version des Satzes
chen Raum kontrollieren. »Für mich sehen die alle irgendwie gleich aus«.
All das und noch viel darüber hinaus fällt unter den

D
Ober­begriff Mensch-Maschine-Interaktion (MMI). Ein ie MMI muss insbesondere dort fehlschlagen, wo
Forschungszweig mit ebenjenem Namen untersucht, versäumt wird, die Menschen auf eine eigens für
wie Individuen mit Computern, autonomen Geräten Konfliktsituationen entwickelte Maschine vorzu­
und virtueller Realität zurechtkommen. Selten wird bereiten. Die New Yorker Polizei begann 2020 in
dabei berücksichtigt, dass die digitale Technik auf eine mehreren Stadtteilen einen Roboter einzusetzen, den
höchst heterogene, nach Einkommen, Geschlecht und sie digitalen Hund, kurz Digidog, nannte. Er wurde
ethnischer Zugehörigkeit ausdifferenzierte Gesell­ beispielsweise vorgeschickt, um vor einer möglichen
schaft trifft. Schießerei die Lage zu erkunden. Das künstliche We­
An diesen für die Akzeptanzforschung wichtigen sen sah gruselig aus, es glich eher einer vierbeinigen
Umstand erinnern Tahira Reid und James Gibert, die Giftspinne als einem mechanischen Haustier. Nach
an der Purdue University im US-Bundesstaat Indiana einem Jahr wurde das kostspielige Experiment einge­
Maschinenbau unterrichten. Wie sie betonen, wird stellt, da es, statt zu Entspannung kritischer Situationen
beim Entwickeln und Einführen neuer Technik still­ beizutragen, Entsetzen und Wut verbreitete.
schweigend eine Welt unterstellt, die aus wohlha­ Die Professorin und der Professor für Maschinen­
benden weißen Stadtbewohnern besteht (Science 375, bau – nicht zufällig Afroamerikaner – fordern deshalb,
S. 149–150, 2022). künftig spezielle Gremien einzurichten, die Leitlinien
Das beginnt schon damit, dass man bei akade­ für eine sozial und ethnisch sensibilisierte Mensch-
mischen oder privatwirtschaftlichen MMI-Untersu­ Maschine-Interaktion erarbeiten.

Spektrum der Wissenschaft  3.22 27


MEDIZIN
DER VERSCHLUNGENE
WEG ZUM
RNA-IMPFSTOFF

AUF EINEN BLICK


NÜTZLICHE BOTEN-RNA

1 Die Covid-19-Pandemie hat die Entwicklung von mRNA-


Impfstoffen stark beschleunigt. Neu sind sie aber
nicht: Die Forschung an ihnen reicht Jahrzehnte zurück.

2 Auf dem Weg zum fertigen RNA-Vakzin waren viele


Hürden zu nehmen. Wichtige Innovationen betrafen
die chemische Struktur der RNA und ihre Lipid-Verpa-
ckung.
INFORMATIONSTRÄGER
3 Obwohl einzelne Namen oft genannt werden, ist
der Siegeszug der RNA-Impfstoffe letztlich eine wis- RNA-Moleküle dienen in Zellen
BEARBEITUNG: SPEKTRUM DER WISSENSCHAFT

dazu, den Bauplan der Proteine zu


LIBRE DE DROIT / GETTY IMAGES / ISTOCK;

senschaftliche Kollektivleistung.
übermitteln. Zudem lassen sie sich
als medizinische Wirkstoffe nutzen.

28 Spektrum der Wissenschaft  3.22


Die Geschichte der RNA-Vakzine illustriert,
wie hürdenreich Forschung ist – und wie
sehr sie auf Teamarbeit beruht. Hätten nicht
hunderte Wissenschaftler ihren Beitrag
geleistet, könnten diese neuen Impfstoffe
heute nicht Menschenleben retten.

Elie Dolgin ist


Wissenschaftsjournalist
in Somerville,
Massachusetts.
BEARBEITUNG: SPEKTRUM DER WISSENSCHAFT

 spektrum.de/artikel/
LIBRE DE DROIT / GETTY IMAGES / ISTOCK;

1974538

Spektrum der Wissenschaft  3.22 29



Ende des Jahres 1987 führte Robert Malone ein revolu- men rund um den Globus bissen sich in den Jahren nach
tionäres Experiment durch: Er vermischte Boten-RNA Malones Experimenten die Zähne daran aus, die richtige
(mRNA) mit Fetttröpfchen zu einer Art molekularem Mixtur aus Lipiden und Nukleinsäuren zu finden, um den
Eintopf. Als er menschliche Zellen in diese Suppe tauchte, Einsatz der Boten-RNA als Medikament oder Impfstoff zu
beobachtete er, dass die Zellen die mRNA aufnahmen ermöglichen. Viele betrachteten mRNA als zu instabil und
und in Proteine übersetzten. Malone, damals Doktorand zu teuer in der Herstellung, als dass sich diese Vision
am Salk Institute for Biological Studies im kalifornischen jemals realisieren ließe.
La Jolla, erkannte das enorme medizinische Potenzial seiner Die heutigen mRNA-Impfstoffe basieren auf Fortschrit-
Entdeckung. Am 11. Januar 1988 hielt er deshalb eine Idee ten, die viele Jahre nach Malones wegweisenden Experi-
in seinem Notizbuch fest: Wenn Zellen aus mRNA, die menten erreicht wurden. Dazu gehören chemische Verän-
ihnen zugeführt wird, Proteine bilden, dann sei es möglich, derungen am RNA-Strang und neue Arten von Lipidbläs-
RNA als Medikament zu nutzen. chen, welche die Boten-RNA effektiv in Zellen einschleusen
Dem Forscher erschien der Eintrag so wichtig, dass er (siehe Grafik »Blick ins Innere eines mRNA-Impfstoffs«).
ihn datierte und seine Unterschrift daruntersetzte. Zur Malone ist gleichwohl der Ansicht, sein Beitrag finde nicht
Sicherheit ließ er noch ein weiteres Mitglied des Salk ausreichend Würdigung. »Man hat mich einfach aus der
Institute unterschreiben. Ein Jahr später zeigte Malone, Geschichte herausgeschrieben«, erklärt er gegenüber der
dass auch Froschembryonen mRNA aus einer lipidhaltigen Fachzeitschrift »Nature«. Der Forscher bezeichnet sich als
Lösung aufnehmen. Erstmals hatte damit jemand Erfinder der mRNA-Impfstoffe.
Fetttröpfchen genutzt, um Boten-RNA in einen lebenden Der Streit darüber, wem die meiste Anerkennung für die
Organismus einzuschleusen. Entwicklung der mRNA-Impfstoffe gebühre, spitzt sich seit
Die Experimente des Molekularbiologen legten den einiger Zeit zu. Denn viele rechnen damit, dass die Schlüs-
Grundstein für die Entwicklung zweier höchst bedeutender selfiguren in den kommenden Jahren den Nobelpreis für
und profitabler Impfstoffe der Geschichte: die mRNA-Vak­ Physiologie oder Medizin zugesprochen bekommen. Doch
zine von Biontech/Pfizer beziehungsweise Moderna gegen prestigeträchtige Auszeichnungen, die immer nur einige
Covid-19, die bislang hunderten Millionen Menschen auf der wenige Menschen erhalten, lenken davon ab, wie viele
ganzen Welt verabreicht worden sind. Der Umsatz, den tatsächlich dazu beigetragen haben, dass mRNA heute
die Firmen mit den beiden Präparaten erzielen, beläuft sich erfolgreich medizinischen Zwecken dient. In den zurücklie-
allein für 2021 auf weit über 50 Milliarden US-Dollar. genden 30 Jahren war die Arbeit hunderter Forscherinnen
Doch der Weg zum erfolgreichen mRNA-Impfstoff war und Forscher nötig, um die Vision von mRNA-Impfstoffen
lang und steinig. Dutzende Arbeitsgruppen und Unterneh- wahr werden zu lassen.

mRNA Blick ins Innere eines


...CGAGΨΨCGΨGΨΨΨAA... Lipid-Nanopartikel mRNA-Impfstoffs
Die Impfstoffe von Moderna und
Biontech/Pfizer nutzen modifizierte mRNA-Impfstoffe gegen Covid-19
mRNA, bei der das Nukleotid
Uridin durch Pseudouridin (Ψ) nutzen Lipid-Nanopartikel, winzi-

NIK SPENCER/NATURE, NACH BUSCHMANN, M.D. ET AL.: NANOMATERIAL DELIVERY SYSTEMS FOR MRNA VACCINES. VACCINES 9, 2021; DOLGIN, E.:
ersetzt ist. Dadurch attackiert das ge Bläschen aus Lipidmolekülen,
Immunsystem die mRNA nicht. + um Boten-RNA in Zellen einzu-
+ + schleusen. Letztere trägt den
+
Um dem Körper zu helfen, eine + – + genetischen Code, der den Zellen
passende Immunreaktion auf das + – +
Coronavirus zu entwickeln, ist die + + – + erlaubt, das Spike-Protein herzu- THE TANGLED HISTORY OF MRNA VACCINES. NATURE 597, 2021; DT. BEARBEITUNG: SPEKTRUM DER WISSENSCHAFT

mRNA-Sequenz so verändert, + – + stellen, mit dem das Coronavirus


dass sie das Spike-Protein in der + +
Konformation stabilisiert, die es
in die Zellen eindringt. Links in
mRNA +
beim Verschmelzen mit diesem Kasten sind jene Innova­
menschlichen Zellen einnimmt. tio­nen aufgelistet, die für die
Entwicklung der Vakzine am
Phospholipid PEG-Lipid* bedeutsamsten waren.
Lipide Cholesterol ionisierbares Lipid

Die Nanopartikel, die die mRNA umhüllen, bestehen aus vier Sorten
von Lipidmolekülen. Eine davon ist ionisierbar: Im Impfstoffpräparat ist
sie positiv geladen und hängt an der negativ geladenen RNA. Im
Blutstrom verliert sie diese Ladung durch die basischen Bedingungen
allerdings wieder, was den Impfstoff verträglicher macht.

* an Polyethylenglykol gebundenes Lipid

30 Spektrum der Wissenschaft  3.22


Die Geschichte dieser Vakzine illustriert eindrücklich,
was alles dazugehört, um aus wissenschaftlicher Erkennt-
nis Innovationen zu machen, die das Leben von Milliarden
Menschen verändern: jahrzehntelange Forschung, die
immer wieder in der Sackgasse landet. Zurückweisungen
und Streit über potenzielle Profite. Aber auch Großzügig-
keit, Neugier und Durchhaltevermögen angesichts von
Skepsis und Zweifeln. »Es ist ein langer, langer Marsch«,
sagt Paul Krieg, Entwicklungsbiologe an der University of
Arizona in Tucson, der Mitte der 1980er Jahre einschlägige
Forschungsbeiträge lieferte. »Und man weiß nie, wohin er
führt.«
Malones Experimente in den 1980ern kamen nicht aus
heiterem Himmel. Schon 1978 hatten Forscher kleine
Bläschen mit einer lipidhaltigen Hülle genutzt, so genannte
Liposomen, um mRNA in tierische Zellen einzuschleusen

MIT FRDL. GEN. VON ROBERT MALONE


und so die Herstellung von Proteinen anzuregen. Die Lipo-
somen umhüllten und schützten die mRNA und setzten sie
ins Innere ihrer Zielzellen frei, nachdem sie mit deren Mem-
branen verschmolzen waren.
Dem wiederum vorausgegangen waren jahrelange
Forschungsarbeiten mit Liposomen und Boten-RNA, die
beide in den 1960er Jahren entdeckt worden waren (siehe PIONIER Der Molekularbiologe Robert Malone
Grafik »Geschichte der mRNA-Impfstoffe«). Damals sahen führte wegweisende Experimente mit mRNA durch.
nur wenige Forscher in der mRNA einen Kandidaten für Später zerstritt er sich mit seinen Kollegen.
­medizinische Wirkstoffe – unter anderem, weil es seinerzeit
keinen Weg gab, sie künstlich im Labor zu erzeugen. Der
wissenschaftliche Fokus lag stattdessen auf dem Erfor- University das RNA-Synthese-Verfahren des Teams damals
schen grundlegender molekularer Prozesse in Lebewesen. nicht patentieren ließ. Stattdessen übergaben die Forscher
Die meisten Wissenschaftler verwendeten dafür mRNA aus ihr Knowhow und ihre Reagenzien der Promega Corpora­
Kaninchenblut, gezüchteten Mäusezellen oder einer ande- tion, einem Unternehmen für Laborbedarf in Madison
ren tierischen Quelle. (Wisconsin), das die Methode bald weiteren Arbeitsgrup-
pen zugänglich machte. Als Gegenleistung gab es ein
Impfstoffe waren anfangs kein Thema bescheidenes Honorar und eine Kiste Champagner.
Das änderte sich 1984, als es einem Team (darunter Paul Malone nutzte Jahre später den in Harvard entwickelten
Krieg) um die Biologen Douglas Melton, Tom Maniatis und RNA-Syntheseansatz für seine eigenen Arbeiten. Jedoch
Michael Green von der Harvard University gelang, biolo- kombinierte er die Nukleinsäureschnipsel mit einer neuen
gisch aktive mRNA im Labor herzustellen. Krieg und seine Art von Liposomen, die positive elektrische Ladungen
Kollegen nutzten hierfür ein RNA-Synthese-Enzym, das sie trugen. Das verstärkte deren Bindung an den negativ
einem Virus entnommen hatten – eine Methode, die abge- geladenen Ribose-Phosphat-Strang der mRNA. Entwickelt
wandelt noch heute zum Einsatz kommt. Anschließend hatte diese Lipidbläschen der Biochemiker Philip Felgner,
injizierten sie die künstliche Nukleinsäure in Froscheier und der heute das Impfstoffforschungs- und Entwicklungszent-
wiesen nach, dass sie dort genauso funktioniert wie natürli- rum an der University of California in Irvine leitet.
che Boten-RNA. Obwohl es ihm gelang, Boten-RNA mit Hilfe von Liposo-
Melton und Krieg betrachteten die synthetische mRNA men in menschliche Zellen und Froschembryonen einzu-
zunächst vor allem als Instrument, mit dem sich die Funk­ schleusen, erlangte Malone nie einen Doktortitel. Er zerstritt
tionsweise von Genen untersuchen ließ, wie sie heute sich mit seinem Doktorvater, dem Genetiker Inder Verma
sagen. Im Jahr 1987 aber entdeckte Melton, dass sich vom Salk Institute, und verließ 1989 den universitären
Boten-RNA sowohl zum Aktivieren als auch zum Unterdrü- Betrieb, um für Philip Felgner bei Vical zu arbeiten, einem
cken der Proteinproduktion einsetzen lässt. Daraufhin half frisch gegründeten Start-up-Unternehmen in San Diego,
er, das Unternehmen Oligogen zu gründen (später umbe- Kalifornien. Dort wiesen die beiden gemeinsam mit For-
nannt in Gilead Sciences). Die Firma sollte erforschen, wie schern der University of Wisconsin-Madison nach, dass
sich mit künstlicher RNA gezielt Gene stummschalten sich mit Lipid-mRNA-Komplexen die Proteinproduktion in
lassen, um Krankheiten zu behandeln. Impfstoffe hingegen Mäusen beeinflussen lässt.
waren für ihn kein Thema. Im März 1989 begannen sowohl Vical gemeinsam mit
»RNA hatte den Ruf, unfassbar instabil zu sein«, erinnert der University of Wisconsin als auch das Salk Institute,
sich Krieg. »Alles, was mit ihr zu tun hatte, war mit äußers- Patente auf Lipid-mRNA-Komplexe anzumelden. Doch
ter Vorsicht zu genießen.« Hier liegt ein möglicher Grund, Letzteres gab seinen Patentanspruch schon bald auf, und
warum die Technologieentwicklungsabteilung der Harvard 1990 schloss sich Verma dem Beirat von Vical an.

Spektrum der Wissenschaft  3.22 31


Malone behauptet heute, Verma und die Vertreter von heute verschiedene Unternehmen berät, die in der Impfstoff-
Vical hätten damals in Hinterzimmer-Deals ausgemacht, forschung tätig sind.
dass sein geistiges Eigentum an Vical übergehe. Zwar galt Vor ähnlichen Problemen standen die Forscher der klei-
Malone als einer von mehreren Erfindern, doch er verdiente nen Biotech-Firma Transgène in Straßburg. Zwar hatte dort
nicht an späteren Lizenzvereinbarungen mit – wie es bei ein Team um den Molekularbiologen Pierre Meulien 1993
einem Salk-Patent der Fall gewesen wäre. »Die haben sich erstmals zeigen können, dass mRNA in Liposomen eine
an meinen Erfindungen und Entwicklungen bereichert«, spezifische antivirale Immunreaktion in Mäusen auslösen
beklagt der Forscher. Seine ehemaligen Kollegen weisen kann. Die Gruppe ließ ihre Entdeckung sogar patentieren und
diesen Vorwurf kategorisch zurück. »Das ist völliger Un- setzte ihre einschlägigen Arbeiten fort. Doch Meulien, der
sinn«, betont Verma gegenüber »Nature«. Die Entscheidung heute die Innovative Medicines Initiative leitet, eine öffent-
des Salk Institute, den Patentantrag fallen zu lassen, sei lich-private Partnerschaft mit Sitz in Brüssel, erkannte später,
ausschließlich dort getroffen worden. dass er mindestens 100 Millionen Euro benötigen würde, um
die Technologie zu optimieren. Eine derart hohe Summe für
ein solch kniffliges, risikoreiches Projekt wollte er seinen Vor-
gesetzten nicht abringen. Das Patent lief aus, als die Mutter-
»Wenn Sie mich damals gesellschaft von Transgène beschloss, die Gebühren nicht

­gefragt hätten, ob man einem


mehr zu zahlen.
Ebenso wie das Merck-Team konzentrierte sich Meuliens

Menschen RNA als Impfstoff Gruppe fortan auf DNA-Impfstoffe und andere vektorbasierte
Verabreichungssysteme. Daraus gingen einige zugelassene

injizieren kann, hätte ich Vakzine für tiermedizinische Anwendungen hervor, etwa
solche, die Infektionen in Fischfarmen eindämmen. Mitte

­Ihnen den Vogel gezeigt« 2021 erteilten indische Behörden eine Notfallzulassung für
den ersten DNA-basierten Covid-19-Impfstoff zur Anwendung
beim Menschen.
Matt Winkler, Unternehmer
Die Entwicklung von DNA-Impfstoffen kam zwar nur
langsam voran – aus Gründen, die noch nicht vollständig
verstanden sind. Dennoch sei es von Vorteil gewesen, dass
Im August 1989 kehrte Malone dem Unternehmen dieses Forschungsgebiet zwischenzeitlich im Fokus stand,
Vical den Rücken. Er begründete dies mit Meinungsver- betont Ulmer. Von der Herstellung über regulatorische Fragen
schiedenheiten zwischen ihm und Felgner hinsichtlich bis hin zu molekularen Grundlagen und Sequenzdesign:
»wissenschaftlichen Urteilsvermögens« und der »Anerken- »Vieles von dem, was wir über DNA herausgefunden haben,
nung meiner intellektuellen Beiträge«. Er schloss eine ließ sich direkt auf RNA-Anwendungen übertragen«, sagt er.
medizinische Ausbildung ab und begann nach einjähriger »Das hat den Weg geebnet für den Erfolg der RNA-Vakzine.«
klinischer Praxis wieder in der Forschung zu arbeiten, wo
er versuchte, seine Arbeit an mRNA-Impfstoffen fortzuset- Beharrliche Vorurteile
zen. Doch die finanziellen Mittel dafür einzutreiben, erwies Während der 1990er und dem Großteil der 2000er Jahre
sich als schwierig. 1996 etwa bewarb er sich vergebens stellte fast jede Impfstofffirma die Entwicklung von mRNA-
um Geld für die Entwicklung eines Vakzins gegen saisonale Vakzinen zurück und zog dafür andere Projekte vor. Die
Coronavirus-Infektionen. Schließlich beschloss er, sich auf Ansicht, Boten-RNA sei zu instabil und in der Herstellung zu
DNA-Impfstoffe zu konzentrieren. teuer, hielt sich hartnäckig. »Diesem Vorurteil war kaum
Ab 2001 war Malone für verschiedene Firmen tätig, unter beizukommen«, erinnert sich der Virologe Peter Liljeström
anderem in beratender Funktion. 2021 fiel er damit auf, vom Karolinska-Institut in Stockholm, der vor 30 Jahren
öffentlich die Sicherheit jener mRNA-Impfstoffe anzuzwei- Pionierarbeiten auf dem Gebiet leistete.
feln, die er selbst mitentwickelt hatte. So äußert er die »Mit RNA ließ sich nur schwer arbeiten«, betont ebenso
Ansicht, die Proteine, die der Organismus infolge der Imp- Matt Winkler, der 1989 in Texas das Unternehmen Ambion
fung produziert, könnten Körperzellen schädigen und die gründete, eines der ersten, die auf RNA-Laborbedarf spezia-
Risiken der Vakzine würden bei Kindern und jungen Er- lisiert waren. »Wenn Sie mich damals gefragt hätten, ob man
wachsenen den medizinischen Nutzen überwiegen. Be- einem Menschen RNA als Impfstoff injizieren kann, hätte ich
hauptungen, denen seine Fachkollegen sowie Vertreter von Ihnen den Vogel gezeigt.«
Gesundheitsbehörden entschieden widersprechen. Krebsmediziner standen dieser Idee deutlich aufgeschlos-
Vical wiederum schloss 1991 einen millionenschweren sener gegenüber – allerdings hatten sie dabei eher therapeu-
Forschungs- und Lizenzvertrag mit dem US-Pharma­ tische Anwendungen im Blick als die Vermeidung von Krank-
konzern Merck, einem der weltweit größten Impfstoffent- heiten. Gestützt auf Arbeiten des Gentechnikers David Curiel
wickler. Zu jener Zeit versuchte man bei Merck, ein untersuchten mehrere Gruppen an Universitäten und in Start-
mRNA-­basiertes Grippevakzin zu entwickeln, gab das aber up-Unternehmen, ob sich mRNA zur Krebsbekämpfung ein-
bald wieder auf. Denn die Kosten waren zu hoch und die setzen ließe. Die Idee dahinter: Codiert Boten-RNA für Protei-
Herstellung zu kompliziert, wie Jeffrey Ulmer schildert, der ne, die von entarteten Zellen hergestellt werden, könnte sie
früher als Wissenschaftler bei Merck gearbeitet hat und das Immunsystem darauf trainieren, Tumoren anzugreifen.

32 Spektrum der Wissenschaft  3.22


lipidbasierte mRNA mit Lipiden
mRNA Transportsysteme (für Impfstoffe)
1960
Entdeckung
der mRNA

Geschichte der
Herstellung erster
1965
Liposomen
(Fettbläschen aus
mRNA-Impfstoffe
Lipidmolekülen) Eine lange Abfolge wissenschaft­
Herstellung von licher Durchbrüche bereitete
Proteinen aus
den ersten mRNA-Impfstoffen,
isolierter mRNA
im Labor zugelassen im Jahr 2020,
1970 den Weg. Diese Vakzine sind
Liposomen als
Wirkstoffträger ermöglicht worden durch Innova­
tionen, die den chemischen
­Aufbau der RNA und ihre Lipid­
Liposomen als
Impfstoffträger verpackung betreffen.
1975

in Liposomen
verpackte mRNA
erstmals in Zellen
geschleust
1980 lipidbasierte
mRNA Transportsysteme
1960
Entdeckung
lipidbasierte
der mRNA mRNA mit Lipiden
Herstellung von mRNA Transportsysteme (für Impfstoffe)
mRNA im Labor 1960
1985 künstliche mRNA Entdeckung
in
lipidbasierte
kationischen Liposomen mRNA mit Lipiden Herstellung erster
der mRNA
Transportsysteme
mRNA (Strukturen aus positiv (für Impfstoffe) Liposomen
1965 (Fettbläschen aus
1960 geladenen Lipiden) in
Froschembryonen und Lipidmolekülen)
Entdeckung
der mRNA menschliche Zellen Herstellung erster
geschleust Herstellung
Liposomen von
1965 Proteinen aus aus
(Fettbläschen
1990 von Liposomen isolierter mRNA
Lipidmolekülen)
umhüllte mRNA in Herstellung erster im Labor
mRNA als Mäuse injiziert Liposomen
Herstellung von1970
Medikament an 1965 ProteinenAusgewählte
mRNA-Impfstoffe(Fettbläschen ausaus Liposomen als
Ratten getestet
isolierter kommerzielle
mRNA
erstmals getestetLipidmolekülen)
Forschung Wirkstoffträger
& Entwicklung
(gegen Grippe, im Labor
Herstellung
bei von 1970
Mäusen)
1995 mRNA als Krebs- Proteinen aus Gründung des ersten
Liposomen als Liposomen als
Impfstoff getestet isolierter mRNA Unternehmens mitWirkstoffträger Impfstoffträger
(an Mäusen) im Labor mRNA-Fokus
1975 (Merix
1970 Biosciences, später als
Liposomen Argos,
als dann als Liposomen als
erster Bericht Colmmune bekannt)
Wirkstoffträger Impfstoffträger
über Lipid-Nano- 1975

DRUG DISCOVERY 13, 2014, UND NACH HOU, X. ET AL.: LIPID NANOPARTICLES FOR MRNA DELIVERY. NATURE REVIEWS MATERIALS, 2021;
NIK SPENCER/NATURE, NACH SAHIN, U. ET AL.: MRNA-BASED THERAPEUTICS - DEVELOPING A NEW CLASS OF DRUGS. NATURE REVIEWS
2000 partikel aus vier Gründung von CureVac
Komponenten Liposomen als
(damals zur Impfstoffträger 1980 in Liposomen
DOLGIN, E.: THE TANGLED HISTORY OF MRNA VACCINES. NATURE 597, 2021; BEARBEITUNG: SPEKTRUM DER WISSENSCHAFT

Übermittlung
1975 verpackte mRNA
von DNA) erstmals in Zellen
geschleust
Entdeckung: in Liposomen
skalierbare Methode 1980
Modifizierte mRNA verpackte mRNA
2005 zur Herstellung von Herstellung von
entgeht der erstmals in Zellen
Lipid-Nanopartikeln mRNA im Labor
Immunerkennung geschleust
1985von
Gründung
1980
Biontech. Novartis
Herstellung
undvon
Shire gründen
mRNA immRNA-Abteilungen.
Labor
1985 künstliche mRNA in
2010 Gründung von Moderna kationischen Liposomen
Herstellung von (Strukturen aus positiv
erste klinische mRNA imerste Impfstoffe in
Labor DARPA1990
startet geladenen Lipiden) in
1985 Lipid-Nanopartikeln künstliche mRNA in
Förderung für mRNA- Froschembryonen und
Studie mit mRNA-
an Mäusen getestet kationischen
mRNA
Impfstoffforschung. als Liposomen menschliche Zellen
Impfstoffen gegen
(Strukturen aus
Medikament an positiv geschleust
eine Infektions-
erste klinische Studie geladenen
Ratten Lipiden) in
getestet
krankheit (Tollwut) 1990 von Liposomen
mit mRNA-Impfstoffen Froschembryonen und
2015 in Lipid-Nanopartikeln menschliche Zellen umhüllte mRNA in
mRNA als Mäuse injiziert
(Influenza) Medikament an geschleust
1995 mRNA als Krebs- mRNA-Impfstoffe
Zulassung des
1990 Ratten getestet von Liposomen
Impfstoff getestet
ersten Medikaments erstmals getestet
Der erste mRNA-basierte umhüllte
(an mRNA in
Mäusen)
(Patisiran) mit mRNA als (gegen Grippe,
Covid-19-Impfstoff erhält Mäuse injiziert
Medikament an
Lipid-Nanopartikeln bei Mäusen)
1995 mRNA als Krebs- Ausgewählte
die Notfallzulassung.
Ratten getestet mRNA-Impfstoffe
2020 Impfstoff getestet kommerzielle
erster Bericht Forschung
erstmals getestet
(an Mäusen) Spektrum der Wissenschaft  3.22
(gegen Grippe, über 33
& Entwicklung
Lipid-Nano-
2000 bei Mäusen) partikel aus vier
1995 mRNA als Krebs- Gründung des ersten
Komponenten
Impfstoff getestet erster Bericht Unternehmens
(damals zur mit
(an Mäusen) über Lipid-Nano- mRNA-Fokus (Merix
Übermittlung
Curiel, der heute an der Washington University in und gewannen Forschungsgelder, bevor sie 2007 einigen
St. Louis arbeitet, erzielte mit diesem Ansatz viel verspre- milliardenschweren Investoren ihren Plan vorlegten. »Wenn
chende Ergebnisse an Mäusen. Doch als er sich an die es funktioniert, wird es bahnbrechend sein«, sagte Şahin
Firma Ambion wandte, um zu erörtern, ob sich die Methode den Geldgebern. Die Antwort waren 150 Millionen Euro
vermarkten ließe, lautete die Antwort nur: »Wir sehen kein Startkapital.
ökonomisches Potenzial.« Im gleichen Jahr erhielt ein junges Start-up-Unternehmen
Der Immunologe Eli Gilboa hatte mehr Erfolg. Seine namens RNARx die etwas bescheidenere Summe von
Arbeiten führten 1997 zur Gründung des ersten Unter­ 97 396 US-Dollar (rund 85 000 Euro) als Zuschuss von der
nehmens für mRNA-Therapeutika. Der Forscher schlug US-Regierung. Seine Gründer, die Biochemikerin Katalin
vor, Immunzellen aus dem Blut zu filtern und künstliche Karikó und der Immunologe Drew Weissman von der Univer-
mRNA in sie einzuschleusen, die für Tumorproteine codiert. sity of Pennsylvania in Philadelphia, hatten gemeinsam eine
­Anschließend, so die Theorie, könnten die veränderten entscheidende Entdeckung gemacht: Verändert man den
Zellen dem Spender wieder injiziert werden und sein genetischen Code einer synthetischen mRNA, hilft ihr das
­Immunsystem dazu bringen, Krebszellen zu attackieren. dabei, die angeborene Immunabwehr der Zelle zu umgehen.
Gilboa und seine Kollegen, damals am Medical Center
der Duke University in Durham (North Carolina), demonst- Chemische Umwandlung verhindert Abwehrreaktion
rierten an Mäusen, dass dieser Ansatz tatsächlich funktio- In den 1990er Jahren hatte Karikó sich damit abgemüht, aus
niert. Ende der 1990er Jahre begannen die ersten Versuche mRNA einen medizinischen Wirkstoff zu machen. Sie ließ
mit menschlichen Probanden. Bald führte die von Gilboa nicht locker, obwohl ihre Finanzierungsanträge immer wie-
ausgegründete Firma Merix Bioscience (später umbenannt der abgelehnt wurden. 1995, nach diversen Absagen, stellte
in Argos Therapeutics, dann in CoImmune) eigene klinische ihre Universität sie vor die Wahl: Entweder sie müsse gehen
Studien dazu durch. Bis vor wenigen Jahren sah die Metho- oder eine Degradierung samt Gehaltskürzung hinnehmen.
de aussichtsreich aus, doch dann scheiterte ein Wirkstoff- Sie entschied sich, zu bleiben und die Arbeit fortzusetzen.
kandidat im Spätstadium einer großen klinischen Studie. In den Jahren darauf verbesserte sie Malones Verfahren
Heute wirkt der Ansatz überholt. und schaffte es, Zellen dazu zu bringen, ein großes und
Trotzdem hatten Gilboas Arbeiten weit reichende Konse- komplexes Protein mit therapeutischer Bedeutung herzustel-
quenzen. Sie inspirierten die Gründer der deutschen Firmen len. 1997 begann sie mit Weissman zusammenzuarbeiten,

BIONTECH SE 2021
Curevac und Biontech – heute zwei der größten Player auf der ein eigenes Team an der University of Pennsylvania
dem Gebiet der mRNA-Wirkstoffe. Sowohl Ingmar Hoerr
bei Curevac als auch Uğur Şahin bei Biontech hatten Ähnli-
ches vor wie Gilboa, freilich mit einer kleinen Abweichung:
Sie wollten die mRNA direkt in den Körper verabreichen.
Hoerr hatte damit als Erster Erfolg. Im Jahr 2000, wäh-
rend seiner Zeit an der Universität Tübingen, demonstrierte
er, dass das direkte Injizieren von mRNA bei Mäusen eine
Immunreaktion hervorrufen kann. Im selben Jahr gründete
er Curevac – ebenfalls in Tübingen. Doch nur wenige ande-
re Forscher und Investoren zeigten Interesse. Hoerr erinnert
sich an eine Konferenz, auf der er frühe Daten aus seinen
Maus-Experimenten präsentierte. »In der ersten Reihe
stand ein Nobelpreisträger auf und rief: ›Das ist kompletter
Mist, den Sie uns hier erzählen – kompletter Mist!‹« Um
welchen Laureaten es sich handelte, verrät Hoerr nicht.
Trotz alledem gelang es ihm schließlich, Forschungsgel-
der zu akquirieren. Binnen weniger Jahre starteten Versu-
che mit menschlichen Teilnehmern. Der damalige wissen-
schaftliche Leiter bei Curevac, Steve Pascolo, war der erste
Proband: Er injizierte sich selbst mRNA. Noch heute hat er
streichholzkopfgroße weiße Narben am Bein – von der
Stanzbiopsie, mit der ein Hautarzt dort Zellen zur Analyse
entnahm. Kurz darauf startete eine richtige Studie, um die
Wirkung tumorspezifischer mRNA bei Hautkrebspatienten
zu untersuchen.
Der Biontech-Chef Uğur Şahin und seine Frau, die
Immunologin Özlem Türeci, begannen in den späten
1990er Jahren, über mRNA zu forschen. Mit der Gründung
eines Unternehmens warteten sie länger als Hoerr. Viele
Jahre arbeiteten sie an der Johannes Gutenberg-Universi-
tät Mainz, erwarben Patente, veröffentlichten Fachartikel

34 Spektrum der Wissenschaft  3.22


gegründet hatte. Gemeinsam wollten sie einen mRNA-­
basierten Impfstoff gegen Aids entwickeln. Doch Karikós »Der wahre Gewinner ist
künstliche Boten-RNA löste massive Entzündungsreaktio-
nen aus, wenn sie Mäusen injiziert wurde.
die modifizierte RNA«
Bald deckten die beiden Forscher auf, woran das lag.
Jake Becraft, Mitbegründer und Geschäftsführer
Ihre synthetische mRNA hatte Toll-like-Rezeptoren (TLR) von Strand Therapeutics
aktiviert – Sensoren des Immunsystems, die Bestandteile
von Krankheitserregern erkennen und daraufhin Abwehrre-
aktionen einleiten. Im Jahr 2005 stellten Karikó und Weiss­
man eine Lösung des Problems vor: Die chemische Um- Weissmans Arbeiten. Doch dafür war es zu spät. Nachdem
wandlung von Uridin, einem Nukleotid-Baustein der mRNA, zwischen der Universität und RNARx keine Lizenzvereinba-
in Pseudouridin hielt den Organismus offenbar davon ab, rung zu Stande gekommen war, hatte sich die Hochschule
die künstliche mRNA als »feindlich« wahrzunehmen. für eine schnelle Monetarisierung entschieden und die
Zunächst erkannten nur wenige Forscherinnen und exklusiven Patentrechte im Februar 2010 an einen kleinen
Forscher den therapeutischen Nutzen dieser Entdeckung. Anbieter von Laborreagenzien in Madison vergeben. Die
Aber das änderte sich bald. Im September 2010 nutzte ein Firma, die heute Cellscript heißt, zahlte damals 300 000
Team um den Stammzellbiologen Derrick Rossi vom Boston US-Dollar dafür. Ein lohnendes Investment: Später kassierte
Children’s Hospital (Massachusetts) chemisch modifizierte sie hunderte Millionen Dollar an Unterlizenzgebühren von
mRNA, um Hautzellen zunächst in embryonalähnliche Moderna und Biontech, den Herstellern der ersten mRNA-
Stammzellen und dann in Muskelgewebe umzuwandeln. Impfstoffe gegen Covid-19. Beide Vakzine enthalten che-
Die Arbeit sorgte für großes Aufsehen. Das »Time Magazi- misch modifizierte mRNA. RNARx hingegen stellte 2013
ne« kürte Rossi zu einem der bedeutendsten Menschen des den Betrieb ein – etwa zur gleichen Zeit, als Karikó bei
Jahres 2010. Gemeinsam mit Kollegen gründete er das Biontech einstieg.
Start-up-Unternehmen Moderna in Cambridge. Wie sehr Karikós und Weissmans Entdeckung die Ent-
Moderna versuchte, jene Patente für modifizierte mRNA wicklung der mRNA-Impfstoffe vorangebracht hat, ist unter
zu lizenzieren, welche die University of Pennsylvania im Forschern umstritten. Zwar nutzte Moderna von Anfang an
Jahr 2006 angemeldet hatte – gestützt auf Karikós und modifizierte mRNA – der Unternehmensname ist ein Koffer-
wort aus den beiden Begriffen »modifiziert« und »RNA«.
Doch manche Firmen in der Branche verfolgen vollkommen
FIRMENGRÜNDER Der Mediziner Uğur Şahin (rechts) andere Ansätze.
und seine Frau Özlem Türeci gehören zu den führenden So kamen Wissenschaftler des Pharmaunternehmens
Entwicklern von Covid-19-Impfstoffen. Sie haben das Shire aus Lexington, Massachusetts, zu dem Schluss, dass
BIONTECH SE 2021

Unternehmen Biontech aus der Taufe gehoben. sich unmodifizierte mRNA ebenso erfolgreich einsetzen
lässt – vorausgesetzt unter anderem, man entfernt jegliche
Verunreinigung aus den Präparaten. »Es kommt auf die
Qualität der RNA an«, erklärt Michael Heartlein, ehemaliger
Forschungsleiter bei Shire. Er entwickelte die Technik
später bei der Firma Translate Bio in Cambridge weiter, der
Shire sein mRNA-Portfolio verkaufte.
Daten deuten darauf hin, dass die unmodifizierte mRNA
von Translate keine heftige Immunreaktion auslöst und
sicher in die Zielzellen hineingelangt. In klinischen Studien
muss sich der Ansatz allerdings erst noch beweisen: Der
Impfstoffkandidat, den Translate gegen Covid-19 entwickelt
hat, befindet sich in der frühen Testphase. Nichtsdesto­
weniger sieht der französische Pharmariese Sanofi schon
jetzt großes Potenzial darin. Im August 2021 gab der
­Konzern bekannt, Translate für 3,2 Milliarden US-Dollar zu
übernehmen.
Curevac entwickelte eine eigene Strategie, um die Im-
munreaktion gegen mRNA zu dämpfen: Die dortigen For-
scher passten die mRNA-Sequenz so lange an, bis die
Menge des enthaltenen Uridins ein Minimum erreichte. Der
Ansatz schien sich zunächst auszuzahlen; erste Versuche
mit experimentellen Impfstoffen gegen Tollwut und Covid-
19 verliefen erfolgreich. Mitte 2021 jedoch belegte eine
finale Analyse, dass Curevacs Covid-Impfstoffkandidat eine
Wirksamkeit von lediglich 48 Prozent hatte und damit
deutlich hinter den Erwartungen und der Konkurrenz zu-

Spektrum der Wissenschaft  3.22 35


rückblieb. Das Unternehmen zog sein Präparat zurück und
kündigte an, ein neues Vakzin zu entwickeln. »In der ersten Reihe stand ein
Nicht zuletzt in Anbetracht dieser Ereignisse sind etliche
Experten überzeugt davon, Pseudouridin (die chemisch Nobelpreisträger auf und rief:
abgewandelte Form von Uridin) sei für den Erfolg von
mRNA-Impfstoffen unerlässlich. Viele sehen die Arbeiten
›Das ist kompletter Mist, den Sie
von Karikó und Weissman als entscheidenden Beitrag an,
der Würdigung verdiene. »Der wahre Gewinner des Ren-
uns erzählen – kompletter Mist!‹«
nens ist die modifizierte RNA«, sagt etwa Jake Becraft, Ingmar Hoerr, Curevac-Gründer
Mitbegründer und Geschäftsführer von Strand Therapeu-
tics, einem in Cambridge ansässigen Unternehmen, das an
mRNA-basierten medizinischen Wirkstoffen arbeitet.
Doch es gibt auch andere Stimmen. »Zahlreiche Fakto- Organismus verträglicher macht. Außerdem verleiht der
ren wirken sich auf die Sicherheit und Wirksamkeit eines Cocktail aus vier verschiedenen Lipidsorten dem Produkt
mRNA-Impfstoffs aus – die chemische Veränderung der eine längere Haltbarkeit und eine höhere Stabilität im
RNA ist nur einer davon«, erklärt Bo Ying, Geschäftsführer Körper, wie Ian MacLachlan betont, ein früherer Geschäfts-
von Suzhou Abogen Biosciences. Das chinesische Unter- führer mehrerer mit Cullis verbundener Unternehmen.
nehmen hat einen Covid-19-Impfstoff auf Basis von unmo- Mitte der 2000er Jahre entwickelten Experten eine neue
difizierter mRNA entwickelt, der sich in der späten klini- Methode, um LNP herzustellen und mit ihrer Fracht zu
schen Testphase befindet. beladen. Dabei mischt ein Apparat namens T-Connector die
In den Augen vieler Fachleute war eine weitere Innova­ Lipidmoleküle (gelöst in Alkohol) mit den Nukleinsäuren
tion ebenso entscheidend für den Erfolg der mRNA-Impf- (gelöst in einem sauren Puffer), und es entstehen daraus
stoffe: die so genannten Lipid-Nanopartikel (LNP), die das dicht gepackte Nanopartikel. Diese Technik erwies sich als
künstliche mRNA-Konstrukt schützen und in die Zielzelle zuverlässiger als andere Methoden, um Wirkstoffe auf
schleusen. Die LNP-Technologie stammt ursprünglich aus mRNA-Basis herzustellen.
den Laboren des Biochemikers Pieter Cullis von der Univer- »Endlich hatten wir ein skalierbares Verfahren«, sagt
sity of British Columbia in Vancouver, Kanada. In den spä- Andrew Geall, heute Chefentwickler bei der Firma Replicate
ten 1990er Jahren leisteten seine Mitarbeiter an der Univer- Bioscience in San Diego. Geall leitete 2012 in Novartis’
sität sowie in einigen kommerziellen Unternehmen, die er US-Niederlassung in Cambridge das erste Team, das Lipid-
gegründet hatte, Pionierarbeiten auf diesem Gebiet. Sie ent- Nanopartikel mit einem RNA-Impfstoff kombinierte. Inzwi-
wickelten LNP, um Nukleinsäuren, die ausgewählte Gene schen nutzen alle mRNA-Unternehmen ein solches Ferti-
stummschalten, in Zellen einzubringen. Der Wirkstoff gungssystem in irgendeiner Variante – auch wenn es nach
Patisiran, der auf jenem Prinzip beruht, ist heute für die wie vor Streit um die zugehörigen Patente gibt.
Behandlung der Erbkrankheit Amyloidose zugelassen. Um 2010 herum stiegen mehrere große Pharmaunter-
nehmen in den mRNA-Markt ein. So gründeten Novartis
Eine Fähre, die Boten-RNA befördert und Shire im Jahr 2008 eigene mRNA-Forschungsabteilun-
Nachdem sich der Ansatz, Gene mit Hilfe von RNA stillzu- gen. Bei Novartis lag der Schwerpunkt (unter Leitung von
legen (fachsprachlich als »RNA-Interferenz« bezeichnet), in Geall) auf Impfstoffen, bei Shire (unter Leitung von Heart-
klinischen Versuchen als viel versprechend erwiesen hatte, lein) auf Therapeutika. Im selben Jahr ging Biontech an den
schwenkten zwei von Cullis’ Unternehmen im Jahr 2012 Start. Später kamen weitere Start-ups hinzu, finanziert von
um und fokussierten ihre Forschungsarbeiten auf LNP als der US-Behörde DARPA (Defense Advanced Research
Transportsysteme für mRNA-basierte Wirkstoffe. Acuitas Projects Agency), die 2012 entschied, die Erforschung von
Therapeutics in Vancouver beispielsweise kooperierte mit RNA-Impfstoffen und -Medikamenten zu fördern.
Weissmans Gruppe an der University of Pennsylvania Moderna war eines der Unternehmen, die auf diese
sowie mit mehreren mRNA-Unternehmen, um verschiede- Förderung aufbauten. Bis 2015 hatte die Firma mehr als
ne mRNA-LNP-Präparate zu testen. Eines davon ist heute eine Milliarde US-Dollar eingeworben – mit dem Verspre-
in dem Covid-19-Impfstoff von Biontech zu finden. Die chen, Körperzellen mittels mRNA dazu zu bringen, be-
LNP-Mixtur in Modernas Vakzin unterscheidet sich nur stimmte Proteine herzustellen, und dadurch Krankheiten zu
wenig davon. lindern, die durch fehlende oder defekte Eiweiße verur-
Die Nanopartikel setzen sich aus vier Sorten von Lipid- sacht werden. Als das nicht so eintrat wie erwünscht, gab
molekülen zusammen. Drei tragen zur Struktur und Stabili- Moderna einem weniger ehrgeizigen Ziel den Vorrang: der
tät der Partikel bei. Die vierte, ein so genanntes ionisierba- Produktion von Impfstoffen. Etliche Investoren und Beob-
res Lipid, ist der Schlüssel zum klinischen Erfolg der Präpa- achter waren zunächst enttäuscht davon, weil das Vakzin-
rate. Diese Substanz zeigt sich unter Laborbedingungen geschäft weniger lukrativ erschien. Bis Anfang 2020 teste-
elektrisch positiv geladen und bietet damit ähnliche Vorteile te Moderna neun mRNA-Impfstoffe gegen verschiedene
wie die geladenen Liposomen, die Philip Felgner in den Infektionskrankheiten an kleineren Probandengruppen.
späten 1980ern entwickelt hatte. Jedoch wird sie unter Keiner von ihnen erwies sich als durchschlagender Erfolg.
Bedingungen, wie sie etwa im Blutkreislauf vorliegen, Nur ein Kandidat schaffte es in die fortgeschrittene klini-
elektrisch neutralisiert, was die Lipid-Nanopartikel für den sche Testphase.

36 Spektrum der Wissenschaft  3.22


Dann rollte die weltweite Covid-19-Pandemie an. Nur mehrfach geehrt worden, unter anderem mit dem Break-
­ enige Tage, nachdem die Genomsequenz des Virus veröf-
w through Prize (mit drei Millionen US-Dollar die höchstdotier-
fentlicht worden war, entwickelte Moderna den Prototyp te Auszeichnung in der Wissenschaft) sowie dem angese-
eines Impfstoffs dagegen. In Zusammenarbeit mit dem henen Prinzessin-von-Asturien-Preis in der Sparte For-
US-Forschungszentrum NIAID (National Institute of Allergy schung und Technik. Letztere Auszeichnung ging ebenso
and Infectious Diseases) gelang es, den Wirkstoffkandida- an Felgner, Şahin, Türeci und Rossi sowie an Sarah Gilbert,
ten in weniger als zehn Wochen an Mäusen zu testen und die Expertin hinter dem vektorbasierten Covid-19-Impfstoff
erste Versuche mit menschlichen Teilnehmern zu starten. der University of Oxford und der Firma AstraZeneca.
Auch bei Biontech liefen die Drähte heiß. Im März 2020 Manche sind der Ansicht, Karikó solle nicht nur für ihre
schloss das Unternehmen eine Partnerschaft mit dem New mRNA-Forschung gewürdigt werden, sondern außerdem
Yorker Pharmakonzern Pfizer. Die Impfstoffstudien schritten dafür, wie sie die wissenschaftliche Gemeinschaft stärke.
im Rekordtempo voran: Von den ersten klinischen Tests bis »Sie ist mehr als eine tolle Wissenschaftlerin, sie ist
zur Notfallzulassung in den USA vergingen weniger als acht schlicht eine Autorität auf ihrem Gebiet«, sagt Anna Blak­
Monate. ney, RNA-Bioingenieurin an der University of British Co-
Die Vakzine von Biontech und Moderna basieren auf lumbia. Blakney rechnet es Karikó hoch an, dass sie es ihr
modifizierter mRNA, umhüllt von LNP. Beide enthalten 2019, als Blakney Junior-Postdoc war, ermöglichte, auf
Nukleotidsequenzen, die für das Sars-CoV-2-Stachelprotein einer großen Konferenz vorzutragen. Karikó versuche stets,
codieren und so ausgelegt sind, dass das Eiweiß die Kon- »aktiv andere Menschen zu fördern, obwohl sie selbst wäh-
formation einnimmt, welche es beim Verschmelzen mit rend ihrer gesamten Laufbahn viel zu wenig Anerkennung
menschlichen Zellen innehat. In dieser zielgerichteten bekommen hat«.
Anpassung der Proteinstruktur – vorgenommen vom Impf-
spezialisten Barney Graham sowie den Strukturbiologen
Jason McLellan und Andrew Ward – sehen viele Experten
eine weitere preiswürdige Leistung, obgleich sie nicht Mehr Wissen auf
spezifisch für RNA-Impfstoffe ist, sondern sich ebenso auf
andere Vakzine anwenden lässt.
Spektrum.de
Unser Online-Dossier zum Thema
finden Sie unter
Schwieriger Patentschutz spektrum.de/t/impfen ISTOCK / JURGAR
Die Debatte, wer am meisten zur Entwicklung der mRNA-
Impfstoffe beigetragen hat, hängt mit der Frage zusammen,
wer am Ende die lukrativen Patente halten wird. Ein Großteil
des einschlägigen geistigen Eigentums geht auf die Arbei- Doch wissenschaftliche Durchbrüche sind heute nicht
ten von Felgner, Malone und ihren Kollegen bei Vical im mehr die Leistungen Einzelner. Cullis beispielsweise be-
Jahr 1989 zurück sowie auf die Beiträge von Liljeström im tont, die LNP-Technologie aus seinen Laboren sei eine
Jahr 1990. Die damit zusammenhängenden Patente hatten kollektive Errungenschaft: »Wir sprechen hier von hunder-
aber lediglich eine Laufzeit von 17 Jahren, was längst ten, wahrscheinlich tausenden Menschen, die gemeinsam
verstrichen ist. Selbst die 2006 angemeldeten Patente auf daran gearbeitet haben.« In die gleiche Kerbe schlägt
die Entdeckungen Karikós und Weissmans werden in den Karikó: »Jeder hat seinen Teil dazu beigetragen, Stück für
kommenden Jahren auslaufen. Zwar können Unternehmen Stück – darunter auch ich.« Rückblickend freuen sich viele
sich spezielle mRNA-Sequenzen schützen lassen, etwa für einfach darüber, dass mRNA-Impfstoffe heute zahllose
eine Variante des Spike-Proteins, oder auch ausgewählte Leben retten und sie selbst einen Anteil daran haben. »Es
Lipidmixturen. Branchenkenner glauben allerdings, dass es ist großartig für mich, das zu sehen«, sagt Felgner. »All die
bald schwierig sein wird, breit angelegte Patente auf Dinge, die wir uns einst erhofft hatten, geschehen nun
mRNA-Lipid-Nanopartikel zu bekommen. wirklich.« 
Natürlich versuchen es die Unternehmen trotzdem.
Moderna testet derzeit mRNA-Impfstoffe gegen Influenza, QUELLEN
Zytomegalie und weitere Infektionskrankheiten in klini- Karikó, K. et al.: mRNA is an endogenous ligand for Toll-like
schen Studien. 2020 erwarb die Firma zwei Patente, die receptor 3. The Journal of Biological Chemistry 279, 2004
zahlreiche Anwendungen von mRNA zur Beeinflussung der
Krieg, P. A., Melton, D. A.: Functional messenger RNAs are
zellulären Proteinproduktion abdecken. Insider haben produced by SP6 in vitro transcription of cloned cDNAs. Nucleic
jedoch gegenüber »Nature« erklärt, diese Schutzrechte Acids Research 12, 1984
könnten anfechtbar sein. »Wir glauben nicht, dass sie sich
Malone, R. W. et al.: Cationic liposome-mediated RNA transfec-
im Streitfall durchsetzen lassen«, sagt Eric Marcusson, tion. PNAS 86, 1989
wissenschaftlicher Leiter bei Providence Therapeutics,
einem Unternehmen für mRNA-Vakzine im kanadischen
Calgary.
Auf die Frage, wer einen Nobelpreis für die Entwicklung © Springer Nature Limited
der mRNA-Impfstoffe verdiene, fallen am häufigsten die www.nature.com
Namen Karikó und Weissman. Die beiden sind schon Nature 597, S. 318–324, 2021

Spektrum der Wissenschaft  3.22 37


AUTOIMMUNKRANKHEITEN
RISIKOFAKTOR:
WEIBLICH
Mehr als drei Viertel der von
Autoimmunerkrankungen Betroffenen
sind Frauen. Woran liegt das?

Melinda Wenner Moyer ist Wis-


senschaftsjournalistin und schreibt
regelmäßig unter anderem für
»Scientific American«, »New York
Times« und »Washington Post«. Sie
lebt in der Region Hudson Valley im
US-Bundesstaat New York.

 spektrum.de/artikel/1974541


Die Leidensgeschichte von Melanie See begann 2005. Mit einem Anteil von schätzungsweise
Plötzlich fing sie an, stark zu schwitzen. Rasch nahm 78 Prozent sind Frauen im Vergleich zu Männern
sie fünf Kilogramm ab. Ihr wurde schwindlig, wenn sie auffallend oft von Autoimmunerkrankungen betrof-
vom Bett zur Couch im Wohnzimmer ging. Ihre Brüste fen (siehe »Spektrum« Februar 2022, S. 19). Neben
produzierten Milch, obwohl sie keinen Säugling stillte. Nach den Krankheiten, die bei Melanie See diagnostiziert
einer Reihe von Laboruntersuchungen stellte sich heraus: wurden, gehören dazu multiple Sklerose (MS), rheuma­
Die damals 45-Jährige hatte Morbus Basedow, eine Auto­ toide Arthritis, Hashimoto-Thyreoiditis sowie weitere
immunerkrankung, bei der die Schilddrüse zu viel Hormone ­Leiden, bei denen das Immunsystem fälschlicherweise
produziert. gesunde Zellen und Gewebe des Körpers angreift (siehe
Drei Jahre später – die Symptome ihrer Basedow-­ »Spek­trum« Februar 2022, S. 12). Autoimmunkrankheiten
Krankheit hatte man mittlerweile medikamentös im Griff – gelten heute als fünfthäufigste Todesursache bei Frauen
verschlechterte sich ihr Gesundheitszustand abermals unter 65 Jahren.
rapide. Sie verlor erneut an Gewicht und fühlte sich extrem »Wir müssen den biologischen Ursachen dieser Häufung
schwach. Die Ärzte diagnostizierten Zöliakie, eine weitere bei Frauen auf den Grund gehen«, fordert die Immunologin
Autoimmunerkrankung, die von glutenhaltigen Lebensmit- Shannon Dunn von der kanadischen University of Toronto.
teln ausgelöst wird. Doch damit nicht genug, denn 2015 »Dann verstehen wir nicht nur besser, wie Autoimmun­
klagte See über neu aufgetretene starke Verdauungs­ krankheiten entstehen – was uns wiederum neue Ansätze
störungen und Muskelschmerzen. Ihre Ärzte in Chapel Hill für Prävention und Therapie eröffnet. Sondern wir können
waren nun ratlos und stellten unterschiedlichste Diagnosen. womöglich auch die geschlechtlich unterschiedlichen
»Vaskulitis, Lupus, ich weiß gar nicht mehr, was noch Reaktionen auf Infektionen, Impfungen und Verletzungen
alles«, erzählt See. »Jedenfalls stimmte etwas nicht mit mir. sowie bei Krebserkrankungen aufklären.«
Meine Blutwerte und das, was aus der Muskelbiopsie Dabei ist das drastische Ungleichgewicht in der Ver­
vom Juni 2016 herauskam, passten in keine Schublade.« teilung von Autoimmunerkrankungen keine neue Beobach-
Nach vielen weiteren Untersuchungen wurde eine dritte tung. Als Ärzte solche Störungen vor mehr als einem
Auto­immunkrankheit diagnostiziert: die seltene Mischkolla- Jahrhundert erstmals beschrieben, fiel ihnen bereits auf,
RAWPIXEL / GETTY IMAGES / ISTOCK

genose, die in einigen Merkmalen dem Lupus erythemato- dass es Frauen viel häufiger trifft als Männer. Damals
des ähnelt. neigten die Mediziner allerdings dazu, die einzelnen Auto­

38 Spektrum der Wissenschaft  3.22


SERIE
Der Feind im eigenen Körper

Teil 1: Februar 2022


Angriff von innen
Stephani Sutherland
Daten und Fakten
Maddie Bender, Jen Christiansen, Miriam Quick
Teil 2: März 2022
Risikofaktor: Weiblich
Melinda Wenner Moyer
Teil 3: April 2022
Wider die Selbstzerstörung
Marla Broadfoot

QUÄLENDES JUCKEN
Mit Hautausschlägen oder
Juckreiz beginnen etliche
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Autoimmunkrankheiten. Oft
trifft es Frauen.

Spektrum der Wissenschaft  3.22 39


immunkrankheiten als eigenständige Syndrome mit jeweils Hormone, die eine Schlüsselrolle in der Schwangerschaft
spezifischen Ursachen zu betrachten. Sie ahnten nicht, dass spielen, wie etwa Progesteron wirken sich ebenfalls drama-
diese anscheinend so unterschiedlichen Leiden grundlegen- tisch auf das Immunsystem aus. Viele wichtige Immunzel-
de biologische Gemeinsamkeiten teilen. len, darunter T-Zellen und Makrophagen, tragen auf ihrer
Als jedoch die Forscherinnen und Forscher begannen, Oberfläche Bindungsstellen für Progesteron. Dockt das
die Erkrankungen als Gruppe zu betrachten, fielen ihnen Hormon daran an, verschiebt es die Balance des Immunsys-
interessante Muster ins Auge. So korreliert der Krankheits- tems, das dann verstärkt Antikörper und damit auch Auto-
beginn bei Frauen oft mit wichtigen physiologischen Über- antikörper produziert. Wegen der Beteiligung von T-Helfer-
gangsprozessen. Lupus und multiple Sklerose beispielswei- zellen des Typs 2 firmiert dieser Prozess unter den Namen
se manifestieren sich in der Regel erstmals im gebärfähigen TH2-Immunreaktion. Im Gegensatz dazu hält die TH1-Immun-
Alter. Andere Autoimmunkrankheiten wie die rheumatoide reaktion den Organismus von der Antikörperproduktion ab
Arthritis treten meist nach der Menopause auf. Während und aktiviert stattdessen Immunzellen, die andere Körper-
der Schwangerschaft kann sich die Symptomatik erheblich zellen direkt angreifen.
verändern: Bei Patientinnen mit rheumatoider Arthritis, Der Anstieg des Progesteronspiegels könnte erklären,
multipler Sklerose oder Morbus Basedow gehen die Be- weshalb die Symptome von rheumatoider Arthritis und
schwerden dann meist zurück, während sie sich bei Lupus multipler Sklerose während der Schwangerschaft oft zu-
in dieser Zeit oft noch verschlimmern. rückgehen: Diese Krankheiten beruhen nicht auf TH2-,
Was haben diese Übergangsphasen – Pubertät, Schwan- sondern auf TH1-Immunreaktionen, die durch Progesteron
gerschaft, Wechseljahre – gemeinsam? Bei allen verändert gedämpft werden. »Bei MS-Patientinnen erhöht sich jedoch
sich erheblich die Produktion der Hormone Östrogen, kurz nach der Entbindung das Risiko für einen Krankheits-
Progesteron und Testosteron. So steigt der Östrogenspiegel schub«, erläutert die Neurologin Tanuja Chitnis vom Brig-
in der Pubertät und der Schwangerschaft deutlich an. ham and Women’s Hospital in Boston. »Das hängt mit dem
Inzwischen gilt nach Ansicht der Immunologin DeLisa dramatischen Umschwung der Hormonlage zusammen.«
Fairweather von der Mayo Clinic in Jacksonville (USA) als
sicher, dass zumindest etliche Autoimmunkrankheiten Geschlechtshormone beeinflussen die Aktivität
durch Östrogen gesteuert werden. Tatsächlich scheinen von Schlüsselgenen des Immunsystems
orale Verhütungsmittel sowie Hormonersatztherapien Testosteron, das Frauen in viel geringerem Maß als Männer
mittels Östrogenen das Lupusrisiko zu erhöhen. produzieren, stellt einen weiteren Mitspieler bei Auto­
Wie die anderen Sexualhormone beeinflusst Östrogen immun­­erkrankungen dar. Auf der Oberfläche von B- und
unmittelbar die Aktivität von Erbfaktoren, die Immunfunk­ T-Zellen sitzen Testosteronrezeptoren, und das Hormon
tionen regulieren. Es schaltet beispielsweise das Gen für wirkt weit­gehend immunsuppressiv. Es unterdrückt Immun-
Interferon- ein – eine Signalsubstanz, welche die Abwehr zellen einschließlich neutrophiler Granulozyten, natürlicher
gegen Krankheitserreger steuert, aber ebenso Autoimmun- Killerzellen und Makrophagen – was erklären könnte, wes-
reaktionen verstärken kann. Östrogen aktiviert zudem halb Männer tendenziell seltener von Autoimmunkrankhei-
B-Zellen des Immunsystems, die wiederum Antikörper ten betroffen sind. Wie Studien ergaben, weisen MS-Patien-
produzieren, um damit körperfremde Strukturen zu markie- ten häufig niedrige Testosteronspiegel auf. Entsprechend
ren und zu attackieren. So genannte Autoantikörper können zeigen Männer mit Hypogonadismus, deren Hoden wenig
jedoch auch körpereigene Zellen angreifen. Testosteron produzieren, ein erhöhtes Risiko für Lupus
erythematodes und rheumatoide Arthritis.
All diese Sexualhormone beeinflussen gleichfalls die
Aktivität von Schlüsselgenen des Immunsystems. Ein
AUF EINEN BLICK Konsortium aus finnischen und deutschen Wissenschaftlern
DER FLUCH DES X-CHROMOSOMS entdeckte 1997 ein Gen, das eine entscheidende Rolle bei
Autoimmunerkrankungen spielt. Dieser Erbfaktor namens

1 Mit einem Anteil von fast 80 Prozent sind auffallend AIRE (für AutoImmun-REgulator) wird im Thymus aktiv, wo
viele Patienten von Autoimmunerkrankungen weiblich. Vorläuferzellen zu T-Zellen heranreifen. Das entsprechende
Manche Frauen sind sogar von mehreren Leiden gleich- AIRE-Protein sorgt dafür, dass die heranreifenden T-Zellen
zeitig betroffen. wichtige körpereigene Eiweißstoffe kennen lernen und sie
von womöglich gefährlichen Fremdproteinen unterschei-

2 Geschlechtshormone beeinflussen Immunreaktionen.


Unterschiedliche Genaktivitäten auf dem weiblichen X-
Chromosom sowie die Zusammensetzung der Darmflo-
den. Auch werden dank AIRE fehlgesteuerte T-Zellen, die
körpereigene Proteine angreifen, noch im Thymus vernich-
tet – bevor sie im Organismus Schaden anrichten können.
ra werden ebenfalls als auslösende Faktoren diskutiert. Es überrascht daher nicht, dass Menschen mit einem mu-
tierten AIRE-Gen mit größerer Wahrscheinlichkeit bestimm-
3 Eventuell liegt im höheren Frauenanteil ein evolutionä-
res Erbe, da der weibliche Organismus während der
Schwangerschaft das Immunsystem streng kontrollie-
te Auto­immunerkrankungen entwickeln.
Wie sich herausstellte, wirken Sexualhormone an der
ren muss, um den Fötus nicht abzustoßen. Regulation der Aktivität von AIRE und ähnlichen Erbfakto-
ren mit. 2016 fanden Forscherinnen und Forscher der Pari-
ser Sorbonne bei Mäusen heraus, dass Östrogen und Pro-

40 Spektrum der Wissenschaft  3.22


gesteron das AIRE-Gen hemmen und damit die Produktion som nicht komplett stillgelegt, vielmehr ändert sich sein
des entsprechenden Proteins drosseln, während Testoste- Zustand dynamisch. Dessen Gene können also relativ leicht
ron sie ankurbelt. Wie das Team weiter beobachtete, bilden aktiviert werden, obwohl sie eigentlich ausgeschaltet bleiben
Frauen nach der Pubertät – vermutlich bedingt durch die sollten – eine »verrückte Entdeckung«, wie Anguera meint.
Geschlechtshormone – weniger AIRE-Protein als Männer. Dass sich weibliche Immunzellen bei der X-Inaktivierung
Das bedeutet wiederum, dass mehr autoreaktive T-Zellen anders verhalten als die übrigen Körperzellen und damit das
aus dem Thymus entkommen und Autoimmunkrankheiten Risiko für Autoimmunerkrankungen steigern, war völlig
verursachen können. unerwartet. Doch wie Angueras Team 2021 bestätigte,
Doch trotz ihrer offenbar wichtigen Rolle können Sexual- umgehen B-Zellen von Mädchen und Frauen mit Lupus
hormone nicht alles erklären. Denn manche Leiden wie erythematodes die normalen Mechanismen der X-Inaktivie-
Lupus oder MS brechen mitunter bereits in der Kindheit rung, was bei den Zellen wahrscheinlich dazu führt, dass sie
aus – also bevor die Spiegel von Östrogen und Progesteron mehr X-chromosomales Protein bilden, als sie eigentlich
in der Pubertät ansteigen. Es müssen demnach weitere sollten.
Faktoren beteiligt sein. Einige Forscher konzentrieren sich
daher auf den augenfälligsten zellulären Unterschied zwi-
schen Mann und Frau: das zweite X-Chromosom.
Laut Lehrbuchwissen besitzen Frauen zwei X-Chromoso- Mehr Wissen auf
men, von denen jedoch jeweils eines in jeder Zelle sehr früh Spektrum.de
während der Embryonalentwicklung abgeschaltet wird –
Unser Online-Dossier zum Thema
ein Prozess, der als X-Inaktivierung bekannt ist. Das stillge- finden Sie unter
legte X-Chromosom kondensiert sich zu einer eng gepack- spektrum.de/t/das-immunsystem
INSTITUTE, 1976
ten Struktur, die in jeder Zelle als so genanntes Barr-Körper- TIMOTHY TRICHE, NATIONAL CANCER

chen eingelagert bleibt. Diese Abschaltung verhindert, dass


zu viel X-chromosomale Proteine produziert werden.
In den letzten Jahren offenbarte sich allerdings, dass Menschen mit einer abweichenden Anzahl von X-Chro-
die X-Inaktivierung nicht ganz so vollständig abläuft wie mosomen liefern ebenfalls Hinweise auf die Rolle der
zunächst vermutet. Laut Studien bleiben mindestens ­Geschlechtschromosomen bei Autoimmunerkrankungen:
15 Prozent der Gene auf dem vermeintlich stillgelegten Männer mit dem Klinefelter-Syndrom, die neben ihrem Y-
X-Chromosom weiterhin aktiv; damit können diese Erbfak- zwei X-Chromosomen besitzen, haben ein 14-fach höheres
toren bei Frauen für doppelt so viel Protein sorgen wie bei Lupusrisiko als Männer mit normalem Chromosomensatz.
Männern. So werden bei Lupuspatientinnen ganz bestimm- Entsprechend steigt bei Frauen mit drei X-Chromosomen die
te Gene auf beiden X-Kopien abgelesen, was mit dem Wahrscheinlichkeit, an Lupus oder dem Sjögren-Syndrom zu
Schweregrad der Erkrankung korreliert: Je mehr von diesen erkranken, um den Faktor 2,5 beziehungsweise 2,9.
aktiven X-chromosomalen Genen vorliegen, desto schlim- Weshalb laufen im weiblichen Organismus solche Mecha-
mer sind die Symptome. nismen ab, wenn sie doch das Krankheitsrisiko erhöhen?
Tatsächlich lassen sich viele X-chromosomale Gene Normalerweise eliminiert die Evolution im Lauf der Zeit
direkt mit Autoimmunkrankheiten in Verbindung bringen. Merkmale, die es der betreffenden Spezies erschweren, sich
Eines davon, das Gen TLR7 (Toll-like receptor 7), produziert erfolgreich fortzupflanzen – und die X-chromosomale Auto­
das gleichnamige Protein, das bei Autoimmunkrankheiten immunität steht dem eindeutig im Weg. Dieser Widerspruch
wie Lupus erythematodes, Polymyositis, systemischer lässt Evolutionsbiologen vermuten, dass das Phänomen
Sklerose und Sjögren-Syndrom eine Rolle spielt. TLR-7 hat auch einen wichtigen Vorteil aufweisen sollte.
die Aufgabe, Krankheitserreger an einfachen Mustern zu
erkennen und Immunzellen auf sie aufmerksam zu machen. Toleranz bei der Schwangerschaft
Zudem erhöht es die Produktion von entzündungsfördern- 2019 stellte das Team um die Evolutionsbiologin Melissa
den Signalsubstanzen, den Interferonen, welche die Auto­ Wilson von der Arizona State University die Hypothese der
immunreaktion verstärken können. Schwangerschaftskompensation auf: Die Plazenta, die den
Ein weiteres Gen, das bei Frauen häufig auf vermeintlich Fötus mit Sauerstoff und Nährstoffen versorgt, entwickelte
abgeschalteten X-Chromosomen aktiviert wird, heißt TASL sich in der Stammesgeschichte der Säugetiere zu der Zeit,
(TLR adaptor interacting with endolysosomal SLC15A4). Es als auch die Geschlechtschromosomen entstanden; gleich-
steigere die weibliche Interferonproduktion auf mindestens zeitig traten zahlreiche zusätzliche Gene auf dem X-Chromo-
das Doppelte, erläutert der Mediziner Hal Scofield von der som auf. Diese drei Entwicklungen könnten demnach mitein-
University of Oklahoma, der die Rolle der X-Inaktivierung ander zusammenhängen. Während der Schwangerschaft
bei Autoimmunkrankheiten erforscht. wird der weibliche Organismus mit einem wachsenden
Eine 2019 entdeckte Kuriosität bei der X-Inaktivierung Fötus konfrontiert, dessen DNA zur Hälfte vom Vater stammt
spricht ebenfalls für deren Beteiligung an der Autoimmuni- und damit fremd ist. Die fötalen Zellen sollte daher das
tät. Das Team um die Biomedizinerin Montserrat Anguera mütterliche Immunsystem eigentlich angreifen – was aber
von der University of Pennsylvania hatte die Reifung junger nicht geschieht. Des Weiteren toleriert die Mutter die vom
T- und B-Zellen in weiblichen Mäusen untersucht. Wie sich Fötus gebildete und in den Uterus einwachsende Plazenta.
dabei zeigte, wird bei diesen Zellen das zweite X-Chromo- Wie Wilson nun vermutet, haben sich die X-chromosomalen

Spektrum der Wissenschaft  3.22 41


Gene und die unvollständige X-Inaktivierung so ent­wickelt, Folglich fragte sie sich, ob Unterschiede im Mikrobiom mit
dass der weibliche Organismus auf die vorüber­gehenden dem erhöhten Diabetesrisiko der weiblichen Tiere zusam-
immunologischen Herausforderungen flexibel reagieren menhängen könnten. Das Team zog daher eine Gruppe
kann. Entsprechend verändert sich die Immun­lage während NOD-Mäuse in einer Umgebung auf, die völlig frei von
der Schwangerschaft dynamisch: Zu Beginn nehmen Bakterien und Viren war, also auch der üblichen Keime, die
bestimmte Immunreaktionen zu, was der Plazenta hilft, normalerweise den Darm besiedeln.
neue Blutgefäße zu bilden. Etwa in der Mitte der Schwan- Dabei machte Danska die erste überraschende Beobach-
gerschaft lassen Immunität und Entzündungsreak­tionen tung: Die keimfrei gehaltenen Tiere beider Geschlechter
nach, um sich dann in Vorbereitung auf Wehen und Geburt entwickelten gleich häufig einen Diabetes. »Der Ge-
wieder zu verstärken. schlechtsunterschied verschwand völlig«, erinnert sie sich.
Andere Beobachtungen bestätigen die Vorhersagen der »Mit diesem Ergebnis hatten wir überhaupt nicht gerechnet.
Hypothese zur Schwangerschaftskompensation. So bekom- Ich konnte es kaum glauben.«
men Frauen heute im Vergleich zu vorherigen Jahrhunder- Doch die Wiederholung des Experiments führte zum
ten viel weniger Kinder – das weibliche Immunsystem wird gleichen Befund, und weitere Untersuchungen brachten
also auch nicht mehr so oft supprimiert. Das könnte erklä- neue Überraschungen: Die Forscher transplantierten die
ren, warum die Rate von Autoimmunkrankheiten bei Frauen Darmflora erwachsener männlicher NOD-Mäuse in junge
heute zunimmt, während sie in der Vergangenheit weniger weibliche Tiere, die noch keinen Diabetes entwickelt hat-
häufig auftraten. Wenngleich eine endgültige Bestätigung ten – und daraufhin zu gesunden Mäusen ohne Zucker-
dieser Hypothese noch aussteht, hält es Wilson für mög- krankheit heranwuchsen.
lich, dass »Plazentabildung und Schwangerschaft für die Danskas 2013 publizierte Forschungsergebnisse lieferten
Entwicklung des weiblichen Immunsystems entscheidend den ersten Hinweis darauf, dass »die Darmmikroben die
sind – was wiederum ein Grund für die geschlechtsspezi­ Autoimmunität beim weiblichen Geschlecht beeinflussen
fischen Unterschiede bei Autoimmunkrankheiten sein können«, erläutert der Rheumatologe Martin Kriegel von der
könnte«. Mit anderen Worten: Die Autoimmunität könnte Universität Münster. Dies stelle eine wichtige Erkenntnis dar,
ein unerwünschter Nebeneffekt der komplexen Immun­ deren Hintergründe noch unbekannt seien.
prozesse sein, auf die der weibliche Organismus angewie-
sen ist, um Kinder auf die Welt zu bringen. Die Darmflora von Männern erhöht
Doch längst nicht alle Immunphänomene lassen sich den Testosteronspiegel
genetisch erklären. So kann ein eineiiger Zwilling eine Bislang weiß niemand, weshalb das männliche Darm­
Autoimmunerkrankung entwickeln, während der andere – mikrobiom protektiv wirken sollte. Danska und ihr Team
mit praktisch identischem Genom – gesund bleibt. Die stießen jedoch auf Hinweise darauf, dass Testosteron eine
Umwelt hat hier also ein entscheidendes Wörtchen mitzu- wichtige Rolle spielt: Die zu Diabetes neigenden, keimfrei
reden. aufgezogenen NOD-Mäusemännchen wiesen im Blut nied­
Die Immunologin Jayne Danska von der University of rigere Testosteronspiegel auf als Männchen mit normaler
Toronto verbrachte einen Großteil ihrer wissenschaftlichen Darmflora. Und weibliche NOD-Nager, die mit Darm­
Laufbahn damit, die Beziehung zwischen dem Geschlecht bakterien von männlichen Artgenossen vor der Erkrankung
und der Genetik von Autoimmunerkrankungen zu ergrün- ­geschützt waren, zeigten höhere Testosteronwerte als Weib-
den. Sie wollte wissen, inwieweit sich Risikogene bei chen mit normal besiedeltem Darm.
Männern und Frauen unterschiedlich auswirken. 2012 All das deutet darauf hin, dass das Mikrobiom der Männ-
machte sie jedoch eine zufällige Entdeckung, die ihre Arbeit chen den Testosteronspiegel erhöht und vorbeugend gegen
in eine neue Richtung lenken sollte. »Es gehört zu den Diabetes mellitus wirkt. Als Danska und ihre Kollegen die
Weisheiten der Wissenschaft, dass die besten Entdeckun- Darmflora männlicher Mäuse in Weibchen transplantierten
gen diejenigen sind, nach denen man gar nicht gesucht und dann die Übertragung von Testosteronsignalen blo-
hat«, kommentiert sie. ckierten, stieg die Diabeteshäufigkeit wieder an.
Danska und ihr Team fahndeten nach Risikogenen für Diese Beobachtungen decken sich mit Forschungsergeb-
die Autoimmunkrankheit Diabetes mellitus Typ 1, bei nissen zum Lupus erythematodes bei Männern: Wird das
der das Immunsystem die Insulin produzierenden -Zellen Testosteron blockier, steigt das Erkrankungsrisiko. Parallelen
in der Bauchspeicheldrüse angreift. Die Forscher experi- zeigen sich auch bei Untersuchungen an einem Maus-
mentierten mit einer im Labor gezüchteten Mauslinie, den stamm, dessen weibliche Tiere besonders anfällig für Lupus
so genannten NOD-Mäusen (non-obese diabetic mice). sind. Wird die Darmflora der Weibchen mit Antibiotika stark
Diese Tiere eignen sich als Modell für die Krankheit – mit ausgedünnt, sinkt das Erkrankungsrisiko, berichteten Wis-
einer wichtigen Ausnahme: Typ-1-Diabetes gilt als eine senschaftler der University of South Carolina 2020.
der wenigen Autoimmunkrankheiten, die nicht gehäuft Unklar ist bislang, wie das Darmmikrobiom den Testoste-
Frauen triff – weibliche NOD-Mäuse hingegen tragen ein ronspiegel regulieren könnte oder umgekehrt. Danskas
doppelt so hohes Erkrankungsrisiko wie ihre männlichen Forschungsergebnisse sprechen dafür, dass sich die Zusam-
Artgenossen. mensetzung des Mikrobioms bei männlichen und weibli-
Danska wusste, dass sich Umweltfaktoren und Gene chen Mäusen während der Geschlechtsreife zu unterschei-
manchmal gegenseitig beeinflussen, und sie hatte sich den beginnt. Das könnte sogar erklären, weshalb es bei
bereits mit Darmbakterien als Risikofaktor beschäftigt. Menschen kaum geschlechtsbedingte Unterschiede in der

42 Spektrum der Wissenschaft  3.22


Häufigkeit von Typ-1-Diabetes gibt: Die Krankheit bricht in sein scheinen, könnte man mutmaßen, die Biologie hätte
der Regel vor der Pubertät aus, also bevor eine geschlechts- sich gegen das weibliche Geschlecht verschworen. Die
spezifisch unterschiedliche Darmflora das Risiko beeinflus- Bürde der Autoimmunität kann allerdings auch als ein
sen könnte. Möglicherweise werde das Mikrobiom durch Ausdruck der Bedeutung von Frauen für das Überleben
den plötzlichen Zustrom von Sexualhormonen in der Puber- unserer Spezies betrachtet werden. »Schließlich müssen
tät modifiziert; mit ziemlicher Sicherheit jedoch geschehe Frauen aus immunologischer Sicht absolut Bemerkenswer-
das wechselseitig, meint Kriegel: Die Darmflora reagiere auf tes leisten, was von Männern schlicht und einfach nicht ver-
die Sexualhormone und diese wiederum auf die Mikroben. langt wird«, erläutert Danska. Autoimmunität mag der Preis
Mäuse sind natürlich keine Menschen. Danska ist sein, den Frauen für ihre physiologischen Höchstleistungen
­dennoch davon überzeugt, dass ihre Forschungsergebnisse zahlen – doch es besteht Hoffnung, dass ihnen die Wissen-
große Bedeutung für Autoimmunkrankheiten haben, die schaft diese Bürde irgendwann abnehmen kann. 
Frauen häufiger treffen. Möglicherweise wirken sich be-
stimmte Darmbakterien entscheidend auf die Autoimmuni- QUELLEN
tät aus. Wenn dem so ist, könnten Eingriffe in die Zu­
Dragin N. et al.: Estrogen-mediated downregulation of AIRE
sammensetzung des Mikrobioms solche Krankheiten influences sexual dimorphism in autoimmune diseases. Journal
verhindern. of Clinical Investigation 126, 2016
Danska und Kriegel hoffen, mikrobiombasierte Thera­
Markle, J. G. M. et al.: Sex differences in the gut microbiome
pien für Frauen mit hohem Risiko für Autoimmunerkran­ drive hormone-dependent regulation of autoimmunity. Science
kungen entwickeln zu können – also das Mikrobiom so zu 339, 2013
verändern, dass es besser schützt. Andere Forscher ver­ Natri, H. et al.: The pregnancy pickle: Evolved immune compen-
suchen die Signalübertragung von Sexualhormonen zu sation due to pregnancy underlies sex differences in human
beeinflussen, um das Risiko zu senken. Je mehr man über diseases. Trends in Genetics 35, 2019
die Gründe für die erhöhte Anfälligkeit von Frauen lernt, Pyfrom, S. et al.: The dynamic epigenetic regulation of the
desto mehr Möglichkeiten eröffnen sich, Autoimmunkrank- inactive X chromosome in healthy human B cells is dysregulated
heiten vorzubeugen. in lupus patients. PNAS 118, 2021
Angesichts der Tatsache, dass X-Chromosomen, weib­ Syrett, C. M. et al.: Altered X-chromosome inactivation in T
liche Geschlechtshormone und ein geschlechtsspezifisches cells may promote sex-biased autoimmune diseases. JCI Insight
Mikrobiom Risikofaktoren für Autoimmunerkrankungen zu 4, 2019

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Spektrum der Wissenschaft  3.22 43
DEMENZ
VOM HELFER
ZUM VERRÄTER
Spezielle Immunzellen im
Gehirn, die Mikroglia,
spielen eine wichtige Rolle
bei der Entstehung der
Alzheimerkrankheit. Das
liefert neue Ansatzpunkte
für die Therapie.

Jason Ulrich (links) ist Professor für Neurologie an der Plaques – in den Mittelpunkt der Alzheimerforschung. Der
Washington University in St. Louis (USA). David M. Namenspatron der Krankheit, von der Millionen Menschen
Holtzman lehrt dort ebenfalls Neurologie und ist
Direktor des Hope Center for Neurological Disorders
auf dem Globus betroffen sind, machte aber noch eine dritte,
sowie stellvertretender Direktor des Knight Alzheimer’s später meist vernachlässigte Beobachtung. Unter dem
Disease Research Center. Holtzman gründete mit Mikroskop sah er Veränderungen an den Gliazellen, die gut
Kollegen die Firma C2N Diagnostics und hat Beraterver- die Hälfte der Hirnmasse eines Menschen ausmachen. Auf
träge mit verschiedenen Unternehmen, die teils auch
sie konzentrieren sich Demenzforscher neuerdings vermehrt.
seine Forschung mitfinanzieren.
Ein spezieller Typ der Gliazellen heißt Mikroglia. Dabei
 spektrum.de/artikel/1974544 handelt es sich um die wichtigsten Immunzellen im Gehirn.
Sie beeinflussen das Fortschreiten der Alzheimerkrankheit
auf verschiedene Weise, sowohl in der Frühphase als auch in
späteren Stadien. Diese Beteiligung der Mikroglia könnte die
komplexe Beziehung zwischen Beta-Amyloid und Tau aufklä-


Im Jahr 1907 berichtete der Psychiater Alois Alzheimer ren helfen, die den schleichenden Untergang von Nervenzel-
(1864–1915) über den Fall einer 51-Jährigen aus einer len bewirken.
Pflegeanstalt in Frankfurt am Main. Die Frau namens Bis heute kann keine Therapie die Krankheit aufhalten
Auguste Deter litt bis zu ihrem Tod im April 1906 unter oder wesentlich verlangsamen. Im Juni 2021 ließ die US-Arz-
schwerem Gedächtnisverlust, Verwirrung und Desorientie- neimittelbehörde FDA zwar das Medikament Aducanumab
rung. Das sprach für eine gravierende Erkrankung ihres zu, das den Abbau von Amyloid im Gehirn beschleunigt.
SELVANEGRA / GETTY IMAGES / ISTOCK; BEARBEITUNG: SPEKTRUM DER WISSENSCHAFT

Gehirns, welches Alzheimer bei der Autopsie eingehend Doch noch ist unklar, wie gut es den Verlust kognitiver
untersuchte. Dabei machte er bahnbrechende Entdeckun- Fähigkeiten bremst. Als sicher gilt, dass es weiterer Behand-
gen: Die Hirnrinde der Patientin war auffallend verkleinert, lungsansätze bedarf, und auch hier eröffnen Mikroglia viel
offenbar geschrumpft infolge eines massenhaften Verlusts versprechende neue Wege.
an Nervenzellen. Zudem fanden sich innerhalb der Neurone Die Alzheimerkrankheit ist die weltweit häufigste Ursache
ungewöhnliche Proteinfasern und im Gewebe dazwischen für Demenz. Ihre Hauptmerkmale sind zum e ­ inen die ge-
weitere Eiweißablagerungen. nannten Plaques aus Beta-Amyloid, also A ­ nsammlungen
In den folgenden 100 Jahren rückten diese beiden Pro- kurzkettiger Proteine zwischen den Zellen. Zum anderen ist
teinansammlungen – Tau-Fibrillen und Beta-Amyloid- in den Neuronen fehlgefaltetes Tau-Protein zu finden, an das

44 Spektrum der Wissenschaft  3.22


AUF EINEN BLICK
DIE FRÜHEN WURZELN
DES GEDÄCHTNISVERLUSTS

1 Im Endstadium einer Alzheimerdemenz sterben mas-


senhaft Neurone in der Großhirnrinde ab. Die Krankheit
beginnt in aller Regel aber schon Jahre bis Jahrzehnte
zuvor.

2 Neben fehlgefaltetem Beta-Amyloid sowie Tau-Fibrillen


finden sich im Nervengewebe von Alzheimerpa-
tienten meist auch Veränderungen an den Mikroglia,
einem Typ von Immunzellen.

3 Anfangs schützen die Mikro­glia die Neurone, fördern


jedoch im Verlauf der Krankheit deren Tod. Dies hängt
unter anderem von einer Reihe von Risikogenen ab.

das Apolipoprotein E, das am Fett- und Cholesterinstoff-


wechsel beteiligt ist.
Über die Verbindung des APOE-Gens mit der Alzheimer-
krankheit berichteten Forscher erstmals 1993. Damals
stellte man fest, dass manche Genversionen (Allele) das
Krankheitsrisiko stark erhöhen. Die drei häufigsten APOE-
Allele sind APOE2, APOE3 und APOE4. Jeder Mensch
verfügt über zwei APOE-Allele, bei zirka jedem vierten ist
MIKROGLIAZELLEN, hier in der Nähe mindestens ein APOE4-Allel darunter. Unter den diagnosti-
von Beta-Amyloid-Plaques (orange), zierten Alzheimerpatienten beträgt diese Rate jedoch gut
spielen eine zweischneidige Rolle bei 60 Prozent.
der Alzheimerkrankheit. Bei APOE4-Trägern bilden sich Amyloid-Plaques früher
und reichlicher, weil die entsprechende Version des Apo-
lipoproteins E die Beseitigung von Amyloid aus dem Gehirn
sich viele Phosphatgruppen heften. Die Phosphorylierung behindert. Umgekehrt erkranken APOE2-Träger seltener an
verstärkt das Zusammenklumpen der Proteine, was die Alzheimer und entwickeln weniger Amyloid-Ablagerungen.
Neurone schädigt. Tau-Aggregate reichern sich als verdreh- Allerdings erklären diese Effekte nicht den gesamten gene-
te Fibrillenbündel in den Zellen an, bis diese absterben. tischen Einfluss auf die Erkrankung.
Geringere Mengen von Tau-Protein finden sich bei Bei der Fahndung nach weiteren Risikofaktoren wurden
Alzheimerpatienten zudem in den angeschwollenen, mittels Gensequenzierung Tausende von Menschen auf
­geschädigten Axonen – den signalleitenden Fortsätzen der DNA-Veränderungen hin untersucht. Mit solchen Scree-
Neurone. Diese Form ist als neuritisches Plaque-Tau be- nings gelang es, Varianten der Gene CD33, BIN1, CR1 und
kannt. Tau wie auch das Ursprungsprotein des Amyloids MS4A6A zu identifizieren, die jeweils verschiedene Funktio-
erfüllen normalerweise wichtige Aufgaben, die durch den nen erfüllen. So codieren CD33 und CR1 für Rezeptormole-
Krankheitsprozess gestört werden. küle auf der Zelloberfläche, die die S
­ ignalweiterleitung
Heute weiß man, dass eine Alzheimererkrankung in zwei unterstützen. Sie beeinflussen das Erkrankungsrisiko insge-
Stadien verläuft. Zunächst ist da eine symptomfreie Phase samt jedoch nur wenig.
SELVANEGRA / GETTY IMAGES / ISTOCK; BEARBEITUNG: SPEKTRUM DER WISSENSCHAFT

von etwa 15 bis 25 Jahren, während der sich Amyloid in der Um bedeutendere Genvarianten zu finden, sequen­zierten
Hirnrinde ablagert, ohne dass es die kognitive Leistung verschiedene Forschungsteams gezielt das Erbgut von
merklich beeinträchtigt. In der zweiten Phase entwickeln Alzheimerpatienten. Im Jahr 2013 stieß man hierbei auf eine
sich dann die Tau-Fibrillen, und es kommt zur Neurodege- Version des Gens TREM2, das den Bauplan für einen Rezep-
neration, dem Absterben der Zellen. Erst in diesem fortge- tor in der Membran der Mikrogliazellen enthält. Die Se-
schrittenen Stadium treten Verluste der Hirnleistung auf. quenzdaten zeigten, dass mitunter an einer einzigen Stelle
Seit Jahrzehnten ist ebenfalls bekannt, dass genetische des Proteins die Aminosäure Arginin durch Histidin ersetzt
Faktoren das Erkrankungsrisiko beeinflussen. Das wichtigs- ist. Diese Mutation beeinträchtigt offenbar die Funktion der
te der beteiligten Gene ist APOE. Es enthält den Bauplan für Mikro­gliazellen und erhöht das Alzheimerrisiko um das

Spektrum der Wissenschaft  3.22 45


Zwei- bis Vierfache. Interessanterweise wird TREM2, wie Umkreis der Plaques sowie vermehrte Axonschäden – finden
auch andere Risikogene, allein in Mikroglia aktiv. Was sich ebenso im Gehirn verstorbener Alzheimerpatienten,
genau hat das mit dem Krankheitsprozess zu tun? welche die oben genannte, 2013 entdeckte Mutation na-
Mikroglia sind mit den Makrophagen (große Fresszellen) mens R47H im TREM2-Gen tragen. Dies spricht dafür, dass
verwandt – Immunzellen, die Krankheitserreger bekämpfen die Schäden bei Mäusen ohne TREM2 auch beim Menschen
und verletztes Gewebe reparieren helfen. Unter normalen von Bedeutung sind.
Bedingungen haben Mikroglia eher kleine Zellkörper mit Arbeiten einer Forschergruppe um Peng Yuan und Jaime
langen, weit verzweigten Ausläufern. Sie verschlingen Grutzendler an der Yale University ergaben Hinweise darauf,
(»phagozytieren«) ungenutzte Synapsen und erkennen wie Mikroglia zum Schutz von Neuronen beitragen. Offenbar
Eindringlinge. Kommt es zu einer Schädigung im Hirngewe- interagieren die Immunzellen mit den freien Enden kleiner
be, verändern sie ihre Form und Funktion: Die Zellkörper Amyloid-Ansammlungen. Daher können sie deren Wachs-
wachsen, ihre Ausläufer dagegen schrumpfen oder ver- tum in Richtung große Plaques stoppen und umliegende
schwinden ganz. Dies ermöglicht es den Zellen, dorthin zu Neurone schützen.
wandern, wo sie gebraucht werden, um Entzündungsreak- Wenn Mikroglia Axone vor den Amyloid-Plaques bewah-
tionen auszulösen. ren, könnten sie vielleicht auch taubedingte Schäden verhin-
Jahrzehntelang beobachtete man immer wieder An- dern? Dann müssten TREM2-Mutationen wie R47H die
sammlungen von Mikroglia in der Umgebung von Amyloid- Alzheimererkrankung zusätzlich verschlimmern, indem sie
Plaques. Unklar blieb, ob sie deren Entstehung beeinflussen das Entstehen von neuritischem Plaque-Tau fördern. Diese
oder eher lokale Entzündungen verursachen. Auch die Hypothese zu prüfen, ist schwierig. Es gibt jedoch erste
Beziehung zwischen Mikroglia und Tau war lange unbe- Befunde, die dafür sprechen.
kannt. Neue Studien deuteten nun darauf hin, dass Mikro- Eine andere wichtige Entdeckung der letzten Jahre lautet:
gliazellen unter gewissen Umständen Neurone und ihre Tau und Beta-Amyloid bilden »Keime«, die ähnlich wie
Synapsen angreifen, die Signalübertragung entlang der Prionen weitere Proteine zur Fehlfaltung und ­Verklumpung
Axone stören und zur Anhäufung von Tau-Bündeln bei­ anregen. Vermutlich greift abnormes Tau-Protein im Lauf der
tragen. Erkrankung auf benachbarte Hirnregionen über. Das Team
von Virginia Man-Yee Lee an der University of Pennsylvania
Kein Tiermodell bildet alle Aspekte der konnte zeigen, dass die Injektion von Tau-Bündeln aus dem
Alzheimerkrankheit nach Gehirn von Alzheimerkranken bei gesunden Mäusen eine
So können von den Mikroglia ausgeschüttete Proteine, so Fehlfaltung von Tau auslöst. Tiere, die bereits eine Amyloid-
genannte Zytokine, die Phosphorylierung von Tau-Protein Pathologie aufwiesen, entwickelten dann zudem neuriti-
verstärken. Um Rückschlüsse auf die Rolle der Mikroglia im sches Tau, das die Axone schädigt. Das ähnelt den Vorgän-
Krankheitsprozess zu ziehen, sind wir auf Versuche mit gen bei der Alzheimerdemenz. Der größte Unterschied ist,
Mäusen angewiesen. Bisher gibt es j­edoch kein Tiermodell, dass es bei den Mäusen zu keinem ausgeprägten Absterben
das alle Aspekte der Alzheimerkrankheit nachbildet. Immer- von Neuronen kommt.
hin kennen Forscher mittlerweile mehrere Dutzend Maus- Normalerweise stabilisiert Tau in den Axonen von Nerven-
varianten, die es erlauben, jeweils einzelne Aspekte der zellen die Mikrotubuli – röhrenförmige Strukturen, die dem
Krankheit zu studieren: Die gentechnisch veränderten Transport von Baumaterial im Inneren des Neurons dienen.
Nager entwickeln zum Beispiel Amyloid-Plaques oder In der Nähe von Amyloid-Plaques löst sich Tau leichter von
Tau-Fibrillen. den Mikrotubuli, wodurch es anfälliger für eine Umfaltung
Durch Kreuzung solcher transgenen Mäuse mit Tieren, wird. Geschädigte Axone bilden anscheinend einen frucht-
die Veränderungen in bestimmten Risikogenen tragen, lässt baren Boden, auf dem krankhafte Tau-Samen »Wurzeln
sich feststellen, wie einzelne Genvarianten die Krankheits- schlagen« können.
entstehung beeinflussen. So entwickeln etwa Mäuse, die Da die R47H-Variante des TREM2-Proteins die Axondefek-
das menschliche APOE4-Protein produzieren, mehr Amy- te verstärkt, vermuteten wir, dass nicht mutiertes TREM2
loid-Plaques als Tiere mit den Allelen APOE3 oder APOE2. den Immunzellen dabei hilft, Axone vor den Amyloid-Plaques
In den letzten Jahren stellten Forscher auch Amyloid- zu schützen. Dies sollte die Anhäufung von Tau oder seine
Mäuse ohne TREM2-Protein her. Mehrere Arbeitsgruppen Ausbreitung in andere Hirnbereiche unterbinden. In einer
berichteten dabei von einer stark reduzierten Zahl an Mikro- Studie unter der Leitung von Cheryl Leyns und Maud Gratu-
glia im Umkreis der Amyloid-Plaques. Untersuchungen aus ze in unserem Labor wurden Keime mit krankhaftem Tau aus
dem Labor von Marco Colonna an der Washington Univer- verstorbenen Alzheimerpatienten in Mäuse mit und ohne
sity in St. Louis ergaben, dass die Mikroglia in solchen funktionsfähiges TREM2 injiziert. Später fand sich bei letzte-
Mäusen unfähig sind, ihre Stoffwechselrate bei Bedarf ren wesentlich mehr neuritisches Plaque-Tau in den Axonen.
ausreichend zu erhöhen. Wenn sich die Zellen in der Nähe Die Schädigung breitete sich außerdem in andere Hirnberei-
von Amyloid-Plaques befinden, produzieren sie nicht genü- che aus.
gend Adenosin­triphosphat (ATP), den Treibstoff aller zellulä- Auch menschliche Patienten mit alzheimerassozi­ierten
ren Vorgänge. Ohne diese Energie können die Mikroglia die Varianten des Gens TREM2 weisen mehr neuri­tisches
Plaques wohl nicht umschließen und bekämpfen. Plaque-Tau auf. Offenbar schützt normales TREM2, gemein-
Zudem weisen die Tiere viele fehlgebildete Nerven­ sam mit den Mikroglia, das Gehirn vor der Ausbreitung von
fortsätze auf. Beide Merkmale – weniger Mikroglia im Tau. Das könnte die für die erste Krankheitsphase typischen

46 Spektrum der Wissenschaft  3.22


Wenn die Müllabfuhr versagt
Hauptmerkmale der Alzheimerdemenz sind Amyloid-
Plaques, Tau-Fibrillen und neuritisches Plaque-Tau.
Immunzellen namens Mikroglia schützen die Neurone
anfangs, indem sie Amyloid abbauen. Im spä­teren
Krankheitsstadium lösen die Zellen jedoch Entzündungen
aus, die zur Anhäufung von neuritischem Tau beitragen.
Bestimmte Varianten der Gene APOE4 und TREM2 erhöhen
das Alzheimerrisiko stark.

Mikrogliazelle

Neuron

Tau-Fibrillen
TREM2-Protein

Amyloid-Plaque

neuritisches
Plaque-Tau

APOE4 TREM2
Das auf Chromo­- Das Risikogen
som 19 gelegene Gen Beta-Amyloid TREM2 auf Chro-
AXS BIOMEDICAL ANIMATION STUDIO / SCIENTIFIC AMERICAN AUGUST 2021; BEARBEITUNG: SPEKTRUM DER WISSENSCHAFT

APOE ist vor allem dazu an, sich zu mosom 6 codiert Eine Variante von
am Fettstoffwechsel Plaques zu- für ein Rezeptor­ TREM2 namens
beteiligt. Es codiert sammen­zulagern. protein auf der R47H hat keine
für ein Protein, wel- Das APOE4-Pro- Oberfläche von positiven Effekte.
ches unter anderem tein fördert auf Mikrogliazellen. Im Es fördert die
von Mikrogliazellen diese Weise Frühstadium der Ansammlung
produziert wird. Eine letztlich massen- Alzheimerkrankheit neuritischen
Variante des Gens, haften Zellver- hilft TREM2, Plaque-Taus,
APOE4, wurde 1993 lust und damit amyloidbedingte was die Neuro­
erstmals beschrie- eine Schrump- Schäden sowie degeneration
ben. Das entspre- fung des Ge- die Ausbreitung beschleunigt.
chende Protein regt hirns (Atrophie). von Tau-Fibrillen
zu reduzieren. Im
späteren Verlauf
gesund kann es jedoch das
Absterben der
Neurone beschleu-
nigen.

geschrumpft

Spektrum der Wissenschaft  3.22 47


Proteinansammlungen verhindern helfen. Doch was ist, Allmählich zeichnet sich ein immer schärferes Bild der
wenn bereits massenhafter Zelltod und damit Demenzsym- beteiligten Krankheitsprozesse ab: Demnach spielen Mikro-
ptome eingetreten sind? gliazellen eine doppelte Rolle bei der Entwicklung der Alz-
Zwei Studien – eine aus dem Labor von Ido Amit am heimerdemenz. In der ersten Phase, wenn sich Beta-Amyloid
Weizmann Institute of Science in Rehovot (Israel) und eine ansammelt, scheinen sie das Gehirn zu schützen. Krankhaft
von Forschern um Oleg Butovsky vom Brigham and verändertes Tau hingegen aktiviert Mikroglia-Gene, die den
Women’s Hospital in Boston – untersuchten die Aktivität Zelltod fördern, wobei das APOE4-Protein Entzündungspro-
von Mikroglia-Genen in Mäusen mit verschiedenen neuro- zesse im Gehirn beschleunigt. Somit führt die Reaktion der
degenerativen Erkrankungen und entdeckten dabei er- Mi­kroglia auf krankhaft verändertes Tau zu neuronalen
staunliche Parallelen. Schäden, statt das Gehirn zu schützen.
Mikroglia in Mäusehirnen mit Veränderungen, die der Zwei Studien von 2019 lieferten weitere Indizien für die
taubedingten Neurodegeneration ähneln, aktivieren ver- Rolle der Mikroglia als Treiber des neuronalen Abbaus in der
schiedene Gene, deren Produkte zum Abbau unerwünsch- Spätphase der Erkrankung. Ein Wirkstoff, der den »kolonie-
ten Materials in der Zelle beitragen. Die Zellen produzierten stimulierenden Faktor 1« blockiert – ein für Mikroglia essenzi-
zudem vermehrt die Mausversion des APOE4-Proteins. elles Protein –, reduziert diesen Zelltyp bei Mäusen um etwa
Augenscheinlich spielen sowohl APOE als auch TREM2 90 Prozent. Tau-Mäuse, denen man die Substanz verabreich-
eine Rolle bei der Frage, wie die Mikroglia reagieren, wenn te, zeigten daraufhin eine deutlich verminderte Tau-Patholo-
Neurone abzusterben drohen. gie und weniger Verluste an Nervenzellen. Anscheinend sind
Mi­kroglia tatsächlich für die taubedingte Neurodegeneration
Das Alzheimer-Gen APOE4 beschleunigt mitverantwortlich. Schaltete man in Tau-Mäusen den Mikro-
die Krankheit über zwei verschiedene Wege glia-Oberflächenrezeptor TREM2 aus, reduzierten sich die
Das veranlasste uns zu weiteren Experimenten: Wir kreuz- Mikroglia-Aktivität sowie die neuronalen Schäden.
ten Mäuse, die verschiedene Versionen des APOE-Proteins TREM2-vermittelte Signale haben also je nach Krankheits-
produzieren, mit solchen, die eine Tau-Pathologie und stadium gegenteilige Effekte. Während der symptomfreien
zugleich verstärkte Neurodegeneration zeigten. In einer ersten Phase, wenn sich Amyloid ansammelt, vermindert
Studie unter der Leitung von Yang Shi in unserem Labor TREM2 die dadurch verursachten Schäden. Außerdem
stellte sich heraus, dass Mäuse mit menschlichem hemmt es den Vormarsch von krankhaft verändertem Tau in
APOE4-Protein weit mehr Neurone verlieren und gravie­ der Hirnrinde. Sobald sich diese zweite Pathologie jedoch
rendere Tau-Verklumpungen aufweisen als solche mit etabliert hat, scheint die Aktivität der Mikroglia den Verlust
APOE3 oder APOE2. von Synapsen und Neuronen sogar voranzutreiben.
Als Nächstes untersuchten wir den Zelltod im Gehirn von Sollte sich dies bei der menschlichen Alzheimerkrankheit
Patienten. Wieder wiesen APOE4-Träger größere Schäden ähnlich wie bei Mäusen nachweisen lassen (was im Moment
auf als Personen mit anderen APOE-Allelen. Zudem bauten noch ungewiss ist), könnten die Mi­kroglia ein wichtiger
Alzheimerkranke mit APOE4 geistig schneller ab. Dieses Schlüssel für neue Behandlungsoptionen sein. In der Früh-
»Alzheimer-Gen« beschleunigt demnach nicht nur wie phase der Erkrankung wäre es dann sinnvoll, ihre Aktivität
bisher bekannt die Amyloid-Ablagerung, sondern auch im Bereich der Amyloid-Plaques zu stimulieren. Umgekehrt
Schäden durch Tau – also beide Hauptmechanismen der könnte ihre Hemmung im fortgeschrittenen Stadium der
Krankheit. Umgekehrt schützt das Fehlen von APOE4 in Tau-Pathologie den kognitiven Abbau verlangsamen.
hohem Maß vor Zellverlusten; es verzögert die Ansamm- Je genauer wir verstehen, wie Mikrogliazellen die Entste-
lung von krankhaftem Tau und die dadurch verursachten hung von Amyloid-Plaques und Tau-Fibrillen beeinflussen,
Schäden. desto mehr wächst die Hoffnung auf neue Angriffspunkte
Mäuse ohne APOE sind besser geschützt vor Neurode- für die Therapie. In einer klinischen Studie prüfen Forscher
generation und Tau-Pathologie. Könnte dann ein ­Absenken derzeit, ob die Aktivierung von TREM2 die Alzheimerkrank-
des APOE-Spiegels die Neurodegeneration bei menschli- heit im Frühstadium verlangsamt. Weitere Wirkstoffe, die bei
chen Patienten verlangsamen – besonders bei solchen, die den Mikroglia ansetzen, sind in der Entwicklung. So könnte
das APOE4-Allel tragen? In weiteren Experimenten verwen- sich der dritte, lange unbeachtete Befund in Alzheimers
deten wir daher Mäuse mit Tau-Pathologie, die menschli- Bericht als entscheidend erweisen, um der Demenz endlich
ches APOE4-Protein produzieren. Wir wollten herausfinden, etwas entgegenzusetzen. 
ob diese Tiere vor einer Neurodegeneration geschützt sind,
wenn wir die Menge an APOE4 in ihnen reduzieren.
Dazu kooperierten wir mit einem Unternehmen, das QUELLEN
Antisense-Oligonukleotide herstellt – das sind kurze Ab- Gratuze, M. et al.: Impact of TREM2R47H variant on tau patho­
schnitte modifizierter DNA, die sich an APOE4-Boten-RNA- logy-induced gliosis and neurodegeneration. Journal of Clinical
Moleküle (die molekulare Blaupause zur Proteinherstellung) Investigation 130, 2020
binden und sie aus dem Verkehr ziehen. Das reduziert die Song, W. M., Colonna, M.: The identity and function of microglia
Menge des APOE4-Proteins im Gehirn um etwa die Hälfte. in neurodegenerati on. Nature Immunology 19, 2018
Siehe da: Dies schützte die Neurone, sobald die Tau-Patho- Yuan, P. et al.: TREM2 haplodeficiency in mice and humans im-
logie bei den Mäusen einsetzte, und verringerte Entzündun- pairs the microglia barrier function leading to decreased amy-
gen sowie Mikroglia-Aktivierung im Gehirn. loid compaction and severe axonal dystrophy. Neuron 90, 2016

48 Spektrum der Wissenschaft  3.22


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TORFBRÄNDE
ZOMBIEFEUER AUF
DEM VORMARSCH
Im hohen Norden können ver-
meintlich erloschene Brände
nach Monaten wieder zum Leben
erwachen. Heiße, trockene
Sommer und eine Besonderheit
des arktischen Bodens
begünstigen das Phänomen.

Randi Jandt (links) arbeitet als


Feuerökologin und Biologin
am International Arctic Re-
search Center sowie am Alaska
Fire Science Consortium der
University of Alaska Fairbanks.
Die Feuerökologin Alison York
forscht ebenfalls am Internatio-
nal Arctic Research Center und
koordiniert das Alaska Fire
Science Consortium.

 spektrum.de/
artikel/1974547

FEUER nahe dem Skilak-See in Alaska,


ALAMY / DESIGN PICS INC. / DARYL PEDERSON

entzündet durch einen Blitz. Mit der


globalen Erwärmung werden die
elektrischen Entladungen häufiger, vor
allem in arktischen Breiten.

50 Spektrum der Wissenschaft  3.22


AUF EINEN BLICK
FLAMMEN AUS DER TIEFE

1 Der Boden in der Arktis ist von einer dicken Torfschicht


bedeckt. Weil die Sommer in den hohen Breiten heute
länger und heißer ausfallen, trocknet diese Schicht
immer weiter aus.

2 Je trockener der Torf ist, desto tiefer können sich die


Flammen bei einem Brand in den Boden fressen.

3 Mitunter kann das Feuer dort monatelange weiter-


schwelen und sich unterirdisch ausbreiten. Als
»Zombiefeuer« bricht es in der nächsten Feuersaison
wieder an die Oberfläche.

umstürzte, entzündeten sich durch Funken neue Brände,


die sich eigenständig ausbreiteten und daher ihre eigenen
Namen erhielten: das Deshka Landing Fire und das McKin-
ley Fire. Allein ihnen fielen mehr als 130 Häuser und Gebäu-
de zum Opfer, glücklicherweise starb niemand dabei.
Das Swan Lake Fire brannte bis Oktober, als der überfäl-


Am 5. Juni 2019 entfachte ein Blitz während eines lige Regen einsetzte und die Feuerwehr den Flächenbrand
ungewöhnlich frühen Frühlingsgewitters ein Feuer endlich unter Kontrolle bekam. 676 Quadratkilometer Land
mitten im Kenai National Wildlife Refuge auf der Kenai- waren verkohlt. Mehrmals war während der fünf Monate
Halbinsel im Süden des zentralen Alaska. Ende Mai hatten dauernden Feuersbrunst der Sterling Highway geschlossen
hohe Temperaturen dem nassen Frühling ein Ende gesetzt worden, die einzige größere Straße in der Gegend. Im Juni,
und den Waldboden rasch ausgetrocknet. Damit begann Juli und August warnten die Gesundheitsbehörden an
rund acht Kilometer nördlich der Stadt Sterling das Swan einem Drittel aller Tage vor der feinstaubgeschwängerten
Lake Fire zu brennen und breitete sich bei anhaltend war- Luft – betroffen davon waren etwa 60 Prozent der Bevölke-
mem Wetter über einen Monat lang unnachgiebig aus. rung Alaskas. Unternehmen, die vom Tourismus abhängen,
Bereits am 9. Juli waren gut 400 Quadratkilometer Land machten ein Fünftel weniger Umsatz.
ALAMY / DESIGN PICS INC. / DARYL PEDERSON

verbrannt, 400 Menschen bekämpften jetzt die Flammen. Der Winter brachte mit Schnee und Kälte eine Atempau-
Knapp sechs Wochen später, am 17. August, drehte der se, doch im Januar 2020 entdeckte eine Mannschaft beim
Wind, das Feuer änderte seine Richtung, und zahlreiche Präparieren von Schneepisten Rauch an der Stelle, an der
Bewohner wurden evakuiert. Weil der Wind Strommasten wenige Monate vorher noch das Deshka Landing Fire

Spektrum der Wissenschaft  3.22 51


gewütet hatte. Wie die Feuerwehrleute bei ihrer Ankunft Zombiefeuer können sich deshalb wieder entfachen, weil
feststellten, war der Brand niemals vollständig gelöscht in den nördlichen Ökosystemen Bäume nicht der einzige, ja
worden: Er hatte vier Monate lang unterirdisch weiterge- nicht einmal der wichtigste Brennstoff sind. In der baumlo-
schwelt und fraß sich nun wieder durch die Schneedecke sen Tundra und den Nadelwäldern südlich davon bedeckt
an die Oberfläche. Im Juni dann, als es in dem Staat lang- eine dicke Lage aus lebendem und totem Pflanzenmaterial
sam wärmer und trockener wurde, sichtete die Feuerwehr den Boden: der Torf. Er ist eine Ansammlung von abgestor-
dort, wo das Swan Lake Fire gebrannt hatte, ebenfalls benem Moos und Laub, das jeden Sommer anfällt und das
Rauch. Ganze acht Monate lang hatte es unbemerkt unter sich in der Kälte nur sehr langsam zersetzt. Der Torf wird
der Erde weitergeglimmt, sich dort ausgebreitet und loderte zwischen 8 und 50 Zentimeter dick. Die Schicht wächst
jetzt wieder auf. mitunter über Jahrhunderte an und wird dabei immer kom-
Zombiefeuer nennt man diese Art von Feuern, die pakter und dichter, weil jedes Jahr neues Material von oben
scheinbar gelöscht sind, aber tatsächlich unbemerkt im dazukommt.
Untergrund weiter vor sich hin glühen und dann plötzlich Die grüne Oberfläche der Torfschicht besteht haupt­
wieder zum Leben erwachen. Das ist möglich, weil Alaskas sächlich aus Moosen, die weder Wurzeln noch Gefäße für
Feuersaison durch den Klimawandel heißer und länger den Wassertransport besitzen, sondern Feuchtigkeit direkt
wird. Seit 2005 hat die Feuerwehr von 48 Zombiefeuern in aus der Luft aufnehmen. Daher ändert sich ihr Wasserge-
dem Staat berichtet, die den langen Winter überstanden halt fast direkt mit der relativen Luftfeuchtigkeit – selbst
haben. Rebecca Scholten, eine Fernerkundungsspezialistin nach einem Regenguss trocknet das Moos mitunter inner-
der Freien Universität Amsterdam, die mit der Feuerwehr halb von Stunden so weit aus, dass es brennbar wird. Weil
Alaska zusammenarbeitet, hat in Satellitendaten elf weitere die Sommer in den hohen Breiten immer länger, heißer und
nicht dokumentierte Feuer entdeckt. Das ungewöhnliche trockener ausfallen, verwandeln sich weite Bereiche des
Phänomen findet man überall im hohen Norden – auch die Waldbodens dadurch in Pulverfässer, die ein Blitz oder eine
extrem frühen Brände jeweils im März 2020 und 2021 in unachtsame Person leicht entzünden kann. 1000 Quadrat-
Nordsibi­rien gingen darauf zurück. meter Waldboden liefern dann zwischen 10 und 25 Tonnen
Brennstoff für ein Feuer. Die Bäume steuern auf der­selben
Fläche höchstens 7 Tonnen bei – meist sind es noch deut-
KOLLAPS Wenn das Feuer die isolierende Torf- lich weniger, denn die Flammen verzehren oft hauptsäch-
schicht verbrennt, tritt der darunter liegende Perma- lich Nadeln und Zweige und lassen die dichteren Stämme
frost zu Tage und taut auf. Der gesamte Boden stehen.
sackt ab, mancherorts tun sich riesige Krater auf. Bei einem großen Brand gelangt eine gigantische Menge
Eine zerklüftete Landschaft ist die Folge. Kohlenstoffdioxid in die Luft, die zum guten Teil aus dem
Torf stammt. Die dicken Torfschichten in den hohen Breiten
speichern schätzungsweise 30 bis 40 Prozent des weltweit
ERIC MILLER, BUREAU OF LAND MANAGEMENT, ALASKA FIRE SERVICE

im Boden gebundenen Kohlenstoffs. Als 2015 rund 2,1 Mil­


lionen Hektar Land in Alaska verbrannten, gelangten knapp
9 Millionen Tonnen Kohlenstoff aus der stehenden Vegeta­
tion in die Luft – und 154 Millionen Tonnen aus dem Torf,
errechnete Christopher Potter von der Earth Sciences Divi-
sion der NASA im Jahr 2018. Hierbei hat er auch berück-
sichtigt, wie viel Kohlenstoff in den zwei darauf folgenden
Jahren durch Zersetzung und Erosion freigesetzt wird. Ins-
gesamt wurde durch das Feuer so viel CO₂ frei, wie Autos
und Lkws in Kalifornien im Jahr 2017 in Summe ausgesto-
ßen haben.
Der brennende Torf birgt aber noch ein weiteres Prob-
lem: Die dicken, kompakten Lagen organischen Materials
bilden normalerweise eine zuverlässige Isolierschicht über
dem gefrorenen Boden darunter. Taut dieser mindestens
zwei Jahre in Folge nicht auf, nennt man ihn Permafrost –
im größten Teil Alaskas ist er seit dem Pleistozän vor zehn-
tausenden Jahren durchgängig gefroren. Je dicker die
Isolierschicht, desto kälter bleibt er: Pro 1,3 Zentimeter
Torfdicke gewinnt der frostige Boden 0,6 Grad Celsius an
Kälte. Verbrennt der isolierende Torf jedoch, taut der Per-
mafrost, und ganze Teile Alaskas verwandeln sich in eine
weiche, instabile Masse. Schon allein durch die globale
Erwärmung wird Alaska Voraussagen zufolge bis 2100 ein
Viertel seines Permafrosts verloren haben. Die zunehmen-
den Feuer beschleunigen den Prozess stark, denn sobald

52 Spektrum der Wissenschaft  3.22


DIE TORFSCHICHT im hohen Norden kann bis zu
50 Zentimeter dick werden (Lineal, oben). Wie viel
BEIDE FOTOS: RANDI JANDT

davon nach einem Brand verschwunden ist, über­


prüfen Fachleute mit Hilfe von Metallstäben, die vor-
her in den Torf eingebracht wurden (links).

die isolierende Schicht weniger als 5 Zoll (12,7 Zentimeter) ligsten für Feuer ist. In den Nadelwäldern im zentralen
dick ist, beginnt der gefrorene Boden darunter zu tauen Alaska kommt hauptsächlich die Schwarzfichte vor. Diese
und zerfällt. In den mittleren Breiten Alaskas könnte durch Bäume sind klein, wachsen langsam und stehen dicht
Waldbrände so viel Permafrost auftauen, dass er für immer zusammen. Ihre Äste können bis hinunter zur Torfschicht
verschwindet. reichen und bieten dem Feuer damit eine willkommene
Taut mehr Boden auf, schmilzt außerdem das Eis in den Leiter, an der es hochklettern kann. Als das vorherrschende
unteren Torfschichten und fließt ab, so dass noch tiefer Nadelholz in Alaska in den letzten 7000 Jahren haben sich
liegende Schichten austrocknen. Bei einem Brand kann sich die Schwarzfichten dem Feuer angepasst: Ihre Zapfen
das Feuer dadurch wiederum weiter nach unten fressen. sitzen ganz oben auf den Wipfeln der Bäume und öffnen
Durch diese Rückkopplungsschleife wird höchstwahr- sich nach einem Brand. Dank der ausgestreuten Samen
scheinlich jedes Jahr mehr Fläche verbrennen – für Millio- erholt sich das Ökosystem wieder.
nen von Menschen steigt die Gesundheitsgefährdung, den Weil weite Teile des Staates nur dünn besiedelt sind, ist
Klimawandel dürfte es beschleunigen. Möglicherweise wird es gängige Praxis, auflodernde Feuer in entlegenen Gegen-
die gesamte Region sogar von einer Kohlenstoffsenke zu den lediglich zu beobachten und sie brennen zu lassen, so
einer Kohlenstoffquelle. dass sich die Ökosysteme selbst regulieren. Deshalb hat
Alaska auch kaum das Problem von anderen US-Bundes-
Die schöne Vorstellung vom schneebedeckten Alaska staaten, wo die Wälder oft überwuchert sind und zu viel
Viele stellen sich Alaska als schneebedeckte Fläche vor, die Totholz enthalten, weil Feuer stets bekämpft werden. Dank
nur schwerlich brennen kann. In Wirklichkeit jedoch diesem wenig invasiven Ansatz können Wissenschaftlerin-
herrscht in weiten Teilen des nördlichsten US-Staats, vor nen und Wissenschaftler in Alaska direkt beobachten, wie
allem im Landesinnern, ein kontinentales Klima mit langen, sich Waldbrände durch den Klimawandel verändern, wenn
kalten Wintern und warmen, relativ trockenen Sommern. der Mensch nicht eingreift.
Fliegt man im Sommer über Alaska, blickt man auf eine Bis vor Kurzem fielen den Feuern vor allem Bäume zum
ausgedehnte grüne Landschaft mit Wäldern, Wiesen und Opfer. In den Torf selbst drangen die Flammen nicht allzu
Seen. Das satte Erscheinungsbild trügt allerdings, denn in tief vor, weil die unteren Schichten feucht genug waren.
der Region fällt sehr wenig Niederschlag. Das Wasser, das Unter heißen und trockenen Bedingungen kamen allerdings
die Pflanzen zum Wachsen benötigen, erhalten sie, wenn schon immer gelegentlich schwer wiegende Brände vor, die
der Schnee im Frühling langsam und beständig schmilzt sich bis tief in den Boden gruben. Nach einem Brand ent-
und durch das Auftauen der »aktiven Schicht« direkt unter steht dort, wo die Schwarzfichten standen, meist ein Fli-
dem Torf. In dieser oberen Bodenlage schwanken die ckenteppich aus Wiesen, Buschland und Laubwäldern, in
Temperaturen so weit, dass sie jeden Winter einfriert und denen vor allem Birke, Pappel und Espe wachsen. Jetzt
im Frühjahr wieder auftaut. Doch bei warmem Wetter kann werden diese extremen Ereignisse häufiger und heftiger: In
die Torfschicht innerhalb von ein oder zwei Wochen staub- den letzten Jahren haben Waldbrände in Alaska zuneh-
trocken werden. mend viel Land verbrannt sowie länger und intensiver ge-
Nadelwälder stellen das größte Waldbiom der Erde dar, wütet.
sie bilden 30 Prozent der weltweiten Waldfläche. Gleichzei- Die globale Erwärmung bringt mehr warme Tage, höhere
tig sind sie dasjenige nördliche Ökosystem, das am anfäl- Temperaturen und mehr Trockenheit. Dabei erwärmt sich

Spektrum der Wissenschaft  3.22 53


1930 1940 1950 1960 1970 1980

Verschiedene Faktoren nähren die Feuer


Durch den Klimawandel nehmen Waldbrände in Alaska zu: Weil es heißer ist, vor allem
nachts, trocknen Pflanzen und Waldboden aus und sind dadurch bei Dürre leichter
brennbar. Außerdem bleibt die Schneedecke auf Grund des warmen Wetters nicht so erster großer Brand
lange liegen, so dass wiederum für längere Zeit trockene Bedingungen herrschen. 20. April
Zusammen verlängern diese Faktoren die Feuersaison, und mehr Fläche verbrennt. Feuersaison in Alaska
Ganz ähnliche Muster finden sich in allen arktischen Gebieten der Erde, zum Beispiel in
Sibirien. letzter großer Brand
7. September

verbrannte Fläche 0
in Alaska in
Millionen Hektar
1

JEN CHRISTIANSEN, NACH GRABINSKI, Z. & MCFARLAND, H.R.: ALASKA’S CHANGING WILDFIRE ENVIRONMENT. ALASKA FIRE SCIENCE CONSORTIUM,
INTERNATIONAL ARCTIC RESEARCH CENTER, UNIVERSITY OF ALASKA FAIRBANKS, 2020; TEMPERATUREN: RICK THOMAN, BASIEREND AUF DATEN DER NOAA
SOWIE DES NATIONAL WEATHER SERVICE; SCHNEESAISON: BRIAN BRETTSCHNEIDER, BASIEREND AUF DATEN DES NATIONAL SNOW AND ICE DATA CENTER;
FEUERSAISON: ZAV GRABINSKI, BASIEREND AUF DATEN DES ALASKA INTERAGENCY COORDINATION CENTER; VERBRANNTE FLÄCHE: RICK THOMAN, BASIEREND
AUF DATEN DES ALASKA INTERAGENCY COORDINATION CENTER / SCIENTIFIC AMERICAN OKTOBER 2021; BEARBEITUNG: SPEKTRUM DER WISSENSCHAFT
die gesamte Arktis anderthalb bis viermal so schnell wie die Alaska Divison of Forestry gegen die Flammen – der Wind
gemäßigten Zonen. So hat sich Alaska in den letzten war so kalt, dass die per Helikopter abgeworfenen Wasser-
50 Jahren um 2,2 Grad Celsius aufgeheizt – und seit 2014 massen gefroren.
hat sich der Temperaturanstieg laut David Swanson vom Die Zahl extrem heißer Tage nimmt ebenfalls zu. 2019
Nationalparkservice Alaska Region sogar noch beschleu- meldete Anchorage neue Hitzerekorde und erlebte zum
nigt. Einer der Gründe für diese Arktische Verstärkung ist ersten Mal mehr als 32 Grad Celsius. Nach den aktuellsten
das Verschwinden des Meer- und Landeises: An die Stelle Klimamodellierungen wird das zentrale Alaska bis Mitte des
der reflektierenden hellen Eisflächen treten dunkler Ozean Jahrhunderts doppelt so viele Tage über 25 Grad Celsius im
und Boden, die ungleich mehr Sonnenlicht absorbieren als Jahr verzeichnen wie heute – die Temperatur gilt als Grenz-
Eis und Schnee und dadurch die Erwärmung vorantreiben. wert, bei der brennbare Vegetation austrocknet.
Dabei werden die Winter rascher wärmer als die Som- Nicht nur in Alaska, überall in den hohen Breiten brennt
mer. Weil sich die Effekte addieren, bildet sich die Schnee- es heute häufiger und heftiger als früher. Innerhalb des
decke im Schnitt eine Woche später und schmilzt zwei Polarkreises wurden 2020 so viele Waldbrände per Satellit
Wochen früher als in den 1990er Jahren. Dadurch trocknet beobachtet wie noch nie. Schätzungen zufolge verbrannten
über das Jahr mehr Torf, und so dauert die Feuersaison allein in jenem Jahr 18 000 Feuer etwa 14 Millionen Hektar
heute bereits mindestens einen Monat länger als damals. Land in Sibirien. Die Temperaturanomalien in den umliegen-
Einen Rekord stellte Alaska diesbezüglich 2016 auf: Am den Gegenden waren Aufsehen erregend: Am 20. Juni
17. April verzeichneten die Feuerspringer, die sich mit dem meldete die russische Stadt Werchojansk, die sich auf ähn-
Fallschirm zu Waldbränden in abgelegenen Orten herab­ lichem Breitengrad befindet wie Nordalaska, einen Rekord
lassen, nahe der Stadt Palmer 70 Kilometer nordöstlich der von über 37,7 Grad Celsius. In der Region war nur wenig
größten Stadt Anchorage den frühesten Einsatz in ihrer Niederschlag gefallen, und der Schnee hatte früher zu
67-jährigen Geschichte. Noch im Oktober kämpfte die schmelzen begonnen als jemals seit Beginn der ersten

54 Spektrum der Wissenschaft  3.22


1990 2000 2010 2020

HEISSERE SOMMER
durchschnittliche Sommertemperatur (Alaska)
niedrigste Temperatur
9 °C 11 °C 13 °C höchste Temperatur

MEHR WARME NÄCHTE


Sommernächte über 10° C (gemessen in Fairbanks)

0 45 90
27. September erster Schnee
Trend

KÜRZERE SCHNEESAISONS
Die Schneedecke bildet sich etwa eine
Schneesaison in Alaska
Woche später und schmilzt rund zwei Wochen
früher als noch in den späten 1990er Jahren.

10. Juni Trend


letzter Schnee
LÄNGERE FEUERSAISONS
Seit den 1980er Jahren brechen
die ersten großen Feuer immer früher
im Jahr aus, die letzten später.

MEHR VERBRANNTE FLÄCHE PRO JAHR


JEN CHRISTIANSEN, NACH GRABINSKI, Z. & MCFARLAND, H.R.: ALASKA’S CHANGING WILDFIRE ENVIRONMENT. ALASKA FIRE SCIENCE CONSORTIUM,
INTERNATIONAL ARCTIC RESEARCH CENTER, UNIVERSITY OF ALASKA FAIRBANKS, 2020; TEMPERATUREN: RICK THOMAN, BASIEREND AUF DATEN DER NOAA
SOWIE DES NATIONAL WEATHER SERVICE; SCHNEESAISON: BRIAN BRETTSCHNEIDER, BASIEREND AUF DATEN DES NATIONAL SNOW AND ICE DATA CENTER;
FEUERSAISON: ZAV GRABINSKI, BASIEREND AUF DATEN DES ALASKA INTERAGENCY COORDINATION CENTER; VERBRANNTE FLÄCHE: RICK THOMAN, BASIEREND
AUF DATEN DES ALASKA INTERAGENCY COORDINATION CENTER / SCIENTIFIC AMERICAN OKTOBER 2021; BEARBEITUNG: SPEKTRUM DER WISSENSCHAFT

Aufzeichnungen 1967. Und im Jahr 2021 wurde es noch große Flächen, noch in entfernten Dörfern machten sie
schlimmer: Riesige Brände verwüsteten mehr als 17 Millio- den Menschen das Atmen schwer. Indigene Jäger berich-
nen Hektar Land in Sibirien. Die Feuersaison in der Republik teten, dass der Rauch die Wanderungen der Karibu störte.
Sacha im Nordosten Russlands dauern heute zwei Wochen Weil der Herbst derart trocken war, konnte sich das Feuer
länger als um 2010. Im Mai 2021 rief Island zum ersten Mal tief in den dürregeplagten Torf fressen, wo es bis in den
in seiner Geschichte Waldbrandalarm aus. Die Faktoren, die Oktober hinein weiterschwelte, als die Seen zufroren und
diese Feuer nähren, sind dieselben wie in Alaska. Und auch Schnee die Landschaft wieder bedeckte. Am Ende waren
die Auswirkungen sind die gleichen: Verlust des Perma- mehr als 1000 Quadratkilometer zusammenhängendes
frosts mit all seinen beschriebenen Folgen. Permafrostgebiet zerstört.
Dieses Feuer war so außergewöhnlich, dass eine von
1000 Quadratkilometer Land verwüstet uns (Randi Jandt) eine zehn Jahre dauernde Studie zu den
Ein extremes Beispiel dafür war das Anaktuvuk River Fire Folgen für die Vegetation und die aktive Schicht des Torfs
(ARF) im Jahr 2007. Dabei verbrannte eine riesige Fläche in Angriff nahm. Anfang Juli 2008, zu Beginn des darauf
Tundralandschaft in North Slope, der nördlichsten Region folgenden arktischen Sommers, landete sie mit ihrem
Alaskas auf 70 Grad Breite. Jenseits des Polarkreises auf wissenschaftlichen Team per Helikopter in dem Gebiet, in
67 Grad nördlicher Breite brennt es selten – noch nie wurde dem die Feuersbrunst gewütet hatte. Normalerweise
solch ein schwerer Brand so weit nördlich aufgezeichnet. herrscht in North Slope zu der Jahreszeit kaltes, windiges
Ein Blitz entzündete das Feuer im Juli. Im August schien es und nieseliges Wetter. Doch der Helikopter landete auf
erloschen zu sein, doch es schwelte unbemerkt unter der einer riesigen Fläche aus verkohltem Boden unter einem
baumlosen Oberfläche im Torf weiter und erwachte wäh- klaren, blauen Himmel. Es herrschten unglaubliche
rend des warmen Septembers spektakulär wieder zum 26,7 Grad Celsius – viel zu warm für die Wissenschaftler in
Leben. Die Flammen schickten dicke Rauchschwaden über ihren gefütterten Stiefeln.

Spektrum der Wissenschaft  3.22 55


ALAMY / WORLDFOTO
SCHWARZFICHTEN dominieren die Nadelwälder eine Studie des Atmosphärenphysikers Robert Holzworth
Alaskas. Die Bäume sind an das Feuer angepasst und von der University of Washington aus dem Jahr 2021.
erholen sich oft wieder. Doch nach sehr verheerenden Und laut Modellierungen von Sander Veraverbeke, Professor
Bränden, wie sie immer häufiger vorkommen, siedeln für Fernerkundung an der Freien Universität Amsterdam,
sich an ihrer Stelle Laubbäume wie Birke, Espe und könnte Alaska im Jahr 2050 sogar 59 Prozent mehr davon
Pappel an. Das verändert die Ökosysteme langfristig. sehen als heute (als »heute« definierte er den Mittelwert von
1986 bis 2005), wenn man annimmt, dass die Treibhausgas­
emissionen weiterhin so steigen wie in den letzten Jahren.
Jenseits des Polarkreises hat sich Alaska am stärksten Dadurch könnte dem Forscher zufolge dann jährlich etwa
erwärmt: So ist die mittlere Jahrestemperatur in Utqiagvik eineinhalb mal so viel Fläche verbrennen wie heute.
am nördlichsten Zipfel der Küste von 1976 bis 2018 um Was anschließend mit der verbrannten Landschaft
6,3 Grad Celsius gestiegen, die Herbsttemperaturen sind passiert, hat das wissenschaftliche Team von Randi Jandt
sogar um 10 Grad Celsius höher. Und noch etwas hat in den über die folgenden zehn Jahre verfolgt. Ihre jährlichen
nördlichsten Regionen am stärksten zugenommen: die Zahl Datenmessungen zeigten zunächst Veränderungen, wie sie
der Blitze, die jährlich niedergehen. auch nach anderen schweren Feuern in Alaska und im
Das Team sah, wie sich durch die warmen, aufsteigen- Norden zu beobachten sind. Jedes Mal, wenn die Forsche-
den Luftmassen Kumuluswolken bildeten. Aus dieser Art rinnen und Forscher in der verbrannten Region waren,
von Wolken können Gewitter entstehen. Die Bewohner des erfassten sie die Pflanzenbedeckung und trieben an fest­
Inlands von Alaska sind es gewohnt, dass sich im Sommer gelegten Stellen Metallröhrchen in den Boden, um die Dicke
heftige Gewitter zusammenbrauen – vor allem im Juni und der aktiven Schicht zu messen. Jedes Jahr reichte die
Juli, wenn die Sonne fast 24 Stunden lang am Himmel aufgetaute Bodenschicht weiter hinunter: im ersten Jahr
steht. Durch Blitze entfachte Feuer sind für 90 Prozent der 10 Zentimeter tiefer als außerhalb der verbrannten Fläche,
jährlich verbrannten Fläche in Alaska sowie in Kanadas vier Jahre nach dem Brand waren es 19 Zentimeter. Nach
Tundra und Nadelwäldern verantwortlich. Aber in North zehn Jahren schien sich die aktive Schicht zu erholen –
Slope waren Blitze selten. Eine Älteste der Iñupiat, die ihr möglicherweise setzte sich der Tauvorgang nicht tiefer nach
gesamtes Leben in Utqiagvik verbracht hatte, sagte, sie unten fort.
habe vor 1992 noch nie ein Gewitter erlebt. Pro Grad Celsi-
us Erderwärmung würden in den zusammenhängenden Dramatische Metamorphose
Bundesstaaten der USA 12 Prozent mehr Blitze niederge- Aus diesen Messdaten lässt sich aber nicht annähernd
hen, sagte der Klimaphysiker David Romps von der Univer- erahnen, in welchen Dimensionen sich die Landschaft nach
sity of California in Berkeley 2014 voraus. Auf Grund der dem Feuer verändert hat. Die gesamte Haut der Erde rutsch-
Arktischen Verstärkung wird der Effekt weiter nördlich te ab und riss ein, als der gefrorene Boden auftaute und das
deutlicher zu Tage treten: Ein Team um den Klimawissen- vormalige Eis als Wasser abfloss. Riesige Stücke Erdreich
schaftler Peter Bieniek von der University of Alaska Fair- begannen zu sinken oder abzusacken, weil das tragende
banks errechnete 2020, dass 2019 in Alaska 17 Prozent Gerüst des Permafrosts auseinanderfiel. Vom Helikopter aus
mehr Blitze zu sehen waren als in den 30 Jahren zuvor. In betrachtet sahen weitflächige Bereiche der baumlosen
der Arktis insgesamt hat sich die Zahl der atmosphärischen Landschaft aus wie ein Schachbrett aus Erdquadraten,
Entladungen zwischen 2010 und 2020 verdreifacht, zeigte zwischen denen sich dunkle, spaltenartige Kanäle auftaten

56 Spektrum der Wissenschaft  3.22


und immer tiefer wurden. Wo die Hänge durch das Tauen mit Tauwasser in den Permafrost reichen. Wenn sich in den
instabil wurden, öffneten sich bis zu 60 Meter breite Krater. Nadelwäldern die natürliche Umgebung und das Baumkro-
Eisschollen kamen nach 60 000 Jahren unter der Erde zum nendach verändern, beeinflusst das die Wanderungen der
Vorschein. Tiere. Mikroben in warmem Wasser verdauen mehr des
Um das sich verändernde Land zu vermessen, stießen schon lange im Torf und bisherigen Permafrost gebunde-
Ben Jones und Carson Baughman vom U.S. Geological nen Kohlenstoffs zu den Treibhausgasen Kohlenstoffdioxid
Survey im Jahr 2017 zu den Exkursionen. Mittels Bordradar und Methan.
maß Jones, dass der Boden großflächig zwischen zehn Die zunehmenden Feuer in den nördlichen Wäldern und
Zentimeter und einen Meter weit abgesunken war. Die der Tundra und die damit verbundene kaskadenartige
Oberflächenrauigkeit, ein Maß für die Absenkung des Bo- Veränderung der Ökosysteme haben weltweite Auswirkun-
dens, war in der östlichen Hälfte des verbrannten Gebiets gen, die sich nur mit Hilfe großer Computermodelle ab-
dreimal so hoch wie außerhalb. Das bedeutet: tiefere Risse, schätzen lassen. Solche Simulationen sagen voraus, dass
höhere Hügel, eine größere Oberfläche. sich die Zahl der Brände in nördlichen Gegenden bis zum
Jones und Baughman ließen Messsonden in verbrannten Ende des Jahrhunderts verdoppeln oder gar vervierfachen
und nicht verbrannten Gebieten zurück, die weiterhin die könnte. Der Torf würde dann enorme Mengen an Treibhaus-
Temperatur aufzeichneten. Wie ihre Messungen zeigten, gasen freisetzen. Dadurch würden diese Regionen von
war der Boden in 15 Zentimeter Tiefe in dem verbrannten einer Kohlenstoffsenke zur einer Kohlenstoffquelle, was den
Gebiet im jährlichen Mittel rund 1,5 Grad Celsius wärmer als Klimawandel weiter verstärken würde.
außerhalb, im Sommer maßen die Wissenschaftler im
Boden sogar 6 Grad Celsius mehr. Diese Erwärmung ge-
fährdet nicht nur den Permafrost, sondern beeinflusst auch,
welche Pflanzen in der Region vorherrschen. Zehn Jahre
nach dem Brand hatten sich große Büsche, Gräser und
Mehr Wissen auf
andere Gefäßpflanzen gewaltig ausgebreitet. In wärmeren Spektrum.de
Böden können schnell wachsende Gräser und Weidenbü- Unser Online-Dossier zum Thema
sche die langsamer wachsenden Moose, Farne und Zwerg- finden Sie unter
spektrum.de/t/feueroekologie
sträucher verdrängen, die dort vor der Feuersbrunst haupt- GILITUKHA / STOCK.ADOBE.COM

sächlich anzutreffen waren. Solche Neuzugänge werfen


jedes Jahr mehr trockenes Laub auf die ständig wachsende
Brennstoffschicht als die Moose. Das könnte erklären, Vielleicht gibt es aber auch gute Nachrichten. Siedeln
warum sich im Jahr 2017 gleich zwei neue Feuernarben von sich an Stelle von Nadelhölzern wie der Fichte schwerer
je rund 40 Hektar innerhalb der alten Brandfläche wieder- brennbare Bäume wie Birke oder Espe an, dann werden die
fanden. Dass nach so kurzer Zeit ein Feuer an einer bereits Waldbrände möglicherweise nicht in so starkem Maß
verbrannten Stelle wiederkehrt, ist ungewöhnlich – norma- zunehmen wie vorhergesagt. Denselben Effekt könnte es
lerweise hätten dazwischen mehrere hundert Jahre verge- haben, wenn mehr Regen fällt, weil weniger Meereis vor-
hen müssen. handen ist. Laubbäume reflektieren außerdem mehr Son-
Welche Folgen haben die massiven Brände in der Arktis nenlicht als Nadelbäume – zumindest im Winter, wenn sie
nun im Ganzen? Treibhausgasausstoß, Luftverschmutzung ihre Blätter abwerfen und das Licht durch den darunter
und zerstörte Infrastruktur sind offensichtlich. Schwieriger liegenden Schnee zurückgeworfen wird. Auf den wärmeren
sind die indirekten Konsequenzen vorherzusagen, wobei Tundraböden wachsen bereits jetzt mehr Sträucher, und
manche zu erwarten sind: etwa, dass sich der Boden im letztlich könnten sich dort auch Bäume ansiedeln. Sie
Sommer erwärmt, weil die verkohlte Oberfläche schwarz würden einen Teil des verlorenen Kohlenstoffs wieder
ist, dass die Landschaft zerklüftet und dass sich die Vegeta- binden. Doch der Teufel liegt im Detail. Um zu wissen, wie
tion nach einiger Zeit erholt, wenn die verbrannten Pflanzen die Faktoren sich gegenseitig beeinflussen, müssen wir
wieder austreiben oder neue Samen auskeimen. Tiefere jeden einzelnen von ihnen besser einschätzen können. 
Bereiche des Bodens werden vermutlich saisonal auftauen,
der Permafrost verschwindet womöglich. Wenn das Eis
QUELLEN
taut, werden tiefer liegende Gebiete vielleicht vorüberge-
hend feuchter, so dass dort Gräser, Büsche und Laubbäume Randt, R. R. et al.: Fire effects 10 years after the Anaktuvuk river
tundra fires. Technical report, U.S. Department of the Interior
wachsen.
Bureau of Land Management, 2021
Langfristig könnte sich der Boden allerdings sogar noch
weiter erwärmen, wenn mehr Büsche in der Tundra sprie- Romps, D. M. et al.: Projected increase in lightning strikes in the
United States due to global warming. Science 346, 2014
ßen. Denn zum einen findet auf ihnen mehr Schnee Platz,
der den Boden gegen die kalte Luft isoliert. Abgebrannte Scholten, R. C. et al.: Overwintering fires in boreal forests.
Hänge und Kliffe werden vermutlich trockener, wenn das Nature 591, 2021
Tauen sich in die Tiefe fortsetzt, so dass noch mehr Wasser
nach unten abfließt. Neue Sensoren haben bereits Reser- WEBLINK
voirs nicht gefrorenen Bodens entdeckt, die sich weit unter www.spektrum.de/news/1658352
den verbrannten Flächen befinden und aus denen Kanäle Wie Torfbrände in der Arktis den Permafrost zerstören

Spektrum der Wissenschaft  3.22 57


ZEITREISE
Wissenschaft vor 100 und vor 50 Jahren – aus Zeitschriften der Forschungsbibliothek
für Wissenschafts- und Technikgeschichte des Deutschen Museums

ALS AUCH DER PAPST


KOPERNIKUS GLAUBTE
1922 DER ELEFANTENFUSS –
SO WEICH WIE GELATINE
1972
»Hundert Jahre sind es nunmehr, daß sich – mit Genehmi­ »Elefanten können trotz ihres großen Gewichtes (bis zu
gung des Kardinalskollegiums – die Erde um die Sonne 7000 kg) durch tiefen Schlamm waten, ohne einzusinken
dreht. Als Koppernikus um 1530 seine heliozentrische und festzustecken. Diese Fähigkeiten beruhen auf der
Lehre vom Aufbau unseres Weltsystems entwickelte, Konstruktion des Elefantenfußes. Beim Aufsetzen breitet
stieß er wohl auf Widerspruch; Luther schalt ihn einen sich dieser wie ein mit Gelatine gefüllter Beutel aus, beim
Narren; Melanchthon riet, die gottlose Lehre zu unterdrü­ Abheben nimmt der Fuß wieder seine normale Form an.
cken. Aber erst 100 Jahre später griff die Kirche ein. Ihre Auch das Durchqueren von Urwald erfolgt leise, indem
Zensurbehörde, die heilige Kongregation, erließ 1616 die durch elastisches Bindegewebe gepolsterten Füße als
folgenden Erlaß: ›… daß die Bücher des Koppernikus und Puffer wirken, die Geräusche dämpfen.« Naturwissenschaftliche
alle anderen, die dasselbe lehren, bis zur Verbesserung zu Rundschau 3, S. 115
verbieten sind.‹ Erst 1822 entschied das Kardinalskolle­
gium, daß auch in katholischen Ländern die Lehre des
Koppernikus verbreitet werden dürfe.« Die Umschau 10, S. 156 ATOME ENDLICH SICHTBAR
»Atome mit einem Mikroskop sehen zu können, war schon
immer ein Wunsch der Physiker. Daß dies mit einem Licht­
EIN OMNIBUS AUF SCHIENEN mikroskop nicht möglich ist, hatten sie früh erkannt. Nun
»Zur Verringerung kann man tatsächlich mit dem Feldionenmikroskop die
der Betriebskosten oberste Schicht von Metallkristallen so abbilden, daß die
ist die Winchester gitterförmige Lagerung der Atome sichtbar wird. Doch
and Western Rail- jetzt ist auch das Elektronenmikroskop auf [diesen] Stand
road in Virginia auf gebracht worden. Jedes Atom gibt dabei nur einen Punkt
folgenden Ausweg auf dem Mikrofoto. Auch gelingt es nur, besonders
verfallen. Sie hat schwere Atome sichtbar zu machen, da leichtere keinen
auf das Chassis ausreichenden Kontrast geben.« Kosmos 3, S. *67
eines 2½ t-Last­
kraftwagens eine
Omnibuskarosserie HOHER BLUTDRUCK IM FERNSEHEN
Der Kraftwagen als Eisenbahn. für 34 Personen »Bluthochdruck ist charak­
montieren lassen. terisiert durch eine Veren­
Als einzige Abänderung wurde der Kraftwagen mit klei­ gung der kleinen Gefäße,
ABBILDUNGEN AUS ZEITSCHRIFTEN DES DEUTSCHEN MUSEUMS

nen Rädern versehen, außerdem wurde – nach amerikani­ die den Zu- und Abfluß des
scher Sitte – ein Räumer vorgebaut. Der Wagen soll sich Blutes im Körpergewebe
gut bewähren und ist beim Publikum beliebt. Er stellt für regeln. Hoher Blutdruck ist
Kleinbahnen etwa das dar, was auf der Hauptbahn der einer der Faktoren, die zu
Triebwagen ist.« Die Umschau 11, S. 172 Herzkranzgefäßerkrankun­
gen, Schlaganfall und Nie-
renversagen führen. Medi­
PETROLEUM ALS FLIEGERTREIBSTOFF? kamente greifen aber nicht
»Auf Seeland fand vom Flugplatz Lundtofte bei Kopenha­ an der Ursache des Lei­
gen aus die erste Fahrt in der Welt mit einem Flugzeug dens an. Welche Verände­
statt, das Petroleum als Feuerung benutzte. Es handelt rungen erzeugen hohen Der Monitor zeigt den Blutstrom
sich um einen Petroleumkarburator, eine Erfindung des Blutdruck? Um dieser in einem Rattenmuskel.
Dänen Ellehammer. Der Karburator [war] in eine Rumpler­ Frage auf den Grund zu
maschine mit 150 PS-Benzmotor eingesetzt worden. Der gehen, untersucht Phillip M. Hutchins Ratten mit hohem
Motor lief in jeder Beziehung befriedigend. Er zog ebenso­ Blutdruck. Bei starker Vergrößerung beobachtet er den
gut wie mit Benzin, die Erschütterung war geringer, und Blutstrom durch die kleinsten Blutgefäße in den Muskeln.
es entstand nicht der mindeste Ruß. Es wurde eine gerin­ An das Mikroskop ist eine Fernsehkamera angeschlossen,
gere Menge Petroleum als Benzin verbraucht.« Technische so daß die Bilder auf Magnetbänder für einen Vergleich
Monatshefte 3, S. 72 gespeichert werden können.« Die Umschau 5, S. 165

58 Spektrum der Wissenschaft  3.22


FREISTETTERS FORMELWELT
DIE MATHEMATIK
DER UNGLEICHHEIT
CC BY-SA 4.0 (CREATIVECOMMONS.ORG/LICENSES/BY-SA/4.0/LEGALCODE)

Wie das Vermögen einer Bevölkerung verteilt ist,


FRANZI SCHÄDEL (FLORIAN-FREISTETTER.DE/PRESSE/) /

vermag die Mathematik aufzuzeigen. Das damit verbun­


dene Problem kann sie aber leider nicht lösen.

Florian Freistetter ist Astronom, Autor und


Wissenschaftskabarettist bei den »Science Busters«.

 spektrum.de/artikel/1974550

J
edes Jahr muss man sich mit Bürokratie beschäfti- Daraus lässt sich 1,0

gen und seine Steuerunterlagen auf den neuesten ein Diagramm Beispieldaten
Stand bringen. Dabei denkt man unweigerlich erstellen, auf des- perfekte Gleichheit

über die eigene finanzielle Lage nach. Wie wohlha- sen x-Achse der
bend oder gar reich man sich fühlt, hängt sicherlich von Bevölkerungsanteil 0,5
der individuellen Situation ab. steht, und auf der
Aber da es um konkrete Zahlen geht, lässt es y-Achse der Anteil
sich auch ganz objektiv einschätzen. Wer mehr als des Gesamtvermö-
600 000 Euro besitzt, gehört zu den reichsten zehn gens, den dieser Teil 0,0
0,0 0,5 1,0
Prozent der Menschen in Deutschland. Mit über einer der Bürger besitzt.
Million Euro zählt man zum wohlhabendsten Prozent, Es ist klar, dass die resultierende Kurve stets bei (0; 0)
das – zumindest noch im Jahr 2017 – so viel Vermögen startet und bei (1; 1) endet. Niemand hat nichts und alle
besaß wie die ärmsten 75 Prozent der Deutschen. zusammen besitzen alles. Dazwischen wird es aber
Wenn ein Prozent über mehr Geld verfügt wie drei interessant. Der erste Datenpunkt im genannten Bei-
Viertel der Bevölkerung, dann klingt das unfair. Kein spiel würde bei (0,5; 0,02) liegen: Die Hälfte der Men-
Wunder also, dass die Debatte schnell emotional wird, schen hat zwei Prozent des Vermögens. Der nächste
sobald es um Vermögen und gerechte Verteilung geht. Punkt folgt bei (0,9; 0,35), da die 40 Prozent hinzukom-
Daher sollte man ein vernünftiges mathematisches men, die insgesamt ein Drittel der Werte besitzen (0,5
Fundament für die Diskussion schaffen. Zum Beispiel + 0,4 = 0,9 und 0,02 + 0,33 = 0,35). Wenn man so
durch Lorenz-Kurven und den Gini-Koeffizienten. Letz­ weitermacht, erhält man eine Kurve, die zuerst sehr
terer lässt sich durch eine Formel bestimmen, die in langsam, schließlich aber extrem steil zu (1; 1) ansteigt.
ihrer Einfachheit einen falschen Eindruck der dahinterlie- Wäre das Vermögen völlig gleich verteilt, ergäbe sich
genden Komplexität erwecken kann. eine »Gleichheitslinie«, die unter einem Winkel von
Um die Hintergrün- 45 Grad von (0; 0) nach (1; 1) verläuft. Die Lorenz-Kurve
de bei der Berechnung liegt immer darunter – umso mehr, je ungleicher die Ver-
des Gini-Koeffizienten teilung ist. Die Fläche zwischen der Kurve und der
G zu verstehen, muss Gleich­heitsgeraden wächst also mit zunehmender
man mit der Lorenz- Ungleichheit. Genau das drückt die Formel für den
Kurve starten. Diese Gini-Koeffizienten aus. A entspricht der Fläche unter der
hat der US-amerikanische Ökonom Max Otto Lorenz Gleichheitslinie, B jener unter der Lorenz-Kurve.
Anfang des 20. Jahrhunderts entwickelt, um das Aus- 2017 lag der Gini-Koeffizient in Deutschland bei
maß an Ungleichheit in Verteilungen zu veranschauli- 0,83 – höher als in jedem anderen Land des Euro­-
chen. Man kann zum Beispiel folgende Vermögensver- raums und höher als in den Jahren zuvor. Man kann
teilung innerhalb einer Bevölkerung betrachten: Ein durchaus über die Interpretation des Koeffizienten
Prozent besitzt 40 Prozent des gesamten Vermögens; diskutieren, etwa die unterschiedlichen Arten, ihn zu
9 Prozent haben ein Viertel, 40 Prozent verfügen über berechnen, und die Qualität der zu Grunde liegenden
ein Drittel und die restlichen 50 Prozent besitzen zusam- Daten. Klar ist aber: Die Schere zwischen Arm und
men zwei Prozent der Vermögenswerte. Die Zahlen Reich wird größer. Dieses Problem lässt sich mit Mathe-
entsprechen annähernd der Situation in Österreich. matik allerdings nur bedingt lösen.

Spektrum der Wissenschaft  3.22 59


KOMPLEXES INNEN-
LEBEN Das Plasma-
gefäß des For-
schungsreaktors
Wendelstein 7-X
ALAMY / PICTURE ALLIANCE / DPA / STEFAN SAUER

in Greifswald, hier
ohne Wandver­
kleidung.

60 Spektrum der Wissenschaft  3.22


ENERGIETECHNIK
WETTLAUF ZUM ERSTEN
FUSIONSREAKTOR
Mit dem Versprechen, schon im kommen-
den Jahrzehnt die Kernfusion endlich
kommerziell nutzbar zu machen, konnten
sich zuletzt gleich mehrere Start-ups
Milliarden­investitionen sichern. Der Opti­
mismus in der Branche ist groß; die
technischen Herausforderungen sind es
ebenfalls.

Philip Ball ist Wissenschafts­


journalist in London.

 spektrum.de/artikel/1974559

AUF EINEN BLICK


TURBO AUS DER PRIVATWIRTSCHAFT

1 Bei der Verschmelzung zweier Wasserstoffkerne wer­


den ungeheure Energiemengen frei. Deshalb wollen
Ingenieure schon seit den 1950er Jahren den Prozess,
der unsere Sonne antreibt, in Kraftwerken nutzbar
machen.

2 Die Bändigung des heißen Plasmas erwies sich jedoch


als überaus anspruchsvoll und erfordert komplizierte
und teure Geräte. Groß angelegte Forschungsvorhaben
kamen daher nur langsam voran.

3 Neue Materialien, Fortschritte bei Computersimula­


tionen und alternative Konzepte könnten Abkürzungen
ALAMY / PICTURE ALLIANCE / DPA / STEFAN SAUER

ermöglichen. Unternehmen warben dafür zuletzt


üppige Finanzmittel ein.

Spektrum der Wissenschaft  3.22 61



Auf den ersten Blick wirkt das alte 450-Seelen-Dorf
Culham westlich von London nicht wie ein Ort, an dem
eine Schlüsseltechnologie der Zukunft entwickelt wird.
Aber von 2022 an soll hier auf einem ehemaligen Flugfeld in
einem glänzenden Gebäude aus Glas und Stahl ein Experi­
ment starten, das der Menschheit vielleicht einen Weg
weist, wie sie im 21. Jahrhundert und darüber hinaus ihren
Bedarf an sauberer Energie decken kann.
Der Forschungsgegenstand ist die Kernfusion. Deren
kommerzielle Nutzung ist einem spöttischen Bonmot
zufolge seit Jahrzehnten konstant 30 Jahre entfernt. Doch
nun scheint die Marktreife etwas näher zu rücken. Laut
einer im Oktober 2021 durchgeführten Umfrage des Bran­
chenverbands Fusion Industry Association (FIA) engagieren
sich in dem Sektor inzwischen weltweit mehr als 30 Fir­
men. Davon haben 18 Angaben zu ihrer Finanzierung ge­
macht. Demzufolge hatten sie zu dem Zeitpunkt bereits
insgesamt mehrere Milliarden US-Dollar eingeworben, die
fast ausschließlich aus Privatinvestitionen stammen. Für die
rasche Entwicklung waren Fortschritte in der Materialfor­
schung und in der Computertechnik ausschlaggebend. Sie
ermöglichen heute wagemutigere technologische Ansätze,
die über die etablierten Konstruktionen hinausgehen, auf
die nationale und internationale Wissenschaftsbehörden
bislang setzen.
In Culham ist seit Jahrzehnten die britische Fusions­
forschung beheimatet. Das neue Projekt soll nun eine
Demonstrationsanlage für das Unternehmen General
TOMÁŠ MÜLLER; BALL, P.: THE RACE TO FUSION ENERGY. NATURE 599, 2021; BEARBEITUNG: SPEKTRUM DER WISSENSCHAFT

Treibstoffmix

+ +
Deuterium­ Tritium- Helium- Neutron
kern kern 4-Kern

In den meisten der geplanten Reaktoren sollen die


Wasserstoffvarianten Deuterium und Tritium
+
verschmelzen. Die Fusionsreaktion zündet bei
etwa 100 Millionen Kelvin. Dabei wird Energie frei-
gesetzt, +
außerdem entkommen Neutronen.+ Die
ungeladenen Teilchen lassen sich nur schwer
ITER ORGANIZATION
einfangen und können das Material des Reaktors
beschädigen. VAKUUMTANK Mehrere riesige Bauteile wie
dieses werden das Plasma bei ITER beherbergen.

+
Fusion aus dem kanadischen Burnaby werden. Der Betrieb
soll 2025 beginnen, und das Unternehmen will bereits
Proton Bor-11-Kern Helium-4-Kerne Anfang der 2030er Jahre Reaktoren zum Verkauf anbieten.
Der Geschäftsführer Chris Mowry will mit seiner Firma
Ein alternatives Gemisch setzt auf die Fusion »erstmals auf großen Skalen die praktische Umsetzbarkeit
von Protonen mit Bor-11. Dabei werden keine für Kraftwerke zeigen«. Es sei denn, die Konkurrenz kommt
Neutronen erzeugt. Die Zündung erfordert aller­ ihm zuvor.
dings deutlich höhere Temperaturen. Die Pläne für den Prototypen von General Fusion veran­
schaulichen, wie sich Teile des Forschungszweigs ge­
wandelt haben. Inzwischen betreten neben aufwändigen,

62 Spektrum der Wissenschaft  3.22


ITER ORGANIZATION

öffentlich finanzierten nationalen oder internationalen hatte im April 2021 schon rund 880 Millionen Dollar einge­
Vorhaben zunehmend kleinere, imagebewusste Unterneh­ sammelt. »Unternehmen bauen inzwischen auf dem Niveau
men die Bühne, oft mit staatlicher Unterstützung. In dem dessen, was bisher Regierungen geleistet haben«, fasst Bob
Feld werden gern Parallelen zur Raumfahrtindustrie gezo­ Mumgaard, der Geschäftsführer der US-Firma Common­
gen. Auch diese wurde anfangs durch Regierungsprojekte wealth Fusion Systems, den Trend zusammen.
vorangebracht, profitiert nun aber von der Tatkraft und dem Ähnlich wie sich gerade ein privater Raumfahrtsektor
Ideenreichtum privater Konzerne, wenngleich vielfach etabliert, halten Branchenbeobachter kommerzielle Fusi­
institutionell gefördert. Mowry spricht mit Blick auf Elon onskraftwerke innerhalb eines Jahrzehnts für möglich.
Musks Raumfahrtunternehmen vom »SpaceX-Moment für TAE-Geschäftsführer Michl Binderbauer gibt sich optimis­
die Kernfusion«. tisch: »Die Chancen stehen gut, in weniger als zehn Jahren
Entsprechend wittern Investoren ihre Chance auf Ren­ so weit zu sein.« Im FIA-Bericht vertrat die Mehrheit der
dite. So gehören Konzerne wie Google und die Investment­ Befragten die Ansicht, in den 2030er Jahren würde bereits
bank Goldman Sachs zu den Geldgebern des Unterneh­ irgendwo auf der Welt die Kernfusion Energie ins Strom­-
mens TAE Technologies im kalifornischen Foothill Ranch. Es netz speisen.

Spektrum der Wissenschaft  3.22 63


ITER ORGANIZATION
RIESIGE SPULE D-förmige Magnete werden Thomas Klinger vom Max-Planck-Institut für Plasmaphy­
einen Teil des Feldes erzeugen, das bei ITER dem sik (IPP) in Greifswald nimmt jedenfalls eine geänderte
Einschluss des Plasmas dient. Stimmung wahr. Er stellt die Rolle der Kernfusion als »einzi­
ge Primärenergiequelle im Universum« heraus, die wir noch
nicht kontrolliert nutzbar gemacht haben. Den Prozess, der
Trotz der unbestreitbar guten Aussichten halten Fachleu­ die Sterne antreibt, konnten die Menschen bislang nur in
te, die nicht für Privatunternehmen arbeiten, solche Vorher­ Form der Wasserstoffbombe auf die Erde holen. Seit den
sagen für zu optimistisch. Tony Donné von der Technischen 1950er Jahren träumen Ingenieure davon, ihn ebenso für
Universität Eindhoven etwa mahnt: »Die Firmen nennen die Stromerzeugung zu erschließen, wie es mit der Kern­
den Zeitrahmen lediglich, um Geldgeber anzulocken. Sie spaltung in Atomkraftwerken gelungen ist.
alle haben stets erklärt, bloß rund zehn Jahre von einem Bei letzterem Prozess wird Energie beim Zerfall schwerer
funktionierenden Fusionsreaktor entfernt zu sein, und sie Atome wie Uran freigesetzt. Während der Kernfusion
tun es weiterhin.« Die britische Plasmaphysikerin Melanie hin­gegen entsteht nutzbare Energie durch die Verschmel­
Windridge, die als Kommunikationsberaterin für die zung sehr leichter Atome, in der Regel Wasserstoff. Da sich
Fusions­firma Tokamak Energy in Culham arbeitet, sieht die positiv geladenen Kerne abstoßen, ist ihre Fusion nur
solche Zeitpläne weniger als Versprechen, sondern viel­ möglich, wenn sie mittels ungeheuer hoher Temperaturen
mehr als Motivation: »Ich halte kühne Ziele für nötig.« und Drücke genügend nah zusammengebracht werden,

64 Spektrum der Wissenschaft  3.22


damit sich aus ihnen ein neuer, schwererer Kern bilden

GENERAL FUSION
kann (siehe »Treibstoffmix«). Die meisten technischen
Ansätze verwenden die Wasserstoffisotope Deuterium (D)
und Tritium (T), die zusätzlich ein beziehungsweise zwei
Neutronen im Kern enthalten. Die Gase werden stark erhitzt
und bilden daraufhin ein Plasma, einen besonderen
Materie­zustand aus geladenen Teilchen. Darin verschmel­
zen dann die Atomkerne. Im Fall von Deuterium und Tritium
sind dafür niedrigere Temperaturen und Teilchendichten als
bei normalem Wasserstoff nötig.

Schwer beherrschbares Sternenfeuer


Bei der D-T-Fusion entsteht Strahlung in Form von Neutro­
nen, aber im Gegensatz zur Kernspaltung bleiben keine
langlebigen radioaktiven Abfälle zurück. Deshalb und aus
einem zweiten Grund gilt sie als sicherer: Sie kann leicht
abgeschaltet werden. Unterschreitet das Plasma kritische
Schwellenwerte für Temperatur oder Dichte, stoppen die
Kernreaktionen sofort.
Diese Bedingungen zu erreichen, macht die kontrollierte
Fusion zugleich so schwierig. Es ist eine enorme Herausfor­ PLASMA-INJEKTOR Ein Techniker von General Fusion
derung, ein Plasma bei Temperaturen von etwa 100 Millio­ arbeitet an einem der Geräte des Unternehmens.
nen Grad einzuschließen, viel mehr, als im Zentrum der
Sonne herrschen. In der Regel dienen dazu Magnetfelder.
Sie halten das Plasma im Reaktor in der Schwebe, so dass mit ihm die Fusionsprozesse lange genug aufrechtzuerhal­
es nicht in Kontakt mit den Wänden kommt, wodurch es ten, um daraus mehr Energie zu gewinnen, als man hinein­
schlagartig abkühlen würde. Es treten allerdings immer steckt.
wieder Instabilitäten auf, die das Einschließen erschweren. Bis zum Anfang des Jahrhunderts war das eine derart
Deswegen ist es bislang nicht gelungen, das Plasma und komplexe Herausforderung, dass nur staatlich finanzierte
Projekte die Ressourcen dazu aufbringen konnten. Die
Vorhaben gipfelten in dem heute weltweit größten Fusions­
projekt, dem Reaktor ITER, der in Südfrankreich gebaut
wird und zu dem China, die Europäische Union, Indien,
Im Rausch der Fusion Japan, Korea, Russland und die Vereinigten Staaten beitra­
gen. Er kostet mindestens 20 Milliarden Euro.
Privatunternehmen, die Fusionsreaktoren entwi­ Zwar schreitet dessen Bau voran (siehe »Spektrum«
ckeln, konnten sich bis Ende 2021 bereits mehrere 3/2021, S. 66), und für 2025 sind die ersten Testläufe ge­
Milliarden US-Dollar sichern (Angaben in Millionen plant. Allerdings soll die vollständige D-T-Fusion erst 2035
US-Dollar). stattfinden und bei einer Einspeiseleistung von 50 Mega­
watt bloß eine Leistung von 500 Megawatt erbringen,
vergleichbar mit dem Block eines Kohlekraftwerks. Da ITER
TOMÁŠ MÜLLER; BALL, P.: THE RACE TO FUSION ENERGY. NATURE 599, 2021; BEARBEITUNG: SPEKTRUM DER WISSENSCHAFT

nur Forschungszwecken dient, wird davon nichts ins Strom­


Commonwealth Fusion Systems: 2050
netz fließen.
Auf die mit ITER gewonnenen Erkenntnisse könnte eine
Reihe weiterer großer Reaktoren folgen. China visiert für die
TAE Technologies: 880
2030er Jahre den China Fusion Engineering Test Reactor
an, ebenso planen sowohl Südkorea als auch die EU den
Helion Energy: 578
Bau von Demonstrationskraftwerken.
Auf der Suche nach emissionsarmen Energiequellen für
die Bewältigung des Klimawandels kommt das alles zu
General Fusion: 200 spät, selbst wenn sich die Kernfusion in der zweiten Hälfte
des Jahrhunderts allmählich als ein Bestandteil der Energie­
infrastruktur etablieren sollte. Kommerzielle Unternehmen
Tokamak Energy: 200 hoffen jedoch, schon früher funktionierende und er­
schwingliche Reaktoren auf den Markt zu bringen.
Wie bei der Weltraumforschung besteht einer der Vor­
andere (12 Unternehmen): 302 teile eines privaten Sektors in der größeren Vielfalt an
Ansätzen, bei denen auch solche ausprobiert werden, die
bei staatlichen Finanzierungsrunden nicht in die engere

Spektrum der Wissenschaft  3.22 65


Fragen zu beantworten«, sagt Klinger. »Es handelt sich um

GRETCHEN ERTL, CFS/MIT-PSFC, 2021


eine nie da gewesene Art von Maschine, da muss man
Geduld mitbringen und Schritt für Schritt vorgehen.« Auch
Klinger merkt an, Privatunternehmen würden sich mit Blick
auf ihre Investoren zwar kurzfristige Ziele setzen. Das
bedeute aber nicht automatisch, dass diese so schnell
erreichbar wären.
Einige private Fusionsunternehmen halten am Tokamak-
Design fest, allerdings in verkleinerter Form. Beim briti­
schen Unternehmen Tokamak Energy arbeitet ein 165-köpfi­
ges Team an einer kugelförmigen Variante in der Form
eines entkernten Apfels. Mit einem Durchmesser von
3,5 Metern wird er um ein Vielfaches kompakter sein als
der Stahltank von ITER, der inklusive der ihn umgebenden
Kühlapparaturen fast 30 Meter breit und hoch sein wird.
Auch einige staatlich finanzierte Projekte erwägen die
kugelförmige Bauweise. So will die britische Kernenergie­
behörde UKAEA mit dem Projekt STEP (Spherical Tokamak
for Energy Production) einen Prototyp bauen, die bis 2040
mindestens 100 Megawatt in das nationale Stromnetz
RIESENMAGNETE Hochtemperatur-Supraleiter einspeisen soll.
sollen die starken Felder im Reaktor SPARC von Der Schlüssel zu solchen Entwürfen ist eine neue Gene­
Commonwealth Fusion Systems hervorrufen. ration leistungsfähiger Magnete. Sie bestehen aus Hoch­
temperatur-Supraleitern und erzeugen wesentlich stärkere
Felder als die herkömmlichen supraleitenden Magnete, die
Auswahl kommen. So wird bei ITER ganz konservativ die bei ITER verwendet werden. Damit ermöglichen sie eine
älteste und erprobteste Methode zum Einschluss des völlig andere Herangehensweise, nicht nur wegen der
Plasmas weiterentwickelt. In einem so genannten Tokamak Feldstärke. Herkömmliche Supraleiter benötigen eine
halten starke Magnete das Plasma in einem torusförmigen Heliumkühlung. Technisch gesehen ist das ein Albtraum,
Behälter. Der Strom der elektrisch geladenen Plasmateil­ denn flüssiges Helium hat eine verschwindend geringe
chen erzeugt dabei selbst ein Magnetfeld, das zur Eindäm­ Viskosität und entweicht durch jeden noch so kleinen Riss
mung beiträgt. im Kreislauf. Hochtemperatur-Supraleiter lassen sich hinge­
Allerdings ist schon lange klar, dass ein Tokamak zwar gen mit flüssigem Stickstoff kühlen, der billig sowie einfa­
die einfachste, aber nicht die einzige mögliche Konstruktion cher zu handhaben und zu speichern ist.
ist. Bereits in den 1950er Jahren berechnete der US-Astro­
physiker Lyman Spitzer, wie Magnetfelder in einer kompli­ Mit vielfältigen Strategien zur Fusion
ziert verdrillten Schleife eine magnetische Flasche bilden Sowohl Tokamak Energy, die dafür mit der europäischen
könnten, die mit Plasma gefüllt werden kann. Das wird als Großforschungseinrichtung CERN in der Nähe von Genf
Stellarator bezeichnet. Die Lösung der Gleichungen zur zusammenarbeitet, als auch Commonwealth Fusion Sys­
Beschreibung des Teilchenflusses für diese komplexe tems setzen auf die neuartigen Magnete. Letztere Firma
Geometrie war seinerzeit jedoch zu rechenintensiv. Darum gab im August 2021 bekannt, die Magnete in der für ihre
wurde das Konzept nicht weiterverfolgt, nachdem Toka­ Tokamaks benötigten Form hergestellt zu haben – »im
maks ihre prinzipielle Eignung unter Beweis gestellt hatten. Zeit- und Kostenplan«, wie Mumgaard stolz anmerkt.
Als aber von den späten 1980er Jahren an Supercompu­ Commonwealth Fusion Systems ist eine Ausgründung
ter immer stärker Einzug in die Forschung hielten, griffen des Massachusetts Institute of Technology (MIT) in Cam­
Ingenieure die Idee wieder auf. Das führte über mehrere bridge. Klinger hält das seit 2018 operierende Unternehmen
Zwischenstufen zum neuesten Stellarator-Projekt am IPP, für die »vielversprechendste, wertvollste und am besten
dem Reaktor Wendelstein 7-X. Bis zu den ersten Tests 2015 durchdachte privatwirtschaftliche Initiative« in dem Sektor.
verschlang das Unterfangen mehr als eine Milliarde Euro für Es arbeitet gemeinsam mit dem MIT an einer Anlage, die
Bau, Personal und Betrieb. In einem langwierigen Prozess mehr Energie freisetzt, als ihr zugeführt wird. Der SPARC
soll von 2022 an herausgefunden werden, ob und wie sich genannte Reaktor entsteht in Devens, Massachusetts. Er
ein Stellarator für den Dauerbetrieb eignen könnte. soll laut Mumgaard bis Ende 2025 in Betrieb sein und rund
Dieser ist der große potenzielle Vorteil von Stellaratoren. 100 Megawatt erzeugen.
Anders als Tokamaks kann in ihnen das Plasma langfristig First Light Fusion hingegen, das 2011 aus der britischen
eingeschlossen werden, und es müssen nicht starke elektri­ University of Oxford hervorgegangen ist, verfolgt eine
sche Strompulse hindurchgeleitet werden, um Instabilitäten andere Strategie, die so genannte Trägheitsfusion. Hier wird
zu bändigen. Es ist jedoch völlig offen, ob die Stellarator­ das Plasma nicht von Magnetfeldern fixiert, sondern durch
technologie in den kommenden Jahrzehnten Einzug in eine Stoßwelle auf die für die Fusion erforderliche enorme
einen Reaktor hält. »Wir haben noch viele grundlegende Dichte komprimiert. Das Plasma behält seine Form nur für

66 Spektrum der Wissenschaft  3.22


Reaktortypen Tokamak
(ITER und weitere
Anlagen)
Privat und öffentlich finanzierte Supraleitende Mag­
netspulen halten das
Forschungsvorhaben entwickeln Plas­ma in einem
verschiedene Arten von Fusions­ Plasma torusförmigen
Va­kuum­gefäß. Ein
reaktoren. Allen gemeinsam ist Kühlkreislauf mit
ein Plasma aus geladenen Teil­ flüssigem Helium
chen, das bei extrem hohen nimmt die abge-
gebene Wärme-
Temperaturen eingeschlossen energie auf.
werden muss. Dort verschmelzen
die enthaltenen Atomkerne und Magnetspulen

setzen Energie frei. Eine Auswahl


fünf führender Konzepte ver­
deutlicht, wie unterschiedlich die Mini-Tokamak
Herangehensweisen sind. (Tokamak Energy, Commonwealth
Fusion Systems und andere)
Magnete aus Hochtemperatur-
Supraleitern erzeugen stärkere
Felder und können leichter gekühlt
werden. Das erlaubt die Konstruk­
Linearreaktor mit tion kompakterer Tokamaks.
kollidierenden Strahlen
(TAE Technologies)
Das Plasma rotiert schnell im Feld eines
zylinderförmigen Elektromagneten. Brennstoffzuleitung
Kleinere Plasmapakete werden immer Plasma
wieder hineingeschossen.

Vakuumkammer

Kolben
Stellarator
(Wendelstein 7-X)
Magnetspulen mit speziell berechneter, individueller
Form schließen ein kompliziert verdrilltes Plasma
ein. In dieser dreidimensionalen Anordnung bleibt
es besonders lange stabil.

Flüssig­
metall
TOMÁŠ MÜLLER; BALL, P.: THE RACE TO FUSION ENERGY. NATURE

Magnetized Target Fusion


599, 2021; BEARBEITUNG: SPEKTRUM DER WISSENSCHAFT

(General Fusion)
Das Plasma befindet sich in einem
Hohlraum inmitten von sich drehendem
Metall. Dieses wird schnell von
Kolben zusammengedrückt, woraufhin
die Dichte im Plasma steigt und
die Fusion einsetzt.

Spektrum der Wissenschaft  3.22 67


den Bruchteil einer Sekunde allein durch seine Trägheit, onsanlage schon bis Anfang der 2030er Jahre Energie ins
bevor es sich wieder ausdehnt und dabei Energie abgibt. Netz speisen.
Das Konzept gibt es bereits seit den 1950er Jahren, und es TAE Technologies hat in mancher Hinsicht sogar ein
wird seit einem Jahrzehnt in der US-amerikanischen Natio­ noch kühneres Konzept. Die Firma verzichtet gänzlich auf
nal Ignition Facility (NIF) am kalifornischen Lawrence Deuterium und Tritium und nutzt stattdessen Bor-11-Atome
Livermore National Laboratory untersucht. Dort werden sowie Kerne des gewöhnlichen Wasserstoffs, Protonen. Die
erbsengroße Kunststoffkapseln mit D-T-Brennstoff mit nur Idee stammt vom kanadischen Plasmaphysiker und Mit­
Nanosekunden dauernden Laserpulsen beschossen. Gele­ gründer Norman Rostoker. Die so genannte p-11B-Fusion
gentliche Erfolgsmeldungen bezüglich Verbesserungen bei erfordert mit etwa einer Milliarde Kelvin zehnmal höhere
der Energieausbeute bringen das NIF zwar immer wieder in Temperaturen als die D-T-Fusion. Allerdings benötigt die
die Schlagzeilen, aber der Prozess dient vor allem der Reaktion kein knappes Brennstoffmaterial und erzeugt
Grundlagenforschung und hat eher keine kommerzielle keine schwer einzudämmenden Neutronen, welche die
Zukunft. Reaktorumgebung beschädigen könnten. Das sollte die
Im Gegensatz dazu erzeugt First Light Fusion die kompri­ Wartungskosten minimieren und nachhaltigeres Wirtschaf­
mierende Stoßwelle nicht durch Laser, sondern durch eine ten ermöglichen, hofft Binderbauer.
elektromagnetische Kanone, die ein kleines Projektil auf ein
Ziel mit Wasserstoffisotopen schießt. Das Unternehmen Milliardenwetten auf das beste Konzept
hält die Einzelheiten geheim, hat aber erklärt, das Material Beim Gerät von TAE Technologies wird das Plasma in
für eine Fusion auf eine Geschwindigkeit von 50 Kilometern einem Magnetfeld eingeschlossen, das von einer zylindri­
pro Sekunde bringen zu müssen. Das ist doppelt so schnell schen Spule erzeugt wird. Innerhalb dessen rotiert das
wie bei derzeitigen Stoßwellenexperimenten möglich. Plasma um die zentrale Achse; das ruft wie bei einem
General Fusion verfolgt wiederum einen anderen Ansatz, Kreisel eine inhärente Stabilität hervor. Für den Einschluss
der die Fusion mittels magnetischen Einschlusses und die müssen keine starken Magnetfelder von außen angelegt
Trägheitsfusion kombiniert. Bei der »Magnetized Target werden, denn diese produziert das sich drehende Plasma
Fusion« wird das Plasma langsamer zusammengedrückt, größtenteils selbst. Um es in Rotation zu halten, tragen
zum Beispiel mit Hilfe von Kolben, während ein Magnetfeld tangential hineingeschossene Strahlen aus Boratomen zum
das Entweichen verhindert. Die Idee stammt aus den Drehimpuls bei, ähnlich wie Schläge mit der Schnur einen
frühen 1970er Jahren und sucht nach einem optimalen Peitschenkreisel antreiben.
Kompromiss zwischen den Strom fressenden starken Das Unternehmen untersucht den Aufbau seit 2017 mit
Magnetfeldern, die bei einem Tokamak erforderlich sind, einem Testsystem und arbeitet inzwischen am Bau eines
und den energieintensiven Stoßwellen, Lasern oder ande­ Geräts namens Copernicus, das mit Plasmen aus normalem
ren Methoden, die zur schnellen Kompression des Plasmas Wasserstoff oder mit anderen nicht fusionierenden Atomen
bei der Trägheitsfusion verwendet werden.
Bei der Konstruktion in Culham soll eine Zentrifuge eine
mit geschmolzenem Blei und Lithium gefüllte Kammer TESTREAKTOR In einer Halle von TAE

TAE TECHNOLOGIES
drehen. Die Bewegung erzeugt einen Hohlraum im Zent­ Technologies steht die Anlage »Norman«.
rum, in dem das Plasma untergebracht wird. Ein Kolben­
system presst weiteres flüssiges Metall in die Kammer und
komprimiert so im Verlauf einiger zehn Millisekunden das
Plasma. Die Fusion setzt ein; dann wird der Druck zurück­
genommen. Das Ganze wiederholt sich etwa einmal in der
Sekunde.
Ein besonders interessanter Aspekt des Reaktors ist die
Art und Weise, wie er den radioaktiven Brennstoff Tritium
erzeugt. Dieser ist eine sehr teure Ressource, die nur wäh­
rend Kernreaktionen entsteht und schnell wieder zerfällt.
Bei ITER und anderen Konzepten wird Tritium hergestellt,
indem aus dem Reaktor entweichende Neutronen auf ein
»Blanket« aus Lithium treffen. Solche Metallpaneele kleiden
die Innenseite des Reaktors aus. Beim Entwurf von General
Fusion treffen Neutronen auf Lithium, das in dem kompri­
mierenden, flüssigen Metall enthalten ist. Dabei hat das
Unternehmen die größten Herausforderungen erst in den
letzten Jahren gemeistert. Die Ingenieure haben herausge­
funden, wie das Plasma lange genug stabil bleiben könnte,
um komprimiert zu werden, und wie sich die Hülle aus
flüssigem Metall hinreichend schnell und gleichmäßig
zusammendrücken lässt. Dennoch will General Fusion nach
der für 2025 geplanten Inbetriebnahme der Demonstrati­

68 Spektrum der Wissenschaft  3.22


TAE TECHNOLOGIES
TAE TECHNOLOGIES

NORMANS
INNENLEBEN Ein
Laserstrahl im
Reaktorgefäß dient
zur Jus­tierung.

Spektrum der Wissenschaft  3.22 69


betrieben wird. Das vermeidet die Erzeugung von Neutro­ von 500 Millionen Dollar bekannt. Helion Energy will Strom
nen. Mit Computersimulationen soll dann eine Hochrech­ direkt aus der Kernfusion gewinnen. Üblicherweise soll
nung zu den Energien möglich werden, die mit echtem die entstehende Hitze lediglich wie bei allen konventionel­
Fusionsbrennstoff erreichbar wären. Wenn TAE Technolo­ len Kraftwerken Flüssigkeiten erwärmen und Turbinen
gies die für die D-T-Fusion maßgebenden Bedingungen antreiben. Bei dem neuen Konzept werden dagegen entlang
herstellen kann, soll die Technologie an andere Unterneh­ der Strecke eines lang gezogenen Reaktors zwei Plasmen
men lizenziert werden. Das hofft die Firma bis etwa Mitte zusammengeschossen. Die Zone der Verschmelzung wird
des Jahrzehnts zu schaffen. Binderbauer bezeichnet Coper­ dann schnell mit Magnetfeldern komprimiert. Bei der
nicus als notwendige Brücke zu den für die p-11B-Fusion Fusion dehnt sich das Plasma aus, und sein Magnetfeld
erforderlichen Temperaturen. »Wir sind davon überzeugt, wechselwirkt mit dem des Reaktors. Das induziert einen
die Milliarden-Grad-Grenze zu erreichen«, gibt er sich elektrischen Strom. Helion will ein Gemisch aus Deuterium
optimistisch. und Helium-3 nutzen, bei dem keine Neutronen als Neben­
Unter den zahlreichen privaten Fusionsunternehmen produkt entstehen würden. Helium-3 selbst müsste jedoch
nimmt Helion Energy in Everett im US-Staat Washington durch andere Fusionsreaktionen erzeugt werden. Der
eine besondere Rolle ein. Im November 2021 gab das Demonstrationsreaktor des Unternehmens soll bis 2024 in
Unternehmen eine erfolgreiche Finanzierungsrunde in Höhe Betrieb gehen.
Die von Privatunternehmen gebauten Reaktoren sind
kleiner als die ITER-Projekte und entsprechend günstiger.
David Kingham, Mitgründer von Tokamak Energy, geht von
Geräten im Wert von einer Milliarde Dollar aus, und Binder­
Kühne Versprechen bauer hält Systeme für etwa 250 Millionen Dollar für mög­
lich. Das Ziel sind kleine Fusionsreaktoren, die an die beste­
Den ambitionierten Zeitplänen diverser privater henden Stromnetze angeschlossen werden könnten oder
Unternehmen zufolge sollen Fusionsreaktoren in die sich von besonders energieintensiven Branchen wie der
den 2030er Jahren ausgereift genug für einen Metallverhüttung direkt nutzen ließen.
kommerziellen Einsatz sein.
Belebende Konkurrenz
privat finanziert Fusionsexperte Tony Donné mahnt allerdings zur Vorsicht,
öffentlich finanziert was die Aussichten angeht, denn am Markt agierende
Firmen »beschreiten im Vergleich zu öffentlich finanzierten
Helion: geringe Mengen
Nettostrom aus dem Projekten aggressivere Zeitpfade, tragen aber ein viel
Polaris-Reaktor höheres Risiko eines Scheiterns«. Dennoch bekräftigt TAE
ITER: Testläufe
2025 Technologies, noch auf dem Weg zu sein, den es Mitte der
Commonwealth
General Fusion: 2010er Jahre eingeschlagen hat (siehe »Spektrum« 2/2017,
Fusion Systems:
Betrieb einer
Der Reaktor soll mehr S. 60), nämlich bis etwa Ende des Jahrzehnts einen Fusi­
Demonstrationsanlage
Energie freisetzen
als benötigen. onsreaktor zur Marktreife zu bringen.
TAE Technologies: So gibt sich Donné trotz seiner Skepsis versöhnlich: »Ich
marktreife Reaktor- sehe den Aufschwung privater Fusionskonzerne als ein
technik bis Ende
der 2020er Jahre
gutes Zeichen. Es kann für beide Seiten von Vorteil sein,
wenn öffentliche und kommerzielle Projekte eng miteinan­
2030 der verbunden sind.« Das ist sicherlich der Fall. Die Fusions­
Commonwealth Fusion General Fusion: industrie baut nicht nur auf jahrelange staatliche Investitio­
TOMÁŠ MÜLLER; BALL, P.: THE RACE TO FUSION ENERGY. NATURE 599, 2021; BEARBEITUNG: SPEKTRUM DER WISSENSCHAFT

Systems: Anschluss Verkauf von Reaktoren


einer 200-Megawatt-
nen in Kooperationen wie ITER, sondern sie profitiert oben­
Anlage an das Stromnetz drein von Regierungen, die in der konkreten Unterstützung
der eigenen Vorhaben einen Wert sehen.
Mowry hält solche öffentlich-privaten Partnerschaften
First Light Fusion: Tokamak Energy:
erstes Kraftwerk Pilotanlage für den Weg der Zukunft, so wie es bei den COVID-19-Impf­
stoffen der Fall war. Er meint dazu: »Die Kernfusion ist der
2035 Impfstoff gegen den Klimawandel.« Auch Windridge unter­
ITER: Fusion mit streicht, die Pandemie hätte gezeigt, »was machbar wird,
Deuterium-Tritium-
Brennstoffgemisch China Fusion wenn die Mittel vorhanden sind. Wenn wir ein solches
Engineering Test
Reactor: Bau des
Engagement im Energiebereich hätten, wäre es unglaub­
Forschungsreaktors lich, was wir alles erreichen könnten.« 
abgeschlossen
Britische Kernenergie­
behörde will mit dem
Kraftwerk STEP Strom
ins Netz speisen.
2040 © Springer Nature Limited
www.nature.com
Nature 599, S. 362–366, 2021

70 Spektrum der Wissenschaft  3.22


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FINGERSCHNIPPEN MIT
KNALLEFFEKT
Beim Zusammendrücken von Daumen und
Mittelfinger wird Energie elastisch gespeichert
und schließlich schlagartig freigegeben.

H. Joachim Schlichting war Direktor des Instituts für Didaktik der


Physik an der Universität Münster. Seit 2009 schreibt er für »Spektrum«
über physikalische Alltagsphänomene.

 spektrum.de/artikel/1974562

Von einem gewissen Punkt an


gibt es keine Rückkehr mehr.
Franz Kafka (1883–1924)


Das Fingerschnippen ist vermutlich so alt wie die
Menschheit. Das visuell-akustische Signal, das
zwischen Mittelfinger und Daumen einer Hand
erzeugt wird, lässt sich beispielsweise bereits bei den
alten Griechen nachweisen, wie ein bemaltes Gefäß von
zirka 320 v. Chr. bezeugt. Die Geste ist unvermindert
populär, auch wenn sich der Kontext und die Bedeutung
mit der Zeit und der Gesellschaft ändern. Heute beordert
man auf die Weise kaum noch Bedienstete zu sich, dafür
hoffen Schülerinnen und Schüler vorgezogen zu werden,
indem sie sich fingerschnalzend melden.
Diese Art der Tonerzeugung wirkt eleganter und
müheloser als das laute Händeklatschen. Dort
kommt es beim Aufeinandertreffen der Hand­
flächen zu Stoßwellen, die sich durch einen Knall
CUNAPLUS_M.FABA / GETTY IMAGES / ISTOCK

bemerkbar machen. Erstaunlicherweise gelingt das


beim Schnippen ebenfalls, obwohl dabei nur zwei
Finger mit relativ kleiner Fläche aus sehr kurzer Entfer-
nung zusammengebracht werden. Wie man mit etwas
Experimentieren selbst herausfinden kann, entsteht das
typische Geräusch nicht etwa auf Grund des als kraftvoll
empfundenen Aneinandergleitens von Mittelfinger und Dau-
men, sondern erst dadurch, dass der Finger auf den Hand­
ballen unterhalb des Daumens auftrifft. Der Mechanismus ist EVOLUTIONÄRES
überaus wirkungsvoll und ermöglicht große Geschwindig­ ERFOLGSMODELL Der
keiten des Mittelfingers, die zum Auslösen von Schallwellen Daumen liefert der
Menschheit ein beispiel-
los einfaches Instru-
ment zur mühelosen
72 Spektrum der Wissenschaft  3.22 Lauterzeugung.
mehr als ausreichen. Auf keine andere Weise lässt sich Analyse stellten sie mit Hilfe einer Hochgeschwindig-
auf derart begrenztem Raum mit nur zwei Fingern einer keitskamera fest, dass dabei Rotationsgeschwindigkeiten
Hand ein auch nur annähernd so gut hörbarer Laut her- von 7800 Grad pro Sekunde erreicht werden, was
vorbringen. 1300 Umdrehungen pro Minute entspricht. Der ganze
Welches physikalische Geheimnis steckt hinter dem Vorgang dauert nur etwa sieben Millisekunden und ist
Schnippen? Beim Ablauf werden zunächst Daumen und damit 20-mal schneller als ein Augenblinzeln. Überhaupt
Mittelfinger aufeinandergepresst, und zwar mit der können wir kaum eine andere Bewegung derart explosiv
Tendenz, sie zu scheren, das heißt sie gegeneinander zu ausführen. Hinsichtlich der Drehgeschwindigkeit erreicht
verschieben und innerhalb der Gewebe Spannung aufzu- ein professioneller Baseballspieler zwar noch leicht
bauen. Die Hautoberflächen bleiben am Kontaktpunkt höhere Werte, aber was die Beschleunigungen angeht,
anfangs zusammen, während sich tiefere Schichten der sind diese beim Fingerschnippen den Studienautoren
Finger bereits verlagern. Sie werden dabei ähnlich unter zufolge die größten, die je bei Menschen gemessen
Druck gesetzt wie eine elastische Feder, und eine rück- wurden.
wirkende Kraft entsteht. Die Reibungskraft zwischen den Bei ihren Versuchen variierten die Forscher einige der
Kuppen muss so dosiert werden, dass sie zunächst relevanten Parameter, insbesondere den Reibungskoeffi-
bremsend wirkt und ein vorschnelles Abgleiten unter­ zienten. Dazu verwendeten sie unterschiedliche Materia­
bindet. Das funktioniert nur mit passend beschaffenen lien wie Gummihandschuhe oder Fingerhüte. Sie wiesen
Oberflächen. Mit nassen oder fettigen Fingern gelingt nach: Die anfängliche Energiespeicherung vermittels der
Schnippen daher kaum. Haftreibung ist für das Phänomen von entscheidender
Schließlich überschreitet die auf Daumen und Mittel- Bedeutung. Eine wesentliche Rolle spielen außerdem die
finger ausgeübte Scherkraft ein kritisches Maß. Sie wird elastischen Eigenschaften der biologischen Gewebe,
größer als die Haftreibungskraft, und es kommt zum etwa deren Komprimierbarkeit.
abrupten Übergang zur Gleitreibung. Das setzt die ge- Die Forscher beließen es nicht bei der Dokumentation
samte elastische Spannenergie plötzlich frei. Dadurch des realen Prozesses, sondern entwickelten auf Basis
wird der Mittelfinger stark beschleunigt und trifft mit ihrer Ergebnisse ein mathematisches Modell des Finger-
enormer Rotationsgeschwindigkeit auf den Ballen unter- schnippens. Sie gingen stark vereinfachend davon aus,
halb des Daumens. Bis zu dem Auslösepunkt kommt dass die Wechselwirkung zwischen den beiden Fingern
es sehr auf die intuitiv ausgeübte, subtile Kontrolle des einem Feder-Masse-System entspricht (siehe »Federnde
Drucks zwischen Daumen und Mittelfinger an. Finger«). Dabei wirkt eine Kraft, die über eine Feder
Vier US-Forscher um Raghav Acharya vom Georgia vermittelt wird, durch Reibung auf eine andere Masse
Institute of Technology in Atlanta haben die Details des ein, die zunächst als Riegel dient. Die Federkraft ist
Fingerschnippens experimentell und theoretisch näher variierbar. Die davon abhängige Reibungskraft führt als
untersucht. In ihrer im November 2021 veröffentlichten Haftreibung zu einer Speicherung elastischer Energie.
Diese wird dann beim Entriegeln auf einmal freigesetzt
und beschleunigt urplötzlich eine Masse, die an der Feder
FEDERNDE FINGER Stark abstrahiert entspricht die befestigt ist.
Mechanik des Schnippens einem Apparat, bei dem Die Wissenschaftler erhoffen sich auf Basis ihres
eine Feder immer mehr zusammengedrückt wird. An Modells eine Erklärung für ähnliche Vorgänge im Tier-
deren Ende befindet sich eine Masse (der Mittelfin- reich. Zum Beispiel schnappen manche Termiten und
ger), die ein Riegel (der Daumen) zurückhält, bis die Ameisen mit ihren Mundwerkzeugen auf vergleichbare
Kraft groß genug ist. Durch die Entriegelung wird die Weise. Darüber hinaus könnten die Erkenntnisse die
Masse stark nach unten beschleunigt. Entwicklung von fein steuerbaren Aktuatoren für techni-
sche Anwendungen unterstützen.
Anpressen und
Diese Art, Finger aneinander schnalzen zu lassen, ist
Verdrehen des die effektivste – aber nicht die einzige. Wenn die Hand
Spannungsaufbau
Mittelfingers mit bewusst schlaff gelassener Muskulatur in eine Art
Schleuderbewegung versetzt wird, schlägt schließlich
Haftreibung der Zeigefinger auf den Mittelfinger auf. Mit etwas Übung
erzeugt das ebenfalls ein lautes Geräusch. Vielleicht wäre
das ja ein Gegenstand für ein zukünftiges Forschungs­
vorhaben.
SPEKTRUM DER WISSENSCHAFT / MIKE ZEITZ

Daumen
als Riegel

Entriegelung durch
QUELLE
Muskelbewegung Acharya R. et al.: The ultrafast snap of a finger is mediated
by skin friction. Journal of the Royal Society Interface 18, 2021

Spektrum der Wissenschaft  3.22 73


GEOMETRIE
MATHEMATIK MIT FLIESEN
UND BAUKLÖTZEN
Welche Möglichkeiten gibt es,
einen Raum zu kacheln? Eine
an diese Frage angelehnte Ver-


Vor 90 Jahren stellte Ott-Heinrich Keller (1906–1990)
mutung blieb 90 Jahre lang während seiner Dissertation eine inzwischen nach ihm
unbeantwortet – bis ein Com- benannte Vermutung auf, die mit der Kachelung von
Räumen zu tun hat. Keller war kein Fliesenleger, sondern
puter sich ihrer annahm.
Mathematiker. Die Räume, denen er sich widmete, gingen
deshalb über gewöhnliche dreidimensionale Quader hinaus.
Er fing aber mit einem einfachen Beispiel an: Angenom-
TIGGER11TH / GETTY IMAGES / ISTOCK; BEARBEITUNG: SPEKTRUM DER WISSENSCHAFT

men, man wolle die unendlich große zweidimensionale


Kevin Hartnett ist Wissen- Ebene mit quadratischen Fliesen bedecken, ohne dass
schaftsjournalist in Columbia diese sich überlappen oder Freiräume entstehen. Dann
(South Carolina).
müssen die Kanten von mindestens zwei Fliesen vollständig
aufeinandertreffen. Die Vorhersage weitete er auf jede
 spektrum.de/
artikel/1974565 beliebige Dimension aus: Füllt man etwa einen zwölfdimen-
sionalen Raum mit zwölfdimensionalen »quadratischen«
Kacheln, werden am Ende stets zumindest zwei genau
aneinanderstoßen.

74 Spektrum der Wissenschaft  3.22


AUF EINEN BLICK
HARTNÄCKIGE SIEBEN

1 Die Kellersche Vermutung besagt, dass jeder lückenlos


mit gleich großen Kacheln bedeckte Raum notwen­
digerweise zwei Fliesen enthält, die eine gemeinsame
Kante vollständig teilen.

2 Diese Hypothese weitete Keller vor 90 Jahren auf jede


beliebige Raumdimension aus. Fachleuten gelang es,
alle Fälle zu beweisen oder zu widerlegen – bis auf den
siebendimensionalen Raum.

3 Indem vier Mathematiker das Problem auf die Graphen-


theorie übertrugen und mit cleveren Tricks für einen
Computer übersetzten, konnten sie nun auch den sie-
bendimensionalen Fall lösen.

VIELFACH GESTAPELT Es lässt sich leicht erkennen, dass die Hypothese in zwei
Das Füllen eines Volumens Dimensionen wahr ist. Dazu braucht man nur ein Blatt
kann verblüffend kompli- Papier, das man lückenlos mit gleich großen Quadraten
ziert werden. bedeckt, ohne dass sich diese überlappen. Wie man schnell
feststellt, müssen in diesem Fall mindestens zwei der
Schnipsel eine gemeinsame Kante haben. Mit kubischen
Beweisen konnte Keller seinen Verdacht allerdings nicht. Bauklötzen lässt sich ebenfalls rasch einsehen, dass die
Und auch andere Mathematikerinnen und Mathematiker Annahme in drei Dimensionen gilt.
scheiterten: Im Lauf der Jahrzehnte griffen sie die Vermu- 1930 vermutete Keller, diese Beziehung sei für Räume
tung immer wieder auf und konnten sie für gewisse Dimen- und Kacheln in jeder Dimension richtig. Frühe Ergebnisse
sionen sogar belegen. In anderen Fällen zeigten sie hinge- untermauerten seine Vorhersage. Er selbst wies 1937 nach,
gen, dass Keller falschlag. 2002 waren schließlich alle dass die Dimensionen fünf und sechs seine Hypothese
Dimensionen abgearbeitet – nur der siebendimensionale erfüllten und vier Jahre später fand sein Kollege Oskar
Raum blieb übrig. Erst im Oktober 2019 konnte endlich Perron einen entsprechenden Beweis für alle Räume der
auch diese letzte offene Frage geklärt werden. Geknackt Dimensionen eins bis sechs.
hatten das Rätsel aber nicht allein Wissenschaftler, sondern
Computer. Das Ergebnis ist ein weiteres Beispiel dafür, wie Bis zu welcher Dimension ist die Vermutung wahr?
menschlicher Einfallsreichtum in Verbindung mit hoher Nach weiteren 55 Jahren kam jedoch ein Rückschlag, den
Rechenleistung einige der schwierigsten Probleme der der 1990 verstorbene Keller nicht mehr erlebte. Eine neue
Mathematik lösen kann. Generation von Wissenschaftlern fand das erste Gegenbei-
Die Autoren der Arbeit, Joshua Brakensiek von der spiel zur Kellerschen Vermutung: Wie Jeffrey Lagarias und
Stanford University, Marijn Heule und John Mackey von der Peter Shor bewiesen, ist die Annahme in zehn Dimensionen
Carnegie Mellon University und David Narváez vom Ro- falsch. Tatsächlich hatten sie mit dieser Arbeit einen riesi-
chester Institute of Technology, brauchten 40 Rechner, um gen Fortschritt auf dem Gebiet gemacht. Denn sobald die
die Aufgabe zu bewältigen. Nach nur 30 Minuten lieferten Hypothese in einer Dimension widerlegt ist, trifft sie
diese eine kurze Antwort: Ja, die Vermutung trifft in sieben zwangsläufig auch in allen höheren nicht zu, wie aus einem
Dimensionen zu. Glücklicherweise muss man das Ergebnis mathematischen Argument folgt.
TIGGER11TH / GETTY IMAGES / ISTOCK; BEARBEITUNG: SPEKTRUM DER WISSENSCHAFT

nicht einfach nur so hinnehmen. Der elektronische Output Nach Lagarias‘ und Shors Beweis waren also nur noch
wird von einem langen Beweis begleitet, der erklärt, warum die Dimensionen sieben, acht und neun ungeklärt. Es
die Hypothese in siebendimensionalen Räumen richtig ist. dauerte weitere zehn Jahre, bis Mackey 2002 zeigen konn-
Zwar ist die Argumentation zu umfangreich, dass Men- te, dass Kellers Verdacht im achtdimensionalen (und somit
schen sie verstehen. Aber andere Computerprogramme auch im neundimensionalen) Raum nicht erfüllt ist. Damit
können sie gesondert überprüfen. Auch wenn man also blieb nur noch der siebendimensionale Fall offen. Es han-
nicht weiß, wie die Rechner die Kellersche Vermutung im delte sich dabei also entweder um die höchste Dimension,
Detail gelöst haben, kann man sicherstellen, dass ihr Resul- in der sich die Vermutung bestätigen lässt, oder die nied-
tat richtig ist. rigste, in der sie nicht mehr gilt.

Spektrum der Wissenschaft  3.22 75


Über die Jahrzehnte, in denen sich die Mathematikerin- zusammenhängt, lautet: Gibt es eine Gruppe von vier
nen und Mathematiker mit dem Problem beschäftigten, Würfeln, die alle miteinander verbunden sind?
wandelten sich ihre zur Verfügung stehenden Methoden: Derart vollständig zusammenhängende Teilmengen
Perron und Keller benötigten für die ersten sechs Dimensio- innerhalb eines Graphen nennt man »Clique«. Man kann
nen lediglich Bleistift und Papier, während Shor und Lagari- beweisen, dass falls eine solche existiert, die Hypothese
as in den 1990er Jahren die Vermutung völlig neu formulier- von Keller in zwei Dimensionen falsch ist. Doch wie wir
ten, damit ein Algorithmus sich ihr annehmen konnte. bereits wissen, trifft sie für den zweidimensionalen Fall zu.
In Kellers ursprünglicher Form geht es um die Kachelung Deshalb wird man in diesem Netzwerk keine Clique aus vier
eines kontinuierlichen Raums, der unendlich ausgedehnt Würfeln finden. Weil Corrádi und Szabó zeigen konnten,
ist. In diesem gibt es unendlich viele Möglichkeiten, unend- dass das geschilderte Cliqueproblem im Keller-Graphen
lich viele Kacheln gleicher Dimension zu platzieren. Compu- exakt mit der Kellerschen Vermutung übereinstimmt, gilt
ter sind allerdings nicht gut darin, Probleme zu lösen, die auch die Umkehrung: Ist man nicht in der Lage, eine ent-
unbegrenzte Größen enthalten. Um ihre Fähigkeiten zu sprechende Clique zu finden, dann ist die Hypothese für
entfalten, brauchen sie diskrete, endliche Objekte, die sie den betrachteten Fall wahr.
untersuchen können. Deshalb schien die Kellersche Vermu-
tung auf den ersten Blick ungeeignet zur Bearbeitung durch
Algorithmen.
Doch 1990 fanden die ungarischen Mathematiker Ke- Komplexe Kachelung
resztély Corrádi und Sándor Szabó eine Möglichkeit, das zu
ändern. Wie sie herausfanden, sind einige Fragestellungen Die Kellersche Vermutung besagt, dass es immer
zu einem bestimmten endlichen und diskreten Objekt zumindest zwei Fliesen gibt, die eine Kante voll-
identisch zur Kellerschen Vermutung. Wenn es also gelän- ständig miteinander teilen, wenn man eine Ebene
ge, etwas über diese Strukturen zu beweisen, würde man lückenlos und ohne Überlapp kachelt. Gleiches gel-
damit notwendigerweise auch die Hypothese von Keller te für jeden n-dimensionalen Raum.
belegen oder widerlegen. Dadurch konnten Corrádi und
zweidimensionale Kachelung
Szabó eine geometrische Frage zu unendlichen Kachelun-
In der zweidimensionalen Ebene mit gleich großen quadrati-
gen auf ein einfacheres Problem über die Arithmetik weni- schen Fliesen gibt es viele, die vollständig aneinandergrenzen
ger Zahlen reduzieren. (blaue Kanten).

Die Methode der zwei Mathematiker basiert darauf,


einen so genannten Keller-Graphen zu erzeugen. Bei Gra-
phen handelt es sich um Netzwerke, die aus einer endlichen
Anzahl von Punkten (oder Knoten) bestehen und durch
Kanten miteinander verbunden sind. Angenommen, man
wollte die Kellersche Vermutung in zwei Dimensionen
lösen. Dafür kann man sich 16 Spielwürfel auf einem Tisch
vorstellen, wobei bei allen die Seite mit den zwei Augen-
paaren nach oben zeigt (die zwei Punkte spiegeln die
Tatsache wider, dass man sich mit der Hypothese in zwei
Dimensionen befasst). Nun färbt man jeden Punkt mit einer
von vier Farben: rot, grün, weiß oder schwarz. Hat man sie
einmal koloriert, darf man die Würfel nicht mehr drehen.
Die Lage der Punkte auf einem einzelnen Würfel sind nicht
dreidimensionale Kachelung
austauschbar. Anschließend verbindet man zwei Objekte Wenn man den dreidimensionalen Raum mit gleich großen
durch Linien oder Kanten, wenn zwei Bedingungen erfüllt Würfeln lückenlos füllt, wird es zwangsweise mindestens zwei
geben, die eine Seite teilen (blaue Fläche).
sind: An der einen Stelle (zum Beispiel oben rechts auf der
Würfelseite) haben die Punkte unterschiedliche Farben und
an der anderen Position (etwa unten links) sind sie komple-
mentär zueinander gefärbt, also grün und rot oder schwarz
und weiß. Wenn beispielsweise ein Würfel zwei rote und
der andere zwei schwarze Punkte hat, verbindet man sie
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nicht. Sie erfüllen zwar das erste Kriterium, aber die Farben
sind nicht komplementär. Ein rot-schwarzer und ein grün-
grüner Würfel teilen hingegen eine Kante, weil sie beiden
Bedingungen genügen (rot und grün sind komplementär
und grün und schwarz sind verschieden).
Es gibt 16 Möglichkeiten, zwei Punkte mit vier Farben zu
kolorieren. Deshalb arbeitet man mit 16 Würfeln und verbin-
det diese entsprechend den formulierten Regeln. Die ent-
scheidende Frage, die mit der Kellerschen Vermutung

76 Spektrum der Wissenschaft  3.22


Die Würfel stellen zwar nicht direkt die Kacheln aus dem
ursprünglichen Problem dar, das Keller sich überlegt hatte.
Aber es gibt eine gewisse Übereinstimmung zwischen der Unmöglich zu finden
Positionierung zweier Fliesen zueinander und den verbun-
denen Würfeln. Wenn zwei Würfel die gleichen Farben Unten ist ein Keller-Graph für zwei Dimensionen
haben, entsprechen sie Kacheln, die sich an exakt demsel- dargestellt. Wenn man eine Clique von vier Wür-
ben Ort im Raum befinden. Sind sie hingegen verschieden feln finden kann, die alle miteinander verbunden
gefärbt, ohne Komplementärfarben (zum Beispiel falls einer sind, hätte man die Kellersche Vermutung im
schwarz-weiß ist und der andere grün-rot) zu enthalten, zweidimensionalen Fall widerlegt. Da es eine
stellen sie überlappende Fliesen dar – was in der Keller- solche Clique aber nicht gibt, ist die Hypothese
schen Vermutung nicht erlaubt ist. Haben die zwei Würfel richtig.
eine gleiche und eine komplementäre Farbe (wie rot-
schwarz und grün-schwarz), dann teilen sich die dazugehö- Keller-Graph für
zwei Dimensionen
rigen Kacheln eine Kante vollständig. Und schließlich der
entscheidende und letzte mögliche Fall: Wenn die zwei
Würfel unterschiedlich gefärbt und komplementär sind,
steht das für sich berührende Kacheln, die jedoch leicht
gegeneinander verschoben sind, so dass ihre Kanten nicht
exakt aufeinanderliegen.

Das Verfahren funktioniert für jede Dimension,


doch die Zahlen wachsen rasant
Das heißt, im Graph verbundene Würfel stellen Kacheln dar,
die keine vollständige Seite teilen – genau die Art von
Anordnung, welche die Kellersche Vermutung widerlegt.
Wenn es eine Clique gibt, kann man sich vorstellen, dass

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die entsprechenden Kacheln eine bestimmte Fläche lücken-

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los und ohne Überlapp ausfüllen. Sie bilden ein größeres
Objekt, das sich vervielfältigen lässt, um letztlich die kom-
eine vollständig
plette Ebene abzudecken. Damit wäre die Kellersche Ver- verbundene Clique
mutung widerlegt. aus vier Würfeln
Wie Corrádi und Szabó vor etwa 30 Jahren bewiesen, (ist im oberen Bild
nicht enthalten)
kann man das Verfahren nutzen, um die Hypothese in jeder
beliebigen Dimension zu widerlegen. Man muss dafür bloß
die Parameter des Gedankenexperiments anpassen. Doch
die Variablen wachsen rasant an: In drei Dimensionen be-
nötigt man schon 216 Würfel mit drei Punkten auf einer
Seite und sechs Farben. Wieder müssen die Würfel die enthielten, konnten Forscherinnen und Forscher die Räume
gleichen Bedingungen wie zuvor erfüllen, damit man sie in einfachere Strukturen aufteilen. Somit ließen sich die
durch eine Kante verbinden darf. Eine mögliche Clique Möglichkeiten eingrenzen und man sah sich mit einem
würde dann aus acht Würfeln (2³) bestehen, die vollständig simpleren Problem konfrontiert. Das ist für sieben Dimensi-
miteinander verbunden sind. Um die Kellersche Vermutung onen anders. »Sieben ist schwierig, weil sie eine Primzahl
in n Dimensionen zu beweisen, verwendet man Würfel mit ist, was bedeutet, dass man sie nicht in niedrigere Dimensi-
n Punkten und mehreren Farben und versucht, eine Clique onen aufteilen kann«, so Lagarias. »Wir hatten also keine
der Größe 2n zu finden. Wie im zweidimensionalen Fall andere Wahl, als uns mit der gesamten Kombinatorik dieser
kann man sich eine solche Clique als eine Art Super-Kachel Graphen zu beschäftigen.«
(bestehend aus 2n kleineren Kacheln) vorstellen, die den Die Suche nach einer Clique der Größe 128 dürfte für
n-dimensionalen Raum füllen könnte. Menschen eine nicht bewältigbare Aufgabe sein. Aber es
Mackey griff darauf zurück, um die Kellersche Vermu- ist genau die Art von Frage, mit der man einen Computer
tung in acht Dimensionen zu widerlegen. Ihm gelang es, im betraut, obwohl auch dieser sich dabei schwertut. Tatsäch-
Keller-Graph eine Clique aus 256 Würfeln (28) auszuma- lich ist das Cliquenproblem in der Informatik überaus be-
chen. In sieben Dimensionen muss man eine halb so große kannt: Es handelt sich um ein Paradebeispiel für ein »NP-
Struktur aus 128 Würfeln (27) finden. Falls sie existiert, ist vollständiges« Problem. Vereinfacht ausgedrückt heißt das,
die Hypothese in sieben Dimensionen falsch. Beweist man es gibt bisher keinen Weg, die Aufgabe bei wachsender
hingegen, dass es eine solche Clique nicht geben kann, hat Größe der Clique effizient zu lösen. Hat man hingegen ein
man die Vermutung für diesen Fall bestätigt. Ergebnis, lässt es sich recht einfach auf Richtigkeit prüfen –
Tatsächlich erweist sich die Aufgabe in sieben Dimensio- wie bei einem ausgefüllten Sudoku.
nen als extrem schwer. Obwohl die acht- und zehndimensi- Damit Computer überhaupt nach Cliquen suchen kön-
onalen Varianten wesentlich größere Graphen und Cliquen nen, muss man das Problem in eine maschinengerechte

Spektrum der Wissenschaft  3.22 77


Darstellung übersetzen. Die Sprache von Algorithmen
basiert auf Aussagenlogik. Dabei handelt es sich um
eine Art der logischen Argumentation, die festen Regeln Keller-Wörterbuch
folgt und mehrere Einschränkungen enthält, etwa:
Wenn A die Eigenschaft B bedingt und A wahr ist, dann Fachleute haben die Kellersche Vermutung gelöst,
ist auch B wahr. indem sie die Anordnung von Kacheln durch das
Nehmen wir an, Sie und zwei Freunde planen eine Party. Färben von Würfeln ersetzt haben.
Sie versuchen zu dritt, eine Gästeliste zusammenzu-
stellen, allerdings gibt es zwischen einigen poten-
ziellen Gästen Streitigkeiten, die sie vermeiden Konfiguration von Würfeln Übersetzung in Kacheln
möchten. Wenn man beispielsweise Anna einlädt,
sollte Kevin auch kommen. Ein Mitplaner könnte gleiche Farben Kacheln
befinden
vielleicht einwenden, dass Bernhard sich mit Kevin gleich
sich am
nicht versteht und deshalb nur Kevin oder Bernhard selben Ort.
teilnehmen können. Die dritte Mitplanerin möchte
hingegen entweder Anna oder Bernhard oder beide gleich
ausschließen. Ist es angesichts all dieser Bedingun-
gen möglich, eine Gästeliste zu erstellen, die alle
Partyplaner zufrieden stellt? unterschiedliche Farben, keine Kacheln
In der Informatik wird diese Art von Frage als komplementären würden sich
überlappen.
Erfüllbarkeitsproblem (englisch: SAT von satisfiabil­ verschieden
ity) bezeichnet. Man löst es, indem man es in eine
aussagenlogische Formel packt, die im genannten
Beispiel wie folgt aussieht (die Buchstaben A, K verschieden
und B stehen für die potenziellen Gäste): (A ODER
NICHT K) UND (K ODER B) UND (NICHT A ODER
NICHT B). Ein Computer wertet das aus, indem er ein Satz mit komplementären und Kacheln
für jede Variable entweder 0 oder 1 einsetzt. Null einer mit gleichen Farben teilen eine
bedeutet falsch, also nicht eingeladen, und eine Eins gemeinsame
komplementär Kante.
steht für wahr.
Es gibt viele Möglichkeiten, der Formel Einsen
und Nullen zuzuweisen. Gemäß der Rechenregeln gleich
für logische Operatoren wie »ODER« und »NICHT«
berechnet der Algorithmus einen Wert von 0 oder 1
für die gesamte Aussage. Ersteres bedeutet, dass
ein Satz mit komplementären und einer Kacheln
nicht alle Bedingungen erfüllt sind. Wenn hingegen mit unterschiedlichen Farben berühren sich

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1 herauskommt, dann ist das eine Lösung für die teilweise,

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komplementär teilen aber
Gästeliste. Der Computer könnte nach dem Durch-
keine Kante
laufen der Kombinationen zu dem Schluss kommen, vollständig.
dass es unmöglich ist, jede Anforderung zu erfüllen.
Für das genannte Beispiel gibt es jedoch zwei
zufrieden stellende Ergebnisse: A = 1, K = 1, B = 0, verschieden

demnach sind Anna und Kevin Gäste, während Würfel sind verbunden.
Bernhard nicht kommen darf, sowie A = 0, K = 0,
B = 1, also nur Bernhard ist eingeladen.
Ein Computerprogramm, das solche Aufgaben
der Aussagenlogik löst, heißt SAT-Solver. Es untersucht von Würfeln mit je sieben Punkten und mehreren Farben.
jede Konfiguration von Variablen und liefert eine simple Ist es möglich, die Punkte so zu kolorieren, dass man
Antwort: Entweder 1 (ja), es gibt einen Weg, die Bedingun- 128 Würfel nach den vorgegebenen Regeln miteinander
gen zu erfüllen, oder 0 (nein), es existiert keiner. »Man verbinden kann?
entscheidet einfach, ob es eine Kombination von wahren Die Formel, die diese Frage erfasst, ist sehr viel länger
und falschen Variablen gibt, damit die gesamte Formel als im vorangehenden Beispiel: Sie enthält allein 39 000 ver-
wahr ist. Wenn man das kann, ist die Formel erfüllbar, und schiedene Variablen! Jede kann einen von zwei Werten (0
wenn nicht, dann nicht«, so Thomas Hales von der Univer­ oder 1) annehmen, woraus sich unvorstellbare 239 000 Mög-
sity of Pittsburgh. lichkeiten ergeben, die Farben auf den Würfeln anzuordnen.
Die Frage, ob man eine Clique der Größe 128 finden Um Kellers Vermutung in sieben Dimensionen zu beantwor-
kann, ist eine ähnliche Art von Problem. Sie lässt sich auch ten, müsste ein Rechner jede einzelne dieser Kombinatio-
als aussagenlogische Formel ausdrücken und in einen nen durchgehen und prüfen, ob es eine Clique der Größe
SAT-Solver einfügen. Man beginnt mit einer großen Anzahl 128 gibt – oder deren Existenz für alle Färbungen ausschlie-

78 Spektrum der Wissenschaft  3.22


ßen. Selbst die schnellsten Computer der Welt bräuchten Computer lieferten das Ergebnis nein, also trifft die Vermu-
dafür vermutlich länger, als unser Sonnensystem existieren tung zu«, so Heule. Denn das heißt, es gibt keine Möglich-
wird. Doch wie die vier Autoren der neuen Arbeit heraus­ keit, 128 Würfel so zu färben, dass sie eine Clique bilden.
gefunden haben, können die Rechner auch zu einem end- Somit ist die Kellersche Vermutung in sieben Dimensionen
gültigen Ergebnis kommen, ohne jede einzelne Möglichkeit wahr: Jede Anordnung siebendimensionaler Kacheln, die
prüfen zu müssen. den Raum lückenlos und ohne Überlapp füllen, enthält
Mackey erinnert sich an den Tag, an dem das Projekt vor zwangsläufig mindestens zwei Objekte, die sich eine
seinen Augen erstmals so richtig Form annahm. Er stand in gesamte Kante teilen.
seinem Büro an der Carnegie Mellon University vor einer Tatsächlich lieferten die Rechner wesentlich mehr als
Tafel und diskutierte das Problem mit Heule und Braken- eine einsilbige Antwort. Sie untermauerten ihre Schlussfol-
siek. Ersterer hatte plötzlich eine Idee, um die Suche so zu gerung mit einem langen Beweis, der über 200 Gigabyte
strukturieren, dass man sie in einer angemessenen Zeit groß ist. Dabei handelt es sich nicht einfach um eine
abschließen könnte. »An diesem Tag war ein echtes intel- Auflistung aller Konfigurationen von Variablen, welche die
lektuelles Genie am Werk«, erinnert sich Mackey. »Es war, Computer überprüft haben. Stattdessen ist es ein logi-
als würde man einen Weltklassesportler im entscheidenden sches Argument, das beweist, weshalb die gewünschte
Spielmoment beobachten. Ich habe gerade jetzt eine Gän- Clique unmöglich existieren kann.
sehaut, wenn ich nur daran denke.« Da die Argumentation viel zu lang ist, als dass ein
Mensch sie prüfen könnte, übergaben die vier Forscher sie
Mit automatisierter Erkennung von Symmetrien einem formalen Beweisprüfer. Dabei handelt es sich um
zu einer effizienteren Suche ein Computerprogramm, das die logischen Schlüsse des
Es gibt viele Möglichkeiten, um die Suche in einem Netz- Beweises nachzeichnet. Der Algorithmus konnte die
werk zu beschleunigen. Stellen Sie sich vor, man hat einen Richtigkeit der Folgerung bestätigen. »Die Rechner gehen
Tisch voller Würfel und versucht, 128 davon so anzuordnen, nicht einfach alle Fälle durch und finden nichts. Stattdes-
dass sie den Regeln eines Keller-Graphen entsprechen. sen gehen sie alle Fälle durch und sind in der Lage, einen
Vielleicht ordnet man zwölf Stück richtig an, aber man Beweis zu formulieren, wonach diese Sache nicht exis-
findet keinen Weg, den nächsten Würfel hinzuzufügen. An tiert«, so Mackey. »Man ist in der Lage, einen Beweis der
diesem Punkt könnte man direkt alle Konfigurationen Unerfüllbarkeit zu schreiben.«
ausschließen, welche die unpassende Ausgangskonfigura­ Damit haben verschiedene Algorithmen durch ihr
tion mit den zwölf Würfeln enthalten. »Wenn man weiß, Zusammenwirken nun endlich eine 90 Jahre alte Vermu-
dass die ersten Bausteine nicht zusammenpassen, muss tung geklärt. Das Vorgehen ist ein Paradebeispiel dafür,
man keine weiteren dazu ansehen. Das verkürzt die Suche wie sich die Mathematik in der Zukunft entwickeln könnte:
im Allgemeinen sehr«, sagt Shor, der jetzt am Massachu- Wissenschaftler übersetzen ein Problem in computerge-
setts Institute of Technology arbeitet. rechte Sprache und überlegen sich einfallsreiche Metho-
Eine weitere Form der Effizienz ist Symmetrie. Sie er- den, um Computer bei der Lösungssuche zu unterstützen.
möglicht es, ein ganzes Objekt zu verstehen, selbst wenn Diese spucken dann ein Ergebnis samt Beweis aus, das ein
man nur einen Teil davon kennt. Zum Beispiel lässt sich weiterer Algorithmus unabhängig prüfen kann. Die Rolle
nach einem Blick auf ein halbes Gesicht trotzdem das des Menschen ist dabei immer noch entscheidend, gerade
gesamte Antlitz rekonstruieren. Ähnliche Ansätze funktio- im kreativen Bereich, aber Rechner helfen ihnen erheb-
nieren auch bei Keller-Graphen. Angenommen, man ordnet lich – vor allem dort, wo es um Fleißarbeit geht. 
wieder die Würfel auf einem Tisch an. Vielleicht beginnt
man in der Mitte des Tischs und baut eine Konfiguration
nach links aus. Man legt vier Würfel hin und stößt auf ein QUELLEN

Hindernis – man kommt nicht weiter. Dann lässt sich diese Brakensiek, J. et al.: The resolution of Keller’s conjecture.
Startkonfiguration ausschließen, samt allen darauf aufbau- ArXiv 1910.03740, 2019
enden Kombinationen. Doch nicht nur das: Man kann auch Lagarias, J. C., Shor, P. W.: Keller’s cube-tiling conjecture is
die gespiegelte Version dieser Ausgangskonfiguration false in high dimensions. Bulletin of the American Mathemati-
ignorieren, also die Würfelanordnung, bei der man sich von cal Society 27, 1992
der Mitte aus nach rechts vorarbeitet. Mackey, J.: A cube tiling of dimension eight with no facesha-
Die vier Mathematiker haben solche effizienten Metho- ring. Discrete & Computational Geometry 28, 2002
den auf eine neue Art und Weise genutzt. Insbesondere
haben sie Überlegungen zu Symmetrien automatisiert,
damit ein Algorithmus sie selbstständig erkennt. In früheren
Arbeiten mussten Fachleute die Merkmale praktisch von Von »Spektrum der Wissenschaft« übersetzte und bearbeitete
Fassung des Artikels »Computer Search Settles 90-Year-Old Math
Hand erarbeiteten und dem Programm übergeben.
Problem« aus »Quanta Magazine«, einem inhaltlich unabhängigen
So gelang es ihnen, die Suche nach einer Clique der Magazin der Simons Foundation, die sich die Verbreitung von
Größe 128 so zu optimieren, dass ihr SAT-Solver statt der Forschungsergebnissen aus Mathematik und den Naturwissen-
ursprünglichen 239 000 Konfigurationen nur noch etwa eine schaften zum Ziel gesetzt hat.
Milliarde (230) Kombinationen durchsuchen musste. Damit
dauerten die Berechnungen nur eine halbe Stunde. »Die

Spektrum der Wissenschaft  3.22 79


MATHEMATISCHE
UNTERHALTUNGEN
ECKIGE WELLEN
Wenn man ein schwingendes
Medium in einen etwas exoti-
schen Zustand versetzt und dann
der Natur ihren Lauf lässt, verhält


Wie beschreibt man mathematisch die Bewegung
es sich zu rationalen Zeitpunkten eines elastischen Mediums, sagen wir einer schwin­

CHRISTOPH PÖPPE, NACH PETER OLVER


völlig anders als zu irrationalen. genden Saite oder eines Trommelfells? Zwei physikali­
Dieses absolut kontraintuitive sche Größen spielen entscheidende Rollen: die Trägheit des
Mediums und seine Elastizität. Erstere ist dank Newtons
Phänomen ist zwar bei Compu- Gesetz »Kraft ist Masse mal Beschleunigung« proportional
tersimulationen entdeckt wor- der zweiten Ableitung nach der Zeit. Die Kraft wiederum
den, findet sich jedoch auch in entsteht dadurch, dass das Material gedehnt wird und
bestrebt ist, sich wieder zusammenzuziehen. Sie ist damit
der Natur wieder. eine Größe, die von Ort zu Ort variiert. Nach einigem Her­
umrechnen – und vereinfachenden Annahmen zur
Physik – landet man bei einer so genannten parti­
ellen Differenzialgleichung. Die Unbekannte in
Christoph Pöppe war Redakteur dieser Gleichung ist eine Funktion, nennen wir
bei »­ Spektrum der Wissenschaft«, sie u, die sowohl vom Ort als auch von der Zeit
zuständig vorrangig für Mathe­
abhängt. u(x, t) beschreibt die Auslenkung des
matik und Informatik.
Mediums aus der Ruhelage im Punkt x zur Zeit t,
 spektrum.de/artikel/1974568

DIE LÖSUNG Eine Wellenfortpflanzungsglei-


chung verhält sich überraschend, wenn die
Anfangsbedingung ungewöhnlich ist, in die-
sem Fall eine Stufenfunktion. Falls die Zeit
ein rationales Vielfaches von π ist oder nicht,
zeigt die Welle ein stückweise konstantes oder
chaotisches Verhalten. Hier abgebildet ist von
unten nach oben die Lösungsfunktion für die
Zeiten π/8; 0,5; 19π/100, 0,7, π/4, 0,9, 5π/16 und
1,1 über dem Intervall von –π/2 bis 3π/2.

80 Spektrum der Wissenschaft  3.22


und die Gleichung setzt die räumlichen und die zeitlichen der Saite beschreibt, hat an dieser Stelle keine Tangente,
Ableitungen dieser Funktion miteinander in Beziehung. ist also dort nicht differenzierbar; aber wenn man die
Es versteht sich, dass jede Lösung der Gleichung diese Saite loslässt, schwingt sie. Irgendwie gibt es also eine
Ableitungen tatsächlich haben muss. Sonst könnte man die Lösung der Differenzialgleichung, die es eigentlich nicht
Funktion gar nicht in die Gleichung einsetzen, geschweige geben dürfte. Was tun?
denn eine Aussage darüber machen, ob es sich um eine Die Abhilfe heißt Fourier-Analyse. Unsere Gleichung
Lösung handelt. Eine Funktion, die Kandidat für eine Lö­ hat die angenehme Eigenschaft, linear zu sein, das heißt,
sung sein soll, muss also differenzierbar sein, das heißt, die die Summe zweier Lösungen ist wieder eine Lösung.
zugehörige Kurve muss in jedem Punkt eine Tangente Man verschafft sich ein vollständiges Sortiment beson­
haben. Und nicht nur das: Sie muss sogar zweimal differen­ ders einfacher Lösungen und addiert diese, mit geeigne­
zierbar sein, die Tangente darf sich also von einem Punkt ten Vorfaktoren versehen – auch das tut der Lösungs­
zum nächsten nur allmählich verändern. Eigentlich. eigenschaft keinen Abbruch –, wieder zu einer Lösung
Man kann allerdings eine schwingende Saite auch auf. Die Differenzialgleichung hat also sehr viele Lösun­
anzupfen, und zwar richtig punktförmig: an einem Punkt gen; aber man interessiert sich für eine spezielle, und
weit aus der Ruhelage auslenken, so dass sie an dieser zwar diejenige, die zu einem Anfangszeitpunkt eine
Stelle einen Knick hat. Die Funktion u, welche die Gestalt vorge­gebene Gestalt annimmt. Dann nämlich weiß man,
wie sich die zu diesem Zeitpunkt gezupfte Saite oder die
entsprechend geschlagene Pauke in Zukunft verhalten
wird. Für die in der Musik üblichen Saiten, die an beiden
CHRISTOPH PÖPPE, NACH PETER OLVER

Enden festgeklemmt sind, sind diese Vorzugsfunktionen


die Sinusschwingungen, die man als Grund- und Ober­
töne kennt.

Spektrum der Wissenschaft  3.22 81


PETER OLVER (WWW-USERS.CSE.UMN.EDU/~OLVER/)
t=0 t = 0,1 t = 0,2

t = 0,3 t = 0,4 t = 0,5

FRAKTALÄHNLICHKEIT Die Lösung der einseitigen hilflosen Versuche, der Theorie zuliebe die Funktionen doch
dispersiven Wellengleichung ut = uxxx auf dem Intervall noch glatt zu machen. Für die einfachste Wellengleichung
[0, 2π] mit periodischen Randbedingungen und dem gilt, dass sich eine Anfangskonfiguration, sei sie zulässig
Anfangswert u(0,x) = 0 für x ≤ π, u(0,x) = 1 für x > π, oder unzulässig, in unveränderter Gestalt nach beiden Seiten
angenähert durch die ersten 1000 Glieder der Fourier- fortpflanzt. Durch Reflexion an den Enden der Saite kann ein
Summe. Der Anfangswert (t = 0) wird durch die Fourier- Knick wieder zurückkommen und bis in die Ewigkeit hin- und
Summe nicht exakt reproduziert: An den Unstetigkeits- herpendeln. Denn die Reibung, die in der Realität alles
stellen »übertreibt« die genäherte Funktion den Sprung ausglättet und am Ende zur Ruhe bringt, ist in dieser ein­
ein bisschen. Dieses Gibbs-Phänomen ist ein bekanntes fachsten Gleichung nicht enthalten.
Problem der Näherung durch Fourier-Summen. Wenn man nach Lösungen einer Wellengleichung mit
irregulären Anfangsbedingungen sucht, sollte man sich also
auf einiges gefasst machen, zumindest darauf, dass die
Bemerkenswerterweise liefern diese Fourier-Summen, Lösung mit der Zeit nicht schöner wird. Aber mit dem, was
also Summen aus Vorzugsfunktionen, mehr, als man be­ Peter Olver bei einer fast so einfachen Wellengleichung auf
stellt hat. Jede einzelne dieser Funktionen ist so oft diffe­ seinem Computer zu sehen bekam, hatte er nicht im entfern­
renzierbar, wie die Gleichung es verlangt (sogar unendlich testen gerechnet.
oft), schließlich ist sie eine Lösung. Dasselbe gilt für deren
Summen – aber nur für endliche! Mit einer unendlichen Wenn Wellen Stufen nehmen müssen
Fourier-Summe kann man dagegen ziemlich beliebige Olver, Professor für Mathematik an der University of Minne­
Funktionen erzeugen, selbst solche mit Knicken oder sogar sota, studierte eine Wellengleichung mit Dispersion. Das
Sprüngen. heißt, dass Wellen verschiedener Wellenlängen unterschied­
Damit findet sich auch für eigentlich unzulässige An­ lich schnell unterwegs sind – eigentlich nichts Besonderes.
fangswerte wie den mit der punktförmig gezupften Saite Zum Beispiel verhält sich Licht in Materie so, weswegen ein
eine Lösung. Sie ist ebenfalls eigentlich unzulässig; denn Glasprisma weißes Licht in seine Bestandteile mit unter­
der Anfangsknick pflanzt sich im Allgemeinen fort und schiedlichen Wellenlängen zerlegt. Die gedachte Saite, auf
ruiniert ebenso für zukünftige Zeitpunkte die Differenzier­ der die Welle sich ausbreiten sollte, versah er mit periodi­
barkeit. Gleichwohl kommt sie der physikalischen Realität schen Randbedingungen. Sie war an den Enden also nicht
ungefähr so nahe wie eine »glatte«, das heißt hinreichend festgeklemmt, sondern gewissermaßen zum Kreis gebogen,
oft differenzierbare Lösung. Ob ein Knick eine echte Unste­ so dass eine Welle, die am rechten Rand hinausläuft, am
tigkeit in der Tangente ist oder doch nur eine sehr scharfe linken wieder hereinkommt und umgekehrt.
Kurve, sieht man erst, wenn man an die entsprechende Für das so definierte dynamische System löste Olver das
Stelle beliebig nah heranzoomt. Tut man dasselbe in der Anfangswertproblem mit einem sehr unphysikalischen
Realität, landet man irgendwann in der Größenordnung Anfangswert: konstant null in der einen Hälfte des Intervalls,
einzelner Atome. Dort aber bricht die mathematische konstant eins in der anderen – eine »Stufenfunktion«. Auch
Modellierung, die sich das Medium als strukturloses Konti­ für eine solche unstetige Funktion kann man Fourier-Koeffi­
nuum vorstellt, ohnehin zusammen, womit die Frage, wie zienten ausrechnen. Erst eine unendliche Fourier-Summe
die Lösung denn »wirklich« aussieht, unbeantwortbar wird. gibt die Stufenfunktion tatsächlich wieder, aber die ersten
Diese »schmutzigen« Lösungen sind also nicht unbe­ 1000 Summanden liefern schon eine ganz ordentliche Nähe­
dingt zu verwerfen, weil sie keine Lösungen im Wortsinn rung. Wesentlich weniger zu verwenden ist nicht empfeh­
sind. Im Gegenteil: Sie genießen bei den Anwendern sogar lenswert, denn die Sinuswellen passen sich zwar sogar einer
eine gewisse Anerkennung, weil sie manche Phänomene Stufe an, was ihrer Natur überhaupt nicht entspricht, an der
einfacher und einleuchtender beschreiben als irgendwelche Unstetigkeitsstelle doch sehr zögerlich.

82 Spektrum der Wissenschaft  3.22


Nachdem die 1000 Fourier-Koeffizienten erst einmal
ausgerechnet waren – eine Mühe, der sich Olver ohne eine
Computeralgebra-Software, in diesem Fall »Mathematica«, Mehr Wissen auf
wohl kaum unterzogen hätte –, konnte er die Lösung für Spektrum.de
jeden Zeitpunkt bestimmen. Näherungsweise, denn er Unser Online-Dossier zum Thema
hatte ja nur die 1000 Summanden zur Verfügung. finden Sie unter
Die ersten Stichproben lieferten eine handfeste Überra­ spektrum.de/t/musik HIA
ISTOCK / FRANCESCO CORTICC
schung (siehe »Fraktalähnlichkeit«). Die Funktion, welche
die Differenzialgleichung löst, war kein bisschen glatt, aber
auch nicht unstetig. Vielmehr sah sie aus wie ein Fraktal:
irgendwie zappelig und so, als würde das Gezappel nicht einzelnen Stufen ändert sich die Funktion nicht, von Stufe
nachlassen, wenn man die Kurve unter immer stärkerer Ver­ zu Stufe dagegen sprunghaft (siehe »Treppe«).
größerung betrachtet, sondern auf allen Größenskalen im Wie kann das sein, dass es einen Unterschied macht, ob
Wesentlichen gleich aussehen. die Uhr ein rationales Vielfaches von π anzeigt oder nicht?
Das ist die Eigenschaft, die unter dem Namen »Selbst­ Wie findet π überhaupt in die Zeitmessung? Auf die zweite
ähnlichkeit« oder »Skaleninvarianz« als typisch für Fraktale Frage gibt es noch eine relativ einfache Antwort. Olver hat
bekannt ist. Es sah so aus, als ob der große Schmutz, den die Länge der gedachten Saite mit 2π angesetzt. Auf den
man mit der stufenförmigen Unstetigkeit in den Anfangs­ Längenmaßstab kommt es zwar überhaupt nicht an, aber
zustand des Systems eingebracht hatte, sich unter der mit dieser Wahl sehen die Sinusfunktionen, aus denen man
Wirkung der Differenzialgleichung überaus fein, aber eben die Fourier-Summe zusammensetzt, besonders einfach aus.
nicht ganz gleichmäßig über das gesamte Intervall ver­- Obendrein wird üblicherweise der Zeitmaßstab so gewählt,
teilt hätte. dass physikalische Konstanten wie die Wellengeschwindig­
Das ist sogar einigermaßen plausibel. Die Fourier-Analy­ keit des Mediums den Wert 1 annehmen. Das ändert an der
se zerlegt die Stufenfunktion in sehr viele Wellen; die kurz­ Sache nichts, erspart einem aber das Mitschleppen irgend­
welligen Anteile sind bedeutender als bei einer glatten welcher Konstanten in der umfangreichen Rechnerei und
Funktion, und Wellen verschiedener Wellenlänge laufen mit setzt dabei räumliche und zeitliche Maßstäbe in Beziehung
verschiedenen Geschwindigkeiten. Deren Aktionen zusam­ zueinander. So kommt es, dass zum Beispiel π ein bedeu­
mengenommen können durchaus den Effekt eines Rühr­ tender Zeitpunkt ist.
mixers haben. Aber wieso verwandelt sich die Lösung so plötzlich von
Die größere Überraschung folgte erst später. Bei seinen fraktal in stückweise konstant und wieder zurück? Wenn
Stichproben hatte Peter Olver zunächst glatte Zahlen wie 1 man genau hinschaut, geht es nicht ganz so plötzlich. In der
oder 1,5 für die Zeitpunkte gewählt, in der Meinung, dass es Nähe des Anfangszeitpunkts t = 0 wird die Lösung zu­
auf den genauen Zahlenwert nicht so ankomme. Nimmt nächst noch einigermaßen gleichmäßig wellenförmig und
man aber die Kreiszahl π oder glatte Bruchteile davon, sieht geht erst dann ins Chaos über (siehe »Chaos«).
die Lösung völlig anders aus, wie eine Treppe! Auf den Es bleibt die entscheidende Frage: Warum ist das Verhal­
ten des Systems überhaupt zu gewissen Zeitpunkten
stückweise konstant? Eine einleuchtende Begründung gibt
TREPPE Die Lösung derselben Gleichung mit es allem Anschein nach nicht, aber immerhin einen beweis­
demselben Anfangswert für die Zeitpunkte, die baren Satz. Wenn der Zeitpunkt ein rationales Vielfaches
den ersten Vielfachen von π/30 entsprechen. von π ist, also eine Zahl der Form (p/q)π mit einem gekürz­

π π π
PETER OLVER (WWW-USERS.CSE.UMN.EDU/~OLVER/)

t= t= t=
30 15 10

π π π
t=2 t= t=
15 6 5

Spektrum der Wissenschaft  3.22 83


PETER OLVER (WWW-USERS.CSE.UMN.EDU/~OLVER/)
t = 0,0001 t = 0,001 t = 0,01

CHAOS Dieselbe Lösung für Zeitpunkte nahe t = 0. ren auf eine Standardgleichung angewandt; nur ist anschei­
nend vor ihm niemand auf die Idee gekommen, die Appro­
ximation bis ins tausendste Glied zu treiben.
ten Bruch p/q (p und q haben keinen gemeinsamen Teiler), Ist das Phänomen auf diese spezielle Gleichung be­
dann kann man das Intervall von 0 bis 2π in q gleich große schränkt? Offensichtlich nicht. Nach der ersten Entdeckung
Abschnitte zerlegen, und die Lösung ist auf jedem Ab­ hat Olver eine ganze Reihe von Gleichungen durchprobiert,
schnitt konstant. darunter auch physikalisch bedeutsame, und immer wieder,
Der Beweis macht sich zu Nutze, dass es eine Variante gelegentlich mit Varianten, das wiedergefunden, was
der Fourier-Transformation gibt, die nicht auf Funktionen, inzwischen »dispersive Quantisierung« heißt. Andere
sondern auf Zahlenreihen anwendbar ist, so als hätte die Fachleute sind ihm gefolgt und haben für weitere Fälle
Funktion nur an endlich vielen gleichmäßig verteilten Beweise gefunden.
Punkten der x-Achse einen Wert – oder eben auf ebenso Aber das alles hat mit der physikalischen Realität nichts
vielen gleich großen Teilintervallen einen jeweils konstanten zu tun?! Doch. Dispersive Quantisierung ist in dem alltäg­
Wert. Man rechnet aus, was unter dieser »diskreten Fourier- lichsten aller Wellenphänomene zu finden, dem sichtbaren
Transformation« herauskommt, vergleicht die Ergebnisse Licht. Und kein Geringerer als William Henry Fox Talbot
mit denen des ursprünglichen Problems und stellt Überein­ (1800–1877), dem die Welt das Negativ-Positiv-Verfahren in
stimmung fest. Es ist einer jener unbefriedigenden Bewei­ der Fotografie verdankt, hat es bereits 1836 beschrieben.
se, die zwar jeden Zweifel ausräumen, aber einem kein Licht wird durch ein Beugungsgitter in seine spektralen
tieferes Verständnis verschaffen. Bestandteile zerlegt; das entsprechende Beugungsbild kann
durch eine Sammellinse fokussiert abgebildet werden.
Eine unerhört wechselfreudige Funktion Verschiebt man die Linse von dem Experimentaufbau weg,
Nebenher erfahren wir mit diesem Beweis, dass unsere so dass das Bild aus dem Fokus gerät, wird es zunächst
Funktion für alle rationalen Vielfachen von π stückweise erwartungsgemäß unscharf; in größerer Entfernung aber
konstant ist, auch bei beliebig großem Nenner q. Da auf der zeigt sich das Beugungsmuster wieder, nicht nur scharf,
reellen Achse rationale und irrationale Zahlen untrennbar sondern auch mehrfach, ein Effekt, der sich in verschiede­
vermischt vorkommen – beliebig nahe jeder rationalen Zahl nen Entfernungen wiederholt. Fast zwei Jahrhunderte nach
liegt eine irrationale und umgekehrt –, wechselt die Funk­ der Erstbeschreibung haben Michael Berry und andere die
tion in allen beliebig kurzen Zeitintervallen unendlich oft Sache durchgerechnet. Hier verhält sich das Licht ebenfalls
zwischen stückweise konstant und chaotisch. Und vor vollkommen verschieden, je nachdem, ob die Linse ein
allem kann sie gewissermaßen rationale und irrationale rationales Vielfaches der so genannten Talbot-Entfernung
Zeitpunkte voneinander unterscheiden. vom Beugungsgitter entfernt ist oder nicht. Die Talbot-Ent­
Das schlägt nun der physikalischen Intuition vollends ins fernung ist d2/λ, wobei d der Abstand der Gitter­linien und
Gesicht. In der Natur sind alle Messgrößen aus prinzipiellen λ die Wellenlänge des Lichts ist. 
Gründen nur begrenzt genau; daher ist die Unterscheidung
zwischen rationalen und irrationalen Werten sinnlos.
QUELLEN
Gleichwohl ist aus der Theorie der dynamischen Systeme
bekannt, dass rationale Werte mit kleinen Nennern eine Berry, M. et al.: Quantum carpets, carpets of light. Physics
Rolle spielen können. Dass etwa die Umlaufzeiten von World, 5. Juni 2001
Jupiter und Saturn im Verhältnis 2 : 5 stehen, ist durchaus Olver, P. J., Sheils, N. E.: Dispersive lamb systems. Journal of
bedeutend für die Stabilität des Sonnensystems. In diesem Geometric Mechanics 11, 2019
wie in anderen Fällen verhält sich das System in der Nähe Talbot, H. F.: Facts related to optical science. No. IV. Philosophi­
rationaler Werte mit kleinen Nennern deutlich anders als cal Magazine 9, 1836
sonst; dort sind die Teilintervalle gewissermaßen so groß,
dass man sie sehen kann. Eine stückweise konstante WEBLINKS
Funktion mit großem Nenner ist dagegen von einer chaoti­ https://www-users.cse.umn.edu/~olver/
schen auch optisch kaum zu unterscheiden.
Bemerkenswerterweise ist für die Entdeckung des Peter Olvers Website an der University of Minnesota. Unter
»Movies« finden sich Kurzfilme zum Thema.
merkwürdigen Phänomens kein besonderer Tiefsinn erfor­
derlich. Mit moderner Hard- und Software ist das Ausrech­ www.youtube.com/c/NatalieSheils
nen derartig langer Fourier-Summen ohne Weiteres in der Olvers Koautorin Natalie Sheils hat auf ihrem Kanal weitere
Reichweite eines Amateurs. Olver hat ein Standardverfah­ Videos zum Thema veröffentlicht.

84 Spektrum der Wissenschaft  3.22


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ARCHÄOLOGIE
DER URSPRUNG
DES ZÄHLENS
Wenn Archäologen richtigliegen, hatte nicht
nur Homo sapiens das Zeug zum Zählen.
Womöglich rechneten schon die Neander­
taler und legten sich dafür »Merkzettel« an.

MIT FRDL. GEN. VON FRANCESCO D’ERRICO; D‘ERRICO, F. ET AL.: FROM


NUMBER SENSE TO NUMBER SYMBOLS. AN ARCHAEOLOGICAL PERSPECTIVE.
PHILOSOPHICAL TRANSACTIONS OF THE ROYAL SOCIETY B 373, 2018, FIG. 1;
BARRAS, C.: HOW DID ANCIENT HUMANS LEARN TO COUNT?
NATURE 594, 2021; BEARBEITUNG: SPEKTRUM DER WISSENSCHAFT

86 Spektrum der Wissenschaft  3.22


einer Hyäne, der in den 1970er Jahren an der Fundstelle Les
Colin Barras ist Wissenschaftsjourna- Pradelles in der Nähe von Angoulême auftauchte, auffällig
list in Ann Arbor, Michigan. ungewöhnlich.
Meist deuten Archäologen solche gekerbten Objekte als
 spektrum.de/artikel/1974571
Kunst, d’Errico ist aber der Ansicht, dass der Knochen auch
eine praktische Funktion gehabt haben könnte: Mit den
Kerben wurden möglicherweise numerische Werte festge-
halten. Sollte er richtigliegen, dann wären anatomisch
moderne Menschen nicht die Einzigen gewesen, die Zahl-


Vor etwa 60 000 Jahren nahm ein Neandertaler dort, zeichen entwickelten. Auch die Neandertaler könnten
wo heute Westfrankreich liegt, ein Stück Tierknochen schon damit begonnen haben.
und ein Steinwerkzeug in die Hand. Er ritzte neun Als d’Errico und sein Team ihre Theorie 2018 veröffent-
ungefähr gleichartige, parallele Kerben in den Knochen – lichten, wagten sie sich auf kaum erforschtes Terrain. »Der
gerade so, als ob sie etwas bedeuten sollten. Ursprung der Zahlen ist immer noch eine unbesetzte Ni-
Was genau, damit beschäftigt sich Francesco d’Errico sche in der Wissenschaft«, sagt Russell Gray, Evolutionsbio-
von der Université de Bordeaux. Im Lauf seiner Forscher- loge am Max-Planck-Institut für evolutionäre Anthropologie
karriere untersuchte der Archäologe zahlreiche vorge- in Leipzig. Forscher sind sich bisweilen nicht einmal einig
schichtliche Artefakte. Seines Erachtens ist der Knochen darüber, was Zahlen genau sind. In einer Studie aus dem

KNOCHEN EINER HYÄNE Eine


Neandertalerin oder ein Neander­
taler hat vor zirka 60 000 Jahren
Kerben in diesen Knochen geritzt.
Einige Forscher sind davon über­
zeugt, dass die Frühmenschen auf
diese Weise zählten.
MIT FRDL. GEN. VON FRANCESCO D’ERRICO; D‘ERRICO, F. ET AL.: FROM
NUMBER SENSE TO NUMBER SYMBOLS. AN ARCHAEOLOGICAL PERSPECTIVE.
PHILOSOPHICAL TRANSACTIONS OF THE ROYAL SOCIETY B 373, 2018, FIG. 1;
BARRAS, C.: HOW DID ANCIENT HUMANS LEARN TO COUNT?
NATURE 594, 2021; BEARBEITUNG: SPEKTRUM DER WISSENSCHAFT

Spektrum der Wissenschaft  3.22 87


Jahr 2017 definierte ein Experte sie als eigenständige Einhei- sind in der Lage, 10 und 20 Objekte auseinanderzuhalten,
ten mit exakten Werten, die durch Symbole dargestellt sind. aber nicht 20 und 21. Säuglinge im Alter von sechs Mona-
Inzwischen sind Kognitionswissenschaftler, Anthropolo- ten haben ein ähnliches Verständnis von Quantitäten,
gen und Psychologen auf der Suche nach dem Ursprung bevor sie ein gewisses Maß an Kultur oder Sprache mitbe-
der Zahlen. Dafür analysieren sie heutige Gesellschaften kommen haben.
und deren Zahlensymbole, um so Unterschiede zwischen Laut Andreas Nieder, einem Neurobiologen an der
den jeweiligen Zahlensystemen zu identifizieren – und Universität Tübingen, deutet all das darauf hin, dass der
letztlich deren Wurzeln zu erhellen. Archäologen wiederum Mensch ein angeborenes Verständnis für Zahlen hat.
versuchen, Utensilien aufzuspüren, mit denen gerechnet Entstanden sei es als Teil der Evolution, genauer gesagt
oder auf denen Mengen, Summen und Ähnliches festgehal- durch natürliche Selektion. Die Fähigkeit zum Rechnen
ten wurden. Und zuletzt gibt es Evolutionsbiologen, die mit habe sich als Anpassungsvorteil erwiesen, meint Nieder.
linguistischen Methoden der Entstehung von Zahlwörtern Anders deutet der Kognitionswissenschaftler Rafael E.
wie »eins«, »erstens« und »einmal« nachgehen. Núñez von der University of California in San Diego die
Das Forschungsfeld wird vermutlich dank einer Förde- Belege. Nach Ansicht des QUANTA-Chefforschers verfü-
rung des Europäischen Forschungsrats noch wachsen. gen zwar zahlreiche Tiere über ein angeborenes Mengen-
2020 erhielt das Projekt »Evolution of Cognitive Tools for verständnis, doch die menschliche Auffassung von Zahlen
Quantification« (QUANTA) eine Unterstützung in Höhe von sei so viel höher entwickelt, dass sie unmöglich nur durch
zehn Millionen Euro. Das Projektteam will aufklären, wie natürliche Auslese entstanden sein könne. Dass es Wörter
und wann Menschen die für das Zählen nötigen kognitiven und Zeichen für Zahlen gibt, müsse auch einer kulturellen
Fähigkeiten entwickelt haben. Zudem soll bestimmt wer- Evolution entstammen. Dabei eignen sich Individuen
den, mit welchen Werkzeugen sie Zahlensysteme schufen – durch Nachahmung oder Unterricht eine neue Fähigkeit
mit sprachlichen oder schriftlichen Mitteln, mit Gegenstän- an, beispielsweise jene, wie man ein Werkzeug benutzt.
den oder körperlich, etwa mit den Fingern. QUANTA geht
auch der Frage nach, ob nur anatomisch moderne Men- Mengenverständnis
schen ein Gespür für Zahlen haben oder ob dies bereits bei versus Zahlenverständnis
den Neandertalern aufgekeimt war. Obgleich auch viele Tiere Kulturen entwickeln, etwa den
Ganz zu Anfang gingen Forscher davon aus, dass Homo Gebrauch bestimmter Hilfsmittel, um effizienter auf Beute-
sapiens als einzige Spezies Gegenstände und Sachverhalte fang zu gehen, hat keine Spezies je Zahlen hervorgebracht.
quantifizieren, also in messbaren und numerischen Werten Diese sind etwas spezifisch Menschliches. So können
ausdrücken kann. Doch seit Mitte des 20. Jahrhunderts zwar Schimpansen in Gefangenschaft lernen, abstrakte
belegen immer mehr Studien, dass auch viele Tiere über Symbole zur Darstellung von Mengen zu verwenden. Doch
diese Fähigkeit verfügen. So können Fische, Bienen und weder sie noch andere Tiere nutzen derartige Zeichensys-
Küken Mengen bis zur Größe von vier erkennen, und zwar teme in ihrer natürlichen Umgebung. Núñez schlägt daher
ad hoc und ohne zählen zu müssen. Das ist unter der Be- vor, zwischen der angeborenen »quantitativen« Kognition
zeichnung Simultanerfassung bekannt. Einige Tiere können bei Tieren und der erlernten »numerischen« Kognition bei
zudem zwischen zwei großen Mengen unterscheiden, Menschen zu unterscheiden.
wenn diese eindeutig genug ungleich sind. Das heißt, sie Nieder widerspricht. Neurobiologischen Studien zufolge
ähneln sich die Hirnaktivitäten bei Tieren, die Mengen
bemessen, und bei Menschen, die Zahlen verarbeiten. Es
sei daher irreführend, die beiden Verhaltensweisen streng
AUF EINEN BLICK trennen zu wollen. Trotzdem ist auch der Neurowissen-
EINS, ZWEI, DREI schaftler der Ansicht, dass die Fähigkeiten des Menschen
die aller Tiere übertreffen. »Kein Tier ist in der Lage, Zah-
lensymbole wirklich darzustellen«, erklärt Nieder.
1 Einige altsteinzeitliche Knochenstücke werten
Archäologen als Hilfsmittel zum Zählen. Sollte sich
die These erhärten, hätten bereits die Neandertaler
Wie die frühesten Zahlensysteme das Licht der Welt
erblickten, könnte d’Erricos Analyse des Knochens von
die Fähigkeit des Zählens beherrscht. Les Pradelles erhellen. Der Archäologe, der zur Projektlei-
tung von QUANTA gehört, untersuchte die neun Kerben

2 Um den Ursprung der Zahlen zu erkunden, gehen


Forscher unterschiedlich an das Thema heran.
Linguisten suchen nach den Sprachwurzeln von
auf dem Hyänenknochen im Mikroskop. Seines Erachtens
sind sie in Form und Schnitttiefe einander derart ähnlich,
dass sie vermutlich alle mit demselben Steinwerkzeug und
Zahlwörtern, Archäologen spüren Rechenhilfsmit- derselben Handhaltung produziert wurden. Demnach
teln nach. könnten sie von derselben Person stammen, die innerhalb
weniger Minuten oder Stunden die Ritzungen vornahm.
3 Laut einer These ging die Entwicklung von Zahlen
mit der Menge an Besitz einher. Mehr Eigentum
erforderte demnach höhere Zahlenbereiche.
Acht weitere, flachere Kerben auf dem Knochen entstan-
den dagegen wahrscheinlich zu einem anderen Zeitpunkt.
Dass es sich um ein dekoratives Muster handelt, schließt
d’Errico aus. Dafür seien die Kerben zu ungleichmäßig an­-
geordnet. Zum Vergleich zieht er einen 40 000 Jahre alten

88 Spektrum der Wissenschaft  3.22


MUSCHEL MIT RITZDEKOR Ein Homo
erectus sammelte einst auf Java
diese Muschel und verspeiste wohl
ihren Inhalt. Danach verzierte er
die Schale mit einem Ritzmuster.
JOORDENS, J. ET AL.: HOMO ERECTUS AT TRINIL ON JAVA USED SHELLS FOR TOOL PRODUCTION AND ENGRAVING.
NATURE 518, 2015, FIG. 2A; NUTZUNG GENEHMIGT VON SPRINGER NATURE / CCC

Knochen eines Raben von einem Lagerplatz der Neander­ gen und somit wohl zu vier verschiedenen Gelegenheiten
taler auf der Krim heran. Darauf befinden sich ebenfalls eingeritzt wurden. Entdeckungen der vergangenen 20 Jah-
Kerben, sieben Stück. Wie eine statistische Analyse von re stützen aus seiner Sicht die Vermutung, dass Frühmen-
d�Errico und seinem Team 2017 ergab, entstehen Kerben schen bereits einige hunderttausend Jahre eher begannen,
mit derselben Regelmäßigkeit auch dann, wenn Teilnehmer abstrakte Ritzungen anzufertigen, als bisher angenom-
eines Experiments einen Knochen mit gleichmäßigen men. Folglich hat sich auch eine höhere Stufe der Kogni­
Kerben verzieren sollen. Diesem Muster würden die Markie- tion womöglich sehr viel früher eingestellt.
rungen auf dem Knochen von Les Pradelles aber nicht Was aber war der Auslöser dafür, dass Frühmenschen
entsprechen, sie seien unregelmäßiger verteilt. Zusammen Zahlensysteme schufen? D’Errico zufolge das Schnitzen
mit der Annahme, die Ritzungen seien in einem kleinen und Kratzen an den Knochen selbst, also das Anfertigen
Zeitfenster entstanden, brachte das den Archäologen zu der Artefakte. Seine Hypothese ist eine von bisher nur
dem Schluss, dass sie vielleicht rein funktional und nicht zwei bekannten Theorien zum Ursprung der Zahlen.
ornamental waren. In dem Fall könnten die kurzen Striche Der Archäologe stellt sich folgendes Szenario vor: Am
numerische Informationen dokumentieren. Anfang war der Zufall. Als Frühmenschen wie Homo
Der Knochen von Les Pradelles ist kein Einzelfund. So erectus beim Schlachten immer wieder unbeabsichtigt
entdeckten Archäologen bei Grabungen in der südafrikani- Schnittspuren auf den Tierknochen hinterließen, erkann-
schen Border Cave einen etwa 42 000 Jahre alten Pavian- ten sie irgendwann, dass sie die Gebeine auch mit Mus-
knochen, der ebenfalls Einkerbungen aufweist. Laut tern versehen könnten. Ein Beleg sei eine 430 000 Jahre
d’Errico haben wahrscheinlich anatomisch moderne Men- alte Muschel, die in Trinil auf der indonesischen Insel Java
schen darauf Zahlen vermerkt. Seine Mikroskopanalyse der gefunden wurde. Auf diesen kognitiven Entwicklungs-
29 Kerben ergab, dass sie mit vier verschiedenen Werkzeu- sprung folgte ein weiterer: Die Frühmenschen fingen

Spektrum der Wissenschaft  3.22 89


irgendwann damit an, bestimmten Markierungen eine
Bedeutung zuzusprechen – und vielleicht auch eine nume-
rische. Der Hyänenknochen von Les Pradelles ist mögli-
cherweise das früheste bekannte Beispiel dafür, meint
d’Errico. Seiner Ansicht nach führten die Kerben schließ-
lich zur Erfindung von Zahlzeichen wie 1, 2 und 3.
D’Errico ist sich bewusst, dass sein Szenario Lücken
aufweist. Unklar ist nämlich, welches kulturelle oder
soziale Umfeld die Frühmenschen überhaupt dazu veran-
lasste, Kerben in Knochen und andere Artefakte zu schnei-
den und damit irgendwann Zahlen zu verknüpfen.
QUANTA-Kollege Núñez sowie einige Experten, die
nicht an dem Projekt beteiligt sind, raten deshalb zur
Vorsicht. Artefakte wie der Knochen von Les Pradelles
seien schwierig zu interpretieren. Karenleigh Overmann
von der University of Colorado verweist dazu auf die von
australischen Aborigines verwendeten »message sticks«
oder Botenstäbe. Diese bestehen meist aus einem flachen
oder zylindrischen Stück Holz und sind mit Ritzlinien

MIT FRDL. GEN. VON FRANCESCO D’ERRICO UND LUCINDA BACKWELL; D‘ERRICO, F. ET AL.: FROM NUMBER SENSE TO NUMBER SYMBOLS.
AN ARCHAEOLOGICAL PERSPECTIVE. PHILOSOPHICAL TRANSACTIONS OF THE ROYAL SOCIETY B 373, 2018, FIG. 4A;
BARRAS, C.: HOW DID ANCIENT HUMANS LEARN TO COUNT? NATURE 594, 2021; BEARBEITUNG: SPEKTRUM DER WISSENSCHAFT
verziert. Die Kerben sehen so aus, als ob sie numerische 1 cm

Werte wiedergeben würden – bei vielen ist das aber nicht EIN RECHENBRETT? Der gekerbte 42 000 Jahre
der Fall, erklärt die Kognitionsarchäologin. alte Pavianknochen (drei Ansichten) fand sich
Piers Kelly stimmt dem zu. Der an der australischen in der südafrikanischen Border Cave. Womöglich
University of New England lehrende linguistische Anthro- diente er als Zählhilfe.
pologe hat die »Botschaftshölzer« untersucht und festge-
stellt, dass einige Stäbe Kerbhölzern ähneln, tatsächlich
aber keine Zählliste sind, sondern als visuelle Gedächtnis- Besitz haben. Anders verhält es sich bei Gemeinschaften,
stütze dienten. Sie sollten dem Überbringer einer Nach- die weit über vier hinaus zählen – sie sammeln deutlich
richt helfen, sich an inhaltliche Details zu erinnern. Die mehr Eigentum an. Daraus folgerte Overmann: Wenn eine
Stöcke eignen sich zudem zur Übermittlung ganz unter- Gesellschaft großen materiellen Reichtum angehäuft hat,
schiedlicher Informationen, weiß der Aborigine-Bote entsteht ein Anlass, komplexere Zahlensysteme zu entwi-
Wunyungar, der zu den Gemeinschaften der Gooreng ckeln. Solche Gruppen schufen interessanterweise entwe-
Gooreng und Wakka Wakka gehört. »Einige Hölzer werden der ein Quinär-, Dezimal- oder 20er-System. 5, 10, 20 – wo-
für den Handel verwendet, für Lebensmittel, Werkzeuge möglich, so glaubt Overmann, sind diese Systeme aus
oder Waffen«, sagt Wunyungar. »Andere können Friedens- dem Abzählen mit den Fingern hervorgegangen.
nachrichten nach einem Krieg überbringen.« Wie Finger und Zahlen zusammenhängen, lässt sich
laut der Forscherin mit der Theorie des »material engage-
Manche Gemeinschaften zählen bis drei ment« (MET) erklären. Der Kognitionsarchäologe Lambros
Karenleigh Overmann hat ihre eigene Hypothese entwi- Malafouris von der University of Oxford hat vor gut zehn
ckelt, um die Entstehung von Zahlensystemen zu erklären. Jahren in seinem Buch »How Things Shape the Mind«
Sie konzentriert sich aufs Hier und Heute. Und für ihre dargelegt, dass sich der Verstand über das Gehirn hinaus
Forschung sind die Ergebnisse anderer Experten interes- in Objekte fortsetzen kann, etwa in Form von Werkzeugen
sant: So berichteten 2012 die Linguisten Claire Bowern oder auch durch die Finger. Auf diese Weise lassen sich
und Jason Zentz von der Yale University, dass unter Vorstellungen physisch und real umsetzen. Zahlen schei-
139 Sprachen der australischen Ureinwohner manche nen dabei mit den Fingern anschaulicher zu werden und
Zahlwörter eine Obergrenze bei drei oder vier haben. In seien leichter zu addieren oder zu subtrahieren.
einigen dieser Sprachen gibt es für höhere Werte nur Gesellschaften gingen deshalb über das Fingerzählen
Sammelzahlwörter wie »mehrere« und »viele«. Die Pirahã hinaus, weil ihr Bedürfnis nach höheren Zahlen gewach-
im brasilianischen Amazonasgebiet sollen angeblich gar sen sei: je mehr materielles Eigentum, desto größer der
keine Zahlen gebrauchen. Wunsch, es zu zählen und den Überblick darüber zu
Overmann und andere Forscher betonen, dass Gesell- behalten. Gemäß der MET ist auch ein Kerbholz eine
schaften, die relativ einfache Zahlensysteme verwenden, Erweiterung des Verstands. Es fungiert zudem als Merk­
deshalb nicht weniger intelligent sind. Die Unterschiede hilfe oder Notiz, um weiter und höher zählen zu können.
könnten aber Hinweise auf die soziale Notwendigkeit Solche Hilfsmittel könnten Menschen also genutzt haben,
liefern, die zu komplexeren Zahlensystemen führen. Im um ihren Zahlenbereich zu erweitern. Als Erste sind wohl
Jahr 2013 analysierte Overmann Daten aus 33 modernen mesopotamische Stadtkulturen diesen Schritt gegangen,
Jäger-und-Sammler-Gesellschaften weltweit. Sie fand die Ressourcen und Menschen besser verwalten wollten.
heraus, dass Menschen, die mit einfachen Zahlensyste- Bei Grabungen in Städten des Altertums wie Uruk oder
men bis maximal vier auskommen, oft wenig materiellen Susa kamen bis zu 5500 Jahre alte Zählsteine ans Licht.

90 Spektrum der Wissenschaft  3.22


deutsche »Wasser«, sie sind eindeutig miteinander ver-
wandt. Doch das deutsche »Hand« unterscheidet sich vom
spanischen »mano« – diese Wörter gehen offenbar auf
unterschiedliche Wurzeln zurück oder eines wurde irgend-
wann durch das andere ersetzt. Pagel und sein Team be-
rechneten nun, wie häufig solche Veränderungen über
lange Zeiträume hinweg aufgetreten sind, und leiteten
daraus eine Wechselrate ab. Damit schätzten sie dann das
Alter der Wörter.
Mit diesem Ansatz zeigen Mark Pagel und Andrew
Meade, dass niedrige Zahlwörter von eins bis fünf zu den
stabilsten Einheiten der gesprochenen Sprache gehören.
Sie haben sich so wenig verändert – auch über Sprachfami-
lien wie dem Indogermanischen hinweg –, dass sie vermut-
lich seit 10 000 bis 100 000 Jahren stabil blieben.
Das beweist zwar nicht, dass die Zahlen von eins bis fünf
von uralten Wörtern abstammen, die vor Zehntausenden
von Jahren zum ersten Mal gesprochen wurden. Aber laut
Pagel ist es zumindest denkbar, dass ein moderner und ein
MIT FRDL. GEN. VON FRANCESCO D’ERRICO UND LUCINDA BACKWELL; D‘ERRICO, F. ET AL.: FROM NUMBER SENSE TO NUMBER SYMBOLS.
AN ARCHAEOLOGICAL PERSPECTIVE. PHILOSOPHICAL TRANSACTIONS OF THE ROYAL SOCIETY B 373, 2018, FIG. 4A;
BARRAS, C.: HOW DID ANCIENT HUMANS LEARN TO COUNT? NATURE 594, 2021; BEARBEITUNG: SPEKTRUM DER WISSENSCHAFT

altsteinzeitlicher Eurasier einander verstehen würden, wenn


Solche Tonmarken wurden unterschiedlich geformt und es um solche Zahlwörter geht. Pagels Arbeit hat Befürwor-
gebrannt – es sind Kugeln, Zylinder, Kegel oder Scheiben. ter gefunden, doch es gibt auch Widerspruch, etwa von
Die Formen entsprechen bestimmten Werten: Zehn kleine Philologen wie Don Ringe von der University of Pennsylva-
Kegel kommen einer Kugel gleich und sechs Kugeln einem nia. Seines Erachtens lässt sich die Stabilität von Zahlwör-
großen Kegel. Mit großen Kegeln, die jeweils 60 kleinen tern nicht derart weit in die Vorgeschichte projizieren. Nur
Kegeln entsprechen, konnten die Menschen mit relativ weil sie in den letzten Jahrtausenden stabil waren, heiße
wenigen Tonmarken bis in die Tausende zählen. das nicht, dass es sich auch vor noch längerer Zeit so
verhalten habe.
War Fingerzählen der Der Ursprung der Zahlen ist längst nicht in allen Belan-
erste Schritt zu hohen Zahlen? gen erforscht. Darin sind sich die Wissenschaftler einig.
Overmanns These stößt auf geteiltes Echo. Die Psycholo- Und die Möglichkeit besteht, dass Menschenformen schon
gin und Koleiterin des QUANTA-Projekts Andrea Bender früh zu zählen begannen, weil es nötig und wichtig wurde.
von der norwegischen Universität Bergen plant mit ihrem Der Knochen aus der Border Cave ist jedenfalls so stark
Team, möglichst viele Daten über die Zahlensysteme der abgerieben, als ob jemand ihn über viele Jahre hinweg
Welt zu sammeln und sie auszuwerten. Damit sollte sich angefasst hat. »Es war eindeutig ein bedeutender Gegen-
ihres Erachtens auch Overmanns Theorie bestätigen oder stand für das Individuum, das ihn hergestellt hat«, sagt
widerlegen lassen. Bender will sich daher noch nicht d’Errico. Nicht so das Exemplar aus Les Pradelles, dessen
festlegen, ob die Forschungskollegin nun Recht hat oder Oberfläche rauer ist. Und möglicherweise, so meint
nicht. Andere Wissenschaftler wie der Philosoph Karim d’Errico, hat der Neandertaler, der den Tierknochen vor
Zahidi von der Universität Antwerpen sind hingegen Feuer etwa 60 000 Jahren bearbeitete, ihn nur kurz gebraucht und
und Flamme. Zahidi meint, Overmanns These sei zwar dann weggeworfen. Aber benutzt hat er ihn eben vielleicht
noch lückenhaft, habe jedoch durchaus das Potenzial, die zum Zählen. 
Entstehung der Zahlensysteme zu erklären.
Dass ihr Erklärungsmodell nicht vollständig ist, weiß die QUELLEN
Kognitionsarchäologin. So kann sie noch nicht festlegen, D’Errico, F. et al.: From number sense to number symbols. An
wie weit der Ursprung der Zahlensysteme zurückreicht. archaeological perspective, Philosophical Transactions of the
Linguistische Analysen sollen aber Abhilfe schaffen. Und Royal Society B 373 (1740), 2018
erste Erkenntnisse legen nahe, dass die Geschichte der Nieder, A.: Number faculty is rooted in our biological heritage,
Zahlwörter womöglich Zehntausende von Jahren alt ist. Trends in Cognitive Sciences 21 (6), 2017
Der Evolutionsbiologe Mark Pagel von der University of
Núñez, R. E.: Is there really an evolved capacity for number?
Reading und seine Kollegen verbringen bereits viele Jahre Trends in Cognitive Sciences 21 (6), 2017
damit, die Herkunft von Wörtern in den heute existieren-
Overmann, K. A.: Material scaffolds in numbers and time,
den Sprachfamilien zu erforschen. Dazu nutzen sie ein
Cambridge Archaeological Journal 23 (1), 2013
Computerprogramm, das sie ursprünglich zur Analyse
biologischer Evolutionsprozesse entwickelt haben. Ihr
Ansatz ist folgender: Wörter werden als Einheiten aufge-
fasst, die entweder stabil bleiben oder – wenn sich andere © Springer Nature Limited
Sprachen ausbreiten – verdrängt und ersetzt werden. Ein www.nature.com
Beispiel für Stabilität wären das englische »water« und das Nature 594, 2021, S. 22–25

Spektrum der Wissenschaft  3.22 91


REZENSIONEN
Jesper Nyström
PLANET DER PILZE
Wie ein uraltes Netz-
werk unsere Welt
zusammenhält
Kosmos, Stuttgart
2021
208 S., € 24,–

FARBENSPIEL

LYNNEBECLU / GETTY IMAGES / ISTOCK


Nicht alle Pilz-
fruchtkörper sind
so unscheinbar wie
unsere gängigen
Speisepilze. Im Bild
die Schmetterlings-
Tramete (Trametes
versicolor).

92 Spektrum der Wissenschaft  3.22


Mehr Rezensionen auf spektrum.de/rezensionen

BOTANIK eines Pilzmycels in 2,4 Milliarden altem


Gestein aus Südafrika. Etwa 100 000 Ar-
nicht jedem der Sprachstil gefallen.
Zum Beispiel wenn der Autor davon
VOM ALBA-TRÜFFEL ZUM ten sind bis heute beschrieben, 1200 spricht, dass für »das Bakterium Game
RAUSCHMITTEL weitere werden jährlich neu entdeckt; over« wäre, oder »eklig kackbraune
Experten schätzen, es könnte insge- Pilzbeläge in der Reaktoranlage von
Der Biologe Jesper Nyström ver- samt bis zu 1,5 Millionen geben. Da Tschernobyl« beschreibt sowie von
mittelt spannende Fakten über bleibt für sie also noch sehr viel zu Pilzen schreibt, »die Party machten«
Pilze – manchmal allerdings mit erforschen. oder eine Abbildung mit der Bildunter-
einer etwas unpassenden Aus-
Eindrucksvoll ist auch, dass allein schrift »ein echter Scheißpilz« versieht.
drucksweise.
ein Kilogramm Erde 600 Kilometer

 In Schweden ist der Verzehr von Hyphen enthalten kann, die ein weißes Jürgen Alberti ist Biologielehrer und Natur­
fotograf in Bad Schönborn.
Pilzen noch nicht sehr alt. Sie galten Geflecht bilden. Bei etwa 95 Prozent
lange nur als Viehfutter. Schleimige der bekannten Blütenpflanzen legen
Konsistenz und Wachstum im Schat- sich solche Stränge um deren feine
ten rückten sie in die Nähe von Angst Wurzeln, umschließen sie dicht wie Ruth Grützbauch
einflößenden Fantasiewesen wie eine Haut oder dringen sogar in sie PER LASTENRAD
Gespenstern und Trollen. Sie seien ein. Der Pilz bekommt damit – weil er DURCH DIE
GALAXIS
»ein streunendes Pack, das sich alles es selbst mangels Chlorophyll nicht
Aufbau, Berlin 2021
einverleibt, was zurückgelassen wur- kann – von der grünen Pflanze Zucker
224 S., € 18,–
de, nachdem Flora sich im Herbst in und spendet ihr Nährsalze und Was-
ihr Winterquartier zurückgezogen ser. Um 1995 gelang es der Forstwirt-
hatte«, so beschrieb sie 1772 der schaftlerin Suzanne Simard in Kanada,
Naturforscher Carl von Linné in einer mit radioaktiv markiertem CO₂ nachzu-
Rede über den »Liebreiz der Natur«. weisen, dass Tannen und Birken über
Dieses Bild hat sich inzwischen diese unterirdischen »Kabel« auch
geändert. Der schwedische Biologe Informationen übermitteln. Seitdem
Jesper Nyström interessierte sich hat sich der Begriff »Wood Wide Web«
zunächst für Greifvögel, bevor er sich dafür eingebürgert. Der Autor geht
mit den ungewöhnlichen Gewächsen Überlegungen nach, ob die Pilze eine KOSMOLOGIE
beschäftigte. Mit seinem Buch über
Pilze reiht er sich nun unter die Wis-
Symbiose mit den Pflanzen eingehen
oder das Gegenteil davon: Wer parasi-
ALLES ÜBER
senschaftsautoren der Botanik ein. tiert wen? GALAXIEN
Dabei betont er natürlich, dass Pilze Auch zu Hefepilzen gibt es neben Ruth Grützbauch nimmt uns auf
keine richtigen Pflanzen sind. der Gärung manches, was man so ihrem Lastenrad mit durch die
Der Autor leitet sein Werk mit der noch nicht gelesen hat. Nyström geht Galaxis und erzählt im Vorbeiflie-
Frage seiner kleinen Tochter bei der insbesondere der Entdeckung des gen Geschichten über ihre Zeit
Pilzsuche im Wald ein: »Warum kann Penizillins (»der beste Freund des als Studentin, Astronomin und
man keine Pfifferlinge züchten?« Auf Menschen«) nach. Dabei schildert er Wissenschaftsvermittlerin.
Anhieb hat er keine Antwort parat. In sehr genau, was passiert, bis die
sechs weiteren Kapiteln und einem
Epilog trägt er alles zusammen, was
man braucht, um das Problem zu
Bakterien absterben. Das dazugehöri-
ge Kapitel führt zudem in die aktuellen
Probleme mit den Antibiotika ein – von
 Inspiriert von der Euphorie ihrer
Freunde, als sie zum ersten Mal das
aufblasbare Planetarium des britischen
lösen. Dabei stößt er über Um- und Krankenhäusern bis zu industriellen Jodrell Bank Discovery Centres betre-
Nebenwege auch auf neue For- Viehställen. ten, kommt der Astronomin Ruth
schungsergebnisse. Im Buch erfährt man, was sich Grützbauch eine Idee: ein mobiles
Überschneidungen mit anderen neben dem Verzehr von Speisepilzen Planetarium, das sie auf einem Lasten-
populärwissenschaftlichen Pilz­ (mit Preisen von teilweise über rad direkt zu ihrem Publikum bringen
büchern lassen sich natürlich nicht 300 000 Euro für 1,5 Kilogramm Alba- kann. Seit 2018 radelt sie mit ihrem
vermeiden. Aber »Planet der Pilze« ent- Trüffel) noch alles mit den Gewächsen Cosmobike durch Österreich, um
hält genügend neue Informationen, die machen lässt: Leder, Legosteine, Kinder wie Erwachsene mit einem
das Werk absolut lesenswert machen. Rauschmittel, Schwangerschaftstests, Blick in die Sterne zu begeistern.
Zudem ist es schön aufgemacht: Die Biokraftstoffe und vieles mehr. Auf der Der Titel ihres Buchs »Per Lastenrad
ganz- und teilweise sogar doppelseiti- anderen Seite listet der Autor auch die durch die Galaxis« vereint ihre Leiden-
gen Bilder sind exzellent. Wie Nyström Schäden durch Pilze in der Landwirt- schaft für ihr Cosmobike mit jener für
herausarbeitet, sind Pilze wahrschein- schaft oder in Häusern auf. Douglas Adams’ Science-Fiction-Klas-
lich viel älter als bisher angenommen: So informativ und interessant die siker »Per Anhalter durch die Galaxis«
2017 fand man fossilisierte Hyphen angesprochenen Themen sind, wird und trifft genau den Ton des Romans:

Spektrum der Wissenschaft  3.22 93


REZENSIONEN
persönlich, unterhaltsam und lehr-
reich im Plauderton. Grützbauch
CHAOSTHEORIE le dafür findet man zumindest nähe-
rungsweise in der Natur, etwa bei
beginnt jedes Kapitel mit einer Anek- VIEL ALLTÄGLICHES, einem Farnblatt, Blumenkohl oder den
dote, etwa über Beobachtungszeiten WENIG MATHEMATIK Verästelungen im Blutsystem: Ver­
an Observatorien, ihr Studium oder größert man einen kleinen Ausschnitt,
ihren Arbeitsalltag. Einzige Ausnahme Der populärwissenschaftliche sieht dieser dem Original wieder ähn-
ist der Abschnitt zum Hubble-Welt- Autor Brian Clegg beleuchtet die lich. Exakt selbstähnlich sind mathe-
raumteleskop, für das sie sich kreativ
einst hochgepuschte Chaos- matische Fraktale wie die Schneeflo-
theorie. Doch der wissenschaft­
in die Rolle einer Spezialistin während ckenkurve, das Feigenbaum-Dia-
liche Teil gerät etwas kurz.
einer Reparaturmission im Space­ gramm und die Mandelbrot-Menge,
shuttle hineinfühlt.
Nach diesen lockeren Einstiegen
widmet sie sich verschiedenen
 In den 1980er und 1990er Jahren
erlebte das Chaos einen regelrech-
ten Hype. Das Thema schaffte es in
die im Buch abgebildet sind. Für Laien
ist durch Cleggs Erklärungen aber
nicht leicht zu verstehen, wie sie
Themen der Astronomie, die sich am eine Vielzahl populärwissenschaftli- entstehen. Denn er verzichtet darauf,
besten zusammenfassen lassen unter cher Bücher und Zeitschriften, in die eine Formel zur Funktionsvorschrift
dem vagen Motto »Alles über Gala­ wissenschaftliche Fachliteratur, zu anzugeben – was in diesem Fall wahr-
xien«: von ihrer Entstehung, Entwick- Fotoausstellungen in vielen Städten scheinlich hilfreich gewesen wäre.
lung und ihrem Ende, über ihre und gipfelte vielleicht im Titelblatt Der Autor macht deutlich, dass
Verschmelzung und Beobachtung, einer Ausgabe des »Spiegel« 1993: mathematisches Chaos nichts mit
bis hin zu »kosmologischen Ever- »Kult um das Chaos – Aberglaube oder zufälligen Erscheinungen zu tun hat.
greens« wie Dunkler Materie, Dunk- Welterklärung?« Der Autor Brian Clegg Ereignisse wie Münz- oder Würfel­
ler Energie, der Hintergrundstrahlung möchte in seinem Buch den Spagat würfe berechnet man statistisch: Den
und dem kosmologischen Prinzip. zwischen der zu Grunde liegenden Ma- nächsten Wurf kann man zwar nicht
Die Autorin bewegt sich dabei chro- thematik und den alltäglichen Erschei- vorhersagen, wohl aber das Lang­
nologisch durch das Leben einer nungen schaffen. zeitverhalten – insofern ist der Zufall
Galaxie und beantwortet die Frage: für den Autor berechenbar. Chaos
»Ist die Milchstraße eine normale ist hingegen nicht zufällig, sondern
Brian Clegg
Galaxie?«. deterministisch: Jeder Rechenschritt
CHAOS IM
Bei so viel Material arten ihre ALLTAG? ist eindeutig festgelegt, trotzdem ist
Erklärungen manchmal zu seitenlan- Vom Wetter das Verhalten praktisch unvorher­
gen Beschreibungen diverser Prozes- bis zur Börse: die sehbar.
Mathematik des
se aus, die zwar mit amüsanten Unvorhersehbaren Durch diese Erkenntnis und die
Vergleichen und anschaulichen Bei- Haupt, Bern 2021 wunderbar farbigen Bilder der Man-
spielen gespickt, doch streckenweise 256 S., € 32,– delbrot-Menge war der Bereich für
etwas zäh sind. Gerade Leserinnen populäre Veröffentlichungen prädesti-
und Leser ohne Vorkenntnisse könn- niert. Darüber hinaus führte die mar-
ten hier leicht ins Stolpern geraten kante Bezeichnung »Chaos« zu miss-
oder den Faden verlieren, obwohl sie verständlichen Vorstellungen. Der
die eigentliche Zielgruppe des Buches Autor schreibt, es »wäre wirklich
zu sein scheinen. Die fachliche Grundlage der Chaos- besser gewesen, wenn (man) sich ein
Die Abbildungen stellen hingegen theorie erläutert er dabei in verschie- anderes Wort ausgedacht hätte, weil
ein besonderes Highlight dar. Sie denen Abschnitten. Eines ihrer we- es sehr schwierig ist, den Begriff von
sind in einheitlichem Stil und künst- sentlichen Merkmale, die so genannte seiner ursprünglichen Bedeutung zu
lerisch designt, doch leider rar gesät. sensitive Abhängigkeit von den An- trennen«.
Insbesondere die dichteren Passa- fangsbedingungen, beschreibt Clegg Im Buch nehmen Erscheinungen
gen hätten durch zusätzliche Illustra- zuerst am Doppelpendel und dann an des Chaos im Alltag einen breiten
tionen aufgelockert werden können. den Beobachtungen des US-amerika- Raum ein. Das reicht vom Billardspiel
Das titelgebende Lastenrad bleibt nischen Meteorologen Edward Lorenz und dem Flipperautomaten über
dabei lediglich als Teil der Rahmen- aus den 1960er Jahren. Dieser fand mit moderne Wettervorhersagen, Proble-
handlung im Hintergrund. Wer nach Computerunterstützung heraus, dass me bei der Stichprobenauswahl für
einem Blick in die (realen oder proji- seine Wetterprognosen bei winzigen Meinungsumfragen, Herzflimmern,
zierten) Sterne noch nicht genug von Veränderungen in den Anfangsdaten Verschlüsselungsverfahren und Bör-
Galaxien hat, ist mit diesem Buch gut zu sehr verschiedenen Ergebnissen senkursen bis hin zum »Stau aus dem
bedient. führten. Diese Erkenntnis wurde als Nichts« auf Autobahnen. Viele dieser
Schmetterlingseffekt weltberühmt. Themen führt Clegg kurz aus.
Sabrina Patsch ist Doktorandin am Institut Eine weitere Eigenschaft des Chaos An manchen solchen Phänomenen
für theoretische Physik der FU Berlin. ist die Selbstähnlichkeit. Reale Beispie- versucht er charakteristische Merkma-

94 Spektrum der Wissenschaft  3.22


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le des Chaos zu zeigen, etwa bei


Börsencrashs. Wie das vorige Zitat
EVOLUTION Damit man auf der Reise durch die
Jahrmillionen nicht verloren geht,
vermuten lässt, weiß der Autor, dass DER GANZ geben sechs Zeitleisten zu Beginn
das umgangssprachlich verwendete GROSSE BOGEN jedes Kapitels Hilfestellung. Trotzdem
Wort nicht immer mit dem mathema- wünscht man sich beim Lesen Illustra-
tisch definierten Effekt übereinstimmt. Das Leben hat in seiner mehr als tionen – besonders weil Gee so leben-
Diese Tatsache beachtet er allerdings vier Milliarden Jahre währenden dige Beschreibungen für die vielen
manchmal selbst nicht. So beschreibt
Geschichte bereits viele Höhen und wundersamen Wesen findet, die den
Tiefen erlebt. Henry Gee gelingt
Clegg knapp, der Biologe Robert May Planeten einst bevölkerten.
es, diese wechselvolle Geschichte
habe mit einer »relativ einfachen Der Autor arbeitet sehr gut heraus,
anschaulich, unterhaltsam und
Gleichung« Bevölkerungszahlen be- dass gerade Katastrophen wie extre-
brandaktuell zu erzählen.
rechnet – und diese könnten je nach me Kaltzeiten dem Leben immer
Wachstumsrate chaotisch hin- und wieder zu Entwicklungssprüngen
herspringen. Dabei führt er aber nicht Henry Gee verholfen haben. Und er rückt die
aus, dass sich das aus theoretischen EINE (SEHR) Bedeutung des Menschen für unseren
KURZE GESCHICH-
Modellierungen für Populationen TE DES LEBENS? Planeten zurecht, wenn es heißt: »Von
ergibt, die nur in Ausnahmefällen auch Hoffmann und der gesamten menschlichen Geschich-
für bestimmte Gruppen von Lebewe- Campe, Hamburg te, so kurz und ereignisreich sie auch
2021
sen zutreffen. Der von Clegg abschlie- gewesen sein mag, (…) wird nichts
304 S., €20,–
ßend formulierte Satz »Chaos in der bleiben außer einer millimeterdünnen
Bevölkerungsentwicklung gehört zum Schicht in irgendeinem zukünftigen
Alltag« ist sicherlich überzogen, vor Sedimentgestein.«
allem, wenn man an menschliche Obwohl Gee hervorragend schreibt
Populationen denkt. Eventuell führt und die Übersetzung von Alexander
hier die Übersetzung vom englischen Weber gelungen ist, ist die Fülle an
»population« mit dem deutschen
»Bevölkerung« zu Missverständnissen.
Dennoch beschreibt der Autor auf
 »Es war einmal ein riesiger Stern,
der im Sterben lag …« Henry Gee
beginnt seine Geschichte des Lebens
Details auf den 240 Seiten so groß,
dass man das Buch nicht wie einen
guten Roman verschlingen kann. Es
spannende Weise, in welchen Situatio- wie ein Märchen. Dieses transportiert braucht schon etwas Konzentration
nen sich chaotisches Verhalten fest- jedoch keine Moral, sondern die und Zeit zum Verdauen. Zudem emp-
stellen lässt. Das mag viele überra- hoffnungsvolle Erkenntnis, dass das fiehlt es sich unbedingt, in die teils
schen, die noch nicht mit solchen Leben immer wieder einen Weg in die langen Fußnoten (50 Seiten am Ende
Fragen konfrontiert waren. Allerdings Zukunft gefunden hat – egal, welche des Buchs) zu schauen, wo Gee nicht
zieht der Verfasser die Theorie dafür Katastrophen ihm auch zugesetzt nur Quellen und weiterführende Litera-
teilweise verkürzt heran. Wer dem hatten – von Asteroideneinschlägen, tur nennt, sondern unter anderem
Untertitel entsprechend die Mathema- Vulkanausbrüchen oder extremen acuh darauf hinweist, wo man weitere
tik dazu kennen lernen möchte, wird Klimaschwankungen. Deutungen der fossilen Belege findet.
wenig finden. Der Paläontologe und Evolutions- Das Buch bietet einen verständli-
Es ist sicher Absicht, so gut wie biologe Henry Gee ist langjähriger chen und aktuellen Überblick über die
keine Formel zu verwenden, aber eine Redakteur des Wissenschaftsmaga- faszinierende Entwicklung des Lebens
Beschreibung der Funktionsvorschrift, zins »Nature«. In dem Buch garniert er auf der Erde. Hier und da hätten
etwa für die Erzeugung der Man- seinen klaren Stil mit einer ordentli- vielleicht ein paar weniger Beispiele
delbrot-Menge, nur in kurzen Worten chen Prise britischem Humor. genügt. Besonders interessant wird es
zu geben, erscheint unpassend. Man Von den Cyanobakterien im Ur­ am Ende, wenn es um die Rolle des
hätte sie in einer zusätzlichen Anmer- ozean zur Eroberung des Lands durch Menschen geht. Denn der Blick auf
kung außerhalb des laufenden Textes Pilze und Pflanzen, von Dinosauriern das Erdgeschehen der vergangenen
angeben können, von denen es ohne- bis zur Entwicklung des Homo sapiens: vier Milliarden Jahre kann auch für das
hin sehr viele gibt. Zudem enthält das Immer wieder gibt es beim Lesen eigene Selbstverständnis und aktuelle
Buch kein Literaturverzeichnis und ver- Aha-Erlebnisse. Zusammenhänge Probleme wie Klimawandel und Arten-
weist auf keinerlei Quellen. Leserinnen erschließen sich, und Gee findet sterben sehr anregend und relati­
und Leser, die ein wenig von der anschauliche und unterhaltsame vierend sein, wie Gee im Nachwort
Mathematik nachvollziehen wollen, Vergleiche, etwa wenn er einen Vor- ausführt. Sein Fazit: Verzagt nicht,
müssen selbstständig recherchieren. läufer der Wirbeltiere respektlos als denn noch dreht sich die Erde, und das
»Kartoffel mit Bullaugen« beschreibt Leben dauert an.
Hartmut Weber war Mathematiklehrer in oder bei der Bakteriengenetik von
Kassel und rezensiert regelmäßig für die Deut­ einem »genetischen Wühltisch« Gunther Willinger ist Biologe und Wissen­
sche Mathematiker-Vereinigung. spricht. schaftsjournalist in Tübingen.

Spektrum der Wissenschaft  3.22 95


FUTUR III
An vorderster Linie
Wie wir das Universum retten.
Eine Kurzgeschichte von Sylvia Spruck Wrigley

Z
unächst einmal möchte ich, dass du jedes einzelne dazustehen, als wolltest du infiziert werden. Aber lass dich
Wort vergisst, mit dem man dir im Rekrutierungsbüro bloß nicht infizieren. Das ist alles.
den Kopf verdreht hat. Nein, halt einfach die Klappe, ich Falls du angesteckt wirst, merkst du nichts davon. Du
will nichts davon hören. Es ist alles gelogen. wankst davon wie ein Zombie und suchst den nächsten
Bau dich einfach hier direkt neben mir auf und schau Hügel, und ein paar Stunden später wächst aus deinem
dich in aller Ruhe um. Das ist die Frontlinie. Nein, das ist Kopf ein Stängel und explodiert. Leuchtend orange Sporen
kein Euphemismus. Für gewöhnlich ist der Krieg ja alles verteilen sich überall und suchen ein neues Zuhause. Ver­
andere als eine saubere Angelegenheit mit schnurgeraden stehst du, das ist der Grund, warum wir diesen Graben vor
Kampflinien und mit Strategien, die jeder sofort kapiert. unserer Nase so gern haben. Sobald du merkst, dass sich
Aber hier haben wir nur eine einzige Linie. Sie ist dieser einer deiner Kumpel aufführt wie ein Zombie – stoß ihn
Graben vor deiner Nase. Tritt nicht zu nahe an den Rand. hinein! Aber zack, zack!
Die Sporianer zersetzen jeden Tag ungefähr vier von Um die Wahrheit zu sagen: Als wir die ersten Berichte
unseren Leuten. Dein Raumschiff ist mit zehn Kisten von der Erde bekamen, verhängten wir einfach eine plane­
­Nachschub und mit 500 Rekruten ohne Kampferfahrung tare Quarantäne. Dort war ja ohnehin kaum noch jemand
angekommen. Du kannst dir also ausrechnen, wie lange … übrig, verstehst du? Aber dann beobachteten wir auf einmal
Am besten freunde dich gar nicht erst mit jemandem an. orange Schimmelflecken auf dem Mars! Daraufhin schick­
Sperr die Ohren auf und hör mir zu. Ihr braucht keine ten wir das Militär los und bombardierten den Roten Plane­
Uniform zu tragen, ihr müsst nicht lernen, eine Waffe ten mit jedem Pilzvernichtungsmittel, das die Menschheit je
abzufeuern. Ihr sollt nichts tun, als einfach da zu sein, entwickelt hat. Dabei entdeckten wir das stinkende Öl. Die
Lebertran zu trinken und zu sterben. So sieht’s aus. Das Sporianer mögen es nicht, keine Ahnung, warum. Über­
sind die Fakten. haupt wissen wir einen feuchten Dreck über sie, außer dass
Ach was, ich mach nur einen Witz. In Wirklichkeit ist wir ihnen genau hier und genau jetzt an diesem Graben
es kein Lebertran. Das Zeug ist schlimmer. Es riecht wie standhalten müssen. Doch wenn sie die Wahl haben zwi­
etwas, das ein kranker Hund hinterlassen hat, und es schen einem, der vom Anti-Pilz-Öl getrunken hat, und
schmeckt wie ranzige Butter. Du wirst lernen, den Würg­ einem pingeligen Idioten, dem das Öl zu eklig schmeckt,
reflex zu ignorieren und es hinunterzuschlucken. Genau dann infizieren sie jedes Mal den feinen Pinkel.
wie wir Übrigen.

J
Denn das ist eines der wenigen Dinge, die wir wissen. edenfalls, wir überließen ihnen den Mars. Die Regie­
Wir haben keine Ahnung, wie wir sie bekämpfen sollen. Wir rungsbehörde sagte einfach: Na gut, nehmt euch den
wissen nicht einmal, ob sie intelligent sind. Aber jedes Mal, Planeten auch noch. Sie schrieben den Mars ab.
wenn wir aufgeben und ihnen ein Stück Fels überlassen, Aber damit war das Problem nicht erledigt. Ein paar
kommen sie näher heran. Deine Aufgabe ist einfach, so Wochen später: orange Flecken! Die Sporianer begannen
sich hier im Asteroidengürtel breitzumachen! Dabei gibt es
gar keine Transportverbindung. Keine Seele ist in den
vergangenen Jahren vom Mars zu den Asteroiden gereist.
Wie sind sie also in kaum einem Monat hierhergelangt?

Die Hälfte der Kisten Keiner weiß das.


Pass auf, jetzt sage ich dir, was wir herausgefunden
haben. Eine sporianische Expansion findet nur dann statt,
ist voll Schnaps. wenn wir uns vor ihnen verdrücken. An totem Gestein
haben sie kein Interesse – sie wollen uns. Und solange die

Wir müssen nicht Regierung fortfährt, frisches Blut zu schicken, bleiben sie
hier. Der uns nächste bewohnte Asteroid liegt nur zwei
Astronomische Einheiten entfernt, unvergleichlich viel
nüchtern bleiben, nur näher als der Mars, aber die Siedlung dort hat noch keinen
einzigen Schimmelpilzfleck zu sehen bekommen. Und das

die Stellung halten wird so bleiben, solange hier zu Lande weiterhin blöde
Rekruten wie du für Nachschub sorgen.

96 Spektrum der Wissenschaft  3.22


Mehr Sciencefiction-Kurzgeschichten auf spektrum.de/kurzgeschichte

Das Öl ist das einzige uns bekannte Mittel, das sie we­ Natürlich weiß ich nicht, ob das die Wahrheit ist, aber
nigstens ein bisschen zurückzucken lässt. Das wird dir zwar der Gedanke hilft mir, Ruhe und Schlaf zu finden.
nichts nützen, falls du als Letzter übrig bleibst, doch so weit Zweitens: Die Hälfte der Kisten, die du gerade auslädst,
sind wir ja noch lange nicht. Jetzt trink erst einmal das Öl. sind voll mit Schnaps. Wir brauchen nicht nüchtern zu
Sag dem Kerl, der neben dir die Stellung hält, er soll sich bleiben, wir müssen nur die Stellung halten. Es gibt kein
keine Sorgen machen. Sieh zu, dass du nicht angesteckt Entkommen von diesem Stück Stein, also können wir
wirst. Schubs jeden Infizierten in den Abgrund hinunter, genauso gut eine Party feiern. Wenn du Glück hast, findest
und zwar so schnell, wie du verdammt noch einmal über­ du vielleicht sogar Cocktailspieße.
haupt nur kannst. Die dritte gute Nachricht: Siehst du die unzähligen
Tut mir echt leid, dass ich derjenige bin, der dir die Sterne da draußen? Im Universum gibt es vielleicht eine
schlechten Nachrichten beibringen muss, aber so sieht Zentillion Menschen, die alle ein glückliches Leben genie­
unser Krieg nun einmal aus. Du schiebst Wache am Rand ßen. Und siehst du diesen schmutzigen Graben? Dahinter
eines Grabens und versuchst, länger als eine Woche durch­ lauern die Sporianer, und weil wir hier die Stellung halten,
zuhalten, während hellere Köpfe als unsereins nach einer müssen sie drüben bleiben. Du bist der Retter des Univer­
Methode suchen, den Feind zurückzuschlagen. sums. Du bist ein verdammter Held.
Also gut, jetzt mach dich an die Arbeit. Fang an, diese Darauf wollen wir trinken. 
Kisten da auszupacken, und dafür erfährst du von mir nach
den vielen schlechten Nachrichten ein bisschen etwas
DIE AUTORIN
Gutes.
Erstens: Anscheinend sterben die Infizierten einen Sylvia Spruck Wrigley stammt aus Deutschland und wuchs in
Los Angeles auf. Sie schreibt nicht nur ­Sciencefiction, sondern
leichten Tod. Ich habe davon mehr als genug sehen müs­ auch übers Fliegen. Ihre Science­fiction-Story »Alive, Alive Oh«
sen. Hallinan zum Beispiel sagte zwar nichts und gab auch wurde 2013 für den Nebula Award nominiert. Derzeit lebt sie in
sonst kein Zeichen, aber er bekam am Ende so einen echt Tallinn (Estland).
friedlichen Gesichtsausdruck. Patels letztes Wort lautete:
»Endlich!« Steinberg starrte nur den Himmel an und grinste.
Darüber mache ich mir so meine Gedanken: Vielleicht sind © Springer Nature Limited
die Sporianer einfach Gott persönlich. Vielleicht ist dies das www.nature.com
Jüngste Gericht. Vielleicht werdet ihr alle demnächst erlöst. Nature 497, S. 282, 2013

Chefredaktion: Dr. Daniel Lingenhöhl (v.i.S.d.P.) Leser- und Bestellservice: Helga Emmerich, Sämtliche Nutzungsrechte an dem vorliegenden Werk
Redaktionsleitung: Dr. Hartwig Hanser Sabine Häusser, Tel.: 06221 9126-743, liegen bei der Spektrum der Wissenschaft Verlagsge-
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Schlussredaktion: Christina Meyberg (Ltg.), Abonnement (12 Ausgaben inkl. Versandkosten Inland) folgende Quellenangabe an branchenüblicher Stelle
Sigrid Spies, Katharina Werle € 93,–; für Schüler und Studenten gegen Nachweis € 72,–. vorzunehmen: © 2022 (Autor), Spektrum der Wissen-
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Spektrum der Wissenschaft  3.22 97


Das Aprilheft ist ab 19. 3. 2022 im Handel.

VORSCHAU

IN-FUTURE / GETTY IMAGES / ISTOCK; BEARBEITUNG: SPEKTRUM DER WISSENSCHAFT

NASA / GODDARD SPACE FLIGHT CENTER


DIE GEFAHR SOLARER
SUPERSTÜRME
Teilchen, die von der Sonne ausgesto-
ßen werden, können bei uns Satelliten
und technische Infrastruktur beschädi-
gen. In der jüngeren Erdgeschichte
waren starke Eruptionen laut jüngsten
Analysen häufiger als gedacht.

SARAH J LEE / GETTY IMAGES / ISTOCK


NEUE VERBINDUNGEN IN DER MATHEMATIK
Ein vor Jahrzehnten gestartetes Großprojekt soll zwei grundver-
schiedene mathematische Gebiete miteinander verknüpfen und
fundamentale Fragen aus der Zahlentheorie beantworten. Mit einer
verblüffenden Herangehensweise an die Art, wie sich geometrische ES LIEGT WAS IN DER LUFT
Objekte definieren lassen, scheint einem französischen und einem
deutschen Forscher nun ein Durchbruch gelungen zu sein. Bei höheren Temperaturen sammelt
sich mehr Wasserdampf in der Luft.
Der heizt seinerseits die Atmosphäre
auf und sorgt dazu für gefährliche
WIDER DIE SELBST- Wetterphänomene wie sintflutartige
ZERSTÖRUNG Regenfälle und Wirbelstürme (Bild:
New Brunswick, NJ, nach Hurrikan Ida).
Im dritten Teil unserer Serie
über Autoimmunkrankhei-
ten geht es um verschiede-
ne Ansätze, solche Leiden NEWSLETTER
VELIMIR / STOCK.ADOBE.COM (SYMBOLBILD MIT FOTOMODELL)

zu behandeln. Im Fokus Möchten Sie über Themen und Autoren


stehen dabei zielgerichtete des neuen Hefts informiert sein?
Therapien, etwa auf der Wir halten Sie gern auf dem Laufenden:
Grundlage von Antikörpern, per E-Mail – und natürlich kostenlos.
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Immunzellen.

98 Spektrum der Wissenschaft  3.22


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